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Title: Himmelsvolk - Ein Buch von Blumen, Tieren und Gott
Author: Bonsels, Waldemar, 1881?-1952
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Himmelsvolk - Ein Buch von Blumen, Tieren und Gott" ***


                           Waldemar Bonsels

                             _Himmelsvolk_

                         Ein Buch von Blumen,
                            Tieren und Gott


                       Illustrierte Ausgabe mit
                sechzehn Bildern nach Scherenschnitten
                        von Margarete Schreiber


                                 1920

                Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig



    91.–110. Auflage der deutschen
    Gesamtausgaben. Die Illustrationen
    sind nach Scherenschnitten
    von Margarete Schreiber. Die
    Buchausgabe ohne Illustrationen
    ist im gleichen Verlag zum Preise
    von 5 Mark gebunden erschienen



                       _Die schwedische Ausgabe_
                  bei C. W. K. Gleerup, Verlag, Lund

                        _Die finnische Ausgabe_
            bei Werner Söderström Osakeyhtiö Powvoo, Suomi

                      _Die holländische Ausgabe_
                    im Verlag »Patria«, Amersfoort

                        _Die dänische Ausgabe_
                 bei E. Jespersen, Verlag, Kopenhagen


             Copyright 1919 by Schuster & Loeffler, Berlin

                  Spamersche Buchdruckerei in Leipzig



                             Kapitelfolge

                                                       Seite
              I. Kapitel: Die Waldwiese                    9

             II. Kapitel: Die Ankunft des Elfen           19

            III. Kapitel: Die Frühlingsnacht              34

             IV. Kapitel: Wiesenleute                     46

              V. Kapitel: Der Tod der Eiche               56

             VI. Kapitel: Von den Engeln                  61

            VII. Kapitel: Hassans Kampf mit Ala           72

           VIII. Kapitel: Die Winde                       86

             IX. Kapitel: Die Lerche                      95

              X. Kapitel: Assap und Jen                  102

             XI. Kapitel: Ukus Nacht mit dem Elfen       122

            XII. Kapitel: Traule                         133

           XIII. Kapitel: Der Maikäfer                   153

            XIV. Kapitel: Das sterbende Kind             167

             XV. Kapitel: Der Fuchs                      176

            XVI. Kapitel: Die Elfennacht                 202

           XVII. Kapitel: Das Reich                      223

          XVIII. Kapitel: Der Abschied                   252



                            Erstes Kapitel

                             Die Waldwiese

                            [Illustration]


Bei der Waldwiese, auf der alten Linde, die sich noch kaum belaubt
hatte, saß Kuno, der Star, vor Sonnenaufgang und putzte sich im
Frühlicht. Seine Brust glänzte schwarz und golden, er war ein prächtiger
Vogel.

Unten am Traulenbach, der unter der Linde dahinfloß, lief Onna, die
Bachstelze, im Sand am Wasser dahin zwischen den jungen Trieben des
Schilfs.

»Hallo!« rief Kuno, »hören Sie auf zu wippen, Madame, ich bin
angekommen, verstehen Sie? Es wird Frühling!«

Die Bachstelze machte halt und sah hinauf.

»Ach so, ein Star,« sagte sie, »Stare gibt’s genug.«

»Aber wenige, wie ich einer bin! Übrigens bin ich erst kürzlich
angekommen, eigentlich zu früh, verstehen Sie?«

»Ich versteh schon«, gab Onna zurück. »Sie wollen doch nicht etwa hier
nisten?«

»Hier? Wo denn? In der Linde? Zwischen Krähen, Eulen und Eichhörnchen,
oder gar in Ihrer Nähe? Sie haben eine Ahnung, Madame. Aber ich habe mir
gleich gedacht, daß Sie nichts verstehen. So sitzen Sie doch wenigstens
still. Mein Gott, ist das ein Tag!«

»Sie sind einfach unverschämt«, sagte Onna ärgerlich.

»Ach, denken Sie sich,« rief Kuno erstaunt, »das haben verschiedene
Leute schon oft behauptet, ich kann mir gar nicht recht ausmalen, wie
solch ein Gerücht hat aufkommen können. Die Leute sind heutzutage
geradezu auf böse Nachrichten aus. Merkwürdig. Aber ein Tag ist das
heute, nicht wahr?«

»Meinetwegen«, meinte Onna und wollte weiter.

»Warten Sie,« rief der Star, »und reden Sie nicht immer; dabei kommt ja
kein Wesen zu vernünftigen Worten. Was haben Sie da eben gegen den
Frühling gesagt? Es ist sonderbar, wie geschwätzig ihr Waldvögel werdet,
wenn kaum einmal etwas Frühlingssonne durch die Wolken gesehen hat. Da
traf ich eben im Schlehdorn einen Mistfinken, und der Kerl sagte zu mir,
er sei ein Goldspatz. Wissen Sie, ich könnte mich totlachen über solche
Leute. Er meinte, seine ganze Familie sollte ihren Namen ändern, und
dann flog er auf den Misthaufen zurück, der Goldspatz, verstehen Sie?«

»Soll er Sie etwa um Erlaubnis fragen?«

»Der Schlehdorn blüht schon,« sagte der Star nachdenklich, »haben Sie
einmal mitten in diesem reinen Blütenlicht gesessen, so recht mitten
darin, womöglich bei Sonnenschein? Ich sage Ihnen, Madame... aber Sie da
unten in Ihrem Morast sind ja eigentlich nur dem Namen nach ein Vogel.
Doch jetzt halten Sie mich nicht länger auf, ich muß fort.«

Und er machte einen kleinen Sprung und segelte schnurgerade über die
Saatfelder dahin, auf die Wohnungen der Menschen zu. Ein kleiner dürrer
Ast brach ab und fiel nieder ins Moos, mitten zwischen die Anemonen, die
noch nicht erwacht waren.

Die Bachstelze wollte sich zuerst noch längere Zeit ärgern, aber dann
dachte sie: Es hat nicht den geringsten Wert. Erstens ist dieser Narr
doch jetzt fort, und zweitens beginnt ein geradezu fabelhafter
Frühlingstag. Sie atmete die kühle Luft ein, die von den Bäumen her über
die Waldwiese zog. »Erdgeruch, Veilchen und Tau,« sagte sie, »und dabei
eine Frische, die man nicht glauben würde, wenn man sie nicht durch den
ganzen Körper bis in die Flügelspitzen spürte.«

Und sie wippte wiederholt auf ihre ungemein zierliche Art und eilte
bachaufwärts davon, durch die jungen Sprossen des Schilfs und der
Primeln.

       *       *       *       *       *

Bald darauf stieg die Morgensonne am Frühlingshimmel empor, und die
Anemonen wiegten sich sanft im Wind, der kühl und unsichtbar, nach
Windesart, aus den Zweigen der großen Linde niederzusinken schien. Die
Gräser wurden wach, fröstelten ein wenig unter den winzigen Tauperlen,
die zu vielen Tausenden an ihnen hingen, und rasch verbreitete sich die
Nachricht unter den Erwachenden, daß es ein heller Sonnentag werden
sollte.

Man muß nun wohl bedenken, daß ein Tag den Pflanzen viel mehr bedeutet
als den Menschen, denn das Leben der meisten ist kürzer bemessen, als
das der großen lebendigen Geschöpfe, es gibt unter ihnen sogar viele,
die nur einen Tag lang blühen, sie erwachen in der Frühe, entfalten ihr
Blumenangesicht im heraufsteigenden Licht der Sonne, der Mittag des
Tages ist der Mittag ihres Daseins, und die hereinbrechende Nacht ist
das Ende ihres Frühlings. So erscheint den kleinen Pflanzen, auch denen,
welche länger leben, die Dauer eines Tages um vieles wichtiger und
bedeutungsvoller, als den Tieren oder uns Menschen. Ihre allerschönste
Zeit sind die Tage, in welchen sie blühen.

[Illustration]

Man merkte gleich, wie wichtig so ein warmer Frühlingstag ist, an der
Art, wie glücklich eine ältere Gänseblume sich langsam gegen das Licht
aufrichtete und zurückgelehnt den roten Schein aufnahm. Sie hatte
überwintert und war sehr erfahren. Es sah aus, als tränke ein durstiges
Wesen in vollen Zügen Wasser an einer Quelle. Dann rief sie den
erwachenden kleineren Blumen, die rund um sie her standen und alle von
ihrer Art waren, den Morgengruß der Blumen zu:

    Alle, die wir Blumen sind,
    bitten Gottes Segen,
    daß uns Sonne, Tau und Wind
    heute finden mögen.

    Goldne Sonne, mach uns weit
    deinen Strahlen offen,
    wie auf deine Herrlichkeit
    alle Wesen hoffen

    Himmelswunder, kühler Wind,
    Tau aus deinen Schwingen,
    wiege unser Leben lind,
    laß den Tag gelingen.

Es will hier gesagt sein, daß unter vielen Menschen die Meinung
verbreitet ist, daß die Pflanzen und Tiere keine Sprache hätten. Das ist
nun freilich insofern wahr, als die Sprechweise dieser Geschöpfe der
unsrigen nur schwer zu vergleichen ist, sie reden gewiß nicht auf
dieselbe Art miteinander, wie Menschen es tun. Aber daraus darf niemand
zu Recht den Schluß ableiten, daß alle diese Geschöpfe sich nicht auf
ihre Weise miteinander verständigten, ihre Sinne sind wohl anders
beschaffen, als die unsrigen, aber deshalb sind sie nicht weniger fein
und fügsam, nicht weniger klar oder eindringlich. So bedürfen die
Pflanzen, um miteinander zu verkehren, des Windes oder ihres Duftes und
vor allem der Insekten, die einen großen und weitverzweigten
Nachrichtendienst zwischen allen Blumen versehen, die alle Ansprüche,
Wünsche und Gedanken, ja sogar die feinsten und lieblichsten
Empfindungen, derer die Pflanzen fähig sind, auf wundervolle Art
vermitteln.

Es hat in der Vergangenheit Zeiten gegeben, in welchen der Glaube der
Menschen an die Sprache und die Stimmen der Geschöpfe der Natur
verbreiteter war, als es heute der Fall ist. Es muß daher gekommen sein,
daß vor Tausenden von Jahren die Menschen enger am Herzen der Natur
lebten, daß sie den Pflanzen dankbarer waren für ihre Früchte, den
Tieren für ihre Dienste und den Wäldern für das Obdach, das sie ihnen
gewährten. So hörten sie in frommer Andacht auf die Stimmen ihrer
Wohltäter und lauschten auf das Rauschen der alten Linden. Sie vernahmen
in der Stimme des Baums, die Stimme der Vergangenheit und der Zukunft.
Wir müssen uns wohl hüten, diese alte Weisheit rasch als ein Zeichen des
Aberglaubens zu verwerfen; alle, welche die Natur draußen kennen, werden
gerne gestehen, daß der Sonnenschein über weiten Wiesen oder das
Rauschen der Bäume im Wind das menschliche Herz ruhiger machen, besonnen
und frei. Wer sähe aber die Vergangenheit oder die Zukunft, oder auch
die Sorgen der Gegenwart nicht mutiger und gerechter an, wenn sein Herz
einer solchen Freiheit teilhaftig geworden ist? Auf diese Art war zu
manchen Zeiten ein Band tiefen Einvernehmens zwischen der Welt der
Menschen und der übrigen Geschöpfe der Natur geschlungen, und es ist nur
unser Verschulden, wenn wir verlernt haben, es zu erkennen.

Wenn ich euch nun so mancherlei aus dieser Welt erzähle, so übersetze
ich alles, was ich gesehen und gehört habe, in die Sprache der Menschen,
bis ihr einmal selbst hinausgeht, um die Sprechweise der Tiere und
Pflanzen zu lernen, und wahrscheinlich werdet ihr dann mehr und Besseres
erfahren, als ich euch erzählen kann, denn es ist nun einmal so in der
Welt bestellt, daß man von allem Schönen, das man erlebt, das Beste
nicht sagen, sondern nur empfinden kann.

Die meisten der wichtigen Ereignisse, die in diesem Buch erzählt werden,
haben sich auf der Waldwiese am Traulenbach abgespielt, dort wo die
tausendjährige Linde an der Grenze der Felder und des Laub- und
Föhrenwaldes steht. Es ist ein von den Menschen fast ganz vergessener
Ort, nur im Frühling oder im Herbst kommt ein Landmann in die Nähe
dieser Waldwiese, wenn er seine Äcker besät oder pflügt, und alle Jahre
vielleicht einmal ein Jäger mit seinen Hunden, aber nicht einmal das ist
ganz sicher.

So hatten die Tiere des Waldes, die Bäume, Pflanzen und Blumen auf der
Waldwiese ein ruhiges Leben auf ihre Art, das nicht von Menschen gestört
wurde. Die meisten von ihnen kannten nur den Wind, den Sonnenschein und
den Regen, außer dem dunklen Erdboden, dem sie vertrauten. Sie hörten
wohl durch die Bäume oder Vögel von den Menschen, auch kam es vor, daß
an schönen Abenden die Linde aus ihrer an Erlebnissen reichen
Vergangenheit erzählte, aber die wenigsten von ihnen hatten den Menschen
überhaupt jemals gesehen.



                            Zweites Kapitel

                         Die Ankunft des Elfen


Es mochte nach der Zeitrechnung der Menschen zwischen Pfingsten und
Ostern sein, als im Frühling dieses gesegneten Jahres ein niegesehenes
Ereignis die Bewohner der Waldwiese in Erregung und Entzücken versetzte.
Es war an einem unbeschreiblich hellen Sonnenmorgen, das Land duftete
vom Regen der Nacht, und die Frische war so beseligend im Licht, daß die
Freude aller Lebendigen wie ein einziger Jubel durch den Wald hallte.
Über den Primeln in der Lichtung und über den blauen Sternen der
Leberblumen sang eine Grasmücke, sie war ganz in ihr Lied versunken, ihr
Kopf war voll Hingabe in das blaue Glänzen des Himmels erhoben, und es
sah aus, als wäre sie ganz verzückt von Daseinslust. Ihr Lied klang
unter den hellen Schleiern des jungen Buchengrüns dahin, das von der
Sonne wie Gold leuchtete, und zwischen den Stämmen der Tannen ließ die
Ruhe der Waldeinsamkeit die Töne in ihre dunklen Tore einziehen. Nah und
fern, überall, wo es grün und hell war, zwitscherte und jubilierte es,
kein Wesen war in der Lage, traurigen Gedanken nachzuhängen. Und über
dem Frühlingsglück der Ihren zog die strahlende Sonne hoch im Blauen
ihre Gnadenbahn.

Es war ein Tag, ach, wer vermag so viel Überschwang zu fassen?! Überall
blühte es, tief unten im Tau trieb das Moos am Boden seine
smaragdgrünen, dichten Wäldchen, und in den Baumwipfeln öffnete sich
Blüte neben Blüte in der Sonnenfreiheit.

Als die Grasmücke, nachdem sie ihre Lieder beendet hatte, sich in den
Waldgrund niederließ, um nach einem Morgentrunk Umschau zu halten, traf
sie den Maulwurf an einer Baumwurzel im Eingang zu seinem unterirdischen
Höhlenbau.

»So ein Tag lockt sogar Sie heraus, wie?« fragte sie freundlich, trat
aber doch etwas zur Seite, man weiß nie recht, bei so einem Maulwurf ...

Der Alte schüttelte den Kopf und blinzelte:

»Die Wärme,« sagte er, »die Wärme ist mir bisweilen ganz recht, aber
dieses Übermaß an Licht kann mir gestohlen werden. Kommen Sie einmal mit
herunter, meine Liebe, treten Sie ein! Sie werden Wunder an
Behaglichkeit erleben. Alles ist dämmrig, kühl und still, und dabei von
einer Gleichmäßigkeit der Temperatur, daß man gedeiht wie ein Kürbis.
Dabei brauche ich nicht hinter jeder Fliege oder Mücke herzujagen wie
Sie, Würmer und Engerlinge dringen sozusagen von selbst in meine Gänge
ein, morgens liegen sie da und warten, daß sie gefressen werden. Das
nenne ich so recht ein Leben nach dem Herzen Gottes.«

»O pfui Teufel«, sagte die Grasmücke und lachte. »Aber so sind Sie,
genau wie ein Maulwurf. Wenn ich Sie nicht schon länger kennte, würde
ich überhaupt nicht mit Ihnen reden, an Sie muß man sich erst gewöhnen,
verstehen Sie? Ach, wenn Sie Einsehen hätten, aber Sie sind verbohrt,
das kommt von Ihrer langweiligen Beschäftigung, sonst würde ich Ihnen
erklären, wie man lebt, um glücklich zu sein. Vor allen Dingen muß ein
Haus gegen den Himmel geöffnet sein, das ist die erste Vorbedingung für
ein heiteres Herz. Glauben Sie, wir Vögel würden so viel singen, wenn
wir nicht Wohnungen hätten, die weit gegen den Himmel offen sind?«

Der Maulwurf blinzelte, und sein breiter Grabfuß, der innen rosa gefärbt
war, scharrte die Erde ein wenig beiseite.

»Bilden Sie sich etwas auf Ihre Nester ein?« fragte er, ehrlich
erstaunt. »Wer hätte das für möglich gehalten! Wenn Sie das meine nur
einmal erblickt hätten, würden Sie vor Neid und Mißmut Ihre Eier künftig
ins Gras legen. Was tun Sie denn viel? Sie tragen ein paar dürre Äste
zusammen, Heu, bestenfalls ein Pferdehaar, Gerümpel sozusagen, werfen
alles durcheinander und hocken sich mitten hinein. Hinterher zu sagen,
der Himmel schiene hinein, ist nicht schwer, denn was bleibt dem Himmel
anderes übrig? Er ist jeden Tag da, regnet oder leuchtet, und es ist ihm
wahrscheinlich höchst gleichgültig, ob er Ihren Hausrat an einer Stelle
oder an verschiedenen Orten am Boden zerstreut bescheint. Und deshalb
meinen Sie nun, Sie müßten singen? So sind also Vögel! Gut, daß ich es
endlich weiß.«

»O du lieber Gott, Sie Maulwurf«, sagte die Grasmücke, ganz betroffen
von so viel Einseitigkeit der Betrachtung. »Aber wer wird sich die Mühe
machen, einen solchen halbblinden Popanz zu überzeugen, der überall nach
Schmutz und Schlamm sucht, nur um seine Nase hineinbohren zu können. Was
tun Sie denn eigentlich sonst? Sie suchen nach schwarzem Unrat, und dann
immer hinein, immer hinein! Wenn Sie möglichst fest drin sitzen, so
sagen Sie, Sie lebten nach dem Herzen Gottes!«

»Sie wissen nicht, was Erde ist«, antwortete der Maulwurf freundlich und
langsam, lächelte und strich sich über den Bauch. »Sie wissen es nicht,
Sie windiges Federvieh. Wer sich in der Luft herumtreibt, muß
notwendigerweise leichtsinnig und haltlos werden. Nicht einen einzigen
Gang haben Sie, der Ihnen gehört, den Sie kennen. Hierhin, dorthin, wie
es Ihnen in den Sinn kommt, und abends sitzen Sie da und wissen selbst
nicht, wozu dieses ungeregelte Geflatter eigentlich stattgefunden hat.«

Es zog ein Duft herüber vom Abhang, irgendwo mußte ein Waldstrauch
aufgeblüht sein.

Ein paar Tiere hatten sich um die Streitenden versammelt, Li, das
Eichhorn, Josa, die Ringelnatter, und von der Dolde einer eben erblühten
Schafgarbe schauten ein paar Käfer hinüber und amüsierten sich über den
Streit, der andauerte und ebenso erregt wie heiter wurde, aber plötzlich
verstummten die lachenden und eifrigen Stimmen eine nach der anderen,
obgleich zu Anfang noch niemand recht wußte, was eigentlich geschehen
war.

Hinter einem großen alten Baumstumpf hervor fiel aus dem Waldschatten
ein Lichtschein, der nicht von der Sonne kam, aber trotz ihres Lichtes
hell schimmerte. Dieser Glanz war es, der die plötzliche Stille mit sich
brachte, dies Schweigen eines tiefen Erstaunens, in das alle
versammelten Tiere fielen. Sie wandten ihre Augen in großer Verwunderung
eins nach dem andern diesem Leuchten zu, und ihnen ward so seltsam
zumut, daß manchem das Herz laut und hörbar in der Brust klopfte.

Da erkannten sie einen kleinen, kleinen Menschen, der blaß und still
mitten in diesem Leuchten stand und seine Arme emporhob, als ob er ihnen
mit Angst und einer Bitte nahte. Er war kaum so groß wie die Feldblumen
am Wiesenrand. Sie erkannten, daß zwei helle Flügel seine Schultern
überragten, so weiß wie Schnee und von großer Zartheit, so daß sie in
dem sanften Windzug erzitterten, der über die winzigen braunen Wäldchen
der Moosblumen zog. Der ganze Körper dieses wunderbaren Wesens war
durchschimmert von Licht und schien viel eher zu schweben, als zu
schreiten, aber es war kein Zweifel, ein lebendiges Wesen kam auf sie
zu, mit großen Augen, wie zwei Sterne.

Das Erstaunen und das Entzücken der Waldwiesenleute läßt sich nicht
schildern und, o Wunder, nicht nur die großen und kleinen Tiere, nein
auch die Sträucher und Blumen, ja die kleinsten Pflanzen erschauerten
bis tief in ihre Seelen vor dieser reinen Lichtgestalt, die wie ein
kleiner Engel unter sie trat.

Nun wußten wohl manche der erfahrenen Geschöpfe, daß dies nur ein
Blumenelf sein konnte, aber ihre Verwunderung wurde darüber nicht
geringer, denn die Blumenelfen leben nur des Nachts, für wenig Stunden,
in denen der Mond sie weckt, und wer wüßte nicht, daß sie mit der
heraufsteigenden Sonne sterben müssen und im Morgentau zerfließen, damit
die Blumen sie wieder in ihre Kelche nehmen können? Es war nie gehört
worden, soweit die ältesten Tiere zurückdenken konnten, daß am Tage, im
Sonnenlicht, ein Blumenelf erblickt worden wäre, und selbst die Linde,
die schon viele hundert Jahre lang die Erde kannte, rauschte
geheimnisvoll auf, und es erklang über alle die betroffenen Seelchen hin
aus ihrer Höhe:

»Ein Wunder geschieht, ihr Lieben, ein Wunder!«

Die Geschöpfe des Waldes standen ratlos da, ohne daß eines von ihnen
gewagt hätte ein Wort zu sagen. Andere kamen aus ihren Schlupfwinkeln
hervor und starrten fassungslos hinüber, alle Furcht voreinander
vergessend, es dachte aber auch wirklich jetzt niemand daran, einem
anderen ein Leid zuzufügen.

Da sagte das kleine Menschenwesen zu den Tieren:

»Erschreckt euch nicht, ich bin nur ein Blumenelf. Ich habe mich
verflogen und kann nicht mehr in meine Heimat zurück. Erlaubt mir, daß
ich bei euch bleibe.«

Die Bewegung unter den Waldwiesenleuten war unbeschreiblich. Sie hatten
alles eher erwartet, als diese einfache und bescheidene Bitte, und waren
ratlos vor lauter Verlangen, dem Elfen ihr Entgegenkommen und ihr
Wohlwollen zu zeigen. Da ließ sich aus einem Lindenast, dicht am Stamm
im Schatten, die Stimme der alten Eule Uku vernehmen, die durch dieses
Ereignis trotz der Tageshelle aus ihrer Baumhöhle getreten war.

»Preist euch glücklich,« rief sie laut, »ein Elf will bei euch wohnen!
Glaubt mir, daß mit ihm nur Freude bei uns einkehren wird, und seid
liebreich zu ihm.« Hierauf wandte sie sich an den Elfen selbst und fuhr
fort. »Sei uns willkommen und wohne bei uns auf der Waldwiese, wo du
willst und solange du magst. Es wird keiner unter uns sein, der dir
nicht gerne gefällig ist, wir sind sehr erfreut, daß du Wohnung bei uns
nehmen willst, und es ist auch recht schön hier, das kann man ohne
Übertreibung wohl sagen.«

Die alte Uku galt als sehr weise und genoß hohes Ansehen auf der
Waldwiese. Aber es hätte ihrer Fürsprache kaum bedurft, denn alle Tiere
waren sich darüber einig, daß dem lieblichen Lichtwesen, das unter sie
getreten war, ein herzlicher Empfang bereitet werden müßte. Nach Ukus
Worten war die Befangenheit der Überraschten ein wenig gewichen, sie
drängten sich herzu, jeder mit einem Vorschlag oder mit einem Angebot,
und die Wiesenblumen begannen ihr feines Läuten im Windhauch, kurz, es
war niemand da, der nicht in freudiger Erregung in Ukus Meinung
einstimmte.

Der Elf nahm diese Freundlichkeiten mit einem Dankeslächeln auf, das
alle aufs tiefste rührte, denn sie wußten, daß ein Elf nicht zu bitten
braucht, wer kannte nicht die Macht der Blumenelfen?! Wohl erschien es
ihnen, als habe er das Reich seiner Macht, die ungewisse Nacht,
aufgegeben, aber wer konnte wissen, welches Vorhaben ihn bewogen hatte,
den hellen Tag und das Bereich der Sonne aufzusuchen? Jedoch ihre
Neugierde und ihre Zweifel sollten bald gestillt werden, und sie
erhielten Gewißheit über die Fragen, die sie beschäftigten, denn der Elf
erzählte ihnen seine Geschichte, nachdem er ihnen von Herzen Dank gesagt
hatte.

»Ich muß auf der Erde verharren,« begann er mit heller, trauriger
Stimme, »ich kann nicht in das freie Reich der Elfen zurückkehren wie
meine Gefährten, denn ich habe das Licht der Sonne erblickt, die kein
Elf sehen darf. Als ich in einer klaren Nacht der Lilie entstieg, die
mich geboren hat, wuchsen mir meine Flügel, die wir Elfen erhalten,
sobald wir den Willen haben, unsere Blume zu verlassen, um einem
anderen Wesen Glück zu bringen. Aber wir können dann nicht in die Blume
zurückkehren, sondern im Morgengrauen verwandelt das erste Licht uns in
Tau, und die Pflanzen nehmen uns auf, und unsere Seele kehrt ins
Elfenreich zurück. Aber das werdet ihr wissen, ihr Lieben.

In jener Nacht nun, in welcher ich erwachte, kam ein kleines geflügeltes
Tier zu mir, es war eine Biene, die Maja hieß, und die ihren
heimatlichen Stock verlassen hatte, um die Welt kennenzulernen. Sie
hatte den Wunsch, die Menschen zu sehen, wie sie am schönsten und
glücklichsten sind, und ihr wißt, daß wir Elfen Macht haben, den
liebsten Wunsch des ersten Wesens zu erfüllen, das uns in unserer
Lebensnacht begegnet. So flogen wir miteinander durch die helle Nacht
bis an einen Ort am Waldrand, wo in einer Laube, unter blühenden
Zweigen, zwei Menschen weilten. Es waren ein Mädchen und ein Jüngling.
Sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, und sein Arm hielt sie
umschlungen, als ob er sie schützen wollte. Sie saßen still da und
schauten mit ihren großen Augen in die Nacht.

Dort nun, ihr Lieben, geschah meinem Herzen das Wunder, um dessentwillen
ich heute unter euch erscheine, denn ich konnte meine Augen nicht mehr
von den Angesichtern der beiden Menschen abwenden. Im Himmelsschein der
stillen Nacht strahlte es von ihren Stirnen und aus ihren Augen, kein
irdischer Mund vermag das selige Heil zu nennen, in dem sie zu glühen
schienen. Ich erzitterte heiß, bis tief in die Gründe meiner Seele
hinab, ich versuchte diesen Glanz zu fassen, diese Wohltat und die
Freude dieser Gemeinschaft zu verstehen, aber mein Herz vermochte es
nicht. Ich fühlte, wie es sich dieser hellen Kraft des Irdischen zu
öffnen trachtete, aber zugleich empfand ich in unbeschreiblicher
Traurigkeit, daß dieses Erdenwunder des Glücks nicht mein Teil werden
konnte.

Und mehr und mehr erschien es mir, als ginge von der Seligkeit der
beiden Menschen eine immer größere Helligkeit und Wärme aus, ein Glanz,
der mich taumeln machte, und mich in eine schmerzhafte Verzückung
brachte, in der ich fast meine Sinne schwinden fühlte, und die doch wie
ein barmherziges Wunder in meine Seele einzog. Was geschieht mir nur,
dachte ich, was soll ich erleben?! Was gibt es noch auf dieser fremden
Erde, was ich nicht gewußt habe?

Da traf es plötzlich meine Stirn wie ein lautloser Donner, ich werde es
euch niemals schildern können, ihr Lieben, aber mir war, als ob eine
unerhörte Lebensgewalt mich in ihre Wirbel risse und ins Unendliche
dahinschleuderte, meine Augen waren geblendet, ich schrie laut auf und
taumelte in die Blüten, die naß vom Tau waren.

[Illustration]

Da erkannte ich ein gewaltiges rotes Feuer am Horizont, das überall
tausendfältig widerstrahlte, die ganze Natur umher brach in einen
befreiten Jubel aus, ich hörte fremde Stimmen, die mich erschreckten und
doch zugleich in die Seligkeit ihres Freudenrausches fortrissen, und da
wußte ich, daß die Sonne aufgegangen war, daß ich die Sonne gesehen
hatte und nicht mehr in meine Elfenheimat zurückkonnte!«

Der Elf schwieg und verbarg sein Angesicht. Es herrschte tiefe Stille
umher, denn alle Geschöpfe, die ihn angehört hatten, sahen in großer
Ergriffenheit und wortlos auf seine helle Gestalt und auf seinen
goldhaarigen Scheitel nieder, der milde erglänzte, und von dem eine
unbeschreibliche Wehmut ausging.

Da fuhr der Elf fort zu erzählen, und seine feine Stimme zitterte vor
Ergriffenheit.

»Ihr wißt nicht, ihr Lieben, was Augen, die niemals die Sonne gesehen
haben, ihr strahlender Aufgang am Himmel bedeutet! Ihr feuriger Glanz,
ihre himmlische Allmacht betäubten mich und ich verlor die Besinnung,
bis ich nach einer Weile, deren Dauer ich nicht zu sagen vermag, von
einem neuen, unfaßbaren Leben erwachte, das wie in warmen Goldbächen
meinen ganzen Körper durchrieselte. Als ich die Augen aufzuschlagen
wagte, fand ich mich unter Blumen auf dem Erdgrund liegen, und der
Sonnenschein überflutete mich über und über, lange lag ich so still und
konnte die Wohltat nicht fassen, die mein trauriges Gemüt zu einem ganz
neuen Glück überredete, mein Herz schwankte in großer Angst und
unnennbarem Entzücken und mir war, als wollte es tief aus dem Grund
meiner Seele hell und brennend in die Augen brechen.«

Als der Elf bei diesen Worten eine Pause machte, konnte ein Waldvogel,
der ihm von einem Lindenzweig aus in atemloser Spannung gelauscht hatte,
nicht länger an sich halten, und nun rief er laut:

»Vertrau’ der Sonne, lieber Elf! Es ist unsagbar schön in der
himmlischen Sonne!«

Und wie eine Antwort auf diesen Ruf, erklang es tausendstimmig von allen
Geschöpfen umher. »Es ist herrlich in der himmlischen Sonne!« Als ein
einziges, jauchzendes Rauschen ging es durch den Blätterwald, durch die
Gräser und Blumen hin, und es war auch nicht ein Tier, das nicht in
überzeugtem Glauben in dieses Lob der Sonne einstimmte.

Aber das Lächeln, mit dem der Elf den Geschöpfen dankte, war bei allem
Glück seiner Erwartungen doch von so großer schmerzvoller Traurigkeit,
daß die alte Uku nachdenklich ihren Kopf schüttelte. Sie war in der Tat
ein weiser Vogel, und sie verstand das Elfenkind.

»Hast du Heimweh nach deinem verlorenen Reich?« fragte sie herzlich.

Da sah der Elf zu ihr auf und nickte.

»Die Liebe hat dich an die Erde gebunden,« sagte Uku, »sie wird dich
wieder lösen, Elfenkind.«

Erstaunt sah das kleine, helle Menschenwesen zu dem großen Vogel auf.

»Es ist wahr, was du sagst,« antwortete er, »aber die Liebe, die mich
erlösen kann, muß weit größer sein als die, durch deren Schönheit ich
meine alte Heimat verloren habe, das ist ein uraltes Gesetz des
Elfenreichs, ach, traurig ist es, die Heimat zu verlieren! Wie soll ich
jene Liebe finden, wann wird sie mir begegnen?«

Da schwieg Uku und sah sinnend in die helle Weltweite. Aber allen Tieren
umher war, als müßten sie etwas tun, um dem Elfen seinen Aufenthalt auf
der Waldwiese so angenehm wie möglich zu machen. Mit großem Eifer und in
schöner Gemeinschaft machten sie sich ans Werk, ihm unter einer
mächtigen Wurzel des Lindenbaums aus Moos und Federn eine kleine
Wohnstätte herzurichten, sorgsam vor dem Regen geschützt und gegen die
Morgensonne zu geöffnet.

Und der Elf nahm zu ihrer Freude ihre Gabe an und versprach, bei ihnen
zu bleiben.



                            Drittes Kapitel

                          Die Frühlingsnacht


So war nun ein Blumenelf, ein Wunderwesen der Sommernacht, durch das
Begebnis, das ich erzählt habe, verbannt worden, auf der Erde der
Menschen, Tiere und Pflanzen zu leben. Auf dieser Erde, auf der auch wir
für kurze Zeit zu unserer Bewußtheit erwacht sind, dieser Erde der
grünenden Fluren, der Wasserläufe, der Berge und Täler, der Tage und
Nächte.

Da es sonst den Elfen bestimmt ist, nur für ein paar Nachtstunden im
Mondschein aus ihrem Blumenbett zu erwachen, so erfahren sie von der
Erde selbst und von allem Irdischen nur wenig; in blauen Nachtbildern,
die vom Himmelssilber glänzen, prägt sich diese Welt des Wirkens und der
Leiden nur flüchtig in ihre Seele ein, und mit einem fragenden Lächeln
versinken sie beim hereinbrechenden Morgen aufs neue in ihren
Weltenschlaf. Im Tau, im Frühlicht, trinken die Pflanzen ihre zarten
Seelen, und der Wandel der Natur nimmt ihre durchschimmernden Körperchen
auf, wie Nebel sich in der Sonne verflüchtigt.

Die Menschen sehen die Elfen nur selten, zuweilen begegnen sie Kindern,
aber zumeist nur im Traum, oder ungesehen, wie auch die Engel, die nur
von denen erkannt werden, die sie lieben und an sie glauben.

Die Elfen haben große Ähnlichkeit mit den Engeln, aber sie sind wie
Kinder und haben von Haus aus keine Beziehungen zum Reich der Liebe, und
nicht die Allmacht der himmlischen Engel. Aber darüber soll in diesem
Buch noch vielerlei gesagt werden, es ist in der Tat ein großes Ereignis
gewesen, daß ein Elf die Erde im Sonnenschein kennenlernte, wunderbar
hat ihr Lebensglanz auf sein Herz und Wesen eingewirkt, es hat ihn
langsam den Irdischen gleichgemacht und ihn in ihr Bereich der Freude
und der Schmerzen gezogen.

Mitten im Frühling waren die Sinne des Blumenelfen zu seiner irdischen
Reise erwacht, zugleich mit den Seelchen unzähliger Blumen und Blüten
und in Gemeinschaft mit der erneuten Daseinslust aller Tiere und
Menschen. Täglich kamen nun neue Vögel und vierfüßige Tiere auf der
Wiese an, es war sehr schwer, ihre Gestalt und Eigenart rasch zu
begreifen, täglich brachen neue Blumen auf, und die Farben und Düfte im
Sonnenschein oder im Regen überwältigten zu immer neuem Glück. Wäre den
Seelen der Elfen nicht eine tiefe Ahnung vom Wesen alles Lebendigen
eigentümlich, so hätte sicherlich sein Herz der Fülle der Eindrücke
nicht ohne Verwirrung standgehalten.

Ein heimliches Brennen in den Tiefen seiner Brust führte ihn langsam
allem näher, was er erkannte. Er wußte noch nicht, daß es Liebe war, die
wie ein stilles Licht in den Kammern des Herzens emporglühte, aber er
empfand, daß diese brennende Süßigkeit der Hoffnung und des Heimwehs
nach Gemeinschaft seine Führer und seine Freude wurden. Ihm war, als
leitete dies hilflose Weh in der Tiefe ihn dem Licht immer näher, dieser
unfaßbaren Fülle, die die ganze Erdoberfläche erstrahlen ließ. Dies
Glühen des Verlangens war es, das ihn sehen und lauschen lehrte, so daß
er alle Stimmen um sich her verstehen lernte, und er erkannte, noch wie
in einem Traum, daß dies heiße Begehren seiner Brust nach Zugehörigkeit
das eine, große, treibende Element des Lebendigen um ihn her war.

In träumerischem Staunen schritt er dahin, lernte den Tag und die Nacht
begreifen und erbebte vor Glück über ihre Treue. Er sah die Sternbilder,
die er wie aus ferner tiefer Erinnerung einer anderen Jugend
wiederzuerkennen glaubte, strahlen, wandern und singen und doch immer
gleichbleiben, er begriff den hohen Himmelsweg des Wassers, das die
Sonne aufsaugte und das die Wolken den Irdischen zurückgaben, und liebte
über alles den Himmelswiderschein im Tau. Am meisten aber beseligte ihn
die gewaltige Sonne, ihre Gnadenbahn im Blauen, ihre Milde und Fülle,
ihre unaussprechliche Freigebigkeit. Ihren Glanz und ihre Wärme liebte
er in betörend hingebender Demut, sein Vertrauen zu ihr war so groß, daß
schon der kleinste Lichtblick ihrer Herrlichkeit ihn wie in einen Rausch
von Zuversicht versetzte.

Oft konnte er stundenlang dasitzen und in den Tannenwald schauen, durch
dessen hohe, gerade Stämme das Sonnenlicht auf das Moos sank und überall
helle Inseln von strahlendem Goldgrün zurückließ. Die Lichtflecke
rührten sich nicht, der Waldboden sah wie ein stiller Teppich mit
strahlenden Ornamenten aus. Aber hoch oben in den Kronen rauschte es in
einer gewaltigen Lebensmelodie im Frühlingswind, als zögen himmlische
Heerscharen im Goldrauschen ihrer Gewänder darüber hin. Dieses Rauschen
der Baumkronen verwandelte sein Herz in einen einzigen schimmernden
Traum, ihm war, als erklängen darin die ewige Heiterkeit der freien
Bewegung und zugleich die Schwermut der irdischen Fesseln.

Als er eines Nachts, nachdem er schon manchen Tag auf der Wiese wohnte,
erwachte, lockte der Mondschein ihn aus seiner grünen Höhle im Moosgrund
in die Stille der strahlenden Nacht empor. Am Bach waren die Lilien
aufgeblüht, sie leuchteten wie Schnee über dem dahinziehenden Wasser, es
war still und kühl und schon nahe dem Morgen, die Stimmen der Nachttiere
waren verstummt.

Es war Halbmond, aber sein Licht schien so klar, daß die Sterne in
seiner Nähe nur blaß schimmerten, die Erde umher duftete von Nässe, denn
es hatte am Tag vorher geregnet. Als der Elf sich auf einen niedrigen
Zweig der Linde setzte, fielen ein paar große Tropfen ins Gras nieder,
auf ihrem kurzen Weg zur Erde blinkten sie auf, kleine durchschienene
Kugeln, sie trugen Mondlicht durch die Luft und Glanz und Frische.

Der Elf sah dem fallenden Wasser nach und dachte an die Pflanzen, die es
im Schlaf trinken würden. Wenn die Erde die hellen Tropfen aufnimmt,
sann er, so kehrt das Licht zum Himmel zurück. Der Gedanke beschäftigte
sein Gemüt, er rührte die Blätter in seiner Nähe an und sah zu, wie die
fallenden Tropfen, erfüllt von Licht, die Pflanzen tränkten. Die
Waldtiefe schimmerte schwarz wie Teer, nur die ersten Stämme waren vom
Mond beschienen, und zwischen ihnen zogen sich Lichtstreifen in die
stille Finsternis hin. Gibt es auf der Erde ein Fleckchen, so groß wie
meine Hand, dachte er, auf dem nicht Leben schlummerte? Überall, wo
Leben pocht, da glüht ein kleiner Lichtherd, eine Stätte, wo das Licht
einmal in Verlangen erwartet und empfangen wird, wo es beglückt und
zurückstrahlt. Nichts hat so viele Heimatrechte auf der Erde, wie das
Licht.

[Illustration]

Die Luft wurde von einem Surren erfüllt, das kaum vernehmlich zwischen
den schwarzen Stämmen begann, langsam anschwoll und nun beinahe drohend
und feierlich über ihm dahinzog. Es war ein großer Wasserkäfer, der sich
ein neues Gewässer suchte, um dort den Tag zu verbringen. Wie mag es ihm
in der silbernen Dunkelheit und in der Ruhe der Luft behagen, dachte der
Elf und sah ihm nach. Es wurde wieder still, dicht neben ihm glitzerte
ein Tropfen so hell wie ein Diamant, fast wurden seine Augen geblendet,
der Mond spiegelte darin, wie in geschliffenem Glas, aber es wurde
darüber umher nicht heller, hinter ihm war die Nacht so schwarz wie
Kohle. Der Tropfen behielt das Licht, es kreiste in seinem kühlen Rund,
in freier Klarheit entstand eine unbeschreiblich erstrahlende kleine
Welt für sich.

Vielleicht leben auch in ihr Geschöpfe, dachte der Elf, halten die
Sekunden ihrer Zeit für ein langes Dasein und empfangen unser
Himmelslicht in eigenen Lichtherden, aus denen es als Freude
widerstrahlt.

Der Tropfen sank und erlosch in der Finsternis am Boden.

Dem Elfen kamen die Schwalben in den Sinn, die er bis in die Stunde des
sinkenden Abendlichts in schwindelnder Himmelshöhe hatte fliegen sehen.
Eine von ihnen war am Tage mit ihm bekannt geworden, sie hatten sich auf
dem Felde getroffen, wo der Vogel am Erdboden Lehm für sein Nest suchte,
und die Erzählung der Schwalbe war wie ein strahlendes Bild der fernen
Welt in sein Herz gesunken.

Wie mag euch Schwalben die Erde erscheinen, die ihr bewohnt, dachte er
nun in der Erinnerung ihrer Worte, wie anders werdet ihr sie kennen und
empfinden als ein kleines Bodentier des ebenen Feldes, oder als der
Mensch. Eure Reise nach dem Süden führt euch Jahr für Jahr über das
schimmernde Meer, über welchem, wie über einer unabsehbaren, runden
Silberfläche, die Sonne rot aufwacht, ihren hohen Strahlenweg geht,
einsam über dem tausendfältigen Glitzern, und am Abend langsam, feuerrot
in ihr helles Bett sinkt. Dann fliegt ihr allein über der großen Ebene,
das Wasser sieht wie flüssiges Eisen aus, der Himmel im Westen wie
durchscheinendes Glas und im Osten kalt und blau, im Wehn der
herannahenden Nacht. – Wie schön die Schwalbe erzählt hatte.

