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Title: Drei Meister - Balzac. Dickens. Dostojewski
Author: Zweig, Stefan, 1881-1942
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Drei Meister - Balzac. Dickens. Dostojewski" ***


  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Es wurde größte Sorgfalt darauf verwendet den Text originalgetreu
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                          Stefan Zweig

                          DREI MEISTER

                        BALZAC * DICKENS
                           DOSTOJEWSKI

                              1922

                   IM INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG


                         ROMAIN ROLLAND
                           _als Dank
            für seine unerschütterliche Freundschaft
                  in lichten und dunklen Jahren_



Obwohl in einem Zeitraum von zehn Jahren entstanden, bindet doch kein
Zufall diese drei Versuche über Balzac, Dickens und Dostojewski zu
einem Buche zusammen. Einheitliche Absicht versucht die drei großen
und in meinem Sinne einzigen Romanschriftsteller des neunzehnten
Jahrhunderts als Typen zu zeigen, die eben durch den Kontrast ihrer
Persönlichkeiten einander ergänzen und vielleicht den Begriff des
epischen Weltbildners, des Romanciers, zu einer deutlichen Form
erheben.

Nenne ich Balzac, Dickens und Dostojewski hier die einzigen großen
Romanschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts, so verkenne ich in
dieser Voranstellung keineswegs die Größe einzelner Werke Goethes,
Gottfried Kellers, Stendhals, Flauberts, Tolstois, Victor Hugos und
anderer, von denen mancher einzelne Roman oftmals das abgesonderte
Werk insbesondere Balzacs und Dickens' weitaus übertrifft. Und ich
glaube, meinen innerlichen und unerschütterlichen Unterschied zwischen
dem Verfasser eines Romanes und dem Romancier darum ausdrücklich
feststellen zu müssen. Romanschriftsteller im letzten, im höchsten
Sinne ist nur das enzyklopädische Genie, der universale Künstler, der
-- hier wird Breite des Werkes und Fülle der Figuren zum Argument --
einen ganzen Kosmos baut, der eine eigene Welt mit eigenen Typen,
eigenen Gravitationsgesetzen und einem eigenen Sternenhimmel neben die
irdische stellt. Der jede Figur, jedes Geschehnis so sehr mit seinem
Wesen imprägniert, daß sie nicht nur für ihn typisch werden, sondern
auch für uns selbst mit jener Eindringlichkeit bildkräftig, die uns
dann oft verlockt, Geschehnisse und Personen nach ihnen zu benennen, so
daß wir von Menschen im lebendigen Leben etwa sagen: eine balzacsche
Figur, eine Dickensgestalt, eine Dostojewskinatur. Jeder dieser Künstler
bildet ein Lebensgesetz, eine Lebensauffassung durch die Fülle seiner
Gestalten so einheitlich hervor, daß es durch ihn eine neue Form der
Welt wird. Und dieses innerste Gesetz, diese Charakterformation in
ihrer verborgenen Einheit darzustellen ist der wesentliche Versuch
meines Buches, dessen ungeschriebener Untertitel lauten könnte:
Psychologie des Romanciers.

Jeder dieser drei Romanschriftsteller hat seine eigene Sphäre. Balzac
die Welt der Gesellschaft, Dickens die Welt der Familie, Dostojewski
die Welt des Einen und des Alls. Vergleiche dieser Sphären zeigen ihre
Unterschiede, niemals aber ist unternommen, diese Unterschiede in
Werturteile umzudeuten oder die nationalen Elemente eines Künstlers in
Neigung oder Abwehr zu betonen. Jeder große Schöpfer ist eine Einheit,
die ihre Grenzen und ihr Gewicht in eigenen Maßen in sich schließt: es
gibt nur ein spezifisches Gewicht innerhalb eines Werkes, kein
absolutes in der Wagschale der Gerechtigkeit.

Alle drei Aufsätze setzen Kenntnis der Werke voraus: sie wollen keine
Einführung sein, sondern Sublimierung, Kondensierung, Extrakt. Sie
können darum, weil sie zusammendrängen, nur das persönlich als
wesentlich Empfundene zur Erkenntnis bringen; am meisten bedaure ich
diese notwendige Unzulänglichkeit bei dem Aufsatz über Dostojewski,
dessen unendliches Maß ebensowenig wie das Goethes jemals auch von
breitester Formel wird umfaßt werden können.

Gern wäre diesen großen Gestalten eines Franzosen, eines Engländers,
eines Russen auch das Bildnis eines repräsentativen deutschen
Romanschriftstellers, eines epischen Weltbildners in jenem hohen Sinne,
wie ich ihn für das Wort Romancier anspreche, beigefügt worden. Doch
ich finde keinen einzigen jenes höchsten Ranges in Gegenwart und
Vergangenheit. Und es ist vielleicht der Sinn dieses Buches, ihn für
die Zukunft zu fordern und den noch Fernen zu grüßen.

                                                 _SALZBURG 1919._



                             BALZAC


Balzac ist 1799 geboren, in der Touraine, der Provinz des Überflusses,
in Rabelais' heiterer Heimat. Im Juni 1799, das Datum ist wert,
wiederholt zu werden. Napoleon -- die von seinen Taten schon
beunruhigte Welt nannte ihn noch Bonaparte -- kam in diesem Jahre
aus Ägypten heim, halb Sieger und halb Flüchtling. Unter fremden
Sternbildern, vor den steinernen Zeugen der Pyramiden hatte er
gefochten, war dann, müd, ein grandios begonnenes Werk zäh zu
vollenden, auf winzigem Schiffe durchgeschlüpft zwischen den lauernden
Korvetten Nelsons, faßte ein paar Tage nach seiner Ankunft eine
Handvoll Getreuer zusammen, fegte den widerstrebenden Konvent rein
und riß mit einem Griff die Herrschaft Frankreichs an sich. 1799, das
Geburtsjahr Balzacs, ist der Beginn des Empire. Das neue Jahrhundert
kennt nicht mehr le petit général, nicht mehr den korsischen
Abenteurer, sondern nur mehr Napoleon, den Kaiser Frankreichs. Zehn,
fünfzehn Jahre noch -- die Knabenjahre Balzacs -- und die machtgierigen
Hände umspannen halb Europa, während seine ehrgeizigen Träume mit
Adlersflügeln schon ausgreifen über die ganze Welt von Orient zu
Okzident. Es kann für einen alles so intensiv Miterlebenden, für
einen Balzac nicht gleichgültig sein, wenn sechzehn Jahre ersten
Umblicks mit den sechzehn Jahren des Kaiserreichs, der vielleicht
phantastischesten Epoche der Weltgeschichte, glatt zusammenfallen. Denn
frühes Erlebnis und Bestimmung, sind sie nicht eigentlich nur Innen-
und Außenfläche eines Gleichen? Daß einer, irgendeiner kam, von
irgendeiner Insel im blauen Mittelmeer, nach Paris kam, ohne Freund und
Geschäft, ohne Ruf und Würde, schroff die eben zügellose Gewalt dort
packte, sie herumriß und in den Zaum zwang, daß irgendeiner, ein
einzelner, ein Fremder, mit einem Paar nackter Hände Paris gewann und
dann Frankreich und dann die ganze Welt -- diese Abenteurerlaune der
Weltgeschichte wird nicht aus schwarzen Lettern unglaubhaft zwischen
Legenden oder Historien ihm vermittelt, sondern farbig, durch all seine
durstig aufgetanen Sinne dringt sie ein in sein persönliches Leben, mit
tausend bunten Erinnerungswirklichkeiten die noch unbeschrittene Welt
seines Innern bevölkernd. Solches Erlebnis muß notwendigerweise zum
Beispiel werden. Balzac, der Knabe, hat das Lesen vielleicht gelernt an
den Proklamationen, die stolz, schroff, mit fast römischem Pathos die
fernen Siege erzählten, der Kinderfinger zog wohl ungelenk auf der
Landkarte, von der Frankreich wie ein überströmender Fluß allmählich
über Europa schwoll, den Märschen der napoleonischen Soldaten nach,
heute über den Mont Cenis, morgen quer durch die Sierra Nevada, über
die Flüsse hin nach Deutschland, über den Schnee nach Rußland, über das
Meer vor Gibraltar hin, wo die Engländer mit glühenden Kanonenkugeln
die Flottille in Brand schossen. Tags haben vielleicht die Soldaten
auf der Straße mit ihm gespielt, Soldaten, denen die Kosaken ihre
Säbelhiebe ins Gesicht geschrieben hatten, nachts mag er oft aufgewacht
sein vom zornigen Rollen der Kanonen, die hinzogen nach Österreich,
um die Eisdecke unter der russischen Reiterei bei Austerlitz zu
zerschmettern. Alles Begehren seiner Jugend mußte aufgelöst sein in
den aneifernden Namen, in den Gedanken, in die Vorstellung: Napoleon.
Vor dem großen Garten, der aus Paris hinausführt in die Welt, wuchs
ein Triumphbogen auf, dem die besiegten Städtenamen der halben Welt
eingemeißelt waren, und dieses Gefühl der Herrschaft, wie mußte es
umschlagen in eine ungeheure Enttäuschung, als dann fremde Truppen
mit Musik und wehenden Fahnen durchzogen durch diese stolze Wölbung!
Was außen, in der durchstürmten Welt geschah, wuchs nach innen als
Erlebnis. Früh erlebte er schon die ungeheure Umwälzung der Werte,
der geistigen ebenso wie der materiellen. Er sah die Assignaten, auf
denen 100 oder 1000 Francs mit dem Siegel der Republik verheißen waren,
als wertlose Papiere im Winde flattern. Auf dem Goldstück, das durch
seine Hand glitt, war bald des enthaupteten Königs feistes Profil,
bald die Jakobinermütze der Freiheit, bald des Konsuls Römergesicht,
bald Napoleon im kaiserlichen Ornat. In einer Zeit so ungeheurer
Umwälzungen, da die Moral, das Geld, das Land, die Gesetze, die
Rangordnungen, alles, was seit Jahrhunderten in feste Grenzen eingedämmt
war, einsickerte oder überschwemmte, in einer Epoche so nie erlebter
Veränderungen mußte ihm früh die Relativität aller Werte bewußt werden.
Ein Wirbel war die Welt um ihn, und wenn der schwindlige Blick nach
Übersicht suchte, nach einem Symbol, nach einem Sternbild über diesem
gebäumten Wogen, so war es in diesem Auf und Nieder der Ereignisse
immer nur der Eine, der Wirkende, von dem diese tausend Erschütterungen
und Schwingungen ausgingen. Und ihn selbst, Napoleon, hatte er noch
erlebt. Er sah ihn zur Parade reiten mit den Geschöpfen seines Willens,
mit Rustan, dem Mamelucken, mit Josef, dem er Spanien geschenkt hatte,
mit Murat, dem er Sizilien zu eigen gegeben, mit Bernadotte, dem
Verräter, mit allen, denen er Kronen gemünzt hatte und Königreiche
erobert, die er aufgehoben aus dem Nichts ihrer Vergangenheit in den
Strahl seiner Gegenwart. In einer Sekunde war in seine Netzhaut
sinnfällig und lebendig ein Bild eingestrahlt, das größer war als alle
Beispiele der Geschichte: er hatte den großen Welteroberer gesehen!
Und ist für einen Knaben, einen Welteroberer zu sehen, nicht gleichviel
mit dem Wunsche, selbst einer zu werden? Noch an zwei anderen Stellen
ruhten in diesem Augenblicke zwei Welteroberer aus, in Königsberg, wo
einer die Wirre der Welt sich auflöste in eine Übersicht, und in
Weimar, wo sie ein Dichter nicht minder in ihrer Gänze besaß als
Napoleon mit seinen Armeen. Aber dies war für lange noch unfühlbare
Ferne für Balzac. Den Trieb, immer nur das Ganze zu wollen, nie ein
Einzelnes, die ganze Weltfülle gierig zu erstreben, diesen fieberhaften
Ehrgeiz hat vorerst das Beispiel Napoleons an ihm verschuldet.

Dieser ungeheure Weltwille weiß noch nicht sofort seinen Weg. Balzac
entscheidet sich zunächst für keinen Beruf. Zwei Jahre früher geboren,
wäre er, ein Achtzehnjähriger, in die Reihen Napoleons getreten, hätte
vielleicht bei Belle Alliance die Höhen gestürmt, wo die englischen
Kartätschen niederfegten; aber die Weltgeschichte liebt keine
Wiederholungen. Auf den Gewitterhimmel der napoleonischen Epoche folgen
laue, weiche, erschlaffende Sommertage. Unter Ludwig XVIII. wird der
Säbel zum Zierdegen, der Soldat zur Hofschranze, der Politiker zum
Schönredner; nicht mehr die Faust der Tat, das dunkle Füllhorn des
Zufalls vergeben die hohen Staatsstellen, sondern weiche Frauenhände
schenken Gunst und Gnade, das öffentliche Leben versandet, verflacht,
der Gischt der Ereignisse glättet sich zum sanften Teich. Mit den
Waffen war die Welt nicht mehr zu erobern. Napoleon, dem einzelnen ein
Beispiel, war eine Abschreckung für die vielen. So blieb die Kunst.
Balzac beginnt zu schreiben. Aber nicht wie die anderen, um Geld zu
raffen, zu amüsieren, ein Bücherregal zu füllen, ein Boulevardgespräch
zu sein: ihn lüstet nicht nach einem Marschallstab in der Literatur,
sondern nach der Kaiserkrone. In einer Mansarde fängt er an. Unter
fremdem Namen, wie um seine Kraft zu proben, schreibt er die ersten
Romane. Es ist noch nicht Krieg, sondern nur Kriegsspiel, Manöver und
noch nicht die Schlacht. Unzufrieden mit dem Erfolg, unbefriedigt vom
Gelingen, wirft er dann das Handwerk hin, dient drei, vier Jahre lang
anderen Berufen, sitzt als Schreiber in der Stube eines Notars,
beobachtet, sieht, genießt, dringt mit seinem Blick in die Welt, und
dann fängt er noch einmal an. Jetzt aber mit jenem ungeheuren Willen
auf das Ganze hinzielend, mit jener gigantischen fanatischen Gier,
die das Einzelne, die Erscheinung, das Phänomen, das Losgerissene
mißachtet, um nur das in großen Schwingungen Kreisende zu umfassen, das
geheimnisvolle Räderwerk der Urtriebe zu belauschen. Aus dem Gebräu der
Geschehnisse die reinen Elemente, aus dem Zahlengewirr die Summe, aus
dem Getöse die Harmonie, aus der Lebensfülle die Essenz zu gewinnen,
die ganze Welt in seine Retorte zu drängen, sie noch einmal zu
schaffen, »en raccourci«, in der genauen Verkürzung, und die so
unterjochte mit seinem eigenen Atem zu beseelen, mit seinen eigenen
Händen zu lenken: das ist nun sein Ziel. Nichts soll verloren gehen
von der Vielfalt, und um dieses Unendliche in ein Endliches, das
Unerreichbare in ein Menschenmögliches zusammenzupressen, gibt es nur
einen Prozeß: die Komprimierung. Seine ganze Kraft arbeitet dahin, die
Phänomene zusammenzudrängen, sie durch ein Sieb zu jagen, wo alles
Unwesentliche zurückbleibt und nur die reinen, wertvollen Formen
durchsickern; und sie dann, diese zerstreuten Einzelformen, in der
Glut seiner Hände zusammenzupressen, ihre ungeheure Vielfalt in ein
anschauliches, übersichtliches System zu bringen, wie Linné die
Milliarden Pflanzen in eine enge Übersicht, wie der Chemiker die
unzählbaren Zusammensetzungen in eine Handvoll Elemente auflöst --
das ist nun sein Ehrgeiz. Er vereinfacht die Welt, um sie dann zu
beherrschen, er preßt die Bezwungene in den grandiosen Kerker der
»Comédie humaine«. Durch diesen Prozeß der Destillation sind seine
Menschen immer Typen, immer charakteristische Zusammenfassungen einer
Mehrheit, von denen ein unerhörter Kunstwille alles Überflüssige und
Unwesentliche abgeschüttelt hat. Diese geradlinigen Leidenschaften sind
die Stoßkräfte, diese reinen Typen die Schauspieler, diese dekorativ
vereinfachte Umwelt die Kulissen der »Comédie humaine«. Er konzentriert,
indem er das administrative Zentralisationssystem in die Literatur
einführt. Wie Napoleon macht er Frankreich zum Umkreis der Welt, Paris
zum Zentrum. Und innerhalb dieses Kreises, in Paris selbst, zieht er
mehrere Zirkel, den Adel, die Geistlichkeit, die Arbeiter, die Dichter,
die Künstler, die Gelehrten. Aus fünfzig aristokratischen Salons macht
er einen einzigen, den der Herzogin von Cadignan. Aus hundert Bankiers
den Baron von Nucingen, aus allen Wucherern den Gobsec, aus allen
Ärzten den Horace Bianchon. Er läßt diese Menschen enger beieinander
wohnen, häufiger sich berühren, vehementer sich bekämpfen. Wo das Leben
tausend Spielarten erzeugt, hat er nur eine. Er kennt keine Mischtypen.
Seine Welt ist ärmer als die Wirklichkeit, aber intensiver. Denn seine
Menschen sind Extrakte, seine Leidenschaften reine Elemente, seine
Tragödien Kondensierungen. Wie Napoleon beginnt er mit der Eroberung
von Paris. Dann faßt er Provinz nach Provinz -- jedes Departement
sendet gewissermaßen seinen Sprecher in das Parlament Balzacs -- und
dann wirft er wie der siegreiche Konsul Bonaparte seine Truppen über
alle Länder. Er greift aus, sendet seine Menschen an die Fjorde
Norwegens, in die verbrannten, sandigen Ebenen Spaniens, unter den
feuerfarbenen Himmel Ägyptens, an die vereiste Brücke der Beresina,
überallhin und noch weiter greift sein Weltwille wie der seines großen
Vorbildners. Und so wie Napoleon, ausruhend zwischen zwei Feldzügen,
den Code civil schuf, gibt Balzac, ausruhend von der Eroberung der
Welt in der »Comédie humaine«, einen Code moral der Liebe, der Ehe,
eine prinzipielle Abhandlung und zieht über die erdumspannende Linie
der großen Werke noch lächelnd die übermütige Arabeske der »Contes
drolatiques«. Vom tiefsten Elend, aus den Hütten der Bauern wandert er
in die Paläste von St. Germain, dringt in die Gemächer Napoleons,
überall reißt er die vierte Wand auf und mit ihr die Geheimnisse der
verschlossenen Räume, er rastet mit den Soldaten in den Zelten der
Bretagne, spielt an der Börse, sieht in die Kulissen des Theaters,
überwacht die Arbeit des Gelehrten, kein Winkel ist in der Welt, wo
seine zauberische Flamme nicht hinleuchtet. Zwei- bis dreitausend
Menschen bilden seine Armee, und tatsächlich: aus dem Boden hat er sie
gestampft, aus seiner flachen Hand ist sie aufgewachsen. Nackt, aus dem
Nichts sind sie gekommen, und er wirft ihnen Kleider um, schenkt ihnen
Titel und Reichtümer, wie Napoleon seinen Marschällen, nimmt sie ihnen
wieder ab, er spielt mit ihnen, hetzt sie durcheinander. Unzählbar ist
die Vielfalt der Geschehnisse, ungeheuer die Landschaft, die hinter
diese Ereignisse sich stellt. Einzig in der neuzeitlichen Literatur,
wie Napoleon einzig in der modernen Geschichte, ist diese Eroberung der
Welt in der »Comédie humaine«, dieses Zwischen-zwei-Händen-Halten des
ganzen, zusammengedrängten Lebens. Aber es war der Knabentraum Balzacs,
die Welt zu erobern, und nichts ist gewaltiger als früher Vorsatz, der
Wirklichkeit wird. Nicht umsonst hatte er unter ein Bild Napoleons
geschrieben: »Ce qu'il n'a pu achever par l'épée je l'accomplirai par
la plume.«

Und so wie er, sind seine Helden. Alle haben sie das Welteroberungsgelüst.
Eine zentripetale Kraft schleudert sie aus der Provinz, aus ihrer Heimat,
nach Paris. Dort ist ihr Schlachtfeld. Fünfzigtausend junge Leute, eine
Armee, strömt heran, unversuchte keusche Kraft, entladungssüchtige, unklare
Energie, und hier, im engen Raume prallen sie aufeinander wie Geschosse,
vernichten sich, treiben sich empor, reißen sich in den Abgrund. Keinem
ist ein Platz bereitet. Jeder muß sich die Rednerbühne erobern und dies
stahlharte, biegsame Metall, das Jugend heißt, umschmieden zu einer
Waffe, seine Energien konzentrieren zu einem Explosiv. Daß dieser Kampf
innerhalb der Zivilisation nicht minder erbittert ist als der auf den
Schlachtfeldern, dies als erster bewiesen zu haben, ist der Stolz Balzacs:
»Meine bürgerlichen Romane sind tragischer als eure Trauerspiele!« ruft
er den Romantikern zu. Denn das erste, was diese jungen Menschen in den
Büchern Balzacs lernen, ist das Gesetz der Unerbittlichkeit. Sie wissen,
daß sie zuviel sind, und müssen sich -- das Bild gehört Vautrin, dem
Liebling Balzacs -- auffressen wie die Spinnen in einem Topf. Sie müssen
die Waffe, die sie aus ihrer Jugend geschmiedet haben, noch eintauchen in
das brennende Gift der Erfahrung. Nur der Überbleibende hat recht. Aus
allen zweiunddreißig Windrichtungen kommen sie her wie die Sansculotten
der »Großen Armee«, zerreißen sich die Schuhe auf dem Wege nach Paris,
der Staub der Landstraße klebt an ihren Kleidern, und ihre Kehle ist
verbrannt von einem ungeheuren Durst nach Genuß. Und wie sie sich
umsehen in dieser neuen, zauberischen Sphäre der Eleganz, des Reichtums
und der Macht, da fühlen sie, daß, um diese Paläste, diese Frauen,
diese Gewalten zu erobern, all das wenige, das sie mitgebracht haben,
wertlos sei. Daß sie ihre Fähigkeiten, um sie auszunützen, umschmelzen
müßten, Jugend in Zähigkeit, Klugheit in List, Vertrauen in Falschheit,
Schönheit in Laster, Verwegenheit in Verschlagenheit. Denn die Helden
Balzacs sind starke Begehrende, sie streben nach dem Ganzen. Sie alle
haben das gleiche Abenteuer: ein Tilbury saust an ihnen vorbei, die
Räder sprühen sie an mit Kot, der Kutscher schwingt die Peitsche, aber
darin sitzt eine junge Frau, in ihrem Haar blinkt der Schmuck. Ein
Blick weht rasch vorüber. Sie ist verführerisch und schön, ein Symbol
des Genusses. Und alle Helden Balzacs haben in diesem Augenblicke nur
einen Wunsch: Mir diese Frau, der Wagen, die Diener, der Reichtum,
Paris, die Welt! Das Beispiel Napoleons, daß alle Macht auch für den
Geringsten feil sei, hat sie verdorben. Nicht wie ihre Väter in der
Provinz ringen sie um einen Weinberg, um eine Präfektur, um eine
Erbschaft, sondern um Symbole schon, um die Macht, um den Aufstieg in
jenen Lichtkreis, wo die Liliensonne des Königtums glänzt und das Geld
wie Wasser durch die Finger rinnt. So werden sie ja jene großen
Ehrgeizigen, denen Balzac stärkere Muskeln, wildere Beredsamkeit,
energischere Triebe, ein wenn auch rascheres, so doch lebendigeres
Leben zuschreibt, als den anderen. Sie sind Menschen, deren Träume
Taten werden, Dichter, wie er sagt, die in der Materie des Lebens
dichten. Zwiefach in ihrer Angriffsweise, ein besonderer Weg bahnt
sich dem Genie, ein anderer dem gewöhnlichen. Man muß sich eine eigene
Weise finden, um zur Macht zu gelangen, oder man muß die der anderen,
die Methode der Gesellschaft erlernen. Als Kanonenkugel muß man
mörderisch hineinschmettern in die Menge der anderen, die zwischen
einem und dem Ziele stehen, oder man muß sie schleichend vergiften wie
die Pest, rät Vautrin, der Anarchist, die grandiose Lieblingsfigur
Balzacs. Im Quartier Latin, wo Balzac selbst in enger Stube begonnen
hat, treten auch seine Helden zusammen, die Urformen des sozialen
Lebens, Desplein, der Student der Medizin, Rastignac, der Streber,
Louis Lambert, der Philosoph, Bridau, der Maler, Rubempré, der
Journalist -- ein Cénacle junger Menschen, die ungeformte Elemente
sind, reine, rudimentäre Charaktere, aber doch: das ganze Leben
gruppiert um eine Tischplatte in der sagenhaften Pension Vauquer. Dann
aber, hineingegossen in die große Retorte des Lebens, eingekocht in die
Hitze der Leidenschaften, und wieder erkaltend, erstarrend an den
Enttäuschungen, unterworfen den vielfachen Wirkungen der gesellschaftlichen
Natur, den mechanischen Reibungen, den magnetischen Anziehungen, den
chemischen Zersetzungen, den molekularen Zerlegungen, bilden sich diese
Menschen um, verlieren sie ihr wahres Wesen. Die furchtbare Säure, die
Paris heißt, löst die einen auf, zerfrißt sie, scheidet sie aus, läßt
sie verschwinden und kristallisiert, verhärtet, versteint wiederum die
anderen. Alle Wirkungen der Wandlung, Färbung und Vereinung vollziehen
sich an ihnen, aus den vereinten Elementen bilden sich neue Komplexe,
und zehn Jahre später grüßen sich die Übergebliebenen, Umgeformten mit
Augurenlächeln auf den Höhen des Lebens, Desplein, der berühmte Arzt,
Rastignac, der Minister, Bridau, der große Maler, während Louis
Lambert und Rubempré das Schwungrad zermalmend faßte. Nicht umsonst hat
Balzac die Chemie geliebt, die Werke Cuviers, Lavoisiers studiert.
Denn in diesem vielfältigen Prozeß der Aktionen und Reaktionen, der
Affinitäten, der Abstoßungen und Anziehungen, Ausscheidungen und
Gliederungen, Zersetzungen und Kristallisierungen, in der atomhaften
Vereinfachung des Zusammengesetzten schien ihm deutlicher als anderswo
das Bild der sozialen Zusammensetzung gespiegelt zu sein. Daß jede
Vielheit nicht minder auf die Einheit wirkte, wie die Einheit selbst
wieder bestimmend auf die Vielheit, diese seine Auffassung, die er
Lamarquismus nannte -- und die Taine später zu Begriffen erstarrt hat
--, daß jedes Individuum ein Produkt sei, geformt von Klima, Milieu,
Sitten, Zufall, von all dem, was schicksalsträchtig an ihm rührt, daß
jedes Individuum seine Wesenheit aus einer Atmosphäre sauge, um selbst
wieder eine neue Atmosphäre zu entstrahlen --, dieses universelle
Bedingtsein von In- und Umwelt war ihm Axiom. Und diesen Abdruck des
Organischen im Unorganischen und die Griffspuren des Lebendigen im
Begrifflichen wieder, diese Summierungen eines momentanen geistigen
Besitzes im sozialen Wesen, die Produkte ganzer Epochen aufzuzeichnen,
schien ihm höchste Aufgabe des Künstlers. Alles fließt ineinander, alle
Kräfte sind in Schwebe und keine frei. Ein so unbegrenzter Relativismus
hat jede Kontinuität, selbst die des Charakters geleugnet. Balzac hat
seine Menschen immer an den Ereignissen sich formen lassen, sich
modellieren wie Ton in der Hand des Schicksals. Selbst die Namen seiner
Menschen umspannen einen Wandel und kein Einheitliches. Durch zwanzig
der Bücher Balzacs geht der Baron von Rastignac, Pair von Frankreich.
Man glaubt ihn schon zu kennen, von der Straße her, oder vom Salon,
oder von der Zeitung, diesen rücksichtslosen Arrivierten, dies Prototyp
eines brutalen pariserischen unbarmherzigen Strebers, der aalglatt
durch alle Schlupfwinkel der Gesetze sich durchdrückt und die Moral
einer verkommenen Gesellschaft meisterhaft verkörpert. Aber da ist ein
Buch, in dem lebt auch ein Rastignac, der junge arme Edelmann, den
seine Eltern nach Paris schicken mit vielen Hoffnungen und wenig Geld,
ein weicher, sanfter, bescheidener, sentimentaler Charakter. Und das
Buch erzählt, wie er in die Pension Vauquer gerät, in jenen Hexenkessel
von Gestalten, in eine jener genialen Verkürzungen, wo Balzac in vier
schlecht tapezierte Wände die ganze Lebensvielfalt der Temperamente und
Charaktere einschließt, und hier sieht er die Tragödie des ungekannten
König Lear, des Vaters Goriot, sieht, wie die Flitterprinzessinnen des
Faubourg St. Germain gierig den alten Vater bestehlen, sieht alle
Niedertracht der Gesellschaft, gelöst in eine Tragödie. Und da, wie er
endlich dem Sarge des allzu Gütigen folgt, allein mit einem Hausknecht
und einer Magd, wie er in zorniger Stunde Paris schmutziggelb und trüb
wie ein böses Geschwür von den Höhen des Père Lachaise zu seinen Füßen
sieht, da weiß er alle Weisheit des Lebens. In diesem Momente hört er
die Stimme Vautrins, des Sträflings, in seinem Ohr aufklingen, seine
Lehre, daß man Menschen wie Postpferde behandeln müsse, sie vor seinem
Wagen hetzen und dann krepieren lassen am Ziel, in dieser Sekunde
wird er der Baron Rastignac der anderen Bücher, der rücksichtslose,
unerbittliche Streber, der Pair von Paris. Und diese Sekunde am
Kreuzweg des Lebens erleben alle Helden Balzacs. Sie alle werden
Soldaten im Kriege aller gegen alle, jeder stürmt vorwärts, über die
Leiche des einen geht der Weg des andern. Daß jeder seinen Rubikon,
sein Waterloo hat, daß die gleichen Schlachten sich in Palästen, Hütten
und Tavernen liefern, zeigt Balzac, und daß unter den abgerissenen
Kleidern Priester, Ärzte, Soldaten, Advokaten die gleichen Triebe
entäußern, das weiß sein Vautrin, der Anarchist, der die Rollen aller
spielt und in zehn Verkleidungen in den Büchern Balzacs auftritt, immer
aber derselbe und bewußt derselbe. Unter der nivellierten Oberfläche
des modernen Lebens wühlen die Kämpfe unterirdisch weiter. Denn der
äußeren Egalisierung wirkt der innere Ehrgeiz entgegen. Da keinem ein
Platz reserviert ist wie einst dem König, dem Adel, den Priestern, da
jeder ein Anrecht auf alle hat, so verzehnfacht sich ihre Anspannung.
Die Verkleinerung der Möglichkeiten äußert sich im Leben als
Verdoppelung der Energie.

Gerade dieser mörderische und selbstmörderische Kampf der Energien ist
es, der Balzac reizt. Die an ein Ziel gewandte Energie als Ausdruck des
bewußten Lebenswillens nicht in ihrer Wirkung, sondern in ihrem Wesen
zu schildern, ist seine Leidenschaft. Ob sie gut oder böse, wirkungskräftig
oder verschwendet bleibt, ist ihm gleichgültig, sobald sie nur intensiv
wird. Intensität, Wille ist alles, weil dies dem Menschen gehört,
Erfolg und Ruhm nichts, denn ihn bestimmt der Zufall. Der kleine
Dieb, der ängstliche, der ein Brot vom Bäckerladentisch in den Ärmel
verschwinden läßt, ist langweilig, der große Dieb, der professionelle,
der nicht nur um des Nutzens, sondern um der Leidenschaft willen raubt,
dessen ganze Existenz sich auflöst in den Begriff des Ansichreißens,
ist grandios. Die Effekte, die Tatsachen zu messen, bleibt Aufgabe
der Geschichtschreibung, die Ursachen, die Intensitäten freizulegen,
scheint für Balzac die des Dichters. Denn tragisch ist nur die Kraft,
die nicht zum Ziel gelangt. Balzac schildert die héros oubliés, für ihn
gibt es in jeder Epoche nicht nur einen Napoleon, nicht nur den der
Historiker, der die Welt erobert hat von 1796 bis 1815, sondern er
kennt vier oder fünf. Der eine ist vielleicht bei Marengo gefallen und
hat Desaix geheißen, der zweite mag vom wirklichen Napoleon nach
Ägypten gesandt worden sein, fernab von den großen Ereignissen, der
dritte hat vielleicht die ungeheuerste Tragödie erlitten: er war
Napoleon und ist nie an ein Schlachtfeld gelangt, hat in irgendeinem
Provinznest einsickern müssen, statt Wildbach zu werden, aber er hat
nicht minder Energie verausgabt, wenn auch an kleinere Dinge. So nennt
er Frauen, die durch ihre Hingebung und ihre Schönheit berühmt geworden
wären unter den Sonnenköniginnen, deren Namen geklungen hätten wie der
der Pompadour oder der Diane de Poitiers, er spricht von den Dichtern,
die an der Ungunst des Augenblicks zugrunde gehen, an deren Namen der
Ruhm vorbeigeglitten ist und denen der Dichter erst den Ruhm wieder
schenken muß. Er weiß, daß jede Sekunde des Lebens eine ungeheure Fülle
von Energie unwirksam verschwendet. Ihm ist bewußt, daß die Eugenie
Grandet, das sentimentale Provinzmädel, in dem Augenblicke, wo sie,
erzitternd vor dem geizigen Vater, ihrem Vetter die Geldbörse schenkt,
nicht minder tapfer ist als die Jeanne d'Arc, deren Marmorbild auf
jedem Marktplatze Frankreichs leuchtet. Erfolge können den Biographen
unzähliger Karrieren nicht blenden, den nicht täuschen, der alle
Schminken und Mixturen des sozialen Auftriebs chemisch zersetzt hat.
Balzacs unbestechliches Auge, einzig nach Energie ausspähend, sieht aus
dem Gewühl der Tatsachen immer nur die lebendige Anspannung, greift in
jenem Gedränge an der Beresina, wo das zersprengte Heer Napoleons über
die Brücke strebt, wo Verzweiflung und Niedertracht und Heldentum
hundertfach geschilderter Szenen zu einer Sekunde zusammengedrängt
sind, die wahren, die größten Helden heraus: die vierzig Pioniere,
deren Namen niemand kennt, die drei Tage bis zur Brust im eiskalten,
schollentreibenden Wasser gestanden hatten, um jene schwanke Brücke zu
bauen, auf der die Hälfte der Armee entkam. Er weiß, daß hinter den
verhängten Scheiben von Paris in jeder Sekunde Tragödien geschehen, die
nicht geringer sind als der Tod der Julia, das Ende Wallensteins und
die Verzweiflung Lears, und immer wieder hat er das eine Wort stolz
wiederholt: »Meine bürgerlichen Romane sind tragischer als eure
tragischen Trauerspiele.« Denn seine Romantik greift nach innen. Sein
Vautrin, der Bürgerkleidung trägt, ist nicht minder grandios als der
schellenumhangene Glöckner von Notre-Dame, der Quasimodo des Viktor
Hugo, die starren felsigen Landschaften der Seele, das Gestrüpp von
Leidenschaft und Gier in der Brust seiner großen Streber ist nicht
minder schreckhaft, als die schaurige Felsenhöhle des Han d'Islande.
Balzac sucht das Grandiose nicht in der Draperie, nicht im Fernblick
auf das Historische oder Exotische, sondern im Überdimensionalen, in
der gesteigerten Intensität eines in seiner Geschlossenheit einzig
werdenden Gefühls. Er weiß, daß jedes Gefühl erst bedeutsam wird, wenn
es in seiner Kraft ungebrochen bleibt, jeder Mensch nur groß, wenn er
sich konzentriert in ein Ziel, sich nicht verschleudert, in einzelne
Begierden zersplittert, wenn seine Leidenschaft die allen anderen
Gefühlen zugedachten Säfte in sich auftrinkt, durch Raub und Unnatur
stark wird, so wie ein Ast mit doppelter Wucht erst aufblüht, wenn der
Gärtner die Zwillingsäste gefällt oder gedrosselt hat. Solche Monomanen
der Leidenschaft hat er geschildert, die in einem einzigen Symbol die
Welt begreifen, einen Sinn sich statuierend in dem unentwirrbaren
Reigen. Eine Art Mechanik der Leidenschaften ist das Grundaxiom seiner
Energetik: der Glaube, daß jedes Leben eine gleiche Summe von Kraft
verausgabe, gleichviel, an welche Illusionen es diese Willensbegehrungen
verschwende, gleichviel, ob es sie langsam verzettle in tausend
Erregungen, oder sparsam aufbewahre für die jähen heftigen Ekstasen,
ob in Verbrennung oder Explosion das Lebensfeuer sich verzehre. Wer
rascher lebt, lebt nicht kürzer, wer einheitlich lebt, nicht minder
vielfältig. Für ein Werk, das nur Typen schildern will, die reinen
Elemente auflösen, sind solche Monomanen allein wichtig. Flaue Menschen
interessieren Balzac nicht, nur solche, die etwas ganz sind, die mit
allen Nerven, mit allen Muskeln, mit allen Gedanken an einer Illusion
des Lebens hängen, sei es, an was immer auch, an der Liebe, der Kunst,
dem Geiz, der Hingebung, der Tapferkeit, der Trägheit, der Politik, der
Freundschaft. An irgendeinem beliebigen Symbol, aber an diesem ganz.
Diese hommes à passion, diese Fanatiker einer selbstgeschaffenen
Religion, sehen nicht nach rechts, nicht nach links. Sie sprechen
verschiedene Sprachen untereinander und verstehen sich nicht. Biete dem
Sammler eine Frau, die schönste der Welt -- er wird sie nicht bemerken;
dem Liebenden eine Karriere -- er wird sie mißachten; dem Geizigen ein
anderes als Geld -- er wird nicht aufschauen von seiner Truhe. Läßt er
sich aber verlocken, verläßt er die eine geliebte Leidenschaft um der
anderen willen, so ist er verloren. Denn Muskeln, die man nicht
gebraucht, zerfallen, Sehnen, die man jahrelang nicht gespannt,
verknöchern, und wer zeitlebens Virtuose einer einzigen Leidenschaft
war, Athlet eines einzigen Gefühls, ist Stümper und Schwächling auf
jedem anderen Gebiet. Jedes zur Monomanie aufgepeitschte Gefühl
vergewaltigt die anderen, gräbt ihnen das Wasser ab und läßt sie
vertrocknen: aber ihre Reizwerte saugt es in sich. Alle Graduationen
und Peripetien der Liebe, Eifersucht und Trauer, Erschöpfung und
Ekstase, sind bei dem Geizigen in der Sparsucht, beim Sammler in der
Sammelwut gespiegelt, denn jede absolute Vollkommenheit vereinigt die
Summe der Gefühlsmöglichkeiten. Die Intensität der Einseitigkeit hat in
ihren Emotionen die ganze Vielfalt der vernachlässigten Begehrungen.
Hier setzen die großen Tragödien Balzacs ein. Der Geldmensch Nucingen,
der Millionen gesammelt hat, an Klugheit überlegen allen Bankiers des
Kaiserreichs, wird ein läppisches Kind in den Händen einer Dirne, der
Dichter, der sich dem Journalismus hinwirft, wird zerrieben wie ein
Korn unter dem Mühlstein. Ein Traumbild der Welt, ein jedes Symbol ist
eifersüchtig wie Jehova und duldet keine anderen Leidenschaften neben
sich. Und von diesen Leidenschaften ist keine größer und keine
geringer, sie haben ebensowenig eine Rangordnung wie Landschaften oder
Träume. Keine ist zu gering. »Warum sollte man nicht die Tragödie der
Dummheit schreiben?« sagt Balzac, »die der Verschämtheit, die der
Ängstlichkeit, die der Langeweile?« Auch sie sind bewegende, treibende
Kräfte, auch sie bedeutsam, insofern sie nur genugsam intensiv sind,
selbst die ärmlichste Lebenslinie hat Schwung und Schönheitsgewalt,
sobald sie ungebrochen gerade fortstrebt oder ihr Schicksal ganz
umkreist. Und diese Urkräfte -- oder besser, diese tausend Proteusformen
der wirklichen Urkraft -- aus der Brust der Menschen zu reißen, sie zu
heizen durch den Druck der Atmosphäre, sie peitschen zu lassen durch
das Gefühl, sie zu berauschen an den Elixieren des Hasses und der
Liebe, sie rasen zu lassen im Rausche, am Prellstein des Zufalls die
einen zu zerschmettern, sie zusammenzupressen und auseinanderzureißen,
Verbindungen herzustellen, Brücken zu schlagen zwischen den Träumen,
zwischen dem Geizigen und dem Sammler, dem Ehrsüchtigen und dem
Erotiker, rastlos das Parallelogramm der Kräfte zu verschieben, in
jedem Schicksal den drohenden Abgrund von Wellenberg und Wellental
aufzureißen, sie zu schleudern von unten nach oben und von oben nach
unten und dabei in dieses flackernde Spiel mit erhitzten Augen zu
starren, wie Gobsec, der Wucherer, auf die Diamanten der Gräfin
Restaud, das erlöschende Feuer mit dem Balg immer wieder aufflammen zu
lassen, die Menschen wie Sklaven zu hetzen, nie sie ruhen zu lassen,
sie zu schleppen wie Napoleon seine Soldaten durch alle Länder von
Österreich wieder in die Vendée, über das Meer wieder nach Ägypten und
nach Rom, durch das Brandenburger Tor und wieder vor den Abhang der
Alhambra, über Sieg und Niederlage nach Moskau schließlich -- die
Hälfte unterwegs liegen zu lassen, zerschmettert von den Granaten oder
unter dem Schnee der Steppen -- die ganze Welt zuerst zu schnitzen wie
Figuren, zu malen wie eine Landschaft und dann das Puppenspiel mit
erregten Fingern zu beherrschen -- das war seine, das war Balzacs
Monomanie.

Denn er, Balzac, war selbst einer der großen Monomanen, wie er sie
in seinem Werke verewigt hat. Enttäuscht, in allen seinen Träumen
zurückgestoßen von einer rücksichtslosen Welt, die den Anfänger nicht
mag und den Armen, grub er sich ein in seine Stille und schuf sich
selbst ein Symbol der Welt. Eine Welt, die ihm gehörte, die er
beherrschte und die mit ihm zugrunde ging. Wirkliches stürzte an ihm
vorbei, und er griff nicht danach, er lebte eingeschlossen in seinem
Zimmer, festgenagelt an den Schreibtisch, lebte in dem Wald seiner
Gestalten, wie Elie Magus, der Sammler, zwischen seinen Bildern. Von
seinem fünfundzwanzigsten Jahre an hat ihn die Wirklichkeit kaum -- nur
in Ausnahmen, die dann immer zu Tragödien wurden -- anders interessiert
als ein Material, als Brennstoff, um das Schwungrad seiner eigenen Welt
zu treiben. Fast bewußt lebte er am Lebendigen vorbei, wie im ängstlichen
Gefühle, daß eine Berührung dieser beiden Welten, der seinen und der der
anderen, immer eine schmerzhafte werden müßte. Abends um acht Uhr ging
er ermattet zu Bette, schlief vier Stunden und ließ sich um Mitternacht
wecken; wenn Paris, die laute Umwelt, ihr glühendes Auge schloß, wenn
Dunkel über das Rauschen der Gassen fiel, die Welt entschwand, begann
die seine zu erstehen, und er baute sie auf, neben der anderen, aus
ihren eigenen zerstückten Elementen, lebte durch Stunden einer fiebernden
Ekstase, unablässig die ermattenden Sinne mit schwarzem Kaffee wieder
aufpeitschend. So arbeitete er zehn, zwölf, manchmal auch achtzehn
Stunden, bis ihn irgend etwas aufriß aus dieser Welt, zurück in die
eigene Wirklichkeit. In diesen Sekunden des Erwachens muß er jenen Blick
gehabt haben, den Rodin ihm gab auf seiner Statue, dieses Aufgeschrecktsein
aus tausend Himmeln und dieses Rückstürzen in eine vergessene Wirklichkeit,
diesen entsetzlich grandiosen, fast schreienden Blick, diese um die
fröstelnde Schulter das Kleid anstraffende Hand, die Gebärde eines vom
Schlaf Gerüttelten, eines Somnambulen, dem jemand roh seinen Namen
zugeschrien. Bei keinem Dichter ist die Intensität des Sichverlierens
in sein Werk, der Glaube an die eigenen Träume stärker gewesen, die
Halluzination so nahe der Grenze der Selbsttäuschung. Nicht immer wußte
er die Erregung zu stoppen wie eine Maschine, das ungeheure kreisende
Schwungrad jäh aufzuhalten, Spiegelschein und Wirklichkeit zu
unterscheiden, eine scharfe Linie zu ziehen zwischen dieser und jener
Welt. Ein ganzes Buch hat man gefüllt mit Anekdoten, wie sehr er im
Rausch der Arbeit an die Existenz seiner Gestalten glaubte, ein Buch mit
oft drolligen und meist ein wenig grausigen Anekdoten. Ein Freund tritt
ins Zimmer. Balzac stürzt ihm entsetzt entgegen: »Denk dir, die
Unglückliche hat sich ermordet!« und merkt erst an dem entsetzten
Zurückprallen seines Freundes, daß die Gestalt, von der er sprach, die
Eugenie Grandet, nur in seinen Sternenkreisen je gelebt. Und was diese
so andauernde, so intensive, so vollständige Halluzination von dem
pathologischen Wahn eines Tollhäuslers unterscheidet, ist vielleicht nur
die Identität der in dem äußeren Leben und in dieser neuen Wirklichkeit
bestehenden Gesetze, die gleichen Kausalbedingungen des Seins, nicht
die Lebensform so sehr als die Lebensmöglichkeit seiner Menschen,
die, als hätten sie nur die Tür seines Arbeitszimmers überschritten,
von außen in sein Werk traten. Aber an Dauerhaftigkeit, an Zähigkeit und
Abgeschlossenheit des Wahnes war diese Versenkung die eines perfekten
Monomanen, seine Arbeit war nicht Fleiß mehr, sondern Fieber, Rausch,
Traum und Ekstase. Ein Palliativmittel der Bezauberung war sie, ein
Schlafmittel, das ihn seinen Lebenshunger vergessen lassen sollte. Er
selbst, zum Genießer, zum Verschwender befähigt wie keiner, hat
zugestanden, daß diese fieberhafte Arbeit ihm nichts war als ein Mittel
zum Genuß. Denn ein so zügellos Begehrender konnte, wie die Monomanen
seiner Bücher, auf jede andere Leidenschaft nur verzichten, weil er sie
ersetzte. All die Aufpeitschungen des Lebensgefühls, Liebe, Ehrsucht,
Spiel, Reichtum, Reisen, Ruhm und Siege konnte er missen, weil er
siebenfaches Surrogat in seinem Schaffen fand. Die Sinne sind töricht
wie Kinder. Sie können das Echte vom Falschen, Trug von der Wirklichkeit
nicht unterscheiden. Sie wollen nur gefüttert sein, gleichviel mit
Erlebnis oder Traum. Und Balzac hat seine Sinne ein Leben lang betrogen,
indem er ihnen Genüsse vorlog, statt sie ihnen hinzuwerfen, er sättigte
ihren Hunger mit dem Duft der Gerichte, die er ihnen versagen mußte.
Sein Erlebnis war das leidenschaftliche Beteiligtsein an den Genüssen
seiner Kreaturen. Denn er war es ja, der jetzt die zehn Louis hinwarf
auf den Spieltisch, zitternd stand, während die Roulette sich drehte,
der jetzt die klingende Flut der Gewinste mit heißen Fingern einstrich,
er war es, der jetzt im Theater den großen Sieg erfocht, der jetzt
mit Brigaden die Höhen stürmte, mit Pulverminen die Börse in ihren
Grundfesten erbeben ließ; alle die Lüste seiner Kreaturen gehörten ja
ihm, sie waren die Ekstasen, in denen sein äußerlich so armes Leben sich
verzehrte. Er spielte mit diesen Menschen so wie Gobsec, der Wucherer,
mit den Gequälten, die hoffnungslos zu ihm kamen, um sich Geld
auszuborgen, die er aufschnellen ließ an seiner Angel, deren Schmerz,
Lust und Qual er nur prüfend mitansah als das mehr oder minder
talentvolle Sichgebärden von Schauspielern. Und sein Herz spricht unter
dem schmutzigen Kittel Gobsecs: »Glauben Sie, daß es nichts bedeutet,
wenn man so in die verborgensten Falten des menschlichen Herzens
eindringt, wenn man so tief darin eindringt und es in seiner Nacktheit
vor sich hat?« Denn er, der Zauberer des Willens, schmolz Fremdes zu
Eigenem um, Traum zu Leben. Man erzählt von ihm, daß er in seiner
Jugend, als er in seiner Mansarde trockenes Brot, seine ärmliche
Mahlzeit, verzehrte, sich auf den Tisch mit Kreide die Randspur von
Tellern gezeichnet habe und in ihre Mitte die Namen der erlesensten
Lieblingsgerichte geschrieben, um so im trockenen Brot nur durch die
Suggestion des Willens den Geschmack der verschwenderischesten Speisen
zu spüren. Und so wie er hier den Geschmack zu schmecken meinte, wie er
ihn wirklich schmeckte, so hat er sicherlich alle Reize des Lebens in
den Elixieren seiner Bücher unbändig in sich getrunken, so eigene Armut
betrogen mit dem Reichtum und der Verschwendung seiner Knechte. Er, der
ewig von Schulden Gehetzte, von Gläubigern Gequälte, empfand sicherlich
einen geradezu sinnlichen Reiz, wenn er hinschrieb: Hunderttausend
Francs Rente. Er war es, der in den Bildern von Elie Magus wühlte, der
diese beiden Gräfinnen liebte als ihr Vater Goriot, der gipfelhoch mit
Seraphitus über die niegesehenen Fjorde Norwegens aufstieg, der mit
Rubempré die bewundernden Blicke der Frauen genoß, er, er selbst war es,
für den er aus all diesen Menschen die Lust wie Lava aufschießen ließ,
denen er Glück und Schmerz aus den hellen und dunklen Kräutern der Erde
braute. Kein Dichter war je mehr Mitgenießer seiner Gestalten. Gerade
an jenen Stellen, wo er den Zauber des so sehr ersehnten Reichtums
schildert, spürt man stärker als in den erotischen Abenteuern den Rausch
des Selbstbezauberten, die Haschischträume des Einsamen. Das ist seine
innerste Leidenschaft, dieses Auf- und Abströmen von Zahlen, dieses
gierige Gewinnen und Zerrinnen von Summen, dieses Schleudern von
Kapitalien von Hand zu Hand, das Schwellen der Bilanzen, der Wettersturz
der Werte, diese Stürze und Aufstiege ins Grenzenlose. Millionen läßt er
wie Ungewitter über Bettler hereinbrechen, Kapitale wieder in weichen
Händen wie Quecksilber zerrinnen, mit Wollust malt er die Paläste der
Faubourgs, die Magie des Geldes. Die Worte Millionen, Milliarden, das
ist immer hingestammelt mit jenem ohnmächtigen Nicht-mehr-sprechen-können,
dem Röcheln letzten sinnlichen Begehrens. Voluptuös wie die Frauen eines
Serails sind die Prunkstücke der Gemächer gereiht, wie wertvolle
Kronjuwelen die Insignien der Macht ausgebreitet. Bis in seine
Manuskripte hat sich dieses Fieber eingebrannt. Man kann sehen, wie die
anfangs ruhigen und zierlichen Zeilen aufschwellen gleich den Adern
eines Zornigen, wie sie taumeln, rascher werden, wie sie rasend sich
überhetzen, befleckt von den Spuren des Kaffees, mit dem er die
ermatteten Nerven vorwärtspeitschte, hört fast das rastlose, ratternde
Keuchen der überhitzten Maschine, den fanatischen, maniakalischen Krampf
ihres Schöpfers, diese Gier des Don Juan du verbe, des Menschen, der
alles besitzen will und alles haben. Und sieht den nochmaligen
impetuosen Ausbruch des ewig Ungenügsamen in den Korrekturbogen, deren
starres Gefüge er immer wieder aufriß wie der Fiebernde seine Wunde, um
noch einmal das rote pochende Blut der Zeilen durch den schon starren,
erkalteten Körper zu jagen.

