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Title: Der kleine Herr Friedemann - Novellen
Author: Mann, Thomas, 1875-1955
Language: German
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Der kleine Herr Friedemann.



COLLECTION FISCHER:


  =Hermann Bang=, Die vier Teufel.                        Geh. M. 1.--.
  =Peter Altenberg=, Ashantee.                            Geh. M. 2.--.
  =Maria Janitschek=, Raoul und Irene.                    Geh. M. 1.--.
  =Peter Nansen=, Aus dem Tagebuch eines Verliebten.      Geh. M. 2.--.
  =G. v. Beaulieu=, Sein Bruder.                          Geh. M. 1.--.
  =Thomas Mann=, Der kleine Herr Friedemann.              Geh. M. 2.--.
  =Otto Erich Hartleben=, Vom gastfreien Pastor.          Geh. M. 2.--.

  Jeder Band in vorliegender Ausstattung.

  =Peter Nansen=, Eine glückliche Ehe.
  =Hermann Bahr=, Caph.
  =Otto Erich Hartleben=, Die Geschichte vom abgerissenen Knopfe.
  =Hermann Bahr=, Dora.
  =Peter Nansen=, Maria.
  =Hans Land=, Die Tugendhafte.
  =Maria Janitschek=, Vom Weibe.

  Jeder Band mit illustriertem Umschlag geheftet 2 Mark.



  THOMAS MANN

  Der kleine Herr Friedemann

  Novellen

  BERLIN
  S. Fischer, Verlag
  1898.


  Alle Rechte vorbehalten.



INHALT:


                                Seite

  Der kleine Herr Friedemann        3

  Der Tod                          55

  Der Wille zum Glück              69

  Enttäuschung                    103

  Der Bajazzo                     117

  Tobias Mindernickel             181



Der kleine Herr Friedemann.


I.

Die Amme hatte die Schuld. -- Was half es, dass, als der erste Verdacht
entstand, Frau Konsul Friedemann ihr ernstlich zuredete, solches Laster
zu unterdrücken? Was half es, dass sie ihr ausser dem nahrhaften Bier
ein Glas Rotwein täglich verabreichte? Es stellte sich plötzlich heraus,
dass dieses Mädchen sich herbeiliess, auch noch den Spiritus zu trinken,
der für den Kochapparat verwendet werden sollte, und ehe Ersatz für sie
eingetroffen war, ehe man sie hatte fortschicken können, war das Unglück
geschehen. Als die Mutter und ihre drei halbwüchsigen Töchter eines
Tages von einem Ausgange zurückkehrten, lag der kleine, etwa einen Monat
alte Johannes, vom Wickeltische gestürzt, mit einem entsetzlich leisen
Wimmern am Boden, während die Amme stumpfsinnig daneben stand.

Der Arzt, der mit einer behutsamen Festigkeit die Glieder des gekrümmten
und zuckenden kleinen Wesens prüfte, machte ein sehr, sehr ernstes
Gesicht, die drei Töchter standen schluchzend in einem Winkel, und Frau
Friedemann in ihrer Herzensangst betete laut.

Die arme Frau hatte es noch vor der Geburt des Kindes erleben müssen,
dass ihr Gatte, der niederländische Konsul, von einer ebenso plötzlichen
wie heftigen Krankheit dahingerafft wurde, und sie war noch zu
gebrochen, um überhaupt der Hoffnung fähig zu sein, der kleine Johannes
möchte ihr erhalten bleiben. Allein nach zwei Tagen erklärte ihr der
Arzt mit einem ermutigenden Händedruck, eine unmittelbare Gefahr sei
schlechterdings nicht mehr vorhanden, die leichte Gehirnaffektion, vor
allem, sei gänzlich gehoben, was man schon an dem Blicke sehen könne,
der durchaus nicht mehr den stieren Ausdruck zeige wie anfangs ...
Freilich müsse man abwarten, wie im übrigen sich die Sache entwickeln
werde -- und das Beste hoffen, wie gesagt, das Beste hoffen ...


II.

Das graue Giebelhaus, in dem Johannes Friedemann aufwuchs, lag am
nördlichen Thore der alten, kaum mittelgrossen Handelsstadt. Durch die
Hausthür betrat man eine geräumige, mit Steinfliesen versehene Diele,
von der eine Treppe mit weissgemaltem Holzgeländer in die Etagen
hinaufführte. Die Tapeten des Wohnzimmers im ersten Stock zeigten
verblichene Landschaften, und um den schweren Mahagoni-Tisch mit der
dunkelroten Plüschdecke standen steiflehnige Möbel.

Hier sass er oft in seiner Kindheit am Fenster, vor dem stets schöne
Blumen prangten, auf einem kleinen Schemel zu den Füssen seiner Mutter
und lauschte etwa, während er ihren glatten, grauen Scheitel und ihr
gutes, sanftmütiges Gesicht betrachtete und den leisen Duft atmete, der
immer von ihr ausging, auf eine wundervolle Geschichte. Oder er liess
sich vielleicht das Bild des Vaters zeigen, eines freundlichen Herrn mit
grauem Backenbart. Er befand sich im Himmel, sagte die Mutter, und
erwartete dort sie alle.

Hinter dem Hause war ein kleiner Garten, in dem man während des Sommers
einen guten Teil des Tages zuzubringen pflegte, trotz des süsslichen
Dunstes, der von einer nahen Zuckerbrennerei fast immer herüberwehte.
Ein alter, knorriger Wallnussbaum stand dort, und in seinem Schatten
sass der kleine Johannes oft auf einem niedrigen Holzsessel und knackte
Nüsse, während Frau Friedemann und die drei nun schon erwachsenen
Schwestern in einem Zelt aus grauem Segeltuch beisammen waren. Der Blick
der Mutter aber hob sich oft von ihrer Handarbeit, um mit wehmütiger
Freundlichkeit zu dem Kinde hinüberzugleiten.

Er war nicht schön, der kleine Johannes, und wie er so mit seiner
spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden Rücken und seinen viel
zu langen, mageren Armen auf dem Schemel hockte und mit einem behenden
Eifer seine Nüsse knackte, bot er einen höchst seltsamen Anblick. Seine
Hände und Füsse aber waren zartgeformt und schmal, und er hatte grosse,
rehbraune Augen, einen weichgeschnittenen Mund und feines, lichtbraunes
Haar. Obgleich sein Gesicht so jämmerlich zwischen den Schultern sass,
war es doch beinahe schön zu nennen.


III.

Als er sieben Jahre alt war, ward er zur Schule geschickt, und nun
vergingen die Jahre einförmig und schnell. Täglich wanderte er, mit der
komisch wichtigen Gangart, die Verwachsenen manchmal eigen ist, zwischen
den Giebelhäusern und Läden hindurch nach dem alten Schulhaus mit den
gotischen Gewölben; und wenn er daheim seine Arbeit gethan hatte, las er
vielleicht in seinen Büchern mit den schönen, bunten Titelbildern oder
beschäftigte sich im Garten, während die Schwestern der kränkelnden
Mutter den Hausstand führten. Auch besuchten sie Gesellschaften, denn
Friedemanns gehörten zu den ersten Kreisen der Stadt; aber geheiratet
hatten sie leider noch nicht, denn ihr Vermögen war nicht eben gross,
und sie waren ziemlich hässlich.

Johannes erhielt wohl ebenfalls von seinen Altersgenossen hie und da
eine Einladung, aber er hatte nicht viel Freude an dem Verkehr mit
ihnen. Er vermochte an ihren Spielen nicht teilzunehmen, und da sie ihm
gegenüber eine befangene Zurückhaltung immer bewahrten, so konnte es zu
einer Kameradschaft nicht kommen.

Es kam die Zeit, wo er sie auf dem Schulhofe oft von gewissen
Erlebnissen sprechen hörte; aufmerksam und mit grossen Augen lauschte
er, wie sie von ihren Schwärmereien für dies oder jenes kleine Mädchen
redeten, und schwieg dazu. Diese Dinge, sagte er sich, von denen die
Anderen ersichtlich ganz erfüllt waren, gehörten zu denen, für die er
sich nicht eignete, wie Turnen und Ballwerfen. Das machte manchmal ein
wenig traurig; am Ende aber war er von jeher daran gewöhnt, für sich zu
stehen und die Interessen der anderen nicht zu teilen.

Dennoch geschah es, dass er -- sechzehn Jahre zählte er damals -- zu
einem gleichalterigen Mädchen eine plötzliche Neigung fasste. Sie war
die Schwester eines seiner Klassengenossen, ein blondes, ausgelassen
fröhliches Geschöpf, und bei ihrem Bruder lernte er sie kennen. Er
empfand eine seltsame Beklommenheit in ihrer Nähe, und die befangene und
künstlich freundliche Art, mit der auch sie ihn behandelte, erfüllte ihn
mit tiefer Traurigkeit.

Als er eines Sommernachmittags einsam vor der Stadt auf dem Walle
spazieren ging, vernahm er hinter einem Jasminstrauch ein Flüstern und
lauschte vorsichtig zwischen den Zweigen hindurch. Auf der Bank, die
dort stand, sass jenes Mädchen neben einem langen, rotköpfigen Jungen,
den er sehr wohl kannte; er hatte den Arm um sie gelegt und drückte
einen Kuss auf ihre Lippen, den sie kichernd erwiderte. Als Johannes
Friedemann dies gesehen hatte, machte er kehrt und ging leise von
dannen.

Sein Kopf sass tiefer als je zwischen den Schultern, seine Hände
zitterten, und ein scharfer, drängender Schmerz stieg ihm aus der Brust
in den Hals hinauf. Aber er würgte ihn hinunter und richtete sich
entschlossen auf, so gut er das vermochte. »Gut,« sagte er zu sich, »das
ist zu Ende. Ich will mich niemals wieder um dies alles bekümmern. Den
anderen gewährt es Glück und Freude, mir aber vermag es immer nur Gram
und Leid zu bringen. Ich bin fertig damit. Es ist für mich abgethan. Nie
wieder. --«

Der Entschluss that ihm wohl. Er verzichtete, verzichtete auf immer. Er
ging nach Hause und nahm ein Buch zur Hand oder spielte Violine, was er
trotz seiner verwachsenen Brust erlernt hatte.


IV.

Mit siebenzehn Jahren verliess er die Schule, um Kaufmann zu werden, wie
in seinen Kreisen alle Welt es war, und trat in das grosse Holzgeschäft
des Herrn Schlievogt, unten am Fluss, als Lehrling ein. Man behandelte
ihn mit Nachsicht, er seinerseits war freundlich und entgegenkommend,
und friedlich und geregelt verging die Zeit. In seinem einundzwanzigsten
Lebensjahre aber starb nach langem Leiden seine Mutter.

Das war ein grosser Schmerz für Johannes Friedemann, den er sich lange
bewahrte. Er genoss ihn, diesen Schmerz, er gab sich ihm hin, wie man
sich einem grossen Glücke hingiebt, er pflegte ihn mit tausend
Kindheitserinnerungen und beutete ihn aus als sein erstes starkes
Erlebnis.

Ist nicht das Leben an sich etwas Gutes, gleichviel, ob es sich nun so
für uns gestaltet, dass man es »glücklich« nennt? Johannes Friedemann
fühlte das, und er liebte das Leben. Niemand versteht, mit welcher
innigen Sorgfalt er, der auf das grösste Glück, das es uns zu bieten
vermag, Verzicht geleistet hatte, die Freuden, die ihm zugänglich waren,
zu geniessen wusste. Ein Spaziergang zur Frühlingszeit draussen in den
Anlagen vor der Stadt, der Duft einer Blume, der Gesang eines Vogels --
konnte man für solche Dinge nicht dankbar sein?

Und dass zur Genussfähigkeit Bildung gehört, ja, dass Bildung immer nur
gleich Genussfähigkeit ist, -- auch das verstand er: und er bildete
sich. Er liebte die Musik und besuchte alle Konzerte, die etwa in der
Stadt veranstaltet wurden. Er selbst spielte allmählich, obgleich er
sich ungemein merkwürdig dabei ausnahm, die Geige nicht übel und freute
sich an jedem schönen und weichen Ton, der ihm gelang. Auch hatte er
sich durch viele Lektüre mit der Zeit einen litterarischen Geschmack
angeeignet, den er wohl in der Stadt mit niemandem teilte. Er war
unterrichtet über die neueren Erscheinungen des In- und Auslandes, er
wusste den rhythmischen Reiz eines Gedichtes auszukosten, die intime
Stimmung einer fein geschriebenen Novelle auf sich wirken zu lassen ...
oh! man konnte beinahe sagen, dass er ein Epikuräer war.

Er lernte begreifen, dass alles geniessenswert, und dass es beinahe
thöricht ist, zwischen glücklichen und unglücklichen Erlebnissen zu
unterscheiden. Er nahm alle seine Empfindungen und Stimmungen
bereitwilligst auf und pflegte sie, die trüben so gut wie die heiteren:
auch die unerfüllten Wünsche, -- die _Sehnsucht_. Er liebte sie um ihrer
selbst willen und sagte sich, dass mit der Erfüllung das Beste vorbei
sein würde. Ist das süsse, schmerzliche, vage Sehnen und Hoffen stiller
Frühlingsabende nicht genussreicher als alle Erfüllungen, die der Sommer
zu bringen vermöchte? -- Ja, er war ein Epikuräer, der kleine Herr
Friedemann!

Das wussten die Leute wohl nicht, die ihn auf der Strasse mit jener
mitleidig freundlichen Art begrüssten, an die er von jeher gewöhnt war.
Sie wussten nicht, dass dieser unglückliche Krüppel, der da mit seiner
putzigen Wichtigkeit in hellem Überzieher und blankem Cylinder -- er war
seltsamerweise ein wenig eitel -- durch die Strassen marschierte, das
Leben zärtlich liebte, das ihm sanft dahinfloss, ohne grosse Affekte,
aber erfüllt von einem stillen und zarten Glück, das er sich zu schaffen
wusste.


V.

Die Hauptneigung aber des Herrn Friedemann, seine eigentliche
Leidenschaft war das Theater. Er besass ein ungemein starkes
dramatisches Empfinden, und bei einer wuchtigen Bühnenwirkung, der
Katastrophe eines Trauerspiels, konnte sein ganzer kleiner Körper ins
Zittern geraten. Er hatte auf dem ersten Range des Stadttheaters seinen
bestimmten Platz, den er mit Regelmässigkeit besuchte, und hin und
wieder begleiteten ihn seine drei Schwestern dorthin. Sie führten seit
dem Tode der Mutter sich und ihrem Bruder allein die Wirtschaft in dem
alten Hause, in dessen Besitz sie sich mit ihm teilten.

Verheiratet waren sie leider noch immer nicht; aber sie waren längst in
einem Alter, in dem man sich bescheidet, denn Friederike, die Älteste,
hatte siebzehn Jahre vor Herrn Friedemann voraus. Sie und ihre Schwester
Henriette waren ein wenig zu lang und dünn, während Pfiffi, die Jüngste,
allzu klein und beleibt erschien. Letztere übrigens hatte eine drollige
Art, sich bei jedem Worte zu schütteln und Feuchtigkeit dabei in die
Mundwinkel zu bekommen.

Der kleine Herr Friedemann kümmerte sich nicht viel um die drei Mädchen:
sie aber hielten treu zusammen und waren stets einer Meinung. Besonders
wenn eine Verlobung in ihrer Bekanntschaft sich ereignete, betonten sie
einstimmig, dass dies ja _sehr_ erfreulich sei.

Ihr Bruder fuhr fort, bei ihnen zu wohnen, auch als er die Holzhandlung
des Herrn Schlievogt verliess und sich selbständig machte, indem er
irgend ein kleines Geschäft übernahm, eine Agentur oder dergleichen, was
nicht allzuviel Arbeit in Anspruch nahm. Er hatte ein paar
Parterre-Räumlichkeiten des Hauses inne, damit er nur zu den Mahlzeiten
die Treppe hinaufzusteigen brauchte, denn hin und wieder litt er ein
wenig an Asthma. --

An seinem dreissigsten Geburtstage, einem hellen und warmen Junitage,
sass er nach dem Mittagessen in dem grauen Gartenzelt mit einer neuen
Nackenrolle, die Henriette ihm gearbeitet hatte, einer guten Cigarre im
Munde und einem guten Buche in der Hand. Dann und wann hielt er das
letztere beiseite, horchte auf das vergnügte Zwitschern von Sperlingen,
die in dem alten Nussbaum sassen, und blickte auf den sauberen Kiesweg,
der zum Hause führte, und auf den Rasenplatz mit den bunten Beeten.

Der kleine Herr Friedemann trug keinen Bart, und sein Gesicht hatte sich
fast gar nicht verändert; nur dass die Züge ein wenig schärfer geworden
waren. Sein feines, lichtbraunes Haar trug er seitwärts glatt
gescheitelt.

Als er einmal das Buch ganz auf die Kniee hinabsinken liess und hinauf
in den blauen, sonnigen Himmel blinzelte, sagte er zu sich: »Das wären
nun dreissig Jahre. Nun kommen vielleicht noch zehn oder auch noch
zwanzig, Gott weiss es. Sie werden still und geräuschlos daherkommen und
vorüberziehen wie die verflossenen, und ich erwarte sie mit
Seelenfrieden.« --


VI.

Im Juli desselben Jahres ereignete sich jener Wechsel in der
Bezirks-Kommandantur, der alle Welt in Erregung versetzte. Der beleibte,
joviale Herr, der lange Jahre hindurch diesen Posten innegehabt hatte,
war in den gesellschaftlichen Kreisen sehr beliebt gewesen, und man sah
ihn ungern scheiden. Gott weiss, infolge welches Umstandes nun
ausgemacht Herr von Rinnlingen aus der Hauptstadt hierher gelangte.

Der Tausch schien übrigens nicht übel zu sein, denn der neue
Oberstlieutenant, der verheiratet aber kinderlos war, mietete in der
südlichen Vorstadt eine sehr geräumige Villa, woraus man schloss, dass
er ein Haus zu machen gedachte. Jedenfalls wurde das Gerücht, er sei
ganz ausserordentlich vermögend, auch dadurch bestätigt, dass er vier
Dienstboten, fünf Reit- und Wagenpferde, einen Landauer und einen
leichten Jagdwagen mit sich brachte.

Die Herrschaften begannen bald nach ihrer Ankunft bei den angesehenen
Familien Besuche zu machen, und ihr Name war in aller Munde; das
Hauptinteresse aber nahm schlechterdings nicht Herr von Rinnlingen
selbst in Anspruch, sondern seine Gattin. Die Herren waren verblüfft und
hatten vorderhand noch kein Urteil; die Damen aber waren geradeheraus
nicht einverstanden mit dem Sein und Wesen Gerdas von Rinnlingen.

»Dass man die hauptstädtische Luft verspürt,« äusserte sich Frau
Rechtsanwalt Hagenström gesprächsweise gegen Henriette Friedemann, --
»nun, das ist natürlich. Sie raucht, sie reitet -- einverstanden! Aber
ihr Benehmen ist nicht nur frei, es ist burschikos, und auch das ist
noch nicht das rechte Wort ... Sehen Sie, sie ist durchaus nicht
hässlich, man könnte sie sogar hübsch finden: und dennoch entbehrt sie
jedes weiblichen Reizes, und ihrem Blick, ihrem Lachen, ihren Bewegungen
fehlt alles, was Männer lieben. Sie ist nicht kokett, und ich bin, Gott
weiss es, die letzte, die das nicht lobenswert fände; aber darf eine so
junge Frau -- sie ist vierundzwanzig Jahre alt -- die natürliche
anmutige Anziehungskraft ... vollkommen vermissen lassen? Liebste, ich
bin nicht zungenfertig, aber ich weiss, was ich meine. Unsere Herren
sind jetzt noch wie vor den Kopf geschlagen: Sie werden sehen, dass sie
sich nach ein paar Wochen gänzlich dégoutiert von ihr abwenden ...«

»Nun«, sagte Fräulein Friedemann, »sie ist ja vortrefflich versorgt.«

»Ja, ihr Mann!« rief Frau Hagenström. »Wie behandelt sie ihn? Sie
sollten es sehen! Sie werden es sehen! Ich bin die erste, die darauf
besteht, dass eine verheiratete Frau gegen das andere Geschlecht bis zu
einem gewissen Grade abweisend zu sein hat. Wie aber benimmt sie sich
gegen ihren eigenen Mann? Sie hat eine Art, ihn eiskalt anzusehen und
mit einer mitleidigen Betonung »Lieber Freund« zu ihm zu sagen, die mich
empört! Denn man muss _ihn_ dabei sehen -- korrekt, stramm, ritterlich,
ein prächtig konservierter Vierziger, ein glänzender Offizier! Vier
Jahre sind sie verheiratet ... Liebste ...«


VII.

Der Ort, an dem es dem kleinen Herrn Friedemann zum ersten Male vergönnt
war, Frau von Rinnlingen zu erblicken, war die Hauptstrasse, an der fast
ausschliesslich Geschäftshäuser lagen, und diese Begegnung ereignete
sich um die Mittagszeit, als er soeben von der Börse kam, wo er ein
Wörtchen mitgeredet hatte.

Er spazierte, winzig und wichtig, neben dem Grosskaufmann Stephens,
einem ungewöhnlich grossen und vierschrötigen Herrn mit
rundgeschnittenem Backenbart und furchtbar dicken Augenbrauen. Beide
trugen Cylinder und hatten wegen der grossen Wärme die Überzieher
geöffnet. Sie sprachen über Politik, wobei sie taktmässig ihre
Spazierstöcke auf das Trottoir stiessen; als sie aber etwa bis zur Mitte
der Strasse gekommen waren, sagte plötzlich der Grosskaufmann Stephens:

»Der Teufel hole mich, wenn dort nicht die Rinnlingen dahergefahren
kommt.«

»Nun, das trifft sich gut,« sagte Herr Friedemann mit seiner hohen und
etwas scharfen Stimme und blickte erwartungsvoll geradeaus. »Ich habe
sie nämlich noch immer nicht zu Gesichte bekommen. Da haben wir den
gelben Wagen.«

In der That war es der gelbe Jagdwagen, den Frau von Rinnlingen heute
benutzte, und sie lenkte die beiden schlanken Pferde in eigener Person,
während der Diener mit verschränkten Armen hinter ihr sass. Sie trug
eine weite, ganz helle Jacke, und auch der Rock war hell. Unter dem
kleinen, runden Strohhut mit braunem Lederbande quoll das rotblonde Haar
hervor, das über die Ohren frisiert war und als ein dicker Knoten tief
in den Nacken fiel. Die Hautfarbe ihres ovalen Gesichtes war mattweiss,
und in den Winkeln ihrer ungewöhnlich nahe bei einander liegenden
braunen Augen lagerten bläuliche Schatten. Über ihrer kurzen, aber recht
fein geschnittenen Nase sass ein kleiner Sattel von Sommersprossen, was
sie gut kleidete; ob aber ihr Mund schön war, konnte man nicht erkennen,
denn sie schob unaufhörlich die Unterlippe vor und wieder zurück, indem
sie sie an der Oberlippe scheuerte.

Grosskaufmann Stephens grüsste ausserordentlich ehrerbietig, als der
Wagen herangekommen war, und auch der kleine Herr Friedemann lüftete
seinen Hut, wobei er Frau von Rinnlingen gross und aufmerksam ansah. Sie
senkte ihre Peitsche, nickte leicht mit dem Kopfe und fuhr langsam
vorüber, indem sie rechts und links die Häuser und Schaufenster
betrachtete.

Nach ein paar Schritten sagte der Grosskaufmann:

»Sie hat eine Spazierfahrt gemacht und fährt nun nach Hause.«

Der kleine Herr Friedemann antwortete nicht, sondern blickte vor sich
nieder auf das Pflaster. Dann sah er plötzlich den Grosskaufmann an und
fragte:

»Wie meinten Sie?«

Und Herr Stephens wiederholte seine scharfsinnige Bemerkung.


VIII.

Drei Tage später kam Johannes Friedemann um 12 Uhr mittags von seinem
regelmässigen Spaziergange nach Hause. Um halb 1 Uhr wurde zu Mittag
gespeist, und er wollte gerade noch für eine halbe Stunde in sein
»Bureau« gehen, das gleich rechts neben der Hausthür lag, als das
Dienstmädchen über die Diele kam und zu ihm sagte:

»Es ist Besuch da, Herr Friedemann.«

»Bei mir?« fragte er.

»Nein, oben, bei den Damen.«

»Wer denn?«

»Herr und Frau Oberstlieutenant von Rinnlingen.«

»Oh,« sagte Herr Friedemann, »da will ich doch ...«

Und er ging die Treppe hinauf. Oben schritt er über den Vorplatz, und er
hatte schon den Griff der hohen, weissen Thür in der Hand, die zum
»Landschaftszimmer« führte, als er plötzlich innehielt, einen Schritt
zurücktrat, kehrt machte und langsam wieder davonging, wie er gekommen
war. Und obgleich er vollkommen allein war, sagte er ganz laut vor sich
hin:

»Nein. Lieber nicht. --«

Er ging hinunter in sein »Bureau«, setzte sich an den Schreibtisch und
nahm die Zeitung zur Hand. Nach einer Minute aber liess er sie wieder
sinken und blickte seitwärts zum Fenster hinaus. So blieb er sitzen, bis
das Mädchen kam und meldete, dass angerichtet sei; dann begab er sich
hinauf ins Speisezimmer, wo die Schwestern schon seiner warteten, und
nahm auf seinem Stuhle Platz, auf dem drei Notenbücher lagen.

Henriette, welche die Suppe auffüllte, sagte:

»Weisst Du, Johannes, wer hier war?«

»Nun?« fragte er.

»Die neuen Oberstlieutenants.«

»Ja, so? Das ist liebenswürdig.«

»Ja,« sagte Pfiffi und bekam Flüssigkeit in die Mundwinkel, »ich finde,
dass beide durchaus angenehme Menschen sind.«

»Jedenfalls,« sagte Friederike, »dürfen wir mit unserem Gegenbesuch
nicht zögern. Ich schlage vor, dass wir übermorgen gehen, Sonntag.«

»Sonntag,« sagten Henriette und Pfiffi.

»Du wirst doch mit uns gehen, Johannes?« fragte Friederike.

»Selbstredend!« sagte Pfiffi und schüttelte sich. Herr Friedemann hatte
die Frage ganz überhört und ass mit einer stillen und ängstlichen Miene
seine Suppe. Es war, als ob er irgendwohin horchte, auf irgend ein
unheimliches Geräusch.


IX.

Am folgenden Abend gab man im Stadttheater den »Lohengrin«, und alle
gebildeten Leute waren anwesend. Der kleine Raum war besetzt von oben
bis unten und erfüllt von summendem Geräusch, Gasgeruch und Parfums.
Alle Augengläser aber, im Parquet wie auf den Rängen, richteten sich auf
Loge 13, gleich rechts neben der Bühne, denn dort waren heute zum ersten
Male Herr von Rinnlingen nebst Frau erschienen, und man hatte
Gelegenheit, das Paar einmal gründlich zu mustern.

Als der kleine Herr Friedemann in tadellosem schwarzen Anzug mit
glänzend weissem, spitz hervorstehendem Hemdeinsatz seine Loge -- Loge
13 -- betrat, zuckte er in der Thür zurück, wobei er eine Bewegung mit
der Hand nach der Stirn machte und seine Nasenflügel sich einen
Augenblick krampfhaft öffneten. Dann aber liess er sich auf seinem
Sessel nieder, dem Platze links von Frau Rinnlingen.

Sie blickte ihn, während er sich setzte, eine Weile aufmerksam an, indem
sie die Unterlippe vorschob, und wandte sich dann, um mit ihrem Gatten,
der hinter ihr stand, ein paar Worte zu wechseln. Es war ein grosser,
breiter Herr mit aufgebürstetem Schnurrbart und einem braunen,
gutmütigen Gesicht.

Als die Ouvertüre begann und Frau von Rinnlingen sich über die Brüstung
beugte, liess Herr Friedemann einen raschen, hastigen Seitenblick über
sie hingleiten. Sie trug eine helle Gesellschaftstoilette und war, als
die einzige der anwesenden Damen, sogar ein wenig dekolletiert. Ihre
Ärmel waren sehr weit und bauschig, und die weissen Handschuhe reichten
bis an die Ellenbogen. Ihre Gestalt hatte heute etwas Üppiges, was
neulich, als sie die weite Jacke trug, nicht bemerkbar gewesen war; ihr
Busen hob und senkte sich voll und langsam, und der Knoten des
rotblonden Haares fiel tief und schwer in den Nacken.

Herr Friedemann war bleich, viel bleicher als gewöhnlich, und unter dem
glattgescheitelten braunen Haar standen kleine Tropfen auf seiner Stirn.
Frau von Rinnlingen hatte von ihrem linken Arm, der auf dem roten Sammet
der Brüstung lag, den Handschuh gestreift, und diesen runden,
mattweissen Arm, der wie die schmucklose Hand von ganz blassblauem
Geäder durchzogen war, sah er immer; das war nicht zu ändern.

Die Geigen sangen, die Posaunen schmetterten darein, Telramund fiel, im
Orchester herrschte allgemeiner Jubel, und der kleine Herr Friedemann
sass unbeweglich, blass und still, den Kopf tief zwischen den Schultern,
einen Zeigefinger am Munde und die andere Hand im Aufschlage seines
Rockes.

Während der Vorhang fiel, erhob sich Frau von Rinnlingen, um mit ihrem
Gatten die Loge zu verlassen. Herr Friedemann sah es ohne hinzublicken,
fuhr mit seinem Taschentuch leicht über die Stirn, stand plötzlich auf,
ging bis an die Thür, die auf den Korridor führte, kehrte wieder um,
setzte sich an seinen Platz und verharrte dort regungslos in der
Stellung, die er vorher innegehabt hatte.

Als das Klingelzeichen erscholl und seine Nachbarn wieder eintraten,
fühlte er, dass Frau von Rinnlingens Augen auf ihm ruhten, und ohne es
zu wollen, erhob er den Kopf nach ihr. Als ihre Blicke sich trafen, sah
sie durchaus nicht beiseite, sondern fuhr fort, ihn ohne eine Spur von
Verlegenheit aufmerksam zu betrachten, bis er selbst, bezwungen und
gedemütigt, die Augen niederschlug. Er ward noch bleicher dabei, und ein
seltsamer, süsslich beizender Zorn stieg in ihm auf ... Die Musik
begann.

Gegen Ende dieses Aufzuges geschah es, dass Frau von Rinnlingen sich
ihren Fächer entgleiten liess und dass derselbe neben Herrn Friedemann
zu Boden fiel. Beide bückten sich gleichzeitig, aber sie ergriff ihn
selbst und sagte mit einem Lächeln, das spöttisch war:

»Ich danke.«

Ihre Köpfe waren ganz dicht beieinander gewesen, und er hatte einen
Augenblick den warmen Duft ihrer Brust atmen müssen. Sein Gesicht war
verzerrt, sein ganzer Körper zog sich zusammen, und sein Herz klopfte so
grässlich schwer und wuchtig, dass ihm der Atem verging. Er sass noch
eine halbe Minute, dann schob er den Sessel zurück, stand leise auf und
ging leise hinaus.


