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Title: Die drei Sprünge des Wang-lun - Chinesischer Roman
Author: Döblin, Alfred, 1878-1957
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die drei Sprünge des Wang-lun - Chinesischer Roman" ***


                           Die drei Sprünge
                             des Wang-lun


                          Chinesischer Roman
                                  von
                             Alfred Döblin



                                 1917
                      S. Fischer, Verlag, Berlin



        Alle Rechte vorbehalten, besonders die der Übersetzung;
      für Rußland auf Grund der deutsch-russischen Übereinkunft.
              Copyright 1915 S. Fischer, Verlag, Berlin.



Zueignung


Daß ich nicht vergesse --.

Ein sanfter Pfiff von der Straße herauf. Metallisches Anlaufen, Schnurren,
Knistern. Ein Schlag gegen meinen knöchernen Federhalter.

Daß ich nicht vergesse --.

Was denn?

Ich will das Fenster schließen.

Die Straßen haben sonderbare Stimmen in den letzten Jahren bekommen. Ein
Rost ist unter die Steine gespannt; an jeder Stange baumeln meterdicke
Glasscherben, grollende Eisenplatten, echokäuende Mannesmannröhren. Ein
Bummern, Durcheinanderpoltern aus Holz, Mammutschlünden, gepreßter Luft,
Geröll. Ein elektrisches Flöten schienenentlang. Motorkeuchende Wagen
segeln auf die Seite gelegt über das Asphalt; meine Türen schüttern. Die
milchweißen Bogenlampen prasseln massive Strahlen gegen die Scheiben, laden
Fuder Licht in meinem Zimmer ab.

Ich tadle das verwirrende Vibrieren nicht. Nur finde ich mich nicht
zurecht.

Ich weiß nicht, wessen Stimmen das sind, wessen Seele solch tausendtönniges
Gewölbe von Resonanz braucht.

Dieser himmlische Taubenflug der Aeroplane.

Diese schlüpfenden Kamine unter dem Boden.

Dieses Blitzen von Worten über hundert Meilen:

Wem dient es?

Die Menschen auf dem Trottoir kenne ich doch. Ihre Telefunken sind neu. Die
Grimassen der Habgier, die feindliche Sattheit des bläulich rasierten
Kinns, die dünne Schnüffelnase der Geilheit, die Roheit, an deren Geleeblut
das Herz sich klein puppert, der wässerige Hundeblick der Ehrsucht, ihre
Kehlen haben die Jahrhunderte durchkläfft und sie angefüllt mit --
Fortschritt.

O, ich kenne das. Ich, vom Wind gestriegelt.

Daß ich nicht vergesse --.

Im Leben dieser Erde sind zweitausend Jahre ein Jahr.

Gewinnen, Erobern; ein alter Mann sprach: »Wir gehen und wissen nicht
wohin. Wir bleiben und wissen nicht wo. Wir essen und wissen nicht warum.
Das alles ist die starke Lebenskraft von Himmel und Erde: wer kann da
sprechen von Gewinnen, Besitzen?«

Ich will ihm opfern hinter meinem Fenster, dem weisen alten Manne,

_Liä Dsi_

mit diesem ohnmächtigen Buch.



Erstes Buch

Wang-lun


Auf den Bergen Tschi-lis, in den Ebenen, unter dem alles duldenden Himmel
saßen die, gegen welche die Panzer und Pfeile des Kaisers Khien-lung
gerüstet wurden. Die durch die Städte zogen, sich über die Marktflecken und
Dörfer verbreiteten.

Ein leiser Schauer ging durch das Land, wo die »Wahrhaft Schwachen«
erschienen. Ihr Name Wu-wei war seit Monaten wieder in allen Mündern. Sie
hatten keine Wohnstätten; sie bettelten um den Reis, den Bohnenbrei, den
sie brauchten, halfen den Bauern, Handwerkern bei der Arbeit. Sie predigten
nicht, suchten niemanden zu bekehren. Vergeblich bemühten sich Literaten,
die sich unter sie mischten, ein religiöses Dogma von ihnen zu hören. Sie
hatten keine Götterbilder, sprachen nicht vom Rade des Daseins. Nachts
schlugen viele ihr Lager auf unter Felsen, in den riesigen Waldungen,
Berghöhlen. Ein lautes Seufzen und Weinen erhob sich oft von ihren
Raststätten. Das waren die jungen Brüder und Schwestern. Viele aßen kein
Fleisch, brachen keine Blumen um, schienen Freundschaft mit den Pflanzen,
Tieren und Steinen zu halten.

Da war ein frischer junger Mann aus Schan-tung, der das erste Examen mit
Auszeichnung bestanden hatte. Er hatte seinen Vater, der allein im
Fischerboot ausgefahren war, aus schwerster Seenot gerettet; ehe er dem
Vater nachfuhr, gelobte er, den Wu-wei-Anhängern zu folgen. Und so ging er,
kaum daß die freudevollen Examensfeiern vorbei waren, still aus dem Haus.
Es war ein ehrerbietiger, etwas scheuer Jüngling, mit eingekellerten Augen,
der sichtlich schwer unter seinem seelischen Zwiespalt litt.

Ein Bohnenhändler, ein rippendürrer Mann, lebte fünfzehn Jahre in
kinderloser Ehe. Er grämte sich tief, daß niemand nach seinem Tode für ihn
beten würde, seinen Geist speisen und pflegen würde. Als er fünfundvierzig
Jahre alt wurde, verließ er seine Heimat.

Tsin war ein reicher Mann vom Fuße des Tschan. Er lebte in dauernder Wut,
weil er, wie sehr er sein Geld schützte, alle Monate bestohlen wurde, wenn
auch nur um Kleinigkeiten. Dazu kamen Erpressungen durch die Polizisten,
Steuerbeamten; mehrmals brannten Häuser von ihm ab, von Böswilligen
angesteckt. Er fürchtete, daß er eines Tages ohne Habe und Gut dastehen
würde. Er fühlte sich macht- und rechtlos. Da verschenkte er sein ganzes
Geld an blinde Musikanten, alte Hurenwirtinnen, Schauspieler; zündete
selbst sein Haus an und ging in den Wald.

Junge Wüstlinge zusammen mit Dirnen, die sie aus den bemalten Häusern
befreit hatten, wanderten herzu. Oft sah man die Dirnen, die zu den
verehrtesten Schwestern gehörten, in eigentümlichen Verzückungen unter den
purpurnen Kallikarpen, in den Hirsefeldern, und hörte sie unverständlich
stammeln.

Sechs Freundinnen vom nördlichen Kaiserkanal, die man als Kinder
verheiratet hatte, sprangen in dem Monat, in dem sie in das Haus ihrer
Gatten gebracht werden sollten, mit einer Pferdekette aneinandergebunden,
unterhalb ihrer Heimatstadt in den Kanal. Sie wurden, da sie beim
Hineinstürzen sich an den Ufermauern verletzten, hängen blieben und laut
schrien, gerettet von einigen vorüberziehenden Karrenschiebern, welche sie
auf das nächste Polizeigewahrsam transportierten, nachdem sie die ganz
willenlosen Mädchen mit Kleiderfetzen zur Not verbunden hatten. Als sie,
auf dem Amt freundlich verpflegt, sich erholten und zurecht machten, kamen
ihre Väter draußen angestürzt. Die Mädchen hörten die lärmende
Auseinandersetzung mit den Wachen, stiegen durch ein hinteres Fenster
hinaus und entkamen. Sie schlugen sich von Ortschaft zu Ortschaft durch,
hielten sich in einer geschützten Berghöhle verborgen, verschafften sich
durch Aushilfsarbeit auf den umliegenden Gehöften, in den Mühlen Nahrung.
Die Jüngste von ihnen, ein fünfzehnjähriges blühendes Mädchen, die Tochter
der Nebenfrau eines alten Lehrers, starb da, indem ihr ein Räuber Gewalt
antat und sie dann erwürgte. Der Räuber trat nicht viel später zusammen mit
den Mädchen einer Gruppe der Sektierer bei.

Im nordöstlichen China, in den Provinzen Tschi-li, Schan-tung, Schan-si, ja
in Kiang-su und Ho-nan, in großen Städten mit hunderttausenden von
Einwohnern, in den tüchtigen Arbeitsdörfern wie in den Spelunkennestern kam
es alle paar Tage vor, daß einer auf den Markt ging und vor irgendeinem
Betrüger, vor einem Bettelpriester, vor einem lahmen Kind, in einen
Eselstrog sein Geld und seine Wertsachen ausschüttete. Daß Ehemänner aus
kinderreichen Familien verschwanden; man traf sie nach Monaten in
entfernten Distrikten, mit den Vagabunden bettelnd. Es ging hie und da ein
unterer Beamter wochenlang wie benommen und träge herum, antwortete bissig
auf jede Frage, zuckte frech mit der Achsel bei einer Rüge; dann beging er
plötzlich ein erstaunliches Verbrechen, unterschlug öffentliche Gelder,
zerriß wichtige Aktenbündel oder griff einen harmlosen Menschen an und
zerbrach ihm Rippen. Verurteilt ertrug er seine Strafe und Schande
gleichmütig, oder entwich aus dem Gefängnis, ging in den Wald. Dies waren
die Leute, denen die Trennung von Familie und Besitz am schwersten wurde
und die sich nur durch ein Verbrechen von ihnen ablösen konnten.

Sie trugen nichts vor, was man nicht schon wußte. Eine alte Fabel, die sie
erzählten, ging von Mund zu Munde:

Es war einmal ein Mann, der fürchtete sich vor seinem Schatten und haßte
seine Fußspuren. Und um beiden zu entgehen, ergriff er die Flucht. Aber je
öfter er den Fuß hob, um so häufiger ließ er Spuren zurück. Und so schnell
er auch lief, löste sich der Schatten nicht von seinem Körper. Da wähnte
er, er säume noch zu sehr; begann schneller zu laufen, ohne Rast, bis seine
Kraft erschöpft war und er starb. Er hatte nicht gewußt, daß er nur an
einem schattigen Ort zu weilen brauchte, um seinen Schatten los zu sein.
Daß er sich nur ruhig zu verhalten brauchte, um keine Fußspuren zu
hinterlassen. --

Ein Seufzen preßte das Land aus. Man hatte so glückverschleierte Augen nie
gesehen. Ein Zittern ging durch die Familien. Und wenn abends wieder von
den »Wahrhaft Schwachen« und der alten Fabel gesprochen wurde, sah einer
den andern an und morgens forschten sie, wer verschwunden sei.

Ein geheimes süßes Leiden schien besonders die jungen kräftigen Männer und
Frauen befallen zu haben. Sie schienen fortgezogen zu werden von einer Art
bräutlichem Schmerz.

                   *       *       *       *       *

Wang-lun war das Haupt der Bewegung.

Er stammte aus Schan-tung, aus einem Küstendorfe namens Hun-kang-tsun, im
Distrikt Hai-ling; der Sohn eines einfachen Fischers. Er erzählte später in
beiläufigen Wendungen, sein Vater sei der erste der dortigen Fischerzunft
gewesen; an der Wand des Zunfthauses stünde noch der Name seines Vaters,
des Begründers dieses Hauses. Aber in ganz Hai-ling gab es kein Gildenhaus.
Die zweihundertzwanzig Familien des Örtchens schlugen sich mühselig durch.
Die Männer schwammen zum Fang auf dem Meere; die Frauen bestellten die
wenigen Felder. Der Boden war so knapp, daß man künstliche Äcker auf den
breiten Terrassen der Kalkfelsen anlegte, welche dicht an den Strand
traten. Mühsam schleppte Mann und Weib die lockere Erde auf Holzmulden
herauf, über die schmalen Serpentinen, Mulde nach Mulde, dann warfen sie
den spärlichen Dünger, trockene Krebsschalen und Menschenkot.

Dort über dem Meere wirtschafteten Weiber, Kinder und alte Männer tagsüber;
Geplärr und dumpfes Rumoren scholl herunter in das leere Dorf. Es hatten
früher hier mehr Familien gewohnt. Aber über fünfzig Häuser waren eines
Tages von einem vorüberziehenden plündernden Haufen, der von Tschi-fu
herkam, in Brand gesteckt worden. Dem alten Dorfschulzen hatten sie
zwischen zwei Gneisblöcken die Füße gequetscht, als er nicht die
zweihundert Tael zahlte, die sie verlangten, dann ihm mit einem
Balkenschlag den linken Arm zermalmt und ihn, nachdem sie ein breites Loch
in das Eis geschlagen hatten -- es war Winter --, in einen Tümpel
geschleudert. Das stoßweise Gebrüll der sechs Mann, die den jammernden
Schulzen immer wieder mit Brettern niederdrückten, das Klatschen der
Planken auf der Eisfläche, das laute Schlingen und Wasserspeien des
Ertrinkenden, dazu das ungeduldige Wiehern ihrer gestohlenen Pferde, war
eine der wenigen Kindheitserinnerungen Wang-luns.

Mit Sonnenaufgang fuhr der alte Wang in den beiden heißen Monaten aufs Meer
hinaus, auf einer zweimastigen Dschunke, die am Bug aus zwei großen grünen
gemalten Glotzaugen spähte. Zu fünfen saßen die Fischer drin. Die Segel
schwellten; sie legten die Ruder hin; gleichmäßig glitten sie einher über
dem dunklen Pei-ho neben der Nachbardschunke. Sie warfen draußen das
verschlungene scharfriechende Netz aus, spannten es von Dschunke zu
Dschunke. Die Drehrollen, die das Netz senkten und zogen, knarrten,
heulten, standen fest.

Die Männer blieben bis zum späten Nachmittag draußen. Die Sonnenhitze fiel
wie ein trockener sengender Regen über Mensch und Getier. Dickwanstig saß
der alte Wang unter seinem tellerförmigen riesigen Strohhut auf der
Ruderbank und warf mit spitzen Steinen nach den Seemöwen, die hinter den
Dschunken aus der flimmernden Luft tauchten. Während die andern Bootsleute
im Schiff die Pfeife rauchten oder Tabak kauten. Sobald Wang seine
Schleuder ordnete, setzte sich ein kleiner Bootsmann vor ihn an den
hinteren Mast, rauchte sorglos, holte vorsichtig einen elastischen
Weidenstock unter dem Tauwerk hervor. Die Schleuder knarrte, der Kleine
reckte sich mit tönendem Gähnen, die Schleuder wickelte sich um seinen
Stock und ausgestreckten Arm, knallte mit dem Stein unfehlbar dem gespannt
wartenden Wang vor die Brust oder auf die Beine. Betrübt sah er seiner
schwirrenden Möwe nach. Das Boot schwankte unter dem Lachen der vier, die
sich auf die nassen Bretter legten.

Wang torkelte großspurig durch die Teestuben, bewarb sich einmal, eines
unbeschäftigten Morgens aus seinem Bohnenfeldchen aufstehend, um die Stelle
eines Ortsvorstehers auf dem Amt, zur weinenden Wut seiner abgerackerten
Frau, die den Spott über Wang voraushörte. Gern lag er im Sande, neben den
Becken, die seine beiden Söhne mit Holzkohlen füllten zum Trocknen der
Tintenfische. Zündeten sie um die Zeit der Ebbe die Becken auf der Dschunke
selbst an, so trabte er zum Strande und hockte sich hin. Da lagen halb
umgestülpt die leeren Fischkörbe, ausgebreitet im Sande die gedörrten
Tiere, die in der Sonne sich schön färbten. Sie fühlten sich glühend an.

Der Dickwanst stocherte in den Schlammlöchern herum, zog lange Sandwürmer
heraus, von denen er die Hälfte seiner Frau zum Trocknen und Verkauf gab.
Er selbst behielt sich abseits ein großes Maß, trocknete sie heimlich und
schlürfte seine herzhaft köstliche Suppe hinter den Körben.

Dann kamen nach einer Weile die beiden Knaben von der Dschunke herüber,
wickelten ihm, da er schwitzte, seine Beinbinden los. Sie kauerten ernst
vor ihm mit ihren kleinen Rattenschwänzen, den Zöpfchen und legten die
Hände auf den Schoß. In hochmütig näselndem Tone, laut, daß ihn die
Nachbarn hörten, redete Wang über sie hinweg, den feisten Rumpf
aufgetakelt, rückwärts gestützt auf den Ellenbogen; das nannte er seine
Unterrichtsstunde. Er kannte in der Tat die Fibel, das Buch der
tausendachtundsechzig Worte des Tscheou-hing-tse; bis auf einige Fehler
kannte er es auswendig; es schien auch, als ob er aus dem Frauenbuche
einige Sätze gelernt hätte. Immer wieder erklärte er den Kindern, daß er
bedaure, nicht streng genug zu ihnen zu sein; Strenge zu ihnen sei seine
heilige Pflicht, denn -- und die Kinder fielen singend ein: »Erziehung ohne
Strenge ist des Vaters Trägheit.«

Und alle paar Tage hörte der künftige Lehrer dreier Provinzen, daß Freude,
Zorn, Kummer, Furcht, Liebe, Haß und Begier die sieben Leidenschaften
seien. Nicht oft konnten die Kinder ihn unbeschäftigt anhören. Wang-luns
Gesicht war schwarzbraun und viereckig, breit; kräftige Linien holten ein
reges, verschlagenes Gesicht aus. Die zarte mehr gelbe Tönung der Haut
seines gleichaltrigen Bruders nahm trotz aller Meeresgluten keinen tieferen
Schatten an; der Knabe blieb elastischer, weicher und ernster als Wang-lun,
der wegen seiner bösartigen Späße unter den Spielgefährten wenig beliebt
war, auch wenig Verständnis für einen der Sätze seines Vaters hatte: daß zu
den fünf höchsten sittlichen Beziehungen die Bruderliebe gehörte.

Munter, mehr spielend als tätig, saßen sie rotkäppig auf den kantigen
Steinen des Strandes an dem großen Fischnetz. Auf einer grasbewachsenen
Düne hinter ihnen zehn Männerschritte entfernt lagerte der unförmige alte
Wang; die nackten, dunkelbehaarten Beine aufgestellt und übereinander
geschlagen, kratzte er sich die kleinen eingetretenen Muscheln von der
klobigen Fußsohle ab. Er hielt in seiner liegenden rechten Hand ein Ende
des Netzes, das die Knaben mit dem dickflüssigen Saft der Mandarinenschale
färbten. Er rückte sich höher; die Kinder schnalzten musikalisch, er
spuckte und grunzte. Dröhnend entfuhr ihm von Zeit zu Zeit eine Belehrung,
zum Beispiel: »Der Kürbis gilt seit altersher als Zeichen der
Fruchtbarkeit.« Bis ihm ein Windstoß scharfen Sand ins Gesicht wehte, er
sich hustend aus seiner Grube herauswälzte und ihre Farbschüssel umwarf.
Mit kläglich bettelndem Blick sagte er, sie hätten wohl nicht den richtigen
Ort zum Färben gewählt. Und sie wickelten ihm seine Binden wieder um und
zogen ein paar Schritt weiter.

Das größte Ereignis im Leben von Wang-luns Vater war, als der Alte zu
seinem Bruder reiste, zur Hochzeit seines Neffen, dreihundert Li entfernt
von Hun-kang-tsun. Der Alte sah drei Wochen den Strand und die mageren
Bohnenfelder nicht. Ein Barbier, der nebenbei Zauberer war, wohnte im Hause
seines Bruders; Wang-schen saß abends viel mit ihm zusammen.

Und am Morgen, nachdem er zurückgekehrt war, ging er mit langsamen
Schritten zu einem Manne, der Tischlerarbeit verstand, versprach ihm ein
Maß getrockneter Sandwürmer, entsprechend einem Wert von vierhundertfünfzig
Käsch, wenn er ihm ein rotes hohes Schild schnitzte mit der Inschrift:
»Wang-schen, Schüler des berühmten Zauberers Kwoai-tai aus Lui-hsia-tsun,
Wind- und Wettermeister.« Als es dunkel geworden war, nach sechs Tagen,
holte er das blanke Schild, schwarze Charaktere auf himbeerrotem Grunde,
blau gerändert, mit seinem ältesten Sohne ab, band es mit zwei
Fischertauen, auf das Dach seines Hauses steigend, am vorspringenden
Firstbalken an, während seine Frau schlief, so daß da über den Torweg frei
ein Schild herabhing: »Wang-schen, Schüler des berühmten Zauberers
Kwoai-tai aus Lui-hsia-tsun, Wind- und Wettermeister.«

Die Frau bekam am Morgen, als sie das prunkende Schild sah und ihren noch
schlafenden Mann geweckt hatte, ihren Nervenanfall, den sie seit Jahren
nicht gehabt hatte. Sie hatte damals, als einer der Brandstifter zum
Fenster hereinrief, ob außer ihr noch jemand in der Wohnung wäre, voll
Entsetzen die beiden einjährigen Kinder zwischen ihren weiten Pluderhosen
festgehalten, dabei mit dem »Nein« scharf den Kopf nach rechts geworfen.
Jetzt wogte ihr etwas Grünes durch den Kopf, die beiden Taue des Schildes
wuchsen breit wie Blätter, sägten ihr zwischen den Augen; ein blauer
gelenkloser Arm langte zwischendurch, eine Hand strömte ihre Finger auf sie
zu. Im Takt warf die Frau ihren Kopf von links nach rechts, von rechts nach
links, ihre Beine schlugen zusammen, sie tanzte wie die Figur eines
Puppenspielers; die Kinder versteckten sich vor ihr auf dem Ofenbett.

Und hell schrien sie auf und rasten auf die Dorfstraße zwischen kläffende
kleine Hunde, als aus dem Hof Wang, der alte elefantenbeinige Klumpen, in
das räucherige Zimmer drang, mit einer Tigermaske hin und her stapfte und
dabei schnaufend sang, über die Frau, die hingesunken war, strich,
flüsterte. Nach einer halben Stunde schlief die Frau. Eine Menge von
Kindern und Weibern stand an der Tür, schwieg auf dem Hof, stob vor der
nahenden Tigermaske schnatternd auseinander.

Dieser Tag war eine Wendung im Leben Wang-schens. Seine Frau sagte kein
Wort über das rote Schild, ja sie wurde wortkarg im Umgang mit dem Mann,
schlich ihm aus dem Wege.

Er gab sich jetzt nicht mehr als kleiner Gelegenheitslehrer. Er studierte
emsig im Hofe unter einer Erle die sonderbaren Zeichen auf einer
Bambustafel, die er von dem Zauberer mitgebracht hatte, ging zwischen dem
Misthaufen und Geräteschuppen gehobenen Hauptes auf und ab, zitierte laut:
»Acht mal neun gleich zweiundsiebzig. Zwei regiert das Paar. Durch Paar
vereinigt man das Unpaar. Das Unpaar regiert den Zodiak. Der Zodiak
beherrscht den Mond. Der Mond beherrscht die Haare. Daher wachsen die Haare
in zwölf Monaten.« Verblüfft sah er von Zeit zu Zeit auf die Tafel; sann,
über sich selbst beschämt, nach, befreite sich durch eine rasche
niederwerfende Geste. Er ging mit krauser Stirn zwischen den eifrig
arbeitenden Fischern am Strand abends herum, äugelte versunken mit den
violetten Wolkenballen, blieb vor dem kleinen Pudel eines Korbarbeiters
lange nachdenklich stehen, sagte träumerisch, als wenn er mit sich spräche:
»Sieben mal neun gleich dreiundsechzig. Drei beherrscht den Polarstern.
Dieser die Hunde. Daher werden die Hunde in drei Monaten geboren.«

Nur in der ersten Zeit lachte man hinter ihm, dann bürgerte sich die
Auffassung ein, daß er wahrhaft das Zeug zu einem taoistischen Doktor habe,
dieser ehemalige Clown des Dorfes. Er wußte so vieles: daß die Schwalben
und Sperlinge ins Meer tauchen und zu Eidechsen werden; er konnte den
tausendjährigen Fuchsdämon, den neunköpfigen Fasanendämon und den
Skorpiondämon benennen; und niemand verstand, was er vom Yin und Yang, dem
lichtvollen Männlichen und dem finsteren brütenden Weiblichen sagte.

Er fuhr auf See. Als er eines Morgens versuchsweise nicht zu den Dschunken
herabgegangen war, stand seine Frau still vor ihm am Ofenbett. Er erkannte
zwischen den zwinkernden Augenlidern, daß sie ihn wie sonst mit einem
Faustschlag in die Seite wecken wollte, aber dann ging sie, weckte den
fünfzehnjährigen Lun und den Bruder. Und jeden Morgen vor Sonnenaufgang
weckte sie die beiden Burschen; oben schnarchte einer behaglich im
Halbschlaf.

Wang-schen ging vormittags zum Nachdenken in den kleinen Tempel des
Medizingottes, im vorletzten Gebäude des Dorfes. Da er mit jedem im Dorf
und in der Nachbarschaft bekannt war, nahmen die Leute viel seine
eigentümlichen Dienste in Anspruch, seine Kunst, den »Teufelssprung« zu
üben, besonders aber, die »Schwangerschaft zu brechen«. So nannten die
Bewohner dieses Teils von Schan-tung eine sonderbare Sitte. Man fürchtete,
wenn sich in der Nähe einer schwangeren Frau alte Männer oder kränkliche
Kinder fänden, daß sie in den Leib der Schwangeren einziehen könnten,
vielleicht um sich so gesund und wieder jung zu machen. Wang-schen tobte
bei solcher Not in seiner weißen Tigermaske vor der hockenden Frau im
Zimmer herum, feite ihren Leib, indem er ihn mit Schilfsträngen schlug,
stieß schwitzend unkenntliche Silben aus. Bisweilen brachte er tausend
Käsch von diesen Übungen nach Hause.

Aber einmal kam er von einer Austreibung über die Straßen, sachte, in
seiner quer über das Gesicht gezogenen Maske, gelaufen, in seinen Hof, vor
seine Stubentür, wo er plump hinfiel. Die Frau riß ihm das Holzbrett vom
bleischwarzen Gesicht. Er keuchte. Aus seiner Brust pfiff es; er wälzte
seinen Leib und griff um sich. Die Frau rannte nach Kräutern, machte zwei
Ziegelsteine für seine Füße heiß. Ein kleines Mädchen schickte sie; das
mußte betteln, als hätte es keinen Käsch, um Geld für ein Bambuslos im
Medizintempel. Der Krämer und Dorfapotheker gab den Absud, den die
Losnummer bezeichnete. Wang spie ihn wieder aus.

Dann erhob sich nachmittags Lärm von vielen Stimmen vor dem Hause.
Unaufhörlich Gongschlag auf Gongschlag; Klingeln, Rufe von weither. Schwere
Trägerschritte dröhnten vom Hof herein in das stickige Krankenzimmer. Der
Medizingott kam selbst, eine rohbemalte Holzsäule, zu seinem Schüler, die
Diagnose zu stellen, die Heilung zu bringen. Die Mutter rief dem
Schlafenden in die Ohren: »Zeige dich, zeige dich doch!« Sie stützten den
Halbblinden, der murmelte und gähnte. Im Zimmer war es wieder still.

Draußen schritt der Gott zum Apotheker; die Träger schwankten in den Laden
mit ihren Stangen, der Stab des Gottes zeigte an die unterste Ecke des
Regals. Heimlich und entsetzt machte der junge Apothekergehilfe, den Rücken
gegen sie gekehrt, das Abwehrzeichen des Tigers; der Stab hatte den Trank
des schwarzen Wassers bezeichnet.

Und dem Kranken half nichts mehr.

Der Gott stand schon allein in seinem verfallenen ärmlichen Häuschen am
Ende des Dorfes. Es war finster geworden. Sein dicker Schüler, der tapfere
Dämonenzwinger, wälzte sich um die dritte Nachtwache hastig auf den Rücken.
Die Frau fragte ihn, was er wollte. Sie konnte ihm nur noch die Schuhe
anziehen, mit denen man den Totenfluß überschreitet, die Schuhe bestickt
mit Pflaumenblüte, Kröte und Gans, und mit einer weißen offenen
Wasserlilie.

                   *       *       *       *       *

Der Alte hatte gewünscht, daß sich Lun zum ersten Examen vorbereite. Aber
dessen Talente lagen anderswo und waren ganz besonders. Man bemerkte schon
beim Scheren und Rasieren seines kugelrunden Kopfes ein längliches
schwarzbraunes Mal auf der rechten Schläfenschuppe, das sein Vater als die
Perle der Vollkommenheit deutete.

Wang-lun wuchs heran, gewandt und riesenstark. Unter seiner Roheit und
Hinterlist hatten Esel, Hunde, Fische und Menschen zu leiden. Zum Diebstahl
wurde er als sechsjähriger Junge von seinem Vater selbst angeleitet, auf
merkwürdige Weise. Es war im Dorf üblich, um die Festzeit im ersten Monat,
besonders aber am fünften Tag des ersten Monats, aus fremden Gärten und
Äckern Gemüse zu stehlen, weil dieses Gemüse Glück bringt. Es durfte
niemand einen Eindringling an diesem Tage, sofern er ortsansässig war,
verjagen; die Besitzer selbst pflegten vorher alles wertvolle Gewächs
beiseite zu stellen und zu überdecken.

Als Wang-lun auf solchem gesetzmäßigen Diebeszuge begriffen mit seinem
Bruder und Vater sein Heil versuchte, erging es ihm schlecht; ein paar
vertrocknete Erdnüsse klaubte er aus dem Boden. Er trottete wütend hinter
den andern her; lief nach Hause, setzte sich still, an einem Salzkrebs
lutschend, in die niedrige Stube neben seine Mutter, die ihn lobte, weil er
Dummheiten nicht mitmachte.

Er aber saß still zu Hause aus einem anderen Grunde; er hatte eine sehr
einfache kurze Überlegung angestellt: wenn man etwas Schönes stehlen will,
so ist der fünfte Tag des ersten Monats der ungeeignetste Tag dazu; es ist
lächerlich und absurd, gerade an einem Tage stehlen zu gehen, an dem alle
stehlen und alle ihre Sachen verstecken.

Er versprach sich, den fünften Tag des ersten Monats ein andermal zu
feiern, diesen Tag absatzweise über das Jahr zu verteilen, denn ein Tag hat
vierundzwanzig Stunden, die er unterbringen mußte; er mußte das Jahr über
die erlaubten vierundzwanzig Stunden stehlen.

Und so stahl der gewandte schlaue Bursche überschlagsweise vierundzwanzig
Stunden im Jahr und jeder Diebstahl hatte den Schein des Erlaubten, und ihn
begleitete das angenehme Gefühl, das Dorf übertölpelt zu haben; es war
genußreich zu stehlen.

Ja einmal, im letzten Lebensjahre des Alten, richtete Wang-lun seine
räuberische Logik gegen seinen Vater; er nahm ihm die dünne Bambustafel
weg, die tiefbraun und unleserlich geworden war. Den weißbärtigen
Wang-schen erfüllte tiefer Schmerz, als er Lun im Hof sitzen sah, die lange
vermißte Tafel auf den Knien, sie nach allen Seiten drehend, sie
mißtrauisch beschnüffelnd. Lun lief in großen Sätzen mit der Tafel weg; der
Alte weinte, über die Tafel und über den Sohn.

Im Dorfe wagten wenige, mit dem rohen Patron anzubinden; seinen Bruder
hatte er ganz in der Gewalt.

Man war sehr glücklich, als er, gelangweilt von dem Fischfangen, Dörren,
Netzeflicken, unzufrieden mit der Ärmlichkeit seines Heimatortes, aus dem
auch durch den raffiniertesten Betrug nicht mehr als dreißig bis vierzig
Tiau zu holen waren, eines Tages mit ein paar Kupferkäsch an der Schnur aus
Hun-kang-tsun losmarschierte, ziellos die große Straße nach Tsi-nan-fu.

Es war Frühling. Erst lief er allein. Dann, als die Säure ihm in den Mund
stieg, schloß er sich den Karrenzügen an, die aus den Töpfereien Waren in
die Dörfer schleppten, und verdiente ein paar Cent. Er stieg, grimmig über
die geizige Bezahlung, aus dem grünen Tal des Wei-ho auf in die wilden
Berge; hinter den einsamen Häusern lauerte er mit einem Beil, einem grünen
Sandsteinstück an einem Sandelholz, den Bewohnern auf, entriß ihnen, was
sie gerade bei sich trugen, und floh. Auf den furchtbaren Felswegen, die er
kletterte, war nichts vom Frühling zu merken. Die Bäche rauschten in den
eingeschnittenen Tälern, reißend nach der Schneeschmelze; der zerlumpte
Strolch ging nicht zum Waschen herunter zu ihnen; er war feige. Tagelang
trug er in seinem Kittel zwanzig kostbare Schnupftabakdosen aus feinstem
Glase; aß die rotgelben Kakis, die süßen getrockneten Äpfel, rasierte sich
nicht, band seine schmutzklebenden Haare nicht zusammen: er hatte auf der
Flucht ein kleines Mädchen bei einer Karawanserei überrannt, das Kind war
im Fallen über einen Hang gerollt, dann einen Grat abgestürzt. Wang wagte
sich nicht ins Tal aus Furcht vor dem Geist des Kindes.

Auf den letzten westlichen Ausläufern des Tai-ngan-schans, angesichts der
reichen blütenüberschwemmten Ebene des Ta-tsing-ho, blieb er fast einen
Monat liegen, unter den Bettlern und Lumpen dieses Striches, die in
kläglichen Hütten zusammenhockten. War abgemagert, fühlte sich elend;
seinen Lebensunterhalt verschwieg er den faulen Gesellen, mit denen er
abends Geduldspiele aus Quarzstückchen zurechtsetzte. Er stieg um Mittag
einen Felspfad aufwärts, durchkletterte eine kahle Schlucht; dann kam er an
die Rückwand eines verrufenen Wirtshauses, das drei mongolische Kühe besaß.
Dem aufpassenden Burschen hatte er das erstemal einen Genickstoß gegeben
und mit dem Beil gedroht, als er sich einen halben Eimer Milch nahm; jetzt
erwartete ihn der Junge alle drei Tage, steckte ihm alten Reiskuchen zu,
rohe Eier, ließ ihn melken, soviel er wollte.

Als der Junge eines Tages verschwunden war und zwei bissige Hunde um den
Stall liefen, kletterte Wang langsam und hungrig den mühseligen Weg zurück,
die Schlucht hindurch, den Felspfad herunter. Erst wollte er zu den
Bettlern zurück und irgendeinen von ihnen erschlagen; dann sonnte er sich
die letzten Tagesstunden, blieb schlafend auf dem Gneisschutt liegen und
stieg mit dem ersten Morgenschimmer die Berge abwärts über die sanften
Hügel, die flachen Kalksteinerhebungen. Die wasserreiche Ebene dehnte sich
unabsehbar aus. In dem blendenden Abendlichte sah er vor sich die starke
Mauer und die mächtige Stadt, Tsi-nan-fu.

                   *       *       *       *       *

Das war ein unermeßliches Wachsen um Tsi-nan-fu.

Diesseits und jenseits des lehmfarbenen breiten Flusses standen die
Hirsefelder schon übermannshoch, die starren Halme und Rohre mit ihren
grünen scharfen Blattscheiden und braunen Kolben, die sich schwer umbogen
und sanken wie Puschel von Kriegspferden und Helmwedel, überflockt von
feinen Härchen. Wenn der warme Wind von den Bergen über sie fuhr, ging ein
Scharren durch die Felder, als liefen die Halme davon, und alle warfen sich
zum Anlauf vornüber. Ganz junge Pflanzen standen an den schmalen Fußpfaden,
die Wang-lun am nächsten Morgen trottete; er riß ein paar aus, steckte die
dünnen zarten Seidenwedel in den Mund und sog an ihnen. Drosseln und große
Raben jagten sich schreiend über dem feuchten Boden, saßen auf den
schlanken Sophorenbäumen, in deren breiten Kronen die Zwitterblättchen ein
Schwanken und Schwirren begannen, als ob die Bäume ein krampfhaftes Lachen
unterdrückten.

In einem fliegenden Barbierladen noch vor dem Tor ließ sich der
verwahrloste Mann für seine Glasfläschchen waschen, rasieren und billig
einkleiden. Dann spazierte er lächelnd und die feisten Torwächter vertraut
grüßend in die Stadt hinein, in einem blauschwarzen Obergewand, auf neuen
Filzsohlen, am grünen etwas faserigen Gürtel den leeren Tabaksbeutel, als
käme er eben aus einem der vielen kleinen Teepavillons vor der Stadt, in
denen sich Dichter und galante Jünglinge ergingen.

Groß und unübersehbar war das Gewirr der Straßen. Kaufladen stieß an
Kaufladen, Garküchen, Herbergen, Teehäuser, überladene Tempel; an der Mauer
klingelten die Glöckchen zweier schöner Pagoden, die den Weg der
obdachlosen Geister ablenkten. Wang ließ sich willig von dem Menschenstrom
tragen, spähte listig und vergnügt um sich, schob in einer engen Straße
eine wartende Sänfte samt den beiden Trägern beiseite.

Und nachdem er die beiden an die Erde gelegt hatte, hatte er sich in ihnen
die ersten Freunde in Tsi-nan-fu erworben, die ihn nach einer Stunde in ihr
Logierhaus nebst Garküche führten, ein offnes luftiges Bretterhaus in der
Einhornstraße. Ein Flügel des Hauses enthielt die ärmliche Garküche, deren
Duft und Rauch aber auch den andern Flügel durchzogen, die nach der Straße
offene Terrasse für Teetrinker und die Schlafkammern; das waren Verschläge
im Hintergrund des Teeausschanks, niedrig, schmal, mit einer Bank zum
Liegen und einem Schemel. Wang warf nur einen Blick in seine Kammer, dann
strich er durch die Nachbarstraßen, erspähte Gelegenheiten. Er hatte keinen
Käsch.

Hinter zwei Hökerfrauen, die zusammen einen Korb trugen, ging er in ein
Haus, über einen weiten Hof, in einen halbdunklen Raum, den er erst an dem
dicken süßlichen Geruch als Tempelhalle erkannte. An der rund
ausgeschnittenen Tür saß ein alter kräftiger Mann in einem hellgrünen
weitärmeligen Gewand, den Zopf auf dem Scheitel aufgebunden; er saß vor
einem kleinen Tischchen mit Räucherkerzen, Papierfiguren und machte ein
salbungsvolles Gesicht, indem er die Lippen schnauzenförmig abwärts zog,
die Hände mit eigentümlicher Fingerkrümmung vor sich hinlegte und die Augen
schloß. Die Frauen hatten von ihm sechs Kerzen gekauft, steckten sie vor
einer bunten Holzstatue im Hintergrund an, vor einem sitzenden Gott, neben
dem Trommeln, Mandolinen und Pansflöten an der leeren Wand hingen.

Wang ging an dem Korb der Frauen, der in der Mitte des Raums stand, vorbei,
sah seitwärts, wie jetzt der Bonze die paar Käsch von Hand in Hand zählte
und sie lautlos in einem Kasten an der Türwand verschwinden ließ, wieder
die salbungsvolle Fischschnauze zog. Es war ein Tempel Hang-tsiang-tses,
des Patrons der Musikanten.

Als Wang sich zu der Tür wandte, stand der Bonze auf, verneigte sich vor
ihm, schwang die gefalteten Hände, pries die Frömmigkeit seines hohen
Besuchers, mit einem durchgesiebten gleichmäßigen Schwall von Worten. Auch
Wang verneigte sich höflich. Zum Schluß fragte der Priester, ob die
Subskriptionsliste für eine Wassermesse schon in den Palast seines Gönners
getragen sei; es seien fünf arme blinde Musikanten auf einem Boot
ertrunken, als sie aus dem jenseitigen Dorf zurückkehrten. Die Messe für
die Seelen der Ertrunkenen beginne in zwei Tagen. Wang gab einen falschen
Namen und falsche Wohnung an, bat, seinen Namen schon jetzt in die
Geberliste einzutragen, die an der Tempelwand angeschlagen war.

In der Dunkelheit brach er dann ohne Mühe in den Raum ein, erbeutete über
siebenhundert Käsch.

Er lebte zufrieden über eine Woche in der Herberge, als ein Zufall ihm den
Bonzen auf der sehr belebten Weißegräberstraße in den Weg führte. Es war
schon zu spät sich zu verstecken, als er das hellgraue Priesterkleid sah.
Zu seinem Erstaunen ging aber der Mann grinsend unter Winken an ihm
vorüber.

In derselben Nacht brach er bei dem Bonzen ein. Der Geldkasten war
verschlossen, aber leer. Wang tastete sich im Dunkeln an den Opfertisch;
auch unter der Opferasche lag kein Geld. Erst als er das weiche Tuch des
Achtgenientisches verzog, klirrte etwas: unter dem Tuch ausgebreitet lagen
einige Handvoll Kupferpfennige.

Er arbeitete in den nächsten Tagen, als das Geld vertan war, bald hier,
bald da als Kohlenträger, Läufer in einem Jamen; aber der niedrige Lohn
reizte ihn zur Wut, auch vertrug er sich nirgends. Sein prahlerisches
Wesen, seine Hitzigkeit zusammen mit seiner Riesenstärke rissen ihn überall
zu Gewalttaten hin.

So brach er nach zwei Wochen wieder in den Tempel des Musikantengottes ein.
Vorher sann er nach, wo der Bonze seine Tageseinnahme versteckt hielte. Daß
er sie nicht in seinem Bette und Schlafraum hatte, war Wang klar; der Bonze
wußte zweifellos, daß Wang es war, der ihn bestahl, und in seinem
Schlafzimmer fürchtete er sicher für sein Leben. Fast eine Stunde suchte er
vergeblich in dem Raum herum, beklopfte Wände und Boden. Schließlich
stellte er den Schemel des Bonzen auf den Altaropfertisch, betastete die
Statue des schweigenden Hang-tsiang-tses. Am Halse des Gottes klang es
hohl; er klomm hoch und auf dem Schenkel des Musikfürsten stehend öffnete
er das leicht zugängliche Kästchen; drei Hände voll Käsch glitten in den
Beutel an seinem Gürtel.

Als er sich herunterlassen wollte wieder auf den Schemel, bemerkte er, daß
jemand an seinem Zopf zog, nein, daß sein schön gebundener Zopf an der
Decke und Rückwand des Zimmers festsaß. Er tapste mit der freien linken
Hand nach oben und hinten; eine dicke teerartige Masse klebte da; mit Mühe
bekam er seine Hand frei; er fürchtete mitsamt der schweren Bildsäule
vornüber zu kippen. Schmerzvoll und unter Verlust vieler Haare rupfte er
seinen Zopf aus der klebrigen Galerte. Leise kläffend über den Bonzen
schlich er auf die Straße. Der Stoff klebte harzig an seiner schön
rasierten Kopfhaut; wohin er mit seiner linken Hand griff, blieb er hängen.

Seine Freunde in der Einhornstraße schabten ihn am Morgen unter großen
Qualen sauber, mit scharfen Holzstäbchen; seine Haut blutete. Sie lachten
nicht über ihn, sie fürchteten und liebten ihn, sie bewunderten seine
Kühnheit. Auch teilte er den Gewinn mit ihnen.

Nach dieser Nacht hatte Wang-lun, der geschundene Dieb, nur einen Wunsch:
sich an dem Bonzen zu rächen. Der Mann schien seine Wohnung zu kennen;
wenige Tage nach dem Ereignis traf er den grauen Mantel langsam in der
Einhornstraße spazieren. Das faltige Gesicht lächelte nur wenig, als Wang
sich über die Balustrade der Teeterrasse herunterbeugte; es verzog sich zu
einem schmerzlichen Bedauern vor dem bewickelten Schädel Wangs. Oft sah
sich der Bonze um nach dem armen Dieb, der hinter ihm Grimassen schnitt.

Nun gab Wang seinen beiden Freunden nichts von der letzten Beute; er legte
fast alles seinem Wirt hin, damit er selbst ungestört seine Pläne ausführen
könnte. Es lief auf einen Wettstreit zwischen ihm und dem Bonzen hinaus.

Noch war sein Kopf bewickelt, da ging er an einem Nachmittag in das Haus
des Bonzen. Der saß an seinem Platz in weihevoller Haltung; es waren Fremde
aus Wu-ting-fu da, die seinen Tempel besichtigten. Als er den gleichgültig
stolzierenden Wang erkannte, lief er entzückt herbei, dankte für die
reichliche Gabe bei der jüngsten Wassermesse, fragte nach dem Befinden
seines offenbar leidenden Gönners. Mit ernster Stirne fügte er hinzu, daß
sein Tempel in vielen Sorgen schwebe. Ein schlaues Diebsgesindel mache sich
in diesem ruhigen Stadtviertel breit und brandschatze den armen
Hang-tsiang-tse und seinen bescheidenen Diener Toh-tsin; dies war sein
Name. Wang hörte ihn von oben herab interessiert an und fragte nach einer
nachsinnenden Pause, welche Vorsichtsmaßregeln der weise Toh-tsin getroffen
habe gegen die Verbrecher.

Nun führte Toh, der lebhaft und wiederholt für sein grenzenloses Wohlwollen
dankte, den ernsten Mann herum, der mit den prüfenden Augen eines Beamten
alles betrachtete. Toh ließ ihn den alten leeren Wandkasten sehen, zeigte
Fußangeln, die er abends an der Türe auslegte, wies auf die vertrocknete
Teermasse an der Hinterwand der Bildsäule. Wang gab Ratschläge; ob es sich
nicht empfehle, die Tageseinnahmen am eigenen Körper zu tragen. Toh
replizierte mit dem Hinweis auf die Gefährlichkeit der Halunken, die sogar
--. Wang brauste auf, wies den Ausdruck Halunke zurück, erklärte auf den
lächelnd fragenden Blick des andern, daß seinen Ohren so heftige Ausdrücke
böse klängen, daß er gerade dieser Feinhörigkeit wegen tiefe Verehrung für
den Musikfürsten hege.

Sie gingen, sich gegenseitig musternd, einige Male zwischen den andächtigen
Fremden aus Wu-ting-fu hin und her. Dann verabschiedete sich Wang
herablassend von dem Priester, der hingerissen dankte für das Vertrauen des
erleuchteten Gastes.

In dieser Nacht ging der Fischersohn aus Hun-kang-tsun ratlos vor dem
Tempel auf und ab. Er wußte nicht, wie er es anfangen sollte. Er fürchtete,
sich vor dem alten Spottvogel zu blamieren. Ihn ganz in Ruhe zu lassen war
unmöglich nach dem letzten Triumph dieses hinterlistigen Betrügers. Manchen
Augenblick dachte Wang ernstlich, er müßte den Toh-tsin wecken, verprügeln
und der Polizei übergeben.

Dann fühlte er sich über den stockfinstern Hof. In einem Winkel des
seitlichen Schuppens blieb er stehen, um seine Augen an die Dunkelheit zu
gewöhnen. Da sah er dicht neben sich quer vor der Haupttür eine lange
Leiter am Boden liegen.

Er rührte sie nicht an; er überlegte. Das war eine List Tohs; die Leiter
stand sonst in einem Winkel des Hofes. Andererseits gab es im Innern des
Tempels kaum noch einen Fleck, wo Toh seine Tageseinnahme unterbringen
konnte. Wang umging vorsichtig die Leiter, versuchte mit einigen Sprüngen
den niedrigen Dachfirst zu erwischen, aber langte nicht herauf und es gab
zu viel Lärm. Dann hangelte er sich mühselig und immer wieder abgleitend an
einem feuchten Pfeiler des Schuppens herauf, schwang sich auf das Dach. Es
währte über eine Stunde, bis er auf das Tempeldach selbst herüberkam; er
fürchtete, wenn er sich aufrichtete, von der Straße gesehen zu werden.

Und so kroch er geduckt und legte sich bei jedem Türenklappern,
Trommelschlag der Nachtwächter platt auf den Bauch, immer in Gefahr
abzurutschen von dem schrägfallenden Gebälk. Er schimpfte, daß er gezwungen
sei, von dem Gelde eines solchen alten Schuftes zu leben. Dachrippe nach
Dachrippe wurde abgetastet; langsam ließ sich Wang zu der Kriegerfigur an
der Traufe herunter, die ein blankes Schild hob. Hinter dem Schild am Arm
des Ritters hing etwas und baumelte schwarz, als die Traufe sich unter
Wangs Gewicht bog. Es war der Geldbeutel. Seine klammen Finger knoteten ihn
ab, eine schwere halbe Stunde folgte, bis Wang wieder auf der Straße stand,
frierend und das schmutzige Gesicht zornverzerrt über die Hinterlist des
Alten.

Um die Mittagszeit, als er nach dem Essen tabakkauend auf der Terrasse
stand, kam der flinke Wirt angeschnattert, brachte ihm die lange Visitkarte
Toh-tsins. Der erkundigte sich nach dem Befinden seines Wohltäters, zeigte
sich erfreut, daß seine Kopfwunden zuheilten, besah sich gerührt die
zerrissenen Hände Wangs: es gäbe so schwere Gewerbe in Tsi-nan-fu. Als sie
ihre Tasse Tee ausgetrunken hatten, zahlte Wang offen aus dem Beutel seines
Gastes, begleitete ihn in den Tempel, um festzustellen, was es mit der
Leiter auf sich habe. Sie hegten große Sympathien füreinander, besonders
Wang für Toh, weil er sich ihm überlegen fühlte und der andere dies
zuzugeben schien. Toh hob auf den Wunsch seines Gastes die Leiter aus dem
Winkel, legte sie an das Dach an, kletterte ein paar Sprossen hinauf. Wang,
verblüfft, kletterte nach ihm bis auf das Dach.

Fest stand in Wang: die Sache, bei der er immer gleichzeitig gewann und
verlor, sollte heute ausgetragen werden.

Mit lahmen Beinen, schwachem Rückgrat schlich er bei Anbruch der Nacht
hungrig und aufgeregt in den Hof Tohs, hob die Leiter, die wieder quer lag,
auf, legte sie an den Dachfirst und kletterte mit Herzklopfen hinauf. Ein
Beutel hing richtig wieder an dem Arm des Kriegers. Besorgt blieb er
bäuchlings auf dem Dach liegen; es schien sich etwas im Hofe zu regen, die
Leiter schwankte einmal. Er kletterte rasch wieder herunter, ohne
Zwischenfall.

Da blieb er angewurzelt unten vor der Leiter stehen. Er konnte nicht von
der Stelle. Seine Filzschuhe waren in einen dicken Brei eingetreten, der
bis über seine Knöchel quoll. Er ächzte; arbeitete sich, an der Leiter
klimmend, hoch, indem er seine Schuhe stecken ließ. Seine Wut machte ihn
zäh bei der Anstrengung und fast sinnlos. Als er in bloßen Füßen mit
verklebten Hosen frei im Hofe stand, warf er den Beutel mit Gewalt an die
Tür der Kammer des Bonzen. Er schrie durch die nächtliche Stille laut zu
dem Klingeln der rollenden Käsch: »Da hast du deinen Dreck, du Sohn einer
Schildkröte.« Trommelte gegen die dünne Holzwand des Hauses mit den
Fäusten, bis sich eine sanfte Stimme drin vernehmen ließ: »Was will denn
der Liebling? Womit beschenkt er den Sohn einer Schildkröte zur Nacht?«

»Heraus soll der Sohn einer Schildkröte, heraus soll er kommen. Ich will
ihm zeigen, was Gemeinheit und Niedrigkeit ist. Du sollst mir meine Schuhe
bezahlen und meine Hosen.«

»Aber der stürmische Liebling hat schon den Preis bekommen für seine Schuhe
und seine Hosen.«

»Komm heraus, sage ich, du Schwätzer, du Dicker, du Gauner, ich will dir
zeigen, was bezahlen heißt bei mir!«

Während noch der frierende Wang-lun im Hofe tobte, kleidete sich Toh-tsin
feierlich an bei einer Öllampe, steckte den Teekessel an, öffnete die Tür
nach dem Hof mit großer Ruhe. Wang wollte gegen ihn anstürmen, konnte wegen
seiner verklebten Hosen nur in Schrittchen und unter Schmerz vorwärts. Toh
leuchtete ihm mit der Lampe entgegen, verbeugte sich unaufhörlich. Dem
großen Burschen, der die Lächerlichkeit seiner Lage fühlte, standen vor Wut
und Schmerz die Tränen in den Augen. Toh wich vor ihm aus, wies auf das
warme Ofenbett, auf das sich Wang wimmernd legte.

Eine Tasse heißen Tee, die ihm sein Wirt unter vielem Zeremoniell bot, soff
er in zwei Zügen aus, während Toh seinen Priestermantel zurückschlug, einen
Zeugbausch mit einer stark duftenden Flüssigkeit tränkte und langsam die
Pechmasse von Wangs Beinen abrieb. Zwischendurch lief er auf den Hof mit
der Lampe. »Es könnte doch ein Dieb kommen und uns unser Geld stehlen«,
meinte er, als er mit dem Beutel zurückkam und wieder die Türe schloß. Er
bot Wang ein paar Hosen und gute Filzschuh. Der Fischersohn aus
Hun-kang-tsun saß am Tisch des freigebigen Mannes, hieb in Wassermelonen
und schluckte Tasse auf Tasse. Es wogte in ihm auf und ab, aber der Tee war
heiß und die Melonen saftig.

Toh-tsin entpuppte sich im Gespräch als eben so großer Menschenkenner wie
Schelm. Sein besiegter Gegner legte den verpflasterten Kopf bald auf eine,
bald auf die andere Seite in Bewunderung dieser mannigfaltigen
Durchtriebenheit. Toh-tsin hatte sich wie berechnet einen zuverlässigen
Gehilfen gefangen.

                   *       *       *       *       *

So waren die merkwürdigen Beziehungen zwischen beiden in Freundschaft
ausgeartet.

Das Geschäft Toh-tsins war sehr einfach. Er hatte zur Verwaltung den Tempel
einer sehr armen Gesellschaft, der Musikanten. Sie bezahlten ihm für seine
Dienste einen unbedeutenden Betrag und stellten ihm die Kammer zur
Benutzung; er mußte sich im Grunde seinen Unterhalt durch Verkauf von
Räucherwerk, Messenlesen selbst verdienen, und alles war auf seine
Tüchtigkeit gestellt. In einem anderen Stadtteil Tsi-nan-fus befand sich
noch eine Halle für den Musikfürsten; und wenn Tohs Gott den Leuten ihre
Wünsche nicht erfüllte, so zogen sie schmähend und beschwerdeführend in die
andere Halle und brachten Tohs Gott in Mißkredit.

Wang-lun und Toh-tsin trieben jetzt das Geschäft gemeinsam. Wang wurde
Ausrufer und Zeuge des Bonzen. Wenn sie zusammen vormittags durch die
Straßen und über die wimmelnden Märkte zogen, ging der riesige Wang im
grünen Kittel dem Priester voran, trug die beiden meterlangen Posaunen an
ihren Schlünden; in die Mundstücke blies von Zeit zu Zeit Toh-tsin hinter
ihm; zwei brüllende tiefe Töne fuhren schrecklich aus den Schlünden unter
die auseinanderweichenden Menschen. Vor den Börsen der Seidenhändler, der
Porzellanverkäufer priesen sie laut die enormen besonderen Fähigkeiten
ihres Gottes; die Lose in seiner Halle gaben die sichersten Rezepte bei
allen Krankheiten; eine Messe vor ihm gelesen sei ebenso wirksam wie
billig. Es galt den Heiligen von Zeit zu Zeit aufzufrischen, ihm neue
sensationelle Fähigkeiten zuzuschieben; so riefen sie den Spürsinn des
Musikfürsten bei der Aufdeckung von Verbrechen, Diebstählen aus. Wurden sie
dann wirklich irgendwo hinzugezogen, so forschten sie beim Herumtragen
einer kleinen Statue des Hang-tsiang-tses nur die Gelegenheit aus, stahlen
etwas später und gruben mit Hilfe des Spürsinns Hang-tsiang-tses an einem
entfernten Platze den größten Teil der Beute wieder aus. Es versteht sich,
daß bei ertragreichen Diebstählen der Gott sie im Stich ließ.

Da Toh Wangs Neigung zu Narrenstreichen und Übermut kannte, schenkte er ihm
eine schöne Hirschmaske mit prächtigem schönen Geweih, eine Maske, wie sie
lamaistische Pfaffen bei ihrem Tsamtanze zu benutzen pflegen. Wang-lun
freute sich kindisch über das Stück, tollte im Tempelhof und auf der Straße
gemeinschaftlich mit den beiden Sänftenträgern herum, erschreckte, verjagte
Besucher.

Von seinen Possenstreichen war die halbe Stadt erfüllt. Wie er sich
irgendwo auf der Straße mitten in einen Rudel wilder Hunde setzte, den
Hirschkopf überzog, die Hunde angrunzte, dann vor ihnen über belebte Plätze
jagte: ein Gellen der Weiber und Kinder, ein Auseinanderstieben, ein
Springen, Bellen, Umrennen, und die Hetze verschwand in einer Gasse, wo er
die anjaulenden Hunde mit einem Fußtritt in irgendein Papierfenster, eine
Sänfte beförderte, und ausrufend weiterzog.

Berüchtigt machte ihn eine Sache, die mit einem ernsten Hintergrund sich in
ihren Folgen schwer an ihm auswirkte.

Es hatten sich chinesische Volksstämme in Kan-suh, die dem mohammedanischen
Glauben anhingen, trotzig und aufsässig benommen. Sie nannten sich die
Salarrh mit den weißen Turbanen, waren uneins unter sich; man hatte sie mit
Gewalt beruhigt.

Es sollte jetzt alles, was mit ihnen in Verbindung und Verwandtschaft stand
in den anderen Provinzen, festgestellt, verbannt oder ausgerottet werden,
nachdem ihr Führer schon längst sein Leben gelassen hatte mitsamt seinem
Anhang. Der Boden schwang schon unter den Füßen der Geheimbünde, die gegen
den Kriegskaiser und die fremde Mandschu-Dynastie wüteten, aber man achtete
in der stolzen Roten Stadt nicht auf dies dumpfe Geräusch, das seine Stimme
später mit dem Schwirren der Pfeile, dem Zischen der krummen Säbel, dem
unheimlichen Gesang der rotweißen Feuersäulen, dem Knarren und Bersten der
einstürzenden Giebel verstärken sollte.

In Tsi-nan-fu lebte unter andern mohammedanischen Familien die Familie
eines gewissen Su. Dieser stellte aus Pflanzenmark Dochte her; er war ein
angesehener würdevoller Mann, der den untersten literarischen Grad erreicht
hatte. Das Familienhaus der Sus stand in der Einhornstraße, schräg
gegenüber der Herberge Wang-luns, und Wang schätzte den klugen, wenn auch
eingebildeten Mann sehr.

Der Tao-tai von Tsi-nan-fu ermittelte, daß Su-koh der Oheim eines Mannes
war, welcher in Kan-suh die ersten Unruhen gestiftet hatte. Die Häscher
nahmen den Dochtfabrikanten fest, brachten ihn samt den beiden Söhnen in
das Stadtgefängnis, wo er täglich unter Foltern vernommen wurde.

Er saß über drei Wochen in Haft, als Wang in seinem Gasthof davon erfuhr.
Dem fuhr der kalte Schreck durch die Knochen. Er stellte sich den ernsten
teilnahmsvollen Su-koh vor, fragte einmal über das andere: »Warum denn?
Warum denn aber?« kam nicht zur Ruhe, bis er selbst festgestellt hatte, daß
Su-koh wirklich samt seinen beiden Söhnen im Gefängnis saß und unter
Foltern täglich vernommen wurde. Und zwar, weil jener Aufrührer sein Neffe
war, welcher in Kan-suh zuerst laut aus einem alten Buche vorgelesen hatte.

Wang setzte sich mittags mit seinen beiden Freunden und drei Bettlern in
der Herberge zusammen und beriet mit ihnen, was geschehen sollte. Er
schüttelte in der ihm eigenen Weise die beiden offenen Hände vor seinem
Gesicht und sagte: »Su-koh ist ein tüchtiger Mann. Seine Freunde und
Verwandten sind nicht hier und schon ohne Kopf. Su-koh darf nicht im
Gefängnis bleiben.«

Der einäugige Bettler erzählte, er hätte am Jamen des Tao-tai gehört, daß
in drei oder vier Tagen der Provinzialrichter aus Kwan-ping-fu eintreffen
werde, um über Sus Familie rechtzusprechen. Wang forschte ihn mit erregten
Worten aus, wer es gesagt habe, wieviele es gehört hätten, ob schon
Vorbereitungen zum Empfang des Nieh-tai, des Richters, getroffen wären,
wieviele den Nieh-tai herbegleiteten. Als er hörte, daß es ein alter,
besonders für diesen Zweck ernannter, hier noch unbekannter Nieh-tai sei,
leuchteten seine schmalen Augen höhnisch, dann grinste er, lachte nach
einer Pause heraus, daß die Eßstäbchen vom Tisch fielen und die fünf
mitlachten, sich anstießen und jeder melodisch das Lachen des andern
nachsang. Ein Kopfzusammenstecken, rasches Hin- und Herreden folgte, ein
häufiges wütendes Auftrumpfen Wangs. Jeder ging seiner Wege.

Nach zwei Tagen wußten alle Jamenläufer in Tsi-nan-fu und damit die ganze
Stadt, daß der Nieh-tai zur Entscheidung der schwebenden politischen
Prozesse morgen in Tsi-nan-fu eintreffen würde, rascher, als man erwartet
hatte.

Wang-lun hatte mit zwanzig schnell aufgetriebenen Nichtstuern und Gaunern
aus der Stadt nicht weniger als drei Brücken, die der Sendling passieren
mußte, unbrauchbar gemacht, hatte sich und seinen Spießgesellen Festkleider
aus einem Pfandhaus entliehen, das ihm und dem Toh wegen mancher billig
erworbener Versatzstücke verpflichtet war, und rückte mit seinem sich
übertrieben ernst gebärdenden Zuge am angegebenen Tage durch dasselbe Tor
in die mächtige Stadt, durch das er wenige Monate vorher allein gependelt
war, lächelnd, die feisten Torwächter vertraut grüßend, als käme er eben
aus einem der vielen Teepavillons vor der Stadt, in denen sich Dichter und
galante Jünglinge ergingen.

An diesem heißen Morgen des achten Monats schlugen ehrfurchtheischend Gong
auf Gong vor ihm. Zwei der verbrüderten Lumpen ritten mit Hellebarden dem
Zuge voraus auf klapprigen Braunen, auf denen sie unsicher saßen. Es
folgten die beiden gongschlagenden Knaben mit drohenden Stirnen, vier
Unterbeamte mit den frischlackierten Zeichen der oberrichterlichen Würde.
Und in dem blauen Tragstuhl saß hinter geschlossenen Vorhängen ein
träumender ehrwürdiger Greis mit einem weißen Bart, der rechts und links
von Backen und Kinn in dichten Schwanzquasten herunterfiel auf das schwarze
glatte Seidenkleid und fast das wunderschöne Brustschild bedeckte mit dem
gestickten Silberfasan: Wang-lun selbst. Die runde schwarze Mandarinenmütze
schmückte die Kugel aus Saphir.

Ein kleiner Trupp Soldaten hinter einem Offizier schloß den Zug, Soldaten
der Provinzialarmee von der grünen Standarte. Über die Plätze und
menschengestopften Märkte, die Stätten seiner ehemaligen Wirksamkeit, zog
Wang zwischen Mauern von verstummenden Bürgersleuten; die Tore des Jamens
standen weit offen.

Nur einen halben Tag hielt sich der Nieh-tai in der Präfektur auf. Er
beschloß, die politischen Gefangenen aus der Suhfamilie nicht gleich
abzuurteilen, sondern sie mit sich nach Kwan-ping zu nehmen, dort die
Antwort des Kaisers auf seinen Bericht abzuwarten.

Ohne in der Stadt zu übernachten, schon gegen Abend, verließ der hohe
Blauknopf die aufgeregte Stadt; auf einem Karren unter den Soldaten seines
Zuges stand ein schmaler Holzkäfig; in dem saßen, die Hälse durch einen
einzigen Holzkragen gezogen, Su und seine beiden Söhne.

Am Abend des folgenden Tages kamen die Läufer des echten Nieh-tais an, die
zugleich Beschwerden des Richters überbrachten über die schlechte
Wegeverfassung und Polizei im Distrikt. Die ungeheuerliche Nachricht
erfüllte dann, aufgedeckt, die ganze Stadt mit Entsetzen.

Es war mit dem Namen der höchsten juristischen Behörde gespielt worden. Der
Tao-tai samt seinem Beamtenstab war verloren; die mohammedanischen
Einwohner sahen einer summarischen Bestrafung entgegen; die Täter mußten
aus ihren Kreisen stammen. Es war vorauszusehen, daß der Stadt das Recht,
zu den Prüfungen zugelassen zu werden, kaiserlicherseits auf Jahre entzogen
würde.

Wang hatte sich inzwischen mit seiner Gesellschaft demaskiert in einer der
Schluchten des Gebirges. Su-koh und seine Söhne, die schon dem Tode
verfallen waren, verbrüderten sich mit Wang; es war bei aller schreckhaften
Freude kein lauter Jubel in der Schlucht; die drei waren unter den Foltern
hinfällig geworden.

Wang kehrte am nächsten Tage in die Stadt zurück zu Toh-tsin, den er ins
Vertrauen zog.

Der Nieh-tai blieb noch fünf Tage zur Untersuchung in Tsi-nan. Nach seiner
Abreise bei Anbruch der Nacht wurde der Priester des Musikfürsten durch
leises Pochen an der Kammertür geweckt. Die gesetzliche Frau des Su-koh
schlüpfte in die Kammer, verhüllte weinend ihr Gesicht mit einem dicken
weißen Schleier und setzte sich, ohne Worte zu finden, auf den Boden.
Su-koh war mit seinen Söhnen bewaffnet nach Hause zurückgekehrt, weigerte
sich, sich zu verstecken und gab an, daß er jeden, der in sein Haus
eindringen würde, ihn zu fangen, niederschlagen würde mit Hilfe seiner
Söhne und Sippengenossen. Sie beschwor auf der Diele den Bonzen und
Wang-lun, sich mit ihr zusammenzutun, damit der Mann und die Kinder wieder
ins Gebirge zurückgingen.

Die Frau blieb bei dem Bonzen, Wang lief in das Haus der Sus. Er fand den
Vater gekräftigt, ruhig, würdevoll wie sonst, aber in einer entschlossenen
Bitterkeit. Su-koh erklärte, er würde die Stadt und Provinz verlassen, aber
erst in Ruhe seinen Besitz verkaufen, seine Schulden bezahlen, seinen
Priester befragen, welchen Wohnsitz er wählen solle. Wang, indem er den
Kopf zwischen die Schultern zog, bot ihm an, den Verkauf und die Lösung der
Verbindlichkeiten zu leiten, auch den Verkehr mit dem mohammedanischen
Priester zu vermitteln. Su-koh lehnte alles ab.

Da beschloß Wang-lun, sich an seine Fersen zu heften und ihm zu helfen.

Su-koh ging schon am frühen Morgen durch die entsetzten Häuser, verlangte
seine Schulden und die, welche seine Frau in seiner Abwesenheit gemacht
hatte, zu bezahlen. Er erkundigte sich, ob man wisse, wo er sein Haus zu
einem angemessenen Preise verkaufen könnte. In der Menschenmenge, die dicht
hinter ihm folgte, sprang der öffentliche Spaßmacher, der Gehilfe
Toh-tsins, des Bonzen, der riesengroße Wang-lun, schwatzend und aufgeregt.

Nach kurzer Zeit kamen die Polizisten angerannt. Aber Wang und seine Helfer
wußten es einzurichten, daß die Menschenmenge sich mit Kindern und Frauen
vor den Su drängte und drohte. Der Alte hatte seine Geschäfte schon
erledigt, ging, unbeirrt durch das Geschrei der Leute und Bekannten, die
auf ihn einredeten, in sein kleines Haus. Dann erfolgte ein Trommeln und
Blasen. Blaujackige Soldaten sperrten die Straße bis auf eine kleine
Durchgangspassage, trieben Herumstehende in die Häuser. Ein hagerer
Tou-ssee, ein Hauptmann, befehligte sie.

Barhäuptig trat Su-koh aus seinem Hause, verneigte sich höflich vor dem
Offizier und wollte, ohne einen Blick auf die Soldaten zu werfen und ohne
Erstaunen über die Umgebung, an der Hausmauer entlang gehen, um ein paar
Häuser entfernt eine Besorgung zu machen. Der knochige Tou-ssee sprang
hinter dem langsamen, wohlbeleibten Mann her, stieß ihn mit dem Säbelknauf
ins Kreuz, riß ihn bei der Schulter herum, schreiend: ob er Su-koh, der
entwichene Dochtfabrikant, wäre. Su verschränkte die Arme und sagte, er
wäre das; aber wer er, der Tou-ssee, wäre; ob er ein Wegelagerer und Räuber
wäre und wie er die Dreistigkeit so weit treibe, einen schuldlosen Mann am
hellen Tag mit dem Degenknauf zu stoßen und ihm aufzulauern.

Noch ehe Su zu Ende gesprochen hatte, hatten der Offizier und zwei
herbeigesprungene Soldaten ihn mit einigen Säbelhieben an der Mauer
niedergemacht.

Wang schrie hell mit den andern auf, die von den Ecken der Straßen dies
angesehen hatten. Er wollte zuspringen, aber er zitterte, konnte nicht von
der Stelle, seine Glieder waren plötzlich von einer Schwäche und Lähmung
befallen. Er trieb mit der Menschenflut im Zickzack über die Plätze, seiner
nicht ganz bewußt. Seine Blicke liefen hilflos über die Gesichter, die
Gänsekiele und die Ladenschilder, die goldbemalten. Er erkannte keine
Farben. Eine immer wachsende Ängstlichkeit trieb ihn vorwärts. Fünf Säbel
fuhren dicht nacheinander durch die Luft, zehn Schritte vor ihm, wohin er
sah. Und dann ein graues Durcheinander. Übereinander.

Su-koh, sein ernster Bruder, lag ungerettet auf der Straße.

Su-koh war sein Bruder.

Su-koh war ungerettet geblieben.

Su-koh lag auf der Straße.

An der Mauer.

»Wo ist denn die Mauer?«

Es drängte ihn zu der getünchten kleinen Mauer. Su-koh wollte doch nur eine
Besorgung machen. Das Haus war noch nicht verkauft; der Priester mußte
befragt werden; wegen des neuen Wohnorts mußte der Priester befragt werden.
Er mußte doch an der Mauer entlang gehen. Warum hatte man seinen Bruder
Su-koh daran gehindert, an der Mauer entlang zu gehen. Oh, ihm war so heiß
und ihn fror so.

Er trottete zitternd in die Kammer Toh-tsins, der ihn schon erwartete.

Als er Wang verfärbt ankommen sah, faßte er ihn, der sich willenlos führen
ließ, gequält seufzte, mit den Fingern spielte, um den Leib, zog ihn in den
Tempel. Da öffnete er neben dem Standbild des Musikfürsten eine klinkenlose
Tür; sie kamen auf einen Platz mit Schutt und Backsteinen, saßen an der
offenen Straße in einem Wegeschrank für obdachlose Geister, ein viereckiges
steinernes Bauwerk, in dessen Inneren eine Höhlung ausgemauert war, so
groß, daß zwei Menschen geduckt drin kauern konnten. Nach der Straße zu
stand die breite Opferschale für Gaben; vom Bauplatz stiegen sie durch ein
mit Brettern verstelltes Loch ein.

Im Finstern, in der stickigen Luft saßen sie lange, bis der Feuerstein Tohs
gezündet hatte und das kleine Öllicht brannte. Toh war erregter als Wang,
der mit sich tun ließ, den Bonzen umarmte, den Kopf an seiner Schulter
hängen ließ. Der verstörte Mann erzählte dann von der Niedermetzelung
Su-kohs, weinte wie ein störrisches Kind, sprach von den fünf Säbeln, und
Su-koh sei totgeschlagen worden. Er beruhigte sich unter den Worten des
andern, atmete tiefer und langsamer und schwieg nachsinnend eine geraume
Weile.

Wo bekam man ein Mittel her, daß Su-koh, sein Bruder, wieder aufstand und
herumging, und alles für seine Abreise richtete? Dieses Blitzen war dran
schuld, daß es kein Mittel gab, daß er, der noch eben ernst die Arme
verschränkte, an die Erde schoß und wie eine Katzenleiche herumgezogen
wurde. Jetzt erschlug man wohl seine Söhne. Was tat man Su-koh an? Hätte er
laut aus dem alten Buch gelesen wie sein Neffe, wäre es kein Verbrechen
gewesen; man hatte aber nie etwas von ihm gehört. Darum wirft man seinen
Bruder hin, läßt seinem Geiste keine Ruhe. Der Tou-ssee hat Unrecht an ihm
getan. Der Tou-ssee hat ihn mit dem Säbel erschlagen.

Wang warf sich an der Seite des Bonzen halb herum, flüsterte, er würde
fliehen jetzt; nur ab und zu würde er nachts kommen, sechsmal an seine Tür
klopfen. Toh war glücklich.

Wang flossen, als er draußen das Tageslicht wieder sah, die Tränen über das
Gesicht. Er weinte verzweifelt auf dem Platz zwischen den zerbrochenen
Backsteinen und dem Schrein für obdachlose Seelen; er löste seinen Zopf
auf, riß an seinem grünen dünnen Kittel, knabberte gedankenlos an den
Knöcheln seiner eiskalten Hände herum. Den Beutel mit Kupfergeld, den Toh
ihm gab, schob er zurück; klammerte sich an die Kanten des Schreins,
schwang sich über die Latte, lief davon, ohne sich abzutrocknen.

Wang trieb sich sechs Tage bald in der Ebene, bald an den Randbergen der
Stadt herum. In der Nacht des sechsten Tages erschien er bei dem Bonzen,
fragte nach seinem Hirschgeweih. Toh suchte es heraus; war glücklich,
seinen ehemaligen Gehilfen zu sehen, freute sich an seinem entschiedenen
Ernst. Wang nahm die Maske in die Hand, streichelte sie, legte sie an sein
Gesicht; der Bonze sah, wie sehr sich sein Schüler verändert hatte. Die
entschlossene niedrige Stirn stand über Augen, die meist traurig und voll
Unruhe blickten, aber dann wieder ganz ohne Maßen wild und blind zankten.
Und der breite bäurische Mund mit der aufgeworfenen Unterlippe war nicht
anders: öfter wie in einem Heißhunger geöffnet, meist schlaff, ergeben. Die
listigen Linien um die Mundwinkel schwammen leer und zusammenhangslos
dazwischen.

Der Priester, dieses verlogene betrügerische Wesen, wurde weich und fromm
vor seinem Schüler und ertappte sich dabei, wie er ihn in einem
hingenommenen Gefühl segnete.

So saß Toh noch den Rest der Nacht in seiner Kammer wach und dachte an
Wang, der schon lange mit seinem Hirschgeweih sich in dem Wegeschrank
versteckt hatte, ohne zu sagen, was er vorhatte.

Die Nacht ging hin. Als auf dem Wan-kingplatze die Soldaten sich im
Bogenschießen übten, standen Haufen von Gaffern und Müßiggängern an dem
Zaune; der Staub wehte wie eine hohe lose Gardine über den baumlosen Platz.
Nach den Bogenschützen traten Turner und Springer an.

Da bläfften mit einmal die Hunde, die Menschen stoben auseinander; über die
niedrige Umzäunung setzte ein tobender Mensch mit einer Hirschmaske, rannte
gerade in einen Trupp Soldaten, der aufgelöst vor einer Sprungleine stand,
beobachtet von einem hageren Tou-ssee. Die Hunde, dreißig Stück, stürmten
zwischen den Beinen der barfüßigen Soldaten hindurch, die lachend
auseinanderliefen, sich fluchend der bissigen Tiere erwehrten. Der Tou-ssee
rannte brüllend hinter der Hirschmaske her, die mit einer Rinderpeitsche
ihm um die Ohren schlug, dann nach einem erstaunlichen Satze sich neben ihn
stellte, ihm die Maske überstülpte, ihn an sich drückte und an die Erde
legte.

Auf dem Platz war es merkwürdig still in diesem Augenblick, alle hörten ein
entsetzliches Stöhnen und Schnarchen. Schon raste der grauenvolle
barhäuptige Mensch in die Zuschauer hinein; ein paar Kläffer folgten,
blitzschnell war er verschwunden. Die großen Hunde liefen winselnd auf dem
sandigen Boden um den zuckenden Körper des Tou-ssee, beschnupperten ihn.
Die Soldaten verjagten sie mit Steinwürfen. Sie rissen dem Tou-ssee das
schwere Geweih ab.

Sein Gesicht war schwarz und gedunsen. Er war erdrosselt; die
Halswirbelsäule war ihm umgedreht.

Die Peitschenhiebe der Soldaten unter den Zuschauern nutzten nichts; in den
Nachbargassen liefen die Hunde herum. Die Mütter versteckten ihre Kinder,
die den Sand siebten, vor den rennenden Soldaten.

Das Hin- und Herrennen nutzte nichts. Das Drohen in die Häuser hinein
nutzte nichts. Schließlich fand ein Soldat eine Kinderpeitsche; aber das
half nichts; man brachte ihm aus andern Häusern solche Peitschen, mit denen
die Kinder ihre Holzesel antrieben.

Um Mittag lief es über alle Marktplätze, durch alle Läden und Gassen, in
die Teestuben, Weinschenken und Herbergen, in die weiten Höfe der
Regierungsjamen Tsi-nan-fus, durch die vier Tore in die Hirsefelder,
Gemüsegärten, über den lehmfarbigen Ta-tsing-ho auf die dunklen Hügel, daß
Wang-lun, der Fischerssohn aus Hun-kang-tsun, der Stadtschelm von Tsi-nan
es war, der den alten Su-koh und seine beiden Söhne in der Maske des
Provinzialrichters von Schan-tung befreit hatte, der den Präfekt betrogen
hatte mit einem Zug von Lumpen und Verbrechern aus den Tai-schanbergen, mit
lackierten Schildern aus einem Pfandhaus, daß Wang-lun jetzt seinen Bruder
Su-koh gerächt hätte an dem Hauptmann der Exekutionstruppe. In der
Hirschmaske, mit der er die Marktweiber sonst erschreckte, hatte er auf dem
offenen Wan-kingplatze den Tou-ssee der Provinzialtruppen vor seinen
Soldaten erdrosselt.

