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Title: Die Schaffnerin, Die Mächtigen - Novellen
Author: Wassermann, Jakob, 1873-1934
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Schaffnerin, Die Mächtigen - Novellen" ***


                    Kleine Bibliothek Langen Bd. X


                           Jakob Wassermann


                            Die Schaffnerin
                             Die Mächtigen

                               Novellen


                    [Illustration: Verlagslogo AL]


                        Paris, Leipzig, München
                       Verlag von Albert Langen
                                 1898



Inhalt.


                       Seite

Die Schaffnerin            9

Die Mächtigen            103



Die Schaffnerin

[Illustration]

I.


In der Nähe einer unterfränkischen Stadt lag ein hübsches Gut, das dem
Generalleutnant von Bruneck gehörte. Der Besitzer selbst wohnte niemals
dort, kam höchstens zwei- oder dreimal jährlich zur Inspektion, wobei
die Zeit seines Aufenthaltes so kurz war, daß der Bursche, der sein
Pferd hielt, während dieses Wartens durchaus nicht ermüdete. Es ging die
Rede, daß traurige Familien-Erinnerungen den Herrn von Bruneck an einen
längeren Aufenthalt auf seinem Gut nicht denken ließen.

Seit zwei Jahren verwaltete das Besitztum der »Amtmann« Bödensaß, ein
phlegmatischer alter Herr, der alle Geschäfte, Schreibereien,
Abmachungen und Verkäufe dem Belieben seines Untergebenen, des
Wirtschaftsschreibers Tarnow überließ. Tarnow war ein schweigsamer,
gutmütiger und mitleidiger Mensch. Er konnte Niemanden beleidigen oder
kränken, er konnte keinem Menschen ein böses Wort sagen. Ungefähr einen
Monat, nachdem er seine Stellung angetreten, ereignete sich folgender
Vorfall. Der Fuhrknecht Stauff hatte zu schwer aufgeladen. Das einzige
Pferd zog an dem übervollen Wagen, als ob ihm die Rippen springen
wollten; es war zum Erbarmen. Das schlecht genährte Tier, das längst
sein Gnadenbrot oder den Todesstreich verdient hatte, brachte den Wagen
kaum bis zum Hof, der etwas bergig anstieg, wie denn überhaupt das ganze
Gut auf einem Hügel lag, der die Form eines Katzenbuckels hatte. Die
Schindmähre bemühte sich umsonst, das ächzende und knarrende Fuhrwerk in
die Höhe zu ziehen; sie verdrehte die Augen, hing den Kopf tief und
angespannt nach vorn, tappte mit den Hufen verzweifelt und in schnellen
Schlägen herum, zerrte und zerrte, aber der Wagen, der mit Ziegeln für
den Bau einer Art Waschküche beladen war, rührte sich nicht von der
Stelle. Der Knecht aber bildete sich ein, die Mähre sei nichts weiter
als starrköpfig; er schimpfte und wetterte deshalb und hieb sinnlos auf
den schweißtriefenden Gaul ein, wobei er selbst mehr und mehr in Hitze
geriet. Da sprang Tarnow aus dem Thor des Hauptgebäudes (er hatte den
Vorgang von den Fenstern des Bureaus aus verfolgt) und sagte zu dem
Knecht mit einer Stimme, deren Schüchternheit und Weichheit in seltsamem
Gegensatz zu seinen erregten Bewegungen stand: »Stauff, das taugt nicht!
Hören Sie auf, das arme Tier zu quälen. Hören Sie, Stauff? Sie sollen
aufhören.« Er war bleich geworden. Aber der Knecht beachtete ihn nicht
und holte nur noch grimmiger mit der Peitsche aus. Da trat Tarnow näher
und fing den Arm des Knechtes auf, der darüber völlig außer Fassung
geriet, einige Schritte zurücktrat und mit der Peitsche dem
Amtsschreiber ins Gesicht schlug.

Tarnow sagte nichts, sondern blieb ruhig stehen. Weil ihn die Haut
schmerzte, blinzelte er ein wenig mit den Augen. Der Knecht machte ein
finsteres Gesicht und schien Furcht zu haben. Er murmelte vor sich hin,
gab dem Gaul noch ein paar Stöße mit der Faust, spannte ihn aber dann
aus.

Es wäre Tarnow leicht gewesen, den rohen Knecht vom Gut zu entfernen. Er
that es nicht, sondern schwieg den Zwischenfall tot. Es widerstrebte
ihm, beim Amtmann den Ankläger zu machen; er fühlte sich förmlich zu
schwach dazu. Wenn er nicht gleich vergessen hatte, so hatte er doch
gleich vergeben, und wenn auch die Magd Libuhn vom Küchenfenster aus
Zeugin von all dem gewesen war, fühlte er sich doch nicht in seinem
Stolz beleidigt, sondern ging ruhig wieder in seine Arbeitsstube, wo der
Amtmann in einem überaus breiten Lehnstuhl behaglich schnarchte.

Im ganzen war es ein ruhiges, ein friedliches Leben auf dem Gut. Selbst
zur Erntezeit war nirgends eine übermäßige Hast zu bemerken. Jeder
wußte, was er zu thun hatte und jeder that, was er wußte. Der
Hühnerstall war von prächtigen Exemplaren bevölkert, und ein Hahn von
wahrhaft patriarchalischem Ansehen übte eine liebenswürdige Autorität
aus. Enten und Gänse lebten einträchtig zusammen, die Schweine grunzten
glücklich hinter ihren Verschlägen, Kühe, deren Euter von Milch
strotzte, verlebten in schwerer philosophischer Ruhe ihr Leben, die
Singvögel jubelten tagaus, tagein auf den Bäumen und schwiegen erst
still, wenn der Knecht Stauff des abends zur Milchmagd schlich, um sie
zu küssen. Das Land umher bestätigte und weihte diese Hülle von Frieden
und Eintracht. Sanfte Hügelketten, lagen die Weinberge ringsumher, in
der Ferne abgelöst durch dunkle Wälder. Deutlich sichtbar lag die Stadt
mit vielen Türmen im Osten und mitten in der Ebene dazwischen erhob sich
der Riesenbacksteinbau der Infanterie-Kaserne. Nur wenige hundert Meter
weit wälzte der breite, majestätische Main seine Wogen dahin: gleichsam
das Symbol all der Fruchtbarkeit, die sich hier so mühelos entfaltete.

Tarnow liebte dieses Land. Wenn er sein Tagewerk beendet hatte, nahm er
Hut und Stock und verließ das Gut, um durch die Wiesen den Strom entlang
zu wandern. Zum Erstaunen aller sonstigen Fußgänger begleitete ihn dabei
ein Kater, den er Hofmann genannt hatte und den er sehr liebte. Dieser
Kater folgte ihm überall hin; nichts was sonst die Seele einer Katze
verlockt, konnte ihn abziehen; folgsam, mit gesenktem, anmutig
geründetem Schweif schritt das wunderliche Tier hinter seinem Herrn
einher.

So überaus zufriedenstellend lagen die Dinge auf Gut Bruneck, als mit
einem Male eine schroffe und folgenschwere Wandlung eintrat.



II.


In der dritten Woche des Mai wurde der Amtmann Bödensaß plötzlich sehr
krank. Er konnte weder stehen noch gehen, und auch im Liegen ächzte er.
Man holte den Arzt, der den Kopf schüttelte und heiße Wicklungen
verordnete. Aber an demselben Abend noch bemerkten alle vom Gut, daß es
unaufhaltsam zu Ende gehe mit dem Alten. Am anderen Morgen um ein halb
fünf Uhr verschied er. Die Trauer um ihn war herzlich und aufrichtig,
denn er war ein seelenguter Mann gewesen. Zorn und Härte waren ihm
ebenso fremd gewesen, wie Enthaltsamkeit und übermäßige Anstrengung. Nur
die Stadt war ihm verhaßt gewesen, und ein Städter war in seinen Augen
ein untauglicher Mensch.

Dem Begräbnis wohnte der Generalleutnant selbst bei. Er hielt eine
kurze Ansprache in strengen militärischen Worten, die wie mit dem Messer
geschnitten von seinem lippenlosen Mund fielen und legte einen Kranz auf
den Sarg. Da der Amtmann keinerlei Anverwandte in der Welt hatte,
verlief die Feierlichkeit im ganzen ziemlich kühl. Auf dem Gut wurde
nachmittags ein Gelage abgehalten, bei dem von Trauer nicht mehr viel zu
spüren war. Tarnow hielt sich jedoch fern. Er war der Abrechnungen
halber mit den Büchern zum Generalleutnant gegangen. Die Knechte
spöttelten darüber; ob er wohl glaube, daß er den ledigen Posten jetzt
für sich bekomme? Da hätte es aber gute Wege. Stauff saß mit der Libuhn
Arm in Arm, und beide lachten über den ehrgeizigen Schreiber.

Möglich, daß Tarnow gehofft hatte, Amtmann zu werden. Redlich und
geduldig genug hatte er gedient. Auf jeden Fall schlug sein Herz
gewaltig, als am Sonntag in der Früh der Überlandbote einen an den
Wirtschaftsschreiber gerichteten Brief brachte, dessen Adresse von der
Hand des Generalleutnants stammte. Mit zitternden Fingern riß Tarnow den
Umschlag entzwei; die Augen gingen ihm fast über, und er bat den Jäger
Klein, der heute vom Forst gekommen war, um einen Stuhl. Aber der
Generalleutnant schrieb in seiner kurzen, gemessenen Weise nichts als
das, daß der neue Amtmann am 1. Juni auf Bruneck eintreffen werde und
befahl, die nötigen Vorkehrungen unverzüglich zu treffen.

Tarnow saß noch lange mit dem Papier in der Hand und starrte auf die
Wiesen hinaus. Dann aber streichelte er seinem Kater das pechschwarze,
glänzende Fell und lächelte in seiner geduldigen Weise.

Einige Tage später traf der neue Amtmann ein. Er hieß Truchs. Er war
weit über Mittelmaß gewachsen. Dabei war er ziemlich dick, so daß seine
Schultern etwas nach rückwärts gebeugt waren. Er hatte einen hellbraunen
Bart, der an manchen Stellen schon ins Graue spielte, eine Adlernase
und eine vollkommene Glatze. Seine Augen hatten etwas Unruhiges,
Spähendes, fast Irres. Sie waren stets wie in weite Ferne gerichtet,
schienen durch die Gegenstände hindurchzublicken und nahmen oft einen
kalten, tückischen Ausdruck an.

Gegen Mittag war er in einer etwas altmodischen Kalesche vorgefahren, in
Begleitung eines jungen Weibes, die er dem Tarnow gegenüber als seine
Wirtschafterin bezeichnete. Er besah das Herrenhaus vom Giebel bis zum
Keller, ließ sich die Ställe zeigen, ging in den Garten, auf die Äcker
und in die Vorwerke, wobei ihn der Knecht Stauff begleitete. Als er
zurückkam, suchte er das für ihn hergerichtete Wohnzimmer auf und ließ
den Kaffee bringen, den Frau Leuthold, seine Wirtschafterin, inzwischen
bereitet hatte. Während er aß, gab er seine Zufriedenheit zu erkennen.
»Fanny,« sagte er unter behaglichem Schmatzen, »man wird sich hier gut
einnisten. Hier ist gut sein.« Lachend tätschelte er ihre Hand.

Fanny Leuthold nickte nachdenklich.

Als er fertig war, rief der Amtmann nach Tarnow. Tarnow kam. Sein
Gesicht war etwas blasser als sonst, seine Haltung etwas gebückter. Mit
Augen, die fast den fragenden Augen eines Kindes glichen, sah er den
Amtmann an. Truchs warf sich mit übertriebenem Behäbigthun auf seines
Vorgängers alten Lehnstuhl, den man hierherein geschafft hatte, und
fragte spöttisch: »Na, was machen _Sie_ denn für ein Gesicht?«

Tarnow senkte den Kopf und lächelte schüchtern.

»Mir scheint, das Gut wurde bisher ziemlich schlecht verwaltet, wa?«
sagte Truchs plötzlich mit gleichsam drohendem Ernst und auf seine Stirn
legte sich eine lange, tiefe Falte wie ein Reifen.

»Wir haben nach besten Kräften gearbeitet,« erwiderte Tarnow langsam und
unbefangen.

Der Amtmann brach in ein wieherndes Gelächter aus und patschte sich auf
die Schenkel. »Vorzüglich, hähä! Haben Sie gehört, Fanny, – hähä –?
Nach besten Kräften ist doch vor – züglich, hähähä! wa? Der Mann hat
Talent. Wo haben _Sie_ denn die Schule besucht, Tarnow?«

»In Arnstein,« sagte Tarnow mit völliger Ruhe.

Der Amtmann schien dem Ersticken nahe; sein Gewieher wurde immer
dumpfer. »Vor–züglich!« ächzte er, »giebt’s da mehr von der Sorte, in
Arnstein? Vor–züglich! Nach besten Kräften ist unbezahlbar!« Er klopfte
sich noch ein paarmal wie beschwichtigend auf seine fleischigen Schenkel
und verschnaufte dann. Plötzlich stand er auf, und sein Gesicht zeigte
nun unvermittelt eine bösartige Ruhe. »Von heute ab wird das anders,«
sagte er rauh. »Oder sagen wir lieber von morgen früh ab, ich will nicht
tyrannisch sein. Also von morgen früh ab wird hier ein anderes Regiment
sein. Jetzt können Sie sich trollen, mein lieber Tarnow aus Arnstein.«

Tarnow verließ die Stube und wie er in den langen, schmalen Flur trat,
glaubte er, die getünchten Mauern hätten auf einmal eine andere Farbe
erhalten. Vor dem Thor mußte er die flache Hand vor die Augen halten;
denn die untergehende Sonne blendete ihn. Die Berge und der Strom waren
verschwenderisch übergossen mit gelber Glut, die von Sekunde zu Sekunde
tieffarbiger wurde, bis die ersten scharlachroten Streifen über einer
zerfließenden Wolke im Westen hervorquollen. Alles zitterte und bebte
auf den Feldern und Wiesen: die Halme der Gräser und des Getreides, das
Insektengetier in den Lüften, die Dächer ferner Hütten und die
Eisenschienen der Bahn glitzerten an den Kurven so sehr, als seien sie
nahe daran, Feuer zu fangen. Tarnow erschrak fast vor all dem Leben in
Flammen. Er dachte: nun, heuer wird man guten Wein haben.

Er sah von der Richtung der Kaserne her ein Mädchen kommen. Zuerst war
er ungewiß, wer es sei, denn die Gestalt schien völlig zu verfließen im
Sonnenglast. Dann aber nickte er beifällig vor sich hin; er wußte schon,
es war Galeners Anna, eine Base der Libuhn, ein junges Ding von vierzehn
Jahren. Sie kam jeden Samstag auf das Gut heraus und schleppte einen
Korb mit sich, in welchem sich Fettnudeln befanden. Für geringes Geld
verkaufte sie die an die Knechte und Mägde, und auch Tarnow nahm
bisweilen ein Stück, nicht, weil ihm die Mehlspeise besonders
wohlschmeckte, sondern aus Gutmütigkeit und weil er damit dem Mädchen
eine Freude zu machen glaubte. Nun kam sie wieder und lachte schon aus
aller Ferne dem Wirtschaftsschreiber zu. Auch der Knecht Stauff sah es
und kam und die Miresin, eine Magd, die schon mehr als zwanzig Jahre auf
Bruneck war, »dazumal, als die Herrschaft noch da war.«

Tarnow stand schon bei ihr, öffnete mit der einen Hand den Korb und
strich mit der andern sanft über die erhitzten Wangen des Mädchens. Auch
die andern schauten neugierig, halb verschmitzt, halb begehrlich
lächelnd in den Korb, aus dem ein fettig-süßer Geruch stieg. Auf einmal
machte sie eine harte, zornige Stimme auseinander fahren. Bestürzt sahen
sie sich um: es war der Amtmann. »In des Teufels Namen, was ist hier
los!« Er schrie so, daß der Hofhund mit eingekniffenem Schwanz in seine
Hütte kroch. Der Kopf des Amtmanns war blutrot vor Wut, er fletschte die
Zähne und seine Augen quollen vor. »Herr, haben Sie nichts Besseres zu
thun, als hier zu stehen?« schrie er Tarnow ins Ohr, der mit gesenktem
Kopf schweigend zurücktrat. »Haben Sie keine Bücher, haben Sie keine
Abrechnungen?«

Dann ging Truchs auf das Mädchen zu, das vor Schrecken zu zittern
begann. »Nun Fräulein Balg«, schrie er sie an, »wollen Sie sich wohl
vom Hof scheren!« Und er packte das Kind wie ein Kleidungsstück, schlug
es ins Gesicht und gab ihm Stöße in die Brust, dann warf er es wie ein
Scheit Holz mitten auf die Straße hinaus, wo es liegen blieb und leise
zu weinen begann. Selbst der Knecht Stauff schien entsetzt. Er ging hin,
sammelte die zur Erde gefallenen Fettnudeln wieder in den Korb, trug ihn
zu dem Mädchen hinaus, richtete es auf und staubte, mehr aus
Verlegenheit als weil es nötig war, mit der flachen Hand das Röckchen
ab.