X.

Er ging, gefolgt von den Klängen der Musik, über den Korridor, liess
sich an der Garderobe seinen Cylinder, seinen hellen Überzieher und
seinen Stock geben und schritt die Treppe hinab auf die Strasse.

Es war ein warmer, stiller Abend. Im Lichte der Gaslaternen standen die
grauen Giebelhäuser schweigend gegen den Himmel, an dem die Sterne hell
und milde glänzten. Die Schritte der wenigen Menschen, die Herrn
Friedemann begegneten, hallten auf dem Trottoir. Jemand grüsste ihn,
aber er sah es nicht; er hielt den Kopf tief gesenkt, und seine hohe,
spitze Brust zitterte, so schwer atmete er. Dann und wann sagte er leise
vor sich hin:

»Mein Gott! Mein Gott!«

Er sah mit einem entsetzten und angstvollen Blick in sich hinein, wie
sein Empfinden, das er so sanft gepflegt, so milde und klug stets
behandelt hatte, nun emporgerissen war, aufgewirbelt, zerwühlt ... Und
plötzlich, ganz überwältigt, in einem Zustand von Schwindel,
Trunkenheit, Sehnsucht und Qual, lehnte er sich gegen einen
Laternenpfahl und flüsterte bebend:

»Gerda!« --

Alles blieb still. Weit und breit war in diesem Augenblick kein Mensch
zu sehen. Der kleine Herr Friedemann raffte sich auf und schritt weiter.
Er war die Strasse hinaufgegangen, in der das Theater lag und die
ziemlich steil zum Flusse hinunterlief, und verfolgte nun die
Hauptstrasse nach Norden, seiner Wohnung zu ...

Wie sie ihn angesehen hatte! Wie? Sie hatte ihn gezwungen, die Augen
niederzuschlagen? Sie hatte ihn mit ihrem Blick gedemütigt? War sie
nicht eine Frau und er ein Mann? Und hatten ihre seltsamen braunen Augen
nicht förmlich dabei vor Freude gezittert?

Er fühlte wieder diesen ohnmächtigen, wollüstigen Hass in sich
aufsteigen, aber dann dachte er an jenen Augenblick, wo ihr Kopf den
seinen berührt, wo er den Duft ihres Körpers eingeatmet hatte, und er
blieb zum zweiten Male stehen, beugte den verwachsenen Oberkörper
zurück, zog die Luft durch die Zähne ein und murmelte dann abermals
völlig ratlos, verzweifelt, ausser sich:

»Mein Gott! Mein Gott!«

Und wieder schritt er mechanisch weiter, langsam, durch die schwüle
Abendluft, durch die menschenleeren, hallenden Strassen, bis er vor
seiner Wohnung stand. Auf der Diele verweilte er einen Augenblick und
sog den kühlen, kellerigen Geruch ein, der dort herrschte; dann trat er
in sein »Bureau«.

Er setzte sich an den Schreibtisch am offenen Fenster und starrte
geradeaus auf eine grosse, gelbe Rose, die jemand ihm dort ins
Wasserglas gestellt hatte. Er nahm sie und atmete mit geschlossenen
Augen ihren Duft; aber dann schob er sie mit einer müden und traurigen
Geberde beiseite. Nein, nein, das war zu Ende! Was war ihm noch solcher
Duft? Was war ihm noch alles, was bis jetzt sein »Glück« ausgemacht
hatte?...

Er wandte sich zur Seite und blickte auf die stille Strasse hinaus. Dann
und wann klangen Schritte auf und hallten vorüber. Die Sterne standen
und glitzerten. Wie todmüde und schwach er wurde! Sein Kopf war so leer,
und seine Verzweiflung begann, in eine grosse, sanfte Wehmut sich
aufzulösen. Ein paar Gedichtzeilen flatterten ihm durch den Sinn, die
Lohengrin-Musik klang ihm wieder in den Ohren, er sah noch einmal Frau
von Rinnlingens Gestalt vor sich, ihren weissen Arm auf dem roten
Sammet, und dann verfiel er in einen schweren, fieberdumpfen Schlaf.


XI.

Oft war er dicht am Erwachen, aber er fürchtete sich davor und versank
jedesmal aufs neue in Bewusstlosigkeit. Als es aber völlig hell geworden
war, schlug er die Augen auf und sah mit einem grossen, schmerzlichen
Blick um sich. Alles stand ihm klar vor der Seele; es war, als sei sein
Leiden durch den Schlaf gar nicht unterbrochen worden.

Sein Kopf war dumpf und die Augen brannten ihm; als er sich aber
gewaschen und die Stirn mit Eau de Cologne benetzt hatte, fühlte er sich
wohler und setzte sich still wieder an seinen Platz am Fenster, das
offen geblieben war. Es war noch ganz früh am Tage, etwa um 5 Uhr. Dann
und wann ging ein Bäckerjunge vorüber, sonst war niemand zu sehen.
Gegenüber waren noch alle Rouleaux geschlossen. Aber die Vögel
zwitscherten und der Himmel war leuchtend blau. Es war ein wunderschöner
Sonntagmorgen.

Ein Gefühl von Behaglichkeit und Vertrauen überkam den kleinen Herrn
Friedemann. Wovor ängstigte er sich? War nicht alles wie sonst?
Zugegeben, dass es gestern ein schlimmer Anfall gewesen war; nun, aber
damit sollte es ein Ende haben! Noch war es nicht zu spät, noch konnte
er dem Verderben entrinnen! Jeder Veranlassung musste er ausweichen, die
den Anfall erneuern könnte; er fühlte die Kraft dazu. Er fühlte die
Kraft, es zu überwinden und es gänzlich in sich zu ersticken....

Als es halb acht Uhr schlug, trat Friederike ein und stellte den Kaffee
auf den runden Tisch, der vor dem Ledersofa an der Rückwand stand.

»Guten Morgen, Johannes,« sagte sie, »hier ist Dein Frühstück.«

»Danke,« sagte Herr Friedemann. Und dann: »Liebe Friederike, es thut mir
leid, dass Ihr den Besuch werdet allein machen müssen. Ich fühle mich
nicht wohl genug, um Euch begleiten zu können. Ich habe schlecht
geschlafen, habe Kopfschmerzen, und kurz und gut, ich muss Euch
bitten ...«

Friederike antwortete:

»Das ist schade. Du darfst den Besuch keinesfalls ganz unterlassen. Aber
es ist wahr, dass Du krank aussiehst. Soll ich Dir meinen Migränestift
leihen?«

»Danke,« sagte Herr Friedemann. »Es wird vorübergehen.« Und Friederike
ging.

Er trank, am Tische stehend, langsam seinen Kaffee und ass ein Hörnchen
dazu. Er war zufrieden mit sich und stolz auf seine Entschlossenheit.
Als er fertig war, nahm er eine Cigarre und setzte sich wieder ans
Fenster. Das Frühstück hatte ihm wohl gethan, und er fühlte sich
glücklich und hoffnungsvoll. Er nahm ein Buch, las, rauchte und blickte
blinzelnd hinaus in die Sonne.

Es war jetzt lebendig geworden auf der Strasse; Wagengerassel, Gespräch
und das Klingeln der Pferdebahn tönten zu ihm herein; zwischen allem
aber war das Zwitschern der Vögel zu vernehmen, und vom strahlend blauen
Himmel wehte eine weiche, warme Luft.

Um zehn Uhr hörte er die Schwestern über die Diele kommen, hörte die
Hausthür knarren und sah die drei Damen dann am Fenster vorübergehen,
ohne dass er besonders darauf achtete. Eine Stunde verging; er fühlte
sich glücklicher und glücklicher.

Eine Art von Übermut begann ihn zu erfüllen. Was für eine Luft das war,
und wie die Vögel zwitscherten! Wie wäre es, wenn er ein wenig spazieren
ginge? -- Und da, plötzlich, ohne einen Nebengedanken, stieg mit einem
süssen Schrecken der Gedanke in ihm auf: Wenn ich zu ihr ginge? -- Und
indem er, förmlich mit einer Muskelanstrengung, alles in sich
unterdrückte, was angstvoll warnte, fügte er mit einer glückseligen
Entschlossenheit hinzu: Ich will zu ihr gehen!

Und er zog seinen schwarzen Sonntagsanzug an, nahm Cylinder und Stock
und ging schnell und hastig atmend durch die ganze Stadt in die südliche
Vorstadt. Ohne einen Menschen zu sehen, hob und senkte er bei jedem
Schritte in eifriger Weise den Kopf, ganz in einem abwesenden,
exaltierten Zustand befangen, bis er draussen in der Kastanienallee vor
der roten Villa stand, an deren Eingang der Name »Oberstlieutenant von
Rinnlingen« zu lesen war.


XII.

Hier befiel ihn ein Zittern, und das Herz pochte ihm krampfhaft und
schwer gegen die Brust. Aber er ging über den Flur und klingelte
drinnen. Nun war es entschieden, und es gab kein Zurück. Mochte alles
seinen Gang gehen, dachte er. In ihm war es plötzlich totenstill.

Die Thür sprang auf, der Diener kam ihm über den Vorplatz entgegen, nahm
die Karte in Empfang und eilte damit die Treppe hinauf, auf der ein
roter Läufer lag. Auf diesen starrte Herr Friedemann unbeweglich, bis
der Diener zurückkam und erklärte, die gnädige Frau lasse bitten, sich
hinauf zu verfügen.

Oben neben der Salonthür, wo er seinen Stock abstellte, warf er einen
Blick in den Spiegel. Sein Gesicht war bleich, und über den geröteten
Augen klebte das Haar an der Stirn; die Hand, in der er den Cylinder
hielt, zitterte unaufhaltsam.

Der Diener öffnete, und er trat ein. Er sah sich in einem ziemlich
grossen, halbdunklen Gemach; die Fenster waren verhängt. Rechts stand
ein Flügel, und in der Mitte um den runden Tisch gruppierten sich
Lehnsessel in brauner Seide. Über dem Sofa an der linken Seitenwand hing
eine Landschaft in schwerem Goldrahmen. Auch die Tapete war dunkel.
Hinten im Erker standen Palmen.

Eine Minute verging, bis Frau von Rinnlingen rechts die Portiere
auseinanderschlug und ihm auf dem dicken braunen Teppich lautlos
entgegenkam. Sie trug ein ganz einfach gearbeitetes, rot und schwarz
gewürfeltes Kleid. Vom Erker her fiel eine Lichtsäule, in welcher der
Staub tanzte, gerade auf ihr schweres, rotes Haar, so dass es einen
Augenblick goldig aufleuchtete. Sie hielt ihre seltsamen Augen forschend
auf ihn gerichtet und schob wie gewöhnlich die Unterlippe vor.

»Gnädige Frau,« begann Herr Friedemann und blickte zu ihr in die Höhe,
denn er reichte ihr nur bis zur Brust, »ich möchte Ihnen auch
meinerseits meine Aufwartung machen. Ich war, als Sie meine Schwestern
beehrten, leider abwesend und ... bedauerte das aufrichtig ...«

Er wusste durchaus nicht mehr zu sagen, aber sie stand und sah ihn
unerbittlich an, als wollte sie ihn zwingen, weiter zu sprechen. Alles
Blut stieg ihm plötzlich zu Kopfe. Sie will mich quälen und verhöhnen!
dachte er, und sie durchschaut mich! Wie ihre Augen zittern!... Endlich
sagte sie mit einer ganz hellen und ganz klaren Stimme:

»Es ist liebenswürdig, dass Sie gekommen sind. Ich habe neulich
ebenfalls bedauert, Sie zu verfehlen. Haben Sie die Güte, Platz zu
nehmen?«

Sie setzte sich nahe bei ihm, legte die Arme auf die Seitenlehnen des
Sessels und lehnte sich zurück. Er sass vorgebeugt und hielt den Hut
zwischen den Knieen. Sie sagte:

»Wissen Sie, dass noch vor einer Viertelstunde Ihre Fräulein Schwestern
hier waren? Sie sagten mir, Sie seien krank?«

»Das ist wahr,« erwiderte Herr Friedemann, »ich fühlte mich nicht wohl
heute Morgen. Ich glaubte nicht ausgehen zu können. Ich bitte wegen
meiner Verspätung um Entschuldigung.«

»Sie sehen auch jetzt noch nicht gesund aus,« sagte sie ganz ruhig und
blickte ihn unverwandt an. »Sie sind bleich, und Ihre Augen sind
entzündet. Ihre Gesundheit lässt überhaupt zu wünschen übrig?«

»Oh ...« stammelte Herr Friedemann, »ich bin im allgemeinen
zufrieden ...«

»Auch ich bin viel krank,« fuhr sie fort, ohne die Augen von ihm
abzuwenden; »aber niemand merkt es. Ich bin nervös und kenne die
merkwürdigsten Zustände.«

Sie schwieg, legte das Kinn auf die Brust und sah ihn von unten herauf
wartend an. Aber er antwortete nicht. Er sass still und hielt seine
Augen gross und sinnend auf sie gerichtet. Wie seltsam sie sprach, und
wie ihre helle, haltlose Stimme ihn berührte! Sein Herz hatte sich
beruhigt; ihm war, als träumte er. -- Frau von Rinnlingen begann aufs
neue:

»Ich müsste mich irren, wenn Sie nicht gestern das Theater vor Schluss
der Vorstellung verliessen?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Ich bedauerte das. Sie waren ein andächtiger Nachbar, obgleich die
Aufführung nicht gut war, oder nur relativ gut. Sie lieben die Musik?
Spielen Sie Klavier?«

»Ich spiele ein wenig Violine,« sagte Herr Friedemann. »Das heisst -- es
ist beinahe nichts ...«

»Sie spielen Violine?« fragte sie; dann sah sie an ihm vorbei in die
Luft und dachte nach.

»Aber dann könnten wir hin und wieder miteinander musizieren,« sagte sie
plötzlich. »Ich kann etwas begleiten. Es würde mich freuen, hier
jemanden gefunden zu haben ... Werden Sie kommen?«

»Ich stehe der gnädigen Frau mit Vergnügen zur Verfügung,« sagte er,
immer wie im Traum. Es entstand eine Pause. Da änderte sich plötzlich
der Ausdruck ihres Gesichtes. Er sah, wie es sich in einem kaum
merklichen grausamen Spott verzerrte, wie ihre Augen sich wieder mit
jenem unheimlichen Zittern fest und forschend auf ihn richteten, wie
schon zweimal vorher. Sein Gesicht ward glühend rot, und ohne zu wissen,
wohin er sich wenden sollte, völlig ratlos und ausser sich, liess er
seinen Kopf ganz zwischen die Schultern sinken und blickte fassungslos
auf den Teppich nieder. Wie ein kurzer Schauer aber durchrieselte ihn
wieder jene ohnmächtige, süsslich peinigende Wut ...

Als er mit einem verzweifelten Entschluss den Blick wieder erhob, sah
sie ihn nicht mehr an, sondern blickte ruhig über seinen Kopf hinweg auf
die Thür. Er brachte mühsam ein paar Worte hervor:

»Und sind gnädige Frau bis jetzt leidlich zufrieden mit Ihrem Aufenthalt
in unserer Stadt?«

»Oh,« sagte Frau von Rinnlingen gleichgültig, »gewiss. Warum sollte ich
nicht zufrieden sein? Freilich ein wenig beengt und beobachtet komme ich
mir vor, aber ... Übrigens,« fuhr sie gleich darauf fort, »ehe ich es
vergesse: Wir denken in den nächsten Tagen einige Leute bei uns zu
sehen, eine kleine, zwanglose Gesellschaft. Man könnte ein wenig Musik
machen, ein wenig plaudern ... Überdies haben wir hinterm Hause einen
recht hübschen Garten; er geht bis zum Flusse hinunter. Kurz und gut:
Sie und Ihre Damen werden selbstverständlich noch eine Einladung
erhalten, aber ich bitte Sie gleich hiermit um Ihre Teilnahme; werden
Sie uns das Vergnügen machen?«

Herr Friedemann hatte kaum seinen Dank und seine Zusage hervorgebracht,
als der Thürgriff energisch niedergedrückt wurde und der
Oberstlieutenant eintrat. Beide erhoben sich, und während Frau von
Rinnlingen die Herren einander vorstellte, verbeugte sich ihr Gatte mit
der gleichen Höflichkeit vor Herrn Friedemann wie vor ihr. Sein braunes
Gesicht war ganz blank vor Wärme.

Während er sich die Handschuhe auszog, sprach er mit seiner kräftigen
und scharfen Stimme irgend etwas zu Herrn Friedemann, der mit grossen,
gedankenlosen Augen zu ihm in die Höhe blickte und immer erwartete,
wohlwollend von ihm auf die Schulter geklopft zu werden. Indessen wandte
sich der Oberstlieutenant mit zusammengezogenen Absätzen und leicht
vorgebeugtem Oberkörper an seine Gattin und sagte mit merklich
gedämpfter Stimme:

»Hast Du Herrn Friedemann um seine Gegenwart bei unserer kleinen
Zusammenkunft gebeten, meine Liebe? Wenn es Dir angenehm ist, so denke
ich, dass wir sie in acht Tagen veranstalten. Ich hoffe, dass das Wetter
sich halten wird, und dass wir uns auch im Garten aufhalten können.«

»Wie Du meinst,« antwortete Frau von Rinnlingen und blickte an ihm
vorbei.

Zwei Minuten später empfahl sich Herr Friedemann. Als er sich an der
Thür noch einmal verbeugte, begegnete er ihren Augen, die ohne Ausdruck
auf ihm ruhten.


XIII.

Er ging fort, er ging nicht zur Stadt zurück, sondern schlug, ohne es zu
wollen, einen Weg ein, der von der Allee abzweigte und zu dem ehemaligen
Festungswall am Flusse führte. Es gab dort wohlgepflegte Anlagen,
schattige Wege und Bänke.

Er ging schnell und besinnungslos, ohne aufzublicken. Es war ihm
unerträglich heiss, und er fühlte, wie die Flammen in ihm auf und nieder
schlugen, und wie es in seinem müden Kopfe unerbittlich pochte ...

Lag noch immer nicht ihr Blick auf ihm? Aber nicht wie zuletzt, leer und
ohne Ausdruck, sondern wie vorher, mit dieser zitternden Grausamkeit,
nachdem sie eben noch in jener seltsam stillen Art zu ihm gesprochen
hatte? Ach, ergötzte es sie, ihn hilflos zu machen und ausser sich zu
bringen? Konnte sie, wenn sie ihn durchschaute, nicht ein wenig Mitleid
mit ihm haben?...

Er war unten am Flusse entlang gegangen, neben dem grün bewachsenen
Walle hin, und er setzte sich auf eine Bank, die von Jasmingebüsch im
Halbkreis umgeben war. Rings war alles voll süssen, schwülen Duftes. Vor
ihm brütete die Sonne auf dem zitternden Wasser.

Wie müde und abgehetzt er sich fühlte, und wie doch alles in ihm in
qualvollem Aufruhr war! War es nicht das beste, noch einmal um sich zu
blicken und dann hinunter in das stille Wasser zu gehen, um nach einem
kurzen Leiden befreit und hinübergerettet zu sein in die Ruhe? Ach,
Ruhe, Ruhe war es ja, was er wollte! Aber nicht die Ruhe im leeren und
tauben Nichts, sondern ein sanftbesonnter Friede, erfüllt von guten,
stillen Gedanken.

Seine ganze zärtliche Liebe zum Leben durchzitterte ihn in diesem
Augenblick und die tiefe Sehnsucht nach seinem verlorenen Glück. Aber
dann blickte er um sich in die schweigende, unendlich gleichgültige Ruhe
der Natur, sah, wie der Fluss in der Sonne seines Weges zog, wie das
Gras sich zitternd bewegte und die Blumen dastanden, wo sie erblüht
waren, um dann zu welken und zu verwehen, sah, wie alles, alles mit
dieser stummen Ergebenheit dem Dasein sich beugte, -- und es überkam ihn
auf einmal die Empfindung von Freundschaft und Einverständnis mit der
Notwendigkeit, die eine Art von Überlegenheit über alles Schicksal zu
geben vermag.

Er dachte an jenen Nachmittag seines dreissigsten Geburtstages, als er,
glücklich im Besitze des Friedens, ohne Furcht und Hoffnung über den
Rest seines Lebens hinzublicken geglaubt hatte. Kein Licht und keinen
Schatten hatte er da gesehen, sondern in mildem Dämmerschein hatte alles
vor ihm gelegen, bis es dort hinten, unmerklich fast, im Dunkel
verschwamm, und mit einem ruhigen und überlegenen Lächeln hatte er den
Jahren entgegen gesehen, die noch zu kommen hatten -- wie lange war das
her?

Da war diese Frau gekommen, sie musste kommen, es war sein Schicksal,
sie selbst war sein Schicksal, sie allein! Hatte er das nicht gefühlt
vom ersten Augenblicke an? Sie war gekommen, und ob er auch versucht
hatte, seinen Frieden zu verteidigen, -- für sie musste sich alles in
ihm empören, was er von Jugend auf in sich unterdrückt hatte, weil er
fühlte, dass es für ihn Qual und Untergang bedeutete; es hatte ihn mit
furchtbarer, unwiderstehlicher Gewalt ergriffen und richtete ihn zu
Grunde!

Es richtete ihn zu Grunde, das fühlte er. Aber wozu noch kämpfen und
sich quälen? Mochte alles seinen Lauf nehmen! Mochte er seinen Weg
weitergehen und die Augen schliessen vor dem gähnenden Abgrund dort
hinten, gehorsam dem Schicksal, gehorsam der überstarken, peinigend
süssen Macht, der man nicht zu entgehen vermag.

Das Wasser glitzerte, der Jasmin atmete seinen scharfen, schwülen Duft,
die Vögel zwitscherten rings umher in den Bäumen, zwischen denen ein
schwerer, sammetblauer Himmel leuchtete. Der kleine bucklige Herr
Friedemann aber sass noch lange auf seiner Bank. Er sass vornüber
gebeugt, die Stirn in beide Hände gestützt.


XIV.

Alle waren sich einig, dass man sich bei Rinnlingens vortrefflich
unterhielt. Etwa dreissig Personen sassen an der langen, geschmackvoll
dekorierten Tafel, die sich durch den weiten Speisesaal hinzog; der
Bediente und zwei Lohndiener eilten bereits mit dem Eise umher, es
herrschte Geklirr, Geklapper und ein warmer Dunst von Speisen und
Parfüms. Gemütliche Grosskaufleute mit ihren Gemahlinnen und Töchtern
waren hier versammelt; ausserdem fast sämtliche Offiziere der Garnison,
ein alter, beliebter Arzt, ein paar Juristen und was sonst den ersten
Kreisen sich beizählte. Auch ein Student der Mathematik war anwesend,
ein Neffe des Oberstlieutenants, der bei seinen Verwandten zu Besuch
war; er führte die tiefsten Gespräche mit Fräulein Hagenström, die Herrn
Friedemann gegenüber ihren Platz hatte.

Dieser sass auf einem schönen Sammetkissen am unteren Ende der Tafel
neben der nicht schönen Gattin des Gymnasialdirektors, nicht weit von
Frau von Rinnlingen, die von Konsul Stephens zu Tische geführt worden
war. Es war erstaunlich, was für eine Veränderung in diesen acht Tagen
mit dem kleinen Herrn Friedemann sich ereignet hatte. Vielleicht lag es
zum Teil an dem weissen Gasglühlicht, von dem der Saal erfüllt war, dass
sein Gesicht so erschreckend bleich erschien; aber seine Wangen waren
eingefallen, seine geröteten und dunkel umschatteten Augen zeigten einen
unsäglich traurigen Schimmer, und es sah aus, als sei seine Gestalt
verkrüppelter als je. -- Er trank viel Wein und richtete hie und da ein
paar Worte an seine Nachbarin.

Frau von Rinnlingen hatte bei Tische noch kein Wort mit Herrn Friedemann
gewechselt; jetzt beugte sie sich ein wenig vor und rief ihm zu:

»Ich habe Sie in diesen Tagen vergeblich erwartet, Sie und Ihre Geige.«

Er sah sie einen Augenblick vollkommen abwesend an, bevor er antwortete.
Sie trug eine helle, leichte Toilette, die ihren weissen Hals freiliess,
und eine voll erblühte Maréchal Niel-Rose war in ihrem leuchtenden Haar
befestigt. Ihre Wangen waren heute Abend ein wenig gerötet, aber wie
immer lagerten bläuliche Schatten in den Winkeln ihrer Augen.

Herr Friedemann blickte auf seinen Teller nieder und brachte irgend
etwas als Antwort hervor, worauf er der Gymnasialdirektorin die Frage
beantworten musste, ob er Beethoven liebe. In diesem Augenblick aber
warf der Oberstlieutenant, der ganz oben am Tische sass, seiner Gattin
einen Blick zu, schlug ans Glas und sagte:

»Meine Herrschaften, ich schlage vor, dass wir unseren Kaffee in den
anderen Zimmern trinken; übrigens muss es heute Abend auch im Garten
nicht übel sein, und wenn jemand dort ein wenig Luft schöpfen will, so
halte ich es mit ihm.«

In die eingetretene Stille hinein machte Lieutenant von Deidesheim aus
Taktgefühl einen Witz, so dass alles sich unter fröhlichem Gelächter
erhob. Herr Friedemann verliess als einer der letzten mit seiner Dame
den Saal, geleitete sie durch das altdeutsche Zimmer, wo man bereits zu
rauchen begann, in das halbdunkle und behagliche Wohngemach und
verabschiedete sich von ihr.

Er war mit Sorgfalt gekleidet; sein Frack war ohne Tadel, sein Hemd
blendend weiss, und seine schmalen und schön geformten Füsse steckten in
Lackschuhen. Dann und wann konnte man sehen, dass er rotseidene Strümpfe
trug.

Er blickte auf den Korridor hinaus und sah, dass grössere Gruppen sich
bereits die Treppe hinunter in den Garten begaben. Aber er setzte sich
mit seiner Cigarre und seinem Kaffee an die Thür des altdeutschen
Zimmers, in dem einige Herren plaudernd beisammen standen, und blickte
in das Wohngemach hinein.

Gleich rechts von der Thür sass um einen kleinen Tisch ein Kreis, dessen
Mittelpunkt von dem Studenten gebildet ward, der mit Eifer sprach. Er
hatte die Behauptung aufgestellt, dass man durch einen Punkt mehr als
eine Parallele zu einer Geraden ziehen könne, Frau Rechtsanwalt
Hagenström hatte gerufen: »Dies ist unmöglich!« und nun bewies er es so
schlagend, dass alle thaten, als hätten sie es verstanden.

Im Hintergrunde des Zimmers aber, auf der Ottomane, neben der die
niedrige, rotverhüllte Lampe stand, sass im Gespräch mit dem jungen
Fräulein Stephens Gerda von Rinnlingen. Sie sass ein wenig in das
gelbseidene Kissen zurückgelehnt, einen Fuss über den anderen gestellt,
und rauchte langsam eine Cigarette, wobei sie den Rauch durch die Nase
ausatmete und die Unterlippe vorschob. Fräulein Stephens sass aufrecht
und wie aus Holz geschnitzt vor ihr und antwortete ängstlich lächelnd.

Niemand beachtete den kleinen Herrn Friedemann, und niemand bemerkte,
dass seine grossen Augen ohne Unterlass auf Frau von Rinnlingen
gerichtet waren. In einer schlaffen Haltung sass er und sah sie an. Es
war nichts Leidenschaftliches in seinem Blick und kaum ein Schmerz;
etwas Stumpfes und Totes lag darin, eine dumpfe, kraft- und willenlose
Hingabe.

Zehn Minuten etwa vergingen so; da erhob Frau von Rinnlingen sich
plötzlich, und ohne ihn anzublicken, als ob sie ihn während der ganzen
Zeit heimlich beobachtet hatte, schritt sie auf ihn zu und blieb vor ihm
stehen. Er stand auf, sah zu ihr in die Höhe und vernahm die Worte:

»Haben Sie Lust, mich in den Garten zu begleiten, Herr Friedemann?«

Er antwortete:

»Mit Vergnügen, gnädige Frau.«


XV.

»Sie haben unseren Garten noch nicht gesehen?« sagte sie auf der Treppe
zu ihm. »Er ist ziemlich gross. Hoffentlich sind noch nicht zu viele
Menschen dort; ich möchte gern ein wenig aufatmen. Ich habe während des
Essens Kopfschmerzen bekommen; vielleicht war mir dieser Rotwein zu
kräftig ... Hier durch die Thür müssen wir hinausgehen.« Es war eine
Glasthür, durch die sie vom Vorplatz aus einen kleinen, kühlen Flur
betraten; dann führten ein paar Stufen ins Freie.

In der wundervoll sternklaren, warmen Nacht quoll der Duft von allen
Beeten. Der Garten lag in vollem Mondlicht, und auf den weiss
leuchtenden Kieswegen gingen die Gäste plaudernd und rauchend umher.
Eine Gruppe hatte sich um den Springbrunnen versammelt, wo der alte,
beliebte Arzt unter allgemeinem Gelächter Papierschiffchen schwimmen
liess.

Frau von Rinnlingen ging mit einem leichten Kopfnicken vorüber und wies
in die Ferne, wo der zierliche und duftende Blumengarten zum Park sich
verdunkelte.

»Wir wollen die Mittelallee hinuntergehen,« sagte sie. Am Eingange
standen zwei niedrige, breite Obelisken.

Dort hinten, am Ende der schnurgeraden Kastanienallee sahen sie grünlich
und blank den Fluss im Mondlicht schimmern. Rings umher war es dunkel
und kühl. Hie und da zweigte ein Seitenweg ab, der im Bogen wohl
ebenfalls zum Flusse führte. Es liess sich lange Zeit kein Laut
vernehmen.

»Am Wasser,« sagte sie, »ist ein hübscher Platz, wo ich schon oft
gesessen habe. Dort könnten wir einen Augenblick plaudern. -- Sehen Sie,
dann und wann glitzert zwischen dem Laub ein Stern hindurch.«

Er antwortete nicht und blickte auf die grüne, schimmernde Fläche, der
sie sich näherten. Man konnte das jenseitige Ufer erkennen, die
Wallanlagen. Als sie die Allee verliessen und auf den Grasplatz
hinaustraten, der sich zum Flusse hinabsenkte, sagte Frau von
Rinnlingen:

»Hier ein wenig nach rechts ist unser Platz; sehen Sie, er ist
unbesetzt.«

Die Bank, auf der sie sich niederliessen, lehnte sich sechs Schritte
seitwärts von der Allee an den Park. Hier war es wärmer als zwischen den
breiten Bäumen. Die Grillen zirpten in dem Grase, das hart am Wasser in
dünnes Schilf überging. Der mondhelle Fluss gab ein mildes Licht.

Sie schwiegen beide eine Weile und blickten auf das Wasser. Dann aber
horchte er ganz erschüttert, denn der Ton, den er vor einer Woche
vernommen, dieser leise, nachdenkliche und sanfte Ton berührte ihn
wieder:

»Seit wann haben Sie Ihr Gebrechen, Herr Friedemann?« fragte sie. »Sind
Sie damit geboren?«

Er schluckte hinunter, denn die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Dann
antwortete er leise und artig:

»Nein, gnädige Frau. Als kleines Kind liess man mich zu Boden fallen;
daher stammt es.«

»Und wie alt sind Sie nun?« fragte sie weiter.