                   *       *       *       *       *

Der Mann, von dem die Stadt schnarrte, kletterte um diese Mittagsstunde
träge ein paar Felswege in den Bergen. Dann lag er jenseits einer
unzugänglichen Schlucht auf dem Gneisschutt ausgestreckt auf dem Rücken,
ohne Gefühl für die spitzen kantigen Steine. Er lag regungslos, ohne die
schweren Hände zu heben, in dem Sonnenbrand. Im Grunde wartete er und
befühlte sich innerlich, ob nun alles gut sei, ob er nun alles gut gemacht
hätte.

Die Pein der letzten Woche war unertragbar gewesen. Es trieb ihn umher von
einer Hütte auf den nächsten Kamm; vier Tage aß und trank er nichts: er
vergaß das Essen über dem Laufen, Augenschließen, Herumwälzen. Wenn das
Durstgefühl zunahm, merkte er nicht, daß es Mangel an Wasser war, was ihn
lechzen ließ; er glaubte, das Unglück in ihm wuchs und sengte. Es kam ihm
oft vor, als ob er sich neue Sachen kaufen müsse, weil man ihm Kleider und
Haut abgerissen hatte. Daß er auf einmal furchtbar schwer und furchtbar
groß war. Es quälte ihn außerordentlich, daß er so unbeweglich war, sich
gar nicht von der Stelle schieben ließ, wälzen ließ. Nicht anders war ihm,
als wenn er badete an dem fernen Strand von Hun-kang-tsun bei Beginn der
Ebbe: eben trugen ihn noch die starken Wellen, dann schleiften sie ihn
wiegend über den Sand; mehr und mehr trat das durchsichtige Wasser zurück;
seine braungelbe Brust lag trocken, die Zehenspitzen sahen aus dem Wasser.
Das Meer schälte seine Arme und Schenkel bloß: er lag tropfend
schwergewichtig auf dem feuchten Boden und mußte sich stemmen, um nicht in
die Flut zu rollen.

Ihn trug nichts mehr. Er hob hundertmal wiegend die Arme; sie ließen sich
nicht schwingen.

Dazwischen kam das Glitzern der Säbel, war so intensiv, daß er mit den
Augen zwinkerte.

Er versteckte sich vor den Bettlern, Dieben und Hehlern. Er konnte mit
ihrem Anblick nichts anfangen.

Su-koh war erschlagen: das hatte man ihm angetan.

Dabei fühlte er den überwältigenden Druck des Leidens, im Hinterkopf, auf
der Zunge, in der Höhlung der Brust. Und es war eine gewaltsam freiwillige
Richtung, die er seinen Gedanken gab, als er sich auf Rachevorstellungen
versetzte, Vorstellungen ohne Leidenschaft, erfunden, um ihn zu heilen, zu
befreien. Er jammerte sich vor: es wäre Grund sich zu rächen. Aber er
glaubte sich nicht, und konnte sich nicht glauben.

Und die Verzweiflung bei diesem Ringen wurde immer mehr zu einer Wut auf
den Tou-ssee, der das alles angerichtet hatte. Er fürchtete den Tou-ssee,
wie er sich ängstigte vor dem Blitzen seines Säbels. Aber die Wut auf den
Tou-ssee setzte sich siegreich durch, gewaltsam durch, setzte von Stunde zu
Stunde mehr über die Angst weg. Das Stöhnen des sinnlosen Leidens
verwandelte sich in ein Stöhnen des tastenden, suchenden, sicheren Hasses.
Die endlosen Tage wurden kürzer, und eines Nachts lief er durch die stummen
Straßen Tsi-nan-fus und saß bei Toh in der Kammer. Dachte noch nicht an
sein Hirschgeweih, als er an die Kammer pochte. Aber wie er die Schwelle
überschritt, wurde ihm warm. Die lustige Maske fiel ihm ein, und daß dies
alles vorbei sei; und im selben Moment hatte er eine Bewegung in seinen
Muskeln gefühlt: die Maske gefaßt und über den Kopf des Tou-ssee gestülpt,
erdrosselt, weggeworfen. Dies war gut. Er war glücklich. Über den Kopf
stülpen die Maske dem Tou-ssee, und dann weg. Über den Kopf des Tou-ssee
gestülpt, dann weg, weg.

So war der Mord geschehen unter seinen freudigen, delirierenden Händen und
Armen.

So lag er auf dem Gneisschutt, befühlte sich mißtrauisch und abgekühlt, ob
nun alles gut sei, ob nun genug geschehen sei.

Als er nach Stunden aufstand, fand er sich ruhig. Wie wenn in seinem
Brustkorb irgend etwas eingeschlafen sei, umstellt von hohen Spinden und
Tischen.

Es dunkelte. Die Mondsichel stand über den scharfen Klippen der Schlucht.
Da trabte er aufwärts und saß in einer Halunkenhütte, ein halb umgesunkenes
Holzwerk unter einem überhängenden Felsen. Die Hütte war leer.

Bald kamen fünf mit Laternen angeschlichen. Sie wußten von der Tat Wangs,
waren stolz, daß er zu ihnen zurückkehrte. Ein krummbeiniger Strauchdieb
bot ihm den ganzen Krug des herzerfreuenden Ginseng an, der ihm um den
kropfigen Hals hing. Sie krähten von dem hageren Tou-ssee, mimten Wang mit
Sprüngen vor, wie sie sich die Erdrosselung dachten. Er trank mit
verstopften Ohren. Dann überschrie er sie und bat ihm zu helfen. Sein
Blutsbruder Su-koh sei nicht beerdigt worden, sein Leib in Stücke
zerschlagen. Er, Wang, müsse in der nächsten Frühe weg; sie sollten ihm
helfen, noch jetzt in der Nacht eine Beerdigung für seinen ruhelosen
Blutsbruder zu feiern.

Sie liefen in Gruppen, es kamen neue Vagabunden von tieferen Hütten herauf.
Huschen der weißen Papierlaternen. Sie benahmen sich leise, als wären sie
in einem Totenhause und geboten sich Ruhe. Dazwischen tranken sie.

Mit eingesunkenem Rücken, starren Blicken, wie eine Witwe, saß Wang auf dem
Lehmboden neben dem niedrigen Holzgestell, einer Bahre, auf der ein
zusammengebundener Zeugklumpen, eine rohe Puppe lag. Wang hielt sein Messer
in der Hand, schnitt sich aus dem aufgelösten Zopf eine Strähne ab, legte
sie auf den Zeugklumpen. Der älteste der Strolche, ein schwachsinniger
gutmütiger Taps ohne Zähne, ein Ausbund von Schmierigkeit, trippelte aus
dem Haufen an die Bahre, legte ein Teeblatt in einem Stückchen roten Papier
der Puppe auf den Mund. Er wickelte einen langen Schal aus einer
zerrissenen Hose um die Beine der Leiche, damit sie nicht aufspringen möge
und ruhen bleibe. Von draußen hörte man in dieser Stille ein Knarren,
Scharren und Rauschen; vor der Hütte schwang einer ein riesiges Sacktuch an
einer Latte wild und unaufhörlich durch die warme Luft, das Seelenbanner;
er lockte den Geist des Toten aus der nächtlichen Luft her.

Der kleine dumme Tapps verneigte sich zahllose Male nach den vier
Himmelsrichtungen, rief unter Sprüngen und Händeaufheben Kuei-wang, den
König der Unterwelt, an, empfahl ihm den neuangekommenen Geist. Und alle
zusammengewürfelten jungen und alten Landstreicher dachten in dem
Augenblick an das Fest am fünften Tag des siebenten Monats, an dem ein
kleines Schiff mit dem Kuei-wang den Fluß herunterzieht, der Dämonenherr in
schwarzer Jacke mit dem Kragen aus Tigerfell, dem Schurz und den Stiefeln
aus Tigerfell, den Dreizack in der Hand; seine schwarzen Haarbüschel
wulsten sich unter dem Diadem weit hervor. Und hinter ihm stehen steif die
kleinen drolligen Dämonen, mit der viereckigen Mütze, der mit dem
Rindskopf, der mit dem Pferdemaul und die zehn pausbäckigen, puterroten
Höllenfürsten und lassen sich angucken.

Sie trugen vorsichtig zu vieren die Bahre mit der Puppe heraus, Wang voran;
die andern torkelnd, umschlungen hinterher, mit den Laternen über einen
kurzen Weg zu dem steinigen Acker, nach rechts und links Mehlkügelchen
streuend für die hungernden Geister. Versenkten die Figur in ein flaches
Grab. Kleine Papierstückchen glimmten auf, Geld für den Toten; übel
qualmten Lumpen und Lappen, seine Anzüge.

Mit leeren Holzbrettern zogen sie grunzend aufwärts. Die Laternen
schwankten. Der Morgen graute über Tsi-nan-fu. Als sie oben in die Hütte
stampften, war Wang verschwunden.

                   *       *       *       *       *

Aus Furcht vor den Häschern und aus Furcht vor den Schrecknissen von
Tsi-nan-fu floh Wang-lun nach Norden. Er überschritt die Grenzen von
Schan-tung, durchquerte die Ebene von Tschi-li im Herbst und erreichte, dem
schmalen Hun-ho folgend, unter heftigen Schneestürmen den Schutz der
Nan-kuberge im nordwestlichen Tschi-li. Er mied jede Stadt. Meist war er
allein. Er hungerte viel; verdiente, wenn die Not groß wurde, durch
Lastentragen, Kohleschleppen, ein paar Cent; aber er hielt es nirgends aus.
Auch widerte ihn jede längere Arbeit an. Er kannte von Haus aus nicht die
pflanzliche Geduld seiner Landsleute. Er bettelte.

Als es kalt wurde und der Herbstregen durch seinen zerfetzten Kittel
sickerte, tat er sich mit zehn Wegelagerern zusammen; sie warteten drei
Tage und Nächte vor der Kreisstadt Tu-ngan, bis eine wenig bedeckte
Karawane mit Ziegeltee ganz in der Frühe ankam. Sie zogen den brüllenden
Kaufleuten die wattierten Überjacken aus, ließen sie sonst mit höflichem
Spott weiter ziehen.

Den ganzen Winter verlebte er auf diesem Gebirge. Es wimmelte von
Einsiedeleien, kleinen und größeren Klöstern; der heilige Berg Wu-tai-schan
war nahe. Den ganzen Winter über herrschte ein lärmendes Treiben auf den
breiteren Straßen und den schmalen Wegen. Von den nördlichen Pässen
strömten die Menschen mit Pferden, Packeseln, Kamelen. Sie brachten
Geschenke, Opfergaben nach dem südlicher gelegenen Berg, dessen Klöster
sich auf gewaltigen kahlen Felsmauern erhoben; die gelben Steinwände fielen
schroff ab; auf ausgehauenen Serpentinen wanden sich die Züge hinauf in die
dünne Luft.

An einem nicht breiten Fluß mit tobenden Schnellen hielt sich Wang-lun die
harten Monate auf. Der Fluß durchbrach die Granitmassen, ungeheure braune
Flächen stiegen senkrecht nieder; vor dem gebieterischen Wasser legten sie
sich in sanfter Neigung um. Wenig Geröll ragte über der schwarzen Fläche
hervor; darum kreiselten die Wellen weiß mit Gischt. Weiter nach Osten, wo
der Fluß der empfangenden Ebene zudrang, wichen die Felsen auseinander, mit
neuen Vorlagerungen; ganz fern senkte sich alles.

An einer Felsstraße, unter einem überhängenden Block, dessen Rücken mit
immergrünen Tannen bestanden war, wohnte Wang-lun bei einem Einsiedler.
Kein Regen, kein Schnee fiel in ihre geschützte Hütte; die eisigen Winde
glitten pfeifend aus den Schlünden vorbei. An wärmeren Tagen ging er tiefer
herunter, wo an dem Fluß die kleinen Wassermühlen arbeiteten, Pochwerke, in
denen Sandsteinhämmer in feste Mörser fielen, um das Holz und den Talkstein
für Kerzen zu pochen. Da unten saßen Bettler, entlaufene Verbrecher,
Faulenzer, Wegelagerer. Wang führte ein Doppelleben. Er ging unruhig hin
und her und saß, auf irgend etwas wartend, bald hier bald da. Nur
sekundenweise, mit einem Zusammenpressen des breiten Mundes, einem Runzeln
der niedrigen Stirn, dachte er an Tsi-nan-fu, an die mauerumzogene Stadt
der Tausende. Nur in dem eindringlichen Blick, der oft ganz inhaltslos
haftete, stand etwas von einer kleinen getünchten Mauer, einem
Säbelblitzen, einem langen langen Sitzen in einem finsteren Wegeschrein für
obdachlose Geister. Sein rechtes Auge, das sich unter einem auffällig tief
hängenden Oberlid bewegte, drehte sich in leichten Zuckungen und schielte
nach außen.

Im übrigen hatte er schon in der Ebene seine freche, unbehinderte
Lustigkeit wiedergewonnen. Er trug sich vorübergehend mit dem Plan, in die
Gilde der Dachdecker einzutreten. Er erlangte bei seinen Gefährten am
Pochwerk leicht die Oberhand. Daß er kräftig und unverbraucht war, hätte
ihm in diesem gewalttätigen Kreise allein nicht viel geholfen. Den
Ausschlag gab seine spielende Art Menschen zu behandeln. Er hatte dies bei
seinem alten Toh gelernt: demütig und schmeichelnd zuzuhören,
unaufdringlich auszuforschen, leicht schon im Wiederholen das Gehörte zu
retuschieren, unmerklich und mit wunderlicher Offenheit, die eine
Ehrlichkeit vortäuschte, eigene Wünsche zu unterschieben.

Die Strolche, mit denen er tagelang hockte, schwankten in ihrer Auffassung
über ihn. Ein paar jüngere nahmen ihn nicht für voll; sie hielten ihn für
einen Halbnarren mit entsetzlicher Gewandtheit, eine Art Affenmenschen.
Wang wurde bösartig, wenn man seine Späße mißverstand, ließ seine
Liebenswürdigkeit wie eine Maske fallen, stieß schlimme Drohungen aus; daß
er aber dann sich finster zurückzog, tagelang die Gesellschaft mied, bewies
ihnen seine Verworrenheit. Die älteren scheuten ihn. Sie nörgelten nicht an
seiner kindischen Verspieltheit; ihnen fielen die nicht seltenen Minuten
seiner unheimlichen Entrücktheit auf. Sie hatten ein Gefühl von Ehrfurcht
vor solchen Dingen. Sie spürten ein schweres Leiden in ihm, und sie hielten
Leiden für eine Fähigkeit, eine Gabe. In den niedrigen Leuten schwang der
alte Geist des Volkes; mehr als in den Literaten strömte in den
Gestrandeten, viel Erfahrenen das tiefe Grundgefühl: »Die Welt erobern
wollen durch Handeln, mißlingt. Die Welt ist von geistiger Art, man soll
nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie; wer festhält, verliert
sie.« Wang bot ihnen ein heimatliches Gefühl. Sie hingen ihm auf ihre Art
an, besorgten sich um ihn brüderlich, um den Stärksten unter ihnen fast
mütterlich.

Das feine Klappern der Pochhämmer, das gleichmäßige Gischen des Flusses
scholl zu der Einsiedelei hinauf. An der Bergstraße, in deren Wand bei
jeder Biegung des Weges eine fromme Inschrift eingegraben war, saß Wang-lun
bei Ma-noh.

Zu Ma-noh war er eines Tages betteln gegangen. Wang hatte geglaubt, einen
bärtigen Mann in Nachsinnen zu finden, der ihm mit sanften Worten von
seinen Vorräten abgab. Statt dessen prallte eine hohe Stimme gegen ihn, wie
er die Stiege betrat. Am Eingang der Hütte riß eine Hand an seinem Ärmel,
zog ihn herum. Ein spitzes Gesicht fuhr dicht an seines, in einem schwer
verständlichen Dialekt wurde gefragt was er wolle. Seine scharfen Augen
konnten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnen. Ma-noh trug einen
Mantel aus kleinen bunten Flicken, die wie Fischschuppen übereinander
standen. Es war ein kleiner etwas gebückter Mann, der sich wie ein
verschrobener Alter gebärdete, ein verblüffend junges frisches Gesicht
zeigte, schlanke gebogene Nase, feiner Mund mit Rednerfalten, unsichere
Augen, die vor jedem Gegenstand zurückwichen wie aufschlagende Gummibälle.
Er pfiff mehr als er sprach. Beim Anblick der Umgebung klopfte Wang das
Herz; sie erinnerte ihn an den dunklen Tempel des Musikfürsten
Hang-tsiang-tse in einer fernen Stadt. Als er ein paar demütige Phrasen
leierte, Ma-noh ihm ein Stück Ziegenkäse in die Hand drückte, stand er noch
gefesselt herum, tat Fragen nach den Götterbildern, die auf einem kleinen
Regal standen. Ma stellte sich mit dem Rücken vor sie, sprach hastig, was
Wang nicht verstand. Der neugierige höfliche Bettler fragte gelassen
weiter, erzählte eine erlogene Geschichte von einem Priester in Ki; der
Einsiedler sprang, machte eine verwunderte Miene über die Kenntnisse des
Strolches. Schließlich erzählte Wang, er sei eine Stunde von hier ansässig,
bei einem Pochwerk beschäftigt, bat den weisen Herrn, ihm von der Kraft
seiner Götter Kunde geben zu wollen, denn er sei mit seinen Göttern
unzufrieden. Widerwillig lud Ma-noh den ungewöhnlichen Gast zum Teetrinken
ein.

Und dies war der Anfang ihrer Bekanntschaft.

Der unruhige Mann, der später mit dem Flüchtling aus Schan-tung sein Haus
teilte, war ein Mönch, aus Pu-to-schan entwichen, jener herrlichen Insel im
Süden.

Stumm und mild saßen seine Buddhas im Hintergrund der Hütte. Die Ohrlappen
bis auf die Schultern gezogen, unter dem blauen aufgeknoteten Haar die
runde Stirn mit dem dritten Auge der Erleuchtung, weite Blicke,
aufgehelltes, fast verdunstendes Lächeln über dem vollen glatten Gesicht,
über den aufgeworfenen Lippen, feine Hände preziös zur Brust erhoben,
hockend auf runden schlanken Schenkeln, Fußsohlen nach oben gedreht wie das
Kind im Mutterleib. Ma gab den Buddhas, oder wie Wang sagte, den Fos
verschiedene Namen; sie sahen sich alle ähnlich. Nur ein Buddha war anders,
dessen Name schon nach Schan-tung gedrungen war, eine Göttin, die Kuan-yin.
Aus Bergkristall stand sie inmitten der andern, mit unzähligen Armen, die
sich wie Schlangen aus den Schultern rangen und einem Mund, der sich so
zart verzog, wie wenn ein leichter Wind über eine Weidenpflanzung fegt.

Und mit einer aufschließenden Erschütterung hörte Wang, was diese Fos
lehrten: daß man keinen Menschen töten dürfe. Ma-noh war verblüfft über
Wang; er lachte über ihn; dies lehrten doch eigentlich schon die Richter.
Wang, betreten, sagte ja; aber dann schossen seine Brauen hoch, das rechte
Auge drehte sich in Zuckungen und schielte nach außen. Er nickte mit dem
Kopf: »Die Fos lehren gut. Die Richter lehren gut. Aber nur deine Fos haben
recht, Ma.«

Ma liebte ohnmächtig die Buddhas. Zu einer Zeit schrie er ihnen seine
ehrgeizigen Wünsche, und was sie ihm nicht erfüllt hatten, in die riesigen
Schalltrichter ihrer Ohren und stellte sich bläkend vor sie. Zu anderer
Zeit überwältigte ihn die Hoffnungslosigkeit, ohne Sinn streckte er sich
auf dem blanken Steinboden. Sie blickten über ihn weg mit dem Lächeln, das
fast verwehte. Er mühte sich um sie, fühlte sie als Herren; und sie wurden
ihm nichts, wie er sich um sie bemühte.

Und doch war ihm zu keiner Zeit der Gedanke gekommen, den Wang einmal
vorschlug, als er wieder dicken Staub auf den Gesichtern der
Allerherrlichst-Vollendeten fand: die Bildsäulen auf einen Karren zu laden,
nach der Nordseite der Straße zu fahren, und vorsichtig die Fos einen nach
dem andern in die Stromschnellen zu schütten.

Ma haßte seinen Gast wegen dieses Gedankens. Er fühlte sich durchschaut,
weil Wang zu wissen schien, daß er es nicht konnte. Und ganz inwendig war
er neidisch auf diesen Gast, der so einfach einen ungeheuren Plan hinwarf
und bereit schien, das Unerhörte sofort auszuführen. Er verfluchte Wang
laut vor dem Regale, auf der Kniematte liegend, daß der Amithaba es hörte:
wie schlimmes jener geredet hatte und wie er sich jetzt bezwang, sich
niederzwang, und seine Zuflucht nahm zu dem Gesetz, zur Lehre, zur großen
frommen Genossenschaft, wie die Formel lautete. Er stellte sich ein,
unaufhörlich den Namen Omito-fo murmelnd, und ging entzückt über sich wie
eine Schleichkatze den Pfad; er sah den Pfad dünn sich hinschlängeln, einen
Faden, der ihn nachzog, über die ersten Erhebungen, dann über die vier
Stufen zur Seligkeit. Nun in die Strömung eingegangen, nun einmal
wiederkehrend, nun keinmal wiederkehrend, nun Archat, Lohan, sündenlos
Würdiger, der mit demselben Blick Gold und Lehm, den Katalpabaum und die
Mimose, den Sandelbaum und die Axt betrachtet, mit der er gefällt wird. Und
oben die Freudenhimmel, wo sich voneinander trennen, wie durch Strahlung
voneinander weichen, die sonst zusammenfließen würden: Geister des
begrenzten Lichts, die Bewußtlosen, die Schmerzlosen, die Bewohner des
Nichts und schließlich jene, welche da sind, wo es weder Denken noch
Nichtdenken gibt.

Stumm und mild saßen die Buddhas auf dem Regale; die Ohrlappen bis auf die
Schultern gezogen, unter dem blauen aufgeknoteten Haar die runde Stirn mit
dem dritten Auge der Erleuchtung, weite Blicke, ein aufgehelltes, fast
verdunstendes Lächeln über den aufgeworfenen Lippen, hockend auf den runden
schlanken Schenkeln, wie die Kinder im Mutterleib die Fußsohlen nach oben
gerichtet. Es füllte eine stundenlange Stille die finstere Hütte des Ma.
Wäre sein Abt, der Chan-po, hereingetreten und hätte ihn wie früher an den
Schultern gefaßt und mit den kalten Augen das spitze entrückte Gesicht
betrachtet, so wäre wieder das stille zornige Lachen erfolgt, das Ma oft
gehört hatte. Bevor er noch seinen weisen Lehrer fragen konnte, ging der
Alte immer mit Kopfschütteln hinaus. Und Ma, frierend, zerschlagen,
beantwortete sich willenlos seine Fragen selbst, während er sich die
blaugefrorenen Finger rieb: man fliegt nicht in den Götterhimmel; die Söhne
Cakyas gehen den Grat hinauf, über die vier Stufen, die vier schweren
Stufen.

Ma konnte nicht gehen, nicht mehr von dem Augenblick an, da er wußte, wohin
der Weg ging. Auf Pu-to, der Insel, in der Halle der Versenkung, hatte ihn
nach Schluß einer Schiffermesse das Gefühl heimgesucht, das weich und
streng zugleich ihn wie ein Balken durchdrang und sich um ihn langsam
drehte; und darauf kam eine schmerzliche bittere Hingerissenheit, und
darauf ein doppeltes Winken von seidenen Tüchern, rot und gelb, von zwei
Seiten her. Die Tücher, groß wie Laken, schlossen sich unaufhörlich
rollend, bewegt zusammen; in der Mulde, in dieser mittleren Mulde glitt er
hin. Seine Füße waren wie die eines Toten mit Binden umwickelt. Der Luftzug
von den Tüchern hob ihn etwas an, und doch glitt er in einer Linie weiter.
Eine Fächerpalme kam. Etwas Graues, Großes schnellte näher, ein Ei, eine
riesige graue Perle. Bei ihrem Anblick wallte es in ihm wahnsinnig; er
ächzte, richtete sich auf, lief über die Ähren eines Feldes, schwamm
händeringend um die Perle, gegen die er sich in einer züngelnden Welle
verlor.

Ma wußte nichts von seinem Traum, als er aufwachte. Sein Ächzen war das
einzige, was ihm ins Ohr scholl. Mit solchen Träumen aber schlug die Welle
von Unruhe in ihn hinein. Er fing an, Maßregeln der Klosterdisziplin zu
kritisieren. Statt Versenkung nach Versenkung, Überwindung nach Überwindung
zu klimmen, wie die Lehre fordert, wartete er auf die letzten höchsten
Zustände, wie ein Verliebter auf das Rendezvous. Und wußte dabei mit
schneidender Deutlichkeit, daß er sich in jeder Versenkung betrog, daß die
goldenen Buddhas ihm so fern, so undurchdringlich waren.

Und doch mußte er sie erreichen, wenn er nicht endlos wiedergeboren sein
wollte; er mußte das Ufer der Rettung erreichen, wenn er nicht ertrinken
wollte; so peitschte das Tha-mo ein, das gute Gesetz von den Welten, den
atmenden Wesen, der Zerstörung und Erneuerung der Welten. Er lief eines
Tages an den Strand; ein Bootsknecht setzte ihn über; seine Wanderschaft
fing an. Es hatte sich nichts während der zehn Wanderjahre durch die
Provinzen Ngan-wei, Kiang-su, Ho-nan in ihm geändert.

Ma-noh betrat kein Kloster mehr. Er verschrullte, wo er wie ein Kakihändler
seinen Karren mit den Buddhas schob und sich zuletzt an der Bergstraße auf
Nan-ku ansiedelte. Er umschlich den heiligen Wu-tai-schan, konnte sich
nicht losreißen von diesen Dingen, an die ihn nur seine Unzulänglichkeit
bannte. Der Fischersohn von Hun-kang-tsun wurde ihm rasch zu einer tieferen
Quelle des Nachsinnens als die hundertacht Figuren auf der Fußsohle des
Cakya-muni und die achtzehn Bedingungen der Unabhängigkeit. Dieser Bursche,
der ihn auf Schritt und Tritt belog, gehörte ohne Zweifel zu den Strolchen,
mit denen das entlassene Heer die Provinz überschwemmte. Er drängte sich
seinem Wirt auf. Seine Fragen, seine haftenden Blicke beleidigten ihn. Am
meisten aber beleidigte es Ma, wie Wang mit den fünf Buddhas umsprang,
zuerst wie jeder rohe Chinese, als hätte er Angestellte oder Rechtsanwälte
vor sich, die man nach Erfolg lobt oder wegschickt. Später mit einer
zudringlichen Nähe, die Ma quälte. Und darum quälte, weil er fühlte, daß
alles Verleumden nichts half, daß Wang unerklärliche Fühlung zu diesen
stummen milden Wesen gewann. Ma schloß neidisch tagelang seine Klause, ließ
den bekannten Gast nicht ein, ahmte drin vor dem Regale Wangs Mundspitzen,
Kopfsenken, stilles Schielen nach. Wenn ihn nichts von Ruhe überkam, bewarf
er Wang mit Vorwürfen, spuckte sich auf die Füße, weil er so dumm war, die
Eifersüchteleien des Klosters wieder einzulassen. Ja dieser Netzflicker
kniete auf der Bambusmatte vor dem Regal, als wäre Ma-noh nur sein
Tempelverwalter, vor den Buddhas, die Ma zehn Jahre vor sich geschleppt
hatte durch die endlosen Provinzen Ngan-wei, Kiang-su, Ho-nan, der
Strauchdieb, der sicher einen Menschenmord auf dem Gewissen hatte.

Es gab ein Ringen zwischen ihm und Wang, Wiederkauen der Vorwürfe,
langsames Vollaufen von Unwillen. Wang kam ununterbrochen, konnte sich an
Sutren und Sentenzen aus den heiligen Büchern nicht sättigen; Ma-noh mußte
ihm widerstrebend mehr geben; der große Mensch nickte dazu, als hätte er
dies und jenes schon erwartet. Schamlos erschien dies Ma-noh, und er rang
die mageren Hände, gab sich in seiner eigenen Wohnung verloren, war
gehemmt, vor Wang die Tür zu verriegeln. Wenn der Strolch auf der
schmutzstarrenden Matte kauerte, Lehren auf seine plumpe Art wiedergab,
setzte sich der kleine Mönch atemlos neben ihn, fühlte sich ängstlich an
ihn heran, beschnüffelte ihn. Zweimal wies er Wang in einer Aufwallung die
Tür.

Ein stiller Augenblick, der das Gebirge um Ma-noh weit werden ließ, war es
dann, als sich Ma einmal abends nach Wangs Fortgang vor seiner Tür bei
etwas Merkwürdigem ertappte: wie er in einer zerfließenden Versunkenheit
den schneeschweren Himmel betrachtete und dabei klar wußte, daß er Wang
unterlegen sei und nicht litt. Plötzlich in der folgenden Nacht trat vor
ihn die Erinnerung an diese Versunkenheit. Dumpfes Staunen hinter diesen
Zustand: »Und nicht litt.« Er war Wang unterlegen und litt nicht. Das
Gefühl zog sich eng über seine Haut, machte das Herz zu einer Feder; zart
und schlecker dachte es in ihm hin zu Wang unter kniebrechender Knechtung:
»O wie gut ist es, Ma-noh zu sein.«

Nur Minuten.

Dann wehrte er sich, knirschte alles bedächtig herunter, legte sich vorn
über seinen Leib und zersprengte das Gefühl.

Erschrak zum Schluß über sich und das ganze Geschehnis. Zerrte sich in den
Schlaf.

Konnte in den nächsten Tagen Wang nicht unter die Augen treten; schämte
sich vor ihm, und sich selbst stach und biß er. Unberührt aber verharrte
dieses Gesicht in ihm: »Schneeschwerer Himmel, und ich bin Wang
unterlegen.« Es trat aus seiner Brust heraus und zog ihn hinter sich,
wachsend, wachsend. Er überlegte manche Nacht, ob er nicht wieder wandern
sollte. Blieb zu seinem eigenen Staunen. Näherte sich leidend Wang. Ihre
sonderbaren Gespräche nahmen einen Fortgang. Es folgten die Tage, wo Ma-noh
ungeduldig wurde, wenn der Strolch nicht hereintrampelte, wo er sich
erkundigte, was er vorhatte, auf das Halunkenpack hetzte.

Der Priester belehrte den Strolch mit einer Empfindung von Angst. In ihm
rüstete sich alles, die Waffen zu strecken.

                   *       *       *       *       *

Eine eisige Kälte stellte sich zu Beginn des neuen Jahres ein. Die
Felsenwege wurden ungangbar unter der Glätte. Auf höheren Partieen des
Gebirges lag der Schnee wie Daunen meterhoch geschichtet. Trat man in die
weißen Massen, so schrumpften sie nicht weich zusammen; es gab ein zartes
Klirren wie von tausend Schieferplatten, der Schnee riß Wunden in die
Hände. Die Luft, zuerst von einer tiefgrünen Durchsichtigkeit, nahm einen
grauen Ton an.

Eine mongolische Karawane, die von den nördlichen Pässen herüberkam, zog
dicht bis an die Nan-kuberge. In einer Nacht erfroren fünfunddreißig
Maultiere; zwei Bären saßen am hellen Morgen unvertreibbar mit rot
unterlaufenen drohenden Augen bei einem Pferde, von dem man nicht wußte, ob
es erfroren oder lebend zerrissen war. Die Tee- und Seidenballen, die
mächtigen Pelze blieben auf dem letzten Paß liegen, die Pilger
überwinterten in einem rückwärts gelegenen Dorfe.

Nach dieser Karawane kam niemand mehr über die Straßen zum Wu-tai-schan. Es
sollten die Menschen zur Erstarrung, die Berge zum Springen gebracht
werden. Die Pochwerke hatten ihre Arbeit eingestellt. Der Fluß, schmaler
als sonst, blies durch die Täler seine Luft, die von der Kälte zum
Ersticken verdichtet war.

Die Wegelagerer und Verbrecher hatten sich zu einem kleinen Teil in die
Dörfer geschmuggelt, welche westlich und östlich der Berge lagen. Die
übrigen warteten eine kleine Zeit auf die Pilgerzüge, von denen sie lebten.
Dann schlossen sich überall größere und kleinere verzweifelte Haufen
zusammen. Die Wege, hinter die sich die Höhlen und Hütten der Heimatlosen
verkrochen, mußten bald unübersteigbar werden; dann gab es kein Hin und
kein Her.

In mehrere gewundene schmale Höhlen, die vor dem Wind geschützt waren auf
der Straße oberhalb Mas Einsiedelei, hatte sich der Haufen geflüchtet, zu
dem auch Wang hielt, etwas über fünfzig Mann. Aber nach zwei Tagen, als
fünf nach verhungernden, erfrierenden Genossen suchen gegangen waren auf
den zugänglichen Straßen, Abhängen, Tälern, waren es achtzig geworden. Es
gab keine lange Beratung. Die neun Geachtetsten unter ihnen bestimmten, daß
das etwa sechs Stunden entfernt gelegene Dörfchen Pa-ta-ling gleich
geplündert und eingenommen werden sollte.

Unterwegs während des Abwärtskletterns kamen einzelne überein, und es
verbreitete sich unter die andern, daß von den Bewohnern des Dörfchens
niemand entweichen dürfe; man müßte sie entweder einschließen oder
niederschlagen. Es gab beim Abwärtsrennen der Männer, zu denen kurz vor dem
Dorfe noch ein kleiner Haufen von dreißig Ratlosen stieß, ein
unaufhörliches Schreien, Zusammensinken, Wimmern um Mitnehmen. Die
Kräftigen hielten vor Hunger den Mund offen und bissen in den Wind; sie
liefen besinnungslos. Sie trugen abwechselnd die älteren und leichten
Vagabunden auf dem Rücken. Sie liefen den letzten Rest des Weges durch ein
welliges Tal völlig schweigend in einer langen Linie, die nach hinten
breiter wurde; die Starken wie Windhunde voran, ohne Gedanken an die
Folgenden.

Das Dorf hatte fünfzig Häuser, die an einer einzigen Straße lagen bis auf
vier Häuser, die um einen immergrünen Eichbaum beim Eingang der Straße von
den Hügeln her standen. Von diesen Häusern sahen die Leute zuerst das
Springen von Menschen über die Schönn-i genannten Felsenklippen, das Fallen
und Aufraffen immer neuer Menschen. Sie näherten sich rasch über den
weißblauen Schnee, es schien als ob sie verfolgt wären. Ihre Zöpfe flogen
wagerecht; man sah sie über die Schultern wie Peitschen schwingen.

Die Frau des Bauern Leh gellte zuerst auf dem Hofe: »Banditen, Banditen,
Banditen!« Es rannten Frauen, Kinder, zuletzt Männer, Betten hinter sich,
die Dorfstraße herunter, schlugen an Hoftore, verschwanden in den Häusern.
Winseln, Kreischen wirbelte über den Höfen, von Dach zu Dach getragen,
zitterte über der leeren Landstraße.

Von den Hügeln her kam das Trappen, das ungleichmäßige Knistern und
Knarren, weitausgreifendes Bewegen, das nicht einmal zu atmen schien.
Gebleichte Gesichter mit reglosen Zügen, Hände, die im Schwung wie Keulen
hin und her schaukelten. Körper, die empfindungslos liefen. Rümpfe, die
steif auf Schenkeln saßen, welche wie Pferde ritten. Hinter der langen
Linie der Einzelläufer schwammen schwarze Gruppen, Hand an Hand gefaßt.
Aufgelöste Nachzügler schleuderten die Arme wie Hämmer, um vor sich Löcher
in die Luftmauern zu schlagen.

Die wenigen auf dem Dorfe, die vor ihrer Türe standen und den
langgestreckten Keil heransausen sahen, sahen auch die schwarzen
krächzenden Vogelschwärme, die mit den Vagabunden die Berge verlassen
hatten.

Die ersten Räuber warfen sich mit Steingewicht gegen die Tore. Sie prallten
hintereinander auf, drangen ein. Die nächsten an die folgenden Tore. Sie
überrannten einander. Das Kreischen ließ nach; die Bergläufer in den
Häusern strömten Eiskälte aus und das Grausen von Sterbenden; sie konnten
ihre Kiefer nicht öffnen; ihre Augen zwinkerten nicht. Die letzten Häuser
waren verrammelt. Ein Heulen entstand draußen, ein Gebrüll verwundeter
Tiere, daß sich die Frauen verkrochen. Die Lebenden draußen hoben die
Körper der Hinstürzenden auf, rannten mit den kopfschüttelnden Rümpfen
gegen die Holzpfosten an. Dann öffneten plötzlich die Bauern die Tore,
fällten die Wimmernden mit Beilen, liefen in die Nachbarhöfe, hackten in
die keuchenden Münder. Nachzügler, die Stärksten, mit den Lahmen auf den
Rücken, hetzten ins Dorf, warfen ihre Last in den ersten Hof, folgten dem
Schreien, zerquetschten die Bauern wie Geschosse, würgten sie,
zerschmetterten ihre Kinder auf der Dorfstraße, wortlos ohne die Mienen zu
verziehen.

Die Toten froren dünn und steif auf dem Wege.

Die Lumpen drängten sich zitternd in den Häusern. Die rohen Gesellen
umarmten und streichelten sich. Die Starken und Schwachen befiel ein
Schütteln. Sie brachen in ein dumpfes Greinen aus, von dem sie sich nach
Stunden noch nicht erholten. Sie schlangen flennend herunter, was sie
vorfanden. Es wurde keiner in den Häusern angerührt von ihnen.

Als die Dunkelheit herunterfiel, gingen zwanzig von den jüngeren Burschen
von Haus zu Haus, verteilten Beile, Dreschflegel, bestimmten Nachtwachen.

                   *       *       *       *       *

Es wurde von der Bande geplant, solange die härteste Kälte anhielt, im Dorf
zu bleiben, dann gemeinsam auszuziehen. Die Hausbewohner wurden davon
verständigt; an den Ortsvorsteher konnte keine Nachricht erfolgen; er war
mitsamt seiner Familie erschlagen.

Man hatte nichts zu fürchten von Verrat während dieser Zeit, der nächste
Ort lag sechs Stunden entfernt, und der Weg ungangbar.

Einen ganzen Monat lag das Dorf von jedem Verkehr abgeschnitten. Eine
Verbrüderung fand unter den Banditen statt. In der Zeit erlangte Wang über
die hundert Männer die Gewalt, die ihm die Rolle des Bandenführers
aufnötigte. Bei den täglichen Streitigkeiten, der Regelung des Verkehrs mit
Ansässigen, der Beaufsichtigung, dem notwendigen Kundschafterdienst setzte
sich seine Körperstärke und schonende Diplomatie durch; die Achtung der
älteren Leute schob ihn vor.

Schon nach zwei Wochen besprachen die Wegelagerer unter sich, nach Auszug
aus dem Dorf nicht auseinanderzugehen, sondern ein bequemeres Leben unter
Wangs Hauptmannschaft weiterzuführen. Wang trennte sich eines Morgens von
ihnen, verschwand auf zwei Tage ins Gebirge.

Er lief zu Ma-noh, fand ihn munter, unter Massen Decken und Werg vergraben,
in einer Ecke seiner Hütte grinsend liegen, brachte ihm Reis, Bohnen und
Teeblätter.

Nach seiner Rückkehr sprach er Tage und Nächte viel mit den Älteren. Daß
sie arme ausgestoßene Menschen seien. Daß man ihnen nichts tun dürfe, wie
sie selbst keinem etwas täten. Daß nichts schrecklicher sei, als wenn
Menschen sich töteten, und der Anblick nicht zu ertragen. Ma-noh, der
Einsiedler aus Pu-to-schan, habe ihm viel Gutes und Kostbares von den
goldenen Buddhas erzählt, besonders von der Frau Kuan-yin, welche tausend
Arme an beiden Schultern hätte und den Weibern Kinder schenkte. Sie seien
seine Freunde und sollten tun wie er. Soviel Leiden bringe schon das
Schicksal allein, soviel Leiden; warum sie der Himmel hasse, wer wisse das?
Er werde, wenn das strenge Wetter nachließe, durch die Dörfer gehen und
allen Leuten, auch den Mandarinen sagen, was er denke; dies sei er fest
entschlossen.

Die Vagabunden, die ihn von den Pochwerken her kannten, erstaunten
keineswegs, als sie Wang so reden hörten; sie hatten solche Gespräche aus
seinem Munde erwartet. Sie dachten nicht daran, sich von ihm abzuwenden;
seine Meinung stimmte völlig mit ihrer überein; der Himmel haßte sie; man
durfte es nicht schlechter machen.

Sie waren gesellige Menschen mit besonderen Vorstellungen über allerhand
Dinge, mit großer Lebenskenntnis, in vielen Dingen überlegen dem
Durchschnitt ihrer Volksgenossen. Es gab kaum fünf unter ihnen, die sich
nicht verjagt und getreten vorkamen und den Eindruck hatten, ein unfreies,
gezwungenes Leben zu führen.

Manche waren die Opfer eines starken Triebes geworden, den sie nicht
beherrschen konnten, auch nicht beherrschen wollten, die alle Schlauheit in
sich aufboten und schärften, um diesem Triebe zu dienen, mit dem sie sich
gleichsetzten. Einige Opiumraucher, Spieler von feinerem Gesichtsschnitt,
ältere Leute. Nicht wenige, die ein Gewerbe trieben, ab und zu betrogen,
entdeckt und bestraft wurden, nun sich schikaniert von den Polizisten
fühlten, Schabernack auf Schabernack, Gehässigkeit auf Gehässigkeit folgen
ließen, die Grenzen überschritten, und im Grunde froh waren, mit einem
Schlage vogelfrei zu werden, der brütenden Gesetzlichkeit entflohen. Dies
waren die Glücklichen, die wenig Bitterkeit in ihrer Freiheit fühlten.

Am schlimmsten waren die Hitzköpfe, die Rachsüchtigen, die Zügellosen dran.
Sie hatten sich, meistens jung, wegen eines Ehrgeizes, einer Verliebtheit,
einer Eifersucht, zu einem verhängnisvollen Schritt reißen lassen, standen
außerhalb ihrer Familie, Sippschaft, Heimat, in deren Rahmen ihre Triebe
wie ihr Verbrechen sinnvoll wurden, gingen mit bösen Blicken herum,
verfluchten sich, kauten an dem unzerreißbaren Gummi ihrer Leiden. Ihnen
nützte nichts; sie waren zu allem fähig; man durfte sie nicht anrühren. Sie
waren nicht mitteilsam, überall dabei, wo etwas vorging und geplant wurde,
machten ihrer Grausamkeit Luft, wo sie konnten, wurden von den Kameraden
scharf beobachtet.

Dann kamen viele, die warteten, die sich angeschlossen hatten, nur um
irgendwo in den achtzehn Provinzen zu hausen. Das waren die entlassenen
Soldaten, die noch ihre zerrissenen blauen Kittel trugen und auf neue
Anwerbung hofften. Krüppel, die aus kleinen Ortschaften stammten, wo man
sie nicht ernähren konnte, und die nun die Wallfahrtswege belagerten.
Tüchtige ernste Menschen, die ihre Familien durch Überschwemmungen verloren
hatten; solche, bei denen der Mißwachs auf den Äckern ein jährlicher Gast
war; solche, die erst vorübergehend aus Scham in die fernen Berge zum
Betteln liefen, dann schwer loskamen und keinen Ausweg sahen.

Es gab besondere auffallende Erscheinungen, unter ihnen Wang-lun; unruhige
Geister, die es nirgends hielt, die hier wie überall unter Vertrauten
auftauchten und verschwanden; derartige Menschenwellen wogten in dem
ungeheuren Reiche viel.

Den harten und unbeweglichen Kern aller Bergläufer bildeten die vier, fünf
alten Verbrecher, welche seit Jahren die Plage der Pässe und höheren Wege
ausmachten. Sie waren freundliche, etwas falsche Gesellen, die viele
Anekdoten zu erzählen wußten, gutmütig die andern aushorchten, über die
jüngeren grobe Späße machten. Einer hatte in seiner Körperfülle das
Aussehen eines würdigen Mandarins; es fehlte ihm an seiner Mütze nur der
Knopf. Er hielt sehr auf respektvolle Behandlung und bediente sich eines
komischen Höflichkeitszeremoniells bei den kleinsten Dingen im Verkehr,
wobei gestört er in unsäglich gemeines Schimpfen ausbrechen konnte. Er war
Hypochonder, äußerst wehleidig und verbrachte das meiste Geld, das er durch
Diebstahl und Raub erwarb, bei kleinen Wurzelfrauen, Hökerinnen in den
Nachbarorten, bei denen er nach Medikamenten ein und aus ging. Er hatte
eine Masse Eigenheiten, schnitzte sehr gewandt Tabaksdosen mit
Blumendeckeln, suchte bei jedem frisch Ankommenden zu erfahren, was es für
Neuigkeiten darin in den Städten gäbe, bemühte sich auf die furchtbarste
Art, wenn er es wollte und es für ihn nötig wurde, die Muster zu
beschaffen. Er seufzte seinen Hökerfrauen vor, die ihn als feinen Herrn
behandelten, wie ein armer Mensch seine Haut zu Markte tragen müsse, um
auch nur eine Spielerei zu erwerben. Wenn er einbrach, war er der zähste,
sicherste Mensch, mit Muskeln von Stahl, einer unbezwinglichen Geduld und
Kälte. Vor Leuten, besonders jungen Männern, die ihn überraschten und die
er angreifen mußte, hatte er einen Ekel, wenn sie sich nicht wehrten oder
um Schonung bettelten, nachdem er sie gefaßt hatte. Er hatte zwei
Kaufmannsgehilfen einmal, die vor Entsetzen auf ihrem Ofenbett laut
schrien, als er in ihr Zimmer nachts eindrang, mit einem Eisenstück erst
betäubt, dann aber, als die kräftigen Menschen trotz seines Befehls unter
ihrer Decke weiter wimmerten, sie mit der ersten besten Schnur einen nach
dem andern erwürgt, war toll, ohne etwas zu nehmen, in die Berge
zurückgerannt. Er führte seitdem den Namen »Seidenschnur«.

Ein anderer dieser fünf Gesellen war ein großer hagerer Kantonese mit einer
Hornbrille. Dieser liebte weder Totschlag noch Einbruch, er war Gelehrter
und verfaßte Gedichte, gesellschaftliche und sittenfördernde Abhandlungen,
Betrachtungen über allerhand Themata, auch aus der Tierwelt, Geologie,
Astrologie. Sein Wesen blieb den meisten der Vagabunden dauernd fremd. Er
hielt sich völlig fern von ihnen; sie kamen in seine Höhle, um sich über
vielerlei Dinge, besonders Krankheiten und günstige Tage, Rats zu erholen.
Es war ein Mann von einer gewissen Bildung, der viele Dichter abschrieb und
saubere Charaktere malte. In diesen großen ruhigen Menschen kam alle paar
Monate eine Veränderung. Die ihn besuchten, merkten das vorher; er hörte
ihnen nicht mehr geduldig zu; es herrschte Unordnung in seiner sonst
ziemlich gerichteten Wohnung im Felsen. Er erklärte selbst, wenn ihn einer
fragte, daß er jetzt viel mit eigenen Sachen beschäftigt sei, nur diese
Tage; sie sollten sich nicht abstoßen lassen; er würde über die Sache, die
sie ihm vortrügen, später noch genau nachdenken und ihnen Auskunft geben.
Dann kamen die paar Tage, wo die Banditen sich nicht von ihrem Gelächter
erholten. Wo der gelehrte Mann schmierig und zerfetzt von oben bis unten
über alle Wege kletterte, bei allen Bekannten vorsprach in diesem Aufzug
unter einem Schwall hochtrabender unverständlicher Worte und Brocken,
dazwischen mit kolossalen Schlüpfrigkeiten, die an ihm sonst unbekannt
waren, um sich warf, und selbst aus dem Lachen nicht herauskam, das sein
Gesicht unter tausend trockenen Fältchen vergrub. Auf diesem Hin und Her,
bei dem er sich keine Ruhe gönnte, kaum ein paar Stunden tags schlief, ohne
sich zu erschöpfen, versteckte sich die hagere Gestalt auch gelegentlich
hinter einem Block bei Mondlicht an einer Straßenbiegung, fiel mit lautem
Geschrei ganze Karawanen an, die nicht selten auseinanderstoben vor ihm,
stieß einen einsamen Pilger, nachdem er lange hinter ihm her mit Wutbläken
geschlichen war, unter einem Freudenjuchzer in den Abgrund, verging sich
bei Marktflecken in viehischer Weise an Frauen und Kindern. Nach ein paar
Tagen saß er wieder in seiner Höhle, zeigte ernst seinen Gästen die
Schrunden und Beulen, die er davongetragen hatte. Er behandelte diese
Verletzungen in den ersten Tagen wie eine heilige Sache, kam rasch in das
alte Geleise, in die gelehrte Arbeit, bei der ihn keiner, unter schwerster
Gefahr, an die unruhigen Tage erinnern durfte. Der Einfluß dieser Männer
auf die andern war gering; schon unter sich kannten sie sich wenig; unter
den andern allen galten sie als gefährliche Sonderlinge, die zu keiner
gemeinsamen Sache zu bewegen waren.

Die Vagabunden sprachen geheimnisvoll über Wang-lun in den überhitzten
Stuben des Dörfchens. Seine langen Besuche bei dem Zauberer Ma-noh brachten
sie zum Erschauern; alle gaben zu, daß dahinter etwas stecke. Er war ein
Verfolgter, der nicht zur Ruhe kam. Ein Buckliger in dem Hause, das auch
Wang bewohnte, schlug auf den Tisch: »Diesem Wang ist in Schan-tung etwas
passiert, er will Gespenster bannen lernen, um sich an jemand zu rächen.
Auf dem Liang-fu-schan sitzt einer, der hat in Krügen die Dämonen der
ganzen Provinz gefangen.« Ein anderer stimmte bei: »Ma-noh wohnt schon
lange oben; er kennt alle Berggeister. Was soll Wang von ihm wollen?« Der
Bucklige: »Ich habe ihn einmal an der Pochmühle sitzen sehen; er schlug mit
den Händen an seinen Augen vorbei. Warum? Er hat Dämonen gesehen und wollte
sie zerquetschen.« Ein Alter legte sich über den Tisch und grinste: »Ein
Gelehrter ist Wang-lun. Er trägt etwas mit sich herum. Was ist dabei
wunderbar, wenn er zaubern kann? Wer eins kann, kann das andere.«

In Wang überwucherte unter dem Einfluß der Gespräche mit Ma die
Versonnenheit und der Ernst. Er beruhigte sich. Die Wände und Vorhänge, mit
denen sich etwas Dunkles in ihm umstellt hatte, fielen; er ebnete und
bewältigte sich in der größten Heimlichkeit. Der Zickzack in ihm kam nur
gelegentlich zum Vorschein; in Possenstreichen, die andere vor den Kopf
stießen, in stundenlanger grundloser Gleichgültigkeit, in vorübergehender
Böswilligkeit, Widerspenstigkeit. Die älteren Vagabunden wußten, daß etwas
Heiliges dahinter steckte, wenn er Späße machte; daß dies nicht anders war,
als ob er sich in einem Krampf wälzte.

Gegen Ende ihres Aufenthalts in Pa-ta-ling stampfte Wang eines Abends
kältegeschüttelt in die Stube; er lachte, brüllte, sprang an den Wänden
herum. Er hätte auf einem frischen, völlig frischen, eben gefallenen weißen
Schneehaufen, sie sollten einmal denken und sich das vorstellen, einen
großen verschlossenen Lederbeutel mit dem kaiserlichen Kriegssiegel
gefunden; und wenn er in den Beutel griffe, hätte er lauter runde
Goldkugeln in der Hand. Er warf einen schwarzen Beutel auf den Tisch. Zehn
glattrasierte bezopfte Köpfe stießen über dem Beutel zusammen, ein
freudiges erschrecktes Schnattern erhob sich. Einer griff und hatte dicken
Kohlestaub bis an den Ellenbogen; ein anderer faßte vorsichtig hinein, es
ging ihm ebenso. Und so zwei andern. Sie sahen sich verblüfft über dem
Tisch mit der Öllampe an, schwiegen betreten, blinzelten gegen den langen
Wang, der ruhig am Ofenbett stand, sahen sich wieder einer nach dem andern
an, schüttelten die Kohle von den Händen. Ein feister hellfarbiger hielt
den Beutel hoch gegen sein Ohr, schüttelte ihn, horchte. Auch die vier, die
in den Beutel gefaßt hatten, drängten sich durch und legten den Kopf an den
Beutel. Der erste stellte den Beutel auf die Tischplatte, wich von dem
Tisch zurück, sagte, ohne Wang anzublicken, mit einem bestürzten
Gesichtsausdruck: »Er hat recht. Wang hat recht.« Er war so fassungslos,
daß er nicht tat, was einem andern, dem Buckligen, nach einer Pause
einfiel: nämlich, ohne den Beutel zu berühren, Wang zu bitten, ihnen das
Siegel des Kaisers zu zeigen und zu fragen, ob es das Siegel Khien-lungs
oder eines früheren Kaisers sei. Wenn er es ihnen aber nicht zeigen wolle,
ihnen doch etwas noch zu sagen über das Siegel; auch über die vielen
Goldkugeln. Sie seien zwar erschreckt, sehr erschreckt, er auch, aber sie
würden es doch gern hören und den andern sagen.

Der lange Wang-lun hatte inzwischen längst aufgehört zu lächeln. Mit einer
Miene, die immer ängstlicher wurde, stand er am heißen Ofenbett; seine
linke weite Hose schwälte am Rost, ohne daß er es merkte und den feinen
sengenden Rauch beachtete. Er ging langsam und ganz unsicher von einem zum
andern, zog ihn an der Hand zur Lampe, sah ihm suchend ins Gesicht: »Was
ist denn? Was ist denn? Was meint ihr denn?« Er stemmte beide Hände auf die
Tischkante auf, hinter dem Tisch stehend, beäugte den Beutel von allen
Seiten, bückte sich, strich furchtsam über ihn. Dann umspannte er ihn mit
der linken Hand, ging mit ihm in die Nachbarkammer, immer Blicke nach
rechts und links auf die Männer werfend, als erwarte er Schläge von ihnen.
Eine dünne Spur des Kohlenstaubs rieselte hinter ihm her. Die Kammertür
versperrte der lange Wang und hockte am Boden in dem engen Raum, in dem nur
Krüge, leere Tonnen und Ackergeräte herumstanden, drehte eine Holzhacke in
der rechten Hand, legte sie vorsichtig neben sich. Dann hob er den fast
ausgelaufenen Lederbeutel, auf beide ausgebreitete Hände gelegt, an sein
schweißtriefendes Gesicht und fiel mit dem Kopf so auf seine aufgestellten
Knie. Er sagte mit klappernden Zähnen laut, daß die nebenan es hörten: »Was
ist denn? Was wollen sie von mir?« Die Kleider klebten ihm an den Gliedern.
Er stand auf, besah das Loch in seiner Hose. Es befiel ihn eine so lautlose
schwindelnde Angst, daß er sich im Kreise drehte, auf die Holzdiele unter
seinen Filzsohlen blickte, den Boden befühlte mit der Hand, die krummen
Finger gegen die Wand drückte.

Er stand, mit dem runden Rücken in einen Winkel gelehnt, die Arme unter den
weiten langen Ärmeln ineinander verschränkt, sann mit hervortretenden
Augen, was ihm passiert war. Plötzlich erstarb alles in ihm. Er ging ruhig
zwischen dem Gerätekram an das offene Fenster. Die schneidende Luft wehte.
Wang-lun, den Kopf hinaus in die Dunkelheit gesteckt, wußte nicht, was er
hier blickte. Die kleinen Häuser drüben standen sehr fern, die Finsternis
des Himmels stand nicht ferner. Er betrachtete alles mit Befremden.

Er mummelte sich in seinen Kittel, zog den Kopf zwischen die Schultern,
ging in das Nachbarzimmer, wo fünf der Vagabunden saßen und mit Figuren
spielten. Ihnen fiel auf, wie stier sein Blick und wie ausdruckslos sein
Gesicht war. Er blieb am Tische stehen. Er sagte leise zu dem Buckligen,
den er umfaßte, ohne aber den Blick höher auf ihn als bis zu den Schultern
zu richten, daß er noch einmal durch das Dorf gehen wolle.

Und dann ging er durch die leere Straße; kehrte um, ging hügelwärts weiter.
Lief, indem er die Schwärze der Nacht Schale um Schale, Panzer um Panzer,
durchbrach. Ehe er verstand, was geschah, hatten seine Arme das Schwingen
der Keulen angenommen, war eine Sichel aus seiner Stirne gewachsen, mit der
er die Nacht durchschnitt. Er sprang über die Schönn-i genannten Klippen.
Sein Körper lief schon empfindungslos weiter; er ritt ruhig atmend auf
federnden Schenkeln. Er freute sich, daß etwas ihn mitgenommen hatte und
mit ihm davonlief. Über die Hügel, auf die Felsen. Zu Ma-noh, zu Ma-noh.
Der mußte die Gemse hören, die zu seiner Hütte heraufkletterte aus der
liegenden Nacht.

Es war noch kein Zeichen des Morgens am Himmel, als Ma-noh seinen Namen
rufen hörte, die Stiege zu seiner Hütte hinuntersprang.

Der trübe Docht blakte. Stumm und mild saßen die Buddhas im Hintergrund;
die Ohrlappen bis auf die Schultern gezogen, blauer Haarknoten, weite
Blicke, ein verschwimmendes Lächeln um die prallen Lippen, auf runden
glatten Schenkeln hockend. Wang lag mit der Stirne vor der tausendarmigen
Göttin aus Bergkristall, anklagend, bettelnd, verwirrt. Gewillt, hier
liegen zu bleiben, nicht fortzugehen. Durcheinander stammelnd, was ihm
geschehen sei.

»Was Su-koh geschah, ist nichts gegen dieses. Su-koh haben sie mit fünf
Säbeln niedergeschlagen an der kleinen Mauer. Sie haben ihn gefangen
genommen und dann über den Nai-ho geschickt. Mich haben sie verlockt, in
ihre Mitte geschlossen, bezaubert. In meine Brust wollen sie einen Dämon
zaubern, der Bucklige will das, alle wollen das. Ich bin gut zu ihnen
gewesen, habe jeden Zank ausgewischt. Mancher von ihnen lebte nicht mehr
ohne mich. Ich bin die Dorfstraße heruntergegangen. Es war Kohle in dem
Beutel. Ich kann nichts dafür, es war nur Kohle. Und es ist doch kein Gold
und kein Siegel. Warum soll es Gold sein, wie soll das Siegel des Kaisers
in den Lederbeutel kommen? Warum verlangen sie das von mir? Sie sollen es
nicht wollen; sie sollen es nicht wollen. Sie sollen mich wieder gehen
lassen; ich habe nichts gesagt von dem Lederbeutel. Ich bin der Wang-lun
aus Hun-kang-tsun. Ich bin ein Mörder; kein Mandarin hilft mir jetzt. Ich
lasse mich nicht verhetzen. Ihr sollt mir helfen, ihr fünf Fos; Ma-noh,
hilf mit; bete mit mir; hilf mir sie bezwingen.«

Er richtete sich auf den Knien auf, hielt Ma-noh an der Brust fest, der
sich schon neben ihn geworfen hatte. »Oder bin ich schon verzaubert? Sag,
Ma-noh? Es kommt schon zu spät bei mir, nicht wahr, ja, es kommt schon zu
spät.«

Heulend stieß er, von den Buddhas abgewandt, lange Schreie aus, öffnete
immer die Arme und schlug sie wieder zusammen. »Was soll geschehen, Ma-noh?
Was soll mit Wang-lun geschehen? Die bösen Geister haben ihn befallen.
Wang-lun haben die bösen Geister befallen.«

Ma-noh drückte Wangs verklammerte Finger von sich ab, ließ ihn auf den
Boden rutschen, legte einen dünnen gelben Mantel mit roter Borte über sein
Flickkleid, setzte die viereckige schwarze Mütze auf, das Dach des Lebens,
schlug den Rasselstab, schüttelte die Klapper. Die pfeifenden Worte, die er
ausstieß, gingen unter in dem blechernen Geklirr; und während er die eklen
Schlangengötter mit Flüchen anrief, die Nagas, die Lus und ihre Könige,
während unter dem Dröhnen der Klapper die Garudavögel gebannt aufschwirrten
aus dem Kreise, die grünschwingigen Garudas mit roten Menschenbrüsten,
weißem Bauch, auf ihren schwarzen Vogelköpfen standen zwei Hörner, zitterte
in Ma-noh das Herz vor Glück. Er tanzte, selbst träumend und hingerissen,
um Wang, der den Kopf duckte; er verstand alles, was Wang sagte; er bückte
sich, strich ihm über die Schultern, den Scheitel, und hätte sein Knurren
und Zischen in Lachen verwandeln mögen. Wang dachte an seinen Vater und
seine Mutter, und wie seine Mutter eingeschlafen war, als der Vater unter
Hundegekläff in einer Tigermaske hin und her sprang vor der Frau und über
die Hingesunkene schnaufte und flüsterte. Ihn fror plötzlich sehr unter der
Achsel, an den Knien, an den Fersen.

Er lag schwindlig, lang auf den Leib gestreckt am Boden. Ma häufte Decken
über ihn, drückte das Licht aus. Eine weiße Helligkeit trat durch die
verklebten Fenster. Ein Scharren und Kratzen an der verriegelten Tür, Füße
und Schnäbel von hungrigen Krähen. Dann lief es einmal weich über die
Stufen, kroch über das niedrige Dach, schnuppernd, schlüpfte wieselartig
über Balken weg. Alle Augenblicke krachte es ganz weit; fernes Schieben,
Schurren, Poltern folgte. Schneemassen kamen ins Rollen, stürzten in die
Schluchten.

Ma-noh, in der schwefelgelben Kutte, mit roter Schärpe, auf dem Schädel die
vierzipflige Mütze, öffnete die Tür. Brausen des Flusses drang in das
dumpfe Zimmer, in dem die Klapper nicht mehr lärmte. Blendende Weiße warfen
die Schneemassen herein. Ma pfiff und gluckste. Er hielt die große
Almosenschale in der Hand, mit Körnern und Brocken gefüllt. Die Krähen
stießen wütende Schreie aus. Er hielt die zudringlichen Vögel mit spitzem
Lachen zurück. Weit über die Stiege, in den hohen Schnee der Straße flogen
die harten Stücke.

                   *       *       *       *       *

Obwohl Wang schon am ersten Abend unruhig drängte, hielt Ma-noh ihn über
drei Tage auf dem Berge fest. Am Morgen des vierten klopften Männer an Mas
Tür, fünf Räuber aus dem Dorf. Sie hatten Wang gesucht und brachten die
Nachricht, daß sie verraten seien, daß gestern nachmittag dreißig
Berittene, abgeschickt aus der Unterpräfektur Cha-tuo, unter einem riesigen
Pa-tsoung in das Dorf einfielen. Sie hätten, unterstützt von Dorfbewohnern,
die Soldaten verjagt, ein Pferd lahmgeschlagen; es konnte aber nicht
verhindert werden, daß vier ältere Wegelagerer, darunter ein Kranker, von
den Soldaten ergriffen und auf den Pferden mitgeschleppt wurden. Als sie
den Raub bemerkt hätten, waren die Reiter schon im Galopp und schossen mit
Pfeilen nach rückwärts. Die Brüder drängten sehr fort, berichteten sie.
Auch die gutmeinende Dorfbevölkerung bäte, rasch abzuziehen, weil sonst
beide, Banditen wie Dörfler, verloren seien. Alle Wege wären gut
passierbar, das Wetter erträglich, es werde ein rasches Frühjahr geben.

Von den Männern, die zu der Einsiedelei geschickt waren, gehörten drei zu
den engeren Freunden Wangs von den Pochwerken. Es waren die erfahrensten,
zuverlässigsten Männer.

Auf das erregte Bitten Wangs blieben sie fast einen halben Tag gemeinsam in
Ma-nohs Hütte.

Wang konnte sich schwer bezwingen. Er ging ratlos in einem Durcheinander
von Empfindungen an den niedrigen glühenden Herd, über dem der Wassertopf
an einem rohen, schlecht geschnittenen Eichmast hing. Sein breites Gesicht
schrumpfte unter der Hitze. Er wandte sich und streifte mit den fliegenden
Ärmeln die goldenen Buddhas, die ihre bezaubernde, flimmernde, irisierende
Miene zuwandten dem stummen Ma-noh, der ihre Blicke aufzufangen suchte, dem
Wanderer Wang, den hockenden fünf Vagabunden, die die Köpfe
zusammensteckten, teeschlürfend die Nachbarorte durchhechelten. Über und
über waren sie bepackt mit zerlumpten Kitteln, Tuchfässer, schwer
bewegliche Fleischpakete.

Wang schwankte unter einer Aufwallung und einem unertragbaren Sieden in der
Brust die Stiege herunter, und seine schrägen schmalen Augenschlitze
kniffen sich zu, geblendet vom Weiß, das entgegenprallte. Er stand am Rand
der Bergstraße. Aus dem Flußtal schleiften Nebelschlieren. Von einem
drehenden Windstoß gerafft zogen sie sich schlangenartig rasch hoch und
pufften, breitschleiernd, über Wang und die lange Bergstraße. Das Rauschen
der Schnellen klang unglaublich nah. Das Tal kochte kalt und war
verschüttet in den brodelnden Dunst. Muskellose weiche Schneearme streckten
sich herauf.

Sie berieten in der kaum mannshohen Hütte unter dem Felsen. Ma-noh mit
welkem spitzen Gesicht, im bunten Flickmantel und aufgewundenen Zopf,
höflich, leicht gnädig, im Inneren aufgebläht, erwartungsvoll erregt. Wang,
zwischen den andern am Herd, bog den Rücken rund; seine Blicke wanderten
von einem Augenpaar zum andern.

Er fing an zu sprechen, die Hände auszustrecken, die Freunde zu beschwören:
»Die vier Alten haben die Reiter mitgenommen, und man wird sie ins
Gefängnis werfen und ihnen die Köpfe abschlagen. Sie konnten nicht so
schnell laufen wie ihr. Den Lahmen hab ich auf meinem Rücken getragen, als
wir vom Berg herunterliefen. Es wird ihnen keiner glauben, wie elend wir
sind und daß der Frost so schlimm war. Der Lahme muß daran glauben, daß ihm
ein Bootsmann das Bein zerschlagen hat. Sein Unglück ist groß, man wird ihn
an einem ungünstigen Ort verscharren, sein Geist muß betteln, wie im Leben
hungern, frieren. Sein Bein war zu kurz und die Soldaten hatten Pferde. Uns
nimmt man alles. Wir sollen in den leeren Bergen erfrieren, die Raben sind
mit uns ausgezogen, keiner konnte mehr leben, keine Karawane gab zu essen.
Unsere armen Brüder nimmt man uns. O, wir sind arm.«

So jammerte Wang-lun, blickte ihnen allen in die traurigen gesenkten
Gesichter und litt. Mit einmal kam die Angst wieder und die Befremdung vor
ihnen. Er wandte sich, schluckte an dem Kloß hinter seinem Gaumen. Er
preßte es gewaltsam herunter, hielt seine eiskalten schwitzenden Hände über
den Herd. Sie taten ihm nichts, sie wollten nichts von ihm, es war nur ein
Gerede gewesen, er wollte sie gar nicht fragen. O, war das Leben schwer.
Dazu blitzte es ihm vor den Augen; bald schienen es von dem Herd verwehte
Funken zu sein, bald fuhr es so rasch und glatt zusammen, fünf Säbel und
eine kleine getünchte Mauer.

Ein breitschultriger alter Mann unter den abgesandten, ein Bauer, dem sein
Land mitsamt seiner Familie fortgeschwommen war, veränderte seine
entschlossene Miene nicht bei den zitternden Worten Wangs: »Wir müssen
unsere Brüder wieder holen. Wenn du ihn in das Dorf getragen hast, Wang,
mußt du ihn zurückbringen. Hätten wir Pferde und Bogen wie die Soldaten,
wäre nichts geschehen. Der Unterpräfekt von Cha-tuo soll ein kluger Mann
sein aus Sze-chuan. Aber er ist zu feingebildet für uns in Nan-ku. Sag
selbst, Chu, Ma-noh, wir müssen mit unserer Sprache herauskommen.«

»Der Unterpräfekt Liu von Cha-tuo,« fiel ein jüngerer großer neben ihm ein,
auffallend helle Gesichtsfarbe, große scharfe Augen, »der ist aus Sze-chuan
gekommen, aber der klägliche Sü weiß, woher Liu seine Täls genommen hat. Er
hat sie nicht aus den kanonischen Büchern herausgelesen, die Lieder des
Schi-king sollen keine Goldschnüre um den Hals tragen. Ich habe gehört von
einer großen Stadt Kwan-juan, als ich einmal über den Ta-pa-schan
herüberwanderte. Da kam in das Jamen des glanzvollen Unterpräfekten ein
Kurier vom Vizekönig von Sze-chuan; es sollten neue Steuern für den Krieg
mit dem und dem erhoben werden auf das und das. Der klägliche Sü weiß die
Antwort, die der glanzvolle Liu an den erhabenen Vizekönig zurücksandte,
weil er nämlich dem heimwandernden Kurier einen Strick um die Beine legte,
um ein paar Käsch beim Betreten einer so großen Stadt zu besitzen. Liu,
besorgt um die Stadt, wie ein echter Vater, lehnte die Steuer ab für
Kwan-juan: »Die Stadt ist zu arm, die schwarzen Blattern grassieren, die
Reispreise unerschwinglich für den kleinen Mann.« Aber als ich selber nach
zwei Tagen entzückt über solche Landesliebe in die glücklichen Mauern
eintrat, klebten schöne lange Zettel an jeder Wand mit dem Stempel des
glanzvollen Liu, in deutlicher würdevoller Sprache. Er gab dem mächtigen
Vizekönig zuerst das Wort: »Himmelssohn, Krieg mit dem und dem.« Und zum
Schluß Steuern auf das und das, für jeden eine Gabe, diese Gilde jene
Gilde. Die guten Leute wußten auf einmal, wie unbezahlbar bei ihnen in den
Mauern alles war, das und das und das. Sie waren sehr glücklich und priesen
Liu, der sich um die Hebung ihrer Stadt so wohl verdient machte, priesen
seine Eltern und Großeltern und zahlten drei Jahre die Likinabgaben für --
Liu, den weisen Unterpräfekten.«

Der hellfarbene Mann lachte wie berauscht. Ma sah ihn streng an; Wang
erkannte, daß Sü nicht zu halten war. Einer neben Wang stieß seinen
Nachbarn an, dessen Gesicht glühte von dem heißen Wasser, flüsterte, er
solle doch reden; das sei besser, als halblaut fluchen vor den Fenstern
anderer Leute.

Wang wurde von seinem Schmerz gefaßt und mit eisernen Händen unter ein
dickes dunkles Moor zum Ersticken gehalten. Er keuchte. Das war alles
falsch, was hier gesprochen wurde.

Während die zwei neben ihm verlegen gestikulierten und heftig auf sich
einsprachen, Sü prahlerisch eine neue Geschichte schmetterte, fing Wang an
zu klagen, Ma-noh neben sich auf den Boden zu ziehen. Er redete hilflos
schnappend, drehte den Kopf, seine Lippen bebten: »Ma, bleib sitzen hier.
Seid nicht aufgeregt, liebe Brüder. Sü, du bist gut, es ist richtig, was du
sagst. Ich will euch ja nicht langweilen, aber mir fiel etwas ein, wie Sü
erzählte von dem Unterpräfekten aus Kwan-juan in Sze-chuan, der uns die
vier Armen hat rauben lassen. Wir wollen sie ihm gewiß nicht lassen, liebe
Kinder. Habt mich nicht im Verdacht, liebe Kinder, als ob ich das tun
wollte. Mir fiel nur ein von Schan-tung etwas, als ich in der Stadt
Tsi-nan-fu war, in dem großen Tsi-nan-fu und bei einem Bonzen diente; er
hieß Toh-tsin. Ihr werdet ihn nicht kennen, es war ein guter Mann, der mich
sehr geschützt hat. Da war mein Freund ein Mann, den sie auch totgeschlagen
haben. Ich will euch alles erzählen von Su-koh, so hieß er. Ihr werdet mir
glauben, daß ich unsere armen Vier nicht dem Unterpräfekten lassen werde.
Nachdem mir das passiert ist in Tsi-nan-fu, und sie mir meinen Freund
Su-koh totgeschlagen haben. Er war ein Anhänger des westlichen Gottes
Allah, der seinen Anhängern vieles erfüllen soll. Aber in Kan-suh fingen
Unruhen an, als diese Leute plötzlich laut beten wollten, und Su-kohs Neffe
las zuerst aus einem alten Buch laut vor, und sie haben ihn in Stücke
geschlagen mit seiner Familie. Dann haben sie nach meinem Freund in
Tsi-nan-fu gesucht, er war ein so würdiger ernster Mann, er hätte die
höchsten Prüfungen bestanden. Es kam, wie es will. Sie haben ihn wieder
gefaßt, als ich ihn schon herausgeholt hatte mit seinen beiden Söhnen. Er
sagte, sie dürften ihm nichts anhaben, er wolle schon auswandern, erst
müsse er seine Schulden bezahlen und sein Haus verkaufen und sein Priester
müsse ihm einen günstigen Tag angeben. Aber es gab ein Trommeln. Eine
Eidechse, ein weißer Tiger, ein dünnbeiniger Tou-ssee gab ihm einen Stoß
von hinten mit dem Degenknauf, neben seinem Haus an einer kleinen
getünchten Mauer. Dann haben sie ihn eben, wie er sich umdrehte, mit fünf
Säbeln totgeschlagen. Ihr müßt nicht lachen, weil ich nichts dabei getan
habe. Sein Geist, der eben aus ihm geflogen war, muß in meine Leber
gefahren sein, denn ich war besessen die Tage darauf. Und dies ist mir in
Tsi-nan-fu an meinem eigenen Freunde passiert. Der Tou-ssee lebt nicht
mehr, ihr werdet es mir glauben. Aber es ist zum Weinen, um selbst über den
Nai-ho zu gehen: sie kommen immer wieder und nehmen etwas weg. Sie geben
keinen Frieden und keine Ruhe. Sie wollen mich und euch und uns alle
ausrotten und nicht leben lassen. Was wollen wir machen, liebe Kinder? Ich,
euer Freund Wang aus Hun-kang-tsun, bin schon wie weich gerittenes Fleisch,
wie stinkende Zeugmasse. Ich kann nur weinen und jammern.« Wang hatte die
Haltung eines kranken Kindes angenommen vor Ma-noh, und in einem Stöhnen,
Keuchen und Schluchzen arbeitete seine Brust.

Das Wasser stürzte ihm aus Auge und Nase, sein breites derbhäutiges Gesicht
war ganz klein und mädchenhaft. Er lehnte gegen Ma-noh in einer Art
Betäubung.

Er log nicht von Su-koh. Man hatte ihm in Su-koh einen Freund weggerissen.
Wang, der Gassenläufer und Ausrufer in Tsi-nan-fu, war in der Herberge dem
Mohammedaner begegnet. Das ernste gelassene Wesen fesselte ihn stark. Es
zog ihn intensiver an, als er sich bewußt wurde in dem unruhigen Treiben
der Stadt. Er hatte rasch das völlig unklare Gefühl, hier etwas
Verhängnisvolles zu treffen, etwas so Tiefes, daß er sich davon abwenden
müßte. Er kam wenig mit Su-koh und seinen Söhnen zusammen; ihre Gespräche
betrafen tägliche Dinge. Dann kam die Verhaftung Su-kohs, und sie deckte
ihm die Stärke seiner Beziehungen zu dem Mann mit Furchtbarkeit auf. Nicht
kam er zu einer Vorstellung, worum es sich handelte zwischen ihm und dem
Mohammedaner; er merkte nur die Hingerissenheit und unbedingte Teilnahme an
Sus Schicksal. Wang hatte das schwerlastende Empfinden, daß man ihn selbst,
etwas in ihm von einer schaurigen Verborgenheit, angriff. Und es war nicht
die Roheit des Eingriffs, die ihn erschreckte, sondern das Entsetzen vor
dem Verborgenen, das ihm vor Gesicht kam, das er nicht sehen wollte, nicht
jetzt schon, vielleicht später, viel viel später. Die fünf Säbel und die
kleine Mauer fuhren vor seinen Augen zusammen, immer erneut, jede Stunde
jede Minute; es war nicht zu ertragen, es mußte überdeckt, vergraben
werden. Und so kam die Rache für Su als etwas Erdachtes, Erzwungenes. Erst
als er sein Hirschgeweih in Händen hatte in der Kammer des Bonzen, als er
sich flüchtete zu den Erinnerungen an die Späße, die mit dem starken Geruch
des Geweihs in ihm aufstiegen, an die Jagden über Marktplätze, Jonglieren
über Dächer, da wußte er sicher, daß er den Tou-ssee töten würde, mit der
Maske glatt und fest alles zustülpen würde. Diese Bewegung machte ihn
damals glücklich und sicher: zustülpen. Er wollte sich noch einmal
wegtäuschen über die Zukunft, vor der er sich schämte und graute. Es war
schon nicht mehr nötig, daß er am Morgen aus dem Wegeschrank aufstand und
auf den Übungsplatz lief: er hatte in der Nacht schon zehn, fünfzigmal den
Hauptmann erstickt unter der Maske, es war schon alles geschehen. Aber er
lief hin; er mußte sich dabei sehen, es sich tief einprägen. Und so geschah
der Mord, als ein Opfer, das er sich brachte. So rächte Wang den
Mohammedaner, seinen Freund.

