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Title: Der zunehmende Mond
Author: Tagore, Rabindranath, 1861-1941
Language: German
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produced from images generously made available by The
Internet Archive/Canadian Libraries)



  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen.

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  ]



RABINDRANATH TAGORE

DER ZUNEHMENDE MOND

KURT WOLFF VERLAG


Copyright 1915

Kurt Wolff Verlag, Leipzig


Berechtigte deutsche Übertragung von HANS EFFENBERGER nach der von
Rabindranath Tagore selbst veranstalteten englischen Ausgabe



DIE HÜTTE


Ich ging allein den Weg über das Feld, während der Sonnenuntergang sein
letztes Gold wie ein Geizhals verbarg.

Des Tages Licht sank tiefer und tiefer in die Dunkelheit, und das
verwitwete Land, der Ernte brach, lag schweigend.

Plötzlich stieg eines Knaben schrille Stimme in den Himmel. Er
durchdrang ungesehn das Dunkel und ließ die Spur seines Liedes über der
Stille des Abends.

Seine Hütte lag im Dorf am Ende des öden Landes, hinter dem
Zuckerrohrfeld, verborgen in den Schatten der Bananen und der schlanken
Arēka-Palme, der Kokosnuß und der dunkelgrünen Brotfruchtbäume.

Ich hielt einen Augenblick inne auf meinem einsamen Gang im Licht der
Sterne und sah ausgebreitet vor mir die dunkelnde Erde, in ihren Armen
zahllose Hütten mit Wiegen und Betten, Mutterherzen und Abendlampen und
jungen Leben, froh von einer Freude, die nicht weiß, was sie der Welt
bedeutet.



AM MEERUFER


Am Meerufer endloser Welten treffen sich Kinder.

Der grenzenlose Himmel zu Häupten ist ohne Bewegung, und das ruhlose
Wasser ist ungestüm.

Am Meerufer endloser Welten treffen sich Kinder mit Jubeln und Tanzen.

                   *       *       *       *       *

Sie bauen ihre Häuser aus Sand, und sie spielen mit leeren Muscheln. Aus
welken Blättern flechten sie ihre Boote und lassen sie lächelnd über der
ungeheuren Tiefe treiben. Kinder haben ihr Spiel am Meerufer der Welten.

                   *       *       *       *       *

Sie können nicht schwimmen, sie können nicht Netze werfen. Perlenfischer
tauchen nach Perlen, Kaufleute segeln in ihren Schiffen, während Kinder
Kiesel sammeln und sie wieder verstreun. Sie suchen nicht nach
verborgenen Schätzen, sie können nicht Netze werfen.

                   *       *       *       *       *

Das Meer schäumt auf in Gelächter, und fahl glänzt das Lächeln des
Gestades. Todbringende Wellen singen verständnislose Balladen den
Kindern, wie eine Mutter beim Einwiegen. Das Meer spielt mit Kindern,
und fahl glänzt das Lächeln des Gestades.

                   *       *       *       *       *

Am Meerufer endloser Welten treffen sich Kinder. Sturm streicht am
pfadlosen Himmel, Schiffe kentern in dem spurlosen Wasser, der Tod ist
unterwegs, und Kinder spielen. Am Meerufer endloser Welten ist das große
Begegnen der Kinder.



DER URSPRUNG


Der Schlaf, der über des Kindleins Augen huscht -- weiß jemand, woher
der kommt? Ja, es geht ein Gerücht, daß er in dem Märchendorfe wohnt.
Unter Waldesschatten, von Glühwürmern trüb erhellt, hängen zwei
Zauberknospen. Von dort kommt er, des Kindleins Augen zu küssen.

Das Lächeln, das auf des Kindleins Lippen flackert, wenn es schläft --
weiß jemand, wo das geboren ward? Ja, es geht ein Gerücht, daß ein
junger, blasser Strahl des zunehmenden Mondes den Saum einer
schwindenden Herbstwolke berührte, und da wurde das Lächeln zuerst
geboren in dem Traum eines taureinen Morgens -- das Lächeln, das auf des
Kindleins Lippen spielt, wenn es schläft.

Die süße, sanfte Frische, die auf des Kindleins Gliedern blüht -- weiß
jemand, wo die so lange verborgen war? Ja, sie lag, als Mutter noch ein
junges Mädchen war, ihr Herz durchdringend, im zarten und schweigenden
Geheimnis der Liebe -- die süße, sanfte Frische, die auf des Kindleins
Gliedern aufgeblüht ist.



DES KINDCHENS WESEN


Wenn Kindchen nur wollte, könnte es in diesem Augenblick zum Himmel
auffliegen.

Es ist nicht umsonst, daß es uns verläßt.

Es liebt es, seinen Kopf auszuruhn an Mutters Brust und kann es niemals
ertragen, wenn seine Augen sie nicht sehn.

                   *       *       *       *       *

Kindchen kennt allerhand weise Worte, wenn auch Wenige auf Erden ihren
Sinn verstehen können.

Es ist nicht umsonst, daß es niemals zu sprechen verlangt.

Das einzige, das es verlangt, ist Mutters Worte von Mutters Lippen zu
lernen. Darum schaut es so unschuldig drein.

                   *       *       *       *       *

Kindchen hatte einen Haufen Gold und Perlen und doch kam es wie ein
Bettler in diese Welt.

Es ist nicht umsonst, daß es in solcher Verkleidung kam.

Dieser liebe, kleine, nackte Bettler gibt vor, ganz hilflos zu sein,
damit er um Mutters reiche Liebe betteln kann.

                   *       *       *       *       *

Kindchen war so frei von jeder Fessel im Lande des kleinen, zunehmenden
Monds.

Es war nicht umsonst, daß es seine Freiheit aufgab.

Es weiß, daß Raum ist für endlose Freude in dem kleinen Winkel von
Mutters Herzen und daß es viel süßer ist als Freiheit, in ihren lieben
Armen gefangen und geherzt zu werden.

                   *       *       *       *       *

Kindchen wußte nichts vom Schreien. Es wohnte im Lande der vollkommenen
Seligkeit.

Es ist nicht umsonst, daß es das Weinen erwählt hat.

Wenn es auch mit dem Lächeln seines lieben Gesichtes Mutters sehnendes
Herz zu sich zieht, so schlingen doch seine kleinen Schreie über winzige
Kümmernisse das doppelte Band von Mitleid und Liebe.



DAS UNBEACHTETE SCHAUSPIEL


Ach, wer war's, der diesen kleinen Kittel bunt färbte, mein Kind, und
Deine süßen Glieder mit diesem kleinen, roten Rock bedeckte?

Du bist herausgekommen im Morgen, auf dem Hof zu spielen, torkelnd und
taumelnd, wenn Du läufst.

Aber wer war's, der diesen kleinen Kittel bunt färbte, mein Kind?

                   *       *       *       *       *

Was gibt's zu lachen, Du kleine Lebensknospe?

Mutter steht auf der Schwelle und lächelt Dich an.

Sie klatscht in ihre Hände, und ihre Spangen klirren, und Du tanzest mit
Deinem Bambusstock in der Hand wie ein kleinwinziger Hirte.

Aber was gibt's zu lachen, Du kleine Lebensknospe?

                   *       *       *       *       *

O Bettler, was bettelst Du, Mutters Nacken mit Deinen beiden Händen
umschlingend?

O gieriges Herz, soll ich die Welt pflücken wie eine Frucht vom Himmel,
um sie in Deine kleine, rosige Hand zu legen?

O Bettler, um was bettelst Du denn?

                   *       *       *       *       *

Der Wind trägt lustig das Klingen Deiner Fußschellen davon.

Die Sonne lächelt und bewundert Dein Kleid.

Der Himmel wacht über Dir, wenn Du schläfst in Mutters Armen, und der
Morgen kommt auf Zehenspitzen an Dein Bett und küßt Deine Augen.

Der Wind trägt lustig das Klingen Deiner Fußschellen davon.

                   *       *       *       *       *

Die Feenkönigin der Träume kommt zu Dir durch den Dämmerhimmel geflogen.

Die Weltenmutter sitzt bei Dir in Deiner Mutter Herzen.

Er, der seine Musik den Sternen spielt, steht an Deinem Fenster mit
seiner Flöte.

Und die Feenkönigin der Träume kommt zu Dir durch den Dämmerhimmel
geflogen.



SCHLAFDIEBIN


Wer den Schlaf von Kindchens Augen stahl, muß ich wissen.

Den Krug auf der Hüfte, ging Mutter Wasser holen aus dem nahen Dorf.

Es war Mittag. Der Kinder Spielzeit war vorüber. Im Teich die Enten
schwiegen.

Der Hirtenknab' lag eingeschlafen unter dem Schatten des Feigenbaums.

