Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Engelhart Ratgeber
Author: Wassermann, Jakob, 1873-1934
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Engelhart Ratgeber" ***


                          Engelhart Ratgeber

                                 Roman
                                  von
                           Jakob Wassermann



                            Erstes Kapitel


Engelharts erste Kindheitserinnerung knüpfte sich an eine Feuersbrunst.
Die Mutter saß am offenen Fenster, und der Knabe spielte zu ihren Füßen
in der Nähe eines Kochtopfes, in dessen Innern sich Überreste von
Pflaumenmus befanden. Da wurde Frau Ratgeber durch einen Aufschrei von
der Gasse veranlaßt, zum Fenster hinauszuschauen. Neugierig kletterte
Engelhart auf einen Stuhl, beugte sich über das Sims und sah, von der
Mutter beim Ärmel festgehalten, eine ragende Feuersäule, die fern aus
der Tiefe der Straße emporschoß. Nachdem er das Schauspiel mit
erstaunten Blicken betrachtet, kehrte er wieder zum Fußboden zurück und
benutzte die anderswo hingelenkte Aufmerksamkeit der Mutter, um aus dem
Pflaumentopf ein paar Fingerspitzen voll zu naschen.

Am folgenden Tag um die Dämmerungszeit nahm er ein kleines Spielhäuschen,
begab sich damit und mit Zündhölzern versehen in den abgelegensten
Winkel des Hofes, scharrte einen Sandhügel zusammen, trug Späne herbei
und machte im Innern seines Gebäudes Feuer an. Die Flammen schlugen jäh
aus dem kleinen Tor heraus, die durch rote Farbenflecke angedeuteten
Fensterchen begannen zu zerfließen, der ganze Hof lag in lichterlohem
Schein. Bald kamen Leute gelaufen, die den Miniaturbrand löschten und
den Knaben verprügelten.

Im Erdgeschoß des Hauses befand sich eine Gastwirtschaft. Jede Nacht
drang der Zecher Lärm herauf, nicht selten kam es zu einer Schlägerei,
und ein Gestochener brüllte die schlafenden Bewohner wach. Schlimmer war
für Engelhart das allwöchentliche Schweineschlachten. Das Todesgeschrei
schnitt ihm furchtbar durch die Brust, seine Phantasie war damit
belastet, sein Denken wurde verdunkelt, und wenn das Tier unter dem
letzten Messerstich ersterbend wimmerte, schlich Engelhart totenbleich
in die Kleiderkammer, riß eine Schranktür auf und steckte den Kopf
zwischen die hängenden Gewänder. Es war ein Glück, daß seine Eltern,
kurz nachdem er fünf Jahre alt geworden war, in die nahegelegene
Theatergasse verzogen.

In jenem Sommer heiratete die jüngste von Frau Ratgebers Schwestern. Da
die Hochzeit in Karlstadt stattfand, einem uralten Örtchen am Main,
reisten Herr und Frau Ratgeber dorthin und nahmen Engelhart mit, während
die beiden kleineren Geschwister, die dreijährige Gerda und der kaum ein
Jahr alte Abel, unter der Obhut einer treuen Magd zu Hause blieben. Es
war ein düster bewölkter Tag. Der Knabe blickte mit dankbarem Gefühl auf
den Vater, der, kaum daß die Fahrt begonnen hatte, ein gebratenes Huhn
aus der Reisetasche nahm und mit dem ihm eignen seltsam verlegenen
Schmunzeln verzehrte. Frau Agathe saß versonnen da, bisweilen warf sie
einen flüchtigen Blick auf die Landschaft hinaus.

Das Hotel, in dem sie zu später Nacht ankamen, war ein früheres Kloster
und hatte weitgewölbte Räume. Engelhart wurde in ein entlegenes Gemach
geführt, wo vier Betten standen. Im blassen Kerzenlicht sah er mit
verschlafenen Augen drei Mädchengestalten, und man erklärte ihm, daß es
seine Cousinen aus Gunzenhausen seien. Die Mädchen flüsterten und
lachten, endlich trat die jüngste, die schon im Hemde war, vor ihn hin
und sagte, es schicke sich nicht, daß Knaben bei den Mädchen schliefen.
Er kroch in einen Mauerwinkel, um sich in Eile zu entkleiden, dann
setzte sich Frau Ratgeber zu ihm an den Bettrand, es wurde noch eine
Weile hin und her gesprochen, Engelhart sah einen haarumwallten
Mädchenkopf, der sich über die Schulter seiner Mutter beugte, und, schon
auf der Schwelle des Schlummers taumelnd, starrte er noch einmal in das
übermütige Gesicht seiner jüngsten Vetterin.

Am andern Tag war die Hochzeit. Während der Trauung hörte man die Braut
weinen, es schien, als ahne sie ihr trauriges Schicksal voraus, während
der Bräutigam, Herr Peter Salomon Curius, selbstbewußt und höhnisch
lächelnd um sich blickte. Die Sache war die, daß es kein Geschöpf auf
Gottes Erdboden gab, dem er sich nicht überlegen gefühlt hätte.

Als das Hochzeitsmahl zu Ende war, wurde Engelhart mit den andern
Kindern ins Freie geschickt. Es war ein lieblicher Garten hinter dem
Haus, voll Apfel- und Kirschenbäumen. In dem dumpfen Trieb aufzufallen,
sonderte sich Engelhart von der Gesellschaft ab und schritt in einer den
Erwachsenen abgelauschten Gangart in der Tiefe des Gartens hin und her.
Was ihm unbewußt dabei vorgeschwebt hatte, geschah; die jüngste Cousine
folgte ihm, stellte sich ihm gegenüber und blitzte ihn mit dunkeln Augen
schweigend an. Nach einer Weile fragte Engelhart um ihren Namen, den er
wohl schon einige Male gehört, aber nicht eigentlich begriffen hatte.
Sie hieß Esmeralda, nach der Frau des Onkels Michael in Wien, und man
rief sie Esmee. Dieser Umstand erweckte von neuem Engelharts prickelnde
Eifersucht, und er fing an, prahlerische Reden zu führen. Der Lügengeist
kam über ihn, zum Schluß stand er seinem wahnvollen Gerede machtlos
gegenüber, und Esmee, die ihn verwundert angestarrt hatte, lief
spöttisch lachend davon.

Um diese Zeit faßten seine Eltern den Beschluß, ihn, obwohl er zum
pflichtmäßigen Schulbesuch noch ein Jahr Zeit hatte, in eine
Vorbereitungsklasse zu schicken, die ein alter Lehrer namens Herschkamm
leitete. Herr Ratgeber, der große Stücke auf Engelharts Begabung hielt
und große Erwartungen von seiner Zukunft hegte, war ungeduldig, ihn in
den Kreis des Lebens eintreten, von der Quelle des Wissens trinken zu
sehen. Er dachte an seine eigne entbehrungs- und mühevolle Jugend. Noch
in den ersten Jahren seiner Ehe liebte er gehaltvolle Gespräche und gute
Bücher und bewahrte eine schwärmerische Achtung für alles, was ihm
geistig versagt und durch äußerliche Umstände vorenthalten blieb.

Nun war der alte Herschkamm ein seltsam gewählter Pförtner an den Toren
der Bildung, ein dicker kleiner Greis mit dem Wesen eines betrunkenen
Kobolds. Er hielt sich beständig für überlistet und tanzte in Anfällen
grenzenloser Wut von einem Ende der winzigen Schulstube zum andern;
dabei hielt er einen langen Flederwisch in der Hand, mit dem er ein
geisterhaftes Geräusch machte, er spie und gurgelte, stampfte, klopfte,
brüllte, und alles etwa um ein harmloses Wort. Das Schauspiel füllte
Engelharts Herz mit Bangigkeit, doch bald war er daran gewöhnt und
heckte mit den andern freche Streiche aus. Ein beliebtes Vergnügen war
es, daß während des Unterrichts und während der kurzsichtige Herschkamm
seine Figuren an die Tafel malte, einer um den andern seinen Platz
verließ und sich zur Türe hinausstahl, so daß schließlich nur noch zwei
oder drei lautlos grinsend dasaßen. Dann begann das Tanzen und Fauchen,
der Flederwisch wurde hervorgezogen, der Alte sauste hinaus und trieb
die Schar vor sich her wie ein bellender Hund das gackernde Geflügel.
Das Wunderbare war, daß dieses wütigtolle Männchen sonst in jeder
Beziehung ein sanftes, ja demütiges Benehmen zeigte. Er lebte mit einer
uralten Schwester, und oftmals, an Sonntagen und schönen Sommerabenden,
sah man die beiden Arm in Arm friedlich und den Bekannten zulächelnd
durch die Alleen am Bahnhof trippeln.

Der Weg nach Herschkamms Schule führte Engelhart am städtischen
Waisenhaus vorüber, und täglich sah er die Waisenknaben, schwarz
gekleidet, mit schwarzen Mützen und bleichen Gesichtern in Hof und
Garten wandeln, ein auffallendes Gegenbild zu der Ungebundenheit und dem
rohen Übermut seiner Kameraden. Bisweilen begegnete er ihnen, wenn sie
in langem Zug durch die Straßen gingen; ihr leiser Gang, ihr murmelndes
Sprechen, ihr scheues Auge bedrückten und erschreckten ihn, oft sah er
im Traum den langen Zug vorüberziehen, schwarz und bleich wie Kadetten
des Todes.

Zu solchen Bildern gesellten sich Erzählungen und Märchen. Ratgebers
hatten seit Jahren eine Magd namens Ketti, und von dieser wurde
Engelhart sehr geliebt. Sie stammte aus Heilbronn und hatte neben
fränkischer Herbheit auch das Gemüthafte und Phantasievolle, das dem
schwäbischen Wesen eignet. Um die Dämmerungsstunde, am liebsten im
Winter und späten Herbst, wenn die Arbeit getan war und die Küche vom
Glanz der geputzten Geschirre strahlte, nahm sie den Knaben bei der
Hand, kauerte mit ihm zum Ofen, und während sie aus Holzscheiten
Spreißel riß und die Stücke behutsam vor sich hinlegte, erzählte sie
ihre Geschichten. Es war gut, daß in der Person der Magd das Volk zu ihm
redete und seine vielfache, zu Sage und Gedicht verwebte Not und Lust,
aber es war schlimm, daß ihm auf andre Weise die Wirklichkeit entrückt
ward und daß er sich selber zum Gegenstand phantastischer Vorstellungen
machte. Er schuf sich den Wahn, daß er ein Kind von königlicher Abkunft
sei, daß ihm der Thron vorenthalten werden solle und daß Abenteuer
gefährlicher Art ihn einst auf dem Weg seiner Sendung erwarteten. Es kam
so weit, daß er der Eltern in mitleidiger Herablassung gedachte und den
Geschwistern durch einen beziehungsvollen Hochmut unleidlich wurde.
Jedes Geringfügige gewann einen besonderen Glanz, schon allein das
bloße Hinrollen von Tag und Nacht, und Sinnloses erhielt tiefen Sinn.
Frau Ratgeber hatte einen Verwandten in der Stadt, einen alten
Sonderling namens Zederholz, man nannte ihn kurzweg Vetter Zederholz. Er
kam oft an Sonntagen zu Besuch, wobei er sich der Mutter gegenüber mit
veralteter Galanterie gebärdete; Engelhart aber reichte er jedesmal mit
einer leichten Verbeugung die Hand und sagte mit dem Ausdruck
feierlicher Hochachtung, wobei er den Zeigefinger hob: »Engelhart ist
eine Kapazität.« Obwohl der Knabe nicht wußte, was das Wort zu bedeuten
habe, legte er es in der für seine Einbildung günstigsten Weise aus und
schmückte sich damit.

Seine Mutter konnte den Hirngespinsten wenig entgegensetzen, denn ihre
zurückhaltende und geschehenlassende Natur war überhaupt nicht geeignet,
gegen so bestimmte und absurde Neigungen anzukämpfen. Frau Agathe
verkehrte selten mit andern Frauen, sie war viel allein und wurde von
schlimmen Ahnungen geplagt. Sie hatte etwas Fernhaltendes für Menschen,
sei es durch ihre Schönheit – man nannte sie die schönste Frau von
Franken –, sei es durch eine angeborene Traurigkeit des Herzens. Herr
Ratgeber konnte sich nur in seinen Ausruhestunden lebhafter des Sohnes
annehmen. Er war über den größten Teil des Jahres auf Reisen, die
Mühseligkeit der Geschäfte stumpfte ihn ab. Er war noch immer von
ungeheuern Hoffnungen für die Zukunft erfüllt, obwohl ihm nichts Rechtes
gelingen wollte. Er war immer voll von Plänen, Pläne und Entwürfe
besaßen eine außerordentliche Macht über sein Gemüt, aber etwas
verkettete, verstrickte ihn, er blieb im Kleinen stecken und kam nicht
vom Pfennig los. Der beständig sich erneuernde Kummer darüber trug dazu
bei, die Stimmung zwischen ihm und seinem Weibe zu verdunkeln, der
Ehrgeiz hielt ihn ab, sich mit völliger Offenheit zu geben, und jenes
edlere, der gröbsten Notdurft abgewandte Dasein, von dem sie beide
vielleicht geträumt, blieb eben ein Traum. Frau Agathe ließ sich nichts
merken, alles Leiden preßte sie in ihr dämmerndes Innere zurück, nur
bisweilen, etwa in einem Brief an ihre Geschwister, brach es wie ein
fahler Blitz hervor, gegen ihren Willen und sie selbst erschreckend.



                            Zweites Kapitel


Noch war der Knabe im Schlaf, im tiefen Schlaf des Unbewußtseins, und
höchstens ein Traum ließ ihn Leben ahnen. Spiel war ihm alles,
Spieltrieb erfüllte ihn ganz. Abends, wenn er schon im Bette war, die
Mutter saß bei der Lampe und nähte, spielte er mit Stahlfedern,
gebrauchten Zündhölzern und einigen Bleisoldaten folgendes Spiel. Er
hielt die Knie unter dem Deckkissen so gespreizt, daß dieses allerlei
Erhöhungen, Falten und Mulden bildete, und darin sah er ein unheimlich
zerklüftetes Gebirge mit finsteren Schluchten und schroffen Gipfeln. Die
Söldnerscharen begingen die Höhen und Tiefen und kämpften mit Zwergen
und wilden Tieren; vom gespensterhaften Schein der Lampe bestrahlt,
schwebten Feen über das Bettgebirge, und den Schluß bildete ein
gewaltiges Erdbeben, die Geister und Soldaten flehten um Gnade, aber
Engelhart war gesonnen, die Rolle des Weltenschöpfers folgerichtig zu
vollenden, mitleidlos fielen seine Knie nieder, und das malerische
Felsenland ward zur öden Ebene, Weltennacht brach ein. Oft ermahnte die
Mutter zum Schlaf, oder Ketti kam und warf eine moralische Bemerkung
hin, während sie mit der Herrin die Ausgaben verrechnete. Bevor Frau
Agathe in ihr Schlafzimmer ging, pflegte sie eine Weile zu ruhen und zu
denken, ihr Kopf mit der hohen Haarkrone beugte sich herab und ein
Seufzer war das Ende ihres Sinnens. Woran mochte sie denken? An ihre
Einsamkeit? An den frühen Tod?

Bald wurde an Engelhart eine übergroße Begehrlichkeit bemerkbar, und er
glaubte nur in die Welt gesetzt zu sein, um ihre Schätze an seine Brust
zu drücken, liebend oder hassend. Wo hätte er auch Grenzen finden
sollen? Das Auge ist unersättlich. Einmal hing er seine Lust an eine
Orange. Orangen waren teuer, man konnte sie nur beim Konditor haben,
aber Engelhart wußte Rat. Er ging um jene Zeit schon in die öffentliche
Schule und erhielt jeden Morgen von der Mutter drei Pfennige zum
Vesperbrot. Er berechnete, daß er siebenmal kein Brot kaufen dürfe, um
in den Besitz der Orange zu gelangen. Das Geld versteckte er in einem
heimlichen Winkel, und als die Frist verstrichen war, schlich er
aufgeregt und eilig zum Konditor. Es gab ein vielfaches Geklapper, als
er seine Kupfermünzen auf den Steintisch legte. Nun geschah es, daß
plötzlich sein Vater vor ihm stand, als er den Laden verließ. Herr
Ratgeber sagte nichts und Engelhart auch nichts; jeder merkte an des
andern Schweigen, wie die Sache stand. Herr Ratgeber löste die mühsam
erworbene Frucht aus der umklammernden Hand des Knaben; vom Hause
gegenüber sah der Major Friedlein zu, der Tag für Tag von morgens bis
abends aus dem Fenster lehnte, eine lange Pfeife rauchte und in seinem
pechschwarzen Bart aussah finster wie das Gewissen der ganzen Stadt.
Zuhause gab es ein scharfes Verhör und Vorwürfe, auch von der Mutter.
Das wäre in Ordnung gewesen, aber von seiner Orange bekam er nichts mehr
zu sehen, und es ritzte ihn wie ein giftiger Stachel das Gefühl
erlittener Ungerechtigkeit.

Kurz danach war Weihnachten, und Engelhart begab sich mit Bruder und
Schwester auf die Christbaumbesuche. Da sie Juden waren, hatten sie
keinen Baum zu Hause, aber mitten unter protestantischen Christen
lebend, blitzte die fremde Festtagslust in ihre öden Zimmer, und
Sehnsucht trieb sie fort. Wie Bettelkinder gingen sie von Tür zu Tür,
wurden überall wohl aufgenommen und mit Lebkuchen und Nüssen beschenkt.
Am liebsten verweilte Engelhart dann bei Webers unten im Haus. Da waren
zwei Schwestern, Thekla und Selma. Sie waren Waisen und wohnten allein
bei der Großmutter. Die Mutter hatte sie unehelichen Standes geboren und
hatte ein abenteuerndes Leben durch Selbstmord geendet. Die alte Frau
Weber war wunderlich; sie war sehr dick und haßte die Menschen. Daß sie
Engelhart und seine Geschwister an den Weihnachtstagen zu sich lud,
geschah aus einer Vorliebe, die sie für Frau Ratgeber hegte. Aber sie
ließ nicht alle drei zu gleicher Zeit ein; eins mußte nach dem andern
kommen und durfte nicht länger als eine Stunde bleiben. In den Zimmern
hatte alles ein geheimnisvolles Aussehen. Die Schwestern spielten still
vor sich hin, die Großmutter saß auf einem erhöhten Tritt beim Fenster
und las in einem dicken Buch, auf dem Weihnachtsbaum strahlten die
Kerzenflammen wie zuckende Sternchen.

Thekla war ein robustes Geschöpf, das den ganzen Tag arbeitete, kochte,
Wasser schleppte und die Böden fegte. Die sechsjährige Selma war dagegen
zart und fein. Stirn, Wangen und Hände waren weiß an ihr, auch die Haare
waren beinahe weiß. Ihr Anblick erschreckte Engelhart. Ähnliches spürte
er in der Nacht, wenn er aufwachend die Ruhe der Welt bis ins Herz
empfand und hinaushorchend in ihrer Grenzenlosigkeit sich nie
zurechtzufinden fürchtete. Einmal kam er an einem Winternachmittag von
der Schule zurück und fand niemand daheim. Er läutete mehrmals, die
Glocke schrillte wie Gebell durchs Haus, schließlich schritt er langsam
besinnend die Treppe hinab, und da er das Gatter bei Webers offen stehen
sah, ging er hinein, um zu fragen, wo seine Leute seien. Er hatte
Hunger. Er öffnete die Türe der fremden Wohnung und sah nun Selma nackt
vor einem Badetrog stehen; ihre Kleider, von Schnee und Schmutz bedeckt,
lagen daneben. Engelhart war erstaunt und ergriffen; das Menschenbild
gefiel ihm, Selma wandte ihm das Gesicht zu, ihre Augen blickten träg
und mißmutig, plötzlich lief sie unhörbar ins Nebenzimmer. Die alte Frau
Weber drehte sich auf ihrem Stuhl beim Fenster um, und als sie das
demütig bestürzte Gesicht des Knaben gewahrte, lachte sie mit tiefen
männlichen Tönen.

Als es Frühling wurde, durfte Engelhart an Sonntagnachmittagen mit
seinem Vater nach Altenberg gehen, einem kleinen Dorf zwischen Nürnberg
und Kadolzburg, wo Herrn Ratgebers Vater wohnte. Der alte Ratgeber war
Seiler, und oft schaute Engelhart zu, wenn der Greis im
steingepflasterten Hof tappend, auf und ab schreitend, seine Stricke
drehte. Auf ihm lasteten die Zeit und die Sorge sichtbar. Er war
gewöhnlich still und müde, aber ein höherer Glanz ging von ihm aus, wenn
er von seiner Gesellen- und Wanderzeit erzählte. Er hatte die Welt
gesehen und sprach mit scheuer Verehrung davon. »Als ich im Jahr dreißig
nach Wien kam,« sagte er und berichtete, bei welchem Tor er eingezogen
und durch welche Straßen er gegangen war. Er meinte, damals sei das
Leben noch lebenswert gewesen. ›Im Jahre dreißig,‹ dachte Engelhart; er
wußte nicht, daß achtzehnhundertdreißig gemeint sei, und er sah im
Großvater eine Figur von mythisch gotthaftem Alter.

Bisweilen war auch der Bruder des Herrn Ratgeber anwesend. Die beiden
Brüder hatten gemeinschaftlich das Geschäft in der Stadt, aber sie waren
feindselig gegeneinander gestimmt. Herrn Ratgebers Bruder Hermann war
ein Mann, der nichts in der Welt liebte außer seine eigne Person, die
aber gründlich. Er pflegte mit selbstzufriedenem Schmunzeln von seiner
Geschicklichkeit im Sparen zu sprechen, von seiner trockenen
Geschäftspraxis; für die geistig überschauende Art des älteren Bruders
hatte er kein Verständnis, er bezeichnete diese Art als phantastisch und
ging insgeheim mit dem Plane um, die Firma ganz an sich zu bringen. Er
hatte den siebziger Krieg als Trompeter mitgemacht; es war auch in
seiner Stimme etwas Trompeterhaftes, aber wenn er schwieg, sah er schlau
und schläfrig aus.

Einmal erzählte Frau Agathe auch von ihren verstorbenen Eltern. Es war
an einem schönen Tag im Mai, und Engelhart ging mit der Mutter über die
Wiesen jenseits der Maxbrücke gegen die Wolfschlucht. Dort setzten sie
sich unter einem Kastanienbaum nieder, Frau Ratgeber nahm ihre
Handarbeit, und dann begann sie kameradschaftlich mit dem Knaben zu
sprechen; seine Fragen führten auf den Weg ihrer eignen Gedanken.

Ihr Vater war ein weitgewanderter gebildeter Mann von lebhaftem Geist
gewesen. Er hatte an der Rhone, in Marseille, in der Lombardei und in
Zürich gearbeitet, und als er mit nicht geringen Ersparnissen in seine
unterfränkische Heimat zurückkehrte, kaufte er vier Webstühle, nahm vier
Gesellen ins Haus und machte sich in kurzer Zeit als Verfertiger solider
Ware unter den Abnehmern bekannt. Bald dachte er daran, sich zu
verheiraten. Auf der Heimreise hatte er in Uhlfeld bei Fürth ein überaus
schönes Mädchen aus vornehmer Judenfamilie kennen gelernt, und er hielt
um ihre Hand an. Nun war es üblich, nicht nur daß der Mann im Haus der
Braut einen Besuch abstattete, sondern daß auch das Mädchen ins Haus des
Bräutigams kam, und zwar allein. Daher machte sich die schöne
Uhlfelderin auf und marschierte drei Tage lang zu Fuß, da eine Postfahrt
zu viel Geld gekostet hätte, nach Sommerhausen am Main. Wenn ihr das
Gehen in den Stiefeln beschwerlich wurde, zog sie diese aus und stopfte
sie in das Bündel auf ihrem Rücken. Der Bräutigam kam ihr bis Ochsenfurt
entgegen.

Die Weberei nahm einen guten Aufschwung, die Familie geriet in Wohlstand
und konnte einen Weinberg, ein Stück Ackerland und einen Gemüsegarten
erwerben. Dazu brachte Herr David Herz einige Verbesserungen an den
Webstühlen an. Aber mit einem Male kamen die Maschinenwebstühle auf und
Tausende der kleinen Webermeister gingen rasch zugrunde. David Herz
wartete nicht das letzte Ende ab; er schickte die Gesellen fort, ließ
die Stühle auf den Speicher bringen und eröffnete einen Tuchladen. Weil
aber keine Käufer kamen, mußte man mit den Waren über Land gehen, doch
war es nach damaligem Gesetz den Juden verboten, zu hausieren, und das
Gesetz mußte umgangen werden, wenn anders die Familie vor Hunger bewahrt
werden sollte. Nach und nach waren zehn Kinder auf die Welt gekommen,
die ältesten halfen schon, sie mußten bei Nacht und Nebel mit dem
Warenbündel auf Schleichwegen in die Dörfer wandern, und die Gendarmen
mußten mit kostbarem Geld bestochen werden. Aber es wurde noch
schlechter, Mißernten kamen, politische Finsternis hielt die Regsamkeit
des Landes und der Gewerbe in Fesseln, Emilie, die älteste, sollte
vorteilhaft heiraten, aber das sogenannte Matrikelgesetz erschwerte auf
die grausamste Weise die Ehe der Juden. Sechs Kinder starben innerhalb
dreier Jahre hinweg, darauf folgte die Mutter, erschöpft an Leib und
Seele, und der Vater war ebenfalls vernichtet durch die Zeiten. Ihn
hatte das Handwerk betrogen, die Erde gab ihm keine Frucht, er verlor
den Glauben an Gott und Menschheit und starb, noch nicht fünfzig Jahre
alt.

Engelhart ward betrübt von der Erzählung. Das Ereignisvolle daran, Tod,
Krankheit, Armut, prägte sich ihm unvergeßlich ein. Als er mit der
Mutter nach Hause wanderte, begann schon der Mond in die silberne
Abenddämmerung zu blicken. Frau Agathe nahm den Knaben an der Hand und
sie schritten schweigsam dahin. Engelhart begriff plötzlich, daß seine
Mutter nicht glücklich war.

In einer der folgenden Nächte erwachte Engelhart und merkte, daß fremde
Leute in den Zimmern waren, Leute mit einem ängstlichen und
geschäftigen Wesen. In dem Raum, wo Engelhart lag, blieb das Licht
brennen; bald kam einer und schraubte es höher, bald ein andrer und
drehte es tiefer, sie flüsterten, sie lächelten, und da sich der Knabe
schlafend stellte, achteten sie nicht ihrer Worte, und er fing ein paar
Wendungen auf, die ihm zu denken gaben. Da hörte er aus dem Zimmer der
Mutter ein Stöhnen, das ihm durch Mark und Bein ging. Er richtete sich
auf, sah sich allein und lauschte. Die erschütternden Töne wiederholten
sich. Er sprang aus dem Bett, schlüpfte mit Eile in die Kleider und
wollte zur Mutter. Aber eine unbezwingliche Scheu hielt ihn zurück,
Ahnung nicht, Halbahnung vielleicht. Er lief in die Küche. Ketti saß am
Herd; ihr rannen Tränen über die Backen, doch trank sie mit ziemlicher
Seelenruhe eine Schale aufgewärmten Kaffees. Sie begehrte auf, als sie
des Knaben ansichtig wurde, er entwischte ihr und begab sich in den Hof,
setzte sich, in der Nachtkühle schauernd, auf die Hühnersteige und
schlief dort unversehens ein. Er schlief über eine Stunde, das Krähen
des Hahns weckte ihn, da ging er ins Haus zurück und begegnete auf der
Treppe der Tante Iduna Hopf, einer Verwandten des Herrn Ratgeber. Sie
war groß und hager, ein riesenhafter grüner Schal hing um ihre
Schultern, mit strengem Erstaunen betrachtete sie den Knaben und sagte
endlich mit zweideutigem Lächeln und unehrlicher Kameraderie in ihrer
hellen Stimme: »Nun, Engelhart, der Storch ist zu euch gekommen und hat
ein Brüderchen gebracht. Hast du ihn nicht klappern gehört?«

Engelhart senkte den Kopf und erwiderte: »Nein, ich habe die Mutter
weinen gehört.«

Es malte sich in seinem Bewußtsein dies: nicht, daß ein Kind gebracht,
sondern daß es geboren worden sei. Eine tote Buch- oder Zeitungswendung
wurde in seinem Geiste flammend lebendig. Am andern Tag ging er zu
Fräulein Frühwald, die mit Ratgebers auf demselben Flur wohnte. Fräulein
Frühwald war eine Person, die immer Neuigkeiten wissen wollte. Das
einzige Zimmer, das sie innehatte, war voll von Sägespänen, denn sie
verdiente ihren Unterhalt damit, daß sie Blechkapseln glänzend machte.
Während sie Engelhart in ein Gespräch zu verwickeln versuchte, schlug
dieser ein umfängliches Buch auf, das auf dem Tische lag. Es war die
Bibel, Altes und Neues Testament. Er blätterte unschlüssig umher, da
fiel sein Blick auf die Stelle: Gideon aber hatte siebzig Söhne, die
alle aus seiner Lende entsprossen waren, denn er hatte viele Weiber.
»Was ist das, eine Lende?« fragte er das unablässig redende Fräulein.
Sie antwortete, eine Lende sei ein Stück Fleisch. »Auch beim Menschen
ein Stück Fleisch?« fragte er.

»Gewiß,« rief sie lachend und schlug sich auf die Hüfte, »hier.«

Er kam nun öfter zu Fräulein Frühwald, die für jede Gesellschaft dankbar
war, setzte sich an den Tisch und las in der Bibel. Doch erwuchs ihm
wenig Verstand daraus, obwohl er das Fabelmäßige leicht begriff. Die
erwachten Zweifel über Geburt und Geborenwerden fanden Nahrung, doch
keine Lösung; Unverstehbares mischte sich mit der geahnten Natur, die er
auch in seinem Innern beben und wachsen fühlte. Eines aber riß sein
Gemüt hin, vielleicht weil es mit Worten nicht ausgedrückt war, nämlich
das Landschaftliche: die Finsternis des Anfangs, das Paradies mit seinem
Frieden, die Wasserflut und die um den Berg Ararat neu sich hebende
Welt, der Turmbau im babylonischen Land, der Brand der sündhaften Städte
und das Meer über ihnen. Mit andern Augen als bisher trat er unter den
freien Himmel; es war ihm derselbe Himmel, der jene Länder und Zeiten
überwölbt hatte, und wie eine Stirn die Erinnerung des Gelebten
aufbewahrt, glaubte er im Firmament das Andenken jener gewaltigen
Ereignisse vergraben.

Als er zum erstenmal wieder die Mutter sehen durfte, vermochte er kein
Wort über die Lippen zu bringen. Stumm blieb er am Bette stehen, als sie
mit der alten klaren Stimme einige belanglose Fragen stellte. Zuerst
wunderte sich Frau Agathe, dann schalt sie, noch halb gutmütig, dann
wandte sie sich unwillig, ja verletzt von ihm ab. Als Herr Ratgeber nach
Hause kam, berichtete sie über die Verstocktheit des Knaben. Herr
Ratgeber glaubte, daß Engelhart irgendetwas auf dem Gewissen habe, er
nahm ihn bei der Hand, führte ihn beiseite und fing ebenfalls an zu
fragen. Die aufgerissenen Augen und das unbewegliche Stillehalten des
Knaben bestärkten seinen Verdacht, er wurde zornig und schlug Engelhart
mit Heftigkeit ins Gesicht. Die unbegreifliche Tat entpreßte dem
Gezüchtigten Tränen, es schien ihm, als ob die Unbill alles Maß
übersteige, es erfaßte ihn auf einmal ein Gefühl von Liebe für etwas
Unsichtbares, Unnennbares, das außerhalb der Welt lag, in der er sich
bewegte.

Zwei Tage lang durfte er nicht zur Mutter. Am dritten entschloß er sich,
ohne Erlaubnis an ihr Bett zu kommen, um sie zu versöhnen. Doch sie
hatte Besuch. Der alte Ratgeber aus Altenberg war da und außerdem dessen
Vater, der also Engelharts Urahn war, ein Mann von sechsundneunzig
Jahren. Er lebte in Rot am Sand, zwei Stunden hinter Nürnberg. Ein
zottiger Bart von rötlichweißer Farbe schloß das ungemein große, rote,
zerwühlte, volle Gesicht wie in einen Rahmen. Als er Engelhart gewahrte,
hielt er die Hand wie einen Schirm vor die dicken Brauen und stierte
mit den scheu versteckten Augen auf ihn wie auf etwas Weitentferntes,
Winziges, gleich als ob er zeigen wolle, daß achtundachtzig Jahre
zwischen ihm und diesem Kinde lägen. Er griff in die Manteltasche und
reichte mit der zitronengelben Hand Engelhart zwei halbverschimmelte
Schokoladestückchen. Seit dreißig Jahren war er nicht in der Stadt
gewesen, und nicht etwa die Liebe zu seinem Geschlecht hatte ihn
angetrieben, sondern die bloße Neugierde zu sehen, was die Zeiten
gebracht hätten. Der andre Alte verhielt sich gleichmütig, der Besuch
des Vaters war ihm, dem Siebzigjährigen, eine Last. Frau Agathe blickte
mit stiller Verwunderung auf die beiden Greise, von denen keiner um die
Nähe des Grabes zu wissen schien.



                            Drittes Kapitel


Mitte Juli mußte Herr Ratgeber eine Reise antreten, die ihn für einige
Monate von seiner Familie trennte. Frau Agathe beschloß, diese Zeit auf
dem Lande zuzubringen und mit den Kindern ihre Schwester Emilie Wahrmann
in Gunzenhausen zu besuchen. Ihr Leib, ihr Geist bedurften der Ruhe. Die
Tage vor der Fahrt vergingen mit vielfacher Arbeit. Noch in der letzten
Stunde war sie beschäftigt, die Polstermöbel zu überziehen, die Läden
herabzulassen, Kampfer zu streuen; dann stand sie ermüdet auf der
Schwelle, ihre Gestalt hob sich schmal aus dem Dämmer des verdunkelten
Raumes, sie war blaß von dem überstandenen Wochenbett, die Stirn, für
eine Frauenstirn ungewöhnlich hoch, war an den Schläfen wie Marmor von
blauen Adern durchzogen, ihre Augen hatten einen doppelten Blick, den
nach außen für die Gegenstände, und den ruhigen, warmen süßen Blick nach
innen für das Unbekannte.

Die Familie Wahrmann bewohnte ein einstöckiges Haus an der Straße, die
vom Tor des Blasturms aus gegen den Wald führte und wenige hundert Meter
weiter schon Landstraße wurde. Auf jeder Seite standen etwa ein Dutzend
solcher Häuser von ganz gleicher Bauart, und zwischen je zweien war ein
kleiner Garten oder Hof. Frau Agathe fand bei der Schwester, was sie vom
Leben innig wünschte: Sorglosigkeit. Die Erinnerung an ihre Mädchentage
erwachte; hier hatte sie, nachdem der Vater gestorben war, bis zu ihrer
Verheiratung gelebt; hier hatte sie manche Nacht durchtanzt, hier hatte
sie Herr Ratgeber zum erstenmal erblickt. Nun war sie wieder da, von
liebreicher Gastfreundschaft gehegt, und vier Kinder mit ihr als Zeugen
der verflossenen Jahre. Ihre gehobene Stimmung wirkte wie ein
seelenvolles Leuchten auf die Gemüter der andern Hausbewohner.

Engelhart vertrug sich gut mit den Cousinen. Helene, die älteste,
liebte es, ihn zu necken. Nicht seine Gedanken waren vor ihrem Spott
sicher. Sie war selten schlecht gelaunt, sie entdeckte mit Scharfblick
an jedem Menschen die komische Seite und jeder bot ihr daher
unerschöpflichen Stoff zum Lachen. Sie hatte aber auch Respekt für
geistige Dinge, für gute Bücher, es war nichts Kleinstädtisches in ihr.
Ganz anders Jettchen, die zweite. Sie war eine trübe Träumerin, stets
von Unzufriedenheit und zielloser Eifersucht erfüllt. Sie neigte schon
als Kind zu einer halb schwärmerischen, halb gottmeisternden
Frömmigkeit, und da sie nicht hübsch war, sprach sie gern mit Verachtung
von dem eiteln Wesen schöner Mädchen. Die jüngste nun, Esmee, hatte
etwas Teuflisches für Engelhart; er fürchtete sie, wenn sie an den
Sommerabenden auf der Straße wandelten und sich das Mädchen lächelnd an
ihn drängte, ihren Arm in den seinen schob und beim Sprechen ihr Gesicht
so nahe wie möglich an das seine brachte. Sie war immer von einem
einzigen Zustand vollkommen beherrscht, von Wildheit oder Angst,
Müdigkeit oder Begierde. An Regentagen gebärdete sie sich oft, als wolle
sie vor Ungeduld die Mauern niederreißen, und im Wald pflegte sie mit
schmetternder Stimme zu singen:

    »In den Garten wollen wir gehn,
    Wo die schönen Rosen stehn,
    Stehn der Rosen gar zu viel,
    Brech’ ich mir eine, wo ich will.«

Am Anfang des Waldes stand ein Wirtshaus, kurzweg die »Höhe« genannt,
und an Sonntagen pilgerte das halbe Städtchen hinauf. Engelhart fand
sich dann unbehaglich in dem Menschentrubel, und er schlich davon. Er
hatte einen Lieblingsplatz im Wald unter einer alten Eiche; nahebei war
ein Ruinenstein der römischen Mauer. So saß er einmal und lauschte auf
die Tanzmusik, die von der »Höhe« herüberklang. Da legten sich zwei
kleine Hände über seine Augen und eine zarte Stimme wisperte: »Wer bin
ich?« Eigensinnig schwieg er still, und als sich Esmee schmollend an
seine Seite setzte, herrschte er sie an: »Warum bist du mir denn
nachgelaufen?« Sie antwortete nichts, sondern schüttelte heftig ihr lose
hängendes Haar. Er verfiel wieder in sein verstocktes Schweigen. Es
flogen Glühwürmer auf, hinter dem Weg schimmerte es goldgelb vom Mond,
aus dem Westen brummte dumpf der Donner. Plötzlich sprang Esmee auf,
packte blitzschnell mit beiden Händen Engelharts Kopf und biß ihn ins
Ohr. Er schrie, sie lief davon, ihr Lachen vermischte sich mit dem
Rascheln der Zweige, Engelhart eilte ihr nach. Als er in den Wirtsgarten
kam, hatten sich die Gäste schon in den Saal geflüchtet, da es zu
tröpfeln anfing. Esmee stand auf der obersten Stufe der Terrasse. Sie
hatte einen Zipfel ihres Taschentuchs zwischen den Zähnen und riß daran,
während sie in den Saal blickte, die Augen in unheimlicher Wildheit
funkelnd.

Engelhart trat, mit der Hand das schmerzende Ohr bedeckend, in den Saal
und gewahrte unter den ersten Paaren, die sich zum Walzer anschickten,
seine Mutter und den Premierleutnant Siderlich. Er erstaunte über ihr
Aussehen, über ihre roten Wangen und glänzenden Augen. Ihre Bewegungen
hatten etwas Fräuleinhaftes, wenn sie dankte, den Kopf zur Schulter
neigte, den Fuß zum Tanz vorsetzte.

Der Premierleutnant Siderlich lag schon seit zehn Jahren mit einer
Halbkompagnie im Ort, man sagte, daß es eine ewige Strafversetzung sei.
Er wohnte bei Wahrmanns zur Miete, doch gingen diese mit dem Plan um,
ihm zu kündigen, da er in der letzten Zeit oft betrunken war. Das
gewöhnliche Volk nannte ihn wegen seiner außergewöhnlichen Länge und
Magerkeit den Lattenhanni. Er verkehrte mit niemand, hatte weder
Kameraden noch Freunde und empfing oder schrieb nie einen Brief. Jeden
Abend um acht Uhr ging er ins Gasthaus zur Post und verzehrte dort sein
kärgliches Nachtessen. Wenn er fertig war und neben seinem Tisch bekam
etwa ein andrer Gast zu essen, so beugte er sich gegen dessen Teller
herüber und sagte, mit der Zunge schnalzend, gierig und überrascht: »Ah,
das ist aber ein schöner Braten, so einen Braten bekomme ich nie,« oder:
»Das ist aber ein kolossaler Fisch, so einen bekomme ich nie.« Hierauf
rief er die Kellnerin oder den Wirt und fragte mit trauriger Stimme:
»Warum bekomme ich nie eine so große Portion wie der Herr Expeditor?«

»Aber ich bitte, Herr Premier,« sagte der Wirt, »es ist ganz genau
dasselbe Stück.«

Beim nächtlichen Nachhausegehen nahm er sich auf der Straße sehr
zusammen, kaum hatte er jedoch die Haustüre bei Wahrmanns aufgesperrt,
so stimmte er einen greulich unmelodischen Gesang an und stolperte
geräuschvoll die Stiege empor.

Seit Frau Ratgeber im Hause weilte, betrank er sich nicht mehr und
verwendete größere Sorgfalt als bisher auf seinen Anzug. Am Morgen nach
dem kleinen Tanzfest schickte er seinen Burschen mit einem Strauß von
Rosen und einer Visitenkarte, auf deren Rückseite in sorgfältig gemalten
Buchstaben zu lesen stand:

    Schönheit besiegt ein jedes Herz
    Und sei es auch so hart wie Erz.

Bald danach hörte man ihn mit klirrendem Wehrgehänge die Stiege
herabpoltern, er machte im Frühstückszimmer seine Aufwartung, aber seine
Haltung verlor an Sicherheit, als die Kinder, durch sein wunderliches
Grimassenschneiden belustigt, kichernd entflohen.

Es nahte die Zeit der Reife, das Obst auf den Bäumen wurde schwer.
Täglich wanderten die Kinder in die Beeren. Spät nachmittags zog die
belebte Schar heimwärts, die Mütter kamen ihnen auf der Landstraße
entgegen und freuten sich der reichen Ausbeute. An einem schönen
Septembertag brachen beide Familien morgens um fünf Uhr auf und fuhren
nach Pappenheim, wo sie von Bekannten zur Obstlese eingeladen waren.
Engelhart, sich von den Seinen mit Absicht entfernend, schritt durch den
riesengroßen Garten, der über mehrere Hügel hingebreitet war, und sah
ein Schloß, das den Gipfel eines Berges krönte. Es wurde ihm feurig zu
Sinn, als er wieder zu den andern zurückkehrte, stieß er ein
Jubelgeschrei aus. Doch diese waren ebenfalls in Glückseligkeit
gefangen, Frau Agathe schritt mit stillem Lächeln umher und deutete
manchmal auf den Himmel, der so strahlend war, als ob ein blaues Feuer
ihn erfüllte. Dann sank die Sonne, Engelhart hatte ein schneidendes
Gefühl von Schmerz, es tönte eine Stimme: jetzt ist es genug der
Freuden.

Wenige Tage später mußten sie nach Hause reisen, Herr Ratgeber war
früher, als er gedacht, zurückgekehrt. Kisten und Koffer wurden gepackt,
und gegen Abend setzte sich die ganze Karawane nach dem Bahnhof in
Bewegung. Erst dort begriff Engelhart, daß es sich um Scheiden und
Trennung handle. Wie im Schlaf küßte er die Mädchen, später durchzuckte
es ihn, daß er Esmees Mund feucht auf dem seinen gefühlt. Der Zug
rasselte davon, die Nacht brach ein, fremde Leute saßen im Coupé, Ketti
hielt den Säugling im Arm, Gerda und Abel schlummerten aneinandergelehnt.
Auch Frau Agathe schien müde, ihr Blick war in die Dunkelheit hinaus
gerichtet, die Hände lagen still im Schoß. Engelhart schaute sie an und
seine Lippen murmelten wie von selber Esmees Verse und zerhackten sie
mit dem Takt der Eisenbahnräder:

    »In den Garten wollen wir gehn,
    Wo die schönen Rosen stehn,
    Stehn der Rosen gar zu viel,
    Brech’ ich mir eine, wo ich will.«

Er träumte, daß ein ungeheurer Mensch käme und ihn wie ein Stück Holz
unter den Arm schiebe. Der Mensch schritt durch eine eiserne Tür, die er
hinter sich zuschlug, und betrat ein dunkleres Gemach. Er eilte weiter
zur nächsten Tür, die er ebenfalls zuschlug, und so weiter, von Tür zu
Tür, bis sie in einen grauenvoll finstern Raum kamen.

Ein paar Tage hernach schrieb Frau Agathe einen langen Brief an ihre
Schwester in Gunzenhausen. Sie meldete die glückliche Ankunft, und daß
weder den Kleinen noch den Großen ein Unfall zugestoßen sei. Dann
beschrieb sie ausführlich, in welchem Zustand sie die Wohnung
angetroffen habe; in den Fugen des Flurgatters sei der Staub fingersdick
gelegen, das Türschloß im Wohnzimmer sei vollständig eingerostet; im
grünen Zimmer hätten die Motten trotz aller Schutzmaßregeln die
Rücklehne des Plüschsofas angefressen; in der Küche sei vom Hagelwetter
im August ein Fenster zertrümmert worden. Nachdem alles das ausführlich
geschildert war, dankte Frau Ratgeber ihrer Schwester und deren Gatten
für die lange Gastfreundschaft. Sie drückte ihre Dankbarkeit in den
leidenschaftlichsten Worten aus, zu denen sie in mündlicher Rede nie den
Mut gefunden hätte, und erklärte sich unvermögend, solche Opfer nur
annähernd in gleicher Münze zu bezahlen. Sie gestand, daß sie sich seit
der Abreise grenzenlos unglücklich fühle und daß sie wisse, eine geheime
Stimme habe es ihr zugeflüstert, sie werde die Schwester und die Nichten
nicht mehr wiedersehen. Sie erzählte, wie trostlos Engelhart sich
benehme und fügte hinzu, daß sie seines versteckten und träumerischen
Charakters wegen recht besorgt sei.

Ungern besuchte Engelhart die Schule. Aber er mußte. Schon tönte das
Wort Pflicht als ein Fanfarenstoß an seine Ohren. Ihm war es das
liebste, zu gehen, wohin er wollte, zu unternehmen, wozu sein Inneres
ihn antrieb. Er spielte mit sich selbst; sogar das Sehen seiner Augen
wurde zum Spiel; auf der Gasse gehend, probierte er, ob man nicht auch
mit dem Mund sehen könne. Er dachte klüger zu sein als Gott oder ihn
wenigstens zu kontrollieren. Er schloß die Augendeckel, schob die Lippen
vor, und da er nun weiter zu gehen vermochte, dachte er in seiner
Albernheit, Gott eines Bessern belehrt zu haben, während er ihn nur
beschummelt hatte, denn ein ganz klein wenig hatte er doch durch den
Spalt zwischen den Lidern gespäht.

Herr Ratgeber tadelte das Guckindieluftwesen heftig. »Hände aus den
Taschen! Frisch, frisch! Munter!« rief er, wenn der Knabe sinnend
einhertrottete. Aber Engelhart fand sich nur eingeschüchtert, und er
verbarg eifersüchtig sein Herz. Tausend Fragen waren in ihm erwacht,
Bedeutendes und Nichtiges lag gleich schwer vor seinem Weg. Er hatte
niemand, um zu fragen; die Mutter war in solchen Dingen nicht
entgegenkommend, dem Vater war nichts lästiger, als wenn man ihn viel
und um vielerlei befragte. Von den Lehrern erwartete er nichts und sie
gaben auch nichts.

Im Spätherbst verbreitete sich das Gerücht von einem Weltuntergang. Der
furchtbare Termin war für Anfang November prophezeit. Engelhart wunderte
sich über das gefaßte Wesen der Leute, er wunderte sich, daß sie noch
aßen und tranken, daß sie schwatzend unter den Haustoren standen und den
hellen Himmel betrachteten, und er freute sich auf ihren Schrecken und
ihre Verzweiflung, wenn das Ungeheure kam. Er spazierte in der Mitte der
Straße auf und ab, um beim Zusammensturz der Häuser verschont zu
bleiben. Allmählich sammelten sich vor der Pfistergasse, wo man den
Ausblick auf das freie Feld hatte, viele Erwartungsvolle an und starrten
in den aufgehenden Mond. Die Abergläubischen hatten wenig Zuspruch, wer
Angst hatte, wollte sie doch nicht zeigen, denn man lebte in einer
aufgeklärten Protestantenstadt. Dennoch war die Enttäuschung allgemein,
als es Abend ward und Himmel und Erde ihr friedliches Aussehen nicht
veränderten. Engelharts Unzufriedenheit wurde gemildert durch das
gebundene und sehnsüchtige Gefühl, das ihm der Mond einflößte; die
unsichtbare Bewegung des Gestirns bewegte ihn mit. Auf dem Heimweg traf
er Selma Weber, sie gingen zusammen und plauderten; doch da unterbrach
Selma das Gespräch und fragte ängstlich: »Ist es wahr, daß du ein Jud
bist?« Er stutzte, bejahte, aber der Ton ihrer Stimme wollte ihm nicht
aus dem Kopf. Eines Tages, es war schon Winter geworden, tiefer Schnee
lag, vergnügte er sich damit, in die Fußstapfen eines vor ihm her
gehenden Knaben zu treten. Da dieser aber viel größere Schritte machte,
mußte er seine Beine übermäßig spreizen, was einen komischen Anblick
bot. Er hörte denn auch ein schallendes Gelächter und sah Fräulein
Holländer, die am Fenster ihrer ebenerdigen Wohnung lehnte und sein
Treiben belustigt mitansah. Dieses Fräulein war eine Jüdin, eine
ältliche Jungfer, die mit ihrer Mutter ein kleines Häuschen gegen den
Spitalgarten bewohnte. Engelhart kam oft dorthin, weil das Hoftor mit
bunten Glasscheiben versehen war, und er liebte es, durch die farbigen
Gläser auf die fernen Hügel des Vestnerwaldes und auf die Wiesen des
Flußtals hinunterzublicken.

Als der größere Knabe das Lachen vernahm, blieb er stehen und sah sich
um, und Engelhart, mit beiden Füßen in einer einzigen seiner Fußstapfen,
blieb ebenfalls stehen. Der andre stierte ihn drohend an und sagte
haßerfüllt: »Du Jud.« Darauf kamen noch ein paar Burschen, stellten sich
um Engelhart herum und beobachteten ein feindseliges Schweigen. Er wußte
sich beschimpft, begriff aber nicht, wodurch. Er grübelte noch in sich
hinein, als jene schon verschwunden waren; da winkte ihm Fräulein
Holländer zu, er folgte, und als er im Zimmer war, schloß sie das
Fenster, reichte ihm einen gebratenen Apfel aus der Ofenröhre, und
während er aß, holte sie ein dickes Buch herbei, schlug es auf und las
ihm folgende Stelle vor: »Da wohnten die Nachkommen der Juden aus der
babylonischen Gefangenschaft. Sie bewahrten noch ihre Stammbäume und
konnten ihre Geschlechter auf die Fürsten und Propheten Judas
zurückführen. Ihr Oberhaupt wohnte zu Bagdad und führte den Titel: Fürst
der Gefangenschaft. Er stammte in gerader Linie vom König David;
Christen und Heiden anerkannten seine Abkunft und nannten ihn unser
Herr, der Sohn Davids. Sein Ansehen erstreckte sich über die Länder des
Ostens bis Tibet und Hindostan. Es wurden ihm die größten Ehren
erwiesen, und wenn er öffentlich erschien, trug er Kleider von
gestickter Seide und einen weißen Turban mit goldenem Diademe.«

Engelhart senkte den Kopf und dachte nach. »Ist es ein Märchenbuch?«
fragte er.

»Nein, kein Märchenbuch!« erwiderte sie. Sie zeigte das Titelblatt, und
er las: Benjamin von Tudelas Reisen. Da lächelte Engelhart aufatmend vor
sich hin und war dessen gewiss, daß er ein Mensch unter Menschen bleiben
durfte. Nachmittags kam Fräulein Holländer zu Frau Agathe. Sie trug
gelbe Handschuhe, die an allen zehn Fingerspitzen zerrissen waren, einen
außerordentlich großen Hut mit Federn und ein kupferglänzendes
Seidenkleid. Sie sprach mit der ihr eignen geschraubten Lebhaftigkeit
über den Knaben, über seine Begabung, sein schönes, belebtes Gesicht und
schloß ihre Rede mit den Worten aus der Geschichte Bileams: »Es wird ein
Stern aufgehen aus Jakob.« Frau Ratgeber ward es angst und schwül, und
sie war froh, als die Person wieder fort war.

An seinem Geburtstag, wo er neun Jahre alt wurde, erhielt Engelhart die
Erlaubnis, sich Spielwaren aus dem Geschäft des Vaters zu holen. Am
Nachmittag nach der Schule ging er hin. Es waren niedrige, lichtlose
Räume dort. Hinter einem Holzgitter saßen Herr Ratgeber und sein Bruder,
ein jeder wachsam im dumpfen Haß. Nebenan befanden sich die jungen Leute
und Peter Salomon Curius, den Herr Ratgeber als Buchhalter angestellt
hatte. Er war stets muntrer Laune, schmunzelte zum Fenster hinaus, wenn
die Dienstmädchen der Nachbarschaft vorübergingen, rauchte, trank Bier,
erzählte Geschichten, die alle einen Anhauch von Größenwahn hatten. Er
glich einem Herzog, der zum Scherz Lakaiendienste verrichtet, oder einem
Millionär, der zur Belustigung seiner Gäste selber den Koch macht. Er
wußte alles besser, und wenn einer die Kunst zu fliegen erfunden, hätte
Herr Peter Salomon mit geringschätzigem Lachen gesagt: »Ach was, das
hab’ ich schon vor zehn Jahren gekonnt, es ist gar nichts weiter dabei,
jeder windige Sperling macht dasselbe, ich habe es längst aufgegeben,
denn, unter uns, es ist eine langweilige Sache.«

In den verliesartigen Zimmern roch es nach Tinte, Staub und Spinnweben.
Lange suchte Engelhart, um etwas zu finden, was nicht bloß der
augenblicklichen Lust, sondern auch zukünftigen Wünschen Genüge tun
konnte, und er wählte schließlich eine Trommel und einen Spiegel. Zu
Hause fingen Gerda und Abel zu weinen an und wollten auch etwas haben;
er lachte sie aus, die Mutter schalt, sie empfand vielleicht dunkel, daß
da keine Unschuld mehr sei, wo mißgünstiges Behagen an fremdem Neid sich
sättigt. Sie warf ihm vor, er habe kein Herz für seine Geschwister, doch
konnte sie nicht ermessen, wie es sich damit in Wirklichkeit verhielt.

Wie ihr alles in der Stille Sorge machte, so auch dies. Zudem erfuhr sie
von einer ungewöhnlich hinterlistigen Handlung, die er bald hernach
beging, und ihr Urteil über den Knaben verwirrte sich noch mehr. Er
hatte mit den Kindern des Pedells von der nahegelegenen Bürgerschule
Bekanntschaft geschlossen und jagte mit ihnen oft in dem großen, mit
Bäumen bepflanzten Hof umher. An den Spielen beteiligte sich Selma
Weber, ferner das Töchterchen des Direktors, ein liebliches,
ausgelassenes Ding, und Sophie Hellmut, das Kind eines Arztes. Vor den
drei Mädchen suchte sich Engelhart durch Geschrei und heldenmäßiges
Wesen hervorzutun, oder wenn nicht so, dann durch ein gekränktes und
sauertöpfisches Beiseitestehen, das ganz grundlos war, wodurch er aber
doch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken wähnte. Den tiefsten Eindruck
machte Sophie Hellmut auf ihn. Sie war so schwermütig wie eine Nacht,
die von Stürmen in der Ferne zittert und doch ihre Wolken ruhig
vorübergleiten läßt, weil sie hofft, daß es Morgen wird.

Nun war ein gewisser Rindsblatt in der Gesellschaft, ein rothaariger,
häßlicher Knabe, der sich scharwenzelnd und prahlend um Sophie zu
schaffen machte und gegen den Engelhart bösen Groll hegte. Einmal fing
es an zu regnen, und alle flüchteten in eines der leeren Schulzimmer.
Sie schrien und lärmten, bis die Dämmerung einbrach, da kam Rindsblatt
dazu, sprang mit einem Satz auf den Katheder, ließ die Beine baumeln und
spuckte mit einem Ausdruck zur Seite, als wolle er sämtliche Lehrer der
Welt totspucken. Die Mädchen wurden von unten zum Nachtessen gerufen und
schossen tobend hinaus, Engelhart folgte verdrossen, nur Rindsblatt
blieb sitzen, um zu zeigen, daß er keinem Ruf gehorchen müsse, und
begann laut zu singen; Engelhart kehrte noch einmal zur Tür zurück und
hörte, wie die Stiefelhacken des Knaben hohl gegen das Brett schlugen,
er sah den Schlüssel im Schloß stecken und drehte ihn um, so daß der
Verhaßte gefangen war. Dann rannte er die Treppe hinab und setzte sich
auf die Brunnenbank im Hof. Der Abend war schon eingebrochen, hohe
Mauern blickten durch den rieselnden Regen. Lang blieb es still, endlich
wurde oben ein Fenster aufgerissen, und Rindsblatt schrie. Niemand
hörte, er wiederholte sein Geschrei, schon saß ihm die Furcht in der
Kehle. Engelhart verspürte eine trotzige Genugtuung, den trockenen
Prahler so bang zu wissen, gleichwohl schlich er zaghaft in den Flur, da
sah er den Pedell mit der Lampe die Stiege hinaufschreiten, denn oben
hämmerte es so fürchterlich an die Türe, daß das Treppenhaus dröhnte.
Rindsblatt wußte, wer ihm den Streich gespielt, und gab es an. Doch ließ
er sich Engelhart gegenüber nichts merken, er rächte sich nicht, obschon
er stärker und älter war. Das erschreckte Engelhart, nie ging er ohne
das unheimlichste Gefühl an dem Burschen vorüber, und er ahnte, daß in
jener Brust ein gefährlich-giftiger Haß brüte und sich mit Vorsicht der
rechten Stunde gewärtig hielt.

Es wurde Frühling. Am zweiten Sonntag im April während eines
Spazierganges sagte Frau Ratgeber, es sei ihr heute besonders wohl
zumut. Aber als sie nach Hause kamen, war Engelhart eine Zeitlang mit
der Mutter allein im Zimmer, Herr Ratgeber war im Hohlwegsgarten zu
einem Glas Bier eingekehrt, Gerda und Abel waren bei Tante Curius, Ketti
ging mit dem kleinen Benjamin noch auf der Straße, da sah Frau Ratgeber
den Knaben eigentümlich an und sagte, es verlange sie, ins Bett zu gehen
und zu ruhen. Sie klagte über Schmerzen im Ohr.

Am nächsten Tag begannen die Osterferien. Festlich gestimmt trat
Engelhart nach der Schule ins Schlafzimmer, wo Frau Agathe lag. Die
grünen Rolläden waren herabgelassen, um die Sonnenstrahlen abzuhalten,
auf dem Tischchen stand eine Arzneiflasche mit brauner Flüssigkeit. Die
Mutter fragte ihn nach diesem und jenem und gab ihm Ermahnungen
allgemeiner Art. Sie meinte, das beste im Leben sei Gehorsam und
Sichfügen. Aber Engelhart suchte den Sinn ihrer Worte als etwas
Unbehagliches beiseite zu schieben. Was war ihm Gehorsam? Ein Zwang, dem
seine Schwäche unterlag. Er wollte frei sein, er hatte die eigensinnige
Überzeugung von einer im Innern der Brust wirkenden Kraft, die sich
frech über alle Vernunft der Wohlgesinnten hinwegsetzte. Er erwiderte
nichts, und da Frau Agathe den Zustand des verstockten Schweigens bei
ihm kannte und fürchtete, hieß sie ihn gehen. Als er die Schwelle des
Zimmers überschritt, hörte er sie seufzen.



                            Viertes Kapitel


Eine weite Ebene, Wiesen und Felder, in spinnwebgrauem Nebel. Die
Landstraße mit den hohen Pappeln kriecht weiß und leer in den Nebel
hinaus, und so absonderlich wie der blühenden Frühlingslandschaft in dem
herbstlichen Dunst ist es Engelhart zumut. Eine trügerisch-schwermütige
Stille liegt über der Welt, der Bauer steht auf dem Acker und faltet
bedenklich die Stirn. Ein liebliches Kindergesichtchen taucht aus dem
Nebel, es ist Benjamin auf Kettis Arm. Man schickt ihn zu den Großeltern
nach Altenberg, im Haus darf er nicht mehr bleiben, Frau Agathe muß Ruhe
haben. Das kleine Bübchen jauchzt, da Engelhart possenhaft vor ihm
hertanzt, es weiß nicht, daß es bald sterben wird. Drüben im Dorf wartet
der Tod auf Benjamin, der Tod hat die Nebelschwaden aufs grüne Land
gebreitet.

Auch Engelhart, Gerda und Abel mußten das elterliche Haus verlassen und
wurden bei der Familie Dessauer in einem vornehmen Haus an der
Bahnhofstraße untergebracht. Frau Dessauer war eine entfernte Verwandte
der Mutter und lebte mit ihrem Sohn und seiner Frau in der
Abgeschlossenheit reicher Leute. Dort mußte man leise gehen und leise
sprechen, man mußte die Klinke in der Hand halten, bis die Türe
geschlossen war, man mußte artig sein. Artig, artig! hallte es aus jedem
Winkel.

Die Kinder wagten schließlich vor lauter Artigkeit nicht zu gestehen,
wann sie Hunger hatten, Engelhart schlich bedrückt durch die langen
Korridore und betrachtete stumm die hohen Türen. Er vernahm die Klänge
eines Klaviers und lauschte. Eine Singstimme fiel ein. Das Lied zog ihn
unwiderstehlich an, und er betrat das Zimmer. Die alte Frau saß am
Instrument, die junge stand daneben und sang. Als sie den Knaben
gewahrten, unterbrachen sie Spiel und Gesang, zwei Augenpaare blickten
ihn dürr und strafend an. Man tritt nie in ein Zimmer, ohne anzuklopfen,
hieß es, er solle wieder hinaus und sich melden. Er schaute starr zu
Boden, dann lief er davon und auf die Straße. Die beiden Frauen kamen
überein, daß der Knabe von einem bösartigen Geist erfüllt sei und daß
man vor ihm auf der Hut sein müsse. Indessen lief Engelhart zum Bahndamm
hinüber und spazierte an den schimmernden Geleisen entlang, die
gleichsam eigenbeweglich in die Ferne liefen. Sehnsucht packte ihn, er
spürte unter den Sohlen ein Zittern, als er sich auf das blanke Eisen
stellte, dann warf er sich platt zur Erde und legte das Ohr auf die
Schiene. Das Unglück brachte gerade in dieser Minute den jungen Dessauer
des Wegs, er befahl Engelhart aufzustehen und führte ihn wortlos in das
stille Haus zurück. Dort wurde ein Verhör angestellt, und der Beschluß
war, daß Engelhart fortgeschafft wurde, da man für einen Knaben von so
verbrecherischen Anlagen nicht die Verantwortung übernehmen wollte.

Er kam zu Frau Iduna Hopf. Wieder eine neue Welt; ein uraltes Haus am
Helmplatz, im finstern Flur der Backofen eines Bäckers, morsche Treppen,
die bei jedem Schritt jämmerlich ächzten, und oben die winzigen
Stübchen. Im Wohnzimmer war ein Bücherschrank mit einer Glastüre, davor
stand Engelhart, betrachtete die enggepreßten Reihen der Bücher und las
die Titel auf den Rücken der Einbände. Iduna Hopf behauptete, es seien
die tiefsinnigsten Werke der Welt, außer ihrem Immanuel würden alle
Leute wahnsinnig, die darin läsen. Später einmal, wenn Engelhart zu
Jahren und Verstand gekommen, werde sie trachten, ihm das Heiligtum zu
erschließen.

Er vertraute diesem »Später« ohne weiteres. Er ahnte, was ihm im dunkeln
Spiel der Zufälle und Schicksale für ein Los fallen könne, und daß er,
an ödem Strande kauernd, sich begnügen würde, wenn ihm die Woge aus
einem Schiffbruch ein armseliges Buch vor die Füße spülte. Nach Wissen
und Belehrung stand ihm der Sinn nicht vor dem Bücherkasten, er
verlangte nach anderm, nach Seelenspeise, Wärme des Herzens.

Tag um Tag verging, denn sie lassen sich nicht halten, die Sonne steigt
und sinkt, die Sterne scheinen und verschwinden, der Tag des Schicksals
ist seiner Sache sicher und kann warten. Auf einmal berührte Engelhart
aus dem Ungefähr heraus ein Gedanke: es geschieht etwas zu Hause; da
hielt es ihn nicht länger. Als er vor der elterlichen Wohnung läutete,
gab die Glocke, die sonst schrill und frech gegellt, nur einen dünnen,
gedämpften Ton. Der Klöppel war mit Leinwand umwickelt. Er war
verwundert, als er im Wohnzimmer den Onkel Michael aus Wien, den
einzigen Bruder der Mutter, und dessen Frau traf. Auch ein paar andre
Leute waren zugegen. Kein Lächeln begrüßte ihn, alle schienen wie in die
Betrachtung eines Loches vertieft. Herr Ratgeber lehnte regungslos im
Sessel, der sonst so glänzende und martialische Schnurrbart hing
kraftlos über die Lippen. Eine fremde Person kam aus dem Krankenzimmer
und lispelte: »Ach, du bist da, Engelhart – deine Mutter hat heute nach
dir verlangt.«

Er ging in das dunkle Zimmer, und allmählich lösten seine Blicke die
weiße Gestalt mit der weißen Binde um die Stirn aus der Dämmerung. An
das Lager tretend, hatte er ein zerflossenes, böses Gefühl, wie wenn der
Sturmwind Sand in die Augen treibt. Er fand die Mutter so verändert,
daß er furchtsam den Kopf senkte und mit seinen Fingern spielte. Frau
Ratgeber streckte den Arm aus dem Bette und suchte seine Hand, und er,
rätselhafte Verstocktheit, machte es ihr nicht leichter, sondern stellte
sich, als sähe er es nicht.

Frau Agathe war den Tag vorher operiert worden. Der Professor hatte
schon wenige Stunden später gesehen, daß die Sache eine schlimme Wendung
nahm. Der Tod, winzig wie ein Elf, wühlte in den geheimnisvollen Gängen
des Ohres.

In der Nacht wurde Engelhart plötzlich vom Schlaf verlassen. Es
umschauerte ihn; sein Herz wußte, was es verlieren sollte, es sträubte
sich und fing an zu brennen wie eine Schnittwunde am Finger. Es spürte,
was für Wetter nun heranziehen würde, und daß die Paradieseszeiten,
paradiesisch Schmerz und Lust, vorüber seien. So kam ihm das Gefühl des
Versäumnisses, zum erstenmal das Gefühl der Unwiederbringlichkeit, das
wie ein schwarzer Schatten aus der Finsternis trat und ihm das Wort und
den Begriff Verlust hinschleuderte. Das war kein Träumen mehr, sondern
ein doppeltes Erwachen des Leibes und der Seele, kein Spiel mehr,
sondern der wilde, unbewegliche Ernst.

