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Title: Der Tod in Venedig
Author: Mann, Thomas, 1875-1955
Language: German
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Thomas Mann

Der Tod in Venedig



Die Texte folgen den Ausgaben:

>Der Tod in Venedig< aus

München, Hyperionverlag Hans von Weber 1912



Erstes Kapitel


Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten
Geburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem
Frühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem Kontinent monatelang
eine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in der
Prinz-Regentenstraße zu München aus, allein einen weiteren Spaziergang
unternommen. Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben
jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und
Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden,
hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden
Triebwerks in seinem Innern, jenem »motus animi continuus«, worin
nach Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach der
Mittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun vermocht und den entlastenden
Schlummer nicht gefunden, der ihm, bei zunehmender Abnutzbarkeit
seiner Kräfte, einmal untertags so nötig war. So hatte er bald nach
dem Tee das Freie gesucht, in der Hoffnung, daß Luft und Bewegung ihn
wieder herstellen und ihm zu einem ersprießlichen Abend verhelfen
würden.

Es war Anfang Mai und, nach naßkalten Wochen, ein falscher Hochsommer
eingefallen. Der Englische Garten, obgleich nur erst zart belaubt,
war dumpfig wie im August und in der Nähe der Stadt voller Wagen und
Spaziergänger gewesen. Beim Aumeister, wohin stillere und stillere
Wege ihn geführt, hatte Aschenbach eine kleine Weile den volkstümlich
belebten Wirtsgarten überblickt, an dessen Rande einige Droschken und
Equipagen hielten, hatte von dort bei sinkender Sonne seinen Heimweg
außerhalb des Parks über die offene Flur genommen und erwartete, da er
sich müde fühlte und über Föhring Gewitter drohte, am Nördlichen
Friedhof die Tram, die ihn in gerader Linie zur Stadt zurückbringen
sollte. Zufällig fand er den Halteplatz und seine Umgebung von
Menschen leer. Weder auf der gepflasterten Ungererstraße, deren
Schienengeleise sich einsam gleißend gegen Schwabing erstreckten,
noch auf der Föhringer Chaussee war ein Fuhrwerk zu sehen;
hinter den Zäunen der Steinmetzereien, wo zu Kauf stehende Kreuze,
Gedächtnistafeln und Monumente ein zweites, unbehaustes Gräberfeld
bilden, regte sich nichts, und das byzantinische Bauwerk der
Aussegnungshalle gegenüber lag schweigend im Abglanz des scheidenden
Tages. Ihre Stirnseite, mit griechischen Kreuzen und hieratischen
Schildereien in lichten Farben geschmückt, weist überdies symmetrisch
angeordnete Inschriften in Goldlettern auf, ausgewählte, das
jenseitige Leben betreffende Schriftworte wie etwa: »Sie gehen ein in
die Wohnung Gottes« oder: »Das ewige Licht leuchte ihnen«; und der
Wartende hatte während einiger Minuten eine ernste Zerstreuung darin
gefunden, die Formeln abzulesen und sein geistiges Auge in ihrer
durchscheinenden Mystik sich verlieren zu lassen, als er, aus seinen
Träumereien zurückkehrend, im Portikus, oberhalb der beiden
apokalyptischen Tiere, welche die Freitreppe bewachen, einen Mann
bemerkte, dessen nicht ganz gewöhnliche Erscheinung seinen Gedanken
eine völlig andere Richtung gab.

Ob er nun aus dem Innern der Halle durch das bronzene Tor
hervorgetreten oder von außen unversehens heran und hinauf gelangt
war, blieb ungewiß. Aschenbach, ohne sich sonderlich in die Frage zu
vertiefen, neigte zur ersteren Annahme. Mäßig hochgewachsen, mager,
bartlos und auffallend stumpfnäsig, gehörte der Mann zum rothaarigen
Typ und besaß dessen milchige und sommersprossige Haut. Offenbar war
er durchaus nicht bajuwarischen Schlages: wie denn wenigstens der
breit und gerade gerandete Basthut, der ihm den Kopf bedeckte, seinem
Aussehen ein Gepräge des Fremdländischen und Weitherkommenden
verlieh. Freilich trug er dazu den landesüblichen Rucksack um die
Schultern geschnallt, einen gelblichen Gurtanzug aus Lodenstoff, wie
es schien, einen grauen Wetterkragen über dem linken Unterarm, den er
in die Weiche gestützt hielt, und in der Rechten einen mit eiserner
Spitze versehenen Stock, welchen er schräg gegen den Boden stemmte und
auf dessen Krücke er, bei gekreuzten Füßen, die Hüfte lehnte. Erhobenen
Hauptes, so daß an seinem hager dem losen Sporthemd entwachsenden
Halse der Adamsapfel stark und nackt hervortrat, blickte er mit
farblosen, rot bewimperten Augen, zwischen denen, sonderbar genug zu
seiner kurz aufgeworfenen Nase passend, zwei senkrechte, energische
Furchen standen, scharf spähend ins Weite. So--und vielleicht trug
sein erhöhter und erhöhender Standort zu diesem Eindruck bei--hatte
seine Haltung etwas herrisch Überschauendes, Kühnes oder selbst
Wildes; denn sei es, daß er, geblendet, gegen die untergehende Sonne
grimassierte oder daß es sich um eine dauernde physiognomische
Entstellung handelte: seine Lippen schienen zu kurz, sie waren völlig
von den Zähnen zurückgezogen, dergestalt, daß diese, bis zum
Zahnfleisch bloßgelegt, weiß und lang dazwischen hervorbleckten.

Wohl möglich, daß Aschenbach es bei seiner halb zerstreuten, halb
inquisitiven Musterung des Fremden an Rücksicht hatte fehlen lassen;
denn plötzlich ward er gewahr, daß jener seinen Blick erwiderte und
zwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig
gesonnen, die Sache aufs Äußerste zu treiben und den Blick des andern
zum Abzug zu zwingen, daß Aschenbach, peinlich berührt, sich abwandte
und einen Gang die Zäune entlang begann, mit dem beiläufigen
Entschluß, des Menschen nicht weiter achtzuhaben. Er hatte ihn in der
nächsten Minute vergessen. Mochte nun aber das Wandererhafte in der
Erscheinung des Fremden auf seine Einbildungskraft gewirkt haben oder
sonst irgendein physischer oder seelischer Einfluß im Spiele sein:
eine seltsame Ausweitung seines Innern ward ihm ganz überraschend
bewußt, eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges
Verlangen in die Ferne, ein Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so
längst entwöhnt und verlernt, daß er, die Hände auf dem Rücken und den
Blick am Boden, gefesselt stehen blieb, um die Empfindung auf Wesen
und Ziel zu prüfen. Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft
als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur
Sinnestäuschung gesteigert. Er sah nämlich, als Beispiel gleichsam für
alle Wunder und Schrecken der mannigfaltigen Erde, die seine Begierde
sich auf einmal vorzustellen trachtete,--sah wie mit leiblichem Auge
eine ungeheuere Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter
dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungesund, eine von Menschen
gemiedene Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden
Wasserarmen. Die flachen Eilande, deren Boden mit Blättern, so dick
wie Hände, mit riesigen Farnen, mit fettem, gequollenem und
abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk überwuchert war, sandten haarige
Palmenschäfte empor, und wunderlich ungestalte Bäume, deren Wurzeln
dem Stamm entwuchsen und sich durch die Luft in den Boden, ins Wasser
senkten, bildeten verworrene Waldungen. Auf der stockenden,
grünschattig spiegelnden Flut schwammen, wie Schüsseln groß,
milchweiße Blumen; Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit
unförmigen Schnäbeln, standen auf hohen Beinen im Seichten und
blickten unbeweglich zur Seite, während durch ausgedehnte Schilffelder
ein klapperndes Wetzen und Rauschen ging, wie durch Heere von
Geharnischten; dem Schauenden war es, als hauchte der laue,
mephitische Odem dieser geilen und untauglichen Öde ihn an, die in
einem ungeheuerlichen Zustande von Werden oder Vergehen zu schweben
schien, zwischen den knotigen Rohrstämmen eines Bambusdickichts
glaubte er einen Augenblick die phosphoreszierenden Lichter des Tigers
funkeln zu sehen--und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und
rätselhaftem Verlangen. Dann wich das Gesicht; und mit einem
Kopfschütteln nahm Aschenbach seine Promenade an den Zäunen der
Grabsteinmetzereien wieder auf.

Er hatte, zum mindesten seit ihm die Mittel zu Gebote gewesen wären,
die Vorteile des Weltverkehrs beliebig zu genießen, das Reisen nicht
anders denn als eine hygienische Maßregel betrachtet, die gegen Sinn
und Neigung dann und wann hatte getroffen werden müssen. Zu
beschäftigt mit den Aufgaben, welche sein Ich und die europäische
Seele ihm stellten, zu belastet von der Verpflichtung zur Produktion,
der Zerstreuung zu abgeneigt, um zum Liebhaber der bunten Außenwelt
zu taugen, hatte er sich durchaus mit der Anschauung begnügt, die
heute jedermann, ohne sich weit aus seinem Kreise zu rühren, von der
Oberfläche der Erde gewinnen kann, und war niemals auch nur versucht
gewesen, Europa zu verlassen. Zumal seit sein Leben sich langsam
neigte, seit seine Künstlerfurcht, nicht fertig zu werden,--diese
Besorgnis, die Uhr möchte abgelaufen sein, bevor er das Seine getan
und völlig sich selbst gegeben, nicht mehr als bloße Grille von der
Hand zu weisen war, hatte sein äußeres Dasein sich fast ausschließlich
auf die schöne Stadt, die ihm zur Heimat geworden, und auf den rauhen
Landsitz beschränkt, den er sich im Gebirge errichtet und wo er die
regnerischen Sommer verbrachte.

Auch wurde denn, was ihn da eben so spät und plötzlich angewandelt,
sehr bald durch Vernunft und von jung auf geübte Selbstzucht gemäßigt
und richtig gestellt. Er hatte beabsichtigt, das Werk, für welches er
lebte, bis zu einem gewissen Punkte zu fördern, bevor er aufs Land
übersiedelte, und der Gedanke einer Weltbummelei, die ihn auf Monate
seiner Arbeit entführen würde, schien allzu locker und planwidrig, er
durfte nicht ernstlich in Frage kommen. Und doch wußte er nur zu wohl,
aus welchem Grunde die Anfechtung so unversehens hervorgegangen war.
Fluchtdrang war sie, daß er es sich eingestand, diese Sehnsucht ins
Ferne und Neue, diese Begierde nach Befreiung, Entbürdung und
Vergessen,--der Drang hinweg vom Werke, von der Alltagsstätte eines
starren, kalten und leidenschaftlichen Dienstes. Zwar liebte er ihn
und liebte auch fast schon den entnervenden, sich täglich erneuernden
Kampf zwischen seinem zähen und stolzen, so oft erprobten Willen und
dieser wachsenden Müdigkeit, von der niemand wissen und die das
Produkt auf keine Weise, durch kein Anzeichen des Versagens und der
Laßheit verraten durfte. Aber verständig schien es, den Bogen nicht
zu überspannen und ein so lebhaft ausbrechendes Bedürfnis nicht
eigensinnig zu ersticken. Er dachte an seine Arbeit, dachte an die
Stelle, an der er sie auch heute wieder, wie gestern schon, hatte
verlassen müssen und die weder geduldiger Pflege noch einem raschen
Handstreich sich fügen zu wollen schien. Er prüfte sie aufs neue,
versuchte die Hemmung zu durchbrechen oder aufzulösen und ließ
mit einem Schauder des Widerwillens vom Angriff ab. Hier bot sich
keine außerordentliche Schwierigkeit, sondern was ihn lähmte, waren
die Skrupeln der Unlust, die sich als eine durch nichts mehr zu
befriedigende Ungenügsamkeit darstellte. Ungenügsamkeit freilich hatte
schon dem Jüngling als Wesen und innerste Natur des Talentes gegolten,
und um ihretwillen hatte er das Gefühl gezügelt und erkältet, weil er
wußte, daß es geneigt ist, sich mit einem fröhlichen Ungefähr und mit
einer halben Vollkommenheit zu begnügen. Rächte sich nun also die
geknechtete Empfindung, indem sie ihn verließ, indem sie seine Kunst
fürder zu tragen und zu beflügeln sich weigerte und alle Lust, alles
Entzücken an der Form und am Ausdruck mit sich hinwegnahm?
Nicht, daß er Schlechtes herstellte: Dies wenigstens war der Vorteil
seiner Jahre, daß er sich seiner Meisterschaft jeden Augenblick in
Gelassenheit sicher fühlte. Aber er selbst, während die Nation sie
ehrte, er ward ihrer nicht froh, und es schien ihm, als ermangle sein
Werk jener Merkmale feurig spielender Laune, die, ein Erzeugnis der
Freude, mehr als irgend ein innerer Gehalt, ein gewichtigerer Vorzug,
die Freude der genießenden Welt bildeten. Er fürchtete sich vor dem
Sommer auf dem Lande, allein in dem kleinen Hause mit der Magd, die
ihm das Essen bereitete, und dem Diener, der es ihm auftrug; fürchtete
sich vor den vertrauten Angesichten der Berggipfel und-wände, die
wiederum seine unzufriedene Langsamkeit umstehen würden. Und
so tat denn eine Einschaltung not, etwas Stegreifdasein, Tagdieberei,
Fernluft und Zufuhr neuen Blutes, damit der Sommer erträglich und
ergiebig werde. Reisen also,--er war es zufrieden. Nicht gar weit,
nicht gerade bis zu den Tigern. Eine Nacht im Schlafwagen und eine
Siesta von drei, vier Wochen an irgend einem Allerweltsferienplatze im
liebenswürdigen Süden...

So dachte er, während der Lärm der elektrischen Tram die Ungererstraße
daher sich näherte, und einsteigend beschloß er, diesen Abend dem
Studium von Karte und Kursbuch zu widmen. Auf der Plattform fiel ihm
ein, nach dem Manne im Basthut, dem Genossen dieses immerhin
folgereichen Aufenthaltes, Umschau zu halten. Doch wurde ihm dessen
Verbleib nicht deutlich, da er weder an seinem vorherigen Standort,
noch auf dem weiteren Halteplatz, noch auch im Wagen ausfindig zu
machen war.



Zweites Kapitel


Der Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs
von Preußen; der geduldige Künstler, der in langem Fleiß den
figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee
versammelnden Romanteppich, »Maja« mit Namen, wob; der Schöpfer
jener starken Erzählung, die »Ein Elender« überschrieben ist und einer
ganzen dankbaren Jugend die Möglichkeit sittlicher Entschlossenheit
jenseits der tiefsten Erkenntnis zeigte; der Verfasser endlich (und
damit sind die Werke seiner Reifezeit kurz bezeichnet) der
leidenschaftlichen Abhandlung über »Geist und Kunst«, deren
ordnende Kraft und antithetische Beredsamkeit ernste Beurteiler
vermochte, sie unmittelbar neben Schillers Raisonnement über naive
und sentimentalische Dichtung zu stellen: Gustav Aschenbach also war
zu L., einer Kreisstadt der Provinz Schlesien, als Sohn eines höheren
Justizbeamten geboren. Seine Vorfahren waren Offiziere, Richter,
Verwaltungsfunktionäre gewesen, Männer, die im Dienste des Königs, des
Staates, ihr straffes, anständig karges Leben geführt hatten. Innigere
Geistigkeit hatte sich einmal, in der Person eines Predigers, unter
ihnen verkörpert; rascheres, sinnlicheres Blut war der Familie in der
vorigen Generation durch die Mutter des Dichters, Tochter eines
böhmischen Kapellmeisters, zugekommen. Von ihr stammten die Merkmale
fremder Rasse in seinem Äußern. Die Vermählung dienstlich nüchterner
Gewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen ließ einen
Künstler und diesen besonderen Künstler erstehen. Da sein ganzes
Wesen auf Ruhm gestellt war, zeigte er sich, wenn nicht eigentlich
früh reif, so doch, dank der Entschiedenheit und persönlichen Prägnanz
seines Tonfalls früh für die Öffentlichkeit reif und geschickt. Beinahe
noch Gymnasiast, besaß er einen Namen. Zehn Jahre später hatte
er gelernt, von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren, seinen
Ruhm zu verwalten in einem Briefsatz, der kurz sein mußte (denn viele
Ansprüche drängen auf den Erfolgreichen, den Vertrauenswürdigen ein),
gütig und bedeutend zu sein. Der Vierziger hatte, ermattet von den
Strapazen und Wechselfällen der eigentlichen Arbeit, alltäglich eine
Post zu bewältigen, die Wertzeichen aus aller Herren Ländern trug.

Ebensoweit entfernt vom Banalen wie vom Exzentrischen, war sein Talent
geschaffen, den Glauben des breiten Publikums und die bewundernde,
fordernde Teilnahme der Wählerischen zugleich zu gewinnen. So, schon
als Jüngling von allen Seiten auf die Leistung--und zwar die
außerordentliche--verpflichtet, hatte er niemals den Müßiggang,
niemals die Fahrlässigkeit der Jugend gekannt. Als er um sein
fünfunddreißigstes Jahr in Wien erkrankte, äußerte ein feiner Beobachter
über ihn in Gesellschaft: »Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so
gelebt«--und der Sprecher schloß die Finger seiner Linken fest zur
Faust--; »niemals so«--und er ließ die geöffnete Hand bequem
von der Lehne des Sessels hängen. Das traf zu; und das
Tapfer-Sittliche daran war, daß seine Natur von nichts weniger als
robuster Verfassung und zur ständigen Anspannung nur berufen, nicht
eigentlich geboren war.

Ärztliche Fürsorge hatte den Knaben vom Schulbesuch ausgeschlossen
und auf häuslichen Unterricht gedrungen. Einzeln, ohne Kameradschaft
war er aufgewachsen und hatte doch zeitig erkennen müssen, daß er
einem Geschlecht angehörte, in dem nicht das Talent, wohl aber die
physische Basis eine Seltenheit war, deren das Talent zu seiner
Erfüllung bedarf,--einem Geschlechte, das früh sein Bestes zu geben
pflegt und in dem das Können es selten zu Jahren bringt. Aber sein
Lieblingswort war »Durchhalten«,--er sah in seinem Friedrich-Roman
nichts anderes als die Apotheose dieses Befehlswortes, das ihm als der
Inbegriffleitend-tätiger Tugend erschien. Auch wünschte er sehnlichst,
alt zu werden, denn er hatte von jeher dafür gehalten, daß wahrhaft
groß, umfassend, ja wahrhaft ehrenwert nur das Künstlertum zu nennen
sei, dem es beschieden war, auf allen Stufen des Menschlichen
charakteristisch fruchtbar zu sein.

Da er also die Aufgaben, mit denen sein Talent ihn belud, auf zarten
Schultern tragen und weit gehen wollte, so bedurfte er höchlich der
Zucht,--und Zucht war ja zum Glücke sein eingeborenes Erbteil von
väterlicher Seite. Mit vierzig, mit fünfzig Jahren wie schon in einem
Alter, wo andere verschwenden, schwärmen, die Ausführung großer Pläne
getrost verschieben, begann er seinen Tag beizeiten mit Stürzen
kalten Wassers über Brust und Rücken und brachte dann, ein Paar hoher
Wachskerzen in silbernen Leuchtern zu Häupten des Manuskripts, die
Kräfte, die er im Schlaf gesammelt, in zwei oder drei inbrünstig
gewissenhaften Morgenstunden der Kunst zum Opfer dar. Es war
verzeihlich, ja, es bedeutete recht eigentlich den Sieg seiner
Moralität, wenn Unkundige die Maja-Welt oder die epischen Massen,
in denen sich Friedrichs Heldenleben entrollte, für das Erzeugnis
gedrungener Kraft und eines langen Atems hielten, während sie vielmehr
in kleinen Tagewerken aus hundert Einzelinspirationen zur Größe
emporgeschichtet und nur darum so durchaus und an jedem Punkte
vortrefflich waren, weil ihr Schöpfer mit einer Willensdauer und
Zähigkeit, derjenigen ähnlich, die seine Heimatprovinz eroberte,
jahrelang unter der Spannung eines und desselben Werkes ausgehalten
und an die eigentliche Herstellung ausschließlich seine stärksten und
würdigsten Stunden gewandt hatte.

Damit ein bedeutendes Geistesprodukt auf der Stelle eine breite und
tiefe Wirkung zu üben vermöge, muß eine tiefe Verwandtschaft, ja
Übereinstimmung zwischen dem persönlichen Schicksal seines Urhebers
und dem allgemeinen des mitlebenden Geschlechtes bestehen. Die
Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerk Ruhm bereiten. Weit
entfernt von Kennerschaft, glauben sie hundert Vorzüge daran zu
entdecken, um so viel Teilnahme zu rechtfertigen; aber der
eigentliche Grund ihres Beifalls ist ein Unwägbares, ist Sympathie.
Aschenbach hatte es einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar
ausgesprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem
dastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche,
Laster, Leidenschaft und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei.
Aber das war mehr als eine Bemerkung, es war eine Erfahrung, war
geradezu die Formel seines Lebens und Ruhmes, der Schlüssel zu seinem
Werk; und was Wunder also, wenn es auch der sittliche Charakter, die
äußere Gebärde seiner eigentümlichsten Figuren war?

Über den neuen, in mannigfach individuellen Erscheinungen
wiederkehrenden Heldentyp, den dieser Schriftsteller bevorzugte, hatte
schon frühzeitig ein kluger Zergliederer geschrieben: daß er die
Konzeption »einer intellektuellen und jünglinghaften Männlichkeit«
sei, »die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig
dasteht, während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen«.
Das war schön, geistreich und exakt, trotz seiner scheinbar allzu
passivischen Prägung. Denn Haltung im Schicksal, Anmut in der Qual
bedeutet nicht nur ein Dulden; sie ist eine aktive Leistung, ein
positiver Triumph, und die Sebastian-Gestalt ist das schönste
Sinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiß der in Rede
stehenden Kunst. Blickte man hinein in diese erzählte Welt, sah man
die elegante Selbstbeherrschung, die bis zum letzten Augenblick eine
innere Unterhöhlung, den biologischen Verfall vor den Augen der Welt
verbirgt; die gelbe, sinnlich benachteiligte Häßlichkeit, die es
vermag, ihre schwelende Brunst zur reinen Flamme zu entfachen, ja,
sich zur Herrschaft im Reiche der Schönheit aufzuschwingen; die
bleiche Ohnmacht, welche aus den glühenden Tiefen des Geistes die
Kraft holt, ein ganzes übermütiges Volk zu Füßen des Kreuzes, zu
_ihren_ Füßen niederzuwerfen; die liebenswürdige Haltung im leeren und
strengen Dienste der Form; das falsche, gefährliche Leben, die rasch
entnervende Sehnsucht und Kunst des gebornen Betrügers: betrachtete
man all dies Schicksal und wieviel gleichartiges noch, so konnte man
zweifeln, ob es überhaupt einen anderen Heroismus gäbe, als denjenigen
der Schwäche. Welches Heldentum aber jedenfalls wäre zeitgemäßer als
dieses? Gustav Aschenbach war der Dichter all derer, die am Rande der
Erschöpfung arbeiten, der Überbürdeten, schon Aufgeriebenen, sich noch
Aufrechthaltenden, all dieser Moralisten der Leistung, die, schmächtig
von Wuchs und spröde von Mitteln, durch Willensverzückung und kluge
Verwaltung sich wenigstens eine Zeitlang die Wirkungen der Größe
abgewinnen. Ihrer sind viele, sie sind die Helden des Zeitalters. Und
sie alle erkannten sich wieder in seinem Werk, sie fanden sich
bestätigt, erhoben, besungen darin, sie wußten ihm Dank, sie
verkündeten seinen Namen.

Er war jung und roh gewesen mit der Zeit und, schlecht beraten von
ihr, war er öffentlich gestrauchelt, hatte Mißgriffe getan, sich
bloßgestellt, Verstöße gegen Takt und Besonnenheit begangen in Wort
und Werk. Aber er hatte die Würde gewonnen, nach welcher, wie er
behauptete, jedem großen Talente ein natürlicher Drang und Stachel
eingeboren ist, ja, man kann sagen, daß seine ganze Entwicklung ein
bewußter und trotziger, alle Hemmungen des Zweifels und der Ironie
zurücklassender Aufstieg zur Würde gewesen war.