Der Kranich stand ernst und still in dem Sumpf am Mangohain.

Mittlerweile kam die Schlafdiebin, haschte den Schlaf von Kindchens
Augen und flog davon.

Als Mutter heimkehrte, fand sie Kindchen auf allen Vieren durchs Zimmer
kriechen.

                   *       *       *       *       *

Wer stahl von Kindchens Augen Schlaf, muß ich wissen. Ich muß sie finden
und anketten. Ich muß dort in die schwarze Höhle schaun, wo durch Felsen
und düstres Gestein ein kleiner Bach sickert.

Ich muß suchen in dem Schlummerschatten des Bakulahains, wo Tauben in
den Verstecken gurren und Elfenringe in der Stille der Sternennächte
klirren. Des abends will ich in das flüsternde Schweigen des
Bambuswaldes lugen, wo Leuchtkäfer ihr Licht verschwenden, und will
jedes Wesen fragen, das ich treffe: »Kann einer mir sagen, wo die
Schlafdiebin wohnt?«

                   *       *       *       *       *

Wer stahl von Kindchens Augen Schlaf, muß ich wissen.

Würd' ich ihr nicht ordentlich Bescheid sagen, wenn ich sie nur
erwischen könnte! Ihr Nest würd' ich überfallen und sehn, wo sie all
ihren gestohlenen Schlaf hütet. Ich würde es ganz plündern und ihn
heimtragen.

Ich würd' ihre zwei Flügel fest zusammenbinden, sie an das Ufer des
Flusses setzen und sie dann die Fischerin spielen lassen zwischen den
Binsen und Wasserlilien.

Wenn abends das Markten vorüber ist, und die Dorfkinder ihren Müttern im
Schoß sitzen, werden die Nachtvögel ihr spottend in die Ohren kreischen:

»Wessen Schlaf stiehlst Du Dir jetzt?«



DER ANFANG


»Wo bin ich hergekommen, wo hast Du mich aufgelesen?« fragte das Kind
seine Mutter.

Sie antwortete halb weinend, halb lachend und drückte das Kind an ihre
Brust:

»Du warst verborgen in meinem Herzen als seine Sehnsucht, Liebling.

Du warst in den Puppen meiner Kinderspiele; und wenn ich aus Lehm das
Bildnis meines Gottes formte jeden Morgen, dann formte und vernichtete
ich Dich.

Du warst mit eingeschlossen in der Gottheit unsres Hauses; sie
verehrend, verehrte ich Dich.

In all meinem Hoffen und Lieben, in meinem Leben, in dem Leben meiner
Mutter hast Du gelebt.

Im Schoß des unsterblichen Geistes, der über unserm Hause waltet, bist
Du genährt worden durch Menschenalter.

In meiner Mädchenzeit, da mein Herz seine Blumenblätter aufschloß,
schwebtest Du als ihr Duft darüber.

Deine zarte Sanftheit blühte in meinen jugendlichen Gliedern wie ein
Wolkenglühn vor Sonnenaufgang.

Himmelserwählter Liebling, Zwilling des Morgenlichts, Du bist den Strom
des irdischen Lebens heruntergeschwommen und zuletzt bist Du an meinem
Herzen gestrandet.

Ich schaue in Dein Gesicht, und Unfaßbares überkommt mich: Du, der allen
gehört, bist mein geworden.

Vor Angst, Dich zu verlieren, halt' ich Dich eng an meine Brust. Welcher
Zauber hat den Schatz der Welt in diese meine schlanken Arme
verstrickt!«



KINDCHENS WELT


Ich wünsche, ich könnte eine stille Ecke haben im Herzen von Kindchens
ureigenster Welt.

Ich weiß, sie hat Sterne, die zu ihm reden, und einen Himmel, der
niedersteigt zu seinem Gesicht, um ihn mit seinen närrischen Wolken und
Regenbogen zu vergnügen.

Solche, die tun, als wären sie stumm und dreinschaun, als könnten sie
sich niemals bewegen, kommen zu seinem Fenster gekrochen mit ihren
Geschichten und mit Kästen voll herrlichem Spielzeug.

                   *       *       *       *       *

Ich wünsche, ich könnte die Straße wandern, die durch Kindchens Gedanken
führt, und weiter, hinaus über alle Schranken;

Wo Sendboten unterwegs sind ohne Grund zwischen den Königreichen der
Könige, die keine Geschichte kennt;

Wo die Vernunft Drachen macht aus ihren Gesetzen und sie fliegen läßt,
und die Wahrheit die Tat befreit von ihren Fesseln.



WANN UND WARUM


Wenn ich Dir buntes Spielzeug bringe, mein Kind, begreife ich, warum ein
solches Spiel von Farben in den Wolken und auf dem Wasser ist, und warum
die Blumen in Farben gemalt sind -- wenn ich Dir buntes Spielzeug
schenke, mein Kind.

Wenn ich singe, damit Du tanzest, weiß ich fürwahr, warum Musik in den
Blättern ist, und warum Wellen ihrer Stimmen Chor zu dem Herzen der
lauschenden Erde senden -- wenn ich singe, damit Du tanzest.

Wenn ich Süßigkeiten bringe für Deine gierigen Händchen, weiß ich, warum
Honig in dem Kelch der Blume ist, und warum Früchte heimlich mit süßem
Saft gefüllt sind -- wenn ich Süßigkeiten bringe für Deine gierigen
Händchen.

Wenn ich Dein Gesicht küsse, damit Du lächelst, mein Liebling, begreife
ich gewiß, welche Wonne vom Himmel träuft im Morgenlicht, und welch
Entzücken die Sommerbrise meinem Körper bringt -- wenn ich Dich küsse,
damit Du lächelst.



VERLEUMDUNG


Warum sind diese Tränen in Deinen Augen, mein Kind?

Wie grausam von ihnen, Dich immer zu schelten, ohne Grund!

Du hast Dir Finger und Wangen mit Tinte beschmiert beim Schreiben --
heißen sie Dich darum schmutzig?

O, pfui! Würden sie es wagen, den Vollmond schmutzig zu heißen, weil er
sein Gesicht mit Tinte besudelt hat?

                   *       *       *       *       *

Wegen jeder Kleinigkeit tadeln sie Dich, mein Kind. Sie sind bereit,
Fehler zu finden, ohne Grund.

Du zerreißest Deine Kleider beim Spielen -- heißen sie Dich darum
unordentlich?

O, pfui! Was würden sie einen Herbstmorgen heißen, der durch seine
zerfetzten Wolken lächelt?

                   *       *       *       *       *

Achte nicht darauf, was sie zu Dir sagen, mein Kind.

Sie machen eine lange Liste Deiner Missetaten.

Jeder weiß, wie Du Süßigkeiten liebst -- heißen sie Dich darum
naschhaft?

O, pfui! Was würden sie dann uns heißen, die Dich lieben?



DER RICHTER


Sagt von ihm, was ihr wollt, ich kenne doch meines Kindes Fehler.

Ich lieb' ihn nicht, weil er gut ist, sondern weil er mein kleines Kind
ist.

Woher wollt ihr wissen, wie lieb er sein kann, wenn ihr versucht, seine
Tugenden gegen seine Schwächen abzuwägen?

Wenn ich ihn strafen muß, wird er um so mehr ein Teil meines Seins.

Wenn ich Ursache bin, daß ihm die Tränen kommen, weint mein Herz mit
ihm.

Ich allein habe ein Recht, zu tadeln und zu strafen, denn der nur darf
züchtigen, der liebt.



SPIELZEUG


Kind, wie glücklich sitzest Du im Staub und spielst mit einem
zerbrochnen Zweig den ganzen Morgen.

Ich lächle über Dein Spiel mit diesem kleinwinzigen, zerbrochnen
Zweiglein.

Ich bin eifrig bei meinen Rechnungen, stundenlang Zahlen
zusammenzählend.

Vielleicht schaust Du auf mich und denkst: »Was für ein dummes Spiel,
=damit= Deinen Morgen zu verderben?«

Kind, ich habe die Kunst vergessen, in Stöcke und Sandhügel vertieft zu
sein.

Ich suche nach teurem Spielzeug und sammle Klumpen von Gold und Silber.

Was immer Du findest, Du schaffst Dir damit Deine frohen Spiele; ich
verschwende meine Zeit und Kraft an Dinge, die ich niemals erreiche.

In meinem schwanken Boot kämpf' ich, der Sehnsucht Meer zu durchkreuzen
und vergesse, daß auch ich ein Spiel spiele.



DER ASTRONOM


Ich sagte nur: »Wenn sich des abends der runde Vollmond in den Zweigen
jenes Kadambaums verwirrte, könnte ihn da jemand fangen?«

Aber Dādā(1) lachte mich an und sagte: »Bubi, Du bist das dümmste Kind,
das ich je gekannt habe.