»Dreissig Jahre, gnädige Frau.«

»Dreissig Jahre,« wiederholte sie. »Und Sie waren nicht glücklich, diese
dreissig Jahre?«

Herr Friedemann schüttelte den Kopf, und seine Lippen bebten. »Nein,«
sagte er; »das war Lüge und Einbildung.«

»Sie haben also geglaubt, glücklich zu sein?« fragte sie.

»Ich habe es versucht,« sagte er, und sie antwortete:

»Das war tapfer.«

Eine Minute verstrich. Nur die Grillen zirpten, und hinter ihnen
rauschte es ganz leise in den Bäumen.

»Ich verstehe mich ein wenig auf das Unglück,« sagte sie dann. »Solche
Sommernächte am Wasser sind das beste dafür.«

Hierauf antwortete er nicht, sondern wies mit einer schwachen Gebärde
hinüber nach dem jenseitigen Ufer, das friedlich im Dunkel lag.

»Dort habe ich neulich gesessen,« sagte er.

»Als Sie von mir kamen?« fragte sie.

Er nickte nur.

Dann aber bebte er plötzlich auf seinem Sitz in die Höhe, schluchzte
auf, stiess einen Laut aus, einen Klagelaut, der doch zugleich etwas
Erlösendes hatte, und sank langsam vor ihr zu Boden. Er hatte mit seiner
Hand die ihre berührt, die neben ihm auf der Bank geruht hatte, und
während er sie nun festhielt, während er auch die andere ergriff,
während dieser kleine, gänzlich verwachsene Mensch zitternd und zuckend
vor ihr auf den Knieen lag und sein Gesicht in ihren Schoss drückte,
stammelte er mit einer unmenschlichen, keuchenden Stimme:

»Sie wissen es ja ... Lass mich ... Ich kann nicht mehr ... Mein Gott
... Mein Gott ...«

Sie wehrte ihm nicht, sie beugte sich auch nicht zu ihm nieder. Sie sass
hoch aufgerichtet, ein wenig von ihm zurückgelehnt, und ihre kleinen,
nahe beieinander liegenden Augen, in denen sich der feuchte Schimmer des
Wassers zu spiegeln schien, blickten starr und gespannt gradeaus, über
ihn fort, ins Weite.

Und dann, plötzlich, mit einem Ruck, mit einem kurzen, stolzen,
verächtlichen Lachen hatte sie ihre Hände seinen heissen Fingern
entrissen, hatte ihn am Arm gepackt, ihn seitwärts vollends zu Boden
geschleudert, war aufgesprungen und in der Allee verschwunden.

Er lag da, das Gesicht im Grase, betäubt, ausser sich, und ein Zucken
lief jeden Augenblick durch seinen Körper. Er raffte sich auf, that zwei
Schritte und stürzte wieder zu Boden. Er lag am Wasser. --

Was ging eigentlich in ihm vor, bei dem, was nun geschah? Vielleicht war
es dieser wollüstige Hass, den er empfunden hatte, wenn sie ihn mit
ihrem Blicke demütigte, der jetzt, wo er, behandelt von ihr wie ein
Hund, am Boden lag, in eine irrsinnige Wut ausartete, die er bethätigen
musste, sei es auch gegen sich selbst ... ein Ekel vielleicht vor sich
selbst, der ihn mit einem Durst erfüllte, sich zu vernichten, sich in
Stücke zu zerreissen, sich auszulöschen ...

Auf dem Bauche schob er sich noch weiter vorwärts, erhob den Oberkörper
und liess ihn ins Wasser fallen. Er hob den Kopf nicht wieder; nicht
einmal die Beine, die am Ufer lagen, bewegte er mehr.

Bei dem Aufklatschen des Wassers waren die Grillen einen Augenblick
verstummt. Nun setzte ihr Zirpen wieder ein, der Park rauschte leise
auf, und durch die lange Allee herunter klang gedämpftes Lachen.



Der Tod.


Den 10. September.

Nun ist der Herbst da, und der Sommer wird nicht zurückkehren; niemals
werde ich ihn wiedersehen ...

Das Meer ist grau und still, und ein feiner, trauriger Regen geht
hernieder. Als ich das heute Morgen sah, habe ich vom Sommer Abschied
genommen und den Herbst begrüsst, meinen vierzigsten Herbst, der nun
wirklich unerbittlich heraufgezogen ist. Und unerbittlich wird er jenen
Tag bringen, dessen Datum ich manchmal leise vor mich hin spreche, mit
einem Gefühl von Andacht und stillem Grauen ...


Den 12. September.

Ich bin mit der kleinen Asuncion ein wenig spazieren gegangen. Sie ist
eine gute Begleiterin, die schweigt und manchmal nur gross und liebevoll
die Augen zu mir emporschlägt.

Wir sind den Strandweg nach Kronshafen gegangen, aber wir sind recht
zeitig wieder umgekehrt, bevor wir noch mehr als einen oder zwei
Menschen getroffen hatten.

Während wir zurückschritten, freute ich mich über den Anblick meines
Hauses. Wie gut ich es mir gewählt habe! Schlicht und grau blickt es von
dem Hügel, dessen Gras nun welk und feucht und dessen Weg aufgeweicht
ist, über das graue Meer hinaus. Auf der Rückseite führt die Chaussee
vorbei, und dahinter sind Felder. Aber darauf achte ich nicht; ich achte
nur auf das Meer.


Den 15. September.

Dieses einsame Haus auf dem Hügel am Meere unter dem grauen Himmel ist
wie ein düsteres, geheimnisvolles Märchen; und so will ich es haben in
meinem letzten Herbst. Heute Nachmittag aber, als ich am Fenster meines
Arbeitszimmers sass, war ein Wagen da, der Vorräte brachte, der alte
Franz half beim Auspacken, und es gab Geräusch und verschiedene Stimmen.
Ich kann nicht sagen, wie mich das störte. Ich zitterte vor
Missbilligung: Ich habe befohlen, dass dergleichen nur frühmorgens
geschehen soll, wenn ich schlafe. Der alte Franz sagte nur: -- Zu
Befehl, Herr Graf. Aber er sah mich mit seinen entzündeten Augen
ängstlich und zweifelnd an.

Wie könnte er mich verstehen? Er weiss es ja nicht. Ich will nicht, dass
Alltäglichkeit und Langeweile an meine letzten Tage rühren. Ich ängstige
mich davor, dass der Tod etwas Bürgerliches und Gewöhnliches an sich
haben könnte. Es soll um mich her fremdartig und seltsam sein an jenem
grossen, ernsten, rätselhaften Tage -- am zwölften Oktober ...


Den 18. September.

Während der letzten Tage bin ich nicht ausgegangen, sondern habe die
meiste Zeit auf der Chaiselongue zugebracht. Ich konnte auch nicht viel
lesen, weil dabei alle Nerven mich quälten. Ich habe einfach
stillgelegen und in den unermüdlichen, langsamen Regen hinausgeblickt.

Asuncion kam oft, und einmal brachte sie mir Blumen, ein paar dürre und
nasse Pflanzen, die sie am Strande gefunden; als ich das Kind zum Danke
küsste, weinte es, weil ich »krank« sei. Wie unsäglich schmerzlich mich
ihre zärtliche und wehmütige Liebe berührte!


Den 21. September.

Ich habe lange in meinem Arbeitszimmer am Fenster gesessen, und Asuncion
sass auf meinen Knieen. Wir haben auf das graue und weite Meer
hinausgeblickt, und hinter uns in dem grossen Gemach mit der hohen,
weissen Thür und den steiflehnigen Möbeln herrschte tiefe Stille. Und
während ich langsam das weiche Haar des Kindes streichelte, das schwarz
und schlicht auf ihre zarten Schultern hinabfliesst, habe ich
zurückgedacht in meinem wirren, bunten Leben; ich habe an meine Jugend
gedacht, die still war und behütet, an meine Wanderungen durch die ganze
Welt und an die kurze, lichte Zeit meines Glückes.

Erinnerst du dich des anmutigen und flammend zärtlichen Geschöpfes unter
dem Sammethimmel von Lissabon? Es sind zwölf Jahre, dass sie dir das
Kind schenkte und starb, während ihr schmaler Arm um deinen Hals lag.

Sie hat die dunklen Augen ihrer Mutter, die kleine Asuncion; nur müder
sind sie und nachdenklicher. Vor allem aber hat sie ihren Mund, diesen
unendlich weichen und doch ein wenig herb geschnittenen Mund, der am
schönsten ist, wenn er schweigt und nur ganz leise lächelt.

Meine kleine Asuncion! Wenn du wüsstest, dass ich dich werde verlassen
müssen. Weintest du, weil ich »krank« sei? Ach, was hat _das_ damit zu
thun! Was hat _das_ mit dem zwölften Oktober zu thun!...


Den 23. September.

Tage, an denen ich zurückdenken kann und in Erinnerungen mich verlieren,
sind selten. Wie viele Jahre sind es, dass ich nur vorwärts zu denken
vermag, nur zu warten auf diesen grossen und schauerlichen Tag, auf den
zwölften Oktober meines vierzigsten Lebensjahres!

Wie es sein wird, wie es nur sein wird! Ich fürchte mich nicht, aber
mich dünkt, dass er qualvoll langsam herankommt, dieser zwölfte Oktober.


Den 27. September.

Der alte Doktor Gudehus kam von Kronshafen, er kam zu Wagen den
Chausseeweg gefahren und nahm das zweite Frühstück mit Asuncion und mir.

»Es ist nötig,« sagte er und ass ein halbes Huhn, »dass Sie sich
Bewegung machen, Herr Graf, viel Bewegung in frischer Luft. Nicht lesen!
Nicht denken! Nicht grübeln! Ich halte Sie nämlich für einen
Philosophen, he, he!«

Nun, ich habe die Achseln gezuckt und ihm herzlich für seine Bemühungen
gedankt. Auch für die kleine Asuncion gab er Ratschläge und betrachtete
sie mit seinem gezwungenen und verlegenen Lächeln. Er hat meine
Brom-Dosis erhöhen müssen; vielleicht, dass ich nun ein wenig mehr
schlafen kann.


Den 30. September.

Der letzte September! Nun ist es nicht lange mehr. Es ist drei Uhr
nachmittags, und ich habe mir ausgerechnet, wie viele Minuten noch
fehlen bis zum Beginn des zwölften Oktobers. Es sind 8460.

Ich habe nicht schlafen können heute Nacht, denn es ist Wind
aufgekommen, und das Meer und der Regen rauscht. Ich habe gelegen und
die Zeit vorbeischwinden lassen. Denken und grübeln? Ach nein! Doktor
Gudehus hält mich für einen Philosophen, aber mein Kopf ist sehr
schwach, und ich kann nur denken: Der Tod, der Tod!


Den 2. Oktober.

Ich bin tief ergriffen, und in meine Bewegung mischt sich ein Gefühl von
Triumph. Manchmal, wenn ich daran dachte, und man mich zweifelnd und
ängstlich ansah, habe ich gesehen, dass man mich für wahnsinnig hielt,
und ich habe mich selbst mit Argwohn geprüft. Ach nein! Ich bin nicht
wahnsinnig.

Ich las heute die Geschichte jenes Kaisers Friedrich, dem man
prophezeite, er werde »sub flore« sterben. Nun, er mied die Städte
Florenz und Florentinum, einst aber kam er dennoch nach Florentinum: und
er starb. -- Warum starb er?

Eine Prophezeiung ist an sich unbeträchtlich; es kommt darauf an, ob sie
Macht über dich gewinnt. Thut sie aber das, so ist sie schon bewiesen,
und sie wird in Erfüllung gehen. -- Wie? Und ist eine Prophezeiung, die
in mir selbst aufsteht und stark wird, nicht wertvoller als eine, die
von aussen käme? Und ist die unerschütterliche Kenntnis des Zeitpunktes,
an dem man sterben wird, zweifelhafter als die des Ortes?

Oh, es ist eine stete Verbindung zwischen dem Menschen und dem Tode! Du
kannst mit deinem Willen und deiner Überzeugung an seiner Sphäre saugen,
du kannst ihn herbeiziehen, dass er zu dir tritt, zu der Stunde, an die
du glaubst ...


Den 3. Oktober.

Oftmals, wenn meine Gedanken sich wie graue Gewässer vor mir ausbreiten,
die mir unendlich scheinen, weil sie umnebelt sind, sehe ich etwas wie
den Zusammenhang der Dinge und glaube die Nichtigkeit der Begriffe zu
erkennen.

Was ist Selbstmord? Der freiwillige Tod? Aber niemand stirbt
unfreiwillig. Das Aufgeben des Lebens und die Hingabe an den Tod
geschieht ohne Unterschied aus Schwäche, und diese Schwäche ist stets
die Folge einer Krankheit des Körpers oder der Seele, oder beider. Man
stirbt nicht, bevor man einverstanden damit ist ...

Bin ich einverstanden? Ich muss es wohl sein, denn ich glaube, dass ich
wahnsinnig werden könnte, wenn ich am zwölften Oktober nicht stürbe ...


Den 5. Oktober.

Ich denke unaufhörlich daran, und es beschäftigt mich ganz und gar. --
Ich sinne darüber, wann und woher mein Wissen mir gekommen ist, ich
vermag es nicht zu sagen! Ich wusste mit neunzehn oder zwanzig Jahren,
dass ich mit vierzig sterben müsste, und irgend eines Tages, als ich
mich eindringlich fragte, an welchem Tage es geschehen werde, da wusste
ich auch den Tag!

Und nun ist er so nahe herangekommen, so nahe, dass ich den kalten Atem
des Todes zu verspüren meine.


Den 7. Oktober.

Der Wind hat sich verstärkt, die See braust, und der Regen trommelt auf
dem Dache. Ich habe in der Nacht nicht geschlafen, sondern bin in meinem
Wettermantel hinunter an den Strand gegangen und habe mich dort auf
einen Stein gesetzt.

Hinter mir war in Dunkelheit und Regen der Hügel mit dem grauen Haus, in
dem die kleine Asuncion schlief, meine kleine Asuncion! Und vor mir
wälzte das Meer seinen trüben Schaum bis vor meine Füsse.

Ich habe die ganze Nacht hinausgeblickt, und mich dünkte, so müsse der
Tod sein oder das Nach dem Tode: dort drüben und draussen ein
unendliches, dumpf brausendes Dunkel. Wird dort ein Gedanke, eine Ahnung
von mir fortleben und -weben und ewig auf das unbegreifliche Brausen
horchen?


Den 8. Oktober.

Ich will dem Tode danken, wenn er kommt, denn nun wird es zu bald
erfüllt sein, als dass ich noch warten könnte. Drei kurze Herbsttage
noch, und es wird geschehen. Wie gespannt ich bin auf den letzten
Augenblick, den allerletzten! Sollte es nicht ein Augenblick des
Entzückens und unsäglicher Süssigkeit sein? Ein Augenblick höchster
Wollust?

Drei kurze Herbsttage noch, und der Tod wird hier zu mir ins Zimmer
treten -- wie er sich nur benehmen wird! Wird er mich behandeln wie
einen Wurm? Wird er mich an der Kehle packen und mich würgen? Oder wird
er mit seiner Hand in mein Gehirn greifen? -- Aber ich denke ihn mir
gross und schön und von einer wilden Majestät!


Den 9. Oktober.

Ich sagte zu Asuncion, als sie auf meinen Knieen sass: »Wie, wenn ich
bald von Dir ginge, auf irgend eine Weise? Würdest Du sehr traurig
sein?« Da schmiegte sie ihr Köpfchen an meine Brust und weinte
bitterlich. -- Mein Hals ist zugeschnürt vor Schmerz.

Übrigens habe ich Fieber. Mein Kopf ist heiss, und ich zittere vor
Kälte.


Den 10. Oktober.

Er war bei mir, diese Nacht war er bei mir! Ich habe ihn nicht gesehen
und nicht gehört, und dennoch habe ich mit ihm gesprochen. Es ist
lächerlich, aber er benahm sich wie ein Zahnarzt! -- »Es ist am besten,
wenn wir es gleich abmachen,« sagte er. Aber ich wollte nicht und wehrte
mich. Mit kurzen Worten habe ich ihn fortgeschickt.

»Es ist am besten, wenn wir es gleich abmachen!« Wie das klang! Es ging
mir durch Mark und Bein. So nüchtern, so langweilig, so bürgerlich! Nie
habe ich ein kälteres und hohnvolleres Gefühl von Enttäuschung gekannt.


Den 11. Oktober (11 Uhr abends).

Verstehe ich es? Oh! glaubt mir, dass ich es verstehe!

Vor anderthalb Stunden, als ich in meinem Zimmer sass, kam der alte
Franz zu mir herein; er zitterte und schluchzte. »Das Fräulein!« rief
er, »das Kind! Ach, kommen Sie schnell!« -- Und ich kam schnell.

Ich habe nicht geweint, und nur ein kalter Schauer schüttelte mich. Sie
lag in ihrem Bettchen, und ihr schwarzes Haar rahmte ihr blasses,
schmerzliches Gesichtchen ein. Ich bin bei ihr niedergekniet und habe
nichts gethan und nichts gedacht. -- Doktor Gudehus kam.

»Das ist ein Herzschlag,« sagte er und nickte wie einer, der nicht
überrascht ist. Dieser Stümper und Narr that, als habe er es gewusst!

Ich aber -- habe ich es verstanden? Oh, als ich allein war mit ihr --
draussen rauschten Regen und Meer, und der Wind heulte im Ofenrohr -- da
habe ich auf den Tisch geschlagen, so klar wurde es mir in einem
Augenblick! Zwanzig Jahre lang habe ich den Tod auf den Tag
herbeigezogen, der in einer Stunde beginnen wird, und in mir, tief
unten, ist etwas gewesen, das heimlich gewusst hat, ich könne dies Kind
nicht verlassen. Ich hätte nicht sterben können nach Mitternacht, und es
musste doch sein! Ich hätte ihn wieder fortgeschickt, wenn er gekommen
wäre: Aber er ist zuerst zu dem Kinde gegangen, weil er meinem Wissen
und Glauben gehorchen musste. -- Habe ich selbst den Tod an dein
Bettchen gezogen, habe ich dich getötet, meine kleine Asuncion? Ach, das
sind grobe, armselige Worte für feine und geheimnisvolle Dinge!

Lebe wohl, lebe wohl! Vielleicht, dass ich dort draussen einen Gedanken,
eine Ahnung von dir wiederfinde. Denn sieh: der Zeiger rückt, und die
Lampe, die dein süsses Gesichtchen erhellt, wird bald verlöschen. Ich
halte deine kleine, kalte Hand und warte. Gleich wird er zu mir treten,
und ich werde nur nicken und die Augen schliessen, wenn ich ihn sagen
höre: »Es ist am besten, wenn wir es gleich abmachen« ...



Der Wille zum Glück.


Der alte Hofmann hatte sein Geld als Plantagenbesitzer in Südamerika
verdient. Er hatte dort eine Eingeborene aus gutem Hause geheiratet und
war bald darauf mit ihr nach Norddeutschland, seiner Heimat, gezogen.
Sie lebten in meiner Vaterstadt, wo auch seine übrige Familie zu Hause
war. Paolo wurde hier geboren.

Die Eltern habe ich übrigens nicht näher gekannt. Jedenfalls war Paolo
das Ebenbild seiner Mutter. Als ich ihn zum ersten Male sah, das heisst,
als unsere Väter uns zum ersten Male zur Schule brachten, war er ein
mageres Bürschchen mit gelblicher Gesichtsfarbe. Ich sehe ihn noch. Er
trug sein schwarzes Haar damals in langen Locken, die wirr auf den
Kragen seines Matrosenanzuges niederfielen und sein schmales Gesichtchen
umrahmten.

Da wir es beide zu Hause sehr gut gehabt hatten, so waren wir mit der
neuen Umgebung, der kahlen Schulstube und besonders mit dem rotbärtigen,
schäbigen Menschen, der uns durchaus das ABC lehren wollte, nichts
weniger als einverstanden. Ich hielt meinen Vater, als er sich entfernen
wollte, weinend am Rocke fest, während Paolo sich gänzlich passiv
verhielt. Er lehnte regungslos an der Wand, kniff die schmalen Lippen
zusammen und blickte aus grossen, thränenerfüllten Augen auf die übrige
hoffnungsvolle Jugend, die sich gegenseitig in die Seiten stiess und
gefühllos grinste.

In dieser Weise von Larven umgeben, fühlten wir uns von vornherein zu
einander hingezogen und waren froh, als der rotbärtige Pädagoge uns
nebeneinander sitzen liess. Wir hielten uns fortan zusammen, legten
gemeinschaftlich den Grund zu unserer Bildung und trieben täglich
Tauschhandel mit unserem Butterbrot.

Er war übrigens schon damals kränklich, wie ich mich erinnere. Er musste
dann und wann längere Zeit die Schule versäumen, und wenn er wiederkam,
so zeigten seine Schläfen und Wangen noch deutlicher als gewöhnlich das
blassblaue Geäder, das man gerade bei zarten brünetten Menschen häufig
bemerken kann. Er hat das immer behalten. Es war das erste, was mir hier
bei unserem Wiedersehen in München auffiel und auch nachher in Rom.

Unsere Kameradschaft dauerte während all der Schuljahre ungefähr aus
demselben Grunde fort, aus welchem sie entstanden. Es war das »Pathos
der Distanz« dem grössten Teile unserer Mitschüler gegenüber, das jeder
kennt, der mit fünfzehn Jahren heimlich Heine liest und in Tertia das
Urteil über Welt und Menschen entschlossen fällt.

Wir hatten -- ich glaube, wir waren sechzehn Jahre alt -- auch zusammen
Tanzstunde und erlebten infolge dessen gemeinsam unsere erste Liebe.

Das kleine Mädchen, das es ihm angethan, ein blondes, fröhliches
Geschöpf, verehrte er mit einer schwermütigen Glut, die für sein Alter
bemerkenswert war und mir manchmal direkt unheimlich erschien.

Ich erinnere mich besonders _einer_ Tanzgesellschaft. Das Mädchen
brachte einem anderen kurz nacheinander zwei Cotillonorden und ihm
keinen. Ich beobachtete ihn mit Angst. Er stand neben mir an die Wand
gelehnt, starrte regungslos auf seine Lackschuhe und sank plötzlich
ohnmächtig zusammen. Man brachte ihn nach Hause, und er lag acht Tage
krank. Es erwies sich damals -- ich glaube, bei dieser Gelegenheit --
dass sein Herz nicht das gesündeste sei.

Schon vor dieser Zeit hatte er begonnen zu zeichnen, wobei er starkes
Talent entwickelte. Ich bewahre ein Blatt, das die mit Kohlenstift
hingeworfene Züge jenes Mädchens recht ähnlich zur Schau trägt, nebst
der Unterschrift: »Du bist wie eine Blume! -- Paolo Hofmann fecit.« --

Ich weiss nicht genau, wann es war, aber wir waren schon in den höheren
Klassen, als seine Eltern die Stadt verliessen, um sich in Karlsruhe
niederzulassen, wo der alte Hofmann Verbindungen hatte. Paolo sollte die
Schule nicht wechseln und ward zu einem alten Professor in Pension
gegeben.

Indessen blieb die Lage auch so nicht lange. Vielleicht war das folgende
nicht gerade die Veranlassung dazu, dass Paolo eines Tages den Eltern
nach Karlsruhe nachfolgte, aber jedenfalls trug es dazu bei.

In einer Religionsstunde nämlich schritt plötzlich der betreffende
Oberlehrer mit einem lähmenden Blick auf ihn zu und zog unter dem Alten
Testament, das vor Paolo lag, ein Blatt hervor, auf welchem eine bis auf
den linken Fuss vollendete, sehr weibliche Gestalt sich ohne jedes
Schamgefühl den Blicken darbot.

Also Paolo ging nach Karlsruhe, und dann und wann wechselten wir
Postkarten, ein Verkehr, der nach und nach gänzlich einschlief.

Nach unserer Trennung waren ungefähr fünf Jahre vergangen, als ich ihn
in München wieder traf. Ich ging an einem schönen Frühlingsvormittag die
Amalienstrasse hinunter und sah jemanden die Freitreppe der Akademie
herabsteigen, der von weitem beinahe den Eindruck eines italienischen
Modells machte. Als ich näher kam, war er es wahrhaftig.

Mittelgross, schmal, den Hut auf dem dichten schwarzen Haar
zurückgesetzt, mit gelblichem, von blauen Äderchen durchzogenem Teint,
elegant, aber nachlässig gekleidet, -- an der Weste waren zum Beispiel
ein paar Knöpfe nicht geschlossen -- den kurzen Schnurrbart leicht
aufgewirbelt, so kam er mit seinem wiegenden, indolenten Schritt auf
mich zu.

Wir erkannten uns ungefähr gleichzeitig, und die Begrüssung war sehr
herzlich. Er schien mir, während wir uns vorm Café Minerva wechselseitig
über den Verlauf der letzten Jahre ausfragten, in gehobener, beinahe
exaltierter Stimmung zu sein. Seine Augen leuchteten, und seine
Bewegungen waren gross und weit. Dabei sah er schlecht aus, wirklich
krank. Ich habe jetzt freilich leicht reden; aber es fiel mir
thatsächlich auf, und ich sagte es ihm sogar geradezu.

»So, noch immer?« fragte er. »Ja, ich glaube es wohl. Ich bin viel krank
gewesen. Noch im letzten Jahre lange sogar schwer krank. Es sitzt hier.«

Er deutete mit der linken Hand auf seine Brust.

»Das Herz. Es ist von jeher dasselbe gewesen. -- In letzter Zeit fühle
ich mich aber sehr gut, ganz ausgezeichnet. Ich kann sagen, dass ich
ganz gesund bin. Übrigens mit meinen 23 Jahren -- es wäre ja auch
traurig ...«

Seine Laune war wirklich gut. Er erzählte heiter und lebendig von seinem
Leben seit unserer Trennung. Er hatte bald nach derselben bei seinen
Eltern es durchgesetzt, Maler werden zu dürfen, war seit etwa
dreiviertel Jahren mit der Akademie fertig -- soeben war er nur zufällig
dort gewesen -- hatte einige Zeit auf Reisen, besonders in Paris gelebt
und sich nun seit ungefähr fünf Monaten hier in München niedergelassen
..... »Wahrscheinlich für lange Zeit -- wer weiss? Vielleicht für
immer ...«

»So?« fragte ich.

»Nun ja? Das heisst -- warum nicht? Die Stadt gefällt mir, gefällt mir
ausnehmend! Der ganze Ton -- wie? Die Menschen! Und -- was nicht
unwichtig ist -- die sociale Stellung als Maler, auch als ganz
unbekannter, ist ja exquisit, ist ja nirgends besser ...«

»Hast Du angenehme Bekanntschaften gemacht?«

»Ja. -- Wenige, aber sehr gute. Ich muss Dir zum Beispiel eine Familie
empfehlen .. Ich lernte sie im Fasching kennen ... Der Fasching ist
reizend hier --! _Stein_ heissen sie. _Baron_ Stein sogar.«

»Was ist denn das für ein Adel?«

»Was man Geldadel nennt. Der Baron war Börsenmann, hat früher in Wien
eine kolossale Rolle gespielt, verkehrte mit sämtlichen Fürstlichkeiten
und so weiter ... Dann geriet er plötzlich in Décadence, zog sich mit
ungefähr einer Million -- sagt man -- aus der Affaire und lebt nun hier,
prunklos, aber vornehm.«

»Ist er Jude?«

»Er, glaube ich, nicht. Seine Frau vermutlich. Ich kann übrigens nicht
anders sagen, als dass es äusserst angenehme und feine Leute sind.«

»Sind da -- Kinder?«

»Nein. -- Das heisst -- eine neunzehnjährige Tochter. Die Eltern sind
sehr liebenswürdig ...«

Er schien einen Augenblick verlegen und fügte dann hinzu:

»Ich mache Dir ernstlich den Vorschlag, Dich von mir dort einführen zu
lassen. Es wäre mir ein Vergnügen. Bist Du nicht einverstanden?«

»Aber gewiss. Ich werde Dir dankbar sein. Schon um die Bekanntschaft
dieser neunzehnjährigen Tochter zu machen --«

Er blickte mich von der Seite an und sagte dann:

»Nun schön. Schieben wir es dann nicht lange hinaus. Wenn es Dir passt,
komme ich morgen um 1 Uhr herum oder halb 2 und hole Dich ab. Sie wohnen
Theresienstrasse 25, erster Stock. Ich freue mich darauf, Ihnen einen
Schulfreund von mir zuzuführen. Die Sache ist abgemacht.«

In der That klingelten wir am nächsten Tage um die Mittagszeit in der
ersten Etage eines eleganten Hauses in der Theresienstrasse. Neben der
Glocke war in breiten, schwarzen Lettern der Name Freiherr von Stein zu
lesen.

Paolo war auf dem ganzen Wege erregt und beinahe ausgelassen lustig
gewesen; jetzt aber, während wir auf das Öffnen der Thür warteten, nahm
ich eine seltsame Veränderung an ihm wahr. Alles an ihm war, während er
neben mir stand, bis auf ein nervöses Zucken der Augenlider, vollkommen
ruhig, -- von einer gewaltsamen, gespannten Ruhe. Er hatte den Kopf ein
wenig vorgestreckt. Seine Stirnhaut war gestrammt. Er machte beinahe den
Eindruck eines Tieres, das krampfhaft die Ohren spitzt und mit
Anspannung aller Muskeln horcht.

Der Diener, der unsere Karten davontrug, kehrte zurück mit der
Aufforderung, einen Augenblick Platz zu nehmen, da Frau Baronin sofort
erscheinen werde, und öffnete uns die Thür zu einem mässig grossen,
dunkel möblierten Zimmer.

Bei unserem Eintritt erhob sich im Erker, von dem aus man auf die
Strasse hinausblickte, eine junge Dame in heller Frühlingstoilette und
blieb einen Augenblick mit forschender Miene stehen. »Die
neunzehnjährige Tochter« dachte ich, indem ich unwillkürlich einen
Seitenblick auf meinen Begleiter warf, und: »Baronesse Ada!« flüsterte
er mir zu.

Sie war von eleganter Gestalt, aber für ihr Alter reifen Formen und
machte mit ihren sehr weichen und fast trägen Bewegungen kaum den
Eindruck eines so jungen Mädchens. Ihr Haar, das sie über die Schläfen
und in zwei Locken in die Stirn frisiert trug, war glänzend schwarz und
bildete einen wirksamen Kontrast zu der matten Weisse ihres Teints. Das
Gesicht liess zwar mit seinen vollen und feuchten Lippen, der
fleischigen Nase und den mandelförmigen, schwarzen Augen, über denen
sich dunkle und weiche Brauen wölbten, nicht den geringsten Zweifel
aufkommen über ihre wenigstens zum Teil semitische Abstammung, war aber
von ganz ungewöhnlicher Schönheit.