Lebendige, geistig unverbindliche Greifbarkeit der Gestaltung bildet
das Ergötzen der bürgerlichen Massen, aber leidenschaftlich unbedingte
Jugend wird nur durch das Problematische gefesselt: und Aschenbach
war problematisch, war unbedingt gewesen wie nur irgendein Jüngling.
Er hatte dem Geiste gefrönt, mit der Erkenntnis Raubbau getrieben,
Saatfrucht vermahlen, Geheimnisse preisgegeben, das Talent
verdächtigt, die Kunst verraten,--ja, während seine Bildwerke die
gläubig Genießenden unterhielten, erhoben, belebten, hatte er, der
jugendliche Künstler, die Zwanzigjährigen durch seine Zynismen über
das fragwürdige Wesen der Kunst, des Künstlertums selbst in Atem
gehalten.

Aber es scheint, daß gegen nichts ein edler und tüchtiger Geist sich
rascher, sich gründlicher abstumpft als gegen den scharfen und
bitteren Reiz der Erkenntnis; und gewiß ist, daß die schwermütig
gewissenhafteste Gründlichkeit des Jünglings Seichtheit bedeutet im
Vergleich mit dem tiefen Entschlusse des Meister gewordenen Mannes,
das Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Hauptes darüber
hinwegzusehen, sofern es den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst
die Leidenschaft im Geringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu
entwürdigen geeignet ist. Wie wäre die berühmte Erzählung vom
»Elenden« wohl anders zu deuten denn als Ausbruch des Ekels gegen
den unanständigen Psychologismus der Zeit, verkörpert in der Figur
jenes weichen und albernen Halbschurken, der sich ein Schicksal
erschleicht, indem er sein Weib, aus Ohnmacht, aus Lasterhaftigkeit,
aus ethischer Velleität, in die Arme eines Unbärtigen treibt und aus
Tiefe Nichtswürdigkeiten begehen zu dürfen glaubt? Die Wucht des Wortes,
mit welchem hier das Verworfene verworfen wurde, verkündete die Abkehr
von allem moralischen Zweifelsinn, von jeder Sympathie mit dem Abgrund,
die Absage an die Laxheit des Mitleidssatzes, daß alles verstehen
alles verzeihen heiße, und was sich hier vorbereitete, ja schon vollzog,
war jenes »Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit«, auf
welches ein wenig später in einem der Dialoge des Autors ausdrücklich
und nicht ohne geheimnisvolle Betonung die Rede kam. Seltsame
Zusammenhänge! War es eine geistige Folge dieser »Wiedergeburt«,
dieser neuen Würde und Strenge, daß man um dieselbe Zeit ein fast
übermäßiges Erstarken seines Schönheitssinnes beobachtete, jene
adelige Reinheit, Einfachheit und Ebenmäßigkeit der Formgebung,
welche seinen Produkten fortan ein so sinnfälliges, ja gewolltes
Gepräge der Meisterlichkeit und Klassizität verlieh? Aber moralische
Entschlossenheit jenseits des Wissens, der auflösenden und hemmenden
Erkenntnis,--bedeutet sie nicht wiederum eine Vereinfachung, eine
sittliche Vereinfältigung der Welt und der Seele und also auch ein
Erstarken zum Bösen, Verbotenen, zum sittlich Unmöglichen? Und hat
Form nicht zweierlei Gesicht? Ist sie nicht sittlich und unsittlich
zugleich,--sittlich als Ergebnis und Ausdruck der Zucht, unsittlich
aber und selbst widersittlich, sofern sie von Natur eine moralische
Gleichgültigkeit in sich schließt, ja, wesentlich bestrebt ist, das
Moralische unter ihr stolzes und unumschränktes Szepter zu beugen?

Wie dem auch sei! Eine Entwicklung ist ein Schicksal; und wie sollte
nicht diejenige anders verlaufen, die von der Teilnahme, dem
Massenzutrauen einer weiten Öffentlichkeit begleitet wird, als jene,
die sich ohne den Glanz und die Verbindlichkeiten des Ruhmes
vollzieht? Nur ewiges Zigeunertum findet es langweilig und ist zu
spotten geneigt, wenn ein großes Talent dem libertinischen
Puppenstande entwächst, die Würde des Geistes ausdrucksvoll
wahrzunehmen sich gewöhnt und die Hofsitten einer Einsamkeit annimmt,
die voll unberatener, hart selbständiger Leiden und Kämpfe war und es
zu Macht und Ehren unter den Menschen brachte. Wieviel Spiel, Trotz,
Genuß ist übrigens in der Selbstgestaltung des Talentes! Etwas
Amtlich-Erzieherisches trat mit der Zeit in Gustav Aschenbachs
Vorführungen ein, sein Stil entriet in späteren Jahren der
unmittelbaren Kühnheiten, der subtilen und neuen Abschattungen, er
wandelte sich ins Mustergültig-Feststehende, Geschliffen-Herkömmliche,
Erhaltende, Formelle, selbst Formelhafte, und wie die Überlieferung es
von Ludwig dem Vierzehnten wissen will, so verbannte der Alternde aus
seiner Sprachweise jedes gemeine Wort: Damals geschah es, daß die
Unterrichtsbehörde ausgewählte Seiten von ihm in die vorgeschriebenen
Schullesebücher übernahm. Es war ihm innerlich gemäß, und er lehnte
nicht ab, als ein deutscher Fürst, soeben zum Throne gelangt, dem
Dichter des »Friedrich« zu seinem fünfzigsten Geburtstag den
persönlichen Adel verlieh.

Nach einigen Jahren der Unruhe, einigen Versuchsaufenthalten da und
dort wählte er frühzeitig München zum dauernden Wohnsitz und lebte
dort in bürgerlichem Ehrenstande, wie er dem Geiste in besonderen
Einzelfällen zuteil wird. Die Ehe, die er in noch jugendlichem Alter
mit einem Mädchen aus gelehrter Familie eingegangen, wurde nach kurzer
Glücksfrist durch den Tod getrennt. Eine Tochter, schon Gattin, war
ihm geblieben. Einen Sohn hatte er nie besessen.

Gustav von Aschenbach war ein wenig unter Mittelgröße, brünett,
rasiert. Sein Kopf erschien ein wenig zu groß im Verhältnis zu der
fast zierlichen Gestalt. Sein rückwärts gebürstetes Haar, am Scheitel
gelichtet, an den Schläfen sehr voll und stark ergraut, umrahmte eine
hohe, zerklüftete und gleichsam narbige Stirn. Der Bügel einer
Goldbrille mit randlosen Gläsern schnitt in die Wurzel der
gedrungenen, edel gebogenen Nase ein. Der Mund war groß, oft schlaff,
oft plötzlich schmal und gespannt; die Wangenpartie mager und
gefurcht, das wohlausgebildete Kinn weich gespalten. Bedeutende
Schicksale schienen über dies meist leidend seitwärts geneigte Haupt
hinweggegangen zu sein, und doch war die Kunst es gewesen, die hier
jene physiognomische Durchbildung übernommen hatte, welche sonst das
Werk eines schweren, bewegten Lebens ist. Hinter dieser Stirn waren
die blitzenden Repliken des Gesprächs zwischen Voltaire und dem Könige
über den Krieg geboren; diese Augen, müde und tief durch die Gläser
blickend, hatten das blutige Inferno der Lazarette des Siebenjährigen
Krieges gesehen. Auch persönlich genommen ist ja die Kunst ein
erhöhtes Leben. Sie beglückt tiefer, sie verzehrt rascher. Sie gräbt
in das Antlitz ihres Dieners die Spuren imaginärer und geistiger
Abenteuer, und sie erzeugt, selbst bei klösterlicher Stille des
äußeren Daseins, auf die Dauer eine Verwöhntheit, Überfeinerung,
Müdigkeit und Neugier der Nerven, wie ein Leben voll ausschweifendster
Leidenschaften und Genüsse sie kaum hervorzubringen vermag.



Drittes Kapitel


Mehrere Geschäfte weltlicher und literarischer Natur hielten den
Reiselustigen noch etwa zwei Wochen nach jenem Spaziergang in München
zurück. Er gab endlich Auftrag, sein Landhaus binnen vier Wochen zum
Einzuge instandzusetzen und reiste an einem Tage zwischen Mitte und
Ende des Mai mit dem Nachtzuge nach Triest, wo er nur vierundzwanzig
Stunden verweilte und sich am nächstfolgenden Morgen nach Pola
einschiffte. Was er suchte, war das Fremdartige und Bezuglose,
welches jedoch rasch zu erreichen wäre, und so nahm er Aufenthalt auf
einer seit einigen Jahren gerühmten Insel der Adria, unfern der
istrischen Küste gelegen, mit farbig zerlumptem, in wildfremden Lauten
redendem Landvolk und schön zerrissenen Klippenpartien dort, wo das
Meer offen war. Allein Regen und schwere Luft, eine kleinweltliche,
geschlossen österreichische Hotelgesellschaft und der Mangel jenes
ruhevoll innigen Verhältnisses zum Meere, das nur ein sanfter,
sandiger Strand gewährt, verdrossen ihn, ließen ihn nicht das
Bewußtsein gewinnen, den Ort seiner Bestimmung getroffen zu haben; ein
Zug seines Innern, ihm war noch nicht deutlich, wohin, beunruhigte
ihn, er studierte Schiffsverbindungen, er blickte suchend umher, und
auf einmal, zugleich überraschend und selbstverständlich, stand ihm
sein Ziel vor Augen. Wenn man über Nacht das Unvergleichliche, das
märchenhaft Abweichende zu erreichen wünschte, wohin ging man? Aber
das war klar. Was sollte er hier? Er war fehlgegangen. Dorthin hatte
er reisen wollen. Er säumte nicht, den irrigen Aufenthalt zu kündigen.
Anderthalb Wochen nach seiner Ankunft auf der Insel trug ein
geschwindes Motorboot ihn und sein Gepäck in dunstiger Frühe über die
Wasser in den Kriegshafen zurück, und er ging dort nur an Land, um
sogleich über einen Brettersteg das feuchte Verdeck eines Schiffes zu
beschreiten, das unter Dampf zur Fahrt nach Venedig lag.

Es war ein betagtes Fahrzeug italienischer Nationalität, veraltet,
rußig und düster. In einer höhlenartigen, künstlich erleuchteten Koje
des inneren Raumes, wohin Aschenbach sofort nach Betreten des Schiffes
von einem buckligen und unreinlichen Matrosen mit grinsender
Höflichkeit genötigt wurde, saß hinter einem Tische, den Hut schief in
der Stirn und einen Zigarettenstummel im Mundwinkel, ein
ziegenbärtiger Mann von der Physiognomie eines altmodischen
Zirkusdirektors, der mit grimassenhaft leichtem Geschäftsgebaren die
Personalien der Reisenden aufnahm und ihnen die Fahrscheine
ausstellte. »Nach Venedig!« wiederholte er Aschenbachs Ansuchen, indem
er den Arm reckte und die Feder in den breiigen Restinhalt eines
schräg geneigten Tintenfasses stieß. »Nach Venedig erster Klasse! Sie
sind bedient, mein Herr!« Und er schrieb große Krähenfüße, streute aus
einer Büchse blauen Sand auf die Schrift, ließ ihn in eine tönerne
Schale ablaufen, faltete das Papier mit gelben und knochigen Fingern
und schrieb aufs neue. »Ein glücklich gewähltes Reiseziel!« schwatzte
er unterdessen. »Ah, Venedig! Eine herrliche Stadt! Eine Stadt von
unwiderstehlicher Anziehungskraft für den Gebildeten, ihrer Geschichte
sowohl wie ihrer gegenwärtigen Reize wegen!« Die glatte Raschheit
seiner Bewegungen und das leere Gerede, womit er sie begleitete,
hatten etwas Betäubendes und Ablenkendes, etwa als besorgte er, der
Reisende möchte in seinem Entschluß, nach Venedig zu fahren, noch
wankend werden. Er kassierte eilig und ließ mit Croupiergewandtheit
den Differenzbetrag auf den fleckigen Tuchbezug des Tisches fallen.
»Gute Unterhaltung, mein Herr!« sagte er mit schauspielerischer
Verbeugung. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu befördern... Meine Herren!«
rief er sogleich mit erhobenem Arm und tat, als sei das Geschäft im
flottesten Gange, obgleich niemand mehr da war, der nach Abfertigung
verlangt hätte. Aschenbach kehrte auf das Verdeck zurück.

Einen Arm auf die Brüstung gelehnt, betrachtete er das müßige Volk,
das, der Abfahrt des Schiffes beizuwohnen, am Quai lungerte, und die
Passagiere an Bord. Diejenigen der zweiten Klasse kauerten, Männer und
Weiber, auf dem Vorderdeck, indem sie Kisten und Bündel als Sitze
benutzten. Eine Gruppe junger Leute bildete die Reisegesellschaft des
ersten Verdecks, Polenser Handelsgehülfen, wie es schien, die sich in
angeregter Laune zu einem Ausflug nach Italien vereinigt hatten. Sie
machten nicht wenig Aufhebens von sich und ihrem Unternehmen,
schwatzten, lachten, genossen selbstgefällig das eigene Gebärdenspiel
und riefen den Kameraden, die, Portefeuilles unterm Arm, in Geschäften
die Hafenstraße entlang gingen und den Feiernden mit dem Stöckchen
drohten, über das Geländer gebeugt, zungengeläufige Spottreden nach.
Einer, in hellgelbem, übermodisch geschnittenem Sommeranzug, roter
Krawatte und kühn aufgebogenem Panama, tat sich mit krähender Stimme
an Aufgeräumtheit vor allen andern hervor. Kaum aber hatte Aschenbach
ihn genauer ins Auge gefaßt, als er mit einer Art von Entsetzen
erkannte, daß der Jüngling falsch war. Er war alt, man konnte nicht
zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der
Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen
Strohhut Perücke, sein Hals verfallen und sehnig, sein aufgesetztes
Schnurrbärtchen und die Fliege am Kinn gefärbt, sein gelbes und
vollzähliges Gebiß, das er lachend zeigte, ein billiger Ersatz, und
seine Hände, mit Siegelringen an beiden Zeigefingern, waren die eines
Greises. Schauerlich angemutet sah Aschenbach ihm und seiner
Gemeinschaft mit den Freunden zu. Wußten, bemerkten sie nicht, daß er
alt war, daß er zu Unrecht ihre stutzerhafte und bunte Kleidung trug,
zu Unrecht einen der Ihren spielte? Selbstverständlich und
gewohnheitsmäßig, wie es schien, duldeten sie ihn in ihrer Mitte,
behandelten ihn als ihresgleichen, erwiderten ohne Abscheu seine
neckischen Rippenstöße. Wie ging das zu? Aschenbach bedeckte seine
Stirn mit der Hand und schloß die Augen, die heiß waren, da er zu
wenig geschlafen hatte. Ihm war, als lasse nicht alles sich ganz
gewöhnlich an, als beginne eine träumerische Entfremdung, eine
Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen, der vielleicht
Einhalt zu tun wäre, wenn er sein Gesicht ein wenig verdunkelte und
aufs neue um sich schaute. In diesem Augenblick jedoch berührte ihn
das Gefühl des Schwimmens, und mit unvernünftigem Erschrecken
aufsehend, gewahrte er, daß der schwere und düstere Körper des
Schiffes sich langsam vom gemauerten Ufer löste. Zollweise, unter dem
Vorwärts-und Rückwärtsarbeiten der Maschine, verbreitete sich der
Streifen schmutzig schillernden Wassers zwischen Quai und Schiffswand,
und nach schwerfälligen Manövern kehrte der Dampfer seinen Bugspriet
dem offenen Meere zu. Aschenbach ging nach der Steuerbordseite
hinüber, wo der Bucklige ihm einen Liegestuhl aufgeschlagen hatte und
ein Steward in fleckigem Frack nach seinen Befehlen fragte.

Der Himmel war grau, der Wind feucht; Hafen und Inseln waren
zurückgeblieben, und rasch verlor sich aus dem dunstigen
Gesichtskreise alles Land. Flocken von Kohlenstaub gingen, gedunsen
von Nässe, auf das gewaschene Deck nieder, das nicht trocknen wollte.
Schon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus, da es zu regnen
begann.

In seinen Mantel geschlossen, ein Buch im Schoße, ruhte der Reisende,
und die Stunden verrannen ihm unversehens. Es hatte zu regnen
aufgehört; man entfernte das leinene Dach. Der Horizont war
vollkommen. Unter der breiten Kuppel des Himmels dehnte sich rings die
ungeheure Scheibe des öden Meeres; aber im leeren, ungegliederten
Raume fehlt unserem Sinn auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im
Ungemessenen. Schattenhaft sonderbare Gestalten, der greise Geck, der
Ziegenbart aus dem Schiffsinnern, gingen mit unbestimmten Gebärden,
mit verwirrten Traumworten durch den Geist des Ruhenden, und er
schlief ein.

Um Mittag nötigte man ihn hinab, damit er in dem korridorartigen
Speisesaal, auf den die Türen der Schlafkojen mündeten, zu Häupten
eines langen Tisches, an dessen unterem Ende die Handelsgehülfen,
einschließlich des Alten, seit zehn Uhr mit dem munteren Kapitän
pokulierten, die bestellte Mahlzeit nähme. Sie war armselig, und er
beendete sie rasch. Es trieb ihn ins Freie, nach dem Himmel zu sehen:
ob er denn nicht über Venedig sich erhellen wollte.

Er hatte nicht anders gedacht, als daß dies geschehen müsse, denn
stets hatte die Stadt ihn im Glanze empfangen. Aber Himmel und Meer
blieben trüb und bleiern, zeitweilig ging neblichter Regen nieder, und
er fand sich darein, auf dem Wasserwege ein anderes Venedig zu
erreichen, als er, zu Lande sich nähernd, je angetroffen hatte. Er
stand am Fockmast, den Blick im Weiten, das Land erwartend. Er
gedachte des schwermütig-enthusiastischen Dichters, dem vormals die
Kuppeln und Glockentürme seines Traumes aus diesen Fluten gestiegen
waren, er wiederholte im Stillen einiges von dem, was damals an
Ehrfurcht, Glück und Trauer zu maßvollem Gesange geworden, und von
schon gestalteter Empfindung mühelos bewegt, prüfte er sein ernstes
und müdes Herz, ob eine erneuernde Begeisterung und Verwirrung, ein
spätes Abenteuer des Gefühles dem fahrenden Müßiggänger vielleicht
noch vorbehalten sein könne.

Da tauchte zur Rechten die flache Küste auf, Fischerboote belebten das
Meer, die Bäderinsel erschien, der Dampfer ließ sie zur Linken, glitt
verlangsamten Ganges durch den schmalen Port, der nach ihr benannt
ist, und auf der Lagune, angesichts bunt armseliger Behausungen hielt
er ganz, da die Barke des Sanitätsdienstes erwartet werden mußte.

Eine Stunde verging, bis sie erschien. Man war angekommen und war es
nicht; man hatte keine Eile und fühlte sich doch von Ungeduld
getrieben. Die jungen Polenser, patriotisch angezogen auch wohl von
den militärischen Hornsignalen, die aus der Gegend der öffentlichen
Gärten her über das Wasser klangen, waren auf Deck gekommen, und, vom
Asti begeistert, brachten sie Lebehochs auf die drüben exerzierenden
Bersaglieri aus. Aber widerlich war es zu sehen, in welchen Zustand
den aufgestutzten Greisen seine falsche Gemeinschaft mit der Jugend
gebracht hatte. Sein altes Hirn hatte dem Weine nicht wie die
jugendlich rüstigen Stand zu halten vermocht, er war kläglich
betrunken. Verblödeten Blicks, eine Zigarette zwischen den zitternden
Fingern, schwankte er, mühsam das Gleichgewicht haltend, auf der
Stelle, vom Rausche vorwärts und rückwärts gezogen. Da er beim ersten
Schritte gefallen wäre, getraute er sich nicht vom Fleck, doch zeigte
er einen jammervollen Übermut, hielt jeden, der sich ihm näherte, am
Knopfe fest, lallte, zwinkerte, kicherte, hob seinen beringten,
runzeligen Zeigefinger zu alberner Neckerei und leckte auf abscheulich
zweideutige Art mit der Zungenspitze die Mundwinkel. Aschenbach sah
ihm mit finsteren Brauen zu, und wiederum kam ein Gefühl von
Benommenheit ihn an, so, als zeige die Welt eine leichte, doch nicht
zu hemmende Neigung, sich ins Sonderbare und Fratzenhafte zu
entstellen; ein Gefühl, dem nachzuhängen freilich die Umstände ihn
abhielten, da eben die stampfende Tätigkeit der Maschine aufs neue
begann und das Schiff seine so nah dem Ziel unterbrochene Fahrt durch
den Kanal von San Marco wieder aufnahm. So sah er ihn denn wieder,
den erstaunlichsten Landungsplatz, jene blendende Komposition
phantastischen Bauwerks, welche die Republik den ehrfürchtigen Blicken
nahender Seefahrer entgegenstellte: die leichte Herrlichkeit des
Palastes und die Seufzerbrücke, die Säulen mit Löw' und Heiligem am
Ufer, die prunkend vortretende Flanke des Märchentempels, den
Durchblick auf Torweg und Riesenuhr, und anschauend bedachte er, daß
zu Lande, auf dem Bahnhof in Venedig anlangen, einen Palast durch eine
Hintertür betreten heiße, und daß man nicht anders als wie nun er, als
zu Schiffe, als über das hohe Meer die unwahrscheinlichste der Städte
erreichen sollte.

Die Maschine stoppte, Gondeln drängten herzu, die Fallreepstreppe ward
herabgelassen, Zollbeamte stiegen an Bord und walteten obenhin ihres
Amtes; die Ausschiffung konnte beginnen. Aschenbach gab zu verstehen,
daß er eine Gondel wünsche, die ihn und sein Gepäck zur Station jener
kleinen Dampfer bringen solle, welche zwischen der Stadt und dem Lido
verkehren; denn er gedachte am Meere Wohnung zu nehmen. Man billigt
sein Vorhaben, man schreit seinen Wunsch zur Wasserfläche hinab, wo
die Gondelführer im Dialekt mit einander zanken. Er ist noch
gehindert, hinabzusteigen, sein Koffer hindert ihn, der eben mit
Mühsal die leiterartige Treppe hinunter gezerrt und geschleppt wird.
So sieht er sich minutenlang außerstande, den Zudringlichkeiten des
schauderhaften Alten zu entkommen, den die Trunkenheit dunkel
antreibt, dem Fremden Abschiedshonneurs zu machen. »Wir wünschen den
glücklichsten Aufenthalt«, meckert er unter Kratzfüßen. »Man empfiehlt
sich geneigter Erinnerung! Au revoir, excusez und bon jour, Euer
Exzellenz!« Sein Mund wässert, er drückt die Augen ein, er leckt die
Mundwinkel, und die gefärbte Bartfliege an seiner Greisenlippe sträubt
sich empor. »Unsere Komplimente«, lallt er, zwei Fingerspitzen am
Munde, »unsere Komplimente dem Liebchen, dem allerliebsten, dem
schönsten Liebchen...« Und plötzlich fällt ihm das falsche Obergebiß
vom Kiefer auf die Unterlippe. Aschenbach konnte entweichen. »Dem
Liebchen, dem feinen Liebchen«, hörte er in girrenden, hohlen und
behinderten Lauten in seinem Rücken, während er, am Strickgeländer
sich haltend, die Fallreepstreppe hinabklomm.

Wer hätte nicht einen flüchtigen Schauder, eine geheime Scheu und
Beklommenheit zu bekämpfen gehabt, wenn es zum ersten Male oder nach
langer Entwöhnung galt, eine venezianische Gondel zu besteigen? Das
seltsame Fahrzeug, aus balladesken Zeiten ganz unverändert überkommen
und so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge
sind, es erinnert an lautlose und verbrecherische Abenteuer in
plätschernder Nacht, es erinnert noch mehr an den Tod selbst, an Bahre
und düsteres Begängnis und letzte, schweigsame Fahrt. Und hat man
bemerkt, daß der Sitz einer solchen Barke, dieser sargschwarz
lackierte, mattschwarz gepolsterte Armstuhl, der weichste, üppigste,
der erschlaffendste Sitz von der Welt ist? Aschenbach ward es gewahr,
als er zu Füßen des Gondoliers, seinem Gepäck gegenüber, das am
Schnabel reinlich beisammen lag, sich niedergelassen hatte. Die
Ruderer zankten immer noch, rauh, unverständlich, mit drohenden
Gebärden. Aber die besondere Stille der Wasserstadt schien ihre
Stimmen sanft aufzunehmen, zu entkörpern, über der Flut zu zerstreuen.
Es war warm hier im Hafen. Lau angerührt vom Hauch des Scirocco, auf
dem nachgiebigen Element in Kissen gelehnt, schloß der Reisende die
Augen im Genuß einer so ungewohnten als süßen Lässigkeit. Die Fahrt
wird kurz sein, dachte er; möchte sie immer währen! In leisem
Schwanken fühlte er sich dem Gedränge, dem Stimmengewirr entgleiten.