Der Mond ist, ach so weit von uns, wie könnte ihn denn einer da fangen?«

  (1) Der ältere Bruder.

Ich sagte: »Dādā, wie närrisch Du bist! Wenn Mutter hinausschaut aus
ihrem Fenster und herunter lächelt auf uns beim Spielen, würdest Du
sagen, sie wäre weit weg?«

Doch Dādā sagte: »Du bist ein einfältiges Kind! Bubi, wo würdest Du denn
ein Netz hernehmen, groß genug, um den Mond damit zu fangen?«

Ich sagte: »Sicherlich könntest Du ihn mit Deinen Händen fangen.«

Aber Dādā lächelte und sagte: »Du bist das dümmste Kind, das ich kenne.
Wenn er näher käme, würdest Du sehn wie groß der Mond ist.«

Ich sagte: »Dādā, was für Unsinn sie in Deiner Schule lehren! Wenn
Mutter ihr Gesicht herunterbeugt, um uns zu küssen, schaut ihr Gesicht
sehr groß aus?«

Dādā sagt aber doch: »Du bist ein dummes Kind.«



WOLKEN UND WELLEN


Mutter, das Volk, das in den Wolken droben wohnt, ruft mir zu:

»Wir spielen vom Aufwachen bis der Tag endet.

Wir spielen mit der goldnen Morgenröte, wir spielen mit dem silbernen
Mond.«

Ich frage: »Aber wie kann ich zu Euch hinaufgelangen?«

Sie antworten: »Komm' an den Rand der Erde, heb' Deine Hände zum Himmel
und du wirst aufgenommen werden in die Wolken.«

»Meine Mutter wartet auf mich zu Hause«, sag' ich. »Wie kann ich sie
verlassen und kommen?«

Dann lächeln sie und schwimmen vorüber.

Aber ich weiß ein schöneres Spiel als das, Mutter.

Ich werde die Wolke sein und Du der Mond.

Ich werde Dich verdecken mit meinen beiden Händen und unser Giebel wird
der blaue Himmel sein.

                   *       *       *       *       *

Das Volk, das in den Wellen wohnt, ruft mir zu:

»Wir singen von Morgen bis Abend; wir wandern und wandern und wissen
nicht, wohin wir gleiten.«

Ich frage: »Wie soll ich mich denn zu Euch gesellen?«

Sie sagen mir: »Komm' an den Rand des Ufers und steh' mit fest
geschlossenen Augen und Du wirst davongetragen werden auf den Wellen.«

Ich sage: »Meine Mutter braucht mich immer daheim des abends -- wie kann
ich sie verlassen und gehn?«

Dann lächeln sie, tanzen und gleiten vorüber.

Aber ich weiß ein besseres Spiel als das.

Ich will die Welle sein, und Du wirst eine fremde Küste sein.

Ich werde rollen fort und fort und fort und an Deinem Schoß zerschellen
mit Gelächter.

Und niemand in der Welt wird wissen, wo wir beide sind.



DIE CHAMPABLÜTE


Denk' Dir, ich würde eine Champablüte, nur zum Scherz, und wüchse auf
einem Ast hoch oben in jenem Baume und schütterte im Wind vor Lachen und
tanzte auf den neu entkeimten Blättern; würdest Du mich kennen, Mutter?

                   *       *       *       *       *

Du würdest rufen: »Kindchen, wo bist Du?«, und ich würde lachen für mich
und ganz stille sein.

Ich würde heimlich meine Blüte öffnen und Dir bei der Arbeit zuschaun.

                   *       *       *       *       *

Wenn Du nach dem Bad, das nasse Haar über Deine Schultern gebreitet,
durch den Schatten des Champabaumes gingest zu dem kleinen Hof, in dem
Du Deine Gebete sagst, würdest Du den Duft der Blume merken, aber nicht
wissen, daß er von mir käme.

Wenn Du nach dem Mittagsmahl am Fenster säßest, Rāmāyana lesend, und des
Baumes Schatten über Haar und Schoß Dir fiele, würd' ich Dir meinen
kleinwinzigen Schatten auf die Seite Deines Buches werfen, grad dahin,
wo Du liest.

Aber würdest Du raten, daß es der zarte Schatten Deines kleinen Kindes
war?

Wenn Du des abends zu den Kühen gingest, mit der brennenden Lampe in der
Hand, würde ich plötzlich wieder auf die Erde niederfallen und noch
einmal Dein eignes Kind sein und Dich bitten, mir eine Geschichte zu
erzählen.

»Wo bist Du gewesen, Du schlimmes Kind?«

»Ich mag's nicht erzählen, Mutter.« Das würden Du und ich dann sagen.



MÄRCHENLAND


Wenn die Leute wüßten, wo meines Königs Palast ist, er würde
entschwinden.

Die Mauern sind von weißem Silber und das Dach von leuchtendem Gold.

Die Königin lebt in einem Palast mit sieben Höfen und sie trägt ein
Juwel, das war wert allen Reichtum von sieben Königreichen.

Aber laß' es mich, Mutter, Dir flüsternd sagen, wo meines Königs Palast
ist.

Er ist da in der Ecke unsrer Terrasse, dort wo der Topf mit der
Tulsispflanze steht.

Die Prinzessin liegt schlafend an der weit weiten Küste der sieben
unwegsamen Meere.

Es gibt keinen in der Welt, der sie finden kann, als ich.

Sie hat Spangen an ihren Armen und Perlentropfen in ihren Ohren; ihr
Haar wallt nieder bis zum Boden.

Sie wird aufwachen, wenn ich sie mit meinem Zauberstab berühre, und
Edelsteine werden von ihren Lippen fallen, wenn sie lächelt.

Aber laß' mich Dir ins Ohr flüstern, Mutter; sie ist da in der Ecke
unsrer Terrasse, dort wo der Topf mit der Tulsispflanze steht.

Wenn es Zeit für Dich ist, zum Flusse baden zu gehn, steig' hinauf zu
der Terrasse auf dem Dach.

Ich sitz' in der Ecke, wo die Schatten der Mauern zusammentreffen.

Nur Miez darf mit mir kommen, denn sie weiß, wo der Barbier aus dem
Märchen wohnt.

Aber laß' mich, Mutter, Dir ins Ohr flüstern, wo der Barbier aus dem
Märchen wohnt.

Es ist da in der Ecke der Terrasse, wo der Topf mit der Tulsispflanze
steht.



DAS LAND DER VERBANNUNG


Mutter, das Licht ist grau geworden am Himmel; ich weiß nicht, wie spät
es ist.

Mich freut mein Spiel nicht, da bin ich zu Dir gekommen. Es ist
Sonnabend, unser Feiertag.

Laß' Deine Arbeit, Mutter; sitz' hier beim Fenster und erzähl' mir, wo
die Wüste von Tepāntar in dem Märchen ist.

                   *       *       *       *       *

Der Regenschatten hat den ganzen langen Tag zugedeckt.

Der wilde Blitz zerkratzt den Himmel mit seinen Nägeln.

Wenn die Wolken rollen und es donnert, lieb' ich es, mich zu fürchten im
Herzen und mich an Dich zu schmiegen.

Wenn der schwere Regen stundenlang auf die Bambusblätter plätschert, und
unsre Fenster schüttern und klirren unter den Windstößen, sitz' ich gern
allein im Zimmer, Mutter, mit Dir und hör' Dich erzählen von der Wüste
Tepāntar in dem Märchen.

                   *       *       *       *       *

Wo liegt sie, Mutter, an der Küste welchen Meeres, am Fuße welcher
Hügel, in wessen Königs Königreich?

Da gibt's keine Hecken, die Felder zu grenzen, keinen Fußpfad hindurch,
auf dem die Dorfbewohner des abends ihr Dorf erreichen oder die Frau,
die dürres Holz im Walde sammelt, ihre Bürde zu Markte bringen kann. Mit
Flecken gelben Grases im Sand und einem einzigen Baum, in dem das weise,
alte Vogelpaar sein Nest hat, liegt die Wüste von Tepāntar.

                   *       *       *       *       *

Ich kann mir vorstellen, wie gerade an einem so wolkigen Tage der junge
Königssohn auf grauem Roß allein durch die Wüste reitet, auf der Suche
nach der Prinzessin, die im Palast des Riesen über dem unbekannten
Wasser gefangen liegt.

Wenn der Regennebel herunterrieselt am fernen Himmel und der Blitz
aufzuckt wie ein plötzlicher Schmerz, denkt er da seiner unglücklichen
Mutter, wie sie, vom König verstoßen, den Kuhstall fegt und ihre Augen
wischt, während er durch die Wüste Tepāntar reitet, wie das Märchen
erzählt?

