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Title: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst
Author: Busoni, Ferruccio, 1866-1924
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" ***


  [ Anmerkungen zur Transkription:

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    Schreibweise und Interpunktion wurden übernommen, lediglich
    offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste der
    vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.
  ]



                            Ferruccio Busoni


                                Entwurf
                          einer neuen Ästhetik
                              der Tonkunst


                       Zweite, erweiterte Ausgabe

                       Im Insel-Verlag zu Leipzig



                         Dem Musiker in Worten
                          Rainer Maria Rilke
                  verehrungsvoll und freundschaftlich
                              dargeboten



                            »Was sucht Ihr? Sagt! Und was erwartet Ihr?«
                            »Ich weiß es nicht; ich will das Unbekannte!
                            Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich will
                            darüber noch. Mir fehlt das letzte Wort.«

                                                »Der mächtige Zauberer«.



    »Ich fühlte ... daß ich kein englisches und kein lateinisches Buch
    schreiben werde: und dies aus dem einen Grund ... nämlich weil die
    Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken
    mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische, noch die
    englische, noch die italienische und spanische ist, sondern eine
    Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine
    Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen und in welcher
    ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich
    verantworten werde.«

                                     Hugo von Hofmannsthal, »Ein Brief«.



Der literarischen Gestaltung nach recht locker aneinander gefügt, sind
diese Aufzeichnungen in Wahrheit das Ergebnis von lange und langsam
gereiften Überzeugungen.

In ihnen wird ein größtes Problem mit scheinbarer Unbefangenheit
aufgestellt, ohne daß der Schlüssel zu seiner letzten Lösung gegeben
werde, weil das Problem auf Menschenalter hinaus nicht -- wenn überhaupt
-- lösbar ist.

Aber es begreift in sich eine unaufgezählte Reihe minderer Probleme, auf
die ich das Nachdenken derjenigen lenke, die es betrifft. Denn recht
lange schon hatte man in der Musik ernstlichem Suchen nicht sich
hingegeben.

Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Bewunderungswertes, und ich
stellte mich stets in die erste Reihe, die vorüberziehenden Fahnenträger
freudig zu begrüßen; aber mir will es scheinen, daß die mannigfachen
Wege, die beschritten werden, zwar in schöne Weiten führen, aber nicht
-- nach oben.

                   *       *       *       *       *

Der Geist eines Kunstwerkes, das Maß der Empfindung, das Menschliche,
das in ihm ist -- sie bleiben durch wechselnde Zeiten unverändert an
Wert; die Form, die diese drei aufnahm, die Mittel, die sie ausdrückten,
und der Geschmack, den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoß, sie
sind vergänglich und rasch alternd.

Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunstwerk wie im Menschen;
technische Errungenschaften, bereitwilligst erkannt und bewundert,
werden überholt, oder der Geschmack wendet sich von ihnen gesättigt ab. --

Die vergänglichen Eigenschaften machen das »Moderne« eines Werkes aus;
die unveränderlichen bewahren es davor, »altmodisch« zu werden. Im
»Modernen« wie im »Alten« gibt es Gutes und Schlechtes, Echtes und
Unechtes. Absolut Modernes existiert nicht -- nur früher oder später
Entstandenes; länger blühend oder schneller welkend. Immer gab es
Modernes, und immer Altes. --

Die Kunstformen sind um so dauernder, je näher sie sich an das Wesen der
einzelnen Kunstgattung halten, je reiner sie sich in ihren natürlichen
Mitteln und Zielen bewahren.

Die Plastik verzichtet auf den Ausdruck der menschlichen Pupille und auf
die Farben; die Malerei degradiert, wenn sie die darstellende Fläche
verläßt und sich zur Theaterdekoration oder zum Panoramabild
kompliziert; --

die Architektur hat ihre Grundform, die von unten nach oben zu schreiten
muß, durch statische Notwendigkeit vorgeschrieben; Fenster und Dach
geben notgedrungen die mittlere und abschließende Ausgestaltung; diese
Bedingungen sind an ihr bleibend und unverletzbar; --

die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den sie in Worte
kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und hat die größere
Unabhängigkeit voraus:

    aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig das eine,
    nämlich die Abbildung der Natur und die Wiedergabe der menschlichen
    Empfindungen.

Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und reife Künste;
ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher geworden; sie haben
durch Jahrtausende den Weg gefunden und beschreiben, wie ein Planet,
regelmäßig ihren Kreis.[1]

  [1] Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und Eigenart
  sich immer wieder verjüngen und erneuern.

Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar gehen gelernt hat,
aber noch geführt werden muß. Es ist eine jungfräuliche Kunst, die noch
nichts erlebt und gelitten hat.

Sie ist sich selbst noch nicht bewußt dessen, was sie kleidet, der
Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr schlummern:
wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel Schönes geben kann,
schon viele erfreuen konnte und dessen Gaben allgemein für völlig
ausgereift gehalten werden.

                   *       *       *       *       *

Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische Musik, ist kaum
vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande der Entwicklung; vielleicht
im allerersten Stadium einer noch unabsehbaren Entwicklung, und wir
sprechen von Klassikern und geheiligten Traditionen![2] Spricht doch
bereits ein Cherubini, in seinem Lehrbuch des Kontrapunktes, von »den
Alten«.

  [2] »Tradition« ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die --
  durch den Lauf vieler Jahre und die Hände ungezählter Handwerker
  gegangen -- schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr
  erraten läßt.

Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Gesetze
vorgeschrieben -- -- -- wir wenden die Gesetze der Erwachsenen auf ein
Kind an, das die Verantwortung noch nicht kennt!

So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft ist an ihm
schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren Gefährten auszeichnet.
Und diese wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen,
weil ihre Gesetze sonst über den Haufen geworfen würden. Das Kind -- es
schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht der
Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine Materie ist
durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur selbst. Es ist
frei.

                   *       *       *       *       *

Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig begriffen noch
gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht erkennen noch anerkennen.

Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln es. Das
schwebende Wesen muß geziemend gehen, muß, wie jeder andere, den Regeln
des Anstandes sich fügen; kaum, daß es hüpfen darf -- indessen es seine
Lust wäre, der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken
Sonnenstrahlen zu brechen.

                   *       *       *       *       *

Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung. Sie
wird der vollständigste aller Naturwiderscheine werden durch die
Ungebundenheit ihrer Unmaterialität. Selbst das dichterische Wort steht
ihr an Unkörperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann
auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen
sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen wahrnehmbar sind --
welche andere Kunst hat das? --, und ihre Empfindung trifft die
menschliche Brust mit jener Intensität, die vom »Begriffe« unabhängig
ist.

Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschreiben, mit der
Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden
Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen
Augenblick, eine »Situation« darstellen kann und der Dichter ein
Temperament und dessen Regungen mühsam durch angereihte Worte mitteilt.

Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst;
somit sprechen wir die Ablehnung der Programmusik aus und gelangen zu
der Frage nach den Zielen der Tonkunst.

                   *       *       *       *       *

Absolute Musik! Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das
Entfernteste vom Absoluten in der Musik. »Absolute Musik« ist ein
Formenspiel ohne dichterisches Programm, wobei die Form die wichtigste
Rolle abgibt. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik
entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und
von den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die
Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem Rahmen; die unbegrenzte
Naturerscheinung erhält eine viereckige Abgrenzung; die einmal gewählte
Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann
sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen
wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt bestimmt den
schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu verwenden, die in dem Innern des
Menschen auf dieselbe Taste drücken und denselben Widerhall erwecken,
wie die Vorgänge in der Natur.

Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches an geordnet
aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und
Dominante, an Durchführungen und Kodas.

Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart tiefer abmüht,
den gewandteren ersten nachzuahmen, höre einen unnötigen Kampf
auskämpfen, um dahin zu gelangen, wo man schon am Anfang stand. Diese
Musik sollte vielmehr die architektonische heißen, oder die
symmetrische, oder die eingeteilte, und sie stammt daher, daß einzelne
Tondichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form gossen,
weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die Gesetzgeber haben
Geist, Empfindung, die Individualität jener Tonsetzer und ihre Zeit mit
der symmetrischen Musik identifiziert und schließlich -- da sie weder
den Geist, noch die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten --
die Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubenslehre
erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form als das
geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie entschwebten -- und
die Gesetzgeber entdecken und verwahren Euphorions auf der Erde
zurückgebliebene Gewänder:

    »Noch immer glücklich aufgefunden!
    Die Flamme freilich ist verschwunden,
    Doch ist mir um die Welt nicht leid.
    Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,
    Zu stiften Gold- und Handwerksneid;
    Und kann ich die Talente nicht verleihen,
    Verborg ich wenigstens das Kleid.«

Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in allem Originalität
fordert und daß man sie ihm in der Form verbietet? Was Wunder, daß man
ihn -- wenn er wirklich originell wird -- der Formlosigkeit anklagt.
Mozart! den Sucher und den Finder, den großen Menschen mit dem
kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm hängen wir; nicht aber an
seiner Tonika und Dominante, seinen Durchführungen und Kodas.