Solche titanische Arbeit bliebe unverständlich, wäre sie nicht Wollust
gewesen und noch mehr: der einzige Lebenswille eines asketisch allen
anderen Machtformen entsagenden Menschen, eines Leidenschaftlichen, dem
die Kunst die einzige Möglichkeit der Entäußerung war. Einmal, zweimal
hatte er ja flüchtig in anderem Material geträumt. Er hatte sich im
praktischen Leben versucht, zum erstenmal, als er, verzweifelnd am
Schaffen, die wirkliche Geldgewalt wollte, Spekulant wurde, eine
Druckerei gründete und eine Zeitung; aber mit jener Ironie, die das
Schicksal immer für Abtrünnige bereit hat, hat er, der in seinen
Büchern alles kannte, die Coups der Börsenleute, die Raffinements der
kleinen und der großen Geschäfte, die Schliche der Wucherer, der jedem
Ding seinen Wert wußte, der Hunderten von Menschen in seinen Werken
die Existenz errichtet, ein Vermögen mit richtigem, logischem Aufbau
gewonnen hatte, er selbst, der Grandet, Popinot, Crevel, Goriot,
Bridau, Nucingen, Wehrbrust und Gobsec reich gemacht hat, er selbst hat
sein Kapital verloren, ist schmählich zugrunde gegangen, und nichts
blieb ihm als jenes furchtbare Bleigewicht von Schulden, die er dann
stöhnend auf seinen breiten Lastträgerschultern das halbe Jahrhundert
seines Lebens weiterschleppte, Helote der unerhörtesten Arbeit, unter
der er eines Tages mit zersprengten Adern lautlos zusammenbrach. Die
Eifersucht der verlassenen Leidenschaft, der einzigen, der er sich
hingegeben hatte, der Kunst, hat sich furchtbar an ihm gerächt. Selbst
die Liebe, den andern ein wunderbarer Traum über ein Erlebtes und
Wirkliches, wurde bei ihm erst Erlebnis aus einem Traum. Frau von
Hanska, seine spätere Gattin, die étrangère, der jene berühmten Briefe
galten, war von ihm leidenschaftlich schon geliebt, ehe er in ihre
Augen gesehen, war damals schon geliebt von ihm, als sie noch
Unwirklichkeit war, wie die fille aux yeux d'or, wie die Delphine und
die Eugenie Grandet. Für den wahrhaften Schriftsteller ist jede andere
Leidenschaft als die des Schaffens, des Erträumens eine Abirrung.
»L'homme des lettres doit s'abstenir des femmes, elles font perdre son
temps, on doit se borner à leur écrire, cela forme le style«, sagte er
zu Theophile Gautier. Im Innersten liebte er auch nicht Frau von
Hanska, sondern die Liebe zu ihr, liebte nicht die Situationen, die ihm
begegneten, sondern die er sich erschuf, er fütterte den Hunger nach
Wirklichkeit so lange mit Illusionen, spielte so lange in Bildern und
Kostümen, bis er, wie die Schauspieler in den erregtesten Momenten,
selbst an seine Leidenschaft glaubte. Unermüdlich hat er dieser
Leidenschaft des Schaffens gefrönt, den inneren Verbrennungsprozeß
so lange beschleunigt, bis die Flamme aufschlug und nach außen brach,
bis er zugrunde ging. Mit jedem neuen Buch schrumpfte, wie die magische
Elentiershaut seiner mystischen Novelle, bei jedem so betätigten
Wunsch sein Leben zusammen, und er unterlag seiner Monomanie wie der
Spieler den Karten, der Trinker den Weinen, der Haschischträumer der
verhängnisvollen Pfeife und der Wollüstling den Frauen. Er ging an der
überreichen Erfüllung seiner Wünsche zugrunde.

Es ist ein nur Selbstverständliches, daß ein dermaßen kolossalischer
Wille, der Träume so mit Blut und Lebendigkeit erfüllte, der sie so
anspannte, bis ihre Erregungen nicht minder stark waren wie die
Phänomene der Wirklichkeit, daß ein solch ungeheuer zauberkräftiger
Wille in seiner eigenen Magie das Geheimnis des Lebens sah und sich
selbst zum Weltgesetz erhob. Eine eigentliche Philosophie konnte der
nicht haben, der nichts von sich verriet, vielleicht nichts mehr war
als ein Wandelhaftes, der keine Gestalt hatte wie Proteus, weil er alle
in sich verkörperte, der wie ein Derwisch, ein flüchtiger Geist, in die
Körper von tausend Gestalten unterschlüpfte und sich verlor in den
Irrgängen ihres Lebens, jetzt mit dem einen Optimist, jetzt Altruist,
jetzt Pessimist und Relativist, der alle Meinungen und Werte in sich
ein- und ausschalten konnte wie elektrische Ströme. Er gibt keinem
unrecht und gibt keinem recht. Balzac hat immer nur épousé les opinions
des autres -- wir haben kein deutsches Wort für dieses spontane
Aufnehmen einer Meinung ohne dauernde Identifizierung --, er war
eingefangen im Augenblick, in der Brusthöhle seiner Menschen, trieb mit
im Schwall ihrer Leidenschaften und Laster. Wahrhaft und unabänderlich
mußte ihm nur der ungeheure Wille sein, dieses Zauberwort Sesam, das
ihm, dem Fremden, die Felsen vor der unbekannten Menschenbrust
aufsprengte, ihn hinabführte in die finsteren Abgründe ihres Gefühls
und ihn von dort, beladen mit dem Edelsten ihres Erlebens, wieder
aufsteigen ließ. Er mußte mehr als ein anderer geneigt sein, dem
Willen eine über das Geistige ins Materielle hinüberwirkende Gewalt
zuzuschreiben, ihn als Lebensprinzip und Weltgebot zu empfinden. Ihm
war bewußt, daß der Wille, dieses Fluidum, das, ausstrahlend von einem
Napoleon, die Welt erschütterte, das Reiche stürzte, Fürsten erhob,
Millionen Schicksale verwirrte, daß diese immaterielle Schwingung,
dieser reine atmosphärische Druck eines Geistigen nach außen sich auch
im Materiellen manifestieren müßte, die Physiognomie modellieren,
einströmen in die Physis des ganzen Körpers. Denn so wie eine momentane
Erregung bei jedem Menschen den Ausdruck fördert, brutale und selbst
stumpfsinnige Züge verschönt und charakterisiert, um wie viel mehr
mußte ein andauernder Wille, eine chronische Leidenschaft das Material
der Züge herausmeißeln. Ein Gesicht war für Balzac ein versteinerter
Lebenswille, eine in Erz gegossene Charakteristik, und so wie der
Archäologe aus den versteinerten Resten eine ganze Kultur zu erkennen
hat, so schien es ihm Erfordernis des Dichters, aus einem Antlitz und
aus der um einen Menschen lagernden Atmosphäre seine innere Kultur zu
erkennen. Diese Physiognomik ließ ihn die Lehre Galls lieben, seine
Topographie der im Gehirn gelagerten Fähigkeiten, ließ ihn Lavater
studieren, der ebenfalls im Gesichte nichts anderes sah als den Fleisch
und Bein gewordenen Lebenswillen, den nach außen gestülpten Charakter.
Alles, was diese Magie, die geheimnisvolle Wechselwirkung des Innerlichen
und Äußerlichen betonte, war ihm erwünscht. Er glaubte an Mesmers
Lehre der magnetischen Übertragung des Willens von einem Medium in
das andere, glaubte daran, daß die Finger Feuernetze seien, die den
Willen ausstrahlten, verkettete diese Anschauung mit den mystischen
Vergeistigungen Svedenborgs, und all diese nicht ganz zur Theorie
verdichteten Liebhabereien faßte er in der Lehre seines Lieblings, des
Louis Lambert, zusammen, des chimiste de la volonté, jener seltsamen
Gestalt eines früh Verstorbenen, die Selbstporträt und Sehnsucht nach
innerer Vollendung sonderbar vereint, öfter als jede andere Figur
Balzacs in sein eigenes Leben hinabgreift. Ihm war jedes Gesicht
eine zu enträtselnde Scharade. Er behauptete, in jedem Antlitz eine
Tierphysiognomie zu erkennen, glaubte, den Todgeweihten an geheimen
Zeichen bestimmen zu können, rühmte sich, jedem Vorübergehenden auf der
Straße die Profession von seinem Antlitz, seinen Bewegungen, seiner
Kleidung ablesen zu können. Diese intuitive Erkenntnis schien ihm aber
noch nicht die höchste Magie des Blicks. Denn all dies umschloß nur das
Seiende, das Gegenwärtige. Und seine tiefste Sehnsucht war, zu sein wie
jene, die mit konzentrierten Kräften nicht nur das Momentane, sondern
auch aus den Spuren das Vergangene, das Zukünftige aus den vorgestreckten
Wurzeln aufspüren können, Bruder zu sein der Chiromanten, der Wahrsager,
der Steller von Horoskopen, der »voyants«, all derer, die mit dem
tieferen Blick der »seconde vue« begabt, das Innerlichste aus dem
Äußerlichen, das Unbegrenzte aus den bestimmten Linien zu erkennen sich
erboten, die aus den dünnen Streifen der Handfläche den kurzen Weg des
zurückgelegten Lebens und den dunklen Pfad in das Zukünftige hinein
weiterzuführen vermochten. Ein solcher magischer Blick ist nach Balzac
nur jenem gegeben, der seine Intelligenz nicht in tausend Richtungen
zersplittert hat, sondern -- die Idee der Konzentrierung ist bei Balzac
in ewiger Wiederkehr -- in sich aufgespart einem einzigen Ziele
entgegenwendet. Die Gabe der »seconde vue« ist nicht nur die des
Zauberers und Sehers allein; »seconde vue«, spontane visionäre
Erkenntnis, dies unbezweifelbare Merkmal des Genies, haben die Mütter
gegenüber ihren Kindern, Desplein hat sie, der Arzt, der aus der
verworrenen Qual eines Kranken sofort die Ursache seines Leidens
und die vermutliche Grenze seiner Lebensdauer bestimmt, der geniale
Feldherr Napoleon, der die Stelle sofort erkennt, wo er die Brigaden
hinschleudern muß, um das Schicksal der Schlacht zu entscheiden; Marsay,
der Verführer, besitzt sie, der die flüchtige Sekunde aufgreift, in der
er eine Frau zu Fall bringen kann, Nucingen, der Börsenspieler, der den
großen Börsencoup im richtigen Momente zur Explosion bringt; alle diese
Astrologen des Himmels der Seele haben ihre Wissenschaft dank des nach
innen dringenden Blicks, der wie durch ein Perspektiv Horizonte sieht,
wo das unbewaffnete Auge nur ein graues Chaos unterscheidet. Hierin
schlummert die Affinität zwischen der Vision des Dichters und der
Deduktion des Gelehrten, dem rapiden, spontanen Begreifen und dem
langsamen, logischen Erkennen. Balzac, dem sein eigener intuitiver
Überblick selbst unbegreiflich werden und der oft erschreckt mit fast
irrem Blick sein Werk überschauen mußte wie ein Unbegreifliches, war
gezwungen zu einer Philosophie des Inkommensurablen, einer Mystik, der
der landläufige Katholizismus eines de Maistre nicht mehr genügte. Und
dieses Korn Magie, das seinem innersten Wesen beigemengt war, diese
Unbegreiflichkeit, die seine Kunst nicht nur Chemie des Lebens sein
läßt, sondern Alchimie, ist sein Grenzwert gegen die Späteren, gegen die
Nachahmer, gegen Zola besonders, der Stein um Stein zusammenraffte, wo
Balzac nur den Zauberring drehte, und schon ein Palast mit tausend
Fenstern sich aufbaute. So ungeheuer die Energie seines Werkes ist, der
erste Eindruck bleibt doch immer der von Zauberei und nicht von Arbeit,
nicht der eines Ausborgens vom Leben, sondern eines Beschenkens und
Bereicherns.

Denn Balzac -- und dies schwebt wie eine undurchdringliche Wolke von
Geheimnis um seine Gestalt -- hat in den Jahren seines Schaffens nicht
mehr studiert und experimentiert, nicht mehr das Leben beobachtet wie
etwa Zola, der sich, ehe er einen Roman schrieb, ein Bordereau für
jede einzelne Figur anlegte, nicht wie Flaubert, der Bibliotheken
durchstöberte für ein fingerschmales Buch. Balzac kam selten wieder
zurück in jene Welt, die außer der seinen lag, er war eingeschlossen in
seine Halluzination wie in ein Gefängnis, angenagelt an den Marterstuhl
der Arbeit, und was er mitbrachte, wenn er einen jener flüchtigen
Ausflüge in die Wirklichkeit unternahm, wenn er ging, mit seinem
Verleger zu kämpfen oder die Korrekturbogen in eine Druckerei zu
bringen, bei einem Freunde zu speisen, oder die Bric-à-brac-Läden von
Paris zu durchstöbern, war immer eher Bestätigung als Informierung.
Denn damals, als er zu schreiben begann, war schon auf irgendeine
geheimnisvolle Weise das Wissen des ganzen Lebens in ihn eingedrungen,
lag gesammelt und aufgespeichert, und es ist vielleicht mit der
fast mythischen Erscheinung Shakespeares das größte Rätsel der
Weltliteratur, wie, wann und woher all diese ungeheuerlichen, aus allen
Berufsklassen, Materien, Temperamenten und Phänomenen herbeigeholten
Vorräte von Kenntnissen in ihn eingewachsen sind. Drei, vier Jahre,
Jünglingsjahre, war er in Berufen gestanden, bei einem Advokaten als
Schreiber, dann als Verleger, als Student, aber in diesen paar Jahren
muß er alles eingeschöpft haben, diese ganz unerklärliche, unübersehbare
Fülle von Tatsachen, die Kenntnis aller Charaktere und Phänomene. Er
muß unglaublich beobachtet haben in diesen Jahren. Sein Blick muß ein
furchtbar saugender gewesen sein, ein gieriger, der alles, was ihm
begegnete, vampirhaft nach innen riß, in ein Inneres, ein Gedächtnis, wo
nichts vergilbte, nichts zerrann, nichts sich mischte oder verdarb, wo
alles geordnet, gespart, getürmt lag, immer bereit und stets nach seiner
wesentlichen Seite hin gekehrt, alles federnd und aufspringend, sobald
er nur leise mit seinem Willen und Wunsche daran rührte. Alles hat
Balzac gewußt, die Prozesse, die Schlachten, die Börsenmanöver, die
Grundstückspekulationen, die Geheimnisse der Chemie, die Schliche
der Parfumeure, die Kunstgriffe der Künstler, die Diskussionen der
Theologen, den Betrieb der Zeitung, den Trug des Theaters und jener
anderen Bühne, der Politik. Er hat die Provinz gekannt, Paris und die
Welt, er, der connaisseur en flânerie, las wie in einem Buch in den
krausen Zügen der Straßen, wußte bei jedem Hause, wann es gebaut war
und von wem und für wen, enträtselte die Heraldik des Wappens über der
Tür, eine ganze Epoche aus der Bauart und wußte gleichzeitig den Preis
der Mieten, bevölkerte jedes Stockwerk mit Menschen, stellte Möbel in
die Zimmer, füllte sie an mit einer Atmosphäre von Glück und Unglück
und ließ vom ersten zum zweiten, vom zweiten zum dritten Stockwerk
das unsichtbare Netz des Schicksals sich spinnen. Er hat eine
enzyklopädische Kenntnis gehabt, wußte, wieviel ein Bild des Palma
Vecchio wert ist, wieviel ein Hektar Weideland kostet, was eine
Spitzenmasche, was ein Tilbury und ein Diener, er hat das Leben der
Elegants gekannt, die, zwischen Schulden vegetierend, in einem Jahr
zwanzigtausend Francs anbringen; und schlägt man zwei Seiten weiter,
so ist es wieder die Existenz eines armseligen Rentiers, in dessen
peinlich ausgetüfteltem Leben ein zerrissener Schirm, eine zerbrochene
Fensterscheibe zur Katastrophe wird. Wieder ein paar Seiten, und nun ist
er unter den ganz Armen, er geht ihnen nach, wie jeder seine paar Sous
verdient, der arme Auvergnate, der Wasserträger, dessen Sehnsucht es
ist, das Faß nicht selbst ziehen zu müssen, sondern ein kleines,
kleines Pferd zu haben, der Student und die Näherin, alle diese fast
vegetabilischen Existenzen der Großstadt. Tausend Landschaften stehen
auf, jede ist bereit, hinter seine Schicksale zu treten, sie zu formen,
und alle sind deutlicher in ihm nach einem Augenblick des Schauens, als
anderen nach den Jahren, die sie darin lebten. Alles hat er gewußt, was
er einmal flüchtig mit dem Blick angerührt hat, und -- merkwürdiges
Paradoxon des Künstlers -- er hat selbst das gewußt, was er gar nicht
kannte, er hat die Fjorde Norwegens und die Wälle von Saragossa aus
seinen Träumen wachsen lassen, und sie waren wie die Wirklichkeit.
Ungeheuer ist diese Rapidität der Vision. Es war, als ob er nackt und
klar das erkennen könnte, was die anderen umhängt und unter tausend
Bekleidungen erblickten. Ihm war an allem ein Zeichen, zu allem ein
Schlüssel, daß er die Außenfläche abtun konnte von den Dingen und sie
ihm ihr Inneres zeigten. Die Physiognomien taten sich ihm auf, alles
fiel in seine Sinne wie der Kern aus einer Frucht. Mit einem Ruck reißt
er das Essentielle aus dem Faltenwerk des Unwesentlichen, aber nicht,
daß er es freigräbt, langsam wühlend von Schicht zu Schicht, sondern wie
mit Pulver sprengt er die goldenen Minen des Lebens auf. Und zugleich
mit diesen wirklichen Formen faßt er auch das Unfaßbare, die gasförmig
über ihnen schwebende Atmosphäre von Glück und Unglück, die zwischen
Himmel und Erde schwebenden Erschütterungen, die nahen Explosionen, die
Wetterstürze der Luft. Was den anderen eben nur Umriß ist, was sie
sehen, kalt und ruhig wie unter einer gläsernen Vitrine, das fühlt
seine magische Sensibilität wie in der Hülse des Thermometers als
atmosphärischen Zustand.

Dieses ungeheure, unvergleichlich intuitive Wissen ist das Genie
Balzacs. Was man dann noch den Künstler nennt, den Verteiler der
Kräfte, den Ordner und Gestalter, den Zusammenhaltenden und Lösenden,
den spürt man nicht so deutlich bei Balzac. Man wäre versucht zu sagen,
er war gar nicht das, was man Künstler nennt, so sehr war er Genie.
»Une telle force n'a pas besoin d'art.« Das Wort gilt auch von ihm.
Denn wirklich, hier ist eine Kraft, so grandios und so groß, daß sie
wie die freiesten Tiere des Urwaldes der Zähmung widerstrebt, sie ist
schön wie ein Gestrüpp, ein Sturzbach, ein Gewitter, wie alle jene
Dinge, deren ästhetischer Wert einzig in der Intensität ihres
Ausdrucks besteht. Ihre Schönheit bedarf nicht der Symmetrie, der
Dekoration, der nachhelfenden, sorglichen Verteilung, sie wirkt durch
die ungezügelte Vielfalt ihrer Kräfte. Balzac hat seine Romane nie
genau komponiert, er hat sich in ihnen verloren wie in einer
Leidenschaft, in den Schilderungen, im Wort gewühlt wie in Stoffen oder
nacktem blühenden Fleisch. Er reißt Gestalten auf, hebt sie von allen
Ständen, Familien, von allen Provinzen Frankreichs aus, wie Napoleon
seine Soldaten, teilt sie in Brigaden, macht den einen zum Reiter,
stellt den anderen zu den Kanonen und den dritten zum Train, schüttet
Pulver auf die Pfannen ihrer Gewehre und überläßt sie dann ihrer
inneren ungebändigten Kraft. Die »Comédie humaine« hat trotz der
schönen -- aber nachträglichen! -- Vorrede keinen inneren Plan. Sie ist
planlos, wie das Leben ihm selbst planlos erschien, sie zielt nicht auf
eine Moral hin und nicht auf eine Übersicht, sie will als Wandelndes
das ewig sich Wandelnde zeigen; in all diesem Ebben und Fluten ist
keine dauernde Kraft, sondern nur ein momentaner Zug wie die
geheimnisvolle Anziehung des Mondes, jene unkörperliche, wie aus Wolken
und Licht gewebte Atmosphäre, die man Epoche nennt. Dieses neuen Kosmos
einziges Gesetz wäre, daß alles, was gleichzeitig aufeinander wirkt,
auch sich selbst verändert, daß nichts frei wie ein Gott, der nur von
außen stieße, wirkt, sondern daß alle die Menschen, deren unbeständige
Vereinung erst die Epoche ausmacht, ebenso von der Epoche geschaffen
werden, daß ihre Moral, ihre Gefühle ebenso Produkte sind wie sie
selbst. Daß alles Relativitäten sind, daß, was in Paris Tugend genannt
wird, hinter den Azoren ein Laster sei, daß für nichts feste Werte
vorhanden seien und daß leidenschaftliche Menschen die Welt so werten
müssen, wie Balzac sie die Frau werten läßt: daß sie immer wert sei,
was sie ihn koste. Aufgabe des Dichters, dem -- schon weil er selbst
nur Produkt, Kreatur seiner Zeit ist -- versagt ist, das Bleibende aus
diesem Wandel zu gewinnen, kann nur sein, den atmosphärischen Druck,
den geistigen Zustand seiner Epoche zu schildern, das Wechselspiel
der gemeinsamen Kräfte, die die Millionen Moleküle beseelten,
zusammenfügten und wieder zerteilten. Meteorologe der sozialen
Luftströmungen, Mathematiker des Willens, Chemiker der Leidenschaften,
Geologe der nationalen Urformen -- ein vielfältiger Gelehrter zu sein,
der mit allen Instrumenten den Körper seiner Zeit durchdringt und
behorcht, und gleichzeitig ein Sammler aller Tatsachen, ein Maler ihrer
Landschaften, ein Soldat ihrer Ideen, das zu sein ist Balzacs Ehrgeiz,
und darum war er so unermüdlich im Verzeichnen ebenso der grandiosen
wie der infinitesimalen Dinge. Und so ist sein Werk nach dem Dauerwort
Taines das größte Magazin menschlicher Dokumente seit Shakespeare
geworden. Seinen Zeitgenossen und vielen der heutigen ist Balzac
freilich nur der Verfasser von Romanen. So betrachtet, durch das
ästhetische Glas visiert, erscheint er nicht so überlebensgroß. Denn er
hat eigentlich wenige standard works. Balzac will nicht am Einzelwerk
gemessen werden, sondern am Ganzen, will betrachtet sein wie eine
Landschaft mit Berg und Tal, unbegrenzter Ferne, verräterischen Klüften
und raschen Strömen. Mit ihm beginnt -- man könnte fast sagen, hört
auch auf, wäre nicht Dostojewski gekommen -- der Gedanke des Romans
als Enzyklopädie der inneren Welt. Die Dichter vor ihm wußten nur
zweierlei, um den schläfrigen Motor der Handlung nach vorne zu treiben:
sie statuierten entweder den von außen wirkenden Zufall, der wie ein
scharfer Wind sich in die Segel legte und das Fahrzeug nach vorne
trieb, oder sie wählten als die von innen treibende Kraft einzig den
erotischen Trieb, die Peripetien der Liebe. Balzac nun hat eine
Transponierung des Erotischen vorgenommen. Für ihn gab es zweierlei
Begehrende (und wie gesagt, nur die Begehrenden, die Ambitiösen haben
ihn interessiert): die Erotiker im eigentlichen Sinne, ein paar Männer
also und fast alle Frauen, deren Sternbild einzig die Liebe ist, die
unter ihm geboren werden und zugrunde gehen. Daß aber alle diese in der
Erotik ausgelösten Kräfte nicht die einzigen seien, daß die Peripetien
der Leidenschaft auch bei anderen Menschen nicht um ein Gran vermindert
und, ohne daß die treibende Urkraft zerstäube oder zersplittere, in
anderen Formen, in anderen Symbolen erhalten seien, durch diese tätige
Erkenntnis hat der Roman Balzacs eine ungeheuerliche Vielfalt gewonnen.

Aber noch aus einer zweiten Quelle hat Balzac ihn mit Wirklichkeit
gespeist: er hat das Geld in den Roman gebracht. Er, der keine absoluten
Werte anerkannte, beobachtete als Sekretär seiner Zeitgenossen, als
Statistiker des Relativen genau die äußeren, die moralischen,
politischen, ästhetischen Werte der Dinge und vor allem jenen allgemein
gültigen Wert der Objekte, der sich in unseren Tagen bei jedem Dinge
fast dem absoluten nähert: den Geldwert. Seit die Vorrechte der
Aristokratie gefallen sind, seit der Nivellierung der Unterschiede ist
das Geld zum Blute, zur treibenden Kraft des sozialen Lebens geworden.
Jedes Ding ist durch seinen Wert, jede Leidenschaft durch ihre
materiellen Opfer, jeder Mensch durch sein äußeres Einkommen bestimmt.
Zahlen sind die Gradmesser für gewisse, atmosphärische Zustände des
Gewissens, die Balzac zu erforschen sich zur Aufgabe gesetzt hat. Und
Geld kreist in seinen Romanen. Nicht nur das Anwachsen und Hinstürzen
der großen Vermögen, die wilden Spekulationen der Börse sind
geschildert, nicht nur die großen Schlachten, in denen ebensoviel
Energie verausgabt wird wie bei Leipzig und Waterloo, nicht nur diese
zwanzig Typen der Gelderraffer aus Geiz, Haß, Verschwendungslust,
Ambition, nicht nur jene Menschen, die das Geld um des Geldes willen
lieben, und die, welche es um des Symbols willen lieben, und die wieder,
denen es nur Mittel zu ihren Zwecken ist, sondern Balzac hat als der
erste und kühnste an tausend Beispielen gezeigt, wie das Geld selbst in
die edelsten, feinsten und immateriellsten Empfindungen eingesickert
ist. Alle seine Menschen rechnen, wie wir es unwillkürlich im Leben tun.
Seine Anfänger, die nach Paris kommen, wissen rasch, was ein Besuch der
guten Gesellschaft kostet, eine elegante Gewandung, blanke Schuhe, ein
neuer Wagen, eine Wohnung, ein Diener, tausend Kleinigkeiten und
Kleinlichkeiten, die alle bezahlt und erlernt sein wollen. Sie kennen
die Katastrophen, verachtet zu werden um einer unmodischen Weste willen,
sie haben bald heraus, daß nur Geld oder der Schein des Geldes die Türen
sprengt, und aus diesen kleinen unablässigen Demütigungen wachsen dann
die großen Leidenschaften und die zähe Ambition. Und Balzac geht mit
ihnen. Er rechnet den Verschwendern ihre Ausgaben nach, den Wucherern
ihre Prozente, den Kaufmännern ihre Verdienste, den Dandys ihre
Schulden, den Politikern ihre Bestechungen. Die Summen sind die
Gradziffern der aufsteigenden Unruhegefühle, der Barometerdruck der
nahenden Katastrophen. Da Geld der materielle Niederschlag des
universellen Ehrgeizes war, da es eindrang in alle Gefühle, so mußte
er, der Pathologe des sozialen Lebens, um die Krisen des kranken Leibes
zu erkennen, die Mikroskopie des Blutes unternehmen, den Geldgehalt
desselben gewissermaßen feststellen. Denn aller Leben ist damit
gesättigt, es ist Sauerstoff für die gehetzten Lungen, keiner kann es
entbehren, der Ehrgeizige nicht für seinen Ehrgeiz, der Liebende nicht
für sein Glück und am wenigsten der Künstler, das hat er selbst am
besten gewußt, auf dessen Schultern die Schuld von hunderttausend Francs
sich türmte, dieses furchtbare Gewicht, das er oft flüchtig -- in der
Ekstase der Arbeit -- wegschleuderte von seinen Schultern und das
schließlich zerschmetternd auf ihn niederfiel.

Unübersehbar ist sein Werk. In den achtzig Bänden steht eine Zeit, eine
Welt, eine Generation. Nie vorher ist bewußt ein so Gewaltiges versucht
worden, nie wurde die Vermessenheit eines übergroßen Willens besser
belohnt. Den Genießenden, den Ausruhenden, die am Abend, aus ihrer
engen Welt flüchtend, neue Bilder und neue Menschen wollen, ist
Erregung und ein wandelnd Spiel gegeben, den Dramatikern Stoff für
hundert Tragödien, den Gelehrten -- lässig hingeworfen wie Brocken vom
Tisch eines Übersättigten -- eine Fülle von Problemen und Anregungen,
den Liebenden eine geradezu vorbildliche Glut der Ekstase. Am
gewaltigsten aber ist die Erbschaft für die Dichter. In dem Entwurf
der »Comédie humaine« stehen nebst den vollendeten noch vierzig
unvollendete, ungeschriebene Romane, Moskau heißt der eine, jener die
Ebene von Wagram, ein anderer gilt dem Kampf um Wien und wieder einer
dem Leben der Passion. Fast ist es ein Glück, daß nicht alle diese zu
Ende gelangt sind. Balzac hat einmal gesagt: »Genie ist derjenige, der
jederzeit seine Gedanken in Tat umsetzen kann. Aber das ganz große
Genie entfaltet nicht unablässig diese Tätigkeit, sonst würde es Gott
zu sehr gleichen.« Denn hätte er alle diese vollenden dürfen, den Kreis
der Leidenschaften und Geschehnisse ganz in sich zurückführen, sein
Werk wäre ins Unbegreifliche gewachsen. Es wäre ein Ungeheures geworden,
eine Abschreckung für alle Späteren durch seine Unerreichbarkeit,
während es so -- ein Torso ohnegleichen -- die ungeheuerste Aneiferung,
das grandioseste Beispiel ist für jeden schöpferischen Willen zum
Unerreichbaren.



                             DICKENS


Nein, man soll nicht Bücher und Biographen befragen, wie sehr Charles
Dickens von seinen Zeitgenossen geliebt worden ist. Liebe lebt atmend
nur im gesprochenen Wort. Man muß es sich erzählen lassen, am besten
von einem Engländer, der mit seinen Jugenderinnerungen noch zurückreicht
bis an jene Zeit der ersten Erfolge, von einem derer, die sich noch
immer nicht nach nun fünfzig Jahren entschließen können, den Dichter des
»Pickwick« Charles Dickens zu nennen, sondern ihm unentwegt seinen alten
vertraulicheren, innigeren Necknamen »Boz« geben. An ihrer wehmütig
rücksinnenden Rührung kann man den Enthusiasmus der Tausende messen, die
damals mit ungestümem Entzücken jene blauen, monatlichen Romanhefte
empfangen hatten, die heute, ein Rarissimum für den Bibliophilen, in
Fächern und Schränken gilben. Damals -- so erzählte mir einer dieser
»old Dickensians« -- konnten sie es am Posttage niemals über sich
bringen, den Boten zu Hause abzuwarten, der endlich, endlich das neue
blaue Heft von Boz im Bündel trug. Einen ganzen Monat hatten sie danach
gehungert, hatten geharrt, gehofft, gestritten, ob Copperfield die Dora
heiraten werde oder die Agnes, hatten sich gefreut, daß Micawbers
Verhältnisse wieder zu einer Krisis gelangt waren -- wußten sie doch, er
werde sie mit heißem Punsch und guter Laune heroisch überwinden! -- und
nun sollten sie noch warten, warten, bis der Postbote auf der schläfrigen
Kutsche kam und ihnen all diese heiteren Scharaden auflöste? Das konnten
sie nicht, es ging einfach nicht. Und alle, die Alten wie die Jungen,
wanderten Jahr für Jahr am fälligen Tage dem Briefboten zwei Meilen
entgegen, nur um ihr Buch früher zu haben. Im Heimwandern schon fingen
sie an zu lesen, einer guckte dem andern über die Schulter ins Blatt,
andere lasen laut vor, und nur die gutmütigsten liefen mit langen
Beinen zurück, um die Beute rascher zu Frau und Kind zu bringen. So wie
dieses Städtchen hat damals jedes Dorf, jede Stadt, das ganze Land und
darüber hinaus die in allen Erdteilen gesiedelte englische Welt Charles
Dickens geliebt; hat ihn geliebt von der ersten Stunde der Begegnung bis
zur letzten seines Lebens. Nie im neunzehnten Jahrhundert hat es
irgendwo ein ähnlich unwandelbares herzliches Verhältnis zwischen einem
Dichter und seiner Nation gegeben. Wie eine Rakete schoß dieser Ruhm
auf, aber er losch nie aus, er blieb wie eine Sonne wandellos leuchtend
über der Welt. Vom ersten Heft der »Pickwickier« wurden 400 Exemplare
gedruckt, vom fünfzehnten bereits 40000: mit solcher Lawinenmacht
stürzte sein Ruhm nieder in seine Zeit. Nach Deutschland bahnte er sich
schnell den Weg, Hunderte und Tausende kleiner Groschenhefte säten
Lachen und Freude in die Furchen selbst der verwittertsten Herzen; nach
Amerika, Australien und Kanada wanderte der kleine Nikolaus Nickleby,
der arme Oliver Twist und die tausend anderen Gestalten dieses
Unerschöpflichen. Heute sind schon Millionen Bücher von Dickens im
Umlauf, große, kleine, dicke und dünne Bände, billige Ausgaben für die
Armen und die teuerste Ausgabe drüben in Amerika, die je von einem
Dichter veranstaltet worden ist (dreimalhunderttausend Mark, glaube ich,
kostet sie: diese Ausgabe für Milliardäre), aber in all den Büchern
nistet heute wie damals noch immer das selige Lachen, um aufzuflattern
wie ein zwitschernder Vogel, sobald man die ersten Blätter gewendet hat.
Beispiellos ist die Beliebtheit dieses Autors gewesen: wenn sie sich im
Laufe der Jahre nicht steigerte, so war es nur, weil die Leidenschaft
keine höheren Möglichkeiten mehr kannte. Als Dickens sich entschloß,
öffentlich zu lesen, als er zum erstenmal seinem Publikum Auge in Auge
entgegentrat, war England im Taumel. Man stürmte die Säle, pfropfte sie
voll, an den Säulenpfeilern klammerten sich Enthusiasten an, krochen
unter sein Podium, nur um den geliebten Dichter hören zu können. In
Amerika schliefen die Leute bei bitterster Winterkälte auf mitgebrachten
Matratzen vor den Kassen, Kellner brachten ihnen das Essen aus den
benachbarten Restaurants, aber der Andrang wurde unaufhaltsam. Alle Säle
wurden zu klein, und man räumte schließlich dem Dichter in Brooklyn eine
Kirche ein als Vorlesesaal. Von der Kanzel las er die Abenteuer Oliver
Twists und die Geschichte der kleinen Nell. Launenlos war dieser Ruhm,
er drängte Walter Scott zur Seite, überschattete ein Leben lang das
Genie Thackerays; und als die Flamme erlosch, als Dickens starb, ging es
wie ein Riß durch die ganze englische Welt. Auf der Straße erzählten es
Fremde einander, Bestürzung verstörte London wie nach einer verlorenen
Schlacht. Zwischen Shakespeare und Fielding bettete man ihn, in
Westminster Abbey, dem Pantheon Englands; Tausende strömten hinzu, und
tagelang war die schlichte Gedenkstätte überflutet von Blumen und
Kränzen. Und noch heute, nach vierzig Jahren, kann man selten
vorübergehen, ohne ein paar von dankbarer Hand hingestreute Blüten zu
finden: der Ruhm und die Liebe ist nicht gewelkt in all den Jahren.
Heute wie damals in jener Stunde, da England dem Ahnungslosen, dem
Namenlosen das unverhoffte Geschenk des Weltruhms in die Hand drückte,
ist Charles Dickens der geliebteste, umworbenste und gefeierteste
Erzähler der ganzen englischen Welt.

Eine so ungeheuerliche, gleicherweise in die Breite wie in die Tiefe
dringende Wirkung eines dichterischen Werkes kann nur durch das
seltene Zusammentreffen zweier meist widerstrebender Elemente
Wirklichkeit werden: durch die Identität eines genialen Menschen mit
der Tradition seiner Zeit. Im allgemeinen wirken das Traditionelle und
das Geniale gegeneinander wie Wasser und Feuer. Ja, es ist beinahe das
Merkzeichen des Genies, daß es als verkörperte Seele einer werdenden
Tradition die vergangene befeindet, daß es als Ahnherr eines neuen
Geschlechtes dem absterbenden Blutfehde ansagt. Ein Genie und seine
Zeit sind wie zwei Welten, die zwar Licht und Schatten miteinander
tauschen, aber in anderen Sphären schwingen, die sich auf ihren
kreisenden Bahnen begegnen, aber nie vereinen. Hier ist nun jene
seltene Sekunde des Sternenhimmels, wo der Schatten des einen Gestirns
die leuchtende Scheibe des anderen so ausfüllt, daß sie sich
identifizieren: Dickens ist der einzige große Dichter des Jahrhunderts,
dessen innerste Absicht sich ganz mit dem geistigen Bedürfnis seiner
Zeit deckt. Sein Roman ist absolut identisch mit dem Geschmack des
damaligen England, sein Werk ist die Materialisierung der englischen
Tradition: Dickens ist der Humor, die Beobachtung, die Moral, die
Ästhetik, der geistige und künstlerische Gehalt, das eigenartige und
uns oft fremde, oft sehnsüchtig-sympathische Lebensgefühl von sechzig
Millionen Menschen jenseits des Ärmelkanals. Nicht er hat dieses Werk
gedichtet, sondern die englische Tradition, die stärkste, reichste,
eigentümlichste und darum auch gefährlichste der modernen Kulturen. Man
darf ihre vitale Kraft nicht unterschätzen. Jeder Engländer ist mehr
Engländer als der Deutsche Deutscher. Das Englische liegt nicht wie ein
Firnis, wie eine Farbe über dem geistigen Organismus des Menschen, es
dringt ins Blut, wirkt regelnd ein auf seinen Rhythmus, durchpulst das
Innerste und Geheimste, das Ureigenste im Individuum: das Künstlerische.
Auch als Künstler ist der Engländer mehr rassepflichtig als der Deutsche
oder Franzose. Jeder Künstler in England, jeder wahrhafte Dichter hat
darum mit dem Englischen in sich gerungen; aber selbst inbrünstigster,
verzweifeltster Haß haben es nicht vermocht, die Tradition niederzuzwingen.
Sie reicht mit ihren feinen Adern zu tief hinab ins Erdreich der Seele:
und wer das Englische ausreißen will, zerreißt den ganzen Organismus,
verblutet an der Wunde. Ein paar Aristokraten haben es, voll Sehnsucht
nach freiem Weltbürgertum, gewagt: Byron, Shelley, Oskar Wilde haben
den Engländer in sich vernichten wollen, weil sie das Ewig-Bürgerliche
im Engländer haßten. Aber sie zerfetzten nur ihr eigenes Leben. Die
englische Tradition ist die stärkste, die siegreichste der Welt, aber
auch die gefährlichste für die Kunst. Die gefährlichste, weil sie
heimtückisch ist: keine frostige Öde ist sie, nicht unwirtlich oder
ungastlich, sie lockt mit warmem Herdfeuer und sanfter Bequemlichkeit,
aber sie zäunt ein mit moralischen Grenzen, sie beengt und regelt und
verträgt sich übel mit dem freien künstlerischen Trieb. Sie ist eine
bescheidene Wohnung mit stockender Luft, geschützt vor den gefährlichen
Stürmen des Lebens, heiter, freundlich und gastlich, ein echtes »home«
mit allem Kaminfeuer bürgerlicher Zufriedenheit, aber doch ein Gefängnis
für den, dessen Heimat die Welt, dessen tiefste Lust das nomadenhaft
selige, abenteuerliche Schweifen im Unbegrenzten ist. Dickens hat sichs
behaglich in der englischen Tradition gemacht, hat sich häuslich
eingerichtet in ihren vier Mauern. Er fühlte sich wohl in der heimatlichen
Sphäre und hat nie, sein Leben lang, die künstlerische, moralische oder
ästhetische Grenze Englands überschritten. Er war kein Revolutionär.
Der Künstler in ihm vertrug sich mit dem Engländer, löste sich
allmählich ganz in ihm auf. Was Dickens geschaffen hat, steht fest und
sicher auf dem jahrhundertalten Fundament der englischen Tradition,
beugt sich nie oder nur selten um Haaresbreite über sie hinaus, führt
aber den Bau zu unverhoffter Höhe mit einer reizvollen Architektonik
empor. Sein Werk ist der unbewußte, Kunst gewordene Wille seiner Nation:
und wenn wir die Intensität, die seltenen Vorzüge und die versäumten
Möglichkeiten seiner Dichtung umgrenzen, rechten wir gleichzeitig immer
mit England.

Dickens ist der höchste dichterische Ausdruck der englischen Tradition
zwischen dem heroischen Jahrhundert Napoleons, der ruhmreichen
Vergangenheit, und dem Imperialismus, dem Traum seiner Zukunft. Wenn
er für uns nur ein Außerordentliches geleistet hat und nicht das
Gewaltige, zu dem ihn sein Genie prädestinierte, so ist es nicht
England, nicht die Rasse selbst, die ihn gehemmt hat, sondern der
unverschuldete Augenblick: das viktorianische Zeitalter Englands. Auch
Shakespeare war ja höchste Möglichkeit, poetische Erfüllung einer
englischen Epoche: aber der elisabethanischen, des starken tatenfrohen,
jünglinghaften, frischsinnlichen England, das zum erstenmal die Fänge
nach dem Imperium mundi reckte, das heiß und vibrierend war von
überschäumender Kraft. Shakespeare war der Sohn eines Jahrhunderts der
Tat, des Willens, der Energie. Neue Horizonte waren aufgetaucht, in
Amerika abenteuerliche Reiche gewonnen, der Erbfeind zerschmettert,
von Italien her flackte das Feuer der Renaissance herüber in den
nordischen Nebel, ein Gott, eine Religion waren abgetan, die Welt
wieder anzufüllen mit neuen lebendigen Werten. Shakespeare war die
Inkarnation des heroischen England, Dickens nur das Symbol des
bourgeoisen. Er war loyaler Untertan der anderen Königin, der sanften,
hausmütterlichen, unbedeutenden, old queen Victoria, Bürger eines
prüden, behaglichen, geordneten Staatswesens ohne Elan und
Leidenschaft. Sein Auftrieb war gehemmt durch die Schwere des
Zeitalters, das nicht hungrig war, das nur verdauen wollte: schlaffer
Wind nur spielte mit den Segeln seines Schiffes, trieb es nie fort von
der englischen Küste zur gefährlichen Schönheit des Unbekannten, hinein
in die pfadlose Unendlichkeit. Vorsichtig ist er immer in der Nähe des
Heimischen, Gewohnten und Althergebrachten geblieben: wie Shakespeare
der Mut des gierigen, ist Dickens die Vorsicht des satten England. 1812
ist er geboren. Gerade wie seine Augen um sich greifen können, wird es
dunkel in der Welt, die große Flamme verlischt, die das morsche Gebälk
der europäischen Staaten zu vernichten drohte. Bei Waterloo zerschellt
die Garde an der englischen Infanterie, England ist gerettet und sieht
seinen Erbfeind auf ferner Insel einsam ohne Krone und Macht zugrunde
gehen. Das hat Dickens nicht mehr miterlebt; er sieht nicht mehr die
Flamme der Welt, den feurigen Schein von einem Ende Europas sich gegen
das andere wälzen; sein Blick tappt in den Nebel Englands hinein. Der
Jüngling findet keine Helden mehr, die Zeit der Heroen ist vorüber. Ein
paar in England wollen es freilich nicht glauben, sie wollen mit Gewalt
und Enthusiasmus die Speichen der rollenden Zeit zurückreißen, der Welt
den alten sausenden Schwung geben, aber England will Ruhe und stößt sie
von sich. Sie flüchten der Romantik nach in ihre heimlichen Winkel,
suchen aus armen Funken das Feuer wieder zu entfachen, aber das
Schicksal läßt sich nicht zwingen. Shelley ertrinkt im Tyrrhenischen
Meer, Lord Byron verbrennt im Fieber zu Missolunghi: die Zeit will
keine Aventüren mehr. Aschfarben ist die Welt. Behaglich verschmaust
England die noch blutige Beute; der Bourgeois, der Kaufmann, der Makler
ist König und räkelt sich auf dem Thron wie auf einem Faulbett. England
verdaut. Eine Kunst, die damals gefallen konnte, mußte digestiv sein,
sie durfte nicht stören, nicht mit wilden Emotionen rütteln, nur
streicheln und krauen, sie durfte nur sentimental sein und nicht
tragisch. Man wollte nicht den Schauer, der die Brust wie ein Blitz
spaltet, den Atem zerschneidet, das Blut einfrieren läßt -- zu gut
kannte man das vom wirklichen Leben, als die Gazetten aus Frankreich
und Rußland kamen --, nur das Gruseln wollte man, das Schnurren und
Spielen, das unablässig den farbigen Knäuel der Geschichten hin und
her rollt. Kaminkunst wollten die Leute von damals, Bücher, die sich
behaglich, während der Sturm an den Pfosten rüttelt, am Kamin lesen und
die selbst so züngeln und knacken mit vielen kleinen ungefährlichen
Flammen, eine Kunst, die das Herz wärmt wie Tee, nicht eine, die es
freudig und lodernd berauschen will. So ängstlich sind die Sieger von
vorgestern geworden -- sie, die nur behalten möchten und bewahren,
nichts mehr wagen und wandeln --, daß sie Angst haben vor ihrem
eigenen starken Gefühl. In den Büchern wie im Leben wünschen sie nur
wohltemperierte Leidenschaften, keine Ekstasen, die aufstürmen, immer
nur normale Gefühle, die sittsam promenieren. Glück wird in England
damals identisch mit Beschaulichkeit, Ästhetik mit Sittsamkeit, und
Sinnlichkeit wiederum mit Prüderie, Nationalgefühl mit Loyalität, Liebe
mit Ehe. Alle Lebenswerte werden blutarm. England ist zufrieden und
will keinen Wandel. Eine Kunst, die eine so satte Nation anerkennen
kann, muß darum selbst irgendwie zufrieden sein, das Bestehende
loben und nicht darüberhinaus wollen. Und dieser Wille nach einer
behaglichen, freundlichen, einer digestiven Kunst findet sein Genie,
wie einst das elisabethanische England seinen Shakespeare. Dickens ist
das Schöpfung gewordene künstlerische Bedürfnis des damaligen England.
Daß er im richtigen Augenblicke kam, schuf seinen Ruhm; daß er von
diesem Bedürfnis überwältigt wurde, ist seine Tragik. Seine Kunst ist
genährt von der hypokritischen Moral von der Behaglichkeit des satten
England: und stände nicht eine so außerordentliche dichterische Kraft
hinter seinem Werke, täuschte nicht sein glitzernder, goldfunkelnder
Humor hinweg über die innere Farblosigkeit der Gefühle, so hätte er nur
Wert in jener englischen Welt, wäre uns indifferent wie die Tausende
von Romanen, die jenseits des Ärmelkanals von fingerfertigen Leuten
produziert werden. Erst wenn man aus tiefster Seele die hypokritische
Borniertheit der viktorianischen Kultur haßt, kann man das Genie eines
Menschen mit voller Bewunderung ermessen, der uns diese widerliche
Welt der satten Behäbigkeit als interessant und fast liebenswert zu
empfinden zwang, der die banalste Prosa des Lebens zu Poesie erlöste.

Dickens hat selbst nie gegen dieses England angekämpft. Aber in der
Tiefe -- unten im Unbewußten -- war das Ringen des Künstlers in ihm mit
dem Engländer. Er ist ursprünglich stark und sicher ausgeschritten,
nach und nach aber in dem weichen, halb zähen, halb nachgiebigen Sand
seiner Zeit müde geworden und immer öfter und öfter schließlich in die
alten, breitgestapften Fußspuren der Tradition getreten. Dickens ist
überwältigt worden von seiner Zeit, und ich muß bei seinem Schicksal
immer an das Abenteuer Gullivers bei den Liliputanern denken. Während
der Riese schläft, spannen ihn die Zwerge mit tausenden kleinen Fäden
an den Erdboden an, halten den Erwachenden so fest und lassen ihn nicht
früher frei, ehe er nicht kapituliert und geschworen hat, die Gesetze
des Landes nie zu verletzen. So hat die englische Tradition Dickens im
Schlaf seiner Unberühmtheit eingesponnen und festgehalten: sie preßte
ihn mit den Erfolgen an die englische Scholle, sie rissen ihn hinein in
den Ruhm und banden ihm damit die Hände. Er war nach einer langen
trüben Kindheit Stenograph im Parlament geworden und hatte einmal
versucht, kleine Skizzen zu schreiben, mehr eigentlich um sein
Einkommen zu vermehren als aus impulsivem dichterischen Bedürfnis. Der
erste Versuch gelang, die Zeitung verpflichtete ihn. Dann bat ihn ein
Verleger um satirische Glossen zu einem Klub, die gewissermaßen den
Text zu Karikaturen aus der englischen gentry bilden sollten. Dickens
nahm an. Und es gelang, gelang über alle Erwartung. Die ersten Hefte
des »Pickwick-Klub« waren ein Erfolg ohne Beispiel; nach zwei Monaten
war Boz ein nationaler Autor. Der Ruhm schob ihn weiter, aus Pickwick
wurde ein Roman. Es gelang wieder. Immer dichter spannen sich die
kleinen Netze, die geheimen Fesseln des nationalen Ruhmes. Von einem
Werke drängte ihn der Beifall zum andern, drängte ihn immer mehr in
die Windrichtung des zeitgenössischen Geschmackes hinein. Und diese
hunderttausend Netze, aus Beifall, baren Erfolgen und stolzem
Bewußtsein künstlerischen Wollens auf das verwirrendste gewoben,
hielten ihn nun fest an der englischen Erde, bis er kapitulierte,
innerlich gelobte, die ästhetischen und moralischen Gesetze seiner
Heimat nie zu übertreten. Er blieb in der Gewalt der englischen
Tradition, des bürgerlichen Geschmackes, ein moderner Gulliver unter
den Liliputanern. Seine wundervolle Phantasie, die wie ein Adler hätte
hinschweben können über dieser engen Welt, verhakte sich in den
Fußfesseln der Erfolge. Eine tiefinnerliche Zufriedenheit belastet
seinen künstlerischen Auftrieb. Dickens war zufrieden. Zufrieden mit
der Welt, mit England, mit seinen Zeitgenossen und sie mit ihm. Beide
wollten sie sich nicht anders, als sie waren. In ihm war nicht die
zornige Liebe, die züchtigen will, aufrütteln, anstacheln und erheben,
der Urwille des großen Künstlers, mit Gott zu rechten, seine Welt zu
verwerfen und sie neu, nach seinem eigenen Dünken zu erschaffen.
Dickens war fromm, fürchtig; er hatte für alles Bestehende eine
wohlwollende Bewunderung, ein ewig kindliches, spielfrohes Entzücken.
Er war zufrieden. Er wollte nicht viel. Er war einmal ein ganz armer,
vom Schicksal vergessener, von der Welt verschüchterter Knabe gewesen,
dem erbärmliche Berufe die Jugend verzettelt hatten. Damals hatte er
bunte farbige Sehnsucht gehabt, aber alle hatten ihn zurückgestoßen in
eine lange und hartnäckig getragene Verschüchterung. Das brannte in
ihm. Seine Kindheit war das eigentlich dichterisch-tragische Erlebnis
-- hier war der Same seines schöpferischen Wollens eingesenkt in das
fruchtbare Erdreich von schweigsamem Schmerz; und seine tiefste
seelische Absicht war, als ihm dann die Macht und Möglichkeit der
Wirkung ins Weite wurde, diese Kindheit zu rächen. Er wollte mit seinen
Romanen allen armen, verlassenen, vergessenen Kindern helfen, die so
wie er einst Ungerechtigkeit erlitten durch schlechte Lehrer,
vernachlässigte Schulen, gleichgültige Eltern, durch die lässige,
lieblose, selbstsüchtige Art der meisten Menschen. Er wollte ihnen die
paar farbigen Blüten Kinderfreude retten, die in seiner eigenen Brust
verwelkt waren ohne den Tau der Güte. Später hatte ihm das Leben dann
alles gewährt, und er wußte es nicht mehr anzuklagen: aber die Kindheit
rief in ihm um Rache. Und die einzige moralische Absicht, der innere
Lebenswille seines Dichtens war, diesen Schwachen zu helfen: hier
wollte er die zeitgenössische Lebensordnung verbessern. Er verwarf sie
nicht, er bäumte sich nicht auf gegen die Normen des Staates, er droht
nicht, reckt nicht die zornige Faust gegen das ganze Geschlecht, gegen
die Gesetzgeber, die Bürger, gegen die Verlogenheit aller Konventionen,
sondern deutet nur hier und dort mit vorsichtigem Finger auf eine
offene Wunde. England ist das einzige Land Europas, das damals, um
1848, nicht revolutionierte; und so wollte auch er nicht umstürzen und
neu schaffen, nur korrigieren und verbessern, wollte nur die Phänomene
des sozialen Unrechts, dort wo ihr Dorn zu spitz und schmerzhaft ins
Fleisch drang, abschleifen und mildern, doch nie die Wurzel, die
innerste Ursache, aufgraben und zerstören. Als echter Engländer wagt er
sich nicht an die Fundamente der Moral, sie sind dem Konservativen
sakrosankt wie das gospel, das Evangelium. Und diese Zufriedenheit,
dieser Absud vom flauen Temperament seiner Epoche, ist so charakteristisch
für Dickens. Er wollte nicht viel vom Leben: und so seine Helden. Ein
Held bei Balzac ist gierig und herrschsüchtig, er verbrennt vor
ehrgeiziger Sehnsucht nach Macht. Nichts ist ihm genug, unersättlich
sind sie alle, jeder ein Welteroberer, ein Umstürzler, ein Anarchist
und ein Tyrann zugleich. Sie haben ein napoleonisches Temperament.
Auch die Helden Dostojewskis sind feurig und ekstatisch, ihr Wille
verwirft die Welt und greift in herrlichster Ungenügsamkeit über das
wirkliche Leben nach dem wahren Leben; sie wollen nicht Bürger und
Menschen sein, sondern in jedem von ihnen funkelt durch alle Demut der
gefährliche Stolz, ein Heiland zu werden. Ein Held Balzacs will die Welt
unterjochen, ein Held Dostojewskis sie überwinden. Beide haben sie eine
Anspannung über das Alltägliche hinaus, eine Pfeilrichtung gegen das
Unendliche. Die Menschen bei Dickens sind alle bescheiden. Mein Gott,
was wollen sie? Hundert Pfund im Jahr, eine nette Frau, ein Dutzend
Kinder, einen freundlich gedeckten Tisch für die guten Freunde, ihr
Cottagehaus bei London mit einem Blick von Grün vor dem Fenster, mit
einem kleinen Gärtchen und einer Handvoll Glück. Ihr Ideal ist ein
spießerisches, ein kleinbürgerliches: damit muß man sich bei Dickens
zurechtfinden. Alle seine Menschen wollen innerlich keinen Wandel
der Weltordnung, wollen weder Reichtum noch Armut, sondern dieses
behagliche Mittelmaß, das als Lebensmaxime so weise für den Krämer
und Kärrner, so gefährlich für den Künstler ist. Die Ideale Dickens'
haben abgefärbt von ihrer armen Umwelt. Hinter dem Werke steht als der
Schöpfer, der Bändiger des Chaos, nicht ein zorniger Gott, gigantisch
und übermenschlich, sondern ein zufriedener Betrachter, ein loyaler
Bürger. Das Bürgerliche ist die Atmosphäre aller Romane von Dickens.