»Ah -- Besuch?« fragte sie, indem sie uns ein paar Schritte entgegenkam.
Ihre Stimme war leicht verschleiert. Sie führte eine Hand zur Stirn, wie
um besser sehen zu können, während sie sich mit der anderen auf den
Flügel stützte, der an der Wand stand.

»Und sogar sehr willkommener Besuch --?« fügte sie mit derselben
Betonung hinzu, als ob sie meinen Freund erst jetzt erkannte; dann warf
sie einen fragenden Blick auf mich.

Paolo schritt auf sie zu und beugte sich mit der fast schläfrigen
Langsamkeit, mit der man sich einem auserlesenen Genuss hingiebt,
wortlos auf die Hand nieder, die sie ihm entgegenstreckte.

»Baronesse,« sagte er dann, »ich erlaube mir Ihnen einen Freund von mir
vorzustellen, einen Schulkameraden, mit dem ich das ABC erlernte ...«

Sie reichte auch mir die Hand, eine weiche, scheinbar knochenlose Hand
ohne Schmuck.

»Ich bin erfreut --« sagte sie, während ihr dunkler Blick, dem ein
leises Zittern eigen war, auf mir ruhte. »Und auch meine Eltern werden
sich freuen ... Man hat sie hoffentlich benachrichtigt.«

Sie nahm auf der Ottomane Platz, während wir beide ihr auf Stühlen
gegenüber sassen. Ihre weissen, kraftlosen Hände ruhten beim Plaudern im
Schoss. Die bauschigen Ärmel reichten nur wenig über den Ellbogen
hinüber. Der weiche Ansatz des Handgelenks fiel mir auf.

Nach ein paar Minuten öffnete sich die Thür zum anliegenden Zimmer, und
die Eltern traten ein. Der Baron war ein eleganter, untersetzter Herr
mit Glatze und grauem Spitzbart; er hatte eine unnachahmliche Art, sein
dickes goldenes Armband in die Manschette zurückzuwerfen. Es liess sich
nicht mit Bestimmtheit erkennen, ob seiner Erhebung zum Freiherrn einst
ein paar Silben seines Namens zum Opfer gefallen waren; dagegen war
seine Gattin einfach eine hässliche kleine Jüdin in einem geschmacklosen
grauen Kleid. An ihren Ohren funkelten grosse Brillanten.

Ich wurde vorgestellt und in durchaus liebenswürdiger Weise begrüsst,
während man meinem Begleiter wie einem guten Hausfreunde die Hand
schüttelte.

Nachdem über mein Woher und Wieso einige Fragen und Antworten gefallen
waren, begann man von einer Ausstellung zu sprechen, in der Paolo ein
Bild hatte, einen weiblichen Akt.

»Eine wirklich feine Arbeit!« sagte der Baron. »Ich habe neulich eine
halbe Stunde davor gestanden. Der Fleischton auf dem roten Teppich ist
eminent wirkungsvoll. Ja, ja, der Herr Hofmann!« Dabei klopfte er Paolo
gönnerisch auf die Schulter. »Aber nicht überarbeiten, junger Freund! Um
Gotteswillen nicht! Sie haben es dringend nötig, sich zu schonen. Wie
steht es denn mit der Gesundheit? --«

Paolo hatte, während ich den Herrschaften über meine Person die nötigen
Aufschlüsse erteilte, ein paar gedämpfte Worte mit der Baronesse
gewechselt, der er dicht gegenüber sass. Die seltsam gespannte Ruhe, die
ich vorhin an ihm beobachtet hatte, war keineswegs von ihm gewichen. Er
machte, ohne dass ich genau zu sagen vermöchte, woran es lag, den
Eindruck eines sprungbereiten Panthers. Die dunklen Augen in dem
gelblichen, schmalen Gesicht hatten einen so krankhaften Glanz, dass es
mich nahezu unheimlich berührte, als er auf die Frage des Barons im
zuversichtlichsten Tone antwortete:

»Oh, ausgezeichnet! Verbindlichen Dank! Es geht mir sehr gut!«

-- Als wir uns nach Verlauf von etwa einer Viertelstunde erhoben,
erinnerte die Baronin meinen Freund daran, dass in zwei Tagen wieder
Donnerstag sei, er möge ihren Five o'clock tea nicht vergessen. Sie bat
bei dieser Gelegenheit auch mich, diesen Wochentag freundlichst im
Gedächtnis zu behalten ...

Auf der Strasse zündete Paolo sich eine Cigarette an.

»Nun?« fragte er. »Was sagst Du?«

»Oh, das sind sehr angenehme Leute!« beeilte ich mich zu antworten. »Die
neunzehnjährige Tochter hat mir sogar imponiert!«

»Imponiert?« Er lachte kurz auf und wandte den Kopf nach der anderen
Seite.

»Ja, Du lachst!« sagte ich. »Und da oben dünkte es mich zuweilen, als
trübe -- geheime Sehnsucht Deinen Blick. Aber ich bin im Irrtum?«

Er schwieg einen Augenblick. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Wenn ich nur wüsste, woher Du ...«

»Aber sei so gut! -- Die _Frage_ ist für mich nur noch, ob auch
Baronesse Ada ...«

Er sah wieder einen Augenblick stumm vor sich nieder. Dann sagte er
leise und zuversichtlich:

»Ich glaube, dass ich glücklich sein werde.«

Ich trennte mich von ihm, indem ich ihm herzlich die Hand schüttelte,
obgleich ich innerlich ein Bedenken nicht unterdrücken konnte.

Es vergingen nun ein paar Wochen, in denen ich hin und wieder gemeinsam
mit Paolo den Nachmittagsthee in dem freiherrlichen Salon einnahm. Es
pflegte dort ein kleiner, aber recht angenehmer Kreis versammelt zu
sein: Eine junge Hofschauspielerin, ein Arzt, ein Offizier -- ich
entsinne mich nicht jedes einzelnen.

An Paolos Benehmen beobachtete ich nichts Neues. Er befand sich
gewöhnlich trotz seines besorgniserregenden Aussehens in gehobener,
freudiger Stimmung und zeigte in der Nähe der Baronesse jedesmal wieder
jene unheimliche Ruhe, die ich das erste Mal an ihm wahrgenommen hatte.

Da begegnete mir eines Tages -- und ich hatte Paolo zufällig zwei Tage
lang nicht gesehen -- in der Ludwigstrasse der Baron von Stein. Er war
zu Pferde, hielt an und reichte mir vom Sattel aus die Hand.

»Erfreut, Sie zu sehen! Hoffentlich lassen Sie sich morgen Nachmittag
bei uns blicken?«

»Wenn Sie gestatten, zweifellos, Herr Baron. Auch wenn es irgendwie
zweifelhaft wäre, dass mein Freund Hofmann wie jeden Donnerstag kommen
wird, mich abzuholen ...«

»Hofmann? Aber wissen Sie denn nicht -- er ist ja abgereist! Ich dachte
doch, _Sie_ hätte er davon unterrichtet.«

»Aber mit keiner Silbe!«

»Und so vollkommen à bâton rompu ... Das nennt man Künstlerlaunen ...
Also morgen Nachmittag! --«

Damit setzte er sein Tier in Bewegung und liess mich höchst verdutzt
zurück.

Ich eilte in Paolos Wohnung. -- Ja, leider; Herr Hofmann sei abgereist.
Eine Adresse habe er nicht hinterlassen.

Es war klar, dass der Baron von mehr als einer »Künstlerlaune« wusste.
Seine Tochter selbst hat mir das, was ich ohnehin mit Bestimmtheit
vermutete, bestätigt.

Das geschah auf einem Spaziergang ins Isarthal, den man arrangiert
hatte, und zu dem auch ich aufgefordert worden war. Man war erst
nachmittags ausgezogen, und auf dem Heimwege zu später Abendstunde fügte
es sich, dass die Baronesse und ich als letztes Paar der Gesellschaft
nachfolgten.

Ich hatte an ihr seit Paolos Verschwinden keinerlei Veränderung
wahrgenommen. Sie hatte ihre Ruhe vollständig bewahrt und meines
Freundes bis dahin mit keinem Worte Erwähnung gethan, während ihre
Eltern sich über seine plötzliche Abreise in Ausdrücken des Bedauerns
ergingen.

Nun schritten wir neben einander durch diesen anmutigsten Teil der
Umgebung Münchens; das Mondlicht flimmerte zwischen dem Laubwerk, und
wir lauschten eine Weile schweigend dem Geplauder der übrigen
Gesellschaft, das ebenso einförmig war, wie das Brausen der Wasser, die
neben uns dahinschäumten.

Dann begann sie plötzlich von Paolo zu sprechen, und zwar in einem sehr
ruhigen und sehr sicheren Ton.

»Sie sind seit früher Jugend sein Freund?« fragte sie mich.

»Ja, Baronesse.«

»Sie teilen seine Geheimnisse?«

»Ich glaube, dass sein schwerstes mir bekannt ist, auch ohne dass er es
mir mitgeteilt.«

»Und ich darf Ihnen vertrauen?«

»Ich hoffe, dass Sie nicht daran zweifeln, gnädiges Fräulein.«

»Nun gut,« sagte sie, indem sie den Kopf mit einer entschlossenen
Bewegung erhob. »Er hat um meine Hand angehalten, und meine Eltern haben
sie ihm verweigert. Er sei krank, sagten sie mir, sehr krank -- aber
gleichviel: Ich _liebe_ ihn. Ich darf so zu Ihnen sprechen, nicht wahr?
Ich ...«

Sie verwirrte sich einen Augenblick und fuhr dann mit derselben
Entschlossenheit fort:

»Ich weiss nicht, wo er sich aufhält; aber ich gebe Ihnen die Erlaubnis,
ihm meine Worte, die er aus meinem eigenen Munde schon vernommen hat, zu
wiederholen, so bald Sie ihn wiedersehen, sie ihm zu schreiben, sobald
Sie seine Adresse ausfindig gemacht haben: Ich werde niemals einem
anderen Manne die Hand reichen als ihm. Ah -- wir werden sehen!«

In diesem letzten Ausruf lag neben Trotz und Entschlossenheit ein so
hilfloser Schmerz, dass ich mich nicht enthalten konnte, ihre Hand zu
ergreifen und sie stumm zu drücken.

Ich habe mich damals an Hofmanns Eltern brieflich mit der Bitte gewandt,
mich über den Aufenthaltsort ihres Sohnes zu benachrichtigen. Ich
erhielt eine Adresse in Südtirol, und mein Brief, der dorthin abging,
gelangte an mich zurück mit der Bemerkung, der Adressat habe, ohne ein
Reiseziel anzugeben, den Ort schon wieder verlassen.

Er wollte von keiner Seite behelligt sein, er war allem entflohen, um
irgendwo in aller Einsamkeit zu sterben. Gewiss, zu sterben. Denn nach
alledem war es mir zur traurigen Wahrscheinlichkeit geworden, dass ich
ihn nicht wiedersehen würde.

War es nicht klar, dass dieser hoffnungslos kranke Mensch jenes junge
Mädchen mit der lautlosen, vulkanischen, glühend sinnlichen Leidenschaft
liebte, die den gleichartigen ersten Regungen seiner früheren Jugend
entsprach? Der egoistische Instinkt des Kranken hatte die Begier nach
Vereinigung mit blühender Gesundheit in ihm entfacht; musste diese Glut,
da sie ungestillt blieb, seine letzte Lebenskraft nicht schnell
verzehren?

Und es vergingen fünf Jahre, ohne dass ich ein Lebenszeichen von ihm
erhielt, -- aber auch ohne dass die Nachricht von seinem Tode mich
erreichte!

Im vergangenen Jahre nun hielt ich mich in Italien auf, in Rom und
Umgebung. Ich hatte die heissen Monate im Gebirge verlebt, war Ende
September in die Stadt zurückgekehrt, und an einem warmen Abend sass ich
bei einer Tasse Thee im Caffé Aranjo. Ich blätterte in meiner Zeitung
und blickte gedankenlos in das lebendige Treiben, das in dem weiten,
lichterfüllten Raume herrschte. Die Gäste kamen und gingen, die Kellner
eilten hin und her, und dann und wann tönten durch die weit offenen
Thüren die langgezogenen Rufe der Zeitungsjungen in den Saal hinein.

Und plötzlich sehe ich, wie ein Herr von meinem Alter sich langsam
zwischen den Tischen hindurch und einem Ausgang zu bewegt ... Dieser
Gang --? Aber da wendet er auch schon den Kopf nach mir, hebt die
Augenbrauen, kommt mir mit einem freudig erstaunten »Ah!?« entgegen.

»Du hier?« Wir riefen es wie aus einem Munde, und er fügte hinzu:

»Also wir sind beide noch am Leben!«

Seine Augen schweiften ein wenig ab dabei. -- Er hatte sich in diesen
fünf Jahren kaum verändert; nur dass sein Gesicht vielleicht noch
schmaler geworden war, seine Augen noch tiefer in ihren Höhlen lagen.
Dann und wann atmete er tief auf.

»Du bist schon lange in Rom?« fragte er.

»In der Stadt noch nicht lange; ich war ein paar Monate auf dem Lande.«

»Und Du?«

»Ich war bis vor einer Woche am Meer. Du weisst, ich habe es den Bergen
immer vorgezogen ... Ja, ich habe, seit wir uns nicht sahen, ein gutes
Stück Erde kennen gelernt.« --

Und er begann, während er neben mir ein Glas sorbetto schlürfte, zu
erzählen, wie er diese Jahre verbracht hatte: Auf Reisen, immer auf
Reisen. Er hatte in den Tiroler Bergen gestreift, hatte ganz Italien
langsam durchmessen, war von Sizilien nach Afrika gegangen und sprach
von Algier, Tunis, Ägypten.

»Schliesslich bin ich einige Zeit in Deutschland gewesen,« sagte er, »in
Karlsruhe; meine Eltern wünschten dringend, mich zu sehen und haben mich
nur ungern wieder ziehen lassen. Jetzt bin ich seit einem Vierteljahre
wieder in Italien. Ich fühle mich im Süden zu Hause, weisst Du. Rom
gefällt mir über alle Massen!...«

Ich hatte ihn noch mit keinem Worte nach seinem Befinden befragt. Jetzt
sagte ich:

»Aus alledem darf ich schliessen, dass Deine Gesundheit sich bedeutend
gekräftigt hat?«

Er sah mich einen Augenblick fragend an; dann erwiderte er:

»Du meinst, weil ich so munter umherwandere? Ach, ich will Dir sagen:
Das ist ein sehr natürliches Bedürfnis. Was willst du? Trinken, Rauchen
und Lieben hat man mir verboten, -- irgend ein Narkotikum habe ich
nötig, verstehst Du?«

Da ich schwieg, fügte er hinzu:

»Seit fünf Jahren -- _sehr_ nötig.« --

Wir waren bei dem Punkte angelangt, den wir bis dahin vermieden hatten,
und die Pause, die eintrat, redete von unserer beiderseitigen
Ratlosigkeit. -- Er sass gegen das Sammetpolster zurückgelehnt und
blickte zum Kronleuchter empor. Dann sagte er plötzlich:

»Vor allem, -- nicht wahr, Du verzeihst mir, dass ich so lange nichts
habe von mir hören lassen ... Du verstehst das?«

»Gewiss!«

»Du bist über meine Münchener Erlebnisse orientiert?« fuhr er in beinahe
hartem Tone fort.

»So vollkommen wie möglich. Und weisst Du, dass ich mich die ganze Zeit
mit einem Auftrag für Dich getragen habe? Einem Auftrag von einer Dame?«

Seine müden Augen flammten kurz auf. Dann sagte er in demselben
trockenen und scharfen Tone von vorher:

»Lass hören, ob es etwas Neues ist.«

»Neues kaum; nur eine Bekräftigung dessen, was Du von ihr selbst schon
gehört hast« ...

Und ich wiederholte ihm, inmitten der schwatzenden und gestikulierenden
Menge, die Worte, die an jenem Abend die Baronesse zu mir gesprochen
hatte.

Er lauschte, indem er sich langsam über die Stirne strich; dann sagte er
ohne irgend ein Zeichen von Bewegung:

»Ich danke Dir.« --

Sein Ton fing an, mich irre zu machen.

»Aber über diese Worte sind Jahre hingegangen,« sagte ich, »fünf lange
Jahre, die sie und Du, ihr beide durchlebt habt ... Tausend neue
Eindrücke, Gefühle, Gedanken, Wünsche« ...

Ich brach ab, denn er richtete sich auf und sagte mit einer Stimme, in
der wieder die Leidenschaft bebte, die ich einen Moment für erloschen
gehalten hatte:

»_Ich_ -- _halte_ diese Worte!«

Und in diesem Augenblick erkannte ich auf seinem Gesicht und in seiner
ganzen Haltung den Ausdruck wieder, den ich damals, als ich die
Baronesse zum ersten Male sehen sollte, an ihm beobachtete: diese
gewaltsame, krampfhaft angespannte Ruhe, die das Raubtier vor dem
Sprunge zeigt.

Ich lenkte ab, und wir sprachen wieder von seinen Reisen, von den
Studien, die er unterwegs gemacht. Es schienen nicht viele zu sein; er
liess sich ziemlich gleichgültig darüber aus.

Kurz nach Mitternacht erhob er sich.

»Ich möchte schlafen gehen oder doch allein sein ... Du findest mich
morgen Vormittag in der Galleria Doria. Ich kopiere mir Saraceni; ich
habe mich in den musizierenden Engel verliebt. Sei so gut und komme hin.
Ich bin sehr froh, dass du hier bist. Gute Nacht.« --

Und er ging hinaus -- langsam, ruhig, mit schlaffen, trägen Bewegungen.

Während des ganzen nächsten Monats habe ich mit ihm die Stadt
durchwandert; Rom, dies überschwenglich reiche Museum aller Kunst, diese
moderne Grossstadt im Süden, diese Stadt, die voll ist von lautem,
raschem, heissem, sinnreichem Leben, und in die doch der warme Wind die
schwüle Trägheit des Orients hinüberträgt.

Paolos Benehmen blieb immer das gleiche. Er war meistens ernst und still
und konnte zuweilen in eine schlaffe Müdigkeit versinken, um dann,
während seine Augen aufblitzten, sich plötzlich zusammenzuraffen und ein
ruhendes Gespräch mit Eifer fortzusetzen.

Ich muss eines Tages Erwähnung thun, an dem er einige Worte fallen
liess, die erst jetzt die richtige Bedeutung für mich bekommen haben.

Es war an einem Sonntag. Wir hatten den wundervollen Spätsommermorgen
für einen Spaziergang auf der Via Appia benutzt und rasteten nun,
nachdem wir die antike Strasse weit hinaus verfolgt hatten, auf jenem
kleinen, cypressenumstandenen Hügel, von dem aus man einen entzückenden
Blick auf die sonnige Campagna mit dem grossen Aquädukt und auf die
Albanerberge geniesst, die ein weicher Dunst umhüllt.

Paolo ruhte halbliegend, das Kinn in die Hand gestützt, neben mir auf
dem warmen Grasboden und blickte mit müden, verschleierten Augen in die
Ferne. Dann war es wieder einmal jenes plötzliche Aufraffen aus völliger
Apathie, mit dem er sich an mich wandte:

»Diese Luftstimmung! -- Die Luftstimmung ist das Ganze!«

Ich erwiderte etwas Beistimmendes, und es war wieder still. Und da
plötzlich, ohne jeden Übergang, sagte er, indem er mir mit einer
gewissen Eindringlichkeit das Gesicht zuwandte:

»Sag mal, ist es dir eigentlich nicht aufgefallen, dass ich immer noch
am Leben bin?«

Ich schwieg betroffen, und er blickte wieder mit einem nachdenklichen
Ausdruck in die Ferne.

»Mir -- ja,« fuhr er langsam fort. »Ich wundere mich im Grunde jeden Tag
darüber. Weisst Du eigentlich, wie es um mich steht? -- Der französische
Doktor in Algier sagte zu mir: ›Der Teufel begreife, wie Sie noch immer
umherreisen mögen! Ich rate Ihnen, fahren Sie nach Hause und legen Sie
sich ins Bett!‹ Er war immer so geradezu, weil wir jeden Abend zusammen
Domino spielten.

Ich lebe doch noch immer. Ich bin beinahe täglich am Ende. Ich liege
abends im Dunkeln, -- auf der rechten Seite, wohlgemerkt! -- Das Herz
klopft mir bis in den Hals, es schwindelt mir, dass mir der
Angstschweiss ausbricht, und dann plötzlich ist es, als ob der Tod mich
anrührte. Es ist für einen Augenblick, als stehe alles still in mir, der
Herzschlag setzt aus, die Atmung versagt. Ich fahre auf, ich mache
Licht, ich atme tief auf, blicke um mich, verschlinge die Gegenstände
mit meinen Blicken. Dann trinke ich einen Schluck Wasser und lege mich
wieder zurück; immer auf die rechte Seite! Allmählich schlafe ich ein.

Ich schlafe sehr tief und sehr lange, denn ich bin eigentlich immer
todmüde. Glaubst Du, dass ich, wenn ich wollte, mich hier einfach
hinlegen könnte und sterben?

Ich glaube, dass ich in diesen Jahren tausendmal schon den Tod von
Angesicht zu Angesicht gesehen habe. Ich bin nicht gestorben. -- Mich
hält etwas. -- Ich fahre auf, ich denke an etwas, ich klammere mich an
einen Satz, den ich mir zwanzigmal wiederhole, während meine Augen
gierig alles Licht und Leben um mich her einsaugen ...... Verstehst du
mich?«

Er lag regungslos und schien kaum eine Antwort zu erwarten. Ich weiss
nicht mehr, was ich ihm erwiderte; aber ich werde niemals den Eindruck
vergessen, den seine Worte auf mich machten.

Und nun jener Tag -- oh, mir ist, als hätte ich ihn gestern erlebt!

Es war einer der ersten Herbsttage, jener grauen, unheimlich warmen
Tage, an denen der feuchte, beklemmende Wind aus Afrika durch die
Strassen geht und abends der ganze Himmel unaufhörlich im Wetterleuchten
zuckt.

Am Morgen trat ich bei Paolo ein, um ihn zu einem Ausgange abzuholen.
Sein grosser Koffer stand inmitten des Zimmers, Schrank und Kommode
waren weit offen; seine Aquarellskizzen aus dem Orient und der
Gipsabguss des vatikanischen Junokopfes waren noch an ihren Plätzen.

Er selbst stand hoch aufgerichtet am Fenster und liess nicht ab,
unbeweglich hinauszublicken, als ich mit einem erstaunten Ausruf stehen
blieb. Dann wandte er sich kurz, streckte mir einen Brief hin und sagte
nichts als:

»Lies.«

Ich sah ihn an. Auf diesem schmalen, gelblichen Krankengesicht mit den
schwarzen, fiebernden Augen lag ein Ausdruck, wie ihn sonst nur der Tod
hervorzubringen vermag, ein ungeheurer Ernst, der mich die Augen auf den
Brief niederschlagen liess, den ich entgegengenommen hatte. Und ich las:

    »Hochgeehrter Herr Hofmann!

    Der Liebenswürdigkeit Ihrer werten Eltern, an die ich mich wandte,
    verdanke ich die Kenntnis Ihrer Adresse, und hoffe nun, dass Sie
    diese Zeilen freundlich aufnehmen werden.

    Gestatten Sie mir, hochgeehrter Herr Hofmann, die Versicherung, dass
    ich während dieser fünf Jahre stets mit dem Gefühl aufrichtiger
    Freundschaft Ihrer gedacht habe. Müsste ich annehmen, dass Ihre
    plötzliche Abreise an jenem für Sie _und_ mich so schmerzlichen Tage
    _Zorn_ gegen mich und die Meinen bekunden sollte, so wäre meine
    Betrübnis darüber noch grösser, als das Erschrecken und tiefe
    Erstaunen, das ich empfand, als Sie bei mir um die Hand meiner
    Tochter anhielten.

    Ich habe damals zu Ihnen gesprochen als ein Mann zum andern, habe
    Ihnen offen und ehrlich, auf die Gefahr hin, brutal zu erscheinen,
    den Grund mitgeteilt, warum ich einem Manne, den ich -- ich kann es
    nicht genug betonen -- in jeder Beziehung so überaus hochschätze,
    die Hand meiner Tochter versagen musste, und ich habe als Vater zu
    Ihnen gesprochen, der das _dauernde_ Glück seines einzigen Kindes im
    Auge hat und der das Aufkeimen von Wünschen der bewussten Art auf
    beiden Seiten gewissenhaft vereitelt hätte, wenn ihm jemals der
    Gedanke an ihre Möglichkeit gekommen wäre!

    In den gleichen Eigenschaften, mein verehrter Herr Hofmann, spreche
    ich auch heute zu Ihnen: als Freund und als Vater. -- Fünf Jahre
    sind seit Ihrer Abreise verflossen, und hatte ich bis dahin noch
    nicht Musse genug zu der Erkenntnis gehabt, wie tief die Neigung,
    die Sie meiner Tochter einzuflössen vermochten, in ihr Wurzel
    gefasst hat, so ist kürzlich ein Ereignis eingetreten, das mir
    völlig darüber die Augen öffnen musste. Warum sollte ich es Ihnen
    verschweigen, dass meine Tochter im Gedanken an Sie die Hand eines
    ausgezeichneten Mannes ausgeschlagen hat, dessen Werbung ich als
    Vater nur dringend befürworten konnte?

    An den Gefühlen und Wünschen meiner Tochter sind die Jahre machtlos
    vorübergegangen, und sollte -- dies ist eine offene und bescheidene
    Frage! -- bei Ihnen, hochgeehrter Herr Hofmann, das Gleiche der Fall
    sein, so erkläre ich Ihnen hiermit, dass wir Eltern dem Glücke
    unseres Kindes fernerhin nicht im Wege stehen wollen.

    Ich sehe Ihrer Antwort entgegen, für die ich Ihnen, wie sie auch
    lauten möge, überaus dankbar sein werde, und habe diesen Zeilen
    nichts hinzuzufügen, als den Ausdruck meiner vollsten Hochachtung.

    Ergebenst _Oskar Freiherr von Stein_.«

-- Ich blickte auf. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und sich
wieder dem Fenster zugewandt. Ich fragte nichts, als:

»Du reist?«

Und ohne mich anzusehen, erwiderte er:

»Bis morgen früh müssen meine Sachen bereit sein.«

Der Tag verging mit Besorgungen und Kofferpacken, wobei ich ihm
behilflich war, und abends machten wir auf meinen Vorschlag einen
letzten gemeinsamen Spaziergang durch die Strassen der Stadt.

Es war noch jetzt fast unerträglich schwül, und der Himmel zuckte jede
Sekunde in jähem Phosphorlichte auf. -- Paolo schien ruhig und ermüdet;
aber er atmete tief und schwer.

Schweigend oder in gleichgültigen Gesprächen waren wir wohl eine Stunde
umhergewandert, als wir vor der Fontana Trevi stehen blieben, jenem
berühmten Brunnen, der das dahineilende Gespann des Meergottes zeigt.

Wir betrachteten wieder einmal lange und mit Bewunderung diese prächtig
schwungvolle Gruppe, die, unaufhörlich von grellblauem Leuchten
umspielt, einen nahezu zauberhaften Eindruck machte. Mein Begleiter
sagte:

»Gewiss, Bernini entzückt mich auch noch in den Werken seiner Schüler.
Ich begreife seine Feinde nicht. -- Freilich, wenn das jüngste Gericht
mehr gehauen als gemalt ist, so sind Berninis Werke sämtlich mehr gemalt
als gehauen. Aber giebt es einen grösseren Dekorateur?«

»Weisst Du eigentlich,« fragte ich, »was für eine Bewandtnis es mit dem
Brunnen hat? Wer beim Abschied von Rom daraus trinkt, der kehrt zurück.
Hier hast Du mein Reiseglas --« und ich füllte es an einem der
Wasserstrahlen -- »Du sollst Dein Rom wiedersehen!«

Er nahm das Glas und führte es an die Lippen. In diesem Augenblick
flammte der ganze Himmel in einem blendenden, lang anhaltenden
Feuerscheine auf, und klirrend sprang das dünne Gefässchen am Rande des
Bassins in Scherben.

Paolo trocknete mit dem Taschentuch das Wasser an seinem Anzug.

»Ich bin nervös und ungeschickt,« sagte er. »Gehen wir weiter.
Hoffentlich war das Glas nichts wert.«

Am nächsten Morgen hatte sich das Wetter aufgeklärt. Ein lichtblauer
Sommerhimmel lachte über uns, als wir zum Bahnhof fuhren.

Der Abschied war kurz. Paolo schüttelte schweigend meine Hand, als ich
ihm Glück wünschte, viel Glück.

Ich sah ihm lange nach, wie er hochaufgerichtet an dem breiten
Aussichtsfenster stand. Tiefer Ernst lag in seinen Augen -- und Triumph.

Was habe ich noch zu sagen? -- Er ist tot; gestorben am Morgen nach der
Hochzeitsnacht, -- beinahe in der Hochzeitsnacht.

Es musste so sein. War es nicht der Wille, der Wille zum Glück allein,
mit dem er so lange den Tod bezwungen hatte? Er musste sterben, ohne
Kampf und Widerstand sterben, als seinem Willen zum Glück Genüge
geschehen war; er hatte keinen Vorwand mehr zu leben.

Ich habe mich gefragt, ob er schlecht gehandelt, bewusst schlecht an
der, welcher er sich verband. Aber ich habe sie gesehen bei seinem
Begräbnis, als sie zu Häupten seines Sarges stand; und ich habe auch in
ihrem Antlitz den Ausdruck erkannt, den ich auf seinem gefunden: den
feierlichen und starken Ernst des Triumphes.



Enttäuschung.


Ich gestehe, dass mich die Reden dieses sonderbaren Herrn ganz und gar
verwirrten, und ich fürchte, dass ich auch jetzt noch nicht im stande
sein werde, sie auf eine Weise zu wiederholen, dass sie andere in
ähnlicher Weise berührten, wie an jenem Abend mich selbst. Vielleicht
beruhte ihre Wirkung nur auf der befremdlichen Offenheit, mit der ein
ganz Unbekannter sie mir äusserte ...

Der Herbstvormittag, an dem mir jener Unbekannte auf der Piazza San
Marco zum ersten Male auffiel, liegt nun etwa zwei Monate zurück. Auf
dem weiten Platze bewegten sich nur wenige Menschen umher, aber vor dem
bunten Wunderbau, dessen üppige und märchenhafte Umrisse und goldene
Zierrate sich in entzückender Klarheit von einem zarten, lichtblauen
Himmel abhoben, flatterten in leichtem Seewind die Fahnen; grade vor dem
Hauptportal hatte sich um ein junges Mädchen, das Mais streute, ein
ungeheurer Rudel von Tauben versammelt, während immer mehr noch von
allen Seiten herbeischossen ... Ein Anblick von unvergleichlich lichter
und festlicher Schönheit.

