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Title: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Author: Musil, Robert, 1880-1942
Language: German
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  [ Anmerkungen zur Transkription:

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                              ROBERT MUSIL

                            Die Verwirrungen
                          des Zöglings Törleß


                             Wiener Verlag
                            Wien und Leipzig
                                  1906



Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt.

Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten
zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie
ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden
gebrannte Strich.

Hinter dem niederen, ölgestrichenen Stationsgebäude führte eine breite,
ausgefahrene Straße zur Bahnhofsrampe herauf. Ihre Ränder verloren
sich in dem ringsum zertretenen Boden und waren nur an zwei Reihen
Akazienbäumen kenntlich, die traurig mit verdursteten, von Staub und
Ruß erdrosselten Blättern zu beiden Seiten standen.

Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose,
durch den Dunst ermüdete Licht der Nachmittagssonne: Gegenstände und
Menschen hatten etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich,
als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen. Von Zeit
zu Zeit, in gleichen Intervallen, trat der Bahnhofsvorstand aus seinem
Amtszimmer heraus, sah mit der gleichen Wendung des Kopfes die weite
Strecke hinauf nach den Signalen der Wächterhäuschen, die immer noch
nicht das Nahen des Eilzuges anzeigen wollten, der an der Grenze große
Verspätung erlitten hatte; mit ein und derselben Bewegung des Armes zog
er sodann seine Taschenuhr hervor, schüttelte den Kopf und verschwand
wieder; so wie die Figuren kommen und gehen, die aus alten Turmuhren
treten, wenn die Stunde voll ist.

Auf dem breiten, festgestampften Streifen zwischen Schienenstrang
und Gebäude promenierte eine heitere Gesellschaft junger Leute, links
und rechts eines älteren Ehepaares schreitend, das den Mittelpunkt
der etwas lauten Unterhaltung bildete. Aber auch die Fröhlichkeit
dieser Gruppe war keine rechte; der Lärm des lustigen Lachens schien
schon auf wenige Schritte zu verstummen, gleichsam an einem zähen,
unsichtbaren Widerstande zu Boden zu sinken.

Frau Hofrat Törleß, dies war die Dame von vielleicht vierzig Jahren,
verbarg hinter ihrem dichten Schleier traurige, vom Weinen ein wenig
gerötete Augen. Es galt Abschied zu nehmen. Und es fiel ihr schwer, ihr
einziges Kind nun wieder auf so lange Zeit unter fremden Leuten lassen
zu müssen, ohne Möglichkeit, selbst schützend über ihren Liebling zu
wachen.

Denn die kleine Stadt lag weitab von der Residenz, im Osten des
Reiches, in spärlich besiedeltem, trockenem Ackerland.

Der Grund, dessentwegen Frau Törleß es dulden mußte, ihren Jungen in
so ferner, unwirtlicher Fremde zu wissen, war, daß sich in dieser
Stadt ein berühmtes Konvikt befand, welches man schon seit dem vorigen
Jahrhunderte, wo es auf dem Boden einer frommen Stiftung errichtet
worden war, hier heraußen beließ, wohl um die aufwachsende Jugend
vor den verderblichen Einflüssen einer Großstadt zu bewahren.

Denn hier erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre
Ausbildung, um nach Verlassen des Institutes die Hochschule zu
beziehen oder in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten und in
allen diesen Fällen, sowie für den Verkehr in den Kreisen der guten
Gesellschaft galt es als besondere Empfehlung, im Konvikte zu W.
aufgewachsen zu sein.

Vor vier Jahren hatte dies das Elternpaar Törleß bewogen, dem
ehrgeizigen Drängen seines Knaben nachzugeben und seine Aufnahme in das
Institut zu erwirken.

Dieser Entschluß hatte später viele Tränen gekostet. Denn fast seit
dem Augenblicke, da sich das Tor des Institutes unwiderruflich hinter
ihm geschlossen hatte, litt der kleine Törleß an fürchterlichem,
leidenschaftlichem Heimweh. Weder die Unterrichtsstunden noch die
Spiele auf den großen üppigen Wiesen des Parkes noch die anderen
Zerstreuungen, die das Konvikt seinen Zöglingen bot, vermochten ihn
zu fesseln; er beteiligte sich kaum an ihnen. Er sah alles nur wie
durch einen Schleier hindurch und hatte selbst untertags häufig Mühe,
ein hartnäckiges Schluchzen hinabzuwürgen; des Abends schlief er
aber stets unter Tränen ein.

Er schrieb Briefe nach Hause, beinahe täglich, und er lebte nur in
diesen Briefen; alles andere, was er tat, schien ihm nur ein
schattenhaftes, bedeutungsloses Geschehen zu sein, gleichgültige
Stationen, wie die Stundenziffern eines Uhrblattes. Wenn er aber
schrieb, fühlte er etwas Auszeichnendes, Exklusives in sich; wie eine
Insel voll wunderbarer Sonnen und Farben hob sich etwas in ihm aus dem
Meere grauer Empfindungen heraus, das ihn Tag um Tag kalt und
gleichgültig umdrängte. Und wenn er untertags, bei den Spielen oder
im Unterrichte, daran dachte, daß er abends seinen Brief schreiben
werde, so war ihm, als trüge er an unsichtbarer Kette einen goldenen
Schlüssel verborgen, mit dem er, wenn es niemand sieht, das Tor von
wunderbaren Gärten öffnen werde.

Das Merkwürdige daran war, daß diese jähe, verzehrende Hinneigung zu
seinen Eltern für ihn selbst etwas Neues und Befremdendes hatte. Er
hatte sie vorher nicht geahnt, er war gern und freiwillig ins Institut
gegangen, ja er hatte gelacht, als sich seine Mutter beim ersten
Abschied vor Tränen nicht fassen konnte, und dann erst, nachdem er
schon einige Tage allein gewesen war und sich verhältnismäßig wohl
befunden hatte, brach es plötzlich und elementar in ihm empor.

Er hielt es für Heimweh, für Verlangen nach seinen Eltern. In Wirklichkeit
war es aber etwas viel Unbestimmteres und Zusammengesetzteres. Denn der
»Gegenstand dieser Sehnsucht«, das Bild seiner Eltern, war darin
eigentlich gar nicht mehr enthalten. Ich meine diese gewisse plastische,
nicht bloß gedächtnismäßige, sondern körperliche Erinnerung an eine
geliebte Person, die zu allen Sinnen spricht und in allen Sinnen bewahrt
wird, so daß man nichts tun kann, ohne schweigend und unsichtbar den
anderen zur Seite zu fühlen. Diese verklang bald wie eine Resonanz, die
nur noch eine Weile fortgezittert hatte. Törleß konnte sich damals
beispielsweise nicht mehr das Bild seiner »lieben, lieben Eltern«, --
dermaßen sprach er es meist vor sich hin -- vor Augen zaubern. Versuchte
er es, so kam an dessen Stelle der grenzenlose Schmerz in ihm empor,
dessen Sehnsucht ihn züchtigte und ihn doch eigenwillig festhielt,
weil ihre heißen Flammen ihn zugleich schmerzten und entzückten. Der
Gedanke an seine Eltern wurde ihm hiebei mehr und mehr zu einer
bloßen Gelegenheitsursache, dieses egoistische Leiden in sich zu
erzeugen, das ihn in seinen wollüstigen Stolz einschloß wie in die
Abgeschiedenheit einer Kapelle, in der von hundert flammenden Kerzen
und von hundert Augen heiliger Bilder Weihrauch zwischen die
Schmerzen der sich selbst Geißelnden gestreut wird. -- -- --

Als dann sein »Heimweh« weniger heftig wurde und sich allgemach
verlor, zeigte sich diese seine Art auch ziemlich deutlich. Sein
Verschwinden führte nicht eine endliche Zufriedenheit nach sich,
sondern ließ in der Seele des jungen Törleß eine Leere zurück. Und an
diesem Nichts, an diesem Unausgefüllten in sich erkannte er, daß es
nicht eine bloße Sehnsucht gewesen war, die ihm abhanden kam, sondern
etwas Positives, eine seelische Kraft, etwas, das sich in ihm unter
dem Vorwand des Schmerzes ausgeblüht hatte.

Nun aber war es vorbei, und diese Quelle einer ersten höheren Seligkeit
hatte sich ihm erst durch ihr Versiegen fühlbar gemacht.

Zu dieser Zeit verloren sich die leidenschaftlichen Spuren der im
Erwachen gewesenen Seele wieder aus seinen Briefen und an ihre Stelle
traten ausführliche Beschreibungen des Lebens im Institute und der
neugewonnenen Freunde.

Er selbst fühlte sich dabei verarmt und kahl, wie ein Bäumchen, das
nach der noch fruchtlosen Blüte den ersten Winter erlebt.

Seine Eltern aber waren es zufrieden. Sie liebten ihn mit einer
starken, gedankenlosen, tierischen Zärtlichkeit. Jedesmal, wenn er
vom Konvikte Ferien bekommen hatte, erschien der Hofrätin nachher ihr
Haus von neuem leer und ausgestorben, und noch einige Tage nach jedem
solchen Besuche ging sie mit Tränen in den Augen durch die Zimmer, da
und dort einen Gegenstand liebkosend berührend, auf dem das Auge des
Knaben geruht oder den seine Finger gehalten hatten. Und beide hätten
sie sich für ihn in Stücke reißen lassen.

Die unbeholfene Rührung und leidenschaftliche, trotzige Trauer seiner
Briefe beschäftigte sie schmerzlich und versetzte sie in einen Zustand
hochgespannter Empfindsamkeit, der heitere, zufriedene Leichtsinn, der
darauf folgte, machte auch sie wieder froh und in dem Gefühle, daß
hiedurch eine Krise überwunden worden sei, unterstützten sie ihn nach
Kräften.

Weder in dem einen noch in dem andern erkannten sie das Symptom einer
bestimmten seelischen Entwicklung, vielmehr hatten sie Schmerz und
Beruhigung gleichermaßen als eine natürliche Folge der gegebenen
Verhältnisse hingenommen. Daß es der erste, mißglückte Versuch des
jungen, auf sich selbst gestellten Menschen gewesen war, die Kräfte des
Inneren zu entfalten entging ihnen.

                   *       *       *       *       *

Törleß fühlte sich nun sehr unzufrieden und tastete da und dort
vergeblich nach etwas Neuem, das ihm als Stütze hätte dienen können.

                   *       *       *       *       *

Eine Episode dieser Zeit war für das charakteristisch, was sich damals
in Törleß zu späterer Entwicklung vorbereitete.

Eines Tages war nämlich der junge Fürst H. ins Institut eingetreten,
der aus einem der einflußreichsten ältesten, und konservativsten
Adelsgeschlechter des Reiches stammte.

Alle anderen fanden seine sanften Augen fad und affektiert; die
Art und Weise, wie er im Stehen die eine Hüfte herausdrückte und
beim Sprechen langsam mit den Fingern spielte, verlachten sie als
weibisch. Besonders aber spotteten sie darüber, daß er nicht von
seinen Eltern ins Konvikt gebracht worden war, sondern von seinem
bisherigen Erzieher, einem =doctor theologiae= und Ordensgeistlichen.

Törleß aber hatte vom ersten Augenblicke an einen starken Eindruck
empfangen. Vielleicht wirkte dabei der Umstand mit, daß es ein
hoffähiger Prinz war, jedenfalls war es aber auch eine andere Art
Mensch, die er da kennen lernte.

Das Schweigen eines alten Landedelschlosses und frommer Übungen schien
irgendwie noch an ihm zu haften. Wenn er ging, so geschah es mit
weichen, geschmeidigen Bewegungen, mit diesem etwas schüchternen
Sichzusammenziehen und Schmalmachen, das der Gewohnheit eigen ist,
aufrecht durch die Flucht leerer Säle zu schreiten, wo ein anderer
an hundert unsichtbaren Ecken des leeren Raumes schwer anzurennen
scheint.

Der Umgang mit dem Prinzen wurde so zur Quelle eines feinen
psychologischen Genusses für Törleß. Er bahnte in ihm jene Art
Menschenkenntnis an, die es lehrt, einen anderen nach dem Falle
der Stimme, nach der Art, wie er etwas in die Hand nimmt, ja selbst
nach dem =timbre= seines Schweigens und dem Ausdruck der körperlichen
Haltung, mit der er sich in einen Raum fügt, kurz nach dieser
beweglichen, kaum greifbaren und doch erst eigentlichen, vollen Art,
etwas Seelisch-Menschliches zu sein, die um den Kern, das Greif- und
Besprechbare, wie um ein bloßes Skelett herumgelagert ist, so zu
erkennen und zu genießen, daß man die geistige Persönlichkeit dabei
vorwegnimmt.

Törleß lebte während dieser kurzen Zeit wie in einer Idylle. Er stieß
sich nicht an der Religiosität seines neuen Freundes, die ihm, der
aus einem bürgerlich freidenkenden Hause stammte, eigentlich etwas
ganz Fremdes war. Er nahm sie vielmehr ohne alles Bedenken hin, ja
sie bildete in seinen Augen sogar einen besonderen Vorzug des Prinzen,
denn sie potenzierte gewissermaßen das Wesen dieses Menschen, das er
dem seinen völlig unähnlich, aber auch ganz unvergleichlich fühlte.

In der Gesellschaft dieses Prinzen fühlte er sich etwa wie in einer
abseits des Weges liegenden Kapelle, so daß der Gedanke, daß er
eigentlich nicht dorthin gehöre, ganz gegen den Genuß verschwand,
das Tageslicht einmal durch Kirchenfenster anzusehen und das Auge so
lange über den nutzlosen vergoldeten Zierat gleiten zu lassen, der
in der Seele dieses Menschen aufgehäuft war, bis er von dieser selbst
ein undeutliches Bild empfing, so als ob er, ohne sich Gedanken
darüber machen zu können, mit dem Finger eine schöne, aber nach
seltsamen Gesetzen verschlungene Arabeske nachzöge.

Dann kam es plötzlich zum Bruche zwischen beiden.

Wegen einer Dummheit, wie sich Törleß selbst hinterher sagen mußte.

Sie waren nämlich doch einmal ins Streiten über religiöse Dinge
gekommen. Und in diesem Augenblicke war es eigentlich schon um alles
geschehen. Denn wie von Törleß unabhängig schlug nun der Verstand in
ihm unaufhaltsam auf den zarten Prinzen los. Er überschüttete ihn mit
dem Spotte des Vernünftigen, zerstörte barbarisch das filigrane
Gebäude, in dem dessen Seele heimisch war, und sie gingen im Zorne
auseinander.

Seit der Zeit hatten sie auch kein Wort wieder zueinander gesprochen.
Törleß war sich wohl dunkel bewußt, daß er etwas Sinnloses getan
hatte, und eine unklare, gefühlsmäßige Einsicht sagte ihm, daß da
dieser hölzerne Zollstab des Verstandes zu ganz unrechter Zeit etwas
Feines und Genußreiches zerschlagen habe. Aber dies war etwas, das
ganz außer seiner Macht lag. Eine Art Sehnsucht nach dem früheren
war wohl für immer in ihm zurückgeblieben, aber er schien in einen
anderen Strom geraten zu sein, der ihn immer weiter davon entfernte.

Nach einiger Zeit trat dann auch der Prinz, der sich im Konvikte nicht
wohl befunden hatte, wieder aus.

                   *       *       *       *       *

Nun wurde es ganz leer und langweilig um Törleß. Aber er war
einstweilen älter geworden, und die beginnende Geschlechtsreife fing
an sich dunkel und allmählich in ihm emporzuheben. In diesem
Abschnitt seiner Entwicklung schloß er einige neue, dementsprechende
Freundschaften, die für ihn später von größter Wichtigkeit wurden.
So mit Beineberg und Reiting, mit Moté und Hofmeier, eben jenen
jungen Leuten, in deren Gesellschaft er heute seine Eltern zur
Bahn begleitete.

Merkwürdigerweise waren dies gerade die Übelsten seines Jahrganges,
zwar talentiert und selbstverständlich auch von guter Herkunft,
aber bisweilen bis zur Roheit wild und ungebärdig. Und daß gerade
ihre Gesellschaft Törleß nun fesselte, lag wohl an seiner eigenen
Unselbständigkeit, die, seitdem es ihn von dem Prinzen wieder
fortgetrieben hatte, sehr arg war. Es lag sogar in der geradlinigen
Verlängerung dieses Abschwenkens, denn es bedeutete wie dieses eine
Angst vor allzu subtilen Empfindeleien, gegen die das Wesen der
anderen Kameraden gesund, kernig und lebensgerecht abstach.

Törleß überließ sich gänzlich ihrem Einflusse, denn seine geistige
Situation war nun ungefähr diese: In seinem Alter hat man am
Gymnasium Goethe, Schiller, Shakespeare, vielleicht sogar schon die
Modernen gelesen. Das schreibt sich dann halbverdaut aus den
Fingerspitzen wieder heraus. Römertragödien entstehen oder sensitivste
Lyrik, die im Gewande seitenlanger Interpunktionen wie in der
Zartheit durchbrochener Spitzenarbeit einherschreitet: Dinge, die an
und für sich lächerlich sind, für die Sicherheit der Entwicklung aber
einen unschätzbaren Wert bedeuten. Denn diese von außen kommenden
Assoziationen und erborgten Gefühle tragen die jungen Leute über
den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre hinweg, wo man
sich selbst etwas bedeuten muß und doch noch zu unfertig ist, um
wirklich etwas zu bedeuten. Ob für später bei dem einen etwas
davon zurückbleibt oder bei dem andern nichts, ist gleichgültig,
dann findet sich schon jeder mit sich ab, und die Gefahr besteht
nur in dem Alter des Überganges. Wenn man da solch einem jungen
Menschen das Lächerliche seiner Person zur Einsicht bringen könnte, so
würde der Boden unter ihm einbrechen oder er würde wie ein erwachter
Nachtwandler herabstürzen, der plötzlich nichts als Leere sieht.

Diese Illusion, dieser Trick zugunsten der Entwicklung fehlte im
Institute. Denn dort waren in der Bibliothek wohl die Klassiker
enthalten, aber diese galten als langweilig, und sonst fanden sich
nur sentimentale Novellenbände und witzlose Militärhumoresken.

Der kleine Törleß hatte sie wohl alle in einer förmlichen Gier nach
Büchern durchgelesen, irgendeine banal zärtliche Vorstellung aus ein
oder der anderen Novelle wirkte manchmal auch noch eine Weile nach,
allein einen Einfluß, einen wirklichen Einfluß, nahm dies auf seinen
Charakter nicht.

Es schien damals, daß er überhaupt keinen Charakter habe.

Er schrieb zum Beispiel unter dem Einflusse dieser Lektüre selbst hie
und da eine kleine Erzählung oder begann ein romantisches Epos zu
dichten. In der Erregung über die Liebesleiden seiner Helden röteten
sich dann seine Wangen, seine Pulse beschleunigten sich und seine
Augen glänzten.

Wie er aber die Feder aus der Hand legte, war alles vorbei;
gewissermaßen nur in der Bewegung lebte sein Geist. Daher war es ihm
auch möglich, ein Gedicht oder eine Erzählung wann immer, auf jede
Aufforderung hin, niederzuschreiben. Er regte sich dabei auf, aber
trotzdem nahm er es nie ganz ernst und die Tätigkeit schien ihm
nicht wichtig. Es ging von ihr nichts auf seine Person über, und sie
ging nicht von seiner Person aus. Er hatte nur unter irgend einem
äußeren Zwang Empfindungen, die über das Gleichgültige hinausgingen,
wie ein Schauspieler hiezu des Zwanges einer Rolle bedarf.

Es waren Reaktionen des Gehirns. Das aber, was man als Charakter
oder Seele, Linie oder Klangfarbe eines Menschen fühlt, jedenfalls
dasjenige, wogegen die Gedanken, Entschlüsse und Handlungen wenig
bezeichnend, zufällig und auswechselbar erscheinen, dasjenige, was
beispielsweise Törleß an den Prinzen jenseits alles verstandlichen
Beurteilens geknüpft hatte, dieser letzte, unbewegliche Hintergrund,
war zu jener Zeit in Törleß gänzlich verloren gegangen.

In seinen Kameraden war es die Freude am Sport, das Animalische,
welches sie eines solchen gar nicht bedürfen ließ, sowie am Gymnasium
das Spiel mit der Literatur dafür sorgt.

Törleß war aber für das eine zu geistig angelegt und dem anderen
brachte er jene scharfe Feinfühligkeit für das Lächerliche solcher
erborgter =sentiments= entgegen, die das Leben im Institute durch
seine Nötigung steter Bereitschaft zu Streitigkeiten und Faustkämpfen
erzeugt. So erhielt sein Wesen etwas Unbestimmtes, eine innere
Hilflosigkeit, die ihn nicht zu sich selbst finden ließ.

Er schloß sich seinen neuen Freunden an, weil ihm ihre Wildheit
imponierte. Da er ehrgeizig war, versuchte er hie und da, es ihnen
darin sogar zuvorzutun. Aber jedesmal blieb er wieder auf halbem
Wege stehen und hatte nicht wenig Spott deswegen zu erleiden. Dies
verschüchterte ihn dann wieder. Sein ganzes Leben bestand in dieser
kritischen Periode eigentlich nur in diesem immer erneuten Bemühen,
seinen rauhen, männlicheren Freunden nachzueifern, und in einer tief
innerlichen Gleichgültigkeit gegen dieses Bestreben.

Besuchten ihn jetzt seine Eltern, so war er, solange sie allein waren,
still und scheu. Den zärtlichen Berührungen seiner Mutter entzog er
sich jedesmal unter einem anderen Vorwande. In Wahrheit hätte er ihnen
gerne nachgegeben, aber er schämte sich, als seien die Augen seiner
Kameraden auf ihn gerichtet.

Seine Eltern nahmen es als die Ungelenkigkeit der Entwicklungsjahre hin.

Nachmittag kam dann die ganze laute Schar. Man spielte Karten, aß,
trank, erzählte Anekdoten über die Lehrer und rauchte die Zigaretten,
die der Hofrat aus der Residenz mitgebracht hatte.

Diese Heiterkeit erfreute und beruhigte das Ehepaar.

Daß für Törleß mitunter auch andere Stunden kamen, wußten sie nicht.
Und in der letzten Zeit immer zahlreichere. Er hatte Augenblicke, wo
ihm das Leben im Institute völlig gleichgültig wurde. Der Kitt seiner
täglichen Sorgen löste sich da und die Stunden seines Lebens fielen
ohne innerlichen Zusammenhang auseinander.

Er saß oft lange -- in finsterem Nachdenken -- gleichsam über sich
selbst gebeugt.

                   *       *       *       *       *

Zwei Besuchstage waren es auch diesmal gewesen. Man hatte gespeist,
geraucht, eine Spazierfahrt unternommen, und nun sollte der Eilzug das
Ehepaar wieder in die Residenz zurückführen.

Ein leises Rollen in den Schienen kündigte sein Nahen an und die
Signale der Glocke am Dache des Stationsgebäudes klangen der Hofrätin
unerbittlich ins Ohr.

»Also nicht wahr, lieber Beineberg, Sie geben mir auf meinen Buben
acht?« wandte sich Hofrat Törleß an den jungen Baron Beineberg,
einen langen, knochigen Burschen mit mächtig abstehenden Ohren, aber
ausdrucksvollen, gescheiten Augen.

Der kleine Törleß schnitt ob dieser Bevormundung ein mißmutiges Gesicht
und Beineberg grinste geschmeichelt und ein wenig schadenfroh.

»Überhaupt«, -- wandte sich der Hofrat an die übrigen, -- »möchte ich
Sie alle gebeten haben, falls meinem Sohne irgend etwas sein sollte,
mich gleich davon zu verständigen.«

Dies entlockte nun doch dem jungen Törleß ein unendlich gelangweiltes:
»Aber Papa, was soll mir denn passieren?!« obwohl er schon daran
gewöhnt war, bei jedem Abschiede diese allzugroße Sorgsamkeit über
sich ergehen lassen zu müssen.

Die anderen schlugen indessen die Hacken zusammen, wobei sie die
zierlichen Degen straff an die Seite zogen, und der Hofrat fügte noch
hinzu: »Man kann nie wissen, was vorkommt, und der Gedanke, sofort von
allem verständigt zu werden, bereitet mir eine große Beruhigung:
schließlich könntest du doch auch am Schreiben behindert sein.«

Dann fuhr der Zug ein. Hofrat Törleß umarmte seinen Sohn, Frau von
Törleß drückte den Schleier fester ans Gesicht, um ihre Tränen zu
verbergen, die Freunde bedankten sich der Reihe nach, dann schloß der
Schaffner die Wagentür.

Noch einmal sah das Ehepaar die hohe, kahle Rückfront des
Institutsgebäudes, -- die mächtige, langgestreckte Mauer, welche den
Park umschloß, dann kamen rechts und links nur mehr graubraune
Felder und vereinzelte Obstbäume.

                   *       *       *       *       *

Die jungen Leute hatten unterdessen den Bahnhof verlassen und gingen
in zwei Reihen hintereinander auf den beiden Rändern der Straße, -- so
wenigstens dem dicksten und zähesten Staube ausweichend, -- der Stadt
zu, ohne viel miteinander zu reden.

Es war fünf Uhr vorbei und über die Felder kam es ernst und kalt, wie
ein Vorbote des Abends.

Törleß wurde sehr traurig.

Vielleicht war daran die Abreise seiner Eltern schuld, vielleicht war
es jedoch nur die abweisende, stumpfe Melancholie, die jetzt auf der
ganzen Natur ringsumher lastete und schon auf wenige Schritte die
Formen der Gegenstände mit schweren glanzlosen Farben verwischte.

Dieselbe furchtbare Gleichgültigkeit, die schon den ganzen Nachmittag
über allerorts gelegen war, kroch nun über die Ebene heran, und
hinter ihr her wie eine schleimige Fährte der Nebel, der über den
Sturzäckern und bleigrauen Rübenfeldern klebte.

Törleß sah nicht rechts noch links, aber er fühlte es. Schritt für
Schritt trat er in die Spuren, die soeben erst vom Fuße des Vordermanns
in dem Staube aufklafften -- und so fühlte er es: als ob es so sein
müßte: als einen steinernen Zwang, der sein ganzes Leben in diese
Bewegung -- Schritt für Schritt -- auf dieser einen Linie, auf diesem
einen schmalen Streifen, der sich durch den Staub zog, einfing und
zusammenpreßte.

Als sie an einer Kreuzung stehen blieben, wo ein zweiter Weg mit dem
ihren in einen runden, ausgetretenen Fleck zusammenfloß, und als
dort ein morschgewordener Wegweiser schief in die Luft hineinragte,
wirkte diese, mit ihrer Umgebung in Widerspruch stehende, Linie wie
ein verzweifelter Schrei auf Törleß.

Wieder gingen sie weiter. Törleß dachte an seine Eltern, an Bekannte,
an das Leben. Um diese Stunde kleidet man sich für eine Gesellschaft
an oder beschließt ins Theater zu fahren. Und nachher geht man ins
Restaurant, hört eine Kapelle, besucht das Kaffeehaus. Man macht
eine interessante Bekanntschaft. Ein galantes Abenteuer hält bis
zum Morgen in Erwartung. Das Leben rollt wie ein wunderbares Rad immer
Neues, Unerwartetes aus sich heraus ...

Törleß seufzte unter diesen Gedanken und bei jedem Schritte, der ihn
der Enge des Institutes näher trug, schnürte sich etwas immer fester
in ihm zusammen.

Jetzt schon klang ihm das Glockenzeichen in den Ohren. Nichts
fürchtete er nämlich so sehr wie dieses Glockenzeichen, das
unwiderruflich das Ende des Tages bestimmte -- wie ein brutaler
Messerschnitt.

Er erlebte ja nichts und sein Leben dämmerte in steter Gleichgültigkeit
dahin, aber dieses Glockenzeichen fügte dem auch noch den Hohn hinzu
und ließ ihn in ohnmächtiger Wut über sich selbst, über sein
Schicksal, über den begrabenen Tag erzittern.

Nun kannst du gar nichts mehr erleben, während zwölf Stunden kannst
du nichts mehr erleben, für zwölf Stunden bist du tot ...: das war
der Sinn dieses Glockenzeichens.

                   *       *       *       *       *

Als die Gesellschaft junger Leute zwischen die ersten niedrigen,
hüttenartigen Häuser kam, wich dieses dumpfe Brüten von Törleß. Wie
von einem plötzlichen Interesse erfaßt, hob er den Kopf und blickte
angestrengt in das dunstige Innere der kleinen, schmutzigen Gebäude,
an denen sie vorübergingen.

Vor den Türen der meisten standen die Weiber, in Kitteln und groben
Hemden, mit breiten, beschmutzten Füßen und nackten, braunen Armen.

Waren sie jung und drall, so flog ihnen manches derbe slawische
Scherzwort zu. Sie stießen sich an und kicherten über die »jungen
Herren«; manchmal schrie eine auch auf, wenn im Vorübergehen allzu
hart ihre Brüste gestreift wurden, oder erwiderte mit einem lachenden
Schimpfwort einen Schlag auf die Schenkel. Manche sah auch bloß mit
zornigem Ernste hinter den Eilenden drein; und der Bauer lächelte
verlegen -- halb unsicher, halb gutmütig -- wenn er zufällig
hinzugekommen war.

Törleß beteiligte sich nicht an dieser übermütigen, frühreifen
Männlichkeit seiner Freunde.

Der Grund hiezu lag wohl teilweise in einer gewissen Schüchternheit
in geschlechtlichen Sachen, wie sie fast allen einzigen Kindern
eigentümlich ist, zum größeren Teile jedoch in der ihm besonderen
Art der sinnlichen Veranlagung, welche verborgener, mächtiger und
dunkler gefärbt war als die seiner Freunde und sich schwerer äußerte.

Während die anderen mit den Weibern schamlos -- taten, beinahe mehr
um »fesch« zu sein als aus Begierde, war die Seele des schweigsamen,
kleinen Törleß aufgewühlt und von wirklicher Schamlosigkeit gepeitscht.

Er blickte mit so brennenden Augen durch die kleinen Fenster und
winkligen, schmalen Torwege in das Innere der Häuser, daß es ihm
beständig wie ein feines Netz vor den Augen tanzte.

Fast nackte Kinder wälzten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab
der Rock eines arbeitenden Weibes die Kniekehlen frei oder drückte
sich eine schwere Brust straff in die Falten der Leinwand. Und als
ob all dies selbst unter einer ganz anderen, tierischen, drückenden
Atmosphäre sich abspielte, floß aus dem Flur der Häuser eine träge,
schwere Luft, die Törleß begierig einatmete.

Er dachte an alte Malereien, die er in Museen gesehen hatte, ohne
sie recht zu verstehen. Er wartete auf irgend etwas, so wie er vor
diesen Bildern immer auf etwas gewartet hatte, das sich nie ereignete.
Worauf ...?... Auf etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes; auf einen
unerhörten Anblick, von dem er sich nicht die geringste Vorstellung
machen konnte; auf irgend etwas von fürchterlicher, tierischer
Sinnlichkeit; das ihn wie mit Krallen packe und von den Augen aus
zerreiße; auf ein Erlebnis, das in irgendeiner noch ganz unklaren Weise
mit den schmutzigen Kitteln der Weiber, mit ihren rauhen Händen,
mit der Niedrigkeit ihrer Stuben, mit ... mit einer Beschmutzung an
dem Kot der Höfe ... zusammenhängen müsse.... Nein, nein; ... er
fühlte jetzt nur mehr das feurige Netz vor den Augen; die Worte
sagten es nicht; so arg, wie es die Worte machen, ist es gar nicht;
es ist etwas ganz Stummes, -- ein Würgen in der Kehle, ein kaum
merkbarer Gedanke und nur dann, wenn man es durchaus mit Worten
sagen wollte, käme es so heraus; aber dann ist es auch nur mehr
entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo man nicht
nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht da sind
.. Dennoch war es zum Schämen.

                   *       *       *       *       *

»Hat das Bubi Heimweh?« fragte ihn plötzlich spöttisch der lange und
um zwei Jahre ältere v. Reiting, welchem Törleß' Schweigsamkeit und
die verdunkelten Augen aufgefallen waren. Törleß lächelte gemacht und
verlegen und ihm war, als hätte der boshafte Reiting die Vorgänge in
seinem Innern belauscht.

Er gab keine Antwort. Aber sie waren mittlerweile auf den Kirchplatz
des Städtchens gelangt, der die Form eines Quadrates hatte und mit
Katzenköpfen gepflastert war, und trennten sich nun voneinander.

Törleß und Beineberg wollten noch nicht ins Institut zurück, während
die andern keine Erlaubnis zu längerem Ausbleiben hatten und nach Hause
gingen.

                   *       *       *       *       *

Die beiden waren in der Konditorei eingekehrt.

Dort saßen sie an einem kleinen Tische mit runder Platte, neben einem
Fenster, das auf den Garten hinausging, unter einer Gaskrone, deren
Lichter hinter den milchigen Glaskugeln leise summten.

Sie hatten es sich bequem gemacht, ließen sich die Gläschen mit
wechselnden Schnäpsen füllen, rauchten Zigaretten, aßen dazwischen
etwas Bäckerei und genossen das Behagen, die einzigen Gäste zu sein.
Denn höchstens in den hinteren Räumen saß noch ein vereinzelter
Besucher vor seinem Glase Wein; vorne war es still und selbst die
feiste, angejährte Konditorin schien hinter ihrem Ladentische zu
schlafen.

Törleß sah -- nur so ganz unbestimmt -- durch das Fenster -- in den
leeren Garten hinaus, der allgemach verdunkelte.

Beineberg erzählte. Von Indien. Wie gewöhnlich. Denn sein Vater, der
General war, war dort als junger Offizier in englischen Diensten
gestanden. Und nicht nur hatte er wie sonstige Europäer Schnitzereien,
Gewebe und kleine Industriegötzen mit herüber gebracht, sondern auch
etwas von dem geheimnisvollen, bizarren Dämmern des esoterischen
Buddhismus gefühlt und sich bewahrt. Auf seinen Sohn hatte er das,
was er von da her wußte und später noch hinzulas, schon von dessen
Kindheit an übertragen.

Mit dem Lesen war es übrigens bei ihm ganz eigens. Er war
Reiteroffizier und liebte durchaus nicht die Bücher im allgemeinen.
Romane und Philosophie verachtete er gleichermaßen. Wenn er las,
wollte er nicht über Meinungen und Streitfragen nachdenken, sondern
schon beim Aufschlagen der Bücher wie durch eine heimliche Pforte
in die Mitte auserlesener Erkenntnisse treten. Es mußten Bücher sein,
deren Besitz allein schon wie ein geheimes Ordenszeichen war und wie
eine Gewährleistung überirdischer Offenbarungen. Und solches fand
er nur in den Büchern der indischen Philosophie, die für ihn eben
nicht bloße Bücher zu sein schienen, sondern Offenbarungen,
Wirkliches, -- Schlüsselwerke wie die alchimistischen und Zauberbücher
des Mittelalters.

Mit ihnen schloß sich dieser gesunde, tatkräftige Mann, der strenge
seinen Dienst versah und überdies seine drei Pferde fast täglich selber
ritt, meist gegen Abend ein.

Dann griff er aufs Geratewohl eine Stelle heraus und sann, ob sich ihr
geheimster Sinn ihm nicht heute erschlösse. Und nie war er enttäuscht,
so oft er auch einsehen mußte, daß er noch nicht weiter als bis zum
Vorhof des geheiligten Tempels gelangt sei.

So schwebte um diesen nervigen, gebräunten Freiluftmenschen etwas wie
ein weihevolles Geheimnis. Seine Überzeugung, täglich am Vorabend
einer niederschmetternd großen Enthüllung zu stehen, gab ihm eine
verschlossene Überlegenheit. Seine Augen waren nicht träumerisch,
sondern ruhig und hart. Die Gewohnheit, in Büchern zu lesen, in denen
kein Wort von seinem Platze gerückt werden durfte, ohne den geheimen
Sinn zu stören, das vorsichtige, achtungsvolle Abwägen eines jeden
Satzes nach Sinn und Doppelsinn, hatte ihren Ausdruck geformt.

Nur mitunter verloren sich seine Gedanken in ein Dämmern von wohliger
Melancholie. Das geschah, wenn er an den geheimen Kult dachte, der sich
an die Originale der vor ihm liegenden Schriften knüpfte, an die
Wunder, die von ihnen ausgegangen waren und Tausende ergriffen
hatten, Tausende von Menschen, die ihm wegen der großen Entfernung,
die ihn von ihnen trennte, nun wie Brüder erschienen, während er doch
die Menschen seiner Umgebung, die er mit allen ihren Details sah,
verachtete. In diesen Stunden wurde er mißmutig. Der Gedanke, daß
sein Leben verurteilt sei, ferne von den Quellen der heiligen Kräfte
zu verlaufen, seine Anstrengungen verurteilt, an der Ungunst der
Verhältnisse vielleicht doch zu erlahmen, drückte ihn nieder. Wenn
er aber dann eine Weile betrübt vor seinen Büchern gesessen war, wurde
ihm eigentümlich zumute. Seine Melancholie verlor zwar nichts von
ihrer Schwere, im Gegenteil, ihre Traurigkeit steigerte sich noch,
aber sie drückte ihn nicht mehr. Er fühlte sich mehr denn je verlassen
und auf verlorenem Posten, aber in dieser Wehmut lag ein feines
Vergnügen, ein Stolz, etwas Fremdes zu tun, einer unverstandenen
Gottheit zu dienen. Und dann konnte wohl auch vorübergehend in seinen
Augen etwas aufleuchten, das an den Aberwitz religiöser Ekstase
gemahnte.

                   *       *       *       *       *

Beineberg hatte sich müde gesprochen. In ihm lebte das Bild seines
wunderlichen Vaters in einer Art verzerrender Vergrößerung weiter.
Jeder Zug war zwar bewahrt; aber das, was bei jenem ursprünglich
vielleicht nur eine Laune gewesen war, die ihrer Exklusivität
halber konserviert und gesteigert wurde, hatte sich in ihm zu einer
phantastischen Hoffnung ausgewachsen. Jene Eigenheit seines Vaters,
die für diesen im Grunde genommen vielleicht doch nur den gewissen
letzten Schlupfwinkel der Individualität bedeutete, den sich jeder
Mensch -- und sei es auch nur durch die Wahl seiner Kleider --
schaffen muß, um etwas zu haben, das ihn vor anderen auszeichne,
war in ihm zu dem festen Glauben geworden, sich mittels ungewöhnlicher
seelischer Kräfte eine Herrschaft sichern zu können.

Törleß kannte diese Gespräche zur Genüge. Sie gingen an ihm vorbei und
berührten ihn kaum.

Er hatte sich jetzt halb vom Fenster abgewandt und beobachtete
Beineberg, der sich eine Zigarette drehte. Und er fühlte wieder
jenen merkwürdigen Widerwillen gegen diesen, der zuzeiten in ihm
aufstieg. Diese schmalen dunklen Hände, die eben geschickt den
Tabak in das Papier rollten, waren doch eigentlich schön. Magere
Finger, ovale, schön gewölbte Nägel: es lag eine gewisse Vornehmheit
in ihnen. Auch in den dunkelbraunen Augen. Auch in der gestreckten
Magerkeit des ganzen Körpers lag eine solche. Freilich, -- die Ohren
standen mächtig ab, das Gesicht war klein und unregelmäßig und der
Gesamteindruck des Kopfes erinnerte an den einer Fledermaus. Dennoch,
-- das fühlte Törleß, indem er die Einzelnheiten gegeneinander abwog,
ganz deutlich, -- waren es nicht die häßlichen, sondern gerade die
vorzüglicheren derselben, die ihn so eigentümlich beunruhigten.

Die Magerkeit des Körpers, -- Beineberg selbst pflegte die
stahlschlanken Beine homerischer Wettläufer als sein Vorbild zu
preisen, -- wirkte auf ihn durchaus nicht in dieser Weise. Törleß
hatte sich darüber bisher noch nicht Rechenschaft gegeben und nun
fiel ihm im Augenblicke kein befriedigender Vergleich ein. Er hätte
Beineberg gern scharf ins Auge gefaßt, aber dann hätte es dieser
gemerkt und er hätte irgendein Gespräch beginnen müssen. Aber gerade
so, -- da er ihn nur halb ansah und halb in der Phantasie das Bild
ergänzte, -- fiel ihm der Unterschied auf. Wenn er sich die Kleider
von dem Körper wegdachte, so war es ihm ganz unmöglich, die
Vorstellung einer ruhigen Schlankheit festzuhalten, vielmehr traten
ihm augenblicklich unruhige, sich windende Bewegungen vor das Auge,
ein Verdrehen der Gliedmaßen und Verkrümmen der Wirbelsäule, wie
man es in alten Darstellungen des Martyriums oder in den grotesken
Schaubietungen der Jahrmarktsartisten finden kann.

Auch die Hände, die er ja gewiß ebensogut in dem Eindrucke irgendeiner
formvollen Geste hätte festhalten können, dachte er nicht anders als
in einer fingernden Beweglichkeit. Und gerade an ihnen, die doch
eigentlich das Schönste an Beineberg waren, konzentrierte sich der
größte Widerwille. Sie hatten etwas Unzüchtiges an sich. Das war
wohl der richtige Vergleich. Und etwas Unzüchtiges lag auch in dem
Eindrucke verrenkter Bewegungen, den der Körper machte. In den
Händen schien es sich nur gewissermaßen anzusammeln und schien von
ihnen wie das Vorgefühl einer Berührung auszustrahlen, das Törleß
einen ekligen Schauer über die Haut jagte. Er war selbst über seinen
Einfall verwundert und ein wenig erschrocken. Denn schon zum zweitenmal
an diesem Tage geschah es, daß sich etwas Geschlechtliches unvermutet
und ohne rechten Zusammenhang zwischen seine Gedanken drängte.

Beineberg hatte sich eine Zeitung genommen und Törleß konnte ihn jetzt
genau betrachten.

Da war tatsächlich kaum etwas zu finden, das dem plötzlichen Auftauchen
einer solchen Ideenverknüpfung auch nur einigermaßen hätte zur
Entschuldigung dienen können.

Und doch wurde das Mißbehagen aller Unbegründung zu Trotz immer
lebhafter. Es waren noch keine zehn Minuten des Schweigens zwischen den
beiden verstrichen und dennoch fühlte Törleß seinen Widerwillen
bereits auf das äußerste gesteigert. Eine Grundstimmung, Grundbeziehung
zwischen ihm und Beineberg schien sich darin zum ersten Male zu
äußern, ein immer schon lauernd dagewesenes Mißtrauen schien mit
einem Male in das bewußte Empfinden aufgestiegen zu sein.

Die Situation zwischen den beiden spitzte sich immer mehr zu.
Beleidigungen, für die er keine Worte wußte, drängten sich Törleß
auf. Eine Art Scham, so als ob zwischen ihm und Beineberg wirklich
etwas vorgefallen wäre, versetzte ihn in Unruhe. Seine Finger
begannen unruhig auf der Tischplatte zu trommeln.

                   *       *       *       *       *

Endlich sah er, um diesen sonderbaren Zustand loszuwerden, wieder zum
Fenster hinaus.

Beineberg blickte jetzt von der Zeitung auf; dann las er irgendeine
Stelle vor, legte das Blatt weg und gähnte.

Mit dem Schweigen war auch der Zwang gebrochen, der auf Törleß gelastet
hatte. Belanglose Worte rannen nun vollends über diesen Augenblick
hinweg und verlöschten ihn. Es war ein plötzliches Aufhorchen gewesen,
dem nun wieder die alte Gleichgültigkeit folgte ...

»Wie lange haben wir noch Zeit?« fragte Törleß.

»Zweieinhalb Stunden.«

Dann zog er fröstelnd die Schultern hoch. Er fühlte wieder die lähmende
Gewalt der Enge, der es entgegenging. Der Stundenplan, der tägliche
Umgang mit den Freunden. Selbst jener Widerwille gegen Beineberg
wird nicht mehr sein, der für einen Augenblick eine neue Situation
geschaffen zu haben schien.

»... Was gibt es heute zum Abendessen?«

»Ich weiß nicht.«

»Was für Gegenstände haben wir morgen?«

»Mathematik.«

»Oh? Haben wir etwas auf?«

»Ja, ein paar neue Sätze aus der Trigonometrie; doch du wirst sie
treffen, es ist nichts Besonderes an ihnen.«

»Und dann?«

»Religion.«

»Religion? Ach ja. Das wird wieder etwas werden ... Ich glaube, wenn
ich so recht im Zug bin, könnte ich gerade so gut beweisen, daß zweimal
zwei fünf ist, wie daß es nur einen Gott geben kann ...«

Beineberg blickte spöttisch zu Törleß auf. »Du bist darin überhaupt
komisch; mir scheint fast, daß es dir selbst Vergnügen bereitet;
wenigstens glänzt dir der Eifer nur so aus den Augen ...«

»Warum nicht?! Ist es nicht hübsch? Es gibt immer einen Punkt dabei,
wo man dann nicht mehr weiß, ob man noch lügt oder ob das, was man
erfunden hat, wahrer ist als man selber.«

»Wieso?«

»Nun, ich meine es ja nicht wörtlich. Man weiß ja gewiß immer, daß man
schwindelt; aber trotzdem erscheint einem selbst die Sache mitunter
so glaubwürdig, daß man gewissermaßen, von seinen eigenen Gedanken
gefangen genommen, still steht.«

»Ja, aber was bereitet dir denn daran Vergnügen?«

»Eben dies. Es geht einem so ein Ruck durch den Kopf, ein Schwindel,
ein Erschrecken ...«

»Ach hör auf, das sind Spielereien.«

»Ich habe ja nicht das Gegenteil behauptet. Aber jedenfalls ist mir
dies in der ganzen Schule noch das Interessanteste.«

»Es ist so eine Art mit dem Gehirn zu turnen; aber es hat doch keinen
rechten Zweck.«

»Nein«, sagte Törleß und sah wieder in den Garten hinaus. In seinem
Rücken -- ferne -- hörte er die Gasflammen summen. Er verfolgte ein
Gefühl, das melancholisch, wie ein Nebel, in ihm aufstieg.

»Es hat keinen Zweck. Du hast recht. Aber man darf sich das gar nicht
sagen. Von alldem, das wir den ganzen Tag lang in der Schule tun,
-- was davon hat eigentlich einen Zweck? Wovon hat man etwas? Ich meine
etwas für sich haben -- du verstehst? Man weiß am Abend, daß man wieder
einen Tag gelebt hat, daß man so und so viel gelernt hat, man hat
dem Stundenplan genügt, aber man ist dabei leer geblieben, -- innerlich
meine ich, man hat sozusagen einen ganz innerlichen Hunger ...«

Beineberg brummte etwas von Üben, Geist vorbereiten -- noch nichts
anfangen können -- später ...

»Vorbereiten? Üben? Wofür denn? Weißt du etwas Bestimmtes? Du hoffst
vielleicht auf etwas, aber auch dir ist es ganz ungewiß. Es ist so: Ein
ewiges Warten auf etwas, von dem man nichts anderes weiß, als daß man
darauf wartet ... Das ist so langweilig ...«

»Langweilig ...« dehnte Beineberg nach und wiegte mit dem Kopfe.

Törleß sah noch immer in den Garten. Er glaubte das Rascheln der welken
Blätter zu hören, die der Wind zusammentrug. Dann kam jener Augenblick
intensivster Stille, der stets dem völligen Dunkelwerden kurz voran
geht. Die Formen, welche sich immer tiefer in die Dämmerung gebettet
hatten, und die Farben, welche zerflossen, schienen für Sekunden still
zu stehen, den Atem anzuhalten ...

»Höre, Beineberg,« sprach Törleß, ohne sich zurückzuwenden, »es muß
während des Dämmerns immer einige Augenblicke geben, die ganz eigener
Art sind. So oft ich es beobachte, kehrt mir dieselbe Erinnerung
wieder. Ich war noch sehr klein, als ich um diese Stunde einmal im
Walde spielte. Das Dienstmädchen hatte sich entfernt, ich wußte das
nicht und glaubte es noch in meiner Nähe zu empfinden. Plötzlich
zwang mich etwas aufzusehen. Ich fühlte, daß ich allein sei. Es war
plötzlich so still. Und als ich um mich blickte, war mir, als stünden
die Bäume schweigend im Kreise und sähen mir zu. Ich weinte; ich
fühlte mich so verlassen von den Großen, den leblosen Geschöpfen
preisgegeben ... Was ist das? Ich fühle es häufig wieder. Dieses
plötzliche Schweigen, das wie eine Sprache ist, die wir nicht hören?«

»Ich kenne das nicht, was du meinst; aber warum sollten nicht die
Dinge eine Sprache haben? Können wir doch nicht einmal mit Bestimmtheit
behaupten, daß ihnen keine Seele zukommt!«

Törleß gab keine Antwort. Beinebergs spekulative Auffassung behagte ihm
nicht.