Seine große und unvergeßliche Tat war darum eigentlich nur: die
Romantik der Bourgeoisie zu entdecken, die Poesie des Prosaischen.
Er hat als erster den Alltag der unpoetischesten aller Nationen ins
Dichterische umgebogen. Er hat Sonne durch dieses stumpfe Grau leuchten
lassen; und wer in England einmal gesehen hat, wie strahlend der
Goldglanz ist, den dort die erstarkende Sonne aus dem trüben Knäuel des
Nebels spinnt, der weiß, wie sehr ein Dichter seine Nation beseligen
mußte, der ihr künstlerisch diese Sekunde der Erlösung aus dem
bleiernen Hindämmern gegeben hat. Dickens ist dieser goldene Reif um
den englischen Alltag, der Heiligenschein der schlichten Dinge und
simpeln Menschen, die Idylle Englands. Er hat seine Helden, seine
Schicksale in den engen Straßen der Vorstädte gesucht, an denen die
anderen Dichter achtlos vorbeigingen. Die suchten ihre Helden unter
den Kronleuchtern der aristokratischen Salons, auf den Wegen in den
Zauberwald der fairy tales, sie forschten nach dem Entlegenen,
Ungewöhnlichen und Außerordentlichen. Ihnen war der Bürger die Substanz
gewordene irdische Schwerkraft, und sie wollten nur feurige, kostbare,
in Ekstasen aufstrebende Seelen, den lyrischen, den heroischen
Menschen. Dickens schämte sich nicht, den ganz einfachen Tagwerker zum
Helden zu machen. Er war ein self-made-man; er kam von unten und
bewahrte diesem Milieu eine rührende Pietät. Er hatte einen sehr
merkwürdigen Enthusiasmus für das Banale, eine Begeisterung für ganz
wertlose altväterische Dinge, für den Kleinkram des Lebens. Seine
Bücher sind selbst so ein curiosity shop voll mit Gerümpel, das jeder
für wertlos gehalten hätte, ein Durcheinander von Seltsamkeiten und
schnurrigen Nichtigkeiten, die jahrzehntelang vergeblich auf den
Liebhaber gewartet hatten. Aber er nahm diese alten wertlosen,
verstaubten Dinge, putzte sie blank, fügte sie zusammen und stellte
sie in die Sonne seiner Heiterkeit. Und da fingen sie plötzlich an zu
funkeln mit einem unerhörten Glanz. So nahm er die vielen kleinen
verachteten Gefühle aus der Brust einfacher Menschen, horchte sie ab,
fügte ihr Räderwerk zusammen, bis sie wieder lebendig tickten.
Plötzlich begannen sie da wie kleine Spieluhren zu surren, zu
schnurren und dann zu singen, eine leise altväterische Melodie,
die lieblicher war als die schwermütigen Balladen der Ritter aus
Legendenland und die Kanzonen der Lady vom See. Die ganze bürgerliche
Welt hat Dickens so aus dem Aschenhaufen der Vergessenheit aufgestöbert
und wieder blank zusammengefügt: in seinem Werk erst wurde sie wieder
eine lebendige Welt. Ihre Torheiten und Beschränktheiten hat er durch
Nachsicht begreiflich, ihre Schönheiten durch Liebe sinnfällig gemacht,
ihren Aberglauben verwandelt in eine neue und sehr dichterische
Mythologie. Das Zirpen des Heimchens am Herd ist Musik geworden in
seiner Novelle, die Silvesterglocken sprechen mit menschlichen Zungen,
der Zauber der Weihnacht versöhnt Dichtung dem religiösen Gefühl. Aus
den kleinsten Festen hat er einen tieferen Sinn geholt; er hat allen
diesen schlichten Leuten die Poesie ihres täglichen Lebens entdecken
geholfen, ihnen noch lieber gemacht, was ihnen schon das Liebste war,
ihr »home«, das enge Zimmer, wo der Kamin mit roten Flammen prasselt und
das dürre Holz zerknackt, wo der Tee am Tische surrt und singt, wo die
wunschlosen Existenzen sich absperren von den gierigen Stürmen, den
wilden Verwegenheiten der Welt. Die Poesie des Alltäglichen wollte er
alle die lehren, die in den Alltag gebannt waren. Tausenden und Millionen
hat er gezeigt, wo das Ewige in ihr armes Leben hinabreichte, wo der
Funke der stillen Freude verschüttet unter der Asche des Alltags lag, er
hat sie gelehrt, ihn aufflammen zu lassen zu heiter behaglicher Glut.
Helfen wollte er den Armen und den Kindern. Was über diesen Mittelstand
des Lebens materiell oder geistig hinausging, war ihm antipathisch; er
liebte nur das Gewöhnliche, das Durchschnittliche von ganzem Herzen. Den
Reichen und den Aristokraten, den Begünstigten des Lebens war er gram.
Die sind fast immer Schurken und Knauser in seinen Büchern, selten
Porträts, fast immer Karikaturen. Er mochte sie nicht. Zu oft hatte er
als Kind dem Vater ins Schuldgefängnis, in die Marshalsea, Briefe
gebracht, die Pfändungen gesehen, zu sehr die liebe Not des Geldes
gekannt; jahraus, jahrein war er in Hungerford Stairs ganz oben in einem
kleinen, schmutzigen, sonnenlosen Zimmer gesessen, hatte Schuhwichse in
Tiegel eingestrichen und mit Fäden Hunderte und Hunderte täglich
umwickelt, bis ihm die kleinen Kinderhände brannten und die Tränen der
Zurücksetzung aus den Augen schossen. Zu sehr hatte er Hunger und
Entbehrung gekannt an den kalten Nebelmorgen der Londoner Straßen.
Keiner hatte ihm damals geholfen, die Karossen waren vorübergefahren an
dem frierenden Knaben, die Reiter vorbeigetrabt, die Tore hatten sich
nicht aufgetan. Nur von den kleinen Leuten hatte er Gutes erfahren: nur
ihnen wollte er darum die Gabe erwidern. Seine Dichtung ist eminent
demokratisch -- nicht sozialistisch, dazu fehlt ihm der Sinn für das
Radikale --, Liebe und Mitleid allein geben ihr pathetisches Feuer. In
der bürgerlichen Welt -- in der mittleren Sphäre zwischen Armenhaus und
Rente -- ist er am liebsten geblieben; nur bei diesen schlichten
Menschen hat er sich wohlgefühlt. Er malt ihre Stuben mit Behaglichkeit
und Breite aus, als wollte er selbst darin wohnen, webt ihnen bunte
und immer mit sonnigem Feuer überflogene Schicksale, träumt ihre
bescheidenen Träume; er ist ihr Anwalt, ihr Prediger, ihr Liebling, die
helle, ewig warme Sonne ihrer schlichten, grautönigen Welt.

Aber wie reich ist sie durch ihn geworden, diese bescheidene Wirklichkeit
der kleinen Existenzen! Das ganze bürgerliche Beisammensein mit seinem
Hausrat, dem Kunterbunt der Berufe, dem unübersehbaren Gemisch der
Gefühle ist noch einmal Kosmos geworden, ein All mit Sternen und Göttern
in seinen Büchern. Aus dem flachen, stagnierenden, kaum wellenden
Spiegel der kleinen Existenzen hat hier ein scharfer Blick Schätze
erspäht und sie mit dem feinmaschigsten Netz ans Licht gehoben. Aus dem
Gewühl hat er Menschen gefangen, o wie viele Menschen, Hunderte von
Gestalten, genug, eine kleine Stadt zu bevölkern. Unvergeßliche sind
unter ihnen, Gestalten, die ewig sind in der Literatur und schon mit
ihrer Existenz hinausreichen in den wirklichen Sprachbegriff des Volkes,
Pickwick und Sam Weller, Pecksniff und Betsey Trotwood, sie alle, deren
Namen in uns lächelnde Erinnerung zauberisch entfachen. Wie reich sind
diese Romane! Die Episoden des David Copperfield genügten für sich
allein, das dichterische Lebenswerk eines anderen mit Tatsächlichkeiten
zu versorgen; Dickens' Bücher sind eben wirkliche Romane im Sinn der
Fülle und unablässigen Bewegtheit, nicht wie unsere deutschen fast alle
nur ins Breite gezerrte psychologische Novellen. Es gibt keine toten
Punkte in ihnen, keine leeren sandigen Strecken, sie haben Ebbe und Flut
von Geschehnissen, und wirklich, wie ein Meer sind sie unergründlich und
unübersehbar. Kaum kann man das heitere und wilde Durcheinander der
wimmelnden Menschen überschauen; sie drängen herauf an die Bühne des
Herzens, stoßen einer wieder den andern hinab, wirbeln vorbei. Wie
Wogenkämme tauchen sie auf aus der Flut der Riesenstädte, stürzen wieder
in den Gischt der Ereignisse, aber sie tauchen neu auf, steigen und
fallen, umschlingen einander oder stoßen sich ab: und doch, diese
Bewegungen sind keine zufälligen, hinter der ergötzlichen Wirrnis waltet
eine Ordnung, die Fäden flechten sich immer wieder zusammen in einen
farbigen Teppich. Keine der Gestalten, die nur spaziergängerisch
vorbeizustreifen scheinen, geht verloren; alle ergänzen, befördern,
befeinden einander, häufen Licht oder Schatten. Krause, heitere, ernste
Verwicklungen treiben in katzenhaftem Spiel den Knäuel der Handlung hin
und her, alle Möglichkeiten des Gefühls klingen in rascher Skala auf und
nieder, alles ist gemengt: Jubel, Schauer und Übermut; bald funkelt die
Träne der Rührung, bald die der losen Heiterkeit. Gewölk zieht auf,
zerreißt, türmt sich aufs neue, aber am Schlusse strahlt die vom
Gewitter reine Luft in wundervoller Sonne. Manche dieser Romane sind
eine Ilias von tausend Einzelkämpfen, die Ilias einer entgötterten
irdischen Welt, manche nur eine friedfertige bescheidene Idylle; aber
alle Romane, die vortrefflichen wie die unlesbaren, haben dies Merkmal
einer verschwenderischen Vielfalt. Und alle haben sie, selbst die
wildesten und melancholischsten, in den Fels der tragischen Landschaft
kleine Lieblichkeiten wie Blumen eingesprengt. Überall blühen diese
unvergeßlichen Anmutigkeiten: wie kleine Veilchen, bescheiden und
versteckt, warten sie im weitgesteckten Wiesenplan seiner Bücher,
überall sprudelt die klare Quelle sorgloser Heiterkeit klingend von dem
dunkeln Gestein der schroffen Geschehnisse nieder. Es gibt Kapitel bei
Dickens, die man nur Landschaften in ihrer Wirkung vergleichen kann, so
rein sind sie, so göttlich unberührt von irdischen Trieben, so sonnig
blühend in ihrer heiteren milden Menschlichkeit. Um ihretwillen schon
müßte man Dickens lieben, denn so verschwenderisch sind diese kleinen
Künste verstreut in seinem Werk, daß ihre Fülle zur Größe wird. Wer
könnte allein seine Menschen aufzählen, alle diese krausen, jovialen,
gutmütigen, leicht lächerlichen und immer so amüsanten Menschen?
Sie sind aufgefangen mit all ihren Schrullen und individuellen
Eigentümlichkeiten, eingekapselt in die seltsamsten Berufe, verwickelt
in die ergötzlichsten Abenteuer. Und so viele sie auch sind, keiner ist
dem andern ähnlich, sie sind minuziös bis ins kleinste Detail persönlich
herausgearbeitet, nichts ist Guß und Schema an ihnen, alles Sinnlichkeit
und Lebendigkeit, sie alle sind nicht ersonnen, sondern gesehen. Gesehen
von dem ganz unvergleichlichen Blick dieses Dichters.

Dieser Blick ist von einer Präzision sondergleichen, ein wunderbares,
unbeirrbares Instrument. Dickens war ein visuelles Genie. Man mag jedes
Bildnis von ihm, das der Jugend und das (bessere) der Mannesjahre
betrachten: es ist beherrscht von diesem merkwürdigen Auge. Es ist
nicht das Auge des Dichters, in schönem Wahnsinn rollend oder elegisch
umdämmert, nicht weich und nachgiebig oder feurig-visionär. Es ist ein
englisches Auge: kalt, grau, scharfblinkend wie Stahl. Und stählern war
es auch wie ein Tresor, in dem alles unverbrennbar, unverlierbar,
gewissermaßen luftdicht abgeschlossen ruhte, was ihm irgend einmal,
gestern oder vor vielen Jahren von der Außenwelt eingezahlt worden war:
das Erhabenste wie das Gleichgültigste, irgendein farbiges Schild über
einem Kramladen in London, das der Fünfjährige vor undenklicher Zeit
gesehen, oder ein Baum mit seinen aufspringenden Blüten gerade drüben
vor dem Fenster. Nichts ging diesem Auge verloren, es war stärker als
die Zeit; sparsam reihte es Eindruck an Eindruck im Speicher des
Gedächtnisses, bis der Dichter ihn zurückforderte. Nichts rann in
Vergessenheit, wurde blaß oder fahl, alles lag und wartete, blieb
voll Duft und Saft, farbig und klar, nichts starb ab oder welkte.
Unvergleichlich ist bei Dickens das Gedächtnis des Auges. Mit seiner
stählernen Schneide zerteilt er den Nebel der Kindheit; in »David
Copperfield«, dieser verkappten Autobiographie, sind Erinnerungen des
zweijährigen Kindes an die Mutter und das Dienstmädchen mit Messerschärfe
wie Silhouetten vom Hintergrund des Unbewußten losgeschnitten. Es
gibt keine vagen Konturen bei Dickens; er gibt nicht vieldeutige
Möglichkeiten der Vision, sondern zwingt zur Deutlichkeit. Seine
darstellende Kraft läßt der Phantasie des Lesers keinen freien Willen,
er vergewaltigt sie (weshalb er auch der ideale Dichter einer
phantasielosen Nation wurde). Stellt zwanzig Zeichner vor seine Bücher
und verlangt die Bilder Copperfields und Pickwicks: die Blätter werden
sich ähnlich sehen, werden in unerklärlicher Ähnlichkeit den feisten
Herrn mit der weißen Weste und den freundlichen Augen hinter den
Brillengläsern oder den hübschen blonden, ängstlichen Knaben auf der
Postkutsche nach Yarmouth darstellen. Dickens schildert so scharf, so
minuziös, daß man seinem hypnotisierenden Blicke folgen muß; er hatte
nicht den magischen Blick Balzacs, der die Menschen der feurigen Wolke
ihrer Leidenschaften sich erst chaotisch formend entringen läßt, sondern
einen ganz irdischen Blick, einen Seemanns-, einen Jägerblick, einen
Falkenblick für die kleinen Menschlichkeiten. Aber Kleinigkeiten, sagte
er einmal, sind es, die den Sinn des Lebens ausmachen. Sein Blick hascht
nach kleinen Merkzeichen, er sieht den Flecken am Kleid, die kleinen
hilflosen Gesten der Verlegenheit, er faßt die Strähne roten Haares, die
unter einer dunkeln Perücke hervorlugt, wenn ihr Eigner in Zorn gerät.
Er spürt die Nuancen, tastet die Bewegung jedes einzelnen Fingers bei
einem Händedruck ab, die Abschattung in einem Lächeln. Er war Jahre vor
seiner literarischen Zeit Stenograph im Parlament gewesen und hatte
sich dort geübt, das Ausführliche ins Summarische zu drängen, mit einem
Strich ein Wort, mit kurzem Schnörkel einen Satz darzustellen. Und so
hat er später dichterisch eine Art Kurzschrift des Wirklichen geübt,
das kleine Zeichen hingestellt statt der Beschreibung, eine Essenz der
Beobachtung aus den bunten Tatsächlichkeiten destilliert. Für diese
kleinen Äußerlichkeiten hatte er eine unheimliche Scharfsichtigkeit,
sein Blick übersah nichts, faßte wie ein guter Verschluß am
photographischen Apparat das Hundertstel einer Sekunde in einer
Bewegung, einer Geste. Nichts entging ihm. Und diese Scharfsichtigkeit
wurde noch gesteigert durch eine ganz merkwürdige Brechung des Blicks,
die den Gegenstand nicht wie ein Spiegel in seiner natürlichen
Proportion wiedergab, sondern wie ein Hohlspiegel ins Charakteristische
übertrieb. Dickens unterstreicht immer die Merkzeichen seiner Menschen,
er dreht sie aus dem Objektiven hinüber ins Gesteigerte, ins
Karikaturistische. Er macht sie intensiver, erhebt sie zum Symbol. Der
wohlbeleibte Pickwick wird auch seelisch zur Rundlichkeit, der dünne
Jingle zur Dürre, der Böse zum Satanas, der Gute die leibhaftige
Vollendung. Dickens übertreibt wie jeder große Künstler, aber nicht
ins Grandiose, sondern ins Humoristische. Die ganze, so unsäglich
ergötzliche Wirkung seiner Darstellung entwuchs nicht so sehr seiner
Laune, nicht seinem Übermut, sondern sie saß schon in dieser merkwürdigen
Winkelstellung des Auges, das mit seiner Überschärfe alle Erscheinungen
irgendwie ins Wunderliche und Karikaturistische übertrieben auf das
Leben zurückspiegelte.

Tatsächlich: in dieser eigenartigen Optik -- und nicht in seiner ein
wenig zu bürgerlichen Seele -- steckt Dickens' Genie. Dickens war
eigentlich nie Psychologe, einer, der magisch die Seele des Menschen
erfaßt, aus ihrem hellen oder dunklen Samen in geheimnisvollem Wachstum
sich die Dinge in ihren Farben und Formen entfalten ließ. Seine
Psychologie beginnt beim Sichtbaren, er charakterisiert durch
Äußerlichkeiten, allerdings durch jene letzten und feinsten, die eben
nur einem dichterisch scharfen Auge sichtbar sind. Wie die englischen
Philosophen, beginnt er nicht mit Voraussetzungen, sondern mit
Merkmalen. Die unscheinbarsten, ganz materiellen Äußerungen des
Seelischen fängt er ein und macht an ihnen durch seine merkwürdig
karikaturistische Optik den ganzen Charakter augenfällig. Aus Merkmalen
läßt er die Spezies erkennen. Dem Schullehrer Creakle gibt er eine
leise Stimme, die mühsam das Wort gewinnt. Und schon ahnt man das
Grauen der Kinder vor diesem Menschen, dem die Anstrengung des
Sprechens die Zornader über die Stirne schwellen läßt. Sein Uriah Heep
hat immer kalte, feuchte Hände: schon atmet die Gestalt Mißbehagen,
schlangenhafte Widrigkeiten. Kleinigkeiten sind das, Äußerlichkeiten,
aber immer solche, die auf das Seelische wirken. Manchmal ist es
eigentlich nur eine lebendige Schrulle, die er darstellt; eine
Schrulle, die mit einem Menschen umwickelt ist und ihn wie eine Puppe
mechanisch bewegt. Manchmal wieder charakterisiert er den Menschen
durch seinen Begleiter -- was wäre Pickwick ohne Sam Weller, Dora ohne
Jip, Barnaby ohne den Raben, Kit ohne das Pony! -- und zeichnet die
Eigentümlichkeit der Figur gar nicht an dem Modell selbst, sondern am
grotesken Schatten. Seine Charaktere sind eigentlich immer nur eine
Summe von Merkmalen, aber von so scharfgeschnittenen, daß sie restlos
ineinander passen und ein Bild vortrefflich in Mosaik zusammensetzen.
Und darum wirken sie meistens immer nur äußerlich, sinnfällig, sie
erzeugen eine intensive Erinnerung des Auges, eine nur vage des
Gefühles. Rufen wir in uns eine Figur Balzacs oder Dostojewskis beim
Namen auf, den Père Goriot oder Raskolnikow, so antwortet ein Gefühl,
die Erinnerung an eine Hingebung, eine Verzweiflung, ein Chaos der
Leidenschaft. Sagen wir uns Pickwick, so taucht ein Bild auf, ein
jovialer Herr mit reichlichem Embonpoint und goldenen Knöpfen auf der
Weste. Hier spüren wir es: an die Figuren Dickens' denkt man wie an
gemalte Bilder, an die Dostojewskis und Balzacs wie an Musik. Denn
diese schaffen intuitiv, Dickens nur reproduktiv, jene mit dem
geistigen, Dickens mit dem körperlichen Auge. Er faßt die Seele nicht
dort, wo sie geisterhaft, nur von dem siebenfach glühenden Licht der
visionären Beschwörung bezwungen, aus der Nacht des Unbewußten steigt,
er lauert dem unkörperlichen Fluidum auf, dort, wo es einen Niederschlag
im Wirklichen hat, er hascht die tausend Wirkungen des Seelischen auf
das Körperliche, aber dort übersieht er keine. Seine Phantasie ist
eigentlich bloß Blick und reicht darum nur aus für jene Gefühle und
Gestalten der mittleren Sphäre, die im Irdischen wohnen; seine Menschen
sind nur plastisch in den gemäßigten Temperaturen der normalen Gefühle.
In den Hitzegraden der Leidenschaft zerschmelzen sie wie Wachsbilder in
Sentimentalität, oder sie erstarren im Haß und werden brüchig. Dickens
gelingen nur geradlinige Naturen, nicht jene ungleich interessanteren,
in denen die hundertfachen Übergänge vom Guten zum Bösen, vom Gott zum
Tier fließend sind. Seine Menschen sind immer eindeutig, entweder
vortrefflich als Helden oder niederträchtig als Schurken, sie sind
prädestinierte Naturen mit einem Heiligenschein über der Stirne oder
dem Brandmal. Zwischen good und wicked, zwischen dem Gefühlvollen
und Gefühllosen pendelt seine Welt. Darüber hinaus, in die Welt der
geheimnisvollen Zusammenhänge, der mystischen Verkettungen, weiß seine
Methode keinen Pfad. Das Grandiose läßt sich nicht greifen, das
Heroische nicht erlernen. Es ist der Ruhm und die Tragik Dickens', immer
in einer Mitte geblieben zu sein zwischen Genie und Tradition, dem
Unerhörten und dem Banalen: in den geregelten Bahnen der irdischen Welt,
im Lieblichen und im Ergreifenden, im Behaglichen und Bürgerlichen.

Aber dieser Ruhm genügte ihm nicht: der Idylliker sehnte sich nach
Tragik. Immer wieder hat er zur Tragödie emporgestrebt, und immer kam
er nur zum Melodram. Hier war seine Grenze. Diese Versuche sind
unerfreulich: mögen in England die »Geschichte der beiden Städte«,
»Bleak House« für hohe Schöpfungen gelten, für unser Gefühl sind sie
verloren, weil ihre große Geste eine erzwungene ist. Die Anstrengung
zum Tragischen ist in ihnen wirklich bewundernswert: in diesen Romanen
türmt Dickens Konspirationen, wölbt große Katastrophen wie Felsblöcke
über den Häuptern seiner Helden, er beschwört den Schauer der
Regennächte, den Volksaufstand und die Revolutionen, entfesselt den
ganzen Apparat des Grauens und Entsetzens. Aber doch, jener erhabene
Schauer stellt sich nie ein, es wird nur ein Gruseln, der rein
körperliche Reflex des Entsetzens, und nicht der Schauer der Seele.
Jene tiefen Erschütterungen, jene gewitterhaften Wirkungen, die vor
Angst das Herz sehnsüchtig stöhnen lassen nach der Entladung im Blitz,
brechen nie mehr aus seinen Büchern. Dickens türmt Gefahr über
Gefahren, aber man fürchtet sie nicht. Bei Dostojewski starren manchmal
plötzlich Abgründe, man jappt nach Luft, wenn man dieses Dunkel,
diesen namenlosen Abgrund in der eigenen Brust aufgerissen fühlt; man
fühlt den Boden unter den Füßen schwinden, spürt einen jähen Schwindel,
einen feurigen, aber süßen Schwindel, möchte gern nieder, niederstürzen,
und schauert doch zugleich vor diesem Gefühl, wo Lust und Schmerz zu so
ungeheuren Hitzegraden weißgeglüht sind, daß man sie voneinander nicht
scheiden kann. Auch bei Dickens sind solche Abgründe. Er reißt sie auf,
füllt sie mit Schwärze, zeigt ihre ganze Gefahr; aber doch, man schauert
nicht, man hat nicht jenen süßen Schwindel des geistigen Niederstürzens,
der vielleicht der höchste Reiz künstlerischen Genießens ist. Man fühlt
sich bei ihm immer irgendwie sicher, als hielte man ein Geländer, denn
man weiß, er läßt einen nicht niederstürzen; man weiß, der Held wird
nicht untergehen; die beiden Engel, die mit weißen Flügeln durch die
Welt dieses englischen Dichters schweben, Mitleid oder Gerechtigkeit,
werden ihn schon unbeschädigt über alle Schründe und Abgründe tragen.
Dickens fehlt die Brutalität, der Mut zur wirklichen Tragik. Er ist
nicht heroisch, sondern sentimental. Tragik ist Wille zum Trotz,
Sentimentalität Sehnsucht nach der Träne. Zu der tränenlosen, wortlosen,
letzten Gewalt des verzweifelten Schmerzes ist Dickens nie gelangt:
sanfte Rührung -- etwa der Tod Doras im »Copperfield« -- ist das
äußerste ernste Gefühl, das er vollendet darzustellen vermag. Holt er
zum wirklich wuchtigen Schwung aus, so fällt ihm immer das Mitleid
in den Arm. Immer glättet das (oft ranzige) Öl des Mitleids den
heraufbeschworenen Sturm der Elemente; die sentimentale Tradition des
englischen Romans überwindet den Willen zum Gewaltigen. Denn in England
soll das Geschehen eines Romans eigentlich nur die Illustration der
landläufigen moralischen Maximen sein; durch die Melodie des Schicksals
werkelts immer als Unterton: »Üb immer Treu und Redlichkeit.« Das Finale
muß eine Apokalypse sein, ein Weltgericht, die Guten steigen nach oben,
die Bösen werden bestraft. Auch Dickens hat leider diese Gerechtigkeit
in die meisten Romane übernommen, seine Schurken ertrinken, ermorden
sich gegenseitig, die Hochmütigen und Reichen machen Bankrott, und die
Helden sitzen warm in der Wolle. Noch heute duldet der Engländer kein
Drama, das ihn nicht am Ende mit der Beruhigung entläßt, alles in dieser
Welt sei in schönster Ordnung. Und diese echt englische Hypertrophie
des moralischen Sinnes hat Dickens' grandioseste Inspirationen zum
tragischen Roman irgendwie ernüchtert. Denn die Weltanschauung dieser
Werke, der eingebaute Kreisel, der ihre Stabilität aufrechterhält, ist
nicht die Gerechtigkeit des freien Künstlers mehr, sondern die eines
anglikanischen Bürgers. Dickens zensuriert die Gefühle, statt sie frei
wirken zu lassen: er gestattet nicht wie Balzac ihr elementares
Überschäumen, sondern lenkt sie durch Dämme und Gruben in Kanäle, wo sie
die Mühlen der bürgerlichen Moral drehen. Der Prediger, der Reverend,
der common-sense-Philosoph, der Schulmeister, alle sitzen sie unsichtbar
mit ihm in der Werkstatt des Künstlers und mengen sich ein: sie
verleiten ihn, den ernsten Roman statt ein demütiges Nachbild der freien
Wirklichkeiten lieber ein Vorbild und eine Warnung für junge Leute sein
zu lassen. Freilich, belohnt ward die gute Gesinnung: als Dickens starb,
wußte der Bischof von Winchester an seinem Werk zu rühmen, man könne es
beruhigt jedem Kinde in die Hände geben; aber gerade dies, daß es das
Leben nicht in seinen Wirklichkeiten zeigt, sondern so, wie man es
Kindern darstellen will, schmälert seine überzeugende Kraft. Für uns
Nichtengländer strotzt und protzt es zu sehr mit Sittlichkeit. Um Held
bei Dickens zu werden, muß man ein Tugendausbund sein, ein puritanisches
Ideal. Bei Fielding und Smollet, die ja doch auch Engländer waren,
allerdings Kinder eines sinnefreudigeren Jahrhunderts, schadet es dem
Helden absolut nicht, wenn er einmal bei einem Raufhandel seinem
Gegenüber die Nase eintreibt oder wenn er trotz aller hitzigen Liebe zu
seiner adeligen Dame einmal mit ihrer Zofe im Bette schläft. Bei Dickens
erlauben sich nicht einmal die Wüstlinge solche Abscheulichkeiten.
Selbst seine ausschweifenden Menschen sind eigentlich harmlos, ihre
Vergnügungen noch immer so, daß sie eine ältliche spinster ohne Erröten
verfolgen kann. Da ist Dick Swiveller der Libertin. Wo steckt denn
eigentlich seine Libertinage? Mein Gott, er trinkt vier Glas Ale statt
zwei, zahlt seine Rechnungen höchst unregelmäßig, bummelt ein wenig, das
ist alles. Und zum Schluß macht er im rechten Augenblick eine Erbschaft
-- eine bescheidene natürlich -- und heiratet höchst anständig das
Mädchen, das ihm auf die Bahn der Tugend half. Wahrhaft unmoralisch sind
bei Dickens nicht einmal die Schurken, selbst sie haben trotz aller
böser Instinkte blasses Blut. Diese englische Lüge der Unsinnlichkeit
sitzt als Brand in seinem Werke; die schieläugige Hypokrisie, die
übersieht, was sie nicht sehen will, wendet Dickens den spürenden Blick
von den Wirklichkeiten. Das England der Königin Viktoria hat Dickens
verhindert, den vollendet tragischen Roman zu schreiben, der seine
innerste Sehnsucht war. Und es hätte ihn ganz niedergezogen in seine
eigene satte Mediokrität, hätte ihn ganz mit den klemmenden Armen der
Beliebtheit zum Anwalt seiner sexuellen Verlogenheit gemacht, wäre dem
Künstler nicht eine Welt frei gewesen, in die seine schöpferische
Sehnsucht hätte flüchten können, hätte er nicht jene silberne Schwinge
besessen, die ihn stolz über die dumpfen Bezirke solcher Zweckmäßigkeiten
hob: seinen seligen und fast unirdischen Humor.

Diese eine selige, halkyonisch freie Welt, in die der Nebel Englands
nicht niederhängt, ist das Land der Kindheit. Die englische Lüge
verschneidet die Sinnlichkeit in den Menschen und zwingt den
Erwachsenen in ihre Gewalt; die Kinder aber leben noch paradiesisch
unbekümmert ihr Fühlen aus, sie sind noch nicht Engländer, sondern nur
kleine helle Menschenblüten, in ihre bunte Welt schattet noch nicht
der englische Nebelrauch der Hypokrisie. Und hier, wo Dickens frei,
unbehindert von seinem englischen Bourgeoisgewissen schalten durfte,
hat er Unsterbliches geleistet. Die Jahre der Kindheit in seinen
Romanen sind einzig schön; nie werden, glaube ich, in der Weltliteratur
diese Gestalten vergehen, diese heiteren und ernsten Episoden der
Frühzeit. Wer wird je die Odyssee der kleinen Nell vergessen können,
wie sie mit ihrem greisen Großvater aus dem Rauch und Düster der großen
Städte hinauszieht ins erwachende Grün der Felder, harmlos und sanft,
dies engelhafte Lächeln selig über alle Fährlichkeiten und Gefahren
hinrettend bis ins Verscheiden. Das ist rührend in einem Sinne, der
über alle Sentimentalität hinausreicht zum echtesten, lebendigsten
Menschengefühl. Da ist Traddles, der fette Junge in seinen geblähten
Pumphosen, der den Schmerz über die erhaltenen Prügel im Zeichnen von
Skeletten vergißt, Kit, der Treueste der Treuen, der kleine Nickelby
und dann dieser eine, der immer wiederkehrt, dieser hübsche, »sehr
kleine und nicht eben zu freundlich behandelte Junge«, der niemand
anderes ist als Charles Dickens, der Dichter, der seine eigene
Kinderlust, sein eigenes Kinderleid wie kein zweiter unsterblich
gemacht hat. Immer und immer wieder hat er von diesem gedemütigten,
verlassenen, verschreckten, träumerischen Knaben erzählt, den die
Eltern verwaisen ließen; und hier ist sein Pathos wirklich tränennah
geworden, seine sonore Stimme voll und tönend wie Glockenklang.
Unvergeßlich ist dieser Kinderreigen in Dickens' Romanen. Hier
durchdringt sich Lachen und Weinen, Erhabenes und Lächerliches zu einem
einzigen Regenbogenglanz; das Sentimentale und das Sublime, das
Tragische und das Komische, Wahrheit und Dichtung versöhnen sich in ein
Neues und Nochniedagewesenes. Hier überwindet er das Englische, das
Irdische, hier ist Dickens ohne Einschränkung groß und unvergleichlich.
Wollte man ihm ein Denkmal setzen, so müßte marmorn dieser Kinderreigen
seine eherne Gestalt umringen als den Beschützer, den Vater und Bruder.
Denn sie hat er wahrhaft als die reinste Form menschlichen Wesens
geliebt. Wollte er Menschen sympathisch machen, so ließ er sie kindlich
sein. Um der Kinder willen hat er die sogar geliebt, die schon nicht
mehr kindlich, sondern kindisch waren, die Schwachsinnigen und
Geistesgestörten. In allen seinen Romanen ist einer dieser sanften
Irren, deren arme verlorene Sinne weit oben wie weiße Vögel wandern
über der Welt der Sorgen und Klagen, denen das Leben nicht ein
Problem, eine Mühe und Aufgabe ist, sondern nur ein seliges, ganz
unverständliches, aber schönes Spiel. Es ist rührend zu sehen, wie er
diese Menschen schildert. Er faßt sie sorgsam an wie Kranke, legt viel
Güte um ihr Haupt wie einen Heiligenschein. Selige sind sie ihm, weil
sie ewig im Paradies der Kindheit geblieben sind. Denn die Kindheit
ist das Paradies in Dickens' Werken. Wenn ich einen Roman von Dickens
lese, habe ich immer eine wehmütige Angst, wenn die Kinder heranwachsen;
denn ich weiß, nun geht das Süßeste, das Unwiederbringliche verloren,
nun mischt sich bald das Poetische mit dem Konventionellen, die reine
Wahrheit mit der englischen Lüge. Und er selbst scheint dieses Gefühl im
Innersten zu teilen. Denn nur ungern gibt er seine Lieblingshelden an
das Leben. Er begleitet sie nie bis ins Alter hinein, wo sie banal
werden, Krämer und Kärrner des Lebens; er nimmt Abschied von ihnen, wenn
er sie emporgeführt hat bis an die Kirchentür der Ehe, durch alle
Fährnisse in den spiegelglatten Hafen der bequemen Existenz. Und das
eine Kind, das ihm das liebste war in der bunten Reihe, die kleine Nell,
in der er die Erinnerung an eine ihm sehr teure Frühverstorbene verewigt
hatte, sie ließ er gar nicht in die rauhe Welt der Enttäuschungen, die
Welt der Lüge. Sie behielt er für immer im Paradies der Kindheit, schloß
ihr vorzeitig die blauen sanften Augen, ließ sie ahnungslos übergleiten
von der Helle der Frühzeit in die Dunkelheit des Todes. Sie war ihm zu
lieb für die wirkliche Welt.

Denn diese Welt ist bei Dickens, ich sagte es ja schon, eine bürgerlich
bescheidene, ein müdes, sattes England, ein enger Ausschnitt der
ungeheuren Möglichkeiten des Lebens. Eine solche arme Welt konnte nur
reich werden durch ein großes Gefühl. Balzac hat den Bourgeois gewaltig
gemacht durch seinen Haß, Dostojewski durch seine Heilandsliebe. Und
auch Dickens, der Künstler, erlöst diese Menschen von ihrer lastenden
Erdschwere: durch seinen Humor. Er betrachtet seine kleinbürgerliche
Welt nicht mit objektiver Wichtigkeit, er stimmt nicht jenen Hymnus der
braven Leute, der alleinseligmachenden Tüchtigkeit und Nüchternheit
an, der jetzt die meisten unserer deutschen Heimatkunstromane so
widerlich macht. Sondern er zwinkert seinen Leuten gutmütig und doch
lustig zu, er macht sie wie Gottfried Keller und Wilhelm Raabe ein ganz
klein wenig lächerlich in ihren liliputanischen Sorgen. Aber lächerlich
in einem freundlichen, gutmütigen Sinne, so daß man sie für alle
Schnurren und Skurrilitäten nur noch lieber hat. Wie ein Sonnenblick
liegt der Humor über seinen Büchern, macht ihre bescheidene Landschaft
plötzlich heiter und unendlich lieblich, voll von tausend entzückenden
Wundern; an dieser guten wärmenden Flamme wird alles lebendiger und
wahrscheinlicher, selbst die falschen Tränen flimmern wie Diamanten,
die kleinen Leidenschaften flammen wie wirklicher Brand. Der Humor
Dickens' hebt sein Werk über die Zeit hinaus in alle Zeiten. Er erlöst
es von der Langeweile alles Englischen, Dickens überwindet die Lüge
durch sein Lächeln. Wie Ariel schwebt dieser Humor geisternd durch die
Luft seiner Bücher, füllt sie an mit heimlicher Musik, reißt sie in
einen Tanzwirbel, eine große Freudigkeit des Lebens. Allgegenwärtig ist
er. Selbst aus dem Schacht der finstersten Verwirrungen funkelt er auf
wie ein Bergmannslicht, er löst die überstraffen Spannungen, er mildert
das allzu Sentimentale durch den Unterton der Ironie, das Übertriebene
durch seinen Schatten, das Groteske, er ist das Versöhnende, das
Ausgleichende, das Unvergängliche in seinem Werk. Er ist -- wie alles
bei Dickens -- natürlich englisch, ein echtenglischer Humor. Auch ihm
fehlt es an Sinnlichkeit, er vergißt sich nicht, betrinkt sich nicht an
seiner eigenen Laune und wird nie ausschweifend. Er bleibt in seinem
Überschwang noch gemessen, grölt nicht und rülpst sich nicht wie
Rabelais, überpurzelt sich nicht wie bei Cervantes vor tollem
Entzücken oder springt kopfüber ins Unmögliche wie der amerikanische.
Er bleibt immer aufrecht und kühl. Dickens lächelt wie alle Engländer
nur mit dem Mund, nicht mit dem ganzen Körper. Seine Heiterkeit
verbrennt sich nicht selbst, sie funkelt nur und zersplittert ihr Licht
in die Adern der Menschen hinein, flackert mit tausend kleinen Flammen,
geistert und irrlichtert neckisch, ein entzückender Schelm, mitten in
den Wirklichkeiten. Auch sein Humor ist -- denn es ist das Schicksal
Dickens', immer eine Mitte darzustellen -- ein Ausgleich zwischen der
Trunkenheit des Gefühls, der wilden Laune und der kaltlächelnden
Ironie. Sein Humor ist unvergleichbar dem der anderen großen Engländer.
Er hat nichts von der zerfasernden, beizenden Ironie Sternes, nichts
von der breitstapfigen, launigen Landedelmannsheiterkeit Fieldings; er
ätzt nicht wie Thackeray schmerzhaft in den Menschen hinein, er tut nur
wohl und nie weh, spielt wie Sonnenkringel ihnen lustig um Haupt und
Hände. Er will nicht moralisch sein und nicht satirisch, nicht unter
der Narrenkappe irgendeinen feierlichen Ernst verstecken. Er will
überhaupt nicht und nichts. Er ist. Seine Existenz ist absichtslos und
selbstverständlich; der Schalk steckt schon in jener merkwürdigen
Augenstellung Dickens', verschnörkelt und übertreibt dort die
Gestalten, gibt ihnen jene ergötzlichen Proportionen und komischen
Verrenkungen, die dann das Entzücken von Millionen wurden. Alles tritt
in diesen Kreis von Licht, sie leuchten wie von innen heraus; selbst
die Gauner und Schurken haben ihren Glorienschein von Humor, die ganze
Welt scheint irgendwie lächeln zu müssen, wenn Dickens sie betrachtet.
Alles glänzt und wirbelt, die Sonnensehnsucht eines nebligen Landes
scheint für immer erlöst. Die Sprache schlägt Purzelbäume, die Sätze
quirlen ineinander, springen weg, spielen Verstecken mit ihrem Sinn,
werfen sich einer dem anderen Fragen zu, necken sich, führen sich irre,
eine Launigkeit beflügelt sie zum Tanz. Unerschütterlich ist dieser
Humor. Er ist schmackhaft ohne das Salz der Sexualität, das ihm ja die
englische Küche versagte; er ließ sich nicht verwirren dadurch, daß
hinter dem Dichter der Drucker hetzte; denn selbst im Fieber, in Not
und Ärger konnte Dickens nicht anders als heiter schreiben. Sein Humor
ist unwiderstehlich, er saß fest in diesem herrlich scharfen Auge und
verlosch erst mit seinem Licht. Nichts Irdisches vermochte ihm etwas
anzuhaben, und auch der Zeit wird es kaum gelingen. Denn ich kann mir
Menschen nicht denken, die Novellen wie »Das Heimchen am Herd« nicht
lieben würden, die der Heiterkeit wehren könnten bei manchen Episoden
dieser Bücher. Die seelischen Bedürfnisse mögen sich wandeln wie die
literarischen. Aber solange man Sehnsucht nach Heiterkeit haben wird,
in den Augenblicken jener Behaglichkeiten, wo der Lebenswille ruht und
nur das Gefühl des Lebens sanft seine Wellen in einem rührt, wo man
sich nach nichts so sehnt als nach irgendeiner arglosen melodischen
Erregung des Herzens, wird man nach diesen einzigen Büchern greifen,
in England und überall in der Welt.

Das ist das Große, das Unvergängliche in diesem irdischen, allzu
irdischen Werke: es hat Sonne in sich, es strahlt und wärmt. Man soll
die großen Kunstwerke nicht allein nach ihrer Intensität fragen, nicht
nur nach dem Menschen, der hinter ihnen stand, sondern auch nach ihrer
Extensität, der Wirkung auf die Mengen. Und von Dickens wird man wie
von keinem in unserem Jahrhundert sagen können, er habe die Freudigkeit
der Welt gemehrt. Millionen Augen haben bei seinen Büchern in Tränen
gefunkelt; Tausenden, denen das Lachen verblüht oder verschüttet war,
hat er es neu in die Brust gepflanzt: weit über das Literarische hinaus
ging seine Wirkung. Reiche Leute besannen sich und machten Stiftungen,
als sie von den Brüdern Chereby lasen; Hartherzige wurden gerührt; die
Kinder bekamen -- es ist verbürgt --, als »Oliver Twist« erschien, mehr
Almosen auf den Straßen; die Regierung verbesserte die Armenhäuser und
kontrollierte die Privatschulen. Das Mitleid und Wohlwollen in England
ist stärker geworden durch Dickens, das Schicksal von vielen und vielen
Armen und Unglücklichen gelindert. Ich weiß: solche außerordentliche
Wirkungen haben nichts zu tun mit der ästhetischen Wertung eines
Kunstwerkes. Aber sie sind wichtig, weil sie zeigen, daß jedes ganz
große Werk über die Welt der Phantasie hinaus, wo ja jeder schaffende
Wille zauberhaft frei schweifen kann, auch in der realen Welt Wandlungen
hervorbringt. Wandlungen im Wesentlichen, im Sichtbaren und dann in der
Temperatur des Gefühlsempfindens. Dickens hat -- im Gegensatz zu den
Dichtern, die für sich selbst um Mitleid und Zuspruch bitten -- die
Heiterkeit und Lust seiner Zeit gemehrt, ihren Blutkreislauf befördert.
Die Welt ist heller geworden seit dem Tage, da der junge Stenograph des
Parlaments zur Feder griff, um von Menschen und Schicksalen zu schreiben.
Er hat seiner Zeit die Freude gerettet und den späteren Generationen
den Frohsinn jenes »merry old England«, des England zwischen den
Napoleonskriegen und dem Imperialismus. Nach vielen Jahren wird man noch
zurückschauen nach dieser dann schon altväterischen Welt mit ihren
seltsamen, verlorenen Berufen, die längst im Mörser des Industrialismus
zerpulvert sein werden, wird sich vielleicht hineinsehnen in dies
Leben, das arglos war, voll von einfachen, stillen Heiterkeiten. Dickens
hat dichterisch die Idylle Englands geschaffen -- das ist sein Werk.
Achten wir dieses Leise, das Zufriedene nicht zu gering gegenüber dem
Gewaltigen: auch die Idylle ist ein Ewiges, eine uralte Wiederkehr.
Das Georgikon oder Bukolikon, das Gedicht des fliehenden, vom Schauer
des Begehrens ausruhenden Menschen ist hier erneut, so wie es immer
im Umschwung der Generationen wieder sich erneuern wird. Es kommt,
um wieder zu vergehen, die Atempause zwischen den Erregungen,
das Kraftgewinnen vor oder nach der Anstrengung, die Sekunde der
Zufriedenheit im rastlos hämmernden Herzen. Andere schaffen die Gewalt,
andere die Stille. Charles Dickens hat einen Augenblick der Stille in
der Welt zum Gedicht gefügt. Heute ist das Leben wieder lauter, die
Maschinen dröhnen, die Zeit saust in rascherem Umschwung. Aber die
Idylle ist unsterblich, weil sie Lebensfreude ist; sie kehrt wieder wie
der blaue Himmel hinter den Wettern, die ewige Heiterkeit des Lebens
nach allen Krisen und Erschütterungen der Seele. Und so wird auch
Dickens immer wieder aus seiner Vergessenheit wiederkehren, wenn
Menschen der Fröhlichkeit bedürftig sind und, ermattet von den
tragischen Anspannungen der Leidenschaft, auch aus den leisern Dingen
die geisterhafte Musik des Dichterischen werden vernehmen wollen.



                           DOSTOJEWSKI

                                  »Daß du nicht enden kannst, das
                                macht dich groß.«
                                      Goethe, Westöstlicher Divan


                            EINKLANG

Es ist schwer und verantwortungsvoll, von Fedor Michailowitsch
Dostojewski und seiner Bedeutung für unsere innere Welt würdig zu
sprechen, denn dieses Einzigen Weite und Gewalt will ein neues Maß.

Ein umschlossenes Werk, einen Dichter vermeinte erstes Nahen zu finden
und entdeckt Grenzenloses, einen Kosmos mit eigen kreisenden Gestirnen
und anderer Musik der Sphären. Mutlos wird der Sinn, diese Welt jemals
restlos zu durchdringen: zu fremd ist erster Erkenntnis ihre Magie, zu
weit ins Unendliche verwölkt ihr Gedanke, zu fremd ihre Botschaft, als
daß die Seele unvermittelt aufschauen könnte in diesen neuen wie in
heimatlichen Himmel. Dostojewski ist nichts, wenn nicht von innen
erlebt. Im tiefsten müssen wir die eigene Kraft des Mitfühlens und
Mitleidens erst prüfen und stählen zu einer neuen gesteigerten
Empfänglichkeit: bis zu den untersten geheimsten Wurzeln unseres Wesens
müssen wir graben, um die Zusammenhänge mit seiner erst phantastischen
und dann wundervoll wahren Menschlichkeit zu entdecken. Nur dort, ganz
im Untersten, im Ewigen und Unabänderlichen unseres Seins, Wurzel in
Wurzel, können wir uns Dostojewski zu verbinden hoffen; denn wie fremd
scheint äußerem Blick diese russische Landschaft, die, wie die Steppen
seiner Heimat, weglose und wie wenig Welt von unserer Welt! Nichts
Freundliches umfriedet dort lieblich den Blick, selten rät eine sanfte
Stunde zur Rast. Mystische Dämmerung des Gefühls, trächtig von Blitzen,
wechselt mit einer frostigen, oft eisigen Klarheit des Geistes, statt
warmer Sonne flammt vom Himmel ein geheimnisvoll blutendes Nordlicht.
Urweltlandschaft, mystische Welt hat man mit Dostojewskis Sphäre
betreten, uralt und jungfräulich zugleich, und süßes Grauen schlägt
einem entgegen wie vor jeder Nahheit ewiger Elemente. Bald schon sehnt
sich Bewunderung gläubig zu verweilen, und doch warnt eine Ahnung das
ergriffene Herz, hier dürfe es nicht heimisch werden für immer, müsse
es doch wieder zurück in unsere wärmere, freundlichere, aber auch
engere Welt. Zu groß ist, spürt man beschämt, diese erzene Landschaft
für den täglichen Blick, zu stark, zu beklemmend diese bald eisige,
bald feurige Luft für den zitternden Atem. Und die Seele würde fliehen
vor der Majestät solchen Grauens, wäre nicht über dieser unerbittlich
tragischen, entsetzlich irdischen Landschaft ein unendlicher Himmel der
Güte sternenklar ausgespannt, Himmel auch unserer Welt, doch höher ins
Unendliche gewölbt in solchem scharfen geistigen Frost, als in unseren
linden Zonen. Beruhigter Aufblick aus dieser Landschaft zu ihrem Himmel
spürt erst die unendliche Tröstung dieser unendlichen irdischen Trauer,
und ahnt im Grauen die Größe, im Dunkel den Gott.

Nur solcher Aufblick zu seinem letzten Sinne vermag unsere Ehrfurcht
vor dem Werke Dostojewskis in eine brennende Liebe zu verwandeln, nur
der innerste Einblick in seine Eigenheit das Tiefbrüderliche, das
Allmenschliche dieses russischen Menschen uns klarzutun. Aber wie weit
und wie labyrinthisch ist dieser Niederstieg bis zum innersten Herzen
des Gewaltigen; machtvoll in seiner Weite, schreckhaft durch seine
Ferne, wird dies einzige Werk in gleichem Maße geheimnisvoller, als wir
von seiner unendlichen Weite in seine unendliche Tiefe zu dringen
suchen. Denn überall ist es mit Geheimnis getränkt. Von jeder seiner
Gestalten führt ein Schacht hinab in die dämonischen Abgründe des
Irdischen, jeder Aufschwung ins Geistige rührt mit seiner Schwinge bis
an Gottes Antlitz. Hinter jeder Wand seines Werkes, jedem Antlitz
seiner Menschen, jeder Falte seiner Verhüllungen liegt die ewige Nacht
und glänzt das ewige Licht: denn Dostojewski ist durch Lebensbestimmung
und Schicksalsgestaltung allen Mysterien des Seins restlos verschwistert.
Zwischen Tod und Wahnsinn, Traum und brennend klarer Wirklichkeit steht
seine Welt. Überall grenzt sein persönliches Problem an ein unlösbares
der Menschheit, jede einzelne belichtete Fläche spiegelt Unendlichkeit.
Als Mensch, als Dichter, als Russe, als Politiker, als Prophet: überall
strahlt sein Wesen von ewigem Sinn. Kein Weg führt an sein Ende, keine
Frage bis in den untersten Abgrund seines Herzens. Nur Begeisterung darf
ihm nahen, und auch sie nur demütig in der Beschämung, geringer zu sein
als seine eigene liebende Ehrfurcht vor dem Mysterium des Menschen.

Er selbst, Dostojewski, hat niemals die Hand gerührt, um uns an sich
heranzuhelfen. Die anderen Baumeister des Gewaltigen in unserer
Zeit offenbarten ihren Willen. Wagner legte neben sein Werk die
programmatische Erläuterung, die polemische Verteidigung, Tolstoi riß
alle Türen seines täglichen Lebens auf, jeder Neugier Zutritt, jeder
Frage Rechenschaft zu geben. Er aber, Dostojewski, verriet seine
Absicht nie anders als im vollendeten Werk, die Pläne verbrannte er in
der Glut der Schöpfung. Schweigsam und scheu war er ein Leben lang,
kaum das Äußerliche, das Körperliche seiner Existenz ist zwingend
bezeugt. Freunde besaß er nur als Jüngling, der Mann war einsam: wie
Verminderung seiner Liebe zur ganzen Menschheit schien es ihm,
einzelnen sich hinzugeben. Auch seine Briefe verraten nur Notdurft der
Existenz, Qual des gefolterten Körpers, alle haben sie verschlossene
Lippen, so sehr sie Klage und Notruf sind. Viele Jahre, seine ganze
Kindheit sind von Dunkel umschattet, und schon heute ist er, dessen
Blick manche in unserer Zeit noch brennen sahen, menschlich etwas ganz
Fernes und Unsinnliches geworden, eine Legende, ein Heros und ein
Heiliger. Jenes Zwielicht von Wahrheit und Ahnung, das die erhabenen
Lebensbilder Homers, Dantes und Shakespeares umwittert, entirdischt uns
auch sein Antlitz. Nicht aus Dokumenten, sondern einzig aus wissender
Liebe läßt sich sein Schicksal gestalten.