                   *       *       *       *       *

Sieh', Mutter, es ist beinahe dunkel, ehe noch der Tag vorüber ist, und
es gehn keine Wandrer drüben auf der Dorfstraße.

Der Hirtenknab' ist frühe heimgekommen von der Weide und die Menschen
haben ihre Felder verlassen, um auf Matten zu sitzen unter der
Dachtraufe ihrer Hütten, nach den dräuenden Wolken spähend.

Mutter, ich habe alle meine Bücher in dem Spinde gelassen -- heiße mich
nicht, jetzt meine Aufgaben machen.

Wenn ich aufwachse und groß wie mein Vater bin, werde ich alles lernen,
was gelernt werden muß. Aber nur heute gerade, erzähle mir, Mutter, wo
die Wüste von Tepāntar ist, von der das Märchen erzählt.



DER REGENTAG


Tückische Wolken ballen sich rasch über der schwarzen Franse des Waldes.

O Kind, geh' nicht hinaus!

Die Palmenreihe am See schlägt ihre Häupter wider den schrecklichen
Himmel; die Krähen mit ihren schmutzigen Schwingen sitzen still auf den
Tamarindenzweigen, und das östliche Ufer des Flusses geistert in einem
verdunkelten Glühn.

                   *       *       *       *       *

Unsre Kuh muht laut, an den Zaun gebunden.

O Kind, wart' hier, bis ich sie in den Stall bringe.

Menschen drängen hinaus auf das überschwemmte Feld, um die Fische zu
fangen, die aus den überflutenden Teichen entkommen; das Regenwasser
rinnt in Rillen durch die engen Gassen, wie ein lachender Junge, der
seiner Mutter davongerannt ist, um sie zu necken.

                   *       *       *       *       *

Horch', irgendwer ruft nach dem Bootsmann an der Furt.

O Kind, des Tages Licht ist trüb' und die Arbeit an der Fähre ruht.

Der Himmel scheint rasch zu reiten auf dem wildstürzenden Regen; das
Wasser im Fluß ist laut und ungestüm; Frauen sind früh nach Haus geeilt
vom Ganges mit ihren gefüllten Krügen.

                   *       *       *       *       *

Die Abendlampen müssen fertiggemacht werden.

O Kind, geh' nicht hinaus!

Die Straße zum Markt ist einsam, die Gasse zum Fluß ist schlüpfrig. Der
Wind stöhnt und wütet in den Bambuszweigen wie ein wildes Tier, in einem
Netz verfangen.



PAPIERSCHIFFCHEN


Tag für Tag laß' ich meine Papierschiffchen, eins nach dem andern, den
eilenden Strom hinunterschwimmen.

In großen, schwarzen Buchstaben schreib' ich meinen Namen darauf und den
Namen des Dorfes, wo ich lebe.

Ich hoffe, daß irgendwer in einem fremden Land sie finden wird und
wissen, wer ich bin.

Ich belade meine kleinen Boote mit Shiuliblumen aus unserm Garten und
hoffe, daß diese Blüten der Dämmerung heil ans Land getrieben werden zur
Nacht.

Ich lichte meine Papierschiffchen und schaue hinauf in den Himmel und
sehe die kleinen Wolken ihre weißen, blähenden Segel setzen.

Ich weiß nicht, wer von meinen Gespielen im Himmel sie hinunterschickt
durch die Luft, damit sie wettlaufen mit meinen Booten!

Wenn Nacht kommt, vergrabe ich mein Gesicht in meine Arme und träume,
daß meine Papierschiffchen weiter und weiter treiben unter den
Mitternachtssternen.

Die Schlafelfen segeln darin, und die Ladung sind ihre Körbe voll
Träume.



DER SEEMANN


Das Boot des Bootsmannes Madhu ist an der Werft von Rajgunj verankert.

Es ist unnütz beladen mit indischem Flachs und liegt schon so lange
zwecklos da.

Wenn er mir nur sein Boot leihen wollte, ich würd' es mit hundert
Rudrern bemannen und Segel hissen, fünf oder sechs oder sieben.

Ich würd' es nicht nach dummen Märkten steuern.

Ich würde über die sieben Meere segeln und die dreizehn Flüsse des
Märchenlandes.

                   *       *       *       *       *

Gelt Mutter, Du würdest nicht weinen, um mich in einer Ecke?

Ich geh' nicht in den Wald wie Rāmachandra, um erst nach vierzehn Jahren
heimzukehren.

Ich werde der Märchenprinz sein und mein Boot füllen, mit allem, was mir
gefällt.

Ich werde meinen Freund Ashu mit mir nehmen. Wir werden frohlustig über
die sieben Meere segeln und die dreizehn Flüsse des Märchenlands.

                   *       *       *       *       *

Wir werden die Segel setzen im frühen Morgenlicht.

Wenn Du des mittags am Teiche badest, werden wir im Land eines fremden
Königs sein.

Wir werden die Furt von Tipurni passieren und hinter uns lassen die
Wüste von Tepāntar.

Wenn wir heimkommen, wird es anfangen zu dunkeln, und ich werde Dir von
allem erzählen, was wir gesehen haben.

Ich werde die sieben Meere kreuzen und die dreizehn Flüsse des
Märchenlandes.



DAS ANDERE UFER


Ich möchte hinübergehn an das Ufer des Flusses drüben,

Wo jene Boote angeseilt sind an die Bambuspfähle in einer Reihe;

Wo Männer in ihren Booten überfahren in der Frühe, mit Pflügen auf ihren
Schultern, ihre Felder weit draußen zu ackern;

Wo die Kuhhirten ihre blökenden Kälber über den Strom schwimmen lassen
nach den Uferweiden;

Von wo sie alle heimkommen am Abend und lassen auf der Insel, der von
Unkraut überwucherten, die heulenden Schakale zurück.

Mutter, erlaubst Du's, so würd' ich gern Bootsmann bei der Fähre werden,
wenn ich einmal groß bin.

                   *       *       *       *       *

Sie sagen, es sind seltsame Sümpfe verborgen hinter jenem Ufer,

Wo Schwärme wilder Enten hinkommen, wenn die Regen vorüber sind, und
dickes Rohr wächst um die Ränder, da Wasservögel ihre Eier legen;

Wo Schnepfen mit ihren tanzenden Schwänzen ihre kleinen Zehenmale in den
reinen, weichen Schlamm drücken;

Wo im Abend die hohen Gräser, mit weißen Blüten behelmt, den Mondstrahl
einladen, auf ihren Wogen zu spielen.

Mutter, erlaubst Du's, so würd' ich gern Bootsmann bei der Fähre werden,
wenn ich einmal groß bin.

                   *       *       *       *       *

Ich werde hinüber- und herüberfahren von Ufer zu Ufer, und alle die
Jungen und Mädchen im Dorf werden mich anstaunen, während sie baden.

Wenn die Sonne des Himmels Mitte erklimmt und der Morgen in den Mittag
vergeht, werde ich nach Hause gelaufen kommen und sagen: »Mutter, ich
habe Hunger!«

Wenn der Tag um ist und die Schatten unter den Bäumen kauern, werd' ich
im Dämmern heimkommen.

Ich werde nie weggehen von Dir, in die Stadt arbeiten, wie Vater.

Mutter, erlaubst Du's, so würd' ich gern Bootsmann bei der Fähre werden,
wenn ich einmal groß bin.



DIE BLUMENSCHULE


Wenn Sturmwolken am Himmel rumoren und Junischauer herunterkommen,

Kommt der feuchte Ostwind über die Heide marschiert, um seinen Dudelsack
im Bambusgeröhr zu pfeifen.

Dann kommen auf einmal Scharen von Blumen heraus -- weiß niemand woher
-- und tanzen auf dem Gras in wilder Lust.

                   *       *       *       *       *

Mutter, wirklich, ich denke, die Blumen gehn unter der Erde zur Schule.

Sie machen ihre Aufgaben bei geschlossenen Türen, und wenn sie
herauskommen wollen, zu spielen, eh' ihre Zeit ist, läßt sie der Lehrer
in einer Ecke stehn.

                   *       *       *       *       *

Wenn die Regen kommen, haben sie ihre Ferien.

Zweige prasseln zusammen im Walde, und die Blätter rascheln im wilden
Wind, die Donnerwolken klatschen ihre Riesenhände, und die Blumenkinder
stürzen heraus in Kleidern rosig und gelb und weiß.

                   *       *       *       *       *

Weißt Du, Mutter, ihre Heimat ist im Himmel, wo die Sterne sind.