Seid ihr nicht viel mehr als alle, seid ihr nicht am glücklichsten, ihr
Menschen, fuhr er in seinem Sinnen fort. Ich lebe unter Tieren und
Pflanzen und kann euch nicht erscheinen, aber es zieht mich zu euch,
stärker und freier als in jener ersten Nacht, in welcher ich euch
erblickte und euer Glück verstand. Ihr Sonnenmenschen, ihr Gesegneten,
die ihr geschickt seid, alles, alles zu empfangen! Was macht euch so
reich an Frohsinn und Betrübnis, ich möchte den Grund der Quellen in
euch kennen, aus denen die jauchzenden Lichtgarben eures Lachens
entspringen und das schwermütige Geheimnis der Tränen. Wieviel Sagen von
eurer Herrlichkeit und eurem Elend kennt die alte Welt!

Wie aus tiefer Kindererinnerung stieg über solchen Gedanken in der Seele
des Elfen eine Ahnung empor, als habe er schon zu einer anderen Zeit
alles gewußt und alles erfahren. Die Seele ist so alt wie die Welt,
dachte er, sie wird zur Erde geboren, um wieder jung zu sein. Aber kaum
glaubte er sich einer Gewißheit zu erfreuen, da zog es aus blauen Tiefen
heran wie Wolken, und ihn befiel eine Traurigkeit, so daß er sich aus
dem Bereich der Ahnungen und Gedanken in die Welt der Erscheinungen
zurückflüchtete.

Leben, o schönes Leben auf der Erde, dachte er. Ihm war zumut, als sei
er ein Geschöpf aus fremden Regionen der Welt, das nur träumte, es lebte
auf der Erde unter ihren Wesen. Es lag am geheimnisvollen Weben der
Nacht, daß alles ihm unaussprechlich wunderbar vorkam, und er sprach
leise vor sich hin, wie Leute, die viel allein sind, es bisweilen tun,
und sagte:

»Es muß an meiner Herkunft liegen, und weil ich ein Fremdling bin, daß
ich alle Erscheinungen, die mir begegnen, so groß, so schön und
sonderbar empfinde. Wer in seiner Kindheit als ein Geschöpf seiner
irdischen Eltern unter seinesgleichen erwacht, der wächst in seiner
Umgebung empor, ohne daß ihn dies selige Erstaunen befällt, das immer
und immer wieder mein Gemüt erschüttert. Anderen werden alle Dinge
langsam vertraut, sie gewöhnen sich auch an das Schönste und nehmen es
wie ihr selbstverständliches Recht hin. Sie haben sichere Augen und
gleichmütige Gedanken, die Erde ist ihre Heimat, und sie wundern sich
nur über den Tod, obgleich er das einzige ist, was sie bestimmt wissen.
Alle Geschöpfe, die ich kennengelernt habe, haben mehr Zuversicht und
ein größeres Vertrauen der Zugehörigkeit als ich, aber weniger
Entzücken. Es muß daran liegen, daß sie die Erde längst gewohnt sind,
aber ich kann mich nicht in ihre Wunder finden, denn ich bin niemals mit
unbewußten Sinnen durch ihr blühendes Tal geschritten. Als ich die
Sterne zum erstenmal sah, wußte ich, daß es die Sterne waren, ich
erkannte das erste Lachen, das ich vernahm, aber es war meinen Lippen
fremd, und der erste Sonnenschein überwältigte mich zu unnennbarem
Glück. Auf die Anderen aber haben die Sterne schon niedergesehen, ehe
ihre Augen sie erkennen konnten, Tränen sind wie Tau auf sie
niedergetropft, Tränen der Freude oder des Schmerzes, und sie haben
nicht gewußt, was sie bedeuten, ihnen ist alles vertraut geworden, bevor
sie es erkannten, vielleicht sind sie viel glücklicher unter den
Wohltaten ihrer Heimat, die sie blind, ohne Gedanken, hingenommen haben.
Es ist gut so, die Pracht der Erde ist so groß, daß ein Mensch sterben
müßte, wenn ihre Gewalt eines Tages plötzlich über ihn hereinbräche.«

Während in dieser stillen Frühlingsnacht sein Herz auf solch seltsame
Wanderschaft ging, überkam ihn plötzlich im Wandel von Andacht und Sorge
ein geheimnisvolles Erzittern, und er mußte seine Arme ausbreiten, als
gälte es, eine liebreiche Fülle zu umschlingen, und er verstand nicht,
wie ihm geschah. Er mußte an die beiden Menschen denken, die sich in der
Sommernacht seines Erwachens umarmt hatten, an alle Blüten, an alle, an
die Sonne über den Wiesen und an den Jubel der Vögel im Grünen. Und
plötzlich, wie in einer seligen Offenbarung, ahnte er das Wesen der
Kraft, die ihn mit allem Leben in der Natur verband, und er mußte
singen. Er wandte sich in die Weite, die im Mondlicht blühte, an die
große, atmende Natur, die mit ihm ihrer Erlösung harrte, und sang:

    Du bist mein Eigentum, weil ich dich liebe,
    kein Sinn ermißt die Fülle meines Glücks.
    Wie bitte ich die Güte des Geschicks,
    daß mein Gemüt dem deinen nahe bliebe.

    Was dir geschieht, das soll auch mir geschehn,
    o Hort der Liebe, so in dir zu weilen.
    Nun lernt mein Herz in seiner Zeit verstehn,
    in deiner Anmut seinen Gram zu heilen.

Im Osten tauchte ein schmaler Glutstrich auf, und der Elf faltete seine
Hände, denn der Morgen kam. Ich werde euch alle, alle sehen und kennen
und lieben, wie ihr seid, ihr Irdischen mit mir, dachte er, das soll
mein Glück sein.



                            Viertes Kapitel

                              Wiesenleute


Der Elf saß unter den Blumen. Eigentlich war es sein liebster
Aufenthalt, und er kannte keine schöneren Stunden, als in ihrer
Gemeinschaft zu weilen, sein Glück erschien ihm vollkommen, wenn die
Seligkeit der Blühenden ihm seine Einsamkeit in ein Fest glücklichen
Bescheidens verwandelte. Er saß auf einem halbentrollten Farnblatt, um
ihn her erhoben sich schlanke Grashalme, die unaufhörlich schaukelten
und deren feine Stimmen die sanft bewegte Luft mit leisem Rauschen
füllten. Aus der Höhe mischte sich das Summen der Insekten in dies
gleichmäßige Lied, wie wir Menschen es von den Bäumen im Wind kennen.

Es war ein reger Verkehr im Graswald, und zwischen den vielerlei
Kräutern zogen die Tiere ihre Straße, alle beschäftigt und eifrig, aber
fröhlich um des heiteren Tags willen. Man glaubt es kaum, was alles lebt
auf einem so kleinen Fleckchen Erde, wie der Elf es von seinem Platz aus
übersah. Käfer in den prächtigsten, schillernden Farben, Ameisen,
Waldschnecken, geflügelte Würmchen und die zahllosen kleinen Tiere, die
auf den Pflanzen leben, von ihren Blättern oder ihrem Blütenstaub. So
winzige Erdbewohner waren tief im grünen Schattengrund beschäftigt, daß
man sie für gewöhnlich nur erblickt, wenn man lange Zeit aufmerksam
hinschaut. Sie unterscheiden sich in ihrer Art und Lebensgewohnheit
ebensosehr voneinander, wie es größere Tiere tun, in ihren Interessen,
ihrer Gestalt und Farbe.

[Illustration]

Es war leicht zu spüren, daß die Tiere des Graswalds viel kecker und
beweglicher waren als die Blumen, die voll Schüchternheit und geduldig
auf ihr Geschick harrten. Der Elf beugte sich tief über ihre Kelche,
deren Licht und Farbe sich in seinem zarten Gesicht widerspiegelten, er
sog ihre Frische ein, ihren Duft, und als er vernahm, was ihre
heimlichen Wünsche waren, rief er die Bienen zu ihnen.

Zwei kleine Käfer stiegen miteinander in den goldstrahlenden Kelch
einer Blume hinab, beinahe betäubt von dem warmen Duft und ganz in das
Blütenlicht eingehüllt. Die Blume zitterte leise und atmete schwer und
tief.

»Elf, lieber Elf,« flüsterte sie, »was geschieht mir? Ich bin so
glücklich.«

Der Elf nickte ihr mit glänzenden Augen zu.

»Der Frühling,« antwortete er, »der Frühling! Er durchdringt dein Wesen
durch und durch. Halt still, Liebe.«

Die Düfte, die der Waldwind heranschaukelte, wechselten ohne Aufhören,
und dem Elfen war, als trüge ihn die eine Sehnsucht unvermerkt in das
Wunderreich der anderen. Eine selige Welt vertauscht sich gegen die
andere, dachte er, ich schließe meine Augen und bevölkere sie aus meinem
Herzen.

Dieser Wechsel verzauberte sein Gemüt immer wieder aufs neue, und er
träumte fort in Farben, Licht und Düften, unter den Liedern der Vögel.
Wenn der Wind den Geruch der wilden Rosen aus dem Gesträuch zu mir
trägt, und ich lausche dem Gesang des Rotkehlchens, dachte er, so ist
das Herz auf ganz andere Art im Lieblichen geborgen, als wenn ich den
kühlen Hauch des Flieders spüre und höre die Amsel flöten. »Trag mich
von Freude zu Freude, du warmer Frühling,« sagte er, »aber behüte mein
Herz, damit es nicht vor Glück zerspringt.«

Das Summen der Insekten über den Blumen klang hinter den lichtroten
Vorhängen seiner geschlossenen Augenlider wie fernes Orgelbrausen, in
das aus noch größerer Ferne das Meer zu rauschen schien. Es vermischte
sich mit dem Flüstern der Blätter, den kaum vernehmbaren Stimmen der
Gräser und dem Läuten der Blumen, das so fein erklingt, daß ein
menschliches Ohr es nur nach langem, tiefem Warten erlauschen lernt.

Die Güte und der Reichtum der Natur überwältigten das Elfenkind. »Seid
gesegnet, meine Sinne,« rief es, »meine Augen, mein Gehör und du mein
Herz, du Quelle und Pfand meines irdischen Wohls. In den Augen wohnt der
rasche Blick, der zu entflammen und froh zu ruhen vermag, der das Licht
bis tief in die Kammern des Herzens führt. Ich fühle die Berührung des
Lebens mit allen Gliedern, wie das Wasser den Windhauch spürt, der seine
Oberfläche bewegt, jeder Sinn hat sein seliges Amt, aber du hast das
herrlichste, mein Herz, in dir wohnt das Heimweh.«

       *       *       *       *       *

Die Fülle nahm nun von Tag zu Tag zu, das Blühen wollte kein Ende
finden, immer wieder kamen neue Tiere auf der Waldwiese an, verweilten
für kurz oder lange oder blieben auch für immer. Eines Morgens fand sich
ein Wildtaubenpaar ein, man hatte sie schon von weitem lachen und
plaudern hören, die zwei, sie machten einen sehr glücklichen Eindruck.
Die Linde, überhaupt der ganze Platz schien ihnen ausnehmend zu
gefallen, sie flogen innen im Baum von Ast zu Ast, untersuchten die
alten, dürren Stümpfe der abgebrochenen Zweige und prüften jedes
Baumloch im Stamm. Als sie aber merkten, daß eine Eule im Baum wohnte,
wurden sie nachdenklich.

»Schon wegen des Bachs, wegen der Nähe des Wassers hätte ich hier gern
gewohnt,« meinte die junge Frau betrübt, »man hat es so bequem morgens
mit dem Bad, und dann auch an der einen Seite die Weite der Felder, an
der anderen den dichten Wald; der Ort hat viel für sich. Sieh unten das
Moos im Sonnenlicht!«

»Ich lebe nicht mit einer Eule zusammen,« antwortete ihr Mann, »aus
solcher Nachbarschaft entsteht nichts Gutes. Ich habe nichts gegen die
Eulen, ich verfolge sie nicht, aber sie sind mir unheimlich.«

Und sie flogen mit lautem Flügelschlagen, das man noch lange in der
Waldstille hörte, über die Bäume hin, davon.

In der Frühe sah man bisweilen den Bussard zwischen den Stämmen jagen.
Er flog lautlos und geheimnisvoll, seine scharfen, farbigen Augen
suchten am Boden, und seine graubraunen Schwingen bewegten sich groß,
feierlich und kraftvoll. Es war ein herrlicher Anblick, den mächtigen
Vogel zu beobachten, der allein lebte, vom Raub, in seiner Waldfreiheit.

Eines Tages kam eine Katze, o Gott! Sie setzte sich mitten auf die Wiese
in die Blumen, blinzelte und putzte sich sorgfältig und so arglos, als
gäbe es in der Welt für sie keine Gefahr, und als habe sie niemals einen
bösen Gedanken gehabt. Es wurde eine Weile auffallend still auf der
Waldwiese, nur der Bach kümmerte sich nicht um das Tier, er rauschte
fort, die kleineren Geschöpfe aber bekamen zum größten Teil Herzklopfen.
Wer ein sicheres Versteck hatte, beobachtete die Katze mit Spannung. Es
läßt sich auch in der Tat kaum etwas Schöneres denken, das zugleich mit
so viel Schrecknis verbunden ist, als eine Katze. Natürlich, wer sich
gegen sie wehren kann, wer stärker oder geschwinder als sie ist, der
sieht und nimmt nur ihre anmutigen Seiten, deren sie viele hat, und
begreift nicht so rasch das Entsetzen, das sie kleineren Geschöpfen
einflößt. Aber wenn man in Betracht zieht, daß manche Tiere, denen sie
nachstellt, kaum größer sind als eine ihrer Pfoten, so begreift man
eher, welchen Schrecken die Katze verbreiten kann.

Ganz besonders über diese Katze wäre vieles zu erzählen; es ist schade,
daß es hier nicht angeht. Sie war ursprünglich unter Menschen gewesen
und ist auch in ihrer Gemeinschaft geboren und aufgezogen worden. Aber
dann wechselte der Besitzer des Hofes, auf dem sie lebte, und da Katzen
meistens eher an dem Ort hängen, an welchen sie gewöhnt sind, als an
Menschen, so war auch diese Katze geblieben; aber sie traf es schlecht
mit den Nachfolgern der ausgewanderten Bauersleute und entschloß sich
deshalb eines Tages kurzerhand, ihr Heil in der Freiheit zu suchen. Sie
hatte einen sehr schweren Winter hinter sich und war oft drauf und dran
gewesen, zurückzukehren, aber nun, mit dem eingekehrten Frühling, schien
ihr Los ihr beneidenswert.

Uku, die alte Eule, sah von ihrer sicheren Baumhöhle aus auf die Katze
nieder. Die grünlichen Augen waren wie zwei harte, glänzende
Metallplättchen, alles an der Katze, auch das prächtig gestreifte Fell,
war auf das sauberste gehalten und so wohlbestellt, gesund und anmutig,
daß es ein Entzücken war. Uku sah, wie die Pfote am Gesicht entlang
glitt und wie die kleine rosa Zunge die weichen Härchen des Fells
glättete. Nachdenklich sah der weise Vogel auf die Katze nieder. Wer
würde vermuten, dachte er, daß dies zärtliche Tier vom Wipfel eines
Baumes oder vom Giebel eines Daches niederspringen kann, ohne Schaden zu
nehmen, wer ahnt hinter dieser kindlichen Gebärde die Wildheit, die sie
verbirgt, die geschmeidige Kraft und die unbeugsame zähe Eigenart der
Katze? Ist es so bestellt, daß sich mit der größten Kraft und Wildheit
solch arglose Gebärde des Spiels und der Harmlosigkeit vereinen kann,
mit diesem Lächeln die furchtbarste Blutgier und mit soviel Anmut die
Falschheit?

Uku konnte nicht aufhören, die Katze zu betrachten, und sie dachte lange
und sehr scharf über sie nach, wie es so Art der Eulen ist. Sie weiß die
größten und bissigsten Hunde in Respekt zu halten, dachte sie, ja in
manchen Fällen selbst den Menschen, und sieht doch aus wie ein
schüchternes Kind. Wie sie den Schein der Sonne genießt! Es ist wirklich
sehr schwer zu sagen, was gut oder was böse ist in der Natur, ich
glaube, man kann es nur für sich selbst und sein eigenes Handeln wissen.

Wie ungebrochen sind diese harten Augen, wild und rein, fuhr sie fort zu
sinnen, sie werden eines Tages brechen, wie ein edler Stein unter einem
Hammer, aber sie werden sich nicht trüben. Man muß sagen, Uku kam
geradezu in Begeisterung, und da eine Katze alles andere eher ist als
die Freundin der Eulen, so war diese Anerkennung des Vogels um so
erstaunlicher. Aber Uku hatte Grund, über die Katzen nachzudenken, sie
hatte vor Jahren einmal zur Nachtzeit eine Katze sterben sehen, die, von
der Kugel eines Bauernsohns getroffen, auf dem Hof ihr Leben lassen
mußte, auf dem damals auch Uku viel verkehrte. Es war Mondschein
gewesen, der junge Mensch stellte den Katzen nach, weil sie seinem
kleineren Federvieh Schaden taten. Seine Kugel ging der Katze durch die
Brust, schlug durch und öffnete sie an zwei Stellen. Das Tier war auf
einen Baum geflüchtet, und anfänglich hätte man glauben können, sie sei
nicht verwundet, aber dann löste sich langsam, man möchte sagen Kralle
für Kralle, ihr schöner gefleckter Leib von dem Ast, den sie umklammert
hielt. Es kam kein Laut über ihre Lippen, erst am Fallen sah man, daß
sie keine Gewalt mehr über ihren zähen, wohlgeübten Körper hatte. Am
Boden, im schrägen Mondlicht kreiste sie im Gras, und nun, wie mit ihrem
letzten Atem, kam ein Geschrei aus ihrem Mund, das Ukus Herz erstarren
ließ, und der junge Mensch, der herzugeeilt war, sprang betroffen
zurück, als dieser Todeston sein Ohr traf. Es war ihre erste und
zugleich ihre letzte Klage, es war, als habe sie zu Lebzeiten das Klagen
nicht gelernt. Dreimal hintereinander stieß sie diesen langgezogenen
Schrei aus, der keine leiblichen Schmerzen zu verraten schien, sondern
den wilden Wehelaut um ihr schönes, starkes Leben.

Die Natur umher lauschte wie in einer jähen Ahnung ihres Geschicks auf.
Es ist furchtbar, die Mächtigen im Tode schreien zu hören. Und doch
hatten diese Töne nichts Jämmerliches, es lag kein Hilferuf darin, kein
Flehen um Erbarmen, sondern viel eher war es das metallische Verklingen
der gebrochenen Kraft; unbeschreiblich einsam durchdrang es die
Mondnacht.

Voll Grauen war Uku damals auf und davon geflogen, tief bewegt von
diesem Erlebnis und doch nicht einzig entsetzt, sondern zugleich
wunderbar erhoben. Sie hatte wieder und wieder denken müssen: Wie
gewaltig ist das Leben, das sich auch in mir offenbart, wie gewaltig ist
der unvermeidliche Tod.

Man wird nun viel besser verstehen, weshalb sie so lange und
nachdenklich auf die Katze schauen mußte, die auf die Waldwiese gekommen
war. Sie blieb übrigens nur für kurze Zeit und, soviel ich weiß, ist sie
nicht wiedergekommen.



                            Fünftes Kapitel

                           Der Tod der Eiche


Ein wenig von der Waldwiese entfernt stand am Rand des Tals die Eiche,
sie war der älteste Baum im Land; in diesem Frühling ist sie gestorben.

Man wußte es überall, weit im Umkreis. Ihre letzten Worte aus dem
vergangenen Herbst rauschten in den Büschen und Bäumen des Landes als
Erinnerung wieder, und nun im Frühling nahm sie Abschied.

Um ihre mächtige Gestalt umher sproßte und blühte es, ihre großen
dunklen Glieder reckten sich gewaltig über den wirren, grünen
Lebenstrubel der neuen Jugend dahin, in den Himmel empor, ihre Klage
erfüllte das Land, alle Herzen. Viele hundert und wieder hundert Jahre
des Lebens beschlossen sich nach einem unbegreiflichen Ratschluß, der
alle in heiliger Scheu erbeben ließ. Die langen Nächte hindurch, in der
Frühe und am verständlichen Tag wehte es aus der kahlen Höhe ihrer Krone
klagend im Wind über das Land, durch den Vogelgesang dahin, durch das
selige Seufzen der vom Frühling begnadeten Geschöpfe und durch das
strahlende Tageslicht, das seine Macht über die Lebensgeister des alten
Baums verloren hatte.

[Illustration]

Eines Tages vernahm der Elf die Klage der sterbenden Eiche im Wind und
konnte sie nicht vergessen. Nun ward er gewahr, daß alle sie wußten, und
seit jener Stunde zwang es ihn plötzlich, im Schreiten innezuhalten,
wenn er durch den Wald ging, um zu lauschen, ob durch die Lebensmelodien
der lebendigen Bäume wieder diese Klage dränge, die den ganzen Wald
erfüllt hatte. Und er vernahm die Töne und erschauerte. Sie erklangen so
heimlich, daß sein Gemüt in der Erkenntnis erzitterte, daß diese
bescheidenen Wehelaute eine so stille Wildheit zu bergen vermochten, und
daß Geduld so schmerzhaft sein könne.

Da ging er der Stimme nach, um den sterbenden Baum zu finden. Wie es zum
Herzen griff! Er sah eine Blume, die zu blühen anfing, den Tau trinken;
in der Erwartung ihrer Sonne sangen alle Vögel, da warf er sich ins Moos
und lauschte. Seit jener Stunde trieb es ihn wieder und wieder herzu, am
Tag, in der Nacht, immer wieder zog es ihn an diesen Waldort ohne
Schatten, wo die große Eiche stand. Rings der Himmel über ihm war wie
mit Sterben angefüllt, und die Seele des Elfen füllte sich mit dieser
Schwermut des Scheidens vom Leben, wie ein Becher mit Wein.

Er verstand den Baum. »Es ist kalt,« rief er einmal des Nachts, »der
große Wald ist leer! Ich sehe hin und zurück, zurück und hin, schaue,
forsche und suche, und bin doch allein. Ich erinnere mich, ich träume
und bin doch allein.

Der Mond leuchtet hell, wenn seine Strahlen die Erde erreichen, scheint
mir die Welt ohne Elend, ohne Schmerz, alles und alle erscheinen mir
sanft. Er bringt helle Tücher, als wollte er mich vor dem schützen, was
kommen soll, als wollte er mich erwärmen, und ich fühle wieder wie
durstige Pflanzen, die sich öffnen und zu blühen anfangen.

Enttäusche ich euch jetzt, weil ich dürr und kahl dastehe? Ihr habt mich
grün gesehen! Ich gab der Erde Schatten, den Vögeln Ruhe und den Tieren
Früchte. Ich habe die Blicke entzückt, und nun liebt ihr mich weniger,
weil ich es nicht vermag? Müßt ihr nicht stets an jene Zeit denken, wo
ihr mich anders saht?

Ihr denkt nicht mehr daran! Meine Klage erniedrigt mich. Nun fühle ich
zum erstenmal, daß mein irdisches Gefühl mich von der Welt trennt. Einst
erzählte ich, ich teilte das Neue, das Leben den Blumen, den Bäumen mit.
Dort oben liebkoste mich der Wind, als wollte er zu mir sagen: Du hast
nicht unrecht. Da wußte ich, daß mein irdisches Gefühl mich mit der Welt
verband. Ich rief: Nehmt mich nur auf, laßt mich euer Teil sein, ein
Glied eurer reichen Familie. Ich fühlte die Welt und vereinte mich mit
ihr und wurde zum erstenmal mündig. Alles tönte in mir und mein Herz
strömte über. O, wie ich der Erde verschuldet bin, wie kein Wesen vor
mir!«

Der Blumenelf lag im Moosgrund und lauschte der Klage, er begriff die
Wirklichkeit des Todes und erbebte. Aber er vermochte seine Sinne nicht
vom Sterben des Baumes abzuwenden.

Da hörte er wieder die alte Stimme über sich im Wind:

»Es forscht ohne Aufhör in mir und will doch von nichts wissen. Meine
Wurzeln werden vom Wasser berieselt, das alle Pflanzen zu neuem Sprossen
ernährt. Ich fürchte mich vor dem Tage, die Sonne, die mein Blut
beeinflußt hat emporzudrängen, blendet mich nun. Wie lockt mich die
Weite, die ich lange ohne Begehren im Bild erblickt habe! Wo sind die
Tiere? Ich höre nur die Vögel. Und doch ist alles Weite so nah, so
möglich geworden.

Mein Herz war einst in der Sonne so weit offen, daß es nicht nur sich
selber trug und ahnte, sondern die ganze Welt. Da wußte ich die Wahrheit
über mich. Nun umgibt es mich rings wie eine Wand, so kalt wie Eis, so
durchsichtig wie Glas, so nah, daß mir ist, als spiegelte ich mich
wider. Sie macht die Seele zum Verbrennen durstig, und ich fühle Angst.
Lebt wohl!«

Da drückte der Elf erzitternd sein Herz fest, fest an die Erde, die
Auferstehung und Vermoderungen in sich barg und einen herben Geruch von
Harz ausströmte. Ihm war, als durchdränge dieser Geruch seinen
vergänglichen Leib, er schloß seine Augen und schwieg, denn es redete
mit vielen Stimmen zu ihm, die wie eine Stimme waren.



                           Sechstes Kapitel

                            Von den Engeln


Eines Morgens in der Dämmerung, als von der Sonne noch wenig zu spüren
war, kam Hassan, der Igel, durch den Tau. Er sah sich auf der Waldwiese
um, etwas mürrisch, wie es nun einmal seine Art war, aber im Grunde
recht gut gelaunt, obgleich er sich sehr verspätet hatte. Er hielt nach
einem Ort Ausschau, an dem er schlafen könnte, denn er wäre um alles
gern in einem Schlupfwinkel gewesen, bevor die Sonne emporstieg. Die
Igel haben nicht viel für den Sonnenschein übrig.

Da die Vögel und Blumen und alle kleinen Tiere der Waldwiese noch
schliefen, entdeckte niemand den Igel, es wäre zweifellos ein großer
Jammer unter ihnen ausgebrochen, denn Hassan war nicht beliebt, weil er
von kleineren Tieren so viel fraß, als er irgend finden konnte. Wo immer
es draußen im Wald in der Gemeinschaft einer Tiergesellschaft sein mag,
überall fürchtet man den Igel, nirgends sieht man ihn gern. Es kommt
sicher hierbei noch hinzu, daß er für gewöhnlich in der Abenddämmerung
aufbricht. Das hat schon an sich etwas Unheimliches, auch ist er schwer
von einem rundlichen dunklen Erdhaufen zu unterscheiden, wenn er still
im Gras sitzt und auf Mäuse wartet. Was aber am peinlichsten ist, ist
die Tatsache, daß er viel rascher laufen kann, als man denkt. Viele
Tiere bekommen allein schon darüber einen solchen Schreck, daß sie sich
in ihrer Verwirrung von ihm greifen lassen.

Hassan kam etwas träge heran, ging das Bachufer nieder, trank ein wenig
und sah nach dem Himmel. Es würde ein warmer Tag werden. Unter der
großen Linde gefiel es ihm, er dachte sich, zwischen diesen dicken
Wurzeln finde ich irgendeine Höhle, die mir den gewünschten
Schlupfwinkel für den sonnigen Tag bietet, vielleicht, daß ich dort auch
ein Mäusenest entdecke und für den Abend auf eine gesunde Mahlzeit
rechnen kann.

Nun muß man wissen, daß Hassan in Zwistigkeiten mit seiner Familie
geraten war, um zu verstehen, daß er kein eigenes Heim hatte. Sein Vater
hatte ihm eines Abends ohne viel Umstände erklärt, er solle sich ein
eigenes Jagdgebiet suchen, denn die Umgebung ihrer gemeinsamen Behausung
ernähre nicht mehr Vater, Mutter und die kleineren Geschwister, am
allermeisten deshalb, weil es fast unglaublich sei, wieviel er, Hassan,
an einem Tage verschlänge. Das läge an den Jahren; aber nun sollte er
gehen.

So rasch findet nun aber ein Igel kein neues Heim, auch dachte Hassan
daran, sich zu verheiraten, und so war er genötigt, sich in der Fremde
umzusehen. Und wie es oft ist, wenn man keinen anregenden Umgang mit
seinesgleichen hat, so kommt man leicht ans Herumtreiben, und so war es
geschehen, daß sich Hassan einmal wieder gründlich verspätet hatte.

Als er nun langsam durch Blumen und Gräser auf die Linde zuschritt,
dachte er: Hier sieht es nach guter Beute aus. Er gähnte und kroch unter
die Wurzeln. Da sah er im Moos einen hellen Schimmer und erschrak, denn
es war schwer zu begreifen, wie hier in die Schattendämmerung des
Moosgrundes ein Lichtschein kommen sollte. Glühkäferchen kamen im
Morgengrauen nicht vor, so konnte es nur noch ein Stückchen faulendes
Holz sein, das oft einen weißlichen Glanz ausstrahlte, wie er im Sumpf
erfahren hatte. Er bog um die letzte Wurzel, die wie ein dicker
Schlangenleib aus den Farnkräutern kroch, und spähte vorsichtig in den
Grund der kleinen Höhle, aus welcher das Licht kam.

Da sah er einen unendlich kleinen Menschen mit hellgoldenem Haar im Moos
liegen, auf einem weißen Kissen von Blumenblättern und in einem
schimmernden Kleid, erglänzend und feiner gewoben als Spinnweben im
Sonnenschein der Waldtiefe, und so leicht wie kühler Wind, der kaum das
Zittergras bewegt. Es war durchaus nicht zu erkennen, woher das Licht
kam, bis Hassan zu seiner unbeschreiblichen Verwunderung gewahr wurde,
daß die Stirn, das Angesicht und die Hände des kleinen Menschenwesens
aus eigenen Lichtgründen leuchteten. Was aber sein Gemüt am meisten
bewegte, war der Ausdruck von Traurigkeit in dem schlafenden Angesicht
des fremden Wunderkindes. Hassan mußte, er wußte selbst nicht wie es
kam, an die ungetrübten Glücksstunden seiner Kindheit im Moorland
denken, unter den Birken und im Ginster.

Lieber Gott, dachte er, was geschieht mir nur, daß ich etwas so
Liebliches finden soll? Und dann kam ihm in den Sinn: Ich muß irgend
etwas für dieses Geschöpf tun. Vielleicht findet sich eine Beere oder
ein ganz zarter Regenwurm, wenn es nur irgend etwas ist, wodurch ich es
erfreuen kann, oder was es etwa beim Erwachen essen möchte. Über das
Essen hinaus gibt es höchstens noch das Schlafen, und das tut dieses
helle Himmelskind ohnehin. Wenn mir nur etwas Rechtes einfiele.

Als er noch darüber nachdachte und dabei die Stirn runzelte, wie es
seine Art war, und den dunklen Kopf mit der spitzen Schnauze und den
wirklich sehr schönen und klugen Augen hin und her bewegte, erwachte der
Elf und sah den großen Hassan dicht vor sich stehen, so daß die kleine
Höhle geradezu verdunkelt worden wäre, wenn das Elfenkleid nicht
geglänzt hätte.

»Wo kommst denn du her?« fragte der Elf und lächelte.

»Da, so, von hinten her, irgendwoher,« stotterte Hassan in großer
Verlegenheit, »nehmen Sie es nicht übel. Wenn Sie wollen, geh ich sofort
wieder.«

»Nein, bleib nur,« sagte der Elf und erhob sich, »soviel ich weiß, bist
du ein Igel, und wie mir scheint, sogar ein ganz prächtiger.«

»Nein, nein,« sagte Hassan rasch, »nur so einer wie alle, aber wenn Sie
wollen, gehe ich gleich.«

»Hast du Eile? Siehst du nicht, wie schön es hier ist und wie strahlend
der Tag werden will? Komm, wir gehen miteinander an den Bach. Übrigens
kannst du ruhig du zu mir sagen, ich bin ein Blumenelf.«

»So, so, ein Blumenelf,« sagte Hassan, »das ist aber sehr angenehm für
Sie. Wollen Sie wirklich mit mir zusammen gehen? Ich bin nicht beliebt,
wissen Sie, und auch sonst, ich bin eben ein Igel ...« Hassan hatte
eigentlich etwas anderes sagen wollen, aber er war zu verwirrt durch den
Anblick dieses hellen Wesens mit seinen Flügeln, die sein Haupt
überragten und schimmerten wie Schnee.

Sie gingen nebeneinander ans Wasser, und der Elf flog auf einen
niedrigen Zweig des Berberitzenstrauchs, der ihn sanft schaukelte.

»Sehen Sie,« sagte Hassan, »Sie sind doch ein Engel.«

»O nein,« antwortete der Elf, »wenn du glaubst, ich sei ein Engel, so
hast du niemals einen gesehen. Die Engel sind groß und leuchten wie die
Sonne am Mittag, niemand kann in ihr Angesicht schauen, der nicht das
seine vom Irdischen abgewandt hat.«

»Nun, ich dachte, Sie wären vielleicht einer von den kleineren Sorten«,
meinte Hassan schüchtern und bewegte seine schwarze Nase an der Spitze.
Darüber mußte der Elf lachen.

»Das sieht ungemein lustig aus, wenn du mit der Nase wackelst,« sagte
er, »das kann nicht jeder.«

»Mit der Nase erfahre ich, was ich nicht sehen kann«, sagte Hassan, sehr
stolz darüber, daß der Elf so viel Anteil an seiner Eigenart nahm.

»Flügel hätte ich wohl auch gern,« seufzte er nach einer Weile, »aber wo
sollte man sie anbringen?« Er schaute bewundernd und glücklich zum Elfen
empor, der mit dem Finger an die Tauperlen stieß und zusah, wie sie
funkelnd ins Gras niederbrachen.

»Große Tropfen, nicht wahr?« sagte er nachdenklich. Endlich meinte er
und sah auf:

»Ich bin nun schon lange Zeit auf der Erde und habe vielerlei erfahren,
auch unter Menschen bin ich gewesen und habe ihre Worte gehört und ihre
Hoffnungen, ihren Kummer. Es ist seltsam, wie sie und auch du und die
meisten Wesen über die Engel denken. Sie glauben kaum noch daran, daß es
welche gibt, und sehen sie selten. Vielleicht im Traum oder im
Todesschmerz, auch wohl in ihrer höchsten Beseligtheit, aber es ist, als
ob sie vergessen hätten, daß die Engel immer unter ihnen einhergehen.
Wie oft hat ein himmlischer Engel ein Geschöpf angesehen, und es ist es
nicht gewahr geworden. Woran mag es liegen?«

[Illustration]

»Ich weiß nicht«, sagte Hassan, der mit großer Spannung zuhörte.
»Vielleicht liegt es an den Verhältnissen.«

»Du kannst es auch nicht wissen,« meinte der Elf, »ich glaube, um die
Engel sehen zu können, muß man ein Mensch sein und ein großes und gutes
Herz haben. Oder vielleicht eine Blume; manche Blumen kennen die Engel.«

»Kannst du etwa auch mit den Blumen reden, wie du mit mir reden kannst?«
fragte Hassan erstaunt.

Der Elf nickte. »Wo ich Liebe finde, da kann ich mich verständigen«,
sagte er. »Wäre mehr Liebe in der Welt, so würden sich alle verstehen.«

»Ach so,« meinte Hassan, »ja, das ist gut möglich.«

Der Elf sann nach, und nach einer Weile sagte er langsam, mit einem
traurigen Ausdruck:

»Warum haben die Menschen die Engel vergessen? Sie kommen in vielerlei
Gestalt zu ihnen und offenbaren ihre Gegenwart allen, deren Augen für
die Gaben der Liebe offen geblieben sind und deren Herzen sich Andacht
bewahrt haben und den freien Gleichtakt der Unschuld. Bald geht ein
Engel dahin in der Gestalt eines Kinderlächelns oder im Lied eines
Vogels, auch kommt er als ein jäher Sonnenblick in einen dunklen, öden
Raum, oder als Erinnerung an genossenes Glück. In solchen Augenblicken
sind die Engel willens, die Menschen zu führen, ihnen die Augen für das
Rechte und Schöne zu eröffnen und ihnen den Weg ihres Heils zu zeigen.
Kinder nehmen sie oft geradezu bei der Hand, so daß man es deutlich
sehen könnte, wenn die Augen nur ein wenig dafür noch tauglich wären.
Die Menschen nennen es einen glücklichen Zufall, wenn solch ein
geliebtes kleines Wesen wie durch ein Wunder bewahrt bleibt, aber es
sind immer die Engel in unsichtbarer Gestalt. Auch zu den Großen kommen
sie in Stunden schwerer Entscheidungen, tiefer Erniedrigung oder hoher
Beseligung. Sie können so deutlich reden, daß das Herz erschrickt, so
liebreich trösten, wie nur himmlische Sendboten es vermögen; oft
eröffnen sie Bedrückten durch einen Wink ihrer Hand einen Blick in eine
schöne Zukunft oder sie weisen ein Herz auf sein angestammtes Recht
zurück und erhellen seine Irrtümer, so daß ihm plötzlich der Gang der
Welt um vieles gerechter erscheint, als noch eben zuvor, denn wer an
Gerechtigkeit zu glauben vermag, wird nicht durch Mißgeschick in
dauernde Finsternis gestoßen. Die Erinnerung und die Hoffnung sind ihre
schimmernden Boten, im Gleichtakt zwischen ihren Mächten pocht jedes
irdische Herz. Wessen Hoffnung aber zu erlöschen droht, dem gestalten
sie, wie in einer stillen Abkehr der Seele, die Erinnerung um so
strahlender. Immer stiften sie Helligkeit, Zufriedenheit, und endlich
führen sie die Seelen in das Reich. Ach, arm ist eine Zeit, die den
Glauben an die Engel verloren hat.«

»Ich glaube jetzt schon wieder daran,« sagte Hassan rasch, »was du
sagst, ist schön, und weshalb sollte das Schöne nicht eher wahr sein als
das Arge?«

Der Elf sah Hassan liebevoll an:

»Ich wünsche dir, daß dir alles gut ausgeht, was du heute beginnst«,
sagte er herzlich. »Ich fliege nun zu den Menschen, leb wohl.«

»Du fliegst in der Tat zu den Menschen, Elf? Da sähe ich mich doch
lieber vor.«

»Es zieht mich zu ihnen,« antwortete der Elf und breitete seine Flügel
aus, »ich kann nicht anders, aber ich werde am Abend wieder auf die
Wiese kommen.« Damit flog er davon. Hassan sah ihm nach, bis er wie ein
winziger Lichtschein zwischen den Baumstämmen verschwand. Er ist doch
ein Engel, ein kleinerer, dachte er und versuchte zu begreifen, was ihm
geschehen war und was er gehört hatte.



                           Siebentes Kapitel

                         Hassans Kampf mit Ala


Am folgenden Tag sang dicht über dem fließenden Wasser des Bachs das
Rotkehlchen in einem Lindenzweig. Es saß in einem wundervollen
Blätterraum, so licht geborgen, wie Leute es kaum ahnen, die nicht schon
einmal in einem Baum gesessen haben. Alle Blätter, aus welche das
Rotkehlchen niederschauen konnte, waren vom schönsten saftigen Grün,
hatten kleine goldene Sonnenteller und zeichneten sich prächtig gegen
das blaue Wasser ab. Viel schöner aber waren die Blätter anzuschauen,
die über dem Kopf des kleinen Vogels wuchsen, denn die Sonne
durchleuchtete sie, so daß sie wie von hellem grünen Glas erschienen,
mit einem seligen Glanz aus Gold.

Man kann sich auch für den Widerhall des Gesangs nichts Besseres denken,
als so ein offenes Blätterhaus, das Licht, Blumenduft und den warmen
Odem des Frühlingswindes einläßt, gedeckt ist und doch offen, allem
Hellen zugängig und doch versteckt, und gerade das, worüber so viele
Sänger klagen, war für das Rotkehlchen so prächtig erfüllt, daß sich
verstehen läßt, daß es fast den ganzen Morgen hindurch sang.

Lieblich und klar, wie fallendes Wasser auf bunten Steinen, hallte es
durch den strahlenden Wald. Es schien, als leuchtete die Sonne heller
als zuvor, feierlich standen die großen Bäume auf ihrem dunklen
Erdengrund, und die Blumen neigten sich, in ihrem Glück so würdevoll, in
ihrer Schönheit so reich, daß die Welt vollkommen erschien. Und
unermüdlich sang der kleine Vogel:

    Die Weite des Bachs liegt blau in grün,
    mein Herz möchte weiter, ach weiter!
    Aber es weiß mein Herz nicht wohin,
    immer bleibt alles fern blau in grün,
    wo ich verweil’, ist es heiter.

    Aber ich möchte der Traurigkeit,
    tief, meines Herzens folgen.
    Schön ist das Nah’, aber herrlich das Weit’;
    sagt mir, ihr Wellen, wann kommt die Zeit
    über den himmlischen Wolken?

Hassan, der Igel, saß unten im Farnkraut und hörte zu; er konnte sich
nicht entschließen, einen Ort zu verlassen, an dem ein Blumenelf weilte.
Dies war erstens etwas ungemein Seltenes, dann kam aber auch noch hinzu,
daß es hier ohnehin sehr schön war. Wenn man schließlich durch seinen
Appetit störte und dadurch unliebsames Aufsehen erregte, daß man zu
viele der Wiesenbewohner herunterschlang, so konnte man seine Nahrung
auch anderswo suchen, der Wald war groß und Hassan gut zu Fuß. Ich
könnte wahrhaftig diesem Elfen zulieb Pflanzenkost genießen, dachte er,
und den Versuch machen, mich von Gras zu ernähren, aber ich weiß im
voraus, daß ich es nicht aushalte. Nun, es wird sich schon finden, ich
jage anderswo und lebe hier.

Über ihm in den Zweigen raschelte es, und als Hassan durch die grünen
Fächer des Farnkrautes sah, erblickte er ein Eichhörnchen, das sich von
Ast zu Ast bis auf den Boden, dicht bei seinem Versteck, niederschwang.
Hassan entschloß sich, hier um Rat zu fragen, obgleich er im allgemeinen
nicht viel für diese Tiere übrig hatte, sie waren ihm zu beweglich. Er
trat hervor, und das Eichhörnchen machte einen Satz, so lang, wie der
Bach breit war.

»Himmel und Wolkenbruch, Sie dicker Popanz, wie können Sie einen so
erschrecken!« rief das Eichhörnchen atemlos. »Kommen Sie her und fühlen
Sie, wie mein Herz klopft, oder bleiben Sie lieber, wo Sie sind, Sie
Stachelschwein!«

»Aber ich muß doch bitten,« sagte Hassan gekränkt, »ich bin weder das
eine noch das andere. Was das erste ist, weiß ich überhaupt nicht, aber
ein Stachelschwein bin ich erst recht nicht. Ich bin Hassan, der Igel.«

»Das ist mir vollkommen gleichgültig«, lautete die ärgerliche Antwort.
Sonst war das Eichhörnchen in der Regel viel höflicher, aber es hatte
sich in der Tat auf das heftigste erschrocken, und dadurch verliert man
leicht den Sinn für liebenswürdiges Entgegenkommen.

[Illustration]

Hassan entschuldigte sich; aber nun meinte das Eichhorn erst recht, ihm
sei Unrecht geschehen.

Es saß da, im Gras, daß es ein Entzücken war, Hassan fühlte sich
wirklich neben diesem zierlichen Tier wie ein schwerfälliger
Eindringling, er hätte es am liebsten in die Arme geschlossen, so
lieblich war der Anblick, das feine Köpfchen mit den spitzen Ohren, die
dunklen klugen Augen und der breite buschige Schwanz, der den eleganten
Körper in einem Bogen überragte und von einer leuchtenden rotbraunen
Farbe war, wie das Buchenlaub im Herbst.