                   *       *       *       *       *

Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den romantischen
Revolutionsmenschen, daß er einen kleinen Schritt in der Zurückführung
der Musik zu ihrer höheren Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der
großen Aufgabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die ganz
absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen Augenblicken
geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der Hammerklavier-Sonate.
Überhaupt kamen die Tondichter in den vorbereitenden und vermittelnden
Sätzen (Vorspielen und Übergängen) der wahren Natur der Musik am
nächsten, wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer acht
lassen zu dürfen und selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen. Selbst
einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen Stellen etwas von
dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst -- man denke an die Überleitung zum
letzten Satze der D-Moll-Sinfonie --, und Gleiches kann man von Brahms
und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie behaupten.

Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten, wird ihre
Haltung steif und konventionell wie die eines Mannes, der in ein
Amtszimmer tritt.

Neben Beethoven ist Bach der »Ur-Musik« am verwandtesten. Seine
Orgelfantasien (und nicht die Fugen) haben unzweifelhaft einen starken
Zug von Landschaftlichem (dem Architektonisch Entgegenstehenden), von
Eingebungen, die man »Mensch und Natur« überschreiben möchte[3]; bei
ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über seine
Vorgänger hinwegschritt -- (wenn er sie auch bewunderte und sogar
benutzte) -- und weil ihm die noch junge Errungenschaft der temperierten
Stimmung vorläufig unendlich neue Möglichkeiten erstehen ließ.

  [3] Seine Passions-Rezitative haben das »Menschlich-Redende«, =nicht=
  »Richtig-Deklamierte«.

Darum sind Bach und Beethoven[4] als ein Anfang aufzufassen und nicht
als unzuübertreffende Abgeschlossenheiten. Unübertrefflich werden
wahrscheinlich ihr Geist und ihre Empfindung bleiben; und das bestätigt
wiederum das zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, daß die
Empfindung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert nichts
einbüßen, und daß derjenige, der ihre höchsten Höhen ersteigt, jederzeit
über die Menge ragen wird.

  [4] Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit
  möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche
  Empfindung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und
  eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind gewiß
  jenen eines »Klassikers« entgegengesetzt. Zudem ist Beethoven kein
  »Meister« im Sinne Mozarts oder des späteren Wagner, eben weil seine
  Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen gewordenen,
  ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)

                   *       *       *       *       *

Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucksform und ihre
Freiheit. Wagner, ein germanischer Riese, der im Orchesterklang den
irdischen Horizont streifte, der die Ausdrucksform zwar steigerte, aber
in ein System brachte (Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch
die selbstgeschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine
Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst weil er sie zur
höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte; sodann, weil die
selbstgestellte Aufgabe derart war, daß sie von einem Menschen allein
bewältigt werden konnte. »Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die
Lösung«, wie ich einmal von Mozart sagte. Die Wege, die uns Beethoven
eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt werden. Sie mögen --
wie alles im Weltsystem -- nur einen Kreis bilden; dieser ist aber von
solchen Dimensionen, daß der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade
Linie erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. -- Ein Kreis
im großen Kreise.

                   *       *       *       *       *

Der Name Wagner führt zur Programmusik zurück. Sie ist als ein Gegensatz
zu der sogenannten »absoluten« Musik aufgestellt worden, und die
Begriffe haben sich so verhärtet, daß selbst die Verständigen sich an
den einen oder an den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer
und über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In Wirklichkeit ist
die Programmusik ebenso einseitig und begrenzt wie das als absolute
Musik verkündete, von Hanslick verherrlichte Klang-Tapetenmuster.
Anstatt architektonischer und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika-
und Dominantverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zuweilen gar
philosophische Programm als wie eine Schiene sich angeschnürt.

                   *       *       *       *       *

Jedes Motiv -- so will es mir scheinen -- enthält wie ein Samen seinen
Trieb in sich. Verschiedene Pflanzensamen treiben verschiedene
Pflanzenarten, an Form, Blättern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben
voneinander abweichend.[5]

  [5] »_-- -- -- Beethoven, dont les esquisses thématiques ou
  élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouvés,
  semble par cela même en avoir établi tout le développement --_«

                                    Vincent d'Indy in »César Franck«.

Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Ausdehnung, Gestalt
und Kraft, in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem
Motiv schon seine vollgereifte Form vorbestimmt; jedes einzelne muß sich
anders entfalten, doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen
Harmonie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.

                   *       *       *       *       *

Das Klangmotiv des programmusikalischen Werkes birgt die nämlichen
Bedingungen in sich; es muß aber -- schon bei seiner nächsten
Entwicklungsphase -- sich nicht nach dem eigenen Gesetz, sondern nach
dem des »Programmes« formen, vielmehr »krümmen«. Dergestalt, gleich in
der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege gebracht, gelangt es
schließlich zu einem ganz unerwarteten Gipfel, wohin nicht seine
Organisation, sondern das Programm, die Handlung, die philosophische
Idee vorsätzlich es geführt.

Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewiß gibt es nicht
mißzudeutende, tonmalende Ausdrücke -- (sie haben die Veranlassung zu
dem ganzen Prinzip gegeben) --, aber es sind wenige und kleine Mittel,
die einen ganz geringen Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste
von ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nachahmung von
Naturgeräuschen: das Rollen des Donners, das Rauschen der Bäume und die
Tierlaute; und schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem
Gesichtssinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten,
Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung des reflektierenden
Gehirns verständlich: das Trompetensignal als kriegerisches Symbol, die
Schalmei als ländliches Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung des
Schreitens, der Choral als Träger der religiösen Empfindung. Zählen wir
noch das Nationalcharakteristische -- Nationalinstrumente,
Nationalweisen -- zum vorigen, so haben wir die Rüstkammer der
Programmusik erschöpfend besichtigt. Bewegung und Ruhe, Moll und Dur,
Hoch und Tief[6] in ihrer herkömmlichen Bedeutung ergänzen das Inventar.
Das sind gut verwendbare Nebenhilfsmittel in einem großen Rahmen, aber
allein genommen ebensowenig Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen
sind.

  [6] Vergleiche später die Sätze über die »Tiefe«.

                   *       *       *       *       *

Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen Vorganges auf
Erden, der Bericht über einen ärgerlichen Nachbar -- gleichviel ob in
der angrenzenden Stube oder im angrenzenden Weltteile -- mit jener
Musik, die durch das Weltall zieht, gemeinsam haben?

                   *       *       *       *       *

Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemütszustände schwingen
zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung, Erstarkung, Ermattung
(Beethovens letzte Quartette), Entschluß (Wotan), Zögern,
Niedergeschlagenheit, Ermunterung, Härte, Weichheit, Aufregung,
Beruhigung, das Überraschende, das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den
inneren Widerklang äußerer Ereignisse, der in jenen Gemütsstimmungen
enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener Seelenregungen selbst:
nicht die Freude über eine beseitigte Gefahr, nicht die Gefahr oder die
Art der Gefahr, welche die Angst hervorruft; wohl einen
Leidenschaftszustand, aber wiederum nicht die psychische Gattung dieser
Leidenschaft, ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es,
moralische Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit, in Töne umzusetzen oder
gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit, durch sie
aussprechen zu wollen. Könnte man denken, wie ein armer, doch
zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufriedenheit, der
seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das
ethische Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das
kommt daher, daß »arm« eine Form irdischer und gesellschaftlicher
Zustände ist, die in der ewigen Harmonie nicht zu finden ist. Musik ist
aber ein Teil des schwingenden Weltalls.