Wie still und stiller es um ihn wurde! Nichts war zu vernehmen als das
Plätschern des Ruders, das hohle Aufschlagen der Wellen gegen den
Schnabel der Barke, der steil, schwarz und an der Spitze
hellebardenartig bewehrt über dem Wasser stand und noch ein Drittes,
ein Reden, ein Raunen,--das Flüstern des Gondoliers, der zwischen den
Zähnen, stoßweise, in Lauten, die von der Arbeit seiner Arme gepreßt
waren, zu sich selber sprach. Aschenbach blickte auf, und mit leichter
Befremdung gewahrte er, daß um ihn her die Lagune sich weitete und
seine Fahrt dem offenen Meere zugekehrt war. Es schien folglich, daß
er nicht allzu sehr ruhen dürfe, sondern auf den Vollzug seines
Willens ein wenig bedacht sein müsse.

--Zur Dampferstation also! sagte er mit einer halben Wendung
rückwärts. Das Raunen verstummte. Er erhielt keine Antwort.

--Zur Dampferstation also! wiederholte er, indem er sich vollends
umwandte und in das Gesicht des Gondoliers emporblickte, der hinter
ihm, auf erhöhtem Borde stehend, vor dem fahlen Himmel aufragte. Es
war ein Mann von ungefälliger, ja brutaler Physiognomie, seemännisch
blau gekleidet, mit einer gelben Schärpe gegürtet und einen formlosen
Strohhut, dessen Geflecht sich aufzulösen begann, verwegen schief auf
dem Kopfe. Seine Gesichtsbildung, sein blonder, lockiger Schnurrbart
unter der kurz aufgeworfenen Nase ließen ihn durchaus nicht
italienischen Schlages erscheinen. Obgleich eher schmächtig von
Leibesbeschaffenheit, so daß man ihn für seinen Beruf nicht sonderlich
geschickt geglaubt hätte, führte er das Ruder, bei jedem Schlage den
ganzen Körper einsetzend, mit großer Energie. Ein paarmal zog er vor
Anstrengung die Lippen zurück und entblößte seine weißen Zähne. Die
rötlichen Brauen gerunzelt, blickte er über den Gast hinweg, indem er
bestimmten, fast groben Tones erwiderte:

--Sie fahren zum Lido.

Aschenbach entgegnete:

--Allerdings. Aber ich habe die Gondel nur genommen, um mich nach San
Marco übersetzen zu lassen. Ich wünsche den Vaporetto zu benutzen.

--Sie können den Vaporetto nicht benutzen, mein Herr.

--Und warum nicht?

--Weil der Vaporetto kein Gepäck befördert.

Das war richtig; Aschenbach erinnerte sich. Er schwieg. Aber die
schroffe, überhebliche, einem Fremden gegenüber so wenig landesübliche
Art des Menschen schien unleidlich. Er sagte:

--Das ist meine Sache. Vielleicht will ich mein Gepäck in Verwahrung
geben. Sie werden umkehren. Er blieb still. Das Ruder plätscherte,
das Wasser schlug dumpf an den Bug. Und das Reden und Raunen begann
wieder: der Gondolier sprach zwischen den Zähnen mit sich selbst.

Was war zu tun? Allein auf der Flut mit dem sonderbar unbotmäßigen,
unheimlich entschlossenen Menschen, sah der Reisende kein Mittel,
seinen Willen durchzusetzen. Wie weich er übrigens ruhen durfte, wenn
er sich nicht empörte. Hatte er nicht gewünscht, daß die Fahrt lange,
daß sie immer dauern möge? Es war das Klügste, den Dingen ihren Lauf
zu lassen, und es war hauptsächlich höchst angenehm. Ein Bann der
Trägheit schien auszugehen von seinem Sitz, von diesem niedrigen,
schwarzgepolsterten Armstuhl, so sanft gewiegt von den Ruderschlägen
des eigenmächtigen Gondoliers in seinem Rücken. Die Vorstellung, einem
Verbrecher in die Hände gefallen zu sein, streifte träumerisch
Aschenbachs Sinn,--unvermögend, seine Gedanken zu tätiger Abwehr
aufzurufen. Verdrießlicher schien die Möglichkeit, daß alles auf
simple Geldschneiderei angelegt sei. Eine Art Pflichtgefühl oder
Stolz, die Erinnerung gleichsam, daß man dem vorbeugen müsse,
vermochte ihn, sich noch einmal aufzuraffen. Er fragte:

--Was fordern Sie für die Fahrt?

Und über ihn hinsehend antwortete der Gondolier:

--Sie werden bezahlen.

Es stand fest, was hierauf zurückzugeben war. Aschenbach sagte
mechanisch:

--Ich werde nichts bezahlen, durchaus nichts, wenn Sie mich fahren,
wohin ich nicht will.

--Sie wollen zum Lido.

--Aber nicht mit Ihnen.

--Ich fahre Sie gut.

Das ist wahr, dachte Aschenbach und spannte sich ab. Das ist wahr, du
fährst mich gut. Selbst, wenn du es auf meine Barschaft abgesehen hast
und mich hinterrücks mit einem Ruderschlage ins Haus des Aides
schickst, wirst du mich gut gefahren haben. Allein nichts dergleichen
geschah. Sogar Gesellschaft stellte sich ein, ein Boot mit
musikalischen Wegelagerern, Männern und Weibern, die zur Guitarre,
zur Mandoline sangen, aufdringlich Bord an Bord mit der Gondel fuhren
und die Stille über den Wassern mit ihrer gewinnsüchtigen
Fremdenpoesie erfüllten. Aschenbach warf Geld in den hingehaltenen
Hut. Sie schwiegen dann und fuhren davon. Und das Flüstern des
Gondoliers war wieder wahrnehmbar, der stoßweise und abgerissen mit
sich selber sprach.

So kam man denn an, geschaukelt vom Kielwasser eines zur Stadt
fahrenden Dampfers. Zwei Munizipalbeamte, die Hände auf dem Rücken,
die Gesichter der Lagune zugewandt, gingen am Ufer auf und ab.
Aschenbach verließ am Stege die Gondel, unterstützt von jenem Alten,
der an jedem Landungsplatze Venedigs mit seinem Enterhaken zur Stelle
ist; und da es ihm an kleinerem Gelde fehlte, ging er hinüber in das
der Dampferbrücke benachbarte Hotel, um dort zu wechseln und den
Ruderer nach Gutdünken abzulohnen. Er wird in der Halle bedient, er
kehrt zurück, er findet sein Reisegut auf einem Karren am Quai, und
Gondel und Gondolier sind verschwunden.

--Er hat sich fortgemacht, sagte der Alte mit dem Enterhaken. Ein
schlechter Mann, ein Mann ohne Konzession, gnädiger Herr. Er ist der
einzige Gondolier, der keine Konzession besitzt. Die andern haben
hierher telephoniert. Er sah, daß er erwartet wurde. Da hat er sich
fortgemacht.

Aschenbach zuckte die Achseln.

--Der Herr ist umsonst gefahren, sagte der Alte und hielt den Hut hin.
Aschenbach warf Münzen hinein. Er gab Weisung, sein Gepäck ins
Bäder-Hotel zu bringen, und folgte dem Karren durch die Allee, die
weißblühende Allee, welche, Tavernen, Bazare, Pensionen zu beiden
Seiten, quer über die Insel zum Strande läuft.

Er betrat das weitläufige Hotel von hinten, von der Gartenterrasse aus
und begab sich durch die große Halle und die Vorhalle ins Office. Da
er angemeldet war, wurde er mit dienstfertigem Einverständnis
empfangen. Ein Manager, ein kleiner, leiser, schmeichelnd höflicher
Mann mit schwarzem Schnurrbart und in französisch geschnittenem
Gehrock, begleitete ihn im Lift zum zweiten Stockwerk hinauf und wies
ihm sein Zimmer an, einen angenehmen, in Kirschholz möblierten Raum,
den man mit starkduftenden Blumen geschmückt hatte und dessen hohe
Fenster die Aussicht aufs offene Meer gewährten. Er trat an eines
davon, nachdem der Angestellte sich zurückgezogen, und während man
hinter ihm sein Gepäck hereinschaffte und im Zimmer unterbrachte,
blickte er hinaus auf den nachmittäglich menschenarmen Strand und die
unbesonnte See, die Flutzeit hatte und niedrige, gestreckte Wellen in
ruhigem Gleichtakt gegen das Ufer sandte.

Die Beobachtungen und Begegnisse des Einsam-Stummen sind zugleich
verschwommener und eindringlicher als die des Geselligen, seine
Gedanken schwerer, wunderlicher und nie ohne einen Anflug von
Traurigkeit. Bilder und Wahrnehmungen, die mit einem Blick, einem
Lachen, einem Urteilsaustausch leichthin abzutun wären, beschäftigen
ihn über Gebühr, vertiefen sich im Schweigen, werden bedeutsam,
Erlebnis, Abenteuer, Gefühl. Einsamkeit zeitigt das Originale, das
gewagt und befremdend Schöne, das Gedicht. Einsamkeit zeitigt aber
auch das Verkehrte, das Unverhältnismäßige, das Absurde und
Unerlaubte.--So beunruhigten die Erscheinungen der Herreise, der
gräßliche alte Stutzer mit seinem Gefasel vom Liebchen, der verpönte,
um seinen Lohn geprellte Gondolier, noch jetzt das Gemüt des
Reisenden. Ohne der Vernunft Schwierigkeiten zu bieten, ohne
eigentlich Stoff zum Nachdenken zu geben, waren sie dennoch
grundsonderbar von Natur, wie es ihm schien, und beunruhigend wohl
eben durch diesen Widerspruch. Dazwischen grüßte er das Meer mit den
Augen und empfand Freude, Venedig in so leicht erreichbarer Nahe zu
wissen. Er wandte sich endlich, badete sein Gesicht, traf gegen das
Zimmermädchen einige Anordnungen zur Vervollständigung seiner
Bequemlichkeit und ließ sich von dem grün gekleideten Schweizer, der
den Lift bediente, ins Erdgeschoß hinunterfahren.

Er nahm seinen Tee auf der Terrasse der Seeseite, stieg dann hinab und
verfolgte den Promenaden-Quai eine gute Strecke in der Richtung auf
das Hotel Excelsior. Als er zurückkehrte, schien es schon an der
Zeit, sich zur Abendmahlzeit umzukleiden. Er tat es langsam und genau,
nach seiner Art, da er bei der Toilette zu arbeiten gewöhnt war, und
fand sich trotzdem ein wenig verfrüht in der Halle ein, wo er einen
großen Teil der Hotelgäste, fremd untereinander und in gespielter
gegenseitiger Teilnahmslosigkeit, aber in der gemeinsamen Erwartung
des Essens, versammelt fand. Er nahm eine Zeitung vom Tische, ließ
sich in einen Ledersessel nieder und betrachtete die Gesellschaft, die
sich von derjenigen seines ersten Aufenthaltes in einer ihm angenehmen
Weise unterschied.

Ein weiter, duldsam vieles umfassender Horizont tat sich auf.
Gedämpft, vermischten sich die Laute der großen Sprachen. Der
weltgültige Abendanzug, eine Uniform der Gesittung, faßte äußerlich
die Spielarten des Menschlichen zu anständiger Einheit zusammen. Man
sah die trockene und lange Miene des Amerikaners, die vielgliedrige
russische Familie, englische Damen, deutsche Kinder mit französischen
Bonnen. Der slavische Bestandteil schien vorzuherrschen. Gleich in der
Nähe ward polnisch gesprochen.

Es war eine Gruppe halb und kaum Erwachsener, unter der Obhut einer
Erzieherin oder Gesellschafterin um ein Rohrtischchen versammelt: drei
junge Mädchen, fünfzehn-bis siebzehnjährig, wie es schien, und ein
langhaariger Knabe von vielleicht vierzehn Jahren. Mit Erstaunen
bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war. Sein
Antlitz,--bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar
umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem
Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische
Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war
es von so einmalig-persönlichem Reiz, daß der Schauende weder in Natur
noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben
glaubte. Was ferner auffiel, war ein offenbar grundsätzlicher Kontrast
zwischen den erzieherischen Gesichtspunkten, nach denen die
Geschwister gekleidet und allgemein gehalten schienen. Die Herrichtung
der drei Mädchen, von denen die Älteste für erwachsen gelten konnte,
war bis zum Entstellenden herb und keusch. Eine gleichmäßig
klösterliche Tracht, schieferfarben, halblang, nüchtern und gewollt
unkleidsam von Schnitt, mit weißen Fallkrägen als einziger Aufhellung,
unterdrückte und verhinderte jede Gefälligkeit der Gestalt. Das glatt
und fest an den Kopf geklebte Haar ließ die Gesichter nonnenhaft leer
und nichtssagend erscheinen. Gewiß, es war eine Mutter, die hier
waltete, und sie dachte nicht einmal daran, auch auf den Knaben die
pädagogische Strenge anzuwenden, die ihr den Mädchen gegenüber geboten
schien. Weichheit und Zärtlichkeit bestimmten ersichtlich seine
Existenz. Man hatte sich gehütet, die Scheere an sein schönes Haar zu
legen; wie beim Dornauszieher lockte es sich in die Stirn, über die
Ohren und tiefer noch in den Nacken. Ein englisches Matrosenkostüm,
dessen bauschige Ärmel sich nach unten verengerten und die feinen
Gelenke seiner noch kindlichen, aber schmalen Hände knapp umspannten,
verlieh mit seinen Schnüren, Maschen und Stickereien der zarten
Gestalt etwas Reiches und Verwöhntes. Er saß, im Halbprofil gegen den
Betrachtenden, einen Fuß im schwarzen Lackschuh vor den andern
gestellt, einen Ellenbogen auf die Armlehne seines Korbsessels
gestützt, die Wange an die geschlossene Hand geschmiegt, in einer
Haltung von lässigem Anstand und ganz ohne die fast untergeordnete
Steifheit, an die seine weiblichen Geschwister gewöhnt schienen. War
er leidend? Denn die Haut seines Gesichtes stach weiß wie Elfenbein
gegen das goldige Dunkel der umrahmenden Locken ab. Oder war er
einfach ein verzärteltes Vorzugskind, von parteilicher und launischer
Liebe getragen? Aschenbach war geneigt, dies zu glauben. Fast jedem
Künstlernaturell ist ein üppiger und verräterischer Hang eingeboren,
Schönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratischer
Bevorzugung Teilnahme und Huldigung entgegenzubringen.

Ein Kellner ging umher und meldete auf englisch, daß die Mahlzeit
bereit sei. Allmählich verlor sich die Gesellschaft durch die Glastür
in den Speisesaal. Nachzügler, vom Vestibül, von den Lifts kommend,
gingen vorüber. Man hatte drinnen zu servieren begonnen, aber die
jungen Polen verharrten noch um ihr Rohrtischchen, und Aschenbach, in
tiefem Sessel behaglich aufgehoben und übrigens das Schöne vor Augen,
wartete mit ihnen.

Die Gouvernante, eine kleine und korpulente Halbdame mit rotem
Gesicht, gab endlich das Zeichen, sich zu erheben. Mit hochgezogenen
Brauen schob sie ihren Stuhl zurück und verneigte sich, als eine große
Frau, grau-weiß gekleidet und sehr reich mit Perlen geschmückt, die
Halle betrat. Die Haltung dieser Frau war kühl und gemessen, die
Anordnung ihres leicht gepuderten Haares sowohl wie die Machart ihres
Kleides von jener Einfachheit, die überall da den Geschmack bestimmt,
wo Frömmigkeit als Bestandteil der Vornehmheit gilt. Sie hätte die
Frau eines hohen deutschen Beamten sein können. Etwas von
phantastischem Aufwand kam in ihre Erscheinung einzig durch ihren
Schmuck, der in der Tat kaum schätzbar war und aus Ohrgehängen, sowie
einer dreifachen, sehr langen Kette kirschengroßer, mild schimmernder
Perlen bestand.

Die Geschwister waren rasch aufgestanden. Sie beugten sich zum Kuß
über die Hand ihrer Mutter, die mit einem zurückhaltenden Lächeln
ihres gepflegten, doch etwas müden und spitznäsigen Gesichtes über
ihre Köpfe hinwegblickte und einige Worte in französischer Sprache an
die Erzieherin richtete. Dann schritt sie zur Glastür. Die Geschwister
folgten ihr: die Mädchen in der Reihenfolge ihres Alters, nach ihnen
die Gouvernante, zuletzt der Knabe. Aus irgend einem Grunde wandte er
sich um, bevor er die Schwelle überschritt, und da niemand sonst mehr
in der Halle sich aufhielt, begegneten seine eigentümlich dämmergrauen
Augen denen Aschenbachs, der, seine Zeitung auf den Knien, in
Anschauung versunken, der Gruppe nachblickte.

Was er gesehen, war gewiß in keiner Einzelheit auffallend gewesen. Man
war nicht vor der Mutter zu Tische gegangen, man hatte sie erwartet,
sie ehrerbietig begrüßt und beim Eintritt in den Saal gebräuchliche
Formen beobachtet. Allein das alles hatte sich so ausdrücklich, mit
einem solchen Akzent von Zucht, Verpflichtung und Selbstachtung
dargestellt, daß Aschenbach sich sonderbar ergriffen fühlte. Er
zögerte noch einige Augenblicke, ging dann auch seinerseits in den
Speisesaal hinüber und ließ sich sein Tischchen anweisen, das, wie er
mit einer kurzen Regung des Bedauerns feststellte, sehr weit von dem
der polnischen Familie entfernt war.

Müde und dennoch geistig bewegt, unterhielt er sich während der
langwierigen Mahlzeit mit abstrakten, ja transzendenten Dingen, sann
nach über die geheimnisvolle Verbindung, welche das Gesetzmäßige mit
dem Individuellen eingehen müsse, damit menschliche Schönheit
entstehe, kam von da aus auf allgemeine Probleme der Form und der
Kunst und fand am Ende, daß seine Gedanken und Funde gewissen
scheinbar glücklichen Einflüsterungen des Traumes glichen, die sich
bei ernüchtertem Sinn als vollständig schal und untauglich erweisen.
Er hielt sich nach Tische rauchend, sitzend, umherwandelnd, in dem
abendlich duftenden Parke auf, ging zeitig zur Ruhe und verbrachte die
Nacht in anhaltend tiefem, aber von Traumbildern verschiedentlich
belebtem Schlaf.

Das Wetter ließ sich am folgenden Tage nicht günstiger an. Landwind
ging. Unter fahlem, bedecktem Himmel lag das Meer in stumpfer Ruhe,
verschrumpft gleichsam, mit nüchtern nahem Horizont und so weit vom
Strande zurückgetreten, daß es mehrere Reihen langer Sandbänke
freiließ. Als Aschenbach sein Fenster öffnete, glaubte er den fauligen
Geruch der Lagune zu spüren.

Verstimmung befiel ihn. Schon in diesem Augenblick dachte er an
Abreise. Einmal, vor Jahren, hatte nach zwei heiteren Frühlingswochen
hier dies Wetter ihn heimgesucht und sein Befinden so schwer
geschädigt, daß er Venedig wie ein Fliehender hatte verlassen müssen.
Stellte nicht schon wieder die fiebrige Unlust von damals, der Druck
in den Schläfen, die Schwere der Augenlider sich ein? Noch einmal den
Aufenthalt zu wechseln würde lästig sein; wenn aber der Wind nicht
umschlug, so war seines Bleibens hier nicht. Er packte zur Sicherheit
nicht völlig aus. Um neun Uhr frühstückte er in dem hierfür
vorbehaltenen Büfettzimmer zwischen Halle und Speisesaal.

In dem Raum herrschte die feierliche Stille, die zum Ehrgeiz der
großen Hotels gehört. Die bedienenden Kellner gingen auf leisen Sohlen
umher. Ein Klappern des Teegerätes, ein halbgeflüstertes Wort war
alles, was man vernahm. In einem Winkel, schräg gegenüber der Tür und
zwei Tische von seinem entfernt, bemerkte Aschenbach die polnischen
Mädchen mit ihrer Erzieherin. Sehr aufrecht, das aschblonde Haar neu
geglättet und mit geröteten Augen, in steifen blauleinenen Kleidern
mit kleinen weißen Fallkrägen und Manschetten saßen sie da und
reichten einander ein Glas mit Eingemachtem. Sie waren mit ihrem
Frühstück fast fertig. Der Knabe fehlte.

Aschenbach lächelte. Nun kleiner Phäake! dachte er. Du scheinst vor
diesen das Vorrecht beliebigen Ausschlafens zu genießen. Und plötzlich
aufgeheitert rezitierte er bei sich selbst den Vers:

»Oft veränderten Schmuck und warme Bäder und Ruhe.«

Er frühstückte ohne Eile, empfing aus der Hand des Portiers, der mit
gezogener Tressenmütze in den Saal kam, einige nachgesandte Post und
öffnete, eine Zigarette rauchend, ein paar Briefe. So geschah es, daß
er dem Eintritt des Langschläfers noch beiwohnte, den man dort drüben
erwartete.

Er kam durch die Glastür und ging in der Stille schräg durch den Raum
zum Tisch seiner Schwestern. Sein Gehen war sowohl in der Haltung des
Oberkörpers wie in der Bewegung der Kniee, dem Aufsetzen des
weißbeschuhten Fußes von außerordentlicher Anmut, sehr leicht,
zugleich zart und stolz und verschönt noch durch die kindliche
Verschämtheit, in welcher er zweimal unterwegs, mit einer Kopfwendung
in den Saal, die Augen aufschlug und senkte. Lächelnd, mit einem
halblauten Wort in seiner weich verschwommenen Sprache nahm er seinen
Platz ein, und jetzt zumal, da er dem Schauenden sein genaues Profil
zuwandte, erstaunte dieser aufs neue, ja erschrak über die wahrhaft
gottähnliche Schönheit des Menschenkindes. Der Knabe trug heute einen
leichten Blusenanzug aus blau und weiß gestreiftem Waschstoff mit
rotseidener Masche auf der Brust und am Halse von einem einfachen
weißen Stehkragen abgeschlossen. Auf diesem Kragen aber, der nicht
einmal sonderlich elegant zum Charakter des Anzugs passen wollte,
ruhte die Blüte des Hauptes in unvergleichlichem Liebreiz,--das Haupt
des Eros, vom gelblichen Schmelze parischen Marmors, mit feinen und
ernsten Brauen, Schläfen und Ohr vom rechtwinklig einspringenden
Geringel des Haares dunkel und weich bedeckt.

Gut, gut, dachte Aschenbach mit jener fachmännisch kühlen Billigung,
in welche Künstler zuweilen einem Meisterwerk gegenüber ihr Entzücken,
ihre Hingerissenheit kleiden. Und weiter dachte er: Wahrhaftig,
erwarteten mich nicht Meer und Strand, ich bliebe hier, so lange du
bleibst! So aber ging er denn, ging unter den Aufmerksamkeiten des
Personals durch die Halle, die große Terrasse hinab und gerade aus
über den Brettersteg zum abgesperrten Strand der Hotelgäste. Er ließ
sich von dem barfüßigen Alten, der sich in Leinwandhose, Matrosenbluse
und Strohhut dort unten als Bademeister tätig zeigte, die gemietete
Strandhütte zuweisen, ließ Tisch und Sessel hinaus auf die sandig
bretterne Plattform stellen und machte sich's bequem in dem
Liegestuhl, den er weiter zum Meere hin in den wachsgelben Sand
gezogen hatte.