Die scharfe nüchterne Stimme des Mannes, den vorher Wangs Nachbar gedrängt
hatte, übertönte das Durcheinander von gezischelter Wut und Drohworten. Er
rief, es möchte derjenige, welcher am nächsten der Türe sitze, die Hütte
umgehen und nachsehen, ob einer draußen sei; er wolle dann sprechen. Als
die Türe aufgestoßen wurde und ein langer Bursche mit vorgestrecktem Kopf
aus der Hütte verschwand, war es für eine Minute still in der Hütte, so daß
man zum erstenmal das Geräusch des Flusses und der stürzenden Schneemassen
hörte. Der Bursche kam grinsend zurück: es hätte nur etwas Totes neben der
Hütte gesessen. Und er zog das Fell einer graubraunen Zibetkatze aus seinem
Kittel hervor. Ma-noh schüttelte sich vor Abscheu; er wollte den Burschen
davonjagen, bezwang sich und schnüffelte erregt, als er die andern
überernsten Gesichter sah.

Der Mann am Herd, dem unter dem Kinn ein kleiner grauer Bart wuchs, stand
auf, stellte sich an die Tür, die er mit seinem Rücken versperrte, sprach
leise scharf; fuchtelte sonderbar in der Luft, als ob er Fliegen fange. Er
zupfte seinen Bart. Sein altes Gesicht mit den großen Augensäcken war
lebendig wie eines schnurrenden Katers. Die schlaffe Haut tat dem Spiel
seines Ausdrucks keinen Eintrag; es kräuselte, blitzte, rollte über das
platte Gesicht mit dem weit vorgeschobenen Unterkiefer. Er klappte oft laut
die Zähne zusammen, man sah seine dünne rosa Zunge spielen, er bog den
dickgepolsterten Rücken, machte dies und dies Knie krumm. Von dem Mann
wußte man, daß er ohne Grund aus seiner Heimat aufgebrochen war in
geachteter Stellung. Er hauste seit Jahren in den Nan-ku-Bergen, tat in
Dörfern ehrbare Dienste. Leute aus seiner Heimatstadt, die von dem
neugierigen Gesindel nach ihm ausgefragt wurden, berichteten
kopfschüttelnd, daß er ohne mindeste Veranlassung alles habe stehen und
liegen lassen. Sie waren überzeugt, daß der Alte der Aufdeckung eines
Verbrechens zuvor gekommen sei, das aber dann nicht aufgedeckt wurde, eine
Geschichte, die sie viel belachten und zur Beleuchtung seines ebenso
furchtsamen wie geheimtuerischen Wesens benutzten.

Chu sprach leise: »Da niemand vor der Türe horcht, will euer Diener reden.
Wir müssen verschwiegen darüber sein, werte Herren, nicht meine ich aus
Angst und Besorgtheit, die gar nicht angebracht ist bei Leuten, welche
nichts zu besorgen haben, sondern aus Gründen. Euer Diener Chu hat viele
Gründe, leise zu sprechen und die Türe zu versperren, und wenn die werten
Herren ihn ruhig angehört haben und ihm zustimmen sollten, so werden sie
wie er leise sprechen. Ich habe gute Beziehungen zu Po-schan, meiner
Heimatsstadt in Schan-tung, wo meine Neffen und Geschwister meinen Besitz
verwalten. Was der geliebte Bruder Wang erlitten hat und was die Einwohner
Kwan-juans erlitten haben, ist uns vielmals begegnet da. Schöne Sachen sind
uns begegnet, schöne Sachen, aber das Kind, das vor euch steht, will nicht
vor alten Kennern schwatzen. Seht einmal: wie oft tritt in den südlichen
reichen Provinzen der Gelbe Fluß über die Ufer, und wie oft wirft sich das
Meer mit einer weißen Brust über das Land und erdrückt Häuser und Mann und
Frau und Kind? Wie oft läuft der Taifun die wimmelnde Küste herunter, tanzt
über das gelbe Meer, und alle Dschunken, Boote, großen Segler bekommen
plötzlich Beine und tanzen mit ihm auf eine barbarische grausige Art mit.
Und das kleine Kind will gar nicht sprechen von den bösen Dämonen, die den
Mißwachs auf den Äckern bringen, daß die Hungersnöte ausbrechen. Aber seht,
die Menschen wollen es den großen Gewalten nachtun; und wer ein großer Herr
ist, will ein größerer sein. Und da treiben Menschen, von Müttern geboren,
in den achtzehn Provinzen herum, die die Macht in Händen haben, und werfen
sich wie die finstere See über das flache, sorgsam bebaute Land hin und
quetschen mit ihrem breiten Leib den Reis und alle Früchte zusammen. Da
gibt es Herren, die drehen sich wie die dunkelfarbigen Sandstürme über
ganze Städte und bewohnte Dörfer und reißen im Drehen soviel Sand wie
Menschen mit, daß alle das Atmen vergessen. Und am schlimmsten wütet eine
Springflut, die vor langer Zeit über das kostbare Land, über die Blume der
Mitte, gefallen ist, ihr die Blätter und Blüten abreißt. Von Norden ist die
Springflut gekommen und brandet über unsere fetten Äcker und Städte. Sie
hat den Schlamm und das spitze Geröll auf unsere fetten Äcker und
friedreichen Städte geworfen, und sie nennt sich Tai-tsing, die reine
Dynastie. Und von ihr will ich etwas erzählen.«

Wang hatte sich längst hochgerichtet, sah den Alten mit aufgerissenen Augen
an, stellte sich ihm gegenüber. Die andern reckten die Hälse, rückten näher
an die Tür; die Pulse rollten voller durch ihre Schläfen; sie sahen den
Alten, sie waren seine Beute.

»Ich will euch nichts von ihr erzählen, denn die alten Herren wissen alles
selbst. Wenn der Tiger heult, dringt der Wind in die Täler. Die Mandschus,
die harten Tataren, die aus ihren nördlichen Bergen geradewegs von der
Fuchsjagd über unser schwaches Land gefallen sind, werden nicht bis zum
Eintritt der Ewigkeit über uns leben. Unser Volk ist arm und schwach, aber
wir sind viel und überleben die stärksten. Ihr wißt, was man macht, wenn
man am Meere wohnt und die sieben ruhigen Jahre sind vorbei, die Regenzeit
und der Nordweststurm ist vorbei, das Unglück ist geschehen, was man macht,
wenn man noch lebt? Bauen, Dämme bauen, Tag und Nacht, Pfähle rammen, den
Lehm häufen, Ruten, Stroh dazwischen, Weiden anpflanzen. Die klugen Männer
werden mich unbescheiden nennen, wenn ich sie in dem fremden Hause frage,
welche Dämme sie gebaut haben, weil sie sich doch vor der Springflut
fürchten und weil sie die Wasser aus dem Lande zurückdrängen wollen? Aber
andere haben langsam und leise den Lehm in den Händen zusammengetragen,
haben Stroh gestohlen von dem und dem, zu einer Zeit, wo keiner auf sie
achtete, haben heimlich feine Weidenschößlinge gesetzt und sie geschützt.
Es gehen schon unsichtbar Wälle und Dämme durch das Land, mit Schleusen und
Abzügen, die wir schließen, wenn der Augenblick gekommen ist: das Wasser
kann nicht zum Meer zurück, das Land ist nicht ersoffen; wir verdunsten
unter dem Feuer langsam das Wasser wie die Salzpfänner und behalten die
Körner zurück. Ich bin aus Po-schan; wir haben nicht soviele Fruchtbarkeit
wie am gelben Sandfluß; aber bei uns blüht zwischen den Kohlen seit langer
Zeit eine Blume, heimlich, aber wohl geschützt: die Weiße Wasserlilie.«

Keiner der Männer saß mehr an der Erde; »die Weiße Wasserlilie« stießen sie
erregt aus, um Chu sich stellend, klopften ihm freudig die Hände, blitzten
ihn aus ihren schwarzen Augen an. Sie waren entzückt über die Verwandlung
des trotteligen Katers. Sie lachten mannigfach, befriedigt leise, meckernd
und mit Herausforderung, wie Hornsignale klar und triumphierend; Ma-noh
glucksend, aber unsicher. Ihre Lippen waren naß, die Münder voll Speichel.
Unter ihren Backen glühten dünne Heizplatten. Der Magen schlingerte sanft
hin und her.

»Wir sind, alte Herren, zur Beratung hier. Jeder kann beitragen, soviel er
im Kopf hat. Wang hat geredet, was ihm mit einem ernsten Su-koh in
Tsi-nan-fu begegnete. Ich bin nicht weit her von Tsi-nan, aus Po-schan. Ich
habe nicht gewartet, bis mich ein flinker Freund rächen brauchte, und hätte
vielleicht nicht gleich einen so raschen gefunden. Steht hinter meiner
Straße auch schon die kleine getünchte Mauer, die für mich bestimmt war.
Hat die leblose Hand des Himmelssohns schon den roten Todeskreis hinter
meinen Namen gemalt. Das Urteil war schon fertig, das nötig gewesen ist,
meinen Mund zu versperren.«

Der Alte wollte weiter stammeln; Wang unterbrach ihn. Er nahm ihn stark bei
der Schulter, preßte ihn neben sich auf den Boden. Wang streichelte dem
Alten die Wangen und die knotigen Hände, bot ihm heißen Tee. Der schluckte
noch, schnappte, schlug mit dem Unterkiefer, sah aus geröteten Augen
geradezu, hatte gellende Ohren.

Die Vagabunden, von Grimm ausgehöhlt, schluchzten ihren Ballast von sich.
Die Arme wurden in einem Wirbel herumgerissen. Die heiße Wut wurde in die
Hälse gepreßt, über einen blechernen Resonanzboden geledert, und
schnarrend, tremolierend weg in die Luft geprustet. Sie kamen sich
bloßgelegt bis auf die Blutröhren, die Lungenbläschen, vor, ihr Rätsel war
von Chu gelöst: sie waren Ausgestoßene, Opfer; sie hatten einen Feind und
waren glückselig in ihrem schäumenden Haß.

In dieser Minute gab sich Ma-noh an Wang verloren. Ma erlebte die
mitleidigen, umdunkelten Blicke Wangs, fühlte, wie Wang innerlich diese
rasenden Tiere an sich zog, furchtlos begütigte und küßte; und jäh riß ein
Faden in ihm. Was kam nun? In ihm war keine Besinnung. Was lag an ihm! Was
lag an dem Prior, an den Buddhas, an den Freudenhimmeln! Versagen aller
Bremsen, Niederschmettern aller Widerstände. Verächtliches Lippenzucken
über die Vagabunden; ihre Not belanglos gegen das, was in Wang vorgeht.
Frösteln. Eine stählerne fremde Sicherheit, von innen heraus zielend.
Schwindelloses Fallenlassen in einen Schlund. Schwaches federleichtes
Hinlegen vor Wangs Fuß.

Wang bemühte sich stumm, traurig um den Alten. Er sah schon sie alle mit
Messern zwischen den Zähnen den Berg herunterlaufen. Sie entglitten ihm.

Er sprach erst, als sie unruhig seine veränderte abwesende Miene bemerkten.
Sein Gesicht war noch naß von den Tränen. Er redete müde, er murmelte vor
sich hin, zuckte oft zusammen: »Das nutzt alles nicht. Das nimmt kein Ende,
und wenn wir zehnmal hundertmal so viel wären als wir sind. Was sind wir?
Weniger als die Freunde früher des Chu, und Chu sitzt bei uns und muß sein
Herz aufreiben. Eine Schar von Bettlern aus den Nan-kubergen. Es wird Mord
auf Mord kommen.« Der listige Erzähler von Kwan-juan überschrie ihn. Seine
vorhin höhnende harte Stimme klang bewegt, weich und leicht zornig. Wang
und er rangen mit den Blicken. Sie seien keine faulen Bettler. Wer dies
erlebt hätte, was sie, sei kein bloßer Wegelagerer. Ja, sie seien arme
ausgestoßene Menschen, die kaum mehr widerstreben könnten, halbtote, denen
man rasch einen Schluck Wasser einflöße und die man dann mit Fußstößen
aufjage, rasch, damit sie nicht vor der Tür stürben. Ihre vier Brüder seien
verloren, bald käme die Reihe an sie. Wieder funkelten seine Augen.

Wang zog seine Beine an, ging vorsichtig zwischen ihnen durch, umfaßte
vorübergehend Ma-noh und blieb ganz im Hintergrund an der Wand stehen, wo
man ihn kaum sah; nur wenn die dunkle Glut auf dem Herd heller aufschlug,
erkannte man, daß er mit gesenktem Kopf stand, mit den Händen nach
rückwärts die Bildsäule eines Buddha berührte. Ma-noh neben ihm. Wang
fühlte sich schwimmen auf einem tobenden Meer. Es schien ihm, als ob er,
schwankend zu sterben oder zu leben, plötzlich die Arme niedergeschlagen
hätte auf ein Floß, sich mit dem Leib drüber wegzog und zu Ertrinkenden
sprach, mit den Beinen sein steinsicheres Floß an Land steuernd.

»Man hat nicht gut an uns getan: das ist das Schicksal. Man wird nicht gut
an uns tun: das ist das Schicksal. Ich habe es auf allen Wegen, auf den
Äckern, Straßen, Bergen, von den alten Leuten gehört, daß nur eins hilft
gegen das Schicksal: nicht widerstreben. Ein Frosch kann keinen Storch
verschlingen. Ich glaube, liebe Brüder, und will mich daran halten: daß der
allmächtige Weltenlauf starr, unbeugsam ist, und nicht von seiner Richtung
abweicht. Wenn ihr kämpfen wollt, so mögt ihr es tun. Ihr werdet nichts
ändern, ich werde euch nicht helfen können. Und ich will euch dann, liebe
Brüder, verlassen, denn ich scheide mich ab von denen, die im Fieber leben,
von denen, die nicht zur Besinnung kommen. Ein Alter hat von ihnen gesagt:
man kann sie töten, man kann sie am Leben lassen, ihr Schicksal wird von
außen bestimmt. Ich muß den Tod über mich ergehen lassen und das Leben über
mich ergehen lassen und beides unwichtig nehmen, nicht zögern, nicht
hasten. Und es wäre gut, wenn ihr wie ich tätet. Denn alles andere ist ja
aussichtslos. Ich will wunschlos, ohne Schwergewicht das Kleine und Große
tragen, mich abseits wenden, wo man nicht tötet. Ja, dies will ich euch von
der Kuan-yin und den anderen goldenen Fos sagen, die Ma-noh verehrt; sie
sind kluge und gereifte Götter, ich will sie verehren, weil sie dies gesagt
haben: man soll nichts Lebendiges töten. Ich will ein Ende machen mit dem
Morden und Rächen; ich komme damit nicht von der Stelle. Seid mir nicht
böse, wenn ich euch nicht zustimme. Ich will arm sein, um nichts zu
verlieren. Der Reichtum läuft uns auf der Straße nach; er wird uns nicht
einholen. Ich muß, mit euch, wenn ihr wollt, auf eine andere Spitze laufen,
die schöner ist als die ich sonst gesehen habe, auf den Gipfel der
Kaiserherrlichkeit. Nicht handeln; wie das weiße Wasser schwach und folgsam
sein; wie das Licht von jedem dünnen Blatt abgleiten. Aber was werdet ihr
mir darauf sagen, liebe Brüder?«

Sie schwiegen. Chu seufzte: »Du mußt uns führen, Wang. Tu, wie du willst.«

Wang schüttelte den Kopf: »Ich führe euch nicht. Wenn ihr meinen Willen
habt, will ich euch auch führen. Ihr müßt mir zustimmen, gleich und in
diesem Augenblick. Und ihr werdet nicht zögern, und die im Dorfe sind,
werden nicht zögern, denn im Grunde spricht ja keiner von euch anders. Ihr
schäumt nur noch so, wie ich selber früher, liebe Brüder. Geht mit mir. Wir
sind Ausgestoßene und wollen es eingestehen. Wenn wir so schwach sind, sind
wir doch stärker als alle anderen. Glaubt mir, es wird uns keiner
erschlagen; wir biegen jeden Stachel um. Und ich verlaß euch nicht. Wer uns
schlagen wird, wird seine Schwäche fühlen. Ich will euch und mich schützen;
ich werde nach Schan-tung wandern und den Schutz der Brüder von der Weißen
Lilie erbitten, wie Chu will. Aber ich beschütze keine Räuber und Mörder.
Wir wollen sein, was wir sind: schwache hilfsbedürftige Brüder eines armen
Volkes.«

Ma-noh hielt den großen Wang an den Schultern umschlungen; er flüsterte
heiß: »Und ich will mit dir wandern; ich will ein schwacher armer Bruder
sein unter deinem Schutz.« Die andern hatten still dagesessen, sich lange
angeblickt. Dann warfen sie sich, erst Chu, darauf die vier vor Wang mit
der Stirn an den Boden.

                   *       *       *       *       *

Die Hütte des Ma-noh leer.

Die Krähen und großen Raben hüpften über die Stiegen durch die offene Tür,
saßen auf dem Herd, der noch warm war, zerrten mit ihren Schnäbeln an den
dicken Binsenmatten. Zwei graue Zibetkatzen ließen sich an den Schwänzen
vom Dach herunter, warfen sich mit einem Schwung langgestreckt mitten in
die aufgehäuften Tuch- und Pelzlagen, wühlten unter ihnen herum; unter den
Reflexen des Abendlichts blitzte ihr glanzvolles fleckiges Fell. Ein dicker
Rabe schaukelte auf dem leeren Regal und sah nach unten; als die größere
der beiden Katzen an die Wand gedrückt kurzbeinig sich in die Höhe zog,
rauschte er unter ängstlichem Flügelschlagen und grellem Krächzen auf, an
die Decke, zur offenen Türe hinaus.

Im Dorfe gingen um dieselbe Abendstunde die Wegelagerer einer hinter dem
andern in das Haus des Bauern Leh, das zu den vier Häusern gehörte um die
Eiche am Eingang des Dorfes. Auf dem hinteren Hofe stand eine weite leere
Scheune, die von den Bauern zu Versammlungen benutzt wurde. Die offenen
breiten Tore an den Längsseiten ließen weite Lichtmassen herein.

Was auf dieser Versammlung besprochen wurde, in der Scheune, in welcher ein
schwerer Geruch von verfaultem Stroh, muffigen Menschenkleidern und
Ochsenmist herrschte, ist kurz berichtet. Wang war nicht anwesend; Ma-noh
hatte ihn den langen Weg, wo sie zusammen die goldenen Buddhas und die süß
lächelnde Kuan-yin aus Bergkristall heruntertrugen, nicht allein gelassen;
sie saßen in jener Gerätekammer zusammen und sprachen.

Ma-noh war von einer Kette losgebunden; überglücklich, ungeschickt und
possierlich. Seine alte Gereiztheit klang peinlich in seiner Stimme; er
hatte einen Kampf zu bestehen mit seinen Grimassen, seiner Redemanier,
plötzlichen Affekten, die bodenlos geworden waren, und die er mit sich
herumschleppte, wie ein krankes Tier seinen Winterpelz in das Frühjahr. Er
kannte mit dem feinsten Gefühl seine Aufgabe, Wang zu beobachten; sah mit
Angst die Gefahren, die Wang drohten; sah im Hintergrund die Furcht Wangs
vor der Anbetung der Vagabunden. Sie blieben bis in die Nacht in der
dunklen kalten Kammer. Ma-noh konnte mit Freude verfolgen, wie sich in Wang
das väterliche und herrschaftliche Gefühl für die Brüder, die ihm
vertrauten, fest und fester setzte.

In der Scheune berichteten die fünf Abgesandten, was sie mit Wang-lun
beraten hätten und was ihnen Wang gesagt hätte. Vermochten fast Wort für
Wort zu wiederholen. Sie standen in der Mitte des zugigen Raums; die Männer
drängten sich um sie. Was die Boten berichteten, wirkte ungeheuer.

Neuer Überfall, Bogenschüsse in ihre Masse hinein hätten nicht so stark
erregen können. Bei einigen, die sich abseits von den übrigen zu bewegen
pflegten, kamen hohnvolle Bemerkungen auf von Bonzenwirtschaft; sie hielten
sich geduckt, als sie sich umringt fanden von leidenschaftlichen Gebärden,
stillem Vorsichhinstarren, hastigem Ausfragen, gedankenvollem Hin- und
Herspazieren.

Die von Ma-nohs Hütte herunterkamen, strömten eine unablenkbare Sicherheit
aus; sie standen eingekeilt; aus dem Haufen klang immer ihr: »Wang hat
recht.« Diese Boten, vom alten Chu bis zu dem ungeschlachten langen
Burschen, welcher das blutige Fell in Ma-nohs Hütte getragen hatte, wurden
angestarrt, umgangen von ihren Bekannten; man faßte sie an die Hände, man
lechzte sie aus, staunte ihre Ruhe an. Wang, der ein paar Häuser entfernt
in der Kammer hockte, an die jetzt alle dachten, rief man nicht; man hätte
ihn ungern gesehen; er sollte dies alles nicht ansehen, dieses Herumgehen,
dieses Zweifeln, diese Ratlosigkeit; man fürchtete das Auslöschen aller
Lampen durch ihn.

Den meisten kam Wangs Plan wie ein Rausch, dessen man sich erwehrt. Es war
eine Generalabsolution, die ihnen erteilt wurde. Sie sollten, geschützt
einer durch den andern, durch die Provinz wandern, betteln, arbeiten, an
keinem Ort sich lange aufhalten, in keinem geschlossenen Hause wohnen,
keinen Menschen töten; sie sollten niemandem wehtun, keinen betrügen, nicht
rachsüchtig sein. Wer will, solle die mildesten Götter anbeten, die Götter
des Cakya-muni, die Ma-noh und Wang vom Berge heruntergetragen hätten. Man
würde Großes, so Großes erreichen durch dies alles, daß es gar nicht
ausgesprochen werden könne: die Augen der fünf Sprecher wurden klein vor
Überschwenglichkeit und Heimlichkeit. Besonders der ungeschlachte Bursche
hatte jetzt etwas Hölzernes, Ungelenkes in seinem Wesen, sprach abgerissen,
war stark gebunden in seiner Haltung, als wäre er plötzlich versunken,
fände sich in seiner Haut nicht zurecht. Die andern fragten, was man denn
erreichen werde, nicht neugierig oder skeptisch, sondern lüstern,
aufgewühlt; aber die Boten Wang-luns schnitten darauf nur ein befangenes
Lächeln; es schien sich um Geheimnisse zu handeln, in die auch sie noch
nicht eingeweiht waren oder die so stark waren, so stark. Die Frager
schwiegen selbst, im Gemüt beängstigt und zugleich erschauernd.

Sie hatten das Gefühl der Rückkehr und zugleich des Abkettens. Die sich
nicht beherrschen konnten und Opfer ihrer Begierden geworden waren, diese
verbrauchten Weltverächter und kalten Ironiker, wurden am ehesten gepackt
von dem Plane. Sie waren leer, trieben und rollten sich durch ein
wechselvolles erbärmliches Leben, gutmütig, an vielem interessiert. Diese
waren einer Bannung am ehesten zugänglich, denn sie verloren und gewannen
nichts, waren völlig widerstandslos, da sie nichts beschäftigte. So tapfer
sie sich in den furchtbarsten Lagen benahmen, so unerschrockene Beschützer,
Angreifer sie waren, so waren sie am wehrlosesten, wo sich eine
ernsterstarrte Miene zeigte und ein Gefühl strömte. Es wickelte sie ein;
sie liefen ihm nach, sie bettelten hinter ihm her; sie tobten in Wut und
glaubten sich um ihr Eigentum betrogen und verloren, wenn es vor ihnen
auswich. Sie waren die verlässigste Avantgarde jeder, jeder Lehre. Sie
gingen in der Scheune herum, witzelten unverändert. Sie konnten kaum die
Worte der Boten lange hören, sie waren so innig gefangen, gequält von jedem
Zuviel; sie schämten sich ihrer Veränderung.

Die Glücklichen, die aus dem Drangsal des Bürgerlebens geflohen waren,
hörten erregt, daß man zurückkehren wolle. Sie sollten verzeihen, sie
wurden gedrängt, sich zu erinnern. Sie waren es, die tief beschäftigt
herumgingen, oft zuhörten, oft sich umsahen und die Stirnen falteten. Sie
empfanden ganz leise einen Puff: man drängte sie. Der wüste Schwall ihrer
Erlebnisse und Verwicklungen stand vor ihren Augen; sie hatten einen Ekel
davor wie vor einer Schlangengrube. Sie sollten verzeihen, niemandem
wehtun: das sollte die ganze Wirrnis lichten. Sie hielten sich an die
Boten, sie hingen an ihren Lippen, klagten innerlich. In ihnen tauchte das
Rachegefühl auf, heilend, versöhnte sie mit sich und den andern; sie würden
durch die alten Gassen gehen, Brüder eines geheimen Bundes, furchterregend,
ohne wehezutun. Es zog sie in dem Augenblick, wo sie daran dachten, an die
Orte hin, sie sahen sich wandern; die Rolle des Anklägers verlockte sie.
Sie sollten zurückkehren; das gab ihnen den Schwung der Erwartung; sie
hielten sich an die Boten, hingen an ihren Lippen, sehnten sich.

In den Ecken standen mürrische Gesichter; junge und ältere, die miteinander
nicht sprachen, an den Knöcheln kauten, Stückchen Stroh vom Boden aufhoben
und zwischen die Lippen zogen. Solche finsteren Gruppen bildeten die
verjagten Gesellen, welche sich elend unter den Vagabunden fühlten, denen
sie sich notgedrungen anschlossen und die bösartig unter ihnen geworden
waren. Ihnen konnte man eine offene Quelle zeigen, und sie wagten nicht
durstig sich hinzustürzen, sooft waren sie schon zerschlagen worden; sie
sahen in einer gewohnheitsmäßigen Verbissenheit ruhig zu, wie die andern
tranken, sie, unter den Ausgestoßenen Ausgestoßene. Sie wußten nicht ob sie
mitgalten, ob sie Brüder von Brüdern sein dürften. Erst als sich die
lächelnden verschämten Witzbolde unter sie mischten, wo sie sich am
sichersten fühlten, lösten sich ihre Mienen. Es gab unter allen, die in der
Scheune Wangs Botschaft, diese alten herzlichen Dinge, hörten, keinen,
dessen Herz sich mit ihrem an Verlassenheit und Weiche hätte vergleichen
lassen. Wo man an ihre Herzen mit einer Nagelspitze ritzte, sprang alles
Blut hervor. Sie waren unendlich verschüchtert. Sie schmolzen unter Wangs
Worten; es gab unter ihnen einige ältere, die sich umarmten und mit ihrem
Schluchzen die tönende Scheune erfüllten. Mit einer jungfräulichen Zagheit
ließen sie zu, daß die andern sich ihnen näherten, und hatten noch später
eine erinnerungsschwere Scheu vor ihren neuen Brüdern. Einige von ihnen,
außer sich über das, was ihnen zuteil wurde, knieten vor den Boten nieder,
nachdem sie sich durch den Knäuel geschoben hatten, bogen die Leiber zur
Erde, sprachen unverständlich. Die Verzückung befiel sie, wo sie Brüder,
schwache hilfsbedürftige Brüder schlimmer Vagabunden sein durften.

Die Wartenden, die Verführten, die Heimatlosen und Krüppel aßen Worte und
Mienen wie ein süßes Gebäck. Sie fühlten sich wohlgeleitet; sie fühlten,
ihnen geschähe Recht und man führe ihre Sache würdig vor aller Welt. Sie
waren es, die schon lange am innigsten zu Wang standen und am meisten von
ihm erwarteten; er war, wie sie glaubten, ihr Bruder mehr wie der der
andern. Sie träumten mit offenen Augen und frohlockten innerlich.

Kein einziger von den vier, fünf Raubtiermenschen, die mit ihnen auf den
Bergen gehaust hatten, befand sich mehr im Dorfe. Sie waren einzeln, sobald
es wärmer geworden war, nach oben geschlichen, trabten auf den verschneiten
Wegen, gruben ihre Höhlen und Hütten frei und warteten, warteten.

                   *       *       *       *       *

Als die fünf Boten spät in der Nacht in Wang-luns Haus traten, und ihm in
der warmen Wohnstube, derselben, in welcher er mit dem Lederbeutel
gescherzt hatte, zu erzählen anfingen von der Versammlung und dem Verlauf,
sank Wang zitternd gegen den Tisch, hörte ohne zu fragen einen nach dem
andern an.

Er sagte ihnen dann, was er vorhätte und was sie in den nächsten Wochen tun
sollten. Er würde allein nach Schan-tung wandern; es würde Wochen,
vielleicht einen Monat dauern, bis er sie wiedersehe. Prägte ihnen ein,
sich zu zerstreuen, nur an einem oder dem andern Tage zusammenzukommen,
sich nirgends lange aufzuhalten, aber immer voneinander zu wissen. Es
stünde ihnen frei, andere, die ihresgleichen wären und sich zu ihnen
hingezogen fühlten, aufzunehmen in ihre Gemeinschaft; aber darauf sollten
sie keinen Wert legen, neue Brüder zu gewinnen. Sollten keine Früchte von
den Bäumen reißen; sollten warten, bis sie selber fallen. Nur um sich
sollten sie sich kümmern, dies könnte er ihnen nicht tief genug einprägen.
Und dann sprachen sie den Rest der Nacht, ehe sie schlafen gingen, noch
Geheimes und Himmlisches.

Es war keine Besprechung mehr. Nach den Erregungen des letzten Tages saßen
sie in dem halbdunklen niedrigen Zimmer um den leeren Holztisch herum, die
Arme aufgestemmt, mit dem Kopf ermüdet nach vorn übergesunken, starrten vor
sich hin, atmeten. Sie schwiegen, und dann redete einer für sich, spann
seine dunklen Gedanken aus, schwieg. Sie hatten manches gehört auf ihren
Fahrten; es hielt sie wach, kundschaften zu gehen auf dem neuen Gebiet.

Einer erzählte von den großen Meistern Tung-gin und Ta-pe, welche auf
Wolkenwagen stiegen, auf dem Regenbogen gingen und dann sich verirrten im
Schoß des Nebels. Sie erreichten den Scheitel des Weltalls, ohne eine
Fußspur zu hinterlassen im Schlamm und Schnee, sie warfen keine Schatten.
Sie schritten über Berge und Felsen, bis sie zum Kun-lungebirge kamen, an
die Pforte des Himmels; sie drangen in seine Umzäunung ein, sahen den
Himmel über sich, einen Baldachin, die Erde unten, eine Sänfte.

Geheimnisvoll fing Wang selber an, leise zu sprechen von den Spitzen der
Welt und den drei Juwelen. Er verstummte bald, wandte den Kopf wie beirrt
suchend zur Seite zu Ma-noh. Ma-noh im Klostersingsang: »Cakya beschützt
alle; der Maitreya kommt nach ihm, den erwarten die Frommen, des kostbaren
Mondes weißen, majestätisch stillen König.« Er summte entrückt von den
Verwandlungen.

Jeder saß mit sich beschäftigt.

Als es hell am Morgen geworden war, nahm Wang Abschied nur von Ma-noh. Er
lehnte ohne Begründung ab, sich begleiten zu lassen. Vor Ma tat Wang in der
engen leeren Kammer das schweigende Gelübde; ließ sich die Scheitelhaare
sengen, hielt seine Finger über eine Flamme, warf sein letztes Geld auf den
Boden.

                   *       *       *       *       *

An demselben Tage, an dem die Bettler das Dorf verließen und sich nordwärts
zerstreuten, trat Wang-lun seine Reise nach Schan-tung zu den Brüdern von
der Weißen Wasserlilie an. Er wanderte ununterbrochen, oft sechzig bis
siebenzig Li den Tag. Ein furchtbarer Schneesturm hielt ihn zwei Tage im
Gebirge fest, ehe er in das Hügelland und die Ebene eintreten konnte.

Auf seiner beschwerlichen Wanderung brach dann der Frühling an. Die Stadt
Yang-chou-fu sah den Bettler und beachtete ihn nicht; sie sah nicht lange
später Anhänger dieses Mannes Entsetzliches in ihren Mauern leiden, fiel
halb in Schutt. Er setzte über große Flüsse, über den Kaiserkanal und
übernachtete einmal in Lint-sing, der Stadt, in der er sterben sollte.
Während es Frühling wurde, näherte er sich den reichen, ihm wohlbekannten
Gefilden am Westfuß des Tai-ngan. Man schälte noch auf den Winteräckern die
Binsen ab, zog die langen Markstangen heraus; er dachte an Tsi-nan-fu, das
nicht mehr fern war, und an Su-koh. Als der erste Regen fiel, begannen sie
die Aussaat auf den Feldern, warfen Raps, Bohnen, Weizen. Das Brüllen der
starken Pflugtiere, die nahen und weiten Lieder der Saatwerfer begleiteten
Wang. Er zog weiter, südlich und östlich, umging das brausende Tsi-nan.

Seine Nahrung gewann er durch Betteln, Trägerdienste; auf dem Felde half
er. In den größeren Dörfern und Städten trat er als Geschichtenerzähler
auf, trug das Weckholz, den Würfel in der Hand, das ihm ein großer Lehrer
namens Ma-noh verliehen habe; er hörte die Leute aus, warf seine Saat mit
großer Kraft.

Er hatte Tschi-li verlassen, war wieder in Schan-tung, dem Lande, das den
großen weisen Kung-fu-tse geboren hatte, den Wiederhersteller der alten
Ordnung, die stählerne Mittelsäule des Staatsgebäudes; dem Lande, das auch
durch Jahrhunderte die Geheimbünde hervorbrachte, welche Kaiser stürzten
und furchtlos das notwendige Gleichmaß wiederherstellten, dessen dies
Gebäude bedurfte. Das Land hatte einen ungeheuren Toten geboren, bot nun
unablässig Lebendige auf, um zu bewirken, daß sein Fleisch, seine
riesenhaften Knochen die Erde düngten, nicht breit auf dem kostbaren Boden
laste. Die Geheimbünde waren die Spitzhacke, die Schaufel, die Barke der
Provinz. Sie überlebten Regierungen, Dynastien, Kriege und Revolutionen.
Sie schmiegten sich elastisch und windend allen Veränderungen an, blieben
völlig in jeder Drehung unwandelbar und dieselben. Die Bünde waren das Land
selbst, das sich mit blinden Augen lang hinstreckte; die Leute schacherten
oben, feierten ihre Feste, vermehrten sich, besänftigten ihre Ahnen,
Heerführer kamen, Soldatenvölker, kaiserliche Prinzen, Feuersbrünste,
Schlachten, Sieg, Niederlage; nach einiger Zeit, einer unbestimmten Zahl
von Monaten zitterte das Land in kleinen Schwingungen, Vulkanaugen warfen
flammende, nicht zärtliche Blicke, Ebenen senkten sich; ein breitmäuliges
Donnern; und das Land, beunruhigt, hatte sich auf die andere Seite zum
Schlafen gelegt; es war alles wieder gut geworden. Es waren Jahrhunderte
her, als die Mingherrschaft, die vom Volk getragene, echt chinesische,
schwächer wurde, sich drehte, langsam verzuckte. In die schwere Zerrüttung
des Reiches, bereitet durch Verbrüderung von Ohnmacht, Verbrecherwesen,
Eunuchentum, griffen die Bünde ein; sie nahmen eisig den Hohn der Höflinge
hin, die einen Knaben auf den Thron setzten. Dann erklärten sie ihm
öffentlich den Krieg, bemächtigten sich des Landes; erschreckend weiß
schimmerte in die Provinzen hinein die Wasserlilie Schan-tungs. Die Bünde
hatten die glückliche Zeit der Mingkaiser nicht vergessen in den
Jahrhunderten. Sagen schlangen sich um ihre Namen. Die Mandschus drückten
nicht schwer; sie ließen das Volk gehen, wenn es sich nur beherrschen ließ.
So große Kaiser die Mandschus dem Reiche gaben, die Unvergängliches schufen
und unterstützten, so blieben sie den starren Genossenschaften Fremde, die
nicht Recht haben durften. So milde, liebevoll und selbstvergessend die
starken Fremden sich um das Volk bemühten, sie vermochten kein aufrichtiges
Lächeln auf den Lippen der Frau zu erwecken, die sie auf Tod und Leben in
den Armen hielten. Die Mandschu mußten erkennen, daß ihnen diese Herzen
verschlossen waren. Es kam zu keiner Rachsucht. Sie hielten das Volk unter
dem Schwert. Es fing an Gewalt mit Gewalt zu ringen. China, die Witwe, die
sich in einer aussichtslosen Sehnsucht verzehrte, sammelte Freunde gegen
den ernsten Gemahl. Zur Kühle trat Zorn, zur Enttäuschung trat Zorn.

Wang umging die grünen Weinberge am Westfluß des Tai-ngan. Als er die
ersten Hügel des Gebirges hinter sich hatte, rastete er bei seinen alten
Freunden aus der Tsi-nanzeit einige Tage. Einen verschmitzten jungen
Töpfer, den er bei ihnen vorfand, schickte er nach Tsi-nan herunter mit
einem Gruß an den Bonzen Toh, den Verwalter des Tempels des Musikfürsten
Hang-tsiang-tse. Die Rückkehr des Boten konnte Wang dann nicht mehr
erwarten. Der Töpfer fand den Bonzen nicht im Tempel; er hatte nach Wangs
Mord an dem Tou-ssee seine Kammer verlassen und hielt sich in der Stadt
verborgen, erst in den grünen Häusern, wo ihn eine Wang befreundete Dirne
aufnahm, dann in einem Dörfchen jenseits des Flusses, wo er seine Fähigkeit
des Ziselierens an Zinngefäßen auszuüben begann. Hier traf ihn der gewandte
Töpfersmann. Der Schreck und die Freude bei der Nachricht ließ Toh den
Stahlgriffel aus der Hand fallen. Er forschte bei versperrter Tür den
jungen Menschen aus, der von Wangs ernstem, ja ehrfurchtgebietenden
Auftreten berichtete und dessen Mission in Schan-tung ahnte. Beide, Toh und
der Töpfer, gingen frühmorgens aus dem Dörfchen heraus. Als sie im Gebirge
eintrafen, waren vier Tage seit der Abreise des Töpfers verstrichen und
Wang einen Tag weitermarschiert, ohne zu sagen wohin. Erst viel später, in
den Zeiten der letzten Not, sah Wang noch einmal seinen Lehrer und lernte
noch einmal seine Anhänglichkeit kennen.

Die Birken und das lichte Haselgehölz in der schönen Berglandschaft, die
der Mann aus den Nan-kubergen durchwanderte, schlugen aus. Kraniche
segelten durch die Luft. Das Stoßen und Verhalten des Windes nahm ab; die
Felsen wurden höher und kahler. Das Kohlengebiet von Po-schan kam näher. Ab
und zu begegneten ihm lange endlose Züge von Maultieren, die kandierte
Datteln, die süßen roten Früchte, in die Ebene hinunter schleppten.

Dann verbreiterten sich die Wege; auch die Berge traten auseinander. Dunkle
weite Felder dehnten sich mit unregelmäßigen Löchern, Püngen, in denen die
abgebaute Kohle zu Tag lag. Die Luft wurde, selbst bei Sonnenlicht, dichter
und dunkler. An vielen Orten stiegen Rauchsäulen in die Luft, wie Balken,
die das Gebiet abgrenzten und eingitterten. Die Straße war hart; runde
Granitblöcke lagen herum. Der Boden ging wellig. Auf der nackten steinernen
Ebene stand die große Stadt Po-schan.

Wang hatte von Chu die Adresse eines reichen Grubenbesitzers erhalten. Er
traf den Mann in seinem ungeheuren festen Hause nicht an; er bereiste zu
Handelszwecken, hieß es, die Nachbarschaft. Wang mußte seine Rückkehr
abwarten. Er ging hinaus und vermietete sich als Arbeiter bei einer Grube.
Sie standen zu fünf und zehn an den tiefen Schachten, mit geschwärzten
Oberkörpern, zogen an mächtigen Winden. Im Takt, Hand hinter Hand an dem
schlüpfrigen Lederriemen, zogen sie; ihr Gesang fiel gleichmäßig von Höhe
zu Tiefe und stieg an, wie der Eimer mit Wasser und Kohle. Sie wohnten in
der Ebene dicht zusammen in Lehmhütten.

Abend um Abend ging Wang herüber in die Stadt. Zwischen den Kohlenhaufen
mußte er sich durchwinden, die wie spitze Hüte aussahen. Dann kamen leere
abgezäunte Flächen, über denen ein erstickender Säuregeruch stand; hier
kristallisierte in großen Gefäßen das Schwefeleisen an der Sonne, das sie
aus einer Lauge von Schwefelkies gewannen. Am sechsten Tage traf der
Besitzer ein, er hatte schon von dem fremden Arbeiter gehört, der Tag für
Tag nach ihm fragte.

Chen-yao-fen war groß und breitschultrig, mit starkknochiger Stirn; hatte
ein energisches Wesen, sprach in den kurzen dringlichen Sätzen der
vielbeschäftigten; seine Fragen griffen unmittelbar an. Wang hatte solchem
Manne noch nicht gegenüber gestanden. Er schwankte im Beginn des
Gespräches; seine Sicherheit verließ ihn einen Augenblick; einige dunkle
Erinnerungen aus seiner Betrügerzeit in Tsi-nan überhuschten ihn; er kam
sich ertappt vor. Erst als er den Namen Chus ausgesprochen hatte, der
Kaufmann verblüfft an ihn herantrat, und er, Wang mit Chen zu verhandeln
anfing, schwieg alles unter kalter aufmerksamer Ruhe. Chen stand geraume
Zeit, die linke ringgeschmückte Hand am Mund, still da, von dem Schicksal
Chus erschüttert. Dann versperrte er die Türe, hieß den Gast, dessen
Wünsche er nicht begriff, sich an einem kleinen Tisch vor dem Hausaltar
setzen, bot ihm seine eigene Teetasse an. Wang, dessen Gesicht und Ohren
Reste von Kohlenstaub bedeckten, trug sein Anliegen vor, knapp und einfach;
welche Not sie in den Nan-kubergen gelitten hätten diesen Winter, wie sie
in das kleine Dorf eingedrungen wären, wie die Bettler sich verbrüdert
hätten und ihm folgten, was der Unterpräfekt von Cha-tuo gegen sie
unternommen hätte. Sie würden untergehen, bäten um den Schutz der
Vaterlandsfreunde, denn sie seien schuldlos, wie Chu.

Der Kaufmann, der die aufgerissenen Augen nicht von dem Mann ließ, welcher
mit hängenden Armen und geschwollenen Fäusten dasaß und seine Sache
hersagte, wie wenn es sich um eine Schale Reis handle, fragte nur, welcher
Art der Schutz sei, den man ihnen gewähren sollte. Er erhielt zur Antwort:
Druck auf die Behörden; im Notfall unmittelbare Aufnahme der Verfolgten und
Eintreten für sie. Dann bat er schon mit leisen Worten Wang zu gehen, um
keinen Verdacht zu erregen; morgen würden sie bei den Laugetöpfen, an denen
er ein neues Verfahren ausprobe, das er auf seiner Reise kennen gelernt
habe, sich in Ruhe weiter sprechen können. Wang verneigte sich und schwang
die Hände, nachdem er auf das stündlich Dringende seiner Sendung
hingewiesen hatte.

Der Kaufmann keuchte, als er allein war. Er verstand dies alles nicht,
verstand nicht, warum Chu, der Schweigsamste von allen, der Hab und Gut
liegen gelassen hatte, ohne ein Wort zu verlieren, sich diesen Vagabunden
offenbart hätte, sie alle verraten hätte. Er warf sich in der Nacht. Als er
sich morgens ankleidete, steckte er ein kurzes breites Messer in seinen
Tabaksbeutel am Gürtel; wenn es sein müßte, wollte er den Sendboten bei den
Laugetöpfen beseitigen. Chen war nichts weniger als totschlaglaunig; diese
Sache erforderte ein augenblickliches Eingreifen. Um keinen weiter zu
belasten, suchte er seine Freunde und Gildengenossen nicht auf. Er zündete
Räucherkerzen an vor der Ahnentafel in seinem Wohnzimmer, gelobte hundert
Täls zum Bau einer Pagode beizutragen, wenn diese Angelegenheit gut
abliefe, rief seine Träger.

Seine Sänfte trug ihn bis an die Abzäunung der Felder. Dann schleppten die
Träger zu zweien große eigentümlich geformte Tonkrüge mit einer
bleischweren Masse gefüllt hinter ihm her, setzten sie auf seinen Ruf neben
eine der flachen Laugeschalen ab, die groß wie ein Zimmer war. Eine
schwarzbraune Flüssigkeit bedeckte ihren Boden, atmete einen
zusammenziehenden ätzenden Dunst aus. Die Träger schickte Chen weg mit
einer Handbewegung.

Wang kam, hockte auf Chens Wink neben ihn vor der Schale nieder. Beide
wanden sich dünne Seidenschals, die neben Chen lagen, vor Mund und Nase.

Wieviel sie auf den Nan-kubergen seien?

Hundert, als er wegging, jetzt vielleicht vierhundert, vielleicht tausend.

Warum so ungewiß, vielleicht vierhundert, vielleicht tausend? Wodurch
könnten sie sich so rasch vermehren?

Sie seien einer Ansicht. Sie litten alle viel. Sie beschützten sich
gegenseitig.

Noch einmal, wer er sei, woher er stamme, welche Rolle er bei ihnen spiele?

Er heiße Wang-lun, sei der Sohn eines Fischers, aus Hun-kang-tsun im
Distrikt Hai-ling, Schan-tung, gebürtig. Er führe sie; er hätte ihnen
geraten, nichts zu tun gegen Bedrückungen, sondern als Ausgestoßene zu
leben ohne Widerstand gegen den Weltlauf.

Was er damit bezwecke, der Führung, dem Raterteilen, was er mit alledem
bezwecke? Warum sie sich denn nicht einfach in die acht Himmelsrichtungen
zerstreuten, so lebten, ganz so lebten, wie er meine und wie es ja wohl
entsprechend sei; statt sich zusammenzutun, die Aufmerksamkeit der
Ortsbehörden auf sich zu lenken, Schutz fremder Genossenschaften zu
verlangen und all das.

Wer sich zerstreue, verkäme, meinte Wang. Auch er hielte es für gut, daß
die Brüder zusammenhielten; sie wären sonst in Kürze wieder Mörder,
Seeräuber, Frauenschänder, Einbrecher. Es sei nicht genug, Wegelagerer zu
sein, sondern man müsse wissen, auf welchem Wege man zu lagern habe.

Jetzt erst befiel den entschlossen dasitzenden Kaufmann ein Erstaunen. Er
betrachtete den Mann neben sich, der ruhig Antwort erteilte und immer in
die schwarzbraune saure Galerte blickte.

»Du hast deine Lauge vier Tage lang stehen, Chen. Es genügt nicht, daß du
den Kies, den wir aus der Grube holen, wäschst. Du hältst die Lauge
tagelang unter dem Sonnenlicht. Ein Kristallschwefel nach dem andern
schießt auf, je mehr das Wasser abdunstet. Gieß deine Lauge in einen Bach:
es wächst kein Kristall, Chen.«

An den nächsten Tagen stundenlange Unterhaltungen der beiden. In der
letzten spielte Wang seinen Trumpf aus; daß er wohl den Schutz der Weißen
Wasserlilie für seine Brüderschaft erbitte, aber nicht mit leeren Händen
komme. Denn er bringe dem Bund ein ständig wachsendes Heer, auf das Verlaß
sei. Wenn man die Saiten des Juch-kin zu stark spanne, hören sie auf zu
klagen und zu tönen, springen wie ein Schwärmer um Neujahr dem Spieler an
die Wange, pfeifen eine blutige Strieme hin.

Schwer entschloß sich Chen am Spätabend des vierten Tages Freunde zu sich
einzuladen zu einer Mahlzeit auf den folgenden Tag. Und nachdem sie,
sechzehn an der Zahl, drei Stunden diniert hatten, viele seltene Gemüse,
Krebsschwänze, Pasteten, Hahnenköpfe, Hammelklößchen, gedünstete Nudeln,
nachdem das zarte Gebäck, die Weine, Liköre und der Essig von den kleinen
Tischen geräumt waren, mußte Chen seinen rauchenden Freunden von dem
seltsamen Bettler aus den Nan-kubergen in Tschi-li erzählen.

Er erzählte erst scherzweise, anekdotenhaft von ihm, dann als die Gäste auf
andere Dinge übergehen wollten, hielt er fest, und plötzlich war der Ton
ihres Gespräches, nach ganz unmerklichen Wendungen, geändert, und das
Gurgeln der Wasserpfeifen ließ nach. Es trat alles ein, was Chen gefürchtet
hatte. Es gab Lachen, Entrüstung, Befremdung über seine Rolle; bei manchen,
den klügeren, Angst und Versteinerung.

Sie saßen um die kleinen, dicht aneinander geschobenen Tische in dem
prunkhaft erfüllten Wohnzimmer. Bunte Teppiche und Bambusmatten wärmten den
Fußboden. Dunkel gebeizte Holzsäulen, zwei Reihen, stützten eine fein
gefelderte Decke, von der eisengetriebene Lampen und Laternen
herunterhingen an den Füßen von Greifen, aus den Mäulern von Drachen.
Fleckige Orchideen lagen an jedem Platz. Ein ausgezogener prachtvoller
Wandschirm verkleidete den Achtgenientisch an der Hinterwand des Hauses vor
dem Hausaltar. Ein ungeheurer meterhoher Prunkspiegel war nach der Wand zu
gedreht und zeigte auf seinem glanzigen schwarzen Holz Reiher, die über
Wellen hinziehen, auf Felsen am Ufer sitzen, ganz klein am Firmament gegen
Sonnenstrahlen auffliegen.

Chen-yao-fen saß in einfachem schwarzen Seidengewand unter seinen bunt
geschmückten Gästen. Sie naschten Süßigkeiten, schluckten aus winzigen
Teetassen, brachen Nüsse. Sie genossen die Weichheit und Leichtigkeit der
Stunde, warteten auf die Schauspielerinnen, die Chen aus der Stadt zu
mieten pflegte, und waren gar nicht geneigt, an Bettler aus den fernen
Nan-kubergen zu denken. Als dann der Name Chus fiel, und daß Chu in den
Nan-kubergen anscheinend von ihnen gesprochen hatte, wurde die Erregung,
das Aufspringen, das Drängen um Chen allgemein. Das Klappern der feinen
Bonbonschälchen hörte auf. Sie scharten sich an dem Wandschirm vor Chens
Hausaltar zusammen.

Pelien-kao, die Weiße Wasserlilie, tagte.

Die Flüche auf Chu wurden laut. Man wollte Näheres, Näheres, Näheres
wissen. Was denn, wie denn, warum denn? Die Erklärungen Chens wiederholten
sich; man sollte die Anhänger der Wasserlilie in Tschi-li orientieren, auf
die Entwicklung der Dinge aufmerksam machen, sie veranlassen, ihren Einfluß
geltend zu machen, daß nichts gegen den neuen Bettlerbund geschehe, die
Bettler im schlimmsten Fall selbst aufnehmen und verbergen.

Durch den heftigen Widerspruch der andern wurde Chen, der nicht ganz sicher
sprach, gereizt, sprach mit großer Kraft und nicht ohne Spitzen. Man
trennte sich auf das Verlangen vieler, die sehr bestürzt waren, kam
überein, sich abends noch einmal zu treffen.

Es war Furcht, was die meisten dieser sechzehn Männer beherrschte. Ihre
Sache sollte plötzlich ein Gesicht bekommen. Plötzlich: das war das
Wesentliche; ohne Not, ohne Grund. Die Regierung Khien-lungs dauerte lange.
Der Kaiser hatte eine harte, nicht ungerechte Hand. Es war gefährlich,
aussichtslos gegen ihn Aufruhr zu erheben. Es war nicht die Zeit.

Abends flackerten die bunten eisengetriebenen Laternen und Lampen von der
getäfelten Decke. Die Vorwürfe, die einzelne gegen Chen vorbrachten, waren
heftiger als mittags. Daß er sich eingelassen hätte mit diesem Sendling,
statt einem raschen Mann fünf Schnüre Käsch zu geben, dazu ein kleines
scharfes Messer. Einer jammerte, weinte, gab sich und seine Familie
verloren.

In der Finsternis schlug mit einem verabredeten Zeichen Wang an die
Hintertür des Hauses. Neben dem Altar kam der große lumpenbekleidete Mensch
hinter dem Wandschirm hervor, stand unter den erregten Kaufleuten. Er sagte
fast wörtlich, was er Chen erzählt hatte. Als sie in ihn drangen,
berichtete er, wie sie vom Berg laufen mußten, die armen und kranken
Männer, die mit ihm auf dem kahlen Nan-kugebirge wohnten. Er sprach, als ob
es ihn nicht beträfe. Einigen von den stolzen Kaufleuten kam der Gedanke:
man füttert diesen verhungerten Burschen aus und schickt ihn mit ein paar
Täls nach Hause. Sie beruhigten sich bei seinem Anblick, den sie genossen.
Er sah wahrhaft nicht ängstlich aus, sie lächelten leise und nickten sich
mit den Köpfen zu. Es mag sein, daß es ihm und den andern schlecht ging;
die armen Teufel sollten nicht verkommen, keineswegs. Aber wozu dieser
Lärm? Wegen ein paar Hungerleider bemüht man nicht Kaiser und Zensoren;
wenn der Hwang-ho übertritt, kommen in einer Stunde zwanzigtausend Menschen
um, und das Reich zittert nicht, und der Himmelssohn fährt sich nur einmal
fragend über die Stirn. Es war ein Irrtum Chus, die Weiße Wasserlilie für
eine Wohltätigkeitsanstalt zu halten. Wer wußte, was Hunger und entartete
Gesellschaft aus ihm gemacht haben.

Die Erregung flaute ab, das Kopfschütteln wurde allgemein. Sie unterhielten
sich miteinander, während Wang diesem und jenem Auskunft gab. Es war
lächerlich dieses Argument, daß sich ihnen Scharen kräftiger Menschen
anschlössen, wo sie doch nicht wußten, was mit ihnen tun. Man ließ sich
nicht von hundert, von tausend Menschen hinreißen zu Dingen, die man nicht
billigte.

Wang schwitzte, wischte sich nach Bauernart mit dem Handrücken Nase und
Stirn, verbreitete unter die exquisiten Parfüme den beleidigenden Geruch
der Landstraße. Er begriff die Lage völlig. In Chen, der gewohnt war zu
befehlen, stieg der Zorn über seine Brüder auf, die sich in einer ihm
unfaßlichen Weise abwandten, als bestünde keine Gefahr für sie,
untereinander schon plauderten und herumgingen, als überließen sie den Mann
und seine Sache ihm. Wangs und Chens Blicke begegneten sich.

Plötzlich lächelte der große zerlumpte Mensch, als er über die feinen
Konfitüren auf den fünf runden Tischchen inmitten des Saals blickte.
Pfiffig verbreiterte sich sein Mund, die gelben Zähne traten hervor; er
drehte grinsend den Kopf nach beiden Seiten, indem er langsam unter
höflichen Verneigungen die plaudernden Herren zerteilte und mit der Hand
über eine gefüllte Porzellanschale fuhr, wie man das nackte Köpfchen eines
Säuglings streichelt. Er hockte auf einem geflochtenen Schemel neben den
Tisch nieder, aß mit feuchtem Schmatzen die Schale leer. Die Herren hinter
ihm gurrten, kicherten, lispelten, stellten sich in kleinen Gruppen um ihn
herum, boten ihm von einem Nachbartisch eine neue Schale, die er dankend
abnahm. Er erzählte, wie schön und ausgewählt der Geschmack dieser Bonbons
sei, nahm auf den Rat der Herren besondere Stücke aus der Schale und aß.
Chen stand am Wandschirm still; die Blicke der lächelnden Herren kreuzten
sich; man blinzelte sich an; es wurde vergnüglich.

Dann ließ Wang seine Beine herunter, ging um sein Tischchen herum und
nötigte einen feinen Herrn, der ihm am freundlichsten Stücke angeboten
hatte, -- es war der jüngste, eben der, welcher sich über die neuste
Wendung der Sache herzlich freute --, sich auf seinen strohgeflochtenen
Schemel zu setzen. Der Herr ging amüsiert mit um das Tischchen, drehte aber
vor dem Schemel, stehen bleibend und sich verfinsternd, den Kopf zur Seite
und wandte Wang den Rücken. Der sprang vor ihn unter vielen Verbeugungen,
wies mit unverändertem Lächeln auf den besetzten Tisch, pries die
auserwählten Süßigkeiten. Als der Herr kalt ein paar Schritte an ihm
vorbeiging, folgte Wang mit entzücktem Kopfnicken, bot ihm den Arm zur
Stütze und die Schultern, um ihn zu dem Platz zu führen an dem Tisch mit
den ganz unübertrefflichen Bonbons. Der streifte wortlos mit einer raschen
Handbewegung Wangs Ellenbogen. Da umfaßte ihn seufzend der knochige Bettler
aus den Nan-kubergen von hinten, trug ihn unbekümmert um sein kinderhaftes
Schreien und Strampeln an den Schemel, setzte ihn mit einem Krachen darauf,
drückte ihm die aufstrebenden Schultern herunter. Mit dem linken Arm
umschlang er dem Herrn von hinten den Hals. Er wandte das wutkalte Gesicht
nach allen Seiten, in Fischerplatt drohend, hielt in der rechten Hand das
schmale fein ziselierte Messer, das der Herr zum Schmuck an seinem Gürtel
getragen hatte, im Kreis um sich schlagend. Immer wieder lud er den jungen
Herrn ein, zu fressen; bis der, gedrängt durch die halblauten Zurufe der
andern, einen Bonbon nahm und schluckte. Wang zog seinen Arm von dem Hals
des Mannes, rekelte sich offen und gähnte. Er spuckte einem fettleibigen
älteren Herrn, der in der Mitte des Saales ganz allein erstarrt stand, den
halbzerkauten Rest einer Dattel auf die bemalten Schuhe. Er begrüßte unter
Totenstille den Hausherrn, den hohen ernsten Chen-yao-fen im schwarzen
Seidenkleid, verneigte sich grinsend, versprach morgen wieder die Ehre des
Empfanges zu erbitten, schlich um den Wandschirm und war zur Tür hinaus.
Das Messer des angefallenen Herrn klirrte, geworfen gegen den
Ebenholzrahmen des Wandschirmes.

Chen war der einzige, der während des Spiels alles erfaßt hatte; aber auch
die andern, sofern sie nicht vor Bestürzung ohne Gedanken dastanden, wußten
etwas Neues, was nicht sich deckte mit ihren Gesprächen. Es krachte im
Zimmer, ein dumpfes Aufwuchten; der junge Herr war von dem Schemel, auf dem
er noch hockte, ohnmächtig hintenüber gefallen; der umgestürzte Schemel lag
halb unter seinen Beinen. Man lief zusammen, bemühte sich um den
Bewußtlosen, der plötzlich erbrach, bald die Arme bewegte, sich hoch
richtete und die trüben Augen zwinkerte. Es kam zu keinem lauten Gespräch.
Die reichen Herren stellten, als wären keine Diener im Haus, peinlich die
Ordnung im Zimmer wieder her, beseitigten mit seidenem Schal das
Erbrochene. Man ging hin und her.

Chen-yao-fen, mit energischer klarer Stimme, sagte, es würde ihn beglücken,
wenn die kostbaren Herren morgen oder in den nächsten Tagen wieder den Fuß
über seine verwahrloste Schwelle setzen würden; heute bäte er sie nur noch,
bei ihm zu speisen. Einer nach dem andern dankte; man konnte sich schwer
trennen, schurrte zerstreut zu den Sänften.

Wang berührte mit keinem Wort den Vorgang in Chens Wohnung, als er den
Kaufmann am folgenden Tag auf den Schwefelfeldern traf. Er setzte ihm
auseinander, daß kein Mißverständnis darüber herrschen möge: die Brüder aus
den Nan-kubergen bäten um keinen Schutz, sondern um Anerkennung und
Brüderschaft. Sie seien an sich stark, aber sie könnten gefährlich werden:
und dies sollte verhindert werden. Während sie Zusätze zur Lauge in die
Pfannen gossen, drang Chen tiefer in die Vorstellungen Wangs ein; seine
Ansichten über die Armut, sein Glauben an die goldenen Buddhas wurde ihm
deutlicher; er dachte, während er sich vor den blauen Dämpfen das Gesicht
mit dem Schal einhüllte, über das Tao, jenen starren unbiegsamen Weltlauf
nach, der Anfang und Ende von Wangs nicht ganz klaren Gedanken war. Es
waren Schwärmer, die unter der Not, den Behörden, den stolzen
Kung-fu-tseanhängern bald Entsetzliches leiden würden. Das heimische alte
Tao klang ihm so freudig aus Wangs Gesprächen entgegen.

Als sie nach stundenlangem schweigenden Dahocken und Rühren aufstanden und
Chen die Hände schwang, wußte Wang, daß er die Weiße Wasserlilie gewonnen
hatte.



Zweites Buch

Die Gebrochene Melone


Durch das westliche Tschi-li puffte der Name Wu-wei sanft wie ein
Schwärmer; Schwirren, Verhallen zwischen Bergtälern.

Durch das westliche und südliche Tschi-li ging ein Ziehen, ein
rheumatisches Unbehagen, im Arm, in der Schulter, über den Fußrücken,
schmerzhaftes Zucken in einem Zahn, Nervenstechen über dem linken Auge.

Das westliche und südliche Tschi-li fühlte in diesem Frühjahr den warmen
beunruhigenden Dampf um die Nan-kubettler.

Aus den Hundert, die das Dörfchen Pa-ta-ling verließen, waren nach ein paar
Wochen mehrere Tausend geworden. Was man Vagabunden, Straßendieben,
Verunglückten zutrug, war nichts als das Eingeständnis der Not. Es hieß
nicht mehr wie in den Nan-kubergen: Wang-lun, der lange gefährliche Kerl
aus Hun-kang-tsun in Schan-tung, hat sonderbare Sachen von den goldenen Fos
erzählt; er hilft uns, er kann zaubern, wir wollen mit ihm zusammengehen.
Die Menge predigte für sich. Entfernter wohnende Dorfleute, Pilger bis in
die Ebene hinein hörten von den vielen Menschen, die Pa-ta-ling nach dem
strengen Frost verlassen hätten und sich bettelnd, arbeitend, betend nach
Süden vorschoben. Zuerst wurde behauptet, es handle sich um die Vagabunden
und Strolche, welche die Pässe zum Wu-tai-schan unsicher machten; rasch
verschwand dieses Gerede. Von Wang-lun erzählte man, er sei nach dem
Kun-lungebirge auf einem blauen Pferde geritten, um der Kaiserin des
Westlichen Paradieses die Gründung ihres Bundes anzuzeigen. Er sei nach
Schan-tung gewandert, um das Goldwasser und die Perlen des ewigen Lebens zu
holen. Diese Meinung erhielt sich am längsten. Man entwarf nach den
Erzählungen der älteren ein sonderbares Bild von ihm. Man stellte ihn sich
vor als einen sanftmütigen Mann, der mit ungeheurer Körperkraft begabt war,
mit der er nichts anzufangen wußte. Von Zeit zu Zeit befielen ihn starke
Dämonen, die er zu bezwingen gelernt hatte, da er eine furchtbare
Zauberformel brauchte. Er hatte ein gutes Herz für die armen Ching-yin, sie
sollten alle an seinen fabelhaften Gaben teilhaben.

Wang-lun hatte seinen Schatten hinterlassen, in dessen Dunkel der Bund lag.
Ganz von selbst wurden ein paar Männer in den Vordergrund geschoben, an die
sich die Menge hielt. Zwar schwang sich einer und der andere auf, aber dies
geschah nebenbei. Jeder empfing seine Rolle.

Ngoh, aus Ta-ku in Tschi-li gebürtig, war durch seine Geschicklichkeit im
Reiten und Bogenschießen und ein feines Wesen trotz seiner dreißig Jahre
schon zum Jo-ki einer oberen Bannerschaft aufgerückt. Er trug mit Stolz,
ohne zu prunken, den Mondstein auf der Mütze, die Tigerkatze im
Brustschild; wenn er beim Schachspiel die weiche rechte Hand hob und der
Perlmutterring am Daumen matt schimmerte, so wußten seine Mitspieler nicht,
welche starke Seele ihnen gegenüber saß. Er hielt jahrelange Freundschaft
mit einem weibisch geschminkten Schauspielerknaben, einem jungen Herrchen,
wie man sich ausdrückte. Der Kaiser schätzte Ngoh sehr, wie Khien-lung
überhaupt eine Vorliebe an den Tag legte für feine elegante Männer, die
nicht widersprachen, gut turnen und schießen konnten, Sprödigkeit und Härte
besaßen.

Infolge der Unerschrockenheit, die Ngoh bei einem damals vielbesprochenen
Vorfall zeigte, kam er in den inneren Höflingsbetrieb der Roten Stadt zu
Pe-king hinein. Er war mit seiner Abteilung gegenüber dem oberen Stadttor
stationiert, wo auf den breiten Wassergraben, der die Kaiserstadt umzieht,
das Tor des Wu-ti führt. Dicht an diesem Teil der Mauer, so daß Ngoh und
seine Mannschaften von ihren Wachtürmen herüberblicken konnten, lagen die
Paläste der kaiserlichen Frauen und der Nebenfrauen. Es verbreitete sich
einmal im Herbst, zu einer Zeit, wo das Wasser des Grabens mit Fröschen,
Fliegen bedeckt ist, das Gerücht, daß das kleine Kind einer Nebenfrau an
Krämpfen gestorben sei, und ihr anderes Kind, ein junger Säugling schon
krank liege. Ärzte und Priester bemühten sich, den Fieberdämon aus dem Kind
zu bannen, das viel weinte, aber nicht den Namen des Dämons verriet.

Durch ein lautes Geschrei mehrerer Frauen wurde eines Nachts die Wache
Ngohs alarmiert; in die Gärten eindringend bis vor den Pavillon der
Nebenfrau, hörte Ngoh, daß man im Pavillon eben den Dämon des kranken
Kindes gesehen hätte in Gestalt einer kleinen Fledermaus, welche der Mutter
ins Haar schoß, dann über das hitzige Gesicht des Kindchens flatterte und
zur Tür hinausfuhr. Ngoh erkannte aus der Beschreibung, an der Größe des
Tiers, der weißlichen Bauchfärbung und aus der Richtung des Fluges, daß es
sich um einen Schatten handele, den er selbst öfter an dem Wassergraben
beobachtet hatte, in Gesellschaft einer Libelle und zweier brauner Kröten.
Er postierte vor das Tor des Wu-ti zu Einbruch der nächsten Nacht sechs
beherzte Männer seiner Truppe, die er mit Schilden, Pfeil und Bogen
bewaffnete; er selbst stellte sich vor den Eingang des bedrohten Pavillons
mit einem nackten Schwert.

Am Ende der ersten Nachtwache sahen die sechs Männer etwas aus dem Wasser
aufschwirren; sie schossen ihre Bogen ab; die Frauen, durch den Lärm
geängstigt, ließen Brander auf Brander los, um das Gespenst zu
verscheuchen; weiß und grün strahlten die Raketen durch die finsteren
Gärten. Der Dämon, nur geblendet, drang durch, umflog die Zypressen; Ngoh
sah ihn in dem Licht eines Branders wie betäubt heranflattern. Er hieb auf
ihn zu; man hörte ein Quaken und Kreischen. Die Bestie wandte sich, flog
zurück. Ngoh verfolgte sie brüllend, mit dem Schwert fechtend; sie kamen
vor das Haus des kaiserlichen Musikmeisters, eines Eunuchen; im Nu war die
Bestie über der Mauer des Hauses verschwunden. Als noch die Frauen
angelaufen kamen und das Licht der zitternden Lampions zunahm, erwachte
drin der Beamte, trat im Nachtgewand erstaunt vor die Tür, fragte, was
geschehen wäre. Ngoh schrie: »Der graue Fledermausdämon ist hinter deine
Mauer geflogen.« Entsetzt lief der schwerfällige Mann mit Ngoh und anderen
in das Haus hinein; als sie schon in alle Winkel geleuchtet hatten, schlug
sich der Musikmeister vor die Stirn, flüsterte, sie sollten einmal rasch
neben dem Ofen im Wohnzimmer suchen.

Und da saß ein kleines Weib mit grünen Augen, der das Blut aus der Brust
tropfte, mit dem Gesicht eines Affen. Sie war grau und sagte, sie wüßte
nicht wie alt sie wäre. Man fragte sie näher aus, hielt sie an den Händen
fest. Tu-schi, der berühmte Beschwörer der Roten Stadt, der sich diese
Nacht bei dem bedrohten Pavillon aufgehalten hatte und mit in das Haus
gedrungen war, gab ein Warnzeichen den Leuten, welche die graue Hexe
hielten; aber es war zu spät. Sie hatte sich in eine schwarze Katze
verwandelt, zerkratzte den Männern Hände und Arme. Tu-schi warf sich über
sie; im Augenblick, als er über sie fiel, hatte er sich durch einen Blick
in seinen achteckigen Handspiegel in einen weißen Tiger verwandelt, zerriß
die Katze. Blutend schlugen und bissen sie sich am Boden unter dem Geheul
der Weiber; da schlug Ngoh der Hexe den Kopf ab.

Er stand lachend da, freute sich blutrünstig über die schmale rote Lache am
Boden, während die andern durch die finstern Gänge liefen, sich zu waschen
und von dem Anblick des toten Dämons zu befreien.

Das Kind der Nebenfrau war gerettet. Ngoh erhielt vom Kaiser ein
Pfefferminzsäckchen geschenkt.

Bei seiner nun folgenden Tätigkeit im inneren Hofdienst wurde Ngoh den
Waffen rasch entfremdet; er mußte sich in die Intrigen, die
Klatschträgerei, die Eunuchenatmosphäre einfügen. Er hatte schon eine
gewisse spielerische und leidenschaftliche Richtung in sich, der er nun
ausgeliefert wurde. Er verliebte sich in den vierzehnjährigen Jungen einer
armen Gärtnerswitwe, namens King-tsung, stattete den Jungen völlig aus,
nahm ihn zu sich in seine Wohnung, machte viele und feine Gedichte auf ihn.
In den Zimmern des ehemaligen Soldaten lagen Schminktöpfe, Parfümflaschen,
gestickte Überwürfe herum; der eitle Knabe, der ein weibisches Wesen hatte
und nicht ohne gewisse Grazie war, lag auf den Knien des Dämonenbezwingers
und ließ sich lächelnd von dessen demütigen Lippen küssen und Konfekt
reichen.

Sie liebten sich, bis der Junge, der in seidenen Kleidern wie ein Prinz
stolzierte, behauptete, Ngoh schenke einem andern Knaben mehr als ihm und
davonlief. Tagelang weinte Ngoh fassungslos auf seinen Zimmern; die
Gärtnersfrau brachte den Knaben zurück, der böse Streiche bei ihr gemacht
hatte. Ngoh verzieh ihm, auch als er gestand, daß ein Eunuch ihm nachstelle
und daß er schon Geschenke von ihm angenommen habe. Nach und nach erfuhr
Ngoh Einzelheiten von dieser Freundschaft, erfuhr, um wen es sich handle
und wurde darüber so betrübt und angeekelt, daß er wieder anfing, zu
bitten, man möchte ihn zum Wachdienst auf der Mauer zulassen. Er war dabei
keineswegs böse über den Jungen; aber der merkte eine Veränderung in der
Art seines Freundes.

Und ob er nun durch den längeren Umgang mit Ngoh feiner und empfindsamer
geworden war, er wurde zusehends stiller, verfiel in Schwermut, aß
wochenlang kaum, lag in dauernder Abwesenheit. Der Hauptmann verzehrte sich
an dem Bett seines Lieblings vor Schmerz, verließ die langen Wochen der
Krankheit die Wohnung nicht. Endlich genas der Knabe. Ihre Freundschaft
glühte, sie waren sich zugetan wie nicht zuvor. Man übersah zwar in diesem
eigentümlichen Kreis die Merkwürdigkeiten der Menschen, aber über die
Verliebtheit des tapferen ernsten Ngoh lachte man allgemein. King-tsung war
ein großer verzärtelter Bursche; der Hauptmann behandelte ihn, als wäre er
empfindlich gegen einen Windstoß, fuhr ängstlich bei dem bitteren Blick des
Knaben auf.

Nicht dem Hauptmann, der zu sehr in seine Empfindungen versunken war, fiel
das Naserümpfen der Umgebung auf. Der Knabe, noch von seiner Krankheit
reizbar, geriet in Zorn über Ngoh, der ihn zum Gelächter machte, beschloß
sich von ihm zu trennen, ließ sich willig von einem andern Hauptmann, der
mit ihm über Ngoh spottete, kapern. Ngoh wanderte ohne Besinnung auf den
Mauern der Tatarenstadt, fiel im Palast in eine lange Ohnmacht, raste;
Freunde hielten den Mordlustigen zurück. Sie beruhigten den Mann schwer,
dem noch nicht die Augen über sein sentimentales Verhalten aufgegangen
waren.

Als er seine Verzweiflung heruntergedrückt hatte, sann er, was tun für
sich. Heer und Soldatentracht war ihm verleidet; in der Roten Stadt mochte
er nicht bleiben. Er ließ sich an das Flußtransportamt zu Süen-kwa am
Yang-ho versetzen. Hier brachte er in eifriger Tätigkeit, mit Reiten,
Segeln, Versemachen seine Zeit hin, wurde auf seinen Wunsch weitere drei
Jahre da belassen, rückte in eine höhere Stelle auf, steigerte den Verkehr
und die staatlichen Einnahmen während seiner Amtszeit nicht unerheblich.

Nach Schluß seines Dienstes in Süen-kwa machte er noch eine kleine Reise
zum Besuch eines Oheims in Ta-tung; von dieser Reise kehrte er nicht
wieder; man mußte ihn, nachdem er ein halbes Jahr gesucht war, aus den
amtlichen Listen streichen. Es wurde ein Verbrechen der Nan-kuräuber
angenommen. Aber Ngoh war zu den Wahrhaft Schwachen gegangen, eben in dem
Augenblick, als sie aus dem Dörfchen zogen und Wang-lun sie verließ.

Dies war für die sonderbare Gesellschaft, die um die Schönn-i genannten
Klippen herumpilgerte, um ostwärts nach dem berühmten Nan-kupaß zu wandern,
der erste Augenblick des Schreckens und Staunens, als ein einsamer
eleganter Mann auf seinem Maultier hinter ihnen trabte und mit zweien von
ihnen zu plaudern anfing. Sie zogen durch das lange schmale Tal; der Reiter
folgte. Ngoh folgte in einem unsichern Gefühl; es war im Grunde der Anblick
eines jungen Burschen, den er mitten in dem Zug bepackter und zerlumpter
Vagabunden erblickt hatte, der ihn fesselte und beunruhigte. Er wußte
nicht, daß dieser Bursche eine Ähnlichkeit mit seinem treulosen Freund in
der Roten Stadt hatte. Die Männer erzählten vieles; es schienen Sektierer
zu sein, die den Behörden zur Last fallen würden. Mittags lagerte er,
lachend über sich, aber irgendwie froh, hoffnungsfroh, unter den Gesellen,
die ihn wie ihresgleichen behandelten.

Es war eine tolle Umgebung, in der er sich befand, er war beruhigt, in
nicht faßbarer Weise angelangt. Sein Oheim in Ta-tung drängte nicht; man
muß die Fische fangen, wenn sie kommen; und das Wetter war voll Pracht,
schwer von Schnee, wie wenn ein Kind sich über einen Abgrund bückt, seine
seidenen Überhänge, dünnen Schals werden bauschig von dem Wind aufgebläht,
über seinen Kopf weg, man sieht nur die wallenden Schleifen, Tücher, bunten
Schwellungen, glaubt dazwischen lustige verschmitzte Augen zu sehen,
schlagende Hände, und ab und zu weht wirklich ein Ingwerduft herunter an
eine saugende Nase.

Ngoh in der Mandarinenmütze, braunem dicken Pelzwerk, pelzbesetzten Schuhen
kauerte neben einem Teekessel am Boden; sein Maultier neben ihm; eine
einzige Tasse wanderte in dem Kreise der sechs Männer; Ngoh trank mit einem
starken Vergnügen. Ehe es dunkel wurde und sie in Höhlen Feuerchen
schlugen, sagte er mit leiser Stimme, daß er bei ihnen bleiben möchte.

An dem nächsten Tage trat die Notwendigkeit an ihn heran, sich zu
entscheiden. Ma-noh erklärte ihm vorsichtig, daß sie die Geschenke aus dem
Dorf aufgezehrt hätten; es müsse jeder für sich und für einige Schwache
sorgen; ob er sein Pelzwerk verkaufen und gegen Reis und Bohnen eintauschen
wolle in dem nächsten Dorfe, wenn er bei ihnen bleiben wolle. Der Priester
überlegte dabei, wie der vornehme Mann mit den kühnen Augen auf dem
Maultier aussehen würde, wenn er in dickwattierten Kitteln wie sie ginge
und die Almosenschale ausstreckte.

Ngoh sagte nicht nein; er bat sich einen Tag Bedenkzeit aus. Er verlangte
nur einen Tag Bedenkzeit, weil er das Gefühl hatte, als ob er ein
Nachdenken über seine Situation nicht länger ertragen könnte; er wollte
hindurch durch diese Wand. Er zog sich dumpf in sich zusammen. Die
Gelehrsamkeit des Menzius hatte ihm nichts genützt, die Lieder des
Schi-king kannte er auswendig mit ihren Kommentaren. Sie hatten nicht
verhindert, daß ein großäugiger Knabe mit schlanken Beinen ihn verriet, ihn
verhöhnte.