Er nächtigte in dem Bretterverschlag, den sonst die Magd innehatte,
verließ das Bett und schlich barfüßig in den Flur. Aber Nachtkälte und
Nachtfurcht hauchten ihn an, er kehrte um und blieb, ohne zu schlafen,
bis der Morgen graute. Dann kleidete er sich an und ging hinüber. Auf
der Schwelle ihrer Wohnung stand kreidebleich das Fräulein Frühwald, den
Kopf an den Türpfosten gelehnt. Es wurde dem Knaben kühl um die Brust,
unsicheren Fußes betrat er das kleine Zimmer neben dem Wohnzimmer. Dort
lag Herr Ratgeber auf dem Sofa, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, den
Kopf zwischen den Armen, und gab Töne von sich, die wie Gelächter
klangen. Engelhart ging weiter, endlich hatte er ein abgelegenes
Plätzchen gefunden. Er lehnte die Stirn gegen den Rand eines eisernen
Öfchens und sah seine Tränen vor sich auf den Boden fallen.

Später erschienen viele Leute, gegen Abend wurde der Sarg gebracht. Als
es am dritten Tag zum Begräbnis ging, standen die Hausbewohner und die
Nachbarn vorm Tor. Die Goldschläger hörten auf zu hämmern und traten in
respektvoller Haltung auf die Straße. Der Major Friedlein schaute wie
immer aus seinem Fenster, doch hatte er diesmal keine Pfeife. Bis der
Zug zum Gottesacker kam, hatten sich unzählig viele Menschen
angeschlossen, aus manchem Fenster hing ein schwarzes Tuch oder blickte
eine weinende Frau.

Engelhart mußte die Schaufel nehmen und Erde ins Grab werfen. Als alles
aus war, kam der Vetter Zederholz, klopfte ihm auf die Schulter und
sagte: »Lieber Sohn, so etwas kommt nicht zum zweitenmal.« Er blickte
freundlich und traurig zugleich auf den Knaben, und zwischen den
Fettfalten seiner Wangen glänzte es feucht.

So war die schöne Seele hinunter. Es war, als ob sie nie gelebt, als ob
ihr Lächeln nie gelebt hätte, ihr volles, wahres Auge, ihr karges und
wohlgemeintes Wort. Nur die toten Dinge blieben: die Straße und das
Haus; das Bett, in dem sie geruht; der Teller, von dem sie gegessen.

Schlimm, daß Engelhart durch einen äußerlichen Trauerdienst der Trauer
seines Gemüts entführt wurde. Jeden Morgen, sobald der Tag graute, mußte
er aufstehen und zum Gebetshaus eilen, um das Totengebet dort laut zu
beten. Jeden Morgen allzu früh riß ihn eine rauhe Hand zum Wachsein auf,
und noch halb schlafend wankte er durch die Gassen. Gott wolle es und
das Seelenheil der Mutter, sagte man ihm. Er glaubte nicht an einen
Gott, der dieses wollte, er verhielt sich feindselig gegen einen Gott,
der es darauf abgesehen hatte, seinen Schlaf zu zerreißen. Das war
schlimm, denn dadurch wurde sein Himmel plötzlich leer. Innerliche Güter
statt in Kämpfen in verstimmter Selbstsucht verlieren, heißt ohne Würde
und Gewinn verlieren. Freilich war Engelhart darin von je ungeleitet
geblieben, der Vater stand diesen Dingen scheu gegenüber, es war ihm
unbequem, daran zu rühren, und er hatte keine Zeit, darüber
nachzudenken; die Mutter, einfach in ihrem Glauben wie in ihrem Wesen,
hatte gemeint, das wüchse von selber in der Brust wie der Baum in guter
Erde. Aber es kam kein Baum heraus, nur ein schmächtiges Reis, das vor
dem ersten Windhauch zerbrach. Zudem lebte das werdende Geschlecht
damals in einer Luft nüchterner Praktiken, und der höhere Sinn fand in
kränklicher Sehnsucht sein Heil.

Kurze Zeit nach Frau Agathes Tod sagte Ketti den Dienst auf. Es blieb
unbekannt, was sie vertrieb. Zu einigen Leuten äußerte sie, sie wolle
nicht bei mutterlosen Kindern bleiben. Man wandte ein, daß sie nun erst
recht nötig und am Platze wäre, aber sie sagte, es täte ihr zu weh; sie
möge auch keinen andern Dienst mehr annehmen und gehe in ihre Heimat.
Sie war zehn Jahre im Haus gewesen, und Herr Ratgeber ließ sie ungern
ziehen. Er war den ganzen Tag im Geschäft, zu Mittag schlang er hastig
seine Mahlzeit hinunter, warf kaum einen Blick auf die Kinder, zündete
die Zigarre an und ging wieder. Die Verwandten sagten ihm, daß die
Kinder auf diese Weise verwildern müßten, auch kostete der kleine
Haushalt mehr als je zu den Zeiten der Frau. Da entschloß er sich, eine
Wirtschafterin zu nehmen, und er hielt Nachfrage nach einer
entsprechenden Person, die zugleich eine gewisse Geistesbildung besitzen
sollte. Es dauerte nicht lange, da erschien ein großes blasses, blondes
Frauenzimmer im Haus, und Herr Ratgeber glaubte gut gewählt zu haben.
Wenige Tage, nachdem das Fräulein, dessen Name Adele Spanheim war, seine
Stellung angetreten hatte, übergab er ihr das Wirtschaftsgeld für drei
Monate und reiste fort. Mehr als je träumte er jetzt von Reichtum oder
doch von behaglicher Wohlhabenheit; er spannte alle Kräfte an, um sich
auf jene Höhe des Lebens zu schwingen, auf der man von den Menschen
geachtet werden muß; es war, als ob das nun erstarrte Herz ihm keinerlei
Rücksichten des Gefühls auferlegte, er mußte nicht und nirgends mehr
verweilen, konnte sich völlig seinen Projekten hingeben, und wenn ihm
auch nicht vergönnt war, ins Weite hinaus zu wirken, das wußte er, so
wollte er doch in seinem Kreis etwas gelten. Er war nie ein Jammerer, er
beklagte nie sein Geschick; diese Kraft, sich zu verschließen,
entfremdete ihn aber auch der Teilnahme der denk- und gemütfaulen
Leute, die rings um ihn gemächlich ihre Existenz bauten.

Adele Spanheim verlangte blinden Gehorsam von den Kindern. Die beiden
Kleinen bequemten sich dazu, sie konnten ja noch nicht sehend wollen.
Engelhart widerstrebte trotzig. Das Blut schoß ihm in die Stirn, wenn
sie lachend einen Befehl gab, nicht aus Einsicht, sondern aus bloßer
Lust am Kommandieren. In einem ihrer wöchentlichen Berichte über die
Ausgaben und die Vorfälle im Haus, die sie Herrn Ratgeber zu senden
hatte, klagte sie, daß Engelhart ihr ohne den gebührenden Respekt
begegne und daß es ihr schwer falle, gegen seine freche
Selbstherrlichkeit aufzukommen. Darauf schrieb Herr Ratgeber zurück,
wenn sich der Knabe nicht bessern wolle, erlaube er ihr jede Form der
Züchtigung. Diese Briefstelle las ihm das Fräulein vor. Engelhart
vernahm mit Unglauben und Schmerz des Vaters Worte, die so fremdartig
aus der Ferne klangen, so kaltherzig auf dem Papier standen. Er forderte
Fräulein Spanheim auf, ihm den Brief zu zeigen, sie willfahrte, und es
wurde ihm leicht, die schönen klaren Schriftzüge zu lesen.
Niedergedrückt schlich der Knabe im Haus umher und stellte sich, des
schlechten Wetters nicht achtend, unter das Haustor. Die anbrechende
Nacht verscheuchte ihn, und als er hinaufging, hatte er Kopfschmerz und
jagende Hitze. Adele Spanheim sah ihn bleich hereinschwanken und wurde
besorgt. Sie entkleidete ihn und strich ihm kosend über das Haar, aber
ihr verändertes ängstliches Benehmen beleidigte seinen Stolz.

Er bekam den Scharlach in der gefährlichsten Form, lag vier Tage
bewußtlos, bäumte sich aus der pflegenden Hand und schrie vor sich hin.
Danach, als er genas, füllte sich seine Brust mit Süßigkeit, es wurde
ihm offenbar, daß er durch ein dunkles Tor neuerdings ins Leben trat,
etwas von Lebensschönheit wurde ihm bewußt, über einem langhinlaufenden
Weg strahlte die Sonne mit herrlicher Gewalt, an beiden Seiten hingen
Rosengirlanden und über smaragdenen Wiesen flogen Vögel, wie er sie nie
zuvor erblickt, sie hatten etwas menschlich Sanftes im Ausdruck ihrer
Augen und es wirkte beruhigend, wenn sie langsam sichere Kreise um
denselben Mittelpunkt zogen. Gleichzeitig hörte er die vertrauten
Geräusche von der Straße, das Hämmern der Goldschläger, dies
meisterhafte Schlagen im kurzen Wechseltakt, das Geschrei der spielenden
Kinder, den Gesang vom Wirtshaus und vieles andre. Der Tod hörte auf,
ein Wort für ihn zu sein. Er wurde Bild und glich dem Bild des Lebens,
nur daß alles umschattet und erstarrt war. Die Frage entstand: Wären die
Stadt und ihre Häuser noch vorhanden, wenn ich tot wäre? Würden die
Bälle der Kinder draußen noch ebenso in die Luft fliegen, die Leute im
Wirtshaus noch ebenso singen? Er begriff oder fühlte dunkel das Einzige
des Lebens, die wunderbare unermeßliche unbegreifliche Macht, die den
Menschen atmen läßt und die ihn zugleich die Finsternis ahnen läßt –
dort, jenseits des Rosenwegs, über welchen die sanftäugigen Vögel
fliegen, die er im Halbtraum gewahrt.

Täglich kam Doktor Federlein, flüsterte eine Weile mit Fräulein Adele,
dann trat er ans Lager, von Karbolgeruch umwallt wie ein Priester von
Weihrauch, nickte dem Knaben zu, schrieb ein neues Rezept, befühlte
seinen Puls, kitzelte ihn am Kinn, schüttelte vor dem Spiegel seine
dunkeln, bereits angegrauten Locken und ging wieder. Herr Ratgeber war
von der Reise zurückgekehrt, Engelhart sah ihn aber nur des Abends.
Neues Unglück hatte ihn getroffen, der kleine Benjamin war draußen in
Altenberg gestorben. Wie ein Schatten war er seiner Mutter nachgefolgt,
als ob sie, schon unter der Erde, das winzige Seelchen noch verlangt
hätte, das in unergründlicher Trauer sein Leben kränkelnd hinschleppte.

Als Engelhart zum erstenmal wieder ausgehen durfte, fuhr Adele Spanheim
mit ihm und den beiden Geschwistern nach Nürnberg zu ihren Eltern. Es
war prächtiges Wetter, kristallen wölbte sich der Himmel, die Blätter
begannen schon gelb zu werden und hingen glühend an den Bäumen des
Stadtgrabens, vieleckig, vieltürmig, mit strahlend roten Dächern erhob
sich die Burg und zur Rechten die säulenschlanken Türme von Sankt
Sebald. Zwischen dem Henkersteg und dem Weinmarkt traten sie in das
düstre Tor eines altertümlichen Hauses, stiegen eine riesenbreite Treppe
mit flachen Stufen hinan und schritten oben über eine Holzgalerie mit
schön geschnitztem Geländer. Unten war der Hof, es plätscherte Wasser
aus dem Brunnen in ein steinernes Becken. In der Wohnstube befanden sich
zwei alte Leute und fünf erwachsene junge Männer, Adeles Brüder. Die
Kinder wurden in die Ecke des Zimmers an einen kleinen Tisch gesetzt und
erhielten Kaffee und Kuchen. Die acht Leute redeten leise miteinander,
bisweilen flog ein musternder Blick zu den Kindern herüber. An den
Wänden des großen Raums standen hochbeinige Stühle und zwischen den
Fenstern hing ein Bild, ein Mädchenkopf mit schwarzen, zur Schulter
fallenden Haaren. Der Ausdruck des Gesichts erinnerte Engelhart an
Sophie Hellmut, der Blick hatte etwas Zärtliches und Fragendes, und er
konnte sein Auge nicht davon wenden. Er stand auf, um das schöne Gesicht
näher zu haben, da ertönte vom Kaffeetisch aus, das Wispern
durchbrechend, Adele Spanheims Stimme: »Engelhart, sitzen bleiben!« Die
Tasse an den Lippen, betrachtete sie ihn erwartungsvoll, auch die fünf
Brüder sahen ihn an. Mit verzerrtem Gesicht starrte der Knabe zu Boden,
und es wäre vielleicht zu einem Auftritt gekommen, wenn nicht die
Ankunft eines neuen Gastes die Aufmerksamkeit des Fräuleins abgelenkt
hätte. Diesen Umstand benutzte Engelhart und stahl sich aus dem Zimmer.
Draußen lehnte er sich einige Minuten lang über die Galerie und blickte
entzückt in das blaue Himmelsviereck; auf der andern Seite konnte er
durch eine geöffnete Türe in ein halbdunkles Zimmer sehen, in dessen
Mitte ein Aquarium stand; Goldfische blitzten an der Glaswand vorbei,
und ein schmaler Sonnenstreifen lag wie ein goldener Stab quer im grünen
Wasser.

Die Furcht, entdeckt und geholt zu werden, trieb ihn weiter, auf die
Straße, über den Platz zur Sebalderkirche. Zaudernd stand er dort vor
einer offenen Seitentüre. Es zog ihn hinein, und doch lähmte ein
Unbekanntes seinen Fuß. Frömmigkeit, der Genuß des Wunderglaubens, die
Seligkeit des Gebets, alles das war ihm fremd geblieben, aber die
Furcht, Gottesfurcht, nicht im biblischen Sinn, behauchte ihn bisweilen
wie die Kälte der Winternacht, die durch die Fensterfugen in das
erwärmte Zimmer streicht. Und nun der gewaltige Bau, die schwere
Dämmerung drinnen, und das Fremde und Steinerne, das den Christen und
das Christentum in seinen Augen umgab.

Er ging hinein. Die gewaltigen Pfeiler, die erhabenen Bogen und Gewölbe,
wie schräg gefaltete ungeheure Hände nach oben geneigt, das Halblicht,
verstärkt und bemalt durch die bunten Glasfenster, die Stille des Ortes
und seine ungeheure Raumfülle, dies Emporstrebende, Emporweisende, es
machte ihn schaudern bis ins Mark. Als dann die Glocke im Turm zu läuten
anfing und ihn die Klänge umschwirrten wie das Flügelschlagen mystischer
Wesen, trugen ihn die Beine kaum mehr, er suchte einen Winkel, um sich
zu verkriechen, und taumelte vorwärts, bis ein schwarzes Gitter ihn
aufhielt. Es war das Sebaldusgrab. Langsam wich die Blindheit von seinen
Augen, er gewahrte zahllose kleine Figürchen, lieblich gestaltet, in
stiller, vorgesetzter Bewegung, und sein Erstaunen war groß. Das
Zittern, das Grauen wich, auf einmal fand er sich heimisch, als hätte er
Spiel und Spielgenossen entdeckt, und lange konnte er sich nicht
trennen.

Zu spät erinnerte er sich der verflossenen Zeit. Alle Spanheims waren
auf der Suche nach ihm. Adele stand im Flur und empfing ihn wortlos, mit
eisig kalter Miene. Auch Gerda und Abel behandelten ihn hochmütig, denn
sie waren durch seinen Fehltritt in Gnade gekommen. Nach und nach kamen
die Brüder Adelens zurück, lachten spöttisch, und einer zwickte den
Knaben ins Ohr. Auf der Heimfahrt bewahrte Adele ihre bedeutungsvolle
Zurückhaltung, und als er sich zum Schlafengehen anschickte, nahm sie
einen Stock, stellte sich an das Bett und genoß seine stumme Angst,
seinen flehenden Blick. »Wo warst du, während wir dich gesucht haben?«
fragte sie durch die geschlossenen Zähne. Da er nichts antwortete,
geriet sie vor Zorn außer sich, packte ihn beim Hemd, und wie er
zurückwich, riß das Hemd entzwei. Der Knabe lief nackt gegen das Fenster
und, den Leib gegen die Mauer gepreßt, den Arm abwehrend
zurückgestreckt, rief er wild: »Schlagen Sie mich nicht!«

In Adele Spanheims Gesicht ging eine wunderliche Veränderung vor. Sie
errötete, nahm die Kerze vom Tisch und sagte mit dunklerer, rauherer
Stimme, ohne die Augen von der Gestalt des Knaben abzuwenden: »Geh nur
schlafen, du ... Bub.« Bei diesem zögernd ausgesprochenen Wort lächelte
sie. Im Bette liegend, dachte Engelhart an ihr sonderbares Lächeln und
schlief in Scham und Traurigkeit ein.



                            Fünftes Kapitel


Adele Spanheims Herrlichkeit nahm bald ein Ende. Eines Nachmittags
betrat Herr Ratgeber wider seine Gewohnheit die Küche und sah, daß
Fräulein Adele mit träumerisch aufgerissenen Augen vor einem Topf mit
eingemachten Preiselbeeren saß und von Zeit zu Zeit einen Kaffeelöffel
voll in den Mund steckte. Gerda und Abel kauerten lüstern dabei, man
spürte, wie ihnen der Mund wässerte. Da Herr Ratgeber auch sonst
unzufrieden war mit der Leitung des Haushalts, sagte er: jetzt ist es
genug, und gab der naschhaften Dame den Laufpaß. Damit gewann die Sorge
um die führerlosen Kinder neue Macht.

Herr Ratgeber hatte sich inzwischen mit seinem Bruder Hermann endgültig
entzweit. Er war im Begriff, aus dem gemeinsamen Geschäft zu scheiden
und eine Fabrik zu gründen; Produzent sein, die Ware gleichsam aus dem
Nichts erschaffen, die Hände des Arbeiters unmittelbar in seinen Dienst
nehmen, Maschinen in Betrieb setzen und im großen Stil wirtschaften, das
war sein Traum. Er hatte es satt, Bänder und Pfeifenspitzen zu
verkaufen, wie er sich verächtlich ausdrückte, und um jeden Groschen
Verdienst mühevoll schwatzen zu müssen. Nach langen Erwägungen entschloß
er sich für die Holzwarenbranche, und da er vorerst nicht viel von der
Sache verstand, suchte er sich durch nächtelanges Studieren zu helfen.
Aber so stolz seine Pläne waren, es fehlte Herrn Ratgeber an Kapital. Er
wandte sich an den reichen Bruder seiner verstorbenen Frau, und da er
eine wunderbar überzeugende Art zu schreiben hatte, ließ sich Michael
Herz bestimmen, zehntausend Mark herzugeben. Aber damit hatte Herr
Ratgeber nicht genug. Er war leidenschaftlich bemüht, seiner Idee unter
den bisherigen Geschäftsfreunden geldkräftige Anhänger zu gewinnen, und
phantasievoll und tatgierig, wie er war, versprach er einem jeden goldne
Berge. Mit weithinaus gerichtetem Blick ging er in dieser Zeit umher,
beständig ein Lächeln zwischen den Lippen verhüllend, welches sagen
sollte: Laßt mich nur gewähren, laßt mich nur ans Ruder kommen. Er
glaubte, die Stunde sei reif, wo er die nacheilenden Schatten seiner
bedrückten Jugend in die Flucht schlagen könne, und sagte sich mit
stürmischer Entschlossenheit: Es muß sein, muß gelingen. Dieses Muß
trieb ihn zeit seines Lebens von Mühsal zu Mühsal und von Mißlingen zu
Mißlingen.

Nun gab es einen Mann in der Stadt, der das Treiben des Herrn Ratgeber
mit der größten Neugierde verfolgte. Er hieß Teilheimer, hatte brandrote
Haare, ein mit Sommersprossen bedecktes Gesicht, und sein Beruf war,
über die Angelegenheiten seiner Mitbürger aufs genaueste unterrichtet zu
sein. Er saß zum Beispiel im Wirtshaus und summte scheinbar achtlos vor
sich hin. Da ging der Weinhändler Strunz am Fenster vorüber. Teilheimer
zwinkerte listig mit den Augen und sagte: »Schau, schau, da geht der
Strunz zum Bezirksarzt, um seinen fälligen Wechsel einzukassieren; wird
ihm aber nichts nutzen, der Mann hat selbst kein Geld und der
Schwiegervater gibt nichts mehr her; böse Geschichte.« Oder man redete
in einer Gesellschaft über das gesunde Aussehen und die Frische einer
schönen Frau, was den roten Teilheimer zu der beiläufigen Bemerkung
veranlaßte, daß diese Frau den Krebs in der Leber sitzen habe und daß
ihr nur noch ein Jahr und etliche Tage zu leben vergönnt sei.

Dieser magische Seher machte sich auf, um Herrn Ratgeber beizustehen.
Eines Tages kam Engelhart von der Schule und stürmte ins Zimmer. Da sah
er den Vater am Ofen stehen, den Kopf gebückt, in unbewegliches
Nachdenken versunken. Am Tisch ihm gegenüber saß der rote Teilheimer,
ein Bein übers andre geschlagen, einen Zigarrenstummel mit vergnüglicher
Miene über die Lippen wälzend und einen Bleistift auf ein mit Zahlen
beschriebenes Blatt bohrend, als ob er den Speer in die Brust eines
Besiegten tauche. Sein Auge blitzte feldherrnhaft, als er dem Knaben mit
einer Handbewegung das Zimmer verwies. Am darauffolgenden Nachmittag war
es wieder so, nur daß noch Iduna Hopf dabei war; Herr Ratgeber stand
wieder vor dem Ofen und schien qualvoll unentschieden, der rote
Teilheimer spießte wieder den Bleistift kühn in die Zahlenleiber. Iduna
Hopf machte dem Knaben ein Zeichen, er aber wollte es nicht verstehen
und blieb in ahnungsvollem Trotz. Da sagte Iduna Hopf, gegen Herrn
Ratgeber gewendet: »Da sieh mal, Joseph, wie vernachlässigt der Junge
herumgeht.« Herr Ratgeber blickte zerstreut und unruhig in des Knaben
Gesicht.

Eine Woche später kam Herr Ratgeber zu früherer Stunde als sonst nach
Haus, schritt erregt im Zimmer auf und ab, befahl der Magd, sogleich
sein Essen zu bereiten, er fahre über den Abend nach Nürnberg. Dann
kleidete er sich sonntäglich an, kam wieder zu den Kindern heraus, pfiff
leise vor sich hin, öffnete, als sei ihm zu heiß, das Fenster und beugte
sich eine Weile hinaus. Inzwischen war der Braten aufgetragen worden, er
setzte sich zu Tisch, und da ihn die Kinder andächtig umstanden und
jedem Bissen nachschauten, der in seinem Munde verschwand, schnitt er
drei gleich große Stücke Brotes ab, legte auf jedes eine Scheibe Fleisch
und teilte aus. Während sie alle drei schmausten, gab er sich einen Ruck
und sagte: »Ihr werdet jetzt eine neue Mutter bekommen, damit wieder
Ordnung unter euch ist. Seid anständig und macht mir Ehre.« Er vermied
es bei diesen Worten, seine Augen vom Teller zu erheben, doch bevor er
aufstand, richtete er den Blick mit plötzlicher Strenge auf Engelhart,
der den Vater atemlos anstarrte.

Am folgenden Tag, noch vor Tisch, traten zwei fremde Frauen ins Zimmer.
Die eine von ihnen sagte: »Guten Tag, Kinder, gebt mir die Hand, ich bin
eure neue Mutter.« Sie hatte ein süßliches Wesen. »Sehr schöne Kinder,«
sagte die andre Frau, die eine helle kalte Stimme hatte. Darauf begaben
sich beide an die Besichtigung der Wohnung und unterwarfen jedes
Möbelstück und jedes Porzellanfigürchen einer eingehenden Beurteilung.

Engelhart verhielt sich stille, an manchen Tagen aber kam es über ihn
und trieb ihn umher wie einen Ball, der von unsichtbaren Händen von
einem Eck ins andre geworfen wird. Da fand er die Kleider zu eng, das
Haus zu klein, den Himmel zu niedrig, und er lief ohne Sinn und Ziel
durch die Gassen, bis er in einem Winkel Halt machte und in die Luft
starrte. Er hatte in einem Buch die Geschichte gelesen von dem der
auszog, das Gruseln zu lernen, und diese Geschichte machte Eindruck auf
ihn durch etwas, das hinter den erzählten Vorgängen steckte, wie in
einem Nebel des Grauens hin und her wogend. Er spürte die Kluft, die ihn
von jenem trennte, der das Gruseln nicht lernen konnte, denn im Anfang
seines Denkens war die Furcht, Furcht vor dem Ungewissen, Unsichtbaren,
Unnennbaren, Furcht mitten in der Freude und im Spiel. Zagend stand er
einem dämonenhaften Wesen gegenüber, dessen Wille es ist, zu zerstören
und irrezuführen, den freifliegenden Wunsch aufzufangen und an die Erde
zu fesseln.

Im sogenannten Feldschlößchen, eine halbe Stunde von Nürnberg entfernt,
feierte Herr Ratgeber seine zweite Hochzeit. Die Kinder saßen an diesem
Tag in dumpfer Spannung zu Hause. Gegen Abend brachte jemand von der
Hochzeitsgesellschaft eine Torte und Grüße vom Vater, der mit seiner
neuen Frau schon abgereist war. Die Botschaft wurde kaum gehört, alle
machten sie sich über die Torte her, auch die Magd erhielt ein Stück,
und um sich erkenntlich zu zeigen, verschwand sie dann und überließ die
Kinder für den ganzen Abend sich selber. Sie befanden sich im großen
Wohnzimmer, und Engelhart beschäftigte sich, die Aufsichtslosigkeit
nutzend, mit der großen Wanduhr. Er liebte diese Uhr und die lautlosen
Schwingungen des gelbfunkelnden Perpendikels; er suchte eine Seele in
ihr. Zu diesem Zweck stellte er einen Schemel auf einen Stuhl, kletterte
hinauf, öffnete den Glasdeckel und lauschte dem heimlichen Rädergesurr;
bisweilen gab es ein Geräusch, das einem Seufzer glich. Nach einer Weile
begann er an dem Zifferblatt zu hantieren, es gelang ihm, eine Schraube
zu lockern, und auf einmal hatte er beide Zeiger in der Hand. Er
erschrak, ihm war zumute, als seien einem lebenden Wesen die Arme
abgefallen; umsonst probierte er, das Übel wieder gut zu machen,
plötzlich stieg er herunter und legte die Zeiger kleinlaut auf die
Kommode. Es war ein ziemlich stürmischer Abend, das Feuer im Ofen war
erloschen, die Kinder froren. Zudem ging auch das Öl in der Lampe auf
die Neige. Auf der Straße und im Haus war es totenstill, Abel war am
Tische sitzend über seiner Schiefertafel eingeschlummert, Gerda schlich
eine Weile in dem düster werdenden Zimmer hin und her, dann drückte sie
sich in die Ofenecke und fing an, leise vor sich hinzuweinen. Engelhart
verbarg seine Gefühle, so gut es möglich war, er stellte sich gegen die
Tür und horchte und wagte endlich zu öffnen. Draußen war’s finster. Er
überredete sich zur Tapferkeit und schritt hinaus, um nach der Magd zu
rufen. Doch war die Finsternis so groß, daß ihm das Geräusch des eignen
Herzens Angst einflößte. Nie hatte er etwas so Teuflisches in der Nacht
geahnt, er machte eine betende Bewegung mit den Armen, sein Auge fand
aber keinen Aufblick. Dies machte die Finsternis doppelt schwer und öde,
und da Gerda ängstlich seinen Namen rief, kehrte er zurück. Er schaute
zur Uhr, um zu sehen, wie spät es sei, und das Grauen überlief seine
Haut, als er ihr zeigerloses Blatt gewahrte und darunter den
Perpendikel, ernsthaft schwingend, wie wenn nichts geschehen wäre. Es
schien, als ob die Zeit ihr Maß verloren habe und die Nacht kein Ende
nehmen würde.

Acht Tage später spielten die Kinder im Flur neben der Stiege, Engelhart
hatte aus Stühlen eine Kutsche gebaut, Abel war Postillon, Gerda, in
einem unermeßlich langen, weit über die Dielen schweifenden Mantel der
Mutter und einen großen Federhut auf dem Kopf, machte die vornehme
Passagierin, und Engelhart war der Räuber, der die Kutsche im Wald zu
überfallen hatte. Mitten im größten Getöse tauchten Herr Ratgeber und
die fremde Frau, die neue Mutter, auf und blieben auf der halben Höhe
der Treppe stehen. Herr Ratgeber, das Reiseköfferchen tragend, winkte
den Kindern lachend zu, innezuhalten, die Frau schüttelte verdrossen
lächelnd den Kopf, und ihre Blicke blieben auf Gerda haften, die
vergeblich bemüht war, sich aus dem Reisemantel zu befreien.

Von Stund an ging alles einen andern Gang im Hause. Früh, mit dem
Glockenschlag sieben hieß es aufstehen; es war keine Minute der
Besinnung erlaubt, kein Sichdehnen, kein Zurückdenken an die Träume, ein
Rütteln an der Schulter und: heraus. Besonders für den kleinen
krummbeinigen Abel war es hart, oft, wenn er schon gewaschen und
angekleidet war, fielen ihm am Frühstückstisch die Augen wieder zu. Es
gab keine Pfennige mehr zum Vesperbrot, und damit war eine der schönsten
Vergnügungen zerstört: den Schulhof verlassen, über die Straße zum
Bäcker laufen und so mit einigen andern, welche die gleiche
Schicksalsgunst genossen, eine scheinhafte kurze Freiheit erobern. Nach
der Schule mußte man in gemessener Zeit zu Hause sein, Frau Ratgeber
haßte das Streunen. Am Abend, kaum war das Brot gegessen, hieß es
wieder: ins Bett, ins Bett; kein Einwand galt, alles war Befehl und
Regel geworden. Die neue Frau Ratgeber meinte es nicht schlecht mit den
Kindern, sie glaubte das Rechte zu wollen und zu tun, auch wenn sie das
Brot, bis auf den Millimeter berechnet, vorschnitt, Fleisch nur in den
winzigsten Portionen verteilte, den Zucker zum Kaffee abschaffte, so daß
das wasserdünne graubraune Getränk kaum hinunterzubringen war. Engelhart
wußte natürlich nichts von dem Zwang, zu sparen, unter dem sie stand,
und daß sie nur durch die scharfsinnigste Strategie in den Ausgaben mit
dem zugewiesenen Wochengeld den Haushalt bestreiten konnte. Er spürte
nur die haßartige Lieblosigkeit, die ihm vorenthielt, was er bis jetzt
genossen hatte; er bäumte sich auf unter tyrannischen Verboten, er wurde
hinterlistig, wenn er sich hinterlistig angeklagt sah, feig oder rasend
den aufgebauschten Beschuldigungen gegenüber, die stets vor das Tribunal
des Vaters gebracht wurden, und er blieb bei großen Versehungen reuelos,
weil auch die kleinsten ungroßmütig verdammt wurden. Bald griff er zur
Lüge aus Furcht, aus Diplomatie, zur gedankenlosen Lüge, ja zur Lüge,
die er nur erfand, um sich in einer dumpfen Weise an der Frau zu rächen.
Nicht selten gebrauchte er langwierige Ausreden, um sich eines
erbärmlichen Vorteils zu versichern, und war einmal ein auskömmlicher
Tag mit der Stiefmutter, so tat er freundlicher gegen sie, als ihm
zumute war, schmeichelte ihrem Bedürfnis nach Klatsch durch allerhand
Geschichten und suchte sie möglichst lang bei guter Laune zu erhalten.
Zweimal in der Woche ging sie des Abends zum Fleischer, da begleitete er
sie, schleppte den schweren Korb nach Hause, saß am Tisch bei ihr, wenn
sie Linsen klaubte oder Äpfel schälte, und wenn er im Plaudern war und
sie bisweilen zum Lachen brachte, dann übersah sie es, daß er die Butzen
der Äpfel aß oder das in den Streifschalen verbliebene Fruchtfleisch mit
den Zähnen herausschabte; dann durfte er auch noch eine halbe Stunde in
seinem geliebten Don Quichotte lesen oder aus Zwirn, Gläsern und
allerlei Schachteln sonderbare Paläste bauen. Wies sie ihn aber zu Bett,
so durfte kein Widerspruch fallen. Das freie, arglose Wort fand kein
Echo in ihr, die rückhaltlose Heiterkeit erweckte ihr Verdruß und
Mißtrauen, der offene Blick erschien ihr frech. In ihr selbst war nichts
als tartüffisches Ducken gegen gesellschaftlich Höherstehende, auch wenn
sie nachgewiesenermaßen nur hundert Mark mehr Einkommen besaßen. In den
engsten und dunkelsten Verhältnissen eines fränkischen Judendorfs
aufgewachsen, war sie von einer dämonischen Liebe zum Geld besessen. Im
Geld suchte sie die Quellen des Lebens. Sie war aufs genaueste mit den
Verhältnissen aller Familien der Stadt bekannt und richtete auf der
Straße ihren Gruß nach eines jeden Besitz. Wenn ein reicher Mann starb,
war sie immer ein wenig erstaunt darüber, daß Gott seine Hand auch nach
einem solchen Inbegriff irdischer Macht ausstreckte. Ihr ganzes Tun und
Lassen war von rätselhaftem Neid durchflutet. Ihre Züge waren zerrissen
von Unruhe, Unmut, Ungenügsamkeit und Ehrgeiz, ihr Blick war stechend,
ihr Mund bitter und ärgerlich zusammengepreßt. Sie war eine Natur, alles
Wohlwollens bar, ohne sanftes Verweilen im Augenblick, ohne frauenhaftes
Träumen. Wenn andre Tausende auf Tausende häuften, wollte sie wenigstens
Pfennig um Pfennig sammeln, und weil sie darin kein Ende sah und alle
Geister des Behagens auf immer von der Schwelle verscheucht wurden, an
der sie begehrlich lechzend stand, so entsprang Fried- und
Lichtlosigkeit aus allem, woran sie die Hände rührte. Ihr war es nicht
gegeben, Zutrauen zu erwecken, die früheren Freunde der Familie blieben
fern. Kein gemütliches Bild, keine anziehende Vorstellung belebte die
Räume, wenn Engelhart, fern vom Hause, sie sich gegenwärtig hielt.
Einsam sparte und haderte die Frau und füllte ihre Tage mit
erschöpfender Arbeit.

Einmal kam Engelhart hungrig aus der Schule, und als er durch die Küche
ging, wo sich gerade niemand aufhielt, sah er einen Korb voll kleiner
Äpfel auf dem Anricht stehen. Unbedenklich nahm er zwei Äpfel, verzehrte
sie im Zimmer, entledigte sich des Schulgeräts und schickte sich an,
möglichst schnell zu entkommen, denn es war der erste schöne Tag nach
regnerischen Wochen. Plötzlich stand die Stiefmutter vor ihm und fragte
atemlos: »Wer hat von den Äpfeln gestohlen?«

Der Knabe starrte sie an; er war im Begriff, es ruhig zu bekennen, doch
das Wort »gestohlen« machte ihn stutzig. »Ich habe nichts gestohlen,«
antwortete er. Das Zittern seiner Stimme und besonders das Erröten
strafte ihn Lügen.

»Leugne nicht,« sagte die Frau, »ich habe die Äpfel gezählt; du wirst ja
feuerrot, du schlechter Mensch.« Damit schlug sie ihn vor den Kopf, daß
er zurücktaumelte; noch einmal erhob sie den Arm, Engelhart fing ihn auf
und hielt ihn krampfhaft fest, darauf wurde sie von Wut und Bosheit
übermannt und schlug aus aller Kraft mit beiden Fäusten los. Der Knabe
schrie; je mehr er schrie, je wilder wurde die Frau; die Leute vom Haus
liefen zusammen, die Magd rannte von der Waschküche herauf. Endlich
gelang es Engelhart zu entkommen, er taumelte in den Flur, tastete sich
am Gitter entlang und verkroch sich im finsteren Ende des Korridors
zwischen zwei Schränken. Er blieb unbeweglich dort, um zu warten, bis
der Vater kam. Endlich vernahm er seine kurzen hastigen Schritte und
atmete auf. Es verfloß geraume Zeit, bevor Herr Ratgeber das Zimmer
wieder verließ. Schon bedrückte den Knaben die Einsamkeit und
Halbdunkelheit, er glaubte es aber so lang ertragen zu müssen, bis er
mit Güte ins Licht zurückgeführt würde. Da rief die Stimme des Vaters
seinen Namen, doch mit so hartem Klang, daß er erschrak und sich nicht
rührte. Noch einmal tönte der Ruf, lauter, gereizter, ungeduldiger.

»Dort hinten steckt er,« sagte Abel, der herangeschlichen war und den
Bruder verlegen zwinkernd betrachtete.

Herr Ratgeber packte Engelhart am Arm und zerrte ihn hinein. »Zum Lügner
bist du geworden, zum Dieb? Du willst mir Kummer machen, ich weiß es
schon lang, fort aus meinen Augen, ich kann dich nicht mehr sehen!«
Damit wandte sich Herr Ratgeber ab, ging in das nächste Zimmer und
schlug die Tür zu. Die Sprache, die er geführt, raubte Engelhart beinahe
das Gefühl des Lebens. Besonders der Umstand, daß er gar nicht gefragt
worden, daß kein Fünkchen Recht auf seiner Seite gelten sollte, daß der
Vater den Worten seiner Frau ohne weiteres Glauben schenkte, das
umkrampfte seine Brust, und er hatte eine solche Verzweiflung bisher
noch nicht kennen gelernt.

Nicht mehr ganz derselbe wie vorher verließ er das Haus und ging über
den Bahndamm bis auf den Dambacher Weg. Der schöne Tag, die vollkommene
Ruhe der Felder und Wiesen, der lautlos dahinfließende Rednitzfluß mit
seinen Wasserrädern, die alte Schwedenfeste in der Ferne und der Wald
rings um sie wie ein blauer Kranz: dies alles zog ihn empor aus dem
Abgrund seines Schmerzes. Er setzte sich unter einen Weidenbaum dicht am
Ufer und verfolgte das Treiben der Krähen, die sich in seiner
Nachbarschaft furchtlos niederließen. Das Flußbett war vom langen Regen
hoch angeschwollen, das Wasser trug auf seinem Rücken Hunderte von
Baumzweigen dahin. Hätte ihn nicht der Hunger gequält, so wäre Engelhart
bis in die Nacht hier geblieben; er umfaßte Land, Wald, Wasser und
Himmel mit einer neuen, ernsten Empfindung, er fühlte mit dunkler
Genugtuung, was ihm beschieden sein könnte, wenn er in sich wirken
lassen würde, was so groß, so feierlich sich als Welt, als Natur vor ihm
hinbreitete. Als er heimwärts wanderte, sank die Sonne hinter den
Waldrändern, der Himmel sah aus, wie wenn aus verborgenen Quellen
rotglühendes Eisen über ihn hingeströmt wäre. Darüber streckten sich,
aus einem Mittelpunkt hervorlaufend, grüne Strahlenbüschel, einzelne
Wolken hingen gleich ruhig brennenden Schiffen im Zenit und die Ebene
zitterte im rötlichen Dunst.

Fremd und fremder fand sich Engelhart dem Vater gegenüber, und auch
dieser vergaß seinen Groll diesmal lange nicht, vielleicht um die
Ahnung von eigner Schuld zu ersticken. An einem Sonntagabend holte Herr
Ratgeber die Gitarre von der Wand. In früheren Zeiten hatte er oft und
gern darauf gespielt und Lieder gesungen, die er noch aus seiner
Knabenzeit kannte. Er pflegte damals unbestimmt, doch glücklich vor sich
hin zu lächeln, und seine Augen füllten sich mit einem Ausdruck
schamhafter Schwärmerei. Heute schlug er wie suchend ein paar Akkorde
an; Engelhart bat, er möge doch singen, aber Herr Ratgeber zog die Stirn
in Falten, legte das Instrument beiseite, machte eine abwehrende
Bewegung mit der Hand und sagte rauh: »Du kannst schlafen gehen.« Die
Gitarre wanderte bald darauf in die Rumpelkammer. Herr Ratgeber zeigte
nie mehr Verlangen nach ihr.

Die Fabrik war im Gang, sechsundzwanzig Arbeiter waren an den
Hobelbänken, an der Kreissäge, am Gasmotor tätig. Herr Ratgeber war
tagelang beschäftigt, die fertiggestellten Holzschachteln mit Bildern zu
bekleben und diese dann zu lackieren. Er hatte aus Sparsamkeitsrücksichten
nur einen einzigen Kommis aufgenommen, einen gewissen Lechner, der an
Epilepsie litt. Oft schien es, als lausche Herr Ratgeber mit
Befriedigung auf das furchtbar jauchzende Kreischen der Säge, das von
den Fabrikräumen hereindrang, lauter und wilder, wenn eine Tür geöffnet
wurde; meist aber war er traurig und verstimmt. An den Zahltagen kamen
die Arbeiter zur Kasse, es gab nicht selten Streit, die Leute nahmen
eine drohende Haltung an. Wenn Herr Ratgeber dann wieder allein war,
rechnete er stundenlang, stellte den Umsatz fest, überschlug die
Herstellungskosten eines neuen Artikels und beriet mit dem Werkführer
über Löhne und Holzsorten. Spät am Abend schrieb er Briefe und Fakturen,
zeichnete Muster und Pläne oder lackierte abermals die einfältigen
Bilder auf den Schachteln. Oft kam Engelhart und erinnerte den Vater an
das Nachtessen, dann löschte Herr Ratgeber mit einem letzten Blick und
Seufzen die Lichter, versperrte Laden, Geldschrank und Türen und ging
schweigend mit dem Knaben nach Hause. Unbewußt schnitt es Engelhart ins
Herz, wenn der Vater einmal wieder vergnügt war, etwa wenn Fremde da
waren – wenn er mit seinen funkelnden Augen an harmlosen Gesprächen
teilnahm, wenn er sich selbst wieder spürte und die Zeitläufte vergaß.
Es wohnten ungelenkte Kräfte in seiner Brust, aber Kräfte waren es; mit
beiden Fäusten hielt er sich grimmig an der Lebensleiter fest und konnte
nicht empor, vielleicht weil ein brutaler Vorgänger die Sprossen
zerbrochen hatte.

Die Kinder sahen nur noch die richterliche Gewalt in ihm, er schien
nicht mehr Teilnahme für sie zu hegen als der Drahtziehende im
Puppentheater an den gehorchenmüssenden Marionetten. Bei Tisch durfte
nicht gesprochen werden, anständige Kinder sprechen nicht bei Tisch,
hieß es. Ein Verbot wurde ausgesprochen, die Kinder wollten den Grund
wissen, dies setzte oft in Verlegenheit, und jede Erörterung wurde mit
dem Satz abgeschnitten: Genug, ein Kind fragt nicht warum. Der Vater
verlor das Licht in Engelharts Augen, es kam vor, daß er beim Schall
seiner Schritte zitterte. Er lernte in den Blicken und zwischen den
Lippen der Menschen lesen, erfüllt von Mißtrauen und allgemeiner Angst.
Gerade in dieser Zeit fand er einen Kameraden. Sein Name war Philipp
Raimund, es war ein aufgeweckter Knabe von graziösem Wesen; er hatte
etwas Beschwingtes, Beherztes, das in seinem Gang und in seiner Art, den
Kopf zu tragen, zur Geltung kam, seine Stimmung war durchsichtig wie
Glas, alles an ihm war hell, seine Äußerungen hatten eine famose
angeborene Kräftigkeit. An einem Mittwochnachmittag marschierten sie
zusammen in den Burgfarnbacher Wald, bis sie an eine tiefeinsame Stelle
kamen. Dort rasteten sie. Raimund teilte sein Butterbrot mit Engelhart,
sie sprachen über die Schule, dann über ihre Eltern, und Raimund fragte
beiläufig, ob es Engelhart nicht gut zu Hause habe.

»Wir haben jetzt eine Stiefmutter,« entgegnete dieser in einem Ton, als
ob es sich um eine kleine vorübergehende Unannehmlichkeit handle.

»Autsch!« rief Raimund teilnehmend und patschte sich auf die Schenkel.
Von da an wurde sein Benehmen noch zarter und freundlicher; er berührte
diesen Umstand niemals wieder. Immer mehr nahm die Philosophie von ihren
Unterhaltungen Besitz, und sie stritten mit Eifer über die Existenz
Gottes. Engelhart leugnete Gott; das bekümmerte Raimund, und er hatte
viele Gründe dagegen. »Können denn die Blumen und die Bäume von selbst
entstehen?« fragte er eindringlich, »und die Sonne, sie ist doch da,
folglich muß sie geschaffen worden sein.«

»Sie ist ewig,« antwortete Engelhart.

»Ewig? Was heißt das?« warf Raimund nachdenklich entgegen. »Ewig ist
nichts, das ist doch nur ein Wort.«

Dieser Einwand machte Engelhart stutzig, er hätte nichts zu sagen
gewußt, wenn Raimund nicht hinzugefügt hätte: »Und der Mensch, so schön
und lebendig, glaubst du, durch Zauberei ist er gekommen?«

»Die Menschen entstehen aus sich selbst,« sagte Engelhart.

»Wie, aus sich selbst?« fragte der andre erstaunt.

»Ich weiß es,« behauptete Engelhart finster, dennoch sank in diesem
Augenblick seine Wissenschaft in Nichts zusammen, und aus Groll darüber
ward er störrisch. »Wie ist denn Gott?« warf er dem Freunde grimmig ein.
»Was ist denn Gott? wie denkst du ihn? wie sieht er aus?«

Raimund lächelte sonderbar liebenswürdig und sagte ruhig: »Er ist ein
Wesen.« Dazu machte er eine getragene Handbewegung und sein Gesicht
hatte den Ausdruck der Verehrung.

Dies geistige Einander- und Sichselbstsuchen im kindischen Wortgefecht,
dies warme Emporsehnen und Hinausfühlen war genug des Glücks, was konnte
ein Ja oder Nein daran vermehren oder davon rauben? Ihre Worte glichen
leerem Fliegengesurr in sommerlicher Luft, was Engelhart dachte, teilte
er dem Freunde mit, aber was sie empfanden, verbargen sie einander
sorgsam, so wurde ihr Beisammensein reich an unterirdischen Quellen.
Raimund zuerst fand Engelharts Herz voll von Freundschaft, er bereitete
es zu für die Freundschaft, er machte ihm das Gespräch mit einem
vertrauten Genossen unentbehrlich.

Eines Tages durfte Gerda an einem Spaziergang der Freunde teilnehmen,
und das kam so: Engelhart hatte Raimund abgeholt, und sie gingen an dem
Haus vorbei, wo Ratgebers wohnten. Da sahen sie Gerda auf der
Steintreppe des Spenglerladens sitzen und weinen. Die Knaben fragten sie
aus, und sie erzählte, sie habe ein Glas zerbrochen und sei geschlagen
worden. Der mitleidige Raimund lud sie ein, mitzukommen, und sie besann
sich nicht lang. Sie wanderten in den Vestnerwald, Gerdas blasses
Gesicht färbte sich in der belebenden Luft, und ihre Augen, deren
Ausdruck stets zwischen Pfiffigkeit und Träumerei wechselte, blickten
freier. Sie gab nur Angst vor neuer Züchtigung zu erkennen, weil sie so
weit vom Hause war, aber Raimund lachte und meinte, das wolle er schon
richten. In der Tat hatte Frau Ratgeber eine Schwäche für den Knaben,
weil er angesehener Leute Kind war und ihr sein Verkehr mit Engelhart
schmeichelhaft vorkam; er war der Sohn eines Landgerichtsrats.

Die drei zogen tiefer in den Wald und beachteten kaum, daß die Dämmerung
einbrach. Bisweilen blieb Raimund stehen und hielt mit scharfen Augen
Umschau. Ein Uhu schrie in der Ferne, es wurde schnell dunkel, gerade
daß sie noch den Waldrand und die Landstraße erreichten, ohne in die
Irre gegangen zu sein. Gerda war plötzlich todmüde, sie war nicht
gewohnt zu marschieren, sie sank nieder in das feuchte Gras und
schüttelte auf Raimunds scherzhaften Vorschlag, daß er und Engelhart sie
tragen könnten, matt lächelnd den Kopf. Gleich darauf war sie
eingeschlafen.

»Lassen wir sie ein wenig schlafen,« murmelte Engelhart, »jetzt ist
alles eins, Prügel gibt’s sowieso.« Vor ihnen im Osten stieg der
Vollmond auf; zur Mulde vertieft, lagen die Äcker, und auf dem Kamm des
langgestreckten Hügels standen drei Pappelbäume, scharf in den Himmel
gezeichnet. Raimund machte sich lustig über Engelharts Schweigsamkeit,
auch später, als sie schon auf dem Heimweg waren, das verschlafene
Mädchen in ihrer Mitte führend. Aber er konnte nicht anders, es war ihm
bang ums Herz, und er vermochte nicht Rechenschaft zu geben warum, er
fand kein Wort, keinen Gedanken dafür. Es war, als verursache die
Schönheit der Nacht ihm Schmerz, er spürte eine Kraft in sich, die er
nicht anzuwenden wußte, es beunruhigte ihn eine Fülle, welche die Brust
zu sprengen drohte.

Raimund begleitete die Geschwister bis nach Hause und machte einen so
geschickten Fürsprecher, daß man Gnade walten ließ. Das war der letzte
schöne Tag mit Raimund, bald darauf verließen seine Eltern die Stadt,
sein Vater war nach Bamberg versetzt worden.



                           Sechstes Kapitel


Im darauffolgenden Herbst zogen Ratgebers in jenes Haus, in dessen
Hoftrakt sich die Fabrik des Vaters befand. Engelhart hatte jetzt
ernsthaft für die Schule zu arbeiten, wenn er vorwärts kommen wollte,
doch er genügte keineswegs allen Ansprüchen und brachte vielfach
schlechte Zensuren.

»Du bist nicht bei der Sache,« sagte Herr Ratgeber streng, »du träumst.«

»Er ist ein Duckmäuser,« fügte die Stiefmutter hinzu, »sieh ihn nur an,
er hat keinen freien Blick.« Dieser Vorwurf traf den Knaben empfindlich;
er wußte sein Auge nach innen beschäftigt, wenn ihn jemand anrief, riß
er sich erst los von einem inneren Bild, aber dann fühlte er seinen
Blick ohne Scheu, er fürchtete die Augen der Menschen nicht, höchstens
die der fremden Frau, die er Mutter nennen sollte. Er konnte sich
freilich nicht geben, sondern wollte genommen werden, doch liebte er die
Menschen, und das mit jedem Tage mehr; selbst vom Gleichgültigsten
zurückgestoßen zu werden, war ihm ärgerlich. Er suchte Zuneigung,
Zustimmung, Einverständnis und gewahrte, wohin er auch sah, die Spuren
halbverwischter, mühsam verdeckter Leiden und die Schatten des Hasses,
alle quälten sich aneinander, einer schürfte sich am andern wund, auch
im eignen kleinen Kreis war niemals Frieden. Die Sparwut der Stiefmutter
überschritt jedes Maß, bei den Bekannten in der Stadt sprach man offen
davon, daß die Ratgeberschen Kinder hungern müßten, Frau Karoline Curius
schrieb es an Michael Herz nach Wien. Dieser gab nun seiner Schwester
eine Summe in Verwahrung, sie solle sich der Kinder annehmen, und
Engelhart solle wöchentlich eine Mark Taschengeld erhalten. Ferner
beschloß er, Gerda aus dem elterlichen Haus zu nehmen; er verständigte
sich mit dem Vater, und ehe Weihnachten kam, reiste das glückliche
Mädchen, jetzt erst seiner Kindheit wiedergegeben, nach dem
oberfränkischen Städtchen Neustadt, wo sie in einem rühmlich bekannten
Pensionat Aufnahme fand.

Engelhart erschien sich mit seiner wöchentlichen Rente als reicher Mann,
doch erwuchs ihm keine Freude daraus. Wenn er den Besitz genießen
wollte, mußte er ihn ängstlich geheimhalten, und diese Heimlichkeit
bedrückte ihn: das lichtscheue Gebaren beim Kauf jedes Stückchen Brotes,
das Verstecken seiner Pfennige am Abend vor dem Schlafengehen; was eine
Erleichterung hätte sein sollen, beschwerte ihn, er haßte sich, wenn er
seinen Hunger stillte, und inbrünstig suchte sich sein Geist aus der
trüben Täglichkeit zu lösen. Durch Zufall kam ihm ein populäres Buch
über die Sternenwelt in die Hand, und entzückt sog er das fabelhafte
Neue in sich auf. Welch ein Himmel, welch eine Welt! Die Gestirne ein
feuerflüssiges Chaos, alles Werden ein Spiel von Jahrmillionen, die
unscheinbare Milchstraße in zahl- und namenlose Sonnen geteilt, jede
sich regend in grauenhafter Gesetzmäßigkeit, das ganze Universum ein
Bild zielloser Eile, ein Hinrasen durch unendliche Finsternis. Des
Knaben Gedanken tasteten sich schauernd von Erscheinung zu Erscheinung,
wie Schneegestöber in einen Garten mit jungen Blättern wirbelte und
stürzte dies alles in seinen Kopf, Andacht mischte sich mit Traurigkeit,
und es schien ihm vergeblich, ein Glück für das eigne schwanke Herz zu
suchen, das wie ein Atom im Staubmeer unter einem kurzen Lichtstrahl
leuchtend zuckt, um dann still in die Dunkelheit zu gleiten. Oft drohte
ihm die Brust zu zerspringen, und wenn er lange in einer entlegenen Ecke
vor sich hingegrübelt, lief er hinaus durch die Straßen ins freie Feld,
redete laut vor sich hin, berauschte sich in unsinnigen Gesängen, um an
einem einsamen Punkt der Landschaft plötzlich stehen zu bleiben und
sehnsüchtig auf Stimmen zu horchen, die seine entbrannte Phantasie in
die Fernen und Tiefen zauberte.

War all das nur ein buntes, böses Träumen der ums Wachsein sich
quälenden Seele? An Nebeltagen verschwimmen Himmel und Erde, und der
Schatten an einer Mauer scheint sich in die Wolken zu recken.

In dieser Zeit kam Engelhart fast täglich ins Haus der Tante Curius.
Herr Peter Salomon hatte seinen Posten im Ratgeberschen Geschäft längst
aufgegeben und betrieb eine Kohlenhandlung, aber seine Einkünfte hätten
ihm nicht gestattet, das Feinschmeckerleben zu führen, zu dem er sich
ausersehen glaubte, wenn nicht Michael Herz in Wien regelmäßige und
bedeutende Zuschüsse gewährt hätte. Peter Salomon betrachtete das als
einen selbstverständlichen Tribut, und wenn kein Geld mehr da war, sagte
er mit einer gravitätischen Handbewegung: »Karoline, du mußt nach Wien
schreiben; dein Michael muß bluten, da hilft kein Herrgott.« Dann
tänzelte er lächelnd von einem Fuß auf den andern, trällerte ein Lied
und ging ins Wirtshaus. Der Kohlenhandel ging natürlich schlecht, da
Herr Curius nicht zu arbeiten liebte; er begnügte sich mit dem
Bewußtsein, daß in ihm das Talent zu einem Millionär stecke. Eines Tages
kaufte er für zwölftausend Mark, es war alles, was er überhaupt besaß,
einen Bauplatz, der am äußersten Rande der Stadt gegen Muggenhof zu lag,
und obwohl ihm alle vernünftigen Leute die Aussichtslosigkeit des
Projektes lebhaft vor Augen stellten, führte er seinen Willen durch, und
seine Hauptbeschäftigung bestand von nun an darin, erstens so oft als
tunlich auf seinem eignen Grund und Boden spazieren zu gehen, zweitens
zu warten, bis irgendein wunderbares Ereignis die Landpreise so in die
Höhe treibe, daß er zum reichen Manne würde. »In zehn Jahren,«
behauptete er mit jener Sicherheit, die ihn in den Augen seiner Frau zu
einem Genie machte, »wird man mir zweimalhunderttausend Mark anbieten,
aber ich werde noch weitere zehn Jahre zusehen. Ihr sollt den Curius
kennen lernen.«

Nun war beinahe seit dem ersten Tag der Ehe eine Person namens Barbara
Kroner im Hause, die zuerst als Köchin, dann als Wirtschafterin galt,
die aber in Wirklichkeit die Geliebte Peter Salomons war. Man erzählte
sich, daß alle drei, Mann, Frau und Magd, in demselben Zimmer schliefen
und daß die Frau gezwungen sei, die Zärtlichkeit ihres Mannes mit der
Fremden zu sehen, man entrüstete sich darüber und gab der Frau schuld,
da sie etwas beschränkten Geistes war. Aber sie liebte ihren Peter
Salomon so abgöttisch, daß sie in seiner Gegenwart nicht den Blick von
ihm wandte, und ihre Selbstverleugnung war so groß, daß sie die andre
mitliebte, daß die andre die Herrin spielen und mit demselben
Allerweltshohn wie Curius jede Billigkeit vergessen durfte. Barbara
Kroner weigerte sich schließlich, die gemeine Hausarbeit zu verrichten,
und drang darauf, daß ein Dienstmädchen angestellt werde. Peter Salomon
benutzte die Gelegenheit und wählte unter denen, die sich dazu anboten,
ein höchst scharmuzierliches Frauenzimmer, wie er sich ausdrückte, eine
gewisse Anna Wild aus der Gegend von Baireuth. Sie gefiel Peter Salomon
so über die Maßen, daß er Frau samt Kebsweib vergaß und sich emsig
hinter die Neue machte. Anna Wild war in der Tat ein schönes Weib; sie
ging meist mit kokett gesenkten Augen, und wenn sie lächelte, flammten
hinter den feuchten Lippen die weißesten Zähne. Die Kroner wurde von
Eifersucht erfaßt, es gab fortwährend Zänkereien, einmal wollte die Wild
Phosphorkappen von Zündhölzern in ihrer Suppe gefunden haben. Alledem
sah Frau Curius still zu. Nicht nur, daß sie die Unbequemlichkeiten
ertrug, sondern sie warb auch noch bei Anna Wild für ihren Gatten und
begünstigte sie, als sie in ihr die Mehrgeliebte sah.

An einem Abend kam Engelhart hinüber und sah Anna Wild hinter der
Kellertür sitzen, ein Öllämpchen neben sich, und in die Tiefe starren.
Der Knabe fragte, auf wen sie warte, sie blickte ihn flüchtig an,
schüttelte den Kopf und rief nach einer kleinen Weile gegen die Wohnung
hinauf: »Herr Curius! Herr Curius!« Es kam keine Antwort, das Mädchen
wandte sich zu Engelhart und forderte ihn auf, sie in den Keller zu
begleiten, sie fürchte sich allein. Er ging mit, sie rollte ein kleines
Bierfaß aus dem Verschlag, stellte es auf die Bank, wo das Lämpchen
stand, nahm den Hammer und hieb mit starken Schlägen den Keil in den
Spund. Dann nahm sie den Abzugsschlauch, steckte ihn in die Öffnung und
trank am andern Ende mit langen, durstigen Schlücken. Plötzlich hielt
sie inne und sagte: »Du könntest mir gleich einen Kuß geben, du
Kleiner.« Da er nicht antwortete, zog sie ihn am Arm heran und hieß ihn
aus dem Schlauch trinken, wie sie selbst getan. »Ordentlich!« befahl
sie. »Du wirst kein Mann, wenn du nicht trinken kannst.« Und ehe er sich
dessen versah, ergriff sie ihn ganz wie er war, drückte seine Schulter
an ihre Brust, packte mit der Hand sein Kinn und küßte ihn mitten auf
den Mund. Engelhart packte sie zornig bei den Haaren und suchte ihren
Kopf zurückzustemmen, ihm war, als berühre ein zuckender, kühler Fisch
seine Lippen, endlich riß er sich mit aller Kraft los und stolperte die
finstere Treppe hinauf. Anna Wild lachte hinter ihm drein und rief:
»Wirst kein Mann, wenn du nicht küssen kannst.«

Tagelang vermied Engelhart den Blick der Menschen, und wenn ihn jemand
anredete, erschrak er. Bisweilen rieb er mit den Fingern seine Lippen
ab, als suche er das Gedächtnis an jenen fischhaften Druck
fortzuwischen. Wenn er aus dem Schlaf erwachte, blickte er unruhig in
die Finsternis, der Wind rüttelte am Fenster, und es war ihm, als laure
draußen, den Raum zwischen Himmel und Erde füllend, ein ungeheures
Raubtier. Vielleicht hätte er das ganze Erlebnis wieder vergessen, wenn
nicht andre Dinge sich ereignet hätten, die seinem Nachdenken und seiner
dumpfen Verstörtheit neue Nahrung gaben. Die Magd bei Ratgebers hatte
einen Liebhaber aus der Fabrik, und es kam heraus, daß dieser sich
allnächtlich in ihre Kammer schlich. Eines Nachts wachte Engelhart von
wildem Schreien und Schimpfen auf. Er erhob sich und lugte durch die
Türspalte. Die Magd und ihr Liebhaber standen beide im Hemd vor Herrn
Ratgeber, das Weib heulte, der Liebhaber und Herr Ratgeber brüllten.
Oben und unten öffneten sich Türen, verschlafene Leute erschienen, und
endlich mußte das Paar, nachdem es sich angekleidet hatte, schimpflich
das Haus verlassen. Darauf folgte eine angstvolle Zeit, in jeder Nacht
vor Torschluß läutete die Flurglocke stürmisch, der Liebhaber und seine
Kumpane standen draußen und verlangten unter unheimlichen Reden den Lohn
der Magd für die nichteingehaltene Kündigungsfrist. Da nicht aufgemacht
wurde, stießen sie das Glas an der Türe ein und einer warf sein Messer
in den Korridor. Das ging so fort, bis die Polizei dem Treiben ein Ende
machte.

Langsam und mit unerbittlicher Gewalt tauchte für Engelhart ein Warum
nach dem andern aus der Tiefe des Nichtwissens empor. Er dürstete nach
Wahrheit und Aufklärung und mußte unerlöst hangen zwischen Lüge und
Feigheit, mußte zitternd weilen wie der Blinde, der an einen Stein stößt
und sich nicht weiter wagt, trotzdem zu beiden Seiten kein andres
Hindernis ist. Ja, er mußte in der Luft der Heuchelei zum Heuchler
werden, so daß ihm bangte, wenn von den mysteriösen Dingen zu Hause oder
unter Freunden geflüstert wurde und er sich anschickte, mit Befangenheit
den Unbefangenen zu spielen. Was er auch von den Menschen und ihren
Einrichtungen beurteilen lernte, erschien ihm widersinnig und grausam.

Es war im Karneval, da ereignete es sich, daß unter Engelharts
Mitschülern das Gerücht umlief, ein gewisser Bachmann, der dieselbe
Klasse besuchte, aber zwei Jahre älter und wegen seines gewalttätigen
Wesens von allen gefürchtet und gemieden war, habe seinem Vater eine
große Summe Geldes entwendet und alles im Verlauf kurzer Zeit in einem
öffentlichen Haus verpraßt. Die Sage kam zu den Ohren der Lehrer und des
Rektors, es fand eine große Untersuchung statt, in die auch einige
Schüler der oberen Klassen verwickelt wurden, und Bachmann und seine
Mitschuldigen wurden dimittiert. Am Nachmittag des Faschingdienstags
kehrte Engelhart mit einer Schar von Kameraden von der Turnstunde
zurück. Die Turnhalle war etwas außerhalb der Stadt gelegen, und ohne
daß Engelhart wußte, was im Werk war, bemerkte er plötzlich ein
heimliches Raunen und aufgeregtes Tuscheln unter den Knaben, und sie
zogen in eine Seitengasse, wo ein paar unscheinbare Häuser standen,
deren Fenster mit grünen Läden verschlossen waren. Die Schar, es waren
zwanzig bis fünfundzwanzig Knaben, wurde immer stiller, einige sahen
sich mit furchtsamen, fast irr glänzenden Augen um, andre lächelten
scheu. Sie standen eine Weile unschlüssig, zwei oder drei rieten
umzukehren, da öffnete sich im oberen Stock eines Häuschens ein Fenster,
und der dicke Bachmann, der Stier, wie sein Spitzname lautete, lehnte
sich über das Sims. Er hatte eine Harlekinmütze auf dem Kopf und sah
wüst und verkommen aus. Hinter ihm erschienen zwei oder drei Mädchen,
bis zur Brust entblößt; sie lachten und klapperten zugleich vor Kälte
mit den Zähnen, die eine hielt eine Weinflasche in die Höhe, die andre
stieß Lockrufe aus, wie wenn man Hunde lockt. Auch sie hatten bunte
Papiermützen, mit klingenden Schellen behangen.

Unten standen die Knaben vollständig lautlos. Von denen, die rückwärts
standen, schlichen einige ängstlich davon. Bachmann forderte sie auf,
ins Haus zu kommen, er habe Geld genug, doch keiner antwortete. Es
dunkelte schon, und nach und nach machten sich alle aus dem Staub.
Engelhart trieb sich noch eine Weile in der heute mehr als sonst
belebten Stadt umher; als er heimkam, sah er unten im Packraum neben dem
Schreibzimmer des Vaters den Kommis Lechner. Es drängte ihn, mit irgend
jemand zu sprechen. Er hatte die Gesellschaft gerade dieses Menschen bis
jetzt gemieden, er war einmal dabei gewesen, als Lechner im
epileptischen Krampf niedergestürzt war, Tisch und Bank mit sich
reißend, in grauenhaftem Gebrüll mit allen Gliedern zuckend; seitdem war
ihm seine Nähe unerträglich, und doch konnte er heute nicht anders, er
gesellte sich zu ihm, begann scheinbar harmlos zu plaudern und erzählte
ihm die Geschichte mit Bachmann stockend und umständlich. Gewiß merkte
Lechner das Bedrückte und Fragende in Engelharts Gebaren, und er
benutzte den Anlaß, um als Wissender den Unwissenden zu sticheln.
Engelhart setzte sich auf eine Kiste und hörte zu wie einer, der
Vorwürfe verdient. Da nahm Lechner einen mitleidig-lehrhaften und
vertraulichen Ton an, lehnte sich flüsternd über den Tisch und seine
Augen flackerten glimmerig. Von namenloser Scham wie gerädert, lauschte
Engelhart den unverkleideten Worten des Menschen. Sein erster stechender
Gedanke war: ›Und meine Mutter?‹ Es erleichterte ihn, daß er ihr nicht
begegnen mußte, daß ihr Tod ihm erspart hatte, sie mit Augen voll
solcher Kenntnis ansehen zu sollen. Mit einem Abscheu vor Lechner, der
keines Wortes fähig war, erhob er sich und ging. Der andre, der
Dankbarkeit und begieriges Eingehen erwartet hatte, war erzürnt; er
haßte den Knaben von da an und verfolgte ihn bei jeder Gelegenheit mit
hämischen Anspielungen. Ja, seine Tücke scheute nicht davor zurück,
Herrn Ratgeber mit dem wohlgemeinten Hinweis auf Engelharts frühe und
gefährliche Reife zu beunruhigen.