Das Strandbild, dieser Anblick sorglos sinnlich genießender Kultur am
Rande des Elementes, unterhielt und erfreute ihn wie nur je. Schon war
die graue und flache See belebt von watenden Kindern, Schwimmern,
bunten Gestalten, welche, die Arme unter dem Kopf verschränkt, auf den
Sandbänken lagen. Andere ruderten in kleinen rot und blau gestrichenen
Booten ohne Kiel und kenterten lachend. Vor der gedehnten Zeile der
Capannen, auf deren Plattformen man wie auf kleinen Veranden saß, gab
es spielende Bewegung und träg hingestreckte Ruhe, Besuche und
Geplauder, sorgfältige Morgeneleganz neben der Nacktheit, die
keck-behaglich die Freiheiten des Ortes genoß. Vorn auf dem feuchten
und festen Sande lustwandelten Einzelne in weißen Bademänteln, in
weiten, starkfarbigen Hemdgewändern. Eine vielfältige Sandburg zur
Rechten, von Kindern hergestellt, war rings mit kleinen Flaggen in den
Farben aller Länder besteckt. Verkäufer von Muscheln, Kuchen und
Früchten breiteten kniend ihre Waren aus. Links, vor einer der Hütten,
die quer zur Reihe der übrigen und zum Meere standen und auf dieser
Seite einen Abschluß des Strandes bildeten, kampierte eine russische
Familie: Männer mit Bärten und großen Zähnen, mürbe und träge Frauen,
ein baltisches Fräulein, das an einer Staffelei sitzend unter Ausrufen
der Verzweiflung das Meer malte, zwei gutmütig-häßliche Kinder, eine
alte Magd im Kopftuch und mit zärtlich unterwürfigen Sklavenmanieren.
Dankbar genießend lebten sie dort, riefen unermüdlich die Namen der
unfolgsam sich tummelnden Kinder, scherzten vermittelst weniger
italienischer Worte lange mit dem humoristischen Alten, von dem sie
Zuckerwerk kauften, küßten einander auf die Wangen und kümmerten sich
um keinen Beobachter ihrer menschlichen Gemeinschaft.

Ich will also bleiben, dachte Aschenbach. Wo wäre es besser? Und die
Hände im Schoß gefaltet, ließ er seine Augen sich in den Weiten des
Meeres verlieren, seinen Blick entgleiten, verschwimmen, sich brechen
im eintönigen Dunst der Raumeswüste. Er liebte das Meer aus tiefen
Gründen: aus dem Ruheverlangen des schwer arbeitenden Künstlers, der
von der anspruchsvollen Vielgestalt der Erscheinungen an der Brust des
Einfachen, Ungeheueren sich zu bergen begehrt; aus einem verbotenen,
seiner Aufgabe gerade entgegengesetzten und eben darum verführerischen
Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts. Am
Vollkommenen zu ruhen, ist die Sehnsucht dessen, der sich um das
Vortreffliche müht; und ist nicht das Nichts eine Form des
Vollkommenen? Wie er nun aber so tief ins Leere träumte, ward
plötzlich die Horizontale des Ufersaumes von einer menschlichen
Gestalt überschnitten, und als er seinen Blick aus dem Unbegrenzten
einholte und sammelte, da war es der schöne Knabe, der von links
kommend vor ihm im Sande vorüberging. Er ging barfuß, zum Waten
bereit, die schlanken Beine bis über die Knie entblößt, langsam, aber
so leicht und stolz, als sei er ohne Schuhwerk sich zu bewegen ganz
gewöhnt, und schaute sich nach den querstehenden Hütten um. Kaum aber
hatte er die russische Familie bemerkt, die dort in dankbarer
Eintracht ihr Wesen trieb, als ein Unwetter zorniger Verachtung sein
Gesicht überzog. Seine Stirn verfinsterte sich, sein Mund ward
emporgehoben, von den Lippen nach einer Seite ging ein erbittertes
Zerren, daß die Wange zerriß, und seine Brauen waren so schwer
gerunzelt, daß unter ihrem Druck die Augen eingesunken schienen und
böse und dunkel darunter hervor die Sprache des Hasses führten. Er
blickte zu Boden, blickte noch einmal drohend zurück, tat dann mit der
Schulter eine heftig wegwerfende Bewegung und ließ die Feinde im
Rücken.

Eine Art Zartgefühl oder Erschrockenheit, etwas wie Achtung und Scham,
veranlaßte Aschenbach, sich abzuwenden, als ob er nichts gesehen
hätte; denn dem ernsten Zufallsbeobachter der Leidenschaft widerstrebt
es, von seinen Wahrnehmungen auch nur vor sich selber Gebrauch zu
machen. Er war aber erheitert und erschüttert zugleich, das heißt:
beglückt. Dieser kindische Fanatismus, gerichtet gegen das gutmütigste
Stück Leben,--er stellte das Göttlich-Nichtssagende in menschliche
Beziehungen; er ließ ein kostbares Bildwerk der Natur, das nur zur
Augenweide getaugt hatte, einer tieferen Teilnahme wert erscheinen;
und er verlieh der ohnehin durch Schönheit bedeutenden Gestalt des
Halbwüchsigen eine politisch-geschichtliche Folie, die gestattete, ihn
über seine Jahre ernst zu nehmen.

Noch abgewandt, lauschte Aschenbach auf die Stimme des Knaben, seine
helle, ein wenig schwache Stimme, mit der er sich von weitem schon den
um die Sandburg beschäftigten Gespielen grüßend anzukündigen suchte.
Man antwortete ihm, indem man ihm seinen Namen oder eine Koseform
seines Namens mehrfach entgegenrief, und Aschenbach horchte mit einer
gewissen Neugier darauf, ohne Genaueres erfassen zu können, als zwei
melodische Silben wie »Adgio« oder öfter noch »Adgiu« mit rufend
gedehntem u-Laut am Ende. Er freute sich des Klanges, er fand ihn in
seinem Wohllaut dem Gegenstande angemessen, wiederholte ihn im Stillen
und wandte sich befriedigt seinen Briefen und Papieren zu.

Seine kleine Reiseschreibmappe auf den Knien, begann er, mit dem
Füllfederhalter diese und jene Korrespondenz zu erledigen. Aber nach
einer Viertelstunde schon fand er es schade, die Situation, die
genießenswerteste, die er kannte, so im Geist zu verlassen und durch
gleichgültige Tätigkeit zu versäumen. Er warf das Schreibzeug
beiseite, er kehrte zum Meere zurück, und nicht lange, so wandte er,
abgelenkt von den Stimmen der Jugend am Sandbau, den Kopf bequem an
der Lehne des Stuhles nach rechts, um sich nach dem Treiben und
Bleiben des trefflichen Adgio wieder umzutun.

Der erste Blick fand ihn; die rote Masche auf seiner Brust war nicht
zu verfehlen. Mit anderen beschäftigt, eine alte Planke als Brücke
über den feuchten Graben der Sandburg zu legen, gab er rufend und mit
dem Kopfe winkend seine Anweisungen zu diesem Werk. Es waren da mit
ihm ungefähr zehn Genossen, Knaben und Mädchen, von seinem Alter und
einige jünger, die in Zungen, polnisch, französisch und auch in
Balkan-Idiomen durcheinander schwatzten. Aber sein Name war es, der am
öftesten erklang. Offenbar war er begehrt, umworben, bewundert. Einer
namentlich, Pole gleich ihm, ein stämmiger Bursche, der ähnlich wie
»Jaschu« gerufen wurde, mit schwarzem, pomadisiertem Haar und leinenem
Gürtelanzug, schien sein nächster Vasall und Freund. Sie gingen, als
für diesmal die Arbeit am Sandbau beendigt war, umschlungen den Strand
entlang, und der, welcher »Jaschu« gerufen wurde, küßte den Schönen.

Aschenbach war versucht, ihm mit dem Finger zu drohen. »Dir aber rat
ich Kritobulos«, dachte er lächelnd, »geh ein Jahr auf Reisen! Denn
soviel brauchst du mindestens Zeit zur Genesung.« Und dann frühstückte
er große, vollreife Erdbeeren, die er von einem Händler erstand. Es
war sehr warm geworden, obgleich die Sonne die Dunstschicht des
Himmels nicht zu durchdringen vermochte. Trägheit fesselte den Geist,
indes die Sinne die ungeheure und betäubende Unterhaltung der
Meeresstille genossen. Zu erraten, zu erforschen, welcher Name es sei,
der ungefähr »Adgio« lautete, schien dem ernsten Mann eine
angemessene, vollkommen ausfüllende Aufgabe und Beschäftigung. Und mit
Hilfe einiger polnischer Erinnerungen stellte er fest, daß »Tadzio«
gemeint sein müsse, die Abkürzung von »Tadeusz« und im Anrufe »Tadziu«
lautend. Tadzio badete. Aschenbach, der ihn aus den Augen verloren
hatte, entdeckte seinen Kopf, seinen Arm, mit dem er rudernd ausholte,
weit draußen im Meer; denn das Meer mochte flach sein bis weit hinaus.
Aber schon schien man besorgt um ihn, schon riefen Frauenstimmen nach
ihm von den Hütten, stießen wiederum diesen Namen aus, der den Strand
beinahe wie eine Losung beherrschte und mit seinen weichen Mitlauten,
seinem gezogenen u-Ruf am Ende, etwas zugleich Süßes und Wildes hatte:
»Tadziu, Tadziu!« Er gehorchte, er lief, das widerstrebende Wasser mit
den Beinen zu Schaum schlagend, zurückgeworfenen Kopfes durch die
Flut; und zu sehen, wie die lebendige Gestalt, vormännlich hold und
herb, mit triefenden Locken und schön wie ein zarter Gott, herkommend
aus den Tiefen von Himmel und Meer, dem Elemente entstieg und entrann:
Dieser Anblick gab mythische Vorstellungen ein, er war wie
Dichterkunde von anfänglichen Zeiten, vom Ursprung der Form und von
der Geburt der Götter. Aschenbach lauschte mit geschlossenen Augen auf
diesen in seinem Innern antönenden Gesang; und abermals dachte er, daß
es hier gut sei und daß er bleiben wolle.

Später lag Tadzio, vom Bade ausruhend, im Sande, gehüllt in sein
weißes Laken, das unter der rechten Schulter durchgezogen war, den
Kopf auf den bloßen Arm gebettet; und auch wenn Aschenbach ihn nicht
betrachtete, sondern einige Seiten in seinem Buche las, vergaß er fast
niemals, daß jener dort lag und daß es ihn nur eine leichte Wendung
des Kopfes nach rechts kostete, um das Bewunderungswürdige zu
erblicken. Beinahe schien es ihm, als säße er hier, um den Ruhenden zu
behüten,--mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt und dabei doch in
beständiger Wachsamkeit für das edle Menschenbild dort zur Rechten,
nicht weit von ihm. Und eine väterliche Huld, die gerührte Hinneigung
dessen, der sich opfernd im Geiste das Schöne zeugt, zu dem, der die
Schönheit hat, erfüllte und bewegte sein Herz.

Nach Mittag verließ er den Strand, kehrte ins Hotel zurück und ließ
sich hinauf vor sein Zimmer fahren. Er verweilte dort drinnen längere
Zeit vor dem Spiegel und betrachtete sein graues Haar, sein müdes und
scharfes Gesicht. In diesem Augenblick dachte er an seinen Ruhm und
daran, daß Viele ihn auf den Straßen kannten und ehrerbietig
betrachteten, um seines sicher treffenden und mit Anmut gekrönten
Wortes willen,--rief alle, äußeren Erfolge seines Talentes auf, die
ihm irgend einfallen wollten und gedachte sogar seiner Nobilitierung.
Er begab sich dann zum Lunch hinab in den Saal und speiste an seinem
Tischchen. Als er nach beendeter Mahlzeit den Lift bestieg, drängte
junges Volk, das gleichfalls vom Frühstück kam, ihm nach in das
schwebende Kämmerchen, und auch Tadzio trat ein. Er stand ganz nahe
bei Aschenbach, zum ersten Male so nah, daß dieser ihn nicht in
bildmäßigem Abstand, sondern genau, mit den Einzelheiten seiner
Menschlichkeit wahrnahm und erkannte. Der Knabe ward angeredet von
irgend jemandem, und während er mit unbeschreiblich lieblichem Lächeln
antwortete, trat er schon wieder aus, im ersten Stockwerk, rückwärts,
mit niedergeschlagenen Augen. Schönheit macht schamhaft, dachte
Aschenbach und bedachte sehr eindringlich, warum. Er hatte jedoch
bemerkt, daß Tadzios Zähne nicht recht erfreulich waren: etwas zackig
und blaß, ohne den Schmelz der Gesundheit und von eigentümlich spröder
Durchsichtigkeit wie zuweilen bei Bleichsüchtigen. Er ist sehr zart,
er ist kränklich, dachte Aschenbach. Er wird wahrscheinlich nicht alt
werden. Und er verzichtete darauf, sich Rechenschaft über ein Gefühl
der Genugtuung oder Beruhigung zu geben, das diesen Gedanken
begleitete.

Er verbrachte zwei Stunden auf seinem Zimmer und fuhr am Nachmittag
mit dem Vaporetto über die faulriechende Lagune nach Venedig. Er stieg
aus bei San Marco, nahm den Tee auf dem Platze und trat dann, seiner
hiesigen Tagesordnung gemäß, einen Spaziergang durch die Straßen an.
Es war jedoch dieser Gang, der einen völligen Umschwung seiner
Stimmung, seiner Entschlüsse herbeiführte.

Eine widerliche Schwüle lag in den Gassen, die Luft war so dick, daß
die Gerüche, die aus Wohnungen, Läden, Garküchen quollen, Öldunst,
Wolken von Parfüm und viele andere in Schwaden standen, ohne sich zu
zerstreuen. Zigarettenrauch hing an seinem Orte und entwich nur
langsam. Das Menschengeschiebe in der Enge belästigte den
Spaziergänger, statt ihn zu unterhalten. Je länger er ging, desto
quälender bemächtigte sich seiner der abscheuliche Zustand, den die
Seeluft zusammen mit dem Scirocco hervorbringen kann, und der zugleich
Erregung und Erschlaffung ist. Peinlicher Schweiß brach ihm aus. Die
Augen versagten den Dienst, die Brust war beklommen, er fieberte, das
Blut pochte im Kopf. Er floh aus den drangvollen Geschäftsgassen über
Brücken in die Gänge der Armen: dort behelligten ihn Bettler, und die
üblen Ausdünstungen der Kanäle verleideten das Atmen. Auf stillem
Platz, einer jener vergessen und verwunschen anmutenden Örtlichkeiten,
die sich im Innern Venedigs finden, am Rande eines Brunnens rastend,
trocknete er die Stirn und sah ein, daß er reisen müsse.

Zum zweitenmal und nun endgültig war es erwiesen, daß diese Stadt bei
dieser Witterung ihm höchst schädlich war. Eigensinniges Ausharren
erschien vernunftwidrig, die Aussicht auf ein Umschlagen des Windes
ganz ungewiß. Es galt rasche Entscheidung. Schon jetzt nach Hause
zurückzukehren, verbot sich. Weder Sommer-noch Winterquartier war
bereit, ihn aufzunehmen. Aber nicht nur hier gab es Meer und Strand,
und anderwärts fanden sie sich ohne die böse Zutat der Lagune und
ihres Fieberdunstes. Er erinnerte sich eines kleinen Seebades nicht
weit von Triest, das man ihm rühmlich genannt hatte. Warum nicht
dorthin? Und zwar ohne Verzug, damit der abermalige Aufenthaltswechsel
sich noch lohne. Er erklärte sich für entschlossen und stand auf. Am
nächsten Gondelhalteplatz nahm er ein Fahrzeug und ließ sich durch das
trübe Labyrinth der Kanäle, unter zierlichen Marmorbalkonen hin, die
von Löwenbildern flankiert waren, um glitschige Mauerecken, vorbei an
trauernden Palastfassaden, die große Firmenschilder im Abfall
schaukelnden Wasser spiegelten, nach San Marco leiten. Er hatte Mühe,
dorthin zu gelangen, denn der Gondolier, der mit Spitzenfabriken und
Glasbläsereien im Bunde stand, versuchte überall, ihn zu Besichtigung
und Einkauf abzusetzen, und wenn die bizarre Fahrt durch Venedig
ihren Zauber zu üben begann, so tat der beutelschneiderische
Geschäftsgeist der gesunkenen Königin das seine, den Sinn wieder
verdrießlich zu ernüchtern.

Ins Hotel zurückgekehrt, gab er noch vor dem Diner im Bureau die
Erklärung ab, daß unvorhergesehene Umstände ihn nötigten, morgen früh
abzureisen. Man bedauerte, man quittierte seine Rechnung. Er speiste
und verbrachte den lauen Abend, Journale lesend, in einem
Schaukelstuhl auf der rückwärtigen Terrasse. Bevor er zur Ruhe ging,
machte er sein Gepäck vollkommen zur Abreise fertig.

Er schlief nicht zum besten, da der bevorstehende Wiederaufbruch ihn
beunruhigte. Als er am Morgen die Fenster öffnete, war der Himmel
bezogen nach wie vor, aber die Luft schien frischer, und--es begann
auch schon seine Reue. War diese Kündigung nicht überstürzt und
irrtümlich, die Handlung eines kranken und unmaßgeblichen Zustandes
gewesen? Hätte er sie ein wenig zurückbehalten, hätte er es, ohne so
rasch zu verzagen, auf den Versuch einer Anpassung an die
venezianische Luft oder auf Besserung des Wetters ankommen lassen, so
stand ihm jetzt, statt Hast und Last, ein Vormittag am Strande gleich
dem gestrigen bevor. Zu spät. Nun mußte er fortfahren, zu wollen, was
er gestern gewollt hatte. Er kleidete sich an und fuhr um acht Uhr zum
Frühstück ins Erdgeschoß hinab.

Der Büfettraum war, als er eintrat, noch leer von Gästen. Einzelne
kamen, während er saß und das Bestellte erwartete. Die Teetasse am
Munde, sah er die polnischen Mädchen nebst ihrer Begleiterin sich
einfinden; streng und morgenfrisch, mit geröteten Augen schritten sie
zu ihrem Tisch in der Fensterecke. Gleich darauf näherte sich ihm der
Portier mit gezogener Mütze und mahnte zum Aufbruch. Das Automobil
stehe bereit, ihn und andere Reisende nach dem Hotel "Excelsior" zu
bringen, von wo das Motorboot die Herrschaften durch den Privatkanal
der Gesellschaft zum Bahnhof befördern werde. Die Zeit dränge.
--Aschenbach fand, daß sie das nicht im mindesten tue. Mehr als eine
Stunde blieb bis zur Abfahrt seines Zuges. Er ärgerte sich an der
Gasthofsitte, den Abreisenden vorzeitig aus dem Hause zu schaffen und
bedeutete dem Portier, daß er in Ruhe zu frühstücken wünsche. Der Mann
zog sich zögernd zurück, um nach fünf Minuten wieder aufzutreten.
Unmöglich, daß der Wagen länger warte. Dann möge er fahren und seinen
Koffer mitnehmen, entgegnete Aschenbach gereizt. Er selbst wolle zur
gegebenen Zeit das öffentliche Dampfboot benutzen und bitte, die Sorge
um sein Fortkommen ihm selber zu überlassen. Der Angestellte verbeugte
sich. Aschenbach, froh, die lästigen Mahnungen abgewehrt zu haben,
beendete seinen Imbiß ohne Eile, ja ließ sich sogar noch vom Kellner
Tagesblätter reichen. Die Zeit war recht knapp geworden, als er
aufstand. Es fügte sich, daß im selben Augenblick Tadzio durch die
Glastür hereinkam.

Er kreuzte, zum Tische der Seinen gehend, den Weg des Aufbrechenden,
schlug vor dem grauhaarigen, hochgestirnten Mann bescheiden die Augen
nieder, um sie nach seiner lieblichen Art sogleich wieder weich und
voll zu ihm aufzuschlagen und war vorüber. Adieu, Tadzio! dachte
Aschenbach. Ich sah dich kurz. Und indem er gegen seine Gewohnheit das
Gedachte wirklich mit den Lippen ausbildete und vor sich hinsprach,
fügte er hinzu: Sei gesegnet!--Er hielt dann Abreise, verteilte
Trinkgelder, ward von dem kleinen leisen Manager im französischen
Gehrock verabschiedet und verließ das Hotel zu Fuß, wie er gekommen,
um sich, gefolgt von dem Handgepäck tragenden Hausdiener, durch die
weiß blühende Allee quer über die Insel zur Dampferbrücke zu begeben.
Er erreicht sie, er nimmt Platz,--und was folgte, war eine
Leidensfahrt, kummervoll, durch alle Tiefen der Reue.

Es war die vertraute Fahrt über die Lagune, an San Marco vorbei, den
großen Kanal hinauf. Aschenbach saß auf der Rundbank am Buge, den Arm
aufs Geländer gestützt, mit der Hand die Augen beschattend. Die
öffentlichen Gärten blieben zurück, die Piazzetta eröffnete sich noch
einmal in fürstlicher Anmut und ward verlassen, es kam die große
Flucht der Paläste, und als die Wasserstraße sich wendete, erschien
des Rialto prächtig gespannter Marmorbogen. Der Abschiednehmende
schaute, und seine Brust war zerrissen. Die Atmosphäre der Stadt,
diesen leis fauligen Geruch von Meer und Sumpf, den zu fliehen es ihn
so sehr gedrängt hatte,--er atmete ihn jetzt in tiefen, zärtlich
schmerzlichen Zügen. War es möglich, daß er nicht gewußt, nicht
bedacht hatte, wie sehr sein Herz an dem allen hing? Was heute morgen
ein halbes Bedauern, ein leiser Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns
gewesen war, das wurde jetzt zum Harm, zum wirklichen Weh, zu einer
Seelennot, so bitter, daß sie ihm mehrmals Tränen in die Augen trieb,
und von der er sich sagte, daß er sie unmöglich habe vorhersehen
können. Was er als so schwer erträglich, ja, zuweilen als völlig
unleidlich empfand, war offenbar der Gedanke, daß er Venedig nie
wieder sehen solle, daß dies ein Abschied für immer sei. Denn da sich
zum zweiten Male gezeigt hatte, daß die Stadt ihn krank mache, da er
sie zum zweiten Male jäh zu verlassen gezwungen war, so hatte er sie
ja fortan als einen ihm unmöglichen und verbotenen Aufenthalt zu
betrachten, dem er nicht gewachsen war und den wieder aufzusuchen
sinnlos gewesen wäre. Ja, er empfand, daß, wenn er jetzt abreise,
Scham und Trotz ihn hindern müßten, die geliebte Stadt je wieder zu
sehen, der gegenüber er zweimal körperlich versagt hatte; und dieser
Streitfall zwischen seelischer Neigung und körperlichem Vermögen
schien dem Alternden auf einmal so schwer und wichtig, die physische
Niederlage so schmählich, so um jeden Preis hintanzuhalten, daß er die
leichtfertige Ergebung nicht begriff, mit welcher er gestern, ohne
ernstlichen Kampf, sie zu tragen und anzuerkennen beschlossen hatte.

Unterdessen nähert sich das Dampfboot dem Bahnhof, und Schmerz
und Ratlosigkeit steigen bis zur Verwirrung. Die Abreise dünkt dem
Gequälten unmöglich, die Umkehr nicht minder. So ganz zerrissen
betritt er die Station. Es ist sehr spät, er hat keinen Augenblick zu
verlieren, wenn er den Zug erreichen will. Er will es und will es
nicht. Aber die Zeit drängt, sie geißelt ihn vorwärts; er eilt, sich
sein Billett zu verschaffen und sieht sich im Tumult der Halle nach
dem hier stationierten Beamten der Hotelgesellschaft um. Der Mensch
zeigt sich und meldet, der große Koffer sei aufgegeben. Schon
aufgegeben? Ja, bestens,--nach Como. Nach Como? Und aus einem
hastigen Hin und Her, aus zornigen Fragen und betretenen Antworten
kommt zu Tage, daß der Koffer, schon im Gepäckbeförderungs-Amt des
Hotels »Excelsior« zusammen mit anderer, fremder Bagage, in völlig
falsche Richtung geleitet wurde.

Aschenbach hatte Mühe, die Miene zu bewahren, die unter diesen
Umständen einzig begreiflich war. Eine abenteuerliche Freude, eine
unglaubliche Heiterkeit erschütterte von innen fast krampfhaft seine
Brust. Der Angestellte stürzte davon, um möglicherweise den Koffer
noch anzuhalten und kehrte, wie zu erwarten gewesen, unverrichteter
Dinge zurück. Da erklärte denn Aschenbach, daß er ohne sein Gepäck
nicht zu reisen wünsche, sondern umzukehren und das Wiedereintreffen
des Stückes im Bäderhotel zu erwarten entschlossen sei. Ob das
Motorboot der Gesellschaft am Bahnhof liege. Der Mann beteuerte,
es liege vor der Tür. Er bestimmte in italienischer Suade den
Schalterbeamten, den gelösten Fahrschein zurückzunehmen, er schwor,
daß depeschiert werden, daß nichts gespart und versäumt werden solle,
um den Koffer in Bälde zurückzugewinnen, und--so fand das Seltsame
statt, daß der Reisende, zwanzig Minuten nach seiner Ankunft am
Bahnhof, sich wieder im Großen Kanal auf dem Rückweg zum Lido sah.