Tarnow strich sich mit der Hand über die Augen. Ruhig und bescheiden
antwortete er auf Truchs Frage, wieviel Uhr es sei: »Einviertel vor
acht.« Der Amtmann kniff das eine Auge zu, zerrte an der
Schnurrbartspitze und sah aus, als ob er sich nur mit Mühe das Lachen
verbeißen könne. »Weiches Herz, was?« kicherte er und schlug Tarnow
leutselig auf die Schulter. Tarnow versuchte zu lächeln.

Dann wandte sich der Amtmann zu Fanny Leuthold, die unterdes auf die
Schwelle getreten war. Er rieb sich die Hände, schnalzte mit der Zunge
und sagte: »Was, liebe Leutholdin, das haben wir doch wieder mal fein
gemacht? Wie das Mädel flog! Ein Hui und weg war se.« Er lachte und
schien über alle Maßen vergnügt.

Fanny Leuthold sah ihn an, und es war ein seltsam sirenenhafter Blick,
den Tarnow auffing. Er dachte bei sich: lieber Gott, sie ist ein schönes
Weib.

Als er zu abend gegessen hatte, trat er wieder auf den Hof, um sich am
Brunnen die Hände zu waschen. Da trat die »Schaffnerin,« wie man Frau
Leuthold auf dem Gut schon nannte, zu ihm heran und fragte: »Sind Sie
denn traurig, Herr Tarnow?«

Ihre Stimme, so nah, machte ihn aufmerksam, doch in einer ungewohnten
Weise, als lauschte er dem, was hinter der Stimme sei. Er errötete und
vermochte nicht zu antworten, sie tippte mit einem Zweig, den sie in
der Hand hielt an seine Ohren und flüsterte schelmisch: »Na, bin ich
denn so schrecklich, daß man mir gar nicht antwortet?«

Tarnow hatte seine Fassung wieder gewonnen und entgegnete in der
bescheidenen Art, die ihm stets eigen war: »O nein, ich finde Sie nicht
schrecklich. Ich bin immer Ihr ergebener Diener.« Wieder begegnete er
jenem sirenenhaften Blick, der diesmal ihm selbst galt und vor dem er
die Augen niederschlug wie ein Knabe.

Als sie ihn verlassen hatte, schritt er gegen die Scheune und ließ einen
leisen Pfiff ertönen. Darauf sprang der Kater vom Boden der Scheune,
ging zu seinem Herrn und rieb sich schnurrend an den langen
Stiefelschäften. Dann trabte er wohlgemut in gewohnter Weise hinter
Tarnow her, der in tiefen Gedanken hinauswandelte in die dunkelnden
Felder.



III.


Die Schaffnerin saß, mit einer Näharbeit beschäftigt, in dem großen
Wohnzimmer. Es war am Nachmittag und schwer lag die Luft über dem Thal.
Von den Exerzierstätten klang der dumpfe Trommelwirbel übender Tamboure
herüber, und von den tiefliegenden Stromufern hörte sie das Knattern der
Platzpatronen. Bisweilen hielt sie ein in ihrer Arbeit und blickte wie
erwartend nach der Thüre. Wenn sie allein war, so war der Ausdruck ihres
Gesichts ganz stumpf, die Augen, unleuchtend und ohne Bewegung, blickten
müde und erinnerten an die eines Haustiers: und obwohl ihr Gesicht etwas
Liebliches hatte und ihr Teint sehr zart war, wurde dies unwirksam durch
die sonderbare Stirn, die eine Lügnerstirn war.

Als sie geraume Zeit, bald arbeitend, bald sinnend, gesessen war, wurde
die Thüre aufgerissen und der Amtmann kam herein. Er setzte sich in
einen Winkel, der Schaffnerin gegenüber und versuchte den Rhythmus der
fernen Trommeln nachzupfeifen.

»Was giebt’s?« fragte die junge Frau, indem sie einen prüfenden Blick in
sein Gesicht warf.

Er lachte leise und zischend. »Jetzt willst du wohl, daß ich dich
heirate, Fannychen?« sagte er plötzlich und legte sein Gesicht in
kindische Falten.

»Ich? Nein, Truchs. Ich nicht. Das weißt du gut genug.«

»Also suchst dir wohl einen andern zum Heiraten?«

»Warum, Truchs? es muß ja nicht geheiratet sein.«

»Es muß nicht. Sehr richtig. Das war einmal vernünftig, sehr vernünftig.
Ein Feldwebel findet sich ja auch nicht alle Tage und noch weniger ein
Gutsverwalter, häh.«

»Wieso ein Feldwebel?«

»Na, dein erster war doch Feldwebel oder sowas. Was Leutholdin?«

»Du führst so bittere Reden, Truchs. Wo willst du hinaus? Was willst
von mir? Heiraten willst mich nicht. Loslassen willst mich auch nicht,
also was willst du, Truchs? Sag’s doch lieber gleich, daß ich mich
darnach richten kann. Ich fürcht mich manchmal vor dir.«

»Das ist gut, Leutholdin. Das ist gut, wenn einen die Weiber fürchten.
Aber heiraten will ich dich nicht, das schwör ich dir zu. Ich will eine
Reiche heiraten, jetzt, wo ich säßig geworden bin, eine aus der Gegend
da. Und offen gestanden Fanny« – der Amtmann stand auf und trat ganz
nahe zur Schaffnerin – »offen gestanden, ich hab dich zu gern, als daß
ich dich heiraten möchte. Wenn ich dir das aus freiem Willen sag, kannst
du’s glauben. Sakerment, wenn ich dich heirat, verlierst deine runden
Backen, Fanny. Aber such dir doch einen. Wenn er gut und dumm und blind
ist, kannst ihn heiraten. Ich hab nichts dagegen.«

»Das sagst du jetzt, Truchs. Aber ich will’s auch. Das Leben vor den
Leuten taugt mir nicht. Schließlich merken sie’s ja doch. Und die
sechzig Mark, die mir der Generalleutnant giebt, reichen kaum für die
Kleider. Geh jetzt weg von mir, Truchs, die Leut’ sehn uns ja vom Hof
aus.«

Das Gesicht des Amtmanns wurde finster und verzerrt. »Die Leut,« preßte
er mit vorgebeugtem Kopf zwischen den Zähnen hervor, »die Leut scheren
mich einen Pfifferling. Hier hat jeder zu thun, was ich will! Hier bin
ich Herr. Verstehst du? Steh auf und küss’ mich!«

Die Schaffnerin, die voll Furcht, mit weitgeöffneten Augen, den Amtmann
angestarrt hatte, erhob sich fast mechanisch und drückte einen
hauchenden Kuß auf Truchs Kinn.

»Fester!« gebot der Amtmann.

Sie gehorchte.

Es klopfte an der Thür und auf den Ruf des Amtmanns trat Tarnow ein.

»Ah, guten Tag, lieber Tarnow,« sagte Truchs freundlich; er hatte den
Wirtschaftsschreiber erst vor wenigen Minuten im Bureau verlassen.

»Die Libuhn geht nach der Stadt, Herr Amtmann, und fragt, ob sie von
Ihnen aus etwas besorgen soll.«

»Für mich, Herr Tarnow!« rief die Schaffnerin mit auffallendem Eifer.
»Ich brauche Nähgarn und Stopfwolle.«

»Nähgarn und Stopfwolle,« murmelte Tarnow, indem er aus seinem Notizbuch
ein Blatt riß. »Sonst etwas?« Tarnow öffnete die Thür, der Amtmann
drehte sich um und sagte, er solle nachher wieder herein kommen und mit
Kaffee trinken.

Fanny deckte den Tisch und holte die Tassen. Der Amtmann stand am
Fenster und trommelte den Wirbel der Tamboure an die Scheiben. Er wandte
den Kopf, um etwas zu sagen, sah aber niemand im Zimmer. Er durchschritt
den Raum, um in die Küche zu gehen. Man mußte da durch den ganzen
steingepflasterten Flur, bis dahin, wo er sich gegen den Hof zu
erweiterte. Dort war die Küche, die sehr groß war und, weil sie eine
weite Esse hatte, einer Schmiede glich. Der Amtmann blieb am Ende des
schmalen Ganges stehn. Er konnte von hier aus ein kleines Stück der
Küche überblicken. Die Schaffnerin saß auf dem zugedeckten Backtrog und
blickte beharrlich auf ihre Schürze. Vor ihr stand Tarnow, hielt den
Kopf tief gesenkt und seine Hände lagen auf dem Rücken. Der Amtmann
strich mit festaneinandergedrückten Fingern ein paarmal über die
Schläfenhaare und kehrte wieder um. Als ihm die Libuhn, fein
herausgeputzt, begegnete, trat er zur Seite, verbeugte sich ein paarmal
und näselte affektiert: »Ah, mein Fräulein, in die Stadt, wa?
Verabredung mit dem Schatz, wa? Messe besuchen, hä? Haben Fräulein denn
die Erlaubnis dazu?«

Das Mädchen heftete den Blick erschrocken auf Truchs. »Der Herr
Tarnow –« stammelte sie scheu.

»Bataillon kehrt marsch!« fuhr der Amtmann auf. »Dageblieben! Den
Schlendrian hab ich satt.« Er lachte bitter und ließ die heulende Magd
stehen. Sie dachte an Stauff, der sie nun umsonst vor dem Cirkus
erwartete. Und draußen flutete der glänzende Sonnenschein! Am Meß-Montag
ist sonst immer Feiertag gewesen, dachte sie bekümmert, als sie sich in
eine dunkle Ecke der Scheune verkrochen hatte, um dort nach Herzenslust
weiter zu schluchzen.

Die drei im Wohnzimmer nahmen am Kaffeetisch Platz. Nach einem langen
und seltsamen Schweigen, das nur durch Tassengeklapper unterbrochen
wurde, wandte sich der Amtmann an Tarnow. »Nun sagen Sie mal, mein
lieber Tarnow,« begann er mit freundlichem Augenzwinkern und richtete
den Zeigefinger wie einen Pfeil gegen seine Nasenspitze, »Sie sind doch
so ein hübscher Mensch und jung sind Sie auch, kaum dreißig, und ein
angenehmes, sanftes Wesen haben Sie, – gewiß, gewiß –! nun sagen Sie,
waren Sie denn noch nicht verliebt?«

Tarnow errötete und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, sagt er! Haben Sie’s gehört, Fanny? Nein, sagt er!« rief der
Amtmann, ganz außer Rand und Band vor Freude und stieß die Schaffnerin
in die Seite. »Er lügt, er muß lügen,« fuhr er heftig gestikulierend
fort. »Er ist ein Heuchler, ein Windhund. Ein Schuft ist er, weil er
lügt.«

Tarnow sah den Amtmann fest und erwartungsvoll an. Er hatte ein Gefühl
wie vor einer ungreifbaren Gestalt, die sich windet wie ein Rauch und in
Nichts verfließt, wenn man die Arme nach ihr streckt.

»Wollen Sie nicht noch eine Semmelschnitte, Herr Tarnow?« fragte Truchs
zuvorkommend. »Oder mit ein wenig Mus darauf? Nicht? Zum Teufel, Herr,
fressen Sie! Glauben Sie, wenn Sie jeden Tag dürrer werden, nützt mir
Ihre Arbeit was?«

»Ich habe keinen Hunger mehr, Herr Amtmann,« entgegnete Tarnow mit
vollkommener Ruhe.

»Hunger mehr, was heißt das? Wenn ich sage, fressen Sie, dann fressen
Sie! Verstanden? Stehen Sie auf, wenn ich mit Ihnen rede.«

Tarnow stand auf.

»Schließen Sie das Fenster,« befahl Truchs.

Tarnow schloß das Fenster.

»Öffnen Sie es wieder!« befahl er und stieß die Schaffnerin von neuem in
die Seite.

Tarnow öffnete es wieder. Er that es still und wie selbstverständlich.
Nichts von Erbitterung war auf seinen Mienen zu lesen, nichts von
zurückgehaltenem Zorn. Geduldig wartete er, was der Amtmann noch mit ihm
beginnen würde.

»Jetzt können Sie gehen,« sagte Truchs und stützte den Kopf in die Hand,
während Tarnow mit einer linkischen Verbeugung, die der Schaffnerin
galt, hinaus ging. Er nahm seinen Hut und verließ alsbald den Hof, um
die Richtung nach der Stadt einzuschlagen. Soldaten mit
frischgewaschenen Drillichröcken blickten von den Stockwerken der
Kaserne auf ihn herab, und als er die Fahrstraße erreicht hatte, geriet
er in ein Gewimmel von Menschen, das immer größer wurde, je mehr er sich
der inneren Stadt näherte. Den Main hinab fuhren Boote, beglänzt von der
sich rötenden Sonnenscheibe; die vergoldete Domuhr brannte förmlich im
Feuer. Flatternde Fahnen über den Wirtschaftsgärten, quietschende
Tanzmusik aus winkeligen Gassen, und dann das sinnlose Gedränge auf den
Budenstätten! Tarnow vermied die dichtesten Massen und besah nur, was er
eben besehen konnte, ohne viel Neugierde zu zeigen, aber auch ohne
Gleichgültigkeit, alles mit dem inneren Frieden und der merkwürdigen
Sanftheit, die ihm eigen waren. Vor dem Brettertisch des schreienden
Ausrufers, der seine Waren unter staunenswürdigen Witzen und Wortspielen
anpries, konnte er lachen wie das harmlose Kind neben ihm. Bei den
Mordthaten, die, serienweise abgebildet, am Quai aufgestellt waren und
mit Hilfe von sehr weinerlichen Reimen kommentiert wurden, blieb er
ebenso schaudernd stehen wie der simple Rekrut aus Unterdürrbach.
Besonders eines dieser Ungeheuer erregte sein Entsetzen. Auf der Tafel
seiner Schandthaten war zu lesen: Martin Jung, genannt Blutmartin. Ein
Teufel in Menschengestalt! Erschlug seine Opfer, siebzehn an der Zahl,
mit einer spitzen Hacke und hängte sie dann mit einem Strick auf.

Die Sonne war untergegangen. Allmählich hatte sich die Menge verlaufen.
Die Bretterhütten, alle Häuser und Gärten schwammen in einem warmen
Dämmerungsdunst, als Tarnow sich anschickte, den Heimweg anzutreten. Er
hatte nichts getrunken während der ganzen Zeit, weder Wein noch Bier,
denn er war ein sehr enthaltsamer Mensch. Als die Buden schon hinter ihm
lagen und er auf dem ansteigenden Weg zur neuen Mainbrücke war, sah er
aus einer seitlich gelegenen Gasse Fanny Leuthold kommen.

Sie ging ohne weiteres auf ihn zu. »Truchs ist im goldenen Hahn,« sagte
sie, »und ich wollte heim. Sie gehen doch mit, Tarnow?«

Als sie über die Wiesen gingen, auf denen weit und breit kein Mensch zu
sehen war, fing die Schaffnerin an, schwärmerische Reden über die
Schönheit der Natur zu führen. Sie sagte, sie liebe die Natur und die
Natur sei das »einzige«. Tarnow solle doch nur diese Wolken dort hinten
ansehen. Das sei so poetisch. »Finden Sie nicht auch, Tarnow?«

Tarnow bejahte etwas verständnislos.

