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Title: Der Großinquisitor
Author: Dostojewski, F. M.
Language: German
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  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden ohne
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  ]



  F. M. Dostojewski

  Der
  Großinquisitor

  Übertragen von Rudolf Kassner

  Im Insel-Verlag zu Leipzig



In seiner unermeßlichen Barmherzigkeit zeigt Er sich noch einmal den
Menschen in derselben Gestalt, in welcher Er vor fünfzehn Jahrhunderten
drei Jahre lang unter ihnen gewandelt ist. Er läßt sich herab auf die
›brennenden Plätze‹ der südlichen Stadt, in der noch am Vorabend in
Gegenwart des Königs, des gesamten Hofstaates, der Ritterschaft, der
Kardinäle und entzückender Frauen vor der ganzen Einwohnerschaft
Sevillas durch den Kardinal-Großinquisitor nicht weniger als ein volles
Hundert Ketzer auf einmal _ad majorem dei gloriam_ verbrannt worden war.

Leise und unauffällig erscheint Er unter den Menschen, und siehe, es
erkennen Ihn alle. Das Volk drängt sich an Ihn heran mit unbezwinglicher
Gewalt. Es umgibt Ihn, wächst um Ihn und folgt Ihm. Schweigend schreitet
Er unter ihnen, mit dem stillen Lächeln unendlichen Mitleids auf den
Lippen. Die Sonne der Liebe brennt in seinem Herzen, Strahlen des
Lichtes, der Erleuchtung und Kraft strömen aus seinen Augen und gießen
sich über die Menge und wecken die Herzen der Menschen. Er streckt ihnen
seine Hand entgegen und segnet sie, und aus der Berührung mit seinem
Körper, ja schon aus seinem Gewande fließt heilende Kraft. Ein Greis,
der seit der Kindheit blind war, ruft aus der Schar: ›Herr, heile mich,
damit ich Dich erkenne!‹ Und siehe, von seinen Augen fällt es wie
Schuppen, und der Blinde sieht. In den Augen der Menschen sind Tränen,
das Volk küßt die Erde, über die Er hinwandelt, die Kinder werfen Blumen
vor seine Schritte, singen Lieder und rufen Hosianna. ›Er ist es, Er,‹
wiederholen alle, ›Er muß es sein und kein anderer.‹ So kommt Er vor das
Tor der Kathedrale, wo Menschen unter Heulen und Wehklagen einen weißen
offenen Kindersarg tragen, darin ein siebenjähriges Mädchen liegt, die
einzige Tochter eines angesehenen Bürgers der Stadt. Das tote Kind liegt
da, ganz in Blumen gebettet. ›Er wird dein Kind auferwecken vom Tode‹,
rufen Stimmen der weinenden Mutter zu. Aus der Kathedrale tritt dem
Sarge ein Priester entgegen, er vermag nicht gleich zu fassen, was hier
geschieht, und runzelt die Stirne. Da hört er ein Aufschluchzen: es ist
die Mutter des toten Mädchens, sie wirft sich zu seinen Füßen nieder und
hebt ihre Hand zu Ihm auf und ruft aus: ›Wenn Du es bist, dann wecke
mein Kind vom Tode auf!‹ Die Prozession bleibt stehen, der Sarg wird vor
Ihm auf den Boden gelassen. Er sieht auf ihn hernieder voll Rührung, und
sein Mund spricht noch einmal: ›_Talifa kumi._‹ Und das Mädchen erhebt
sich im Sarge, setzt sich auf und blickt im Kreise um sich mit
erstaunten offenen Augen. In den Händen hält es das Sträußlein weißer
Rosen, mit dem es im Sarge gelegen hat. Das Volk ist bewegt, Stimmen,
Schreie, Schluchzen. In diesem Augenblicke geht an der Kathedrale über
den Platz der Kardinal vorbei, der Großinquisitor, ein Greis von bald
neunzig Jahren, hoch und aufrecht, mit vertrocknetem Gesicht und
tiefliegenden Augen, in welchen noch verborgen das Feuer glüht. Heute
ist er nicht in den Prunkgewändern, in denen er sich gestern dem Volke
gezeigt hatte, da er die Feinde des römischen Glaubens verbrannte --
nein, heute trägt er die alte grobe Mönchskutte. Ihm folgen in
gemessener Entfernung seine düsteren Gehilfen und Knechte, die
›heiligen‹ Wächter. Er bleibt vor der Menge stehen und sieht zu, was
geschieht. Er hat alles gesehen; er hat gesehen, wie sie den Sarg vor
Ihn hingestellt haben, er hat gesehen, wie sich das Mädchen im Sarge
erhoben hat, und über sein Gesicht legt sich ein dunkler Schatten. Er
zieht seine dichten, grauen Brauen zusammen, und sein Blick leuchtet auf
in Bosheit. Indem er auf Ihn mit dem Finger weist, heißt er die Wächter
Ihn ergreifen. Und so groß ist seine Gewalt, und so gehorsam und ergeben
ist ihm das Volk, daß die Menge den Wächtern Platz macht und diese unter
aller tiefem plötzlichem Schweigen Hand an Ihn legen und Ihn fortführen.
Die Volksmenge ist wie =ein= Mann, und die Köpfe neigen sich vor dem
greisen Inquisitor zu Boden; er segnet schweigend die Menschen und setzt
seinen Weg fort.

Die Wache hat inzwischen den Gefangenen in ein enges, dunkles, gewölbtes
Verlies im alten Gebäude des heiligen Tribunals geführt und hinter Ihm
die Tür geschlossen. Der Tag vergeht, die Nacht bricht herein, die
dunkle, glühende, atemlose Nacht Sevillas. Die Luft ist voll vom Duft
des Lorbeers und der Zitronenblüte. Um Mitternacht öffnet sich das
eiserne Tor des Gefängnisses, und der Großinquisitor tritt leisen
Schrittes herein, in der Hand hält er ein Licht. Er ist allein, hinter
ihm schließt sich das Tor.