Hast Du nicht gemerkt, wie gierig sie sind, dahin zu gelangen? Weißt Du
nicht, warum sie in solcher Eile sind?

Freilich, ich kann's erraten, zu wem sie ihre Hände erheben: sie haben
ihre Mutter, wie ich die meine hab'.



DER KAUFMANN


Stell' Dir vor, Mutter, daß Du zu Hause bleiben müßtest, und ich müßte
in fremde Länder reisen.

Stell' Dir vor, daß mein Boot bereitliegt an der Brücke, voll geladen.

Nun denk' gut nach, Mutter, eh' Du sagst, was ich mitbringen soll für
Dich, wenn ich zurückkomme.

                   *       *       *       *       *

Mutter, willst Du Haufen und Haufen von Gold?

Dort an den Ufern goldener Ströme sind Felder voll goldener Ernten.

Und in den Schatten des Waldpfads tropfen die goldnen Champablüten auf
den Weg.

Ich will sie sammeln, alle für Dich, in vielen hundert Körben.

Mutter, willst Du Perlen so groß wie Regentropfen im Herbst?

Ich will hinüberfahren nach der Perleninsel.

Dort zittern im frühen Morgenlicht Perlen auf den Wiesenblumen, Perlen
tropfen ins Gras, und Perlen sind verspritzt im Sand vom Gischt der
wilden Meereswogen.

Mein Bruder soll ein Paar Rösser haben mit Flügeln, um mit den Wolken zu
fliegen.

Für Vater werd' ich eine Zauberfeder mitbringen, die, ohne daß er es
weiß, von selber schreiben wird.

Für dich, Mutter, muß ich das Kästlein und das Kleinod haben, das sieben
Königen ihre Königreiche kostet.



MITGEFÜHL


Wenn ich nur ein kleines Hündchen wäre, nicht Dein Kindchen, Mutter
lieb, würdest Du »Nein« zu mir sagen, wenn ich es wagte, von Deiner
Schüssel zu essen?

Würdest Du mich wegjagen, zu mir sagend: »Mach' Dich fort, Du garstiges,
kleines Hündchen?«

Dann geh', Mutter, geh'! Ich will nie mehr zu Dir kommen, wenn Du mich
rufst, und mich nicht mehr von Dir füttern lassen.

                   *       *       *       *       *

Wenn ich nur ein kleiner, grüner Papagei wäre und nicht Dein Kindchen,
Mutter lieb, würdest Du mich an der Kette halten, damit ich nicht
wegfliegen kann?

Würdest Du mir mit dem Finger drohen und sagen: »Was für ein undankbarer
Racker von einem Vogel! Er knabbert an seiner Kette Tag und Nacht?«

Dann geh', Mutter, geh'! Ich will fortlaufen in den Wald; ich will nicht
mehr, daß Du mich wieder in Deine Arme nimmst.



BERUF


Wenn der Gong zehn schlägt des morgens und ich wandre unsre Gasse zur
Schule,

Treffe ich jeden Tag den Händler, schreiend: »Ringe, kristallne Ringe!«

Es gibt nichts, das ihn zur Eile treibt, es gibt keinen Weg, den er
nehmen, keinen Ort, nach dem er gehen, keine Zeit, zu der er heimkommen
muß.

Ich wünschte, ich wäre ein Händler und verbrächte meinen Tag auf der
Straße, schreiend: »Ringe, kristallne Ringe!«

                   *       *       *       *       *

Wenn ich um vier des nachmittags zurückkomme aus der Schule,

Kann ich durch das Tor jenes Hauses den Gärtner die Erde graben sehn.

Er tut, was er will mit seinem Spaten, beschmutzt seine Kleider mit
Staub, keiner stellt ihn zur Rede, wenn er gebraten wird in der Sonne
oder naß wird.

Ich wünschte, ich wäre ein Gärtner, drauflosgrabend im Garten, und
keiner hielte mich ab vom Graben.

                   *       *       *       *       *

Just wenn es dunkel wird am Abend und meine Mutter mich zu Bett schickt,

Kann ich durch das offne Fenster den Wächter sehn auf und abschreiten.

Die Gasse ist dunkel und einsam, und die Straßenlampe steht wie ein
Riese mit einem roten Auge im Kopf.

Der Wächter schwingt seine Laterne und schreitet mit seinem Schatten zur
Seite und geht nicht =ein=mal zu Bett in seinem Leben.

Ich wünschte, ich wäre ein Wächter, die Straßen schreitend alle Nacht,
und scheuchte die Schatten mit meiner Laterne.



ÜBERLEGEN


Mutter, Dein Töchterchen ist dumm! Sie ist so schrecklich kindisch!

Sie weiß nicht den Unterschied zwischen den Lichtern auf der Straße und
den Sternen.

Wenn wir »Essen« mit Kieseln spielen, glaubt sie, sie sind wirkliche
Speise und versucht, sie in ihren Mund zu stecken.

Wenn ich ein Buch aufmache vor ihr und sie ihr ABC lernen heiße,
zerreißt sie die Blätter mit ihren Händen und brüllt vor Freude über
nichts. Das ist die Art, wie Dein Töchterchen ihre Aufgaben macht.

Wenn ich den Kopf über sie schüttle in Ärger und sie schelte und sie
schlimm nenne, lacht sie und hält es für einen Hauptspaß.

Jeder weiß, daß Vater fort ist, aber wenn ich im Spiel laut »Vater«
rufe, schaut sie herum in Aufregung und denkt, daß Vater nahe ist.

Wenn ich Schule spiele mit den Eseln, die unser Wäschemann bringt, um
Wäsche zu holen, und ich drohe ihr, daß ich der Lehrer bin, wird sie
kreischen ohne Grund und mich Dādā nennen.

Dein Töchterchen will den Mond fangen. Sie ist so drollig, sie nennt:
Ganesh Ganush.

Mutter, Dein Töchterchen ist dumm, sie ist so schrecklich kindisch!



DER KLEINE GROSSE MANN


Ich bin klein, weil ich ein kleines Kind bin. Ich werde groß sein, wenn
ich so alt bin wie mein Vater ist.

Mein Lehrer wird kommen und sagen: »Es ist spät; bring' Deine Tafel und
Deine Bücher.«

Ich werd' ihm antworten: »Weißt Du nicht, daß ich so groß bin wie Vater?
Und ich muß keine Stunden mehr haben.«

Mein Lehrer wird sich wundern und sagen: »Er kann seine Bücher lassen,
wenn er will, er ist ja erwachsen.«

                   *       *       *       *       *

Ich werde mich anziehn und zum Jahrmarkt spazieren, wo das Gewühl am
dichtesten ist.

Mein Onkel wird auf mich zugestürzt kommen und sagen: »Du wirst verloren
gehn, mein Junge; laß' mich Dich tragen.«

Ich werde antworten: »Kannst Du nicht sehen, Onkel, ich bin so groß wie
Vater. Ich muß allein auf den Jahrmarkt gehn.«

Onkel wird sagen: »Ja, er kann gehn, wohin er will; er ist erwachsen.«

                   *       *       *       *       *

Mutter wird vom Bade kommen, wenn ich meiner Amme Geld gebe; denn ich
weiß, wie sich die Büchse aufmachen läßt mit meinem Schlüssel.

Mutter wird sagen: »Was hast Du vor, Du schlimmes Kind?«

Ich werd' ihr erwidern: »Mutter, weißt Du nicht, ich bin so groß wie
Vater und ich muß meiner Amme Silber geben.«

Mutter wird zu sich sagen: »Er kann Geld geben, wem er will; er ist ja
erwachsen.«

                   *       *       *       *       *

In der Ferienzeit im Oktober wird Vater heimkommen und, weil er meint,
daß ich noch ein kleines Kind bin, wird er für mich aus der Stadt kleine
Schuhe und kleine seidene Röcklein mitbringen.

Ich werde sagen: »Vater, gib sie meinem Dādā, denn ich bin so groß wie
Du bist.«

Vater wird denken und sagen: »Er kann seine eignen Kleider kaufen, wenn
er will; er ist ja erwachsen.«



ZWÖLF UHR


Mutter, ich will jetzt aufhören mit meinen Aufgaben. Ich habe den ganzen
Morgen über meinen Büchern gesessen.

Du sagst, es ist erst zwölf Uhr. Angenommen, es ist nicht später: kannst
Du Dir niemals denken, es ist Nachmittag, wenn es nur zwölf Uhr ist?

Ich kann mir leicht vorstellen jetzt, daß die Sonne den Rand jenes
Reisfeldes erreicht hat, und daß die alte Fischerfrau Kräuter sammelt
für ihr Nachtmahl, drüben am Teich.

Ich kann meine Augen fest zumachen und denken, daß die Schatten dunkler
werden unter dem Madarbaum und das Wasser im Teich glänzend schwarz
aussieht.