Allein also und führerlos muß man hinab in das Herz dieses Labyrinths
zu tasten suchen und den Faden Ariadnes, der Seele, vom Knäuel der
eigenen Lebensleidenschaft ablösen. Denn je tiefer wir uns in ihn
versenken, desto tiefer fühlen wir uns selbst. Nur wenn wir an unser
wahres allmenschliches Wesen hinangelangen, sind wir ihm nah. Wer viel
von sich selbst weiß, weiß auch viel von ihm, der oder keiner das
letzte Maß aller Menschlichkeit gewesen. Und dieser Gang in sein Werk
führt durch alle Purgatorien der Leidenschaft, durch die Hölle der
Laster, führt über alle Stufen irdischer Qual: Qual des Menschen, Qual
der Menschheit, Qual des Künstlers und der letzten, der grausamsten,
der Gottesqual. Dunkel ist der Weg, und von innen muß man glühen in
Leidenschaft und Wahrheitswillen, um nicht in die Irre zu gehen: unsere
eigene Tiefe erst müssen wir durchwandern, ehe wir uns in die seine
wagen. Er sendet keine Boten, einzig das Erlebnis führt Dostojewski zu.
Und er hat keine Zeugen, keine anderen als des Künstlers mystische
Dreieinheit in Fleisch und Geist: sein Antlitz, sein Schicksal und sein
Werk.


                           DAS ANTLITZ

Sein Antlitz scheint zuerst das eines Bauern. Lehmfarben, fast
schmutzig falten sich die eingesunkenen Wangen, zerpflügt von
vieljährigem Leid, dürstend und versengt spannt sich mit vielen
Sprüngen die rissige Haut, der jener Vampir zwanzigjährigen Siechtums
Blut und Farbe entzogen. Rechts und links starren, zwei mächtige
Steinblöcke, die slawischen Backenknochen heraus, den herben Mund, das
brüchige Kinn überwuchert wirrer Busch von Bart. Erde, Fels und Wald,
eine tragisch elementare Landschaft, das sind die Tiefen von
Dostojewskis Gesicht. Alles ist dunkel, irdisch und ohne Schönheit in
diesem Bauern- und beinahe Bettlerantlitz; flach und farblos, ohne
Glanz dunkelt es hin, ein Stück russische Steppe auf Stein versprengt.
Selbst die Augen, die tief eingesenkten, vermögen aus ihren Klüften
nicht diesen mürben Lehm zu erleuchten, denn nicht nach außen schlägt
klar und blendend ihre gerade Flamme, gleichsam nach innen ins Blut
hinein brennen zehrend ihre spitzen Blicke. Wenn sie sich schließen,
stürzt der Tod sofort über dies Gesicht, und die nervöse Hochspannung,
die sonst die mürben Züge zusammenhält, sinkt nieder ins lethargisch
Unbelebte.

Wie sein Werk ruft dies Antlitz erst das Grauen vom Reigen der Gefühle
auf, dem sich zögernd Scheu und dann leidenschaftlich, in wachsender
Bezauberung, Bewunderung gesellt. Denn nur die irdische Niederung, die
fleischliche, seines Antlitzes dämmert hin in dieser düster-erhabenen
naturhaften Trauer. Aber wie eine Kuppel, weißstrahlend und gewölbt,
hebt sich ragend über dem engen bäurischen Gesicht die aufstrebende
Rundung der Stirne: aus Schatten und Dunkel steigt blank und gehämmert
der geistige Dom: harter Marmor über den weichen Lehm des Fleisches,
das wüste Dickicht des Haares. Alles Licht strömt in diesem Antlitz
nach oben, und blickt man in sein Bild, so fühlt man immer nur sie,
diese breite mächtige, königliche Stirne, sie, die immer strahlender
leuchtet und sich zu weiten scheint, je mehr das alternde Antlitz in
Krankheit vergrämt und vergeht. Wie ein Himmel steht sie hoch und
unerschütterlich über der Hinfälligkeit des gebrestigen Körpers, Glorie
von Geist über irdischer Trauer. Und auf keinem Bilde leuchtet dies
heilige Gehäuse des sieghaften Geistes glorreicher als von jenem des
Totenbetts, da die Lider schlaff über die gebrochenen Augen gefallen
sind, die entfärbten Hände, fahl und doch fest, das Kreuz gierig
umfassen (jenes arme kleine Holzkruzifix, das einst eine Bäuerin dem
Zuchthäusler schenkte). Da strahlt sie wie von morgens die Sonne über
nächtiges Land nieder auf das entseelte Antlitz und kündet mit ihrem
Glanz die gleiche Botschaft wie alle seine Werke: daß der Geist und der
Glaube ihn erlösten vom dumpfen niederen und körperlichen Leben. In
letzter Tiefe ist immer Dostojewskis letzte Größe: und nie spricht sein
Antlitz stärker als aus seinem Tod.


                   DIE TRAGÖDIE SEINES LEBENS

                           »Non vi si pensa quanto sangue costa.«
                                                            Dante

Immer ist bei Dostojewski Grauen der erste Eindruck und der zweite dann
Größe. Auch sein Schicksal scheint anfangs dem flüchtigen Blick so
grausam und gemein, wie sein Antlitz bäuerisch und gewöhnlich. Zuerst
empfindet man es nur als eine sinnlose Marter, denn mit allen
Instrumenten der Qual foltern diese sechzig Jahre den hinfälligen
Körper. Die Feile der Not reibt seiner Jugend und seinem Alter die Süße
weg, die Säge des körperlichen Schmerzes knirscht in sein Gebein, die
Schraube der Entbehrung wühlt ihm hart bis an den Lebensnerv, die
brennenden Drähte der Nerven zucken und zerren unaufhörlich durch seine
Glieder, der feine Stachel der Wollust reizt unersättlich seine
Leidenschaft. Keine Qual ist gespart, keine Marter vergessen. Eine
sinnlose Grausamkeit, eine blindwütige Feindseligkeit scheint dies
Schicksal vorerst. Rückschauend nur begreift man, daß es sich so hart
zum Hammer geschmiedet, weil es Ewiges aus ihm meißeln wollte, daß es
gewaltig war, um einem Gewaltigen gemäß zu sein. Denn nichts mißt es
dem Maßlosen gemächlich zu, nirgends ähnelt sein Lebensgang dem gut
gepflasterten breiten Bürgersteig aller anderen Dichter des neunzehnten
Jahrhunderts, immer fühlt man hier eines finstern Schicksalsgottes
Lust, sich stark an dem Stärksten zu versuchen. Alttestamentarisch,
heroisch und in nichts neuzeitlich und bürgerlich ist Dostojewskis
Schicksal. Ewig muß er mit dem Engel ringen wie Jakob, ewig sich gegen
Gott empören und ewig sich beugen wie Hiob. Nie läßt es ihn sicher
werden, nie träge, immer muß er den Gott spüren, der ihn straft, weil
er ihn liebt. Nicht eine Minute darf er rasten im Glück, damit sein Weg
bis ins Unendliche gehe. Manchmal scheint der Dämon seines Schicksals
schon innezuhalten in seinem Zorn und ihm zu verstatten, wie alle
anderen die gemeine Straße des Lebens zu gehen, aber immer wieder reckt
sich die gewaltige Hand und stößt ihn ins Dickicht zurück, in die
brennenden Dornen. Schleudert es ihn hoch, so ists nur, um ihn in
tiefere Abgründe hinabzustürzen, ihn die ganze Weite der Ekstase und
Verzweiflung zu lehren; es hebt ihn auf in Höhen des Hoffens, wo
andere schwach zerschmelzen in Wollust, und wirft ihn in Schlünde
des Leidens, wo alle andern zerschellen in Schmerz: und eben wie
Hiob zerschmettert es ihn immer in den Augenblicken der höchsten
Sicherheiten, nimmt ihm Frau und Kind, belädt ihn mit Krankheit und
schändet ihn mit Verachtung, damit er nicht innehalte, mit Gott
zu rechten und ihm durch seine unaufhörliche Empörung und seine
unaufhörliche Hoffnung nur mehr gewonnen sei. Es ist, als hätte
sich diese Zeit lauer Menschen gerade diesen einen aufgespart, um
zu zeigen, welche titanischen Maße in Lust und Qual auch unserer Welt
noch möglich seien, und er, Dostojewski, scheint dumpf den gewaltigen
Willen über sich zu spüren. Denn niemals wehrt er sich gegen sein
Schicksal, niemals hebt er die Faust. Der Körper, der wunde, bäumt sich
konvulsivisch in Zuckungen empor, aus seinen Briefen bricht manchmal wie
Blutsturz ein heißer Schrei, aber der Geist, der Glaube, zwingt die
Revolte nieder. Der mystisch Wissende in Dostojewski spürt das Heilige
dieser Hand, den tragisch fruchtbaren Sinn seines Schicksals. Aus seinem
Leid wird Liebe zum Leiden, und mit der wissenden Glut seiner Qual
umflammt er seine Zeit, seine Welt.

Dreimal schwingt ihn das Leben empor, dreimal reißt es ihn nieder. Früh
schon atzt es ihn mit der süßen Speise des Ruhms: sein erstes Buch
schenkt ihm einen Namen; aber rasch faßt ihn die harte Kralle und
schleudert ihn wieder zurück ins Namenlose: ins Zuchthaus, in die
Katorga, nach Sibirien. Wieder taucht er, nur noch stärker und mutiger,
empor: seine Memoiren aus dem Totenhause reißen Rußland in einen
Taumel. Der Zar selbst netzt das Buch mit seinen Tränen, die russische
Jugend steht in Flammen für ihn. Er gründet eine Zeitschrift, seine
Stimme tönt zum ganzen Volke, die ersten Romane entstehen. Da bricht im
Wettersturz seine materielle Existenz zusammen, Schulden und Sorgen
peitschen ihn aus dem Land, Krankheit beißt sich in sein Fleisch, ein
Nomade, irrt er durch ganz Europa, vergessen von seiner Nation. Aber
zum drittenmal, nach Jahren der Arbeit und Entbehrung, taucht er aus
den grauen Gewässern namenloser Not: die Rede zu Puschkins Gedächtnis
bezeugt ihn als den ersten Dichter, den Propheten seines Landes.
Unauslöschlich ist nun sein Ruhm. Aber gerade jetzt schlägt ihn die
eiserne Hand nieder, und die verzückte Begeisterung seines ganzen
Volkes schäumt ohnmächtig gegen einen Sarg. Das Schicksal bedarf seiner
nicht mehr, der grausam weise Wille hat alles erreicht, aus seiner
Existenz das Höchste gewonnen an geistiger Frucht: achtlos wirft es nun
die leere Hülse des Körpers hin.

Durch diese sinnvolle Grausamkeit wird Dostojewskis Leben zum
Kunstwerk, seine Biographie zur Tragödie. Und in wundervoller Symbolik
nimmt sein künstlerisches Werk die typische Form des eigenen Schicksals
an. Es gibt da geheimnisvolle Identitäten, mystische Zusammenhänge,
wunderbare Spiegelungen, die nicht zu deuten und zu erklären sind.
Schon der Anbeginn seines Lebens ist Symbol: Fedor Michailowitsch
Dostojewski wird im Armenhaus geboren. Mit der ersten Stunde ist ihm so
schon die Stelle seiner Existenz angewiesen, irgendwo im Abseits, im
Verachteten, nahe dem Bodensatz des Lebens und doch mitten im
menschlichen Schicksal, nachbarlich von Leiden, Schmerz und Tod.
Niemals bis zum letzten Tage (er starb in einem Arbeiterviertel, in
einer Winkelwohnung des vierten Stocks) ist er dieser Umgürtung
entronnen, alle die sechsundfünfzig schweren Jahre seines Lebens
bleibt er mit Elend, Armut, Krankheit und Entbehrung im Armenhaus
des Lebens. Sein Vater, Militärarzt wie der Schillers, ist adliger
Abstammung, seine Mutter aus Bauernblut: beide Quellen des russischen
Volkstums strömen so befruchtend in seine Existenz zusammen,
strenggläubige Erziehung wendet schon früh seine Sinnlichkeit zur
Ekstase. Dort im Moskauer Armenhaus, in einem engen Verschlag, den
er mit seinem Bruder teilt, hat er die ersten Jahre seines Lebens
verbracht. Die ersten Jahre: man wagt nicht zu sagen: seine Kindheit,
denn dieser Begriff ist irgendwo aus seinem Leben verschollen. Niemals
hat er von ihr gesprochen, und Dostojewskis Schweigen war immer Scham
oder stolze Angst vor fremdem Mitleid. Ein grauer leerer Fleck ist dort
in seiner Biographie, wo sonst bei Dichtern bunte Bilder lächelnd
aufsteigen, zärtliche Erinnerungen und ein süßes Bedauern. Und doch
meint man ihn zu kennen, blickt man tiefer in die brennenden Augen der
Kindergestalten, die er schuf. Wie Koljä muß er gewesen sein, frühreif,
phantasievoll bis zur Halluzination, voll jener flackernden, unsicheren
Glut, etwas Großes zu werden, voll jenes gewaltsamen und knabenhaften
Fanatismus, über sich selbst hinauszuwachsen und »für die ganze
Menschheit zu leiden«. Wie die kleine Njetoscha Neswanowa muß er
kelchvoll gewesen sein mit Liebe und zugleich der hysterischen Angst,
sie zu verraten. Und wie jener Iljutschka, der Sohn des betrunkenen
Hauptmanns, voll Scham über häusliche Kläglichkeiten und den Jammer der
Entbehrungen, aber doch immer bereit, seine Nächsten vor der Welt zu
verteidigen.

Wie er dann, ein Jüngling, aus dieser finsteren Welt vortritt, ist die
Kindheit schon weggelöscht. In die ewige Freistatt aller Unbefriedigten,
das Asyl der Vernachlässigten ist er geflohen, in die bunte und
gefährliche Welt der Bücher. Er hat unendlich viel damals mit seinem
Bruder gemeinsam gelesen, Tag um Tag und Nacht für Nacht -- schon damals
trieb er, der Unersättliche, jede Neigung bis zum Laster empor --, und
diese phantastische Welt entfernt ihn noch mehr von der Wirklichkeit.
Voll stärkster Begeisterung zur Menschheit ist er doch bis ins
Krankhafte menschenscheu und verschlossen, Glut und Eis zugleich, ein
Fanatiker gefährlichster Einsamkeit. Seine Leidenschaft tappt wirr
umher, geht in diesen »Kellerjahren« alle dunklen Wege der Ausschweifung,
aber immer einsam mit Ekel in aller Lust, Schuldgefühl bei jedem Glück
und immer mit verbissenen Lippen. Aus Geldnot, nur um der paar Rubel
willen, geht er zum Militär: auch dort findet er keinen Freund. Ein paar
dumpfe Jünglingsjahre kommen. Wie die Helden aller seiner Bücher lebt er
in einem Winkel ein troglodytisches Dasein, träumend, sinnend, mit allen
geheimen Lastern des Denkens und der Sinne. Sein Ehrgeiz weiß noch
keinen Weg, er lauscht auf sich selbst und bebrütet seine Kraft. Er
spürt sie mit Wollust und Grauen tief unten gären, er liebt sie und
fürchtet sie, er wagt nicht, sich zu rühren, um dies dumpfe Werden nicht
zu zerstören. Ein paar Jahre verharrt er in diesem schwarzen, formlosen
Puppenstand von Einsamkeit und Schweigen, Hypochondrie fällt ihn an,
eine mystische Angst zu sterben, ein Grauen oft vor der Welt, oft vor
sich selbst, ein urmächtiger Schauer vor dem Chaos in der eigenen Brust.
In den Nächten übersetzt er, um seinen verwirrten Finanzen aufzuhelfen
(sein Geld zerfloß, typisch genug, in den gegensätzlichen Neigungen, in
Almosen und Ausschweifungen), Balzacs Eugenie Grandet und Schillers Don
Carlos. Aus dem trüben Dunst dieser Tage ballen sich langsam eigene
Formen, und endlich reift aus diesem vernebelten traumhaften Zustand von
Angst und Ekstase sein erstes dichterisches Werk, der kleine Roman »Arme
Leute«.

1844, mit vierundzwanzig Jahren, hat er diese meisterhafte Menschenstudie
geschrieben, er, der Einsamste, »mit leidenschaftlicher Glut, ja fast
unter Tränen«. Seine tiefste Demütigung, die Armut, hat es gezeugt,
seine höchste Gewalt, die Liebe zum Leid, das unendliche Mitleiden es
gesegnet. Mißtrauisch betrachtet er die beschriebenen Blätter. Er ahnt
darin eine Frage an das Schicksal, die Entscheidung, und nur mühsam
entschließt er sich, Nekrasoff, dem Dichter, das Manuskript zur Prüfung
anzuvertrauen. Zwei Tage vergehen ohne Antwort. Einsam grüblerisch sitzt
er nachts zu Hause, arbeitet, bis die Lampe verqualmt. Plötzlich um vier
Uhr morgens wird heftig an der Klingel gerissen, und Dostojewski, dem
erstaunt Öffnenden, stürzt Nekrasoff in die Arme, umhalst, küßt ihn und
jubelt ihm zu. Er und ein Freund hatten gemeinsam das Manuskript
gelesen, die ganze Nacht gehorcht, gejubelt und geweint, und am Ende
hielt es beide nicht: sie mußten ihn umarmen. Es ist Dostojewskis erste
Lebenssekunde, diese Klingel nachts, die ihn zum Ruhm ruft. Bis in den
hellen Morgen tauschen die Freunde Glück und Ekstase in heißen Worten.
Dann eilt Nekrasoff zu Bjelinski, dem allmächtigen Kritiker Rußlands.
»Ein neuer Gogol ist erstanden«, ruft er schon an der Türe, das
Manuskript wie eine Fahne schwingend. »Bei euch wachsen die Gogols wie
die Pilze«, brummt der Mißtrauische, durch so viel Begeisterung
verärgert. Aber als Dostojewski ihn am nächsten Tag besucht, ist er
verwandelt. »Ja, begreifen Sie denn selbst, was Sie da geschaffen
haben«, schreit er voll Erregung den verwirrten jungen Menschen an.
Grauen überfällt Dostojewski, ein süßer Schauer vor diesem neuen
plötzlichen Ruhm. Wie im Traum geht er die Treppe hinab, an der
Straßenecke bleibt er taumelnd stehen. Zum erstenmal fühlt er und wagt
doch nicht, es zu glauben, daß all dies Dunkle und Gefährliche, das ihm
das Herz auftrieb, ein Gewaltiges ist und vielleicht das »Große«, von
dem seine Kindheit wirr geträumt, die Unsterblichkeit, das Leiden für
die ganze Welt. Erhebung und Zerknirschung, Stolz und Demut schwanken
wirr durch seine Brust, er weiß nicht, welcher Stimme er glauben soll.
Trunken taumelt er über die Straße, und in seine Tränen mischen sich
Glück und Schmerz.

So melodramatisch geschieht Dostojewskis Entdeckung zum Dichter. Auch
hier ahmt die Form seines Lebens die seiner Werke geheimnisvoll nach.
Hier wie dort haben die rohen Konturen etwas von der banalen Romantik
eines Schauerromans, die Schicksalsschläge etwas Kindlich-Primitives,
und nur die innere Größe und Wahrheit reißt sie empor zum Grandiosen.
In Dostojewskis Leben ist oft der Ansatz Melodram, aber immer wird es
zur Tragödie. Es ist ganz auf Spannung gestellt: in einzelne Sekunden,
ohne Übergang, sind die Entscheidungen komprimiert, mit zehn oder
zwanzig solcher Sekunden der Ekstase oder des Niedersturzes sein ganzes
Schicksal fixiert. Epileptische Ausbrüche des Lebens -- eine Sekunde
Ekstase und ohnmächtiger Zusammenbruch -- könnte man sie nennen.
Hinter jeder Ekstase steht schon drohend die graue Dämmerung des
erschlaffenden Gefühls, und aus langem Gewölk ballt sich behutsam
der neue mörderische Lebensblitz. Jeder Aufschwung ist bezahlt
durch Niedersturz und diese eine Sekunde der Begnadung mit vielen
hoffnungslosen Stunden des Robots und der Verzweiflung. Der Ruhm,
dieser funkelnde Reif, den ihm Bjelinski in jener Stunde aufs Haupt
drückt, ist auch gleichzeitig schon der erste Ring einer Fußkette, an
der Dostojewski klirrend sein Leben lang die schwere Kugel der Arbeit
schleppt. Die »Hellen Nächte«, sein erstes Buch, bleibt auch das
letzte, das er als freier Mann einzig um der schöpferischen Freude
willen schuf. Dichten besagt für ihn von nun ab auch: erwerben,
zurückerstatten, abzahlen, denn jedes Werk, das er seither beginnt, ist
vor der ersten Zeile schon mit Vorschuß verpfändet, das noch ungeborene
Kind in die Sklaverei des Gewerbes verkauft. Für immer ist er jetzt in
das Bagno der Literatur gemauert, ein Leben lang gellen die verzweifelten
Schreie des Eingesperrten nach Freiheit, aber erst der Tod bricht seine
Ketten. Noch ahnt der Beginner nicht die Qual in der ersten Lust. Ein
paar Novellen sind rasch vollendet, und schon plant er einen neuen
Roman.

Da hebt das Schicksal warnend den Finger. Er will nicht, sein wachsamer
Dämon, daß ihm das Leben zu leicht werde. Und damit er es erkennen
lerne in allen seinen Tiefen, sendet ihm der Gott, der ihn liebt, seine
Prüfung.

Wieder wie damals in der Nacht gellt die Klingel, Dostojewski öffnet
erstaunt, aber diesmal ists nicht die Stimme des Lebens, ein jubelnder
Freund, Botschaft des Ruhms, sondern Ruf des Todes. Offiziere und
Kosaken dringen in sein Zimmer, der Aufgestörte wird verhaftet, seine
Papiere versiegelt. Vier Monate schmachtet er in einer Zelle der
Sankt-Pauls-Festung, ohne das Verbrechen zu ahnen, dessen man ihn
beschuldigt: Teilnahme an den Diskussionen einiger aufgeregter Freunde,
die man übertrieben die Petraschewskysche Verschwörung genannt hat,
ist sein ganzes Delikt, seine Verhaftung zweifellos ein Mißverständnis.
Dennoch blitzt plötzlich die Verurteilung nieder zur härtesten Strafe,
zum Tode durch Pulver und Blei.

Wieder drängt sich sein Schicksal in eine neue Sekunde, die engste und
reichste seiner Existenz, eine unendliche Sekunde, in der sich Tod und
Leben die Lippen reichen zum brennenden Kuß. Im Morgengrauen wird er
mit neun Gefährten aus dem Gefängnis geholt, ein Sterbehemd ihm
umgeworfen, die Glieder an den Pfahl geschnürt und die Augen verbunden.
Er hört sein Todesurteil lesen und die Trommeln knattern -- sein ganzes
Schicksal ist zusammengepreßt in eine Handvoll Erwartung, unendliche
Verzweiflung und unendliche Lebensgier in ein einziges Molekül Zeit. Da
hebt der Offizier die Hand, winkt mit dem weißen Tuche und verliest die
Begnadigung, das Todesurteil in sibirisches Gefängnis verwandelnd.

In einen Abgrund ohne Namen stürzt er jetzt hinab aus seinem ersten
jungen Ruhm. Vier Jahre lang umgrenzen fünfzehnhundert eichene Pfähle
seinen ganzen Horizont. An ihnen zählt er mit Kerben und mit Tränen Tag
um Tag die viermal dreihundertfünfundsechzig Tage ab. Seine Genossen
sind Verbrecher, Diebe und Mörder, seine Arbeit Alabasterschleifen,
Ziegeltragen, Schneeschaufeln. Die Bibel wird das einzig verstattete
Buch, ein räudiger Hund und ein flügellahmer Adler seine einzigen
Freunde. Vier Jahre weilt er im »Totenhaus«, in der Unterwelt, Schatten
zwischen Schatten, namenlos und vergessen. Als sie ihm dann die Kette
von den wunden Füßen abschmieden und die Pfähle hinter ihm liegen, eine
braune morsche Mauer, ist er ein anderer: seine Gesundheit zerstört,
sein Ruhm zerstäubt, seine Existenz vernichtet. Nur seine Lebenslust
bleibt unversehrt und unversehrbar: heller als je flammt aus dem
schmelzenden Wachs seines zerkneteten Körpers die heiße Flamme der
Ekstase. Ein paar Jahre noch muß er in Sibirien verbleiben, halbfrei
und ohne die Verstattung, eine Zeile zu veröffentlichen. Dort in der
Verbannung, in bitterster Verzweiflung und Einsamkeit geht er jene
seltsame Ehe mit seiner ersten Frau ein, einer kranken und eigenartigen,
die seine mitleidige Liebe unwillig erwidert. Irgendeine dunkle Tragödie
der Aufopferung ist in diesem seinen Entschluß für immer der Neugier und
Ehrfurcht verborgen, nur aus einigen Andeutungen in den »Erniedrigten
und Beleidigten« vermag man den schweigsamen Heroismus dieser
phantastischen Opfertat zu ahnen.

Ein Vergessener, kehrt er nach Petersburg zurück. Seine literarischen
Gönner haben ihn fallen gelassen, seine Freunde sich verloren. Aber
mutig und kraftvoll ringt er sich aus der Welle, die ihn niederwarf,
wieder ans Licht. Seine »Erinnerungen aus dem Totenhause«, diese
unvergängliche Schilderung einer Sträflingszeit, reißen Rußland aus der
Lethargie gleichgültigen Miterlebens. Mit Grauen entdeckt die ganze
Nation, daß ganz atemnah unter der flachen Schicht ihrer ruhigen Welt
eine andere waltet, ein Purgatorium aller Qualen. Bis in den Kreml
empor schlägt die Flamme der Anklage, der Zar schluchzt über dem Buche,
von tausend Lippen klingt Dostojewskis Name. In einem einzigen Jahr ist
sein Ruhm wieder erbaut, höher und dauerhafter als je. Gemeinsam mit
seinem Bruder gründet der Auferstandene eine Zeitschrift, die er selbst
fast allein schreibt, dem Dichter gesellt sich der Prediger, der
Politiker, der »Praeceptor Russiae«. Stürmisch tönt der Widerhall, die
Zeitschrift hat weiteste Verbreitung, ein Roman wird vollendet,
heimtückisch, mit vielen blinzelnden Blicken lockt ihn das Glück.
Dostojewskis Schicksal scheint für immer gesichert.

Aber noch einmal sagt der dunkle Wille, der über seinem Leben waltet:
Es ist zu früh. Denn eine irdische Qual ist ihm noch fremd, die Marter
des Exils und die fressende Angst der täglichen, erbärmlichen
Nahrungssorgen. Sibirien und die Katorga, die grauenhafteste Verzerrung
Rußlands, sie war immerhin noch Heimat gewesen, nun soll er noch die
Sehnsucht des Nomaden nach dem Zelte kennen lernen um der urmächtigen
Liebe zum eigenen Volk willen. Noch einmal muß er zurück ins Namenlose,
noch tiefer hinab in das Dunkel, ehe er der Dichter, der Herold seiner
Nation sein darf. Wieder zuckt ein Blitz nieder, eine Sekunde der
Vernichtung: die Zeitschrift wird verboten. Wieder ist es ein
Mißverständnis und gleich mörderisch wie das erste. Und nun fällt,
Wetterschlag auf Wetterschlag, das Grauen mitten in sein Leben. Seine
Frau stirbt, kurz nach ihr sein Bruder und gleichzeitig sein bester
Freund und Helfer. Zweier Familien Schulden hängen sich bleiern an ihn
und krümmen sein Rückgrat unter unerträglicher Last. Noch wehrt er sich
verzweifelt, arbeitet Tag und Nacht wie im Fieber, schreibt, redigiert,
druckt selbst, nur um Geld zu ersparen, die Ehre, die Existenz zu
retten, aber das Schicksal ist stärker als er. Wie ein Verbrecher
flüchtet er vor seinen Gläubigern eines Nachts hinaus in die Welt.

Nun beginnt jene jahrelange ziellose Wanderung durch das europäische
Exil, jene grauenhafte Abschnürung von Rußland, dem Blutquell seines
Lebens, die ärger seine Seele beengte als die Pfähle der Katorga.
Furchtbar ist es auszudenken, wie der größte russische Dichter, der
Genius seiner Generation, der Bote einer Unendlichkeit, mittellos,
heimatlos, ziellos von Land zu Land irrt. Mit Mühe findet er Herbergen
in kleinen niederen Zimmern, die der Dunst der Armut füllt, der Dämon
der Epilepsie krallt sich an seine Nerven, Schulden, Wechsel,
Verpflichtungen peitschen ihn von Arbeit zu Arbeit, Verlegenheit und
Scham jagt ihn von Stadt zu Stadt. Blinkt ein Strahl Glück in sein
Leben, so schiebt das Schicksal sogleich neue dunkle Wolken vor. Ein
junges Mädchen, seine Stenographin, war seine zweite Frau geworden,
aber das erste Kind, das sie ihm schenkt, rafft die Entkräftung,
die Not des Exils schon nach wenigen Tagen fort. War Sibirien das
Purgatorium, der Vorhof seines Leidens, so ist Frankreich, Deutschland,
Italien sicherlich seine Hölle. Kaum wagt man sich diese tragische
Existenz zu vergegenwärtigen. Aber immer in Dresden, wenn ich durch die
Straßen gehe, vorbei an irgendeinem niederen und schmutzigen Haus, so
faßt michs an, ob er da nicht irgendwo wohnte, zwischen kleinen
sächsischen Krämern und Handlangern, oben im vierten Stock, einsam,
unendlich einsam in dieser fremden Geschäftigkeit. Keiner hat ihn
gekannt in all diesen Jahren. Eine Stunde weit in Naumburg wohnt
Friedrich Nietzsche, der einzige, der ihn verstehen könnte, Richard
Wagner, Hebbel, Flaubert, Gottfried Keller, die Zeitgenossen sind da,
aber er weiß von ihnen nichts und sie nichts von ihm. Wie ein großes
gefährliches Tier, struppig und in abgetragenen Kleidern, schleicht
er aus seiner Arbeitshöhle scheu auf die Straße, immer den gleichen
Weg, in Dresden, in Genf, in Paris: ins Café, in einen Klub, um nur
russische Zeitungen zu lesen. Rußland will er spüren, Heimat, den
bloßen Anblick der cyrillischen Lettern, den flüchtigen Atem des
heimischen Wortes. Manchmal setzt er sich, nicht aus Liebe zur Kunst
(ewig blieb er der byzantinische Barbar, der Bilderstürmer), sondern
um sich zu wärmen, in die Galerie. Er weiß nichts von den Menschen,
die um ihn sind, er haßt sie nur, weil sie nicht Russen sind, haßt die
Deutschen in Deutschland, die Franzosen in Frankreich. Sein Herz horcht
nach Rußland, nur sein Körper vegetiert teilnahmslos in dieser fremden
Welt. Kein Gespräch, keine Begegnung hat irgendeiner der deutschen,
französischen oder italienischen Dichter bezeugt. Nur im Bankhaus
kennen sie ihn, wo er bleich tagtäglich an den Schalter kommt und mit
vor Erregung zitternder Stimme fragt, ob nicht endlich der Wechsel aus
Rußland gekommen sei, die hundert Rubel, für die er sich tausendfach
in Worten vor niedrigen und fremden Menschen in die Knie gestürzt. Schon
lachen die Angestellten über den armen Narren und seine ewige Erwartung.
Auch im Pfandleihhaus ist er steter Gast: alles hat er dort versetzt,
einmal sogar seine letzte Hose, um nur ein Telegramm nach Petersburg
senden zu können, einen jener markerschütternden Schreie, wie sie immer
wieder gellend in seinem Briefe wiederkehren. Das Herz krampft sich
zusammen, liest man die speichelleckerisch, hündisch demütigenden Briefe
dieses Gewaltigen, in denen er um zehn erbetener Rubel willen fünfmal
den Heiland anruft, diese entsetzlichen Briefe, die keuchen, heulen und
winseln für eine erbärmliche Handvoll Geld. Die Nächte hindurch arbeitet
er und schreibt, während seine Frau nebenan in den Wehen stöhnt, während
die Epilepsie schon die Kralle spannt, ihm das Leben aus der Kehle zu
pressen, während die Hausfrau mit der Polizei um ihre Miete droht und
die Hebamme um ihre Bezahlung keift -- schreibt er »Raskolnikoff«, den
»Idioten«, die »Dämonen«, den »Spieler«, diese monumentalen Werke des
neunzehnten Jahrhunderts, diese universellen Gestaltungen unserer ganzen
seelischen Welt. Die Arbeit ist seine Rettung und seine Qual. In ihr
lebt er in Rußland, in der Heimat. In der Ruhe schmachtet er in Europa,
in der Katorga. Immer tiefer stürzt er sich darum in seine Werke hinein.
Sie sind das Elixier, das ihn trunken macht, sie sind das Spiel,
das seine Nerven, die gepeinigten, zu höchster Lust anspannt. Und
zwischendurch zählt er, wie einst die Pfähle des Zuchthauses, gierig
die Tage: Heimkehren können als Bettler, aber nur heimkehren! Rußland,
Rußland, Rußland ist der ewige Schrei seiner Not. Aber noch darf er
nicht zurück, noch muß er der Namenlose bleiben um des Werkes willen,
der Märtyrer all dieser fremden Straßen, der einsame Dulder ohne Schrei
und Klage. Noch muß er beim Gewürm des Lebens wohnen, ehe er aufsteigt
in die große Herrlichkeit des ewigen Ruhms. Schon ist sein Körper
ausgehöhlt von den Entbehrungen, immer häufiger schmettern die
Keulenschläge der Krankheit auf sein Gehirn, daß er tagelang betäubt
liegen bleibt, mit verdunkelten Sinnen, um sich mit erster Kraft
taumelnd wieder an den Schreibtisch zu schleppen. Fünfzig Jahre ist
Dostojewski alt: aber er hat die Qual von Jahrtausenden erlebt.

Da sagt endlich, im letzten, drängendsten Augenblick sein Schicksal: Es
ist genug. Gott wendet Hiob wieder sein Antlitz zu: Mit zweiundfünfzig
Jahren darf Dostojewski wieder zurück nach Rußland. Seine Bücher haben
für ihn geworben, Turgenjeff, Tolstoi sind verschattet. Rußland blickt
nur mehr auf ihn. Das »Tagebuch eines Schriftstellers« macht ihn zum
Herold seines Volkes, und mit letzter Kraft und höchster Kunst vollendet
er sein Testament an die Zukunft der Nation: »Die Karamasoff«. Und nun
entschleiert sein Schicksal endgültig ihm den Sinn und schenkt dem
Geprüften eine Sekunde höchsten Glücks, die ihm weisen soll, daß der
Same seines Lebens in unendlicher Saat aufgegangen ist. Endlich ist in
einem Augenblick Dostojewskis sein Triumph so zusammengedrängt wie einst
seine Qual, einen Blitz schickt ihm sein Gott, aber diesmal nicht einen,
der ihn niederschlägt, sondern einen, der ihn wie seine Propheten mit
feurigem Wagen ins Ewige entrückt. Zum hundertsten Geburtstag Puschkins
sind die großen Dichter Rußlands entboten, die Festrede zu halten.
Turgenjeff, der Westler, der Dichter, der ein Leben lang ihm den Ruhm
usurpierte, hat den Vorrang und spricht unter lauer und freundlicher
Zustimmung. Am nächsten Tag ist das Wort Dostojewski gegeben, und er
faßt es in dämonischer Trunkenheit wie einen Donnerkeil. Mit Flammen
der Ekstase, die aus seiner leisen, heiseren Stimme plötzlich wie
ein Gewitter bricht, verkündet er die heilige Mission der russischen
Allversöhnung, wie hingemäht stürzen die Zuhörer an seine Knie. Der Saal
erbebt unter der Explosion des Jubels, Frauen küssen ihm die Hände,
ein Student bricht ohnmächtig vor ihm zusammen, alle anderen Redner
verzichten auf das Wort. Ins Unendliche wächst die Begeisterung und
feurig entbrennt die Glorie über dem Haupt mit der Dornenkrone.

Dies wollte sein Schicksal noch: in einer glühenden Minute die
Erfüllung seiner Mission, den Triumph des Werkes zeigen. Dann wirft es
-- die reine Frucht ist gerettet -- die verdorrte Hülse seines Körpers
hin. Am 10. Februar 1881 stirbt Dostojewski. Ein Schauer geht durch
Rußland. Ein Augenblick wortloser Trauer. Aber dann flutets heran, aus
den fernsten Städten reisen gleichzeitig und doch ohne Vereinbarung
Deputationen, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Aus allen Winkeln der
tausendhäuserigen Stadt schäumt jetzt -- zu spät! zu spät! -- die
ekstatische Liebe der Menge heran, alles will den Toten sehen, den sie
ein Leben lang vergessen. Die Schmiedestraße, in der er aufgebahrt ist,
braust schwarz von Menschen, finstere Massen schwemmen in schauerndem
Schweigen die Stiegen des Arbeiterhauses empor und füllen die engen
Räume bis hart an den Sarg. Nach ein paar Stunden ist der Blumenschmuck
verschwunden, unter den man ihn gebettet, weil hundert Hände sich
einzelne Blüten als kostbare Reliquie mitnehmen. So stickig wird die
Luft des engen Raumes, daß die Kerzen keine Nahrung mehr haben und
verlöschen. Immer drängender fluten die Massen heran, Welle auf Welle
gegen den Toten. Von ihrem Ansturm schwankt der Sarg und will
hinstürzen: mit den Händen müssen ihn die Witwe, die erschreckten
Kinder aufrecht halten. Der Polizeipräsident will das öffentliche
Leichenbegängnis verbieten, bei dem die Studenten die Ketten des
Sträflings hinter seinem Sarge zu tragen planen, aber er wagt es
schließlich nicht gegen eine Begeisterung, die sonst mit Waffen sich
die Teilnahme erzwungen hätte. Und bei dem Leichenzuge wird plötzlich
Dostojewskis heiliger Traum für eine Stunde zum Geschehnis: das einige
Rußland. Wie in seinem Werk durch das bruderselige Gefühl alle Klassen
und Stände Rußlands, so sind die Hunderttausende hinter dem Sarg durch
ihren Schmerz eine einzige Masse; junge Prinzen, prunkvolle Popen,
Arbeiter, die Studenten, Offiziere, Lakaien und Bettler, sie alle unter
einem wehenden Wald von Fahnen und Bannern klagen mit einer Stimme um
den teuren Toten. Die Kirche, in der man ihn eingesegnet, ist ein
einziger Blumenhain, und vor seinem offenen Grabe vereinigen sich
alle Parteien zu einem Schwur der Liebe und Bewunderung. So schenkt er
seiner Nation mit seiner letzten Stunde einen Augenblick der Versöhnung
und hält mit dämonischer Kraft noch einmal die zur Raserei gespannten
Gegensätze seiner Zeit zusammen. Und wie ein grandioser Salut für den
Toten springt hinter seinem letzten Weg die furchtbare Mine auf: die
Revolution. Drei Wochen später wird der Zar ermordet, der Donner des
Aufstandes rollt, Blitze der Züchtigung durchzucken das Land: Wie
Beethoven stirbt Dostojewski im heiligen Aufruhr der Elemente, im
Gewitter.


                     SINN SEINES SCHICKSALS

                                       Ein Meister bin ich worden
                                       Zu tragen Lust und Leid,
                                       Und meine Lust zu leiden,
                                       Ward mir zur Seligkeit.
                                                 Gottfried Keller

Ein unaufhörlicher Kampf ist zwischen Dostojewski und seinem Schicksal,
eine Art liebevoller Feindschaft. Alle Konflikte spitzt es ihm
schmerzhaft zu, alle Kontraste dehnt es ihm zum Zerreißen schmerzhaft
auseinander; es tut ihm weh, das Leben, weil es ihn liebt, und er liebt
es, weil es ihn so stark faßt, denn im Leiden erkennt dieser Wissendste
die stärkste Möglichkeit des Gefühls. Nie gibt das Schicksal ihn frei,
immer knechtet es ihn aufs neue, um diesen einen gläubigen Menschen
sich zum ewigen Blutzeugen seiner Macht und Herrlichkeit zu erschaffen.
Wie Jakob ringt es mit ihm, die unendliche Nacht seines Lebens bis zum
Morgenrot des Todes und läßt ihn nicht aus der Umkrampfung, ehe er es
nicht gesegnet hat. Und Dostojewski, der »Gottesknecht«, begreift die
Größe dieser Botschaft und findet höchstes Glück darin, der ewig
Bezwungene unendlicher Mächte zu sein. Mit fiebernden Lippen küßt er
sein Kreuz: »Es gibt für den Menschen kein notwendigeres Gefühl, als
sich vor dem Unendlichen beugen zu können.« In die Knie gebrochen unter
der Last seines Schicksals, hebt er fromm die Hände und bezeugt die
heilige Größe des Lebens.

In dieser Leibeigenschaft des Schicksals ist Dostojewski durch Demut
und Erkenntnis der große Überwinder alles Leidens geworden, der
mächtigste Meister und Umwerter seit den Tagen des Testaments. Nur
durch die Gewalttätigkeiten seines Schicksals ward er selbst gewaltig,
und die Hammerschläge, die auf den Amboß seiner Existenz fallen,
schmieden erst seine innere Kraft. Je tiefer sein Körper stürzt, desto
höher schwingt sich sein Glaube, je mehr er als Mensch erleidet, um so
seliger erkennt er den Sinn und die Notwendigkeit des Weltleidens. Amor
fati, die hingegebene Liebe zum Schicksal, die Nietzsche als das
fruchtbarste Gesetz des Lebens preist, läßt ihn in jeder Feindlichkeit
nur die Fülle fühlen, jede Heimsuchung als Heil. Wie Bileam verwandelt
jeder Fluch sich dem Auserwählten zum Segen, jede Erniedrigung in
Erhöhung. In Sibirien, Ketten an den Füßen, verfaßt er einen Hymnus an
den Zaren, der ihn unschuldig zum Tode verurteilt, in uns unverständlicher
Demut küßt er immer wieder die Hand, die ihn züchtigt; wie Lazarus noch
fahl vom Sarge erstehend, ist er immer bereit, Zeugnis für die Schönheit
des Lebens abzulegen, und aus seinem täglichen Sterben, aus seinen
Krämpfen und epileptischen Zuckungen, noch Schaum vor dem Munde, rafft
er sich auf, den Gott zu lobpreisen, der ihm diese Prüfung gesandt.
Alles Leiden zeugt in seiner aufgetanen Seele neue Liebe zum Leiden,
unersättlichen, lechzenden flagellantischen Durst nach neuen
Märtyrerkronen. Schlägt ihn das Schicksal hart, so stöhnt er, blutend
zusammenstürzend, schon nach neuen Schlägen. Jeden Blitz, der ihn
trifft, fängt er auf und verwandelt, was ihn verbrennen sollte, in
seelisches Feuer und schöpferische Ekstase.

Gegen eine solche dämonische Verwandlungskraft des Erlebnisses verliert
das äußere Schicksal gänzlich seine Herrschaft. Was Strafe und Prüfung
scheint, wird dem Wissenden Hilfe, was den Menschen in die Knie stürzen
soll, richtet den Dichter erst eigentlich auf. Was einen Schwächeren
zermalmt hätte, stählt diesem Ekstatiker nur die Kraft. Das Jahrhundert,
das gern mit Sinnbildern spielt, gibt eine Probe solcher Doppelwirkung
gleichen Erlebnisses. Einen anderen Dichter unserer Welt, Oscar Wilde,
streift ähnlicher Blitz. Beide stürzen sie, Schriftsteller von Namen,
Adelige von Rang, eines Tages aus der bürgerlichen Sphäre ihrer Existenz
ins Zuchthaus hinab. Aber der Dichter Wilde wird in dieser Prüfung
zermalmt wie in einem Mörser, der Dichter Dostojewski aus ihr erst
geformt wie Erz in feurigem Tiegel. Denn Wilde, der noch sozial
empfindet, mit dem äußeren Instinkt des Gesellschaftsmenschen, fühlt
sich geschändet durch das bürgerliche Brandmal, und das Furchtbarste an
Erniedrigung wird ihm jenes Bad in Reading Gaol, wo sein gepflegter
Edelmannsleib in das von zehn anderen Sträflingen schon beschmutzte
Wasser hinab muß. Eine ganz privilegierte Klasse, die Kultur der
Gentlemen, schauert in seinem Grauen vor der physischen Vermengung mit
dem Gemeinen. Dostojewski, der neue Mensch über allen Ständen, brennt
dieser Gemeinsamkeit entgegen mit schicksalstrunkener Seele, zum
Purgatorium seines Stolzes wird ihm das gleiche schmutzige Bad. Und
in der demütigen Hilfeleistung eines schmierigen Tartaren erlebt er
ekstatisch das christliche Mysterium der Fußwaschung. Wilde, in dem der
Lord den Menschen überlebt, leidet bei den Sträflingen unter der Furcht,
sie möchten ihn für ihresgleichen nehmen, Dostojewski leidet nur so
lange, als Diebe und Mörder ihm noch die Bruderschaft verweigern,
denn er fühlt jeden Abstand, jede Nicht-Bruderschaft als Makel, als
Unzulänglichkeit seiner Menschlichkeit. Wie Kohle und Diamant gleiches
Element, so ist dies Doppelschicksal eines und doch ein anderes für
diese beiden Dichter. Wilde ist fertig, wie er aus dem Zuchthaus kommt,
Dostojewski beginnt erst, Wilde verbrennt zur wertlosen Schlacke in
gleicher Glut, die Dostojewski zu funkelnder Härte formt. Wilde wird
gezüchtigt wie ein Knecht, weil er sich wehrt, Dostojewski triumphiert
über sein Schicksal durch Liebe zu seinem Schicksal.

Solch ein Umwandler seiner Heimsuchungen ist Dostojewski, solch ein
Umwerter aller Erniedrigungen, daß nur ein härtestes Schicksal ihm
gemäß war. Denn gerade aus den äußeren Gefahren seiner Existenz hat er
die höchsten inneren Sicherheiten gewonnen, seine Qualen werden ihm
Gewinn, seine Laster Steigerungen, seine Hemmungen Auftriebe. Sibirien,
die Katorga, die Epilepsie, die Armut, die Spielwut, die Wollüstigkeit,
all diese Krisen seiner Existenz werden durch eine dämonische
Umwertungskraft fruchtbar in seiner Kunst, denn wie die Menschen ihre
kostbarsten Metalle aus den schwärzesten Tiefen der Bergwerke, zwischen
den Gefahren schlagender Wetter, tief unter der spaziergängerischen
Fläche des gesicherten Lebens, so gewinnt der Künstler seine
flammendsten Wahrheiten, seine letzten Erkenntnisse immer nur aus den
gefährlichsten Abgründen seiner Natur. Künstlerisch gesehen eine
Tragödie, ist das Leben Dostojewskis moralisch eine Errungenschaft
ohnegleichen, weil Triumph des Menschen über sein Schicksal, eine
Umwertung der äußeren Existenz durch die innere Magie.

Ohne Beispiel vor allem der Triumph geistiger Lebenskraft über einen
siechen, gebrestigen Körper. Vergessen wir nicht, daß Dostojewski ein
Kranker war, daß dieses eherne unvergängliche Werk aus geborstenen
hinfälligen Gliedern, aus zuckenden und glühend flackernden Nerven
gewonnen ist. Mitten durch seinen Körper war gefährlichstes Leiden
gepfählt, ewig gegenwärtiges grauenhaftes Sinnbild des Todes: die
Fallsucht. Dostojewski war Epileptiker die ganzen dreißig Jahre seiner
Künstlerschaft. Mitten im Werk, auf der Straße, im Gespräch, selbst im
Schlaf krallt sich plötzlich die Hand des »würgenden Dämons« um seine
Kehle und schmettert ihn so jäh, Schaum vor dem Munde, zu Boden, daß
der überraschte Körper sich im Falle blutig schlägt. Das nervöse Kind
spürt schon in seltsamen Halluzinationen, in grauenhaften psychischen
Anspannungen das Wetterleuchten der Gefahr, zum Blitz wird aber »die
heilige Krankheit« erst im Zuchthaus geschmiedet. Dort preßt sie die
ungeheuere Überspannung der Nerven urmächtig heraus, und wie jedes
Unglück, wie Armut und Entbehrung, bleibt die Körpernot Dostojewski
treu bis in die letzte Stunde. Seltsam aber: niemals lehnt sich der
Gemarterte mit einem Wort gegen die Prüfung auf. Nie klagt er über
sein Gebrechen wie Beethoven über seine Taubheit, Byron über seinen
verkürzten Fuß, Rousseau über sein Blasenleiden, ja nirgends ist
bezeugt, daß er jemals ernstlich dagegen Heilung gesucht habe. Getrost
darf man das Unwahrscheinliche als gewiß nehmen, daß er mit jener
unendlichen Amor fati diese seine Krankheit liebte, als Schicksal
liebte wie jedes seiner Laster und Gefahren. Die Spürsucht des Dichters
bändigt das Leiden des Menschen: Dostojewski wird Herr seines Leidens,
indem er es belauscht. Die äußerste Gefahr seines Lebens, die
Epilepsie, er verwandelt sie in ein höchstes Geheimnis seiner Kunst:
eine nie gekannte geheimnisvolle Schönheit saugt er aus diesen
Zuständen, die wundervoll in den Augenblicken taumelnden Vorgefühls
gesammelte Ichekstase. In ungeheuerlichster Abbreviatur ist hier der
Tod mitten im Leben erlebt und in dieser einen Sekunde vor dem
jedesmaligen Sterben, die stärkste, berauschendste Essenz des Seins,
die pathologisch gesteigerte Anspannung des »Sichselbstempfindens«.
Wie ein magisches Symbol bringt ihm das Schicksal immer wieder seinen
intensivsten Lebensaugenblick, die Minute am Semenowski-Platz ins Blut
zurück, als sollte er niemals den grausigen Kontrast zwischen dem All
und dem Nichts in seinem Gefühl verlernen. Auch hier schnürt immer
Dunkel den Blick, auch hier stürzt wie Wasser aus übervoller, gebeugter
Schale die Seele dem Körper aus, schon zittert sie mit gespannten
Flügeln zu Gott empor, schon spürt sie überirdisches Licht auf den
entkörperten Schwingen, Strahl und Gnade einer anderen Welt, schon
sinkt die Erde, schon tönen die Sphären -- da stürzt ihn der Donner
des Erwachens wieder zerbrochen ins gemeine Leben hinab. Immer wenn
Dostojewski diese eine Minute beschreibt, das traumhafte Glücksgefühl,
das seine unerhörte Scharfsichtigkeit beobachtend beseelt, wird seine
Stimme leidenschaftlich in Rückerinnerung und der Augenblick des
Grauens zum Hymnus: »Ihr gesunden Menschen, ihr ahnt nicht,« predigt er
begeistert, »welches Wonnegefühl den Epileptiker eine Sekunde vor dem
Anfall durchdringt. Mohammed erzählt im Koran, er sei im Paradies
gewesen in der kurzen Frist, da sein Krug umstürzte und das Wasser
ausrann, und alle klugen Narrenköpfe behaupten, er sei ein Lügner und
Betrüger. Das ist aber nicht wahr, er lügt nicht. Sicher war er im
Paradies während eines epileptischen Anfalls, einer Krankheit, an der
er wie ich selber litt. Ich weiß nie, ob diese Wonnesekunde Stunden
dauert, aber glaubt mir, alle Freude des Lebens möchte ich nicht dafür
eintauschen.«

In dieser glühenden Sekunde geht Dostojewskis Blick über das Einzelne
der Welt hinaus und umfaßt in loderndem Allgefühl die Unendlichkeit.
Aber was er verschweigt, ist die bittere Züchtigung, mit der er jede
dieser krampfhaften Annäherungen an Gott bezahlt. Ein grauenhafter
Zusammenbruch klirrt die kristallenen Sekunden in reißende Scherben,
mit zerbrochenen Gliedern und stumpfen Sinnen stürzt er, ein anderer
Ikarus, in die irdische Nacht zurück. Das Gefühl, noch geblendet vom
unendlichen Licht, tastet sich mühsam im Gefängnis des Körpers zurecht,
wie Würmer kriechen die Sinne blind am Boden des Seins, die eben mit
seligen Schwingen Gottes Antlitz umfingen. Dostojewskis Zustand nach
jedem Anfall ist ein fast idiotisches Dämmern, dessen ganzes Grauen
er sich selbst im Fürsten Myschkin mit flagellantischer Deutlichkeit
ausgemalt hat. Er liegt im Bett mit zerschlagenen, oft zerstoßenen
Gliedern, die Zunge gehorcht nicht dem Laut, die Hand nicht der Feder,
mürrisch und niedergeschlagen wehrt er sich gegen alle Gemeinschaft.
Die Helligkeit des Gehirns, das tausend Einzelheiten eben in
harmonischer Verkürzung umfaßte, ist zerschellt, er weiß sich der
nächsten Dinge nicht mehr zu erinnern, der Lebensfaden, der ihn der
Umwelt, der ihn seinem Werk verbindet, ist zerrissen. Einmal, nach
einem Anfall während der Niederschrift der »Dämonen«, fühlt er mit
Grauen, daß ihm nichts mehr bewußt ist von all den Geschehnissen der
eigenen Erfindung, selbst den Namen des Helden hat er vergessen. Erst
mühsam lebt er sich wieder in die Gestaltung hinein, treibt die
erschlaffenden Visionen mit drängendem Willen wieder zu voller Glut
auf, bis -- bis ihn eben ein neuer Anfall hinschmettert. So, das Grauen
der Fallsucht im Rücken, den bitteren Nachgeschmack des Todes auf
den Lippen, gehetzt von Not und Entbehrung, sind seine letzten, die
gewaltigsten Romane entstanden. Auf der Kippe zwischen Tod und
Wahnsinn, nachtwandlerisch sicher, steigt sein Schaffen noch gewaltig
empor, und aus diesem ständigen Sterben erwächst dem ewig Auferstandenen
jene dämonische Kraft, das Leben gierig zu umklammern, um ihm sein
Höchstes an Gewalt und Leidenschaft zu entpressen.