Er bleibt am Eingange stehen und sieht Ihm lange, ein bis zwei Minuten
lang, ins Gesicht. Dann tritt er näher heran, stellt den Leuchter auf
den Tisch und spricht zu Ihm: ›Bist Du es?‹

Da er keine Antwort erhält, fügt er schnell hinzu: ›Antworte nicht,
schweige! Was kannst Du auch sagen? Ich weiß sehr gut, was Du sagen
willst; doch Du hast kein Recht, auch nur ein Wort zu dem hinzuzufügen,
was einst von Dir selber gesagt worden ist. Warum bist Du gekommen, uns
zu stören? Denn dazu bist Du gekommen, Du weißt es selber. Weißt Du aber
auch, was morgen geschehen wird? Ich weiß nicht, wer Du bist, ich will
auch nicht wissen, ob Du es wirklich bist oder ob Du nur seine Gestalt
angenommen hast: aber morgen werde ich Dich richten und verurteilen und
Dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen als den gefährlichsten aller
Ketzer, und dasselbe Volk, das heute Dir die Füße geküßt hat, wird sich
morgen auf einen Wink von meiner Hand hin zum Scheiterhaufen stürzen, um
dort die Kohlen zu schüren, weißt Du das? Es ist möglich, daß Du es
weißt‹, fügte er hinzu, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von dem
Gefangenen zu lassen.« --

»Ich verstehe nicht, Iwan, was das heißen soll«, unterbrach ihn lächelnd
Aljoscha, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte. »Ist das Ganze
nur die uferlose Phantasie oder eine Verwirrung im Kopfe des Greises,
ein unmögliches Quiproquo?«

»Nimm das letzte an,« lachte Iwan, »wenn dich der zeitgenössische
Realismus schon so verdorben hat, daß du etwas Phantastisches nicht mehr
vertragen kannst! Wenn es ein Quiproquo sein soll, meinetwegen. Es ist
wahr, der Greis zählt neunzig Jahre und hat somit Zeit gehabt, den
Verstand zu verlieren über seiner Idee; zudem konnte ihn der Gefangene
auch durch sein Äußeres aus der Fassung bringen. Vielleicht aber ist es
nur der Wahn, das Fiebergesicht eines neunzigjährigen Greises vor dem
Tode, das Gehirn hat sich vom Autodafé der hundert verbrannten Ketzer
erhitzt. Ist es aber nicht ganz gleichgültig, was es ist, ob ein
Quiproquo oder eine uferlose Phantasie? Es handelt sich hier doch nur
darum, daß der Greis sich ausspricht, daß er endlich einmal nach neunzig
Jahren davon laut redet, worüber er neunzig Jahre lang geschwiegen hat.«

»Und der Gefangene schweigt, er sieht ihn an und sagt kein Wort?«

»Unbedingt, auf alle Fälle«, lachte Iwan. »Der Greis hat Ihn doch selber
darauf aufmerksam gemacht, daß Er gar nicht einmal das Recht habe, etwas
zu dem hinzuzufügen, was von Ihm schon gesagt worden ist. Wenn du
willst, kannst du darin den Grundzug des römischen Katholizismus
erblicken, nach meiner Meinung wenigstens: ›Alles wurde von Dir einst
dem Papste übergeben und alles ist jetzt beim Papst, tue Du uns nur den
einen Gefallen, nicht wiederzukommen und uns zu stören in der Zeit! In
diesem Sinne reden sie nicht nur, sondern schreiben sie auch, die
Jesuiten wenigstens. Ich selbst habe es so bei ihren Gelehrten gelesen.
Hast Du das Recht, auch nur ein einziges von den Geheimnissen jener Welt
aufzudecken, aus der Du zu uns herniedergestiegen bist?‹ fragt ihn mein
Greis, und er selber gibt sich die Antwort: ›Nein, Du hast nicht das
Recht; denn sonst müßtest Du etwas zu dem noch hinzufügen, was von Dir
gesagt worden war, und den Menschen die Freiheit nehmen, für die Du
einst, da Du auf Erden warst, mit solcher Überzeugung eingetreten bist.
Alles, was Du von neuem verkünden könntest, würde somit einen Eingriff
in die Glaubensfreiheit der Menschen bedeuten, denn es würde uns wie ein
Wunder vorkommen; aber die Freiheit des Glaubens galt Dir damals mehr
als jedes andere Gut, damals, vor anderthalbtausend Jahren. Kam das Wort
nicht immer wieder aus Deinem Munde: Ich will euch frei machen? Nun,
jetzt hast Du sie gesehen, die freien Menschen!‹ ›Ja, das Werk hat uns
viel gekostet,‹ fügte er gleich hinzu, indem er Ihn streng anblickt,
›aber wir haben es zu Ende geführt, endlich, in Deinem Namen. Fünfzehn
Jahrhunderte lang haben wir uns mit dieser Freiheit geplagt, aber jetzt
sind wir damit fertig, fertig für alle Zeiten. Glaubst Du nicht, daß wir
damit fertig geworden sind für alle Zeiten? Du siehst mich mit Deinen
sanften Augen an und würdigst mich nicht einmal Deines Zornes. So wisse:
Jetzt, gerade heute sind die Menschen mehr denn je davon überzeugt, sie
wären frei, ganz frei, frei wie nie die Menschheit vor ihnen. In
Wahrheit aber haben sie selber uns ihre Freiheit gebracht und demütig
uns vor die Füße gelegt. Das war unser Werk. War es diese Freiheit, die
Du wünschest?‹«

»Ich verstehe wiederum nicht,« unterbrach ihn Aljoscha: »er ironisiert
Ihn und macht sich über Ihn lustig.«

»Nicht im geringsten: er rechnet es sich und den Seinen durchaus als
Verdienst an, daß sie endlich die Freiheit niedergerungen haben, und nur
darum, um die Menschen glücklich zu machen; denn jetzt erst ist es
möglich geworden, an das Glück der Menschen zu denken. Der Mensch ist
zum Empörer geschaffen: können Empörer glücklich sein? ›Du wurdest
gewarnt,‹ fährt der Greis zu ihm fort, ›es fehlte Dir nicht an Mahnungen
und Zeichen, aber Du achtetest nicht darauf. Du kehrtest Dich ab von dem
einzigen Wege, auf dem das Heil der Menschen lag, aber zum Glück hast Du
uns Dein Werk überlassen, da Du von uns schiedest. Du hast es uns
versprochen, Du hast es mit Deinen eigenen Worten bekräftigt, Du hast
uns das Recht gegeben zu binden und zu lösen, darum darf Dir jetzt auch
nicht einmal der Gedanke kommen, uns dieses Recht zu nehmen. Warum
willst Du uns also stören?‹«

»Was heißt das: es hat Dir nicht an Mahnungen und Zeichen gefehlt?«
fragte Aljoscha.