Ob er sich das Wachsfigurenkabinett angesehen habe? Sie finde es so
interessant. Sie liebe überhaupt die grausigen Sachen; sie träume dann
immer davon. Oft müsse sie dann weinen, aber wenn sie dann erwache, das
sei wunderbar. Man recke dann die Glieder – so! – und das Deckbett sei
einem zu schwer, ja selbst das Hemd. Ob er das nicht auch habe?

»Nein,« erwiderte Tarnow leise, mit klopfendem Herzen.

Als sie auf dem Gutshof angelangt waren, ging die Schaffnerin ins Haus,
um den Hut abzulegen. Tarnow betrat den Garten, schlenderte träumerisch
zwischen den Beeten umher und setzte sich schließlich in die Laube. Es
war schon dunkel geworden. Der blühende Hollunder strömte seinen
schwülen Duft aus, und auf den Bäumen der Nähe pfiff ein verspäteter
Wasservogel. Sonst war es ruhig. Der Himmel war vollkommen wolkenlos.
Die traumhaft klare Helle des Westens machte deutliche Silhouetten aus
den Hügelreihen und kein Lüftchen bewegte die Gesträucher. Tarnow fühlte
sich ermüdet, aber darin war etwas Angenehmes. Er fühlte es auch
gleichsam wie eine freundliche Berührung, als der Mond heraufstieg, das
gutmütig grinsende Gesicht eines alten Schlaukopfs, und wie er höher
glitt, als würde er an einer Schnur gezogen, und wie er immer
leuchtender dastand, als würde er von einer unsichtbaren Hand
allmählich blank poliert.

Tarnow schreckte zusammen, als er Schritte im Garten vernahm. Es war die
Schaffnerin. Sie setzte sich ihm gegenüber und schwieg einige Zeit. Dann
seufzte sie schwer und sagte: »Ach, Tarnow!«

Tarnow antwortete nichts. Befangen hob er den Kopf, senkte ihn aber
gleich wieder. Da erhob sich die Schaffnerin mit einer leidenschaftlichen
Bewegung, die er im Dunkel nur undeutlich sah; sie umging den Tisch,
setzte sich an Tarnows Seite, ergriff mit beiden Händen seine Hand, und
es schien ihm, als ob sie damit kämpfe, ihr Schluchzen zu verbergen.
Fast unbewußt streichelte Tarnow ihre Hand.

»Ach, wenn Sie wüßten,« begann die Schaffnerin wieder. »Ich bin ja die
unglücklichste von allen. Er quält mich beständig, der Amtmann, jeden
Tag, jeden Tag! und wenn es so weitergeht, ich kann es nicht mehr
aushalten. Dann muß ich eine schlechte Person werden. Dann muß ich thun
was er verlangt von mir, nur damit ich eine Ruh hab’. Retten Sie mich,
Tarnow. Thun Sie wenigstens eins. Gehn Sie abends nach dem Essen nie aus
dem Zimmer, bevor ich nicht weggegangen bin. Damit er mir nur da meinen
Frieden läßt. Bleiben Sie immer, bis ich ins Bett bin. Wollen Sie’s
thun, Tarnow, von heut an?«

»Ich will es thun,« sagte Tarnow feierlich, und die Schaffnerin sah
seine Augen leuchten.

»Und denken Sie nie was Schlimmes, Tarnow, denken Sie nicht schlecht von
mir. Alles ist zum besten, was geschieht. Wollen Sie’s thun, Tarnow?«

»Ja, ich will,« wiederholte Tarnow fest und atmete tief auf.

»Und jetzt gehen wir hinein, sonst kommt er unversehens.«

Tarnow beugte sich rasch herab und küßte die Finger der jungen Frau.
Aber gleich darauf erschien ihm diese Kühnheit so unverzeihlich, daß er
angstvoll in das Gesicht der Schaffnerin starrte. Aber sie, die
inzwischen herausgetreten war in den überaus hellen Mondschein, lächelte
nur und brach eine Rosenknospe. Dann gingen sie ins Haus.

Nach einer halben Stunde kam der Amtmann. Er sagte, er hätte schon
gegessen. Er schien viel getrunken zu haben, denn er war in einer
gerührten Stimmung. »Alle Menschen sind Trottel,« sagte er mit einer
schwammigen Stimme. »Aber einige Menschen sind nette Trottel. Sie,
Tarnow, Sie sind ein netter Trottel.«

Die Schaffnerin lachte hellauf. Truchs kicherte förmlich atemlos in sich
hinein. Als es zehn Uhr schlug, sagte die Schaffnerin gute Nacht. Der
Amtmann rief ihr nach: »Schließen Sie fein Ihr Zimmer zu, Leutholdin!«
und lachte cynisch. Tarnow erhob sich wie gequält, trat ans Fenster,
verließ aber nach kurzer Zeit ebenfalls die Stube. Der Amtmann
schüttelte ihm die Hand mit einer Herzlichkeit, die beängstigend war
bei ihm.

Tarnow wandelte wieder in den Garten hinaus, – durch den Hof, wo eine
wahrhaft köstliche Ruhe ausgebreitet war. Er brach eine Rose von
demselben Strauch, von dem die Schaffnerin genommen. Es war _auch_ eine
Knospe, zart und duftig und Tarnow drückte sie voll Bedacht an seine
Lippen. Dann setzte er sich in die Laube; aber er hatte nicht Ruhe,
sondern ging bald wieder ins Haus zurück. Gerade wie er in den Flur
trat, sah er den Amtmann aus seinem Schlafzimmer kommen. Er hatte
Pantoffeln an den Füßen, die seinen Schritt unhörbar machten. Er
trällerte leise vor sich hin, und ohne Tarnow gewahrt zu haben, tappte
er den engen Flur entlang, bis er zu der Thüre kam, die in das Zimmer
der Schaffnerin führte. Ohne zu atmen, harrte Tarnow, was er nun
beginnen würde. Aber der Amtmann besann sich kaum, drückte auf die
Klinke und betrat das Zimmer. Totenbleich geworden, wartete Tarnow
immer noch. Er glaubte, Lärm hören zu müssen. Ja, er hoffte auf
Geschrei, auf erregten Wortwechsel, – aber alles blieb still wie
vorher.

Nachdem er lange genug gelauscht hatte, drehte sich Tarnow um und trat
unter die Hausthür. Sein Blick war wie verhängt. Mechanisch ging er
hinaus, um zu sehen, ob das Außenthor geschlossen sei. Von der Richtung
der Kaserne hallte ein langgezogener Ruf durch die Nacht. Es klang
ähnlich wie: Fedolar! Fedolar! Sonst war kein Laut zu hören.



IV.


Tarnow hatte dem Jäger Klein Auftrag wegen der Abholzung im Zeller
Revier gegeben und stand dann, wie unfähig, weiter zu gehen, am Brunnen,
lehnte sich an den Trog und starrte vor sich hin. Da trat die
Schaffnerin aus dem Hause und ging auf ihn zu. Sie tippte mit den
Fingern kokett auf seinen Arm und fragte: »So finster, Tarnow? Was haben
Sie? Was ist Ihnen?«

»Sie wissen es wohl, Schaffnerin,« entgegnete Tarnow traurig. »Was haben
Sie mir da alles erzählt!«

»Was? Was denn? Reden Sie doch!«

»Nun, gestern abend –«

»Was? Ja, was denn, gestern abend –?«

»Ich hab es ja gesehen, Schaffnerin. Der Amtmann –«

Die Schaffnerin wurde purpurrot. Ihre Nasenflügel zitterten. »Reden Sie
nicht weiter,« flüsterte sie erregt. Sie sah ihn starr an, mit einem
Blick, der ihm etwas Unerbittliches zu enthalten schien. »Sehen Sie,
Tarnow, wenn ich nicht so wäre, wie ich bin, wär ich längst über alle
Berge oder wär ich tot. Das müssen Sie mir glauben. Ich weiß, er war bei
mir gestern, Tarnow, aber Sie hätten mich sehen sollen, Tarnow. Wie ein
Kind hab ich geheult und hab ihm gesagt, was das ist für meine Ehre,
wenn er so kommt. Aber dann hat er gelacht und hat gesagt, er kann im
Haus herumgehen, wo er will. Sonst war nichts, bei meiner Ehr und
Seligkeit, hier haben Sie die Hand drauf.«

Tarnow, gänzlich erschüttert von ihrem Bekenntnis und ihrer bebenden Art
zu sprechen, legte unbedenklich seine Hand in die ihre. »Ich glaube
Ihnen, Schaffnerin,« sagte er einfach.

Indem sie so bei einander standen, hielt ein eleganter Kutschierwagen
vor dem Hofthor. Die am Bau der Waschküche beschäftigten Maurer hielten
in ihrer Arbeit inne und sahen neugierig hinüber. Der Adjutant des
Generalleutnants kam zur Besichtigung des kleinen Neubaus. Tarnow führte
ihn ehrerbietig herein und erstattete Bericht, bis der Amtmann selbst
kam. Als Truchs erschien, stand er mit der Schaffnerin in respektvoller
Entfernung, doch vernahm er deutlich, wie der Adjutant dem Amtmann
erzählte, die Verwalterstelle auf Gut Strelentin, das ebenfalls dem
Herrn von Bruneck gehörte, sei frei geworden. Ein Gedanke, dessen
Kühnheit ihn schwindeln machte, durchzuckte Tarnow. Aber es war, als ob
er seinen Bedenken und seiner Zaghaftigkeit diesmal die Zeit rauben
wollte; rasch trat er einige Schritte vor und sagte: »Verzeihung, Herr
Adjutant; ich möchte wohl gerne Administrator auf Strelentin werden. Ich
würde gewiß mich sehr befleißigen, Exzellenz zufrieden zu stellen. Ich
bitte den Herrn Adjutanten sehr, sich dafür zu verwenden.«

Der Adjutant runzelte die Brauen und musterte den Bittsteller vom Kopf
bis zu den Füßen. Der Amtmann verzog keine Miene. Tarnow verwunderte
sich im stillen, daß er die Worte so verständlich hatte fügen können,
und achtete dabei kaum auf die Antwort, an die er sich erst erinnerte,
als der Adjutant sich wieder zu seinem Wagen gewandt hatte. »Wir werden
ja sehen,« hatte er gesagt und hatte Truchs fragend angeblickt, der in
unbestimmter Weise die Achseln gezuckt hatte.

Der Amtmann, die Schaffnerin und Tarnow standen dann auf der Straße und
sahen dem zierlichen Gefährt nach. »Na, Tarnow,« wandte sich da die
Schaffnerin scherzend an ihn, »Sie wollen wohl heiraten, weil Sie so
große Pläne haben?«

»O, das kann wohl sein,« antwortete Tarnow ebenso scherzend.

»Und haben Sie denn schon eine Braut?« fragte die Schaffnerin lächelnd
weiter.

»_Sie_ sind ja noch zu haben, Schaffnerin,« erwiderte Tarnow lebhaft,
dem über dieser neuen Kühnheit das Herz stürmisch zu klopfen begann.

Bei alledem blieb der Amtmann still und teilnahmlos.

Zu seiner großen Verwunderung erhielt Tarnow eine Stunde später ein
Billet vom Amtmann. Er wußte noch nicht, daß es eine Liebhaberei von
Truchs war, solche kleine Nachrichten nicht mündlich abzumachen, sondern
zu schreiben. »Es ist nunmehr ausgemacht,« schrieb der Amtmann in einem
wohlgefällig verschnörkelten Stil, »daß Sie ein Liebesverständnis mit
der Leuthold haben. Daher verlange ich und habe das Recht zu verlangen
eine bestimmte Erklärung, ob Sie die Leuthold heiraten wollen oder
nicht. Im ersten Fall will ich, Truchs, mich für Sie und die Leuthold
bei der Exzellenz verwenden. Im entgegengesetzten Fall müssen Sie
entweder oder es muß die Schaffnerin das Gut verlassen. Truchs.«

Tarnow wußte nicht, wie ihm geschah. Er lachte kindisch, glaubte zu
träumen und besann sich, wo er sei. Endlich nahm er einen großen, weißen
Bogen Papier und schrieb darauf mit der schönsten Schrift, deren seine
Hand fähig war: »Geehrtester Herr Amtmann! Meine Gefühle zu der Leuthold
sollen dem Herrn Amtmann kein Geheimnis sein. Ich wünsche sehr, die
Schaffnerin zu heiraten und zwar noch in Bruneck. Und ist es mein
heißester Wunsch, mit ihr nach Strelentin zu kommen.«

Dieses Schriftstück legte er auf den Platz, wo der Amtmann seine
Arbeiten vorzunehmen pflegte, und wo er es sogleich sehen mußte, wenn er
kam. Und Truchs kam, las es, und obwohl er jetzt in demselben Raum mit
Tarnow war, schrieb er auf das Blatt Tarnows die Worte: »Gut, ich werde
dem Generalleutnant Anzeige machen und ihm alles von der besten Seite
vorstellen,« und reichte Tarnow stumm das Blatt zurück.

Darauf ging Tarnow hinaus, weil die Libuhn zum Mittagessen rief. Er fand
die Schaffnerin allein beim Tisch. Und jetzt, wie er sie sah in einer
blendend weißen Schürze, dem schöngeformten Hals, dem etwas geöffneten
und feuchten Mund, jetzt glaubte er, sein unverdientes Glück fürchten zu
müssen. Trotzdem ging er hin und ergriff Fanny Leutholds Hand.
»Schaffnerin,« sagte er bewegt und seine treuen Augen glänzten trunken,
»ich habe beim Amtmann um Ihre Hand angehalten.«

»Nun, und?« erwiderte sie, ohne überrascht zu sein.

»Er ist doch ein generöser Mann. Er will sich für uns beide verwenden,
daß wir Strelentin bekommen.«

»So?« machte die Schaffnerin.

Jetzt erst bemerkte Tarnow, daß sie ungewöhnlich bleich war, und er
fragte, was ihr fehle.

»Nennen Sie mich nicht Schaffnerin,« sagte sie mit müder Betonung.
»Sagen Sie Fanny zu mir.«

Tarnow nickte und schwieg.

Der Amtmann trat ein und sein Gesicht zuckte kaum merklich zusammen, als
er die beiden am Tisch sah. Doch als er sich setzte und begonnen hatte,
die Suppe zu essen, wurde er plötzlich sehr aufgeräumt. »Also, ihr
Brautleutchen«, sagte er lachend, »jetzt küßt euch einmal anständig.«

Tarnow gab es einen Ruck vom Kopf bis zu den Knien. Der Löffel entfiel
seiner Hand.

»Na wird’s?« ermunterte der Amtmann freundlich und klopfte ungeduldig an
sein Trinkglas.

Die Schaffnerin beugte sich hinüber zu Tarnow. Er sah ihr Gesicht unter
sich mit halbgeschlossenen Augen und ihren Mund immer noch ein wenig
geöffnet. Er seufzte auf, schloß seine Augen, ließ das Kinn gegen die
Brust sinken und in demselben Augenblick fühlte er ihre Lippen auf den
seinen, und er schauderte, als ob er nackten Leibes im Eis stünde.

Der Amtmann bog sich vor Lachen. Dann sagte er, ein Stück Brot abbeißend
und emsig kauend. »Kinderchen, wenn ihr’s redlich meint unter euch,
werde ich schon sorgen, daß euch die Exzellenz Brot giebt und daß ihr
euch noch in Bruneck nehmen könnt. Ja, der Tarnow,« fuhr er dann fort,
das eine Auge zuzwickend, »der hat’s dick hinter den Ohren, wa? Ein
Schuftkerl, hä!« Er stand auf, nahm das Kinn Tarnows zwischen Daumen und
Zeigefinger, schob es zurück, und mit dem fröhlichsten Gesicht der Welt
gab er ihm nun einen Schlag auf die Wangen. Jetzt lachte auch Tarnow,
aber etwas sonderbar.