Wunderlich unglaubhaftes, beschämendes, komisch traumartiges
Abenteuer: Stätten, von denen man eben in tiefster Wehmut Abschied auf
immer genommen, vom Schicksal umgewandt und zurückverschlagen, in
derselben Stunde noch wiederzusehen! Schaum vor dem Buge, drollig
behend zwischen Gondeln und Dampfern lavierend, schoß das kleine,
eilfertige Fahrzeug seinem Ziele zu, indes sein Passagier unter der
Maske ärgerlicher Resignation die ängstlich-übermütige Erregung eines
entlaufenen Knaben verbarg. Noch immer, von Zeit zu Zeit, ward seine
Brust bewegt von Lachen über dies Mißgeschick, das, wie er sich sagte,
ein Sonntagskind nicht gefälliger hätte heimsuchen können. Es waren
Erklärungen zu geben, erstaunte Gesichter zu bestehen,--dann war, so
sagte er sich, alles wieder gut, dann war ein Unglück verhütet, ein
schwerer Irrtum richtig gestellt, und alles, was er im Rücken zu
lassen geglaubt hatte, eröffnete sich ihm wieder, war auf beliebige
Zeit wieder sein... Täuschte ihn übrigens die rasche Fahrt oder kam
wirklich zum Überfluß der Wind nun dennoch vom Meere her?

Die Wellen schlugen gegen die betonierten Wände des schmalen Kanals,
der durch die Insel zum Hotel »Excelsior« gelegt ist. Ein automobiler
Omnibus erwartete dort den Wiederkehrenden und führte ihn oberhalb des
gekräuselten Meeres auf geradem Wege zum Bäder-Hotel. Der kleine
schnurrbärtige Manager im geschweiften Gehrock kam zur Begrüßung die
Freitreppe herab.

Leise schmeichelnd bedauerte er den Zwischenfall, nannte ihn äußerst
peinlich für ihn und das Institut, billigte aber mit Überzeugung
Aschenbachs Entschluß, das Gepäckstück hier zu erwarten. Freilich sei
sein Zimmer vergeben, ein anderes jedoch, nicht schlechter, sogleich
zur Verfügung. »Pas de chance, monsieur«, sagte der schweizerische
Liftführer lächelnd, als man hinaufglitt. Und so wurde der Flüchtling
wieder einquartiert, in einem Zimmer, das dem vorigen nach Lage und
Einrichtung fast vollkommen glich.

Ermüdet, betäubt von dem Wirbel dieses seltsamen Vormittags, ließ er
sich, nachdem er den Inhalt seiner Handtasche im Zimmer verteilt, in
einem Lehnstuhl am offenen Fenster nieder. Das Meer hatte eine
blaßgrüne Färbung angenommen, die Luft schien dünner und reiner, der
Strand mit seinen Hütten und Booten farbiger, obgleich der Himmel noch
grau war. Aschenbach blickte hinaus, die Hände im Schoß gefaltet,
zufrieden, wieder hier zu sein, kopfschüttelnd unzufrieden über seinen
Wankelmut, seine Unkenntnis der eigenen Wünsche. So saß er wohl eine
Stunde, ruhend und gedankenlos träumend. Um Mittag erblickte er
Tadzio, der in gestreiftem Leinenanzug mit roter Masche, vom Meere
her, durch die Strandsperre und die Bretterwege entlang zum Hotel
zurückkehrte. Aschenbach erkannte ihn aus seiner Höhe sofort, bevor er
ihn eigentlich ins Auge gefaßt, und wollte etwas denken, wie: »Sieh,
Tadzio, da bist ja auch du wieder!« Aber im gleichen Augenblick fühlte
er, wie der lässige Gruß vor der Wahrheit seines Herzens hinsank und
verstummte,--fühlte die Begeisterung seines Blutes, die Freude, den
Schmerz seiner Seele und erkannte, daß ihm um Tadzios willen der
Abschied so schwer geworden war.

Er saß ganz still, ganz ungesehen an seinem hohen Platze und blickte
in sich hinein. Seine Züge waren erwacht, seine Brauen stiegen, ein
aufmerksames, neugierig geistreiches Lächeln spannte seinen Mund. Dann
hob er den Kopf und beschrieb mit beiden, schlaff über die Lehne des
Sessels hinabhängenden Armen eine langsam drehende und hebende
Bewegung, die Handflächen vorwärts kehrend, so, als deute er ein
Öffnen und Ausbreiten der Arme an. Es war eine bereitwillig willkommen
heißende, gelassen aufnehmende Gebärde.



Viertes Kapitel


Nun lenkte Tag für Tag der Gott mit den hitzigen Wangen nackend sein
gluthauchendes Viergespann durch die Räume des Himmels und sein gelbes
Gelock flatterte im zugleich ausstürmenden Ostwind. Weißlich seidiger
Glanz lag auf den Weiten des träge wallenden Pontos. Der Sand glühte.
Unter der silbrig flirrenden Bläue des Äthers waren rostfarbene
Segeltücher vor den Strandhütten ausgespannt, und auf dem scharf
umgrenzten Schattenfleck, den sie boten, verbrachte man die
Vormittagsstunden. Aber köstlich war auch der Abend, wenn die Pflanzen
des Parks balsamisch dufteten, die Gestirne droben ihren Reigen
schritten und das Murmeln des umnachteten Meeres, leise
heraufdringend, die Seele besprach. Solch ein Abend trug in sich die
freudige Gewähr eines neuen Sonnentages von leicht geordneter Muße und
geschmückt mit zahllosen, dicht beieinander liegenden Möglichkeiten
lieblichen Zufalls.

Der Gast, den ein so gefügiges Mißgeschick hier festgehalten, war weit
entfernt, in der Rückgewinnung seiner Habe einen Grund zu erneutem
Aufbruch zu sehen. Er hatte zwei Tage lang einige Entbehrung dulden
und zu den Mahlzeiten im großen Speisesaal im Reiseanzug erscheinen
müssen. Dann, als man endlich die verirrte Last wieder in seinem
Zimmer niedersetzte, packte er gründlich aus und füllte Schrank und
Schubfächer mit dem Seinen, entschlossen zu vorläufig unabsehbarem
Verweilen, vergnügt, die Stunden des Strandes in seidenem Anzug
verbringen und beim Diner sich wieder in schicklicher Abendtracht an
seinem Tischchen zeigen zu können.

Der wohlige Gleichtakt dieses Daseins hatte ihn schon in seinen Bann
gezogen, die weiche und glänzende Milde dieser Lebensführung ihn rasch
berückt. Welch ein Aufenthalt in der Tat, der die Reize eines
gepflegten Badelebens an südlichem Strande mit der traulich bereiten
Nähe der wunderlich-wundersamen Stadt verbindet! Aschenbach liebte
nicht den Genuß. Wann immer und wo es galt, zu feiern, der Ruhe zu
pflegen, sich gute Tage zu machen, verlangte ihn bald--und namentlich
in jüngeren Jahren war dies so gewesen--mit Unruhe und Widerwillen
zurück in die hohe Mühsal, den heilig nüchternen Dienst seines
Alltags. Nur dieser Ort verzauberte ihn, entspannte sein Wollen,
machte ihn glücklich. Manchmal vormittags, unter dem Schattentuch
seiner Hütte, hinträumend über die Bläue des Südmeers, oder bei lauer
Nacht auch wohl, gelehnt in die Kissen der Gondel, die ihn vom
Markusplatz, wo er sich lange verweilt, unter dem groß gestirnten
Himmel heimwärts zum Lido führte--und die bunten Lichter, die
schmelzenden Klänge der Serenade blieben zurück,--erinnerte er sich
seines Landsitzes in den Bergen, der Stätte seines sommerlichen
Ringens, wo die Wolken tief durch den Garten zogen, fürchterliche
Gewitter am Abend das Licht des Hauses löschten und die Raben, die er
fütterte, sich in den Wipfeln der Fichten schwangen. Dann schien es
ihm wohl, als sei er entrückt ins elysische Land, an die Grenzen der
Erde, wo leichtestes Leben den Menschen beschert ist, wo nicht Schnee
ist und Winter noch Sturm und strömender Regen, sondern immer sanft
kühlenden Anhauch Okeanos aufsteigen läßt und in seliger Muße die Tage
verrinnen, mühelos, kampflos und ganz nur der Sonne und ihren Festen
geweiht.

Viel, fast beständig sah Aschenbach den Knaben Tadzio; ein
beschränkter Raum, eine jedem gegebene Lebensordnung brachten es mit
sich, daß der Schöne ihm tagüber mit kurzen Unterbrechungen nahe war.
Er sah, er traf ihn überall: in den unteren Räumen des Hotels, auf den
kühlenden Wasserfahrten zur Stadt und von dort zurück, im Gepränge des
Platzes selbst und oft noch zwischenein auf Wegen und Stegen, wenn der
Zufall ein Übriges tat. Hauptsächlich aber und mit der glücklichsten
Regelmäßigkeit bot ihm der Vormittag am Strande ausgedehnte
Gelegenheit, der holden Erscheinung Andacht und Studium zu widmen. Ja,
diese Gebundenheit des Glückes, diese täglich-gleichmäßig wieder
anbrechende Gunst der Umstände war es so recht, was ihn mit
Zufriedenheit und Lebensfreude erfüllte, was ihm den Aufenthalt teuer
machte und einen Sonnentag so gefällig hinhaltend sich an den anderen
reihen ließ.

Er war früh auf, wie sonst wohl bei pochendem Arbeitsdrange, und vor
den meisten am Strand, wenn die Sonne noch milde war und das Meer weiß
blendend in Morgenträumen lag. Er grüßte menschenfreundlich den
Wächter der Sperre, grüßte auch vertraulich den barfüßigen Weißbart,
der ihm die Stätte bereitet, das braune Schattentuch ausgespannt, die
Möbel der Hütte hinaus auf die Plattform gerückt hatte, und ließ sich
nieder. Drei Stunden oder vier waren dann sein, in denen die Sonne zur
Höhe stieg und furchtbare Macht gewann, in denen das Meer tiefer und
tiefer blaute und in denen er Tadzio sehen durfte.

Er sah ihn kommen, von links, am Rande des Meeres daher, sah ihn von
rückwärts zwischen den Hütten hervortreten oder fand auch wohl
plötzlich und nicht ohne ein frohes Erschrecken, daß er sein Kommen
versäumt und daß er schon da war, schon in dem blau und weißen
Badeanzug, der jetzt am Strand seine einzige Kleidung war, sein
gewohntes Treiben in Sonne und Sand wieder aufgenommen hatte,--dies
lieblich nichtige, müßig unstete Leben, das Spiel war und Ruhe, ein
Schlendern, Waten, Graben, Haschen, Lagern und Schwimmen, bewacht,
berufen von den Frauen auf der Plattform, die mit Kopfstimmen seinen
Namen ertönen ließen: »Tadziu! Tadziu!« und zu denen er mit eifrigem
Gebärdenspiel gelaufen kam, ihnen zu erzählen, was er erlebt, ihnen
zu zeigen, was er gefunden, gefangen: Muscheln, Seepferdchen, Quallen
und seitlich laufende Krebse. Aschenbach verstand nicht ein Wort von
dem, was er sagte, und mochte es das Alltäglichste sein, es war
verschwommener Wohllaut in seinem Ohr. So erhob Fremdheit des Knaben
Rede zur Musik, eine übermütige Sonne goß verschwenderischen Glanz
über ihn aus, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner
Erscheinung Folie und Hintergrund.

Bald kannte der Betrachtende jede Linie und Pose dieses so gehobenen,
so frei sich darstellenden Körpers, begrüßte freudig jede schon
vertraute Schönheit aufs Neue und fand der Bewunderung, der zarten
Sinneslust kein Ende. Man rief den Knaben, einen Gast zu begrüßen, der
den Frauen bei der Hütte aufwartete; er lief herbei, lief naß
vielleicht aus der Flut, er warf die Locken, und indem er die Hand
reichte, auf einem Beine ruhend, den anderen Fuß auf die Zehenspitzen
gestellt, hatte er eine reizende Drehung und Wendung des Körpers,
anmutig spannungsvoll, verschämt aus Liebenswürdigkeit, gefallsüchtig
aus adeliger Pflicht. Er lag ausgestreckt, das Badetuch um die Brust
geschlungen, den zart gemeißelten Arm in den Sand gestützt, das Kinn
in der hohlen Hand; der, welcher »Jaschu« gerufen wurde, saß kauernd
bei ihm und tat ihm schön, und nichts konnte bezaubernder sein, als
das Lächeln der Augen und Lippen, mit dem der Ausgezeichnete zu dem
Geringeren, Dienenden aufblickte. Er stand am Rande der See, allein,
abseits von den Seinen, ganz nahe bei Aschenbach,--aufrecht, die Hände
im Nacken verschlungen, langsam sich auf den Fußballen schaukelnd, und
träumte ins Blaue, während kleine Wellen, die anliefen, seine Zehen
badeten. Sein honigfarbenes Haar schmiegte sich in Ringeln an die
Schläfen und in den Nacken, die Sonne erleuchtete den Flaum des oberen
Rückgrates, die feine Zeichnung der Rippen, das Gleichmaß der Brust
traten durch die knappe Umhüllung des Rumpfes hervor, seine
Achselhöhlen waren noch glatt wie bei einer Statue, seine Kniekehlen
glänzten, und ihr bläuliches Geäder ließ seinen Körper wie aus
klarerem Stoffe gebildet erscheinen. Welch eine Zucht, welche
Präzision des Gedankens war ausgedrückt in diesem gestreckten und
jugendlich vollkommenen Leibe! Der strenge und reine Wille jedoch,
der, dunkel tätig, dies göttliche Bildwerk ans Licht zu treiben
vermocht hatte,--war er nicht ihm, dem Künstler, bekannt und vertraut?
Wirkte er nicht auch in ihm, wenn er, besonnener Leidenschaft voll,
aus der Marmormasse der Sprache die schlanke Form befreite, die er im
Geiste geschaut und die er als Standbild und Spiegel geistiger
Schönheit den Menschen darstellte?

Standbild und Spiegel! Seine Augen umfaßten die edle Gestalt dort am
Rande des Blauen, und in aufschwärmendem Entzücken glaubte er mit
diesem Blick das Schöne selbst zu begreifen, die Form als
Gottesgedanken, die eine und reine Vollkommenheit, die im Geiste lebt
und von der ein menschliches Abbild und Gleichnis hier leicht und hold
zur Anbetung aufgerichtet war. Das war der Rausch; und unbedenklich,
ja gierig, hieß der alternde Künstler ihn willkommen. Sein Geist
kreiste, seine Bildung geriet ins Wallen, sein Gedächtnis warf uralte,
seiner Jugend überlieferte und bis dahin niemals von eigenem Feuer
belebte Gedanken auf. Stand nicht geschrieben, daß die Sonne unsere
Aufmerksamkeit von den intellektuellen auf die sinnlichen Dinge
wendet? Sie betäube und bezaubere, hieß es, Verstand und Gedächtnis,
dergestalt, daß die Seele vor Vergnügen ihres eigentlichen Zustandes
ganz vergesse und mit staunender Bewunderung an dem schönsten der
besonnten Gegenstände hängen bleibe: ja, nur mit Hülfe eines Körpers
vermöge sie dann noch zu höherer Betrachtung sich zu erheben. Amor
fürwahr tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern
greifbare Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der
Gott sich, um uns das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt
und Farbe menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit
allem Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann
wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten.

So dachte der Enthusiasmierte; so vermochte er zu empfinden. Und aus
Meerrausch und Sonnenglast spann sich ihm ein reizendes Bild.
Es war die alte Platane unfern den Mauern Athens,--war jener
heilig-schattige, vom Dufte der Kirschbaumblüten erfüllte Ort, den
Weihbilder und fromme Gaben schmückten zu Ehren der Nymphen und des
Acheloos. Ganz klar fiel der Bach zu Füßen des breitgeästeten Baums
über glatte Kiesel; die Grillen geigten. Auf dem Rasen aber, der sanft
abfiel, so, daß man im Liegen den Kopf hoch halten konnte, lagerten
Zwei, geborgen hier vor der Glut des Tages: ein Ältlicher und ein
Junger, ein Häßlicher und ein Schöner, der Weise beim Liebenswürdigen.
Und unter Artigkeiten und geistreich werbenden Scherzen belehrte
Sokrates den Phaidros über Sehnsucht und Tugend. Er sprach ihm von dem
heißen Erschrecken, das der Fühlende leidet, wenn sein Auge ein
Gleichnis der ewigen Schönheit erblickt; sprach ihm von den Begierden
des Weihelosen und Schlechten, der die Schönheit nicht denken kann,
wenn er ihr Abbild sieht, und der Ehrfurcht nicht fähig ist; sprach
von der heiligen Angst, die den Edlen befällt, wenn ein gottgleiches
Antlitz, ein vollkommener Leib ihm erscheint, er dann aufbebt und
außer sich ist und hinzusehen sich kaum getraut und den verehrt, der
die Schönheit hat, ja, ihm opfern würde, wie einer Bildsäule, wenn er
nicht fürchten müßte, den Menschen närrisch zu scheinen. Denn die
Schönheit, mein Phaidros, nur sie, ist liebenswürdig und sichtbar
zugleich: sie ist, merke das wohl! die einzige Form des Geistigen,
welche wir sinnlich empfangen, sinnlich ertragen können. Oder was
würde aus uns, wenn das Göttliche sonst, wenn Vernunft und Tugend und
Wahrheit uns sinnlich erscheinen wollten? Würden wir nicht vergehen
und verbrennen vor Liebe, wie Semele einstmals vor Zeus? So ist die
Schönheit der Weg des Fühlenden zum Geiste,--nur der Weg, ein Mittel
nur, kleiner Phaidros... Und dann sprach er das Feinste aus, der
verschlagene Hofmacher: Dies, daß der Liebende göttlicher sei, als der
Geliebte, weil in jenem der Gott sei nicht aber im andern,--diesen
zärtlichsten, spöttischsten Gedanken vielleicht, der jemals gedacht
ward, und dem alle Schalkheit und heimlichste Wollust der Sehnsucht
entspringt. Glück des Schriftstellers ist der Gedanke, der ganz
Gefühl, ist das Gefühl, das ganz Gedanke zu werden vermag. Solch ein
pulsender Gedanke, solch genaues Gefühl gehörte und gehorchte dem
Einsamen damals: nämlich, daß die Natur vor Wonne erschaure, wenn der
Geist sich huldigend vor der Schönheit neige. Er wünschte plötzlich,
zu schreiben. Zwar liebt Eros, heißt es, den Müßiggang, und für
solchen nur ist er geschaffen. Aber an diesem Punkte der Krisis war
die Erregung des Heimgesuchten auf Produktion gerichtet. Fast
gleichgültig der Anlaß. Eine Frage, eine Anregung, über ein gewisses
großes und brennendes Problem der Kultur und des Geschmackes sich
bekennend vernehmen zu lassen, war in die geistige Welt ergangen und
bei dem Verreisten eingelaufen. Der Gegenstand war ihm geläufig, war
ihm Erlebnis; sein Gelüst, ihn im Licht seines Wortes erglänzen zu
lassen, auf einmal unwiderstehlich. Und zwar ging sein Verlangen
dahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den Wuchs des
Knaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers
folgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins
Geistige zu tragen, wie der Adler einst den troischen Hirten zum Äther
trug. Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt,
daß Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden,
in denen er, an seinem rohen Tische unter dem Schattentuch, im
Angesicht des Idols und die Musik seiner Stimme im Ohr, nach Tadzios
Schönheit seine kleine Abhandlung,--jene anderthalb Seiten erlesener
Prosa formte, deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung
binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte. Es ist sicher
gut, daß die Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge,
nicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn die Kenntnis der
Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floß, würde sie oftmals
verwirren, abschrecken und so die Wirkungen des Vortrefflichen
aufheben. Sonderbare Stunden! Sonderbar entnervende Mühe! Seltsam
zeugender Verkehr des Geistes mit einem Körper! Als Aschenbach seine
Arbeit verwahrte und vom Strande aufbrach, fühlte er sich erschöpft,
ja zerrüttet, und ihm war, als ob sein Gewissen wie nach einer
Ausschweifung Klage führe.

Es war am folgenden Morgen, daß er, im Begriff das Hotel zu verlassen,
von der Freitreppe aus gewahrte, wie Tadzio, schon unterwegs zum
Meere--und zwar allein,--sich eben der Strandsperre näherte. Der
Wunsch, der einfache Gedanke, die Gelegenheit zu nutzen und mit dem,
der ihm unwissentlich so viel Erhebung und Bewegung bereitet, leichte,
heitere Bekanntschaft zu machen, ihn anzureden, sich seiner Antwort,
seines Blickes zu erfreuen, lag nahe und drängte sich auf. Der Schöne
ging schlendernd, er war einzuholen, und Aschenbach beschleunigte
seine Schritte. Er erreicht ihn auf dem Brettersteig hinter den
Hütten, er will ihm die Hand aufs Haupt, auf die Schulter legen und
irgend ein Wort, eine freundliche französische Phrase schwebt ihm auf
den Lippen: da fühlt er, daß sein Herz, vielleicht auch vom schnellen
Gang, wie ein Hammer schlägt, daß er, so knapp bei Atem, nur gepreßt
und bebend wird sprechen können; er zögert, er sucht sich zu
beherrschen, er fürchtet plötzlich, schon zu lange dicht hinter dem
Schönen zu gehen, fürchtet sein Aufmerksamwerden, sein fragendes
Umschauen, nimmt noch einen Anlauf, versagt, verzichtet und geht
gesenkten Hauptes vorüber.

Zu spät! dachte er in diesem Augenblick. Zu spät! Jedoch war es zu
spät? Dieser Schritt, den zu tun er versäumte, er hätte sehr
möglicherweise zum Guten, Leichten und Frohen, zu heilsamer
Ernüchterung geführt. Allein es war wohl an dem, daß der Alternde die
Ernüchterung nicht wollte, daß der Rausch ihm zu teuer war. Wer
enträtselt Wesen und Gepräge des Künstlertums! Wer begreift die tiefe
Instinktverschmelzung von Zucht und Zügellosigkeit, worin es beruht!
Denn heilsame Ernüchterung nicht wollen zu können, ist Zügellosigkeit.
Aschenbach war zur Selbstkritik nicht mehr aufgelegt; der Geschmack,
die geistige Verfassung seiner Jahre, Selbstachtung, Reife und späte
Einfachheit machten ihn nicht geneigt, Beweggründe zu zergliedern und
zu entscheiden, ob er aus Gewissen, ob aus Liederlichkeit und Schwäche
sein Vorhaben nicht ausgeführt habe. Er war verwirrt, er fürchtete,
daß irgend jemand, wenn auch der Strandwächter nur, seinen Lauf, seine
Niederlage beobachtet haben möchte, fürchtete sehr die Lächerlichkeit.
Im übrigen scherzte er bei sich selbst über seine komisch-heilige
Angst. »Bestürzt«, dachte er, »bestürzt wie ein Hahn, der angstvoll
seine Flügel im Kampfe hängen läßt. Das ist wahrlich der Gott, der
beim Anblick des Liebenswürdigen so unseren Mut bricht und unsern
stolzen Sinn so gänzlich zu Boden drückt...« Er spielte, schwärmte und
war viel zu hochmütig, um ein Gefühl zu fürchten.

Schon überwachte er nicht mehr den Ablauf der Mußezeit, die er sich
selber gewährt; der Gedanke an Heimkehr berührte ihn nicht einmal. Er
hatte sich reichlich Geld verschrieben. Seine Besorgnis galt einzig
der möglichen Abreise der polnischen Familie; doch hatte er unter der
Hand, durch beiläufige Erkundigung beim Coiffeur des Hotels, erfahren,
daß diese Herrschaften ganz kurz vor seiner eigenen Ankunft hier
abgestiegen seien. Die Sonne bräunte ihm Antlitz und Hände, der
erregende Salzhauch stärkte ihn zum Gefühl, und wie er sonst jede
Erquickung, die Schlaf, Nahrung oder Natur ihm gespendet, sogleich an
ein Werk zu verausgaben gewohnt war, so ließ er nun alles, was Sonne,
Muße und Meerluft ihm an täglicher Kräftigung zuführten,
hochherzig-unwirtschaftlich aufgehen in Rausch und Empfindung.