»Nehmen Sie es nicht übel,« sagte er noch einmal, »ich habe Sie nicht
erschrecken wollen – aber wie Sie meinen.«

Das Eichhorn merkte, daß es dem Igel gefiel, und wurde deshalb etwas
freundlicher. Nun darf man aber nach diesem Vorfall nicht etwa annehmen,
daß ein Igel ein dummes oder ungeschicktes Tier sei. Ganz im Gegenteil
ist er ein ungewöhnlich kluges Tier und in keiner Weise so tölpelhaft,
wie er auf den ersten Blick erscheinen kann. Natürlich, wenn man ein
Eichhörnchen ist, versteht man unter Geschicklichkeit etwas ganz anderes
als ein Igel.

»Ich habe mich heute morgen ohnehin verschlafen«, sagte das Eichhorn und
musterte den Fremden. »Was wollen Sie denn hier?«

»Ich möchte fragen, ob man gut tut, sich hier anzusiedeln.«

Das Eichhorn schaute interessiert auf. »So, darauf will man hinaus! Nun,
ich heiße Li und habe darüber zu entscheiden.«

Hassan schaute aus seinen Stacheln hervor und dachte nach. Er sagte sich
plötzlich, daß er eigentlich niemand zu fragen brauchte, wenn er bleiben
wollte, denn wenn Li das mächtigste Tier der Wiese war, so gab es
niemand, der ihn wegschaffen konnte, wenn er nicht geneigt war. Er
blinzelte listig und lachte vor sich hin.

»Nun, ich denke, Sie erlauben es«, meinte er, rollte sich plötzlich
zusammen, so daß er wie eine große dunkelbraune Kugel aussah, und seine
Stacheln sträubten sich und klirrten leise.

»O, pfui Teufel«, rief das Eichhorn und machte einen kleinen Satz. »Nun
sieh einer dies Stachelschwein!«

Hassan schielte nur über die Spitze seiner schwarzen Nase aus seinem
gewölbten Stachelberg hervor, es sah ungemein originell aus, weil
niemand, der noch keinen Igel erblickt hatte, dort unten eine Nase
vermutet hätte. Aber so war ihm nicht beizukommen. Li ärgerte sich.

»Können Sie etwa senkrecht an einem Baumstamm in die Höhe laufen?«
fragte es.

»Nein«, sagte Hassan betroffen und wurde wieder etwas länglicher.

Li lachte. »Das hab’ ich mir gleich gedacht, Sie ...«

»Dann versuchen Sie gefälligst einmal jemanden zu stechen, der Ihnen mit
der Hand über den Rücken fährt«, gab Hassan verdrießlich zurück, denn er
merkte nun, daß das Eichhorn ihn verspotten wollte.

»Warum denn,« fragte Li, »weshalb soll ich denn jemanden ohne allen
Grund stechen? Wer tut denn das? Stachelschweine tun das!«

»Ich bitte mir jetzt endlich Respekt aus!« rief Hassan.

»Was sollte mich denn dazu veranlassen, Sie zu respektieren? Sie können
nicht klettern, stechen jeden, der Sie anfaßt und haben nicht einmal
einen Schwanz. Sehen Sie den meinen an!«

Li drehte sich ein wenig im Gras und sah sich nach Hassan um, der nicht
ohne Erstaunen und Neid auf den prächtigen buschigen Schwanz des
Eichhörnchens schaute. Es war in der Tat eine Pracht.

»Jeder hat eben etwas anderes«, sagte er verstimmt.

»Ganz recht, mein Lieber, und ich habe etwas Besseres.«

Mit diesem Tier war nicht auszukommen, Hassan sah es ein. Wenn das die
Folge seiner Ansiedlung sein sollte, daß er sich täglich über dies
eingebildete Geschöpf zu ärgern hätte, so stand für ihn fest, daß er
nicht blieb. Es fiel ihm auch gar nichts mehr ein, was er zu seinem
Vorteil hätte sagen können. Als er nachdachte, erklang hinter ihm ein
kaum hörbares Rascheln und gleich darauf ein scharfes Zischen. Das
Eichhorn flog herum, als ob es sich zu einem wilden Tanz anschickte,
versuchte einen Satz zu machen, um davonzukommen, blieb aber zitternd
und völlig willenlos an seinem Platz hocken, und ein schmerzliches und
unbeschreiblich angstvolles Wimmern brach aus seinem Mund.

»Ala, die Kreuzotter«, stammelte das arme Tier. Seine Augen verdrehten
sich, es begann einen sonderbaren schaukelnden Verzweiflungstanz mit
dem Oberkörper, kam aber nicht vom Fleck, und jedes Tröpfchen Blut war
aus seinem frechen Gesichtchen gewichen.

Es war in der Tat Ala, die Kreuzotter, die sich im Gras aufrichtete. Sie
hatte sich etwa um die Hälfte ihrer Länge emporgehoben, ihre hellen
Augen funkelten wie zwei Diamanten, und ihre langsamen, beinahe trägen
Bewegungen in der Sonne hatten etwas ungemein Grauenerregendes. Das
Furchtbarste aber war dies scharfe, eindringliche Zischen, das über die
gespaltene feine Zunge her aus dem bösen Rachen des platten Köpfchens
kam, und das das Blut aller Geschöpfe erstarren machte, wie die Stimme
des Todes. Wer weiß auch nicht, daß Alas Biß tötet, noch ehe ein
Hilfsmittel beschafft werden kann, ja, ehe man recht darüber zur
Besinnung kommt, was geschehen ist.

Li, das Eichhorn, war in der Tat zu bedauern. Es war herzzerreißend
anzuschauen, wie es versuchte, davonzukommen, wie aber die Bewegungen
der Giftschlange und ihr Zischen es am Platz bannten und ihm alle
Vernunft und jeden Willen raubten. Es ist eine alte Wahrheit, daß die
Bewegungen der Schlange alle kleineren Tiere zu verzaubern scheinen.

»O, hab’ Erbarmen«, wimmerte es. Es dachte an die hohen, schaukelnden
Zweige seines Baums; wie wollte es seine freie Kunst im Klettern und
Springen gebrauchen, wenn es nur davonkönnte.

Aber die Kreuzotter kennt kein Erbarmen. Es sah aus, als ob das
merkwürdig süße Maul des bösen Tiers heimlich lächelte, und die schöne
Zickzacklinie auf seinem Rücken, in ihrer schaurigen Todespracht,
glitzerte im Sonnenlicht und verdunkelte sich wieder im Schatten der
kleinen Kräuter und im Moos. Nichts war beängstigender, als daß man
nicht in der Lage war, diesen schleichenden, ziehenden Bewegungen im
Gras mit den Blicken zu folgen.

»Töte mich doch, ach, töte mich gleich«, flehte das Eichhörnchen.

Da fiel in seiner heißen Angst Lis Blick auf Hassan, den Igel, und ein
unbeschreibliches Erstaunen durchfuhr das Eichhorn in seiner Todesnot.
Es wußte wirklich nicht, ob es seinen Augen trauen sollte, aber es war
kein Zweifel, Hassan saß ganz still und vergnügt im Gras und lächelte zu
Ala hinüber. Aber das war ja unmöglich, kannte er denn die Kreuzotter
nicht?

Li hatte sich vor Schreck und Entsetzen noch nicht gefaßt, als plötzlich
Hassan ein Stückchen vorlief, gerade vor die Schlange hin und so rasch,
wie es in seinem Leben nicht gedacht hätte, daß ein Igel laufen könnte.
»Hassan,« schrie es, »Sie sind verloren!« Der Igel war gerade auf die
Schlange zugelaufen und stand nun unmittelbar vor ihr.

Zu Lis unbeschreiblichem Erstaunen ringelte sich die Schlange jählings
zusammen, so daß ihr Kopf nur noch oben aus dem bunten Ornament
hervorragte, das ihr gewundener Körper am Boden bildete. Sie öffnete
den Rachen weit, ihre Zunge schoß wie ein kleiner Blitzstrahl aus und
ein, und ihre Augen funkelten in unerhörtem Zorn. Dabei zischte sie so
laut und wild, daß man es weit über die Waldwiese hin vernahm, und alle
Kreaturen umher erschauerten, es wäre sicher selbst ein Löwe
davongesprungen, aber Hassan, der kleine Igel, hielt diesen giftigen
Drohungen so gelassen stand, als zirpte nur eine Grille im Gras.

Sein Lächeln war verschwunden. Seine dunklen Augen blickten ernst und
kühn drein, seine Haltung hatte etwas ungemein Bewußtes, dazu war sie
kampfbereit und fast geschmeidig, ganz verändert sah Hassan aus, der
eben noch nachlässig und scheinbar schwerfällig im Gras gehockt hatte.

»Hab’ ich Sie endlich, Ala«, sagte er langsam und mit sonderbar tiefer
Stimme. »Hier haben Sie mich nicht vermutet, nicht wahr? Aber nun hilft
Ihnen Ihre List nichts mehr, die mich so oft getäuscht hat. Sie müssen
nun den Kampf aufnehmen, denn die erste Wendung zur Flucht, die Sie
machten, würde Ihr sicherer Tod sein!«

Das helle wilde Zischen wiederholte sich, Ala dachte nicht an Flucht.
Sie machte plötzlich eine weiche, angstvolle Bewegung, als habe sie
allen Mut verloren, gegen Hassan zu kämpfen. Doch der Igel ließ sich
nicht täuschen, er kannte Alas Art. Und richtig, kaum daß sie den
Anschein erweckt hatte, als sei ihr nicht um Streit zu tun, fuhr sie
auch schon mit einer blitzschnellen Bewegung hoch durch die Luft zu, und
ihr weit geöffneter Rachen mit den furchtbaren Giftzähnen schnellte
jählings zwischen Hassans Augen auf die ungeschützte Stirn.

Aber so rasch die Bewegung der Schlange gewesen war, Hassans
blitzschnelle Neigung des Kopfes war schneller, und das Maul der
Schlange fuhr mitten in die gesträubten Nackenstacheln ihres Gegners.

Bei dem furchtbaren Anprall durchbohrten die Stacheln des Igels Lippen
und Kiefer der Schlange; mit einem hellen Zischen der Wut und des
Schmerzes fuhr sie zurück, rüstete sich aber sogleich zu einem neuen
Angriff, obschon ihr große, dunkle Blutstropfen am Mund niederrannen.
Hassan saß unbeweglich da. Er wußte, daß der Schlange keine Wahl blieb,
als den Kampf auf Tod und Leben fortzusetzen, und er wußte auch, wie
dieser Kampf ausgehen würde. Hätte Ala sich zur Flucht gewandt, so hätte
er sie leicht ereilt und ihr Genick mit den Zähnen erwischt, denn ein
Igel kann rascher laufen als eine Schlange. Die Kreuzotter wußte dies
alles nur zu gut, kochend vor Grimm spähte sie nach einer verletzbaren
Stelle am Körper des Gegners.

Li hatte die erste Niederlage der Schlange benutzt, um mit einem
gewaltigen Satz den Stamm der Linde zu erreichen, und nun saß es auf
einem niedrigen Ast, trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn und
suchte zu begreifen, was sich unter ihm zutrug. War denn das möglich,
daß Hassan, der plumpe Gesell, den Kampf mit der allmächtigen Ala
aufnahm, die den ganzen Wald mit Schrecken füllte? Bei all seiner
Beschämung klopfte das Herz des Eichhorns vor Begeisterung. »Ich werde
es gutmachen, daß ich ihn verspottet habe«, flüsterte es mit bleichen
Lippen. Es zitterte immer noch am ganzen Körper.

Da sah es, wie Hassan vorsichtig das spitze Köpfchen ein wenig vorschob,
um seiner Gegnerin Gelegenheit zu einem neuen Angriff zu geben. Und
richtig machte die Schlange den gleichen Versuch wie das erstemal, und
wieder fuhr ihr geöffneter Rachen mitten in die Stacheln des Igels.
Diesmal war ihre Bewegung um vieles matter, als sie sich zurückzog; ihr
Blut rann in Strömen, und nun erschien es, als ob Schmerz und Grimm sie
in einen Taumel von Mordgier und Kampfeswut trieben. Unter Zischen und
Fauchen fuhr ihr verwundeter Kopf wieder und wieder zu, wie ein kleiner
wilder Hammer, blindlings und sinnlos. Hassan traf kein einziger Biß,
seine Stacheln färbten sich rot, seine Bewegungen und Wendungen waren
sicher, geschickt und rasch.

Da plötzlich warf Ala, die Kreuzotter, den bösen schönen Kopf, der ganz
von Blut überströmt war, in einer müden ergebenen Senkung zurück auf den
geringelten Leib, sie rollte sich zu einem bunten, gezackten Knäuel
zusammen, als wollte sie sich in die Erde einwühlen, und man sah, daß
sie vor Schmerz und Todesangst nicht mehr wußte, was sie tat.

Hassan fuhr zu, mit einem jähen Ruck, als habe er von unsichtbarer Hand
einen Stoß bekommen, und durchbiß das Genick seiner Gegnerin dicht
hinter dem Kopf. Da hörten die Windungen des zackigen Knäuels langsam
auf. Ala war tot.

Es ging wie ein bebendes Aufatmen durch den Wald. Das boshafte Zischen
der Schlange hatte das ganze Volk der Wiese und alle Tiere weit umher
aufgescheucht, und was nicht entflohen war, hatte mit Zittern und Bangen
dem heißen Kampf zugeschaut. Nun verbreitete sich die Kunde rasch im
Revier. Aus dem Wipfel der Linde erhob sich mit Rauschen und schwerem
Flügelschlag ein Rabe und rief laut über die grüne Wildnis hin, die sich
unter seinen Flügeln wie ein wogendes Blättermeer ausbreitete:

»Ala, die Kreuzotter, ist überwunden, Hassan hat sie getötet!«

Was schreit er denn so, dachte der Igel und trabte gemächlich zum Bach
hinab. Weiß er denn nicht, daß das sein muß? Er tauchte das spitze,
schwarze Maul ins Wasser und trank in gierigen Zügen. Hinter ihm, auf
dem Kampfplatz, richteten die Blumen und Gräser sich langsam wieder auf,
und Li, das Eichhörnchen oben im Baum, schämte sich, obgleich es
unbeschreiblich erleichtert war.

Da steckte Josa, die Ringelnatter, ihren mondfleckigen Schlangenkopf
aus den braunen dürren Schilfmassen, auf denen die Sonne brannte, und
sagte zu Hassan:

»Haben Sie Dank, das war eine große Tat!«

Hassan wandte sich nach ihr um. »Machen Sie, daß Sie weiterkommen,«
sagte er, »sonst geht es Ihnen ebenso.«

Josas Kopf war so still und rasch wieder fort, als wäre er nie
dagewesen. Er ist eben ein Igel, dachte sie, ein grober Igel! Aber er
soll sich vorsehen, wenn erst ich einmal den Kampf aufnehme.

Hassan aber sah sich weder nach ihr, noch nach den anderen Tieren der
Waldwiese um. Ein anständiger Kerl, der nicht mehr als seine Pflicht
getan hat, will nichts von Dank hören, am wenigsten, wenn die Leute erst
dann freundlich werden, wenn sie einen Vorteil durch ihn gehabt haben.
Dies ist so Art der Igel, da ist nichts zu ändern. Ich bin ein rechter
Tor, dachte er, daß ich vergessen habe, wer ich bin und was ich kann,
nur weil ein Eichhorn senkrecht an einem Baumstamm hinauflaufen kann und
ich nicht. Ich werde nicht mehr um Unterkunft bei Fremden bitten. Ich
bin ein Igel, nicht mehr und nicht weniger, das will ich sein.



                            Achtes Kapitel

                               Die Winde


Wo am Waldrand am Stamm einer Föhre das dunkle Moos zwischen knorrigen
Wurzeln wuchs, rankte die Winde sich empor. Ihre jungen Ranken tasteten
sich an der braunen Borke hoch und waren von zartestem Hellgrün und so
empfindlich, wie die Glieder eines neugebornen Kindes, das seine Hände
liebebedürftig gegen das Angesicht der Mutter emporhebt. Ihre
durchscheinenden Blätter sahen gegen den braunen Föhrenstamm licht und
leicht aus, als wäre ein helles Ornament von der Hand eines Malers auf
dunklen Grund gezeichnet worden, aber ihre Sinne waren wach und
wohlbestellt, so daß sie ihren Weg zum Licht empor vertrauensvoll und
glücklich suchte.

Ein großes Farnblatt und ein Trieb der wilden Rose, die dicht neben ihr
emporgewachsen waren, hatten ihr hilfreich zur Seite gestanden, als ihre
ersten Ranken, noch blind von der Erinnerung an die dunkle Erde, sich
Halt suchten. Tastend, bewegt vom Frühlingswind, und von der Sonne
geführt, war sie langsam höher geklommen, den Waldgefährten dankbar und
die erwachende Seele voll Hoffnung. Nun war ihre Stunde gekommen, und am
Abend vor ihrem Erblühen flüsterte sie im Wind der Dämmerung den
Pflanzen zu:

»Morgen werde ich meine Augen öffnen, morgen zieht der Himmel in meine
Seele ein.«

Ihre hellblaue Knospe, die kaum noch vom grünen Kelch geborgen war,
zitterte im Lufthauch und empfand die kühle Nacht, die auf den Wald,
ihre Heimat, niedersank, aber das Licht und die Wärme des vergangenen
Tages fluteten durch ihren Traum, und noch als sie schon schlief unter
dem Tau, war ihr, als wachte ihr Herz.

Sie träumte vom unsichtbaren Wind, von den Stimmen der Bäume und dem
Summen der Insekten, dessen ferne Lebensmelodie sie mit
unbeschreiblichen Ahnungen von künftiger Seligkeit durchschauert hatten.
Sie vernahm in der tiefen Erinnerung ihres Schlafs wieder die frohen
Rufe um sich her, die sie auf ihrer Lebenswanderschaft von den schon
Erwachten im Licht vernommen hatte. Wie wird mir sein, wenn ich erblühe,
dachte sie, wenn meine Blume den Himmel empfängt. »Den Himmel!«
flüsterte sie im Traum. Was hatten ihre Sinne nicht von den Beglückten
um sich her vernommen und erlauscht, wie ein einziger goldener Jubel
empfing sie die Ahnung dessen, das ihr am Morgen geschehen sollte. »Dies
sind die Vögel in den Zweigen«, hatten die wilden Rosen ihr gesagt, »ihr
Lied fällt aus den Strahlen der Morgensonne, so kühl wie Tau, liebreich
wie der Wind und holdselig wie der Sinn der Freude. Sie werden am
strahlenden Tag deines Erwachens singen, ihre Lieder, die Farben der
Welt, die lebendige Glut der himmlischen Sonne, und die Seligkeit aller
Atmenden werden wie ein einziger Rausch unfaßbaren Entzückens auf dich
einsinken, wenn du erblühst. Du selbst wirst schön sein unter den
Schönen, du wirst beseligen wie du beseligt bist, und alle, die dich
erblicken, werden dich segnen, wie du ihnen dankst. Keine Sorgen sollen
deinen Wohlstand stören, alles, dessen du bedarfst, wird zur Stunde zu
dir kommen, deine Freude soll vollkommen sein. Wenn dein Kelch sich am
Abend nach vollbrachtem Tag neigt, wirst du in gnädigem Dunkel mit den
Schlafenden ruhen, müde vor Glück, und ein neuer Tag wird dir kommen.«

Die Knospe erwachte schon früh vor Tag aus ihrem Traum, und erzitternd
im Morgengrau fürchtete sie sich vor der Allmacht dessen, was ihr
geschehen sollte. Es war unfaßlich still in der kaum vom Licht berührten
Welt, nichts regte sich, alle Vögel schliefen noch, und der Tau war noch
nicht gefallen. Sie empfand, daß der Himmel langsam, langsam heller
wurde. Die Zweige des Baums über ihr zeichneten sich dunkel gegen die
totenstille Höhe ab, und man erkannte noch keine Farben, nicht grün,
nicht braun, alles war wie in silbergraue Schleier gehüllt.

»Heute, heute werde ich aufbrechen,« dachte die kleine Knospe, »goldener
Tag, komm bald!«

[Illustration]

Da erscholl über ihr ein zaghaftes, klares Trillern und verstummte. Aus
der Waldferne antwortete ein silberner Schlag. Sie erzitterte unter
einem Tropfen, der sich auf ihrem geneigten Blumenkelch bildete, der
noch geschlossen war, und nun nahm ein kaum spürbarer Wind sich ihrer
an, lindernd, tröstend und von erlösender Lebensliebe.

»Ich will tun, was ich muß,« flüsterte sie erbebend, »laß mich geduldig
für mein Glück sein, du unbekannte Liebe, die mein Geschick leitet.«
Aber sie erzitterte fort und fort, ihre Ruhe versank in einem heimlichen
Glühen und Pochen, das aus dem Pulsschlag der gärenden Erde, aus allen
Trieben ihres zarten Leibes und aus dem Wesen des waltenden Windes
drang.

Es wurde nun bald heller und immer heller, die frohe Regsamkeit der
Morgenerwartung bewegte die erwachende Welt, und in das Raunen der
Blätter klangen die Stimmen der Tiere, die den heraufziehenden Tag
begrüßten. Bis um die Windenknospe her plötzlich der gewaltige Jubel der
Natur ausbrach. »Die Sonne! Die Sonne!«

»Ich werde heute meine Seele öffnen und die Sonne sehen«, flüsterte die
Winde, und geheimnisvoll regte sich in den farbigen Blättern ihrer Blüte
das Wesen der Sonnenstrahlen. Es war eine Liebkosung, ein Locken, ein
lautloses Rufen, und ihr war zumute, wie wohl einem Schlafenden sein
mag, auf dessen Angesicht erwartungsvoll die Augen eines geliebten
Menschen ruhen, der in heißer Sehnsucht auf den Augenblick seines
Erwachens harrt, um ihn mit seiner ganzen Liebe zu überschütten.

Da entfaltete sich die blaue zarte Blüte, ganz langsam, im Sonnenschein,
wie in einer taumelnden Ohnmacht der entzückten Sinne, und der
schimmernde Kelch öffnete sich mehr und mehr, ein bebender Blumenbecher
von unbeschreiblicher Reinheit, der sich auftat, um das fließende
Himmelsgold der Sonne zu trinken.

»Ist das die Sonne?« schluchzte die Blume, haltlos vor Glück, »ich kann
nicht hineinschauen, aber ich muß! O Schwestern im Licht bei mir, ergeht
es allen Irdischen so wie uns?«

Aus ihrem schimmernden Farbenlicht, aus ihrem Duft und ihrem Neigen im
Wind brach ihre Stimme, allen vernehmbar, die ihrer Art waren und die
die Geborenen der dunklen Erde im Sonnenschein lieben müssen. Über ihr
sang ein Waldvogel sein Morgenlied im Glitzern des Taus auf den
Blättern, die erwachte Blume verstand seinen Ruf und sein Locken:

»Sprich mit mir, sprich dein Herz, sprich deine Freude.«

Der Frische des funkelnden Morgens folgte der warme, farbige Tag mit
seinem Treiben um sie her, aber die Blume sah nur die Sonne an. Bis bald
auch in ihrer Nähe die geheimnisvollen Stimmen der Käfer und Bienen
laut wurden. Die Sonnenwärme nahm immer mehr zu, ein Schwingen wie von
himmlischem Erbrausen hüllte sie mehr und mehr ein, sie tat ihren Kelch
weiter auf und immer weiter, ihr war, als verginge sie in diesem
glühenden Glänzen, und ihre Hingabe war so inbrünstig, als verblutete
sie vor Verlangen.

Nun zog mit lautlosem Schaukeln, fröhlich von seinem reinen Flügelkleid
getragen, ein Schmetterling an ihr vorüber, mitten zwischen ihrem
aufgetanen Kelch und der goldenen Sonne hindurch. Da rief die Blume, ihr
Farbenglanz trug ihre Stimme, und ihr Duft begleitete ihn:

»Tu mir Liebe an und komm!«

Der Schmetterling ließ sich mitten in dem blauen Rund ihrer Blüte
nieder, o Wunder, daß er sie verstand. Tausend Bächlein von Sonnenwärme
und zitternder Himmelsluft rieselten mit seiner Berührung an ihr nieder,
sie neigte sich tief unter der hellen, lebendigen Last und hob sie
wieder mit sich empor.

»Bleib noch,« bat sie, »du himmlischer Sendbote, du Freund meines
Lebens.« Aber der Falter mußte weiter, und nun vernahm die Blume
plötzlich das Bitten, Rufen und Locken um sich her, von dem die ganze
Wiese in Farben und Düften erklang. Je mehr Insekten nun zu ihr kamen,
um so besser verstand sie ihre Schwestern umher und in der Ferne, sie
begriff, daß sie ihr Lebensgrüße sandten und gab sie freien Sinnes
zurück, immer die strahlende Blüte gegen die Sonne geöffnet, als sei
keine Schuld und kein Fehl möglich, wenn sie sich ganz dem Licht
anvertraute.

So ging ihr erster Tag im Blühen dahin, sie durchlebte ihn wie alle
Glücklichen, ohne Bedenken und Rückhalt, ohne den Gedanken an sein Ende,
in ihrer schönen Pracht. Als die Sonne, mit der ihr Angesicht gewandert
war, hinter den Baumkronen im Grünen niedersank, begann sie sich langsam
zu schließen, aber solange noch ein Strahlenabglanz des Lichts auf der
Erde widerschimmerte, wachte sie und ließ ihn zu sich ein. Als aber der
Abendwind von den Saaten zu ihr kam, fand er sie stumm und verschlossen
im Dunkeln, als habe ihre Seele sich nie geöffnet. Aber sie konnte auch
im Schlaf die Sonne nicht vergessen, die ihr ganzes Wesen durch und
durch erhellt hatte. Keine Finsternis kann mich mehr vom Licht trennen,
träumte sie, ich habe es mit meinem ganzen Wesen eingesogen, ich habe
das Glück der anderen und ihre Seligkeit erfahren an mir, nichts wird
meine Seele mehr vom ewig schönen Leben scheiden.



                            Neuntes Kapitel

                              Die Lerche


Eine Lerche verflog sich auf die Waldwiese, es war noch sehr früh, aber
Onna, die Bachstelze, war schon auf und sah die Lerche fallen.

»Wie ist es?« sagte sie zu ihr, »wollen Sie hier bleiben, ich meine,
wollen Sie immer hier bleiben, wollen Sie sich hier auf unserer Wiese
niederlassen, oder wie ist es?«

»Guten Morgen«, sagte die Lerche.

Onna erwiderte den Gruß und nickte auf ihre wirklich entzückende Art,
wie nur Bachstelzen es können. Ihre Bewegungen waren viel anmutiger als
ihre Worte. Dann meinte sie, um nichts freundlicher:

»Es ist hier wenig Aussicht zu gedeihlicher Ansiedelung, man findet wohl
was man braucht, aber nicht viel mehr. Im trockenen Schilf wohnt Josa,
die Ringelnatter, von der Eule in der Linde schweige ich, Sonne kommt
auch nicht eben viel her; also nun sagen Sie, was Sie wollen.«

»Ich will wieder fort«, sagte die Lerche. »Entschuldigen Sie, daß ich
gestört habe, aber ich war sehr hoch am Himmel, und das Licht der Sonne
hat meine Augen geblendet. Ich war so entzückt vom Glanz und der Kühle,
daß ich nicht mehr recht wußte, wo ich mich niederließ, es war wie ein
heller, seliger Taumel, wissen Sie.«

»Taumel ...?« wiederholte die Bachstelze und wippte, »und was reden Sie
da nur sonst noch, die Sonne ist ja noch gar nicht aufgegangen?«

»Doch,« sagte die Lerche, »hoch oben schien sie schon.«

»Aber Liebe! Wozu diese Übertreibung? Wir sind hier unten einfache und
ehrliche Leute und haben nicht viel für Fremde übrig, die aufschneiden.
Schauen Sie doch hinauf in den Wipfel unserer Linde, Sie werden sich
rasch davon überzeugt haben, daß die Sonne noch nicht aufgegangen ist.
Schön sind Sie übrigens auch nicht gerade.«

»Nein,« sagte die Lerche, »ich bin nicht schön.«

»Nun, wenigstens darin sind Sie ehrlich, aber das mit der Sonne hat mir
nicht gefallen. Ich habe einmal ein Falkenpaar belauscht, das in der
Linde Rast hielt, und da hörte ich, daß die Falken höher fliegen, als
die Kugel des Jägers reicht, ja, daß sie sich so hoch emporschwingen
können, daß sie, die doch große Vögel sind, wie kleine Punkte am Himmel
erscheinen.«

Die Lerche nickte. »O ja,« sagte sie nachdenklich, »die Falken fliegen
sehr hoch.«

»Ja, nun, und – –? Wollen Sie etwa sagen, daß Sie höher fliegen können
als die Falken?«

Die Lerche schwieg, aber die Bachstelze gab sich nicht zufrieden, denn
man mußte nach ihrer Meinung sehen, daß man überall Recht behielt, wo es
sich irgend einrichten ließ.

»Wie ist es denn mit dem Singen, meine Gute?« sagte sie, »haben Sie es
jemals zu einer rechten Melodie gebracht?«

Die Lerche schüttelte den Kopf. »Ich muß immer jubeln«, sagte sie.

»Jubeln? Nun ja ... Haben Sie mal unser Rotkehlchen singen hören?«

»Doch,« antwortete die Lerche, »es hat mich sehr glücklich gemacht.«

»Nicht wahr? Sehen Sie, so was finden Sie bei uns auf der Waldwiese. Und
nun wollen Sie sich also hier ansiedeln?«

»Nein, ich fliege in die Saat zurück, aber vielleicht erlauben Sie, daß
ich etwas Tau nehme?«

»Gut,« sagte Onna, »nehmen Sie also.« Und sie schaute zu, wie die Lerche
trank, und es bereitete ihr Freude, sich so gut und gastfreundlich gegen
einen fremden Vogel zu benehmen, der weder ehrlich zu sein schien, noch
schön war, noch etwas Rechtes im Singen zuwege brachte.

Als die Lerche sich anschickte, davonzufliegen, kam durch die Blumen der
Elf. Sein lichter Schein begleitete ihn; wo er dahinschritt, blinkte der
Tau der Gräser in der Morgenkühle auf, und die erwachenden Blumen
grüßten ihn mit feinem Läuten und frischem Duft.

»Ach,« rief die Lerche entzückt und voll höchsten Erstaunens, »haben
Sie hier einen Blumenelfen?«

»Das will ich meinen«, sagte die Bachstelze und trat etwas zurück, damit
die Fremde den Elfen besser sehen konnte.

Aber da gewahrte auch der Elf die Lerche im Gras, und plötzlich breitete
er seine Arme aus, und mit erhobenen Flügeln eilte er auf sie zu:

»O du! o du!« rief er, und sein Gesicht leuchtete vor Glück. »Ist es
denn wahr, eine Lerche ist zu uns gekommen? O sei gesegnet, du
Himmlische im Blauen, du liebliche Verkünderin der Morgenfreude, o du,
die Sorgen und alle Traurigkeit der Nacht aus der strahlenden Höhe her
verscheucht, wie glücklich bin ich, daß ich dich sehe.«

Und er legte seine schimmernden Arme um den Hals des Vogels und barg
sein goldhaariges Haupt an der Brust der Lerche. Dabei brach er in ein
so leidenschaftliches Schluchzen der Freude aus, als sei ihm das größte
Glück widerfahren, das nur immer einem Elfen auf der Erde begegnen kann.

»Ja, Herrgott,« sagte die Bachstelze leise und kraute sich betroffen im
Nacken, »das muß mir passieren, also gerade mir ...« Aber sie sollte
noch ganz andere Dinge erfahren.

»Ich liebe dich, du schöner Vogel«, sagte der Elf zur Lerche, und sein
Lächeln, das durch die Tränen brach, war voll heißen Danks. »Du bist es
gewesen, die mich getröstet hat, als ich im Morgenrot den Weg in meine
Heimat nicht fand, durch dein Lied ist der Glaube in mein Herz
zurückgekehrt, daß ich ihn einst wiederfinden würde. Ich sah den
Menschen, der sein Tagewerk auf dem Acker begann, wie er seine Augen
gläubig zu dir emporhob, dein Jubel segnete seine Arbeit und begleitete
sein Gebet in die Regionen der Herrlichkeit Gottes empor. So fällt dein
Gesang mit dem Tau durch die Frische zu uns Irdischen nieder, von deiner
Freude klingt die Morgenluft, die das Gemüt von den Schatten der Nacht
erlöst. Ich segne dich, du Verkündigerin des Lichts, ich danke dir aus
Herzensgrund.«

»Aber bitte,« sagte die Lerche, beschämt vom Glück des Elfen, »Sie sind
wirklich sehr freundlich zu mir. Ich tue ja nur, was ich muß, ich kann
nicht anders.«

»Ich weiß es,« antwortete der Elf, »aber mein Herz muß lieben, alles was
berufen ist, die Schönheit der Welt in ihrem Sinn zu offenbaren, ich
lobe den Schöpfer, wenn ich dich lobe, du kleiner Vogel.«

Jetzt war Onna, die Bachstelze, doch gerührt; sie trat ein wenig vor und
meinte:

»Man hätte das gar nicht gedacht, daß die Lerche so viel bedeutet,
wenigstens ich nicht. Wie sie da so saß, im Gras ... unerfahrene Leute
hätten sie für einen Spatzen gehalten. Aber, es ist ja wahr, sie jubelt
morgens.«

Der Elf lächelte auf so holdselige Art, wie nur er lächeln konnte, und
Onna sagte sich darauf innerlich: Mein Irrtum kann so schlimm nicht
gewesen sein, sonst würde der Elf nicht lächeln. Da sagte er zu ihr:

»Eine Lerche kann sich im Gras nicht bewähren, so wenig wie ein Falke im
Käfig, oder wie eine Blume im Schatten. Wenn du die Wesen der Schöpfung,
wie auch den Menschen, erkennen willst, so mußt du sie in ihrer Freiheit
aufsuchen. Die Lerche fliegt höher als alle anderen Vögel, nur die Adler
schwingen sich soweit empor wie sie, und nur im Fliegen vermag sie zu
singen. So ist sie uns von Gott zur frohen Botschaft der Hoffnung
gesetzt, die, früher als die Sonne, die Seligkeit am neuen Tag
verkündet.«

»Alle Achtung,« meinte Onna, »ich brächte das nicht fertig, aber ich
habe es nicht schlimm gemeint vorhin. Wer glaubt aber auch ohne
weiteres, daß ein so kleiner Vogel höher fliegen kann als die Falken?
Sie soll sich denn also ruhig hier ansiedeln, die Lerche.«

»Das tut sie nicht, sie wohnt im Korn«, meinte der Elf, und die Lerche
nickte und breitete ihre Flügel aus. Aber sie konnte sich noch nicht vom
Elfen trennen, immer mußte sie ihn ansehen, als würde alles in der Welt
reich und gut durch seine Nähe.

»Wenn du einst heimfliegst, will ich singen«, sagte sie endlich, und sie
nahmen voneinander Abschied; auch Onna wippte höflich und winkte der
Lerche nach, die mit einem hellen Triller der aufgegangenen Sonne
entgegenflog.

Da der Elf den Bach hinaufschritt, um Assap, den Frosch zu besuchen, der
schwer mit dem Leben zu kämpfen hatte, blieb Onna zurück, um
nachzudenken. So rasch wird man innerlich nicht mit einem Ereignis
fertig, das das Herz bewegt hat, man beschäftigt sich am besten noch
eine Weile damit, dann wird das Gemüt ruhiger.

Aber als die Bachstelze gefrühstückt und ihr Bad im Bach genommen hatte,
vergaß sie darüber nachzudenken, auch trug sie kein Verlangen mehr nach
anderen Dingen, als im Glanz der warmen Sonne am Wasser zu sitzen und
überall umher zuzuschauen, wie schön das Leben war.



                            Zehntes Kapitel

                             Assap und Jen


Da nun von Assap, dem Frosch, die Rede gewesen ist, den der Elf
besuchte, will ich seine und die Geschichte seines Bruders erzählen, es
ist immer gut, man weiß etwas Näheres über die Leute, mit denen man in
Berührung kommt.

Assap war durchaus nicht etwa auf der Waldwiese geboren, sondern viel
weiter abwärts im Bach, dicht vor seiner Einmündung in den Eulensee, der
ganz zwischen uralten Weiden lag und seinen Namen von den Eulen bekommen
hatte, die ringsumher in den hohlen Weidenstämmen hausten. So hatte er
und sein Bruder Jen schon in frühesten Tagen zur Nacht den Eulenruf
gehört, und da sich nach Meinung der Frösche nun einmal Unheil damit
verbindet, so hatte er nie so recht an eine aussichtsreiche Zukunft
geglaubt. Sie waren damals noch sehr jung, hatten gerade ihre Beinchen
bekommen, besaßen aber noch ihre Schwimmschwänze, mit denen die jungen
Frösche sich anfänglich im Wasser fortbewegen. Das war ein Zustand, der
ihnen nicht besonders behagte, sie wußten nicht recht, ob sie sich noch
zu den Kaulquappen rechnen mußten, oder ob sie schon zu den Fröschen
gehörten. Immerhin, der Morgen war strahlend schön, und sie hockten
vergnügt am Rand eines Huflattichblatts im sanft fließenden Wasser und
betrachteten den Morgenhimmel, der langsam blau wurde. Jen summte leise
seinen Frühgesang vor sich hin, leider dachte er sich nicht viel dabei,
was er eigentlich hätte tun müssen.

    Gott, der du im Himmel bist,
    über allem Leben,
    sorge, daß hier Wasser ist
    und auch Land daneben.

    Segne unsrer Schenkel Schwung,
    sende große Fliegen,
    nämlich ohne einen Sprung
    kann man sie nicht kriegen.

Assap nickte behaglich vor sich hin und dachte an die Zeit, in der der
Fliegenfang für sie beginnen sollte. O, es mußte eine große Zeit sein!
Da schrie plötzlich sein Bruder Jen entsetzt auf und starrte, halb
umgewandt, mit einem Ausdruck von großer Bestürzung ins Wasser.

»Mein Schwanz!« rief er, »er ist ab und schwimmt fort!«

Assap sah ins Wasser. In der Tat, es ließ sich nicht in Abrede stellen,
dort trieb der Schwanz seines Bruders in den Strudeln, drehte sich um
sich selbst und entfernte sich langsam immer weiter.

»Das geht auf keinen Fall«, rief Jen außer sich. »Ich muß ihn
wiederhaben, er gehört mir!« Und er machte Miene, sich ins Wasser zu
stürzen, um seinem Besitztum nachzuschwimmen; aber Assap, der überhaupt
der Besonnenere von den beiden war, hielt ihn zurück und sagte rasch:

»Denk an die Hechte im Eulensee! Wenn der Bach dich in den See treibt,
kannst du sehen, wie du das Ufer ungefressen wieder erreichst. Was
willst du denn mit deinem Schwanz tun, wenn du ihn zurückhast?«

Dem kleinen Jen kamen Tränen in die Augen, es war, als würde er sich
dessen für einen Augenblick bewußt, daß dort draußen im Bach seine
Kindheit schwamm, die nie mehr zurückkehren sollte. Aber er fühlte sich
doch recht getröstet, als sein Bruder mit einem bewundernden Blick
sagte:

»Du siehst aus wie ein richtiger Frosch.«

Der kleine Jen sah durch seine Tränen in die Flut nieder und versuchte
sich im Wasserspiegel an der Stelle zu erkennen, wo sein Schwanz nicht
mehr war. In der Tat, er sah ungemein erwachsen aus, abgerundet und
fertig.

»Herrlich«, sagte er, ganz still vor Entzücken. »Hättest du das
geglaubt, Assap?«

»Nun ja,« meinte der Bruder, deutlich ein wenig von Neid geplagt, »etwas
Ähnliches mußte wohl eines Tages geschehen, der alte Burr sagte etwas
derart, als er einmal von den Mondkonzerten zurückkam. Alle Kaulquappen
verlieren ihren Schwanz eines Tages, um Frösche zu werden.« Er sah vor
sich nieder und dachte nach.

Ach, es ist schade, daß ich hier nicht vom alten Burr erzählen kann, es
würde zu weit führen, aber er ist einer der erfahrensten Frösche des
ganzen Bachs, ja man kann sogar ruhig auch des Sees sagen; leider ist er
in seinen Gewohnheiten etwas heruntergekommen, aber ungemein witzig und
gescheit. Vielleicht, daß ich in einem anderen Buch sein Leben erzählen
kann, es ist außerordentlich abwechslungsreich, und er gehört zu den
ganz seltenen Fröschen, die einmal in der Gewalt des Storches gewesen
und wieder entronnen sind. Es kam, weil der Storch lachen mußte, man
weiß nicht worüber – jedenfalls glaubt Burr noch heute, daß jener es
nicht gewagt hätte, einen Mann von seiner Erfahrung als Nahrungsmittel
zu verwenden. Von ihm stammt auch das Volkslied, das noch viel im
Traulenbach und im Eulenteich von den Fröschen gesungen wird:

    Ach, wie mir das Herz zergeht
    unter großem Weh,
    wenn der Mond am Himmel steht
    und zugleich im See.

    Meine Seele ahnt es dann,
    tiefbewegt und still,
    daß der Frosch nicht fliegen kann,
    auch nicht, wenn er will.

Auch Assap und Jen kannten dieses Lied bereits, wenn sie auch bisher
noch keine Erlaubnis gehabt hatten, es öffentlich mitsingen zu dürfen.
Aber in diesem Augenblick dachten sie an alles andere eher, besonders
Assap wurde immer nachdenklicher, je mehr er sich mit seinem Bruder
verglich, der nun ein fertiger Frosch geworden war. Und so plötzlich!
Niemand hatte vorher irgend etwas Bestimmtes vermutet.

»Faß an, Jen, Bruder!« rief er plötzlich, »wir reißen ihn aus!«

»Wen denn?« fragte Jen etwas erschrocken.

»Meinen Schwanz, Bruder. Es ist unmöglich, daß er noch besonders fest
sitzt, wenn der deine sich ohne besondere Mühe, ja geradezu von selbst
entfernt hat, bedenke, wir sind am selben Tag geboren!«

Jen sah es ein. »Wir wollen es versuchen«, sagte er etwas unsicher.
Eigentlich wünschte er sich heimlich, es möchte nicht gelingen, denn er
wäre gar zu gern eine Weile allein schon ein fertiger Frosch gewesen und
hätte seinem Bruder davon erzählt, wie es ist, schon erwachsen zu sein.

Sie mußten einen Augenblick warten, denn es kam eine große Latte den
Bach heruntergeschwommen, auf der zwei kleine Waldschnecken saßen, grau
und klebrig, wie solche Tiere von Haus aus nun einmal sind, eine blaue
Fliege und ein Ohrwurm. Der Ohrwurm war sehr aufgeregt, er lief hin und
her und rief irgend etwas, indem er den Arm schwenkte. Die Frösche
verstanden nicht alles, es scholl etwa herüber zu ihnen von »verlassener
Heimat«, »Wanderfahrt« und »großem Strom«. Endlich hörten sie noch:
»Mein selbstgewolltes Erdenschicksal!«

So fuhr er auf dem großen Holzfloß dahin in der Sonne, und das
Uferschilf warf rasche Schatten, als ob man an einem Gitter
vorüberführe.