Engelhart schlief mit seinem Bruder Abel, der jetzt neun Jahre alt war,
in einem Bette. Abel war ein ganz und gar verprügeltes Kind; die steten
Gefahren, von denen er umlauert war, hatten ihn tückisch und verschlagen
gemacht, und da ihm jede wahre Zucht mangelte, bot sein Charakter dem
Schlechten und Niedrigen immer weniger Hemmungen dar. Engelhart hatte
ihn wegen kleiner Verrätereien, durch die sich Abel bei der Stiefmutter
ein Stück Brot oder ein gutes Wort erkaufte, vielfach zu fürchten, doch
hatte er schließlich ein Mittel gefunden, durch das er den Bruder im
Zaum halten und an sich fesseln konnte: er erzählte ihm allabendlich vor
dem Einschlafen Geschichten, Märchen und Abenteuer, die er gelesen
hatte, und als ihm der Vorrat ausging, fing er an, selbsterfundene
Geschichten zu erzählen, und zwar solche, die er nicht zu Ende führte,
sondern in schlauer Manier stets im spannendsten Moment mit der
Zeitungsphrase abbrach: Fortsetzung folgt morgen. So entstanden nicht
selten sonderbare und raffinierte Verwicklungen, deren Lösung immer
weiter hinausgeschoben wurde und die an Engelharts Gedächtnis große
Anforderungen stellten. Abel war ein atemloser Zuhörer, es kam vor, daß
er den Bruder auch bei Tag bedrängte, weil ihm die Neugier keine Ruhe
ließ.

Heute lag Engelhart schweigend neben Abel in der Dunkelheit, und so sehr
ihn dieser auch um die Weitererzählung der Geschichte bestürmte, er
konnte kein Wort über die Lippen bringen; das Reden schien ihm häßlich,
im unverfänglichsten Worte spürte er plötzlich einen Stachel, der die
Seele ritzte. Als Abel sich endlich zufrieden gegeben hatte und schlief,
erhob sich Engelhart aus dem Bett und setzte sich im Hemd ans Fenster.
Weite dunkle Höfe lagen vor ihm, und schwarze Dächer klebten am Gewölke,
hinter dem umrißlos der gelbe Mond zerfloß. Engelhart stützte den
Ellbogen auf das Sims, sein Herz badete erleichtert in der wunderbaren
Nachtstille, und Tränen stürzten ihm aus den Augen.

Frau Wahrmann hatte Engelhart schon im Winter eingeladen, die Osterzeit
bei ihr zu verbringen; Herr Ratgeber verweigerte seine Erlaubnis, doch,
besorgt über des Knaben Fortschritte in der Schule, gab er das
Versprechen, ihn zu den Sommerferien nach Gunzenhausen zu schicken, wenn
er in die höhere Klasse aufsteigen dürfe. Engelhart gehörte nicht zu den
Naturen, für die eine Belohnung zum inneren Ansporn wird, im Gegenteil,
er fand sich durch Erwartungen, die er erregte, entschieden gelähmt;
nichts ward bei ihm durch Entschluß und klar bewußtes Handeln, alles
wuchs aus einem ungeheuern Druck und Trieb hervor, und das seinem Wesen
Widrige nahm oft nur durch die Fügung eines guten Sterns keinen übeln
Ausgang. So hatte er geringe Hoffnungen für einen Sommer, wie ihn seine
Sehnsucht wollte, jetzt, wo alle Lernfreudigkeit geschwunden war und
sein tiefbetrübter Geist, der Unschuld des Betrachtens entrissen,
lichtscheu an den Wurzeln des Lebens nagte. Es vergingen die Monate, und
er ertrug ungeduldiger als jemals die gleichmäßige Fesselung durch ehern
eingeteilte Stunden, oft wurde seine Ruhelosigkeit so groß, daß ihn kein
noch so geliebtes Buch zu halten vermochte, und er spürte es: wenn er
diesen Sommer die Freiheit nicht bekam, und das, was er, geheimnisvoll
vorauserlebend, in ihm ahnte, dann mußte er den feindseligen Gewalten
erliegen, denen er keinen Namen geben konnte. Einmal, auf dem Weg zur
Schule, hörte er bei einem Neubau einige Leute aufschreien und ihm
zuwinken; in derselben Sekunde vernahm er ein unheimliches Klirren und
Knattern, rings um ihn schwirrte es, da sah er sich mitten in dem Flügel
eines großen Fensterstockes stehen, der aus der zweiten Etage
herabgestürzt war. Das riesige Ding war durch den erstaunlichsten Zufall
gleichsam rings um ihn herumgefallen, die Scheiben waren nach außen
geflogen und auf dem Pflaster zersplittert, er stand unverletzt mitten
im Rahmen, als hätte er sich hineingestellt. Wie trunken blieb er eine
Weile stehen und wurde von den Zuschauern kopfschüttelnd betrachtet. Er
nahm es als ein gutes Vorzeichen, er faßte wieder Vertrauen, und süße
Lebenssicherheit ergriff Besitz von ihm.

Endlich kam die Entscheidung, und sie fiel günstig aus. Anfangs August
durfte er reisen. Des Abends langte er an, herzlich begrüßt, und lag
bald darauf wieder im selben Bett wie vor sechs Jahren, hörte die
dröhnenden, langsamen Stundenschläge der Blasturmglocke, den mahnenden
Gesang des Nachtwächters, die Eisenbahnzüge im Tal draußen, wie auf
einer Brücke durch den Weltraum rollend. In der Frühe fragte ihn Frau
Wahrmann über die Verhältnisse daheim aus; sie war eine gute und
gerechte Frau und geriet beinahe außer sich über seine Erzählungen, in
denen er zudem alles ihn selbst Demütigende verschwieg.

Im Hause der Frau Wahrmann hatte sich wenig geändert. Helene war nun
ein heiratsfähiges Mädchen, aber sie machte sich wenig Gedanken darüber,
und ihre Hauptsorge war auf ein harmloses Amüsement gerichtet; die
zweite, die Gottsucherin, ergrübelte sich ein Leben voll eingelernter
Idealismen, und ihr Los war schon jetzt die beständig seufzende Trauer
darüber, daß das Lebendig-Seiende mit dem sehnsüchtig Erdachten so wenig
übereinstimmte. In Esmee zeigte sich die Unbefangenheit einer kräftig
auf Form und Erscheinung gerichteten Natur, und sie war immer wieder die
Versöhnerin zwischen der spöttisch-überlegenen Helene und der
hadernd-unzufriedenen Jette; sie ließ alles Unangenehme an sich
herankommen und wurde dann spielend damit fertig. So sehr sie noch Kind
war, so hatte ihr Herz schon für immer gewählt, einen jungen Studenten,
Spiel- und Schulkameraden. Dies zu wissen war für Engelhart schmerzlich,
nicht als ob seine Gedanken jemals wünschevoll um Esmees Bild gewebt
hätten, aber sie schon in Besitz genommen zu wissen, das erregte seinen
Unwillen. Es war etwas Gehemmtes und Zelotisches in seinem Blick, wenn
er ihre naiv koketten Künste beobachtete, er suchte Streit mit dem
Mädchen wie mit dem hübschen Gymnasiasten, der ihr Freund war. Schien es
nicht, als ob Lechners Enthüllungen das Liebestreiben der Menschen für
ihn zu einem epileptischen Krampf gemacht hätten? Oft geschah es, daß er
sich absonderte, wenn die Mädchen und Knaben hinaus in die Wiesen
wanderten, doch er ging dann nicht seine eignen Wege, sondern folgte
jenen wie ein Spion, verbarg sich hinter Gebüsch, wenn sie rasteten,
beobachtete argwöhnisch und erregt ihr Treiben und wandte das Auge nicht
von Esmee und ihrem Anbeter. Und wie schimpflich, wie erniedrigt
erschien er sich dabei, ausgestoßen von dem Kreis fröhlicher
Beziehungen, untötbaren Neid in der Brust.

Es kam auch ein junger Mensch namens Benedikt Knoll ins Wahrmannsche
Haus, gleichfalls ein Student, siebzehn Jahre alt, also drei Jahre älter
als Engelhart, und dieser gewann durch Scharfsinn und vielfaches Wissen
dort eine geistige Oberherrschaft, ja eine Art Tyrannei. Er war ein sehr
kleiner, häßlicher Mensch von früh entwickeltem sarkastischen Witz, ein
Jude und eine echte Judennatur, den frommen und gedrückten Geschlechtern
entsprossen und unbewußt bemüht, diese Abkunft durch ausschweifende
Freigeisterei und ein brünstiges Streben nach Unabhängigkeit zu
verleugnen. Ihm näherte sich Engelhart schüchtern, bereit, eine
Überlegenheit anzuerkennen, die sich so selbstherrlich gab und die
keinen Widerspruch, sondern nur Bewunderung erfuhr. Benedikt Knoll ließ
sich die Gelegenheit nicht entgehen, seine erzieherischen Ideen zu
verwirklichen, und am lebhaftesten experimentierte er dann an Engelhart,
wenn er an den Mädchen willige und andächtige Zuhörerinnen hatte. Er
hatte sehr viel Heine gelesen und verachtete, wie es damals unter jungen
Leuten Brauch war, Schiller und Schillersche Begeisterung; mit einem
Heineschen Witz ließ sich jede ins Traumhafte und Fantastische
schweifende Wendung des Gesprächs mühelos und unter dem Dank des
Publikums ersticken. An Sommerabenden, wo man unter dem klaren
Sternenhimmel zwischen den Häusern und duftenden Gärten auf und ab
wandelte, wurde mit wenigen ironischen Seitenhieben Gott aus der Welt
gejagt und Wissenschaft, das heißt blöder Augenschein trat an seine
Stelle. Nun hatte ja Engelhart freilich auf seine Weise schon Gott
verloren, nur nicht so leicht, so überhebend, so hausbacken, und
immerhin lag im verlassenen, noch nicht entheiligten Tempel der
schutzlose Mensch ehrfürchtig auf den Knien. Dies aber verwirrte sein
Gemüt schwer, und bei all der unwiderstehlichen, prickelnden Gewalt, die
Benedikt über ihn gewonnen hatte, fing er doch an, ihn im Innersten zu
hassen und zu fürchten. Dann bestach ihn wieder die freiere Anschauung
von den Dingen des Lebens und das kühnere Urteil des kleinen Studenten,
und sie verabredeten, in Korrespondenz zu bleiben. Engelhart trat jetzt
in ein Alter, wo Geist oder die Maske des Geistes, das scheinhafte Wort,
schon als Triumph über die lastenden Schicksalsmächte gilt. Diese
Andacht des Alleshinnehmens und Alleseinsaugens kam dem kritischen Knoll
verdächtig vor, er ärgerte sich über die zage Verschleierung des
Ausdrucks, wenn Engelhart von der Zukunft und seinem künftigen Beruf
sprach. »Da dich dein Vater zum Kaufmann machen will, so tu nicht, als
ob du zu was Besserem geboren wärst,« schalt er grob; »du gehabst dich,
als ob’s eine Schande wäre, aber es sitzen noch ganz andre Leute wie du
auf dem Drehsessel.«

Engelhart schwieg, und eine dunkle Verstimmung bemächtigte sich seiner.
Was konnte es helfen, er hatte keine Lust dazu. Aber wozu sonst? Die
Zukunft war ihm eine finstre Nacht, aus deren Tiefe wie ein scharlachner
Brand irgendetwas Unbekanntes strahlte. Auch wenn er in sein Inneres
schaute, sah er dieses Feuer, dessen er sich vor den Menschen schämte
und das ihn beunruhigte, wenn er allein war. Es schwebte ihm etwas vor,
ähnlich wie atemloses Graben und Schaufeln im Innern der Erde und daß
junge Frauen aus einer jäh geöffneten Pforte traten, um ihm schweigend
und ergriffen zuzuhören, wenn er von der Finsternis und seiner
Einsamkeit erzählte. Oder er dachte sich in einem seit Jahrhunderten
verlassenen und verfallenen Haus von Gemach zu Gemach wandernd; nur die
letzte Tür war verriegelt, und als er weitergehen wollte, vernahm er aus
dem Innern eine Stimme, die voll unerhörten Schmerzes ein unerhörtes
Leiden berichtete. Er sah auch das Bild zahlloser, über eine Heide
hinstürmender wilder Pferde, und er selbst kam des Wegs, die ungestüme
Schar blieb versteinert stehen und er schritt ruhig durch die willigen
Reihen. Er sehnte sich nach den Menschen im allgemeinen und fürchtete
sie wieder im besonderen. Er liebte es, mit halbgeschlossenen Augen
dazuliegen und über etwas zu lächeln, was ungreifbar, ein süßer Hauch,
über seine Seele flog. Das war es ungefähr, und es erschien ihm
verwerflich und unfruchtbar, so zu sein, aber er konnte nicht anders.

An einem Regentag zeigte sich ein fremdes Gesicht im vertrauten Kreis,
ein Mädchen namens Hedwig Andergast, eine Offizierstochter aus Nürnberg,
die bei ihren Verwandten, den Notarsleuten, zu Besuch weilte. Sie war
ein wenig älter als Engelhart; da er sie sah, hatte er ein höchst
wunderliches Gefühl: ihm war, als träume er und sie tanze luftig leicht
auf seiner ausgestreckten Hand. Er wurde später gefragt, ob er sie
hübsch fände, und er konnte nicht antworten, weil er, kaum daß sie aus
dem Zimmer gegangen, sich an keinen Zug ihres Gesichts erinnern konnte.
Die Mädchen bedrängten ihn, besonders Helene hätte gern gewußt, ob die
Fremde den Vorrang vor ihr verdiente, da tat er eine feindselige
Äußerung gegen Hedwig Andergast, ganz ohne Ursache, in unklarer Wallung
des Gemüts. Natürlich kam Hedwig oft, sie hatte Gefallen an den
Wahrmannschen Mädchen gefunden, und da hatte Esmee, boshaft gelaunt, den
Einfall, Hedwig die Worte Engelharts in seinem Beisein zu wiederholen.
Das Mädchen sagte nichts, sie zuckte nur die Achseln, aber der ruhige,
verwunderte Blick ihrer grauen Augen traf ihn tief.

An einem Nachmittag, wo es regnete und gewitterte, wurde beschlossen,
auf den großen Dachboden zu gehen und dort zu spielen. Die meisten
Spiele erwiesen sich für längere Dauer als unzulänglich; Helene und
Jettchen brachten Blumen herauf, steckten sie mit den Stengeln der Reihe
nach in die Fugen zwischen die Dielen, und der öde Dachboden stellte
einen Garten vor. Man dachte sich einen hohen Zaun ringsum, Helene war
Pförtnerin und ließ nur diejenigen hinein, die einen selbstgereimten
Vers aufzusagen wußten. Alle zogen sich mehr oder weniger geschickt aus
der Schlinge, nur Engelhart brachte in der kritischen Lage nicht ein
Wort über die Lippen. Dies schmerzte ihn selbst, denn er wußte etwas und
konnte es nur nicht sagen, hätte es nicht sagen können um keinen Preis
der Welt. Als sie ihn verspotteten, nahm er eine Holzlatte, hieb den
Blumen die Köpfe ab und fuchtelte derart um sich, daß die Cousinen
schreiend in eine Ecke flüchteten, während Hedwig Andergast sich in den
großen Schlitten setzte, der hier oben seine Sommersiesta hielt, und
gleichgültig, ja etwas müde vor sich hin blickte. Schließlich, sein
Gebaren wurde ihm selber unbehaglich, sprang Engelhart auf eine Kiste
und schleuderte die Latte wie einen Speer von sich. Sie traf Hedwig
seitwärts an der Stirn, ein Aufschrei folgte, Engelhart sah Blut, die
Mädchen kamen bleich aus ihren Verstecken, Esmee lief, um Wasser zu
holen, Helene wusch die unbedeutende Wunde und band ein Tuch um Hedwigs
Stirne. Nachher gingen sie alle ins Klavierzimmer hinunter, räumten
Tische und Stühle beiseite, um zu tanzen, denn Hedwig wollte zeigen, daß
sie sich aus dem Unfall nichts mache. Aber Engelhart war verschwunden.
Er hatte sich eine Weile im Hof herumgetrieben und war dann in die
Scheune gegangen, wo er sich oben zwischen den Holzstößen verbarg. Das
Gewitter hatte aufgehört, die Sonne schien in das kleine Fenster an der
Mauer; er sah hinaus, über ein schmales Gäßchen hinweg bot sich der
Blick auf den Garten des Kasinos und auf die leuchtenden tropfenden
Bäume. Unten ging Premierleutnant Siderlich vorbei und wie gewöhnlich
folgten ihm einige Knaben mit höhnenden Zurufen. Premierleutnant
Siderlich wohnte längst nicht mehr bei Wahrmanns, auch war er aus dem
Heeresdienst entlassen, lief in Zivilkleidung herum und war zur
öffentlichen Spottgestalt geworden. Die Knaben machten sich über seine
Trunkenheit lustig, vielleicht schien er auch nur betrunken und war in
Wirklichkeit krank, jedenfalls torkelte er haltlos am Zaun entlang.
Währenddem kam Hedwig Andergast aus dem Wahrmannschen Hause und betrat
das Gäßchen. Sie hatte noch das weiße Tuch um die Schläfe gebunden. Der
Premierleutnant Siderlich blieb vor ihr stehen und legte, als ob er noch
Soldat wäre, die Hand salutierend an den Hut. Die Knaben johlten,
Siderlich lächelte verzerrt. Hedwig sagte zu dem vordersten der Knaben:
»Schämt euch doch, ihr Buben, seht ihr denn nicht, daß sich der Mann
nicht wehren kann?« Einer aus der Schar entgegnete frech: »Er wirft
immer in der Nacht Steine nach den Fenstern.« Der Premierleutnant machte
eine protestierende Geste, aber die andern lachten und schrien: »Ja,
ja!« Hedwig sah noch eine Weile zu, bis sie alle fort waren, dann ging
sie weiter. Engelhart hörte sie etwas murmeln und sie schüttelte den
Kopf. Ein unwillkürlicher Ausruf oder ein Räuspern von ihm ließ sie
emporschauen; sie hemmte ihren Schritt und lachte, wobei sich ein
goldiger Glanz über ihre Lider breitete; Engelhart war es, als ob er
durch den lachenden Mund bis in ihr Herz hinabsehen könnte.

Am Abend trat eine Gestalt an sein Bett und hieß ihn aufstehen. Er
gehorchte und kleidete sich an. Die Gestalt führte ihn hinaus. Am Himmel
zuckten beständige Blitze; es sah aus, als ob unter den Rändern der Erde
ein großes Spiritusfeuer kochte und die Flammen schlugen beständig über.
Er wurde von der Gestalt bis zum Altmühlfluß geführt. Dort lag ein Boot,
und sie stiegen ein, fuhren ohne Stange noch Ruder stromaufwärts, und da
erwies es sich plötzlich, daß die Gestalt Hedwig Andergast war; ihr
Gesicht war wie mit einem Silberschleier behangen, und als er sie
schüchtern fragte, warum sie nicht spreche, legte sie stumm die Hand auf
die Brust und seufzte.

Es war ein Wunschbild natürlich, aber Wahrheit steckte darin. So sah er
sie und sich selbst, ringsum von Wundern umgeben. Es war nicht mehr die
alte Erde, auf der er wandelte, es erschien ihm ein wenig lächerlich, zu
gehen, zu sprechen und zu schlafen. Er mied Hedwig Andergasts Nähe,
nichts enttäuschte ihn so sehr, als ihre Stimme zu hören, und nichts
beglückte ihn so, als einen Raum zu betreten und zu wissen, daß sie
dagewesen war. Es stimmte ihn böse, wenn sie in seiner Gegenwart von
ihrem Elternhaus erzählte, von ihren Kleidern oder von Vergnügungen und
Gesellschaften, er sah sie dann so wild an, daß das Mädchen erstaunte
und erschrak; dagegen suchte er am Abend den Garten und die dunkle Laube
auf und saß regungslos, bis es zehn Uhr schlug und die Tante zum
Schlafengehen rief. Dort wurde ihm der Tag erst Wirklichkeit und holdes
Schauen, er fühlte den Leib der Bäume von sommerlichen Säften strotzen,
in den Mondstreifen leuchtete das Blut der Blumen, alle Dinge waren
doppelt entblößt und doppelt verhüllt. Es erschien ihm wichtig, daß man
gütig und anerkennend gegen ihn sei, und Hedwig Andergast wählte er vor
allen andern aus, daß sie es sei. Wenn er im Freien ging, im Wald, warf
er sich bisweilen zur Erde und horchte; der Wind sang, im Innern der
Erde sang es mit, die ganze Natur hatte Atem, Stimme, Bewegung, Antlitz,
Mark und Sehnsucht. Wenn er an Hedwigs Gestalt und Namen dachte,
erzitterte sein Herz, aber wenn sie kam und ging und ihm wie allen die
Hand reichte, schaute er finster zur Seite. Er empfand es als eine
Demütigung, von ihr gekannt zu sein. Schließlich wußten doch bald alle,
was mit ihm vorging, er gehörte nicht zu denen, die ihre inneren
Zustände verbergen können, da wurde jedes Zusammensein eine Qual, und es
genügte, wenn Hedwig bei einer Anspielung errötete, daß er aufsprang,
forteilte und sich den ganzen Tag über nicht mehr sehen ließ. Von allem
am meisten haßte er das Wort Liebe; er wurde blaß und seine Fäuste
ballten sich, wenn er es hörte; das epileptisch verkrampfte Gesicht
Lechners tauchte hinter dem Wort empor, er erschien sich besudelt und
unwert seiner Träume. Damit hing es auch zusammen, daß ihm der Anblick
seines nackten Körpers schmerzlich und peinvoll war und daß er nach dem
Bad mit größter Hast wieder in die Kleider schlüpfte; am liebsten hätte
er im Finstern gebadet. Wenn er körperlich an Hedwig Andergast dachte,
geschah es mit demselben Schauder, den er damals gespürt, als bei
Lechners hündischen Erklärungen der Gedanke an die Mutter sein Gemüt
aufgewühlt hatte.

Die Tage wurden merklich kürzer, ein herbstlicher Hauch ging durch die
Landschaft. Die Kirchweih kam, die gewöhnlich das Ende des Sommers
bedeutete; auf dem Rasen vor den Ruinen der alten Stadtmauer wurden die
Buden errichtet, saßen die Bauern auf Bretterbänken im Freien und
tranken Bier aus steinernen Krügen. Die Cousinen schauten vor den
Fenstern der Wirtshäuser dem Tanze zu und Engelhart, abgestoßen von dem
Lärm und Gewühl, spazierte am Schilf des Ufers hin, und wenn er sich
umkehrte, sah er die Figur eines Seiltänzermädchens im himbeerroten
Trikot auf hohem Seil voltigieren; es war, als ob sie durch den
blaßblauen Äther des Himmels schwebte.

Bevor die schönen Tage verstrichen, wollte man noch einen Ausflug auf
den Hesselberg unternehmen, und an einem Abend, wo der Barometer und die
Prophezeiungen der Bauern günstig waren, wurde eine frühe Morgenstunde
zum Abmarsch festgesetzt. Es war herrliches Wetter. Bei dem Dorf
Wurmbach verließ man die Landstraße und wanderte über die Wiesen. Knoll
und Esmees Student machten die Führer, Frau Wahrmann und Helene
schlossen den Zug. Die Mädchen sangen Lieder und pflückten Blumen, an
den Ufern eines Waldbachs war Mittagsrast. Durch Dörfer ging’s, die
unberührt von der großen Welt am Bergeshang versteckt lagen wie die
Perle in der Muschel. Engelhart sammelte Steine, oben im Schloß
verfolgte er eine Eidechse bis ins Innere eines verfallenen Turms. Nicht
mehr so belebt war der Heimmarsch, die Mädchen wurden müde, Esmee klagte
über ihre wunden Füße, Engelhart gab sich, wie oft in der
Dämmerungsstunde, einer selbstsüchtigen Traurigkeit hin. Der Himmel war
mit Purpur begossen, die Blätter der Bäume glichen Blutstropfen, dann
kam die Dunkelheit, feuchte Dünste entstiegen dem Boden, Frösche
quakten, das Grillengezirp erfüllte die Luft wie ein Sausen; aus der
verblassenden Glut hinter den Hügeln wanderten die Sterne herauf. Wie
zufällig hatten sich Engelhart und Hedwig Andergast einander gesellt.
»Sieh mal die Sterne,« sagte Engelhart und deutete hinauf. Sie sah die
Sterne an, aber sie hatte sie schon zu oft gesehen, es machte ihr wenig
Eindruck. Sie fragte ihn, ob er wisse, daß sie übermorgen wieder nach
Hause reise; er wußte es nicht; ob er wisse, wo ihre Eltern in Nürnberg
wohnten; er wußte es nicht, sie erklärte es ihm. Dann schwiegen sie
lange Zeit.

Dem Mädchen wurde sonderbar zumute. Vielleicht fühlte sie das zum
Springen volle Herz ihres Gefährten und daß ihm von allen Menschenworten
keins zu Gebote stand, um sich zu erleichtern. Irgend etwas Namenloses
riß sie plötzlich hin, sie schwankte zwischen Ungeduld und Bangigkeit,
der bunte Jahrmarkt ihrer Gedanken und Wünsche bedeckte sich mit dem
Mantel sanfter Schwermut. Ihr war, als müsse sie ihm helfen, aber sie
wußte nicht wie, sie war genau so hilflos wie er. Die Dunkelheit, die
Stille, die Einsamkeit, die Müdigkeit, die sie empfand, der weite Weg,
der noch vor ihnen lag, all das machte sie zaghaft, einem unbestimmten
Mitleid zugänglich, und aus dem Kind wurde plötzlich ein Weib,
wenigstens für diese eine Stunde. Ihre Blicke suchten einander, konnten
sich aber nicht treffen und flohen dann wieder erschreckt in die Ferne.
Das mattere und vollere Schlagen der Herzen wechselte wie im Takt, das
Gras bog sich williger unter ihren Füßen und sie versanken so in ihr
gegenseitiges Schweigen, daß sie wie aus dem Schlaf emporschreckten, als
dicht hinter ihnen die Baßstimme des kleinen Knoll ertönte, der sich mit
Helene über das Leben in der großen Stadt unterhielt. Es war spät, als
sie heimkamen; vor der Tür des Wahrmannschen Hauses fand ein höchst
geräuschvolles Gutenachtsagen statt. Esmee setzte sich auf die
Steintreppe und nahm einen Vorschuß auf den Schlaf ihrer Nacht. Hedwig
stand eine Weile bei den andern, dann kam sie wieder zu Engelhart, dann
entfernte sie sich wieder und kam abermals, schlang den Arm um den
Laternenpfahl und schaute mit erregt glänzenden Augen die leere Straße
hinunter. Es war ein unbewußtes Nichtvoneinanderkönnen. Wenn ein weiser
Geist zwischen ihnen schwebte, so hat er vielleicht gelächelt über das
kindlich bittersüße Spiel.

Am übernächsten Tag reiste Hedwig, und nun war doch die Welt verödet für
Engelhart. Auch seine Frist war um. Die Trennung von dem liebreichen
Haus fiel ihm schwer aufs Herz. Am Ende der dritten Septemberwoche traf
er im elterlichen Hause ein. Dort hatte sich nichts verändert. Der Vater
webte in seiner Arbeit und in seinen Sorgen wie in Qualm, Abel war
verprügelter als vordem, ein von schlechten Einflüssen durchaus in die
Enge getriebener Knabe. Er war häßlich geworden, auf seinem fahlen
Gesicht kündigten sich die Laster an, nur in den Augen schimmerte noch,
tief und immer tiefer schlummernd, das Weh um eine ertötete Kindheit.
Engelhart wurde freudlos empfangen; Frau Ratgeber, gleichwie aufgereizt
durch den Widerschein der verlebten Tage auf seiner Stirn, verfolgte ihn
mit unverstelltem Haß. Er nahm es hin. Seine Fähigkeit, Widerwärtiges zu
tragen, war größer geworden.

An einem Nachmittag in jeder Woche entriß er sich allen Pflichten und
marschierte heimlich nach Nürnberg und vor das Haus an der Rosenau, wo
Hedwig Andergast wohnte. Er langte gewöhnlich an, wenn es schon dunkel
wurde, stellte sich an die gegenüberliegende Straßenseite und blickte zu
den erleuchteten Fenstern hinauf. Wenn sich ein Schatten an den Gardinen
zeigte, krampfte sich ihm die Brust zusammen, wenn jemand aus dem Tor
trat, hielt er den Atem an. Der Winter kam, er fürchtete kein Wetter,
scheute nicht den langen Weg hin und zurück, in Schnee, in Stürmen stand
er dort und verließ den Warteposten erst wieder, wenn die Zeit drängte
und er bis in die Adern durchfroren war. Er bekam Hedwig Andergast
nicht ein einziges Mal zu Gesicht, er sah sie überhaupt niemals wieder
und die Trübnis des alltäglichen Lebens schwemmte die frohen Farben der
Erinnerung aus seinem Geiste hinweg.



                           Siebentes Kapitel


Von Woche zu Woche nahm in Engelhart der Abscheu gegen die Schule zu. Er
verachtete die Auszeichnungen, die dem stumpfen Fleiß, dem tierischen
Gehorsam, der gedankenlosen Aufmerksamkeit zuteil wurden, angewidert von
dieser ungeschmückten Welt, der aufreibenden Wiederholung mechanischer
Geschäftigkeiten, versank sein Geist in die Sphäre des Traums so tief,
daß es ihn oft Mühe kostete, die Stimme eines Menschen zu vernehmen, der
vor ihm stand und mit ihm redete. Man sagte dann von ihm, er sei
zerstreut, und er zog sich das Mißtrauen und die Geringschätzung fast
aller Lehrer zu, die seiner Begabung das beste und seinem guten Willen
das schlechteste Zeugnis ausstellten, was zur Folge hatte, daß jede
seiner Handlungen als Ausgeburt einer böswilligen Gesinnung aufgenommen
und durch züchtlerische Maßregeln bestraft wurde.

Keine wohlmeinende und freundliche Gestalt trat ihm unter seinen Lehrern
entgegen. Es waren Männer, die nicht einen Beruf erfüllten, sondern ein
Amt innehatten. Sie kümmerten sich nicht um die Seele, sondern nur um
die Kenntnis der Knaben. Sie hatten der höheren Stelle, der sie
untergeordnet waren, nur den Beweis zu erbringen, daß sie ein
vorgeschriebenes Pensum erledigten, so wie die Kellner dem Wirt die
Ablieferung der Zahlmarken schuldig sind. Sie nährten den Wissensdurst
mit Regeln und belohnten den Fleiß durch Zensuren, das unterweisende
Wort war nur eine Grimasse, der Geist der Belehrung eine Mumie,
vertrocknet durch viele Jahre eines wesenlosen Treibens. Ihre Belebtheit
war aufgedunsen, ihre Vertraulichkeit voll falscher Töne, ihre Strenge
lieblos und zynisch. Die meisten erschienen gleichsam mit einer Maske
vor dem Gesicht, hielten sie unruhig und krampfhaft fest und schäumten
vor Zorn, wenn sie ihnen bei einer unerwarteten Gelegenheit entfiel.
Wenn er einem Lehrer auf der Straße begegnete, war es Engelhart oft, als
schäme sich der Mann seines Straßengesichts, der antwortende Gruß war
dann widerwillig oder von übertriebener Gefälligkeit. Auch in den
Lehrstunden spürte er mit unsicherem Staunen, wie in manchem eine Art
Angst oder Scheu nicht bloß vor der Meinung und dem Urteil, sondern vor
dem Menschlichen, Fleischlichen der Schüler zutage trat; da wurde ein
gefürchteter Tyrann unversehens kindisch und es sah aus, als wolle er
durch eine tölpische Zärtlichkeit seinen Mangel an Herzensbeteiligung
vergessen machen. Um den Mund des einen zuckte beständig ein
unbegreiflicher Hohn; ein andrer fürchtete, lächerlich zu werden, und
war wortkarg wie ein Einsiedler; der dritte, puppenhaft geziert und
seine ganze Natur verhüllend unter einer starren Sachlichkeit, wählte
sich einige Lieblinge, die er verhätschelte, während er allen andern
kalt und hart begegnete; der vierte benahm sich wie ein Sklavenhalter;
der fünfte liebte es, eine erheuchelte Gutmütigkeit und Umgänglichkeit
als Falle zu benutzen, der sechste war ein unfähiger Schwächling, der
siebente ein Narr. Kein echter und ganzer Mensch; was sie lehrten, blieb
tot: Regeln, Formeln, Zahlen, Register. Da sie nicht Teilnahme erwecken
konnten, hielten sie die Furcht in Atem, Drohung und Strafe waren ihre
Büttel. Sie wußten nichts vom Geiste, und der Sache waren sie entfremdet;
ihr Ziel: Dressur. Sie waren beherrscht von jenem Parade- und
Uniforminstinkt, der die Glieder des jugendlichen Reichs für immer
verkrüppelt hat.

Eines wirkt ins andre; auf einem Distelstrauch wachsen nicht Rosen.
Engelharts Mitschüler waren in ihrem innersten Wesen zuchtlos. Nur mit
der gemeinsten Notdurft der Dinge vertraut, waren sie jeglichen
Aufschwungs bar, und seltsam war es, die angeborenen Eigenschaften,
Roheit, Tücke, Heuchelei, feiges Kriechen, von dem dünnen Schimmer
unechter Bildung übertüncht zu sehen. Sie waren mit den Rätseln des
Daseins fertig, ehe noch das Leben die erste Silbe zu ihnen gesprochen
hatte; sie waren nur füreinander geschaffen, nicht für sich selbst; wenn
so ein Knabe allein auf der Straße ging, hatte sein Gesicht den Ausdruck
des Schlafs. In ihrer Brust war keine Musik, und Respekt hatten sie nur
vor dem Gelde. Eines war Engelhart immer aufgefallen, nämlich daß sie
nicht sprechen konnten, daß sie nicht ruhig sitzen oder gehen konnten,
um gut und natürlich zu sprechen; entweder schrien sie oder sie
tuschelten. Dies letztere erregte seinen Abscheu in hohem Grad, denn er
ahnte, was sie mit ihrem Munde und ihren Gedanken beschmutzten, wenn sie
zu dreien oder vieren beisammenstanden und erregt grinsend einander das
Wort von der Lippe rissen. Bisweilen gesellte er sich hinzu, um sich zu
schützen, denn aus Absonderung erwuchs ihm Haß, aber sie nahmen sich in
acht vor ihm, auch ummauerte sich sein Wesen, und ohne daß er darum
wußte, ward seine Haltung feindselig. Die meisten hatten Reiz und Anmut
der Jugend schon eingebüßt, ihre Gesichter waren hohl und fahl von
Stubenluft und ungesunden Trieben, in seine untersten Schlünde
hinabgestoßen war der edle Kindergenius und schon thronte auf den
Stirnen der brutale Zweck.

Nichtsdestoweniger fand Engelhart ein paar Kameraden, die manche seiner
Neigungen teilten. Mit ihnen verabredete er sich zu weiten
Spaziergängen, und daraus wurde schließlich etwas wie ein Kultus mit
wunderlichen Zeremonien und Gepflogenheiten. Sie versammelten sich an
einem möglichst abgelegenen Punkt der Stadt, und bevor der Marsch
begann, erhielt jeder einen Spielnamen, der zugleich eine bestimmte
Rolle in sich schloß. Die Mitglieder der Gesellschaft leisteten das
Gelübde des Schweigens, und die Formen des Verkehrs, feierlicher gemacht
durch Worte aus einer selbsterfundenen Sprache und durch eine künstliche
Rangordnung geregelt, suchten auf die Haltung und den Geist der Truppe
zu wirken. Mit Anbruch des Frühlings wurden die Märsche bis gegen den
Moritzberg und die Wälder an den Ufern der Zenn ausgedehnt. Wenn das
einsame Schloß des befreundeten Königs erreicht war, nämlich ein
Forsthaus oder eine Fuhrmannskneipe, sonderte sich Engelhart von den
Genossen ab und stellte in der tiefen Wildnis dem Auerochsen und dem
Bären nach oder er ging horchend dahin, untertauchend in die Stille und
die Augen zu Boden geheftet wie der traurige Prinz, dessen Herz vor
Sehnsucht krank ist. Er besaß das Land, das sie durchzogen, es war in
Wahrheit sein Eigentum; es war ihm herrlich zu Sinn, wenn sie alle
schweigend in einer fast leidenschaftlichen Gangart dahineilten und der
Wind schüttelte die Baumkronen und die Krähen schwirrten vor ihnen auf.
Er brachte etwas Stürmisches und Atemloses in diese Wanderzüge, nicht so
sehr durch die Begierde nach immer neuen Eroberungen als durch die
unbeschreibliche Unruhe und das Drängende, Gärende, Wollende seines
ganzen Wesens. Am liebsten hätte er nirgends Rast gemacht, nur immer
ziehen, ziehen, ziehen, die Welt war so groß, der Himmel so weit.

An Tagen, wo es unmöglich war, die Stadt oder gar das Haus zu verlassen,
schloß er sich in die Kammer ein, rannte stundenlang auf und ab und sang
dazu, indem er sich von einem unsichtbaren Orchester begleitet wähnte.
Dann war sein Schlaf schwer und oft unterbrochen, auch war ihm das
Zubettgehen mehr als je verhaßt und er meinte durch den Schlummer eine
Einbuße an Leben zu erleiden. Es geschah immer häufiger, daß er sich zur
vorgerückten Abendzeit heimlich aus dem Hause stahl, und er wußte die
Magd zu bereden, daß sie ihn heimlich wieder einließ. Am Pegnitzufer,
dicht neben der Mauer des protestantischen Kirchhofs, stand ein altes
und wegen einer Senkung des feuchten Erdreichs unlängst verlassenes
Haus. Der Besitzer wollte es nicht abtragen lassen, da der Grund
ziemlich wertlos war; so hatte man an den Seitenmauern einstweilen
Stützbalken angebracht, und um die Wände im Innern vor weiterer Fäulnis
zu bewahren, standen Trockenöfen in den Räumen und die rote Glut
strahlte aus den Fenstern weit in die Nacht. Das Tor war verriegelt,
doch Engelhart stieg durch eines der erdgeschössigen Fenster ein,
kauerte sich in einen Winkel und gab sich dem Abenteuerlichen und
Gesuchten seiner Lage mit erwartungsvollem Trotze hin. Es war ihm recht,
wenn es in den Dielen über ihm geisterhaft knackte oder im Keller die
Ratten rumorten. Die Nähe des Kirchhofs war es besonders, die ihn
ergriff; durch ein seitliches Fenster konnte er die Trauerweiden und
Grabsteinkreuze ungeachtet der Dunkelheit gewahren. Es steckt ein
doppelgängerisches Wesen in der menschlichen Brust; sein Revier ist der
Traum, es macht das Unbegreifliche zum Bild, den Willen bindet es und
wie die Spinne das Insekt, umklammert es die Seele und entsaugt ihm die
Kräfte einer behaglichen Freiheit. Bei manchem durchbricht es seinen
Bezirk, bemächtigt sich auch des wachen Geistes, prägt die Marke der
Hörigkeit selbst auf die jugendliche Stirn, will vernommen sein, und
wenn es nicht gegenwärtig ist, will es beständig erharrt werden, es
macht den Stetigen flüchtig und den freundlichen Charakter einsam, mit
holden Versprechungen umgaukelt es das Herz, mischt das Gift der
Ungeduld in jede freudig ruhende Stunde und trägt das Bewußtsein des
Lebens mit bedächtiger Grausamkeit frühzeitig auf die Wege des Todes,
läßt um das Ende wissen, wenn noch nicht einmal die erste Frucht des
Daseins reif geworden ist.

Drei- oder viermal mochte Engelhart unbehelligt in dem leeren Hause
geweilt haben, da sah er einst, während er sich erhob und zum Fenster
schritt, ein verzerrt-grinsendes Gesicht von draußen hereinblicken. Er
erschrak, und erst als das Gesicht verschwunden war, erkannte er seinen
alten Feind, den rothaarigen Rindsblatt. Seit er ihm vor Jahren den
übeln Streich gespielt, hatte er nicht ein Wort mit ihm gewechselt.
Engelhart begriff, daß ihm der Bursche aufgelauert haben müsse,
vielleicht war er selbst auf der Straße an ihm vorbeigegangen, ohne ihn
zu sehen. Er verbarg sich wieder, wartete geraume Weile, dann öffnete er
vorsichtig das Fenster, schaute hinaus und da er nichts Verdächtiges
wahrnahm, verließ er seinen Zufluchtsort. Kaum war er draußen, so kam
von der Uferböschung eine Gestalt auf ihn zu, die den Arm drohend erhob.
Es war Rindsblatt. Engelhart begann zu laufen, der andre lief
hinterdrein. Engelhart lief hinunter gegen den Markt, das Wasser der
Pfützen spritzte unter seinen Stiefeln auf, sein Gewand war mit Kot
bedeckt, die Schritte hallten von den Häusermauern zurück, das
anfängliche Lustgefühl der raschen Bewegung verwandelte sich in Angst,
die Angst wuchs und versperrte seine Kehle, er lief blindlings, ohne zu
wissen wohin, der andre ihm nach, endlich kamen sie in die abschüssigen
Straßen der Altstadt, Wasser und Wassergeplätscher machten ein Ende,
dort unten war alles überschwemmt, weit über den Schießanger und das
neue Schlachthaus hinaus, und wo sie standen, bespülte die Flut schon
die Torstufen der Häuser. Mondschein lag auf dem weiten Spiegel des
Sees, drüben beim Wehr sprühte silbern die Gischt. Engelhart stierte
hinab, keuchend vom Lauf, Rindsblatts Gesicht war schweflig fahl und er
sagte durch die verpreßten Zähne: »Ich will dich jetzt ins Wasser werfen
und ersäufen. Dann sind wir quitt.« Engelhart keuchte verächtlich: »Ein
schlechter Kerl, wer seine Rache so lang aufhebt.« Mit grünlich
glitzernden Augen schnellte Rindsblatt auf ihn zu, da kam aus einer
Seitengasse ein ungeheurer schwarzer Fleischerhund, stellte sich
bösartig knurrend zwischen die beiden Knaben und fixierte einen um den
andern mit offenem Maul und hängender Zunge. Sie wagten nicht, sich zu
rühren, und als das Tier durch einen schrillen Pfiff zurückgerufen
wurde, schien sich Rindsblatt eines andern besonnen zu haben, er machte
kehrt und seine plump schreitende Gestalt entfernte sich langsam gegen
den Lilienplatz.

Am nächsten Tag wurde Engelhart zum Rektor berufen, Rindsblatt hatte die
nächtlichen Ausflüge und das Einsteigen in das fremde Haus denunziert.
Engelharts Benehmen war das eines Schuldigen; feierliche Verhöre
zerbrachen bei ihm jeden Widerstand und jedes Selbstgefühl, seine äußere
Haltung wurde durchaus von der Haltung der andern hervorgebracht. Da der
Rektor nichts Wesentliches herausbringen konnte und da das, was
Engelhart berichtete, ziemlich verhalten und konfus klang, glaubte er an
einen verstockten Heuchler geraten zu sein. Auch der Ordinarius hegte
den Verdacht, daß hier eine geheime Verbindung oder Verschwörung im Werk
war, doch keine der üblichen Pressionen und moralischen Folterungen
führte zu einem Aufschluß, der unbekannten Übeltat war nicht
beizukommen, und so wurde Engelhart schließlich zu mehrstündiger
Einsperrung verurteilt und sein Vater erhielt über das Vorgefallene
ausführlichen Bericht. Alles nahm einen amtlich-wichtigtuerischen Weg,
jeder, der ein bißchen Macht hatte, spielte auf seine Weise Polizei, auf
Subordination war jeder Geist gedrillt und keinen kam ein menschliches
Lächeln an. Auch Herr Ratgeber faßte das Geschehnis völlig als
Staatshandlung auf und verbarg nicht seinen Kummer und seine
Enttäuschung um den Sohn. Engelhart mußte sich zu Hause abermals einer
Reihe von Verhören unterwerfen, und Frau Ratgeber strafte ihn, wie sie
eben zu strafen pflegte, durch Demütigungen berechnetster Art und
dadurch, daß sie ihm verschiedentlich die Mahlzeiten vorenthielt.

In dieser Zeit wuchs für Engelhart nicht viel Trost. Er ging mit
gesenktem Kopf herum, auch sein inneres Schauen war verschleiert. Oft
beobachtete er Männer auf der Straße mit dem furchtbaren Hintergedanken,
welcher von diesen wildfremden Leuten ihm wohl besser hätte Vater sein
können als der eigne Vater. Bisweilen ruhte er am Tisch zu Hause von den
anstrengenden und sinnlos weitläufigen Schularbeiten aus und blickte an
der Lampe vorbei in das auf die Zeitung herabgebeugte Gesicht seines
Vaters. Er faßte die Möglichkeit ins Auge, mit ihm zu sprechen, etwa wie
mit einem Freund, und schon der Gedanke hatte etwas Absurdes. In allen
Büchern war die Rede von dem heiligen Band zwischen Vater und Kind, er
spürte es nicht, er spürte nur das Joch unliebsamer Strenge und
schablonenhafter Zucht. Die Worte, die sie hie und da wechselten, waren
aus der kargen Enge des praktischen Bedarfs geboren, hatten niemals
einen geistigen Hauch, vom Scherz nicht zu reden. Er wußte sich’s nicht
zu gestehen und fühlte doch, daß ein solches Beieinanderleben, selbst
wenn es dem natürlichsten Gesetz der Dinge entstammte, etwas Unwahres,
ja Frevelhaftes hatte, und er glaubte außerdem dessen gewiß zu sein, daß
er dem Vater zur Last war und daß das unaufhörliche Hindrängen gegen die
Zukunft nichts weiter vorstelle als die Ungeduld, sich seiner zu
entledigen. Er sah, wie rücksichtsvoll sich der Vater gegen seine zweite
Frau benahm und wie er alles geschehen ließ, was sie gegen ihn und den
Bruder unternahm, und wie er geflissentlich schwieg oder nur schüchtern
zu widerstreben wagte, wenn ein offenbares Unrecht ihm zu Ohren kam;
Engelhart hörte auf zu hadern, er wähnte, irgendeine bindende
Verpflichtung des Vaters läge dem zugrunde, der Vater müsse sich
irgendwie an dieser Frau vergangen haben, sei in Schuld und Sühne
verstrickt und finde nicht mehr zu sich selbst. Unter solchen Erwägungen
wurde ihm Frau Ratgeber zu einer hassenswerten Gestalt und den Vater gab
er für sein Herz, einer unerbittlichen Logik gehorchend, verloren.

Nun befand er sich einst in dem Zimmer, wo auf einem mäßig großen Regal
die Bücher des Vaters aufbewahrt wurden, und kramte nach seiner
Lieblingsgewohnheit unter den alten Scharteken, die sämtlich aus Herrn
Ratgebers Jugend und Jünglingsalter waren. Beim Aufschlagen eines
grauen, mehr von der Zeit als vom Lesen zerstörten Bandes, einer
Abhandlung über das Prinzip der Elektrizität, gewahrte er auf dem
Vorsatzblatt ein Gedicht von der Hand seines Vaters. Die Verse waren
überschrieben: An Agathe Herz; er las, platt auf dem Boden liegend, mit
aufgestützten Armen, vor sich hin:

    Ist es bestimmt in Gottes Walten,
    Daß ich Agathe soll erhalten,
    Die mir des Lebens Inhalt gibt,
    Dann will ich keine Mühe scheuen,
    Mich selbst durch Tugend zu erneuen,
    Denn fromm ist nur ein Mann, der liebt.

    Ach, dieses holde Blühn auf Erden!
    So schön war noch kein Lenzeswerden
    Meiner Dunkelheit gewohnten Brust.
    Doch süßer, als wenn Zephyr fächelt,
    Ist’s, wenn Agathes Auge lächelt,
    Davor wird jeder Schmerz zur Lust.

Lange blickte Engelhart auf das Blatt, ohne es zu wagen, sich einer
sanften Regung völlig zu ergeben. Die gelesenen Worte veränderten
unerwartet das Bild des Vaters. Er war so verwundert, wie wenn ein
Geschöpf, das er für stumm gehalten, plötzlich zu reden begonnen hätte.
Ob wohl die Mutter um dies Gedicht gewußt? Wenn nicht, so mußte sie
zeitlebens über die Empfindungen des Gatten im unklaren geblieben sein,
denn daß der Vater je mit ihr davon gesprochen haben könne, schien ihm
undenkbar. Jedenfalls verbarg er seine Entdeckung sorgfältig und ließ
sich nichts merken, doch schaute er bisweilen den Vater so
gedankenverloren an, daß dieser, unangenehm berührt, sich das freche
Anstarren, wie er es nannte, verbat.

Herr Ratgeber durfte nicht zur Ruhe kommen. Sein Unglück erfüllte sich
nicht auf einen Schlag, es nippte langsam, Schluck für Schluck von den
Kräften seiner Seele. Durch die Unvorsichtigkeit eines Lehrlings brach
während einer Mittagsstunde ein Brand in der Fabrik aus. Herr Ratgeber
saß gerade beim Essen und schien etwas heiterer gestimmt als sonst, da
gellte von drunten der durchdringende Schrei: Feuer! Mit den Worten: »um
Gottes Himmels willen« sprang Herr Ratgeber auf und raste hinunter.
Weißer, dicker Dampf quoll durch alle Fenster des Erdgeschosses, das
Holz und die Sägespäne waren eine gar zu leichte Beute für die Flammen.
Nach wenigen Minuten bliesen die Feuertrompeten, die großen Leiter- und
Spritzenwagen konnten nicht durch den Toreingang des Vorderhauses
fahren, die Leitern mußten abgeladen und die Schläuche bis auf die
Straße gelegt werden, wodurch eine verhängnisvolle Verzögerung entstand.
Herr Ratgeber war indessen von seinem Bureau aus in das Innere der
brennenden Werkstätten gedrungen; später wurde er gefragt, warum er dies
getan, da er doch als einzelner auf keinen Fall etwas hätte ausrichten
können; er wußte nichts zu antworten, es war nur der blinde Trieb
gewesen. Es dauerte nicht lange, so war er dermaßen in Qualm gehüllt,
daß er weder vor- noch rückwärts konnte, die Sinne schwanden ihm und er
fiel um. Zum Glück durchbrachen die Feuerwehrmänner in demselben
Augenblick eine hier befindliche, mit Brettern verschlagene Tür, sie
sahen Herrn Ratgeber liegen und schleppten ihn hinaus. Engelhart schaute
vom Fenster oben zu; er rührte sich nicht, Frau Ratgeber weinte und
schrie, räumte die Schränke aus, warf das Silberzeug in eine Kiste, er
stand am Fenster wie versteinert. Im ersten Stock des Fabrikgebäudes war
eine Gipsgießerei; auf den Simsen lagen gewöhnlich allerlei Masken und
Reliefs, und Engelhart beobachtete mit einer der dumpfesten Angst sich
entringenden Spannung, wie die Figuren vom Rauch geschwärzt wurden und
die Gesichter der Masken sich langsam verzerrten.

Die Folge des Brandes war, daß die Polizei den ferneren Betrieb der
Fabrik nicht mehr gestattete, da die Lage des zwischen Hinterhäusern
eingezwängten Traktes als zu gefährlich befunden wurde. Herr Ratgeber
mußte so schnell als möglich eine andre Lokalität haben, auch sann er
auf Vergrößerung der ganzen Anlage, obwohl der bisherige Erfolg ihn
keineswegs dazu ermuntern konnte. Er hatte wenig Kredit, seine Pläne
begegneten dem Mißtrauen der Geldleute, und wie um ihn zu demütigen,
wies man darauf hin, daß sein Bruder, seitdem er allein das Geschäft in
Händen habe, trefflich gedeihe. »Gewiß,« entgegnete Herr Ratgeber, »ich
bin eben kein Krämertalent, ich bin Fabrikant.« Schließlich gewann er
durch seine geduldige und überzeugende Beredsamkeit doch noch einen
Kapitalisten, der zugleich sein stiller Teilhaber wurde, er mietete ein
leerstehendes Haus am äußersten Rande der Schwabacher Landstraße, unweit
davon stand, gleichfalls in großer Einsamkeit und Stadtferne, ein
neuerrichtetes Zinshaus, dessen zweiten Stock er mit seiner Familie
bezog. Nach der Rückseite breiteten sich die Wiesen aus, und ein mageres
Waldstück schloß den Blick ab, vorne, gegen die Rednitz hinunter, lag
das Dambacher Land, dann die tiefen Forste, die sich bis gegen
Kadolzburg und Erlangen dehnten. Das auf der Höhe der Chaussee gelegene
Gebäude war den herbstlichen Stürmen von allen Seiten schutzlos
preisgegeben und zitterte oft unter dem Anprall bis in seine
Grundmauern; wenn die Sonne unterging, waren die Wände und
Fensterscheiben wie mit Blut bestrichen, alle Gegenstände im Zimmer
glühten von innen heraus und im Spiegel über dem Sofa malte sich noch
einmal das flammende Himmelsmeer über der auf ihre stärksten und
einfachsten Linien zurückgeführten Landschaft. Die Verlassenheit hier
draußen wirkte nicht wohltätig auf Engelhart; Besuche kamen höchst
selten, auch für die Kameraden wohnte er zu weit, und innerhalb der
Familie war doch Herz dem Herzen fremd. Einer lauerte des andern
Verfehlungen und Sünden auf, nur Furcht vereinte sie hie und da einmal,
zum Beispiel als in einem nahegelegenen Wirtshaus ein durchreisender
Fremdling ermordet wurde und die Regungslosigkeit der darauffolgenden
Nächte allen zehnfach fühlbar wurde. So wühlte sich Engelhart immer mehr
in gefährliches Abgeschlossensein, dunkler färbten sich seine Träume,
von Tag zu Tag ward ihm wesenloser, was alle Menschen rings um ihn herum
an ihr Dasein knüpfte. Drei Elemente webten in seiner Brust, nämlich ein
schwaches, ein süßes und ein diabolisches. Das erste fügte sich jedem
Druck des Windes und der Trauer jedes Augenblicks, fügte sich und
unterlag, es gab ihn fruchtlosen Erwartungen preis und machte ihn zum
Knecht allerlei schlechter Gewohnheiten; das zweite verlieh ihm tiefen
Atem, tiefes Weilen bei sich selbst und die Liebe für die kleinen Dinge,
an denen andre gleichgültig vorübergehen, es schuf Dämmerung um seine
Augen und breitete eine gewisse Andacht über seine zügellosen
Phantasien; das dritte war schuld an der Heftigkeit seiner Begierden, es
erzeugte aus jeder Bewegung des Gemüts einen leidenschaftlichen Rausch,
erweckte Ansprüche an das Leben, die sich niemals erfüllen konnten,
vertauschte im Nu Freude und Angst, Ungeduld und Apathie,
Überheblichkeit und Demut, Starrsinn und Nachgiebigkeit. In einem alten
Buche las er einmal Worte, die ihm lange Zeit rätselhaft erschienen und
später plötzlich eine furchtbare Bedeutung enthüllten: Da stehst du am
Abgrund des Bösen, armseliger Mensch, und scheuest dich,
hinunterzublicken, aber wenn du auch deinen Pfad abkehrst, so werden
dich dennoch die Geister ewig verfolgen, denen du nur ein einziges Mal
freiwillig das Ohr geliehen hast.

Er war der Stadt und ihrer Menschen müde, er sehnte sich nach Freiheit
und nach der Welt; ganze Nachmittage lang lag er am Bahndamm und blickte
die Gleise hinauf und hinab, an die unbekannte Ferne denkend. Aber die
Zeit erfüllte sich. Als der Sommer kam, der letzte Sommer der
Knechtschaft, wie er meinte, teilte ihm der Vater mit, daß Michael Herz
in Wien sich entschlossen habe, den Neffen zu sich ins Geschäft zu
nehmen. Es habe genug Schwierigkeiten gekostet, meinte Herr Ratgeber,
den Mann so weit zu bringen, er selbst habe sich für den guten Willen
und das ehrliche Streben Engelharts gleichsam verbürgen müssen;
Engelhart beruhigte seinen Vater, er versprach alles, was man wollte, er
dachte gar nicht an die Dinge, zu denen er sich verpflichtete, und daß
er dem Vater wie dem Onkel gegenüber eine ernsthafte Verantwortung auf
sich nahm, es drängte ihn hinaus, etwas andres überlegte er nicht. Aus
den Briefen des Oheims spürte er heraus, daß dieser große Hoffnungen auf
ihn setze, doch daß er nichts so sehr fürchte als enttäuscht zu werden.
Michael Herz wollte Sicherheit und sichere Gewähr. Er war ein
kinderloser Mann, hatte sich aus eigener Kraft aus dem Nichts zu
Wohlhabenheit und einer angesehenen Stellung emporgearbeitet und gefiel
sich in dem Gedanken, daß der Sohn seiner geliebtesten Schwester berufen
sei, sein eignes Werk und Leben fortzusetzen. Aber vielleicht sagte ihm
eine Ahnung, wie viel Schmerz und Kränkung ihm aus diesem Vorhaben
erwachsen könne, deshalb konnte er lange Zeit keinen Entschluß fassen.
Von alldem wandte Engelhart seine Gedanken ab; den guten Willen, den
spürte er, aber es war ihm zumute wie einem Hungrigen, der für ein Stück
Brot alle möglichen Dinge zu leisten verspricht; er weiß, daß sein Sinn
sich wenden wird, wenn er das Stück Brot gegessen hat, aber daran will
er nicht denken. Es kam die Zeit der Abgangsprüfung; Engelhart war stets
ein mittelmäßiger Schüler gewesen, die Seinen zitterten zu Hause um den
Erfolg, auch sie waren es müde, einen sechzehnjährigen Burschen, der
Geld verdienen konnte, noch länger auf dem Hals sitzen zu haben, aber
Engelhart war seiner Sache sicher, ohne sie doch zu besitzen, er schrieb
und arbeitete wie aus dem Schlaf heraus und es gelang, das Widerwärtige
ergab sich, es war irgend etwas Freudiges und Freudeerregendes in ihm,
man begegnete ihm zarter, wohlwollender, heiterer als sonst und
durchstrich das Konto seiner Schuld. Es war ein Aufwachen unbekannter
Kräfte, und hätte sich Engelhart anstatt in einem leuchtenden Taumel
ihnen wissender, frömmer, forschender hingegeben, so wären sie
vielleicht in seinem Dienst verblieben und hätten ihm Wege gebahnt.

Als alles glücklich abgelaufen war, wurde seine Ausrüstung notdürftig
instand gesetzt und Frau Ratgeber entdeckte auf einmal ein besorgliches
Herz für den Stiefsohn. Es war zu guter Letzt noch eine gute Zeit. An
einem Septembertag wanderte Engelhart mit dem Vater nach Altenberg, um
vom Großvater Abschied zu nehmen. Dort war es auch längst nicht mehr,
wie es vordem gewesen. Der Greis hatte, da seine zweite Frau gestorben,
um seiner Einsamkeit abzuhelfen, den Schwiegersohn mit seiner Familie
von einer kleinen, doch sicheren Stellung in einem badischen Dorf zu
sich ins Haus gerufen. Es waren sechs Kinder da, die Frau, Herrn
Ratgebers Schwester, war unheilbar krank, der Mann war ein Frömmler und
verstand nicht zu arbeiten, der älteste Sohn war ein Taugenichts, zwei
Kinder lagen noch in der Wiege, das ganze Wesen verwandelte sich in
Elend und Sorge. Der alte Ratgeber zog sich in eine Kammer zurück und
betrauerte seine Jahre. Dort sah Engelhart den sehr verfallenen Mann, er
saß in einem schmutzigen Ledersessel und reichte ihm die kalte Hand.
Engelhart fühlte drückend und fast beschämt seine prahlerische Jugend,
die mit dem Glanz ihrer herausfordernden Hoffnungen vor diesem Ende
eines Lebens stand. Nachdem beide lange geschwiegen und einander bloß
angeschaut hatten, holte der Alte aus einer Schublade ein kleines
schwarzes Gebetbuch hervor und schenkte es dem Enkel. Dieser zögerte, es
zu nehmen, denn es war ihm wertlos, dann sagte der Greis unvermittelt:
»Deine Mutter war eine feine Frau, Engelhart, eine feine Frau, hat mir
arg leid getan um die Frau. Dein Vater hat kein Glück mehr, seit sie tot
ist.«

Es vergingen noch zwei Wochen, dann stand Engelhart eines Abends mit
seinem Vater im Regen vor der Bahnhofshalle, und sie warteten auf den
Zug. Immer von neuem wiederholte Herr Ratgeber: »Sei ein braver Mensch,
werde ein braver Mann.« Er ließ sich keine Rührung anmerken, und als
Engelhart schon im Coupé saß und aus dem erleuchteten Fenster blickte,
lächelte Herr Ratgeber sein seltsames, verlegenes, zuckendes Lächeln.
Dann rollte der Zug davon, Herr Ratgeber schaute der roten Laterne des
letzten Wagens so lange nach, bis die Finsternis und die Ferne das Licht
verschlungen hatten, darauf seufzte er, spannte seinen Regenschirm auf
und ging in tiefem Sinnen nach Hause. Er setzte sich zur Lampe, machte
Auszüge und schrieb Fakturen bis gegen zwei Uhr nachts, und als er
fertig war, sah er, daß es aus war mit seinen stolzen Plänen und
Hoffnungen. Der Zusammenbruch war unvermeidlich. Da er das Schlafzimmer
betrat, erwachte seine Frau, und er teilte ihr alles mit. Sie lag stumm
da, Bitterkeit und Wut verschlossen ihr den Mund. Sie hatte einst von
einem schwarzen Seidenkleid geträumt, ferner von einem Hut mit echten
Straußfedern. Damit war es nichts; sie knirschte mit den Zähnen, legte
sich auf die andre Seite und schlief mit bösem Gesicht wieder ein.



                            Achtes Kapitel


Mit seinem kleinen Köfferchen stand Engelhart vor der hohen Tür im
weißen, erleuchteten Treppenhaus und suchte ziemlich lange nach dem
Glockenzug; den elektrischen Knopf übersah er. Schließlich klopfte er
mit dem Finger zaghaft an, das Stubenmädchen öffnete, sah ihn lächelnd
stehen und meldete seine Ankunft der Herrschaft. Herr und Frau Herz
kamen heraus, begrüßten ihn und musterten ebenfalls lächelnd seinen
Anzug und sein linkisches Wesen. Er verlor unter ihren Blicken die
vertrauensvolle Ruhe des Sichselbstbesitzens.

Der erste Gang durch die Straßen; was er sah, schien ihm begehrenswert,
alles war Erscheinung. Mit Gier starrte er in die Gesichter fremder
Menschen, glaubte ihre Gefühle und Wünsche zu erraten; der Lärm der
Fuhrwerke machte ihn trunken vor Glück, das Glockenläuten von den
Kirchen versetzte ihn in eine wogende, atembeklemmende Erregung. Zu den
Häusern, zur Luft, zu all dem Unbekannten in der großen Stadt knüpfte er
stärkere Beziehungen, als zu den beiden Menschen, mit denen er lebte und
auf die er angewiesen war. Seine abgekehrte Haltung erregte Befremden.
Nur bei den Mahlzeiten war er verständlich, weil er Portionen vertilgte
wie ein ausgehungerter Sträfling. Mit dem Zustand seines Gemüts
beschäftigte man sich nicht, es war nicht üblich; daß er sich glücklich
fühlen müsse, wurde vorausgesetzt. Herr Ratgeber richtete einen Brief an
Michael Herz, worin er bat, jeden Fehltritt Engelharts mit
unerbittlicher Strenge zu ahnden. Solche Worte waren nicht im Sinne von
Michael Herz; leider bemerkte er bei Engelhart wenig Lust und Liebe zur
Sache, er schien nicht einmal die allgemeine Richtung wahrzunehmen,
wohin das vielartige Treiben ziele, es war nichts Eigentätiges an ihm.

Der Packraum der Fabrik befand sich in einer Art von überdecktem
Schacht, dort mußten den ganzen Tag die Gasflammen brennen. Eine
gewundene Holztreppe führte zu den Werkstätten empor. Der Oberpacker
glossierte den Inhalt eines Theaterstücks, das er gestern gesehen; als
er fertig war, kramte ein andrer seine Erinnerungen an den
Ringtheaterbrand aus. Sie redeten zumeist vom Theater und von
Schauspielern. Engelhart saß träge auf den Sprossen einer Leiter. Als
dem Verwandten des Chefs wurden ihm gewisse Rücksichten
entgegengebracht, und die bezahlten Leute, von denen niemand eine
wirkliche Pflicht erfüllte, sahen seine Versäumnisse nicht ungern. Sie
wußten aber nichts mit ihm anzufangen, er war und blieb ein Fremdling.

Auf der Holztreppe erschien jetzt ein großes schlankes Fabrikmädchen und
richtete den lauernden Blick auf Engelhart. Er erblaßte. Das Mädchen
ging absichtlich nahe und langsam an ihm vorüber und ihr Rock streifte
seine Knie. Er stand auf, schlich in den halbdunkeln Nebenraum und warf
sich seufzend auf eine schmale Kiste. Plötzlich sah er empor, Michael
Herz stand vor ihm und schaute ihn mit einem tiefen Blick des Vorwurfs
schweigend an. Dieser innerliche Blick der blauen Augen erinnerte
Engelhart an den Blick der Mutter. Er hatte eine unüberwindliche Scheu
vor dem Oheim, er sah in ihm das Ideal eines Mannes und Menschen, auch
äußerlich; Gestalt, Gesicht, Haltung und Betragen waren die eines
Aristokraten aus altem Geschlecht. Er war kein Geschäftsmann in
gewöhnlichem Sinn; er arbeitete mit dem bohrenden, zur Tiefe gerichteten
Ernst eines Künstlers. Zu Hause war er aufgeräumt, ja übermütig und am
glücklichsten dann, wenn er Gäste hatte, die sich bei ihm wohl fühlten.