Wenn zwölf Uhr in der Nacht kommen kann, warum kann die Nacht nicht
kommen, wenn es zwölf Uhr ist?



SCHRIFTSTELLEREI


Du sagst, daß Vater eine Menge Bücher schreibt, aber was er schreibt,
versteh' ich nicht.

Er hat Dir den ganzen Abend vorgelesen, aber konntest Du wirklich
herausbekommen, was er meinte?

Welch schöne Märchen, Mutter, kannst =Du= uns erzählen! Warum kann Vater
nicht solche schreiben?

Hat er niemals von seiner eignen Mutter Märchen gehört von Riesen und
Elfen und Prinzessinnen?

Hat er sie alle vergessen?

                   *       *       *       *       *

Oft, wenn er spät kommt zum Baden, mußt Du gehn und ihn hundertmal
rufen.

Du wartest und hältst sein Essen warm für ihn, und er schreibt weiter
und vergißt.

Vater spielt immer Büchermachen.

Wenn ich je spielen gehe in Vaters Zimmer, kommst Du und rufst mich:
»Was für ein schlimmes Kind!«

Wenn ich den leisesten Lärm mache, sagst Du: »Siehst Du nicht, daß Vater
arbeitet?«

Was hat das für Sinn, schreiben und immer schreiben?

                   *       *       *       *       *

Wenn ich Vaters Feder oder Bleistift nehme und in sein Buch schreibe,
gerade wie er -- a, b, c, d, e, f, g, h, i, --, warum wirst Du dann böse
mit mir, Mutter?

Du sagst nie ein Wort, wenn Vater schreibt.

                   *       *       *       *       *

Wenn mein Vater solche Haufen Papier verschwendet, Mutter, scheint es
Dich gar nicht zu stören.

Wenn ich aber nur =einen= Bogen nehme, um mir ein Schiff draus zu
machen, sagst Du: »Kind, wie Du einen quälst!«

Was hältst Du von Vaters Bogen und Bogenverderben mit schwarzen Zeichen,
über und über auf beiden Seiten?



DER BÖSE POSTBOTE


Warum sitzest Du hier auf dem Boden so still und schweigend, sag' mir,
Mutter lieb?

Der Regen kommt herein durch das offene Fenster, macht Dich ganz naß,
und Du merkst es gar nicht.

Hörst Du den Gong vier schlagen? Es ist Zeit für meinen Bruder, daß er
heimkommt aus der Schule.

Was ist Dir geschehn, daß Du so fremd ausschaust?

Hast Du heut keinen Brief von Vater bekommen?

Ich sah den Postboten Briefe bringen in seinem Sack, für jeden fast in
der Stadt.

Nur Vaters Briefe behält er, um sie selber zu lesen. Ich bin gewiß, der
Postbote ist ein böser Mann.

                   *       *       *       *       *

Aber sei nicht unglücklich darüber, Mutter lieb.

Morgen ist Markttag im nächsten Dorf. Du sagst Deinem Mädchen, daß sie
Federn und Papier kauft.

Ich selbst will Vaters Briefe schreiben; Du wirst nicht einen einzigen
Fehler finden.

Ich werde vom A drauf los bis zum K schreiben.

Doch, Mutter, was lächelst Du?

Du glaubst nicht, daß ich so schön schreiben kann wie Vater?

Aber ich werde mein Papier sorgfältig linieren und alle Buchstaben schön
groß schreiben.

Wenn ich mein Schreiben fertig habe, meinst Du, werd' ich so dumm sein
und es hineinwerfen in des gräßlichen Postboten Sack?

Ich werd' es Dir selber bringen, ganz rasch, und Dir Brief für Brief
meine Schrift lesen helfen.

Ich weiß, der Postbote gibt Dir nicht gern die wirklich netten Briefe.



DER HELD


Mutter, denk' Dir, wir reisen und kommen durch ein fremdes und
gefährliches Land.

Du reisest in einem Palankin, und ich trabe neben Dir auf einem roten
Pferd.

Es ist Abend, und die Sonne geht unter. Die Wüste von Joradighi liegt
fahl und grau vor uns. Das Land ist öd und brach.

Du bist erschreckt und denkst: »Ich weiß nicht, wohin wir geraten sind.«

Ich sage zu Dir: »Mutter, hab' keine Angst.«

                   *       *       *       *       *

Die Wiese prickelt vor spitzigem Gras, und drüber läuft ein schmaler,
holpriger Pfad.

Kein Vieh ist zu sehn auf dem weiten Feld; es ist in seine Ställe
heimgekehrt.

Es wird dunkel und düster auf Land und Himmel, und wir können's nicht
sagen, wohin wir gehn.

Plötzlich rufst Du und fragst mich flüsternd: »Was für ein Licht ist
dort am Ufer?«

                   *       *       *       *       *

Just da gellt ein furchtbarer Schrei, und Gestalten kommen laufend auf
uns zu.

Du sitzest zusammengekauert in Deinem Palankin und wiederholst betend
die Namen der Götter.

Die Träger, vor Schrecken zitternd verstecken sich im Dornenbusch.

Ich schrei' Dir zu: »Hab' keine Angst, Mutter, ich bin da!«

                   *       *       *       *       *

Mit langen Stöcken in den Händen und ganz wild flatterndem Haar um ihre
Schädel kommen sie näher und näher.

Ich schreie: »Seht Euch vor, Ihr Schurken! Einen Schritt weiter und Ihr
seid des Todes!«

Sie stoßen noch einmal ein schreckliches Geheul aus und stürzen
vorwärts.

Du packst meine Hand und sagst: »Lieber Junge, um Himmels willen, halt'
Dich fern von ihnen!«

Ich sage: »Mutter, gib Du nur Obacht auf mich.«

                   *       *       *       *       *

Dann sporn' ich mein Roß zu wildem Galopp, und mein Schwert und Schild
klirren aneinander.

Der Kampf wird so gräßlich, Mutter, daß Dich ein kalter Schauer
überliefe, wenn Du ihn sehen könntest von Deinem Palankin.

Viele von ihnen fliehn, und eine große Zahl ist in Stücke gehaun.

Ich weiß, Du denkst, ganz versunken in Dich, Dein Junge muß tot sein in
dieser Stunde.

Aber ich komme zu Dir, ganz mit Blut befleckt und sage: »Mutter, nun ist
der Kampf vorüber.«

Du kommst heraus und küssest mich, drückst mich an Dein Herz und sagst
zu Dir selbst:

»Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich nicht meinen Jungen zum
Geleit hätte.«

                   *       *       *       *       *

Tausend nutzlose Dinge geschehen Tag für Tag, warum könnte nicht so
etwas zufällig wahr werden?

Es würde wie eine Geschichte in einem Buch sein.

Mein Bruder würde sagen: »Ist das möglich? Ich dachte immer, er wäre so
zart!«

Unsre Dorfleute würden alle in Verwunderung sagen: »War es nicht ein
Glück, daß der Junge mit seiner Mutter war?«



DAS ENDE


Es ist Zeit für mich, zu gehen, Mutter. Ich gehe.

Wenn Du im fahlen Dunkel der einsamen Dämmerung Deine Arme ausstreckst
nach Deinem Kindchen im Bett, werde ich sagen: »Kindchen ist nicht da!«
-- Mutter, ich gehe.

Ich werde ein zarter Lufthauch werden und Dich liebkosen; und ich werde
das Kräuseln auf dem Wasser sein, wenn Du badest, und Dich küssen und
wieder küssen.

In der Sturmnacht, wenn der Regen auf die Blätter prasselt, wirst du
mein Flüstern hören in Deinem Bett, und mein Lachen wird mit dem Blitz
durchs offne Fenster in Dein Zimmer leuchten.

Wenn Du wach liegst, an Dein Kindchen denkend bis spät in die Nacht,
werd' ich singen zu Dir von den Sternen: »Schlaf, Mutter, schlaf.«

Auf den irrenden Mondstrahlen werd' ich mich über Dein Bett stehlen und
auf Deiner Brust liegen, während Du schläfst.

Ich werde ein Traum werden und durch die kleine Öffnung Deiner
Augenlider werd' ich in die Tiefen Deines Schlafes schlüpfen; und wenn
Du aufwachst und bestürzt herumschaust, werd' ich wie ein glitzernder
Leuchtkäfer hinaus ins Dunkle schwirren.

Wenn zum großen Puja-Feste die Nachbarskinder kommen und herumspielen im
Haus, werd' ich in die Musik der Flöte schmelzen und in Deinem Herzen
schlagen den ganzen Tag.