Assap schüttelte den Kopf und sah dem Fremden nach:

»Was will er denn?« meinte er, »er scheint ganz von Gott verlassen.«

»Vielleicht treibt das Holz eines Tages ans Ufer, er steigt aus und
gründet eine neue Heimat«, meinte Jen nachdenklich; »so was soll
vorkommen.«

Assap nickte. »Jetzt zieh, was du kannst«, sagte er gefaßt, und Jen tat
es mit brüderlicher Hingabe, bis der Schwanz glücklich riß und jeder von
ihnen nach einer anderen Seite ins Wasser stürzte. Assap tauchte als
erster und nun auch als fertiger Frosch aus den Fluten empor, und die
Brüder umarmten einander und beschlossen, ihr Leben lang in Treue
zusammenzuhalten. Es ist gewöhnlich so, daß man in einer glücklichen
Stunde des Erfolgs gern gute Vorsätze für die Zukunft faßt, und das ist
auch durchaus so am Platz.

Leider wurde den beiden jungen Fröschen keine Gelegenheit zur Ausführung
ihrer gemeinsamen Lebensfahrt gegeben, denn der kleine Jen geriet
unvermutet in die Gefangenschaft eines Knaben. Er tat alles, was ein
vernünftiger Frosch zu tun pflegt, wenn sich ein Storch, ein Mensch oder
sonst ein gefährliches Wesen dem Bach nähert: er sprang ins Wasser,
tauchte unter und wühlte nach Möglichkeit den Boden des Bachs auf, damit
er in der getrübten Flut nicht mehr gefunden werden konnte. Aber diesmal
nützte es ihm nichts, denn der Knabe hatte ein Netz bei sich, das an
einer Stange befestigt war und vermutlich in der Regel dem Fang von
Schmetterlingen diente. Jen wurde emporgezogen, und als das Wasser im
Netz sich verlaufen hatte, zappelte er zwischen einigen Schilfhalmen auf
dem Grund und war fassungslos, weil er in keiner Weise an die
Möglichkeit einer solchen Einrichtung gedacht hatte.

Der Knabe sah erwartungsvoll in das Netz, und Jen entsetzte sich über
die Maßen über die großen blauen Augen des Menschen, die unter gelben
Haaren, die im Sonnenschein funkelten, auf ihn niedersahen. Er hörte
eine fürchterlich laute Stimme dicht über sich und sah durch die Maschen
des Netzes einen zweiten Menschen über die Wiese kommen, der sich nun
auch über das Netz beugte, ebensolche Augen hatte, aber bei weitem
längeres Haar und eine feinere Stimme.

[Illustration]

Es wurde mancherlei über ihn gesprochen, die Laute kamen aus den roten
Mündern hervor, und man sah weiße Zähne dahinter blitzen. Jen dachte,
während er verzweifelt an der Wand des Netzes emporzukommen suchte, es
müßte doch hundertmal besser sein, in die Gewalt des Storches zu
geraten, als dem Menschen in die Hände zu fallen. Was er rief und bat,
wurde nicht verstanden, soviel ließ sich bald erkennen. Auch er verstand
die Laute nicht, in denen die beiden Menschen sich unterhielten.

»Ach Gott,« sagte der Knabe zu dem kleinen Mädchen, das mit ihm auf die
Sommerwiesen gelaufen war, »es ist wieder nur ein ganz gewöhnlicher
brauner, ich hätte so gern einmal einen echten grünen Laubfrosch
gefangen.«

»Ja,« antwortete das kleine, blonde Mädchen, »es ist nur ein brauner,
aber er ist hübsch klein und nicht so garstig wie die großen.«

Der Knabe schien zu überlegen. »Ich will ihn jedenfalls mitnehmen,«
entschloß er sich, fuhr mit der Hand in das Netz und ergriff Jen,
»vielleicht versteht er doch etwas vom Wetter, oder ich kann es ihm
beibringen.«

Er hatte Jens Bein erwischt, zog ihn daran empor und hielt ihn gegen den
Himmel. Das Mädchen öffnete eine ovale, grüne Büchse, die ihr Bruder,
über die Schulter gehängt, bei sich trug. Jen verschwand in der Öffnung
wie im Rachen eines grünen Ungeheuers und hörte noch einen
ohrenbetäubenden Knall, der wie ein Donnerschlag dröhnte, denn die
Büchse mußte rasch wieder zugeschlagen werden, weil noch eine ganze
Reihe andere Gefangene darin untergebracht worden war. Dann wurde es
dunkel.

Bald merkte er, daß er sich in einem Gefängnis befand, aber zu seinem
Entsetzen wurde er gleich darauf gewahr, daß er nicht allein war. Es
brummte, surrte und krabbelte rings um ihn her, in einem ganz
unbeschreiblichen Durcheinander von Beinen, Flügeln und feuchten und
trockenen Leibern. Dabei herrschte ein unerträglich scharfer Geruch von
allerhand Kräutern und Blumen, mit denen die Büchse fast bis an den Rand
gefüllt war. Das Entsetzen des kleinen Jen war um so nachhaltiger, als
beim besten Willen nicht das geringste deutlich zu erkennen war, und
wenn man schon einmal von Angst gequält wird, so wird sie durch die
Ungewißheit, die die Dunkelheit herbeiführt, meist noch um vieles
größer.

Er hörte Klagerufe und tiefes Seufzen und so inniges Bitten um
Befreiung, oder wenigstens um etwas Licht, daß ihm Tränen in die Augen
kamen, und er empfand, daß um ihn her ein großes Sterben war, wie auf
einem Schlachtfeld. Er kannte die Stimmen der Blumen und Pflanzen nicht,
aber so viel ließ sich ihrem Seufzen leicht entnehmen, daß sie in großem
Elend waren. Dabei stieß und schaukelte die Büchse erbarmungslos, und
man war beim besten Willen nicht in der Lage, eine bestimmte Stellung
einzunehmen, immer wieder befand man sich plötzlich anderswo.

Einmal kam Jen neben eine Blindschleiche zu liegen in der äußersten Ecke
des Gefängnisses. Der Knabe hatte die Büchse abgehängt und ins Gras
gelegt, so daß es einen Augenblick still geworden war.

»Mein Gott,« sagte die Schlange zu Jen, »ist Ihnen so etwas schon einmal
passiert?«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte Jen, »dies ist ja einfach unfaßlich. Wo
sind wir denn, und was soll das alles?«

»Der liebe Himmel weiß es«, seufzte die Schlange und wickelte sich auf.
»Aber ich werde schon sehen, daß ich entwische. Über eine solche
Behandlung läßt sich überhaupt nicht reden. Wenn man noch giftig wäre,
aber so ...«

Über ihnen flüsterte es aus den Blättern hervor.

»Ach, es war hell über den gelben Blumen.«

Es war ein Schmetterling, der mit gebrochenen Flügeln in die
Pflanzenstiele eingeklemmt war. Er lag im Sterben und sagte deshalb von
nun ab nichts mehr. Eine große Weinbergschnecke, der sehr übel geworden
war, weil sie das Schaukeln der Büchse nicht vertragen konnte, sagte
schluchzend: »Wenn ich nur mein Haus nicht bei mir hätte, ich würde
eine Geschwindigkeit an den Tag legen, die man so leicht nicht wieder
bei einem Tier fände.«

Nach einer Weile begann das unangenehme Rütteln von neuem, diesmal in
gleichmäßigen, derben Stößen, denn der Knabe hatte sich verspätet und
mußte nun laufen, um womöglich noch rechtzeitig zu Hause anzukommen.
Dort flog endlich das Gefängnis mit einem donnerartigen Krachen auf den
Tisch, und dann wurde es für lange still und blieb unheimlich dunkel,
und jedes der gefangenen Tiere versuchte sich darüber klar zu werden,
wieviel von seinem Leben noch übrig war.

Jen machte noch eine Reihe angenehmer Bekanntschaften, aber es hatte
viel gegen sich, einander im Finstern vorgestellt zu werden, es kamen
die peinlichsten Verwechslungen vor, und die Stimmung war allgemein
gedrückt. Der einzige, der die Laune nicht verlor, war ein Grashüpfer,
immer wieder glaubte er, sich durch einen Sprung aus seiner
Gefangenschaft retten zu können, aber jedesmal stieß er aufs neue an und
fiel zurück, und man hörte ununterbrochen in kleinen Abständen das
Ticken, das entstand, wenn er mit dem Kopf an die Wand stieß. Als er
einmal auf eine Eidechse fiel, erregte er Ärgernis bei diesem gutmütigen
Tier:

»Geben Sie endlich Ruhe«, sagte sie mürrisch.

»Ich kenne Sie überhaupt nicht«, sagte der Grashüpfer, »reden Sie nicht
mit mir, wenn Sie nicht vorgestellt sind.«

»Dann springen Sie mir auch nicht auf dem Rücken herum, ohne
vorgestellt zu sein«, gab die Eidechse ärgerlich zurück.

»Wenn Sie mich Ihren Buckel herunterrutschen lassen«, rief der
Grashüpfer, »so deuten Sie doch damit bereits an, daß Ihnen nichts an
meiner Bekanntschaft liegt. Übrigens, wenn Sie springen könnten, täten
Sie es auch. Jeder springt, wenn er kann.«

Die Eidechse seufzte. Es war besser, nicht auch noch Streit anzufangen,
sie meinte deshalb nachsichtig:

»Sie sollten sich die unglückliche Lage, in der wir uns alle befinden,
so weit zu Herzen nehmen, daß Sie wenigstens nur bescheidene Äußerungen
tun.«

»Was nützt mir Bescheidenheit, meine Liebe!« rief der Grashüpfer, »ich
verlasse mich lieber auf meine Beine, mit ihnen komme ich weiter. Passen
Sie auf, sobald die Büchse geöffnet wird, werden Sie sehen, wozu Beine
gut sind, wie ich sie habe.«

Jen hörte aufmerksam zu. »Wie interessant,« dachte er, »einmal vom
Charakter der Leute etwas zu erfahren, die man bisher nur gefressen hat.
Übrigens werde ich mir die Pläne des Grashüpfers zunutze machen und
springen, sobald das Gefängnis geöffnet wird.«

Dies geschah kurz darauf. Der Knabe hatte die ganze Familie um den Tisch
versammelt, auf den er seine Botanisiertrommel gelegt hatte, und war
willens, alle seine Lieben an der Freude teilnehmen zu lassen, die seine
Beute ihm bereitete.

Jen war durch den grellen Lichtschein geblendet, der plötzlich in die
Nacht des Kerkers drang, er sah anfänglich so gut wie nichts, nur einige
Menschenköpfe glaubte er zu unterscheiden, die dicht über den Ausgang
gebeugt waren. Er dachte an die Pläne des Grashüpfers und sprang
blindlings drauflos, so hoch und weit er konnte. Er landete auf einer
harten blanken Platte, und in seiner Verwirrung achtete er nicht darauf,
daß sich plötzlich die Hand des Knaben über ihn legte und ihn fest
umschloß.

Die Hand war warm, bebte ein wenig und drückte heftig, aber gleich
darauf öffnete sie sich wieder, und Jen fiel zu seiner unaussprechlichen
Freude in klares Wasser, auf dessen Grund es von allerlei Pflanzen grün
schimmerte. So rasch er konnte, tauchte er unter und verkroch sich, so
gut es ging, unter Schilfblättern, etwas erstaunt darüber, daß sich der
Boden nicht aufwirbeln und das Wasser nicht trüben ließ.

Er ahnte nicht, wo er sich befand, noch wußte er, daß er ohne seinen
Willen durch seinen voreiligen Sprung zum Erretter eines großen Teils
seiner Leidensgefährten geworden war, denn sowohl der Grashüpfer wie ein
Teil der übrigen Tiere hatten die allgemeine Aufregung benutzt, um sich
davonzumachen. Dies gelang ihnen in der Hauptsache deshalb, weil sich
die Erschließung ihres Kerkers gottlob auf der Hausveranda zugetragen
hatte, die unmittelbar in den Garten führte.

Die Zeit verging langsam, und es wurde dämmerig, der Abend sank nieder.
Der kleine Jen hatte bald herausgebracht, daß er sich nicht in der
Freiheit, sondern in einem engen, runden Käfig befand, dessen Wände
durchsichtig wie Wasser waren, aber so hart wie Stein. Er hatte seine
Bemühungen aufgegeben, dieser Gefangenschaft zu entrinnen, saß still und
traurig an der glatten Wand und sah in die Abenddämmerung, in den Garten
hinaus. Einmal war der Deckel seines Käfigs geöffnet worden, und jemand
hatte einen Grashüpfer zu ihm ins Wasser geworfen, der nun ruhig, alle
Beine weit vom Körper abgespreizt, auf der Oberfläche schwamm. Er war
tot. Jen glaubte in ihm seinen Gefährten aus dem ersten Gefängnis
wiederzuerkennen, aber er war dessen nicht sicher.

Glaubt man etwa, ich fräße den? dachte er. Hungrig genug war er, aber
kein gesitteter Frosch frißt einen toten Grashüpfer. Ein Grashüpfer, der
verschlungen werden soll, muß springlebendig sein, munter und jung. Man
muß ihn noch eine ganze Weile im Magen rumoren fühlen, ganz von dem
angenehmen Kribbeln zu schweigen, das er verursacht, wenn er den Hals
hinuntergleitet.

Jen war unbeschreiblich traurig. Was sollte werden? Draußen über dem
Garten ging der Mond auf und schien in den gläsernen Käfig. Der tote
Grashüpfer drehte sich langsam an der Oberfläche des Wassers, und sein
Schatten bewegte sich, schaurig anzusehen, grau und groß auf dem
Fensterbrett, auf dem der Glaskäfig stand. Dort sah Jen auch seinen
eigenen Schatten, rund und plump, wie einen feuchten Fleck zwischen den
silbrigen Streifen vom Wasser, vom Glas und vom Mondlicht. Alles war
fremdartig und unheimlich, und an Schlaf war unter diesen Umständen kaum
zu denken. Einmal kam, gegen Mitternacht, eine Maus auf dem Fensterbrett
daher, sie sah durch das Glas, schien aber niemand zu erkennen und
entfernte sich dann rasch wieder, weil sie unten, in der Dunkelheit,
gerufen wurde.

Kurze Zeit darauf mußte der kleine Jen doch aus Erschöpfung eingenickt
sein und lange geschlafen haben, denn als er erwachte, war es heller
Tag, und draußen funkelte der Sonnenschein im Grünen. Der Knabe, der ihn
gefangen hatte, kam nach einer Weile und schaute neugierig durch das
Glas, wobei er seine Nase so dicht an die Wand des Kerkers drückte, daß
sie an der Spitze glatt und rund wurde. Er öffnete den Deckel und nahm
Jen heraus, legte ihn auf ein weißes Tuch, das er über ihm
zusammenschlug, und dann rieb er ihn von allen Seiten, um ihn
abzutrocknen. Jen ging der Atem aus, er glaubte jeden Augenblick zu
ersticken. Hierauf wurde das Tuch wieder geöffnet, und der Knabe rührte
mit der einen Hand Farbe in einem kleinen Topf an, mit der anderen hielt
er Jen fest und begann dann ihn grün anzustreichen, denn er wollte einen
Laubfrosch aus ihm machen, der das Wetter ansagen sollte.

Jen kamen Tränen in die Augen, es war ihm unbegreiflich, weshalb dies
geschah, und zu seinem Schrecken sah er zuerst seinen schönen hellen
Bauch und dann auch den braunen Rücken und sein Gesicht über und über
grün werden. Man kann sich nichts Peinlicheres denken. Alle Anzeichen,
die Jen gab, um kundzutun, daß er dagegen war, wurden mißverstanden, der
Knabe pinselte eifrig weiter und lachte vor Vergnügen, als Jen bald
darauf als ein grüner Frosch auf dem Tisch umhersprang und überall
Flecken zurückließ, wo er gesessen hatte.

Jen selbst war so verwirrt, daß ihm kein vernünftiger Gedanke mehr kam.
Er wurde wieder in seinen Käfig gesetzt, der nur noch wenig Wasser
enthielt, oben auf die Spitze einer kleinen Holzleiter, dort sollte er
trocknen, auch gehörte es sich sowieso, daß er oben saß, denn das Wetter
war schön, und dann muß ein Laubfrosch oben sitzen und nicht unten im
Wasser. Jen galt nun als Laubfrosch und sollte die Verpflichtung
übernehmen, die man von solchem Tier erwartet.

Trauriger kann das Leben nicht mehr werden, dachte er und wünschte
sich, sterben zu dürfen. In diesem Aufzug konnte er sich ohnehin nicht
mehr bei seinen Verwandten sehen lassen, und was würde Assap sagen?

Als er sich nach einer Weile allein sah, stieg er gedankenvoll und
betrübt die Leiter nieder, um sich im Wasser etwas abzukühlen, denn die
Sonnenstrahlen fielen heiß in seinen Kerker, und die Farbe brannte auf
der Haut. Aber kaum war er untergetaucht, als er gewahr wurde, daß das
Wasser sich langsam grün zu färben begann, während sein Körper wieder
die alten Farben annahm. Jen glaubte, alles umher sei verzaubert, und
von Angst getrieben, kroch er rasch wieder die Leiter empor und sah
erstaunt auf das grüne Wasser nieder. Der alte Burr aus dem heimatlichen
Bach mußte doch im Recht gewesen sein, wenn er früher oft gesagt hatte:
»Hütet euch vor dem Menschen, er ist ein großer Zauberer.«

Das Schicksal des kleinen Jen geht nun unendlich traurig zu Ende, denn
er ist von den Menschen vergessen worden und hat vor Hunger sterben
müssen. Es kam daher, daß der Knabe, der ihn gefangen hatte, mit seinem
Schwesterchen in die Ferien reiste, und da gab es so vielerlei zu sehen
und zu erleben, daß beide nicht mehr an Jen dachten, der in seinem
Glaskäfig auf der Fensterbank der Veranda stand. Sie hatten nicht einmal
gewußt, wie er hieß.

Jen starb, nachdem er drei Tage und drei Nächte vergeblich auf Hilfe
gewartet hatte. Es war eine sehr schwere Zeit für Assaps kleinen Bruder,
und es ist nur gut, daß man im Traulenbach nichts von seinem Geschick
erfahren hat. Nun ist ein Jahr darüber vergangen. In seinen letzten
Lebensstunden mußte Jen oft an das klare Wasser des Bachs seiner Heimat
denken und an die wilden Rosen, die über der Flut hingen. Mit solchen
Gedanken schlief er eines Abends vor Schwäche ein und erwachte nicht
mehr. Es war am vierzehnten August.



                            Elftes Kapitel

                       Ukus Nacht mit dem Elfen


In der Nacht, die den letzten Ereignissen auf der Waldwiese folgte, fand
der Blumenelf auf seinem Mooslager keinen Schlaf; er sah hinaus in den
Mondschein, der dicht vor dem Ausgang seiner kleinen Höhle glitzerte,
und ihn verlangte danach, in die Freiheit hinauszukommen und in das Land
zu schauen. So flog er empor bis auf einen Ast der Linde, und sein
Leuchten begleitete ihn.

Die Welt war verklärt vom Licht des Mondes, der voll und rund hoch am
Himmel über dem schlafenden Erdreich stand, inmitten unzähliger Sterne.
Da der dürre Ast des Baumes vorragte, saß der Elf in der kühlen, hellen
Luft zwischen Himmel und Erde, allein, wie er war, unter den vielen
schlafenden Geschöpfen, unter denen er verweilen mußte, bis eine große
Liebe ihn zu seiner himmlischen Freiheit erlöste.

Sein Goldhaar blinkte im Mond, wie einst, als er die Lilie verließ, um
das Glück eines irdischen Wesens zu werden. Er dachte an die kleine
Biene Maja, mit der er zu den Menschen geflogen war, und die nun in
hohem Ansehen bei den Ihren daheim in der Bienenstadt des Schloßparks
weilte. Und die himmlische Ungeduld, der irdische Teil aller Wesen, die
das Gute von ganzem Herzen wollen, strahlte aus seinen Augen in ihrer
Traurigkeit.

Gibt es auf der Erde diese große Liebe, die mich erlösen soll? dachte
er. Ich will nicht in Bangen leben, die Nacht ist wundervoll. Mir wird
geschehen, wie es im ewigen Rat bestimmt ist.

Er erschrak ein wenig, als ihn plötzlich jemand sanft, aber recht
vernehmbar, von der Seite anstieß. Es war Uku, die Nachteule, die groß
und dunkel dicht neben ihm auf dem Lindenast saß und ihn mit ihrem
Flügel angestoßen hatte.

»Gute Mondfahrt«, sagte sie bedächtig, aber herzlich, auf ihre Art, und
der Elf grüßte sie auf seine.

»Du schläfst nicht?« fragte Uku, »dir ist wohl in der Kühle und im
sanften Licht; ist es nicht so? Ich werde die Leute nie recht begreifen
lernen, die das grelle Sonnenlicht diesem milden Himmelssegen
vorziehen.«

»Lebst du hier immer in der Linde?« fragte der Elf, der Uku
wiedererkannte.

Uku nickte. Ihr großes Gesicht mit den schwarzen runden Augen sah
merkwürdig genug aus, der kleine gebogene Schnabel hockte darin wie eine
Nase, und sie hatte eine seltsam melancholische Art, ihre Augenlider
ganz langsam zu öffnen und zu schließen. Man unterschied in ihrem
weichen Gefieder kaum eine Färbung, es schimmerte grau und leblos, wie
die Schatten der Blätter am Stamm. Wäre die vertrauensvolle Art des
Elfen nicht frei von Furcht gewesen, so hätte ihn sicher ein heimliches
Grauen vor seiner lautlosen Nachbarin befallen.

Uku schwieg lange und sah über die Felder auf das beschienene Land. Es
lag ein feiner Nebelschleier über dem Korn, und von weit, weit her hörte
man das Bellen eines Hundes.

»Ein stilles Land«, sagte sie endlich und seufzte aus tiefster Brust
auf.

Der Elf wandte sich ihr zu und sah sie an.

»Quält dich etwas?« fragte er.

»Ich kenne dich schon lange,« entgegnete die Eule, ohne gleich auf seine
Frage zu antworten, »ich habe dich unter Pflanzen und Tieren gesehen,
mit Faltern, Rehen und dem kleinsten Gewürm, und habe mir viele Gedanken
über dich gemacht. Ich bin ein alter Vogel, und du, der so vielerlei
weiß, wirst auch wissen, daß ich es ernst nehme mit meinen Gedanken.
Manche fragen mich um Rat, und ich gelte als weise. Ich kann, was ich
sehe und erfahre, in meine Betrachtung der Welt einreihen, ich verstehe
es auf meine Weise, aber dich verstehe ich nicht. Es ist meine Art
nicht, viel zu sprechen, und auch du sprichst wenig. Dich liebt man,
obgleich du schweigst, und ich schweige, obgleich ich weiß, daß ich
deshalb nicht eben geliebt werde. Wenn ich es recht betrachte, so bin
ich den Tieren des Waldes, den Geschöpfen des Tages verhaßt, du aber
bist geliebt, wohin du kommst, und tust nichts, um es zu erreichen.
Willst du nicht mit mir sprechen? Ich möchte verstehen lernen, was dich
so lieblich macht, du mußt aus einer hellen Welt unvergänglicher Freude
stammen.«

[Illustration]

Uku schwieg und sah nun mit weitgeöffneten Augen in die Weite. Es war
so totenstill im Baum und umher im Umkreis, als seien die Zweige und
Blätter nicht aus zartem, beweglichem Lebensstoff, sondern erstarrt.
Nicht die Spitze eines Blättleins rührte sich. Und über der leblosen
dunklen Welt mit ihren schlafenden Geschöpfen lag das weiße, tote
Himmelslicht und die feuchte Kühle der Sommernacht.

Der Elf hatte den Kopf geneigt. Nun warf er in holder Ruhlosigkeit sein
schimmerndes Haar zurück und sah groß und gerade hinauf in den Mond.

»Uku, wie redest du denn?« sagte er leise. »Wäre ich ein Wesen wie ihr,
so würde ich leiden und mich freuen wie ihr, aber ich bin nur ein
verflogener Elf. Hast du nie von den Elfen gehört, daß du nicht weißt,
woher sie stammen und wohin sie gehen?«

»Du liebst und leidest doch wie wir,« sagte Uku, »wenn du auch sagst,
daß du es nicht tust. Ist nicht schon vieles in deinem Herzen anders
geworden?«

Der Elf sah erstaunt auf, wandte sich der Eule zu, und seine Augen
leuchteten, als habe er ein Wort des Danks auf den Lippen, aber er sagte
es nicht, sondern barg plötzlich sein helles Angesicht in den Händen und
schluchzte.

»Siehst du«, sagte die Eule, aber es klang unbeschreiblich liebevoll.
Sie war in der Tat ein weiser und erfahrener Vogel. Und sie schwieg,
denn sie wußte, daß Schweigen oft mehr Linderung bringt als die besten
Worte.

Nach einer Weile hob der Elf sein Haupt ruhig empor, man sah keine
Spuren von Tränen mehr in seinen Augen, und der Klang seiner feinen
Stimme war so klar, als würde eine hohe Saite mit einem silbernen Hammer
angeschlagen. Doch hatte diese Stimme nichts Fremdes oder Besonderes,
sie war den vertrauten Lauten der Natur verwandt, dem Lied des Windes,
dem Gesang der Vögel oder dem Fall des Wassers. Uku war ganz betört von
dieser Stimme, und ihr schien, als träumte sie, als der Elf sagte:

»Wenn ich eure Freude und euer Leid teilen muß, so liegt es daran, daß
ich mich verflogen habe. Meine Bestimmung war, ein irdisches Wesen zu
seinem höchsten Glück zu führen und in die Helligkeit meiner Heimat
zurückzukehren, nicht aber unter euch zu verweilen. Nun ich aber an die
Erde gebunden bin, verwandelt ihr Wesen das meine langsam. So ist meine
Seele nun geteilt, Uku; sie war berufen, eure Freude und eure Betrübnis
zu verstehen, euer Verlangen und eure Schuld, sowie auch eure Schönheit
und eure Armut. Nur für euch erwachte sie für kurze Zeit. Die Aufgabe
meiner Seele war, alles zum Besten zu kehren, nach ihrer Kraft, und sie
selber bedurfte der Erlösung nicht, denn sie selber war damals noch
nicht an Vergängliches gebunden. So zog ich im silbernen Nachtfrieden
durch das Tal der Welt, selig, da ich beseligen durfte, wunschlos und
unaussprechlich frei. Aber nun ich durch meine Schuld an Vergängliches
gebunden bin, Uku, bedarf auch ich der Erlösung, denn ich habe die
irdische Sonne gesehen in ihrer Herrlichkeit, und wenn ein Elf sie
gesehen hat, so ist er an ihr irdisches Reich gebunden.

Verstehst du nun, warum mein Herz zerteilt sein muß? Bei meinem Wunsch,
nichts zu tun, als andere zu beseligen, empfinde ich nun auch das
Verlangen nach eigener Seligkeit, ich wollte Leiden lindern und sehe
mich nun in eigenes Leid verstrickt, ich wollte durch Freude Erlösung
bringen, und nun harre ich selbst der Erlösung vom irdischen Bann.
Daraus entsteht meine Traurigkeit.«

Uku hatte sich in die Dunkelheit abgewandt und schwieg. Es bewegte ihr
Herz, was der Elf sagte. Nach einer Weile fragte sie:

»So bist du nicht mehr glücklich, Elf?«

»Doch,« antwortete der Elf, »ich bin es.«

»Was macht dich glücklich?«

»Daß ich lieben kann und Hoffnung im Herzen trage. Alles hat sich
verändert, seit ich die irdische Sonne an jenem Morgen gesehen habe.«

»Ja, ja,« meinte Uku, »es ist eine ganz neue Liebe in dir entstanden.«

»Sie kann nicht beginnen oder aufhören«, sagte der Elf zuversichtlich.
»Sie schlief in mir.«

Wieder war es eine Weile still in der feierlichen Nacht zwischen diesen
beiden Geschöpfen, der großen dunklen Eule, die wie eine unförmige Figur
auf dem Ast hockte, und dem Elfen, der licht und zart wie ein kleiner
Engel neben ihr saß.

Bald darauf sagte Uku bedächtig und schloß für einen Augenblick ihre
großen runden Augen, die, gerade wie beim Menschen, beide vorne
nebeneinander unter der Stirn saßen:

»Auf unser Volk ist im Lauf der Jahrhunderte viel Wissen überkommen und
hat sich getreulich vererbt, und so habe ich wohl immer erfahren, Elf,
daß diejenigen Wesen, die Liebe im Herzen tragen, auch am
zuversichtlichsten auf eine Erlösung hoffen, aber glaube es mir, Uku,
der alten Eule: Nur wer wahrhaft weise ist, kann glücklich sein!«

»Nein,« sagte der Elf mit seiner kindlichen Stimme, »es ist umgekehrt,
nur wer wahrhaft glücklich ist, kann weise sein.«

Uku war wirklich außerordentlich erstaunt über diese Antwort des Elfen
und mußte sich sehr lange besinnen, bis sie eine Entgegnung darauf
machen konnte.

»Daran muß ich nun Nacht für Nacht denken,« sagte sie endlich langsam,
»ich bin eine alte Eule geworden und kann meine Ansichten nicht mehr
ändern, aber soviel sehe ich aus allem, was du sagst und tust, du bist
ein himmlisches Kind. Die Frage, die zwischen uns aufgekommen ist, ist
so alt wie die Welt, um sie hat sich viel Streit der Gedanken auf Erden
erhoben, und manche Stirn voll Hoheit und Kraft ist darüber ermüdet in
die Nacht zurückgesunken. Denn die Wunden, welche die Gedanken schlagen,
sind brennender und bitterer als die Verwundungen jedes anderen
irdischen Kampfes. Aber davon sollst du nichts wissen, du Gesegneter in
deiner Einfalt. Was unser letztes Ziel ist, ist dir von Anfang
zugefallen. Dir und deinesgleichen, euch ist von den Heiligen der Welt
das Reich versprochen.«

Der Elf saß ruhig mit gefalteten Händen da und schaute ins Land, er
wehrte der Eule nicht, noch gab er ihr recht, man hätte wirklich nicht
mit Sicherheit sagen können, ob er ihr zugehört hatte. Er erhob
plötzlich seine helle Stimme und sang in die Nacht hinaus:

        Meine Heimat ist das Licht,
        heller Himmel meine Freude!
        Tod und Leben wechseln beide,
        aber meine Seele nicht.

        Trauer du, mein irdisch Los,
        über deinen bittren Gaben
        will ich meine Seele groß,
        will sie stark und glänzend haben.

Ein Wind erhob sich mit leisem Erbrausen der Blätter und mit feuchter
Wiesenkühle und trug das Lied über das schlafende Land dem Morgen
entgegen. Die Eule aber warf sich plötzlich in ihre weichen, lautlosen
Flügel, totenstill, wie ein Schatten, flog sie davon, über die
Kornfelder, dem sinkenden Mond entgegen, der sich rötlich färbte. Eine
seltsame Traurigkeit begleitete sie und doch zugleich eine tiefe
Beseligung. Sie sah das Land, das sie überflog, die Äcker, die Wälder
und Wiesen mit ihren Weiden und die Häuser der Menschen, die dunkel und
lichtlos zwischen Bäumen lagen, in der verschleierten Ebene. Alles
erschien feierlich und zu Großem bestimmt, wie auch uns Menschen
bisweilen die Dinge erscheinen können, wenn Musik erklingt.



                           Zwölftes Kapitel

                                Traule


Ein warmer Frühlingsabend zog über die Waldwiese und ihre Leute, es war
einer von jenen unbeschreiblich klaren Abenden, die die Herzen aller
Wesen in einen Frieden versenken, wie niemand ihn nennen kann. Die Sonne
ging langsam hinter einer schmalen Wolkenbank unter und umzog ihre
Ränder mit einem strahlenden Feuerband, als flösse glühendes Gold in
unversiegbaren Strömen um sie her, und in weiter Ferne funkelte ein
leuchtendes Wolkengebirge, schneeweiß und blutigrot. Es ging eine solche
Klarheit und Ruhe von diesem gewaltigen Bild am Himmel aus, daß niemand
an nahe oder kleine Dinge zu denken vermochte, alle Gedanken wurden weit
emporgehoben in diese Freiheit der Himmelsform, so daß sie über die
ganze Erde Ruhe und Glück verbreitete.

Ein Abglanz dieser Schönheit sank auch bis tief hinab in die
heimlichsten Gründe der Waldwiese, er rieselte durch das Laub der alten
Linde nieder, als würde das Abendgold von ihren höchsten Wipfeln vom
Windhauch niedergeschüttet. Die Blumen konnten nicht schlafen vor Glück,
immer noch kamen Käfer und Schmetterlinge zu ihnen, ruhlos vor
Seligkeit, doch leise und beinahe geheimnisvoll, weil sie nicht stören
wollten in dieser Andacht, in der mit dem kühlen Wind die Träume
herangaukelten, um in die Seelen der lebendigen Wesen einzuziehen.

Da breitete sich ein kaum vernehmbares Rauschen über die Wiese und ihre
Bewohner aus, es kam von der Linde, durch die der Abendwind zog, und nun
wußten alle, daß der alte Baum, noch vor der Ruhe der Nacht, seinen
Schützlingen eine seiner Geschichten von den Menschen erzählen wollte,
und die leise Bewegung aus den Zweigen der Linde teilte sich den Gräsern
und Blumen und allen Tieren mit in einer fröhlichen Erwartung. Was
konnte es Schöneres geben, als am Frühlingsabend seine Augen zu
schließen und einer so liebevollen Stimme zu lauschen, die noch nicht
schlafen wollte und doch die kühle Ruhe der Nacht nicht störte, die
verstand, daß das Glück eines genossenen Tages sowohl den Schlaf
fernhalten kann, wie auch ein großer Schmerz es vermag. Aber beide,
Freude und Schmerz, haben in der Klarheit eines scheidenden Tages ein
milderes Wesen, als ahnten sie, daß, wie nun Licht und Finsternis in der
Natur, so auch Freude und Schmerz in den Herzen der irdischen Geschöpfe
wechseln müssen.

Aber als eben die Linde beginnen wollte, erhob sich im Busch über dem
Bach noch einmal die Stimme des Rotkehlchens. Es erklang im goldenen
Licht ein so lieblicher Jubel, daß man für einen Augenblick seine Augen
schließen mußte, als gelte es, die Lichtquellen zu bewahren, die im
Gemüt bei diesen Tönen aufbrachen. In der Dämmerung, unter den
geschlossenen Lidern, war es, als hätten das Windesrauschen, der Klang
des Bachs und das Lied des Vogels sich zu einer einzigen Harmonie
vereint, die das Glück aller Wesen wie einen frohen Dank dem himmlischen
Vater emportrug.

Als das Rotkehlchen sein Lied beendet hatte, flog es empor in die Krone
der Linde, die es in ihrem goldgrünen Glänzen empfing, und lauschte nun
dem Rauschen des mächtigen Baumes, wie alle anderen Geschöpfe es taten.
Nun werde ich erzählen, was sie vernommen haben.

»Heute sollt ihr erfahren,« begann die Linde ihre Geschichte, »woher der
Traulenbach, an dem wir alle wohnen, seinen Namen erhalten hat. Es sind
nun wohl nach der Zeitrechnung der Menschen etwa dreihundert Jahre her,
da trug sie sich zu. In diesem Zeitraum sind ungezählte Menschen geboren
worden und gestorben, aber wenn sie sich auch oft recht verschiedenartig
gebärdeten, anders sprachen oder dachten und ihre Gewohnheiten änderten,
so sind sie doch immer dieselben geblieben, und dies ist wahr für die
ganze Zeit meines langen Lebens. Im tiefsten Grund bewegen ihr Gemüt
doch nur zwei große Fragen, um sie dreht sich ihr irdisches Geschick,
wie auch das unsere, es sind die Fragen danach, was das Herz froh macht,
oder was es betrübt. Alle anderen Fragen verlieren bald an Wert, alles
andere vergeht rasch auf der Erde.

Und so sind sich durch alle Zeiten auch zwei Dinge an den Menschen
immer gleich geblieben, das sind die Zeichen für die Freude und für den
Schmerz, ihr Lachen und ihr Weinen. Nicht viele von euch sind alt genug
geworden, und längst nicht alle werden alt genug werden, um jemals eines
von den beiden zu erleben, aber glaubt mir, es gibt nichts, was tiefer
erschüttert und inbrünstiger bewegt, als das Lachen oder das Weinen der
Menschen. Beide müssen so unvermittelt aus den Gründen ihres Herzens
brechen, wie das Licht aus den Feuerschlünden der Sonne, oder wie ein
Quell aus den Tiefen eines Felsens. Niemals, solange ich Menschen
gesehen habe, sind ihr Weinen oder ihr Lachen anders geworden, und so
kann auch ihr Herz sich nicht verändert haben. Immer noch bricht es
ihnen aus den Augen, wenn sie Schmerzen erleiden, in den gleichen klaren
Tropfen wie am Anfang, sie sind nicht kleiner und nicht größer geworden,
sie rinnen über ihre Wangen zur Erde nieder, wie helles Blut, eine nach
der andern, unbeschreiblich geheimnisvoll, als ob der Glanz der Augen
und das Licht darin nicht mehr zum Himmel emporstrebten, sondern zur
dunklen geduldigen Erde heimverlangten. Wer einen Menschen weinen sieht,
wird andächtig, alle guten Seiten seines Wesens regen sich und trachten
danach, etwas zu tun, damit die Tränen des anderen aufhören zu rinnen.

Aber glaubt nicht, daß das Lachen der Menschen von geringerer Macht
sei. Ein heiteres Lachen, das aus tiefster Brust emporquillt, ist dem
Sonnenschein über grünendem Land oder einem Springquell zu vergleichen,
der aufleuchtend und wie berauscht von seiner Frische, ins strahlende
Himmelsblau emporbraust, um beseligt von der reinen Höhe, die seine
Kraft erreicht hat, wieder niederzubrechen. Glockenklingen, hell wie ein
Meer von Blüten, und das farbige Blitzen der zerbrechenden
Sonnenstrahlen läuten und funkeln darin, aber zu tiefst im Lachen der
Menschen erschallt es fein und verborgen von einem heimatlichen
Bewußtsein des Glücks, als wären sie in solchen Augenblicken am Herzen
der Erde geborgen.

Sagte ich euch nicht schon, weil beides sich in aller irdischen Zeit
nicht verändert hat, daß auch das menschliche Herz im Grunde keinem
Wandel unterstellt sein kann? So treffen alle wahren Geschichten über
die Schicksale der längst dahingesunkenen Menschen auch auf die heutigen
noch zu und um so eher, je schöner sie sind. Denn alles Schöne ist so
eng mit dem Wahren verbunden, wie das Unwahre mit dem Häßlichen, daran
kann niemand etwas ändern, denn es ist so in Gottes Rat bestimmt.

Traule war die Tochter eines Jägers, der sein Haus nicht weit von
unserer Wiese entfernt stehen hatte, dort wo jetzt das Erlendickicht und
die alten Fichten wachsen. Ihr könnt nicht bis dort hinüberschauen, die
ihr Blumen oder Sträucher seid, aber ihr wißt durch die Bienen und
Schmetterlinge von dem Ort, oder durch die Vögel. Das Haus ist längst
verfallen, und seine Mauerreste sind überwachsen, der Ort ist euch und
euren Völkern zurückgegeben, ich glaube auch nicht, daß es noch Menschen
im Lande gibt, die von dem Hause wissen. Die Tannen hat der Jäger um die
Zeit gepflanzt, in welcher Traule geboren wurde; auch sie kennen die
Geschichte des Mädchens, aber nicht so gut wie ich, denn wenn Traule
besonders froh oder traurig war, kam sie auf einem Waldpfad, den nur sie
kannte, zu mir, um auf dem Moos unter meinen Zweigen am Bach zu weilen.
Wir kannten uns gut und liebten uns sehr. Einmal, in der Zeit, nachdem
ihre Mutter gestorben war, kam sie zu mir, legte ihre Arme um meinen
Stamm und sagte zu mir: ›Bei dir ist mir ums Herz, wie mir bei meiner
Mutter war, du nimmst mich an, wie ich bin, du spendest deine Wohltaten,
ohne nach meinem Wert zu fragen, und die Ruhe, die dein Wesen atmet,
ist, ohne meine Bitte, immer vorhanden.‹

Die Menschen fühlen, daß wir geduldiger als sie sind, und darum tröstet
unser Wesen sie, das nicht, wie das ihre, leicht in Hoffnung oder Angst
in die Irre geht. Traule war wunderschön zu schauen, wie überhaupt die
Menschen das Schönste und Erhabenste sind, was die Natur hervorgebracht
hat. Ihr Gang ist aufrecht, und ihre Stirn taucht in das himmlische
Licht empor, das ihre tiefen Augen widerstrahlen können, als lebte der
Glanz der Höhen in ihrer Brust. Ihnen ist Macht über alle Wesen der Erde
gegeben, ihr Bild ist in Gestalt und Anmut dem Schöpfer alles Lebendigen
ähnlich, und ihre Seele ist unsterblich wie das Licht der Welt. Nichts
gibt es, was den Menschen gleichkommt! In den Zügen ihrer Angesichter
spiegeln die Lust und der Gram alles Irdischen wider, wie meine Blätter
es im Wasser tun, so beweglich und geheimnisvoll, ihnen ist der Hort der
unvergänglichen Liebe anvertraut, und Gottes Sohn ist um ihretwillen
gestorben. Wohl haben viele Menschen vergessen, wieviel sie wert sind,
aber Gott vergißt es nicht.

Kurze Zeit, nachdem Traules Mutter gestorben war, kam eines Tages zu
Pferd der junge Herr vom Schloß durch den Wald geritten in einem
Reiterkleid aus Samt, einer weißen Feder auf dem breitkrempigen Hut und
einem Degen an der Seite. Es war ein herrlicher Anblick, ihn so auf
seinem weißen Pferd durch den Frühlingswald reiten zu sehen, im Grünen,
unter dem Jubel der Vögel dahin, unter dem schimmernden Himmelsblau.
Traule hatte am Bach in meinem Schatten geschlafen, nachdem sie zuvor im
klaren Wasser gebadet hatte, und sie erwachte vom Klirren der Zügel, die
mit Silber verziert waren, und vom Schnauben des Pferdes.

Aber nicht weniger erstaunt als sie war der Grafensohn, denn er sah
Traule vor sich im Moos, das Angesicht mit dem goldenen Haar in heißem
Schreck erhoben und eine Flut von Morgenlicht und Vogeltrillern um die
Schläfen. Es strahlte ihm aus den blauen Augen des Mädchens entgegen,
als hätten aller Frohsinn des Frühlings und alle Schwermut der
Waldeinsamkeit sich darin in einem blauen Glühen vereint. Sein Entzücken
über Traules Anblick war so groß, daß er die Hände emporhob, als wollte
er ihr aus seinen Armen den Jubel seines Herzens darreichen.

Beide waren eine Weile still, und man hörte das Wasser des Bachs, so
leise es floß, und die Blumen neigten sich an ihren Stielen im Wind, als
ahnten sie, daß ein Menschengeschick auf den Lichtwegen der entzückten
Augen seinen Einzug in die warme Brust, tief in die Kammern des Herzens
hielt.