Da begegnete ich ihm, und ich habe ihn, während ich schreibe, mit
ausserordentlicher Deutlichkeit vor Augen. Er war kaum mittelgross und
ging schnell und gebückt, während er seinen Stock mit beiden Händen auf
dem Rücken hielt. Er trug einen schwarzen, steifen Hut, hellen
Sommerüberzieher und dunkelgestreifte Beinkleider. Aus irgend einem
Grunde hielt ich ihn für einen Engländer. Er konnte dreissig Jahre alt
sein, vielleicht auch fünfzig. Sein Gesicht, mit etwas dicker Nase und
müdeblickenden, grauen Augen, war glattrasiert, und um seinen Mund
spielte beständig ein unerklärliches und ein wenig blödes Lächeln. Nur
von Zeit zu Zeit blickte er, indem er die Augenbrauen hob, forschend um
sich her, sah dann wieder vor sich zu Boden, sprach ein paar Worte mit
sich selbst, schüttelte den Kopf und lächelte. So ging er beharrlich den
Platz auf und nieder.

Von nun an beobachtete ich ihn täglich, denn er schien sich mit nichts
anderem zu beschäftigen, als bei gutem wie bei schlechtem Wetter,
vormittags wie nachmittags, dreissig- und fünfzigmal die Piazza auf und
ab zu schreiten, immer allein und immer mit dem gleichen seltsamen
Gebahren.

An dem Abend, den ich im Sinne habe, hatte eine Militärkapelle
konzertiert. Ich sass an einem der kleinen Tische, die das Café Florian
weit auf den Platz hinausstellt, und als nach Schluss des Konzertes die
Menge, die bis dahin in dichten Strömen hin und wieder gewogt war, sich
zu zerstreuen begann, nahm der Unbekannte, auf abwesende Art lächelnd
wie stets, an einem neben mir freigewordenen Tische Platz.

Die Zeit verging, rings umher ward es stiller und stiller, und schon
standen weit und breit alle Tische leer. Kaum dass hier und da noch ein
Mensch vorüberschlenderte; ein majestätischer Friede lagerte über dem
Platz, der Himmel hatte sich mit Sternen bedeckt, und über der
prachtvoll theatralischen Façade von San Marco stand der halbe Mond.

Ich las, indem ich meinem Nachbar den Rücken zuwandte, in meiner Zeitung
und war eben im Begriff, ihn allein zu lassen, als ich mich genötigt
sah, mich halb nach ihm umzuwenden; denn während ich bislang nicht
einmal das Geräusch einer Bewegung von ihm vernommen hatte, begann er
plötzlich zu sprechen.

-- Sie sind zum ersten Mal in Venedig, mein Herr? fragte er in
schlechtem Französisch; und als ich mich bemühte, ihm in englischer
Sprache zu antworten, fuhr er in dialektfreiem Deutsch zu sprechen fort
mit einer leisen und heiseren Stimme, die er oft durch ein Hüsteln
aufzufrischen suchte.

-- Sie sehen das alles zum ersten Male? Es erreicht Ihre Erwartungen? --
Übertrifft es sie vielleicht sogar? -- Ah! Sie haben es sich nicht
schöner gedacht? -- Das ist wahr? -- Sie sagen das nicht nur, um
glücklich und beneidenswert zu erscheinen? -- Ah! -- Er lehnte sich
zurück und betrachtete mich mit schnellem Blinzeln und einem ganz
unerklärlichen Gesichtsausdruck.

Die Pause, die eintrat, währte lange, und ohne zu wissen, wie dieses
seltsame Gespräch fortzusetzen sei, war ich aufs neue im Begriff, mich
zu erheben, als er sich hastig vorbeugte.

-- Wissen Sie, mein Herr, was das ist: Enttäuschung? fragte er leise und
eindringlich, indem er sich mit beiden Händen auf seinen Stock lehnte.
-- Nicht im Kleinen und Einzelnen ein Misslingen, ein Fehlschlagen,
sondern die grosse, die allgemeine Enttäuschung, die Enttäuschung, die
alles, das ganze Leben einem bereitet? Sicherlich, Sie kennen sie nicht.
Ich aber bin von Jugend auf mit ihr umhergegangen, und sie hat mich
einsam, unglücklich und ein wenig wunderlich gemacht, ich leugne es
nicht.

Wie könnten Sie mich bereits verstehen, mein Herr? Vielleicht aber
werden Sie es, wenn ich Sie bitten darf, mir zwei Minuten lang
zuzuhören. Denn wenn es gesagt werden kann, so ist es schnell gesagt ...

Lassen Sie mich erwähnen, dass ich in einer ganz kleinen Stadt
aufgewachsen bin in einem Pastorhause, in dessen überreinlichen Räumen
ein altmodisch pathetischer Gelehrtenoptimismus herrschte, und in dem
man eine eigentümliche Atmosphäre von Kanzelrhetorik einatmete -- von
diesen grossen Wörtern für Gut und Böse, Schön und Hässlich, die ich so
bitterlich hasse, weil sie vielleicht, sie allein an meinem Leiden die
Schuld tragen.

Das Leben bestand für mich schlechterdings aus grossen Wörtern, denn ich
kannte nichts davon als die ungeheuren und wesenlosen Ahnungen, die
diese Wörter in mir hervorriefen. Ich erwartete von den Menschen das
göttlich Gute und das haarsträubend Teuflische; ich erwartete vom Leben
das entzückend Schöne und das Grässliche, und eine Begierde nach alledem
erfüllte mich, eine tiefe, angstvolle Sehnsucht nach der weiten
Wirklichkeit, nach dem Erlebnis, gleichviel welcher Art, nach dem
berauschend herrlichen Glück und dem unsäglich, unahnbar furchtbaren
Leiden.

Ich erinnere mich, mein Herr, mit einer traurigen Deutlichkeit der
ersten Enttäuschung meines Lebens, und ich bitte Sie, zu bemerken, dass
sie keineswegs in dem Fehlschlagen einer schönen Hoffnung bestand,
sondern in dem Eintritt eines Unglücks. Ich war beinahe noch ein Kind,
als ein nächtlicher Brand in meinem väterlichen Hause entstand. Das
Feuer hatte heimlich und tückisch um sich gegriffen, bis an meine
Kammerthür brannte das ganze kleine Stockwerk, und auch die Treppe war
nicht weit entfernt, in Flammen aufzugehen. Ich war der erste, der es
bemerkte, und ich weiss, dass ich durch das Haus stürzte, indem ich
einmal über das andere den Ruf hervorstiess: »Nun brennt es! Nun brennt
es!« Ich entsinne mich dieses Wortes mit grosser Genauigkeit, und ich
weiss auch, welches Gefühl ihm zu Grunde lag, obgleich es mir damals
kaum zum Bewusstsein gekommen sein mag. Dies ist, so empfand ich, eine
Feuersbrunst; nun erlebe ich sie! Schlimmer ist es nicht? Das ist das
Ganze?...

Gott weiss, dass es keine Kleinigkeit war. Das ganze Haus brannte
nieder, wir alle retteten uns mit Mühe aus äusserster Gefahr, und ich
selbst trug ganz beträchtliche Verletzungen davon. Auch wäre es
unrichtig, zu sagen, dass meine Phantasie den Ereignissen vorgegriffen
und mir einen Brand des Elternhauses entsetzlicher ausgemalt hätte. Aber
ein vages Ahnen, eine gestaltlose Vorstellung von etwas noch weit
Grässlicherem hatte in mir gelebt, und im Vergleich damit erschien die
Wirklichkeit mir matt. Die Feuersbrunst war mein erstes grosses
Erlebnis: eine furchtbare Hoffnung wurde damit enttäuscht.

Fürchten Sie nicht, dass ich fortfahren werde, Ihnen meine
Enttäuschungen im einzelnen zu berichten. Ich begnüge mich damit, zu
sagen, dass ich mit unglückseligem Eifer meine grossartigen Erwartungen
vom Leben durch tausend Bücher nährte: durch die Werke der Dichter. Ach,
ich habe gelernt, sie zu hassen, diese Dichter, die ihre grossen Wörter
an alle Wände schreiben und sie mit einer in den Vesuv getauchten Ceder
am liebsten an die Himmelsdecke malen möchten -- während doch ich nicht
umhin kann, jedes grosse Wort als eine Lüge oder als einen Hohn zu
empfinden!

Verzückte Poeten haben mir vorgesungen, die Sprache sei arm, ach, sie
sei arm -- oh nein, mein Herr! Die Sprache, dünkt mich, ist reich, ist
überschwenglich reich im Vergleich mit der Dürftigkeit und Begrenztheit
des Lebens. Der Schmerz hat seine Grenzen: der körperliche in der
Ohnmacht, der seelische im Stumpfsinn, -- es ist mit dem Glück nicht
anders! Das menschliche Mitteilungsbedürfnis aber hat sich Laute
erfunden, die über diese Grenzen hinweglügen.

Liegt es an mir? Läuft nur mir die Wirkung gewisser Wörter auf eine
Weise das Rückenmark hinunter, dass sie mir Ahnungen von Erlebnissen
erwecken, die es gar nicht giebt?

Ich bin in das berühmte Leben hinausgetreten, voll von dieser Begierde
nach einem, einem Erlebnis, das meinen grossen Ahnungen entspräche. Gott
helfe mir, es ist mir nicht zu teil geworden! Ich bin umhergeschweift,
um die gepriesensten Gegenden der Erde zu besuchen, um vor die
Kunstwerke hinzutreten, um die die Menschheit mit den grössten Wörtern
tanzt; ich habe davor gestanden und mir gesagt: Es ist schön. Und doch:
Schöner ist es nicht? Das ist das Ganze?

Ich habe keinen Sinn für Thatsächlichkeiten; das sagt vielleicht alles.
Irgendwo in der Welt stand ich einmal im Gebirge an einer tiefen,
schmalen Schlucht. Die Felsenwände waren nackt und senkrecht, und
drunten brauste das Wasser über die Blöcke vorbei. Ich blickte hinab und
dachte: Wie, wenn ich stürzte? Aber ich hatte Erfahrung genug, mir zu
antworten: Wenn es geschähe, so würde ich im Falle zu mir sprechen: Nun
stürzt du hinab, nun ist es Thatsache! Was ist das nun eigentlich? --

Wollen Sie mir glauben, dass ich genug erlebt habe, um ein wenig
mitreden zu können? Vor Jahren liebte ich ein Mädchen, ein zartes und
holdes Geschöpf, das ich an meiner Hand und unter meinem Schutze gern
dahingeführt hätte; sie aber liebte mich nicht, das war kein Wunder, und
ein anderer durfte sie schützen ... Giebt es ein Erlebnis, das
leidvoller wäre? Giebt es etwas Peinigenderes als diese herbe Drangsal,
die mit Wollust grausam vermengt ist? Ich habe manche Nacht mit offenen
Augen gelegen, und trauriger, quälender als alles übrige war stets der
Gedanke: Dies ist der grosse Schmerz! Nun erlebe ich ihn! -- Was ist das
nun eigentlich? --

Ist es nötig, dass ich Ihnen auch von meinem Glücke spreche? Denn auch
das Glück habe ich erlebt, auch das Glück hat mich enttäuscht ... Es ist
nicht nötig; denn dies alles sind plumpe Beispiele, die Ihnen nicht klar
machen werden, dass es das Leben im ganzen und allgemeinen ist, das
Leben in seinem mittelmässigen, uninteressanten und matten Verlaufe, das
mich enttäuscht hat, enttäuscht, enttäuscht.

»Was ist,« schreibt der junge Werther einmal, »der Mensch, der
gepriesene Halbgott? Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er sie
am nötigsten braucht? Und wenn er in Freude sich aufschwingt oder in
Leiden versinkt, wird er nicht in beiden eben da aufgehalten, eben da zu
dem stumpfen, kalten Bewusstsein wieder zurückgebracht, da er sich in
der Fülle des Unendlichen zu verlieren sehnte?«

Ich gedenke oft des Tages, an dem ich das Meer zum ersten Male
erblickte. Das Meer ist gross, das Meer ist weit, mein Blick schweifte
vom Strande hinaus und hoffte, befreit zu sein: dort hinten aber war der
Horizont. Warum habe ich einen Horizont? Ich habe vom Leben das
Unendliche erwartet.

Vielleicht ist er enger, mein Horizont, als der anderer Menschen? Ich
habe gesagt, mir fehle der Sinn für Thatsächlichkeiten, -- habe ich
vielleicht zu viel Sinn dafür? Kann ich zu bald nicht mehr? Bin ich zu
schnell fertig? Kenne ich Glück und Schmerz nur in den niedrigsten
Graden, nur in verdünntem Zustande?

Ich glaube es nicht; und ich glaube den Menschen nicht, ich glaube den
wenigsten, die angesichts des Lebens in die grossen Wörter der Dichter
einstimmen -- es ist Feigheit und Lüge! Haben Sie übrigens bemerkt, mein
Herr, dass es Menschen giebt, die so eitel sind und so gierig nach der
Hochachtung und dem heimlichen Neide der anderen, dass sie vorgeben, nur
die grossen Wörter des Glücks erlebt zu haben, nicht aber die des
Leidens?

Es ist dunkel, und Sie hören mir kaum noch zu; darum will ich es mir
heute noch einmal gestehen, dass auch ich, ich selbst es einst versucht
habe, mit diesen Menschen zu lügen, um mich vor mir und den anderen als
glücklich hinzustellen. Aber es ist manches Jahr her, dass diese
Eitelkeit zusammenbrach, und ich bin einsam, unglücklich und ein wenig
wunderlich geworden, ich leugne es nicht.

Es ist meine Lieblingsbeschäftigung, bei Nacht den Sternenhimmel zu
betrachten, denn ist das nicht die beste Art, von der Erde und vom Leben
abzusehen? Und vielleicht ist es verzeihlich, dass ich es mir dabei
angelegen sein lasse, mir meine Ahnungen wenigstens zu wahren? Von einem
befreiten Leben zu träumen, in dem die Wirklichkeit in meinen grossen
Ahnungen ohne den quälenden Rest der Enttäuschung aufgeht? Von einem
Leben, in dem es keinen Horizont mehr giebt?...

Ich träume davon, und ich erwarte den Tod. Ach, ich kenne ihn bereits so
genau, den Tod, diese letzte Enttäuschung! Das ist der Tod, werde ich im
letzten Augenblicke zu mir sprechen; nun erlebe ich ihn! -- _Was ist das
nun eigentlich?_ --

Aber es ist kalt geworden auf dem Platze, mein Herr; ich bin im stande,
das zu empfinden, hehe! Ich empfehle mich Ihnen aufs allerbeste.
Adieu ...



Der Bajazzo.


Nach allem zum Schluss und als würdiger Ausgang, in der That, alles
dessen ist es nun der Ekel, den mir das Leben -- mein Leben -- den mir
»alles das« und »das Ganze« einflösst, dieser Ekel, der mich würgt, mich
aufjagt, mich schüttelt und wieder niederwirft, und der mir vielleicht
über kurz oder lang einmal die notwendige Schwungkraft geben wird, die
ganze lächerliche und nichtswürdige Angelegenheit überm Knie zu
zerbrechen und mich auf und davon zu machen. Sehr möglich immerhin, dass
ich es noch diesen und den anderen Monat treibe, dass ich noch ein
Viertel- oder Halbjahr fortfahre zu essen, zu schlafen und mich zu
beschäftigen -- in derselben mechanischen, wohlgeregelten und ruhigen
Art, in der mein äusseres Leben während dieses Winters verlief, und die
mit dem wüsten Auflösungsprozess meines Innern in entsetzlichem
Widerstreite stand. Scheint es nicht, dass die inneren Erlebnisse eines
Menschen desto stärker und angreifender sind, je dégagierter,
weltfremder und ruhiger er äusserlich lebt? Es hilft nichts: man muss
leben; und wenn du dich wehrst, ein Mensch der Action zu sein, und dich
in die friedlichste Einöde zurückziehst, so werden die Wechselfälle des
Daseins dich innerlich überfallen, und du wirst deinen Charakter in
ihnen zu bewähren haben, seiest du nun ein Held oder ein Narr.

Ich habe mir dies reinliche Heft bereitet, um meine »Geschichte« darin
zu erzählen: warum eigentlich? Vielleicht um überhaupt etwas zu thun zu
haben? Aus Lust am Psychologischen vielleicht und um mich an der
Notwendigkeit alles dessen zu laben? Die Notwendigkeit ist so tröstlich!
Vielleicht auch, um auf Augenblicke eine Art von Überlegenheit über mich
selbst und etwas wie Gleichgültigkeit zu geniessen? -- Denn
Gleichgültigkeit, ich weiss, das wäre eine Art von Glück ...


I.

Sie liegt so weit dahinten, die kleine, alte Stadt mit ihren schmalen,
winkeligen und giebeligen Strassen, ihren gotischen Kirchen und Brunnen,
ihren betriebsamen, soliden und einfachen Menschen und dem grossen,
altersgrauen Patrizierhause, in dem ich aufgewachsen bin.

Das lag inmitten der Stadt und hatte vier Generationen von vermögenden
und angesehenen Kaufleuten überdauert. »Ora et labora« stand über der
Hausthür, und wenn man von der weiten, steinernen Diele, um die sich
oben eine Gallerie aus weisslackiertem Holze zog, die breite Treppe
hinangestiegen war, so musste man noch einen weitläufigen Vorplatz und
eine kleine, dunkle Säulenhalle durchschreiten, um durch eine der hohen,
weissen Thüren in das Wohnzimmer zu gelangen, wo meine Mutter am Flügel
sass und spielte.

Sie sass im Dämmerlicht, denn vor den Fenstern befanden sich schwere,
dunkelrote Vorhänge; und die weissen Götterfiguren der Tapete schienen
plastisch aus ihrem blauen Hintergrund hervorzutreten und zu lauschen
auf diese schweren, tiefen Anfangstöne eines Chopinschen Notturnos, das
sie vor allem liebte und stets sehr langsam spielte, wie um die
Melancholie eines jeden Accordes auszugeniessen. Der Flügel war alt und
hatte an Klangfülle eingebüsst, aber mit dem Piano-Pedal, welches die
hohen Töne so verschleierte, dass sie an mattes Silber erinnerten,
konnte man die seltsamsten Wirkungen erzielen.

Ich sass auf dem massigen, steiflehnigen Damastsofa und lauschte und
betrachtete meine Mutter. Sie war klein und zart gebaut und trug
meistens ein Kleid aus weichem, hellgrauem Stoff. Ihr schmales Gesicht
war nicht schön, aber es war unter dem gescheitelten, leichtgewellten
Haar von schüchternem Blond wie ein stilles, zartes, verträumtes
Kinderantlitz, und wenn sie, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, am
Klaviere sass, so glich sie den kleinen, rührenden Engeln, die sich auf
alten Bildern oft zu Füssen der Madonna mit der Guitarre bemühen.

Als ich klein war, erzählte sie mir mit ihrer leisen und zurückhaltenden
Stimme oft Märchen, wie sonst niemand sie kannte; oder sie legte auch
einfach ihre Hände auf meinen Kopf, der in ihrem Schosse lag, und sass
schweigend und unbeweglich. Mich dünkt, das waren die glücklichsten und
friedevollsten Stunden meines Lebens. -- Ihr Haar wurde nicht grau, und
sie schien mir nicht älter zu werden; ihre Gestalt ward nur beständig
zarter und ihr Gesicht schmaler, stiller und verträumter.

Mein Vater aber war ein grosser und breiter Herr in feinem, schwarzen
Tuchrock und weisser Weste, auf der ein goldenes Binocle hing. Zwischen
seinen kurzen, eisgrauen Cotelettes trat das Kinn, das wie die Oberlippe
glattrasiert war, rund und stark hervor, und zwischen seinen Brauen
standen stets zwei tiefe, senkrechte Falten. Es war ein mächtiger Mann
von grossem Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten; ich habe
Menschen ihn mit fliegendem Atem und leuchtenden Augen verlassen sehen
und andere, die gebrochen und ganz verzweifelt waren. Denn es geschah
zuweilen, dass ich und auch wohl meine Mutter und meine beiden älteren
Schwestern solchen Scenen beiwohnten; vielleicht, weil mein Vater mir
Ehrgeiz einflössen wollte, es so weit in der Welt zu bringen wie er;
vielleicht auch, wie ich argwöhne, weil er eines Publikums bedurfte. Er
hatte eine Art, an seinen Stuhl gelehnt und die eine Hand in den
Rockaufschlag geschoben, dem beglückten oder vernichteten Menschen
nachzublicken, die mich schon als Kind diesen Verdacht empfinden liess.

Ich sass in einem Winkel und betrachtete meinen Vater und meine Mutter,
wie als ob ich wählte zwischen beiden, und mich bedächte, ob in
träumerischem Sinnen oder in That und Macht das Leben besser zu
verbringen sei. Und meine Augen verweilten am Ende auf dem stillen
Gesicht meiner Mutter.


II.

Nicht dass ich in meinem äusseren Wesen ihr gleich gewesen wäre, denn
meine Beschäftigungen waren zu einem grossen Teile durchaus nicht still
und geräuschlos. Ich denke an eine davon, die ich dem Verkehr mit
Altersgenossen und ihren Arten von Spiel mit Leidenschaft vorzog, und
die mich noch jetzt, da ich beiläufig dreissig Jahre zähle, mit
Heiterkeit und Vergnügen erfüllt.

Es handelte sich um ein grosses und wohlausgestattetes Puppentheater,
mit dem ich mich ganz allein in meinem Zimmer einschloss, um die
merkwürdigsten Musikdramen darauf zur Aufführung zu bringen. Mein
Zimmer, das im zweiten Stocke lag, und in dem zwei dunkle
Vorfahrenportraits mit Wallensteinbärten hingen, ward verdunkelt und
eine Lampe neben das Theater gestellt; denn die künstliche Beleuchtung
erschien zur Erhöhung der Stimmung erforderlich. Ich nahm unmittelbar
vor der Bühne Platz, denn ich war der Kapellmeister, und meine linke
Hand ruhte auf einer grossen runden Pappschachtel, die das einzige
sichtbare Orchester-Instrument ausmachte.

Es trafen nunmehr die mitwirkenden Künstler ein, die ich selbst mit
Tinte und Feder gezeichnet, ausgeschnitten und mit Holzleisten versehen
hatte, so dass sie stehen konnten. Es waren Herren in Überziehern und
Cylindern und Damen von grosser Schönheit.

-- Guten Abend, sagte ich, meine Herrschaften! Wohlauf allerseits? Ich
bin bereits zur Stelle, denn es waren noch einige Anordnungen zu
treffen. Aber es wird an der Zeit sein, sich in die Garderoben zu
begeben.

Man begab sich in die Garderoben, die hinter der Bühne lagen, und man
kehrte bald darauf gänzlich verändert und als bunte Theaterfiguren
zurück, um sich durch das Loch, das ich in den Vorhang geschnitten
hatte, über die Besetzung des Hauses zu unterrichten. Das Haus war in
der That nicht übel besetzt, und ich gab mir das Klingelzeichen zum
Beginn der Vorstellung, worauf ich den Taktstock erhob und ein Weilchen
die grosse Stille genoss, die dieser Wink hervorrief. Alsbald jedoch
ertönte auf eine neue Bewegung hin der ahnungsvoll dumpfe Trommelwirbel,
der den Anfang der Ouverture bildete, und den ich mit der linken Hand
auf der Pappschachtel vollführte, -- die Trompeten, Klarinetten und
Flöten, deren Toncharakter ich mit dem Munde auf unvergleichliche Weise
nachahmte, setzten ein, und die Musik spielte fort, bis bei einem
machtvollen crescendo der Vorhang emporrollte und in dunklem Wald oder
prangendem Saal das Drama begann.

Es war vorher in Gedanken entworfen, musste aber im einzelnen
improvisiert werden, und was an leidenschaftlichen und süssen Gesängen
erscholl, zu denen die Klarinetten trillerten und die Pappschachtel
grollte, das waren seltsame, volltönende Verse, die voll grosser und
kühner Worte steckten und sich zuweilen reimten, einen verstandesmässigen
Inhalt jedoch selten ergaben. Die Oper aber nahm ihren Fortgang,
während ich mit der linken Hand trommelte, mit dem Munde
sang und musizierte und mit der Rechten nicht nur die darstellenden
Figuren, sondern auch alles übrige aufs umsichtigste dirigierte, so dass
nach den Aktschlüssen begeisterter Beifall erscholl, der Vorhang wieder
und wieder sich öffnen musste und es manchmal sogar nötig war, dass der
Kapellmeister sich auf seinem Sitze wendete und auf stolze zugleich und
geschmeichelte Art in die Stube hinein dankte.

Wahrhaftig, wenn ich nach solch einer anstrengenden Aufführung mit
heissem Kopf mein Theater zusammenpackte, so erfüllte mich eine
glückliche Mattigkeit, wie ein starker Künstler sie empfinden muss, der
ein Werk, an das er sein bestes Können gesetzt, siegreich vollendete. --
Dieses Spiel blieb bis zu meinem dreizehnten oder vierzehnten Jahre
meine Lieblingsbeschäftigung.


III.

Wie verging doch meine Kindheit und Knabenzeit in dem grossen Hause, in
dessen unteren Räumen mein Vater seine Geschäfte leitete, während oben
meine Mutter in einem Lehnsessel träumte oder leise und nachdenklich
Klavier spielte und meine beiden Schwestern, die zwei und drei Jahre
älter waren als ich, in der Küche und an den Wäscheschränken hantierten?
Ich erinnere mich an so weniges.

Fest steht, dass ich ein ungeheuer muntrer Junge war, der bei seinen
Mitschülern durch bevorzugte Herkunft, durch mustergültige Nachahmung
der Lehrer, durch tausend Schauspielerstückchen und durch eine Art
überlegener Redensarten sich Respekt und Beliebtheit zu verschaffen
wusste. Beim Unterricht aber erging es mir übel, denn ich war zu tief
beschäftigt damit, die Komik aus den Bewegungen der Lehrer
herauszufinden, als dass ich auf das übrige hätte aufmerksam sein
können, und zu Hause war mir der Kopf zu voll von Opernstoffen, Versen
und buntem Unsinn, als dass ich ernstlich im stande gewesen wäre, zu
arbeiten.

-- »Pfui,« sagte mein Vater, und die Falten zwischen seinen Brauen
vertieften sich, wenn ich ihm nach dem Mittagessen mein Zeugnis ins
Wohnzimmer gebracht und er das Papier, die Hand im Rockaufschlag,
durchlesen hatte. -- »Du machst mir wenig Freude, das ist wahr. Was soll
aus Dir werden, wenn Du die Güte haben willst, mir das zu sagen? Du
wirst im Leben niemals an die Oberfläche gelangen ...«

Das war betrübend; allein es hinderte nicht, dass ich bereits nach dem
Abendessen den Eltern und Schwestern ein Gedicht vorlas, das ich während
des Nachmittags geschrieben. Mein Vater lachte dabei, dass sein Pincenez
auf der weissen Weste hin und her sprang. -- »Was für Narrenspossen!«
rief er einmal über das andere. Meine Mutter aber zog mich zu sich,
strich mir das Haar aus der Stirn und sagte: -- »Es ist gar nicht
schlecht, mein Junge, ich finde, dass ein paar hübsche Stellen darin
sind.«

Später, als ich noch ein wenig älter war, erlernte ich auf eigene Hand
eine Art von Klavierspiel. Ich begann damit, in fis-dur Accorde zu
greifen, weil ich die schwarzen Tasten besonders reizvoll fand, suchte
mir Übergänge zu anderen Tonarten und gelangte allmählich, da ich lange
Stunden am Flügel verbrachte, zu einer gewissen Fertigkeit im takt- und
melodielosen Wechsel von Harmonieen, wobei ich in dies mystische Gewoge
so viel Ausdruck legte, wie nur immer möglich.

Meine Mutter sagte: -- »Er hat einen Anschlag, der Geschmack verrät.«
Und sie veranlasste, dass ich Unterricht erhielt, der während eines
halben Jahres fortgesetzt wurde, denn ich war wirklich nicht dazu
angethan, den gehörigen Fingersatz und Takt zu erlernen. --

Nun, die Jahre vergingen, und ich wuchs trotz der Sorgen, die mir die
Schule bereitete, ungemein fröhlich heran. Ich bewegte mich heiter und
beliebt im Kreise meiner Bekannten und Verwandten, und ich war gewandt
und liebenswürdig aus Lust daran, den Liebenswürdigen zu spielen,
obgleich ich alle diese Leute, die trocken und phantasielos waren, aus
einem Instinkt heraus zu verachten begann.


IV.

Eines Nachmittags, als ich etwa achtzehn Jahre alt war und an der
Schwelle der hohen Schulklassen stand, belauschte ich ein kurzes
Zwiegespräch zwischen meinen Eltern, die im Wohnzimmer an dem runden
Sofatisch beisammensassen und nicht wussten, dass ich im anliegenden
Speisezimmer thatenlos im Fenster lag und über den Giebelhäusern den
blassen Himmel betrachtete. Als ich meinen Namen verstand, trat ich
leise an die weisse Flügelthür, die halb offen stand.

Mein Vater sass in seinen Sessel zurückgelehnt, ein Bein über das andere
geschlagen, und hielt mit der einen Hand das Börsenblatt auf den Knieen,
während er auf der anderen langsam zwischen den Cotelettes sein Kinn
streichelte. Meine Mutter sass auf dem Sofa und hatte ihr stilles
Gesicht über eine Stickerei geneigt. Die Lampe stand zwischen beiden.

Mein Vater sagte: -- »Ich bin der Meinung, dass wir ihn demnächst aus
der Schule entfernen und in ein gross angelegtes Geschäft in die Lehre
thun.«

-- »Oh,« sagte meine Mutter ganz betrübt und blickte auf. »Ein so
begabtes Kind!«

Mein Vater schwieg einen Augenblick, während er mit Sorgfalt eine
Staubfaser von seinem Rocke blies. Dann hob er die Achseln empor,
breitete die Arme aus, indem er meiner Mutter beide Handflächen
entgegenhielt und sagte:

-- »Wenn Du annimmst, meine Liebe, dass zu der Thätigkeit eines
Kaufmanns keinerlei Begabung gehört, so ist diese Auffassung eine
irrige. Andererseits bringt es der Junge, wie ich zu meinem Leidwesen
mehr und mehr erkennen muss, auf der Schule schlechterdings zu nichts.
Seine Begabung, von der Du sprichst, ist eine Art von Bajazzobegabung,
wobei ich mich beeile, hinzuzufügen, dass ich dergleichen durchaus nicht
unterschätze. Er kann liebenswürdig sein, wenn er Lust hat, er versteht
es, mit den Leuten umzugehen, sie zu amüsieren, ihnen zu schmeicheln, er
hat das Bedürfnis, ihnen zu gefallen und Erfolge zu erzielen; mit
derartiger Veranlagung hat bereits mancher sein Glück gemacht, und mit
ihr ist er angesichts seiner sonstigen Indifferenz zum Handelsmann
grösseren Stils relativ geeignet.«

Hier lehnte mein Vater sich befriedigt zurück, nahm eine Cigarette aus
dem Etui und setzte sie langsam in Brand.