Kurz vor Weihnachten kam Engelhart in die Buchhalterei, wo er mehr unter
Aufsicht und Arbeitszwang stand. Um ihn anzufeuern, setzte ihm der Oheim
zwanzig Gulden Gehalt aus. Sein Platz war vor einem hohen Pult am
Fenster. Neben ihm saß Herr Patkul, der eine Schnapsflasche in seinem
Pult hatte und alle Viertelstunden einen Schluck nahm. Am Abend, wenn
andre anfingen, sich zu betrinken, war er schon so voll, daß er den Hut
nicht mehr auf den Kopf brachte. Herr Hallwachs, der Korrespondent,
behandelte Engelhart mit spöttischem Hochmut. Er sagte: »In Franken muß
es recht merkwürdige Charaktere geben,« wenn Engelhart einen
Tintenklecks auf einen Brief machte.

»Sie haben diesen Posten auf Soll geschrieben anstatt auf Haben, wie ich
Ihnen ausdrücklich gesagt habe, Herr Ratgeber,« rief der Buchhalter mit
schmerzlichem Augenaufschlag. Er war ein würdiger, gelassener Mann, ein
treuer Diener der Firma. Herr Patkul knurrte bedeutungsvoll; es hieß so
viel als: mich hätte man längst hinausgeworfen bei solcher Unfähigkeit.

Ein breiter Sonnenstreifen fiel auf die liniierten Blätter des Buches
vor Engelhart. Er erzitterte wie bei einer elektrischen Berührung.
»Woran denken Sie denn?« fragte Herr Hallwachs mit sanftem Tadel; »an
das selige Franken? Dort scheint man freilich von Soll und Haben wenig
zu wissen.« Herr Patkul rief Bravo und klatschte in die Hände, der
Buchhalter ließ ein vorsichtiges Lachen hören.

Ja, woran dachte Engelhart? An einen Traum der letzten Nacht. Die Träume
waren es, die ihn so schlaff machten. Hin und wieder versuchte er es,
sie seinem neuen Bekannten Emil Oesterle zu erzählen, sah jedoch, daß
von ihrem Duft und Grauen nichts an den Worten haften blieb. Die
Tintenluft lastete bleiern auf seinem Kopf. Die Zahlenreihen, die er
addieren sollte, glichen einem Haufen dünnfüßiger Käfer, sie krabbelten
davon, während er sie mit der Bleistiftspitze verfolgte; unmöglich, die
bewegliche, dünnbeinige Masse zum Stillstand zu bringen. Dann klang ein
Leierkasten von einem nachbarlichen Hof herüber und sein Herz krampfte
sich zusammen vor Sehnsucht nach der Freiheit.

»Gib mir einen Rat, lieber Freund, ich ertrage nicht dies Dasein,«
schrieb er abends, als die Verwandten im Theater waren, an den Studenten
Benedikt Knoll in München. Vor ihm auf dem Tisch stand die gefüllte
Teekanne, und das heiße Getränk erhitzte vollends sein Blut. Er schrieb
und schrieb, zwölf, fünfzehn, zwanzig Seiten. Am Ende machte die
Überschwenglichkeit seine Handschrift unleserlich. Nach langer Pause war
der Briefwechsel von beiden wieder aufgenommen worden; Knoll übernahm
die Rolle des Erziehers. Er blinzelte in seinen Briefen über Engelhart
hinweg Herrn Michael Herz zu. Engelhart merkte es kaum. Die Person
Benedikts war ihm nicht so wichtig wie die Stunde, in der er an ihn
schrieb, und die Gelegenheit, sich mitzuteilen.

Um elf Uhr kam Tante Esmee unerwartet ins Zimmer. »Ich habe dir doch
verboten, bis in die Nacht hinein zu schreiben,« rief sie aus. Ihr
Gesicht war weiß vor Ärger. Sie drehte ihm das Licht vor der Nase ab.
Sie haßte ihn, seit sie wußte, daß ihr Mann sich des Knaben wegen sorgte
und kümmerte. Sie verstand sich darauf, zu hassen. In Engelharts
Gegenwart war jede ihrer Bewegungen von Verachtung und Widerwillen
getränkt. Seine Neigung, von Dingen außerhalb des praktischen Lebens zu
reden, fertigte sie mit höhnischer Gelassenheit ab. Eine zufahrende,
heftige und trockene Natur, entbehrte sie wie die meisten kinderlosen
Frauen des Gleichgewichts. Sie liebte abgöttisch ihren Gatten, war
zugleich seine Magd und seine Herrin; wenn sie allein war, war sie
verdrießlich und zerquält und wußte kein Mittel, der Langeweile zu
entgehen, die sie folterte.

Zwei bis drei Stunden lag Engelhart wach im Bett und seine Sinne waren
so erregt, daß ihm die Finsternis als ein purpurner Rauch erschien, der
sich zu Gestalten ballte.

Am Sonntag zeigte ihm Emil Oesterle die Stadt, sie gingen im Prater
spazieren, und wenn sie nach Hause kamen, tranken sie Tee und spielten
Schach. Oesterle war ein sanfter Bursche, aber es mißfiel Engelhart, daß
er vor Michael Herz ein kriechendes Benehmen zur Schau trug. Er sollte
Engelharts Interesse an kaufmännischen Gegenständen wecken und
französische Konversation mit ihm treiben, doch Engelhart sah ihn dann
so spöttisch an, daß er verstummte. Sie waren schon ziemlich vertraut
und duzten einander; an einem Feiertag nach Tisch holte Engelhart den
Gefährten von seiner Wohnung ab. Beiläufig fragte Oesterle, ob Engelhart
des Morgens im Bureau gearbeitet habe, und dieser bejahte. Am folgenden
Tag erfuhr Oesterle jedoch, daß Engelhart keineswegs in der Fabrik
gewesen sei, sondern sich in den Straßen herumgetrieben habe; blaß und
aufgeregt kam er und stellte Engelhart, der nun als Lügner dastand, zur
Rede. Warum er nicht die Wahrheit gesagt, er wußte es kaum, ein Nein,
ein Ja, es entflog oft den Lippen, ehe er nur dachte, und manchmal
wünschte er geradezu zu lügen. Oesterle gab seinen Abscheu gegen die
Lüge mit Entrüstung kund und sagte: »Wenn du mich noch ein einziges Mal
belügst, Engelhart, werde ich aufhören, dein Freund zu sein.«

Tückische Fäden spinnt das Schicksal; wenige Jahre später endete
Oesterle im Zuchthaus, weil er in dem Geschäft, wo er angestellt war,
große Geldunterschlagungen begangen hatte.

Als der Winter um war, wurde es klar, daß es auf diese Weise mit
Engelhart nicht weiterging. Er hielt es keine Stunde hintereinander in
dem Schreibzimmer aus. Wenn Michael Herz hereinkam, fragte er mit leiser
Stimme, wo sein Neffe sei; der Buchhalter zuckte die Achseln, Herr
Hallwachs lächelte vielsagend, Herr Patkul knurrte. Eines Tages fühlte
sich der Buchhalter verpflichtet, seinem Chef die volle Wahrheit über
den jungen Ratgeber zu sagen.

Um zwölf Uhr ging Engelhart mit Onkel Michael zusammen nach Hause. Es
herrschte ein beklommenes Schweigen zwischen ihnen. Auch bei Tische
schwieg Michael Herz; Frau Esmee bemerkte, daß er einen starken Kummer
in sich hineindränge. Plötzlich schien es, als ob eine Gebärde, ein
Blick Engelharts seinen offenen Zorn furchtbar entfesselte. Er
schleuderte Messer und Gabel von sich, sein Gesicht wurde dunkelrot und
er stieß maßlose Drohungen und Vorwürfe gegen Engelhart aus, der wie
gelähmt dasaß. Frau Esmee umhalste den erregten Mann und suchte ihm Ruhe
und Fassung zurückzuschmeicheln, zugleich winkte sie Engelhart
gebieterisch zu, er solle das Zimmer verlassen.

Er suchte Emil Oesterle auf, um das Vorgefallene mit ihm zu besprechen.
Aber der furchtsame Mensch hütete sich, etwas zu sagen, was Michael Herz
hätte mißbilligen können. Den größten Teil des Nachmittags verwandte
Engelhart dazu, um einen dringlichen Brief an Benedikt Knoll zu
schreiben. Es war sein verderblicher Wahn, stets von den andern Menschen
Billigung, Verständnis, Hilfe zu erwarten.

Er spürte irgendeine unfaßbare Kraft in sich, sein Blut wirbelte in den
Adern, Beglücktheit und tiefste Trauer wechselten von einer Minute zur
andern. Lauer Frühlingswind strich durch den Park, in dem er ging,
durch die hohen Fenster des Konzertsaals fiel das Licht auf die
schwarzen Bäume. Es war, als würde der Walzer drinnen von Geistern
gespielt, die Menschheit lag im Todesschlaf, er allein war der Lebende,
für ihn allein war die Welt entstanden.

Benedikt Knoll schrieb: »Wenn Du ernsten Willen hast und Notabene Geld,
so komm. Ich werde Dich bald so weit haben, daß Du Vorlesungen besuchen
kannst. Es sind nicht lauter erleuchtete Geister, die sich am Busen der
Alma mater mästen. Schließlich vermag Minerva ihre Mannen so gut zu
ernähren wie Merkur die seinen.«

»Nun, was willst du eigentlich? was schwebt dir vor?« fragte Michael
Herz. »Bist du zur Besinnung gekommen?« – Zögernd offenbarte Engelhart
seinen glühenden Wunsch zu studieren. Michael Herz schwieg. Seine
geröteten, hochgewölbten Lider senkten sich über die unruhig irrenden
Augen. »Gut, studiere,« entgegnete er endlich schroff. »Ich gebe keinen
Kreuzer dafür her. Wer so wie du sein Glück mit Füßen tritt, ist nicht
mehr wert, als zu verhungern. Das merke dir: und wenn ich dich an einer
Straßenecke liegen sehe und du schnappst nach Brot, ich höre nichts, ich
kenne dich nicht.« – »Du hast mich gefragt, was ich will, ich habe
ehrlich geantwortet, Onkel,« sagte Engelhart. »Natürlich, ich bin arm
und kann ohne deine Zustimmung nichts tun.« Frau Esmee kam dazu, und die
ungemessene Verachtung, die sie Engelhart bezeugte, machte ihn völlig
verstockt. Jedes unbefangene Wort auf eine bestimmte Dankesschuld hin
beurteilt zu sehen, das erbittert.

Michael Herz sprach mit seinen Freunden über den Fall. Sie sagten
zumeist das, was er oder vielmehr was Frau Esmee hören wollte. Nur ein
einziger, auf dessen Klugheit und Weltkenntnis er große Stücke hielt –
es war der Hausarzt –, machte sich anheischig, mit Engelhart zu reden,
und stellte ihm das Unbillige, ja Vernunftlose seines Verhaltens vor.
Engelhart horchte auf. Das war der erste Mann, der menschlich mit ihm
redete und nicht wie von einem Turm herunter allgemein tönende Worte von
sich gab. »Ich kann nicht,« war alles, was Engelhart zu antworten
vermochte, doch hatte seine Stimme einen flehentlichen Klang.

Am ersten Mai fuhr das Ehepaar Herz für einige Tage aufs Land.
Engelhart blickte von seinem Zimmer aus in den Hof auf die fensterlose
Rückenmauer des Nachbarhauses. Auf einem vorspringenden Steinabsatz saß
ein Sperling. »Bleibt er sitzen, bis ich zwanzig zähle, so tue ich’s
noch heute,« sagte Engelhart. Mit vorgenommener Langsamkeit fing er an
zu zählen. Sein Herz klopfte bang. Als er bei zwölf war, legte der Vogel
das Köpfchen schräg ins Gefieder und schaute in die Richtung, wo
Engelhart stand. Er konnte bis dreiundzwanzig zählen, da flog das
Tierchen auf und zwitscherte ins Sonnenlicht hinein.

Engelhart überrechnete seine Barschaft; er hatte sich ungefähr fünfzig
Gulden erspart und meinte, es sei viel Geld. Dann ging er ins Museum,
sah aber keine Bilder an, sondern setzte sich in eine Ecke und
beobachtete lange Zeit das Spiel eines Sonnenstrahls, der sich um eine
Marmorsäule wand. Eine schöne Frau, in dunkeln Sammet gekleidet, schritt
vorüber, ohne ihn zu sehen. Sie trug zwei gelbe Rosen in der Hand, und
er hörte sie mit gedankenvoll lächelndem Mund etwas flüstern.

Nachmittags packte er seinen Koffer, die Dienstboten kümmerten sich
nicht um ihn. Als es dunkel wurde, verließ er das Haus. Es war ein
göttlich milder Abend; der Mond lag zwischen scharfgeschnittenen Wolken
wie in einer dunkelblauen Schüssel. Jetzt war es ihm doch gar eigen ums
Herz, weder traurig noch lustig, sondern weh und verantwortungsvoll. Auf
dem Bahnhof kaufte er ein Billett nach München. Er mußte über eine
Stunde bis zur Abfahrt warten, dann wurde er in einem unabgeteilten
Wagen mit mehr als dreißig Personen zusammengepfercht. Nach den ersten
Stationen wurde es erträglicher, aber die Luft war schlecht und die
Beleuchtung trübe. Engelhart drückte die Stirn an die Fensterscheibe
und schaute in die mondbeschienene Wald- und Hügellandschaft.

Ihm gegenüber saß eine Bauernmagd; sie hatte ein rotes Tuch über die
Holzlehne gebreitet, darauf hatte sie den Kopf gelegt und schlief. Ein
sonderbarer Kitzel trieb ihn, an dem Tuch zu zupfen; die Nachbarn sahen
zu und lachten. Der Beifall ermunterte ihn und er wiederholte es, jetzt
rutschte das Haupt der Schläferin ein Stück herunter. Die Zuschauer
waren höchst belustigt, die ganze Gesellschaft wurde munter, und als die
Bäuerin schließlich ein unwilliges Gebrumm hören ließ, brachen alle in
dröhnendes Gelächter aus. Engelhart nahm einen Zigarettenstummel und
steckte ihn der immer noch Schlummernden in den Mund. Die Leute fühlten
sich wie im Theater, ein altes Weib bekam vor Lachen einen Hustenanfall.
Die Schläferin schlug die Augen auf, ihr verschämtes und bestürztes
Gesicht vermehrte den Jubel. Engelhart ließ es damit nicht genug sein,
es kam wie eine Wut der Tollheit über ihn, er bellte, krähte, wieherte,
nannte einen dicken, triefäugigen Menschen beständig »Herr Professor«,
stieg auf die Bank und hielt eine unsinnige Ansprache, dabei empfand er
im Innern ein finsteres Staunen über sich. Der Raum war von Tabaksqualm
erfüllt, die lachenden Gesichter verzerrten sich vor seinen Augen zu
unheimlichen Gebilden. Am andern Ende des Wagens saß ein Prälat; dieser
wandte sich an die Zunächstsitzenden und sagte: »Der junge Mensch kommt
mir verdächtig vor.« Darauf erhob sich ein andrer, offenbar ein
Handlungsreisender, und rief Engelhart zu: »Sie, sagen Sie mal, sind Sie
vielleicht Ihrem Herrn Vater mit dem Geld davongelaufen?« Engelhart
stutzte, dann erwiderte er mit gespielter Verachtung: »Mein Vater hat
gar kein Geld.« Da sah Engelhart ein strenges Augenpaar auf sich
gerichtet. Es war ein blasser, einfach gekleideter Mann mit einer Narbe
auf der Stirn. Streng und drohend war der auf ihn geheftete Blick.
Allmählich wich das berauschte Wesen einer tiefen Niedergeschlagenheit.
›Warum starrt er mich so düster an?‹ grübelte Engelhart. Er wünschte mit
dem Fremden zu sprechen; es lag ihm daran, jenem mitzuteilen, daß er
nichts Böses im Schilde führe, daß es überflüssig sei, ihm unfreundlich
entgegenzutreten, und daß er Menschen suche, von denen er geliebt sein
wollte. Aber es gab keinen Weg von ihm zu dem Fremden, obwohl sie nur
drei Schritte voneinander entfernt waren, es gab kein Mittel, den
Unversöhnlichen milder zu stimmen.

Als der Zug sich der Grenze näherte, wurde es Tag. Zur Rechten lagen die
rosig umhauchten Gipfel der Berge in der gläsernen Frühluft. Eine dumpfe
Stimme rief: »Engelhart! Engelhart!« War es nicht der Mann mit der
Narbe? Nein, jener war fort, der Platz, auf dem er gesessen, war leer. –

»Wieviel Geld hast du mitgebracht?« fragte Benedikt Knoll. Engelhart
nannte die Summe, die er noch besaß. »Und für wie lange soll das
reichen?« fragte Knoll weiter. Darauf wußte Engelhart keine Antwort.
Knoll war erschrocken. »Kommst du denn ohne die Einwilligung deines
Onkels?« fragte er und erfuhr, daß Engelhart als Flüchtling kam. Nun
hatte der kleine Student nicht mehr das geringste Wohlgefallen an der
Ankunft des Freundes. Indessen schmiedeten sie noch am selben Tag einen
diplomatischen Brief an Michael Herz. Knoll teilte dem von ihm verehrten
Manne mit, wie die Dinge standen und daß er sich für die anständige
Führung Engelharts verbürge. Wenn er wirklich das Zeug zu einem Manne
der Wissenschaft habe, dürfe man ihn doch nicht untergehen lassen; Herr
Herz möge Gnade walten lassen und den Hilflosen vor Not schützen. Als
Antwort kam nach acht Tagen nichts weiter als eine geschäftliche Notiz
der Firma, wonach Engelhart bis auf weiteres an jedem Monatsersten
fünfzig Mark ausgezahlt erhalten sollte. Benedikt Knoll rang die Hände.
»Fünfzig Mark!« rief er aus, »da mußt du von jedem Fünfzehnten ab einen
vierzehntägigen Schlaf tun.« Das Zimmer, das er für Engelhart gemietet,
kostete allein den dritten Teil dieser Summe. Aber wenn Engelhart
fünfzig Mark in der Hand hatte, hielt er es für unmöglich, daß so viel
Geld jemals ganz ausgegeben werden könne. Erst wenn die letzten Groschen
in der Tasche klimperten, wurde ihm unbehaglich zumute.

Knoll spürte wenig Lust, den Lehrer zu machen, und Engelhart noch
weniger, Schüler zu sein. Er hatte genug gelernt, nun wollte er sehen,
atmen, leben. Trotzdem verbrachten sie einen Tag damit, auf dem
Büchermarkt eine lateinische und eine griechische Grammatik
einzuhandeln. Es geschah der Form wegen. Dann kamen auch Stunden, wo
Engelhart sich aufraffte und seinem Gedächtnis eine Reihe von Vokabeln
einprägte, die er am nächsten Tag wieder vergaß. Es ist aussichtslos,
dachte Benedikt Knoll und sann darauf, wie er sich der lästigen
Verantwortung entledigen könne. Inzwischen lebten sie als gute
Kameraden, und da Engelhart an einem unstillbaren Hunger nach Menschen
litt, machte ihn Knoll mit seinen Kommilitonen bekannt. Engelhart kam
jedem einzelnen mit kindlichem Vertrauen entgegen, aber er setzte sie
damit in Verlegenheit; sie wunderten sich über ihn, was er sagte,
erschien sonderbar einfältig oder unverständlich. Knoll hingegen war
beliebt, und wenn er Engelhart zur Zielscheibe seines Witzes machte,
sahen sie auch diesen mit günstigeren Augen an, weil sie über ihn lachen
konnten.

Sie standen fest auf ihren Füßen, die Studenten und Studentlein. Jeder
verübte mit dem, was er besaß, und war es noch so wenig, greulich viel
Lärm und Geklapper, so daß seiner Armseligkeit nicht beizukommen war.
Ungeachtet aller Liederbuchphrasen von deutschem Männerstolz und echtem
Germanentum waren sie die Knechte eines jämmerlichen Formelwesens, und
der ganze Freiheitsdrang hatte ausgetobt, wenn sie eine Straßenlaterne
zerschlagen und einen Nachtwächter beschimpft hatten. Sie waren
überzeugt, als Schirmherren für die idealen Güter der Nation bestellt zu
sein, doch im Grunde betrachteten sie all das wissenschaftliche oder
patriotische Getue als ein Geschäft wie jedes andre. Kräfte der Ahnung,
Kräfte des Herzens wurden im Bier ersäuft.

Es war ein Juniabend, Knoll und Engelhart spazierten mit fünf andern
Studenten über die Ludwigstraße, Knolls Intimus, ein gewisser
Schustermann, führte seinen Hund an der Leine, eine schöne dänische
Dogge. Plötzlich riß sich das Tier los, verfolgte einen andern Hund, kam
aber, als sein Herr pfiff, sogleich zurück. Nun war jedoch Schustermann,
auch sonst ein galliger Bursche, diesmal in boshaft trunkener Laune. Er
fing an, den Hund aufs grausamste zu schlagen, und schließlich blutete
das Tier aus mehreren Wunden. Je mehr es mißhandelt wurde, je
erbärmlicher winselte es um Gnade; Schustermanns Freunde standen lachend
herum, und einer sagte: »Der Hund ist wie ein Jud.« Engelhart fuhr
zusammen und erwiderte mit stockender Stimme: »Wenn man die Juden auch
blutig schlägt, um Gnade pflegen sie nicht zu betteln.« Die Studenten
fanden den Auftritt peinlich, und der älteste bemerkte naserümpfend:
»Mir scheint, er bildet sich was darauf ein, daß er ein Jude ist.« Knoll
war wütend und zischte Engelhart zu: »Nur nicht pathetisch sein, das
gibt es hier nicht.«

Am andern Tag kam er zu Engelhart ins Zimmer und machte ihm förmliche
Vorhaltungen. »Was kümmert es die Leute, daß du Jude bist,« eiferte er.
»Schlimm genug, daß wir es sind, wir haben nicht nötig, viel Aufhebens
davon zu machen. Wir wollen endlich Ruhe haben und alles vergessen, und
jene sollen gleichfalls vergessen.«

Doch Engelhart war satt von jenen, es verlangte ihn nicht mehr nach
ihrer Gesellschaft.

»Wie willst du überhaupt vorwärts kommen mit deiner beispiellosen
Anmaßung?« fuhr Knoll fort.

»Ich – anmaßend?« flüsterte Engelhart erstaunt und bestürzt. »Ebensogut
könntest du sagen, Schustermanns Hund sei gestern abend mutig gewesen.«

Knoll beachtete die Einrede nicht. »Du arbeitest nichts, du hast kein
Ziel, keinen Ehrgeiz, und ich bereue, was ich für dich getan habe,«
sagte er.

Engelhart trat zum Fenster und schaute stumm in die Abendröte. Fern
zwischen Häusern schwebte noch ein schmales Sonnensegment. Herz der
Welt, du sollst erglühen, dachte er mit jähem Entzücken – Worte, die er
nie früher gehört. Von einem gegenüberliegenden Wirtshaus drangen
Harfen- und Geigenklänge herauf. Ach Musik, Musik, all sein Sinn, sein
ganzer Leib lechzte nach Musik, bebte von chaotischer Musik, das Dämmern
und Weben der Zeit, ihre Rufe, ihre Stimmen, alles Musik, ein Wogen
unfaßbarer Akkorde.

»Komm, Benedikt,« sagte er versöhnend, »laß uns eine Partie Schach
spielen.« Knoll war es zufrieden, und da er gewann, kehrte seine gute
Laune zurück. Dennoch kritisierte er bald darauf in einem Brief an Frau
Wahrmann Engelharts Treiben höchst abfällig. Das machte böses Blut, auch
Herr Ratgeber, der jetzt in Würzburg wohnte und dort als
Versicherungsinspektor tätig war, erhielt Nachricht, wie die Sache
stand. Er schrieb sogleich an Engelhart und beschwor ihn, umzukehren,
solange es noch Zeit sei. »Willst du denn das geistige Proletariat um
eine hoffnungslose Existenz vermehren?« schrieb Herr Ratgeber. »Ist es
denn kein Beruf, der deiner würdig ist, Kaufmann zu sein? Wer bist du
denn eigentlich? O, alles Unglück kommt über mich, auch diese
Erwartungen nun zuschanden, und wie steh’ ich vor meinem Schwager Herz
da! Wenn deine Mutter noch lebte, das würde sie töten. Kann dich nichts
andres bestimmen, von deinem Wahn zu lassen, so denke an die Leiden und
Entbehrungen, die dir bevorstehen.«

So von allen Seiten in die Enge getrieben, verlor Engelhart selbst das
Vertrauen zu dem gegenwärtigen Zustand. Das Schlimmste war, daß er mit
dem Geld nicht auskam und gegen das Ende des Monats nicht wußte, wovon
er leben sollte. Er konnte nicht einmal in der elenden Kneipe, wo er zu
essen pflegte, den Mittagstisch bezahlen. Er träumte sich hinweg über
die Mißlichkeiten, sein Inneres befand sich in einer beständigen Glut.

Im Juli begannen die Ferien; Knoll reiste nach Hause, auch die geringe
Zahl der übrigen Bekannten verließ die Stadt. Engelhart wanderte unter
den Arkaden umher, bis das Nachmittagskonzert zu Ende war. Das Gewimmel
geputzter Menschen stimmte ihn traurig. Vor der kleinen Rotunde
begegnete ihm eine auffallend schöne Frau, er blieb stehen und sah ihr
mit erstarrendem Gesicht nach. Dann ging er in den Englischen Garten.
Bei der Mühle lagen riesige Felsen im Wasser, er kletterte von Stein zu
Stein und ruhte endlich auf einem moosbewachsenen Block. Es waren nicht
Gedanken, denen er nachhing, vielmehr war ein mystisches Weben in seinem
Innern, das einen Zustand von Dämmerung erzeugte. Auf dem Nachhauseweg
kam er an einer offenen Kirche vorbei; er trat hinein und ließ sich von
der kühlen Stille wollüstig umschauern.

Es war ihm zumute wie einem Seiltänzer, dem die Balancierstange
entfallen und der nun die Augen schließt und bebend in die Luft greift,
um nicht zu stürzen. An einem Regentag war er zu Hause geblieben. Er
merkte nicht, daß es im Zimmer dunkel wurde. Um neun Uhr pochte die
Hausfrau und brachte unaufgefordert die Lampe. Er erhob sich jäh und
glaubte eine Erscheinung zu sehen, ein Weib mit engelhaften Zügen und
einer sanften Gewalt der Augen. Doch die Wirtin war eine bejahrte Dame,
die ein Seifen- und Kerzengeschäft führte.

Seine Schwester Gerda hatte jetzt das Pensionat verlassen und weilte bei
den Eltern in Würzburg, von wo sie ihm einen ihrer kindlichen und
unbedeutenden Briefe schickte. Ohne Verzug antwortete er ihr, schrieb
wie im Weinrausch mit Fingern, die von der Aufregung schlaff waren. War
es doch ein weibliches Wesen, das ihm von Bluts wegen zugehörte.
Stundenlang saß er in der Nacht und betrachtete immer wieder das Bildnis
der Schwester.

Mitte August verlangte Herr Ratgeber mit Strenge, daß Engelhart der
Müßiggängerei ein Ende mache und einstweilen nach Würzburg reise.
Engelhart war der entschiedenen Weisung froh, denn die Zeit floß
fruchtlos hin. Er packte seine sieben Sachen zusammen, mußte aber seine
Uhrkette verkaufen, da sonst das Geld zur Fahrt nicht gereicht hätte. Er
wurde nicht sehr freundlich empfangen. Der Vater sah abgearbeitet aus.
Trotzdem schien Herr Ratgeber nie verdrossen, eher bekümmert, und auch
dies nur, wenn er sich unbeobachtet wußte. Er litt unter seinem neuen
Beruf, denn es war der jämmerlichste von allen Berufen der Welt und
zwang den zurückhaltenden Mann zur Aufdringlichkeit. Da die Konkurrenz
unverschämt war, durfte kein Mittel verschmäht werden, und wer am
meisten schwatzen konnte, trug den Sieg davon.

Abel war Lehrling in einem Tuchgeschäft; in der Schule hatte er nicht
länger bleiben wollen, aber in seiner Stellung tat er auch nicht gut, er
machte schlimme Geschichten. Kurz vor Engelharts Ankunft war beschlossen
worden, ihn nach Amerika zu expedieren; Herr Ratgeber hatte sich an
einen Jugendfreund gewandt, der drüben reich geworden war. Am zehnten
September ging das Schiff von Bremen ab, bis dahin mußte Abel
reisefertig sein.

»Du mußt nach Wien schreiben und Abbitte leisten,« war das erste Wort
morgens und das letzte abends für Engelhart. Er sträubte sich aus allen
Kräften, der bloße Gedanke machte ihn sich selber zum Abscheu. Aber die
Tage sind lang und das Gnadenbrot schmeckt bitter. Mehr als die
Demütigungen und Vorwürfe von seiten der Stiefmutter wirkte der stille
Kummer des Vaters. Herr Ratgeber vermochte dem Sohn gegenüber nicht
beredt zu werden, wie er sich’s vorgenommen hatte. Er nahm in Engelharts
Wesen etwas wahr, irgendeinen Funken im Auge, einen Tonfall der Sprache,
was ihn an die eigne Jugend gemahnte; unvermutet fand er sein Herz
milder als sein Urteil. Es war öde um ihn, unwillkürlich suchte er im
Gefühl zu den Kindern einen Halt.

Es war ein wunderbar verblühender Sommer, ein stetiges Abflammen in den
Herbst hinein. Engelhart trieb sich in den Weinbergen herum und schaute
von oben auf die türmereiche Stadt nieder. Im Hause war er gern, wenn
Gerda zugegen war. Sie war schön zu nennen, zart von Gestalt, blaß von
Gesicht; ihr schüchternes Auge, ihr sanftes Hinträumen machten einen
innigen Reiz aus. Engelhart brachte ihr Blumen; sie lachte; vom Bruder
beschenkt zu werden, erschien ihr komisch.

Es war Nacht, und ein heftiges Gewitter tobte. Engelhart stand auf,
klopfte an Gerdas Schlafzimmertüre und fragte, ob sie sich fürchte. Sie
schlief und hörte nichts. Er wartete und hielt Wache, bis das Donnern in
die Ferne zog. Er dachte darüber nach, ob Gerda einst glücklich sein
würde. Auf der Straße bemerkte er sie von weitem und blieb in
unbesieglicher Erregung stehen. Doch wenn er sie nicht sah und ihre
Gegenwart nicht empfand, erschien ihm dies Betragen tadelnswert
überschwenglich, und er erinnerte sich mißbilligend an die seltsame
Gewohnheit, die sie hatte, Kalk von den Wänden zu schaben und zu essen.

Gefährten hatte er hier keinen. Es gab viele Studenten in der Stadt,
doch er fühlte sich nicht zu ihnen gehörig; es gab auch viele Kaufleute,
und zu den Kaufleuten gehörte er gleichfalls nicht.

Endlich war der Schicksalsbrief an Michael Herz geschrieben und
abgeschickt, vier Seiten voll von Versprechungen und Selbstanklagen. Vor
der Stadtmauer beim Hofgarten war ein Brunnen, aus dem kein Wasser mehr
lief. Dorthin eilte Engelhart, wühlte das Gesicht ins Moos, und nachdem
er eine Weile geweint hatte, wurde es ruhig in ihm, er legte sich auf
den Rücken und studierte die Wolken. Oben auf der Mauer war eine
einsame, von Birken- und Ahornbäumen gebildete Allee. Am Tag vor Abels
Abreise ging er mit dem Bruder hier spazieren. Der dumpfe Abel hatte
keinen Begriff von Reise und Ferne, er freute sich nur, der
unerträglichen Tyrannei der Stiefmutter entrinnen zu können. Widerwillig
war er mit Engelhart gegangen und fand dessen Fragen und Ratschläge
lästig. Sie setzten sich auf eine Steinbank, und Abel sagte gelangweilt:
»Du könntest mir wenigstens eine Geschichte erzählen, Engelhart, wie
früher, weißt du noch?« – »Schön, ich will dir etwas erzählen,«
antwortete Engelhart, »die Geschichte vom ewigen Bräutigam.« Er schaute
eine Weile besinnend in die Luft, bis Abel ungeduldig wurde, da fing er
an:

Es lebte einmal ein ganz gewöhnlicher Hirtenjunge, dessen größtes
Vergnügen war es, auf der Erde zu liegen und in die Luft zu gucken. Je
nachdem die Sonne sich drehte, drehte er sich mit, daß sie ihm nicht ins
Gesicht schien. Wenn man ihn fragte: »Nichts zu tun, Jackele?« so
antwortete er: »Alles schon getan,« und sie nannten ihn daher Jackele
Katzenpelz. Einmal wurde Jackele mit den Gänsen auf eine Waldwiese
geschickt, und als er hinkam, legte er sich gleich auf den Rücken und
dachte darüber nach, was wohl hinter dem blauen Himmelsvorhang verborgen
sein möchte. Die Zeit verging, und als die Sonne sank, erhob er sich und
wollte die Gänse zusammenrufen. Da sah er einen großen rosigen Flamingo,
der vom Walde aus auf seine Herde zustolzierte, langsam die Flügel
ausbreitete und mit einem hellen Schrei in die Luft flog. Kaum hatten
die Gänse den zauberhaften Ruf vernommen, so flatterte eine nach der
andern hinauf, und sie zogen in langer weißer Linie zuerst um die
Baumkronen und dann in den abendlichen Äther. Als Jackele ohne die Gänse
heimkam, fielen die Dorfbewohner über ihn her, prügelten ihn erbärmlich,
und sein Vater wies ihn von der Tür und sagte, er solle ihm nicht mehr
vor Augen kommen ohne die Gänseherde. Mitten in der Nacht mußte er aus
dem Dorf wandern und sann darüber nach, wie er wieder zu den albernen
Gänsen kommen könnte. Die Frösche hockten aufgeblasen in der Wiese und
quackten:

    »Jackele, Jackele, wo sind denn deine Gäns’?
    Sie sitzen vielleicht am Weiherle und waschen ihre Schwänz’.«

Jackele ging zum Weiher, sah aber nichts von den Gänsen und wurde
traurig. Da tauchte ein silberner Strahlgeist aus dem schwarzen Wasser
empor, tanzte eine Weile umher und flüsterte endlich:

    »Jackele, nicht weinen,
    Sternlein soll scheinen,
    Sturmwind soll wehn,
    Mußt durch die sieben finstern Länder gehn.«

›Wie soll ich den Weg durch die sieben finstern Länder finden?‹ dachte
Jackele. Aber die Sterne schienen so hell vor ihm her, daß er nicht in
die Irre geraten konnte, und als er anfing, müde zu werden, kam der
Wind, nahm ihn auf seine Schulter und trug ihn bis dorthin, wo wieder
die Sonne am Himmel stand. Da sah er auch schon die schimmernden Mauern
der königlichen Burg in einem Garten mit lauter dunkelroten Blumen. Und
wie er aufhorchte, hörte er von drinnen ein wohlbekanntes Geschnatter
und wußte, daß seine Gänse im Schloß des Königs seien. Er pochte
schüchtern an das eiserne Tor, doch niemand hörte ihn, und es ward nicht
geöffnet. Schon fing sein Mut wieder an zu schwinden, da flog ein
Bienenschwarm heran, kreiste um seinen Kopf, und wie er mit den Händen
Gesicht und Augen verdeckte, um sich vor ihren Stichen zu schützen,
hörte er, wie sie summten:

    »Mußt das feige Blut bezwingen,
    Nicht nur warten, nicht nur hoffen,
    Wolle nur, so wird’s gelingen,
    Riegel fällt und Tor ist offen.«

Als er dies vernommen, nahm er seine ganze Kraft und alle Gedanken
zusammen und schritt auf das Tor los, und wirklich, es tat sich auf. Der
Soldat, der vor der Tür des Königs Wache hielt, ließ vor Schrecken das
Gewehr fallen und eilte, den Vorgang zu melden. Auch der König geriet in
Angst, und dachte, ein Zauberer sei gekommen, um ihn zu vernichten. Er
warf den Purpurmantel über die Schulter, ging dem Fremdling entgegen,
lud ihn ins Schloß und bot ihm eine Stelle als Reichsminister an. Der
alberne Hirtenjunge schüttelte den Kopf und forderte nichts weiter als
seine Gänse. Da lächelte der König, ließ den Stall öffnen, die Gänse
marschierten freudig gackernd heraus, Jackele trieb sie aus dem Tor und
sie wanderten allesamt gegen die Heimat. Nun befand sich jedoch unter
den Höflingen des Königs ein wirklicher Zauberer; dieser hatte alles
mitangesehen und sich in seinem verzwickten Verstand gesagt, mit den
Gänsen müsse es eine eigne Bewandtnis haben; kurzum, er glaubte nicht an
die Einfalt des Hirten und meinte, Jackele sei vielleicht ein Mensch,
der über geheimnisvolle Kräfte der Geisterwelt verfüge. Er setzte sich
deshalb in den Kopf, ihm die Gänse abzulisten, eilte ihm nach,
verwandelte sich in einen Zwerg und stand plötzlich wie aus der Erde
gewachsen vor Jackele da. »Gib mir deine Gänse,« sagte er, »und ich will
dir geben, was noch kein Mensch besaß.«

»Was willst du mir geben?« fragte der Hirt.

Der Zwerg hielt ihm eine goldne Schüssel entgegen, und darauf lagen drei
Dinge: ein weißer Edelstein, ein gläsernes Auge und ein frisch blutendes
Herz, so klein wie eines Vogels Herz. »Wähle,« sagte der Zwerg.

»Was ist es mit dem Edelstein?« fragte Jackele.

»Er gibt Reichtum,« antwortete der Zwerg.

»Und mit dem Auge?« fragte der Hirt.

»Es gibt Wissen,« sagte der Zwerg.

»Und das Herz?«

Da schüttelte der Zwerg den Kopf und entgegnete, darüber könne er keine
Auskunft geben.

Da griff Jackele schnell nach dem Herzen, und kaum hielt er es in der
Hand, so war der Zwerg samt allen Gänsen verschwunden. Jackele spürte
aber auf einmal eine mächtige Unruhe in seinem Innern. Als er in das
Dorf zurückkam, fand er in allen Gesichtern Spott und Haß. Die Kunde,
daß er um der elenden Gänse willen des Königs Gnade ausgeschlagen hatte,
war ihm vorausgeeilt, und da er nun nicht einmal die Gänse
zurückbrachte, verwünschten sie ihn wegen seiner Dummheit, jagten ihn
davon und schrien:

    »Katzenpelz-Jackele,
    Kein Geld im Sackele,
    Im Kopf kein Verstand,
    Der ärgste Tropf im Land.«

Immer gewaltiger wurde aber die Unruhe in der armen Brust des Hirten. Es
zog ihn die kreuz und die quer durch das Land, es zog ihn zu den
Menschen, er fand auch da und dort Aufnahme, aber er konnte nirgends
bleiben, immer trieb es ihn weiter und schließlich fingen die Leute an,
ihm zu mißtrauen und sagten: Man muß sich hüten vor ihm, er hat einen
bösen Blick. Da er auch kein Geld besaß, so gaben sie ihm nichts mehr zu
essen, und er mußte hungern. Nach überlangem Wandern begegnete er auf
der Landstraße einem dürren alten Weiblein und fragte, ob sie nicht
wisse, wie man Schätze erwerben könne, denn er bereute jetzt aufs
heftigste, daß er damals nicht den Edelstein von der goldenen Schüssel
genommen.

»Zieh nur weiter bis gegen Mittag,« sagte das Weiblein, »da kommt ein
Berg und da wohnt ein Schmied, der weiß, wie man Schätze erwerben kann.«

Jackele kam richtig vor die Schmiede und bat den Schmied, der nackt,
mit rußgeschwärztem Leibe vor der Esse stand, er möge ihm helfen,
Schätze zu erwerben. Der Schmied führte ihn in die Werkstatt und hieß
ihn den Blasbalg treten. Das Feuer fauchte auf und Jackele sah glühendes
Gold in den Flammen liegen; seine Begehrlichkeit erwachte, ohne zu
überlegen griff er mitten in die Glut und wollte das Gold nehmen. Aber
das Feuer verbrannte seine beiden Arme bis an die Ellbogen hinauf, und
er warf sich auf die Erde hin und schrie vor Schmerzen. Der Schmied
lachte, ergriff den großen Hammer, ließ ihn viele Male auf den Amboß
heruntersausen und bei jedem Schlag rief er lachend aus: »Schaff dir das
Herz vom Leibe! Schaff dir das Herz vom Leibe!« Jackele verließ die
Schmiede und kam alsbald in den dunkelsten Wald, den er je gesehen. Es
wurde ihm so einsam, daß er zu sterben fürchtete, außerdem schmerzten
ihn die verbrannten Arme. Als es Abend wurde, machte er am Rande eines
verfallenen Brunnens Rast, und da ungeachtet aller Müdigkeit doch wieder
die treibende Unruhe über ihn kam, dachte er an die Worte des Schmieds,
nahm das blutende Herz, das so klein wie eines Vogels Herz war und
sagte: »Du teuflisches Ding, du hast mir die Seele vergiftet, hast mir
die Ruhe genommen, so fahr in die Tiefe, ich will deiner los sein.«
Damit schleuderte er das Geschenk des Zwergs in den Brunnen hinab.

Auf einmal hörte er wieder jenes vertraute Geschnatter in der Luft wie
vor dem Königsschloß, und als er emporschaute, sah er drei Gänse aus
seiner Herde, und jede saß auf der Krone eines Baumes. Jetzt flatterte
die erste herab, setzte sich an den Rand des schwarzen Loches und rief:

    »Herz der Welt, du sollst erglühen,
    Ich bring’ dir einen Bräutigam,
    Laß ihm deine Schätze blühen.«

Darauf entstand ein Leuchten in der Tiefe des Brunnens, wie wenn alle
Finsternis des Erdenschoßes sich in eitel Feuer verwandelt hätte. Die
Bäume fingen an zu rauschen wie Orgeln, die Vögel zwitscherten, daß es
wie der Gesang von Elfen ertönte, und Jackele starrte hinab, sah der
Welten Herz erglühen und seine Sehnsucht und Reue wurden so groß, daß er
meinte, es werde ihm die Brust auseinanderreißen. Die zweite von den
Gänsen rief indessen immerfort: »Du bist der Bräutigam, du bist der
Bräutigam;« und die dritte, die schwarzflüglige, flog auf, ließ sich,
als sie über der Mitte des Brunnens schwebte, langsam zur Tiefe sinken,
und da sie unten war, fing sie an zu brennen, ward aber plötzlich
verzaubert und kam als herrlicher Paradiesvogel wieder empor. Sie ließ
ein paar Wassertropfen aus dem Schnabel auf Jackeles Wunden fallen, daß
sie sogleich heilten, und sagte: »Das Herz der Welt läßt dich grüßen, du
sollst hinuntersteigen und dich ihm anvermählen.« Inzwischen war Jackele
von einem Holzknecht bemerkt worden, der es den Leuten im Dorf verraten
hatte. Diese eilten nun mit Dreschflegeln herbei, um den unnützen
Gesellen totzuschlagen. Wie staunten sie aber, als sie ihn mit einem
silbernen Kleide angetan am Rand des Brunnens sitzen sahen, den fremden
Vogel auf der Schulter. Sie wagten ihn kaum anzuschauen und gingen
schließlich beängstigt und kopfschüttelnd wieder nach Hause. Nun sollte
Jackele in den Brunnen steigen, doch das war ein so schweres
Unternehmen, daß Tag um Tag verging und er nicht einen Schritt
weiterkam. Es gab kein Seil, das lang genug gewesen wäre; er mochte
graben und schaufeln und Leitern bauen, es half alles nichts, und wäre
nicht der Gesang des Paradiesvogels gewesen und der beseligende Anblick
des glühenden Herzens in der Tiefe, so wäre er verzweifelt und hätte von
seinem Vorhaben abgelassen. Was weiter mit ihm geschehen ist, kann ich
nicht sagen, weil ich’s nicht weiß. Vielleicht ist es ihm am letzten Tag
vor seinem Tode doch gelungen.

Abel war unzufrieden mit dieser Geschichte. Er sagte, an Zaubereien
glaube er nicht, und daß Gänse und Frösche sprechen könnten, sei nicht
wahr. Sie schritten währenddem beide über die gewundenen Terrassen herab
in die Lauben- und Efeugänge des Gartens und sahen die vielfach
verzierte Fassade des Schlosses vom bleichen Abendlicht übergossen.
Engelhart war tief in Gedanken und durch die Luft wie durch die
Blumengerüche gleicherweise erregt.

In der Frühe um halb fünf nahm Abel Abschied. Engelhart und der Vater
begleiteten ihn zum Bahnhof. Herrn Ratgeber ging es nahe; auch hatten
ihm einige Bekannte die Sache bedenklich gemacht, es sei doch
gefährlich, einen Knaben von dreizehn Jahren bis ans andre Ende der Welt
zu schicken. Als sie wieder auf dem Heimweg waren, bemerkte Engelhart,
daß es um den Mund des Vaters verräterisch zuckte. Gleich darauf trafen
sie am Glacis einen Rimparer Bauern, der mit einer Fuhr zum Markt kam,
Herr Ratgeber rief ihn an, fragte, was in den Säcken enthalten sei, und
verhandelte dann eifrig wegen eines Zentners Kartoffeln mit ihm.

Wenige Tage später kam der Antwortbrief von Michael Herz. Er wolle den
Gelöbnissen trauen und es noch ein einziges und letztes Mal probieren.
In sein eignes Geschäft könne er Engelhart schon aus Gründen der
Disziplin nicht zurücknehmen, er habe einen Freund, den Chef des
angesehenen Exporthauses Freitag und Sohn, bewogen, Engelhart als
Lehrling aufzunehmen. Es hänge alles andre davon ab, ob er dort ernsten
Willen und dauernde Besserung zeige. Durch seinen Wahnsinn habe er ein
ganzes Jahr vergeudet, hoffentlich hätten ihn seine Erfahrungen für
immer belehrt. Darauf folgten noch Anweisungen über die Reise; er solle
nach der Ankunft in einem billigen Vorstadthotel übernachten und sich am
Morgen gleich seinem künftigen Chef vorstellen. Ihn in seinem eignen
Hause wohnen zu lassen, halte er nicht für angemessen, einer solchen
Vergünstigung müsse sich Engelhart erst würdig zeigen. Er habe einen
seiner Angestellten, Herrn Kapeller, beauftragt, ein Zimmer zu mieten.
»Zu Mittag kannst du bei uns sein,« schloß das polizeimäßig sachliche
Schreiben, an dessen Inhalt Engelhart schluckte und würgte, »das
Abendbrot bekommst du bei der Familie Kapeller.«

Herr Ratgeber war glücklich über den Verlauf. Er nahm den Sohn mit ins
Kaffeehaus, zahlte die Zeche für ihn und erteilte ihm gute Lehren. Die
aufrichtig gemeinten Worte schwirrten inhaltslos an Engelharts Ohr
vorüber.



                            Neuntes Kapitel


Die trübselige Reise, das Übernachten in einem schmutzigen Hotel, das
peinliche Wiedersehen mit dem Oheim, es glich einem Traum von nicht
unerwarteter Häßlichkeit. Im Vorzimmer der Firma Freitag und Sohn mußte
Engelhart stundenlang warten. Junge Leute mit bleichen und hochmütigen
Gesichtern saßen an den Pulten im Kontor, in das er durch eine Glastür
blicken konnte. Ein schwarzbärtiger finsterer Herr führte ihn
schließlich ins Privatgemach des Chefs. Dieser Raum zeigte einen
weibischen Luxus und glich mehr dem Boudoir einer Kokotte als dem Zimmer
eines Geschäftsmannes. Herr Freitag, ein kleines grauhaariges Männchen,
lag in einem ungeheuern Ledersessel und hielt, nach Art der
Weitsichtigen lesend, in der ausgestreckten Hand ein Buch. Erst nachdem
Engelhart den schüchternen Gruß wiederholt hatte, wendete Herr Freitag
den Kopf und starrte, scheinbar höchst überrascht, den jungen Menschen
mit herausquellenden Augen von oben bis unten an. »Bevor Sie das nächste
Mal in ein anständiges Zimmer treten, lassen Sie Ihre Stiefel säubern,
Verehrtester,« zeterte er mit einem umkippenden Kastratenstimmchen. »Sie
sind also der Ausreißer, wie? Schön, schön, wir werden ja sehen, wenn
Sie nicht parieren, werf’ ich Sie hinaus. Adieu, junger Mann.«

Ein enges düstres Loch im Erdgeschoß eines engen düstern Hauses war das
Zimmer, das Engelhart bewohnen sollte. Es hatte keinen eignen Eingang
und war nur durch die Küche und das Wohnzimmer der Partei zu erreichen.
Nebenan war die Straße, wenn ein Fuhrwerk über das Pflaster donnerte,
begannen die Fensterscheiben und das Geschirr auf dem Waschtisch zu
klappern. Engelhart dachte, es sei nicht möglich, hier zu schlafen, es
sei nicht möglich, hier zu leben. Er setzte sich auf einen Stuhl mit
zerrissenem Rohrgeflecht, und erst nach einer Stunde regungslosen
Hinbrütens ging er daran, seinen Koffer auszupacken. Er hatte das
Gefühl, als ob sein Blut bitter geworden sei.

Kapellers wohnten ein Stockwerk höher. Es waren vier Brüder, die bei der
Mutter lebten, lauter junge Männer, denen das bloße Aufderweltsein schon
gewaltigen Spaß machte; wenn sie außerdem noch tanzen und ins Theater
gehen konnten, waren ihre Ansprüche an das Leben erfüllt. Die Frau besaß
ein kleines Geschäft auf der Hauptstraße und brachte sich knapp durch,
aber sie ließ sich nichts abgehen und war die lustigste von allen.
Zuerst begegneten sie Engelhart mit der Achtung, die sie dem Neffen
eines reichen Mannes schuldig zu sein glaubten, bald jedoch stimmte sie
sein insichgekehrtes Wesen und sein Nichtmithalten feindselig. Es kam
auch vor, daß er aus sich herausging und zu plaudern begann; es durfte
nur ein sympathischer Hauch an ihn heranwehen, dann strahlten seine
Augen auf, er fand Worte, die ihnen fremdartig klangen, sie wurden von
Mißtrauen gegen diese Worte erfaßt, waren überhaupt beunruhigt,
sträubten sich gegen den ganzen Menschen und waren erleichtert, wenn er
endlich gute Nacht sagte. War er dann gegangen, so brach der Streit aus.
Die jüngeren schimpften auf den Gast, Franz Kapeller, der bei Michael
Herz angestellt war und Engelhart schon von früher kannte, nahm sich
seiner an, suchte die Natur des Knaben nach irgendeiner geläufigen
Schablone zu erläutern, auch die Mutter war nicht abgeneigt, den Fremden
in Schutz zu nehmen, betrachtete ihn aber doch nur wie einen
Schauspieler, der einem für bestimmtes Eintrittsgeld etwas vorspielt;
endlich fand der dritte Sohn das richtige Wort, das fernere Erörterungen
abschnitt, und sagte: »Er ist halt ein Jud.« Am nächsten Tag gab ihnen
Engelhart wieder neuen Stoff zu Redereien. Nach dem Essen setzte sich
der jüngste Kapeller ans Klavier und spielte in roh klappernder Manier
und mit wahren Bärentatzen ein paar Märsche und Walzer herunter. Während
er eine Pause machte, sagte Engelhart ernsthaft: »Ich kann auch Klavier
spielen,« und unter dem neugierigen Schweigen der Familie setzte er sich
vor das Instrument, schaute eine Weile in die Luft und viele Monate
lang vergaß er die drangvolle Sehnsucht nicht, die ihn in diesen
Augenblicken erfüllte. Es war wie ein Wahn, er hatte gedacht, er müsse
spielen können, die Tasten und die Saiten könnten nicht anders, als
seinem vollen Innern gehorchen. Endlich mußte er unter dem hämischen
Gelächter der am Tische Sitzenden abziehen, und obwohl tief beschämt,
lachte er mit ihnen.

Im Freitagschen Geschäft kümmerte man sich weniger um ihn, als er
erwartet hatte. Im Anfang hatte er guten Willen gezeigt, aber da niemand
von seiner Bemühung Notiz nahm und es gleichgültig schien, ob er viel
oder wenig tat, erlahmte er schnell. Was soll ich denn hier? war die
Frage, die ihm beständig durch den Kopf ging. Und wirklich, was sollte
er hier vor sich bringen, wodurch seiner Zukunft nützen? Nach Gelderwerb
stand ihm nicht der Sinn, und die Dinge, die sein Herz aufregten, wenn
er sie nur dachte, lagen weltenweit. Er wurde hierhin und dorthin
geschoben, keiner scherte sich um den andern, es wurde nur gerade das
Notwendige geleistet und das mit viel Lärm und Wichtigtuerei. Herr
Freitag selbst war Spekulant und hatte an der Börse ein großes Vermögen
gewonnen. Er betrachtete das Warengeschäft als eine Spielerei und hielt
es nur mit Rücksicht auf seine Söhne in Gang, von denen sich aber
niemals einer blicken ließ. Wenn sich Herr Freitag vorn in den
Schreibstuben befand, wurden in der sogenannten Auslieferung, wo
Engelhart beschäftigt war, zwei Lehrlinge als Wachtposten aufgestellt,
damit er seine Leute nicht überrumple. Schon von weitem hörte man ihn
fauchen, spucken und kreischen, er schien wie eine alte Henne mit
Flügeln um sich zu schlagen, wenn er durch die drei Säle zappelte,
steckte seine Nase in jedes Stück Papier und behauptete unablässig, er
sehe alles, er höre alles, ihm entgehe nichts. Gefürchtet wurde bloß
Herr Gallus, der finstere Schwarzbärtige, der Prokurist der Firma, und
dessen Vertrauensperson war die Expedientin, Fräulein Ernestine
Kirchner. Sie mochte nicht mehr ganz jung sein, vielleicht
achtundzwanzig Jahre alt, hatte eine hübsche Gestalt, einen langsamen
und anmutigen Gang und blasse, starke Lippen. Sie wurde von allen, auch
von Herrn Freitag, mit Respekt behandelt, nur der finstere Gallus nannte
sie kurzweg beim Vornamen. Durch ein gleichmäßig heiteres Naturell
wirkte sie besänftigend auf die verschiedenartigen Elemente, und sie
beobachtete Engelharts unruhvolles Nichtstun mit schweigender Teilnahme.
Hatte sie ihm des Morgens eine Arbeit auferlegt und sie war am
Nachmittag noch ungetan, so ließ sie keinen Vorwurf hören, sondern ging
in aller Stille selbst daran. Da erschrak Engelhart vor der
Dankverpflichtung, die sie ihm auferlegte, und nahm sich das nächste Mal
zusammen.

»Woran denken Sie eigentlich?« fragte sie ihn einmal und sah ihn mit
ihren dunkelblauen Augen erstaunt an; »wie kann man unaufhörlich
denken!«

»Ich denke gar nichts,« erwiderte er, »ich bin nur traurig.«

»Ach du himmlische Güte!« rief sie aus und schlug gutmütig spottend die
Hände zusammen. Sie fuhr aber fort, ihn zu betrachten, in ihrem Blick
war ein Aufglänzen, es schien ihr, als habe sie diesen dunkeln Kopf mit
den gesammelten Zügen vor vielen Jahren schon gesehen, es überrieselte
sie eine freudige Erinnerung.

In demselben Raum arbeitete ein häßlicher, einäugiger und fast zahnloser
Mensch namens Zeis; er war tüchtig und der einzige, der kaufmännischen
Ehrgeiz besaß, aber aus Furcht vor der Aufsässigkeit der lediglich
taglöhnernden Genossen versteckte er sich hinter einem schlappen und
schläfrigen Wesen. Mit Mißvergnügen war er Zeuge des guten Einvernehmens
zwischen Ernestine und dem Knaben. Da er mit Franz Kapeller bekannt war,
erfuhr er einiges über Engelharts früheres Schicksal und benutzte dann
seine Wissenschaft zu bösartigen Entstellungen. Außerdem hetzte er die
andern Lehrlinge gegen ihn auf, alles in der Stille und mit einer
wirkungsvollen Gleichgültigkeit. Einmal mußte Engelhart mit dem ältesten
Lehrling, dessen Name Porkowsky war, Geld zur Bank tragen, es war Abend,
als sie zurückkehrten, Porkowsky blieb auf der belebten Straße bei einer
Dirne stehen und führte ein freches Gespräch, um sich vor Engelhart als
Lebemann aufzuspielen. Engelhart hörte eine Weile wie versteinert zu,
dann machte er sich davon und kam lange vor dem andern ins Geschäft.
Dies mußte auffallen; wenn Geld zur Bank gebracht wurde, war es streng
untersagt, daß die Boten sich trennten, selbst auf dem Heimweg.
Engelhart trug Scheu, den wahren Grund anzugeben, Porkowsky machte sich
diesen Umstand zunutze und brachte bei Herrn Gallus eine Lüge vor, durch
die Engelhart schuldig schien. Herr Gallus war ohnehin nicht gut zu
sprechen auf Engelhart; er schimpfte nicht, dazu war er zu vornehm, er
begnügte sich mit einem geringschätzigen Lächeln, das sich müde durch
seinen kohlschwarzen Bart stahl. Zu Neujahr nun erhielten alle
Angestellten ein Geldgeschenk, von den Lehrlingen bekam jeder zwei oder
drei Dukaten, Engelhart allein ging leer aus. Es hieß, der Chef sei
unzufrieden mit seinen Leistungen. Er hatte sehr auf das Geld gerechnet,
weil er einige Bücher davon hatte kaufen wollen, nach denen er längst
Begierde empfand, und er war verzweifelt. Bei Kapellers fragten sie ihn,
wieviel er bekommen habe, und er erzählte, er habe zwanzig Gulden
bekommen. Sie erfuhren bald die Wahrheit, es war auch eine gar zu
unvorsichtige Lüge, doch stellten sie ihn nicht offen zur Rede, sondern
suchten ihn durch tägliche versteckte Bosheiten zu beschämen. Sie
glaubten jetzt seinen Charakter durchschaut zu haben.

Vor dem Oheim ließ sich natürlich nichts verheimlichen. Aber er nahm es
nicht so schwer, wie Engelhart gefürchtet, es war, als ob er sich zur
Nachsicht entschlossen hätte. Es ging Michael Herz eigen mit Engelhart.
Etwas widerstrebte ihm an dem jungen Menschen aufs äußerste, die ganze
Art der Lebensführung, das unbestimmte Hinundher, die Unsicherheit des
Auftretens, etwas feige Beklommenes, worunter es seltsam zuckte und
wühlte wie bei jemand, der nicht schlafen kann, weil er sich vor dem
Ausbruch eines Feuers fürchtet. Anderseits sprach das Blut mit
deutlicher Stimme für den Neffen; wenn er mit Engelhart allein war,
bestach ihn oft ein Wort, das so lebendig und neu klang, wie er es sonst
von keinem Mund noch gehört, und er konnte sich dem flehentlichen Werben
eines Blickes so wenig entziehen, daß er ihn aufs gütigste und doch so
scheu, als beginge er ein Verbrechen, nach irgendeinem Wunsch befragte.
Dies rührte Engelhart stets, und er hätte sich der Käuflichkeit des
Gefühls schuldig gefunden, wenn er bei solchem Anlaß ein Verlangen
geäußert hätte. So wurde nichts besser, dort blieb das Mißtrauen und
hier ein unfruchtbares Sichverschließen. Michael Herz vergaß rasch; er
vergaß das Üble, was man ihm zugefügt, und er vergaß den günstigen
Eindruck, den er erhalten; alle Kräfte des Willens und der Energie
verbrauchte er in seinem Beruf, sonst lebte er nur dämmernd hin und war
jeder fremden Einflüsterung zugänglich, insonderheit von seiten der
Frau, die er in seiner stillen Weise unendlich vergötterte. Es machte
Engelhart Kummer, daß er die Abneigung dieser Frau nicht zu besiegen
vermochte. Als er eines Mittags bei Schneegestöber das Geschäft verließ,
bot eine Blumenhändlerin ihm wie allen Vorübergehenden Veilchen zum Kauf
an. Er überlegte im Weitergehen, kehrte um und nahm drei Sträußchen, die
er zusammenband. In allem Ernst dachte er, daß er Frau Esmee durch die
Blumen milder stimmen könne. Es kam Farbe in seine Wangen, er
verdoppelte seine Schritte und beglückwünschte sich zu dem Einfall. Frau
Esmee nahm den Strauß mit unbewegter Miene entgegen, nicht gerade
verdrossen, aber doch gelangweilt oder als ob er einen Gegenstand vom
Teppich aufgehoben hätte, den sie fallen gelassen. Während des Essens
war sein Gesicht weiß wie der Teller und der Oheim äußerte sich besorgt
über seinen Mangel an Appetit. Später mußte er bei einigen Handwerkern
in der Vorstadt Bestellungen abliefern; er sah da immer viel Elend,
kranke Weiber, betrunkene Männer, rhachitische Kinder, armselige Stuben,
in denen alles bis auf einen Strohsack versetzt war. In tiefer Betrübnis
kam er gegen Anbruch der Dämmerung ins Geschäft zurück. Von den Herren
im Magazin war keiner zu sehen, auch die Lehrlinge waren fort, Ernestine
Kirchner saß allein an ihrem Schreibpult, und als er eintrat, schob sie
einen angefangenen Brief beiseite, stützte den Kopf in die Hand und
schaute in den immer dichter fallenden Schnee hinaus, der die Gasse mit
bläulichem Licht füllte. Endlich sagte sie, sie habe heute Vorwürfe
darüber hören müssen, daß sie seine Lässigkeit nicht nur dulde, sondern
geradeswegs unterstütze. Er seufzte, und ohne sie anzuschauen, griff er
zur Feder. Sie lehnte sich mit gekreuzten Armen neben ihn hin, ihre
Schulter streifte die seine, und sie blickte auf seine Finger, die
langsam und maschinenmäßig Zahlen und Buchstaben aufs Papier schrieben.

Ernestine dachte, daß vielleicht ein Geheimnis auf ihm laste. Sie
wünschte, daß der leidenschaftlich verpreßte Mund sich öffnen solle.
Freilich wußte sie schon, daß er die Dinge zu schwer nahm und alles zu
nahe an sich herantreten ließ, daß er zu bedürftig um die Herzen der
Menschen warb und sich wehrlos der umklammernden Verstimmung preisgab,
wenn er sich fortgestoßen fühlte. Plötzlich warf er den Kopf etwas
zurück und sagte: »Ich bin nicht dafür geboren, damit Sie es nur
wissen.«

Sie lächelte, und ihr verwunderter Blick schien fragen zu wollen: und
wofür bist du denn geboren? »Aber Kind,« sagte sie sanft, nahm seinen
Kopf zwischen beide Hände und drehte ihn wie den einer Puppe, bis sie
seine Augen den ihren gegenüber hatte. »Ich weiß alles,« sagte sie mit
einem gespannten und heiteren Ausdruck in den Mienen, »alles, alles,
alles.« Damit küßte sie ihn dreimal auf die Lippen. Engelhart lehnte die
Stirn an ihre Wange; er spürte einen leichten Schrecken, als befinde er
sich nun in Schuld. Gleich hernach hörten sie Schritte; Herr Gallus kam
und fragte grob, warum noch kein Licht brenne. Er schritt ein paarmal
schweigend auf und ab, reichte Ernestine ein kleines, verschnürtes Paket
und ging wieder.

Jetzt hatte Engelhart doch einen Menschen zur Seite. Zum erstenmal im
Leben durfte er sich aussprechen, mit seinen eignen Worten sprechen,
ohne Rückhalt und Bedenken sagen, wie ihm zumute war. Noch nie hatte
Ernestine dergleichen gehört; sie war erstaunt. Welcher Trotz, welche
Glut! Im Nu entstanden Hoffnungen, im Nu waren sie schon verwirklicht,
ein Funkenschwall von großen Worten prasselte, berauscht vom offenbar
Unmöglichen, begann er zu tanzen, aber die einfache Frage: was willst
du? wohinaus, Jüngling? die auf Ernestinens Lippen brannte, vermochte er
nicht zu beantworten. Ein neugieriger Blick des Mädchens verletzte ihn,
und er fiel in dumpfes Schweigen. Niemand war wie er verurteilt, durch
Worte, durch Blicke, durch das Beargwöhnen fremder Gedanken zu leiden.
Sie war zärtlicher als eine Mutter gegen ihn, und wenn sie seine
Leidenschaft erweckt hatte, bekam sie Angst und suchte zu dämpfen. »Mein
Liebling,« sagte sie zu ihm. Immer trug sie sein trunkenes Gesicht im
Innern, das geistige Auge, aber das liebste war ihr sein Träumerlächeln,
wenn er vor ihr saß mit verschleiertem Blick, still und aufrecht wie
eine Pflanze.

Es kam der Frühling, und mit ihm eine bange Zeit für Engelhart. An einem
der ersten schönen Tage begleitete er Ernestine vom Geschäft aus in ein
entferntes Stadtviertel, wo sie eine Freundin besuchen wollte. Sie
plauderten ruhig, Engelhart erzählte von seinen Eltern; es umfing ihn
stets ein tiefes Wohlbehagen, wenn er Seite an Seite mit Ernestine ging
und wenn sie mit einem wunderbaren Ernst ihm zuhörte. Dann trennten sie
sich, und er kehrte allein zurück. Die Sonne war schon untergegangen,
rosiger Staub erfüllte die Straße, die Luft roch wie Wein. Engelhart
spürte eine schreckliche Erregung, er spürte sie wie kleine Kugeln durch
die Adern rollen. Bei jeder Ecke blieb er stehen und atmete schwer.
Menschen und Dinge erschienen ihm wie Wahngebilde. Von den jungen Frauen
und Mädchen, die er sah, fielen plötzlich die Gewänder ab, und sie
schritten nackt dahin; er sah, wie ihre Knie sich bogen und die Haut
über den Hüften schimmerte wie Schnee. Er blickte durch die Mauern der
Häuser hindurch und gewahrte überall das, was ihm Grauen und Lust
erregte. In seiner Kammer angekommen, ließ er die Rolläden herab,
verstopfte mit Baumwolle die Ohren und brütete vor sich hin. In der
Nacht konnte er nicht schlafen. Er wälzte sich wie ein Vergifteter auf
dem Lager. Die leichte Decke lag wie Blei auf ihm, die Kissen wurden ihm
heiß, er schleuderte sie fort. Um zwei Uhr zündete er die Kerze an und
versuchte zu lesen. Das Herz schlug so laut, wie wenn man mit dem
Knöchel an ein Brett pocht. Darauf kehrte er von neuem den Kopf gegen
die Wand, aber die Stille hatte tausend Zungen und führte Bilder herauf,
die vor Scham seine Glieder zittern machten. Mit aller Anstrengung
sammelte er die Gedanken und dachte an Ernestine. Da trat sie schon an
das Lager, und er küßte sie wie nie zuvor. Sie verlor das Leben in
seinen Armen, er warf sich schluchzend über sie hin und ließ Blut von
seinem Blut in ihre Pulse strömen. Doch seltsam, als er am nächsten Tag
mit ihr allein war, da schwieg der entsetzliche Aufruhr, und die
Erinnerung an die Wünsche der Nacht ließ ihn vor Scham erbleichen. Und
kaum war er allein, so kam es wieder; am Abend floh er aus seinem Zimmer
auf die Straße und marschierte weit, bis er zu dem Haus kam, wo
Ernestine wohnte. Es beruhigte ihn, zu ihren Fenstern emporzublicken,
und das tolle Fieber wich vollends, als er müde war vom Stehen.