Und so ist es gewesen. Ich habe niemals etwas Lieblicheres gesehen, nie
etwas Schöneres als Traules Freundschaft mit dem jungen Herrn, der
vornehm und mächtig war, und dem alles Land umher einmal gehören sollte.
Er kam nun täglich zu Pferd durch den Wald, bald im Morgenwind, bald im
Dämmerlicht der blauen Abendstunden, mit Lachen und Rosen und so viel
Zärtlichkeit, wie selbst der Sonnenschein oder die Mailuft sie nicht
gewähren. Glaubt mir, ihr alle, das ist das lieblichste Wunder der Welt,
wenn ein von Glück überwältigtes Menschenkind, von seiner Liebe glühend,
nicht weiß, wie es seine Seligkeit bergen oder zeigen soll. In solchen
Stunden sehen die Augen der Menschen den Himmel geöffnet bis an den
Thron der Herrlichkeit. Wer nur eine solche Stunde in seinem Dasein
durchlebt hat, den kann keine Gewalt im Himmel und auf Erden mehr von
seiner zukünftigen Heimat trennen.

[Illustration]

Der Jüngling lag in Traules Arm und lachte oder schlief, oder sie sahen
miteinander dem Spiel des Lichts auf dem dahinziehenden Wasser zu, oder
der Wanderschaft der Wolken im Blau. Das Mädchen flocht Kränze aus
Anemonen und legte sie bald um sein Haar, bald um das ihre; aber der
Ausdruck ihres Gesichts war am geheimnisvollsten, wenn sie die Züge des
Mannes, den sie liebte, betrachtete, wenn er schlief. Dann habe ich
wahrgenommen, daß das Übermaß der Freude den Angesichtern der Menschen
einen Zug von Schmerz aufprägen kann, als bestände ihr ganzes Wesen aus
Heimweh.

Die Schwermut und der Frohsinn wechselten einander ab in den freien
Stunden der beiden jungen Menschen im Wald. Sie hielten einander oft
umschlungen wie Kinder und spiegelten sich lachend im Bach, und ihre mit
Blumen geschmückten Stirnen blinkten aus dem Wasser zurück. Aber ihr
Glück verwandelte sich oft jählings, und ohne daß ein Anlaß erkenntlich
war, in Schwermut. Dann lag Traules Kopf weit zurückgelehnt an der
Schulter ihres Freundes, sie faltete die Hände in ihrem Schoß, und die
Augen suchten eindringlich und heiß in der Ferne. Es war seltsam genug,
ihre Blicke blieben im strahlenden Grün der Waldbüsche hängen, ganz nah,
und doch tauchten sie in unabsehbarer Ferne unter. Diese Ferne muß in
den Augen der Menschen beschlossen liegen. Menschliche Augen sind ein
Wunder der Schöpfung, in einem kleinen, kleinen Kreis leuchtet die Weite
der Welt.

Wir alle, die wir Pflanzen sind, ihr Blumen in meinem Schatten, Kräuter
und Gras, wir wissen es, und es ist das Gesetz und der Glaube unseres
Lebens, daß die Geduld unsere teuerste Pflicht ist. Ihr danken wir
Gedeihen und Erblühen, Wachstum und Samen. Wir können den Ort unserer
Entstehung unser Leben lang nicht wechseln, uns kommt aller Segen aus
unserer Geduld, in welcher wir Sonnenschein und Regen erwarten und auf
uns niedersinken lassen, in der wir dem feuchten Erdboden vertrauen und
dem unsichtbaren Wind. Auch den Menschen gilt Geduld als Tugend. Aber es
gibt etwas in der Welt, das höher als Geduld ist, das ist die himmlische
Ungeduld. Uns ist sie fremd, wir ahnen sie in unseren Träumen, aber sie
erhebt oder quält uns nicht, wie sie es den Menschen tut. Mit allem
Großen, was ihnen widerfährt, kommt diese himmlische Ungeduld über sie,
am stärksten mit der Liebe. Alles Große, was in der Welt an Taten
vollbracht worden ist, hat seinen Ursprung in jener himmlischen
Ungeduld. Der Tag wird kommen, an dem ich euch von ihr noch viel
erzählen werde. In solchen Augenblicken, wie ich sie euch von Traules
Schwermut genannt habe, brach auch aus ihren Augen die himmlische
Ungeduld hervor, und sie weinte mit unbewegtem Gesicht vor sich hin, und
ihr Freund verstand ihre Tränen und wehrte ihnen nicht.

›Höre, Traule,‹ sagte er liebreich zu ihr und sah das Mädchen nicht an,
sondern hinaus in die schimmernde Waldweite, ›die Freude und der Schmerz
entspringen in unserer Brust der gleichen Quelle, und wenn die Gründe
der Tiefen erschlossen worden sind, so strömen die Bäche des Leids wie
die der Freude ohne unseren Willen oft gleicherweise hervor. Aber wie
tausendmal schöner ist es so, als wenn das Leben an den Türen des
Herzens vorübergeht, ohne sie erschlossen zu haben. Ach, Traule, ich
liebe mein Leben sehr, seit ich dich liebhabe, ich habe alles Vergangene
vergessen, und mit dir ist jede Zukunft leicht zu ertragen.‹

›Ich bleibe immer bei dir,‹ antwortete Traule, ›bis an mein Todesende.‹

Da geschah eines Abends das Schreckliche, das den ganzen Wald mit
Entsetzen und Trauer füllte, es trug sich auf unserer Wiese zu, dort wo
ihr nun blüht, nah am Ufer. Der junge Herr war früher als gewöhnlich
gekommen, sein Pferd graste weiter unten am Bach, hinter Büschen; es
wollte ein Ungewitter heraufziehen, am Himmel stand eine Wolkenwand und
schob sich langsam über das Land empor, von der Abendsonne beschienen.
Die Vögel sangen noch, aber der Sommer war schon nah.

Da Traule noch nicht kam, warf der Grafensohn sich ins Gras nieder,
trank aus der hohlen Hand Wasser und blieb endlich still auf dem Boden
liegen, die großen Augen weit und glücklich gegen das Himmelslicht
geöffnet. Sein helles Lockenhaar ringelte sich wie in kleinen Goldbächen
ins Rasengrün, und in einem seligen Traum seiner Erwartung, fern allem
Bösen der Welt, lauschte er auf Traules Tritt im Laub.

Aber plötzlich schreckte ein anderes Geräusch ihn empor, ein Rascheln
und Zweigeknacken im Gebüsch erscholl und ein zorniges Brummen mischte
sich hinein. Es war, als wäre plötzlich ein Sturm des Bösen im
friedlichen Gehölz ausgebrochen, und es nahte rasch heran, mit schwerem
Tappen. Als der Jüngling erschrocken emporsprang und nach seinem Degen
griff, den er neben sich ins Gras geworfen hatte, teilten sich schon vor
ihm die Zweige über dem Boden und spien den dunklen Koloß eines
gewaltigen Bären aus, der sich auf seine Hinterbeine aufrichtete und mit
lautem Gebrüll auf den zu Tode erschrockenen Menschen zustürmte.

Aus dem weitgeöffneten Rachen des Raubtiers blitzten die Zähne, und sein
dampfender Odem quoll mit dem Brüllen hervor, wie Rauch eine heulende
Flamme begleitet. Er hielt seine Vorderbeine mit den mächtigen Pranken
zu einer schrecklichen Umarmung weit geöffnet, es war ein altes,
verbittertes Tier, das durch irgendein Ereignis in Zorn geraten sein
mußte und nun den unschuldigen Menschen zum Ziel seines Grimms machte.

Was half dem Bedrohten sein zierlicher Degen und sein mutiges Herz. Er
war aufgesprungen, hatte seine Waffe ergriffen und erwartete nun,
totenbleich, aber gefaßt und standhaft, den Ansturm des wilden Tiers. Er
zielte mit der Spitze des Degens mitten in den blutigroten,
weitgeöffneten Rachen und stieß, als das Ungeheuer ihn nahezu erreicht
hatte, mit edlem Geschick und der ganzen Kraft seines Armes zu, aber ein
unvermuteter, rascher und wilder Tatzenhieb traf die Waffe, bevor die
feine Spitze einzudringen vermochte, und warf sie so mühelos zur Seite,
als wäre sie ein ungefährliches Spielzeug.

Ich will euch den kurzen furchtbaren Kampf nicht schildern, der nun
folgte, und in welchem der junge Mann der Kraft des Raubtiers erlag.
Wohl eine Stunde später kam Traule singend den gewohnten Waldpfad
entlang, ahnungslos; die Vögel sangen auch in der Abendsonne, die ihr
rotes Licht so friedlich auf die Stämme der Waldbäume legte, als gäbe es
kein Ungemach, kein Todesringen in der Welt.

Traule fand den Freund ihres Lebens tot am Bach. Sein Lockenhaar
ringelte sich wie in kleinen Goldbächen in das zerstampfte Rasengrün, er
lag mit weit ausgebreiteten Armen, die Augen geöffnet, als lauschte er
immer noch, wie zuvor, auf Traules Tritt im Laub. Denn der Bär hatte von
ihm abgelassen, nachdem er ihn in seiner mächtigen Umarmung erdrückt
hatte, sein Grimm schien verrauscht, als sein Opfer sich nicht mehr zur
Wehr setzte und ins Gras sank. Er war brummend und fast wie beschämt ins
Dickicht getrottet, vielleicht ahnte er in seinem Sinn die wilde
Treibjagd, die bald darauf vom Schlosse aus beginnen sollte, um den Tod
des jungen Herrn an ihm zu rächen.

Jedoch in der Brust des Jünglings, nahe dem Herzen, hatte ein Tatzenhieb
des Bären das Blut zum Fließen gebracht, und es rann immer noch in
einem feinen roten Bächlein aus der zerstörten Brust in die Blumen, als
Traule kam. Die Abendsonne war nun im Haiderot versunken, hinter den
Kornfeldern, und der Wald wurde dunkel. Traules schwere Nacht begann.
Ich habe alle Stunden hindurch gewacht, ich sah den Mond kommen und
sinken, und der Gang der Sterne segnete uns, aber ich habe nicht einen
Klagelaut unter meinen Zweigen vernommen, kein Geschrei und kein
Seufzen. Es war so still über den großen Schmerzen am Grund, daß mich
Ehrfurcht befiel vor ihrer Allmacht. Einmal war mir, als sähe ich ein
Leuchten, ich weiß es nicht, ich klagte im Nachtwind um Traule, denn
ihrem Geliebten war wohl, er schlief den Schlaf der Erlösten, aber sie
mußte leben. Die Pflanzen und Tiere klagten um das verlorene Liebesglück
der Menschen, und es ging eine Angst durch diese bange Nacht über die
dunkle Erde, die ihren Mund aufgetan hatte, um das Blut des Menschen zu
trinken.

Traule lag über dem Toten, so erstarrt vom Gram ihrer Seele, als sei
auch sie gestorben, sie bedeckte den Körper, den sie liebte, mit dem
ihren, und ihre kleinen braunen Waldhände hielten zur Rechten und Linken
sein Gesicht.

Mit dem Morgenwind hallte der stürmische Ruf einer Trompete durch die
Dämmerung. Eine zweite fiel aus anderer Ferne ein, und ihr wildes,
angstvolles Mahnen weckte den Wald. Sie suchten den Grafensohn. Sein
Pferd war nachts ohne den Reiter in den Schloßhof getrabt, da erkannten
sie, daß ein Unglück geschehen sein mußte. Bald mischte sich das Bellen
von Hunden in den Hörnerklang, und da wußte ich, daß sie den Toten
finden würden, denn ein Hund ruht nicht, bis er die Spur seines Herrn
aufgenommen hat, und findet ihn immer.

Ich rauschte im Frühwind und warf meinen Tau auf Traule, denn mir war,
als dürften die rauhen Männer sie nicht in ihrem Schmerz finden. Und das
Mädchen, das mich liebhatte, verstand die Warnung meiner Stimme und
erhob sich langsam und lauschte in die feuchte Dämmerung hinaus. Wie
erschrak ich da über ihr Angesicht! Es war blaß wie das des Toten, und
der Geist einer Trauer ohne Ende brannte wie ein heiliges Feuer in ihren
großen Augen, die noch keine Tränen gekühlt hatten. Aber sie war eigen
gefaßt, beinahe still, drückte die Augen des Toten zu und küßte ihn zum
Abschied auf den Mund. Dann lauschte sie noch einmal hinaus, ob die
Menschen kamen, und wandte sich ab, um vor ihnen in den Wald zu
flüchten. Es war ein seltsames Mädchen, Traule, nach der unser Bach
genannt worden ist, sie war anders als alle Mädchen, die ich
kennengelernt habe, aber an sie muß ich am meisten denken.

Bald darauf kamen die Reiter und Fußleute mit Hunden und Waffen durch
das Dickicht und fanden ihren toten Herrn am Bach. Zuerst vernahm ich
die klagende Stimme eines heulenden Hundes, dann mischte sich ein
gellender Notschrei des Schreckens hinein, und bald war der morgendlich
stille Wald von Jammer- und Zornrufen der Menschen erfüllt.

Als es still geworden war, und die Vögel wieder ihre Lieder anstimmten,
machten die Männer aus Ästen, die sie aus meiner Krone brachen, eine
Tragbahre, legten den Leichnam auf die Blätter und trugen ihn davon, in
einem dunklen Trauerzug, in dem sie gebeugt und weinend dahinschritten.
Aus der Ferne hörte ich noch einmal die Stimme der Trompete über die
Felder hin durch das Tal erklingen. Ihr Goldklang wiegte sich dahin in
unbeschreiblicher Traurigkeit, ich dachte an den Sturm im Herbst und
erzitterte. Nun hatten sie auf dem Schloß die Kunde vernommen, daß der
junge Herr hatte sterben müssen.

Ich dachte an Traule, das Kind, und wußte, daß sie wieder an die Stätte
zurückkehren würde, an welcher ihr Freund den Tod erlitten hatte. Tag
für Tag kam sie um die Stunde der Dämmerung zu mir, lehnte sich an
meinen Stamm und weinte. Sie sagte mir alles, was ihr Herz wund machte,
denn sie verstand meine Antworten nicht, sondern nur meinen Willen,
alles zu heilen, den die Natur an uns bewährt, und unter dem ich von
Jugend an gewachsen war und geblüht hatte. Meine Blüten waren nun
aufgebrochen, und die Völker der Bienen brausten in der warmen Sonne um
meine Krone.

Traule lag nachts unter meinen Zweigen auf der kleinen Wiese, am Boden,
allein. Was hätte ich nicht getan, um ihr Leid zu lindern, aber ich
konnte es nicht, obgleich ich fühlte, daß das Mädchen nur bei mir sein
wollte. Ihr Angesicht war schmal geworden, und ihre großen Augen
leuchteten zu viel, in unirdischem Schein, mir war angst und weh um
Traule. Einmal hörte ich sie leise des Nachts singen, Sterne schienen,
und der Bach zog im weißlichen Dämmerlicht dahin, kühl in seiner
gelinden Eile. Traule aber sang:

    Nimm mir nicht den Schmerz,
    den laß mich haben.
    Gib meinem Herzen mehr
    deiner himmlischen Gaben.

Immer wieder hält es mich davon ab, in der Erzählung von Traules
Geschick fortzufahren, weil ich euch vom Menschen selbst so vielerlei
sagen möchte, denn ihr kennt ihn noch nicht, ihr Lieben, meine Blumen.
Ich fragte mich oft, kann so das Herz des Menschen beschaffen sein, daß
es seine Schmerzen haben will und nichts sonst, daß sie ein Eigentum
werden können, dem kein Besitz auf Erden an Wert zu vergleichen ist, und
daß das Gebet eines Menschen zu Gott so lauten kann wie Traules Lied?
Ich weiß es nicht, aber ich habe es erfahren und sage es euch, mögt ihr
es lieben und glauben, nach eurem Wert.

Wer lange gelebt hat, lernt auch den Tod besser erkennen als die,
welche ihn früh erleiden, und so ahnte ich sein Nahen, wenn ich Traules
Züge sah. Ich kann sie euch nicht beschreiben, es lag um ihre Wangen und
Stirn der Glanz der himmlischen Ungeduld, von der ich euch erzählt habe,
ihr blasses Leuchten ist schöner als alle Tugend, es sinkt aus der Höhe
und lockt den Gang nieder in das Tal der Welt.

So kam es, daß eines Nachts, zur Zeit, als schon die letzten
Sommerblumen verwelkt waren, ein Engel vom Himmel niederstieg und vor
Traule hintrat. Das Mädchen erschrak nicht, sondern lächelte ihm auf
ihre Art entgegen, die ich innig liebte und nie vergesse. Der Engel
sagte zu ihr:

›Ich bin vom Himmel gekommen, um dir deine Schmerzen zu nehmen, du
sollst von ihnen erlöst sein, denn du hast sie ohne Bitterkeit, wie ein
heiliges Gut, getragen.‹

Da sah Traule den hellen Engel an, schüttelte den blassen Kopf mit den
feuchten Haaren, die der Tau der Nacht benetzt hatte, und indem ein
Beben durch ihr gebrechliches Körperchen ging, sagte sie zu ihm:

    Nimm mir nicht den Schmerz,
    den laß mich haben.
    Gib meinem Herzen mehr
    deiner himmlischen Gaben.

Da erschien es mir, als ob der Engel erschrak, aber seine Verwunderung
war von Freude verklärt, als sei ihm ein großes Wunder widerfahren, da
er in Traules Herz Gottes unvergängliche Liebe wiederfand, als hätten
niemals die Finsternis des Bösen, oder die Armut sie geschmälert, und er
verwandelte die Schmerzen Traules in zwei große Flügel, die bis auf den
Erdboden niedersanken und ihr Haupt überragten. Von ihrem Glänzen wurde
der Wald umher hell, es brach bis hoch empor in die Blätter meiner
Krone. Der Engel und Traule flogen miteinander empor in den Morgenwind
und verschwanden im Hellen unter den letzten Sternen.

Schlaft ihr schon, ihr Blumen, meine Lieben? Dies ist Traules
Geschichte, bewahrt sie eurem Gemüt, und Traules Herzensgut sei auch
euer Frieden.«



                          Dreizehntes Kapitel

                             Der Maikäfer


Der Elf flog auf den grünen Wipfel der Linde, der sich im warmen Wind
des schönen Tages sanft schaukelte, und seine Augen durchschweiften das
weite Land bis an die Hügel hinüber, die den Horizont säumten. Unter ihm
sangen die Vögel, und die Krone der Linde erbrauste von den Völkern der
Bienen, ein erklingender grüner Lebensdom, in warmer Freiheit.

Er schloß seine Augen, von Sommerseligkeit überwunden, und breitete im
Wiegen seine Arme aus, als ließe die schimmernde Welt sich umarmen. »Was
soll ich tun,« flüsterte er, »was soll ich tun? Ach, ich bin sicher des
Glücks nicht wert, das mir geschieht, in meiner Seele ist nicht Raum für
die Fülle der Wohltaten, die mir zufallen.«

Ach, das Lächeln des Elfen möchte ich schildern können! Es war kaum zu
sehen, ihr Lieben, wie sollen die freie Kinderherrlichkeit der Freude
und die heimatlose Wehmut irdischen Geschicks in ein armes Wort gebracht
werden? Wenn man sein helles Angesicht in diesem Leuchten sah, so mußte
man unbedingt glauben, daß Gott es mit seinen Geschöpfen unendlich gut
meint; es ging nicht anders.

Als das himmlische Kind nach einer Weile seine Augen aufs neue
aufschlug, da war ihm, als sei die Erde mit ihren fernen Hügeln in der
Runde ein grüner Kelch und der strahlende Himmel eine große, blaue
Blume. Dieses Bild voll Glanz und Stille verwandelte sein Herz auf
wunderbare Art, und ihm war zumut, als wäre er einst in seiner tiefsten
Jugend so hell gebettet und so wohl geborgen gewesen wie nun. Es ist das
Glück, das Glück, dachte er erzitternd, überall schafft es die Heimat.
Und er erhob seine Stimme, in der strahlenden Erdenblume seines Traums,
wandte sich an die himmlische Sonne und sang:

    Schließ mich wieder ein in deine Freude,
    deine Anmut, deinen hellen Sinn,
    daß ich mich in deinem Glück bescheide
    und empfinde, daß ich glücklich bin;

    Daß ich selig deine Kräfte schaue
    und des Herzens Trauer, wie ein Lied,
    deiner Stille, deinem Licht vertraue,
    deinen Glanz im fröhlichen Gemüt.

    Keine Liebe hat mich überwunden,
    so wie deine es am Morgen tut.
    Sieh mich offen und zu dir gefunden,
    und mach’ meine Seele hell und gut.

Kaum war das Lied im grünen Glänzen verklungen, da rief jemand dicht
neben dem Elfen. »Ausgezeichnet, famos! Sie haben eine Stimme, die sich
hören lassen kann, mein Lieber! Sind Sie ein Engel?«

Der Elf mußte lachen, er konnte nicht anders. Dicht neben ihm saß auf
einem Blatt ein Maikäfer und sah ihn mit großen Augen vergnügt an. Aber
als er nun den Elfen lachen hörte, klappte er die Fächer seiner braunen
Fühler zusammen und runzelte die Stirn.

»Warum lachen Sie?« fragte er ernst.

Der Elf grüßte ihn freundlich. »Ich war sehr überrascht,« sagte er,
»deine Frage klang so ganz anders als mein Lied. Entschuldige nur, ich
meinte es nicht böse.«

»Erwarten Sie, daß ich meine Frage singe, statt sie zu sprechen?« fragte
der Käfer. »Aber wahrscheinlich haben Sie gelacht, weil ich immer noch
da bin.«

»Du bist ja eben erst gekommen.«

»Nein, ich meine überhaupt. Blühen nicht schon die Linden? Um diese Zeit
ist ein anständiger Maikäfer längst in der Erde, legt Eier oder ruht
sich aus, je nachdem. Aber ich habe meinen guten Grund, noch zu zögern.
Wollen Sie wissen, warum ich trotz der Hitze noch da bin?«

»O doch,« sagte der Elf, »das ist sicher interessant zu erfahren.«

»Gewiß, also hören Sie: Man hat mir dort unten auf der Waldwiese
gesagt, es hielte sich hier in der Gegend ein Blumenelf auf, und ich
möchte ihn kennenlernen. Erstens kommt unsereins nur alle vier Jahre auf
die Erdoberfläche, und wie lange ein Elf braucht, ehe er wiederkommt,
ist unbekannt. Eine solche Gelegenheit läßt man sich nicht entgehen,
verstehen Sie?«

»Doch, doch«, sagte der Elf und lächelte. »Was versprichst du dir denn
von dieser Bekanntschaft?«

»Das fragt sich noch,« meinte der Maikäfer, »ich muß erst sehen. Von den
Elfen wird so viel erzählt, daß man kaum recht weiß, wo einem der Kopf
steht. Ich bin für gesicherte Anschauungen und möchte Klarheit haben.
Das wunderbarste an diesen Geschöpfen ist, daß sie sich mit aller
Kreatur unterhalten können, mit Blumen, Insekten, vierfüßigen Tieren und
sogar mit dem Menschen. Sie wissen doch, daß wir Maikäfer mit dem
Menschen viel verkehren?«

»Ich kann es mir denken«, meinte der Elf.

»Nun, Sie als Engel müssen es sich ja denken können.«

»Ich bin kein Engel«, sagte der Elf.

»Nun, was sollen Sie denn sonst sein? Ich war übrigens anfangs sehr
erstaunt, als ich Sie sah, und habe mich lange gewundert; Sie sind ja
geradezu lieblich! Aber Sie machen sich keine Vorstellung davon, an was
alles ein Maikäfer sich gewöhnt. Haben Sie eine Ahnung. Man muß den
Menschen kennen, um zu wissen, was möglich ist. Himmel und Wolkenbruch,
unsereins hat unter Umständen etwas auszustehen! Es ist in der
Hauptsache eine Folge unserer Beliebtheit.«

Der Elf mußte wieder lachen. Was gibt es für Gesellen, dachte er, und
sein Herz war froh. Er war freundlich gegen den Käfer und hörte ihn an.
Vielleicht kann ich etwas für ihn tun, dachte er, das wäre mir heute
morgen besonders recht, wo doch alles umher in fröhlicher Fülle steht.

»Ja, der Mensch«, seufzte der Maikäfer, »fängt einen aus der Luft, mit
der Hand, glauben Sie das?«

Der Elf nickte und verbarg sein Lachen.

»Man kann nachher sehen, wie man seine Flügel wieder in Ordnung bekommt,
die vier. Ich habe nämlich vier Flügel, Sie wissen doch, nicht wahr? Sie
haben, scheint mir, nur zwei, dafür sind sie aber weiß. Schöne Flügel
übrigens, und sehr apart im Format. Nun, ich sprach vom Menschen. Er ist
im Grunde gutmütig, ich werde nicht dulden, daß falsche Gerüchte über
ihn verbreitet werden, es fehlt ihm nur an jeglichem Zartgefühl;
merkwürdig ist bei ihm seine Vorliebe für unser Volk. Kommt der Mai, so
verläßt er seine Behausungen, um uns zu finden, er schüttelt die Bäume
und schaut nachher am Boden nach, ob wir heruntergefallen sind. Rührend
ist sein Bemühen, später etwas mit uns anzufangen, es ist ihm aber noch
nie gelungen. Er läßt uns in seiner Behausung fliegen und fängt uns
wieder ein. Wozu wohl, glauben Sie, fängt er uns wieder ein? Bei Gott,
nur um uns wieder auffliegen zu lassen! Er hört zu, wie wir summen,
lacht und fängt uns wieder. Zuweilen läßt er uns auf einen anderen
Menschen los, seltsam. Dieser andere Mensch weiß es nicht, er steht und
spricht arglos von irgendeiner Sache, weiß Gott wovon, die Menschen
haben ja ungemein viele Interessen. Wir laufen an dem Menschen in die
Höhe, was bleibt uns übrig? Es wird Ihnen bekannt sein, daß man von
erhöhten Punkten am besten abfliegen kann, und das will man doch, wozu
sollte man auf einem fremden Menschen sitzenbleiben? Nun kommt eine
Stelle am Menschen, weiß der Kuckuck, was mit dieser Stelle los ist,
aber kaum hat man sie im Klettern berührt, da brüllt der Mensch auch
schon auf und schlägt um sich. Einige springen sogar. Wenn unsereins
diese Stelle wüßte, mein Lieber, er würde sie natürlich vermeiden, aber
woher soll man wissen, wo diese Stelle ist?«

Der Elf lachte hell auf, es ging ein solcher Frohsinn von seinem Lachen
aus, solch freie Heiterkeit, daß der Maikäfer mit einstimmen mußte.

»Nun ja,« sagte er endlich, »jetzt lacht man darüber, aber in solchen
Lagen, wie ich sie eben geschildert habe, ist einem anders zumute. Man
kann erschlagen werden, mein Lieber.«

»Was du da vom Menschen erzählst,« sagte der Elf nach einer Weile,
»bezeichnet ihn nicht. Ich glaube, wenn die Menschen fröhlich und
sorglos sind, so brechen heimlich die Glücksquellen ihrer Jugend in
ihrer Brust auf, und sie werden wie Kinder. Die Erfahrungen, die du oder
deine Gefährten gemacht haben, sind nur ein argloses Spiel der
Menschen.«

»Ich danke,« sagte der Maikäfer, »ein argloses Spiel, bei dem ich unter
Umständen einen Flügel einbüßen kann, bei dem es möglich ist, daß ich
platt geschlagen werde wie eine Wanze, oder das mich im schlimmsten Fall
mein Leben kostet, sehe ich anders an als Sie.«

»Wenn du sonst am Menschen nichts siehst, sonst nichts von ihm weißt, so
wirst du ihm dies freilich schwer verzeihen«, meinte der Elf.

»Der Mensch soll aus der Luft greifen, was er will,« entgegnete der
Maikäfer, »aber nicht mich.«

Der Elf lachte. »Du mußt nicht glauben, mein Lieber, daß ich den
Menschen ohne Grund in Schutz nehme, ich kenne ihn gut und liebe ihn
sehr.«

»Nun ja, Sie als Engel ...«

»Ich bin kein Engel, mein Lieber.«

»Nun, was sollen Sie denn sonst sein? Fragen Sie übrigens, wohin Sie
kommen und wen Sie wollen, überall werden Sie Klagen über den Menschen
hören. Gehen Sie zu den Vögeln, den Fischen, den Waldtieren oder den
Ameisen, nirgends werden Sie das Lob der Menschen vernehmen. Oft ist
mir, als ginge es wie ein Seufzen durch die ganze Kreatur, aber das
werden Sie wahrscheinlich nicht verstehen. Ich bin viel nachdenklicher,
als Sie glauben.«

»Doch,« sagte der Elf, »ich verstehe dich, und du hast ganz recht, aber
nicht der Mensch ist schuld daran. In jenes Seufzen, das du zu hören
glaubst, in die Angst und in den Schmerz aller Kreaturen dringt auch
seine Klage, denn er ist, wie ihr alle, den irdischen Geschicken
unterstellt und hat gegen Bedrängnisse, Elend und Tod nicht mehr Mittel
als ihr. Er erwacht zum zeitlichen Leben, freut sich der himmlischen
Sonne, Lachen und Weinen wiegen seine Seele, wie Tag und Nacht seinen
Leib, und einst kehrt er zurück ins Dunkel der Erde, der Mutter, wie ihr
alle.«

»Aber etwas muß den Menschen doch von allen anderen Geschöpfen
unterscheiden, mein Lieber, wenn denn schon einmal wahr sein soll, daß
er nicht schuld an unserem Unglück ist. Ich will es Ihnen glauben. Daß
er sterben muß, weiß man ja, das ist bekannt, und wenn die Hauptsache
stimmt, dann wird wohl auch das andere richtig sein. Sehen Sie, deshalb
hätte ich so gern den Elfen getroffen, der vieles wissen soll, ich würde
ihn gefragt haben: Was unterscheidet den Menschen von allen anderen
Geschöpfen?«

»Ich will es dir sagen«, antwortete der Elf. Er sah bewegt in die Weite,
denn er hörte ein leises Rauschen in der Linde und dachte an Traule.

»Sie? Nein, nein, mein Lieber«, entgegnete der Käfer. »Sie als Engel
sind parteiisch. Es ist doch bekannt, daß sich die Engel der Menschen
annehmen, daß sie gut von ihnen denken und das Beste mit ihnen im Sinn
haben.«

»Glaubst du nicht, daß solche Leute, die das Beste im Sinn haben, die
Wahrheit eher wissen als andere?«

»Also sind Sie doch ein Engel!« rief der Maikäfer triumphierend, und der
Elf lachte.

»Ich bin es nicht,« sagte er, »aber ich will dir nun verraten, wer ich
bin; ich hätte es schon getan, wenn du mir Gelegenheit dazu gelassen
hättest. Ich bin der Elf, den du suchst.«

»Nein, so was!« rief der Käfer. Er schaute den Elfen an, und seine Augen
glänzten. »Ach nein,« sagte er ganz still, »so ist es mir doch passiert,
was ich wollte, wie schön ist das.« Er besann sich und atmete auf:
»Hoffentlich nehmen Sie mir die Verwechslung nicht übel«, sagte er
schüchtern. Und nach einer Weile des Schauens fuhr er fort: »Nun liegt
es ja auch anders mit meiner Frage. Wenn Sie also so freundlich sein
wollen und mir antworten?«

»Ich will es tun, so gut ich kann,« sagte der Elf, »aber du kannst ruhig
du zu mir sagen.«

»Ich werde es versuchen«, antwortete der Käfer.

Ein paar Bienen kamen in ihre Nähe und grüßten.

»Ein Elf, ein Blumenelf!« riefen sie. Unten schaukelten sich
Schmetterlinge über dem Korn, und hoch im Blauen zog ein großer
Raubvogel seine stillen Kreise. Nirgends war ein Wölkchen zu sehen, es
war ein unbeschreiblich schöner Tag. Klingen und Jubeln füllte die Luft,
die von goldener Wärme flimmerte. »Schöner wird es nicht mehr im Jahr«,
sagte der Elf. Es war, als schmiegte er sein helles Angesicht in das
Glänzen, das ihn einhüllte, und er faltete die Hände, derweil der Wipfel
des alten Baums, sein zartestes Reis im Blauen, ihn wiegte.

»Sicher weißt du alles Schöne,« meinte der Maikäfer, der ganz entzückt
war, je länger er den Elfen betrachtete, »so sprich mit mir vom
Menschen. Es ist wahr, ich habe nicht eben Gutes von ihm gesagt, aber du
wirst zugeben, er hat auch seine schlimmen Seiten, dieser Große mit den
aufrechten Schultern und dem weißen Angesicht. Wir fürchten ihn,
verstehst du das nicht? Nicht alle nehmen ihr Geschick mit so viel
Humor wie ich.«

Der Elf schien nicht recht zugehört zu haben; mitten aus seinem Sinnen
heraus unterbrach er seinen braunen Nachbarn:

»Was den Menschen unterscheidet von allen anderen Wesen der Erde, hast
du mich gefragt; darüber, Lieber, ist viel nachgesonnen worden, manche
haben es bestritten und geglaubt, er sei im Grunde wie jedes lebendige
Geschöpf, nur vollkommener. Aber das ist nicht wahr, es kann nicht wahr
sein, in alle Ewigkeit nicht! Was ihn hoch über alle Kreaturen stellt,
ist seine Vernunft.«

»Was ist das?« fragte der Käfer.

»Es ist sein freier Wille, groß und gut zu sein nach seinem Maß.«

»Aber glaubst du denn wirklich, Elf, daß alle Menschen ihn haben?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete nach einer Weile der Elf sinnend, »so
genau kenne ich sie noch nicht, aber ich glaube, daß, wenn nur einmal
ein Mensch es von ganzem Herzen und in Wahrheit gewesen ist, daß das
ganze Geschlecht der Menschen damit entschuldigt wäre.«

»Ach, da sieh einer, wie du denkst!« rief der Maikäfer, »so könnte ja
nach deiner Meinung ein Mensch dadurch, daß er aus freiem Willen groß
und gut handelt, wie du sagst, gleich eine ganze Reihe anderer Menschen
von ihren Schandtaten freisprechen.«

»Ja,« sagte der Elf einfach, »so ist es. Du kannst ja nicht ahnen, du
kleines Tier, welch eine unfaßbare Fülle von Glanz und Lebenswärme schon
aus einem guten Herzen erstrahlen kann. Seine Wirkung ist nicht immer
erkennbar, wie die Erscheinungen, welche unsere Augen treffen, oder wie
die Gegenstände, die unsere Hände berühren, aber sie ist wahr. Sieh,
Lieber, das macht die Hoheit des Menschen aus, seine Würde, und das
unterscheidet ihn von allen Lebendigen der großen Schöpfung, daß er den
freien Willen hat, das Gute zu tun. Das macht ihn Gott ähnlich.«

»Ach,« sagte der Maikäfer, »nun sprichst du von Gott, ich weiß nichts
von Gott.«

»Das ist auch nicht nötig,« antwortete der Elf und lächelte, »wenn Gott
nur etwas von dir weiß.«

»Tut er das?« fragte das kleine Tier erstaunt.

Der Elf sah ihn ernst und liebreich an: »Bist du nicht einst glücklich
und wohlbestellt zum Leben erwacht?« fragte er, »fandest du nicht Tag
für Tag alles, was du zu deiner Erhaltung brauchtest; schien nicht die
warme Sonne in deine frohen Stunden, und heilte die kühle Nacht im
Schlaf nicht auch deine Sorgen? Schau’ den Schimmer deiner schönen,
starken Flügel an, das Geschick deiner Glieder und den gesunden
Wohlstand deiner Sinne. Ist nicht für alles liebevoll gesorgt, dessen du
bedarfst, und du fragst mich, ob Gott deiner gedacht hat?«

Es war eine Weile still; der Käfer schaute sinnend in die Weite der
hellen Welt, dann sagte er:

»Du machst mein Herz so froh.«

Aus den Büschen unten am Bach klang der Gesang eines Waldvogels, von den
Föhren wehte im linden Windhauch ein harziger Duft herüber, es war den
Bäumen wohl in der warmen Sonne. Unermüdlich summten die Bienen in den
Lindenblüten.

»Sieh nun,« sagte der Elf, »so gedenkt Gott all seiner Geschöpfe, auch
der verborgensten und kleinsten, es ist keines, dem er sich nicht
zuneigt, aber dadurch unterscheidet sich der Mensch von ihnen allen: er
kann sein Haupt auch zu Gott emporheben.«

»Ich bin doch wirklich ein glücklicher Kerl,« antwortete der Maikäfer,
»habe ich mir nicht gleich gesagt: du mußt mit dem Elfen sprechen, davon
werdet ihr beide etwas haben! Es ist auch ungemein angenehm für mich,
daß ich in der Lage bin, dir Glauben schenken zu können. Ich glaube
nämlich alles sofort, was mir gefällt.«

Die Augen des Elfen verirrten sich in heimatloser Seligkeit im
Himmelsblau, und mit einem Lächeln, das ihn weit mit sich fortzutragen
schien, sagte er:

»Du seltsamer Geselle. Aber du und alle, die deiner Art sind, seid ohne
Sorge ...«

Es war, als habe er niemanden angeredet, seine Worte klangen voll
Hoffnung, und es lag eine Verheißung in ihnen, als gäbe es in hellen
Fernen ein Reich, freier und herrlicher als selbst die Vernunft.



                          Vierzehntes Kapitel

                          Das sterbende Kind


Zwischen hohen Ahornbäumen, nicht allzu weit von der Waldwiese entfernt,
lag ein altes Bauernhaus mit niedrigem großen Dach und kleinen Fenstern.
Dort schimmerte um Mitternacht ein roter Lampenschein aus einem der
Fenster, und Uku, die Eule, die das winzige rote Lichtlein in der Ferne
sah, machte sich auf und flog über die Felder dorthin.

Das Licht zog sie an und erfüllte sie zugleich mit Ingrimm. Es war nun
einmal ihre Meinung, daß es in der Nacht dunkel zu sein hätte, nur der
Schein des Mondes oder der Sterne war ihr lieb. Daß aber in den
Behausungen der Menschen bisweilen diese stillen roten Feuer aufglommen,
die ihr Licht auf die Blätter der Bäume warfen oder weit in das Land
hinein, wie rötliche Wege, die durch die Luft führten, machte Ukus Blut
vor Erbitterung pochen. Aber doch vermochte sie sich nicht abzuwenden,
und besonders, wenn die Nacht weiter und weiter dahinzog, und solch ein
Lichtschein wollte nicht erlöschen, nahm ihre Unruhe und Begierde
überhand, und sie mußte herzufliegen, fast gegen ihren Willen, um das
Licht zu sehen.

So langte sie auch in dieser Nacht in den Ahornbäumen dicht vor dem
erleuchteten Fenster an und schrie laut und klagend auf, und noch
einmal und wieder, so daß alle Tiere, die des Nachts leben, erschrocken
aufhorchten und mit dunklen Augen in die Nacht lauschten. Denn der
Schrei der Eule in der Finsternis der schlafenden Bäume hat etwas
unbeschreiblich Trauriges und zugleich klingt er grimmig und erbost. Er
scheucht die Gedanken der Wesen auf und jagt sie durch die Nacht, die
traurigen zuerst, und läßt ein verzagtes Sinnen in den Gemütern zurück.

Aber Uku wußte hiervon nichts, sie erzürnte sich im Grunde nur über das
Licht und versuchte wieder und wieder durch ihre kurzen klagenden Rufe
kundzutun, daß der Frieden der Nacht und ihre eigene Ruhe durch den
roten Schimmer gestört wurden; sie sah auch nicht in die Stube des
Hauses hinein und wußte nicht, was drinnen vor sich ging, und weshalb
immer noch die Kerze brannte, obgleich Mitternacht schon vorüber war.

Im Zimmer lag auf seinem Bett ein Kind und starb. Es war ein kleiner
Knabe mit dunklem Haar und einem nicht eben schönen Gesicht, seine Haare
waren rauh und vom Fieber feucht, und die Züge seines Gesichtes bleich,
wie auch seine Hände, die merkwürdig ruhlos über die Decke tasteten, als
ob sie mit einem unsichtbaren Spielzeug umgingen. Der Knabe erfreute
sich bei seinen Spielkameraden keiner Beliebtheit, weil er sich ihnen
nicht anpassen konnte und verschlossen und schweigsam war.

[Illustration]

Seine Mutter saß am Bett und schaute ihn unverwandt an. Eine Mutter
will nicht wissen, ob ihr Kind schön oder unschön ist, sie liebt es so,
wie es ihr gegeben worden ist, und fragt nur danach, ob es froh oder
traurig ist, ob es ihm wohl ergeht oder ob es leidet, nicht aber nach
seinem Wert; denn alles, was eine Mutter liebt, ist in ihren Augen so
viel wert wie ihre Liebe, und es gibt nichts in der Welt, was wertvoller
wäre als die Liebe einer Mutter. Und so bewegte das Gemüt der Frau, die
am Bett ihres Sohnes saß, in dieser Nacht allein die Sorge, ob ihr Kind
genesen würde oder ob es sterben müßte.

Da hörte sie die Eule in den Bäumen vor ihrem Fenster rufen, und ein
furchtbarer Schreck durchfuhr sie, so daß sie, am ganzen Körper
zitternd, aufsprang und ihre Hände auf ihr gequältes Herz preßte, das
ohnehin vor Angst nicht mehr ein noch aus wußte. Die arme Frau ahnte
nicht, daß draußen Uku nur das Kerzenlicht anschrie, sondern sie
glaubte, was die Leute ihr erzählt hatten, daß ein kranker Mensch
sterben müßte, wenn die Eule nachts vor seinem Fenster riefe. Das ist
eine alte Sage, an die viele Menschen glauben. Sie ist dadurch
entstanden, daß bei Kranken des Nachts Licht zu brennen pflegt, das die
Nachtvögel anlockt. Aber die Eulen haben nichts mit der Verkündigung des
Todes zu tun. Wenn die bedrängte Mutter in ihrer Not gewußt hätte,
weshalb Uku in den Ahornbäumen schrie, so würde ihre Angst geringer
gewesen sein; nun aber zitterte sie vor Schmerz und Entsetzen, denn sie
glaubte, die Eule kündete ihr den Tod ihres Kindes an.

Nach einer Weile hatte sich Uku mehr und mehr an den Lichtschein
gewöhnt, er blendete sie nicht mehr, und sie beruhigte sich etwas. Da
die Fenster geöffnet waren, erkannte sie nun die Mutter am Bett ihres
sterbenden Kindes, allein in der Nacht und in dem großen, dunklen Haus.
Uku wurde deutlich, daß der Tod dort Einzug hielt, sie schwieg betroffen
und schaute angstvoll hinab. Sie sah, daß das Kind sich im Fieber hin
und her warf, und als es ärger und ärger wurde, klagte die hilflose
Mutter laut auf und schrie zu Gott empor um Barmherzigkeit; denn sie
hatte nur diesen einen Sohn und sonst auf der Welt nichts.

Da warf sich Uku in ihre lautlosen Flügel und flog auf die Waldwiese und
weckte den Elfen.

»Elf,« sagte sie, »es stirbt ein kleiner Mensch, kannst du nicht der
Mutter helfen?«

Der Elf sah betrübt auf und schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Macht über den Tod und darf nicht zu den Menschen
sprechen«, sagte er. »Wenn das Kind sterben soll, so ist es in Gottes
Rat beschlossen.«

Uku schwieg. Es war ihr wirklich nahegegangen, die Mutter vor Schmerzen
in laute Klagen ausbrechen zu sehen. Sie dachte an die Zeit, in der sie
selber noch um ihre Jungen in Angst und Liebesnot gewesen war, und
verstand das Herzeleid der Mutter. Deshalb fragte sie jetzt noch einmal:

»Kannst du keine Hilfe bringen, Elf? Du hast schon so viel getan, daß es
uns oft erschienen ist, als vollbrächtest du Wunder der Liebe. Hilf dem
kleinen Menschen! Er wirft sich auf seinem Lager hin und her, und der
Tod wird ihm schwer, aber mir war so, als stürbe seine Mutter den Tod
hundertmal für ihn.«

»Wenn ich dem Kinde mein Leben geben könnte, so würde ich es tun, aber
ich kann es nicht«, beteuerte der Elf.