-- »Du hast sicherlich recht,« sagte meine Mutter und blickte wehmütig
im Zimmer umher. -- »Ich habe nur oftmals geglaubt und gewissermassen
gehofft, es könne einmal ein Künstler aus ihm werden ... Es ist wahr,
auf sein musikalisches Talent, das unausgebildet geblieben ist, darf
wohl kein Gewicht gelegt werden; aber hast Du bemerkt, dass er sich
neuerdings, seitdem er die kleine Kunstausstellung besuchte, ein wenig
mit Zeichnen beschäftigt? Es ist gar nicht schlecht, dünkt mich ...«

Mein Vater blies den Rauch von sich, setzte sich im Sessel zurecht und
sagte kurz:

-- »Das alles ist Clownerie und Blague. Im übrigen kann man, wie billig,
ihn selbst ja nach seinen Wünschen fragen.«

Nun, was sollte wohl ich für Wünsche haben? Die Aussicht auf Veränderung
meines äusseren Lebens wirkte durchaus erheiternd auf mich, ich erklärte
mich ernsten Angesichtes bereit, die Schule zu verlassen, um Kaufmann zu
werden, und trat in das grosse Holzgeschäft des Herrn Schlievogt, unten
am Fluss, als Lehrling ein.


V.

Die Veränderung war ganz äusserlich, das versteht sich. Mein Interesse
für das grosse Holzgeschäft des Herrn Schlievogt war ungemein
geringfügig, und ich sass auf meinem Drehsessel unter der Gasflamme in
dem engen und dunklen Comptoir so fremd und abwesend wie ehemals auf der
Schulbank. Ich hatte weniger Sorgen nunmehr; darin bestand der
Unterschied.

Herr Schlievogt, ein beleibter Mensch mit rotem Gesicht und grauem,
hartem Schifferbart, kümmerte sich wenig um mich, da er sich meistens in
der Sägemühle aufhielt, die ziemlich weit von Comptoir und Lagerplatz
entfernt lag, und die Angestellten des Geschäftes behandelten mich mit
Respekt. In freundschaftlichem Verkehr stand ich nur mit einem von
ihnen, einem begabten und vergnügten jungen Menschen aus guter Familie,
den ich auf der Schule bereits gekannt hatte, und der übrigens Schilling
hiess. Er moquierte sich gleich mir über alle Welt, legte jedoch
nebenher ein eifriges Interesse für den Holzhandel an den Tag und
verfehlte an keinem Tage, den bestimmten Vorsatz zu äussern, auf irgend
eine Weise ein reicher Mann zu werden.

Ich meinesteils erledigte mechanisch meine notwendigen Angelegenheiten,
um im übrigen auf dem Lagerplatz zwischen den Bretterstapeln und den
Arbeitern umherzuschlendern, durch das hohe Holzgitter den Fluss zu
betrachten, an dem dann und wann ein Güterzug vorüber rollte, und dabei
an eine Theateraufführung oder an ein Konzert zu denken, dem ich
beigewohnt, oder an ein Buch, das ich gelesen.

Ich las viel, las alles, was mir erreichbar war, und meine
Eindrucksfähigkeit war gross. Jede dichterische Persönlichkeit verstand
ich mit dem Gefühl, glaubte in ihr mich selbst zu erkennen und dachte
und empfand so lange in dem Stile eines Buches, bis ein neues seinen
Einfluss auf mich ausgeübt hatte. In meinem Zimmer, in dem ich ehemals
mein Puppentheater aufgebaut hatte, sass ich nun mit einem Buch auf den
Knieen und blickte zu den beiden Vorfahrenbildern empor, um den Tonfall
der Sprache nachzugeniessen, der ich mich hingegeben hatte, während ein
unfruchtbares Chaos von halben Gedanken und Phantasiebildern mich
erfüllte ...

Meine Schwestern hatten sich kurz nacheinander verheiratet, und ich
ging, wenn ich nicht im Geschäft war, oft ins Wohnzimmer hinunter, wo
meine Mutter, die ein wenig kränkelte, und deren Gesicht stets
kindlicher und stiller wurde, nun meistens ganz einsam sass. Wenn sie
mir Chopin vorgespielt und ich ihr einen neuen Einfall von
Harmonien-Verbindung gezeigt hatte, fragte sie mich wohl, ob ich
zufrieden in meinem Berufe und glücklich sei .... Kein Zweifel, dass ich
glücklich war.

Ich war nicht viel älter als zwanzig Jahre, meine Lebenslage war nichts
als provisorisch, und der Gedanke war mir nicht fremd, dass ich ganz und
gar nicht gezwungen sei, mein Leben bei Herrn Schlievogt oder in einem
Holzgeschäfte noch grösseren Stils zu verbringen, dass ich mich eines
Tages frei machen könne, um die giebelige Stadt zu verlassen und
irgendwo in der Welt meinen Neigungen zu leben: gute und
feingeschriebene Romane zu lesen, ins Theater zu gehen, ein wenig Musik
zu machen ... Glücklich? Aber ich speiste vorzüglich, ich ging aufs
beste gekleidet, und früh bereits, wenn ich etwa während meiner
Schulzeit gesehen hatte, wie arme und schlecht gekleidete Kameraden sich
gewohnheitsmässig duckten und mich und meinesgleichen mit einer Art
schmeichlerischer Scheu willig als Herren und Tonangebende anerkannten,
war ich mir mit Heiterkeit bewusst gewesen, dass ich zu den Oberen,
Reichen, Beneideten gehörte, die nun einmal das Recht haben, mit
wohlwollender Verachtung auf die Armen, Unglücklichen und Neider
hinabzublicken. Wie sollte ich nicht glücklich sein? Mochte alles seinen
Gang gehen. Fürs erste hatte es seinen Reiz, sich fremd, überlegen und
heiter unter diesen Verwandten und Bekannten zu bewegen, über deren
Begrenztheit ich mich moquierte, während ich ihnen, aus Lust daran, zu
gefallen, mit gewandter Liebenswürdigkeit begegnete und mich
wohlgefällig in dem unklaren Respekte sonnte, den alle diese Leute vor
meinem Sein und Wesen erkennen liessen, weil sie mit Unsicherheit etwas
Oppositionelles und Extravagantes darin vermuteten.


VI.

Es begann eine Veränderung mit meinem Vater vor sich zu gehen. Wenn er
um vier Uhr zu Tische kam, so schienen die Falten zwischen seinen Brauen
täglich tiefer, und er schob nicht mehr mit einer imposanten Gebärde die
Hand in den Rockaufschlag, sondern zeigte ein gedrücktes, nervöses und
scheues Wesen. Eines Tages sagte er zu mir:

-- »Du bist alt genug, die Sorgen, die meine Gesundheit untergraben, mit
mir zu teilen. Übrigens habe ich die Verpflichtung, Dich mit ihnen
bekannt zu machen, damit Du Dich über Deine künftige Lebenslage keinen
falschen Erwartungen hingiebst. Du weisst, dass die Heiraten Deiner
Schwestern beträchtliche Opfer gefordert haben. Neuerdings hat die Firma
Verluste erlitten, welche geeignet waren, das Vermögen erheblich zu
reduzieren. Ich bin ein alter Mann, fühle mich entmutigt, und glaube
nicht, dass an der Sachlage Wesentliches zu ändern sein wird. Ich bitte
Dich, zu bemerken, dass Du auf Dich selbst gestellt sein wirst ...«

Dies sprach er zwei Monate etwa vor seinem Tode. Eines Tages fand man
ihn gelblich, gelähmt und lallend in dem Armsessel seines
Privatkomptoirs, und eine Woche darauf nahm die ganze Stadt an seinem
Begräbnis teil.

Meine Mutter sass zart und still auf dem Sofa an dem runden Tische im
Wohnzimmer, und ihre Augen waren meist geschlossen. Wenn meine
Schwestern und ich uns um sie bemühten, so nickte sie vielleicht und
lächelte, worauf sie fortfuhr, zu schweigen und regungslos, die Hände im
Schosse gefaltet, mit einem grossen, fremden und traurigen Blick eine
Götterfigur der Tapete zu betrachten. Wenn die Herren in Gehröcken
kamen, um über den Verlauf der Liquidation Bericht zu erstatten, so
nickte sie gleichfalls und schloss aufs neue die Augen.

Sie spielte nicht mehr Chopin, und wenn sie hie und da leise über den
Scheitel strich, so zitterte ihre blasse, zarte und müde Hand. Kaum ein
halbes Jahr nach meines Vaters Tode legte sie sich nieder, und sie
starb, ohne einen Wehelaut, ohne einen Kampf um ihr Leben ...

Nun war das alles zu Ende. Was hielt mich eigentlich am Orte? Die
Geschäfte waren erledigt worden, gehe es gut oder schlecht, es ergab
sich, dass auf mich ein Erbteil von ungefähr hunderttausend Mark
gefallen war, und das genügte, um mich unabhängig zu machen -- von aller
Welt um so mehr, als man mich aus irgend einem gleichgültigen Grunde für
militäruntüchtig erklärt hatte.

Nichts verband mich länger mit den Leuten, zwischen denen ich
aufgewachsen war, deren Blicke mich stets fremder und erstaunter
betrachteten, und deren Weltanschauung zu einseitig war, als dass ich
geneigt gewesen wäre, mich ihr zu fügen. Zugegeben, dass sie mich
richtig kannten, und zwar als ausgemacht unnützlichen Menschen, so
kannte auch ich mich. Aber skeptisch und fatalistisch genug, um -- mit
dem Worte meines Vaters -- meine »Bajazzobegabung« von der heiteren
Seite zu nehmen, und fröhlich gewillt, das Leben auf meine Art zu
geniessen, fehlte mir nichts an Selbstzufriedenheit.

Ich erhob mein kleines Vermögen, und beinahe ohne mich zu verabschieden,
verliess ich die Stadt, um mich vorerst auf Reisen zu begeben.


VII.

Dieser drei Jahre, die nun folgten, und in denen ich mich mit begieriger
Empfänglichkeit tausend neuen, wechselnden, reichen Eindrücken hingab,
erinnere ich mich wie eines schönen, fernen Traumes. Wie lange ist es
her, dass ich bei den Mönchen auf dem Symplon zwischen Schnee und Eis
ein Neujahrsfest verbrachte; dass ich zu Verona über die Piazza Erbe
schlenderte; dass ich vom Borgo San Spirito aus zum ersten Male unter
die Kolonnaden von Sankt Peter trat und meine eingeschüchterten Augen
sich auf dem ungeheuren Platze verloren; dass ich vom Corso Vittorio
Emanuele über das weissschimmernde Neapel hinabblickte und fern im Meere
die graziöse Silhouette von Capri in blauem Dunst verschwimmen sah ...
Es sind in Wirklichkeit sechs Jahre und nicht viel mehr.

Oh, ich lebte vollkommen vorsichtig und meinen Verhältnissen
entsprechend: in einfachen Privatzimmern, in wohlfeilen Pensionen -- bei
dem häufigen Ortswechsel aber, und weil es mir anfangs schwer fiel, mich
meiner gutbürgerlichen Gewohnheiten zu entwöhnen, waren grössere
Ausgaben gleichwohl nicht zu vermeiden. Ich hatte mir für die Zeit
meiner Wanderungen 15000 Mark meines Kapitals ausgesetzt; diese Summe
freilich ward überschritten.

Übrigens befand ich mich wohl unter den Leuten, mit denen ich unterwegs
hier und da in Berührung kam, uninteressierte und sehr interessante
Existenzen oft, denen ich allerdings nicht wie meiner ehemaligen
Umgebung ein Gegenstand des Respekts war, aber von denen ich auch keine
befremdeten Blicke und Fragen zu befürchten hatte.

Mit meiner Art von gesellschaftlicher Begabung erfreute ich mich in
Pensionen zuweilen aufrichtiger Beliebtheit bei der übrigen
Reisegesellschaft -- wobei ich mich einer Scene im Salon der Pension
Minelli zu Palermo erinnere. In einem Kreise von Franzosen verschiedenen
Alters hatte ich am Pianino von ungefähr begonnen, mit grossem Aufwand
von tragischem Mienenspiel, deklamierendem Gesang und rollenden
Harmonieen ein Musikdrama »von Richard Wagner« zu improvisieren, und ich
hatte soeben unter ungeheurem Beifall geschlossen, als ein alter Herr
auf mich zueilte, der beinahe kein Haar mehr auf dem Kopfe hatte, und
dessen weisse, spärliche Cotelettes auf seine graue Reisejoppe
hinabflatterten. Er ergriff meine beiden Hände und rief mit Thränen in
den Augen:

-- »Aber das ist erstaunlich! Das ist erstaunlich, mein teurer Herr! Ich
schwöre Ihnen, dass ich mich seit dreissig Jahren nicht mehr so köstlich
unterhalten habe! Ah, Sie gestatten, dass ich Ihnen aus vollem Herzen
danke, nicht wahr! Aber es ist nötig, dass Sie Schauspieler oder Musiker
werden!«

Es ist wahr, dass ich bei solchen Gelegenheiten etwas von dem genialen
Übermut eines grossen Malers empfand, der im Freundeskreise sich
herbeiliess, eine lächerliche zugleich und geistreiche Karrikatur auf
die Tischplatte zu zeichnen. Nach dem Diner aber begab ich mich allein
in den Salon zurück und verbrachte eine einsame und wehmütige Stunde
damit, dem Instrumente getragene Accorde zu entlocken, in die ich die
Stimmung zu legen glaubte, die der Anblick Palermos in mir erweckt.

Ich hatte von Sizilien aus Afrika ganz flüchtig berührt, war alsdann
nach Spanien gegangen und dort, in der Nähe von Madrid, auf dem Lande
war es, im Winter, an einem trüben, regnerischen Nachmittage, als ich
zum ersten Male den Wunsch empfand, nach Deutschland zurückzukehren --
und die Notwendigkeit obendrein. Denn abgesehen davon, dass ich begann,
mich nach einem ruhigen, geregelten und ansässigen Leben zu sehnen, war
es nicht schwer, mir auszurechnen, dass bis zu meiner Ankunft in
Deutschland bei aller Einschränkung 20000 Mark verausgabt sein würden.

Ich zögerte nicht allzu lange, den langsamen Rückweg durch Frankreich
anzutreten, auf den ich bei längerem Aufenthalt in einzelnen Städten
annähernd ein halbes Jahr verwendete, und ich erinnere mich mit
wehmütiger Deutlichkeit des Sommerabends, an dem ich in den Bahnhof der
mitteldeutschen Residenzstadt einfuhr, die ich mir beim Beginn meiner
Reise bereits ausersehen hatte, -- ein wenig unterrichtet nunmehr, mit
einigen Erfahrungen und Kenntnissen versehen und ganz voll von einer
kindlichen Freude, mir hier, in meiner sorglosen Unabhängigkeit und gern
meinen bescheidenen Mitteln gemäss, nun ein ungestörtes und
beschauliches Dasein gründen zu können.

Damals war ich 25 Jahre alt.


VIII.

Der Platz war nicht übel gewählt. Es ist eine ansehnliche Stadt, noch
ohne allzu lärmenden Grossstadttrubel und allzu anstössiges
Geschäftstreiben, mit einigen ziemlich beträchtlichen alten Plätzen
andererseits und einem Strassenleben, das weder der Lebhaftigkeit noch
zum Teile der Elégance entbehrt. Die Umgebung besitzt mancherlei
angenehme Punkte; aber ich habe stets die geschmackvoll angelegte
Promenade bevorzugt, die sich auf dem »Lerchenberge« hinzieht, einem
schmalen und langgestreckten Hügel, an den ein grosser Teil der Stadt
sich lehnt, und von dem man einen weiten Ausblick über Häuser, Kirchen
und den weich geschlängelten Fluss hinweg ins Freie geniesst. An einigen
Punkten, und besonders, wenn an schönen Sommernachmittagen eine
Militärkapelle konzertiert und Equipagen und Spaziergänger sich hin und
her bewegen, wird man dort an den Pincio erinnert. -- Aber ich werde
dieser Promenade noch zu erwähnen haben ...

Niemand glaubt, mit welchem umständlichen Vergnügen ich mir das
geräumige Zimmer herrichtete, das ich nebst anstossender Schlafkammer
etwa inmitten der Stadt, in belebter Gegend gemietet hatte. Die
elterlichen Möbel waren zwar zum grössten Teil in den Besitz meiner
Schwestern übergegangen, indessen war mir immerhin zugefallen, was ich
gebrauchte: stattliche und gediegene Dinge, die zusammen mit meinen
Büchern und den beiden Vorfahrenporträts eintrafen; vor allem aber der
alte Flügel, den meine Mutter für mich bestimmt hatte.

In der That, als alles aufgestellt und geordnet war, als die
Photographieen, die ich auf Reisen gesammelt, alle Wände sowie den
schweren Mahagoni-Schreibtisch und die bauchige Kommode schmückten, und
als ich mich, fertig und geborgen, in einem Lehnsessel am Fenster
niederliess, um abwechselnd die Strassen draussen und meine neue Wohnung
zu betrachten, war mein Behagen nicht gering. Und dennoch -- ich habe
diesen Augenblick nicht vergessen -- dennoch regte sich neben
Zufriedenheit und Vertrauen sacht etwas anderes in mir, irgend ein
kleines Gefühl von Ängstlichkeit und Unruhe, das leise Bewusstsein
irgend einer Art von Empörung und Auflehnung meinerseits gegen eine
drohende Macht ... der leicht bedrückende Gedanke, dass meine Lage, die
bislang niemals mehr als etwas Vorläufiges gewesen war, nunmehr zum
ersten Male als definitiv und unabänderlich betrachtet werden musste ...

Ich verschweige nicht, dass diese und ähnliche Empfindungen sich hie und
da wiederholten. Aber sind die gewissen Nachmittagsstunden überhaupt zu
vermeiden, in denen man hinaus in die wachsende Dämmerung und vielleicht
in einen langsamen Regen blickt und das Opfer trübseherischer
Anwandlungen wird? In jedem Falle stand fest, dass meine Zukunft
vollkommen gesichert war. Ich hatte die runde Summe von 80000 Mark der
städtischen Bank vertraut, die Zinsen betrugen -- mein Gott, die Zeiten
sind schlecht! -- etwa 600 Mark für das Vierteljahr und gestatteten mir
also, anständig zu leben, mich mit Lektüre zu versehen, hier und da ein
Theater zu besuchen -- ein Bisschen leichteren Zeitvertreibs nicht
ausgeschlossen.

Meine Tage vergingen fortab in Wirklichkeit dem Ideale gemäss, das von
jeher mein Ziel gewesen war. Ich erhob mich etwa um 10 Uhr, frühstückte
und verbrachte die Zeit bis zum Mittage am Klavier und mit der Lektüre
einer litterarischen Zeitschrift oder eines Buches. Dann schlenderte ich
die Strasse hinauf zu dem kleinen Restaurant, in dem ich mit
Regelmässigkeit verkehrte, speiste und machte darauf einen längeren
Spaziergang durch die Strassen, durch eine Gallerie, in die Umgegend,
auf den Lerchenberg. Ich kehrte nach Hause zurück und nahm die
Beschäftigungen des Vormittags wieder auf: ich las, musizierte,
unterhielt mich manchmal sogar mit einer Art von Zeichenkunst oder
schrieb mit Sorgfalt einen Brief. Wenn ich mich nach dem Abendessen
nicht in ein Theater oder ein Konzert begab, so hielt ich mich im Café
auf und las bis zum Schlafengehen die Zeitungen. Der Tag aber war gut
und schön gewesen, er hatte einen beglückenden Inhalt gehabt, wenn mir
am Klaviere ein Motiv gelungen war, das mir neu und schön erschien, wenn
ich aus der Lektüre einer Novelle, aus dem Anblick eines Bildes eine
zarte und anhaltende Stimmung davongetragen hatte ...

Übrigens unterlasse ich es nicht, zu sagen, dass ich in meinen
Dispositionen mit einer gewissen Idealität zu Werke ging und dass ich
mit Ernst darauf bedacht war, meinen Tagen so viel »Inhalt« zu geben,
wie nur immer möglich. Ich speiste bescheiden, hielt mir in der Regel
nur einen Anzug, kurz, schränkte meine leiblichen Bedürfnisse mit
Vorsicht ein, um andererseits in der Lage zu sein, für einen guten Platz
in der Oper oder im Konzert einen hohen Preis zu zahlen, mir neue
litterarische Erscheinungen zu kaufen, diese oder jene Kunstausstellung
zu besuchen ...

Die Tage aber verstrichen, und es wurden Wochen und Monate daraus --
Langeweile? Ich gebe zu: es ist nicht immer ein Buch zur Hand, das einer
Reihe von Stunden den Inhalt verschaffen könnte; übrigens hast du ohne
jedes Glück versucht, auf dem Klavier zu phantasieren, du sitzest am
Fenster, rauchst Cigaretten, und unwiderstehlich beschleicht dich ein
Gefühl der Abneigung von aller Welt und dir selbst; die Ängstlichkeit
befällt dich wieder, die übelbekannte Ängstlichkeit, und du springst auf
und machst dich davon, um dir auf der Strasse mit dem heiteren
Achselzucken des Glücklichen die Berufs- und Arbeitsleute zu betrachten,
die geistig und materiell zu unbegabt sind für Musse und Genuss.


IX.

Ist ein Siebenundzwanzigjähriger überhaupt im stande, an die endgültige
Unabänderlichkeit seiner Lage, und sei diese Unabänderlichkeit nur zu
wahrscheinlich, im Ernste zu glauben? Das Zwitschern eines Vogels, ein
winziges Stück Himmelsblau, irgend ein halber und verwischter Traum zur
Nacht, alles ist geeignet, plötzliche Ströme von vager Hoffnung in sein
Herz zu ergiessen und es mit der festlichen Erwartung eines grossen,
unvorhergesehenen Glückes zu erfüllen ... Ich schlenderte von einem Tag
in den andern -- beschaulich, ohne ein Ziel, beschäftigt mit dieser oder
jener kleinen Hoffnung, handele es sich auch nur um den Tag der
Herausgabe einer unterhaltenden Zeitschrift, mit der energischen
Überzeugung, glücklich zu sein, und hin und wieder ein wenig müde vor
Einsamkeit.

Wahrhaftig, die Stunden waren nicht gerade selten, in denen ein Unwille
über Mangel an Verkehr und Gesellschaft mich ergriff, -- denn ist es
nötig, diesen Mangel zu erklären? Mir fehlte jede Verbindung mit der
guten Gesellschaft und den ersten und zweiten Kreisen der Stadt; um mich
bei der goldenen Jugend als fêtard einzuführen, gebrach es mir bei Gott
an Mitteln, -- und andererseits die Bohème? Aber ich bin ein Mensch von
Erziehung, ich trage saubere Wäsche und einen heilen Anzug, und ich
finde schlechterdings keine Lust darin, mit ungepflegten jungen Leuten
an absinthklebrigen Tischen anarchistische Gespräche zu führen. Um kurz
zu sein: es gab keinen bestimmten Gesellschaftskreis, dem ich mit
Selbstverständlichkeit angehört hätte, und die Bekanntschaften, die sich
auf eine oder die andere Weise von selbst ergaben, waren selten,
oberflächlich und kühl -- durch mein eigenes Verschulden, wie ich
zugebe, denn ich hielt mich auch in solchen Fällen mit einem Gefühl der
Unsicherheit zurück und mit dem unangenehmen Bewusstsein, nicht einmal
einem verbummelten Maler auf kurze, klare und Anerkennung erweckende
Weise sagen zu können, wer und was ich eigentlich sei.

Übrigens hatte ich ja wohl mit der »Gesellschaft« gebrochen und auf sie
verzichtet, als ich mir die Freiheit nahm, ohne ihr in irgend einer
Weise zu dienen, meine eigenen Wege zu gehen, und wenn ich, um glücklich
zu sein, der »Leute« bedurft hätte, so musste ich mir erlauben, mich zu
fragen, ob ich in diesem Falle nicht zur Stunde damit beschäftigt
gewesen wäre, mich als Geschäftsmann grösseren Stils gemeinnützlich zu
bereichern und mir den allgemeinen Neid und Respekt zu verschaffen.

Indessen -- indessen! Die Thatsache bestand, dass mich meine
philosophische Vereinsamung in viel zu hohem Grade verdross, und dass
sie am Ende durchaus nicht mit meiner Auffassung von »Glück«
übereinstimmen wollte, mit meinem Bewusstsein, meiner Überzeugung,
glücklich zu sein, deren Erschütterung doch -- es bestand kein Zweifel
-- schlechthin unmöglich war. Nicht glücklich sein, unglücklich sein:
aber war das überhaupt denkbar? Es war undenkbar, und mit diesem
Entscheid war die Frage erledigt, bis aufs neue Stunden kamen, in denen
mir dieses Für-sich-sitzen, diese Zurückgezogenheit und
Ausserhalbstellung nicht in der Ordnung, durchaus nicht in der Ordnung
erscheinen wollte und mich zum Erschrecken mürrisch machte.

»Mürrisch« -- war das eine Eigenschaft des Glücklichen? Ich erinnerte
mich meines Lebens daheim in dem beschränkten Kreise, in dem ich mich
mit dem vergnügten Bewusstsein meiner genial-artistischen Veranlagung
bewegt hatte -- gesellig, liebenswürdig, die Augen voll Heiterkeit,
Moquerie und überlegenem Wohlwollen für alle Welt, im Urteil der Leute
ein wenig verwunderlich und dennoch beliebt. Damals war ich glücklich
gewesen, trotzdem ich in dem grossen Holzgeschäfte des Herrn Schlievogt
hatte arbeiten müssen; und nun? Und nun?...

Aber ein über die Massen interessantes Buch ist erschienen, ein neuer
französischer Roman, dessen Ankauf ich mir gestattet habe, und den ich,
behaglich im Lehnsessel, mit Musse geniessen werde. Dreihundert Seiten,
wieder einmal, voll Geschmack, Blague und auserlesener Kunst! Ah, ich
habe mir mein Leben zu meinem Wohlgefallen eingerichtet! Bin ich
vielleicht nicht glücklich? Eine Lächerlichkeit, diese Frage, und weiter
nichts ...


X.

Wieder einmal ist ein Tag zu Ende, ein Tag, dem nicht abzusprechen ist,
Gott sei Dank, dass er Inhalt hatte; der Abend ist da, die Vorhänge des
Fensters sind geschlossen, auf dem Schreibtische brennt die Lampe, es
ist beinahe schon Mitternacht. Man könnte zu Bette gehen, aber man
verharrt halb liegend im Lehnsessel, und die Hände im Schosse gefaltet,
blickt man zur Decke empor, um mit Ergebenheit das leise Graben und
Zehren irgend eines halb unbestimmten Schmerzes zu verfolgen, der nicht
hat verscheucht werden können.

Vor ein paar Stunden noch habe ich mich der Wirkung eines grossen
Kunstwerkes hingegeben, einer dieser ungeheuren und grausamen
Schöpfungen, welche mit dem verderbten Pomp eines ruchlos genialen
Dilettantismus rütteln, betäuben, peinigen, beseligen, niederschmettern
... Meine Nerven beben noch, meine Phantasie ist aufgewühlt, seltene
Stimmungen wogen in mir auf und nieder, Stimmungen von Sehnsucht,
religiöser Inbrunst, Triumph, mystischem Frieden, -- und ein Bedürfnis
ist dabei, das sie stets aufs neue emportreibt, das sie heraustreiben
möchte: das Bedürfnis, sie zu äussern, sie mitzuteilen, sie zu zeigen,
»etwas daraus zu machen« ...

Wie, wenn ich in der That ein Künstler wäre, befähigt, mich in Ton, Wort
oder Bildwerk zu äussern -- am liebsten, aufrichtig gesprochen, in allem
zu gleicher Zeit? -- Aber es ist wahr, dass ich allerhand vermag! Ich
kann, zum guten Beispiel, mich am Flügel niederlassen, um mir im stillen
Kämmerlein meine schönen Gefühle vollauf zum Besten zu geben, und das
sollte mir billig genügen; denn wenn ich, um glücklich zu sein, der
»Leute« bedürfte -- zugegeben dies alles! Allein gesetzt, dass ich auch
auf den Erfolg ein wenig Wert legte, auf den Ruhm, die Anerkennung, das
Lob, den Neid, die Liebe?... Bei Gott! Schon wenn ich mich an die Scene
in jenem Salon zu Palermo erinnere, so muss ich zugeben, dass ein
ähnlicher Vorfall in diesem Augenblick für mich eine unvergleichlich
wohlthuende Ermunterung bedeuten würde.

Wohlüberlegt, ich kann nicht umhin, mir diese sophistische und
lächerliche Begriffsunterscheidung zu gestehen: die Unterscheidung
zwischen innerem und äusserem Glück! -- Das »äussere Glück«, was ist das
eigentlich? -- Es giebt eine Art von Menschen, Lieblingskinder Gottes,
wie es scheint, deren Glück das Genie und deren Genie das Glück ist,
Lichtmenschen, die mit dem Widerspiel und Abglanz der Sonne in ihren
Augen auf eine leichte, anmutige und liebenswürdige Weise durchs Leben
tändeln, während alle Welt sie umringt, während alle Welt sie bewundert,
belobt, beneidet und liebt, weil auch der Neid unfähig ist, sie zu
hassen. Sie aber blicken darein wie die Kinder, spöttisch, verwöhnt,
launisch, übermütig, mit einer sonnigen Freundlichkeit, sicher ihres
Glückes und Genies, und als könne das alles durchaus nicht anders
sein ...

Was mich betrifft, ich leugne die Schwäche nicht, dass ich zu diesen
Menschen gehören möchte, und es will mich, gleichviel ob mit Recht oder
Unrecht, immer aufs neue bedünken, als hätte ich einstmal zu ihnen
gehört: vollkommen »gleichviel«, denn seien wir ehrlich: es kommt darauf
an, für was man sich hält, für was man sich giebt, für was man die
Sicherheit hat, sich zu geben!

Vielleicht verhält es sich in Wirklichkeit nicht anders, als dass ich
auf dieses »äussere Glück« verzichtet habe, indem ich mich dem Dienst
der »Gesellschaft« entzog und mir mein Leben ohne die »Leute«
einrichtete. An meiner Zufriedenheit aber damit ist, wie
selbstverständlich, in keinem Augenblick zu zweifeln, kann nicht
gezweifelt werden, darf nicht gezweifelt werden -- denn um es zu
wiederholen, und zwar mit einem verzweifelten Nachdruck zu wiederholen:
Ich will und muss glücklich sein! Die Auffassung des »Glückes« als eine
Art von Verdienst, Genie, Vornehmheit, Liebenswürdigkeit, die Auffassung
des »Unglücks« als etwas Hässliches, Lichtscheues, Verächtliches und mit
einem Worte Lächerliches ist mir zu tief eigentlich, als dass ich mich
selbst noch zu achten vermöchte, wenn ich unglücklich wäre.

Wie dürfte ich mir gestatten, unglücklich zu sein? Welche Rolle müsste
ich vor mir spielen? Müsste ich nicht als eine Art von Fledermaus oder
Eule im Dunkeln hocken und neidisch zu den »Lichtmenschen«
hinüberblinzeln, den liebenswürdigen Glücklichen? Ich müsste sie hassen,
mit jenem Hass, der nichts ist als eine vergiftete Liebe, -- und mich
verachten!