Die liebe Muhme wird kommen mit Puja-Geschenken und wird fragen: »Wo ist
unser Kindchen, Schwester?«

Mutter, Du wirst ihr leise sagen: »Er ist in den Sternen meiner Augen,
er ist in meinem Körper und in meiner Seele.«



KOMM ZURÜCK!


Die Nacht war schwarz als =sie= fortging, und sie schliefen.

Die Nacht ist schwarz jetzt, und ich rufe nach =ihr=: »Komm zurück, mein
Liebling; die Welt liegt im Schlaf; und niemand würde wissen, wenn Du
kämst für eine Weile, während die Sterne den Sternen zublinken.«

                   *       *       *       *       *

Sie ging weg, als die Bäume in Knospen standen und der Lenz jung war.

Nun sind die Blumen in voller Blüte und ich rufe: »Komm zurück, mein
Liebling. Die Kinder sammeln Blumen und verstreun sie in unbekümmertem
Spiel. Und wenn Du kämest und nähmest =eine= kleine Blüte, es würde sie
keiner vermissen.«

Die damals spielten, spielen noch, so verschwenderisch ist Leben.

Ich lauschte ihrem Plaudern und rufe: »Komm zurück, mein Liebling; denn
Mutters Herz ist voll bis an den Rand mit Liebe, und wenn Du kämest, nur
einen einzigen kleinen Kuß zu haschen von ihr, es würde Dir's niemand
neiden.«



DER ERSTE JASMIN


Ah, dieser Jasmin, dieser weiße Jasmin!

Mir ist wie am ersten Tag, da ich meine Hände füllte mit diesem Jasmin,
diesem weißen Jasmin.

Ich habe die Sonne geliebt, den Himmel und die grüne Erde.

Ich habe das rieselnde Rauschen des Flusses gehört durch das Dunkel der
Mitternacht;

Herbstsonnenuntergänge sind zu mir gekommen an eines Weges Biegung in
einsamer Öde wie eine Braut, den Schleier hebend zum Empfang des
Geliebten.

Und doch ist mein Erinnern noch süß von dem ersten weißen Jasmin, den
ich in meiner Hand hielt, als ich ein Kind war.

                   *       *       *       *       *

Manch' froher Tag ist in mein Leben gekommen, und ich habe gelacht mit
Spaßmachern in festlichen Nächten.

An grauen Regenmorgen hab' ich manch' müßig Lied gesummt.

Ich habe um meinen Nacken getragen den Abendkranz aus Bakulas, von
Händen der Liebe geflochten.

Und doch ist mein Herz süß von dem Erinnern an den ersten frischen
Jasmin, der meine Hände füllte, als ich ein Kind war.



DER FEIGENBAUM


O Du zottelköpfiger Feigenbaum am Ufer des Teichs, hast Du den kleinen
Jungen vergessen wie die Vögel, die in Deinen Zweigen genistet haben und
Dich verließen?

Erinnerst Du Dich nicht, wie er am Fenster saß und sich wunderte über
das Gewirr Deiner Wurzeln, die unter die Erde tauchten?

Die Frauen kamen immer, ihre Krüge zu füllen am Teich, und Dein
riesiger, schwarzer Schatten räkelte sich über das Wasser wie Schlaf,
der sich anstrengt, aufzuwachen.

Sonnenlicht tanzte auf den Wasserwirbeln wie ruhlose, winzige
Weberschiffchen, die eine goldne Tapete wirken.

Zwei Enten schwammen am verwilderten Rande über ihren Schatten und der
Junge saß still und sann.

Er wollte der Wind sein und durch Deine rauschenden Zweige blasen, Dein
Schatten sein und mit dem Tage länger werden auf dem Wasser, ein Vogel
sein und auf Deinem höchsten Wipfel sitzen, und wie jene Enten unter
Unkraut und Schatten schwimmen.



SEGNUNG


Segne dies kleine Herz, diese weiße Seele, die des Himmels Kuß für
unsere Erde gewonnen hat.

Er liebt das Licht der Sonne, er liebt den Anblick von seiner Mutter
Antlitz.

Er hat mich gelehrt, den Staub verachten und nach Gold trachten.

Schließ' ihn an Dein Herz und segne ihn.

                   *       *       *       *       *

Er ist in dieses Land der hundert Kreuzwege gekommen.

Ich weiß nicht, wieso er Dich wählte aus der Menge, an Dein Tor kam und
Deine Hand faßte, um seinen Weg zu fragen.

Er wird Dir folgen, lachend und plaudernd und ohne Zweifel im Herzen.

Erfüll' sein Vertrauen, führe ihn zum Rechten und segne ihn.

                   *       *       *       *       *

Leg' Deine Hand auf sein Haupt und bete: wenn auch die Wogen unten
bedrohlich werden, so möge doch der Odem von oben kommen und seine Segel
füllen und ihn in den Hafen des Friedens wehn.

Vergiß' ihn nicht in Deinem Hasten, laß' ihn an Dein Herz kommen und
segne ihn.



DAS GESCHENK


Ich möchte Dir was schenken, mein Kind, denn wir treiben auf dem Strom
der Welt.

Unsre Leben werden auseinandergehn und unsre Liebe wird vergessen
werden.

Aber ich bin nicht so töricht, zu hoffen, ich könnte Dein Herz mit
meinen Geschenken kaufen.

Jung ist Dein Leben, Dein Pfad lang, und Du trinkst die Liebe, die wir
Dir bringen, auf einen Zug, kehrst Dich um und läufst weg von uns.

Du hast Dein Spiel und Deine Gespielen. Was tut's, wenn Du nicht Zeit,
nicht Sinn für uns hast.

Fürwahr, wir haben Muße genug im Alter, die Tage zu zählen, die
vergangen sind, in unseren Herzen zu hätscheln, was unsre Hände für
immer verloren haben.

Der Fluß läuft schnell mit einem Lied, alle Schranken durchbrechend.
Aber der Berg steht und erinnert sich und folgt ihm mit seiner Liebe.



MEIN LIED


Dies Lied von mir will seine Musik winden um Dich, mein Kind, wie die
zärtlichen Arme der Liebe.

Dies Lied von mir will Deine Stirn berühren wie ein Segenskuß.

Wenn Du allein bist, wird es an Deiner Seite sitzen und Dir ins Ohr
flüstern; bist Du in der Menge, wird es Dich einfrieden mit
Entrücktheit.

Mein Lied wird ein Flügelpaar für Deine Träume sein, es wird Dein Herz
an die Grenze des Unbekannten reißen.

Es wird wie der getreue Stern zu Häupten sein, wenn finstre Nacht über
Deiner Straße liegt.

Mein Lied wird in den Sternen Deiner Augen sitzen und Deinen Blick in
das Herz der Dinge führen.

Und wenn meine Stimme still ist im Tod, wird mein Lied in Dein lebendes
Herz sprechen.



DER ENGEL


Sie schreien und kämpfen, sie zweifeln und verzweifeln, sie wissen kein
Ende ihren Zänken.

Laß' Dein Leben unter sie kommen wie eine Flamme Licht, mein Kind, ohne
Flackern und rein, und entzücke sie zum Schweigen.

Sie sind grausam in ihrer Gier und ihrem Neid; ihre Worte sind wie
verborgene Messer, dürstend nach Blut.

Geh' und stelle Dich unter ihre schelen Herzen, mein Kind, und laß'
Deine milden Augen auf sie fallen wie der verzeihende Abendfriede über
den Streit des Tags.

Laß' sie Dein Antlitz sehn, mein Kind, und so den Sinn aller Dinge
erkennen; laß' sie Dich lieben und so einander lieben.

Komm' und wohne im Busen der Unendlichkeit, mein Kind. Mit Sonnenaufgang
öffne und erhebe Dein Herz wie eine blühende Blume, und zum Untergang
neige Dein Haupt und vollende im Schweigen des Tages Gottesdienst.



DER LETZTE VERTRAG


»Komm und miete mich«, schrie ich, als ich des Morgens auf der
steingepflasterten Straße ging.

Das Schwert in der Hand, kam der König in seinem Wagen.

Er hielt meine Hand und sagte: »Ich will Dich mieten mit meiner Macht.«

Aber seine Macht war mir nichts wert, und er fuhr davon in seinem Wagen.

                   *       *       *       *       *

In der Hitze des Mittags lehnten die Häuser mit geschlossenen Türen.

Ich wanderte entlang die krumme Gasse.

Ein alter Mann kam heraus mit seinem Sack voll Gold.

Er sann nach und sagte: »Ich will Dich mieten mit meinem Geld.«

Er wog seine Münzen, eine nach der andern, aber ich wandte mich fort.

                   *       *       *       *       *

Abend war's. Die Gartenhecke stand ganz in Blüte.