»So tröste die Mutter!« rief Uku, »du bist gütig, und deine Worte sinken
oft ins Herz wie ein Lied.«

Der Elf sah lange stumm vor sich hin, und seine Trauer nahm zu. Endlich
sagte er ernst:

»Eine Mutter kann niemand über den Verlust ihres Sohnes trösten, Uku.
Eher ist es möglich, eine Welt aus ihren Sünden zu erlösen als eine
Mutter aus dem Schmerz um ihren Sohn. Ein Jüngling kann ein Mädchen
vergessen, das er liebgehabt hat, eine Schwester kann die Liebe zu ihrem
Bruder verraten, und selbst ein Freund soll den Verlust seines Freundes
verwinden können, aber den Schmerz einer Mutter um ihren Sohn heilt
niemand. So ist es bei den Menschen bestellt.«

»So fliege mir zulieb hinüber, Elf, und versuche es, ich bitte dich.
Gehst du nicht in der Gestalt eines Engels einher, begleitet von Licht?
Warum sollte es das Herz einer Mutter nicht erleichtern, dich zu sehen,
da du doch uns alle gesegnet hast? Erlöse sie von ihrem Gram, bedenke,
auch dich verlangt danach, einmal erlöst zu werden.«

Da breitete der Elf seine Flügel aus und flog davon, und Uku atmete tief
auf und dachte: Nun wird alles besser werden.

Als der Elf auf dem verlassenen Hof im nächtlichen Land ankam, war das
Kind gestorben. Er flog ins Zimmer hinein und ließ sich zu Häupten des
Bettes nieder, über das die Mutter sich in ihrem Schmerz geworfen hatte.
Sie bedeckte den erkaltenden Körper ihres Kindes mit dem ihren und
preßte ihr Angesicht auf das erloschene Augenpaar des toten Knaben. Die
stille Nacht nahm ihre Klage auf; in dem kleinen armen Raum, in dem sie
wohnte, flackerte das Licht der erlöschenden Kerze an den weißen Wänden.
Zuweilen hob sie ihr verhärmtes Gesicht, das von Leid entstellt war, und
sah mit leeren Augen, die von keinen Tränen gekühlt wurden, in die Nacht
hinaus. Nie hatte der Elf so viel Hoffnungslosigkeit und Anklage in den
Augen eines irdischen Wesens gesehen, ihn kam ein Zittern an, und er
brach in Schluchzen aus.

Da war es, als sein Schluchzen erklang, als lauschte die Mutter auf. Ein
krampfhaftes Beben durchschüttelte ihren ganzen Körper, und während sie
mit starren Augen auf dies leise Schluchzen lauschte, das von weit her
zu kommen schien, brach es wie mit einer alten Erinnerung aus ihren
heißen Augen hervor, glitzerte auf wie Nachttau und tropfte nieder, und
eine unfaßbar wohltuende Erleichterung löste den brennenden Druck in
ihrer Brust. Ihre Klage und ihr Geschrei verstummten, sie sank still in
sich zusammen und weinte. Es war, als hätte eine alte Erdengnade Einzug
in ihr Gemüt gehalten.

Der Elf wunderte sich und sann und sann. So hatte Uku recht behalten,
aber er ahnte nicht, welche Wohltat er gebracht hatte; ihm war nur, als
sei durch ein Wunder den Schmerzen der Mutter ein Ausweg geschaffen
worden, die Bahn zum Himmel zu finden.

»Ich kann nicht helfen«, dachte er traurig, denn weil er ein Blumenelf
war und kein sterblicher Mensch, so wußte er nicht, daß er den einzigen
Trost gebracht hatte, den die Menschen in ihren größten Schmerzen
annehmen können.



                          Fünfzehntes Kapitel

                               Der Fuchs


Eines Tages kamen zwei Wildenten den Bach heruntergeschwommen, ein
vergnügtes Paar. Sie ließen sich treiben und machten sich hier und da am
Schilf zu schaffen, wobei sie solange gegen den Strom rudern mußten, um
nicht fortgetrieben zu werden. Ihr Schnattern füllte die warme Luft, zu
allem, was sie erlebten oder fanden, mußte eine Bemerkung gemacht
werden. Das Schilf stand damals schon ziemlich hoch, es war recht
heimlich an den Ufern, das treibende Wasser schimmerte grün, und vom
Sonnenschein zitterten überall goldene Tellerchen und Lichtstreifen. Im
Lindenschatten der Waldwiese war es über dem Wasser am schönsten, das
Licht war dort geheimnisvoll gedämpft, und die Blätter des Baums
spiegelten sich in der Flut, sie zitterten und flatterten im Wasser, als
ob der Wind sie bewegte.

Die Ente machte halt, suchte Grund für ihre breiten Schwimmfüße und
blieb dicht am Ufer stehen.

»Ich werde hier einen Augenblick verweilen«, sagte sie zu ihrem Gatten
und schüttelte sich. Ihr Mann sah hinüber, nickte ihr zu, kam dann auch
und stellte sich neben sie.

»Darüber fällt es einem mal wieder ein,« sagte er in bester Laune, »was
wir Enten alles können. Es gibt kein Tier, das so viel kann, man darf
sie alle nacheinander durchdenken, es findet sich keines, das zugleich
schwimmen und fliegen, auf dem Trocknen gehen und im Wasser sitzen kann.
Denke an die Fische, meine Liebe,« fuhr er fort, »sie können schwimmen,
das ist wahr, aber nur unten. Hast du einmal einen Fisch gesehen, der
schwamm, während er den Kopf aus dem Wasser streckte?«

»Wenn du von Fischen sprichst,« antwortete die Ente, »so muß ich immer
an die kleinen denken, die man essen kann, wenn es einem gelingt, sie zu
fangen.«

Aber ihr Mann ließ sich nicht stören.

»Du bist so sprunghaft in deinen Gedanken,« sagte er, »niemals kannst du
bei einer Sache bleiben. Höre jetzt genau zu.«

»Du sprichst ja auch von verschiedenen Sachen,« antwortete seine Frau,
»hast du nicht vom Schwimmen, Fliegen und vom Gehen zugleich
gesprochen?«

»Ich habe von den Eigenschaften der Enten gesprochen, meine Liebe, und
nicht vom Essen. Für dich haben, scheint es mir, nur Dinge Bedeutung,
die man hinunterschlingen kann.«

»Ißt denn etwa du selber nichts?« fragte seine Frau und schüttelte ihren
Schnabel, als wenn sie den ganzen Kopf fortschleudern wollte. »Du hast
einen Appetit, von dem man überall spricht, wo du bekannt geworden
bist.«

»Aber natürlich, Liebe ...«

»Nun, siehst du? Was ist also?«

»Ach Gott ...« sagte der Enterich.

Sie waren schon lange zusammen, die beiden, und lebten eigentlich recht
glücklich miteinander, das hätte niemand anders sagen können, aber ohne
Zweifel war der Enterich eine Natur, die die Dinge gern beschaulich
betrachtete. Er machte sich seine Gedanken über dies und das und sprach
sie nachher auch aus, damit sie nicht umsonst gedacht worden waren. So
kam es, daß er sich oft mit allerlei beschäftigte, was nicht unbedingt
zu den praktischen Lebensfragen gehörte. Seine Frau dagegen hielt sich
mehr an das, was man wirklich unter die Flügel oder in den Schnabel
nehmen konnte. Das war ihm oft schmerzlich, gewiß, aber er hatte doch
ein verständiges Einsehen dafür, daß man mit Gedanken allein keine
Würmer aus dem Ufersumpf ziehen konnte, und daß einem kein junger Frosch
in den Schnabel schwamm, weil über diesem Schnabel ein gediegener
Gedanke über das Leben entstanden war. Aber kleine Reibereien gab es
natürlich doch; denn Leute, die oft und gern über das Leben nachdenken,
halten meistens viel von ihren Gedanken und haben gern, wenn man sie
anhört und auch etwas davon hält.

[Illustration]

»Also, Liebe,« fuhr er nun fort, »nun höre mir einmal zu. Ich habe nicht
die Absicht gehabt, mit dir über das Essen zu streiten, sondern ich
wollte dir einmal wieder so recht deutlich ins Bewußtsein bringen, was
für ein gesegnetes Geschlecht im Grunde wir Enten sind. Das erhöht die
Lebensfreude, meine Gute.«

»Ja, aber meinst du denn,« entgegnete die Ente, »daß wir Lebensfreude
empfänden, wenn wir nichts zu essen hätten?«

»Himmel und Wolkenbruch,« rief der Enterich, »jetzt hältst du aber den
Mund!«

»Ach, du lieber Gott,« schluchzte die Ente, »nun wirst du grob und
beschimpfst mich, während ich nur das Beste gewollt habe. Sag’
wenigstens nicht Mund, sondern Schnabel, wie es sich für eine anständige
Ente gehört.«

»Wenn du ihn hältst, so will ich ihn nennen, wie er heißt, aber begreife
endlich, was mir im Sinn liegt! Schon als ganz kleines Tier war ich so,
daß ich längere Zeit über alles nachdenken mußte, was ich sah oder
erlebte; wenn ich dir schildern könnte, wie tief mir alle Eindrücke
gegangen sind! Das Schilf in der Sonne, die Flußfahrt durch den
Kiefernwald oder der erste Flug über Land. Vom Tauchen schweige ich, ich
dachte damals im durchsichtigen Wasser, kein Tier ist so glücklich wie
eine junge Ente. Den Schnabel im Morast und die Beine gegen die Sonne,
ach, Liebe ...«

Die Ente betrachtete ihren Gatten, wie er da stolz und fest im
Uferwasser saß, und wie die kleinen Bachwellen die herrlichen blauen
Streifen seines Flügels bespülten; die Beine schimmerten rötlich durch
die Flut, und der ungemein wohlwollende Ausdruck seines klugen Gesichts
söhnte sie aus.

»Sprich nur weiter,« sagte sie freundlich, »es schadet ja nichts.«

»Es schadet nichts ...« wiederholte der Enterich langsam und dann
schwieg er. Aber mitten in seinem Groll kam ihm in den Sinn, daß seine
Frau in diesem Frühjahr ihre Jungen gegen einen Habicht verteidigt
hatte; sie, das kleine schwache Tier, ohne Krallen und mit einem
stumpfen Schnabel, der nur zum Wühlen im Schlamm und bestenfalls zum
Festhalten eines kleinen Fisches oder eines Wurms geeignet war. Sie war
dem Raubvogel mit einem wilden Geschrei entgegengeflogen, das er noch
niemals von ihr gehört hatte, und ihre Flügel peitschten die Luft, daß
es sauste. Das Herz des Enterichs schlug, als er an diesen Augenblick
dachte; die Jungen hatten Zeit gehabt, ins Schilf zu flüchten, und dann
plötzlich, als alle in Sicherheit waren, war seine Frau so rasch im
Wasser verschwunden, als hätte ein großer Hecht sie hinabgerissen.
Später hatte sie rasch ihre Kleinen wiedergefunden, und sie waren ihnen
erhalten geblieben, die acht.

»Nun gut,« sagte er, »ich werde also weitersprechen.« Aber er kam nicht
dazu, denn es geschah etwas sehr Merkwürdiges: über ihnen wurde ein
feines Klatschen hörbar, und eine helle Stimme rief:

»Fliegt auf! Fliegt auf!«

Nun, das taten die beiden Enten sogleich mit lautem Geschrei und
Flügelschlagen, so daß das Wasser aufspritzte und das Schilf rauschte.
In der Natur warnen alle befreundeten Tiere einander durch Zurufe, und
da die Enten die Stimme verstanden hatten, folgten sie sofort der
Warnung. Sie wußten nicht, daß es der Elf gewesen war, der in die Hände
geklatscht hatte, und noch weniger ahnten sie, weshalb er es getan, und
in welch entsetzlicher Gefahr sie geschwebt hatten. Denn kaum machten
ihre Flügel den ersten wuchtigen Schlag, der sie emporriß, als durch das
Schilf mit einem langen Satz der Fuchs aufsprang und ihnen enttäuscht
und zornig nachschaute. Er hatte sie bis auf knapp drei Entenlängen
bereits erreicht, niemand kann leiser durch das Schilf schleichen als
ein Fuchs, aber mit dem Elfen hatte er in keiner Weise gerechnet.

»Was fällt Ihnen ein!?« rief er grimmig empor zu dem Ast, auf dem der
Elf sich schaukelte und lachend zu ihm niedersah. »Glauben Sie, ich jage
hier zu meinem Vergnügen? Wie kommen Sie dazu, sich in meine
Angelegenheiten zu mischen?«

Wie böse er dreinschaute! Sein kluger Kopf mit der schmalen, langen
Schnauze und den lebhaften, dunklen Augen sprühte geradezu von Kraft und
Haß, die herrliche Farbe zeichnete sich klar vom grünen Untergrund des
Schilfs ab, und die prächtigen hohen Ohren waren weit zurückgelegt, was
ihm oft passierte, wenn er ärgerlich war. »Kommen Sie nur herunter, Sie
weißes Federvieh, ich reiße Sie in Stücke, daß Sie auffliegen wie
Pusteballen vom Löwenzahn. So was!«

Da schwang sich der Elf ins Schilf nieder und setzte sich gerade vor
die Nase des Fuchses auf einen Halm, dicht vor die blitzenden weißen
Zähne, die gefährlich aus den schmalen schwarzen Lippen hervorblitzten.

Der Fuchs prallte zurück. »Sie sind mir zu hell,« sagte er bestürzt,
»sonst ... nun, Sie würden etwas erleben!«

Der Elf strich sein Haar zurück. Er hätte nie geglaubt, daß der Fuchs
ein so schönes Tier sei. »Sei nicht mehr böse,« sagte er, »ich weiß
selbst nicht, wie es über mich gekommen ist, ich habe im Augenblick nur
an die Enten gedacht, sie taten mir leid. Natürlich bist du im Recht,
auch du willst leben.«

»Allerdings«, sagte der Fuchs befangen. Er starrte den Elfen an, als
sähe er Wunder.

»Wer sind Sie?« fragte er, und seine runden Augen unter der gerunzelten
Stirn drückten in gleichem Maße Erstaunen wie Bewunderung aus. »Hell wie
der Himmel, ein kleiner Mensch und zugleich ein geflügeltes Wesen sind
Sie.« Er schüttelte den mächtigen Raubtierkopf, in dessen Rachen der Elf
in einem Augenblick hätte verschwinden können. Aber seine Unbefangenheit
und seine Schönheit beschwichtigten den Zorn des Fuchses völlig, wie
Schönheit und Unbefangenheit in der Welt nun einmal die stärksten Waffen
gegen das Böse sind.

»Ich bin ein Elf. Denke dir, ich saß dort im Busch, als die Enten
kamen, und hörte ihnen zu. Kannst du verstehen, daß ich Teilnahme für
die Tiere fühlte, da ich ihnen doch längere Zeit gelauscht hatte? Es
geht einem zuweilen so, und ich hätte sie nun nicht unter meinen Augen
sterben sehen können.«

Der Fuchs hörte kaum zu, die Enten waren ihm völlig gleichgültig
geworden. Als ob er nicht Enten fangen konnte, sooft er wollte, aber ein
Elf saß vor ihm, ein Blumenelf! Er hatte bisher auf das bestimmteste
geglaubt, Elfen kämen nur in alten Geschichten vor, in Märchen oder
bestenfalls nachts im Mond über den Blumen, dann weiß man nie recht, was
Wirklichkeit oder Traum ist, denn in seinem geisterhaften Licht werden
alle Dinge geheimnisvoll. Aber nun saß dort in der hellen Sonne, im
Grünen, leibhaftig ein Elf vor ihm; es war sicher einer, so viel wußte
er auch, was sollte denn dieses zarte Lichtwesen sonst sein, die
Geschöpfe des Waldes kannte man doch. Was ihn aber am meisten in
Erstaunen setzte, war die Tatsache, daß der Elf nicht im geringsten ihm
mißtraute oder ihn fürchtete. Kannte er denn seinen Ruf nicht, alle die
bösen Geschichten, die die Waldleute sich über ihn erzählten, über seine
Tücke, seine Schlauheit und seine Raubgier? Kein Tier der Wälder war
gefürchteter und gehaßter als er, und nun saß dieser kleine Himmelsbote
vor ihm, als sei er seinesgleichen. So dachte sich der Fuchs: Es ist
schon besser, ich zeige mich gleich so böse, wie ich bin, als ein
schlauer Räuber und mächtiger Waldherr, später erfährt der Elf es ja
doch, und ich erlebe, was ich so oft erlebt habe, daß er mir weder traut
noch glaubt und sich enttäuscht von mir abwendet. Es ging ihm, wie es
oft gescholtenen Leuten bisweilen ergehen kann, er hatte die Lust daran
verloren, anders als böse zu erscheinen. Und so sagte er denn und
knurrte mürrisch:

»Ich bin der Fuchs, Reiner heiße ich, der Wald kennt mich.«

Der Elf ahnte die Gedanken seines neuen Bekannten nicht. Ganz
hingerissen von Entzücken, trat er dicht an ihn heran und strich mit der
Hand über das warme, weiche Fell, das in der Sonne glänzte und so
sorgsam gepflegt war, daß auch nicht ein Härchen hervorstand.

»Herrlich,« sagte er, »ganz herrlich!« Er konnte sich nicht satt sehen
an diesem wohlbestellten Körper, der schmal und zugleich kräftig war,
geschmeidig und anmutig. Die hochstehenden spitzen Ohren waren außen von
tiefstem Schwarz und innen weiß, ebenso war seine Brust von reinstem
Weiß, und die schlanken Pfoten an den feinen Gelenken verrieten ihr
Geschick sowohl zu leisem Tritt wie auch zu wuchtigem Sprung. Der
breite, buschige Schwanz war sicher seine schönste Zierde, er lag rund
im Gras, an den Körper angeschmiegt und leuchtete geradezu in seiner
roten Waldfarbe.

»Du bist der Mächtigste im Wald,« sagte er leise, fast als spräche er zu
sich selbst, »niemand vermag dir zu widerstehen.«

Der Fuchs war sehr überrascht, daß ihm diese Tatsache nicht wie
gewöhnlich zum Vorwurf gemacht wurde.

»Es ist wahr«, sagte er und lächelte ein wenig überlegen, aber durchaus
nicht böse. »Ich tue, was ich will, aber dadurch habe ich noch bei
niemandem Gefallen erregt.«

»Jeder lebt auf seine Weise«, sagte der Elf nachdenklich. »Hast du keine
Feinde, die du fürchtest?«

»Den Menschen,« antwortete der Fuchs, »sonst möchte ich wissen, wer es
wagt, mir in den Weg zu treten.«

»Gestern sah ich einen Bussard,« erzählte der Elf, »der große Raubvogel
flog zwischen den Baumstämmen dahin, lautlos und gewichtig, und suchte
den Boden ab. Wenn er nun dich fände, was würde geschehen?«

Der Fuchs lächelte. »Er würde sich besinnen, ehe er mir zu nahe käme,«
sagte er, und in seinen Augen blitzte ein böses Licht auf, »aber im
allgemeinen lassen wir einander unsere Wege, der Wald ist reich.
Außerdem gibt es Taubenschläge, Enten- und Hühnerhöfe, Kaninchenställe
und Gänse auf den Wiesen.« Er blinzelte dem Elfen zu, aus seinen
Augenspalten kam ein schräger, verschlagener Blick.

Aber obgleich der Elf wußte, daß diese Tiere den Menschen gehörten und
ihn der Blick des Fuchses bis ins Herz erschreckte, wuchs seine
Bewunderung für das mächtige Waldtier, und ihn erfaßte ein heimlicher
Schauer vor der Klarheit dieser kalten, schönen Augen. Gerade wie jetzt
eben der Fuchs vor ihm stand, ein wenig zurückhaltend in der Neigung des
Kopfes und das Licht auf dem geschmeidigen Nacken, während der eine
zierliche Vorderfuß mit unbeschreiblicher Anmut in einen Winkel
emporgezogen war, bot er ein Bild, das Wunder von Lebensfülle, Kraft und
Schönheit ausstrahlte. Und der Elf mußte denken: O du herrlicher Wald!
In deinem feuchten Schatten über dem sanften Moos, oder im goldenen
Licht unter deinen Zweigen, in deinem Dickicht und hoch über deinen
grünen Kronen schwebt und wandelt und schweift es umher in ungezählten
Formen der reichen Natur. Und er mußte an die Sonne denken, die alle
diese lebendigen Wunder der Erde wärmte und entzückte, die sanften und
die rauhen, die arglosen wie die blutgierigen, und sein Herz erzitterte
aufs neue in überquellender Seligkeit, daß er mitten unter allen
Geschöpfen weilen durfte, atmend und schauend, ihre Art erkennend, ihr
Wesen begreifend und vom Dasein entzückt wie sie. Es erfaßte ihn
jählings ein fremdartiges Heimweh, auch einst sterben zu dürfen wie sie,
nur um ihnen in ihrem Geschick nah zu bleiben.

Der Fuchs betrachtete den Elfen aufmerksam und erstaunt. Nun ist es so
bestellt, daß, wenn ein Herz von einer Freude erfüllt ist und ganz
selbstvergessen in ihr erglüht, so strahlt sie aus den Kammern des
Herzens hervor, bis in die Züge des Gesichts, wie durch Glas, und füllt
die Augen mit Licht. Es ist viel schwerer, eine Freude für sich zu
behalten als einen Schmerz.

Was hat er nur, dachte der Fuchs, ich zeige ihm, wie gefährlich ich bin,
und er wird immer beglückter. Das wunderte ihn, und er beschloß, den
Elfen geradeheraus zu fragen, wie er über ihn dächte.

»Mein Lieber,« sagte er zögernd, »weißt du eigentlich nicht, wie man im
Wald über mich denkt?«

»Warum tötest du Tiere?«

Der Fuchs erschrak. Er wußte nicht, worauf der Elf hinauswollte, aber er
merkte nun, daß er wohl über ihn und seine Eigenart unterrichtet war.

»Um zu leben«, antwortete er.

»Tötest du niemals ohne Grund?«

»Nein,« sagte der Fuchs, »das wäre nicht klug. Ich nehme, was ich für
mich und die Meinen zum Leben brauche.«

»Es gibt kein Geschöpf in der Welt, das es anders macht,« entgegnete der
Elf, »deshalb laß es dir keine Sorge sein, wie andere über dich denken.«

Der Fuchs schaute seinen kleinen Nachbar groß und ruhig an: »Ich habe
niemals anders empfunden,« sagte er ernst, und der Ausdruck von
Verschlagenheit war völlig aus seinem Gesicht verschwunden, »ich
wünschte mir nur, alle dächten so wie du.«

Sie schritten miteinander den Bach entlang aufwärts. Die
Nachmittagssonne schien durch die Kiefern durch einen feinen grauen
Schleier, den sie golden färbte, so daß die Stämme wie in einem
Traumland standen. Es war so kühl und still, daß die Augen sich nicht
bewegen mochten, als müßte das friedliche Bild des Waldes sich so bunt
in ihnen spiegeln, wie es in der Luft entstand. Die ersten Krähen zogen
heim, man hörte ihre Stimme über sich in der Höhe.

»Einmal kommt eine Zeit,« sagte der Elf, »da werden alle Geschöpfe so
übereinander denken. Sie wird wiederkommen. Es gibt eine uralte Sage der
Menschen, nach welcher es einmal so gewesen ist.«

»Davon habe ich gehört«, sagte der Fuchs spöttisch. »Da spielte die
Ziege mit dem Löwen Verstecken, und die Wölfe fraßen Brombeeren. Ich
danke.«

Der Elf lachte.

»Es wird dich niemand überreden, Brombeeren zu essen,« antwortete er,
»gerade darin wird die Eintracht bestehen, daß jeder die Eigenart des
anderen versteht.«

»Ich verstehe die Eigenart der Hasen sehr gut,« sagte der Fuchs und
schielte zu seinem Begleiter hinüber, »wenn nur die Hasen auch meine
verstehen wollten und sich fressen ließen, wäre alles gut.«

Wieder mußte der Elf lachen, aber die Freude, die aus seinem Lachen
klang, hatte etwas seltsam Zuversichtliches, es schien nicht so, als ob
die Antworten des Fuchses ihn in seinem Glauben irre machten.

»Du bist schlau,« sagte er und schaute dem großen Gefährten in die
wachen Augen, »mit dir ist nicht leicht zu streiten, du siehst alle
Dinge so, wie sie dir recht sind, und was dir nicht gefällt, das nennst
du die Fehler der anderen. Aber ich habe doch recht, das letzte Ziel des
Lebendigen ist eine große Harmonie, eine Freude ohne Ende.«

»Willst du darauf warten?« fragte der Fuchs. Aber er achtete nicht auf
die Antwort, er wandte den Kopf blitzschnell zur Seite, denn es
raschelte im Gebüsch. »Eine Maus«, sagte er leise und hob den Vorderfuß.

»Woher weißt du das?« fragte der Elf.

»Ich höre es«, antwortete der Fuchs einfach. Es schien, als wäre er auf
seine scharfen Sinne nicht einmal besonders stolz. »Lassen wir sie,«
meinte er und ging weiter, »das muß eine schlechte Zeit sein, in der der
Fuchs Mäuse frißt.«

»Siehst du«, sagte sein Gefährte leise.

»Was soll ich denn sehen?«

Der Elf antwortete: »Und viel später wird es eine Zeit geben, welche
schlecht nennt, wenn nur ein Wesen noch das andere bedrängt. Immer
höher und höher entwickelt die Natur ihre Geschöpfe, ist ihr nicht
schon der Mensch gelungen?«

Der Fuchs blieb stehen. »Du hältst etwas vom Menschen, Elf?«

»Viel, sehr viel, am meisten.«

»Und glaubst du, der Mensch bedrängte die lebendigen Wesen der Natur
nicht?«

»Doch,« antwortete der Elf, »er tut es, aber es gibt Menschen, die
leiden darunter, daß sie es tun, das ist schon viel näher dem großen
Ziel. Du wirst mich nicht verstehen, aber glaube mir, die Erde ist noch
sehr, sehr jung, wir können nur ahnen, wie herrlich ihr letztes Kleid
sein wird. Wenn nicht einst alles vollkommen würde, so würden wir nicht
dies Verlangen danach im Herzen haben, das alle Kreatur bewegt. Die
einen wissen es, die anderen ahnen es nur, viele tun nicht einmal das,
aber alle richten ihre Augen hinauf, zum Licht.«

»Wenn du recht haben solltest,« entgegnete der Fuchs, »so kann ich mir
aber kaum denken, daß es später noch Füchse und Enten gibt, Raubtiere
und arglose Geschöpfe, die ihre Beute werden. Oder es kommt auf die
Brombeeren heraus, und da tue ich, wie gesagt, nicht mit. Ich danke für
ein Friedensreich, in dem ich den ganzen Tag darüber froh sein soll, daß
ich keine jungen Hasen fresse.«

Der Elf lachte wieder sein seltsames Lachen, und der Fuchs dachte: Ein
merkwürdiger Elf, er lacht über mich, und ich fühle mich doch nicht
verletzt, er weiß es besser als ich und achtet mich doch hoch, er ist
überlegen und doch wie ein Kind, ein merkwürdiger Elf. Aber er war
neugierig geworden, und da ein Fuchs zu den klügsten Tieren gehört, die
es gibt, wird es sich begreifen lassen, daß ihm viel daran lag, den
Elfen zu verstehen. Es ist wahr, oft verletzt die Wahrheit, aber man
kann die Wahrheit auch sagen, ohne zu kränken, denn die großen
Wahrheiten verletzen nicht, sondern nur die kleinen.

»Es gibt viele Menschen,« fuhr der Elf fort, »die stellen sich den
Himmel ebenso vor wie du. Sie denken sich, sie müßten in weißen Kleidern
einhergehen und allerlei Gutes tun, das ihnen langweilig ist, und mit
feierlichen Gesängen den lieben Gott loben, der auf einem Thron sitzt
und sich an ihren schönen Stimmen freut. So ist das Friedensreich nicht,
nach dem wir alle uns sehnen, wenn das Ungemach des irdischen Lebens uns
bedrückt. Es ist immer mitten unter uns, denn wir sind alle auf dem
gleichen Wege, die Menschen, du und die kleinen Gewächse, die du im
Schreiten mit den Füßen berührst. Ich habe vorhin deine Gestalt
bewundert, deine wohlbestellten Sinne, deinen klaren Blick und eben noch
dein Geschick, nur aus einem Geräusch ein Tier zu erkennen. Sieh, dies
herrliche Leben in dir wird sich einst zum Vollkommenen vollenden; was
heute so klug Geringes erkennt, wird einst alles erkennen, was heute
als Frohsinn in deinem warmen Blute pocht, wird einst als unvergängliche
Freude emporblühen, und indem du lebst in deiner Freiheit, lebt in dir
die treibende Kraft zur ewigen Harmonie. Dein Wert ist dein Himmel, er
ist unvergänglich, und so gehörst auch du dem Reich an, von welchem mein
Herz träumt.«

»Das läßt sich hören,« sagte der Fuchs, »woher weißt du das?«

Der Elf sah verwirrt auf. »Ich weiß so wenig,« sagte er schüchtern,
»ach, denke doch nicht, ich wüßte etwas Rechtes, ich muß so denken, weil
ich alles Lebendige lieben muß, immer und immer spricht in mir meine
Liebe ihre eine Wahrheit, und sie lautet: Alles wird einst gut sein, was
heute schön ist.«

»Daß du das alles gerade mir sagst, finde ich besonders freundlich«,
meinte der Fuchs. Er sah auf und lauschte. »Entschuldige mich einen
Augenblick,« bat er, »siehst du dort drüben den bemoosten alten
Baumstumpf? Der Ort ist mir schon lange verdächtig, aber ich komme nicht
hinter sein Geheimnis. Gestatte, daß ich eben hinüberschaue, es liegt
ein Geruch in der Luft, der mich erregt.«

Er trabte über das Moos unter die Stämme, man vernahm keinen Laut;
selbst ein Schmetterling, der sich auf einer Brombeerblüte
niedergelassen hatte, erhob sich nicht. Der Elf begleitete den Fuchs,
wie eine wehende weiße Blüte glitt er durch den rötlichen
Abendsonnenschein.

Er sah, wie der Fuchs vorsichtig den Baumstumpf umschritt, der Ausdruck
seines Gesichts war gespannt und besorgt, und plötzlich legte er beide
Ohren zurück, und sein Körper nahm eine drohende Haltung an. Es schien
nun nicht mehr so, als spürte er einer Beute nach, sondern als erwartete
er einen Feind. Er wandte sich nach dem Elfen um, schien etwas sagen zu
wollen, zögerte aber und schwieg. Seine schwarze Nase arbeitete ohne
Unterbrechung, als sei sie ein kleines Wesen für sich, seine Augen
funkelten klein und böse, und er schlich so tief am Boden dahin, daß er
fast um die Hälfte kleiner erschien.

Unter zwei gewaltigen Wurzelansätzen war der Eingang zu einer Höhle
sichtbar, die durch den ausgehöhlten Stumpf tief in die Erde zu führen
schien. Der Fuchs prüfte die beiden Ausgänge, die auf diese Art seitlich
und nach oben hin entstanden, und schnupperte den Boden ab. Es war eine
deutliche Fährte im Moos erkennbar, die ins Dickicht lief. Nun horchte
der Fuchs, er hielt den Kopf schräg und hob den Vorderfuß. Und dann
schien es, als nähme eine heiße innere Erregtheit ihm plötzlich alle
Vorsicht, er schien den Elfen und jedes Ding um sich her vergessen zu
haben, und aus dem halbgeöffneten Rachen, dessen Zähne hinter den
hochgezogenen Lippen blitzten, kam ein wütendes Knurren, das einen
solchen Haß, so viel Kampfesgier und Zorn verriet, daß der Elf bis ins
Herz erzitterte. Es wird einen großen Kampf geben, dachte er bebend,
welch ein Tier mag dort hausen? Noch als er in Zweifel und Sorge
bedachte, ob er den Fuchs nicht bitten sollte, von seinem Vorhaben
abzustehen, erklang aus dem Innern der Höhle eine feine eindringliche
Stimme von großer Schärfe, man hätte fast glauben können, daß eine
wütende Katze fauchte, und der Elf verstand:

»Geh weiter! Ich warne dich, oder du hast deinen letzten Gang gemacht!«

»Reiner,« rief der Elf laut, »komm, ich bitte dich!«

Aber der Fuchs hörte nicht, seine Augen funkelten, als hätte er Feuer
unter der Stirn, und sein ganzer Körper war in so hoher Anspannung, als
zöge eine mächtige Hand einen Bogen bis zum Zerbrechen an. Trotzdem
klang seine Stimme ruhig, als er antwortete:

»Mit solchen Worten scheucht man Kaninchen, du Tor, du hast vor Angst
den Verstand verloren; komm heraus, wenn ich dich nicht in deinem Loch
erwürgen soll wie eine Maus.«

Es blieb still. Der Fuchs stand so, daß er beide Ausgänge übersehen
konnte. Diesen Augen und Ohren entging nichts. Der Elf empfand, daß kein
Einspruch mehr nützen würde; hier war ein Haß entfesselt, der so alt
war, wie das Leben selbst, und solchen Gewalten der Natur gegenüber gibt
es kein Hindernis, sie toben sich aus wie die Gewitter, oder wie der
Frühlingssturm, und wer nicht die Kraft hat, sein Leben im Kampf zu
wahren, der muß es verlieren.

Gebannt von Entsetzen und Bewunderung sah er hinüber, und ohne daß er
noch die Kraft besessen hätte, auch nur ein Wort über seine Lippen zu
bringen, wurde er Zeuge des furchtbarsten Kampfes, den er jemals in
seinem Leben gesehen hatte. Wohl war er nach allem Vorangegangenen auf
einen Angriff gefaßt, auch ahnte er, daß er unversehens und plötzlich
kommen würde, aber einen Überfall von solcher Wildheit, wie er nun
jählings erfolgte, hatte er nicht für möglich gehalten.

Es schoß blitzschnell aus dem Dunkel der Höhle hervor wie ein niedriger
Schatten, und nur an dem furchtbaren Anprall der beiden Körper erkannte
er, daß dies heranstürmende Etwas ein Wesen von Fleisch und Blut war.
Lange Zeit unterschied er nicht mehr als ein wildwogendes Knäuel, das
sich ohne einen Laut, aber in unbeschreiblicher Erbitterung im Bodenlaub
wälzte. Erst als die beiden Tiere sich für eine Weile losließen, wie um
Atem für ein erneutes Ringen zu schöpfen, sah er, daß es ein Marder war,
den der Fuchs aufgestört, und der ihn nun angefallen hatte.

Er sah kleiner und schmächtiger als der Fuchs aus, aber wie er jetzt
dort im Laub hockte, an den Boden gedrückt, sprungbereit und den
kleinen, bösen Kopf, in dem die Reihen der entblößten Zähne wie kleine
weiße Sägen blitzten, bot er das Bild eines unheimlichen und
einschüchternden Gegners, dessen Gewandtheit und Kraft unberechenbar
erschienen, und dessen Raubsinn und Blutgier denen des Fuchses um
nichts nachstanden, ja von noch größerer Tücke und Bosheit beherrscht
sein mochten.

Wohl war der Fuchs größer und sein Gebiß war mächtiger, wie auch seine
Körperkraft größer war, aber er bekam neben diesem geduckten Grimm
seines Gegners beinahe etwas Harmloses. Der Elf konnte kein Auge von dem
Marder wenden, er verstand den brennenden Haß, der diese beiden Tiere in
eine ewige Feindschaft trieb, und jeder Versuch zu einer Versöhnung wäre
einem kindlichen Vorhaben gleichgekommen.

»Einer von euch wird sterben«, stammelte er zitternd.

Der Fuchs stand unbeweglich, als wäre er aus Holz geschnitzt, nur seine
Rückenhaare hatten sich gesträubt, und in seinen Augen funkelte ein
Feuer, so inbrünstig von Wut entfacht, daß es unmöglich schien,
hineinschauen zu können. Aber die Raubtierblicke des Marders hielten
diesen Augen stand; den seinen, die wie zwei stille, gelbe Edelsteine
unter der harten Stirn lagen, entging keine noch so kleine Regung des
Gegners, ja es erschien, als errieten sie, wie zwei geisterhafte
Spiegel, jeden Gedanken des anderen.

Dieser Augenblick der scheinbaren Ruhe war von höchster Spannung, es tat
einem fast weh, in diesem Zustand der Erwartung verharren zu müssen, und
man fühlte sein Blut in tausend kleinen Hämmern überall arbeiten.

Da, wie ein Pfeil, der aus dem Hinterhalt abgeschnellt wird, fuhr
plötzlich von unten her der Marder aufs neue zu, und diesem tückischen
Angriff gegenüber erkannte der Elf zum erstenmal die Erfahrenheit und
Klugheit des Fuchses in ihrem ganzen Umfang. Statt auf die jähe
angreifende Bewegung des Marders einzugehen, verharrte er bewegungslos,
sich dessen bewußt, daß er seinen Gegner Rachen an Rachen nicht zu
fürchten hatte, und daß der Marder nur auf eine ungeschickte Wendung
gehofft hatte, um die Kehle seines Feindes durchbeißen zu können.

Aber ehe der Elf einem neuen Vorgang mit den Augen folgen konnte, sah er
die beiden Raubtiere sich in einem wildbewegten Knäuel am Boden wälzen.
Es war nichts mehr deutlich zu unterscheiden, bald leuchtete das Rot des
Fuchsfelles auf, bald sah er den hellen Brustflecken am dunklen Fell des
Marders aufblinken, und schon glaubte er, der Fuchs habe die Oberhand
gewonnen, als ein gräßliches, wildes Geschrei die Waldstille weithin
zerriß. Schrie der Marder? Schrien beide Tiere? Diese Laute waren
furchtbar anzuhören, Schmerzen, Wut und Todesangst gellten heraus und
eine Lebensgier, die alles um sich her vergaß, den Wald, die Tiere, den
Himmel und die Erde.

Da nahm der Elf zu seinem Schrecken wahr, daß es der Fuchs war, der
schrie, und zugleich erkannte er, daß im Laub und im Moos rote und
dunkle Flecken dort zurückblieben, wo das Knäuel der ringenden Körper
sich vorübergewälzt hatte. War es möglich, daß der um so vieles kleinere
Marder als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen sollte? Nun erkannte er
auch, daß sich der Marder im Hinterfuß des Fuchses verbissen hatte, und
daß kein Zerren, kein Schütteln und Schleifen ihn zu lösen vermochten.
Keine noch so rasche Wendung half dem schwer behinderten Fuchs, immer
war der Marder rascher im Entweichen, und sein Gebiß war wie eine Zange
in das Fleisch des Fuchses geschlagen.

Und nun ließ der Fuchs langsam in seinem Bemühen nach, er ermattete mehr
und mehr, sein zorniges Schreien verstummte, und nach einer kleinen
Weile sank er halb zu Boden. Der Elf hätte ihn verloren gegeben, wenn er
nicht einen Blick aus den Augen des scheinbar durch seine Blutverluste
so arg geschwächten Tiers aufgefangen hätte, einen raschen Blick, der
aber auch nicht eine Spur von Ermattung oder Sterbensnot verriet,
sondern eine Wachheit und Klarheit aller Sinne, als sei ihm nicht das
kleinste Unheil widerfahren.

Aber der Marder ließ sich täuschen. Ihm schien der Augenblick gekommen,
seinem verwundeten Feind die Kehle zu durchbeißen, er ließ das Bein des
Fuchses fahren und fuhr zu, der weit vorgestreckte Kopf mit dem offenen
Rachen sah wie das Gifthaupt einer großen Schlange aus, so schlank und
geschmeidig erschien es in dieser bösen, gierigen Hast. Aber da, es sah
aus wie ein roter Blitz, schnellte der Fuchs herum, nun erkannte auch
sein Gegner, daß er getäuscht worden war, und daß der Fuchs alle Kräfte
beisammen hatte; doch ehe er zu neuer Besinnung kam, hatten die
furchtbaren Zähne des Fuchses sich tief in seinen Hals gegraben. Man
vernahm nur einen kurzen schrecklichen Laut von röchelnder Todeswut,
dann wurde es still, und langsam hörten die Zuckungen des Körpers auf,
den der Fuchs unter sich am Boden festhielt.

Erst als sich keine Regung des entfliehenden Lebens mehr wahrnehmen
ließ, löste er seine Zähne aus dem Hals des Feindes und sprang in einem
weiten Satz von ihm zurück, immer noch wie in Sorge, dies zähe,
eigensinnige Räuberleben möchte sich trotz seiner Todeswunde zu einem
letzten Biß aufraffen. Aber es geschah nichts dergleichen. Der Wald war
wieder ruhig geworden, und kein Laut erinnerte mehr an das
Kampfgeschrei, das ihn noch eben weithin durchklungen hatte. Nur ein
paar Krähen kreisten hoch über den Wipfeln der alten Bäume, unter denen
der Marder starb.

Ein kleines rotes Bächlein rieselte aus seinem durchbissenen Hals ins
Moos. Der Fuchs sah ruhig mit seinen klaren Augen hinüber und leckte
sich die Lippen, sein breiter roter Schweif peitschte das Laub, er sah
zufrieden und stolz aus, auch nicht ein Schatten von Reue oder Mitleid
trübte ihm den bösen Genuß seiner Kraft und seines Sieges. Seine Wunde
beachtete er in diesen Augenblicken nicht.

Du mächtiger Herr im Wald, dachte der Elf, und sein Herz zitterte. Du
kannst hassen und töten, genießen und sterben, alles ist dein
unvermindertes Recht.

Da erinnerte sich auch der Fuchs des Elfen, er sah hinüber und lachte.

»Nun,« rief er, »was sagst du dazu? Ich habe gewußt, daß hier etwas
nicht geheuer war, und ich suchte den Marder schon seit langem. Du
hältst mich wohl für sehr böse?«

Der Elf strich sein Haar zurück und atmete tief auf.

»Ich halte dich für stark und klug«, sagte er und preßte die bebenden
Hände zusammen. »Denk an mich und vergiß mich in deiner Freiheit nicht.«
Und er flog nach diesem Gruß auf und davon, das Herz von Erhobenheit und
Bangen zerteilt.

Der Fuchs sah ihm so lange nach, als er ihn zwischen den Stämmen im
Licht der Abendsonne erkennen konnte, und dachte: Er läßt mir, was ich
bin und was ich habe, so möge auch er einmal empfangen, was sein Teil
ist zu seiner Freiheit, das wünsche ich ihm.



                          Sechzehntes Kapitel

                            Die Elfennacht


Eines Tages, als die große Sonne schon rot und feierlich am Abendhimmel
stand und die Schleier der Heide mit ihrem goldenen Glanz entzündete,
kam aus dem Walddunkel ein seltsames Tier dahergeflogen, machte halt auf
der Wiese und fragte nach dem Elfen.