                   *       *       *       *       *

Der größte Teil neuerer Theatermusik leidet an dem Fehler, daß sie die
Vorgänge, die sich auf der Bühne abspielen, wiederholen will, anstatt
ihrer eigentlichen Aufgabe nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden
Personen während jener Vorgänge zu tragen. Wenn die Bühne die Illusion
eines Gewitters vortäuscht, so ist dieses Ereignis durch das Auge
erschöpfend wahrgenommen. Fast alle Komponisten bemühen sich jedoch, das
Gewitter in Tönen zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige und
schwächere Wiederholung, sondern zugleich eine Versäumnis ihrer Aufgabe
ist. Die Person auf der Bühne wird entweder von dem Gewitter seelisch
beeinflußt, oder ihr Gemüt verweilt infolge von Gedanken, die es stärker
in Anspruch nehmen, unbeirrt. Das Gewitter ist sichtbar und hörbar ohne
Hilfe der Musik; was aber in der Seele des Menschen währenddessen
vorgeht, das Unsichtbare und Unhörbare, das soll die Musik verständlich
machen.

Wiederum gibt es »sichtbare« Seelenzustände auf der Bühne, um die sich
die Musik nicht zu kümmern braucht. Nehmen wir die theatralische
Situation[7], daß eine lustige nächtliche Gesellschaft sich singend
entfernt und dem Auge entschwindet, indessen im Vordergrund ein
schweigsamer, erbitterter Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die
Musik die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft durch den
fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen: was die beiden
vorderen treiben und dabei empfinden, ist ohne jede weitere Erläuterung
erkennbar, und die Musik darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran
beteiligen, das tragische Schweigen nicht brechen.

  [7] Aus Offenbachs »_Les contes d'Hoffmann_«.

Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten Oper, welche
die durch eine dramatisch-bewegte Szene gewonnene Stimmung in einem
geschlossenen Stücke zusammenfaßte und ausklingen ließ (Arie). -- Wort
und Gesten vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der
Musik mehr oder weniger dürftig rezitativisch gefolgt; an dem Ruhepunkt
angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz wieder ein. Das ist weniger
äußerlich, als man es jetzt glauben machen will. Wieder war es aber die
versteifte Form der »Arie« selbst, die zu der Unwahrheit des Ausdrucks
und zum Verfall führte.

Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine Konvention bleiben und
ein Hindernis für alle wahrhaftige Wirkung: aus diesem Konflikt mit
Anstand hervorzugehen, wird eine Handlung, in welcher die Personen
singend agieren, von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre,
Unwahrscheinliche gestellt sein müssen, auf daß eine Unmöglichkeit die
andere stütze und so beide möglich und annehmbar werden.

                   *       *       *       *       *

Schon deshalb, und weil er von vornherein dieses wichtigste Prinzip
ignoriert, sehe ich den sogenannten italienischen Verismus für die
musikalische Bühne als unhaltbar an.

                   *       *       *       *       *

Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig, über diese andere
Klarheit zu gewinnen: »An welchen Momenten ist die Musik auf der Bühne
unerläßlich?« Die präzise Antwort gibt diese Auskunft: »Bei Tänzen, bei
Märschen, bei Liedern und -- beim Eintreten des Übernatürlichen in die
Handlung.«

Es ergibt sich demnach eine kommende Möglichkeit in der Idee des
übernatürlichen Stoffes. Und noch eine: in der des absoluten »Spieles«,
des unterhaltenden Verkleidungstreibens, der Bühne als offenkundige und
angesagte Verstellung, in der Idee des Scherzes und der Unwirklichkeit
als Gegensätze zum Ernste und zur Wahrhaftigkeit des Lebens. Dann ist es
am rechten Platze, daß die Personen singend ihre Liebe beteuern und
ihren Haß ausladen, und daß sie melodisch im Duell fallen, daß sie bei
pathetischen Explosionen auf hohen Tönen Fermaten aushalten; es ist dann
am rechten Platze, daß sie sich absichtlich anders gebärden als im
Leben, anstatt daß sie (wie in unseren Theatern und in der Oper zumal)
unabsichtlich alles verkehrt machen.

Es sollte die Oper des Übernatürlichen oder des Unnatürlichen, als der
allein ihr natürlich zufallenden Region der Erscheinungen und der
Empfindungen, sich bemächtigen und dergestalt eine Scheinwelt schaffen,
die das Leben entweder in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel
reflektiert; die bewußt das geben will, was in dem wirklichen Leben
nicht zu finden ist. Der Zauberspiegel für die ernste Oper, der
Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Maskenspiel und Spuk
mit eingeflochten sein, auf daß der Zuschauer der anmutigen Lüge auf
jedem Schritt gewahr bleibe und nicht sich ihr hingebe wie einem
Erlebnis.

                   *       *       *       *       *

So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf
-- soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen
Augenblicke einbüßen --, so darf auch der Zuschauer, will er die
theatralische Wirkung kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehen,
soll nicht der künstlerische Genuß zur menschlichen Teilnahme
herabsinken. Der Darsteller »spiele« -- er erlebe nicht. Der Zuschauer
bleibe ungläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen und
Feinschmecken.

                   *       *       *       *       *

Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft für die
Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste Hindernis, fürchte
ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.

Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell
veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten von der Bühne ein
starkes menschliches Erlebnis wohl deshalb fordern, weil ein solches
ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen
der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht
verlangt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die
begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, unkompromittierend, und
vor allem: unanstrengend. Denn das weiß das Publikum nicht und mag es
nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an
demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.

                   *       *       *       *       *

Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien Höhen, aus welchen die
Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr droht, irdisch zu werden, hat er sie
zu heben und ihr zu ihrem ursprünglichen »schwebenden« Zustand zu
verhelfen.

Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist zuerst ein
ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie
wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das
Porträt zum lebendigen Modell. Der Vortragende hat die Starrheit der
Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen. --

Die Gesetzgeber aber verlangen, daß der Vortragende die Starrheit der
Zeichen wiedergebe, und erachten die Wiedergabe für um so vollkommener,
je mehr sie sich an die Zeichen hält.

Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen
einbüßt[8], das soll der Vortragende durch seine eigene
wiederherstellen.

  [8] Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflußt, die
  Phantasie fesselt, wie aus ihr die »Form« sich bildete und aus der
  Form der »Konventionalismus« des Ausdrucks entstand, das zeigt sich
  recht eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E. T. A.
  Hoffmann, der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt.

  Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das
  Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine
  Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten -- so würde man
  folgern -- in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst der
  Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen. Die
  Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer des
  Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlafwachenden
  Bilder -- alles, was er mit dem präzisen Wort schon so eindrucksvoll
  schilderte, das hätte er -- man sollte denken -- durch die Musik erst
  völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen Hoffmanns
  bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literarischen
  Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein übernommenes
  System von Taktarten, Perioden und Tonarten -- zu dem noch der
  landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut -- aus dem Dichter
  einen Philister machen konnte. -- Wie aber ein anderes Ideal der Musik
  ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausgezeichneten
  Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt die
  folgende der Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an:

  »Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie
  kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des
  Lebens bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige,
  und eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles
  Band um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die
  alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht
  vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des
  ausgelassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der
  Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben
  in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre
  Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu
  beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die
  unruhvolle Brust des Menschen hinabstrahlt.«

                             (E. T. A. Hoffmann, »Die Serapionsbrüder«.)

Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste, sie werden es
ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst wird aus den alten Zeichen
abgeleitet, -- sie bedeuten nun die Tonkunst selbst.

Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müßte ein und dasselbe
Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß erklingen, sooft, von wem
und unter welchen Bedingungen es auch gespielt würde.

Es =ist= aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur des
göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegenteil. Jeder Tag
beginnt anders als der vorige und doch immer mit einer Morgenröte. --
Große Künstler spielen ihre eigenen Werke immer wieder verschieden,
gestalten sie im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück -- wie
sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten -- und immer nach den gegebenen
Verhältnissen jener »ewigen Harmonie«.

Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den Schöpfer auf dessen
eigene Zeichen. So, wie es heute steht, behält der Gesetzgeber recht.

                   *       *       *       *       *

»Notation« (»Skription«) bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein
recht mißverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige
Opposition, die ich mit »Transkriptionen« erregte, und die Opposition,
die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum
Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig
darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines
abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner
bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den
Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart.
Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß,
bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.

Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit noch unbestimmbaren
Neigungen geboren, entschließt er sich oder wird er in einem gegebenen
Augenblick zum Entschluß getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch
vom Einfall oder vom Menschen manches Originale, das unverwüstlich ist,
weiterbestehen: sie sind doch von dem Augenblick des Entschlusses an
zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate
oder einem Konzert, der Mensch zum Soldaten oder Priester. Das ist ein
Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer zweiten
Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. Doch
wird im allgemeinen nur von der zweiten Aufhebens gemacht. Dabei
übersieht man, daß eine Transkription die Originalfassung nicht
zerstört, also ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht. --

Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, und auch dieser
kann -- er mag noch so frei sich gebärden -- niemals das Original aus
der Welt schaffen.