Wohl bemerkte Ernestine die Veränderung in seinem Wesen, und sie ahnte
den Grund. Ihre Unbefangenheit und die seelenvolle Freiheit ihm
gegenüber schwanden langsam hin, und das schmerzte sie. Sie hatte kein
leichtes Leben; vielerlei Entbehrungen lagen hinter ihr; durch gewisse
Verpflichtungen war sie nach oben und unten mannigfach verstrickt, und
dies kann den Geist mehr umdüstern als unmittelbare Leiden.
Demungeachtet war ihr eine süße Heiterkeit des Herzens verblieben, und
ihr Gemüt war das jener Frauen, die immer vergeben, immer verzeihen und
für alle Bitterkeiten, welche sie erfahren müssen, in ihrer Brust eine
ganz besondere, ehern verschlossene Kammer besitzen. Sie hatte nicht
beabsichtigt, in Engelharts Dasein eine Rolle zu spielen, es war nur so
gekommen; jetzt fühlte sie sich auf einmal wunderlich verkettet, und das
machte sie schwermütig. Er glaubte, sie wisse nichts von seinen
verborgenen Drangsalen, aber sie wußte alles, da sie schon ein
erfahrenes Weib war und das Leben kennen gelernt hatte. Freilich hatte
sie gedacht, ihn führen, ihm helfen zu können, etwas in ihm erhob sie
über sich selbst; nun fühlte sie sich hingerissen, und sie wehrte sich.
In einer Stunde, wo sie allein waren, sagte sie ihm, es wäre besser,
wenn sie nun wieder einander fremd würden. Aber als sie ihn dann ansah,
bereute sie ihre Worte; in ein Gesicht zu sehen, bedeutet eben viel;
selbst die ungern durchlebte Vergangenheit schwindet im Leuchten eines
geliebten Auges hin. Sie drückte die Lippen auf seine Haare, während er
in sich versank; seine Glieder nahmen eine eigentümliche Schlaffheit an,
halb sitzend, halb hingelehnt blieb er, regungslos wie eine Zielscheibe
für die Geschosse des Schicksals. Er konnte ihr nicht widersprechen,
denn er liebte ja Ernestine nicht; was ihm Liebe war, das lag in
mystischer Ferne, schien fast unerreichbar und hatte kaum Gestalt; es
schwamm hoch im Bereich des Traumes gleich einer Wolke über
Schneegipfeln.

Inzwischen war die vertrauliche Beziehung der beiden nicht unbemerkt
geblieben. Der einäugige Zeis erging sich in erbitterten Anspielungen
und konnte seine Wut nicht mehr bemeistern. Er wagte es, Ernestine zur
Rede zu stellen; sie fertigte ihn nach Gebühr ab. Darauf machte er sich
an den Prokuristen. Herr Gallus war zu hochmütig, um Notiz davon zu
nehmen, wenigstens blieb er äußerlich kalt. Doch war er an diesem Tag
finsterer denn je, und als der Korrespondent ihm einen Brief zur
Unterschrift reichte, riß er das beschriebene Blatt ohne Anlaß mitten
durch und knirschte mit den Zähnen. Man sagte allgemein, daß er
Ernestine Kirchner heiraten wolle und daß sie sich ihm versprochen habe.
Sie verließen auch oft zusammen das Geschäft, und einmal bei Regenwetter
waren sie Arm in Arm gegangen. Wenn Engelhart darüber etwas erfahren
wollte, schüttelte Ernestine bedächtig den Kopf, und es schien, als ob
sie nicht gern davon sprechen höre. Im übrigen zeigte sie sich jenen
Umtrieben gegenüber sorglos wie jemand, der seiner Macht sicher ist.
Herr Zeis wußte immer mehr die Lehrlinge aufzuhetzen, von denen
Porkowsky schon längst Engelharts geschworener Feind war; sie
schnüffelten unaufhörlich um ihn herum, kontrollierten seine Arbeit,
wußten es anzustellen, daß er möglichst viel in der Stadt herumlaufen
mußte, streuten bösartige Verleumdungen aus, und wenn man den Urheber
fassen wollte, zerfloß alles in Luft und Gelächter. Engelhart glaubte es
oft kaum ertragen zu können, er atmete wie in Gewitterschwüle, er wurde
mutlos und krankhaft erregt, dazu kamen nun die heißen Tage des Sommers
und jenes andre, das ihm die Ruhe des Geistes raubte und das unbefangene
Gefühl seines Leibes, so daß ihm zumute war wie einem Menschen, der vor
dem Spiegel steht und sein eignes Bild nicht gewahrt.

Eines Nachmittags, es war Ende Juli, ließ der Buchhalter Herrn Zeis eine
Faktura abfordern, die er ihm den Tag vorher gegeben haben wollte. Herr
Zeis behauptete, er habe die Faktura nicht bekommen, erinnerte sich
aber, sie auf Fräulein Kirchners Tisch gesehen zu haben. Es wurde
gesucht, alle Schubladen aufgerissen, alle Mappen durchstöbert,
schließlich wurde die Vermutung laut, Engelhart habe das Schriftstück
zur Eintragung ins Lagerbuch bekommen. Der Lehrling Porkowsky
versicherte sogar, Zeuge gewesen zu sein. Engelhart protestierte, es kam
Herr Gallus hinzu, öffnete selbst die Lade seines Schreibplatzes und
murmelte etwas Verächtliches über die Unordnung darin. Engelhart
bemerkte schüchtern, Porkowsky habe schon in der Lade gesucht. Herr
Gallus zuckte die Achseln, und auf einmal wurde er stutzig und streifte
Engelhart mit einem Blick maßloser Geringschätzung. Er hatte die
Schreibmappe Engelharts aufgeschlagen und zwischen zwei Löschblättern
ein Bild hervorgezogen, eine Photographie, welche in ekelhafter Roheit
einen ekelhaften Vorgang darstellte. Die Lehrlinge hatten sich neugierig
hinzugedrängt und kicherten. Herr Gallus faltete das Blatt schweigend
zusammen; er stand mit gespreizten Beinen und wippte langsam auf den
Fußspitzen. Dann wandte er sich zu Ernestine, die außerordentlich blaß
geworden war, und sagte: »Das scheint ja ein hoffnungsvoller Jüngling zu
sein.«

Engelhart zitterte am ganzen Körper. Er spürte Nadelstiche im Kopf und
griff unwillkürlich an seine Stirn. Er hatte beide Lippen gleichsam
zwischen die Zähne geschlürft, und seine Züge zeigten einen
beängstigenden Ausdruck. Da fiel sein irrer Blick auf Porkowsky, und
nicht so bald hatte er das höhnisch-feindselige und dumpf-verlegene
Lächeln auf dessen vollwangigem und fahlem Gesicht bemerkt, als ihm
alles klar wurde. Ohne Besinnung stürzte er auf den Burschen zu, packte
ihn mit der einen Faust an der Kehle, mit der andern bei der Schulter
und riß ihn mit einem Ruck zu Boden. Ernestine schrie auf, der Prokurist
und Herr Zeis fielen dem Rasenden in die Arme und drängten ihn gegen das
Fenster, wo er noch immer zitternd und fieberhaft atmend stehen blieb.
Porkowsky stöhnte und lag dann still da, doch war er nicht verletzt.
Herr Gallus ging zu der Glastüre, die von diesem Raum aus auf die Straße
führte, öffnete sie, streckte die Hand aus und rief Engelhart zu:
»Marsch!« Engelhart nahm seinen Hut und ging, ohne den Blick zu erheben.

In demselben Schritt und derselben geduckten Haltung, wie er jene
verlassen, schlich er weiter und wurde noch in entfernten Straßen von
ihren haßerfüllten Blicken verfolgt. Er hatte Durst und trat in ein
Kaffeehaus, das ganz leer war, hielt sich jedoch nicht lange auf,
sondern ging nach Hause, warf sich auf das Bett und schlief ein. Er
träumte, daß er sich in einer herrlichen Sommerlandschaft befinde, über
der sich jedoch statt des Himmels eine seltsam grüne, moosartige Decke
wölbte. Freudig wollte er in das Gefilde hinausschreiten, da sah er sich
durch eine gläserne Wand gehemmt, die er vorher nicht bemerkt. Er
versuchte es nach einer andern Seite, und es erging ihm nicht besser,
ringsum waren gläserne Wände, und allmählich wurde ihm der Anblick der
Schönheit zur Qual, in der er dann aufwachte.

Kapellers ließen ihn wissen, daß sie den Abend auf dem Kahlenberg
zubringen wollten, wenn er mitzutun Lust habe, sei er willkommen, wenn
nicht, finde er kaltes Nachtessen bereit. Er schlug das Anerbieten aus;
um acht Uhr aß er oben alleine, und als er wieder herunterkam, fand er
einen Brief von Ernestine, den ein Bote gebracht hatte. »Mein
Liebling,« schrieb sie, »ich weiß, daß Du unschuldig bist. Du sollst
nicht verzweifeln, ich will alles wieder für Dich richten. Vertraue nur
auf mich, mein Liebling, mehr kann ich Dir für heute nicht sagen.« Da
beschloß er, in ihre Wohnung zu gehen. Nach einer halben Stunde war er
dort und läutete. Es wurde erst nach geraumer Weile geöffnet. Ernestine
schien befangen, als sie ihn sah. Sie bat ihn, zu warten, darauf ging
sie ins Zimmer zurück, flüsterte dort mit jemand, und als er später
eintrat, war sie allein. Doch hinter der verschlossenen Tür des
Nebenzimmers hörte er ungeniertes Lachen und Scherzen. Ernestine
erzählte ihm, daß sie die Wohnung mit einer Freundin teile, einer
Ladnerin aus der Inneren Stadt, und das Mädchen habe ihren Verlobten bei
sich. Allmählich wurde es drinnen sonderbar still, auch das Gespräch
zwischen Engelhart und Ernestine geriet ins Stocken. Er hatte geglaubt,
freier mit ihr reden zu können, doch sie war bedrückt und nachdenklich,
auch küßte sie ihn nicht. Es war ein schwüler Abend, beide Fenster waren
offen, das Zimmer lag hoch, man blickte über Dächer in den purpurnen
Abendhimmel, auf der andern Seite des Horizonts grollte leiser Donner.
Engelhart erhob sich und trat zum Fenster, Ernestine folgte ihm und
legte den Arm um seine Schulter; so starrten sie ziemlich lange gegen
die Straße hinunter, hörten ihr Blut rauschen und ihr Herz pochen, und
beides klang fremd und beängstigend. Ernestine wußte nun um das
Unabänderliche, das kommen mußte, und hätte es gerne nicht geschehen
lassen, aber es gibt Stunden, wo der Wille wie ein abgeschlagenes Tier
müde wird. Beim Lampenlicht beugte sie sich noch einmal über Engelhart
und blickte ihm tief in die Augen. »Ach,« seufzte sie und deckte die
Hand über seine Lider, »du weißt noch nichts von der Welt.« Er glich
einem Kind, als er stundenlang schweigend an ihrer Brust lag. Er dachte,
mehr von der Welt zu wissen sei überflüssig. Dünkte ihm dies schon zu
viel.

In den nächsten Tagen trieb er sich müßig umher. Jeden Morgen erhielt er
ein Briefchen von Ernestine, worin sie ihn benachrichtigte, wie die
Dinge standen. Sie hatte es durchgesetzt, daß Herrn Freitag von dem
Vorfall keine Mitteilung gemacht wurde, doch Herr Zeis hatte den
Lehrling Porkowsky, der eine Verletzung am Kopf erlitten zu haben
behauptete, zur Forderung eines Schadenersatzes aufgehetzt. Porkowsky
verlangte fünfzig Gulden und drohte, wenn er diese nicht erhalte, sich
an Herrn Freitag und an Michael Herz zu wenden. Ernestine stellte ihm
vor, daß er den Denkzettel wohl verdient habe und daß Engelhart Ratgeber
selbst ein armer Mensch sei, aber da die Geschichte Geld zu tragen
versprach, blieb der Bursche starrsinnig und beteuerte außerdem seine
Unschuld. Engelhart wußte nicht, wie er eine so große Summe auftreiben
solle, und doch durfte der Oheim um keinen Preis das Geschehene
erfahren, ein unauslöschlicher Schimpf wäre haften geblieben; er
vermochte sich gegen solche Dinge mit Worten nicht zu verteidigen. Nun
war aber Michael Herz seit drei Wochen verreist und hatte Engelhart, um
ihm einen Beweis des Vertrauens und der wieder erwachenden guten
Gesinnung zu geben, bis zu einem gewissen Grad freien Kredit an der
Kasse der Firma eröffnet. Engelhart hatte sogleich begriffen, daß dies
nichts andres bedeutete als eine Probe für sein Anstandsgefühl, selbst
wenn es kein berechneter Plan des Oheims war, und er hatte bis jetzt
nicht den geringsten Gebrauch von der Vergünstigung gemacht. Porkowskys
Verhalten wurde drohender, Ernestine meinte schüchtern, sie wolle
Engelhart einen Teil des Geldes leihen, so viel sie eben entbehren
könne. Er schlug es aus, ging am andern Tag zum Kassier der Firma Herz,
ließ sich fünfzig Gulden auszahlen und schickte sie an Ernestine mit der
Bitte, den Elenden zu befriedigen.

Der Oheim kam zurück und war erstaunt, daß Engelhart einen
verhältnismäßig so bedeutenden Betrag auf einmal erhoben hatte; sein
Erstaunen verwandelte sich in Unwillen, als der junge Mensch über die
Verwendung des Geldes keine Auskunft geben konnte oder wollte, und er
vermutete natürlich das Schlimmste. Eines kam zum andern, Michael Herz
erkundigte sich bei seinem Geschäftsfreund Freitag; dieser, von Herrn
Gallus beraten, wußte nichts Gutes über Engelhart zu berichten und litt
außerdem zu der kritischen Stunde an Podagra, was ihn boshaft und
menschenfeindlich machte. Noch am selben Tag ließ Frau Esmee Engelhart
zu sich rufen; sie lag im Bette, da sie Migräne hatte, und sah verweint
aus. Engelhart mußte bittere Worte schlucken, der ganze Kummer des
Oheims sprach aus dem Munde der Frau. Der Onkel wolle ihn nicht mehr
sehen, wurde ihm gesagt, er möge nach Hause reisen und sich auf eigne
Faust durchs Leben schlagen. Der Wille des Oheims sei, daß er jetzt sein
Militärjahr abdiene, vielleicht könne strenge Zucht ihn noch vor dem
moralischen Untergang retten. Da er zweitausend Mark mütterliches
Vermögen habe, werde ihm ein Teil dieses Geldes zur Bestreitung seiner
Bedürfnisse ausgesetzt werden. In solchem Sinne hatte Michael Herz
bereits an Herrn Ratgeber geschrieben, hatte aber aus Rücksicht für den
vielfach enttäuschten Mann Engelharts Vergehungen nur flüchtig und in
verschleierter Form erwähnt.

An einem schönen Abend war Engelhart noch einmal mit Ernestine
beisammen. Sie waren weit draußen an der Westbahn, und nachdem sie lange
über die Wiesen spazieren gegangen waren und nun die lieblichen Hügel
von blauer Dunkelheit umsponnen wurden, kehrten sie in einem Wirtsgarten
ein, wo eine Musikkapelle spielte. Über ihnen dehnte sich das schwere
Laubgewölbe uralter Kastanienbäume, und wenn die Musik schwieg, hörten
sie hin und wieder eine Frucht dumpf zur Erde fallen. Engelhart hatte
dem Mädchen noch nicht gesagt, daß er reisen müsse und schon morgen
reisen müsse, aber sie merkte an seiner bedrückten Schweigsamkeit, was
im Werke war. Sie summte ein sentimentales Liedchen mit, das der Hornist
in die Nacht hinausschmetterte, Engelhart trank von dem roten Landwein,
lehnte den Kopf etwas zurück und blickte mit aufleuchtenden Augen gegen
den Sternenhimmel. Er wußte eigentlich nicht, wie ihm geschah, er lebte
und lebte doch nicht, er spürte die Erde und liebte die Erde und war ihr
wieder fremd, sie schoben ihn, ohne seinen Willen ging es hierhin und
dorthin, und doch fühlte er sich, wenn er deutlich die Bewegung
erkundete, von einer geheimnisvollen Strömung sicher getragen. Mochten
sie ihm alles rauben, die vergängliche Lust des Tages, ja auch das Brot
zur Stillung des Hungers, so besaß er sich doch selbst, und wenn er
ärmer schien als der Ärmste, so war er in Wirklichkeit noch reicher als
die Reichsten, und er dachte: ›mir gehören doch die Sterne‹.

Auf der Heimfahrt sagte er dann zu Ernestine, daß er heute Abschied von
ihr nehme. Sie erwiderte nichts. Er ging noch mit ihr in die Wohnung,
und als er aufbrach, war es spät. Ernestine suchte aus einem Kästchen
einen schmalen Goldring mit einem Türkis hervor und steckte ihn an
Engelharts Finger. »Leb wohl, Liebling,« sagte sie mit erstickter
Stimme, »und Gott segne dich.« Der Duft von ihrem Körper blieb an seinen
Kleidern haften und war ihm noch länger in die Erinnerung gegraben als
das Bild ihrer leicht schreitenden Gestalt.

Bei Regenwetter war er damals von Würzburg abgefahren, bei Regenwetter
kam er dahin zurück.

Gerda weilte nicht mehr beim Vater, sie war bei den Verwandten in
Gunzenhausen und sollte mit Helene Wahrmann im Oktober nach Wien reisen.

Herr Ratgeber war derselben Ansicht wie Michael Herz, nämlich daß der
Militärdienst auf den undisziplinierten Geist des Jünglings als eine
wohltuende Zucht wirken werde. Herr Ratgeber sah schon einen
Halbverlorenen in ihm, und die Stiefmutter sagte, er ist ein echter
Ratgeber, er liebt nur sich selbst. Für seine Bedürfnisse sorgte sie
schlecht und recht; es war nicht Herzensgebot, sondern eine durch die
Außenwelt vorgeschriebene Pflicht, alles geschah mit Rücksicht auf die
Augen der Leute, und wenn einem was vergönnt wurde, hieß es gleichsam:
Na, seht mal her, Leute, ob das nicht wohlgetan ist! Herr Ratgeber hatte
in seinem neuen Beruf Ärger und Zurücksetzung genug erfahren müssen.
Beim Antritt seiner Stellung hatte die Direktion der Gesellschaft
versprochen, daß kein zweiter Inspektor neben ihm arbeiten solle; kaum
aber hatte er sich bekannt gemacht und durch seinen unermüdlichen Eifer
die Anstalt, der er diente, wahrhaft gefördert, als sie alle Abmachungen
vergaßen und doch einen zweiten anstellten, einen sehr windigen Herrn
namens Dingelfeld, der sich darauf verlegte, Herrn Ratgeber die Kunden
wegzuschnappen, und durch ein anmaßendes Wesen jeden Einspruch
vergeblich machte. Dazu war dieser Dingelfeld für alles, was er war und
hatte, Herrn Ratgeber zu Dank verpflichtet, da er ihn einst vor völligem
Untergang bewahrt, ja sogar seinen guten Namen gerettet hatte. Niedrige
Seelen werden durch den Druck solcher Verpflichtungen zur Rachsucht
gestimmt, und Herr Ratgeber konnte das nicht verwinden. Er würgte seinen
Gram in sich hinein, sein lebhaftes und stolzes Auge begann unsicherer
zu werden, oft, wenn er mit Engelhart allein war, machte er
pessimistische Bemerkungen über die Menschen, und das war bei ihm der
Ausdruck einer tiefen Verdüsterung. Mehr als das unsolide Gebaren seines
Nebenbuhlers schmerzte ihn die Wortbrüchigkeit der Vorgesetzten. Sein
Blut geriet in Wallung, wenn er der Unbill gedachte, die er erfahren,
und in jedem Brief wies er auf seine Leistungen hin und forderte
Gerechtigkeit. Jene ließen sich jedoch auf persönliche Dinge nicht ein,
sie suchten den unzufriedenen Mann durch Schmeicheleien und große
Versprechungen kirre zu machen oder schnitten jede Erörterung mit einer
amtlichen Phrase ab, die das unwillkürliche Eingeständnis enthielt: Wir
dürfen Verträge brechen, denn wir sind die Mächtigen, wir sitzen auf dem
Geldsack.

Engelhart hatte sich zum Dienst gemeldet, war untersucht und trotz
seiner Jugend angenommen worden. Am ersten Oktober stand er mit vielen
andern auf dem Kasernenhof, sie wurden den verschiedenen Kompagnien
zugeteilt, dann führte ein Unteroffizier ihn und sieben oder acht
Gefährten in das Bataillonsgebäude, die Monturen wurden ausgeteilt, die
Räume angewiesen und man war Soldat. Alles lief schweigend ab, hatte
beinahe etwas Drohendes, der Ton absoluten Befehls berührte Engelhart
zunächst erstaunlich, er konnte den Ernst des Vorgangs kaum fassen, und
als der Feldwebel die Namen der Neulinge in eine Liste eintrug, fehlte
nicht viel und er hätte über die Berserkerstimme des Mannes gelacht.
Aber das Lachen verging ihm bald.

Ihm schien, als ob er nur spiele, als ob er, fern von sich selbst, etwas
seinem Wesen ungeheuer Fremdes vollbringe, und er mußte sich bisweilen
besinnen, wo er war und was er davon denken sollte. Die Kaserne durfte
er in den nächsten Wochen nur zu den Mahlzeiten verlassen. Der Anblick
der kahlen, langen, weißgetünchten Wände verursachte Frösteln. Wenn er
am Fenster stand, sah er die Bauern auf dem Feld und beneidete sie um
ihre Freiheit.

Die Kameraden, die mit ihm zu gleicher Zeit den Dienst angetreten
hatten, behandelten ihn mit Kälte; einerseits war er ihnen zu jung,
anderseits erregte er ihr Mißtrauen, ohne daß sie den Grund hätten
bezeichnen können; das alte Mißtrauen, das Engelhart nun so oft und in
so vielen Augen wahrgenommen. Um neben ihnen, die lauter vollwüchsige
und robuste Burschen waren, nicht zurückzustehen, spannte er bei den
körperlichen Übungen seine Willenskraft aufs äußerste an, so daß er nach
dem stundenlangen Exerzieren nicht mehr die Stiege hinaufgehen konnte,
sondern sich am Geländer mühsam emporwinden mußte. Eines Tages befahl
der Feldwebel den Einjährigen, eine kurze Beschreibung ihres bisherigen
Lebens zu verfassen und die Handschrift nach gemessener Zeit in der
Kanzlei abzuliefern. Jeder verstand die Sache so, wie sie eben zu
verstehen war, nur Engelhart beging die sonderbare Torheit, nicht allein
seine bisherige Laufbahn mit durchaus nicht erforderlicher Breite,
sondern auch seine Gefühle zu schildern, seiner Verfehlungen sich
anzuklagen, und machte im unglückseligen Drang zu einer Beichte, was
nichts als ein bureaukratisches Dokument sein sollte. Und als er fertig
war, setzte er folgende Zeilen an den Schluß, die ihm wie die Erinnerung
an ein altes Lied durch den Sinn schossen:

    »Die Seele, die berührst du nicht,
    Die ist im Leib vergraben,
    Sie weiß nicht, was die Lippe spricht,
    Will’s auch nicht Kunde haben.
    Im stillen träumt und blüht sie hin,
    Läßt Leid und Glück verfluten
    Und ziehet ewigen Gewinn
    Vom Bösen und vom Guten.«

Am andern Morgen wurde er zum Hauptmann gerufen, einem dicken
asthmatischen Herrn, der völlig unter dem Einfluß des Feldwebels stand
und außerdem in beständiger Höllenangst vor allen Vorgesetzten lebte.
Der Mann stellte sich ganz rabiat wie über eine angetane Schmach, warf
Engelhart die beschriebenen Bögen zerrissen vor die Füße und forderte
den Feldwebel auf, ein scharfes Auge auf den jungen Menschen zu haben.
Die Sache wurde auch weiterhin ruchbar und erregte den Hohn der
Mannschaft und die Entrüstung der andern Einjährigen. Gefühle zu äußern
war ein schimpflicher Verstoß gegen den allgemeinen Geist der Truppe,
jedes andre Vergehen wäre ihm leichter verziehen worden; Engelhart sah
es zu spät ein. Er lernte die Zähne zusammenbeißen. Es ging nicht an,
sich von jedem Tropf über die Achsel ansehen zu lassen. So sehr es ihm
an äußerer Sicherheit gebrach, so wenig fehlte ihm das Wissen seines
Wertes. Wie lang es auch dauerte, bis er sich an die Roheit des
herrschenden Tons und an die ausgesuchte Perfidie und Lust zu quälen
gewöhnt hatte, die alle diese Leute wie eine Krankheit oder ein
unstillbarer Rachetrieb beseelte, so nahm er doch alle Kräfte zusammen,
um sich nichts merken zu lassen. Immerhin blieb sein Gesicht verdächtig
und sein still beobachtender Blick unbequem.

Er erhielt einen Burschen zugewiesen, der für ein bestimmtes Wochengeld
seine Kleider und Ausrüstungsstücke instand zu halten hatte. Es war ein
Soldat im dritten Jahr namens Söhnlein, ein unansehnlicher Mensch mit
krebsrotem, immer fettglänzendem Gesicht und einem halb blöden, halb
furchtsamen Lächeln. War es Zufall oder Übelwollen oder berechnete
Bosheit, jedenfalls war dieser Söhnlein der verachtetste Mensch in der
Kompagnie, ja im ganzen Regiment. Er konnte nicht unangefochten durch
ein Zimmer gehen, er brauchte nur den Mund aufzutun, gleich flog ihm
eine Beleidigung an den Kopf; wenn irgendwo etwas schief ging, hieß es:
der Söhnlein, wenn die Kompagnie schlecht exerziert hatte, mußte es
zumeist der Unglückliche büßen, und er war bisweilen in der Nacht aus
dem Schlaf gerissen und entsetzlich mißhandelt worden. Einmal sah
Engelhart den Schrank des Soldaten offen und an der Innenfläche der Türe
eine zahllose Menge von Kreidestrichen; er fragte, was dies bedeuten
sollte, und Söhnlein verriet ihm schüchtern und mit aufleuchtendem
Blick, daß er noch so viel Tage zu dienen habe, als sich Striche auf dem
Brett befanden. An jedem Morgen war sein erstes Geschäft, wieder einen
Kreidestrich auszuwischen. Offenbar hatte mit diesem Burschen noch
niemand so geredet, wie man mit einem Menschen spricht, denn er bezeigte
Engelhart, den er als seinen Herrn betrachtete, eine so
leidenschaftliche Dankbarkeit und Anhänglichkeit, daß dieser sich kaum
erwehren konnte und, um häßlichen Sticheleien zu entgehen, schwach genug
war, auch seinerseits einen Stein auf den Gepeinigten zu werfen, wenn
die andern Steine warfen. Und als ob Söhnlein in seinem dumpfen Gemüt
solchen äußeren Zwang zu ahnen vermöchte, wurde seine Zuneigung für
Engelhart nicht geringer, und er stellte sich wie taub, wenn dieser
gleichfalls anfing, ihn zu verfolgen.

Einst im November wurden sämtliche Mannschaften des Regiments um vier
Uhr morgens aus dem Schlaf geweckt. Die Strohsäcke wurden in den Hof
geschafft, um frische Füllung zu erhalten. Es war eine eiskalte, aber
klare Nacht; als Engelhart ins Freie trat, verschwand seine betäubende
Schlafsucht, und er blickte überrascht zum Himmel empor; so hatte er die
Sterne noch nie gesehen, so diamanten, so funkelnd rein und dicht gesät.
Er wusch beim Brunnen das Gesicht, und wie er zum Tor zurückkehren
wollte, sah er einige Leute um einen schon halbgeleerten Sack
versammelt, auf dem ein Mensch wie schlafend lag. Es war Söhnlein, der
versicherte, daß er sich krank fühle. Die Soldaten lachten, und der
Zimmerälteste befahl ihm, aufzustehen. Er versuchte es und fiel wieder
zurück. Da nahmen einige Leute den Sack, zwei an jeder Ecke, hoben ihn
samt dem Daraufliegenden empor und schleuderten ihn fünf- oder sechsmal
in die Luft, wobei sie das ängstliche Schreien des Mannes nicht
achteten.

Engelhart wandte sich gewaltsam ab und starrte über den weiten
dämmerigen Raum des Hofes, der sich wie eine Sandwüste vor ihm dehnte,
bevölkert von schwärzlichen Gestalten. Es war ihm, als ob er mit wilden
Tieren zusammengekettet wäre. Alle verzehrten sich in der Sehnsucht nach
Freiheit, alle waren von Haß erglüht gegen die Bändiger, aber wenn der
Bändiger erschien und nur mit der Wimper zuckte, so hielten sie den Atem
an. Es war ein ungeheures Gebäude gegenseitiger Verantwortung, begründet
auf Furcht und Heuchelei, und Brüder verleugneten einander, wenn der
eine fürchtete, für den andern verantwortlich zu werden. Es ward
Engelhart unheimlich in dieser Welt, es ward ihm unheimlich unter den
Menschen.

Die Soldaten hatten den Söhnlein inzwischen losgelassen, weil ein
Unteroffizier hinzugetreten war. Söhnlein taumelte diesem über die
Strohbüschel entgegen und stieß ein paar unartikulierte Laute hervor.
»Er stellt sich krank,« sagte einer von der Schneiderwerkstätte. Dem
Korporal kam dies sehr ungelegen, denn er war für den Gesundheitsstand
seiner Abteilung in gewissem Sinne verantwortlich. Er fing an, in der
unflätigsten Weise auf den Mann einzuschimpfen, und hob schließlich,
rasend und berauscht von dem Zustand des Zorns, den er genoß wie jeden
andern Rausch, die Arme zum Schlag. Söhnlein muckste nicht, denn er
wußte, wenn er nur die Miene der Widersetzlichkeit annahm, würde er so
bald keinen Kreidestrich mehr von seiner Schranktür löschen können. So
lächelte er eben in seiner albernen und bestürzten Weise vor sich hin.

Beim Anblick all der infamen Willkür drehte sich Engelhart das Herz im
Leibe um. Nie hatte er sich so völlig in eines andern Seele versetzt,
und als Söhnleins Augenlider krampfhaft zu blinzeln begannen, spürte er
dies unmittelbar und empfand die ratlose Verzweiflung, die jenen
erfüllen mußte. ›Aber warum hilfst du ihm nicht?‹ rief eine Stimme in
seinem Innern, ›warum schweigst du, Feigling? Warum nimmt sogar dein
Gesicht einen wohlgefälligen Ausdruck an, wenn der Blick des Bändigers
dich trifft?‹

Die Vernunft ist eine beredte Kupplerin im Dienst des gemeinen Nutzens,
wenn es sich darum handelt, Vorwürfe höherer Art zu ersticken. Aber es
kam doch mehr und mehr so, daß Engelhart sich verhärtete und daß er das
Schlimmste tat, was ein Mensch an seiner Seele begehen kann, daß er sich
verachten lernte, daß er böse ward wie die andern und gleichgültig wie
die andern und daß eine innere Welt des Traumes, der Sehnsucht, der
Ideale sich deutlich trennte von der äußeren Welt des Essens, des
Schlafens, des Gelderwerbs und der simplen Nüchternheit. Eines ist der
Himmel, ein zweites die Erde, und wenn so sich Licht von Finsternis
geschieden hat, dann waltet die kupplerische Vernunft ihres Trösteramts
und meint, nun seiest du reif geworden. Aber dies Reifwerden ist kein
Süßwerden und kein Fruchtbarwerden, davon überzeugte sich Engelhart
bald, es ist ein Bitterwerden und Leerwerden. Da ist ein Damm aufgebaut
zwischen der Menschheit und dem Menschen; die Menschheit ist das Äußere
und der Mensch das Innere, und die inneren Wasser stauen sich, bohren
Abgründe und unheilvolle Löcher, kein Aus- und Einströmen mehr, kein
gesegnetes Gleichmaß; allgemeines Unheil wird zum Spiel, zum bemalten
Vorhang, der sich verschiebt und, sobald es dem Geiste beliebt, einem
weniger aufdringlichen Gegenstand Platz macht. Engelhart fühlte, daß er
sich verstockte, aber die fortwährende Erschöpfung des Körpers, der er
ausgesetzt war, ließ ihn nicht mehr zum Nachdenken gelangen. Wenn ihn
das Schicksal zur Ruhe und zum Glück kommen ließ, war er verloren. Die
Seele, die berührt man nicht, das ist wahr, und sie braucht auch nicht
zu erfahren, was die Lippe spricht, aber sie muß unschuldig bleiben, und
sie bleibt es eher, wenn die Hand einen Mord begeht, als wenn die Zunge
schweigt, wo ein höchstes Gebot sie zu reden auffordert.



                            Zehntes Kapitel


Kurz vor Weihnachten mußte Engelhart vor der alten Kaserne am Mainufer
das erstemal Wache stehen. Es war eigen, in der tiefen Finsternis
zwischen zwei festen Grenzpunkten stundenlang auf und ab zu wandeln. Das
Verrinnen der Zeit glich dem Abtropfen der Flüssigkeit aus einem Gefäße.
Von sieben Uhren der Stadt hörte er die Viertelstundenschläge. Auf dem
Strom bis gegen die Steinbrücke hin waren Holzkähne verankert und das
Wasser schlickerte unter ihnen. Oben auf der Festung brannte ein rotes
Signallicht. Das Gewehr lag Engelhart wie ein Baum auf der Schulter, und
die fallenden Schneeflocken erzählten vom Schlaf, sie waren wie
sichtbarer Schlaf, sie machten die Glieder trunken von Schlaf.

Mit dem Frühjahr begannen auf dem Galgenberg die Kompagnie- und
Bataillonsübungen. Da zuckte jedes Glied des Truppenkörpers von
Verantwortlichkeitsangst, jeder Soldat zitterte vor seinem Korporal, der
Leutnant vor dem Hauptmann, der Hauptmann vor dem Major, der Major vor
dem Oberst, der Oberst vor dem General. Ein schlechtgeputzter Knopf, ein
schiefhängendes Seitengewehr raubte ganzen Kategorien von Vorgesetzten
die Besinnung, hundert Leute mußten das kleinste Versehen eines
einzelnen büßen, ein Strauchelnder entfesselte die Wut des ganzen
Haufens, und dies gegenseitige viehische Entsetzen war es, was man
Disziplin nannte. Was bedeutete daneben der eingebildete »Feind«? Der
Feind steht da und dort, hieß es, gegen den Feind mußte vorgegangen, auf
den Feind gefeuert werden, alle sprachen von ihm mit Respekt und wie von
etwas Furchtbarem, er war Anfang und Antrieb zu dem waffenstarrenden
Spiel, Gründer und Erhalter des Systems, der unbewegliche Götze, dessen
Name jeden Schrecken heiligte, und doch, er war nirgends zu sehen, er
war Luft, ein Wort, ein Nichts.

Im Innern stak der Feind, aber das wußten sie nicht.

Mit dem Vorschreiten der Jahreszeit nahmen die Anstrengungen des
Dienstes zu. Zwölf- bis vierzehnhundert lautlose Sklaven, schwer
bepackt, noch müde vom vergangenen Tag, noch schlaff von unvollendeter
Ruhe, marschierten täglich durch das noch schlummernde Land.

Der kraftvolle Gleichschritt der Kolonnen gibt der Bewegung den düstern
Rhythmus, verleiht ihr etwas von dem Erstaunlichen einer ungeheuern
Maschine, ihr tiefes Schweigen rührt ans Herz. Die Sonne kommt, die
graublaue Frühluft erglüht. Engelhart liebt den Morgen, es ist die
einzige Stunde, wo seine Hoffnungen wieder frisch werden. Es geht über
die Brücke, an den sanften Biegungen der Weinberge entlang, hügelauf,
hügelab, die Straße schlägt sich durch den Wald. Hier allein sein
dürfen, denkt Engelhart, nur eine Stunde auf dem Moos liegen dürfen.
Eine uralte verwitterte Eiche steht inmitten einer grünen Lichtung; es
ist etwas fürstlich Einsames um sie, erst in weitem Abstand wagen andre
Bäume zu wachsen. Engelhart gräbt ihr Bild in sein Gedächtnis, hier will
er weilen, wenn er frei sein wird.

Der Tag wird heiß, schwer lastet der Tornister auf den Schultern, der
Kasten des Gewehrs schneidet ins Fleisch, der Helmrand beginnt auf Stirn
und Augen unheimlich zu drücken. Es ist ein Spaßmacher in Engelharts
Abteilung, der immerfort Geschichten erzählt und der die Mannschaft oft
ihrer Mühsal vergessen läßt; er ist deshalb wohlgelitten bei den
Offizieren und erlaubt sich Freiheiten, die den andern ein lügnerisches
Gefühl von Freiheit geben.

Endlich naht der Feind. Das Verfolgungs- und Versteckenspiel beginnt.
Ein Bataillon stürmt zum Angriff vor und stößt ein Geschrei aus, wodurch
es seine Bereitwilligkeit zu sterben kundgibt. Dies Hurraschreien klingt
durchaus nicht begeistert, sondern qual- und hohnvoll. Die Säumigen
werden von zähneknirschenden Unteroffizieren zu größerer Eile
angetrieben. Eine Kompagnie verirrt sich, der Regimentsadjutant rast auf
schäumendem Gaul zu dem unseligen Hauptmann, der sich die Haare rauft.
Die Trompeter blasen Halt; kurze Rast; Heimkehr.

Der Anblick der endlosen Landstraße flößt Grauen ein. Die Soldaten
können nicht mehr vorwärts blicken, jeder stiert auf die Stiefel des
Vordermanns. Wer aus dem Schritt gerät, wird mit Lästerungen überhäuft.
Der heiße, weiße, blendende Staub umhüllt den Zug wie Nebel; Wimpern,
Lippen und Zähne sind voll Staub. Widerliche Gerüche steigen auf.
Engelhart, müde und durstgepeinigt, richtet die Gedanken mit schlaffer
Beharrlichkeit auf das Mittagessen. Manchmal empfindet er den trotzigen
Antrieb, stehen zu bleiben, es reizt ihn, die Grausamkeit der
Nachfolgenden herauszufordern. Die Gespräche der Leute verstummen,
schweißtriefend, mit wunden Füßen und wunden Schenkeln schwanken viele
daher, Zerrbilder des lebendigen Menschen. Es wird befohlen zu singen,
niemand rührt sich, der Befehl wird wiederholt, da erhebt sich zuerst
die dünne Stimme des Spaßmachers, andre fallen ein, der Rhythmus rüttelt
sie auf. Es scheint ein lustiges Lied von volksmäßiger Einfachheit, doch
hinter den Worten murrt der Zorn, einige Wendungen werden von den
Sängern der Harmlosigkeit beraubt und klingen wie Stichworte des
Aufruhrs. Engelhart vermag nicht zu singen, der Sergeant ruft drohend
seinen Namen, er öffnet mechanisch den Mund. Und nun sieht man
talabwärts die roten Backsteinbaracken der Kaserne, in der prallen
Mittagssonne gleichen sie ungeheuern Giftblasen, aber alle schauen
sehnsüchtig hinab wie nach einem Paradies der Ruhe. Welche Qual, wenn
der Hauptmann sich zuletzt noch zu einer Ansprache bemüßigt findet. Er
liebt es, in väterlichem Ton zu reden, er hält auf Popularität. Wüßte er
um die Gedanken der tückisch lächelnden Soldaten, er zöge vor zu
schweigen. Es ist der Wahn, den ihn seine Kaste gelehrt hat und der sein
Hirn in einem Taumel erhält, daß er sich geliebt und bewundert glaubt.

Eine Viertelstunde von der Kaserne entfernt lag ein altes
Minoritenkloster am Mainufer. Hohe Mauern und ein Ring gleichmäßig
gesetzter Pappelbäume umgaben die zahlreichen Gebäude, von denen Frieden
über die ganze liebliche Landschaft auszuströmen schien. Engelhart zog
es bei Spaziergängen oftmals hierher, auch von der Landstraße aus ließ
er sich mit einer Fähre übersetzen und wanderte langsam dem
efeubehangenen Tor zu. Seitab vom Fußweg stand ein Christuskreuz, und
vor diesem verweilte Engelhart bisweilen in tiefem Nachdenken, wobei
uralt feindseliges Mißtrauen und bange Lust der Annäherung sich
mischten. Nicht als ob er einen Gott hier gesucht hätte, mehr noch einen
Menschen. Was ihn zu dem Erlöserbildnis trieb, war die Idee des Opfers,
der betäubte Wille rang um Erlösung, er suchte für seinen Schmerz das
höchste Symbol. Das war es; er war Opfer und suchte die Wollust des
Opfers. Es ergriff ihn jener schwärmerische Fatalismus, der eine
Trunksucht der Seele ist, der zur Unverantwortlichkeit strebt und alles
Bewußtsein im Traum und Wahn auflöst.

Es war in den Hundstagen. An einem Morgen war Bataillonsexerzieren
gewesen, zurückgekehrt, mußte die Kompagnie zur Schießstätte, die in
einem anderthalb Stunden entfernten Wald lag. Erst um halb drei Uhr
nachmittags waren die Leute, aufs höchste erschöpft, wieder in der
Kaserne. Engelhart erbat und erhielt Urlaub vom Appell und ging nach
Hause, nichts wünschend als Schlaf. Er schlang die Mahlzeit hinunter und
legte sich entkleidet ins Bett. Um sechs Uhr wurde heftig an der
Wohnungsglocke geläutet. Es war Söhnlein. Er hob Engelhart beinahe aus
den Kissen und trieb ihn zur äußersten Eile. Beim Appell war Nachtübung
angesagt worden, um sieben Uhr sollte das Regiment bereit sein.
Engelhart flog in die Kleider, sie stürmten auf die Straße, und da die
Kaserne fast eine halbe Stunde Wegs entfernt war, wollten sie einen
Wagen auftreiben, fanden aber keinen. So mußten sie im Laufschritt unter
dem Aufsehen der Passanten über die Glacis rennen; als sie auf dem
Domplatze waren, schlug es schon dreiviertel. Sie kamen an, als die
Kompagnien schon im Hof zusammentraten, oben mußten sie sich in rasender
Hast feldmarschmäßig rüsten, doch es lief glimpflich ab, die Offiziere
begannen eben die Musterung, als Engelhart an seinen leergelassenen
Platz trat.

Söhnlein war zufrieden, daß es ihm gelungen war, seinen Herrn vor Strafe
zu bewahren, und achtete nicht der bissigen Reden seiner Nebenmänner. Er
war überhaupt in der letzten Zeit immer heiterer geworden, denn auf
seiner Schranktüre befanden sich nur noch vierundvierzig Kreidestriche.

Der Marsch ging über das Dorf Randersacker nach dem Hügelland in der
Gegend von Eibelstadt. Die Luft war zuerst dunstig, wurde jedoch am
Abend rein und kühl. Engelharts wie der andern Leute von der Kompagnie
bemächtigte sich nach und nach eine solche Müdigkeit, daß sie sich nur
noch hinzuschleppen vermochten. Der Hauptmann, besorgt, daß ihm seine
Abteilung Schande machen werde, ritt auf seinem alten dicken Gaul
unaufhörlich an den Reihen hin und her, wobei er die Leute in seiner
halb keifenden, halb gönnerhaften Weise zu ermuntern suchte. Trotzdem
traten fünf oder sechs Rekruten aus und blieben am Straßengraben liegen.
Bei der ersten Raststelle fielen die meisten um wie die Stöcke. Der
Feind befand sich hinter einem zwei Kilometer entfernten Weiler, und die
Kompagnie erhielt den Befehl, Vorposten zu stellen. Der Oberleutnant
wählte fünf Soldaten aus, unter ihnen Engelhart und Söhnlein. Sie
marschierten über einen langgezogenen Hang bis an den Rand eines tiefen
Forstes. Söhnlein wurde als erster Posten ausgestellt, und an dem
schwankenden Schritt, mit dem er sich entfernte, sah man seine
außerordentliche Erschöpfung. Die andern standen schweigend gegen den
mattleuchtenden Himmel gekehrt, aus dessen östlicher Tiefe sich langsam
schwebend der Mond erhob und eine scharlachne Röte auf das Gelände warf.
Der Leutnant schritt im taufeuchten Wiesenrain auf und ab; nach einer
Weile dünkte es ihm notwendig, einen zweiten Posten über den ersten
hinauszuschieben, und er bezeichnete Engelhart einen Punkt auf dem Kamm
des Hügels bei einer einzelnen Pappel. Engelhart schulterte das Gewehr
und marschierte ab. Der Weg führte ihn dort vorüber, wo Söhnlein stehen
sollte, doch als er hinkam, gewahrte er jenen nicht, sah sich um und
erblickte ihn endlich schlafend gegen das Mooskissen eines Baumes
gelehnt.

Der Anblick überraschte und rührte ihn. Anstatt den Pflichtvergessenen
ohne Zögern zu wecken, stellte er sich hin, stützte das Kinn auf die
Gewehrmündung und starrte verloren in das Kindergesicht des Schläfers,
das wie ein rosiges Abbild des Mondes aussah. Es war eine heilige Stille
rings. Gelbliche Lichtflecke zitterten auf dem Boden. Das dürre
Blätterwerk, das dem Schlafenden zum Lager diente, strahlte wie
geläutertes Gold. Plötzlich vernahm Engelhart dicht hinter sich
Pferdeschritte. Erschrocken beugte er sich nieder, um Söhnlein
aufzuwecken, aber es war zu spät, der Reiter, es war der Adjutant des
Majors, der die Posten inspizieren sollte, hatte den Unglücklichen schon
bemerkt. Söhnlein schaute eine Weile benommen um sich, und als ihm das
Bewußtsein wiederkehrte, wurde er weiß wie Kalk. Engelhart war es, als
müsse er sich vor dem Offizier niederwerfen und um Gnade für den
Menschen flehen, er ahnte den entsetzlichen Jammer, der in Söhnleins
Brust tobte, und fühlte sich mitschuldig. Der Adjutant fragte mit
eisiger Sachlichkeit, ob er schon länger hier sei oder soeben
dazugekommen sei, und er antwortete, er sei soeben dazugekommen, war
daher für seinen Teil in Sicherheit.

Es wurde Meldung an die Kompagnie und das Regiment erstattet. Der
Hauptmann wurde zum Oberst befohlen und kam außer sich vor Wut zurück.
Söhnleins Gesicht behielt sein fahles Aussehen, seine Augen waren trüb
und irr. Die Kameraden betrachteten ihn scheu und ohne Mitleid. Auf dem
Heimmarsch sangen sie begeisterter, gleichsam dienstwilliger ihre
Lieder. Vor dem Schlafengehen beobachtete der Zimmerälteste, wie
Söhnlein eine Weile unbeweglich vor seinem Schrank stand, und er sagte:

»Na, Söhnlein, das kostet dich ein paar Monate. Aber mach dir nichts
daraus, da brauchst du wenigstens nicht zu schuften.«

Auch die aufreibenden Wochen der großen Herbstübungen gingen vorüber,
und dann war Engelhart frei. Langentbehrte Wonne, den Tag, die Stunde
wieder zu besitzen, den frühen Morgen verschlafen zu dürfen, der eignen
Entschlüsse Herr zu sein, Zeit zu haben, viel Zeit ... Am ersten Tag
suchte er den Park des Veitshöchheimer Schlosses auf und schlenderte in
musikalischer Entzückung durch die beschnittenen Alleen und künstlichen
Laubengänge. Vor einer der verwitterten Statuen, die um das große
Wasserbassin aufgestellt waren, blieb er lange stehen, und es schien,
als ob die Figur zu ihm spreche, ja er hörte deutlich ihre Worte:

    »Des Sommers verdorrte Blätter rollen
    Um meinen Fuß.
    Unaufhörliches Spiel der Jahre!
    Laß über meine kühlen Glieder, Zeit,
    Den weitgesäumten Mantel streifen,
    Und achte nicht, was mir die Brust füllt,
    Den bittern Gleichmut.
    Du, Wanderer, eile dem Bilde vorbei,
    Das über stolzen Geschlechtern trauert,
    Unlebendig,
    Zerrbild alles Gewesenen.
    Wenn der Abend kommt und die Finsternis aufschwillt,
    Wird die Vergangenheit Traum
    Und die Gegenwart fühlbarer Tod.«

Das glückliche Schwärmen durfte nicht lange dauern. Es wurde von Anfang
an verdüstert durch die Frage, was nun werden solle. Was nun, was
anfangen? Womit das Leben verdienen? Es galt, einen Beruf zu ergreifen
oder vielmehr ein Geschäft zu betreiben und von niemandes Gnade abhängig
zu sein. Herr Ratgeber meinte bekümmert, er sei jetzt alt genug, um die
Torheiten zu lassen und an eine geordnete Existenz zu denken. Nach
mancherlei Erwägungen wandte sich Herr Ratgeber an seinen unmittelbaren
Vorgesetzten, den Generalagenten in Nürnberg, und fragte an, ob
Engelhart in dessen Bureau einen Posten finden könne, und die Antwort
war bejahend; es sei gerade eine Korrespondentenstelle frei, wenn der
junge Ratgeber einige stilistische Gewandtheit und außerdem guten Willen
besitze, stehe seiner Anstellung nichts im Wege, der vorläufige Gehalt
sei sechzig Mark für den Monat. Das war jämmerlich wenig, doch Engelhart
durfte sich nicht besinnen, er mußte den ersten besten Strick erfassen,
den man ihm zuwarf, und Herr Ratgeber war froh, der bedrängendsten Sorge
los zu sein. Auch für ihn selbst war des Bleibens in Würzburg ein Ende;
zwischen ihm und Inspektor Dingelfeld war offene Feindschaft
ausgebrochen, der Elende suchte Streit, wo er konnte, und sein
eingestandener Zweck war, den älteren Rivalen zu verdrängen. Herr
Ratgeber hatte schließlich von der Gesellschaft seinen Abschied
verlangt, aber diese wollte einen so tüchtigen Arbeiter durchaus nicht
verlieren und erklärte sich bereit, ihn unter Gehaltserhöhung nach
München zu versetzen. Der Wettstreit zwischen den beiden Nebenbuhlern
war den Herren nicht unangenehm gewesen, er förderte entschieden das
Geschäft, nur zum Äußersten durfte es nicht kommen. Herr Ratgeber war
denn auch zufrieden und fand seine Ehre wiederhergestellt; die
Aufbesserung seines kümmerlichen Lohnes machte ihm mehr Freude als ein
Lotteriegewinst, es war doch irgendeine Anerkennung für all die Mühe; er
brauchte Anerkennung.

Engelhart mietete sich in Nürnberg auf dem Jakobsplatz ein, der Kirche
gegenüber. Es war die billigste Wohnungsgelegenheit, die er hatte
auftreiben können, er zahlte nur acht Mark monatlich. Es war ein
liliputanisches Zimmer, und das höchst baufällige Häuschen, in dem es
sich befand, gehörte dem Ehepaar Hadebusch, wunderlichen Leuten, die
jene Mischung von Bosheit und Gemütlichkeit besaßen, wie sie im untern
Bürgerstand häufig ist. Der Mann, schon ein Siebziger, war
Bürstenmacher; es roch im Haus beständig nach Borsten, Leim und
Laugenwasser. Während Engelhart in der düstern Wohnstube das Frühstück
verzehrte, politisierte der Alte, das heißt er pries die vergangenen
Zeiten. Frau Hadebusch war ein dickes, habgieriges Weib; wenn sie Geld
sah, konnte sie sich kaum beherrschen und lachte übers ganze Gesicht.
Mit überlegener Schlauheit und scheinbar unverfänglichen Fragen suchte
sie sich über Engelharts Vermögensverhältnisse Klarheit zu verschaffen,
und wenn sie merkte, daß er es übelnahm, suchte sie ihn mit
scheinheiligem Gejammer und den ungereimtesten Geschichten von ihrer
eignen Armut zu versöhnen. Sie hatte einen Sohn, der ein Idiot war und
nur zum Holzhacken und Stubenauskehren zu gebrauchen war.

Frau Hadebusch hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen Steinkohlen.
Sie beschwor, daß seit Menschengedenken kein solch schwarzes Teufelszeug
in ihr Haus gekommen sei, beutete aber diesen Umstand aus und berechnete
das Holz zum Heizen mit unverschämten Preisen. Engelhart wagte bei
seinem dürftigen Einkommen nicht, das eiserne Öflein in seiner Kammer so
lange zu speisen, daß es für den Abend ausreichende Wärme gab, und so
saß er oft frierend bei seinen Büchern oder er legte sich ins Bett und
las weiter bis Mitternacht. Die morschen Dachsparren über ihm krachten
manchmal so laut, daß er aus dem Schlaf erwachte, und durch die Fugen
der schlecht schließenden winzigen Fenster surrte der Wind. Außerdem
störte ihn die Nähe des Kirchturmes und seiner dröhnenden Glocke nicht
wenig.

Sein ordnungsloses Bücherlesen entsprang nicht der Lernbegierde und
hatte keinen reingeistigen Antrieb. Nichts beruhigte, nichts befriedigte
ihn dabei, alles stachelte ihn auf. Er suchte die Welt, er suchte das,
was die Jünglinge mit feierlicher Deutung »das Leben« zu nennen pflegen.
Er konnte sich nicht zu der Annahme entschließen, daß das, was er bisher
gelebt, schon »das Leben« sei, und erschien sich wie ein Wesen, das wohl
Flügel besitzt, sie aber nicht gebrauchen darf. Tag für Tag, vom Morgen
bis zum Abend befand er sich in einer innerlich verzitternden Erregung
und seine Seele glich dem glühenden Draht über einer Flamme, der nicht
nachgeben, sich nicht biegen kann, weil er an den Enden festgenietet
ist. Die während des Fronjahrs eingeschlummerten Kräfte und versiegten
Quellen sprudelten jetzt um so gewaltsamer hervor, und Engelhart war
sich seines Zustandes als einer unaufhörlichen Gefahr wohl bewußt; er
wünschte, sich selber zu entfliehen, und wie nie zuvor trieb es ihn zu
den Menschen. Er wollte mit Worten vernehmen, wie es um sie und wie es
um ihn stand. Er glaubte an einen, irgendeinen, der den Schlüssel zu dem
großen Mysterium besaß, und es dürstete ihn nach lebendigem Wissen,
lebendigem Wort, lebendiger Freundschaft.

Die elende Kammer wurde ihm zuwider. Er suchte an den Abenden andern
Aufenthalt und lief, kein Unwetter scheuend, sich die Beine müd, um
schließlich in einer abgelegenen Kneipe zu landen und bei einer Tasse
Kaffee trübselig vor sich hinzustarren. Einst zu später Stunde kam er in
ein enges Seitengäßchen und blieb lauschend stehen. Eine dunkle, in
leidenschaftlichen Worten einsam redende Stimme drang wie aus dem
Innern der Erde zu ihm. »Da trat hervor einer, anzusehen wie die
Sternennacht, der hatte in seiner Hand einen eisernen Siegelring, den
hielt er zwischen Aufgang und Niedergang und sprach: ›Ewig, heilig,
gerecht, unverfälschbar! Es ist nur eine Wahrheit, es ist nur eine
Tugend! Wehe, wehe, wehe dem zweifelndem Wurme!‹« ... Engelhart ging zu
einem Fensterloch dicht über dem Boden und blickte wie in einen Trichter
hinunter. Er sah einen matterleuchteten Raum mit Wirtshaustischen und
-bänken. Auf einer Bank an der Mauer saß eine kleine Gesellschaft junger
Leute, ein einzelner kauerte vor ihnen auf den Steinfliesen, und die
Worte, die er sprach, hatten sein Gesicht zerwühlt, seine Lippen
förmlich zerrissen und seine Augen im Wahnsinn gebadet. »Gnade, Gnade
jedem Sünder der Erde und des Abgrunds!« schrie er jetzt und schlug die
Hände an die Wangen. Engelhart schauderte.

Bald darauf war es zu Ende und die Zuhörer klatschten. »Diesen Franz
macht dir kein Schauspieler der Welt nach, Klewein!« ließ sich jetzt die
heisere Stimme eines langen, hageren Menschen vernehmen, und mit
verächtlichem Lachen, beide Hände in den Hosentaschen, fuhr er fort: »Im
übrigen war dieser Schiller doch ein Mordsstümper. Es ist nur eine
Wahrheit, es ist nur eine Tugend! Lächerlich! Hunderttausend Wahrheiten,
Millionen Tugenden und schließlich wieder keine; keine Wahrheit, das
ist’s, Kinder, denn wenn es eine Wahrheit gäbe, warum sollten wir sie
nicht erkannt haben?«

Wehmütig an seine abgesonderte Existenz gemahnt, die ihn wie durch ein
fortwirkendes Gesetz von jeder wahrhaft geselligen Vereinigung
ausschloß, lauschte Engelhart durstigen Ohrs den Gesprächen, die von
einem Geist großartiger Weltverachtung durchweht schienen. Nach einer
Weile schritt er zum Eingang, überlegte hin und her, zählte in Gedanken
seine Barschaft nach und stieg endlich die steinerne Treppe zu dem
Weinkeller hinab.

Sein schüchterner Gruß blieb unbemerkt. Er setzte sich abseits und
bestellte ein kleines Fläschchen italienischen Landweins. Sein Betragen
erregte die Aufmerksamkeit des langen Hageren, den seine Kumpane Peter
Palm nannten. Engelhart errötete, als er dem stumpflohenden Blick der
schwarzen Augen begegnete. Es war der Blick eines Jägers, eines
Wilddiebs, bevor er die Flinte anlegt. Jener Klewein, der den Monolog
gesprochen, brütete schweigend vor sich hin; über seinem hart markierten
Schauspielergesicht bebte die Haut wie Wasser, das leichter Wind zu
Falten bläst. Niemals hatte Engelhart den Ausdruck des schlechten
Gewissens so deutlich und wild auf einem Antlitz gesehen. Die drei
andern waren ein wenig betrunken oder stellten sich so. Einer, den sie
Baron nannten, hatte ein verblasenes Lächeln auf dem bübchenhaften
Gesicht; diesem flüsterte der Lange etwas zu, er kam an Engelharts Tisch
und forderte ihn mit gezierter Höflichkeit auf, sich zu der Gesellschaft
zu setzen. Engelhart dankte; Spannung und Entzücken benahmen ihm fast
die Sinne.

So glaubte er endlich das Tor betreten zu haben, das ins Leben führt, in
das berühmte »Leben«. Von nun an wurde die Nacht sein Tag, wie für den
Schmuggler, und schmugglerhaft war dies Herumziehen an den Grenzen der
bürgerlichen Bezirke, auf den Lippen Hohn und in der Brust die Furcht
vor ihren Zollwächtern. Oft kam er erst um vier Uhr morgens nach Hause,
schlief dann über die Zeit, kam verspätet, dumpf und müde ins Bureau und
wurde unverläßlich bei der Arbeit. Diese Arbeit bestand im Briefeschreiben
an säumige Zahler, an unschlüssige Versicherungskandidaten, in
Beantwortung von Beschwerdeschriften, in juridischen und ökonomischen
Aufklärungen, Agenteninstruktionen, im Ausstellen von Prämienquittungen,
Berichten an die Direktion und vielem andern. Er hatte sich geschickt
und willig gezeigt, der Bureauchef schätzte den denkenden Kopf in ihm,
wie er sagte, und zeichnete ihn dadurch aus, daß er ein täglich
wachsendes Pensum erledigt haben wollte. Der Bureauchef war ein kleines,
zartes, wachsbleiches, schweigsames Männchen namens Zittel, eine
Schreibernatur durch und durch, geschmeidig, flink, giftig. Als
Engelhart jählings zu erlahmen begann wie eine Maschine, an der ein
Rädchen zerbrochen ist, heftete er bisweilen seine kalten Reptilaugen,
die hinter dicken Brillengläsern glitzerten, forschend und streng auf
ihn und sagte mit berechneter Sanftmut: »Schade, Herr Ratgeber, wirklich
schade.« Doch Engelhart empfand Ekel; nie wurde er das Gefühl einer
ungeheuern Versäumnis los, und besaß er dann die Zeit, nach der er sich
gesehnt, so rann sie ihm aus den Fingern, wie Sand durch ein Sieb läuft.
Manchen Tag vermochte er zu Herrn Zittels Bekümmernis nicht drei Sätze
aufs Papier zu bringen, plötzlich packte ihn die Angst vor der
Brotlosigkeit, er arbeitete in zehn Stunden ab, was sich in zehn Tagen
angehäuft hatte, und Herr Zittel konnte dann nicht umhin, eine solche
Leistung kopfschüttelnd zu bewundern. Schlimm war es, daß er mit dem
Geld in verzweifelte Unordnung kam. Schon am fünften, am siebenten des
Monats mußte er um Vorschuß bitten, für viele Wochen hinaus konnte er
nicht mehr auf seinen vollen Gehalt rechnen, an notwendige Anschaffungen
für Kleidungsstücke oder gar an Bücherkaufen war nicht zu denken, und
wenn er die Miete und das Mittagessen gezahlt hatte, so lief das übrige
rasch bei den nächtlichen Gelagen davon. Und weil unter dem Einfluß
Peter Palms niemand sich anders führte, jeder aus dem Leeren
wirtschaftete und dies trübselige Wesen zum Heldentum emporgelogen
wurde, so dachte Engelhart, alles müsse so sein, wie es war, und es sei
ein Schimpf, anders aufzutreten, als mit prahlerischen Ansprüchen an
eine blind undankbare Welt.

Peter Palm stammte aus den niedrigsten Verhältnissen. Seine Mutter war
eine Waschfrau in Plobenhof, den Vater hatte er nie gekannt. Er hatte
studiert, Stipendien hatten ihm anfangs fortgeholfen, jetzt war er im
siebzehnten oder achtzehnten Semester und brachte es nicht weiter. Er
hatte viel erlebt und viel gelesen; in seinem Charakter herrschte das
Böse vor. Sein Gemüt war verbittert, ja gleichsam mit Schwären bedeckt,
nicht nur durch Armut und Entbehrungen war es dahin gekommen, sondern
auch durch angeborne Zügellosigkeit des Herzens. Er hielt sich für eine
Art modernen Sokrates, doch mißhandelte er seine Mutter, um ein paar
Pfennige von ihr zu erpressen. Von allen, die um ihn waren, hatte er
Franz Klewein am unbedingtesten in seiner Gewalt. Auch dieser war arm,
hatte abenteuerliche Fahrten hinter sich, war Matrose gewesen, hatte in
einem indischen Hafen desertiert, war in einem Reisfeld von Hindus
aufgefunden und verpflegt worden; dann nach Europa zurückgekehrt, trieb
es ihn zur Schauspielerei, aber er fand damit nur ein kümmerliches
Auskommen. Er war der leidenschaftlichste Mensch, den Engelhart je
gesehen. Er hatte etwas von einem edeln Tier; äußerlich trat er wortkarg
und mit gemessener Ruhe auf, nur in den kleinen unter vorspringenden
Stirnknochen versteckten Augen flackerten unheimliche Feuer. Sein
Scharfsinn war groß, er beobachtete mit Lust und mit Haß und seine
Bemerkungen ritzten förmlich die Haut durch ihre ätzende Bosheit. Er war
noch jung, kaum sechsundzwanzig, ehedem war er sicherlich eine zum
Positiven geneigte Natur gewesen, aber das Schicksal hatte ihn müde
gejagt. Dazu kam noch Peter Palm über ihn; er hatte ihn in einer
Berliner Lasterhöhle kennen gelernt, gerade als er mit dem Entschluß
kämpfte, seinem Leben ein Ende zu machen. Durch Palm wurde er aus der
dämmernden Bahn gerissen, die Helligkeit der Zweifel machte ihn sich
selber doppelt verachtenswert. Er hatte kein Engagement mehr, kaum ein
Unterkommen, und niemand wußte, wie er sein Leben fristete. Den größten
Teil seiner Zeit verbrachte er grüblerisch erstarrt im Paradieschen.

Das Paradieschen war ein winziges Gebäude, dicht am Stadtgraben erbaut;
jenseits erhob sich der kolossale Turm des Ludwigstores. Zur Nachtzeit
blickten die erleuchteten Fensterchen einladend über den stillen Platz
und rückwärts fiel der Lichtschein in das Pflanzengewinde über der
uralten Festungsmauer. Im Paradieschen war alles winzig: der Wirt, die
Kellnerin, der Spiegel im Goldrahmen, Tische, Stühle, Tassen, Löffel und
das Stehklavier an der Wand. Palms treuester Trabant, ein einfältiger
Sachse namens Jentsch führte auf dem gebrechlichen Instrument seine
wesenlosen Phantasien aus. Er machte die Stimmung. Stimmung, das war das
große Wort. Keiner wußte, was im Kern darunter zu verstehen sei, sie
wollten vergessen, es war ein Aufprasseln letzter Gemütskräfte. Es war
zum Beispiel ein Mann dabei, der für einen Erfinder galt, ein bejahrter
Herr; er hatte ein Vermögen für seine Hirngespinste verschwendet und war
jetzt im Elend; dieser zog immer sein Taschentuch und wischte die Tränen
ab, wenn Jentsch spielte. »Nur zu, nur zu,« murmelte er bei jeder Pause,
»das tut wohl, lieber Jentsch, das tut mir wohl.« Doch dieser stellte
sich selten ein und wurde nie recht ernst genommen, denn es fehlte ihm
der flagellantische Geist, der alle Schläge des Geschicks dadurch
mildert, daß er eine Selbstpeinigung daraus macht und jede Schuld mit
der Krone des Martyriums schmückt.