Dieser Krankheit, diesem dämonischen Verhängnis dankt Dostojewskis Genie
so viel (Mereschkowski hat die Antithese blendend durchgeführt) als
Tolstoi seiner Gesundheit. Sie hat ihn emporgeschwungen zu konzentrierten
Gefühlszuständen, wie sie dem normalen Empfinden nicht gegeben sind, hat
ihm geheimnisvollen Blick verliehen in die Unterwelt des Gefühles und
die Zwischenreiche der Seele. Das grandios Doppelgängerische seines
Wesens, dies Wachsein im hitzigsten Traum, das Nachschleichen des
Intellekts in die letzten Labyrinthe des Gefühls, hat ihn befähigt,
zum ersten Male den pathologischen Geschehnissen ihre Metaphysik zu
geben, und voll zu schildern, was sonst das analytische Skalpell der
Wissenschaft nur unvollkommen am abgestorbenen klinischen Fall ertastet.
Wie Odysseus, der Vielgewanderte, Botschaft vom Hades, so bringt er,
der einzig wach Wiederkehrende, peinlichste Beschreibung aus dem Land
der Schatten und Flammen und bezeugt mit seinem Blut und dem kalten
Schauer seiner Lippen die Existenz ungeahnter Zustände zwischen Leben
und Tod. Dank seiner Krankheit gelingt ihm das Höchste der Kunst, das
Stendhal einmal formulierte, »d'inventer des sensations inédites«,
Gefühle, die bei uns alle im Keim vorhanden sind und nur infolge der
kühlen Klimatik unseres Blutes nicht zu voller Reife kommen, in voller
tropischer Entfaltung darzustellen. Die Feinhörigkeit des Kranken läßt
ihn die letzten Worte der Seele erlauschen, ehe sie ins Delirium sinkt,
die gesteigerte Feinfühligkeit mißt mit stärkstem Ausschlag die
zartesten Vibrationen der Sinne, und eine mystische Scharfsichtigkeit in
den Sekunden des Vorgefühls zeugt bei ihm seherische Gabe des zweiten
Gesichts, die Magie des Zusammenhangs. O wunderbare Verwandlung,
fruchtbar in allen Krisen des Herzens! Der Künstler Dostojewski zwingt
sich alle Gefahr in Besitz um, und auch der Mensch gewinnt nur neue
Größe aus neuem Maß. Denn für ihn bedeuten Glück und Leid, die Endpunkte
des Gefühls, eine ungleich gesteigerte Intensität, er mißt nicht mit den
gemeinen Werten des durchschnittlichen Lebens, sondern mit den siedenden
Graden seiner eigenen Phrenesie. Das Maximum an Glück, einem andern ist
es Genuß einer Landschaft, Besitz einer Frau, Gefühl der Harmonie, immer
aber durch irdische Zustände verstatteter Besitz. Bei Dostojewski sind
die Siedepunkte des Empfindens schon im Unerträglichen, im Tödlichen.
Sein Glück ist Spasma, der schäumende Krampf, seine Qual die
Zerschmetterung, der Kollaps, der Zusammenbruch: immer aber blitzartig
komprimierte essentielle Zustände, die im Irdischen keine Dauer haben
können, die solche Hitzegrade erreichen, daß kaum eine Sekunde sie in
ihren Händen halten kann und schmerzhaft sinken lassen muß. Wer im Leben
ständig den Tod erlebt, kennt ein urmächtigeres Grauen als der Normale,
wer die körperlose Schwebe gefühlt, eine höhere Lust als ein Körper, der
nie die harte Erde ließ. Sein Begriff von Glück meint die Verzückung,
sein Begriff von Qual die Vernichtung. Darum hat auch das Glück seiner
Menschen nichts von einer gesteigerten Heiterkeit, sondern es flimmert
und brennt wie Feuer, es zittert von verhaltenen Tränen und schwült von
Gefahr, es ist ein unerträglicher, undauerhafter Zustand, ein Leiden
mehr als ein Genießen. Seine Qual wiederum hat etwas, das den gemeinen
Zustand von dumpfer würgender Angst, von Last und Grauen schon
überbrückt hat, eine eiskalte, beinahe lächelnde Klarheit, eine
teuflische Gier der Bitterkeit, die keine Träne kennt, ein trockenes
kollerndes Lachen und ein dämonisches Grinsen, in dem wiederum beinahe
schon Lust ist. Nie war vor ihm die Gegensätzlichkeit des Gefühles
ähnlich weit aufgerissen, nie die Welt so schmerzhaft weit gespannt als
zwischen diesem neuen Pol der Ekstase und Zernichtung, die er jenseits
aller gewohnten Maße von Glück und Leiden gestellt hat.

In dieser Polarität, die ihm das Schicksal aufgeprägt hat, und nur aus
ihr ist Dostojewski zu verstehen. Er ist das Opfer eines zwiespältigen
Lebens und -- als leidenschaftlicher Bejaher seines Schicksals -- darum
Fanatiker seines Kontrastes. Die Heißglut seines künstlerischen
Temperaments entsteht einzig aus der fortwährenden Reibung dieser
Gegensätze und, statt sie zu vereinen, reißt der Maßlose in ihm den
eingeborenen Zwiespalt immer weiter auseinander zu Himmel und Hölle:
nie verheilt die klaffende Wunde im brennenden geistigen Fieber des
Schaffens. Dostojewski, der Künstler, ist das vollkommenste
Gegensatzprodukt, der größte Dualist der Kunst und vielleicht der
Menschheit. Symbolisch bringt eins seiner Laster diesen Urwillen seiner
Existenz in sichtbare Form: seine krankhafte Liebe zum Glücksspiel. Der
Knabe schon ist leidenschaftlicher Kartenspieler, aber erst in Europa
lernt er den Teufelsspiegel seiner Nerven kennen: das Rouge et Noir,
das Roulett, dieses in seinem primitiven Dualismus so grausam
gefährliche Spiel. Der grüne Tisch in Baden-Baden, die Spielbank in
Monte Carlo sind seine stärksten Ekstasen in Europa: mehr als die
Sixtinische Madonna, die Plastiken Michelangelos, die Landschaften des
Südens, Kunst und Kultur aller Welt hypnotisieren sie seinen Nerv. Denn
hier ist Spannung, Entscheidung -- Schwarz oder Rot, gerad oder
ungerad, Glück oder Vernichtung, Gewinn oder Verlust -- in eine einzige
Sekunde des rollenden Rades gepreßt, Spannung konzentriert zu jener
schmerzhaft-lustvollen Blitzform des springenden Gegensatzes, die
einzig seinem Charakter entspricht. Die sanften Übergänge, die
Ausgleiche, die matten Steigerungen sind seiner fiebrischen Ungeduld
unerträglich, er mag nicht Geld verdienen auf deutsche, auf
»Wurstmacherart«, durch Umsicht, Sparsamkeit und Berechnung, ihn reizt
der Zufall, die Hingabe an das Ganze. Die Form seines äußern Schicksals
ahmt vor dem grünen Tische der Wille in steter Herausforderung
bewußt-unbewußt nach: die Abbreviatur der Entscheidungen in eine
einzige Sekunde, die zur Spitze geschärfte Sensation, die ihre glühende
Nadel tief in den Nerv bohrt, geheimnisvoll ähnlich der Sekunde im
Vorgefühl und Niederbruch des epileptischen Blitzes, und jener
unvergeßlichen Sekunde vom Semenowski-Platz. Wie das Schicksal mit ihm
spielte, so spielt er nun mit dem Schicksal: er reizt den Zufall zu
künstlichen Spannungen, und gerade wenn er gesichert ist, wirft er
immer mit zitternder Hand seine ganze Existenz auf den grünen Tisch.
Dostojewski ist nicht Spieler aus Geldhunger, sondern aus unerhörtem
»unanständigem«, aus Karamasoffschem Lebensdurst, der alles in den
stärksten Essenzen will, aus krankhafter Sehnsucht nach Schwindligkeit,
aus jenem »Turmgefühl«, der Lust, sich über den Abgrund zu beugen. Denn
er liebt den Abgrund, die Tiefe des Lebens, das Dämonische des Zufalls,
er liebt in fanatischer Demut die Mächte, die stärker sind als seine
Eigenmacht, und lockt mit ewiger Reizung immer wieder ihren mörderischen
Blitz auf sein Haupt. Dostojewski provoziert im Glücksspiel das Schicksal:
was er einsetzt, ist nicht Geld und immer sein letztes Geld, sondern
damit seine ganze Existenz; was er ihm abgewinnt, ist äußerster
Nervenrausch, tödliche Schauer, Urangst, das dämonische Weltgefühl.
Selbst im goldenen Gift hat Dostojewski nur neuen Durst nach dem
Göttlichen getrunken.

Selbstverständlich, daß er diese Leidenschaft wie jede andere über
alles Maß hinaus bis zum Äußersten, bis hinein in das Laster trieb.
Haltzumachen, Vorsicht, Bedenklichkeit waren diesem Titanentemperament
fremd: Ȇberall und in allem mein ganzes Leben lang habe ich die Grenze
überschritten.« Und dies, Grenzen zu überschreiten, ist künstlerisch
seine Größe wie menschlich seine Gefahr: er macht nicht halt vor den
Zäunen der bürgerlichen Moral, und niemand weiß genau zu sagen, wie
weit sein Leben die juridische Grenze überschritten hat, wieviel von
den verbrecherischen Instinkten seiner Helden in ihm selbst Tat
geworden ist. Einzelnes ist bezeugt, doch wohl das Geringere nur. Als
Kind hat er betrogen im Kartenspiel, und wie sein tragischer Narr
Marmeladow in »Schuld und Sühne« aus Gier nach Branntwein die Strümpfe
seiner Frau, so stiehlt auch Dostojewski der seinen Geld und ein Kleid
aus dem Schrank, um es im Roulett zu verspielen. Wie weit seine
sinnlichen Ausschweifungen aus den »Kellerjahren« ins Perverse
hinüberzittern, wieviel von den »Spinnen der Wollust« Swidrigailow,
Stawrogin und Fedor Karamasow sich auch bei ihm in sexuellen
Verstörungen auslebte, wagen die Biographen nicht zu erörtern. Seine
Neigungen und Perversitäten, auch sie wurzeln jedenfalls in der
geheimnisvollen Kontrastgier von Verderbtheit und Unschuld, aber es ist
nicht wesenhaft, diese Legenden und Konjekturen (so deutsam sie sind)
zu erörtern. Wichtig ist nur, nicht zu verkennen, daß dem Heiland, dem
Heiligen, dem Aljoscha in Dostojewski-Karamasow der Gegenspieler des
Wollüstlings, des überreizten Sexualmenschen, der schmutzige Fedor im
Blute verschwistert war.

Nur dies ist gewiß: Dostojewski war auch in seiner Sinnlichkeit
Überschreiter des bürgerlichen Maßes und dies nicht im linden Sinn
Goethes, der einst in dem berühmten Worte sagte, daß er die Anlagen zu
allen Schändlichkeiten und Verbrechen lebendig in sich empfände. Denn
Goethes ganze gewaltige Entwicklung bedeutet nichts als eine einzige,
ungeheuere Anstrengung, diese gefährlich wuchernden Keime in sich
auszuroden. Der Olympier will zur Harmonie, seine höchste Sehnsucht
ist Zerstörung alles Gegensatzes, Erkältung des Blutes, die ruhevolle
Schwebe der Kräfte. Er verschneidet die Sinnlichkeit in sich, er rottet
unter stärksten Blutverlusten für seine Kunst alle gefährlichen Keime
allmählich um der Sittlichkeit willen aus, allerdings mit dem Gemeinen
auch viel von seiner Kraft vernichtend. Dostojewski aber, leidenschaftlich
in seinem Dualismus wie in allem, was ihm vom Leben zugefallen, will
nicht empor zur Harmonie, die für ihn Starre ist, er bindet nicht seine
Gegensätze ins Göttlich-Harmonische, sondern spannt sie auseinander zu
Gott und Teufel und hat dazwischen die Welt. Er will unendliches Leben.
Und Leben ist ihm einzig elektrische Entladung zwischen den Polen des
Kontrastes. Was Keim in ihm war, das Gute und das Schlechte, das
Gefährliche und das Fördernde, muß empor, alles wird an seiner tropischen
Leidenschaft Blüte und Frucht. Wild läßt er sein Laster aufwuchern,
ungehemmt seine Instinkte, selbst die verbrecherischen, hinein ins Leben
jagen. Er liebt seine Laster, seine Krankheit, das Spiel, seine Bosheit
und selbst die Wollust, weil sie eine Metaphysik des Fleisches ist,
ein Wille des Genusses ins Unendliche hinein. Goethe will zum
Antikisch-Apollinischen, Dostojewski zum Bacchantischen. Er will nicht
Olympier, nicht gottähnlich, sondern nur starker Mensch sein. Seine
Moral geht nicht auf Klassizität, auf eine Norm, sondern einzig auf
Intensität. Richtig leben heißt für ihn: stark leben und alles leben,
beides zugleich, das Gute und das Schlechte, und beides in seinen
stärksten, berauschendsten Formen. Deshalb hat Dostojewski nie eine Norm
gesucht, sondern immer nur die Fülle. Neben ihm steht Tolstoi inmitten
seines Werkes beunruhigt auf, hält inne, läßt die Kunst und quält sich
ein Leben lang, was gut sei, was böse, ob er richtig lebe oder falsch.
Tolstois Leben ist darum didaktisch, ein Lehrbuch, ein Pamphlet, das
Dostojewskis ein Kunstwerk, eine Tragödie, ein Schicksal. Er handelt
nicht zweckmäßig, nicht bewußt, er prüft sich nicht, er verstärkt sich
nur. Tolstoi klagt sich aller Todsünden an, laut und vor allem Volke.
Dostojewski schweigt, aber sein Schweigen sagt mehr von Sodom, als alle
Anklagen Tolstois. Dostojewski will sich nicht beurteilen, nicht
verändern, nicht verbessern, nur immer eines: sich verstärken. Gegen das
Böse, gegen das Gefährliche seiner Natur leistet er keinen Widerstand,
im Gegenteil, er liebt seine Gefahr als Antrieb, er vergöttert seine
Schuld um der Reue willen, seinen Stolz für die Demut. Kindlich wäre es
darum, das Dämonische seines Wesens zu verschweigen (das dem Göttlichen
so nahe verschwistert ist), ihn moralisch zu »entschuldigen« und für die
kleine Harmonie des bürgerlichen Maßes zu retten, was die elementare
Schönheit des Maßlosen hat.

Wer den Karamasoff schuf, die Gestalt des Studenten aus der »Jugend«,
den Stawrogin der »Dämonen«, den Swidrigailow des »Raskolnikoff«, diese
Fanatiker des Fleisches, diese großen Besessenen der Wollust, diese
wissenden Meister der Unzucht, dem waren im Leben auch die niedrigsten
Formen der Sinnlichkeit persönlich bewußt, denn eine geistige Liebe zur
Ausschweifung ist vonnöten, um diesen Gestalten ihre grausame Realität
zu geben. Seine unvergleichliche Reizbarkeit kannte die Erotik in ihrem
doppelten Sinn, kannte die der fleischlichen Trunkenheit, wo sie in den
Schlamm taumelt und Unzucht wird, bis zu ihren feinsten geistigen
Abstiegen, wo sie zur Bosheit, zum Verbrechen erstarrt, er kannte sie
unter allen ihren Masken, und mit wissendstem Blick lächelt er in ihre
Raserei. Und er kennt sie in ihren edelsten Formen, wo die Liebe
fleischlos wird, Mitleid, seliges Erbarmen, Weltbruderschaft und
stürzende Träne. All diese geheimnisvollen Essenzen waren in ihm und
nicht nur in flüchtigen chemischen Spuren, wie bei jedem wahrhaften
Dichter, sondern in den reinsten, kräftigsten Extrakten. Mit sexueller
Erregung und einer fühlbaren Vibration der Sinne ist jede Ausschweifung
bei ihm geschildert und vieles wohl mit Lust erlebt. Damit meine ich
aber nicht (Blutfremde mögen es so verstehen), daß Dostojewski ein
Wüstling war, einer, der sich freute am Fleischlichen, ein Lebemann.
Er war nur lustsüchtig, wie er qualsüchtig war, ein Leibeigener des
Triebes, Sklave einer herrischen geistigen und körperlichen Neugier,
die ihn mit Ruten ins Gefährliche hineinpeitschte, ins Dornendickicht
der abseitigen Wege. Seine Lust, auch sie ist nicht banales Genießen,
sondern Spiel und Einsatz der ganzen sinnlichen Lebenskraft, das immer
wieder und wieder Empfindenwollen der geheimnisvollen gewitterigen
Schwüle der Epilepsie, Konzentration des Gefühles in ein paar gespannte
Sekunden gefährlicher Vorlust und dann der dumpfe Niedersturz in die
Reue. Er liebt in der Lust nur das Flimmern von Gefahr, das Spiel der
Nerven, dies Naturhafte innerhalb des eigenen Körpers, er sucht in
einer seltsamen Mischung von Bewußtheit und dumpfer Scham in jeder Lust
das Gegenspiel, den Bodensatz der Reue, in der Schändung die Unschuld,
im Verbrechen die Gefahr. Dostojewskis Sinnlichkeit ist ein Labyrinth,
in dem sich alle Wege verschlingen, Gott und das Tier sind nachbarlich
in einem Fleische, und man verstehe in diesem Sinn das Symbol der
Karamasoff, daß Aljoscha, der Engel, der Heilige gerade der Sohn
Fedors, der grausamen »Spinne der Wollust« ist. Wollust zeugt die
Reinheit, das Verbrechen die Größe, Lust das Leiden und das Leiden
wieder Lust. Ewig berühren sich die Gegensätze: zwischen Himmel und
Hölle, Gott und Teufel spannt sich seine Welt.

Grenzenlose, restlose wissend-wehrlose Hingabe an sein zwiespältiges
Schicksal, amor fati ist darum Dostojewskis letztes und einziges
Geheimnis, der schöpferische Feuerquell seiner Ekstase. Eben
weil das Leben ihm so gewaltig zugemessen war, weil es ihm
Unermeßlichkeiten des Gefühles im Leiden auftat, hat er das
grausam-gütige, göttlich-unverständliche, ewig unerlernbare, ewig
mystische Leben geliebt. Denn sein Maß ist die Fülle, die Unendlichkeit.
Nie wollte er seinen Lebensgang milderen Wellenschlags, einzig sich
selbst noch konzentrierter, intensiver, und darum biegt er nie inneren
und äußeren Gefahren aus, sind sie doch Möglichkeiten der Sensation,
Entzündungen des Nervs. Was Keim war in ihm, Keim des Guten und des
Bösen, jede Leidenschaft, jedes Laster hat er aufgesteigert durch
Begeisterung und Selbstekstase, nichts ausgerodet an Gefahr in seinem
wissenden Blut. Restlos gibt sich der Spieler in ihm als Einsatz an das
leidenschaftliche Spiel der Mächte, denn nur im Rollen von Schwarz und
Rot, Tod oder Leben, spürt er taumlig-süß die ganze Wollust seiner
Existenz. »Du hast mich hineingestellt, du wirst mich wieder
hinausführen«, ist mit Goethe seine Antwort an die Natur. »Corriger la
fortune«, das Schicksal zu verbessern, auszubiegen, abzuschwächen, fällt
ihm nicht bei. Nie sucht er Vollendung, Abschluß, Ende in einer Ruhe,
nur Steigerung des Lebens im Leiden, immer höher lizitiert er sein
Gefühl zu neuen Spannungen, denn nicht sich will er gewinnen, sondern
die höchste Summe des Gefühls. Er will nicht wie Goethe zum Kristall
erstarren, kalt mit hundert Flächen das bewegte Chaos spiegelnd, sondern
Flamme bleiben, selbstzerstörend, täglich sich vernichtend, um täglich
sich neu aufzubauen, ewig sich wiederholend, aber immer mit gesteigerter
Kraft und aus gespannterem Gegensatz. Er will nicht das Leben meistern,
sondern das Leben fühlen. Nicht der Herr sein, sondern der fanatische
Leibeigene seines Schicksals. Und nur so, als der »Gottesknecht«, der
Hingebendste aller, konnte er der Wissendste alles Menschlichen werden.

Dostojewski hat die Herrschaft über sein Schicksal an das Schicksal
zurückgegeben: dadurch wird sein Leben gewaltig über die zufällige
Zeit. Er ist der dämonische Mensch, untertan den ewigen Mächten, und in
seiner Gestalt ersteht mitten im klaren dokumentarischen Licht unserer
Epoche noch einmal der schon vergangen geglaubte Dichter mystischer
Zeiten, der Seher, der große Rasende, der Schicksalsmensch. Etwas
Urzeitliches und Heroisches liegt in dieser titanischen Gestalt.
Steigen die anderen literarischen Werke wie beblümte Berge aus den
Niederungen der Zeit, Zeugen einer gestaltenden Urkraft zwar noch, aber
schon gesänftigt in Dauer und zugänglich selbst in ihren Höhen, wo sie
mit weißer Schneekrone ins Unendliche reichen, so scheint die Kuppe
seiner Schöpfung, phantastisch und grau, ein vulkanisches unfruchtbares
Gestein. Aber aus dem Krater seiner zerrissenen Brust reicht Glut bis
zum untersten feurig-flüssigen Kern unserer Welt: hier sind noch
Zusammenhänge mit aller Anfänge Anfang, mit dem Elementaren der
Urkraft, und schaudernd spüren wir in seinem Schicksal und Werk die
geheimnisvolle Tiefe aller Menschlichkeit.


                    DIE MENSCHEN DOSTOJEWSKIS

                              »O glaubet nicht an die Einheit des
                            Menschen.«                Dostojewski

Vulkanisch er selbst, vulkanisch darum seine Helden, denn jeder Mensch
bezeugt im letzten nur den Gott, der ihn erschuf. Sie sind nicht
friedlich eingeordnet in unsere Welt, überall reichen sie mit ihrem
Empfinden bis zu den Urproblemen hinab. Der moderne Nervenmensch in
ihnen ist gepaart dem Wesen des Anfangs, das nichts vom Leben weiß als
seine Leidenschaft, und mit den letzten Erkenntnissen stammeln sie
gleichzeitig die ersten Fragen der Welt. Ihre Formen sind noch nicht
ausgekühlt, ihr Gestein nicht geschichtet, ihre Physiognomien nicht
geglättet. Ewig unvollendet sind sie und darum doppelt lebendig. Denn
der vollendete Mensch ist ja gleichzeitig schon der abgeschlossene,
und bei Dostojewski drängt alles ins Unendliche hinaus. Ihm erscheinen
Menschen nur insolange als Helden und künstlerisch gestaltungswert, als
sie mit sich entzweit sind, problematische Naturen: die Vollendeten,
die Ausgereiften schüttelt er von sich ab wie der Baum seine Frucht.
Dostojewski liebt seine Menschen nur, solange sie leiden, solange sie
die gesteigerte, zwiespältige Form seines eigenen Lebens haben, solange
sie Chaos sind, das sich in Schicksal verwandeln will.

Stellen wir seine Helden vor ein anderes Bild, um sie in ihrer
wundervollen Sonderheit besser zu verstehen. Vergleichen wir. Rufen wir
einen Helden Balzacs als den Typus französischen Romans in uns auf, so
entsteht unbewußt eine Vorstellung von Geradlinigkeit, Umgrenztheit und
innerer Geschlossenheit. Ein Begriff, deutlich wie eine geometrische
Figur und gesetzvoll wie sie. Alle Menschen Balzacs sind aus einer
einzigen, durch die seelische Chemie genau bestimmbaren Substanz
gefertigt. Sie sind Elemente und haben alle wesenhaften Eigenschaften
eines solchen, also auch typische Formen der Reaktion im Moralischen
und Psychischen. Sie sind kaum Menschen mehr, sondern beinahe schon
menschgewordene Eigenschaft, Präzisionsmaschinen einer Leidenschaft.
Für jeden Namen kann man bei Balzac als Korrelat eine Eigenschaft
setzen: Rastignac ist gleich Ehrgeiz, Goriot ist gleich Aufopferung,
Vautrin ist gleich Anarchie. In jedem dieser Menschen hat eine
dominierende Triebkraft alle anderen inneren Kräfte an sich gerissen
und in die Richtung des zentralen Lebenswillens gedrängt. Sie sind
charakterologisch klassifizierbar, diese Helden, denn eine einzige
Feder des Antriebs ist ihrer Seele eingebaut, die sie mit einem
bestimmten Maß von Energie durch die menschliche Gesellschaft treibt:
wie ein Geschoß schleudert sie jeden dieser Jünglinge mitten ins Leben
hinein. Im höchsten Sinn wäre man versucht, sie Automaten zu nennen um
der Präzision willen, mit der sie auf jeden einzelnen Lebensreiz
reagieren, und wirklich wie eine Maschine sind sie in ihrer Kraftleistung
und ihrem Widerstand für den technischen Kenner berechenbar. Ist man in
Balzac einigermaßen eingelesen, so kann man die Antwort des Charakters
auf die Tatsache so berechnen, wie die Parabel eines Steinwurfes aus der
Stärke ihres Schwunges und der Schwere des Steins. Grandet, der Harpagon,
wird in dem Maße geiziger werden, als seine Tochter opferwillig und
heroisch. Und man weiß von Goriot schon zu den Zeiten, da er noch in
leidlichem Wohlstand lebt und seine Perücke sorgfältig gepudert ist,
daß er einmal seine Weste für die Töchter verkaufen wird und das
Silbergeschirr zerbrechen, seinen letzten Besitz. Er muß notwendigerweise
so handeln aus der Einheit seiner Charakteranlage, aus dem Trieb, den
sein irdisches Fleisch nur unvollkommen mit einer menschlichen Form
umkleidet. Die Charaktere Balzacs (und ebenso Victor Hugos, Scotts,
Dickens') sind alle primitiv, einfarbig, zielstrebig. Sie sind
Einheiten und darum meßbar auf der Wagschale der Moral. Vielfarbig und
tausendgestaltig ist in jenem geistigen Kosmos nur der Zufall, dem sie
begegnen. Bei jenen Epikern ist das Erlebnis vielfältig, der Mensch die
Einheit, und der Roman selbst der Kampf um die Macht gegen die irdischen
Mächte. Die Helden Balzacs und des ganzen französischen Romans sind
entweder stärker oder schwächer als der Widerstand der Gesellschaft.
Sie bezwingen das Leben, oder sie kommen unter das Rad.

Der Held des deutschen Romans, als dessen Typus Wilhelm Meister oder
der Grüne Heinrich gedacht sei, ist nicht dermaßen seiner Grundrichtung
gewiß. Er hat viele Stimmen in sich, er ist psychologisch differenziert,
ist seelisch polyphon. Das Gute und das Böse, das Starke und das
Schwache fließen wirr in seiner Seele durcheinander: sein Anbeginn ist
Verwirrung, und die Nebel der Frühe umwölken ihm den reinen Blick. Er
spürt Kräfte in sich, aber noch ungesammelt, noch in Widerstreit, er
ist ohne Harmonie, aber doch beseelt vom Willen zur Einheit. Das
deutsche Genie zielt nun im letzten Sinne immer auf Ordnung. Und
alle Entwicklungsromane entwickeln nichts anderes in diesen deutschen
Helden als die Persönlichkeit. Die Kräfte werden gesammelt, der
Mensch zum deutschen Ideal, zur Tüchtigkeit erhoben, »im Strom der
Welt bildet sich« nach Goethes Wort »der Charakter«. Die vom Leben
durcheinandergeschüttelten Elemente klären sich in der errungenen Ruhe
zum Kristall, aus den Lehrjahren tritt der Meister, und vom letzten
Blatt all dieser Bücher, aus dem Grünen Heinrich, dem Hyperion, dem
Wilhelm Meister, dem Ofterdingen blickt ein klares Auge tatkräftig
in eine klare Welt. Das Leben versöhnt sich dem Ideal; nicht mehr
verschwenderisch wirr, sondern zu höchstem Ziel gespart wirken die nun
geordneten Kräfte. Die Helden Goethes und aller Deutschen verwirklichen
sich zu ihrer höchsten Form, sie werden werktätig und tüchtig: sie
erlernen an Erfahrungen das Leben.

Die Helden Dostojewskis suchen aber und finden überhaupt kein
Verhältnis zum wirklichen Leben: das ist ihre Sonderheit. Sie wollen
gar nicht in die Realität hinein, sondern von allem Anfang an über sie
hinaus, ins Unendliche. Ihr Schicksal existiert für sie nicht in einem
äußern, sondern nur in einem innern Sinn. Ihr Reich ist nicht von
dieser Welt. All die Scheinformen von Werten, Titel, Macht und Geld,
aller sichtbarer Besitz hat für sie Wert weder als Zweck, wie bei
Balzac, noch als Mittel, wie bei den Deutschen. Sie wollen sich in
dieser Welt gar nicht durchsetzen, nicht behaupten und nicht ordnen.
Sie sparen nicht mit sich, sondern sie verschwenden sich, sie rechnen
nicht und bleiben ewig unberechenbar. Das Untüchtige ihres Wesens läßt
sie zuerst als müßige und phantastische Träumer erscheinen, aber ihr
Blick scheint nur leer, weil er nicht nach außen starrt, er zielt mit
Glut und Feuer immer nur zurück in sich selbst, in die eigene Existenz.
Der russische Mensch geht auf das Ganze. Sich selbst wollen sie fühlen
und das Leben, aber nicht dessen Schatten und Spiegelbild, die äußere
Realität, sondern das große mystische Elementare, die kosmische Macht,
das Existenzgefühl. Wo immer man tiefer sich eingräbt ins Werk
Dostojewskis, überall rauscht als unterste Quelle dieser ganz primitive,
fast vegetative fanatische Lebensdrang, das Existenzgefühl, dies ganz
urhafte Gelüst, das nicht Glück will oder Leid, die schon Einzelformen
des Lebens sind, Wertungen, Unterscheidungen, sondern die ganz
einheitliche Lust, wie man sie beim Atmen fühlt. Vom Urquell wollen sie
trinken, nicht aus den Brunnen der Städte und Straßen, die Ewigkeit,
die Unendlichkeit in sich fühlen und die Zeitlichkeit abtun. Sie kennen
nur eine ewige, keine soziale Welt. Sie wollen das Leben weder erlernen,
noch bezwingen, gleichsam nackt wollen sie es bloß fühlen und fühlen als
Ekstase der Existenz.

Weltfremd aus Weltliebe, unwirklich aus Leidenschaft zur Wirklichkeit,
muten Dostojewskis Gestalten vorerst etwas einfältig an. Sie haben
keine Richtung geradeaus, kein sichtbares Ziel: wie Blinde taumeln und
tappen diese doch erwachsenen Menschen in der Welt herum oder wie
Trunkene. Sie bleiben stehen, sehen sich um, fragen alle Fragen und
rennen ohne Antwort weiter ins Unbekannte: ganz frisch scheinen sie in
unsere Welt eingetreten und ihr noch nicht eingewöhnt. Und man versteht
diese Menschen Dostojewskis kaum, bedenkt man nicht, daß sie Russen
sind, Kinder eines Volkes, das aus einer jahrtausendalten barbarischen
Unbewußtheit mitten in unsere europäische Kultur hineingestürzt ist.
Von der alten Kultur, vom Patriarchalischen losgerissen, der neuen noch
nicht vertraut, stehen sie in der Mitte, alle an einem Wegkreuz, und
die Unsicherheit jedes einzelnen ist die eines ganzen Volkes. Wir
Europäer wohnen in unserer alten Tradition wie in einem warmen Haus.
Der Russe des neunzehnten Jahrhunderts, der Dostojewski-Zeit, hat
hinter sich die Holzhütte der barbarischen Vorzeit verbrannt, aber sein
neues Haus noch nicht gebaut. Entwurzelte, Richtungslose sind sie alle.
Sie haben die Kraft ihrer Jugend, die Kraft der Barbaren noch in den
Fäusten, aber der Instinkt ist verwirrt von der Tausendfalt der
Probleme: die Hände voll Stärke, wissen sie nicht, was zuerst anfassen.
Und so greifen sie nach allem und haben nie genug. Man fühle hier die
Tragik jedes einzelnen Dostojewski-Menschen, jedes einzelnen Zwiespalt
und Hemmung aus dem Schicksal des ganzen Volkes. Dieses Rußland um
die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts weiß nicht wohin: nach Westen
oder nach Osten, nach Europa oder nach Asien, nach Petersburg, der
»künstlichen Stadt«, in die Kultur oder zurück auf das Bauerngut, in
die Steppe. Turgenjew stößt sie nach vorne, Tolstoi stößt sie zurück.
Alles ist Unruhe. Der Zarismus steht unvermittelt gegenüber einer
kommunistischen Anarchie, die Rechtgläubigkeit, die altererbte, springt
quer über in einen fanatischen und rasenden Atheismus. Nichts steht
fest, nichts hat seinen Wert, sein Maß in dieser Zeit: die Sterne des
Glaubens brennen nicht mehr über ihren Häuptern und das Gesetz längst
nicht mehr in ihrer Brust. Entwurzelte einer großen Tradition, sind die
Dostojewski-Menschen echte Russen, Übergangsmenschen, das Chaos des
Anfangs im Herzen, beladen mit Hemmungen und Ungewißheiten. Immer sind
sie verschreckt und verschüchtert, immer fühlen sie sich erniedrigt und
beleidigt, und dies alles aus dem einzigen Urgefühl der Nation: daß sie
nicht wissen, wer sie sind. Daß sie nicht wissen, ob sie viel sind oder
wenig. Ewig stehen sie auf der Kippe von Stolz oder Zerknirschung, von
Selbstüberschätzung und Selbstverachtung, ewig blicken sie sich um
nach den anderen, und alle sind sie verzehrt von der rasenden Angst,
lächerlich zu sein. Unablässig schämen sie sich, bald eines abgetragenen
Pelzkragens, bald ihrer ganzen Nation, aber immer schämen, schämen sie
sich, sind sie beunruhigt, verwirrt. Ihr Gefühl, ihr übermächtiges, hat
keinen Halt, keinen Führer, kein einziger hat ein Maß, ein Gesetz, den
Halt einer Tradition, die Krücke einer ererbten Weltanschauung. Alle
sind sie Maßlose und Ratlose in einer unbekannten Welt. Keine Frage ist
für sie beantwortet, kein Weg geebnet. Menschen des Übergangs, Menschen
des Anfangs sind sie alle. Jeder ein Cortes: hinter sich verbrannte
Brücken, vor sich das Unbekannte.

Aber dies ist das Wunderbare: daß, weil sie Menschen eines Anfangs
sind, in jedem einzelnen noch einmal die Welt beginnt. Daß alle Fragen,
die bei uns schon zu kalten Begriffen erstarrt sind, ihnen noch im
Blute glühen. Daß unsere bequemen ausgetretenen Wege mit ihren
moralischen Geländern und ethischen Wegweisern ihnen nicht bekannt
sind: immer und überall gehen sie durchs Dickicht ins Grenzenlose, ins
Unendliche hinein. Nirgends Kirchtürme der Gewißheit, Brücken der
Zuversicht: alles heilige Urwelt. Jeder einzelne fühlt so wie das
Rußland Lenins und Trotzkis, daß er die ganze Weltordnung neu aufbauen
müsse, und das ist der unbeschreibliche Wert des russischen Menschen
für Europa, das in seiner Kultur verkrustete, daß hier eine unverbrauchte
Neugier noch einmal alle Fragen des Lebens an die Unendlichkeit stellt.
Daß, wo wir träge wurden in unserer Bildung, andere noch glühend sind.
Jeder einzelne revidiert bei Dostojewski noch einmal alle Probleme,
rückt sich selbst mit blutenden Händen die Grenzsteine von Gut und
Böse, jeder einzelne schafft sich sein Chaos wieder um zur Welt. Jeder
einzelne ist bei ihm Diener, Verkünder des neuen Christus, Märtyrer und
Verkünder eines dritten Reiches. Noch ist das Chaos des Anfangs in
ihnen, aber auch Dämmern des ersten Tages, der das Licht auf Erden
schuf, und schon Ahnung des sechsten, der den neuen Menschen schafft.
Seine Helden sind Wegebauer einer neuen Welt: der Roman Dostojewskis ist
der Mythos des neuen Menschen und seiner Geburt aus dem Schoße der
russischen Seele.

Ein Mythos und besonders ein nationaler aber will Gläubigkeit. Man
versuche darum nicht, diese Menschen durch das kristallene Medium der
Vernunft zu erfassen. Nur Gefühl, das allein brüderliche, kann sie
verstehen. Dem common sense, dem Engländer, dem Amerikaner, dem
praktischen Menschen müssen die vier Karamasoffs als vier verschiedene
Narren erscheinen, als Tollhaus die ganze tragische Welt Dostojewskis.
Denn was sonst Alpha und Omega der gesunden simplen, irdischen Natur
war und ewig sein wird, scheint ihnen das Gleichgültigste auf Erden,
nämlich: Glücklichsein. Schlagt sie auf, die fünfzigtausend Bücher, die
Europa alljährlich produziert, wovon handeln sie? Vom Glücklichsein.
Ein Weib will einen Mann, oder einer will reich werden, mächtig
und geehrt. Bei Dickens steht am Ende aller Wünsche das liebliche
Cottagehaus im Grünen mit der munteren Kinderschar, bei Balzac das
Schloß mit dem Pairstitel und den Millionen. Und blicken wir um uns,
auf die Straße, in die Butiken, in die niederen Stuben, in die hellen
Säle, was wollen die Menschen dort? Glücklich sein, zufrieden sein,
reich sein, mächtig sein. Wer will es von Dostojewskis Menschen?
Keiner. Nicht ein einziger. Sie wollen nirgends haltmachen: nicht
einmal beim Glück. Sie wollen alle weiter, sie haben alle jenes
»höhere Herz«, das sich quält. Glücklichsein ist ihnen gleichgültig,
Zufriedensein ist ihnen gleichgültig, Reichsein eher verächtlich als
erwünscht. Sie wollen nichts von all dem, diese Seltsamen, was unsere
ganze Menschheit will. Sie haben den uncommon sense. Sie wollen nichts
von dieser Welt.

Genügsame also, Phlegmatiker des Lebens, Indifferente oder Asketen? Im
Gegenteil. Die Menschen Dostojewskis sind, ich sagte es ja, Menschen
eines neuen Anfangs. Sie haben, bei all ihrer Genialität und ihrem
diamantenen Verstand, Kinderherzen, Kindergelüste: sie wollen nicht
dies oder jenes, sondern sie wollen alles. Und alles ganz stark. Das
Gute und das Böse, das Heiße und das Kalte, das Nahe und das Ferne. Sie
sind Übertreiber, sie sind Maßlose. Ich sagte früher: sie wollen nichts
von dieser Welt. Schlecht gesagt. Sie wollen nichts einzelnes davon,
sondern alles, ihr ganzes Gefühl, ihre ganze Tiefe: das Leben.
Vergessen wir nicht, sie sind keine Schwächlinge, keine Lovelace, keine
Hamlets, keine Werthers, keine Rénés -- sie haben harte Muskeln und
einen brutalen Lebenshunger, diese Menschen Dostojewskis, sie sind
Karamasoffs, »Raubtiere des Gelüsts«, begabt mit jener »unanständigen
fanatischen« Lebensgier, die sich an den letzten Tropfen des Kelches
ansaugt, ehe sie ihn zerklirrt. Von allen Dingen suchen sie den
Superlativ, überall die Rotglut des Empfindens, wo die gemeinen
Legierungen des Gelegentlichen zerschmelzen und nichts bleibt als das
feuerflüssige brennende Weltgefühl; wie die Amokläufer rennen sie ins
Leben hinein, von der Begierde in die Reue, von der Reue wieder in die
Tat, vom Verbrechen ins Geständnis, vom Geständnis in die Ekstase, aber
alle Gassen ihres Schicksals lang überallhin bis zum Letzten, bis
sie niederstürzen, Schaum vor den Lippen, oder bis ein anderer sie
niederschlägt. O dieser Lebensdurst jedes einzelnen -- eine ganze junge
Nation, eine neue Menschheit lechzt von ihren Lippen nach Welt, nach
Wissen, nach Wahrheit! Sucht mir doch, zeigt mir einen Menschen im Werk
Dostojewskis, der ruhig atmet, der rastet, der sein Ziel erreicht hat!
Keiner, kein einziger! Alle sind sie in diesem rasenden Wettlauf zur
Höhe und zur Tiefe -- denn nach Aljoschas Formel muß, wer die erste
Stufe betreten hat, bis zur letzten hinstreben -- nach allen Seiten, in
Frost und Brand, greifen sie, gieren sie, diese Unersättlichen, diese
Maßlosen, die ihr Maß nur suchen und finden in der Unendlichkeit. Wie
Pfeile schnellen sie sich in ewiger Spannung von der Sehne ihrer Kraft
in den Himmel hinein, immer in der Richtung des Unerreichbaren, immer
zu Sternen zielend, jeder eine Flamme, ein Feuer der Unruhe. Und Unruhe
ist Qual. Darum sind die Helden Dostojewskis alle die großen Leidenden.
Alle haben sie verzerrte Gesichter, alle leben sie im Fieber, im
Krampf, im Spasma. Ein Hospital von Nervenkranken, hat erschreckt ein
großer Franzose Dostojewskis Welt genannt, und wirklich, für den
ersten, den äußeren Anblick, welch eine trübe, welch eine phantastische
Sphäre! Schankstuben voll Branntweindunst, Gefängniszellen, Winkel in
Vorstadtwohnungen, Bordellgassen und Kneipen, und dort in Rembrandtschem
Dunkel ein Gewühl von ekstatischen Gestalten, der Mörder, das Blut
seines Opfers über den erhobenen Händen, der Trunkenbold im Gelächter
der Zuhörer, das Mädchen mit dem gelben Schein im Zwielicht der Gasse,
das epileptische Kind, bettelnd an den Straßenecken, der siebenfache
Mörder in der Katorga Sibiriens, der Spieler zwischen den Fäusten
der Spießgesellen, Rogoschin, wie ein Tier sich wälzend vor dem
verschlossenen Gemach seiner Frau, der ehrliche Dieb, sterbend im
schmutzigen Bette -- welche Unterwelt des Gefühls, welcher Hades der
Leidenschaften! O, welche tragische Menschheit, welch russischer,
grauer, ewig dämmernder, niederer Himmel über diesen Gestalten, welche
Dunkelheiten des Herzens und der Landschaft! Gelände des Unglücks,
Wüsten der Verzweiflung, Fegefeuer ohne Gnade und Gerechtigkeit.

O wie dunkel, wie verworren, wie fremd, wie feindlich ist sie zuerst,
diese Menschheit, diese russische Welt! Von Leiden scheint sie
überflutet, und diese Erde, wie Iwan Karamasoff so grimmig sagt,
»getränkt von Tränen bis zu ihrem innersten Kern«. Aber so wie
Dostojewskis Antlitz dem ersten Blicke düster, lehmig, gedrückt,
bäurisch und gebeugt anmutet, dann aber der Glanz seiner Stirne,
aufstrahlend über die Versunkenheit, das Irdische seiner Züge, seine
Tiefe durch Glauben erleuchtet, so durchstrahlt auch im Werke das
geistige Licht die dumpfe Materie. Aus Leiden scheint Dostojewskis Welt
einzig gestaltet. Und doch ist nur scheinbar die Summe alles Leidens
in seinen Menschen größer als in jedem anderen Werke. Denn, Kinder
Dostojewskis, sind diese Menschen alle Verwandler ihres Gefühles, sie
treiben es und übertreiben es von Kontrast zu Kontrast. Und das Leiden,
ihr eigenes Leiden ist oft ihre tiefste Seligkeit. In ihnen wirkt
etwas, das der Wollust, der Lust am Glück, tiefsinnig die Wehlust,
die Lust an der Qual gegenüberstellt: ihr Leiden ist zugleich ihr
Glücklichsein, sie halten es fest mit den Zähnen, wärmen es an ihrer
Brust, sie schmeicheln es mit den Händen, sie lieben es mit ihrer
ganzen Seele. Und sie wären nur dann die Unglücklichsten, liebten sie
es nicht. Dieser Tausch, der rasende frenetische Tausch des Gefühls
im Innern, diese ewige Umwertung des Dostojewskischen Menschen kann
vielleicht nur ein Beispiel ganz klarmachen, und ich wähle eines, das
in tausend Formen wiederkehrt: das Leid, das einem Menschen infolge
einer Erniedrigung, einer tatsächlichen oder eingebildeten, widerfährt.
Irgendeiner, ein schlichtes sensitives Geschöpf, gleichgültig ob ein
kleiner Beamter oder eine Generalstochter, wird beleidigt. In seinem
Stolz gekränkt durch ein Wort, eine Nichtigkeit vielleicht. Diese erste
Kränkung ist der Primäraffekt, der den ganzen Organismus in Aufruhr
bringt. Der Mensch leidet. Er ist gekränkt, liegt auf der Lauer,
spannt sich an und wartet -- auf eine neue Kränkung. Und die zweite
Kränkung kommt: also eigentlich Häufung des Leidens. Aber seltsam,
sie tut nicht mehr weh. Zwar der Gekränkte klagt, er schreit, aber
seine Klage ist schon nicht mehr wahr: denn er liebt diese Kränkung.
In diesem »fortwährend-sich-seiner-Schmach-bewußt-sein ist ein
unnatürlicher heimlicher Genuß«. Für den beleidigten Stolz hat er einen
neuen: den des Märtyrers. Und jetzt entsteht in ihm der Durst nach
neuer Kränkung, nach mehr und mehr. Er beginnt zu provozieren, er
übertreibt, er fordert heraus: das Leiden ist jetzt seine Sehnsucht,
seine Gier, seine Lust: man hat ihn erniedrigt, so will er (der Mensch
ohne Maß) ganz niedrig sein. Und er gibt es nicht her mehr, sein
Leiden, mit verbissenen Zähnen hält er es fest: jetzt wird der
Hilfreiche sein Feind, der Liebende. So schlägt die kleine Nelly dem
Arzt dreimal das Pulver ins Gesicht, so stößt Raskolnikoff Sonja
zurück, so beißt Iljutschka den frommen Aljoscha in die Finger -- aus
Liebe, aus fanatischer Liebe zu ihrem Leiden. Und alle, alle lieben sie
das Leiden, weil sie darin das Leben, das geliebte, so stark spüren,
weil sie wissen, »man kann auf dieser Erde nur durch Leiden wahrhaft
lieben«, und das wollen sie, das vor allem! Es ist ihr stärkster
Existenzbeweis: statt des cogito, ergo sum, »ich denke, also bin ich«,
setzen sie das: »ich leide, also bin ich«. Und dieses »Ich bin« ist bei
Dostojewski und allen seinen Menschen der höchste Triumph des Lebens.
Der Superlativ des Weltgefühls. Im Kerker jauchzt Dimitry die große
Hymne an dieses »Ich bin«, an die Wollust des Seins, und eben um dieser
Liebe zum Leben willen ist ihnen allen das Leiden notwendig. Nur
scheinbar, sagte ich, ist darum die Summe des Leidens größer bei
Dostojewski als bei allen anderen Dichtern. Denn wenn es eine Welt
gibt, wo nichts unerbittlich ist, aus jedem Abgrund noch ein Weg führt,
aus jedem Unglück noch Ekstase, aus jeder Verzweiflung noch Hoffnung,
so ist es die seine. Was ist dies Werk anderes als eine Reihe von
modernen Apostelgeschichten, Legenden der Erlösung vom Leiden durch
den Geist? Der Bekehrungen zum Lebensglauben, der Kalvariengänge zur
Erkenntnis? Der Wege nach Damaskus mitten durch unsere Welt?

In Dostojewskis Werk ringt der Mensch um seine letzte Wahrheit, um sein
allmenschliches Ich. Ob ein Mord geschieht oder eine Frau in Liebe
brennt, alles das ist Nebensache, Außensache, Kulisse. Sein Roman
spielt im innersten Menschen, im Seelenraum, in der geistigen Welt: die
Zufälle, die Ereignisse, die Schickungen des äußeren Lebens sind nur
Stichworte, Maschinerie, der szenische Rahmen. Die Tragödie ist immer
innen. Und sie heißt immer: die Überwindung der Hemmungen, der Kampf um
die Wahrheit. Jeder seiner Helden fragt sich, wie Rußland selbst: Wer
bin ich? Was bin ich wert? Er sucht sich oder vielmehr den Superlativ
seines Wesens im Haltlosen, im Raumlosen, im Zeitlosen. Er will sich
erkennen als der Mensch, der er vor Gott ist, und er will sich
bekennen. Denn jedem Dostojewski-Menschen ist die Wahrheit mehr als
Bedürfnis, sie ist ihm ein Exzeß, eine Wollust und das Geständnis seine
heiligste Lust, sein Spasma. Im Geständnis bricht bei Dostojewski der
innere Mensch, der Allmensch; der Gottesmensch durch den irdischen, die
Wahrheit -- und dies ist Gott -- durch seine fleischliche Existenz. O
die Wollust, mit der sie darum mit dem Geständnis spielen, wie sie es
verbergen und -- Raskolnikoff vor Porphyri Petrowitsch -- immer
heimlich zeigen und wieder verstecken, und dann wieder, wie sie sich
überschreien, mehr Wahrheit bekennen als wahr ist, wie sie in rasendem
Exhibitionismus ihre Blößen aufdecken, wie sie Laster und Tugend
vermengen -- hier, nur hier, im Ringen um das wahre Ich sind die
eigentlichen Spannungen Dostojewskis. Hier, ganz innen ist der große
Kampf seiner Menschen, die mächtigen Epopöen des Herzens: hier, wo das
Russische, das Fremdartige in ihnen sich aufzehrt, hier wird auch ihre
Tragödie erst ganz zur unseren, zur allmenschlichen. Da wird das
typische Schicksal seiner Menschen deutsam und erschütternd, und
restlos erleben wir im Mysterium der Selbstgeburt den Mythos Dostojewskis
vom neuen Menschen, vom Allmenschen in jedem Irdischen.

Das Mysterium der Selbstgeburt: so nenne ich in der Kosmogonie, in der
Weltschöpfung Dostojewskis die Erschaffung des neuen Menschen. Und ich
möchte versuchen, die Geschichte aller Naturen Dostojewskis in einer
zu erzählen, als seinen Mythos; denn alle diese verschiedenartigen,
hundertfach variierten Menschen haben im letzten nur ein einheitliches
Schicksal. Alle leben sie Varianten eines einzigen Erlebnisses: der
Menschwerdung. Vergessen wir nicht: die Kunst Dostojewskis zielt immer
auf den Mittelpunkt und in der Psychologie darum auf den Menschen im
Menschen, den absoluten, den abstrakten Menschen, der weit hinter allen
kulturellen Schichtungen liegt. Für die meisten Künstler sind die
Schichtungen noch wesentlich, die Vorgänge der Durchschnittsromane
spielen in sozialer, gesellschaftlicher, erotischer und konventioneller
Sphäre und bleiben in diesen Schichten stecken. Dostojewski stößt, weil
er zentral gerichtet ist, immer durch zum Allmenschen im Menschen, zu
jenem Ich, das allgemeinsam ist. Immer bildet er diesen letzten
Menschen und immer in verwandter Form seine Sendung. Gleich ist all
seiner Helden Anbeginn. Als echte Russen beunruhigt sie ihre eigene
Lebenskraft. In den Jahren der Pubertät, des sinnlichen und geistigen
Erwachens, verdüstert sich ihnen der heitere und freie Sinn. Dumpf
fühlen sie in sich eine Kraft gären, ein geheimnisvolles Drängen;
irgend etwas Eingesperrtes, Wachsendes und Quellendes will aus ihrem
noch unmündigen Kleid. Eine geheimnisvolle Schwangerschaft (es ist der
neue Mensch, der in ihnen keimt, aber sie wissen es nicht) macht sie
träumerisch. Sie sitzen »einsam bis zur Verwilderung« in dumpfen
Stuben, in einsamen Winkeln und denken, denken Tag und Nacht über sich
nach. Jahrelang brüten sie oft dahin in dieser seltsamen Ataraxie, sie
verharren in einem fast buddhistischen Zustand der Seelenstarre, sie
beugen sich tief über den eigenen Leib, um wie die Frauen in den frühen
Monaten das Klopfen dieses zweiten Herzens in sich zu erlauschen.
Alle geheimnisvollen Zustände der Befruchteten überkommen sie: die
hysterische Angst vor dem Tode, das Grauen vor dem Leben, krankhafte,
grausame Begierden, sinnliche perverse Gelüste.