Brüllend brach es da wie ein Tiger in ihm aus, lief auf dem Wege vor ihm
her; er könnte in starrer Wut zuschlagen, wenn er nur ein Schwert in den
Händen hätte. Es sprang ihn wie ein Tiger an, den er mit gespreizten
Fingern erwürgte, eine halbe Stunde als Leiche vor sich in den Händen hielt
und schlenkerte. Ein großäugiger Knabe mit rotgeschminkten Backen;
King-tsung. Er rang mit ihm, legte sich atemlos an die eisige Erde. Man
ließ ihn still liegen.

Er kaute heftig, kaute mit zusammengeschlagenen Kiefern, so daß er das
Spiel seiner Backenmuskeln fühlte, betrachtete angestrengt zwei grüne
kantige Steine, die aussahen wie rohe Jade.

Aber es war doch unwahrscheinlich, daß sich hier rohe Jade auf dem Wege
finden ließ; vielleicht hatte sie einer verloren.

Aber es war rohe Jade; hier handelte auch niemand mit rohen Jadesteinen.

Ngoh griff vorsichtig an seinem Mund vorbei nach einem und dann nach dem
andern, fühlte sie in der geschlossenen Hand ab, wollte sie jedenfalls
aufbewahren, in Süen-kwa, wo gute Steinschleifer wohnten, bearbeiten
lassen.

Wenn sie gerieten, könnte er sie an einer Gürtelschärpe anbringen lassen in
einer Weise, die er sich schon vor einigen Jahren ausgedacht hatte,
zwischen einer grünen und lila Stickerei.

Ja, das konnte man mit diesen merkwürdigen Steinen machen.

Die beiden letzten Männer des Zuges bogen um eine Ecke der winkligen
Straße, sie ließen sich beim besten Willen nicht mehr erblicken. Sie gingen
jetzt vielleicht geradeaus, dann rechts und links, rechts und links.

Ngoh suchte.

Sie gingen vielleicht rechts und links.

Diese schneeschwere Luft, dieses neblige Grau an den kahlen Hängen,
fuderhoch über dem Geröll, über das man trat, diese weiche gespenstige
Masse, die sich nicht ausschütten und reinigen wollte. Man konnte sie mit
den schaufelnden Armen nehmen, sich an die Ohren drücken.

Plötzlich fiel ihm ein: »Lotosblumenlampen, Lotosblumenlampen, heute zünden
wir euch an, morgen seid ihr abgetan.« Das Kinderlied flimmerte beharrlich
in ihm und ermöglichte ihm, den linken Arm aufzustemmen, die Knie zu
biegen, das linke Bein vorzustellen, zu gehen. Und schon bog er selbst um
die Ecke des Weges, lief, so rasch er konnte, hinter dem Zuge her.

Er schloß sich vier Männern an, von denen einer, ein buckliger mit sehr
klugem mageren Gesicht, vorgewölbten Augen, aus einer Sutra vorlas,
langsam, so gut er bei seiner Atemnot konnte. Ngoh hörte auf das alberne
Gewäsch. Die vier Männer kniffen aufmerksam Stirnen und Lippen zusammen.
Der Fremde mischte sich nicht ein. Zwei grüne kantige Steine drehte er in
den Händen her und hin, hob sie vor den Buckligen mit dem Sutrablatt,
fragte, ob er glaube, daß dies Jadesteine wären. Der sah ihn an, dann
prüften die vier ernst die Stücken, rieben sie gegeneinander, leckten mit
der Zungenspitze daran. Sie schüttelten nacheinander die Köpfe; der
Bucklige gab mit Ausdrücken des Bedauerns die Steine zurück.

»Ich wollte mir«, sagte Ngoh nachdenklich mit ihnen marschierend, »eine
Schärpe mit grünen und blauen Stickereien machen lassen; daran sollten die
Steine angebracht werden in einer Weise, die ich mir vor einigen Jahren
ausgedacht habe. Aber wenn ihr meint, daß es keine echten Jade sind, so
werde ich mir keine Schärpe machen lassen.«

Der Bucklige hob sein Sutrablatt, strich ein Quadrat in der Gebetspyramide
darauf mit Holzkohle aus. »Wir wollen noch einmal die Sutra lesen von der
Kleinen Überfahrt.«

Ngoh ließ den Tag bis auf den letzten Tropfen der Wasseruhr verrinnen.

Es war ein schöner, einhüllender Abend.

Er gelobte die Armut, die Ruhe, das Nichtwiderstreben. Verlangte keine
Versuchszeit, flüsterte, er schlösse sich ihnen an; dabei machte er eine
kühle abweisende Bewegung, eine einsargende glättende Bewegung.

Der sehnige Mann stand am nächsten Tage um dieselbe Zeit des
Sonnenuntergangs dreißig Li von der Felsenkammer entfernt, in der Ma-noh
ihm seine zobelverbrämte Mandarinmütze abnahm, den kostbaren langen
Pelzmantel auszog. Er sah ärmlich aus wie alle. Die Männer kauerten auf dem
grasbewachsenen weichen Waldboden; sie schöpften Hirse und Hundereis aus
Kesseln, tunkten in Näpfe mit Essig.

In zwei drei Tagen war die Ebene erreicht; da mußte man sich trennen bei
Tag, betteln. Die Städte kamen, Pe-king kam.

Ngoh hörte auf das metallene Klappern der Näpfe, Gefäße, Eßstäbchen.

Er schloß mit einem harten Ausdruck die Augen. Er schnappte krampfhaft
Luft, saß gerade da.

                   *       *       *       *       *

Die auffälligste Wandelung der nächsten Wochen bewirkte der Zustrom von
Frauen und Mädchen, der bald, nachdem man in die Ebene stieg, einsetzte.
Wang-lun hatte gesagt, es sollte niemand, der Mensch war, von ihnen
zurückgewiesen werden; wenn Frauen kämen, sollten sie getrennt von ihnen
sich aufhalten, getrennt lagern; man sollte sich nicht durch Lüste in das
Fieber des Daseins stoßen lassen; geschähe das öfter, so sei es besser, man
schließe die Frauen aus. Dies war klar, und daran hielt man sich. Es war
niemand gezwungen, bei den Wahrhaft Schwachen zu bleiben; wer glaubte, die
Wanderung über die Erde ohne ihre kurzen glühen Süßigkeiten nicht zu
ertragen, durfte umkehren.

Jenseits des Liu-li-ho kam Liu, ein tüchtiger etwas zappliger junger
Mensch, der ein schwatzhaftes gutmütiges Wesen hatte, mit einer älteren
Frauensperson nach einer zweitägigen Abwesenheit an. Man wollte für ein
paar Tage in dieser sanftwelligen Gegend bleiben, traf sich abends in den
verlassenen Ställen eines reichen Stierbesitzers unfern einer schlecht
gepflegten Pagode. Daß ein Weib da war, sprach sich herum; daß Liu es
mitgebracht hatte, erregte allgemeines Schmunzeln; zweifellos hatte sie ihn
bewogen, sie zu heiraten.

Es war die kinderlose Witwe eines Teewirtes, die mit ihren schwarzen
Pumphosen, schmutzigem Kittel und einem vergrämten breiten Gesicht vor der
Stalltür erschien, nach allen Seiten Verbeugungen machte, süßliche Mienen
zog. Sie hatte sich einsam gefühlt. Als ihr Liu unaufgefordert bei der
schweren Arbeit half, beim Wasserschöpfen und Eimertragen, glaubte sie, er
mache sich lustig über sie, war dann geschmeichelt, hörte sein maniriertes
Gerede an von Wang-lun, von den Nan-kubergen, und daß sie in keine Klöster
gingen, sondern überall auf den Straßen und Feldern wohnen würden. Und
welch Zauberer Wang-lun sei; sie hätten so viel, so viel zu erwarten.

Die Witwe sah den jungen Liu, klagte ihr Los; Liu half, redete dies und
das. Sie gab ihm ihr Zimmer zur Nacht, indem sie erzählte, sie hätte ein
anderes; saß die Nacht auf dem Feld ihres Herrn in einem Schober, dachte,
ob sie versuchen sollte, ihn zur Heirat zu bewegen.

Verführungskünste, die sie am nächsten Morgen beim Betreten ihres Zimmers
übte, mißlangen; Liu merkte nichts; sie kam sich dumm vor.

Dann gab es ein Wetteschnattern zwischen beiden; sie fragte nach allen
Männern an der Pagode, Liu antwortete, sie fragte, wiederholte, Liu
wiederholte.

Als der zapplige Junge abends mit einem kleinen Reissack am Arm gehen
wollte, nahm sie einen zweiten Reissack, sagte, sie würde mitkommen.
Worüber Liu nicht erstaunt war, sondern erklärte, dies sei sehr schön, dann
könne er ihr über Ngoh und Chu noch weiter erzählen; Ngoh sei nämlich ein
erstaunlicher Mensch und werde bald mit Ma-noh Führer ihres Bundes sein.

Die Witwe war froh. Unter den Männern tat man gleichgültig und zuvorkommend
zu ihr; Liu, der sich nicht um die Frau kümmerte, erwarb sich allgemeines
Lob, worüber er sich freute. Die Frau pflegte in der nächsten Zeit zwei
Kranke, denen die Füße erfroren waren, zimmerte einen Karren für sie,
dessen Teile sie zusammenbettelte.

Nach vier Tagen ging sie in das Dorf herüber, half einem Schreiner beim
Sägen den hellen Tag für ein paar Käsch, erzählte Bekannten von ihrem neuen
Leben, kam mit ihrer fünfzehnjährigen schönen Nichte und einem dicken
asthmatischen Weib, der Ehefrau eines Schmiedes, zurück. Auch diese blieben
bei den Wahrhaft Schwachen.

Die Frau des Schmiedes war kinderlos, die Nebenfrau hatte sich völlig zur
Herrin des Haushalts aufgeworfen; die rechtliche Frau fühlte sich ihres
Lebens nicht sicher. Sie meinte, daß die Nebenfrau ihr eines Nachts einen
Werwolf aufs Bett geschickt hätte; von der Zeit rühre ihre Atemnot her. Es
kam ihr überhaupt nicht geheuer in dem erbärmlichen Hause vor, das nur aus
einem stallartigen Zimmer hinter der Schmiede bestand. Daß das Kind der
Nebenfrau nicht von dem Schmied herrührte, sondern von irgendeinem
abscheulichen Wesen, dessen Natur sie noch nicht genau kannte, war ihr
sicher. Die fünfzehnjährige Nichte jener Witwe war gut befreundet mit
dieser jugendlichen Nebenfrau des Schmieds. Als die Witwe kam, von den
Brüdern erzählte, die Schmiedfrau hoch erregt hörte, welchen kräftigen
Zauber diese Männer verstanden, verabredeten sie und beschworen sich
gegenseitig, daß sie sich nicht verlassen wollten; die Frau wollte aus der
Wohnung heraus, die unter bösen Einflüssen stände, später zurückkehren,
wenn sie starke Beschwörungsformeln gelernt hätte bei den Brüdern. Fest
entschlossen sich so zu rächen stand das dicke Weib auf. Sie erklärte aber,
als sie schon an der Hinterwand der Schmiede abends standen, die Nichte
ihrer Freundin müsse mit. Sie säße oft sehr lange mit der Nebenfrau
zusammen; aber unter der Diele des Wohnzimmers scharre eine große Ratte,
und man könne nicht wissen, was in diesem Hause entstehe zwischen dem
begehrlichen Tier und dem arglosen Mädchen.

So nahm denn die Witwe, beunruhigt und kurz entschlossen, ihre Nichte, die
sich sträubte, aus dem Dorf, und sie zogen zu dritt nach der Pagode. Es war
in den Scheunen schon ganz still; die drei legten sich in eine Ecke auf
Bettzeug, das das junge Mädchen hatte unter beiden Armen mitnehmen müssen.
Frühmorgens sammelte die Schmiedfrau seufzend und zerdrückt ihre Knochen;
die Nichte kraxelte wie ein Hühnchen hinter ihr her, die sich resolut bei
diesem und jenem Mann erkundigte, wer am stärksten von ihnen sei und was
sie tun sollte. Ein zittriger Mann, der mit einem Stock in dem Sandboden
stocherte und sich ein Loch für seinen Wasserkessel wühlte, gab ihr am
umständlichsten Bescheid, ohne sie nur einmal anzublicken. Sie fühlte sich
sehr angezogen durch das gelassene Wesen des Mannes, der ihr überall
beistimmte. Er sagte, es würde wohl bald zu Ende sein mit den Werwölfen,
Nachtmahren, wenn erst viele recht tüchtig gegen sie vorgingen. Die
Wahrhaft Schwachen hätten ja noch zu ganz andern Sachen Beziehung; sie
werde schon noch hören, für die Bündler sei alles nur eine Kleinigkeit,
zweifellos Werwölfe seien eine Kleinigkeit. Zum Beispiel Wang-lun --. Er
trat ihr auf den Fuß und bat sie weg zu gehen, weil er Platz brauche.

Die Frau, hoch befriedigt, hörte zu. Ihr gefiel besonders, daß offenbar
jeder einzelne, Mann oder Frau, ohne Vermittlung eines kostspieligen Wu das
Nötige bewirken könne.

Die Nichte kükelte steifbeinig, mit scheinheiligen Äuglein hinter der
Schmiedfrau, ratschlagte, wann sie fortlaufen sollte. Wenn sie nur nicht zu
Hause saftige Schläge erwartet hätten. Vielleicht verjagte oder verkaufte
man sie. Chu sah sie im Vorübergehen mit ihren tränenschwitzenden Augen,
einen Schleier vor dem flennbereiten Mund. Er lachte über dies wuschlige
widerspenstige Mitglied. Sie vertraute sich ihm an, um ihn auszuhorchen. Er
gab ihr Bescheid, daß sie keiner holen würde. Sie ging mit drei Männern
schmunzelnd fort, die er beauftragt hatte.

Nonnen, Pilgerinnen, Bettlerinnen, Verunglückte jeder Art nahm der Bund in
großer Zahl auf. Um die Zeit, als Wang-lun den Westfuß des Tai-ngan umging,
die Binsenruten auf den Winteräckern geschnitten wurden und der erste Regen
fiel, wälzte sich der Strom der Wahrhaft Schwachen in mehreren Betten durch
die westliche und südliche Ebene von Tschi-li.

Aber weder die Aufnahme der Frauen, noch die Zersplitterung wurde von so
großer Bedeutung für das Schicksal der Wahrhaft Schwachen, wie die
Veränderung, die Ma-noh erlitt. Dieser ehemalige Fopriester von der Insel
Pu-to-schan, Sonderling und Krähenfreund auf Nan-ku, hob sich draußen mit
einer fürstlichen leidenschaftsvollen Gebärde auf, begrub unter dem Wallen
und Stampfen seines entfesselten Stolzes einen großen Haufen der Wahrhaft
Schwachen und sich selbst in der nördlichen Ebene von Tschi-li.

In Pa-ta-ling hielt Ma-noh nur gefesselt, was in Wang vorging. Ein Gefühl
aus mütterlicher Angst, Ehrfurcht, Entzücken füllte den kleinen hageren
Mann. Als Wang seufzte am Morgen und allein fortzog, blieb Ma-noh in
völliger Ratlosigkeit. Er saß in der kahlen Gerätekammer, betrachtete seine
aufgetriebenen Fingergelenke, die Buddhas, die er vom Karren hereingetragen
hatte, die armgroße Kuan-yin mit den tausend Gliedern aus Bergkristall, die
auf dem Fensterbrett stand. Strolche, Diebe und Mörder waren seine
Gesellschaft; es hieß wandern, wandern. Vielleicht sah man ab und zu eine
Zibetkatze, gleich der fetten alten, die jeden Abend mit der gepolsterten
Schnauze gegen seine Tür stieß und wie ein Sperling piepste; sie lief jetzt
wohl in seiner Hütte herum, schnüffelte, oder es nistete ein Strolch
drinnen, pelzte dem verdutzten Getier Steine auf. Krähen gab es überall,
man wird andere Krähen sehen. Was sollte er unter den Wegelagerern? Wang
war nicht mehr da. Es hieß wandern, nicht widerstreben, wahrhaft: nicht
widerstreben. Das Wort hatte keinen Sinn ohne Wang. Hohl blaffte die Lehre
Wangs: »Was nützt alles Toben und Ankämpfen, wenn das Schicksal seinen Gang
geht? Was nützt alle Anspannung, wenn das Schicksal mit Glück, Erfolg,
Krankheit, Übersättigung nichts als ersticken kann?« Das war ein
sonderbarer Feiertagsstaat für Bettler!

Mißtrauisch, in sich versunken ging er mit den andern. Er sprach an dem
Tage wenig. Ihm fiel, während er träumte, die letzte Nacht ein, und er
hätschelte eine schlimme Sehnsucht nach der tiefen, harten Stimme Wangs.
Erst schob er selbst den kleinen Karren mit seinen überdeckten Buddhas,
lehnte es bissig ab sich helfen zu lassen. Nach ein paar Li als es aufwärts
ging, erlahmten seine dürren Arme, er mußte die Deichsel abgeben. Die
Müdigkeit steigerte seine Ungeduld, die ganz klein, quälend rasch an seinen
Muskelbündeln wie an winzigen Gitarren zupfte. Er setzte sich auf einen
runden Granitblock mitten auf den Weg.

Der Zug staute sich. Ma-noh merkte nach einer kleinen Zeit, da er mit den
Blicken immer stier den Schneeboden schaufelte, daß alle haltmachten. Er
wollte gereizt aufspringen, den Mann an seinem Karren anfahren, wurde durch
die ernsten erwartungsvollen Mienen entwaffnet, sah um sich. Er gurgelte
rasch: »Weiter.« Rümpfte beschämt die Nase. Es war lächerlich: diese Leute
warteten auf seine Befehle, durchtriebene Gesellen warteten auf den Wink
eines Fopriesters, um zu wandern. Wie würde der große Prior auf Pu-to
lachen! Er Bandenführer, Räuberhauptmann.

Erst jetzt fiel ihm ein, daß er an Wangs Stelle stand. Aber das wollte er
nicht, er brauchte selber Wang. Im Augenblick ergriff das »Ich will nicht«,
das Verlangen nach Wang auf eine gewaltsame Weise seine Därme, quetschte
seinen Schlund hoch, melkte seinen Speichel. Verzweifelt drückte er die
Arme vor die Brust. Er kam sich rettungslos verloren vor. Sein Gehirn
schwindelte, seine Haut kochte bei der Vorstellung, daß Wang auf einmal weg
sei und alles sinnlos geworden, die freudige Niederlage unter ihm, der
Abstieg ins Dorf, die Wanderung der Massen vom Paß. Alles durchlöcherte,
entleerte seine Brust, pfählte seine Wirbelsäule.

Er stand an Stelle Wangs: diese starklaunige, plötzlich anspringende
Vorstellung schüttelte an ihm.

Er roch mit einer wabbligen Übelkeit im Munde sein altes Leben. Wang konnte
ihm entgleiten: was sollte er tun? Er fürchtete sich, er greinte.

Nur sich besinnen, nur sich besinnen! Wo war Wang-lun? Die Strolche und
Bettler um ihn debattierten. Ma hörte die heiligen Gedanken, die Wang aus
ihm gesogen hatte. Über den einfältigen Männern lag der Rausch des
gestrigen Tages und der Nacht. Er sah sie an, von seinem Trübsinn
verschluckt; er arbeitete sich heraus, in Furcht zurückzufallen. Die weiche
Stunde zwang er sich vor Augen, in der er den schneeschweren Himmel
betrachtete und Wang zum erstenmal liebte. Er wollte das noch einmal
erleben, nur dieses Erlebnis hatte Schwingen.

Den Strolchen näherte er sich; wieder sah er sich mit leiser Qual in der
Rolle des Lauschers, im Anschmiegen, Anlehnen. Wie sollte er Wang finden?
Sie marschierten, ihnen war der Fischersohn nicht fortgegangen. Ma mischte
sich schamlos unter sie. Er schmeichelte ihnen, simulierte, damit die
Strolche nichts merkten. Und unversehens atmete er ruhiger, unversehens
hatte ihre freudige Sicherheit die Löcher seiner Seele verkleistert. Er zog
seine schwarze Mütze aus Katzenfell über die Ohren.

Das unsichere Gefühl, daß die Männer, die er führen sollte, mehr von Wang
besaßen als er selbst, verließ ihn in den nächsten Wochen nicht. Er war
bisweilen nicht zu bewegen, eine Auskunft zu erteilen; es versenkte ihn in
eine zahnwetzende Wut; ihm schien, als ob man ihn in Versuchung führen
wolle. Man wollte ihm vorhalten, wer er war. Und wieder mußte er sich
zwingen und zu seinem Erstaunen gewahren, daß die Brüder an nichts dachten,
ihm vertrauten. Ja lächerlicherweise eine Ehrfurcht vor ihm hatten, die
sich nicht viel von ihrer Empfindung gegen Wang unterschied. Er antwortete
ihnen unter schmerzvoller Hemmung. Sie wollten, so schmählich es war,
ersichtlich nichts zwischen ihm und sich; Wang-lun stand nicht zwischen den
Bettlern und ihm. Sie boten sich selbst, freiwillig, drängend als Objekte
an. Er empfand es als Unsauberkeit, daß er diese Männer anwies, als
Schändung Wangs. Mit einer peinlichen gezwungenen Lüsternheit bewegte er
sich unter ihnen.

Er gewöhnte sich. Das tägliche Handeln schliff überscharfe Empfindungen ab.
Genötigt, sich stündlich zu äußern, zu entscheiden, kam er rasch in die
Nähe zu den Brüdern, die sie brauchten, in die des Führers. Er wirkte. Mehr
als Nachdenken befreite und löste das. Er schwamm über Widerstände. Er
fühlte sich gesättigt, über Zweifel gehoben. Die Stunden von Nan-ku fingen
an zu verdunkeln. Hart modellierten die neuen Aufgaben an ihm.

Die Lehre Wangs sprühte Kälte. Manche Charaktere, über die sie zuerst
geworfen war, mußten aufs Heftigste gegen sie rebellieren. Ungeschickte,
die jede Handfertigkeit verlernt hatten bei ihrem Gewerbe auf Nan-ku, in
armen Gegenden nicht das Notdürftigste erbettelten, geschlagen, tagelang
eingesperrt wurden: sie fanden sich mühselig, mißmutig zurück, waren schwer
zu bewegen, unter Menschen zu gehen. Ihre schiefen Blicke sagten, daß sie
bald an die Arbeit gehen würden, die sie gut verstanden. Ma-noh nahm sich
ihrer an; es konnte nicht im Plane Wang-luns liegen, die Hände in den Schoß
zu legen, unbarmherzig verderben zu lassen. Scharf waren andere zu
überwachen: der wanderte freudig herum, zog morgens munter ab, stellte sich
abends ein, belebt, vergnügt, zu vergnügt; er hatte einen Sippengenossen in
einer nahen Ortschaft gefunden, genoß in Ruhe seine Gastfreundschaft. Ins
Riesenhafte wuchs die Arbeit, als der Zustrom schwoll und man kaum erfuhr,
wer kam, Namen, Schicksal, ob der Neuling nicht gegen die drei kostbaren
Regeln verstoße, die Armut, Keuschheit, Gleichmut, was er erhoffe von dem
Bund der Wahrhaft Schwachen. Damals traten ohne weiteres ausgebrochene
Verbrecher in den Bund, um sich zu verkriechen; man mußte sie sich vom
Leibe halten oder aufnehmen, je nach ihrer Art, verstecken oder verjagen.
In dem einen Falle hatte man ihre Rache zu gewärtigen, im andern
Nachforschung der Ortspolizei, der Präfekturbeamten. Gelegentlich
bemächtigte sich die Polizei kurzweg einiger Männer und Frauen, die sie
verdächtigte, Verbrecher zu beschützen.

Es wuchs der »Ring der Frommen«, wie man sich unter den Brüdern ausdrückte.
Diese eigentümliche Vorstellung hatte die Masse selbst aufgebracht. Man
meinte, man könne allmählich in dem geschlossenen Ring der Wahrhaft
Schwachen durch die Gewalt der Versenkung jenes Letzte erreichen, das man
bald das Westliche Paradies auf dem Kun-lun nannte, bald den fünften
Maitreya, bald das Kin-tanpulver, welches ewiges Leben gewährt.

Ma-noh wurde heftig aus sich herausgerissen. Er wuchs in seine Aufgaben
hinein. Schwer gelang ihm die Besinnung auf den Nan-kupaß. Nan-ku war der
Geburtsort des Bundes; es waren erst Wochen um, seitdem der Fischersohn aus
Schan-tung von dem alten Wu-wei gesprochen hatte. Ma ging straffer in
seinem langen geflickten Priestermantel. Sein kleines spitzes Gesicht
ähnlich dem Antlitz einer Krähe. Unheimlich lebendig zuckte es über seine
niedrige, schrägfliehende Stirn, fuhren Gedanken um seinen liniendünnen
Mund. Während er mit mageren Händen gestikulierte, schlangen seine Blicke
Taue, die nicht losließen. Er redete hastig wie früher, aber mehr dringend
und gehalten. So sah das Boot aus, auf dem viele die Große Überfahrt
antraten.

                   *       *       *       *       *

Mit einer Gruppe von zweihundert Männern und Frauen trennte Ma-noh sich von
einer nordwärts wandernden. Sie waren nicht weit entfernt von Tschön-ting,
einer mittleren Stadt am Huto-ho, dessen Lauf sie dicht von seinem Austritt
aus dem Wu-taigebirge gefolgt waren. Ma-noh wollte sehen, möglichst bald
südlich von Tschao in die einsame Gegend des Sumpfes von Ta-lou zu kommen.
Ihn drängte es aus Gründen, die er nicht faßte, in eine sehr ruhige
Landschaft. Bei Tschön-ting vergrößerte sich Mas Gruppe um eine Anzahl
Männer und Frauen.

Die junge Frau Liang-li, die gestützt auf zwei Dienerinnen angetrippelt
kam, die schönste Frau der Stadt, stammte aus dem berühmten
Tseu-Geschlechte, dem unter anderm der große Zensor Tseu-yin-lung
angehörte, der zur Zeit des Mingkaisers Schi-tsung wirkte. Frau Liang, als
sie noch Mädchen war, hing sehr an ihrem Vater, der hohe Staatsämter
bekleidet hatte, dann als reicher Mann in Tschön-ting seinen Ahnen und
seiner Familie lebte. Die zarte Mutter Liangs, Tseus rechtliche Frau,
kränkelte jahrelang. Die sehr energische Tochter ließ die beiden
Nebenfrauen nicht aufkommen, sie besorgte die jungen Geschwister zusammen
mit ihren Dienerinnen, stand dem Vater zur Seite in der Verwaltung seiner
großen Güter. Tseu liebte sehr seine feine Frau, für deren Heilung er sein
halbes Vermögen hingab. Jeder Wu, jeder Exorzist, der neu in die Stadt kam,
erfuhr, daß er sich seine ersten Taels bei Tseu verdienen konnte. Ganze
Prozessionen veranstaltete Tseu zur Heilung seiner Frau, die zunehmend
schwächer und heller wurde, ab und zu tagelang aus Mund und Nase blutete
und dabei ängstlich jammerte. Sie blieb auf einmal weg, und kein Brennen
der Fußsohle, keine Nadelstiche unter die Fingernägel weckten sie.

Es mag wohl der furchtbare zähe Vampyr, der die Frau aussog, noch nicht
genug gehabt haben; jedenfalls wurde der sehr frische Mann, ein
vorzüglicher Boxer und Ringkämpfer, nach dem Tode seiner Frau in einer
nicht natürlichen Weise traurig. Und es geschah etwas, das über die Tore
des Tseuhauses hinaus nicht ruchbar wurde: der Witwer suchte sich in einer
Mondnacht, nachdem er seinen Ahnen Kerzen angezündet hatte, in einem
kleinen Teich zu ertränken. Unruhig gemacht durch den nächtlichen
Kerzengeruch warf sich Liang einen langen Mantel um, rannte vergeblich
durch das Haus nach dem Vater, stürzte in den Park. Sie zog den Vater aus
dem Teich. Tseu genas völlig unter der Pflege seiner Tochter.

Aber seit dem schrecklichen Ereignis in dem Park veränderte sich sein
Verhältnis zu der schönen Liang. Es kam etwas Gedrücktes in sein Benehmen.
Er wich ihr aus, hängte sich an die beiden jungen Nebenfrauen, deren Reize
der Witwer erst jetzt zu empfinden schien. Der Mann, der in der Mitte der
fünfziger Jahre stand, betäubte sich an der Schönheit dieser Frauen. Die
Tochter verfolgte ihn. Ihr Haß auf die beiden Frauen schwoll über jedes
Maß. Sie verleumdete sie bei Tseu, setzte durch, daß er die jüngere, ein
harmloses, sanftmütiges Wesen, verjagte.

Aber es kam nicht zum Frieden. Liang legte die Trauer nicht ab um die
Mutter. Sie trug die Halskette, die Perlenschnüre der Toten. Die beiden
seidenen Beutelchen, die Lotosblattäschchen hängte sie sich an den Gürtel.
Zwei goldene Ringe, zwei silberne Ringe, Verlobungsgeschenke Tseus an seine
Frau, nahm sie aus dem Kästchen, schob sie sich über die Finger. Tseu wich
aus dem Hause. Er besuchte die Theater, besiegte öffentliche Preisringer.
Es sprach sich in der Stadt herum, daß er eine Geliebte in den bemalten
Häusern hätte. Ehe es mit ihm zu Ende ging in dieser verzweifelten Weise,
erschien sein Bruder, der damals als graduierter Literat in Ta-ming wohnte,
in Tschön-ting, um den schlimmen Gerüchten über seinen Bruder
nachzuforschen.

Er hielt dem zehn Jahre älteren Mann die Schande vor, die er auf das
Tseuhaus werfe, bewirkte bei einer erregten Bootfahrt, daß Tseu zugestand,
die Familie an der Aufsicht über die Liegenschaften zu beteiligen,
schließlich die verjagte Nebenfrau, die ihm draußen einen Knaben geboren
hatte, zur rechtlichen Frau zu erheben. Als die Brüder ernst im Hause
erschienen und der schönen Liang dies mitteilten, verneigte sie sich,
nachdem sie an ihren Ringen gespielt hatte, vor ihrem Vater, nahm
Halskette, Perlschnüre ab, legte sie vor Tseu an den Boden, bat, ihr vor
der Hochzeit des Vaters einen Gemahl zu wählen. Das war Hu-tze, der schon
nicht mehr hoffte, Liang zu besitzen.

Die beiden Hochzeiten gingen vorbei. Liang wohnte im Hause des Hu-tze, der
seine junge Frau innig verehrte. Der kluge kühle Mann vermochte nicht ihr
finsteres Wesen zu bannen. Zuerst lebte Liang ganz zurückgezogen und schien
gewillt, die Liebe des Hu-tze anzunehmen. Sie gebar ihm aber kein Kind. Da
glaubte er, es sei besser, wenn sich Liang in Gesellschaft begebe; auch
gewisse Steine vom Wege und Blumen ließ er in ihren Zimmern aufstellen,
damit sie sie gelegentlich berühre, denn in ihnen wohnen die Geister
ungeborener Kinder. Die junge Frau lachte über alles und folgte ihm.

Sie ging in die Wohnung ihres Vaters. Bei diesem Besuch traf sie ihn nicht
an. Sie trippelte in die wohlbekannten Zimmer, nahm aus einem Kasten, den
sie aus einer verhängten Truhe holte, die Andenken an ihre Mutter heraus,
die Verlobungsgeschenke des Vaters, die Perlenschnüre, das
Lotosblattäschchen. Dafür warf sie höhnisch lachend den Stein in den
Kasten, den Hu-tze ihr hatte bringen lassen. Sie war viel freudiger in den
folgenden Monaten, von einer hinterhältigen samtenen Zutraulichkeit zu dem
Mann, dem sie einen Knaben brachte. Beim Anblick des Kindes weinte die
schmalwangige Wöchnerin hilflos, verfiel in ein widerspenstiges finsteres
Wesen, mit häufigem Schluchzen, Fäusteballen, Wutausbrüchen, daß sie
verloren sei.

Sie ließ sich, sobald sie hergestellt war, in das Haus des Vaters tragen.
Ohne ihren Gatten zu sprechen, hatte sie sich in Hochzeitsschmuck geworfen,
aus Laune, wie sie ihre Dienerschaft beruhigte. Den langen Schleier trug
sie, Ringe, Armspangen, Blumen aus Federemail. So trat sie vor ihren Vater,
wie ihre Mutter in jungen Jahren anzusehen, im entschlossenen Gesicht die
scharfen Züge der Krankheit, verneigte sich und sagte, sie wäre da. Tseu
hieß sie willkommen und war entsetzt. Sie nahmen nebeneinander Platz zum
Essen.

Liang saß in glücklicher Laune neben ihrem Vater, dem das Herz zu zucken
begann, der von Schmerz, Sehnsucht, Grauen zerrissen war. Wie Mann und Frau
gingen sie durch die Zimmer; Tseu ließ seine schöne Tochter gewähren; sie
umarmte, küßte ihn. Sie umschlang seine Schultern ohne Scham. Sie
spazierten durch den dichten Park. Da lief Liang im Gestrüpp ihrem Vater
voraus, raffte den grünen Schleier, den sie sich um den Hals wand, warf
sich rückwärts, das Gesicht nach dem Vater zu, die Arme gegen ihn
aufgehoben, in den Weiher. Tseu brauchte lange Zeit, ehe er mit Hilfe des
herbeigeholten Gärtners die Frau herauszog; sie kam nach Stunden wieder zu
sich. Sie soll dann ihren Rettern geflucht haben, an der Brust des
trostlosen Tseu in Weinen, Vorwürfe und verwirrtes Geschrei ausgebrochen
sein. Sie ließ ihn nicht los, bis er sie willenlos umfaßte und unter Küssen
flüsterte, er wolle mit ihr sterben. Auf seinem Schoß streckte sie sich im
Zimmer; da schloß sie gegen Abend still die Augen, richtete sich auf und
sagte abwesend, daß sie nach Hause zu Hu-tze müsse. Die Sänfte Liangs ist
nie in den Hof Hu-tzes gekommen. Es kam nur, von einem fremden Läufer
getragen, am Morgen ein Brief von ihr bei Hu-tze an, daß sie sich wohl
befinde, daß es ihm und seinem Knaben, den zu gebären sie das Glück hatte,
wie sie hoffe, auch gut erginge; und sie werde ihm auch in der Zeit zugetan
bleiben, wo sie nicht bei ihm wohne.

Dann ist sie, verlockt von der Lehre des Nichtwiderstrebens, zu Ma-nohs
Gruppe vor Tschön-ting gestoßen, um arm, keusch und gleichmütig zu leben.

Dies war die schöne Liang-li, die sich im Lager von ihren Dienerinnen
trennen mußte. Denn hier war keiner Diener des andern. Sie ging, wie alle
lilienfüßigen Frauen, von einigen Männern oder kräftigen Frauen begleitet,
zu betteln, singen, Kranke zu heilen.

Frau Ching saß im hohen Kaoliang neben ihr. Dies war eine einfache
Gemüsehändlerin, die in äußerlich erträglichen Verhältnissen lebte; sie war
seit einem Jahre Witwe, besaß einen größeren Jungen von zwölf Jahren, dazu
ein verwachsenes skrophulöses, auch bösartiges Kind. Nach der Geburt des
unglücklichen Wesens hätschelte sie ihren älteren Liebling nicht mehr
lange. Sie wurde völlig von dem Kinde, das der Vater sein »Großväterchen«
nannte, in Anspruch genommen, je mehr sich seine Eigentümlichkeiten
herausstellten. Trotzdem sie überzeugt war, daß die hexende Hebamme an
allem schuld hatte, denn dies war schon das zweite unglückliche Kind, das
in der Straße von der Hebamme gebracht war, und trotzdem sie alle Aschen,
Wasser, Brandmale anwenden ließ, hegte sie ein Mißtrauen gegen sich selbst;
ob sie irgend etwas in der Schwangerschaft oder vorher versehen hätte, ob
sie sich vielleicht zu wenig aus einem zweiten Kind gemacht hätte, oder was
sonst. Sie beobachtete unausgesetzt das Kind. Von dem älteren wollte sie
kaum etwas wissen; sie meinte mißgünstig, daß er gerade Beine hatte; und
damit sei es ja gut. Sie bekam Zänkereien mit ihren Nachbarinnen, weil sie
glaubte, daß man sich über das Großväterchen mokierte; es kam zu
Streitigkeiten, weil Frau Ching schließlich fremde Kinder prügelte, die von
dem Kleinen beim Spiel gebissen oder gekratzt wurden. Denn das liebte das
Großväterchen sehr.

In der ersten Zeit, als das Kind zwei Jahre etwa alt war, versteckte sie es
in der Wohnung; sie hatte eine grenzenlose Liebe zu dem Wesen, bettelte es
in der stillen Wohnstube an, es möchte doch vernünftig sein, versuchte auf
eigene Faust absurde Heil- und Zauberpraktiken; das waren schöne Wochen,
wenn sie etwas Neues bei dem Kind anwandte und nun von Tag zu Tag
hoffnungsfreudig ihre Beobachtungen machte, sich hier betrog, da betrog.
Dann wurde sie, enttäuscht, wütend auf sich, daß sie wegen dieses Krüppels
mit aller Welt sich zerwerfen mußte, ließ das Kind herumliegen. Sie
schimpfte hart auf den Teufel, den man ihr aufgehalst habe.

Immer gewann ihre Besorgtheit die Oberhand. Sie brachte das Kind unter
Gespielen, bewirkte durch ihr abschreckendes Auftreten, daß keiner das
Großväterchen zu foppen wagte, ja, daß man Angst vor ihm hatte, sich von
ihm mannigfach tyrannisieren ließ, wodurch seine Unarten sich üppig
entwickelten. Es wäre beinahe dazu gekommen, daß sie sich des Kindes wegen
ganz isoliert hätte, wenn die Nachbarinnen nicht einsichtig gewesen wären.
Frau Ching nahm ein herausforderndes Wesen an; sie duldete kein Gespräch,
keine Andeutung auf ihr mißratenes Kind. Sie lebte sich in eine schroffe
Abwehrhaltung hinein, die nicht nur die Dinge um das Großväterchen betraf.
Ihre Gesprächigkeit, derbe Laune, verschwand unwiederbringlich. Sie war
eine jähzornige, wenig umgängliche Frau geworden.

Damals kam das große Gerücht von den neuen mächtigen Zauberern, die aus den
Nan-kubergen nach Süden und Osten herumzogen. Die Berichte häuften sich.
Ein heller Blitz fuhr in die Frau; sie lief in die Jamenhöfe, auf die
Marktplätze, wo man Geschichten erzählte, sog die Nachrichten ein, trug sie
mit sich nach Hause. Sie hätschelte das Großväterchen und den älteren
Jungen, sprach aufgeregt mit allen Bekannten ihrer Straße; übergab den
älteren Knaben, dazu ihre ganze Wirtschaft, als die Wahrhaft Schwachen sich
Tschön-ting näherten, dem Besitzer des Nachbarhauses zur Pflege, sagte, daß
sie auf ein paar Tage verreise, und wanderte in das Lager des Ma-noh. Es
erübrigt sich, zu berichten, wie es ihr und andern draußen erging. Sie
fanden nicht, was sie suchten und bemerkten schließlich, daß sie alles
Erdenkliche erreicht hatten. Man erfüllte ihnen keinen Wunsch; man entzog
ihnen jeden Wunsch.

Ma-nohs Haufe lagerte in dem üppigen Gelände westlich des großen Sumpfes
von Ta-lou.

Schon war der fünfte Monat gekommen.

Solche Milde und Süße wehte in der sommerlichen Luft. Gegen Abend schwommen
von den Blumenhängen um das Sumpfufer verwirrte Gerüche herüber, mit dem
Windhauch abreißend, klangartig; eine Schar betäubter versunkener Geister
flog in Phosphorfunken herüber, dunkelte über den Boden hin, suchte sich an
Menschen festzuhaken. Weit voneinander ab standen prächtige Katalpabäume
auf den langgestreckten Hügeln. Die dicken braunen Knorren schwellten in
buschigem grünen Zweigwerk auf, so dicht und reich, als könnten die Bäume
nicht genug auf einmal einatmen von dem blauen Wind, nicht breithändig
genug die goldigen heißen Tropfen des Yang auffangen. Jedes der
herzförmigen Blätter trug ein glänzendes Grün zur Schau, zeigte ohne Scham
das engmaschige Aderwerk seiner Eingeweide. Wenn die Lüfte vom Sumpf
herüberkamen, tremolierten die nackten Blättchen, schnellten an, warfen die
Geisterchen platt mit der Zunge beiseite, drängten sich verliebt
aneinander. Aus der schwebenden grünen Masse, dem hängenden grünen
Erdboden, hingen an Stengelchen bräunliche Fäden herunter und klappten ins
Gras, wie bräunliche sich windende Regenwürmer, die vom Fall erschlagen
wurden und das schöne Moos befleckten. Wo die Hügel abflachten und in die
Talmulden übergingen, wucherte der ornamentale Mikanthus, der mannshohe
starre Halm, die zebraartig quergestreifte Staude, unbewegliches sich
verjüngendes Gelb und Grün, an dem sich die Kugeln der blassen Regentropfen
mit ihren Spektren aufspießten.

Auf dem fetten Boden, den man von Westen her anfing zu brechen, lagerte in
Ruhe die Truppe Ma-nohs. Man erwartete die Ankunft Wang-luns, der schon die
östlicher vorgerückte Schar Chus seit einer Woche erreicht hatte.

Es war am siebenten Tage des fünften Monats, daß man einen jungen schwachen
Bruder herantrug, den man auf offnem Wege bewußtlos aufgefunden hatte. Das
fünftägige Fasten, das er sich freiwillig aufgelegt hatte nach einer
Entrückung, bekam ihm nicht. Den leichten langen Menschen, der eine Art
Kutte mit Strick trug quer über beide Arme gelegt, schleppte ein
baumstarker Mann im Soldatenkittel; der Mann bückte sich mit dem
schweißtropfenden Kopf weit nach vorn, um den Schatten seines riesigen
Strohhuts über das Gesicht des jungen Menschen zu werfen. Überall waren
Hütten und Zelte wie bei einer Armee aufgeschlagen; Ma-noh ließ zwanzig
Männer abwechseln, Bretter auf Segelkarren fahren hinter und vor dem
Haupttroß, weil die Kälte- und Feuchtigkeitserkrankungen unter den Brüdern
und Schwestern überhand nahmen. Unter den kühlen Katalpabäumen legte der
Soldat, Deserteur der Provinzialtruppen, den Kranken vor ein Zelt in das
trockene Moos, tropfte aus einem winzigen schwarzen Glasfläschchen eine
grüne Flüssigkeit auf die borkigen Lippen des Bewußtlosen, setzte je zwei
Tropfen hinter seine Ohren. Der Kranke seufzte, suchte die Tropfen hinter
den Ohren abzuwischen, kaute mit den Lippen, schlug die Augen auf. Der
Soldat sah ihm zu, kommandierte, er solle den Atem verhalten, jetzt langsam
atmen, jetzt den Atem verhalten.

Die Sonne war untergegangen. Ma-noh lehnte, bis die graue Dämmerung
heraufzog, gegen die Bretterwand seiner Hütte, zählte, rechnete, blickte
durch die hohle Hand nach den Sternen, griff sich an die Brust, lag mit der
Stirn am Boden: morgen war der Tag der Vollendung Cakya-munis, des Reinen,
des Schwertträgers der durchdringenden Weisheit.

Als Ma sich aufgerichtet hatte und in dem warmen Moos hockte, fing er
nachdenklich zu lächeln an, von der dunklen Luft eingerundet. Seine Augen
zwinkerten; gelblich standen sie in den schmalen Spalten, wie junge Hunde,
die aus einem halboffenen Koffer herausschnappten. Man ging mit
Papierlaternen an ihm vorbei, ein vielstimmiges glückliches Singen klang
aus dem Frauenlager von dem östlichen Hügel herunter. Von Zeit zu Zeit
harte gleichmäßige Männerrufe. Irgendwo betete man. Der undurchdringliche,
schwere, dickleibige Himmel drängte sich eng an die Erde, die ihm, wo ihn
die Sonne verlassen hatte, verwandt vorkam; mit Millionen blinkender Sterne
lispelte er ängstlich nach etwas Nahem, bettelte bei der Erde, die er sonst
mit kaiserlichem Gleichmut um seine geschwollenen Füße laufen ließ. Es
blökte ein klägliches »Wä wä«, näherte sich, umschwirrte, dumpfte gegen die
Holzlatten. Aus dem Bambusdickicht schwirrten Vögel herüber, flogen dicht
an Mas Zelt vorüber in die Mikanthusfelder. Ma schloß die Augen; er sah die
Satyrhähne, wie sie im Sommer auf Nan-ku und durch die südlichen Gebirge
flogen: türkisblaue Hörner, runde dunkle Augen in einem schwarzen Kopf;
feurig schwollen Brust und Bauch; auf braunem Mantel und braunen Schwingen
des kleinen Fliegers flimmerten die augenförmigen Ringe. Wie sie bellten.

Morgen wird man den Tag der Vollendung des herrlichen Cakya-muni feiern. Ma
bewegte sich nicht. Hier hielt man sich an ihn, vertraute ihm. Ihr Wohl lag
in seinen Händen. Er schmeckte eine Bitterkeit an seinem Gaumen und
schluckte. Es wird alles rudern, schwimmen, fliegen zu den Inseln im großen
Ozean, es wird alles gut geraten und ist alles gut geraten: die Boote
gerichtet, die Ruder bereit, das Steuer fest eingespannt. Kuan-yin hieß die
Schiffergöttin, die die Überfahrt leitete, am Bug stehend, dem Wind die
Richtung weisend. Sie lasen vor ihren Zelten, die Frauen sangen, lagen alle
gut im Schatten der Kuan-yin. Er der Bootsknecht, der treue Steuermann.
Sein Wohl lag in ihren Händen; er suchte sich zwischen ihren Handflächen,
wie er zermalmt, zerrieben, ins Gras gestreut würde. Der weise Prior von
Pu-to hatte ihm einmal die Schule nicht gegeben, den Unterricht der
Novizen, den er wünschte; es war ein weiser Prior; jetzt hatte er Novizen,
so viel er wollte, sie gingen mit ihm, wohin er wollte, und er war schon
nicht mehr stolz.

Ma-noh verbarg, über sich gebückt, sein kaltes Gesicht in den Händen. Und
er verbarg sich auch, daß er sie leise, scharf haßte, in einem tuckenden
unheimlichen Schmerz, den er hinter dem Brustbein spürte. »Wang-lun«,
seufzte er. Ma-noh sah ihn schon wie die andern, mythisch groß. »Wang-lun,
Wang-lun«, wimmerte Ma-noh; er fühlte in sich unklare Dinge regsam,
Wang-lun konnte alles schlichten. Was war dies für eine grausame Reise nach
Schan-tung zu der Weißen Wasserlilie, und er kam nicht, und er kam nicht
zurück.

Und er kam zu spät zurück. Wohin sollte das gehen? Sie wurden alle still
und klar, hoffnungsfreudig auf eine besondere Art. Nichts wurde aus ihm.
Seine goldenen Buddhas, die kristallene tausendarmige Göttin fuhr man im
Karren hinter ihm her als eine Speise, von der er nie aß. In der täglichen
Arbeit für die Brüder gab es keine Versenkung, keine Überwindung. Die vier
heiligen Stufen berührte er mit keinem Fuß mehr: nun in die Strömung
eingegangen, einmal wiedergeboren, keinmal wiedergeboren, Archat, Lohan,
sündenlos Würdiger, ja, der mit demselben Blick Gold und Lehm betrachtet,
den Sandelbaum und die Axt, mit dem er gefällt wird. Nichts, nichts mehr
von den Freudenhimmeln, wo sie auseinander weichen, die Geister des
begrenzten Lichts, die Bewußtlosen, die Schmerzlosen, die Bewohner des
Nichts und jene, die sind, wo es weder Denken noch Nichtdenken gibt. Mild
und stumm saßen auf dem Nan-kupasse die goldenen Buddhas vor ihm, die
Ohrlappen bis auf die Schultern gezogen, unter dem blauen aufgeknoteten
Haar die runde Stirn mit dem dritten Auge der Erleuchtung, weite Blicke,
ein aufgehelltes, verdunstendes Lächeln über den aufgeworfenen Lippen, auf
den runden schlanken Schenkeln hockend, die Fußsohlen nach oben gerichtet
wie die Kinder im Mutterleib. Nichts mehr von dem. Und auch nichts von
Wang, von Stille, Gleichmut; er nahm nicht teil an dem wachsenden Ring der
Frommen. Und nichts von anderem, anderem.

Morgen wird man den Tag der Vollendung des herrlichen Cakya-muni feiern.

Ma-noh nahm seine zitternden heißen Finger vom Gesicht, legte die Hände vor
der Brust aneinander, brachte die Finger in die heilige Mudrastellung,
bannte sich in der dunklen süßen Sommerluft.

Er erhob sich, schlug für seine Papierlaterne Licht, ging in die Hütten
einiger Männer, denen er mit einer starren Ruhe sagte, daß morgen der Tag
der Vollendung des Allerherrlichsten Buddhas wäre; sie sollten zur Feier
eine Barke der Glücklichen Überfahrt bauen. Als er zum Lager der Frauen
hinüber ging, bewegten sich rasch und durcheinander die bunten Laternen
nach dem andern Hügel hinauf, wo die Bretterstapel der Brüder lagen, die
zum Hüttenbau nicht benützt waren. Zwanzig Schritt vor dem ersten Zelt der
Frauen blieb Ma-noh am Abhang stehen, schwang seine Laterne, sagte sehr
leise, als drei Frauen zu ihm liefen, morgen wäre der Tag von Cakyas
Vollendung; die Brüder würden eine Barke der Glücklichen Überfahrt zimmern;
er bäte die Schwestern, an die hilfreiche Göttin der Überfahrt zu denken.

Am Morgen tuteten Muscheltrompeten vom Hügel der Brüder, fünf Stöße. An
dünnen Tauen zogen die Männer eine lange rohgezimmerte Barke aus dem Dunkel
der Katalpen hervor, schoben sie sachte, seitwärts und hinten stützend,
herunter mitten zwischen die Mikanthusstauden, die das Schiff wie Wellen
teilte. Eine lange Reihe von Mädchen und Frauen tauchte in den scharf
scharrenden Halmen auf; voran gingen junge Weiber, auf deren ausgestreckten
Armen eine riesige bunte Zeugpuppe lag. Sie drangen vor Ma-nohs Zelt.

Ma-noh stand im Freien, sehr schweigsam, im vollen priesterlichen Ornat,
mit der schwefelgelben Kutte und prächtiger roter Schärpe, die schwarze
vierzipflige Mütze auf dem Schädel; den Kopf gesenkt, die Hände in
Mudrastellung. Die Frauen mit der Puppe knieten hin. Es bedurfte einer
langen Zeit, bis er sie ansah. Sie baten, ihrer Puppe vom Geist seiner
Göttin aus Bergkristall abzugeben, ihrer Göttin das Licht zu öffnen. Ma-noh
schien übernächtig; er sprach matt. Er lag geraume Weile im Zelt, wo man
die Puppe neben die Kuan-yin an die Erde gestellt hatte; es schien, daß er
betete. Dann kamen die Frauen herein; eine hielt eine kleine Holzschale mit
einem roten Saft, in dem ein Stengel schwamm. Ma nahm den Stengel,
zeichnete der Puppe rote Klexe: Augen, Mund, Nasenlöcher, Ohren; nun konnte
die Puppe sehen, schmecken, riechen, hören, hatte eine Seele, war eine
Kuan-yin, Göttin der Barke.

Zehn Männer und zehn Frauen gingen an diesem Tage in die Nachbarschaft zu
heilen, zu arbeiten, zu helfen, zu betteln. Man betete lange Stunden auf
dem Mikanthusfelde in einer Reihe die Männer, in einer Reihe die Frauen;
vor dem Schiff Ma-noh. Eine Handglocke klingelte, man fiel auf die Stirn;
der Priester las eintönig vor; von Zeit zu Zeit fielen die Hörer ein. Als
die Sonne nicht mehr senkrecht strahlte, setzten sich Männer und Weiber
gemeinsam um das Schiff, an dessen Mast die bunte Göttin angelehnt stand,
zum Mittagessen hin.

Auf der Riesendschunke unter dem Zeichen des kaiserlichen Drachens segelten
sie früher. Zwergteufel, Schatten, harmlose Katzen mit vertauschten Seelen
kletterten früher an den Strickleitern und Masten herauf, sprangen an
Schiffsbord, stürzten sie, von hinten anstoßend, ins Wasser. Ertranken
nicht, wurden in ein anderes sehr stilles Land geschwemmt, zimmerten sich
eine Barke, an deren Mast Kuan-yin stand. Männer und Frauen lösten sich in
Gruppen, saßen und lagen im Gras, unter den Bäumen. Geschichtenerzähler
gingen herum, Springer und Gaukler zeigten Künste, ein paar ehemalige
Kurtisanen, die an verschiedenen Teilen des Tales musizierten, taten sich
zusammen, sangen, auf die Barke tretend, um die Kuan-yin ziehend Hand in
Hand, das Freudenlied von dem grünen Felsen; vielstimmig tönte das süße
feine Lied, oft wiederholt, über die niedrigen Hügel, von den Bäumen
zurückgeworfen.

Man glättete einen aufgeworfenen Erdhaufen auf der Höhe des Frauenhügels,
indem man rasch mit Brettern auf den Boden schlug, lud einen jungen
Eunuchen und eine großäugige schlanke Kurtisane ein, zu tanzen. Dann trat
zuerst der junge Eunuch auf den Platz, allen im Mikanthusfeld und auf dem
Abhang des Männerhügels sichtbar, mit den Gliedern einer Gazelle, aus
stolzen schwärmerischen Augen um sich blickend. Er trug einen gewöhnlichen
losen Kittel und lockere Hosen von schwarzer Farbe; jeder wußte, daß er
eine große Kleiderkiste aus Pe-king nahm, als er zu Ma-noh floh. In seinem
schwarzen lockeren Anzug, den Zopf im Knoten aufgebunden und nun die
leichten Arme angehoben, tanzte er.

Er ging, zappelnd im Kniegelenk, auf und ab, knixte langsam ein, bis er auf
seinen Hacken saß, zog sich ruckweise hoch und schlug die Arme, mit den
Handflächen nach außen, dichter und dichter über dem Kopf zusammen. Dann
stand er still, drehte das Gesicht zur Seite, so daß man sein strahlendes
Lächeln sah, und fing an, ein Bein vor das andere gestellt, sonderbare
Bewegungen mit Rumpf und Armen auszuführen. Er beugte sich weit nach
rechts, legte die Arme vor die Brust zusammen, beugte sich weit nach links,
führte den Rumpf im Kreis herum; löste nun, den Rumpf festgestellt, die
Arme, ließ sie seitlich flattern, ringeln, haschen. Er schwang die Arme
scharf herum, und wieder flatterten sie sanft, ringelten, haschten. Nun
stellte sich rasch ein kleiner Fuß vor den andern, trippelte auf der
Stelle, dabei flogen die Arme nach einer Seite und bis in die gestreckten
Finger hinein folgte die Bewegung; es sah aus, als wäre der Körper gebannt
und suchte vergeblich, den Händen, Fingern nachzulaufen. Die Bewegung der
Füßchen wurde immer wilder, zuckend, springend, bis es dem Tänzer gelang,
sich in einem großen Satz nach rechts, in einem großen Satz nach links vom
Fleck zu lösen, und bis er in glücklicher Raserei hoch und nieder hüpfte,
seitlich ganz auf den Boden umsinkend, und sich in einem Tremolieren wieder
zurückzwang auf den Fleck. Schon glitt die großäugige Kurtisane neben ihn,
die niedrige runde Stirn frei, die schwarzen Haare im Chignon der dreizehn
Windungen aufgebunden, ein fettes wohlmodelliertes Gesicht; ein hemdartiger
langer Kittel von hellgrauer Farbe über der kleinen Figur; aus den
violetten Beinkleidern quollen an den Knöcheln weiße Spitzen hervor. Den
grasgrünen Gürtel hielt sie in der linken Hand. Sie fing mit kurzen
Kopfbewegungen nach beiden Seiten an, dann kam ein Nicken, Heben, behaglich
langsames Kreiseln des Kopfes. Als das Rucken wieder losging, traten die
Hände in Tätigkeit, die schlaff an angepreßten Armen hingen, sie klappten
vor den violetten Beinen erst unmerklich, dann heftiger auf und ab, rissen
die Unterarme hoch. Beide Arme ausgestreckt; unter wirbelnden Handdrehungen
zuckte sie schroff seitlich mit den Hüften; und die Bewegung übertrug sich
abwärts in die Beine. Erst wurden sie von dem Hüftenschwung mitgezogen,
dann schwangen sie, angesteckt, gereizt, enthusiasmiert, mit ihrer Zuckung
mit, nach rechts, nach links und traten, schlenkerten, zitterten in eigener
Weise. Die starken Oberschenkel preßten sich zusammen; die Unterschenkel
rührten sich umeinander, schnellten in den Knien auseinander, klappten
zusammen. So sprang das Mädchen, den Gürtel auf beiden Armen balancierend,
um den abgegrenzten Platz und den jungen Eunuchen herum, der sie in einem
unübersehbaren Rhythmus mit Kopf- und Handbewegungen begleitete. Sie
tanzten beide umeinander, nebeneinander. Der Eunuch sank auf die Erde und
schob, die Arme im Rhythmus hochgeschleudert, langsam und gewaltsam seinen
zarten Körper aus dem Boden auf; die Kurtisane stand steif über ihm, die
Arme quer vor die Stirn gelegt. Als er zum letzten Wurf die Arme schwang,
stürzte sie auf ihre Fersen nieder, und nun lockte er, mit den gespreizten
Fingern ihren begegnend von oben, sie hoch. Als wenn sie Fische wären,
schwammen sie mit ausgebreiteten Armen, geraden Fingern gegeneinander.

Sie tanzten vor den unersättlichen Zuschauern in den Maskenkostümen des
jungen Eunuchen den Tanz der Pfauenfedern, der roten und schwarzen
Bandstreifen. Man unterschied nicht Mann und Frau. Mit Anbruch des Abends
belebten sich alle. Die Barke mußte mit der scheidenden Sonne ihre Fahrt
antreten. Die Frauen hockten beratend zusammen; sie hatten lange bunte
Papierstreifen über ihren Knien; sie kritzelten ihre Namen und die
geliebter Seelen darauf; malten Bannformeln gegen Gespenster, Krankheiten,
liefen nach der Barke und warfen die Zettel vor die Puppe. Die Barke hatten
Männer am späten Nachmittag prächtig mit rotem Papier geschmückt, lange
Wimpel an den Mast gesetzt, kleine Segel an Schnüre gezogen, sie mit
tausend roten Augen besetzt. In dichtem Haufen umstanden alle das Schiff;
die Handglocke klingelte. Jetzt blitzte Feuer auf, brennende Papierstreifen
flogen auf die Planken, über Deck. Man wich zurück. Das Schiff fing an
Steuer und Bug Feuer; eine hellrote Flamme huschte über Segelleinen, fraß
Segel, und im Nu brannte die ganze Takelung unter blendendem Licht auf. Ein
»Ahi« des Entzückens; sie hoben die Hände. Das Licht erlosch. Die Göttin
stand; die Bodenbretter, auch das Seitenholz brannte qualmend, knackend,
Funken spritzend. Man warf sich hin, unablässig ängstlich betend, daß die
Göttin die Wünsche auf ihre Reise mitnehmen möchte. Der Qualm wurde
dichter, das Krachen des Holzes lauter; die Flamme arbeitete tüchtig. Ein
weißlicher Schein, der an Helligkeit rasch zunahm, manchmal verschwand, um
zaghaft wieder aufzutauchen, durchbrach den Qualm. Schon stand der Mast und
die Göttin im Rauch; man erkannte noch etwas Stilles, Braunschwarzes.
Breiter und höher wuchsen die Flammen; wühlten wolkenartig ineinander. Sie
traten wie dünner Sand zwischen den Fugen der seitlichen Bretter heraus,
griffen mit tropfenden Händen nach den schön geschnittenen Rudern, rührten
sie als muskulöse Bootsleute. Prächtiger als rotes Papier wehten die
feurigen Wimpel. Dann verlor der Schein alles Rötliche; ein weißes
gleichmäßiges Licht blendete und nun --. Alle fuhren zurück. Zischen,
bläuliches Dampfen mitten in dem weißen Meer; lange bewegungslose
Rauchlinie über den Gluten.

Als das Geheul der Flammen nachließ, war Kuan-yin verschwunden. Durch den
schweren Rauch drangen sie von allen Seiten an die Barke. Es verbrannte die
Oberschale mit den Zetteln; sie stocherten glücklich, vergeblich nach
Papier auf dem glimmenden Holz; die Göttin hatte eine freudenreiche
Überfahrt angetreten. Mit leisem Plaudern ging man auseinander.

Die Nacht kam. Auf den Hügeln, unter den Katalpen, im Moos, im
Mikanthusfelde schlief man. Durch die unregelmäßigen Zeltreihen kletterte
vorsichtig ein aufgeschossener Mann im Dunkeln ohne Laterne, rutschte ein
Stück des Hügels herunter, stolzierte im Tal: dies war der Nachtwächter der
Truppe. Er ging in der völligen Finsternis, spähte rechts, spähte links;
trug ein kleines Köfferchen an der Hand. Er nannte sich der
»Dämmerungsmensch«; seinen wirklichen Sippennamen wußte man nicht; sehr
geachtet in der Truppe war dieser ältere Mann, der ein paar Li hinter
Tschön-ting sich dem Zuge angeschlossen hatte. Es gab Tage, wo er sehr
erregt war, brüllte, der Karawane mit einem kleinen Metallspiegel in der
Hand nachlief, sie wie ein Hund bekläffte, Zurückbleibende verdrängte,
warnte, schreiend auf seinen Spiegel wies. Unter dem Kittel hing an seinem
Hals ein Schwert, geflochten aus Pferdehaaren, lang und dünn, von einem
Stück Holz gehalten, mit kleinen Haarzöpfchen besetzt; dem Schwert sollte
große Gewalt innewohnen. In dem Köfferchen trug er den »König der linken
Seite«: dies war ein Schatten von ihm, den ihm einmal ein niederträchtiger
Betrüger entwendet hatte. Der Dämmerungsmensch stellte den Schatten eines
späten Nachmittags, als er ihn gerade wieder foppte, sperrte ihn in das
Köfferchen ein, das er mit Vorbedacht bei sich trug. Er öffnete den Koffer
nie; wenn der König der linken Seite entwischte, war sein triumphierender
Besitzer nicht mehr des Lebens sicher.

Abends schlief der Mann nur wenige Stunden. Er suchte nachts einen Schatten
von sich, der Hai-ling-tai hieß und nur in dickster Finsternis unter
besonderen Vorkehrungen sichtbar wurde.

Der Dämmerungsmensch ging auf den Zehen um die verbrannte Barke zwischen
den Stauden, bog sachte Halm um Halm beiseite, kauerte mit angespannter
Aufmerksamkeit hin. Ab und zu nickte ein breiter Halm, dann griff er ihn
beim Fuß, betastete ihn mißtrauisch, lauerte. Als die Nacht vorrückte hörte
er unmittelbar hinter sich ein Rufen: »Dämmerungsmensch, Dämmerungsmensch!«
Er blieb angewurzelt stehen, tastete nach seinem Zopfschwert. Nach einem
Schweigen murrte es wieder: »Dämmerungsmensch!« Er erhob sich, steppte, den
Kopf zwischen die Schultern eingezogen, dem Ruf nach; Hai-ling-tai wollte
mit ihm unterhandeln.

Glitt auf einen schmalen Gang zwischen zwei Hüttenreihen. Da blinkte auf
einem Stocke eine unbedeckte Laterne; ein kleiner Mann stand auf dem Gang,
rief: »Dämmerungsmensch«. Es war Ma-noh, gegen den der alte Wahrsager
anlief. Ma-noh flüsterte, er möchte diese Nacht vor seiner Hütte wachen.
Sobald der Morgen anbräche, möchte er hereinkommen; der Dämmerungsmensch
sollte einen kleinen Auftrag für Ma-noh ausführen.

Während draußen das Umsichspähen, Schlagen durch die Luft wieder anfing,
vollzog sich drin das Ereignis, das das Schicksal der Schlafenden auf den
beiden Hügeln und dem Tale entschied.

Als der Dämmerungsmensch einen grauen Schimmer am Himmel entdeckte,
marschierte er steif in die Hütte, wo Ma-noh auf einem Strohsack lag und
sich aufrichtete. Er umarmte den Alten und hielt sich an seiner Brust fest.
Der lächelte drohend über dem gebückten Schädel, schwang abschreckend sein
Schwert nach den acht Himmelsrichtungen. Der kleine Priester brummte:
»Dämmerungsmensch, du wirst deinen Bruder erfreuen. Geh in alle Hütten und
Zelte der Männer, weck sie einzeln. Ma-noh läßt sie bitten, auf dem freien
Platz, wo wir den vollendeten Buddha feierten, sich zu versammeln. Sie
möchten gleich kommen. Noch bevor die Sonne aufgeht, läßt sie der arme
Bruder bitten.«

Von dem Hügel krochen sie herunter. Gewimmel von Laternen zwischen
kohlschwarzen Stämmen. Klappern, halblautes Sprechen, Gähnen, lahme
Knochen, Drängen, Trappeln. Als sie auf dem freien Platz im Tal standen,
schlug und krachte es hölzern; die Reste der Barke stürzten, von den
schiebenden Menschen angerührt. Der halbverkohlte Mast sauste seitwärts,
die Splitter flogen, rissen Löcher in Laternen. Die Männer stapelten die
Bretter, hockten herum, warteten.

Ma-noh kam im zerrissenen bunten Mantel. Hinter ihm stolzierte der
feierliche Dämmerungsmensch; er schwenkte auf dem Arm Ma-nohs
Priestermantel, Schärpe und Mütze. Als man Ma einen erhöhten Platz auf dem
Bretterstapel einräumte, legte sein Begleiter die Kleider neben ihn,
nachdem er in die acht Himmelsrichtungen mit dem Zeigefinger gestochen
hatte. Gequollen und rot waren Mas Augen; sein farbloses Gesicht gedunsen
vom Weinen; auf Händen und Unterarmen blutige Kratzstriemen.

Die vielen Männer und ihr Führer, der unüberwindliche Zauberer, saßen sich
stumm gegenüber, Mauer gegen Mauer. Die Nächstsitzenden blickten auf
Ma-nohs Schärpe. Ihre Unruhe übertrug sich auf die Entfernteren. Man weckte
ihn, rief ihn an. Er solle sprechen.

Er stand auf, drehte die Priestermütze in den Händen. Er erzählte stockend,
daß er auf dem Nan-kupaß jahrelang den goldenen Buddhas vergeblich gedient
hätte. Der Mann aus Han-kung-tsun kam da, er lebte nun richtig. Aber
Wang-lun sei jetzt monatelang weg, er käme nicht zurück, er käme nicht
zurück und wenn Wang-lun jetzt zurückkäme, so käme er zu spät. Dies wolle
er ihnen sagen.

Ma-noh fiel in sich zurück. Wenn er die Lider raffte, blickte er erschöpft,
aus übergroßen einschlafenden Augenkreisen. Seine Stimme klang völlig
verändert, weich, nahe, wie die eines Wohlbekannten.

»Was ist geschehen? Hat dich einer verletzt? Was hat man dir getan?«

Er wiederholte dreimal, fünfmal, zehnmal, daß er zu ihnen sprechen wolle,
verschluckte sich, verschränkte die Arme, wandte sich von einer Laterne ab,
die man ihm ins Gesicht hielt, flüsterte: »Omito-fo, Omito-fo, Omito-fo.«
Und dann rief er laut mit der Stimme, die ins Herz schnitt: »Ich will fort.
Von ihr, die über das schaumvolle weiße Meer führt, ist mir nichts zuteil.
In den wachsenden Ring der Frommen bin ich nicht aufgenommen. Ich muß mich
opfern für euch, ich weiß, daß ich es muß, weil mir anderes versagt wurde.
Aber euer armer Bruder, der nicht euer Bruder ist, kann nicht mehr leben.
Ich will fort. Schmäht mich nicht oder schmäht mich. Euer armer Bruder ist
rettungslos auf das Rad des Daseins geflochten und weint darum vor euch.«

Die Männer beteten. Die klaren Köpfe wurden von einer stärkeren Bestürzung
befallen.

»Was willst du?«

»Du brauchst uns nicht mehr zu führen. Wir wollen uns abwechseln.«

»Hab doch Geduld, Ma-noh. Wang-lun steht nur zweihundert Li hinter uns.«

»Ma, dich hat ein Dämon befallen. Glaub es mir. Das ist ein Dämon.«

»Du bist unser Bruder. Wir sind nicht reiner als du. Du mußt verzweifeln.
Bleibe hier, bleibe bei uns, Ma!«

»Was willst du?«

Mas Erregung wuchs. Die Zurufe erreichten ihn nicht.

»Ich will fort. Ich bin an das Rad des Daseins geflochten. Es will mich
schleppen durch alle unreinen Tiere und Kräuter. Ich widerstrebe nicht,
nein, ich widerstrebe nicht, nicht mehr. Ich habe widerstrebt dem Schicksal
bis zu diesem Augenblick, wo ich den Dämmerungsmenschen im Mikanthus nach
dem Hai-ling-tai suchen hörte. Meinen Schatten hat man mir gestohlen. Ich
war nicht so schlau wie der Dämmerungsmensch. Ich habe kein so gutes
Schwert wie er. Ich habe keinen Koffer wie er. Ich bin nicht so wachsam wie
er. Mein Schatten ist nicht der König der linken Seite, ich habe auch den
Hai-ling-tai verloren, und den Lu-fu und den Soh-kwan und den Tsao-yao. Wer
alle Schatten verloren hat, muß sie suchen oder muß sterben. Verzeiht mir,
Brüder, daß ich nicht mehr widerstreben kann, daß ich mein Schicksal über
mich ergehen lasse. Nicht mit Stillschweigen, denn das kann ich nicht,
sondern mit Greinen, Heulen, Zerfleischen meines Lebens. Ich muß in das
Licht gehen, das mich beleuchtet. Verzeiht mir, Brüder.«

Die Männer saßen dumpf da. Ma schlug mit Keulen auf sie. Die Köpfe der
meisten senkten sich, sie hielten den Atem an.

»Ich habe euch rufen lassen, bevor es hell wird, denn ich will mit mir noch
an diesem Tag der Vollendung des herrlichen Cakyasohnes fertig werden.
Nicht vollenden will ich mich, nur beenden. Euer armer Bruder glaubt nicht
mehr an eine Vollendung für sich. Er hat der hundertarmigen Frau keinen
Zettel mit seinem Namen in die Barke geworfen, denn er weiß schon lange,
daß sie ihn nicht mitnimmt. Seht mich, einen Menschen, der seufzt und
stöhnt, und so in -- die Freiheit geht.«

Er verzog seinen geschwollenen Mund, so daß er zu lächeln schien. Er bückte
sich, suchte mit den Händen auf den Brettern, zog seine gelbe Kutte empor,
wiegte sie über den Armen. Ma-noh war besessen von Schmerz. »Ich wäre
glücklich, wenn ich Wang-lun nicht gesehen hätte. O hätte ich Wang-lun
nicht gesehen, meine gelbe seidene Blüte! In meiner Hütte auf Nan-ku hab
ich mich angespieen, hier muß ich meine Eingeweide zerreißen.«

Nahm einem Manne neben sich die Laterne aus der Hand, leuchtete vor sich,
über sich, streckte sich vor, horchte über die schwarze lautlose Masse hin.
Kraniche flogen vom Sumpf herüber. Dann schwang er mit beiden Armen die
Kutte wie ein Banner herum und rauschte: »Wißt ihr, wohin er geht, Ma-noh,
der Priester der Kuan-yin auf Pu-to-schan, der Freund des Wu-wei, der
Lehrer der kostbaren Regeln? Wohin er stürzt? Ich sage es euch gern, was
ich schon seit Wochen gewußt habe, als mich Wang-lun hat gehen lassen mit
euch. Als er mir den Kessel und die Bohnen gab und nicht mehr Zeit fand zu
sagen, wie ich kochen sollte. Er hat mich verlassen. Er darf nicht böse
Geister auf mich hetzen, wenn ich ihn verlasse. Yen-lo-wang, der Fürst der
Unterwelt, weiß, wie bitter mir schmeckt Wang zu verlassen. Wißt ihr, in
welche Freiheit Ma-noh geht? Dämmerungsmensch, weißt du es nicht? Sui,
Twan, Chang, keiner von euch?«

Jetzt lachte er hitzig, leicht wie eine Seifenblase platzend, trällernd mit
dem weichen Tonfall, den er an diesem Tage zum erstenmal fand: »Ich gehe --
-- zu einer Frau auf dem andern Hügel, die mich vielleicht schon erwartet,
liebe Brüder. Nun wißt ihr's. Und nun ist alles aus.«

Ein Schluchzen und Brüllen von der furchtbaren Art des Weinens älterer
Menschen klang eruptiv aus der dunklen Masse. Niemand regte sich, hob den
Kopf. Der kleine Priester tappte die Bretter herunter. An der vorderen
Reihe der Hockenden ging er vorüber, keiner sah ihn an. Am hinteren Ende
der Barke, wo das umgebrochene Steuer lag, zupfte ihn einer am Mantel. Ma
blieb stehen. Aus dem Dunkel wackelte ein riesiger Mensch auf, sagte
herunter mit harter Stimme: »Bruder, du mußt an den nächsten Ast.«

Ma riß verächtlich seinen Rock los. Zehn Hände griffen nach dem Riesen, der
mit kalter Stimme dröhnte: »Er will uns verraten. Keine Regel hat hier
Geltung. Er muß an den nächsten Baum, Brüder.«

Zwei Männer verstellten ihm den Weg, kaltblütige Bauern, die eine Woche bei
der Truppe waren. Sie schleuderten seine Hand ab: »Du bist kein Richter.
Wir sind Brüder zueinander. Wenn du Ma angreifst, werden wir dir die Hände
abschlagen.«

Indem sie der Riese noch fixierte, packten sie ihn bei den Beinen,
kenterten ihn auf die Erde, stemmten ihn nieder. Er heulte, klammerte sich
an die Hosen der Bauern. Fackeln, Holzstücke flogen von hinten über sie.
Man drängte sich um die Ringenden, sperrte sie auseinander. Sie keuchten.

Das entsetzliche Weinen krampfte aus der schwarzen Masse.

»Wo ist Wang-lun? Warum kommt Wang-lun nicht zu uns?«

»Ich will beten, liebe Brüder,« sang jemand laut, »unser Ring wird sich
zusammenschließen. Die Zeit des Maitreya ist noch nicht da. Ich muß beten.
Wir sind verloren.«

Die Männer krümmten ihre Wirbelsäulen, rieben ihre Schläfen an dem feuchten
Moos. Die bittende Sutra der Überwindung schauerte aus tausend Mündern über
das graue Feld.

Ein junger Mensch, der Ziseleur Hi, gewöhnliche Gesichtszüge, breiter
vorgeschobener Unterkiefer, sprang langbeinig durch die Reihen, stieg
ungeschickt über die Rücken einiger Männer, pflanzte sich auf dem
Bretterstapel auf, kreischte in Ekstase, mit den Händen fuchtelnd: »Es
hilft uns nur das Beten. Maitreya kommt. So muß die Stunde, der Ort
beschaffen sein, wenn Maitreya kommen soll. Beten, um aller fünf
Kostbarkeiten willen, beten. Bleibt nicht liegen. Schließt den Ring. Ihr
seid meine Brüder. Steht mir bei!«

Er grimassierte fort, warf die Arme wie Mühlräder umeinander, wälzte sich
schäumend auf den Brettern, von denen er bei einer Streckung
herunterpolterte.

Das dumpfe Weinen in der Masse vertiefte sich zum Stöhnen, zum hilflosen,
stoßweisen Ächzen. Die Hälse reckten sich weit vor nach dem krampfenden
Ziseleur. Die Augen rollten, je länger sie hinaussahen; das Feld und der
graue Hügel verschwamm. Ihr Mund klaffte. Sie lächelten alle seltsam und
machten Gesichter, als ob sie neugierig gespannt wären. Der Speichel
tropfte ihnen über die Unterkiefer, sie schnüffelten, sie stimmten ohne es
zu merken in das Gröhlen zur Rechten und Linken ein. Dann wollten sie noch
einmal rasch Hi etwas fragen. Aber beim Aufrichten befiel ihre Unterarme,
Knie und Nacken ein Zittern. Ein Schütteln, Schleudern der Glieder, Starre,
Rückwärtsbeugung der Nacken, ihr Lächeln wurde stärker. Schon zuckte es
wohlig über die Schenkel, die Bauchwand, in den Flanken, warf sie herum.

Die rote Welle schlug über das Tal.

Der Dämmerungsmensch und zehn andere wanderten her und hin durch das Feld
mit Binsenruten, dornigen Zweigen. Sie sprangen den Befallenen auf die
Brüste, strichen ihre Hände und Münder, fächelten die gefährliche Luft von
ihnen weg, stachen ihnen mit den Dornen unter die Brustwarzen, über die
Scheitel, plappernd, sich wehrend, wendend, anspringend.

Der kleine gebückte Mann am zerbrochenen Steuer der Barke drehte den Kopf
nach allen Seiten, blickte lange Zeit den und den an. Er dachte nicht. Er
strahlte. Warum sie nur alle hinfielen, wie gewandt dieser da sprang. Man
müßte Nadeln glühend machen und ihnen unter die Fußnägel stecken, damit sie
erwachen. Als er neben sich das Schluchzen hörte, hob sich sein Brustkorb,
wie ein Berg unter einem Erdbeben, seine Kehle wurde heiß, eine glatte Hand
strich an seiner Speiseröhre wie an einer Wurst auf und ab, verschob eine
Walze; er weinte mit ihnen. Leise und glucksend, bemüht nicht aufzuhören,
immer fließen zu lassen diesen unbekannten warmen Quell, der über seine
Lippen, Fingerspitzen, Nägel rieselte, mit dem er sich Schläfen und Ohren
betupfte, die Hände wusch und wusch.