Das war zum mindesten ein Ereignis, denn die Tiere der Waldwiese mußten
sich nach dieser Frage sagen, daß es ferne und fremde Gegenden gab, in
welchen man vom Elfen etwas wußte, wahrscheinlich, ohne daß er sie
jemals aufgesucht hatte. Es kam hinzu, daß der geflügelte Bote
Bewunderung erregte, es war niemals zuvor ein ähnliches Tier auf der
Wiese gesehen worden. Auf den ersten Blick hätte man glauben können, es
sei eine Libelle, denn die Fremde hatte wie diese schönen glitzernden
Tiere durchsichtige Flügel und einen langen schmalen Leib, auch waren es
vier Flügel an der Zahl und ähnlich geformt, wie die der Libellen, aber
auf jedem von ihnen befand sich ein großer dunkler Fleck von tiefem
Blau. Vom gleichen schimmernden Blau war der schmale Körper, und die
klugen großen Augen schauten ernst, beinahe schwermütig aus dem Gesicht.
Es war, als käme dieses seltsame Geschöpf nicht aus Bereichen der
Tagesklarheit, sondern als sei es ein wunderbarer Nachtvogel der kühlen
Stunden, in denen am Himmel der Mond herrscht.

Zwei Schmetterlinge, ein Pfauenauge und ein Schwalbenschwanz,
entdeckten den fremden Boten zuerst, und rasch verbreitete sich die
Nachricht unter den Tieren der Waldwiese, daß die Botschaft des
Ankömmlings den Elfen anging. Die Bienen machten sich auf den Weg, ihn
zu suchen, denn in der Nähe war er nirgends zu sehen.

»Wie ist es denn?« fragte das Pfauenauge, »können Sie uns nicht
erzählen, was Sie dem Elfen zu sagen haben? Wir werden es schon
ausrichten.«

Die Fremde schüttelte den Kopf. »Das geht nicht,« sagte sie, »ich muß
ihn selber sprechen, ich komme von der Elfenkönigin.«

Das Pfauenauge erschrak. Es hatte sich inzwischen eine ganze Reihe der
Waldwiesenleute angesammelt, und nun wichen sie alle scheu ein wenig
zurück, man sah deutlich, wie diese Nachricht alle überraschte, denn wer
kannte die Macht der Elfenkönigin nicht. Es war eine Weile totenstill,
man hörte den Bach plätschern, und das Lindenrauschen füllte die
abendlich durchleuchtete Luft unter den großen dunklen Zweigen. Die
Blumen in der Nähe, die schon an ihren Schlummer dachten, horchten auf
und hoben ihre Köpfchen in die Abendstille. Wer hatte nicht von der
Elfenkönigin gehört! Wollte sie nun den Elfen, der ihnen allen lieb
geworden war, fortrufen und aufs neue in ihr Reich bannen, daß er ihrer
Gemeinschaft entzogen werden sollte?

»Sagen Sie uns, was geschehen wird«, bat ein Grashüpfer, aber die
Fremde schüttelte den Kopf, besorgt sah sie sich um. »Werden die Bienen
den Elfen finden?« fragte sie.

Der Schmetterling nickte. »Die Bienen finden alles, was sie wollen;
wissen Sie nicht, daß die Bienen darin groß sind?«

»Doch, doch,« lautete die Antwort, »aber es eilt, der Abend wird bald
hereinbrechen, und es ist weit bis zu den Moorseen.«

»Es ist mitten im Juli,« sagte eine Ameise geheimnisvoll, »von den
Glühwürmchen weiß ich, daß einmal im Jahr zur Sommerzeit bei Vollmond
die Elfenkönigin in der Waldtiefe Hof hält. Es wird schon etwas Wahres
an dieser Botschaft sein.«

Eine Grasmücke kam herzugeflattert, und die geflügelten Tiere stoben
auseinander, aber die Fremde blieb ruhig sitzen. »Ich reise im
Elfenfrieden«, sagte sie ruhig, und die Grasmücke ließ sich neben ihr
nieder, ohne ihr ein Leid zu tun, ja ohne ihr zu nahe zu kommen. Die
Waldelfen sind ein mächtiges Volk, selbst die größten Tiere gehorchen
ihrem Willen, denn es gibt vielerlei geheimnisvolle Künste und manchen
Zauberbann, den die Elfenkönigin verhängen kann. Ach, viele Wunder
walten im tiefen Wald, aber eines der größten werde ich nun erzählen.

Als nach einer Weile der Elf kam, von zwei Bienen geführt, die ihm
voranflogen, grüßte die Fremde ihn tief und ehrfürchtig, und sie
sprachen eine ganze Weile allein miteinander, während die anderen Tiere
neugierig und erwartungsvoll im Umkreis verharrten.

Der Ausdruck des Elfengesichts wurde nachdenklich und immer trauriger,
er sah vor sich nieder und sann, es schien als ob die Botschaft des
blaugeflügelten Waldboten ihm tief ins Herz sank. Zum Schluß nickte er
langsam, grüßte die Fremde freundlich zum Abschied und sah ihr nach, als
sie schnurgerade und windesschnell mit leisem Schwirren davonflog, um
bald zwischen den Stämmen der Kiefern in der Dämmerung zu verschwinden.

Li, das Eichhorn, das seine Erwartung nicht mehr zurückhalten konnte,
trat nun zuerst an den Elfen heran.

»Willst du uns verlassen, Lieber?« fragte es rasch und ängstlich.

Da kam auch Uku auf einen niedrigen Ast herabgeflogen, und der Elf
wandte sich an sie:

»Uku, ich muß in dieser Nacht zur Elfenkönigin.«

Die Eule machte ein betroffenes Gesicht und sah schräg vor sich nieder,
man erkannte deutlich, daß diese Nachricht sie nicht erfreute, und es
schien, als wüßte sie, was sich mit dieser nächtlichen Begegnung
verbinden könnte. Endlich sah sie auf und dem Elfen gerade ins Gesicht,
der sich neben sie auf den Lindenast gesetzt hatte:

»Die Elfenkönigin ist großmächtig, eine Herrscherin im Wald und über
die Heide,« sagte sie, »sie wird dir die Freiheit zurückgeben, nach der
du Verlangen trägst.«

»Ja, sie wird mir helfen wollen«, antwortete der Elf. Seine Gedanken
schienen nicht bei seinen Worten zu sein, er legte seine Hand auf die
Brust und sah mit großen Augen in die Sonne, die jetzt dicht am Rand der
Erde stand und wie eine feurige Kugel glühte.

»Willst du uns verlassen?« fragte nun auch Uku. Ihr war wie allen Tieren
umher plötzlich bang ums Herz, alle erinnerten sich dessen, daß der Elf
aus fernen Regionen einer geheimnisvollen Welt zu ihnen gekommen, und
daß er im Grunde nicht ihresgleichen war. Sie hatten es längst
vergessen, so lieb war er ihnen geworden, und hatte er nicht immer alles
mit ihnen geteilt, was sie beschäftigte, freute oder bekümmerte? Nun
erschreckte sie der Gedanke, daß er fortfliegen möchte, zurück in sein
Elfenreich und sie zurücklassen.

Da sagte Uku plötzlich:

»So sollen wir denn allein den Herbst erwarten, die Trauer des Welkens
und einst unseren Tod; ach Elfenkind, vergiß uns nicht in deiner hellen
Heimat.«

Da kam eine seltsame Ruhlosigkeit über den Elfen, seine Augen
schimmerten in einem kühlen, fremden Licht, er verließ seinen Platz
neben Uku und flog zum Bach nieder. Dort nahm er das glitzernde Wasser
in seine Hand, hob es auf und sagte:

    »Ein Elf befiehlt dir gehorsam zu sein,
    Silber im Wasser, werde mein!«

Und während das Wasser aus seinen zarten Fingern niederrann, geschah das
Wunder, daß ein klarer Silberschimmer in seiner Hand zurückblieb, und er
legte ihn über seine hellen Flügel. In diesem Glänzen trat er nun zu den
winzigen Wasserperlen, die von einer Bachwelle an einem Schilfhalm
zurückgeblieben waren, hob seine Hand und sagte zu ihnen:

    »Ein Elf befiehlt euch gehorsam zu sein,
    reiht euch zur glitzernden Kette ein!«

Und wieder geschah, was er befahl, und als er diesen reinen Schmuck um
seinen Hals legte, war seine Pracht überirdisch zu schauen, die
Verwunderung der Waldwiesenleute nahm kein Ende, aber sie fürchteten
sich, denn er wurde ihnen immer fremder. Sie erlebten, daß er Wunder
über Wunder tat und sich für den Gang zu seiner Königin immer herrlicher
schmückte, aber zugleich sahen sie, daß sein Angesicht immer trauriger
wurde.

Als er sich umwandte, um ihnen einen letzten Gruß zuzuwinken, war die
Sonne herabgesunken, nur ein schmales goldenes Halbrund ihrer Scheibe
war noch zu sehen. Da hob der Elf zum letztenmal seine Hand, wie gebannt
durch das feurige Himmelsgold, wandte sich an die Sonne im Abend und
rief:

    »Ein Elf befiehlt dir gehorsam zu sein,
    gib mir Gold aus deinem Schein!«

Aber es blieb nach seinen Worten totenstill umher, und nichts geschah.
Lautlos sank fern die Sonne völlig unter den Horizont, und nun vernahm
man umher das leise Seufzen, in welchem alle Geschöpfe sich der
hereinbrechenden Nacht ergaben. Ein sanftes Rauschen erhob sich und
pflanzte sich fort, und in diesem Wehen stand bestürzt das Elfenkind in
seinem Silberglanz, und eine Träne nach der anderen rann über sein
blasses Gesicht und tropfte ins Moos. »O, die Sonne,« schluchzte es,
»sie ist meinem Ruf nicht gefolgt, ihr Gold ist nicht für mich!«

Keines der Tiere umher wagte sich zu rühren. Nach den Beweisen seiner
Macht, nach allen Wundern, die eben noch der Elf getan hatte,
erschütterte alle seine Ohnmacht und sein Schmerz darüber, daß die Sonne
ihn nicht hörte, aber wie erschraken sie, als er nun plötzlich den
herrlichen Perlenschmuck von seinem Halse nahm und rasch und mit Eifer
das schimmernde Bachsilber von den Flügeln streifte. Allen Schmuck, den
durch wunderbaren Zauber die Natur ihm gehorsam verliehen, und den er
sich angetan hatte, streifte er ab; und nun, als er ihnen wie einst,
nur in seinem schlichten Kleid, mit den hellen Flügeln und dem Goldhaar
erschien, sahen sie, daß er sich auf seine Knie sinken ließ, und indem
er flehentlich seine Hände zum Abendhimmel hob, rief er:

    »Goldene Sonne, ein Elfenkind
    möchte nicht mehr sein, als alle sind.
    Sieh, ich gab meine irdische Zier,
    gib mir dein himmlisches Gold dafür.«

Kaum waren die Worte im Abendwind verklungen, als hoch aus dem Gipfel
der Linde ein feines Klingen erscholl, das von einem Glänzen begleitet
wurde, und von Zweig zu Zweig rieselte es golden durch die Blätter
nieder und legte sich dem knienden Elfenkind um Stirn und Schläfen und
über sein helles Haar. Alle erkannten, daß es das letzte Gold der
Abendsonne aus dem Wipfel der Linde war, und das Glück und das Entzücken
der Waldwiesenleute kannte keine Grenzen. Es brach ein Jubel aus, der
nicht enden wollte, alle Angst und Sorge wich aus den Herzen, und aus
den Zügen des Elfen war alle Traurigkeit verschwunden. Nie war er den
Tieren der Waldwiese schöner erschienen, das Fremdartige und Seltsame,
das noch eben alle an dem Elfenkind in heimliche Scheu versetzt hatte,
hielt sie nun nicht mehr gebannt, und alle glaubten es, als Uku rief:

»Leb’ wohl auf deinem Weg ins Nachtland der Elfenkönigin, du wirst nun
sicher zu uns zurückkehren!«

       *       *       *       *       *

Als der Elf dahinflog, leuchtete eine Weile noch der festliche
Abendhimmel durch die Stämme, erst in den Tannen wurde es dunkel, und
bald darauf, wenn eine Lichtung kam, schimmerten die ersten Sterne im
kühlen Blau der Höhe. Es dauerte nicht lange, und der Mond ging auf, man
sah es am blassen Schimmer hoch in den Kronen der Bäume. Die Fledermäuse
jagten in den Waldlichtungen, und hin und wieder erscholl der Ruf der
Eulen.

Es war ein weiter Weg für den Elfen, feierlich rauschte der Wald durch
sein Herz, das bang und zuversichtlich zugleich pochte, von Furcht und
Hoffnung gewiegt. Es war in der Natur umher ganz mondhell geworden, als
er am Ort seiner Bestimmung angelangt war. Am Stamm einer uralten Eiche,
dicht über dem Boden im Buschwerk kreisten eine Schar von Glühkäfern in
seltsamen Ornamenten durch die Luft, als zögen sie geheimnisvolle Linien
oder Kreise, die ganze Umgebung wurde auf diese Art in eine schimmernde
Dämmerung getaucht, in welcher die Blätter seltsam glommen, als brennte
irgendwo ein verborgenes grünliches Licht. Der Elf erkannte diese
Wahrzeichen, er ließ sich bis dicht vor die großen Wurzeln der Eiche ins
Moos nieder und rief die Glühkäfer an. Sofort löschten alle bis auf
einen ihr Licht, nun sah man die Silberstreifen vom Mond durch die
Zweige fallen, erwartungsvoll schien alles auf ein Ereignis zu harren.
Der Glühkäfer kam nahe an den Elfen heran, aber als er sich vor ihm auf
der Baumwurzel niederließ, erschrak er heftig.

[Illustration]

»Was hast du für Licht auf den Haaren und auf deiner Stirn,« rief er,
»du erschrickst mich. Lösch dein Licht!«

»Ich kann es nicht,« sagte der Elf, »zeig’ mir den Weg zur Königin.«

»Du bist der Waldwiesenelf, der von der Herrscherin erwartet wird?«

Der Elf nickte. Auf ein Zeichen des Käfers flammten die Lichter aller
anderen wieder auf, und es wurde unter der Wurzel der Eingang zu einer
Höhle sichtbar. Die kleinen Wesen dienten scheu und gehorsam jedem Wink
der Elfen.

»Der Mondtanz auf der Wiese ist schon beendet,« sagte ein Käfer zum
Elfen, als er neben ihm dahinflog, »alle erwarten dich im silbernen
Saal. Es darf kein Elf mit dir sprechen, bevor es nicht die Königin
getan hat.«

Den Elfen ergriff mit heimlicher Macht der alte Zauber seines
Heimatreichs, alles, was er seit der Nacht durchlebt hatte, in der er
seiner Blume entstiegen war, erschien ihm plötzlich wie ein glühender
Sonnentraum, in Gold und Grün und Wärme verwoben. Seine Hände zitterten,
und er rief das Losungswort der Elfen vor dem Tor am Ende des Gangs mit
bebender Stimme.

Die nächtlichen Tore taten sich auf, ein Himmel von Licht und Glanz
umfing den Elfen, als ob er in ein wogendes Meer von fließendem Silber
untertauchte. Geblendet hielt er inne, während sich lautlos das Tor
hinter ihm schloß, das die dunkle irdische Nacht vom Elfenreich trennte.
Er sah über weite Gärten hin, die von Silber und durchschimmerndem Grün
flammten und so hell waren, wie den Augen die Scheibe des Vollmonds
erscheint, wenn sie weit aufgeschlagen mitten hineinsehen. Es ergriff
ihn eine tiefe Rührung, die er nicht zu überwinden vermochte, es war die
Gewalt der Heimat, die Einzug in sein Gemüt hielt. Sie ist die
mächtigste aller Erinnerungen, schon viele Wesen sind ihr immer aufs
neue erlegen und haben ihr das Opfer dessen gebracht, was die weite Welt
sie gelehrt hat.

Ein hoher Gesang schreckte den Elfen aus seiner Traumbefangenheit empor,
er hob seine Augen und sah vor sich den Thron der Elfenkönigin. Über
ihrem blonden Scheitel, auf dem ein Kronenreif aus Diamanten erglänzte,
so rein und durchscheinend wie das Quellwasser der Waldtiefe, wölbte
sich ein strahlender Baldachin, und zur Rechten und Linken ihres Throns,
der aus Silber war, standen in weißen Reihen ungezählte Scharen von
Blumenelfen, und alle hatten ihre Augen auf den Ankömmling gerichtet.
Von ihren Lippen erscholl der Gesang, der die grüne Silberluft umher
erfüllte, wie buntes Licht eine kristallene Kugel. Unwillkürlich ergriff
die selige Schönheit des Gesangs den Elfen, und indem er sich tief
verneigte, sang er mit den anderen das alte Elfenlied, den Gruß der
Königin:

    »Du Lob des Lichts in mir,
    du Leuchten, das ich bin!
    In tiefer Demut deine Zier,
    ewige Königin.«

Als das Lied verklungen war, wurde es umher so still, als wäre der
strahlende Lichtraum ein Bild, nur ein ganz leises, kaum vernehmbares
Rauschen ging von den vielen Flügeln aus, als zöge ein heimlicher
Windzug über eine Winterlandschaft, deren Bäume im Rauhreif glitzern. Da
erklang die Stimme der Elfenkönigin, und ihre Lichtaugen ruhten auf den
Zügen des Elfen wie zwei Sterne:

»So bist du meinem Rufe gefolgt und zu mir gekommen, du verlorenes Kind?
Ich will dich nicht fragen, ob es ein Unglück oder eine Schuld gewesen
ist, die dich aus unserem Reich verbannt hat, aber du sollst heute
wissen, daß meine Macht groß genug ist, dir deine alte Freiheit wieder
zu erwirken, und du darfst in unsere Gemeinschaft und in deine alten
Elfenrechte zurückkehren, wenn du allem absagen willst, was dich in der
vergänglichen Welt der Menschen, Tiere und Pflanzen gefesselt hat, und
wenn du deine Schuld von Herzen bereuen kannst.«

Es ging eine frohe Bewegung durch die Reihen der Elfen, alle schienen
beglückt zu sein, daß einer der Ihren, den der Tag der Erde ihnen
geraubt hatte, wieder in ihr Zauberreich zurückkehren sollte. Aber die
feine Stirn der Königin umwölkte sich plötzlich unter dem Licht ihrer
Krone, und sie sagte:

»Kommst du ungeschmückt zu deiner Königin?«

Da merkte der Elf, daß der Schein auf seiner Stirn erloschen war, seit
er das Elfenlied gesungen hatte, und die seltsame Trauer, die sein Gemüt
bewegte, nahm zu. Ihn ergriff jählings ein Heimweh nach dem warmen
grünen Erdenreich der Sonne, und er begriff zum erstenmal die Bedeutung
des alten Gesetzes des Elfenvolks, daß kein Elf die Sonne sehen durfte.

Es schien, als ob die Königin seine Gedanken erriete, sie sagte ernst
und mit feierlicher Stimme:

»Dein Geschick hat dich in das Bereich der Sonne verschlagen, und du
hast erfahren, wie gefährlich ihre Macht ist. Es ist nur einem Wunder zu
danken, daß du nicht gestorben bist, aber fast so schlimm wie der Tod
ist die böse Wirkung der Sonne, die die Elfen ihr ewiges Lichtreich
vergessen macht und sie zum vergänglichen Geschick der sterblichen Wesen
verzaubert. Aber meine Macht ist größer; hast du gehört, daß ich dich
erlösen will? Bevor du aber nun aufs neue in unsere Gemeinschaft
aufgenommen wirst, sollst du uns erzählen, wie es gekommen ist, daß du
in deiner ersten Erdennacht am Morgen den Aufgang der Sonne nicht
rechtzeitig gewahr geworden bist.«

Da hob der Elf seinen Kopf, den er in unverstandener Traurigkeit gesenkt
gehalten hatte, solange die Königin sprach, und begann seine Geschichte
von der Biene zu erzählen, die er in der Sommernacht zu den Menschen
geführt hatte. Es war unbeschreiblich still umher, während er sprach,
denn die Elfen wissen nur wenig von den Menschen, es kommt nur alle
hundert Jahre vor, daß ein Elf mit den Menschen in nähere Berührung
tritt, deshalb sind sie sehr begierig, etwas zu erfahren. Vor der Sonne
und den Menschen haben alle Elfen eine große Scheu.

Der Elf erzählte zu Beginn nur langsam und schüchtern, aber je länger er
sprach, um so fester und klarer wurde seine Stimme, und als er zum
Schluß kam, erhob sie sich zu einem Jubeln, so daß alle mit pochenden
Herzen lauschten und nicht begriffen, woher die Freude stammte, die aus
den Worten des Elfen strahlte.

Es war lange still, nachdem er seine Geschichte beendet hatte, endlich
fragte die Königin erstaunt und besorgt:

»Du sagst uns, die beiden Menschen seien glücklich gewesen, ich will es
dir gerne glauben, aber wie kommt es, daß du darüber die aufgehende
Sonne am Himmel nicht gewahr geworden bist? Das blendende Feuer der
gewaltigen Sonne muß doch deine Sinne schon mit Angst erfüllt haben, als
es sich am Horizont ankündigte, und da wäre es für dich noch Zeit
gewesen.«

Der Elf erhob seine Arme, und seine Augen glänzten:

»Wie soll ich es dir beschreiben, mächtige Königin,« sagte er mit
zitternder Stimme, »seit ich die Augen der beiden Menschen gesehen
hatte, die sich im Glück ihrer Liebe umschlungen hielten, war mir ums
Herz, als sei die ganze Erde hell. Ich habe geglaubt, das Licht käme
aus ihren Herzen geströmt, wirklich ... und als ich dann aufschaute und
die Morgensonne erblickte, war mir in meiner Verwirrung zumut, als käme
alles Glück von ihrem Licht, und ich konnte nicht wie früher glauben,
daß sie gefährlich und schrecklich sei. Ich vernahm um mich her die
Stimmen der erwachenden Blumen und Tiere, und aus aller Mund klang der
gleiche frohe Glaube.«

Da sprang die Königin auf und schlug vor ihrer Stirn die Hände zusammen
vor Zorn und Trauer.

»Armes, verführtes Kind!« rief sie, »was hast du gegen das
unvergängliche Dasein der Elfen eingetauscht! Weißt du denn nicht, daß
alle Wesen, die der Sonne vertrauen, sterben müssen?«

Erschrocken über den Zorn der Königin trat der Elf ein wenig zurück.

»Das macht ja nichts ...« antwortete er schüchtern.

Es war wirklich so, als sollte in dieser Nacht im Reich der Elfen ein
Wunder nach dem anderen geschehen. Die Königin stand plötzlich
merkwürdig still, sie schien ihre ganze Sorge vergessen zu haben, und
indem sie sich langsam mit großen Augen vorbeugte, sagte sie in höchstem
Erstaunen:

»Wie, ist es wahr, du weinst? Seit wann kann ein Elf weinen?«

»Ich weiß nicht,« antwortete der Elf leise, »ich kann es ...«

Da raffte die Königin sich erschrocken auf, und indem sie ihre ganze
Kraft zusammennahm, sagte sie:

»Wie frei und herrlich war dein Leben vor deiner unseligen Schuld! Dir
war Schönheit und Macht verliehen, und du hast im hellen Flügelkleid die
Irdischen beglücken können, nach deiner Wahl. Schmerzen und alles
Ungemach der sterblichen Wesen sind dir fremd und fern geblieben, und
dein Tod war nur ein liebreicher Traum des Vergessens, durch den du in
unser Reich zurückkehrtest, um einst aufs neue als Blumenelf aus einem
reinen Kelch zu steigen, so hell und einsam wie das Licht aus den
Sternen bricht, oder wie ein Quell aus den Felswänden. Dein Wort tat
Wunder, alle Wesen der Schöpfung dienten dir und segneten dich. Die Erde
nahm dich auf, um dich aufs neue zu erlösen; weißt du das alles nicht
mehr?«

Da rief der Elf laut:

»Die Erde kann nicht erlösen, nie die Erde!«

»Was soll dich denn erlösen, du Törichter«, entgegnete bestürzt die
Königin. »So alt das Geschlecht der Menschen ist, solange sind Herzeleid
und Klage von ihnen aufgestiegen, solange haben Erniedrigung und Schmach
ihre Liebe begleitet, solange sind sie den bitteren Tod gestorben, der
ins ewige Dunkel führt. In der Sonne vergessen sie ihr Geschick, in
derselben Sonne, die nun auch dein Gemüt und deine Sinne verführt hat.
Und ergeht es den übrigen Geschöpfen im Licht anders? Ihr Seufzen steigt
wie Nebel vom Erdgrund, sobald die Sonne am Horizont gesunken ist, ach,
und wieviel Tränen hat auch die Sonne selbst gesehen, die sie nicht hat
stillen können! Dies alles weißt du, und was du erfahren hast, wird dir
nur die Wahrheit meiner Worte bestätigen, und so frage ich dich nun,
willst du zu uns zurückkehren und in deine alte Freiheit?«

Da antwortete ihr der Elf:

»Ich kann es nicht mehr.« Und als die Königin sich erhob und sagte: »So
werde ich dir helfen,« legte der Elf die Hand auf seine Brust und sagte
deutlich: »Ich will es nicht mehr.« Und als hätte sein Entschluß ihm
Kraft verliehen, fuhr er mit leiser Stimme, aber ruhig und gefaßt fort:

»Was du über die Erde, die Sonne und ihre Geschöpfe gesagt hast,
Königin, das ist wahr, aber du und alle aus deinem Reich, ihr kennt nur
das Ungemach der Irdischen, aber ihr kennt ihr Glück nicht. Ich kann es
dir mit Worten nicht sagen, dies Glück, das jetzt auch mein Teil
geworden ist, und von dem ich mich nicht mehr trennen will. Wohl ist der
Tod das dunkle Geschick der Irdischen, aber im Licht der Sonne, die
alles blühen macht, blüht auch aus den Herzen der Sterblichen eine helle
Blume der Freude. Ihr Name ist Liebe, der Grund, auf dem sie allein
gedeihen kann, ist das Herz in seiner Freiheit.«

»Das Herz?« sagte die Königin mit blassen Lippen. Es war so still
umher, daß ihre Frage wie ein Traumruf in ruhiger Nacht erklang, es war,
als wagte niemand zu atmen. Da fuhr der Elf mit leiser Stimme fort, die
vor Ergriffenheit zitterte:

»Ich kann das Herz nicht schildern, aber sein Reich ist unendlich, weit
und klar. Seine Allmacht ist stärker als die Gedanken, seine Wärme
gnädiger als das Sonnenlicht, und tausend und tausend Jahre haben seine
Fülle nicht ändern noch trüben können. Alle Schwachheit des
vergänglichen Geschlechts der Irdischen ist nur eine arme, zeitliche
Befangenheit gegen seine helle und unzerstörbare Freiheit, und immer und
immer wieder blüht aus seinem Grund die Liebe empor. Nur das Herz kann
erlösen, Königin. Draußen, in der goldenen Gemeinschaft der Sonne, blüht
es auf, was gilt den Gesegneten, die es in ihrer Brust bergen, noch das
zeitliche Elend oder der Tod? Wie immer wieder die Sonne mächtig wird
und die Erneuerungen des Frühlings erschafft, so wird in den Herzen
immer wieder die Liebe aufbrechen, das macht die Fremdesten zu Brüdern,
die Einsamen zu fröhlichen Gefährten und schließt die Verlassenen in
eine unaussprechliche Gemeinschaft der Hoffnung ein. Das ist es, was ich
erfahren habe, seit ich die Sonne und ihr Bereich kenne, aber ich weiß
wohl, daß ich es nicht erklären und benennen kann. Es ist eine
himmlische Ungeduld in mir voll Seligkeit, das Herz pocht und pocht,
erst seit ich weinen kann, höre ich seinen Schlag. Es klingt warm, voll
Angst, bald ist mir, als versänke es in Dunkelheit, dann wieder vermag
ich sein Strahlen nicht zu fassen, und ich weiß, es wird blühen! Ich
weiß es, wenn ich die Knospen auf den Wiesen sehe, oder den Vogelgesang
höre, das Lachen der Menschen oder ihre Klage. ›Es wird alles, alles
gut,‹ pocht das Herz, ›du sollst noch viel Größeres erfahren!‹«

Der Elf schwieg, und wie beschämt von seiner eigenen Kühnheit senkte er
sein Haupt, und ein schüchternes Lächeln kam in seinen Zügen auf, ein
wehmütiges Lächeln der Zuversicht. Ach dies Lächeln! Könnte ich es mit
meinem Geist erfassen und über eure Herzen ausschütten, wie Gott seinen
Sonnenschein über die blühende Frühlingserde strömen läßt, für den Preis
meines Lebens, ich täte es!

Kaum hatte der Elf seine Worte beendet, noch ging wie eine Woge das
Erstaunen aller durch den Saal, da geschah das Wunder, daß sich in
seinem Haar und um seine Stirn ein sanftes Glühen erhob, das, obgleich
es milde und freundlich war, doch stärker erstrahlte als alles Licht des
funkelnden Saals.

»Die Sonne!« schrie die Königin laut und sprang in hellem Entsetzen
empor, »die Sonne!« Sie erhob ihre Hände und rief ein gewaltiges
Zauberwort, unter dessen Klang der Saal erbebte, und das magische Licht
ihrer alten Welt und mit ihr der unterirdische Raum und das Heer der
erschrockenen Elfen versanken in grausige Erdtiefe, abgelegener und
ferner, als die Sinne ermessen können. Es wehte kühl und traurig aus der
Finsternis über den Elfen hin, und er vernahm aus der Nacht, die ihn
umgab, eine dumpfe Klage, wie sie zuweilen vor dem hereinbrechenden Föhn
schaurig über die Eisdecke der Gebirgsseen hinhallt. –

Am hereinbrechenden Morgen weckte das Tageslicht der Erde den Elfen. Er
fand sich unter Farren im Moos liegen, zwischen den großen Wurzeln des
Baums, der den Eingang zum Elfenreich hütete. Er richtete sich mit
Taumeln auf und sah voll tiefen Erstaunens in das Morgenrot, das
zwischen den Stämmen leuchtete. So war er nun dem alten Heimatreich für
immer entrückt, sein Zauber hatte die Gewalt über ihn verloren, und es
war ihm nach seinem Willen geschehen, nun unter den Sterblichen der
Erdoberfläche ein Vergänglicher zu sein, wie die anderen alle.

Als die Sonne ihr funkelndes Strahlengold über die heitere Landschaft
ergoß, als die fernen Seen aufblitzten wie silberne Himmelreiche, im
Morgenrauschen der Wälder verloren, als die ersten Stimmen der
erwachenden Tiere ihn begrüßten und der Tau seine Stirn kühlte, zog ein
froher Mut in sein Herz ein. Mit Singen erhob er seine Flügel und flog
durch den Morgenglanz der erfrischten Welt auf die Waldwiese zurück, zu
den Pflanzen und Tieren, den Freunden seines Lebens.



                          Siebzehntes Kapitel

                               Das Reich


Langsam wurden nun die Tage kürzer, und die ersten Silberfäden der
Wanderspinnen hingen in den Büschen oder sie zogen so lautlos durch die
klare Luft, als ruhten sie auf unsichtbaren Schwingen, wie überall umher
das sommerliche Waldglück in freier Gestilltheit träumte. Aber seit
diese glitzernden Fäden zu sehen waren, kam mit ihnen eine heimliche
Wehmut auf, als sänge eine Frauenstimme in einem verlassenen Haus, oder
als wendete ein Scheidender sich nach einer liebgewonnenen Stätte um,
die er nicht wiedersehen sollte.

Die Berberitzensträucher am Rand der Waldwiese sahen unter der roten
Last ihrer kleinen Früchte aus, als wären sie über und über mit Korallen
behängt, die vereinzelten Vogelrufe zogen durch das Wunder ihrer zarten
Gestalt, wie auch die Luft und die kühlere Sonne. Die Nächte waren von
niegesehener Klarheit, die Gestirne funkelten so deutlich und nah, als
wünschten sie ihr strahlendes Bild in alle Seelen einzuprägen, und die
Gedanken der lebendigen Wesen, die über dem scheidenden Sommer in
Schwermut sanken, mußten zu ihnen emporziehen, ob sie wollten oder
nicht.

Zu dieser Zeit begann die Linde an einem hellen Abend eine andere
Geschichte von den Menschen und erzählte:

»Im Laufe meines langen Lebens, dessen Dauer ihr Lieben, meine Blumen,
Pflanzen und Tiere in eurem Sinn nicht ermessen könnt, habe ich viele
Menschen unter meinem Schatten beherbergt, ich habe sie von sich und
anderen sprechen hören, ich kenne viel von ihrem Verlangen, ihren
Schmerzen, ihrer Freude. Frühling für Frühling, im beständigen Wechsel
der Jahreszeiten, hat sich meine Erfahrung auf seltsame Art erneut. Ich
habe das Große des Irdischen um so besser behalten, und das Geringe hat
sich verloren, als sei es kein Teil meiner Erinnerung. So ist es mir
ähnlich ergangen, wie es einem alten Geschlecht unter den Menschen
ergehen kann, zuletzt erben die jüngsten Sprossen zuweilen die
Herzenserfahrung ihrer Väter als ihr Gut, sie werden mit weisen Augen
geboren, zugleich mit unvergänglicher Jugend und bergen den
Seelenreichtum ihrer Ahnen im großen Gemüt.

So habe ich in meinen tausend Jahren oft von der Geschichte eines Mannes
vernommen, immer wieder erklang sein Name, und was ich durch den Wandel
der Jahrhunderte von seinem Wesen behalten habe, was Frühlinge und
Herbste, der Schlaf des Winters und das Ungestüm der Stürme in mir nicht
haben auslöschen können, das will ich euch heute erzählen, da nun der
Sommer zur Neige geht, und mit ihm manches Leben unter mir entschläft,
um in dunkler Ruhe seiner Vollendung zu warten.«

Es waren an jenem Abend, an dem die Linde ihre Geschichte begann, fast
alle Geschöpfe der Waldwiese versammelt, die euch bekannt geworden sind,
und noch viele mehr. Auch der Elf saß mit gestütztem Kinn auf einem
Moospolster unter einem hohen Farrenblatt und lauschte. Seine Augen
waren groß und still und suchten die schimmernde Weite des späten
Sommertages. Wer ihn näher kannte und liebte, hatte in der letzten Zeit
eine zunehmende Traurigkeit bei ihm wahrgenommen und stärker als jemals
jene himmlische Ungeduld seines Wesens, die sich wie ein Licht auf alle
übertragen hatte, mit denen er in Berührung gekommen war. Er mußte nun
oft an seine Begegnung mit der Lerche denken, und an ihre Worte, als sie
ihm gesagt hatte: »Wenn du einst heimfliegst, will ich singen.« Sie sang
nun schon lange nicht mehr, und einen Sommer hindurch harrte der Elf auf
seine Erlösung. Wann sollte ihm jene Liebe endlich begegnen, die größer
als alle Liebe war, die er empfunden oder gegeben hatte, und die ihn zu
seiner Heimkehr erlöste, nach der er sich sehnte? Wohl hatte er seine
Hoffnung nicht verloren, aber sie war traurig geworden, und oft, wenn
nun in kühleren Nächten die Sterne auf sein Lager schienen, hatte er
leise gesungen, im Dunkeln:

    Trauer du, mein irdisch Los,
    über deinen bittern Gaben,
    will ich meine Seele groß,
    will sie stark und glänzend haben.

Ihm war, als brächte ihm sein Lied aufs neue die Gewißheit seiner
Bestimmung, als riefe er sie singend herbei, aber doch mußte er zuweilen
daran denken, daß vielleicht seine Erlösung noch in weiter Ferne lag,
und daß die strahlende Erde, auf die er gebannt war, doch in all ihrer
Schönheit keine Liebe kannte, so groß, wie er ihrer zu seiner Heimfahrt
bedurfte.

Dies kam ihm auch heute in den Sinn, als die Linde ihre Geschichte
begann, denn sie begann feierlich und sehr ernst, aber er konnte seinen
Gedanken nicht nachhängen, denn es erhob sich ein sanfter Wind, und der
alte Baum fuhr fort zu erzählen:

»Es ist länger her, als auch die ältesten Bäume ermessen können, da war
einst in einer prächtigen Königsstadt des fernen Ostens ein großes Fest,
zu welchem die Menschen aus allen Gegenden des Landes herbeigeströmt
waren, um daran teilnehmen zu können. Durch das Gewühl der fröhlichen
Menschen ging ein Knabe, der niemandem auffiel, der ihn nicht näher
betrachtete, denn er war einfach bekleidet und schmal von Wuchs; was ihn
vor anderen auszeichnete, war der Glanz seiner Augen, deren Blick,
eigenartig und schüchtern in sich versunken, doch zugleich in weite
Ferne zu schweifen schien, wie ein ruhiges Wasser in seiner eigenen
Tiefe ruht und doch zugleich den Himmel spiegelt.

Er schritt langsam dahin, durch die heiße Sonne des schönen Tags,
nachdenklich und froh, nach Knabenart, und es mag gegen seinen Willen
geschehen sein, daß er sich nach einer Weile vor dem Eingang des
mächtigen Tempels befand, der ruhig dalag, da kein Gottesdienst
abgehalten wurde. Der Knabe schritt die breite Treppe empor und öffnete
mit Mühe die schweren Vorhänge, die in das dämmerige Licht der
feierlichen Halle führten. Gelassen betrat er das Heiligtum, heimlich
beglückt und ohne Neugier, aber mit dem zitternden Herzen seiner
Erwartung.

Es war fast leer unter den zwei erzenen Säulen der Vorhalle und kühler
als draußen in der Sonne. Aus den Nischen blinkte goldener Schmuck aus
Wandgemälden und gewirkten Teppichen. Der innere Raum war unermeßlich
hoch und groß, zwischen den Knäufen der Säulen hing ein funkelndes
Gitterwerk, sieben geflochtene Reife, wie Ketten. Die Wipfel der Säulen
öffneten sich wie Lilien. Aus einer der Nischen im Hintergrund erklang
eifriges Reden, der Knabe vernahm dunkle gewichtige Männerstimmen und
erregte Einwürfe, die seltsam widerhallten und durch den Schall im Raum
eine geheimnisvolle Wichtigkeit bekamen.

Als er hinzutrat, erkannte er am ehernen Gestühl dicht neben dem
vergoldeten Altar mit den heiligen Broten eine Gruppe von Priestern und
Gelehrten, die über wichtige Fragen, welche Gott und sein Reich
angingen, in heftigen Streit geraten waren. Da schritt er hinzu und
lauschte, bis eine der Aussagen der Streitenden ihm ins Herz sank, und
er trat in ihren Kreis und fragte nach dem Sinn der vernommenen Worte.
Die Angeredeten waren sehr erstaunt, als unerwartet ein fremder Knabe in
ihre Mitte trat und sich in ihre Anliegen mischte. Ein alter Mann unter
ihnen, an den der Knabe mit klarer Stimme und ernstem Angesicht seine
Frage gerichtet hatte, erhob zornig sein ehrwürdiges weißes Haupt und
wies den Eindringling mit ausgereckter Hand aus ihrer Mitte, aber noch
ehe ein mißbilligendes Wort über seine Lippen kam, begegneten seine
Augen denen des Kindes, und er schwieg betroffen, denn ihm war, als ob
ein Leuchten von der Stirn dieses Knaben sank, und der Glanz seiner
Augen erschien ihm so liebevoll in seiner Klarheit, daß er sich besann
und gütig antwortete. Aber wie groß war sein Erstaunen, als der Knabe
seine Hand ein wenig hob, und indem er sinnend in die Dämmerung des
Tempels schaute, sein kindliches Haupt schüttelte.

›Glaubst du mir nicht?‹ fragte der Alte betroffen.

Die Anderen hatten sich schweigend und neugierig um die beiden
versammelt, und es ist ein seltsames Bild gewesen, als das Kind in der
Gruppe der weißhaarigen Alten stand, die einander über die Schultern
sahen, mit erstaunten, spöttischen und mitleidigen Angesichtern. ›Laß
ihn doch gehen‹, erhob sich eine Stimme, und ein anderer meinte, es sei
nicht Sitte, daß Kinder im Tempel das Wort ergriffen. Aber da wandte
sich der Knabe ihm zu, sah ihn an und sagte mit freiem Lächeln:

›Dies ist das Haus meines Vaters.‹

Seinen Worten folgte ein befangenes Schweigen, denn sie waren mit großer
Zuversicht und so einfach gesagt, als handelte es sich um den irdischen
Vater, von welchem der Knabe sprach und nicht um den himmlischen; aber
der ehrwürdige Greis, der sich des Kindes zuerst angenommen hatte, hob
die Hand gegen die anderen, die sich zu Fragen und zum Widerspruch
anschickten, winkte ihnen begütigend zu und sagte:

›Hat er nicht recht mit seinem Glauben? Gott ist unser aller Vater, so
ist er auch der seine. Aber nun sage mir, Kind, weshalb hast du den Kopf
geschüttelt, als ich deine Frage beantwortete, mit welcher du zwischen
uns getreten bist?‹

Und da geschah das Wunder, von welchem lange die Priesterschaft des
Landes bewegt wurde und das bis weit in alle Schichten des Volkes drang.
Der Knabe legte seine Hand auf die Blätter des heiligen Buchs, das den
Altar schmückte, und seine Fragen über den Sinn der ältesten Hoffnung
des Volks und der seligen Verkündigungen der Väter entzündeten die
Herzen der gelehrten Männer zu unbeschreiblicher Wehmut. Es war, als
sänke unter der Begierde und unter dem Anspruch dieses Kindes ein
jahrtausend alter Staub von den vergilbten Blättern, und der Sinn ihres
Inhalts schien zu leuchten, wie die Augen des Knaben, der sprach. Da
wich alle Besorgnis und jeder Hochmut der Priester ihrem Verlangen, den
Glanz dieses Geheimnisses zu ergründen, das unter ihnen waltete. Sie
fragten dieses und jenes, was sie in Zweifeln und in Not bedrängt hatte,
aber nicht wie Lehrer und Gelehrte fragen, sondern mit bebendem Herzen
und tief betroffen über die Antworten des fremden Knaben.

Aber noch ehe sie recht ermessen hatten, was ihnen begegnete, hörten sie
die Stimme einer Frau, die herzueilte und laut und glücklich einen Namen
durch das Gotteshaus rief. Sie stürzte auf den Knaben zu, schloß ihn in
ihre Arme und weinte vor Sorge und Glück.

›Wir haben dich drei Tage in der ganzen Stadt gesucht, mein Kind‹, rief
sie mit zitternder Stimme. Aber ihre Freude war viel größer als ihr
Zorn, und auch der Vater, der herzueilte, ergriff die Hand seines
Sohnes, schweigend vor Erstaunen und Ehrfurcht, ihn vor dem Heiligsten
des Tempels im Kreise der mächtigen Gelehrten zu finden.

Das Kind folgte seinen Eltern ohne Widerspruch und begleitete sie, ihrem
Willen gehorsam. Die Priester sahen einander betroffen an, diese
lächelten befangen, ohne ihrer Verwunderung über das Geschehene Herr
werden zu können, jene sahen dem Knaben nach, und andere senkten ihre
Stirnen in Nachdenklichkeit, aber allen war, als wäre ein Schein unter
ihnen zurückgeblieben, wie kein Wissen und keine Priesterwürde ihn
auszubreiten vermögen, sondern nur das Herz, das unendliche, weite,
klare.