Sein Schlaf war flüchtig; die köstlich einförmigen Tage waren getrennt
durch kurze Nächte voll glücklicher Unruhe. Zwar zog er sich zeitig
zurück, denn um neun Uhr, wenn Tadzio vom Schauplatz verschwunden war,
schien der Tag ihm beendet. Aber ums erste Morgengrauen weckte ihn ein
zart durchdringendes Erschrecken, sein Herz erinnerte sich seines
Abenteuers, es litt ihn nicht mehr in den Kissen, er erhob sich, und
leicht eingehüllt gegen die Schauer der Frühe setzte er sich ans
offene Fenster, den Aufgang der Sonne zu erwarten. Das wundervolle
Ereignis erfüllte seine vom Schlafe geweihte Seele mit Andacht. Noch
lagen Himmel, Erde und Meer in geisterhaft glasiger Dämmerblässe; noch
schwamm ein vergehender Stern im Wesenlosen. Aber ein Wehen kam, eine
beschwingte Kunde von unnahbaren Wohnplätzen, daß Eos sich von der
Seite des Gatten erhebe, und jenes erste, süße Erröten der fernsten
Himmels-und Meeresstriche geschah, durch welches das Sinnlichwerden
der Schöpfung sich anzeigt. Die Göttin nahte, die
Jünglingsentführerin, die den Kleitos, den Kephalos raubte und dem
Neide aller Olympischen trotzend die Liebe des schönen Orion genoß.
Ein Rosenstreuen begann da am Rande der Welt, ein unsäglich holdes
Scheinen und Blühen, kindliche Wolken, verklärt, durchleuchtet,
schwebten gleich dienenden Amoretten im rosigen, bläulichen Duft,
Purpur fiel auf das Meer, das ihn wallend vorwärts zu schwemmen
schien, goldene Speere zuckten von unten zur Höhe des Himmels hinauf,
der Glanz ward zum Brande, lautlos, mit göttlicher Übergewalt wälzten
sich Glut und Brunst und lodernde Flammen herauf, und mit raffenden
Hufen stiegen des Bruders heilige Renner über den Erdkreis empor.
Angestrahlt von der Pracht des Gottes saß der Einsam-Wache, er schloß
die Augen und ließ von der Glorie seine Lider küssen. Ehemalige
Gefühle, frühe, köstliche Drangsale des Herzens, die im strengen
Dienst seines Lebens erstorben waren und nun so sonderbar gewandelt
zurückkehrten,--er erkannte sie mit verwirrtem, verwundertem Lächeln.
Er sann, er träumte, langsam bildeten seine Lippen einen Namen, und
noch immer lächelnd, mit aufwärts gekehrtem Antlitz, die Hände im
Schöße gefaltet, entschlummerte er in seinem Sessel noch einmal.

Aber der Tag, der so feurig-festlich begann, war im ganzen seltsam
gehoben und mythisch verwandelt. Woher kam und stammte der Hauch, der
auf einmal so sanft und bedeutend, höherer Einflüsterung gleich,
Schläfe und Ohr umspielte? Weiße Federwölkchen standen in verbreiteten
Scharen am Himmel, gleich weidenden Herden der Götter. Stärkerer Wind
erhob sich, und die Rosse Poseidons liefen, sich bäumend, daher,
Stiere auch wohl, dem Bläulichgelockten gehörig, welche mit Brüllen
anrennend die Hörner senkten. Zwischen dem Felsengeröll des
entfernteren Strandes jedoch hüpften die Wellen empor als springende
Ziegen. Eine heilig entstellte Welt voll panischen Lebens schloß den
Berückten ein, und sein Herz träumte zarte Fabeln. Mehrmals, wenn
hinter Venedig die Sonne sank, saß er auf einer Bank im Park, um
Tadzio zuzuschauen, der sich, weiß gekleidet und farbig gegürtet, auf
dem gewalzten Kiesplatz mit Ballspiel vergnügte, und Hyakinthos war
es, den er zu sehen glaubte, und der sterben mußte, weil zwei Götter
ihn liebten. Ja, er empfand Zephyrs schmerzenden Neid auf den
Nebenbuhler, der des Orakels, des Bogens und der Kithara vergaß, um
immer mit dem Schönen zu spielen; er sah die Wurfscheibe, von
grausamer Eifersucht gelenkt, das liebliche Haupt treffen, er empfing,
erblassend auch er, den geknickten Leib, und die Blume, dem süßen
Blute entsprossen, trug die Inschrift seiner unendlichen Klage...

Seltsamer, heikler ist nichts als das Verhältnis von Menschen, die
sich nur mit den Augen kennen,--die täglich, ja stündlich einander
begegnen, beobachten und dabei den Schein gleichgültiger Fremdheit
grußlos und wortlos aufrecht zu halten durch Sittenzwang oder eigene
Grille genötigt sind. Zwischen ihnen ist Unruhe und überreizte
Neugier, die Hysterie eines unbefriedigten, unnatürlich unterdrückten
Erkenntnis-und Austauschbedürfnisses und namentlich auch eine Art von
gespannter Achtung. Denn der Mensch liebt und ehrt den Menschen, so
lange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein
Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis.

Irgend eine Beziehung und Bekanntschaft mußte sich notwendig ausbilden
zwischen Aschenbach und dem jungen Tadzio, und mit durchdringender
Freude konnte der Ältere feststellen, daß Teilnahme und Aufmerksamkeit
nicht völlig unerwidert blieben. Was bewog zum Beispiel den Schönen,
niemals mehr, wenn er morgens am Strande erschien, den Brettersteg an
der Rückseite der Hütten zu benützen, sondern nur noch auf dem
vorderen Wege, durch den Sand, an Aschenbachs Wohnplatz vorbei und
manchmal unnötig dicht an ihm vorbei, seinen Tisch, seinen Stuhl fast
streifend, zur Hütte der Seinen zu schlendern? Wirkte so die
Anziehung, die Faszination eines überlegenen Gefühls auf seinen zarten
und gedankenlosen Gegenstand? Aschenbach erwartete täglich Tadzios
Auftreten, und zuweilen tat er, als sei er beschäftigt, wenn es sich
vollzog, und ließ den Schönen scheinbar unbeachtet vorübergehen.
Zuweilen aber auch blickte er auf, und ihre Blicke trafen sich. Sie
waren beide tief ernst, wenn das geschah. In der gebildeten und
würdevollen Miene des Älteren verriet nichts eine innere Bewegung;
aber in Tadzios Augen war ein Forschen, ein nachdenkliches Fragen, in
seinen Gang kam ein Zögern, er blickte zu Boden, er blickte lieblich
wieder auf, und wenn er vorüber war, so schien ein Etwas in seiner
Haltung auszudrücken, daß nur Erziehung ihn hinderte, sich umzuwenden.

Einmal jedoch, eines Abends, begab es sich anders. Die polnischen
Geschwister hatten nebst ihrer Gouvernante bei der Hauptmahlzeit im
großen Saale gefehlt,--mit Besorgnis hatte Aschenbach es wahrgenommen.
Er erging sich nach Tische, sehr unruhig über ihren Verbleib, in
Abendanzug und Strohhut vor dem Hotel, zu Füßen der Terrasse, als er
plötzlich die nonnenähnlichen Schwestern mit der Erzieherin und vier
Schritte hinter ihnen Tadzio im Lichte der Bogenlampen auftauchen sah.
Offenbar kamen sie von der Dampferbrücke, nachdem sie aus irgendeinem
Grunde in der Stadt gespeist. Auf dem Wasser war es wohl kühl gewesen;
Tadzio trug eine dunkelblaue Seemanns-Überjacke mit goldenen Knöpfen
und auf dem Kopf eine zugehörige Mütze. Sonne und Seeluft verbrannten
ihn nicht, seine Hautfarbe war marmorhaft gelblich geblieben wie zu
Beginn; doch schien er blässer heute als sonst, sei es infolge der
Kühle oder durch den bleichenden Mondschein der Lampen. Seine
ebenmäßigen Brauen zeichneten sich schärfer ab, seine Augen dunkelten
tief. Er war schöner, als es sich sagen läßt, und Aschenbach empfand
wie schon oftmals mit Schmerzen, daß das Wort die sinnliche Schönheit
nur zu preisen, nicht wiederzugeben vermag.

Er war der teuren Erscheinung nicht gewärtig gewesen, sie kam
unverhofft, er hatte nicht Zeit gehabt, seine Miene zu Ruhe und Würde
zu befestigen. Freude, Überraschung, Bewunderung mochten sich offen
darin malen, als sein Blick dem des Vermißten begegnete,--und in
dieser Sekunde geschah es, daß Tadzio lächelte: ihn anlächelte,
sprechend, vertraut, liebreizend und unverhohlen, mit Lippen, die sich
im Lächeln erst langsam öffneten. Es war das Lächeln des Narziß, der
sich über das spiegelnde Wasser neigt, jenes tiefe, bezauberte,
hingezogene Lächeln, mit dem er nach dem Widerschein der eigenen
Schönheit die Arme streckt,--ein ganz wenig verzerrtes Lächeln,
verzerrt von der Aussichtslosigkeit seines Trachtens, die holden
Lippen seines Schattens zu küssen, kokett, neugierig und leise
gequält, betört und betörend.

Der, welcher dies Lächeln empfangen, enteilte damit wie mit einem
verhängnisvollen Geschenk. Er war so sehr erschüttert, daß er das
Licht der Terrasse, des Vorgartens, zu fliehen gezwungen war und mit
hastigen Schritten das Dunkel des rückwärtigen Parkes suchte.
Sonderbar entrüstete und zärtliche Vermahnungen entrangen sich ihm:
»Du darfst so nicht lächeln! Höre, man darf so niemandem lächeln!« Er
warf sich auf eine Bank, er atmete außer sich den nächtlichen Duft der
Pflanzen. Und zurückgelehnt, mit hängenden Armen, überwältigt und
mehrfach von Schauern überlaufen, flüsterte er die stehende Formel der
Sehnsucht,--unmöglich hier, absurd, verworfen, lächerlich und heilig
doch, ehrwürdig auch hier noch: »Ich liebe dich!«



Fünftes Kapitel


In der vierten Woche seines Aufenthalts auf dem Lido machte Gustav von
Aschenbach einige die Außenwelt betreffende unheimliche Wahrnehmungen.
Erstens schien es ihm, als ob bei steigender Jahreszeit die Frequenz
seines Gasthofes eher ab-als zunähme, und, insbesondere, als ob die
deutsche Sprache um ihn her versiege und verstumme, so daß bei Tisch
und am Strand endlich nur noch fremde Laute sein Ohr trafen. Eines
Tages dann fing er beim Coiffeur, den er jetzt häufig besuchte, im
Gespräche ein Wort auf, das ihn stutzig machte. Der Mann hatte einer
deutschen Familie erwähnt, die soeben nach kurzem Verweilen abgereist
war und setzte plaudernd und schmeichelnd hinzu: »Sie bleiben, mein
Herr; Sie haben keine Furcht vor dem Übel.« Aschenbach sah ihn an.
»Dem Übel?« wiederholte er. Der Schwätzer verstummte, tat beschäftigt,
überhörte die Frage, und als sie dringlicher gestellt ward, erklärte
er, er wisse von nichts und suchte mit verlegener Beredsamkeit
abzulenken.

Das war um Mittag. Nachmittags fuhr Aschenbach bei Windstille und
schwerem Sonnenbrand nach Venedig; denn ihn trieb die Manie, den
polnischen Geschwistern zu folgen, die er mit ihrer Begleiterin den
Weg zur Dampferbrücke hatte einschlagen sehen. Er fand den Abgott
nicht bei San Marco. Aber beim Tee, an seinem eisernen Rundtischchen
auf der Schattenseite des Platzes sitzend, witterte er plötzlich in
der Luft ein eigentümliches Arom, von dem ihm jetzt schien, als habe
es schon seit Tagen, ohne ihm ins Bewußtsein zu dringen, seinen Sinn
berührt,--einen süßlich-offizinellen Geruch, der an Elend und Wunden
und verdächtige Reinlichkeit erinnerte. Er prüfte und erkannte ihn
nachdenklich, beendete seinen Imbiß und verließ den Platz auf der dem
Tempel gegenüberliegenden Seite. In der Enge verstärkte sich der
Geruch. An den Straßenecken hafteten gedruckte Anschläge, durch welche
die Bevölkerung wegen gewisser Erkrankungen des gastrischen Systems,
die bei dieser Witterung an der Tagesordnung seien, vor dem Genusse
von Austern und Muscheln, auch vor dem Wasser der Kanäle
stadtväterlich gewarnt wurde. Die beschönigende Natur des Erlasses war
deutlich. Volksgruppen standen schweigsam auf Brücken und Plätzen
beisammen; und der Fremde stand spürend und grübelnd unter ihnen.

Einen Ladeninhaber, der zwischen Korallenschnüren und falschen
Amethyst-Geschmeiden in der Türe seines Gewölbes lehnte, bat er um
Auskunft über den fatalen Geruch. Der Mann maß ihn mit schweren Augen
und ermunterte sich hastig. »Eine vorbeugende Maßregel, mein Herr!«
antwortete er mit Gebärdenspiel. »Eine Verfügung der Polizei, die man
billigen muß. Diese Witterung drückt, der Scirocco ist der Gesundheit
nicht zuträglich. Kurz, Sie verstehen,--eine vielleicht übertriebene
Vorsicht...« Aschenbach dankte ihm und ging weiter. Auch auf dem
Dampfer, der ihn zum Lido zurücktrug, spürte er jetzt den Geruch des
keimbekämpfenden Mittels.

Ins Hotel zurückgekehrt, begab er sich sogleich in die Halle zum
Zeitungstisch und hielt in den Blättern Umschau. Er fand in den
fremdsprachigen nichts. Die heimatlichen verzeichneten Gerüchte,
führten schwankende Ziffern an, gaben amtliche Ableugnungen wieder und
bezweifelten deren Wahrhaftigkeit. So erklärte sich der Abzug des
deutschen und österreichischen Elementes. Die Angehörigen der übrigen
Nationen wußten offenbar nichts, ahnten nichts, waren noch nicht
beunruhigt. »Man soll schweigen!« dachte Aschenbach erregt, indem er
die Journale auf den Tisch zurückwarf. »Man soll das verschweigen!«
Aber zugleich füllte sein Herz sich mit Genugtuung über das Abenteuer,
in welches die Außenwelt geraten wollte. Denn der Leidenschaft ist,
wie dem Verbrechen, die gesicherte Ordnung und Wohlfahrt des Alltags
nicht gemäß, und jede Lockerung des bürgerlichen Gefüges, jede
Verwirrung und Heimsuchung der Welt muß ihr willkommen sein, weil sie
ihren Vorteil dabei zu finden unbestimmt hoffen kann. So empfand
Aschenbach eine dunkle Zufriedenheit über die obrigkeitlich
bemäntelten Vorgänge in den schmutzigen Gäßchen Venedigs,--dieses
schlimme Geheimnis der Stadt, das mit seinem eigensten Geheimnis
verschmolz, und an dessen Bewahrung auch ihm so sehr gelegen war. Denn
der Verliebte besorgte nichts, als daß Tadzio abreisen könnte und
erkannte nicht ohne Entsetzen, daß er nicht mehr zu leben wissen
werde, wenn das geschähe.

Neuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen
der Tagesregel und dem Glücke zu danken; er verfolgte ihn, er stellte
ihm nach. Sonntags zum Beispiel erschienen die Polen niemals am
Strande; er erriet, daß sie die Messe in San Marco besuchten, er eilte
dorthin, und aus der Glut des Platzes in die goldene Dämmerung des
Heiligtums eintretend, fand er den Entbehrten, über ein Betpult
gebeugt beim Gottesdienst. Dann stand er im Hintergrunde, auf
zerklüftetem Mosaikboden, inmitten knieenden, murmelnden,
kreuzschlagenden Volkes, und die gedrungene Pracht des
morgenländischen Tempels lastete üppig auf seinen Sinnen. Vorn
wandelte, hantierte und sang der schwergeschmückte Priester, Weihrauch
quoll auf, er umnebelte die kraftlosen Flämmchen der Altarkerzen, und
in den dumpfsüßen Opferduft schien sich leise ein anderer zu mischen:
der Geruch der erkrankten Stadt. Aber durch Dunst und Gefunkel sah
Aschenbach, wie der Schöne dort vorn den Kopf wandte, ihn suchte und
ihn erblickte.

Wenn dann die Menge durch die geöffneten Portale hinausströmte auf den
leuchtenden, von Tauben wimmelnden Platz, verbarg sich der Betörte in
der Vorhalle, er versteckte sich, er legte sich auf die Lauer. Er sah
die Polen die Kirche verlassen, sah, wie die Geschwister sich auf
zeremoniöse Art von der Mutter verabschiedeten und wie diese sich
heimkehrend zur Piazzetta wandte; er stellte fest, daß der Schöne, die
klösterlichen Schwestern und die Gouvernante den Weg zur Rechten durch
das Tor des Uhrturmes und in die Merceria einschlugen, und nachdem er
sie einigen Vorsprung hatte gewinnen lassen, folgte er ihnen, folgte
ihnen verstohlen auf ihrem Spaziergang durch Venedig.

Er mußte stehen bleiben, wenn sie sich verweilten, mußte in Garküchen
und Höfe flüchten, um die Umkehrenden vorüber zu lassen; er verlor
sie, suchte erhitzt und erschöpft nach ihnen über Brücken und in
schmutzigen Sackgassen und erduldete Minuten tödlicher Pein, wenn er
sie plötzlich in enger Passage, wo kein Ausweichen möglich war, sich
entgegenkommen sah. Dennoch kann man nicht sagen, daß er litt. Haupt
und Herz waren ihm trunken, und seine Schritte folgten den Weisungen
des Dämons, dem es Lust ist, des Menschen Vernunft und Würde unter
seine Füße zu treten.

Irgendwo nahmen Tadzio und die Seinen dann wohl eine Gondel, und
Aschenbach, den, während sie einstiegen, ein Vorbau, ein Brunnen
verborgen gehalten hatte, tat, kurz nachdem sie vom Ufer abgestoßen,
ein Gleiches. Er sprach hastig und gedämpft, wenn er den Ruderer,
unter dem Versprechen eines reichlichen Trinkgeldes, anwies, jener
Gondel, die eben dort um die Ecke biege, unauffällig in einigem
Abstand zu folgen; und es überrieselte ihn, wenn der Mensch, mit der
spitzbübischen Erbötigkeit eines Gelegenheitsmachers, ihm in demselben
Tone versicherte, daß er bedient, daß er gewissenhaft bedient werden
solle.

So glitt und schwankte er denn, in weiche, schwarze Kissen gelehnt,
der anderen schwarzen, geschnabelten Barke nach, an deren Spur die
Passion ihn fesselte. Zuweilen entschwand sie ihm: dann fühlte er
Kummer und Unruhe. Aber sein Führer, als sei er in solchen Aufträgen
wohl geübt, wußte ihm stets durch schlaue Manöver, durch rasche
Querfahrten und Abkürzungen das Begehrte wieder vor Augen zu bringen.
Die Luft war still und riechend, schwer brannte die Sonne durch den
Dunst, der den Himmel schieferig färbte. Wasser schlug glucksend gegen
Holz und Stein. Der Ruf des Gondoliers, halb Warnung, halb Gruß, ward
fernher aus der Stille des Labyrinths nach sonderbarer Übereinkunft
beantwortet. Aus kleinen, hochliegenden Gärten hingen Blütendolden,
weiß und purpurn, nach Mandeln duftend, über morsches Gemäuer.
Arabische Fensterumrahmungen bildeten sich im Trüben ab. Die
Marmorstufen einer Kirche stiegen in die Flut; ein Bettler, darauf
kauernd, sein Elend beteuernd, hielt seinen Hut hin und zeigte das
Weiße der Augen, als sei er blind, ein Altertumshändler, vor seiner
Spelunke, lud den Vorüberziehenden mit kriecherischen Gebärden zum
Aufenthalt ein, in der Hoffnung, ihn zu betrügen. Das war Venedig, die
schmeichlerische und verdächtige Schöne,--diese Stadt, halb Märchen,
halb Fremdenfalle, in deren fauliger Luft die Kunst einst
schwelgerisch aufwucherte und welche den Musikern Klänge eingab, die
wiegen und buhlerisch einlullen. Dem Abenteuernden war es, als tränke
sein Auge dergleichen Üppigkeit, als würde sein Ohr von solchen
Melodien umworben; er erinnerte sich auch, daß die Stadt krank sei und
es aus Gewinnsucht verheimliche, und er spähte ungezügelter aus nach
der voranschwebenden Gondel.

So wußte und wollte denn der Verwirrte nichts anderes mehr, als den
Gegenstand, der ihn entzündete, ohne Unterlaß zu verfolgen, von ihm
zu träumen, wenn er abwesend war, und, nach der Weise der Liebenden,
seinem bloßen Schattenbild zärtliche Worte zu geben. Einsamkeit,
Fremde und das Glück eines späten und tiefen Rausches ermutigten und
überredeten ihn, sich auch das Befremdlichste ohne Scheu und Erröten
durchgehen zu lassen, wie es denn vorgekommen war, daß er, spät abends
von Venedig heimkehrend, im ersten Stock des Hotels an des Schönen
Zimmertür Halt gemacht, seine Stirn in völliger Trunkenheit an die
Angel der Tür gelehnt und sich lange von dort nicht zu trennen
vermocht hatte, auf die Gefahr, in einer so wahnsinnigen Lage ertappt
und betroffen zu werden.

Dennoch fehlte es nicht an Augenblicken des Innehaltens und der halben
Besinnung. Auf welchen Wegen! dachte er dann mit Bestürzung. Auf
welchen Wegen! Wie jeder Mann, dem natürliche Verdienste ein
aristokratisches Interesse für seine Abstammung einflößen, war er
gewohnt, bei den Leistungen und Erfolgen seines Lebens der Vorfahren
zu gedenken, sich ihrer Zustimmung, ihrer Genugtuung, ihrer
notgedrungenen Achtung im Geiste zu versichern. Er dachte ihrer auch
jetzt und hier, verstrickt in ein so unstatthaftes Erlebnis, begriffen
in so exotischen Ausschweifungen des Gefühls; gedachte der
haltungsvollen Strenge, der anständigen Männlichkeit ihres Wesens und
lächelte schwermütig. Was würden sie sagen? Aber freilich, was hätten
sie zu seinem ganzen Leben gesagt, das von dem ihren so bis zur
Entartung abgewichen war, zu diesem Leben im Banne der Kunst, über das
er selbst einst, im Bürgersinne der Väter, so spöttische
Jünglingserkenntnisse hatte verlauten lassen und das dem ihren im
Grunde so ähnlich gewesen war! Auch er hatte gedient, auch er sich in
harter Zucht geübt; auch er war Soldat und Kriegsmann gewesen, gleich
manchen von ihnen,--denn die Kunst war ein Krieg, ein aufreibender
Kampf, für welchen man heute nicht lange taugte. Ein Leben der
Selbstüberwindung und des Trotzdem, ein herbes, standhaftes und
enthaltsames Leben, das er zum Sinnbild für einen zarten und
zeitgemäßen Heroismus gestaltet hatte,--wohl durfte er es männlich,
durfte es tapfer nennen, und es wollte ihm scheinen, als sei der Eros,
der sich seiner bemeistert, einem solchen Leben auf irgendeine Weise
besonders gemäß und geneigt. Hatte er nicht bei den tapfersten Völkern
vorzüglich in Ansehen gestanden, ja, hieß es nicht, daß er durch
Tapferkeit in ihren Städten geblüht habe? Zahlreiche Kriegshelden der
Vorzeit hatten willig sein Joch getragen, denn gar keine Erniedrigung
galt, die der Gott verhängte, und Taten, die als Merkmale der Feigheit
wären gescholten worden, wenn sie um anderer Zwecke willen geschehen
wären: Fußfälle, Schwüre, inständige Bitten und sklavisches Wesen,
solche gereichten dem Liebenden nicht zur Schande, sondern er erntete
vielmehr noch Lob dafür.

So war des Betörten Denkweise bestimmt, so suchte er sich zu stützen,
seine Würde zu wahren. Aber zugleich wandte er beständig eine spürende
und eigensinnige Aufmerksamkeit den unsauberen Vorgängen im Innern
Venedigs zu, jenem Abenteuer der Außenwelt, das mit dem seines Herzens
dunkel zusammenfloß und seine Leidenschaft mit unbestimmten,
gesetzlosen Hoffnungen nährte. Versessen darauf, Neues und Sicheres
über Stand oder Fortschritt des Übels zu erfahren, durchstöberte er in
den Kaffeehäusern der Stadt die heimatlichen Blätter, da sie vom
Lesetisch der Hotelhalle seit mehreren Tagen verschwunden waren.
Behauptungen und Widerrufe wechselten darin. Die Zahl der
Erkrankungs-, der Todesfälle sollte sich auf zwanzig, auf vierzig, ja
hundert und mehr belaufen, und gleich darauf wurde jedes Auftreten der
Seuche wenn nicht rundweg in Abrede gestellt, so doch auf völlig
vereinzelte, von außen eingeschleppte Fälle zurückgeführt. Warnende
Bedenken, Proteste gegen das gefährliche Spiel der welschen Behörden
waren eingestreut. Gewißheit war nicht zu erlangen.