-- Denn das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem Ertönen und nachdem
es vorübergeklungen, ganz und unversehrt da. Es ist zugleich in und
außer der Zeit, und sein Wesen ist es, das uns eine greifbare
Vorstellung des sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealität der Zeit
geben kann.

Im übrigen muten die meisten Klavierkompositionen Beethovens wie
Transkriptionen vom Orchester an, die meisten Schumannschen
Orchesterwerke wie Übertragungen vom Klavier -- und sinds in gewisser
Weise auch.

                   *       *       *       *       *

Merkwürdigerweise steht bei den »Buchstabentreuen« die Variationenform
in großem Ansehen. Das ist seltsam, weil die Variationenform -- wenn sie
über ein fremdes Thema aufgebaut ist -- eine ganze Reihe von
Bearbeitungen gibt, und zwar um so respektloser, je geistreicherer Art
sie sind.

So gilt die Bearbeitung nicht, weil sie an dem Original ändert; und es
gilt die Veränderung, obwohl sie das Original bearbeitet.[9]

  [9] Eine Einleitung des Verfassers zu einem Berliner Konzerte vom
  November 1910 enthielt u. a. die folgenden Sätze: »Um das Wesen der
  'Bearbeitung' mit einem entscheidenden Schlage in der Schätzung des
  Lesers zu künstlerischer Würde zu erhöhen, bedarf es nur der Nennung
  Johann Sebastian Bachs. Er war einer der fruchtbarsten Bearbeiter
  eigener und fremder Stücke, namentlich als Organist. Von ihm lernte
  ich die Wahrheit erkennen, daß eine gute, große, eine universelle
  Musik dieselbe Musik bleibt, durch welche Mittel sie auch ertönen mag.
  Aber auch die andere Wahrheit: daß verschiedene Mittel eine
  verschiedene -- ihnen eigene -- Sprache haben, in der sie den
  nämlichen Gehalt in immer neuer Deutung verkünden.« -- »Es kann der
  Mensch nicht schaffen, nur verarbeiten, was er auf seiner Erde
  vorfindet.« Man bedenke überdies, daß jede Vorstellung einer Oper auf
  dem Theater, durch Absicht teils und teils durch die Zufälle, die so
  zahlreiche mitwirkende Elemente hineintragen, zu einer Bearbeitung
  wird und werden muß. Noch nie erlebte ich von der Bühne aus einen
  Mozartschen »Don Giovanni«, der dem anderen geglichen hätte. Der
  Regisseur scheint hier -- wie auch bei der »Zauberflöte« -- seinen
  Ehrgeiz darin zu finden, die Szenen (und innerhalb der Szenen die
  Vorgänge) immer wieder zu variieren und umzustellen. Auch hörte ich
  (leider) niemals, daß die Kritik gegen die Übersetzung des Don
  Giovanni ins Deutsche sich gewehrt hätte; wenngleich eine Übersetzung
  überhaupt (bei diesem Meisterwerk des Zusammengusses von Text und
  Musik nun besonders) als eine der bedenklichsten Bearbeitungen sich
  herausstellt.

                   *       *       *       *       *

»Musikalisch« ist ein Begriff, der den Deutschen angehört, und die
Anwendung des Wortes selbst findet sich in dieser Sinnübertragung in
keiner anderen Sprache. Es ist ein Begriff, der den Deutschen angehört
und nicht der allgemeinen Kultur, und seine Bezeichnung ist falsch und
unübersetzbar. »Musikalisch« ist von Musik hergeleitet, wie »poetisch«
von Poesie und »physikalisch« von Physik. Wenn ich sage: Schubert war
einer der musikalischsten Menschen, so ist das dasselbe, als ob ich
sagte: Helmholtz war einer der physikalischsten. Musikalisch ist: was in
Rhythmen und Intervallen tönt. Ein Schrank kann »musikalisch« sein, wenn
er ein »Spielwerk« enthält.[10] Im vergleichenden Sinne kann
»musikalisch« allenfalls noch wohllautend bedeuten.

  [10] Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte,
  wären die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise
  könnte ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man
  ihn berührt, ein nachgemachter musikalischer Mensch heißen.

»Meine Verse sind zu musikalisch, als daß sie noch in Musik gesetzt
werden könnten,« sagte mir einmal ein bekannter Dichter.

    »_Spirits moving musically
    To a lutes well-tuned law_«
    (»Geister schwebten musikalisch
    zu der Laute wohlgestimmtem Satz«)

schreibt E. A. Poe; endlich spricht man ganz richtig von einem
»musikalischen Lachen«, weil es wie Musik klingt.

In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten deutschen
Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher, der dadurch Sinn für
Musik bekundet, daß er das Technische dieser Kunst wohl unterscheidet
und empfindet. Unter Technischem verstehe ich hier wieder den Rhythmus,
die Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die Thematik. Je mehr
Feinheiten er darin zu hören oder wiederzugeben versteht, für um so
musikalischer wird er gehalten.

Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Bestandteile der Tonkunst
legt, ist selbstverständlich das »Musikalische« von höchster Bedeutung
geworden. -- Demnach müßte ein Künstler, der technisch vollkommen
spielt, für den meist musikalischen Spieler gelten; weil man aber mit
»Technik« nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint, so
hat man »technisch« und »musikalisch« zu Gegensätzen gemacht.

Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als »musikalisch« zu
bezeichnen[11], oder gar von einem großen Komponisten wie Berlioz zu
behaupten, er wäre es nicht in genügendem Maße. »Unmusikalisch« ist der
stärkste Tadel; er kennzeichnet den damit Betroffenen und macht ihn zum
Geächteten.

  [11] »Diese Kompositionen sind aber so musikalisch«, sagte mir einmal
  ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend
  fand.

In einem Lande wie Italien, wo der Sinn für musikalische Freuden
allgemein ist, wird diese Unterscheidung überflüssig, und das Wort dafür
ist in der Sprache nicht vorhanden. In Frankreich, wo die Empfindung für
Musik nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker. Von den
übrigen einige »_aiment beaucoup la musique_«, oder »_ils ne l'aiment
pas_«. Nur in Deutschland macht man eine Ehrensache daraus,
»musikalisch« zu sein, das heißt, nicht nur Liebe zur Musik zu
empfinden, sondern hauptsächlich sie in ihren technischen
Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren Gesetze einzuhalten.

Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewachen wohlmeinend seine
Schritte, daß es nicht auffliege und so vor einem ernstlichen Fall
bewahrt bleibe. Aber es ist noch so jung und ist ewig; die Zeit seiner
Freiheit wird kommen. Wenn es aufhören wird, »musikalisch« zu sein.

                   *       *       *       *       *

Gefühl ist eine moralische Ehrensache -- wie die Ehrlichkeit es ist --,
eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen läßt -- die im Leben gilt
wie in der Kunst. Aber wenn im Leben Gefühllosigkeit zugunsten einer
brillanteren Charaktereigenschaft -- wie beispielsweise Tapferkeit,
Unbestechlichkeit -- noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als
oberste moralische Qualität gestellt.

Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten: Geschmack und
Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten auf Geschmack wie auf tiefes
und wahres Gefühl, und was den Stil anbelangt, so ist er künstlerisches
Gebiet. Was übrigbleibt, ist eine Vorstellung von Gefühl, das mit
Rührseligkeit und Geschwollenheit bezeichnet werden muß. Und vor allem
verlangt man seine deutliche Sichtbarkeit! Es muß unterstrichen werden,
auf daß jeder merke, sehe und höre. Es wird vor den Augen des Publikums
in starker Vergrößerung auf die Leinwand projektiert, so daß es
aufdringlich und verschwommen vor den Augen tanzt; es wird ausgeschrien,
daß es denen, die der Kunst fernstehen, in die Ohren dringe; übergoldet,
auf daß es den Unbemittelten Staunen entreiße.

Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des Gefühls, in Mienen
und Worten; seltener und echter ist jenes Gefühl, welches handelt, ohne
zu reden, und am wertvollsten ein Gefühl, das sich verbirgt.

Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerzlichkeit und
Überschwenglichkeit des Ausdrucks.

Was schließt nicht noch alles in sich die Wunderblume der Empfindung!
Zurückhaltung und Schonung, Aufopferung, Stärke, Tätigkeit, Geduld,
Großmut, Freudigkeit und jene allwaltende Intelligenz, von welcher das
Gefühl recht eigentlich stammt.