»Im Dunkeln hocken!« Ah, und mir fällt ein, was ich seit manchem Monat
hin und wieder über meine »Ausserhalb-Stellung« und »philosophische
Vereinsamung« gedacht und gefühlt habe! Und die Angst meldet sich
wieder, die übelbekannte Angst! Und das Bewusstsein irgend einer Art von
Empörung gegen eine drohende Macht ...

-- Unzweifelhaft, dass sich ein Trost fand, eine Ablenkung, eine
Betäubung für dieses Mal und ein anderes und wiederum ein nächstes. Aber
es kehrte wieder, alles dies, es kehrte tausendmal wieder im Laufe der
Monate und der Jahre.


XI.

Es giebt Herbsttage, die wie ein Wunder sind. Der Sommer ist vorüber,
draussen hat längst das Laub zu vergilben begonnen, und in der Stadt hat
Tage lang bereits der Wind um alle Ecken gepfiffen, während in den
Rinnsteinen unreinliche Bäche sprudelten. Du hast dich darein ergeben,
du hast dich sozusagen am Ofen bereit gesetzt, um den Winter über dich
ergehen zu lassen; eines Morgens aber beim Erwachen bemerkst du mit
ungläubigen Augen, dass ein schmaler Streif von leuchtendem Blau
zwischen den Fenstervorhängen hindurch in dein Zimmer blitzt. Ganz
erstaunt springst du aus dem Bette, du öffnest das Fenster, eine Woge
von zitterndem Sonnenlicht strömt dir entgegen, und zugleich vernimmst
du durch alles Strassengeräusch hindurch ein geschwätziges und munteres
Vogelgezwitscher, während es dir nicht anders ist, als atmetest du mit
der frischen und leichten Luft eines ersten Oktobertages die
unvergleichlich süsse und verheissungsvolle Würze ein, die sonst den
Winden des Mai gehört. Es ist Frühling, es ist ganz augenscheinlich
Frühling, dem Kalender zum Trotz, und du wirfst dich in die Kleider, um
unter dem schimmernden Himmel durch die Strassen und ins Freie zu
eilen ...

Ein so unverhoffter und merkwürdiger Tag erschien vor nunmehr etwa vier
Monaten, -- wir stehen augenblicklich am Anfang des Februar -- und an
diesem Tage sah ich etwas ausnehmend Hübsches. Vor neun Uhr am Morgen
hatte ich mich aufgemacht, und ganz erfüllt von einer leichten und
freudigen Stimmung, von einer unbestimmten Hoffnung auf Veränderungen,
Überraschungen und Glück schlug ich den Weg zum Lerchenberge ein. Ich
stieg am rechten Ende den Hügel hinan, und ich verfolgte seinen ganzen
Rücken der Länge nach, indem ich mich stets auf der Hauptpromenade am
Rande und an der niedrigen Steinrampe hielt, um auf dem ganzen Wege, der
wohl eine kleine halbe Stunde in Anspruch nimmt, den Ausblick über die
leicht terrassenförmig abfallende Stadt und den Fluss freizuhaben,
dessen Schlingungen in der Sonne blinkten und hinter dem die Landschaft
mit Hügeln und Grün im Sonnendunst verschwamm.

Es war noch beinahe menschenleer hier oben. Die Bänke jenseits des Weges
standen einsam, und hie und da blickte zwischen den Bäumen eine Statue
hervor, weissschimmernd vor Sonne, während doch ein welkes Blatt dann
und wann langsam darauf niedertaumelte. Die Stille, der ich horchte,
während ich im Wandern den Blick auf das lichte Panorama zur Seite
gerichtet hielt, blieb ungestört, bis ich das Ende des Hügels erreicht
hatte, und der Weg sich zwischen alten Kastanien zu senken begann. Hier
jedoch klang hinter mir Pferdegestampf und das Rollen eines Wagens auf,
der sich in raschem Trabe näherte, und dem ich an der Mitte etwa des
Abstieges Platz machen musste. Ich trat zur Seite und blieb stehen.

Es war ein kleiner, ganz leichter und zweirädiger Jagdwagen, bespannt
mit zwei grossen, blanken und lebhaft schnaubenden Füchsen. Die Zügel
hielt eine junge Dame von neunzehn vielleicht oder zwanzig Jahren, neben
der ein alter Herr von stattlichem und vornehmem Äussern sass, mit
weissem à la russe aufgebürstetem Schnurrbart und dichten, weissen
Augenbrauen. Ein Bedienter in einfacher, schwarz-silberner Livree
dekorierte den Rücksitz.

Das Tempo der Pferde war bei Beginn des Abstieges zum Schritt verzögert
worden, da das eine von ihnen nervös und unruhig schien. Es hatte sich
weit seitwärts von der Deichsel entfernt, drückte den Kopf auf die Brust
und setzte seine schlanken Beine mit einem so zitternden Widerstreben,
dass der alte Herr, ein wenig besorgt, sich vorbeugte, um mit seiner
elegant behandschuhten Linken der jungen Dame beim Straffziehen der
Zügel behilflich zu sein. Die Lenkung schien ihr nur vorübergehend und
halb zum Scherze anvertraut worden, wenigstens sah es aus, als ob sie
das Kutschieren mit einer Art von kindlicher Wichtigkeit und
Unerfahrenheit zugleich behandelte. Sie machte eine kleine, ernsthafte
und indignierte Kopfbewegung, während sie das scheuende und stolpernde
Tier zu beruhigen suchte.

Sie war brünett und schlank. Auf ihrem Haar, das überm Nacken zu einem
festen Knoten gewunden war und das sich ganz leicht und lose um Stirn
und Schläfen legte, so dass einzelne lichtbraune Fäden zu unterscheiden
waren, sass ein runder, dunkelfarbiger Strohhut, geschmückt
ausschliesslich mit einem kleinen Arrangement von Bandwerk. Übrigens
trug sie eine kurze, dunkelblaue Jacke und einen schlichtgearbeiteten
Rock aus hellgrauem Tuch.

In ihrem ovalen und feingeformten Gesicht, dessen zartbrünetter Teint
von der Morgenluft frisch gerötet war, bildeten das Anziehendste
sicherlich die Augen: ein Paar schmaler und langgeschnittener Augen,
deren kaum zur Hälfte sichtbare Iris blitzend schwarz war, und über
denen sich ausserordentlich gleichmässige und wie mit der Feder
gezeichnete Brauen wölbten. Die Nase war vielleicht ein wenig lang, und
der Mund, dessen Lippenlinien jedenfalls klar und fein waren, hätte
schmaler sein dürfen. Im Augenblicke aber wurde ihm durch die schimmernd
weissen und etwas von einander entfernt stehenden Zähne ein Reiz
gegeben, die das junge Mädchen bei den Bemühungen um das Pferd energisch
auf die Unterlippe drückte, und mit denen sie das fast kindlich runde
Kinn ein wenig emporzog.

Es wäre ganz falsch, zu sagen, dass dieses Gesicht von auffallender und
bewunderungswürdiger Schönheit gewesen sei. Es besass den Reiz der
Jugend und der fröhlichen Frische, und dieser Reiz war gleichsam
geglättet, stillgemacht und veredelt durch wohlhabende Sorglosigkeit,
vornehme Erziehung und luxuriöse Pflege; es war gewiss, dass diese
schmalen und blitzenden Augen, die jetzt mit verwöhnter Ärgerlichkeit
auf das störrische Pferd blickten, in der nächsten Minute wieder den
Ausdruck sicheren und selbstverständlichen Glückes annehmen würden. --
Die Ärmel der Jacke, die an den Schultern weit und bauschig waren,
umspannten ganz knapp die schlanken Handgelenke, und niemals habe ich
einen entzückenderen Eindruck von auserlesener Eleganz empfangen, als
durch die Art, mit der diese schmalen, unbekleideten, mattweissen Hände
die Zügel hielten! --

Ich stand am Wege, von keinem Blicke gestreift, während der Wagen
vorüberfuhr, und ich ging langsam weiter, als er sich wieder in Trab
setzte und rasch verschwand. Was ich empfand, war Freude und
Bewunderung; aber irgend ein seltsamer und stechender Schmerz meldete
sich zur gleichen Zeit, ein herbes und drängendes Gefühl von -- Neid?
von Liebe? -- ich wagte es nicht auszudenken -- von Selbstverachtung?

Während ich schreibe, kommt mir die Vorstellung eines armseligen
Bettlers, der vor dem Schaufenster eines Juweliers in den kostbaren
Schimmer eines Edelsteinkleinods starrt. Dieser Mensch wird es in seinem
Inneren nicht zu dem klaren Wunsche bringen, das Geschmeid zu besitzen;
denn schon der Gedanke an diesen Wunsch wäre eine lächerliche
Unmöglichkeit, die ihn vor sich selbst zum Gespött machen würde.


XII.

Ich will erzählen, dass ich infolge eines Zufalles diese junge Dame nach
Verlauf von acht Tagen bereits zum zweiten Male sah, und zwar in der
Oper. Man gab Gounods »Margarete«, und kaum hatte ich den
hellerleuchteten Saal betreten, um mich zu meinem Parkettplatze zu
begeben, als ich sie zur Linken des alten Herrn, in einer
Prosceniumsloge der anderen Seite gewahrte. Nebenbei stellte ich fest,
dass mich lächerlicherweise ein kleiner Schreck und etwas wie Verwirrung
dabei berührte, und dass ich aus irgend einem Grunde meine Augen sofort
abschweifen und über die anderen Ränge und Logen hinwandern liess. Erst
beim Beginn der Ouverture entschloss ich mich, die Herrschaften ein
wenig eingehender zu betrachten.

Der alte Herr, in streng geschlossenem Gehrock mit schwarzer Schleife,
sass mit einer ruhigen Würde in seinen Sessel zurückgelehnt und liess
die eine der braun bekleideten Hände leicht auf dem Sammet der
Logenbrüstung ruhen, während die andere hie und da langsam über den Bart
oder über das kurzgehaltene ergraute Haupthaar strich. Das junge Mädchen
dagegen -- seine Tochter, ohne Zweifel? -- sass interessiert und lebhaft
vorgebeugt, beide Hände, in denen sie ihren Fächer hielt, auf dem
Sammetpolster. Dann und wann machte sie eine kurze Kopfbewegung, um das
lockere, lichtbraune Haar ein wenig von der Stirn und den Schläfen
zurückzuwerfen.

Sie trug eine ganz leichte Bluse aus heller Seide, in deren Gürtel ein
Veilchensträusschen steckte, und ihre schmalen Augen blitzten in der
scharfen Beleuchtung noch schwärzer als vor acht Tagen. Übrigens machte
ich die Beobachtung, dass die Mundhaltung, die ich damals an ihr bemerkt
hatte, ihr überhaupt eigentümlich war: in jedem Augenblicke setzte sie
ihre weissen, in kleinen, regelmässigen Abständen schimmernden Zähne auf
die Unterlippe und zog das Kinn ein wenig empor. Diese unschuldige
Miene, die von gar keiner Koketterie zeugte, der ruhig und fröhlich
zugleich umherwandernde Blick ihrer Augen, ihr zarter und weisser Hals,
welcher frei war, und um den sich ein schmales Seidenband von der Farbe
der Taille schmiegte, die Bewegung, mit der sie sich hie und da an den
alten Herrn wandte, um ihn auf irgend etwas im Orchester, am Vorhang, in
einer Loge aufmerksam zu machen -- alles brachte den Eindruck einer
unsäglich feinen und lieblichen Kindlichkeit hervor, die jedoch nichts
in irgend einem Grade Rührendes und »Mitleid«-Erregendes an sich hatte.
Es war eine vornehme, abgemessene und durch elegantes Wohlleben sicher
und überlegen gemachte Kindlichkeit, und sie legte ein Glück an den Tag,
dem nichts Übermütiges, sondern eher etwas Stilles eignete, weil es
selbstverständlich war.

Gounods geistreiche und zärtliche Musik war, wie mich dünkte, keine
falsche Begleitung zu diesem Anblick, und ich lauschte ihr, ohne auf die
Bühne zu achten, und ganz und gar hingegeben an eine milde und
nachdenkliche Stimmung, deren Wehmut ohne diese Musik vielleicht
schmerzlicher gewesen wäre. In der Pause aber bereits, die dem ersten
Akte folgte, erhob sich von seinem Parkettplatz ein Herr von sagen wir
einmal: siebenundzwanzig bis dreissig Jahren, welcher verschwand und
gleich darauf mit einer geschickten Verbeugung in der Loge meiner
Aufmerksamkeit erschien. Der alte Herr streckte ihm alsbald die Hand
entgegen, und auch die junge Dame reichte ihm mit einem freundlichen
Kopfnicken die ihre, die er mit Anstand an seine Lippen führte, worauf
man ihn nötigte, Platz zu nehmen.

Ich erkläre mich bereit, zu bekennen, dass dieser Herr den
unvergleichlichsten Hemdeinsatz besass, den ich in meinem Leben
erblicken durfte. Er war vollkommen blossgelegt dieser Hemdeinsatz, denn
die Weste war nichts als ein schmaler, schwarzer Streifen, und die
Frackjacke, die nicht früher als weit unterhalb des Magens durch einen
Knopf geschlossen wurde, war von den Schultern aus in ungewöhnlich
weitem Bogen ausgeschnitten. Der Hemdeinsatz aber, der an dem hohen und
scharf zurückgeschlagenen Stehkragen durch eine breite, schwarze
Schleife abgeschlossen wurde, und auf dem in gemessenen Abständen zwei
grosse, viereckige und ebenfalls schwarze Knöpfe standen, war von
blendendem Weiss, und er war bewunderungswürdig gestärkt, ohne darum der
Schmiegsamkeit zu ermangeln, denn in der Gegend des Magens bildete er
auf angenehme Art eine Vertiefung, um sich dann wiederum zu einem
gefälligen und schimmernden Buckel zu erheben.

Es versteht sich, dass dieses Hemd den grössten Teil der Aufmerksamkeit
für sich verlangte; der Kopf aber, seinerseits, der vollkommen rund war,
und dessen Schädel eine Decke ganz kurzgeschorenen, hellblonden Haares
überzog, war geschmückt mit einem rand- und bandlosen Binocle, einem
nicht zu starken, blonden und leichtgekräuselten Schnurrbart und auf der
einen Wange mit einer Menge von kleinen Mensurschrammen, die sich bis
zur Schläfe hinaufzogen. Übrigens war dieser Herr ohne Fehler gebaut und
bewegte sich mit Sicherheit.

Ich habe im Verlaufe des Abends -- denn er verblieb in der Loge -- zwei
Positionen an ihm beobachtet, die ihm besonders eigentümlich schienen.
Gesetzt nämlich, dass die Unterhaltung mit den Herrschaften ruhte, so
sass er, ein Bein über das andere geschlagen und das Fernglas auf den
Knieen, mit Bequemlichkeit zurückgelehnt, senkte das Haupt und schob den
ganzen Mund heftig hervor, um sich in die Betrachtung seiner beiden
Schnurrbartenden zu versenken, gänzlich hypnotisiert davon, wie es
schien, und indem er langsam und still den Kopf von der einen Seite nach
der anderen wandte. In einer Konversation, andernfalls, mit der jungen
Dame begriffen, änderte er aus Ehrerbietung die Stellung seiner Beine,
lehnte sich jedoch noch weiter zurück, wobei er mit beiden Händen seinen
Sessel erfasste, erhob das Haupt so weit wie immer möglich und lächelte
mit ziemlich weit geöffnetem Munde in liebenswürdiger und bis zu einem
gewissen Grade überlegener Weise auf seine junge Nachbarin nieder.
Diesen Herrn musste ein wundervoll glückliches Selbstbewusstsein
erfüllen ...

Im Ernste gesprochen, ich weiss dergleichen zu schätzen. Keiner seiner
Bewegungen, und sei ihre Nonchalance immerhin gewagt gewesen, folgte
eine peinliche Verlegenheit; er war getragen von Selbstgefühl. Und warum
sollte dies anders sein? Es war klar: er hatte, ohne sich vielleicht
besonders hervorzuthun, seinen korrekten Weg gemacht, er würde denselben
bis zu klaren und nützlichen Zielen verfolgen, er lebte im Schatten des
Einverständnisses mit aller Welt und in der Sonne der allgemeinen
Achtung. Mittlerweile sass er dort in der Loge und plauderte mit einem
jungen Mädchen, für dessen reinen und köstlichen Reiz er vielleicht
nicht unzugänglich war, und dessen Hand er in diesem Falle sich guten
Mutes erbitten konnte. Wahrhaftig, ich spüre keine Lust, irgend ein
missächtliches Wort über diesen Herrn zu äussern!

Ich aber, ich meinesteils? Ich sass hier unten und mochte aus der
Entfernung, aus dem Dunkel heraus grämlich beobachten, wie jenes
kostbare und unerreichliche Geschöpf mit diesem Nichtswürdigen plauderte
und lachte! Ausgeschlossen, unbeachtet, unberechtigt, fremd, hors ligne,
deklassiert, Paria, erbärmlich vor mir selbst ...

Ich blieb bis zum Ende, und ich traf die drei Herrschaften in der
Garderobe wieder, wo man sich beim Umlegen der Pelze ein wenig aufhielt
und mit diesem oder jenem ein paar Worte wechselte, hier mit einer Dame,
dort mit einem Offizier ... Der junge Herr begleitete Vater und Tochter,
als sie das Theater verliessen, und ich folgte ihnen in einem kleinem
Abstande durch das Vestibül.

Es regnete nicht, es standen ein paar Sterne am Himmel, und man nahm
keinen Wagen. Gemächlich und plaudernd schritten die drei vor mir her,
der ich sie in scheuer Entfernung verfolgte, -- niedergedrückt,
gepeinigt von einem stechend schmerzlichen, höhnischen, elenden Gefühl
... Man hatte nicht weit zu gehen; kaum war eine Strasse zurückgelegt,
als man vor einem stattlichen Hause mit schlichter Fassade stehen blieb,
und gleich darauf verschwanden Vater und Tochter nach herzlicher
Verabschiedung von ihrem Begleiter, der seinerseits beschleunigten
Schrittes davonging.

An der schweren, geschnitzten Thür des Hauses war der Name »Justizrat
Rainer« zu lesen.


XIII.

Ich bin entschlossen, diese Niederschrift zu Ende zu führen, obgleich
ich vor innerem Widerstreben in jedem Augenblicke aufspringen und
davonlaufen möchte. Ich habe in dieser Angelegenheit so bis zur
Erschlaffung gegraben und gebohrt! Ich bin alles dessen so bis zur
Übelkeit überdrüssig!...

Es sind nicht völlig drei Monate, dass mich die Zeitungen über einen
»Bazar« unterrichteten, der zu Zwecken der Wohlthätigkeit im Rathause
der Stadt arrangiert worden war, und zwar unter Beteiligung der
vornehmen Welt. Ich las diese Annonce mit Aufmerksamkeit, und ich war
gleich darauf entschlossen, den Bazar zu besuchen. Sie wird dort sein,
dachte ich, vielleicht als Verkäuferin, und in diesem Falle wird nichts
mich abhalten, mich ihr zu nähern. Ruhig überlegt bin ich Mensch von
Bildung und guter Familie, und wenn mir dieses Fräulein Rainer gefällt,
so ist es mir bei solcher Gelegenheit so wenig wie dem Herrn mit dem
erstaunlichen Hemdeinsatz verwehrt, sie anzureden, ein paar scherzhafte
Worte mit ihr zu wechseln ...

Es war ein windiger und regnerischer Nachmittag, als ich mich zum
Rathause begab, vor dessen Portal ein Gedränge von Menschen und Wagen
herrschte. Ich bahnte mir einen Weg in das Gebäude, erlegte das
Eintrittsgeld, gab Überzieher und Hut in Verwahrung und gelangte mit
einiger Anstrengung die breite, mit Menschen bedeckte Treppe hinauf ins
erste Stockwerk und in den Festsaal, aus dem mir ein schwüler Dunst von
Wein, Speisen, Parfüms und Tannengeruch, ein wirrer Lärm von Gelächter,
Gespräch, Musik, Ausrufen und Gongschlägen entgegendrang.

Der ungeheuer hohe und weite Raum war mit Fahnen und Guirlanden
buntfarbig geschmückt, und an den Wänden wie in der Mitte zogen sich die
Buden hin, offene Verkaufsstellen sowohl, wie geschlossene Verschläge,
deren Besuch phantastisch maskierte Herren aus vollen Lungen empfahlen.
Die Damen, die ringsumher Blumen, Handarbeiten, Tabak und Erfrischungen
aller Art verkauften, waren gleichfalls in verschiedener Weise
kostümiert. Am oberen Ende des Saales lärmte auf einer mit Pflanzen
besetzten Estrade die Musikkapelle, während in dem nicht breiten Gange,
den die Buden freiliessen, ein kompakter Zug von Menschen sich langsam
vorwärts bewegte.

Ein wenig frappiert von dem Geräusch der Musik, der Glückshäfen, der
lustigen Reklame, schloss ich mich dem Strome an, und noch war keine
Minute vergangen, als ich vier Schritte links vom Eingange die junge
Dame erblickte, die ich hier suchte. Sie hielt in einer kleinen, mit
Tannenlaub bekränzten Bude Weine und Limonaden feil und war als
Italienerin gekleidet: mit dem bunten Rock, der weissen, rechtwinkligen
Kopfbedeckung und dem kurzen Mieder der Albanerinnen, dessen Hemdärmel
ihre zarten Arme bis zu den Ellenbogen entblösst liessen. Ein wenig
erhitzt lehnte sie seitwärts am Verkaufstisch, spielte mit ihrem bunten
Fächer und plauderte mit einer Anzahl von Herren, die rauchend die Bude
umstanden, und unter denen ich mit dem ersten Blicke den Wohlbekannten
gewahrte; ihr zunächst stand er am Tische, vier Finger jeder Hand in den
Seitentaschen seines Jaquetts.

Ich drängte langsam vorüber, entschlossen, zu ihr zu treten, sobald eine
Gelegenheit sich böte, sobald sie weniger in Anspruch genommen wäre ...
Ah! Es sollte sich erweisen nunmehr, ob ich noch über einen Rest von
fröhlicher Sicherheit und selbstbewusster Gewandtheit verfügte, oder ob
die Morosität und die halbe Verzweiflung meiner letzten Wochen
berechtigt gewesen war! Was hatte mich eigentlich angefochten? Woher
angesichts dieses Mädchens dies peinigende und elende Mischgefühl aus
Neid, Liebe, Scham und gereizter Bitterkeit, das mir auch nun wieder,
ich bekenne es, das Gesicht erhitzte? Freimut! Liebenswürdigkeit!
Heitere und anmutige Selbstgefälligkeit, zum Teufel, wie sie einem
begabten und glücklichen Menschen geziemt! Und ich dachte mit einem
nervösen Eifer der scherzhaften Wendung, dem guten Worte, der
italienischen Anrede nach, mit der ich mich ihr zu nähern
beabsichtigte ...

Es währte eine gute Weile, bis ich in der schwerfällig vorwärts
schiebenden Menge den Weg um den Saal zurückgelegt hatte, -- und in der
That: als ich mich aufs neue bei der kleinen Weinbude befand, war der
Halbkreis von Herren verschwunden, und nur der Wohlbekannte lehnte noch
am Schanktische, indem er sich aufs lebhafteste mit der jungen
Verkäuferin unterhielt. Nun wohl, so musste ich mir erlauben, diese
Unterhaltung zu unterbrechen ... Und mit einer kurzen Wendung verliess
ich den Strom und stand am Tische.

Was geschah? Ah, nichts! Beinahe nichts! Die Konversation brach ab, der
Wohlbekannte trat einen Schritt zur Seite, indem er mit allen fünf
Fingern sein rand- und bandloses Binocle erfasste und mich zwischen
diesen Fingern hindurch betrachtete, und die junge Dame liess einen
ruhigen und prüfenden Blick über mich hingleiten -- über meinen Anzug
bis auf die Stiefel hinab. Dieser Anzug war keineswegs neu, und diese
Stiefel waren vom Strassenkot besudelt, ich wusste das. Überdies war ich
erhitzt, und mein Haar war sehr möglicherweise in Unordnung. Ich war
nicht kühl, nicht frei, nicht auf der Höhe der Situation. Das Gefühl,
dass ich, ein Fremder, Unberechtigter, Unzugehöriger, hier störte und
mich lächerlich machte, befiel mich. Unsicherheit, Hilflosigkeit, Hass
und Jämmerlichkeit verwirrten mir den Blick, und mit einem Worte, ich
führte meine munteren Absichten aus, indem ich mit finster
zusammengezogenen Brauen, mit heiserer Stimme und auf kurze, beinahe
grobe Weise sagte:

-- Ich bitte um ein Glas Wein.

Es ist vollkommen gleichgültig, ob ich mich irrte, als ich zu bemerken
glaubte, dass das junge Mädchen einen raschen und spöttischen Blick zu
ihrem Freunde hinüberspielen liess. Schweigend wie er und ich gab sie
mir den Wein, und ohne den Blick zu erheben, rot und verstört vor Wut
und Schmerz, eine unglückliche und lächerliche Figur, stand ich zwischen
diesen beiden, trank ein paar Schlucke, legte das Geld auf den Tisch,
verbeugte mich fassungslos, verliess den Saal und stürzte ins Freie.

Seit diesem Augenblicke ist es zu Ende mit mir, und es fügt der Sache
bitterwenig hinzu, dass ich ein paar Tage später in den Journalen die
Verkündigung fand:

»Die Verlobung meiner Tochter Anna mit Herrn Assessor Dr. Alfred
Witznagel beehre ich mich ergebenst anzuzeigen. Justizrat Rainer.«


XIV.

Seit diesem Augenblick ist es zu Ende mit mir. Mein letzter Rest von
Glücksbewusstsein und Selbstgefälligkeit ist zu Tode gehetzt
zusammengebrochen, ich kann nicht mehr, ja, ich bin unglücklich, ich
gestehe es ein, und ich sehe eine klägliche und lächerliche Figur in
mir! -- Aber ich halte das nicht aus! Ich gehe zu Grunde! Ich werde mich
totschiessen, sei es heut oder morgen!

Meine erste Regung, mein erster Instinkt war der schlaue Versuch, das
Belletristische aus der Sache zu ziehen und mein erbärmliches
Übelbefinden in »unglückliche Liebe« umzudeuten: Eine Albernheit, wie
sich von selbst versteht. Man geht an keiner unglücklichen Liebe zu
Grunde. Eine unglückliche Liebe ist eine Attitüde, die nicht übel ist.
In einer unglücklichen Liebe gefällt man sich. Ich aber gehe daran zu
Grunde, dass es mit allem Gefallen an mir selbst so ohne Hoffnung zu
Ende ist!

Liebte ich, wenn endlich einmal diese Frage erlaubt ist, liebte ich
dieses Mädchen denn eigentlich? -- Vielleicht ... aber wie und warum?
War diese Liebe nicht eine Ausgeburt meiner längst schon gereizten und
kranken Eitelkeit, die beim ersten Anblick dieser unerreichbaren
Kostbarkeit peinigend aufbegehrt war und Gefühle von Neid, Hass und
Selbstverachtung hervorgebracht hatte, für die dann die Liebe bloss
Vorwand, Ausweg und Rettung war?

Ja, das alles ist Eitelkeit! Und hat mich nicht mein Vater schon einst
einen Bajazzo genannt?

Ach, ich war nicht berechtigt, ich am wenigsten, mich seitab zu setzen
und die »Gesellschaft« zu ignorieren, ich, der ich zu eitel bin, ihre
Miss- und Nichtachtung zu ertragen, der ich ihrer und ihres Beifalls
nicht zu entraten vermag! -- Aber es handelt sich nicht um Berechtigung?
Sondern um Notwendigkeit? Und mein unbrauchbares Bajazzotum hätte für
keine sociale Stellung getaugt? Nunwohl, eben dieses Bajazzotum ist es,
an dem ich in jedem Falle zu Grunde gehen musste.

Gleichgültigkeit, ich weiss, das wäre eine Art von Glück ... Aber ich
bin nicht im stande, gleichgültig gegen mich zu sein, ich bin nicht im
stande, mich mit anderen Augen anzusehen, als mit denen der »Leute«, und
ich gehe an bösem Gewissen zu Grunde -- erfüllt von Unschuld ... Sollte
das böse Gewissen denn niemals etwas anderes sein, als eiternde
Eitelkeit? --

Es giebt nur ein Unglück: das Gefallen an sich selbst einbüssen. Sich
nicht mehr zu gefallen, das ist das Unglück -- ah, und ich habe das
stets sehr deutlich gefühlt! Alles übrige ist Spiel und Bereicherung des
Lebens, in jedem anderen Leiden kann man so ausserordentlich mit sich
zufrieden sein, sich so vorzüglich ausnehmen. Die Zwietracht erst mit
dir selbst, das böse Gewissen im Leiden, die Kämpfe der Eitelkeit erst
sind es, die dich zu einem kläglichen und widerwärtigen Anblick
machen ...

Ein alter Bekannter erschien auf der Bildfläche, ein Herr Namens
Schilling, mit dem ich einst in dem grossen Holzgeschäfte des Herrn
Schlievogt gemeinschaftlich der Gesellschaft diente. Er berührte in
Geschäften die Stadt und kam, mich zu besuchen -- ein »skeptisches
Individuum«, die Hände in den Hosentaschen, mit einem schwarzgeränderten
Pincenez und einem realistisch duldsamen Achselzucken. Er traf des
Abends ein und sagte: »Ich bleibe ein paar Tage hier.« -- Wir gingen in
eine Weinstube.

Er begegnete mir, als sei ich noch der glückliche Selbstgefällige, als
den er mich gekannt hatte, und in dem guten Glauben, mir nur meine eigne
fröhliche Meinung entgegen zu bringen, sagte er:

-- »Bei Gott, Du hast Dir Dein Leben angenehm eingerichtet, mein Junge!
Unabhängig, was? frei! Eigentlich hast Du recht, zum Teufel! Man lebt
nur einmal, wie? Was geht einen im Grunde das übrige an? Du bist der
Klügere von uns beiden, das muss ich sagen. Übrigens, Du warst immer ein
Genie ...« Und wie ehemals fuhr er fort, mich bereitwilligst
anzuerkennen und mir gefällig zu sein, ohne zu ahnen, dass ich
meinerseits voll Angst war, zu missfallen.

Mit verzweifelten Anstrengungen bemühte ich mich, den Platz zu
behaupten, den ich in seinen Augen einnahm, nach wie vor auf der Höhe zu
erscheinen, glücklich und selbstzufrieden zu erscheinen -- umsonst! Mir
fehlte jedes Rückgrat, jeder gute Mut, jede Contenance, ich kam ihm mit
einer matten Verlegenheit, einer geduckten Unsicherheit entgegen -- und
er erfasste das mit unglaublicher Schnelligkeit! Es war entsetzlich, zu
sehen, wie er, der vollkommen bereit gewesen war, mich als glücklichen
und überlegenen Menschen anzuerkennen, begann, mich zu durchschauen,
mich erstaunt anzusehen, kühl zu werden, überlegen zu werden, ungeduldig
und widerwillig zu werden und mir schliesslich seine Verachtung mit
jeder Miene zu zeigen. Er brach früh auf, und am nächsten Tage belehrten
mich ein paar flüchtige Zeilen darüber, dass er dennoch genötigt gewesen
sei, abzureisen.