Endlich wissen sie, daß sie befruchtet sind von irgendeiner neuen Idee:
und nun suchen sie das Geheimnis zu entdecken. Sie schärfen ihre
Gedanken, bis sie spitz und schneidend werden wie chirurgische
Instrumente, sie sezieren ihren Zustand, sie zerreden ihre Bedrückung
in fanatischen Gesprächen, sie zerdenken ihr Gehirn, bis es sich in
Wahnsinn zu entflammen droht, sie schmieden alle ihre Gedanken in eine
einzige fixe Idee, die sie bis ans letzte Ende denken, in eine
gefährliche Spitze, die sich in ihrer Hand gegen sie selbst wendet.
Kirillow, Schatow, Raskolnikoff, Iwan Karamasoff, alle diese Einsamen
haben »ihre« Idee, die des Nihilismus, die des Altruismus, die des
napoleonischen Weltwahns, und alle haben sie ausgebrütet in dieser
krankhaften Einsamkeit. Sie wollen eine Waffe gegen den neuen Menschen,
der aus ihnen werden soll, denn ihr Stolz will sich gegen ihn wehren,
ihn unterdrücken. Andere wieder suchen dieses geheimnisvolle Keimen,
diesen drängenden gärenden Lebensschmerz mit aufgepeitschten Sinnen zu
überrasen. Um im Bilde zu bleiben: sie suchen die Frucht abzutreiben,
wie Frauen von Treppen springen oder durch Tanz und Gifte sich vom
Unerwünschten zu befreien trachten. Sie toben, um dies leise Quellen in
sich zu übertönen, sie zerstören manchmal sich selbst, nur um diesen
Keim zu zerstören. Sie verlieren sich mit Absicht in diesen Jahren. Sie
trinken, sie spielen, sie werden ausschweifend und all dies (sie wären
sonst nicht Menschen Dostojewskis) fanatisch bis zur letzten Raserei.
Schmerz treibt sie in ihre Laster, nicht eine lässige Begierde. Es ist
nicht ein Trinken um Zufriedenheit und Schlaf, nicht das deutsche
Trinken um die Bettschwere, sondern um den Rausch, um das Vergessen
ihres Wahnes, ein Spielen nicht um Geld, sondern um die Zeit zu
ermorden, ein Ausschweifen nicht um der Lust willen, sondern um in der
Übertreibung ihr wahres Maß zu verlieren. Sie wollen wissen, wer sie
sind; darum suchen sie die Grenze. Den äußersten Rand ihres Ich wollen
sie in Überhitzung und Abkaltung kennen und vor allem die eigene Tiefe.
Sie glühen in diesen Lüsten bis zum Gott empor, sie sinken bis zum Tier
hinab, aber immer, um den Menschen in sich zu fixieren. Oder sie
versuchen, da sie sich nicht kennen, sich wenigstens zu beweisen. Kolja
wirft sich unter einen Eisenbahnzug, um sich zu »beweisen«, daß er
mutig ist, Raskolnikoff ermordet die alte Frau, um seine Napoleonstheorie
zu beweisen, sie tun alle mehr, als sie eigentlich wollen, nur um an die
äußerste Grenze des Gefühls zu gelangen. Um ihre eigene Tiefe zu kennen,
das Maß ihrer Menschheit, werfen sie sich in jeden Abgrund hinab: von
der Sinnlichkeit stürzen sie in die Ausschweifung, von der Ausschweifung
in die Grausamkeit und hinab bis zu ihrem untersten Ende, der kalten,
der seelenlosen, der berechneten Bosheit, aber all dies aus einer
verwandelten Liebe, einer Gier nach Erkenntnis des eigenen Wesens, einer
verwandelten Art von religiösem Wahn. Aus weiser Wachheit stürzen sie
sich in die Kreisel des Irrsinns, ihre geistige Neugier wird zur
Perversion der Sinne, ihre Verbrechen glühen bis zur Kinderschändung und
zum Mord, aber typisch ist für sie alle die gesteigerte Unlust in der
gesteigerten Lust: bis in den untersten Abgrund ihrer Raserei zuckt die
Flamme des Bewußtseins der fanatischen Reue nach.

Aber je weiter hinein sie in der Übertreibung der Sinnlichkeit und des
Denkens rasen, um so näher sind sie schon sich selbst, und je mehr sie
sich vernichten wollen, um so eher sind sie zurückgewonnen. Ihre
traurigen Bacchanale sind nur Zuckungen, ihre Verbrechen die Krämpfe
der Selbstgeburt. Ihre Selbstzerstörung zerstört nur die Schale um den
innern Menschen und ist Selbstrettung im höchsten Sinn. Je mehr sie
sich anspannen, je mehr sie sich krümmen und winden, um so mehr
befördern sie unbewußt die Geburt. Denn nur im brennendsten Schmerz
kann das neue Wesen zur Welt kommen. Ein Ungeheures, ein Fremdes muß
dazu treten, muß sie befreien, irgendeine Macht Wehmutter werden in
ihrer schwersten Stunde, die Güte muß ihnen helfen, die allmenschliche
Liebe. Eine äußerste Tat, ein Verbrechen, das all ihre Sinne zur
Verzweiflung spannt, ist nötig, um die Reinheit zu gebären, und hier
wie im Leben ist jede Geburt umschattet von tödlichster Gefahr. Die
beiden äußersten Kräfte des menschlichen Vermögens, Tod und Leben, sind
in dieser Sekunde innig verschränkt.

Dies also ist der menschliche Mythos Dostojewskis, daß das gemischte,
dumpfe, vielfältige Ich jedes einzelnen befruchtet ist mit dem Keim des
wahren Menschen (jenes Urmenschen der mittelalterlichen Weltanschauung,
der frei ist von der Erbsünde), des elementaren, rein göttlichen
Wesens. Diesen urewigen Menschen aus dem vergänglichen Leib des
Kulturmenschen in uns zum Austrag zu bringen, ist höchste Aufgabe und
die wahrste irdische Pflicht. Befruchtet ist jeder, denn keinen
verstößt das Leben, jeden Irdischen hat es in einer seligen Sekunde mit
Liebe empfangen, doch nicht jeder gebiert seine Frucht. Bei manchem
verfault sie in einer seelischen Lässigkeit, sie stirbt ab und
vergiftet ihn. Andere wieder sterben in den Wehen, und nur das Kind,
die Idee, kommt zur Welt. Kirillow ist einer, der sich ermorden muß, um
ganz wahr bleiben zu können, Schatow ist einer, der ermordet wird, um
seine Wahrheit zu bezeugen.

Aber die anderen, die heroischen Helden Dostojewskis, der Staretz
Sossima, Raskolnikoff, Stepanowitsch, Rogoschin, Dmitrij Karamasoff
vernichten ihr soziales Ich, den dunklen Raupenstand ihres inneren
Wesens, um wie Schmetterlinge sich der abgestorbenen Form zu
entschwingen, das Beflügelte aus dem Kriechenden, das Erhobene aus dem
Erdschweren. Die Umkrustung der seelischen Hemmung zerbricht, die
Seele, die Allmenschenseele strömt aus, strömt ins Unendliche zurück.
Alles Persönliche, alles Individuelle ist in ihnen abgetan, daher auch
die absolute Ähnlichkeit all dieser Gestalten im Augenblick ihrer
Vollendung. Aljoscha ist kaum von dem Staretz, Karamasoff kaum von
Raskolnikoff zu unterscheiden, wie sie aus ihren Verbrechen mit
tränengebadetem Gesicht in das Licht des neuen Lebens treten. Am Ende
aller Romane Dostojewskis ist die Katharsis der griechischen Tragödie,
die große Entsühnung: über den verdonnernden Gewittern und der
gereinigten Atmosphäre flammt die erhabene Glorie des Regenbogens, das
höchste russische Symbol der Versöhnung.

Erst wenn die Helden Dostojewskis den reinen Menschen aus sich geboren
haben, treten sie in die wahre Gemeinschaft. Bei Balzac triumphiert der
Held, wenn er die Gesellschaft bezwingt, bei Dickens, wenn er sich in
die soziale Schicht, in das bürgerliche Leben, in die Familie, in den
Beruf friedlich einordnet. Die Gemeinschaft, die der Held Dostojewskis
anstrebt, ist keine soziale mehr, sondern schon eine religiöse, er
sucht nicht Gesellschaft, sondern Weltbruderschaft. Und dies
Hingelangen zur eigenen Innerlichkeit und damit zur mystischen
Gemeinsamkeit ist die einzige Hierarchie in seinem Werk. Einzig von
diesem letzten Menschen handeln alle seine Romane: das Soziale, die
Zwischenstadien der Gesellschaft mit ihrem halben Stolz und schiefen
Haß sind überwunden, der Ichmensch ist zum Allmenschen geworden, seine
Einsamkeit, seine Absonderung, die nur Stolz war, hat jeder zerbrochen,
und in unendlicher Demut und glühender Liebe grüßt sein Herz den
Bruder, den reinen Menschen in jedem anderen. Dieser letzte, gereinigte
Mensch kennt keine Unterschiede mehr, kein soziales Standesbewußtsein:
nackt, wie im Paradies, hat seine Seele keine Scham, keinen Stolz,
keinen Haß und keine Verachtung. Verbrecher und Dirne, Mörder und
Heilige, Fürsten und Trunkenbolde, sie halten Zwiesprache in jenem
untersten und eigentlichsten Ich ihres Lebens, alle Schichten fließen
ineinander, Herz zu Herz, Seele in Seele. Nur das entscheidet bei
Dostojewski: wie weit einer wahr wird und zum wirklichen Menschentum
gelangt. Wie diese Entsühnung, diese Selbstgewinnung zustande kam, ist
gleichgültig. Keine Ausschweifung beschmutzt, kein Verbrechen verdirbt,
es gibt kein Tribunal vor Gott als das Gewissen. Recht und Unrecht, Gut
und Böse, diese Worte zerfließen im Leidensfeuer. Wer wahr ist im
Willen, der ist entsühnt: denn wer wahr ist, ist demütig. Wer erkannt
hat, versteht alles und weiß, »daß die Gesetze des Menschengeistes noch
so unerforscht und geheimnisvoll sind, daß es weder gründliche Ärzte
noch endgültige Richter gibt«, weiß, es ist keiner schuldig oder alle,
keiner darf keines Richter sein, jeder nur Bruder dem Bruder. Im
Kosmos Dostojewskis gibt es darum keine endgültig Verworfenen, keine
»Bösewichter«, keine Hölle und keinen untersten Kreis wie bei Dante, aus
denen selbst Christus die Verurteilten nicht zu erheben vermag. Er kennt
nur Purgatorien und weiß, daß der irrhandelnde Mensch noch immer mehr
der seelisch Glühende ist und näher dem wahren Menschen als die Stolzen,
die Kalten und Korrekten, in deren Brust er erfroren ist zu bürgerlicher
Gesetzmäßigkeit. Seine wahren Menschen haben gelitten, haben darum
Ehrfurcht vor dem Leiden und damit das letzte Geheimnis der Erde. Wer
leidet, ist durch Mitleid schon Bruder, und allen seinen Menschen ist,
weil sie nur auf den innern Menschen, auf den Bruder blicken, das Grauen
fremd. Sie besitzen die erhabene Fähigkeit, die er einmal die typisch
russische nennt, nicht lange hassen zu können, und darum eine
unbegrenzte Verstehensfähigkeit alles Irdischen. Noch hadern sie oft
mitsammen, noch quälen sie sich, weil sie sich ihrer eigenen Liebe
schämen, weil sie die eigene Demut für eine Schwäche halten und noch
nicht ahnen, daß sie die furchtbarste Kraft der Menschheit ist. Aber
ihre innere Stimme weiß immer schon um die Wahrheit. Während sie
einander mit Worten schmähen und befeinden, blicken die inneren Augen
sich längst selig verstehend an, Lippe küßt leidvoll den Brudermund. Der
nackte, der ewige Mensch in ihnen hat sich erkannt, und dies Mysterium
der Allversöhnung in der brüderlichen Erkennung, dieser orphische Gesang
der Seelen, ist die lyrische Musik in Dostojewskis dunklem Werk.


                    REALISMUS UND PHANTASTIK

                                »Was kann für mich phantastischer
                              sein als die Wirklichkeit?«
                                                      Dostojewski

Wahrheit, die unmittelbare Wirklichkeit seines begrenzten Seins sucht
der Mensch bei Dostojewski: Wahrheit, die unmittelbare Wesenheit des
Alls der Künstler Dostojewski selbst. Er ist Realist und ist es so
konsequent -- immer geht er ja an die äußerste Grenze, wo die Formen
ihrem Widerspiel: dem Gegensatz so geheimnisvoll ähnlich werden --, daß
diese Wirklichkeit jeden an das Mittelmaß gewöhnten täglichen Blick
phantastisch anmutet. »Ich liebe den Realismus bis dorthin, wo er an
das Phantastische reicht,« sagt er selbst, »denn was kann für mich
phantastischer und unerwarteter, ja unwahrscheinlicher sein als die
Wirklichkeit?« Die Wahrheit -- dies entdeckt man bei keinem Künstler
zwingender als bei Dostojewski -- steht nicht hinter, sondern gleichsam
gegen die Wahrscheinlichkeit. Sie ist über die Sehschärfe des gemeinen,
des psychologisch unbewehrten Blickes hinaus: wie im Wassertropfen das
unbewaffnete Auge noch klare spiegelnde Einheit, das Mikroskop aber
wimmelnde Vielfalt, myriadenhaftes Chaos von Infusorien schaut, eine
Welt, wo jene nur eine Einzelform bemerkten, so erkennt der Künstler
mit dem höheren Realismus Wahrheiten, die widersinnig scheinen gegen
die offenbaren.

Diese höhere oder diese tiefere Wahrheit zu erkennen, die gleichsam
tief unter der Haut der Dinge liegt und schon nah dem Herzpunkt aller
Existenz, war Dostojewskis Leidenschaft. Er will gleichzeitig den
Menschen als Einheit und Vielfalt, im Freiblick und im geschärften
gleich wahr erkennen, und darum ist sein visionärer und wissender
Realismus, der die Kraft eines Mikroskops und die Leuchtstärke des
Hellsehers vereinigt, wie durch eine Mauer geschieden von dem, was die
Franzosen als erste Wirklichkeitskunst und Naturalismus benannten. Denn
obzwar Dostojewski in seinen Analysen exakter ist und weiter geht als
irgendeiner von denen, die sich »konsequente Naturalisten« nannten
(womit sie meinten, daß sie bis an das Ende gingen, während Dostojewski
jedes Ende noch überschreitet), ist seine Psychologie gleichsam aus
einer anderen Sphäre des schöpferischen Geistes. Der exakte Naturalismus
von anno Zola kommt geradeswegs aus der Wissenschaft her. Umgestülpte
Experimentalpsychologie, ist er irgendwie an Fleiß und Schweiß, an
Studium und Erfahrung gebunden: Flaubert destilliert in der Retorte
seines Gehirns 2000 Bücher aus der Pariser Nationalbibliothek, um das
Naturkolorit der »Tentation« oder der »Salambo« zu finden, Zola läuft
drei Monate, ehe er seine Romane schreibt, wie ein Reporter mit dem
Notizbuch auf die Börse, in die Warenhäuser und Ateliers, um Modelle
abzuzeichnen, Tatsachen einzufangen. Die Wirklichkeit ist diesen
Weltabzeichnern eine kalte, berechenbare, offenliegende Substanz. Sie
sehen alle Dinge mit dem wachen, wägenden, tarierenden Blick des
Photographen. Sie sammeln, ordnen, mischen und destillieren, kühle
Wissenschaftler der Kunst, die einzelnen Elemente des Lebens, und
betreiben eine Art Chemie der Bindung und Lösung.

Dostojewskis künstlerischer Beobachtungsprozeß dagegen ist vom
Dämonischen nicht abzulösen. Ist Wissenschaft jenen anderen Kunst, so
ist die seine Schwarzkunst. Er treibt nicht experimentelle Chemie,
sondern Alchimie der Wirklichkeit, nicht Astronomie, sondern Astrologie
der Seele. Er ist kein kühler Forscher. Als heißer Halluzinant starrt
er nieder in die Tiefe des Lebens wie in einen dämonischen Angsttraum.
Aber doch, seine sprunghafte Vision ist vollkommener als jener
geordnete Betrachtung. Er sammelt nicht, und hat doch alles. Er
berechnet nicht, und doch ist sein Maß unfehlbar. Seine Diagnosen, die
hellseherischen, fassen im Fieber der Erscheinung den geheimnisvollen
Ursprung, ohne den Puls der Dinge nur anzutasten. Etwas von hellsichtiger
Traumerkenntnis ist in seinem Wissen, etwas von Magie in seiner Kunst.
Zauberisch durchdringt er die Rinde des Lebens und saugt von seinen
süßen, quellenden Säften. Immer kommt sein Blick nur aus der eigenen
Tiefe seines freilich allwissenden Seins, aus dem Mark und Nerv
dämonischer Natur und übertrifft doch an Wahrhaftigkeit, an Realität,
alle Realisten. Mystisch erkennt er alles von innen. Ein Zeichen bloß,
und schon faßt er faustisch die Welt. Ein Blick, und schon wird er zum
Bild. Er braucht nicht viel zu zeichnen, nicht die Kärrnerarbeit des
Details zu leisten. Er zeichnet mit Magie. Man besinne einmal die großen
Gestalten dieses Realisten: Raskolnikoff, Aljoscha und Fedor Karamasoff,
Myschkin, sie, die uns allen so ungeheuer gegenständlich sind im Gefühl.
Wo schildert er sie? In drei Zeilen vielleicht umreißt er ihr Antlitz
mit einer Art zeichnerischer Kurzschrift. Er sagt von ihnen gleichsam
nur ein Merkwort, umschreibt ihr Gesicht mit vier oder fünf schlichten
Sätzen, und das ist alles. Das Alter, der Beruf, der Stand, die
Kleidung, die Haarfarbe, die Physiognomik, all das scheinbar so
Wesentliche der Personenbeschreibung ist in bloß stenographischer Kürze
festgehalten. Und doch, wie glüht jede dieser Figuren uns im Blut. Man
vergleiche nun mit diesem magischen Realismus die exakte Schilderung
eines konsequenten Naturalisten. Zola nimmt, ehe er zu arbeiten anfängt,
ein ganzes Bordereau von seinen Figuren auf, er verfaßt (man kann sie
heute noch nachsehen, diese merkwürdigen Dokumente) einen regelrechten
Steckbrief, einen Passierschein für jeden Menschen, der die Schwelle des
Romanes übertritt. Er mißt ihn ab, wieviel Zentimeter er hoch ist,
notiert, wieviel Zähne ihm fehlen, er zählt die Warzen auf seinen
Wangen, streicht den Bart nach, ob er rauh oder zart ist, greift jeden
Pickel auf der Haut ab, tastet die Fingernägel nach, er weiß die Stimme,
den Atem seiner Menschen, er verfolgt ihr Blut, Erbschaft und Belastung,
schlägt sich ihr Konto auf in der Bank, um ihre Einnahmen zu wissen. Er
mißt, was man von außen überhaupt nur messen kann. Und doch, kaum daß
die Gestalten in Bewegung geraten, verflüchtigt sich die Einheit der
Vision, das künstliche Mosaik zerbricht in seine tausend Scherben. Es
bleibt ein seelisches Ungefähr, kein lebendiger Mensch.

Hier ist nun der Fehler jener Kunst: die französischen Naturalisten
schildern exakt die Menschen zu Anfang des Romanes in ihrer Ruhe,
gleichsam in ihrem seelischen Schlaf: ihre Bilder sind darum bloß von
der nutzlosen Treue der Totenmasken. Man sieht den Toten, die Figur,
nicht das Leben darin. Aber genau wo jener Naturalismus endet, beginnt
erst der unheimlich große Naturalismus Dostojewskis. Seine Menschen
werden plastisch erst in der Erregtheit, in der Leidenschaft, im
gesteigerten Zustand. Während jene versuchen, die Seele durch den
Körper darzustellen, bildet er den Körper durch die Seele: erst wenn
die Leidenschaft seinen Menschen die Züge strafft und spannt, das Auge
sich feuchtet im Gefühl, wenn die Maske der bürgerlichen Stille, die
Seelenstarre, von ihnen abfällt, wird sein Bild erst bildhaft. Erst
wenn seine Menschen glühen, tritt Dostojewski, der Visionär, an das
Werk, sie zu formen.

Absichtlich sind also und nicht zufällig bei Dostojewski die anfänglich
dunkeln und ein wenig schattenhaften Konturen der ersten Schilderung.
In seine Romane tritt man ein wie in ein dunkles Zimmer. Man sieht
nur Umrisse, hört undeutliche Stimmen, ohne recht zu fühlen, wem sie
zugehören. Erst allmählich gewöhnt sich, schärft sich das Auge: wie auf
den Rembrandtschen Gemälden beginnt aus einer tiefen Dämmerung das
feine seelische Fluidum in den Menschen zu strahlen. Erst wenn sie in
die Leidenschaft geraten, treten sie ins Licht. Bei Dostojewski muß der
Mensch immer erst glühen, um sichtbar zu werden, seine Nerven müssen
gespannt sein bis zum Zerreißen, um zu klingen: »Um eine Seele formt
sich bei ihm nur der Körper, um eine Leidenschaft nur das Bild.« Jetzt
erst, da sie gleichsam angeheizt sind, da in ihnen der merkwürdige
Fieberzustand beginnt -- alle Menschen Dostojewskis sind ja wandelnde
Fieberzustände --, setzt sein dämonischer Realismus ein, beginnt jene
zauberische Jagd nach den Einzelheiten, jetzt erst schleicht er der
kleinsten Bewegung nach, gräbt das Lächeln aus, kriecht in die krummen
Fuchslöcher der verworrenen Gefühle, folgt jeder Fußspur ihrer Gedanken
bis in das Schattenreich des Unbewußten. Jede Bewegung zeichnet sich
plastisch ab, jeder Gedanke wird kristallen klar, und je mehr sich die
gejagten Seelen ins Dramatische verstricken, um so mehr glühen sie von
innen, um so durchsichtiger wird ihr Wesen. Gerade die unfaßbarsten,
die jenseitigsten Zustände, die krankhaften, die hypnotischen, die
ekstatischen, die epileptischen haben bei Dostojewski die Präzision
einer klinischen Diagnose, den klaren Umriß einer geometrischen Figur.
Nicht die feinste Nuance ist dann verschwommen, nicht die kleinste
Schwingung entgleitet dann seinen geschärften Sinnen: gerade dort,
wo die anderen Künstler versagen und, gleichsam geblendet vom
übernatürlichen Licht, den Blick wegwenden, dort wird Dostojewskis
Realismus am sichtbarsten. Und diese Augenblicke, wo der Mensch die
äußersten Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht, wo Wissen schon fast
Wahnwitz wird und Leidenschaft zum Verbrechen, sie sind auch die
unvergeßlichsten Visionen seines Werkes. Rufen wir uns das Bild
Raskolnikoffs in die Seele, so sehen wir ihn nicht als schlendernde
Gestalt auf der Straße oder im Zimmer, als einen jungen Mediziner von
25 Jahren, als Menschen von diesen und jenen äußeren Eigenheiten,
sondern in uns ersteht die dramatische Vision seiner irren
Leidenschaft, wie er mit zitternden Händen, kalten Schweiß auf der
Stirn, gleichsam mit geschlossenen Augen die Treppe des Hauses
hinaufschleicht, wo er gemordet hat, und in geheimnisvoller Trance, um
seine Qualen noch einmal sinnlich zu genießen, die blecherne Klingel an
der Türe der Ermordeten zieht. Wir sehen Dimitri Karamasoff in den
Purgatorien des Verhörs, schäumend vor Wut, schäumend vor Leidenschaft,
den Tisch zertrümmern mit seinen rasenden Fäusten. Immer sehen wir bei
Dostojewski den Menschen erst bildhaft im Zustande der höchsten
Erregtheit, am Endpunkte seines Gefühles. So wie Leonardo in seinen
grandiosen Karikaturen die Groteske des Körpers, die Abnormität des
Physischen zeichnet, dort, wo sie über die gemeine Form hervordrängt,
so faßt Dostojewski die Seele des Menschen im Augenblick des
Überschwangs, gleichsam in den Sekunden, wo sich der Mensch über den
äußersten Rand seiner Möglichkeiten vorbeugt. Der mittlere Zustand
ist ihm wie jeder Ausgleich, wie jede Harmonie, verhaßt: nur das
Außerordentliche, das Unsichtbare, das Dämonische reizt seine
künstlerische Leidenschaft zum äußersten Realismus. Er ist der
unvergleichlichste Plastiker des Ungewöhnlichen, der größte Anatom der
reizbaren und kranken Seele, den die Kunst je gekannt.

Das Instrument nun, das geheimnisvolle, mit dem Dostojewski in diese
Tiefe seiner Menschen dringt, ist das Wort. Goethe schildert alles
durch den Blick. Er ist -- Wagner hat diese Unterscheidung am
glücklichsten ausgesprochen -- Augenmensch, Dostojewski Ohrenmensch. Er
muß seine Menschen erst sprechen hören, sprechen lassen, damit wir sie
als sichtbar empfinden, und ganz deutlich hat Mereschkowski in seiner
genialen Analyse der beiden russischen Epiker ausgedrückt: bei Tolstoi
hören wir, weil wir sehen, bei Dostojewski sehen wir, weil wir hören.
Seine Menschen sind Schatten und Lemuren, solange sie nicht sprechen.
Erst das Wort ist der feuchte Tau, der ihre Seele befruchtet: sie tun
im Gespräch, wie phantastische Blüten, ihr Inneres auf, zeigen ihre
Farben, die Pollen ihrer Fruchtbarkeit. In der Diskussion erhitzen sie
sich, wachen sie auf aus ihrem Seelenschlaf, und erst gegen den wachen,
gegen den leidenschaftlichen Menschen, ich sagte es ja schon, wendet
sich Dostojewskis künstlerische Leidenschaft. Er lockt ihnen das Wort
aus der Seele, um dann die Seele selbst zu fassen. Jene dämonische
psychologische Scharfsichtigkeit des Details bei Dostojewski ist
im letzten nichts anderes als eine unerhörte Feinhörigkeit. Die
Weltliteratur kennt keine vollkommeneren plastischen Gebilde als die
Aussprüche der Menschen Dostojewskis. Die Wortstellung ist symbolisch,
die Sprachbildung charakteristisch, nichts zufällig, jede abgebrochene
Silbe, jeder weggesprungene Ton die Notwendigkeit selbst. Jede Pause,
jede Wiederholung, jedes Atemholen, jedes Stottern ist wesentlich,
denn immer hört man unter dem ausgesprochenen Wort das unterdrückte
Mitschwingen: mit dem Gespräch flutet die ganze heimliche Erregung der
Seele auf. Man weiß aus der Rede bei Dostojewski nicht nur, was jeder
einzelne Mensch sagt und sagen will, sondern auch, was er verschweigt.
Und dieser geniale Realismus des seelischen Hörens geht restlos mit in
die geheimnisvollsten Zustände des Wortes, in die sumpfige, stockende
Fläche des trunkenen Irreredens, in die beflügelte, keuchende Ekstase
des epileptischen Anfalles, in das Dickicht der lügnerischen
Verworrenheit. Aus dem Dampf der erhitzten Rede ersteht die Seele, aus
der Seele kristallisiert sich allmählich der Körper. Ohne daß man es
selbst weiß, beginnt durch den Dunst des Wortes, durch den Haschischrauch
der Rede bei Dostojewski die Vision des Sprechenden im körperlichen Bild
aufzusteigen. Was die anderen durch fleißiges Mosaik erzielen, durch
die Farbe, Zeichnung und Beschränkung, dieses Bild ballt sich bei ihm
visionär aus dem Wort. Man träumt bei Dostojewski hellseherisch seine
Menschen, sobald man sie sprechen hört. Dostojewski kann es sich
ersparen, sie graphisch zu zeichnen, denn wir selber werden in der
Hypnose ihrer Rede zum Visionär. Ich will ein Beispiel wählen. Im
»Idioten« geht der alte General, der pathologische Lügner, neben dem
Fürsten Myschkin her und erzählt ihm Erinnerungen. Er beginnt zu lügen,
gleitet immer tiefer in seine Lügen hinein und verstrickt sich gänzlich
darin. Er redet, redet, redet. Über Seiten flutet seine Lüge hin.

Mit keiner Zeile nun schildert Dostojewski seine Haltung, aber aus
seinem Wort, aus seinem Stolpern, seinem Stocken, seiner nervösen Hast
spüre ich, wie er neben Myschkin hergeht, wie er sich verstrickt hat,
sehe, wie er aufschaut, von der Seite den Fürsten vorsichtig anblickt,
ob er ihm nicht mißtraue, wie er stehen bleibt, hoffend, der Fürst
würde ihn unterbrechen. Ich sehe, wie der Schweiß auf seiner Stirne
perlt, sehe, wie sein Gesicht, das zuerst begeisterte, nun sich immer
mehr verkrampft in Angst, sehe, wie er in sich zusammenkriecht, ein
Hund, der fürchtet, Prügel zu bekommen, und ich sehe den Fürsten, der
selbst alle Anstrengungen des Lügners in sich fühlt und niederhält.
Wo ist dies beschrieben bei Dostojewski? Nirgends, nicht in einer
einzelnen Zeile, und doch sehe ich jedes Fältchen in seinem Gesicht mit
leidenschaftlicher Klarheit. Irgendwo ist da das Arkanum des Visionären
in der Rede, im Tonfall, in der Stellung der Silben, und so magisch
ist diese Kunst der Wiedergabe, daß selbst durch die unumgängliche
Verdickung, die ja jede Übertragung in eine fremde Sprache darstellt,
noch die ganze Seele seiner Menschen schwingt. Der ganze Charakter
des Menschen ist bei Dostojewski im Rhythmus seiner Rede. Und diese
Komprimierung gelingt seiner genialen Intuition oft in einer winzigen
Einzelheit, durch eine Silbe fast. Wenn Fedor Karamasoff auf das
Briefkuvert der Gruschenka zu ihrem Namen schreibt: »Mein Küchelchen!«
so sieht man das Antlitz des senilen Wüstlings, sieht die schlechten
Zähne, durch die ihm der Speichel über die schmunzelnden Lippen rinnt.
Und wenn in den »Erinnerungen aus dem Totenhaus« der sadistische Major
beim Stockprügeln »Hie-be, Hie-be« schreit, so ist in diesem winzigen
Apostroph sein ganzer Charakter, ein brennendes Bild, ein Keuchen von
Gier, flackernde Augen, das gerötete Gesicht, das Keuchen der bösen
Lust. Diese kleinen realistischen Details bei Dostojewski, die sich wie
spitze Angelhaken ins Gefühl einbohren und widerstandslos mit ins
fremde Erleben reißen, sie sind sein erlesenstes Kunstmittel und
gleichzeitig der höchste Triumph des intuitiven Realismus über den
programmatischen Naturalismus. Dostojewski verschwendet durchaus nicht
diese seine Details. Er setzt ein einziges ein, wo andere Hunderte
applizieren, aber er spart sich diese kleinen grausamen Einzelheiten
der letzten Wahrheit mit einem wollüstigen Raffinement auf, er überrascht
mit ihnen gerade im Augenblick der höchsten Ekstase, wo man sie am
wenigsten erwartet. Immer gießt er mit unerbittlicher Hand den
Galletropfen Irdischkeit in den Kelch der Ekstase, denn für ihn heißt
wirklich und wahrhaftig sein: antiromantisch und antisentimental wirken.
Dostojewski ist, nie darf man es eine Sekunde vergessen, nicht nur der
Gefangene seines Kontrastes, sondern auch sein Prediger. Es ist seine
Leidenschaft, auch in der Kunst die beiden Enden des Lebens, die
grausamste, nackteste, kälteste, schmutzigste Wirklichkeit mit den
edelsten sublimsten Träumen zu gatten. Er will, daß wir in allem
Irdischen das Göttliche fühlen, im Realistischen das Phantastische, im
Erhabenen das Gemeine, im lautern Geist das bittere Salz der Erde und
immer all dies gleichzeitig. Er will, daß wir zwiespältig genießen, wie
er selber zwiespältig empfindet, er will auch hier keine Harmonie,
keinen Ausgleich. Immer in allen seinen Werken sind diese schneidenden
Zerrissenheiten, wo er mit satanischem Detail die sublimsten Sekunden
aufsprengt und dem Heiligsten des Lebens seine Banalität entgegengrinst.
Ich erinnere nur an die Tragödie des »Idioten«, um einen solchen
Augenblick des Kontrastes sichtlich zu machen. Rogoschin hat Nastassja
Philipowna ermordet, nun sucht er Myschkin, den Bruder. Er findet ihn
auf der Straße, er rührt ihn an mit der Hand. Sie brauchen nicht
miteinander zu sprechen, furchtbare Ahnung weiß alles voraus. Sie
gehen über die Straße in das Haus, wo die Ermordete liegt: irgendein
ungeheueres Vorempfinden von Größe und Feierlichkeit hebt sich in einem
auf, alle Sphären erklingen. Die beiden Feinde eines Lebens, Brüder im
Gefühl, schreiten in das Zimmer zur Ermordeten. Nastassja Philipowna
liegt tot. Man spürt, diese Menschen werden sich nun das Letzte sagen,
wie sie einander gegenüberstehen an der Leiche der Frau, die sie
entzweite. Und dann kommt das Gespräch -- und alle Himmel sind
zerschlagen von der nackten, brutalen, brennend irdischen, teuflisch
geistigen Sachlichkeit. Sie sprechen davon als erstes, als einziges --
ob die Leiche riechen wird. Und Rogoschin erzählt mit schneidender
Sachlichkeit, er habe »gute amerikanische Wachsleinwand« gekauft und
»vier Fläschchen einer desinfizierenden Flüssigkeit« darauf gegossen.

Solche Details sind es, die ich bei Dostojewski die sadistischen, die
satanischen nenne, weil hier der Realismus mehr ist als ein bloßer
Kunstgriff der Technik, weil er eine metaphysische Rache ist, Ausbruch
geheimnisvoller Wollust, einer gewaltsamen ironischen Enttäuschung.
»Vier Fläschchen!« das Mathematische der Zahl, »amerikanische
Wachsleinwand!« die grauenhafte Präzision des Details -- das sind
absichtliche Zerstörungen der seelischen Harmonie, grausame Revolten
gegen die Einheit des Gefühls. Hier wird Wahrheit über sich selbst
hinaus schon Exzeß, Laster und Marter, und diese entsetzlichen
Niederstürze aus den Himmeln des Gefühls in die schmutzigen Steinbrüche
der Wirklichkeit würden Dostojewski unerträglich machen, wäre die
gleiche Gewalt des Kontrastes nicht auch im Gegenspiel vorhanden,
entstünde nicht immer wieder auch die ungeheuere seelische Ekstase bei
ihm aus den schmutzigsten Winkeln der Wirklichkeit. Man erinnere sich
nur an die Welt Dostojewskis. Sie ist, rein sozial genommen, ein
Wurmloch, knapp an der Gosse des Lebens, immer in den dumpfesten
Sphären der Armut und Kläglichkeit. Mit absichtlicher Bewußtheit (er
ist der Antiromantiker, wie er der Antisentimentale ist) stellt er
seine Szenerie mitten in die Banalität hinein. Schmutzige Kellerlokale,
stinkend von Bier und Schnaps, dumpfe enge »Särge« von Zimmern, nur
abgetrennt durch Holzwände, nie Salons, Hotels, Paläste, Kontore.
Und mit Absicht sind seine Menschen äußerlich »uninteressant«,
schwindsüchtige Frauen, verlumpte Studenten, Nichtstuer, Verschwender,
Tagediebe, niemals aber soziale Persönlichkeiten. Aber gerade in diese
dumpfe Alltäglichkeit stellt er die größten Tragödien der Zeit. Aus dem
Erbärmlichen steigt das Erhabene phantastisch auf. Nichts wirkt
dämonischer bei ihm als dieser Kontrast äußerer Nüchternheit und
seelischer Trunkenheit, räumlicher Armut und Verschwendung des Herzens.
In Schnapszimmern verkünden trunkene Menschen die Wiederkehr des
Dritten Reiches, sein Heiliger Aljoscha erzählt die tiefste Legende,
während ihm eine Dirne auf dem Schoße sitzt, in Bordellen und
Spielhäusern entfalten sich die Apostolate der Güte und Verkündung,
und die erhabenste Szene Raskolnikoffs, wo der Mörder sich niederwirft
und vor dem Leiden der ganzen Menschheit sich beugt, sie spielt im
Zimmerwinkel einer Dirne bei dem stotternden Schneider Kapernaumow.

Ein ununterbrochener Wechselstrom, kalt oder warm, warm oder kalt, aber
nie lau, ganz im Sinne der Apokalypse, durchblutet seine Leidenschaft
das Leben. In einer Phrenesie von Kontrasten stellt der Dichter hier
das Erhabene mit dem Banalen stetig Stirn an Stirn, von Unruhe zu
Unruhe wirft er die aufgereizten Gefühle. Nie gerät man darum bei den
Romanen Dostojewskis zur Rast, nie in die sanfte, musikalische Rhythmik
des Lesens, nie läßt er einem ruhig den Atem rinnen, immer zuckt man
wie unter elektrischen Schlägen beunruhigt auf, heißer, brennender,
unruhiger, neugieriger von Seite zu Seite. Solange wir in seiner
dichterischen Gewalt sind, werden wir ihm selber ähnlich. Wie in sich
selbst, dem ewigen Dualisten, dem Menschen am Kreuzholz des Zwiespalts,
wie in seinen Gestalten, zersprengt Dostojewski auch dem Leser die
Einheit des Gefühls.

Das ist ewige Eigenart seiner Darstellung, und es wäre Herabwürdigung,
sie mit dem Handwerkerwort »Technik« zu benennen, denn diese Kunst
kommt mitten aus Dostojewskis Persönlichkeit, aus dem brennenden
Urzwiespalt seines Gefühls. Seine Welt ist offenbare Wahrheit und
Geheimnis, zugleich hellseherische Erkenntnis der Wirklichkeit, Wissen
und Magie. Das Unfaßbarste scheint verständlich, das Verständlichste
unfaßbar: beugen sich die Probleme schon über den äußersten Rand der
Möglichkeiten hinaus, so stürzen sie doch nie ins Gestaltlose hinab.
Mit unerhörtester Kraft klemmen die visionär-realen Einzelheiten seine
Figuren im Irdischen fest, nie gleitet eine ins Schattenhafte hinüber.
Wen Dostojewski schildert, dessen Wesen hat er visionär inne bis in die
letzte Wirrnis seiner Nervenstränge, er tastet ihm nach bis in den
Meeresgrund seiner Träume, durchfiebert seine Leidenschaft, durchsiebt
seine Trunkenheit, nie geht ein Atemzug seelischer Substanz bei ihm
verloren, wird ein Gedanke übersprungen. Glied um Glied hämmert er die
psychologische Kette um die in der Kunst Gefangenen. Es gibt bei ihm
keine psychologischen Irrtümer, keine Verknotung, die sein visionärer
Intellekt, seine hellseherische Logik nicht durchleuchtete. Nie einen
Fehler, einen Verstoß gegen die innere Wahrheit. Welche Kunstbauten des
Geistes und der Vision sind da errichtet, unübersehbar und unzerstörbar!
Der dialektische Zweikampf des Porphyri Petrowitsch mit Raskolnikoff,
die Architektonik der Verbrechen, das logische Labyrinth der Karamasoff,
das ist geistige Architektonik ohnegleichen, fehllos wie Mathematik und
doch berauschend wie Musik. Sie vereinigen die höchsten Kräfte des
Geistes mit den seherischen der Seele zu einer neuen, tieferen Wahrheit,
als die Menschheit sie vordem gekannt.

Aber doch -- die Frage muß beantwortet sein --, warum wirkt trotz
solcher dämonischer Vollendung der Wahrheit Dostojewskis Werk, dieses
irdischeste aller Werke, doch wiederum unirdisch auf uns, als Welt
zwar, aber doch wie eine neben oder über unserer Welt, nur nicht sie
selbst? Warum stehen wir innen mit unserem tiefsten Gefühl und sind
doch irgendwie befremdet? Warum brennt in allen seinen Romanen etwas
wie künstliches Licht und ist Raum darinnen wie aus Halluzinationen
und Träumen? Warum empfinden wir ihn, diesen äußersten Realisten,
immer mehr als Somnambulen denn als Darsteller der Wirklichkeit? Warum
ist trotz aller Feurigkeit, ja Überhitztheit doch nicht fruchtbare
Sonnenwärme darin, sondern irgendein schmerzhaftes Nordlicht, blutig
und blendend, warum empfinden wir diese wahrste Darstellung des Lebens,
die je gegeben wurde, doch irgendwie nicht als das Leben selbst? Als
unser eigenes Leben?

Ich versuche zu antworten. Das höchste Maß der Vergleiche ist für
Dostojewski nicht zu gering, und am Erhabensten, am Unvergänglichsten
der Weltliteratur können sie gewertet werden. Für mich ist die Tragödie
der Karamasoffs nicht geringer als die Verstrickungen der Orestie, die
Epik Homers, der erhabene Umriß von Goethes Werk. Sie alle, diese
Werke, sind sogar einfältiger, schlichter, weniger erkenntnisreich,
weniger zukunftsträchtig als die Dostojewskis. Aber sie sind doch
irgendwie weicher und freundsamer für die Seele, sie geben Erlösung des
Gefühls, während Dostojewski nur Erkenntnis gibt. Ich glaube: diese
ihre Entspannung danken sie, daß sie nicht so menschlich, nur menschlich
sind. Sie haben um sich einen heiligen Rahmen von strahlendem Himmel,
von Welt, einen Atem von Wiesen und Feldern, einen Sternblick von
Himmel, wo sich das Gefühl, das verschreckte, entspannt hinflüchtet und
befreit. Im Homer, mitten in den Schlachten, im blutigsten Gemetzel der
Menschen stehen ein paar Zeilen der Schilderung, und man atmet salzigen
Wind vom Meer, das silberne Licht Griechenlands glänzt über die
Blutstatt, beseligt erkennt das Gefühl den schmetternden Kampf der
Menschen als einen kleinen nichtigen Wahn gegen das Ewige der Dinge. Und
man atmet auf, man ist erlöst von der menschlichen Trübe. Auch Faust
hat seinen Ostersonntag, schwingt die eigene Qual in die zerklüftete
Natur, wirft seinen Jubel in den Frühling der Welt. In allen diesen
Werken erlöst die Natur von der Menschenwelt. Dostojewski aber fehlt die
Landschaft, fehlt die Entspannung. Sein Kosmos ist nicht die Welt,
sondern nur der Mensch. Er ist taub für Musik, blind für Bilder, stumpf
für Landschaft: mit einer ungeheueren Gleichgültigkeit gegen die Natur,
gegen die Kunst ist sein unergründliches, sein unvergleichliches Wissen
um den Menschen bezahlt. Und alles Nur-Menschliche hat eine Trübe von
Unzulänglichkeit. Sein Gott wohnt nur in der Seele, nicht auch in den
Dingen, ihm fehlt jenes kostbare Korn Pantheismus, das die deutschen,
das die hellenischen Werke so selig und so befreiend macht. Seine,
Dostojewskis, Werke, sie spielen alle irgendwie in ungelüfteten Stuben,
in rußigen Straßen, in dunstigen Kneipen, eine dumpfe menschliche, allzu
menschliche Luft ist darinnen, die nicht klärend durchwühlt wird vom
Wind aus den Himmeln und dem Sturz der Jahreszeiten. Man versuche doch
einmal sich zu entsinnen bei seinen großen Werken, bei »Raskolnikoff«,
dem »Idioten«, bei den »Karamasoffs«, dem »Jüngling«, in welcher
Jahreszeit, in welcher Landschaft sie spielen. Ist es Sommer, Frühling
oder Herbst? Vielleicht ist es irgendwo gesagt. Aber man fühlt es nicht.
Man atmet es, man schmeckt es, man spürt, man erlebt es nicht. Sie
spielen alle nur irgendwo im Dunkel des Herzens, das die Blitzschläge
der Erkenntnis sprunghaft erhellen, im luftleeren Hohlraum des Hirnes,
ohne Sterne und Blumen, ohne Stille und Schweigen. Großstadtrauch
verdunkelt den Himmel ihrer Seele. Es fehlen ihnen die Ruhepunkte der
Erlösung vom Menschlichen, jene seligsten Entspannungen, die besten des
Menschen, wenn er den Blick von sich selbst und seinen Leiden gegen die
fühllose, leidenschaftslose Welt kehrt. Das ist das Schattenhafte in
seinen Büchern: wie von einer grauen Wand von Elend und Dunkelheit heben
sich seine Gestalten ab, sie stehen nicht frei und klar in einer
wirklichen Welt, sondern in einer Unendlichkeit bloß des Gefühls. Seine
Sphäre ist Seelenwelt und nicht Natur, seine Welt nur die Menschheit.

Aber auch seine Menschheit selbst, so wunderbar wahrhaftig jeder
einzelne ist, so fehllos ihr logischer Organismus, auch sie ist
in ihrer Gesamtheit in einem gewissen Sinne unwirklich: etwas von
Gestalten aus Träumen haftet ihnen an, und ihr Schritt geht im
Raumlosen wie der von Schatten. Damit sei nicht gesagt, daß sie
irgendwie unwahr wären. Im Gegenteil: sie sind überwahr. Denn
Dostojewskis Psychologie ist eine fehllose, aber seine Menschen sind
nicht plastisch, sondern sublim gesehen und durchfühlt, weil sie einzig
aus Seele gestaltet sind und nicht aus Körperlichkeit. Dostojewskis
Menschen kennen wir alle nur als wandelndes und gewandeltes Gefühl,
Wesen aus Nerven und Seelen, bei denen man es fast vergißt, daß dieses
Blut durch Fleisch rinnt. Nie rührt man sie gewissermaßen körperlich
an. Auf den zwanzigtausend Seiten seines Werkes ist nie geschildert,
daß einer seiner Menschen sitzt, daß er ißt, daß er trinkt, immer
fühlen, sprechen oder kämpfen sie nur. Sie schlafen nicht (es sei denn,
daß sie hellseherisch träumen), sie ruhen nicht, immer sind sie im
Fieber, immer denken sie. Nie sind sie vegetativ, pflanzlich, tierisch,
stumpf, immer nur bewegt, erregt, gespannt, und immer, immer wach. Wach
und sogar überwach. Immer im Superlativ ihres Seins. Alle haben sie
die seelische Übersichtigkeit Dostojewskis, alle sind sie Hellseher,
Telepathen, Halluzinanten, alle pythische Menschen, und alle durchtränkt
bis in die letzten Tiefen ihres Wesens von psychologischer Wissenschaft.
Im gemeinen, im banalen Leben stehen -- erinnern wir uns nur -- die
meisten Menschen im Konflikt miteinander und dem Schicksal einzig darum,
weil sie sich nicht verstehen, weil sie einen bloß irdischen Verstand
haben. Shakespeare, der andere große Psychologe der Menschheit, baut die
Hälfte seiner Tragödien auf diese eingeborene Unwissenheit, auf dieses
Fundament von Dunkel, das zwischen Mensch und Mensch als Verhängnis,
als Stein des Anstoßes liegt. Lear mißtraut seiner Tochter, denn
er ahnt ihren Edelmut nicht, die Größe der Liebe, die sich hier in
Schamhaftigkeit verschanzt, Othello wiederum nimmt sich Jago als
Einflüsterer, Cäsar liebt Brutus, seinen Mörder, alle sind sie
dem wahren Wesen der irdischen Welt, der Täuschung verfallen. Bei
Shakespeare wird wie im realen Leben das Mißverständnis, die irdische
Unzulänglichkeit, zeugende tragische Kraft, die Quelle aller Konflikte.
Die Menschen Dostojewskis aber, diese Überwissenden, sie kennen kein
Mißverstehen. Jeder ahnt immer prophetisch den anderen, sie verstehen
einander restlos bis in die letzten Tiefen, sie saugen sich das Wort
aus dem Munde, noch ehe es gesagt ist, und den Gedanken noch aus dem
Mutterleib der Empfindung. Sie wittern, sie ahnen einander alle im
voraus, nie enttäuschen sie sich, nie staunen sie, jedes einzelnen
Seele umfaßt in geheimnisvoller Witterung schon der anderen Sinn. Das
Unbewußte, das Unterbewußte ist bei ihnen überentwickelt, alle sind sie
Propheten, alle Ahnende und Visionäre, überladen von Dostojewski mit
seiner eigenen mystischen Durchdringung des Seins und des Wissens. Ich
will ein Beispiel wählen, um deutlicher zu sein. Nastassja Philipowna
wird von Rogoschin ermordet. Sie weiß es vom ersten Tage, da sie ihn
erblickt, weiß es in jeder Stunde, in der sie ihm angehört, daß er sie
ermorden wird, sie flieht vor ihm, weil sie es weiß, und flüchtet
zurück, weil sie ihr eigenes Schicksal begehrt. Sie kennt das Messer
sogar Monate voraus, das ihr die Brust durchstößt. Und Rogoschin weiß
es, auch er kennt das Messer und ebenso Myschkin. Seine Lippen zittern,
wenn er einmal im Gespräch zufällig Rogoschin mit diesem Messer
spielen sieht. Und gleicherweise beim Morde Fedor Karamasoffs ist das
Wissensunmögliche allen bewußt. Der Staretz fällt in die Knie, weil er
das Verbrechen wittert, selbst der Spötter Rakitin weiß diese Zeichen zu
deuten. Aljoscha küßt seines Vaters Schulter, wie er von ihm Abschied
nimmt, auch sein Gefühl weiß es, daß er ihn nicht mehr sieht. Iwan
fährt nach Tchermaschnjä, um nicht Zeuge des Verbrechens zu sein. Der
Schmutzfink Smerdjakoff sagt es ihm lächelnd voraus. Alle, alle wissen
sie es, und den Tag und die Stunde und den Ort aus einer Überladenheit
mit prophetischer Erkenntnis, die unwahrscheinlich ist in ihrer
Zuvielfältigkeit. Alle sind sie Propheten, Erkenner, alle
Allesversteher.

Hier wieder in der Psychologie erkennt man jene zwiefache Form aller
Wahrheit für den Künstler. Obwohl Dostojewski den Menschen tiefer kennt
als irgendeiner vor ihm, so ist ihm doch Shakespeare überlegen als
Kenner der Menschheit. Er hat das Gemischte des Daseins erkannt, das
Gemeine und Gleichgültige neben das Grandiose gestellt, wo Dostojewski
einen jeden ins Unendliche steigert. Shakespeare hat die Welt im
Fleisch erkannt, Dostojewski im Geist. Seine Welt ist vielleicht die
vollkommenste Halluzination der Welt, ein tiefer und prophetischer
Traum von der Seele, ein Traum, der die Wirklichkeit noch überflügelt:
aber Realismus, der über sich selbst hinaus ins Phantastische reicht.
Der Überrealist Dostojewski, der Überschreiter aller Grenzen, er hat
die Wirklichkeit nicht geschildert: er hat sie über sich selbst hinaus
gesteigert.

Von innen also, von der Seele allein, ist hier die Welt in Kunst
gestaltet, von innen gebunden, von innen erlöst. Diese Art von Kunst,
die tiefste und menschlichste aller, hat keine Vorfahren in der
Literatur, weder in Rußland noch irgendwo in der Welt. Dieses Werk hat
nur Brüder in der Ferne. An die griechischen Tragiker gemahnt manchmal
der Krampf und die Not, dieses Übermaß von Qual in den Menschen, die
unter dem Griff des übermächtigen Schicksales sich krümmen, an
Michelangelo manchmal durch die mystische, steinerne, unerlösbare
Traurigkeit der Seele. Aber der wahre Bruder Dostojewskis durch die
Zeiten ist Rembrandt. Beide stammen sie aus einem Leben von Mühsal,
Entbehrung, Verachtung, Ausgestoßene der Irdischkeit, gepeitscht von
den Bütteln des Geldes in die tiefste Tiefe des menschlichen Seins
hinab. Beide wissen sie um den schöpferischen Sinn der Kontraste, den
ewigen Streit von Dunkel und Licht, und wissen, daß keine Schönheit
tiefer ist als die heilige der Seele, die aus der Nüchternheit des
Seins gewonnen ist. Wie Dostojewski seine Heiligen aus russischen
Bauern, Verbrechern und Spielern, gestaltet sich Rembrandt seine
biblischen Figuren von den Modellen der Hafengassen; beiden ist in den
niedersten Formen des Lebens irgendeine geheimnisvolle, neue Schönheit
verborgen, beide finden sie ihren Christus im Abhub des Volks. Beide
wissen sie von dem ständigen Spiel und Widerspiel der Erdenkräfte, von
Licht und Dunkel, das gleich mächtig im Lebendigen wie im Beseelten
waltet, und hier wie dort ist alles Licht aus dem letzten Dunkel des
Lebens genommen. Je mehr man in die Tiefe der Bilder Rembrandts,
der Bücher Dostojewskis blickt, sieht man das letzte Geheimnis der
weltlichen und geistigen Formen sich entringen: Allmenschlichkeit. Und
wo die Seele zuerst nur schattenhafte Form, nur trübe Wirklichkeit zu
schauen meint, erkennt sie, tiefer blickend, mit erkennender Lust
entrungenes Licht: jenen heiligen Glanz, der als Märtyrerkrone über
den letzten Dingen des Lebens liegt.