Nicht anders in der Kunst, die das Leben widerspiegelt, noch
ausgesprochener in der Musik, welche die Empfindungen des Lebens
wiederholt: wozu jedoch -- wie ich betonte -- der Geschmack hinzutreten
muß und der Stil; der Stil, der Kunst vom Leben unterscheidet.

Worum der Laie, der mediokere Künstler sich mühen, ist nur das Gefühl im
kleinen, im Detail, auf kurze Strecken.

Gefühl im großen verwechseln Laie, Halbkünstler, Publikum (und leider
auch die Kritik!) mit Mangel an Empfindung, weil sie alle nicht
vermögen, größere Strecken als Teile eines noch größeren Ganzen zu
hören. Also ist Gefühl auch Ökonomie.

Demnach unterscheide ich: Gefühl als Geschmack -- als Stil -- als
Ökonomie. Jedes ein Ganzes und jedes ein Drittel des Ganzen. In ihnen
und über ihnen waltet eine subjektive Dreieinigkeit: das Temperament,
die Intelligenz und der Instinkt des Gleichgewichtes.

Diese sechs führen einen Reigen von so subtiler Anordnung der Paarung
und der Verschlingung, des Tragens und des Getragenwerdens, des
Vortretens und Niederbückens, des Bewegens und des Stillstehens, wie
kein kunstvollerer erdenkbar ist.

Ist der Akkord der beiden Dreiklänge rein gestimmt, dann darf, soll zum
Gefühl sich gesellen die Phantasie: Auf jene sechs gestützt, wird sie
nicht ausarten, und aus dem Vereine aller Elemente ersteht die
Persönlichkeit. Diese empfängt wie eine Linse die Lichteindrücke, wirft
sie auf ihre Weise als Negativ zurück, und dem Hörer erscheint das
richtige Bild.

                   *       *       *       *       *

Insoweit der Geschmack an dem Gefühle teilhat, ändert dieses -- wie
alles -- mit den Zeiten seine Ausdrucksformen. Das heißt: eine oder die
andere Seite des Gefühls wird zu der einen oder der anderen Zeit
bevorzugt, einseitig gepflegt, besonders herausgekehrt.

So war mit und nach Wagner eine schwelgerische Sinnlichkeit an die Reihe
gekommen: die Form der »Steigerung« im Affekt haben die Komponisten noch
heute nicht überwunden. Jedem ruhigen Beginnen folgte ein rasches
Aufwärtstreiben. Der darin unersättliche, aber nicht unerschöpfliche
Wagner verfiel notgedrungen auf den Ausweg, nach einem erreichten
Höhepunkte wieder leise anzusetzen, um sofort von neuem anzuwachsen.

Die neueren Franzosen zeigen eine Umkehr: ihr Gefühl ist eine reflexive
Keuschheit, vielleicht mehr noch eine zurückgehaltene Sinnlichkeit: den
bergigen aufsteigenden Pfaden Wagners sind monotone Ebenen von
dämmernder Gleichmäßigkeit gefolgt.

So bildet sich im Gefühl der »Stil«, wenn der Geschmack es leitet.

                   *       *       *       *       *

Die »Apostel der Neunten Symphonie« ersannen in der Musik den Begriff
der Tiefe. Er steht noch in vollem Werte, zumal im germanischen Land. --
Es gibt eine Tiefe des Gefühls und eine Tiefe des Gedankens: -- die
letztere ist literarisch und kann keine Anwendung auf Klänge haben.

Die Tiefe des Gefühls ist hingegen seelisch und der Natur der Musik
durchaus zugehörig.

Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der Tiefe in der Musik eine
besondere und nicht ganz festumrissene Schätzung.

Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch Schwere zu
erreichen: sie zeigt sich sodann -- durch Gedankenassoziation -- in der
Bevorzugung der »tiefen« Register und (wie ich beobachten konnte) auch
in einem Hineindeuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines
literarischen.

Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese die
bedeutsameren.

Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der Philosophie das
Erschöpfende im Gefühle betrachten: das volle Aufgehen in einer
Stimmung.

Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Situation griesgrämig
oder auch nur indifferent herumschleicht, wer nicht von der gewaltigen
Selbstsatire des Masken- und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit
über die Gesetze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen
und mitergriffen wird, der zeigt sich unfähig, sein Gefühl in die Tiefe
zu senken.

Hier bestätigt es sich wieder, daß die Tiefe des Gefühls in dem
vollständigen Erfassen einer jeden -- selbst der leichtfertigsten --
Stimmung ihre Wurzeln hat, -- im Wiedergeben ihre Blüten treibt:
wohingegen die gangbare Vorstellung vom tiefen Gefühle nur eine Seite
des Gefühls im Menschen herausgreift und diese spezialisiert.

In dem sogenannten »Champagnerlied« aus Don Giovanni liegt mehr »Tiefe«
als in manchem Trauermarsche oder Notturno: Tiefe des Gefühls äußert
sich auch darin, daß man es nicht an Nebensächlichem und Unbedeutendem
vergeude.

                   *       *       *       *       *

Der Schaffende sollte kein überliefertes Gesetz auf Treu und Glauben
hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem gegenüber von vornherein als
Ausnahme betrachten. Er müßte für seinen eigenen Fall ein entsprechendes
eigenes Gesetz suchen, formen und es nach der ersten vollkommenen
Anwendung wieder zerstören, um nicht selbst bei einem nächsten Werke in
Wiederholungen zu verfallen.

Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und
nicht, Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Gesetzen folgt, hört auf, ein
Schaffender zu sein.[12]

  [12] Der einem nachgeht, überholt ihn nicht, soll Michelangelo gesagt
  haben. Und über die nützliche Anwendung der »Kopien« äußert sich noch
  viel drastischer ein italienischer Spruch.

Die Schaffenskraft ist um so erkennbarer, je unabhängiger sie von
Überlieferungen sich zu machen vermag. Aber die Absichtlichkeit im
Umgehen der Gesetze kann nicht Schaffenskraft vortäuschen, noch weniger
erzeugen.

Der echte Schaffende erstrebt im Grunde nur die Vollendung. Und indem er
diese mit seiner Individualität in Einklang bringt, entsteht absichtslos
ein neues Gesetz.

                   *       *       *       *       *

Routine wird sehr geschätzt und oft verlangt; im Musik-»amte« wird sie
beansprucht. Daß Routine in der Musik überhaupt existieren und daß sie
überdies zu einer vom Musiker geforderten Bedingung gemacht werden kann,
beweist aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Routine
bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe
auf alle vorkommenden Fälle. Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl
verwandter Fälle geben. Nun erträume ich mir gern eine Art
Kunstausübung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre! Wie
stünde das Heer der Praktiker hilf- und tatenlos davor: es müßte
schließlich den Rückzug antreten und verschwinden. Die Routine wandelt
den Tempel der Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn
Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber gedeiht im
Nachbilden. Sie ist die »Poesie, die sich kommandieren läßt«. Weil sie
der Allgemeinheit entspricht, herrscht sie. Im Theater, im Orchester, im
Virtuosen, im Unterricht. Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt
jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt
und fühlet!

Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden, sie sind seit
Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther und mit ihnen andere
Millionen, die niemals gehört werden. Ihr braucht nur zu greifen, und
ihr haltet eine Blüte, einen Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl
in der Hand; meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure
Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so bequem werdet
ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehnstuhl erhebt und nur mehr nach dem
Allernächsten greift. Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden
und warten darauf, sich zu offenbaren!

                   *       *       *       *       *

»Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe,« schreibt einmal
Wagner an Liszt, als es mit der Komposition des »Tristan« nicht vorwärts
wollte.

Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor anderen. Er hatte
zuviel Routine, und seine Kompositionsmaschinerie blieb stecken, sobald
der Knoten in ihr entstand, der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar
löste Wagner ihn schließlich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite
zu lassen; hätte er aber wirklich keine besessen, so hätte er es ohne
Bitterkeit behauptet.

Immerhin drückt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die richtige
künstlerische Verachtung für die Routine aus, insofern als er diese ihn
niedrig dünkende Eigenschaft sich selbst abspricht und vorbeugt, daß
andere sie ihm zuerkennen. Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich
ironisch-verzweifelt. Er ist tatsächlich unglücklich, daß die
Komposition stockt, tröstet sich aber reichlich mit dem Bewußtsein, daß
sein Genie über der billigen Handhabung der Routine steht; zugleich
kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich eingesteht, eine
allgemein geschätzte und dem Handwerk zugehörige Könnerschaft nicht sich
angeeignet zu haben.

Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven Schlauheit des
Erhaltungstriebes -- beweist uns aber (und das ist unser Ziel) die
Geringheit der Routine im Schaffen.