»Gerade darüber mußte sich der Greis aussprechen, denn darauf kommt
alles an. ›Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der
Selbstvernichtung und des Nichtseins,‹ fuhr der Greis fort, ›der große
Geist redete zu Dir in der Wüste, und uns ist in den Büchern
überliefert, daß er Dich dort versuchte. Ist das so richtig? Ist
irgendwo, frage ich, mehr Wahrheit enthalten als in den drei Fragen, die
er Dir stellte und die Du verwarfst und die in den heiligen Büchern
Deine Versuchung genannt werden? Wenn jemals auf Erden ein vollkommenes,
ein wirkliches, ein die Erde in ihren Grundfesten erschütterndes Wunder
geschehen ist, so ward es an jenem Tage, am Tage der drei Versuchungen.
Und nur darin, daß diese Fragen gestellt worden sind, liegt das Wunder.
Denken wir uns, diese drei Fragen des furchtbaren Geistes wären ohne
eine Spur aus den heiligen Büchern verschwunden und müßten wieder dort
eingesetzt, von neuem ausgedacht und verfaßt werden, damit sie wieder in
den Büchern wären, denken wir uns, alle Weisen der Erde, die
Rechtsgelehrten, die Theologen, die Philosophen und die Dichter würden
zusammengerufen, und ihnen sollte die Aufgabe gestellt werden: Sinnet
drei Fragen aus, welche nicht nur der ungeheuren Tatsache eines
versuchten Gottes entsprechen, sondern außerdem in drei Worten, in drei
menschlichen Sätzen die ganze zukünftige Geschichte der Erde und der
Menschheit enthalten -- glaubst Du wirklich, die ganze vereinigte
Gelehrsamkeit der Erde vermöchte etwas zu ersinnen, was an Kraft und
Tiefe sich jenen drei Fragen vergleichen ließe, die Dir damals in der
Wüste von dem mächtigen und klugen Geiste gestellt worden sind? Schon
daran, daß sie überhaupt gestellt wurden, erkennst Du, daß Du es hier
nicht mit einem menschlichen, fließenden, sondern mit dem ewigen,
dauernden Geiste zu tun hast; denn in diesen drei Fragen liegt wie im
Schoße die ganze weitere Geschichte der Menschheit, die Zukunft ist
darin vorausgesagt, und in drei Bildern vermagst Du alle unlösbaren
Widersprüche der menschlichen Natur zu erkennen. Damals konnte es noch
nicht offenbar sein, denn die Zukunft lag noch verborgen; aber heute,
nach fünfzehn Jahrhunderten, ist es ersichtlich, daß in den drei Fragen
alles also recht geraten und vorausgesagt ward und sich bewahrheitet
hatte, so daß wir weder etwas hinzuzufügen noch wegzunehmen haben.
Entscheide selber, wer damals recht hatte, Du oder der Dich fragte!
Erinnere Dich der ersten Frage! Sie lautete nicht buchstäblich, doch
wohl dem Geiste nach also: Du willst unter die Menschen treten und gehst
zu ihnen mit leeren Händen, Du gehst zu ihnen mit einem Versprechen von
einer Freiheit, die sie in ihrer Einfalt und angeborenen Stumpfheit
nicht zu fassen vermögen, ja, vor der sie Furcht haben -- denn es hat
niemals für den einzelnen Menschen sowohl wie für das ganze
Menschengeschlecht etwas gegeben, das diese weniger zu ertragen fähig
waren als eben die Freiheit. Sieh die Steine zu Deinen Füßen ringsum in
der nackten und glühenden Wüste: verwandle sie in Brot, und die
Menschheit wird Dir folgen wie dem Hirten die Herde, dankbar und
gehorsam, wenn auch ewig davor zitternd, Du könntest Deine Hand von ihr
nehmen und ihr Dein Brot entziehen! Aber Du wolltest den Menschen nicht
der Freiheit berauben, und darum verwarfst Du, was Dir geboten worden
war. Denn wo ist da Freiheit, schlossest Du, wenn der Gehorsam mit
Broten erkauft wird? Deine Antwort war, daß der Mensch nicht allein vom
Brote lebe. Weißt Du aber auch, daß im Namen gerade dieses irdischen
Brotes der Geist der Erde sich gegen Dich erheben, sich mit Dir messen
und Dich besiegen wird, und daß alle Menschen ihm nachfolgen und
ausrufen werden: Wer gleicht diesem Tiere, so uns das Feuer vom Himmel
gebracht hat?! Weißt Du auch, daß die Zeiten nicht ausbleiben werden, da
den Menschen durch den Mund der Weisen verkündet werden wird: Es gibt
keine Verbrechen, es gibt auch keine Sünde, es gibt nur Menschen, die
hungern? Mache sie zuerst satt, und dann verlange von ihnen die Tugend:
das werden sie auf die Fahne schreiben, mit der sie gegen Dich in den
Kampf gehen und in Deinen Tempel eindringen werden. Und an Stelle dieses
Deines Tempels wird sich ein neues Gebäude, wird sich zum zweiten Male
jener grauenhafte Turm von Babel erheben. Und wenn auch dieser neue
genau so wie jener erste nicht zu Ende gebaut werden wird: Du hättest es
dazu gar nicht kommen lassen sollen, Du hättest die Leiden der
Menschheit um tausend Jahre abkürzen können -- denn siehst Du, jetzt
werden sie zu uns kommen, jetzt, nachdem sie sich tausend Jahre mit
ihrem Turm gequält haben. Sie werden uns abermals unter der Erde suchen,
sie werden uns aus den Katakomben holen (denn von neuem werden wir
verfolgt und gemartert werden) und uns, da sie uns gefunden, zurufen:
Macht uns satt, denn die, so uns das Feuer vom Himmel versprochen, waren
Betrüger! So werden wir, wir ihnen den Turm zu Ende bauen; denn der baut
ihn auf, der die Menschen satt macht, und wir werden sie satt machen in
Deinem Namen -- denn so wollen wir es dann sagen und lügen, daß es in
Deinem Namen geschehe. Niemals, zu keiner Zeit werden sie ohne uns den
Hunger stillen. Nie wird ihnen eine Wissenschaft das Brot geben, solange
sie frei bleiben, und das Ende wird sein, daß sie uns ihre Freiheit zu
Füßen legen und zu uns reden werden: Macht uns, wenn es nicht anders
geht, zu euren Knechten, aber macht uns satt! Sie werden endlich selber
einsehen, daß die Freiheit und das Brot, beide zusammen, nicht denkbar
sind, denn niemals werden die Menschen das Brot untereinander zu teilen
verstehen. Zudem werden sie sich davon überzeugen, daß sie auch darum
nicht frei sein können, weil sie kleinmütig, lasterhaft und nichtig sind
und voll von Empörung stecken. Du hast ihnen das Himmelsbrot
versprochen, aber ich wiederhole: kann dieses Himmelsbrot sich in den
Augen eben dieses schwachen, ewig lasterhaften und ewig undankbaren
Geschlechtes mit dem irdischen vergleichen? Und wenn Dir auch im Namen
des Himmelsbrotes Tausende und Zehntausende folgen, was geschieht aber