Nach einer Weile begann aber dieser: »Warum siehst du noch fortwährend
zum Fenster hinaus? Was findest denn du daran?«

»Ich denke noch immer nach, was das sein mag?« In Wahrheit hatte er
aber bereits an etwas Weiteres gedacht, was er nur nicht eingestehen
wollte. Die hohe Anspannung, das Lauschen auf ein ernstes Geheimnis
und die Verantwortung, mitten in noch unbeschriebene Beziehungen
des Lebens zu blicken, hatte er nur für einen Augenblick aushalten
können. Dann war wieder jenes Gefühl des Allein- und Verlassenseins
über ihn gekommen, das stets dieser zu hohen Anforderung folgte.
Er fühlte: hierin liegt etwas, das jetzt noch zu schwer für mich
ist, und seine Gedanken flüchteten zu etwas anderem, das auch darin
lag, aber gewissermaßen nur im Hintergrunde und auf der Lauer: Die
Einsamkeit.

Aus dem verlassenen Garten tanzte hie und da ein Blatt an das
erleuchtete Fenster und riß auf seinem Rücken einen hellen Streifen in
das Dunkel hinein. Dieses schien auszuweichen, sich zurückzuziehen,
um im nächsten Augenblicke wieder vorzurücken und unbeweglich wie
eine Mauer vor den Fenstern zu stehen. Es war eine Welt für sich,
dieses Dunkel. Wie ein Schwarm schwarzer Feinde war es über die Erde
gekommen und hatte die Menschen erschlagen oder vertrieben oder was
immer getan, das jede Spur von ihnen auslöschte.

Und Törleß schien es, daß er sich darüber freue. Er mochte in diesem
Augenblick die Menschen nicht, die Großen und Erwachsenen. Er mochte
sie nie, wenn es dunkel war. Er war gewöhnt sich dann die Menschen
wegzudenken. Die Welt erschien ihm danach wie ein leeres, finsteres
Haus und in seiner Brust war ein Schauer, als sollte er nun von Zimmer
zu Zimmer suchen -- dunkle Zimmer, von denen man nicht wußte, was
ihre Ecken bargen -- tastend über die Schwellen schreiten, die keines
Menschen Fuß außer dem seinen mehr betreten sollte, bis -- in einem
Zimmer sich die Türen plötzlich vor und hinter ihm schlössen und er
der Herrin selbst der schwarzen Scharen gegenüberstünde. Und in
diesem Augenblicke würden auch die Schlösser aller anderen Türen
zufallen, durch die er gekommen, und nur weit vor den Mauern würden
die Schatten der Dunkelheit wie schwarze Eunuchen auf Wache stehen
und die Nähe der Menschen fernhalten.

Das war seine Art der Einsamkeit, seit man ihn damals im Stiche
gelassen hatte, -- im Walde, wo er so weinte. Sie hatte für ihn den
Reiz eines Weibes und einer Unmenschlichkeit. Er fühlte sie als
eine Frau, aber ihr Atmen war nur ein Würgen in seiner Brust, ihr
Gesicht ein wirbelndes Vergessen aller menschlichen Gesichter und die
Bewegungen ihrer Hände Schauer, die ihm über den Leib jagten ...

Er fürchtete diese Phantasie, denn er war sich ihrer ausschweifenden
Heimlichkeit bewußt, und der Gedanke, daß solche Vorstellungen immer
mehr Herrschaft über ihn gewinnen könnten, beunruhigte ihn. Aber
gerade dann, wenn er sich am ernstesten und reinsten glaubte, überkamen
sie ihn. Man könnte sagen, als eine Reaktion auf diese Augenblicke,
wo er empfindsame Erkenntnisse ahnte, die sich zwar in ihm schon
vorbereiteten, aber seinem Alter noch nicht entsprachen. Denn in
der Entwicklung einer jeden feinen moralischen Kraft gibt es einen
solchen frühen Punkt, wo sie die Seele schwächt, deren kühnste
Erfahrung sie einst vielleicht sein wird, -- so als ob sich ihre
Wurzeln erst suchend senken und den Boden zerwühlen müßten, den sie
nachher zu stützen bestimmt sind, -- weswegen Jünglinge mit großer
Zukunft meist eine an Demütigungen reiche Vergangenheit besitzen.

Törleß' Vorliebe für gewisse Stimmungen war die erste Andeutung einer
seelischen Entwicklung, die sich später als ein Talent des Staunens
äußerte. Späterhin wurde er nämlich von einer eigentümlichen Fähigkeit
geradezu beherrscht. Er war dann gezwungen, Ereignisse, Menschen,
Dinge, ja sich selbst häufig so zu empfinden, daß er dabei das
Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als einer
unerklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft hatte.
Sie schienen ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie
restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen. Zwischen den
Ereignissen und seinem Ich, ja zwischen seinen eigenen Gefühlen und
irgendeinem innersten Ich, das nach ihrem Verständnis begehrte,
blieb immer eine Scheidelinie, die wie ein Horizont vor seinem
Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam. Ja, je genauer er seine
Empfindungen mit den Gedanken umfaßte, je bekannter sie ihm wurden,
desto fremder und unverständlicher schienen sie ihm gleichzeitig
zu werden, so daß es nicht einmal mehr schien, als ob sie vor ihm
zurückwichen, sondern als ob er selbst sich von ihnen entfernen würde,
und doch die Einbildung, sich ihnen zu nähern, nicht abschütteln könnte.

Dieser merkwürdige, schwer zugängliche Widerspruch füllte später eine
weite Strecke seiner geistigen Entwicklung, er schien seine Seele
zerreißen zu wollen und bedrohte sie lange als ihr oberstes Problem.

Vorläufig kündigte sich die Schwere dieser Kämpfe aber nur in einer
häufigen plötzlichen Ermüdung an und schreckte Törleß gleichsam
schon von ferne, sobald ihm aus irgendeiner fragwürdig sonderbaren
Stimmung -- wie vorhin -- eine Ahnung davon wurde. Er kam sich dann so
kraftlos vor wie ein Gefangener und Aufgegebener, gleichermaßen von
sich wie von den anderen Abgeschlossener; er hätte schreien mögen vor
Leere und Verzweiflung und statt dessen wandte er sich gleichsam
von diesem ernsten und erwartungsvollen, gepeinigten und ermüdeten
Menschen in sich ab und lauschte -- noch erschrocken von diesem jähen
Verzichten und schon entzückt von ihrem warmen, sündigen Atem --
auf die flüsternden Stimmen, welche die Einsamkeit für ihn hatte --
-- -- -- -- -- --

Törleß machte plötzlich den Vorschlag zu zahlen. In Beinebergs Augen
blitzte ein Verstehen auf; er kannte die Stimmung. Törleß war dieses
Einverständnis zuwider; seine Abneigung gegen Beineberg wurde wieder
lebendig und er fühlte sich durch die Gemeinschaft mit ihm geschändet.

Aber das gehörte fast schon mit dazu. Das Schändliche ist eine
Einsamkeit mehr und eine neue finstere Mauer.

Und ohne miteinander zu sprechen, schlugen sie einen bestimmten Weg ein.

                   *       *       *       *       *

Es mußte in den letzten Minuten ein leichter Regen gefallen sein, --
die Luft war feucht und schwer, um die Laternen zitterte ein bunter
Nebel und die Bürgersteige glänzten stellenweise auf.

Törleß nahm den Degen, der aufs Pflaster schlug, eng an den Leib,
allein selbst das Geräusch der aufklappernden Absätze durchrieselte
ihn eigentümlich.

Nach einer Weile hatten sie weichen Boden unter den Füßen, sie
entfernten sich von der inneren Stadt und schritten durch breite
Dorfstraßen dem Flusse zu.

Dieser wälzte sich schwarz und träge, mit tiefen, glucksenden Lauten
unter der hölzernen Brücke. Eine einzige Laterne, mit verstaubten
und zerschlagenen Scheiben, stand da. Der Schein des unruhig vor den
Windstößen sich duckenden Lichtes fiel dann und wann auf eine treibende
Welle und zerfloß auf ihrem Rücken. Die runden Streuhölzer gaben unter
jedem Schritte nach ... rollten vor und wieder zurück ...

Beineberg stand still. Das jenseitige Ufer war mit dichten Bäumen
bestanden, welche, da die Straße rechtwinkelig abbog und längs des
Wassers weiter führte, wie eine schwarze, undurchdringliche Mauer
drohten. Erst nach vorsichtigem Suchen fand sich ein schmaler,
versteckter Weg, der geradeaus hineinführte. Von dem dichten, üppig
wuchernden Unterholze, an das die Kleider streiften, ging jedesmal
ein Schauer von Tropfen nieder. Nach einer Weile mußten sie wieder
stehen bleiben und ein Streichholz anreiben. Es war ganz still, sogar
das Gurgeln des Flusses war nicht mehr zu hören. Plötzlich kam von
ferne ein unbestimmter, gebrochener Ton zu ihnen. Er hörte sich wie
ein Schrei oder eine Warnung an. Oder auch wie der bloße Zuruf
eines unverständlichen Geschöpfes, das irgendwo gleich ihnen durch
die Büsche brach. Sie schritten auf den Ton zu, blieben stehen,
schritten wieder weiter. Im ganzen mochte es wohl eine Viertelstunde
gedauert haben, als sie aufatmend laute Stimmen und die Klänge einer
Ziehharmonika unterschieden.

Zwischen den Bäumen wurde es nun lichter, und nach wenigen Schritten
standen sie am Rande einer Blöße, in deren Mitte ein quadratisches,
zwei Stock hohes Gebäude massig aufgebaut war.

Es war das alte Badhaus. Seinerzeit von den Bürgern des Städtchens
und den Bauern der Umgegend als Heilstätte benützt, stand es jetzt
schon seit Jahren fast leer. Nur in seinem Erdgeschosse bot es einem
verrufenen Wirtshause Unterkunft.

Die beiden standen einen Augenblick still und horchten hinüber.

Eben setzte Törleß den Fuß vor, um aus dem Gebüsch herauszutreten, als
drüben schwere Stiefel auf der Diele des Flures knarrten und ein
Betrunkener mit unsicheren Schritten ins Freie trat. Hinter ihm, in dem
Schatten des Flurs, stand ein Weib und man hörte es mit hastender,
zorniger Stimme etwas flüstern, so als ob es etwas von ihm forderte.
Der Mann lachte dazu und wiegte sich in den Beinen. Dann kam es wie
ein Bitten herüber. Aber auch das konnte man nicht verstehen. Nur der
schmeichelnde, zuredende Klang der Stimme war fühlbar. Das Weib trat
jetzt weiter heraus und legte dem Manne eine Hand auf die Schulter. Der
Mond beleuchtete sie, -- ihren Unterrock, ihre Jacke, ihr bittendes
Lächeln. Der Mann sah geradeaus, schüttelte mit dem Kopfe und hielt
die Hände fest in den Taschen. Dann spuckte er aus und stieß das
Weib weg. Es mochte wohl irgend etwas gesagt haben. Nun konnte man
auch ihre Stimmen verstehen, die lauter geworden waren.

»... Du willst also nichts geben? Du ...!«

»Schau, daß du hinaufkommst, du Dreckfink!«

»Was? So ein Bauernlümmel!«

Zur Antwort klaubte der Trunkene mit schwerfälliger Bewegung einen
Stein auf: »Wenn du nicht gleich abfahrst, du dummes Mensch, so schlag'
ich dir den Buckel ein!« und er holte zum Wurfe aus. Törleß hörte das
Weib mit einem letzten Schimpfworte die Stiege hinaufflüchten.

Der Mann stand eine Weile still und hielt unschlüssig den Stein in
der Hand. Er lachte; sah nach dem Himmel, wo zwischen schwarzen Wolken
weingelb der Mond schwamm; dann glotzte er die dunkle Hecke der
Gebüsche an, als überlege er darauf loszugehen. Törleß zog vorsichtig
den Fuß zurück, er fühlte sein Herz bis zum Halse hinauf schlagen.
Endlich schien sich der Trunkene doch besonnen zu haben. Seine Hand
ließ den Stein fallen. Mit rohem, triumphierendem Lachen rief er
eine grobe Unanständigkeit zu dem Fenster hinauf, dann drückte er
sich um die Ecke.

Die beiden standen noch immer bewegungslos. »Hast du sie erkannt?«
flüsterte Beineberg; »es war Božena.« Törleß gab keine Antwort; er
horchte, ob der Betrunkene nicht wiederkehre. Dann wurde er von
Beineberg vorwärts geschoben. Mit raschen, vorsichtigen Sätzen waren
sie -- an dem Lichtschein, der keilförmig durch die Fenster des
Erdgeschosses fiel, vorbei -- in dem dunklen Hausflur. Eine hölzerne
Treppe führte in engen Windungen in das erste Stockwerk hinauf. Hier
mußte man ihre Schritte auf den knarrenden Stufen gehört haben,
oder hatte ein Degen gegen das Holz geschlagen: -- die Türe der
Schankstube wurde geöffnet und jemand kam nachsehen, wer im Hause sei,
während die Ziehharmonika plötzlich schwieg und das Gewirr der Stimmen
einen Augenblick wartend aussetzte.

Törleß preßte sich erschrocken um die Windung der Stiege. Aber man
schien ihn trotz des Dunkels bemerkt zu haben, denn er hörte die
spöttische Stimme der Kellnerin, während die Türe wieder geschlossen
wurde, irgend etwas sagen, worauf ein unbändiges Gelächter folgte.

Auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerkes war es völlig finster.
Weder Törleß noch Beineberg trauten sich einen Schritt vorwärts zu
tun, ungewiß, ob sie nicht etwas umwerfen und dadurch Lärm verursachen
würden. Von der Aufregung angetrieben, suchten sie mit hastenden
Fingern nach der Türklinke.

                   *       *       *       *       *

Božena war als Bauernmädchen in die Großstadt gekommen, wo sie in
Dienst trat und später Kammerzofe wurde.

Es ging ihr anfangs ganz gut. Die bäurische Art, welche sie so wenig
ganz abstreifte wie ihren breiten, festen Gang, sicherte ihr das
Vertrauen ihrer Herrinnen, welche an diesem Kuhstalldufte ihres
Wesens seine Einfalt liebten, und die Liebe ihrer Herren, welche daran
das =parfum= schätzten. Wohl nur aus Laune, vielleicht auch aus
Unzufriedenheit und dumpfer Sehnsucht nach Leidenschaft gab sie dieses
bequeme Leben auf. Sie wurde Kellnerin, erkrankte, fand in einem
eleganten öffentlichen Hause Unterkommen und wurde allgemach, in
dem Maße, wie das Lotterleben sie verbrauchte, wieder -- und immer
weiter -- in die Provinz hinausgespült.

Hier endlich, wo sie nun schon seit mehreren Jahren wohnte, nicht weit
von ihrem Heimatsdorfe, half sie untertags in der Wirtschaft mit und
las des Abends billige Romane, rauchte Zigaretten und empfing hie und
da den Besuch eines Mannes.

Sie war noch nicht geradezu häßlich geworden, aber ihr Gesicht
entbehrte in auffallender Weise jeglicher Anmut, und sie gab sich
förmlich Mühe, dies durch ihr Wesen noch mehr zur Geltung zu bringen.
Sie ließ mit Vorliebe durchblicken, daß sie die Eleganz und das
Getriebe der vornehmen Welt sehr wohl kenne, nunmehr aber darüber
hinaus sei. Sie äußerte gerne, daß sie darauf, wie auf sich selbst,
wie überhaupt auf alles pfeife. Trotz ihrer Verwahrlosung genoß sie
deswegen ein gewisses Ansehen bei den Bauernsöhnen der Umgebung. Sie
spuckten zwar aus, wenn sie von ihr sprachen, und fühlten sich
verpflichtet, mehr noch als gegen andere Mädchen grob gegen sie zu
sein, im Grunde waren sie aber doch ganz gewaltig stolz auf dieses
»verfluchte Mensch«, das aus ihnen hervorgegangen war und der Welt
so durch den Lack geguckt hatte. Einzeln zwar und verstohlen, aber doch
immer wieder kamen sie, sich mit ihr zu unterhalten. Dadurch fand
Božena einen Rest von Stolz und Rechtfertigung in ihrem Leben. Eine
vielleicht noch größere Genugtuung bereiteten ihr aber die jungen
Herren aus dem Institute. Gegen sie kehrte sie absichtlich ihre
rohesten und häßlichsten Eigenschaften heraus, weil diese -- wie sie
sich auszudrücken pflegte -- ja trotzdem gerade so zu ihr gekrochen
kommen würden.

Als die beiden Freunde eintraten, lag sie wie gewöhnlich rauchend und
lesend auf ihrem Bette.

Törleß sog, noch in der Türe stehend, mit begierigen Augen ihr Bild
in sich ein.

»Gott, was für süße Buben kommen denn da?« rief sie spöttisch den
Eintretenden entgegen, die sie ein wenig verächtlich musterte. »Je,
du Baron? Was wird denn die Mama dazu sagen?!« -- Das war solch ein
Anfang nach ihrer Art.

»Aber halt's ...« brummte Beineberg und setzte sich zu ihr aufs Bett.
Törleß setzte sich abseits; er ärgerte sich, weil Božena sich nicht um
ihn bekümmerte und tat, als ob sie ihn nicht kennte.

Die Besuche bei diesem Weib waren in der letzten Zeit zu seiner
einzigen und geheimen Freude geworden. Gegen Ende der Woche wurde
er schon unruhig und konnte den Sonntag nicht erwarten, wo er am
Abend zu ihr schlich. Hauptsächlich dieses Sicheinschleichenmüssen
beschäftigte ihn. Wenn es zum Beispiel vorhin den trunkenen Burschen
in der Schankstube eingefallen wäre, auf ihn Jagd zu machen? Aus bloßer
Lust, dem lasterhaften jungen Herrchen eins auszuwischen? Er war
nicht feig, aber er wußte, daß er hier wehrlos sei. Der zierliche
Degen kam ihm entgegen diesen groben Fäusten wie ein Spott vor.
Außerdem die Schande und die Strafe, die er zu gewärtigen hätte! Es
bliebe ihm nur übrig zu fliehen oder sich aufs Bitten zu verlegen.
Oder sich von Božena schützen zu lassen. Der Gedanke durchrieselte
ihn. Aber das war es! Nur das! Nichts anderes! Diese Angst, dieses
Sichaufgeben lockte ihn jedesmal von neuem. Dieses Heraustreten aus
seiner bevorzugten Stellung unter die gemeinen Leute; unter sie --
tiefer als sie!

Er war nicht lasterhaft. Bei der Ausführung überwogen stets der
Widerwille gegen sein Beginnen und die Angst vor den möglichen
Folgen. Nur seine Phantasie war in eine ungesunde Richtung gebracht.
Wenn sich die Tage der Woche bleiern einer nach dem andern über
sein Leben legten, fingen diese beizenden Reize an, ihn zu locken.
Aus den Erinnerungen an seine Besuche bildete sich eine eigenartige
Verführung heraus. Božena erschien ihm als ein Geschöpf von
ungeheuerlicher Niedrigkeit und sein Verhältnis zu ihr, die
Empfindungen, die er dabei zu durchlaufen hatte, als ein grausamer
Kultus der Selbstaufopferung. Es reizte ihn, alles zurücklassen zu
müssen, worin er sonst eingeschlossen war, seine bevorzugte Stellung,
die Gedanken und Gefühle, die man ihm einimpfte, all das, was ihm
nichts gab und ihn erdrückte. Es reizte ihn, nackt, von allem
entblößt, in rasendem Laufe zu diesem Weibe zu flüchten.

Das war nicht anders als bei jungen Leuten überhaupt. Wäre Božena rein
und schön gewesen und hätte er damals lieben können, so hätte er sie
vielleicht gebissen, ihr und sich die Wollust bis zum Schmerz
gesteigert. Denn die erste Leidenschaft des erwachsenden Menschen ist
nicht Liebe zu der einen, sondern Haß gegen alle. Das sich unverstanden
Fühlen und das die Welt nicht Verstehen begleitet nicht die erste
Leidenschaft, sondern ist ihre einzige nicht zufällige Ursache. Und
sie selbst ist eine Flucht, auf der das Zuzweiensein nur eine
verdoppelte Einsamkeit bedeutet.

Fast jede erste Leidenschaft dauert nicht lange und hinterläßt einen
bitteren Nachgeschmack. Sie ist ein Irrtum, eine Enttäuschung. Man
versteht sich hinterher nicht und weiß nicht, was man beschuldigen
soll. Dies kommt, weil die Menschen in diesem Drama einander zum
größeren Teile zufällig sind: Zufallsgefährten auf einer Flucht. Nach
der Beruhigung erkennen sie sich nicht mehr. Sie bemerken aneinander
Gegensätze, weil sie das Gemeinsame nicht mehr bemerken.

Bei Törleß war es nur darum anders, daß er allein war. Die alternde,
erniedrigte Prostituierte vermochte nicht alles in ihm auszulösen. Doch
war sie soweit Weib, daß sie Teile seines Inneren, die wie reifende
Keime noch auf den befruchtenden Augenblick warteten, gleichsam
frühzeitig an die Oberfläche riß.

Das waren dann seine sonderbaren Vorstellungen und phantastischen
Verführungen. Fast ebenso nahe lag es ihm aber manchmal, sich auf die
Erde zu werfen und vor Verzweiflung zu schreien.

                   *       *       *       *       *

Božena bekümmerte sich noch immer nicht um Törleß. Sie schien es aus
Bosheit zu tun, bloß um ihn zu ärgern. Plötzlich unterbrach sie ihr
Gespräch: »Gebt mir Geld, ich werde Tee und Schnaps holen.«

Törleß gab ihr eines der Silberstücke, die er am Nachmittage von seiner
Mutter erhalten hatte.

Sie holte vom Fensterbrett einen zerbeulten Schnellsieder und zündete
den Spiritus an; dann stieg sie langsam und schlürfend die Treppe
hinunter.

Beineberg stieß Törleß an. »Warum bist du denn so fad? Sie wird denken,
du traust dich nicht.«

»Laß mich aus dem Spiel,« bat Törleß, »ich bin nicht aufgelegt.
Unterhalte nur du dich mit ihr. Was will sie übrigens fortwährend
mit deiner Mutter?«

»Seit sie weiß, wie ich heiße, behauptet sie, einmal bei meiner Tante
in Dienst gewesen zu sein und meine Mutter gekannt zu haben. Zum Teil
scheint es wohl wahr zu sein, zum Teil lügt sie aber sicher -- rein zum
Vergnügen: obwohl ich nicht recht verstehe, was ihr daran Spaß macht.«

Törleß wurde rot; ein merkwürdiger Gedanke war ihm eingefallen. -- Da
kam aber Božena mit dem Schnaps zurück und setzte sich wieder neben
Beineberg aufs Bett. Sie griff auch gleich wieder das frühere Gespräch
auf.

»... Ja, deine Mama war ein schönes Mädchen. Du siehst ihr eigentlich
gar nicht ähnlich, mit deinen abstehenden Ohren. Auch lustig war sie.
Mehr als einer wird sie sich wohl in den Kopf gesetzt haben. Recht hat
sie gehabt.«

Nach einer Pause schien ihr etwas besonders Lustiges eingefallen zu
sein: »Dein Onkel, der Dragoneroffizier, weißt du? Karl hat er
glaube ich geheißen, er war ein Kousin deiner Mutter, der hat ihr
damals den Hof gemacht! Aber Sonntags, wenn die Damen in der Kirche
waren, ist er mir nachgestiegen. Alle Augenblicke habe ich ihm etwas
anderes aufs Zimmer bringen müssen. Fesch war er, das weiß ich heute
noch, nur hat er sich so gar nicht geniert ...« Sie begleitete
diese Worte mit einem vielsagenden Lachen. Dann verbreitete sie sich
weiter über dieses Thema, das ihr augenscheinlich besonderes Vergnügen
bereitete. Ihre Worte waren familiär, und sie brachte sie mit einem
Ausdruck vor, der jedes einzelne beschmutzen zu wollen schien.
»... Ich meine, er hat auch deiner Mutter gefallen. Wenn sie das
nun gewußt hätte! Ich glaube, deine Tante hätte mich und ihn aus dem
Hause schmeißen müssen. So sind nun einmal die feinen Damen, gar
wenn sie noch keinen Mann haben. Liebe Božena das und liebe Božena
jenes -- so ist es den ganzen Tag gegangen. Als aber die Köchin in
die Hoffnung kam, da hättest du's hören sollen! Ich glaube gar, sie
meinten, daß sich unsereins nur einmal im Jahr die Füße wasche. Der
Köchin sagten sie zwar nichts, aber ich konnte es hören, wenn ich im
Zimmer bediente und sie gerade davon sprachen. Deine Mutter machte
ein Gesicht, als möchte sie am liebsten nur Kölnerwasser trinken.
Dabei hatte deine Tante gar nicht lange danach selbst einen Bauch
bis zur Nase ...«

Während Božena sprach, fühlte sich Törleß ihren gemeinen Anspielungen
fast wehrlos preisgegeben.

Was sie schilderte, sah er lebendig vor sich. Beinebergs Mutter
wurde zu seiner eigenen. Er erinnerte sich der hellen Räume der
elterlichen Wohnung. Der gepflegten, reinen, unnahbaren Gesichter,
die ihm zu Hause bei den Diners oft eine gewisse Ehrfurcht eingeflößt
hatten. Der vornehmen, kühlen Hände, die sich selbst beim Essen
nichts zu vergeben schienen. Eine Menge solcher Einzelheiten fiel
ihm ein und er schämte sich, hier in einem kleinen übelriechenden
Zimmer zu sein und mit einem Zittern auf die demütigenden Worte einer
Dirne zu antworten. Die Erinnerung an die vollendete Manier dieser
nie formvergessenen Gesellschaft wirkte stärker auf ihn als alle
moralische Überlegung. Das Wühlen seiner dunklen Leidenschaften kam ihm
lächerlich vor. Mit visionärer Eindringlichkeit sah er eine kühle,
abwehrende Handbewegung, ein chokiertes Lächeln, mit dem man ihn wie
ein kleines unsauberes Tier von sich weisen würde. Trotzdem blieb
er wie festgebunden auf seinem Platze sitzen.

Mit jeder Einzelheit, deren er sich erinnerte, wuchs nämlich neben
der Scham auch eine Kette häßlicher Gedanken in ihm groß. Sie hatte
begonnen, als Beineberg die Erläuterung zu Boženas Gespräch gab, worauf
Törleß errötet war.

Er hatte damals plötzlich an seine eigene Mutter denken müssen, und
dies hielt nun fest und war nicht loszubekommen. Es war ihm nur so
durch die Grenzen des Bewußtseins geschossen -- blitzschnell oder
undeutlich weit -- am Rande -- nur wie im Fluge gesehen -- kaum
ein Gedanke zu nennen. Und hastig war darauf eine Reihe von Fragen
gefolgt, die es verdecken sollten: ›Was ist es, das es ermöglicht, daß
diese Božena ihre niedrige Existenz an die meiner Mutter heranrücken
kann? Daß sie sich in der Enge desselben Gedankens an jene herandrängt?
Warum berührt sie nicht mit der Stirne die Erde, wenn sie schon von ihr
sprechen muß? Warum ist es nicht wie durch einen Abgrund zum Ausdruck
gebracht, daß hier gar keine Gemeinsamkeit besteht? Denn, wie ist
es doch? Dieses Weib ist für mich ein Knäuel aller geschlechtlichen
Begehrlichkeiten; und meine Mutter ein Geschöpf, das bisher in
wolkenloser Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn
jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte ...‹

Aber alle diese Fragen waren nicht das Eigentliche. Berührten es
kaum. Sie waren etwas Sekundäres; etwas, das Törleß erst nachträglich
eingefallen war. Sie vervielfältigten sich nur, weil keine das Rechte
bezeichnete. Sie waren nur Ausflüchte, Umschreibungen der Tatsache, daß
vorbewußt, plötzlich, instinktiv ein seelischer Zusammenhang gegeben
war, der sie vor ihrem Entstehen schon in bösem Sinne beantwortet
hatte. Törleß sättigte sich mit den Augen an Božena und konnte
dabei seiner Mutter nicht vergessen; durch ihn hindurch verkettete
die beiden ein Zusammenhang: Alles andere war nur ein sich Winden
unter dieser Ideenverschlingung. Diese war die einzige Tatsache.
Aber durch die Vergeblichkeit, ihren Zwang abzuschütteln, gewann sie
eine fürchterliche, unklare Bedeutung, die wie ein perfides Lächeln
alle Anstrengungen begleitete.

                   *       *       *       *       *

Törleß sah im Zimmer umher, um dies loszuwerden. Aber alles hatte
nun schon diese eine Beziehung angenommen. Der kleine eiserne Ofen
mit den Rostflecken auf der Platte, das Bett mit den wackligen
Pfosten und der gestrichenen Lade, von der die Farbe an vielen
Stellen abblätterte, das Bettzeug, das schmutzig durch die Löcher
des abgenützten Lakens sah; Božena, ihr Hemd, das von der einen
Schulter geglitten war, das gemeine, wüste Rot ihres Unterrockes, ihr
breites, schwatzendes Lachen; endlich Beineberg, dessen Benehmen ihm im
Vergleich zu sonst wie das eines unzüchtigen Priesters vorkam, der
toll geworden, zweideutige Worte in die ernsten Formen eines Gebetes
flicht, ... all das stieß nach der einen Richtung, drängte auf ihn
ein und bog seine Gedanken gewaltsam immer wieder zurück.

Nur an einer Stelle fanden seine Blicke, die geschreckt von einem zum
andern flüchteten, Frieden. Das war oberhalb der kleinen Gardine. Dort
sahen die Wolken vom Himmel herein und reglos der Mond.

Das war, als ob er plötzlich in die frische, ruhige Nachtluft
hinausgetreten wäre. Eine Weile wurden alle Gedanken ganz still. Dann
kam ihm eine angenehme Erinnerung. Das Landhaus, das sie letzten Sommer
bewohnt hatten. Nächte im schweigenden Park. Ein sternzitterndes,
samtdunkles Firmament. Die Stimme seiner Mutter aus der Tiefe des
Gartens, wo sie mit Papa auf den schwach schimmernden Kieswegen
spazieren ging. Lieder, die sie halblaut vor sich hinsang. Aber da,
... es fuhr ihm kalt durch den Leib, ... war auch wieder dieses
quälende Vergleichen. Was mochten die beiden dabei gefühlt haben?
Liebe? Nein, der Gedanke kam ihm jetzt zum erstenmal. Überhaupt war
das etwas ganz anderes. Nichts für große und erwachsene Menschen;
gar für seine Eltern. Nachts am offenen Fenster sitzen und sich
verlassen fühlen, sich anders fühlen als die Großen, von jedem Lachen
und von jedem spöttischen Blicke mißverstanden, niemandem erklären
können, was man schon bedeute, und sich nach einer sehnen, die das
verstünde ... das ist Liebe! Aber dazu muß man jung und einsam sein.
Bei ihnen mußte es etwas anderes gewesen sein; etwas Ruhiges und
Gleichmütiges. Mama sang einfach am Abend in dem dunklen Garten
und war heiter ....

Aber gerade das war es, was Törleß nicht verstand. Die geduldigen
Pläne, welche für den Erwachsenen, ohne daß er es merkt, die Tage
zu Monaten und Jahren zusammenketten, waren ihm noch fremd. Und
ebenso jenes Abgestumpftsein, für das es nicht einmal mehr eine
Frage bedeutet, wenn wieder ein Tag zu Ende geht. Sein Leben war
auf jeden Tag gerichtet. Jede Nacht bedeutete für ihn ein Nichts,
ein Grab, ein Ausgelöschtwerden. Das Vermögen, sich jeden Tag sterben
zu legen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, hatte er noch nicht
erlernt.

Deswegen hatte er immer etwas dahinter vermutet, das man ihm verberge.
Die Nächte erschienen ihm wie dunkle Tore zu geheimnisvollen Freuden,
die man ihm verheimlicht hatte, so daß sein Leben leer und unglücklich
blieb.

Er erinnerte sich an ein eigentümliches Lachen seiner Mutter und
sich wie scherzhaft fester an den Arm ihres Mannes Drücken, das er
an einem jener Abende beobachtet hatte. Es schien jeden Zweifel
auszuschließen. Auch aus der Welt jener Unantastbaren und Ruhigen
mußte eine Pforte herüberführen. Und nun, da er wußte, konnte er
nur mit jenem gewissen Lächeln daran denken, gegen dessen böses
Mißtrauen er sich vergeblich wehrte -- -- -- --

Božena erzählte unterdessen weiter. Törleß hörte mit halber
Aufmerksamkeit hin. Sie sprach von einem, der auch fast jeden Sonntag
kam ... »Wie heißt er nur? Er ist aus deinem Jahrgang«.

»Reiting?«

»Nein.«

»Wie sieht er aus?«

»Er ist beiläufig so groß wie der da«, Božena wies auf Törleß, »nur
hat er einen etwas zu großen Kopf.«

»Ah, Basini?«

»Ja, ja, so nannte er sich. Er ist sehr komisch. Und nobel; er trinkt
nur Wein. Aber dumm ist er. Es kostet ihn eine Menge Geld und er tut
nichts als mir erzählen. Er renommiert mit den Liebschaften, die er
zu Hause haben will; was er nur davon hat? Ich sehe ja doch, daß er
zum erstenmal in seinem Leben bei einem Frauenzimmer ist. Du bist ja
auch noch ein Bub, aber du bist frech; er dagegen ist ungeschickt und
hat Angst davor, deswegen erzählt er mir lang und breit, wie man als
Genußmensch, -- ja, so hat er gesagt, -- mit Frauen umgehen müsse. Er
sagt, alle Weiber seien nichts anderes wert; woher wollt ihr denn
das schon wissen?!«

Beineberg grinste sie zur Antwort spöttisch an.

»Ja lach' nur!« herrschte ihn Božena belustigt an, »ich habe ihn
einmal gefragt, ob er sich denn nicht vor seiner Mutter schämen würde.
›Mutter?.. Mutter?‹ sagte er drauf, ›was ist das? Das existiert jetzt
nicht. Das habe ich zu Hause gelassen, bevor ich zu dir ging‹ ... Ja,
mach nur deine langen Ohren auf, so seid ihr! Nette Söhnchen, ihr
feinen jungen Herren; eure Mütter könnten mir beinahe leid tun!.......«

Bei diesen Worten bekam Törleß wieder die frühere Vorstellung von sich
selbst. Wie er alles hinter sich ließ und das Bild seiner Eltern
verriet. Und nun mußte er sehen, daß er damit nicht einmal etwas
fürchterlich Einsames, sondern nur etwas ganz Gewöhnliches tat. Er
schämte sich. Aber auch die anderen Gedanken waren wieder da. Sie tuen
es auch! Sie verraten dich! Du hast geheime Mitspieler! Vielleicht ist
es bei ihnen irgendwie anders, aber das muß bei ihnen das gleiche sein:
eine geheime, fürchterliche Freude. Etwas, in dem man sich mit all
seiner Angst vor dem Gleichmaß der Tage ertränken kann.... Vielleicht
wissen sie sogar mehr ...?!... Etwas ganz Ungewöhnliches? Denn
sie sind am Tage so beruhigt; .. und dieses Lachen seiner Mutter?..
als ob sie mit ruhigem Schritte ginge, alle Türen zu schließen. -- --
-- -- -- -- -- -- -- --

In diesem Widerstreite kam ein Augenblick, wo Törleß sich aufgab und
sich mit erwürgtem Herzen dem Sturme überließ.

Und gerade in diesem Augenblicke stand Božena auf und trat zu ihm hin.

»Warum spricht denn der Kleine nichts? Hat er Kummer?«

Beineberg flüsterte etwas und lächelte boshaft.

»Was, Heimweh? Ist wohl die Mama weggefahren? Und der garstige Bub
läuft gleich zu so einer!«

Božena vergrub zärtlich ihre Hand mit gespreizten Fingern in sein
Haar. »Geh, sei nicht dumm. Da gib mir einen Kuß. Die feinen Menschen
sind auch nicht von Zuckerwerk«, und sie bog ihm den Kopf zurück.

Törleß wollte etwas sagen, sich zu einem derben Scherze aufraffen,
er fühlte, daß jetzt alles davon abhänge, ein gleichgültiges,
beziehungsloses Wort zu sagen, aber er brachte keinen Laut heraus.
Er starrte mit einem versteinten Lächeln in das wüste Gesicht über dem
seinen, in diese unbestimmten Augen, dann begann die Außenwelt klein
zu werden, ... sich immer weiter zurückzuziehen.... Für einen
Augenblick tauchte das Bild jenes Bauernburschen auf, der den Stein
gehoben hatte, und schien ihn zu höhnen.... dann war er ganz allein.
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

                   *       *       *       *       *

»Du, ich hab' ihn«, flüsterte Reiting.

»Wen?«

»Den Spielladendieb.«

Törleß war eben mit Beineberg zurückgekommen. Es war knapp vor der
Zeit des Nachtmahls und das diensthabende Aufsichtsorgan schon
weggegangen. Zwischen den grünen Tischen hatten sich plaudernde
Gruppen gebildet und ein warmes Leben summte und surrte durch den Saal.

Es war das gewöhnliche Schulzimmer mit weißgetünchten Wänden, einem
großen schwarzen Kruzifix und den Bildnissen des Herrscherpaares zu
seiten der Tafel. Neben dem großen eisernen Ofen, der noch nicht
geheizt war, saßen, teils auf dem Podium, teils auf umgelegten Stühlen,
die jungen Leute, welche nachmittags das Ehepaar Törleß zur Bahn
begleitet hatten. Außer Reiting waren es der lange Hofmeier und
Dschjusch, unter welchem Spitznamen ein kleiner polnischer Graf
verstanden wurde.

Törleß war einigermaßen neugierig.

Die Spielladen standen im Hintergrunde des Zimmers und waren lange
Kästen mit vielen versperrbaren Schubfächern, in denen die Pfleglinge
des Institutes ihre Briefe, Bücher, Geld und allen möglichen kleinen
Kram aufbewahrten.

Und bereits seit geraumer Zeit klagten einzelne, daß ihnen kleinere
Geldbeträge fehlten, ohne daß sie jedoch bestimmte Vermutungen hätten
aussprechen können.

Beineberg war der erste, der mit Gewißheit sagen konnte, daß ihm --
in der Vorwoche -- ein größerer Betrag gestohlen worden sei. Aber nur
Reiting und Törleß wußten darum.

Sie hatten die Diener im Verdachte.

»So erzähl doch!« bat Törleß, aber Reiting machte ihm rasch ein
Zeichen: »Pst! Später. Es weiß noch niemand davon.«

»Ein Diener?« flüsterte Törleß.

»Nein.«

»So deute doch wenigstens an, wer?«

Reiting wandte sich von den übrigen ab und sagte leise: »B.« Niemand
außer Törleß hatte etwas von diesem vorsichtig geführten Gespräche
verstanden. Aber auf diesen wirkte die Mitteilung wie ein Überfall.
B.? -- das konnte nur Basini sein. Und das war doch nicht möglich!
Seine Mutter war eine vermögende Dame, sein Vormund Exzellenz. Törleß
wollte es nicht glauben und dazwischen schnitt der Gedanke an Boženas
Erzählung hindurch.

Er konnte kaum den Augenblick erwarten, da die anderen zum Speisen
gingen. Beineberg und Reiting blieben zurück, indem sie vorgaben, noch
vom Nachmittage her übersättigt zu sein.

Reiting machte den Vorschlag, doch lieber vorerst »hinauf« zu gehen.

Sie traten auf den Gang hinaus, der sich endlos lang vor dem Lehrsaale
dehnte. Die flackernden Gasflammen erhellten ihn nur auf kurze Strecken
und die Schritte hallten von Nische zu Nische, wenn man auch noch
so leise auftrat ....

Vielleicht fünfzig Meter von der Türe entfernt, führte eine Stiege
in das zweite Stockwerk, in welchem sich das Naturalienkabinett,
noch andere Lehrmittelsammlungen und eine Menge leerstehender Zimmer
befanden.

Von hier aus wurde die Treppe schmal und stieg in kurzen, rechtwinklig
aneinander stoßenden Absätzen zum Dachboden empor. Und -- wie alte
Gebäude oft unlogisch, mit einer Verschwendung von Winkeln und
unmotivierten Stufen gebaut sind -- führte sie noch um ein
beträchtliches über das Niveau des Bodens hinaus, so daß es jenseits
der schweren, eisernen, versperrten Türe, durch welche sie
abgeschlossen war, eigens einer Holzstiege bedurfte, um zu ihm hinab zu
gelangen.

Diesseits aber entstand auf diese Weise ein mehrere Meter hoher
verlorener Raum, der bis zum Gebälke hinaufreichte. In diesem, der
wohl niemals betreten wurde, hatte man alte Kulissen gelagert, die
von unvordenklichen Theateraufführungen herrührten.

Das Tageslicht erstickte selbst an hellen Mittagen auf dieser Treppe
in einer Dämmerung, die von altem Staube gesättigt war, denn dieser
Bodenaufgang, der gegen den Flügel des mächtigen Gebäudes zu lag,
wurde fast nie benützt.

Von dem letzten Absatze der Stiege schwang sich Beineberg über das
Geländer und ließ sich, indem er sich an dessen Gitterstäben festhielt,
zwischen die Kulissen hinunter, welchem Beispiele Reiting und Törleß
folgten. Dort konnten sie auf einer Kiste, welche eigens zu diesem
Zwecke hingeschafft worden war, festen Fuß fassen und gelangten von ihr
mit einem Sprunge auf den Fußboden.

Selbst wenn sich das Auge eines auf der Stiege Stehenden an das Dunkel
gewöhnt gehabt hätte, so wäre es ihm doch unmöglich gewesen, von
dort aus mehr als ein regelloses Durcheinander zackiger, mannigfach
ineinander geschobener Kulissen zu unterscheiden.

Als jedoch Beineberg eine von ihnen ein wenig zur Seite rückte, öffnete
sich den unten Stehenden ein schmaler schlauchartiger Durchgang.

Sie versteckten die Kiste, welche ihnen beim Abstiege gedient hatte,
und drangen zwischen die Kulissen ein.

Hier wurde es vollständig dunkel und es bedurfte einer sehr genauen
Kenntnis des Ortes, um weiterzufinden. Hie und da raschelte eine
der großen leinenen Wände, wenn sie gestreift wurde, es rieselte
über den Fußboden wie von aufgescheuchten Mäusen, und ein modriger
alter-Truhen-Geruch stäubte auf.

Die drei dieses Weges Gewohnten tasteten sich unendlich vorsichtig,
Schritt für Schritt bedacht, nicht an eine der als Fallstrick und
Warnsignal über den Boden gespannten Schnüre zu stoßen, vorwärts.

Es verging geraume Zeit, bis sie zu einer kleinen Türe gelangten,
welche rechter Hand, knapp vor der den Boden abtrennenden Mauer,
angebracht war.

Als Beineberg diese öffnete, befanden sie sich in einem schmalen Raume
unterhalb des obersten Stiegenabsatzes, der bei dem Lichte einer
kleinen, flackernden Öllampe, welche Beineberg angezündet hatte,
abenteuerlich genug aussah.

Die Decke war nur in jenem Teile wagrecht, der unmittelbar unter
dem Treppenabsatze lag, und auch hier nur so hoch, daß man knapp
aufrecht stehen konnte. Nach rückwärts zu schrägte sie sich aber, dem
Profile der Stiege folgend, ab und endigte in einem spitzen Winkel.
Mit der diesem gegenüberliegenden Stirnseite stieß der kleine Raum an
die dünne Zwischenmauer, welche den Dachboden von dem Stiegenhause
trennte und erhielt eine längsseitige natürliche Begrenzung durch
das Gemäuer, an dem die Stiege hinaufgeführt war. Bloß die zweite
Seitenwand, in welcher die Türe angebracht war, schien erst eigens
hinzugekommen zu sein. Sie verdankte wohl der Absicht ihr Entstehen,
hier eine kleine Kammer für Geräte zu schaffen, vielleicht auch nur
einer Laune des Baumeisters, dem beim Anblicke dieses finsteren
Winkels der mittelalterliche Einfall gekommen sein mochte, ihn zu einem
Versteck vermauern zu lassen.

Jedenfalls gab es außer den Dreien kaum einen Menschen im ganzen
Institute, der von dem Bestehen dieses Raumes wußte, geschweige denn
daran dachte, ihm irgendeine Bestimmung zu geben.

So konnten sie sich denselben ganz nach ihrem abenteuerlichen Sinne
ausstatten.

Die Wände waren vollständig mit einem blutroten Fahnenstoffe
ausgekleidet, den Reiting und Beineberg aus einem der Bodenräume
entwendet hatten, und der Fußboden war mit einer doppelten Lage
dicker, wolliger Kotzen bedeckt, wie solche im Winter in den
Schlafsälen als zweite Decken dienten. In dem vorderen Teile der
Kammer standen niedere, mit Stoff überzogene Kistchen, die als Sitze
verwendet wurden; rückwärts, wo Fußboden und Decke in den spitzen
Winkel ausliefen, war eine Schlafstätte hergerichtet. Sie bot ein
Lager für drei bis vier Personen, das sich durch einen Vorhang
verdunkeln und von dem vorderen Teile der Kammer abtrennen ließ.

An der Wand hing neben der Türe ein geladener Revolver.

Törleß liebte diese Kammer nicht. Ihre Enge und dieses Alleinsein
gefielen ihm wohl, man war wie tief in dem Inneren eines Berges,
und der Geruch der alten, verstaubten Kulissen durchzog ihn mit
unbestimmten Empfindungen. Aber die Verstecktheit, diese Alarmschnüre,
dieser Revolver, der eine äußerste Illusion von Trotz und
Heimlichkeit geben sollte, kamen ihm lächerlich vor. Es war, als
wollte man sich einreden, ein Räuberleben zu führen.

Törleß tat dabei eigentlich nur mit, weil er hinter den beiden anderen
nicht zurückstehen wollte. Beineberg und Reiting aber nahmen diese
Dinge furchtbar ernst. Das wußte Törleß. Er wußte, daß Beineberg zu
allen Keller- und Bodenräumen des Institutes Nachschlüssel besaß.
Wußte, daß dieser oft für mehrere Stunden von der Klasse verschwand,
um irgendwo -- hoch oben in den Sparren des Dachstuhles oder unter
der Erde in einem der vielen verzweigten, verfallenden Gewölbe --
zu sitzen und bei dem Scheine einer kleinen Laterne, die er stets bei
sich trug, abenteuerliche Geschichten zu lesen oder sich Gedanken
über die übernatürlichen Dinge eingeben zu lassen.

Ähnliches wußte er auch von Reiting. Dieser hatte gleichfalls seine
versteckten Winkel, in denen er geheime Tagebücher aufbewahrte; nur
waren diese mit verwogenen Plänen für die Zukunft ausgefüllt und mit
genauen Aufzeichnungen über Ursache, Inszenesetzung und Verlauf der
zahlreichen Intriguen, die er unter seinen Kameraden anstiftete. Denn
Reiting kannte kein größeres Vergnügen als Menschen gegeneinander zu
hetzen, den einen mit Hilfe des anderen unterzukriegen und sich an
abgezwungenen Gefälligkeiten und Schmeicheleien zu weiden, hinter deren
Hülle er noch das Widerstreben des Hasses fühlen konnte.

»Ich übe mich dabei«, war die einzige Entschuldigung, und er gab sie
mit liebenswürdigem Lachen. Zur Übung sollte ihm auch gereichen, daß er
fast täglich an irgendeinem entlegenen Orte sei es gegen eine Wand, sei
es gegen einen Baum oder einen Tisch boxte, um seine Arme zu stärken
und seine Hände durch Schwielen abzuhärten.

Törleß wußte um all dies, aber er verstand es nur bis zu einem
gewissen Punkte. Er war einige Male sowohl Reiting als Beineberg auf
ihren eigenwilligen Wegen gefolgt. Das Ungewöhnliche daran hatte
ihm ja gefallen. Und auch das liebte er, hernach in die Tageshelle
zu treten, unter alle Kameraden, mitten in die Heiterkeit hinein,
während er in sich, in seinen Augen und Ohren, noch die Erregungen
der Einsamkeit und die Halluzinationen der Dunkelheit zittern
fühlte. Wenn ihm aber Beineberg oder Reiting bei solcher Gelegenheit,
um jemanden zu haben, vor dem sie von sich sprechen konnten,
auseinandersetzten, was sie bei all dem bewegte, versagte sein
Verständnis. Er fand Reiting sogar überspannt. Dieser sprach nämlich
mit Vorliebe davon, daß sein Vater eine merkwürdig unstete, später
verschollene Person gewesen sei. Sein Name sollte überhaupt nur ein
Inkognito für den eines sehr hohen Geschlechtes sein. Er dachte, von
seiner Mutter noch einmal in weitgehende Ansprüche eingeweiht zu
werden, rechnete mit Staatsstreichen und großer Politik und wollte
demzufolge Offizier werden.