                  ARCHITEKTUR UND LEIDENSCHAFT

                                 »Que celui aime peu, qui aime la
                               mesure!«                 La Boetie

»Alles treibst du bis zur Leidenschaft.« Das Wort Nastassja Philipownas
trifft alle Menschen Dostojewskis und trifft vor allem ihn, Dostojewski
selbst, mitten in die Seele. Nur leidenschaftlich kann dieser Gewaltige
den Phänomenen des Lebens entgegentreten und darum am leidenschaftlichsten
seiner leidenschaftlichsten Liebe: der Kunst. Selbstverständlich, daß
der schöpferische Prozeß, die künstlerische Bemühung, bei ihm nicht eine
geruhige, ordnend aufbauende, kühl berechnend architektonische ist.
Dostojewski schreibt im Fieber, wie er im Fieber denkt, im Fieber lebt.
Unter der Hand, die die Worte in fließenden kleinen Perlenketten (er
hat die nervöse Eilschrift aller hitzigen Menschen) über das Papier
rinnen läßt, hämmert der Puls in verdoppelten Schlägen, seine Nerven
zucken im Krampf. Schöpfung ist ihm Ekstase, Qual, Entzückung und
Zerschmetterung, eine zum Schmerz gesteigerte Wollust, ein zur
Wollust gesteigerter Schmerz, das ewige Spasma, der immer wiederholte
vulkanische Ausbruch seiner übermächtigen Natur. »Unter Tränen« schreibt
der Zweiundzwanzigjährige sein erstes Werk »Arme Leute«, und seitdem ist
jede Arbeit eine Krise, eine Krankheit. »Ich arbeite nervös, unter Qual
und Sorgen. Wenn ich angestrengt arbeite, bin ich auch physisch krank.«
Und tatsächlich, die Epilepsie, seine mystische Krankheit, dringt ein
mit ihrem fiebrigen, entzündlichen Rhythmus, mit ihren dunklen, dumpfen
Hemmungen, bis in die feinsten Vibrationen seines Werks. Immer aber
schafft Dostojewski mit dem Ganzen seines Wesens, im hysterischen Furor.
Selbst die kleinsten, scheinbar gleichgültigen Partien seines Werkes,
wie die journalistischen Aufsätze, sind gegossen und geschmolzen in
der feurigen Esse seiner Leidenschaft. Nie schafft er mit dem bloß
abgelösten, frei wirkenden Teil seiner schaffenden Kraft, gleichsam aus
dem Handgelenk, aus der spielhaften Leichtigkeit der Technik, immer ballt
er seine ganze physische Erregbarkeit in das Geschehnis, bis an den
letzten Nerv seines Lebens leidend und mitleidend in seinen Gestalten.
Alle seine Werke sind gleichsam explosiv in rasenden Wetterschlägen
durch einen ungeheuren atmosphärischen Druck herausgeschwemmt.
Dostojewski kann nicht gestalten ohne inneren Anteil, und für ihn gilt
das bekannte Wort über Stendhal: »Lorsqu'il n'avait pas d'émotion, il
était sans esprit.« Wenn Dostojewski nicht leidenschaftlich war, war er
nicht Dichter.

Aber Leidenschaft in der Kunst wird ebenso zerstörendes Element, als sie
bildnerisches war. Sie schafft nur das Chaos der Kräfte, dem der klare
Geist erst die ewigen Formen erlöst. Alle Kunst braucht die Unruhe als
Antrieb der Gestaltung, aber nicht minder eine überlegen-überlegte
Ruhe der Auswägung zu einer Vollendung. Dostojewskis mächtiger, die
Wirklichkeit diamanten durchdringender Geist weiß nun wohl um die
marmorne, eherne Kühle, die das große Kunstwerk umwittert. Er liebt,
er vergöttert die große Architektonik, er entwirft prachtvolle Maße,
erhabene Ordnungen des Weltbildes. Aber immer wieder überflutet das
leidenschaftliche Gefühl die Fundamente. Der Zwiespalt, der ewige
zwischen Herz und Geist, wirkt auch im Werke und nennt sich hier
Kontrast von Architektonik und Leidenschaft. Vergebens sucht Dostojewski
als Künstler objektiv zu schaffen, außen zu bleiben, bloß zu erzählen
und zu gestalten, Epiker zu sein, Referent von Geschehnissen, Analytiker
der Gefühle. Unwiderstehlich reißt ihn seine Leidenschaft in Leiden und
Mitleiden immer wieder in die eigene Welt. Immer ist etwas vom Chaos des
Anfangs selbst in den vollendeten Werken Dostojewskis, nie die Harmonie
erreicht (»Ich hasse die Harmonie«, so schreit Iwan Karamasoff, der
Verräter seiner geheimsten Gedanken). Auch hier ist zwischen Form und
Wille kein Friede, kein Ausgleich, sondern -- o ewige Zweiheit seines
Wesens, alle Formen durchdringend von der kalten Schale bis zum
glühendsten Kerne! -- ein unablässiger Kampf zwischen außen und innen.
Der ewige Dualismus seines Wesens heißt im epischen Werke Kampf zwischen
Architektur und Leidenschaft.

Nie erreicht Dostojewski in seinen Romanen, was man fachmännisch »den
epischen Vortrag« nennt, jenes große Geheimnis, bewegtes Geschehen in
ruhiger Darstellung zu bändigen, das von Homer bis Gottfried Keller und
Tolstoi sich in unendlicher Ahnenreihe von Meister auf Meister vererbt.
Leidenschaftlich formt er seine Welt, und nur leidenschaftlich, nur
erregt, kann man sie genießen. Nie stellt sich in seinen Büchern jenes
sanfte rhythmische, einwiegende Gefühl der Behaglichkeit ein, nie fühlt
man sich sicher und außen gegenüber den Geschehnissen, gleichsam an dem
sicheren Ufer, Brandung und Tumult eines erregten Meeres schauspielhaft
betrachtend. Immer ist man innen bei ihm eingewühlt, verstrickt in die
Tragödie. Wie eine Krankheit erlebt man die Krise seiner Menschen im
Blute, wie eine Entzündung brennen die Probleme im aufgepeitschten
Gefühl. Mit allen unseren Sinnen taucht er uns in seine brennende
Atmosphäre, stößt er uns an den Abgrundrand der Seele, wo wir keuchend
stehen, schwindeligen Gefühls, mit abgerissenem Atem. Und erst,
wenn unsere Pulse jagen wie die seinen, wir selbst der dämonischen
Leidenschaft verfallen sind, erst dann gehört sein Werk ganz uns,
gehören wir ihm ganz. Dostojewski will eben nur angespannte, gesteigerte
Menschen als Mitempfinder seiner Epik, so wie er sie als seine Helden
wählt. Die Leihbibliothekskonsumenten, die behaglichen Flaneure des
Lesens, die Spaziergänger auf den Bürgersteigen ausgetretener Probleme,
müssen auf ihn und er auf sie verzichten. Nur der brennende Mensch, der
leidenschaftlich entzündete, der glühende im Gefühl, findet hinab in
seine wahre Sphäre.

Es läßt sich nicht verleugnen, nicht verbergen, nicht verschönern: das
Verhältnis Dostojewskis zum Leser ist weder ein freundschaftliches noch
ein behagliches, sondern eine Zwietracht voll gefährlicher, grausamer,
wollüstiger Instinkte. Es ist eine leidenschaftliche Beziehung wie
zwischen Mann und Weib, nicht wie bei den andern Dichtern ein Verhältnis
der Freundschaft und des Vertrauens. Dickens oder Gottfried Keller,
seine Zeitgenossen, führen mit sanfter Überredung, mit musikalischer
Lockung den Leser in ihre Welt, sie plaudern ihn freundlich ins
Geschehnis hinein, sie reizen nur die Neugier, die Phantasie, nicht aber
wie Dostojewski das ganze aufschäumende Herz. Er, der Leidenschaftliche,
will uns ganz haben, nicht bloß unsere Neugier, unser Interesse, er
begehrt unsere ganze Seele, selbst unsere Körperlichkeit. Zuerst lädt er
die innere Atmosphäre mit Elektrizität, raffiniert steigert er unsere
Reizbarkeit. Eine Art Hypnose setzt ein, ein Willensverlust in seinen
leidenschaftlichen Willen: wie das dumpfe Murmeln des Beschwörenden,
endlos und sinnlos umtut er den Sinn mit breiten Gesprächen, reizt mit
Geheimnis und Andeutungen die Anteilnahme bis tief nach innen. Er duldet
nicht, daß wir zu früh uns hingeben, er dehnt in wollüstigem Wissen die
Marter der Vorbereitung, Unruhe beginnt in einem leise zu kochen, aber
immer wieder verzögert er, neue Figuren vorschiebend, neue Bilder
entrollend, den Einblick in das Geschehnis. Ein wissender, ein
wollüstiger Erotiker, hält er seine, hält er unsere Hingebung mit
teuflischer Willenskraft zurück und steigert damit den innern Druck, die
Gereiztheit der Atmosphäre ins Unendliche. Schicksalsträchtig fühlt man
über sich ein Gewölk von Tragik (wie lange dauert es in Raskolnikoff,
ehe man weiß, daß all diese sinnlosen seelischen Zustände Vorbereitungen
zu seinem Morde sind, und doch spürt man längst in den Nerven
Furchtbares voraus!), auf dem Himmel der Seele wetterleuchtet schaurige
Ahnung. Aber Dostojewskis sinnliche Wollüstigkeit berauscht sich im
Raffinement der Verzögerung, sie prickelt wie Nadelstiche kleine
Andeutungen in die Haut des Empfindens. Mit satanischer Verlangsamung
stellt Dostojewski vor seinen großen Szenen noch Seiten und Seiten
mystischer und dämonischer Langweile, bis er in dem Reizmenschen (ein
anderer fühlt ja nichts von diesen Dingen) ein geistiges Fieber, eine
physische Qual erzeugt. Auch das Lustgefühl der Spannung treibt dieser
Fanatiker des Kontrastes bis in den Schmerz hinein, und erst dann, wenn
im überheizten Kessel der Brust das Gefühl schon brodelt und die Wände
sprengen will, dann erst schlägt er einem mit dem Hammer auf das Herz,
dann zuckt eine jener sublimen Sekunden nieder, wo wie ein Blitz die
Erlösung aus dem Himmel seines Werkes in die Tiefe unserer Herzen fährt.
Erst wenn die Spannung unerträglich geworden ist, zerreißt Dostojewski
das epische Geheimnis und löst das zerspannte Gefühl in weiche,
flutende, tränenfeuchte Empfindung.

So feindlich, so wollüstig, so raffiniert leidenschaftlich umstellt,
umfaßt Dostojewski seine Leser. Nicht im Ringkampf zwingt er sie
nieder, sondern wie ein Mörder, der stundenlang und stundenlang sein
Opfer umkreist, durchstößt er einem dann plötzlich mit einer spitzen
Sekunde das Herz. So leidenschaftlich ist er im eigenen Aufruhr, daß
man zweifelt, ihn noch einen Epiker nennen zu dürfen. Seine Technik ist
eine explosive: er höhlt nicht kärrnerhaft, Schaufel um Schaufel, die
Straße in sein Werk hinein, sondern von innen herauf mit einer ins
kleinste geballten Kraft sprengt er die Welt auf und die erlöste
Brust. Ganz unterirdisch sind seine Vorbereitungen, gleichsam eine
Verschwörung, eine blitzartige Überraschung für den Leser. Nie weiß
man, obwohl man fühlt, daß man einer Katastrophe entgegengeht, in
welchen Menschen er die Stollen seiner Minengänge eingräbt, von welcher
Seite, in welcher Stunde die furchtbare Entladung erfolgt. Von jedem
einzelnen führt ein Schacht in den Mittelpunkt des Geschehens, jeder
einzelne ist geladen mit dem Zündstoff der Leidenschaft. Wer aber den
Kontakt zündet (zum Beispiel, wer von den vielen, die alle innerlich
von den Gedanken vergiftet sind, den Fedor Karamasoff tötet), das ist
mit einer unerhörten Kunst verborgen bis zum letzten Augenblick, denn
Dostojewski, der alles ahnen läßt, verrät nichts von seinem Geheimnis.
Man fühlt nur immer das Schicksal wie einen Maulwurf unter der Fläche
des Lebens wühlen, fühlt, wie sich bis hart unter unser Herz die Mine
vorschiebt, und vergeht, verzehrt sich in unendlicher Spannung bis zu
den kleinen Sekunden, die wie ein Blitz die Schwüle der Atmosphäre
zerschneiden.

Und für diese kleinen Sekunden, für die unerhörte Konzentration des
Zustandes benötigt der Epiker Dostojewski eine bisher ungekannte Wucht
und Breite der Darstellung. Nur eine monumentale Kunst kann solch
eine Intensität, eine solche Konzentration erzielen, nur eine Kunst
urweltlicher Größe und mythischer Wucht. Hier ist Breite nicht
Geschwätzigkeit, sondern Architektur: wie für die Spitzen der Pyramiden
riesige Fundamente, sind für die spitzen Höhepunkte bei Dostojewski die
gewaltigen Dimensionen seiner Romane notwendig. Und wirklich, wie die
Wolga, der Dnjepr, die großen Ströme seiner Heimat, rollen diese Romane
dahin. Etwas Stromhaftes ist ihnen allen zu eigen, langsam wogend
rollen sie ungeheuere Mengen des Lebens heran. Auf ihren Tausenden und
Tausenden Seiten schwemmen sie, gelegentlich die Ufer des künstlerischen
Gestaltens übertretend, viel politisches Geröll und polemisches Gestein
mit sich fort. Manchmal, wo die Inspiration nachläßt, haben sie auch
breite, sandige Stellen. Schon scheinen sie zu versiegen. In stockendem
Lauf winden sich mühsam durch Krümmungen und Wirrungen die Geschehnisse
weiter, die Flut stagniert an den Sandbänken der Gespräche für Stunden,
bis sie wieder dann die eigene Tiefe und den Schwung ihrer Leidenschaft
findet.

Aber dann, in der Nähe des Meeres, der Unendlichkeit, kommen plötzlich
jene unerhörten Stellen der Stromschnelle, wo sich die breite Erzählung
zum Wirbel zusammenballt, die Seiten gleichsam fliegen, das Tempo
beängstigend wird, die Seele mitgerissen in den Abgrund des Gefühls
hinpfeilt. Schon fühlt man die nahe Tiefe, schon donnert der
Wassersturz her, die ganze breite schwere Masse ist plötzlich in
schäumende Geschwindigkeit verwandelt, und wie die Strömung der
Erzählung, gleichsam magnetisch vom Katarakt angezogen, der Katharsis
zuschäumt, so sausen wir selbst unwillkürlich rascher durch diese
Seiten und stürzen dann plötzlich in den Abgrund des Geschehens,
gleichsam mit zerschmetterten Gefühlen.

Und dieses Gefühl, wo gleichsam die ungeheuere Summe des Lebens in einer
einzigen Ziffer gezogen ist, dieses Gefühl äußerster Konzentration,
qualvoll und schwindlig zugleich, das er selbst einmal das »Turmgefühl«
nennt, -- den göttlichen Wahnsinn, sich über die eigene Tiefe zu beugen
und die Seligkeit des tödlichen Niedersturzes vorempfindend zu genießen
-- dieses äußerste Gefühl, in dem man mit dem ganzen Leben auch noch
den Tod empfindet, es ist immer auch die unsichtbare Spitze der großen
epischen Pyramiden Dostojewskis. Alle Romane sind vielleicht nur
geschrieben um dieser Augenblicke der weißglühenden Empfindung willen.
Zwanzig oder dreißig solcher grandioser Stellen hat Dostojewski
geschaffen, und alle sind sie von so unvergleichlicher Vehemenz der
leidenschaftlichen Zusammenballung, daß sie einem nicht nur beim ersten
Lesen, da sie einen gleichsam noch wehrlos überfallen, sondern noch beim
vierten oder fünften Wiederholen wie eine Stichflamme durch das Herz
fahren. Immer sind in diesem Augenblick plötzlich alle Menschen des
ganzen Buches in einem Zimmer versammelt, immer alle in der äußersten
Intensität ihres Eigenwillens. Alle Straßen, alle Ströme, alle Kräfte
laufen magisch zusammen, lösen sich auf in einer einzigen Geste, einer
einzigen Gebärde, einem einzigen Wort. Ich erinnere nur an die Szene in
den »Dämonen«, wo die Ohrfeige Schatows mit ihrem »trockenen Schlag«
das Spinnweb des Geheimnisses zerreißt, wie im »Idioten« Nastassja
Philipowna die 100000 Rubel ins Feuer wirft, oder die Geständnisszene
in »Raskolnikoff« und den »Karamasoff«. In diesen höchsten, schon nicht
mehr stofflichen, in diesen ganz elementaren Momenten seiner Kunst
gattet sich restlos Architektur und Leidenschaft. Nur in der Ekstase ist
Dostojewski der einheitliche Mensch, nur in diesen kurzen Augenblicken
der vollendete Künstler. Aber diese Szenen sind rein künstlerisch ein
Triumph der Kunst über den Menschen ohnegleichen, denn erst rücklesend
wird man gewahr, mit einer wie genialen Berechnung alle Anstiege zu
diesem Höhepunkt geführt sind, mit welch wissender Verteilung hier
Menschen und Umstände sich magisch ergänzen, wie die ungeheure
Gleichung, die tausendstellige und verschränkte, sich plötzlich auflöst
in die kleinste Zahl, die letzte, restlose Einheit des Gefühls: die
Ekstase. Das ist das größte künstlerische Geheimnis Dostojewskis, alle
seine Romane zu solchen Spitzen hinaufzubauen, in denen sich die ganze
elektrische Atmosphäre des Gefühls sammelt und die den Blitz des
Schicksals mit unfehlbarer Sicherheit in sich auffangen.

Muß noch besonders auf den Ursprung dieser einzigartigen Kunstform
hingewiesen sein, die vor Dostojewski keiner besessen und vielleicht
nie ein Künstler in gleichem Maße besitzen wird? Muß es noch gesagt
sein, daß dieses Aufzucken der gesamten Lebenskräfte zu einzigen
Sekunden nichts anderes ist, als in Kunst verwandelte, sinnfällige Form
seines eigenen Lebens, seiner dämonischen Krankheit? Nie ist das Leiden
eines Künstlers fruchtbarer gewesen als diese künstlerische Verwandlung
der Epilepsie, denn nie hat sich vor Dostojewski in der Kunst eine
ähnliche Konzentration von Lebensfülle in das engste Maß von Raum
und Zeit gebannt. Er, der am Semenowskiplatz gestanden, die Augen
verschnürt, und in zwei Minuten sein ganzes vergangenes Leben noch
einmal durchlebte, der bei jedem epileptischen Anfall in der Sekunde
zwischen dem wankenden Taumel und dem harten Niedersturz vom Sessel
auf den Boden Welten visionär durchirrt, nur er konnte diese Kunst
erreichen, in eine Nußschale von Zeit einen Kosmos von Geschehnissen
einzubetten. Nur er das Unwahrscheinliche solcher explosiver Sekunden
so dämonisch ins Wirkliche zwingen, daß wir dieser Fähigkeit der
Überwindung von Raum und Zeit kaum gewahr werden. Wahre Wunder der
Konzentration sind seine Werke. Ich erinnere nur an ein Beispiel: Man
liest den ersten Band des »Idioten«, der über 500 Seiten umfaßt. Ein
Tumult von Schicksal hat sich erhoben, ein Chaos von Seelen ist
durchflogen, eine Vielzahl von Menschen innerlich belebt. Man hat mit
ihnen Straßen durchwandert, in Häusern gesessen, und plötzlich, bei
zufälligem Besinnen, entdeckt man, daß diese ganze ungeheure Fülle von
Geschehnissen in einem Ablauf von kaum zwölf Stunden vor sich ging, von
Morgen bis Mitternacht. Ebenso ist die phantastische Welt der Karamasoff
in bloß ein paar Tage, die Raskolnikoffs in eine Woche zusammengeballt,
-- Meisterstücke der Gedrängtheit, wie sie ein Epiker noch nie und
selbst das Leben nur in den seltensten Augenblicken erreicht. Einzig
die antike Tragödie des Ödipus etwa, der in der engen Spanne von
Mittag bis Abend ein ganzes Leben und das vergangener Generationen
zusammendrängt, kennt diesen rasenden Niedersturz von Höhe zu Tiefe, von
Tiefe zu Höhe, diese erbarmungslosen Wetterstürze des Geschicks, aber
auch diese reinigende Kraft der seelischen Gewitter. Mit keinem epischen
Werk läßt sich diese Kunst vergleichen, und darum wirkt Dostojewski
immer in seinen großen Augenblicken als Tragiker, seine Romane gleichsam
wie umhüllte, verwandelte Dramen; im letzten sind die Karamasoff Geist
vom Geiste der griechischen Tragödie, Fleisch vom Fleische Shakespeares.
Nackt steht in ihnen, wehrlos und klein, der riesige Mensch unter dem
tragischen Himmel des Schicksals.

Und seltsam, in diesen leidenschaftlichen Augenblicken der Niederstürze
verliert plötzlich der Roman Dostojewskis auch seinen erzählerischen
Charakter. Die dünne epische Umschalung schmilzt ab in der Hitze des
Gefühls und verdunstet; nichts bleibt als der blasse weißglühende
Dialog. Die großen Szenen in Dostojewskis Romanen sind nackte dramatische
Dialoge. Man kann sie, ohne ein Wort beizufügen oder fortzulassen, auf
die Bühne pflanzen, so festgezimmert ist jede einzelne Figur, so zur
dramatischen Sekunde verdichtet sich in ihnen der breite strömende
Gehalt der großen Romane. Das tragische Gefühl in Dostojewski, das immer
zu Endgültigem drängt, zur gewaltsamen Spannung, zur blitzartigen
Entladung, schafft in diesen Höhepunkten sein episches Kunstwerk
scheinbar restlos zum dramatischen um.

Was in diesen Szenen an dramatischer, ja theatralischer Schlagkraft
enthalten ist, haben selbstverständlich die eilfertigen Theaterhandwerker
und Boulevarddramatiker zuerst erkannt, lang vor den Philologen, und
rasch einige robuste Theaterstücke aus dem »Raskolnikoff«, dem »Idioten«,
den »Karamasoff« gezimmert. Aber hier hat sich erwiesen, wie kläglich
solche Versuche scheitern, Figuren Dostojewskis von außen, von ihrer
Körperlichkeit und ihrem Schicksal zu fassen, sie aus ihrer Sphäre, der
Seelenwelt, zu heben und von der gewitternden Atmosphäre der rhythmischen
Reizbarkeit abzulösen. Wie abgeschälte Baumstämme, nackt und leblos,
wirken diese Figuren dramatisch im Vergleich zu ihrer lebendigen,
raunenden, rauschenden Wipfelhaftigkeit, die an die Himmel rührt und
jede doch mit tausend geheimen Nervenfäden im epischen Erdreich wurzelt.
Ihr Aderwerk, breitfältig verästelt auf Hunderten von Seiten, zieht
seine stärkste bildnerische Kraft aus dem Dunkel, aus Andeutung und
Ahnung. Die Psychologie Dostojewskis ist keine für grelles Lampenlicht,
sie spottet ihrer »Bearbeiter« und Vereinfacher. Denn in dieser epischen
Unterwelt gibt es geheimnisvolle psychische Kontakte, Unterströmungen
und Nuancierungen. Nicht aus sichtbaren Gesten, sondern aus tausend
und tausend einzelnen Andeutungen bildet und formt sich bei ihm eine
Gestalt, nichts Spinnwebzarteres kennt die Literatur, als dies seelische
Netzwerk. Um einmal die Durchgängigkeit dieser subkutanen, gleichsam
unter der Haut fließenden Unterströmungen der Erzählung zu empfinden,
versuche man zur Probe einen Roman Dostojewskis in einer der gekürzten
französischen Ausgaben zu lesen. Es fehlt anscheinend nichts darin: der
Film der Geschehnisse rollt geschwinder ab, die Figuren erscheinen sogar
agiler, geschlossener, leidenschaftlicher. Aber doch, sie sind irgendwo
verarmt, ihrer Seele fehlt jener wunderbare irisierende Glanz, ihrer
Atmosphäre die funkelnde Elektrizität, jene Schwüle der Spannung, die
erst die Entladung so furchtbar und so wohltätig macht. Irgend etwas ist
zerstört, das nicht wieder zu ersetzen ist, ein Zauberkreis gebrochen.
Und gerade aus diesen Versuchen von Kürzungen und Dramatisierung
erkennt man den Sinn der Breite bei Dostojewski, die Zweckhaftigkeit
seiner scheinbaren Weitschweifigkeit. Denn die kleinen, flüchtigen,
gelegentlichen Andeutungen, die ganz zufällig und überflüssig scheinen,
sie haben Erwiderung hundert und hundert Seiten später. Unter der
Oberfläche der Erzählung laufen solche Leitungen verborgener Kontakte,
die Meldungen weitertragen, geheimnisvolle Reflexe tauschen. Es gibt bei
ihm seelische Chiffrierungen, ganz winzige physische und psychische
Zeichen, deren Sinn erst beim zweiten, beim dritten Lesen offenbar wird.
Kein Epiker hat ein gleichsam so durchnervtes System des Erzählens, ein
so unterirdisches Gewirr der Begebenheit unter dem Knochenwerk des
Geschehnisses, unter der Haut des Dialogs. Und doch, System kann
man es kaum nennen: nur mit der scheinbaren Willkürlichkeit und
doch geheimnisvollen Ordnung des Menschen selbst läßt sich dieser
psychologische Prozeß vergleichen. Während die anderen epischen
Künstler, insbesondere Goethe, mehr die Natur als den Menschen
nachzuahmen scheinen und das Geschehnis organisch wie eine Pflanze,
bildhaft wie eine Landschaft genießen lassen, erlebt man einen Roman
Dostojewskis wie die Begegnung mit einem sonderbar tiefen und
leidenschaftlichen Menschen. Dostojewskis Kunstwerk ist urirdisch bei
aller Ewigkeit, ein zweispältiges, wissendes, erregt leidenschaftliches
Nervenwesen, immer gegorenes Fleisch und Hirn, nie ehernes Metall,
reines ausgeglühtes Element. Es ist unberechenbar und unergründbar, wie
die Seele es in den Grenzen ihrer Körperlichkeit ist, und unvergleichbar
innerhalb der Formen der Kunst.

Unvergleichbar: Bewunderung seiner Kunst, seiner seelischen Meisterschaft,
sie ist jenseitig allen Maßes, und je tiefer man sich in sein Werk
versenkt, desto unwahrscheinlicher und gewaltiger scheint ihre Größe.
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß diese Romane an sich alle
vollendete Kunstwerke wären, ja sie sind es viel weniger als manche
ärmere Werke, die engere Kreise ziehen und sich mit Schlichterem
bescheiden. Der Maßlose kann das Ewige erreichen, aber nicht nachbilden.
Viel ihrer unerhörten Architektonik ist von Leidenschaft verschwemmt,
manche heroische Konzeption von Ungeduld zerstört. Aber diese Ungeduld
Dostojewskis, sie führt von der Tragödie seiner Kunst in die seines
Lebens zurück. Denn dies war äußeres Schicksal und nicht innere
Leichtfertigkeit bei ihm ebenso wie bei Balzac, daß er getrieben war
vom Leben zur Eiligkeit und zu sehr gehetzt, um die Werke vollendet zu
gestalten. Man vergesse nicht, wie diese Werke entstanden sind. Immer
war schon der ganze Roman verkauft, während Dostojewski noch das erste
Kapitel schrieb, jede Arbeit eine Hetzjagd von Vorschuß zu neuem
Vorschuß. »Wie ein alter Postgaul« arbeitend, auf der Flucht durch
die Welt, fehlt es ihm manchmal an Zeit und Ruhe, die letzte Feile
anzulegen, und er weiß es selbst, der Wissendste aller, und empfindet
es wie Schuld! »Mögen sie doch sehen, in welchem Zustande ich arbeite.
Sie verlangen von mir schlackenlose Meisterwerke, und aus bitterster,
elendster Not bin ich zur Eile gezwungen«, schreit er erbittert auf.
Er flucht Tolstoi und Turgenjew, die, gemächlich auf ihren Gütern
sitzend, die Zeilen runden und ordnen können, und denen er um nichts
sonst neidisch ist. Keine Armut scheut er persönlich, aber der
Künstler, erniedrigt zum Proletarier der Arbeit, schäumt gegen die
»Gutsherrnliteratur« aus der unbändigen Sehnsucht des Artisten, einmal
in Ruhe, einmal in Vollendung gestalten zu können. Jeden Fehler in
seinen Werken kennt er, er weiß, daß nach seinen epileptischen Anfällen
die Spannung nachläßt, die straffe Hülle des Kunstwerks gleichsam
undicht wird und Gleichgültiges einströmen läßt. Oft müssen ihn Freunde
oder seine Frau auf grobe Vergeßlichkeiten aufmerksam machen, die er in
jener Verdunklung der Sinne nach dem Anfall begeht, wenn er die
Manuskripte liest. Dieser Proletarier, dieser Taglöhner der Arbeit,
dieser Sklave des Vorschusses, der in der Zeit seiner ärgsten Not drei
gigantische Romane hintereinander schreibt, ist innerlich der bewußteste
Artist. Er liebt fanatisch die Goldschmiedearbeit, den Filigran der
Vollendung. Noch unter der Peitsche der Not feilt und bosselt er
stundenlang an einzelnen Seiten, zweimal vernichtet er den »Idioten«,
obzwar seine Frau hungert und die Hebamme noch nicht bezahlt ist.
Unendlich ist sein Wille zur Vollendung, aber auch die Not ist
unendlich. Wieder ringen die beiden gewaltigsten Mächte um seine Seele,
der äußere Zwang und der innere. Auch als Künstler bleibt er der große
Zerspaltene der Zweiheit. Wie der Mensch in ihm ewig nach Harmonie und
Ruhe, so dürstet der Künstler in ihm ewig nach Vollendung. Hier wie dort
hängt er mit zerrissenen Armen am Kreuze seines Schicksals.

Auch die Kunst also, auch sie, die Einzig-Eine, ist nicht Erlösung dem
Gekreuzigten des Zwiespalts, auch sie Qual, Unruhe, Hast und Flucht,
auch sie nicht Heimat dem Heimatlosen. Und die Leidenschaft, die ihn in
die Gestaltung treibt, sie jagt ihn über die Vollendung hinaus. Auch
hier wird er über die Vollendung gehetzt dem ewig Endlosen zu; mit
ihren abgebrochenen Türmen, den nicht zu Ende gebauten (denn die
Karamasoff ebenso wie der Raskolnikoff versprechen beide einen zweiten,
nie geschriebenen Teil), ragen seine Romanbauten in den Himmel der
Religion, in das Gewölk der ewigen Fragen. Nennen wir sie nicht Roman
mehr und werten wir sie nicht mit epischem Maß: sie sind längst nicht
mehr Literatur, sondern irgendwie geheime Anfänge, prophetische
Vorklänge, Präludien und Prophetien eines Mythus vom neuen Menschen. So
sehr er die Kunst liebt, Dostojewski, sie ist ihm nicht das Letzte, und
wie alle seine erlauchten russischen Ahnen empfindet er sie nur als
Brücke des Bekenntnisses vom Menschen zu Gott. Erinnern wir uns nur:
Gogol wirft nach den »Toten Seelen« die Literatur fort und wird
Mystiker, geheimnisvoller Bote des neuen Rußlands, Tolstoi verflucht,
ein Sechzigjähriger, die Kunst, die eigene und die fremde, und wird
Evangelist der Güte und Gerechtigkeit, Gorki verzichtet auf den Ruhm
und wird Verkünder der Revolution. Dostojewski hat bis zur letzten
Stunde die Feder nicht gelassen, aber was er gestaltet, ist längst
nicht mehr ein Kunstwerk im irdischen engen Sinne, sondern das
Evangelium des Dritten Reiches, irgendein Mythus der neuen russischen
Welt, eine apokalyptische Verkündung, dunkel und rätselhaft. Kunst war
dem ewig Ungenügsamen nur ein Anfang, und sein Ende war im Endlosen.
Sie war ihm nur eine Stufe und nicht der Tempel selbst. In der
Vollkommenheit seiner Werke ist noch ein Größeres, das sich in Worte
nicht mehr gestaltet, und eben weil dies Letzte in ihnen nur geahnt und
nicht in vergängliche Form gegossen ist, sind sie Wege zur Vollendung
des Menschen und der Menschheit.


                  DER ÜBERSCHREITER DER GRENZEN

                                  »Daß du nicht enden kannst, das
                                macht dich groß.«          Goethe

Tradition ist steinerne Grenze von Vergangenheiten um die Gegenwart:
wer ins Zukünftige will, muß sie überschreiten. Denn die Natur will
kein Innehalten im Erkennen. Zwar scheint sie Ordnung zu fordern und
liebt doch nur den, der sie zerstört um einer neuen Ordnung willen.
Immer schafft sie sich in einzelnen Menschen durch Übermaß ihrer
eigenen Kräfte jene Konquistadoren, die von den heimischen Ländern der
Seele in die dunklen Ozeane des Unbekannten hinausfahren zu neuen Zonen
des Herzens, neuen Sphären des Geistes. Ohne diese kühnen Überschreiter
wäre die Menschheit in sich gefangen, ihre Entwicklung ein Kreisgang.
Ohne diese großen Boten, in denen sie sich gleichsam selbst vorauseilt,
wäre jede Generation unkund ihres Weges. Ohne diese großen Träumer
wüßte die Menschheit nicht um ihren tiefsten Sinn. Nicht die ruhigen
Erkenner, die Geographen der Heimat, haben die Welt weit gemacht,
sondern die Desperados, die über unbekannte Ozeane zum neuen Indien
fuhren: nicht die Psychologen, die Wissenschaftler, haben die moderne
Seele in ihrer Tiefe erkannt, sondern die Maßlosen unter den Dichtern,
die Überschreiter der Grenzen.

Von diesen großen Grenzüberschreitern der Literatur ist Dostojewski
in unseren Tagen der größte gewesen, und keiner hat so viel Neuland
der Seele entdeckt als dieser Ungestüme, dieser Maßlose, dem nach
seinem eignen Wort »das Unermeßliche und Unendliche so notwendig war
wie die Erde selbst«. Nirgends hat er innegehalten, »überall habe ich
die Grenze überschritten,« schreibt er stolz und selbstanklagend in
einem Briefe, »überall«. Und unmöglich ist es fast, alle seine Taten
aufzuzählen, die Wanderungen über die eisigen Grate des Gedankens, die
Niederstiege zu den verborgensten Quellen des Unbewußten, die Aufstiege,
die gleichsam traumwandlerischen Aufstiege zu den schwindelnden
Gipfeln des Selbsterkennens. Wo kein gewöhnlicher Weg war, er hat ihn
beschritten, wo Labyrinth und Wirrnis war, am liebsten gelebt. Nie
hat die Menschheit zuvor so tief den Mechanismus und die Mystik ihres
seelischen Wesens erkannt, sie ist wacher und bewußter geworden in
seinem Blick und gleichzeitig geheimnisvoller und göttlicher in seinem
Gefühl. Ohne ihn, den großen Überschreiter alles Maßes, wüßte die
Menschheit weniger um ihr eingeborenes Geheimnis, weiter als je blicken
wir von der Höhe seines Werkes in das Zukünftige hinein.

Die erste Grenze, die Dostojewski durchstieß, die erste Ferne, die er
uns auftat, war Rußland. Er hat seine Nation für die Welt entdeckt,
unser europäisches Bewußtsein erweitert, als erster die Seele des
Russen uns als Fragment und als ein Kostbarstes der Weltseele erkennen
lassen. Vor ihm bedeutete Rußland für Europa eine Grenze: den Übergang
gegen Asien, einen Fleck Landkarte, ein Stück Vergangenheit unserer
eigenen barbarischen, überwundenen Kulturkindheit. Er aber zeigte als
erster uns die zukünftige Kraft in dieser Öde, seit ihm fühlen wir
Rußland als eine Möglichkeit neuer Religiosität, als ein kommendes Wort
im großen Gedichte der Menschheit. Er hat das Herz der Welt so reicher
gemacht um eine Erkenntnis und um eine Erwartung. Puschkin (der uns ja
schlecht zugänglich ist, weil sein poetisches Medium in jeder Übertragung
die elektrische Kraft verliert) hat uns nur die russische Aristokratie
gezeigt, Tolstoi wiederum den einfachen, patriarchalischen bäurischen
Menschen, die Wesen der alten, abgeteilten, abgelebten Welt. Erst er
entzündet uns die Seele mit der Verkündung neuer Möglichkeiten, erst er
entflammt den Genius dieser neuen Nation und läßt uns fast sehnsüchtig
werden, daß dieser glühende Tropfen Weltkindheit und Seelenanfang seines
Russenvolkes in die müde, stagnierende Welt des alten Europa einglühe.
Und gerade in diesem Kriege haben wir gefühlt, daß wir alles, was wir
von Rußland wußten, nur durch ihn wußten und daß er es uns möglich
gemacht, dieses Feindesland auch als Bruderland der Seele zu empfinden.

Aber tiefer noch und bedeutsamer als diese kulturelle Erweiterung des
Weltwissens um die Idee Rußlands (denn diese hätte vielleicht schon
Puschkin erreicht, wäre ihm nicht im 37. Jahre die Duellkugel durch die
Brust gefahren) ist jene ungeheure Erweiterung unseres seelischen
Selbstwissens, die ohne Beispiel ist in der Literatur. Dostojewski ist
der Psychologe der Psychologen. Die Tiefe des menschlichen Herzens
zieht ihn magisch an, das Unbewußte, das Unterbewußte, das Unergründliche
ist seine wahre Welt. Seit Shakespeare haben wir nicht soviel vom
Geheimnis des Gefühls und den magischen Gesetzen seiner Verschränkung
gelernt, und wie Odysseus, der einzige, der vom Hades wiederkehrte, von
der unterirdischen Welt, erzählt er von der Unterwelt der Seele. Denn
auch er, wie Odysseus, war begleitet von einem Gotte, von einem Dämon.
Seine Krankheit, ihn aufreißend zu Höhen des Gefühls, die der gemeine
Sterbliche nicht erreicht, ihn niederschmetternd in Zustände der Angst
und des Grauens, die schon jenseits des Lebens liegen, ließen ihn erst
atmen in dieser bald frostigen, bald feurigen Atmosphäre des Unbelebten
und Überlebendigen. Wie die Nachttiere in der Finsternis sehen, sieht
er in den Dämmerzuständen klarer wie andere am lichten Tag. In den
feurigen Elementen, wo andere verbrennen, wird ihm erst wahre, wohlige
Wärme des Gefühls; er ist weit über die gesunde Seele hinaus gewachsen
und hat in der kranken gehaust und damit im tiefsten Geheimnis des
Lebens. Atemnah hat er dem Wahnsinn ins Gesicht geleuchtet, wie ein
Mondsüchtiger ist er sicher über die Spitzen des Gefühls geschritten,
von denen die Wachenden und Wissenden in Ohnmacht abstürzen. Dostojewski
ist tiefer in die Unterwelt des Unbewußten gedrungen als die Ärzte, die
Juristen, die Kriminalisten und Psychopathen. Alles was die Wissenschaft
erst später entdeckte und benannte, was sie in Experimenten gleichsam
wie mit einem Skalpell von toter Erfahrung losschabte, alle die
telepathischen, hysterischen, halluzinativen, perversen Phänomene, hat
er voraus geschildert aus jener mystischen Fähigkeit des hellseherischen
Mitwissens und Mitleidens. Bis an den Rand des Wahnsinns (den Exzeß des
Geistes), bis an die Klippe des Verbrechens (den Exzeß des Gefühls)
hat er den Phänomenen der Seele nachgespürt und unendliche Strecken
seelischen Neulandes damit durchschritten. Eine alte Wissenschaft
schlägt mit ihm das letzte Blatt zu in ihrem Buch, Dostojewski beginnt
in der Kunst eine neue Psychologie.

Eine neue Psychologie: denn auch die Wissenschaft der Seele hat ihre
Methoden, auch die Kunst, die vorerst durch die Zeiten eine unendliche
Einheit scheint, ewig neue Gesetze. Auch hier gibt es Wandlungen des
Wissens, Fortschritte des Erkennens durch immer neue Auflösung und
Determinierung, und so wie etwa die Chemie durch Experimente die Anzahl
der Urelemente, der anscheinend unteilbaren, immer mehr verringert hat
und im scheinbar Einfachen noch die Zusammensetzungen erkennt, so löst
die Psychologie durch immer weiter schreitende Differenzierung die
Einheit des Gefühls in eine Unendlichkeit von Trieb und Widertrieb auf.
Trotz aller vorausschauenden Genialität einiger einzelner Menschen ist
eine Grenzlinie zwischen der alten Psychologie und der neuen nicht zu
verkennen. Von Homer und weit bis nach Shakespeare gibt es eigentlich
nur die Psychologie der Einlinigkeit. Der Mensch ist noch Formel, eine
Eigenschaft in Fleisch und Knochen: Odysseus ist listig, Achilles
mutig, Ajax zornvoll, Nestor weise ... jede Entschließung, jede Tat
dieser Menschen liegt klar und offen in der Schußfläche ihres Willens.
Und noch Shakespeare, der Dichter an der Wende der alten und der neuen
Kunst, zeichnet seine Menschen so, daß immer eine Dominante die
widerstreitende Melodik ihres Wesens auffängt. Aber gerade er ist es
auch, der den ersten Menschen aus dem seelischen Mittelalter in unsere
neuzeitliche Welt voraussendet. In seinem Hamlet erschafft er die erste
problematische Natur, den Ahnherrn des modernen differenzierten
Menschen. Hier ist zum ersten Male im Sinne der neuen Psychologie der
Wille durch Hemmungen gebrochen, der Spiegel der Selbstbetrachtung
in die Seele selbst gestellt, der um sich selbst wissende Mensch
gestaltet, der zwiefach lebt, außen und innen zugleich, im Handeln
denkend, im Denken sich verwirklichend. Hier lebt der Mensch zum
erstenmal sein Leben, wie wir es fühlen, fühlt, wie wir Gegenwärtigen
fühlen, freilich noch aus einer Dämmerung des Bewußtseins heraus: noch
ist er, der Dänenprinz, umwoben vom Requisit einer abergläubischen
Welt, noch wirken Zaubertränke und Geister auf seinen beunruhigten
Sinn, statt bloß Wahn und Ahnung. Aber doch, hier ist er schon vollendet,
das ungeheuere psychologische Geschehnis der Verzweifachung des Gefühls.
Der neue Kontinent der Seele ist entdeckt, die zukünftigen Forscher haben
freie Bahn. Der romantische Mensch Byrons, Goethes, Shelleys, Child
Harold und Werther, den leidenschaftlichen Widerspruch seines Wesens zur
nüchternen Welt im ewigen Gegensatz empfindend, fördert durch seine
Unruhe die chemische Zersetzung der Gefühle. Die exakte Wissenschaft
gibt inzwischen noch manche wertvolle Einzelerkenntnis. Dann kommt
Stendhal. Er weiß schon mehr als alle früheren von der kristallinischen
Bildung der Gefühle, der Vieldeutigkeit und Verwandlungsfähigkeit der
Empfindungen. Er ahnt den geheimnisvollen Widerstreit der Brust um jeden
einzelnen ihrer Entschlüsse. Aber die seelische Trägheit seines Genies,
die spaziergängerische Lässigkeit seines Charakters vermögen noch nicht
die ganze Dynamik des Unbewußten zu erhellen.

Erst Dostojewski, der große Zerstörer der Einheit, der ewige Dualist,
dringt ein in das Geheimnis. Er oder keiner schafft die vollkommene
Analyse des Gefühls. Bei Dostojewski ist die Einheit des Gefühls in
eine Masse zerrissen, als wäre seinen Menschen eine andere Seele
eingebaut wie all den früheren. Die kühnsten Seelenanalysen aller
Dichter vor ihm scheinen irgendwie oberflächenhaft neben seinen
Differenzierungen, sie wirken, wie etwa ein Lehrbuch der Elektrotechnik
wirken mag, das 30 Jahre alt ist, in dem eben nur die Anfangsgründe
angedeutet und das Wesentliche noch nicht einmal geahnt ist. Nichts ist
in seiner Seelensphäre einfaches Gefühl, unteilbares Element -- alles
Konglomerat, Zwischengangsform, Durchgangsform, Übergangsform. In
unendlicher Verkehrung und Verwirrung taumelt und schwankt die
Empfindung zur Tat, ein rasender Tausch von Wille und Wahrheit
schüttelt die Gefühle durcheinander. Immer meint man, schon am letzten
Grunde eines Entschlusses, eines Begehrens angelangt zu sein, und immer
wieder deutet es wieder weiter zurück in ein anderes. Haß, Liebe,
Wollust, Schwäche, Eitelkeit, Stolz, Herrschgier, Demut, Ehrfurcht,
alle Triebe sind ineinander verschlungen in ewigen Verwandlungen. Die
Seele ist eine Wirrnis, ein heiliges Chaos in Dostojewskis Werk. Es
gibt bei ihm Trunkenbolde aus Sehnsucht nach Reinheit, Verbrecher aus
Gier nach der Reue, Mädchenschänder aus Verehrung der Unschuld,
Gotteslästerer aus religiösem Bedürfnis. Wenn seine Menschen begehren,
tun sie es ebenso aus Hoffnung auf Zurückgestoßensein wie auf Erfüllung.
Ihr Trotz, faltet man ihn ganz auf, ist nichts anderes als eine
verborgene Scham, ihre Liebe ein verkümmerter Haß, ihr Haß eine
verborgene Liebe. Gegensatz befruchtet den Gegensatz. Es gibt bei ihm
Lüstlinge aus Gier nach dem Leiden und wieder Selbstquäler aus Gier nach
der Lust, in rasendem Kreislauf dreht sich der Wirbel ihres Wollens. In
der Begierde genießen sie schon den Genuß, im Genuß schon den Ekel, in
der Tat genießen sie die Reue und in der Reue wieder, rückfühlend, die
Tat. Es gibt gleichsam ein Oben und Unten, eine Vervielfachung der
Empfindungen bei ihnen. Die Taten ihrer Hände sind nicht die ihrer
Herzen, die Sprache ihrer Herzen wieder nicht die ihrer Lippen, jedes
einzelne Gefühl ist so Zerspaltenheit, Vielfalt und Vieldeutigkeit. Nie
wird es gelingen, bei Dostojewski eine Einheit des Gefühls zu fassen,
nie einen Menschen im Netz eines Sprachbegriffes zu fangen. Man nenne
Fedor Karamasoff einen Wüstling: der Begriff scheint ihn zu erschöpfen,
aber doch, ist nicht Swidrigailoff auch einer und jener namenlose
Student in den »Werdenden«, und doch: welche Welt zwischen ihnen und
ihren Gefühlen! Bei Swidrigailoff ist die Wollust eine kalte, seelenlose
Ausschweifung, er ist der berechnende Taktiker seiner Unzucht.
Karamasoffs Wollust wieder ist Lebenslust, Ausschweifung bis zur
Selbstbeschmutzung betrieben, ein tiefer Trieb, sich in das Niederste
des Lebens noch einzumengen, nur weil es Leben ist, sein Unterstes,
seinen Absud noch zu genießen aus einer Ekstase der Vitalität. Jener ist
Wollüstling aus Mangel, der andere aus Exzeß des Gefühls, was bei diesem
kranke Erregung des Geistes, ist bei jenem eine chronische Entzündung.
Swidrigailoff wieder ist der Mittelmensch der Wollust, der »Lasterchen«
hat statt der Laster, ein kleines schmutziges Tierchen, ein Insekt der
Sinne, und jener, der namenlose Student der »Werdenden«, wiederum ist
Perversion geistiger Bosheit ins Sexuelle. Man sieht, Welten des Gefühls
stehen zwischen diesen Menschen, die sonst ein einziger Begriff
zusammenfaßt, und so wie hier die Wollust differenziert ist und aufgelöst
in ihre geheimnisvollen Verwurzlungen und Komponenten, so ist bei
Dostojewski jedes Gefühl, jeder Trieb immer zurückgeführt in die letzte
Tiefe, in den Ursprung aller Kraftströmung, in jenen letzten Gegensatz
zwischen Ich und Welt, Behauptung und Hingabe, Stolz und Demut,
Verschwendung und Sparsamkeit, Vereinzelung und Gemeinschaft, zentripetale
und zentrifugale Kraft, Selbststeigerung oder Selbstvernichtung, Ich
oder Gott. Man mag die Gegensatzpaare nennen, wie es der Augenblick
fordert, immer sind es letzte, sind es Urgefühle jener Welt zwischen
Geist und Fleisch. Nie haben wir vor ihm von dieser wimmelnden Vielfalt
des Gefühls, von unserer seelischen Gemengtheit so viel gewußt.