mit den Millionen und zehntausend Millionen von Schwachen, die nicht die
Kraft haben, das irdische Brot von sich zu weisen und dafür das
himmlische zu nehmen? Sprich, sind Dir vielleicht nur die zehntausend
Starken und Großen lieb, und sollen die Millionen, die zahllos wie der
Sand am Meere und schwach sind, aber Dich lieben, sollen diese nur Stoff
sein in der Hand der Großen und Starken? Nein, uns sind auch die
Schwachen lieb. Freilich sind sie Sünder und Empörer, aber schließlich
werden sie doch den Gehorsam lernen. Und sie werden uns anstaunen und
darum für Götter halten, weil wir, nunmehr die Herren, darin
eingewilligt haben, die Freiheit, vor der sie zurückgeschreckt sind, auf
uns zu nehmen und also die Herrschaft zu führen -- so entsetzlich wird
es für sie geworden sein, frei zu sein. Wir aber werden zu ihnen reden,
daß wir Dir gehorchen und in Deinem Namen herrschen. Wir werden sie
abermals betrügen, denn Dich werden wir nun nicht mehr zu uns einlassen.
In diesem Betrug wird auch unser Leiden liegen, denn wir werden zur Lüge
gezwungen sein. Das war der Sinn der ersten Frage und Versuchung in der
Wüste. Und Du hast sie verworfen im Namen der Freiheit, die Du höher
stelltest als alle Güter der Erde. Und in dieser Frage war das große
Geheimnis dieser Welt enthalten. Wenn Du die Brote angenommen hättest,
so würdest Du damit auch eine Antwort gefunden haben auf die große,
leidvolle Frage, die sich der einzelne Mensch nicht weniger als die
ganze Menschheit ewig stellt, auf die Frage: Wen sollen wir anbeten? Es
gibt keine Sorge, die den freien Menschen so ununterbrochen quälte wie
diese, das Wesen so schnell es geht zu suchen, vor dem er sich in
Andacht verneigen könnte; denn der Mensch sehnt sich danach, ihn drängt
es, das anzubeten, das unbedingt und zweifellos ist, damit auf diese
Weise alle Menschen ohne Unterschied in diese Andacht einwilligten. Denn
die Sorge dieser erbarmungswürdigen Geschöpfe liegt nicht darin, den
Gegenstand zu suchen, vor dem ich oder ein anderer uns verneigten,
sondern eben jenen, an den alle glaubten, und vor dem sie dann in die
Knie sänken, alle, alle zusammen. Siehst Du, dieses Verlangen nach
gemeinsamer Anbetung peinigt den einzelnen Menschen ebenso wie die ganze
Menschheit mehr denn jedes andere seit dem Beginne der Zeiten. Und
darum, um der gemeinsamen Anbetung willen, rottet ein Volk das andere
aus mit dem Schwerte; die Menschen schaffen sich Götter und rufen
einander zu: Werft die euren in den Staub und betet zu den unseren,
sonst seid ihr und euer Gott des Todes. Und so wird es bis zum Ende der
Welt sein, auch dann noch, wenn aus der Welt die Götter gewichen sind.
Die Menschen werden dann vor Götzen in die Knie sinken. Du hast um
dieses Geheimnis der menschlichen Natur gewußt, Du mußtest darum wissen,
aber Du hast das einzige Mittel und Zeichen von Dir gewiesen, welches
Dir angeboten worden war, um die Menschen alle dazu zu bringen, sich vor
Dir in gemeinsamer Andacht zu verneigen, das Zeichen des irdischen
Brotes. Und Du hast es verworfen im Namen der Freiheit und des
himmlischen Brotes. Und höre zu, was Du weiter tatest, und wiederum im
Namen der Freiheit! Ich habe Dir gesagt, der Mensch kenne keine
quälendere Sorge als den ausfindig zu machen, dem er so schnell wie
möglich jenes kostbare Geschenk der Freiheit zurückgeben könnte, mit dem
dieses unselige Geschöpf in die Welt gesetzt worden ist. Aber nur der
bemächtigt sich der Freiheit der Menschen, der ihr Gewissen beruhigt.
Mit dem Brote ward Dir die unbestrittene Macht über die Menschen
geboten: gibst Du Brot, so werden Dich die Menschen anbeten, denn am
Brote zweifelt niemand. Wenn aber zu gleicher Zeit einer sich ihrer
Gewissen bemächtigt, ohne daß sie darum wüßten, -- o glaube mir, dann
wird er auch Dein Brot von sich werfen und dem nachfolgen, der sein
Gewissen beruhigt. Darin hattest Du recht; denn das Geheimnis des
Menschenlebens liegt nicht allein darin, daß der Mensch lebe, sondern
auch in dem Zweck, wofür er lebt. Ohne die zwingende, bedeutende
Vorstellung eines Zweckes, für den er leben dürfe, vermag kein Mensch in
das Leben selber einzuwilligen, und er wird sich eher das Leben nehmen,
als daß er unter solchen Bedingungen auf der Erde verweilte, wenn auch
rings um ihn alles zu Brot geworden wäre. Das ist die Wahrheit, aber was
tatest Du? Statt das Gewissen zu beherrschen, hast Du es nur noch tiefer
gemacht. Oder hast Du vergessen, daß Ruhe, daß der Tod selber dem
Menschen lieber seien als die freie Wahl zwischen Gut und Böse? Gewiß
ist für ihn nichts so verführerisch wie die Gewissensfreiheit, nichts
aber peinigt ihn auch mehr. Statt ihm nun ein für allemal feste
Satzungen zu geben zu seiner Gewissensberuhigung, suchst Du alles, was
ungewöhnlich, rätselhaft und schwankend ist, wählst Du alles, was über
die Kräfte der Menschen geht, und handelst ganz wie einer, der die
Menschen nicht liebt, Du, der Du gekommen warst, Dein Leben für die
Menschen zu lassen! Statt also Dich der Freiheit der Menschen zu
bemächtigen, hast Du deren Grenzen nur erweitert und hast die Seele des
Menschen für alle Zeiten mit neuem Leid überladen. Dein Wunsch war die
freie Liebe des Menschen; frei sollte er Dir nachfolgen, von Dir gelockt
und gefangen. Statt sich nach den alten harten Gesetzen zu richten,
sollte der Mensch von nun an freien Herzens vor sich selber entscheiden,
was gut und was böse sei, mit Deinem Beispiel vor der Seele. Ist Dir
damals nie der Gedanke gekommen, daß der Mensch Deine Wahrheit
bestreiten und Dein Beispiel verleugnen wird, wenn ihn Deine Wahrheit
mit einer solchen Last, wie es die Wahl zwischen Gut und Böse ist,
drücken muß? Die Menschen werden es laut verkünden, endlich, daß die
Wahrheit gar nicht in Dir sei; denn es war nicht möglich, sie in ärgerer
Qual und Not zu lassen, als Du es tatest, da Du ihnen nur Sorge und
unauflösbare Rätsel auf Erden zurückließest. Auf solche Weise hast Du
selber den Grund gelegt zur Zerstörung Deines Reiches, gib also niemand
anderem mehr die Schuld daran! Es gibt drei Gewalten, drei, nicht mehr,