Solche Absichten konnte sich Törleß ernstlich gar nicht vorstellen.
Die Jahrhunderte der Revolutionen schienen ihm ein für alle Male
vorbei. Dennoch verstand Reiting Ernst zu machen. Vorläufig freilich
nur im kleinen. Er war ein Tyrann und unnachsichtig gegen den, der
sich ihm widersetzte. Sein Anhang wechselte von Tag zu Tag, aber immer
war die Majorität auf seiner Seite. Darin bestand sein Talent. --
Gegen Beineberg hatte er vor ein oder zwei Jahren einen großen Krieg
geführt, der mit dessen Niederlage endete. Beineberg war zum Schlusse
ziemlich isoliert dagestanden, obwohl er in der Beurteilung der
Personen, an Kaltblütigkeit und dem Vermögen, Antipathien gegen
ihm Mißliebige zu erregen, kaum hinter seinem Gegner zurückstand.
Aber ihm fehlte das Liebenswürdige und Gewinnende desselben. Seine
Gelassenheit und seine philosophische Salbung flößten fast allen
Mißtrauen ein. Man vermutete garstige Exzesse irgendwelcher Art am
Grunde seines Wesens. Dennoch hatte er Reiting große Schwierigkeiten
bereitet und dessen Sieg war fast nur ein zufälliger gewesen. Seit
der Zeit hielten sie aus gemeinschaftlichem Interesse zusammen.

Törleß hingegen wurde von diesen Dingen gleichgültig gelassen. Er
besaß daher auch kein Geschick in ihnen. Dennoch war er mit in diese
Welt eingeschlossen und konnte täglich vor Augen sehen, was es bedeute,
in einem Staate -- denn jede Klasse ist in einem solchen Institute
ein kleiner Staat für sich -- die erste Rolle inne zu haben. Deswegen
hatte er einen gewissen scheuen Respekt vor seinen beiden Freunden.
Die Anwandlungen, die er manchmal hatte, es ihnen gleichzutun,
blieben in dilettantischen Versuchen stecken. Dadurch geriet er, der
ohnedies jünger war, in das Verhältnis eines Schülers oder Gehülfen
zu ihnen. Er genoß ihren Schutz, sie aber hörten gerne seinen Rat.
Denn Törleß' Geist war der beweglichste. Einmal auf eine Fährte
gesetzt, war er im Ausdenken der winkelzügigsten Kombinationen
überaus fruchtbar. Es vermochte auch keiner so genau wie er die
verschiedenen, von dem Verhalten eines Menschen in einer gegebenen
Lage zu erwartenden Möglichkeiten vorauszusagen. Nur wo es sich
darum handelte, einen Entschluß zu fassen, von den vorhandenen
psychologischen Möglichkeiten eine auf eigene Gefahr als bestimmt
anzunehmen und danach zu handeln, versagte er, verlor das Interesse und
hatte keine Energie. Seine Rolle als geheimer Generalstabschef
machte ihm aber Spaß. Um so mehr, als sie so ziemlich das einzige
war, das in seine tiefinnerliche Langweile einige Bewegung brachte.

Manchmal kam ihm aber doch zu Bewußtsein, was er durch diese innerliche
Abhängigkeit einbüßte. Er fühlte, daß ihm alles, was er tat, nur ein
Spiel war. Nur etwas, das ihm half, über die Zeit dieser Larvenexistenz
im Institute hinwegzukommen. Ohne Bezug auf sein eigentliches Wesen,
das erst dahinter, in noch unbestimmter zeitlicher Entfernung kommen
werde.

Wenn er nämlich bei gewissen Gelegenheiten sah, wie sehr seine beiden
Freunde diese Dinge ernst nahmen, fühlte er sein Verständnis versagen.
Er hätte sich gerne über sie lustig gemacht, hatte aber doch Angst,
daß hinter ihren Phantastereien mehr Wahres stecken könnte, als er
einzusehen vermochte. Er fühlte sich gewissermaßen zwischen zwei
Welten zerrissen: Einer solid bürgerlichen, in der schließlich doch
alles geregelt und vernünftig zuging, wie er es von zu Hause her
gewohnt war, und einer abenteuerlichen, voll Dunkelheit, Geheimnis,
Blut und ungeahnter Überraschungen. Die eine schien dann die andere
auszuschließen. Ein spöttisches Lächeln, das er gerne auf seinen
Lippen festgehalten hätte, und ein Schauer, der ihm über den Rücken
fuhr, kreuzten sich. Ein Flimmern der Gedanken entstand ...

Dann sehnte er sich danach, endlich etwas Bestimmtes in sich zu fühlen;
feste Bedürfnisse, die zwischen Gutem und Schlechtem, Brauchbarem und
Unbrauchbarem schieden; sich wählen zu wissen, wenn auch falsch --
besser doch, als überempfänglich alles in sich aufzunehmen ...

Als er in die Kammer getreten war, hatte sich diese innere
Zwiespältigkeit, wie stets an diesem Orte, wieder seiner bemächtigt.

Reiting hatte unterdessen zu erzählen angefangen:

Basini war ihm Geld schuldig gewesen, hatte ihn von einem Termin zum
andern vertröstet; jedesmal unter Ehrenwort. »Ich hatte ja soweit
nichts dagegen,« meinte Reiting, »je länger es so ging, desto mehr
wurde er von mir abhängig. Ein drei- oder vierfach gebrochenes
Ehrenwort ist am Ende doch keine Kleinigkeit? Aber schließlich
brauchte ich mein Geld selbst. Ich machte ihn darauf aufmerksam
und er schwor hoch und heilig. Hielt natürlich wieder nicht Wort.
Da erklärte ich ihm, daß ich ihn anzeigen würde. Er bat um zwei Tage
Zeit, weil er eine Sendung von seinem Vormunde erwarte. Ich aber
erkundigte mich einstweilen ein wenig um seine Verhältnisse. Wollte
wissen, von wem er etwa noch abhängig sei; -- man muß doch damit
rechnen können.

Was ich erfuhr, war mir nicht gerade angenehm. Er hatte bei Dschjusch
Schulden und noch bei einigen anderen. Einen Teil davon hatte er
schon gezahlt, natürlich von dem Gelde, das er mir schuldig blieb.
Die anderen brannten ihm unter den Nägeln. Mich ärgerte das. Hielt er
mich für den Gutmütigsten? Das wäre mir kaum sympathisch gewesen.
Aber ich dachte mir: »abwarten. Es wird sich schon Gelegenheit finden,
ihm solche Irrtümer auszutreiben.« Gesprächsweise hatte er mir einmal
die Summe des erwarteten Betrags genannt, um mich zu beruhigen, daß
diese größer sei als mein Guthaben. Ich fragte nun genau herum und
brachte heraus, daß für die Gesamtsumme der Schulden der Betrag bei
weitem nicht ausreiche. »Aha,« dachte ich mir, »jetzt wird er es
wohl noch einmal probieren.«

Und richtig kam er ganz vertraulich zu mir und bat, weil die anderen
so sehr drängten, um ein wenig Nachsicht. Ich blieb aber diesmal
ganz kalt. »Bettel die anderen,« sagte ich ihm, »ich bin nicht
gewohnt nach ihnen zu kommen.« »Dich kenne ich besser, zu dir habe
ich mehr Vertrauen«, versuchte er. »Mein letztes Wort: Du bringst mir
morgen das Geld oder ich lege dir meine Bedingungen auf.« »Was für
Bedingungen?« erkundigte er sich. Das hättet ihr hören sollen! Als ob
er bereit wäre, seine Seele zu verkaufen. »Was für Bedingungen? Oho!
Du mußt mir in allem, was ich unternehme, Gefolgschaft leisten.« »Wenn
es weiter nichts ist? Das tue ich gewiß, ich halte von selbst gerne
zu dir«. »Oh, nicht nur, wenn es _dir_ Vergnügen macht; Du mußt
ausführen, was immer ich will, -- in blindem Gehorsam!« Jetzt sah
er mich so schief, halb grinsend und halb verlegen an. Er wußte nicht,
wieweit er sich einlassen könne, wie weit es mir Ernst sei. Er
hätte mir wahrscheinlich gerne alles versprochen, aber er mußte
wohl fürchten, daß ich ihn nur auf die Probe stelle. Schließlich sagte
er daher und wurde rot: »Ich werde dir das Geld bringen.« Mir
machte er Spaß, das war so ein Mensch, den ich bisher unter den
fünfzig anderen gar nicht beachtet hatte. Er zählte doch nie mit,
nicht? Und nun war er mir plötzlich so ganz nahe getreten, daß ich
ihn bis ins kleinste sah. Ich wußte gewiß, daß der bereit sei, sich
zu verkaufen; ohne viel Aufhebens, wenn nur niemand darum wußte. Es
war wirklich eine Überraschung, und es gibt gar nichts Schöneres, als
wenn einem ein Mensch plötzlich auf solche Weise offenbar wird, seine
bisher unbeachtete Art zu leben plötzlich vor einem liegt, wie die
Gänge eines Wurms, wenn das Holz entzwei springt....

Am nächsten Tage brachte er mir richtig das Geld. Ja mehr als das,
er lud mich ein, mit ihm im Kasino etwas zu trinken. Er bestellte
Wein, Torte, Zigaretten und bat mich, mir aufwarten zu dürfen --
aus »Dankbarkeit,« weil ich so geduldig gewesen sei. Mir war nur
unangenehm, daß er dabei so furchtbar harmlos tat. So als ob nie
zwischen uns ein verletzendes Wort gefallen wäre. Ich deutete darauf
hin; er wurde nur noch herzlicher. Es war so, als ob er sich mir
entwinden, sich mir wieder gleichsetzen wollte. Er machte sich von
nichts mehr wissen, mit jedem zweiten Worte drängte er mir eine
Beteuerung seiner Freundschaft auf; nur in seinen Augen war etwas,
das sich an mich klammerte, als ob er sich fürchte, das künstlich
geschaffene Gefühl der Nähe wieder zu verlieren. Schließlich wurde
er mir zuwider. Ich dachte: »glaubt er denn, ich müsse mir das gefallen
lassen?« und sann nach, wie ich ihm eins moralisch vor den Kopf geben
könnte. Nach etwas recht Verletzendem suchte ich. Dabei fiel mir ein,
daß mir Beineberg am Morgen erzählt hatte, ihm sei Geld gestohlen
worden. Ganz nebenbei fiel es mir ein. Aber es kehrte wieder. Und es
schnürte mir förmlich den Hals zusammen. »Es käme doch wunderbar
gelegen«, dachte ich mir und fragte ihn beiläufig, wieviel Geld er
denn noch besitze. Die Rechnung, die ich daraufhin anstellte, stimmte.
»Wer war denn so dumm, dir trotz allem noch Geld zu borgen?« fragte
ich lachend. »Hofmeier.«

Ich glaube, ich zitterte vor Freude. Hofmeier war nämlich zwei Stunden
vorher bei mir gewesen, um sich selbst etwas Geld zu entleihen. So
war das, was mir vor ein paar Minuten durch den Kopf gefahren war,
plötzlich Wirklichkeit geworden. Nicht anders, als wenn du zufällig,
scherzend denkst: Dieses Haus sollte jetzt brennen, und im nächsten
Augenblick schießt das Feuer schon meterhoch empor....

Ich überschlug rasch noch einmal alle Möglichkeiten; freilich,
Gewißheit war ja nicht zu gewinnen, aber mein Gefühl genügte mir. So
neigte ich mich denn zu ihm hin und sagte in wirklich liebenswürdigster
Weise, so als ob ich ihm ganz sanft ein schlankes, spitzes Stäbchen ins
Gehirn hineintriebe: »Schau doch, lieber Basini, warum willst du
mich anlügen?« Wie ich das sagte, schienen seine Augen ängstlich im
Kopfe zu schwimmen, ich aber fuhr fort: »Du kannst ja vielleicht bald
jemandem etwas vormachen, aber gerade ich bin nicht der Richtige. Du
weißt doch, Beineberg....« Er wurde nicht rot und nicht bleich, es
schien, als warte er auf Lösung eines Mißverständnisses. »Na, um
es kurz zu machen«, sagte ich da, »das Geld, wovon du mir deine
Schuld bezahltest, hast du heute nacht aus Beinebergs Schublade
genommen!«

Ich lehnte mich wieder zurück, um den Eindruck zu beobachten. Er war
kirschrot geworden; die Worte, an denen er würgte, trieben ihm den
Speichel auf die Lippen; endlich vermochte er zu sprechen. Es war ein
ganzer Guß von Beschuldigungen gegen mich: wie ich mich unterstehen
könne, so etwas zu behaupten; was denn eine solche schimpfliche
Vermutung auch nur im entferntesten rechtfertige; daß ich nur Streit
mit ihm suche, weil er der Schwächere sei; daß ich es nur aus Ärger
tue, weil er nach Zahlung seiner Schulden von mir erlöst sei; daß er
aber die Klasse anrufen werde, ... den Präfekten, ... den Direktor;
daß Gott seine Unschuld bezeugen möge, und so weiter ins Unendliche.
Mir wurde wirklich schon bange, daß ich ihm unrecht getan und ihn
unnötig verletzt habe, so hübsch stand ihm die Röte im Gesicht; .. wie
ein gequältes, wehrloses, kleines Tierchen sah er aus. Aber es litt
mich doch nicht, so ohneweiters beizugeben. So hielt ich denn ein
spöttisches Lächeln fest -- eigentlich fast nur aus Verlegenheit --
mit dem ich alle seine Reden anhörte. Hie und da nickte ich dazu
und sagte ruhig: »Aber ich weiß es doch.«

Nach einer Weile wurde auch er ruhig. Ich lächelte weiter. Ich hatte
ein Gefühl, als ob ich ihn durch dieses Lächeln allein zum Diebe machen
könnte, selbst wenn er es noch nicht gewesen wäre. »Und zum Gutmachen«,
dachte ich mir, »ist auch später immer noch Zeit.«

Wieder nach einer Weile, während deren er mich von Zeit zu Zeit
heimlich angesehen hatte, wurde er plötzlich bleich. Eine merkwürdige
Veränderung ging mit seinem Gesichte vor. Die förmlich unschuldige
Anmut, die es vorher verschönt hatte, schwand; wie es schien, mit der
Farbe. Es sah nun grünlich aus, käsig, verquollen. Ich hatte so etwas
vorher nur ein einzigesmal gesehen -- als ich auf der Straße hinzukam,
wie man einen Mörder arretierte. Der war auch unter den anderen
Leuten umhergegangen, ohne daß man ihm das geringste hätte anmerken
können. Als ihm aber der Schutzmann die Hand auf die Schulter legte,
war er plötzlich ein anderer Mensch geworden. Sein Gesicht hatte
sich verwandelt und seine Augen starrten erschrocken und nach einem
Ausweg suchend aus einer wahren Galgenphysiognomie.

Daran wurde ich durch den Wechsel in Basinis Ausdruck erinnert; ich
wußte nun alles und wartete nur noch....

Und es kam auch so. Ohne daß ich etwas gesagt hätte, fing Basini --
von dem Schweigen erschöpft -- zu weinen an und bat mich um Gnade.
Er habe das Geld ja nur in der Not genommen; wenn ich nicht darauf
gekommen wäre, hätte er es so bald wieder zurückgegeben, daß niemand
darum gewußt hätte. Ich solle doch nicht sagen, er habe gestohlen;
er habe es sich ja nur heimlich ausgeliehen ...; weiter kam er nicht
vor Tränen.

Danach aber bettelte er mich von neuem. Er wolle mir gehorsam sein,
alles tun, was überhaupt ich wünsche, nur solle ich niemandem davon
erzählen. Um diesen Preis bot er sich mir förmlich zum Sklaven an
und die Mischung von List und gieriger Angst, die sich dabei in seinen
Augen krümmte, war widerwärtig. Ich versprach ihm daher auch nur kurz,
mir noch überlegen zu wollen, was mit ihm geschehen werde, sagte aber,
daß dies in erster Linie Beinebergs Sache sei. Was sollen wir nun
eurer Meinung nach mit ihm anfangen?«

Während Reiting erzählte, hatte Törleß wortlos, mit geschlossenen
Augen zugehört. Von Zeit zu Zeit war ihm ein Frösteln bis in die
Fingerspitzen gelaufen und in seinem Kopfe stießen die Gedanken wild
und ungeordnet in die Höhe, wie Blasen in siedendem Wasser. Man
sagt, daß es so demjenigen gehe, der zum ersten Male das Weib sehe,
welches bestimmt ist, ihn in eine vernichtende Leidenschaft zu
verwickeln. Man behauptet, daß es einen solchen Augenblick des Sich
bückens, Kräfte heraufholens, Atem anhaltens, einen Augenblick äußeren
Schweigens über gespanntester Innerlichkeit zwischen zwei Menschen
gebe. Keinesfalls ist zu sagen, was in diesem Augenblicke vorgeht.
Er ist gleichsam der Schatten, den die Leidenschaft vorauswirft.
Ein organischer Schatten; eine Lockerung aller bisherigen Spannungen
und zugleich ein Zustand plötzlicher, neuer Gebundenheit, in dem schon
die ganze Zukunft enthalten ist; eine auf die Schärfe eines Nadelstichs
konzentrierte Inkubation.... Und er ist andrerseits ein Nichts,
ein dumpfes, unbestimmtes Gefühl, eine Schwäche, eine Angst....

So fühlte es Törleß. Was Reiting von sich und Basini erzählte,
schien ihm, wenn er sich darüber befragte, ohne Belang zu sein. Ein
leichtsinniges Vergehen und eine feige Schlechtigkeit von seiten
Basinis, worauf nun sicher irgendeine grausame Laune Reitings folgen
werde. Andrerseits aber fühlte er wie in einer bangen Ahnung, daß
die Ereignisse nun eine ganz persönliche Wendung gegen ihn genommen
hatten, und in dem Zwischenfalle lag etwas, das ihn wie mit einer
scharfen Spitze bedrohte.

Er mußte sich Basini bei Božena vorstellen und er sah in der Kammer
umher. Ihre Wände schienen ihm zu drohen, sich auf ihn zu senken, wie
mit blutigen Händen nach ihm zu greifen, der Revolver rückte auf seinem
Platze hin und her....

Da war nun etwas zum ersten Male wie ein Stein in die unbestimmte
Einsamkeit seiner Träumereien gefallen; es war da; da ließ sich
nichts machen; es war Wirklichkeit. Gestern war Basini noch genau so
wie er selbst gewesen; eine Falltüre hatte sich geöffnet, und Basini
war gestürzt. Genau so, wie es Reiting schilderte: eine plötzliche
Veränderung, und der Mensch hat gewechselt....

Und wieder verknüpfte sich das irgendwie mit Božena. Seine Gedanken
hatten Blasphemie getrieben. Ein fauler, süßer Geruch, der aus ihnen
aufgestiegen war, hatte ihn verwirrt. Und diese tiefe Erniedrigung,
diese Selbstaufgabe, dieses von den schweren, blassen, giftigen
Blättern der Schande Bedecktwerden, das wie ein unkörperliches, fernes
Spiegelbild durch seine Träume gezogen war, war nun plötzlich mit
Basini -- geschehen.

Es war also etwas, womit man wirklich rechnen muß, vor dem man sich
hüten muß, das plötzlich aus den schweigsamen Spiegeln der Gedanken
hervorspringen kann?...

Dann war aber auch alles andere möglich. Dann waren Reiting und
Beineberg möglich. War diese Kammer möglich ... Dann war es auch
möglich, daß von der hellen, täglichen Welt, die er bisher allein
gekannt hatte, ein Tor zu einer anderen, dumpfen, brandenden,
leidenschaftlichen, nackten, vernichtenden führe. Daß zwischen
jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem durchsichtigen und
festen Bau von Glas und Eisen geregelt zwischen Bureau und Familie
bewegt, und anderen, Herabgestoßenen, Blutigen, ausschweifend
Schmutzigen, in verwirrten Gängen voll brüllender Stimmen Irrenden,
nicht nur ein Übergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und
nahe und jeden Augenblick überschreitbar aneinanderstoßen ...

Und die Frage bliebe nur: wie ist es möglich? Was geschieht in solchem
Augenblicke? Was schießt da schreiend in die Höhe und was verlischt
plötzlich?...

Das waren die Fragen, die für Törleß mit diesem Ereignisse
heraufstiegen. Sie stiegen undeutlich herauf, mit verschlossenen
Lippen, von einem dumpfen, unbestimmten Gefühl ... einer Schwäche,
einer Angst verhüllt.

Aber doch klang wie von ferne, abgerissen und vereinzelt, manches ihrer
Worte in Törleß auf und erfüllte ihn mit banger Erwartung.

In diesen Augenblick fiel Reitings Anfrage.

Törleß begann sofort zu sprechen. Er gehorchte dabei einem plötzlichen
Antriebe, einer Bestürzung. Es schien ihm, daß irgend etwas
Entscheidendes bevorstehe, und er erschrak vor diesem Heranrückenden,
wollte ausweichen, eine Frist gewinnen ... Er sprach, aber im
selben Augenblicke fühlte er, daß er nur Uneigentliches vorzubringen
habe, daß seine Worte ohne inneren Rückhalt seien und gar nicht seine
wirkliche Meinung ...

Er sagte: »Basini ist ein Dieb.« Und der bestimmte, harte Klang dieses
Wortes tat ihm so wohl, daß er es zweimal wiederholte. »... ein Dieb.
Und einen solchen bestraft man -- überall, in der ganzen Welt. Er muß
angezeigt, aus dem Institute entfernt werden! Mag er sich draußen
bessern, zu uns paßt er nicht mehr!«

Aber Reiting sagte mit einem Ausdrucke unangenehmen Betroffenseins:
»Nein, wozu es gleich zum Äußersten treiben?«

»Wozu? Ja, findest du denn das nicht selbstverständlich?«

»Durchaus nicht. Du machst ja gerade so, als ob der Schwefelregen
schon vor der Tür stünde, um uns alle zu vernichten, wenn wir Basini
noch länger unter uns behielten. Dabei ist die Sache doch nicht gar so
fürchterlich.«

»Wie kannst du das sagen! Du willst also mit einem Menschen, der
gestohlen hat, der sich dir dann zur Magd, zum Sklaven angeboten
hat, tagtäglich weiter zusammen sitzen, zusammen essen, zusammen
schlafen?! Ich verstehe das gar nicht. Wir werden doch gemeinsam
erzogen, weil wir gemeinsam zur selben Gesellschaft gehören. Wird es
dir gleich sein, wenn du seinerzeit vielleicht im selben Regiment mit
ihm stehst, oder im selben Ministerium arbeitest, wenn er in denselben
Familien verkehrt wie du -- vielleicht deiner eigenen Schwester den
Hof macht ...?«

»Nun seh einer, ob du nicht übertreibst?!« lachte Reiting, »du tust,
als ob wir einer Brüderschaft fürs Leben angehörten! Glaubst du denn,
daß wir immer ein Siegel an uns herumtragen werden: Stammt aus dem
Konvikte zu W. Ist mit besonderen Vorrechten und Verpflichtungen
behaftet? Später geht ja doch jeder von uns seinen eigenen Weg, und
jeder wird das, wozu er berechtigt ist, denn es gibt nicht nur eine
Gesellschaft. Ich meine daher, wir brauchen uns nicht über die Zukunft
den Kopf zu zerbrechen. Und was das Gegenwärtige betrifft, habe ich ja
nicht gesagt, daß wir mit Basini Kameradschaft halten sollen. Es wird
sich schon irgendwie so finden lassen, daß die Distanz gewahrt bleibt.
Basini ist in unserer Hand, wir können mit ihm machen, was wir wollen,
meinetwegen kannst du ihn zweimal täglich anspucken: wo bleibt da,
solange er es sich gefallen läßt, die Gemeinsamkeit? Und lehnt er sich
auf, können wir ihm immer noch den Herrn zeigen ... Du mußt nur die
Idee fallen lassen, daß zwischen uns und Basini irgendeine andere
Zusammengehörigkeit bestehe, außer der, daß uns seine Gemeinheit
Vergnügen bereitet!«

Trotzdem Törleß gar nicht von seiner Sache überzeugt war, ereiferte er
sich weiter: »Höre, Reiting, warum nimmst du dich Basinis so warm an?«

»Nehme ich mich seiner an? Das weiß ich gar nicht. Überhaupt habe ich
gewiß keinen besonderen Grund; mir ist die ganze Geschichte grenzenlos
gleichgültig. Mich ärgert ja nur, daß du übertreibst. Was steckt dir
im Kopfe? So eine Art Idealismus, meine ich. Heilige Begeisterung
für das Institut oder für die Gerechtigkeit. Du hast keine Ahnung,
wie fad und musterhaft das klingt. Oder hast du am Ende«, und Reiting
blinzelte verdächtigend zu Törleß hinüber, »irgendeinen anderen Grund,
weswegen Basini hinausfliegen soll, und willst bloß nicht Farbe
bekennen? Irgendeine alte Rache? Dann sag es doch! Denn, wenn es
dafür steht, können wir ja wirklich die günstige Gelegenheit benützen.«

Törleß wandte sich an Beineberg. Aber dieser grinste nur. Er sog
zwischen dem Sprechen an einem langen Tschibuk, saß mit orientalisch
gekreuzten Beinen und sah mit seinen abstehenden Ohren in der
zweifelhaften Beleuchtung wie ein groteskes Götzenbild aus.
»Meinetwegen könnt ihr machen, was ihr wollt; mir ist es nicht um das
Geld zu tun und um die Gerechtigkeit auch nicht. In Indien würde
man ihm einen gespitzten Bambus durch den Darm treiben; das wäre
wenigstens ein Vergnügen. Er ist dumm und feig, da ist weiter nicht
schade um ihn, und es war mir wirklich Zeit meines Lebens höchst
egal, was mit solchen Leuten geschieht. Sie selbst sind nichts, und
was aus ihrer Seele noch werden mag, wissen wir nicht. Allah schenke
eurem Urteil seine Gnade!«

Törleß erwiderte nichts. Nachdem ihm Reiting widersprochen und
Beineberg die Entscheidung zwischen ihnen unbeeinflußt gelassen hatte,
war er am Ende. Er vermochte keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen;
er fühlte, daß er gar kein Verlangen mehr habe, das Ungewisse, Kommende
aufzuhalten.

Also wurde ein Vorschlag angenommen, den Reiting nun machte. Es wurde
beschlossen, Basini vorderhand unter Aufsicht, gewissermaßen unter
Kuratel zu stellen und ihm so Gelegenheit zu bieten, daß er sich wieder
herausarbeiten könne. Seine Einnahmen und Ausgaben sollten von nun an
strenge geprüft werden und seine Beziehungen zu den übrigen von der
Erlaubnis der drei abhängen.

Dieser Beschluß war scheinbar sehr korrekt und wohlwollend. »Musterhaft
fad«, wie Reiting diesmal _nicht_ sagte. Denn, ohne daß sie es sich
eingestanden, fühlte jeder, daß hier nur eine Art Zwischenzustand
geschaffen werden sollte. Reiting hätte ungerne auf eine Fortsetzung
dieser Angelegenheit verzichtet, da sie ihm Vergnügen bereitete, aber
andererseits war er sich noch nicht klar, welche Wendung er ihr weiter
geben sollte. Und Törleß war durch den bloßen Gedanken, daß er nun
täglich mit Basini zu tun haben werde, wie gelähmt.

Als er vorhin das Wort »Dieb« ausgesprochen hatte, war ihm für
einen Augenblick leichter geworden. Es war wie ein Hinausstellen,
Vonsichwegschieben der Dinge gewesen, die in ihm wühlten.

Aber die Fragen, die gleich darauf wieder auftauchten, vermochte dieses
einfache Wort nicht zu lösen. Sie waren jetzt deutlicher geworden, wo
es nicht mehr galt ihnen auszuweichen.

Törleß sah von Reiting zu Beineberg, schloß die Augen, wiederholte
sich den gefaßten Beschluß, sah wieder auf ... Er wußte ja selbst
nicht mehr, war es nur seine Phantasie, die sich wie ein riesiges
Zerrglas über die Dinge legte, oder war es wahr, war alles so, wie
es unheimlich vor ihm aufdämmerte? Und wußten nur Beineberg und
Reiting nichts von diesen Fragen? Obwohl gerade sie sich von Anfang
an heimisch in dieser Welt bewegt hatten, die ihm nun auf einmal erst
so fremd erschien?

Törleß fürchtete sich vor ihnen. Aber er fürchtete sich nur so, wie
man sich vor einem Riesen fürchtet, den man blind und dumm weiß ...

Eines aber war entschieden: Er war jetzt viel weiter als vor einer
Viertelstunde noch. Die Möglichkeit einer Umkehr war vorüber. Eine
leise Neugierde stieg auf, wie es nun wohl kommen werde, da er gegen
seinen Willen festgehalten sei. Alles, was sich in ihm regte, lag
noch im Dunkeln, aber doch spürte er schon eine Lust, in die Gebilde
dieser Finsternis hineinzustarren, welche die anderen nicht bemerkten.
Ein feines Frösteln war in diese Lust gemengt. Als ob über seinem
Leben nun beständig ein grauer, verhängter Himmel stehen werde --
mit großen Wolken, ungeheuren, wechselnden Gestalten und der immer
neuen Frage: Sind es Ungeheuer? Sind es nur Wolken?

Und diese Frage nur für ihn! Als Geheimes, den anderen Fremdes,
Verbotenes ...

So begann Basini sich zum ersten Male jener Bedeutung zu nähern, die
er späterhin in Törleß' Leben einnehmen sollte.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Tage wurde Basini unter Kuratel gesetzt.

Nicht ganz ohne einige Feierlichkeit. Man benützte eine Morgenstunde,
während welcher man sich den Freiübungen, die auf einer großen Wiese im
Parke stattfanden, entzogen hatte.

Reiting hielt eine Art Ansprache. Nicht gerade kurz. Er wies Basini
darauf hin, daß er seine Existenz verscherzt habe, eigentlich angezeigt
werden müßte und es nur einer besonderen Gnade zu danken habe, daß man
ihm vorläufig die Schande einer strafweisen Entfernung noch erlasse.

Dann wurden ihm die besonderen Bedingungen mitgeteilt. Die Überwachung
ihrer Einhaltung übernahm Reiting.

Basini war während des ganzen Auftrittes sehr bleich gewesen, hatte
jedoch kein Wort erwidert und aus seinem Gesichte war nicht zu
entnehmen gewesen, was währenddem in ihm vorgegangen war.

Törleß war die Szene abwechselnd sehr geschmacklos und sehr bedeutend
vorgekommen.

Beineberg hatte mehr auf Reiting als auf Basini geachtet.

                   *       *       *       *       *

Während der nächsten Tage schien die Angelegenheit beinahe vergessen zu
sein.

Reiting war außer im Unterrichte und beim Speisen kaum zu sehen,
Beineberg war schweigsamer denn je und Törleß schob es immer wieder
hinaus, über die Geschichte nachzudenken.

Basini bewegte sich unter den Kameraden, als wäre niemals etwas
vorgefallen.

                   *       *       *       *       *

Er war etwas größer als Törleß, jedoch sehr schwächlich gebaut, hatte
weiche, träge Bewegungen und weibische Gesichtszüge. Sein Verstand war
gering, im Fechten und Turnen war er einer der letzten, doch war ihm
eine angenehme Art koketter Liebenswürdigkeit eigen.

Zu Božena war er seinerzeit nur gekommen, um den Mann zu spielen. Eine
wirkliche Begierde dürfte ihm bei seiner zurückgebliebenen Entwicklung
durchaus noch fremd gewesen sein. Er empfand es vielmehr bloß als
Nötigung, als Angemessenheit oder Verpflichtung, daß man den Duft
galanter Erlebnisse an ihm nicht vermisse. Sein schönster Augenblick
war der, wenn er von Božena wegging und es hinter sich hatte, denn
es war ihm nur um den Besitz der Erinnerung zu tun.

Mitunter log er auch aus Eitelkeit. So kam er nach jedem Urlaube mit
Andenken an kleine Abenteuer zurück -- Bändern, Locken, schmalen
Briefchen. Als er aber einmal ein Strumpfband in seinem Koffer
mitgebracht hatte, ein liebes, kleines, duftendes, himmelblaues, und
nachträglich sich herausstellte, daß es von niemand anderem als
seiner eigenen zwölfjährigen Schwester war, wurde er wegen dieses
lächerlichen Großtuns viel verlacht.

Die moralische Minderwertigkeit, die sich an ihm herausstellte, und
seine Dummheit wuchsen auf einem Stamm. Er vermochte keiner Eingebung
Widerstand entgegenzusetzen und wurde von den Folgen stets überrascht.
Er war darin wie jene Frauen mit niedlichen Löckchen über der Stirne,
die ihrem Gatten in mahlzeitweisen Dosen Gift beibringen und sich dann
voller Schrecken über die fremden, harten Worte des Staatsanwaltes
wundern und über ihr Todesurteil.

                   *       *       *       *       *

Törleß wich ihm aus. Dadurch verlor sich allmählig auch jenes
tiefinnerliche Erschrecken, das ihn im ersten Augenblicke gleichsam
unter den Wurzeln seiner Gedanken gepackt und erschüttert hatte. Es
wurde wieder vernünftig um Törleß; das Befremden wich und wurde Tag
um Tag unwirklicher, wie Spuren eines Traumes, die sich in der
realen, festen, sonnenbeschienenen Welt nicht behaupten können.

Um sich dieses Zustandes noch mehr zu versichern, teilte er alles in
einem Briefe seinen Eltern mit. Nur das, was er selbst dabei empfunden
hatte, verschwieg er.

Er war nun wieder auf den Standpunkt gelangt, daß es doch am besten
sei, bei nächster Gelegenheit Basinis Entfernung aus dem Institute
durchzusetzen. Er vermochte sich gar nicht vorzustellen, daß seine
Eltern anders darüber denken könnten. Er erwartete von ihnen eine
strenge, angewiderte Beurteilung Basinis, eine Art, denselben mit den
Fingerspitzen wegzuschnellen wie ein unsauberes Insekt, das man in
der Nähe ihres Sohne nicht dulden dürfe.

Nichts von alledem stand in dem Briefe, den er als Antwort erhielt.
Seine Eltern hatten sich rechtschaffene Mühe gegeben und wie
vernünftige Leute alle Umstände erwogen, soweit sie sich eben nach
den abgerissenen, lückenhaften Mitteilungen jenes hastigen Briefes
eine Vorstellung davon machen konnten. Es folgte daraus, daß sie
die nachsichtigste und zurückhaltendste Beurteilung bevorzugten, um so
mehr als sie in der Darstellung ihres Sohnes möglicherweise mit
mancher aus jugendlicher Empörung hervorgegangenen Übertreibung zu
rechnen hatten. Sie billigten also den Entschluß, Basini Gelegenheit
zur Besserung zu geben, und meinten, daß man nicht gleich wegen
eines kleinen Fehltrittes ein Menschenschicksal aus seiner Bahn
stoßen dürfe. Um so mehr -- und das betonten sie wie billig ganz
besonders -- als man es hier noch nicht mit fertigen Menschen zu
tun habe, sondern erst mit weichen, in der Entwicklung begriffenen
Charakteren. Man müsse Basini gegenüber wohl für jeden Fall Ernst
und Strenge herauskehren, stets aber auch ihm mit Wohlwollen
entgegentreten und ihn zu bessern suchen.

Dies erhärteten sie durch eine ganze Reihe von Beispielen, die
Törleß wohlbekannt waren. Denn er erinnerte sich genau, daß viele in
den ersten Jahrgängen, wo es die Direktion noch liebte, drakonische
Sitten herauszukehren und dem Taschengelde enge Grenzen zog, sich oft
nicht enthalten konnten, Glücklichere von den gefräßigen Kleinen,
die sie alle miteinander nun einmal waren, um einen Teil ihres
Schinkenbrotes oder dergleichen zu betteln. Auch er selbst war nicht
immer frei davon geblieben, wenn er auch seine Scham dahinter
versteckte, daß er auf die boshafte, übelwollende Direktion schimpfte.
Und nicht nur den Jahren, sondern auch den sowohl ernsten als gütigen
Ermahnungen seiner Eltern dankte er es, daß er allmählig gelernt
hatte, solche Schwächen mit Stolz zu vermeiden.

Aber all das verfehlte heute seine Wirkung.

Er mußte ja einsehen, daß seine Eltern in vieler Beziehung recht
hatten, auch wußte er, daß es kaum möglich sei, so von fernher ganz
richtig zu urteilen; ihrem Briefe schien jedoch etwas viel Wichtigeres
zu fehlen.

Das war das Verständnis dafür, daß da etwas Unwiderrufliches
geschehen sei, etwas, das unter Menschen eines gewissen Kreises nie
geschehen dürfe. Das Staunen und die Betroffenheit fehlten. Sie
sprachen, als ob es eine gewohnte Sache wäre, die man mit Takt, aber
ohne viel Aufhebens erledigen müsse. Ein Makel, der so wenig schön,
aber so unausweichlich ist wie die tägliche Notdurft. Von einer
persönlicheren, beunruhigten Auffassung so wenig eine Spur wie bei
Beineberg und Reiting.

Törleß hätte sich auch dies gesagt sein lassen können. Statt dessen
zerriß er aber den Brief in kleine Stückchen und verbrannte ihn. Es war
zum erstenmal in seinem Leben, daß er sich eine solche Pietätlosigkeit
zuschulden kommen ließ.

In ihm war eine der beabsichtigten entgegengesetzte Wirkung ausgelöst
worden. Im Gegensatze zu der schlichten Auffassung, die man ihm
vortrug, war ihm mit einem Male wieder das Problematische, Fragwürdige
von Basinis Vergehen eingefallen. Er sagte sich kopfschüttelnd, daß
man darüber noch nachdenken müsse, obwohl er sich über das Warum keine
genaue Rechenschaft geben konnte ...

Am merkwürdigsten war es, wenn er mehr mit Träumen als mit Überlegungen
dem nachging. Dann erschien ihm Basini verständlich, alltäglich, mit
klaren Konturen, so wie ihn seine Eltern und seine Freunde sehen
mochten: und im nächsten Augenblicke verschwand er und kam wieder,
immer wieder, als eine kleine, ganz kleine Figur, die zeitweilig
vor einem tiefen, sehr tiefen Hintergrunde aufleuchtete .........

                   *       *       *       *       *

Da wurde Törleß einmal während der Nacht -- es war sehr spät und alle
schliefen schon -- wachgerüttelt.

An seinem Bette saß Beineberg. Das war so ungewöhnlich, daß er sofort
ahnte, es müsse sich um etwas Besonderes handeln.

»Steh auf. Aber mach keinen Lärm, damit uns niemand bemerkt; wir wollen
hinaufgehen, ich muß dir etwas erzählen.«

Törleß kleidete sich flüchtig an, nahm seinen Mantel um und schlüpfte
in die Hausschuhe ...

Oben stellte Beineberg mit besonderer Sorgfalt alle Hindernisse wieder
her, dann bereitete er Thee.

Törleß, welchem der Schlaf noch in den Gliedern lag, ließ sich von der
goldgelben, duftenden Wärme mit Behagen durchströmen. Er lehnte sich
in eine Ecke und machte sich klein; er erwartete eine Überraschung.

Endlich sagte Beineberg: »Reiting betrügt uns.«

Törleß fühlte sich gar nicht erstaunt; er nahm es wie etwas
Selbstverständliches auf, daß die Angelegenheit irgendeine solche
Fortsetzung finden mußte; ihm war fast, als hätte er nur darauf
gewartet. Ganz unwillkürlich sagte er: »Ich habe es mir gedacht!«

»So? Gedacht? Aber bemerkt wirst du wohl kaum etwas haben? Das würde
dir gar nicht ähnlich sehen.«

»Allerdings, mir ist nichts aufgefallen; ich habe mich auch weiter
nicht darum gekümmert.«

»Aber dafür habe ich gut achtgegeben; ich traute Reiting vom ersten
Tage an nicht. Du weißt doch, daß mir Basini mein Geld zurückgegeben
hat. Und wovon glaubst du? Aus eigenem? -- Nein.«

»Und du glaubst, daß Reiting seine Hand dabei im Spiele hat?«

»Gewiß.«

Im ersten Augenblicke dachte Törleß nichts anderes, als daß sich nun
auch Reiting in eine solche Sache verwickelt habe.

»Du glaubst also, daß Reiting ebenso wie Basini ...?«

»Wo denkst du hin! Reiting hat einfach von seinem eigenen Gelde das
Nötige gegeben, damit Basini seine Schuld bei mir ablösen könne.«

»Dafür sehe ich aber doch keinen rechten Grund.«

»Das konnte ich auch durch lange Zeit nicht. Jedenfalls wird aber
auch dir aufgefallen sein, daß sich Reiting von allem Anfang an so
kräftig für Basini einsetzte. Du hast ja damals ganz recht gehabt; es
wäre wirklich das natürlichste gewesen, wenn der Kerl hinausgeflogen
wäre. Aber ich habe damals absichtlich nicht für dich gestimmt, weil
ich mir dachte: ich muß doch sehen, was da alles noch mit im Spiele
ist. Ich weiß zwar wirklich nicht genau, ob er damals schon ganz
klare Absichten hatte oder nur zuwarten wollte, nachdem er Basinis ein
für allemal versichert war. Jedenfalls weiß ich, wie es heute steht.«

»Nun?«

»Warte, das ist nicht so rasch erzählt. Du kennst doch die Geschichte,
die vor vier Jahren im Institute stattgefunden hat?«

»Welche Geschichte?«

»Nun, die gewisse!«

»Nur beiläufig. Ich weiß bloß, daß es damals wegen irgend welcher
Schweinereien einen großen Skandal gegeben hat und daß eine ganze
Anzahl deswegen strafweise entlassen werden mußte.«

»Ja, das meine ich. Ich habe näheres darüber einmal auf Urlaub von
einem aus jener Klasse erfahren. Sie haben einen hübschen Burschen
unter sich gehabt, in den viele von ihnen verliebt waren. Das kennst du
ja, denn das kommt alle Jahre vor. Die aber haben damals die Sache
zu weit getrieben.«

»Wieso?«

»Nun, ... wie ...?! Frag doch nicht so dumm! Und dasselbe tut Reiting
mit Basini!«

Törleß verstand, worum es sich zwischen den beiden handelte, und er
fühlte in seiner Kehle ein Würgen, als ob Sand darinnen wäre.

»Das hätte ich nicht von Reiting gedacht.« Er wußte nichts Besseres
zu sagen. Beineberg zuckte die Achseln.

»Er glaubt uns betrügen zu können.«

»Ist er verliebt?«

»Gar keine Spur. So ein Narr ist er nicht. Es unterhält ihn, höchstens
reizt es ihn sinnlich.«

»Und Basini?«

»Der?... Ist dir nicht aufgefallen, wie frech er in der letzten Zeit
geworden ist? Von mir hat er sich kaum mehr etwas sagen lassen. Immer
hieß es nur Reiting und wieder Reiting -- als ob der sein persönlicher
Schutzheiliger wäre. Es ist besser, hat er sich wahrscheinlich
gedacht, von dem einen sich alles gefallen zu lassen als von jedem
etwas. Und Reiting wird ihm versprochen haben ihn zu schützen, wenn er
ihm in allem zu Willen ist. Aber sie sollen sich geirrt haben, und ich
werde es Basini noch austreiben!«

»Wie bist du darauf gekommen?«

»Ich bin ihnen einmal nachgegangen.«

»Wohin?«

»Da nebenan auf den Boden. Reiting hatte von mir den Schlüssel zum
andern Eingang. Ich bin dann hieher, habe vorsichtig das Loch
freigemacht und mich an sie herangeschlichen.«

In die dünne Zwischenwand, welche die Kammer vom Dachboden trennte,
war nämlich ein Durchlaß gebrochen, gerade so breit, daß sich ein
menschlicher Körper hindurchzwängen konnte. Er sollte im Falle einer
Überraschung als Notausgang dienen und war für gewöhnlich durch
eingeschobene Ziegel verschlossen.

Es war eine lange Pause eingetreten, in der man nur das Aufglimmen des
Tabaks vernahm.

Törleß vermochte nichts zu denken; er sah... Er sah hinter seinen
geschlossenen Augen wie mit einem Schlage ein tolles Wirbeln von
Vorgängen, .. Menschen; Menschen in einer grellen Beleuchtung, mit
hellen Lichtern und beweglichen, tief eingegrabenen Schatten;
Gesichter, ... ein Gesicht; ein Lächeln .. einen Augenaufschlag ..
ein Zittern der Haut; er sah Menschen in einer Weise, wie er sie noch
nie gesehen, noch nie gefühlt hatte. Aber er sah sie ohne zu sehen,
ohne Vorstellungen, ohne Bilder; so als ob nur seine Seele sie sähe;
sie waren so deutlich, daß er von ihrer Eindringlichkeit tausendfach
durchbohrt wurde, aber, als ob sie an einer Schwelle Halt machten,
die sie nicht überschreiten konnten, wichen sie zurück, sobald er
nach Worten suchte, um ihrer Herr zu werden.

Er mußte weiter fragen. Seine Stimme vibrierte. »Und ... hast du
gesehen?«

»Ja.«

»Und ... wie war Basini?«

Aber Beineberg schwieg und wieder hörte man nur das unruhige Knistern
der Zigaretten. Erst lange nachher begann Beineberg wieder zu sprechen.

»Ich habe mir die Sache hin und her überlegt und du weißt, daß ich
darin ganz besonders denke. Was zunächst Basini anlangt, meine ich, daß
um ihn in keinem Falle schade wäre. Sei es, daß wir ihn jetzt anzeigen
oder schlagen, oder ihn selbst rein des Vergnügens halber zu Tode
martern würden. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß so ein Mensch
in dem wundervollen Mechanismus der Welt irgend etwas bedeuten soll.
Er erscheint mir nur zufällig, außerhalb der Reihe geschaffen zu sein.
Das heißt -- irgend etwas muß ja auch er bedeuten, aber sicher nur
etwas so Unbestimmtes wie irgendein Wurm oder ein Stein am Wege, von
dem wir nicht wissen, ob wir an ihm vorübergehen oder ihn zertreten
sollen. Und das ist so gut wie nichts. Denn, wenn die Weltseele
will, daß einer ihrer Teile erhalten bleibe, so spricht sie sich
deutlicher aus. Sie sagt dann nein und schafft einen Widerstand, sie
läßt uns an dem Wurm vorübergehen und gibt dem Stein eine so große
Härte, daß wir ihn nicht ohne Werkzeug zerschlagen können. Denn
bevor wir solches holen, hat sie längst die Widerstände einer Menge
kleiner, zäher Bedenken eingeschoben, und überwinden wir diese, so
hatte die Sache eben von vorneherein andere Bedeutung.

Bei einem Menschen legt sie diese Härte in seinen Charakter, in sein
Bewußtsein als Mensch, in sein Verantwortlichkeitsgefühl, ein Teil
der Weltseele zu sein. Verliert nun ein Mensch dieses Bewußtsein, so
verliert er sich selbst. Hat aber ein Mensch sich selbst verloren und
sich aufgegeben, so hat er das Besondere, das Eigentliche verloren,
weswegen ihn die Natur als Mensch geschaffen hat. Und niemals kann man
so sicher sein als in diesem Falle, daß man es mit etwas Unnotwendigem
zu tun habe, mit einer leeren Form, mit etwas, das von der Weltseele
schon längst verlassen wurde.«

Törleß fühlte keinen Widerspruch. Er hörte auch gar nicht mit
Aufmerksamkeit zu. Er hatte bisher noch nie Veranlassung zu solchen
metaphysischen Gedankengängen gehabt, und hatte auch nie darüber
nachgedacht, wieso ein Mensch von Beinebergs Verstande auf derartiges
verfallen könne. Die ganze Frage war überhaupt noch nicht in den
Horizont seines Lebens getreten.

Demgemäß gab er sich auch gar keine Mühe, Beinebergs Ausführungen auf
ihren Sinn zu prüfen; er hörte nur halb auf sie hin.