                   *       *       *       *       *

So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine Ausdrucksform,
daß es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv gibt, auf das nicht ein anderes
bekanntes Motiv paßte, so daß es zu gleicher Zeit mit dem ersten
gespielt werden könnte. Um nicht mich hier in Spielereien zu
verlieren[13], enthalte ich mich jedes Beispiels.

  [13] Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um
  scherzeshalber festzustellen, wie viele von den verbreiteten
  Musikstücken nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der Neunten
  Symphonie gebildet waren. In wenigen Augenblicken hatten wir an
  fünfzehn Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter
  welche niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des
  Finale der »fünften« ein anderes als jenes, womit die »zweite« ihr
  Allegro ansagt? Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts,
  diesmal in Moll?

Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß die Entfaltung
der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert. Die Entfaltung des
Komponisten an dem Studium der Partituren. Wenn »Schaffen«, wie ich es
definierte, ein »Formen aus dem Nichts« bedeuten soll (und es kann
nichts anderes bedeuten); -- wenn Musik -- (dieses habe ich ebenfalls
ausgesprochen) -- zur »Originalität«, nämlich zu ihrem eigenen reinen
Wesen zurückstreben soll (ein »Zurück«, das das eigentliche »Vorwärts«
sein muß); -- wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauchtes
Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll; -- diesem Drange
stehen die musikalischen Werkzeuge zunächst im Wege. Die Instrumente
sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten
festgekettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollenden
mitfesseln.

Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten sein; in den
allerneuesten Partituren und noch in solchen der nächsten Zukunft werden
wir immer wieder auf die Eigentümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen
und Geigen stoßen, die eben nicht anders sich gebärden können, als es in
ihrer Beschränkung liegt[14]; dazu gesellt sich die Manieriertheit der
Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumentes; der vibrierende
Überschwang des Violoncells, der zögernde Ansatz des Hornes, die
befangene Kurzatmigkeit der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der
Klarinette; derart, daß in einem neuen und selbständigeren Werke
notgedrungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammenformt und daß
der unabhängigste Komponist in all dieses Unabänderliche hinein- und
hinabgezogen wird.

  [14] Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daß er von allen
  »modernen« Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente
  nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß Wagner einen
  »Posaunensatz« geprägt hat, der -- seit ihm -- in den Partituren
  ständige Wohnung nahm.

Vielleicht, daß noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen
ausgebeutet wurden -- die polyphone Harmonik dürfte noch manches
Klangphänomen erzeugen können --, aber die Erschöpftheit wartet sicher
am Ende einer Bahn, deren längste Strecke bereits zurückgelegt ist.
Wohin wenden wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung führt der
nächste Schritt?

Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen Technik, zur
tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin müssen alle Bemühungen zielen, daß ein
neuer Anfang jungfräulich erstehe.

Der zum Schaffen Geborene wird zuerst die negative, die
verantwortlich-große Aufgabe haben, von allem Gelernten, Gehörten und
Scheinbar-Musikalischen sich zu befreien; um, nach der vollendeten
Räumung, eine inbrünstig-aszetische Gesammeltheit in sich zu beschwören,
die ihn befähigt, den inneren Klang zu erlauschen und zur weiteren Stufe
zu gelangen, diesen auch den Menschen mitzuteilen. Diesen Giotto eines
musikalischen Rinascimento wird die Weihe der legendarischen
Persönlichkeit krönen. Der ersten Offenbarung wird sodann eine Epoche
religiöser Musikgeschäftigkeit folgen, daran kein Zunftwesen ein Teil
haben kann, insofern als die Berufenen und Eingeweihten unverkennbar,
und nur diese die Vollbringenden sein werden. An diesem Zeitpunkt
leuchtet die vollste Blüte, vielleicht die erste in der Musikgeschichte
der Menschheit. Ich sehe auch, wie die Dekadenz beginnt und die reinen
Begriffe sich verwirren und wie der Orden entweiht wird ...

Es ist das Schicksal der Späteren, und wir -- heute -- sind ihnen
ähnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter.

                   *       *       *       *       *

Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am nächsten rückt, sind
die Pause und die Fermate. Große Vortragskünstler, Improvisatoren,
wissen auch dieses Ausdruckswerkzeug im höheren und ausgiebigeren Maße
zu verwerten. Die spannende Stille zwischen zwei Sätzen, in dieser
Umgebung selbst Musik, läßt weiter ahnen, als der bestimmtere, aber
deshalb weniger dehnbare Laut vermag.

                   *       *       *       *       *

»Zeichen« sind es auch, und nichts anderes, was wir heute unser
»Tonsystem« nennen. Ein ingeniöser Behelf, etwas von jener ewigen
Harmonie festzuhalten; eine kümmerliche Taschenausgabe jenes
enzyklopädischen Werkes; künstliches Licht anstatt Sonne. -- Habt ihr
bemerkt, wie die Menschen über die glänzende Beleuchtung eines Saales
den Mund aufsperren? Sie tun es niemals über den millionenmal stärkeren
Mittagssonnenschein. --

Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden als das, was sie
bedeuten sollen und nur andeuten können.

Wie wichtig ist doch die »Terz«, die »Quinte« und die »Oktave«. Wie
streng unterscheiden wir »Konsonanzen« und »Dissonanzen« -- da, wo es
überhaupt Dissonanzen nicht geben kann!

Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander entfernte Stufen
abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen mußten, und haben unsere
Instrumente so eingerichtet, daß wir niemals darüber oder darunter oder
dazwischen gelangen können. Namentlich die Tasteninstrumente haben unser
Ohr gründlich eingeschult, so daß wir nicht mehr fähig sind, anderes zu
hören -- als nur im Sinne der Unreinheit. Und die Natur schuf eine
unendliche Abstufung -- unendlich! wer weiß es heute noch?[15]

  [15] »Die gleichschwebende zwölfstufige Temperatur, welche bereits
  seit ca. 1500 theoretisch erörtert, aber erst kurz vor 1700
  prinzipiell aufgestellt wurde (durch Andreas Werkmeister), teilt die
  Oktave in zwölf gleiche Teile (Halbtöne, daher »Zwölfhalbtonsystem«)
  und gewinnt damit Mittelwerte, welche kein Intervall wirklich rein,
  aber alle leidlich brauchbar intonieren.«

                                                (Riemann, Musiklexikon.)

  So haben wir durch Andreas Werkmeister, diesem Werkmeister in der
  Kunst, das »Zwölfhalbtonsystem« mit lauter unreinen, aber leidlich
  brauchbaren Intervallen gewonnen. Was ist aber rein und was unrein?
  Unser Ohr hört ein verstimmtes Klavier, bei welchem vielleicht »reine
  und brauchbare« Intervalle entstanden sind, als unrein an. Das
  diplomatische Zwölfersystem ist ein notgedrungener Behelf, und doch
  wachen wir über die Wahrung seiner Unvollkommenheiten.

Und innerhalb dieser zwölfteiligen Oktave haben wir noch eine Folge
bestimmter Abstände abgesteckt, sieben an der Zahl, und darauf unsere
ganze Tonkunst gestellt. Was sagte ich, eine Folge? Zwei solche Folgen,
die Dur- und Moll-Skala. Wenn wir dieselbe Folge von Abständen von einer
anderen der zwölf Zwischenstufen aus ansetzen, so gibt es eine neue
Tonart, und sogar eine fremde! Was für ein gewaltsam beschränktes System
diese erste Verworrenheit ergab[16], steht in den Gesetzbüchern zu
lesen: wir wollen es nicht hier wiederholen.

  [16] Man nennt es »Harmonielehre«.

Wir lehren vierundzwanzig Tonarten, zwölfmal die beiden Siebenfolgen,
aber wir verfügen in der Tat nur über zwei: die Dur-Tonart und die
Moll-Tonart. Die anderen sind nur Transpositionen. Man will durch die
einzelnen Transpositionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören:
aber das ist Täuschung. In England, wo die hohe Stimmung herrscht,
werden die bekanntesten Werke um einen halben Ton höher gespielt, als
sie notiert sind, ohne daß ihre Wirkung verändert wird. Sänger
transponieren zu ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser
vorausgeht und folgt, untransponiert spielen.

Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten in drei
verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke bleiben in allen
drei Ausgaben vollkommen die nämlichen.

Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so gilt es gleich, ob
es vom ersten oder vom dritten Stockwerk herabschaut.