auf Erden, die mächtig sind, für ewig das Gewissen dieser erbärmlichen
Empörer zu unterjochen und zu knechten, zu ihrem Glück. Und diese drei
Gewalten sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität. Du hast die
eine und die andere und auch die dritte von Dir gewiesen und den
Menschen also ein Beispiel gegeben. Als der furchtbare und weise Geist
Dich auf die Zinnen des Tempels führte, sprach er zu Dir: Wenn Du wissen
willst, ob Du der Sohn Gottes seist, so stürze Dich von hier herab; denn
es steht geschrieben, daß Engel Dich auffangen und tragen werden und Du
nicht fallen noch Deinen Leib zerschmettern wirst, und also wirst Du
wissen, daß Du Gottes Sohn bist, und wirst den Menschen für ewig zeigen,
wie groß Dein Glaube an den Vater im Himmel ist! Du aber, da Du den
bösen Geist also hörtest, wiesest diesen Antrag von Dir und warfst Dich
nicht herab von den Zinnen des Tempels. O gewiß, in diesem Augenblick
warst Du stolz und herrlich wie ein Gott, aber sage: sind auch die
Menschen, dieses schwache Geschlecht von Empörern, Götter? Du wußtest
damals, daß, so Du nur einen Schritt machst, eine einzige Bewegung, um
Dich herabzustürzen, Du Gott selber in Versuchung führen und Deinen
Glauben an ihn verlieren und Deine Glieder an derselben Erde
zerschmettern würdest, die Du zu erlösen gekommen warst, und daß also
der kluge Geist frohlocken würde, da er Dich also verführt hatte. Aber
ich wiederhole: Gibt es viele so wie Du? Konntest Du auch nur den
Augenblick lang annehmen, daß eine solche Versuchung nicht ganz und gar
über die Kraft des Menschen ginge? Ist die menschliche Natur stark
genug, daß sie das Wunder von sich weisen und in den furchtbaren
Augenblicken des Lebens, in den Augenblicken der schrecklichsten und
quälendsten Zweifel der Seele, allein stehen dürfe, allein mit dem
freien Entschluß des Herzens? Du wußtest wohl, daß Dein Sieg in den
Büchern der Menschen aufbewahrt werden und bis ans Ende der Zeiten und
bis an die letzten Grenzen der Erde gelangen würde, und Deine Hoffnung
war, daß auch der Mensch, indem er Deinem Beispiel folgte, bei Gott
ausharren und des Wunders nicht bedürfen würde. Aber Du wußtest nicht,
daß der Mensch mit dem Wunder auch Gott verwerfen müsse; denn der Mensch
sucht Gott nicht mit mehr Eifer, als er nach dem Wunder verlangt. Und
weil der Mensch ohne Wunder zu bleiben nicht die Kraft hat, so wird er
sich selber neue, eigene schaffen. Er wird an die Wunder von Zauberern
und an die Hexenkünste alter Weiber glauben, wie gewaltig und kühn auch
seine Empörung, seine Ketzerei und Gottlosigkeit sein mögen. Du bist
nicht vom Kreuz herabgestiegen, als sie Dir, indem sie Dir die Kleider
vom Leibe rissen und Dich verhöhnten, zuriefen: Steig vom Kreuz herab,
und wir werden glauben, daß Du der Sohn Gottes bist. Du bist deshalb
nicht herabgestiegen, weil Du wiederum die Menschen nicht mit dem Wunder
knechten wolltest und Dich nach dem freien und nicht nach dem
Wunderglauben dürstete. Du sehntest Dich nach der freien Liebe und
verwarfst das feige Entzücken der Sklaven vor der Macht. Aber Du
dachtest zu hoch von den Menschen, denn sie sind nun einmal Sklaven,
wenn auch zur Empörung geschaffen. Blicke um Dich und urteile selbst!
Fünfzehn Jahrhunderte sind vergangen, komm, sieh Dir die Menschen an:
wen hast Du da bis zu Dir emporgehoben? Ich bezeuge es: der Mensch ist
schwächer und niedriger, als Du dachtest. Kann er wirklich alles das
erfüllen, was Du ihn gewiesen hast? Indem Du also hoch von ihm dachtest,
hast Du wie einer gehandelt, der kein Mitleid mit ihm fühlt, da Du
allzuviel von ihm verlangtest -- und das tatest Du, der Du ihn mehr
liebst als Dich selber. Hättest Du ihn niedriger eingeschätzt, so
würdest Du weniger von ihm verlangt haben, und es würde mehr der Liebe
geglichen haben, denn die Bürde wäre leichter zu tragen gewesen. Er ist
schwach, und er ist gemein. Was liegt schließlich daran, daß er sich
allerorten jetzt gegen unsere Macht empört und sich darauf viel
einbildet, daß er sich empört! Ich sage Dir, es ist die Empörung von
Kindern und Schulknaben; das sind kleine Kinder, die sich in der Klasse
zusammenrotten und den Lehrer davonjagen. Doch diesem Jubeln der Kinder
wird bald ein Ende gesetzt sein, und es wird sie teuer zu stehen kommen.
Sie reißen die Tempel ein und begießen die Erde mit Blut, aber endlich
werden sie es selber spüren, diese törichten Knaben, daß, wenn sie auch
Empörer sind, ihre Empörung doch nur erbärmlich ist und daß sie selber
ihre eigene Empörung nicht lange aushalten. So werden sie wie dumme
Kinder zu heulen anfangen und einsehen, daß Er, der sie zu Empörern
geschaffen hat, sich ganz zweifellos über sie hatte lustig machen
wollen. Sie werden es in ihrer Verzweiflung so aussprechen, und ihre
Rede wird Gotteslästerung sein, um derentwillen sie noch unglücklicher
sein werden. Denn die menschliche Natur vermag Gotteslästerung nicht zu
ertragen und straft sich schließlich selber dafür. Unruhe, Verwirrung
und Unglück: da hast Du das Los der gegenwärtigen Menschen nach allem,
was Du für deren Freiheit gelitten hast. Dein großer Prophet spricht in
seinen Gesichten, daß er alle gesehen, die an der Auferstehung
teilgenommen hätten, und daß es aus jedem Stamme zwölftausend gewesen
wären -- aber wenn es nicht mehr sind, so waren sie eben nicht Menschen,
sondern schon Götter. Sie haben Dein Kreuz getragen, sie haben zehn
Jahre in der hungernden und nackten Wüste gelebt und sich dort von
Heuschrecken und Wurzeln genährt -- gewiß kannst Du jetzt mit Stolz auf
sie hinweisen, auf diese Kinder der Freiheit, der freien Liebe, des
freien erhabenen Opfers in Deinem Namen, doch vergiß nicht, daß ihrer
nur einige Tausend und daß sie Götter waren! Was geschieht aber mit den
anderen, was haben Dir die übrigen schwachen Menschen getan, daß sie das
nicht aushielten, was die starken zu tragen die Kraft hatten? Ist es die
Schuld der schwachen Seele, daß sie nicht mächtig sei, so furchtbare
Geschenke in sich zu fassen? Bist Du  nur zu den Auserwählten und