Jedoch blieb die Stimmung bis zum Ende der Mahlzeit eine scherzhafte.
Nach dem Fleisch stand Tarnow auf und sagte, er wolle etwas holen. Mit
freudigem Gesicht kam er zurück und brachte Krachmandeln, die er auf der
Messe gekauft. Truchs machte sich emsig darüber her. »Wie ist’s,
Leutholdin, wollen wir Vielliebchen essen?« fragte er.

Die Schaffnerin schüttelte den Kopf.

»Warum denn nicht?« fragte der Amtmann und verzog den Mund.

»Ich will mit dem Tarnow Vielliebchen essen,« sagte die Schaffnerin.

»Da sehen Sie, Tarnow, was Sie voraus haben vor mir,« scherzte der
Amtmann und hörte auf zu essen. Gleich darauf erhob er sich und verließ
den Raum. Sein eignes Arbeitszimmer lag über dem Wohnzimmer und die
beiden vernahmen jetzt ein beunruhigendes Gepolter und Geklirr über der
Decke. Tarnow sah die Miresin auf dem Hofe stehen und ängstlich in die
Höhe deuten. Da stand auch Tarnow auf und folgte dem Amtmann.

Als er oben in die Stube trat, sah er den Amtmann mit blutenden Händen
umherrasen. Er hatte die Fensterscheiben mit der Faust eingeschlagen. Er
stürzte nun auf Tarnow zu und stieß ihn mit voller Kraft vor die Brust,
daß Tarnow taumelte und rückwärts zur Erde fiel. Tarnow raffte sich
wieder auf, um still fortzugehen. Aber der Amtmann ergriff ihn, stieß
ihn aus der Stube, durch den Vorplatz, über die Treppe hinab bis in sein
Schlafzimmer. Sein Gesicht war scharlachrot geworden, Schaum stand vor
seinem Munde und er ächzte: »Gehen Sie zum Teufel, zu Ihrer Braut, zu
Ihrer ..... Nehmen Sie Ihre Bücher und bleiben Sie in Ihrem Loch, aber
kommen Sie nicht mehr in meine Zimmer.«

Tarnow verhielt sich ruhig und erwiderte keine Silbe. Im Wohnzimmer fand
er die Schaffnerin nicht mehr. Auch im Hofe war sie nicht, auch im
Garten nicht. Während der Nachmittagsstunden hatte er Briefe zu
schreiben, und er that seine Arbeit mit derselben Genauigkeit wie immer.
Es war still im Hause. Die Leute waren auf den Feldern und es war
drückend heiß. Der Bau der Waschküche war schon ziemlich weit
vorgeschritten. Die Hühner hockten schläfrig im Sand, der warme Geruch
aus den Ställen durchdrang auch das ganze Haus.

Als Feierabend kam und die Sonne rasch gegen Westen sank, saß Tarnow in
seinem eigenen Zimmer und las in einem alten Geschichtenbuch, das er
noch von seiner Mutter hatte. Plötzlich trat der Amtmann ein, den er
den ganzen Nachmittag hindurch nicht gesehen hatte.

»Guten Abend,« sagte der Amtmann rauh und zog einen Stuhl herbei. Seine
Stirn war gefurcht, seine Augen loderten bisweilen auf; im ganzen war
etwas Zerschlagenes in seinem Wesen.

Tarnow erwiderte den Gruß.

Der Amtmann schwieg lange. Er starrte unbeweglich vor sich hin. »Nun,
mein lieber Tarnow,« sagte er endlich, »wollen Sie denn wirklich die
Leutholdin heiraten? Sie dürfen ganz offen mit mir reden. Aber ich komme
jetzt daherein zu Ihnen wie ein guter Freund. Passen Sie auf, sie hat ja
eine ganz hübsche Fratze, das läßt sich nicht leugnen. Aber sie hat
keine Bildung, sie hat keine Erziehung, sie hat kein Vermögen. Na, sind
das nicht große Fehler in Ihren Augen? Mein Gott, sie kann ja nähen und
flicken und kochen und sie hat ein ganz gutes Herz, aber da giebt’s
viele. Haben Sie sich denn das nu genau überlegt?«

Tarnow blickte furchtsam auf die Lippen des Amtmanns. Jedes neue Wort
vermehrte diese unbestimmte Furcht. Als Truchs schwieg und ihn forschend
ansah, sagte er leise: »Ich hätte ja nie daran gedacht, wenn der Herr
Amtmann nicht selbst –. Ich habe keine Stellung. So lange ich kein Brot
für meine Frau habe, kann ich nicht heiraten.«

Jetzt wurde der Amtmann auf einmal ganz heiter. Er stand auf, klopfte
Tarnow auf die Schulter und sagte: »Ein guter Kerl sind Sie, Tarnow, ein
verflucht guter Bursche. Heute müssen wir zusammen anstoßen beim
Trinken!« Und kameradschaftlich zurückwinkend verließ er die Stube.

Die Essenszeit kam, aber Tarnow hatte heute nicht Lust zu essen. Er
versuchte sich zwar einzureden, daß er Hunger habe, aber seine Gedanken
irrten bald wieder zu ganz anderen Dingen und fesselten ihn an seinen
Platz. Als er später hinunterging, war es schon dunkel geworden. Niemand
hatte nach ihm gerufen. In einem Winkel des Hofes sah er auf
übereinandergeschichteten Backsteinen Stauff und die Libuhn sitzen,
engumschlungen. Sie küßten sich, er konnte es sehen, seine Augen
schienen ihm doppelt so scharf als sonst. Die beiden achteten auf nichts
was rings um sie vorging. Tarnow wurde die Kehle trocken; er ging hin
zum Brunnen und schlürfte Wasser. Dann rief er seinen Kater und als er
den Hof verließ, hatte der Kuß des Stauff und der Libuhn sein Ende noch
immer nicht erreicht.

Die Sonne war in Dünsten untergegangen; schlechtes Wetter stand bevor.
Ein kühler Nachtwind strich über das Thal. Tarnow glaubte den Fluß
lauter rauschen zu hören als sonst. Scharf und durchdringend gellten die
Pfiffe der Maschinen vom Bahnhof, Schwalben flogen dicht über dem
Wasserspiegel und das Gebimmel einer Kapelle stimmte ihn ganz elegisch.
Der Kater quietschte bisweilen oder blieb stehen und fixierte mit
flammenden Augen einen Nachtvogel.

Als der Zapfenstreich lang und melodisch über die Wiesen hallte, kehrte
Tarnow zurück. Er suchte sofort sein Zimmer auf, aber eine peinigende
Unruhe überfiel ihn zu gleicher Zeit. Er entledigte sich der schweren
Stiefel und ging in Strümpfen auf und ab. Hierauf öffnete er die Thüre,
lauschte hinaus, lehnte sie dann, als er keinen Laut vernahm, wieder
vorsichtig an, ohne sie ins Schloß fallen zu lassen. Da der Wind draußen
an Stärke zunahm und ein Zug entstand, schloß er das Fenster und setzte
seine Wanderung im Dunkeln fort. Alles im Hause schien zu schlafen.

Aber als es zehn Uhr geschlagen hatte (man konnte deutlich die Turmuhren
von der Stadt hören), wurde ein knarrendes Geräusch, wie wenn eine Thüre
geöffnet wird, im Flur laut. Tarnow wußte, es war vom Schlafzimmer des
Amtmanns, das dem seinen schräg gegenüber lag. Als das Knarren zum
zweitenmal, durch das _Schließen_ der Thüre vernehmlich wurde, schlich
Tarnow hinaus in den Gang. Zehn Schritte vor ihm ging der Amtmann. Er
schien nicht besorgt, seine Schritte zu dämpfen, sondern trat mit der
ganzen Sohle auf. Seine Füße waren nackt; das Fleisch leuchtete durch
die Dunkelheit.

Der Amtmann betrat das Zimmer der Schaffnerin, das unverschlossen
gewesen war. Und als er die Thüre wieder hinter sich geschlossen hatte,
hörte Tarnow auch nicht, daß er den Riegel vorschob oder das Schloß
umdrehte.

Nun ist er also drin, dachte Tarnow mit einem Herzen, das ihm schwer war
von Bekümmertheit. Und er wartete wieder wie damals auf streitende
Stimmen und auf Geschrei, nur wartete er diesmal mit vielmehr Zuversicht
darauf.

Aber es blieb alles still. Nein, ich begreife das nicht, dachte Tarnow
jetzt und schlich an der Thür der Schaffnerin vorbei, hockte sich einige
Schritte davon auf die Fließen des Flurs und beschloß zu warten. Alles
war finster um ihn. Er konnte nicht die Mauer sehen und nichts außerdem.
Nur gleichsam in weiter Ferne fiel das Licht der Nacht durch das
Glasfenster über den Hauseingang.

Einen Augenblick dachte Tarnow daran, hineinzugehen, aber diese
Vorstellung versetzte ihn in einen tötlichen Schrecken. Quälende Bilder
sah er, quälender wie die eines bösen Traums. Er hatte Durst; die
Finsternis flimmerte vor seinen Augen, hämmerte vor seinen Ohren und die
Nacht schritt vor um manche Viertelstunde. Es wäre ihm gleich gewesen,
wenn der Amtmann mit einem Licht herausgekommen wäre und ihn gesehen
hätte.

Endlich, nach wie langer Zeit konnte er nicht schätzen, kam Truchs
wieder heraus. Er schloß die Thür ziemlich heftig und murmelte auf ein
Pst von drinnen etwas in den Bart. Er wankte schläfrig den Flur entlang.
Bald war wieder alles ruhig.

Auch Tarnow erhob sich nun. In seinem Zimmer warf er sich aufs Bett und
die Thränen flossen ihm zu den Wangen herunter.



V.


Es kamen Fuhrleute von Strelentin, die Balkenholz für den Neubau
brachten; denn Strelentin war von Wald umgeben und Zimmerleute waren
dort fortwährend beschäftigt. Tarnow stand hinter den Wagen und
notierte. Als er damit fertig war, wischte er sich den Schweiß von der
Stirn, trotzdem es heute weder heiß, noch die Arbeit da sehr anstrengend
war. Er schaute dann ermüdet auf die Chaussee hinüber, die auf dem
jenseitigen Stromufer lag, als ihn die Schaffnerin rief.

Sie wandte sich um, da er ihr langsam nahte und fast mechanisch folgte
er ihr in die Küche. Dort stand er vor ihr, kreideweiß im Gesicht. »Was
haben Sie heute Tarnow?« fragte sie mit dumpfer Stimme.

»Warum fragen Sie mich, Fanny?« entgegnete Tarnow und sah sie fremd an.
»Sie wissen es doch selbst! Sie wissen doch selbst, was geschehen ist
und daß er stundenlang bei Ihnen war.«

»Ach Tarnow!« rief die Schaffnerin aus und schloß hastig die Thüre.
»Kann man unglücklicher sein als ich? Was soll ich thun, wenn er kommt
und wenn er sagt, er schlägt mich, wenn ich mich rühre?«

»Ach, Schaffnerin,« unterbrach sie Tarnow leise und kopfschüttelnd,
»sagen Sie das nicht. Können Sie nicht zusperren? Und kein Laut war,
Fanny, kein Laut war in Ihrem Zimmer.«

»Zusperren!« rief die Schaffnerin aus und schlug stürmisch die Hände
zusammen. »Er thäte die Thür zerbrechen in seiner Wut und mich dazu.
Und kein Laut war, – ja freilich kein Laut«, fügte sie bitter hinzu,
»weil ich stumm war wie ein Fisch, weil ich ihn angespieen hab, Tarnow,
wie er mir zu nahe kam. Da blieb er sitzen und sitzen, bis es ihm zu
dumm worden ist. Da haben Sie’s, Tarnow. Ach wär ich doch tot, wär ich
doch tot!«

Sie setzte sich auf den Backtrog und schlug die Hände vors Gesicht.

Tarnow empfand ein tiefes Mitleiden. Er ging und streichelte ihr übers
Haar. »Ich glaub’s Ihnen ja, Fanny,« sagte er gütig. »Seien Sie doch
ruhig. Fassen Sie sich, Fanny. Es muß ja ein Ende nehmen, es muß ja,
sonst, – ich weiß nicht.«

Die Schaffnerin erhob sich und schlang ihre Arme um seinen Hals und sah
ihm mit glühenden Blicken in die Augen. »Jetzt gehn Sie nur, Tarnow,«
sagte sie dann, indem sie sich zum Herd wandte und im Suppentopf rührte.
»Es wird schon werden.« Und sie lächelte über die Schulter zurück ihm
zu.

»Ja, ich gehe,« sagte Tarnow, betroffen von diesem Lächeln. »Ich gehe
zum Amtmann und rede mit ihm.«

Er wartete auf ihre Antwort, aber sie rührte schweigend ihre Suppe
weiter, ohne daß er ihr Gesicht sehen konnte.

Der Amtmann war in der Schreibstube. Entschlossen trat Tarnow dicht vor
ihn hin und sah ihm fest in die Augen, die seinem Blick entglitten.
»Herr Amtmann,« sagte er in einer bestimmten Weise, in der jedoch immer
das Beschwichtigende seines Wesens verborgen war, »ich komme nur, um Sie
zu bitten, daß Sie doch endlich Ihre nächtlichen Besuche bei der
Leuthold einstellen. Daß das nicht sein darf, um keinen Preis, müssen
Sie ja einsehen, Herr Amtmann.«

Der Amtmann nickte ihm, während er sprach, emsig und ermunternd zu.
»Recht so, Tarnow,« sagte er dann, indem er mit der Faust auf das Pult
schlug, »das war einmal ein Wort! Recht so, Tarnow, das darf nicht sein,
um keinen Preis. Mein heiliges Ehrenwort, Tarnow, es soll nimmer
vorkommen. Verkrummen und verlahmen will ich an Händen und Füßen und
blind dazu will ich werden, wenn es noch einmal vorkommt, Tarnow. Hier,
Tarnow, meine Hand, Sie sind ein ehrenwerter Kerl.«

Tarnow, der einen entsetzlichen Wutausbruch erwartet hatte, stand wie
betäubt. Aber schließlich faßte er sich und blickte unschlüssig vor sich
hin. »Ich bin dem Herrn Amtmann ja sehr dankbar,« sagte er. »Aber es muß
doch etwas anderes sein, wodurch die Schaffnerin sicher gestellt wird.«

»Natürlich, natürlich,« pflichtete der Amtmann eifrig bei und ging
aufgeregt in der Stube auf und ab. »Also lieber Tarnow, dann machen
wir’s so. Wir gehen abends alle drei zu gleicher Zeit ins Bett, nicht?
Schön. Ferner soll und muß sich die Leutholdin in ihrer Stube
einschließen. Einverstanden? Schön. Aber damit auch Sie mir keine
Dummheiten machen, lieber Tarnow, verlange ich, daß bei Ihnen in der
Stube der Jäger Klein schläft, der von morgen ab von Strelentin ganz
herüber kommt. Er kann sein Bett dort aufschlagen. Einverstanden? Schön,
jetzt sind wir wieder die besten Freunde, wa?«

An demselben Mittag veranlaßte der Amtmann die Schaffnerin, sich mit
Tarnow zu dutzen und erklärte sie für Brautleute. Er holte das
Schreibzeug und Papier und schrieb eine Erklärung nieder, daß Tarnow die
Schaffnerin heiraten wolle, wenn er Strelentin bekäme. Tarnow
unterschrieb, und er faßte wirklich Hoffnungen für die Zukunft. »Ich
gehe heute gegen Abend in die Stadt,« sagte der Amtmann, »weil ich zur
Exzellenz muß. Ich werde dann schon für euch sprechen, Kinder.«

Zu alldem blickte die Schaffnerin gleichgültig auf ihren Teller nieder.
Als der Amtmann hinaus war, lachte sie.

»Warum das Lachen?« fragte Tarnow verlegen, der auf solch plumpe Art
das du vermied.

Sie lachte noch mehr und schüttelte dann leise den Kopf, als ob sie
etwas nicht begreifen könne. Tarnow ging an seine Arbeit, die ihm diesen
Nachmittag flink von statten geriet. Der Amtmann war wirklich in die
Stadt gegangen und als Tarnow fertig war, wanderte er zwischen den
Gartenbeeten auf und nieder. Aus diesem Ungestörtsein riß ihn erst der
Jäger, der von Strelentin kam. Sogleich begann er, Tarnow zu erzählen,
daß ein neuer Verwalter auf Strelentin angekommen sei, ein ehemaliger
Student aus Berlin. Er habe gleich seine Frau mitgebracht.