Einer aus der Gesellschaft hatte das Wort aufgebracht: wir sind die
Totengräber der Ideale. Engelhart suchte hinter den totengräberischen
Worten die neuen Ideale. Mit beklemmter Brust saß er da und lauschte und
wurde trunken von Worten. Gefühl und Wort waren ihm noch untrennbar
eins. Die große Gebärde riß ihn hin. Alles ward geleugnet; ein Spiel
seiner selbst rollte der Erdball gesetzlos durch den verödeten Raum.
Engelhart spürte Angst vor seiner Existenz und bewunderte den Mut der
Leugner. Peter Palm durchschaute seine Jünger; wenn er ihre Schwäche
erkannt hatte, durfte er alles wagen. Die Vergeblichkeit menschlichen
Mühens wurde in seinem Munde ein Argument des Triumphes. Er nannte sich
in einer geistreichen Stunde den Beichtvater der Todgeweihten; er versah
die sinkenden Seelen mit den Sakramenten. Wenn er redete, schwiegen
alle. In seinem bräunlichen, langgezogenen Fanatikergesicht zitterte Wut
gegen jeden Besitz, gegen jede Hoffnung, ja gegen jeden Kampf. »Du bist
ein Moslem,« sagte Klewein verächtlich und mit dem Schmerz, den er um
sein gestrandetes Leben empfand, »deine Ausbrüche sind Konvulsionen des
Quietismus.« Klewein glich dem im Käfig eingesperrten Wolf; dasselbe
ruhelose Auf und Ab, dasselbe sinnlos verstockte Starren auf das eiserne
Gitter. Einmal blieb er in der Nacht vor der Frauenkirche stehen und hob
die geballten Fäuste. Dann drehte er sich um und schrie: »Ein Weib, ein
Weib, ein Königreich für ein Weib!« Peter Palm lachte und suchte
nachzuweisen, daß das wahrhaft moderne Weib in der Dirne kristallisiert
sei. Engelhart widersprach. Die treuherzige Unschuld seiner Rede
erbitterte Palm und er riet ihm, mit einem Kindertrompetchen vor eine
Mädchenschule zu ziehen und Reveille zu blasen. »Sie sind auch einer von
denen, die Helena in jedem Weibe sehen,« sagte er und prophezeite ihm
ein Leben der Schmach und der Enttäuschungen. Darauf wußte Engelhart
nichts zu entgegnen. Alles, was gesagt wurde, nahm er ganz so, wie es
gesagt wurde, das amüsierte Peter Palm im stillen. Doch ärgerte er sich
über ein Unbezeichenbares in den Augen des jungen Menschen, er ärgerte
sich sogar, wenn Engelhart seinen, Palms, Worten allzuviel Gewicht
beilegte, und eines Tages bemerkte er gegen Klewein, daß da doch nicht
Blut von seinem Blut sei; fremde Rasse; solche Burschen müßten von
Rechts wegen reich sein, dann könne man sie mit gutem Gewissen
verachten. »Ich bin überzeugt, er wird einmal das große Los gewinnen,«
schloß er hämisch.

Doch im Grunde wußte er besser Bescheid über Engelhart, als er sich
zugestehen mochte, er wußte besser Bescheid als Engelhart selbst. Er
nannte ihn Seelenspürhund, Gefühlsparasit. Doch hier war ein Etwas, das
er nicht zerreißen noch zerbrechen konnte, gleichsam aus der eignen Hand
des Schöpfers hervorgegangenes Gespinst, das man nicht anrühren darf,
ohne vom Blitz getroffen zu werden. Sein Hinundherzittern über den
Gebilden des Lebens gemahnte Palm an die Kompaßnadel, die bei allem
Zittern stetig zum Pole zeigt. Sein zerrütteter Organismus spürte die
Gesundheit des Gesunden traumhaft scharf, bald war er sich auch klar,
wohin das unbewußte Wesen heimlich ziele, von dem Engelhart so qualvoll
beunruhigt wurde, und ein gelegentlicher Fund bestätigte seine
Mutmaßung.

An einem Sonntagnachmittag lag Engelhart, von Kopfschmerzen gequält, auf
dem Sofa (er wohnte jetzt im zweiten Stock eines Hauses in Steinbühl),
als Palm und Klewein erschienen. Sie machten sich’s nach ihrer Art
bequem, schwadronierten von diesem und jenem, Klewein entwickelte nicht
zum erstenmal seinen Plan, nach Amerika auszuwandern, Palm hatte
indessen die Tischlade aufgezogen und stöberte ungeniert unter den
Briefen und Papieren Engelharts. Es fiel ihm ein dicht bekritzelter
Bogen in die Hand, auf dem die Geschichte vom kleinen Bräutigam
aufgeschrieben war, die Engelhart seinem Bruder erzählt hatte; einzelne
Merkworte waren ihm nicht aus dem Sinn gegangen und er hatte, vor
Monaten schon, sich der ganzen Bilderfolge durch Niederschreiben
entledigt. Palm las und las, begann spöttisch zu lächeln, dann laut zu
kreischen, Engelhart merkte zu spät, was vorging. Palm ließ sich den
Raub nicht mehr entreißen, auch Kleweins Einspruch half nichts, Palm
bestand darauf, das Elaborat müsse im Paradieschen verlesen werden, auch
Herr Barbeck habe heute zu kommen versprochen, das treffe sich
ausgezeichnet, der sei der rechte Mann für so was. Welche Verachtung lag
in seinen Worten! Engelhart glaubte, seine Unfähigkeit werde an den
Pranger gestellt, und wollte vor Scham vergehen. Die Verlesung fand zu
einer Stunde statt, wo noch keine fremden Gäste im Paradieschen waren;
die simple Geschichte wurde mit blutigem Hohn aufgenommen und
vollständig niederkritisiert. Zuhörer waren Palm, Klewein, Jentsch, der
Baron, dann ein halbnärrischer Maler, der den Spitznamen Krapotkin
hatte, da er unaufhörlich Stellen aus den Schriften dieses
Anarchistenführers deklamierte, und ferner Herr Barbeck. Dieser gab sich
den Anschein, als nehme er die Geschichte ernst, und fragte Engelhart am
Schlusse, was das Ganze zu bedeuten habe und von wo die Verse
abgeschrieben seien. Engelhart schwieg. »Was haben Sie denn vor, was
wollen Sie werden?« fuhr Barbeck mit geheimnisvollem Grinsen zu fragen
fort. Und als Engelhart verlegen die Achseln zuckte, lachten alle,
Barbeck aber sagte: »Na, Jüngling, mich werden Sie nicht hinters Licht
führen, ich kenne das, bin selber dort gewesen, hinterm Licht nämlich,
hab’ selber Äpfel gestohlen.«

Barbeck kam von da an allabendlich ins Paradieschen. Mit seinem
tückisch-vielsagenden Lächeln versicherte er, daß ihm der kleine
Bräutigam, auf diesen Spitznamen nagelte er Engelhart fest, Interesse
eingeflößt habe. Es hatte eine eigne Bewandtnis mit Herrn Barbeck, und
Engelhart fürchtete den Mann mehr noch, als er mit der Zeit Peter Palm
fürchten gelernt hatte. Peter Palm gab sich wenigstens wie er war, eher
noch schlechter als besser, es war etwas Ehrliches in seiner dürren
Dämonenhaftigkeit, aber dieser wechselte beständig sein Wesen und war
ungreifbar wie die schillernde Qualle. Er war Privatgelehrter, das
heißt, er betitelte sich so. Er behauptete, Astrologie und Alchymie zu
studieren, und meinte, wenn die Rede darauf kam, die alten Burschen in
Babylon seien gar nicht so dumm gewesen. Dabei ließ er die frivol
glänzenden Äuglein forschend von Gesicht zu Gesicht wandern, denn er war
ungemein eitel, so eitel, daß er nicht vertrug, wenn jemand in der
Gesellschaft einen guten Witz machte, gerade als ob es nur ein
bestimmtes Quantum Gelächter in der Welt gebe und er um seinen Anteil zu
kommen fürchte. Er besaß lange glatte, blonde Haare, die am Hinterkopf
kunstvoll beschnitten waren und den mädchenhaft zarten Nacken frei
ließen; häufig strich er mit der Hand über den Kopf, wobei er zärtlich
sinnend oder boshaft triumphierend in die Luft schaute. Wenn jemand
seinen Worten widersprach, so fing er an, irgendeine Melodie vor sich
hinzusummen, und drehte den Kopf wie eine Soubrette mit schmachtendem
Blick zur Seite. Er war wohlhabend, aber geizig; einmal war es Peter
Palm gelungen, ihn anzupumpen, darauf hatte sich Barbeck monatelang
nicht mehr blicken lassen. Bei Tag war er ein Bürger, nie hätte er sich
bei Tag etwas gegen die bürgerliche Ordnung zuschulden kommen lassen;
bei Nacht dagegen setzte er Ehre darein, für einen erfahrenen Glücks- und
Lebemann zu gelten, sprach mit pfiffig verschlagener Miene von seinen
Abenteuern und von gewissen Häusern der Liebe an der Stadtmauer drüben.
Alle andern verachteten immer nur die Menschen im allgemeinen mit
Ausnahme der Anwesenden, jeder Anwesende war eine Persönlichkeit von
Bedeutung; Barbeck verachtete alle und zeigte jedem, daß er ihn
verachte, ihm konnte man nichts vormachen, der älteste Ruhm zerstob vor
seinen Augen in Dunst, und er pflegte nur hin und wieder mit
feinschmeckerischem Zungeschnalzen Dinge zu loben, über die sich niemand
eines Lobes versah oder die zu tadeln albern gewesen wäre.

Engelhart wurde bis ins tiefste Herz beunruhigt. Dies gefühllose
Fertigsein; dies unbedingte Sichersitzen auf felsenfesten Urteilen;
diese hohnlachende Philosophie, die ohne Skrupel das Erhabene von seinem
Thron zerrte. Oft saß er wie im Fieber und jeder Abend endete mit
Stunden des Lebensüberdrusses. Denn wozu leben, wenn das, was er so
göttlich in seinem Innern walten fühlte, nur ein aberwitziges Spiel war,
ein Traumgesicht, das vor andern zur Grimasse erstarrte? Mit Angst hielt
er sich fest, um nicht zu fallen. Die überfließende Empfindung suchte er
zu verbergen, es war freilich umsonst, sie wußten es alle, sie machten
sich zu Meistern seiner Unsicherheit und zerhämmerten sein Herz. Wie das
Weltkind unter Pfaffen gezwungen wird, sein natürliches Betragen für
eine Sünde anzusehen, so bequemte er sich, um doch wenigstens für
ebenbürtig genommen zu werden, mit ihren Gebärden zu reden und ihren
Anschauungen beizupflichten. Er war der erste und der letzte bei allen
Gelagen, genoß unzureichenden Schlaf und nährte sich schlecht. Seine
Lebensführung war unsinnig, er mußte Schulden machen, und anständige
Leute, die ihm bisher wohlgewollt, wurden ihm feindselig gesinnt. Es war
alles umsonst, Peter Palm glaubte ihm nicht. »Geben Sie sich keine
Mühe,« sagte er, »Sie sind ja doch nur ein verkappter Philister, der
zähneklappernd einen Ausflug ins feindliche Land macht.« O dieser Dämon
im Schlafrock!

Eines Nachts kam Barbeck aufgeregt ins Paradieschen und verkündete,
Amöna Siebert sei in der Stadt und tanze in den Reichshallen. Daraufhin
wurde der Beschluß gefaßt, aufzubrechen, um die Siebert zu sehen, die
nach Peter Palms Beteuerung das genialste Weib unter der Sonne war.
Amöna Siebert war vor acht oder zehn Jahren Kellnerin im Wirtshaus zum
Mondschein gewesen, und das siebzehnjährige Mädchen, ohne durch
Schönheit aufzufallen, fand wegen ihrer Heiterkeit viele Anbeter. Eines
Morgens nach einem Ball hatte sie den kleinen Saal aufzuräumen, und
plötzlich fiel ihr bei, eine Menge Stühle in zwei Reihen zu setzen,
diese für Tänzer und Tänzerinnen anzusehen und zwischen ihnen hindurch
die Touren einer Anglaise zu tanzen, ein Vergnügen, das sie
leidenschaftlich liebte, weil sie dabei die Leichtigkeit und Anmut ihrer
Bewegungen spüren konnte. Ein durchreisender Fremder belauschte und
überraschte sie, er machte ihr das Anerbieten, sie ausbilden zu lassen,
einige Monate darauf hörte man von ihren großen Triumphen, plötzlich war
sie verschollen und es hieß, ein italienischer Graf habe sie entführt.
Viel später war sie noch einmal in der Stadt gewesen und hatte getanzt,
darauf hieß es wieder, ein Liebhaber habe sich ihre Gutmütigkeit zunutze
gemacht und sie zugrunde gerichtet. Jedenfalls ging es ihr jetzt
schlecht, sonst wäre sie nicht in den Reichshallen aufgetreten, einem
Lokal letzten Rangs. An diesem Abend tanzte sie nicht, am nächsten Abend
sah sie Engelhart zum erstenmal, hatte aber keinen guten Eindruck von
ihr; ihre Bewegungen erschienen ihm frech und gewaltsam, nur die
traurigen, starr in die rauchige Luft des eklen Raums gerichteten Augen
berührten sympathisch. Barbeck machte sich hinter einen von Amöna
Sieberts Bekannten, und dieser versprach, ihn und seine Freunde mit der
Tänzerin zusammenzubringen, die gegenwärtig ohne Anhang sei. Barbeck
hatte Bedenken, die Sache drohte Geld zu kosten, er war der einzige
Zahlungsfähige bei der Partie, indessen gab er sich der Hoffnung hin,
auf die Kosten zu kommen, und gegen Mitternacht zog die ganze
Gesellschaft mit Amöna in einen Weinkeller. Amöna Siebert trug sich wie
eine vornehme Dame. Ihr oberflächlich lustiger Ton zeugte von der
stetigen Gewohnheit des Verkehrs mit fremden Leuten. Mehrmals hatte es
dennoch den Anschein, als fühle sie sich unbehaglich und aus dem
verschleierten Blick sprühte Widerwillen. Barbeck benahm sich wie ein
Faun, er trank mehr, als er vertragen konnte, und wurde nach und nach
zudringlich, Klewein, bebend vor Wut, ließ ihn barsch an, es entstand
Streit, Peter Palm mußte sich ins Mittel legen, am Ende stritten auch
Klewein und Palm und warfen einander Wahrheiten an den Kopf. Der Baron
suchte Amöna mit aristokratischen Manieren zu bestechen, während Jentsch
und Krapotkin die Gelegenheit des Freitisches benutzten, um sich gütlich
zu tun. Engelhart litt. Eine mahnende Stimme ertönte in seinem Innern,
und wie unter einer Bergeslast stützte er den Kopf in die Hände.

Es blieb nicht verborgen, daß Klewein für die Siebert leidenschaftlich
entbrannt war. Er opferte das letzte, was er hatte, um sich einen
tadellosen Anzug zu verschaffen. Ob er erhört wurde, war nicht zu
erfahren, man wußte nur, daß er mitsamt seinem feinen Anzug obdachlos
war, denn Palm, bei dem er oft genächtigt, wollte nichts mehr von ihm
wissen. Es beleidigte ihn, sich um eines Frauenzimmers willen beiseite
geschoben zu sehen. Jentsch und der Erfinder gingen einmal spät nachts
am Güterbahnhof spazieren, da überraschten sie Klewein, wie er sich auf
einem Frachtfuhrwerk das Lager zum Schlafen richtete. Er machte
humoristische Glossen darüber, die beiden dummen Menschen ließen sich
täuschen und lachten mit ihm. Barbeck war die ganze Zeit über voll Gift
und Galle, tröstete sich aber immer wieder mit Peter Palms Versicherung,
daß die Siebert unmöglich einem Klewein ihre Gunst schenken könne. Eine
Woche später hieß es, Amöna Siebert sei krank und die Direktion der
Reichshallen mache Schwierigkeiten mit dem Kontrakt, das Mädchen habe
ihre Wohnung aufgeben müssen und sei zu einer armen Verwandten gezogen.

Eines Abends trafen sich Engelhart und Klewein am Laufertor,
schlenderten eine Weile planlos um den Graben, und Klewein wurde von
Minute zu Minute düsterer und zerstreuter. Engelhart dachte, es seien
die Geldsorgen schuld, und da Monatsanfang war und er gerade ein paar
Taler in der Tasche hatte, fragte er Klewein, ob er ihm aushelfen könne.
Das Anerbieten wurde dankbar angenommen, aber Kleweins Betragen
veränderte sich deshalb nicht. Engelhart war nicht fähig, jemand
auszuforschen, er liebte gar nicht Geständnisse eines andern, er war zu
sehr mit sich selbst beschäftigt. Klewein schlug ihm vor, mit in die
Reichshallen zu gehen, und auf dem Wege dorthin erzählte er, offenbar in
dem qualvollen Drang, sich irgendwem zu eröffnen, wie ihn Amöna Siebert
an der Nase herumführe, wie sie ihn leiden lasse durch seine
Leidenschaft und daß er darüber des Lebens satt und übersatt geworden
sei. Wie aus Fieberphantasien stieg Amönas Bild empor als das einer
Vergifterin, eines Molochs.

Stumm saßen sie während der Vorstellung in den Reichshallen, gehässig
aufgeregt durch den Lärm, die widerliche Musik und den Anblick der
verwüsteten Männer- und Weibergesichter. Später gingen sie mit Amöna in
ein nahegelegenes Café. Klewein redete beständig, Amöna unterbrach ihn
oft mit einer spöttisch stachelnden Bemerkung, sie sah matt und blaß
aus, oft schien es, als werde ihre Brust ausgeglüht von einer
verborgenen rasenden Ungeduld.

Engelhart schwieg zumeist. Ihn erbarmte des Weibes, er wußte nicht wie
und warum. Die Gegenwart einer Frau stimmte ihn überhaupt stets milder
und süßer. Auf dem Heimweg entstand plötzlich ein Wortwechsel zwischen
Klewein und Amöna; eigentlich um nichts, der Zwiespalt lag mehr in den
beiden Menschen selber als in ihrer Wirkung aufeinander. Als Klewein sie
aufs äußerste gereizt hatte, blieb Amöna stehen und sagte kalt: »Jetzt
habe ich genug von Ihnen,« und streckte dabei befehlend den Arm aus.
Klewein starrte sie an, dann verbeugte er sich sarkastisch und ging
hinweg. Seine heftigen Schritte verklangen in der Finsternis. Amöna
wendete sich mit einem drohenden Blick zu Engelhart und fragte: »Sind
Sie auch so einer?« Und da er schwieg, nahm sie seinen Arm, und da er
ihr nicht werbend entgegenkam, schien sie zu erstaunen. Unter einer
Gaslaterne nahm sie ihm den Hut ab, legte die Hand auf seine Schulter,
sah ihn prüfend an und sagte halb lächelnd, halb traurig: »So jung, so
jung!« Sie blieben eine Weile stehen, dann sagte sie: »Jetzt gehen Sie
nach Hause und schlafen Sie sich mal aus, und morgen abend um neun Uhr
kommen Sie zu mir, ich tanze morgen nicht, ich fühle mich wieder unwohl,
kommen Sie zu mir in die Wohnung.« Sie nannte ihm die Straße und das
Haus, nickte kokett und schritt langsam davon. Engelhart kam taumelnd
heim, entschlief erst, als der Tag anbrach, und wurde durch einen
Abgesandten des Bureaus aufgeweckt, der ihm ein Schreiben von Herrn
Zittel übergab. Herr Zittel schrieb, seine Geduld sei nun zu Ende, nur
der Rücksicht, die man auf seinen Vater nehme, habe es Engelhart zu
verdanken, daß man ihn noch nicht davongejagt. Engelhart schrieb zur
Antwort, er sei krank, versprach morgen zu kommen, versprach sich zu
bessern. Als er um sieben Uhr nachmittags ins Paradieschen kam, war
Barbeck zugegen, es wurde natürlich über Klewein und Amöna geredet,
durch ein unvorsichtiges Wort machte er den immer lauernden und
mißtrauischen Barbeck stutzig und sein Erröten setzte ihn noch mehr in
Verdacht. Es erschienen auf einmal viele Leute, meist unbekannte
Gesichter, einer von ihnen trat zum Tisch und begrüßte Barbeck, es war
ein schlanker Mensch mit außerordentlich schönen, bleichen Zügen, hinter
dem Zwicker funkelten feurige Augen. Engelhart war es längst müde, immer
wieder Menschen zu sehen, ihm bangte vor jedem neuen Namen, auch dieser
Fremde machte ihn ungeduldig, indessen ward er sehr bestürzt durch den
ernsten, tiefen, mitleidigen Blick, der ihn aus jenen Augen traf. Er
begann zornig zu werden und schaute mit Absicht in eine andre Richtung,
endlich zahlte er und brach auf. Barbeck bat, auf ihn zu warten, er
wolle ihn begleiten, Engelhart zögerte und erwog, wie er sich des Mannes
entledigen könne, es war schon halb neun. Draußen fragte er nach dem
schwarzbärtigen Herrn, der ihm so ärgerlich gewesen war, und Barbeck
sagte, das sei ein toller Kauz, ein ganz toller Kauz. Das war alles.
»Was ist er denn? wie heißt er?« fragte Engelhart mit beständig
wachsendem Groll. Er heiße Justin Schildknecht und sei ... eben ein
toller Kauz. Barbeck lachte wieder einmal geheimnisvoll in sich hinein.

In Wirklichkeit verhielt sich die Sache so. Barbeck hatte sich einst,
ohne Vorwissen Engelharts, eine stenographische Abschrift von der
Geschichte vom kleinen Bräutigam gemacht. Vor kurzem war er mit Justin
Schildknecht, einem seiner bürgerlichen Tagesbekannten, beisammen
gewesen, und um zur Erlustigung beizutragen, hatte er das Geschichtchen
vorgelesen, gespickt mit eignen witzigen Einschiebseln. Der Zuhörer
hatte sich aber in andrer Weise dafür erwärmt und den Wunsch geäußert,
Engelhart kennen zu lernen. Nichts leichter als das, meinte Barbeck,
kommen Sie um die und die Stunde da und da hin.

Es war schwül. Bleifarbene Wolken umsäumten den Himmel, die den
vergehenden Tag wie Tiere in unsichtbaren Klauen noch zu halten
schienen. Während Engelhart überlegte, wie er von Barbeck loskommen
könne, war ihm der Zufall bei seinem Vorhaben behilflich. Von der Haller
Wiese her zog ein großer Trupp Menschen, lauter Arbeiter. Es war eine
Kundgebung. Die Leute von den Spiegelglasfabriken hatten einen Streik
veranstaltet. Aus dem Tor marschierten Polizeileute. Junge Burschen
pfiffen und johlten, ein Herr im Zylinder rannte in größter Eile
inmitten der Fahrstraße, Engelhart entschlüpfte in das Gedränge.

Als er vor dem Haus anlangte, wo Amöna wohnte, es war ein altes Gebäude
nahe der Insel Schütt, fing es an zu regnen. Sein Blut war so aufgeregt,
daß der Arm zitterte, als er an der Glocke zog, und ungeduldigstes
Verlangen machte sein Auge feucht. Ein altes buckliges Weib, wie einer
Hexengeschichte entlaufen, öffnete und führte ihn über einen modrig
riechenden Gang in ein kellerartiges Gemach. Ein riesiger Altnürnberger
Schrank und eine Ampel mit rotem Glas konnten nicht den Eindruck der
Armseligkeit mildern. An einigen Nägeln an der Wand hingen die bunten
Gewänder der Tänzerin und sie selbst saß auf dem Sofa und nähte eine
blaue Schleife auf ihren Hut. Sie schwatzte wie ein kleines Mädchen,
fragte ihn, ob er reich sei, ob er reich werden wolle, schimpfte auf die
reichen Leute, auf das Geld, auf die Männer, auf die ganze Welt. »Früher
ist man wenigstens in die Kirche gegangen,« sagte sie, »jetzt fehlt auch
das.« Dann blickte sie plötzlich auf und fragte mit seltsamer
Heftigkeit, ob er sie schön finde; und da er betreten schwieg, ob er sie
hübsch finde, ob sie schon verblüht sei. »Die Spiegel lügen,« rief sie
aus, »nur die Weiber sind ehrlich, wenn sie aufhören, neidisch zu sein.«
Sie stand auf, ging zur Tür, lauschte, riegelte zu, trat dann zu
Engelhart und sah wartend, lächelnd, nicht ganz ohne Befangenheit in
sein Gesicht. Alles an ihr war ein wenig gelblich, das Haar, die Haut,
ja sogar die Augen.

Engelhart vermochte weder zu reden noch sich zu bewegen, er saß wie
angeschmiedet und erstaunte selbst über seinen unbegreiflichen Zustand.
Nicht als ob ihm Amöna auf einmal reizlos erschienen wäre. Er fühlte
noch dasselbe dumpfe Verlangen nach ihr wie vordem. Aber zuerst war es
dies gewesen: er glaubte sie durch eine Miene oder Gebärde der
Annäherung zu beleidigen, sie, die er doch kaum kannte; dann fürchtete
er etwas andres, das Leben hinter ihr, die Bitterkeit in ihrer Brust,
und außerdem war es ihm unmöglich, ihr auch nur ein einziges zärtliches
Wort zu sagen, weil er keine Zärtlichkeit empfand und weil er sie nicht
niedrig genug schätzte, um skrupellos zu nehmen, was vielleicht mit Mut
und Selbstverleugnung gegeben wurde. Es war zugleich Stolz und Feigheit,
Achtung vor dem Weibe und Angst vor einer Verantwortung, Trotz und
Scham, doch hauptsächlich wohl Scham und schließlich auch eine nagende,
beklemmende Traurigkeit. Alles das war es, nur kein Zugreifen und
unbekümmertes Wagen. Zu viel enthielt jeder Augenblick für ihn, zu
eifrig schaute er vorwärts und rückwärts und seitwärts und nach innen
hinein in die Tiefe. Ein Mensch war ihm etwas unergründlich Vielfaches,
Schwieriges, Gewundenes, Rätselhaftes, und ein Weib, das war nun ganz
und gar ein Geheimnis.

Amöna hatte ihn zu liebkosen versucht; sie ließ nun ab und setzte sich
bleich und stumm auf den Rand ihres Bettes. Sie warf einen schnellen
Blick in den Spiegel, der nebenan an der Wand hing, und ihr Gesicht
hatte einen herausfordernden, wild-verächtlichen Ausdruck. Dann ging
eine ganze Kette von Veränderungen in ihrem Gesicht vor; die Züge
erschlafften, unter den gesenkten Lidern hervor sickerte eine hohle
Müdigkeit über Wangen und Mund, über den Leib flog ein Schauder, sie
warf sich quer über das Bett und seufzte aus furchtbar bedrängter Brust.
Engelhart war sehr bestürzt darüber, was er da angerichtet, er hätte es
gern wieder ungeschehen gemacht, aber das war nun vorbei. So stand er
auf, ging zur Türe und sagte schüchtern gute Nacht.

Draußen regnete es noch in Strömen, wie Peitschenschläge klatschte es
aufs Pflaster. Indes er unter dem Toreingang wartete und den Hutrand
herunterstülpte, weil das Wasser vom Pfosten ab und ihm ins Gesicht
spritzte, löste sich aus der Dunkelheit der gegenüberliegenden Mauer
eine Gestalt und kam rasch auf ihn zu. Es war Franz Klewein. Engelhart
erschrak. Klewein trat dicht vor ihn hin, ergriff mit beiden Händen
seine Rechte und mit schlotternden Kinnladen murmelte er: »Mensch!
Mensch!« Es war nichts Tobendes in seiner Stimme, nur Schmerz und
leidenschaftliche Bewegtheit. Engelhart befand sich jedoch in
wunderlicher Lage; er konnte jenem nicht sagen: das, was du fürchtest,
ist nicht geschehen, denn es gibt eine Männereitelkeit, die stärker ist
als jedes Gefühl von Sünde.

Klewein schien es auch als ein Fatum zu nehmen. Ja, er behandelte
Engelhart herzlicher als vorher und suchte im übrigen wieder Peter Palms
Gesellschaft, die ihm immer unentbehrlicher wurde; sie beschäftigten
sich nach alter Gewohnheit damit, Höhlen zu bauen und andrer Leute
Vorratskammern zu plündern.

Es begann damals ein neuer Wind durch die Zeiten zu wehen; vieles
zerbarst, was bislang in unantastbarer Scheinherrlichkeit gestanden, ein
Frühling des Gedankens war es, ein März der Hoffnungen, mit Fug durfte
man Gewohntem mißtrauen, es brachen Blüten auf, so fremdartig, daß müde
Augen sie für Traumgebilde nahmen, es war wieder einmal freier zu atmen
und mancherlei stand im Wachsen. Engelhart spürte es in allen Fasern und
wußte nicht, wohinaus damit; ein heftiges, blindes Wollen machte ihn
unfähig, dem Augenblick, der gegenwärtigen Stunde genugzutun, seine
Sehnsucht schien ihm doch nicht die rechte zu sein, da sie ihn nicht an
die rechte Stelle führte. Jene aber, an die er sich drangvoll anschloß,
taten, als wüßten sie von nichts. Wenn der Sturm brauste, sagten sie:
»Ach was, das Fenster schließt wieder einmal nicht«, und statt die
Richtung zu deuten, machten sie sich über die Wetterfahne lustig. Sie
verwühlten sich, und um nichts zu sehen, wenn es am wetterträchtigen
Himmel leuchtete, schlossen sie krampfhaft die Augen und schrien: Es ist
finster. Engelhart, in jeder Weise allzu intensiv auf Menschen
angewiesen, ward um sein Lauschen betrogen und etwas Arges, Schmähliches
kam über ihn.

Mit dem trotzigen Entschluß zur Verworfenheit, gleichsam mit verhängtem
Gesicht und aufgerissener Brust hatte sich Klewein in ein
lasterhaft-ausschweifendes Treiben gestürzt. Der Baron, ebenfalls ein
Mensch, der das Leben dort suchte, wo andre es wegwarfen, unterstützte
ihn, Barbeck machte den lüsternen Neugierigen und Peter Palm sprach von
sozialwissenschaftlichen Forschungsreisen, damit die Sache ein
Mäntelchen habe. Es mußte alles ein Mäntelchen haben, jeder Mann und
jedes Ding. »Kommen Sie, Freundchen,« sagte er zu Engelhart, als dieser
einmal schmerzlich zögerte, »die verlorenen Söhne gehören zu den
verlorenen Töchtern.« Sie traten in ein Haus, auf dessen Steinschwelle
sich eine Lache geronnenen Blutes befand; daneben lag ein
zerschnittener, halbverfaulter Apfel.

Aus schmutzigen Kneipen lasen sie verwahrloste Frauenzimmer auf und
zogen mit ihnen umher. Am Abgrund taumelnde Wesen waren es, die mit Lust
den letzten Funken der Unschuld in ihrer von Leiden durchpflügten Brust
verschütteten. Engelhart ward seinem Mitleid und seinem Abscheu ein
Spielball. Ihre Gesichter erschienen ihm im Traum und glichen den
offenen Gräbern für alle Hoffnungen des Lebens. Aber die Dirne ist
vogelfrei, sie steht außerhalb der Welt, sie ist kein Weib mehr, sie ist
die Kreatur schlechtweg, sie fordert keine Scham heraus, sie ist
pflichtenlos und legt niemandem eine Pflicht auf.

Engelhart wußte, was er beging. Wie der Geldborger den besten Freund
fliehen und fürchten lernt, dem er verschuldet wird, so geht es auch
dem, der sein eignes Herz zum Gläubiger macht; er findet einen
unerbittlich stumm mahnenden Feind in ihm. Je mehr Engelhart sich mit
Schuld bedeckte, je mehr betörte er sich mit dem Traum einer großen
Erlösung. Er sah das Weib in seiner schmachvollsten Niedrigkeit und
baute innerlich ein Gebilde von unnennbarer Keuschheit, eine Gespielin
der Götter. Daß Engelhart, so für die Liebe geschaffen wie keiner,
gerade an ihr zum Frevler werden mußte und zum immer wissenden Frevler,
zum sühneerwartenden; seine Jugend hinwerfen mußte, das verirrte Gefühl
nicht bewahren konnte, im Wahnwitz der Ungeduld um ein Ziel und eine
Bestimmung alles von sich werfen mußte, was ihn stark und rein erhalten
konnte!

Es war eine Septembernacht, der Morgen ließ schon die Giebel der Häuser
erblassen, da ging Engelhart mit wunderlicher Langsamkeit, die Hände vor
das Gesicht gedrückt, Schritt für Schritt seiner Wohnung zu. Er mochte
nicht emporblicken, die schwarzen Fenster der Häuser wurden ihm zu
Augen, wie die Augen von Dirnen traurig und leer. In dieser Stunde der
Verzweiflung begegnete ihm jener Justin Schildknecht, den er durch
Barbeck kennen gelernt und den er seitdem nicht wiedergesehen hatte. Er
hatte die Hände vom Gesicht genommen, als der halb Unbekannte
vorüberging, und sah ihm unwillkürlich nach. Plötzlich drehte sich
Schildknecht um, kam wieder zurück, sie wechselten ein paar Worte, auf
einmal fühlte Engelhart wie durch einen Zauberschlüssel sein Inneres
aufgeschlossen, sie gingen miteinander weiter, redeten, redeten,
Verwicklungen lösten sich, Nebel entschwebten, der Himmel wurde licht,
Engelhart fand sich so herrlich verstanden, zärtlich beruhigt, endlich
ein hörendes Ohr, ein sehendes Auge, ihm war, als steige er aus
Bergwerksschächten empor, und als sie sich trennten, besaß er einen
Freund.



                            Elftes Kapitel


Justin Schildknecht trat als Prediger und Reformator in den Lebenskreis
Engelharts. Dies und dies ist ganz verkehrt und jetzt werden wir die
Sache so und so anfassen, sagte er; Engelhart wußte, wie verkehrt alles
war und wo das Rechte lag, und war doch entzückt, es mit Worten zu
vernehmen. Bisher hatte niemand sich die Mühe genommen, ihm einen Weg zu
weisen, als ob es gleichgültig sei, wohin er ging, da er nicht stille
hielt vor der Krippe, wo sie ihn haben wollten. Schildknecht aber sagte:
»Du gehörst ja gar nicht an die Krippe in den Stall, du gehörst hinaus
in die Welt, du gehörst der Welt und gehörst dir selbst.« Das machte
Engelhart sicher wie einen, der lange Zeit ein von der Behörde nicht
konzessioniertes Geschäft betrieben hat und nun den Erlaubnisschein vom
Minister selbst erhält.

Zunächst heißt es sich von Peter Palm und seiner Sippe losmachen,
erklärte Schildknecht. Nichts schien leichter; Engelhart dachte: ›Ich
meide die Gesellschaft und alles ist in Ordnung.‹ Aber wenn die Stunde
kam, trieb es ihn an die gewohnte Stätte, als wäre sein Blut vergiftet
von der Luft dort, von den Blicken, Worten und Zeichen, von all dem
Nichts, und fände nicht eher Ruhe, bis es wieder Gift genossen. Auch lag
in seiner Natur eine gewisse sinnliche Treue gegen Menschen, denen er
einmal nur den geringsten Teil seines Herzens geschenkt, und er verstand
es nicht, irgendein Band, das ihn fesselte, wenn auch verderblich
fesselte, unbekümmert zu zerschneiden. Er schleppte immer sämtliche
Überbleibsel aller Beziehungen zu Menschen schwerfällig hinter sich her.

Dazu kam, daß Peter Palm plötzlich Besitzrechte an Engelhart geltend
machte wie an einen Sklaven, der die Freiheit will. Engelhart nahm das
sehr ernst. Er erachtete sich für gebunden, ihm schien, als ob ein
Vertrag ihn feßle. Daß Schildknecht um dessentwillen nicht an ihm irre
ward und hinter der schwächlichen Handlung das verzagte Gemüt spürte,
das war ein schöner Zug an ihm. Er folgte Engelhart; er ließ sich zum
Schein selbst von den Fäden umgarnen, aus denen er ihn lösen wollte, zog
nächtelang mit umher, und wenn sie dann allein waren, redete er ihm
gütig zu und riß den Flitterschleier von dem genialischen Unwesen.

Schildknecht wohnte mit seiner Mutter in einem uralten Hause am
Egydienplatz. Über dem Tor war der Körper eines aufhorchenden, im Lauf
stillestehenden Windspiels in Stein gemeißelt. Schildknechts Wesen und
Erscheinung erinnerten sehr an dies Sinnbild nervöser Wachsamkeit. Er
war reizbar und scheu wie ein eingesperrtes Tier. Einmal führte er
Engelhart in ein leeres Zimmer des Hauses, wo das Bildnis seines Vaters
hing. Engelhart empfand beinahe Furcht vor dem schwarzbärtigen Gesicht
mit den durchdringenden Augen und beneidete dennoch den Freund, über
dessen Leben eine so verehrungswürdige und gewaltige Erscheinung
thronte. In seiner behaglich-breiten und schnörkelhaft-abschweifenden
Manier erzählte Schildknecht, wie sein Vater im Revolutionsjahr in die
Bürgerversammlung gekommen war und wie der Anblick seiner majestätischen
Person genügte, um die Zwieträchtigen eines Sinnes zu machen. Aber die
Erinnerung an diesen Mann, die Rückwirkung einer tyrannischen und
klösterlichen Erziehung beirrte Justins bis zur Schmerzhaftigkeit
empfänglichen Geist mehr, als sie ihn festigte.

Er war Entwurfzeichner für eine chromolithographische Anstalt und
verdiente ziemlich karg sein Brot. Der Kopf war ihm voll von Plänen und
Ideen, die ihn in seinem engen Lebenskreis umherpeitschten, und er fand
nicht den Weg in die große Welt. Vielfaches Mißlingen hatte ihn
argwöhnisch gemacht und die Kleinlichkeit seiner Umgebung benahm ihm den
Atem. Er war verlobt mit einem schönen Mädchen aus wohlhabender Familie,
die Eltern der Braut wollten von einer Heirat nichts wissen, solange
Schildknecht ohne sichere Stellung war. Zwei Schwestern, giftige
Schlangen, nur im Neid vegetierend, trugen schmutzigen Klatsch ins Haus,
machten die Braut zum Aschenbrödel, häuften die Erbitterung.
Schildknechts Vergangenheit wurde böswillig durchforscht, anonyme Briefe
tauchten auf, das Verhältnis mit der Geliebten wurde zur Qual.
Schildknecht war zu stolz, sich zu rechtfertigen, aber die Unbill
verzehrte ihn. Wochenlang durfte er dem Mädchen nicht nahen, dann hielt
er sich geflissentlich fern. Engelhart sah einmal das junge Ding,
verschüchtert ging sie daher, doch gleich Beatrice »macht’ ihr Anblick
jedes Ding bescheiden«, und in ihrem Gesicht lag ein holdes Ertragen.
Schildknecht sprach selten von ihr und nur in Andeutungen, denn in
allem, was Frauen und Liebe betraf, war er scheu und keusch.

Justin Schildknecht liebte die Kunst. Doch was irgend mit Werktätigkeit
zusammenhing, schob er in weite Ferne: aus Ehrfurcht, um nicht mit
unfertiger Hand zu freveln. Er meinte, es müsse wie Sturmflut über ihn
kommen, und es sei nichts vonnöten, als der gemeinen Misere enthoben zu
sein. Einstweilen biß er sich die Lippen blutig an der Kette, die ihn
hielt. Seltsam war es für Engelhart, mit Schildknecht vor dem
Sebaldusgrab zu stehen, das er als Knabe in der dumpfen Lust an
Gestaltlichkeit betrachtet hatte, und doch ahnend, wie Schönheit aus
dem innersten Kern der Welt sprießt. Schildknecht vergötterte die alten
Meister, in ihnen sah er alles verkörpert, was ihm die Heimat war und
geben konnte. Engelharts stille Bewunderung war ihm nicht genug, er
stachelte ihn zu lautem Bekennen, und das war zu viel, das ermüdete
Engelhart, unter solchem Zwang hätte er auch im Paradies trotzig die
Augen geschlossen. So entwand ihm Schildknechts Herrischkeit manches,
manches Werk, manchen Menschen, manches freie Staunen. Um sich und den
Freund baute Schildknecht eine Mauer des Hasses, und Engelhart öffnete
sein Ohr für Schildknechts böses Hadern gegen die Zeit; mit der Gabe des
Wohlwollens ohnehin spärlich bedacht wie alle, deren wunde Brust ruhelos
der Menschheit entgegendrängt, entfernte sich Engelhart, selber noch
Ringender, hoffärtig und besserwissend von den Ringenden, als ob er
darum schon des Irrtums enthoben wäre, weil er angefangen, fremdes Irren
zu durchschauen. Der eine, einzige, der ihm, zum erstenmal, das Gefühl
eignen Wertes gab, genügte, um einer Welt den Rücken zu kehren. Und als
Schildknecht den Freund so weit hatte, als er nur schüchtern glimmende
Hoffnungen zu stärkerer Glut angefacht hatte, dem unaufhörlich fragenden
Herzen in seiner ganzen Person ein verkörpertes, lebendiges, trotziges
Ja geworden war, da fiel es ihm nicht mehr schwer, ihn aus Peter Palms
Zauberkreis zu befreien, und Engelhart war verwundert und beschämt, als
es ihn plötzlich nicht mehr zurückzog in die dunkle Sphäre.

Schildknecht erlaubte nicht, daß Engelhart das armselige Loch in der
Arbeitervorstadt weiter bewohnte. Sie fanden ein wohlfeiles Zimmer in
Sankt Johannis vor dem Tor, in einem stillen Gartenhaus, und bald spürte
Engelhart das Wohltuende von Ruhe, Luft und Licht. Bis in die späte
Nacht, auch wenn Schildknecht schon längst gegangen war, konnte
Engelhart nicht schlafen und lag oft noch mit offenen Augen, wenn die
Morgendämmerung durch die Gardinen blinzelte. Gestalten, denen er nie
begegnet, regten sich wie Schattenbilder an der Wand, lösten sich von
der Wand und schauten ihn an: ganz Blick, ganz Schicksal. In ihrem
Schreiten war Musik. Der Wille, sie festzuhalten, erschütterte jeden
Nerv. Sie waren Stücke seiner selbst, gleichwohl waren sie ihm fremd;
ihr Antlitz war fremd, aber mit ihrem Innern war er vertraut. Sie
sprachen nicht, sie tönten, und nicht die Freude, sondern das Leiden
machte sie tönend. Die Wonne des geisterhaften Seins umgab ihre dunkeln
Körper mit rosiger Kontur. Sie folgten keineswegs einem Rufe, sie
erschienen, nach echter Gespensterart, wann es ihnen beliebte.

Engelharts Blut wurde trunken und matt und wieder trunken durch die
verführerische Gaukelei. Feindselig empfing ihn der gemeine Werktag. Er
irrte im Bodenlosen und nährte den Geist mit den Verlockungen der
Phantome. In den letzten Tagen des Spätherbstes wurde es so schlimm, daß
er die Erfüllung der notwendigen Pflichten hintansetzte. Eine Woche lang
verließ er das Zimmer nur zur Nachtzeit, um mit Schildknecht
umherzustreifen. Ohne eigentlich krank zu sein, war sein Körper von
unbeschreiblicher Schlaffheit umfangen. Es quälte ihn ein seltsamer
Durst, der vor jeder Labung in Ekel überging. Im Schlummer empfand er
wie Sturmgebrause die Lebensangst, und alle Zweifel sah er in der
geöffneten Brust als gelbe Würmer sich winden. Eines Abends hockte er
jämmerlich beklommen vor dem Ofen und starrte durch das offene Türchen
in die Glut. Da barst eine Kohle knisternd auseinander, und eines von
den Gespenstern stieg daraus empor; es war wie ein Knabe anzusehen,
winzig klein, und es setzte sich Engelhart auf den Schoß. Der ganze Raum
war plötzlich von einer bisweilen stockenden Melodie erfüllt:

    Es war ein Bild im Bilde,
    Als ich den Tod erdacht,
    Sein trunkenboldisch Jauchzen
    Durchgeisterte die Nacht.

    Der Mantel wie von Flammen,
    Das Auge wie von Stahl,
    Der Busen eine Wunde, –
    So flog er kalt und fahl.

    Er schüttelt seine Taschen,
    Die Seelchen flattern aus,
    Das wispert, wimmert, kichert,
    Und jedes sucht sein Haus.

    Nur eins voll seligem Grauen,
    Betäubt von Schein und Schall,
    Verliert sich ohne Heimat
    Im bodenlosen All.

Bald danach warf sich Engelhart aufs Bett und schlief in seinen Kleidern
still und gesundend bis zum Morgen. Da erst kam das Staunen. Durch bloße
Worte kannst du also entzaubert werden, durchfuhr es ihn.

Er wurde nachdenklich. Die Worte allein waren es nicht. Sie waren nur
die Entschleierer, die Ausgraber des geheimnisvoll in Brunnentiefe
ruhenden Bildes, die listig-vielgesichtigen Diener eines Wesens, das
Brücken baut von Traum zu Traum.

Er hatte sein Ausbleiben vom Bureau brieflich entschuldigt; als er
hinkam, machte ihm Herr Zittel die Mitteilung, daß er entlassen sei. Er
erhielt noch einen Restbetrag von sieben Mark und zwanzig Pfennig
ausbezahlt und außerdem, gnadenhalber, ein präsentables Zeugnis, damit
seine Existenz nicht völlig ruiniert sei. Einer der Schreiber am Pult
drehte sein Gesicht Engelhart zu; es war dies eine Art Methodist, der
seine freien Stunden, hauptsächlich von sieben bis neun Uhr abends, auf
christliche Nächstenliebe gestellt hatte. Er wollte ein mitleidiges
Gesicht machen, grinste aber schadenfroh. Herr Zittel richtete den
blauen Blick seiner Fischaugen vorwurfsvoll auf Engelhart, dann ging er
ins Privatzimmer des Generalagenten, um das Zeugnis unterschreiben zu
lassen. Der Methodist rückte ein Weilchen auf seinem Sessel, schließlich
sprang er herab, brachte ein kleines Paketchen aus seiner Tasche zum
Vorschein, hinkte auf Engelhart zu und bot ihm mit salbungsvoll
flötender Stimme ein Stück zerbröckelten Lebkuchens an. Engelhart lachte
gutmütig und dankte.

Traurig stand er gegen Mittag an der Karlsbrücke, sah ins Wasser und
überlegte, was er jetzt beginnen sollte. Alle Posten waren sicher schon
besetzt; das war immer seine feste Überzeugung im voraus, daß alle
Posten schon besetzt seien. Er kam sich vor wie jemand, der bei einem
Fest ungeladen und zu spät kommt, über viele Köpfe hinweg gerade noch
einen Fahnenfetzen winken sieht, während die Musik nur durch
verschlossene Türen zu ihm dringt.

Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. Es war Schildknecht.

»Warum so tiefsinnig, alter Schwede?« fragte er in jenem
gemütlich-heiteren Ton, der ihm stets Engelharts ganzes Herz zuwandte.
Engelhart erzählte, und Schildknechts Gesicht verfinsterte sich. »Wie
steht es mit den Finanzen?« fragte er. »Schulden? Wo und wieviel? Gut;
jetzt lassen Sie mich mal gewähren. Wir werden ein schönes Brieflein an
den Herrn Oheim nach Wien schicken, verstanden? Wir werden ihm
klarmachen, daß der Herrgott ein paar Individuen erschaffen hat, deren
Hinterteil sich für den Drehsessel nun einmal nicht eignet. Wir werden
ihm sagen, daß es einige Pflanzen gibt, die rasch ins Blühen kommen und
rasch ins Welken, und wieder andre, bei denen die Sache langsam geht, je
langsamer, je süßer die Früchte werden. Wir werden ihm zu verstehen
geben, daß der satte Magen ein guter Moralist und der hungrige ein
Behälter von Sünden ist. Und nun Kopf hoch, lieber Sohn.«

»Was ist aber dabei gewonnen, selbst wenn er ein paar Taler schickt?«
entgegnete Engelhart; »was dann, wenn das Geld verzehrt ist?«

»Zuerst müssen Sie aus der verdammten Klemme kommen,« sagte
Schildknecht. »Erst atmen und dann denken. Was später sein wird, dafür
lassen Sie nur mich sorgen und meinen Freund, den Zufall.«

Der Brief wurde geschrieben, und in ihm versprach Engelhart, die
Geldsumme, um die er den Oheim bat, am Tage seiner Mündigwerdung
zurückzuerstatten; er hatte von seinem mütterlichen Vermögen noch einen
Rest von etwa achthundert Mark zu erwarten. Michael Herz schickte den
erbetenen Betrag mit einigen wohlwollenden, aber kühlen Zeilen. »Ich
hoffe, daß Du Deine bedrückte Lage, in welche Du durch eigne Schuld und
eignen Entschluß geraten bist, nun etwas erleichtern kannst.« Von
Zurückzahlung keine Silbe. Aber hätte Engelhart hinter den Zeilen zu
lesen verstanden, hätte er nicht immer nur bei solchen Menschen Feinheit
und Adel vorausgesetzt, um die er sich geistig mühen mußte und die ihn
geistig nahmen, so hätte er sein Gelöbnis wohl bewahrt. Es war ihm dort
nicht mehr um Treu und Glauben zu tun, er meinte, dort habe er ohnehin
ausgespielt und ein Vorteil sei ein Vorteil.

Wenige Tage später erhielt Engelhart auch einen Brief seines Vaters.
Herr Ratgeber wußte noch nicht, daß Engelhart ohne Posten sei, deshalb
empfand dieser keine Freude, als ihm der Vater mitteilte, er werde sich
in der kommenden Woche in Nürnberg aufhalten, wo er geschäftlich zu tun
habe. Herr Ratgeber schrieb, daß er über Engelharts Treiben nur
Ungünstiges vernehme, er beklagte sich bitter über die Nachlässigkeit
des Sohnes, der ihn monatelang ohne Brief lasse und sich nur an ihn
wende, wenn er etwas brauche. »Deine Stiefmutter hat recht, wenn sie
Dich einen kalten Selbstsüchtling nennt,« hieß es weiter, »schon lange
bereitet mir Deine Undankbarkeit Kummer. Und was ist mit Deinem
Fortkommen? Wahrlich, ich verstehe Dich nicht. Nun wirst Du
einundzwanzig Jahre alt, in zwei Monaten bist Du großjährig, alle Deine
früheren Kameraden haben schon glänzende Stellungen und Du mußt
Schreiberdienste leisten für einen Hundelohn. Wozu habe ich Dich eine
teure Schule besuchen lassen, wozu sind alle Deine Gaben? Für nichts
zeigst Du Lust und Liebe, wie ein kleines Kind stehst Du im praktischen
Leben, und wenn ich bedenke, daß Du mir schon behilflich sein könntest,
mein schweres Los zu erleichtern, dann frißt es mir ins Herz, Dich so
mißraten zu sehen. Sieh doch zu, daß Du bei einer Bank unterkommst,
suche meinen Bruder oder Deinen Vormund auf, vielleicht geben sie Dir
Empfehlungen, so wie bis jetzt kann und darf es nicht weitergehen.«

Zum Schluß kamen noch einige versöhnliche Sätze, als fühle Herr
Ratgeber, daß er die Kluft zwischen sich und dem Sohne nicht erweitern
dürfe, aber Engelhart blieb ungerührt. Er las das Schreiben seines
Vaters Schildknecht vor, und bei dem Wort »Undankbarkeit« zuckte dieser
zusammen.

»Wenn nur die Herren Väter einsehen wollten, daß das weitaus größere
Vergnügen auf ihrer Seite war,« knurrte er. »Immer soll das
Kinderkriegen auch zugleich ein Zinsengeschäft sein.«

Solche Worte von den Lippen des Freundes erkälteten Engelharts Gemüt
noch mehr gegen den Vater. Er antwortete nicht auf den wohlgemeinten
Brief. »Ich habe niemals zu Hause Entgegenkommen oder Verständnis
gefunden,« sagte er zu Schildknecht, wie um sich vor sich selbst zu
rechtfertigen. Er war Tor genug, zu glauben, vom Verständnis sei alles
Glück abhängig; er selbst wollte verstanden werden, aber er bequemte
sich nicht dazu, auch seinerseits zu verstehen, wenigstens dort, wo es
sich um jenes nach seiner Ansicht niedrige Vegetieren handelte, das
sogenannte praktische Leben. Als sein Vater in die Stadt kam und er
durch eine Postkarte davon Nachricht erhielt, versteckte er sich. Nur
zum Schlafen kam er spät am Abend heim, zweimal fand er einen Zettel
seines Vaters auf dem Tische liegen, das erstemal standen fragende und
befremdete, das zweitemal abgerissene, empörte Worte darauf. Engelhart
hörte nicht und fühlte nicht. Den ganzen Tag über hielt er sich in
Schildknechts Hause auf.

Frau Schildknecht hatte ihn zuerst kühl, beinahe feindselig behandelt,
denn sein Umgang mit Justin schien diesen noch mehr aus der Bahn zu
reißen als alle früheren Eskapaden und Freundschaften. Als sie
Engelharts Appetit bei den Mahlzeiten sah, versöhnte sie sich mit ihm.
»Sie sind auch ein wacker verprügeltes Männlein,« sagte sie und schaute
ihm tief, beinahe finster in die Augen. Das Haus war die reinste
Katzenmenagerie. Um die Dämmerstunde öffnete Frau Schildknecht die Tür
und zwei schwarze Katzen und ein gelber Kater marschierten lautlos
herein. Justin Schildknecht sah in jeder Katze etwas wie ein mystisches
Wesen und schrieb ihr dämonische Klugheit zu. Er erzählte von einem
Kater, der, merkwürdig begabt, ihm auf Schritt und Tritt durch die
Gassen gefolgt war, dem leisesten Lockruf gehorchend; als er auf die
Akademie gezogen, sei das Tier verschwunden und nie wieder zum Vorschein
gekommen. Eines Nachts war Engelhart Zeuge, wie Schildknecht mit
mehreren betrunkenen Burschen anband, weil diese nach einer Katze mit
Steinen warfen. Er war wie außer sich und schlug mit der Kraft von
dreien die ganze Gesellschaft in die Flucht. Dann legte er das halbtote
Tier in seinen Arm, sprach ihm zärtlich Trost zu und trug es nach Hause.

Tag um Tag wurde Engelharts Zusammenleben mit Schildknecht inniger,
alle andern Menschen erschienen ihm fremd, und wo immer er auch sonst
Anschluß und Annäherung gesucht hatte, nichts blieb von diesen
Beziehungen übrig, er zerbrach jede Fessel, vergaß jede Rücksicht außer
dieser einen, die nun sein innerstes Leben ausmachte. Da er sich
überdies von Justin Schildknecht eifersüchtig bewacht sah, bis auf
Blicke, bis auf Gedanken, fand er sich doppelt verpflichtet und doppelt
ergeben. Höher flogen ja seine kühnsten Wünsche nicht, als sich mit der
ganzen Person einzusetzen für ein wahres Gefühl der Freundschaft, nur so
erschien er sich geborgen, nur darin erblickte er Möglichkeiten des
Gedeihens. Er erschloß mit Inbrunst sein Herz. Keine Hoffnung, keine
Furcht blieb geheim. Über jede fern von dem Freund verbrachte Stunde
legte er Rechenschaft ab. Nichts hatte Gewicht, was nicht Schildknecht
billigen konnte, nichts wurde Erlebnis, was er nicht mit ihm erlebte.
Was auch in der Welt geschah, große und kleine Dinge, schließlich kam es
nur darauf an, wie es ihnen beiden dienen konnte. Ihm schien, man könne
nicht zugrunde gehen, wenn man durch ein gleichgestimmtes Herz gehalten
würde. Auch kannte er nicht mehr das Gefühl der Einsamkeit, das ihn
vordem so oft gequält. Ein Tag voll Bangigkeit zählte nicht, denn er
verhieß doch ein beseligendes Gespräch mit dem Freund, und über all das
Drohende und Bedrängende sprechen zu können, das bedeutete soviel als
es beseitigen. Sie wanderten in mondhellen Nächten durch die winkligen
Gassen, über die Brücken und auf die Burg, oder saßen bei schlechtem
Wetter in einer Kneipe; Schildknecht erzählte von seiner Vergangenheit,
und dabei wurde ihm alles zum Märchen, ebenso wie Engelhart alles zum
Märchen wurde, wenn er von der Zukunft sprach. Leider besaß keiner von
ihnen die rechte Geduld, dem andern zuzuhören, es ging ihnen wie zwei
Hungrigen, die aus derselben Schüssel essen und bei allem Wohlwollen
füreinander doch nach den größten Bissen schnappen. Wie einfach wurde
das Getriebe der Welt in solchen Stunden! Auf dieser Seite der Haß, auf
der andern die Liebe, hier der Untergang und dort das Gelingen, Gut und
Böse geteilt wie Licht und Finsternis, es kam gar nicht zum Exempel,
denn alle Größen standen ausgerechnet da, und die Zauberformel hieß:
Zugreifen!

Solange er mit Engelhart allein war, fühlte sich Justin Schildknecht
ruhig und frei gestimmt. Er war, wie auch Engelhart, ein sehr mäßiger
Mensch, trank nie, nur im Tabakrauchen waren sie beide ausschweifend.
Wenn sich nun ein dritter zu ihnen gesellte, was hier und da vorkam,
denn Schildknecht hatte zahlreiche Bekannte in der Stadt, dann machte er
den Eindruck eines Betrunkenen, und Engelhart selbst erschrak über sein
scheues, zerflattertes, geschwätziges und gefährliches Wesen.
Schildknecht traute keinem, er hatte an jedem seine Erfahrungen gemacht,
er wollte niemand in sein Inneres blicken lassen, darum verkleidete,
verstellte, versteckte er sich. Er war immer ein klein wenig Komödiant,
nicht völlig aufgelöst in sein Schicksal oder seine Stimmung, stets ein
bißchen von außen nach sich selber schielend. Nach und nach zogen sich
alle von ihm zurück, auch Leute, die ihm wohlwollten. Er hatte ganz
aufgehört zu arbeiten, und seine Verhältnisse wurden drückend. Der
Mutter gegenüber hatte er ein schlechtes Gewissen und mied tagelang das
Haus, nächtigte in Engelharts Wohnung. »Es wird ein schlechtes Ende
nehmen,« sagte Frau Schildknecht. Ihr sibyllenhaftes Wesen wühlte Justin
tief auf. Mutter und Sohn konnten nicht eine Viertelstunde nebeneinander
weilen, ohne daß es zu heftigem Wortwechsel kam, und je maßloser sich
Justin benahm, je stiller und eisiger wurde die Frau, gleichsam
leuchtend von furchtbarer Voraussicht. Bei alledem wunderte sich Justin,
daß sie sich Engelhart gegenüber sanft und freundlich zeigte, und hielt
es ihr sehr zugute. Er liebte und verehrte sie, aber eigentlich nur in
Gedanken, er sah in ihr eine wunderliche und geheimnisvolle Person, den
dunkeln Kräften der Natur verwandt, denen der Sterbliche unbewußt
widerstrebt.

Indessen hatten die Eltern seiner Verlobten von dem Lotterleben Kunde
erlangt und sich unter Aufgebot von allerlei Spionen Gewißheit
verschafft. Sie untersagten der Tochter jeden Verkehr mit dem
pflichtvergessenen Mann. In atemloser Erbitterung verbrachte
Schildknecht die darauffolgende Zeit. Zudem gab es andre Schwierigkeiten
materieller Art, die ihn ruhelos machten. Seine letzte Betäubung waren
die Pläne, die er mit Engelhart schmiedete. Er selbst glaubte eigentlich
nicht mehr an sich, aber Engelhart glaubte an sich, fest, naiv und froh;
das war tröstlich, das war der Grund, weshalb Schildknecht oft wie in
Bewunderung zu dem jüngeren Genossen emporsah.

Eines Nachmittags um die Dämmerstunde kamen sie beide vor Schildknechts
Haus und mußten dreimal läuten, ehe geöffnet ward. Oben im Wohnzimmer
gewahrten sie die Umrisse einer Gestalt, die sich aus kniender Stellung
erhob, und ehe Justin noch ein Streichholz in Brand gesteckt, trat seine
Mutter zu ihm und sagte: »Mach dich gefaßt, es gibt ein Gewitter.«
Schildknecht zündete die Lampe an; das Zylinderglas zitterte in seiner
Hand, als er seine Braut im Zimmer sah, und er fragte rauh: »Was habt
ihr denn miteinander?« Frau Schildknecht nahm eine offene Kassette, die
mit Schmucksachen gefüllt war, vom Tisch, klappte sie zu und trug sie in
den Nebenraum. Die unschuldigen Augen des jungen Mädchens leuchteten vor
Angst. Justin schlug seine Faust mit solcher Gewalt auf die Lehne eines
Stuhls, daß der Knöchel des Mittelfingers zu bluten begann. Dabei schrie
er: »Ich will wissen, ich will wissen!« Wieder trat Frau Schildknecht
auf ihn zu und flüsterte. Er zuckte zusammen, packte sie an der Schulter
und mit einem heiseren Aufbrüllen riß er sie herum. Sie strauchelte und
stürzte mit der Stirn gegen die Ofenkante. Das junge Mädchen hielt die
Arme flehend ausgestreckt, dann wurde ihr Antlitz flammend rot, sie
griff nach ihrem Mantel und ging. Justin ließ sich auf das Sofa fallen
und begrub das Gesicht zwischen den Armen. Frau Schildknecht warf
Engelhart einen sonderbaren triumphierenden Blick zu, dann seufzte sie
und zog die Vorhänge über dem Fenster zusammen. Engelhart empfand
plötzlich Grauen vor Schildknecht, er spürte etwas Fremdes und
Unüberwindliches zwischen sich und ihm; es war, als ob eine Hand sein
Haupt umspannte, den Kopf in eine bestimmte Richtung drehte und ihn so
zwang, beständig auf den beleuchtetsten Fleck des Raumes zu starren.

Nach diesem Vorfall entstand in Schildknecht der Entschluß, die Stadt zu
verlassen und sein Leben zu ändern. Er setzte sich mit mehreren
ausländischen Firmen in Verbindung, sein Name war nicht unbekannt,
seine Arbeiten empfahlen sich von selbst, schließlich konnte er unter
den Angeboten wählen und entschied sich für eine Stellung in der
Schweiz. Am dritten Januar sollte er reisen. Er gab Engelhart das feste
Versprechen, auch für ihn dort zu wirken, er wollte einen erträglichen
Posten für ihn suchen und so, auf gesünderer Grundlage als bis jetzt, an
der großen geistigen Zukunft gemeinsam weiterbauen; ohne Sicherheit des
Brotes gebe es keine Entfaltung der Idee, meinte Schildknecht.

Als die Eltern der Braut von Schildknechts Vorhaben vernahmen und sahen,
daß es damit ernst war, lenkten sie ein und am Silvesterabend fand eine
Art Versöhnung statt mit darauffolgendem Familienessen, von welchem sich
nur Justins Mutter fernhielt. Sie ließ sich von dem Schmerz nichts
merken, den ihr Justins Wanderplan verursachte.

Den selben Silvesterabend verbrachte Engelhart bei entfernt Verwandten,
einer Tochter von Iduna Hopf, die an einen Kaufmann in der Stadt
verheiratet und die ihm sehr freundlich gesinnt war. Er trank ein paar
Glas Punsch über die Besinnung, und als er gegen zwei Uhr morgens die
Gesellschaft verließ, tanzten die Häuser auf der Straße. Er war noch
nicht ganz betrunken, aber es war ihm ungeheuer selig zumute, so daß er
an jeder Ecke stehen blieb und eine Weile in sich hineinkicherte, bevor
er weiterging. In solcher Verfassung nach Hause zu wandeln und sich ins
Bett zu legen, erschien untunlich, daher schlug er die Richtung nach dem
Egydienplatz ein und stand alsbald vor Schildknechts Hause. Der Platz
lag verödet. Es fiel Schnee, der im Laternenlicht aufblitzte wie
Silberstickerei. In der Mitte des Platzes stand die Kirche gleich einer
riesigen schwarzen Faust mit erhobenem Daumen. Aus den umliegenden
Straßen drang das Geschrei der Neujahrsrufer in die Stille. Engelhart
stand eine Weile glücklich lächelnd, dann stimmte er ein Liedchen an.
Das Familienfest mußte schon zu Ende sein, denn aus Schildknechts Kammer
funkelte Licht und nun wurde auch das Fenster geöffnet, Schildknechts
lachendes Gesicht erschien und es entspann sich ein kleines
metaphysisches Zwiegespräch, in dessen Verlauf der schon
Schlafensbereite droben die Ansicht vertrat, daß es gut sei, noch ein
wenig das neue Jahr im Freien zu genießen, da es doch wahrscheinlich nur
in frischem Zustand genießbar und morgen schon der Tag der Trennung sei.
Sie gingen über den Markt zum Haller Tor. In der Nähe des Henkerstegs
sahen sie plötzlich eine gegen die Schwerkraft kämpfende Gestalt und
erkannten Barbeck: zerrauft, beschneit, beschmutzt, ohne Hut und ohne
die ironisch-gemessene Miene, die ihn sonst auszeichnete und ihm ein so
weltüberlegenes Ansehen gab. Hinter ihm her schwankte ein höchst
verwahrlostes Frauenzimmer, die ihm abwechselnd Schimpfnamen und
Koseworte zurief; bisweilen packte sie ihn beim Rockschoß, diese
Berührung elektrisierte den Mann und erweckte wieder sein bürgerliches
Gefühl; er kehrte sich gegen die Verfolgerin und drohte würdevoll und
betrübt mit der Polizei. Da gewahrte er Schildknecht und Engelhart, und
beide beobachteten, wie er sich mit aller Kraft zusammennahm, sich gegen
einen Baum lehnte, seine Börse zog, in der Halbfinsternis nach einem
Geldstück fischte und dieses der Frauensperson mit den mild
hingeseufzten Worten reichte: »Sie hungert, die Arme.« Dann ging er,
ernüchtert, eine Strecke Wegs mit den Freunden und zwischen Glucksen,
Lachen und Schläfrigkeit schimpfte er auf die zunehmende Unzucht und im
Anschluß daran auf das moderne Geisteswesen, und indem er Engelhart mit
höhnischem Lächeln auf die Schulter klopfte und ihn gewohntermaßen mit
»Jüngling« anredete, empfahl er ihm Kritik und warnte ihn vor schlechter
Gesellschaft. Schließlich fiel ihm ein, daß er die Abwesenheit seines
Hutes erklären müsse, und sich verabschiedend behauptete er, er gehe
jetzt des Nachts ohne Hut, weil er dies für die Gesundheit förderlicher
halte.