ihretwegen geraden Weges vom Himmel heruntergestiegen? Wenn ja, so ist
dies ein Geheimnis, das wir nicht zu begreifen vermögen. Und wenn es ein
Geheimnis ist, so haben auch wir das Recht, das Geheimnis zu verkünden
und sie zu lehren, daß nicht der freie Entschluß des Herzens und nicht
die Liebe, sondern eben das Geheimnis entscheide, als welchem sie blind,
ja gegen ihr eigenes Gewissen gehorchen sollten. Und so haben wir auch
gehandelt. Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf dem Wunder, auf
dem Geheimnis und auf der Autorität neu aufgebaut. Und die Menschen sind
es froh, daß wir sie abermals führen wie eine Herde und daß wir aus
ihren Herzen die furchtbare Gabe wieder stahlen, die ihnen soviel Qual
gebracht hat. Sprich, haben wir recht gehandelt? Haben wir die
Menschheit nicht geliebt, indem wir in Demut deren Schwäche erkannten
und mit Liebe die Bürde leichter machten und die schwache Natur von der
Sünde freisprachen? Warum bist Du also gekommen, uns zu stören? Warum
blickst Du mich so still und durchdringend mit Deinen sanften Augen an?
Zürnst Du mir dafür, daß ich Deine Liebe nicht will, weil ich Dich
selber nicht liebe? Warum sollte ich es vor Dir verheimlichen, ich weiß
ja nicht, zu wem ich rede; was ich Dir zu sagen habe, das weißt Du im
voraus, ich lese es in Deinen Augen. Soll ich Dir unser Geheimnis
enthüllen? Vielleicht willst Du es aus meinem Munde hören, so vernimm
denn: Wir sind nicht mit Dir, sondern mit =ihm=, das ist unser
Geheimnis. Schon lange sind wir nicht mit Dir, sondern mit =ihm=, schon
acht Jahrhunderte. Acht Jahrhunderte ist es her, daß wir das von =ihm=
annahmen, was Du mit Zorn zurückgewiesen hast, jenes letzte Geschenk,
das er Dir anbot, indem er vor Deinen Augen die Reiche der Erde
entfaltete. Wir haben aus seiner Hand Rom und das Schwert Cäsars
empfangen und uns für die Herren der Erde erklärt, die einzigen, wenn
auch unser Werk bis jetzt noch nicht zu Ende geführt ist. Wer ist aber
daran schuld? O, unser Werk ist noch in seinen Anfängen, aber es hat
begonnen; noch lange müssen wir auf dessen Vollendung warten, und noch
viel Leiden wird auf der Erde sein, aber wir werden es vollenden und die
Herren der Erde sein, und dann erst wird die Zeit gekommen sein, daß wir
an das allgemeine, ewige Glück der Menschen denken. Und doch hättest Du
damals schon das Schwert Cäsars an Dich reißen können! Warum hast Du
auch dieses letzte Geschenk zurückgewiesen? Wärest Du damals seinem Rate
gefolgt, so würdest Du alles gehabt haben, wonach den Menschen auf Erden
verlangt: den Gott, den er anbeten, den Herrn, dem er sein Gewissen
übergeben will, und den Weg und die Weise, wie sich die ganze Menschheit
endgültig zu einem einzigen, einstimmigen Ameisenhaufen vereinen kann.
Denn dieses Verlangen nach weltumspannender Einheit ist die dritte und
letzte Sorge des Menschen. Seit jeher ist das Streben der ganzen
Menschheit die Welteinheit gewesen. Es hat viele große Völker gegeben
mit großer Geschichte, aber je höher sie aufstiegen, um so glücklicher
waren sie, denn um so stärker empfanden sie die Notwendigkeit der
Einigung aller Völker. Die großen Heerführer, ein Timur und
Dschingis-Chan sind wie ein Wirbelwind über die Erde dahingejagt und
haben die Welt mit dem Schwerte zu erobern gesucht. Aber auch sie
drückten, wenn auch unbewußt, denselben gewaltigen Drang der Menschheit
nach dem Weltreich aus. Hättest Du das Reich und den Purpur Cäsars
damals angenommen, so würdest Du das Weltenreich gegründet und der Welt
ewigen Frieden gegeben haben. Wer soll denn über die Menschen herrschen,
wenn nicht der, der ihr Gewissen unterjocht und in dessen Hand das Brot
ist? Wir nun haben uns mit dem Schwerte Cäsars gegürtet und Dich damit
für alle Zeiten besiegt und sind =ihm= nachgefolgt. O gewiß, es werden
noch Jahrhunderte des Mißbrauchs der menschlichen Geisteskraft kommen,
Jahrhunderte der Wissenschaft und Menschenfresserei -- denn wenn sie
ihren babylonischen Turm ohne uns zu Ende führen wollen, werden sie bei
der Menschenfresserei aufhören. Dann aber wird das Tier zu uns gekrochen
kommen und uns die Füße lecken und mit blutigen Tränen netzen. Und wir
werden uns auf das Tier setzen und den Kelch hochheben, und auf diesem
wird geschrieben stehen: Geheimnis. Aber dann erst und nicht früher wird
für die Menschen das Reich des Friedens und des Glückes gekommen sein.
Du bist stolz auf Deine Auserwählten, denn Du hast nur Auserwählte, wir
aber werden allen Menschen Ruhe und Frieden bringen. Doch das ist noch
nicht alles, vergiß nicht: gar viele von den Auserwählten, von den
Starken, die da Auserwählte hätten werden können, sind des Wartens auf
Dein Kommen müde geworden und haben die Kraft ihres Geistes und die Glut
ihres Herzens in ein fremdes Land gebracht und auf einen fremden Acker
getragen und tragen es noch immer dorthin, so daß sie schließlich gegen
Dich die Fahne der Freiheit, die Du selbst einst aufgerichtet hattest,
aufpflanzen werden. Bei uns aber werden alle glücklich sein, alle ohne
Unterschied, und es wird keine Empörung mehr unter den Menschen
herrschen, und sie werden sich nicht mehr gegenseitig das Schwert in den
Leib stoßen, wie sie es in Deinem freien Reiche immer getan haben. Wir
werden sie davon überzeugen, daß sie nur dann frei sein können, wenn sie
sich von ihrer Freiheit zu unseren Gunsten lossagen und uns sich
ergeben. Werden wir recht damit tun oder werden wir lügen? Die Menschen
selber werden davon überzeugt sein, daß wir recht haben; denn sie werden
es nie vergessen, zu welchen Schrecknissen der Knechtschaft und
Erniedrigung Deine Freiheit sie geführt hat. Die Freiheit, der freie
Geist, die freie Wissenschaft werden sie vor solche Abgründe bringen und
vor solche Wunder und unenthüllbare Geheimnisse stellen, daß die einen,
die Unruhigen und Unbändigen, sich das Leben nehmen, daß die anderen,
die wohl unruhig, aber schwach sind, sich gegenseitig töten werden; die
übrigen aber, die Demütigen und Unglücklichen, die werden zu uns
gekrochen kommen und zu uns reden: Ja, ihr hattet recht, ihr allein seid