Könnte man eine Gegend, soweit das Auge reicht, um mehrere hundert Meter
erhöhen oder vertiefen, das landschaftliche Bild würde dadurch nichts
verlieren noch gewinnen.

                   *       *       *       *       *

Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die Moll-Tonart, hat man
die ganze Tonkunst gestellt -- eine Einschränkung fordert die andere.

Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter zugesprochen, man
hat gelernt und gelehrt, sie als Gegensätze zu hören, und allmählich
haben sie die Bedeutung von Symbolen erreicht -- Dur und Moll --
_Maggiore e Minore_ -- Befriedigung und Unbefriedigung -- Freude und
Trauer -- Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben den
Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter noch bis heute und
übermorgen, abgezäunt.[17] Moll wird in derselben Absicht gebraucht und
übt dieselbe Wirkung auf uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren.
Einen Trauermarsch kann man heute nicht mehr »komponieren«, denn er ist
ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildetste Laie weiß, was
ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch -- irgendwelcher! -- ertönen soll.
Selbst der Laie fühlt den Unterschied zwischen einer Dur- und
Moll-Sinfonie voraus.

  [17] So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben
  unser Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.

                   *       *       *       *       *

Seltsam, daß man Dur und Moll als Gegensätze empfindet. Tragen sie doch
beide dasselbe Gesicht; jeweilig heiterer und ernster; und ein kleiner
Pinselstrich genügt, eines in das andere zu kehren. Der Übergang vom
einen zum zweiten ist unmerklich und mühelos -- geschieht er oft und
rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu flimmern. --
Erkennen wir aber, daß Dur und Moll ein doppeldeutiges Ganzes und daß
die »vierundzwanzig Tonarten« nur eine elfmalige Transposition jener
ersten zwei sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewußtsein der Einheit
unseres Tonartensystems. Die Begriffe von verwandt und fremd fallen ab
-- und damit die ganze verwickelte Theorie von Graden und Verhältnissen.
Wir haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.

                   *       *       *       *       *

»Einheit der Tonart.«

-- »Sie meinen wohl 'Tonart' und 'Tonarten' sind der Sonnenstrahl und
seine Zerlegung in Farben?«

Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes Ton-, Tonart- und
Tonartensystem ist in seiner Gesamtheit selbst nur der Teil eines
Bruchteils eines zerlegten Strahls jener Sonne »Musik« am Himmel der
»ewigen Harmonie«.

                   *       *       *       *       *

So sehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit in des Menschen
Weise und Wesen liegen -- so sehr sind Energie und Opposition gegen
Bestehendes die Eigenschaften alles Lebendigen. Die Natur hat ihre
Kniffe und überführt die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen
widerspenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und ändert
unablässig, aber in so gleichmäßiger und unwahrnehmbarer Bewegung, daß
die Menschen nur Stillstand sehen. Erst der weitere Rückblick zeigt
ihnen das Überraschende, daß sie die Getäuschten waren.

Deshalb erregt der »Reformator« Ärgernis bei den Menschen aller Zeiten,
weil seine Änderungen zu unvermittelt und vor allem, weil sie
wahrnehmbar sind. Der Reformator ist -- im Vergleich zur Natur --
undiplomatisch, und es ist ganz folgerichtig, daß seine Änderungen erst
dann Gültigkeit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten
Sprung wieder auf ihre feine unmerkliche Weise eingeholt hat. Doch gibt
es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit gleichen Schritt ging, indessen
die übrigen zurückblieben. Und da muß man sie zwingen und dazu
peitschen, den Sprung über die versäumte Strecke zu springen. Ich
glaube, daß die Dur- und Moll-Tonart und ihr Transpositionsverhältnis,
daß das »Zwölfhalbtonsystem« einen solchen Fall von Zurückgebliebenheit
darstellen.

Daß schon einige empfunden haben, wie die Intervalle der Siebenfolge
noch anders geordnet (graduiert) werden können, ist in vereinzelten
Momenten bereits bei Liszt und in der heutigen musikalischen
Vorwärtsbewegung ausgesprochener zur Erscheinung gekommen. Der Drang und
die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus. Doch scheints
mir nicht, daß eine bewußte und geordnete Vorstellung dieser erhöhten
Ausdrucksmittel sich geformt habe.

Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der Abstufung der
Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir, durch Erniedrigung und
Erhöhung der Intervalle 113 verschiedene Skalen festzustellen. Diese 113
Skalen (innerhalb der Oktave _C_-_C_) begreifen den größten Teil der
bekannten »24 Tonarten«, außerdem aber eine Reihe neuer Tonarten von
eigenartigem Charakter. Damit ist aber der Schatz nicht erschöpft, denn
die »Transposition« jeder einzelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch
offen und überdies die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?)
solcher Tonarten in Harmonie und Melodie.

Die Skala _c des es fes ges as b c_ klingt schon bedeutend anders als
die _des_-Moll-Tonleiter, wenn man _c_ als ihren Grundton annimmt. Legt
man ihr noch den gewöhnlichen _C_-Dur-Dreiklang als Harmonie unter, so
ergibt sich eine neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe
Tonleiter abwechselnd, vom _A_-Moll-, _Es_-Dur- und _C_-Dur-Dreiklang
gestützt, und man wird sich der angenehmsten Überraschung über den
fremdartigen Wohllaut nicht erwehren können.

Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen _c des es fes g a h c_ |
_c des es f ges a h c_ | _c d es fes ges a h c_ | _c des e f ges a b c_
| oder gar: _c d es fes g ais h c_ | _c d es fes gis a h c_ | _c des es
fis gis a b c_ einreihen mögen?

Welche Reichtümer sich damit für den melodischen und harmonischen
Ausdruck dem Ohr öffnen, ist nicht sogleich zu übersehen; eine Menge
neuer Möglichkeiten ist aber zweifellos anzunehmen und auf den ersten
Blick erkennbar.

                   *       *       *       *       *

Mit dieser Darstellung dürfte die Einheit aller Tonarten endgültig
ausgesprochen und begründet sein. Kaleidoskopisches Durcheinanderschütteln
von zwölf Halbtönen in der Dreispiegelkammer des Geschmacks, der
Empfindung und der Intention: das Wesen der heutigen Harmonie.

                   *       *       *       *       *

Der heutigen Harmonie und nicht mehr auf lange: denn alles verkündet
eine Umwälzung und einen nächsten Schritt zu jener »ewigen«.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, daß in ihr die Abstufung der
Oktave unendlich ist, und trachten wir, der Unendlichkeit um ein weniges
uns zu nähern. Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an die
Pforte, und wir überhören noch immer seine Meldung. Wer, wie ich es
getan, damit, wenn auch bescheiden, experimentierte und -- sei es mit
der Kehle oder auf einer Geige -- zwischen einem Ganzton zwei
gleichmäßig abstehende Zwischentöne einschaltete, das Ohr und das
Treffen übte, der wird zur Einsicht gelangt sein, daß Dritteltöne
vollkommen selbständige Intervalle von ausgeprägtem Charakter sind, mit
verstimmten Halbtönen nicht zu verwechseln. Es ist eine verfeinerte
Chromatik, die uns vorläufig auf der ganztönigen Skala zu basieren
scheint. Führten wir dieselbe unvermittelt ein, so verleugneten wir die
Halbtöne, verlören die »kleine Terz« und die »reine Quinte«, und dieser
Verlust würde stärker empfunden als der relative Gewinn eines
»Achtzehndritteltonsystems«.

Es ist aber kein Grund ersichtlich, seinetwegen mit den Halbtönen
aufzuräumen. Behalten wir zu jedem Ganzton einen Halbton, so erhalten
wir eine zweite Reihe von Ganztönen, die um einen halben Ton höher steht
als die erste. Teilen wir diese zweite Reihe von Ganztönen in
Drittelteile ein, dann ergibt sich zu jedem Drittelton der unteren Reihe
ein entsprechender Halbton in der oberen.

Somit ist eigentlich ein Sechsteltonsystem entstanden, und daß auch
Sechsteltöne einstmals reden werden, darauf können wir vertrauen. Das
Tonsystem, das ich eben entwerfe, soll aber vorerst das Gehör mit
Dritteltönen füllen, ohne auf die Halbtöne zu verzichten.

[Illustration]

Um es zusammenzufassen: Wir stellen entweder zwei Reihen Dritteltöne,
voneinander um einen halben Ton entfernt, auf; oder: dreimal die übliche
Zwölfhalbtonreihe im Abstande von je einem Drittelton.