Das steinerne Brüllen im Tal verlor sich. Überall riefen sie sich heiser
an, schoben sich voneinander. Sie hatten sich quer übereinander gewälzt.
Einer richtete sich auf und rieb seine gequetschten Schienbeine. Einer saß
und betrachtete, als ob es Edelsteine wären, die verkohlten Holzstücke
unter seinen Knien, prüfte einen Splitter an der Lippe, leckte mit der
Zungenspitze. Sie scheuerten sich den Speichel vom Kinn mit langsamen,
unterbrochenen Bewegungen, gähnten, rülpsten, spien aus. Die stumpfen
Körper brüteten nebeneinander, zogen finstere Stirnen. Plötzlich, wie
angeweht, zielten sie mit den Augen aufeinander, erkannten sich, buckelten
sich hoch.

Sie schnurrten, fragten hastig: »Ma-noh will fort. Da am Steuer sitzt er
und weint.« Einige wollten sich vor ihn hinwerfen, er solle bleiben,
verzweifelt. Aber das waren nur kurze Zuckungen, Muskelphantasien.

Die Masse hielt wieder erschreckend an sich, in großer drängender
Erwartung. Jede Handbewegung, jedes beobachtende Schielen, jedes Räuspern
konnte die Wage zum Ausschlag bringen. Mehrere ertrugen die Spannung nicht;
noch schwach von der vorangegangenen Erregung suchten sie die Last
irgendwie von sich abzuwälzen. Es war das Beste, das Fong-schui zu
befragen, Konstellation von Tag, Stunde, Ort, Wind, Wasser, Bodenschwingung
zu bestimmen, aus dem Werfen der kleinen Holzstäbe Klarheit zu gewinnen.
Ein Mann suchte aus seinem Gürtel nach den Stäben inmitten der stummen
Masse; andere sahen es, standen gleichzeitig auf, wollten sich absondern.
Andere mißverstanden dies Aufstehen und Gehen, als ob die Zukunftsbefrager
sich für Ma-noh erklärt hätten und sich zu ihm setzen wollten. Sie
schlossen sich ihnen an. Man hielt sie unsicher fest, man rief: »Beraten,
sprechen! Sagt, was ihr wollt! Sprechen!«

Der kleine Nan-kupriester merkte erst halb was vorging. Er hatte
gezweifelt, ob man ihn nicht schmähen und schlagen würde. Daß man aber
nicht daran dachte, von ihm zu lassen, von ihm, dem kleinen mißratenen
eingeständlichen Tier, von ihm, der die Weihen von sich warf und zugab,
rettungslos in den Kreis der Wiedergeburten gebannt zu sein, dies konnte
nicht bald an ihn heran. Und als es herankam, schmetterte es über ihn. Es
sprengte seine Brust mit Ellenbogen von innen, schwoll von den Eingeweiden
über das Herz, das still stand, in tollem Takt wuchtete, Glocken dröhnte,
Gericht posaunte, breitete sich über die Arme und Kehle aus, und wie es um
die Mundwinkel laufen wollte, nickte sein Kopf und baumelte vor der Brust.
Er war ohnmächtig geworden, kam langsam, die Ohren voll Hymnen, zu sich,
hing an dem Dämmerungsmenschen. Er strahlte. Das warme Wasser quoll ihm
wieder über das Gesicht.

Er ließ den Alten los, kletterte auf den Bretterstapel: »Brüder, sind wir
frei?« So stammelte er, schluckte an den Tränen. »Ich habe mich bis zu
diesem Tag mit einem Stein geschleppt, mit einem bösen widerspenstigen
Geist, der mich bestahl. Ich bete zur Kuan-yin, die mich nicht erhört hat,
ich rufe zum Maitreya, der auf mich hören wird; ich will arm bleiben,
klein, ein Wahrhaft Schwacher, der das Schicksal nicht beugt; ich will
keine Dämonen in mir nähren und Opfer der Werwölfe sein. Ich will ein armer
Sohn der armen achtzehn Provinzen bleiben. Ihr schmäht mich nicht; ach, ihr
schmäht mich nicht; ihr seid gut. Ich weiß nicht, was ich spreche. Ich
kenne mich nicht vor Dunkelheit. Wer die Seele frei hat, kann das Westliche
Paradies finden. Ich habe mich nicht in Gelüste geworfen; ich habe mich
gereinigt für einen Freudenhimmel; ich habe meine eingesperrten Seelen auf
den Pfad des höchsten Kaisers gezwungen und will sie gehen lehren und mit
ihnen laufen. Und die Zauberschlüssel finden zum Kun-lun. Mit euch, meine
Brüder.«

Er jauchzte noch viel in dieser Weise. Das morgenliche Feld war ganz leer.
Ein Knäuel von Männern umgab ihn, umschlang ihn, küßte seine Füße, fetzte
seinen Mantel herunter.

                   *       *       *       *       *

Über die östlichen schwarzen Wolken fuhren blendende Streifen. Das
allgemeine rauchartige Grau lichtete sich schnell. Es wurde von innen
aufgeworfen, gesprengt und weggeblasen. Die blühende Landschaft weitete
sich. Es blitzte von kleinen Weihern auf. Im Südosten, am Sumpfe von
Ta-lou, stand schon ein magerer fadendünner Schein; jetzt bohrte sich die
Sonne ein Loch, ein Rohr, einen Trichter, und von da prallten die langen
Strahlen her, unter denen sich das Grün der Gräser und Bäume heftiger und
heftiger entzündete.

Die Blicke der jüngeren Männer flimmerten auf den Halmen, auf dem
Frauenhügel. »Unsere Schwestern, unsere Schwestern«, sagten sie, sahen sich
zweifelvoll, mit schwindligen Knien an; viele umschlangen sich zitternd,
blieben stehen, beruhigten einander, als wenn ein Unglück geschehen sollte.

Ein gigantischer Dorfschullehrer streichelte den knabenhaften Menschen, der
an seinen Ärmeln nestelte. »Tsi, die Pfirsichblüte«, flüsterte der Lehrer,
»wirst du suchen.«

»Tsi --, ich will sie nicht suchen, ich will nicht. O was geschieht uns.«

Einige lagerten ihre Leiber ins Gras; sie warfen sich auf das Gesicht,
kauten an den Halmen; Mienen gefährlich; sie schlugen sich mit aufgedeckten
Erinnerungen herum; warteten geduldlos auf das Stürmende, das sie wieder zu
Sinnen brächte.

Auf die Höhe des Männerhügels waren manche gestiegen und kollerten
nebeneinander unter den grünen Wolken der Katalpabäume; lächelten, beteten,
träumten; ließen keinen Blick von dem Frauenhügel. Reichtum aufgehäuft!
Eine Welle schlug herüber an Brüste, gegen Hüften.

Von ihnen standen welche auf, als es auf dem Frauenhügel leise klingelte.
Sie sprachen nichts zueinander, einer folgte dem andern, indem sie sich oft
umblickten nach den übrigen. Sie erreichten in halbem Laufe den Fuß des
Hügels. Im hohen Gras schwarze Klumpen, mit Kleidern, Köpfen, Knien,
wälzten sich stöhnend, rissen, schlossen die Augen. Sie liefen mit der
Sicherheit von Waldtieren. Ihre Blicke reizten. Sie riefen die Klumpen bei
Namen, zeigten ihre verheißenden Gesichter; sie lächelten, daß den andern
das heiße klopfende Blut in Schläfen, Augen, Füße schoß.

Der Ziseleur Hi lief den andern voraus auf einem Weg, der um einen Weiher
führte und die Lagerstraße vermied. Nicht weit vom Fuß des Frauenhügels
ballten sie sich zusammen. Hi rief: »Was wollen wir tun? Wir wollen sie
täuschen, Brüder. Wir beten mit ihnen zusammen.«

»Schickt einen zu ihnen, sie möchten sich versammeln.«

Man hörte, wie einer rief: »Dies ist fürchterlich«, einer drängte sich
durch die übrigen, es war der junge Mensch, er lief davon. Hi gurrte: »Ich
will sie rufen, kommt hinter mir.« Während er vorüber zackte, wallten die
Brüder demütig, Arme verschränkt, gesenkte Köpfe, bezopfte Kugel bei Kugel,
den Hügel hinauf; das scharfe Zirpen der Grillen begleitete ihr Gemurmel:
»Omito-fo, Omito-fo!«

Sie standen auf dem Frauenhügel unter dem schweren Laubwerk. Unter dem
Laubwerk wimmelte jene Masse, bei deren Anblick sich die Herzen der Brüder
tiefer und langsamer zusammenkrampften und die so volle Pulse durch sie
trieb, daß langsam der weiche Waldboden unter den Füßen mitschwang, jede
Welle rollend weitertrug. Da blickten mit neugierigen und verwunderten
Augen entwichene Ehefrauen den Brüdern entgegen; sie schienen noch immer
bedrückt, daß ihnen die Luft so ungehindert ins Gesicht schlug und jeder
ihren Mund sah. Zwischen blinden Bettlerinnen, Marktweibern schoben sich
graziös die galanten Mädchen, die hellen Tupfen auf dem strahlenden
Blumenfeld, die Glückbringerinnen, Hoa-kueis; ihr Ernst ohnegleichen; um
ihr sanftes Wesen schwebte der Hauch des Pavillons der Hundert Düfte. Im
Moos bogen verschüchterte Töchter angesehener Familien ihre behüteten
kleinen Körper; sie nestelten an ihren Rosenkränzen, hauchten ihre Andacht,
als wenn es sich um eine furchtbedrohte Schulaufgabe aus dem San-tse-king
handele.

Unterhalb der laubdunkeln Hügel ging Ma-noh durch die Lagergasse. Eine
breite Hand schob mit einer abweisenden Geste die grauen Dämmermassen am
Himmel beiseite. Feierlich zogen die weißen Schwäne des Lichts am Himmel.

Wie da der Frauenhügel zu zittern anfing.

Ein tausendfältiges Schreien und Kreischen sich über das Tal schwang und
vom andern Hügel zurückgeworfen wurde.

Wie das Entsetzen verzehnfacht sich wiederholte, ein tiefes Grollen,
Knacken, Brüllen sich unter die scharfen Stimmen mischte.

Ein augensperrendes Grausen aus dem Katalpaschatten zu entwischen versuchte
und zurückgerissen wurde.

Wie nach dem minutenlangen Rasen weiße und bunte Kleider auf dem Hügelkamm
vorspritzten, niederfielen, in das Moos tauchten, ohne Laut
herunterrollten.

Auf dem Hügel eine sonderbare Stille eintrat, unterbrochen von langen,
sakkadierten Schreien, katzenhaft durchdringendem Winseln, Musik zu
atemloser Ohnmacht, die sich in die Finger beißt, die Seelen wie in Essig
einschrumpfen läßt, zur Besessenheit der Verzweiflung, die Körper um sich
wirbelt.

Dann dröhnten Männerstimmen ins Tal: »Ma-noh, Ma-noh, der Drachen fliegt!
Ma-noh, unsere Schwestern!«

Unten brandete es über die schmale Lagergasse; man horchte hinauf, sah
einander an; man stopfte sich die Ohren, trommelte die Brüste. Über Ma-noh
schmetterte es zusammen. Es schien ihm, wie man um ihn raste, länger als
einen Augenblick, daß er ein Fürst der Unterwelt wäre, mit hundert Armen,
Geißeln, Schlangen, und hetzte fiebrige Seelen zwischen die Wandungen der
Eishölle, immer in das fressende Scheidewasser hinein, von den glasglatten
Wandungen herunter; sie knarrten und grinsten, er barst vor Freude,
schwenkte die Schädelschale. Blutgerinnend drang es auf ihn ein. Schon
pinselte eine Schwäche die ganze Innenwand seines Kopfes. Im halben Sinken
fühlte er, was vorging, ächzte, stemmte sich hoch, balancierte die Last.

Er blickte mit einer kalten Glut um sich. Besinnung, Ruck, mit dem ein
gleißendes Machtgefühl aus ihm heraussprang, um sich schlug, kalt äugte.

»Es ist gewollt. Dieses nehme ich auf mich.«

Zwei tiefe Atemzüge. Er drehte sich betäubt um; das Tal blühte wie vorher.
Er empfand mit verstecktem Entsetzen, daß etwas Unbekanntes aus ihm
hervorgetreten war und herrschte. Daß er Wang-lun überwunden hatte. Eine
rauschartige Angst floß herunter durch das Mark seiner Knochen.

Zwischen den Mikanthus lag man verwirrt. Schwache Hilferufe vom
Frauenhügel. Ma-noh hatte sie falsch geführt.

Mit einem leeren, meilenfernen Blick irrte Ma-noh über sie, wandte sich ab.

Sie drückten ihre Leiber an den Boden. Der Hügel knisterte sie gegen sie
her.

Reglosigkeit, stundenlang, sonnenbeschienene Wildnis. Aus den Hütten des
Frauenhügels stieg ungehört das entzückte Seufzen, stahl sich schwach durch
die Bretter, kräuselte wie Rauch, abirrender Blick, Ausklang eines Tamtams
gegen das allgemeine grüne Dach.

Als die Sonne heißer schien, bliesen im Tal die Muscheltrompeten vor Mas
Hütte, fünfmal hintereinander fünf Stöße: das Zeichen zur gemeinsamen
Versammlung.

Stauden schwankten, Büschel drängten sich zusammen, Rücken krümmten sich,
Köpfe tauchten hervor.

Lange bewegte sich nichts auf dem Frauenhügel. Dann schimmerten weiße,
bunte Tupfen zwischen den Stämmen. Rennen schattenschwarzer Männer,
Vermischen der Farbenflecke, Händewürfe von Geräuschen, Sprechen, Rufe in
Fetzen, Schwall von Lärm. Bunte Schwestern umarmten sich im Herabgleiten,
Brüder Hüfte an Hüfte. Eine jubilierende lichtgetränkte Wolke senkte sich
in das Tal.

Im Nu verstreuten sich die Schwestern, lachend, mit springenden Bewegungen,
unter die Ernsten, füllten im weiten Bogen den Raum, auf dem noch die
verkohlten Bretter der Barke in die Luft spießten. Ma-noh, schwefelgelb und
rot, trat rasch fest in das brausende Gewimmel, das alle in sich sog.

Er verzog keine Miene, als von irgendwo angestimmt, von Frauenstimmen
getragen, laut, klar und süß ein Freudenlied über das blühende Feld scholl,
ein Lied, allen wohl bekannt, von den zarten Bewohnerinnen der bemalten
Häuser gesungen, wenn sie einladend auf ihren geschnitzten Booten über die
Teiche fuhren.

Ma-noh redete: »Es muß Friede zwischen uns sein, liebe Brüder und
Schwestern. Es soll uns nichts belasten, die wir nach den goldenen Inseln
segeln. Wir wollen den alten Frieden zwischen Yin und Yang schließen. Ich
bin glücklich, daß ihr mich angehört habt, und will es euch nicht
vergessen, wenn ich im Besitz der fünf Kostbarkeiten wäre. Wahrhaft
Schwache werden wir bleiben. Wir werden dem Tao nachgehen, seine Richtung
erlauschen. Bleibt unermüdlich im Gebet, so werdet ihr die große
Wunderkraft erlangen, die euch nicht entgehen kann. Ihr baut nicht
vergeblich hölzerne Pferde wie der Alte aus dem Staate Lu, die von
metallenen Sprungfedern gestoßen wurden, Männer und Wagen zogen. Solche
hölzerne Pferde werdet ihr aus euren Seelen nicht machen, aus den Seelen,
die in euren Lungen, eurem spülenden Blut, euren schaukelnden weichen
Eingeweiden wohnen. Ihr blast im Lande die Flöte und macht die Luft wärmer,
so daß das Korn aufschießt. Ja, ihr werdet die Wolken im Nordwesten
aufsteigen lassen, das Rohr blasend; Regen wird fließen, Taifune stehen.
Acht Rosse sind bereit, sechzehn Stationen macht die Sonne, ihr bereist sie
an einem Tage.

Bleibt arm, seid fröhlich, enthaltet euch keiner Lust, damit ihr sie nicht
vermißt und so unrein und schwer werdet. Euch, meine Schwestern, sehe ich,
euch, ihr Königinnen des sanften Vergnügens, ihr habt viel dazu getan, daß
unsere Dinge diesen Lauf genommen haben. Habt verhindert, daß die Öffnungen
unserer Herzen ins leere All münden. Ich war ein schlechter Sohn der
achtzehn Provinzen, daß ich der Weisheit des fremden Cakya-muni vertraute,
und seine Freudenhimmel mit eurem, mit unserem blumigen eintauschte. Wir
stehen auf den Stufen zum Westlichen Paradies. Was ihr Gebrochenen Melonen
uns geschenkt habt, nehmen wir an. Wir danken euch, wir danken euch. Ich
nenne mich mit euch Gebrochene Melone. Und so wollen wir alle am Sumpf von
Ta-lou heißen.«

Das lufterschütternde Jauchzen und Klatschen, Zubodensinken, Umschlingen.
Das mauerdichte Umdrängen Ma-nohs, dessen rätselhaft gleichgültige Miene
keiner sah. Aus ihm tönten die Worte, wie Stimmen eines versteckten
Singvogels hinter einem umsinkenden Tempel. Eine neue Ähnlichkeit hatte
sein Gesicht angenommen, mit dem Ausdruck eines fliegenden Tieres, das
seine Kopfform, Augen, Federn ganz vom Wind, den es durchfährt, modellieren
läßt; auf einem Ast sitzend hat es ein unbegreifliches Aussehen: weil der
Wind und der Flug fehlt.

                   *       *       *       *       *

Um Mittag. Sie zerstreuten sich, die Wankelmütigen, die Ernsten, die
Freudigen, die Hochgemuten, die Blinden, Schwachen, die kräftigen Männer,
die leichten Tänzerinnen, die inbrünstigen Propheten.

Abends umschlossen zum ersten Male die Zelte und Bretterhütten, die sich
zusammengetan hatten. Sie beteten nebeneinander, ihre Gebete verwirrten
sich im Dunkeln. Es waren keine Schmetterlinge, die sich aus dem Gras
erhoben, sondern zwei Fäden, die sich nach oben gerade zogen, jetzt sich
verknäulten und zu keiner Weberei mehr taugen konnten. Ihre verschränkten
Arme wichen schwach auseinander, sie tasteten im Finstern mit den feuchten
Händen nacheinander, glitten über die elektrisch zuckenden Gesichter. Da
wurde aller Stolz gebrochen, alle Unruhe hingelegt. Diejenigen, die starr
und aufrecht in dem Ernst der Wahrhaft Schwachen gegangen waren, bogen sich
unter dem Glück; der Sommerwind wehte als ein Banner, das aufgepflanzt war
auf einer Etappe zum Kun-lun. Wie im Dunkel der Hütten unter den Katalpen
die Gesichter gleichmäßig milde wurden, Geister und Leiber aufgelockert
wurden von einer breiten gewaltigen Egge, die über die ganze Erde rollte
und wuchtete, grub in der Nacht.

In dem Sumpf von Ta-lou wuchsen die Lotosblumen; mit grünen tellergroßen
glatten Blättern deckten sie das unbewegliche Wasser, rote Blüten tauchten
zwischen ihnen ein; lange Stengel, die mit dickgeäderten Blättern über die
verwesenden Muscheln griffen; an jedem Stengel garnten dünne Algenfäden,
die sich in der Tiefe verfilzten; grüne behaarte Köpfe hingen herunter.
Unergründlich stand der Sumpf und dünstete.

Diese Nacht verging nicht ohne ein schreckliches Ereignis. Einige Männer
hörten in der Stille mehrmals das heftige Schelten des Dämmerungsmenschen.
Sie beachteten es nicht, da sie glaubten, daß er sich mit einem seiner
Schatten schlüge. Aber er schrie unaufhörlich, und es fiel einigen, die aus
den Hütten herauskamen, auf, daß der Dämmerungsmensch nicht herumging und
das Rufen immer von einer einzigen Stelle des Männerhügels kam. Sie
fürchteten, daß er vielleicht wirklich einen Schatten gestellt hatte;
grauten sich vor dem Anblick des Kampfes. Aber endlich blickten sich fünf
Männer beunruhigt an, faßten Mut, liefen durch das Feld den Hügel hinauf
mit Laternen. Als sie an den Ort des Geschreis kamen, lag der
Dämmerungsmensch arbeitend im Gras und unter ihm ein Mann, der sich nicht
bewegte, über dessen gequollenem Gesicht der Dämmerungsmensch mit seinem
Schwerte fuchtelte. Er rief den Bewegungslosen bei Namen, hielt einen
Spiegel an sein Ohr. Die Männer beugten sich über den Stummen, leuchteten
ihm auf die glotzenden Augäpfel. Es war jener verzagte junge Mensch, der
sich an einem Baum aufgehängt hatte. Der Dämmerungsmensch war gegen die
Leiche gelaufen und hatte sie abgebunden. Einer der Männer nahm einen
spitzen kleinen Stein, ritzte sich die Haut seines Armes, tropfte dem
jungen Menschen das heiße Blut in den krampfhaft geschlossenen Mund, dessen
Kiefer zwei Männer gewaltsam sprengten. Es half nichts mehr; der Körper war
steif. Er hatte Tsi, die Pfirsichblüte, nicht gesucht. An diesem Abend, als
er mit ihr zurückkehrte und vor ihrer Hütte stand, hatten sich die beiden
ernst angesehen; die Pupillen ihrer hochgeschwungenen Augen erweiterten
sich, aber sie blieben beide ruhig und trennten sich nach einem kurzen
Dastehen. Der Jüngling schien sich erst im Mikanthus verkrochen zu haben;
dann schwankte er aus dem Feld auf den Männerhügel, wobei ihn der
Dämmerungsmensch traf, dem er sagte, er müsse sich unter einen Baum
schlafen legen. Er hängte sich aber an seinem Gürtel auf.

Den Gipfel der Kaiserherrlichkeit erreichte er nicht; er war einen anderen
Weg gegangen.

                   *       *       *       *       *

Nach drei Tagen stieß Wang-lun zu ihnen.

Ma-noh war unschlüssig gewesen, ob er Wang selbst die Veränderung in seinem
Haufen mitteilen sollte. Dann schickte er fünf Männer als Boten, die alles,
was sie wußten, Wang-lun, der anderthalb Tagereisen entfernt stehen sollte,
berichten sollten. Er ging mit einigen Erfahrenen zu Rat und horchte sie
vorsichtig aus. Aber es gelang Ma-noh nicht, sie auf den Gedanken zu
bringen, daß Wang die Änderung ihrer kostbaren Grundsätze ablehnen könnte.
Sie waren von der Heiligkeit und Tragfähigkeit ihrer neuen Ideen rapide
durchdrungen; es konnte nur die Sache einer Besprechung sein, meinten sie,
Wang zu überzeugen und mit ihm auch die entfernten Haufen der Wahrhaft
Schwachen zu bekehren. Von Wang, den niemand von ihnen gesehen hatte, ging
ein derart starker Einfluß aus, daß sie überhaupt nicht vermochten, gegen
diesen Mann zu denken. Sie würden geglaubt haben, dem Tode zu verfallen,
wenn sie etwas gegen ihn unternähmen. Ma-noh sprach einiges von ihrer
Führerrolle bei den Gebrochenen Melonen; sie faßten, da er unentschlossen
redete, nicht, wo er hinauswollte; es gelang nicht, sie zu locken.

Wang-lun hatte der Boten nicht bedurft; vorher war ihm das Gerücht
zugetragen worden. Er kam mit den Boten zusammen in Mas Lager an. Als er
von Laternenträgern geführt bei Nacht in Ma-nohs Hütte trat, wollte er mit
einer Handbewegung die junge Frau aus dem Raum weisen, die neben dem
ehemaligen Pu-topriester auf der Matte hockte. Aber Ma griff die Schwester
bei der Hand, führte sie in die Nachbarhütte, kehrte allein zurück.

Eine winzige Öllampe brannte am Boden; an der rechten Wand des kaum
mannshohen Raumes raschelte auf dem Moosboden ein Strohsack; Lumpen,
Tücher, Kittel daneben. An die linke Wand war der seitlich umgekippte
Karren Mas geschoben; unsicher darauf balancierten, von ein paar
Streiflichtern getroffen, die goldenen Buddhas; die tausendarmige Kuan-yin
aus Bergkristall stemmte den Kopf gegen die Wand, stützte das weiche
zerschrammte Gesicht an einen splittrigen Bambuspfosten.

Still saß Wang-lun, als Ma zurückkehrte, auf dem Rand des Karrens und
blickte ins Licht. Der Priester sah zu seinem Schrecken, daß Wang ein
großes Kriegsschwert trug und es mit beiden Händen vor sich gestellt hielt.
Wang-lun war gealtert; sein Blick reglos. Er rieb sich das Knie, und als er
später aufstand, sah Ma-noh, daß er links hinkte.

Der Mann aus Hun-kang-tsun brummte, er sei jenseits des Hu-toflusses von
übenden Soldaten gesehen und erkannt worden, er habe über den Fluß
schwimmen müssen und sich beim Sprung über die Uferfelsen das Knie
zerschlagen. Es war nicht ganz richtig; er hatte sich zwar bei dieser Jagd
das Knie zerschunden; aber die Hauptverletzung zog er sich zu, als er sich
der Sumpfgegend näherte. Er begegnete Anhängern Mas mit einigen Mädchen auf
der Straße; niemand erkannte ihn. Als sie ins Gespräch kamen, erfuhr er zum
ersten Male, daß diese Bündler sich Gebrochene Melonen nannten; er führte
das Gespräch mit dumpfer Erregtheit weiter, griff, als die Bündler sich
betrübt abwandten, einen von ihnen an, hetzte die Mädchen fort. Auf das
Hilferufen trat ein rodender Bauer aus dem Bambusgehölz, warf quer über die
Straße nach Wang einen Wurzelkloben, zerschmetterte ihm fast das Knie, an
dem er schon litt. Dann floh auch der Bauer, der bei Ansichtigwerden des
Schwertes glaubte, einen kaiserlichen Soldaten verwundet zu haben. Wang
trug einen blauen Kittel mit roten Aufschlägen, den ihm ein desertierter
Soldat aus der Truppe Ngohs geschenkt hatte.

Wang, unbeweglich auf dem Karren sitzend, fragte Ma-noh, ob sie auch viel
unter den Verfolgungen von Truppen zu leiden hätten. Ma wollte, als dicke
schwarze Blutstropfen durch Wangs Hosen quollen, ihm Wasser und ein
stillendes Pulver bringen; aber Wang hielt ihn kopfschüttelnd zurück und
meinte, indem er zu sprechen fortfuhr, es sei ja gleich, von wem die Brüder
und Schwestern zu leiden hätten, von den Tao-tais oder von anderswo. Oder
was Ma-noh meine? Das Schicksal sei hart und nicht zu beugen. Es sei gut,
die Brüder zu lehren, den Weltlauf unangetastet zu lassen; aber dies sei
nicht so gemeint gewesen, selber das Schicksal zu spielen und andere und
die Brüder und Schwestern es ertragen zu lassen. Diejenigen, die glaubten,
auch dann noch unangetastet zu bleiben, könnten sich in schweren Irrtümern
wiegen. Ja, sie müßten und sollten sich in einem Irrtum wiegen, der sie
mehr als einen blutigen Tropfen kosten könnte.

Ma-noh, sich auf die Matte kauernd, hörte ihn ohne aufzublicken an. Er sah
den ungeschlachten Bauernburschen vor sich, der eines Wintertags auf dem
Nan-kupaß die kleine Stiege zu seiner Felsenhütte heraufkam; er bettelte
und ging nicht von seiner Türe weg, fragte nach den goldenen Fos auf dem
Regal.

Er wurde von einer heißen Liebe zu Wang erfüllt, wollte sich einer
Empfindung hingeben, die unter dem rauhen, wohlbekannten Schan-tungdialekt
Wangs aufatmete mit einem »Endlich!« aber blieb still sitzen, sann und
wunderte sich nicht einmal, daß er nachdachte.

So verändert habe ich mich, dachte Ma-noh. Die Täler und Berge der achtzehn
Provinzen sind breit und unermeßlich weit, den Schlüssel zum Westlichen
Paradies trage ich; Wang-lun und ich müssen in Frieden voneinander lassen.

Er sagte, Wang-lun sei sehr lange fort gewesen; der Schutz der Weißen
Wasserlilie sei wichtig, aber wichtiger die Leitung der Brüder und
Schwestern, auch schwieriger vielleicht. Wang-lun möge nicht bitter werden;
man könne Regeln leicht und in Menge aufstellen; es hätte sich gezeigt, daß
die Regeln des Nan-kugebirges bei aller Kostbarkeit sich nicht allen
Verhältnissen anpaßten; man hätte sie ändern müssen, Wang-lun könne sich
überzeugen, daß man im Wesen gleich geblieben wäre, als käme man eben um
die Schönn-i-Klippen herum. Wang-lun gelte als ein vollendeter Heiliger; er
möge sich nicht in Zorn über sie ergehen.

Es war Ma-noh unverständlich, was ihn trieb, Wang zu quälen, und ihn einen
Heiligen zu nennen. Er konnte sich nicht verhehlen, daß er die Wendung auf
der Zunge wie eine süße Dattel zerdrückte und mit kaltem Vergnügen
schmeckte.

Wang stand in Schmerzen; er stocherte mit seinem Schwert in dem Moos. Dies
hatte er nicht geglaubt, nicht dies. Dieser Mann schien ihn anwerfen zu
wollen.

Er glitt leidend auf die Matte neben Ma; der Priester streifte ihm gegen
seinen Willen die Hose auf, holte einen Krug und Leinen, wusch das Knie.

Wang beobachtete ihn: »Ma, wir haben einmal auf dem Nan-kupasse
nebeneinander gesessen; das waren wir doch, du und ich? Oberhalb der
kleinen Pochmühlen wohntest du. Wir waren miteinander befreundet?«

»Wir sind in die Felder und Wälder von Tschi-li hinausgegangen, Wang.
Tausende sind aus den Städten, aus allen Präfekturen, Distrikten zu uns
gekommen, um unsere Freiheiten und wahrhaftigen Unabhängigkeiten zu kosten.
Wir haben Gefängnisse mit List, Geld, Betrug öffnen müssen, um Brüder von
uns zu befreien. Keiner von ihnen wäre gekommen und wir hätten umsonst
gearbeitet, wenn wir nur ein anderes Gefängnis gebaut hätten, aus alten
trockenen Worten, verhärteten Regeln. Das war nicht deine Absicht. Und wenn
es deine war, so wäre sie es nicht geblieben, wenn du uns begleitet hättest
vom Nan-ku herunter bis an den Sumpf von Ta-lou.«

Wang griff nach Ma-nohs Kinn.

»Ma-noh, wer, sagst du, hätte seine Absicht geändert, wenn er mit euch, die
südwärts gezogen sind, vom Nan-ku bis zum Sumpf von Ta-lou gewandert wäre?
Wer hat sie denn geändert? Wie viele und wie gute waren das? Ma, es gibt
zweierlei Arten von Menschen; die einen leben, und wissen nicht, wie sie es
machen sollen, die andern wissen, wie sie es machen sollen. Das sind wir,
die kein Recht haben zu leben, die für die andern da sind, jawohl, Ma-noh,
selbst um den Preis, die höchsten Khihs zu verlieren. Jedem ist sein Amt
vorgeschrieben. Was dir und mir vorgeschrieben ist, haben wir auf deiner
Hütte über den kleinen Pochwerken gewußt. Es brauchte keine Wanderung durch
Tschi-li für dich und keine Begleitung für mich, um das zu lernen. Du
sollst nicht deinen Bohnenbrei essen und dich neben ein Weib werfen und
nach dem Westlichen Paradiese laufen. Ich dachte, das wüßtest du schon. Uns
ist das alles versagt. Uns ist etwas anderes gegeben, nämlich dies alles zu
wissen. Aber ich will nicht zornig werden, mein Bruder Ma-noh.«

»Du wirst nicht zornig werden, Wang.«

»Du weißt nicht, warum ich nicht zornig werde. Vorhin, bevor ich in euer
Tal einbog, bin ich über ein Feld mit Thymian gegangen. Ich fand nicht
gleich zurecht, deine Boten waren vorausgelaufen, mein Knie schmerzte, ich
konnte nicht rasch nachkommen. Ich saß einen Augenblick auf einem
Maulwurfshügel. Was nun kommen würde, unser Gespräch, unser Wiedersehen,
verwirrte mich etwas. Einen Moment schien es mir, ich müßte einem
Feldschatten verfallen, der mir hier aufgelauert hatte. Wie ich wieder die
Augen aufmache, sehe ich eine breite Lichtschnur in lauter bogigen
Windungen quer über das Feld. Dicht bei meinem Maulwurfshügel fing es an,
ein kleines niedriges Flimmern, das nicht stillstand. Das waren
Leuchtkäferchen. Die Natur ist nicht gegen uns. Ich will heut nacht warten,
ob mir der König der Leuchtkäferchen im Traum erscheint und will mich bei
ihm bedanken. Vielleicht waren es hilfreiche Geister aus dem Sumpf, die
mich sahen, wie ich hinfällig war; sie sind selbst so arm. Das Flimmern
führte bis in dein Tal. Ich bin nicht zornig; ich bin nicht verlassen.«

»Wang, du wirst dich nicht gegen mich wenden. Vor wenigen Wochen dachte ich
ja wie du: sie die Körner, wir die Wurfschaufel, sie der Kopf, wir die
Mütze, sie der Fuß, wir der Pfad. Dann sind Dinge gekommen, deren ich mich
schwer entsinne, -- daß sich der Hut, wirst du sagen, des Kopfes bemächtigt
hat, und der Weg vor dem Fuß davongelaufen ist. Ich weiß, daß ich dir
Rechenschaft schuldig bin dafür, ja, lehn es nicht ab, bin dir Rechenschaft
schuldig. Aber ich kann dir keine geben, denn ich vermag mich nicht, auch
wenn ich mich anstrenge, nicht darauf zu besinnen. Es ist vor mir
ausgewischt, wie eine Tusche vom Regen.«

»Die schlechte Tusche«, unterbrach ihn Wang, der lächelte. »Und wie heißt
der Regen, lieber Bruder?«

»Nicht Untreue.«

»Der Regen heißt Eitelkeit und Herrschsucht; Eitelkeit und Herrschsucht
wollte ich sagen.«

Wang hielt Ma-noh, als sie so nebeneinander kauerten, bei den Schultern und
prüfte unsicher Mas dürres Gesicht. Sie sahen sich zum erstenmal voll an.
Wang schien ernster und trauriger zu werden; er hielt vertieft den Kopf
schräg; nahm in einer mitleidigen Aufwallung Mas Hand und streichelte sie:
»Wie heißt der Regen, Ma-noh? Was ist dir begegnet?«

»Du warst so lange fort. Wir haben als Wahrhaft Schwache gelebt. Die Frauen
sind gekommen. Was den andern Brüdern begegnete, weiß ich nicht. Ich wußte
von einem Tag an, daß ich -- nicht mehr -- ohne Begierde -- war. Ich wollte
es wieder sein. Das Leben ist ja kurz. Man darf nicht zu lange falsch
gehen, man kann nicht die Tage wie Kupferkäsch zählen und für Reis und
Hirse eintauschen. Nun bin ich wieder ohne Begierde, ich habe mich
gesättigt, muß mich immer wieder sättigen; ich weiß, du brauchst es nicht
zu sagen, es ist endlos: aber ich kann frei und rein beten und hoffe, daß
mein Einsatz schwer genug wiegt auch mit den Gelüsten. Schimpfe nicht,
Wang. Ich weiß, daß mich niemand verachtet.«

»Das waren die Frauen. Bruder Ma-noh, ich verachte dich nicht darum. Aber
du bist noch nicht zu Ende, du wolltest wohl noch weiter reden. Du liefest
zu der Frau, nach der dich hungerte. Dann nahmst du sie und gingst deiner
Wege, nach Nan-ku zurück, oder in ein Dorf, eine Stadt? Niemand wird
gezwungen, zu uns zu kommen. Jeder kann gehen, wenn es ihn drängt. Nicht
wahr, so tatest du?«

Ma-noh, mit halbem Gehör folgend, redete grübelnd weiter: »Was Begierden
sind, habe ich vor langer Zeit gewußt. Aber was Frauen sind, war mir
unbekannt. Frauen, Frauen. Du bist nicht, Wang, wie ich, von Kindesbeinen
in der Schule des Klosters gewesen. Man seufzt, und weiß nicht warum. Man
wirft sich im Mondschein in vieler Unruhe, und schließlich seufzt man nach
der -- Kuan-yin, ängstigt sich um die -- zwanzig heiligen Bestimmungen. So
vergißt man sich. Jetzt sind die Frauen gekommen. Ich glaube, sie haben
mich manchmal vom Morgen bis Abend umschlungen, geweint, mich um wunderbare
Formeln gebeten. Bis ich sie beruhigt hatte und sie unsern Weg wußten,
vergingen Wochen, und dann kamen neue. Sie gingen meinen guten Weg,
schließlich. Mir ließen sie einen Druck zurück auf der Schulter, ein dünn
gequetschtes japsendes Herz, ein Schwitzen an den Händen. Ich ging ihren
Weg. Es sind Stärkere zu dieser Arbeit nötig, mich hat Pu-to-schan
verdorben. Da sieh, neben uns auf den Karren, wer da steht! Stehen sie
noch? Dieser Ratterkasten ruht von seiner zwanzigjährigen Wanderschaft, die
Götter drücken ihn im Schlaf.«

Ma-noh griff, ohne sich aufzurichten, neben sich an die Deichsel des
Karrens, ruckte daran. Die goldenen Buddhas wackelten, stürzten nach beiden
Seiten an den Boden, purzelten über- und nebeneinander. Zuletzt fiel mit
einem scharfen Geräusch die Kuan-yin aus Bergkristall hintenüber. Sie
sprang, hart auf einen abgebrochenen Buddhakopf schlagend, mitten entzwei;
ihre Arme splitterten.

Wang suchte Ma-nohs Gesicht. Aber der hatte sich über sich gebückt und
redete, als wäre nichts geschehen.

»Obwohl es mir so ging, wollte, konnte ich dich nicht verlassen. Es ist
sinnlos, mich zu bestrafen, nein, mich auszustoßen für die Ewigkeit, weil
ich so schlecht aufgezogen bin. Es muß ein Ende nehmen damit. Die heiligen
Bücher können nicht gelten. Es muß eine Lösung geben. Ich wußte die Lösung.
Die Keuschheitslehre ist ein Wahnsinn, keine kostbare Regel, eine Barbarei.
Die Brüder und Schwestern haben mir zugestimmt.«

Wang zuckte. Er warf sich halb nach der Wand zu, so daß ihn Ma-noh im
Schatten nicht erkennen konnte. Sein riesiges Kriegsschwert lag schräg über
dem Knie, dessen dünner Verband hellrot durchblutet war.

Das Schwert hatte ihm Chen-yao-fen in Po-schan gegeben, als er sich
verabschiedete. Es hieß der Gelbe Springer. Es vererbte sich in der
Chenfamilie und forderte den Besitzer auf, an die Traditionen der Weißen
Wasserlilie zu denken.

Eine gerade doppelschneidige Klinge; in ihrer Oberfläche sieben runde
Messingscheibchen eingelegt; dicht an der Wurzel unterhalb eines
Sternmusters Lotosblätter. Der goldbeschlagene Griff nach der Mitte zu
anschwellend; beiderseitig die Charaktere der Mings, Sonne und Mond, aus
feinem Silberdraht; die Parierstange mondförmig. Der Knauf prächtig endend
in einen züngelnden Drachenknopf.

Wang sagte nicht, was ihn bewog, sich nach einem Schweigen aufzurichten
und, das Schwert wegschiebend, Ma-noh hart und unbarmherzig die wagerecht
gestreckten Arme wie Balken über die Schultern zu wuchten und den Bruder in
einer Klemme zu halten. Wangs Zähne klapperten; ein stoßweises Zittern warf
seine Hände, die nach dem Schwertknauf greifen wollten, um Ma-noh die
Klinge in den zugekniffenen Mund zwischen die Lippen zu zwängen, sie rasch
im Schlund umzudrehen, zu bohren, herauszuziehen und über die ledernen
Backen zu schlagen.

Ma-noh sank vornüber unter dem Druck. Er erwartete finster, was weiter
geschehen würde. In einem bösen gehässigen Gefühl blieb er sitzen, als Wang
die Arme abhob und seufzend das kranke Knie streckte.

Wang fing einen giftigen Blick Mas von unten auf. Sein Gesicht wie unter
einer federnden Polsterung schwoll hoch. Er zog sich mühsam an seinem
Schwert auf, die blutunterlaufenen Augen flackerten. Er zeigte mit beiden
Händen auf Ma herunter: »Du, du bist der Verräter, du bist ein Betrüger,
ein Verführer, bleib nur ruhig sitzen, das ist statt langer Erklärungen
alles und jedes in einem Wort. Ich hätte es dir schon vor drei Tagen
gesagt, als ich von euch hier gehört habe. Du hättest die Lösung in deiner
jämmerlichen Not nicht suchen brauchen; ich hätte dir gleich sagen können,
daß du alle Welt, jeden Freudenhimmel und jede Seligkeit verraten würdest,
um neben deiner Frau auf dem Stroh zu liegen. Denn du bist giftig, ein
Skorpion von Natur; ich bin schuld daran, allein ich, der dich gewähren
ließ unter den Wahrhaft Schwachen. Ich bin die Säule, die alle tragen muß,
ich bin der Himmel, der undurchbrechbar über den Armseligen ruht und selbst
nichts hat von seiner Sonne und den Gestirnen. Ich habe mich entschlagen
von mehr, als du weißt, Ma-noh, von mehr als einem Weib und tausend
Weibern; von mir selbst hab ich mich abtrennen müssen, von meinen Armen,
meinen Beinen, von meiner Geburt und Vergangenheit, hab meine eigenen
weißen Därme in ihre Bäuche gewühlt und mich ausgeblutet. Mit Gewalt hab
ich das tun müssen.

Die glücklichen Inseln werde ich nicht erreichen, das Chikraut kann blühen
wo es will, nichts ist jetzt mehr, nichts darf mehr sein, was ich erlebt
habe. Unbeerdigt ist der ernste Su-koh gestorben. Die obdachlosen Geister
müssen vor mir abweichen, denn ich bin selbst leer, ein vergilbtes Blatt,
ein Drache aus Papier, bunt bemalt und mit einer Heulsirene im Maul, wie
ihn die Leute im Süden vor Leichenzügen tragen. So bin ich, daß ich selbst
Schrecken vor mir erlebe, wenn man mich ruhig auf einem Stein sitzen läßt,
daß ich mich für einen schwirrenden Kwei halte, der einen frischen
Menschenkörper sucht.

Aber du, Ma-noh, bist nichts von dem. Wohl dir. Ja, dir blitzt die Hoffnung
aus den Augen, und in deinen Eingeweiden sitzt das Vergnügen. Du bist
kleiner als ich, du bist dürftiger als ich, trockener als ich, aber prahlst
vor mir mit deinem Leben.

Ich bin dir begegnet, Ma-noh, vor zwei Tagen. Du warst es, nicht wahr,
gestehe es, du warst es! An einem Weiher, zwischen zwei Weidenbäumen ist es
gewesen. Du warst der Kranich, der nicht von mir abweichen wollte, der vor
mir ab und auf spazierte mit stolzen Beinen, mit scharlachroten Beinen, und
Frösche spießte. Du trugst ein weißes Kleid und blicktest listig mit gelben
Augen aus deinem blutroten Kopf heraus. Und dann, nachdem du vor mir
gefressen hast und ich dich in Ruhe gelassen habe, hast du dich erhoben in
die Luft und deinen schwarzen Mist auf meinen Kittel und meine Sohlen
fallen lassen.

Du böser Schatten, du Kwei, du wirst mich nicht zunichte machen, sag ich
dir. Das wirst du nicht, sag ich dir! Der Kwei wird an mir vorüberhuschen
müssen.«

Wang, das kranke Knie angezogen, fuchtelte mit seinem Schwerte herum. Er
flüsterte scharf, mit Abscheu dem kauernden Priester in das ihm
entgegengehobene Vogelgesicht. Jeden Satz warf er mit Genugtuung
besinnungslos auf den Priester wie eine Handvoll gestoßenen Pfeffer. Durch
das, was er sagte, klang die eiserne Wut.

Ma-nohs Haß auf diesen Mann stieg ins Maßlose. Ab und zu spitzte er höhnend
seinen Mund, spannte sich zu einem todesmutigen Sprung, fiel traurig
zurück, härtete sich kalt. Er rührte sich nicht, beschloß, sich nicht vom
Fleck rühren zu lassen.

»Wenn mein Bruder Wang heute nacht dem König der Leuchtkäferchen im Traum
begegnet, so wird er nicht nötig haben, ihm zu danken. Ein weiser alter
Mann aus der Hanperiode lehrte: der Weg im Zorn beschritten wird vergeblich
sein. Mein Bruder Wang trägt ein Kriegsschwert an der Seite. Er sagt, er
müsse ein Kriegsschwert führen und dürfe sich nicht dem heiligen Tao
nähern. Mein Bruder mag an meiner kläglichen Ruhe merken, daß ich mehr dazu
neige, geschlagen zu werden als zu schlagen. Sein Schwert scheint mir eine
besessene Seele zu haben, die ihren Herrn verführt in einen Sumpf. Wie auch
immer: dieser Ma-noh aus Pu-to-schan wird niemals ein Schwert berühren, und
es wird ihn nie jemand dazu reizen können. Denn er ist zu schwach für den
tobsüchtigen Geist eines Schwertes. Ma-noh geht dem Tao nach, als käme er
eben um die Schönn-i-Klippen herum, -- als wenn er eben erst die Worte
eines Mannes hörte, der wie ein Boddhisatva sprach, Wang-luns Worte: 'Ein
Frosch kann keinen Storch verschlucken. Gegen das Schicksal hilft nur eins:
Nicht widerstreben, schwach und folgsam wie das weiße Wasser sein. Wir
wollen auf eine Spitze laufen, die schöner ist, als die ich sonst jemals
gesehen habe, auf den Gipfel der Kaiserherrlichkeit.' Auf diese Spitze
läuft unbeirrt Ma-noh. Und weil Ma-noh nicht ohne Gelüste nach den Frauen
blieb, so läuft er mit den Frauen. Aber auf den Gipfel muß er gelangen,
wird er gelangen. Du magst dich abwenden von mir, Wang-lun; süß sind mir
die Frauen, mein Auge hängt an ihnen wie an den Farben der Orchideen, ich
habe niemals so rein gebetet wie seit dem Augenblick, wo eine auf diesem
Strohsack neben mir lag. Keine Versenkung auf Pu-to-schan, die ich sah und
die ich erlebte, keine Entrückung ist so voll Macht gewesen wie meine seit
diesem gemeinen Augenblick. Der Durst meiner Kehle ist so wenig böse wie
das Gelüste meiner Hände und meines Schoßes. Cakya-muni hat sich geirrt.
Mir steht das fest. Wenn ich dir auf Nan-ku anderes von den goldenen milden
Buddhas erzählte und du es aufnahmst, so habe ich dich Schlechtes gelehrt,
und es ist nur recht, daß es auf mich zurückfällt, wenngleich es mich nicht
beirren wird, Wang-lun. Wir gehen nicht mehr gemeinsam, Wang-lun. Quäle
dich nicht und quäle mich nicht.«

Wang-lun saß in steinerner Ruhe auf dem Karren. Das lange Schlachtschwert
lag im Moos auf zerbrochenen Buddhaköpfen. Es war Wang klar, was geschehen
mußte; es war Ma-noh klar. Darum sprachen sie nicht mehr.

Er bat Ma-noh, ihm kaltes Wasser für sein Knie bringen zu wollen und morgen
einen Arzt zu bestellen. Ma schleppte mit zwei andern Männern Haufen von
Gras in die Hütte. Sie sahen sich, bevor sie sich schlafen legten, ernst an
und grüßten einander. Sie standen nebeneinander. Dann warfen sie sich hin.

                   *       *       *       *       *

Wang blieb vier Tage bei den Gebrochenen Melonen, die sich rüsteten weiter
südlich zu wandern. Er beobachtete sie, lernte die Mehrzahl dieser Anhänger
kennen. Er widersprach ihnen nicht, redete wortkarg und sehr versunken von
dem schweren Weg der Wahrhaft Schwachen. Als sie ihn fragten, warum er, der
sich widerstandslos wie sie dem Schicksal beugen wolle, die Jacke eines
Soldaten und ein Schlachtschwert trage, antwortete er lächelnd, daß sich
viele Leute maskieren, um Böses abzuschrecken. Am Tage des Chü-juan, am
fünften Tag des fünften Monats wüten die fünf giftigen Tiere, die Schlange,
der Skorpion, Tausendfuß, die Kröte und Eidechse; da reiben die ängstlichen
Mütter den Kindern Schwefelblüte mit Wein in Ohr und Nase und malen das
Zeichen »Tiger« auf die Stirnen; aber sie wollen damit nicht sagen, daß
ihre Kinder wilde Tiger seien.

In ihm war seit dem Tage, wo er das Nan-kugebirge unter Schneestürmen
verließ, bis zu diesem Sommermonat eine Umwälzung vorgegangen. Ma-noh
bemerkte schon, als sie in der Gerätekammer zu Pa-ta-ling saßen, wie sich
in Wang ein erbarmendes Gefühl für die Brüder festsetzte, die ihm
vertrauten. Wang machte die wechselvolle Reise durch Tschi-li und
Schan-tung. Je mehr er litt, um so mehr drängte es ihn heraus aus der Rolle
des friedlichen Wahrhaft Schwachen, der seiner Seele ein reines Kleid
bereiten will. Es befestigte sich in ihm die Haltung des Verteidigers
seiner Brüder. Er mußte kämpfen für die Ausgestoßenen seines Landes.

Dicht bei Tsi-nan-fu trat die Versuchung an ihn heran. Er konnte seinem
Drange, der sich schmerzlich und glückselig durch seine Brust senkte, nicht
widerstehen, stieg, das Gesicht mit Kohle beschmiert auf die Landstraße,
die von Osten nach Tsi-nan-fu führte. Trabte einige Zeit allein, wartete
auf einen Wagenzug, mit dem er sich in die Stadt einschmuggeln könnte. Es
kam keiner um diese Tageszeit, denn Ölwagen, Frucht-, Gemüse- und
Kohlenzüge pflegten schon in den ersten Morgenstunden in Tsi-nan
einzufahren. Ehe sich Wang in einem sonderbaren Leichtsinn ganz dem
östlichen Stadttor genähert hatte, wurde er von zwei Polizisten beobachtet,
die ihn an seiner großen Figur, seinem schaukelnden Gang erkannten, ihm
folgten und mit einem Torwächter festnahmen, wie er gerade, als wäre er
Bürger von Tsi-nan-fu, gleichmütig und langsam durch das Osttor segelte.

Wang sah durch das handgroße Gitterfenster des Kellers, in den man ihn
geworfen hatte, die breite gewundene Handelsstraße mit den Läden, den
lärmenden Ausrufern und dem vielfarbigen Gewimmel, unter dem er selbst
seine Späße, Künste und Betrügereien geübt hatte. Zur linken Hand mußte der
Markt liegen, auf den die Straße mit dem Tempel des großen Musikfürsten
Hang-tsiang-tse führte. Geradezu war die Richtung zur Herberge, zu Su-kohs
Haus, das eingeäschert lag. Dann der Übungsplatz der Provinzialtruppen.

Und jetzt überfiel Wang die Versuchung: hier zu bleiben, die
Gerichtsverhandlung abzuwarten, die Strafe des Zerschneidens in Stücke zu
erdulden. Er konnte sich keine Rechenschaft darüber geben, warum ihn dieses
leidenschaftliche Verlangen überfiel. Er wollte, im Gewimmel dieser
feilschenden Menschen, zwischen all dem Klappern, den Gongschlägern, den
Ausruferstimmen sterben, hier in seiner Heimat. Er dachte in diesem Keller
über seine veränderte Lage nach. Wie er vor Monaten die Nan-kugefährten
verließ, wie er an Chen-yao-fens prachtvoller Tafel vor kaum zwei Wochen
speiste, und wie der Tou-ssee umgekommen war und Su-koh, und wie er
betrogen, gewütet, gestohlen hatte. Und das schien ihm alles unerträglich,
und wohltuend, ein Glück, hier viel zu erdulden, alles bis zu Ende
auszuerdulden.

In der Eile seiner Verhaftung hatten die Polizisten und der Torwächter ihn
eingesperrt, ohne ihm sein Schwert abzunehmen. Die drei waren froh, als sie
den berüchtigten Mörder im Keller hatten. Erst als die beiden Polizisten
schon ins Jamen und auf die Stadtkommandantur liefen, um dem Tao-tai und
dem General die außerordentliche Verhaftung mitzuteilen und sich
Belohnungen zu sichern, fiel dem alten Torwächter auf seiner Bank ein, daß
Wang ein Schwert bei sich trug. Er nahm eine kleine Keule von seinem
Fensterbrett, die ein Viehtreiber morgens hatte liegen lassen, versteckte
sie unter seinen Ärmel und ging auf bloßen Sohlen hinunter; er wollte Wang
das Schwert stehlen; wenn es kostbar war, verkaufen, sonst es nur auf der
Präfektur vorzeigen und sich seinen Mut belohnen lassen.

Er öffnete das Vorhängeschloß des Kellers. Die Mäuse liefen ihm zwischen
die frostkranken nackten Füße, hüpften an seinen Hosen hoch. Wang saß drin
auf dem Boden und sah dem alten Mann zu. Der Wächter trat näher, fragte,
wie er sich fühle, ob er krank sei, prüfte seinen Gesichtsausdruck. Das
Schwert lag in den Raum geworfen weit von Wang entfernt nach der Tür zu.

Wang dankte; er freue sich, wieder in Tsi-nan zu sein. Und wie es dem
Herbergswirt gehe und welcher Markt jetzt am meisten besucht sei.

Dem Herbergswirt ginge es erfreulich gut, -- jetzt erkannte der Wächter das
Schwert, rutschte seitlich davor, tastete mit den Händen rückwärts nach dem
Knauf, -- und von dem ehemals so beliebten Goldblättermarkte sei die
Blumenherrlichkeit verschwunden, seitdem die Gilde der Blumenverkäufer die
hohe Platzmiete verweigert hätte. Alles spiele sich jetzt in dem weiten Hof
ihres eigenen Gildenhauses ab.

Es sei erstaunlich, meinte Wang, wie rasch sich die Stadt verändere. Aber
die Torwächter blieben doch gleich. Sie stehlen, was ihnen in die Hände
fällt. Nur dies Schwert möchte er nicht stehlen, sofern er die Gnade hätte,
es zu unterlassen. Denn es sei Eigentum eines Mannes im östlichen
Schan-tung, dessen Namen er ihm nennen werde, wenn er verschwiegen sei und
gegen eine hohe Summe das Schwert dem Besitzer zurückbrächte.

Der Wächter, katzebuckelnd vor dem Gefangenen, flüsterte schon, man könne
sich auf ihn verlassen. Und wenn Wang auch eine ehrenvolle, wenngleich
heimliche Beerdigung wünsche an einem leidlich günstigen Ort, so möchte er
es ihm nur sagen, bevor die Polizisten mit dem Transportkäfig kämen; er
hätte schon vielen geholfen.

Man hörte draußen lautes Klagen und Keifen. Wang sah durch das Gitter. Ein
Bettelvogt schlug auf zwei Arme mit einem langen Stab ein. Ein Mandarin mit
Blauknopf sah aus einer Sänfte zu und wies auf die beiden, die betrügerisch
in seinem Hause, in einem fremden Bezirk und zweimal am Tage gebettelt
hätten.

Wang seufzte, kauerte hin, sagte nachdenklich, die Stadt hätte sich doch
wenig verändert. Schüttelte sich resolut, und nun ging er auf den
Torwächter zu, den er bei den Schultern anhob. Als der Alte ihm die Keule
gegen die Brust schlug, meinte Wang, es sei doch besser sich nicht
anzustrengen, legte den kreischenden Mann auf das Gesicht, drohte am
offenen Tor draußen, in die Stadt hineingellend, dem Bettelvogt und dem
Blauknopf mit der geschwungenen Waffe, verschwand von Tsi-nan-fus Mauern.

Es hat keinen Sinn zu sterben. Man kann es nicht laufen lassen. Der Vogt
hat unrecht und die Bettler haben unrecht. Sie weichen beide vom Tao ab.
Einer muß anfangen mit dem rechten Weg.

Nun folgte das Hin und Her der Wanderschaft. Wang suchte auf geradem Wege
in die Gegend südlich der Nan-kuberge zu gelangen. Aber das Gerücht von ihm
verbreitete sich.

Man veranstaltete Treibjagden auf ihn, nachdem seitens des Tsong-tous von
Schan-tung angeordnet war, daß die Präfekten derjenigen Bezirke, die Wang
passierte ohne ergriffen zu werden, hohe Strafen zu zahlen hätten.

Gehetzt und erst allmählich der Gefährlichkeit seiner Lage bewußt,
insbesondere als er merkte, daß der Ruf der Wahrhaft Schwachen sich über
Tschi-li und Schan-tung verbreitet hatte, und jedermann wußte, daß er sich
mit den nordwestlichen Brüdern vereinigen wollte, begann Wang die Taktik
des Alleinwanderns aufzugeben. Er betrachtete es als seine Aufgabe, sich
wie auch immer in die nördliche Ebene durchzuschlagen. Eine abergläubische
Regung verband ihn mit dem Schwerte; der Gelbe Springer sollte ihn tragen.
Es gab zwei Länder auf der Welt: das eine war die kleine Ebene südlich
Nan-ku, das andere war eben alles andere Land, war Wasser, durch das er
schwamm auf dem Rücken des Gelben Springers.

Er setzte, als er einmal zwei Tage sich nicht aus einer Höhle herauswagen
konnte, in Furcht, von den Bauern, die ihn kannten, gefaßt zu werden, vor
sich fest: »Was außerhalb des Bereichs meiner Brüder geschieht, unterliegt
anderen, eigenen Gesetzen. Ich bin arm, leidend, nur unter ihnen, ich muß
zu ihnen. Diesem Lande, diesen Wellen versage ich meine Gesetze.«

Schlug sich dicht vor den Toren zu einer Bande schlimmer Gesellen, die es
sich zum Geschäft machten, ganze Ortschaften zu brandschatzen, Geiseln zu
rauben und Lösegeld zu erpressen; die wie die mandschurischen Chungusen im
Sommer allenthalben auftauchten, im Winter sich in die Städte verstreuten.
Es wollte das sonderbare Geschick, das über diesem schicksalsreichen
Menschen waltete, daß er um dieselbe Zeit eine gefährliche Bande anführte
und mit ihr von Ort zu Ort vordrang, als im westlichen Tschi-li in die
idyllischen Träume seiner Brüder ebensolche Horden die erste Angst
hineinjohlten.

Anderthalb Monate begrub er die Erinnerung an die eisigen Wintertage;
inmitten des sanftesten Frühlings zog er von Verbrechen zu Verbrechen.
Keine Unruhe befiel ihn. Als drei Tagereisen von einem Wald entfernt, wo
die erste Truppe der Wahrhaft Schwachen lagerte, die wilden Burschen ihn zu
einem Überfall auf einen reichen Wanderer, den gelehrten Chu-tuk-tu
aufforderten, der grade mit großem Pompe eine Inspektionsreise über die
lamaischen Klöster Tschi-lis machte, entschloß sich Wang, sich von ihnen zu
trennen.

Er weigerte sich, an dem Unternehmen teilzunehmen. Sie umringten ihn, es
war frühmorgens in einem schönen Flußtal, stellten ihn zur Rede, warfen ihm
Feigheit vor. Er machte sich mit ruhigen Bewegungen den Rücken frei,
erklärte, daß er in drei Tagereisen seine Freunde erreichen würde, lehnte
ab, sie mitzunehmen. Dies waren die Wellen, er wollte Land. Sie fingen an,
das weichliche Wesen der Brüder zu verspotten, fragten Wang, wo die
Almosenschale wäre, sie wollten etwas hineinlegen, lachten.

Wang ging von ihnen. Nach zwei Li versperrten ihm fünf von ihnen den Weg,
begannen das Höhnen wieder, indem sie zugleich verdächtig mit ihren Bogen
hantierten. Als ihm einer in der fettigen Mütze einen abgeschnittenen Zopf
zum Andenken hinreichte, hielt es Wang für richtig, mit einem großen Satz
an Land zu kommen.

Er fluchte auf das Land, das er verließ, spie sein Schwert an, wie einen
Toten, den man zum Leben erwecken will, hob es mit beiden Armen hoch auf,
krachte dem Gabenverteiler in die Brust. Als er den Knauf losließ, stand er
allein mit dem Toten am Wege. Er zog die Schneide zwischen die Lippen; das
Land, das er verließ, spritzte heiß nach ihm; er leckte das
glückverheißende Blut.

Lief stundenlang ohne Unterbrechung, der Gelbe Springer ihm voraus. Bis der
Abend kam, und er sich ohne Hunger im Walde niederlegte. Nach zwei Tagen,
in denen dem Verwahrlosten ängstliche Frauen, die ihm begegneten, Früchte
und rohen Reis reichten, umging er bei Anbruch des Abends eine Wiese, aus
der ihm das Singen und Rezitieren von Sutras entgegenscholl. Er erkannte
neben einem Feuer den jungen Buckligen aus Nan-ku. Es war eine große
Truppe.

                   *       *       *       *       *

In der Nacht, bevor er Ma-nohs Haufen verließ, kamen zwei Mädchen in sein
Zelt. Sie leuchteten mit gelben Papierlampions an Bambusstäben über sich,
lehnten die Lampions heimlich in eine Ecke. Sie wühlten den schlafenden
Mann aus dem Strohhaufen heraus, rieben ihm die Augen, sahen nebeneinander
kauernd aufmerksam zu, wie er sich aufrichtete, vorsichtig sein krankes
Knie herumbewegte und langsam anfing zu lächeln.

Er trug einen langen braunen Kittel, seine groben Füße waren bloß. Jedes
Mädchen nahm eine Hand von ihm und zog ihn in die Höhe, so daß er jetzt
beide in die Arme nahm und sich auf die nachgiebigen runden Schultern
stützte. So gehalten, die Köpfe aneinander gedrückt, warfen sie sich
furchtsame Blicke zu. Die Jüngere im linken Arm zitterte und suchte die
Finger der anderen zu fassen. Sie dachten beide, der schreckliche Zauberer
würde mit ihnen durch das Zeltdach fahren oder als Schlange sich um ihre
Hälse ringeln.

Aber Wang ließ sie los, strich ihnen nacheinander die geradegeschnittenen
Ponys auf den Stirnen glatt. Sie waren entzückt. Die Jüngere schüttelte
sich und knirschte mit den Zähnen. Sie kniffen in seine Arme, die er
ausgespannt zwischen ihnen hielt. Sie tasteten rechts und links seine
Muskeln ab, schoben sich an seinen Ellenbogen hoch, schwebten, indem die
Ältere noch rechtzeitig den Brustausschnitt von Wangs Kittel erwischte, als
die Jüngere schwankend an ihrer Schulter zottelte. Plötzlich bückte sich
die Jüngere, die über Wangs Vorderarm schaukelte und mit den Fingern seine
Brusthaut kratzte und klöpfelte, vornüber, wobei sie die andere mit
herunterzerrte, biß in den Vorderarm dicht am Handgelenk wie ein junger
verspielter Hund in einen Knochen, rutschte interessiert auf die Füße und
stand nun kauend und schnappend da vor Wangs unbeweglichem gelbbraunen
linken Arm. Sie blickte schief auf in das Gesicht des Mannes, wartend, daß
er einmal zuckte, erschreckt, daß er noch immer nicht zusammenfuhr. Die
Härte schmerzte ihre Zähne. Sie schmatzte ermüdet mit den Lippen und
beleckte sich.

Sie war aus Schen-si gebürtig, klein, flink, geschwätzig. Man konnte sie
für einen Pudel halten oder für ein Kaninchen. Sie log gern und viel, auf
eine gewisse dumme Weise, wie es ihr gerade einfiel. Sie war mit der
anderen als Haussklavin auf dem Landsitz einer Familie bei Kwan-ping tätig
gewesen, floh, als im Zimmer ihrer Herrin durch ihre Unvorsicht Feuer
ausbrach, wagte nicht zurückzukehren, ließ sich vergnügt von drei
bettelnden Schwestern zum Lager der Gebrochenen Melonen führen. Sie war
faul, sagte ja zu allem, ließ sich nicht belehren.

Die andere, nicht größer als sie, aber voller, mit einer längeren Nase,
viel feiner als die Jüngere, log nicht weniger, mehr in einer
großsprecherischen prahlerischen Art. Sie neigte leicht zur Sentimentalität
und zur Eigenbeweihräucherung. Von Zeit zu Zeit litt sie unter
eigentümlichen Verstimmungen Monate hindurch, trug sich mit abenteuerlichen
Vorstellungen und mit Selbstmordgedanken, schon von ihrem zwölften
Lebensjahr an. Später nahm sie, als hätte sie etwas Großartiges erlebt,
gern eine Märtyrermiene an, gestand aber leicht, wenn man auf sie eindrang,
daß sie ohne Heimat, ohne Eltern und Sippe sich sehr quäle unter der Leere
und Aussichtslosigkeit ihrer Existenz. Sie hielt sich für etwas Besonderes,
hing innig, ja leidenschaftlich mit ihren Freundinnen zusammen, vertrug
sich nur auf Wochen, galt als klug, schön und zänkisch. Wäre sie nicht in
das Haus ihres ehrenwerten Herrn, sondern eines geschäftskundigen Mannes
gekommen, so wäre sie längst an eine Theatertruppe verkauft, wo sie sich am
glücklichsten entwickelt hätte.

Wang fuhr in seine Hosen und Sandalen. Die Mädchen wollten ihm helfen. Sie
arbeiteten plappernd an ihm herum. Die Jüngere bot sich ihm in Erregung an,
indem sie zwischen allerhand Gefrage erzählte, daß sie über fünfzehn Jahre
alt wäre und froh sei, auf einen so furchtbaren Dämonenbezwinger gestoßen
zu sein. Ach, sie wollte so gerne Blumen mit ihm pflücken. Wang meinte, er
wolle darüber nachdenken, stieß, als sie ihn umsprangen, eine nach der
andern hin. Der Jüngeren platzte am Hals und unter den Achseln der Kittel.
Sie zeigte Wang erfreut und verschämt die armseligen Rundungen ihrer Brust.
Die Sentimentale stand schmollend, da die Kleine sie immer mit der Schulter
anwippte, sie weggehen hieß, ihr von rückwärts über die Nase patschte.

Als nun Wang die Kleine bei den Schultern ergriff, sie über den Moosboden
herumwirbelte, das Mädchen schwindlig wurde und losgelassen hinschießend
sich ihre zu straffe Hose aufschlitzte, schimpfte die Sentimentale; das
hätte sie nicht in dem Hause ihres ehrenwerten alten Herrn gelernt. Wang
nahm auch sie bei den Schultern. Sie riß sich aber los, sagte mit
niedergeschlagenen funkelnden Augen, sie wolle einen Vorschlag machen. Sie
wolle mit der Kleinen ringen oder Steine heben oder was die Kleine meine.
Sie wollten sich messen. Der Mann hetzte sie aufeinander, dann setzte er
sich in das Stroh. Sie mußten neben ihn kauern, er begütigte sie, liebkoste
ihre glühenden Gesichter, die sich noch immer verbittert voneinander
abwandten.

Er erzählte ihnen unter Getändel Geschichten, die er noch in Tsi-nan-fu
gehört hatte.

Die ofenschwarzen Massen der Nacht lockerten sich. Ein graues dünnes Gas
fugte sie auseinander und verteilte, verflüchtigte sie in große Räume. Der
Katalpawald, abgedeckt, trat wie ein Bock hervor mit gesenkten Hörnern.

Wang legte den blauen Kittel an, hing sein Schwert um den Hals. Sie sollten
laufen, ihre Almosenschalen und was sie sonst hätten, holen; sie müßten
zusammen aufbrechen. Als er neben ihnen marschierte, langsam und mit
Schonung des Knies, sagte er ihnen nicht, warum er so heimlich aufbräche
und wohin sie gingen.

Er wanderte drei Wochen durch das mittlere Tschi-li, schickte Boten in
viele größere Ortschaften und Städte, die schon von Schan-tung her
benachrichtigt waren, daß die Wu-wei unter Wang-lun aus Hun-kang-tsun zu
den Vaterlandsfreunden der Weißen Wasserlilie gehörten und auf jede
erdenkliche geheime Weise zu unterstützen seien. Wangs Boten liefen als
Feigenverkäufer; in ihrer schmalen langen Kiste lag zwischen einer Schicht
von Feigen das Erbschwert Chen-yao-fens, der Gelbe Springer mit einem Brief
Wangs in der verabredeten Schreibweise der Weißen Wasserlilie, in der je
nach einem mündlich zu übermittelnden Zeichen nur der dritte und dann der
siebente Charakter gelesen wurde; von einem bestimmten Zeichen an jeder
zweite und dann der vierte. Die Geheimhilfe der Weißen Wasserlilie wurde in
kurzer Zeit mobil gemacht; es herrschte unbedingtes Vertrauen auf das
Komitee in Schan-tung.

Zugleich änderte Wang-lun seine Anordnungen für die Lebensweise der Brüder
und Schwestern; er duldete und wünschte in ärmeren Gegenden die vollkommene
Auflösung und Zerstreuung der Brüder und Schwestern in Ansiedelungen,
Dörfer, Städte. Wang gab darin dem Wunsche zweier Mitglieder des Pelien-kao
nach, die ihm antworteten, sie billigten nicht den strengen Abschluß der
Wahrhaft Schwachen, ihr eulenhaftes Wesen; es sei nötig, daß man sich nicht
nur brieflich verbünde; unter der Süßigkeit der Feigen liege doch kein
Schwert. Aber Wang gab zugleich den Angesehenen aller Haufen heimliche
Weisung, die Brüder und Schwestern vor ihrem Eintritt in menschliche
Siedelungen zu warnen, sich den Brüdern der Weißen Wasserlilie
gleichzustellen. Vaterlandsfreunde seien alle, aber die Wu-wei nur
friedlich und leidend, die echtesten Kinder ihres armen Volkes, das niemand
wahrhaft in Krieg verwickeln könne, weil es wie das Wasser immer flösse und
die Form jedes Gefäßes annehme.

Nachdem Wang-lun im mittleren Tschi-li solchermaßen für die Sicherheit der
Brüder und Schwestern gewirkt hatte, wäre er frei von Tätigkeit gewesen und
hätte sich seiner eigenen Vorbereitung für die große himmlische Reise
widmen können. Aber ein Pferd mit einem Pfeil im Schenkel kann nicht
grasen, und ein Wind, der gegen den Bannerpfahl rennt, schweigt nicht. Es
gab Abende für Wang in diesem Sommer, wo er in einer verlässigen Teestube
sitzend, auf dem Wege durch einen Wald, von dem Gedanken an Ma-noh
überfallen wurde und von diesem Gedanken niedergekrampft wurde. Eines Tages
überwand er sich und schickte einen Boten, einen raschen jungen Mann mit
einem Brief an Ma-noh, in dem er ihn bat, ihre Begegnung zu vergessen und
ihm die Seelen wieder herauszugeben, die jetzt berauscht wären, und selbst
mit ihnen zu ihm zu kommen. Nicht einmal der Bote kehrte wieder.

                   *       *       *       *       *

Es geschah, wie Ma-noh gesagt hatte: nie war unter den Brüdern und
Schwestern die Inbrunst der Andacht, Weichheit des Gefühls, die Süßigkeit
der Lebensempfindung größer, als seit dem Morgen, wo man sich laut zur
Gebrochenen Melone bekannte. Nach ein paar Monaten weilte niemand mehr von
ihnen auf dieser Seite des Daseins; in den Landschaften, die sie durchzogen
hatten, ging noch das leise Gerede von ihnen und daß über ihnen das höchste
Glück gestanden hätte.

Als die Gebrochene Melone noch nicht die Abhänge des Tai-han-schans
nördlich Schun-tös erreicht hatte, griff eine Räuberhorde den endlosen Zug
der Brüder und Schwestern an. Sie wanderten eines regnerischen Nachmittags
über die monotone Lößlandschaft. Der Troß schleppte Karren, breite Wagen;
über diese fielen die bewaffneten Strolche, an der Zahl achtzig, her in der
Meinung, Beute zu machen. Als sie nur Bretter, wenig Reis, Bohnen und
Wasser fanden, dazu eine nicht kleine Anzahl von Kranken, warfen sie die
Wagen um, verunreinigten die Wassertonnen, nahmen die Säcke mit
Lebensmitteln an sich. Die meisten Brüder des Nachtrabs waren geflohen;
sechs beherztere, die sich der Kranken annehmen wollten, wurden mit
Fußstößen und flachen Säbelhieben verjagt. Einem, der auf die Verbrecher
einzureden versuchte, wurde unter allgemeinem Gelächter die Zunge
abgeschnitten und an die Stirn gebunden. Die Räuber, die jetzt merkten, mit
wem sie es zu tun hatten, machten eine lustige Hetze auf einige Schwestern.
Unter dem brüllenden Gesang eines frommen Liedes, das eine Schwester in
ihrer Todesangst angestimmt hatte, als man sie auf den Boden warf, zogen
sie mit elf entkleideten gefesselten Mädchen ab.

Die Bündler schoben sich inzwischen nach vorn um Ma-noh und die Älteren.
Hier verdichtete sich der Wirrwarr von Aufschreien, von ratlosen Grimassen,
von einknickenden Knien. Sie suchten die Gruppe der Führer von rückwärts zu
umfassen und zum Stehen zu bringen. Die schälten sich heraus, streiften mit
Gewalt die Arme zurück, die sich ihnen vorstreckten, schüttelten die Köpfe,
drangen weiter, indem sie die Berührungen von ihren Schultern und Rücken
abstrichen.

Was wollten die Brüder und Schwestern! Ob sie nicht wüßten, wie die
kostbare Lehre ihres Bundes hieße! Nicht widerstreben! Ob sie das nicht
wüßten?

Auf die Kalkweißen sauste erst jetzt die Furchtbarkeit, das grausig Einsame
ihrer Lehre nieder. Sie flatterten umeinander, rissen ihre krampfenden
Blicke von dem Nachtrab ab, zwangen ihre Füße auf die Spuren Ma-nohs. Sie
kehlten, sich windend unter den Schreien, ein überschlagendes Lied, nur für
ihre eigenen Ohren bestimmt. Sie riefen heimische Geister an, trösteten
einander.

Ma-noh wanderte langsam mit den Älteren unter dem tropfenden Regen. Die
Älteren rangen flüsternd die Hände, warfen sich Blicke zu, blieben stehen,
wünschend, daß sie der Erdboden verschlinge. Ma riß die Augen auf; ein
starrer Wutausbruch. Warum sie nicht zu Dolchen und Messern griffen? Der
Unterschied zwischen diesem Leiden und jedem anderen, worin liege er? Der
Unterschied, worin er liege? Ja, man müsse sich zwingen, dies gut zu
finden, ja sehr gut, dies anzubeten, denn dies sei das Schicksal. Genau
dies sei es.

Und er zwang sie und sich, umzukehren, über die Lößlandschaft weg die
Gewalttaten der Räuber an den Brüdern und Schwestern zu betrachten und dies
Gift zu schlucken. Den Brüdern verwies er das freche dumme Singen. Sie
warfen sich an den nassen Boden, lauschten zerschnitten herüber. Die
Bündler scharten sich um die feierlich kniende qualheischende Gruppe der
Führer.

Atemlose Stille. Offene Bühne. Kreischen der gebundenen Schwestern,
Entblößen der zarten Leiber, knallende Stockschläge auf die Köpfe der
Brüder, Gebrüll, trappelnde Pferde, unsicheres Wimmern der Kranken, leere
Ebene, Regen.

Um die Wagentrümmer ballte sich alles. Als die wassertriefenden Kranken zu
jammern begannen, konnten sich die Brüder nicht in die Gesichter sehen. Als
der Verstümmelte röchelte und sein blutender Mund klaffte, wandten sie sich
ab.

Bei der Besprechung abends in der Nähe eines Marktfleckens blieb Ma-noh
unerschüttert. Man redete nicht viel. Stöhnend, mit schmerzstrengen Mienen
trennte man sich. Dumpfe gärende Unruhe bei den Brüdern und Schwestern.

Fünfzig Brüder taten sich in der Nacht zusammen, forschten in dem
Marktflecken nach den Räubern. Sie stellten fest, daß diese Räuber in einem
Dörfchen, weit nach rückwärts von dem Flecken gelegen, hausten, daß es
Behörden wie Privatpersonen bislang nicht möglich war, das Nest auszuheben.
Man erfuhr auch von Landbewohnern, daß drei der geraubten Mädchen sofort
nach Schun-tö verschleppt seien, acht im Dorf festgehalten würden.

Die Brüder drangen in der Nacht darauf in die ihnen bezeichneten Häuser des
Dorfes, schlugen sich mit den Verbrechern herum, die einen militärischen
Angriff vermuteten und sich bemühten zu entwischen. Die Schwestern wurden
wiedergefunden und befreit, zwei Verbrecher und drei Brüder blieben tot im
Dorf liegen auf der mondbeleuchteten Straße.

Die Verwegenheit der Brüder wuchs so sehr, daß sie noch am nächsten Tage in
der Stadt den Aufenthalt der Mädchen auskundschafteten, welche in einem
obskuren Freudenhause wohnten. Sie besuchten abends in Gruppen zu dreien
und fünfen das Haus, hielten sich bis zur dritten Nachtwache auf, erbrachen
dann ohne Schwierigkeit die Türen, versteckten sich einen ganzen Tag bei
den Bettlern in der Stadt, gelangten nach einer Woche auf großen Umwegen zu
dem Halteplatz Ma-nohs an den blühenden Abhängen des Tai-hans.