Dennoch war sich der Einsame eines besonderen Anrechtes bewußt, an dem
Geheimnis teil zu haben, und, gleichwohl ausgeschlossen, fand er eine
bizarre Genugtuung darin, die Wissenden mit verfänglichen Fragen
anzugehen und sie, die zum Schweigen verbündet waren, zur
ausdrücklichen Lüge zu nötigen. Eines Tages beim Frühstück im großen
Speisesaal stellte er so den Geschäftsführer zur Rede, jenen kleinen,
leise auftretenden Menschen im französischen Gehrock, der sich
grüßend und beaufsichtigend zwischen den Speisenden bewegte und auch
an Aschenbachs Tischchen zu einigen Plauderworten Halt machte. Warum
man denn eigentlich, fragte der Gast in lässiger und beiläufiger
Weise, warum in aller Welt, man seit einiger Zeit Venedig
desinfiziere?--»Es handelt sich«, antwortete der Schleicher, »um eine
Maßnahme der Polizei, bestimmt, allerlei Unzuträglichkeiten oder
Störungen der öffentlichen Gesundheit, welche durch die brütende und
ausnehmend warme Witterung erzeugt werden möchten, pflichtgemäß und
beizeiten hintanzuhalten.«--»Die Polizei ist zu loben«, erwiderte
Aschenbach, und nach Austausch einiger meteorologischer Bemerkungen
empfahl sich der Manager.

Selbigen Tages noch, abends nach dem Diner, geschah es, daß eine
kleine Bande von Straßensängern aus der Stadt sich im Vorgarten des
Gasthofes hören ließ. Sie standen, zwei Männer und zwei Weiber, an dem
eisernen Mast einer Bogenlampe und wandten ihre weißbeschienenen
Gesichter zur großen Terrasse empor, wo die Kurgesellschaft sich bei
Kaffee und kühlenden Getränken die volkstümliche Darbietung gefallen
ließ. Das Hotelpersonal, Liftboys, Kellner und Angestellte der Office,
zeigte sich lauschend an den Türen zur Halle. Die russische Familie,
eifrig und genau im Genuß, hatte sich Rohrstühle in den Garten
hinabstellen lassen, um den Ausübenden näher zu sein, und saß dort
dankbar im Halbkreise. Hinter der Herrschaft, in turbanartigem
Kopftuch, stand ihre alte Sklavin.

Mandoline, Guitarre, Harmonika und eine quinkelierende Geige waren
unter den Händen der Bettelvirtuosen in Tätigkeit. Mit instrumentalen
Durchführungen wechselten Gesangsnummern, wie denn das jüngere der
Weiber, scharf und quäkend von Stimme, sich mit dem süß
falsettierenden Tenor zu einem verlangenden Liebesduett zusammentat.
Aber als das eigentliche Talent und Haupt der Vereinigung zeigte sich
unzweideutig der andere der Männer, Inhaber der Guitarre und im
Charakter eine Art Baryton-Buffo, fast ohne Stimme dabei, aber mimisch
begabt und von bemerkenswerter komischer Energie. Oftmals löste er
sich, sein großes Instrument im Arm, von der Gruppe der anderen los
und drang agierend gegen die Rampe vor, wo man seine Eulenspiegeleien
mit aufmunterndem Lachen belohnte. Namentlich die Russen, in ihrem
Parterre, zeigten sich entzückt über soviel südliche Beweglichkeit und
ermutigten ihn durch Beifall und Zurufe, immer kecker und sicherer aus
sich heraus zu gehen.

Aschenbach saß an der Balustrade und kühlte zuweilen die Lippen mit
einem Gemisch aus Granatapfelsaft und Soda, das vor ihm rubinrot im
Glase funkelte. Seine Nerven nahmen die dudelnden Klänge, die vulgären
und schmachtenden Melodien begierig auf, denn die Leidenschaft lähmt
den wählerischen Sinn und läßt sich allen Ernstes mit Reizen ein,
welche die Nüchternheit humoristisch aufnehmen oder unwillig ablehnen
würde. Seine Züge waren durch die Sprünge des Gauklers zu einem fix
gewordenen und schon schmerzenden Lächeln verrenkt. Er saß lässig da,
während eine äußerste Aufmerksamkeit sein Inneres spannte, denn sechs
Schritte von ihm lehnte Tadzio am Steingeländer.

Er stand dort in dem weißen Gürtelanzug, den er zuweilen zur
Hauptmahlzeit anlegte, in unvermeidlicher und anerschaffener Grazie,
den linken Unterarm auf der Brüstung, die Füße gekreuzt, die rechte
Hand in der tragenden Hüfte, und blickte mit einem Ausdruck, der kaum
ein Lächeln, nur eine entfernte Neugier, ein höfliches Entgegennehmen
war, zu den Bänkelsängern hinab. Manchmal richtete er sich gerade auf
und zog, indem er die Brust dehnte, mit einer schönen Bewegung beider
Arme den weißen Kittel durch den Ledergürtel hinunter. Manchmal aber
auch, und der Alternde gewahrte es mit Triumph, mit einem Taumeln
seiner Vernunft und auch mit Entsetzen, wandte er zögernd und behutsam
oder auch rasch und plötzlich, als gelte es eine Überrumpelung, den
Kopf über die linke Schulter gegen den Platz seines Liebhabers. Er
fand nicht dessen Augen, denn eine schmähliche Besorgnis zwang den
Verwirrten, seine Blicke ängstlich im Zaum zu halten. Im Grund der
Terrasse saßen die Frauen, die Tadzio behüteten, und es war dahin
gekommen, daß der Verliebte fürchten mußte, auffällig geworden und
beargwöhnt zu sein. Ja, mit einer Art von Erstarrung hatte er
mehrmals, am Strande, in der Hotelhalle und auf der Piazza San Marco,
zu bemerken gehabt, daß man Tadzio aus seiner Nähe zurückrief, ihn von
ihm fernzuhalten bedacht war--und eine furchtbare Beleidigung daraus
entnehmen müssen, unter der sein Stolz sich in ungekannten Qualen
wand, und welche von sich zu weisen sein Gewissen ihn hinderte.

Unterdessen hatte der Guitarrist zu eigener Begleitung ein Solo
begonnen, einen mehrstrophigen, eben in ganz Italien florierenden
Gassenhauer, in dessen Kehrreim seine Gesellschaft jedesmal mit
Gesang und sämtlichem Musikzeug einfiel und den er auf eine
plastisch-dramatische Art zum Vortrag zu bringen wußte. Schmächtig
gebaut und auch von Antlitz mager und ausgemergelt, stand er,
abgetrennt von den Seinen, den schäbigen Filz im Nacken, so daß ein
Wulst seines roten Haars unter der Krempe hervorquoll, in einer
Haltung von frecher Bravour auf dem Kies und schleuderte zum Schollern
der Saiten in eindringlichem Sprechgesang seine Späße zur Terrasse
empor, indes vor produzierender Anstrengung die Adern auf seiner
Stirne schwollen. Er schien nicht venezianischen Schlages, vielmehr
von der Rasse der neapolitanischen Komiker, halb Zuhälter, halb
Komödiant, brutal und verwegen, gefährlich und unterhaltend. Sein
Lied, lediglich albern dem Wortlaut nach, gewann in seinem Munde,
durch sein Mienenspiel, seine Körperbewegungen, seine Art, andeutend
zu blinzeln und die Zunge schlüpfrig im Mundwinkel spielen zu lassen,
etwas Zweideutiges, unbestimmt Anstößiges. Dem weichen Kragen des
Sporthemdes, das er zu übrigens städtischer Kleidung trug, entwuchs
sein hagerer Hals mit auffallend groß und nackt wirkendem Adamsapfel.
Sein bleiches, stumpfnäsiges Gesicht, aus dessen bartlosen Zügen
schwer auf sein Alter zu schließen war, schien durchpflügt von
Grimassen und Laster, und sonderbar wollten zum Grinsen seines
beweglichen Mundes die beiden Furchen passen, die trotzig, herrisch,
fast wild zwischen seinen rötlichen Brauen standen. Was jedoch des
Einsamen tiefe Achtsamkeit eigentlich auf ihn lenkte, war die
Bemerkung, daß die verdächtige Figur auch ihre eigene verdächtige
Atmosphäre mit sich zu führen schien. Jedesmal nämlich, wenn der
Refrain wieder einsetzte, unternahm der Sänger unter Faxen und
grüßendem Handschütteln einen grotesken Rundmarsch, der ihn
unmittelbar unter Aschenbachs Platz vorüberführte, und jedesmal, wenn
das geschah, wehte, von seinen Kleidern, seinem Körper ausgehend, ein
Schwaden starken Karbolgeruchs zur Terrasse empor.

Nach geendigtem Couplet begann er, Geld einzuziehen. Er fing bei den
Russen an, die man bereitwillig spenden sah, und kam dann die Stufen
herauf. So frech er sich bei der Produktion benommen, so demütig
zeigte er sich hier oben. Katzbuckelnd, unter Kratzfüßen schlich er
zwischen den Tischen umher, und ein Lächeln tückischer Unterwürfigkeit
entblößte seine starken Zähne, während doch immer noch die beiden
Furchen drohend zwischen seinen roten Brauen standen. Man musterte das
fremdartige, seinen Unterhalt einsammelnde Wesen mit Neugier und
einigem Abscheu, man warf mit spitzen Fingern Münzen in seinen Filz
und hütete sich, ihn zu berühren. Die Aufhebung der physischen Distanz
zwischen dem Komödianten und den Anständigen erzeugt, und war das
Vergnügen noch so groß, stets eine gewisse Verlegenheit. Er fühlte sie
und suchte, sich durch Kriecherei zu entschuldigen. Er kam zu
Aschenbach und mit ihm der Geruch, über den niemand ringsum sich
Gedanken zu machen schien.

»Höre!« sagte der Einsame gedämpft und fast mechanisch. »Man
desinfiziert Venedig. Warum?«--Der Spaßmacher antwortete heiser: »Von
wegen der Polizei! Das ist Vorschrift, mein Herr, bei solcher Hitze
und bei Scirocco. Der Scirocco drückt. Er ist der Gesundheit nicht
zuträglich...« Er sprach wie verwundert darüber, daß man dergleichen
fragen könne und demonstrierte mit der flachen Hand, wie sehr der
Scirocco drücke.--»Es ist also kein Übel in Venedig?« fragte
Aschenbach sehr leise und zwischen den Zähnen.--Die muskulösen Züge
des Possenreißers fielen in eine Grimasse komischer Ratlosigkeit. »Ein
Übel? Aber was für ein Übel? Ist der Scirocco ein Übel? Ist
vielleicht unsere Polizei ein Übel? Sie belieben zu scherzen! Ein
Übel! Warum nicht gar! Eine vorbeugende Maßregel, verstehen Sie doch!
Eine polizeiliche Anordnung gegen die Wirkungen der drückenden
Witterung...« Er gestikulierte.--»Es ist gut«, sagte Aschenbach
wiederum kurz und leise und ließ rasch ein ungebührlich bedeutendes
Geldstück in den Hut fallen. Dann winkte er dem Menschen mit den
Augen, zu gehen. Er gehorchte grinsend, unter Bücklingen; aber er
hatte noch nicht die Treppe erreicht, als zwei Hotelangestellte sich
auf ihn warfen und ihn, ihre Gesichter dicht an dem seinen, in ein
geflüstertes Kreuzverhör nahmen. Er zuckte die Achseln, er gab
Beteuerungen, er schwor, verschwiegen gewesen zu sein; man sah es.
Entlassen, kehrte er in den Garten zurück, und, nach einer kurzen
Verabredung mit den Seinen unter der Bogenlampe, trat er zu einem
Dank-und Abschiedsliede noch einmal vor.

Es war ein Lied, das jemals gehört zu haben der Einsame sich nicht
erinnerte; ein dreister Schlager in unverständlichem Dialekt und
ausgestattet mit einem Lach-Refrain, in den die Bande regelmäßig aus
vollem Halse einfiel. Es hörten hierbei sowohl die Worte wie auch die
Begleitung der Instrumente auf, und nichts blieb übrig als ein
rhythmisch irgendwie geordnetes, aber sehr natürlich behandeltes
Lachen, das namentlich der Solist mit großem Talent zu täuschendster
Lebendigkeit zu gestalten wußte. Er hatte bei wiederhergestelltem
künstlerischen Abstand zwischen ihm und den Herrschaften seine ganze
Frechheit wiedergefunden, und sein Kunstlachen, unverschämt zur
Terrasse emporgesandt, war Hohngelächter. Schon gegen das Ende des
artikulierten Teiles der Strophe schien er mit einem unwiderstehlichen
Kitzel zu kämpfen. Er schluchzte, seine Stimme schwankte, er preßte
die Hand gegen den Mund, er verzog die Schultern, und im gegebenen
Augenblick brach, heulte und platzte das unbändige Lachen aus ihm
hervor, mit solcher Wahrheit, daß es ansteckend wirkte und sich den
Zuhörern mitteilte, daß auch auf der Terrasse eine gegenstandslose und
nur von sich selbst lebende Heiterkeit um sich griff. Dies aber eben
schien des Sängers Ausgelassenheit zu verdoppeln. Er beugte die Knie,
er schlug die Schenkel, er hielt sich die Seiten, er wollte sich
ausschütten, er lachte nicht mehr, er schrie; er wies mit dem Finger
hinauf, als gäbe es nichts Komischeres, als die lachende Gesellschaft
dort oben, und endlich lachte dann alles im Garten und auf der
Veranda, bis zu den Kellnern, Liftboys und Hausdienern in den Türen.

Aschenbach ruhte nicht mehr im Stuhl, er saß aufgerichtet wie zum
Versuche der Abwehr oder der Flucht. Aber das Gelächter, der
heraufwehende Hospitalgeruch und die Nähe des Schönen verwoben sich
ihm zu einem Traumbann, der unzerreißbar und unentrinnbar sein Haupt,
seinen Sinn umfangen hielt. In der allgemeinen Bewegung und
Zerstreuung wagte er es, zu Tadzio hinüberzublicken, und indem er es
tat, durfte er bemerken, daß der Schöne, in Erwiderung seines Blickes
ebenfalls ernst blieb, ganz so, als richte er Verhalten und Miene nach
der des Anderen und als vermöge die allgemeine Stimmung nichts über
ihn, da jener sich ihr entzog. Diese kindliche und beziehungsvolle
Folgsamkeit hatte etwas so Entwaffnendes, Überwältigendes, daß der
Grauhaarige sich mit Mühe enthielt, sein Gesicht in den Händen zu
verbergen. Auch hatte es ihm geschienen, als bedeute Tadzios
gelegentliches Sichaufrichten und Aufatmen ein Seufzen, eine
Beklemmung der Brust. »Er ist kränklich, er wird wahrscheinlich nicht
alt werden«, dachte er wiederum mit jener Sachlichkeit, zu welcher
Rausch und Sehnsucht bisweilen sich sonderbar emanzipieren, und reine
Fürsorge zugleich mit einer ausschweifenden Genugtuung erfüllte sein
Herz.

Die Venezianer unterdessen hatten geendigt und zogen ab. Beifall
begleitete sie, und ihr Anführer versäumte nicht, noch seinen Abgang
mit Spaßen auszuschmücken. Seine Kratzfüße, seine Kußhände wurden
belacht, und er verdoppelte sie daher. Als die Seinen schon draußen
waren, tat er noch, als renne er rückwärts empfindlich gegen einen
Lampenmast und schlich scheinbar krumm vor Schmerzen zur Pforte. Dort
endlich warf er auf einmal die Maske des komischen Pechvogels ab,
richtete sich, ja schnellte elastisch auf, bleckte den Gästen auf der
Terrasse frech die Zunge heraus und schlüpfte ins Dunkel. Die
Badegesellschaft verlor sich; Tadzio stand längst nicht mehr an der
Balustrade. Aber der Einsame saß noch lange, zum Befremden der
Kellner, bei dem Rest seines Granatapfelgetränkes an seinem Tischchen.
Die Nacht schritt vor, die Zeit zerfiel. Im Hause seiner Eltern, vor
vielen Jahren, hatte es eine Sanduhr gegeben,--er sah das gebrechliche
und bedeutende Gerätchen auf einmal wieder, als stünde es vor ihm.
Lautlos und fein rann der rostrot gefärbte Sand durch die gläserne
Enge, und da er in der oberen Höhlung zur Neige ging, hatte sich dort
ein kleiner, reißender Strudel gebildet.

Schon am folgenden Tage, nachmittags, tat der Starrsinnige einen neuen
Schritt zur Versuchung der Außenwelt und diesmal mit allem möglichen
Erfolge. Er trat nämlich vom Markusplatz in das dort gelegene
englische Reisebureau, und nachdem er an der Kasse einiges Geld
gewechselt, richtete er mit der Miene des mißtrauischen Fremden an den
ihn bedienenden Clerk seine fatale Frage. Es war ein wollig
gekleideter Brite, noch jung, mit in der Mitte geteiltem Haar, nahe
bei einander liegenden Augen und von jener gesetzten Loyalität des
Wesens, die im spitzbübisch behenden Süden so fremd, so merkwürdig
anmutet. Er fing an: »Kein Grund zur Besorgnis, Sir. Eine Maßregel
ohne ernste Bedeutung. Solche Anordnungen werden häufig getroffen,
um gesundheitsschädlichen Wirkungen der Hitze und des Scirocco
vorzubeugen...« Aber seine blauen Augen aufschlagend, begegnete er dem
Blicke des Fremden, einem müden und etwas traurigen Blick, der mit
leichter Verachtung auf seine Lippen gerichtet war. Da errötete der
Engländer. »Dies ist«, fuhr er halblaut und in einiger Bewegung fort,
»die amtliche Erklärung, auf der zu bestehen man hier für gut
befindet. Ich werde Ihnen sagen, daß noch etwas anderes dahinter
steckt.« Und dann sagte er in seiner redlichen und bequemen Sprache
die Wahrheit.

Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte
Neigung zur Ausbreitung und Wanderung an den Tag gelegt. Erzeugt aus
den warmen Morästen des Ganges-Deltas, aufgestiegen mit dem
mephitischen Odem jener üppig-untauglichen, von Menschen gemiedenen
Urwelt-und Inselwildnis, in deren Bambusdickichten der Tiger kauert,
hatte die Seuche in ganz Hindustan andauernd und ungewöhnlich heftig
gewütet, hatte östlich nach China, westlich nach Afghanistan und
Persien übergegriffen und, den Hauptstraßen des Karawanenverkehrs
folgend, ihre Schrecken bis Astrachan, ja selbst bis Moskau getragen.
Aber während Europa zitterte, das Gespenst möchte von dort aus und zu
Lande seinen Einzug halten, war es, von syrischen Kauffahrern übers
Meer verschleppt, fast gleichzeitig in mehreren Mittelmeerhäfen
aufgetaucht, hatte in Toulon und Malaga sein Haupt erhoben, in Palermo
und Neapel mehrfach seine Maske gezeigt und schien aus ganz Calabrien
und Apulien nicht mehr weichen zu wollen. Der Norden der Halbinsel war
verschont geblieben. Jedoch Mitte Mai dieses Jahres fand man zu
Venedig an ein und demselben Tage die furchtbaren Vibrionen in den
ausgemergelten, schwärzlichen Leichnamen eines Schifferknechtes und
einer Grünwarenhändlerin. Die Fälle wurden verheimlicht. Aber nach
einer Woche waren es deren zehn, waren es zwanzig, dreißig und zwar in
verschiedenen Quartieren. Ein Mann aus der österreichischen Provinz,
der sich zu seinem Vergnügen einige Tage in Venedig aufgehalten,
starb, in sein Heimatstädtchen zurückgekehrt, unter unzweideutigen
Anzeichen, und so kam es, daß die ersten Gerüchte von der Heimsuchung
der Lagunenstadt in deutsche Tagesblätter gelangten. Venedigs
Obrigkeit ließ antworten, daß die Gesundheitsverhältnisse der Stadt
nie besser gewesen seien und traf die notwendigsten Maßregeln zur
Bekämpfung. Aber wahrscheinlich waren Nahrungsmittel infiziert worden.
Gemüse, Fleisch oder Milch, denn geleugnet und vertuscht, fraß das
Sterben in der Enge der Gäßchen um sich, und die vorzeitig
eingefallene Sommerhitze, welche das Wasser der Kanäle laulich
erwärmte, war der Verbreitung besonders günstig. Ja, es schien, als ob
die Seuche eine Neubelebung ihrer Kräfte erfahren, als ob die
Tenazität und Fruchtbarkeit ihrer Erreger sich verdoppelt hätte. Fälle
der Genesung waren sehr selten; achtzig vom Hundert der Befallenen
starben und zwar auf entsetzliche Weise, denn das Übel trat mit
äußerster Wildheit auf und zeigte häufig jene gefährlichste Form,
welche »die trockene« benannt ist. Hierbei vermochte der Körper das
aus den Blutgefäßen massenhaft abgesonderte Wasser nicht einmal
auszutreiben. Binnen wenigen Stunden verdorrte der Kranke und
erstickte am pechartig zähe gewordenen Blut unter Krämpfen und
heiseren Klagen. Wohl ihm, wenn, was zuweilen geschah, der Ausbruch
nach leichtem Übelbefinden in Gestalt einer tiefen Ohnmacht erfolgte,
aus der er nicht mehr oder kaum noch erwachte. Anfang Juni füllten
sich in der Stille die Isolierbaracken des Ospedale civico, in den
beiden Waisenhäusern begann es an Platz zu mangeln, und ein
schauerlich reger Verkehr herrschte zwischen dem Kai der neuen
Fundamente und San Michele, der Friedhofsinsel. Aber die Furcht vor
allgemeiner Schädigung, die Rücksicht auf die kürzlich eröffnete
Gemäldeausstellung in den öffentlichen Gärten, auf die gewaltigen
Ausfälle, von denen im Falle der Panik und des Verrufes die Hotels,
die Geschäfte, das ganze vielfältige Fremdengewerbe bedroht waren,
zeigte sich mächtiger in der Stadt als Wahrheitsliebe und Achtung vor
internationalen Abmachungen; sie vermochte die Behörde, ihre Politik
des Verschweigens und des Ableugnens hartnäckig aufrecht zu erhalten.
Der oberste Medizinalbeamte Venedigs, ein verdienter Mann, war
entrüstet von seinem Posten zurückgetreten und unter der Hand durch
eine gefügigere Persönlichkeit ersetzt worden. Das Volk wußte das; und
die Korruption der Oberen zusammen mit der herrschenden Unsicherheit,
dem Ausnahmezustand, in welchen der umgehende Tod die Stadt versetzte,
brachte eine gewisse Entsittlichung der unteren Schichten hervor, eine
Ermutigung lichtscheuer und antisozialer Triebe, die sich in
Unmäßigkeit, Schamlosigkeit und wachsender Kriminalität bekundete.
Gegen die Regel bemerkte man abends viele Betrunkene; bösartiges
Gesindel machte, so hieß es, nachts die Straßen unsicher; räuberische
Anfälle und selbst Mordtaten wiederholten sich, denn schon zweimal
hatte sich erwiesen, daß angeblich der Seuche zum Opfer gefallene
Personen vielmehr von ihren eigenen Anverwandten mit Gift aus dem
Leben geräumt worden waren; und die gewerbsmäßige Liederlichkeit nahm
aufdringliche und ausschweifende Formen an, wie sie sonst hier nicht
bekannt und nur im Süden des Landes und im Orient zu Hause gewesen
waren.

Von diesen Dingen sprach der Engländer das Entscheidende aus. »Sie
täten gut«, schloß er, »lieber heute als morgen zu reisen. Länger, als
ein paar Tage noch, kann die Verhängung der Sperre kaum auf sich
warten lassen.«--»Danke Ihnen«, sagte Aschenbach und verließ das Amt.