Er verstand bloß nicht, wie man so breit und weit ausholen könne. In
ihm zitterte alles und die Umsicht, mit der Beineberg seine Gedanken
weiß Gott wo her holte, erschien ihm lächerlich, unangebracht, machte
ihn ungeduldig. Aber Beineberg fuhr gelassen fort. »Mit Reiting
jedoch steht die Sache ganz anders. Auch er hat sich durch das, was er
getan hat, in meine Hand gegeben, aber sein Schicksal ist mir gewiß
nicht so gleichgültig wie das Basinis. Du weißt, seine Mutter hat
kein großes Vermögen; wenn er aus dem Institute ausgeschlossen wird,
ist es daher für ihn mit allen Plänen zu Ende. Von hier aus kann er
es zu etwas bringen, sonst aber dürfte sich wohl wenig Gelegenheit
dazu finden. Und Reiting hat mich nie mögen .. verstehst du?.. er
hat mich gehaßt, .. hat mir früher zu schaden getrachtet, wo er nur
konnte, .. ich glaube, er würde sich heute noch freuen, wenn er mich
los werden könnte. Siehst du jetzt, was ich aus dem Besitz dieses
Geheimnisses alles machen kann?...«

Törleß erschrak. Aber so sonderbar, als ob das Schicksal Reitings ihn
selbst beträfe. Er blickte erschrocken auf Beineberg. Dieser hatte
die Augen bis auf einen kleinen Spalt geschlossen und erschien ihm wie
eine unheimliche, große, ruhig in ihrem Netze lauernde Spinne. Seine
letzten Worte klangen kalt und deutlich wie die Sätze eines Diktats in
Törleß' Ohren.

Er hatte das Vorangegangene nicht verfolgt, hatte nur gewußt: Beineberg
spricht jetzt wieder von seinen Ideen, die doch mit dem Gegebenen gar
nichts zu tun haben, ... und nun wußte er auf einmal nicht, wie es
gekommen war.

Das Gewebe, das doch irgendwo draußen im Abstrakten angeknüpft worden
war, wie er sich erinnerte, mußte sich mit fabelhafter Geschwindigkeit
plötzlich zusammengezogen haben. Denn mit einem Male war es nun
konkret, wirklich, lebendig, und ein Kopf zappelte darin, ... mit
zugeschnürtem Halse.

Er liebte Reiting durchaus nicht, aber er erinnerte sich jetzt
seiner liebenswürdigen, frechen, unbekümmerten Art, mit der er alle
Intrigen anfaßte, und Beineberg erschien ihm dagegen schändlich,
wie er ruhig und grinsend seine vielarmigen, grauen, abscheulichen
Gedankengespinste um jenen zusammenzog.

Unwillkürlich fuhr ihn Törleß an: »Du darfst es nicht gegen ihn
ausnützen.« Es mochte wohl auch sein steter, heimlicher Widerwille
gegen Beineberg mit im Spiele gewesen sein.

Aber Beineberg sagte von selbst, nach kurzem Besinnen: »Wozu auch?!
Um ihn wäre wirklich schade. Mir ist er von jetzt an ohnedies
ungefährlich und er ist doch zu viel wert, um ihn über eine solche
Dummheit stolpern zu lassen.« Damit war dieser Teil der Angelegenheit
erledigt. Aber Beineberg sprach weiter und wandte sich nun wieder
Basinis Schicksal zu.

»Meinst du noch immer, daß wir Basini anzeigen sollen?« Aber Törleß gab
keine Antwort. Er wollte Beineberg sprechen hören, dessen Worte klangen
ihm wie das Hallen von Schritten auf hohlem, untergrabenem Erdreich und
er wollte diesen Zustand auskosten.

Beineberg verfolgte seine Gedanken weiter. »Ich denke, wir behalten
ihn vorderhand für uns und strafen ihn selbst. Denn bestraft muß er
werden -- allein schon wegen seiner Anmaßung. Die vom Institute würden
ihn höchstens entlassen und seinem Onkel einen langen Brief dazu
schreiben; -- du weißt ja beiläufig, wie geschäftsmäßig das geht.
Eure Exzellenz, Ihr Neffe hat sich vergessen, ... irregeleitet ...
geben ihn Ihnen zurück ... hoffen, daß es Ihnen gelingen wird ...
Weg der Besserung ... einstweilen jedoch unter den anderen unmöglich
... usw. Hat denn so ein Fall ein Interesse oder einen Wert für sie?«

»Und was für einen Wert soll er für uns haben?«

»Was für einen Wert? Für dich vielleicht keinen, denn du wirst einmal
Hofrat werden oder Gedichte machen; -- du brauchst das schließlich
nicht, vielleicht hast du sogar Angst davor. Aber ich denke mir mein
Leben anders!«

Törleß horchte diesmal auf.

»Für mich hat Basini einen Wert -- einen sehr großen sogar. Denn
sieh -- du ließest ihn einfach laufen und würdest dich ganz damit
beruhigen, daß er ein schlechter Mensch war.« Törleß unterdrückte
ein Lächeln. »Damit bist du fertig, weil du kein Talent oder kein
Interesse hast, dich selbst an einem solchen Fall zu schulen. Ich
aber habe dieses Interesse. Wenn man meinen Weg vor sich hat, muß man
die Menschen ganz anders auffassen. Deswegen will ich mir Basini
erhalten, um an ihm zu lernen.«

»Wie willst du ihn aber bestrafen?«

Beineberg hielt einen Augenblick mit der Antwort aus, als überlegte er
noch die zu erwartende Wirkung. Dann sagte er vorsichtig und zögernd:
»Du irrst, wenn du glaubst, daß mir so sehr um das Strafen zu tun ist.
Freilich wird man es ja am Ende auch eine Strafe für ihn nennen können,
... aber, um nicht lange Worte zu machen, ich habe etwas anderes im
Sinn, ich will ihn ... nun sagen wir einmal ... quälen ...«

Törleß hütete sich ein Wort zu sagen. Er sah noch durchaus nicht klar,
aber er fühlte, daß dies alles so kam, wie es für ihn -- innerlich
-- kommen mußte. Beineberg, der nicht entnehmen konnte, wie seine Worte
gewirkt hatten, fuhr fort: »... Du brauchst nicht zu erschrecken,
es ist nicht so arg. Denn zunächst auf Basini ist doch, wie ich dir
ausführte, keine Rücksicht zu nehmen. Die Entscheidung, ob wir ihn
quälen oder etwa schonen sollen, ist nur in unserem Bedürfnisse nach
dem einen oder dem anderen zu suchen. In inneren Gründen. Hast du
solche? Das mit Moral, Gesellschaft und so weiter, was du damals
vorgebracht hast, kann natürlich nicht zählen; du hast hoffentlich
selbst nie daran geglaubt. Du bist also vermutlich indifferent. Aber
immerhin kannst du dich ja noch von der ganzen Sache zurückziehen,
falls du nichts aufs Spiel setzen willst.

Mein Weg wird jedoch nicht zurück oder vorbei, sondern mitten
hindurch führen. Das muß so sein. Auch Reiting wird nicht von der
Sache lassen, denn auch für ihn hat es einen besonderen Wert, einen
Menschen ganz in seiner Hand zu haben und sich üben zu können, ihn
wie ein Werkzeug zu behandeln. Er will herrschen und würde _dir_ es
gerade so machen wie Basini, wenn die Gelegenheit zufällig dich
träfe. Für mich handelt es sich jedoch noch um mehr. Fast um eine
Verpflichtung gegen mich selbst; wie soll ich dir nur diesen
Unterschied zwischen uns klar machen? Du weißt, wie sehr Reiting
Napoleon verehrt: halte nun dagegen, daß der Mensch, welcher mir vor
allen gefällt, mehr irgendeinem Philosophen und indischen Heiligen
ähnelt. Reiting würde Basini opfern und nichts als Interesse dabei
empfinden. Er würde ihn moralisch zerschneiden, um zu erfahren,
worauf man sich bei solchen Unternehmungen gefaßt zu machen hat.
Und wie gesagt, dich oder mich gerade so gut wie Basini und ohne
daß es ihm im geringsten nahe ginge. Ich dagegen habe gerade so
gut wie du diese gewisse Empfindung, daß Basini schließlich und
endlich doch auch ein Mensch sei. Auch in mir wird etwas durch eine
begangene Grausamkeit verletzt. Aber gerade darum handelt es sich!
Förmlich um ein Opfer! Siehst du, auch ich bin an zwei Fäden geknüpft.
An diesen einen, unbestimmten, der mich in Widerspruch zu meiner
klaren Überzeugung an eine mitleidige Tatlosigkeit bindet, aber auch
an einen zweiten, der zu meiner Seele hinläuft, zu innersten
Erkenntnissen und mich an den Kosmos fesselt. Solche Menschen wie
Basini, sagte ich dir schon früher, bedeuten nichts -- eine leere,
zufällige Form. Die wahren Menschen sind nur die, welche in sich
selbst eindringen können, kosmische Menschen, welche imstande sind,
sich bis zu ihrem Zusammenhange mit dem großen Weltprozesse zu
versenken. Diese verrichten Wunder mit geschlossenen Augen, weil
sie die gesamte Kraft der Welt zu gebrauchen verstehen, die in ihnen
gerade so ist wie außer ihnen. Aber alle Menschen, die bis dahin dem
zweiten Faden folgten, mußten den ersten vorher zerreißen. Ich habe von
schauerlichen Bußopfern erleuchteter Mönche gelesen, und die Mittel
der indischen Heiligen sind ja auch dir nicht ganz unbekannt. Alle
grausamen Dinge, die dabei geschehen, haben nur den Zweck, die
elenden nach außen gerichteten Begierden abzutöten, welche, ob sie
nun Eitelkeit oder Hunger, Freude oder Mitleid seien, nur von dem Feuer
abziehen, das jeder in sich zu erwecken vermag.

Reiting kennt nur das außen, ich folge dem zweiten Faden. Jetzt
hat er in den Augen aller einen Vorsprung, denn mein Weg ist
langsamer und unsicherer. Aber mit einem Schlage kann ich ihn wie
einen Wurm überholen. Siehst du, man behauptet, die Welt bestünde
aus mechanischen Gesetzen, an denen sich nicht rütteln lasse. Das
ist ganz falsch, das steht nur in den Schulbüchern! Die Außenwelt
ist wohl hartnäckig, und ihre sogenannten Gesetze lassen sich bis zu
einem gewissen Grade nicht beeinflussen, aber es hat doch Menschen
gegeben, denen das gelang. Das steht in heiligen, vielgeprüften
Büchern, von denen die meisten nur nichts wissen. Von dorther weiß
ich, daß es Menschen gegeben hat, die Steine und Luft und Wasser durch
eine bloße Regung ihres Willens bewegen konnten und vor derem
Gebete keine Kraft der Erde fest genug war. Aber auch das sind erst die
äußerlichen Triumphe des Geistes. Denn, wem es _ganz_ gelingt, seine
Seele zu schauen, für den löst sich sein körperliches Leben, das nur
ein zufälliges ist; es steht in den Büchern, daß solche direkt in
ein höheres Reich der Seelen eingingen.«

Beineberg sprach völlig ernsthaft, mit verhaltener Erregung. Törleß
hielt noch immer fast ununterbrochen die Augen geschlossen; er
fühlte Beinebergs Atem zu sich herüberdringen und sog ihn wie ein
beklemmendes Betäubungsmittel ein. Indessen beendete Beineberg
seine Rede:

»Du kannst also sehen, worum es sich mir handelt. Was mir einredet,
Basini laufen zu lassen, ist von niederer, äußerlicher Herkunft. Du
magst dem folgen. Für mich ist es ein Vorurteil, von dem ich los muß,
wie von allem, das von dem Wege zu meinem Innersten ablenkt.

Gerade daß es mir schwer fällt, Basini zu quälen -- ich meine, ihn
zu demütigen, herabzudrücken, von mir zu entfernen -- ist gut. Es
erfordert ein Opfer. Es wird reinigend wirken. Ich bin mir schuldig,
täglich an ihm zu lernen, daß das bloße Menschsein gar nichts bedeutet
-- eine bloße äffende, äußerliche Ähnlichkeit.«

Törleß verstand nicht alles. Er hatte nur wieder die Vorstellung,
daß sich eine unsichtbare Schlinge plötzlich zu einem greifbaren,
tödlichen Knoten zusammengezogen habe. Beinebergs letzte Worte
klangen in ihm nach: »eine bloße äußerliche, äffende Ähnlichkeit,«
wiederholte er sich. Das schien auch auf sein Verhältnis zu Basini
zu passen. Bestand nicht der sonderbare Reiz, den dieser auf ihn
ausübte, in solchen Gesichten? Einfach darin, daß er sich nicht in ihn
hineindenken konnte, und ihn daher stets wie in unbestimmten Bildern
empfand? War nicht, als er sich vorhin Basini vorgestellt hatte,
hinter dessen Gesichte ein zweites, verschwimmendes gestanden? Von
einer greifbaren Ähnlichkeit, die sich doch an nichts anknüpfen ließ?

So kam es, daß Törleß, anstatt daß er über die ganz sonderbaren
Absichten Beinebergs nachgedacht hätte, von den neuen, ungewöhnlichen
Eindrücken halb betäubt, versuchte, über sich selbst klar zu werden.
Er erinnerte sich an den Nachmittag, bevor er von Basinis Vergehen
erfahren hatte. Da waren diese Gesichte eigentlich auch schon
dagewesen. Es hatte sich immer etwas gefunden, womit seine Gedanken
nicht fertig werden konnten. Etwas, das so einfach und so fremd
erschien. Er hatte Bilder gesehen, die doch keine Bilder waren.
Vor jenen Hütten, ja selbst als er mit Beineberg in der Konditorei saß.

Es waren Ähnlichkeiten und unüberbrückbare Unähnlichkeiten zugleich.
Und dieses Spiel, diese geheime, ganz persönliche Perspektive hatte
ihn erregt.

Und nun riß ein Mensch dies an sich. All das war nun in einem Menschen
verkörpert, wirklich geworden. Dadurch ging die ganze Sonderbarkeit
auf diesen Menschen über. Dadurch rückte sie aus der Phantasie ins
Leben und wurde bedrohlich ...

Die Aufregungen hatten Törleß ermüdet, seine Gedanken ketteten sich
nur mehr lose aneinander.

Ihm blieb nur die Erinnerung, daß er diesen Basini nicht loslassen
dürfe, daß dieser bestimmt sei, auch für ihn eine wichtige und bereits
unklar erkannte Rolle zu spielen.

Dazwischen schüttelte er verwundert den Kopf, wenn er an Beinebergs
Worte dachte. Auch der ...?

Er kann doch nicht dasselbe suchen, wie ich, und doch fand gerade er
die richtige Bezeichnung dafür ...

Törleß träumte mehr als er dachte. Er war nicht mehr imstande, sein
psychologisches Problem von Beinebergs Phantastereien zu unterscheiden.
Er hatte schließlich nur das eine Gefühl, daß sich die riesige Schlinge
immer fester um alles zusammenziehe.

Das Gespräch fand keine Fortsetzung. Sie löschten das Licht aus und
schlichen vorsichtig in ihren Schlafsaal zurück.

                   *       *       *       *       *

Die nächsten Tage brachten keine Entscheidung. Es gab in der Schule
viel zu tun, Reiting wich vorsichtig jedem Alleinsein aus und auch
Beineberg ging einer erneuten Aussprache aus dem Wege.

So geschah es, daß sich während dieser Tage, wie ein in seinem Lauf
gehemmter Strom, das Geschehene tiefer in Törleß eingrub und seinen
Gedanken eine unwiderrufliche Richtung gab.

Mit der Absicht, Basini zu entfernen, war es dadurch endgültig
vorüber. Törleß fühlte sich jetzt zum ersten Male voll auf sich selbst
konzentriert und vermochte an gar nichts anderes mehr zu denken. Auch
Božena war ihm gleichgültig geworden; was er gelegentlich ihrer
empfunden hatte, wurde ihm zu einer phantastischen Erinnerung, an
deren Stelle nun der Ernst getreten war.

Freilich schien dieser Ernst nicht weniger phantastisch zu sein.

                   *       *       *       *       *

Von seinen Gedanken beschäftigt, war Törleß allein im Parke spazieren
gegangen. Es war um die Mittagszeit und die Spätherbstsonne legte
blasse Erinnerungen über Wiesen und Wege. Da Törleß in seiner Unruhe
keine Lust zu weiterem Spaziergange hatte, umschritt er bloß das
Gebäude und warf sich am Fuße der fast fensterlosen Seitenmauer in das
fahle, raschelnde Gras. Über ihm spannte sich der Himmel, ganz in jenem
verblichenen, leidenden Blau, das dem Herbste eigen ist, und kleine,
weiße, geballte Wölkchen hasteten darüber hin.

Törleß lag lang ausgestreckt am Rücken und blinzelte unbestimmt
träumend zwischen den sich entblätternden Kronen zweier vor ihm
stehenden Bäume hindurch.

Er dachte an Beineberg; wie sonderbar doch dieser Mensch war! Seine
Worte würden zu einem zerbröckelnden indischen Tempel gehören, in die
Gesellschaft unheimlicher Götzenbilder und zauberkundiger Schlangen in
tiefen Verstecken; was sollten sie aber am Tage, im Konvikte, im
modernen Europa? Und doch schienen diese Worte, nachdem sie sich ewig
lange, wie ein Weg ohne Ende und Übersicht in tausend Windungen
hingezogen hatten, plötzlich vor einem greifbaren Ziele gestanden zu
sein ...

Und plötzlich bemerkte er -- und es war ihm, als geschähe dies zum
ersten Male -- wie hoch eigentlich der Himmel sei.

Es war wie ein Erschrecken. Gerade über ihm leuchtete ein kleines,
blaues, unsagbar tiefes Loch zwischen den Wolken.

Ihm war, als müßte man da mit einer langen, langen Leiter hineinsteigen
können. Aber je weiter er hineindrang und sich mit den Augen hob,
desto tiefer zog sich der blaue, leuchtende Grund zurück. Und es war
doch, als müßte man ihn einmal erreichen und mit den Blicken ihn
aufhalten können. Dieser Wunsch wurde quälend heftig.

Es war, als ob die aufs äußerste gespannte Sehkraft Blicke wie Pfeile
zwischen die Wolken hineinschleuderte und als ob sie, je weiter sie
auch zielte, immer um ein weniges zu kurz träfe.

Darüber dachte nun Törleß nach; er bemühte sich möglichst ruhig und
vernünftig zu bleiben. »Freilich gibt es kein Ende,« sagte er sich, »es
geht immer weiter, fortwährend weiter, ins Unendliche.« Er hielt die
Augen auf den Himmel gerichtet und sagte sich dies vor, als gälte es
die Kraft einer Beschwörungsformel zu erproben. Aber erfolglos; die
Worte sagten nichts, oder vielmehr sie sagten etwas ganz anderes,
so als ob sie zwar von dem gleichen Gegenstande, aber von einer
anderen, fremden, gleichgültigen Seite desselben redeten.

»Das Unendliche!« Törleß kannte das Wort aus dem Mathematikunterrichte.
Er hatte sich nie etwas Besonderes darunter vorgestellt. Es kehrte
immer wieder; irgend jemand hatte es einst erfunden und seither war es
möglich, so sicher damit zu rechnen, wie nur mit irgend etwas Festem.
Es war, was es gerade in der Rechnung galt; darüber hinaus hatte Törleß
nie etwas gesucht.

Und nun durchzuckte es ihn wie mit einem Schlage, daß an diesem Worte
etwas furchtbar Beunruhigendes hafte. Es kam ihm vor wie ein gezähmter
Begriff, mit dem er täglich seine kleinen Kunststückchen gemacht
hatte, und der nun plötzlich entfesselt worden war. Etwas über den
Verstand Gehendes, Wildes, Vernichtendes schien durch die Arbeit
irgendwelcher Erfinder hineingeschläfert worden zu sein und war nun
plötzlich aufgewacht und wieder furchtbar geworden. Da, in diesem
Himmel, stand es nun lebendig über ihm und drohte und höhnte.

Endlich schloß er die Augen, weil ihn dieser Anblick so sehr quälte.

                   *       *       *       *       *

Als er bald darauf durch einen Windstoß, der durch das welke Gras
raschelte, wieder geweckt wurde, spürte er seinen Körper kaum und von
den Füßen herauf strömte eine angenehme Kühle, die seine Glieder in
einem Zustand süßer Trägheit festhielt. In sein früheres Erschrecken
hatte sich nun etwas Mildes und Müdes gemischt. Noch immer fühlte er
den Himmel riesig und schweigend auf sich herunterstarren, aber er
erinnerte sich nun, wie oft er schon vordem einen solchen Eindruck
empfangen hatte, und wie zwischen Wachen und Träumen ging er alle diese
Erinnerungen durch und fühlte sich in ihre Beziehungen eingesponnen.

Da war zunächst jene Kindheitserinnerung, in der die Bäume so ernst und
schweigend standen wie verzauberte Menschen. Schon damals mußte er es
empfunden haben, was später immer wieder kam. Selbst jene Gedanken
bei Božena hatten etwas davon an sich gehabt, etwas Besonderes,
etwas Ahnungsvolles, das mehr war als sie besagten. Und jener
Augenblick der Stille im Garten, vor den Fenstern der Konditorei,
bevor sich die dunklen Schleier der Sinnlichkeit niedersenkten, war so
gewesen. Und Beineberg und Reiting waren oft während des Bruchteiles
eines Gedankens zu etwas Fremdem, Unwirklichem geworden; und endlich
Basini? Die Vorstellung dessen, was mit ihm geschah, hatte Törleß
völlig entzweigerissen; sie war bald vernünftig und alltäglich, bald
von jenem bilderdurchzuckten Schweigen, das allen diesen Eindrücken
gemeinsam war, das nach und nach in Törleß' Wahrnehmung gesickert
war und nun mit einem Male beanspruchte, als etwas Wirkliches,
Lebendiges behandelt zu werden; genau so wie vorhin die Vorstellung der
Unendlichkeit.

Törleß fühlte nun, daß es ihn von allen Seiten umschloß. Wie ferne,
dunkle Kräfte hatte es wohl schon seit jeher gedroht, aber er war
instinktiv davor zurückgewichen und hatte es nur zeitweilig mit einem
scheuen Blick gestreift. Nun aber hatte ein Zufall, ein Ereignis seine
Aufmerksamkeit verschärft und darauf gerichtet, und wie auf ein Zeichen
brach es nun von allen Seiten herein; eine ungeheure Verwirrung mit
sich reißend, die jeder Augenblick aufs neue weiter breitete.

Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als
etwas Doppelsinniges zu empfinden. Als etwas, das durch die Kraft
irgendwelcher Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt
war, und als etwas ganz Fremdes, das jeden Augenblick sich davon
loszureißen drohte.

Gewiß: es gibt für alles eine einfache, natürliche Erklärung, und
auch Törleß wußte sie, aber zu seinem furchtsamen Erstaunen schien sie
nur eine ganz äußere Hülle fortzureißen, ohne das Innere bloßzulegen,
das Törleß wie mit unnatürlich gewordenen Augen stets noch als zweites
dahinter schimmern sah.

So lag Törleß und war ganz eingesponnen von Erinnerungen, aus denen
wie fremde Blüten seltsame Gedanken wuchsen. Jene Augenblicke, die
keiner vergißt, Situationen, wo der Zusammenhang versagt, der sonst
unser Leben sich lückenlos in unserem Verstande abspiegeln läßt, als
liefen sie parallel und mit gleicher Geschwindigkeit nebeneinander
her -- schlossen sich verwirrend eng aneinander.

Die Erinnerung an das so furchtbar stille, farbentraurige Schweigen
mancher Abende wechselte unvermittelt mit der heißen zitternden Unruhe
eines Sommermittags, die einmal seine Seele glühend, wie mit den
zuckenden Füßen eines huschenden Schwarms schillernder Eidechsen
überlaufen hatte.

Dann fiel ihm plötzlich ein Lächeln jenes kleinen Fürsten ein -- ein
Blick -- eine Bewegung -- damals, als sie innerlich miteinander fertig
wurden -- durch die jener Mensch sich mit einem -- sanften -- Mal aus
allen Beziehungen löste, die Törleß um ihn gesponnen hatte, und in
eine neue, fremde Weite hineinschritt, die sich -- gleichsam in das
Leben einer unbeschreiblichen Sekunde konzentriert -- unversehens
aufgetan hatte. Dann kamen wieder Erinnerungen aus dem Walde --
zwischen den Feldern. Dann ein schweigsames Bild in einem dunkelnden
Zimmer zu Hause, das ihn später an seinen verlorenen Freund plötzlich
erinnert hatte. Worte eines Gedichtes fielen ihm ein ...

Und es gibt auch sonst Dinge, wo zwischen Erleben und Erfassen diese
Unvergleichlichkeit herrscht. Immer aber ist es so, daß das, was wir in
einem Augenblick ungeteilt und ohne Fragen erleben, unverständlich und
verwirrt wird, wenn wir es mit den Ketten der Gedanken zu unserem
bleibenden Besitze fesseln wollen. Und was groß und menschenfremd
aussieht, solange unsere Worte von ferne danach langen, wird einfach
und verliert das Beunruhigende, sobald es in den Tatkreis unseres
Lebens eintritt.

                   *       *       *       *       *

Und so hatten alle diese Erinnerungen auf einmal dasselbe Geheimnis
gemeinsam. Als ob sie zusammengehörten, standen sie alle zum Greifen
deutlich vor ihm.

Sie waren einstens von einem dunklen Gefühl begleitet gewesen, das er
wenig beachtet hatte.

Gerade um dieses bemühte er sich jetzt. Ihm fiel ein, daß er
einstens, als er mit seinem Vater vor einer jener Landschaften
stand, unvermittelt gerufen hatte: o es ist schön -- und verlegen
wurde, als sich sein Vater freute. Denn er hätte ebensogut sagen
mögen: es ist schrecklich traurig. Es war ein Versagen der Worte, das
ihn da quälte, ein halbes Bewußtsein, daß die Worte nur zufällige
Ausflüchte für das Empfundene waren.

Und heute erinnerte er sich des Bildes, erinnerte sich der Worte und
deutlich jenes Gefühles zu lügen, ohne zu wissen, wieso. Sein Auge ging
in der Erinnerung von neuem alles durch. Aber immer wieder kehrte es
ohne Erlösung zurück. Ein Lächeln des Entzückens über den Reichtum der
Einfälle, das er noch immer wie zerstreut festhielt, bekam langsam
einen kaum merklichen schmerzhaften Zug ...

Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange,
einem Vergleich zu suchen -- zwischen sich und dem, was wortlos vor
seinem Geiste stand.

Aber so oft er sich bei einem Gedanken beruhigt hatte, war wieder
dieser unverständliche Einspruch da: Du lügst. Es war, als ob er eine
unaufhörliche Division durchführen müßte, bei der immer wieder ein
hartnäckiger Rest heraussprang, oder als ob er sich fiebernde Finger
wundbemühte, um einen endlosen Knoten zu lösen.

Und endlich ließ er nach. Es schloß sich eng um ihn und die
Erinnerungen wuchsen in unnatürlicher Verzerrung.

Er hatte die Augen wieder auf den Himmel gerichtet. Als könnte er
ihm vielleicht noch durch einen Zufall sein Geheimnis entreißen und
an ihm erraten, was ihn allerorten verwirrte. Aber er wurde müde,
und das Gefühl einer tiefen Einsamkeit schloß sich langsam über ihm
zusammen. Der Himmel schwieg. Und Törleß fühlte, daß er unter diesem
unbewegten, stummen Gewölbe ganz allein sei, er fühlte sich wie ein
kleines lebendes Pünktchen unter dieser riesigen, durchsichtigen Leiche.

Aber es schreckte ihn kaum mehr. Wie ein alter, längst vertrauter
Schmerz hatte es nun auch das letzte Glied ergriffen.

Ihm war, als ob das Licht einen milchigen Schimmer angenommen hätte
und wie ein bleicher kalter Nebel vor seinen Augen tanzte.

Langsam und vorsichtig wandte er den Kopf und sah umher, ob sich denn
wirklich alles verändert habe. Da streifte sein Blick von ungefähr
die graue, fensterlose Mauer, die hinter seinem Haupte stand. Sie
schien sich über ihn gebeugt zu haben und ihn schweigend anzusehen.
Von Zeit zu Zeit kam ein Rieseln herunter, und ein unheimliches Leben
erwachte in der Wand.

So hatte er es oft in dem Versteck belauscht, wenn Beineberg und
Reiting ihre phantastische Welt entrollten, und er hatte sich
darüber gefreut wie über die seltsame Begleitmusik zu einem grotesken
Schauspiel.

Nun aber schien der helle Tag selbst zu einem unergründlichen Versteck
geworden zu sein und das lebendige Schweigen umstand Törleß von allen
Seiten.

Er vermochte nicht den Kopf abzuwenden. Neben ihm, in einem feuchten,
düsteren Winkel wucherte Huflattich und spreitete seine breiten Blätter
zu phantastischen Verstecken den Schnecken und Würmern.

Törleß hörte das Schlagen seines Herzens. Dann kam wieder ein leises,
flüsterndes, versickerndes Rieseln ... Und diese Geräusche waren das
einzig Lebendige in einer zeitlosen schweigenden Welt ................

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Tage stand Beineberg mit Reiting, als Törleß zu ihnen trat.

»Ich habe schon mit Reiting gesprochen«, sagte Beineberg, »und alles
vereinbart. Du interessierst dich ja doch nicht recht für solche
Sachen.«

Törleß fühlte etwas wie Zorn und Eifersucht über diese plötzliche
Wendung in sich aufsteigen, wußte aber doch nicht, ob er der
nächtlichen Unterredung vor Reiting erwähnen solle. »Nun, ihr
hättet mich wenigstens dazu rufen können, da ich nun einmal gerade
so gut wie ihr an der Sache beteiligt bin«, meinte er.

»Hätten wir auch getan, lieber Törleß,« beeilte sich Reiting, dem
offenbar diesmal daran lag, keine unnötigen Schwierigkeiten zu
haben, »aber du warst gerade nicht zu finden und wir rechneten auf
deine Zustimmung. Was sagst du übrigens zu Basini?« (Kein Wort der
Entschuldigung, so als ob sich sein eigenes Verhalten von selbst
verstünde.)

»Was ich dazu sage? Nun er ist ein gemeiner Mensch«, antwortete Törleß
verlegen.

»Nicht wahr? Sehr gemein.«

»Aber du läßt dich auch in schöne Dinge ein!« Und Törleß lächelte etwas
erzwungen, denn er schämte sich, daß er Reiting nicht heftiger zürne.

»Ich?« Reiting zuckte mit den Schultern, »was ist weiter dabei? Man
muß alles mitgemacht haben und wenn er nun einmal so dumm und so
niederträchtig ist ....«

»Hast du seither schon mit ihm gesprochen?« mischte sich nun Beineberg
ein.

»Ja, er war gestern am Abend bei mir und bat mich um Geld, da er wieder
Schulden hat, die er nicht zahlen kann.«

»Hast du es ihm schon gegeben?«

»Nein, noch nicht.«

»Das ist sehr gut,« meinte Beineberg, »da haben wir ja gleich die
gesuchte Gelegenheit, ihn zu packen. Du könntest ihn für heute abend
irgendwohin bestellen.«

»Wohin? In die Kammer?«

»Ich denke nein, denn von der hat er vorderhand noch nichts zu wissen.
Aber befiehl ihm, auf den Boden zu kommen, wo du damals mit ihm warst.«

»Für wieviel Uhr?«

»Sagen wir ... elf.«

»Gut. -- Willst du noch etwas spazieren gehen?«

»Ja. Törleß wird wohl noch zu tun haben, was?«

Törleß hatte zwar nichts mehr zu arbeiten, aber er fühlte, daß die
beiden noch etwas miteinander gemein hatten, das sie ihm verheimlichen
wollten. Er ärgerte sich über seine Steifheit, die ihn abhielt, sich
dazwischen zu drängen.

So sah er ihnen eifersüchtig nach und stellte sich alles mögliche vor,
was sie vielleicht heimlich verabreden könnten.

Dabei fiel ihm auf, welche Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit in dem
aufrechten, biegsamen Gange Reitings lag; -- gerade so wie in seinen
Worten. Und dem entgegen versuchte er sich ihn vorzustellen, wie er an
jenem Abende gewesen sein mußte; das Innerliche, Seelische davon. Das
mußte wie ein langes, langsames Sinken zweier ineinander verbissener
Seelen gewesen sein und dann eine Tiefe wie in einem unterirdischen
Reich; -- dazwischen ein Augenblick, in dem die Geräusche der Welt,
oben, weit oben, lautlos wurden und verlöschten.

Kann denn ein Mensch nach etwas derartigem wieder so vergnügt und
leicht sein? Sicher bedeutete es ihm nicht soviel. Törleß hätte ihn
so gerne gefragt. Und statt dessen hatte er ihn nun in einer kindischen
Scheu diesem spinnenhaften Beineberg überlassen!

                   *       *       *       *       *

Um dreiviertel elf Uhr sah Törleß, daß Beineberg und Reiting aus ihren
Betten schlüpften und zog sich gleichfalls an.

»Pst! -- so warte doch. Das fällt ja auf, wenn wir alle drei zugleich
weggehen.«

Törleß versteckte sich wieder unter seiner Decke.

Auf dem Gange vereinigten sie sich dann und stiegen mit der gewohnten
Vorsicht den Bodenaufgang hinan.

»Wo ist Basini?« fragte Törleß.

»Er kommt von der anderen Seite; Reiting hat ihm den Schlüssel dazu
gegeben.«

Sie blieben die ganze Zeit über im Dunkeln. Erst oben, vor der großen,
eisernen Türe, zündete Beineberg seine kleine Blendlaterne an.

Das Schloß leistete Widerstand. Es saß durch eine jahrelange Ruhe fest
und wollte dem Nachschlüssel nicht gehorchen. Endlich schlug es mit
einem harten Laut zurück; der schwere Flügel rieb widerstrebend im
Roste der Angeln und gab zögernd nach.

Aus dem Bodenraume schlug eine warme, abgestandene Luft heraus, wie
die kleiner Treibhäuser.

Beineberg schloß die Türe wieder zu.

Sie stiegen die kleine hölzerne Treppe hinab und kauerten sich neben
einem mächtigen Querbalken nieder.

Zu ihrer Seite standen riesige Wasserbottiche, welche bei dem Ausbruche
eines Brandes den Löscharbeiten dienen sollten. Das Wasser darin war
offenbar schon lange nicht erneuert worden und verbreitete einen
süßlichen Geruch.

Überhaupt war die ganze Umgebung äußerst beklemmend: Die Hitze unter
dem Dach, die schlechte Luft und das Gewirre der mächtigen Balken, die
teils nach oben zu sich im Dunkel verloren, teils in einem gespenstigen
Netzwerk am Boden hinkrochen.

Beineberg blendete die Laterne ab und sie saßen, ohne ein Wort zu
reden, regungslos in der Finsternis -- durch lange Minuten.

Da knarrte am entgegengesetzten Ende im Dunkeln die Tür. Leise und
zögernd. Das war ein Geräusch, welches das Herz bis zum Halse hinauf
klopfen machte, wie der erste Laut der sich nähernden Beute.

Es folgten einige unsichere Schritte; das Anschlagen eines Fußes gegen
erdröhnendes Holz; ein mattes Geräusch, wie von dem Aufschlagen eines
Körpers ... Stille ... Dann wieder zaghafte Schritte ... Warten ...
Ein leiser menschlicher Laut ... »Reiting?«

Da zog Beineberg die Kappe von der Blendlaterne und warf einen breiten
Strahl gegen den Ort, woher die Stimme kam.

Einige mächtige Balken leuchteten mit scharfen Schatten auf, weiterhin
sah man nichts als einen Kegel tanzenden Staubes.

Aber die Schritte wurden bestimmter und kamen näher.

Da schlug -- ganz nahe -- wieder ein Fuß gegen das Holz und im nächsten
Augenblicke tauchte in der breiten Basis des Lichtkegels das -- in der
zweifelhaften Beleuchtung aschfahle -- Gesicht Basinis auf.

                   *       *       *       *       *

Basini lächelte. Lieblich, süßlich. Starr festgehalten, wie das Lächeln
eines Bildes, hob es sich aus dem Rahmen des Lichtes heraus.

Törleß saß an seinen Balken gepreßt und fühlte das Zittern seiner
Augenmuskeln.

Nun zählte Beineberg die Schandtaten Basinis auf; gleichmäßig, mit
heiseren Worten.

Dann die Frage: »Du schämst dich also gar nicht?« Dann ein Blick
auf Reiting, der zu sagen schien: »Nun ist es wohl schon an der Zeit,
daß du mir hilfst.« Und in dem Augenblicke gab ihm Reiting einen
Faustschlag ins Gesicht, so daß er nach rückwärts taumelte, über
einen Balken stolperte, stürzte. Beineberg und Reiting sprangen ihm
nach.

Die Laterne war umgekippt und ihr Licht floß verständnislos und träge
zu Törleß' Füßen über den Boden hin ...

Törleß unterschied aus den Geräuschen, daß sie Basini die Kleider
vom Leibe zogen und ihn mit etwas Dünnem, Geschmeidigem peitschten.
Sie hatten dies alles offenbar schon vorbereitet gehabt. Er hörte das
Wimmern und die halblauten Klagerufe Basinis, der unausgesetzt um
Schonung flehte; schließlich vernahm er nur noch ein Stöhnen, wie ein
unterdrücktes Geheul, und dazwischen halblaute Schimpfworte und die
heißen leidenschaftlichen Atemstöße Beinebergs.

Er hatte sich nicht vom Platze gerührt. Gleich anfangs hatte ihn wohl
eine viehische Lust mit hinzuspringen und zuzuschlagen gepackt, aber
das Gefühl, daß er zu spät kommen und überflüssig sein würde, hielt ihn
zurück. Über seinen Gliedern lag mit schwerer Hand eine Lähmung.

Scheinbar gleichgültig sah er vor sich hin zu Boden. Er spannte
sein Gehör nicht an, um den Geräuschen zu folgen, und er fühlte sein
Herz nicht rascher schlagen als sonst. Mit den Augen folgte er dem
Lichte, das sich zu seinen Füßen in einer Lache ergoß. Staubflocken
leuchteten auf und ein kleines häßliches Spinnengewebe. Weiterhin
sickerte der Schein in die Fugen zwischen den Balken und erstickte in
einem staubigen, schmutzigen Dämmern.

Törleß wäre auch eine Stunde lang so sitzen geblieben, ohne es zu
fühlen. Er dachte an nichts und war doch innerlich vollauf beschäftigt.
Dabei beobachtete er sich selbst. Aber so, als ob er eigentlich ins
Leere sähe und sich selbst nur wie in einem undeutlichen Schimmer von
der Seite her erfaßte. Nun rückte aus diesem Unklaren -- von der
Seite her -- langsam, aber immer sichtlicher ein Verlangen ins
deutliche Bewußtsein.

Irgend etwas ließ Törleß darüber lächeln. Dann war wieder das Verlangen
stärker. Es zog ihn von seinem Sitze hinunter -- auf die Knie; auf
den Boden. Es trieb ihn, seinen Leib gegen die Dielen zu pressen;
er fühlte, wie seine Augen groß werden würden wie die eines Fisches,
er fühlte durch den nackten Leib hindurch sein Herz gegen das Holz
schlagen.

Nun war wirklich eine mächtige Aufregung in Törleß und er mußte sich
an seinem Balken festhalten, um sich gegen den Schwindel zu sichern,
der ihn hinabzog.

Auf seiner Stirne standen Schweißperlen und er fragte sich ängstlich,
was dies alles zu bedeuten habe?

Aus seiner Gleichgültigkeit aufgeschreckt, horchte er nun auch wieder
durch das Dunkel zu den dreien hinüber.

Es war dort still geworden; nur Basini klagte leise vor sich hin,
während er nach seinen Kleidern tastete.

Törleß fühlte sich durch diese klagenden Laute angenehm berührt. Wie
mit Spinnenfüßen lief ihm ein Schauer den Rücken hinauf und hinunter;
dann saß es zwischen den Schulterblättern fest und zog mit feinen
Krallen seine Kopfhaut nach hinten. Zu seinem Befremden erkannte
Törleß, daß er sich in einem Zustande geschlechtlicher Erregung befand.
Er dachte zurück und ohne sich zu erinnern, wann dieser eingetreten
sei, wußte er doch, daß er schon das eigentümliche Verlangen sich
gegen den Boden zu drücken begleitet hatte. Er schämte sich dessen;
aber es hatte ihm wie eine mächtige Blutwelle daherflutend den Kopf
benommen.

Beineberg und Reiting kamen zurückgetastet und setzten sich schweigend
neben ihn. Beineberg blickte auf die Lampe.

In diesem Augenblicke zog es Törleß wieder hinunter. Es ging von
den Augen aus -- das fühlte er nun -- von den Augen aus wie eine
hypnotische Starre zum Gehirn. Es war eine Frage, ja eine ... nein,
eine Verzweiflung ... o es war ihm ja bekannt ... die Mauer, jener
Gastgarten, die niederen Hütten, jene Kindheitserinnerung ... dasselbe!
dasselbe! Er sah auf Beineberg. »Fühlt denn der nichts?« dachte er.
Aber Beineberg bückte sich und wollte die Lampe aufheben. Törleß
hielt seinen Arm zurück. »Ist das nicht wie ein Auge?« sagte er und
wies auf den über den Boden fließenden Lichtschein.

»Willst du vielleicht jetzt poetisch werden?«

»Nein. Aber sagst du nicht selbst, daß es mit den Augen eine eigene
Bewandtnis hat? Aus ihnen wirkt -- denk doch nur an deine hypnotischen
Lieblingsideen -- mitunter eine Kraft, die in keinem Physikunterricht
ihren Platz hat; -- sicher ist auch, daß man einen Menschen oft weit
besser aus seinen Augen errät, als aus seinen Worten....«

»Nun -- und?«

»Mir ist dieses Licht wie ein Auge. Zu einer fremden Welt. Mir ist,
als sollte ich etwas erraten. Aber ich kann nicht. Ich möchte es in
mich hinein trinken....«

»Nun -- du fängst doch an poetisch zu werden.«

»Nein, es ist mir ernst. Ich bin ganz verzweifelt. So sieh doch nur
hin und du wirst es auch fühlen. Ein Bedürfnis, sich in dieser Lache
zu wälzen, -- auf allen vieren, ganz nah in die staubigen Winkel zu
kriechen, als ob man es so erraten könnte....«

»Mein Lieber, das sind Spielereien, Empfindeleien. Laß jetzt gefälligst
solche Sachen.«

Beineberg bückte sich vollends und stellte die Lampe wieder auf ihren
Platz. Törleß empfand aber Schadenfreude. Er fühlte, daß er diese
Ereignisse mit einem Sinne mehr in sich aufnahm als seine Gefährten.

Er wartete nun auf das Wiedererscheinen Basinis und fühlte mit einem
heimlichen Schauer, daß sich seine Kopfhaut abermals unter den feinen
Krallen anspannte.

Er wußte es ja schon ganz genau, daß für ihn etwas aufgespart war, das
immer wieder und in immer kürzeren Zwischenräumen ihn mahnte; eine
Empfindung, die für die anderen unverständlich war, für sein Leben
aber offenbar große Wichtigkeit haben mußte.

Nur was diese Sinnlichkeit dabei zu bedeuten hatte, wußte er nicht,
aber er erinnerte sich, daß sie eigentlich schon jedesmal dabei gewesen
war, wenn die Ereignisse angefangen hatten, nur ihm sonderbar zu
erscheinen, und ihn quälten, weil er hiefür keinen Grund wußte.

Und er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit ernstlich hierüber
nachzudenken. Einstweilen gab er sich ganz dem aufregenden Schauer
hin, der Basinis Wiedererscheinen voranging.

Beineberg hatte die Lampe aufgerichtet und wieder schnitten die
Strahlen einen Kreis in das Dunkel, wie einen leeren Rahmen.

Und mit einem Male war Basinis Antlitz wieder darinnen; genau so wie
zum ersten Male; mit demselben starr festgehaltenen, süßlichen Lächeln;
als ob in der Zwischenzeit nichts geschehen wäre; nur über Oberlippe,
Mund und Kinn zeichneten langsame Blutstropfen einen roten, wie ein
Wurm sich windenden Weg.

                   *       *       *       *       *

»Dort setze dich nieder!« Reiting wies auf den mächtigen Balken. Basini
gehorchte. Reiting hub zu sprechen an: »Du hast wahrscheinlich schon
geglaubt, daß du fein heraus bist; was? Du hast wohl geglaubt, ich
werde dir helfen? Nun, da hast du dich getäuscht. Was ich mit dir tat,
war nur, um zu sehen, wie weit deine Niedrigkeit geht.«

Basini machte eine abwehrende Bewegung. Reiting drohte wieder, auf ihn
zu springen. Da sagte Basini: »Aber ich bitte euch um Gottes willen,
ich konnte nicht anders.«

»Schweig!« schrie Reiting, »deine Ausreden haben wir satt. Wir wissen
nun ein für allemal, wie wir mit dir daran sind und werden uns danach
richten ...«

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Da sagte plötzlich Törleß leise, fast
freundlich: »Sag doch, ich bin ein Dieb.«

Basini machte große, fast erschrockene Augen; Beineberg lachte
beifällig.

Aber Basini schwieg. Da gab ihm Beineberg einen Stoß in die Rippen und
schrie ihn an:

»Hörst du nicht, du sollst sagen, daß du ein Dieb bist! Sofort wirst
du es sagen!«

Abermals trat eine kurze, kaum wägbare Stille ein; dann sagte Basini
leise, in einem Atem und mit möglichst harmloser Betonung: »Ich bin
ein Dieb.«

Beineberg und Reiting lachten vergnügt zu Törleß hinüber: »Das war
ein guter Einfall von dir, Kleiner,« und zu Basini: »Und jetzt wirst
du sofort noch sagen: ›Ich bin ein Tier ein diebisches Tier, _euer_
diebisches, schweinisches Tier!‹«

Und Basini sagte es, ohne auszusetzen und mit geschlossenen Augen.

Aber Törleß hatte sich schon wieder ins Dunkel zurückgelehnt. Ihm
ekelte vor der Szene und er schämte sich, daß er seinen Einfall den
anderen preisgegeben hatte.

                   *       *       *       *       *

Während des Mathematikunterrichtes war Törleß plötzlich ein Einfall
gekommen.

Er hatte schon während der letzten Tage den Unterricht in der Schule
mit besonderem Interesse verfolgt gehabt, denn er dachte sich: »Wenn
dies wirklich die Vorbereitung für das Leben sein soll, wie sie sagen,
so muß sich doch auch etwas von dem angedeutet finden, was ich suche.«

Gerade an die Mathematik hatte er dabei gedacht; noch von jenen
Gedanken an das Unendliche her.

Und richtig war es ihm mitten im Unterrichte heiß in den Kopf
geschossen. Gleich nach Beendigung der Stunde setzte er sich zu
Beineberg als dem einzigen, mit dem er über etwas derartiges sprechen
konnte.