Nennen wir, um sie irgendwie zu unterscheiden, den ersten Ton _C_ und
die beiden nächsten Dritteltöne _Cis_ und _Des_; den ersten Halbton
(klein-)_c_ und seine folgenden Dritteile _cis_ und _des_; -- die
vorhergehende Tabelle erklärt alles Fehlende.

Die Frage der Notation halte ich für nebensächlich. Wichtig und drohend
ist dagegen die Frage, wie und worauf diese Töne zu erzeugen sind. Es
trifft sich glücklich, daß ich während der Arbeit an diesem Aufsatz eine
direkte und authentische Nachricht aus Amerika erhalte, welche die Frage
in einfacher Weise löst. Es ist die Mitteilung von Dr. Thaddeus Cahills
Erfindung.[18] Dieser Mann hat einen umfangreichen Apparat konstruiert,
welcher es ermöglicht, einen elektrischen Strom in eine genau
berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen zu verwandeln. Da die
Tonhöhe von der Zahl der Schwingungen abhängt und der Apparat auf jede
gewünschte Zahl zu »stellen« ist, so ist durch diesen die unendliche
Abstufung der Oktave einfach das Werk eines Hebels, der mit dem Zeiger
eines Quadranten korrespondiert.

  [18] _»New Music for an old World. Dr. Thaddeus Cahills Dynamophone,
  an extraordinary electrical Invention for producing scientifically
  perfect music by Ray Stannard Baker«. Mc. Clure's Magazine, July 1906.
  Vol. XXVII, No. 3. --_

  Über diesen transzendentalen Tonerzeuger berichtet Mr. Baker des
  weiteren: ... Die Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Tongebung bei
  allen Instrumenten führte Dr. Cahill zum Nachdenken. Material,
  Indisposition, Temperatur, klimatische Zustände beeinträchtigen die
  Zuverlässigkeit eines jeden. Der Klavierspieler verliert die Macht
  über den absterbenden Klang der Saite von dem Augenblick an, wo die
  Taste angeschlagen wurde. Auf der Orgel kann die Empfindung an der
  festgehaltenen Note nichts ändern. Dr. Cahill ersann die Idee eines
  Instruments, welches dem Spieler die absolute Kontrolle über jeden zu
  erzeugenden Ton und über dessen Ausdruck gewährte. Er nahm sich die
  Theorien Helmholtz' zum Vorbild, die ihn lehrten, daß die Verhältnisse
  der Zahl und der Stärke der Obertöne zum Grundton den Ausschlag für
  den Klangcharakter der verschiedenen Instrumente geben. Demnach
  konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grundton schwingen läßt,
  eine Anzahl supplementärer Apparate, von welchen jeder einen der
  Obertöne erzeugt, und konnte solche in beliebiger Anordnung und Stärke
  dem Grundton zuhäufen. So ist jeder Klang einer mannigfaltigsten
  Charakterisierung fähig, sein Ausdruck auf das empfindlichste
  dynamisch zu regeln, die Stärke vom fast unhörbaren Pianissimo bis zur
  unerträglichen Lautmacht zu produzieren. Und weil das Instrument von
  einer Klaviatur aus gehandhabt wird, bleibt ihm die Fähigkeit bewahrt,
  der Eigenart eines Künstlers zu folgen.

  Eine Reihe solcher Klaviaturen von mehreren Spielern gespielt, kann zu
  einem Orchester zusammengestellt werden.

  Der Bau des Instrumentes ist außerordentlich umfangreich und
  kostspielig, und sein praktischer Wert müßte mit Recht angezweifelt
  werden. Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen
  Strom und der Luft wählte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch
  diesen glücklichen Einfall ist es möglich geworden, von einer
  Zentralstelle aus nach allen den mit Drähten verbundenen Plätzen,
  selbst auf große Entfernungen hin, die Klänge des Apparates zu
  versenden; und gelungene Experimente haben erwiesen, daß auf diesem
  Wege weder von den Feinheiten noch von der Macht der Töne etwas
  eingebüßt wird. Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit
  Klang erfüllt, einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals
  versagenden Klang, unsichtbar, mühelos und unermüdlich. Dem Bericht,
  dem ich diese Nachrichten entnehme, sind authentische Photographien
  des Apparates beigegeben, welche jeden Zweifel über die Wirklichkeit
  dieser allerdings fast unglaublichen Schöpfung beseitigen. Der Apparat
  sieht aus wie ein Maschinenraum.

Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine fortgesetzte
Erziehung des Ohres, werden dieses ungewohnte Material einer
heranwachsenden Generation und der Kunst gefügig machen.

                   *       *       *       *       *

Welch schöne Hoffnungen und traumhafte Vorstellungen erwachen für sie!
Wer hat nicht schon im Traume »geschwebt«? Und fest geglaubt, daß er
den Traum erlebe? -- Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen
zurückzuführen; befreien wir sie von architektonischen, akustischen und
ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein,
in Harmonien, in Formen und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung
sind nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der Linie
des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen
brechen; sie sei nichts anderes als die Natur in der menschlichen Seele
abgespiegelt und von ihr wieder zurückgestrahlt; ist sie doch tönende
Luft und über die Luft hinausreichend; im Menschen selbst ebenso
universell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann sich
zusammenballen und auseinanderfließen, ohne an Intensität nachzulassen.

                   *       *       *       *       *

In seinem Buche »Jenseits von Gut und Böse« sagt Nietzsche:

»Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten.
Gesetzt, daß man den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine große
Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige
Sonnenfülle und Sonnenverklärung, welche sich über ein selbstherrliches,
an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein solcher wird sich etwas vor
der deutschen Musik in acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen
Geschmack zurückverdirbt, ihm die Gesundheit mit zurückverdirbt.

Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben nach, muß,
falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der
Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren,
vielleicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren haben,
einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen,
wollüstigen Meeres und der mittelländischen Himmelshelle nicht
verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle deutsche Musik tut, einer
übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnenuntergängen der
Wüste recht behält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter
großen, schönen, einsamen Raubtieren heimisch zu sein und zu schweifen
versteht. -- --

Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin
bestände, daß sie von Gut und Böse[19] nichts mehr wüßte, nur daß
vielleicht irgendein Schifferheimweh, irgendwelche goldne Schatten und
zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst,
welche von großer Ferne her die Farben einer untergehenden, fast
unverständlich gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und
die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge
wäre ...«

  [19] Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; träumt er
  vorher von einer vielleicht »böseren« Musik, so denkt er sich jetzt
  eine Musik, die »von Gut und Böse nichts mehr wüßte«; -- doch war mir
  bei der Anführung um den letzteren Sinn zu tun.

Und Tolstoi läßt einen landschaftlichen Eindruck zu Musikempfindung
werden, wenn er in »Luzern« schreibt:

»Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am Himmel eine einzige
gerade Linie, eine einzige ungemischte Farbe, ein einziger Ruhepunkt --
überall Bewegung, Unregelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit,
unaufhörliches Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in allem
die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des Schönen.«

Wird diese Musik jemals erreicht?

»Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von Anfang an begabt,
alles kennenlernt, was man kennen soll, alles durchlebt, was man
durchleben soll, verläßt, was man verlassen soll, entwickelt, was man
entwickeln soll, verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt
zum Nirwana.«[20] (Kern, »Geschichte des Buddhismus in Indien«).

  [20] Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent
  d'Indy: »_.... laissant de côté les contingences et les petitesses de
  la vie pour regarder constamment vers un idéal, qu'on ne pourra jamais
  atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher._«

Ist Nirwana das Reich »Jenseits von Gut und Böse«, so ist hier ein Weg
dahin gewiesen. Bis an die Pforte. Bis an das Gitter, das Menschen und
Ewigkeit trennt -- oder das sich auftut, das zeitlich Gewesene
einzulassen. Jenseits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst.[21] --
Vielleicht, daß wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um sie zu
vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdischen Fesseln unterwegs
sich zu entkleiden gewußt, öffnet sich das Gitter. --

  [21] Ich glaube gelesen zu haben, daß Liszt seine Dante-Symphonie auf
  die beiden Sätze »_Inferno_« und »_Purgatorio_« beschränkte, »weil
  unsere Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht
  ausreichte.«



          Druck der Piererschen Hofbuchdruckerei in Altenburg.



[ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
steht.

  élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouves,
  élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouvés,

Gewitter in Tönen zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige nud
Gewitter in Tönen zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige und

  [7] Aus Offenbachs »_Les contes d' Hoffmann_«.
  [7] Aus Offenbachs »_Les contes d'Hoffmann_«.

ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildetetste Laie weiß, was
ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildetste Laie weiß, was
]





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