Das liebliche Mädchen kam heraus und sagte: »Ich will Dich mieten mit
einem Lächeln.«

Ihr Lächeln blaßte und schmolz in Tränen, und sie ging zurück allein im
Dunkel.

                   *       *       *       *       *

Die Sonne glitzerte im Sand, und die Meereswellen brachen landeinwärts.

Ein Kind saß da, mit Muscheln spielend.

Es hob seinen Kopf und schien mich zu kennen und sagte: »Ich miete Dich
mit Nichts.«

Von da an machte mich dieser Vertrag, im Kinderspiel geschlossen, zum
freien Mann.



ANMERKUNGEN UND NACHWORT DES ÜBERSETZERS


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7: _Arēka-Palme_ (malayisch arik). Eine Abart, Arēca cātechu, die
Betelpalme, trägt orangerote, hühnereigroße Früchte, deren Kern, mit den
Blättern des Betelpfeffers umwickelt, gekaut wird.

_Kokos-Palme_ (von spanisch coca »Nuß« oder portugiesisch coco »Popanz«
wegen der gesichtsähnlichen, daher schreckhaften Früchte). Die Kokosnuß
gehört in Indien zu den heiligsten Früchten, die der Göttin der
Wohlfahrt, Sriphāla, geweiht sind.

_Brotfruchtbaum_ (englisch jack-fruit aus malayisch chakka; sanskrit
pānasa). Die kopfgroßen Früchte werden roh und geröstet genossen. 2 bis
3 Bäume versorgen einen Menschen ein Jahr mit Nahrung.

20: _Feigenbaum_ (englisch banyan tree, sanskrit vaṭa; ficus indica).
Die Luftwurzeln der Äste greifen in den Boden ein und werden zu neuen
Stämmen. So wächst der Baum nach allen Seiten hin durch Jahrtausende und
bildet einen Wald, der Tausende von Menschen aufnimmt. Er ist der Zeit,
Kāla, heilig und gilt als Sinnbild der Unsterblichkeit. Beim Pflanzen
des Baumes wird gewöhnlich das Gebet gesprochen: »Möchte ich so viele
Jahre im Himmel weilen als dieser Baum auf Erden wächst.«

_Mango_ (malayisch māngāy, sanskrit āmra; magnifera indica).
Gelbblühender Baum mit gelblichen, bis zu einem Kilo schweren Früchten,
die ein beliebtes Obst sind. Der Ārmra gilt als Inkarnation der
Liebesgöttin. Nach einer Legende übte die Göttin Pārvati unter einem
Mangobaum Buße, dort, wo jetzt der Ṡaiva-Tempel steht. Hier erschien ihr
ihr Gatte Ṡiva, der als Ekāmranātha »der unvergleichliche Herr des
Mangobaums« verehrt wird.

21: _Bakula_ (mimusops elengi), Baum mit wohlriechenden Blättern und
Blüten, die ein ätherisches Öl liefern. Die süßen Früchte sind eßbar.

35: _Kadam_ (sanskrit Kadamba; nauclea cadamba), Liane mit
orangefarbener duftender Blüte.

_Dādā_ (Hindustani), Großvater väterlicherseits, dann auf jede ältere
Person angewendet, hier: der ältere Bruder.

40: _Champa_ (sanskrit champaka; michelia champaka), den Magnolien
ähnliche Holzgewächse mit duftenden, zarten, weißen und gelben Blüten,
die Götzenbildern dargebracht werden, besonders am 14. Iyeshṭh (ungefähr
unserm Juni entsprechend). Das wohlriechende Champakaöl ist sehr
beliebt.

41: _Rāmāyana_ (sanskrit ayana = gehend, vonay = gehen), »Die Taten des
Rama«. Das große Sanskrit-Epos, das dem Vālmiki zugeschrieben wird und
im 5. Jahrh. v. Chr. entstanden sein dürfte. Vgl. Alex. Baumgartner, das
Rāmāyana und die Rāma-Literatur der Inder. Freiburg 1894.

43: _Tulsi_ (sanskrit tulasi; ocimum sanctum), heiliges Basilikum. In
Ostindien berühmteste Arzneipflanze, der Legende nach aus dem Haar einer
Nymphe erzeugt, die Vishnu in seiner Inkarnation als Krishna liebte.
Vaisnawa-Rosenkränze bestehen aus 108 Perlen von diesem Holz.
Alljährlich wird in Indien eine Art Vermählungszeremonie zwischen dieser
Pflanze und einem Salagramammoniten (versteinerte, ausgestorbene
Tintenschneckenart, Symbol des Vishnu und als Amulett weiblicher
Fruchtbarkeit) als Sinnbild der Muschelinkarnation Vishnus vollzogen.

50: _Tamarinde_ (arabisch tamr hindi, indische Dattel; tamarindus
indica), bis zu 25 Metern hoher, immergrüner Baum mit gelblichen,
purpurgeäderten Blüten. Die Frucht wird als Obst, Nahrungs- und
Arzneimittel verwendet.

53: _Shiuli_ (bengali; nyctanthes arbor tristis), Gattung der Oleaceen.
Bis zu 9 Metern hoher Baum oder Strauch, vom Jasmin hauptsächlich durch
Blütenfarbe (Röhre und Schlund orange, sonst weiß) und Fruchtform
verschieden. Tropische Zierpflanze mit wohlriechenden, nur nachts
geöffneten Blüten, die zum Färben von Speisen und zur Bereitung von
ätherischem Öl dienen.

55: _Indischer Flachs_ (englisch jute, bengali jūto »die Haarflechte«;
corchorus olitorius). Die Faser wird zur Erzeugung von Matten und groben
Sackleinen, Jute, verwendet.

56: _Rāmachandra._ Das Wort chandra wird oft an Namen angefügt, um die
Schönheit auszudrücken. Der Retter der Welt, der triumphierende
Dämonentöter, der rührendste Dulder, in den sich Vishnu bei seiner
siebenten Herabkunft verwandelte. Rāmas vierzehnjährige Verbannung mit
seiner Gattin Sitā wird im zweiten und dritten Gesange des Rāmāyana
geschildert.

71: _Ganesh_ (Sanskrit Ganeça »der Anführer des Gefolges« Shivas, als
dessen Sohn er gilt). Er wird oft mit seinem Bruder, dem Kriegsgott
Skanda verehrt. Er ist der Entferner von Hindernissen, die Verkörperung
allen Erfolges. Indische Handschriften pflegen mit einer an ihn sich
richtenden Verehrungsformel zu beginnen, damit er den hindernden Einfluß
böser Dämonen vom Schreiben abwehre: so ist der Schein entstanden, als
sei Ganesha eigentlich ein Gott der Wissenschaft. Sein in Indien
unendlich verbreitetes Bild zeigt ihn mit einem Elefantenkopf, oft auf
einer Ratte reitend.

75: _Madar_ (sanskrit mandāra; erythrina indica), Dadapbaum, als Stütze
in Pfeffer-, als Schattenbaum in Kaffeeplantagen verwendet. Mit meist
scharlachroten Blütentrauben, zur Gattung der Korallenbäume gehörig.

83: _Palankin_ Tragsänfte.

89: _Puja_ (sanskrit) bedeutet Verehrung überhaupt. Als Fest ist das
Durgāpūjā oder Navarātra gemeint, die »Neun Nächte«, beginnt am ersten
und endet am zehnten Tag der lichten Hälfte von Āṡvina (September-Oktober).
Es wird namentlich in Bengal gefeiert als Erinnerung an
den Sieg von Durgā, Shivas Frau, über einen büffelköpfigen
Dämon. Ihr Bild wird mit zehn bewaffneten Armen dargestellt, ihr rechter
Fuß auf einem Löwen ruhend, ihr linker auf dem Büffeldämon. Nach
neuntägiger Verehrung wird dieses Götzenbild am zehnten Tage ins Wasser
gestürzt.

Näheres vgl. Monier-Williams, Brāmanism and Hindūism or Religious
Thought and Life in India. London, 1891.

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Die Gedichte 2, 3 und 9 sind mit den Gedichten 60-62 der Sammlung
»Gitanjali« identisch.

Es scheint mir wichtig, zu betonen, daß die englische, von Tagore selbst
geschaffene Form als die beste europäische Mittlerin seiner Gedanken und
Gefühle zu gelten hat. Selbst die Kunst eines Rückert könnte uns die
Umdichtung aus dem bengalischen Urtext nicht so nahebringen, wie eine
möglichste Nachbildung der englischen Umdichtung uns rühren kann.

Bei den Anmerkungen danke ich wieder vieles der Freundlichkeit des
Berliner Sanskritisten, Herrn Professor Heinrich Lüders.


GEDRUCKT BEI POESCHEL & TREPTE IN LEIPZIG





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