Ma-noh, unterrichtet von dem Vorgefallenen, trug sich damit, sie
auszustoßen. Es war inzwischen schon die Mehrzahl der Bündler zu der
Auffassung bekehrt, daß das Wu-wei Mittelpunkt und Rettung sei, Mittelpunkt
und Rettung bleiben müsse. Die Befreier kamen beschämt. Wo die Trauer
aufrichtig schien, verzieh Ma. Fünf, die sich einsichtslos rühmten, wurden
verstoßen.

Es entspann sich ein erbitterter heimlicher Kampf zwischen Ma-noh und den
Widersachern im Bund. Der bald zutage tretende Sieg Mas zeigte die
ungeheure Gewalt, über die der völlig umgewandelte Mann verfügte.

                   *       *       *       *       *

In der fruchtbaren dichtbevölkerten Gegend am Fuße des Tai-hans entwickelte
sich aus dem Schoß des Bundes die heilige Prostitution.

Die Schwestern hatten sich schon nach dem Aufenthalt am Sumpfe von Ta-lou
gewöhnt, sobald sich ihnen auf der Wanderschaft, in einsamer Gegend,
Bergstraße, Wald, Männer näherten, zu ihnen heranzugehen, mit ihnen
freundliche Worte zu wechseln; auch Liebkosungen konnten sie sich nicht
entziehen, ohne Gefahr zu laufen. Diese Gepflogenheit wurde nach dem
Überfall vor dem Tai-han-schan allgemein.

Die Schwestern rüsteten sich, einen Wall von Sanftheit um die Gebrochene
Melone aufzuwerfen. Sie gingen nicht in dem lumpigen Bettlerinnenzeug,
suchten sich mit Hilfe der Brüder bunte Kleider zu beschaffen, schön
bemalte Schirme, feine Haarkämme. Alle Tage fanden sie sich abends
zusammen, und die kundigen lehrten sie die entzückenden Liebeslieder der
bunten Quartiere singen, die Pipa zupfen. Wo die Arbeiter am Wege standen
und die kaiserlichen Straßen ausbesserten, an den Erdnußsuchern, die im
Acker wühlten, wichen sie nicht mehr ängstlich vorüber; sie kämpften mit
den Frauenwaffen, glitten vorbei. Es waren unter den bald fünfhundert
Frauen an zehn, die die Situation des Bundes Ma-nohs durchschauten, ihr
Schicksal an die Gebrochene Melone knüpften, mit Klugheit und
Entschlossenheit zur Festigung des Bundes beitrugen. Die jüngeren Schönen
bildeten die heilige Prostitution. Es würde sie niemand, so sagten sie,
hindern, den ebenen Weg zum Westlichen Paradiese einzuschlagen, jetzt, wo
sie alles, alles mit jedem teilten.

Es geschah etwas Befremdliches am Tai-han-schan, etwas Märchenhaftes,
Naives, von der Art eines Liedes. Die Bettlerhütten waren aufgeschlagen,
die Männer gingen in die Berge hinein, wo Ansiedlung an Ansiedlung stieß.
Die Mädchen liefen umschlungen über die schachbrettartig geteilten Felder.
Auf den schmalen Pfaden zwischen den Reis- und Weizenfeldern zerstreuten
sie sich. Der fauligweiche Boden dellte sich unter den leichten Füßen der
Glückbringerinnen. Zwischen dem Grün der Halme blitzte grelles Rot, auf
kindshohem Stengel eine straffgewölbte Blüte, seidenglänzendes Purpur: der
Mohn. Die Ponys der Mädchen klebten fest an den niedrigen Stirnen. An
bunten Gürteln trugen sie Almosenschalen. Diese und jene, nicht gewöhnt zu
gehen, bewegte einen Stab mit Messingbehang, den Rasselstab in der Hand.

Wenn eine Glückbringerin eine arbeitende Frau oder ein Mädchen traf, so
grüßte die geschmückte Bettlerin sie, nannte sich beim Namen, sagte, daß
sie zu dem Bund der Gebrochenen Melone gehöre, erzählte, nahm teil,
schenkte, wenn sie sich verabschiedete, ein kleines Tuchsäckchen mit Asche
oder ein Papieramulett mit Charakteren.

Ein Arbeiter fragte sie nach der Gegend, nach Richtung der Geisterpulse des
Bodens; sie ließ sich beschenken von dem ehrerbietigen, setzte sich mit ihm
hin an einen Feldrain, unter einen Sophorenbaum, aß, was er ihr gab, und
während er ihr entzückt zusah, erzählte sie von den wunderwirkenden frommen
Männern, denen sie zugesellt sei, von dem schweren Schicksal, das sie
erlitten habe. Und damit trippelte sie davon, indem sie sich oft umwandte
und zum Gruß verneigte. Wen die heilige Prostituierte neben sich zittern
und ängstlich blicken sah, tröstete sie, indem sie sich entfernt von ihm
setzte und ein paar kleine fremde Lieder sang. Sie lüftete am Halse ihren
losen Kittel, zog ein rotes Tuch heraus, band es sich um das Gesicht.
Hinter dem Tuch klang ihr Lachen, und so gönnte sie dem Beglückten alles,
was er wünschte. Kam wieder den Weg, bis sie aus der Gegend verschwand.

Rasch flog das Gerücht von dem neuen Bunde in die Städte, die bunten
Quartiere, in die Theater, die Teehäuser. Sklaven und Sklavinnen,
Schauspielknaben und bemalte Damen entwichen. Vergebens taten sich die
Besitzer der Häuser zu Verbänden zusammen, appellierten an die Behörden,
verweigerten Konzessionsgebühren, um einen Druck zu üben.

In aller Munde war die Geschichte des jungen Fräuleins Tsai aus
Tschian-ling und wie sie entfloh. Sie war ganz jung verkauft worden an ein
wenig renommiertes Haus.

Als sie den Restaurationsbetrieb geleitet hatte im Innern des Hauses und
infolge des unausgesetzten Genusses von heißem Wein magenleidend geworden
war, -- ein Wein, der mit den liebeanregenden Zusätzen gewürzt wurde --,
überlegte sie in einem nüchternen Augenblick, ob es nicht besser wäre, zu
hungern und zu frieren, als dauernd zu erbrechen, sich schlagen zu lassen
von der Besitzerin und an Lastenträgern, Ölhändlern, Schiffziehern
Liebeshandlungen zu verrichten.

Da sie in keiner Weise geschont wurde und sich völlig ruiniert fühlte,
sprang sie aus ihrer offenen Sänfte, deren Träger sie reich bestochen
hatte, in das Magistratsjamen, wurde sogleich verhaftet, nach Aburteilung
ihrer viehischen Wirtin in das Rettungshaus gebracht, welches die Stadt
neben dem Gefängnis unterhielt. Sie lernte in den kurzen Wochen ihres
Aufenthalts dort nützliche Dinge, man hängte ihr Bild in den Glaskasten an
dem Eingang des Hauses für Männer, die sich hier eine Frau suchten.

Sobald nun ihr Bild ausgehängt und allen sichtbar war, berichtete dies ein
Bote der bestraften Wirtin, welche sich noch nicht von ihren hundert
Bambusschlägen erholt hatte; die Frau veranlaßte einen Neffen von sich,
einen Herumlungerer, den sie aushielt, sich an den Direktor des städtischen
Rettungsheims zu wenden, ihm erlogene Garantien für seine Person zu geben
und das Mädchen zur Frau zu verlangen. Nachdem der Bursche sich noch
heuchlerisch nach den guten Eigenschaften seiner zukünftigen Braut
erkundigt hatte, erklärte er, sie zu heiraten, holte sie in eine gemietete
Wohnung für ein paar Wochen ab und brachte sie dann seiner Tante zurück.

Das unglückliche Mädchen zerquälte sich den Kopf, um der Polizei den Betrug
zu melden; man kam ihr auf die Schliche, nahm ihr jegliches Geld weg,
sperrte sie ein, täglich schlug sie die Frau, bis sie nachgab und versprach
sich zu fügen. Wieder fing das zerrüttende Trinken an; mit
blutunterlaufenen Augen ging das Mädchen herum, völlig matt, sich tief
verneigend, wo sie immer die Wirtin sah, froh, daß man ihre Hände und
Fußsohlen ausheilen ließ.

Dann erzählte ihr eines Tages ein frisch angekommenes Mitglied des Hauses,
der dieses Leben nicht gefiel, daß sie einen Melonenkernverkäufer kennen
gelernt habe, der sich in sie verliebt hätte und ihr helfen wolle. Das
vielgehetzte Mädchen wurde halb widerwillig verleitet; sie setzten
gemeinsam mit drei andern Insassen des Hauses, die man ins Vertrauen
gezogen hatte, eine lange Klageschrift gegen die Wirtin und den Neffen auf;
die Novize übernahm es, das Blatt ihrem Verehrer zu übergeben; er sollte es
den ordnungsmäßigen Weg an die Behörde leiten. Der Melonenkernverkäufer
brachte auch den Brief an die richtige Stelle; aber ehe Beamte ins Haus
kamen zur Untersuchung der Angelegenheit, hatte der Neffe durch einen
untergeordneten Diener des Jamens, der die Schreibstuben ordnete, Kenntnis
von der Beschwerde erhalten.

Die Mädchen hörten ängstlich eines Abends durch den Fußboden seine erregte
Debatte mit der Wirtin im Empfangssalon unten, wegen der Maßnahmen, die man
treffen sollte. Da griffen die fünf kompromittierten gefährdeten Geschöpfe
zu einem Gewaltmittel; sie banden die Frau, welche auf dem Korridor die
Aufsicht ihrer Zimmer führte, nachdem sie ihr mit Papier den Mund verstopft
hatten; ließen sich an falschen Zöpfen und ihren eigenen, die sie rasch
abschnitten und schnürten, an der Hinterseite des Hauses herunter, liefen
Hals über Kopf durch die Straßen, versteckten sich bis zum Morgen hinter
der Stadtmauer und schlüpften, nachdem sie ihre eleganten Kostüme gegen die
Lumpen von Bettlerfrauen eingetauscht hatten, welche an den Mauern in
überdeckten Erdlöchern übernachteten, aus dem Tor eine nach der andern
hinaus.

Sie hätten es nicht nötig gehabt, sich zu überstürzen, denn die Wirtin und
ihr Neffe waren nach dem ersten Schreck froh, daß die fünf Anklägerinnen
verschwunden waren, und schickten ihnen jeden Segenswunsch auf den Weg.
Aber den fünf Mädchen peitschte die Todesangst den Rücken; sie liefen
gedankenlos Li um Li; warfen sich bei jedem Lärm von rückwärts lang auf den
Boden; schließlich, als sie einen Berg erklommen hatten und auf einem
unbetretenen Steinacker saßen, weinten sie sich zusammen ruhig.

Der weitere Verlauf dieser recht gewöhnlichen Angelegenheit ließ an
Banalität nicht zu wünschen übrig. Am Ende des ersten Tages trennten sich
zwei von den Mädchen ab, die vor Aufregung, Hunger und Furcht nicht
weiterkonnten, und blieben auf dem Magistrat des Dörfchens, das sie
erreichten, mehrere Tage, wartend, daß die benachrichtigte Wirtin sie
wieder holen sollte. Diese aber beschuldigte die Mädchen des Diebstahls und
der Verleumdung. Der sehr gutmütige Bürgermeister hielt ihnen nach ein paar
weiteren Tagen im Dörfchen dies vor und empfahl ihnen, lieber keinen Wert
darauf zu legen, in die Stadt zurückzukehren, weil sie ja tatsächlich
Kleidungsstücke entwendet hatten. Und so arbeiteten die verwöhnten Kinder
um kargen Lohn draußen auf den Äckern und in Ställen, verwünschten die
ganze Sache.

Die drei anderen Mädchen erreichten Ma-nohs Truppe nach fünf Tagen, welche
sie auf den Tod erschöpfen ließen, nach ununterbrochenem Wandern, Frieren,
Dursten. Man nahm sich ihrer sehr an. Aber zweien von ihnen behagte bald
das strenge stille Leben nicht. Man beachtete ihre Fähigkeiten und
Schönheit nicht genug. Die Gedankengänge unter den Schwestern und Brüdern
schienen ihnen langweilig, auch komisch. Die eine heiratete einen Bruder,
dem es ging wie ihr. Die andere, eine geschickte junge Person, ließ sich
von einem entlaufenen kaiserlichen Schauspieler ein paar der bei Hofe
beliebten Tänze einstudieren, lernte ihm Phrasen und höfische Interna ab
und wurde rasch als bedeutende Acquisition von dem Besitzer eines Teehauses
mit Varietee engagiert. Er ließ reklamehaft ausstreuen von Intrigen, denen
sie am Kaiserhofe erlegen sei und so weiter.

Nur die Blutarme, Gehetzte, die sich halb willenlos hatte mitziehen lassen,
blühte auf unter den Gebrochenen Melonen. Sie hätte dieses Glück nicht für
möglich gehalten. Zum ersten Male strahlte wieder etwas wie Hoffnung aus
ihren eingesunkenen Augen. Aber sie war diesem Leben am wenigsten
gewachsen. Ein fliegender Shi, wie sich die Kundigen der Bündler
ausdrückten, bohrte sich durch ihre Haut und Eingeweide. Sie erbrach Blut
und konnte nicht weiter. Man beschaffte für sie aus einer Dorfapotheke die
lebenerneuernden Pillen aus dem Mutterkuchen einer erstgebärenden Hündin.
Aber im schönen sommerlichen Feld blieb sie tot liegen und war ihr
jämmerliches Dasein los.

Der Ruf der heiligen Prostitution verbreitete sich weit in diesen
Landschaften. Vielleicht trug nichts so dazu bei, die Sekte bekannt zu
machen. Die Behörden und die hetzenden Literaten in den Kung-tse-tempeln,
durch nichts gehemmt, konnten doch zu keinem Entschlusse kommen über die
Maßnahmen. Man konnte nicht die vielen hundert, zu denen entartete
Angehörige der ältesten Familien gehörten, durch Polizei und
Provinzialtruppen niedermetzeln lassen; das Schauspiel der Abschlachtung
von Wahnwitzigen, die sich mit keiner Handbewegung wehren würden, wagte man
nicht.

Man suchte durch Milde und sanfte Gewalt die Bündler zu bewegen, sich zu
zerstreuen. Als jedem Versuch ein rundes Nein entgegengestellt wurde,
verboten die Präfekten allen Ortschaften und Ansiedlungen, denen sich die
Bündler näherten, die Gewährung von Speise und Trank an sie. Einzelne
Präfekten arrangierten auf eigene Faust, unterstützt von ihren Behörden,
Unternehmungen gegen die Bündler. Sie bedienten sich des Aberglaubens der
Bevölkerung; streuten Gerüchte aus, daß die Bündler schöne Frauen aus
einzelnen Dörfern mit Gewalt entführten, daß sie im Besitz
lebenverlängernder Pulver seien, die sie für sich behielten. Auf Grund
solcher Gerüchte erfolgten kleine Überfälle auf Bündler, die sich eben von
dem Lagerplatz entfernt hatten. Man zog sie nackt aus, verbeulte sie. Die
geheimen Veranstalter hofften durch solche Angriffe den Zulauf zum Bund zu
mindern und über die Bündler Angst zu werfen. Unvermindert blieb die Ruhe
der Gebrochenen Melonen, unverändert wirkte die Suggestivkraft des
Westlichen Paradieses, das sie dem verhießen, der ohne Unruhe und von
keinerlei Begierde getrübt dem Tao folgte; nur sie wüßten das reine echte
Tao, und sie würden sich jener Kräfte bemächtigen können, von denen die
alten Lieder singen.

Als solche Angriffe auf die Bündler wenig Erfolg hatten, zogen sich die
Präfekturen von der Angelegenheit zurück, erstatteten den
Provinzialbehörden Berichte, warteten ab.

Eifrig wurde in den Kung-tse-tempeln geschürt. Die Literaten, ehemaligen
Regierungsbeamten, die zur Disposition Gestellten, ihre Freunde, alles
Offizielle im westlichen Tschi-li betrachtete die Gebrochenen Melonen als
persönliche Feinde, die man um so heftiger bekämpfen mußte, als der
Regierung offenbar noch die Hände gebunden waren. Hier hatte man nur Furcht
vor dem schlimmen Eindruck einer Niedermetzelung auf das Volk, sonst wäre
längst alles erfolgt.

Bis eines Tages ein alter Militär, vom Rang eines Ti-tu in Schun-tö, dem
religiöse Streitigkeiten zuwider waren und der sich nach Pe-king beliebt
machen wollte, vorschlug, er wolle die Vernichtung der Gebrochenen Melone
übernehmen auf eigene Verantwortung, wenn man ihm eine größere Geldsumme
zur Einstellung einer Anzahl ehemaliger Soldaten, wahrhafter
Vaterlandsfreunde, zur Verfügung stellte. Die Summe durch rasche
Subskription der erfreuten Verschwörer zusammengebracht, machten sich eines
Nachts zweihundert Mann von Schun-tö auf, um noch vor Morgen im raschen
Marsch die Bündler zu erreichen, ehe sie ihr Lager verließen; der Ti-tu
unter ihnen. Am frühen Morgen kam es dann zu dem berüchtigten Blutbad bei
einem Dorf, nächst dem sich das Lager der Gebrochenen Melonen befand.

Das Gerücht von der Ankunft einer bewaffneten Bande hatte schon tagelang
vorher die Bewohner dieser Gegend alarmiert; man zweifelte an der
Möglichkeit eines Vorgehens gegen die harmlosen Menschen. Immerhin hatte
das Auftreten des Bundes und die heilige Prostitution bereits hinreichend
gewirkt, um eine große Anzahl von Bauern in der Morgenfrühe dieses Tages
auf die Beine zu bringen. Sie liefen in Haufen von allen Seiten an, als
Wehegeschrei aus dem friedlichen Lager scholl. Am Eindringen wurden sie
durch flüchtige Brüder und Schwestern gehindert. Dann Keule gegen Keule.
Sensen rissen schwertschwingende Hände weg. Spitze Bambuslanzen bohrten
sich durch anrennende Leiber. Über Rücken meuchelnder Soldaten wuchteten
Balken und Wurzelkloben. Maulaufreißen, Ächzen, Dumpfen, Knallen.
Schweißdampf, dünne Blutsäulen, unregelmäßiger Rhythmus von Stille und
Gebrüll. »Kuan-yin hilf!« Nach einer halben Stunde war der Dämon des Orts
gesättigt. Hundert Soldaten blieben liegen, über zweihundert Schwestern und
Brüder, vierzig Bauern.

Die Bündler sammelten sich. Rasende Flucht entfernte sie von dem Platz.

Gegen Abend erreichten sie in nördlicher Richtung einen großen See, den die
Anwohner See der Eintracht nannten, hielten, entsetzt, daß man die
Einsargung und Beerdigung der Toten den Bauern hatte überlassen müssen. Ma
besänftigte. Er habe schon auf dem Wege von einer wissenden Stelle die
Äußerung empfangen, daß die toten Schwestern und Brüder wohlvorbereitet
gestorben seien; ihre Geister schwebten nach den erstrebten Bezirken auf.

Am mondhellen See beriet er mit acht Brüdern, was geschehen solle. Man
konnte sich nicht hinmorden lassen. Mit gemachter Entschiedenheit erwiderte
Ma, es sei gleich, an welchem Tage man sterbe; es käme nur auf die
Bereitschaft des Geistes an. Er redete flau und fühlte, daß er nicht das
Richtige für die ungeheure Lage traf. Er konnte nichts erwidern auf die
Frage, ob man nicht sehen müsse, sich gut vorzubereiten, statt in den Tod
zu rasen.

Hunderte über hunderte rotteten sich zusammen unter dem Banner der
Gebrochenen Melone; aber keine Überfahrt in die ersehnte Heimat bereitete
man ihnen, keinen Hafen für die Verdorbenen und Verunglückten. Nicht anders
als Betrug konnte man es nennen, Schändung ohne Gewissen. Zur Schlachtbank
führte man sie, zur Schlachtbank und nicht zum Westlichen Paradies.

Zu der Musik der scharrenden Schilfrohre flüsterten sie. Ma-nohs trostloser
heißer Blick haftete fast irre an der großen Klosteranlage auf der anderen
Seite des Wassers. Er konnte in der Helligkeit des Himmels alle
Einzelbauten der Lamaserie erkennen, die vielen Kapellen, die große breite
Gebethalle, die Wohnhallen der Mönche. In solchem stillen Hause wohnte er
lange Jahre. Jetzt lag er ausgestoßen mit vielen hundert Menschen wieder
vor seinen Toren. Durch einen See getrennt.

Die Brüder würgten sich verzweifelte Entschlüsse ab. Der Bund sollte
aufgelöst werden. Die grauenhafte Verantwortung wollte keiner tragen. Sie
flehten Ma an: »Was tun, was tun?« Morgen, übermorgen, in einer Woche
kommen die Provinzialtruppen, umstellen die Gebrochene Melone,
zerschmettern Brüder und Schwestern. Kein Zweifel; noch heute Bericht von
Ortsbehörden an Präfektur, Tsong-tou; Friedensbruch in der Provinz;
baldiger Eingriff der Regierung. Was hat die Gebrochene Melone verschuldet,
daß das geschah? Alles Klagen hilft nichts. Was soll geschehen? Die teuren
Brüder tot, die feinen Schwestern, die frommen Wanderinnen tot. Blutsäulen,
zerspaltene Stirnen, willig hingehaltene Hälse: unausdenkbar das alles,
überqualvoll, zermalmend, zwischen saurem Schweißdampf und hetzendem
Gröhlen Aufstieg in die Westlichen Bezirke. Der Bund, der Ring zerbrach.

Ma-noh saß still, horchte auf sich. Er erinnerte sich auf einmal jener
ersten Unterredung der Nan-ku-Bettler mit Wang-lun in seiner Hütte. Man
drängte Wang um Schutz von der Weißen Wasserlilie. Für die Gebrochene
Melone gab es keinen Schutz, sie war ohne Freunde, Wang-lun hatte sich
erhoben mit seinem langen Schlachtschwert, in der Nacht das Lager seiner
ehemaligen Brüder verlassen.

Ein siedender Haß auf Wang-lun übergoß Ma. Sein Arm wurde von innen
geschüttelt, seine Zähne geknirscht. Ein Entschluß stürmte durch seine Knie
in seine Zehen, rüttelte an seinem Zwerchfell, so daß sein Atem still
stand; wie von Blitz und Donnerschlag war er widerhallend durchrollt.

Die schmalen bunten Gebetswimpel auf den platten Dächern drüben schaukelten
im Wind, stellten sich auf.

In stummer Frühe ließ Ma den Lagernden ein Zeichen geben. Man rauschte um
den See. Rasch waren die Klosteranlagen von den Menschen umfaßt, bevor die
drei ersten Stöße des Muschelhorns die Brüder drin zur Frühandacht weckten.

Ma schlug mit der Faust an das Tor. Fünf seiner Brüder folgten ihm über den
Hof in das hochgelegene Zimmer des Chan-pos. In dem kahlen hohen Zimmer, in
das ein paar Stufen vor einen verhängten Raum herunterführten, stand der
Chan-po vor einem prachtvoll geschnitzten Wandtisch, der die Bilder
Verehrungswürdiger trug; ein noch junger Mensch mit ruhigen geistvollen
Zügen. Ma-noh in seinem Flickkleid hatte sich nicht von dem Pförtner
abweisen lassen; der Prior wartete zu hören, was so dränge. Er schien nicht
gewillt, die sechs Fremden ohne weiteres als Gäste zu betrachten; nach der
Begrüßung schwieg er.

Ma nannte seinen Namen und die der Begleiter, erklärte mit kalter
Beherrschtheit, daß er mit dem Prior über eine wichtige Angelegenheit
verhandeln wolle.

Der entgegnete, daß die Almosenverteilung Sache eines Bruders sei, zu dem
sie der Pförtner führen würde; der würde sie auch über ärztliche
Hilfeleistungen und Stillung augenblicklicher Not beraten.

Ma-noh wollte den Chan-po sprechen.

Er lud sie zögernd zum Sitzen auf den Kniehockern ein, mit dem Hinweis, daß
die Frühmesse bald beginne.

Ma-noh, hinkauernd, erklärte, daß ihre Zeit sich auf die Zeit zwischen zwei
Atemzügen beschränkte und sie bald zu Ende sein würden. Ob der gründliche
Kenner der heiligen Saktastexte aus den Göttergesprächen magische Formeln
gelernt habe, mit denen man Menschen vor der völligen körperlichen
Vernichtung retten könne.

Der Prior staunte den kenntnisreichen Bettler an und sagte langsam, er
wüßte einige schützende Silben, indem er seine gelben Augen auf den Mann
richtete.

Ob, fragte Ma weiter, der wissende Prior den schützenden Silben so
vertraue, daß er sich selbst mit ihnen in Gefahr begeben würde.

Der Chan-po, tiefer erstaunend, erklärte, er vertraue diesen Silben und
manchen anderen; aber ob der Frager vielleicht ein verkleideter Ge-long
sei, wozu er ihn aufsuche und examiniere; was dies bedeute und wer sie
wären.

Ma-noh, mit ihm zusammen aufstehend, meinte, es sei kein Anlaß, die
Unterhaltung, die eben beginne, bald am Ziel sei, schon abzubrechen; und
eine verlorene Frühmesse wiege für die Heiligkeit nicht so viel wie der
Mord an tausend Männern und Frauen. Denn sie könnten ohne Umschweif und
Höflichkeit verhandeln; ob der erleuchtete Chan-po mit seinen fünfhundert
Mönchen gleich in die Ebene hinuntergehen würden, von Verbrechern verfolgt,
aber vertrauend auf die Tantrasformel? Ob der erleuchtete Chan-po sich
herablassen würde, einen Blick zum geöffneten Fenster hinauszuwerfen und zu
sehen, was die Nacht draußen verändert hätte. Der Abt mit zwei Schritten
gegen das Fenster, riß es auf; Murmeln der Mönche über den Hof, das
schimmernde Seeufer, soweit man sehen konnte in dem Morgennebel,
geschwärzt, eingefaßt von hunderten sich regenden Menschen, Männern und
Frauen, Wagen, Karren; sie hielten sich so still, daß nicht einmal die
Mönche draußen, die zur Messe gingen, etwas ahnten.

Das Gesicht des Abtes, viereckig, gefroren, wandte sich nicht um; er
gurgelte: »Sind das die Verbrecher, die uns verfolgen?«

Ma-noh, neben ihn tretend, schloß vor seinem Gesicht rasch das Fenster;
dies seien die Verfolgten, die von ihm Schutz verlangten. Aber niemand
könne freilich sicher sagen, wann aus Verfolgten Verfolger und Verbrecher
würden. Sie seien die Gebrochenen Melonen; ein unkeuscher Name für das
keuscheste Ding; sie seien heute morgen massakriert worden; ihre Toten
lägen noch einen Tagesmarsch hinter ihnen auf dem freien Felde; jetzt
verlange er, Ma-noh, für seine gehetzten Menschen Wohnung, Mauer und
Schutz.

Es klopfte gegen die Tür; der Abt drehte den Kopf. Er könne nicht kommen
zur Andacht; man möchte ihn vertreten; man möchte nicht zu langsam lesen
und bald den vertretenden Bruder Ge-long zu ihm heraufschicken.

»Was, mit geraden Worten, Bruder Ma-noh, willst du von mir?«

»Du sollst uns aufnehmen in dein Kloster, Männer und Frauen, und dann die
Tore verschließen, großer Chan-po.«

»Wie kann ich euch schützen? Ist der Schutz von verfolgten Heeren Sache der
Klöster? Wer im Freien steht und den Blitz auf sich zieht, warum schilt der
auf den Blitzschlag?«

»Niemand schilt. Wir brauchen keine Belehrung. Wir brauchen Schutz. Wenn
der große Chan-po mit seinen Mönchen nicht Platz genug für uns im Kloster
hat, so wird der große Chan-po mit seinen Mönchen das Kloster verlassen
müssen. Auf ein paar Wochen. Bis es besser für uns geworden ist. Hier gibt
es keine Wahl für uns Gehetzten. Dies ist die gerade Antwort. Und auch für
den Chan-po gibt es keine Wahl; wenn er nicht in zwei Tagen mit unserem
Blut befleckt dastehen will und seinen schrecklichen Wiedergeburten
nachweinen wird. Auf seinen Schultern die Last von hundert unbefreiten
Menschen.«

Ma-noh wartete mit den fünf Brüdern in einem Zimmer des Erdgeschosses; sie
tranken seit langer Zeit wieder den feinen heißen Tee aus bemalten Tassen.
Die Stimmen des Abtes und seines Stellvertreters klangen abgerissen
herunter. Nach einstündiger Beratung ließ der Abt sie wieder rufen. Er
hielt mit erblichenem Gesicht noch das schmuckreiche schwarze Gebetszepter
in der Hand; neben ihm stand sein Stellvertreter, ein scharfer grauer Kopf
mit mongolischen Zügen. Eindringlich sanft bat der Abt Ma-noh, das Kloster
mit allen Schätzen gut zu verwahren; er möchte ihm Boten schicken in das
kleine Kloster jenseits des Flusses, wohin er selbst zöge, und ihm
mitteilen, wann die Gefahr für sie vorüber sei und sie das Kloster
verließen. Beim Amithaba habe er gebetet, daß die Seelen der unglücklichen
Verfolgten gerettet würden.

Ma ging mit straffen Schenkeln über den Hof, der von aufgeregten Mönchen
wimmelte. Die Tore öffneten sich; man umringte ihn draußen. Dann erhob sich
das Jauchzen, das sich lauffeuerartig fortpflanzte.

Als die heiße Sonne eben im Mittag stand, schoben sich die mächtigen
Torflügel auf. Man sah aus vielen Höfen die Mönche zusammenströmen, sich
hintereinander ordnen, sich um liegende Geräte mühen. Der Auszug des
Chan-po mit der gesamten Mönchsschaft vollzog sich. Die Menschenmassen vor
dem Tore teilten sich.

Die Geistlichkeit, das allerhöchste Gut der Welt, erschien inmitten der
Armen, die einen dilettantischen, viel kürzeren, schmerzensreichen Weg nach
den ewigen Freudenhimmeln einschlugen. Voran junge Novizen mit leeren
Händen, unbedeckten Köpfen; die Ban-dis, kahle runde Schädel mit einem
kleinen Haarbüschel auf dem Scheitel.

Zu fünf nebeneinander Mönche mit langen braunen Kutten bis zu den Füßen;
viele hatten die rote Priesterbinde von der linken Schulter zur rechten
Hüfte umgeschlungen; manche trugen Überwürfe, weite gelbe Mäntel, die die
rechte Schulter nackt ließen. Alle unter schwarzen vierzipfligen Mützen.
Murmelton. Zu zweit trugen sie rote Paniere mit andachtgebietenden
Inschriften. In Sänften zuletzt die Priester aller Weihen, unter ihnen in
einer gelb ausgeschlagenen Sänfte der Chan-po. Zwischen den höchsten
Priestern Lehrlinge mit Polstern in den Händen, darauf die Altarstücke und
die sieben Kleinodien, kunstreich geschnitzte, gegossene Tiere; Elefant,
Goldfisch, Pferd, Opferschalen aus Silber, gebuckelte Teller, Gießkannen,
Metallspiegel, heilige Symbole der fünf Sinne. Auf bedeckten Karren fuhr
man fort das umfassende Buch, die Mutter genannt, zwölf schwere Bände in
holzgerahmten Seiten. Vor, neben der Sänfte des Chan-po krachten Mönche von
Zeit zu Zeit in die Gongs, pumpten ihre Lungen in die ungeheuren Posaunen,
die auf den Schultern der Vorangehenden ruhten.

Auf breiten Bahren schwankten die Bildsäulen der großen Götter vorüber;
unverhüllt blickten die wesenlosen Gesichter über die erregten Menschen,
ertrugen den frischen Duft des Sees. Da saß der Beryllglanzkönig auf dem
Lotosthrone; in der herabhängenden Rechten hielt er die mystische
goldfarbige Myrobalane; die beiden Buddhas mit der Löwenstimme und der
Kostbaren Kopfzier begleiteten ihn. Das furchtbare Bild der Heilspendenden
Göttin, die auf einem Blutmeer reitet, tauchte aus dem Dunkel ihrer Kapelle
in die warme helle Himmelsluft hinein; ihre blitzschießenden drei Augen,
ihre brennenden Augenbrauen vermochten nichts gegen das gleichmäßig heitere
Sonnenlicht, das in unverminderter Kraft über ihr schlangenbefangenes
Gesicht fuhr. Zuletzt schleppte der Pförtner seinen abgestandenen,
verkümmerten Leib an, gab Ma-noh, trübe Gebete keuchend, das unförmige
Vorhängeschloß des Tores.

Das Blasen der Posaunen tönte noch von der rechten Seite des Sees; ab und
zu puffte ein Gongschlag. Da strömte jubelnd, weinend, ernst der absurde
Troß der armen Gebrochenen Melonen in die leeren Höfe, die schlammbedeckten
Männer, die Verwundeten, die Blutbespritzten, die Mädchen mit den bunten
Kitteln und trockenen Blumen im wirren Haar, die Sängerinnen, die vor Angst
lachten, die stammelnden plappernden Blinden und Krüppel. Sie drangen in
die Höfe, die Kapellen, die Gebetshallen, aus denen die überirdischen
Götter ausgezogen waren, füllten jeden Winkel und jeden Raum bis zu den
bemalten Decken mit ihrem Elend.

                   *       *       *       *       *

Man richtete sich in dem Kloster ein. Während die Handwerker die Höhe und
Festigkeit der Ziegelmauern bewunderten, Lahme und Wundgeschlagene auf die
roten Diwane in der Gebetshalle gebettet wurden, Schwestern Bohnen und
Hirse aus den Vorratskammern schleppten und in den noch heißen Kesseln
kochten, saßen Ma-noh und seine Vertrauten in dem Zimmer des Chan-po,
sannen nach. Öfter sahen sie sich betreten an; man hatte Reichtum und
Schutz; aber dies war nicht gut. Sie saßen mit feuchten Kleidern in dem
gepflegten geschmückten Hause; auf Holzboden sickerten Schmutzlachen von
ihren Schuhen und Kitteln. Der scharfe und muffige Dunst stieg aus den
durchnäßten Stoffen, stach ihnen in die Nasen; ihre Augen tränten. In
unwillkürlicher Bewegung seufzte der jüngere ernste Liu, fragte: »Wollen
wir nicht hinuntergehen, auf dem Hofe für uns Zelte schlagen?«

Ma-noh ging mit ihnen; er sagte nicht »nein«, nicht »ja«. Metaphysische
Gespräche schwebten in den niedrigen Holzkorridoren, die sie durchgingen.
Hier war noch nie die Rede gewesen von Hunger, Totschlag; das Holz des
Hauses war getränkt mit Gedanken von der Erbauung und Vernichtung der Welt.
Ma-nohs Freunde spürten nichts von dieser Luft. Er schlürfte gebunden
hinter ihnen her; ihn erregten diese Zimmer und Gänge, als wenn sie mit
kleinen Geistern, rufenden stichelnden Geistern angefüllt wären.
Teilnahmslos erledigte er Besprechungen. Aus den alten Brettern schlugen
die Leute unten Hütten, Zelte auf den Höfen, um die Hallen unbewohnt zu
lassen. Er ging langsam wieder auf das Zimmer des Chan-po, konnte sich
nicht losreißen. Allein in dem großen leeren Hause hockte er im Zimmer des
Chan-po vor dem leeren Buddhaaltare, durch die Finger zog er einen
Rosenkranz, der neben einem Kniepolster lag, zählte die Perlen. Der muffige
Dunst von Kleidern konnte den weichen Weihrauchgeruch nicht verdrängen.
»Ma-noh, der geweihte Mönch von Pu-to-schan, sitzt wieder in einem
Kloster«, sagte er sich laut vor. Er fühlte, daß er ausruhte und es für ein
paar Augenblicke gut sein lassen wollte. Befleckt saß der Mönch im Kloster,
und schämte sich nicht, fürchtete sich nicht. Die Schreie der Ermordeten
hallten noch in seinen Ohren. Er atmete nach dem Blutbad, erinnerte sich,
daß er lebte. Rosenkränze, Buddhasäulen, die kostbaren Altarstücke, die
Kleinodien, sie konnten alles mitnehmen; man lebt, man atmet, findet sich
zurück. Den Elefanten hatten sie getragen, die Symbole der fünf Sinne;
Ma-noh verzog höhnisch sein Gesicht: dies war alles falsch, damit ist es
nicht getan. Eine neue Methode, ein anderer Weg! Klingeln, räuchern, beten;
sie sollten die armen Schwestern winseln hören! Sie manövrierten mit den
altersgrauen Tieren, den verstiegenen Reflexionen eines fremden Landes.
Alle heiligen Berge, alle massiven Klosterkomplexe standen nutzlos auf dem
Boden herum; mit dem Röcheln eines Bruders konnte man sie umwerfen. Wie
ehrfurchtfordernd der Chan-po eben dagestanden hatte; und jetzt trug man
ihn in irgendeine kleine Kapelle und er, Ma-noh, der hergelaufene
Einsiedler von Nan-ku, saß auf seinem Platze, lachte drohend die leeren
Altartische an; die Götter rissen bei seiner Ankunft aus. Was sind Klöster?
Orte, an denen man träumt und seinen Weg verfehlt. Nur die Mauern sind gut;
die Dächer sind gut. Sie schützen gegen Regen und nächtliche Stürme; sie
versperren Geistern den Weg; der Winter hockt vor der Tür.

Schutz gegen die Verbrecher. O, Klöster lohnten schon. Kein böswilliger
Halunke konnte einbrechen und Spieße in fremde Rücken bohren. Wie hat man
Brüder und Schwestern heute morgen hingemordet; zu Dutzenden fielen sie, so
ergeben haben sie gebetet. Wenn nicht die Bauern gekommen wären, so hätten
die viehischen Burschen, hinter denen ein Präfekt steckte, die ganze junge
Ernte niedergetrampelt. Schufte, Schufte! Er mußte zusehen, wie man seine
Leute hinschmetterte, wehrlos war er gegen die Schufte; er wollte ja
wehrlos sein. Irgendwo in Nordtschi-li ging jetzt Wang-lun herum, den
Gelben Springer an seiner Seite; er nahm Mord und Totschlag auf seine
Seele; die Wahrhaft Schwachen dehnten sich. Nur die Gebrochenen Melonen,
seine traurigen armen Schwestern und Brüder, waren heimatlos, pfadlos.

Sollte man denn sterben, sollte man wirklich die große Lehre so verstehen:
das Schicksal kommt von irgendwo, man stellt sich ihm in den Weg und läßt
sich köpfen? Sollte man sterben? Sollte man sterben?

Ma-noh wandte sich vom Boden ab, auf den er seinen Rumpf tief gebückt
hatte; bemerkte den Rosenkranz in seiner Hand, legte ihn beiseite, rieb
seine Hände, rieb seine Schläfen.

Es wäre gut zu sterben. Warum nicht? Es kam nicht darauf an zu leben,
sondern gut gerüstet, mit beladenen Armen an die Pforten jenes stillen
schönen Paradieses zu kommen. Jahre früher, Jahre später, das konnte nichts
bessern.

War man gerüstet? Aber war man gerüstet?

Ma-nohs Hand tastete nach dem Rosenkranz. Er richtete sich hoch, ging die
Stufen zu dem verhängten Schlafzimmer des Chan-po hinauf; zog den Vorhang
weg, warf sich, den Rosenkranz über die Brust gelegt, auf das Bett. Das
ungewohnte Klappern scholl durch das Haus; im Hof schlug man Bretter
zusammen; ein tiefes Singen wie aus dem Innern einer Blechkanne surrte aus
einer Halle.

Man war nicht gerüstet. Man brauchte Ruhe, Zeit, Eindringen, Vertiefung,
Mauern, Mauern! Bretterschlagen nutzte nichts; damit war es nicht getan.
Morgen war man totgeschlagen; und es war nichts erreicht. Trappelten nicht
schon die Füße der Verfolger? Voller Lärm das Leben, voller Haß und Angst:
so ging es nicht. Mauern, Mauern! Hier waren Mauern, hier, hier!

Eine stürmische Freude über die Masse, die draußen über die Höfe wogte,
durchdrang Ma-noh. Seine, seine Brüder und Schwestern, sie sollten den
guten Weg gehen; seine Menschen. Besser als die Cakyasöhne.

Nachdem eine Stunde verstrichen war, kamen Männer vor das Zimmer, klopften
an, ohne eine Antwort zu erhalten. Sie fanden Ma, den kleinen dürren Mann,
auf dem Bett eingeschlafen, er schien sehr entzückt zu träumen. Er sprang
auf, als sie leise wieder die Stufen heruntergingen.

Er war sehr still, ließ sich von ihnen die Hütte zeigen, die man für ihn
bestimmt hatte, bezog sie.

An diesem Tage und am folgenden kamen keine Angreifer; die Gebrochenen
Melonen zogen in gewohnter Art aus. Als schon fünf Tage verstrichen waren,
hatte Ma-noh kein Wort darüber verlauten lassen, was weiter geschehen
sollte. Er wartete. Wenn er die Höfe abging, war seine fliehende Stirn in
Falten gelegt; man störte ihn nicht; sein Ausdruck war gefährlich. Ma mußte
an sich halten; er sah die Grenzen seines Vermögens; der Bund stürzte in
Abgründe und er konnte es nicht hindern. Zähneknirschend mußte er warten,
bis die Brüder zu ihm kamen, selbst um Mauern bettelten. Er wagte diesen
Vorstoß gegen ihre Freiheit nicht; er hatte Widersacher; man würde ihm
nicht folgen. Sie genossen ihre Sicherheit. Sie wollten das Schicksal
herausfordern; es sollte sich nur entladen!

Juen mit einem fast quadratischen Gesicht, einer auffällig plattliegenden
Nase, kalten Blicken, einem Schädel fast ohne Hinterhaupt, hatte eine sehr
wechselnde Art zu sprechen; meist sprach er hingehalten, klebend; ab und
zu, es konnte sich um belanglose Sachen handeln, erging er sich in einem
rapiden, scheinbar unmotivierten Ausbruch, mit hitziger Mimik und Geste, so
daß man im ganzen die Vorstellung einer erheblichen Selbstbeherrschung des
Mannes gewann. Im Grunde konnte davon keine Rede sein; er beherrschte sich,
aber er beherrschte keine besondere Leidenschaft. Anfang dreißig, aus
Sze-chuan gebürtig, Sohn eines reichen Federhändlers, im untersten Examen
durchgefallen, ehrgeizig ohne Gaben. Er war bald träge, matt, bald wild;
meist wild, er fürchtete seine Unklarheit vorzubringen. Er suchte unter die
Bündler einzudringen, sich Ansehen zu verschaffen, indem er mit dunklen
Worten in Erregung um sich warf, Worte, über die er selbst später
nachdachte, weil er annahm, daß jede Gedankenarbeit in solcher Blindheit
geleistet würde.

Die beiden Vettern Liu mehr banalen Charakters, Fanatiker, sehr ähnlich in
ihrer Denkweise, etwa gleichaltrig; der kleinere Liu, der sich nach seinem
Kindsnamen das Dreierlein nannte, zwar sanguinisch wie der andere, dabei
aber zweifelsüchtig, fürchtend, daß nichts aus allem Gehofften würde, durch
seine fatale Zweifelsucht selbst viel bedrückt. Sie arbeiteten früher in
einem Porzellanwerk, dann ohne Beschäftigung verfielen beide aufs
Goldmachen, das ihnen ein frecher Bonze beibringen wollte. Auch jetzt
schleppten sie noch kleine Zinnoberkrügchen mit sich herum; sie erwarteten
Großes von den Kräften, die ihnen das Wandeln im Tao verleihen würde:
vielleicht würde ihnen die unsterblich machende Pille gelingen.

Juen verwickelte zuerst den Führer ihres Bundes in ein Gespräch darüber,
was nun geschehen sollte. Er fügte sofort hinzu, daß nach seiner Ansicht es
gar nicht nötig sei, das Kloster zu verlassen. Die Priester würden sich
schwer hüten, einen tätlichen Angriff zu inspirieren; und ob die Regierung
ihnen helfen würde aus freien Stücken, dürfte sehr zweifelhaft sein.

Ma-noh zeigte sich interessiert, legte ihm nahe, herumzuhören, was man
dächte über die Zukunft des Bundes.

Die beiden Liu waren bei allem Fanatismus tatsachengeschulte Köpfe. Sie
hatten unter sich oft die Frage ihres Bundes diskutiert. Für sie stand im
Vordergrund: der Bund dehnt sich aus, er wird von wahrhaft ernsten Gedanken
getragen, man muß ihm Zeit zur völligen Reife lassen; aber sobald es Winter
wurde, in ein paar Monaten, mußte es zu Ende sein mit der Gebrochenen
Melone. Sie hatten von Ma-noh einmal die entsetzliche Geschichte der
Bergläufer von Nan-ku bei einem verschwiegenen Spaziergang gehört; sie
zweifelten beide nicht daran, daß das Winterschicksal der Gebrochenen
Melone an Grausigkeit nicht zurückstehen würde.

Was sie eigentlich genauer und präzis beschrieben mit der »völligen Reife
des Bundes« meinten, wußten sie so wenig wie die meisten anderen, die
ähnliche Wendungen gebrauchten. Es war eine zu intensive Suggestividee, die
jeder Zergliederung spottete, die bei der Berührung Schrecken einflößte.
Die Idee ruhte im Hintergrunde, man konnte sich auf sie verlassen, man
vernachlässigte sie, man lebte den vorgeschriebenen Regeln nach und war
gewiß, daß automatisch zu einer gewissen Zeit die Dinge, welche die Idee
verhieß, sich erfüllen würden.

Beide stimmten ohne weiteres Juen bei, daß man das Kloster behalten müsse.
Nur das Dreierlein fing zu nörgeln an. Ob wirklich die Regierung nicht
angreifen würde, und dann sei der Platz für die Dauer zu klein, und woher
für immer die Nahrung.

Zu ihren Debatten zogen sie einen sehr phantastischen professionellen
Geschichtenerzähler namens Cha hinzu, der immer mit nacktem Oberkörper
ging, um möglichst viel von dem wirksamen Prinzip der Sonne, dem Yang, in
sich aufzunehmen. Ein gutmütiger Kauz mit schönen lebendigen und jungen
Augen, ein Mann, dem alle vertrauten, die mit ihm in Berührung kamen.

Ferner nahm Teil an den Unterhaltungen ein großer ernster Mensch, der
vielleicht in der Mitte der vierziger Jahre stand, Namen und Herkunft nicht
angab. Ma-noh wußte allein sein Schicksal. Er war hager, trug einen
ungepflegt hängenden Kinn- und Schnurbart, war von einer außerordentlichen
Güte und Höflichkeit gegen jedermann, dabei von einer ebenso großen Scheu
und Passivität. Vielleicht war niemand unter den Bündlern so korrekt in den
Gebeten und in der Wachsamkeit über seine Gedanken, so behutsam in der
Beachtung der Regel, nichts, weder Pflanze, noch Tier, noch Mensch unnötig
zu verletzen. Man nannte ihn die »Gelbe Glocke«, weil er fast beständig in
einer bestimmten Tonlage sprach, die dem Grundton Gung des ersten
Tonleiterrohrs entsprach, und dieses Rohr hieß Huang-dschung oder die Gelbe
Glocke. Die Gelbe Glocke war, das wußte man allgemein, der vertraute Freund
der schönen Liang-li, die ihr herrisches, leichtaufbrausendes Wesen in
seiner Gegenwart wunderbar beruhigte. Man zog diesen unbekannten Menschen
auch darum viel zu wichtigen Besprechungen zu, weil man Frauen zwar nie an
Beratungen teilnehmen ließ, aber Liang gern mittelbar hören wollte.

Der alte Cha äußerte sich negativ. Dieser Märchenerzähler wußte aufs
schärfste Märchen und Wirklichkeit zu trennen. Er stimmte den Gründen des
kleineren Liu bei und zwar mit strenger Bestimmtheit, machte Juen Vorwürfe,
wie er auf so niedrige Gedanken kommen könne, das Kloster den frommen
Mönchen mit Hinterlist abzunehmen. Er eiferte sich in eine große Erregung
mehrere Male hinein. Bei diesen Erregungen verlor er den realen Boden,
watete in Wut, kämpfte gegen kolossale Größen, gegen Mammuts der Phantasie,
die gar nicht in Frage kamen. Endete so, daß er nur an seiner drohenden
Kopfhaltung und dem schmetternden Tönen seiner Stimme erkannte, daß er sich
gegen etwas gewandt hatte; wartete eine Entgegnung ab.

Die Gelbe Glocke säuselte monoton; er wich aus, um nicht zu widersprechen.
Beschäftigte sich damit, den alten Cha erschreckt anzusehen und ihm einige
verbindliche Redensarten zu machen über die Stärke seiner Vorstellungskraft
und seine Gesinnung. Nach seiner Meinung gefragt dankte er für die Güte,
ihn für urteilsfähig zu halten. Er fühle sich diesen wichtigen
Entscheidungen nicht gewachsen, vertraue dem Beschluß der andern völlig und
unbedingt. Schließlich rückte er mit seiner eigenen Ansicht heraus, von der
er aber ausdrücklich bemerkte, daß sie nur die Richtschnur für sein
privates Dasein abgebe und daß er nie und um alles in der Welt nicht wolle,
daß andere sie für eine wirkliche Meinung ansehen. Und schließlich äußere
er sie nur, weil die Herren es wünschten und er die Herren nicht verletzen
wolle.

Er könne sich nur der Ansicht des weltkundigen Herrn Cha anschließen. Ja
wenn er es recht erwäge, könne und müsse er noch weitergehen, wenigstens
was ihn anlange. Man müsse sehen, wie man dem Winter und dem Hunger in der
alten Weise widerstünde. Wenn es aber sehr schlimm ginge, so müsse man
sterben, denn das sei das Schicksal. Und sie würden ja auch sterben, denn
sie begehrten alle nur nach dem Tao und nicht nach dem Leben. Wenn sie den
Frühling erlebten, so sei dies etwas Wunderbares und kaum Glaubliches.
Schließlich wüßte er nicht einmal, ob man dafür danken solle, denn jeder
Tag früher am Ziel sei wahrscheinlich verdienstlicher als jeder Tag später.
Doch dies alles wüßten ja die alten Männer besser als er, und er verletze
sie nur durch den Vortrag gedankenloser Banalitäten.

Damit hatte die Gelbe Glocke getönt. Der große stille Mensch sah beschämt
auf den Boden, die Äußerung bereitete ihm Pein.

Ma-noh hockte eines Morgens mit den vier Männern auf einem inneren Hof, der
weit nach hinten gelegen steil anstieg und zu den Gräbern der Mönche
führte. Dicht wucherte hier das Gras zwischen den Steinen, der Hof war mit
alten Ulmen bepflanzt. In ihrem Schatten saßen die Männer, auch die schöne
Liang saß hier, in einem gelben durchlöcherten und geflickten Kittel. Ihr
hartgeschnittenes Gesicht war magerer geworden, die früher energischen
Bewegungen hatten eine gewisse sanfte Rundung angenommen, ihre schmalen
Augen warfen das alte schwarze Feuer.

Ma-noh war von ihnen zu dieser Unterredung gebeten worden. Juen erzählte
von ihren Sorgen und Besprechungen. Ma-noh stimmte bei, man müsse sich
Sorgen machen. Aber die Meinungen wichen ab, berichtete Juen, der sich als
Wortführer benahm, und lud mit einer Handbewegung den jüngeren Liu ein zu
reden.

Ma ließ diese Reden über sich ergehen. Er wußte, es würde keine Klarheit
erzielt werden. Wang-luns längst widerlegte Gedanken waren zu kräftig in
diesen Leuten.

Das Schicksal mußte deutlicher reden. Er wand sich unter den Dingen, die er
kommen sah und die sich nicht abwenden ließen. Er litt unter seiner
Ohnmacht.

Die schöne Liang-li, zum ersten Male zu einer Unterredung zugezogen,
blickte ihn an. Sie hatte zunächst über dem Herzen ein Gefühl von
schweigendem Zorn gegen Ma-noh. Aber nur einen Augenblick. Dies war kein
Mann wie die andern, wie ihr Vater, ihr rechtlicher Gemahl, ihre Freunde
vom Bund, die Gelbe Glocke. Diesem war sie nicht dadurch gleichgestellt,
daß sie neben ihm beraten durfte und ihm ins Gesicht blickte. Es war schwer
zu denken, daß von diesem Mann die Bildung ihres Liebesbundes ausgehen
sollte. Und sie erfaßte in einer unklaren Weise, daß für Ma-noh ihr Bund
etwas anderes war als für sie, daß keine Herzlichkeit dahintersteckte,
sondern etwas würgend Qualvolles, etwas Gefahrdrohendes, ein Steinschlag.

Sie erschrak, erinnerte sich ihrer ersten Vorstellungen von ihm: als eines
unheimlichen, abgewandten Mannes, der seine finstere Berghöhle verlassend,
den großen wahren Weg ging und mit Leichtigkeit diejenigen mitriß, die sich
an ihn hängten. Man durfte ihn nicht hemmen. Der Gedanke war
unwahrscheinlich und entsetzlich, daß er sich beirren ließ.

Ma-noh redete in unverständlicher Ruhe. Der Bund würde bald zugrunde gehen.
Entweder würden die Provinzialtruppen anmarschieren oder der Winter käme.

Es würde noch ein paar Monate so gehen, dann würden alle auseinanderlaufen
zu ihren Sippen oder auf die Landstraßen oder vor die kaiserlichen
Reisverteilungsstellen. Man könne nicht erwarten, daß ein Blutbad wie
neulich ohne Einfluß auf die Haltung einer großen Menge bliebe. Der Zustrom
werde von jetzt ab aufhören. Und welchen Schluß sollte man daraus ziehen?
Daß man alles seinen Lauf nehmen lasse wie es wolle. Er sei völlig ohne
Hoffnung für den Bund. Bald würde man Hetzjagden auf sie veranstalten, das
sei nur eine Frage der Zeit. Bleibe jeder für sich. Finde sich jeder ein in
das starre Schicksal.

Dies klang dem großen fremden Menschen, der Gelbe Glocke genannt wurde,
angenehm in die Ohren. Er summte vor sich hin, daß das Schicksal seinen Weg
gehe; es fiele jeden Menschen auf eine besondere Art an. Man müsse sich
ablösen von rechts und links, um seinem Schicksal nicht auszuweichen.

Juen und die beiden Liu zogen die Beine hoch, schielten auf den Boden. Juen
stand auf; das ginge nicht, das ginge nicht. So dächten nicht einmal die
Einsiedler der Buddhareligion, denen die Gemeinschaft der Frommen noch ein
heiliges Gut bedeute. Er war trotz seiner überlegten Worte erregt und
giftig. Die Gelbe Glocke liebte er nicht. Juen mußte sich zusammennehmen,
um nicht zu höhnen.

Den feinen Kopf gegen Juen gehoben, fragte Liang, wie sich der kluge Lehrer
aus Sze-chuan das Schicksal der Gebrochenen Melonen denke; ob sie ewig
leben sollten, als hätten sie schon das dünne Jadepulver gefunden.

Ma-nohs Lächeln in diesem Augenblick war von so bestimmtem Hochmut, daß
Liang mit offenem Munde von ihm abrückte und die Blicke der vier andern auf
Ma-noh lenkte. Dessen Lächeln blieb unbeweglich, starr vor aller Augen,
stehen und verwandelte sich erst, als der ältere Liu ihn anrief, was er
denke, in ein runzliges Grinsen.

Ma sagte: »Mich freut die Klugheit unserer Schwester Liang-li. Schöne Öfen
haben einige Dichter die Frauen genannt; aber Juen denkt dies wohl jetzt
nicht mehr, nachdem ein kleiner Funke aus dem schönen Ofen ihn gesengt hat.
Wie heißt übrigens der wundervolle Vers, Juen, den du mir neulich sagtest,
von dir selbst oder von einem Dichter der Tangdynastie?«

Juen verneigte sich geschmeichelt; er zitierte: »Es ist ein Vers Tu-fus,
des unglücklichen Zensors unter dem Kaiser Schön-tsung: Das Tor des
Panglaipalastes ist gegen den Südberg gerichtet. Himmelan reckt sich der
eherne Säulenschaft mit den Schalen, in denen sich der Tau sammelt.
Westwärts liegt der Jaspissee, zu dem die Königliche Mutter hinabsteigt.«
Liang hob die linke Hand gegen Juen auf: »Und ein anderer Vers lautet, er
ist von Juen-o-tsai: Verflogen ist das bunte Wolkenspiel, ehe noch die
gelbe Hirse gar gekocht.«

Die Gelbe Glocke platzte da mit einem Gelächter heraus, das aus
Ochsenställen, Soldatenhorden zu schallen schien, aber gar nicht zu ihm
paßte, und ohne daß sich sagen ließ wie, etwas von seiner Vergangenheit zu
enthüllen schien. Er bat schon in einer unsäglich gequälten Weise um
Entschuldigung. Er wäre in Gedanken versunken gewesen, sein Lachen habe mit
den Äußerungen irgendeines Anwesenden nicht das Geringste zu tun. Immerhin
machte dieser grobe plötzliche Ausbruch einen derart unangenehmen Eindruck
auf die andern, daß sie schwiegen, aneinander vorbei sahen und Liang Ma-noh
fragte, ob er nicht lieber herumgehen wolle oder auf einer Matte sitzen, da
er so zusammenschauere.

Aber Ma-noh, der wirklich aufstand, setzte sich nur neben die Gelbe Glocke,
die er beruhigte. Der kluge Mann sagte, indem er alle anlächelte und sich
zu Juen umwandte, daß offenbar das Leben nicht ohne Einfluß auf sie
geblieben sei. Man erleidet soviel und wird immer unfähiger, sich zu
entschließen:

»Wir sind Fliegen, denen Kinder die Beine und Flügel ausgerissen haben.«

Juen zuckte die Achseln, zappelte, verschwand, um wieder strahlend die
Hallen zu inspizieren, die Kapellen zu bewundern.

Liang ging neben der Gelben Glocke und Ma-noh nach dem offenen Klostertor
über die lichtbeschienenen gewundenen Höfe. Ma hatte das Gefühl, daß er
diese beiden wie einen Steinsack auf seinem Rücken schleppte. Die Gelbe
Glocke war der furchtbarste Mensch unter allen Bündlern. Er hätte ihn
fallen lassen können, aber sein Ehrgeiz verlangte diesen Mann; er mußte
ihn, er mußte ihn bewältigen.

Der schönen Liang bangte um ihr Schicksal. Das hochmütige Lächeln Mas
konnte sie nicht aus der Erinnerung wischen. Es war wie der Blick eines
weißen Tigers von einem Felsen herunter auf den Menschen, der ahnungslos um
die Ecke bog. Was hatte dieser Mann vor?

Bei den strengen Blicken Mas auf die stumme Gelbe Glocke besann sich die
schöne Liang. Sie steuerten nach den glücklichen Inseln. Der Steuermann auf
so furchtbarer Fahrt mußte furchtbar sein. Die Gelbe Glocke ging gelassen
neben ihr.

                   *       *       *       *       *

Und in aller Ruhe hatte sich jener Wink vorbereitet, den Ma-noh ahnte. Als
am siebenten Tage ein Zug von sechzig Landleuten an Ma-nohs Klostertor
klopfte, erreichte der Wink die Gebrochene Melone.

Der Bund hatte seinen Wohnsitz in einem der reichsten Distrikte
Westtschi-lis; es wurde hier Baumwolle gepflanzt, die Seidenraupenzucht
stand in hoher Entwicklung.

Eine Eigentümlichkeit des Landes bildete das Vorkommen wirklicher
Salzbrunnen. Man hatte im Laufe der Jahrzehnte eine große Menge gebohrt und
ganze Erwerbe hingen mit den Brunnen zusammen. Man grub zur Salzgewinnung
ein meterweites trichterförmiges Loch, bis man auf Wasser stieß. Unten ließ
man die Lauge sich sammeln, abdunsten; sie wurde mit Eimern nach oben
geschafft. Wie am Meere teilten sich in die weitere Verarbeitung die
Salzsieder, Salzpfänner und Stapler. In riesigen Kesseln und Pfannen jagten
die Salzsieder das Wasser aus der Mutterlauge. Das Gras zum Heizen der
Kessel lieferten reichere Steppen- und Landbesitzer, welche meist
gleichzeitig das Salz aufstapelten, den Transport übernahmen, die
vorgeschriebene Menge an den kaiserlichen Hauptstapelplatz abführten. Wer
von den Brunnenbohrern genügend Land besaß, konnte rascher arbeiten, das
salzhaltige Grundwasser über abgedichtete Erdflächen fließen lassen, die
Verdunstung an der Sonne beschleunigen. Der Transport der gewonnenen
steuerpflichtigen Salzmassen erfolgte fast nur auf dem Wasserwege; eine
nicht zu große Strecke mußte man das Produkt zum nächsten Fluß oder Kanal
transportierten auf Mauleseln, Karren, Ochsenwagen.

Nun war vor neun Jahren der Vater eines Mannes namens Hou in diesem
Distrikt von den schwarzen Blattern hingerafft worden. Es war ein anerkannt
tüchtiger Justizbeamter, von der größten Schlichtheit und Strenge, wegen
seiner Kürze und Bündigkeit im Rechtsprechen sehr gefürchtet. Durch kluge
Berechnungen beim Ankauf von Reis, den er wieder an die Regierung verkaufen
ließ, hatte es der Mann zu großem Reichtum gebracht. Er kaufte sich weite
Ländereien. Nachdem er den vierten Grad erreicht hatte, zog er sich zurück,
machte der kaiserlichen Privatschatulle Geschenke, spekulierte umsichtig
weiter und kam eines Tages von einer Überlandfahrt matt zurück; man mußte
den schwerleibigen Mann aus der Sänfte heben; er starb bald.

Sein ältester Sohn, der jetzige Besitzer Hou, als Kind durch Kränklichkeit
die Sorge der Familie, stand an Schlauheit hinter seinem Vater nicht
zurück; aber während der Alte die Menschen benutzte, wie sie sich ihm
anboten, war er ohne Motiv hart und kalt gegen jedermann. Die äußere
Gestalt hatte er völlig von dem Vater, die Plumpheit der Glieder, die
Schwerfälligkeit, das vertrauliche Platt des Dialekts. Er prunkte nicht,
hielt die vorgeschriebenen Riten streng inne, führte ein musterhaftes
Familienleben. Trotz aller Härte im Handeln atmete er eine gewisse
Jovialität, so daß manche der niedrigen Leute, die nicht geschäftlich mit
ihm zu tun hatten, ihm aufrichtig anhingen. Er mehrte seinen Besitz, obwohl
ihm der Weitblick des Vaters nicht gegeben war.

Zwei Jahre nach der Beerdigung des Alten begann Hou das Unglück zu
verfolgen. In einem Monat starben ihm zwei Söhne an einer unbekannten
Krankheit, bei der sie tagelang steif dalagen, den Kopf verdrehten, zu
toben anfingen und zugrunde gingen, ehe man den fraglichen Dämon
festgestellt hatte. Bei einigen waghalsigen Spekulationen, die nach Art der
väterlichen erfolgten, ließ ihn sein bester Freund im südlichen Tschi-li im
Stich; Hou häufte große Massen von Reis in seinen Speichern an; durch
raschen Wegtransport der Reislager des Freundes sollte es im südlichen
Distrikt zu einer künstlichen Preissteigerung kommen, die Hou benutzen
wollte. Aber angeblich konnte der Freund die bestellten großen Kähne nicht
zur Zeit erhalten; Hou saß mit riesigen Vorräten fest. Es erfolgten zweimal
in kurzen Abständen Brandstiftungen auf seinen Gütern mit schweren
Verlusten. Da trat eine Wendung ein.

Hou hatte schon oft mit einer peinlichen Empfindung den Kanal, der vor
seiner Villa vorbeizog, betrachtet; die langen Kähne, die den
Salztransport, auch den Transport von Trauben, Pflaumen, Birnen besorgten,
die Schreie der Schiffszieher, das Knarren der Taue an dem Kanalbord; man
konnte von hier rasch hinauffahren zu einem breiten Seitenarm des
Kaiserkanals.

Ein Astrologe besuchte ihn damals aus Pe-king, der wegen seiner
Unwissenheit aus dem Dienste des Ritenministeriums entlassen war. Da dieser
nicht in die Geheimnisse der Berechnung wichtiger Ereignisse eingedrungen
war, hatte er sich auf ein schimpfliches Gewerbe gelegt, das ihm durch
seine würdevolle Gestalt, sein vertrauenerweckendes zurückhaltendes
Benehmen erleichtert wurde; er wurde zum Kommissionär für umfangreiche
Kinderverkäufe nach den südlichen Provinzen, dem Nachwuchs für die
Freudenhäuser und Theater. Dies geschah unter der Maske der Adoption oder
Beschaffung von Adoptionen; gelegentlich besorgte er auch Apothekern oder
sehr reichen Kranken kleine Kinder, deren Augen, Lebern und Blut
verarbeitet und benutzt wurden. Nebenbei war dieser Mann ein sehr
geschätzter Heiratsvermittler.

Als er mit Hou in einem Pavillon des Gutes bei dem kleinen Kanal saß und
der schwer heimgesuchte Freund ihm seine Leiden erzählte, saßen sie eine
kleine Weile die Wasserpfeife rauchend da und betrachteten drüben das
Arbeiten der Schiffzieher, die eine Fahrrinne in das gefrorene Wasser
schlugen.

Der Astrologe fragte, ob Hou auch das Land jenseits des Kanals gehöre und
wie weit, und was für Waren hier transportiert würden.

Nach ein paar gurgelnden Pfeifenzügen meinte dann der Besucher, der Kanal
müsse geschlossen werden.

Hou begriff sofort, lachte, mahnte leise zu sprechen. Es wäre ja gut, wenn
der Kanal geschlossen würde, aber gar nicht möglich, das zu erreichen;
freilich wenn es auf irgendeine erdenkliche Weise sich machen ließe, würde
er seinen Freund natürlich nicht vergessen. Der Kanal sei wichtig für die
und die und die; wenn man ihn schließen könnte, so würde dabei ein enormer
Gewinn heraussehen.

Der würdige, einfach schwarz gekleidete Astrolog dankte für die eventuelle
Gewinnbeteiligung; davon später. Er saß nachdenklich, sprach plötzlich
schwermütig von dem Tod des alten Hou, den der Kaiser hoch geschätzt habe,
und wann man ihn beerdigt hätte, wer den Ort bestimmt hätte. Dann ging er,
ohne Hou aufzuklären, wehklagend über den frühen Tod des Hou, dieses
wahrhaften Freundes des Landes, in das Wohnhaus mit seinem Freunde, zündete
Kerzen vor der Ahnentafel des Hauses an. Er verabschiedete sich und zog
sich zum Nachdenken, wie er sagte, in das ihm angewiesene Gastzimmer
zurück.

Am nächsten Morgen ließ er sich, begleitet von dem triefäugigen stieseligen
Ortsastrologen, nach der Grabstätte des alten Hou tragen, ausgerüstet mit
den Arbeitsinstrumenten, dem Kompaß, der Tiertafel, der Windrute. Nach
dreitägigen Untersuchungen stellten die beiden vergleichende Berechnungen
umfangreicher Art an und kamen zu dem Resultat, daß die Grabanlage durch
die Führung des Kanals gestört würde. Es war angesichts der Enge der
Örtlichkeit nicht einmal möglich, die Grabruhe des Geistes zu verbessern
durch eine abwehrende Pagodenerrichtung. Daher also das Unglück im Hause
des Hou nach dem Tode des Alten.

Hou verstand den raffinierten Astrologen nicht. Als der zu jammern anfing
über das Los des verdienstvollen Mannes, warf sich Hou heulend auf den
Boden, wußte sich keinen Rat. Er rannte vor die Ahnentafel; er wollte
dieses Vergehen nicht auf sich nehmen, er mußte dem Toten mitteilen, daß er
nicht Schuld an dieser Grabanlage sei, nicht er; wie sollte er doch, der
dankbare täglich opfernde Sohn, auf den schauerlichen Gedanken kommen, den
toten Vater ruhelos herumzuhetzen. Den Astrologen umschlang er
hilfeflehend, und da sah er zu seinem Erstaunen in ein verschmitzt
schiefes, fettpralles Gesicht. Der Astrolog schnaufte, von den dicken Armen
gedrückt, schob seinen Freund zurück, beendete die Räucherung, und sie
gingen langsam in den Gartenpavillon am Kanal. Der phlegmatische Mann aus
Pe-king sagte mit einer ministerialen Stimme: »Wir dürfen den schwer
beleidigten Geist deines Vaters nicht noch mehr kränken und das Grab
verlegen. Dies wäre der Gipfel der Mißachtung. Die Richtung des Kanals muß
geändert werden. Dieser Kanal ist schleunigst zu schließen.« Leidend
grunzte der dicke Hou: »Ja, ja,«, und dann nach einer Pause, während der
sie sich ernst ansahen, mit einer helleren Stimme: »Ja, ja.«

Den nun folgenden monatelangen Schriftwechsel mit den Provinzialbehörden
und dem kompetenten Ministerium der Riten nahm der Astrolog dem betrübten,
fassungslosen Sohne völlig ab. Es vergingen Wochen, da Gutachter des
kaiserlichen astrologischen Büros mit Abfassung eines Immediatberichts
beauftragt worden waren, nachdem die nachgeordneten Instanzen das Gesuch
Hous wegen seines volksschädlichen Ansinnens erst zurückgewiesen hatten.
Khien-lung aber, selbst informiert, erklärte kurzer Hand: »Ein Kanal kann
anders gezogen werden; bis zum Bau eines so kleinen Kanals, der
beschleunigt werden soll, existieren andere provisorische Transportmittel.
Es ist niedrig, einen Toten von dem bleibenden Verdienst Hous aus der Ruhe
aufzujagen wegen lokaler vorübergehender Unbequemlichkeiten.«

Damit war der Fall erledigt. Und ohne daß die Gilden der Schiffzieher,
Salzsieder, Lastenträger, Karrenverleiher in den westwärts gelegenen
Dörfern orientiert wurden, schloß man die Schleusen in höchster Eile,
leitete das Wasser in einen See ab, zu dem Hou schon in währender
Verhandlung einen Verbindungsarm hatte graben lassen. Der Warentransport
mußte auf eine ganz andere Weise erfolgen; es mußte umgeladen werden, eine
Strecke von einer Tagelänge ging der Transport auf dem Landwege über Hous
Liegenschaften weiter, bis an das nunmehrige Endstück des Kanals. Den
ersten Lastenträgern, Karrenführern verwehrte Hou den Eintritt in sein
Gebiet. Schleunige Interventionen bei der Präfektur bewirkten, daß ein
vorläufig unentgeltlicher Durchzug gestattet wurde; Hou wurde
anheimgestellt, sich mit den in Frage kommenden Gewerkschaften ins Benehmen
zu setzen, eiligst eine Durchgangsstraße zum Kanal anzulegen.

Er fügte sich ohne weiteres, erhob aber für die Benützung seines
Grundstücks mit baldiger Genehmigung der Behörden einen kleinen Zoll,
errichtete aus freien Stücken fünf Lagerschuppen an der Straße, half den
Transportarbeitern, indem er große Aushilfswagen und Ochsen zu ihrer
Verfügung hielt. Der Gewinn war enorm; es kam hinzu der Gewinn aus
Diebstählen, die bei dem häufigen Umladen, Aufspeichern sich nicht
vermeiden ließen; schließlich lief es darauf hinaus, aus seinem Grundstück
den naturgemäßen Hauptstapelplatz für Salz zu machen, indem Hou nämlich
Leuten, die anderswo stapelten, den Durchzug schikanös erschwerte.

Wochenlang blieb es still; ununterbrochen besprachen sich die Gilden in dem
betroffenen Distrikt. Es regnete in der Präfektur Eingaben. Die
Schiffzieher, unbeschäftigt, arbeiteten bei den Salzpfännern; diese selbst,
soweit sie nicht an Hou Gras lieferten, verloren Einnahmen aus dem Rückgang
der Stapelgebühren. Die Erregung wuchs.

Da legte sich ein frisch angekommener Präfekt ins Zeug in einer Weise, die
ihm fast den Kopf kostete. In den westlichen Departements war der Fall Hous
nichts Absonderliches. Ungeheuerliche Steuerhinterziehungen wurden von den
großen Grundbesitzern seit Jahrzehnten getrieben; Seidenspinnereien,
Mühlenbesitzer bezahlten nicht mehr Steuer als ein unbedeutender Handlanger
in ihrem Betriebe. Im Register des Steueramts standen diese reichen Herren
mit einem winzigen Äckerchen eingetragen, eben dem Besitz, den ihre Väter
und Großväter zum Ausgang genommen hatten; man hatte es durch gute
Beziehungen zu Steuerdirektoren und Präfekten verstanden einzurichten, daß
sich die Anfangsangaben in den Registern unerneuert forterbten; mit
Falschmeldung von Brachland, Überschwemmungsgebieten half man nach.

Der genannte junge Präfekt fuhr, sobald ihm einige Fälle dieser Art
hinterbracht waren, feierlich in das nächste kaiserliche Hauptsteueramt, wo
die Listen auslagen, und berichtete dem Steuerdirektor mündlich im offenen
Jamen in Gegenwart vieler Zuhörer, was ihm mitgeteilt sei, wies mit lauter
Stimme auf den Gegensatz, der bestünde zwischen den Daten der Liste und dem
tatsächlichen Besitz. Als er wieder in seine grüne Sänfte stieg, sahen sich
seine Vorläufer und Träger betrübt an, sie trabten und schüttelten die
Köpfe. Was die Diener im Hause des jungen Präfekten bei ihren flüsternden
Gesprächen voraussagten, trat ein.

Der alte Steuerdirektor, ein beliebter, wegen seiner Ortskenntnisse in
Tschi-li und Schan-tung bei der Regierung geschätzter Mann, ließ sich zehn
Tage vertreten. Während dieser Zeit reiste er, wie er meldete, in den
Kreisen seiner Besteuerungszone herum, um den Befund aufzunehmen, besuchte
die gewerblichen Anlagen, die Güter. Die vom Präfekten aber gleichzeitig
mit dem mündlichen Vortrag abgelassene Eingabe an die Zentralbehörde hatte
er nicht aufhalten können; und schon bei seiner Rückkehr fand der graue
Mandarin eine dringende Aufforderung vom Finanzministerium in Pe-king vor,
Bericht über die Angaben des beigelegten Memorandums zu erstatten.

Während abendlich der jugendliche noch unverheiratete Präfekt am Teich der
roten Lotosblätter lag und das Spiel der schwimmenden Blätter spielte mit
seinen Freunden, rangen seine ortskundigen Diener die Hände über seine
Kurzsichtigkeit; sie hatten von Mißstimmungen gehört, die im Lande gegen
den Präfekten herrschten.

Es erhoben sich unvermutet kleine Unruhen bei Gefangennahmen von Dieben und
öffentlichen Bestrafungen; größere folgten und begannen den Präfekten
lebhafter zu beschäftigen. Schließlich kam es in mehreren bis da ruhigen
Dörfern zu einem Angriff auf kaiserliche Beamte und Häuser. Eine scharfe
Verfügung von oben wies ihn an, die Bewegung zu unterdrücken. Es gelang
nicht; seine Polizei erwies sich als ohnmächtig. Als nachts ein vom Kaiser
einer tugendhaften Witwe gesetzter Ehrenbogen auf offenem Markte abbrannte,
schien die Stunde des Präfekten geschlagen.

Da lud ihn der dicke Hou zu einer Besprechung ein, die der Präfekt wegen
der Transportstraße schon geplant hatte. Und jetzt löste sich die Krise auf
die einfachste Weise. Der Präfekt hatte keine Wahl; er mußte an die Schande
denken, die auf seine noch lebenden Eltern und auf seine Ahnen fallen
würde, wenn man ihn degradierte; von seiner trostlosen Zukunft nicht zu
reden.

Die Familie des Hou zeigte sich hochgeehrt durch seinen Besuch. Der rohe
kriecherische Hou bot dem Präfekten, als er von den noch lebenden Eltern
seines hohen Gastes hörte, einen Sommerwohnsitz auf einem seiner Güter für
die betagten Leute an; er zwitscherte mit Ausdrücken größten Bedauerns von
den augenblicklichen Schwierigkeiten in der Präfektur, stellte dem Beamten
seine eigene vorzüglich geschulte und bewaffnete Gutspolizei zur Verfügung.
Der eisige Präfekt antwortete nicht.

Vor seiner Ahnentafel opferte er und betete; sprach zwei Tage mit keinem
seiner Freunde. Dann nahm er an.

An diesem Nachmittag erfolgte der glanzvolle Gegenbesuch des Hou in der
Präfektur und dann in der Familienwohnung, zur aufrichtigen Freude der
Anwohner und Diener des Hauses, die den Präfekten als weisen alten Mann
priesen. Man klärte mit Leichtigkeit alle Mißverständnisse auf; es zeigte
sich, daß Irrtum über Irrtum gehäuft war, Übertreibungen, Verwechslungen.
Der glückliche Beamte konnte in weniger als zwei Wochen von der
Zentralbehörde die Anerkennung dafür erhalten, daß es seiner Energie und
Klugheit gelungen sei, die drohende lokale Rebellion zu unterdrücken. Nach
einigen erfolglosen Exzessen der durch Hous Maßnahmen betroffenen
Dorfbewohner wurde alles still.

Damals im Hochsommer verbreiteten sich hierher die Gerüchte von den frommen
Bettlerbünden; einzelne Männer verließen ihre Heimat und suchten die
Gebrochene Melone auf. Man hörte von den Intrigen und Angriffen, die auf
die ruhigen Männer gerichtet wurden; dann kam das große Blutbad, die Mönche
zogen aus dem lamaistischen Kloster; der eingeschreckte Haufe Ma-nohs
versteckte sich hinter die festen Mauern.