Es ist Thatsache, alle Welt ist viel zu angelegentlich mit sich selbst
beschäftigt, als dass man ernstlich eine Meinung über einen anderen zu
haben vermöchte; man acceptiert mit träger Bereitwilligkeit den Grad von
Respekt, den du die Sicherheit hast, vor dir selber an den Tag zu legen.
Sei, wie du willst, lebe, wie du willst, aber zeige kecke Zuversicht und
kein böses Gewissen, und niemand wird moralisch genug sein, dich zu
verachten. Erlebe es andererseits, die Einigkeit mit dir zu verlieren,
die Selbstgefälligkeit einzubüssen, zeige, dass du dich verachtest, und
blindlings wird man dir recht geben. -- Was mich betrifft, ich bin
verloren ...

                   *       *       *       *       *

Ich höre auf zu schreiben, ich werfe die Feder fort -- voll Ekel, voll
Ekel! -- Ein Ende machen: aber wäre das nicht beinahe zu heldenhaft für
einen »Bajazzo«? Es wird sich ergeben, fürchte ich, dass ich weiter
leben, weiter essen, schlafen und mich ein wenig beschäftigen werde und
mich allgemach dumpfsinnig daran gewöhnen, eine »unglückliche und
lächerliche Figur« zu sein.

Mein Gott, wer hätte es gedacht, wer hätte es denken können, dass es ein
solches Verhängnis und Unglück ist, als ein »Bajazzo« geboren zu
werden!...



Tobias Mindernickel.


I.

Eine der Strassen, die von der Quaigasse aus ziemlich steil zur
mittleren Stadt emporführen, heisst der Graue Weg. Etwa in der Mitte
dieser Strasse und rechter Hand, wenn man vom Flusse kommt, steht das
Haus No. 47, ein schmales, trübfarbiges Gebäude, das sich durch nichts
von seinen Nachbarn unterscheidet. In seinem Erdgeschoss befindet sich
ein Krämerladen, in welchem man auch Gummischuhe und Ricinusöl erhalten
kann. Geht man, mit dem Durchblick auf einen Hofraum, in dem sich Katzen
umhertreiben, über den Flur, so führt eine enge und ausgetretene
Holztreppe, auf der es unaussprechlich dumpfig und ärmlich riecht, in
die Etagen hinauf. Im ersten Stockwerk links wohnt ein Schreiner, rechts
eine Hebamme. Im zweiten Stockwerk links wohnt ein Flickschuster, rechts
eine Dame, welche laut zu singen beginnt, sobald sich Schritte auf der
Treppe vernehmen lassen. Im dritten Stockwerk steht linker Hand die
Wohnung leer, rechts wohnt ein Mann Namens Mindernickel, der obendrein
Tobias heisst. Von diesem Manne giebt es eine Geschichte, die erzählt
werden soll, weil sie rätselhaft und über alle Begriffe schändlich ist.

Das Äussere Mindernickels ist auffallend, sonderbar und lächerlich.
Sieht man beispielsweise, wenn er einen Spaziergang unternimmt, seine
magere, auf einen Stock gestützte Gestalt sich die Strasse
hinaufbewegen, so ist er schwarz gekleidet, und zwar vom Kopfe bis zu
den Füssen. Er trägt einen altmodischen, geschweiften und rauhen
Cylinder, einen engen und altersblanken Gehrock und in gleichem Masse
schäbige Beinkleider, die unten ausgefranst und so kurz sind, dass man
den Gummieinsatz der Stiefeletten sieht. Übrigens muss gesagt werden,
dass diese Kleidung aufs reinlichste gebürstet ist. Sein hagerer Hals
erscheint um so länger, als er sich aus einem niedrigen Klappkragen
erhebt. Das ergraute Haar ist glatt und tief in die Schläfen gestrichen,
und der breite Rand des Cylinders beschattet ein rasiertes und fahles
Gesicht mit eingefallenen Wangen, mit entzündeten Augen, die sich selten
vom Boden erheben, und zwei tiefen Furchen, die grämlich von der Nase
bis zu den abwärts gezogenen Mundwinkeln laufen.

Mindernickel verlässt selten das Haus, und das hat seinen Grund. Sobald
er nämlich auf der Strasse erscheint, laufen viele Kinder zusammen,
ziehen ein gutes Stück Wegs hinter ihm drein, lachen, höhnen, singen:
»Ho, ho, Tobias!« und zupfen ihn wohl auch am Rocke, während die Leute
vor die Thüren treten und sich amüsieren. Er selbst aber geht, ohne sich
zu wehren und scheu um sich blickend, mit hochgezogenen Schultern und
vorgestrecktem Kopfe davon, wie ein Mensch, der ohne Schirm durch einen
Platzregen eilt; und obgleich man ihm ins Gesicht lacht, grüsst er hie
und da mit einer demütigen Höflichkeit jemanden von den Leuten, die vor
den Thüren stehn. Später, wenn die Kinder zurückbleiben, wenn man ihn
nicht mehr kennt und nur wenige sich nach ihm umsehen, ändert sich sein
Benehmen nicht wesentlich. Er fährt fort, ängstlich um sich zu blicken
und geduckt davonzustreben, als fühlte er tausend höhnische Blicke auf
sich, und wenn er unschlüssig und scheu den Blick vom Boden erhebt, so
bemerkt man das Sonderbare, dass er nicht im stande ist, irgend einen
Menschen oder auch nur ein Ding mit Festigkeit und Ruhe ins Auge zu
fassen. Es scheint, möge es fremdartig klingen, ihm die natürliche,
sinnlich wahrnehmende Überlegenheit zu fehlen, mit der das Einzelwesen
auf die Welt der Erscheinungen blickt, er scheint sich einer jeden
Erscheinung unterlegen zu fühlen, und seine haltlosen Augen müssen vor
Mensch und Ding zu Boden kriechen ...

Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem Manne, der stets allein ist
und der in ungewöhnlichem Grade unglücklich zu sein scheint? Seine
gewaltsam bürgerliche Kleidung sowie eine gewisse sorgfältige Bewegung
der Hand über das Kinn scheint anzudeuten, dass er keineswegs zu der
Bevölkerungsklasse gerechnet werden will, in deren Mitte er wohnt. Gott
weiss, in welcher Weise ihm mitgespielt worden ist. Sein Gesicht sieht
aus, als hätte ihm das Leben verächtlich lachend mit voller Faust
hineingeschlagen ... Übrigens ist es sehr möglich, dass er, ohne schwere
Schicksalsschläge erlebt zu haben, einfach dem Dasein selbst nicht
gewachsen ist, und die leidende Unterlegenheit und Blödigkeit seiner
Erscheinung macht den peinvollen Eindruck, als hätte die Natur ihm das
Mass von Gleichgewicht, Kraft und Rückgrat versagt, das hinlänglich
wäre, mit erhobenem Kopfe zu existieren.

Hat er, gestützt auf seinen schwarzen Stock, einen Gang in die Stadt
hinauf gemacht, so kehrt er, im Grauen Weg von den Kindern johlend
empfangen, in seine Wohnung zurück; er begiebt sich die dumpfige Treppe
hinauf in sein Zimmer, das ärmlich und schmucklos ist. Nur die Kommode,
ein solides Empire-Möbel mit schweren Metallgriffen, ist von Wert und
Schönheit. Vor dem Fenster, dessen Aussicht von der grauen Seitenmauer
des Nachbarhauses hoffnungslos abgeschnitten ist, steht ein Blumentopf,
voll von Erde, in der jedoch durchaus nichts wächst; gleichwohl tritt
Tobias Mindernickel zuweilen dorthin, betrachtet den Blumentopf und
riecht an der blossen Erde. -- Neben dieser Stube liegt eine kleine,
dunkle Schlafkammer. -- Nachdem er eingetreten, legt Tobias Cylinder und
Stock auf den Tisch, setzt sich auf das grün überzogene Sofa, das nach
Staub riecht, stützt das Kinn in die Hand und blickt mit erhobenen
Augenbrauen vor sich nieder zu Boden. Es scheint, dass es für ihn auf
Erden nichts weiter zu thun giebt.

Was Mindernickels Charakter betrifft, so ist es sehr schwer, darüber zu
urteilen; der folgende Vorfall scheint zu Gunsten desselben zu sprechen.
Als der sonderbare Mann eines Tages das Haus verliess und wie gewöhnlich
eine Schar von Kindern sich einfand, die ihn mit Spottrufen und
Gelächter verfolgten, strauchelte ein Junge von etwa zehn Jahren über
den Fuss eines anderen und schlug so heftig auf das Pflaster, dass ihm
das Blut aus der Nase und von der Stirne lief und er weinend liegen
blieb. Alsbald wandte Tobias sich um, eilte auf den Gestürzten zu,
beugte sich über ihn und begann mit milder und bebender Stimme ihn zu
bemitleiden. »Du armes Kind,« sagte er, »hast Du Dir wehgethan? Du
blutest! Seht, das Blut läuft ihm von der Stirn herunter! Ja, ja, wie
elend Du nun daliegst! Freilich, es thut so weh, dass es weint, das arme
Kind! Welch Erbarmen ich mit Dir habe! Es war Deine Schuld, aber ich
will Dir mein Taschentuch um den Kopf binden ... So, so! Nun fasse Dich
nur, nun erhebe Dich nur wieder ...« Und nachdem er mit diesen Worten
dem Jungen in der That sein eigenes Schnupftuch umgewunden hatte,
stellte er ihn mit Sorgfalt auf die Füsse und ging davon. Seine Haltung
und sein Gesicht aber zeigten in diesem Augenblicke einen entschieden
anderen Ausdruck als gewöhnlich. Er schritt fest und aufrecht, und seine
Brust atmete tief unter dem engen Gehrock; seine Augen hatten sich
vergrössert, sie hatten Glanz erhalten und fassten mit Sicherheit
Menschen und Dinge, während um seinen Mund ein Zug von schmerzlichem
Glücke lag ...

Dieser Vorfall hatte zur Folge, dass sich die Spottlust der Leute vom
Grauen Wege zunächst ein wenig verminderte. Nach Verlauf einiger Zeit
jedoch war sein überraschendes Betragen vergessen, und eine Menge von
gesunden, wohlgemuten und grausamen Kehlen sang wieder hinter dem
geduckten und haltlosen Manne drein: »Ho, ho, Tobias!«


II.

Eines sonnigen Vormittags um 11 Uhr verliess Mindernickel das Haus und
begab sich durch die ganze Stadt hinauf zum Lerchenberge, jenem
langgestreckten Hügel, der um die Nachmittagsstunden die vornehmste
Promenade der Stadt bildet, der aber bei dem ausgezeichneten
Frühlingswetter, welches herrschte, auch um diese Zeit bereits von
einigen Wagen und Fussgängern besucht war. Unter einem Baum der grossen
Hauptallee stand ein Mann mit einem jungen Jagdhund an der Leine, den er
den Vorübergehenden mit der ersichtlichen Absicht zeigte, ihn zu
verkaufen; es war ein kleines gelbes und muskulöses Tier von etwa vier
Monaten, mit einem schwarzen Augenring und einem schwarzen Ohr.

Als Tobias dies aus einer Entfernung von zehn Schritten bemerkte, blieb
er stehen, strich mehrere Male mit der Hand über das Kinn und blickte
nachdenklich auf den Verkäufer und auf das alert mit dem Schwanze
wedelnde Hündchen. Hierauf begann er aufs neue zu gehen, umkreiste, die
Krücke seines Stockes gegen den Mund gedrückt, dreimal den Baum, an
welchem der Mann lehnte, trat dann auf den letzteren zu und sagte,
während er unverwandt das Tier im Auge behielt, mit leiser und hastiger
Stimme:

»Was kostet dieser Hund?«

»Zehn Mark,« antwortete der Mann.

Tobias schwieg einen Augenblick und wiederholte dann unschlüssig:

»Zehn Mark?«

»Ja,« sagte der Mann.

Da zog Tobias eine schwarze Lederbörse aus der Tasche, entnahm derselben
einen Fünf-Mark-Schein, ein Drei- und ein Zwei-Mark-Stück, händigte
rasch dieses Geld dem Verkäufer ein, ergriff die Leine und zerrte eilig,
gebückt und scheu um sich blickend, da einige Leute den Kauf beobachtet
hatten und lachten, das quiekende und sich sträubende Tier hinter sich
her. Es wehrte sich während der Dauer des ganzen Weges, stemmte die
Vorderbeine gegen den Boden und blickte ängstlich fragend zu seinem
neuen Herrn empor; er jedoch zerrte schweigend und mit Energie und
gelangte glücklich durch die Stadt hinunter.

Unter der Strassenjugend des Grauen Weges entstand ein ungeheurer Lärm,
als Tobias mit dem Hunde erschien, aber er nahm ihn auf den Arm, beugte
sich über ihn und eilte verhöhnt und am Rocke gezupft durch die
Spottrufe und das Gelächter hindurch, die Treppen hinauf und in sein
Zimmer. Hier setzte er den Hund, der beständig winselte, auf den Boden,
streichelte ihn mit Wohlwollen und sagte herablassend:

»Nun, nun, Du brauchst Dich nicht vor mir zu fürchten, Du Tier; das ist
nicht nötig.«

Hierauf entnahm er einer Kommodenschieblade einen Teller mit gekochtem
Fleisch und Kartoffeln und warf dem Tiere einen Anteil davon zu, worauf
es seine Klagelaute einstellte und schmatzend und wedelnd das Mahl
verzehrte.

»Übrigens sollst Du Esau heissen,« sagte Tobias; »verstehst Du mich?
Esau. Du kannst den einfachen Klang sehr wohl behalten ...« Und indem er
vor sich auf den Boden zeigte, rief er befehlend:

»Esau!«

Der Hund, in der Erwartung vielleicht, noch mehr zu essen zu erhalten,
kam in der That herbei, und Tobias klopfte ihn beifällig auf die Seite,
indem er sagte:

»So ist es recht, mein Freund; ich darf Dich loben.«

Dann trat er ein paar Schritte zurück, wies auf den Boden und befahl
aufs neue:

»Esau!«

Und das Tier, das ganz munter geworden war, sprang wiederum herzu und
leckte den Stiefel seines Herrn.

Diese Übung wiederholte Tobias mit unermüdlicher Freude am Befehl und
dessen Ausführung wohl zwölf- bis vierzehnmal; endlich jedoch schien der
Hund ermüdet, er schien Lust zu haben, zu ruhen und zu verdauen, und
legte sich in der anmutigen und klugen Pose der Jagdhunde auf den Boden,
beide langen und feingebauten Vorderbeine dicht nebeneinander
ausgestreckt.

»Noch einmal!« sagte Tobias. »Esau!«

Aber Esau wandte den Kopf zur Seite und verharrte am Platze.

»Esau!« rief Tobias mit herrisch, erhobener Stimme; »Du hast zu kommen,
auch wenn Du müde bist!«

Aber Esau legte den Kopf auf die Pfoten und kam durchaus nicht.

»Höre,« sagte Tobias, und sein Ton war voll von leiser und furchtbarer
Drohung; »gehorche, oder Du wirst erfahren, dass es nicht klug ist, mich
zu reizen!«

Allein das Tier bewegte kaum ein wenig seinen Schwanz.

Da packte den Mindernickel ein massloser, ein unverhältnismässiger und
toller Zorn. Er ergriff seinen schwarzen Stock, hob Esau am Nackenfell
empor und hieb auf das schreiende Tierchen ein, indem er ausser sich vor
entrüsteter Wut und mit schrecklich zischender Stimme ein Mal über das
andere wiederholte:

»Wie, Du gehorchst nicht? Du wagst es, mir nicht zu gehorchen?«

Endlich warf er den Stock beiseite, setzte den winselnden Hund auf den
Boden und begann tief atmend und die Hände auf dem Rücken mit langen
Schritten vor ihm auf und ab zu schreiten, während er dann und wann
einen stolzen und zornigen Blick auf Esau warf. Nachdem er diese
Promenade eine Zeit lang fortgesetzt hatte, blieb er bei dem Tiere
stehen, das auf dem Rücken lag und die Vorderbeine flehend bewegte,
verschränkte die Arme auf der Brust und sprach mit dem entsetzlich
kalten und harten Blick und Ton, mit dem Napoleon vor die Compagnie
hintrat, die in der Schlacht ihren Adler verloren:

»Wie hast Du Dich betragen, wenn ich Dich fragen darf?«

Und der Hund, glücklich bereits über diese Annäherung, kroch noch näher
herbei, schmiegte sich gegen das Bein des Herrn und blickte mit seinen
blanken Augen bittend zu ihm empor.

Während einer guten Weile betrachtete Tobias das demütige Wesen
schweigend und von oben herab; dann jedoch, als er die rührende Wärme
des Körpers an seinem Bein verspürte, hob er Esau zu sich empor.

»Nun, ich will Erbarmen mit Dir haben,« sagte er; als aber das gute Tier
begann, ihm das Gesicht zu lecken, schlug plötzlich seine Stimmung
völlig in Rührung und Wehmut um. Er presste den Hund mit schmerzlicher
Liebe an sich, seine Augen füllten sich mit Thränen, und ohne den Satz
zu vollenden, wiederholte er mehrere Male mit erstickter Stimme:

»Sieh, Du bist ja mein einziger ... mein einziger ...« Dann bettete er
Esau mit Sorgfalt auf das Sofa, setzte sich neben ihn, stützte das Kinn
in die Hand und sah ihn mit milden und stillen Augen an.


III.

Tobias Mindernickel verliess nunmehr das Haus noch seltener als früher,
denn er verspürte keine Neigung, sich mit Esau in der Öffentlichkeit zu
zeigen. Seine ganze Aufmerksamkeit aber widmete er dem Hunde, ja, er
beschäftigte sich vom Morgen bis zum Abend mit nichts Anderem, als ihn
zu füttern, ihm die Augen auszuwischen, ihm Befehle zu erteilen, ihn zu
schelten und aufs menschlichste mit ihm zu reden. Allein die Sache war
die, dass Esau sich nicht immer zu seinem Wohlgefallen betrug. Wenn er
neben ihm auf dem Sofa lag und ihn schläfrig vor Mangel an Luft und
Freiheit, mit melancholischen Augen ansah, so war Tobias voll
Zufriedenheit; er sass in stiller und selbstgefälliger Haltung da und
streichelte mitleidig Esaus Rücken, indem er sagte:

»Siehst Du mich schmerzlich an, mein armer Freund? Ja, ja, die Welt ist
traurig, das erfährst auch Du, so jung Du bist ...«

Wenn aber das Tier, blind und toll vor Spiel- und Jagdtrieb, im Zimmer
umherfuhr, sich mit einem Pantoffel balgte, auf die Stühle sprang und
sich mit ungeheurer Munterkeit überkugelte, so verfolgte Tobias seine
Bewegungen aus der Entfernung mit einem ratlosen, missgünstigen und
unsicheren Blick und einem Lächeln, das hässlich und ärgervoll war, bis
er es endlich in unwirschem Tone zu sich rief und es anherrschte:

»Lass nun den Übermut. Es liegt kein Grund vor, umherzutanzen.«

Einmal geschah es sogar, dass Esau aus der Stube entwischte und die
Treppen hinunter auf die Strasse sprang, woselbst er alsbald begann,
eine Katze zu jagen, Pferdekot zu fressen und sich überglücklich mit den
Kindern umherzutreiben. Als aber Tobias unter dem Applaus und Gelächter
der halben Strasse mit schmerzlich verzogenem Gesichte erschien, geschah
das Traurige, dass der Hund in langen Sätzen vor seinem Herrn davonlief
... An diesem Tage prügelte Tobias ihn lange und mit Erbitterung.

Eines Tages -- der Hund gehörte ihm bereits seit einigen Wochen -- nahm
Tobias, um Esau zu füttern, ein Brotlaib aus der Kommodenschieblade und
begann mit dem grossen Messer mit Knochengriff, dessen er sich hierbei
zu bedienen pflegte, in gebückter Haltung kleine Stücke abzuschneiden
und auf den Boden fallen zu lassen. Das Tier aber, unsinnig vor Appetit
und Albernheit, sprang blindlings herzu, rannte sich das ungeschickt
gehaltene Messer unter das rechte Schulterblatt und wand sich blutend am
Boden.

Erschrocken warf Tobias alles beiseite und beugte sich über den
Verwundeten; plötzlich jedoch veränderte sich der Ausdruck seines
Gesichtes, und es ist wahr, dass ein Schimmer von Erleichterung und
Glück darüber hin ging. Behutsam trug er den wimmernden Hund auf das
Sofa, und niemand vermag auszudenken, mit welcher Hingebung er den
Kranken zu pflegen begann. Er wich während des Tages nicht von ihm, er
liess ihn zur Nacht auf seinem eigenen Lager schlafen, er wusch und
verband ihn, streichelte, tröstete und bemitleidete ihn mit
unermüdlicher Freude und Sorgfalt.

»Schmerzt es sehr?« sagte er. »Ja, ja, Du leidest bitterlich, mein armes
Tier! Aber sei still, wir müssen es ertragen« ... Sein Gesicht war
ruhig, wehmütig und glücklich bei solchen Worten.

In dem Grade jedoch, in welchem Esau zu Kräften kam, fröhlicher wurde
und genas, ward das Benehmen des Tobias unruhiger und unzufriedener. Er
befand es nunmehr für gut, sich nicht mehr um die Wunde zu bekümmern,
sondern lediglich durch Worte und Streicheln dem Hunde sein Erbarmen zu
zeigen. Allein die Heilung war weit vorgeschritten, Esau besass eine
gute Natur, er begann bereits wieder, sich im Zimmer umherzubewegen, und
eines Tages, nachdem er einen Teller mit Milch und Weissbrot
leergeschlappt hatte, sprang er völlig gesundet vom Sofa herunter, um
mit freudigem Geblaff und der alten Unbändigkeit durch die beiden Stuben
zu fahren, an der Bettdecke zu zerren, eine Kartoffel vor sich her zu
jagen und sich vor Lust zu überkugeln.

Tobias stand am Fenster, am Blumentopfe, und während eine seiner Hände,
die lang und mager aus dem ausgefransten Ärmel hervorsah, mechanisch an
dem tief in die Schläfen gestrichenen Haare drehte, hob seine Gestalt
sich schwarz und sonderbar von der grauen Mauer des Nachbarhauses ab.
Sein Gesicht war bleich und gramverzerrt, und mit einem scheelen,
verlegenen, neidischen und bösen Blick verfolgte er unbeweglich Esaus
Sprünge. Plötzlich jedoch raffte er sich auf, schritt auf ihn zu, hielt
ihn an und nahm ihn langsam in seine Arme.

»Mein armes Tier« ... begann er mit wehleidiger Stimme -- aber Esau,
ausgelassen und gar nicht geneigt, sich ferner in dieser Weise behandeln
zu lassen, schnappte munter nach der Hand, die ihn streicheln wollte,
entwand sich den Armen, sprang zu Boden, machte einen neckischen
Seitensatz, blaffte auf und rannte fröhlich davon.

Was nun geschah, war etwas so Unverständliches und Infames, dass ich
mich weigere, es ausführlich zu erzählen. Tobias Mindernickel stand mit
am Leibe herunterhängenden Armen ein wenig vorgebeugt, seine Lippen
waren zusammengepresst, und seine Augäpfel zitterten unheimlich in ihren
Höhlen. Und dann, plötzlich, mit einer Art von irrsinnigem Sprunge,
hatte er das Tier ergriffen, ein grosser, blanker Gegenstand blitzte in
seiner Hand, und mit einem Schnitt, der von der rechten Schulter bis
tief in die Brust lief, stürzte der Hund zu Boden -- er gab keinen Laut
von sich, er fiel einfach auf die Seite, blutend und bebend ...

Im nächsten Augenblicke lag er auf dem Sofa, und Tobias kniete vor ihm,
drückte ein Tuch auf die Wunde und stammelte:

»Mein armes Tier! Mein armes Tier! Wie traurig alles ist! Wie traurig
wir beide sind! Leidest Du? Ja, ja, ich weiss, Du leidest ... wie
kläglich Du da vor mir liegst! Aber ich, ich bin bei Dir! Ich tröste
Dich! Ich werde mein bestes Taschentuch« ...

Allein Esau lag da und röchelte. Seine getrübten und fragenden Augen
waren voll Verständnislosigkeit, Unschuld und Klage auf seinen Herrn,
gerichtet -- und dann streckte er ein wenig seine Beine und starb.

Tobias aber verharrte unbeweglich in seiner Stellung. Er hatte das
Gesicht auf Esaus Körper gelegt und weinte bitterlich.



Druck der Freyhoffschen Buchdruckerei in Nauen.



S. FISCHER VERLAG, BERLIN W.


Moderne Romane, Novellen &c.

  Peter Altenberg, Wie ich es sehe.            Geh. M. 3.--, geb. M. 4.--.
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  Gerhart Hauptmann, Der Apostel. Novellistische Studien.
    3.-4. Auflage.                             Geh. M. 1.50, geb. M. 2.50.
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    Geschichten.                                             Geh. M. 1.--.
  Otto Erich Hartleben, Die Geschichte vom abgerissenen
    Knopfe. 4. Auflage.                                      Geh. M. 2.--.
  Otto Erich Hartleben, Vom gastfreien Pastor.               Geh. M. 2.--.
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  Felix Hollaender, Magdalene Dornis.                        Geh. M. 4.--.
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    eines jungen Mädchens. Roman.                            Geh. M. 4.--.
  Gabriele Reuter, Der Lebenskünstler. Novelle.              Geh. M. 3.--.
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  Arthur Schnitzler, Sterben. Novelle.         Geh. M. 2.--, geb. M. 3.--.


A. Seydel & Cie., Berlin C., Neue Friedrichstr. 48.



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

    =Thomas Mann=, Der kleine Herr Friedemann.              Geh M. 2.--.
    =Thomas Mann=, Der kleine Herr Friedemann.              Geh. M. 2.--.

  anch die unerfüllten Wünsche, -- die _Sehnsucht_. Er liebte sie um ihrer
  auch die unerfüllten Wünsche, -- die _Sehnsucht_. Er liebte sie um ihrer

  »Der kleine Herr Friedemann antwortete nicht, sondern blickte vor sich
  Der kleine Herr Friedemann antwortete nicht, sondern blickte vor sich

  exaltierten Zustand befangen, bis er draussen in der Kastanienalle vor
  exaltierten Zustand befangen, bis er draussen in der Kastanienallee vor

  und rauchte langsam eine Cigarrette, wobei sie den Rauch durch die Nase
  und rauchte langsam eine Cigarette, wobei sie den Rauch durch die Nase

  »Als sie von mir kamen?« fragte sie.
  »Als Sie von mir kamen?« fragte sie.

  Alltäglichkeit und Langeweile an meine letzten Tage rühre. Ich ängstige
  Alltäglichkeit und Langeweile an meine letzten Tage rühren. Ich ängstige

  »Sie reichte auch mir die Hand, eine weiche, scheinbar knochenlose Hand
  Sie reichte auch mir die Hand, eine weiche, scheinbar knochenlose Hand

  Donnerstag sei, er möge ihren Fife o'clock tea nicht vergessen. Sie bat
  Donnerstag sei, er möge ihren Five o'clock tea nicht vergessen. Sie bat

  »In der Stadt noch nicht lange; ich war ein paar Monate auf dem Lande.
  »In der Stadt noch nicht lange; ich war ein paar Monate auf dem Lande.«

  »Und Du!«
  »Und Du?«

  Apathie, mit der er sich an mich wandte:
  Apathie, mit dem er sich an mich wandte:

  ich heute zu Ihnen: als Freund und als auch heute zu Ihnen: als Freund
  ich auch heute zu Ihnen: als Freund

  »Weisst Du eigentlich.« fragte ich, »was für eine Bewandtnis es mit dem
  »Weisst Du eigentlich,« fragte ich, »was für eine Bewandtnis es mit dem

  Nach allem zum Schluss und als würdiger Ausgang, iu der That, alles
  Nach allem zum Schluss und als würdiger Ausgang, in der That, alles

  merkwürdigsten Musikdramen darauf zur zur Aufführung zu bringen. Mein
  merkwürdigsten Musikdramen darauf zur Aufführung zu bringen. Mein

  von tragischem Minenspiel, deklamierendem Gesang und rollenden
  von tragischem Mienenspiel, deklamierendem Gesang und rollenden

  mich nach einem ruhigen, geregelten und und ansässigen Leben zu sehnen,
  mich nach einem ruhigen, geregelten und ansässigen Leben zu sehnen,

  andererseits und einem Strassenleben, dass weder der Lebhaftigkeit noch
  andererseits und einem Strassenleben, das weder der Lebhaftigkeit noch

  Lichtmenschen, die mit dem Wiederspiel und Abglanz der Sonne in ihren
  Lichtmenschen, die mit dem Widerspiel und Abglanz der Sonne in ihren

  In ihrem ovalen und feingeformten Gesicht, dessen zartbrünetter Teit
  In ihrem ovalen und feingeformten Gesicht, dessen zartbrünetter Teint

  Im Ernste gesprochen, ich weiss dergleichen zu schätzen. Keine seiner
  Im Ernste gesprochen, ich weiss dergleichen zu schätzen. Keiner seiner

  ruhigen und prüfenden Blick über mich hingleiten -- über meinen Anzng
  ruhigen und prüfenden Blick über mich hingleiten -- über meinen Anzug

  nur einmal, wie? Was geht einem im Grunde das übrige an? Du bist der
  nur einmal, wie? Was geht einen im Grunde das übrige an? Du bist der

  Was für eine Bewandnis hat es mit diesem Manne, der stets allein ist
  Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem Manne, der stets allein ist

  und genass, ward das Benehmen des Tobias unruhiger und unzufriedener. Er
  und genas, ward das Benehmen des Tobias unruhiger und unzufriedener. Er

  Herm. Bahr, Caph. Novellen                                Geh. M. 2.--.
  Herm. Bahr, Caph. Novellen.                                Geh. M. 2.--.

  Gerhart Hauptmann. Der Apostel. Novellistische Studien.
  Gerhart Hauptmann, Der Apostel. Novellistische Studien.

    3.-4. Auflage.                             Geh. M. 1.50, geb. M. 2 50.
    3.-4. Auflage.                             Geh. M. 1.50, geb. M. 2.50.

  Felix Hollaender, Sturmwind im Westen.                     Geh M. 4.--.
  Felix Hollaender, Sturmwind im Westen.                     Geh. M. 4.--.

  Hans Land, Mutterrecht. Eine Novelle.                      Geh. M. 1 --.
  Hans Land, Mutterrecht. Eine Novelle.                      Geh. M. 1.--.

  Gabriele Renter, Aus guter Familie. Leidensgeschichte
  Gabriele Reuter, Aus guter Familie. Leidensgeschichte

  Gabriele Reuter, Der Lebenskünstler. Novelle.              Geh. M 3.--.
  Gabriele Reuter, Der Lebenskünstler. Novelle.              Geh. M. 3.--.

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