Es war Tarnow, als ob ihm die Beine plötzlich abgehauen würden. Ein
konvulsivisches Zittern überlief ihn und zog ihm die Haut zusammen. Aber
trotzdem faßte er sich schnell, und er fühlte etwas wie Scham wegen
seiner Erregung. Beinahe gleichzeitig kam auch Truchs aus der Stadt
zurück und rief Tarnow zum Tisch. »Also Kinderchen,« sagte er, lustig
mit den Augen blinzelnd, »es geht alles aufs beste. Die Exzellenz will
sich die Sache überlegen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß ihr nach
Strelentin kommt.«

Tarnow erhob sich unwillkürlich und blickte den Amtmann vorwurfsvoll an.
Truchs merkte sofort, woran er war. Er verschränkte die Arme über der
Brust und schwieg trotzig still. Seine funkelnden Augen waren auf Tarnow
gerichtet. Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche, entfaltete es und
reichte es Tarnow hinüber. Tarnow las die vom Amtmann geschriebene
Erklärung wegen der Heirat, unter die er in freudigen Zügen seinen Namen
gesetzt hatte. Er begriff nicht, was der Amtmann meinte und mit
fragendem Blick gab er das Blatt zurück. Truchs lächelte mit einem
finsteren Lächeln, strich einige Male zärtlich über das Papier und riß
es dann mitten durch.

Tarnow senkte den Kopf.

Eine Viertelstunde später ging er auf die Vorwerke hinaus, wo trotz der
abendlichen Stunde etwas nachzusehen war. Er ging und wußte nicht, daß
er ging. Tausend zerfließende Gedanken durchkreuzten seinen Kopf. Eine
allgemeine Angst erfaßte ihn, und einige Male blieb er stehen, um
entmutigt die Hand auf die Stirn zu legen.

Als er von den Vorwerken zurückkam, stand die Schaffnerin vor dem Haus.
Es dämmerte schon. Graue, lange Wolken bedeckten den Himmel. Als Tarnow
der Schaffnerin ins Gesicht sah, erschrak er. Sie hatte eine
Leichenfarbe. Ihre Augen waren wie verquollen, ihre Haare verwirrt, ihre
Lippen zusammengepreßt.

»Was hast du, Fanny?« fragte Tarnow.

Sie gab ihm keine Antwort, sondern blickte mit zuckendem Mund zur Seite.
Und er wiederholte seine Frage. Sie legte ihre Hand leicht auf die seine
und wollte sprechen, als der Amtmann aus dem Haus trat und mit rauher
Stimme nach ihr rief. Er gewahrte auch Tarnow, kam näher, begrüßte ihn
freundlich, legte seinen Arm in den des Wirtschaftsschreibers und zog
ihn fort.

»Wollen Sie eine Zigarre haben, lieber Tarnow?« fragte Truchs, als sie
im Hof auf und ab gingen.

»Danke, Herr Amtmann, ich rauche nicht,« erwiderte Tarnow, der eine
atemlose Spannung empfand.

»Aber zum Teufel, Herr, nehmen Sie doch eine Zigarre, wenn ich Ihnen
eine anbiete.«

»Ich habe noch nie geraucht, Herr Amtmann.«

»Das ist mir egal.«

Tarnow nahm eine Zigarre und zündete sie unbeholfen an, als ihm der
Amtmann Streichhölzer gegeben hatte.

Der Amtmann barst vor Lachen. »Sie haben ja die Spitze nicht
abgeschnitten,« keuchte er, sich auf den Bauch klopfend. »Sie sind mir
ein rechter Maulwurf.«

Tarnow schnitt die Spitze ab und bemühte sich mechanisch, den Rauch aus
der Zigarre zu ziehen. Der Amtmann war in einem Nu ernst geworden. »So,
jetzt können wir ja reden,« sagte er. »Also was ich Ihnen mitteilen
wollte, ist das: nämlich, – aber bleiben Sie nur hübsch ruhig –
nämlich, die Leutholdin ist _meine_ Braut. Sie gefällt mir und ich will
sie heiraten. Das wollt ich Ihnen nur mitteilen.«

Tarnow lehnte sich an den Gartenzaun und warf die glimmende Zigarre in
den Sand. In seinem Gesicht ging eine wunderliche Veränderung vor. Es
war, als ob der Mund sich verschoben hätte und das Kinn schief geworden
sei. Dann drehte er sich um und hustete, indem er sich an einem Pfahl
festhielt und die Kniee daran preßte.

»Na was ist, Tarnow, was ist? was haben Sie?« rief der Amtmann
ungeduldig und kratzte sich den Kopf.

Tarnow wandte sich wieder um und mit gesenktem Haupt sagte er ruhig:
»Ich wünsche dem Herrn Amtmann viel Glück. Ich werde Sie trotzdem so
schätzen, als ob Sie eine Baronesse zur Frau bekommen hätten.«

Die seltsame Antwort machte den Amtmann stutzig. Aber er hatte nicht
Lust, weiter zu fragen, sondern ging ins Haus. Tarnow folgte ihm und
suchte gleich sein Zimmer auf, wo der Jäger Klein schon im tiefen Schlaf
lag.

Tarnows Arbeit am nächsten Tag glich einer Arbeit, die man im Traum
verrichtet. Aber er beherrschte sich so, daß es nicht auffallend war. Er
konnte die Schaffnerin von da an nicht mehr sprechen. Der Amtmann war
stets zugegen, wenn er sie irgendwo traf, und schließlich kam es so, daß
er sich davor fürchtete, sie irgendwo allein zu treffen. Seine Augen
waren immer umschleiert, so daß sein Blick etwas dumpf Sinnendes bekam.
Sein Gang war schlendernder geworden. Eine merkbare Veränderung war mit
ihm vorgegangen.

Auf den Wiesen wurde das Gras gemäht. Die Libuhn war bei den Kühen und
melkte. Das Dach des kleinen Neubaues war schon aufgesetzt. Tarnow
schrieb im Bureau. Die Schaffnerin und Truchs saßen in der Wohnstube.

»Nun Fanny, was hast du mir zu sagen?« fragte der Amtmann, der die
Ellbogen auf seine Kniee gestützt hatte und ganz vorgebeugt saß.

»Ich, Truchs? Was soll ich dir zu sagen haben?«

»Heut früh hast du gesagt, nachmittags würdest du’s sagen,« murmelte der
Amtmann.

»Es ist nichts, Truchs, ich hab’s schon vergessen.«

»Ich will es aber wissen, Leutholdin, hörst du?«

»Ich sag es aber nicht, Truchs.«

»Du bist in den Schreiber verliebt, Leutholdin, leugn’ es nicht. Das
hast du mir sagen wollen. Bist du in den Schreiber verliebt, Fanny?«

Die Schaffnerin lachte kurz auf. »Was bist du so erregt, Truchs. Nein,
zum Verlieben reichts bei mir nicht mehr hin. Aber ich möcht ihn haben.
Ich möcht ihn haben, Truchs, das ist die Wahrheit. Ich möcht _auch_ ein
Leben führen wie ein Mensch.«

Die eine Hand des Amtmanns griff nach dem Vogelkäfig, der neben ihm auf
einem kleinen Tischchen stand, und bog die starken Drähte zusammen, als
ob sie aus Wachs bestünden. Das Rotkelchen im Käfig flatterte angstvoll
auf und nieder. Die Schaffnerin begann zu erblassen vor dem Blick des
Amtmanns und stand auf wie unter einem Alp. Er zog sie her zu sich und
sie kniete vor ihm. Ihre Augen wandten sich keine Sekunde lang von ihm
ab. Er beugte sich nieder, faßte sie um die Hüften und lachte sie an.
Auch sie lachte gezwungen. Er hob sie auf sein Knie und sagte: »Schwer
bist du, Schaffnerin.« Sie nickte geistesabwesend. Er näherte den Mund
ihrem Ohr und biß sie ins Ohr. Sie schrie auf und klammerte sich an
ihn. »Nun wie ists mit dem Schreiber?« fragte er. Jetzt schüttelte sie
krampfhaft eilig den Kopf. Sie deutete hinaus in den Hof oder in den
Garten, wo sie Tarnow sah. Der Amtmann machte sich los von ihr, ging
hinaus und stand bald vor Tarnow, den er fragte, wie es ihm gehe.

Aber Tarnow erwiderte ihm nichts.

»Machen Sie sich keine Hoffnungen, lieber Tarnow,« sagte Truchs boshaft.
»Ich lebe schon ein Jahr und länger mit der Leuthold zusammen. Da können
Sie sich denken, daß es mit der Keuschheit schon längst am letzten ist,
– hä? Pfui Teufel, was sind Sie für ein Kerl, Tarnow, was für ein
Pfaffengesicht haben Sie, pfui Teufel. Man kann Ihnen die Finger
abhauen, ohne daß Sie schreien.«

»Ist das wahr, Herr Amtmann, was Sie eben gesagt haben mit der
Schaffnerin?« fragte Tarnow, der ein Gefühl hatte, als ob eine Faust
sich in seine Brust senke.

Der Amtmann schwieg und wandte sich kurz ab. Und als dann kurze Zeit
nach diesem Zwiegespräch Tarnow durch den Flur gegen die Küche schritt,
fühlte er auf einmal zwei Arme um seinen Hals, die ihn zurückhielten. Es
war die Schaffnerin. Sie atmete erregt, sie drängte ihren Leib dicht an
ihn und suchte seinen Mund mit den Lippen, doch küßte sie in die leere
Luft. Tarnow hielt sich an der Mauer fest. Er machte eine verzweifelte
Bewegung mit dem ganzen Körper, sein Gesicht rötete sich und wie ein
zermalmendes Gewicht drückte es auf seinen Schädel.

Stunden vergingen, ohne daß es ihm gelungen wäre, sich einigermaßen zu
fassen. Eine geheimnisvolle Stimme in seinem Innern rief ihn fortwährend
bei seinem eignen Namen, und diese Stimme verwirrte sein Nachdenken
gänzlich. Es war schon spät nachts, als er immer noch auf der Treppe vor
dem Haus saß, seinen Kater auf dem Schoß hielt und grübelnd vor sich
hin sah. Es wehte ihm ein kühler Wind ins Gesicht.

Auf einmal kam der Amtmann zu ihm heraus; Tarnow schien es, als käme er
aus dem Zimmer der Schaffnerin. Er wunderte sich im stillen, daß er
diesem Umstand so wenig Wichtigkeit beimaß. Des Amtmanns Haare waren
verwirrt und hingen in Strähnen herab. Sein Gesicht war verstört.

»Warum gehen Sie nicht in Ihr Nest?« fuhr er Tarnow wild an.

Tarnow stand auf und blickte schweigend vor sich hin.

»Warum Sie nicht in Ihr Nest gehen?« schrie Truchs mit heiserer Stimme.

»Ich bin nicht müde, Herr Amtmann,« sagte Tarnow gefaßt.

Der Amtmann sah jetzt die Katze in Tarnows Arm. Er lachte kichernd in
sich hinein. »Ach so,« sagte er gedehnt, »Sie pflegen das Vieh da! Jetzt
weiß ich doch, wohin die jungen Hühner kommen. Bis jetzt hab ich immer
gemeint, der Herr Tarnow selbst stiehlt sie und verkauft sie. Marsch!«
Mit diesen Worten riß Truchs den Kater an sich, packte mit der einen
Hand den Kopf des Tiers und drehte ihn, während er den Körper festhielt,
ein paarmal rundherum. Einen raubvogelartigen Pfiff ausstoßend warf er
den Kadaver mitten in den Hof.

Tarnow strömte alles Blut, so daß er es deutlich empfand, zum Herzen. Er
ächzte und hielt sich nur mit großer Mühe aufrecht. Der Amtmann nickte
ihm hämisch zu und ging in den Flur zurück.

Tarnow hob das Tier vom Boden auf. Es war tot. Die Augen waren ganz aus
den Höhlen getreten. Mit weitgeöffneten Lidern blickte Tarnow zum
bewölkten Himmel empor. Aber noch immer gewannen seine Sanftheit und die
angeborene Demut seines Wesens Macht über ihn. Er fühlte jetzt nur noch
großes Mitleid mit dem treuen Gefährten seiner Spaziergänge.

Doch erwachte zugleich eine nagende Furcht vor dem Wiederanbruch des
Tages in ihm.



VI.


Der Prediger und der Organist von Veitshöchheim waren zu Gast bei dem
Amtmann. Sie waren schon nachmittags herüber gekommen und hatten ein
Spielchen arrangiert. Ihre Bekanntschaft mit Truchs lag höchstens um
einen Sonntag zurück.

Die Unterhaltung bei der Abendmahlzeit zwischen dem Amtmann und seinen
Gästen war laut und ungezwungen. Die Schaffnerin, die Truchs gegenüber
saß, blickte ohne eine Bewegung zu machen und ohne ein Wort zu sprechen,
auf ihren Teller nieder und berührte die Suppe nicht, die vor ihr stand.
Tarnow, der neben der Schaffnerin saß, war ebenso schweigsam.

Es gab Brotsuppe. Der Amtmann hatte sich und seinen Gästen Suppe
gegeben und reichte nun Tarnow den Vorlegelöffel, damit er sich selbst
nehme. Tarnow nahm den Löffel und schöpfte sich Suppe, aber er vermied
dabei das Brot, das er nie aß, wenn es in der Brühe gelegen hatte. Da
fuhr ihn der Amtmann zornig an: »Das thun ungezogene Leute. Das ist
unschicklich.«

Tarnow schwieg.

Der Organist platzte mit Lachen heraus. Der Prediger, ein noch junger
Mann, der unter widerwärtigem Schlürfen seine Suppe aß, nickte etwas
stupid vor sich hin. Der Amtmann stieß während der ganzen Dauer der
Mahlzeit beleidigende und kränkende Worte gegen Tarnow aus, machte sogar
zotenhafte Witze, bei denen der Prediger errötete und wie beschwörend
die Hand erhob, während der Organist krampfhaft Brotrinden zerbiß. »Na,
Leutholdin,« sagte dann der Amtmann jedesmal und warf der Schaffnerin
funkelnde Blicke zu, »meinen Sie nicht auch?« Die junge Frau lächelte
dann, – aber mit welch einem rätselhaften Lächeln! Ihr Gesicht erhielt
dadurch fast gar keine Veränderung, außer daß der Mund sich in die Länge
zog.

Tarnow schwieg zu allem.

Es war schon zehn Uhr vorbei, als der Amtmann mit seinen Gästen
aufbrach, um sie zu begleiten. Die Nacht war finster. Ein stürmischer
Wind ging und die Fensterscheiben klapperten in ihrer Einfassung.

Zum erstenmal wieder befand sich Tarnow mit der Schaffnerin allein. Er
hatte gezittert vor diesem Alleinsein und hatte es doch auch gewünscht.
Sie saßen lange Zeit, ohne etwas zu sagen und hörten der schaurigen
Windmusik zu. Im Haus selbst war es ganz still. Tarnow glaubte
bisweilen, er höre eine Glocke läuten. Es war nur ein ganz dumpfes,
hinsterbendes Geräusch, das sich seinen Sinnen darstellte, nicht als ob
es die Stille, sondern nur die Finsternis durchbreche, die sich draußen
um die Mauern schmiegte. Und wieder glaubte er dann seinen Namen von
irgend einem Unsichtbaren gerufen und lauschte voll Angst.

»Fanny, was haben Sie mit dem Amtmann gehabt?« fragte er endlich ohne
weitere Überlegung.

Sie schüttelte den Kopf und sagte nichts. Es quälte ihn, daß sie
schwieg, aber er wiederholte seine Frage nicht.

Da reichte sie ihm einen Zettel. Er nahm ihn und las mit Bleistift
geschriebene Worte: Ich darf nichts reden, wenn ich Ruhe haben will.
Heiraten werd ich ihn nicht, nein. Ich werd mich nicht mit dir
auseinanderbringen lassen, Tarnow. Eher zieh ich fort.