die Herren des Geheimnisses, und wir kehren zu euch zurück; rettet uns
vor uns selber! Da sie aus unseren Händen das Brot empfangen, werden sie
natürlich sehr gut wissen, daß wir nur ihr mit eigenen Händen erworbenes
Brot genommen haben und jetzt unter sie verteilen, ohne jedes Wunder.
Sie werden keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, daß wir durchaus
nicht Steine in Brot verwandelt haben. Aber wahrlich mehr noch als über
diese Brote werden sie sich darüber freuen, daß sie es aus unseren
Händen haben. Denn nur zu gut werden sie sich dessen erinnern, daß
früher, ohne uns, in ihren Händen das Brot sich in Steine verwandelt
hatte, daß jetzt aber, da sie zu uns zurückgekehrt sind, die Steine zu
Broten würden. Zu gut werden sie es zu würdigen wissen, zu gut, sage
ich, was es heißt, sich für immer zu unterwerfen. Denn solange die
Menschen das nicht begreifen, werden sie unglücklich sein. Wer vor allen
aber hat sie dazu befähigt, das nicht zu begreifen? Wer hat die Herde
zerstückt und auf unbekannten Wegen zerstreut? Antworte! Doch die Herde
wird sich von neuem sammeln und von neuem beruhigen und von da an für
immer. Wir werden ihnen das stille Glück, den Frieden der schwächlichen
Menschen geben, zu dem sie auch geschaffen sind; wir werden sie davon
überzeugen, daß Stolz und Übermut zu nichts taugen, denn Du hast sie
über sich selber gehoben und sie also den Hochmut gelehrt; wir werden
ihnen beweisen, daß sie Schwächlinge, daß sie kleine klagende Kinder
seien, daß aber kein Glück so süß sei wie eben das Glück der Kinder. Sie
werden zaghaft werden und zu uns hinaufblicken und sich an uns schmiegen
in ihrer Furcht wie die Küchlein an die Henne. Und sie werden uns
anstaunen und Angst haben vor uns und doch stolz darauf sein, daß wir so
mächtig und so klug seien und daß wir es verstanden haben, die
aufrührerische Herde zu bändigen. Sie werden ohnmächtig vor unserem Zorn
zittern, ihr Geist wird zaghaft werden, und ihre Augen werden sich mit
Tränen füllen wie die Augen der Kinder und Weiber; aber leicht werden
sie auf einen Wink von uns zur Heiterkeit und zum Lachen übergehen, zu
heller Freude und glückseligen Kinderliedern. Gewiß, auch wir werden sie
zur Arbeit anhalten; aber in den arbeitsfreien Stunden werden wir ihnen
das Leben wie ein Kinderspiel gestalten, mit Kinderliedern, Kinderchören
und unschuldigen Tänzen. Wir werden sie von ihren Sünden lossprechen,
denn sie sind schwach und erbärmlich, und sie werden uns lieben wie
Kinder dafür, daß wir ihnen die Sünde erlauben. Wir werden ihnen sagen,
daß jede Sünde ihnen abgekauft wird, wenn sie mit unserer Erlaubnis
geschah, und wir werden ihnen darum zu sündigen erlauben, weil wir sie
lieben; die Strafe aber für ihre Sünden werden wir auf uns nehmen. So
wird es sein. Wir werden selber die Sünde tragen, und sie werden uns
verehren als ihre Wohltäter, weil wir vor Gott ihre Sünden auf uns
nehmen. Sie werden kein Geheimnis vor uns haben, wir werden ihnen bald
erlauben, bald verbieten, mit ihren Frauen oder Geliebten zu leben,
Kinder zu haben oder nicht; es wird alles von ihrem Gehorsam abhängen,
und sie werden sich unserem Willen mit Freude und Entzücken ergeben.
Auch die quälendsten Geheimnisse ihres Gewissens -- alles, alles werden
sie uns bringen, und wir werden sie davon befreien, und sie werden
unserer Entscheidung frohen Herzens glauben, weil diese sie von dem
großen Kummer und der Qual der persönlichen unfreien Entscheidung
entbunden hat. Alle werden sie glücklich sein, alle diese Millionen von
Untertanen, alle mit Ausnahme von den Hunderttausenden, die über sie
herrschen; denn wir, wir, die wir das Geheimnis bewahren, wir allein
werden unglücklich sein. Es wird tausend Millionen glückliche Kinder
geben und hunderttausend Märtyrer, die da auf sich genommen haben die
verfluchte Erkenntnis des Guten und Bösen. In Frieden werden sie
sterben, stille verlöschen, mit Deinem Namen auf den Lippen, und
jenseits des Grabes nur den Tod finden. Wir aber werden das Geheimnis
hüten und zu ihrem Heil sie locken zu himmlischer ewiger Belohnung. Denn
selbst, wenn es dort oben etwas wie Belohnung gäbe, so wäre es doch
nicht für solche wie sie. Es heißt und wurde verkündet, daß Du
wiederkommen und von neuem siegen, daß Du mit deinen Auserwählten, mit
den Stolzen und Starken kommen wirst. Nun, so werden wir erklären, daß
sie sich selber, wir aber alle erlöst haben. Es heißt, daß die Buhlerin,
die auf dem Tiere sitzt und in ihren Händen das Geheimnis hält,
beschimpft werden wird, daß von neuem die Schwächlinge sich empören
werden, daß sie den Purpur zerreißen und den schamlosen Körper des
Weibes entblößen werden -- dann aber werde ich mich erheben und Dir die
tausend Millionen glücklicher Kinder zeigen, die nichts von Sünde
wissen. Und wir, die wir die Sünde zu deren Glück auf uns genommen
haben, wir werden uns vor Dir erheben und sagen: Richte uns, wenn Du es
kannst und wagst! Wisse, daß ich Dich nicht fürchte, wisse, daß auch ich
in der Wüste gelebt habe und mich dort von Heuschrecken und Wurzeln
genährt habe, daß auch ich die Freiheit gesegnet habe, mit der Du die
Menschen gesegnet hast, daß auch ich mich vorbereitet hatte, unter die
Auserwählten zu treten, unter die Stolzen und Starken, dürstend, daß die
Zahl voll werde! Doch ich bin erwacht und wollte Dir nicht mehr mit dem
Wahnsinn dienen, ich bin umgekehrt und habe mich der Schar derer
angeschlossen, die Deine Tat verbessern wollten. Ich bin aus der Reihe
der Stolzen ausgeschieden und bin zurückgekehrt zu denen, die sich
gedemütigt haben zum Heile der Sterblichen. -- Das, was ich zu Dir
gesprochen habe, wird sein, und unser Reich wird gegründet werden. Ich
wiederhole Dir: morgen wirst Du selber die gehorsame Schar sehen, die
auf den ersten Wink meiner Hand sich zum Scheiterhaufen stürzen wird, um
die Kohlen zu schüren, auf welchen Du dafür brennen sollst, daß Du
gekommen bist, uns zu stören; denn wenn jemand lebt, der mehr als alle
Ketzer unseren Scheiterhaufen verdient, so bist Du es. Morgen werde ich
Dich verbrennen.‹