Schildknecht war nach und nach ernst geworden. Dem wunderlichen Manne
nachblickend und Engelhart unter den Arm fassend, sagte er: »Das ist der
Feind, der wahre Erbfeind; an ihm verblutet die Kraft des Volkes. Ihm
werden Sie noch oft im Leben begegnen, alter Freund, er wird Ihnen, was
Sie auch leisten, immer wieder erklären, daß Sie es anders machen müssen
und daß irgendwer es schon längst besser gemacht hat, und er wird Sie
nicht immer so gleichgültig lassen wie jetzt, er wird Ihnen manchmal die
Blutadern öffnen und sich freuen, wenn der rote Saft zu Boden fließt. Es
gibt Geschicktere wie den, die sich besser verstecken und von denen
keiner erfährt, wo sie ihre schmutzigen Stunden zubringen, und die sich
hüten, ihre Kopfbedeckung dabei zu verlieren. Geben Sie wohl acht und
gewöhnen Sie sich beizeiten an die Physiognomie des Mannes; er ist der
heimliche Dieb, der jeder Brust das Teuerste entwendet.«

Am zweiten Januar reiste Schildknecht. Als Engelhart nun allein war,
wurde ihm doch bang vor seiner Lage. Das Geld des Oheims war schon
verbraucht, er machte nun Schulden, die am Termin seiner Volljährigkeit
bezahlt werden mußten. Außerdem entwöhnte er sich von aller Arbeit,
durchwachte nach wie vor die Nächte, schlief bis in den Mittag und
müßiggängerte dann herum, ohne Ziel und oft auch ohne Lust. Bei den
gesitteten und ordentlichen Menschen seiner Bekanntschaft machte er sich
dadurch vollends zum Gegenstand der Verachtung, was ihn keineswegs
gleichgültig ließ, denn er bewahrte in seinem Innern eine versteckte
Liebe für das Bürgerliche, eine gewisse Zärtlichkeit für die behaglichen
Häuser und Stuben und friedlich umgrenzten Gemüter. So schwankte er
einsam unter den Menschen umher, den Kopf angefüllt mit nebelhaft
verschwommenen Idealen. Sein Nichtstun war noch ohne innere Frucht und
stachelte ihn daher nicht selten zu unwürdigem Zeitvertreib, zu
Billard- und Kartenspiel mit einem erstbesten. Der Abscheu vor sich
selbst trieb ihn dann wieder hinab in eine dunkle Traumestiefe, und
indem er sich zu vergessen suchte, wurde die gestaltlose Sehnsucht in
seiner Seele chaotischer. Was er las, das las er allzu beziehentlich, er
litt an allem, am Schönen wie am Häßlichen, die Wurzeln seines Wesens
waren vergiftet von einem Ehrgeiz, der nicht aus noch ein wußte, er
besaß keinen Maßstab, weder für die Dinge noch für sich selbst, sein
Geist anerkannte kein übernommenes Gebot und wußte eigen-persönliche
nicht zu formen oder zu befolgen. Ihm blieb nicht einmal ein Gott, von
dem er sich lösen oder mit dem er hadern konnte, nicht einmal an seinen
Zweifeln hatte er einen Anhalt, wär’s auch nur der, den ein Kampfspiel
und seine Erschöpfungen geben, denn alles, kaum gefaßt, zerfloß wieder,
hatte nicht Hang und Bestand, jedes Wort, jeder Begriff löste sich in
ungreifbare Teilchen auf, ihm ward nur eines in seltenen Stunden
geschenkt, ein Bild, das aus der Dunkelheit emporschwamm, fester
umrissen und tiefer gegründet als alle Wirklichkeit und deutlicher als
die Sprache zu sein vermag, feurig aus Leiden geboren und zur Freude
strebend, und demgegenüber wurden allerdings höchste Pflichten
kategorisch, dies knüpfte ihn an die Zeit und an die Menschheit, hielt
seine Sinne in Bereitschaft, sein Gefühl in Bewegung und behütete ihn
vor innerer Verlotterung.

Es waren schlimme Wochen. Schildknecht schrieb nicht hoffnungsvoll.
Seine Briefe sprachen an durch Geist und einen Ton freier Paradoxie,
aber der Grimm über die Gebundenheit eines Lohnarbeiterdaseins knirschte
aus jeder Zeile. Engelhart, der die Gesellschaft Schildknechts hart
entbehrte, sah ein, daß er sich in diesem Fall nicht auf den Freund
verlassen dürfe, und er nahm sich einstweilen vor, bald einen Entschluß
zu fassen. Als er zufällig auf der Straße Herrn Zittel traf, fragte ihn
dieser nach seinen Lebensumständen aus. Er antwortete zuerst mit
prahlerischer Sorglosigkeit, als sei er im Begriff, eine
Millionenerbschaft anzutreten, gab aber schließlich zu, daß er zwar
nicht gerade einen neuen Posten suche, jedoch nicht abgeneigt wäre, bei
günstigen Bedingungen zuzugreifen. Herr Zittel durchschaute das
kindische Spiel und sagte, er könne Engelhart vielleicht dienlich sein,
er solle ihm seine Photographie und eine Abschrift des Zeugnisses
senden. Immerhin kann ich mich ja photographieren lassen, dachte
Engelhart gnädig, und eines Morgens scheitelte er säuberlich sein Haar,
steckte ein Veilchensträußchen ins Knopfloch und ging, zum erstenmal in
seinem Leben, mit klopfendem Herzen zum Photographen. Sein Gesicht im
Spiegel kannte er zur Genüge, es auf dem Papier zu sehen, reizte ihn
plötzlich über die Maßen.

Mittlerweile hatte er nach mancherlei Formalitäten die Reste seines
Vermögens erhalten und obwohl er beinahe die Hälfte zur Begleichung der
Schulden sofort aufbrauchte, erschien er sich doch als ein Krösus. Frau
Schildknecht, die er oft besuchte und der er von seiner veränderten Lage
in seligem Übermut erzählte, tippte mit der Fingerspitze auf seine Stirn
und meinte, da drinnen sei anscheinend wenig Verstand, doch sei er der
reichste arme Mann, der ihr je untergekommen. Zu seinem Schrecken nahm
er wahr, daß das Geld schneller verschwand als Wasser aus einem
zerlöcherten Tiegel. Bisweilen suchte ihn einer von den Kumpanen Peter
Palms auf – Geld hat einen durchdringenden Geruch – und redete ihm so
lange um den Bart, bis er gutmütig ein Goldstück gab. An einem
stürmischen Frühlingstag begegnete er vor der Stadtmauer Amöna Siebert.
Sie sah fahl und vernachlässigt aus, gleichsam gewürgt vom Unglück, von
früherer Schönheit waren nur noch traurige Spuren in ihrem Antlitz.
Engelhart, entsetzt über die Geschwindigkeit eines solchen Verfalls,
ging ein Stück Wegs mit ihr; es rührte ihn die mühsame Schelmerei ihres
Lächelns und ihre fieberisch kalte Hand. Zuerst wagte er nicht, ihr
Hilfe anzubieten, als sie dann wie zufällig vor einem Wurstladen stehen
blieb und geistesabwesend auf die appetitlich ausgelegten Fleischwaren
starrte, fragte er leise und schüchtern, ob sie Geld wolle, und steckte
ihr hastig ein Papierchen in die Hand, worauf er wie ein Verbrecher
davonlief.

Er verstand nicht das Geld; er war töricht genug, es zu mißachten; er
wußte nicht, daß Geld auch edel sein kann; er hatte nur einfache
Bedürfnisse, aber diese befriedigte er unbedenklich, ohne zu überlegen;
manchmal gelüstete es ihn, den vornehmen Herrn zu spielen, dann machte
er eine sinnlose Ausgabe, die einem vornehmen Herrn nie eingefallen
wäre; unter anderm kaufte er ganze Stöße von teuerstem Schreibpapier,
als ob er ein Papiergeschäft einrichten wolle. Als endlich sein enormer
Reichtum bis auf etwa hundert Mark zusammengeschmolzen war, kam er zur
Besinnung. Schon eine Woche zuvor hatte ihm Herr Zittel mitgeteilt, daß
im Bureau der Gesellschaft »Minerva« im breisgauischen Freiburg ein
Posten offen sei, mit neunzig Mark im Monat dotiert, er möge sich ohne
Verzug dorthin wenden, und zwar solle er an den Generalagenten, Herrn
Lutterott, persönlich schreiben. Er solle den Brief sorgfältig
stilisieren, denn Herr Lutterott sei ein Mann von feinsten
Umgangsformen, Reserveoffizier, und halte viel von Äußerlichkeiten. In
der Angst, daß es schon zu spät sein könnte, setzte sich Engelhart,
trotzdem schon Mitternacht vorüber war, gleich hin und verfaßte eine
meisterliche Epistel, der es weder an Amtsschnörkeln noch an einer
gewissen fachmännischen Eleganz gebrach; sein Konterfei legte er ohne
besonderen Hinweis bei. Der Erfolg blieb nicht aus. Herr Lutterott
antwortete, die Stelle sei zwar schon vergeben, aber an einen Unwürdigen,
dem er die Tür zu weisen genötigt sei. Er nehme die Offerte an,
Engelhart solle sich am fünfzehnten April in seinem Bureau einfinden,
die Reisekosten würden nach dreimonatlicher zufriedenstellender
Dienstleistung zur Hälfte ersetzt. Aus diesem Schreiben spürte Engelhart
ahnungsvoll eine widerwärtige Geschraubtheit heraus, doch er war froh,
dem gefährlichen Herumtreiben entrissen zu sein, und außerdem ging die
Fahrt gen Süden, wenn auch nicht zu Schildknecht selbst, so doch in
seine größere Nähe.

Am Tag vor seiner Reise spazierte Engelhart am Kanal entlang nach Fürth.
Dort machte er seinem Vormund einen Abschiedsbesuch und hörte bei dieser
Gelegenheit, daß Tante Lina Curius wahnsinnig und in eine Irrenanstalt
verbracht worden sei, während Peter Salomon im Verein mit der Kroner das
Haus behüte, noch immer darauf warte, daß sein Bauplatz ihn zum
Millionär mache und sich inzwischen von Michael Herz ernähren lasse.
Auch zu Iduna Hopf ging er, die noch immer in dem alten Haus mit den
knarrenden Stiegen wohnte, jetzt einsam, da ihr Mann gestorben war; sie
sah alt und müde aus. Überhaupt waren so viele gestorben und hingegangen
in den wenigen Jahren, alte und junge: der Vetter Zederholz, das
Fräulein Holländer, der alte Herschkamm, der Doktor Federlein, der
epileptische Lechner. Auf der Königstraße gewahrte Engelhart plötzlich
ein Gesicht, das ihm bekannt, ja vertraut erschien: es war Ludwig
Raimund, sein erster Gespiele und Kamerad. Auch er erkannte Engelhart
und sprach ihn freudig an; er war Chemiker geworden und war in der
großen Anilinfabrik draußen bei Doos angestellt. Seltsam dies
Wiedererkennen, wie sich die Züge des Kindes bewahrt, doch nur in der
allgemeinen Linie des Antlitzes, während alle Flächen sich gedehnt
hatten, die eine zur Leblosigkeit erstarrt, die andre von verborgenen
Leidenschaften und unedeln Trieben verwüstet war. Erst schien er
Engelhart noch ganz der alte, noch ebenso heiter und graziös, doch bald
bemerkte er eine Art gnädiger Herablassung an Raimund wie bei einem
Vornehmen, der dem Geringeren gegenüber seine Vornehmheit taktvoll
verbirgt, auch eine gewisse ängstliche Unsicherheit wie bei einem, der
angepumpt zu werden fürchtet und sich innerlich eine Ausrede
zurechtlegt. Sie sprachen über dies und jenes, Raimund hatte lauter
fertige Urteile, die meisten Fragen waren für ihn endgültig erledigt,
und wenn noch irgendwo ein Zweifel in ihm steckte, so zuckte er die
Achseln, als wollte er sagen: was mich betrifft, ich habe ein festes
Einkommen, mit dem übrigen wird man schon fertig. Schließlich gingen sie
in eine Bierstube, wo noch fünf oder sechs frühere Schulkameraden saßen
und Karten spielten. Es waren lauter wohlbestallte Leute, die ihre
Sorglosigkeit wie ein Plakat an der Stirn trugen; ihre Gesichter waren
aufgeschwemmt, frühverlebt, sie witzelten, sie spöttelten, und in ihrem
Gebaren lag gleichfalls das schamlose Geständnis, daß sie nichts andres
schätzten als das feste Einkommen. Wenn Engelhart etwas sagte,
blinzelten sie mißtrauisch mit den Lidern, dann musterten sie heimlich
schielend seinen Anzug und seine schlecht sitzende Krawatte. Am
herzlichsten benahmen sie sich, als er sich verabschiedete.

Er ging gegen die Altstadt und befand sich auf einmal in stiller Gasse
vor dem Tor des Friedhofs, in welchem seiner Mutter Grab war. Er öffnete
die Pforte, schritt hinein und wanderte eine Weile sinnend zwischen den
uralten Steinen umher. In welchem Teil des Friedhofs das Grab lag, wußte
er nicht mehr, und er hätte leicht vergeblich suchen mögen, wäre nicht
ein eigentümliches Hinziehen gewesen, das er nie in solcher Stärke an
sich beobachtet hatte. Endlich stand er vor dem rötlichen Sandstein, auf
dem in halbverwaschenen Goldlettern der Name von Frau Agathe Ratgeber
leuchtete. Das Grab war vernachlässigt, der Hügel ganz platt, keine
Blume wuchs, nur Gras. Ringsum in solcher Nähe, daß es wie das Gedränge
auf einem Jahrmarkt wirkte, standen andre verwitterte Steine, zudem
herrschte nicht einmal Frieden, denn draußen vor der Mauer erschallte
das lebhafte Gehämmer der Goldschläger und auf der andern Seite,
hügelabwärts in der Ebene, keuchte und klapperte eine Dampfmühle. Doch
war es eigen, daß ihn diese Geräusche mit besonderer Macht in seine
Jugend zurückzogen. Traurige Jugend. Wie furchtbar die Stunde, als er
drüben im Leichenhaus gesessen und schwarze Gestalten wisperten um ihn
herum. Damals konnte er noch keine Empfindung dafür haben, daß sie mit
kaum zweiunddreißig Jahren davonging; die Mutter ist für ein Kind
alterslos. Freilich, das Leben hätte ihr noch bitterböse Geschenke
gemacht, und doch! Leben, nur leben! Was gäbe es sonst. Irgendeine
äußere Stimme rief: »Bete!« Er begriff nicht, wie man in solchen
Augenblicken beten könne, alles, was an Wort und Ausdruck streifte, war
erstickt, er spürte nur ein warmes Aufkochen des Blutes vom Herzen aus
durch den Körper, und er konnte den Begriff des Todes nur umfassen,
indem er das Leben doppelt inbrünstig fühlte. Wozu beten? sich selbst
ausweichen? die wahre Andacht abweisen? Bevor er ging, riß er einen
Grashalm ab und bewahrte ihn auf mit dem Gedanken: vielleicht ist er aus
dem Saft ihres Auges gebaut.

Seines Vaters dachte er nicht; dieser lebte ja noch.

An einem Mittwoch Abend kam er in Freiburg an. Seine Brust wurde von
Traurigkeit umschnürt, als er durch die Straßen der unbekannten Stadt
ging. Es regnete und er besaß keinen Schirm; für hundert
Überflüssigkeiten hatte er Geld ausgegeben, aber das Notwendige
anzuschaffen, hatte er sich nie entschließen können. Er trat also unter
ein Tor und ließ die fremden Menschen an sich vorüberwandeln.

Die Generalagentur der »Minerva« lag im ersten Stock eines villenartigen
Hauses vor der Stadt; im Erdgeschoß befand sich eine kleine
Weinwirtschaft. Dunkelblauer Himmel strahlte über den Häusern, als
Engelhart am Morgen hinauswanderte, dunkelbewaldete Berge schienen auf
allen Seiten die Flucht der Straßen zu begrenzen. Der Flieder stand
schon blühend, seine Düfte flossen in Wellen durch die Gitter der
zahlreichen Gärten. Hoffnungsvoll gestimmt, voll Lust und Ernst zur
Arbeit, trat Engelhart vor Herrn Lutterott und war nicht unzufrieden,
als er erfuhr, daß er der einzige Beamte des Bureaus sein würde.

Herr Lutterott war ein Vierziger, klein, feist, geschniegelt und
gebügelt, mit einem Leutnantsschnurrbart und leutnantsmäßig schnarrender
Stimme. Er empfing den neuen Untergebenen mit korrekter, jedoch etwas
düsterer Höflichkeit und würdigte ihn einer längeren Ansprache, die den
Eindruck des Auswendiggelernten machte. Die erste Hälfte jedes Satzes
klang militärisch schroff und abgerissen, dann machte er eine Pause, in
der er andächtig seine rosigen Fingernägel betrachtete, um mit
pathetischen Wendungen und salbungsvoll ausladenden Gesten fortzufahren.
Er verbreitete sich über die Pflichten eines Beamten; er verlange
Pflichttreue und Sittlichkeit, sagte er. Bei dem Worte Sittlichkeit
schloß er die Augen wie zum Schlafe. Er sagte, Engelharts Photographie
habe ihm gefallen, es habe ihn erfreut, ein ehrliches Gesicht zu sehen,
was ihm aber mißfallen habe und was er dringendst abzustellen bitte, das
seien die Haare, die seit mindestens zwei Monaten nicht kurzgeschnitten
sein konnten; das erinnere ja beinahe an einen Schauspieler oder Maler
oder ähnliches Gelichter. Zum Schluß gab er Engelhart eine
Wohnungsadresse, bestellte ihn für den Nachmittag und entließ ihn mit
hoheitsvoller Kühle.

An diesem Tag, am Freitag und Samstag, gingen die Dinge nicht uneben.
Herr Lutterott zeigte zwar stets das Benehmen eines regierenden Fürsten,
und manchmal kribbelte es Engelhart in den Fingern, wenn der Mann mit
müd-verachtungsvollen Blicken seine Befehle gab, aber vor dem Fenster,
an dem er arbeitete, war ein Garten, und weiter draußen sah er Wiesen
und darüber den hochwipfligen Wald. Leider mußte er Herrn Lutterott
gleich um Vorschuß bitten, da alles Geld für die Reise aufgegangen war,
und dies machte die übelste Wirkung; Herr Lutterott fuhr mit dem
Zeigefinger zwischen Kragen und Hals umher und sagte mit leise
wimmernder Stimme: »Es ist nicht korrekt, es ist nicht korrekt.« Am
Sonntagmorgen nun kam er aus Eifer ins Bureau, obwohl dies nicht zu den
»Pflichten« gehörte; um zehn Uhr erschien Herr Lutterott, aufs feinste
herausgeputzt, im Salonrock und mit gestreifter Hose, eine Diamantnadel
in der Krawatte, das Haar pomadisiert und bis zum Nacken gescheitelt. In
seinem Privatzimmer empfing er einen alten Herrn im Zylinder, und
Engelhart hörte ihn untertänig räuspern und säuseln, um halb elf kam er
heraus, wieder ganz Fürst, und sagte kurzangebunden zu Engelhart: »Sie
können jetzt in die Kirche gehen.«

Verwundert blickte Engelhart empor und antwortete: »Ich danke; ich gehe
nicht in die Kirche, ich bin Jude.«

Herr Lutterott schnellte herum wie gestochen. Sein Gesicht war käseweiß.
»Was – Jude?« stammelte er. Aufgeregt, mit kleinen Schrittchen trippelte
er vor seinem Schreibtisch hin und her, hierauf verließ er das Zimmer.
Engelhart legte die Feder weg und schaute, nichts Böses vermutend, doch
überaus peinlich berührt, auf das halbbeschriebene Blatt, das vor ihm
lag. Nach einer Weile kam Herr Lutterott zurück. Er wischte sich mit dem
blendend weißen Taschentuch die Stirn, pflanzte sich neben Engelhart auf
und ließ folgende kleine Rede vom Stapel: »Ich habe selbstverständlich
nicht das geringste dagegen einzuwenden, daß Sie Jude sind. Nur,
verzeihen Sie, kommt mir die Sache insofern überraschend, als ich nie
die Absicht gehabt hatte, mich nicht dessen versehen hatte – um es kurz
zu sagen, meine religiösen und menschlichen Überzeugungen wurzeln in
ganz anderm Boden, und gewisse Erfahrungen, die das Leben lehrt, haben
mir recht gegeben. Immerhin, ich gebe ja zu, daß man sich irren kann, es
steht zu wünschen, daß Sie die löbliche Ausnahme bilden, sprechen wir
also nicht mehr davon.«

Engelhart schwieg. Ihn ekelte.

Am andern Morgen brachte Herr Lutterott eine eiserne Geldkassette zum
Vorschein, in deren einzelnen Fächern sich Silber- und Nickelmünzen
befanden, ungefähr an hundert Mark. Herr Lutterott sagte, dies sei die
kleine Spesenkasse, und damit Engelhart sehe, daß sein Vertrauen
unerschüttert sei, überlasse er sie ihm zur Verwaltung. Bei diesen
Worten erbleichte Engelhart, und es wurde ihm ein wenig schwindlig. In
Herrn Lutterotts Gesicht lag ein seltsamer, arglistiger Triumph, den zu
verbergen er sich keine Mühe gab. Seine Augen sagten: ›Wagst du es, dich
an diesem Schatz zu vergreifen, und deine Armut, deine Herkunft lassen
solches vermuten, dann wehe!‹ Denselben Ausdruck des Triumphes hatten
seine Augen von Stund an, wenn er Engelhart ein Versehen nachweisen
konnte, einen Schreib- oder Rechenfehler, wenn er ihn auf einer
Vergeßlichkeit ertappte, wenn die Akten auf einem falschen Platz lagen.
Er pflegte seine Befehle lispelnden Tons zu erteilen, und wenn ihn
Engelhart nicht verstanden hatte und um Wiederholung eines Wortes bat,
wurde Herr Lutterott scharlachfarben im Gesicht, sprang von seinem Stuhl
auf und sagte alles, Silbe für Silbe, noch einmal mit scharfer,
bissiger, feindseliger Stimme, wobei sein Blick grünlich funkelte. War
ein einziger Satz eines langen Briefes nicht zu seiner Zufriedenheit
stilisiert, so zerriß er den ganzen Bogen, schimpfte aber nicht, sondern
machte nur eine vornehm abwehrende Handbewegung und verließ das Zimmer
mit einem leichten Hüsteln oder Kichern. Kamen Unteragenten oder jemand
aus der reichen Klientel oder sonstige Leute, so beliebte es Herrn
Lutterott, Engelhart mit einer niederträchtigen Zumutung zu demütigen,
etwa, er solle dem Herrn den Rockärmel abbürsten oder er solle die Tür
vor ihm öffnen, oder er schrie ihn an, wenn seine Feder kratzte, und
dergleichen mehr.

Engelhart erkannte wohl, daß dies Ranküne war, aber er trug es, weil er
es tragen wollte. Er biß die Zähne zusammen und dachte, stärker zu sein
als der Schmerz, den er über die unendlichen Beleidigungen empfand.
Einst saß er während der Mittagstunde drunten in der Weinwirtschaft, als
Herr Lutterott eintrat und am Honoratiorentischchen bei einigen älteren
Herren Platz nahm. Engelhart blickte nachdenklich hinüber, in seinen
Gedanken stellte er sich vor, daß dieser Lutterott doch schließlich ein
Mensch sei und daß es vielleicht nur der rechten Worte bedürfe, um ihn
auf den Weg der Billigkeit zu verweisen. Plötzlich nahm Lutterott ein
Kärtchen aus seiner Brieftasche, schrieb etwas auf, rief die Kellnerin,
und diese trat zu Engelhart und reichte ihm das Geschriebene. Er las:
»Es ziemt sich nicht für den Untergebenen, seinem Chef frech ins Gesicht
zu stieren.« Da stand er auf, wieder schwindelte ihn, diesmal vor Zorn,
aber er beherrschte sich und ging.

Alles das dauerte an vierzehn Tage. Nun besaß Engelhart kein Geld mehr
zum Notwendigsten des Lebens. Er wagte nicht, Herrn Lutterott um
Vorschuß zu ersuchen, endlich aber zwang ihn die leibliche Not dazu. Er
hatte es bis zur letzten Stunde des Nachmittags aufgespart. Kurz vor
sieben Uhr brachte er sein Anliegen vor. Herr Lutterott stutzte,
betrachtete die Spitze seines Stiefels und sagte, er habe den
Geldschrank schon geschlossen, Engelhart müsse sich bis zum andern
Morgen gedulden. Damit entfernte er sich rasch und überließ dem jungen
Mann wie alltäglich das Schließen der Räume. Engelhart, der Hunger hatte
und nicht wußte, wie er ihn stillen sollte, entschloß sich in seiner
Hilflosigkeit, bis zum andern Morgen ein Darlehen bei der kleinen
Spesenkasse aufzunehmen, die in seiner eignen Verwaltung stand, steckte
ein Zweimarkstück zu sich, ging hin und aß sich satt. Gleich in der
Frühe erinnerte er Herrn Lutterott an den erbetenen Vorschuß, da er vor
allem den entnommenen Betrag wieder zurücklegen wollte. Doch Herr
Lutterott erwiderte, während seine Züge sich verkniffen wie bei jemand,
der in die Sonne blickt: »Gern, aber vorher möchte ich Ihre Kasse
revidieren.« Engelhart wurde es kalt und heiß, denn er durchschaute nun
die Infamie völlig. In einem Ton, dessen Ruhe ihm selbst auffiel, sagte
er, daß er zwei Mark aus der Kasse genommen. Herr Lutterott lächelte
unendlich vornehm und runzelte die Stirn. Er entgegnete, er wundere
sich, daß ein so aufgeweckter Kopf sich nicht klar gewesen sei über die
Folgen einer Handlung, die mit dem juridischen Begriff zu bezeichnen ihm
Engelhart wohl erlasse. Daß nach einem solchen Vergehen von einem
weiteren Verbleiben im Dienste der »Minerva« keine Rede sein könne,
verstehe sich von selbst. »Sie haben zwanzig Mark Vorschuß, hier haben
Sie noch zehn Mark, mehr war Ihre Arbeit ohnehin nicht wert,« schloß
Herr Lutterott seine Rede, »und somit sind Sie ein freier Mann.«

Engelhart nahm seinen Hut, starrte noch eine halbe Minute die Türklinke
an und ging. Jeder andre hätte gesprochen, wäre aufgebraust, hätte
versucht, seine Würde zurückzuerkämpfen, ihm waren die Lippen
versiegelt; im Grunde war er mehr erstaunt als erbittert.

Jetzt sollte er die für seine Verhältnisse ziemlich hohe Miete seines
Zimmers bezahlen, er sollte essen, trinken, leben, aber womit? Er
schrieb an Schildknecht und berichtete ihm das Vorgefallene, freilich
nur andeutend, denn all die Niedertracht, die er so geduldig geschluckt,
beichten zu müssen, hätte seinen Stolz verletzt. Sonderbarerweise
verspürte er auch jetzt nicht den geringsten Zorn gegen den schändlichen
Mann, eine naive Wehmut umdämmerte seine Sinne, und er war neugierig,
wie all dies enden würde. Stundenlang wanderte er durch die schönen
Villenstraßen dieser reichen und glänzenden Stadt, las die Namenschilder
an den Pforten und beschäftigte sich mit den Träumen von Wohlhabenheit,
Glück und Ehre. Es erschien ihm wahrscheinlich, daß unter diesen ruhig
Besitzenden einer sich befand, der ihm Beistand und liebende Hilfe
gewährt hätte, nur kannte er ihn eben nicht, jedenfalls sah er sich
jedes der schmucken Häuser mit Bezug auf diese Vorstellung aufmerksam
an.

Schildknecht antwortete in einem langen, bestürzten, heißatmigen Brief;
auch seine eigne Existenz sei dort in der löblichen Schweiz, kaum neu
aufgerichtet, wieder zertrümmert worden. Durch welche Schuld, sei ihm
unbekannt, doch seien die Erinnyen fühlbar hinter ihm her. Er sagte, daß
er nach Engelharts Gesellschaft Begierde trage, wie wenn er seit
Jahrzehnten unter Hottentotten lebte, gleichwohl dürfe er ihn nicht
ermuntern, zu kommen, denn der Boden sei ihm selber glühend unter den
Füßen. Wie stets, kam er in verhüllten Wendungen auf die Pläne zu
sprechen, die in seinem Hirn qualmten, und auf die Zukunft, die er als
goldene Verheißung hinter den Gewittern erblickte. Engelhart war erwärmt
und getröstet durch dieses Schreiben voll tiefer Herzlichkeit, aber
geholfen war ihm damit natürlich nicht. Schon lebte er in Schulden,
schon betrachteten ihn die Leute scheu und finster, schon stieg das
Wasser bis zum Hals. Von einer Stunde zur andern gebieterischer
bedrängt, eilte er aufs Postamt und depeschierte mit den letzten
Pfennigen an die Adresse seines Vaters, er sei am Äußersten, Unerhörtes
sei vorgefallen, der Vater möge ihm fünfzig Mark senden. Diese
absichtlich aufgepeitschte Sprache tat ihre Wirkung, das Geld kam, es
war fast, wie wenn ein von Räubern Angefallener mechanisch die Börse
zieht. Doch ein paar Stunden später erhielt Engelhart auch einen Brief
des Vaters.

»Du weißt, daß ich selbst mit mir zu kämpfen habe,« schrieb Herr
Ratgeber, »und daß ich mich ehrlich und rechtschaffen durchbringe. Es
ist ein himmelschreiendes Unrecht von Dir, mich auf diese Weise mit
Geldforderungen zu belästigen. Ein junger Mann in Deinem Alter muß
verdienen, was er braucht, und wenn nicht, muß er sich nach der Decke
strecken. Was ist denn vorgefallen, oder wolltest Du mich nur durch
Schrecken zwingen, Dir zu helfen? Wo hast Du die achthundert Mark Deines
Erbteils hingebracht? Ich schinde mich wie ein Taglöhner, nein, ein
Taglöhner hat Ruhe, wenn er gearbeitet hat, ich aber nicht, meine Frau
gönnt sich keinen guten Bissen, wir gönnen uns keinerlei Vergnügen, und
Du kommst, um die sauer ersparten Pfennige zu holen. Dabei nagt noch der
Wurm in mir über Dein monatelanges Schweigen, Dein liebloses Wesen;
wahrlich, Du zeigst mir zu brutal, daß Du nur einen Vater kennst, wenn
Du etwas von ihm haben willst. Aber alles will ich ertragen, wenn Du nur
in ordentliche Bahnen lenkst; laß doch endlich die Ideale und werde ein
praktischer, brauchbarer Mensch.«

Zum Schluß hieß es: »Es grüßt Dich Dein Dich liebender Vater«; aber dies
erschien Engelhart als bloße Floskel. Er antwortete dankend,
besänftigend, ausführlich, doch ohne Herzlichkeit. Er hielt den Vater
für geizig und nahm das Opfer des Spargroschens als etwas
Selbstverständliches hin.

Eines Morgens packte Engelhart seine Siebensachen, zahlte die
rückständige Miete, verließ das Zimmer, deponierte seinen Koffer auf dem
Bahnhof, und nur mit einem winzigen Bündel belastet, marschierte er aus
der Stadt und in den Wald. Er wollte wandern, gleichviel wohin, er wußte
auch nicht wohin, er war satt von den Menschen. Er lief an diesem Tag
die Kreuz und Quer und kam, da er keines suchte, auch zu keinem Ziel. In
einer Waldwirtschaft nahm er Milch und Brot zu sich und erstieg hierauf
die Höhe. Er strebte zu einer vom Sonnenuntergang beleuchteten Wolke und
erblickte sie dann gegenüber, gleichsam auf der andern Seite der Straße.
Am Rand einer Lichtung warf er sich müde hin, wartete noch, bis die
Sterne entflammt waren, dann schlief er ein und erwachte erst wieder,
als die Wipfel glühten und das Firmament von karmoisinfarbenen
Zickzackstreifen bedeckt war. Seine Kleider waren feucht, rasch lief er
den Hang herab, bis die Nässe verdunstet war. Er trank von einer Quelle
und lauschte dem langsamen Gebimmel der Kuhglocken. Unweit davon war ein
Holzplatz, auf dem noch niemand arbeitete; er fand eine Hacke am
Schuppen, nahm ein Scheit und drosch darauflos: es stellte Herrn
Lutterott vor. Zuerst hieb er ihm die Beine ab, dann die Arme, dann den
Kopf, dann zerschmetterte er das Rückgrat. So verfuhr er auch mit andern
Feinden und mit den Feinden Justin Schildknechts. Es war ein
erfrischendes Geschäft.

Mittags begann es zu regnen, doch Engelhart ging ruhig weiter, halb
beschützt vom Laubdach der Bäume. Die Schnittfläche von den Stümpfen
abgesägter Bäume leuchtete wie gelbes Feuer durch die Nebelschwaden.
Bisweilen blieb er an den Stümpfen stehen, zählte die Jahresringe und
dachte, wieviel vollendete Schicksale hier verhaftet seien in dem
schmalen Raum zwischen Ring und Ring. An der Waldöffnung gegen einen See
kam er zu dem einsamen Haus eines Schwarzwaldbauern, da fand er Aufnahme
und freundliche Bewirtung. Nach Name, Zweck und Herkunft wurde nicht
viel gefragt, er teilte ihre Mahlzeit am riesigen Tisch und schlief im
Heu. Am nächsten Tag fuhr er auf den See hinaus, landete an einem
verödeten Teil des Ufers, erkletterte die Hänge, lag stundenlang
regungslos auf einer Felsplatte und kehrte am Abend zum Hause des
Bauern zurück. Für das Essen zahlte er ein paar Pfennige, das Nachtlager
zu berechnen weigerte sich der Bauer.

Von einem höher gelegenen Weiler kam täglich zu früher Stunde eine
kleine Schar von Knaben und Mädchen herab, welche die Schule im Tal
besuchten. Gegen Abend kehrten sie wieder zurück. Vom Sehen, Grüßen und
kurzem Zwiegespräch an war allmählich eine Art Vertraulichkeit zwischen
ihnen und Engelhart entstanden. Er sah sie morgens von fern, wenn sie
den Weg herabtrippelten, schritt ihnen entgegen, wenn sie vom Dorf
heraufkamen, und begleitete sie heimwärts. Wenn er sich ins Moos setzte,
rasteten sie auch und lagerten sich um ihn herum. Einmal kam die Rede
auf Geschichten, und er begann Geschichten zu erzählen. Die bloße
neugierige Verwunderung der Kinder verwandelte sich in Zuneigung. Die
drei Mädchen pflückten ihm Blumen, die Buben sagten die einfältigen
Verse auf, die sie gelernt hatten. Sie hielten ihn vielleicht für einen
gutmütigen Schulmeister auf Urlaub, da sie vor ihm zu glänzen suchten.
Aber sein Herz lag in tiefer Ruhe bis zu der Stunde, wo eine
Gesellschaft von städtischen Ausflüglern am Weg vorüberwanderte. Ihr
Lachen und ihre Gespräche scheuchten ihn auf, Ehrgeiz wurde wach, der
seltsame Trieb, ihnen, diesen Fremdesten, etwas zu bedeuten, vor sie
hinzutreten mit den Worten: »Ich bin Engelhart Ratgeber,« worauf sie
schweigend die Augen senken und antworten mußten: »Sprich zu uns,
verehrter Mann.«

Da fing also die Unrast an; und drei Tage später kam er an einen
hochumgitterten Garten im Tal. Es war Sonnenuntergangszeit. Nahe dem
Eingangstor saß ein junges Mädchen auf einer Steinbank. Sie trug ein
schimmernd weißes Gewand, lose gegürtet, und hielt ein Buch auf den
Knien, in dem sie blätterte. Von dem Pfirsichbaum über ihr tropften hier
und da weiße Blütenblätter ab, und einige blieben in ihrem dunkeln Haar
hängen. Es war ein Bild, das Reichtum, Glück und Schönheit in sich
schloß. Engelhart, von den Gebüschen halb verborgen, blieb schweigend.
Das, was er liebte und begehrte, hüllte sich ihm gern in schwermutvolle
Schleier, und was andre zum Kampf ermunterte, weckte ihm nur das
schamhafte Gefühl der Armut. Er fürchtete dies Los, zu dem er sich
geboren sah: draußen zu stehen vor der Mauer, nein, vor dem Gitter, das
den Augen alles gab und der Hand nichts.

In dieser Stunde liebte er das junge Mädchen, das er gewiß kaum beachtet
hätte, wenn es ihm auf der Straße begegnet wäre, mit leidenschaftlichem
Schmerz; ganz in sich versunken, floh er in den Wald zurück, ging und
ging, immer dem schwachen Purpurschein nach, der zwischen den Stämmen
glühte, durch all die bewegten Träume hindurch dem fernen Ruf eines
Kuckucks lauschend, bis er zu spät inneward, daß er sich verirrt hatte.
Die Wege wurden von hastig aufschwellender Dunkelheit verschlungen,
Engelhart fing an zu laufen, bis er mit der Stirn an einen Baumstamm
rannte. Er tastete mit den Armen umher, er suchte mit den Augen den
Himmel, vergebens; ihm war, als könne er die Finsternis befühlen wie
einen schwarzen, kühlen Körper. Er blieb stehen und horchte und vernahm
nichts als das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Nun hatte er Angst
vor jedem Schritt nach vorwärts, ihm schien, als werde er langsam in
einem Trichter zur Tiefe gezogen, er umklammerte einen Baum und schrie
auf, da dieser sich im Kreis mit ihm bewegte. Die Finsternis zerteilte
sich gleichsam in Wolken, in rotumränderte, zuckende schwarze Fetzen,
die sich zu wüsten Visionen ballten und, wie von einem Orkan gepeitscht,
wieder auseinander flossen. Engelhart spürte die Blässe seines Gesichts,
und plötzlich erstarrten seine Glieder, als er in weiter Ferne, durch
Zweige flammend, ein unheimlich gelbes Licht gewahrte. Er brauchte
Minuten, um sich zu sammeln und um zu erkennen, daß es der Mond war.
Vorsichtig schreitend, ging er dem Schein entgegen bis zu einer
Lichtung, die mit gefällten Bäumen besät war. Erschöpft sank er hin,
konnte aber die Augen nicht schließen, sondern blickte lange Zeit
unaufhörlich in den milchig bestrahlten Himmel. Ihn erschreckte alles,
der Gedanke an die Tiefen und Höhen, an die Nacht und an die Sterne. Es
blieb zu wenig übrig für das selbstsüchtige, sich selbst suchende Herz.

Als der Tag graute, fand er nicht ohne Schwierigkeit seine Bauernhütte.
Er schlief lange, und nach Tisch verkündete er seinen Entschluß,
weiterzuwandern. Da man ihn fragte, wohin, entgegnete er lächelnd: nach
Süden. Der Bauer und sein Knecht begleiteten ihn bis zur Landstraße
hinab, eine Stunde später war er auf dem Bahnhof und nahm ein Billett
nach Basel. Von dort wollte er zu Fuß weiter, um seine Börse zu schonen.
Weil er jedoch am Abend in Basel ankam und nicht in die Nacht hinein
marschieren konnte, war er töricht genug, in einem nahegelegenen Hotel
Quartier zu nehmen, was ihn mehr Geld kostete als viele Stunden
Eisenbahnfahrt. Noch dazu mußte er sich ob seines Aussehens und des
fehlenden Reisegepäcks halber – den Koffer hatte er an die Adresse des
Vaters geschickt – eine wegwerfende Behandlung gefallen lassen, und es
nutzte ihm nichts, daß er sich bei einer gelegentlichen Zwiesprache mit
dem Portier als Philosoph von Beruf bezeichnete.

Dann kam ein schöner Wandertag durch sommerlich blühendes Land unter
wolkenlosem Himmel. Er nächtigte in einer Fuhrmannsschenke, und am
zweiten Tag fuhr er auf dem Wagen einer Seiltänzerfamilie bis nach Baden
mit. Es waren abgerackerte Leute, selbst die Kinder schienen
sterbensmüde, nur der Clown war ein aufgeweckter Mensch, der sich nicht
ohne Geist über die Eigentümlichkeiten verschiedener Nationen lustig
machte. Am Nachmittag des dritten Tages sah Engelhart von fern den
silberglänzenden Zürcher See, und er setzte sich in den Kopf, noch ans
Gestade zu gelangen, bevor das Unwetter ausbrach, das schon seit Stunden
am Himmel sich zusammenzog. Bald begann der schwere Regen zu fallen, die
Bäume der Allee schienen sich in den schwefelgelben Blitzen wie Fackeln
zu entzünden und den Flammen oben schien der Donner aus der Tiefe der
Erde heraus zu antworten. Weit und breit war kein Haus, der Regen
strömte wie aus Fässern, im Nu war der einsame Wandersmann schlottrig
naß, auch merkte er, daß seine Stiefel zerrissen waren und Wasser
fingen. Er lief über einen Wiesenweg und schloß die Augen vor den
Blitzen. Nun glänzte der See nicht mehr, einem erblindeten Auge gleich
dämmerte er durch den Nebel herauf. Endlich ein Garten, endlich ein
Haus, und ein Wirtshaus zum Glück. Als er in den Flur stürmte, stoben
zwei Mädchen kreischend auseinander. Die Wirtin kam, eine junge Frau mit
schmachtenden Augen. Sie blickte zuerst unwillig auf den
heruntergekommen aussehenden Gast, als sie aber sah, wie er unter den
triefenden Kleidern zitterte, bot sie ihm von selbst ein Zimmer an und
führte ihn in den oberen Stock. Von rascher Sympathie ergriffen,
erzählte ihr Engelhart von seiner Wanderschaft, und während ihm die
fremde Frau wie eine Mutter beim Auskleiden behilflich war, öffnete er
zutraulich sein Herz und führte die durch lange Einsamkeit wohlgenährten
Hoffnungen vor. Die Frau lächelte; sie sah, daß sie es mit keinem
gewöhnlichen Landstreicher zu tun hatte; als er im Bett lag, setzte sie
sich zu ihm und plauderte unbefangen über ihr Leben; sie war Witwe und
ihr um vieles älterer Mann war während eines Herbststurms im See
ertrunken. Die Wirtschaft ging schlecht, fuhr sie fort, Neider und
Verleumder brächten ihr üble Nachrede in der Stadt, und sie wolle nun
den Kram verkaufen und in die neue Welt fahren. Sie berichtete alles in
einem einzigen kunterbunten Satz, und ihr Gesicht sah auch bei den
bekümmertsten Worten froh und freundlich aus. Später brachte sie Essen
und Wein, und dann küßte sie ihren jungen Gast und blieb bis in die
späte Nacht bei ihm. In der Frühe war Engelhart entzückt, als er, die
Fensterladen öffnend, den See vor sich liegen sah und dahinter die
Gebirge, von grünen Kuppen an aufwärts steigend bis zu rosigen und
silbernen Schneegipfeln. An der Mauer unter dem Fenster hingen die
reifen Kirschen und der betaute Garten glich einem Diamantfeld. Seine
Kleider waren getrocknet, er rüstete zum Aufbruch und ließ sich durch
das Bitten der Frau nicht halten. Sie weigerte sich, Bezahlung von ihm
zu nehmen und ließ ihn noch mit dem Boot zur Stadt hinüberfahren.

Zwei Stunden später war er in Oberstraß, in Schildknechts Wohnung.
Schildknecht war nicht zu Hause. Engelhart wartete im Garten und malte
sich still träumend das Gesicht des Freundes beim Wiedersehen aus. Es
wurde Mittag, schließlich sagte die Vermieterin, er möge doch einmal bei
Herrn Heilemann nachfragen, dies sei ein Freund von Herrn Schildknecht,
bei dem er alle Tage zu Besuch sei und wohne in der Geßner-Allee. ›Ein
Freund?‹ dachte Engelhart überlegen, ›nein, liebe Frau, Schildknecht hat
nur einen einzigen Freund, und das bin ich.‹ Die Frau beschrieb ihm den
Weg, er ging hin und erfuhr, daß die Herren in dem großen Kaffeehaus an
der Bahnhofstraße seien. Als er dort eintrat, sah er Schildknecht an
einem Tisch in Gesellschaft mehrerer stutzerhaft gekleideter Männer,
schweigsam und finster vor sich hinbrütend. Engelhart trat von rückwärts
näher und legte lächelnd beide Hände auf seine Schultern. Schildknecht
zuckte zusammen, drehte sich um, sprang empor, und sein jubelnder
Aufschrei, sein echtes, wildes, beinahe kindisches Lachen rührten und
erschütterten Engelhart; in der Freude darüber, daß ihn der ersehnte
Augenblick nicht enttäuscht hatte, vergaß er alle Sorgen. Dies
eifervolle, heiter-belebte Gespräch, er genoß es als die Erfüllung eines
Traumes; die Gegenwart war verdrängt, auch das Letzterlebte schien
belanglos im Vergleich zu den gemeinsamen Erinnerungen.

Aber die Fragen: Wie steht’s? Wie bist Du gerüstet? Was hast du in der
Tasche? Was soll’s überhaupt? waren doch, klar oder umschrieben geformt,
unvermeidlich. Schildknecht sah, daß er das ganze Geschick des zärtlich
vertrauenden Menschen halten und lenken sollte, das war zuviel, dem
fühlte er sich nicht gewachsen. In einer schlaflosen Stunde zündete er
die Kerze an, leuchtete hinab auf die Matratze, auf der Engelhart lag,
und Schildknecht suchte etwas in diesem vom Schlummer trunkenen Gesicht.
Seine eigne Miene trug den Ausdruck des Zweifels. Da die Lippen des
Schläfers sich zu bewegen begannen, beugte er sich noch tiefer und
lauschte ängstlich, wie wenn er das Geständnis eines Verrats erwarte.
Plötzlich schlug Engelhart die Augen auf und erschrak, als er den im
Kerzenlicht flammenden Blick des Freundes lauernd auf sich ruhen sah.
Schildknecht schüttelte besorgt den Kopf und sagte mild: »Etwas haben
Sie mir verborgen, lieber Ratgeber; nun sprechen Sie mal von der Leber
weg.«

Engelhart antwortete nicht. Er starrte in den Lichtkreis an der Decke.
Wie gewöhnlich war sein Erstaunen größer als der Trieb zu fragen. Ja, er
hatte von dieser Minute an ein Geheimnis.



                           Zwölftes Kapitel


Nur mit Mühe ließ sich Schildknecht davon abbringen, dem famosen Herrn
Lutterott einen Zorn- und Schmähbrief zu schreiben. »Solche Kerle sind
jetzt das Bürgerideal,« knirschte er; »so sehen sie aus, die oben wohl
gelitten und unten gefürchtet sind. O herrliches Deutschland!«

Engelhart hatte längst aufgehört, des Mannes in Groll zu gedenken. Nur
daß Lutterott es gewagt hatte, ihm aus seinem Judentum eine Schuld zu
machen, erfüllte ihn mit nachhaltiger Verwunderung.

»Haben Sie denn nie an persönliche Gefahren aus solcher Quelle gedacht?«
fragte Schildknecht.

Engelhart verneinte; er habe sich des Judentums nie geschämt und habe
auch nie Anlaß gehabt, sonderlich stolz darauf zu sein. »Ist es nicht
gleichgültig, welcher Provinz der großen Menschheit der einzelne seine
Herkunft zuschreibt?« fragte er.

»Gewiß,« antwortete Schildknecht. »Aber ist Ihnen denn nicht bekannt,
daß Millionen von Ihren Stammes- und Herkunftsgenossen im tiefsten
Jammer vegetieren, nur eben deshalb, weil sie Juden sind?«

»Ich weiß es,« sagte Engelhart; »aber der größte Teil der Menschen lebt
im Jammer, und die Tatsache berührt mich mehr als der Grund.«

»Und wissen Sie nicht, daß das ganze Mittelalter vom Blut der Juden
gedüngt ist?«

»Ich weiß es, aber ich sage mir, Blut ist ein guter Dünger; aus Blut
wächst Leben. Mit Blut wird die Freiheit bezahlt, mit Blut wird die Erde
erobert.«

»Und erinnern Sie sich nicht aus Ihren Kindertagen, daß der Christ in
Ihren Augen ein Fremdling war?«

Engelhart nickte lebhaft. »Ich erinnere mich auch an Blicke, Worte und
Gebärden, die mich verletzen sollten und zurückweisen wollten,«
entgegnete er. »Aber es war mir nicht gegeben, daraus einen Schmerz zu
machen; ich fühlte, daß es kein Problem für mich war. Ich bin vielleicht
zu stolz dazu. Wenn ich im Verkehr vom Menschen zum Menschen dies als
wichtig nehmen müßte, dann wären eben alle meine Wurzeln der Nahrung
beraubt. Den such’ ich nicht, der deshalb an mir vorübergeht. Ich bin
ein Jude, aber ich bin es nicht mehr, als wie Sie ein Christ sind. Unsre
Vergangenheit liegt in den Worten, nicht unsre Zukunft.«

Schildknecht dachte eine Zeitlang nach. Dann fing er wieder an und
sagte: »Es ist ein großes Kapitel. Ich für meinen Teil, ich liebe ja die
Juden. Dennoch, es ist eine Verstandesliebe, mein Blut sträubt sich
dagegen.«

»Auch gegen mich?« fragte Engelhart lächelnd und besorgt.

»Man soll nicht ein Gefühl zergliedern, sonst hört es auf, ganz zu
sein,« antwortete Schildknecht mit niedergeschlagenen Augen. »Aber es
kommt mir oft vor, als ob in unserm Verhältnis noch eine andre Macht
gebieten würde als die, die Menschen sonst einander begegnen und sich
finden läßt. Es kommt mir vor, als ob dabei eine Art höhere Vergeltung
im Spiel wäre. Meine Vorfahren sind altsässige Nürnberger Patrizier
gewesen. Es wird Ihnen ja bekannt sein, daß vor ziemlich genau
vierhundert Jahren die Juden aus unsrer Stadt vertrieben wurden und zwar
unter den üblichen Greueln: Erpressung, Raub und Mord. Nun ist es in
unsrer Familie eine alte Tradition, und ich habe es auch einmal in einem
alten Schriftstück bestätigt gefunden, daß ein gewisser Schildknecht vom
Schildknechtstein, der den Juden tief verschuldet war, mit großer
Leidenschaft und Tücke das Volk aufgehetzt, dann die Brunnen in seinem
Haus habe vergiften lassen und schließlich mit eigner Hand an die
hundert Juden erschlagen habe. Vielleicht, lieber Ratgeber, war einer
oder der andre Ihrer Ältervordern unter den Erschlagenen, aber sehen Sie
mich nicht so beklommen an, ich fühle mich nicht verantwortlich für den
Schweinehund von damals, wenn ich auch zum Beispiel von meinem Vater
weiß, daß er den Juden zwar günstig gesinnt war, jedoch nie einem die
Hand reichte und es, wenn möglich, überhaupt vermied, mit Juden zu
reden. Dem sei, wie ihm mag, es kommt mir immer vor, als ob der Sturm
des Schicksals uns, mich und Sie, auf einem Gebirgshang zueinander
getrieben habe, mich beim Heruntersteigen und Sie beim Hinaufsteigen.
Als ich Sie damals im Paradieschen zum erstenmal sah, da zog’s mich zu
Ihnen mit einer Mischung von Haß, Neid und Schuld. ›Möglicherweise,‹
dacht’ ich mir, ›geht es doch wieder aufwärts,‹ und ich suchte die
Oberhand über Sie zu gewinnen –«

»Aber damit haben Sie mich gerettet, Liebster,« warf Engelhart ein, voll
seltsamer Angst vor dem bekenntnishaften Ton Schildknechts.

Dieser ließ sich nicht irre machen und fuhr mit bleicher werdendem
Gesicht fort: »Mag sein. Aber ich habe keine Sicherheit, daß Sie mir
nicht, ein paar hundert Meter weiter auf dem Berg angelangt, einen Stein
auf den Kopf werfen werden. Sie sind keiner von den Dankbaren. Was ist
denn Freundschaft? Ein Kampf um Macht wie alles, was zwischen Menschen
vorgeht; und was wahre Freundschaft ist, erkennt man erst an den Wunden,
die man davongetragen hat. Doch was ich eigentlich sagen wollte, ist
das: solche Menschen, die wie Sie aus der Dunkelheit eines Stammes
emporgetrieben werden und in denen die stumm gewesenen Geschlechter, wie
soll ich mich ausdrücken, einen Mund erhalten, die haben viel Chaos,
viel flüssiges Schicksal in sich. Das Judentum sind Sie ja los, aber der
Jude, der in Ihnen steckt, wird Ihnen noch viel zu schaffen machen, er
wird Ihnen immer wieder Finsternis ins Gemüt pressen, auch die Lust zur
Finsternis und die Lust, sich selber zu entfliehen und die Lust zu
erlösen und all diesen Quark, an dem unsre Besten verbluten.«

Auf Engelhart machte dies alles tiefen Eindruck, nicht, weil es ihm so
neu war, sondern weil er plötzlich seine Art und sein Blut, das
Persönliche und Kreatürliche, gesetzmäßiger empfand. Dem lebendigen
Geist tut es wohl, das Leben seiner niedrigen Zufälligkeiten entkleiden
zu dürfen; je inniger er sich in das Auf und Ab des Menschentums
verwoben sieht, je mehr muß seine Zuversicht und Ruhe wachsen. Justin
Schildknecht war diese Wirkung nicht ganz willkommen, und es war, als
bereue er das Gespräch. Er wünschte nicht, daß Engelhart auf sich allein
gestellt sei, und vermied von nun an, über Gegenstände zu sprechen, aus
denen das Selbstbewußtsein des Freundes Nahrung ziehen konnte. Sein
Wohlwollen verdunkelte sich mit seinem Schicksal; furchtbar spürte er,
wie man zu lieben und zu hassen vermag in einem Atemzug.

Schildknecht hatte seine Anstellung schon verloren; aus welchem Grunde,
erfuhr Engelhart nicht, vermutete jedoch, daß er sich von jenem
Heilemann, in dessen Gesellschaft er bis zu Engelharts Ankunft den
größten Teil seiner Zeit verbracht hatte, von regelmäßiger Arbeit hatte
abziehen lassen. Auch über die Person Heilemanns vermochte Engelhart
nicht Klarheit zu gewinnen. Er war Vertreter einer großen deutschen
Maschinenfabrik und verdiente viel Geld, lebte aber auf dem Kavaliersfuß
und zog mit einem Hofstaat von armen und halbarmen Teufeln in der Stadt
und in den Ausflugsorten am See herum. Schildknecht und er waren
Schulkameraden; jetzt schien es, als ob Schildknecht in sonderbarer
Abhängigkeit von ihm bestehe. Vielleicht, daß er Schulden bei ihm hatte
machen müssen; jedenfalls benahm er sich in Heilemanns Gegenwart
gedrückt und zweideutig ergeben, ein Anblick, bei dem es Engelhart
jämmerlich zumute wurde, um so mehr, als er hintennach immer die Launen
und das Aufschäumen des verletzten Stolzes ansehen und ertragen mußte.
Es war ein nicht zu durchschauendes Spiel unterirdischer Feindseligkeit.
Mit Schmerz sah Engelhart den Freund in den trüben Fluten kämpfen, aus
denen er selbst durch Schildknechts Hilfe kaum gerettet war. Und diesmal
bestand keine Wahrheit zwischen ihnen; Schildknecht tat alles, um die
Ursachen seiner Lage zu verwischen, und gab sich den Anschein dessen,
der die Gesellschaft studieren, ein Stück Leben ergründen will.

An einem der ersten Abende fand in Heilemanns Wohnung ein Gelage statt,
und um die Lustbarkeit zu vermehren, beschlossen alle Teilnehmer, bei
Heilemann zu nächtigen. Neun Personen schliefen in zwei kleinen Zimmern.
Engelhart lag auf einem Teppich und konnte kein Auge zutun. Als er alle
andern schnarchen hörte, erhob er sich und floh aus dem Wein- und
Atemdunst hinaus auf einen kleinen Balkon, an dessen Gitter blühende
Glyzinien hingen. Nach kurzer Weile sah er Schildknecht hinter sich
stehen, der, wie er selbst, im Hemde war. Engelhart freute sich und
dachte, nun könnten sie wieder einmal ein bißchen reden, aber
Schildknecht machte ihm Vorwürfe über sein schweigsames und unfrohes
Wesen, das in einer Gesellschaft von so harmloser Art übel vermerkt
werden müsse. Engelhart nickte zu allem und gab dem Freunde recht. Doch
hatte er in keiner Stunde des Lebens seine Armut tiefer bedauert als
jetzt. Ähnliche Nächte wiederholten sich nicht, aber es wurden Ausflüge
zu Schiff unternommen, bei denen Heilemann die Zeche zahlte. Bei einer
solchen Gelegenheit wandte sich Heilemann an Schildknecht und machte ihn
unwillig auf Engelharts schäbige Kopfbedeckung aufmerksam. »Ihr Freund
soll sich einen Hut kaufen,« sagte er und warf ein Zehnfrankenstück über
den Tisch. Das war nun allerdings zuviel für Schildknecht; er erblaßte
und entfernte sich schweigend mit Engelhart. Gleichwohl merkte dieser,
daß Schildknecht ihm wegen dieses Vorfalls insgeheim grollte.

Mitte Juli mußte Heilemann eine Geschäftsreise antreten, und kaum war
er fort, so stob auch seine Schmarotzergarde auseinander. Nun sah sich
Schildknecht gezwungen, Engelhart von seiner trostlosen Vermögenslage zu
unterrichten. Sobald er offen und wahr sein durfte, kam seine gütigere
Natur wieder zum Vorschein. Er sagte, es sei wesentlich, daß sie jetzt
aneinander festhielten und nicht der ordinären Notdurft wegen das
Freundschaftsgärtlein verdorren ließen. Er bemühte sich bei seinen
Bekannten, um für Engelhart eine Stelle zu erhalten, und lief tagelang
mit ihm von Geschäft zu Geschäft, aber die erhaltenen Empfehlungen waren
mager, wohlwollendes Entgegenkommen trafen sie selten bei diesem herben
und selbstzufriedenen Menschenschlag, die Vergeblichkeit der Mühe
spiegelte sich in ihren Gesichtern wider, und der trotzige Unmut machte
auch Bereitwilligere stutzig. »Sie müssen sprechen,« sagte Schildknecht
zu Engelhart, »Sie müssen sich ins Licht setzen, die Leute merken ja,
daß Sie keine zehn Rappen im Sack tragen, dem Bettler wirft man
höchstens ein Stück Brot hin, nur wer fordert, wird gehört.«

In den ersten Tagen hatte das vorhandene Geld noch zu einem Mittagessen
in einer Gastwirtschaft ausgereicht, dann kam die Stunde, wo man sich
aufs Hungern einrichten mußte. Schildknecht hatte keinen Menschen in der
Stadt, den er, ohne seine Empfindlichkeit aufs tiefste zu verwunden, um
ein Darlehen ansprechen konnte. Und ehe er sich nach Hause wandte,
wollte er das Schlimmste über sich ergehen lassen. Die Augen zu und
hinein ins Wasser, war seine tägliche Redensart. Engelhart hatte sich
noch einmal mit einer schüchternen Bitte an den Vater gewandt, natürlich
umsonst; Herrn Ratgebers Antwort war ein einziges Händeringen, worüber
sich Schildknecht weidlich lustig machte. Sie richteten nun ihr Leben so
ein, daß sie bis über den Mittag hinaus im Bette lagen, sich dann mit
der Umständlichkeit von Modedamen ankleideten und ins Kaffeehaus
marschierten, wo sie den Nachmittag über sitzenblieben. Nur hier hatten
sie, hauptsächlich durch das Ansehen, welches Heilemann genoß, ein wenig
Kredit; sie tranken Tee und verzehrten zur Stillung des Appetits eine
große Anzahl von Semmeln, lasen Zeitungen und Wochenschriften aus aller
Welt, beobachteten und kritisierten die vor den Fenstern
vorüberwandelnden Menschen, wobei diejenigen, die sattgegessen aussahen,
am übelsten wegkamen. Niemals und nicht mit einem Blick ließ
Schildknecht in all der Zeit Engelhart merken, daß er ihm zur Last
falle, ihn fessele und das eigne Fortkommen erschwere. Eher noch schien
er selbst den Freund zu halten und tat so, als wäre die ganze Pein nur
ein Examen, das ihnen das Schicksal bereitet. Aber schließlich, _er_
war in seinem Hause, er war es, der gab, und Geben macht müde und
tyrannisch. Am Abend wurden tiefsinnige Gespräche ausgesponnen, und
Schildknecht verstand es, zwischen zwei gesprochene Worte eine ungesagte
Bitternis zu legen wie jemand, der eine Nadel auf ein Butterbrot
streicht. Gegen Mitternacht gediehen die Fäden dünner, weil der Magen,
wie ein Hund gegen Diebe, sein Knurren gegen das Wortgeklapper erhob,
dann nahm der eine in seinem Bett, der andre auf der Matratze zu den
Träumen Zuflucht.

Schildknecht träumte schwer, oft erwachte Engelhart von seinem Stöhnen
und sah ihn beim Morgengrauen totenbleich liegen, mit feuchten
Angstperlen auf der Stirn. Er liebte nicht das schlafende Gesicht
Schildknechts, ja er fürchtete es. Einmal nun hatte Schildknecht einen
angenehmen Traum und erzählte ihn: er sei am Meer gestanden und drei
Schiffe, voll mit Gold beladen, seien auf ihn zugeschwommen, seien wie
Vögel geradeswegs in seine Arme geflogen, und dann sei in zahllosen
kleinen Fässern das Gold um ihn aufgestapelt worden, aber immer, wenn er
zugreifen wollte, habe sich eine Hand auf seine Schulter gelegt, und
eine Stimme sprach: »Warten, es kommt noch mehr.«

Das war der ganze Traum, und Engelhart bedauerte, daß er zu Ende war,
denn er hätte gern gewußt, was Schildknecht mit seinen Reichtümern
angefangen. Allmählich wurde dieser Gedanke zu einer sorgenvollen und
krankhaften Vorstellung, es war etwas dabei, was ihn bezüglich seiner
eignen Person beunruhigte, und da er es über Tag und Nacht nicht los
werden konnte und mit sich zu Rate ging, wie er dem Freund von seinem
zweifelvollen Zustand Kunde geben sollte, entsann er sich einer alten
Geschichte, und mitten in einem Gespräch bat er Schildknecht ziemlich
unvermittelt, ihm zuzuhören.

»Zwei edle Ritter in der Bretagne,« so begann er, »liebten einander
sehr. Beide waren arm, nur besaß der eine von ihnen einen schönen
Zelter. Und der andre fing eines Tags an nachzudenken und sprach bei
sich: ›Mein Freund hat einen schönen Zelter; wenn ich ihn darum bäte,
würde er ihn mir wohl geben?‹ Eine Zeitlang schwankte er zwischen ja und
nein, endlich aber kam er zu dem Schluß, der Freund würde ihm den Zelter
nicht geben. Der Ritter wurde traurig und erschien mit anderm Gesicht
vor seinem Freund, doch dieser merkte nichts. Darüber wurde der Gram des
Ritters immer größer, er hörte auf, mit dem Freund zu sprechen und
wandte das Auge ab, wenn jener vorüberging. Der andre, der den Zelter
besaß, konnte dies nicht länger ertragen und stellte ihn zur Rede,
fragte, weshalb er ihn meide, weshalb er erzürnt sei. Da antwortete er:
›Weil ich dich um deinen Zelter gebeten habe und du ihn mir abgeschlagen
hast, und weil ich nun sehe, daß wir zu Unrecht Freunde heißen.‹«

Schildknecht war ziemlich erstaunt über die Geschichte, und als er
darüber nachzudenken begann, geriet er in eine gereizte Stimmung. Eben
das hatte Engelhart gefürchtet und hatte deswegen auch die Erzählung
nicht zu Ende gebracht. Natürlich hatte der Ritter, der den Zelter
besaß, voll Rührung den andern umarmt und gesprochen: »Alles, was mir
gehört, gehört auch dir.« Es war ihm zu banal erschienen, dies
hinzuzufügen, vielleicht kam es der Wahrheit näher, wenn die beiden
Ritter von nun an Feinde wurden.

Als Heilemann zurückkehrte, waren die zwei Hungersgenossen so
ausgemergelt, daß selbst der kühle Genüßling erschrak und sich ernstlich
bemühte, für Schildknecht einen anständigen Posten aufzutreiben. Doch
sagte er ihm: »Das mit deinem Freund Ratgeber ist nichts, der taugt
nicht, den mußt du loswerden,« und nach einer kurzen Beratung wurde
beschlossen, daß Engelhart zu seinem Vater reisen müsse, der habe die
nächste Pflicht, für ihn zu sorgen. »Hier sind zwanzig Franken,« sagte
Heilemann, »damit kann er bis München durchkommen, und er soll sich nur
schleunigst trollen, ist überhaupt ein unleidlicher Kumpan.«

Engelhart ahnte nichts von diesen Beschlüssen, als er am Nachmittag
desselben Tages an einer Partie teilnahm, welche von Heilemann,
Schildknecht und einigen andern, Damen und Herren, veranstaltet wurde.
Sie fuhren mit dem Dampfer bis Meilen, wanderten noch eine Stunde am
Ufer entlang und kamen gegen Abend in ein Gartenwirtshaus, wo eine
Musikkapelle spielte. Inzwischen hatte sich der Himmel schwarz umzogen,
die meisten Leute flüchteten auf das eben abgehende Schiff, und so blieb
die kleine Gesellschaft, in der Engelhart sich befand, mit den
Musikanten fast allein zurück. Heilemann ließ im Saal oben den Tisch
decken und mietete die Musikanten, da nach dem Essen ein Tanzvergnügen
geplant war. Während der Mahlzeit war Schildknecht sehr aufgeräumt,
erzählte ein halb Dutzend seiner lustigen Geschichten und hielt dabei
geflissentlich seine Augen von Engelhart fern, dem er gegenüber saß.
Engelhart glaubte, es sei darum, weil er all diese Geschichten schon
kannte und Schildknecht sich deshalb vor ihm geniere. Es lachten alle,
nur er lachte nicht, und dies kränkte Schildknecht; am Schluß stand er
hastig auf, warf die Serviette auf den Stuhl und verließ den Saal.
Engelhart war ein wenig erkältet durch dies auffällige Benehmen,
indessen folgte er alsbald dem Freund und traf ihn nach einigem Suchen
unten an der Uferböschung, wo er auf einem Felsstück hockte und in die
blitzezuckende Ferne starrte. Engelhart setzte sich zwei Schritte von
ihm weg, noch dichter an das Wasser.

Das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, schien die Dunkelheit des
Abends rascher zu beschwören, und nach einer Weile gewahrte Engelhart
den Freund nur noch als formlosen Schattenriß, kaum von dem Laubwerk
eines tiefhängenden Weidenbaums abgehoben, in welchem ein Vogel
klagenden Gesang anstimmte. Mit jeder Minute mehr spürte Engelhart das
Schweigen als etwas Feindseliges, und es war, als ob sein Ohr Zuflucht
nähme zum Glucksen des Wassers und zum leisen Geroll des Donners.
Endlich fing Schildknecht an zu sagen, was er sagen mußte, seine Stimme
klang tief, ruhig und verschleiert. Hätte er sich darauf beschränkt, zu
sagen: So und so liegen die Dinge, es geht nicht mehr weiter, wir
halbieren uns bloß die Möglichkeiten und Hoffnungen des Lebens, statt
sie zu verstärken, und es ist ein Ausweg gefunden worden, der in der
Natur der Dinge liegt, so wäre alles gut gewesen; aber das tat er nicht,
er ging der Sache vom sittlichen Standpunkt aus zu Leibe und suchte es
so hinzustellen, als hätten die Fehler und schlechten Eigenschaften
Engelharts von Anfang an alles zum Schlimmen gewandt. Er redete sich
eine Fülle aufgespeicherter Bitterkeit von der Brust und meinte, er sei
immer der Gaul, der den fremden Wagen aus dem Dreck zerren müsse, von
ihm verlange man Haltung, Verantwortung, Verständnis, von ihm den
Zelter, aber andre wollten nicht geben, andre säßen düster und stumm da,
wenn er für eine ganze Affenkompagnie den Extrahanswursten mache.