»Du, hast du das vorhin ganz verstanden?«

»Was?«

»Die Geschichte mit den imaginären Zahlen?«

»Ja. Das ist doch gar nicht so schwer. Man muß nur festhalten, daß die
Quadratwurzel aus negativ Eins die Rechnungseinheit ist.«

»Das ist es aber gerade. Die gibt es doch gar nicht. Jede Zahl, ob sie
nun positiv ist oder negativ, gibt zum Quadrat erhoben etwas Positives.
Es kann daher gar keine wirkliche Zahl geben, welche die Quadratwurzel
von etwas Negativem wäre.«

»Ganz recht; aber warum sollte man nicht trotzdem versuchen, auch bei
einer negativen Zahl die Operation des Quadratwurzelziehens anzuwenden?
Natürlich kann dies dann keinen wirklichen Wert ergeben und man nennt
doch auch deswegen das Resultat nur ein imaginäres. Es ist so, wie
wenn man sagen würde: hier saß sonst immer jemand, stellen wir ihm
also auch heute einen Stuhl hin; und selbst, wenn er inzwischen
gestorben wäre, so tuen wir doch, als ob er käme.«

»Wie kann man aber, wenn man bestimmt, ganz mathematisch bestimmt weiß,
daß es unmöglich ist?«

»So tut man eben trotzdem, als ob dem nicht so wäre. Es wird wohl
irgendeinen Erfolg haben. Was ist es denn schließlich anderes mit
den irrationalen Zahlen? Eine Division, die nie zu Ende kommt, ein
Bruch, dessen Wert nie und nie und nie herauskommt, wenn du auch noch
so lange rechnest? Und was kannst du dir darunter denken, daß sich
parallele Linien im Unendlichen schneiden sollen? Ich glaube, wenn
man allzu gewissenhaft wäre, so gäbe es keine Mathematik.«

»Darin hast du recht. Wenn man es sich so vorstellt, ist es eigenartig
genug. Aber das merkwürdige ist ja gerade, daß man trotzdem mit solchen
imaginären oder sonstwie unmöglichen Werten ganz wirklich rechnen
kann, und zum Schlusse ein greifbares Resultat vorhanden ist!«

»Nun, die imaginären Faktoren müssen sich zu diesem Zwecke im Laufe
der Rechnung gegenseitig aufheben.«

»Ja, ja; alles, was du sagst, weiß ich auch. Aber bleibt nicht
trotzdem etwas ganz Sonderbares an der Sache haften? Wie soll ich das
ausdrücken? Denk doch nur einmal so daran: In solch einer Rechnung
sind am Anfang ganz solide Zahlen, die Meter oder Gewichte, oder irgend
etwas anderes Greifbares darstellen können und wenigstens wirkliche
Zahlen sind. Am Ende der Rechnung stehen ebensolche. Aber diese
beiden hängen miteinander durch etwas zusammen, das es gar nicht gibt.
Ist das nicht wie eine Brücke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler
vorhanden sind und die man dennoch so sicher überschreitet, als ob sie
ganz dastünde? Für mich hat so eine Rechnung etwas Schwindliges; als
ob es ein Stück des Weges weiß Gott wohin ginge. Das eigentlich
Unheimliche ist mir aber die Kraft, die in solch einer Rechnung
steckt und einen so festhält, daß man doch wieder richtig landet.«

Beineberg grinste: »Du sprichst ja beinahe schon so wie unser Pfaffe:
... Du siehst einen Apfel -- das sind die Lichtschwingungen und das Auge
und so weiter -- -- und du streckst die Hand aus, um ihn zu stehlen --
das sind die Muskeln und die Nerven, die diese in Bewegung setzen. --
Aber zwischen den beiden liegt etwas und bringt eins aus dem andern
hervor -- und das ist die unsterbliche Seele, die dabei gesündigt
hat ...; ja -- ja -- keine eurer Handlungen ist erklärlich ohne die
Seele, die auf euch spielt wie auf den Tasten eines Klaviers ...« Und er
ahmte den Stimmfall nach, mit dem der Katechet dieses alte Gleichnis
vorzubringen pflegte. -- Ȇbrigens interessiert mich diese ganze
Geschichte wenig.«

»Ich dachte, gerade dich müßte sie interessieren. Ich wenigstens mußte
gleich an dich denken, weil das -- wenn es wirklich so unerklärlich ist
-- doch fast eine Bestätigung für deinen Glauben wäre.«

»Warum sollte es nicht unerklärlich sein? Ich halte es für ganz
wohl möglich, daß hier die Erfinder der Mathematik über ihre eigenen
Füße gestolpert sind. Denn warum sollte das, was jenseits unseres
Verstandes liegt, sich nicht einen solchen Spaß mit eben diesem
Verstande erlaubt haben? Aber ich gib mich damit nicht ab, denn diese
Dinge führen doch zu nichts.«

                   *       *       *       *       *

Noch am selben Tage hatte Törleß den Lehrer der Mathematik gebeten, ihn
besuchen zu dürfen, um sich über einige Stellen des letzten Vortrages
Aufklärung zu holen.

Den nächsten Tag, während der Mittagspause, stieg er nun die Treppe
zu der kleinen Professorswohnung hinan.

Er hatte jetzt einen ganz neuen Respekt vor der Mathematik, da sie
ihm nun einmal aus einer toten Lernaufgabe unversehens etwas sehr
Lebendiges geworden zu sein schien. Und von diesem Respekte aus empfand
er eine Art Neid gegen den Professor, dem alle diese Beziehungen
vertraut sein mußten und der ihre Kenntnis stets bei sich trug, wie den
Schlüssel eines versperrten Gartens. Überdies wurde Törleß aber auch
von einer, allerdings ein wenig zaghaften Neugierde angetrieben.
Er war noch nie in dem Zimmer eines erwachsenen jungen Mannes gewesen
und es kitzelte ihn zu erfahren, wie denn das Leben eines solchen
anderen, wissenden und doch ruhigen Menschen aussehe, wenigstens so
weit man aus den äußeren, umgebenden Dingen darauf schließen kann.

Er war sonst seinen Lehrern gegenüber scheu und zurückhaltend und
glaubte, daß er sich deswegen nicht ihrer besonderen Zuneigung erfreue.
Seine Bitte erschien ihm daher, während er jetzt erregt vor der Türe
innehielt, als ein Wagnis, bei dem es sich weniger darum handelte,
eine Aufklärung zu erhalten, -- denn ganz im stillen zweifelte er
schon jetzt daran, -- als daß er einen Blick -- gewissermaßen hinter
den Professor und in dessen tägliches Konkubinat mit der Mathematik
hinein -- tun könne.

Man führte ihn in das Arbeitszimmer. Es war ein länglicher
einfenstriger Raum; ein mit Tintenflecken übertropfter Schreibtisch
stand in der Nähe des Fensters und an der Wand ein Sofa, das mit einem
gerippten, grünen, kratzigen Stoffe überzogen war und Quasten hatte.
Oberhalb dieses Sofas hingen eine ausgeblichene Studentenmütze und
eine Anzahl brauner, nachgedunkelter Photographien in Visiteformat
aus der Universitätszeit. Auf dem ovalen Tische mit den X-füßen,
deren graziös sein sollende Schnörkel wie eine mißglückte Artigkeit
wirkten, lag eine Pfeife und blättriger, großgeschnittener Tabak.
Das ganze Zimmer hatte davon einen Geruch nach billigem Knaster.

Kaum hatte Törleß diese Eindrücke in sich aufgenommen und ein gewisses
Mißbehagen in sich konstatiert, wie bei der Berührung mit etwas
Unappetitlichem, als sein Lehrer eintrat.

Er war ein junger Mann von höchstens dreißig Jahren; blond, nervös und
ein ganz tüchtiger Mathematiker, welcher der Akademie schon einige
wichtige Abhandlungen eingereicht hatte.

Er setzte sich sofort an seinen Schreibtisch, kramte ein wenig in
den umherliegenden Papieren, (Törleß kam es später vor, daß er sich
geradenwegs dorthin gerettet hatte), putzte seinen Klemmer mit dem
Taschentuche, schlug ein Bein über das andere und sah Törleß erwartend
an.

Dieser hatte nun auch ihn zu mustern begonnen. Er bemerkte ein Paar
grober weißer Wollsocken und darüber, daß die Bänder der Unterhose von
der Wichse der Zugstiefel schwarz gescheuert waren.

Dagegen sah das Taschentuch weiß und geziert hervor und die Krawatte
war zwar genäht, aber dafür prächtig buntscheckig wie eine Palette.

Törleß fühlte sich unwillkürlich durch diese kleinen Beobachtungen
weiter abgestoßen; er vermochte kaum mehr zu hoffen, daß dieser Mensch
wirklich im Besitze bedeutungsvoller Erkenntnisse sei, wenn doch
offenbar an seiner Person und ganzen Umgebung nicht das geringste
davon zu merken war. Er hatte sich im stillen das Arbeitszimmer eines
Mathematikers ganz anders vorgestellt; mit irgendwelchem Ausdrucke
für die fürchterlichen Dinge, die darin gedacht wurden. Das Gewöhnliche
verletzte ihn; er übertrug es auf die Mathematik, und sein Respekt
begann einem mißtrauischen Widerstreben zu weichen.

Da nun auch der Professor ungeduldig auf seinem Platze hin und her
rückte und nicht wußte, wie er das lange Schweigen und die musternden
Blicke deuten solle, lag zwischen den beiden Menschen schon in diesem
Augenblicke die Atmosphäre eines Mißverständnisses.

»Nun wollen wir ... wollen Sie ... ich bin gerne bereit Ihnen Auskunft
zu erteilen«, begann der Professor.

Törleß trug seine Einwendungen vor und bemühte sich, deren Bedeutung
für ihn auseinanderzusetzen. Aber ihm war, als müßte er durch
einen dicken, trüben Nebel hindurch sprechen und seine besten Worte
erstickten schon in der Kehle.

Der Professor lächelte, hüstelte einstweilen, sagte: »Sie gestatten«
und zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie in hastigen Zügen; das
Papier -- was Törleß alles zwischendurch bemerkte und gewöhnlich fand
-- lief fett an und bog sich jedesmal knisternd ein; der Professor nahm
den Klemmer von der Nase, setzte ihn wieder auf, nickte mit dem
Kopfe, .. schließlich ließ er Törleß gar nicht zu Ende kommen. »Es
freut mich, ja mein lieber Törleß, es freut mich wirklich sehr,«
unterbrach er ihn, »Ihre Bedenken zeigen von Ernst, von eigenem
Nachdenken, von ... hm ... aber es ist gar nicht so leicht, Ihnen
die gewünschte Aufklärung zu geben, ... Sie dürfen mich da nicht
mißverstehen.

Sehen Sie, Sie sprachen von dem Eingreifen transzendenter, hm ja ...
transzendent nennt man das, -- Faktoren ...

Nun weiß ich ja allerdings nicht, wie Sie hierüber fühlen; mit dem
Übersinnlichen, jenseits der strengen Grenzen des Verstandes Liegenden,
ist es eine ganz eigene Sache. Ich bin eigentlich nicht recht
befugt, da einzugreifen, es gehört nicht zu meinem Gegenstande; man
kann so und so darüber denken, und ich möchte durchaus vermeiden,
gegen irgend jemanden zu polemisieren ... Was aber die Mathematik
anlangt,« und hiebei betonte er das Wort Mathematik, als ob er eine
verhängnisvolle Tür ein für allemal zuschlagen wollte, »was also die
Mathematik anlangt, ist es ganz gewiß, daß hier auch ein natürlicher
und nur mathematischer Zusammenhang besteht.

Nur müßte ich, -- um streng wissenschaftlich zu sein, --
Voraussetzungen machen, die Sie kaum noch verstehen dürften, auch
fehlt uns die Zeit dazu.

Wissen Sie, ich gebe ja gerne zu, daß zum Beispiel diese imaginären,
diese gar nicht wirklich existierenden Zahlwerte, ha ha, gar keine
kleine Nuß für einen jungen Studenten sind. Sie müssen sich damit
zufrieden geben, daß solche mathematische Begriffe eben rein
mathematische Denknotwendigkeiten sind. Überlegen Sie nur: auf der
elementaren Stufe des Unterrichts, auf der sie sich noch befinden,
hält es sehr schwer, für vieles, das man berühren muß, die richtige
Erklärung zu geben. Zum Glück fühlen es die wenigsten, wenn aber
einer, wie Sie heute, -- doch wie gesagt, es hat mich sehr gefreut, --
nun wirklich kommt, so kann man nur sagen: Lieber Freund, du mußt
einfach glauben; wenn du einmal zehnmal soviel Mathematik können wirst
als jetzt, so wirst du verstehen, aber einstweilen: glauben!

Es geht nicht anders, lieber Törleß, die Mathematik ist eine ganze Welt
für sich und man muß reichlich lange in ihr gelebt haben, um alles
zu fühlen, was in ihr notwendig ist.«

Törleß war froh, als der Professor schwieg. Seit er die Tür zufallen
gehört hatte, war ihm, daß sich die Worte immer weiter und weiter
entfernten, ... nach der anderen, gleichgültigen Seite hin, wo alle
richtigen und doch nichts besagenden Erklärungen liegen.

Aber er war von dem Schwall der Worte und dem Mißlingen betäubt und
verstand nicht gleich, daß er nun aufstehen solle.

Da suchte der Professor, um es endgültig zu erledigen, nach einem
letzten, überzeugenden Argumente.

Auf einem kleinen Tischchen lag ein Renommierband Kant. Den nahm
der Professor und zeigte ihn Törleß. »Sehen Sie dieses Buch, das ist
Philosophie, es enthält die Bestimmungsstücke unseres Handelns. Und
wenn Sie dem auf den Grund fühlen könnten, so würden Sie auf lauter
solche Denknotwendigkeiten stoßen, die eben alles bestimmen, ohne
daß sie selbst so ohneweiters einzusehen wären. Es ist ganz ähnlich wie
mit dem in der Mathematik. Und dennoch handeln wir fortwährend danach:
Da haben Sie gleich den Beweis dafür, wie wichtig solche Dinge sind.
Aber«, lächelte er, als er sah, daß Törleß richtig das Buch aufschlug
und darinnen blätterte, »lassen Sie es doch jetzt noch. Ich wollte Ihnen
nur ein Beispiel geben, an das Sie sich später einmal erinnern können;
vorläufig dürfte es wohl noch zu schwer für Sie sein.«

                   *       *       *       *       *

Den ganzen Rest des Tages über befand sich Törleß in einem bewegten
Zustande.

Der Umstand, daß er Kant in der Hand gehabt hatte, -- dieser ganz
zufällige Umstand, dem er im Augenblicke wenig Beachtung geschenkt
hatte, -- wirkte mächtig in ihm nach. Der Name Kants war ihm vom
Hörensagen wohl bekannt und hatte für ihn den Kurswert, den er
allgemein in der sich mit den Geisteswissenschaften nur von ferne
befassenden Gesellschaft hat -- als letztes Wort der Philosophie. Und
diese Autorität war sogar mit ein Grund gewesen, daß sich Törleß
bisher so wenig mit ernsten Büchern beschäftigt hatte. Sehr junge
Menschen pflegen sich ja, wenn einmal die Periode überwunden ist, in
der sie Kutscher, Gärtner oder Zuckerbäcker werden wollten, mit der
Phantasie das Gebiet ihrer Lebensaufgaben zunächst dort abzustecken,
wo sich ihrem Ehrgeize die meiste Möglichkeit, Auszeichnendes zu
leisten, darzubieten scheint. Wenn sie sagen, sie wollen Arzt werden,
so haben sie sicher einmal irgendwo ein hübsches und gefülltes
Wartezimmer gesehen, oder einen Glasschrank mit unheimlichen
chirurgischen Instrumenten, oder ähnliches; sprechen sie von der
diplomatischen Laufbahn, so denken sie an den Glanz und die Vornehmheit
internationaler Salons, kurz sie wählen ihren Beruf nach dem Milieu,
in dem sie sich am liebsten sehen möchten, und nach der Pose, in
der sie sich am besten gefallen.

Nun war vor Törleß der Name Kant nie anders als gelegentlich und mit
einer Miene ausgesprochen worden, wie der eines unheimlichen Heiligen.
Und Törleß konnte gar nichts anderes denken, als daß von Kant die
Probleme der Philosophie endgültig gelöst seien, und diese seither
eine zwecklose Beschäftigung bleibe, wie er ja auch glaubte, daß es
sich nach Schiller und Goethe nicht mehr lohne zu dichten.

Zu Hause standen diese Bücher in dem Schranke mit den grünen Scheiben
in Papas Arbeitszimmer und Törleß wußte, daß dieser nie geöffnet wurde,
außer um ihn einem Besuch zu zeigen. Er war wie das Heiligtum einer
Gottheit, der man nicht gerne naht, und die man nur verehrt, weil man
froh ist, daß man sich dank ihrer Existenz um gewisse Dinge nicht
mehr zu kümmern braucht.

Dieses schiefe Verhältnis zu Philosophie und Literatur hatte später
auf Törleß' weitere Entwicklung jenen unglücklichen Einfluß ausgeübt,
dem er manche traurige Stunde zu danken hatte. Denn sein Ehrgeiz
wurde hiedurch von seinen eigentlichen Gegenständen abgedrängt und
geriet, während er, seines Zieles beraubt, nach einem neuen suchte, --
unter den brutalen und entschlossenen Einfluß seiner Gefährten. Seine
Neigungen kehrten nur noch gelegentlich und verschämt zurück und
hinterließen jedesmal das Bewußtsein, etwas Unnützes und Lächerliches
getan zu haben. Sie waren aber doch so stark, daß es ihm nicht gelang,
sich ihrer ganz zu entledigen, und dieser beständige Kampf war es, der
sein Wesen der festen Linien und des aufrechten Ganges beraubte.

Mit dem heutigen Tage schien jedoch dieses Verhältnis in eine neue
Phase getreten zu sein. Die Gedanken, um derentwillen er heute
vergeblich Aufklärung gesucht hatte, waren nicht mehr die wurzellosen
Verkettungen einer spielenden Einbildungskraft, vielmehr wühlten sie
ihn auf, ließen ihn nicht los, und mit seinem ganzen Körper fühlte
er, daß hinter ihnen ein Stück seines Lebens poche. Dies war für Törleß
etwas ganz Neues. In seinem Inneren war eine Bestimmtheit, die er
sonst nicht an sich gekannt hatte. Es war beinahe träumerisch,
geheimnisvoll. Das mußte sich wohl unter den Einflüssen der letzten
Zeit in aller Stille entwickelt haben und pochte nun plötzlich mit
gebieterischem Finger an. Ihm war zumute wie einer Mutter, die zum
ersten Male die herrischen Bewegungen ihrer Leibesfrucht fühlt.

Es wurde ein wundervoll genußreicher Nachmittag.

Törleß holte aus seiner Lade alle seine poetischen Versuche hervor, die
er dort verwahrt hatte. Er setzte sich mit ihnen zum Ofen und blieb
ganz allein und ungesehen hinter dem mächtigen Schirme. Ein Heft nach
dem anderen blätterte er durch, dann zerriß er es ganz langsam in
lauter kleine Stücke und warf diese einzeln, immer wieder die feine
Rührung des Abschieds verkostend, ins Feuer.

Er wollte damit alles Gepäck von früher hinter sich werfen, gleich als
gelte es jetzt -- von nichts beschwert -- alle Aufmerksamkeit auf die
Schritte zu richten, die nach vorwärts zu tun seien.

Endlich stand er auf und trat unter die anderen. Er fühlte sich frei
von allen ängstlichen Seitenblicken. Was er getan hatte, war eigentlich
nur ganz instinktiv geschehen; nichts bot ihm eine Sicherheit, daß
er wirklich von nun an ein Neuer werde sein können, als das bloße
Dasein jenes Impulses. »Morgen,« sagte er sich, »morgen werde ich alles
sorgfältig revidieren und ich werde schon Klarheit gewinnen.«

Er ging im Saale umher, zwischen den einzelnen Bänken, sah in die
geöffneten Hefte, auf die in dem grellen Weiß beim Schreiben geschäftig
hin und her hastenden Finger, deren jeder seinen kleinen, braunen
Schatten hinter sich herzog, -- er sah dem zu wie einer, der plötzlich
aufgewacht ist, mit Augen, denen alles von ernsterer Bedeutung zu
sein schien.

                   *       *       *       *       *

Aber schon der nächste Tag brachte eine arge Enttäuschung. Törleß
hatte sich nämlich gleich am Morgen die Reklamausgabe jenes Bandes
gekauft, den er bei seinem Professor gesehen hatte, und benützte die
erste Pause, um mit dem Lesen zu beginnen. Aber vor lauter Klammern
und Fußnoten verstand er kein Wort und wenn er gewissenhaft mit den
Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand
ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe.

Als er nach etwa einer halben Stunde erschöpft aufhörte, war er nur
bis zur zweiten Seite gelangt und Schweiß stand auf seiner Stirne.

Aber dann biß er die Zähne aufeinander und las nochmals eine Seite
weiter, bis die Pause zu Ende war.

Abends aber mochte er das Buch schon nicht mehr anrühren. Angst? Ekel?
-- er wußte nicht recht. Nur das eine quälte ihn brennend deutlich,
daß der Professor, dieser Mensch, der nach so wenig aussah, das Buch
ganz offen im Zimmer liegen hatte, als sei es für ihn eine tägliche
Unterhaltung.

In dieser Stimmung traf ihn Beineberg.

»Nun Törleß, wie war's gestern beim Professor?« Sie saßen allein in
einer Fensternische und hatten den breiten Kleiderständer, auf dem
die vielen Mäntel hingen, vorgeschoben, so daß von der Klasse nur
ein auf- und abschwellendes Summen und der Widerschein der Lampen
an der Decke zu ihnen drang. Törleß spielte zerstreut mit einem vor
ihm hängenden Mantel.

»Schläfst du denn? Er wird dir doch wohl irgend etwas geantwortet
haben? Ich kann mir's übrigens denken, er wird nicht schlecht in
Verlegenheit gekommen sein, nicht?«

»Warum?«

»Nun auf eine so dumme Frage wird er wohl nicht gefaßt gewesen sein.«

»Die Frage war gar nicht dumm; ich bin sie noch immer nicht los.«

»Ich meine es ja auch nicht so schlimm; nur für ihn wird sie dumm
gewesen sein. Die lernen ihre Sachen gerade so auswendig wie der Pfaffe
seinen Katechismus, und wenn man sie ein wenig außer der Reihe fragt,
kommen sie immer in Verlegenheit.«

»Ach verlegen war der nicht um die Antwort. Er hat mich sogar nicht
einmal ausreden lassen, so schnell hat er sie bei der Hand gehabt.«

»Und wie hat er die Geschichte erklärt?«

»Eigentlich gar nicht. Er hat gesagt, das könne ich jetzt noch nicht
einsehen, das seien Denknotwendigkeiten, die erst demjenigen klar
werden, der sich bereits eingehender mit diesen Dingen befaßt hat.«

»Das ist ja der Schwindel! Einem Menschen, der nichts wie vernünftig
ist, vermögen sie ihre Geschichten nicht vorzuerzählen. Erst wenn
er zehn Jahre hindurch mürbe gemacht wurde, geht es. Bis dahin hat
er nämlich tausende Male auf diesen Grundlagen gerechnet und große
Gebäude aufgeführt, die immer bis aufs letzte stimmten; er glaubt dann
einfach an die Sache, wie der Katholik an die Offenbarung, sie hat
sich immer so schön fest bewährt ... ist es dann eine Kunst einem
solchen Menschen den Beweis aufzureden? Im Gegenteil, niemand wäre
imstande ihm einzureden, daß sein Gebäude zwar steht, der einzelne
Baustein aber zu Luft zerrinnt, wenn man ihn fassen will!«

Törleß fühlte sich durch die Übertreibung Beinebergs unangenehm berührt.

»So arg, wie du's hinstellst, wird es wohl nicht sein. Ich habe nie
gezweifelt, daß die Mathematik recht hat, -- schließlich lehrt's doch
auch der Erfolg, -- mir war vielmehr nur das sonderbar, daß die Sache
mitunter so gegen den Verstand geht; und möglich wäre es immerhin, daß
das nur scheinbar ist.«

»Nun du kannst ja die zehn Jahre abwarten, vielleicht hast du dann
den richtig präparierten Verstand.... Aber ich habe auch darüber
nachgedacht, seit wir letzthin davon sprachen, und ich bin ganz fest
davon überzeugt, daß die Sache einen Haken hat. Übrigens hast du damals
auch ganz anders gesprochen als heute.«

»O nein. Mir ist es ja auch heute noch bedenklich, nur will ich es
nicht gleich so übertreiben wie du. _Sonderbar_ finde ich das Ganze
auch. Die Vorstellung des Irrationalen, des Imaginären, der Linien,
die parallel sind und sich im Unendlichen -- also doch irgendwo --
schneiden, regt mich auf. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich betäubt,
wie vor den Kopf geschlagen.« Törleß lehnte sich vor, ganz in den
Schatten hinein, und seine Stimme umschleierte sich leise beim
Sprechen. »In meinem Kopfe war vordem alles so klar und deutlich
geordnet; nun aber ist mir, als seien meine Gedanken wie Wolken, und
wenn ich an die bestimmten Stellen komme, so ist es wie eine Lücke
dazwischen, durch die man in eine unendliche, unbestimmbare Weite
sieht. Die Mathematik wird schon recht haben; aber was ist es mit
meinem Kopfe und was mit all den anderen? Fühlen die das gar nicht?
Wie malt es sich in ihnen ab? Gar nicht?«

»Ich denke, du konntest es an deinem Professor sehen. Du, -- wenn du
auf so etwas kommst, schaust dich sofort um und fragst, wie stimmt
das jetzt zu allem übrigen in mir? _Die_ haben sich einen Weg in
tausend Schneckengängen durch ihr Gehirn gebohrt und sie sehen bloß
bis zur nächsten Ecke zurück, ob der Faden noch hält, den sie hinter
sich herspinnen. Deswegen bringst du sie mit deiner Art zu fragen
in Verlegenheit. Von denen findet keiner den Weg zurück. Wie kannst
du übrigens behaupten, daß ich übertreibe? Diese Erwachsenen und
ganz Gescheiten haben sich da vollständig in ein Netz eingesponnen,
eine Masche stützt die andere, so daß das Ganze Wunder wie natürlich
aussieht; wo aber die erste Masche steckt, durch die alles gehalten
wird, weiß kein Mensch.

Wir zwei haben noch nie so ernst darüber gesprochen, schließlich
macht man über solche Dinge nicht gern viel Worte, aber du kannst
jetzt sehen, wie schwach die Ansicht ist, mit der sich die Leute
über die Welt begnügen. Täuschung ist sie, Schwindel ist sie,
Schwachköpfigkeit! Blutarmut! Denn ihr Verstand reicht gerade so weit,
um ihre wissenschaftliche Erklärung aus dem Kopf herauszudenken,
draußen erfriert sie aber, verstehst du? Ha ha! Alle diese Spitzen,
diese äußersten, von denen uns die Professoren erzählen, sie seien
so fein, daß wir sie jetzt noch nicht anzurühren vermögen, sind tot
-- erfroren, -- verstehst du? Nach allen Seiten starren diese
bewunderten Eisspitzen und kein Mensch vermag mit ihnen etwas
anzufangen, so leblos sind sie!«

Törleß hatte sich längst wieder zurückgelehnt. Beinebergs heißer Atem
fing sich in den Mänteln und erhitzte den Winkel. Und wie immer in
der Erregung, wirkte Beineberg peinlich auf Törleß. Jetzt gar, wo
er sich vorschob, so nahe heran, daß seine Augen unbeweglich, wie
zwei grünliche Steine vor Törleß standen, während die Hände mit einer
eigentümlich häßlichen Behendigkeit im Helldunkel hin und her zuckten.

»Alles ist unsicher, was sie behaupten. Alles geht natürlich zu,
sagen sie; -- wenn ein Stein fällt, so sei das die Schwerkraft, warum
soll es aber nicht ein Wille Gottes sein und warum soll derjenige,
der ihm wohlgefällig ist, nicht einmal davon entbunden sein, das Los
des Steines zu teilen? Doch wozu erzähle ich dir solches?! Du wirst
doch immer halb bleiben! Ein wenig Sonderbares ausfindig machen, ein
wenig den Kopf schütteln, ein wenig sich entsetzen -- das liegt dir:
darüber traust du dich aber nicht hinaus. Übrigens ist das nicht mein
Schade.«

»Der meine etwa? So sicher sind denn doch wohl auch deine Behauptungen
nicht.«

»Wie kannst du das sagen! Sie sind überhaupt das einzig Sichere. Wozu
soll ich mich übrigens mit dir darüber zanken?! Du wirst es schon
noch sehen, mein lieber Törleß; ich möchte sogar wetten, daß du dich
noch einmal ganz verflucht dafür interessieren wirst, was es damit
für Bewandtnis hat. Beispielsweise, wenn es mit Basini so kommt, wie
ich ....«

»Laß das, bitte« unterbrach ihn Törleß, »ich möchte das gerade jetzt
nicht da hineinmengen.«

»O, warum nicht?«

»Nun so. Ich will einfach nicht. Es ist mir unangenehm. Basini und dies
sind für mich zweierlei; und zweierlei pflege ich nicht im selben Topf
zu kochen.«

Beineberg verzog es bei dieser ungewohnten Entschiedenheit, ja Grobheit
seines jüngeren Kameraden vor Ärger den Mund. Aber Törleß fühlte, daß
die bloße Nennung Basinis seine ganze Sicherheit untergraben hatte,
und um dies zu verbergen, redete er sich in Ärger. »Überhaupt
behauptest du Dinge mit einer Sicherheit, die geradezu verrückt
ist. Glaubst du denn nicht, daß deine Theorien gerade so auf Sand
gebaut sein können, wie die anderen? Das sind ja noch viel verbohrtere
Schneckengänge, die noch weit mehr guten Willen voraussetzen.«

Merkwürdigerweise wurde Beineberg nicht böse; er lächelte nur -- zwar
ein wenig verzerrt und seine Augen funkelten doppelt so unruhig -- und
sagte in einem fort: »Du wirst schon sehen, du wirst schon sehen ...«

»Was werde ich denn sehen? Und meinetwegen, so werde ich es halt sehen;
aber es interessiert mich blutwenig, Beineberg! Du verstehst mich
nicht. Du weißt gar nicht, was mich interessiert. Wenn mich die
Mathematik quält und wenn mich --« doch er überlegte sich's noch
schnell und sagte nichts von Basini, »wenn mich die Mathematik
quält, so suche ich dahinter ganz etwas anderes als du, gar nichts
Übernatürliches, gerade das Natürliche suche ich -- verstehst du?
gar nichts außer mir -- in mir suche ich etwas: in mir! etwas
Natürliches! Das ich aber trotzdem nicht verstehe! Das empfindest
du aber gerade so wenig wie der von der Mathematik .... ach laß mich
mit deiner Spekulation für jetzt in Ruhe!«

Törleß zitterte vor Aufregung, als er aufstand.

Und Beineberg wiederholte in einem fort: »nun wir werden ja sehen,
werden ja sehen ...«

                   *       *       *       *       *

Als Törleß abends im Bette lag, fand er keinen Schlaf. Die
Viertelstunden schlichen wie Krankenschwestern von seinem Lager,
seine Füße waren eiskalt, und die Decke drückte ihn anstatt ihn zu
wärmen.

In dem Schlafsaale hörte man nur das ruhige und gleichmäßige Atmen der
Zöglinge, die nach der Arbeit des Unterrichtes, des Turnens und des
Laufens im Freien ihren gesunden, tierischen Schlaf gefunden hatten.

Törleß horchte auf die Atemzüge der Schlafenden. Das war Beinebergs,
das Reitings, das Basinis Atem; welcher? Er wußte es nicht; aber einer
von den vielen, gleichmäßigen, gleichruhigen, gleichsicheren, die wie
ein mechanisches Werk sich hoben und senkten.

Einer der leinenen Vorhänge hatte sich nur bis zur halben Höhe
herunterrollen lassen; darunter leuchtete die helle Nacht herein und
zeichnete ein fahles, unbewegliches Viereck auf den Fußboden. Die
Schnur hatte sich oben gespießt oder war ausgesprungen und hing in
häßlichen Windungen herunter, während ihr Schatten auf dem Boden
wie ein Wurm durch das helle Viereck kroch.

Dies alles war von einer beängstigenden, grotesken Häßlichkeit.

Törleß versuchte an etwas Angenehmes zu denken. Beineberg fiel ihm
ein. Hatte er ihn nicht heute übertrumpft? Seiner Überlegenheit einen
Stoß versetzt? War es ihm nicht heute zum erstenmal gelungen, seine
Besonderheit gegen den anderen zu wahren? So hervorzuheben, daß dieser
den unendlichen Unterschied an Feinheit der Empfindlichkeit fühlen
konnte, der ihrer beiden Auffassungen voneinander trennte? Hat er
denn noch etwas zu erwidern gewußt? Ja oder nein?..

Aber dieses: ja oder nein? schwoll in seinem Kopfe an wie aufsteigende
Blasen und zerplatzte, und ja oder nein?... ja oder nein? schwoll
es immer und immer wieder an, unaufhörlich, in einem stampfenden
Rhythmus, wie das Rollen eines Eisenbahnzuges, wie das Nicken von
Blumen an zu hohen Stengeln, wie das Klopfen eines Hammers, das man
durch viele dünne Wände hindurch in einem stillen Hause hört ...
Dieses aufdringliche, selbstgefällige ja oder nein? widerte Törleß
an. Seine Freude war unecht, es hopste so lächerlich.

Und schließlich, als er auffuhr, schien es sein eigener Kopf zu
sein, der da nickte, auf den Schultern rollte, oder im Takte auf und
niederschlug ...

Endlich schwieg alles in Törleß. Vor seinen Augen war nur eine weite,
schwarze Fläche, die sich kreisrund nach allen Seiten hin ausdehnte.

Da kamen ... weit vom Rande her ... zwei kleine, wackelnde Figürchen --
quer über den Tisch. Das waren offenbar seine Eltern. Aber so klein,
daß er für sie nichts empfinden konnte.

Auf der anderen Seite verschwanden sie wieder.

Dann kamen wieder zwei; -- doch halt, da lief einer von rückwärts
an ihnen vorbei -- mit Schritten, die doppelt so lang waren als sein
Körper -- und schon war er hinter die Kante getaucht; war es nicht
Beineberg gewesen? -- Nun die zwei, der eine von ihnen war ja doch
der Mathematikprofessor? Törleß erkannte ihn an dem Sacktüchlein, das
kokett aus der Tasche schaute. Aber der andere? Der mit dem sehr,
sehr dicken Buch unter dem Arm, das halb so hoch war als er selbst?
Der sich kaum damit schleppen konnte?... Bei jedem dritten Schritte
blieben sie stehen und legten das Buch auf die Erde. Und Törleß hörte
die piepsige Stimme seines Lehrers sagen: Wenn dem so sein soll,
finden wir das richtige auf Seite zwölf, Seite zwölf verweist uns
weiter an Seite zweiundfünfzig, dann gilt aber auch das, was auf
Seite einunddreißig bemerkt wurde, und unter dieser Voraussetzung
... Dabei standen sie über das Buch gebückt und griffen mit den Händen
hinein, daß die Blätter stoben. Nach einer Weile richteten sie sich
wieder auf, und der andere streichelte fünf- oder sechsmal die Wangen
des Professors. Dann kamen abermals ein paar Schritte nach vorwärts
und Törleß hörte von neuem die Stimme, genau so, wie wenn sie im
Mathematikunterricht einen Bandwurm von Beweis abfingerte. Solange,
bis der andere wieder den Professor streichelte.

Dieser andere ...? Törleß zog die Brauen zusammen, um besser zu
sehen. Trug er nicht einen Zopf? Und etwas altertümliche Kleidung?
Sehr altertümliche? Seidene Kniehosen sogar? War das nicht ...? O!
Und Törleß wachte mit einem Schrei auf: Kant!

Im nächsten Augenblicke lächelte er; es war ganz still umher, die
Atemzüge der Schlafenden waren leise geworden. Auch er hatte
geschlafen. Und in seinem Bette war es einstweilen warm geworden.
Er dehnte sich behaglich unter der Decke entlang.

»Ich habe also von Kant geträumt,« dachte er, »warum nicht länger?
Vielleicht hätte er mir doch etwas ausgeplaudert.« Er erinnerte sich
nämlich, wie er einstens, in Geschichte nicht vorbereitet, während der
ganzen Nacht so lebhaft von den betreffenden Personen und Ereignissen
geträumt hatte, daß er am nächsten Tag davon erzählen konnte, als
wäre er selbst mit dabei gewesen, und die Prüfung mit Auszeichnung
bestand. Und nun fiel ihm auch Beineberg wieder ein, Beineberg und
Kant -- das gestrige Gespräch.

Langsam zog sich der Traum von Törleß zurück -- langsam, wie eine
seidene Decke, die über die Haut eines nackten Körpers hinuntergleitet,
ohne ein Ende zu nehmen.

Aber doch wich sein Lächeln bald wieder einer sonderbaren Unruhe. War
er denn in seinen Gedanken auch nur um einen Schritt wirklich weiter
gekommen? Konnte er denn auch nur _etwas_ aus diesem Buche ersehen,
das die Lösung aller Rätsel enthalten sollte? Und sein Sieg? Gewiß,
es war nur seine unerwartete Lebhaftigkeit gewesen, die Beineberg zum
Schweigen gebracht hatte ...

Abermals bemächtigte sich eine tiefe Unlust und förmlich körperliche
Übelkeit seiner. So lag er Minuten lang, vom Ekel ganz ausgehöhlt.

Dann aber trat plötzlich wieder die Empfindung in sein Bewußtsein,
wie sein Körper an allen Stellen von der milden, lauwarmen Leinwand des
Bettes berührt wurde. Behutsam, ganz langsam und behutsam drehte
Törleß den Kopf. Richtig, dort lag noch das fahle Viereck auf dem
Estrich -- mit ein wenig verschobenen Seiten zwar, aber noch kroch
auch jener gewundene Schatten hindurch. Ihm war, als liege dort eine
Gefahr gekettet, die er aus seinem Bette heraus, wie durch Gitterstäbe
geschützt, mit der Ruhe der Sicherheit betrachten könne.

In seiner Haut, rings um den ganzen Körper herum, erwachte dabei ein
Gefühl, das plötzlich zu einem Erinnerungsbilde wurde. Als er ganz
klein war -- ja, ja, das war's, -- als er noch Kleidchen trug und
noch nicht in die Schule ging, hatte er Zeiten, da in ihm eine ganz
unaussprechliche Sehnsucht war, ein Mäderl zu sein. Und auch diese
Sehnsucht saß nicht im Kopfe -- o nein -- auch nicht im Herzen -- sie
kitzelte im ganzen Körper und jagte rings unter der Haut umher. Ja
es gab Augenblicke, wo er sich so lebhaft als kleines Mädchen fühlte,
daß er glaubte, es könne gar nicht anders sein. Denn er wußte damals
nichts von der Bedeutung körperlicher Unterschiede und er verstand
es nicht, warum man ihm von allen Seiten sagte, er müsse nun wohl
für immer ein Knabe bleiben. Und wenn man ihn fragte, warum er denn
glaube, lieber ein Mäderl zu sein, so fühlte er, daß sich das gar
nicht sagen lasse ...

Heute spürte er zum ersten Male wieder etwas Ähnliches. Wieder nur so
rings unter der Haut umher.

Etwas, das Körper und Seele zugleich zu sein schien. Ein Jagen und
Hasten, das sich tausendfältig, wie mit samtenen Fühlfäden von
Schmetterlingen an seinem Körper stieß. Und zugleich jenes Trotzen,
mit dem kleine Mädchen flüchten, wenn sie fühlen, daß sie von den
Erwachsenen ohnedies nicht verstanden werden, die Arroganz, mit
der sie dann über die Erwachsenen kichern, diese furchtsame, stets
wie zu schnellem Davonlaufen bereite Arroganz, die fühlt, daß sie sich
jeden Augenblick in irgendein furchtbar tiefes Versteck in dem kleinen
Körper zurückziehen könne ...

Törleß lachte leise vor sich hin und abermals dehnte er sich behaglich
die Decke entlang.

Dieses wutzlige kleine Männchen, von dem er geträumt hatte, wie gierig
es die Seiten unter den Fingern jagte! Und das Viereck dort unten? Ha,
ha. Ob so gescheite Männchen wohl je in ihrem Leben so etwas bemerkt
haben? Er kam sich unendlich gesichert gegen diese gescheiten Menschen
vor und zum ersten Male fühlte er, daß er in seiner Sinnlichkeit --
denn daß es diese sei, wußte er nun schon lange -- etwas hatte,
das ihm keiner zu nehmen vermochte, das auch keiner nachzumachen
vermochte, etwas, das ihn wie eine höchste, versteckteste Mauer gegen
alle fremde Klugheit schützte.

Ob so gescheite Männchen wohl je in ihrem Leben, spann er dies weiter,
unter einer einsamen Mauer gelegen und bei jedem Rieseln hinter dem
Mörtel erschrocken sind, als ob etwas Totes da Worte suche, um zu
ihnen zu sprechen? Ob sie wohl je so die Musik, die der Wind in den
herbstlichen Blättern anfacht, gefühlt haben, -- so durch und durch
gefühlt haben, daß dahinter plötzlich ein Schreck stand, ... der sich
langsam, langsam in eine Sinnlichkeit verwandelte? Aber in eine so
merkwürdige Sinnlichkeit, die mehr wie ein Flüchten und dann wie ein
Auslachen ist. O, es ist leicht gescheit zu sein, wenn man alle diese
Fragen nicht kennt ...

Dazwischen aber schien immer wieder das kleine Männchen riesig zu
wachsen, mit einem unerbittlich strengen Gesicht, und jedesmal zuckte
es wie ein elektrischer Schlag schmerzhaft von Törleß' Gehirn durch
den Körper. Der ganze Schmerz darüber, daß er noch immer vor einem
verschlossenen Tore stehen müsse, das eben, was noch im Augenblick
vorher die warmen Schläge seines Blutes weggedrängt hatten, -- erwachte
dann wieder und eine wortlose Klage flutete durch Törleß' Seele, wie
das Heulen eines Hundes, das über die weiten, nächtlichen Felder
zittert.

So schlief er ein. Noch im Halbschlaf blickte er ein paarmal zu dem
Fleck beim Fenster hinüber, so wie man mechanisch nach einem haltenden
Seile greift, um zu fühlen, ob es noch gespannt sei. Dann tauchte
unklar der Vorsatz auf, daß er morgen nochmals ganz genau über
sich nachdenken werde -- am besten mit Feder und Papier -- dann,
ganz zuletzt, war nur die angenehme, laue Wärme -- wie ein Bad und
eine sinnliche Regung -- die ihm aber als solche gar nicht mehr zu
Bewußtsein kam, sondern in irgendeiner durchaus unerkennbaren, aber
sehr nachdrücklichen Weise mit Basini verknüpft war.

Dann schlief er fest und traumlos.

                   *       *       *       *       *

Und doch war dies das erste, womit er am nächsten Tage aufwachte. Nun
hätte er gar zu gerne gewußt, was es eigentlich war, das er da zum
Schlusse von Basini halb gedacht und halb geträumt hatte, aber er war
nicht imstande sich darauf noch zu besinnen.

So blieb nur eine zärtliche Stimmung davon zurück, wie sie um die
Weihnachtszeit in einem Hause herrscht, wo die Kinder wissen, daß
die Geschenke schon da sind, aber noch dort hinter der geheimnisvollen
Tür versperrt, durch deren Fugen man nur hie und da einen Strahl vom
Lichterglanze dringen sieht.

Am Abend blieb Törleß in der Klasse; Beineberg und Reiting waren
irgendwohin verschwunden, wahrscheinlich in die Kammer am Dachboden;
Basini saß vorne auf seinem Platze, den Kopf mit beiden Händen über
ein Buch gestützt.

Törleß hatte sich ein Heft gekauft und richtete sorgfältig Feder und
Tinte zurecht. Dann schrieb er auf die erste Seite, nach einigem
Zögern: =De natura hominum=; er glaubte den lateinischen Titel dem
philosophischen Gegenstande schuldig zu sein. Dann zog er einen großen,
kunstvollen Schnörkel um die Überschrift und lehnte sich in seinen
Stuhl zurück, um zu warten, bis diese trockne.

Aber dies war schon lange geschehen und er hatte noch immer nicht
wieder zur Feder gegriffen. Etwas hielt ihn unbeweglich fest. Es war
die hypnotische Stimmung der großen, heißen Lampen, der tierischen
Wärme, die von dieser Masse von Menschen ausging. Er war immer
empfänglich für diesen Zustand gewesen, der sich bei ihm bis zu
körperlichem Fiebergefühle steigern konnte, das stets mit einer
außerordentlichen Empfindlichkeit des Geistes verbunden war. So auch
heute. Er hatte sich längst schon untertags zurechtgelegt, was er
eigentlich notieren wolle: die ganze Reihe jener gewissen bisherigen
Erfahrungen von dem Abend bei Božena an bis zu jener unbestimmten
Sinnlichkeit, die sich die letzten Male bei ihm eingestellt hatte.
Wenn dann alles geordnet, Faktum für Faktum aufgezeichnet sein werde,
hoffte er, werde sich auch die richtige, verstandesgesetzmäßige
Fassung von selbst ergeben, wie die Form einer umhüllenden Linie aus
dem wirren Bilde sich hundertfältig schneidender Kurven heraustritt.
Und mehr wollte er nicht. Aber es war ihm bisher wie einem Fischer
ergangen, der zwar am Zucken des Netzes fühlt, daß ihm eine schwere
Beute ins Garn gegangen ist, aber trotz aller Anstrengungen nicht
vermag, sie ans Licht zu heben.

Und nun begann Törleß doch noch zu schreiben, -- aber hastig und ohne
mehr auf die Form zu achten. »Ich fühle«, notierte er, »etwas in mir
und weiß nicht recht, was es ist.« Rasch strich er aber die Zeile
wieder durch und schrieb an ihrer Stelle: »Ich muß krank sein --
wahnsinnig!« Hier überlief ihn ein Schauer, denn dieses Wort empfindet
sich angenehm pathetisch. »Wahnsinnig, -- oder was ist es sonst, daß
mich Dinge befremden, die den anderen alltäglich erscheinen? Daß
mich dieses Befremden quält? Daß mir dieses Befremden unzüchtige
Gefühle« -- er wählte absichtlich dieses Wort voll biblischer
Salbung, weil ihn dunkler und voller dünkte, -- »erregt? Ich bin dem
früher gegenübergestanden wie jeder junge Mann, wie alle meine
Kameraden ...« Da stockte er aber. »Ist das denn auch wahr?« dachte
er sich; »bei Božena zum Beispiel war es doch schon so eigen; wann
hat es also eigentlich angefangen?... Egal,« dachte er, »einmal
jedenfalls.« Aber er ließ doch den Satz unvollendet.

»Welche Dinge sind es, die mich befremden? Die unscheinbarsten.
Meistens leblose Sachen. Was befremdet mich an ihnen? Ein Etwas,
das ich nicht kenne. Aber das ist es ja eben! Woher nehme ich dieses
»Etwas«? Ich empfinde sein Dasein; es wirkt auf mich; so, als ob es
sprechen wollte. Ich bin in der Aufregung eines Menschen, der einem
Gelähmten die Worte von den Verzerrungen des Mundes ablesen soll und es
nicht zuwege bringt. So, als ob ich einen Sinn mehr hätte als die
anderen, aber einen nicht fertig entwickelten, einen Sinn, der da ist,
sich bemerkbar macht, aber nicht funktioniert. Die Welt ist für mich
voll lautloser Stimmen: bin ich daher ein Seher oder ein Halluzinierter?

Aber nicht nur das Leblose wirkt so auf mich; nein, was mich viel mehr
in Zweifel stürzt, auch die Menschen. Vor einem gewissen Zeitpunkt
sah ich sie, wie sie sich selbst sehen. Beineberg und Reiting zum
Beispiel, -- sie haben ihre Kammer, eine ganz gewöhnliche, verborgene
Bodenkammer, weil es ihnen Spaß macht, einen solchen Rückzugsort zu
besitzen. Das eine tun sie, weil sie auf den zornig sind, das andere,
weil sie dem Einflusse jenes zweiten bei den Kameraden vorbeugen
wollen. Lauter verständliche klare Gründe. Heute aber erscheinen
sie mir manchmal, als hätte ich einen Traum, und sie seien Figuren
darin. Nicht ihre Worte, nicht ihre Handlungen allein, nein, alles
an ihnen, verbunden mit ihrer körperlichen Nähe, wirkt mitunter so
auf mich, wie es die leblosen Dinge tuen. Und doch höre ich sie
nebenbei immer wieder genau so sprechen wie früher, sehe, daß ihre
Handlungen und ihre Worte sich noch immer genau nach denselben
Formen aneinanderreihen ... das will mich unaufhörlich belehren, daß
gar nichts Außerordentliches vorgehe und ebenso unaufhörlich lehnt
sich doch in mir etwas dagegen auf. Diese Veränderung begann, wenn ich
mich genau erinnere, mit Basinis ...«

Hier sah Törleß unwillkürlich zu diesem hinüber.

Basini saß noch immer über sein Buch gestützt und schien zu lernen.
Wie er ihn so da sitzen sah, schwiegen in Törleß die Gedanken, und
er hatte Gelegenheit, die reizvollen Qualen, die er eben beschrieb,
wieder am Werke zu fühlen. Denn so wie ihm zu Bewußtsein kam, wie
ruhig und harmlos Basini vor ihm sitze, durch gar nichts von den andern
rechts und links unterschieden, wurden die Erniedrigungen in ihm
lebendig, die Basini erlitten hatte. Wurden in ihm lebendig: -- das
heißt, daß er gar nicht daran dachte, mit jener gewissen Jovialität,
die die moralische Überlegung im Gefolge hat, sich zu sagen, daß es in
jedem Menschen liege, nach erduldeten Erniedrigungen möglichst schnell
wenigstens nach der äußeren Haltung des Unbefangenen wieder zu
trachten, sondern daß sich sofort in ihm etwas regte, wie eine
wahnsinnig kreiselnde Bewegung, die augenblicklich das Bild Basinis
zu den unglaublichsten Verrenkungen zusammenbog, dann wieder in
nie gesehenen Verzerrungen auseinanderriß, so daß ihm selbst davor
schwindelte. Dies waren allerdings nur Vergleiche, die er nachher
erfand. Im Augenblicke selbst hatte er nur das Gefühl, daß etwas in ihm
wie ein toller Kreisel aus der zusammengeschnürten Brust zum Kopfe
hinaufwirble, das Gefühl seines Schwindels. Dazwischen hinein sprangen
wie stiebende Farbenpunkte Gefühle, die er zu den verschiedenen Zeiten
von Basini empfangen hatte.