                   *       *       *       *       *

Da der Inquisitor seine Rede beendet hat, wartet er, daß der Gefangene
ihm antworte, denn daß dieser schweigt, bedrückt ihn. Er sieht, wie der
Gefangene ihm die ganze Zeit über aufmerksam zuhört und ihm dabei gerade
ins Auge sieht, ohne daß Er auch nur im geringsten den Wunsch verriete,
ihm zu erwidern. Der Greis möchte, daß Er ihm ein Wort nur sagte, ein
stolzes meinetwegen, ein furchtbares. Doch Er steht plötzlich auf, tritt
an den Greis heran und küßt ihn sanft auf dessen blutlose Lippen. Das
war seine Antwort. Der Greis erbebt. Seine Mundwinkel bewegen sich. Er
geht zur Tür, öffnet sie und spricht zu Ihm: ›Gehe hinaus und kehre
nicht wieder -- kehre nie wieder -- nie, nie!‹ Er läßt Ihn hinaus auf
die ›dunklen schweigenden Plätze‹ der Stadt. Der Gefangene geht hinaus.



Note


Auf seiner ersten Reise nach dem Westen kam Dostojewski auch nach Rom,
wo ihn weder das Altertum noch das sich bildende _terzo regno_, sondern
einzig und allein die Peterskirche und der Vatikan interessierten. In
einem Briefe an seinen Bruder berichtet er davon. Auf diesen ihn tief
erschütternden Eindruck mag der Großinquisitor historisch zurückgeführt
werden. Im wesentlichen ist der Großinquisitor jedoch die ganze
Dichtung, der große Gedanke Dostojewskis, in eine Parabel gebracht: der
Kampf der mechanischen Welt, als deren sublimster Ausdruck Dostojewski
der Katholizismus erscheint, gegen den Geist, gegen Christus.

Alle großen Christen der neueren Zeit, Pascal, Goethe, William Blake,
Kierkegaard haben wie Dostojewski gefühlt; was den russischen Dichter
jedoch unterscheidet, ist, daß in dem Kampf, wie er ihn sieht, beide
recht haben: der Kardinal-Großinquisitor und Christus, und nicht nur
Christus allein wie bei Pascal, bei Goethe, bei Kierkegaard. Dostojewski
löst, vielmehr setzt den Konflikt nicht als Fanatiker, als Theologe oder
Räsoneur, nicht als Rechtender und Klagender, sondern als Dramatiker,
das heißt: er legt ihn in die Seele des Dichters der Erzählung selber,
in die tiefe, leidende, verzweifelnde Seele Iwan Karamasoffs. Und das
ist das Russische, das Neue, das Übereuropäische an dieser unsterblichen
Erzählung, die sicherlich den großen Gedanken des Christentums noch
einmal denkt wie keine andere im 19. Jahrhundert.

R. K.





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