Der Platz lag in sonnenloser Schwüle. Unwissende Fremde saßen vor den
Cafés oder standen, ganz von Tauben bedeckt, vor der Kirche und sahen
zu, wie die Tiere, wimmelnd, flügelschlagend, einander verdrängend,
nach den in hohlen Händen dargebotenen Maiskörnern pickten. In
fiebriger Erregung, triumphierend im Besitze der Wahrheit, einen
Geschmack von Ekel dabei auf der Zunge und ein phantastisches Grauen
im Herzen, schritt der Einsame die Fliesen des Prachthofes auf und
nieder. Er erwog eine reinigende und anständige Handlung. Er konnte
heute Abend nach dem Diner der perlengeschmückten Frau sich nähern und
zu ihr sprechen, was er wörtlich entwarf: »Gestatten Sie dem Fremden,
Madame, Ihnen mit einem Rat, einer Warnung zu dienen, die der
Eigennutz Ihnen vorenthält. Reisen Sie ab, sogleich, mit Tadzio und
Ihren Töchtern! Venedig ist verseucht.« Er konnte dann dem Werkzeug
einer höhnischen Gottheit zum Abschied die Hand aufs Haupt legen, sich
wegwenden und diesem Sumpfe entfliehen. Aber er fühlte zugleich, daß
er unendlich weit entfernt war, einen solchen Schritt im Ernste zu
wollen. Er würde ihn zurückführen, würde ihn sich selber wiedergeben;
aber wer außer sich ist, verabscheut nichts mehr, als wieder in sich
zu gehen. Er erinnerte sich eines weißen Bauwerks, geschmückt mit
abendlich gleißenden Inschriften, in deren durchscheinender Mystik das
Auge seines Geistes sich verloren hatte; jener seltsamen
Wandrergestalt sodann, die dem Alternden schweifende
Jünglingssehnsucht ins Weite und Fremde erweckt hatte; und der Gedanke
an Heimkehr, an Besonnenheit, Nüchternheit, Mühsal und Meisterschaft,
widerte ihn in solchem Maße, daß sein Gesicht sich zum Ausdruck
physischer Übelkeit verzerrte. »Man soll schweigen!« flüsterte er
heftig. Und: »Ich werde schweigen!« Das Bewußtsein seiner
Mitwisserschaft, seiner Mitschuld berauschte ihn, wie geringe Mengen
Weines ein müdes Hirn berauschen. Das Bild der heimgesuchten und
verwahrlosten Stadt, wüst seinem Geiste vorschwebend, entzündete in
ihm Hoffnungen, unsagbar, die Vernunft überschreitend, und von
ungeheuerlicher Süßigkeit. Was war ihm das zarte Glück, von dem er
vorhin einen Augenblick geträumt, verglichen mit diesen Erwartungen?
Was galt ihm noch Kunst und Tugend gegenüber den Vorteilen des Chaos?
Er schwieg und blieb.

In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum,--wenn man als Traum
ein körperhaft-geistiges Erlebnis bezeichnen kann, das ihm zwar im
tiefsten Schlaf und in völligster Unabhängigkeit und sinnlicher
Gegenwart widerfuhr, aber ohne daß er sich außer den Geschehnissen im
Raume wandelnd und anwesend sah; sondern ihr Schauplatz war vielmehr
seine Seele selbst, und sie brachen von außen herein, seinen
Widerstand--einen tiefen und geistigen Widerstand--gewalttätig
niederwerfend, gingen hindurch und ließen seine Existenz, ließen die
Kultur seines Lebens verheert, vernichtet zurück.

Angst war der Anfang, Angst und Lust und eine entsetzte Neugier nach
dem, was kommen wollte. Nacht herrschte, und seine Sinne lauschten;
denn weither näherte sich Getümmel, Getöse, ein Gemisch von Lärm:
Rasseln, Schmettern und dumpfes Donnern, schrilles Jauchzen dazu und
ein bestimmtes Geheul im gezogenen u-Laut, alles durchsetzt und
grauenhaft süß übertönt von tief girrendem, ruchlos beharrlichen
Flötenspiel, welches auf schamlos zudringende Art die Eingeweide
bezauberte. Aber er wußte ein Wort, dunkel, doch das benennend was
kam: »_Der fremde Gott!_« Qualmige Glut glomm auf: da erkannte er
Bergland, ähnlich dem um sein Sommerhaus. Und in zerrissenem Licht,
von bewaldeter Höhe, zwischen Stämmen und moosigen Felstrümmern wälzte
es sich und stürzte wirbelnd herab: Menschen, Tiere, ein Schwarm, eine
tobende Rotte, und überschwemmte die Halde mit Leibern, Flammen,
Tumult und taumelndem Rundtanz. Weiber, strauchelnd über zu
lange Fellgewänder, die ihnen vom Gürtel hingen, schüttelten
Schellentrommeln über ihren stöhnend zurückgeworfenen Häuptern,
schwangen stiebende Fackelbrände und nackte Dolche, hielten züngelnde
Schlangen in der Mitte des Leibes erfaßt oder trugen schreiend ihre
Brüste in beiden Händen. Männer, Hörner über den Stirnen, mit Pelzwerk
geschürzt und zottig von Haut, beugten die Nacken und hoben Arme und
Schenkel, ließen eherne Becken erdröhnen und schlugen wütend auf
Pauken, während glatte Knaben mit umlaubten Stäben Böcke stachelten,
an deren Hörner sie sich klammerten und von deren Sprüngen sie sich
jauchzend schleifen ließen. Und die Begeisterten heulten den Ruf aus
weichen Mitlauten und gezogenem u-Ruf am Ende, süß und wild zugleich,
wie kein jemals erhörter: hier klang er auf, in die Lüfte geröhrt, wie
von Hirschen, und dort gab man ihn wieder, vielstimmig, in wüstem
Triumph, hetzte einander damit zum Tanz und Schleudern der Glieder und
ließ ihn niemals verstummen. Aber alles durchdrang und beherrschte der
tiefe, lockende Flötenton. Lockte er nicht auch ihn, den widerstrebend
Erlebenden, schamlos beharrlich zum Fest und Unmaß des äußersten
Opfers? Groß war sein Abscheu, groß seine Furcht, redlich sein Wille,
bis zuletzt das Seine zu schützen gegen den Fremden, den Feind des
gefaßten und würdigen Geistes. Aber der Lärm, das Geheul, vervielfacht
von hallender Bergwand, wuchs, nahm Überhand, schwoll zu hinreißendem
Wahnsinn. Dünste bedrängten den Sinn, der beizende Ruch der Böcke,
Witterung keuchender Leiber und ein Hauch wie von faulenden Wassern,
dazu ein anderer noch, vertraut: nach Wunden und umlaufender
Krankheit. Mit den Paukenschlägen dröhnte sein Herz, sein Gehirn
kreiste, Wut ergriff ihn, Verblendung, betäubende Wollust, und seine
Seele begehrte, sich anzuschließen dem Reigen des Gottes. Das obszöne
Symbol, riesig, aus Holz, ward enthüllt und erhöht: da heulten sie
zügelloser die Losung. Schaum vor den Lippen tobten sie, reizten
einander mit geilen Gebärden und buhlenden Händen, lachend und
ächzend,--stießen die Stachelstäbe einander ins Fleisch und leckten
das Blut von den Gliedern. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende
nun und dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie
reißend und mordend sich auf die Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen
verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung
begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und
Raserei des Unterganges.

Aus diesem Traum erwachte der Heimgesuchte entnervt, zerrüttet und
kraftlos dem Dämon verfallen. Er scheute nicht mehr die beobachtenden
Blicke der Menschen; ob er sich ihrem Verdacht aussetze, kümmerte
ihn nicht. Auch flohen sie ja, reisten ab; zahlreiche Strandhütten
standen leer, die Besetzung des Speisesaals wies größere Lücken auf,
und in der Stadt sah man selten noch einen Fremden. Die Wahrheit
schien durchgesickert, die Panik, trotz zähen Zusammenhaltens der
Interessenten, nicht länger hintanzuhalten. Aber die Frau im
Perlenschmuck blieb mit den Ihren, sei es, weil die Gerüchte nicht zu
ihr drangen, oder weil sie zu stolz und furchtlos war, um ihnen zu
weichen: Tadzio blieb; und jenem, in seiner Umfangenheit, war es
zuweilen, als könne Flucht und Tod alles störende Leben in der Runde
entfernen und er allein mit dem Schönen auf dieser Insel
zurückbleiben,--ja, wenn vormittags am Meere sein Blick schwer,
unverantwortlich, unverwandt auf dem Begehrten ruhte, wenn er bei
sinkendem Tage durch Gassen, in denen verheimlichterweise das ekle
Sterben umging, ihm unwürdig nachfolgte, so schien das Ungeheuerliche
ihm aussichtsreich und hinfällig das Sittengesetz.

Wie irgend ein Liebender wünschte er, zu gefallen und empfand bittere
Angst, daß es nicht möglich sein möchte. Er fügte seinem Anzüge
jugendlich aufheiternde Einzelheiten hinzu, er legte Edelsteine an und
benutzte Parfüms, er brauchte mehrmals am Tage viel Zeit für seine
Toilette und kam geschmückt, erregt und gespannt zu Tische. Angesichts
der süßen Jugend, die es ihm angetan, ekelte ihn sein alternder Leib,
der Anblick seines grauen Haares, seiner scharfen Gesichtszüge stürzte
ihn in Scham und Hoffnungslosigkeit. Es trieb ihn, sich körperlich zu
erquicken und wiederherzustellen; er besuchte häufig den Coiffeur des
Hauses.

Im Frisiermantel, unter den pflegenden Händen des Schwätzers im Stuhle
zurückgelehnt, betrachtete er gequälten Blickes sein Spiegelbild.

»Grau«, sagte er mit verzerrtem Munde.

»Ein wenig«, antwortete der Mensch. »Nämlich durch Schuld einer
kleinen Vernachlässigung, einer Indifferenz in äußerlichen Dingen,
die bei bedeutenden Personen begreiflich ist, die man aber doch
nicht unbedingt loben kann und zwar umso weniger, als gerade solchen
Personen Vorurteile in Sachen des Natürlichen oder Künstlichen wenig
angemessen sind. Würde sich die Sittenstrenge gewisser Leute gegenüber
der kosmetischen Kunst logischerweise auch auf ihre Zähne erstrecken,
so würden sie nicht wenig Anstoß erregen. Schließlich sind wir so alt,
wie unser Geist, unser Herz sich fühlen, und graues Haar bedeutet
unter Umständen eine wirklichere Unwahrheit, als die verschmähte
Korrektur bedeuten würde. In Ihrem Falle, mein Herr, hat man ein Recht
auf seine natürliche Haarfarbe. Sie erlauben mir, Ihnen die Ihrige
einfach zurückzugeben?«

»Wie das?« fragte Aschenbach.

Da wusch der Beredte das Haar des Gastes mit zweierlei Wasser, einem
klaren und einem dunklen, und es war schwarz wie in jungen Jahren. Er
bog es hierauf mit der Brennscheere in weiche Lagen, trat rückwärts
und musterte das behandelte Haupt.

»Es wäre nun nur noch«, sagte er, »die Gesichtshaut ein wenig
aufzufrischen.«

Und wie jemand, der nicht enden, sich nicht genug tun kann, ging er
mit immer neu belebter Geschäftigkeit von einer Hantierung zur anderen
über. Aschenbach, bequem ruhend, der Abwehr nicht fähig, hoffnungsvoll
erregt vielmehr von dem, was geschah, sah im Glase seine Brauen sich
entschiedener und ebenmäßiger wölben, den Schnitt seiner Augen sich
verlängern, ihren Glanz durch eine leichte Untermalung des Lides sich
heben, sah weiter unten, wo die Haut bräunlich-ledern gewesen, weich
aufgetragen, ein zartes Karmin erwachen, seine Lippen, blutarm soeben
noch, himbeerfarben schwellen, die Furchen der Wangen, des Mundes, die
Runzeln der Augen unter Crème und Jugendhauch verschwinden,--erblickte
mit Herzklopfen einen blühenden Jüngling. Der Kosmetiker gab sich
endlich zufrieden, indem er nach Art solcher Leute dem, den er bedient
hatte, mit kriechender Höflichkeit dankte. »Eine unbedeutende
Nachhilfe«, sagte er, indem er eine letzte Hand an Aschenbachs Äußeres
legte. »Nun kann der Herr sich unbedenklich verlieben.« Der Berückte
ging, traumglücklich, verwirrt und furchtsam. Seine Krawatte war rot,
sein breitschattender Strohhut mit einem mehrfarbigen Bande umwunden.

Lauwarmer Sturmwind war aufgekommen; es regnete selten und spärlich,
aber die Luft war feucht, dick und von Fäulnisdünsten erfüllt.
Flattern, Klatschen und Sausen umgab das Gehör, und dem unter der
Schminke Fiebernden schienen Windgeister üblen Geschlechts im Raume
ihr Wesen zu treiben, unholdes Gevögel des Meeres, das des
Verurteilten Mahl zerwühlt, zernagt und mit Unrat schändet. Denn die
Schwüle wehrte der Eßlust, und die Vorstellung drängte sich auf, daß
die Speisen mit Ansteckungsstoffen vergiftet seien.

Auf den Spuren des Schönen hatte Aschenbach sich eines Nachmittags in
das innere Gewirr der kranken Stadt vertieft. Mit versagendem
Ortssinn, da die Gäßchen, Gewässer, Brücken und Plätzchen des
Labyrinthes zu sehr einander gleichen, auch der Himmelsgegenden nicht
mehr sicher, war er durchaus darauf bedacht, das sehnlich verfolgte
Bild nicht aus den Augen zu verlieren, und zu schmählicher
Behutsamkeit genötigt, an Mauern gedrückt, hinter dem Rücken
Vorangehender Schutz suchend, ward er sich lange nicht der Müdigkeit,
der Erschöpfung bewußt, welche Gefühl und immerwährende Spannung
seinem Körper, seinem Geiste zugefügt hatten. Tadzio ging hinter den
Seinen, er ließ der Pflegerin und den nonnenähnlichen Schwestern in
der Enge gewöhnlich den Vortritt, und einzeln schlendernd wandte er
zuweilen das Haupt, um sich über die Schulter hinweg der Gefolgschaft
seines Liebhabers mit einem Blick seiner eigentümlich dämmergrauen
Augen zu versichern. Er sah ihn, und er verriet ihn nicht. Berauscht
von dieser Erkenntnis, von diesen Augen vorwärts gelockt, am
Narrenseile geleitet von der Passion, stahl der Verliebte sich seiner
unziemlichen Hoffnung nach--und sah sich schließlich dennoch um ihren
Anblick betrogen. Die Polen hatten eine kurz gewölbte Brücke
überschritten, die Höhe des Bogens verbarg sie dem Nachfolgenden, und
seinerseits hinaufgelangt, entdeckte er sie nicht mehr. Er forschte
nach ihnen in drei Richtungen, geradeaus und nach beiden Seiten den
schmalen und schmutzigen Quai entlang, vergebens. Entnervung,
Hinfälligkeit nötigten ihn endlich, vom Suchen abzulassen.

Sein Kopf brannte, sein Körper war mit klebrigem Schweiß bedeckt, sein
Genick zitterte, ein nicht mehr erträglicher Durst peinigte ihn, er
sah sich nach irgendwelcher, nach augenblicklicher Labung um. Vor
einem kleinen Gemüseladen kaufte er einige Früchte, Erdbeeren,
überreife und weiche Ware und aß im Gehen davon. Ein kleiner Platz,
verlassen, verwunschen anmutend, öffnete sich vor ihm, er erkannte
ihn, es war hier gewesen, wo er vor Wochen den vereitelten Fluchtplan
gefaßt hatte. Auf den Stufen der Zisterne, inmitten des Ortes, ließ er
sich niedersinken und lehnte den Kopf an das steinerne Rund. Es war
still, Gras wuchs zwischen dem Pflaster. Abfälle lagen umher. Unter
den verwitterten, unregelmäßig hohen Häusern in der Runde erschien
eines palastartig, mit Spitzbogenfenstern, hinter denen die Leere
wohnte, und kleinen Löwenbalkonen. Im Erdgeschoß eines anderen befand
sich eine Apotheke. Warme Windstöße brachten zuweilen Karbolgeruch.

Er saß dort, der Meister, der würdig gewordene Künstler, der Autor des
»Elenden«, der in so vorbildlich reiner Form dem Zigeunertum und der
trüben Tiefe abgesagt, dem Abgrunde die Sympathie gekündigt und das
Verworfene verworfen hatte, der Hochgestiegene, der, Überwinder seines
Wissens und aller Ironie entwachsen, in die Verbindlichkeiten des
Massenzutrauens sich gewöhnt hatte, er, dessen Ruhm amtlich, dessen
Name geadelt war und an dessen Styl die Knaben sich zu bilden
angehalten wurden,--er saß dort, seine Lider waren geschlossen, nur
zuweilen glitt, rasch sich wieder verbergend, ein spöttischer und
betretener Blick seitlich darunter hervor, und seine schlaffen Lippen,
kosmetisch aufgehöht, bildeten einzelne Worte aus von dem, was sein
halb schlummerndes Hirn an seltsamer Traumlogik hervorbrachte.

»Denn die Schönheit, Phaidros, merke das wohl! nur die Schönheit ist
göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des
Sinnlichen Weg, ist, kleiner Phaidros, der Weg des Künstlers zum
Geiste. Glaubst du nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals
Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum
Geistigen durch die Sinne führt? Oder glaubst du vielmehr (ich stelle
dir die Entscheidung frei), daß dies ein gefährlich-lieblicher Weg
sei, wahrhaft ein Irr-und Sündenweg, der mit Notwendigkeit in die Irre
leitet? Denn du mußt wissen, daß wir Dichter den Weg der Schönheit
nicht gehen können, ohne daß Eros sich zugesellt und sich zum Führer
aufwirft; ja, mögen wir auch Helden auf unsere Art und züchtige
Kriegsleute sein, so sind wir wie Weiber, denn Leidenschaft ist unsere
Erhebung, und unsere Sehnsucht muß Liebe bleiben,--das ist unsere Lust
und unsere Schande. Siehst du nun wohl, daß wir Dichter nicht weise
noch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre gehen,
notwendig liederlich und Abenteurer des Gefühles bleiben? Die
Meisterhaltung unseres Styls ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und
Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst
lächerlich, Volks-und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu
verbietendes Unternehmen. Denn wie sollte wohl der zum Erzieher
taugen, dem eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde
eingeboren ist? Wir möchten ihn wohl verleugnen und Würde gewinnen,
aber wie wir uns auch wenden mögen, er zieht uns an. So sagen wir etwa
der auflösenden Erkenntnis ab, denn die Erkenntnis, Phaidros, hat
keine Würde und Strenge: sie ist wissend, verstehend, verzeihend, ohne
Haltung und Form; sie hat Sympathie mit dem Abgrund, sie ist der
Abgrund. Diese also verwerfen wir mit Entschlossenheit, und fortan
gilt unser Trachten einzig der Schönheit, das will sagen der
Einfachheit, Größe und neuen Strenge, der zweiten Unbefangenheit und
der Form. Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch
und zur Begierde, führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem
Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft,
führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich,
führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir
vermögen nur auszuschweifen. Und nun gehe ich, Phaidros, bleibe du
hier; und erst wenn du mich nicht mehr siehst, so gehe auch du.«

       *       *       *       *       *

Einige Tage später verließ Gustav von Aschenbach, da er sich leidend
fühlte, das Bäder-Hotel zu späterer Morgenstunde als gewöhnlich. Er
hatte mit gewissen, nur halb körperlichen Schwindelanfällen zu
kämpfen, die von einer heftig aufsteigenden Angst und Ratlosigkeit
begleitet waren, einem Gefühl der Ausweg-und Aussichtslosigkeit, von
dem nicht klar wurde, ob es sich auf die äußere Welt oder auf seine
eigene Existenz bezog. In der Halle bemerkte er eine große Menge zum
Transport bereitliegenden Gepäcks, fragte einen Türhüter, wer es sei,
der reise, und erhielt zur Antwort den polnischen Adelsnamen, dessen
er insgeheim gewärtig gewesen war. Er empfing ihn, ohne daß seine
verfallenen Gesichtszüge sich verändert hätten, mit jener kurzen
Hebung des Kopfes, mit der man etwas, was man nicht zu wissen
brauchte, beiläufig zur Kenntnis nimmt, und fragte noch: »Wann?« Man
antwortete ihm: »Nach dem Lunch.« Er nickte und ging zum Meere.

Es war unwirtlich dort. Über das weite, flache Gewässer, das den
Strand von der ersten gestreckten Sandbank trennte, liefen kräuselnde
Schauer von vorn nach hinten. Herbstlichkeit, Überlebtheit schien über
dem einst so farbig belebten, nun fast verlassenen Lustorte zu liegen,
dessen Sand nicht mehr reinlich gehalten wurde. Ein photographischer
Apparat, scheinbar herrenlos, stand auf seinem dreibeinigen Stativ am
Rande der See, und ein schwarzes Tuch, darüber gebreitet, flatterte
klatschend im kälteren Winde.

Tadzio, mit drei oder vier Gespielen, die ihm geblieben waren, bewegte
sich zur Rechten vor der Hütte der Seinen, und, eine Decke über den
Knieen, etwa in der Mitte zwischen dem Meer und der Reihe der
Strandhütten in seinem Liegestuhl ruhend, sah Aschenbach ihm noch
einmal zu. Das Spiel, das unbeaufsichtigt war, denn die Frauen mochten
mit Reisevorbereitungen beschäftigt sein, schien regellos und artete
aus. Jener Stämmige, im Gürtelanzug und mit schwarzem, pomadisiertem
Haar, der »Jaschu« gerufen wurde, durch einen Sandwurf ins Gesicht
gereizt und geblendet, zwang Tadzio zum Ringkampf, der rasch mit dem
Fall des schwächeren Schönen endete. Aber als ob in der
Abschiedsstunde das dienende Gefühl des Geringeren sich in grausame
Roheit verkehre und für eine lange Sklaverei Rache zu nehmen trachte,
ließ der Sieger auch dann noch nicht von dem Unterlegenen ab, sondern
drückte, auf seinem Rücken knieend, dessen Gesicht so anhaltend in den
Sand, daß Tadzio, ohnedies vom Kampf außer Atem, zu ersticken drohte.
Seine Versuche, den Lastenden abzuschütteln, waren krampfhaft, sie
unterblieben auf Augenblicke ganz und wiederholten sich nur noch als
ein Zucken. Entsetzt wollte Aschenbach zur Rettung aufspringen, als
der Gewalttätige endlich sein Opfer freigab. Tadzio, sehr bleich,
richtete sich zur Hälfte auf und saß, auf einen Arm gestützt, mehrere
Minuten lang unbeweglich, mit verwirrtem Haar und dunkelnden Augen.
Dann stand er vollends auf und entfernte sich langsam. Man rief ihn,
anfänglich munter, dann bänglich und bittend; er hörte nicht. Der
Schwarze, den Reue über seine Ausschreitung sogleich erfaßt haben
mochte, holte ihn ein und suchte ihn zu versöhnen. Eine
Schulterbewegung wies ihn zurück. Tadzio ging schräg hinunter zum
Wasser. Er war barfuß und trug seinen gestreiften Leinenanzug mit
roter Schleife.

Am Rande der Flut verweilte er sich, gesenkten Hauptes mit einer
Fußspitze Figuren im feuchten Sande zeichnend, und ging dann in die
seichte Vorsee, die an ihrer tiefsten Stelle noch nicht seine Knie
benetzte, durchschritt sie, lässig vordringend, und gelangte zur
Sandbank. Dort stand er einen Augenblick, das Gesicht der Weite
zugekehrt, und begann hierauf, die lange und schmale Strecke
entblößten Grundes nach links hin langsam abzuschreiten. Vom
Festlande geschieden durch breite Wasser, geschieden von den
Genossen durch stolze Laune, wandelte er, eine höchst abgesonderte
und verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar dort draußen
im Meere, im Winde, vorm Nebelhaft-Grenzenlosen. Abermals blieb er
zur Ausschau stehen. Und plötzlich, wie unter einer Erinnerung, einem
Impuls, wandte er den Oberkörper, eine Hand in der Hüfte, in schöner
Drehung aus seiner Grundpositur und blickte über die Schulter zum
Ufer. Der Schauende dort saß wie er einst gesessen, als zuerst, von
jener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen
begegnet war. Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der
Bewegung des draußen Schreitenden gefolgt; nun hob es sich, gleichsam
dem Blicke entgegen, und sank auf die Brust, so daß seine Augen von
unten sahen, indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen
Ausdruck tiefen Schlummers zeigte. Ihm war aber, als ob der bleiche
und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er,
die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins
Verheißungsvoll-Ungeheure. Und wie so oft machte er sich auf, ihm zu
folgen.

Minuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle Hinabgesunkenen zur
Hilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages
empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem
Tode.





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