Der Umstand, daß sie dies geschrieben hatte und offenbar schon lange
vorher geschrieben, und daß sie nicht redete, machte einen furchtbaren
Eindruck auf Tarnow. Flüsternd, als könne selbst die Stille sie
belauschen, fragte er: »Warum sprechen Sie denn nichts, Fanny?«

Sie sah ihn an und blickte dann deutend nach den Fenstern, nach der
Thüre, als sei sie gewiß, daß des Amtmanns Ohr eifersüchtig daran
gepreßt sei, oder als sei sie gewiß, daß die Luft, in die sie ihre Worte
hauchte, ihm den Schall zutragen müßte. Das erfüllte Tarnow mit
Schrecken, und er schwieg gleichfalls, obwohl er wußte, daß Truchs in
Wirklichkeit mit den beiden Männern fortgegangen war, da er sie selbst
bis zur Hausthür begleitet und noch von ferne das dröhnende Lachen des
Amtmanns gehört hatte.

Und es dauerte auch noch eine Viertelstunde, bis er zurückkam. Er schien
in sehr heiterer Stimmung, that aber, als ob Tarnow gar nicht da sei.

Dieses Verhalten erregte Tarnow auf unerklärliche Art. Aufmerksam
verfolgte er jeden Schritt, jede Geste des Amtmanns, und erst als man
dann aufbrach, um sich zu Bett zu begeben, hatte sich die Unruhe in ihm
etwas gelegt. Aber schlafen konnte er nicht. Er setzte sich an das
kleine Tischchen, das zwischen dem Bett des Jägers und dem seinen stand,
zündete eine gebrechliche Lampe an, die auf dem eisernen Ofen stand und
die ein mageres Licht in der Stube verbreitete, und schrieb einen Brief
an seine Mutter, die in einem Weiler in der Nähe von Aschaffenburg
wohnte. Er schrieb, daß es ihm gut gehe und daß er sich für ihre
sorgliche Nachfrage bedanke; daß er seine Stelle nicht so bald zu
verlassen gedenke wegen der Mutter, und daß er bald eine einträgliche
Beförderung zu erfahren hoffe; daß er sich zwar nicht viel ersparen
könne, daß ihm aber trotzdem an leiblichen Dingen nichts abgehe. Sein
Stil war plump, aber zärtlich; all das sanfte Licht, das in seiner Seele
wohnte, strömte dabei in die Zeilen über, die ganze Güte seines Wesens
kam in wunderlichen Wortverschnörkelungen zum Ausdruck, wie diese: daß
du, meine so hochgeliebte Mutter, mich immer ermahnst, beim Rechten zu
bleiben, ist ein herrliches Zeugnis deiner Tugend und kann mir nichts
Lieberes geschehen. Diese altmodischen Banalitäten nahmen in seiner
Schrift, unter seiner langsam sich über das Papier schiebenden Hand
etwas Edles und Rührendes an und zeigten, wie sein Gemüt an diesem Tag
noch sein Gleichgewicht besaß.

Als Tarnow am nächsten Morgen in das Bureau trat, war der Amtmann schon
anwesend. Tarnow war erstaunt, denn es war das erste Mal, daß dies der
Fall war. Der Amtmann erwiderte seinen Gutenmorgengruß nicht. Er war mit
keiner Arbeit beschäftigt, sondern starrte nur dumpf vor sich hin. »Ich
muß mit Ihnen reden, Tarnow,« sagte er einmal, aber als Tarnow den Kopf
erhob und lauschte, schwieg der Amtmann. Dagegen wurde er plötzlich
aufgeräumt und redselig, als Tarnow sagte, er müsse nach den Vorwerken
und dann nach Strelentin hinüber und käme erst Nachmittag zurück.

Aber Tarnow kam schon früher zurück und begegnete am Kloster
Himmelspforta der Schaffnerin, die in der Stadt gewesen war. Es hatte zu
regnen begonnen, auch der Wind hatte seit gestern noch nicht aufgehört.
Tarnow hatte keinen Schirm und bat die Schaffnerin, ihn unter ihrem
Schirm mitzunehmen. Förmlich gepeitscht, rasten zerfaserte Wolken über
den Himmel. Kein Mensch war weitherum zu sehen. Das Kloster lag in einer
gleichsam steinernen Stille da, und die Akazien, die zum Portal führten,
krümmten sich und ächzten und die Blätter rauschten laut. Die
Schaffnerin war wieder schweigsam und in Tarnow kehrte die Furcht des
letzten Abends zurück. Oft glaubte er, die Schaffnerin lächle, aber dann
schloß er, daß er sich getäuscht haben müsse. Er meinte es immer dann zu
sehen, wenn sie beide schwer gegen den Wind ankämpften, und wenn sie
sich dann an ihn preßte oder seine Hand zufällig die ihre berührte. Sein
Herz klopfte, wenn er sie ansah, – das liebliche Oval ihrer Wangen, das
duftige Rot, das der Sturm darüber gehaucht, die feine, weiße Haut des
Halses, unter der die Adern pochten, das blaue Band, das den Nacken
umschloß; und er dachte sich aus, was er ihr vielleicht sagen könnte, um
ihr zu gefallen. Aber es blieb beim Denken. Sie näherten sich dem Gut
und aus dem Fenster des Bureaus blickte der Amtmann nach ihnen.

Kurze Zeit nachher kam der Krüger Kitz, der eine Zahlung leisten wollte,
und Tarnow hatte die Quittung zu schreiben. Er datierte sie, wie es
richtig war, auf den 28. Juni, den Tag der Zahlung. Die Zahlung war
schon im Mai zu leisten gewesen. Der Amtmann geriet plötzlich in große
Wut, als er das Datum der Quittung sah. Er warf das Quittungsbuch des
Krügers auf den Tisch und schrie Tarnow aus allen Kräften an: »Herr, zum
tausend Teufel, was haben Sie da wieder für dummes Zeug gemacht!«

Tarnow fragte gelassen: »Wieso, Herr Amtmann?«

»Mit dem dummen Quittieren!« schrie der Amtmann. »Der Kitz bezahlt den
Branntwein, den er im Mai schuldig geblieben ist, und der muß auch bei
dem Monat quittiert werden! Sie sind ein Mensch, der nie eine richtige
Rechnung geführt haben kann. Sie sind nichts wert.« Dabei warf er die
Sandbüchse mit solcher Heftigkeit auf den Tisch, daß er sich an der Hand
verwundete, und daß das Tintenfaß aufflog und die Tinte auf das Papier
und auf die Möbel verspritzte. Zugleich schrie er, der Tarnow solle
binnen acht Tagen aus dem Hause; er habe sich durch seine Untreue und
Durchstechereien der Kondition unwürdig gemacht. »Ich werde Sie
unglücklich machen,« schrie er, »ich werde Sie ins Zuchthaus bringen.«

Der Krüger Kitz machte sich ängstlich davon, aber der Amtmann hörte
nicht auf zu toben. »Herr, ich schwöre zu Gott, ich halte mein Wort, –
ich will Sie verfolgen, Sie mögen sein, wo Sie wollen, Sie Duckmäuser
und Heuchler! Ich werde Sie schon aus ihrer Ruhe bringen, da können Sie
sich drauf verlassen.«

Die Leute im Hof waren zusammengelaufen und horchten. Tarnow erlitt
ruhig diese Beschimpfungen, als wäre er schon stumpf dagegen geworden.
Er hatte sich still an den Ofen gestellt und nur darüber nachgedacht,
wie er aus dieser Kondition kommen könne. Dann fragte er mit bebender
Stimme: »Was wollen Sie von mir, Herr Amtmann?«

Der Amtmann blickte stier in Tarnows Gesicht. Er geriet in eine
unsinnige Wut und stieß Tarnow mit der geballten Faust ins Auge.

Diese Mißhandlung brachte eine Wandlung in das Innere Tarnows.



VII.


Auf einmal erhielt er diesen Stoß, der so heftig war, daß er mit dem
Kopf gegen den Ofen zurückstieß. Er fühlte plötzlich ein Kribbeln in
der Nase. Dieses stieg ihm dann nach dem Kopfe, und es war ihm zu Mute,
als wenn das Gehirn gleich einem Uhrwerk sich ihm herumdrehe. Dann lief
es ihm ganz kalt durch das Genick in die Schultern und er meinte, es
falle ihm durch die Zimmerdecke geschmolzener Schnee auf den Rücken.
Darauf versetzte es ihm einen heftigen Ruck in der Brust und er hatte
eine heftige äußere und innere Hitze. Die Brust wurde ihm aufgetrieben,
und er mußte sich Rock und Weste aufknöpfen, um sich Luft zu
verschaffen. Er bemerkte nicht mehr, daß die Schaffnerin bleich und
aufgeregt hereinkam, um den Amtmann zu beruhigen; er hörte nicht, daß
sie ihm leidenschaftlich zuredete und ihm seine Hitze verwies, und daß
sie dann die beiden Männer zum Abendessen bat. Etwas später fand er sich
am Tisch sitzend, ohne daß er wußte, wie er herübergekommen.

Der Amtmann war jetzt plötzlich wieder ein anderer Mensch. »Man muß doch
endlich einmal aufhören,« sagte er, als er das Fleisch von der Schüssel
nahm. Er redete gegen Tarnow hinüber ganz ruhig über Geschäfte und über
eine Fahrt, die sie zusammen nach dem Rottendorfer Jahrmarkt machen
wollten. Tarnow, der sonst stets glücklich war, wenn der Amtmann wieder
freundlich wurde, sagte diesmal kein Wort.

Gleich nach dem Essen fing der Amtmann an, Stiefel und Jacke auszuziehen
und sagte: »Kinder, wenn euch so schläfert wie mich, dann geht
schlafen.« Er wünschte gute Nacht und ging in sein Schlafzimmer.

Auch Tarnow legte sich zu Bett. Der Jäger, der sonst zugleich mit ihm
schlafen ging, war noch nicht da. Er hörte ihn bald darauf im Wohnzimmer
mit der Schaffnerin sprechen, so deutlich, als ob es in der Stube
nebenan wäre. Die Schaffnerin sagte ihm, er solle jetzt auch schlafen
gehen. Der Jäger kam nun und sagte zu Tarnow, der Amtmann sei schon zu
Bett.

Tarnow lag in unerträglicher Hitze da. Er hörte in der Nebenstube die
Libuhn buttern. Nach einer Weile hörte sie damit auf, verließ die Stube,
war aber nach kurzer Zeit an Tarnows Thür und rief leise durch die Thür:
»Herr Tarnow, schlafen Sie?«

»Warum?« fragte er.

»Wenn Sie mal rauskommen könnten, thäten Sie was Schönes belauern,«
entgegnete sie kichernd.

»Was denn?« fragte er.

»Wie der Jäger fort war, ist die Schaffnerin zum Amtmann ins Zimmer. Und
jetzt ist sie immer noch drin,« flüsterte die schwatzhafte Magd.

Tarnow erwiderte nichts, und die Libuhn fuhr fort zu buttern. Zu dem
Jäger, der noch nicht schlief, und der alles gehört hatte, sagte Tarnow:
»Sehen Sie nur, Klein, was das für eine Hundezucht ist. So heilig hat
mir der Amtmann versprochen und zugeschworen, daß er und ich und die
Schaffnerin gleichzeitig in unsere Stuben sollen und jetzt ist es doch
nichts!«

Der Jäger lachte. Ob denn das was Neues sei, meinte er.

Nun kam die Libuhn abermals vor die Thüre. »Herr Tarnow,« raunte sie,
»ich hab gehorcht an der Thür. Sie ist noch drin.«

Tarnow richtete sich ein wenig auf und stützte den Kopf auf die Hand. Er
empfand immer größere Hitze im Kopfe und am ganzen Körper. Er konnte
nicht einmal die Augen zumachen und warf sich wild im Bett umher.

Es schlug zehn und es schlug halb elf und da kam jemand in die Stube
nebenan, wo die Magd immer noch butterte. Das muß die Schaffnerin sein,
dachte Tarnow. Und als er dann wirklich ihre Stimme hörte, schlugen
seine Zähne aneinander wie im Fieber. Er wollte ihr merken lassen, daß
er noch wach sei, daß er bis jetzt gewacht habe, und mit einer seltsam
metallisch klingenden Stimme schrie er lauter als nötig war hinüber:
»Haben Sie jetzt Butter, Libuhnin?«

Statt ihrer antwortete die Schaffnerin: »Wir werden bald welche
bekommen; ich brühe jetzt.« Und Tarnow lauschte ihren Worten, als sie
schon längst verklungen waren. Es kam ihm vor, als klängen sie nach in
der Stille der Stube, als wiederhole sie der Wind draußen tausendzüngig.
Er hatte eine Lust in sich zu klagen, was ihm alles widerfahren, aber
die Hitze, die er empfand, drückte seine Kehle zusammen. »O Gott,«
murmelte er, »wirst du mich denn nicht erlösen!«

Eine kleine Weile darauf wurde es nebenan still. Dann wünschte die
Schaffnerin durch die Thür in einem freundlichen Ton Tarnow gute Nacht.

»Gut Nacht,« sagte auch Tarnow.

Er horchte gespannt. Ihre leichten Schritte verhallten auf dem Flur. Sie
ging in ihr Zimmer, aber sie verschloß die Thüre nicht, wie es doch
verabredet war.

»Sehen Sie, Klein, jetzt schließt sie doch ihre Thür nicht zu,« sagte
Tarnow und biß wie verzweifelt in sein Kissen.

Der Jäger, verwundert, den Tarnow heute so redselig zu finden, brummte
bestätigend.

Es schlug elf Uhr.

Die Hitze, in der Tarnow lag, wurde zu einer furchtbaren Glut. Alle
Beleidigungen, die er in diesem Haus erlitten, vom ersten Tag an bis
heute, alles trat ihm vor die Seele. Dann lag er gedankenlos im Bett. Er
fühlte nur noch ein Sausen und Brausen, als ob ihm das Gehirn im Kopf
herumgewälzt würde. Er konnte es nicht mehr aushalten im Bette; auch die
Stille im Haus war ihm zu groß. Sie drückte weniger auf ihn, wenn er
saß, als wenn er lag. Er setzte seine Füße hinaus, zog seine Pantoffeln
an, blieb aber so sitzen und sitzen, hörte halb zwölf und zwölf und halb
eins und eins schlagen. Dann zog er seine Strümpfe und Beinkleider und
seinen Überrock an und fragte: »Schlafen Sie, Klein?«

Keine Antwort kam. Klein schlief.

Er verließ die Stube. Er riegelte das Hausthor auf und ging in den Hof,
wo ihn ein jagender Wind empfing. Er lief ein ganzes Stück hinaus in die
Wiesen und kehrte dann ebenso schnell laufend wieder um. Er ging dann in
die Amtsregistratur. Er wußte, daß der Amtmann in der Registratur an
einem Nagel einen Strick aufbewahrte. Er ging immer schnell und fühlte
nur das Sausen und Brausen in seinem Kopf. Er fand den Strick nicht an
dem Nagel. Aber im Finstern suchte er und fand den Strick an einem
zweiten Nagel. Und er nahm den Strick und steckte ihn in die Tasche.

Dann stand er wie erstarrt still und sagte ziemlich laut: »Nein, mit dem
Strick geht es nicht.« In einem Zimmer nebenan stand eine Kiepe mit
Eisenzeug. Er nahm einen Hammer daraus, den größten und schwersten, den
er fand. Sobald er den Hammer in der Hand hatte, wurde es ruhig um ihn
und das Sausen und Brausen hörte auf. Er dachte: ich mache es wie der
Blutmartin, dessen Bild ich auf der Messe gesehen habe. Und wenn er
seine Thür zugesperrt hat, will ich ihn um Zündhölzer bitten; will
sagen, es ist mir recht schlecht, Herr Amtmann, zünden Sie mir die Kerze
an.

Er stand vor der Thür der Schaffnerin, kniete hin und betete.



VIII.