Eigentlich war es ja immer nur ein und dasselbe Gefühl gewesen. Und
ganz eigentlich überhaupt kein Gefühl, sondern mehr ein Erbeben ganz
tief am Grunde, das gar keine merklichen Wellen warf und vor dem
doch die ganze Seele so verhalten mächtig erzitterte, daß die Wellen
selbst der stürmischsten Gefühle daneben wie harmlose Kräuselungen der
Oberfläche erschienen.

Wenn ihm dieses eine Gefühl zu verschiedenen Zeiten dennoch verschieden
zu Bewußtsein gekommen war, so hatte dies darin seinen Grund, daß er
zur Ausdeutung dieser Woge, die den ganzen Organismus überflutete,
nur über die Bilder verfügte, welche davon in seine Sinne fielen, --
so wie wenn von einer unendlich sich in die Finsternis hinein
erstreckenden Dünung nur einzelne losgelöste Teilchen an den Felsen
eines beleuchteten Ufers in die Höhe spritzen, um gleich darauf
hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken.

Diese Impressionen waren daher unbeständig, wechselnd, von einem
Bewußtsein ihrer Zufälligkeit begleitet. Nie konnte Törleß sie
festhalten, denn, wie er genauer zusah, fühlte er, daß diese
Repräsentanten an der Oberfläche in gar keinem Verhältnis zu der
Wucht der dunklen ungehobenen Masse standen, die zu vertreten sie
vorgaben.

Nie »sah« er Basini irgendwie in körperlicher Plastik und Lebendigkeit
irgendeiner Pose, nie hatte er eine wirkliche Vision: immer nur
die Illusion einer solchen, gewissermaßen nur die Vision seiner
Visionen. Denn immer war es in ihm, als sei soeben ein Bild über
die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm, im
Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhaschen. Daher war
beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem
Kinematographen empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen
doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde,
das man empfängt, hunderte von -- für sich betrachtet ganz anderen --
Bildern vorbeihuschen.

Wo aber in ihm diese illusionierende -- und doch stets um ein unmeßbar
Kleines zu wenig illusionierende -- Kraft eigentlich zu suchen sei,
wußte er nicht. Er ahnte nur dunkel, daß sie mit jener rätselhaften
Eigenschaft seiner Seele zusammenhänge, auch von den leblosen Dingen,
den bloßen Gegenständen mitunter wie von hundert schweigenden,
fragenden Augen überfallen zu werden.

Törleß saß also ganz still und starr, sah unaufhörlich zu Basini
hinüber und war ganz in dem tollen Wirbeln seines Inneren befangen.
Und immer wieder tauchte daraus die eine Frage auf: Was ist das für
eine besondere Eigenschaft, die ich besitze? Allmählich sah er
weder Basini mehr, noch die heiß glosenden Lampen, noch fühlte er
die tierische Wärme ringsumher, noch das Summen und Brausen, das aus
einer Menge von Menschen, selbst wenn sie nur flüstern, aufsteigt. Wie
eine heiße, dunkel glühende Masse schwang das alles ununterschieden
im Kreise um ihn. Nur in den Ohren fühlte er ein Brennen und in den
Fingerspitzen eine eisige Kälte. Er befand sich in jenem Zustande
eines mehr seelischen als körperlichen Fiebers, den er sehr liebte.
Immer mehr wuchs diese Stimmung, der auch zärtliche Regungen
beigemengt waren, an. In diesem Zustande hatte er sich früher gerne
jenen Erinnerungen hingegeben, welche das Weib hinterläßt, wenn
sein warmer Atem zum ersten Male an solch einer jungen Seele
vorbeistreift. Und auch heute erwachte in ihm jene müde Wärme. Da:
eine Erinnerung ... Es war auf einer Reise ... in einer kleinen
italienischen Stadt ... er wohnte mit seinen Eltern in einem
Gasthofe nicht weit vom Theater. Jeden Abend gaben sie dort
dieselbe Oper und jeden Abend hörte er jedes Wort und jeden Ton
herüber. Aber er war der Sprache nicht mächtig. Und jeden Abend saß er
dennoch am offenen Fenster und hörte zu. Auf diese Weise verliebte
er sich in eine der Schauspielerinnen, ohne sie je gesehen zu haben. Er
war nie vom Theater so ergriffen worden wie damals; er empfand die
Leidenschaft der Melodien wie Flügelschläge großer dunkler Vögel, als
ob er die Linien fühlen könnte, die ihr Flug in seiner Seele zog. Es
waren keine menschlichen Leidenschaften mehr, die er hörte, nein, es
waren Leidenschaften, die aus den Menschen entflohen, wie aus zu
engen und zu alltäglichen Käfigen. Nie konnte er in dieser Erregung an
die Personen denken, welche dort drüben -- unsichtbar -- jene
Leidenschaften agierten; versuchte er sie sich vorzustellen, so
schossen augenblicks dunkle Flammen vor seinen Augen auf oder
unerhört gigantische Dimensionen, so wie in der Finsternis die
menschlichen Körper wachsen und menschliche Augen wie die Spiegel
tiefer Brunnen leuchten. Diese düstere Flamme, diese Augen im
Dunkel, diese schwarzen Flügelschläge liebte er damals unter dem
Namen jener ihm unbekannten Schauspielerin.

Und wer hatte die Oper geschaffen? Er wußte es nicht. Vielleicht war
der Text ein fader, sentimentaler Liebesroman. Hatte sein Schöpfer
gefühlt, daß er unter den Tönen zu etwas anderem wurde?

Ein Gedanke preßte Törleß am ganzen Körper zusammen. Sind auch die
Erwachsenen so? Ist die Welt so? Ist es ein allgemeines Gesetz, daß
etwas in uns ist, das stärker, größer, schöner, leidenschaftlicher,
dunkler ist als wir? Worüber wir so wenig Macht haben, daß wir nur
ziellos tausend Samenkörner streuen können, bis aus einem plötzlich
eine Saat wie eine dunkle Flamme schießt, die weit über uns
hinauswächst?... Und in jedem Nerv seines Körpers bebte ein
ungeduldiges Ja als Antwort.

Törleß sah mit glänzenden Augen um sich. Noch immer waren die Lampen,
die Wärme, das Licht, die emsigen Menschen da. Aber er kam sich unter
all dem wie ein Auserwählter vor. Wie ein Heiliger, der himmlische
Gesichte hat -- denn von der Intuition großer Künstler wußte er nichts.

Hastig, mit der Geschwindigkeit der Angst, griff er nach der Feder und
notierte sich einige Zeilen über seine Entdeckung; noch einmal schien
es in seinem Innern weithin wie ein Licht zu sprühen, -- -- -- -- --
dann brach ein aschgrauer Regen über seine Augen und der bunte Glanz
in seinem Geiste erlosch.

                   *       *       *       *       *

... Aber die Episode mit Kant war nahezu gänzlich überwunden. Bei
Tage dachte Törleß überhaupt nicht mehr daran; die Überzeugung,
daß er selbst schon nahe der Lösung seiner Rätsel stehe, war viel zu
lebhaft in ihm, als daß er sich noch um die Wege eines anderen
bekümmert hätte. Seit dem letzten Abend war ihm, er habe den Griff
zu der Türe, die hinüberführe, schon in der Hand gefühlt, nur sei
er ihm wieder entglitten. Da er aber eingesehen hatte, daß er auf
die Hülfe philosophischer Bücher verzichten müsse, und auch kein
rechtes Vertrauen zu ihnen hatte, stand er ziemlich ratlos da, wie
er ihn wiedergewinnen wolle. Er machte einige Male Versuche in seinen
Aufzeichnungen fortzufahren, allein die geschriebenen Worte blieben
tot, eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeichen, ohne
daß jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen
hindurch wie in ein von zitternden Kerzenflammen erhelltes Gewölbe
geblickt hatte.

Daher beschloß er, so oft als möglich, immer und immer wieder die
Situationen zu suchen, welche jenen für ihn so eigentümlichen Gehalt in
sich trugen; und besonders häufig ruhte sein Blick auf Basini, wenn
dieser, sich unbeobachtet glaubend, harmlos unter den anderen sich
bewegte. »Einmal«, dachte sich Törleß, »wird es schon wieder lebendig
werden und dann vielleicht lebhafter und klarer als bisher.« Und
er wurde ganz beruhigt durch diesen Gedanken, daß man sich solchen
Dingen gegenüber einfach in einem finsteren Raume befinde und einem
nichts übrig bleibe, als, wenn man die richtige Stelle wieder unter
den Fingern verloren hat, nochmals und nochmals aufs Geratewohl die
dunklen Wände abzutasten.

In den Nächten jedoch verfärbte sich dieser Gedanke ein wenig. Es
überkam ihn da doch eine gewisse Beschämung darüber, daß er sich an
seinem ursprünglichen Vorsatze, aus dem Buche, das ihm sein Lehrer
gezeigt hatte, sich die vielleicht doch darin enthaltene Erklärung
zu holen, so vorbeigedrückt hatte. Er lag dann ruhig und horchte zu
Basini hinüber, dessen geschändeter Körper friedlich wie die aller
anderen atmete. Er lag ruhig, wie ein Jäger auf dem Anstande, mit dem
Gefühle, daß die also verwartete Zeit ihren Lohn schon noch bringen
werde. Sowie aber der Gedanke an das Buch auftauchte, nagte ein
feinzahniger Zweifel an dieser Ruhe, eine Ahnung, daß er Unnützes
tue, ein zögerndes Geständnis einer erlittenen Niederlage.

Sobald dieses unklare Gefühl sich geltend machte, verlor seine
Aufmerksamkeit das Behagliche, mit dem man der Entwicklung eines
wissenschaftlichen Experimentes zusieht. Ein körperlicher Einfluß
schien dann von Basini auszugehen, ein Reiz, wie wenn man in der Nähe
eines Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen
kann. Ein Kitzel im Gehirn, der von dem Bewußtsein ausgeht, daß man
nur die Hand auszustrecken brauche. Das, was junge Paare häufig zu
Ausschweifungen treibt, die weit über ihr sinnliches Bedürfnis
hinausgehen.

                   *       *       *       *       *

Je nach der Lebhaftigkeit, mit der ihm einfiel, daß sein Unterfangen
ihm vielleicht lächerlich erscheinen müßte, wenn er das alles wüßte,
was Kant, was sein Professor, was alle die wissen, welche mit ihren
Studien fertig sind, je nach der Stärke dieser Erschütterung waren
die sinnlichen Antriebe schwächer oder stärker, welche trotz der
Stille des allgemeinen Schlafes seine Augen heiß und offen hielten.
Ja zeitweilig loderten sie so mächtig in ihm empor, daß sie jeden
anderen Gedanken erstickten. Wenn er sich in diesen Augenblicken
halb willig, halb verzweifelt ihren Einflüsterungen hingab, so ging
es ihm nur, wie es allen Menschen geht, die ja auch nie so sehr zu
einer tollen, ausschweifenden, so sehr die Seele zerreißenden, mit
wollüstiger Absicht zerreißenden, Sinnlichkeit neigen, als dann,
wenn sie einen Mißerfolg erlitten haben, der das Gleichgewicht ihres
Selbstbewußtseins erschüttert. -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wenn er dann nach Mitternacht endlich in unruhigem Schlummer lag,
schien ihm einige Male, daß jemand aus der Gegend um Reitings oder
Beinebergs Bett aufstand, seinen Mantel nahm und zu Basini hintrat.
Dann verließen sie den Saal.... ... Aber es konnte auch eine
Einbildung gewesen sein. -- -- -- -- -- --

                   *       *       *       *       *

Es kamen zwei Feiertage; da sie auf einen Montag und Dienstag fielen,
ließ der Direktor den Zöglingen schon den Samstag frei und es gab
viertägige Ferien. Für Törleß war dies jedoch zu wenig, um die weite
Reise nach Hause machen zu können; er hatte deswegen gehofft, daß
wenigstens seine Eltern ihn besuchen würden, allein sein Vater wurde
durch dringende Geschäfte im Ministerium festgehalten und die Mutter
fühlte sich unwohl, so daß sie sich nicht allein den Anstrengungen der
Reise aussetzen konnte.

Erst als Törleß den Brief erhielt, in dem ihm seine Eltern absagten
und viele zärtliche Tröstungen hinzufügten, fühlte er, daß es ihm
so eigentlich ganz recht sei. Er hätte es beinahe als eine Störung
empfunden, -- zumindest hätte es ihn arg verwirrt, -- wenn er seinen
Eltern im jetzigen Zeitpunkte hätte gegenübertreten müssen.

Viele Zöglinge erhielten Einladungen auf naheliegende Besitzungen.
Auch Dschjusch, dessen Eltern eine Tagreise im Wagen von der kleinen
Stadt entfernt ein schönes Gut besaßen, nahm Urlaub und Beineberg,
Reiting, Hofmeier begleiteten ihn. Auch Basini war von Dschjusch
eingeladen worden, allein Reiting hatte ihm befohlen abzulehnen.
Törleß schützte vor, daß er nicht wisse, ob seine Eltern nicht doch
noch kommen würden; er fühlte sich absolut nicht zu harmlos heiteren
Festlichkeiten und Unterhaltungen gelaunt.

Samstag mittag schon lag das große Haus schweigend und nahezu verlassen
da.

Wenn Törleß durch die Gänge schritt, so widerhallte es von einem Ende
zum andern; kein Mensch bekümmerte sich um ihn, denn auch die
meisten Lehrer waren zur Jagd oder sonst irgendwohin gefahren. Nur
bei den Mahlzeiten, die jetzt in einem kleinen Zimmer neben dem
verlassenen Speisesaale serviert wurden, sahen sich die wenigen
zurückgebliebenen Zöglinge; nach Tisch zerstreuten sich ihre Schritte
wieder in der weiten Flucht der Gänge und Zimmer, das Schweigen des
Hauses verschlang sie gleichsam, und sie führten in der Zwischenzeit
ein Leben, nicht mehr beachtet, als das der Spinnen und Tausendfüßer
in Keller und Boden.

Von Törleß' Klasse waren nur er und Basini zurückgeblieben, einige
andere ausgenommen, welche in den Krankenzimmern lagen. Beim Abschied
hatte Törleß noch einige heimliche Worte mit Reiting gewechselt, welche
sich auf Basini bezogen. Reiting fürchtete nämlich, daß Basini die
Gelegenheit benützen könnte, um bei einem der Lehrer Schutz zu suchen,
und er legte Törleß ans Herz, ihn sorgsam zu überwachen.

Es bedurfte dessen jedoch gar nicht, um Törleß' Aufmerksamkeit auf
Basini zu sammeln.

Kaum hatte sich die Unruhe der vorfahrenden Wagen, der koffertragenden
Diener, der mit Scherzen voneinander Abschied nehmenden Zöglinge aus
dem Hause verloren, als das Bewußtsein seines Alleinseins mit Basini
herrisch von Törleß Besitz ergriff.

Das war nach dem ersten Mittagmahle. Basini saß vorne auf seinem Platze
und schrieb an einem Briefe; Törleß hatte sich in die hinterste Ecke
des Zimmers gesetzt und versuchte zu lesen.

Es war zum ersten Male wieder das gewisse Buch und Törleß hatte
sich die Situation sorgsam so ausgedacht gehabt: Vorne saß Basini,
rückwärts er, mit den Augen ihn festhaltend, sich in ihn hineinbohrend.
Und so wollte er lesen. Nach jeder Seite sich tiefer in Basini
hineinsenkend. So mußte es gehen; so mußte er die Wahrheiten finden,
ohne das Leben, das lebendige, komplizierte, fragwürdige Leben, aus den
Händen zu verlieren ...

Aber es ging nicht. Wie immer, wenn er sich etwas allzu sorgfältig
vorher ausdachte. Es war zu wenig unvermittelt und die Stimmung
erlahmte rasch zu einer zähen, breiigen Langeweile, die sich eklig
an jeden der viel zu absichtlich immer wieder erneuten Versuche klebte.

Törleß warf wütend das Buch zur Erde. Basini sah sich erschreckt um,
fuhr aber gleich wieder hastig fort zu schreiben.

So krochen die Stunden der Dämmerung zu. Törleß saß ganz stumpfsinnig.
Das einzige, was sich aus einem dumpfen, surrenden, brummenden
Allgemeingefühle heraus in sein Bewußtsein hob, war das Ticken seiner
Taschenuhr. Wie ein kleines Schwänzchen wackelte es hinter dem
trägen Leib der Stunden her. Im Zimmer wurde es verschwommen ...
Basini konnte doch längst nicht mehr schreiben ... »Ah, wahrscheinlich
traut er sich nicht Licht zu machen«, dachte sich Törleß. Saß er
aber überhaupt noch auf seinem Platze? Törleß hatte in die kahle,
dämmerige Landschaft hinausgesehen und mußte sein Auge erst an das
Dunkel des Zimmers gewöhnen. Doch. Dort, der unbewegliche Schatten, das
wird er wohl sein. Ach, er seufzt ja sogar -- einmal, ... zweimal ...
oder schläft er am Ende?

Ein Diener kam und zündete die Lampen an. Basini fuhr auf und rieb
sich die Augen. Dann nahm er ein Buch aus der Lade und schien lernen
zu wollen.

Törleß brannte es auf den Lippen ihn anzusprechen, und um dem
vorzubeugen, verließ er hastig das Zimmer.

                   *       *       *       *       *

In der Nacht hätte Törleß beinahe Basini überfallen. Solch eine
mörderische Sinnlichkeit war in ihm nach der Pein des gedankenlosen,
stumpfsinnigen Tages erwacht. Zum Glück erlöste ihn noch rechtzeitig
der Schlaf.

Der nächste Tag verging. Er hatte nichts als die gleiche
Unfruchtbarkeit der Stille gebracht. Das Schweigen -- die Erwartung
überreizten Törleß, -- die beständige Aufmerksamkeit verzehrte alle
geistigen Kräfte, so daß er zu jedem Gedanken unfähig blieb.

Zerschlagen, enttäuscht, bis zu den ärgsten Zweifeln mit sich
unzufrieden, legte er sich frühzeitig zu Bett.

Er lag schon lange in einem ruhelosen, erhitzten Halbschlafe, als er
Basini kommen hörte.

Ohne sich zu regen, folgte er mit den Augen der dunklen Gestalt, die
an seinem Bette vorbeischritt; er hörte das Geräusch, welches durch
das Lösen der Kleidung verursacht wurde; dann das Knistern der über
den Körper gezogenen Decke.

Törleß hielt den Atem an, dennoch vermochte er nichts mehr zu hören.
Und doch verließ ihn nicht das Gefühl, daß Basini nicht schlafe,
sondern ebenso angestrengt wie er durch das Dunkel horche.

So vergingen Viertelstunden -- Stunden. Hie und da nur durch das leise
Geräusch der sich im Bette bewegenden Körper unterbrochen.

Törleß befand sich in einem eigentümlichen Zustande, der ihn wach
erhielt. Gestern waren es sinnliche Bilder der Einbildungskraft
gewesen, in denen er gefiebert hatte. Erst ganz zum Schlusse hatten
sie eine Wendung zu Basini genommen, gleichsam sich unter der
unerbittlichen Hand des Schlafes, der sie verlöschte, zum letzten Male
aufgebäumt, und er hatte gerade daran nur eine ganz dunkle Erinnerung.
Heute aber war es von Anfang an nichts als ein triebhafter Wunsch
aufzustehen und zu Basini hinüber zu gehen. Solange er das Gefühl
gehabt hatte, daß Basini wache und zu ihm herüber horche, war es kaum
auszuhalten gewesen; und jetzt, da dieser doch wohl schon schlief,
lag erst recht ein grausamer Kitzel darin, den Schlafenden wie eine
Beute zu überfallen.

Törleß spürte schon die Bewegungen des Sichaufrichtens und aus dem
Bette Steigens in allen Muskeln zucken. Trotzdem vermochte er aber
noch nicht seine Reglosigkeit abzuschütteln.

»Was soll ich denn eigentlich bei ihm?« fragte er sich in seiner
Angst fast laut. Und er mußte sich gestehen, daß die Grausamkeit
und Sinnlichkeit in ihm gar kein rechtes Ziel hatte. Er wäre in
Verlegenheit gekommen, wenn er sich wirklich auf Basini gestürzt
hätte. Er wollte ihn doch nicht prügeln? Gott bewahre! Und in welcher
Weise sollte sich denn seine sinnliche Erregung an ihm befriedigen?
Er empfand unwillkürlich einen Abscheu, als er an die verschiedenen
kleinen Knabenlaster dachte. Sich vor einem anderen Menschen so
bloßstellen? Nie!...

In dem Maße aber, als dieser Abscheu wuchs, wurde auch der Antrieb
stärker, zu Basini hinüber zu gehen. Schließlich war Törleß ganz
von der Unsinnigkeit eines solchen Unterfangens durchdrungen, aber
ein förmlich physischer Zwang schien ihn wie an einem Seile aus dem
Bette zu ziehen. Und während alle Bilder aus seinem Kopfe wichen
und er sich unaufhörlich sagte, daß es jetzt wohl am besten wäre,
den Schlaf zu suchen, richtete er sich mechanisch von seinem Lager
auf. Ganz langsam -- er fühlte ordentlich, wie dieser seelische Zwang
nur Schritt für Schritt gegen die Widerstände Boden gewann -- richtete
er sich auf. Erst einen Arm ... dann stützte er den Oberkörper auf,
dann schob er ein Knie unter der Decke hervor ... dann ... doch
plötzlich eilte er mit bloßen Füßen auf den Zehen zu Basini hinüber
und setzte sich auf den Rand des Bettes.

Basini schlief.

Er sah ganz so aus, als ob er angenehm träumte.

Törleß war noch immer nicht Herr seiner Handlungen. Einen Augenblick
saß er still und starrte dem Schlafenden ins Gesicht. Jene kurzen,
abgerissenen, gleichsam nur den Situationsbefund konstatierenden
Gedanken zuckten durch sein Gehirn, die man hat, wenn man ein
Gleichgewicht verliert, stürzt oder wenn einem ein Gegenstand aus den
Händen gerissen wird. Und ohne Besinnen faßte er Basini an der
Schulter und rüttelte ihn wach.

Der Schläfer reckte sich einige Male träge, dann fuhr er auf und
blickte Törleß mit schlafblöden Augen an.

Törleß erschrak; er war völlig verwirrt; seine Handlung kam ihm zum
ersten Male zur Besinnung, und er wußte nicht, was er nun weiter tun
solle. Er schämte sich furchtbar. Sein Herz klopfte hörbar. Worte der
Erklärung, Ausreden drängten sich auf seine Zunge. Er wollte Basini
fragen, ob er keine Streichhölzchen habe, ob er ihm nicht sagen könne,
wie viel Uhr es sei ...

Basini glotzte ihn noch immer ohne Verständnis an.

Schon zog Törleß, ohne ein Wort hervorgebracht zu haben, den Arm
zurück, schon glitt er von dem Bette herunter, um lautlos in das
seine zurückzuschleichen, -- da schien Basini die Situation erfaßt
zu haben und richtete sich mit einem Rucke auf.

Törleß blieb unschlüssig am Bettende stehen. Basini sah ihn noch
einmal mit einem fragenden, prüfenden Blicke an, dann stieg er vollends
aus dem Bette, schlüpfte in Mantel und Hausschuhe und ging mit
schlurfenden Schritten voran.

Törleß wurde es mit einem Schlage klar, daß dies nicht zum erstenmal
geschehe.

Im Vorbeigehen nahm er die Schlüssel zur Kammer, die er unter seinem
Kopfkissen versteckt gehabt hatte, mit. -- -- -- -- -- -- -- --

Basini schritt geradenwegs zur Bodenkammer voraus. Er schien mit dem
Wege, den man ihm damals doch noch verheimlicht hatte, inzwischen
genau bekannt geworden zu sein. Er hielt die Kiste fest, als Törleß
daraufstieg, er räumte die Kulissen zur Seite, umsichtig, mit diskreten
Bewegungen, wie ein geschulter Lakai.

Törleß sperrte auf und sie traten ein. Er stand mit dem Rücken zu
Basini und zündete die kleine Lampe an.

Als er sich umdrehte, stand Basini nackt vor ihm.

Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Der plötzliche Anblick
dieses nackten, schneeweißen Körpers, hinter dem das Rot der Wände zu
Blut wurde, blendete und bestürzte ihn. Basini war schön gebaut; an
seinem Leibe fehlte fast jede Spur männlicher Formen, er war von einer
keuschen, schlanken Magerkeit, wie der eines jungen Mädchens. Und
Törleß fühlte das Bild dieser Nacktheit wie heiße, weiße Flammen in
seinen Nerven auflodern. Er konnte sich der Macht dieser Schönheit
nicht entziehen. Er hatte vorher nicht gewußt, was Schönheit sei.
Denn was war ihm in seinem Alter Kunst, was kannte er schließlich
davon?! Ist sie doch bis zu einem gewissen Alter jedem in freier
Luft aufgewachsenen Menschen unverständlich und langweilig!

Hier aber war sie auf den Wegen der Sinnlichkeit zu ihm gekommen.
Heimlich, überfallend. Ein betörender warmer Atem strömte aus der
entblößten Haut, eine weiche, lüsterne Schmeichelei. Und doch war
etwas daran, das zum Händefalten feierlich und bezwingend war.

Aber nach der ersten Überraschung schämte sich Törleß des einen wie
des anderen. »Es ist doch ein Mann!« Der Gedanke empörte ihn, aber ihm
war zumute, als ob ein Mädchen nicht anders sein könnte.

Beschämt herrschte er Basini an: »Was fällt dir denn ein?! Gleich wirst
du wieder ..!!«

Nun schien _dieser_ bestürzt; zögernd und ohne die Augen von Törleß
zu lassen, nahm er den Mantel vom Boden auf.

»Da, setz dich!« wies Törleß Basini an. Dieser gehorchte. Törleß lehnte
mit hinter dem Rücken gekreuzten Händen an der Wand.

»Warum hast du dich ausgezogen? Was wolltest du von mir?«

»Nun ich dachte ...«

Zögern.

»Was dachtest du?«

»Die anderen ...«

»Was die anderen?«

»Beineberg und Reiting ...«

»Was Beineberg und Reiting? Was taten sie? Du mußt mir alles erzählen!
Ich will es so; verstehst du? Obwohl ich es schon von den andern gehört
habe.« Törleß wurde bei dieser unbeholfenen Lüge rot. Basini biß sich
die Lippen.

»Nun, wird's?!«

»Nein, verlange nicht, daß ich erzähle! Bitte, verlange es nicht! Ich
will ja alles tun, was du willst. Aber laß mich nicht erzählen... O,
du hast solch eine besondere Art mich zu quälen ..!« Haß, Angst und
eine flehentliche Bitte kämpften in den Augen Basinis. Törleß lenkte
unwillkürlich ein.

»Ich will dich gar nicht quälen. Ich will dich nur zwingen, selbst die
volle Wahrheit zu sagen. Vielleicht in deinem Interesse.«

»Aber ich habe doch gar nichts getan, was besonderen Erzählens wert
wäre.«

»So? Warum aber hast du dich dann ausgezogen?«

»Sie verlangten es so.«

»Und warum hast du getan, was sie verlangten? Du bist also feig?
Erbärmlich feig?«

»Nein, ich bin nicht feig! Sag das nicht!«

»Wirst du den Mund halten! Wenn du ihre Prügel fürchtest, so könnten
dir die meinen auch nicht schlecht bekommen!«

»Ich fürchte aber gar nicht ihre Prügel.«

»So? Was denn?«

Törleß sprach wieder ruhig. Seine rohe Drohung ärgerte ihn bereits.
Aber unwillkürlich war sie ihm entschlüpft, lediglich weil ihm schien,
daß sich Basini ihm gegenüber mehr herausnehme als gegen die anderen.

»Wenn du dich, wie du sagst, nicht fürchtest, was ist dann mit dir?«

»Sie sagen, wenn ich ihnen zu Willen sei, werde mir nach einiger Zeit
alles verziehen werden.«

»Von ihnen beiden?«

»Nein, überhaupt.«

»Wie können sie das versprechen; ich bin doch auch noch da!«

»Hiefür werden schon sie sorgen, sagen sie!«

Dies gab Törleß einen Schlag. Beinebergs Worte, daß Reiting
gegebenenfalls gegen ihn gerade so handeln würde wie gegen Basini,
fielen ihm ein. Und wenn es wirklich zu einer Intrige gegen ihn käme,
wie sollte er ihr begegnen? Er war den beiden in derlei nicht
gewachsen, wie weit würden sie es treiben können? Wie mit Basini?...
Alles in ihm lehnte sich gegen diesen hämischen Einfall auf.

Minuten verstrichen zwischen ihm und Basini. Er wußte, daß es ihm an
Wagemut und Ausdauer zu derlei Ränken gebrach; aber nur deswegen,
weil er sich zu wenig dafür interessierte, weil er nie seine ganze
Persönlichkeit im Spiele fühlte. Er hatte immer mehr dabei zu verlieren
als zu gewinnen gehabt. Käme dies aber einmal anders, so fühlte er,
daß auch eine ganz andere Zähigkeit und Tapferkeit in ihm sein würde.
Nur wissen müßte man, wann es Zeit sei, alles aufs Spiel zu setzen.

»Haben sie dir näheres gesagt?... wie sie sich das denken?... Das
meinetwegen?«

»Näheres? Nein. Sie sagten nur, daß sie schon sorgen würden.«

Dennoch ... eine Gefahr lag nun da ... irgendwo im Versteck ... und
lauerte auf Törleß ... jeder Schritt konnte in eine Fußangel
fallen, jede Nacht konnte die letzte vor Kämpfen sein. Eine
ungeheure Unsicherheit lag in diesem Gedanken. Das war kein lässiges
Sichtreibenlassen mehr, kein Spielen mit rätselhaften Gesichten, -- das
hatte harte Ecken und war fühlbare Wirklichkeit.

Das Gespräch fing wieder an.

»Und was tun sie mit dir?«

Basini schwieg.

»Wenn es dir mit deiner Besserung ernst ist, mußt du mir alles sagen.«

»Sie lassen mich auskleiden.«

»Ja, ja, das sah ich doch, ... und dann ....«

Eine kleine Weile verstrich und plötzlich sagte Basini:

»Verschiedenes.«

Er sagte es mit einer weibischen, buhlerischen Betonung.

»Du bist also ihre ... Mai...tresse?«

»O nein, ich bin ihr Freund!«

»Wie kannst du dich unterstehen, das zu sagen!«

»Sie sagen es selbst.«

»Was?...«

»Ja, Reiting.«

»So, Reiting?«

»Ja, er ist sehr freundlich zu mir. Meist muß ich mich ausziehen und
ihm etwas aus Geschichtsbüchern vorlesen; von Rom und seinen Kaisern,
von den Borgias, von Timur Chan ... na du weißt schon, lauter solch
blutige, große Sachen. Dann ist er sogar zärtlich gegen mich.

                   *       *       *       *       *

Nur nachher schlägt er mich meistens ...«

»Wonach?!!...... Ach so!«

»Ja. Er sagt, wenn er mich nicht schlagen würde, so müßte er glauben,
ich sei ein Mann, und dann dürfte er mir gegenüber auch nicht so
weich und zärtlich sein. So aber sei ich seine Sache und da geniere er
sich nicht.«

»Und Beineberg?«

»O Beineberg ist häßlich. Findest du nicht auch, daß er aus dem Munde
riecht?«

»Schweig! Was ich finde, geht dich gar nichts an! Erzähle was Beineberg
mit dir tut!«

»Nun, auch so wie Reiting, nur .... Aber du darfst mich nicht wieder
gleich schimpfen ...«

»Vorwärts.«

»Nur ... auf einem anderen Umwege. Er hält mir erst lange Reden über
meine Seele. Ich habe sie beschmutzt, aber gewissermaßen nur den
ersten Vorhof derselben. Im Verhältnis zu dem Innersten sei dies
etwas Nichtiges und Äußerliches. Nur müsse man es abtöten; so seien
schon viele aus Sündern zu Heiligen geworden. Die Sünde sei daher in
höherer Hinsicht gar nicht so schlecht; nur müsse man sie ganz auf
die Spitze treiben, damit sie abbreche. Er läßt mich sitzen und ein
geschliffenes Glas anstarren ...«

»Er hypnotisiert dich?«

»Nein, er sagt, er müsse nur alle Dinge, die an der Oberfläche meiner
Seele umherschwimmen, einschläfern und kraftlos machen. Dann erst könne
er mit meiner Seele selbst verkehren.«

»Und wie verkehrt er denn mit ihr?«

»Das ist ein Experiment, das ihm noch nie gelungen ist. Er sitzt, und
ich muß mich auf die Erde legen, so daß er die Füße auf meinen Leib
stellen kann. Ich muß von dem Glas recht träge und schläfrig geworden
sein. Dann auf einmal befiehlt er mir zu bellen. Er beschreibt es
mir ausführlich: -- leise, mehr winselnd, -- so wie ein Hund aus dem
Schlafe heraus bellt.«

»Wozu das?«

»Man weiß nicht, wozu es gut ist. Er läßt mich auch grunzen wie ein
Schwein und wiederholt mir in einem fort, ich habe etwas von diesem
Tiere in mir. Aber nicht als ob er mich schimpfen wollte; er wiederholt
es mir ganz leise und freundlich, um es -- wie er sagt -- fest in
meine Nerven einzudrücken. Denn er behauptet, daß möglicherweise eine
meiner früheren Existenzen so gewesen sei und daß man sie hervorlocken
müsse, um sie unschädlich zu machen.«

»Und du glaubst ihm all das?«

»Gott bewahre; ich meine, er selbst glaubt nicht daran. Und dann ist er
doch auch zum Schlusse immer ganz anders. Wie soll ich auch solche
Dinge glauben?! Wer glaubt denn heute an eine Seele?! Und gar an eine
solche Seelenwanderung?! Daß ich gefehlt habe, weiß ich ganz gut;
aber ich habe immer gehofft, es wieder gut machen zu können. Da ist
gar kein Hokuspokus nötig. Ich zerbreche mir auch gar nicht den Kopf
darüber, wieso ich meinen Fehltritt begehen konnte. So etwas kommt so
rasch, so von selbst; man merkt erst nachher, daß man etwas Unkluges
getan hat. Wenn es ihm aber Vergnügen macht, etwas Übersinnliches
dahinter zu suchen, so soll er meinetwegen. Vorläufig muß ich ihm ja
doch zu Willen sein. Wenn er nur lieber unterlassen möchte, mich zu
stechen ...«

»Was?«

»Ja, mit einer Nadel -- nun nicht heftig, nur um zu sehen, wie ich
darauf reagiere ... ob sich nicht an irgendeiner Stelle des Körpers
etwas bemerkbar mache. Aber weh tut es doch. Er behauptet nämlich,
die Ärzte verstünden nichts davon, ich habe mir nicht gemerkt, womit
er das beweisen will, ich erinnere mich nur, daß er viel von Fakiren
spricht, die, wenn sie ihre Seele schauen, gegen körperliche Schmerzen
unempfindlich sein sollen.«

»Nun ja, ich kenne diese Ideen; du sagtest aber doch selbst, daß dies
nicht alles sei.«

»Gewiß nicht; ich sagte doch auch, daß ich dies nur für einen Umweg
halte. Nachher kommen jedesmal Viertelstunden, wo er schweigt, und ich
nicht weiß, was in ihm vorgeht. Danach aber bricht er plötzlich los
und verlangt Dienste von mir -- wie besessen -- weit ärger als Reiting.«

»Und du tust alles, was man von dir verlangt?«

»Was bleibt mir übrig? Ich will wieder ein anständiger Mensch werden
und meine Ruhe haben.«

»Was aber inzwischen geschehen ist, wird dir ganz gleich sein?«

»Ich kann mir ja nicht dagegen helfen.«

»Gib jetzt genau acht und beantworte meine Fragen: Wieso konntest du
stehlen?«

»Wieso? Schau, ich brauchte das Geld dringend; ich hatte beim Traiteur
Schulden und er wollte sich nicht mehr vertrösten lassen. Dann glaubte
ich doch bestimmt, daß in jenen Tagen für mich Geld kommen werde.
Von den Kameraden wollte mir keiner leihen: die einen hatten selbst
keins und die Sparsamen freut es ja nur, wenn einer, der nicht so ist,
gegen Monatsende in Verlegenheit kommt. Ich wollte gewiß niemanden
betrügen; ich wollte es mir nur heimlich ausleihen ...«

»Nicht so meine ich es,« unterbrach Törleß ungeduldig diese Erzählung,
die Basini offenbar erleichterte, »ich frage: wieso -- wie konntest
du das tun, wie fühltest du dich? Was ging in jenem Augenblick in dir
vor?«

»Nun ja -- gar nichts. Es war doch nur ein Augenblick, ich fühlte
nichts, ich überlegte nichts, es war einfach plötzlich geschehen.«

»Aber das erstemal mit Reiting? Als er zum erstenmal jene Dinge von
dir verlangte? Verstehst du ...?«

»O unangenehm war es mir schon. Weil es so auf Befehl geschehen sollte.
Denn sonst ... denk nur, wie viele tun solche Sachen freiwillig zum
Vergnügen, ohne daß die anderen davon wissen. Da ist es wohl nicht so
arg.«

»Aber du hast es auf Befehl getan. Du hast dich erniedrigt. So wie wenn
du in den Kot kriechen würdest, weil es ein anderer will.«

»Das gebe ich ja zu; aber ich mußte.«

»Nein, du mußtest nicht.«

»Sie hätten mich geprügelt, angezeigt; alle Schande wäre auf mich
gekommen.«

»Nun meinetwegen, lassen wir das. Ich will etwas anderes von dir
wissen. Höre, ich weiß, daß du viel Geld bei Božena gelassen hast.
Du hast vor ihr aufgeschnitten, dich in die Brust geworfen, mit deiner
Männlichkeit geprahlt. Du willst also ein Mann sein? Nicht nur mit dem
Mund und mit ... sondern mit der ganzen Seele? Nun sieh, da verlangt
auf einmal einer von dir einen so erniedrigenden Dienst, du fühlst
im selben Augenblick, daß du zu feig bist, um nein zu sagen: ging da
nicht durch dein ganzes Wesen ein Riß? Ein Schreck -- unbestimmt -- als
ob sich eben etwas Unsagbares in dir vollzogen hätte?«

»Gott, ich verstehe dich nicht; ich weiß nicht, was du willst; ich kann
dir nichts, gar nichts sagen.«

»So paß auf; ich werde dir jetzt befehlen, dich wieder auszukleiden.«

Basini lächelte.

»Dich platt da vor mir auf die Erde zu legen. Lach nicht! Ich befehle
es dir wirklich! Hörst du?! Wenn du nicht augenblicklich folgst, so
wirst du sehen, was dir bevorsteht, wenn Reiting zurückkommt! So.
Siehst du, jetzt liegst du nackt vor mir auf der Erde. Du zitterst
sogar; es friert dich? Ich könnte jetzt auf deinen nackten Leib
speien, wenn ich wollte. Drücke nur den Kopf fest auf die Erde; sieht
der Staub am Boden nicht merkwürdig aus? Wie eine Landschaft voll
Wolken und Felsblöcken so groß wie Häuser? Ich könnte dich mit Nadeln
stechen. Da in der Nische, bei der Lampe liegen noch welche. Fühlst
du sie schon auf der Haut?... Aber ich will nicht ... Ich könnte dich
bellen lassen, wie es Beineberg getan hat, den Staub auffressen lassen
wie ein Schwein, ich könnte dich Bewegungen machen lassen -- du weißt
schon -- und du müßtest dazu seufzen: O meine liebe Mut ...« Doch
Törleß hielt jäh in dieser Lästerung inne. »Aber ich will nicht,
will nicht, verstehst du?!«

Basini weinte. »Du quälst mich ...«

»Ja, ich quäle dich. Aber nicht darum ist es mir; ich will nur eines
wissen: Wenn ich all das wie Messer in dich hineinstoße, was ist in
dir? Was vollzieht sich in dir? Zerspringt etwas in dir? Sag! Jäh
wie ein Glas, das plötzlich in tausend Splitter geht, bevor sich
noch ein Sprung gezeigt hat? Das Bild, das du dir von dir gemacht hast,
verlöscht es nicht mit einem Hauche; springt nicht ein anderes an seine
Stelle, wie die Bilder der Zauberlaternen aus dem Dunkel springen?
Verstehst du mich denn gar nicht? Näher erklären kann ich's dir nicht;
du mußt mir selbst sagen!...«

Basini weinte ohne aufzuhören. Seine mädchenhaften Schultern zuckten;
er brachte immer nur dasselbe hervor. »Ich weiß nicht, was du willst;
ich kann dir nichts erklären; es geschieht im Augenblicke; es kann dann
gar nicht anders geschehen; du würdest ebenso handeln wie ich.«

Törleß schwieg. Er blieb erschöpft, reglos an der Wand lehnen und
starrte vor sich hin, geradeaus ins Leere.

»Wenn du in meiner Situation wärest, würdest du geradeso handeln«,
hatte Basini gesagt. Da war das Geschehene als eine einfache
Notwendigkeit, ruhig und ohne Verzerrung.

Törleß' Selbstbewußtsein lehnte sich in heller Verachtung selbst
gegen die bloße Zumutung auf. Und doch schien ihm diese Auflehnung
seines ganzen Wesens keine befriedigende Gewähr zu bieten. »... ja,
ich würde mehr Charakter haben als er, ich würde solche Zumutungen
nicht ertragen -- aber ist dies auch von Belang? Ist es von Belang,
daß ich aus Festigkeit, aus Anständigkeit, aus lauter Gründen, die
mir jetzt ganz nebensächlich sind, anders handeln würde? Nein, nicht
daran liegt's, wie ich handeln würde, sondern daran, daß ich, wenn ich
einmal wirklich so handelte wie Basini, ebensowenig Außergewöhnliches
dabei empfinden würde wie er. Dies ist das eigentliche: Mein Gefühl
meiner selbst würde genau so einfach und von allem Fragwürdigen
entfernt sein wie das seine ...«

Dieser Gedanke, welcher -- in abgerissenen, übereinander greifenden,
immer wieder von vorne anfangenden Sätzen gedacht -- der Verachtung
für Basini einen ganz intimen, leisen, aber weit tiefer als Moral
an das innerste Gleichgewicht rührenden Schmerz hinzufügte, kam von
der Erinnerung an eine kurz vorher gehabte Empfindung, die Törleß
nicht losließ. Als ihm nämlich durch Basini die möglicherweise von
Reiting und Beineberg drohende Gefahr zur Kenntnis kam, war er einfach
erschrocken. Einfach erschrocken, wie bei einem Überfall, und hatte
ohne Überlegen blitzschnell nach Paraden und Deckungen gesucht. Das
war nun im Augenblicke einer wirklichen Gefahr gewesen; und die
Empfindung, die er dabei gehabt hatte, reizte ihn. Diese raschen,
gedankenlosen Impulse. Er versuchte ganz vergebens sie wieder in
sich auszulösen. Aber er wußte, daß sie der Gefahr augenblicks alles
Sonderbare und Zweideutige benommen hatten.

Und doch war es dieselbe Gefahr gewesen, die er vor einigen Wochen
erst an derselben Stelle geahnt hatte. Damals, als er so eigens wegen
der Kammer erschrocken war, die wie ein vergessenes Mittelalter abseits
von dem warmen und hellen Leben der Lehrsäle lag, über Beineberg und
Reiting, weil sie aus den Menschen, die sie dort waren, plötzlich etwas
anderes, Düsteres, Blutgieriges, Personen in einem ganz anderen Leben
geworden zu sein schienen. Damals war dies eine Verwandlung, ein
Sprung für Törleß, als ob das Bild seiner Umgebung plötzlich in andere,
aus hundertjährigem Schlafe erwachte Augen fiele.

Und doch war es dieselbe Gefahr gewesen ... Unaufhörlich wiederholte
er sich dies. Und immer wieder versuchte er die Erinnerungen der beiden
verschiedenen Empfindungen miteinander zu vergleichen .................

Basini hatte sich mittlerweile längst aufgerichtet; er bemerkte den
stieren, geistesabwesenden Blick seines Gefährten, leise nahm er seine
Kleider auf und schlich sich davon.

Törleß sah es -- wie durch einen Nebel hindurch -- aber er ließ es
wortlos geschehen.

Seine Aufmerksamkeit war ganz durch das Bestreben gefesselt, jenen
Punkt in ihm wieder aufzufinden, wo plötzlich jener Wechsel in der
innerlichen Perspektive stattgefunden hatte.

Aber so oft er in dessen Nähe kam, erging es ihm wie einem, der Nahes
mit Fernem vergleichen will: er erhaschte nie die Erinnerungsbilder
beider Gefühle zugleich, sondern jedesmal ging wie ein leiser
Knacks zwischendurch ein Gefühl, wie es im Körperlichen etwa den
kaum merkbaren Muskelempfindungen entspricht, die das Einstellen
des Blickes begleiten. Und jedesmal beanspruchte dies gerade im
entscheidenden Momente die Aufmerksamkeit für sich, die Tätigkeit
des Vergleiches drängte sich vor den Gegenstand des Vergleiches, es
gab einen kaum fühlbaren Ruck -- und alles stand still.

Und immer wieder begann Törleß von neuem.

Dieser Prozeß von mechanischer Gleichmäßigkeit schläferte ihn in einen
starren, wachen, eiskalten Schlaf, der ihn reglos an seinem Platze
festhielt. Unbestimmt lange.

Erst ein Gedanke weckte Törleß auf wie die leise Berührung einer warmen
Hand. Ein anscheinend so selbstverständlicher Gedanke, daß sich Törleß
wunderte, nicht schon längst darauf verfallen zu sein.

Ein Gedanke, der gar nichts tat, als die eben gemachte Erfahrung
registrieren: es kommt immer einfach, unverzerrt, in natürlichen,
alltäglichen Proportionen, was von ferne so groß und geheimnisvoll
aussieht. So als ob eine unsichtbare Grenze um den Menschen gezogen
wäre. Was sich außerhalb vorbereitet und von ferne herannaht, ist wie
ein nebliges Meer voll riesenhafter, wechselnder Gestalten; was an
ihn herantritt, Handlung wird, an seinem Leben sich stößt, ist klar
und klein, von menschlichen Dimensionen und menschlichen Linien. Und
zwischen dem Leben, das man lebt, und dem Leben, das man fühlt, ahnt,
von ferne sieht, liegt wie ein enges Tor die unsichtbare Grenze, in dem
sich die Bilder der Ereignisse zusammendrücken müssen, um in den
Menschen einzugehen.

                   *       *       *       *       *

Und doch, so sehr dies seiner Erfahrung entsprach, beugte Törleß
nachdenklich den Kopf.

»Ein sonderbarer Gedanke -- -- -- --« fühlte er.

                   *       *       *       *       *

Endlich lag er in seinem Bett. Er dachte an gar nichts mehr, denn
das Denken fiel so schwer und war so fruchtlos. Was er über die
Heimlichkeiten seiner Freunde erfahren hatte, zog ihm zwar durch
den Sinn, aber so gleichgültig und leblos wie eine Nachricht, die
man in einer fremden Zeitung liest.

Von Basini war nichts mehr zu hoffen. Freilich, sein Problem! -- Aber
es war so fraglich und er so müde und so zerschlagen. Eine Täuschung
vielleicht -- das Ganze.

Nur der Anblick Basinis, seiner nackten, leuchtenden Haut, duftete wie
ein Fliederstrauch in das Dämmern der Empfindungen, das dem Schlafe
vorausging. Sogar aller moralische Abscheu verlor sich. Schließlich
schlief Törleß ein.

                   *       *       *       *       *

Kein Traum zog durch seine Ruhe. Aber eine unendlich angenehme Wärme
breitete weiche Teppiche unter seinen Leib. Schließlich wachte er
darüber auf. Und beinahe hätte er einen Schrei ausgestoßen. An seinem
Bette saß Basini! Und mit rasender Behendigkeit löste dieser im
nächsten Augenblicke das Hemd von seinem Leibe, schmiegte sich unter
die Decke und preßte seinen nackten, zitternden Leib an Törleß an.