Am überraschendsten aber wird diese Auflösung des Gefühls bei
Dostojewski in der Liebe. Es ist die Tat seiner Taten, daß er den
Roman, ja die ganze Literatur, die seit Hunderten von Jahren, seit der
Antike, immer nur in diesem Zentralgefühl zwischen Mann und Weib, als
in den Urquell alles Seins gemündet hatte, noch tiefer hinab, noch
höher hinauf, in letzte Erkenntnisse geführt hat. Liebe, anderen
Dichtern der Endzweck des Lebens, das Erzählungsziel des Kunstwerkes,
ihm ist sie nicht Urelement, sondern nur Stufe des Lebens. Für die
anderen dröhnt die glorreiche Sekunde der Versöhnung, der Ausgleich
aller Widerstreite im Augenblicke, wo Seele und Sinne, Geschlecht und
Geschlecht sich restlos in himmlische Gefühle lösen. Im letzten Grunde
ist bei ihnen, den anderen Dichtern, der Lebenskonflikt lächerlich
primitiv im Vergleich zu Dostojewski. Liebe rührt den Menschen an,
ein Zauberstab aus göttlicher Wolke, Geheimnis, die große Magie,
unerklärbar, unerläuterbar, letztes Mysterium des Lebens. Und der
Liebende liebt: er ist glücklich, erlangt er die Begehrte, er ist
unglücklich, erlangt er sie nicht. Wiedergeliebt sein ist der Himmel
der Menschheit bei allen Dichtern. Aber Dostojewskis Himmel sind höher.
Umarmung ist bei ihm noch nicht Vereinigung, Harmonie noch nicht die
Einheit. Für ihn ist Liebe nicht ein Glückszustand, ein Ausgleich,
sondern erhobener Streit, intensiveres Schmerzen der ewigen Wunde und
darum ein Leidensmoment, ein stärkeres Am-Leben-leiden als in den
gemeinen Augenblicken. Wenn Dostojewskis Menschen einander lieben,
so ruhen sie nicht. Im Gegenteil, nie sind seine Menschen mehr
durchschüttelt von allem Widerstreit ihres Wesens als im Augenblick,
da Liebe sich von Liebe erwidert fühlt, denn sie lassen sich nicht
versinken in ihrem Überschwang, sondern suchen ihn zu übersteigern.
Sie machen, echte Kinder seiner Entzweiung, nicht halt in dieser
letzten Sekunde. Sie verachten die sanfte Gleichung des Augenblicks
(den alle anderen als den schönsten ersehnen), daß Geliebter und
Geliebte sich gleich stark lieben und geliebt werden, weil dies
Harmonie wäre, ein Ende, eine Grenze, und sie leben nur für das
Grenzenlose. Dostojewskis Menschen wollen nicht ebenso lieben wie sie
geliebt werden: sie wollen immer nur lieben und wollen das Opfer sein,
derjenige, der mehr gibt, derjenige, der weniger empfängt, und sie
steigern einander in wahnsinnigen Lizitationen des Gefühls, bis es
gleichsam ein Keuchen, ein Stöhnen, ein Kampf, eine Qual wird, was als
sanftes Spiel begann. In rasender Verwandlung sind sie dann glücklich,
wenn sie zurückgestoßen, wenn sie verhöhnt, wenn sie verachtet werden,
denn dann sind sie es ja, die geben, unendlich geben und nichts dafür
verlangen, und darum ist bei ihm, dem Meister der Gegensätze, der Haß
immer so ähnlich der Liebe und die Liebe immer so ähnlich dem Haß. Aber
auch in den kurzen Intervallen, da sie einander gleichsam konzentriert
lieben, ist die Einheit des Gefühls noch einmal gesprengt, denn nie
können Dostojewskis Menschen gleichzeitig mit den geschlossenen Kräften
ihrer Sinne und Seele einander lieben. Sie lieben mit der einen oder
mit der anderen, nie ist Fleisch und Geist bei ihnen in Harmonie. Man
sehe nur auf seine Frauen: alle sind sie Kundrys, gleichzeitig in zwei
Welten des Gefühles lebend, mit ihrer Seele dem heiligen Gral dienend
und gleichzeitig wollüstig ihren Leib verbrennend in den Blumenhainen
Titurels. Das Phänomen der Doppelliebe, eines der kompliziertesten bei
anderen Dichtern, ist ein alltägliches, ein selbstverständliches bei
Dostojewski. Nastassja Philipowna liebt in ihrem spirituellen Wesen
Myschkin, den sanften Engel, und liebt gleichzeitig mit geschlechtlicher
Leidenschaft Rogoschin, seinen Feind. Vor der Kirchentür reißt sie sich
von dem Fürsten los in das Bett des anderen, vom Gelage des Trunkenen
stürzt sie zurück zu ihrem Heiland. Ihr Geist steht gleichsam oben und
sieht erschreckt zu, was unten ihr Körper treibt, ihr Körper schläft
gleichsam im hypnotischen Schlaf, während ihre Seele sich in Ekstase dem
anderen zuwendet. Und ebenso Gruschenka, sie liebt gleichzeitig und haßt
ihren ersten Verführer, liebt in Leidenschaft ihren Dimitri und mit
ihrer Verehrung schon ganz unkörperlich Aljoscha. Die Mutter des
»Jünglings« liebt aus Dankbarkeit ihren ersten Mann und gleichzeitig aus
Sklaverei, aus übersteigerter Demut Wersiloff. Unendlich, unermeßlich
sind die Verwandlungen des Begriffes, den die anderen Psychologen unter
dem Namen »Liebe« leichtfertig zusammenfaßten, so wie Ärzte vergangener
Zeiten ganze Gruppen von Krankheiten in einen Namen drängten, für die
wir heute hundert Namen und hundert Methoden haben. Liebe kann bei
Dostojewski verwandelter Haß sein (Alexandra), Mitleid (Dunia), Trotz
(Rogoschin), Sinnlichkeit (Fedor Karamasoff), Selbstvergewaltigung,
immer aber steht hinter der Liebe noch ein anderes Gefühl, ein Urgefühl.
Nie ist Liebe bei ihm elementar, unteilbar, unerklärbar, Urphänomen,
Wunder: immer erklärt, zerlegt er das leidenschaftlichste Gefühl. O,
unendlich, unendlich diese Verwandlungen, und jede einzelne wieder in
allen Farben schillernd, von Kälte zu Frost erstarrend und wieder
erglühend, unendlich und undurchdringlich wie die Vielfalt des Lebens.
Ich will nur erinnern an Katerina Iwanowna. Sie sieht Dimitri auf einem
Ball, er läßt sich ihr vorstellen, er beleidigt sie, und sie haßt ihn.
Er nimmt Rache, er erniedrigt sie, -- und sie liebt ihn, oder eigentlich
sie liebt nicht ihn, sondern die Erniedrigung, die er ihr zugefügt. Sie
opfert sich ihm auf und meint ihn zu lieben, aber sie liebt nur ihre
eigene Aufopferung, liebt ihre eigene Pose der Liebe, und je mehr sie
ihn so zu lieben scheint, um so mehr haßt sie ihn wieder. Und dieser Haß
fährt los auf sein Leben und zerstört es, und in dem Augenblick, wo sie
es zerstört hat, wo gleichsam ihre Aufopferung sich als Lüge offenbart,
ihre Erniedrigung gerächt ist, -- liebt sie ihn wieder! So kompliziert
ist bei Dostojewski ein Liebesverhältnis. Wie es vergleichen mit den
Büchern, die schon bei der letzten Seite sind, wenn die beiden einander
lieben und durch alle Fährnisse des Lebens sich gefunden haben? Wo die
anderen enden, beginnen erst die Tragödien Dostojewskis, denn er will
nicht Liebe, nicht laue Aussöhnung der Geschlechter als Sinn und Triumph
der Welt. Er knüpft wieder an die große Tradition der Antike an, wo
nicht ein Weib zu erringen, sondern die Welt und alle Götter zu
bestehen, Sinn und Größe eines Schicksals war. Bei ihm hebt sich der
Mensch wieder auf, nicht mit dem Blick zu den Frauen, sondern mit der
offenen Stirne zu seinem Gott. Seine Tragödie ist größer als die von
Geschlecht zu Geschlecht und vom Mann zum Weib.

Hat man nun Dostojewski in dieser Tiefe der Erkenntnis, in dieser
restlosen Auflösung der Empfindung erkannt, so weiß man: es gibt von
ihm keinen Weg wieder zurück ins Vergangene. Will eine Kunst wahrhaft
sein, so darf sie von nun an nicht die kleinen Heiligenbilder des
Gefühls aufstellen, die er zerschlagen, nie mehr den Roman in die
kleinen Kreise der Gesellschaft und Gefühle sperren, nie mehr das
geheimnisvolle Zwischenreich der Seele verschatten wollen, das er
durchleuchtet. Als erster hat er uns die Ahnung des Menschen gegeben,
die Wir als erste selbst sind, im Gegensatz zu der Vergangenheit,
differenzierter im Gefühl, weil beladener mit mehr Erkenntnis als alle
früheren. Niemand kann ermessen, um wie viel wir in den fünfzig Jahren
seit seinen Büchern den Dostojewskischen Menschen schon ähnlicher
geworden sind, wie viele Prophezeiungen sich schon in unserem Blute, in
unserem Geiste von seiner Ahnung erfüllen. Das Neuland, das er als
erster beschritten, ist vielleicht schon unser Land, die Grenzen, die
er überwunden, unsere sichere Heimat.

Unendliches aus unserer letzten Wahrheit, die wir jetzt erleben, hat er
uns prophetisch aufgetan. Er hat der Tiefe des Menschen ein neues Maß
gegeben: nie hat ein Sterblicher vor ihm so viel vom unsterblichen
Geheimnis der Seele gewußt. Aber wunderbar: so sehr er unser Wissen um
uns selbst erweitert, so viel wir an ihm gelernt, nie verlernen wir an
seiner Erkenntnis das hohe Gefühl, demütig zu sein und das Leben als
etwas Dämonisches zu empfinden. Daß wir bewußter wurden durch ihn, hat
uns nicht freier gemacht, sondern nur gebundener. Denn so wenig die
modernen Menschen den Blitz, seit sie ihn als elektrisches Phänomen,
als Spannung und Entladung der Atmosphäre erkennen und benennen, als
minder gewaltig empfinden wie die vorherigen Geschlechter, so wenig
kann unsere erhöhte Erkenntnis des seelischen Mechanismus im Menschen
die Ehrfurcht vor der Menschheit vermindern. Gerade Dostojewski, der
alle Einzelheiten der Seele uns wissend zeigte, dieser große Zerleger,
dieser Anatom des Gefühles, gibt gleichzeitig tieferes, universaleres
Weltgefühl als alle Dichter unserer Zeit. Und der so tief den Menschen
gekannt wie keiner vor ihm, hat wie keiner Ehrfürchtigkeit vor dem
Unbegreiflichen, das ihn gestaltet: vor dem Göttlichen, vor Gott.


                         DIE GOTTESQUAL

                                 »Gott hat mich mein ganzes Leben
                               lang gequält.«         Dostojewski

»Gibt es einen Gott oder nicht?« fährt Iwan Karamasoff in jenem
furchtbaren Zwiegespräch seinen Doppelgänger, den Teufel, an. Der
Versucher lächelt. Er hat keine Eile zu antworten, die schwerste Frage
einem gemarterten Menschen abzunehmen. »Mit grimmiger Hartnäckigkeit«
dringt Iwan nun in seiner Gottesraserei auf den Satan ein: er soll, er
muß ihm Antwort stehen in dieser wichtigsten Frage der Existenz. Aber
der Teufel schürt nur den Rost der Ungeduld. »Ich weiß es nicht«,
antwortet er dem Verzweifelten. Nur um den Menschen zu quälen, läßt er
ihm die Frage nach Gott unbeantwortet, läßt er ihm die Gottesqual.

Alle Menschen Dostojewskis und nicht als Letzter er selbst haben diesen
Satan in sich, der die Gottesfrage stellt und nicht beantwortet. Allen
ist jenes »höhere Herz« gegeben, das fähig ist, sich mit diesen
qualvollen Fragen zu quälen. »Glauben Sie an Gott«, herrscht Stawrogin,
ein anderer, Mensch gewordener Teufel, plötzlich den demütigen Schatow
an. Wie einen Brandstahl stößt er ihm die Frage mörderisch ins Herz.
Schatow taumelt zurück. Er zittert, er wird bleich, denn gerade die
Aufrichtigsten bei Dostojewski zittern vor diesem letzten Bekenntnis
(und er, wie hat er selbst davor gebebt in heiligen Ängsten). Und erst
wie ihn Stawrogin mehr und mehr bedrängt, stammelt er aus blassen
Lippen die Ausflucht: »Ich glaube an Rußland.« Und nur um Rußlands
willen bekennt er sich zu Gott.

Dieser verborgene Gott ist das Problem aller Werke Dostojewskis, der
Gott in uns, der Gott außer uns und seine Erweckung. Als echtem Russen,
dem größten und wesenhaftesten, den dies Millionenvolk gebildet, ist
ihm nach seiner eigenen Definition diese Frage um Gott und die
Unsterblichkeit die »wichtigste des Lebens«. Keiner seiner Menschen
kann der Frage entweichen: sie ist ihm angewachsen als Schatten seiner
Tat, bald ihnen vorauslaufend, bald ihnen als Reue im Rücken. Sie
können ihr nicht entfliehen, und der einzige, der versucht, sie zu
verneinen, dieser ungeheuere Märtyrer des Gedankens, Kirillow, in den
»Dämonen«, muß sich selbst töten, um Gott zu töten -- und beweist
damit, leidenschaftlicher als die anderen, seine Existenz und
Unentrinnbarkeit. Man blicke doch auf seine Gespräche, wie die Menschen
vermeiden wollen, von Ihm zu sprechen, wie sie Ihm ausweichen und
ausbiegen: sie möchten immer gern unten bleiben im niedern Gespräch, im
»small talk« des englischen Romans, sie reden von der Leibeigenschaft,
von Frauen, von der Sixtinischen Madonna, von Europa, aber die
unendliche Schwerkraft der Gottesfrage hängt sich an jedes Thema und
zieht es schließlich magisch in seine Unergründlichkeit. Jede
Diskussion bei Dostojewski endet beim russischen Gedanken oder beim
Gottesgedanken -- und wir sehen, daß diese beiden Ideen für ihn eine
Identität sind. Russische Menschen, seine Menschen, können so wie in
ihren Gefühlen auch in ihren Gedanken nicht haltmachen, sie müssen
unvermeidlich vom Praktischen und Tatsächlichen in das Abstrakte, vom
Endlichen ins Unendliche, immer ans Ende. Und aller Fragen Ende ist die
Gottesfrage. Sie ist der innere Wirbel, der ihre Ideen rettungslos in
sich reißt, der schwärende Splitter in ihrem Fleische, der ihre Seelen
mit Fieber erfüllt.

Mit Fieber. Denn Gott -- Dostojewskis Gott -- ist das Prinzip aller
Unruhe, weil er, Urvater der Kontraste, zugleich das Ja und das Nein
ist. Nicht wie auf den Bildern der alten Meister, in den Schriften der
Mystiker ist er die sanfte Schwebe über den Wolken, selig-beschauliches
Erhobensein -- Dostojewskis Gott ist der springende Funke zwischen den
elektrischen Polen der Urkontraste, er ist kein Wesen, sondern ein
Zustand, ein Spannungszustand, ein Verbrennungsprozeß des Gefühls, er
ist Feuer, ist die Flamme, die alle Menschen erhitzt und überkochen
macht in Ekstase. Er ist die Geißel, die sie aus sich, aus ihrem warmen
ruhigen Leib, in die Unendlichkeit treibt, der sie verlockt in alle
Exzesse des Wortes und der Tat, sie hinstürzt in den brennenden
Dornbusch ihrer Laster. Er ist, wie seine Menschen, wie der Mensch, der
ihn schuf, ein ungenügsamer Gott, den keine Anstrengung bewältigt,
kein Gedanke erschöpft, keine Hingabe befriedigt. Er ist der ewig
Unerreichbare, ist aller Qualen Qual, und mitten aus Dostojewskis Brust
bricht darum Kirillows Schrei: »Gott hat mich mein ganzes Leben lang
gequält.«

Das ist Dostojewskis Geheimnis: er braucht Gott und findet ihn doch
nicht. Manchmal meint er ihm schon zu gehören, und schon umfaßt ihn
seine Ekstase, da klirrt sein Verneinungsbedürfnis ihn wieder zur Erde.
Keiner hat das Gottesbedürfnis stärker erkannt. »Gott ist mir deshalb
notwendig,« sagt er einmal, »weil er das einzige Wesen ist, das man
immer lieben kann«, und ein anderes Mal: »Es gibt keine unaufhörlichere
und quälendere Angst für den Menschen, als etwas zu finden, vor dem er
sich beugen kann.« Sechzig Jahre leidet er an dieser Gottesqual und
liebt Gott wie jedes seiner Leiden, liebt ihn mehr als alles, weil er
das ewigste aller Leiden ist und Leidensliebe den tiefsten Gedanken
seines Sein bedeutet. Sechzig Jahre kämpft er sich zu ihm und lechzt
»wie trockenes Gras« nach dem Glauben. Das ewig Zersprengte will eine
Einheit, der ewig Gejagte eine Rast, der ewig Getriebene durch alle
Stromschnellen der Leidenschaft, der sich Zerströmende den Ausgang, die
Ruhe, das Meer. So träumt er ihn als Beruhigung und findet ihn doch nur
als Feuer. Er möchte selbst ganz klein werden, ganz wie die Dumpfen
im Geiste, um in ihn eingehen zu können, möchte glauben können im
Köhlerglauben, wie die »zehn Pud dicke Kaufmannsfrau«, möchte es
aufgeben, der Wissendste, der Bewußte zu sein, um der Gläubige zu
werden, wie Verlaine fleht er: »Donnez-moi de la simplicité.« Das
Gehirn verbrennen im Gefühl, hinströmen in die Gottesruhe, tierhaft
dumpf, das ist sein Traum. O, wie streckt er sich ihm entgegen, er tobt
brünstig, er schreit, er wirft die Harpunen der Logik aus, ihn zu
fassen, legt ihm die verwegensten Fuchsfallen der Beweise; wie ein
Pfeil schießt seine Leidenschaft auf, ihn zu treffen, ein Lechzen nach
Gott ist seine Liebe, eine »fast unanständige Leidenschaft«, ein
Paroxysmus, ein Überschwang.

Ist er aber darum schon gläubig, weil er so fanatisch glauben will?
War Dostojewski, der beredteste Anwalt der Rechtgläubigkeit, der
Pravoslavie selbst ein Bekenner, ein poeta christianissimus? Sicherlich
in Sekunden: da zuckt sein Spasma ins Unendliche hinein, da krampft er
sich ein in Gott, da hält er die Harmonie, die irdisch versagte, in
Händen, da ist er, der Gekreuzigte seines Zwiespaltes, auferstanden in
den alleinigen Himmeln. Aber doch: irgend etwas bleibt auch dann noch
wach in ihm und schmilzt nicht hin im Seelenbrand. Während er schon
ganz aufgelöst scheint, ganz überirdische Trunkenheit, bleibt jener
grausame Geist der Analyse mißtrauisch auf der Lauer und mißt das Meer
aus, in das er versinken will. Der unerbittliche Doppelgänger wehrt
sich gegen die Aufgabe der Persönlichkeit. Auch im Gottesproblem klafft
der unheilbare Zwiespalt, der in jedem von uns eingeboren ist, aber den
kein Irdischer bisher zu solcher Spannweite des Abgrunds aufgerissen
wie Dostojewski. Er ist der Gläubigste aller und der äußerste Atheist
in einer Seele, er hat in seinen Menschen die polarsten Möglichkeiten
beider Formen gleich überzeugend dargestellt (ohne sich selbst zu
überzeugen, ohne sich selbst zu entscheiden), die Demut, sich
hinzugeben, sich, ein Staubkorn, aufzulösen in Gott, und andererseits
das grandioseste Extrem, selber Gott zu werden: »Erkennen, daß ein Gott
ist, und gleichzeitig erkennen, daß man nicht zum Gott geworden ist,
wäre ein Unsinn, durch den man zum Selbstmord getrieben wird.« Und sein
Herz ist bei beiden, beim Gottesknecht und beim Gottesleugner, bei
Aljoscha und bei Iwan Karamasoff. Er entscheidet sich nicht in dem
unablässigen Konzil seiner Werke, bleibt bei den Bekennern und den
Häretikern. Seine Gläubigkeit ist feuriger Wechselstrom zwischen dem Ja
und Nein, den beiden Polen der Welt. Auch vor Gott bleibt Dostojewski
der große Ausgestoßene der Einheit.

So bleibt er Sisyphus, der ewige Wälzer des Steins zur Höhe der
Erkenntnis, der er immer wieder entrollt. Der ewig Bemühte zu Gott,
den er nie erreicht. Aber irre ich denn nicht: ist Dostojewski nicht
den Menschen der große Prediger des Glaubens? Geht nicht durch seine
Werke der große orgelnde Hymnus an Gott? Bezeugen nicht alle seine
politischen, seine literarischen Schriften einhellig diktatorisch,
unzweifelhaft seine Notwendigkeit, seine Existenz, dekretieren sie denn
nicht die Rechtgläubigkeit, verwerfen sie nicht den Atheismus als das
äußerste Verbrechen? Aber man verwechsle hier nicht Wille mit Wahrheit,
nicht den Glauben mit dem Postulat des Glaubens. Dostojewski, der
Dichter der ewigen Umkehrung, dieser fleischgewordene Kontrast, predigt
den Glauben als Notwendigkeit, predigt ihn um so inbrünstiger den
anderen als -- er selbst nicht glaubt (im Sinne eines ständigen,
sicheren, ruhenden, vertrauenden Glaubens, der »geklärte Begeisterung«
als höchste Pflicht formuliert). Von Sibirien schreibt er an eine Frau:
»Ich will Ihnen von mir sagen, daß ich ein Kind dieser Zeit bin, ein
Kind des Unglaubens und des Zweifels, und es ist wahrscheinlich, ja,
ich weiß es bestimmt, daß ich es bis an mein Lebensende bleiben werde.
Wie entsetzlich quälte mich und quält mich auch jetzt die Sehnsucht
nach dem Glauben, die um so stärker ist, je mehr ich Gegenbeweise
habe.« Nie hat er es klarer gesagt: er hat Sehnsucht nach dem Glauben
aus Glaubenslosigkeit. Und hier ist eine jener erhabenen Umwertungen
Dostojewskis: eben weil er =nicht= glaubt und die Qual dieses
Unglaubens kennt, weil, nach seinem eigenen Worte, er die Qual immer
nur für sich liebt und Mitleid hat mit den andern -- darum predigt er
den andern den Glauben an einen Gott, den er selbst nicht glaubt.
Der Gottgequälte will eine gottselige Menschheit, der schmerzlich
Glaubenslose die glücklich Gläubigen. An das Kreuz seines Unglaubens
genagelt, predigt er dem Volke die Orthodoxie, er vergewaltigt seine
Erkenntnis, weil er weiß, daß sie zerreißt und verbrennt, und predigt
die Lüge, die Glück gibt, den strikten, textlichen Bauernglauben. Er,
der »kein Senfkorn Glauben hat«, der gegen Gott revoltierte und, wie er
selbst stolz sagte, »den Atheismus mit ähnlicher Kraft ausgedrückt hat,
wie niemand in Europa«, er verlangt die Unterwürfigkeit unter das
Popentum. Um die Menschen vor der Gottesqual zu behüten, die er wie
keiner im eigenen Fleische erlebt, verkündet er die Gottesliebe. Denn
er weiß: »Das Schwanken, die Unruhe des Glaubens -- das ist für einen
gewissenhaften Menschen eine solche Qual, daß es besser ist, sich zu
erhängen.« Er selbst ist ihr nicht ausgewichen, als Märtyrer hat er
den Zweifel auf sich genommen. Aber der Menschheit, der unendlich
geliebten, will er ihn ersparen, wie sein Großinquisitor will er der
Menschheit die Qual der Gewissensfreiheit sparen und sie einwiegen in
den toten Rhythmus der Autorität. So schafft er, statt hochmütig die
Wahrheit seines Wissens zu verkünden, die demütige Lüge eines Glaubens.
Er verschiebt das religiöse Problem ins Nationale, dem er den Fanatismus
des göttlichen gibt. Und wie sein getreuester Knecht antwortet er auf
die Frage: »Glauben Sie an Gott?« in der aufrichtigsten Konfession
seines Lebens: »Ich glaube an Rußland.«

Denn das ist seine Flucht, seine Ausflucht, seine Rettung: Rußland.
Hier ist sein Wort nicht mehr Zwiespalt, hier wird es Dogma. Gott hat
ihm geschwiegen: so schafft er sich als Mittler zwischen sich und
dem Gewissen selbst einen Christus, den neuen Verkünder einer neuen
Menschheit, den russischen Christus. Aus der Wirklichkeit, aus der
Zeit stürzt er sein ungeheueres Glaubensbedürfnis einem Unbestimmten
entgegen -- denn nur einem Unbestimmten, einem Grenzenlosen kann dieser
Maßlose sich ganz hingeben -- in die ungeheuere Idee Rußland, in
dieses Wort, das er anfüllt mit allem Unmaß seiner Gläubigkeit. Ein
anderer Johannes, verkündigt er diesen neuen Christus, ohne ihn
geschaut zu haben. Aber er spricht in seinem Namen, in Rußlands Namen
für die Welt.

Diese seine messianischen Schriften -- es sind die politischen Aufsätze
und manche Ausbrüche der Karamasoff -- sind dunkel. Verworren
enttaucht ihnen dieses neue Christusantlitz, der neue Erlösungs- und
Allversöhnungsgedanke, ein byzantinisches Antlitz mit harten Zügen,
strengen Falten. Wie von den alten rauchgeschwärzten Ikonen starren
fremde stechende Augen uns an, Inbrunst, unendliche Inbrunst in sich,
aber auch Haß und Härte. Und furchtbar ist Dostojewski selbst, wenn
er diese russische Erlösungsbotschaft uns Europäern wie verlorenen
Heiden kündet. Ein böser, fanatischer, mittelalterlicher Mönch, das
byzantinische Kreuz wie eine Geißel in der Hand, so steht der Politiker,
der religiöse Fanatiker uns gegenüber. Wie ein Delirant, ein Heimgesuchter
in mystischen Krämpfen, nicht in sanfter Predigt kündet er seine Lehre,
in dämonischen Zornausbrüchen entlädt sich seine maßlose Leidenschaft.
Mit Keulen schlägt er jeden Einwand nieder, ein Fiebernder, gegürtet mit
Hochmut, funkelnd von Haß, stürmt er die Tribüne der Zeit. Schaum steht
vor seinem Munde, und mit zitternden Händen schleudert er den Exorzismus
über unsere Welt.

Ein Bilderstürmer, ein rasender Ikonoklast, fällt er her über die
Heiligtümer der europäischen Kultur. Alles stampft er nieder, der große
Tobsüchtige, von unseren Idealen, um seinem neuen, dem russischen
Christus, den Weg zu bereiten. Bis zum Irrwitz schäumt seine
moskowitische Unduldsamkeit. Europa, was ist es? Ein Kirchhof, mit
teuern Gräbern vielleicht, aber jetzt stinkend von Fäulnis, nicht
einmal Dünger mehr für die neue Saat. Die blüht einzig aus russischer
Erde. Die Franzosen -- eitle Laffen, die Deutschen -- ein niedriges
Wurstmachervolk, die Engländer -- Krämer der Vernünftelei, die Juden --
stinkender Hochmut. Der Katholizismus -- eine Teufelslehre, eine
Verhöhnung Christi, der Protestantismus -- ein vernünftlerischer
Staatsglaube, alles Hohnbilder des einzig wahren Gottesglaubens: der
russischen Kirche. Der Papst -- der Satan in der Tiara, unsere Städte
-- Babylon, die große Hure der Apokalypse, unsere Wissenschaft -- ein
eitles Blendwerk, Demokratie -- die dünne Brühe weicher Gehirne,
Revolution -- ein loses Bubenstück von Narren und Genarrten, Pazifismus
-- ein Altweibergeschwätz. Alle Ideen Europas ein verblühter,
verwelkter Blumenstrauß, gut genug, in die Jauche geschmissen zu
werden. Nur die russische Idee ist die einzig wahre, einzig große,
einzig richtige. Im Amoklauf stürmt der rasende Übertreiber weiter,
jeden Einwand mit dem Dolche niederstoßend: »Wir verstehen euch, aber
ihr versteht nicht uns« -- schon bricht jede Diskussion blutend
zusammen. »Wir Russen sind die Allverstehenden, ihr seid die Begrenzten«,
dekretiert er. Rußland allein ist richtig und alles in Rußland, der Zar
und die Knute, der Pope und der Bauer, die Troika und die Ikone, und um so
richtiger, je mehr es antieuropäisch, asiatisch, mongolisch, tatarisch,
um so richtiger, als es konservativ, rückständig, unfortschrittlich,
ungeistig, byzantinisch ist. O, wie tobt er sich hier aus, der große
Übertreiber! »Seien wir Asiaten, seien wir Sarmaten«, jauchzt er auf.
»Weg von Petersburg, dem europäischen, zurück zu Moskau, hinüber
nach Sibirien, das neue Rußland ist das Dritte Reich.« Diskussion
darüber duldet dieser gotttrunkene mittelalterliche Mönch nicht. Nieder
die Vernunft! Rußland ist das Dogma, das widerspruchslos zu bekennen
ist. »Man versteht Rußland nicht mit der Vernunft, sondern mit dem
Glauben.« Wer ihm nicht in die Knie stürzt, ist der Feind, der
Antichrist: Kreuzzug wider ihn! Hell schmettert er in die Fanfare des
Krieges. Zerstampft muß Österreich werden, der Halbmond von der Hagia
Sofia Konstantinopels gerissen, Deutschland gedemütigt, England besiegt
-- ein wahnwitziger Imperialismus hüllt seinen Hochmut in mönchische
Kutte und ruft: 'Dieu le veut.' Um des Gottesreiches willen die ganze
Welt für Rußland.

Rußland also ist Christus, der neue Erlöser, und wir sind die Heiden.
Nichts errettet uns Verworfene aus dem Fegefeuer unserer Schuld: wir
haben die Erbsünde begangen, keine Russen zu sein. Unserer Welt ist
kein Raum in diesem neuen Dritten Reich: erst muß unsere europäische
Welt untergehen im russischen Weltreiche, im neuen Gottesreiche, dann
erst kann sie erlöst werden. Wörtlich sagt er: »Jeder Mensch muß
vorerst Russe werden.« Dann erst beginnt die neue Welt. Rußland ist das
Gottträgervolk: erst muß es noch mit dem Schwerte die Erde erobern,
dann erst wird es sein »letztes Wort« der Menschheit sagen. Und dieses
letzte Wort heißt für Dostojewski: Versöhnung. Für ihn besteht das
russische Genie in der Fähigkeit, alles zu verstehen, alle Gegensätze
zu lösen. Der Russe ist der Allversteher und darum der Nachgiebige im
höchsten Sinn. Und sein Staat, der Zukunftsstaat, wird die Kirche sein,
die Form der brüderlichen Gemeinschaft, der Durchdringung statt der
Unterordnung. Und es klingt wie ein Prolog zu den Ereignissen dieses
Krieges (der in seinem Anbeginn so genährt war von seinen Ideen, wie in
seinem Ende von jenen Tolstois), wenn er sagt: »Wir werden die ersten
sein, die der Welt verkünden, daß wir nicht durch Unterdrückung der
Persönlichkeit und fremder Nationalitäten das eigene Gedeihen erreichen
wollen, sondern im Gegenteil letzteres nur in der freiesten und
selbständigsten Entwicklung aller Nationen und in der brüderlichen
Vereinigung suchen.« Lenin und Trotzky sind in dieser Verheißung,
gleichzeitig aber auch der Krieg, den er, der ewige Anwalt des Anspannens
aller Gegensätze, so leidenschaftlich gepriesen. Allversöhnung als
Ziel, aber Rußland als der einzige Weg -- »von Osten her wird die Erde
erschaffen«. Über die Berge des Ural wird das ewige Licht aufsteigen und
das schlichte Volk, nicht der wissende Geist, nicht die europäische
Kultur, mit seinen dunklen Geheimnissen der Erde verbundenen Kräften
unsere Welt erlösen. Statt der Macht wird die werktätige Liebe sein,
statt des Widerstreits der Persönlichkeiten das allmenschliche Gefühl,
der neue, der russische Christus wird die Allversöhnung bringen, die
Auflösung der Gegensätze. Und der Tiger wird neben dem Lamme weiden und
der Rehbock neben dem Löwen -- wie zittert Dostojewskis Stimme, wenn er
vom Dritten Reich spricht, vom Allrußland der Erde, wie bebt er selbst
in der Ekstase der Gläubigkeit, wie wunderbar ist er, der Wissendste
aller Wirklichkeiten, in seinem messianischen Traum.

Denn in das Wort Rußland, in die Idee Rußland hinein träumt Dostojewski
diesen Christustraum, die Idee der Versöhnung der Gegensätze, die er
in seinem Leben, in der Kunst und selbst in Gott durch sechzig Jahre
vergeblich gesucht. Aber dieses Rußland, welches ist es, das reale oder
das mystische, das politische oder das prophetische? Wie immer bei
Dostojewski: beides zugleich. Vergeblich, von einem Leidenschaftlichen
Logik zu verlangen und von einem Dogma seine Begründung. In den
messianischen Schriften Dostojewskis, den politischen, den literarischen
Werken, taumeln die Begriffe wie rasend durcheinander. Bald ist Rußland
Christus, bald Gott, bald das Reich Peters des Großen, bald das neue
Rom, die Vereinigung des Geistes und der Macht, Tiara und Kaiserkrone,
seine Hauptstadt bald Moskau, bald Konstantinopel, bald das neue
Jerusalem. Die demütigsten allmenschlichsten Ideale wechseln brüsk mit
machtgierigen slawophilen Eroberungsgelüsten, politische Horoskope von
verblüffender Treffsicherheit mit phantastischen apokalyptischen
Verheißungen. Bald jagt er den Begriff Rußland in die Enge der
politischen Stunde, bald schnellt er ihn in das Grenzenlose empor --
auch hier wie im Kunstwerk die gleiche zischende Mischung von Wasser und
Feuer, von Realismus und Phantastik offenbarend. Der Dämonische in ihm,
der rasende Übertreiber, in ein Maß gezwungen sonst in seinen Romanen,
hier lebt er sich aus in pythischen Krämpfen: mit der ganzen Inbrunst
seiner glühenden Leidenschaft predigt er Rußland als das Heil der Welt,
die alleinmachende Seligkeit. Nie ward eine Nationalidee hochmütiger,
genialer, werbender, verführender, berauschender, ekstatischer Europa
als Weltidee verkündet, wie die russische in den Büchern Dostojewskis.

Ein unorganischer Auswuchs der großen Gestalt scheint dieser Fanatiker
seiner Rasse zuerst, dieser mitleidlose ekstatische russische Mönch,
dieser hochmütige Pamphletist, dieser unwahrhaftige Bekenner. Aber
gerade er ist notwendig für die Einheit von Dostojewskis Persönlichkeit.
Wo immer wir bei Dostojewski ein Phänomen nicht verstehen, müssen wir
seine Notwendigkeit im Kontrast suchen. Vergessen wir nicht: Dostojewski
ist immer ein Ja und Nein, die Selbstvernichtung und Selbstüberhebung,
der zur Spitze getriebene Kontrast. Und dieser übertriebene Hochmut
ist nur das Widerspiel einer übertriebenen Demut, sein gesteigertes
Volksbewußtsein nur das polare Empfinden seines überreizten persönlichen
Nichtigkeitsempfindens. Er spaltet sich gleichsam selbst in zwei
Hälften: in Stolz und in Demut. Seine Persönlichkeit erniedrigt er: man
durchsuche die zwanzig Bände seines Werks nach einem einzigen Worte der
Eitelkeit, des Stolzes, der Überhebung! Nur Selbstverkleinerung findet
man darin, Ekel, Anklage, Erniedrigung. Und alles, was er an Stolz
besitzt, gießt er aus in die Rasse, in die Idee seines Volkes. Alles was
seiner isolierten Persönlichkeit gilt, vernichtet er, alles was dem
Unpersönlichen in ihm, dem Russen, dem Allmenschen gilt, erhebt er zur
Vergötterung. Aus dem Unglauben an Gott wird er Gottesprediger, aus dem
Unglauben an sich der Verkünder seiner Nation und der Menschheit. Auch
im Ideellen ist er der Märtyrer, der sich selbst an das Kreuz schlägt,
um die Idee zu erlösen.

Das ist sein großes Geheimnis: durch Gegensatz fruchtbar zu werden. Ihn
ausspannen ins Unendliche, damit er die ganze Welt umfasse, und dann die
ihm entspringende Kraft zur Zukunft wenden. Die andern Dichter schaffen
ihr Ideal gewöhnlich aus der Steigerung ihrer Persönlichkeit, indem sie
sich selbst nachbilden, gereinigt, verklärt, verbessert, erhoben, indem
sie den zukünftigen Menschen gewissermaßen als den geläuterten Typus
ihrer selbst betrachten. Dostojewski, der Gegensatzmensch, der
schöpferische Dualist, bildet sein Ideal, seinen Gott, durch die
Antithese zu sich selbst: er erniedrigt sich, den Lebendigen, zum
Negativ. Er will nur der Ton, der Lehm sein, aus dem die neue Form
gegossen wird, seinem Links entspricht ein Rechts im zukünftigen Bilde,
seiner Tiefe eine Erhebung, seinem Zweifel eine Gläubigkeit, seinem
Zwiespalt eine Einheit. »Möge ich selbst untergehen, wenn nur die andern
glücklich sind« -- das Wort seines Staretz verwandelt er in Geist. Er
vernichtet sich, um in dem zukünftigen Menschen aufzuerstehen.

Das Ideal Dostojewskis ist darum: Zu sein, wie er nicht ist. Zu fühlen,
wie er nicht fühlt. Zu denken, wie er nicht denkt. Zu leben, wie er
nicht lebt. Bis in das Kleinste, Zug um Zug, ist der neue Mensch seiner
individuellen Form entgegengesetzt, aus jedem Schatten seines eigenen
Wesens ein Licht gebildet, aus jedem Dunkel ein Glanz. Aus dem Nein
zu sich selbst schafft er das Ja, das leidenschaftliche zur neuen
Menschheit. Bis ins Körperliche hinein setzt sich diese beispiellose
moralische Verurteilung seines Selbst zugunsten des zukünftigen Wesens
fort, die Vernichtung des Ichmenschen um des Allmenschen willen. Man
nehme sein Bild, seine Photographie, seine Totenmaske und lege sie
neben die Bilder jener Menschen, in denen er sein Ideal geformt: neben
Aljoscha Karamasoff, neben den Staretz Sossima, den Fürsten Myschkin,
diese drei Skizzen zum russischen Christus, zum Heiland, die er
entworfen. Und bis ins Kleinste wird hier jede Linie Gegensatz sagen
und Kontrast zu ihm selbst. Dostojewskis Gesicht ist düster, erfüllt
von Geheimnissen und Dunkelheit, jener Antlitz ist heiter und von
friedlicher Offenheit, seine Stimme heiser und abrupt, die jener
Menschen sanft und leise. Sein Haar ist wirr und dunkel, seine Augen
tief und unruhig -- jener Antlitz ist hell und umrahmt von sanften
Strähnen, ihr Auge glänzt ohne Unruhe und Angst. Ausdrücklich sagt er
von ihnen, daß sie geradeaus schauen und ihr Blick das süße Lächeln
von Kindern hat. Seine Lippen sind schmal umkräuselt von den raschen
Falten des Hohnes und der Leidenschaft, sie verstehen nicht zu lachen
-- Aljoscha, Sossima haben das freie Lächeln des selbstsichern Menschen
über den weißen Zähnen blinken. Zug um Zug setzt er so sein eigenes Bild
als Negativ gegen die neue Form. Sein Antlitz ist das eines gebundenen
Menschen, des Knechtes aller Leidenschaften, bebürdet von Gedanken --
das ihre drückt die innere Freiheit aus, die Hemmungslosigkeit, die
Schwebe. Er ist Zerrissenheit, Dualismus, sie die Harmonie, die Einheit.
Er der Ichmensch, der in sich Eingekerkerte, sie der Allmensch, der von
allen Enden seines Wesens in Gott überströmt.

Diese Schaffung eines moralischen Ideals aus Selbstvernichtung -- nie
war sie vollkommener in allen Sphären des Geistigen und des Sittlichen.
Aus Selbstverurteilung, gleichsam, indem er sich die Adern seines
Wesens aufschneidet, mit dem eigenen Blute malt er das Bild des
zukünftigen Menschen. Er war noch der Leidenschaftliche, der Krampfige,
der Mensch der kurzen tigerhaften Ansprünge, seine Begeisterung eine
aus der Explosion der Sinne oder der Nerven aufschießende Stichflamme
-- jene sind die sanft, aber stetig bewegte, keusche Glut. Sie haben
die stille Beharrlichkeit, die weiter reicht als die wilden Sprünge
der Ekstase, sie haben die echte Demut, die nicht die Lächerlichkeit
fürchtet, sie sind nicht wie er die ewig Erniedrigten und Beleidigten,
die Gehemmten und Verkrümmten. Mit jedem können sie sprechen, und jeder
fühlt Beruhigung an ihrer Gegenwart -- sie haben nicht die ewige
Hysterie der Angst, zu kränken oder gekränkt zu werden, sie blicken
nicht bei jedem Schritt fragend um sich. Gott quält sie nicht mehr, er
befriedet sie. Sie wissen um alles, aber eben weil sie alles wissen,
verstehen sie auch alles, sie richten nicht und sie verurteilen nicht,
sie grübeln nicht nach den Dingen, sondern glauben sie dankbar.
Seltsam: er, der ewig Beunruhigte, sieht in dem gelassenen, geklärten
Menschen die höchste Form des Lebens, der Zwiespältige postuliert als
letztes Ideal die Einheit, der Empörer die Unterwerfung. Seine
Gottesqual ist in ihnen Gotteslust geworden, seine Zweifel Gewißheit,
seine Hysterie Gesundung, sein Leid ein allumfassendes Glück. Das
Letzte und Schönste der Existenz ist für ihn, was er selbst, der
Bewußte und Überbewußte, nie gekannt und was er darum für den Menschen
als das Erhabenste ersehnt: Naivität, Kindlichkeit des Herzens, die
sanfte, die selbstverständliche Heiterkeit.

Sehet seine liebsten Menschen, wie sie schreiten: ein sanftes Lächeln
ist auf ihren Lippen, um alles wissen sie und haben doch keinen Stolz,
sie leben im Geheimnis des Lebens nicht wie in einer feurigen Schlucht,
sondern schlagen es blau wie einen Himmel um sich. Sie haben die
Urfeinde der Existenz, sie haben »Schmerz und Angst besiegt« und sind
darum gottselig geworden in der unendlichen Brüderschaft der Dinge. Sie
sind erlöst von ihrem Ich. Höchstes Glück der Erdenkinder ist die
Unpersönlichkeit -- so verwandelt der höchste Individualist die
Weisheit Goethes in einen neuen Glauben.

Kein Beispiel kennt die Geschichte des Geistes einer ähnlichen
moralischen Selbstvernichtung innerhalb eines Menschen, ähnlich
fruchtbarer Erschaffung des Ideals aus dem Kontrast. Märtyrer seiner
selbst, hat Dostojewski sich ans Kreuz geschlagen: sein Wissen, daß
es den Glauben bezeuge, seinen Körper, daß er durch Kunst den neuen
Menschen zeuge, seine Eigenheit um der Allheit willen. Er will seinen
eigenen Untergang als Typus, damit eine glücklichere bessere Menschheit
entstehe: alles Leiden nimmt er auf sich um das Glück der andern willen.
Und der sich sechzig Jahre gespannt zur schmerzhaftesten Weite seines
Gegensatzes, zerwühlt zu allen Tiefen seines Wesens, damit er Gott und
damit den Sinn des Lebens finde -- er wirft die gehäufte Erkenntnis weg
für eine neue Menschheit, der er sein tiefstes Geheimnis sagt, die
letzte Formel, seine unvergeßlichste: »Das Leben mehr lieben als den
Sinn des Lebens.«


                        VITA TRIUMPHATRIX

                      »Wie es auch war, das Leben, es ist schön.«
                                                           Goethe

Wie dunkel der Weg durch Dostojewskis Tiefe, wie düster seine
Landschaft, wie drückend seine Unendlichkeit, geheimnisvoll ähnlich
seinem tragischen Antlitz, das allen Schmerz des Lebens in sich
gemeißelt! Abgründige Höllenkreise des Herzens, purpurne Fegefeuer der
Seele, der tiefste Schacht, den irdische Hand jemals in die Unterwelt
des Gefühles hinabstieß. Wieviel Dunkel in dieser Menschenwelt, wieviel
Leiden in diesem Dunkel! O welche Trauer auf seiner Erde, dieser Erde,
»die mit Tränen getränkt ist bis zu ihrer untersten Kruste«, welche
Höllenkreise in ihrer Tiefe, finsterer als Dante, der Seher, sie vor
einem Jahrtausend erschaut. Unerlöste Opfer ihrer Irdischkeit, Märtyrer
eigenen Gefühles, umschlungen von den Schlangen ihrer Leidenschaft,
gequält von allen Geißeln des Geistes, schäumend im Schwall ohnmächtiger
Empörung, o welche Welt, diese Welt Dostojewskis! Vermauert alle Freude,
verbannt alle Hoffnung, ohne Rettung vor dem Leiden, das, unendlich
getürmte Mauer, um alle seine Opfer steht! -- Kann kein Mitleid sie
erlösen, seine Menschen, aus ihrer eigenen Tiefe, sprengt keine
apokalyptische Stunde diese Hölle, die ein Gottesmensch schuf aus
seiner Qual?

Tumult und Klage strömt aus dieser Tiefe, wie nie die Menschheit sie
erhört. Nie war mehr Dunkelheit über einem Werk. Selbst Michelangelos
Gestalten sind linder in ihrer Trauer, und über Dantes Tiefe glänzt der
Paradiese seliger Schein. Ist wirklich das Leben nur ewige Nacht in
Dostojewskis Werk und Leiden der Sinn alles Lebens? Zitternd beugt sich
die Seele über den Abgrund und schauert, nur Qual und Klage zu hören
von ihren Brüdern.

Aber da schwebt ein Wort aus der Tiefe, sanft im Getümmel und doch hoch
sie überschwebend, wie eine Taube aufschwebt über stürmendem Meer.
Sanft ist es gesprochen, und groß ist sein Sinn, selig das Wort: »Meine
Freunde, fürchtet das Leben nicht.« Und es ist ein Schweigen aus diesem
Wort, schauernd lauscht die Tiefe, und sie schwebt, sie überschwebt
alle Qualen, die Stimme, da sie spricht: »Nur durch Qual können wir das
Leben lieben lernen.«

Wer spricht dies tröstendste Wort des Leidens? Der Leidendste aller, er
selbst, Dostojewski. Noch sind die gespreiteten Hände geschlagen an das
Kreuz seines Zwiespalts, noch stehen die Nägel der Qual in seinem
brüchigen Leibe, aber demütig küßt er das Marterholz dieser Existenz,
und die Lippen sind sanft, wie sie zu den Mitbrüdern das große
Geheimnis sagen: »Ich glaube, wir alle müssen erst das Leben lieben
lernen.«

Und anbricht der Tag aus seinen Worten, apokalyptische Stunde.
Aufspringen die Gräber und Kerker: aus der Tiefe stehen sie auf, die
Toten und Verschlossenen, alle, alle treten sie heran, Apostel seines
Wortes zu sein, aus ihrer Trauer erheben sie sich. Aus den Kerkern
drängen sie her, aus der Katorga Sibiriens, klirrend in Ketten, aus
Winkelstuben, Bordellen und Klosterzellen, sie alle, die großen
Leidenden der Leidenschaft; noch klebt das Blut an ihren Händen, noch
brennt ihr geknuteter Rücken, noch sind sie nieder in Zorn und Gebrest,
aber schon ist die Klage zerbrochen in ihrem Munde, und ihre Tränen
funkeln von Zuversicht. O ewiges Wunder Bileams, Fluch wird Segnung auf
ihrer brennenden Lippe, da sie das Hosianna des Meisters hören, das
Hosianna, das »durch alle Fegefeuer des Zweifels gegangen«. Die
Finstersten sind die ersten, die Traurigsten die Gläubigsten, alle
drängen sie vor, dies Wort zu bezeugen. Und aus ihren Mündern, den
rauhen und verlechzten, schäumt als großer Choral der Hymnus des
Leidens, der Hymnus des Lebens mit der Urgewalt der Ekstase. Alle, alle
sind sie zur Stelle, die Märtyrer, das Leben zu lobpreisen. Dimitri
Karamasoff, der unschuldig Verdammte, Ketten an den Händen, jauchzt aus
der Fülle seiner Kraft: »Alles Leid werde ich überwinden, um mir nur
sagen zu können: 'ich bin'. Wenn ich mich auch auf der Folterbank
krümme, so weiß ich doch, 'ich bin', angeschmiedet auf die Galeere,
sehe ich noch die Sonne, und wenn ich sie auch nicht sehe, so lebe ich
doch und weiß, daß sie ist.« Und Iwan, der Bruder, tritt ihm zur Seite
und kündet: »Es gibt kein unwiderrufliches Unglück als Totsein.« Und
wie ein Strahl dringt die Ekstase der Existenz in seine Brust, und er
jubelt, der Gottesleugner: »Ich liebe dich, Gott, denn groß ist das
Leben.« Aus den Sterbekissen hebt sich, gefalteter Hand, der ewige
Zweifler Stefan Trofimowitsch auf und stammelt: »O wie gerne würde ich
wieder leben wollen. Jede Minute, jeder Augenblick muß eine Seligkeit
des Menschen sein.« Immer heller, immer reiner, immer erhobener werden
die Stimmen. Fürst Myschkin, der Verwirrte, getragen von den schwankenden
Flügeln seiner schweifenden Sinne, breitet die Arme und schwärmt: »Ich
begreife nicht, wie man an einem Baum vorübergehen kann, ohne glücklich
zu sein, daß er ist und daß man ihn liebt ... wieviel wundervolle Dinge
gibt es doch auf jedem Schritt dieses Lebens, Dinge, die selbst der
Verworfenste noch als wundervoll empfindet.« Der Staretz Sossima
predigt: »Die Gott und das Leben verfluchen, verfluchen sich selbst ...
Wenn du jedes Ding lieben wirst, wird sich dir das Geheimnis Gottes in
allen Dingen offenbaren, und schließlich wirst du die ganze Welt mit
allumfassender Liebe umspannen.« Und selbst der »Mensch aus der
Winkelgasse«, der kleine verschüchterte Namenlose in seinem verschabten
Mäntelchen, drängt heran und entbreitet die Arme: »Das Leben ist
Schönheit, nur im Leiden ist Sinn, o wie schön ist das Leben!« Der
»lächerliche Mensch« bricht auf aus seinem Traum, »das Leben, das große,
zu verkünden«, alle, alle kriechen sie wie Gewürm aus den Winkeln ihres
Wesens, um mitzusprechen im großen Choral. Keiner will sterben, keiner
das Leben lassen, das heilig geliebte, keines Leiden ist so tief, daß er
es mit dem Tode noch tauschte, dem ewigen Widerpart. Und diese Hölle,
Dunkelheit der Verzweiflung, hallt plötzlich an ihren harten Wänden
Lobgesang des Schicksals wider, aus Fegefeuern entbrennt fanatische Glut
der Dankbarkeit. Licht, unendliches Licht strömt ein, der Himmel
Dostojewskis bricht über die Erde, und rauschend über alle dröhnt das
letzte Wort, das Dostojewski schrieb, das Wort der Kinder bei der Rede
am großen Stein, der heilig barbarische Ruf: »Hurra das Leben!«

O Leben, wunderbares, das du dir mit wissendem Willen Märtyrer schaffst,
auf daß sie dich lobsingen, o Leben, weise-grausames, das du die Größten
dir hörig machst mit Leiden, damit sie deinen Triumph verkünden! Den
ewigen Schrei Hiobs, der durch die Jahrtausende tönt, da er in der Plage
Gott erkennt, immer willst du ihn wieder hören und der Männer Daniels
Jubelgesang, indes ihr Leib im feurigen Ofen brennt. Ewig entzündest du
ihn, klingende Kohle, auf der Zunge der Dichter, die du zu Leidenden
machst, auf daß sie dir hörig werden und dich nennen in Liebe! Beethoven
schlägst du im Sinne der Musik, daß der Ertaubte das Brausen Gottes höre
und, vom Tode berührt, dir die Hymne der Freude dichte, Rembrandt jagst
du ins Dunkel der Armut, daß er Licht, dein Urlicht, in Farben sich
suche, Dante verjagst du vom Vaterland, daß er Hölle und Himmel im Traum
erschaue, alle hast du mit deinen Geißeln gejagt in deine Unendlichkeit.
Und diesen, den du wie keinen gegeißelt, auch ihn hast du dir gezwungen
zum Knechte, und siehe, von schäumender Lippe, hinfallend in Krämpfen
jauchzt er dir Hosianna zu, das heilige Hosianna, das »durch alle
Fegefeuer der Zweifel gegangen«. O wie siegst du in den Menschen, die du
leiden läßt, aus Nacht machst du Tag, aus Leiden die Liebe, aus der
Hölle holst du dir heiligen Lobgesang. Denn der Leidendste ist der
Wissendste aller, und wer um dich weiß, muß dich segnen: und dieser, der
dich zutiefst erkannte, siehe, er hat dich wie keiner bezeugt, er hat
dich wie keiner geliebt!


                            Druck vom
                   Bibliographischen Institut
                           in Leipzig



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DER IDIOT. Übertragen von H. Röhl. Drei Bände.

DER SPIELER. Übertragen von H. Röhl.

DIE BRÜDER KARAMASOFF. Übertragen und mit einem Nachwort versehen von
Karl Nötzel. Drei Bände.

NETOTSCHKA NJESWANOWA und andere Erzählungen. Übertragen von H. Röhl.

SCHULD UND SÜHNE (Raskolnikoff). Ein Roman in sechs Teilen mit einem
Nachwort. Übertragen von H. Röhl. Zwei Bände, 11.-20. Taus.



  [ Liste aller vorgenommenen Änderungen. Die jeweils erste Zeile gibt
    den unkorrigierten Text wieder, die zweite Zeile die Korrektur.

  einen Balzac nicht gleichgiltig sein, wenn sechzehn Jahre ersten
  einen Balzac nicht gleichgültig sein, wenn sechzehn Jahre ersten

  indem er das administrative Zentralisationssytem in die Literatur
  indem er das administrative Zentralisationssystem in die Literatur

  den Code civile schuf, gibt Balzac, ausruhend von der Eroberung der
  den Code civil schuf, gibt Balzac, ausruhend von der Eroberung der

  Louis Lambert, zusammen, des chemiste de la volonté, jener seltsamen
  Louis Lambert, zusammen, des chimiste de la volonté, jener seltsamen

  als Kind dem Vater ins Schuldgefängnis, in die Marshalea, Briefe
  als Kind dem Vater ins Schuldgefängnis, in die Marshalsea, Briefe

  Menschheit zu leiden«. Wie der kleine Njetoscha Neswanowa muß er
  Menschheit zu leiden«. Wie die kleine Njetoscha Neswanowa muß er

  Rußland gekommen sie, die hundert Rubel, für die er sich tausendfach
  Rußland gekommen sei, die hundert Rubel, für die er sich tausendfach

  Erniedrigung wird ihm jenes Bad in Reading Goal, wo sein gepflegter
  Erniedrigung wird ihm jenes Bad in Reading Gaol, wo sein gepflegter

  Tragödie erst ganz zu unseren, zur allmenschlichen. Da wird das
  Tragödie erst ganz zur unseren, zur allmenschlichen. Da wird das

  Kosmos Dostojewskis gibt es darum keine entgültig Verworfenen, keine
  Kosmos Dostojewskis gibt es darum keine endgültig Verworfenen, keine

  sondern die Desparados, die über unbekannte Ozeane zum neuen Indien
  sondern die Desperados, die über unbekannte Ozeane zum neuen Indien

  Karamasoffs Wollust wieder ist Lebenlust, Ausschweifung bis zur
  Karamasoffs Wollust wieder ist Lebenslust, Ausschweifung bis zur

  Identität sind. Russische Menschen, seine Menschen, können sie so wie in
  Identität sind. Russische Menschen, seine Menschen, können so wie in

  Heretikern. Seine Gläubigkeit ist feuriger Wechselstrom zwischen dem Ja
  Häretikern. Seine Gläubigkeit ist feuriger Wechselstrom zwischen dem Ja

  Allversöhnungsgedanke. ein byzantinisches Antlitz mit harten Zügen,
  Allversöhnungsgedanke, ein byzantinisches Antlitz mit harten Zügen,

  »Weg von Petersburg, dem europäischen zurück zu Moskau, hinüber
  »Weg von Petersburg, dem europäischen, zurück zu Moskau, hinüber
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