Als er seine Rede beendigt hatte, fiel die dumpfe Streichmusik vom Saale
oben ein, und Engelhart beobachtete weit draußen in der Schwärze, die
über dem See brütete, ein langsam gleitendes Laternenlicht; aber
allmählich verschwamm es in seinen Augen, und mit dem Gedanken: Alles
verschwendet, das ganze Herz verschwendet, schoß ihm das Wasser unter
den Lidern hervor, und er weinte lange still vor sich hin.

Zwölf Stunden später saß er schon auf der Eisenbahn und fuhr mit dem
geringsten Gepäck, das je ein Reisender besessen, gegen Norden. Sein
jämmerliches Ausgehungertsein war schuld, daß er auf jeder Station etwas
zu essen kaufte und während der Überfahrt auf dem Bodensee-Dampfer
unbedenklich an der teuern Mahlzeit teilnahm. So kam es dann, daß er,
auf dem Bahnhof in Lindau stehend, von seinen paar Franken nichts mehr
übrig hatte. Es war fünf Uhr nachmittags, in einer Viertelstunde ging
der Schnellzug, dieser hatte keine dritte Klasse, und Engelhart sah
sich außerstande, den Zuschlagspreis zu entrichten. Der nächste Zug ging
erst in der Nacht und fuhr elf Stunden statt sechs. Und wo Unterkunft
suchen bis dahin, wovon leben; außerdem drängte es ihn vorwärts, als ob
am neuen Ziel das Heil bereit sei. Wie er nun in den letzten zehn
Minuten, während der Zug schon dastand und die Lokomotive gleichsam
einladend schnaubte, ratlos und verzweifelt auf dem Bahnsteig hin und
her rannte, trat ein graubärtiger Schaffner auf ihn zu und fragte, was
ihm denn sei, ob er jemand erwarte oder ob er sich krank fühle.
Engelhart wollte kurz ausweichend antworten, aber das ehrlich-gute
Gesicht des Mannes flößte ihm Vertrauen ein, und er gestand zögernd
seine Verlegenheit. Da sagte der Alte, er wolle ihm gern helfen, er möge
sich nur einen Platz suchen, die Überzahlung betrage etwas über sechs
Mark, die wolle er für ihn auslegen. »Ich werd’ es Ihnen morgen
zurückbringen, bei meiner Seligkeit!« rief Engelhart mit heiligem Eifer.
»Nun, nun, ich glaub’ Ihnen schon,« beschwichtigte ihn der Alte und
klopfte ihm auf die Schulter. Als er während der Fahrt das Billett
brachte, schrieb er ihm seine Adresse auf einen Zettel und wies alle
Danksagungen schmunzelnd ab.

Es wurde Mitternacht, ehe Engelhart, weit in der nördlichen Vorstadt
irrend, die Straße und das Haus fand, wo sein Vater wohnte. Dann mußte
er lange läuten, bis Frau Ratgeber herunterkam. Sie war sehr überrascht
und schien des Ankömmlings nicht eben froh zu sein; bedrückten Herzens
schlich er hinter ihr die vier Stockwerke empor, und seine scherzhafte
Anspielung über die Nähe des Himmels hier oben beantwortete sie mit
einem Seufzer über das harte Leben. Sie brachte willig herbei, was sie
noch zu essen im Haus hatte, setzte sich ihm sodann gegenüber, blickte
mit ihren scheuen Augen ängstlich-musternd in sein Gesicht und meinte
vorwurfsvoll, er sehe gut aus. Ihr Antlitz war förmlich
zusammengeschrumpft von den Sorgen, und die dünnen schwarzen
Haarsträhnen gaben den Zügen einen zigeunerhaften Ausdruck. Der Vater
sei verreist, berichtete sie, und werde erst über den andern Tag
zurückkommen; und nun suchte sie ihn auszuforschen voll Angst, daß sie
da einen müßigen Kostgänger zu füttern haben werde, aber es verdroß
Engelhart, daß sie keine gerade Frage stellte, sondern nur so um den
Brei herumging; daher schwadronierte er eine Weile von seinen
Aussichten, und es wurde ihm selber gläubig zumute, bis ihm einfiel, daß
er doch am Morgen seinem guten Schaffner das geliehene Geld
zurückbringen müsse. Er schluckte und würgte an den Worten, endlich kam
es heraus, halb Bitte, halb Forderung. Frau Ratgeber erklärte mit
Entschiedenheit, daß sie keinen überflüssigen Pfennig besitze und nichts
geben könne. »Es muß sein,« sagte Engelhart erbleichend. »Wenn es sein
muß, so verschaff’ dir’s eben,« entgegnete sie höhnisch, »von mir
bekommst du’s nicht, von deinem Vater auch nicht. Wir haben genug
Trübsal mit dir gehabt, und jetzt kommst du wieder als Bettler.« Alle
seine Sünden und seine ganze Schmach hielt sie ihm vor und blieb bei
ihrer Weigerung, auch als er sich aufs Flehen verlegte. »Und jetzt ist
es spät,« schnitt sie endlich ab, »ich habe gearbeitet, ich will
schlafen.«

Für Engelhart war an Schlaf nicht zu denken. Endlose Stunden hindurch
schritt er im Zimmer auf und ab. Pläne zu schmieden war er nicht der
Mann, ihn peitschte es bloß von Impuls zu Impuls. Als er am Morgen die
Stiefmutter zur Küche gehen hörte, eilte er hinaus und vertrat ihr den
Weg. »Ich verpfände mich dir mit meinem ganzen Leben, mit meiner ganzen
Zukunft,« flüsterte er, »nur gib mir diese paar Mark, sonst bin ich
ehrlos.« Frau Ratgeber zuckte die Achseln und machte ein böses Gesicht,
aber es war etwas in seinem Blick, wovon sie niedergezwungen wurde.
Ungefähr eine Minute lang besann sie sich, dann kehrte sie ins
Wohnzimmer zurück. Engelhart ließ sie nicht aus den Augen, als fürchte
er den gewonnenen Vorteil sonst wieder einzubüßen, er begleitete sie und
sah zu, wie sie die Kommode aufschloß. Stumm reichte sie ihm ein
schweres silbernes Armband, in der Mitte war ein alter Reichstaler
eingelötet, der ein Städtebild mit vielen Türmen zeigte. »Geh damit ins
Leihamt,« sagte Frau Ratgeber, »du bist mir schon genug schuldig, jetzt
auch noch das.« Engelhart erkannte das Schmuckstück, es hatte einst
seiner Mutter gehört, und er betrachtete es mit düsterer Miene, hinter
der er seine Wehmut versteckte. Doch ging er hin, löste Geld dafür und
bezahlte seine Schuld.

Nachträglich bereute Frau Ratgeber ihre Schwäche, und Engelhart mußte
ihren erbitterten Hader dulden. Es war ihm keine ruhige Stunde gegönnt.
Sein ernster Entschluß, sich um einen Verdienst umzutun, geriet
einigermaßen ins Wanken, weil ihn davor ekelte, fremden Menschen unter
die Augen zu treten und ihre Gleichgültigkeit ertragen zu sollen.
Indessen kam sein Vater zurück, müde von der Arbeit und erschöpft von
der Hundstagshitze. Der Mann war sichtlich gealtert, an Körper und
Gesicht trat eine fette Aufgeschwommenheit hervor, doch sein Anzug war
höchst adrett und den ergrauenden Schnurrbart hatte er schwarz gefärbt
und nach der neuesten Mode gebürstet. Die Begrüßung zwischen Vater und
Sohn war beeinflußt durch das finstere Schweigen der dabeistehenden
Frau, und dieses Schweigen enthielt für Herrn Ratgeber die Aufforderung
zu Vorwürfen und Abrechnungen. Während Engelhart auf dem Sopha saß, ging
Herr Ratgeber mit seinen kurzen Schritten im Zimmer herum und redete
sich in Zorn und Schmerz. Doch beständig war auch ein Ausdruck der
Verlegenheit in seinem Gesicht, und wenn Engelhart antwortete, zuckte
das seltsame Schmunzeln um seine Lippen, durch das er seiner Aufregung
Herr zu werden suchte.

Engelhart fragte, wie es Abel ergehe; Herr Ratgeber antwortete stolz,
der bringe sich durch, der sei tüchtig und werde offenbar ein großer
Mann. Doch wenige Tage darauf kam über Abel furchtbare Nachricht aus
Amerika. Er hatte wieder einmal Dummheiten gemacht und war entlassen
worden; dann war er irgendwohin ins Innere des Landes gefahren, hatte
Schweinfurter Grün genommen und sich zum Überfluß ins Wasser gestürzt.
Ein Farmer hatte ihn aufgefischt, und jetzt lag er in einem Hospital in
Ohio und mußte außerdem, wie dort üblich, wegen des versuchten
Selbstmords Strafe gewärtigen. Herr Ratgeber war gerade beschäftigt,
sich zu rasieren, als der Unglücksbrief kam. Die Frau las ihn weinend
vor, Herr Ratgeber legte zitternd das Messer beiseite und stieß, immer
jenes entsetzliche Schmunzeln um den Mund, dumpf klagende Töne aus. Mit
der halbbarbierten Wange setzte er sich an den Tisch und schrieb
sogleich einen langen Brief. Fast feindselig beobachtete Engelhart die
flink über das Papier sich bewegende Hand. ›Wenn er nur seine
hochtrabenden Worte setzen kann,‹ dachte er; ›wahrscheinlich jammert er
wieder über das Schicksal und die Undankbarkeit der Kinder, und nie
scheint er zu ahnen, daß er bloß erntet, was er selber gesät.‹

Es half nichts, Herr Ratgeber mußte Geld nach Amerika schicken, aber von
diesem Tag an war seine beste Hoffnung dahin und er wurde ein wenig
stiller und schweigsamer als bisher. Zu vielem Nachdenken ließ ihm sein
Beruf keine Zeit. Er war beständig auf den Beinen, gönnte sich kaum die
Ausgabe für die Pferdebahn und kam oft so abgeschlagen heim, daß er sich
gleich nach der Mahlzeit zum Schlafen hinlegte. Die Gesellschaft, für
die er arbeitete, wußte ihm wenig Dank und glaubte wie die schlechten
Erzieher, durch Aufmunterung ihren Vorteil zu versäumen. Es war nur ein
beständiges Hetzen und Stacheln, um jede gerechte Entschädigung mußte er
feilschen, und in seinem Ärger über solche Unbill konnte sein Auge einen
irren und hilflosen Ausdruck annehmen. Seine Sprache gegenüber Engelhart
war bitter und gereizt; er schämte sich vor seinen Bekannten, daß er
einen erwachsenen Sohn zu Hause sitzen hatte, der nichts war, kein Amt
bekleidete und es darauf anzulegen schien, den Seinen zur Last zu
fallen. Vergeblich suchte er ein Unterkommen für ihn, und so oft er
Engelhart antrieb, daß er selber etwas tun solle, setzte ihm dieser eine
unbegreifliche Verstocktheit entgegen. »Ich kann dich nicht ernähren,«
sagte Herr Ratgeber dann, und dunkler Zorn machte sein Auge wild;
Engelhart aber hörte nur: ich will dir nicht helfen. Ein Wort gab das
andre, und schließlich forderte der Vater mit leidenschaftlicher
Heftigkeit jene fünfzig Mark zurück, die er damals nach Freiburg
geschickt. Er forderte sie in einem Ton zurück, als wolle er sagen: gib
mir die Träume wieder, die Erwartungen, die ich einst von dir gehegt.
Engelhart war erstaunt und entgegnete verzweifelt, ob man ihm denn das
Fleisch aus dem Leibe zu schneiden gedenke. Er redete mit wunderlicher
Glut von der Zukunft, so wie Leute sprechen, die mit den eignen Worten
ihre Zweifel ersticken wollen, aber Herr Ratgeber antwortete mit einem
höhnischen Lachen. »Du bist nur da, um Herzen zu zertreten,« sagte er
zitternd. »Ein Prahler warst du von je; was soll dies Nichtstun
bedeuten? Glaubst du denn, wenn du in der Nacht vor deinem Schreibpapier
sitzest und sinnloses Zeug malst, glaubst du denn, daß du damit je einen
Bissen Brot erwirbst? Es ist ein Betrug an dir und an uns.« Und
Engelhart erwiderte unbesonnen: »Ja, Vater, warum hast du mich denn auf
die Welt gesetzt?« Da schwieg Herr Ratgeber und war, ohne daß er es
zeigte, im Tiefsten beleidigt und verwundet; ›ein Kind, das seinen Vater
schlägt,‹ dachte er. Doch immer fing der böse Streit über jene fünfzig
Mark von neuem an, so daß Engelhart keine größere Sehnsucht kannte, als
dies Geld zu besitzen, es ihnen vor die Füße zu werfen und ihnen Liebe
und Achtung zu kündigen für immer. Eine stille und unaufhörlich
wachsende Erregung ergriff wie eine geheimnisvolle Krankheit Geist und
Leib. Nun kam es aber bisweilen vor, daß Herr Ratgeber von dem Verlangen
gepeinigt wurde, den Grund dieses zerstückten und schwelenden Wesens zu
erforschen; nicht selten stand er des Nachts an der Kammertür und
lauschte, was Engelhart wohl drinnen treiben mochte; offen zu fragen
getraute er sich nicht, glaubte auch seinen Stolz und seine Autorität
dadurch zu gefährden; bei Tisch geschah es, daß er einen schüchtern
fragenden Blick auf den Sohn warf, wenn er annahm, daß seine Frau es
nicht bemerken konnte. Oder er begann von den Männern des Geistes zu
reden, denen er noch immer einen ungeschmälerten, beinahe
abergläubischen Respekt entgegenbrachte; von denen, die im öffentlichen
Leben standen, von denen, die es so weit gebracht hatten, daß eine
Zeitung ihre Feder in Dienst nahm. Er erzählte, wie schon so oft, daß er
im Jahre siebzig an der Wirtstafel eines thüringischen Städtchens neben
dem großen Karl Gutzkow gesessen sei, und fügte hinzu: »Ja, das waren
eben lauter hochstudierte Männer.« Engelhart schwieg. Sein Sinn war
verhärtet und voll Hohn. Wähnte er doch weit über den Götzen zu stehen,
die seines Vaters Ehrfurcht genossen. Und er haßte die Schrift, die
schamlose Entblößung der Seele durch die Schrift, fürchtete jenes Siegel
zu brechen, mit dem der Schöpfer das Mysterium des Schaffens versiegelt
hat. Es war ihm noch alles Leben, bloßes, einfaches Leben, angefüllt
mit unentweihten Gesichten, grenzenlosen Möglichkeiten. Scham hätte
seine Lippen verbrannt, wenn sie davon gesprochen hätten. So mag es Adam
in der ersten Paradiesesnacht zumute gewesen sein; der Baum, der Fels,
die Wolke, die Dunkelheit selbst, nichts war ihm Wirklichkeit, alles
Symbole seiner Angst, seines Zagens und seiner Hoffnung, und mehr als
Weib und Schlange brachte ihn der Tag zu Fall.

Indessen verging die Zeit, und Engelhart mußte allgemach auf irgendeine
Verbesserung seiner Lage sinnen. Es schmeckte ihm der Bissen nicht mehr,
mit dem sie seinen Hunger stillten. Zwischen ihm und der Stiefmutter
wuchs die Erbitterung bis ins Maßlose. Kaum daß er ihr des Morgens unter
die Augen getreten war, begann sie sein Ohr mit Anklagen und Vorwürfen
zu füllen, und sie verstand es, mit vergifteten Pfeilen die
empfindlichsten Stellen zu treffen. »Von je warst du ein Taugenichts,«
hieß es, »schon in der Schule hast du nicht lernen wollen; geh nur mit
deinen Luftschlössern, es sind lauter Lügen, du bist ja ein geborener
Lügner; natürlich, davon willst du nichts wissen, aber seit ich dich
kenne, lügst und betrügst du; damals mit den Äpfeln, was war das doch
für eine Niedertracht, und später hast du mich beim Vater verleumdet, du
wirst’s noch weit bringen, du wirst deinen Vater ins Grab bringen;« in
solchem Ton steigerte sich die Rede, und Engelharts Blut lief schwer und
brennend durch die Adern. Die endlosen Beleidigungen verursachten ihm
körperliche Übelkeit und Ermattung, er verlor den Schlaf und sann in
seinem schlechten Bett mit beklommenem Herzen vor sich hin. An einem
heißen Mittag im August kam er, nach mancherlei fruchtlosen Gängen aufs
tiefste entmutigt, aus der Stadt zurück und setzte sich in Erwartung des
Mittagbrotes an den schmalen Tisch in der Küche. Der Vater war in
Geschäften nach Landshut gefahren und sollte drei Tage fortbleiben.
Nachdem er eine Weile gesessen und in den düstern und schwülen Lichthof
gestarrt hatte, sagte Frau Ratgeber, heute habe sie nichts gekocht, und
damit warf sie ihm ein Stück Brot hin. »Wie? ist dir’s vielleicht nicht
recht?« fuhr sie auf, als er die Lippen verzog. Sein Schweigen reizte
sie, wie jede Antwort sie gereizt hätte. »So ein Lump,« grollte sie vor
sich hin, »will nicht arbeiten, stiehlt dem Herrgott die Tage und seinem
Vater den letzten Groschen.« Engelhart stand auf und wiederholte mit
zitternden Lippen: »Lump?« Die Frau stellte sich ihm gegenüber, und ihre
glanzlosen Brombeeraugen drehten sich konvulsivisch: »Ja!« fauchte sie,
»Lump! Lump! Lump! Glaubst du, wir wissen nicht, was du für schlechte
Streiche in Freiburg gemacht hast? Steh nur da wie ein Herr, glaubst
du, man weiß nicht, daß du ins Zuchthaus gehörst?« Engelhart schrie auf;
der ganze Raum verschwand und nichts blieb übrig als ein großes blankes
Küchenmesser, das am Herdrande lag. Dorthin griff er, schwang die Klinge
in die Luft, schrie abermals, die Frau stürzte mit vors Gesicht
geschlagenen Händen zurück, er folgte ihr, aber dann kam die Hemmung,
jenes unbegreifliche Etwas, das den Menschen solcher Art zu keiner sich
selbst vollendenden Handlung gelangen läßt, das in die dunkelste Nacht
ihrer Leidenschaft wie ein Funke fällt oder wie eine unüberhörbare
Stimme tönt. Er verlor das Bewußtsein und fiel nieder. Als er erwachte,
wusch ihm Frau Ratgeber das Gesicht mit Essig. Sie weinte, war aufgelöst
in Tränen. Nach einigen Minuten hatte er sich so weit erholt, daß er
aufstehen und sich zum Fortgehen anschicken konnte. Die Frau erbot sich,
Kaffee zu bereiten, er schüttelte den Kopf und verließ die Wohnung.

In einer nahegelegenen Straße wanderte er von einem Eck zum andern bis
gegen Abend beständig hin und zurück. Dann war er einigermaßen
gesammelt, las die Vermietezettel vor den Haustoren, stieg in einem
weitläufigen Gebäude bis unter das Dach, mietete die ausgeschriebene
Mansarde und schickte sich gleich an, die Nacht hier zu verbringen. Am
andern Morgen überlegte er lange hin und her, wie er zu seinen
Habseligkeiten kommen könne; endlich entschloß er sich doch, selbst in
die väterliche Wohnung zu gehen. Glücklicherweise war Frau Ratgeber auf
dem Markt, und eine Zuspringerin, welche die Böden fegte, behütete das
Haus. Er packte eilig seine Sachen in den Koffer und stellte
Betrachtungen darüber an, was er von all dem verkaufen könne, um sich
ein wenig Geld zu verschaffen. Es war nichts, er besaß lauter ärmliches
Zeug, das ihm noch dazu unentbehrlich war. Da fiel sein Blick auf das
Bücherregal des Vaters; die Bände standen noch immer in derselben
Reihenfolge wie vor vielen Jahren, als ob keine Hand inzwischen sie
berührt hätte. Er suchte drei oder vier Bände heraus, von deren Erlös er
sich etwas versprechen konnte, schrieb einen Zettel an den Vater, worin
er die Tat bekannte, fügte seine Adresse bei und legte den Zettel an
eine Stelle, wo ihn der Vater, und nur er allein, finden mußte, nämlich
in die Schublade, wo sich das Rasiergeräte befand. Die Bücher verkaufte
er am selben Tag und erhielt zwei Mark dafür.

Das war an einem Donnerstag. Am Samstag in der Frühe erhielt er einen
Brief vom Vater. »Lieber Engelhart,« begann das Schreiben, »zwischen uns
ist von heute an jedes Band zerschnitten. Über den Vorfall mit der
Mutter will ich kein Wort verlieren, darüber zu sprechen, verbietet sich
von selbst. Gott verzeihe mir, daß ich Dich nicht zu einem besseren
Sohn und brauchbaren Menschen herangebildet habe. Außerdem hast Du, um
es ganz frei herauszusagen, ordinär gegen mich gehandelt, indem Du
hinter meinem Rücken die Bücher verkauft hast, für die Du doch nur ein
paar elende Pfennige erhalten konntest. Es fehlt mir mein französisches
Wörterbuch, dann das Werk ›Kraft und Stoff‹ und Freytags ›Verlorne
Handschrift‹. Ich hatte diese Bücher lieb, sie waren mir wie Freunde,
sie haben mich über den größten Teil meines Lebensweges treulich
begleitet, und ich misse sie mit schwerem Herzen. Handelt man so gegen
den Vater, der es doch stets gut mit Dir gemeint hat? Das hätte ich nie
und nimmer von Dir gedacht, und zur Erklärung kann ich nur annehmen, daß
Dein sittliches Gefühl getrübt ist. Doch genug, ich habe mich über die
Geschichte so alteriert, daß ich es nicht in Worte bringen kann, und
deshalb lege ich auch die Angelegenheit #ad acta#.«

So weit der Brief. Aber es war auch eine kleine Nachschrift dabei, ein
unerwartetes und rührendes Anhängsel: »Hierbei schicke ich Dir, obwohl
ich es hart entbehre, fünf Mark in Briefmarken, damit Du nicht hungern
mußt.« Und wie ein bunt kariertes Fähnchen hingen die angeklebten Marken
vom Rand des Briefblattes herab. ›Er will sich einschmeicheln,‹ dachte
Engelhart, und sein Sinn blieb starr.

Von seiner Mansarde aus konnte er über die meisten Häuser der Umgebung
hinwegblicken, und bei Nacht hatte er ein großes Stück Sternenhimmel vor
sich, während aus den Höfen die beleuchteten Fenster heraufglühten und
mit dem Vorrücken der Stunden nach und nach erloschen. In den ersten
Tagen war der Morgen eine goldene Zeit, denn die Sonne schien
geradeswegs ins Fenster, keine unwirsche Hand drohte an die Tür zu
klopfen und zur Tätigkeit zu mahnen, und die Gewißheit, daß die bösen
Träume der Nacht etwas Bestandloses und Unwirkliches waren, genoß sich
wie eine herrliche Speise. Der jähe Frieden inmitten einer bewegten
Stadt hatte etwas seltsam Betäubendes. Zunächst galt es, das winzige
Kapital möglichst praktisch auszunutzen, es gleichsam dünn und breit zu
schlagen. Von der Vermieterin verschaffte er sich einen Kochtopf und
einen Spiritusapparat, dann kaufte er einen kleinen Sack Äpfel, ferner
einen Vorrat von Käse, Kaffee und Zucker. Die Äpfel schälte er und
kochte sie zu Mus, und das gab eine Mittagsmahlzeit, morgens und abends
nahm er den eigengebrauten Kaffee zu sich und hatte bald die Kunst
entdeckt, wie man ihn auf die einfachste Weise schwarz und stark werden
läßt. Aber die zwei Taler waren bald dahin, und die Vorräte im Schrank
dauerten auch nicht gar lange. Was war zu tun, um dem schmerzhaften
Hunger zu entgehen? Engelhart studierte die Stellenangebote in den
Zeitungen, und da er das teure Geld nicht für Briefmarken ausgeben
konnte, lief er selber überall hin und stand oft in der Frühe mit
hundert andern vor dem Ausgabeort der Zeitungen. Dann fing das
Marschieren an, straßauf, straßunter, immer mit einem Keimchen von
Hoffnung in der Brust; schüchtern trat man vor irgendeinen Herrn hin,
der in einem muffigen Schreibzimmer saß wie eine Spinne im Mauerwinkel,
aber jedesmal war schon ein andrer dagewesen, der es wahrscheinlich noch
billiger machte und auch einschmeichelndere Manieren gezeigt hatte. Mit
heiß und kaltem Körper schlich dann der Bittsteller demütig wieder
heimwärts und kaufte für das letzte Restchen Mammon ein paar Gramm
Tabak. Es war ein Glück, daß sich der Herbst mit schönem Wetter anließ,
da brauchte man wenigstens keinen Regenschirm, und die defekt gewordenen
Stiefel schluckten statt Wasser bloß Staub. Einmal nun hatte Engelhart
einen wunderbaren Einfall. In einer Stadt, sagte er sich, wo so viel
hunderttausend Menschen leben und unter ihnen so viel reiche Menschen,
zugereiste Fremde, ja sogar Fürstlichkeiten und der königliche Hof, in
einer solchen Stadt muß doch notwendigerweise auch einiges Geld auf der
Straße verloren werden; wenn also einer es unternimmt, zu suchen,
geschickt zu suchen, und besitzt Instinkt zu dergleichen, so kann es am
Erfolg nicht mangeln; angenommen, ich entdeckte auf solche Manier einen
Brillantschmuck im Werte von soundsoviel tausend Mark, so steht mir als
Finderlohn der zehnte Teil zu, und ich bin aus der Patsche. Die Logik
dieser Überlegungen entzückte ihn in so hohem Maß, daß er sich ungesäumt
ans Werk begab. Mit gesenktem Kopf und aufmerksam auf das Pflaster
gerichtetem Blick strich er langsam durch die Hauptstraßen und die
vornehmen Quartiere. Vor den Gasthöfen, wo die Fremden abstiegen, stand
er wie ein Wachtposten, blickte in kein Gesicht, sondern starr und
begehrlich zu Boden. Sah er von fern etwas schimmern, so eilte er mit
klopfender Brust darauf zu und erblaßte, wenn es nur ein Fetzen
Stanniolpapier oder ein Messingknopf war. Stundenlang ging er in der
Bahnhofshalle umher, dachte sehnsüchtig an das viele Geld, das dort an
den Schaltern ausgewechselt wurde, und wünschte sich nur ein Tröpfchen
von dem Überfluß. Er wurde zornig, wenn seine Gedanken abschweifen
wollten von der Erde, wenn sie in der Luft suchten, was doch zweifellos
unten im Schmutze lag, aber es half alles nichts, er fand nie auch bloß
eine Kupfermünze, viel weniger den besagten Brillantschmuck.

Es nahte die Zeit, wo die Miete fällig war, es mußte etwas geschehen,
auch der Magen ertrug es nicht länger. Die Frau, bei der er wohnte, war
eine gutmütige Person, sie drängte nicht und schien Mitleid zu haben,
obwohl er nie mit ihr über seine Lage sprach, sondern im Gegenteil
unbekümmert drauflos prahlte von steinreichen Verwandten, hochgestellten
Freunden und illustren Beziehungen jeder Art. Aber er war doch froh,
wenn die Alte am Abend eine Schüssel mit Salat, ein paar Kartoffeln oder
eine halbe Wurst auf seinen Tisch gebracht hatte, und kam zu dem
wehmütigen Schluß: ohne Menschen geht’s eben nicht. Eines Tages fragte
er in einem Warenbazar um eine Stellung an, und sie nahmen ihn, ohne
viel nach seinen Kenntnissen zu fragen. Kenntnisse waren auch nicht
erforderlich, er mußte des Morgens die Fußböden ausspritzen und kehren
und den ganzen übrigen Tag, mit einer Schildmütze versehen, durch die
Stadt rennen und Lieferungszettel austragen. Dafür bekam er fünfzig
Pfennig jeden Abend. Vielleicht hätte er dies noch erduldet, aber mit
dem groben und perfiden Wesen, das da herrschte, konnte er sich nicht
befreunden, und er beschloß, lieber elend zugrunde zu gehen, als jeden
Stolz zu vergessen und der getretene Knecht von Knechten zu sein. Sieben
Tage hatte die Herrlichkeit gedauert, dann kroch er wieder in sein
einsames Loch. Darauf fand er Arbeit bei einem sonderbaren Mann, dem
Redakteur eines patriotischen Winkelblättchens. Der Mann hieß Saffran
und hatte eine bläuliche Nase. Er verfaßte Lobesartikel über den
Regenten und die Häupter des Adels. Engelhart mußte nach dem Diktat
stenographieren und zu Hause das Schriftstück ins reine bringen. Für die
Großquartseite war der Preis von zehn Pfennig vereinbart worden, und
Engelhart schrieb ganze Nächte hindurch, um eine lumpige Mark
herauszuschinden. Nun war es aber des Teufels mit Herrn Saffran; erstens
stellte er sich taub, wenn man Geld haben wollte, gebrauchte Ausflüchte,
tat, als habe er schon Vorschuß gegeben, oder rannte plötzlich davon mit
den Worten: »Ach Gott, ach Gott, Seine Königliche Hoheit haben mich ja
zur Audienz befohlen;« zweitens aber zählte er die Silben, untersuchte,
ob auf jeder Seite gleich viel Worte standen, und wenn die Sache nicht
in Ordnung war, schlug er die Hände zusammen und jammerte laut über die
Niedertracht der Welt. Er besaß den Orden für Wissenschaft und Kunst,
und als Engelhart einmal mit düsterer Entschlossenheit seinen Lohn
begehrte, nahm er das Ehrenzeichen und steckte es vor die Brust wie
einer, der einen Stern vom Himmel gepflückt hat und sich damit böse
Geister vom Leibe halten will, dann gab er noch allerlei sublime
Redensarten von sich, bevor er endlich den Geldbeutel öffnete.

Auch diese Erwerbsquelle versiegte mit der dritten Woche. Um das Unheil
voll zu machen, wurde die Mietsfrau sehr krank; sie wurde ins Spital
geschafft, und Engelhart mußte ein andres Asyl suchen. Er fand ein
Zimmer in der Heßgasse über eine Stiege, größer und freundlicher, aber
auch teurer als das bisherige. Es war ihm selbst unerklärlich, weshalb
er dies tat; aber er hatte das Gefühl, als müßten die Umstände sich
bessern, weil er ein besseres Bett gefunden. Die Not, die er litt,
machte ihn entschieden traurig und ratlos, aber es war, als könne sie
nicht ganz in die Tiefe seines Herzens dringen, wie auch der Sturm nicht
bis auf den Grund des Meeres dringen kann. Doch rückte ihm das Ungemach
bitter zuleibe. Alles, was er nur im geringsten entbehren konnte, trug
er zum Trödler, sogar den alten Reisekoffer, der ihn seit dem ersten
Verlassen der Heimat begleitet. Schließlich entäußerte er sich auch des
Ringleins, das er einst beim Abschied von Ernestine erhalten. In den
ersten Oktobertagen wurde es kalt. In seinem Tagebuch gab Engelhart der
Sehnsucht nach einem Ofenfeuer Ausdruck, indem er züngelnde Flammen um
ein nacktes Männchen zeichnete. Alles Papier und die alten Zeitungen,
deren er habhaft werden konnte, warf er ins Ofenloch und freute sich,
wenn es prasselte, an der bloßen Illusion von Wärme. Seine Einsamkeit
weckte seltsame Gelüste und Gewohnheiten in ihm. Etwa eine Viertelstunde
vom Haus entfernt lag ein Kirchhof. Dorthin war bald sein täglicher
Spaziergang gerichtet, und täglich stand er um dieselbe Nachmittagszeit
vor dem Fenster des Leichenhauses, um die drinnen aufgebahrten Toten zu
betrachten. Die Särge lagen offen nebeneinander, schräg gegen die Erde
gestellt, so daß es aussah, als ob sich die starren Körper, wenn nur
noch ein Fünkchen Wille in ihnen brannte, mühelos erheben könnten, oder
als ob sie auch von selbst diesen Ort aufsuchten und verließen, um über
Nacht wieder andern den Platz zu räumen. Engelhart war jedesmal
neugierig, welche Gesichter er heute sehen würde, und er studierte in
den des Lebens beraubten Zügen alle Offenbarungen des Leidens. Die
niedrigen Begierden hatte der Tod nicht auszulöschen vermocht, manche
faltenvolle Stirne war von Habsucht und Bosheit zerpflügt, mancher Mund
schien von Wut zusammengepreßt, daß er verstummen gemußt, ehe das Ziel
eines gemeinen Ehrgeizes erreicht war. Engelhart konnte sich oft kaum
trennen von dem Anblick der Leichengesichter, er erschien sich wie ein
Wächter, hingestellt auf die Brücke zwischen Lebenden und Toten, mit
heimlichem Triumph und befriedigter Rache Zeugnisse der Vergänglichkeit
sammelnd. War ein Antlitz unter den Toten, das in besonderer Weise auf
ein Leben der Tücke, Trägheit und Lüge hinwies, so forschte er nach dem
Namen und der Stunde der Beerdigung, folgte als letzter Gast dem
Leichenzug und lauschte mit wunderlich glänzenden Augen den
Lobpreisungen des Geistlichen und der Freunde. An den Fenstern des
Leichenhauses schärfte er seinen Blick für die Eigenschaften des
menschlichen Herzens, und es ging so weit, daß er auf den Gesichtern der
Lebenden, die an ihm vorüberwandelten, die Züge seiner Toten
wiederzuerkennen suchte und mit grausamer Lust alles erstickte, was von
Liebeswünschen in seiner Seele wohnte. Dies Treiben setzte er so lange
fort, bis er eines Tages ein junges Mädchen aufgebahrt sah, dessen
Anblick ihm Tränen in die Augen trieb. Es war ein herrlich schönes Kind
von gleichsam nur hingeträumter Gestalt, und die Wangen waren wie aus
Abendröte geformt; die Haare schienen noch lebendig und flossen
unruhevoll unter dem Myrtenkränzchen hervor. Engelhart blickte mit Liebe
auf das fremde Wesen, plötzlich erwachte eine stürmische Begierde nach
Musik und trieb ihn am Abend vor das Odeonsgebäude, aber sein Ohr fing
nur ein paar matt verschwebende Harmonien auf.

In den Nächten war es nun so, daß er vor Hunger nicht schlafen konnte
und in das Kissen biß; daß er aufstand und das Fenster öffnete, um den
Frost zu spüren, um durch die heftige neue Empfindung die alte
schleichende zu betäuben. Zwar dachte er jeden Morgen: ›Jetzt bist du
der Wandlung um einen Tag näher, schlimmer darf es nicht werden, und
zugrunde gehen wirst du nicht,‹ doch es war, als verdopple sich seine
Verlassenheit, und es kam vor, daß er, in seinem Zimmer sitzend, die
Türe nicht zuschloß, damit ein zufällig Vorbeigehender hereinschauen
konnte. Plötzlich setzte er sich hin und schrieb an Schildknecht nach
Zürich, zerriß den Brief, schrieb wieder, versteckte fast gauklerisch
seine Not hinter den Zeilen, und während die Feder über das Papier lief,
sammelte sich unter dem Gaumen Bitterkeit. Es war hauptsächlich von den
Tränen am See die Rede und von dem, was damit zusammenhing und was nun
ein melancholisches Bildchen wurde mit Blitzen, die über den Nachthimmel
zuckten und einer Walzermusik vom Hause her.

Den Brief warf er unfrankiert in den Kasten, und er wußte jetzt, daß er
seine einzige und letzte Hoffnung trug. Zwei Tage später kam
Schildknechts eilige Antwort und zugleich eine Summe von fünfundsechzig
Franken bar. Der gute Mensch hatte alles begriffen, und der Schreck war
ihm in die Glieder gefahren. Es war auch höchste Zeit; Engelhart lief
nach Brot, der Krämer borgte schon seit einer halben Woche nicht mehr.
Erst als er sich gesättigt hatte las er Schildknechts Brief – ohne
eigentliche Dankgefühle, eher staunend, daß noch eine Hand in der Welt
sich für ihn regte. Schildknecht schrieb, daß er nun wieder eine
auskömmliche Stellung gefunden habe, auch in der Heimat stünden seine
Angelegenheiten gut, und er werde wohl demnächst heiraten. Den Vorwurf
bösen Trotzes könne er Engelhart nicht ersparen, denn daß er keinen
besseren Freund auf Erden habe als ihn, Justin Schildknecht, hätte er
wissen und nie vergessen dürfen, auch wenn er ihm in desperater Laune
einmal den Kopf gewaschen habe. Und was die Tränen am See anlange, so
hoffe er dafür noch etwas recht Großes für Engelhart zu tun, er möge
daher nicht danken für die erbärmlichen paar Goldstücke, sondern
seinerseits sich weiterhin als Gläubiger betrachten. »Ich habe kein
Talent zum Judas,« schloß der herzliche und ehrliche Brief, »und wenn
ich auch nicht leugne, daß einer, der den Gott in sich spürt, einmal
beim Satan gewesen sein muß, so möchte ich doch lieber selbst im
Fegefeuer braten, als nur ein einziges Scheit Holz für einen Freund dazu
herschleppen. Ihnen, lieber Ratgeber, wird sich eines Tages jählings
dieselbe Welt zu Diensten geben, die sich jetzt so grausam verschließt.
Dann werden Ihre jetzigen Leiden die bunten Gläser sein, durch welche
Sie zurückblicken auf die Zeit, in der Sie sich noch ganz und gar
besaßen, vielleicht sehnsüchtig werden Sie zurückblicken und werden ein
wenig Dämmerung begehren, wenn überall das grelle Licht Ihrem Inneren
nicht mehr mühelos zu träumen erlaubt. Sie werden gezwungen sein, aus
dem Blut Ihrer Wunden Bilder zu malen, die man auf den Markt schickt,
und das wird weh tun, und schließlich werden Sie das eigne Herz zu einem
Marktplatz machen, wo Freundschaft und Liebe feilgeboten wird, und auch
das wird weh tun, nicht Ihnen, sondern uns, mir, dem Freund.«

Engelhart ließ einige Tage verstreichen, in denen er angelegentlich über
Schildknechts Worte nachdachte. Dann antwortete er folgendes: »Im
Augenblick der größten Bedrängnis haben Sie ihre Hand nach mir
ausgestreckt, lieber Freund, ich konnte Ihre Hand ergreifen und war
gerettet. Die Tat soll Ihnen unvergessen bleiben, denn sie ist die
Brücke, die mich wieder zu den Menschen führt. Wahrhaftig, ich habe
schon verlernt, wie man mit Menschen spricht und wie man ihnen in die
Augen sehen soll. Sie geben mir Hoffnung, daß alles, was ich jetzt
erlebe, einst eine köstliche Speise für meine Erinnerung sein und daß
dieses nun so Bittere dann süß schmecken wird. Aber was hilft es dem zum
Krüppel geschlagenen Soldaten, wenn ihm später die Aufregungen der
Schlacht herrlich dünken? Und daß ich zum Krüppel gemacht werde, zum
Krüppel an Herz und Seele, das fürchte ich. Wir wollen uns doch nicht
mit Redensarten trösten und jede Not zur Notwendigkeit stempeln. Einer
Bestimmung zu leben ist ja schön, aber wo ist meine Bestimmung? Ich sehe
sie nicht, ich fühle sie nicht. Jeder Straßenkehrer scheint mir mehr
Bestimmung in sich zu tragen als ich, der ich ein von allen andern
gemiedenes und wahrscheinlich mit Recht gemiedenes Zufallsgeschöpf bin.
Was mich oft in seltenen Stunden beseligt, scheint mir widersinnig und
haltlos, als ob man Nebeldunst an eine Spindel heften wollte, um Faden
daraus zu drehen. Es ist ein treuloses Spuk- und Phantasietreiben, mit
dem man sich selber um den besten Teil der Menschlichkeit betrügt. Doch
ich kann nicht anders! Jetzt bin ich schon so weit verschlagen, daß ich
nicht mehr weiß, wo es nach vorwärts und wo es nach rückwärts geht. Es
ist ja auch gleich, denn die Welt ist rund. Wie dem aber sei, Sie haben
redlich an mir gehandelt, teurer Schildknecht, als ein wirklicher
Schildknecht haben Sie sich gezeigt, und von den bewußten Tränen am See
soll nun nicht mehr die Rede sein. Ich war zu angespannt damals und zu
sehr auf Ihr Wohlwollen angewiesen, ich hatte die übertriebensten und
ungesundesten Vorstellungen von Freundschaft. Das ist nun vorüber. Was
soll es auch heißen, sich an einen einzelnen zu binden, den man doch
verlieren muß? Freundeswege müssen sich immer dort trennen, wo Herz dem
Herzen gar zu nahe kommt, vielleicht Menschenwege überhaupt.
Gleichgesinnte Geister finden sich doch immer wieder und werden aus
eigenstem Interesse gegeneinander und gegen die Welt wirken, das übrige
scheint mir auf schwächliche Empfindsamkeit hinauszulaufen. Man kann ja
nicht einander um den Hals fallen, und so wird der Freund allmählich zur
Surrogatfigur und muß enttäuschen, weil er ein Geschöpf der Sehnsucht
aus ganz andern Bezirken ist. Nicht so ist es mit den Frauen, aber
darüber habe ich nie mit Ihnen zu sprechen gewagt und will es auch jetzt
nicht. Immerhin sollen Sie wissen, daß sich oft mein Inneres in einer
ungeheuren Erwartung preßt und weitet und daß es Stunden gibt, wo ich
wie in einem feurigen Fieber meine ganze bisherige Existenz als ein
dunkles Hinströmen gegen eine noch unsichtbare Gestalt empfinde, die zu
mir gehört wie der Morgen zur Dämmerung. Das mag eine ebensolche
Illusion sein wie die von der Freundschaft, und sicher wird man eines
Tages auch aus diesem Lügengarn sich wickeln, um eben kurzweg und
einfach seinen Mann zu stellen, aber eine gewisse Summe von Leben und
Erleben, von Umfassen und Sichlösen ist wohl nötig, damit man zu sich
selber erwachen kann. Mit meinem Vater bin ich nun vollends auseinander,
und ich bin froh, daß dies beschwerende Verhältnis aus meinem Dasein
hinausoperiert ist. Ich bin sein Fleisch und Blut, aber nicht sein
Geist und Herz, und das hab’ ich stets sehr zu büßen gehabt. Nun leben
Sie wohl, Freund, und bleiben Sie mir gut.«

In dieser Zeit begann Engelhart sehr unter nächtlichem Traumwesen zu
leiden. Zumeist träumte er Landschaften, doch in so unheimlicher
Beleuchtung und Farbe, daß ihm angst und bang dabei ward. Oder er
träumte, daß er sich in einer großen Gesellschaft von Leuten befand, die
er gut kannte, von denen ihn aber keiner beachtete; sie mieden ihn, und
wenn er dicht vor jemand hintrat, so schlug dieser die Augen nieder.
Schmerzlich schloß er die Demütigungen in sich ein, nahm sich aber vor,
bei Tisch eine Rede zu halten und, in das Gewand einer Parabel
gekleidet, den Leuten ihre Niedertracht zu bedenken zu geben. Während er
noch an den Worten herumzupfte, die er wählen wollte, erhob sich ein
andrer und sprach solch sinnlos-witzelndes Zeug, daß alle lachten und
zugleich schadenfroh auf Engelhart starrten. Oder er träumte, sein
Zimmer befinde sich über dem Hof eines gewaltigen Hammerwerks. Er sieht,
hört, spürt den Hammer, während er schläft. Plötzlich erschallen
furchtbare Rufe: ›Zu Hilfe! zu Hilfe!‹ Man trägt ein Mädchen mit
zerschmetterten Gliedern herein. Eine seltsame Leidenschaft zu der Toten
durchdringt ihn bis zu den Fingerspitzen. Auf einmal wird sie lebendig,
zu gleicher Zeit wird aus dem Zimmer ein riesengroßer Saal. Er will mit
dem Mädchen, das sehnsüchtig begehrend nach ihm blickt, allein sein und
die Türen schließen. Aber während er eine Türe zumacht, springen immer
fünf, sechs andre auf, und fremde Leute huschen schattenhaft vorüber.
Sein Zorn, sein Gram, seine Ungeduld werden ins unerträgliche
gesteigert, schließlich will er jenes Frauenzimmer liebkosen, da
verschwindet sie hämisch lächelnd durch ein Loch in der Mauer.

Seine Tage, in halber Untätigkeit verbracht, füllten ihn mit der
unbestimmten und brennenden Empfindung einer Schuld. Die andauernde
Absonderung von den Menschen gewährte keinerlei Befriedigung, sie gab
nur Unruhe und einen dünkelhaften Schmerz. Die Träume des Schlafs
wucherten gleichsam nach außen, und er sah Erscheinungen am hellichten
Tage, hörte Stimmen, die ihn ermunterten, und hatte Augenblicke einer
sonderbaren tiefen Verlorenheit, wo Angst und Freude beinahe
gleichzeitig sein Herz zusammendrückten. Er fand ein Vergnügen daran,
vor dem Spiegel sein eignes Gesicht so lange zu betrachten, bis er in
eine Art von Verliebtheit geriet. Wie ein aus dem Erdreich gerissener
Baum samt Wurzeln und Blattwerk schwamm er auf einer trüben Flut ins
Ungewisse hinaus, und an den Ufern standen viele Zuschauer feindselig
schweigend. Häufiger als jemals, auch in dem Traumtreiben, tauchte die
Gestalt des Vaters auf, niemals wohlwollend, sondern ärgerlich,
mürrisch, schimpfend, unzufrieden und hart; Engelhart aber nahm eine
vorwurfsvolle, ja fast frohlockende Haltung an, als wolle er sagen: So
weit hast du es kommen lassen. Ferner sah er den Vater, wie er gierig
beim Mittagessen die Suppe hinablöffelte, und das erweckte seinen
Widerwillen, oder wie er vor sich hinschmunzelte, wenn ihm endlich
einmal ein Geschäft geglückt war. Engelhart erinnerte sich, wie der
Vater einst mit nervös zuckendem Gesicht von dem Verlust einiger
Groschen gesprochen hatte; irgendeine Spesenrechnung war von der
Direktion nicht anerkannt worden, und Engelhart sah, wie der Vater
dastand, den Hut etwas schief auf dem Kopf und den einen Arm auf den
Regenschirm gestützt, und während er beleidigt und empört den Hergang
erzählte, rieb er den Zeigefinger unablässig und mit krankhafter
Schnelligkeit an dem silbernen Ring des Schirmstocks. Dies hatte
Engelhart damals unangenehm und peinlich berührt, es war ihm niedrig
erschienen, sich einiger Pfennige wegen so zu erhitzen, auch jetzt
dachte er ohne Wohlwollen daran, dennoch lag in dem Vorgang etwas
Schweres und Bedeutungsvolles, ja Rätselhaftes.

Eines Abends verließ der Einsame, Ruhelose kurz vor Mitternacht seine
Behausung, in welcher ihn mit der vorrückenden Stunde eine immer größere
Bangigkeit gequält hatte. Nach mancherlei Herumirren geriet er in ein
verödetes Café, und während er mit dem Eifer, den Leerheit und
Rastlosigkeit erzeugen, die Zeitungen las, setzte sich ein Mann an
denselben Tisch, wo er saß, trotzdem die meisten Tische rings frei
waren. Der Mann hatte ein ziemlich gewöhnliches Gesicht; er hatte einen
rötlich braunen Vollbart und trug eine goldene Brille. In seiner Scheu
vor Menschen vermied es Engelhart, sein Gegenüber anzuschauen, plötzlich
spürte er jedoch, daß der andre mit unverschämter Beharrlichkeit seine
Blicke auf ihn gerichtet hielt. Dies wurde lästig, er stand auf, holte
eine andre Zeitung und setzte sich an einen andern Tisch. Es dauerte
nicht lange, so stand der Fremde gleichfalls auf und setzte sich
Engelhart neuerdings gegenüber. Dieser hob erblassend den Kopf und
erschrak vor dem verschwommenen, flüchtigen und zugleich klammernden
Blick des Mannes. Der Unbekannte hatte den Hut aufbehalten, und er
löffelte mit tückischem Lächeln in einem Wasserglas, in das er Zucker
geworfen hatte. Es ist ein Detektiv, ein Spion, fuhr es Engelhart durch
den Sinn; es war ihm nicht anders, als habe er ein großes Verbrechen
begangen und man sei ihm auf der Spur. Er fühlte sein Blut eiskalt
werden und überlegte, wie er sich aus der entsetzlichen Lage befreien
könne; das Beste schien, mit dem unheimlichen Menschen, ohne
Befangenheit zu zeigen, anzuknüpfen, er äußerte also irgendeine
Redensart über das Wetter. Der Mann antwortete nicht, sondern zog statt
dessen ein kleines Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin, wobei
ein kaltes spitzes Lächeln seinen Mund bewegte. Tief erregt im Innern,
doch in sein Gesicht einen heuchlerisch-interessierten Ausdruck
zwingend, beobachtete Engelhart dies und ließ keine Bewegung des
Menschen außer acht, als müsse er einem Überfall zuvorkommen. Um seinen
Aufbruch vorzubereiten und den andern über den Grund zu täuschen,
stellte er sich müde und verschlafen und guckte gähnend nach der
Wanduhr, aber das Antlitz seines Gegenübers wurde immer feierlicher und
haßerfüllter, plötzlich warf Engelhart seine Zeche auf den Tisch, packte
seinen Mantel und verließ beinahe laufend den Raum. Ohne den Mantel
zuzuknöpfen, rannte er auf der dunkeln Hälfte der mondbeschienenen
Straße hin. Da hörte er Schritte hinter sich, er duckte den Kopf und
verdoppelte seine Eile. Um den Verfolger irrezuführen, schlug er eine
falsche Richtung ein und beschrieb einen ungeheuren Kreis, bevor er es
wagte, dem Haus, in welchem er wohnte, zu nahen. Schweißnaß und atemlos
kam er heim, und erst als der Morgen graute, verlöschte er die Lampe und
schlief ein. Diesmal hatte er keinen Traum von bestimmtem Umriß; es
sickerte nur durch seinen Schlaf das Bewußtsein von der Lächerlichkeit
seines Tuns und der Unmännlichkeit seiner Haltung. Dann wuchs eine graue
Wand aus einem Abgrund empor, und es rief eine Stimme:

    »Und an die Wand, und an die Wand
    Da malt des Schicksals Schattenhand
    Die Zeichen des Verderbens hin.«

Darauf erblickte er sich selbst, über einen Brief gebeugt, der an
Michael Herz gerichtet war, und er sah die Worte: »Ich bin kein
Kaufmann, ich bin Bergmann, ich bin Arzt,« und diese Begriffe: Bergmann,
Arzt schienen ihm bedeutend und beweiskräftig. Mit brennendem Durst
erwachte er jählings und richtete sich auf. Trotzdem es Tag war, war das
Zimmer düster vom Nebel, der draußen lag. Das Verlangen nach Licht
mischte sich in seinem Gehirn seltsam mit der Begierde nach Wasser; er
nahm Sturz und Zylinder von der Lampe, schraubte die Krone ab, ergriff
nun aber das ölgefüllte Gefäß und setzte es an die Lippen, um zu
trinken. Der Petroleumgeruch brachte ihn zur Besinnung, er schlug die
Hände zusammen, warf sich wieder aufs Bett und fing an zu weinen.

So war es nun mit seinem Leben beschaffen.

Da geschah es um die Dämmerungsstunde dieses Tages, daß ihn ein Ungefähr
in die Nähe der väterlichen Wohnung brachte. Eine Weile schlich er
scheu und verdrossen vor dem Tor im nassen Nebel herum, endlich nahm er
sich zusammen und stieg die Treppen empor. Er glaubte seinen Vater zu
riechen, jene merkwürdige Mischung von Zigarren- und Schreibstubengeruch,
die ihm seit der Kindheit vertraut war. Weil auf sein wiederholtes
Läuten niemand erschien, ging er erleichtert wieder davon und glaubte
eine Pflicht erfüllt zu haben. Doch am folgenden Tag trieb es ihn
abermals hin. Diesmal war Frau Ratgeber zu Hause; sie empfing ihn nicht
freundlich, nicht unfreundlich, lud ihn ins Wohnzimmer und erzählte ihm,
daß der Vater sich auf einem Erholungsurlaub im Gebirge befinde; der
Arzt habe ihn hingeschickt, denn er leide an einer frühzeitigen
Verkalkung der Gefäße. Frau Ratgeber war redseliger als sonst, offenbar
suchte sie sich über ihre Besorgnis hinwegzuplaudern. Sie setzte ihrem
Gast sogar ein Gläschen Likör vor und nahm das Glas von dem feinen
Service, das seit Jahrzehnten unberührt im Schranke stand. Engelhart,
ziemlich betroffen über die Ehre, die ihm widerfuhr, fragte, wie lange
der Vater schon abwesend sei. Nicht länger als eine Woche, war die
Antwort, aber er befinde sich so wohl dort, daß er ganz überschwengliche
Briefe schreibe. ›Das hat er immer gekonnt,‹ dachte Engelhart, und sein
Gesicht verdüsterte sich, ›überschwengliche Briefe, das war seine
Stärke.‹

Er kam öfter. Das Eigentümliche war nun, daß ihm die Frau nach dem Mund
redete, und da er den Zweck, den sie verfolgte, nicht sehen konnte,
wurde ihm bisweilen unheimlich. Sie beklagte ihr Leben und das des
Vaters, aber sie stellte sich dabei doch ins Licht und den Mann in den
Schatten: er habe sich nie etwas versagt, er sei doch immer mit allem
fertig geworden, er selbst war doch immer die Hauptperson. »Ich, ich,
das ist das Ratgebersche Wort,« zischte sie mit schlecht verborgenem
Haß. Engelhart graute es bei dem Gedanken, daß der Vater in einer
solchen Luft von Lieblosigkeit atmete, doch dachte er: ›Sie muß ihn am
besten kennen, da sie dreizehn Jahre mit ihm gelebt.‹ Eines Tages
erschien während seiner Anwesenheit ein Fremder, ein netter junger Mann,
der in dem Alpenkurort mit Herrn Ratgeber beisammen gewesen war und
einige Aufträge von ihm überbrachte – aus bloßer Sympathie und
Gefälligkeit. Dünkte es Engelhart schon verwunderlich, daß irgendein
Mensch in selbstloser Zuneigung etwas für seinen Vater unternahm, für
diesen Mann der Geldsucht und der scheuen Abkehr von allen freien
menschlichen Beziehungen, so erstaunte er noch weit mehr über die
Erzählungen des Besuchers. Mit liebenswürdigem Pathos berichtete der
junge Mann, daß Herr Ratgeber ganz benommen sei von der Schönheit der
Landschaft und daß er mit einem Gesicht durch die Wälder streife, als
hätte er Bäume nie zuvor erblickt; daß er stillvergnügt an seinem
Plätzchen sitze, wenn die Kurkapelle ihre Stücke aufspiele, und daß er
sogar eines Abends im Hotel eine ältere Dame zum Tanz aufgefordert habe.
Alles erscheine ihm schön, mit allem sei er zufrieden und über alles
Ungewohnte sei er erstaunt wie ein Kind.

Frau Ratgeber hörte mit sauersüßem Lächeln zu und sagte: »Ich glaube,
ich glaube, so eine Erholung täte mir auch gut.« Kaum war der Fremde
fort, so kam ein Brief vom Vater, in dem er seine morgige Ankunft
meldete; die Direktion habe die Verlängerung des Urlaubs nicht
gestattet, außerdem sei ihm nicht ganz wohl und er fürchte den Gedanken,
sich vielleicht fern vom Hause krank hinlegen zu müssen. Dann kam ein
wehmütig-zurückschauendes Lob der Gegend, der Ruhe, der Sonne.

Den nächsten und den übernächsten Tag ging Engelhart wieder seine
einsamen Wege; war es Trotz oder Scham oder Stolz, er brachte es nicht
zu dem Entschluß, sich dem Vater zu zeigen. Am Morgen des dritten Tages,
während er noch im Bette lag, ward an seine Tür gepocht, er schlüpfte
rasch in die Kleider, öffnete, das verzerrte Gesicht eines Weibes
streckte sich ihm entgegen, kreischte: »Ihr Vater! Ihr Vater!« und
verschwand wieder. Eine Viertelstunde später war er dort im Haus,
schritt mit bleiernen Füßen durch den Korridor und die Küche in das
erste Zimmer, wo, aschfahl anzusehen, Frau Ratgeber stand und mit
starrer Bewegung auf das Bett wies. Engelhart erblickte ein großes
blutbeflecktes Leintuch, welches eine menschliche Gestalt bedeckte. Er
hob das Tuch an einem Ende auf und zog es weg, und es lag ein
aufgeschwemmter Körper da, ein Mann mit nahezu unkenntlichem Gesicht,
den Mund, der nie hatte sprechen können, verdeckt unter eisgrauem
Schnurrbart und unabgewischtem Todesschaum, die Stirn gleichsam
zerschmettert, die Fäuste geballt, die Füße krampfhaft an das untere
Brett der Lagerstatt gedrängt – nie vergaß Engelhart dies furchtbare
Bild einer letzten Energie, eines letzten verzweifelten
Schrittfassenwollens.

Während Engelhart dastand und sich wunderte, während ihm graute und
während er im Innern weinte, ohne sich zu verhehlen, daß sein Anrecht
auf edle Tränen noch verwirkt war, sah er plötzlich den Vater in der
stillen Alpenlandschaft wandeln, so wie es jener zugereiste Mensch
geschildert hatte. Er sah ihn mit all seinen Gebärden, etwas bedrückt
von ungewohntem Alleinsein, doch befremdet und feierlich gestimmt durch
den Anblick der Natur und durch das Gefühl der ruhenden Stunden. War es
denn nicht seine erste Rast im Leben? War ihm denn nicht jeder grünende
Zweig etwas Niegesehenes? Mußte er nicht mit dem Erstaunen eines Kindes
Zeuge sein von dem Verschwinden der Sonne hinter Schneegipfeln und dem
Aufbrennen der Sterne? Sicherlich hatte sich der Vater bei alledem ein
bißchen geschämt und hatte seine Freude für sich behalten aus lauter
Angst, daß man Zweifel in seine Bildung setzen möchte. Engelhart begriff
dies auf einmal mit einer unerwarteten Schärfe. Immer wieder sah er die
untersetzte, tripplig gehende Gestalt über eine Wiese schreiten und mit
eigentümlicher Verlegenheit und wachsam verschlossenem Staunen vor sich
hin blicken. Dadurch wurde seine Rührung erweckt und seine Tränen
konnten fließen. Er erinnerte sich nach und nach an zahlreiche
sympathische Züge im Wesen des Vaters, an Dinge, denen er nie zuvor
Bedeutung zugemessen hatte, die sich aber jetzt zum eindringlichen Bilde
formten und die Ursache waren, daß der Schmerz wie in sichtbaren Flammen
um ihn schlug. Er erinnerte sich zum Beispiel, daß er vor Jahren in
Würzburg mit dem Vater spazieren gegangen war, daß sie von der Höhe
eines Hügels aus den Tönen eines Posthorns gelauscht hatten und daß des
Vaters Gesicht plötzlich einen unendlich traurigen Ausdruck gezeigt
hatte und daß er rasch die Augen niederschlug, als Engelhart ihn
anschaute. Ferner erinnerte er sich, daß der Vater einst zu einem
Geschäftsfreund gekommen und daß er vor Entzücken sich kaum fassen
konnte, als ein kleiner Hund ihn wiedererkannte und freudig bellend an
ihm emporsprang.

Aber all dies war nur eine harmlose Kleinmalerei seiner wachsenden Reue
und Schuld. Ein paar Tage später schrieb er an Justin Schildknecht die
Nachricht von seines Vaters Tod. »Es kam zu früh,« schrieb er, »nicht
allein für ihn, den Frühgealterten, der ein abgehetztes, kleines,
elendes, finsteres und unverstandenes Dasein wie durch eignen Entschluß
endete, sondern auch zu früh für mich. Ich hatte mich stets höhnisch
gewehrt gegen seine Forderung der Dankbarkeit, aber ach, er wollte ja
nur in kleiner Münze bezahlt haben, nur almosengleich zurückbekommen,
was er mir, ein unermeßliches Kapital, das Leben selbst, geschenkt. Und
er meinte ja gar nicht Dankbarkeit, er meinte Liebe. Wenn er
›Dankbarkeit‹ sagte, so meinte er damit seinen Stolz und seine Scham zu
schonen, denn er wollte natürlich lieber Gläubiger als Bettler sein.
Freund, ich finde mich in unerhörtem Maße schuldig; ich finde mich so
vieler Versäumnisse schuldig, als es Stunden, ja als es Gedanken der
Vergangenheit gibt, und wenn viele den Tod als Gleichmacher und
Stummacher preisen, so finde ich, er ist ein furchtbarer Unterscheider
und gewaltiger Rechner. Trägheit ist meine Schuld, Trägheit hat meine
Brust vernietet, und diese aufs Enge und Niedrige gestellte Existenz
meines Vaters erscheint mir jetzt inniger an die göttlichen Mächte
gekettet als die meine, die anmaßend zu einer eiteln Verkündigung
strebt. Wer in der Tiefe seine Unschuld wahrt, ist der nicht größer zu
achten als der, der sie in den Höhen verliert? Und das ist es, er hatte
Unschuld, alles Üble an ihm, sein kleinmütiges Streben, seine
Pfennigangst, sein armer Geiz und Ehrgeiz, es waren nur die Zeichen und
Merkmale seiner Unschuld, und ich, wie ich bin und stehe, ich bin der
Verräter an dieser Unschuld. Wozu denn alle Hoheit der Empfindung, alle
Gaben des Gesichts, da die dunkle Kreatur, aus der ich Wurzel
geschlagen, unerkannt neben mir verschmachten mußte? Sühnen will ich,
und Gott gebe mir Entsühnungskraft und lasse mich den Weg zu den
Menschen finden, den ich schon verloren habe. Vielleicht ist dies meine
Bestimmung, den gemordeten Seelen Liebe zu weihen und aus ihnen etwas
wie Astralkörperchen zu formen, welche man in jener frostigen Halle
aufstellt, in der die Menschheit ihren vielfältigen Geschäftigkeiten
frönt. Ich will mich unter sie schleichen und still meine Arbeit
suchen.«

Als er diesen Brief geschrieben, verließ Engelhart die Stadt und
wanderte weit in die südlich gelegenen Wälder und Hügel. Er dachte
während dieses Marsches viel an seine Kindheit und Jugend, und ein
seltsamer Reigen bunter Figuren erhob sich, flatterte tänzerisch leicht
an seinem inneren Auge vorbei, und er spürte bei ihrem Anblick etwas wie
bittersüße Reife. Schließlich setzte er sich ans Flußufer und malte mit
dem Stock einige Zeilen in den feuchten Sand:

    »Es ist noch dieselbe Sonne,
    Die derselben Erde lacht;
    Aus demselben Schleim und Blute
    Sind Gott, Mann und Kind gemacht.
    Nichts geblieben, nichts geschwunden,
    Alles jung und alles alt,
    Tod und Leben sind verbunden,
    Zum Symbol wird die Gestalt.«

Bewegten Herzens machte er sich auf den Heimweg, und je mehr er sich
wieder der Stadt näherte, je trüber umschleierte sich sein Auge, als
ahne er das not- und mühevolle Dasein, dem er zuschritt und das ihm ein
nicht weniger strenges Antlitz zeigte, seit er den Preis kannte, um den
es seine höchsten Kränze bot. Noch einmal hielt er inne und schaute
zurück: der Strom krümmte sich in goldener Flut aus dem Hügelgelände
hervor, ein paar schwarze Vögel geleiteten ihn, langsam fliegend, und
Mond und Sonne standen zu gleicher Zeit am Himmel.



[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
Grundlage der 1907 erschienenen Erstausgabe erstellt. Diese erschien in
»Deutsche Romanbibliothek«, fünfunddreißigster Jahrgang 1907, Hefte
9-18. Die Umlaute Ae, Oe und Ue wurden durch Ä, Ö, Ü ersetzt. Die
nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem
Originaltext vorgenommenen Korrekturen.

S. 177: [Doppelpunkt ergänzt] fragte ängstlich: »Ist es wahr
S. 177: [Komma ergänzt] Schritte machte, mußte
S. 180: [Komma ergänzt] kühl um die Brust, unsicheren Fußes betrat
S. 189: [Punkt gelöscht] über einem langhinlaufenden Weg. strahlte
S. 190: bereis angegrauten Locken -> bereits
S. 193: [Komma ergänzt] die haßartige Lieblosigkeit, die
S. 209: das Lebendig-seiende -> Lebendig-Seiende
S. 211: erschien sich besudelt und unwert einer Träume -> seiner
S. 213: Wiederholung mechanischen Geschäftigkeiten -> mechanischer
S. 263: »Ich denke gar nichts,« erwidert er -> erwiderte
S. 282: auf das Mitagessen -> Mittagessen
S. 286: ein Schreibernatur durch und durch -> eine
S. 323: [vereinheitlicht] Aegidienplatz -> Egydienplatz
S. 324: den vornehmen Herrn zu pielen -> spielen
S. 325: [vereinheitlicht] seine schlecht sitzende Kravatte -> Krawatte
S. 367: [fehlende Letter] ein Mann mi nahezu -> mit

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Textauszeichnungen
wurden folgendermaßen ersetzt:

Sperrung:       _gesperrter Text_
Antiquaschrift: #Antiquatext# ]



[Transcriber’s Notes: This ebook has been transcribed from the first
publication of the novel in “Deutsche Romanbibliothek”, 35th volume
1907, issues 9-18. The Umlauts Ae, Oe and Ue have been replaced by Ä, Ö,
Ü. The table below lists all corrections applied to the original text.

p. 177: [added colon] fragte ängstlich: »Ist es wahr
p. 177: [added comma] Schritte machte, mußte
p. 180: [added comma] kühl um die Brust, unsicheren Fußes betrat
p. 189: [deleted period] über einem langhinlaufenden Weg. strahlte
p. 190: bereis angegrauten Locken -> bereits
p. 193: [added comma] die haßartige Lieblosigkeit, die
p. 209: das Lebendig-seiende -> Lebendig-Seiende
p. 211: erschien sich besudelt und unwert einer Träume -> seiner
p. 213: Wiederholung mechanischen Geschäftigkeiten -> mechanischer
p. 263: »Ich denke gar nichts,« erwidert er -> erwiderte
p. 282: auf das Mitagessen -> Mittagessen
p. 286: ein Schreibernatur durch und durch -> eine
p. 323: [normalized] Aegidienplatz -> Egydienplatz
p. 324: den vornehmen Herrn zu pielen -> spielen
p. 325: [normalized] seine schlecht sitzende Kravatte -> Krawatte
p. 367: [normalized] ein Mann mi nahezu -> mit

The original book is printed in Fraktur font. Marked-up text has been
replaced by:

Spaced-out: _spaced out text_
Antiqua:    #text in Antiqua font# ]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Engelhart Ratgeber" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home