Kaum hatte sich Törleß in diesem Überfalle zurechtgefunden, als er
Basini von sich stieß.

»Was fällt dir denn ein ...?!«

Doch Basini bettelte. »O, sei nicht wieder so! So wie du ist keiner.
Sie verachten mich nicht so wie du; sie tun dies nur scheinbar, damit
sie dann desto anders sein können. Aber du? Gerade du ...?!... Du bist
sogar jünger als ich, wenn du auch stärker bist; ... wir sind beide
jünger als die anderen; ... du bist nicht so roh und prahlerisch wie
sie; ... du bist sanft; ... ich liebe dich ...!«

»Was -- was sagst du? Was soll ich mit dir? Geh -- so geh doch weg!«
Und Törleß stemmte gequält seinen Arm gegen Basinis Schulter. Aber die
heiße Nähe der weichen, fremden Haut verfolgte ihn und umschloß ihn
und erstickte ihn. Und in einem fort flüsterte Basini .. »Doch .. doch
.. bitte .. o, es wäre mir ein Genuß, dir zu dienen.«

                   *       *       *       *       *

Törleß fand keine Antwort. Während Basini sprach, während der Sekunden
des Zweifelns und Überlegens, war es wieder wie ein tief grünes Meer
über seine Sinne gesunken. Nur Basinis bewegliche Worte leuchteten
darinnen auf wie das Blinken silberner Fischchen.

Noch immer hielt er seine Arme gegen Basinis Körper gestemmt. Aber
auf ihnen lag es wie eine feuchte, schwere Wärme; ihre Muskeln
erschlafften; er vergaß ihrer ... Nur wenn ihn ein neues der zuckenden
Worte traf, wachte er auf, weil er plötzlich fühlte -- wie etwas
schrecklich Unfaßbares -- daß eben -- wie im Traum -- seine Hände
Basini näher gezogen hatten.

Dann wollte er sich aufrütteln, sich zuschreien: Basini betrügt dich;
er will dich nur zu sich hinabziehen, damit du ihn nicht mehr verachten
kannst. Aber der Schrei erstickte; kein Laut lebte in dem weiten
Hause; in allen Gängen schienen die dunklen Fluten des Schweigens
unbeweglich zu schlafen.

Er wollte zu sich selbst zurückfinden: aber wie schwarze Wächter lagen
sie vor allen Toren.

Da suchte Törleß kein Wort mehr. Die Sinnlichkeit, die sich nach und
nach aus den einzelnen Augenblicken der Verzweiflung in ihn gestohlen
hatte, war jetzt zu ihrer vollen Größe erwacht. Sie lag nackt neben
ihm und deckte ihm mit ihrem weichen schwarzen Mantel das Haupt zu.
Und sie raunte ihm süße Worte der Resignation ins Ohr und schob mit
ihren warmen Fingern alle Fragen und Aufgaben als vergebens weg. Und
sie flüsterte: in der Einsamkeit ist alles erlaubt.

Nur in dem Augenblicke, als es ihn fortriß, wachte er sekundenlang
auf und klammerte sich verzweifelt an den einen Gedanken: Das bin
nicht ich!... nicht ich!... Morgen erst wieder werde ich es sein!...
Morgen ...

                   *       *       *       *       *

Dienstag abends kehrten die ersten Zöglinge zurück. Ein anderer Teil
kam erst mit den Nachtzügen. Es war eine beständige Unruhe im Hause.

Törleß empfing seine Freunde unwirsch und verdrossen; er hatte
nicht vergessen. Und dann brachten sie auch etwas so Frisches und
Weltmännisches von außen mit. Das beschämte ihn, der jetzt die
drückende Luft enger Stuben liebte.

Er schämte sich jetzt überhaupt häufig. Aber nicht eigentlich deswegen,
wozu er sich hatte verführen lassen, -- denn dies ist in Instituten
nichts so Seltenes, -- als weil er sich nun tatsächlich einer Art
Zärtlichkeit für Basini nicht erwehren konnte und andererseits
eindringlicher denn je empfand, wie verachtet und erniedrigt dieser
Mensch war.

Er hatte des öfteren heimliche Zusammenkünfte mit ihm. Er führte ihn in
alle Verstecke, die er durch Beineberg kannte, und da er selbst auf
solchen Schleichwegen nicht geschickt war, fand sich Basini bald besser
zurecht als er und wurde zum Führer.

Des Nachts aber ließ ihn eine Eifersucht, mit der er Beineberg und
Reiting bewachte, nicht zur Ruhe kommen.

Die beiden hielten sich jedoch von Basini zurück. Vielleicht langweilte
er sie bereits. Jedenfalls schien mit ihnen eine Veränderung vor sich
gegangen zu sein. Beineberg war finster und verschlossen; wenn er
sprach, so handelte es sich um geheimnisvolle Andeutungen von etwas
Bevorstehendem. Reiting hatte sein Interesse scheinbar wieder anderen
Dingen zugewandt; er flocht mit gewohnter Geschicklichkeit das Netz zu
irgendeiner Intrige, indem er die einen durch kleine Gefälligkeiten
zu gewinnen suchte und die anderen dadurch schreckte, daß er sich
durch heimliche List zum Mitwisser ihrer Geheimnisse machte.

Wenn sie zu dritt beisammen waren, drangen die beiden darauf, daß
Basini nächstens wieder in die Kammer oder auf den Boden befohlen werde.

Törleß suchte es durch allerhand Ausflüchte hinauszuschieben, litt
dabei aber beständig unter dieser heimlichen Anteilnahme.

Vor wenigen Wochen noch hätte er einen solchen Zustand überhaupt nicht
verstanden, denn schon von den Eltern her war er kräftig, gesund und
natürlich.

Aber man darf auch wirklich nicht glauben, daß Basini in Törleß ein
richtiges und -- wenn auch noch so flüchtig und verirrt -- wirkliches
Begehren erregte. Es war allerdings etwas wie Leidenschaft in Törleß
erwacht, aber Liebe war ganz gewiß nur ein zufälliger, beiläufiger
Name dafür, und der Mensch Basini nicht mehr als ein stellvertretendes
und vorläufiges Ziel dieses Verlangens. Denn wenn sich Törleß auch
mit ihm gemein machte, sein Begehren sättigte sich niemals an ihm,
sondern wuchs zu einem neuen, ziellosen Hunger über Basini hinaus.

                   *       *       *       *       *

Vorerst war es überhaupt nur die Nacktheit des schlanken Knabenkörpers
gewesen, die ihn geblendet hatte.

Der Eindruck war nicht anders, als wäre er den nur schönen, von
allem Geschlechtlichen noch fernen Formen eines ganz jungen Mädchens
gegenüber gestanden. Eine Überwältigung. Ein Staunen. Und die Reinheit,
die unwillkürlich von diesem Zustande ausging, war es, die den Schein
einer Neigung, -- dieses neue wunderbar unruhige Gefühl in sein
Verhältnis zu Basini trug. Alles andere aber hatte damit wenig zu
tun. Dieses übrige des Begehrens war schon längst, -- war schon bei
Božena und noch viel früher dagewesen. Es war die heimliche, ziellose,
auf niemanden bezogene, melancholische Sinnlichkeit des Heranreifenden,
welche wie die feuchte, schwarze, keimtragende Erde im Frühjahr ist und
wie dunkle unterirdische Gewässer, die nur eines zufälligen Anlasses
bedürfen, um durch ihre Mauern zu brechen.

Der Auftritt, den Törleß erlebt hatte, war zu diesem Anlasse geworden.
Durch eine Überraschung, ein Mißverständnis, ein Verkennen des
Eindruckes wurden die verschwiegenen Verstecke, in denen sich alles
Heimliche, Verbotene, Schwüle, Ungewisse und Einsame von Törleß'
Seele gesammelt hatte, aufgestoßen und diesen dunklen Regungen die
Richtung gegen Basini erteilt. Denn da stießen sie mit einem Male
auf etwas, das warm war, atmete, duftete, Fleisch war, an dem diese
unbestimmt schweifenden Träume Gestalt gewannen und Teil seiner
Schönheit, statt der ätzenden Häßlichkeit, mit der sie Božena in der
Einsamkeit gestäupt hatte. Das riß ihnen mit einem Schlage ein Tor
zum Leben auf und in dem entstehenden Zwielicht mengte sich alles,
Wünsche und Wirklichkeit, ausschweifende Phantasien und Eindrücke,
die noch die warmen Spuren des Lebens trugen, Empfindungen, die von
außen einfielen und Flammen, die ihnen von innen entgegenloderten
und sie bis zur Unkenntlichkeit einhüllten.

Aber dies alles war für Törleß selbst nicht mehr unterscheidbar und war
für ihn in einem einzigen, unklaren, ungegliederten Gefühl vereint,
das er in der ersten Überraschung wohl für Liebe nehmen mochte.

                   *       *       *       *       *

Bald aber lernte er es richtiger schätzen. Eine Unruhe trieb ihn
von da an rastlos umher. Er legte jedes Ding, das er berührte, kaum
ergriffen wieder weg. Er konnte kein Gespräch mit Kameraden führen,
ohne grundlos zu verstummen oder zerstreut mehrmals den Gegenstand zu
wechseln. Es kam auch vor, daß ihn mitten im Sprechen eine Welle der
Scham überflutete, so daß er rot wurde, zu stottern begann, sich
abwenden mußte ...

Er mied untertags Basini. Konnte er es nicht vermeiden ihn anzusehen,
so packte ihn fast immer eine Ernüchterung. Jede Bewegung Basinis
erfüllte ihn mit Ekel, die ungewissen Schatten seiner Illusionen
machten einer kalten, stumpfen Helle Platz, seine Seele schien
zusammenzuschrumpfen, bis nichts mehr übrig blieb als die Erinnerung an
ein früheres Begehren, das ihm unsagbar unverständig und widerwärtig
vorkam. Er stieß seinen Fuß gegen die Erde und krümmte seinen Leib
zusammen, nur um sich dieser schmerzhaften Scham zu entwinden.

Er fragte sich, was die anderen zu ihm sagen würden, wenn sie sein
Geheimnis wüßten, seine Eltern, seine Lehrer?

Mit dieser letzten Verwundung brachen seine Qualen aber regelmäßig
ab. Eine kühle Müdigkeit bemächtigte sich seiner; die heiße und
erschlaffte Haut seines Körpers spannte sich in einem wohligen Frösteln
wieder an. Er ließ dann still alle Menschen an sich vorbei. Aber eine
gewisse Mißachtung erfüllte ihn gegen alle. Im geheimen verdächtigte er
jeden, mit dem er sprach, der ärgsten Dinge.

Und überdies glaubte er, bei ihnen die Scham zu vermissen. Er glaubte
nicht, daß sie so litten, wie er es von sich wußte. Die Dornenkrone
seiner Gewissensbisse schien ihnen zu fehlen.

Er aber fühlte sich wie ein aus einer tiefen Agonie Erwachter. Wie ein
von den verschwiegenen Händen der Auflösung Gestreifter. Wie einer,
der die stille Weisheit einer langen Krankheit nicht vergessen kann.

In diesem Zustande fühlte er sich glücklich und die Augenblicke kamen
immer wieder, wo er sich nach ihm sehnte.

Sie begannen damit, daß er Basini wieder gleichgültig ansehen konnte
und das Abscheuliche und Gemeine mit einem Lächeln aushielt. Dann
wußte er, daß er sich erniedrigen werde, aber er unterschob dem einen
neuen Sinn. Je häßlicher und unwürdiger das war, was ihm Basini bot,
desto größer war der Gegensatz zu dem Gefühl einer leidenden Feinheit,
das sich nachher einzustellen pflegte.

Törleß zog sich in irgendeinen Winkel zurück, von dem aus er beobachten
konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Wenn er die Augen schloß, so
stieg ein ungewisses Drängen in ihm auf, und wenn er die Augen
öffnete, fand er nichts, was er damit hätte vergleichen können.
Und dann wuchs _plötzlich_ der Gedanke an Basini und riß alles an
sich. Bald verlor er dabei alles Bestimmte. Er schien nicht mehr
Törleß anzugehören und schien sich nicht mehr auf Basini zu beziehen.
Er war ganz von Gefühlen umrauscht, wie von lüsternen Frauen in
hochgeschlossenen Gewändern unter vorgebundenen Masken.

Törleß kannte kein einziges beim Namen, er wußte von keinem, was es
barg; aber gerade darin lag die berauschende Verlockung. Er kannte
sich selbst nicht mehr; und gerade daraus wuchs seine Lust zu wilder,
verachtender Ausschweifung, wie wenn bei einem galanten Feste plötzlich
die Lichter verlöschen und niemand mehr weiß, wen er zur Erde zieht
und mit Küssen bedeckt.

                   *       *       *       *       *

Törleß wurde später, nachdem er die Ereignisse seiner Jugend
überwunden hatte, ein junger Mann von sehr feinem und empfindsamem
Geiste. Er zählte dann zu jenen ästhetisch intellektuellen Naturen,
welchen die Beobachtung der Gesetze und wohl auch teilweise der
öffentlichen Moral eine Beruhigung gewährt, weil sie dadurch enthoben
sind, über etwas Grobes, von dem feineren seelischen Geschehen
Weitabliegendes nachdenken zu müssen, die aber eine gelangweilte
Unempfindlichkeit mit dieser großen äußeren, ein wenig ironischen
Korrektheit verbinden, sobald man ein persönlicheres Interesse für
deren Gegenstände von ihnen verlangt. Denn dieses wirklich sie selbst
ergreifende Interesse sammelt sich bei ihnen einzig auf das Wachstum
der Seele, des Geistes, oder wie immer man das benennen mag, was hie
und da durch einen Gedanken zwischen den Worten eines Buches oder vor
den verschlossenen Lippen eines Bildes in uns gemehrt wird; was
manchmal erwacht, wenn irgendeine einsame, eigenwillige Melodie von
uns fortgeht und -- ins Ferne schreitend -- mit fremden Bewegungen
an dem dünnen, roten Faden zerrt, unseres Blutes, den sie hinter sich
herzieht; das aber immer verschwunden ist, wenn wir Akten schreiben,
Maschinen bauen, in den Zirkus gehen, oder den hundert anderen
ähnlichen Beschäftigungen folgen. --

Diesen Menschen sind also die Gegenstände, welche nur ihre moralische
Korrektheit herausfordern, höchst gleichgültig. Törleß bereute daher
auch nie in seinem späteren Leben das damals Geschehene. Seine
Bedürfnisse waren so einseitig schöngeistig zugeschärft, daß es, wenn
man ihm etwa eine ganz ähnliche Geschichte von den Ausschweifungen
eines Wüstlings erzählt hätte, gewiß völlig außerhalb seines
Gesichtskreises gelegen wäre, seine Entrüstung gegen das Geschehene
zu richten. Er hätte einen solchen Menschen gewissermaßen nicht
deswegen verachtet, weil er ein Wüstling, sondern weil er nichts
Besseres ist; nicht wegen seiner Ausschweifungen, sondern wegen des
Seelenzustandes, der ihn diese begehen läßt; weil er dumm ist, oder
weil seinem Verstande die seelischen Gegengewichte fehlen ...: immer
also nur wegen des traurigen, beraubten, entkräfteten Anblicks, den er
bietet. Und er hätte ihn gleicherweise verachtet, ob nun sein Laster
in geschlechtlichen Ausschweifungen oder in zwanghaft entartetem
Zigarettenrauchen oder Alkoholgenuß bestünde.

Und wie allen dermaßen auf die Steigerung ausschließlich ihrer
Geistigkeit konzentrierten Menschen bedeutete auch ihm das bloße
Vorhandensein schwüler und exzessiver Regungen noch wenig. Er liebte es
damit zu rechnen, daß die Fähigkeit zu genießen, die künstlerischen
Talente, das ganze verfeinerte Seelenleben ein Zierat sei, an dem man
sich leicht verletze. Er betrachtete es als etwas Unumgängliches,
daß ein Mensch von reichem und beweglichem Innenleben Augenblicke habe,
um die andere nicht wissen dürfen, und Erinnerungen, die er in
geheimen Fächern verwahrt. Und er verlangte von ihm nur, daß er
nachträglich sich ihrer mit Feinheit zu bedienen verstehe.

So daß, als er einmal von jemandem, dem er die Geschichte seiner
Jugend erzählt hatte, gefragt wurde, ob diese Erinnerung nicht doch
manchmal beschämend sei, er lächelnd folgende Antwort gab: »Ich leugne
ganz gewiß nicht, daß es sich hier um eine Erniedrigung handelte.
Warum auch nicht? Sie verging. Aber etwas von ihr blieb für immer
zurück: jene kleine Menge Giftes, die nötig ist, um der Seele die allzu
sichere und beruhigte Gesundheit zu nehmen und ihr dafür eine feinere,
zugeschärfte, verstehende zu geben.

Wollten Sie übrigens die Stunden der Erniedrigung zählen, die
überhaupt von jeder großen Leidenschaft der Seele eingebrannt
werden? Denken Sie nur an die Stunden der absichtlichen Demütigung in
der Liebe! Diese entrückten Stunden, zu denen sich Liebende über
gewisse tiefe Brunnen neigen oder einander das Ohr ans Herz legen,
ob sie nicht drinnen die Krallen der großen, unruhigen Katzen
ungeduldig an den Kerkerwänden hören? Nur um sich zittern zu fühlen!
Nur um über ihr Alleinsein oberhalb dieser dunklen, brandmarkenden
Tiefen zu erschrecken! Nur um jäh -- in der Angst der Einsamkeit
mit diesen düsteren Kräften -- sich ganz ineinander zu flüchten!

Sehen Sie doch nur jungen Ehepaaren in die Augen. Du glaubst ...?
steht darin, aber du ahnst ja gar nicht, wie tief wir versinken können!
-- In diesen Augen liegt ein heiterer Spott gegen den, der von so
vielem nichts weiß, und der zärtliche Stolz derer, die miteinander
durch alle Höllen gegangen sind.

Und wie diese Liebenden miteinander, so bin ich damals mit mir selbst
durch all dies hindurchgegangen.«

                   *       *       *       *       *

Dennoch, wenn Törleß auch später so urteilte, damals, als er sich in
dem Sturme einsamer, begehrlicher Empfindungen befand, war diese des
guten Endes überzeugte Zuversicht durchaus nicht immer in ihm. Von
den Rätseln, die ihn erst vor kurzem gequält hatten, war noch eine
unbestimmte Nachwirkung geblieben, die wie ein dunkler ferner Ton am
Grunde seiner Erlebnisse klang. Gerade daran mochte er jetzt nicht
denken.

Aber zeitweilig mußte er es. Und dann befiel ihn tiefste
Hoffnungslosigkeit, und eine ganz andere, eine müde, zukunftslose
Beschämung konnte ihn bei diesen Erinnerungen ergreifen.

Trotzdem vermochte er aber auch über diese nicht sich Rechenschaft zu
geben.

Dies bewirkten die besonderen Verhältnisse im Institute. Dort, wo die
jungen aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehalten wurden,
stauten sie die Phantasie voll wahllos wohllüstiger Bilder, die manchem
die Besinnung raubten.

Ein gewisser Grad von Ausschweifung galt sogar als männlich, als
verwegen, als kühnes Inbesitznehmen vorenthaltener Vergnügungen.
Zumal wenn man sich mit der ehrbar verkümmerten Erscheinung der
meisten Lehrer verglich. Denn dann gewann das Mahnwort Moral einen
lächerlichen Zusammenhang mit schmalen Schultern, mit spitzen Bäuchen
auf dünnen Beinen und Augen, die hinter ihren Brillen harmlos wie
Schäfchen weideten, als sei das Leben nichts als ein Feld voll Blumen
ernster Erbaulichkeit.

Im Institute endlich hatte man noch keine Kenntnis vom Leben und keine
Ahnung von allen jenen Abstufungen von Gemeinheit und Wüstheit bis zu
Krankheit und Lächerlichkeit, die den Erwachsenen in erster Linie mit
Widerwillen erfüllen, wenn er von solchen Dingen hört.

Alle diese Hemmnisse, deren Wirksamkeit wir gar nicht abzuschätzen
vermögen, fehlten ihm. Er war förmlich naiv in seine Vergehen
hineingeraten.

Denn auch die ethische Widerstandskraft, dieses empfindliche
Fühlvermögen des Geistes, das er später so hoch schätzte, fehlte
damals noch. Aber doch kündigte es sich schon an. Törleß irrte, er
sah erst die Schatten, die etwas noch Unerkanntes in ihm in sein
Bewußtsein warf, und er hielt sie fälschlich für Wirklichkeit: aber
er hatte eine Aufgabe an sich selbst zu erfüllen, eine Aufgabe der
Seele -- wenn er ihr auch noch nicht gewachsen war.

Er wußte nur, daß er etwas noch Undeutlichem auf einem Wege gefolgt
war, der tief in sein Inneres führte; und er war dabei ermüdet. Er
hatte sich gewöhnt, auf außerordentliche, verborgene Entdeckungen zu
hoffen, und war dabei in die engen, winkligen Gemächer der Sinnlichkeit
gelangt. Nicht aus Perversität, sondern infolge einer augenblicklich
ziellosen geistigen Situation.

Und gerade diese Untreue gegen etwas Ernstes, Erstrebtes in sich
erfüllte ihn mit einem unklaren Bewußtsein von Schuld; ein
unbestimmter, versteckter Ekel verließ ihn niemals ganz und eine
ungewisse Angst verfolgte ihn, wie einen, der im Dunkel nicht mehr
weiß, ob er noch seinen Weg unter den Füßen hat oder wo er ihn verlor.

Er bemühte sich dann überhaupt nichts zu denken. Stumm und betäubt und
aller früheren Fragen vergessend, lebte er dahin. Der feine Genuß an
seinen Demütigungen wurde immer seltener.

Noch ließ er ihn nicht, aber doch setzte Törleß am Ende dieser Zeit
keinen Widerstand mehr entgegen, als über Basinis Schicksal weiter
beschlossen wurde.

                   *       *       *       *       *

Dies geschah einige Tage später, als sie zu dritt in der Kammer
beisammen waren. Beineberg war sehr ernst.

Reiting fing zu sprechen an: »Beineberg und ich glauben, daß es auf
die bisherige Weise mit Basini nicht mehr weiter geht. Er hat sich mit
dem Gehorsam, den er uns schuldet, abgefunden und leidet nicht mehr
darunter; er ist von einer frechen Vertraulichkeit wie ein Bedienter.
Es ist also an der Zeit, mit ihm einen Schritt weiter zu gehen. Bist
du einverstanden?«

»Ich weiß doch noch gar nicht, was ihr mit ihm tun wollt.«

»Das ist auch schwer zurecht gelegt. Wir müssen ihn noch weiter
demütigen und herunterdrücken. Ich möchte sehen, wie weit das geht.
Auf welche Weise, ist freilich eine andere Frage. Ich habe allerdings
auch hierüber einige nette Einfälle. Wir könnten ihn zum Beispiel
durchpeitschen und er müßte Dankpsalmen dazu singen; den Ausdruck
dieses Gesanges anzuhören wäre nicht übel -- jeder Ton gewissermaßen
von einer Gänsehaut überlaufen. Wir könnten ihn die unsaubersten
Sachen apportieren lassen. Wir könnten ihn zu Božena mitnehmen,
dort die Briefe seiner Mutter vorlesen lassen, und Božena möchte schon
den nötigen Spaß dazu liefern. Doch das alles läuft uns nicht davon.
Wir können es uns ruhig ausdenken, ausfeilen und Neues dazufinden.
Ohne die entsprechenden Details ist es vorderhand noch langweilig.
Vielleicht liefern wir ihn überhaupt der Klasse aus. Das wäre das
gescheiteste. Wenn von so vielen jeder nur ein wenig beisteuert,
so genügt es, um ihn in Stücke zu zerreißen. Überhaupt habe ich diese
Massenbewegungen gern. Keiner will Besonderes dazu tun, und doch gehen
die Wellen immer höher, bis sie über allen Köpfen zusammenschlagen.
Ihr werdet sehen, keiner wird sich rühren, und es wird doch einen
Riesensturm geben. So etwas in Szene zu setzen, ist für mich ein
außerordentliches Vergnügen.«

»Was wollt ihr aber zunächst tun?«

»Wie gesagt, ich möchte mir das für später aufsparen, vorderhand würde
es mir genügen, ihn soweit zu bringen -- durch Drohungen oder Prügel
-- daß er wieder zu allem ja sagt.«

»Wozu?« entfuhr es Törleß. Sie sahen sich fest in die Augen.

»Ach verstell dich nicht; ich weiß sehr wohl, daß du davon unterrichtet
bist.« Törleß schwieg. Hatte Reiting etwas erfahren?... Klopfte er nur
auf den Strauch?

»... Doch noch von damals her; Beineberg hat dir doch gesagt, wozu
sich Basini hergibt.«

Törleß atmete erleichtert auf.

»Na, mach nur nicht so erstaunte Augen. Damals hast du sie auch so
aufgerissen, und es handelt sich doch um nichts gar so Arges. Übrigens
hat mir Beineberg gestanden, daß er dasselbe mit Basini tut.« Dabei
blickte Reiting mit einer ironischen Grimasse zu Beineberg hinüber.
Das war so seine Art, einem anderen ganz öffentlich und ungeniert ein
Bein zu stellen.

Aber Beineberg erwiderte nichts; er blieb in seiner nachdenklichen
Stellung sitzen und schlug kaum die Augen auf.

»Na, möchtest du nicht mit deiner Sache herausrücken?! Er hat nämlich
eine verrückte Idee mit Basini vor und will sie durchaus ausführen,
ehe wir anderes unternehmen. Aber sie ist ganz amüsant.«

Beineberg blieb ernst; er sah Törleß mit einem nachdrücklichen Blicke
an und sagte: »Erinnerst du dich, was wir damals hinter den Mänteln
sprachen?«

»Ja.«

»Ich bin niemals mehr darauf zu sprechen gekommen, denn das bloße Reden
hat ja doch keinen Zweck. Aber ich habe darüber nachgedacht -- du
kannst mir glauben -- oft. Auch das, was Reiting dir eben gesagt hat,
ist wahr. Ich habe dasselbe mit Basini getan wie er. Vielleicht noch
einiges mehr. Deswegen, weil ich, wie ich schon damals sagte, des
Glaubens war, daß die Sinnlichkeit vielleicht das richtige Tor sein
könnte. Das war so ein Versuch. Ich wußte keinen anderen Weg zu dem,
was ich suchte. Aber dieses Planlose hat keinen Sinn. Darüber habe ich
nachgedacht -- nächtelang nachgedacht -- wie man etwas Systematisches
an seine Stelle setzen könnte.

Jetzt glaube ich es gefunden zu haben und wir werden den Versuch
machen. Jetzt wirst du auch sehen, wie sehr du damals im Unrecht
warst. Alles ist unsicher, was von der Welt behauptet wird, alles geht
anders zu. Das lernten wir damals gewissermaßen nur von der Kehrseite
kennen, indem wir Punkte aussuchten, bei denen diese ganze natürliche
Erklärung über die eigenen Füße stolpert, jetzt hoffe ich aber das
Positive zeigen zu können -- das andere!«

Reiting verteilte die Teeschalen; dabei stieß er vergnügt Törleß an.
»Gib gut acht. -- Das ist sehr fesch, was er sich ausgetiftelt hat.«

Beineberg aber drehte mit einer raschen Bewegung die Lampe aus. In dem
Dunkel warf nur die Spiritusflamme des Kochers unruhige, bläuliche
Lichter auf die drei Köpfe.

»Ich löschte die Lampe aus, Törleß, weil es sich so von solchen Dingen
besser spricht. Und du, Reiting, kannst meinethalben schlafen, wenn
du zu dumm bist, um Tieferes zu begreifen.«

Reiting lachte belustigt.

»Du erinnerst dich also noch an unser Gespräch. Du selbst hattest
damals jene kleine Sonderbarkeit in der Mathematik heraus gefunden.
Dieses Beispiel, daß unser Denken keinen gleichmäßig festen, sicheren
Boden hat, sondern über Löcher hinweggeht. -- Es schließt die Augen,
es hört für einen Moment auf zu sein und wird doch sicher auf die
andere Seite hinübergetragen. Wir müßten eigentlich längst verzweifelt
sein, denn unser Wissen ist auf allen Gebieten von solchen Abgründen
durchzogen, nichts wie Bruchstücke, die in einem unergründlichen
Ozean treiben.

Wir verzweifeln aber nicht, wir fühlen uns dennoch so sicher wie auf
festem Boden. Wenn wir dieses sichere, gewisse Gefühl nicht hätten,
würden wir uns aus Verzweiflung über unseren armen Verstand töten.
Dieses Gefühl begleitet uns beständig, es hält uns zusammen, es nimmt
unseren Verstand in jedem zweiten Augenblick schützend in den Arm
wie ein kleines Kind. So wie wir uns dessen einmal bewußt geworden
sind, können wir das Dasein einer Seele nicht mehr leugnen. So wie wir
unser geistiges Leben zergliedern und das Unzureichende des Verstandes
erkennen, fühlen wir es förmlich. Fühlen es -- verstehst du -- denn
wenn dieses Gefühl nicht wäre, würden wir zusammenklappen wie leere
Säcke.

Wir haben nur verlernt, auf dieses Gefühl zu achten, aber es ist eines
der ältesten. Vor Tausenden von Jahren haben schon Völker, die tausende
Meilen voneinander wohnten, darum gewußt. Wie man sich einmal damit
befaßt, kann man diese Dinge gar nicht leugnen. Doch ich will dich
nicht mit Worten überreden; ich werde dir nur das nötigste sagen, damit
du nicht ganz unvorbereitet bist. Den Beweis werden die Tatsachen
erbringen.

Nimm also an, die Seele existiere, dann ist es doch ganz
selbstverständlich, daß wir kein heißeres Bestreben haben können, als
den verloren gegangenen Kontakt mit ihr wieder herzustellen, mit
ihr wieder vertraut zu werden, ihre Kräfte wieder besser ausnützen zu
lernen, Teile der übersinnlichen Kräfte, die in ihrer Tiefe
schlummern, für uns zu gewinnen.

Denn das alles ist möglich, es ist schon mehr als einmal gelungen,
die Wunder, die Heiligen, die indischen Gottesschauer sind lauter
Beglaubigungen für solche Geschehnisse.«

»Hör einmal,« warf Törleß ein, »du redest dich jetzt ein wenig in
diesen Glauben hinein. Du hast dazu eigens die Lampe auslöschen müssen.
Würdest du aber auch so sprechen, wenn wir jetzt unten zwischen den
andern säßen, die Geographie, Geschichte lernen, Briefe nach Hause
schreiben, wo die Lampen hell brennen und vielleicht der Präfekt um die
Bänke geht? Kämen dir da nicht doch deine Worte etwas abenteuerlich
vor, etwas anmaßend, als ob wir gar nicht zu denen gehörten, in einer
anderen Welt lebten, achthundert Jahre vorher?«

»Nein, mein lieber Törleß, ich würde dasselbe behaupten. Übrigens ist
es ein Fehler von dir, daß du immer nach den andern schielst; du
bist zu wenig selbständig. Briefe nach Hause schreiben! Bei solchen
Sachen denkst du an deine Eltern! Wer sagt dir, daß sie uns hier
überhaupt nur zu folgen vermögen? Wir sind jung, eine Generation
später, vielleicht sind uns Dinge vorbehalten, die sie nie in ihrem
Leben geahnt haben. Ich wenigstens fühle es in mir.

Doch wozu lange reden; ich werde es euch ja beweisen.«

Nachdem sie einige Zeit geschwiegen hatten, sagte Törleß: »Wie willst
du es denn eigentlich anpacken, deiner Seele habhaft zu werden?«

»Das will ich dir jetzt nicht auseinandersetzen, da ich es ohnedies
vor Basini werde tun müssen.«

»Aber beiläufig kannst du es wenigstens sagen.«

»Nun ja. Die Geschichte lehrt, daß es hiezu nur einen Weg gibt: die
Versenkung in sich selbst. Nur ist das eben das Schwierige. Die alten
Heiligen zum Beispiel, zu der Zeit, wo die Seele sich noch in Wundern
äußerte, konnten dieses Ziel durch inbrünstiges Gebet erreichen.
Zu jener Zeit war eben die Seele von anderer Art, denn heute versagt
dieser Weg. Heute wissen wir nicht, was wir tun sollen; die Seele
hat sich verändert, und es liegen leider Zeiten dazwischen, wo man dem
nicht die richtige Aufmerksamkeit gewidmet hat und der Zusammenhang
unwiederbringlich verloren ging. Einen neuen Weg können wir nur durch
sorgfältigste Überlegung finden. Hiemit habe ich mich während der
letzten Zeit intensiv beschäftigt. Am nächsten dürfte man wohl mit
Hilfe der Hypnose gelangen. Nur ist es noch nie versucht worden.
Man macht da immer nur so alltägliche Kunststückchen, weswegen die
Methoden noch nicht daraufhin erprobt sind, ob sie auch zu Höherem
führen. Das letzte, was ich hierüber jetzt schon sage, ist, daß ich
Basini nicht nach dieser landläufigen Art hypnotisieren werde,
sondern nach meiner eigenen, die, wenn ich nicht irre, einer schon
im Mittelalter angewandten ähnlich ist.«

»Ist dieser Beineberg nicht kostbar?« lachte Reiting. »Nur hätte er
zur Zeit der Weltuntergangsprophezeiungen leben sollen, dann hätte
er am Ende wirklich geglaubt, daß es seine Seelenmagie gewesen sei,
deretwegen die Welt bestehen blieb.«

Als Törleß auf diesen Spott hin Beineberg ansah, bemerkte er, daß
dessen Gesicht ganz starr wie in krampfhafter Aufmerksamkeit verzerrt
war. Im nächsten Augenblick fühlte er sich von eiskalten Fingern
gefaßt. Törleß erschrak über diese hochgradige Aufregung; dann löste
sich die Spannung der ihn umklammernden Hand. »O es war nichts. Nur
ein Gedanke. Mir war als sollte mir etwas Besonderes einfallen, ein
Fingerzeig, wie es zu machen sei ...«

»Hörst du, du bist wirklich ein wenig angegriffen,« sagte Reiting in
jovialer Weise, »sonst warst du doch ein eiserner Kerl und betriebst
so etwas nur als Sport; jetzt aber bist du wie ein Frauenzimmer.«

»Ach was -- du hast eben keine Ahnung, was das heißt, solche Dinge in
der Nähe zu wissen, jeden Tag schon vor ihrem Besitze zu stehen!«

»Streitet nicht,« sagte Törleß -- er war im Laufe der wenigen Wochen
weit fester und energischer geworden -- »meinetwegen kann jeder
machen, was er will; ich glaube an gar nichts. Weder deinen geriebenen
Quälereien, Reiting, noch Beinebergs Hoffnungen. Und selbst weiß
ich nichts zu sagen. Ich warte ab, was ihr herausbringt.«

»Wann also?«

Es wurde die zweitnächste Nacht bestimmt.

                   *       *       *       *       *

Törleß ließ sie widerstandslos an sich herankommen. In dieser
neuentstandenen Situation war auch sein Gefühl für Basini völlig
erkaltet. Das war sogar eine ganz glückliche Lösung, weil sie
wenigstens mit einem Schlage von dem Schwanken zwischen Beschämung
und Begierde befreite, aus dem Törleß durch eigene Kraft nicht
herauskam. Jetzt hatte er wenigstens einen geraden, klaren Widerwillen
gegen Basini, als ob die diesem zugedachten Demütigungen auch ihn
beschmutzen könnten.

Im übrigen war er zerstreut und mochte an nichts ernst denken; am
allerwenigsten an das, was ihn einst so beschäftigte.

Erst als er mit Reiting die Treppe zum Boden hinaufstieg, während
Beineberg mit Basini schon vorausgegangen war, wurde die Erinnerung
an das einst in ihm Gewesene lebhafter. Die selbstbewußten Worte
wollten ihm nicht aus dem Kopfe, die er in dieser Angelegenheit
Beineberg vorgeworfen hatte, und er sehnte sich diese Zuversicht
wieder zu gewinnen. Zögernd hielt er auf jeder Stufe den Fuß zurück.
Aber die alte Gewißheit kehrte nicht wieder. Er erinnerte sich zwar
aller Gedanken, die er damals gehabt hatte, aber sie schienen ferne an
ihm vorüberzugehen, als seien sie nur die Schattenbilder des einst
Gedachten.

Schließlich, da er in sich nichts fand, richtete sich seine Neugierde
wieder auf die Ereignisse, die von außen kommen sollten, und trieb ihn
vorwärts.

Mit raschen Schritten eilte er hinter Reiting die übrigen Stufen hinauf.

Während sich die eiserne Tür knarrend hinter ihnen schloß, fühlte
er seufzend, daß Beinebergs Vorhaben zwar auch nur ein lächerlicher
Hokuspokus sei, aber doch wenigstens etwas Festes und Überlegtes,
während in ihm alles in undurchsichtiger Verwirrung lag.

Auf einem querlaufenden Balken nahmen sie Platz -- in erwartungsvoller
Spannung wie in einem Theater.

Beineberg war mit Basini schon da.

Die Situation schien seinem Vorhaben günstig. Das Dunkel, die abgestandene
Luft, der faule, süßliche Geruch, der den Wasserbottichen entströmte,
schufen ein Gefühl des Einschlafens, Nichtmehraufwachenkönnens, eine
müde, lässige Trägheit.

Beineberg hieß Basini sich zu entkleiden. Die Nacktheit hatte jetzt
in dem Dunkel einen bläulichen, faulen Schimmer und wirkte durchaus
nicht erregend.

Plötzlich zog Beineberg den Revolver aus der Tasche und hielt ihn gegen
Basini.

Selbst Reiting neigte sich da vor, um jeden Augenblick dazwischen
springen zu können.

Aber Beineberg lächelte. Eigentümlich verzerrt; so als ob er es gar
nicht wollte, sondern nur das Heraufdrängen irgendwelcher fanatischer
Worte seine Lippen zur Seite geschoben hätte.

Basini war wie gelähmt in die Knie gesunken und starrte mit angstvoll
aufgerissenen Augen die Waffe an.

»Steh auf«, sagte Beineberg, »wenn du alles genau befolgst, was ich
dir sage, soll dir kein Leid geschehen, wie du mich aber durch den
geringsten Widerspruch störst, schieße ich dich nieder. Merk dir das!

Ich werde dich allerdings auch so töten, aber du wirst wieder zum Leben
zurückkommen. Das Sterben ist uns nicht so fremd, wie du meinst; wir
sterben täglich -- im tiefen, traumlosen Schlafe.«

Wieder verzog das wirre Lächeln Beinebergs Mund.

»Knie dich jetzt da oben hin,« -- in halber Höhe lief ein breiter,
wagrechter Balken, -- »so -- ganz aufrecht -- halte dich völlig gerade
-- das Kreuz mußt du einziehen. Und jetzt schau fort da drauf; aber
ohne zu blinzeln, die Augen mußt du so weit öffnen, als du nur kannst!«

Beineberg stellte eine kleine Spiritusflamme so vor ihn hin, daß er
den Kopf ein wenig zurückbeugen mußte, um voll hineinzusehen.

Man konnte nicht viel wahrnehmen, aber nach einiger Zeit schien Basinis
Körper zu beginnen, wie ein Pendel hin und her zu schwingen. Die
bläulichen Reflexe bewegten sich auf seiner Haut auf und ab. Hie und
da glaubte Törleß Basinis Gesicht mit einem ängstlich verzerrten
Ausdrucke wahrzunehmen.

Nach einiger Zeit fragte Beineberg: »Bist du müde?«

Diese Frage war in der gewöhnlichen Weise der Hypnotiseure gestellt.

Dann begann er mit leiser, verschleierter Stimme zu erklären.

»Das Sterben ist nur eine Folge unserer Art zu leben. Wir leben von
einem Gedanken zum andern, von einem Gefühl zum nächsten. Denn unsere
Gedanken und Gefühle fließen nicht ruhig wie ein Strom, sondern
sie ›fallen uns ein‹, fallen in uns hinein wie Steine. Wenn du dich
genau beobachtest, fühlst du es, daß die Seele nicht etwas ist, das
in allmähligen Übergängen seine Farben wechselt, sondern daß die
Gedanken wie Ziffern aus einem schwarzen Loch daraus hervorspringen.
Jetzt hast du einen Gedanken oder ein Gefühl und mit einem Male steht
ein anderes da, wie aus dem Nichts gesprungen. Wenn du aufmerkst,
kannst du sogar zwischen zwei Gedanken den Augenblick spüren, wo alles
schwarz ist. Dieser Augenblick ist, -- einmal erfaßt, für uns geradezu
der Tod.

Denn unser Leben ist nichts anderes als Marksteine setzen und von einem
zum anderen hüpfen, täglich über tausend Sterbesekunden hinweg. Wir
leben nur gewissermaßen in den Ruhepunkten. Deswegen haben wir auch
eine so lächerliche Furcht vor dem unwiderruflichen Sterben, denn es
ist das schlechthin Marksteinlose, der unermeßliche Abgrund, in den
wir hineinfallen. Für diese Art zu leben ist es wirklich die völlige
Verneinung.

Aber auch nur unter der Perspektive dieses Lebens, nur für den,
der nicht anders gelernt hat sich zu fühlen, als von Augenblick zu
Augenblick.

Ich nenne dies das hüpfende Übel, und das Geheimnis besteht darin es
zu überwinden. Man muß das Gefühl seines Lebens als eines ruhig
Gleitenden in sich erwecken. In dem Momente, wo dies gelingt, ist man
dem Tode ebenso nah als dem Leben. Man lebt nicht mehr -- nach unseren
irdischen Begriffen --, aber man kann auch nicht mehr sterben, denn
mit dem Leben hat man auch den Tod aufgehoben. Es ist der Augenblick
der Unsterblichkeit, der Augenblick, wo die Seele aus unserem engen
Gehirn in die wunderbaren Gärten ihres Lebens tritt.

Folge mir also jetzt genau.

Schläfere alle Gedanken ein, starre in diese kleine Flamme; ... denke
nicht von einem zum andern ... Konzentriere alle Aufmerksamkeit nach
innen ... Starre die Flamme an ... dein Denken wird wie eine Maschine,
die immer langsamer geht ... immer ... langsamer ... geht ... Starre
nach innen ... so lange, bis du den Punkt findest, wo du dich fühlst,
ohne einen Gedanken oder eine Empfindung zu fühlen ...

Dein Schweigen wird mir die Antwort sein. Wende den Blick nicht von
innen weg ...« Minuten verstrichen ...

»Fühlst du den Punkt ...?«

Keine Antwort.

»Höre, Basini, ist es dir gelungen?«

Schweigen.

Beineberg stand auf, und sein hagerer Schatten richtete sich neben dem
Balken in die Höhe. Oben schwang Basinis Körper, von der Dunkelheit
trunken, merkbar hin und her.

»Dreh dich zur Seite«, befahl Beineberg. »Was jetzt gehorcht, ist
nur mehr das Gehirn,« murmelte er, »das mechanisch noch eine Weile
funktioniert, bis die letzten Spuren verzehrt sind, die ihm die Seele
aufdrückte. Sie selbst ist irgendwo -- in ihrem nächsten Dasein. Sie
trägt nicht mehr die Fesseln der Naturgesetze ...,« er wandte sich
jetzt an Törleß, »sie ist nicht mehr zur Strafe verurteilt, einen
Körper schwer zu machen, zusammenzuhalten. Neige dich vor, Basini --
so -- ganz allmählich ... immer weiter mit dem Körper hinaus ...
Sowie die letzte Spur im Gehirn erloschen sein wird, werden die Muskeln
nachlassen und der leere Körper in sich zusammenbrechen. Oder er
wird schweben bleiben; ich weiß es nicht; die Seele hat eigenmächtig
den Körper verlassen, es ist nicht der gewöhnliche Tod, vielleicht
bleibt der Körper in der Luft schweben, weil nichts, keine Kraft des
Lebens noch des Todes mehr, sich seiner annimmt ... Neige dich vor
... mehr noch.«

                   *       *       *       *       *

In diesem Augenblick polterte Basinis Körper, der aus Angst allen
Befehlen gefolgt war, schwer aufschlagend Beineberg zu Füßen.

Vor Schmerz schrie Basini auf. Reiting begann laut zu lachen.
Beineberg aber, der einen Schritt zurückgewichen war, stieß einen
gurgelnden Wutschrei aus, als er den Betrug erfaßt hatte. Mit
einer blitzschnellen Bewegung riß er seinen Ledergurt vom Leibe,
faßte Basini bei den Haaren und peitschte wie rasend auf ihn ein. Die
ganze ungeheure Spannung, unter der er gestanden war, strömte in
diesen wütenden Schlägen aus. Und Basini heulte unter ihnen vor
Schmerz, daß es wie die Klage eines Hundes in allen Winkeln zitterte.

                   *       *       *       *       *

Törleß war während des ganzen vorangegangenen Auftrittes ruhig
geblieben. Er hatte im stillen gehofft, daß sich vielleicht doch
etwas ereignen werde, das ihn wieder mitten in seinen verlorenen
Empfindungskreis versetzen würde. Es war eine törichte Hoffnung, dessen
blieb er sich stets bewußt, aber sie hatte ihn doch festgehalten.
Nun schien ihm jedoch, daß alles vorbei sei. Die Szene widerte ihn
an. Ganz gedankenlos; stummer, toter Widerwille.

Er erhob sich leise und ging ohne ein Wort zu sagen fort. Ganz
mechanisch.

Beineberg schlug sich noch immer an Basini müde.

                   *       *       *       *       *

Als Törleß im Bette lag, fühlte er: ein Abschluß. Etwas ist vorbei.

Während der nächsten Tage oblag er ruhig seinen Arbeiten in der
Schule; er kümmerte sich um nichts; Reiting und Beineberg mochten
wohl einstweilen ihr Programm Punkt für Punkt in Szene setzen, Törleß
ging ihnen aus dem Wege.

Da trat am vierten Tage, als gerade niemand zugegen war, Basini auf
ihn zu. Er sah elend aus, sein Gesicht war bleich und abgemagert,
in seinen Augen flackerte das Fieber einer beständigen Angst. Mit
scheuen Seitenblicken, in hastigen Worten stieß er hervor: »Du mußt
mir helfen! Nur du kannst es tun! Ich halte es nicht mehr länger
aus, wie sie mich quälen. Alles Frühere habe ich ertragen, .. jetzt
aber werden sie mich noch totschlagen!«

Törleß war es unangenehm, hierauf eine Antwort zu geben. Endlich sagte
er: »Ich kann dir nicht helfen; du selbst bist an allem schuld, was
mit dir geschieht.«

»Aber du warst doch vor kurzem noch so lieb zu mir.«

»Niemals.«

»Aber ...«

»Schweig davon. Das war nicht ich ... Ein Traum ... Eine Laune ... Es
ist mir sogar recht, daß deine neue Schande dich von mir fortgerissen
hat.... Es ist gut so für mich...«

Basini ließ den Kopf sinken. Er fühlte, daß ein Meer von grauer,
nüchterner Enttäuschung sich zwischen ihn und Törleß geschoben hatte...
Törleß war kalt, ein anderer.

Da warf er sich vor ihm in die Knie, schlug mit dem Kopf auf den Boden
und schrie: »Hilf mir! Hilf mir!.. Um Gottes willen hilf mir!«

Törleß zauderte einen Augenblick. In ihm war weder der Wunsch, Basini
zu helfen, noch genügend Empörung, um ihn von sich zu stoßen. So
folgte er dem erstbesten Gedanken. »Komm heute Nacht auf den Boden, ich
will noch einmal mit dir darüber sprechen.« Im nächsten Augenblick
bereute er aber schon.

»Wozu nochmals daran rühren?« fiel ihm ein und er sagte überlegend:
»Doch sie würden dich ja sehen; es geht nicht.«

»O nein, sie blieben die letzte Nacht bis zum Morgen mit mir auf --
sie werden heute schlafen.«

»Also meinetwegen. Aber erwarte nicht, daß ich dir helfen werde.«

                   *       *       *       *       *

Törleß hatte Basini die Zusammenkunft entgegen seiner eigentlichen
Überzeugung bestimmt. Denn die war, daß alles innerlich vorbei sei
und nichts mehr zu holen. Nur mehr eine Art Pedanterie, eine von
vorneherein hoffnungslose, eigensinnige Gewissenhaftigkeit hatte ihm
eingeblasen, nochmals an den Ereignissen herumzutasten.

Er hatte das Bedürfnis, es kurz zu machen.

Basini wußte nicht, wie er sich benehmen sollte. Er war so verprügelt,
daß er sich kaum zu rühren getraute. Alles Persönliche schien aus
ihm gewichen zu sein; nur in den Augen hatte sich ein Rest davon
zusammengedrängt und schien sich angstvoll, flehend an Törleß zu
klammern.