Zwei Stunden später, ungefähr um drei Uhr morgens, kehrte er in seine
Stube zurück. Es tagte schon. Drüben, in der Richtung des Klosters,
wurde der Himmel schon fahl; die Vögel begannen zu zwitschern, erst
schüchtern, gleichsam fragend, dann zuversichtlich, dann ganz
stürmisch.

Tarnow trat herein, und in seinem Gesicht glänzten die Augen, wie sie
gewiß nie zuvor geglänzt hatten, – als wollte er sagen: jetzt kann ich
wieder rein dastehen vor mir selber. Aber das dauerte kaum Sekunden, die
man zählt. Er warf sich neben das Bett des Jägers hin und schüttelte
ihn. »Klein!« rief er aus, »Klein, der Kerl, der Amtmann schläft schon!«

Der Jäger war sofort wach geworden. Er sah Tarnow an, dessen Gesicht wie
Wachs war. »Was ist geschehen?« fragte er und stand auf. Und er sah nun
auch, daß Gesicht und Hände und Kleider des Tarnow mit Blut besudelt
waren. »Was ist geschehen, Tarnow?« fragte er noch einmal erregt und
packte den Knieenden am Nacken.

»Da haben Sie den Schlüssel, Klein,« sagte Tarnow. »Er schließt ins
Schlafzimmer vom Amtmann. Und grüßen Sie halt meine Mutter schönstens
von mir, lieber Klein.«

Tarnow streckte sich ganz auf den Boden, legte die Stirn auf den Arm und
schloß müde die Augen.

[Illustration]



Die Mächtigen

[Illustration]


Wenn ein Gewitter im Anzug ist, darf die Kompagnie auf Heimkehr ins
Quartier hoffen. Die Posten werden zusammengezogen, der Leutnant nimmt
den Rapport entgegen, die Unteroffiziere versammeln ihre
Korporalschaften um sich, die Kolonne wird formiert und setzt sich in
dumpfem Trab in Bewegung. Die Soldaten sind müde und staubbedeckt; sie
sollen singen, damit ihnen der Marsch müheloser werde, aber sie können
nicht singen. Es ist eine schwere und schwüle Stimmung in der Natur und
es ist, als ob diese rohen Söhne des Dorfes und der Fabrik zum
Nachdenken gezwungen würden, über etwas, das bisher nur als dumpfe
Sehnsucht oder als starrer Groll in ihrer Brust gewohnt. Der Leutnant
fragt den Sergeanten, warum nicht gesungen würde; der Sergeant giebt
einigen Unteroffizieren freundschaftliche Rippenstöße und diese fluchen
leise in die Sektionen hinein und kommandieren das Lied: Der Feind, der
kommt von Frankreich her. Aber kaum begonnen, ersterben die unwillig
hingemurmelten Laute wieder und der Leutnant verzichtet für heute auf
den Gesang. Tief und dunkel hängen die Wolken, und die Schwalben fliegen
mit einem fast klagenden Zwitschern am Rand der Felder hin. Und der Wald
in der Ferne, ist es nicht, als ob er zu fliehen versuchte vor dem
Anmarsch der Kolonne? Leiser Donner rollt über den Wald und der dicke
Staub liegt über und zwischen den Reihen und der Wind erhebt sich und
treibt ihn den Männern ins Gesicht, und alle sind sie so stumpf
geworden, daß sie sich nicht einmal bemühen, ihn von den Augenlidern
oder von den Lippen zu wischen. Und es geht durch ein Dorf, wo aus
kleinen schmutzigen Fenstern neugierige oder mitleidige oder finstere
Gesichter schauen und dralle Mägde stehen an den Scheunen und lachen
ziemlich grundlos. Und dann kommt wieder die Ebene und die Landschaft
wird trüber und der Donner zieht heran, langsam hallend, gleichsam Gehör
fordernd. Eine bissige Bemerkung wird laut unter den Soldaten oder eine
derbe Zote, dann ist es wieder lange Zeit hindurch still. Sie denken an
die Nacht: da können sie schlafen; manche wünschen immer schlafen zu
dürfen, bis die Jahre des Dienstes vorbei sind. Viele haben einen Schatz
und sie denken an den Urlaub des letzten Sonntags und an das einsame
Liebesbett in einem stillen Waldwinkel oder auf einem hohen
Scheunenboden. Die meisten aber denken an gar nichts; wie eine Decke
hängt es vor ihren Augen und ihre Füße sind schwer. Das Gewehr drückt
die Schulter und der Tornister drückt den Rücken. Der Schweiß hat die
Gewänder an den Leib festgeklebt und alle Sinne sind erschlafft und
abgestorben. Sie sind keinem Eindruck mehr zugänglich außer dem
gleichmäßigen Geräusch der Schritte; und es klingt wie ein schwerer
Rhythmus in die Unermeßlichkeit hinein: eins zwei, eins zwei ...

Der Wald kam näher und leichte Dünste hoben sich von ihm. Die ersten
Regentropfen fielen, als die Spitze unter den Schutz der dichten Wipfel
einzog. Jetzt geht’s der Heimat zu, dachte Frank Aschenbrenner und er
allein lächelte in diesem großen Haufen müder und gleichgültiger Männer.
Wenn auch der Schweiß in heißen Perlen von der Stirn und den roten
Haaren troff, er hörte doch nicht auf, an Veni Escher zu denken.
Eigentlich hieß sie Juvenia und es kam ihm so seltsam und der
Bewunderung würdig vor, daß eine Bauerntochter Juvenia heißen konnte.
Stets zwinkerte er so eigen vertraulich mit den Augen, wenn er an sie
dachte, an ihre dicken Zöpfe, an die weißen, schönen Zähne, an die
festen starken Arme, an ihren Trotz, an ihren Hochmut, an ihre Wildheit
und an ihre guten Küsse. Und das ganze Dorf sah er im Innern, so wie es
damals beim Abschied gewesen war: wie es still und feierlich am See
ausgebreitet lag, ein wenig gehoben durch die sanfte Krümmung der Hügel;
und in der Ferne flimmerte der Mondschein auf dem Wasser wie ein
Schleier, der leise flattert im leisen Wind. Und ein wohlthuender
Frieden war allenthalben und in manchem Häuschen war noch ein Fenster
rot und dann kamen lange Wolken und legten den Mond gleichsam in ein
Grab, und die Wellen plätscherten ans Ufer, daß die Kieselsteine
klirrten wie geschwätzige Gnomen, und es war auch wie eine Klage, wenn
die Äste knisterten und sich furchtsam niederbogen vor dem schwellenden
Nachtwind. Oder wenn er an den Morgen dachte! Wie frisch erschien das
ganze Dorf, gleichsam gebadet! Am Anger blökten die Schafe und am Haus
der Veni roch es so angenehm nach neugebackenem Brot (denn ihr Vater war
der Bäcker des Orts), und da kam sie oft unters Thor und lachte aller
Welt keck ins Gesicht.

Fort mit den Träumen –: er erhielt von hinten einen Stoß mit dem
Gewehrkolben, weil er den Schritt verloren hatte. Auf allen Seiten rief
es: Tritt fassen! Tritt fassen! Es war, als wolle sich die Ordnung des
Marsches im Nu auflösen vor der Macht des Gewitters. Donnerschlag auf
Donnerschlag durchdröhnte den Wald und die Luft zitterte; es war
mühselig und beängstigend, taktmäßig weiter zu marschieren. Manche
bittere Anspielung wurde laut, von den Unteroffizieren geflissentlich
überhört; mancher Fluch drängte sich durch zusammengepreßte Zähne. Aber
selbst dazu waren sie zu müd, mit ihren Gedanken bei ihrem Groll zu
bleiben; vielmehr wurde die krankhaft erregte Phantasie beschäftigt von
den Bildern der Rast, von den Bildern des Schlummers und einem
Strohsack, von einem fetten Glas Milch und einem saftigen Stück Fleisch
bei den Bauern des Quartiers. Aber der Wald wurde immer dichter und die
Dämmerung nahm zu und der Regen strömte herab und rann von den Helmen
auf die Riemen des Tornisters, und rauschte und trommelte in den Kronen
und die Blitze erleuchteten die Tiefen des Forstes, daß es aussah, als
ob eine gespenstige Rotte hinter fernen Stämmen vorbeiraste.

Frank Aschenbrenner, erregt von dem Bild der Heimat, vergaß die Vorgänge
der Umgebung und wie ein Schlummernder, dessen Schlaf unterbrochen
wurde, alsbald von neuem die Augen schließt, versank er beinahe hilflos
und ganz selbstvergessen in eine Folge von phantastischen Vorstellungen,
von wunderbaren Zufällen und Ereignissen, die von den Wünschen und von
der Erwartung in uns geweckt werden. Warum empfand er im Innern seines
Herzens ein bitteres Gefühl, einen Zweifel, wenn er an Veni dachte? Und
gerade dies trieb ihn dazu, Luftschlösser zu bauen, die seiner
bäuerischen Natur sonst ganz fremd waren.

Die Kompagnie sollte in Sankt Heinrich übernachten und den nächsten
Tag, der ein Rasttag war, dort verbringen. Der Hauptmann und drei
Offiziere ritten mehrere Kilometer hinter der Abteilung und dem Leutnant
Baron Gerlach war die Führung während des Marsches anvertraut worden. Er
war ein hübscher und sympathischer junger Mann, der es wohl zu meinen
glaubte mit der Mannschaft, und der sich jene von den Vorgesetzten so
wohlgelittene Schneidigkeit angeeignet hatte, die den Untergebenen
gleichsam in Atem hält. Er stammte aus einer alten und angesehenen
Familie, war jedoch ganz arm und besaß keine Garantien für die Zukunft
als seinen Degen und seinen Ehrgeiz. Etwas von einem Träumer war in ihm.
Still und in sich gekehrt, schien er mit einer wachsenden Verachtung des
Lebens zu kämpfen und die Unerfüllbarkeit seiner Wünsche schien er nicht
länger zu bezweifeln. Der Wald lichtete sich und die erschöpfte
Kompagnie sah das Dorf vor sich liegen, eingehüllt in einen zarten,
grauen Regenschleier, mit regenglänzenden Ziegeldächern, mit plumpen
Schlöten, aus denen sich bläulicher Rauch langsam in die reine, kühle
Luft erhob; und dahinter lag der See, matt schimmernd wie eine
Eisenplatte. Alles war voll Frieden in dieser Weltabgeschiedenheit, und
die Soldaten atmeten freier, und manche wurden wieder froher Laune in
der Hoffnung auf ein Stück Fleisch und auf einen Tag der Ruhe. Denn bei
den Bauern hatten sie es immer am besten, wenn sie nicht durch die
boshafte Parteiischkeit des Quartiermachers gleich dutzendweise in den
Stadel eines armen oder eines geizigen Mannes geworfen wurden.

Frank Aschenbrenner wohnte mit zwei Kameraden bei seinen Eltern. Die
beiden alten Leute standen unterm Thor und ihre Gesichter leuchteten vor
Stolz. Es gab keine Redensarten und keine langen Erzählungen; nachdem
die drei Soldaten sich ihres Gepäcks entledigt hatten, nahmen sie auf
der Bank hinter dem riesigen Tisch Platz und der Bauer brachte Brot und
sauren Rahm. Dann setzte er sich den erschöpften Männern gegenüber und
sah mit breitem Lächeln zu, wie es ihnen schmeckte. Und bald fiel der
Abend nieder über das Dorf. Frank, der noch nicht gewagt hatte, nach
Veni zu fragen, weil ihn eine seltsame Angst daran hinderte, zog, als es
schon ziemlich spät war, den frischgewaschenen Drillichrock an, setzte
die Mütze auf und ging lässigen Schritts die Dorfstraße entlang. Er
spähte scheu nach den Mädchen, die am Brunnen standen, doch er fand die
nicht, die er suchte. Vor manchem Thor blieb er stehen und begrüßte die
Freunde und die Bekannten, und oft ließ man ihn kaum weitergehen; man
wollte sich etwas von ihm erzählen lassen, man sagte ihm Komplimente und
alle waren stolz darauf, daß ein so schmucker Soldat ein Sohn des Dorfes
war. Doch seine Sehnsucht trieb ihn gebieterisch zum Ziel, und schnell
schritt er zum Haus des Bäckers Escher. Entschlossen wollte er
hineingehen, da sah er sie träumerisch im Flur stehen und vor sich
hinstarren. Sie blickte überrascht auf, als er ihre Hand nahm; erst
schien sie nicht zu wissen, wer es sei, dann wurde sie feuerrot und
stotterte eine verlegene Begrüßung. Wie verändert ist sie, dachte Frank,
und er vergaß, daß er sie stürmisch in die Arme hatte schließen wollen.
Da standen sie nun schweigend beisammen und wußten sich nicht ein
einziges Wort zu sagen. »Bist du mir denn bös?« fragte endlich der junge
Soldat. Sie schüttelte den Kopf und wollte unbefangen lächeln. Aber
selbst in der Dunkelheit gewahrte er wohl, daß ihr Lächeln gezwungen
war, und er fühlte, daß sie ein beklommenes Herz hatte. »Geh fort,«
sagte das Mädchen plötzlich eindringlich und voll Hast, »der Leutnant
kommt gleich wieder. Er braucht dich doch da nicht zu sehen; morgen
wollen wir uns treffen, ich geh morgen nach Dürnbach, da wollen wir
mitsammen gehn, – aber jetzt geh fort, hörst?« – »Der Leutnant?«
murmelte Frank und sah bestürzt vor sich hin; er konnte noch nicht
begreifen, was vorging, er wollte Veni umarmen und wollte sie zwingen,
daß sie ihn küsse, aber sie entwand sich seinem Arm und huschte im
dunkeln Flur lautlos dahin.

Der junge Mensch dachte nicht ans Heimgehen, obgleich kein Soldat nach
zehn Uhr mehr auf der Straße sein durfte. Noch immer hatte er nichts
begriffen, und er schlich ums Haus herum, die Hände in den Taschen und
die Blicke an den Boden geheftet. Es roch gut nach Heu und Dünger; das
Gewitter und alle Wolken hatten sich verzogen, die Sterne schimmerten am
Himmel wie reine, klare Perlen, und es war wieder so schwül wie am Abend
vorher.

Zwei Nachtfalter flatterten durch den Hof und über die Schultern Frank
Aschenbrenners, und wie er sie mit den Augen verfolgte, sah er, daß ein
Fenster oben erleuchtet war, und er wußte aus früherer Zeit, daß dies
Venis Fenster war. Dann sah er zwei Schatten droben. Da in der Nähe ein
alter Birnbaum stand, kletterte er rasch daran hinauf, und bald konnte
er in die Kammer hineinschauen, wo der Leutnant saß und die junge Veni
umschlungen hielt. Sie sträubte sich nicht, nein, sie ergab sich seiner
Umarmung, sie suchte seine Umarmung, sie hatte das Gesicht an seiner
Brust verborgen. Das ist aber schnell gegangen, dachte der Soldat in
seinem Stumpfsinn, und der Ast, auf dem er saß, wollte schier brechen.
Die reifen Früchte des Baumes schienen um ihn herumzutanzen; unten lief
eine Katze über den Hof und stieß ein klagendes und sehnsüchtiges
Geschrei aus; eine Fledermaus schwirrte vorbei. Jetzt löschte der
Leutnant das Licht aus, und Frank starrte noch immer und wußte nicht wie
lange, da auf einmal erscholl die Trommel, die die Kompagnie zum Appell
rief. Oho, dachte Frank Aschenbrenner und brach zornig einen Zweig
mitten durch, gönnen sie uns nicht mal die Rast? Das bedeutet
Nachtübung – Brigadebefehl ... und er lachte höhnisch vor sich hin,
stieg herab vom Baum, trottete nach Haus, wo die beiden Eltern mit
Bangen auf ihn warteten, und begann sich marschfertig zu machen wie die
andern auch.