Von einigen hier ansässigen Anhängern Mas wurden die Gilden und
Sippengenossen über das Wesen und Schicksal des Bundes aufgeklärt.
Sympathie mit den Vertriebenen, ein Gefühl von Solidarität mit ihnen setzte
sich sofort fest. Zu dem neuen Kanal war noch kein Spatenstich getan,
angeblich mangelte es infolge der Kriegsausgaben in den kaiserlichen Kassen
an Geld; die Familien vieler Arbeitslosen wanderten nordwärts aus. Einige
wüste Gerüchte trug man sich in den notleidenden Ortschaften von der
Gebrochenen Melone zu; es sei ein verkappter politischer Bund, der mit der
Weißen Wasserlilie unter einer Decke stecke; sie gingen wehrlos durch die
Landschaften und ließen sich niedermetzeln; das geschähe, um das Volk
aufzureizen und zu zeigen, daß man lahm, verkrüppelt und widerstandslos
sein könne und doch den Gewalttätigkeiten der kriegerischen Mandschus und
der betrügerischen Mandarine ausgeliefert.

Häufige Besprechungen zwischen den Insassen der verschiedenen Ortschaften
führten zu dem Resultat, daß sich aus den Vertretern der einzelnen Gilden
und Ortschaften eine Gruppe konstituierte, die, von den Staatsbehörden
vernachlässigt, zu der Gebrochenen Melone unter Ma-noh zu wandern beschloß.
Unklare Gedanken bei heftiger Erregung trieben diese Männer; man wollte
sich mit Ma-noh, der schon in den Besitz eines Klosters sich gesetzt hatte,
zusammentun und gemeinsam etwas zur Verbesserung der Zustände unternehmen.

Dies war der Zug regellos daherkommender Bauern und Arbeiter, vor denen
sich die Tore des Klosters rasch verschlossen und rasch wieder öffneten.
Als einige Brüder zu Ma-noh in die Hütte gestürzt kamen und ihm meldeten,
daß eine Schar Bauern und Gewerkschaftler von freundlicher Gesinnung in das
Kloster gezogen wäre und mit ihm zu sprechen begehrte, hielt Ma es nicht
für wünschenswert, seine Vertrauten zu dieser Unterredung hinzuzuziehen,
ließ fünf der Männer in das Zimmer des Chan-po führen und erschien dann
selbst.

Sie behandelten ihn wie einen Mächtigen, fielen vor ihm auf die Stirn; er
mußte sie in Scham und Furcht, daß man dies sähe, bitten, ihn wie
ihresgleichen anzusehen; er sei ihresgleichen, ein armer Sohn des
schwarzhaarigen Volkes der hundert Familien. Und was sie also wollten, wer
sie schickte.

Sie lächelten sich auf die Frage an; auf eine Bewegung Mas kauerten sie im
Halbkreis am Boden hin. Dann schwiegen sie, weil sie nicht wußten, wer
sprechen sollte.

Es waren fünf ältere Männer, drei Salzsieder, einer der verarmten
Salzpfänner, ein Karrenführer; in Beratungen zu Hause leisteten diese
gescheiten Köpfe Vortreffliches; hier drückte sie das Gefühl, mit einem
Manne von dem Rufe Mas zusammenzusitzen, und auch ihre Unklarheit über die
Ziele dieses Mannes. Der Salzpfänner, der gebildetste von ihnen, öffnete
den Mund, sah alle nacheinander an und erklärte lächelnd und sich
verneigend, da keiner ihm zu widersprechen scheine, so wolle er reden. Und
er erzählte mit ein paar hingeworfenen Sätzen, wer sie einzeln wären, wo
sie wohnten, daß sie von den großen Landbesitzern und den Mandarinen
schlecht behandelt würden.

Der Karrenführer, der ihm gespannt zuhörte und bei jedem Wort zustimmend
nickte, fuhr unmittelbar fort: »Und dies ist die Hauptsache. Und darum
dreht es sich. Wir können nichts machen. Die Präfektur gibt keine Antwort
auf unsere Eingaben. Wer bist du nun, Ma-noh? Woher stammst du, wo wohnen
deine glückgesegneten Eltern? Vor allem: was soll geschehen?«

»Darum dreht es sich«, wandte sich einer der Salzsieder mit einer brummigen
Stimme an den flinken Karrenführer, »die Hauptsache bleibt und ist, wie ich
immer gesagt habe: was soll geschehen? Und wie soll man es machen?«

Der Karrenführer begütigte ihn mit Handbewegungen und zwinkerte Ma an: »Er
meint es nicht so. Wir streiten uns manchmal, weil unser beider weiblicher
Hausjammer sich nicht verträgt. Wenn ich sage: 'Wie soll man es machen?'
sagt er, das sei falsch; man muß fragen, wie es am besten vorangeht; und
wenn ich 'Hott' sage, findet er mich ungebildet und geschnattert, und
entschließt sich dann zu einem 'Hü'. Das ist in unserem Dorf bekannt und
noch weiter weg, er ist ein guter Junge, nicht wahr?«

Er fragte den Pfänner, der viel hustete und krächzte und sich die Nase
rieb; unwillig wies er den Mann zurück: »Macht das ab, wo ihr wollt; ich
habe zwischen euch beiden nicht zu entscheiden. Wir sind hier nicht einen
halben Tag hermarschiert, um zu entscheiden, ob es besser ist, 'Hott' oder
'Hü' zu sagen. Worum es sich dreht, es bleibt dabei, das ist die
Hauptsache.«

Der Karrenführer streckte erstaunt die Hände aus, als wollte er sagen: »Das
mein' ich doch auch«, und stieß den verstimmten Salzsieder an, der aber
abwinkte.

»Also«, wandte sich der erkältete Pfänner an Ma, »kommen wir zu dir, um
dich anzuhören. Sechs meiner Dorfgenossen sind zu deinem Bunde gegangen,
und sie haben uns von dir und den andern erzählt. Ihr nennt euch ja Brüder
und Schwestern, was wir alle sehr freundlich fanden. Willst du uns auch
helfen?«

»Oder willst du etwas mit uns zusammen tun gegen die Besitzer und den
Präfekten, die unter einer Decke stecken?« Dies sprach ein anderer
Salzsieder, ein langer dürrer Mensch, der in einem lehrerhaften Tone mit
gehobenem Zeigefinger sprach, »wir werden gegen sie etwas tun in den
nächsten Wochen, aber wir haben noch keinen Plan.«

»Der Plan, der Plan,« nörgelte der Pfänner, »was ihr alle für Einfälle
habt. Einen Plan werde ich euch schon verschaffen. Man muß nicht zu viel
von einem Plan halten. Ich habe schon Leute gesehen mit den schönsten
Plänen und es ist doch nichts aus ihnen geworden. Überhaupt soll uns Ma-noh
erst die Frage beantworten, ob er sich uns kurz gesagt anschließt oder
nicht?«

»Oder hilft oder nicht«, vervollständigte der flinke Karrenschieber.

Ma lauschte atemlos dieser simplen Unterhaltung. Ihn beunruhigte nur, daß
zwei Salzsieder sich nicht an dem Gespräch beteiligt hatten; aber sie sahen
schließlich nicht anders aus als ihre Gefährten. Dies war der Wink, den er
erwartet hatte. In Ma ging es anders zu als in Wang-lun: während Wang es
ängstlich vor sich verborgen hätte, daß zum Erschrecken etwas eintraf, was
er voraussagte, fuhr es Ma mit einer warmen füllenden Sattheit in den
Schlund und Bauch.

Ma hatte das Gefühl, daß das Schicksal sich unter ihm bog, er flatterte
unsicher an der Vorstellung vorbei, die so lächerlich war, daß zauberisch
sich sein Weg und das Tao übereinanderlegten. Während die Gewerkschaftler
vor ihm diskutierten, saß er geblendet und schwitzte aus allen Poren in
einer Art Rausch; er suchte seiner Herr zu werden.

Er sagte, er hätte keine Truppen, um ihnen zu helfen. Sie wüßten ja selbst,
daß man die Gebrochene Melone verfolge und am liebsten ganz vernichten
wolle. Geschlagen seien Dörfler und Gebrochene Melone. Man litte unter
großen gewalttätigen Herren.

»Eben darum kommen wir in das Kloster her zu euch,« stieß der Pfänner
zurück, »wir Dörfler wissen uns eben bald keinen Rat mehr. Du bist sehr
klug und kennst die Bücher und Berechnungen.«

Der lange Salzsieder, der in lehrhaft eindringlicher Weise zu reden
pflegte, hob seinen Zeigefinger: »Dir ist noch etwas zu melden, Ma, weil du
so ruhig einen nach dem andern anhörst. Es geht dich und die Brüder und
Schwestern alle etwas an. Ich sage: alle geht es euch etwas an. Ein Neffe
von mir ist Filzsohlenarbeiter in einem Dorf eine halbe Tagereise von hier;
er wohnt jetzt in meinem Hause als Gast. Ein Arbeitskamerad hat ihn gestern
aus seinem Dorf besucht und erzählt, daß fünfzig oder hundert
Landpolizisten bewaffnet hinter euch her sind wegen des schrecklichen
Gemetzels vor einer Woche. Sie sind schon unterwegs hierher und werden eher
heute als morgen da sein. Was sie euch fragen werden und wie sie euch
fragen, das werdet ihr schon sehen. Ich sage, wenn ihr so klug seid und
einen nach dem andern anhört: es geht euch etwas an.«

Darauf lächelte Ma-noh: »Meine Schwestern und Brüder sind verloren vor den
Menschen. Wer hilft uns? Wie lange Stunden werden meine willkommenen Gäste
warten können auf einen Rat ihres Freundes Ma-noh aus Pu-to-schan?«

Sie sahen sich an, der Pfänner krächzte: »Wird es unserm klugen Freund
genügen für seine Berechnungen, wenn wir bis mittag warten oder eine Stunde
später? Unser Heimweg ist nicht sehr kurz, wirklich nicht, und wer weiß,
was zu Hause angestellt wird.«

»Bis mittag.«

Sie trabten aus dem Zimmer. Ma-noh saß die lange Stunde allein vor dem
leeren Buddhaaltare; zu denken vermochte er nicht.

Die Blendung verließ ihn nicht.

Das Schicksal bog sich unter ihm.

Keine Niedermetzelung mehr! Der Weg gesichert. Die stürmische Liebe zu den
Brüdern und Schwestern, die blühende Hoffnung auf alle Herrlichkeit, das
strahlende westliche Tor! Ihn packte das Glückgefühl so, daß er um Hilfe
rufen wollte. Er lachte vor sich hin, leise, welche Aufgabe diesen fünf
Boten gegeben war, diesen schamlosen kindischen, die ihr Leiden um Fressen
und Saufen mit dem seiner Brüder und Schwestern verglichen. Aber sie
sollten gesegnet sein! Wozu anders sollte man diese Bande von Salzsiedern,
Lastenträgern verwenden, als zum Herumstellen, zu dienen als wandelnde
Ziegelsteine, elastische Gräben, vortrefflich schließende Tore für die
Gebrochene Melone!

Eine Stunde nach Mittag traten die fünf Leute in das Chan-pozimmer, wollten
sich niederwerfen, rutschten zögernd auf die Kniepolster.

Ma-noh forschte den Salzpfänner noch einmal aus, wer sie geschickt hätte,
wieviel Dörfer sie verträten.

Der antwortete mit der ungeduldigen Gegenfrage, was die Berechnungen
ergeben hätten und wie es mit dem Rat stände. Da meinte Ma, indem er einem
nach dem andern scharf ins Auge sah, daß er einen Rat nicht geben könne,
aber sobald sie nach Hause aufbrechen würden, würde er sich mit ihnen auf
den Weg machen und es kämen noch zwei, drei seiner Brüder und Schwestern
mit. Er wolle an Ort und Stelle berechnen. Was nötig wäre und sich aus der
Zeit, dem Übereinstimmen der Tiere und Metalle folgern ließe, würde sich
dann ergeben.

Der Karrenführer staunte; er hielt dies für eine Entscheidung, die ganz
außerordentlich den Kernpunkt der Sache träfe. Der gelehrte Salzsieder
drehte den Kopf nach den Kameraden, als erwarte er eine Anerkennung, dann
stand er auf, stellte sich neben Ma-noh und sagte leise zu ihm: »Ich will
dir nämlich sagen, Ma aus Pu-to, daß der dumme Salzsieder, der neben dir
steht, dasselbe vorhin auf dem Hof gedacht hat, wie du. Nur faßten die
andern es natürlich nicht auf, sie lassen einen auch nicht zu Worte kommen.
Ich habe es dann schließlich ganz für mich behalten. Man weiß ja allein,
was man wert ist.«

Und er berührte vertraulich Ma bei der Schulter.

Der Pfänner konnte nicht gleich ins Reine kommen: »Also einen Rat, direkt
so wie: 'Geh dahin, geh dahin, hier vorbei, da herunter', gibt es offenbar
nicht dabei. Es ist immer etwas Neues zu lernen. In den verschiedenen
Sachen ist es ganz verschieden. Man sollte das gar nicht glauben. An Ort
und Stelle muß auch berechnet werden, was man anfangen soll. Es hat etwas
für sich. Es ist zweifellos; ich will es ja nicht leugnen.«

Und er fiel mit groben Worten den eitlen Kärrner an.

Während die Boten auf den Höfen mit ihren Heimatsgenossen sich besprachen,
umlagert von unruhigen Brüdern und Schwestern, hatte Ma-noh mit seinen
Vertrauten auf dem abgelegenen Gräberhof eine kurze und heftige
Unterredung. Ma wünschte die Begleitung dieser Vertrauten.

Er wollte mit seiner Taktik des Wartens brechen. Er wünschte unbedingte
Zustimmung, Unterwerfung unter das, was er plante. In einem herrisch
knappen Tone brachte er seinen Wunsch vor, ihn in das Aufstandsgebiet zu
begleiten.

Nur Juen wollte ihn begleiten; die Lius, besonders die Gelbe Glocke lehnten
ab, sich in Kriegsdinge einzumischen. Die schöne Liang-li starrte Ma-noh
an. Ihr graute je länger je mehr vor diesem Mann.

Da schlug Ma, der zwischen den Weidenstämmen hin und her ging, vor der
Gruppe seiner Berater, einen ungemein erregten harten Ton an; er
beschuldigte sie, daß sie ihn im Stich ließen, daß sie ihn, der schon ohne
Mut sei, zu Boden stießen. Sie hätten kein Herz für die Brüder und
Schwestern, die verjagt von Sippe, Gilde und Volk, bei ihnen Zuflucht
suchten und wie Ratten, die man mit vergiftetem Mais füttert, hier in ein
paar Tagen verrecken würden. Seine Vertrauten seien sie; aber statt ihm
beizustehen, belasteten, erstickten sie ihn.

Die Gelbe Glocke wurde von einem heftigen Zittern bei diesen Anklagen
ergriffen; er unterbrach schon manchmal mit einem Ausruf Ma; dann rang er
nach Worten: »Du redest ungebührlich zu uns, Ma. Was diese Brüder hier
erdulden wollen von dir, weiß ich nicht; du darfst nicht ungebührlich zu
mir sprechen wie zu einem Haussklaven. Wir haben nichts verschuldet an dir.
Du kamst kurz und ohne deine weise Haltung an. Du tobst. Dies haben wir
nicht verdient. Das darfst du nicht wagen gegen uns.«

Er zitterte so stark, daß er, am Boden sitzend, nach vorn überfiel; über
seine mageren braunen Backen liefen Tränen.

Aus Liangs Augen blitzte die Entrüstung; sie kam zu keiner Äußerung; der
jüngere Liu, das zweifelsüchtige Dreierlein, stellte sich vor Ma hin; ruhig
sagte er: »Wir Lius sind aus gröberem Metall als die Gelbe Glocke; wir
weinen nicht. Ma behandelt uns jetzt nicht als Vertraute; warum will er mit
den Bauern mitgehen, warum sollen wir ihn begleiten? Wenn wir nichts
erfahren, wird er begreifen: wir Lius ertragen das Schimpfen; im übrigen
tun wir, was wir für recht halten.«

Ma zwang sich. »Ihr, die Gelbe Glocke auch, werdet sofort begreifen, daß
ich tobe, und werdet das Anklagen gegen mich unterlassen und mich nicht mit
Tränen kränken: es sind Provinzialtruppen hinter uns her, die Bauern haben
es mir berichtet. Diesmal sind es nicht gekaufte Banditen, ja gewiß, jetzt
seht ihr mich an. Aber ihr seid ohne Vertrauen in mich. Was ich nicht
ausschäle wie einen Zwiebelkern, habe ich erlogen, und wenn ich in Zorn
darum gerate, so werdet ihr mich noch eines Tages totschlagen. Wie viel
Tage also, lieber Liu, liebe Schwester Liang, Bruder Gelbe Glocke, wird es
noch dauern bis zur Großen, Großen Überfahrt?«

Juen war der ängstlichste von ihnen; seit dem Überfall schlief der Mann
wenig, träumte wild und schrie im Schlaf; in der Gefahr selbst benahm er
sich in der Regel auffällig sicher und flößte durch seine Haltung anderen
Mut ein. Ihm schoß das Blut in den Kopf, als er von dem drohenden Angriff
hörte; er rief die beiden Lius an: »Kann es da noch einen Widerspruch
geben? Will denn einer Betrüger gegen die hunderte draußen heißen? Wir
müssen uns beeilen, beeilen und nochmal beeilen. Das ist der Schluß der
ganzen Unterhaltung. Was sitzen wir noch lange!«

»Lange sitzen wir,« entgegnete Liang, »wer Angst um seinen Körper hat, soll
in den Städten bleiben, Verse machen, in der Sänfte liegen.«

Juens hellfarbiges Gesicht wurde dick; sein Hals schien verschwollen, so
kloßig und kehlig sprach er mit einmal: »Das Geschwätz von Weibern berührt
den Gebildeten nicht. Ebenso wenig wie das Geheul erwachsener Männer eine
ernsthafte Debatte aufhalten sollte. Es ist einer erregt, es ist einer
nicht erregt; was macht das aus? Ihr sitzt da und sitzt bis zum Abend, und
wenn die hunderte, die mit uns laufen, den Säbel zwischen den Schultern
fühlen, ist es vorbei. Aber es soll nicht vorbei sein. Darüber habt ihr
nicht mit Herumhocken zu entscheiden. Es ist meine Sache wie eure. Ma soll
reden, Ma-noh soll Recht behalten.«

Er schwieg, weil ihn inzwischen schon das große Gesicht der Gelben Glocke
angelächelt hatte auf eine so freundliche Weise, daß er beirrt seine Stimme
sinken ließ und aufhörte.

Die Gelbe Glocke redete ihm zu: »Hör doch nicht auf zu sprechen, Juen; es
verargt dir niemand, wenn du alles sagst, was dir auf dem Herzen liegt.« Er
schwang die Hände gegen Ma und Juen zum Gruße; sie erwiderten zögernd und
höflich.

Liang saß zuletzt allein am Boden, blickte in das Gras. Das Dreierlein
sprach sie mitleidig an; er hob sie auf; sie ging mit gesenkter Stirn auf
Juen zu, vor dem sie tiefe Verbeugungen machte, bis er ihren Gruß
erwiderte; dann senkte sie ihre schmalen Schultern vor Ma, den sie vor den
andern umfaßte, redete mit trauriger Stimme: »Hilf, Ma-noh. Bring alles zu
einem Ende. Du hast in jedem recht. Kein Gemetzel, laß das nicht geschehen.
Rette wen du kannst, uns mit, mich mit.«

Nach einer Stunde zogen Ma und seine Vertrauten mit den fünf Boten der
Dörfler ab; die Mehrzahl der andern Dörfler blieb im Kloster zurück, auf
das Zureden des angesehenen Salzpfänners, der sie für die bedrohten Bündler
sorgen hieß. Es zeigte sich unterwegs, daß die Gelbe Glocke sich noch nicht
beruhigt hatte; in der Nacht, die man im Freien zubringen mußte, hörte man
ihn stöhnen an der Seite Liangs, die ihn zu trösten versuchte. Morgens wich
er unter einem Vorwand ab und kehrte nach dem Kloster zurück.

Man kam am nächsten Vormittag in ein Dorf, das größte dieser Gegend, in
welchem der Pfänner sein Grundstück hatte. Rasch besichtigte Ma, was ihn
interessierte, hörte Haufen Menschen an, auf Maultieren ritt man eine Weile
durch neue Dörfer; Massen von Unbeschäftigten kamen aus den Häusern heraus,
starrten den sonderbaren Zug an, fielen auf den Boden.

Vor Anbruch des Abends besprachen sich die Bündler kurz; man fieberte unter
der Vorstellung, daß eben jetzt die kaiserlichen Soldaten das Kloster
erreichten.

Dann trugen Maulesel die Erschöpften zurück; über hundert ihrer neuen
Freunde begleiteten sie erregt; sie liefen durch das hohe Kao-liang; eine
Rast von einer Stunde nachts gönnte man sich; frühmorgens näherte man sich
dem See.

Ein blasser Flammenschein stand jenseits des Wassers. Man kam zu spät. Der
Angriff auf das Kloster schon erfolgt; das Kloster in Brand gesteckt von
den Soldaten. Hunderte umgekommen. Die Soldaten, von den zurückgebliebenen
Bauern wenig aufgehalten, waren geflohen, nachdem sie sich bemüht hatten,
die in Kapellen eingeschlossenen Schwestern aus dem Feuer zu retten. Sie
waren wie Besiegte in abergläubischer Furcht Hals über Kopf davongelaufen.

Als Ma mit den wütenden Bauern durch das geborstene Tor eindrang, saß die
Gelbe Glocke auf der Schwelle, rief Ma, der übergesunken an dem Hals des
grauen Tieres hing, »Heil« und »Triumph« zu.

Ma schüttelte wortlos die Fäuste über ihm. Auch die schöne Liang wandte
sich schluchzend von ihm ab.

                   *       *       *       *       *

Der weitere Verlauf ist bekannt. Die Gebrochene Melone verließ das Kloster,
die Bevölkerung dieser Distrikte erhob sich gegen die kaiserlichen Beamten.
Stürme auf die Gefängnisse, Vertreibung der Magistrate folgten, von den
ungeheuren Liegenschaften verjagte man die Besitzer, verbrannte ihre
Häuser. Tagelang stapelte dicker Rauch über den Gütern. Es wurden weder die
Gräber noch Ehrenbogen noch Pagoden geschont.

Die ersten Manifeste ergingen von einem Komitee, dem der Salzpfänner
präsidierte. Man erklärte darin die vertriebenen Besitzer ihres Eigentums
für verlustig; die Herrschaft der fremden Mandschudynastie, der Tai-tsing,
nannte man erschlichen, nicht volkstümlich und darum abgeschafft.

Nach Nordost dehnte sich der Aufstand rapid aus. Von hier stießen zwei
Haufen von je dreihundert Mann, welche zu den Wahrhaft Schwachen Wang-luns
gehörten, zu den Aufständischen, suchten nach den Brüdern, denen sie helfen
wollten.

Von der zweiten Woche ab unterzeichnete Ma-noh alle Proklamationen,
Anschläge und so weiter. Er schickte Boten in die nächstliegenden Städte,
die nachts an die äußeren Mauern einen Brief Mas an den Kaiser Khien-lung
anhefteten. Darin erklärte sich Ma-noh bereit, die Herrschaft der Reinen
Dynastie anzuerkennen, sofern das gesamte im Aufstand befindliche Gebiet
von der Zentralverwaltung gelöst und durch einen eigenen Fürsten verwaltet
würde.

Nach einer weiteren Woche erfolgte der wichtigste Schritt: die besetzten
Distrikte wurden zu einem geistlichen Land mit dem Namen »Insel der
Gebrochenen Melone« umgewandelt nach dem Vorbild von Tibet. Die Pflege der
paradiesischen Hoffnungen wurde als die Aufgabe des neuen Staates
bezeichnet. Ma-noh ernannte sich zum Priesterkönig dieses geistlichen
Landes; eine Kommission von drei Männern stand ihm unter dem Namen der
Gesetzeskönige zur Seite. In der einzigen mittelgroßen Stadt der besetzten
Distrikte residierte Ma-noh. Hier wurden Pläne zur Befestigung der Insel
entworfen, die Anlegung großer Doppelmauern mit Wachtürmen um das gesamte
Gebiet, etappenweise Wachtürme auf allen größeren Landstraßen. Etwa tausend
Mann der Ortsansässigen blieben unter Waffen, für die übrigen lagerten in
der Hauptstadt Waffen.

Es gab zweierlei Bevölkerung auf der Insel: die alten Bewohner in ihren
Häusern, Läden, auf den Äckern, Bergen, in den Obstgärten; und die Brüder
und Schwestern, bei Tag tätig unter ihnen, im übrigen abgeschlossen von
ihnen, viele in Hütten, die meisten auf den Feldern in der Nähe der
kräftigen Bodengeister. Die Bündler erwarben keinerlei Besitz, schoben
jeden Gewinn, der nicht dem Augenblick diente, der königlichen Kasse zu.

Die Zeit am Sumpfe von Ta-lou hatte an Reiz, Erregung und Glück das
Erdenkbare gegeben. Hier auf der Insel war man geborgen. Es war ein
Meisterstück Ma-nohs. Alle und jegliche Last hatte er der Gebrochenen
Melone abgenommen; die Mauer, die er gewünscht hatte, umgab die Brüder und
Schwestern lebendig. Der Weg der äußeren Befreiung seiner Anhänger, den er
am Sumpf von Ta-lu eingeschlagen hatte, war zu Ende gegangen. Sie waren
sicher vor Zerschmetterung durch das blinde Schicksal.

Ma-nohs Härte in dieser Zeit wuchs. Von dem Augenblick an, wo er
Priesterkönig des Gebietes war, umgab ihn eine Strenge, die an Grausamkeit
grenzte und den erfahrenen Schüler der asketischen Mönche erkennen ließ. Ma
verwandelte sich nicht, sondern fand sich in dem Augenblick wieder, wo nur
sein Wort galt. Das Feuer des Klosters, in dem Brüder und Schwestern vor
seinen Augen verkohlt lagen, brannte in ihm nicht aus. Er empfand kein
Rachegefühl, sondern nur die Empfindung, daß Dinge, die so eingeleitet
waren, nicht läppisch enden durften. Er nahm keinen Rat seiner Vertrauten
mehr entgegen. Das Mitleid für die Halbtoten, Angespießten auf den Höfen,
in allen Korridoren tötete ihn fast. Er sank von dem Gipfel herunter, stand
unter den armseligen, verwirrten, abergläubischen seiner Menschen, wand
sich unter ihren Qualen, und war eins mit diesem Volk.

Keinen seiner Vertrauten kannte er mehr. Auf dem raschesten Wege strebte er
danach, die Herrschaft an sich zu reißen, weil er fühlte, sonst der
Verantwortung zu erliegen. Das Schicksal des ganzen Bundes war
gleichgültig, wenn er erst alles für den Bund geleistet hatte, dann stand
und fiel er gleichmütig mit den andern. Kein Feuer berührte ihn dann mehr.

Ma-noh, ein unkenntlicher Mann, saß auf dem Thron der Insel. Kein Götze
konnte blinder blicken als er. Sein Glaube an das Westliche Paradies war
vorher eingewickelt in ein Entrückungsgefühl, ein überschwengliches Sehnen;
jetzt saß Ma ernüchtert da, hielt den Glauben mit eisernen Griffen gepackt
vor sich hin. Er sehnte sich nicht nach diesem Paradies, er begehrte,
heischte kalt den Eintritt für sich und seine Bündler. Es handelte sich
nicht mehr um ein traumhaftes Gut, dem man sich langsam stufenweise
entgegenhob, sondern um etwas Nahes, wie die enge Holzbrücke, über die er
jeden Tag ging, zu der er ging, wann es ihm beliebte, etwas Erkauftes,
etwas Gekauftes und zehnfach Überbezahltes, das ihm keiner vorenthalten
konnte. Es war nicht mehr diskutabel, ob das Westliche Paradies real
existierte oder nicht; die Ereignisse hatten es mit den notwendigsten
greifbarsten Zeichen der Wirklichkeit ausgestattet.

In ihm aber irrte manchmal eine Angst auf und ab, daß er noch einen Preis
draufzahlen müßte, daß durch irgendeinen Umstand noch ein Preis wie der
vorige verlangt werden könnte, und darum verlangte er keine lange Dauer des
Lebens mehr, sondern einen kurzen dringenden Beschluß, ja den raschen
Untergang dieser Insel, die er mit dem Namen seiner Brüder und Schwestern
geschmückt hatte. Er war durch seine Klugheit, Entschlossenheit, kraft der
unheimlichen Einflüsse, die man ihm zuschrieb, Herrscher dieses Landes
geworden, dessen Bewohner er verachtete, deren Berührung ihn anwiderte. Es
bedeutete ihm eine Qual, daß er sich schmutziger Dinge bedienen mußte, um
der Gebrochenen Melone zu helfen. In keiner Zeit war sein Haß auf Wang-lun
so ständig gewesen, der dies alles hatte geschehen lassen und mit einer
kleinen Bewegung seines Willens hätte verhindern können.

Ma diente in der ersten Zeit nach den Umwälzungen am Sumpfe von Ta-lou mehr
seinen Bündlern, als er glaubte. Er hatte gedacht, sich zu sich selbst
zurückzufinden aus dem Kram der täglichen Führerschaft. Aber erst der
Klosterbrand leistete wirklich diese Zurückführung. Ma war wieder
Einsiedler geworden, ohne daß er sich dessen in seiner Königsrolle bewußt
wurde. Er gewann Fühlung mit den ihm entschwundenen Vorgängen auf dem
Nan-kupasse. Durch seine Träume liefen die Zibetkatzen, saßen auf dem
Buddharegale, Haufen großer Krähen erwarteten seine Brocken vor der Stiege;
und Ma-noh wunderte sich über das Auftauchen der Erinnerungen. Der
ungeschlachte Wang-lun besah sich die goldenen Buddhas, die längst
zerschlagenen, fragte ohne Ende nach einer hundertarmigen Kuan-yin aus
Bergkristall, deren Splitter in dem Mikanthustal Wanderern in die Sohlen
schnitten. Gegen das Schicksal gab es keine Rettung als Nichtwiderstreben;
das Gemetzel am Fuß des Gebirges, der Klosterbrand hatte alles wieder
gezeigt. Ma fühlte, daß die Größe dieser Idee und die Frucht dieser
Tatsachen über seine Kraft ging.

Die Bündler waren zusammengeschmiedet durch das Schicksal. Das Glück der
Sommermonate leuchtete nicht mehr über ihnen. Des furchtbaren Ernstes ihres
Bundes wurden viele sich erst jetzt bewußt. Ma strahlte eine finstere Glut
aus, die sich ihnen mitteilte. Juen lag, bei den Kämpfen um die Güter
erschlagen, unter der Erde. Die Lius schwiegen vor der Gewalt Mas. Die
schöne Liang bebte beim Anblick des erstarrten Menschen und pries sich
glücklich, ihm gefolgt zu sein. Die Gelbe Glocke war verschwunden.

Noch einmal zitterte der Körper des Bundes unter einer inneren Krankheit.
In einem Dorfe, das kaum acht Li von der Hauptstadt lag, lebte unter den
Gebrochenen Melonen ein junger fremdartig schöner Bruder, der, obwohl
Kohlenbrenner von Beruf, eine beneidenswerte Feinheit seines Benehmens und
seiner Hilfsbereitschaft zeigte. Er hatte, wie nicht wenig andere, seine
Familie verlassen aus kindlicher Anhänglichkeit, wegen eines Gelübdes gegen
einen wandernden Bruder, daß er selbst zur Gebrochenen Melone gehen würde,
wenn der Bruder seinem kranken Vater hülfe. Nun war er, herausgerissen aus
der vertrauten Umgebung, mit den andern auf der Fahrt zum Westlichen
Paradies.

Aber er wurde durch eine hitzige Leidenschaft zu einer Frau in der Reinheit
und Ruhe seiner Empfindung gestört. Diese Frau war zwar eine Schwester,
aber sie rang noch mit sich, um ihren Geist sicher nach dem klar erkannten
Ziel einzustellen. Von einer mädchenhaft weichen Schönheit, einer stets
heiseren Stimme, träumerisch schielenden Augen, wurde sie aus dem Haus
ihres Vaters zuerst neben einen vierzigjährigen groben Pelzhändler geführt,
vor dem sie nach zwei Jahren floh, weil sie glaubte, daß er ihre Untreue
entdeckt hatte. Der Mann holte sie zurück, sie hinterging ihn dann wieder
und mußte nun ihre Heimatstadt verlassen. Sie war glücklich, bei den
wandernden Brüdern und Schwestern unterzukommen, sie konnte der Wildheit
ihres Leibes, unter der sie selbst litt, frönen, ohne Todesgefahr zu
laufen; sie stieß schon fast ihre Begierden mit den Füßen.

Da begegnete sie jenem Kohlenbrenner; sie versagte sich ihm nicht, aber
bald zog er sich von ihr zurück, begehrte sie nicht mehr; wurde finster. Er
erklärte ihr eines Morgens, als sie an seinen dunstumgebenen Platz vor dem
Dorf herunter kam und sang, daß er keinen Gedanken seit langen Tagen mehr
nach den überirdischen Dingen trage, daß er sich quäle und sie bäte, bei
ihm zu bleiben und ihm zu gehören. Die junge Frau verhüllte schon weinend,
als er zu sprechen anfing, ihr wohlgeformtes Gesicht, denn sie wußte
vorher, was er sagen würde. Als er aber ausgesprochen hatte, sah sie sich
um, ob ihr keiner zuhörte, setzte sich an eine qualmende Stelle neben ihn,
umhalste ihn, so daß neben seinem abgewandten glatten Schädel ihre vollen
Wangen und ihre ungesättigten Lippen standen, und benetzte mit Tränen und
Küssen seinen Zopf. Ob er nicht wüßte, daß er gegen die kostbaren Regeln
verstoße mit seinem Wunsch, und was er zu tun gedenke, wenn man erführe,
was er tat.

Nung drehte ihr langsam sein ovales Gesicht zu, das unter dem Schmerz alle
Ebenmäßigkeit verlor; das, was geschehen sollte, wenn man ihn entdeckte,
wisse er nicht; er wolle nicht gegen die kostbaren Regeln verstoßen, denn
das wäre eine Sünde gegen seinen Vater; aber er wisse sich nicht zu helfen.
Der ekelhafte Selbstmorddämon mit den weiten Hosen hätte ihn schon
angefallen, diese Nacht und drei Abende zuvor. »Was soll man tun, liebe
Schwester? Was soll dieser Bruder Nung tun gegen sich?« Nun saßen sie still
und ohne Überlegung in dem üblen Rauch; seine rußigen Hände griffen in ihre
schwarzen, kunstvollen Haarwindungen.

Die junge Frau, obwohl um sich selbst besorgt, folgte ihm, wie er
verlangte. Sie zog mit ihm in eine Wohnung zu dem Kohlenbrenner, der Nung
beschäftigte. Der baumstarke, duldsame Mann warnte die jungen Leute, die
ihm aber auswichen.

Inzwischen war das Jahr weit vorgerückt; die Bewohner der Insel rüsteten
sich zum Ching-ming-Fest, dem Allerseelentag. Überall im Freien errichtete
man Schaukeln, an denen bunte Schnüre wehten. Das welke Laub der
Roßkastanien flatterte herum. Man häufte frische Erde auf die Gräber. Das
übliche leckere Schmausen fing an. Auf allen Wegen gingen die Frauen mit
Weidenkätzchen hinter den Ohren, um nicht als gelbe Hunde wiedergeboren zu
werden. Die Männer stolzierten in den Alleen, saßen in den Teeschänken bei
Würfel- und Dominospielen mit golddurchwirkten Jacken und Gürteln.

In der Nähe der Tempel für die Stadtgottheit lagen die Begräbnisstätten für
die Dirnen; die Frauen der Gebrochenen Melone ließen dorthin nach der Stadt
auch ihre Toten bringen in einem großen Stolz und Mitleid. Als sie nun --
denn Ma-noh duldete das Beibehalten aller volkstümlichen Sitten -- am
Ching-ming-Feste morgens in Scharen auf den Friedhof strömten, begegneten
der verliebten jungen Frau, die Nungs Freundin war, andere Schwestern am
Eingang zum Dirnenbegräbnis, verwehrten ihr den Eintritt. Es fiel kein
Schmähwort; die Schwestern bedeuteten ihr nur, daß sie sie nicht mehr zu
sich rechnen könnten, seitdem sie wie eine Ehefrau mit Nung zusammenwohne.

Die Schwester lief in Scham nach Hause, erzählte Nung, dem die Knie zu
zittern begannen, daß ihr Geist, wenn sie stürbe, keine Ruhestätte bei den
andern Schwestern finde, weinte, daß sie aus dem Ring ausgestoßen sei, daß
sie nicht mehr so leben könne und sie müßte zu den Schwestern zurück. Der
Wirt, der lange gebeugte Kohlenbrenner, hörte ihr zu und brummte: »Das wird
wohl so sein müssen.«

Nung von ihr allein gelassen, wirtschaftete ohne Bewußtsein tagelang
zwischen seinen Kohlen und im Garten herum. Nachts warf er sich in Kleidern
auf die Erde, sein Gesicht wusch er nicht, seine Eßschalen ließ er stehen.
Er ging eines Morgens an die Mauer des Dirnenfriedhofs und wartete auf die
junge Frau. Als sie am regnerischen Abend mit einem Bruder zusammen
vorüberkam, -- sie atmete schon wieder auf, weil sie sich nicht in
grenzenloses Elend gestürzt hatte -- fiel Nung sie an, stieß den Bruder vor
die Brust, zerrte die Kreischende an den Zöpfen hinter sich her. Dorfleute
rannten herzu, rissen die Schwester los, verprügelten den Mann.

Nung, ganz auf der falschen Bahn, rollte nun glatt weiter. Die kostbare
Regel, die den Besitz einer Frau verbot, fiel noch manchem im Bunde schwer.
Offen am Tage nach dem vergeblichen Angriff unter seinen vielen Freunden
darüber redend, verstand er es, sie mit sich eines Sinnes zu machen.
Arbeitskameraden aus dem Dorf gesellten sich hinzu. Man schickte, hinter
einer Weidenpflanzung lagernd, einen Boten an Ma-noh, Abweichungen von der
kostbaren Regel zu gestatten. Die drei Gesetzeskönige ließen den Boten ins
Gefängnis werfen.

Verbohrt, die junge Frau zu besitzen, die in die Hauptstadt zu Ma-noh
geflüchtet war, sammelte Nung in vier Tagen Anhänger aus Dörflern, denen er
den König als unduldsam und gewalttätig schilderte, und aus Brüdern, die
nicht besser waren als er. Sie rotteten sich morgens auf den Straßen der
Hauptstadt zusammen, um Ma-noh zu ihren Forderungen zu zwingen. Aber der
Priesterkönig und sein Beirat warnten Nung und hießen die Männer die Stadt
verlassen und um sich sorgen.

Da drang der junge Nung, schmutzig, barfüßig, in zerrissenen Kleidern in
das Jamen ein, das als Königspalast diente. An der Schwelle der offenen Tür
stehend, während sein aufgelöster Zopf ihm von rückwärts über den Schädel
wehte, rief er in den dunklen Saal hinein, in dem Ma mit den drei
Gesetzeskönigen an der Wand saß, ob man die Wünsche bewillige oder er den
Bogen spannen solle. Auf das Schweigen trieb er das erstemal einen Pfeil
dicht über Mas Kopf in die Holzwand, beim zweitenmal durchbohrte er einem
Gesetzeskönig den Arm, dann wurde er selbst von hinten in die Schulter
getroffen. Der Pfeil zitterte im Fleisch, Nung brüllte. Die Bürger hatten
auf den Straßen den größten Teil von Nungs lärmenden Anhängern vertrieben,
das Jamen umstellt, ihn selbst mit einigen andern im Hofe eingeschlossen.
Der um sich beißende Nung wurde in den Holzkragen gelegt, im Stadtgefängnis
eingesperrt. Die Gesetzeskönige verurteilten ihn, als Ma teilnahmslos die
Sache von sich abwies, zur Todesstrafe mit Zerstückelung.

Nung wußte, daß sein Geist verloren war. Er gebärdete sich als ein der
Unterwelt zustrebender Dämon, schmähte Brüder und Schwestern, die ihm auf
dem Wege zum Richtplatz vor der Stadt begegneten, lachte über seinen Vater,
für den er sich geopfert hätte und höhnte auf der Totenstätte den heiligen
Bund so, daß der Henker nicht die Strafe des verlängerten Todes üben
konnte, sondern auf Drängen der empörten Zuschauer den Ruchlosen
erdrosselte.

Die schwere Bestrafung und Vertreibung der beteiligten Brüder und ihrer
Helfer folgte. Dieser Aufruhr und seine häßlichen tobenden
Begleiterscheinungen brachen über die Gebrochene Melone wie ein schweres
Unglück herein. Es kam manchen Bündlern vor, als sei ihnen verhängt, sich
nach dem erduldeten Leiden noch selbst zu zerfleischen. Viele schlichen
entmutigt herum, dachten an verzweifelte Flucht in die alte Umgebung
draußen, waren sinnlos lebensüberdrüssig. Andere hielten den Aufruhr für
einen Reinigungsvorgang, der einer jungen Sache nicht erspart bliebe,
trösteten sich und die andern, versuchten heller zu blicken.

Man erlebte auf den Märkten der Dörfer und der Hauptstadt rührende Szenen.
Es wiederholte sich auf dem Hof des Königsjamens dieser Vorgang: ein
zweirädriger Karren fuhr vor, eine Dame stieg mühsam aus, trippelte an das
Gong neben der Treppe und warf sich zu Boden. Vor Ma oder einen der
Gesetzeskönige kniete sie, klagte sich an, beschuldigte Heimat und Sippe,
und dann legte sie unter Verwünschungen vor allen Zuschauern einen Schmuck
nach dem andern auf die Stufen, Spangen, Ketten, Ringe, Federn, zog die
bemalten Seidengewänder ab, riß die Unterkleider in lange Stücke, ließ sich
die Haarwindungen lösen von den Schwestern, die sie umarmten.

Wenn Ma solchen Szenen beiwohnte, bedeckte er seine Augen mit der linken
Hand. Bisweilen wenn draußen das Gong brummte, stürzte er hinaus, ehe ihn
ein Bote gerufen hatte, und suchte auf dem Hof unter den inbrünstigen
Menschen. Er suchte Wang-lun und die Gelbe Glocke.

                   *       *       *       *       *

Als ein Monat nach der Errichtung des Königtums verstrichen war,
veranstaltete man in der Hauptstadt ein Fest. Dieses Fest ist vielfach
beschrieben worden; es wurden Gedichte darüber gemacht, auch Khien-lung
nahm in einigen späteren Versen Bezug darauf. Es liegen fast nur
phantastische Entstellungen des Vorgangs vor.

Die Arbeit, bis auf den Kriegsdienst an der Grenze, ruhte sechs
Doppelstunden. Auf den Straßen der Hauptstadt bliesen morgens die Posaunen.
Es waren tiefe grauenvolle erschütternde Töne, jedes musikalischen Klanges
bar, drängende Schreie geängstigter Schatten, Hilferufe von Verstorbenen an
Lebende, mit einer zunehmenden Wucht vorgetragen, daß es schien, als würde
sich das Rufende in jedem Augenblick verkörpern und feucht den
Vorüberlaufenden um die Schultern hängen. Die Töne kamen näher, gingen
ferner, stiegen aus allen Orten auf, es schien als ob die Stadt von ihnen
umstellt sei.

Aus den Seitengassen schlichen sonderbar vermummte Wesen an. Sie tauchten
mit einmal, aus dem Boden gewachsen, mitten unter den geputzten
Spaziergängern auf, huschten an den Häusern entlang, kauzten vor den
Sänften nieder, stumm den Durchgang verwehrend. Es gab plötzlich ein
Gelächter, wenn die affenartigen braunen und schwarzen Geschöpfe ernsten
Männern auf die Schultern sprangen, die dürren Beine ihnen vor der Brust
kreuzten, und mit einem lauten Blöken befriedigt nach einem niedrigen
Dachfirst griffen und sich schaukelten.

Auf der großen Straße, welche die Gelbbalkenstraße hieß, promenierten die
Bürger. Brüder und Schwestern nahmen die Mitte des leeren Marktplatzes ein
und fingen ein sanftes Musizieren an. Das feine kreischende Geräusch der
Juchkinsaiten klang mit einer hypnotisierenden Süßigkeit und Monotonie in
der Herbstluft; das Suan-kin, die achteckige Gitarre, fiel ein; ein Zirpen,
dann gleichmäßig abgerissene Akkorde, die wie dünne Goldspangen eine Kette
schlossen, wie lose Reiskörner auf den weichen Boden flatterten.

Während die Schwestern vielstimmig an- und abschwellend dazu sangen,
verwandelten sich ernste Spaziergänger, die grüßend aus Sänften stiegen, in
spielerische blaue und rote Löwenhunde, liefen vierbeinig die andern an,
balgten sich auf den Fahrdämmen und jaulten komisch zu der festlichen
Musik. Irgendwo standen eben noch zwei zusammen und unterhielten sich
höflich, lehnten Schulter an Schulter vor einem Laden; da sank einer
plötzlich zusammen, überzog sich mit einer Schildkrötenschale und
watschelte davon. Unbeirrt klang die Musik. Die Bambusflöten bliesen; im
Liede heißt es: »Die Töne zogen sich gedehnt, schmiegsam wie Seidenfäden.«

Auf den Straßen quirlten umeinander Jongleure, Athleten, Zauberkünstler,
groteske Masken. Klappern, Knarren, näselnde Hörner. Ein zopfloser hagerer
Mann, ganz weiß geschminkt, in einem langen enganliegenden weißen Mantel
mit schwarzer Schärpe, hockte versunken auf seinem Schemel. Um ihn kauerten
drei weiße ausgewachsene Tiger, die er an bloßen bunten Leinen hielt. Die
Bestien rekelten sich, scharrten den Boden mit den Pranken. Plötzlich gab
es einen Schrei, ein Auseinanderstürmen der Menschen. Die Tiger fuhren in
großen Sätzen davon, zogen den weißen Mann an ihren Leinen hinter sich her.
Er schwankte halb durch die Luft und machte vor Angst einen kreisrunden
Mund. Vor einer Tigersäule an einer Straßenecke kletterten sie an,
schnüffelten, saßen eins neben dem andern nieder, blieben ruhig sitzen, als
ein paar mutige Burschen sich anschoben, platteten sachte Rücken und Bauch
ab, ihre Beine schnurrten ein, bis sie eine breite, weiße schwarzgetüpfelte
Lage bildeten -- aus Papier vor ihrem weißgeschminkten Herrn mit der
schwarzen Schärpe, der sein unheimlich bewegliches Maul ganz allmählich zu
einem schiefen Rüssel drechselte und mit einer Backe heftig zuckte, so daß
es wie ein Gelächter in Fleisch aussah.

Während die Jongleure sich um Stangen wanden, die frei in der Luft standen,
Athleten glockenbehängte Banner auf den Zähnen balancierten, Schwertkämpfer
in Spiegelbuden aufeinander losgingen, sich Hände und Köpfe abschlugen, mit
zappelnden Händen im Mund blutgierig herumliefen und draußen unter
zärtlichen Verneigungen Geld einsammelten, blickte ein pfiffiger Knabe mit
hohem roten Käppi in seinen Holzbauer, zeigte unentwegt auf den kleinen
polierten Kasten drin, vor dem ein Kanarienvogel trillerte und auf Anruf
seines Herrn eine winzige Schatulle mit dem Schnabel aufschloß, Briefchen
herausholte und brachte.

Die Hampelmännchen, Marionetten tanzten auf glatten Brettchen vor den
harmlosen Landleuten, welche mit unförmigen Fächern und Bambusschirmen in
die Stadt hereinspaziert waren. Sie gafften vor den fähnchenbehangenen
Gestellen, auf denen dressierte Mäuse und Ratten über teppichbelegte
Treppen, Leiterchen krochen, sich im Drehrad zu zweien schwangen, durch
Schaukelringe sprangen, Klöppel gegen Blechgongs rührten.

Ein wildes Getümmel herrschte um abgezäunte Räume auf den Märkten; hinter
den Seilen standen Haufen kleiner irdener Töpfe mit Schlitzen; in der Mitte
solcher Stapelplätze wurden Grillenkämpfe vorgeführt, erregte Wetten auf
die Tierchen abgeschlossen.

Allen Geistern, von denen man sich Gutes versprach, opferte und räucherte
man in den Häusern und kleinen Tempeln; drohend schmetterten die Gongs,
krachten die Trommelwirbel; die Stadt blähte sich auf, blies die bösen
Geister und hungrigen Dämone mit einem Hauch von sich weg. Vor den Türen
hingen die langen roten Zettel mit beschwörenden Figuren, Boten trugen
Glückwünsche von Sippe zu Sippe. Endloses, unruhiges, aufgejagtes Treiben.
Ernste Komödien wurden in den großen Tee- und Freudenhäusern gespielt.

Den Brüdern und Schwestern war für diesen Tag jede Freude und Üppigkeit
gestattet. Sie tafelten bei den Familien in vielen Häusern; die gewandteren
unter ihnen saßen auf den öffentlichen Plätzen, vor den Tempeln, hatten
neben sich große Menge schneeweißen Reis in Schalen, Tee, Ginseng, Nudeln,
Pasteten, erzählten ihren Zuhörern wunderbare Geschichten und bewirteten
sie. Die jüngeren wohlgeformten Schwestern legten bunte und kostbare
Seidenbrokatstoffe an, die ihnen begüterte Städter schenkten; ihre
Gesichter waren herrlich geschminkt; sie spielten in den Theatern, führten
fremde Tänze auf, in den bemalten Häusern gingen sie freiwillig herum
zwischen ihren dienenden Schwestern.

Es wurde Nachmittag. Da räumten die Budenbesitzer, Gaukler, Straßenhändler
die Märkte. Auf dem Tsuplatz an der Peripherie der Stadt, wo innerhalb der
Mauern ein Fichtenwald gegen die Häuser vorrückte, war eine viereckige
Hügelfläche abgeerdet. Hier, wo ein dunkles Tempelchen für einen alten
tüchtigen Mandarin verfiel, wollten sich die Brüder und Schwestern der
Gebrochenen Melone zusammenfinden. Wieder schrieen die Posaunen, immer
lauter, immer dringender. Die Straßen wurden leer, die schrecklichen Töne
verhallten im Winde, keine Rettung, kein Mitleid; in starre Steinwände die
Stadt eingemauert.

Vor dem schwarzen Hintergrund der Nadelbäume spielte sich die Zusammenkunft
der Brüder und Schwestern ab. An der Lehne der Stadt, das Gesicht den
Bäumen zugewandt saßen in langen Reihen die Bündler; hinter, über ihnen die
Bürger und die zahllosen Bauern. Auf den platten Dächern drängten sie sich;
ihre Fächer und Schirme winkten aus den hochgelegenen Fenstern und Türen.
Wirres Rufen, dichtes Summen; von der Stadt her vereinzelte grelle
Gongschläge; vor allen die schwarze Verschwiegenheit des Fichtenwaldes.
Über den grauen Himmel weiße Wolkenzüge.

Der Boden fing an zu schwingen. Zwischen den Bäumen brachen in langer Linie
Berittene hervor; sie näherten sich, in brausendem Galopp aufwachsend,
einem flachen Hügel vor der Stadtlehne, teilten sich in zwei Haufen,
sprengten gegeneinander. Man erkannte rasch unter den Zuschauern, daß die
eine Truppe die Staffierung und Waffen einer kaiserlichen Bannerschaft
trug; die Farben gelb mit Bordüre, von einem hohen Offizier geführt,
Lanzenträger mit meterhohen Bambuslanzen und dreieckigen Feldfähnchen. Man
zeigte sich auf den Dächern die echten Brustschilde der Offiziere,
Leoparden und Bären; einige riefen sich zu, es seien erbeutete Waffen und
Kleider, viele jauchzten, sogar die Träger selbst seien erbeutet; es seien
allesamt Gefangene von der Grenze; man erregte sich über das Schicksal
dieser Männer. Es war in der Tat eine gefangene kaiserliche Kompagnie. Die
andern Berittenen in simpler Bauernkleidung; Strohhüte von ungeheurem
Umfang, Strohsandalen, graue Kittel; durcheinander trugen sie Schwerter,
Sensen, Dreschflegel. Die Zahl dieser Reiter war wohl zehnmal größer als
die der Mandschuren. Erst mischten sie sich lautlos durcheinander, trennten
sich, sprengten drohender aufeinander, schmähten sich im Vorüberreiten,
dann trieben in einem plötzlichen Ansturm die Bauern ihre Feinde nach dem
Wald, der auch von rückwärts mit berittenen Bauern umstellt war. Aufgelöst
schwärmten die erhitzten Reiter über das Feld, schwangen ihre Schwerter,
liefen neben ihren Pferden her und warfen sich mit einem überschlagenden
Luftsprung auf die Sättel.

Mitten in ihr buntes Treiben hinein platzten die mandschurischen
Gefangenen. Jetzt sprangen von den Sitzen der Brüder zwanzig, dreißig,
fünfzig dünn bekleidete Männer auf, schienen den versunkenen Ma-noh etwas
zu bitten, der sie nicht anhörte, dann die Gesetzeskönige, die ihnen nach
ein paar Worten zunickten. Es waren Brüder, die sich inbrünstig zum Opfer
anboten, die ihre Seelen nicht mehr halten konnten. Sie wanden blitzschnell
ihre Zöpfe auf, liefen zwischen die Bauern; an dem Zaumzeug der Pferde
hielten sie sich fest. Wieder mischten sich berührungslos die Truppen, aber
die Brüder rissen schon an den Lanzen der Mandschuren; einige von den
Laufenden wurden durch Hufschläge niedergeschmettert und lagen verzuckend
auf dem Feld. Ein gelles Rufen aus den Fenstern und von den Dächern
schaukelte über das Feld und kam im Echo von dem Wald zurück; Schirme,
Mützen, Gürtel, Schärpen wurden geschwenkt; man hörte den entsetzten
Aufschrei von Männern, die in ihrer Erregung fehltraten und Treppen
herunterstürzten. Frauen kreischten, verlangten nach den Feinden. Das
Lärmen der Masse verdichtete sich zu einem wirren Gebrüll, das wie ein
betäubender Nebel in das Feld herunterwallte.

Jetzt hielten an beiden Seiten des Karrees die Haufen. Die Bannerschaft
hatte sich in einem Kreis formiert; die Mandschuren gestikulierten wild und
schrien sich an; höhnisches Lachen und Streitworte; man sah, wie zwei ihre
Pferde nebeneinander drängten, ihre Lanzen hinwarfen, über die Sättel weg
rangen, herunterkrachend sich auf dem Boden wälzten. Als die brüllenden
Schmährufe von der Stadt herunterklangen, wie Eisenstangen, mit denen man
in Käfige langt, drohten einzelne ihre wutgedunsenen Gesichter nach der
Stadt, steiften sich in den Steigbügeln auf, schüttelten die Lanzen zum
Wurf.

Die Brüder liefen über das Feld, schleppten rasch die Zertrümmerten
rückwärts in den Hintergrund, tanzten unbewaffnet barhäuptig, barfüßig
unter dem regnenden abwehrenden: »Nein, nein, nein!« der Zuschauer gegen
die wartenden Mandschuren. Die ersten der Brüder sprangen auf die Pferde,
suchten den Menschenbestien oben die Lanzen zu entwinden; man knallte sie
mit Fußstößen und Fausthieben beiseite. Als sie an dem Zaumzeug zerrten, so
daß die Pferde sich bäumten, gaben die beiden Offiziere kurze Kommandos;
das gedrängte Karree löste sich. Riesenstarke Mandschu hoben Brüder an den
Hälsen hoch wie Eimer am Henkel, schleuderten sie im Trab vor sich hin und
überritten sie. Keiner von diesen anbrausenden Männern kannte jetzt den
andern; sie warfen, hingen sich mit ihren Lanzen weit über Köpfe und Mähnen
der weit ausgreifenden Pferde.

Eine tobende, blutdürstige, mordlustige Horde, Mäuler, Lungen, Kehlen,
Arme, aufgerissene Augen, Pferdegeifer wälzte sich ihnen entgegen; das
tausendfache fieberhafte Geheul der Stadt brach erstickend über ihre
Schultern. Blitzen von Schwertern, krachende Dreschflegel, langgezogenes
Stöhnen der Gespießten, Leiber, die durch die Luft flogen, schon träumende
Brüder, Bauern bei der Arbeit, Röcheln, Wiehern, stumme Grimassen, eiserne
Hände von Sattel zu Sattel, Schweiß, Staub, nasses Blut vor geblendeten
Augen, Pfeile von der Stadt her. An den Fenstern der Häuser, auf den
Dächern, an der Stadtlehne willenloses Schluchzen, atemloses Keuchen,
Wutausbrüche, Umarmungen, Hinsinken. Dann saß keiner der Mandschuren mehr
auf seinem Pferd.

Einer der Gesetzeskönige, über seine Knie gebeugt, gab ein Zeichen.
Trommeln wirbelten vor seinem Platze; aus dem schwarzen Hintergrund
schwollen die Posaunentöne; große Massen Ochsenwagen fuhren knarrend über
das Feld heran. Der Kampf war zu Ende. Man räumte auf, trieb die Pferde
zusammen.

Eine Stunde verstrich; man atmete ruhiger. Auf den Gesichtern der Bürger
lag Befriedigung. Da begann auf dem flachen Hügel, der wie eine Bühne
inmitten des Feldes lag, eine friedliche stille Musik zu spielen; eine
Melodie, die frei ausgesponnen immer wiederkehrte. Bambustuben und
Pansflöten trugen sie ernst vor, öfter rauschten Zimbeln dazwischen und
schlug die Bronzeglocke an; Schlaghölzer begleiteten. Ein langer Zug
Schwestern nach einer Weile, kostbar geschmückt, mit weit flatternden roten
Schnüren an den enganliegenden Zeugmützen, trat zwischen den Männern
hervor; die Seide ihrer Oberkleider scharrte; sie schwangen Rosenkränze,
Zauberschwerter und besänftigten die rasenden Geister des Feldes. Vor dem
Hügel stellten sie sich auf; die Gesichter der Stadt abgewandt, sangen sie
zu dem Orchester.

Hingerissen hörten alle Brüder, Schwestern und Städter auf den Gesang und
ließen die Seelen von der süßen Schwermut glätten. Man lauschte gespannt
der Musik; wenigen fiel, während sie entzückt die Augen senkten, der
dröhnende vorige Tumult ein. Man ließ die Hände voneinander, setzte sich
hin, den Rücken gegen das Feld, stützte die Köpfe. Weich schlug die
Bronzeglocke an.

Ein Rufen gab es; die Versunkenen richteten sich auf. Dem Hügel näherten
sich Masken. Ein neues Spiel begann. Unter den Brüdern und Schwestern auf
der Stadtlehne entstand Murmeln; die Worte wurden nach oben getragen. Es
waren die acht Genien, die heranschritten.

Die Brüder, die die Rollen spielten, hatten sich nicht umständlich
vermummt; einige trugen zu der Gesichtsmaske und den Emblemen ihre
verschlissenen Kittel und gingen barfuß. Es waren alte Männer, die den
Hügel erstiegen, mit einer blechernen Spange um die Stirn statt des
Heiligenscheins.

Chung-li-küan, der weißbärtige, hielt ein ungeheures Holzschwert, dessen
Ende zwei kleine Knaben schleppten; ein altes buckliges Weib wehte ihm Luft
mit einem Fächer, der so groß war wie ein geöffneter Schirm. Der alte Mann
hatte das Elixier der Unsterblichkeit erlangt, in vielen Gestalten erschien
er, er konnte über Wasser laufen; seinen Fächer und sein Schwert ließ er
nicht.

Da ging der alte Herr Lü, genannt der Gast der Höhle; seine Maske ein
wohlwollendes lächelndes Gesicht; er zog einen Karren hinter sich her, auf
dem ein niedriger Stuhl stand, und ein Gestell mit einem roten Handtuch,
einem schaukelnden Porzellanbecken, einem breiten Schabemesser.

Tsao-kuo-kiu und die übrigen folgten; die beiden letzten ritten seitlich
auf Maultieren.

Sie stellten sich auf der Ebene des Hügels im Kreise auf, winkten der Musik
und den Brüdern und Schwestern zu; einige der zitternden alten Männer
rutschten in den Sand.

Ein freudiges Gemurmel von der Stadt. In schlankem Galopp setzte aus dem
Wald ein Füllengespann an; in dem zweirädrigen Wagen, der wie ein
ausgehöhlter grüner Jadestein aussah, saß ein bärtiger Zwerg mit der
Lenkleine; und hinter ihm trabte ein zweites Füllengespann, das langsam
fuhr; aus dem Muschelwagen blickte ein kleines Mädchen, das sorglos einen
hohen Stengel, einen Halm, wie grüner Seetang, hochhielt, eine lange
Blattscheide senkte sich nach unten.

Bei diesem Anblick brauste das Gemurmel auf, ein lautes Rufen, ein »Ah« das
über die Sitzreihen lief, sich in die Fenster schwang, über den Dächern
rollte; das war das Chikraut, das die Unsterblichkeit verlieh. Die Städter
und Bauern schwankten aufgestachelt hin und her zwischen dem Schauspiel und
dem Anblick der Bündler unten; sie begriffen, daß deren eigenste Sachen auf
der hügeligen Fläche sich abspielten; sie suchten sich das Gefühl der
Heiligkeit durch den Anblick der Brüder und Schwestern zu verstärken.

In denen ging alles gegenwärtig und ohne Spiel vor. Sie lachten und
streckten die Hände aus; sie schmachteten, die Tränen standen in ihren
Augen. Die Genien winkten von dem Hügel herüber.

Jetzt hörte die Musik auf; gleich darauf begann sie mit einer eigentümlich
springenden, jubelnden Weise; Tamtam und Becken traten hinzu. Und unter
dieser Musik näherte sich vom Walde ein feierlicher Aufzug. Zahllose
gelbjackige Vorläufer, Tafelträger, Gongschläger. Auf den Schultern von
acht Trägern ruhte eine drachengeschmückte bannerprunkende Sänfte, die
gelben Vorhänge fest geschlossen; zwei kleinere Sänften und ein Nachtrab
folgten.

Die Königliche Mutter des Westlichen Gebirges trug man in ihr Reich.

Auf dem Hügel, an den Sitzreihen herrschte tiefstes Schweigen; dann ein
allgemeines Scharren und Rauschen; die Rücken und Zöpfe der zahllosen
Menschen, die mit ihren Stirnen zwölfmal den Boden berührten.

Kein Ende nahm der Zug der Königlichen Mutter. Hinter der Sänfte jubelten
Männer, Frauen; sie schwangen rote Schnüre, barfuß liefen sie herum ohne
Ordnung, sprangen durcheinander, tanzten, wälzten sich übermütig in dem
Sand, trugen einander auf Schultern, Männer umschlangen Frauen, Männer
trugen Knaben auf den Armen. Erst schien der Gesang unregelmäßig,
durcheinander; dann erkannte man, als er näher kam, daß es Dirnenlieder
waren, die die Schwestern oft lockend zum Juch-kin trällerten.

Man sprang von den Sitzen der Brüder und Schwestern auf, man stieß sich an,
rief sich zu mit überschlagenden Stimmen, zeigte mit den Händen, rief
Namen, Namen von toten Bekennern, Bekennerinnen, die bei den Überfällen,
beim Klosterbrand umgekommen waren. Diese waren es, ihre Masken, man
erkannte sie alle und einzelne; man jauchzte ihnen zu, die zurückjauchzten,
rief sie an, lockte sie. Die Schwestern lösten ihre Haare auf und winkten
mit den Büschen. Die Brüder, außer sich, schlugen die Hände vor die
Gesichter, weinten umschlungen, schleuderten ihre Kittel, ihre Sandalen,
ihre Hüte herunter, um jene zu erreichen. Unten, die Masken der toten
Brüder und Schwestern, sammelten sich um die Sänfte der gelben Königin des
Westlichen Paradieses, die die Vorhänge zurückgezogen hatte, nach allen
Seiten das bemalte hoheitsvolle Gesicht zeigte.

Ein ungeheurer Schrei von Zehntausenden riß sich aus der Stadt los; die
Augen aller oben sperrten sich auf, man suchte mit den fuchtelnden Händen
den purpurroten Schleier abzureißen, den die Erregung blendend über die
Blicke legte. Man seufzte angstvoll auf.

Da schleppten die letzten Brüder unten etwas auf den Armen, was lange
schwarze Blutspuren hinter sich ließ, andere Brüder jagten zurück in den
Wald; auf den Armen neue reglose steife Menschenkörper; sie taumelten mit
ihrer furchtbaren Last den Hügel herauf. Es waren die sterbenden und toten
Brüder, die sich eben freiwillig geopfert hatten.

Und als sie singend zur Musik im Gedränge ihre grauenvolle todessüchtige
Last vor der Sänfte der herrlichen Königin niederlegten, die sich von ihrem
Sitz erhoben hatte, als die Musikanten fassungslos ihre Instrumente
hinwarfen und sich zu Boden streckten, da konnte sich Ma-noh nicht halten.
Laut weinte er auf, öffnete die Fäuste nach dem Hügel, lief den Hang zu der
Ebene herunter. Die Brüder und Schwestern erhoben sich von ihren Sitzen, im
Nu waren die Sitze, die Fenster, Türen, Dächer der Stadt leer. Man stürmte
den Abhang herunter, riß sich um und ließ sich treten, ohne es zu merken.
Sie sprengten das eiserne Gitter, in voller Breite hoben sie es aus;
losgelassen fluteten die Brüder, Schwestern und Städter über die
blutgesättigte Ebene hin zu dem Hügel, den sie unter besinnungslosem Rufen
umgaben; wie Ertrinkende zogen sie sich an ihm in die Höhe, wie
Ertrinkende, die aus dem Meere noch auftauchen wollten zu dem milden
Lächeln der Königin des Westlichen Paradieses.

                   *       *       *       *       *

Dieser erregungsvolle Tag sah an der Nord- und Ostgrenze des kleinen
Königtums schwere, folgenreiche Ereignisse: den sieggekrönten Angriff der
Provinzialarmee.

In der Nacht flüchteten die Landbewohner nach der Hauptstadt. Bei einem
neuerlichen Kampf nach einigen Tagen, zu dem sich die zersprengten
königlichen Truppen vor der Stadt stellten, wurden sie vollkommen
aufgerieben. Unmittelbar an diese Schlacht schloß sich der Sturm auf die
Stadt, welche von Soldaten entblößt war. Die Städter und Bündler wälzten
sich aus der brennenden Stadt in regelloser Flucht südwärts; dezimiert
kamen sie in einer Zahl von etwa viertausend vor der ummauerten Stadt
Yang-chou-fu an.

Den verzweifelten Waffenträgern gelang es, die Torwache zu überrumpeln, die
ahnungslose Besatzung von zweihundert Mann niederzumachen und sich eines
besonderen Teils der Stadt zu bemächtigen, der innerhalb der Mauern
gelegen, durch eine Mauer von der übrigen Stadt abgegrenzt war, das
Überbleibsel einer ehemaligen Mongolensiedlung. Hier verbarrikadierte sich
der Rest der Geschlagenen.

Das heilige Königreich war verloren. Die Brüder und Schwestern gingen in
die eigentliche Stadt herunter, und einem Aufflackern der Sympathien für
die Gebrochene Melone verdankten die Eingeschlossenen es, daß sie von der
Stadt verproviantiert wurden, wenngleich man ihnen keine
Waffenunterstützung zuteil werden ließ und jede Aufnahme in die Häuser der
unteren Stadt versagte.

Während die Formationen der Provinzialarmee die weitere Verfolgung
aufnahmen und langsam sich um die Stadt Yang-chou-fu konzentrierten, liefen
die Boten Wang-luns, die Feigenverkäufer, in die Zelte der Generäle der
kämpfenden Truppen. In allen Briefen stand: er sei Wang-lun, der Führer der
Wahrhaft Schwachen, welche der neuerlichen Rebellion fernstünden. Er bäte
die Generäle für ein zwei Tage ihr Vorgehen zu verzögern und ihn, Wang-lun
aus Hun-kang-tsun, zu einer wichtigen Besprechung zu empfangen. Er würde
ganz allein kommen. Zur Legitimation würde er in das Zelt der versammelten
Generäle sein Schwert schicken, den Gelben Springer, der an seiner Klinge
sieben eingelegte Messingscheiben trüge und unterhalb des Knaufes eine
Lotosblume aus eingelegtem Silberdraht. Die Generäle zeigten sich die
Briefe, rieten herum, worum es sich handele und kamen überein, dem
berüchtigten Mann die Unterredung zu gewähren, gleichzeitig aber Vorkehrung
zu treffen, ihn für den Fall eines üblen Ansinnens auf dem Heimwege
niederzumachen. Am Tage der Unterredung kamen noch rechtzeitig an die
Generäle von befreundeter Seite, die sie ins Vertrauen gezogen hatten,
Warnungen, sich an dem Mann zu vergreifen und dringendes Zuraten, auf
eventuelle Pläne, die er vorbrächte, einzugehen; der Hinweis auf geheime
Korporationen, die hinter Wang ständen, verstärkte den Rat.

Die vier Generäle wohnten bei dem Magistrat eines Dorfes vor Yang-chou; im
ärmlichen Jamen empfingen sie am Mittag, wie verabredet, das Schwert in
einer Feigenkiste, von einem ortsansässigen Händler einem Türhüter
überreicht. Eine Stunde drauf meldete der Türhüter, es stünde ein ziemlich
zerlumpter Mann draußen in Soldatentracht, der behaupte, seine Visitenkarte
vor einer Stunde abgegeben zu haben. Die Generäle, nachdem sie Auftrag
erteilt hatten, den Mann auf Waffen zu durchsuchen, ließen ihn herein.

Wang-lun, ein Riese, erschien in seinen dünnen Kleidern, seinen leer
herabhängenden Händen noch höher in dem Zimmer, in dem die Generäle wie
Richter hinter einem Tische saßen, ohne ihrem Gaste entgegenzukommen. Sein
hartgeschnittenes ernstes Gesicht leuchtete einen Augenblick auf; er lehnte
am Türpfosten, zog die Türe zu, sagte in einem schlauen Tone: »Dies ist
Wang-lun aus Hun-kang-tsun; und Ihr seid die Generäle des Himmelssohns;
eins, zwei, drei, vier. Ich begrüße die alten Herren. Es ist sehr weise
gedacht, daß sie Wang-lun nicht entgegenkamen; denn schließlich sind die
alten Herren Gäste in diesem Land, und Wang-lun bedauert, den alten Herren
nicht schon bei ihrem Eintritt in sein Land begegnet zu sein und Ehrfurcht
gebracht zu haben.«

»Setz dich neben uns, Wang, laß die Türe frei; wir sind ohne Lauscher.«

»O, ich fürchte mich nicht, denn die Männer, die lauschen, sind meine
Brüder.«

»Du hast uns Feigenkisten geschickt und Briefe hineingelegt. Wir haben dir
Briefe geschrieben. Du hast dich durch dein Schwert legitimiert. Was willst
du?«

»Ich irre mich doch nicht, Generäle, wenn ich zu wissen glaube, was Ihr
wollt. Hier im Distrikt. Ihr wollt nach Yang ziehen, nachdem Ihr gesiegt
habt, und wollt die Gebrochene Melone und meinen früheren Bruder Ma-noh
ausrotten und vom Boden vertilgen.«

»Dies wird noch vor dem Vollmond geschehen sein.«

»Wang zweifelt nicht an der strategischen Tüchtigkeit der alten Herren und
der Kriegsbereitschaft ihrer Truppen. Er glaubt an das Schicksal, das
Ma-noh herausgefordert hat und das sich an ihm entladen wird. An ihm und
nicht weniger an Euch, ein Jahrzehnt früher, ein Jahrzehnt später. Ihr
werdet also die Gebrochene Melone und Ma-noh ausrotten?«

»Du hast es gehört. Der höfliche Mann, der bedauert, uns nicht bei unserem
Eintritt in seine Heimat begrüßt zu haben, hat noch nicht erklärt, warum er
sein Schwert und Briefe geschickt hat.«

»Ihr werdet also die Gebrochene Melone und Ma-noh ausrotten. Sie sind zwar
besser als ihr und werden euch in höheren Gestalten bei den Wiedergeburten
überleben. Aber das nutzt für den Augenblick nichts. Ihr seid fünftausend
Mann, tragt starke Waffen; sie rühren keinen Bogen, keinen Stock, keinen
Stein an. Ihr habt den Mut, die wehrlosen Brüder und Schwestern
niederzumachen, wo sie ihre Verbrechen hundert- und tausendfach gebüßt
haben. Ihr wißt, wer schuld daran war, daß sie das Kloster beim See
einnahmen; es ist den kundigen Herren nicht unbekannt, wer die Mördertruppe
ausgerüstet hat, die die Gebrochene Melone am Tai-han überfiel. Auch ist
den hohen Feldherren nicht unbekannt geblieben, welcher Präfekt es war, der
die Polizeimannschaften und Gendarmerie hinter der Gebrochenen Melone her
nach dem Kloster zu schickte, um, ja warum? Denn die Brüder und Schwestern
haben keinen überfallen. Sie haben den Hals hingehalten für die feigen
Schwerter. Und so haben sie in den Gebetshallen des Klosters gesessen, das
der Chan-po freiwillig überlassen hat angesichts ihrer Not, und haben sich
schmoren, braten, rösten, sieden lassen von den Polizeimannschaften, welche
der Präfekt zur Aufklärung des Blutbades am Tai-han abgesandt hat. Was soll
nun jetzt geschehen? Sie haben sich von den Rebellen im Distrikt fortreißen
lassen; sie hätten nicht verzweifeln sollen, sie hätten sich morden lassen
sollen, denn die Verzweiflung lockt noch das Schicksal herbei. Sie haben es
büßen müssen. Ich denke, Wang-lun aus Hun-kang-tsun denkt, es ist nun
genug. Es ist genug Schicksal gespielt, weise Herren. Ketzereigesetze
begründen keinen Mord und Totschlag, begründen sie nicht ausreichend. Das
Land ist friedlich, sucht euch Feinde, wo ihr wollt, nicht in meiner
Heimat, meine Herren Gäste.«

»Unser gütiger Wirt hat gewiß eine große Armee hinter sich, daß er so
absprechend über uns Fremde redet. Aber er überschätzt uns noch. Wer sind
die winzigen Tiere, die vor ihm sitzen? Sie haben Befehle vom Ministerium
in der kaiserlichen Stadt, sie haben Aufträge vom Tsong-tu von Tschi-li.
Sie könnten alles billigen, was der gütige Wirt sagt, der uns nicht ehren
will, indem er sich zu uns setzt. Sie haben jeder beschriebene Papiere in
der Tasche, die einen stärkeren Pulsschlag treiben als ihr eigenes
lebendiges Herz.«

»Die Herren sind nicht kriegerisch, Wang-lun ist nicht kriegerisch, nur die
Papiere sind kriegerisch. Aber ich weiß, daß auch die Papiere nur
kriegerisch sprechen gegen Feinde. Wenn also die Gebrochene Melone aufhört,
Feinde eurer Papierstreifen zu sein --.«

»Das werden sie in dem Augenblick sein, wo sie aufhören zu existieren.«

»Oder wo sie sich auflösen und sich vom Volk nicht unterscheiden. Dazu habe
ich meine Boten mit den Feigenkisten an die alten Herren geschickt. Ich
will euch fragen: habt ihr Befehle in euren Gürteln zu siegen oder die
Gebrochene Melone auszurotten?«

»Nach unserem Papier und unserer eigenen Meinung ist das noch immer
dasselbe.«

»Ich will mich nicht zu euch setzen, damit ihr nicht glaubt, ich käme in
Freundschaft zu euch und bäte euch um etwas. Es ist eben nicht dasselbe,
wie euer vorgerückter Scharfsinn erkennen muß. Ich bin nicht befreundet mit
der Gebrochenen Melone; aber ich will den Gehetzten, Irregeleiteten das
Äußerste von euren Metzgersoldaten, euren privilegierten Henkern ersparen.
Sie sollen aufhören zu sein. Sie sollen die höheren und höchsten Dinge
nicht erreichen, nachdem sie sich haben irreleiten lassen. Und euch muß es
damit genug sein.«

»Woher hat Wang-lun die Kraft das zu tun, was er verspricht? Und wenn er
die Kraft hat, warum hat er sie nicht früher angewendet? Dann hätte er
nicht jammern brauchen über das Blutbad, den Klosterbrand, hätte uns die
Anklagen ersparen können.«

»Ich stehe nicht über dem Schicksal. Ich verspreche euch nicht zu viel und
nicht über mein Vermögen: ich kann jetzt, in diesem Augenblick, eingreifen.
Ihr werdet sehen, wie es ablaufen wird. In drei Tagen will ich den Weg
meiner Kraft abgemessen haben. Ich werde dann wieder vor den vier alten
Herren, meinen willkommenen Gästen, an dem Türpfosten hier stehen und
berichten.«

»Solange werden wir jeden Truppenmarsch verzögern, willst du? Man hat uns
berichtet, Wang-lun, daß du große, das Volk sagt überirdische Mächte
besitzst. Wie diese sich betätigen können bei der Niederlegung einer
Festung, soll die geübten Soldaten interessieren. Ich werde dir unsere
Beschlüsse mitteilen. Wir werden an dich keine Zeit verlieren. Das könnte
uns den Kopf kosten, und der ist uns mehr wert als das Westliche Paradies.
Wir werden bis zu einem bestimmten Punkt, den du in zwei Tagen erkennen
wirst, die verfügbaren Truppen rings um Yang-chou-fu ziehen, wir werden
aber nicht vor Ablauf des dritten Tages zum Sturm übergehen. So haben wir
dir und uns nichts vergeben. Stehst du am vierten Tage an diesem Türpfosten
da und berichtest uns, was wir dann schon wissen, so werden wir etwas
gelernt haben.«

»Wang-lun hat von den alten Herren nicht mehr verlangt. Er wünscht, daß man
ihm am äußeren Tor sein Schwert in einer Feigenkiste zurückgibt.«

Die Generäle standen auf. Wang machte mit seinen langen Armen eine
ablehnende Bewegung und sprang die Treppe hinunter.