Er wartete, was dieser tun werde.

Endlich brach Törleß das Schweigen. Er sprach rasch, gelangweilt,
so wie wenn man eine längst abgetane Sache der Form halber nochmals
erledigen muß.

»Ich werde dir nicht helfen. Ich hatte allerdings eine Zeitlang ein
Interesse an dir, aber das ist jetzt vorbei. Du bist wirklich nichts
als ein schlechter, feiger Kerl. Gewiß nichts anderes. Was soll mich
da noch an dich halten! Früher glaubte ich immer, daß ich für dich
ein Wort, eine Empfindung finden müßte, die dich anders bezeichnete;
aber es gibt wirklich nichts Bezeichnenderes, als zu sagen, daß du
schlecht und feig bist. Das ist so einfach, so nichtssagend und doch
alles, was man vermag. Was ich früher anderes von dir wollte, habe
ich vergessen, seit du dich mit deinen geilen Bitten dazwischen
gedrängt hast. Ich wollte einen Punkt finden, fern von dir, um dich von
dort anzusehen ... das war mein Interesse an dir; du selbst hast es
zerstört ... doch genug; ich bin dir ja keine Erklärung schuldig.
Nur eines noch: Wie ist dir jetzt zumute?«

»Wie soll mir zumute sein? Ich kann es nicht länger ertragen.«

»Sie machen jetzt wohl sehr Arges mit dir, und es schmerzt dich?«

»Ja.«

»Aber so ganz einfach ein Schmerz? Du fühlst, daß du leidest, und du
willst dem entgehen? Ganz einfach und ohne Komplikation?«

Basini fand keine Antwort.

»Nun ja, ich frage nur so nebenher, nicht genau genug. Aber das ist
ja gleichgültig. Ich habe nichts mehr mit dir zu tun; ich sagte es
schon. Ich vermag in deiner Gesellschaft nicht das geringste mehr zu
fühlen. Mach, was du willst ...«

Törleß wollte gehen.

Da riß sich Basini die Kleider vom Leibe und drängte sich an Törleß
heran. Sein Körper war von Striemen überzogen -- widerwärtig. Seine
Bewegung elend wie die eines ungeschickten Freudenmädchens. Ekelnd
wandte sich Törleß ab.

Er hatte aber kaum die ersten Schritte in das Dunkel hineingetan, als
er auf Reiting stieß.

»Was ist das, du hast geheime Zusammenkünfte mit Basini?«

Törleß folgte dem Blicke Reitings und sah auf Basini zurück. Gerade an
der Stelle, wo dieser stand, fiel von einer Dachlucke her ein breiter
Balken Mondlicht ein. Die bläulich überhauchte Haut mit den wunden
Malen sah darin aus wie die eines Aussätzigen. Unwillkürlich suchte
sich Törleß für diesen Anblick zu entschuldigen.

»Er hat mich darum gebeten.«

»Was will er?«

»Ich soll ihn beschützen.«

»Na, da ist er ja an den Richtigen gekommen.«

»Vielleicht würde ich es doch tun, aber mir ist die ganze Geschichte
langweilig.«

Reiting sah unangenehm betroffen auf, dann fuhr er zornig Basini an.

»Wir werden dich schon lehren, Heimlichkeiten gegen uns anzustiften!
Dein Schutzengel Törleß wird selbst zusehen und sein Vergnügen daran
haben.«

Törleß hatte sich bereits abgewandt gehabt, aber diese offenbar an
seine Adresse gerichtete Bosheit hielt ihn, ohne daß er überlegte,
zurück.

»Höre, Reiting, das werde ich nicht tun. Ich will nichts mehr damit
zu schaffen haben; mir ist das Ganze zuwider.«

»Auf einmal?«

»Ja, auf einmal. Denn früher suchte ich hinter all dem etwas ...«
Warum nur drängte sich ihm dies jetzt wieder beständig auf ...

»Aha, das zweite Gesicht.«

»Jawohl; jetzt aber sehe ich nur, daß du und Beineberg abgeschmackt
roh seid.«

»O, du sollst sehen, wie Basini Kot frißt«, witzelte Reiting.

»Das interessiert mich jetzt nicht mehr.«

»Hat dich aber doch ...!«

»Ich sagte dir schon, nur solange mir Basinis Zustand dabei ein Rätsel
war.«

»Und jetzt?«

»Ich weiß jetzt nichts von Rätseln. Alles geschieht: Das ist die ganze
Weisheit.« Törleß wunderte sich, daß ihm auf einmal wieder Gleichnisse
einfielen, die sich jenem verloren gegangenen Empfindungskreise
näherten. Als Reiting spöttisch erwiderte, »nun diese Weisheit
braucht man wohl nicht erst weit her zu holen,« schoß daher in ihm
ein zorniges Gefühl der Überlegenheit empor und legte ihm harte
Worte in den Mund. Für einen Augenblick verachtete er Reiting so
sehr, daß er ihn am liebsten mit Füßen getreten hätte.

»Spotten magst du; was aber _ihr_ jetzt treibt, ist nichts als eine
gedankenlose, öde, ekelhafte Quälerei!«

Reiting warf einen Seitenblick auf den aufhorchenden Basini.

»Halte dich zurück, Törleß!«

»Ekelhaft, schmutzig -- du hast es gehört!«

Jetzt brauste auch Reiting auf.

»Ich verbiete dir, uns hier vor Basini zu beschimpfen!«

»Ach was. Du hast nichts zu verbieten! Die Zeit ist vorbei. Ich hatte
einmal vor dir und Beineberg Respekt, jetzt sehe ich aber, was ihr
gegen mich seid. Stumpfsinnige, widerwärtige, tierische Narren!«

»Halt deinen Mund, oder ...!!« Reiting schien auf Törleß zuspringen
zu wollen. Törleß wich einen Schritt zurück und schrie ihn an: »Glaubst
du, ich werde mich mit dir prügeln?! Dafür steht mir Basini nicht. Mach
mit ihm, was du willst, aber laß mich jetzt vorbei!!«

Reiting schien sich eines besseren als seines Dreinschlagens besonnen
zu haben und trat zur Seite. Nicht einmal Basini rührte er an. Aber
Törleß, der ihn kannte, wußte nun, daß hinter seinem Rücken eine
bösartige Gefahr drohe.

                   *       *       *       *       *

Schon am zweitnächsten Nachmittage traten Reiting und Beineberg auf
Törleß zu.

Dieser bemerkte den bösen Ausdruck ihrer Augen. Offenbar trug Beineberg
den lächerlichen Zusammenbruch seiner Prophezeiungen nun ihm nach und
Reiting mochte ihn überdies bearbeitet haben.

»Wie ich hörte, hast du uns beschimpft. Noch dazu vor Basini. Weswegen?«

Törleß gab keine Antwort.

»Du weißt, daß wir uns solches nicht bieten lassen. Weil aber du es
bist, dessen launenhafte Einfälle wir ja gewöhnt sind und nicht hoch
anschlagen, wollen wir die Sache ruhen lassen. Nur eines mußt du
tun.« Trotz dieser freundlichen Worte war etwas böse Wartendes in
Beinebergs Augen.

»Basini kommt heute Nacht in die Kammer; wir werden ihn dafür
züchtigen, daß er dich aufhetzte. Wenn du uns weggehen siehst, komme
nach.«

Aber Törleß sagte nein: »... Ihr könnt machen, was ihr wollt; mich
müßt ihr dabei aus dem Spiele lassen.«

»Wir werden heute Nacht Basini noch genießen, morgen liefern wir ihn
der Klasse aus, denn er beginnt sich aufzulehnen.«

»Macht, was ihr wollt.«

»Du wirst aber dabei sein.«

»Nein.«

»Gerade vor dir muß Basini sehen, daß ihm nichts gegen uns helfen
kann. Gestern weigerte er sich schon unsere Befehle auszuführen; wir
haben ihn halbtot geschlagen und er blieb dabei. Wir müssen wieder zu
moralischen Mitteln greifen, ihn erst vor dir, dann vor der Klasse
demütigen.«

»Ich werde aber nicht dabei sein!«

»Warum?«

»Nein.«

Beineberg schöpfte Atem; es sah aus, als wolle er Gift auf seinen
Lippen sammeln, dann trat er ganz nahe an Törleß heran.

»Glaubst du wirklich, daß wir nicht wissen, warum? Denkst du, wir
wissen nicht, wie weit du dich mit Basini eingelassen hast?«

»Nicht weiter als ihr.«

»So. Und da würde er gerade dich zu seinem Schutzpatron erwählt haben?
Was? -- Gerade zu dir würde ihn das große Zutrauen erfaßt haben? Für
so dumm wirst du uns doch nicht halten.«

Törleß wurde zornig. »Wißt, was ihr wollt, mich aber laßt jetzt mit
euren dreckigen Geschichten in Ruhe.«

»Wirst du schon wieder grob?!«

»Ihr ekelt mich an! Eure Gemeinheit ist ohne Sinn! Das ist das
Widerwärtige an euch.«

»So höre. Du solltest uns für so manches zur Dankbarkeit verpflichtet
sein. Wenn du glaubst, dich trotzdem jetzt über uns erheben zu können,
die wir deine Lehrmeister waren, so irrst du dich arg. Kommst du heute
abend mit oder nicht??«

»Nein!«

»Mein lieber Törleß, wenn du dich gegen uns auflehnst und nicht
kommst, so wird es dir gerade so gehen wie Basini. Du weißt, in
welcher Situation dich Reiting getroffen hat. Das genügt. Ob wir
mehr oder weniger getan haben, wird dir wenig nützen. Wir werden
alles gegen dich wenden. Du bist in solchen Dingen lange zu dumm und
unentschlossen, um dagegen aufkommen zu können.

Wenn du dich also nicht rechtzeitig besinnst, stellen wir dich der
Klasse als den Mitschuldigen Basinis hin. Dann mag er dich beschützen.
Verstanden?«

Wie ein Unwetter war diese Flut von Drohungen, bald von Beineberg,
bald von Reiting, bald von beiden zugleich hervorgestoßen, über Törleß
weggerauscht. Als die beiden fort waren, rieb er sich die Augen,
als hätte er geträumt. Aber Reiting kannte er; der war im Zorne der
größten Niedertracht fähig und Törleß' Schimpf und Auflehnung schienen
ihn tief verletzt zu haben. Und Beineberg? Er hatte ausgesehen, als
zitterte er unter einem jahrelang verhaltenen Hasse ... und das doch
nur, weil er sich vor Törleß böse blamiert hatte.

Doch je tragischer sich die Ereignisse über seinem Kopfe zusammenzogen,
desto gleichgültiger und mechanischer schienen sie Törleß. Er hatte vor
den Drohungen Angst. Das ja; aber weiter nichts. Die Gefahr hatte ihn
mitten in das Wirbeln der Wirklichkeit gezogen.

Er legte sich zu Bett. Er sah Beineberg und Reiting weggehen und den
müden Schritt Basinis vorbeischlürfen. Aber er ging nicht mit.

Doch marterten ihn schreckliche Vorstellungen. Zum ersten Male dachte
er wieder mit einiger Innigkeit an seine Eltern. Er fühlte, daß er
diesen ruhigen, gesicherten Boden brauche, um das zu festigen und
auszureifen, was ihm bisher nur Verlegenheiten gebracht hatte.

Was aber war das? Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken und über
die Ereignisse zu grübeln. Nur eine leidenschaftliche Sehnsucht
fühlte er, aus diesen wirren, trudelnden Verhältnissen herauszukommen,
eine Sehnsucht nach Stille, nach Büchern war in ihm. Als sei seine
Seele schwarze Erde, unter der sich die Keime schon regen, ohne daß
man noch weiß, wie sie herausbrechen werden. Das Bild eines Gärtners
drängte sich ihm auf, der jeden Morgen seine Beete begießt, mit
gleichmäßiger, zuwartender Freundlichkeit. Dieses Bild ließ ihn
nicht los, seine zuwartende Sicherheit schien alle Sehnsucht auf
sich zu sammeln. Nur so darf es kommen! Nur so! fühlte Törleß und über
alle Angst und alle Bedenken sprang die Überzeugung hinweg, daß er
alles daran setzen müsse, diesen Seelenzustand zu erreichen.

Nur über das, was zunächst zu geschehen habe, war er sich noch
nicht klar. Denn vor allen Dingen wurde durch diese Sehnsucht nach
friedlicher Vertiefung sein Abscheu vor dem bevorstehenden
Intrigenspiel nur noch verstärkt. Auch hatte er wirkliche Angst vor
der ihm auflauernden Rache. Sollten die beiden wirklich versuchen, ihn
vor der Klasse anzuschwärzen, so würde ihn die Gegenarbeit einen
ungeheuren Aufwand von Energie kosten, um den es ihm gerade jetzt leid
tat. Und dann, selbst wenn er nur an diesen Wirrwarr, an dieses
jedes höheren Wertes bare Sichstoßen mit fremden Absichten und
Willenskräften dachte, überlief ihn ein Ekel.

Da fiel ihm ein Brief ein, den er lange vorher von zu Hause erhalten
hatte. Es war die Antwort auf einen von ihm an die Eltern gerichteten,
in dem er damals, so gut es gehen mochte, von seinen sonderbaren
Seelenzuständen berichtet hatte, bevor noch die Episode mit der
Sinnlichkeit eingetreten war. Es war wieder eine recht hausbackene
Antwort, voll rechtschaffener, langweiliger Ethik gewesen und riet
ihm, Basini zu bewegen, daß er sich selbst stelle, damit dieser
unwürdige, gefährliche Zustand seiner Abhängigkeit ein Ende finde.

Diesen Brief hatte Törleß später wieder gelesen, als Basini nackt neben
ihm auf den weichen Decken der Kammer lag. Und es hatte ihm eine
besondere Lust bereitet, diese schwerfälligen, einfachen, nüchternen
Worte auf der Zunge zergehen zu lassen, während er sich dachte, daß
seine Eltern wohl durch das allzu Taghelle ihres Daseins blind gegen
das Dunkel seien, in dem seine Seele augenblicks wie eine geschmeidige
Raubkatze kauerte.

Heute aber langte er ganz anders nach dieser Stelle, als sie ihm wieder
einfiel.

Eine angenehme Beruhigung breitete sich über ihn, als hätte er die
Berührung einer festen, gütigen Hand gefühlt. Die Entscheidung war
in diesem Augenblick gefallen. Ein Gedanke war in ihm aufgeblitzt,
und er hatte ihn bedenkenlos ergriffen, gleichsam unter dem Patronate
seiner Eltern.

Er blieb wach liegen, bis die drei zurückkamen. Dann wartete er, bis
er an den gleichmäßigen Atemzügen hörte, daß sie schliefen. Nun riß er
hastig ein Blatt aus seinem Notizbuche und schrieb bei dem ungewissen
Lichte der Nachtlampe in großen, schwankenden Buchstaben darauf:

    ›Sie werden dich morgen der Klasse ausliefern, und es steht
    dir Fürchterliches bevor. Der einzige Ausweg ist, daß du dich
    selbst dem Direktor anzeigst. Zu Ohren würde es ihm ja auch
    ohnedies kommen, nur daß man dich vorher noch halbtot prügeln
    würde.

    Schiebe alles auf R. und B. und schweige von mir.

    Du siehst, daß ich dich retten will.‹

Diesen Zettel steckte er dem Schlafenden in die Hand.

Dann schlief auch er, von der Aufregung erschöpft, ein.

                   *       *       *       *       *

Den nächsten Tag schienen Beineberg und Reiting noch als Frist Törleß
gewähren zu wollen.

Mit Basini wurde es jedoch Ernst.

Törleß sah, wie Beineberg und Reiting zu einzelnen hingingen, und wie
sich dort um sie herum Gruppen bildeten, in denen eifrig geflüstert
wurde.

Dabei wußte er nicht, ob Basini seinen Zettel gefunden habe, denn ihn
zu sprechen fand sich keine Gelegenheit, da sich Törleß beobachtet
fühlte.

Anfangs hatte er überhaupt Angst, daß es sich auch schon um ihn handle.
Aber er war nunmehr im Angesichte der Gefahr von ihrer Widerwärtigkeit
so gelähmt, daß er alles an sich hätte herankommen lassen.

Später erst mischte er sich zaghaft, gefaßt, daß sich augenblicks alle
gegen ihn kehren würden, unter eine der Gruppen.

Aber man bemerkte ihn gar nicht. Es galt vorläufig erst Basini.

Die Aufregung wuchs. Törleß konnte es beobachten. Reiting und Beineberg
mochten wohl noch Lügen hinzugetan haben ...

Erst lächelte man, dann wurden einige ernst, und böse Blicke glitten
an Basini vorbei, endlich brütete es wie ein dunkles, heißes, von
finsteren Gelüsten schwangeres Schweigen über der Klasse.

Zufällig war ein freier Nachmittag.

Alle versammelten sich hinten bei den Kästen; dann wurde Basini
vorgerufen.

Beineberg und Reiting standen wie zwei Bändiger zu seinen Seiten.

Das probate Mittel des Entkleidens machte, nachdem man die Türen
verschlossen und Posten ausgestellt hatte, allgemeinen Spaß.

Reiting hielt ein Päckchen Briefe von Basinis Mutter an diesen in
seiner Hand und begann vorzulesen.

»Mein gutes Kind ...«

Allgemeines Gebrülle.

»Du weißt, daß ich von dem wenigen Gelde, über das ich als Witwe
verfüge ...«

Unflätiges Lachen, zügellose Scherze flattern aus der Masse auf.
Reiting will weiter lesen. Plötzlich stößt einer Basini. Ein anderer,
auf den er dabei fällt, stößt ihn halb im Scherze, halb in Entrüstung
zurück. Ein dritter gibt ihn weiter. Und plötzlich fliegt Basini,
nackt, mit von der Angst aufgerissenem Munde, wie ein wirbelnder
Ball, unter Lachen, Jubelrufen, Zugreifen aller im Saale umher -- von
einer Seite zur andern -- stößt sich Wunden an den scharfen Ecken der
Bänke, fällt in die Knie, die er sich blutig reißt -- und stürzt
endlich blutig bestaubt, mit tierischen, verglasten Augen zusammen,
während augenblicklich Schweigen eintritt und alles vordrängt, um ihn
am Boden liegen zu sehen.

Törleß schauderte. Er hatte die Macht der fürchterlichen Drohung vor
sich gesehen.

Und immer noch wußte er nicht, was Basini tun werde.

In der nächsten Nacht sollte Basini an ein Bett gebunden werden und
man hatte beschlossen, ihn mit Florettklingen durchzupeitschen.

                   *       *       *       *       *

Aber zur allgemeinen Verwunderung erschien schon am frühen Morgen der
Direktor in der Klasse. In seiner Begleitung der Klassenvorstand und
zwei Lehrer. Basini wurde von der Klasse entfernt und in ein eigenes
Zimmer gebracht.

Der Direktor aber hielt eine zornige Ansprache wegen der zutage
getretenen Roheiten und ordnete eine strenge Untersuchung an.

Basini hatte sich selbst gestellt.

Jemand mußte ihn von dem ihm Bevorstehenden verständigt haben.

                   *       *       *       *       *

Gegen Törleß schöpfte niemand Verdacht. Er saß still und in sich
gekehrt, als ginge ihn das Ganze gar nichts an.

Nicht einmal Reiting und Beineberg suchten in ihm den Verräter. Ihre
Drohungen gegen ihn hatten sie selbst nicht ernst genommen; sie hatten
sie um ihn einzuschüchtern, um ihre Überlegenheit fühlbar zu machen,
vielleicht auch aus Ärger hervorgestoßen; jetzt, wo ihr Zorn vorüber
war, dachten sie kaum mehr daran. Schon die Verbindlichkeiten gegen
seine Eltern würden sie von einem Vorgehen gegen Törleß zurückgehalten
haben. Das war ihnen so selbstverständlich, daß sie sich auch von
seiner Seite nicht des geringsten versahen.

Törleß empfand über seinen Schritt keine Reue. Das Heimliche, Feige,
das diesem anhaftete, kam gegenüber dem Gefühle einer gänzlichen
Befreiung nicht zur Geltung. Nach all den Aufregungen war es in ihm
wundersam klar und weit geworden.

Er beteiligte sich nicht an den erregten Gesprächen über das zu
Erwartende, die allenthalben gepflogen wurden; er lebte den ganzen Tag
ruhig vor sich hin.

Als es Abend wurde und die Lampen brannten, setzte er sich auf seinen
Platz und das Heft, in dem jene flüchtigen Aufzeichnungen eingetragen
waren, hatte er vor sich hingelegt.

Aber er las lange nicht darin. Er strich mit der Hand über die Seiten
und ihm war, daß ein feiner Duft aus ihnen aufsteige, wie Lavendel aus
alten Briefen. Es war die mit Wehmut gemischte Zärtlichkeit, die wir
einer abgeschlossenen Vergangenheit entgegenbringen, wenn wir in dem
zarten, blassen Schatten, der mit Totenblumen in den Händen aus ihr
aufsteigt, vergessene Ähnlichkeiten mit uns wiederentdecken.

Und dieser wehmütige feine Schatten, dieser bleiche Duft schien sich
in einem breiten, vollen, warmen Strom zu verlieren -- dem Leben, das
nun offen vor Törleß lag.

Eine Entwicklung war abgeschlossen, die Seele hatte einen neuen
Jahresring angesetzt, wie ein junger Baum, -- dieses noch wortlose,
überwältigende Gefühl entschuldigte alles, was geschehen war.

Nun begann Törleß seine Erinnerungen durchzublättern. Die Sätze,
in denen er hilflos das Geschehene -- dieses vielfältige Staunen
und Betroffensein vom Leben -- konstatiert hatte, wurden wieder
lebendig, schienen sich zu regen und gewannen Zusammenhang. Wie ein
heller Weg lagen sie vor ihm, in den sich die Spuren seiner tastenden
Schritte geprägt hatten. Aber noch schien ihnen etwas zu fehlen;
kein neuer Gedanke, o nein; aber sie packten Törleß noch nicht mit
voller Lebendigkeit.

Er fühlte sich unsicher. Und nun kam ihm die Angst, morgen vor seinen
Lehrern zu stehen und sich rechtfertigen zu müssen. Womit?! Wie sollte
er ihnen das auseinandersetzen? Diesen dunklen, geheimnisvollen Weg,
den er gegangen. Wenn sie ihn fragen würden: warum hast du Basini
mißhandelt? -- so könnte er ihnen doch nicht antworten: weil mich
dabei ein Vorgang in meinem Gehirn interessierte, ein Etwas, von dem
ich heute trotz allem noch wenig weiß, und vor dem alles, was ich
darüber denke, mir belanglos erscheint.

Dieser kleine Schritt, der ihn noch von dem Endpunkte des geistigen
Prozesses trennte, den er durchzumachen hatte, schreckte ihn wie ein
ungeheurer Abgrund.

Und ehe es noch Nacht wurde, befand sich Törleß in einer fieberhaften,
ängstlichen Aufregung.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Tage, als man die Zöglinge einzeln zum Verhöre rief, war
Törleß verschwunden.

Man hatte ihn zuletzt am Abend, vor einem Hefte sitzend, gesehen,
anscheinend lesend.

Man suchte im ganzen Institute, Beineberg sah heimlich in der Kammer
nach, Törleß war nicht zu finden.

Da wurde klar, daß er aus dem Institute geflohen war, und man
verständigte nach allen Seiten die Behörden, ihn mit Schonung
einzubringen.

Die Untersuchung nahm mittlerweile ihren Anfang.

Reiting und Beineberg, welche glaubten, daß Törleß aus Angst vor ihrer
Drohung, ihn hineinzulegen, geflohen sei, fühlten sich verpflichtet,
nun jeden Verdacht von ihm abzulenken und traten kräftig für ihn ein.

Sie wälzten alle Schuld auf Basini und die ganze Klasse bezeugte es
Mann für Mann, daß Basini ein diebischer, nichtswürdiger Kerl sei,
der den wohlmeinendsten Versuchen, ihn zu bessern, nur mit neuen
Rückfällen antworte. Reiting beteuerte, daß sie ja einsähen, gefehlt
zu haben, es aber nur deswegen getan hätten, weil ihnen ihr Mitleid
sagte, man solle einen Kameraden nicht eher der Strafe ausliefern,
als man alle Mittel gütlicher Belehrung erschöpft habe, und wieder
schwur die ganze Klasse, daß Basinis Mißhandlung nur ein Überschäumen
war, weil Basini den ihn aus den edelsten Empfindungen Schonenden mit
größtem, gemeinstem Hohne begegnet war.

Kurz es war eine wohlverabredete Komödie, von Reiting glänzend
inszeniert, und alle ethischen Töne wurden zur Entschuldigung
angeschlagen, welche in den Ohren der Erzieher Wert haben.

Basini schwieg stumpfsinnig zu allem. Vom vorgestrigen Tag her lag noch
ein tödlicher Schreck auf ihm und die Einsamkeit seiner Zimmerhaft,
der ruhige, geschäftsmäßige Gang der Untersuchung waren für ihn
schon eine Erlösung. Er wünschte sich nichts als ein rasches Ende.
Überdies hatten Reiting und Beineberg nicht verabsäumt, ihn mit der
fürchterlichsten Rache zu bedrohen, falls er gegen sie aussage.

Da wurde Törleß eingebracht. Todmüde und hungrig hatte man ihn in der
nächsten Stadt aufgegriffen.

Seine Flucht schien nun das einzig Rätselhafte in der ganzen
Angelegenheit zu sein. Aber die Situation war ihm günstig. Beineberg
und Reiting hatten gut vorgearbeitet, von der Nervosität gesprochen,
die er in der letzten Zeit an den Tag gelegt haben sollte, von seiner
moralischen Feinfühligkeit, die es sich schon zum Verbrechen
anrechne, daß er, der von Anfang an um alles wußte, nicht gleich die
Sache zur Anzeige gebracht habe und auf diese Weise die Katastrophe
mit verschuldete.

Törleß wurde also schon mit einem gewissen gerührten Wohlwollen
empfangen und die Kameraden bereiteten ihn rechtzeitig darauf vor.

Dennoch war er fürchterlich aufgeregt und die Angst, sich nicht
verständlich machen zu können, erschöpfte ihn völlig ....

Die Untersuchung wurde aus Diskretion, da man doch etwaige Enthüllungen
befürchtete, in der Privatwohnung des Direktors geführt. Zugegen waren
außer diesem noch der Klassenvorstand, der Religionslehrer und der
Mathematikprofessor, welchem es als dem Jüngsten des Lehrerkollegiums
zugefallen war, die protokollarischen Notizen zu führen.

Um das Motiv seiner Flucht befragt, schwieg Törleß.

Allseitiges, verständnisvolles Kopfnicken.

»Nun gut,« sagte der Direktor, »wir sind hierüber unterrichtet. Aber
sagen Sie uns, was Sie bewog, das Vergehen des Basini zu verheimlichen.«

Törleß hätte nun lügen können. Aber seine Scheu war gewichen. Es
reizte ihn förmlich, von sich zu sprechen und seine Gedanken an diesen
Köpfen zu versuchen.

»Ich weiß es nicht genau, Herr Direktor. Als ich das erstemal davon
hörte, schien es mir etwas ganz Ungeheuerliches zu sein ... etwas gar
nicht Vorstellbares ...«

Der Religionslehrer nickte Törleß befriedigt und aufmunternd zu.

»Ich ... ich dachte an Basinis Seele ...«

Der Religionslehrer strahlte über das ganze Gesicht, der Mathematiker
putzte seinen Klemmer, rückte ihn zurecht, kniff die Augen zusammen ...

»Ich konnte mir den Augenblick nicht vorstellen, in dem eine solche
Demütigung über Basini hereinbrach, und deswegen trieb es mich immer
wieder in dessen Nähe ...«

»Nun ja -- Sie wollen wohl damit sagen, daß Sie einen natürlichen
Abscheu vor dem Fehltritte Ihres Kameraden hatten und daß der Anblick
des Lasters Sie gewissermaßen bannte, so wie man es von dem Blick der
Schlangen ihren Opfern gegenüber behauptet.«

Der Klassenvorstand und der Mathematiker beeilten sich, ihre Zustimmung
zu dem Gleichnis durch lebhafte Gesten zu erkennen zu geben.

Aber Törleß sagte: »Nein, es war nicht eigentlich ein Abscheu. Es
war so: einmal sagte ich mir, er habe gefehlt und man müsse ihn denen
überantworten, die ihn zu bestrafen haben ...«

»So hätten Sie auch handeln sollen.«

»... Dann aber erschien er mir wieder so sonderbar, daß ich gar
nicht ans Strafen dachte, mich von einer ganz anderen Seite aus ihm
gegenüber befand; es gab jedesmal in mir einen Sprung, wenn ich so an
ihn dachte ...«

»Sie müssen sich deutlicher ausdrücken, mein lieber Törleß.«

»Das kann man nicht anders sagen, Herr Direktor.«

»Doch, doch. Sie sind aufgeregt; wir sehen es ja; verwirrt; -- was Sie
eben sagten, war sehr dunkel.«

»Nun ja, ich fühle mich verwirrt; ich hatte einmal schon viel bessere
Worte dafür. Aber es kommt doch immer auf dasselbe hinaus, daß etwas
Wunderliches in mir war ...«

»Gut -- aber das ist doch wohl selbstverständlich bei dieser ganzen
Angelegenheit.«

Törleß überlegte einen Augenblick.

»Vielleicht kann man es so sagen: Es gibt gewisse Sachen, die bestimmt
sind, gewissermaßen in doppelter Form in unser Leben einzugreifen. Ich
fand als solche Personen, Ereignisse, dunkle, verstaubte Winkel, eine
hohe, kalte, schweigende, plötzlich lebendig werdende Mauer ...«

»Aber um Himmelswillen, Törleß, wohin verirren Sie sich?«

Aber Törleß bereitete es nun einmal Vergnügen, alles aus sich
herauszureden.

»... imaginäre Zahlen ...«

Alle sahen bald einander, bald Törleß an. Der Mathematiker hüstelte:

»Ich muß da zu besserem Verständnis dieser dunklen Angaben hinzufügen,
daß mich der Zögling Törleß einmal aufgesucht hat, um sich eine
Erklärung gewisser Grundbegriffe der Mathematik -- so auch des
Imaginären -- zu erbitten, die der ungeschulten Vernunft tatsächlich
Schwierigkeiten bereiten können. Ich muß sogar gestehen, daß er
hiebei unleugbaren Scharfsinn entwickelte, jedoch mit einer wahren
Manie nur solche Dinge ausgesucht hatte, welche gewissermaßen eine
Lücke in der Kausalität unseres Denkens -- für ihn wenigstens --
zu bedeuten schienen.

Erinnern Sie sich noch Törleß, was Sie damals sagten?«

»Ja. Ich sagte, daß es mir an diesen Stellen scheine, wir könnten mit
unserem Denken allein nicht hinüberkommen, sondern bedürften einer
anderen, innerlicheren Gewißheit, die uns gewissermaßen hinüberträgt.
Daß wir mit dem Denken allein nicht auskommen, fühlte ich auch an
Basini.«

Der Direktor wurde bei diesem philosophischen Ausbiegen der
Untersuchung bereits ungeduldig, aber der Katechet war von Törleß'
Antwort sehr befriedigt.

»Sie fühlen sich also«, fragte er, »von der Wissenschaft weg zu
religiösen Gesichtspunkten gezogen? Offenbar war es wirklich auch
Basini gegenüber ähnlich,« wandte er sich an die übrigen, »er scheint
ein empfängliches Gemüt für das feinere, ich möchte sagen göttliche
und über uns hinausgehende Wesen der Moral zu haben.«

Nun fühlte sich der Direktor doch verpflichtet darauf einzugehen.

»Hören Sie, Törleß, ist es so, wie Seine Hochwürden sagt? Haben Sie
einen Hang hinter den Begebenheiten oder Dingen -- wie Sie sich ja
ziemlich allgemein ausdrücken -- einen religiösen Hintergrund zu
suchen?«

Er wäre selbst schon froh gewesen, wenn Törleß endlich bejaht hätte
und ein sicherer Boden zu seiner Beurteilung gegeben gewesen wäre; aber
Törleß sagte: »Nein, auch das war es nicht.«

»Nun, dann sagen Sie uns doch endlich klipp und klar,« platzte jetzt
der Direktor los, »was es gewesen ist. Wir können uns doch unmöglich
mit Ihnen hier in eine philosophische Auseinandersetzung einlassen.«

Doch Törleß war nun trotzig. Er fühlte selbst, daß er schlecht
gesprochen hatte, aber den Widerspruch sowohl, wie die mißverständliche
Zustimmung, die er gefunden hatte, gaben ihm das Gefühl einer
hochmütigen Überlegenheit über diese älteren Leute, die von den
Zuständen des menschlichen Inneren so wenig zu wissen schienen.

»Ich kann nicht dafür, daß es all das nicht ist, was Sie meinten. Ich
kann aber selbst nicht genau schildern, was ich jedes einzelnemal
empfand; wenn ich aber sage, was ich jetzt davon denke, so werden Sie
vielleicht auch verstehen, warum ich so lange nicht davon loskonnte.«

Er hatte sich aufgerichtet, so stolz, als sei er hier Richter, seine
Augen gingen geradeaus an den Menschen vorbei; er mochte diese
lächerlichen Figuren nicht ansehen.

Draußen vor dem Fenster saß eine Krähe auf einem Ast, sonst war nichts
als die weiße, riesige, Fläche.

Törleß fühlte, daß der Augenblick gekommen sei, wo er klar, deutlich,
siegesbewußt von dem sprechen werde, das erst undeutlich und quälend,
dann leblos und ohne Kraft in ihm gewesen war.

Nicht als ob ein neuer Gedanke ihm diese Sicherheit und Helle
verschafft hätte, er ganz, wie er hoch aufgerichtet dastand, als
sei um ihn nichts als ein leerer Raum, -- er, der ganze Mensch, fühlte
es, so wie er es damals gefühlt hatte, als er die erstaunten Augen
unter den schreibenden, lernenden, emsig schaffenden Kameraden hatte
umherwandern lassen.

Denn mit den Gedanken ist es eine eigene Sache. Sie sind oft nicht mehr
als Zufälligkeiten, die wieder vergehen, ohne Spuren hinterlassen zu
haben, und die Gedanken haben ihre toten und ihre lebendigen Zeiten.
Man kann eine geniale Erkenntnis haben und sie verblüht dennoch,
langsam, unter unseren Händen, wie eine Blume. Die Form bleibt, aber
die Farben, der Duft fehlen. Das heißt, man erinnert sich ihrer wohl
Wort für Wort und der logische Wert des gefundenen Satzes bleibt
völlig unangetastet, dennoch aber treibt er haltlos nur auf der
Oberfläche unseres Inneren umher und wir fühlen uns seinethalben nicht
reicher. Bis -- nach Jahren vielleicht -- mit einem Schlage wieder ein
Augenblick da ist, wo wir sehen, daß wir in der Zwischenzeit gar
nichts von ihm gewußt haben, obwohl wir logisch alles wußten.

Ja, es gibt tote und lebendige Gedanken. Das Denken, das sich an der
beschienenen Oberfläche bewegt, das jederzeit an dem Faden der
Kausalität nachgezählt werden kann, braucht noch nicht das lebendige zu
sein. Ein Gedanke, den man auf diesem Wege trifft, bleibt gleichgültig
wie ein beliebiger Mann in der Kolonne marschierender Soldaten.
Ein Gedanke, -- er mag schon lange vorher durch unser Hirn gezogen
sein, wird erst in dem Momente lebendig, da etwas, das nicht mehr
Denken, nicht mehr logisch ist, zu ihm hinzutritt, so daß wir
seine Wahrheit fühlen, jenseits von aller Rechtfertigung, wie einen
Anker, der von ihm aus ins durchblutete, lebendige Fleisch riß ... Eine
große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des
Gehirns, zur andern Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten und sie
ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der
Gedanke nur wie eine Blüte sitzt.

Nur einer Erschütterung der Seele hatte es für Törleß noch bedurft,
um diesen letzten Trieb in die Höhe zu treiben.

Ohne sich um die betroffenen Gesichter ringsum zu kümmern, gleichsam
nur für sich, knüpfte er hieran an und sprach, ohne abzusetzen, die
Augen geradeaus gerichtet bis zu Ende:

»... Ich habe vielleicht noch zu wenig gelernt, um mich richtig
auszudrücken, aber ich will es beschreiben. Eben war es wieder in mir.
Ich kann es nicht anders sagen, als daß ich die Dinge in zweierlei
Gestalt sehe. Alle Dinge; auch die Gedanken. Heute sind sie dieselben
wie gestern, wenn ich mich bemühe einen Unterschied zu finden, und
wie ich die Augen schließe, leben sie unter einem anderen Lichte auf.
Vielleicht habe ich mich mit den irrationalen Zahlen geirrt; wenn
ich sie gewissermaßen der Mathematik entlang denke, sind sie mir
natürlich, wenn ich sie geradeaus in ihrer Sonderbarkeit ansehe,
kommen sie mir unmöglich vor. Doch hier mag ich wohl irren, ich weiß
zu wenig von ihnen. Ich irrte aber nicht bei Basini, ich irrte nicht,
als ich mein Ohr nicht von dem leisen Rieseln in der hohen Mauer, mein
Auge nicht von dem schweigenden Leben des Staubes, das eine Lampe
plötzlich erhellte, abwenden konnte. Nein, ich irrte mich nicht, wenn
ich von einem zweiten, geheimen, unbeachteten Leben der Dinge sprach!
Ich -- ich meine es nicht wörtlich -- nicht diese Dinge leben, nicht
Basini hatte zwei Gesichter -- aber in mir war ein zweites, das dies
alles nicht mit den Augen des Verstandes ansah. So wie ich fühle, daß
ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, daß etwas in
mir beim Anblicke der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen. Es ist
etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken
nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt
und das doch mein Leben ist ...

Dieses schweigende Leben hat mich bedrückt, umdrängt, das anzustarren
trieb es mich immer. Ich litt unter der Angst, daß unser ganzes Leben
so sei und ich nur hie und da stückweise darum erfahre ... o ich hatte
furchtbare Angst ... ich war von Sinnen ...«

Diese Worte und Gleichnisse, die weit über Törleß' Alter hinausgingen,
kamen ihm in der riesigen Erregung, in einem Augenblicke beinahe
dichterischer Inspiration leicht und selbstverständlich über die
Lippen. Jetzt senkte er die Stimme, und wie von seinem Leide ergriffen,
fügte er hinzu:

»... Jetzt ist das vorüber. Ich weiß, daß ich mich doch geirrt
habe. Ich fürchte nichts mehr. Ich weiß: die Dinge sind die Dinge und
werden es wohl immer bleiben; und ich werde sie wohl immer bald
so, bald so ansehen. Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit
den anderen ... Und ich werde nicht mehr versuchen, dies miteinander
zu vergleichen ...«

Er schwieg. Er fand es ganz selbstverständlich, daß er nun gehen könne,
und niemand hinderte ihn daran.

                   *       *       *       *       *

Als er draußen war, sahen sich die Zurückgebliebenen verdutzt an.

Der Direktor neigte unschlüssig den Kopf hin und her. Der
Klassenvorstand fand als erster das Wort. »Ei, dieser kleine Prophet
wollte uns wohl eine Vorlesung halten. Aber der Kuckuck mag aus ihm
klug werden. Diese Erregung! Und dabei dieses Verwirren ganz
einfacher Dinge!«

»Rezeptivität und Spontaneität des Denkens«, sekundierte der
Mathematiker. »Es scheint, daß er zu großes Augenmerk auf den
subjektiven Faktor aller unserer Erlebnisse gelegt hat und daß ihn das
verwirrte und zu seinen dunklen Gleichnissen trieb.«

Nur der Religionslehrer schwieg. Er hatte aus den Reden Törleß' so oft
das Wort Seele aufgefangen und hätte sich gerne des jungen Menschen
angenommen.

Aber er wußte doch nicht recht, wie es gemeint war.

Der Direktor jedoch machte der Situation ein Ende. »Ich weiß nicht, was
eigentlich in dem Kopfe dieses Törleß steckt, jedenfalls aber befindet
er sich in einer so hochgradigen Überreizung, daß der Aufenthalt in
einem Institute für ihn wohl nicht mehr der geeignete ist. Für ihn
gehört eine sorgsamere Überwachung seiner geistigen Nahrung, als wir
sie durchführen können. Ich glaube nicht, daß wir die Verantwortung
weiter tragen können. Törleß gehört in die Privaterziehung; ich
werde in diesem Sinne an seinen Vater schreiben.«

Alle beeilten sich, diesem guten Vorschlage des ehrlichen Direktors
beizupflichten.

»Er war wirklich so eigentümlich, daß ich beinahe glaube, er hat Anlage
zum Hysteriker«, sagte der Mathematiker zu seinem Nachbar.

                   *       *       *       *       *

Zu gleicher Zeit mit dem Briefe des Direktors traf ein solcher von
Törleß bei seinen Eltern ein, in welchem er sie um seine Herausnahme
bat, weil er sich in dem Institute nicht mehr auf seinem Platze fühle.

                   *       *       *       *       *

Basini war mittlerweile strafweise entlassen worden. In der Schule ging
alles den gewohnten Gang.

Es war beschlossen, daß Törleß von seiner Mutter abgeholt werde. Er
nahm gleichgültigen Abschied von seinen Kameraden. Beinahe begann er
schon ihre Namen zu vergessen.

In die rote Kammer war er nie mehr hinaufgestiegen. Das schien alles
weit, weit hinter ihm zu liegen.

Seit Basinis Entfernung war es tot. Fast so, als ob dieser Mensch, der
alle diese Beziehungen an sich gekettet hatte, sie nun auch mit sich
fortgenommen hätte.

Etwas Stilles, Zweifelndes war über Törleß gekommen, aber die
Verzweiflung war weg. »Es waren wohl nur jene heimlichen Sachen mit
Basini, die sie so gesteigert hatten«, dachte er sich. Sonst schien
ihm gar kein Grund vorzuliegen.

Aber er schämte sich. So wie man sich am Morgen schämt, wenn man in der
Nacht -- von einem Fieber gepeinigt -- aus allen Winkeln des dunklen
Zimmers furchtbare Drohungen sich emportürmen sah.

Sein Verhalten vor der Kommission; es kam ihm ungeheuer lächerlich vor.
Soviel Aufhebens! Hatten sie nicht recht gehabt? Wegen einer solch
kleinen Sache! Jedoch es war etwas in ihm, das dieser Beschämung
den Stachel nahm. »Gewiß gebärdete ich mich unvernünftig,« überlegte
er, »jedoch scheint das Ganze überhaupt wenig mit meiner Vernunft
zu tun gehabt zu haben.« Das war nämlich jetzt sein neues Gefühl. Er
hatte die Erinnerung an einen fürchterlichen Sturm in seinem Innern,
zu dessen Erklärung die Gründe, die er jetzt noch in sich dafür
vorfand, bei weitem nicht ausreichten. »Also mußte es wohl etwas
viel Notwendigeres und Tieferliegendes gewesen sein,« schloß er, »als
was sich mit Vernunft und ähnlichen Begriffen beurteilen läßt ...«

Und das, was vor der Leidenschaft dagewesen war, was von ihr nur
überwuchert worden war, das Eigentliche, das Problem, saß fest. Diese
wechselnde seelische Perspektive je nach Ferne und Nähe, die er erlebt
hatte. Dieser unfaßbare Zusammenhang, der den Ereignissen und Dingen
je nach unserem Standpunkte plötzliche Werte gibt, die einander ganz
unvergleichlich und fremd sind ..

Dies und alles andere -- er sah es merkwürdig klar und rein -- und
klein. So wie man es eben am Morgen sieht, wenn die ersten reinen
Sonnenstrahlen den Angstschweiß getrocknet haben und Tisch und Schrank
und Feind und Schicksal wieder in ihre natürlichen Dimensionen zurück
kriechen.

Aber wie da eine leise, grüblerische Müdigkeit zurückbleibt, so
war es auch Törleß geschehen. Er wußte nun zwischen Tag und Nacht
zu scheiden; -- er hatte es eigentlich immer gewußt und nur ein
schwerer Traum war verwischend über diese Grenzen hingeflutet und er
schämte sich dieser Verwirrung: aber die Erinnerung, daß es anders sein
kann, daß es feine, leicht verlöschbare Grenzen rings um den Menschen
gibt, daß fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern
zernagen und unheimliche Gassen aufreißen, -- auch diese Erinnerung
hatte sich tief in ihn gesenkt und strahlte blasse Schatten aus.

Er konnte nicht viel davon erklären. Aber diese Wortlosigkeit fühlte
sich köstlich an, wie die Gewißheit des befruchteten Leibes, der das
leise Ziehen der Zukunft schon in seinem Blute fühlt. Und Zuversicht
und Müdigkeit mischten sich in Törleß ...

So kam es, daß er still und nachdenklich auf den Abschied
wartete .......

Seiner Mutter, die geglaubt hatte, einen überreizten und verwirrten
jungen Menschen zu finden, fiel seine kühle Gelassenheit auf.

Als sie zum Bahnhof hinausfuhren, lag rechts von ihnen der kleine
Wald mit dem Hause Boženas. Er sah so unbedeutend und harmlos aus,
ein verstaubtes Geranke von Weiden und Erlen.

Törleß erinnerte sich da, wie unvorstellbar ihm damals das Leben seiner
Eltern gewesen war. Und er betrachtete verstohlen von der Seite seine
Mutter.

»Was willst du, mein Kind?«

»Nichts, Mama, ich dachte nur eben etwas.«

Und er prüfte den leise parfümierten Geruch, der aus der Taille seiner
Mutter aufstieg.



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  sie bildete in seinen Augen sogar einen besonderes Vorzug des Prinzen,
  sie bildete in seinen Augen sogar einen besonderen Vorzug des Prinzen,

  die der Hofrat aus der Residenz mitgebracht hatte
  die der Hofrat aus der Residenz mitgebracht hatte.

  Die anderen schlugen indessen die Haken zusammen, wobei sie die
  Die anderen schlugen indessen die Hacken zusammen, wobei sie die

  sie selbst ist eine Flucht, auf der das zuzweiensein nur eine
  sie selbst ist eine Flucht, auf der das Zuzweiensein nur eine

  als ob wir einer Brüderschaft für Lebens angehörten! Glaubst du denn,
  als ob wir einer Brüderschaft fürs Leben angehörten! Glaubst du denn,

  lange, wie ein Weg ohne Ende und Ubersicht in tausend Windungen
  lange, wie ein Weg ohne Ende und Übersicht in tausend Windungen

  vorzubringen pflegte. -- »Ubrigens interessiert mich diese ganze
  vorzubringen pflegte. -- Ȇbrigens interessiert mich diese ganze

  mit dem in der Mathematik. Und dennoch handeln wir fortwährend dannach:
  mit dem in der Mathematik. Und dennoch handeln wir fortwährend danach:

  schwindelte. Dies waren allerdings nur Vergleiche die er nachher
  schwindelte. Dies waren allerdings nur Vergleiche, die er nachher

  »Ja, ja, das sah ich doch, ... und dann ....
  »Ja, ja, das sah ich doch, ... und dann ....«

  betrügen; ich wollte es mir nur heimlich ausleihen .. «
  betrügen; ich wollte es mir nur heimlich ausleihen ...«

  »Sie hätten mich geprügelt, angezeigt; alle, Schande wäre auf mich
  »Sie hätten mich geprügelt, angezeigt; alle Schande wäre auf mich

  zwischen dem Leben das man lebt, und dem Leben, das man fühlt, ahnt,
  zwischen dem Leben, das man lebt, und dem Leben, das man fühlt, ahnt,

  jungen aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehalten wurden.
  jungen aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehalten wurden,

  innen weg ...« Minuten verstrichen ...»
  innen weg ...« Minuten verstrichen ...

  Fühlst du den Punkt ...?«
  »Fühlst du den Punkt ...?«

  Törleß wurde zornig. »Wißt, was ihr wollt' mich aber laßt jetzt mit
  Törleß wurde zornig. »Wißt, was ihr wollt, mich aber laßt jetzt mit

  Doch Törleß war nun trotzig. Er fühlte elbst, daß er schlecht
  Doch Törleß war nun trotzig. Er fühlte selbst, daß er schlecht

  nichts von ihm gewußt haben obwohl wir logisch alles wußten.
  nichts von ihm gewußt haben, obwohl wir logisch alles wußten.

  Und er prüfte den leise parfümierten Geruch. der aus der Taille seiner
  Und er prüfte den leise parfümierten Geruch, der aus der Taille seiner

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*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" ***

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