Das ganze Dorf war in Bewegung. Die Korporalschaften ordneten sich, und
in den Gesichtern der Mannschaft lag ein düsterer Verdruß. Schwer und
schleppend setzten sich die Züge in Bewegung, um sich zu sammeln und der
Mond stieg groß und glühend über der Landschaft auf, eine halbvollendete
Scheibe. Der Hauptmann ritt vor die Front und feuerte in einer
pathetischen Ansprache die Soldaten an. In kurzen Zügen gab er dann den
Plan des nächtlichen Manövers kund. Die Ordre ging vom Armeekorps aus:
die dritte Brigade sollte den Waldrand von Heumödern besetzen und die
Position bis Tagesanbruch zu halten versuchen. Die Offiziere
orientierten sich auf ihren Karten und die Korporäle machten sich
Notizen, weniger weil es notwendig war, als um ihr waches und
unermüdetes Interesse deutlich zu zeigen. Während all dem standen die
Dorfbewohner schweigend um die Kompagnie und beobachteten neugierig das
fremdartige Thun. Die Nacht war voll von einer bedrückenden Schwülnis,
über den Feldern lagerte ein seltsamer Dunst, und heimliche Lichter
schienen oft aufzublitzen unter dem schweren Mantel der Nacht. Endlich
wurde der Marschbefehl erteilt, und dumpf und echolos ertönten die
gleichmäßigen Schritte der Kolonne auf der Dorfstraße. Hinter ihnen lag
der See; stumm und langen Schleiern gleich glitten zarte Nebel über die
glatte Fläche. Es war wie eine geheime Empörung unter den Leuten, die
aus ihrer Nachtruhe aufgescheucht, neuen Müdigkeiten und Erschöpfungen
preisgegeben waren. Die Vorgesetzten fühlten es, daß hier ein Geist der
Widersetzlichkeit zu Gast war, jener stumme Unwille, der wie ein mühsam
eingedämmtes Feuer weiterlodert und weiterlodert, bis er alle ergriffen
hat und der vernünftigen Zurückhaltung unfähig macht. Weithin glänzte
die Landschaft in der Nacht und der zitternde, dämmerige Mondschein
beleuchtete etwas gespenstisch die bewegliche Schlange, die auf der
Chaussee fortschlich, langsam und anscheinend ohne Ziel, wie eine
seltsame Maschinerie. Die Gewehrläufe und die Knöpfe der Uniformen
blitzten sanft, und keiner in der Kolonne hatte Lust zu plaudern. Nur
wenn einer im Marsch nachließ und den Schritt verlor, wurde ein
boshaftes Murren laut und die ganze stille Empörung der Gequälten kehrte
sich gegen den frühzeitig ermatteten Kameraden. Viele hatten sich
offenbar schon die Füße wund gelaufen, denn ihr Gang war zag und
vorsichtig; sie traten nur noch mit der Sohle des Stiefels auf, und
manche waren wund zwischen den Schenkeln und schritten mit gespreizten
Beinen dahin.

Auf dem langen Marsch bis zum Wald von Heumödern vereinigten sich die
zwölf Kompagnien des Regiments; kurz vor Erreichung des Zieles traf das
andere Regiment ein, und die Brigade konnte nun plangemäß das Terrain
besetzen. Lautlos ging all dies vor sich, der Mond stieg immer höher und
ein schwüler, leichter Wind kam von der Seegegend her. Gedämpfte
Kommandorufe: ausschwärmen! langsam! hinlegen! zurück! u. s. w. störten
den Nachtfrieden des Waldes. Und Frank Aschenbrenner wollte sich eben
niederlegen, beglückt, daß er nun endlich ruhen könne und unfähig, an
etwas anderes zu denken als an diese zerstörende Müdigkeit, die den
Körper förmlich aushöhlte; da vernahm er, wie man ihn und zwei Kameraden
dazu bestimmte, mit dem Leutnant von Gerlach einen Patrouillengang
anzutreten. Er dachte nicht mehr an seine Erschöpfung. Er hätte lachen
mögen, und die Begierde, jemandem seine Befriedigung mitzuteilen,
überkam ihn; die seltsame Fügung des Zufalls, die gerade ihn mit dem
Leutnant auf einen einsamen Wachtposten stellte, veranlaßte ihn nicht
einmal zum Nachdenken, sondern machte ihn nur froh und erwartungsvoll.

Der Leutnant hatte die wichtige Aufgabe erhalten, die Stellung des
Feindes an seinem linken Flügel auszukundschaften und marschierte nun
mit seinen drei Leuten am Wald entlang und dann gegen die Ebene hinüber.
Er verfolgte eine Zeitlang den Lauf des Zonhofer Baches, streifte das
herzogliche Jagdrevier Birkenfeld und dann breitete sich ein weites
flaches Land vor der müdhinschleichenden Patrouille aus. Durch
Wiesenwege gings und durch den Rain der Felder, und bald war es so
einsam rings, daß kein Baum und kein Strauch mehr zu sehen war. Und im
Osten zogen weißliche, dünne Wolken empor, gefärbt vom Licht des Mondes;
oft huschte ein scheuer Nachtvogel vorbei und die Grillen wurden laut
und lauter: ein wechselloser Rhythmus, gleichsam die Melodie des
Schweigens; dabei fielen den Soldaten ganz alte, fast vergessene
Volkslieder ein und Jürg Kohlmann summte sogar die »stille Wacht« vor
sich hin. Unfern von Obermödern war ein Kreuzweg, und am Wegweiser dort
teilte Leutnant von Gerlach seine Patrouille: Jürg Kohlmann und Stephan
Weyh sollten langsam und mit großer Vorsicht bis zur Staatsstraße
vordringen, er selbst wollte mit Frank Aschenbrenner in nördlicher
Richtung rekognoscieren. Frank lachte heiser, fast unhörbar vor sich
hin. In seltsamer Glut starrten die Herbstzeitlosen aus den Wiesen, und
der Mond wurde schon rot und neigte sich dem Horizonte zu. Die
nachttaunassen Gräser feuchteten die Stiefel; die Sterne schienen mit
den beiden Einsamen zu wandeln. Die Ebene schien gar kein Ende nehmen zu
wollen: in sanften Linien malte sich der Horizont vom schwarzblauen
Himmel ab, und bisweilen ragte ein Baum auf, die Dunkelheit wie ein
Schwert durchschneidend. Plötzlich lachte Frank Aschenbrenner mit einem
sonderbar glucksenden Lachen: der Leutnant blieb stehen und sah ihn an;
es war ein unsicherer Blick, voll Schuldbewußtsein und Unmut. Frank
erwiderte ihn furchtlos, ja, er bohrte seine Augen tief in die seines
Leutnants; er preßte die Lippen zusammen und rührte sich nicht von der
Stelle, bis der Leutnant sich umkehrte und wortlos weitermarschierte.
Aber es war von diesem Augenblick an, wie wenn der junge Offizier die
düsteren und haßerfüllten Augen seines Soldaten beständig auf sich ruhen
gefühlt hätte, als ob er dabei einen körperlichen Schmerz empfände. Und
dies Unbehagen nahm zu. Frank Aschenbrenner, todmüde und so erschöpft
wie er noch nie im Leben gewesen war, kam gleichwohl nicht eigentlich
zum Bewußtsein dieser Müdigkeit, sondern sein Kopf war ausgefüllt von
einem einzigen Gedanken, der ihn weit über alles leibliche Ungemach
hinwegtrug. Als der Leutnant vor einem mageren Weidengebüsch Halt
machte, nahm Frank das Gewehr ab und hörte wie im Traum, daß ihm der
Offizier befahl, niederzuknien und hinüberzuspähen nach der Chaussee,
während er selbst sein Taschenbuch zog und sich anschickte, Notizen zu
machen. Aber Frank gehorchte dem Befehl nicht, und der Leutnant that,
als habe er es nicht bemerkt. Er schien vertieft in seine Beobachtungen;
in Wirklichkeit empfand er eine unbestimmte, aber intensive Angst. Diese
stille Nacht, der starke und heißblütige, von glühenden Instinkten
erregte Mensch hinter ihm ließen ihn gar nicht zur Klarheit über seine
wichtige militärische Mission kommen. Nicht als ob er sich gefürchtet
hätte, aber es herrschte eine fremdartige Verwirrung in seinem Innern,
die ihm nicht einmal zu einem bestimmten Befehl für den stummen
Untergebenen Mut verlieh.

Die Landstraße erstreckte sich drüben, ein ein graues, dünnes Band, und
jetzt sah der Leutnant eine feindliche Patrouille sich auf das ferne
Dorf zu bewegen. »Wir müssen in die Schonung hinein,« sagte er mit
leiser Stimme und deutete mit der Hand auf einen kleinen Fichtenhain,
der sich hinter einer hügeligen Erhebung der nahen Wiesen ausbreitete.
Wieder sah er dem Soldaten starr ins Gesicht, und diesmal zuckte er
zusammen und drehte krampfhaft an seinem dünnen Bart. Frank folgte ihm:
Vergangene Jahre blühten plötzlich auf in seiner Phantasie, das
Liebesglück stiller Jugendzeit und das Glück, das selbst im Abschied
lag, und seine Augen wurden nun groß; gleichsam verlangend sah er in die
Nacht, voll Rachedurst und voll Durst nach Freiheit, die er so lange
entbehrt hatte und deren Entbehrung ihm erst jetzt bewußt wurde. Er
heftete den Blick, von Haß und Wildheit erfüllt auf den jungen Offizier,
der es immer stärker empfand, welche Gefahr ihm drohte, als hätte der
tiefe Friede und die lautlose Nacht seine Nerven bis ins feinste
verschärft.

Sie standen unter den Bäumen des finsteren Wäldchens. Die Stille war
hier noch bedrückender, die Luft noch schwüler. »Herr Leutnant,« sagte
Frank Aschenbrenner. – Der Offizier wandte sich um. »Nun?« – »Die Veni
war mein Schatz.« – Der Leutnant begann zu zittern. Er wußte nicht zu
antworten. Nach einer Weile befahl er mit heiserer Stimme: »Sie haben
sich ruhig zu verhalten. Was wollen Sie?« – »Du bist ein Hund,« sagte
Frank mit einer Bestimmtheit, die ihm selbst unerwartet erschien. »Du
bist ein Hund,« wiederholte er, als der Leutnant schwieg. – »Gewehr und
Seitengewehr ablegen!« schrie der Leutnant gleichsam mit einem letzten
Kraftaufwand und ging entschlossen auf den Soldaten zu, der da stand
ohne eine Hand zu rühren. Doch plötzlich sprang er wie ein wildes Tier
auf seinen Offizier los.

Der Morgen naht: auf die Fluren legt sich ein silberner Nebel und der
Himmel erblaßt im Osten. Es ist die fahle Stirn des Tages, die langsam
emportaucht; erschrocken ziehen weißliche Wolken eilig gegen Westen und
weit in der Ferne ertönt das Kleingewehrfeuer der manövrierenden
Brigaden. Frank Aschenbrenner sitzt an der Leiche des Offiziers, dem er
den Waffenrock vom Leib gerissen hat und starrt fortwährend nieder in
das vom Morgenschein immer bleicher werdende Gesicht des Toten. Jetzt,
da er nicht mehr den bunten Rock mit den Epauletten am Körper des jungen
Leutnants erblickte, war es auch nicht mehr der Vorgesetzte, den er
getötet, sondern es war ein Mensch gleich ihm. Er hatte seine Ehre
verteidigt und seine Pflicht erfüllt, indem er sich gerächt hatte. Er
sitzt da und starrt und bereut nichts; er fühlt sich seltsam zufrieden
durch das, was er gethan. Ob man ihn suchen würde? Es kümmert ihn nicht.

Endlich erhebt er sich, – längst schon war das Signal zum Sammeln
ertönt, – ordnet seinen Anzug, nimmt das Gewehr über und schreitet
langsam über die Äcker, als ob nichts geschehen wäre. Leicht und heiter
ist ihm zu Mut, mit glänzenden Augen schaut er in den heller werdenden
Himmel und nie hat er das Leben so golden vor sich liegen gesehen als
gerade jetzt, da er doch eigentlich mit dem Leben abgeschlossen haben
sollte. Ja, er beginnt leise vor sich hinzusummen und gut gelaunt stößt
er die Steine fort, die in seinem Weg liegen. Auf einmal bleibt er
stehen. Er dachte daran, daß er arm sei, und daß er noch nie einen
überflüssigen Pfennig besessen hatte. Ein Offizier hat doch immer viel
Geld, dachte er, und es that ihm sehr leid, daß er nicht einmal die
Kleider des toten Leutnants untersucht hatte. Dann wuchs die Vorstellung
von dem Reichtum des Offiziers so sehr in seiner Phantasie, daß er
umkehrte und mit hastigen Schritten den Schauplatz seiner nächtlichen
That wieder aufsuchte. Bald stand er wieder unter den niedern Bäumen des
Wäldchens. Er durchsuchte mit zitternden Händen alle Taschen, aber er
fand nichts, als einen Geldbeutel mit einem Inhalt von wenig mehr als
sieben Mark. Das machte ihn bestürzt und erschütterte ihn. Daß ein
Leutnant arm sein sollte, ärmer als er selbst, konnte er nicht fassen
und versetzte ihn in einen kindischen Schrecken.

Und Frank Aschenbrenner steckte das gefundene Geld zu sich und ging.
Sein Gesicht war bleich und auf einmal empfand er Furcht. Das Geld in
seiner Tasche bedrückte ihn, es schien den ganzen Körper niederzuziehen
in eine Schlucht oder in das Ackerfeld da neben ihm. Alle Heiterkeit und
alle Befriedigung war mit einemmal fort und er stierte in die Ebene
hinaus, ob man ihn nicht verfolge. Er glaubte Schreie zu hören, er
glaubte, der Tote sei aufgewacht und springe hinter ihm her, und die
Mutter des Todten sah er, die ihm zurief .... Er nahm das Geld und warf
es weit von sich, aber da half nichts, die heiße Angst in seiner Seele
wurde unerträglicher, und plötzlich sah er eine militärische Patrouille
am Horizont auftauchen. Da warf er das Gewehr von sich und begann zu
laufen, aber ein seltsamer Wahnsinn ließ ihn gerade auf die Patrouille
zulaufen, – er stöhnte in seinem tollen Lauf, Geld, Geld rollte in
hunderttausend Plättchen um ihn her und als die Sonne heraufstieg, war
ihm, als sähe er ein großes glänzendes Geldstück vor sich, das langsam
auf ihn zukam, um ihn zu zermalmen. Dann kamen mehrere; sie liefen viel
schneller als er vermochte, stürzten sich über ihn, schienen seinen
Körper zu durchschneiden wie Messer und wie ein unvertilgbarer Jammer
kam die Erkenntnis über ihn, wodurch er unterlegen war und was jene
Mächtigen dort über ihm so mächtig werden ließ: jenes gute Gesetz, das
jeden ihrer Pfennige schützt und das höhnisch und unnahbar jedes
verzweifelte Aufraffen der Schwachen und Reinen tötet.

Bald hatte ihn eine militärische Eskorte aufgegriffen.

Mit Zintara und Bumtara marschiert die Brigade ins Quartier. Ein bißchen
Blechmusik und die Kraft der erschöpften Armeen belebt sich wieder.
Aller Groll ist vergessen, die Gewehre und die Degen der Offiziere
blitzen im Sonnenschein. Nichts erinnert an die Qualen des nächtlichen
Marsches; der Geist der Ordnung und der Disciplin ist wieder eingekehrt,
und als die Musik schweigt, erschallt das kecke Soldatenlied von tausend
Kehlen:

    Der Feind, der kommt von Frankreich her,
    Zu Fuß und auch zu Pferd.


[Illustration]


Druck von Hesse & Becker in Leipzig.



Von _Jakob Wassermann_ erschienen im gleichen Verlag:

_Melusine._ Roman 1896

_Schläfst du Mutter?_ _Ruth._ Novellen 1896

_Die Juden von Zirndorf._ Roman 1897



Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
Grundlage der 1898 erschienenen Originalausgabe erstellt.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert, kleinere
Unregelmäßigkeiten in der Schreibweise wurden beibehalten. Gesperrt
gedruckter Text wurde folgendermaßen ersetzt: _gesperrter Text_


Transcriber’s Notes: This ebook has been transcribed from the original
print edition, published in 1898. Obvious printing errors have been
corrected, while minor irregularities in the spelling have been
retained. Spaced out text has been replaced like this: _spaced out text_





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