Da sagte einer von ihnen und hob sein Haupt:

›Welch eine Zeit bricht an, daß uns Weise ein unmündiges Kind durch sein
Verlangen beschämt?‹«

       *       *       *       *       *

»Ich habe kein Wissen und bin nicht gelehrt,« fuhr die Linde nach einer
Weile fort, »ich habe nur die Einwirkungen der Natur erkennen gelernt,
ich sah in mir und um mich her Erblühen und Vergehen, Lust und Schmerz
und eine stete Wiederkehr der Freude. Dies ist meine ganze Weisheit bis
auf den heutigen Tag geblieben, und ich will keine andere, denn in ihr
war ich glücklich. In ihr sehe ich das Bild des Mannes, von welchem ich
euch erzähle, und allein in ihr vermag ich es euch darzustellen, Gott
gebe meinen Sinnen Unschuld. Wir sind alle aus der Freude geboren und
kehren zu ihr zurück.

Aus jenem Knaben, der im Hause Gottes die Priester in Erstaunen setzte,
wurde der Mann, dessen Geschick ich euch erzählen will. Erst nach vielen
Jahren tauchte er wieder unter den Menschen auf, und ich hörte, daß
niemand in Erfahrung gebracht hat, wo er bis an die Grenze seines
Mannesalters geweilt habe. Er soll einfach gekleidet gewesen sein und
nicht nach Sitte der Gelehrten seiner Zeit, er trug einen Mantel wie ein
Kleid, sein rauhes Haar fiel auf seine Schultern nieder, und als er
damals unter das Volk trat, hatte er weder ein Haus, noch irgendwelches
Eigentum, noch auch nur einen Ort, wo er hätte ruhen können. Er
arbeitete nicht und ließ keine Sorge um sein irdisches Ergehen in sein
Herz finden, denn sein Glaube war, daß der Vater im Himmel sich aller
annähme, die ihn von Herzen suchen. Obgleich er allein war und niemanden
um Liebe bat, auch um keines Menschen Freundschaft warb, fanden sich
Männer, die sich ihm anschlossen und die keine Macht der Welt mehr aus
seiner Nähe und aus seiner Gefolgschaft verbannen konnte. Man erzählt,
daß sie ihn erblickt und die Worte vernommen hätten, die er zu den
Leuten auf der Gasse sprach, und daß sie ihn darauf liebgewannen und
sein armes Dasein mit ihm teilten. Sie ließen ihre Arbeit, ihr Haus und
ihre Angehörigen ohne Bedenken zurück, um immer bei ihm zu sein.

Man sprach bald im Land von diesem seltsamen Mann, aber man verstand ihn
nur selten, denn was er den Menschen über die Liebe sagte, war so neu,
so sonderbar und zugleich so strahlend in seiner Einfalt, daß die
meisten erstaunt, erzürnt oder geblendet aus seiner Nähe wichen und ihn
zu hassen begannen, denn er störte sie in der falschen Ruhe ihrer
Herzensarmut. Er sprach nicht über alle jene Dinge, die sie Tag für Tag
beschäftigten, nicht über ihre kleinen oder großen Sorgen, nicht über
die Landesverwaltung, noch über die Sitten und Gebräuche, sondern er
sprach über das Reich der Seele und über das Wesen der Liebe.

Eines Tages erstieg er einen Berg, nahe bei einer großen Stadt und
begann, den Vielen, die ihn begleitet hatten, zu sagen, was sein Herz
bewegte.

Er stand hoch und allein im Sonnenschein, in seinem schlichten Kleid,
achtete nicht darauf, wie viele es waren, die ihm zuhörten, noch ob sie
ihn wohlgesinnt oder feindlich betrachteten, er vergaß das Ungemach, das
ihm von Menschen geschehen war, und sprach, als durchschiene ihn das
Licht, in dem er stand, und seine Worte erklangen und leuchteten von
Gedanken, als ob auch sie aus diesem Licht geboren wären.

Unter seinen Worten sanken alle vergänglichen Werte der Erde dahin, als
seien sie nichts, Reichtum, Macht, Ansehen vor den Menschen und alle
zeitlichen Güter, und an ihre Stelle setzte er zum Wert der Welt die
Liebe. Ihren Glanz nannte er das Reich, und er verhieß es nicht den
Mächtigen und Starken, sondern denen, die reinen Herzens sind, denen,
die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ersehnen; sie nannte er das Licht
der Welt.

Als bei seinen Worten in den Herzen der Menschen, die ihm mit Zittern
und Andacht lauschten, die Angst um den Bestand ihres irdischen Daseins
sank, lenkte er ihre Blicke aus dem Wirrsal ihrer täglichen Lebenssorgen
hinüber in die Ruhe der Felder, in den Frieden der Natur, und sprach von
den Blumen und Vögeln, die nicht säen und nicht ernten, und die doch
empfangen, was sie brauchen. ›Sorgt nicht für euer Leben,‹ rief er laut,
›ihr seid viel mehr als sie! Trachtet zuerst nach dem Reich, so wird
euch alles andere zufallen.‹

Das Bild und der Glanz des Reiches wurde unter seinen glühenden Worten
zu einer neuen Heimat im Gemüt. Sorge, Haß, Feindschaft und selbst der
Tod erloschen in diesem blühenden Lichte, wie vor der aufgehenden Sonne
im Tal die Nebel der Nacht versinken. ›Ich bin zu euch gekommen, um
alles zu erfüllen, was die Sehnsucht unserer Väter erfleht hat, ihr
sollt mit mir vollkommen sein, wie Gott im Himmel vollkommen ist.‹

Das Reich, von dem er sprach, wohnte und regierte im Tempel der Seele.
Der Name Gottes und der Name der Liebe verwoben sich unter seinen Worten
zu einer Einheit in unvergänglicher Freiheit. In seinem Herzen glühte
der Wunsch, daß die Menschen sich von den vergänglichen Gütern der Erde
abkehren möchten und sich unvergänglichen zuwenden. Mit heiligem Zorn
und brennender Hoheit der Verachtung wandte er sich an die Schar der
Landespriester, die unter dem Volke standen und ihm zuhörten, und er
strafte sie um ihrer toten Gesetze und um ihrer Halbheit willen.

Die Ergriffenheit und das Entsetzen der Menge nahmen überhand, er
erschien den Menschen bald als ein himmlischer Gesandter eines ganz
neuen Friedens, bald war ihnen, als müßte ein Gericht des Himmels diesen
glühenden Geist der Verheißung und der Prophezeiung davonreißen. Aber
nun wandte er sein Angesicht zum Himmel empor und sprach mit Gott, als
sähe er ihn von Angesicht. Die erschütterten Menschen warfen sich zu
Boden, ihnen war, als beschwöre die Inbrunst dieser Stimme Gott von
seinem Thron nieder, mitten unter sie. Sie glaubten, er würde Gott zum
Zeugen seines Rechts anrufen und Macht und Gewalt über die Erde für sich
erflehen, aber er bat nur um Brot, darum, daß ihre Schuld vergeben sein
möchte, und daß sie vor Unrecht bewahrt blieben. Wie in einem
unendlichen Jubel des Glücks rief er mit zitternden Lippen zu Gott
empor. ›Dein ist das Reich!‹

Der Abhang des Berges erschien wie ein Saatfeld nach dem Werk des
Schnitters. Der Sonnenschein flimmerte in warmen Lichtschwingungen, und
fern über den Gärten sangen die Lerchen im Himmelsblau.

Niemand könnte die Wirkung seiner Rede schildern. In Glück, Andacht und
Entsetzen verließen die Menschen ihn, als er sie schloß, und der Ruhm
seines Namens verbreitete sich im Land und weit über die Grenzen hinaus.

       *       *       *       *       *

Dieser unbekannte Gesandte einer neuen Botschaft, die die Liebe zum Wert
der Welt erhob, zog weiter durch das Land und sprach auf den Märkten und
Straßen zu den Menschen. Er fragte nicht danach, ob ein Mensch gute oder
schlechte Eigenschaften hatte, sondern nach dem Verlangen seines
Herzens. Das Heimweh der Menschen war ihm wertvoller als ihre Tugenden,
denn er hatte kein Gefallen an Opfern, sondern nur an Barmherzigkeit. So
nahm er eine Verworfene an sein Herz, als er die Trauer ihrer Demut sah,
aber er verwarf die Opfer eines reichen Mannes, dessen Herz sich nicht
von allem trennen konnte, was er hatte. Aber wo er Glauben an sein Reich
der Liebe fand, entschuldigte er alles, und wenn er jemandem half, so
bekümmerte es ihn nicht, welchem Land oder welcher Kirche er angehörte.
Das Leid der Menschen zog ihn an, er folgte ihren Schmerzen, als wäre er
um ihretwillen gekommen, er konnte sich keinem Elend verschließen.
Einmal kam ein fremder Kriegsherr zu ihm, der ihn kaum kannte, und nur
von ihm gehört hatte, und bat ihn, er möchte seinen kranken Knecht
gesund machen. Da antwortete er ihm:

›Ich werde kommen und es tun.‹

Aber der Fremde lächelte abwehrend und rief:

›Ich bin nicht wert, daß du in mein Haus kommst, sag’ nur ein Wort, und
mein Knecht wird gesund werden!‹

Mit einem heißen Erschrecken der Freude über das Vertrauen, das in
diesen Worten lag, wandte der Angeredete sich seinen Freunden zu. Er
verbarg die Tränen, die sich in seine Augen drängten und sagte:

›Unter euch habe ich solchen Glauben nicht gefunden.‹

Dann wandte er sich dem fremden Kriegsherrn aufs neue zu und sagte ihm,
als wäre nichts geschehen, das eines Dankes wert sei, daß er daheim
seinen Knecht gesund finden würde. Und wirklich fand der Herr seinen
Knecht gesund.

Solche Macht war ihm gegeben. Niemand begriff, woher sie ihm kam, aber
er lächelte und sagte: ›Ihr alle könntet Berge versetzen, wenn ihr nur
so viel Glauben an die Liebe hättet wie ein Senfkorn.‹

Seine Freunde, die ihn begleiteten, verstanden ihn nur selten. Oft
fürchteten sie ihn, häufiger waren sie um ihn besorgt. Besonders seit er
einmal allein, mit einer Geißel in der Hand, in das Gotteshaus gegangen
war und die Händler vertrieben hatte, die dort ihre Tische aufzustellen
pflegten, empfanden manche ein heimliches Grauen vor seiner Kühnheit.
Denn er hatte den Leuten ihre Geldschalen mitsamt ihren Waren zu Boden
geworfen, so daß ihre Habe durcheinander rollte. Ihre Wut beachtete er
so wenig, als ob eine mächtige Schar ungezählter Engel ihn unsichtbar
begleitete und ihm Macht über alle Macht der Erde verlieh. So fürchteten
seine Freunde sich oft vor seiner Strenge und der Unerbittlichkeit
seiner Forderungen und seines Willens zum Guten, aber als sie ihn einmal
in ihrer Besorgnis fragten, antwortete er ihnen:

›Wer meine Worte hört und glaubt nicht, den werde ich nicht richten,
denn ich bin nicht gekommen, daß ich die Menschen richte, sondern daß
ich sie glücklich mache.‹

Obgleich er viel und zu allen Leuten sprach, sagte er doch, daß
niemandem ein Gut der Seele gegeben werden könnte, der nicht schon reich
an Kraft des Gemüts war; so redete er auch von solchen, die für das
Reich erwählt seien und von solchen, die es nicht finden sollten. Denn
er kannte den alten Irrtum der Welt, daß jemand Liebe empfangen kann,
der keine zu geben hat. Er wußte, daß nur diejenigen Liebe empfangen,
die Liebe haben. Er wollte nicht, daß die Menschen dem Bösen
widerstrebten, und sagte, daß niemand seiner wert sei, der nicht alles
aufgäbe, was er hätte.

Aber die hohe Freude seines Gottbewußtseins wechselte oft mit tiefer
Niedergeschlagenheit, denn er war ein Mensch, und wie alle Menschen, von
denen ich euch erzählt habe, den irdischen Geschicken unterworfen.
Sagte ich euch nicht, als ich euch von Traule erzählte, daß Leid und
Freude aus der gleichen Quelle entspringen, und daß sie gleicherweise
hervorströmen, wenn die geheimnisvollen Gründe der Brust erschlossen
sind? So ging dieser einsame Verkünder des Reichs oft allein vor die
Stadt auf einen Hügel, der mit Olivenbäumen bestanden war, und wenn er
auf die Wohnungen der Menschen niedersah, überwältigte ihn sein Gram
über ihre Armut, und er weinte. Er ahnte, daß nur wenige im Lauf aller
Zeiten ihn verstehen, und daß sie ihn töten würden. Und er wußte, daß er
sterben mußte, um den Menschen zu zeigen, daß er selbst sein Leben
gering achtete, gegenüber der unverbrüchlichen Beständigkeit des Reichs.

Als er einmal seine Zweifel, die Angst seiner Seele und das Übermaß
seines Liebesverlangens nicht mehr ertragen konnte, trat er vor einen
seiner Freunde hin, und mit einem tiefen Seufzer entrang sich seiner
Brust die Frage:

›Hast du mich lieb?‹

Sein Freund sagte zu ihm: ›Du weißt so viele Dinge, du weißt auch, daß
ich dich lieb habe.‹

Aber er fragte noch einmal und ein drittes Mal. Es kamen ihm in heißer
Sorge die Menschen in den Sinn, die wie er um ihrer Liebe willen auf der
Erde Schande, Erniedrigung und Not erleiden mußten, und die Angst
zerdrückte sein Herz. Er bat seinen Freund, er möge ihn nicht vergessen
und nicht die Hoffnung, nicht das Licht, die sein Herz bewegt hatten. Es
war, als ahnte er, wie arg die Menschen einst seine Worte entstellen,
und daß sie aufs neue die Freiheit zum Gesetz erniedrigen würden. Ein
anderer seiner Freunde hat nie aufgehört, seinen Herrn zu lieben, er ist
an seiner Liebe gestorben, wie eine Blume, im Glanz der strahlenden
Sonne, an ihrer Seligkeit. Sein Geist sank in Nacht, weil seine Seele
sich so schrankenlos dem Licht zukehrte, daß ihr das Irdische fremd
wurde, wie die Dunkelheit. Aber bis in seinen letzten glühenden Traum
sah er die Schönheit seines Herrn.

Wie sollte ein irdischer Mund diese Schönheit schildern? Um das Licht
seiner Worte sind seither auf der Erde mehr Kämpfe gefochten worden, als
um jeden anderen Namen, Kriege sind um ihn geführt, wie niemals vorher.
Nie hat die Erde mehr Blut als um seinetwillen getrunken. Die Schar der
Märtyrer ist ohne Zahl, ja es ist, als habe seit jenen Tagen die Welt
ihr Angesicht verändert und sich der Hoffnung auf ein ganz neues Ziel
zugekehrt, denn glaubt mir, dem Reich, das dieser Mensch im Geist sah
und im großen Herzen trug, dem Reich der Liebe, ist jede Lauheit und
jede Halbheit fremd, seine Welten glühen wie von heiligen Feuern, und
sein Friede ist Kraft. In ihm ist der Schrecken der Welt, das Böse,
überwunden und mit ihm der Tod, den der große Prophet dieses Reichs
gering achtete, wie ein Kind die Nacht, der der Morgen folgt. Und da
sollte der Tod nicht furchtbarer als je sein vergängliches irdisches
Recht geübt haben?

Der Verkünder des Lebens aber ging in seiner Zeit einher wie ein Kind im
Gemüt, wenn auch an Geist ein Mann und von mächtigem Willen. Immer ist
mir zumut, als sähe ich ein einziges Glühen von Freude und Trauer und
unaussprechlicher Hoheit eines edlen Menschentums, wenn ich seiner
gedenke. Nie werde ich vergessen, was eines Tages geschah, als ihm der
Tod begegnete.

Einer seiner Freunde, den er geliebt und in dessen Haus er oft geweilt
hatte, war gestorben, und als er kam, um ihn zu sehen, ruhte der Tote
schon seit Tagen in seinem Grabe.

Seine Freunde sahen, wie er sein Gesicht vor Schmerz verbarg, aber wie
erschraken sie, als er plötzlich sein Haupt erhob, und sie einen so
gewaltigen Zorn in seinen Zügen erblickten, daß sie entsetzt vor ihm
zurückwichen. Er stand totenbleich vor dem Grabe seines Freundes, seine
Fäuste waren geballt, und unter seiner bleichen Stirn brannten seine
Augen, zum Himmel emporgerichtet, als sähe er Gott von Angesicht. Es
brach eine furchtbare Drohung aus seinem Mund, er schüttelte die Fäuste
gegen die finstere Erde, die der Gewalt des Todes gehorchend, seinen
Freund verschlungen hatte. Es war, als beschwöre er die Allmacht der
Liebe, und sein Liebeswille wuchs an in ihm, wie ein strahlendes
Ungewitter. Es herrschte Totenstille um ihn her, nie hat der Glaube an
die Ewigkeit des Lebens irdisch ein gewaltigeres Feuer in der Seele
eines Menschen entfacht. Mit zitternden Händen und von Furcht wie
geblendet, gehorchten seine Freunde, als er ihnen befahl, die
Steinplatte zu heben, unter der der Tote lag, und das Grab zu öffnen.

Da trat er dicht vor die Gruft, erhob seine Stimme und rief laut den
Namen des Toten.

Die Menschen schrien auf vor Entsetzen und warfen sich zur Erde, unten
aber, im Schattengrund der Gruft, begannen die weißen Tücher sich zu
regen, in die der Verstorbene eingehüllt war. Er befreite sich langsam,
der Stimme gehorchend, die ihn rief, und stieg aus seinem Grabe hervor,
die geblendeten Augen, die das irdische Licht wiedersahen, mit der
bleichen Hand schützend und mit einem stillen erstaunten Lächeln in
seinen elenden Zügen, von denen die Schatten des Todes langsam wichen,
als er die Augen seines Befreiers sah und ihn erkannte.

Dies wird das größte Wunder genannt, das die Erde gesehen hat, und wenn
der Mann, der es vollbrachte, es vor den Menschen tat, so geschah es aus
Zorn gegen den Tod, den sie fürchteten, und in der glühenden Allmacht
seiner Gewißheit, daß die Liebe mächtiger als er ist. In ihrem Reich ist
diese Tat kein Wunder, unsere Augen sehen es täglich, und glaubt mir,
ihr Lieben, meine Blumen, die Stunde, in der eure Kelche sich der Sonne
geöffnet haben, ist an wunderbarem Reichtum nicht geringer als die, in
welcher einst jener Tote aus seinem Grabe stieg. Noch heute erweckt die
Kraft des Reichs Tote auf, und sie wird es immer tun.

Niemals hat ein Mensch in heißerer Zuversicht an die Kraft des Reichs
geglaubt. Es ist dasselbe Reich, in dessen Abglanz wir Bäume unsere
Blätterkronen entfalten, ein Tier die Luft zu seinem Leben einatmet, die
Sternbilder im All erstrahlen, und in dem ein Jüngling das Mädchen in
seine Arme schließt, das er liebgewonnen hat. Das Reich ist nicht fern
in fremden Himmeln, sondern mitten unter uns, daß es zu uns kommen
möchte, ist nun unser aller Gebet geworden, und mit dieser Bitte
erflehen wir den warmen blühenden Frühling herbei, den Frieden unserer
Stätte, den Weg unserer Seele zum Licht und die stete Wiederkehr der
Freude. Wir sind alle auf dem gleichen Weg. Immer ist es reine Freude,
in welcher das Reich zu uns kommt.

Einst fand ein Kind in meinem Schatten am Ufer des Bachs einen bunten
Stein, es hob ihn auf und lachte; ich fing einen Schein aus seinen Augen
auf, da verstand ich das Reich. Da verstand ich, daß jener Mann, von dem
ich euch erzähle, einst gesagt hat: Ihr könnt das Reich nicht finden,
wenn ihr nicht wie Kinder werdet.

Mir ist, als habe für die Menschen nichts anderes Wert auf der Erde,
als daß sie das Reich in ihren Herzen finden. Ihr Leib wird älter, aber
ihre Seele jünger, wenn sie den Weg der Liebe gefunden hat. Für den
Körper naht langsam der unvermeidliche Tod, aber für die Seele der
Frühling. Für den Leib wird einst das Leben, aber für die Seele der Tod
aufhören, es ist ein seltsames Wunder um das Geschick und die Bestimmung
der Menschen auf unserer Erde.

       *       *       *       *       *

Aber den Freunden dieses großen und guten Menschen erschien es nun mehr
und mehr, als habe er nicht getan und nicht erreicht, was er versprochen
hatte und wozu er bestimmt war. Sie hofften, er würde nun endlich das
Reich aufrichten, von welchem er so oft sprach, und bisweilen sahen sie
ihn in ihrer Vorstellung als König über die Welt herrschen in
niegesehenem irdischen Glanz. Dann wieder wuchs ihre Furcht vor seiner
Wirkung, und sie begriffen nicht, daß er keinen Nutzen aus ihr zog. Es
befiel sie Angst um ihr Leben, als sie sahen, wie der Haß der
Landespriester gegen ihn mehr und mehr anwuchs. Sie verstanden nicht,
daß er keinen Wunsch hatte, als den, daß die Menschen sich von den
vergänglichen Gütern den unvergänglichen zuwenden möchten, und daß es
keinen anderen Weg dazu gibt, als den der Liebe, und daß allein der
Wille zum Guten das Herz frei macht.

Er begriff, traurigen Herzens, ihre Hoffnungen und ihre Zweifel, und
einmal sagte er zu ihnen, und seine Augen leuchteten vor Zorn:

›Das Reich ist in seiner Wirkung einem Stein vergleichbar, den die
Bauleute fortgeworfen haben, und der am Wege liegengeblieben ist. Hütet
euch! Er wird alle zerschmettern, auf die er stürzt, und wer über ihn
fällt, wird zerschellt werden!‹

Da nahm ihre Verwirrung überhand. Er aber, um dessentwillen sie sich
sorgten, ging nun oft allein vor die Stadt in einen Garten, der an einem
Bach lag. Er sah blaß und elend aus, und von seiner Stirn leuchtete der
Abglanz einer Einsamkeit, wie sie noch keines Menschen Seele geschmeckt
hat. Er sah kein Ende in dem Kleinmut und in der Torheit, die ihn
umgaben, aber sein Herz drängte ihn unaufhörlich zu immer höheren Opfern
und zur Vollendung seines zeitlichen Lebens, das er nicht liebte. Die
Finsternis seiner Seele nahm überhand, ihn verlangte inbrünstig nach der
Gemeinschaft derer, die ihn liebten, und so bat er seine Freunde einst,
sie möchten ihn nicht allein lassen und ihn in den Garten begleiten. So
gingen sie mit ihm, aber die himmlische Ungeduld seiner Seele nahm
überhand, er fühlte, daß der Tod seines Leibes das letzte Pfand war, das
er geben mußte, aber er fürchtete sich vor der Finsternis des Sterbens,
wie alle Lebendigen. ›Ach, seid mir nicht gram,‹ bat er seine Freunde,
›in dieser Nacht werde ich euch alle bitter enttäuschen. Bleibt hier,
wacht, schlaft nun nicht ein.‹

Er ging ein paar Schritte fort von ihnen, in die Dunkelheit hinein, nur
die Sterne sahen durch das Laub der Oliven, und der kühle Nachtwind
flüsterte in den Zweigen; es war, als könnten sie nicht schlafen über
seinem Leid. Kaum war er von den Freunden getrennt, da fiel er auf sein
Angesicht nieder und flehte zu Gott empor, er möge ihm dies Letzte,
Schwerste ersparen, den Tod in Verachtung und Schmach und unter dem
Spott der Menschen. ›Muß es sein, mein Vater, daß ich sterbe, damit die
Kraft des Reichs offenbar werde?‹ rief er laut zu Gott empor. Er rang
seine Hände, und auf seine Stirn traten Blutstropfen. O, es ist oft so,
als wollte Gott wissen, wie weit ein Mensch ihm gleicht, er sendet den
besten Menschen die schwersten Prüfungen. Glaubt mir, ihr Blumen, meine
Lieben, Pflanzen und Tiere, daß niemals ein Wesen der Erde einen
schwereren Kampf gekämpft hat. O bedenkt, welche Macht ihm gegeben war
und den Wert seines großen Herzens, das bis zuletzt verkannt sein mußte,
um einst zu der Klarheit erhoben zu werden, in der wir es heute als
unsere strahlende Gewißheit der Freude loben.

Er fand seine Freunde schlafend, als er seinen schwersten Kampf
durchlitt, der Schmerz seiner Einsamkeit überwältigte ihn aufs neue, und
er lag lange im Dunkeln, unter den Bäumen auf der Erde, allein.

Da wurde die irdische Finsternis plötzlich vom Himmel her erhellt. War
es ein Sternbild, das langsam, funkelnd gegen ihn niederbrach? Der ganze
Hain erstrahlte, ein Engel stieg aus der Höhe nieder! Der himmlische
Gesandte hob das Haupt des verzweifelten Menschen barmherzig empor,
strich die feuchten Haare aus der Stirn und setzte einen Kelch mit Wein
an seine Lippen. Da lösten sich die Tränen in den Augen, die niemals ein
böser Wille getrübt hatte, und eine jubelnde Gewißheit erhob seine Seele
zu ihrem letzten, großen Entschluß. Dies ist die Stunde gewesen, in der
das Reich in seiner freiesten Herrlichkeit in der Brust eines Menschen
erstrahlte, es gibt nun kein Herz mehr, zu dem sich nicht auch heute
dieser Engel findet, wenn sein Ringen um Licht in Zweifeln überhand
nimmt.

Kurze Zeit darauf kamen Krieger und Knechte durch die Nacht, die von den
Landespriestern geschickt worden waren, um ihn zu ergreifen und in
Gefangenschaft zu setzen. Als seine Freunde sein Angesicht im Schein der
Fackeln sahen, leuchtete ihnen ein unnennbarer Frieden entgegen, und sie
erkannten, daß es sein Wille war, dies Schicksal zu erleiden. Sie flohen
alle, und derjenige unter ihnen, der ihm noch in dieser Nacht
versprochen hatte, ihn niemals zu verlassen, antwortete, als man ihn am
Morgen fragte:

›Ich kenne diesen Menschen nicht.‹

Der Gefangene soll später seinen Richtern wenig geantwortet haben. Er
wußte, daß sie ihn nicht verstehen würden, und er verteidigte sich
nicht. Er gab zu, gesagt zu haben, was man ihm vorwarf, als aber seine
Richter wollten, daß er ihnen seine Wahrheit erklären sollte, antwortete
er ihnen, daß ihre Welt nichts mit seinem Reich zu schaffen habe, und
daß niemand die Wahrheit verstünde, der nicht aus ihr geboren sei.

So verurteilten sie ihn zu einem qualvollen Tod, denn sie haßten ihn,
weil seine Lehre das Licht der Liebe für das dunkle Wort und für den
Zwang ihrer Kirche eingesetzt hatte. Sie sagten, er habe Gott gelästert,
weil er Gott nicht in toten Gesetzen und Formeln suchte, sondern allein
in der unvergänglichen Freiheit eines reichen Gemüts.

Man erzählt, daß er den Tod erlitten hat, wie alle Lebendigen ihn
erleiden, und mit Angst vor seiner Finsternis und mit Qualen seines
Leibes. Er schrie laut zu Gott empor, er möge ihn nicht verlassen, und
bat seine Peiniger um Wasser. So ist er allen Dahinsinkenden nah
geblieben bis an ihre letzte Stunde.

Vor seinem Tode sah er einen anderen Menschen neben sich sterben, der
auch gerichtet wurde, und in den verlöschenden Geist dieses Armen sank
ein Lichtstrahl von der Stirn des Leidenden, den er auf dem Markt und
vor dem Volke hatte sprechen hören, und auf dessen Befehl Tote sich aus
ihrem Grabe erhoben hatten, und der nun unter den Augen seiner Feinde
die Bitterkeit des Todes schmeckte. Da traf ein Schein der Wahrheit sein
brechendes Herz, daß dieser Mann freiwillig litt und starb und nicht aus
Schuld gegen die Menschen, wie er selbst, und er bat ihn: ›Gedenke
meiner in deinem Reich.‹ Der Angeredete wandte sich ihm zu, als sei
diese Bitte des Verdammten Gottes Antwort auf die Qualen seines eigenen
Leibes und seiner Seele, und er antwortete ihm: ›Du sollst noch heute
mit mir die Herrlichkeit des Reichs sehen.‹ Und über dieser letzten
Verheißung seiner Liebe wurde ihre Kraft aufs neue zu einer lichten
Gewißheit seiner Brust, und sein Herz, das unendliche, weite, klare,
brach mit dem Seufzer: ›Es ist vollbracht.‹«

       *       *       *       *       *

Als die Linde ihre Geschichte beendet hatte, dämmerte schon in der
Himmelsweite des Ostens der Morgen herauf. Es war still auf der
Waldwiese, man glaubte die Atemzüge der Lauschenden zu vernehmen, viele
von ihnen waren in der kühlen Mondnacht eingeschlafen, aber es war, als
wachten alle Herzen. Der Inhalt der Geschichte breitete sich über den
Lebendigen wie eine schimmernde Segnung aus, die der vollen Erkenntnis
nicht zu bedürfen schien, sondern die wie das Bewußtsein einer
geschehenen Wohltat ein Gefühl des Glücks zurückließ.

Die Stille machte alle Dinge merkwürdiger. Der grauen Uku am Stamm in
ihrer Höhlung war zumute, als müßte ein Wunder geschehen, sie dachte an
ihr Alter, und das Baumrauschen war ihr nie so heimatlich zu Herzen
gedrungen, nie so beständig in seinem milden Wohllaut, und das Leben
erschien ihr gut und freundlich. Welch ein Wunder ist es um die
Menschen, dachte sie. Sie sah hinab auf den Pflanzenteppich am Boden,
auf die reglosen Formen der Zweige in der Dämmerung. »Ich lebe nun wohl
nicht mehr lange,« sagte sie, »aber wie schön und groß ist es mir im
irdischen Licht erschienen, die Zeit wird weitergehen, auch ohne mich,
das Reich wird kommen, und sein Ende wird unvergängliche Freude sein.«

Da klang es jählings jubelnd draußen über den Feldern auf, ein silbernes
Läuten und zugleich ein jauchzendes Schlagen, lieblich trillernd und so
zart und voll klaren Wohllauts, daß man seine Augen schließen mußte, um
die Seligkeit an diesem Lied im Herzen zu bewältigen.

Unten rief eine Stimme in höchstem Erstaunen:

»Die Lerche singt!«

Wie, dachte Uku, es ist spät im Sommer und die Lerche singt? Betört von
der Freude an dem hellen Gesang in der Morgendämmerung, aber tief
erstaunt, sah sie sich verwirrt um. Es begann sich rings zu regen, die
Bewegung war groß umher, und in ratlosem Glück sahen die Geschöpfe
einander an. Aber da plötzlich überwältigte die alte Uku eine
Erinnerung, sie wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor,
sondern lehnte sich wie in einem Taumel von Liebesangst und Freude an
den Stamm, und aus ihren Augen brachen Tränen, eine nach der anderen,
und tropften nieder. Endlich rief sie mit einem Schluchzen in der
Stimme:

»Elf! Elfenkind!«

Keine Antwort scholl, es war nach ihrem Ruf so still, daß das
Lerchenlied die Welt klar und einsam füllte, wie über ihm der
Morgenstern am Firmament, der in verklärtem Blau schwebte. Da stieg in
alle Herzen eine holde, erschrockene Ahnung, kaum sah sich einer von
allen nach dem Platz des Elfen um, sie wußten, er war fort und frei, und
sie lauschten mit zitterndem Gemüt dem lichten Wunder des späten Liedes,
in dem die Lerche dem Elfen das Versprechen ihres Danks und ihrer Liebe
hielt: »Wenn du einst heimfliegst, will ich singen.«



                          Achtzehntes Kapitel

                             Der Abschied


Eine Schwalbe hielt auf ihrer Reise zum Süden noch einmal kurze Rast auf
der Linde, und ihre helle Stimme voll Wanderlust erweckte in den Herzen
der Waldwiesenleute zitternde Ahnungen von fernem Glück und nahem
Abschied.

»Viele von euch Vögeln bleiben zurück und ihr übrigen Geschöpfe alle,
lebt wohl!« rief die Schwalbe. »Ich eile nun mit dem unsichtbaren Wind
zugleich über tiefe Abgründe dahin, über glühende Berge und über das
schimmernde Meer. Ich liebe den Wind, der mich trägt, von ihm weiß ich,
daß die Freiheit den höchsten Wipfel der Erde zuerst berührt, wie er.
Komme mit, wer kann und will! Wer bleiben muß, leide nicht, oder schlafe
wohl in der kühlen Ruhe, ich will euch mein Heimweh nach der Ferne in
euren Träumen zurücklassen.

Ich komme auf meiner Reise zu einer Insel im Süden, im Meer, wo wilde
Blumen auf den Felshöhen im Wind miteinander spielen. Der Harzgeruch der
alten Bäume in den Meertälern füllt die Landschaft wie mit der Mahnung
der Unsterblichkeit, und in der Einsamkeit mildert die Weite alles Nahe.
Die Sternbilder leuchten in den südlichen Nächten, rufend, glänzend. An
den standhaften Felsen braust das Meer Tag und Nacht, oft erscheint mir
die Erde dort, als sei sie der Menschen müde, ihr Angesicht ist
abgehärmt, ihr Kleid karg. Aber unter der Sonne erheitern sich die
Lebensfalten der alten Berge zu einem klugen Lachen.

Sie halten goldene Trauben gegen das blaue Meer, das Baumlaub vergeht zu
keiner Jahreszeit, die Bäume grünen, bis sie sterben. Die Fröhlichkeit
der Menschen in diesen Ländern ist unbedacht, die Sonne verwandelt ihren
Ernst in den Schlaf, ihre Trauer in Wehmut, und der unvermerkt
herannahende Tod scheint allen ohne Bitterkeit. Ja, das Sterben ist
leichter dort, denn die kleinen Gedanken und unnützen Hoffnungen halten
der Sonne, dem Meer nicht stand. Es zieht mich mit tausend Mächten in
die milde, blaue Ruhe des Südens; lebt wohl, ich komme wieder.«

Die Schwalbe flog mit einem hellen Triller auf, warf sich in den Wind,
den sie zu umfangen schien und der sie trug, zugleich hingegeben und
kraftvoll, seinem Wesen verwandt, geborgen und hoch.

»Ach, wer so fliegen könnte«, meinte ein Rotschwänzchen, und es war
sicher nicht der einzige Vogel der Wiese, der das gleiche Verlangen im
Sinn trug wie die Schwalbe. Ihre Worte ließen eine erwartungsvolle
Unruhe in den Sinnen der Waldvögel zurück. Lichteten die Bäume sich
schon?

»Wir werden auf den Storch warten, meine Liebe, er wird uns tragen und
mitnehmen«, sagte die Grasmücke und schüttelte ihre Federn ein wenig
auf, so daß sie viel dicker und ganz zerzaust aussah. Es wurde auch
wirklich schon recht kühl, besonders an diesen sonnenlosen Tagen, wie
sie nun oft in unfaßbarer Stille, mit einem leichten Nebelkleid in der
Frühe, dahinzogen. Dann wieder wurde in der Sonne die Luft so klar, daß
man die Stimmen der Landleute auf den Feldern weithin vernahm, als höbe
die Reinheit die Entfernung auf, und nachts kamen die Sterne der Erde
näher.

Die zarten Kelche der Herbstzeitlose erschienen im Gras und am
Buschrain, als habe ein verspäteter Frühlingsengel sie über Nacht
verstreut, ihre blassen Farben waren voller Wehmut und sie blühten nicht
lange. Um die wärmeren Mittagsstunden kamen wohl zuweilen noch Käfer und
Bienen geflogen, ihr vereinzeltes Summen klang deutlich und sorgenvoll,
aber es rief sie niemand mehr.

Von Tag zu Tag wurde es stiller, die Mäuse schlossen ihre Wohnungen
bereits, Uku hatte alles für ihren Winterschlaf vorbereitet, und auch
Li, das Eichhorn, sammelte eifrig für den Winter, denn wenn spät noch
ein schöner Sonnentag kam, so konnte es auch in der kalten Zeit einen
Spaziergang durch die Föhrenkronen nicht entbehren, und es wußte, daß
solch eine Ausfahrt in die Frische ganz ungewöhnlichen Appetit mit sich
brachte. Alle kleineren Tiere suchten, eines nach dem andern, die warme
Erde in Schlupfwinkeln und Höhlen auf, Verstecke in Baumlöchern oder
tief unter welkem Laub, und es wurde langsam leer und immer stiller.

[Illustration]

Die Sträucher empfingen am Waldrand den Wind am Abend, und sie
begrüßten ihn mit ihrem Lied:

    Du gehst wie das Licht, wie der Blick
    über schwindelnde Abgründe hin,
    du, unser lebendiges Glück,
    unserer Stimmen seliger Sinn.

    Unsere Tränen sind unsere Speise,
    wenn du, auf den Schwingen die Nacht,
    unsichtbar, himmlisch, leise
    die Dunkelheit zu uns gebracht.

Aus der klaren Freiheit des Herbstes tauchte farbig umkränzt die
Wirklichkeit des Sterbens auf, und den Sinnen der Scheidenden wurde weh
und wohl. Mit ihrem Lebensschmuck sank ihre Erinnerung an das Kleine,
Vergängliche ihres Daseins an ihnen nieder, sie gaben der Erde zurück,
was sie von ihr empfangen hatten, und der himmlische Wind drang
ungehindert in ihre Seelen.

Als die Vögel fort und die letzten Blumen welk waren, kamen die Nebel.
Die gelben Blätter der Linde lösten sich und sanken mit den Tropfen
durch die kühle, graue Luft nieder auf die Ruhestätten der Pflanzen,
Beeren und Gräser. Nach Tagen sahen Sonne und Wind ein buntes, freies
Bild.

»War es einst anders?« fragten sich mit unbeschreiblichem Lächeln die
Pflanzen. »Ist nicht nun alles gut? Wir blühten und trugen Frucht, so
sind unsere Tage vergangen.« Es klang wie Wahrsagungen durch den Sinn
ihrer letzten Worte: »Wir taten, was die Natur wollte, nun nimmt sie
sich unserer an, in ihr kehren wir heim, und wieder zugleich.« Und eine
nach der anderen sank zur Erde nieder, der Mutter. Sie spürten unter dem
feuchten Teppich des Lindenlaubs den kalten Nebel nicht mehr. Die
Geschöpfe dienten einander im Sterben mit ihrem Vergänglichen, wie sie
zu Lebzeiten einander dienstbar und hilfreich gewesen waren. Sie ahnten
noch die kalte, weiße Decke, die der Himmel eines Nachts über ihnen
ausbreitete, es war wie ein schlummernder Glaube, daß eine reine Einfalt
der beste Teil aller Wesen sein sollte und ihre Einigung.

       *       *       *       *       *

Und nun lebt wohl von Herzen, ihr, die ihr mir gelauscht habt, und
gedenkt meiner. Habe ich euch kleine Dinge groß gezeigt und große
einfach, so glaubt mir, daß alles, was wir erleben, uns nicht größer
erscheinen kann, als unser Herz groß ist, und alle Dinge, die uns
begegnen, sind uns so viel wert, als unsere Liebe zu ihnen uns Glück
bedeutet. Glaubt mir, denn ich weiß es zuversichtlich!

Wir müssen alle das Lächeln wieder lernen, das unseren kurzen
Lebenstagen und ihrem vergänglichen Werk und Schmerz gilt, denn wir
erfahren in unserer Lebenszeit von der Erde und ihrem und unserem Wesen
so wenig, daß wir nicht glauben dürfen, unser irdischer Aufenthalt sei
der Sinn unseres Daseins. Wir sind alle aus der Freude geboren und
kehren zu ihr zurück.


                                _Ende_



_Die Bücher von Waldemar Bonsels_ aus dem Verlage von Schuster &
Loeffler in Berlin W


=Die Biene Maja= und ihre Abenteuer. 150. _Auflage_. M. 3.– brosch.,
M. 4.50 geb., Luxus-Ausgabe M. 25.–

=Himmelsvolk.= Ein Buch von Blumen, Tieren und Gott. 90. _Auflage_.
M. 3.50 brosch., M. 5.– geb.

=Das Anjekind.= Eine Erzählung. 25. _Auflage_. M. 3.– brosch., M. 4.50
geb.

=Der tiefste Traum.= Eine Erzählung. 17. _Auflage_. M. 3.– brosch.,
M. 4.50 geb.

=Blut.= Eine Erzählung. 15. _Auflage_. M. 3.50 brosch., M. 5.– geb.

=Wartalun.= Eine Schloßgeschichte. 37. _Auflage_. M. 5.– brosch.,
M. 7.50 geb., Luxus-Ausgabe M. 28.–

=Don Juan.= Eine epische Dichtung. 3. _Tausend_. M. 7.– geb.,
Luxus-Ausgabe M. 20.–

=Norby.= Eine dramatische Dichtung. 3. _Tausend_. M. 7.– geb.,
Luxus-Ausgabe M. 20.–



_Bei Rütten & Loening in Frankfurt_


=Indienfahrt.= 68. _Tausend_. M. 5.– brosch., M. 7.50 geb.

=Menschenwege.= Notizen eines Vagabunden. 35. _Tausend_. M. 5.–
brosch., M. 7.50 geb.



[Anmerkungen zur Transkription: Die nachfolgende Tabelle enthält eine
Auflistung aller im elektronischen Buch gegenüber dem Originaltext
vorgenommenen Korrekturen.

S. 004: ist in gleichem Verlag -> im gleichen
S. 059: Da wußte ich, daß mein irdischer Gefühl -> irdisches
S. 065: [Anführungszeichen ergänzt] vom Irdischen abgewandt hat.«
S. 086: das Angesicht der Muttter -> Mutter
S. 095: Onna, die Bach stelze, war schon auf -> Bachstelze
S. 114: sagte der Graeshüpfer -> Grashüpfer
S. 117: auf der Oberfläsche schwamm -> Oberfläche
S. 118: [Punkt ergänzt] um ihn abzutrocknen.
S. 131: bis sie eine Entgeguung darauf -> Entgegnung
S. 151: die letzen Sommerblumen -> letzten
S. 178: [Punkt ergänzt] Kopf fortschleudern wollte.
S. 209: [Anführungszeichen ergänzt] »Goldene Sonne, ein Elfenkind
S. 209: gib mir dein himmliches Gold dafür -> himmlisches
S. 221: [Anführungszeichen korrigiert] ›Es wird alles, alles gut,‹ etc.
S. 242: die Schatten des Totes -> Todes ]



[Transcriber’s Notes: The table below lists all corrections applied to
the original text.

p. 004: ist in gleichem Verlag -> im gleichen
p. 059: Da wußte ich, daß mein irdischer Gefühl -> irdisches
p. 065: [added closing quotes] vom Irdischen abgewandt hat.«
p. 086: das Angesicht der Muttter -> Mutter
p. 095: Onna, die Bach stelze, war schon auf -> Bachstelze
p. 114: sagte der Graeshüpfer -> Grashüpfer
p. 117: auf der Oberfläsche schwamm -> Oberfläche
p. 118: [missing period] um ihn abzutrocknen.
p. 131: bis sie eine Entgeguung darauf -> Entgegnung
p. 151: die letzen Sommerblumen -> letzten
p. 178: [missing period] Kopf fortschleudern wollte.
p. 209: [added opening quotes] »Goldene Sonne, ein Elfenkind
p. 209: gib mir dein himmliches Gold dafür -> himmlisches
p. 221: [use of single quotes] ›Es wird alles, alles gut,‹ etc.
p. 242: die Schatten des Totes -> Todes ]





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