                   *       *       *       *       *

Das Tor der mongolischen Stadt von Yang stand den Tag über sechs
Doppelstunden offen. Das Haus des Ma-noh lag in einem Winkel des riesigen
grasbewachsenen Marktes. Am Abend des zehnten Tages ihres Aufenthaltes in
Yang, einem regnerischen Spätherbsttage, bückte sich der wachetuende Bruder
unter den Türrahmen, rief in das reglose Haus hinein, ein Mann wolle Ma-noh
sprechen.

Wang-lun warf im halbdunklen Zimmer Strohhut und Strohmantel auf die Erde,
halste sich das Schwert ab, begrüßte mit Verneigung und Händeschwingen
Ma-noh, der auf einem Schemel saß und ihm gleichmütig zunickte.

»Ich komme zu dir, Ma-noh. Wir haben uns seit dem Frühling nicht gesehen.«

»Frühling?«

»Dieses Jahr Frühling.«

»Am Sumpf von Ta-lu. Diesmal hast du keine Leuchtkäferchen gebraucht, um zu
mir zu kommen. Du konntest dich auf deine Nase verlassen, diesmal. Auch die
Toten, die in der Hoffnung auf das Paradies gestorben sind, stinken.«

»Als ich das letztemal bei dir Gast war, litt ich an meinem Knie. Das ist
geheilt. Wie geht es meinem Wirt?«

»Genau so wie es jemand geht, der auf einem Spazierweg, einem nicht ganz
harmlosen Spazierweg ein Knöchelchen nach dem andern, ein rundes Maß Blut
nach dem andern, einen Fetzen Haut nach dem andern verliert. Wahrscheinlich
wird mich mein Gast jetzt fragen, wie ich mich dabei fühle. Angenehm,
behaglich: das ist ja nicht anders zu erwarten, wenn man mit so wenig
Gepäck reist. Und es einem ordentlich leicht beim Gehen wird.«

»Ihr wart sehr viele, als ihr von Schön-ting nach Süden zogt.«

»Dann bin ich nach Norden gezogen. Wir sind mehr und mehr geworden. Ich bin
König eines Reiches geworden, dessen Güte nur durch eines übertroffen
werden konnte, nämlich durch seine Schwäche. Dann bin ich hierhergezogen.
Du hast noch nicht alle Toten mit der Nase gezählt von den Brüdern und
Schwestern. Wir haben je zweihundert in fünf Gräbern eingeschaufelt. Jetzt
sind wir wenig. Und jetzt sitzt Wang-lun neben mir, um den Strich unter
seine Rechnung zu ziehen.«

»Ich rechne nicht, Ma. Du mußt mich nicht verantwortlich machen für das
Schicksal.«

»Und du mich nicht.«

»Das mag sich Ma-noh selbst beantworten. Wer einen Baum fällen will, kann
dabei erschlagen werden. Ich will vor meinem Lehrer nicht weiter davon
reden; ich will von mir erzählen, wenn er es mir erlaubt. Was ich dir sagen
will, ist vor mir selbst schon dunkel und entbehrt in mir jedes Gefühls. Du
kennst es auch schon. Ich habe auf meiner Wanderschaft von Hun-kang-tsun
nach dem westlichen Schan-tung hungern und dürsten müssen, viele Schande
ertragen. In Tsi-nan-fu, der großen Stadt, habe ich als Gehilfe des Bonzen
Toh betrogen, gestohlen, geschändet. Durch Tschi-li bin ich herumgestoßen
worden, auf dem Nan-kupaß hast du mich gesehen, es ging mir nicht gut. Ich
habe mich gebeugt, ihr habt mir geschworen: wir wollen dem Schicksal nicht
widerstreben; es soll genug damit sein. Zu diesem Ziel war ich für mich
gelangt. Viele hatten schon Gleiches erduldet und Gleiches gedacht; ich
habe sie zum Entschluß gebracht. Jetzt bin ich zu Ende mit meiner
Erzählung. Du hast mit deinem unwissenden Herzen geschworen. Jetzt wo
Ma-noh die Hand vor den Augen hält, sieht er nicht mehr so aus, als ob sein
Herz nicht schon beinah alles wüßte. Was, Ma-noh, sag mir, wenn du mich
einmal lieb hattest, -- was soll jetzt geschehen?«

Ma-noh nahm die Hand von den Augen und sah Wang, der ihm näher rückte,
lange an.

»Es besteht ein gewisser Unterschied zwischen meinem lieben Freund Wang,
als er auf dem Nan-kupaß zu einem Entschlusse kam, und mir.«

»Welcher? Es gibt keinen Unterschied da. Nur den, den ich mir damals
sehnlich und mit ganzer Seele gewünscht hatte: daß jemand wie ein
Doppelgänger von mir, neben mir stünde und mir alles erleichterte. Ich
greife jetzt nach dir. Ich verstehe dich. Ich bin ein weiter Beutel, in den
du werfen kannst, was du willst.«

»Ich bedarf keines weiten Beutels.«

»Du bist mein Bruder, Ma-noh. Du, nur du bist mein Bruder geworden. Wenn
ich an Su-koh zurückdenke: was ist mir Su-koh gegen das, was ich gegen dich
empfinde. Du peitschst mich, du drosselst mich, wenn du dich von mir
abwendest. Wo gab es, Bruder Ma-noh, zwei Menschen, die so Ähnliches
erlitten haben wie du und ich? Wenn du meiner nicht bedarfst, so bedarf ich
deiner, der dich liebt. Du sollst nicht so still vor dich hinbrüten, -- o
das hab ich auch getan --, du sollst nicht so mit deinen Fingern zucken. Du
sollst dich zu mir kehren, Bruder Ma-noh, und mich ansehen. Ich bin der
einzige Mensch, der deinen Blick ertragen kann. Ich bin dein Gast, ich will
zu dir! Wie soll ich glaubhaft zu dir sprechen? Wie kann ich bewirken, daß
du mir vertraust?«

Wang hatte sich auf einen Schemel neben Ma-noh gesetzt, den Arm um Mas
Schulter geschlungen. Auch Ma legte seinen Arm über Wangs Schulter und saß
unbeweglich. Dann sagte er mit langsamer, unterdrückter Stimme:

»Ich hätte nie gedacht, Bruder, lieber Bruder Wang, daß du mir so wohltun
könntest. Laß mich nur einen Augenblick denken. -- Ich sagte von dem
Unterschied, ja von dem Unterschied. Den muß ich dir erklären. Wenn es dir
damals so schlecht ging, so geht es mir offenbar noch schlechter, und du
bist doch glücklicher gewesen. Du hattest eine Wahl, du kamst zu einem
Entschluß. Ich bin schon jenseits dieses Punktes. Ich habe keine
Entschlußmöglichkeit mehr. Mit mir ist schon alles geschehen. Es ist in und
um diese Stadt herum schon alles abgelaufen. Es fehlt nur noch eine äußere
Bewegung, eine Gebärde, ein Siegel. Etwas Belangloses ist das einzige, was
hier noch geschehen kann.«

»Wang-lun hat seinem Bruder noch nicht gesagt, warum er ihn in der
Mongolenstadt aufgesucht hat.«

»Du bietest uns Hilfe an.«

»Vielleicht Hilfe, Ma. Ich habe mit den Heerführern verhandelt, die gegen
Yang-chou heranziehen und euch schon umzingeln. Man wird für drei Tage
nichts Unmittelbares gegen euch unternehmen. Für diese drei Tage habe ich
freie Hand, mit dir und euch zu verhandeln.«

»Ich bin der undankbaren Aufgabe dankbar, weil sie meinen Bruder Wang zu
mir führte.«

»Ich will nicht dulden, daß die Henkersknechte und Blutsoldaten über euch
herfallen und ihre viehische Grausamkeit an euch befriedigen. Ihr wart
meine Brüder und Schwestern, du bist es mir von Herzen wieder geworden. Ihr
sollt nicht in diese Hände fallen. Ihr werdet euch zerstreuen, dies hab ich
dir zu sagen und zu raten. Du wirst nicht darum in Zorn verfallen. Du
sollst hingehen und die Glocke anschlagen lassen und sagen: das furchtbare
Schicksal hat uns so angegriffen, daß wir uns nur noch wie die Grillen in
Töpfen regen können. Es hat niemand zu urteilen, ob wir recht gegangen
sind. Wir sind recht gegangen. Jetzt müssen wir uns trennen und wandern, um
nicht wie die Kälber abgestochen zu werden. Du läßt sie alle; sie werden
aufatmen, wenn du es ihnen sagst und keiner sie hindern wird am Gehen. Und
wohin du selbst gehörst, Bruder Ma-noh, das weißt du doch jetzt.«

Ma-noh lächelte friedlich.

»Willst du nicht die Glocke selbst anschlagen und zu den Brüdern und
Schwestern reden?«

»Sie sind deine Anhänger.«

»Nicht mehr. Geh doch einmal auf den Markt, ruf sie zusammen, rede, es wird
dich belehren. Sie wollen keine Stimme wie ich selbst. Sie sind rund und
nett -- verloren. Wie ich selbst.«

»Du bist versunken, Ma. Ihr seht alle kraftlos und hinfällig aus. Ich bitte
dich, ich flehe dich an, Ma-noh, lieber Bruder, ich lege mich vor dir auf
die Stirn: geh mit mir auf den Markt, schlage die Glocke an, rede und zeige
auf mich. Ich habe euch alle lieb; was du mir bist, habe ich dir vielleicht
mit zu schwachen Worten geschildert. Ich habe die langen Monate dieses
entsetzlichen Jahres um dich gelitten und nach dir verlangt, wie kein
Verliebter nach seinem Knaben. Du kannst dies nicht über mich verhängen,
daß du mich hier wegschickst und alles kommt, wie du weißt: die viehischen
Horden schlachten die guten hoffenden Brüder und Schwestern, -- sind sie
denn vorbereitet, Ma, sind sie vorbereitet? Du selbst wirst mir geraubt,
der mein Juwel in der Seele war. Mich schickst du hoffnungslos im Lande
herum, und habe nicht genug Hände, um für euch alle zu opfern. Steh nicht
so schlaff da, tu mit mir, komm mir doch einmal zu Hilfe.«

»Wie du in mich drängst, Wang. Wie du mich ehrst. Als ich König meiner
schönen, schönen, schönen Insel war, habe ich nichts empfangen, was mich so
ehrte. Daß ich dich gewonnen habe, tut mir sehr wohl. Aber ich vermag
nichts, Wang.«

»Warum vermag mein Bruder nichts?«

»Die tausend erschlagenen Brüder und Schwestern erlauben es nicht. Das
wissen wir alle. Wir hätten keine ruhige Stunde vor den betrogenen
Geistern. Wenn sie nicht vorbereitet waren, -- wir sind es. Wir machen
alles wieder gut. Wir locken sie, nehmen sie mit von den Wegen. Und wir
können nicht mehr anders enden. Ich will nicht anders enden. Wir sind zu
einem Ring zusammengeschmiedet, lieber Bruder Wang.«

Wang warf sich fassungslos schwer auf den Boden.

»Was soll ich von dir bestellen im Westlichen Paradiese, Wang? Daß du uns
geliebt hast, daß du uns den Weg gezeigt hast.«

»Du sollst nichts von mir bestellen. Du sollst hier bleiben, ihr sollt alle
hier bleiben.«

»Wir fürchten uns vor den Horden nicht.«

»Die Soldaten --!«

Wang krümmte sich hoch, in seinen starren Augen blitzten Pünktchen. Er
stand und sah heftig atmend auf den Boden. Dann stieß er heiser hervor:
»Ich will gehen -- du hast vielleicht recht. -- Habe ich mein Schwert? Wo
habe ich, lieber Bruder, meinen Gelben Springer hingeworfen?«

Ma hob ihn auf, hing das Schwert Wang um den Hals.

»Dies, Bruder Wang, werde ich nicht bestellen, daß du hinter einem Gelben
Springer herrennst.«

Sie umschlangen sich. Ma lächelte immer.

»Und wie lange wird es dauern, bis ich meinen lieben Bruder Wang aus
Hun-kang-tsun im Westlichen Paradiese sehe?«

                   *       *       *       *       *

Als Wang allein auf dem finsteren Markte stand und er sich umblickte, war
ihm klar: die Soldaten der Generäle des Tsong-tous von Tschi-li werden die
Mauern der Mongolenstadt nicht berennen.

Er tastete sich durch Straßen, bis er die äußere Stadtmauer erreicht hatte;
in den kleinen offenen Hof eines völlig eingesunkenen Häuschens schlich er,
warf sich in einem Schuppen zum Schlaf hin. Ganz früh, nach einer
furchtbaren Nacht, verließ er die Stadt.

Unter den zusammengeschmolzenen Bewohnern des einstmaligen Königtums, die
sich in dem Mongolenviertel von Yang-chou-fu drängten, befanden sich
dreihundert Bauern und Städter. Die Mauern und Wachtürme der Stadt waren in
einem trostlosen Zustand, aber die Leute machten sich in Eile daran, unter
Gewinnung sippenverwandter Arbeitskameraden aus der unteren Stadt, Lücken
des Bauwerks auszufüllen, den völlig ausgetrockneten Graben vor der Mauer
zu vertiefen und mit Wasser zu füllen, Bogen, Pfeile, Holzschilde zu
besorgen und auf den Wachtürmen aufzuhäufen. Hinter die eisenversteiften
Torflügel schichteten sie seitlich riesige Mengen von Steinblöcken auf, die
sie aus dem ein Li von Yang gelegenen Dorf heranschafften, um im Sturmfall
das Tor undurchgängig zu machen.

Unter diesen fleißigen, gar nicht abenteuerlichen Männern und Burschen
herrschte kaum übertrieben große Kampfbegier; sie hatten ja im Grunde
keinen Anlaß, sich mit den Bündlern in der Stadt einschließen zu lassen,
aber sie liefen mit ihnen in einer gewissen frommen Besorgtheit um sich
selbst. Daß sich Provinzialtruppen an Bündlern vergriffen, schien ihnen
ungeheuerlich; ein furchtbares Strafgericht konnte nicht ausbleiben. Es
konnte nach ihrer Auffassung nur eine Sache der Zeit sein, bis die aufs
Äußerste gequälten Brüder und Schwestern ihre unheimlichen unterirdischen
Kräfte losbinden würden. Inzwischen mußte man es nicht verderben mit ihnen,
sich seinen Teil an ihrer Macht sichern. Hinzu kam das Gefühl der
Wichtigkeit ihrer Rolle, das sie anspornte. Sie besprachen offen die
Möglichkeit, unter Umständen das alte oder ein neues Königreich wieder zu
gewinnen. Es käme nur darauf an, den Himmelssohn von der Niedertracht des
Tsong-tus zu überzeugen oder weite Kreise des Volkes aufzulockern. Denn
wenn etwa der Himmelssohn das Vorgehen des Tsong-tus billige, sei vor aller
Welt die vielbehauptete Volksfeindlichkeit der Reinen Dynastie bewiesen.

Während diese Männer, die ehemaligen Salzsieder, Kärrner, Träger, mauerten
und schaufelten und die untere Stadt durch ihr entschlossenes Auftreten auf
ihre Seite zogen, erholten sich die Brüder und Schwestern von ihrem
Schrecken. Ihre Wunden schlossen sich, die Starre ihrer Verzweiflung
schmolz. Sie besannen sich nach den grauenvollen Hieben, die sie empfangen
hatten, versuchten sich aufzurichten. Sie waren, da sie nicht ausschwärmen
konnten, zu völliger Untätigkeit gezwungen. Saßen auf den Straßen, den
Plätzen, in einem großen schönen Tempel der Pockengöttin, an den
Mauerarbeiten, warteten. Vormittags und abends versammelten sie sich auf
dem Markte.

Ma-noh stand in einem lehmfarbenen Kittel vor ihnen. Der kleine reglose
gebückte Mann mit der fliehenden Stirn. Sie beteten. Eine abgöttische
Verehrung warf die Menge wie ein bindendes Seil um Ma-noh. Er schien ihnen
kraftgeladen, ein Bürge dessen, was kommen mußte. Wang-luns Name klang hier
verschollen; man wußte nicht, ob er lebte.

Die schöne Liang-li hatte die Flucht überlebt. Sie bat Ma-noh schon lange
innerlich viel ab. Sie suchte mit Gewalt ihre Gedanken von allem
Menschlichen abzuspannen, sich unmittelbar an die heiligen Dinge zu
pressen. Es huschte immer etwas dazwischen, es klaffte in ihr etwas auf:
eine Leere, eine Beklemmung in der Magengrube, ein schluckendes Gähnen und
Würgen nach abwärts. Sie dachte an die heiligen Dinge nur durch das Medium
eines Menschen. Sie kam nur auf diesen Rädern zu ihnen. Sie schüttelte
sich, lief vor sich davon, ringelte sich um Ma-noh.

Der Vorgänge in ihrer Heimatsstadt erinnerte sie sich nun auf einmal, tief
verblüfft, völlig verständnislos. Sie hätte sich verschworen, daß sie das
nicht war. Ihr Vater, ihr Kind, ihr Mann dämmerten ihr, Erinnerungen, die
auch aus einem Geschichtenbuch stammen könnten, nur mit dem Eigentümlichen
behaftet, daß sich Liang dumpf gepeinigt abwenden mußte, sobald sie blaß
auftauchten. An einem Ziehen in ihren Zähnen, einem rundherum laufenden
öden Gefühl in ihrem Unterkiefer merkte Liang, daß sie auftauchen wollten.

Seit den Tagen am Ta-lusumpfe hatten Brüder und Fremde die Versenkung in
ihr Blut begehrt, und sie hatte sich ihrer heiligen Pflicht nicht entzogen.
Sie besaß keine lüsternen Organe. Seit dem Brand des Klosters aber, wo sie
mit Ma-noh zusammen geritten war, umschlang sie, einer Unruhe ihres Körpers
folgend, öfter einen Bruder und schaffte sich vorübergehende innere
Gelassenheit. In der Mongolenstadt wuchs ihre Heftigkeit ungestüm; sie
erinnerte sich ihrer Krankheit nach der Geburt des Kindes, fand sich nicht
zurecht zwischen einem Drange zu weinen, die Arme zu werfen, unwillkürlich
zu ächzen und herumzuwandern. Sie verlangte öfter in ihre Heimat zurück,
widerrief es. Die Gebetsformel zu sprechen, sich in die vorgeschriebenen
Ekstasen zu versenken, ekelte sie, wie sie ohne Scham tausendmal laut am
Tage und jammernd in der Nacht erklärte. Mit Tränken, Aschen, Beschwörungen
suchte man sie zu heilen. Dann zerrte die Schreiende ein derber Bauer, an
den sie sich in diesen Tagen gehalten hatte, aus einer gesichterquellenden
Nacht zu Ma-noh. Dem mit wenigen Worten und Handstrichen über Mund und
Brust alles gelang. Sie überwand die Krise. Ganz besänftigt, blaß und dünn
nahm sie manches Besondere von Ma-nohs Haltung wie einen körperlichen
Talisman an, seinen abwesenden Blick, die schützende Bewegung der linken
Hand vor die Augen, seine erstickt schnappende Mundöffnung.

Ein Liu, der ältere, lebte noch. Das zweifelsüchtige Dreierlein hatte sich
bei dem hauptstädtischen Feste in einer unhemmbaren Aufwallung jenen
Brüdern beigesellt, die sich von den Mandschugefangenen niedermetzeln
ließen. Den älteren Liu hatte das Unglück zu einem Spaßvogel gemacht. Sein
Zinnoberkrügchen schleppte er noch am Gürtel herum, zeigte es jedem, den er
sah, verspottete sich. Wenn durch die Gäßchen der Mongolenstadt
Gelächterstöße hallten, so stand vor einer Tür Liu mit einer toten Ratte,
einer abgefallenen Filzsohle zwischen zwei Fingern und hielt komische
Leichenreden. Oder er schaukelte sich quer über die Straße an einem
vornüberhängenden lockeren Dachsparren und knüpfte daran seine Gleichnisse.
Es war diesem Mann sicher, daß sie sich in einem neuen Königreich noch
prächtiger als vorher festsetzen würden und daß ihre Geister in einem
einzigen riesigen Schwung nach dem bergigen Paradies gelangen würden. Die
Verfolgungen, die sie erlitten, waren vom Neid diktiert; man konnte dem
Kaiser den Neid nicht verdenken, und die Bündler hatten keinen Grund sich
zu beklagen: wer mit einer hellen Laterne geht, zieht die Räuber herbei.

In dem Winkel des leeren Marktes, in dem kleinen Hause saß Ma-noh.

Er war ganz in sich eingesponnen. Sein Hochmut schmetterte Posaunen, mit
der drohenden Stärke, die den Boden aufwühlt. In ihm entfaltete sich ein
kaiserlich rauschendes Banner. Um dieses Banner wanderte Ma herum. Er ließ
keinen zu sich, um das Banner immer zu hören. Wang-lun hatte geglaubt, Ma
wäre reif geworden für die schwere Schicksalslehre. Aber das Schicksal
griff den Priester nicht an. Er zog selber das Unglück mit greifenden Armen
an sich wie ein Irrsinniger, der nicht Speise und Gift unterscheiden kann.
Er schluckte höhnisch das Unglück, das ihm nichts anhaben konnte. Er
knäulte sich nicht auf. Er war ein Fleischbündel und sonnte sich. Die
Dinge, die an ihm vorüberliefen, hatten keinen Geruch und keinen Ton. Im
Hintergrund warf und wühlte sich etwas: das Westliche Paradies, nach dem er
seine vertrocknete Hand ausstreckte. Er ging seine Schuld unbarmherzig und
glatt einziehen.

Versteinert blieb er. Wie ein kaiserliches Banner rauschte sein Stolz. Er
glaubte, Wang-lun hätte sich zu ihm bekehrt. Das blumige Land der vier Seen
hat nichts erblickt, was der Gebrochenen Melone gleichkam.

Dazwischen heulten die Minuten der entsetzlichen Selbstzerfleischung, wo er
sich entlarvte als den mißratenen Mönch von Pu-to-schan, den heftigen
korrekturbedürftigen Ekstatiker. Er lederte sich die Haut ab, drehte die
weißen Nervenbündel heraus, schnitt ein grausames Resumee seines Lebens:
Stehenbleiben auf einem unsicher schwappenden Fleck, Wühlen um den eigenen
Schädel herum nach Sicherung, -- unter Menschenopfern, Zertrümmern ganzer
Städte. Es war nichts ausgerichtet, er riß sie mit sich zugrunde. Pu-to
stand noch wie eine Festung, die er nicht besiegte, als er an ihr
vorüberjappste. Das Grauen dieser Vorstellung brauste über ihm. In das
Schicksal hatte er eingegriffen. Es war nichts in allem, was geschehen war,
nichts zu suchen als Unrat, Verderbtheit, eitle Spekulation. Die Tausende
draußen: beliebig Verunglückte; tausend Bettler und Verbrecher mehr in dem
riesigen Lande. Und er wie sie: ausgerutscht, in die Grube geplantscht,
Mist geschlürft bis in die Bronchien, -- so dumm, so dumm, kaum zu
bemitleiden, zum Auslachen.

Mit solcher Angst schlug sich Ma-noh schweißgebadete Minuten herum. Dann
schreckten seine Arme und Knie zusammen unter einem Hämmern draußen,
Trappeln des Türhüters, Aufzischen eines Branders von der unteren Stadt. Er
keuchte aus seinem Brüten auf, schleifte sich auf den Markt. Die Schwestern
sangen. Die Frauen blickten ihn ehrfurchtsvoll an; ruhige vertrauende
Augen. Es gab keine kostbaren Schmucksachen mehr, keine hochzeitlichen
Blumen. Die Geigen und Gitarren zertrampelt in einem Morast. Die Mädchen,
die armen, stülpten nicht mehr ihr Inneres um und breiteten sich aus: sie
hatten nichts für sich behalten und die Gefahr war doch nicht abgewendet
worden. Den Hals hatten sie sich bewahrt; der mußte durch. So wollte es das
Schicksal und so war es gut. Sie sind wie das Wasser gewesen, das sich
jedem Gefäß anpaßt. Sogar damit war zu wenig getan, um leben zu können.

Ma-noh schlürfte an den Brüdern vorüber, die aus stumpfem Herumhocken
aufsprangen, ihm ihre lehmigen, ausgemergelten Gesichter zukehrten, ihn
anbetend umringten. Was für Nachtschatten ihn befielen. Pu-to mit seinen
knechtenden Vorstellungen hatte sich in sein Gehirn eingearbeitet, es ließ
nach Jahrzehnten seinen Diener nicht los. Man ging hier strengere Wege,
einen harten Weg ohnegleichen. Die nackte tötende Furchtbarkeit der
Existenz war ihnen aufgezwungen worden; sie hatten sie auf sich genommen,
ohne sich zu verstecken, alles selbst, wie der heilige Siddharta, der
Kronprinz, alles durchversucht. Wenn das Westliche Paradies geöffnet wurde,
so ihm und diesen. Die kaiserliche Fahne wehte über ihren Weg. Sie rannten
auf den Gipfel wie Pfeile.

Er sank auf der breiten Mauer mit den Schultern über sich. Irgendwo
streifte jetzt Wang-lun in dieser Ebene. Der, seiner eigenen Lehre
verloren.

Hier gischte Brandung. Man ließ sich treiben, man schwamm nicht einmal
mehr. Es triumphierte das Wu-wei.

Alles gehäuft über die kleine Mongolenstadt. Banner über Banner!

Die Geisterpulse pochten durch die kleine Stadt.

Den Schlüssel zu den goldenen Toren preßte man in den Händen. Körper saßen
unbeweglich wie Leichname herum. Ein Hauch, sie fielen um. Wer das Tao in
sich hat, will nicht sehen, nicht schmecken, nicht hören. Dreht seinen
Körper heimtückisch zur Seite. Fliegt.

Und in der Tat. In einem finstern, heißen Gebetsrausch lag die
Mongolenstadt. Besessene starre Rümpfe kauerten auf den Gassen, taub,
blind.

                   *       *       *       *       *

Am Tage, nachdem Wang-lun die Mongolenstadt besucht hatte, arbeiteten in
einem großen Dorfe südlich der Stadt die beiden Apothekergehilfen auf dem
langen Hof ihres Hauses. Der ältere, unfern dem Tor, schob Holzkohlen in
einen kleinen eisernen Ofen. Eine breite, tiefgebauchte Porzellanschale
dampfte oben. Der feine weiße Kohlendunst entwich seitlich durch einen
Schnabel; der Medizinofen, rauchend, erschien wie eine vergrößerte
Teekanne. Der Gehilfe drehte langsam auf einem schwächlichen niedrigen
Körper einen schön gewölbten Schädel. Er hatte dicke Hängebacken, zwischen
denen die Nase versank. Die Lippen suchten darunter mit Wülsten
hervorzuquellen. Dieses war ein verschlossener Mann, von dem der Besitzer
viel hielt. Er gehörte zu den Anhängern Wang-luns, die sich nicht zu dem
Wanderleben verstanden. Sein Gesicht war stumpf, aber wenn er phlegmatisch
von seiner Arbeit aufsah, verriet er sich; man sah, daß in ihm eine
Bewegung mit großer Beharrlichkeit erfolgte und nicht ruhte.

Abgewandt von der Richtung des Dampfes ritt an der Hauswand der jüngere
Gehilfe auf einem Schemel, trat das Rad einer Tretmühle; das Rad
zerquetschte in der flachen Holzschüssel trockene Kräuter zu Pulver.

Der ältere Apotheker schlenderte in das Haus, um sich ein feines Haarsieb
zu holen, er wollte aus Hasenleber einen Trank gegen Vollblütigkeit und
Wutzustände herstellen, als das Tor schleuderte, und ein langer Bettler vor
dem Medizinofen stehen blieb.

Der Gehilfe rief, er möchte draußen warten; der Mann trat dicht auf ihn zu,
strich den Strohhut zurück, griff dem Gehilfen schon besänftigend an die
Schulter, als der, Wang erkennend, sich vor ihm verneigen wollte. Sie
flüsterten zwei Worte; mit lauten Segenswünschen dankte der zudringliche
Bettler für den Käsch, den der Gehilfe aus dem Gürtel zog.

Nach einer Stunde wanderte der Gehilfe mit Wang-lun die westlichen wild
bewachsenen Hügel und Täler bei dem Dorfe ab; Wang ließ ihn allein. Der
Apotheker suchte.

Die Landschaft war sumpfig; weite Torfmoore grenzten an. Auf den niedrigen
Hügeln vergilbten Kaoliangstauden und gespreizte Farne; der Weg über die
höheren Hügel war finster, so dicht drängten sich die immergrünen Eichen.
Engmaschiges Strauchwerk hinderte am Gehen. Hier war das Revier der kleinen
bunten Knaben, so genannt nach der üppigen farbenreichen Pilzvegetation.

Zwischen den massiven Stämmen lugte am Boden der Wulstling mit
grünlichweißem Hute; schöner weißer Kragen fiel schlaff am Hals herunter;
um nicht den quellend feuchten Boden zu berühren, trug der Fuß eine zarte
Kappe, einen Schuh dünn wie Haut. Der kleine Apotheker, die breite blaue
Sammeltasche vor der Brust, schurrte einen Abhang herunter, wo es rot
blitzte und die purpurne Würde des Fliegenpilzes prunkte. Mit kleinen
Warzen waren viele Hüte besetzt, weißen Tüpfelchen, aus denen Zähes,
Glasiges heraustrat. Viele von ihnen brach der Sucher ab, warf sie in seine
Trommel. Nicht weit im Kraut blühten die Reitzker; mit breiten ziegelroten
Mulden bedeckten sie ihre Köpfe; von ihren Hüten wehte der braunweiße
Schleier, der aussah, als wäre er vom Winde zerfasert. Als er die Stämmchen
umbrach, quoll schleimiger Milchsaft hervor, der an seinen Fingern klebte.
Er stopfte seine eiförmige Tasche voll, bis der Preßsaft vorn
durchsickerte.

Kam am Nachmittag in die Apotheke, wo er sich in seine Kammer zurückzog.
Dann schleppte er mit dem Kameraden den kleinen Ofen über die Treppe in die
Kammer herauf und begann zu arbeiten bei geschlossener Tür, wenig
geöffnetem Fenster.

Er warf in das siedende Wasser der Schale eine Handvoll Pilze, die er in
kurze Stücke zerschnitten hatte; nach einer kleinen Zeit, die er genau an
einer Sanduhr ablas, faßte er die Schale mit Holzgriffen, goß die zähe
bräunliche Brühe mit den Pilzstückchen durch ein enges Sieb in einen
Holzeimer. Die zurückgehaltenen Stücke warf er in einen zweiten Eimer.
Wieder brachte er Wasser in der Schale zum Sieden, zog Pilzsaft aus,
siebte. Als er alle mitgebrachten Pilze verarbeitet hatte, begann er die
zurückbehaltenen Stücke im Eimer mit einem Holzmörser zu zerquetschen und
zermantschen; spülte sie in die Schale, verkochte sie lange und filtrierte
wieder. Den Rückstand des Siebes stopfte er noch in ein dünnes Beutelchen,
das er in den großen Holzeimer mit dem Absud auspreßte. Dann klatschte er
den fasrigen Matsch im Beutelchen in einen Abfalleimer.

Nun begann die langwierige Arbeit an dem Absud. Auf Ofen wie Herd in der
Ecke der Kammer, wo ein Kessel von einer Eisenstange herabhing, wurde die
bräunliche Flüssigkeit langsam eingedampft. Er schürte, den Atem oft
einhaltend, ein kleines Feuer im Ofen und unter der Herdplatte; dann
trappte er, nachdem er das Fenster weit aufgestoßen hatte, herunter in die
Apotheke an seine Arbeit, zum Mischen der offizinellen Pillen. Von Zeit zu
Zeit stieg er breitbeinig zurück, goß neue Flüssigkeit aus dem Eimer zu in
Schale und Kessel. Hantierte in der Apotheke unten und in seiner Kammer die
Nacht durch bis zum Morgen. Als der Absud stark wie Sirup eingeengt war,
entleerte er den Inhalt des Kessels in die Schale. Erst frühmorgens, als er
zuletzt die dampferfüllte überhitzte Kammer betrat, war der Inhalt der
Schale gediehen; der Saft war klebrig, tiefbraun geworden, zog Fäden beim
Eintauchen der Rührkelle.

Lange musterte und roch der Gehilfe daran herum; dann holte er aus der
Apotheke eine Tüte schwarzer gepulverter Holzkohlen und eine weißliche Erde
herauf, schüttete sie rührend hinein, schichtete heißes Wasser über und
füllte die schwarze Flüssigkeit in einen hohen Glaskrug. Nach kaum einer
Stunde hatte sich in dem Krug eine weißliche und eine schwarze Schicht an
den Boden gesetzt, darüber stand leicht braunes durchsichtiges Wasser, das
der Gehilfe mit Vorsicht über eine schmale Holzrinne in zwei
Kürbisflaschen, hohe dickbäuchige Gefäße, überfüllte. Ihren Inhalt
verteilte er nach einigem Nachdenken in sechs kleine Tonkrüge, die er fest
verschloß, sich an Stricken um die Schulter hängte. Noch in der
Morgendämmerung knarrte das Hoftor. Der Gehilfe verließ mit den Krügen Haus
und Dorf.

Während der Apotheker im Revier der kleinen bunten Knaben still
botanisierte, ratterte es ununterbrochen durch das nördliche und westliche
Tor der unteren Stadt von Yang-chou. Schubkarren zogen in langer Folge ein,
Handelsleute mit Weib und Kind zu Fuß, breite gedeckte Reisewagen, ein
Segelkarren, der eine weite Reise hinter sich hatte. Tuten, Gongschläge:
das Tor wurde eine kurze Zeit gesperrt; langsam trug man die grüne Sänfte
eines Mandarins mit großem Gefolge heraus; der hohe Beamte ließ sich in der
schönen Herbstluft spazieren fahren. Die Torwächter schlugen mit kurzen
dicken Knütteln auf große halbnackte Jungen, die hinter dem Gefolge betteln
liefen.

Noch vor der Mittagszeit trabte eine Schar Händler herein, katzebuckelnd
vor dem stämmigen Torwächter, der eine sichelartig gebogene Hellebarde
trug. In der Stadt trennten sie sich nach ein paar Straßen.

Der eine trug ein Galgengestell, an dem Zopfschnüre baumelten; um die Brust
hielt er eine blaue Leinewand gewunden, auf der in schwarzen Charakteren
die Vorzüge seiner bewährten Zopfschnüre gerühmt wurden.

Ein paar verkauften unter dem Lärmen von Holzklappern Betelnußkuchen, die
sie in Kästchen vor dem Bauche trugen und tafelweise abschlugen.

Andere schleppten Narzissen in Eimern mit sich.

In einer vielbesuchten Bouillonschenke neben einem großen Verleihinstitut
für Sänften, Hochzeitsgegenstände trafen sie nacheinander ein und saßen
zusammen. Ein großer, etwas gebückter Mann, dessen Schädel schlecht rasiert
war, setzte sich zu ihnen; er stellte seinen glockenrunden Holzkasten, der
mit schwarzen Strähnen bemalt war, vor sich unter den Tisch; er handelte
mit Menschenhaar. Dieses war Wang-lun.

Sie ließen sich aus der riesigen Porzellankanne das Ca-tang-pang, eine
heiße Brühe, in die flachen Schalen gießen. Als man ihnen warme Mehlkuchen
servierte, stand Wang und der Schnurhändler auf. Sie mischten sich unter
die Gäste, die sich an dem Eingang zur Küche drängten, unterhielten sich
höflich; sie orientierten sich über die Absatzmöglichkeit ihrer Artikel in
der Stadt, fragten nach den andern Betrieben, Gilden. Wang erinnerte sich
eines alten Freundes, der in dieser Stadt einmal als Wasserträger schönes
Geld verdient hätte und sich später in Pe-king als Bootsverleiher
niederließ; er fragte gelegentlich nach den Quartieren der Wasserträger und
wo man einen von ihnen sprechen könne. Nachdem Wang und der Schnurverkäufer
festgestellt hatten, daß die Wasserträger sich in einer Bouillonschenke
zwei Häuser entfernt träfen, verabschiedeten sie sich von ihrem Tisch und
gingen herüber.

In dieser Schenke ging es still zu, denn um die Mittagszeit waren die
Wasserträger am stärksten beschäftigt. Wang und sein Kamerad setzten sich
in die Mitte des Lokals, schmausten Fleischpastetchen und tranken dünnen
Tee. Der höfliche Wirt stellte sich neben sie, erkundigte sich nach ihrem
Befinden, dankte für die Ehre des Besuches.

Währenddessen stampfte schon einer der Stammgäste über die Holzdielen, drei
andere hinter ihm her. Sie klatschten beim Eintritt in ihre Hände, schlugen
sie über die Schultern zusammen; vom Halten der Pferdeleine wurden ihnen
die Finger klamm. Der Wirt wollte die Gäste placieren, aber Wang stand als
Fremder auf, stellte sich und seinen Kameraden vor, lud die Wasserträger
ein, an seinem Tisch Platz zu nehmen; erzählte von seinem Freund, den
keiner von ihnen kannte; nur einer erinnerte sich dunkel, von einem
Arbeitsgenossen gehört zu haben, der später in Pe-king oder bei Pe-king
Bootsverleiher wurde; aber das müsse schon lange her sein. Im Laufe der
Unterhaltung erkundigten sich die beiden Fremden, die ersichtlich viel
herumgekommen waren, nach der Regelung des Wasserverkaufs unter ihnen, ob
die Verdienste nicht sehr variierten nach der Verkaufsgegend. Sie erfuhren,
daß dies natürlich so sei; in einzelnen Stadtteilen respektive
Straßenbezirken hätte man seine Plage durchzukommen; die zehn zum Beispiel,
die jetzt die obere Stadt versorgten, wo es doch keine Brunnen gäbe,
könnten sich vor Arbeit nicht halten auf den Beinen, ihre Pferde seien bald
schlapp, und der Verdienst? Man wechsele alle zwei Tage ab unter den
Wasserträgern, weil die Leute oben so unglaublich arm seien; verdursten
könne man sie nicht lassen, obwohl eigentlich der Magistrat schon gemunkelt
hätte, es könne den Wasserträgern später schlecht ergehen für ihre
Wohltätigkeit.

Zu seinem Vergnügen erfuhr Wang, daß zwei seiner Tischgenossen zu den
Arbeitskolonnen gehörten, die heute und morgen den Wasserdienst in der
Mongolenstadt versahen. Er hängte sich mit dem Schnurhändler an sie, als
sie neben ihren Gespannen zu dem ummauerten Brunnen zogen, aus dem sie das
Wasser in riesigen Eimern schöpften. Die acht übrigen Wagen quietschten
schon gefüllt die Straße herunter. Wang erfuhr Namen und Wohnungen der
übrigen Wasserträger, erklärte, während er seinen neuen Bekannten beim
Schöpfen zusah, daß er ihren Beruf doch schön und ruhig fände gegen seinen
jämmerlichen, bei dem er sich herumzuschlagen habe mit jedem Barbier, mit
protzigen Blumendamen, die keinen Käsch später, wenn sie zahlen sollten,
hätten und alles vernaschten. Ihm käme sein Freund, der Bootsverleiher in
Pe-king, nicht aus dem Sinn. Er wolle einmal mit seinem Freund sehen, ob
sie sich für den Beruf eigneten; er wolle es einmal versuchen, einen Tag
über; vielleicht sei die Sache nicht so einfach, wie er sie sich denke.

Die beiden Wasserträger lachten laut über den Vorschlag; und wer ihnen denn
den Verdienst bezahlen sollte, der ihnen für diesen Unterrichtstag
entginge?

Das sei, sagte Wang, natürlich seine Sache; er wolle ihnen doch für ihre
Unterweisung und ihr Entgegenkommen keinen Schaden zufügen;
selbstverständlich, wenn sie darauf eingingen, was ja ein außerordentliches
Entgegenkommen gegen einen armen Mann sei, würde er ihnen die
Durchschnittstagessumme bezahlen, wobei sie freilich bedenken müßten, daß
er selbst arm sei und nicht viel überflüssig habe. Aber schließlich sei
doch ihr Verdienst sicherer als sein trauriger.

Nach langem Hin- und Herreden einigte sich Wang mit ihnen; man hielt es für
das Einfachste, daß er sich mit den andern acht Wasserträgern in Verbindung
setzte, die den fast unbezahlten Dienst in der Mongolenstadt heute und
morgen täten. Sie würden Wang und seine Landsleute über die Arbeit,
Bedienung, Fütterung der Tiere, Ställe unterrichten; er hätte vorher eine
Summe zu erlegen, die dem gemeinsamen Durchschnittsverdienst in der unteren
Stadt, wohlgemerkt in der unteren Stadt, entspräche und müsse den morgigen
Wasserdienst in der Mongolenstadt ganz auf sich nehmen. Er mache sich für
jede Beschädigung der Wagen, des Zaumzeugs, der Tiere haftbar. Das alles
natürlich nur, wenn die andern acht damit einverstanden wären.

Wang wand sich über die Höhe des Preises hin und her, konnte sich mit ihnen
über den eventuellen Schadenersatz nicht verständigen, weil sie ihm
vielleicht brüchige Wagen stellen würden, die er dann bezahlen müßte.

Die schon abfahrenden Leute blieben unerbittlich. Da sagten die beiden zu.
Als die Wasserkarren um die Ecke fuhren, hörte Wang die Träger laut
losplatzen über diese Bauern und Dummköpfe.

Die Verständigung mit den andern acht verlief glatt; nur glaubte jeder von
ihnen sich verpflichtet, noch besondere Schwierigkeiten zu machen, damit
die Bauern den Betrug nicht merkten. Ein einziger älterer Mann lehnte den
ganzen Handel ab. Er erklärte, seine Arbeit ruhig weitermachen zu wollen,
das brauche er zum Leben; und mit den armen Leuten oben habe er sich
angefreundet, so daß er sich freue, wenn er zu ihnen käme ohne bei der
Polizei Verdacht zu erregen. Nichtsdestoweniger bezahlte Wang die ganze
verabredete Summe an die sieben Wasserträger, die mit ihm abends in der
Bouillonschenke zusammenkamen. Er erklärte in einer gewissen
enthusiastischen Weise, daß er schon jetzt eine gewisse Freude am
Wassertragen habe; es ließe sich da noch auf verschiedene Weise Geld
machen, wenn zum Beispiel die Gilde selbständig Brunnenbauten übernähme
oder Privatbrunnen pachte. Er gefiel den trägen Burschen nicht schlecht.

Er verließ noch vor Torschluß allein die Stadt; seinen runden Kasten mit
Menschenhaaren ließ er in der Schenke. Es war eine Vollmondnacht. Breit
dehnte sich die Ebene vor den Mauern; kleine Bodenerhebungen warfen auf die
völlig unbewachsene weiße Fläche tiefschwarze Schlagschatten. Hinten zog
sich eine Kiefernpflanzung, die das Mondlicht nur an den Wipfeln berührte.

Die Bauern, die die Mongolenstadt bewachten, bemerkten dort drüben um die
Zeit, als die Nachtwächter die zweite Wache trommelten, ein eigenartiges
Blitzen; es bewegte sich am Rand des Kiefernwaldes entlang. Dann trat ein
Mann in den hellen Mondschein; drei der Wächter erkannten in dem Mann mit
dem großen Hut und dem herunterhängenden blitzenden Schwerte Wang-lun.

Sie riefen einander an, zeigten auf ihn, der sehr deutlich in dem
blendenden Licht zu erkennen war, waren wach und überglücklich. Er war da;
er hatte sie erreicht. Auf ihn konnte man sich verlassen. Die Weiße
Wasserlilie war da. Man lief in einen Wachturm. Es war Wang-lun, der allein
dort saß gegenüber der Mongolenstadt; nach einer langen Zeit glitzerte
wieder sein Schwert; er tauchte in das schwarze Dunkel des Waldes zurück,
rasch, wie verschluckt.

Als Wang, der keinen Schlaf fand, ein paarmal durch den totenstillen Wald
geirrt war und, von Unruhe getrieben, sich der Ebene zuwandte, sah er durch
die schlanken Stämme am Randweg einen Reiter traben, dem zwei andere
folgten. Er lief ihnen in dem Dunkel voraus, erkannte an der Kleidung einen
hohen Offizier der Provinzialarmee und zwei Diener. Sie ritten langsam an
der Mongolenstadt vorbei. Als sie dem Weg folgend eine Strecke zwischen die
Stämme einbiegen mußten, trat Wang an den hageren großen Offizier heran,
der einen langen Kinn- und Schnurrbart trug und fragte, ob er ihm Auskunft
geben könne über den Weg nach einem Dorfe.

Der Offizier wies mit der Hand südostwärts.

Wang ging ruhig neben dem Braunen einher; der Offizier hielt an; ob der
Fremde noch etwas verlange.

Nach der Erde zu sprechend wünschte Wang, der Offizier möchte einen
Augenblick seine beiden Diener ein paar Schritt abreiten lassen, damit er
etwas fragen könne.

Völlig gelassen wies der Reiter die beiden zurück und bückte sich zu Wang
herunter, um ihn in dem Dunkel gut zu erkennen.

Was also der Offizier hier zu suchen habe; es sei noch für einen vollen Tag
und einige Stunden jede Feindseligkeit zwischen der Mongolenstadt und den
Truppen eingestellt, wie er als Träger des Saphirknopfes wissen könnte.

Der lange Reiter sprang vom Pferd, fixierte den Mann unter dem riesigen
Strohhut, in dem dichten Strohmantel, den er mit einer Hand vorn
geschlossen hielt. Was er denn hier zu suchen hätte; wer ihm das gesagt
hätte von der Einstellung von Feindseligkeiten. Ob er ein Wächter der
Eingeschlossenen sei.

Wang bückte sich wieder zur Erde, sagte »ja« und öffnete seinen Mantel, so
daß sein Schwert sichtbar wurde. Er sei ein Freund des Ma-noh, der die
Eingeschlossenen führe, ein naher Freund.

Der Offizier sah ihm ins Gesicht; er redete sehr leise: »Du bist kein
Freund des Ma-noh. Mas Freunde tragen keine Schwerter.«

»Das waren die früheren Freunde Mas.«

»Seit wann ist der fremde Wächter ein naher Freund Mas?«

»Seit dem Untergang der Insel der Gebrochenen Melone. Auf der Flucht habe
ich mich ihnen angeschlossen.«

»Und die Freunde Mas, viele Freunde Mas tragen jetzt Schwerter?«

»Viele Freunde hat Ma nicht.«

Der Offizier ging langsam mit Wang zurück, gab einem Diener den Zügel
seines Pferdes; sie stellten sich, aus dem Dunkel hervortretend, gegen zwei
Kiefernstämme, standen sich stumm gegenüber. Der gelbe Strohmantel Wangs
schimmerte in dem Lichte; am Gürtel des sehr langsamen, ruhigen Reiters
bewegte sich ein goldener krummer Prunksäbel.

»Wenn du ein Wächter und Freund Ma-nohs bist, so bitte ich dich, mir von
ihm zu erzählen, wie es drüben in der Mongolenstadt geht, was Ma tut und
spricht, wer seine Vertrauten sind.«

»Der mit dem Leoparden Geschmückte ist kein Feind der Gebrochenen Melone?«

»Ich heiße Hai, bin Oberst eines Kavallerieregiments. Vor ein paar Monaten
trug ich nicht das Brustschild mit dem Leoparden. Ich ging ähnlich wie du,
war ein Bruder unter ihnen drüben. Sie nannten mich wegen meiner Sprache
die Gelbe Glocke. Du hast vielleicht den Namen gehört.«

»Ich habe deinen Namen nicht mehr gehört. Es sind die meisten tot, die dich
gekannt haben. Auch haben uns viele verlassen wie du.«

Die Gelbe Glocke lächelte traurig, drehte den großen Kopf nach den Mauern,
auf denen man die schwarzen Punkte der Wächter sich bewegen sah.

»Mich hat keine Gefahr erschreckt, als ich fortging; aber ich will nicht
darüber zu dir sprechen, der du noch Bruder des heiligen Bundes bist und in
so schlimmer Zeit Bruder bist. Ich möchte von dir hören, wie es Ma-noh
geht, wie die Geister in der Stadt gerichtet sind.«

»Sprich nur. Du verwirrst mich nicht. Wir sind ruhig, unbeirrbar ruhig.«

In einer freudigen Bewegung legte die Gelbe Glocke eine Hand an Wangs
Brust: »Ihr seid ruhig, ihr seid nicht in Angst? O, ist das schön, o, bin
ich dem Fremden dankbar, daß er mir das sagte. Ihr weint nicht, ihr gebt
euch nicht verloren! O, ist das schön. Ich bin nur darum hierher geritten,
um dies von jemand zu hören. Ma-noh ist nicht von Haß geladen, er wütet
gegen niemand.«

»Da du unser Bruder warst, weißt du ja, daß das Schicksal uns nichts
anhaben kann. Eure Truppen und wer sonst kommt quälen uns nicht.«

»Ihr redet wie früher. Aber Ma-noh wütet nicht! Er widerstrebt nicht!«

»Du bist wieder Soldat geworden. Du hattest kein Vertrauen auf unsere
kostbaren Regeln.«

»Ich vertraute auf die kostbaren Regeln. Und vertraue noch. Sieh mich nicht
an. Ich wäre hier nicht in der Nacht hergeritten, wenn zwischen Ma-noh und
mir nichts mehr wäre. Ma-noh ist der Mörder der Gebrochenen Melone, das
weiß er. Ich war in den Tagen um ihn, als er es wurde. Er hätte länger und
vorbereitet mit allen Brüdern und Schwestern leben können, wenn er sich
nicht von den tollen Salzsiedern hätte verleiten lassen. Er war stolz, er
war ehrgeizig, er trug im Geiste Pfeil, Bogen und Schwert; er war kein
Wahrhaft Schwacher, kein Bruder der herrlichen Gebrochenen Melone. Darum
habe ich ihn verlassen, der ich Reinigung und Frieden für meinen Geist
brauchte. Aber das gehört nicht hierher.«

»Das wilde Tier auf deinem Brustschild blickt nicht friedlich.«

»Auch dein Schwert sieht nicht nach Frieden aus. Und doch stehen wir beide
vor dieser selben Ebene und sehen durch den Mondschein nach der
Mongolenstadt -- nicht mit feindlichen Gefühlen. Ich habe mich nicht
verändert. Aber die Gelbe Glocke singt jetzt einen andern Ton.«

»Es scheint so. Aber sie scheint auch nicht dasselbe Lied zu singen.«

»Die Gelbe Glocke hat den Brand des Klosters angesehen; die Schwestern
ließen sich rösten in den Kapellen; den Brüdern schlug man Köpfe und Hände
ab. Man kann sich nicht vorbereiten von heute auf morgen, von einem Jahr
auf das nächste; ein langes Leben gehört dazu, glaube ich. Die ganze Saat
ist umsonst hingemäht worden; die feinen, tiefen, starken Brüder und
Schwestern haben ihre Geister verloren, ich glaube, ich werde den Gedanken
nicht los, als wenn sie gelegentlich erschlagen wurden; eben erschlagen,
wie wenn ich hier zufällig von dir erschlagen wäre, weil du schon dein
Schwert entblößt trägst und ich erst den Zügel hinwerfen und meine Klinge
freimachen muß. Durch solchen Tod haben sie nichts gewonnen. Aber ich trage
jetzt einen Säbel.«

»Warum? Gegen wen? Dein Säbel ist eine Lächerlichkeit. Du hättest ruhig
deinen Säbel in der Truhe bei deiner Sippe liegen lassen sollen, wo du ihn
hingelegt hattest. Keiner von euch wird ihn anrühren, solange ich bin.
Lächle nicht; ich sage dir das. Gegen wen trägst du deinen Säbel?« Wang
griff nach dem Säbel.

»Nicht gegen Ma-noh, wie du glaubst. Der wird doch bald sterben,
gelegentlich. Und Liang-li. Wehe mir, wehe mir.«

»Gegen wen trägt der Mann mit dem Leoparden seinen Säbel?«

Die Gelbe Glocke rang mit sich. Er sah in den Wald zurück. »Gegen die
Mandschus, denen ich jetzt diene, für die da drüben, die du bewachst, die
in zwei drei Tagen in Schuttgräber gescharrt werden. Aber ich bin
glücklich, daß du mir so Gutes von ihnen drüben erzählst. Es wäre nicht
nötig gewesen das alles.«

»Das Schicksal ist immer nötig, Gelbe Glocke, mein Bruder.«

»Wenn du Ma-noh siehst, erzähl ihm nicht von mir. Erzähl keinem von mir.«

»Wir wollen uns trennen. Deine Diener kommen. Wohin wirst du weiter gehen
von den Mandschus?«

»Wir sammeln Menschen, Truppen, viel Waffen. Uns ist das Westliche Paradies
nicht gegeben, uns noch nicht, lieber Bruder. Ich will dann Wang-lun
aufsuchen, der ein Schwert tragen soll wie du. Nur das hilft, weiter
nichts. Daß du jetzt ein Schwert trägst, hilft nichts mehr. Sei nicht
zornig, weil ich anders denke als du. Geh in die Stadt hinein oder fliehe
wie ich.«

»Wo stehen deine Truppen? Ich will mich deiner Worte erinnern.«

»Bei Pe-king. O, welch schönen Weg, lieber Bruder, gehen unsere Schwestern
und Brüder drüben. Ich bitte nichts dringender, als daß sie zum Jaspissee
hinfinden und von der Königlichen Mutter aufgenommen werden. Das Mondlicht
ist so hell. Mögen sie den Weg leicht finden. Leicht finden.«

Die Gelbe Glocke trat von dem Stamme zurück. Sie verneigten sich
voreinander, berührten sich an den Schultern.

Wieder irrte Wang, ohne Schlaf zu finden, zwischen den Kiefern.

                   *       *       *       *       *

Am grauen Morgen holten die Gefährten Wangs die zweirädrigen Wasserkarren
aus den Höfen ihrer Besitzer ab, schirrten die Pferde an, trabten zum
Brunnen. Nachdem es nicht gelungen war, den alten widerspenstigen Träger zu
bewegen, sein Gefährt für den Tag abzugeben, hatten zwei der Helfer Wangs
den Mann, als er aus seinem Hause in der Dunkelheit trat, ergriffen, seinen
Mund mit Werg verstopft, ihn geknebelt, in eine Kuhhaut gebunden und auf
einem gestohlenen Karren in ein abseits gelegenes verfallenes Haus
gefahren, wo sie ihn in einen Winkel warfen.

Bei der ersten morgendlichen Fahrt in die Mongolenstadt begleiteten die
Wasserträger ihre Schüler, später gingen sie nach Hause, streiften durch
die Schenken. Das Fehlen des alten Mannes fiel nicht auf, da der Sonderling
nicht regelmäßig fuhr.

Es war ein warmer Tag. Bei den Fahrten am Spätnachmittag zeigten sich die
Gefährten Wangs besorgt um die Bottiche, die offen auf den zweirädrigen
Karren standen. Sie gingen klopfend an den leeren Gefäßen vorbei, bückten
sich tief hinein, wobei sie den Inhalt ihrer Flaschen unbemerkt auf den
nassen Boden gossen.

So fuhr der entsetzliche Zug der Wahrhaft Schwachen zum letztenmal mit den
wassergefüllten Wagen durch die Mongolenstadt, Wang an der Spitze, kehrte
mit geleerten Bottichen durch das Tor herunter, das hinter ihnen
geschlossen wurde. Rasch spülten und wuschen sie die Bottiche aus, brachten
die Karren zurück. Einer lief in das Haus, wo der alte Mann lag, schnitt
ein Loch in die Kuhhaut, so daß sich der Hilflose befreien konnte.

Auf den Mauern herrschte bei den Bewaffneten noch bis in den Abend hinein
rege Tätigkeit. Es hieß, daß Wang-lun mit einer großen Heeresmacht ihnen zu
Hilfe kommen würde; über die Zahl der Entsatztruppen stritt man sich, aber
sie war jedenfalls ungeheuer, viel größer, als der Tsong-tu der Provinz aus
eigener Kraft aufbringen konnte. Unterhalb der Mauern, innerhalb der Stadt
hatten sich die Bewaffneten, die Mitläufer Ma-nohs, eine Reihe von flachen
Hütten aufgeschlagen aus dem Fachwerk der angrenzenden Häuser, die ihnen
nicht geheuer waren. Hier lagen große Schutthaufen, Backsteine; tiefe
Gruben hatte man geschaufelt, in die man Wasser laufen ließ, soweit man
welches heranschaffen konnte, um Lehm zu bereiten. Binsen und Schilf
lagerte in hohen Schichten in den anstoßenden Straßen. Man schleppte die
Fuder heran, um Lücken in den Mauern zu dichten, Lehmmassen zu sichern. An
diesem Abend wuchs der Lärm der Arbeiter außerordentlich. Eine riesige
Mauerlücke, die man aus Mangel an Zeit nur oberflächlich mit Backsteinen
verdeckt hatte, sollte ausgefüllt werden. Die ganze Tiefe war schon mit
losem Geröll, Sand- und Lehmmassen, Halmen verstopft. Das Tor nach der
unteren Stadt war geschlossen, mit Querstangen verdeckt. Die Städter
verrammelten das Tor auch von außen, um einen Kampf zwischen den
Provinzialtruppen und Belagerten auf die obere Stadt zu beschränken.

Die Männer liefen im Halbdunkel durcheinander. Ihr Arbeitsdrang war
unbezähmbar. Halb nackt, mit strammgegürteten Hosen rannten sie vor dem
großen Mauerloch, stürzten mit kleinen Schilfbündeln hinein, glitten
aneinander vorüber. Einer schrie, warum der andere so wenig nehme; der
schulterte sein Bündelchen hoch: ob das nicht genug wäre. Sie schleppten
auf Holzmulden ungeheuerlich getürmte Steinmassen, die ihnen wie Wellen
über Köpfe und Füße rasselten. Sie rannten unermüdlich mit anscheinend
maßlosen Kräften herein, heraus, polterten hin, bluteten.

Auf der Mauer neben dem Durchbruch wurde ein starker Arbeiter müde; er
klatschte einem langen Maurer eine Hand Lehm auf den Buckel. Sie schwatzten
und kicherten schon seit einer Stunde über einen Maultiertreiber, der heute
morgen statt getrockneter Datteln Säcke voll Sand in die Neustadt
geschleppt hatte; erst auf dem Markt bemerkte er, daß er unterwegs
bestohlen und betrogen war. Als sich der Maurer umdrehte, platzte ihm aus
zwanzig Mäulern ein brüllendes Gelächter entgegen. Sie kugelten hin,
wälzten sich auf die Seite, um in Ruhe das Gelächter an ihren Bäuchen
massieren zu lassen, die Beine in die Luft zu stochern und das Zwerchfell
zu schwingen. Andere rüttelten die Leitern hinauf, schrien mit: »Wie sieht
der aus! Wie sieht der aus!« Und gurrten über sein sonderbar geschwollenes
Gesicht, seine kolbenförmige Nase.

Der Lange fixierte den vierschrötigen Tischler, wischte ein paarmal über
die Nase, schimpfte auf die elenden Zwiebeln, die sein Freund ihm in den
Bohnenbrei getan hätte; davon würden ihm die Augendeckel und die Nase dick.
Und er schlug bekräftigend dem Tischler, der das Schlucken bekommen hatte,
in die Weiche.

Der bog sich zusammen auf diesen Hieb; sie fingen an, sich bei Hälsen und
Hüften zu kriegen. Erst hetzte man; als die beiden sich ringend über den
Rand der Mauer wiegten, raffte man sie tumultuös auseinander: »Es muß
entschieden werden. Vors Gericht! Sie müssen es austragen. Vors Gericht!
Vors Gericht!«

Drängten die Leitern herunter, als gäbe es in der Mongolenstadt ein Gericht
für sie.

Auf dem Wege durch die anliegenden Gassen wurde ihr Haufe größer. Ein
gellender Lärm wälzte sich mit ihnen; sie hatten kein Maß für die Stärke
ihrer überschlagenden Stimmen. Einige von ihnen schleppten Balken hinter
sich. Man stolperte darüber, aber sie zogen sie fest hinter sich her, um
sie gelegentlich fallen zu lassen, ohne es zu merken. Andere steiften die
Rücken und trieben die Schulter hervor unter ihrer leeren Holzmulde, die
sie mit fest zupackenden, steinharten Muskeln drückten, fluchten über den
raschen Schritt der andern, und sie könnten nicht mit.

Zwei ältere Handwerker, mit nacktem schwarzbraunen Oberkörper, betasteten
an einer Straßenecke die Balken, die liegen geblieben waren. Ein Balken war
über einen breiten Stein gefallen. Die beiden grinsten sich an, von
entgegengesetzten Seiten an dem Holz entlang suchend, bis sie dicht
nebeneinander standen, ihre Hände sich berührten und sie nun, den Balken
zwischen den Beinen, Platz nahmen, sich schaukelten und dabei fortwährend
sich ehrerbietig voreinander verbeugten und sich pathetisch Glück wünschten
zu der Begegnung. Sie baten einander vorlieb zu nehmen mit den
gegenwärtigen Umständen, sanken, als sie die Hände beteuernd schwingen
wollten, seitlich ab und lagen da, der eine quer über den Beinen des
andern, schmerzlich sich entschuldigend für die Unvorsichtigkeit, tasteten
sich an den Hosen des andern entlang.

In dem Haufen, der sich auf kleinen Plätzen öfter ganz auflöste, wuchs die
Verwirrung. Einzelne ergriff eine ausgelassene Fröhlichkeit. Ein ehemaliger
Salzpfänner geriet in Wut. Er sagte, er ginge nicht mehr mit. Liu sei ein
böser Dämon, er liefe doppelt im Zuge, ein Liu ginge drüben an den Häusern,
ein anderer neben ihm. Dann treffen sie immer zusammen, prallen voneinander
zurück, als wenn man ins Wasser sinkt. Die vor ihm marschierten, gondelten
bei seinen Klagen rückwärts, nahmen ihn in ihre Mitte, grunzten heiser,
fielen ihm unsicher um den Hals.

Ein junger Mensch drängte sich zwischen sie, brüllte: »Der Schuft, der. Er
macht selbst solche Späße. Habt ihr nicht gesehen? Eben steht er hier und
jetzt sitzt er auf dem Dach. Was hat er zu schimpfen auf Liu?« Sie kniffen
ein Auge zu, zwangen Liu und den Pfänner sich rasch nebeneinander zu
stellen. Ein paar visierten breitbeinig aufgepflanzt nach ihnen durch den
gekrümmten Finger, visierten nach dem Dach. Inzwischen zerstreuten sich die
meisten, torkelten unter zufriedenem Gegröhl hinter dem Hauptzug her, der
sich nach dem großen Markt bewegte.

Aber der Zug kam nicht so weit. Man hatte längst vergessen, was man wollte.
Man buddelte zwischen den Straßensteinen. Man krähte, leckte sich schläfrig
die Finger, kreiste die Arme. Die Köpfe baumelten, fielen in den Nacken.

Von anderen Teilen der Mauer waren die Männer schon vorher in die Stadt
gedrungen. Die Lungen waren ihnen sonderbar gefüllt. Ihnen schauderte unter
einer Hitze, die fingertief unter ihrer Haut flammte und erlosch. Das Blut
sprühte in ihren Köpfen. Der Rumpf fiel ihnen weg. Sie setzten die Schritte
so vorsichtig, da sie fürchteten, mit ihren Strohsandalen in Glas zu
treten; immer fein traten sie mit den Zehenspitzen auf, immer fein mit den
Zehenspitzen. Man ging sicherer, wenn man die Sandalen auszog. Und so
balancierten manche im Gänsemarsch durch die Gassen, in den wagerechten
Armen ihr Schuhwerk.

Weiter innerhalb der Stadt stiegen sie hier, da über einen Menschen, sie
flüsterten einander Vorsicht zu mit signalisierenden Armen, versuchten
mehrmals über denselben Körper wegzutreten. Der lag schnarchend da, die
Beine an den Leib gezogen, die Stirne kraus.

Vor manchen Häusern standen die Menschen angewurzelt. Sie lehnten mit
blauen Lippen an den Pfosten. Ihnen wurde der Atem mit einem heftigen Ruck
aus der Brust gerissen. Sie stöhnten, pfiffen und schnaubten wie
Blasebälge. Brüder legten sich unsicher mit dem Leib über Bänke; alle
Bilder, Häuser, Menschen, das Dunkle des Himmels sauste in einer
Spiraldrehung herum, die Erde vertiefte sich unter ihnen zu einem großen
umgestülpten Spitzhut. Sie zogen zum Sprung unbehilflich die Kittel aus,
keuchten, warteten was kommen würde. Ihre Rippen traten wie Schnallen
hervor; sie prusteten im Flug.

Hunderte versteckten sich in den Häusern, auf den Korridoren, unter den
Tischen, denen eine Presse die Därme, die Milz und den Magen
zusammenschnürte, dann wieder losließ. Die Traubenpresse arbeitete an ihnen
in einem Rhythmus, der immer schneller wurde. Sie würgten die gelbe Galle
heraus, ihr Darm verspritzte sich und suchte zu entweichen. Ihre Gesichter
verlängerten sich. Grüne Tiere liefen an ihren Gesichtern vorbei nach
rechts, dann kehrten die Tiere um; die ganze Reihe lief nach links herüber.

Männer taumelten nach dem Tor, nach der Mauer. Aber sie stiegen zwischen
den Sprossen hindurch beim Besteigen der Leiter, arbeiteten sich vergeblich
heraus, stürzten die Leitern über sich um. Einem gelang es nach oben zu
kriechen. Man hörte wie er ging, da kippte er nach außen ab in den Graben
und muckste noch.

Die schwarze Nacht. Das Wasser strömte vielen die Flanken entlang. Ein
kleines Rad drehte sich vor ihnen, wurde immer weiter, es war ein Nadelöhr,
ein Maulwurfshügel, eine Höhle. Sie verdrehten die Augen, blieben in einer
Radspeiche stecken.

In den dumpfen Zimmern die Brüder schraken bei den Schreien und Stürzen
draußen zusammen. Sie hockten über sich gebückt. Sie stutzten plötzlich,
blitzten heftig atmend um sich, als wenn sie etwas hörten, standen
schwankend auf, richteten immer wieder den Oberkörper gerade, der ihnen
wegsank: »Die Soldaten kommen! Es ist alles verloren! Wang ist mit
zehntausend Mann erschlagen!« Sie machten Front gegen die stillen
Zimmerecken, sie schmetterten Stühle in die Winkel, flohen die Köpfe
duckend ins Freie, griffen im Finstern der Straßen nacheinander. Hier und
da erdrosselten sich zwei. Sie dumpften unter Verzweiflungskrächzen
nebeneinander hin. Sie schwangen im Traum Beile, kneteten und erwürgten den
dicken Kot, der zwischen ihren Fingern durchquoll.

Auf den Dächern, die flach aneinander stießen, sangen einige. Sie sangen
von der Großen Überfahrt. Ihre Hände bewegten geträumte Gebetsklingeln. Sie
predigten zueinander herüber. Sie schrieen nach den glänzenden Spitzen der
Kaiserherrlichkeit, die sie sahen; ganz nahe daran waren sie. Und wenn
einer die bellenden Stimmen jenseits der Straße hörte, seufzte er:
»Bruder!«, mit tränenden Augen, entzückt. Sie erhoben sich und zersprengten
ihre Schädelkapsel auf der Straße, zermorschten im Fall einen Sterbenden.

Als die Nacht vorrückte und viele auf den Gassen, in den Erdlöchern, unter
den Dächern phantasierten, blies ihnen etwas streifig Helles, Weißes,
Spitzkühles in den Nacken über den Hinterkopf herauf. Sie wurden, wenn sie
sich umwandten, von einem unsichtbaren Dämon ergriffen; auf einen Schrei
riß etwas ihren Körper zuckend in die Länge, streckte ihn in einer Spannung
hin, als sollten Füße, Hände, Kopf vom Rumpf dehnend abgerissen werden. Und
dann schleuderte es die Glieder hin und her, rollte den Leib wie einen
zerfließenden Kuchenteig. Wenn sich die Menschen schweißtriefend von dem
Kampf erholten, schrien sie über die Feigheit des Dämons. Er möchte einmal
wieder herankommen, sich nicht verstecken. Sie stierten mit glasigen Augen,
speiend, um sich. Und er kam wieder. Mit einem Ruck hatte er sie gefaßt.
Sie grätschten und schnellten, wie vom Katapult geschossen, zusammen. Bis
die lange Starre ihre Sehnen eisenhart anfaßte, in schwerster Wut nicht
losließ. Und wenn sie sie losließ, so blinzelten sie noch sonderbar und
vergaßen zu atmen.

Als Abends von den Mauern aus ein Lärm in die Mongolenstadt hinein sich
fortpflanzte, fuhren die Nachtwächter eilig in der unteren Stadt schwere
Holzblöcke auf Ochsenwagen heran, häuften sie vor dem Tore nach der oberen
Stadt auf. Sie durften keinen Eingeschlossenen herauslassen. Es schlug von
innen gegen das Tor.

Das Toben drin nahm von Augenblick zu Augenblick zu; bald mußte die ganze
untere Stadt geweckt sein.

Nun wirbelten drei Wächter ihre Trommeln durch die Straßen, weckten die
hundert ehemaligen Provinzialsoldaten, die über die Stadtteile verstreut,
noch Waffen bei sich hatten; sie sollten kommen, um einen Ausbruch der
offenbar angegriffenen Sektierer nach der unteren Stadt zu verhindern. Wie
die Soldaten anliefen, die Wachtürme der Stadt erstiegen, lag das Feld bis
an die Kieferwaldung im umwölkten Mondlicht regungslos da; völlige
Finsternis in den Straßen der Mongolenstadt, in der das tausendfältige
Gebrüll, Kreischen und Heulen brodelte. Der Feind mußte schon in der Stadt
sein. Aber das Unheimliche: man hörte keine Waffen schlagen, keine Bogen;
kein Haus brannte.

Drin raste man. Und jetzt war es klar, daß die bösen Dämonen, die die
Brüder und Schwestern bisher bezwungen hatten, sich losgemacht hatten und
über sie selber hergefallen waren. Man weckte Priester und Bonzen der
Stadt.

Drin hörte man Leitern an das Tor anstellen; gedämpft knirschende Körper
purzelten herunter.

Mit einmal schauten dicht nebeneinander zwei gedunsene verzerrte Gesichter
über das Tor, Schaum vor den Mündern, wie die Pferde geifernd. Die Priester
wirbelten ihre bronzenen Weihrauchbecken, hohen Rauchfässer und knallten
sie ihnen ins Gesicht. Aus den zerbrochenen Fratzen tropfte dickes Blut
herunter auf die Wächter, die entsetzt zurückwichen. Die Priester richteten
Brander über die beiden oben, die sich höher zogen. Plötzlich bäumte sich
der eine und krachte herunter. Der andere gröhlte unmelodisch zum
Nachthimmel, wälzte die zottige Brust über den Torrand; dann stürzte innen
seine Leiter um; er sackte abwärts; seine Hände blieben am Tor hängen; die
Soldaten hieben ihm die Finger ab; er plumpste schwer und lallte lange an
der Erde.

Kein Bürger der unteren Stadt wagte sich auf die Straße. Gegen Morgen legte
sich das Geschrei. Ein gelegentlicher geller Ruf wehte herunter. Den
letzten Teil der Nacht schmachtete aus einem Haus der Straße, die parallel
dem Tor lief, eine einzelne Stimme, eine Mädchenstimme; sie sang Verse
eines unflätigen Liedes; dazwischen lockte sie, rief Männernamen, röchelte.

In der grauenden Dämmerung wurden die äußeren Stadttore geöffnet. Die
Händler, Gemüseverkäufer, zahllose Karren bewegten sich die Straßen herauf,
die Wasserträger kamen. Wagen stauten sich vor dem Tor der Mongolenstadt.
Man machte Platz für die grüne Sänfte des Tao-tai. Der Befehlshaber der
ehemaligen Provinzialtruppen, jetzigen Stadtgarde, ein baumlanger Mensch,
gab Befehl zum Öffnen des Tores. Die Balken wurden weggeräumt; die
Querbäume gelöst; die Soldaten schoben die Flügel zurück.

Im Augenblick, wo sich das Tor öffnete, sauste von dem Torbogen ein
abgelöstes Mauerstück herunter, hüllte den Eingang in dicken Staub. Man
mußte mit Gewalt die beiden Türflügel verschieben, die inneren Querriegel
umbrechen, bis der Eingang frei war.

Drin hatten die Eingeschlossenen vor Anbruch der Nacht als Barriere einen
schweren Eisenstab noch zwischen den Steinwall geklemmt; an dem lehnte
gebückt eine ganze Reihe Menschen; als man die Schranke abhob, stürzten die
Körper den Eindringenden entgegen, krachten mit den Gesichtern vornüber
zwischen sie hin. Einzelne von diesen lebten und riefen die Städter mit
schwachen Stimmen an. Die Soldaten zogen voran. An einer Straßenecke
standen schräg gegeneinander zwei Mädchen; eine den Kopf auf der Schulter
der andern; sie fielen erst um, als man der einen die Arme von der Hüfte
ihrer Freundin losriß. Hier und da bliesen Sterbende die Backen auf in
langen Pausen. In mehr als zwanzig Häusern, auf Treppen fand man Frauen in
Blutlachen; sie hatten in den Krämpfen entbunden; in den Krämpfen hatten
sie sich Nabelschnur und Mutterkuchen aus dem Leib gezerrt, waren rasch
verblutet.

Auf der Treppe eines Hauses, das in einem Winkel des Marktes stand,
zappelte eine mit Narzissen geschmückte junge Frau; sie gellte: »Ich bin
Liang-li; ich will zu meinem Vater nach Schön-ting.« Als man sie an den
Füßen herunterzerrte, schlug sie um sich und war tot.

Man drang in die Zimmer des Hauses. Ein kleiner Mensch hockte auf dem
Ofenbett in einer Ecke des wüsten Zimmers. Er maulte, als die Soldaten
eintraten.

Er starrte sie an, den Kopf balancierend, von den beschlagenen Augen mühsam
die Lider hebend. An seinen Mundwinkeln zähe Schleimklumpen. Seine Lippen
hellgelb; sein Gesicht von einer dicken wächsernen Haut überzogen; Löcher
in den Schläfen. Schnarchen, Näseln: »So kommt sie doch; die Königliche
Mutter kommt selber.« Lächelte stolz wie ein Befehlender.

Der vorangehende Soldat erkannte den Führer der Rebellen, nahm ein rotes
Papier in den Mund, um den Dämon nicht an sich zu locken. Er riß erst
Ma-noh mit der Spitze eines Pfeils einen Schmarren über Mund und Kinn. Der
runzelte die Stirn, schob sich an der Wand in die Höhe, krächzte tierisch:
»Pfui, ah, pfui!« torkelte in Wut und Grauen nach vorn. Der Soldat fing ihn
an der Brust, drückte ihn würgend vom Ofenbett auf die Diele.



Drittes Buch

Der Herr der Gelben Erde


Khien-lung, der große Kaiser, der das Reich der Welt von der sich
umwälzenden Natur und dem Himmel erhalten hatte, tauchte aus den nördlichen
Steppen auf von seinen Jagden und Vertiefungen, kehrte nach Mukden zurück.

Er hatte wieder die ungeheuren Tatarenlandschaften gesehen. Wenige Tage war
die tiefe Stille durchbrochen worden durch Tributträger. Die Tiger liefen
aus den Wäldern hervor. Von Woche zu Woche kamen Ergebenheitsbriefe der
kaiserlichen Prinzen und hohen Würdenträger, fragend nach seinem Befinden.

Den gealterten Kaiser begleitete kein großes Gefolge: zweihundert Mann
seiner Leibgarde, eine rein mandschurische Kompagnie, eine kleine Anzahl
Vertrauter, Freunde, Sklaven, schließlich die erlesene Musikkapelle. Er
jagte im Randgebiet der Mongolei auf dem Hochland östlich von Kalgan. Helle
kalte Luft, freies weites Grasland, Gebirgsschluchten, zerrissener
Durchblick. Im muldenförmigen Tal bei Süen-hwan-fu hielt er sich auf. Die
Häuser waren in die Lößerde gegraben mit Stuben, Gewölben, Gängen. Auf den
dünn belebten Flächen tummelten sich braune langhaarige Pferde. Teebeladene
Kamele schwankten vorüber. Die nomadisierenden Horden lagerten in weiten
kreisrunden Filzzelten. Plattgesichtige braune Mongolen mit bunten Gehängen
warfen sich hin.

An der Grenze schloß sich dem kaiserlichen Zug der Kommandeur der
Grenzsoldaten an in roter Pelzkappe und rotem Flügelkragen. Dann
überschritt man die Randketten des großen Chin-gan, stieg herunter nach
Mukden.

Die Blicke des Kaisers waren fremd, seine Mienen von einer furchtbaren
Kälte. Unter den hohen Weidenbäumen tauchten die seltsamen Häusergruppen
auf. Nach langen Windungen der Felswege betraten sie die niedrigen Hügel
und sahen Laubbäume, die Frauen mit den Pfeilen im Haar und den frischen
Blumen. Von den acht Türmen der Mauer Mukdens schollen die Kanonenschüsse.
Sie zogen durch die graden Linien der Stadt, hinter ihnen die Mongolen auf
niedrigen Ponys, bis sich die Dächer mit den gelben glänzenden Ziegeln in
der Mitte der Stadt zeigten. In seinem Palast blieb Khien-lung fünf Tage.

In dem herbstlichen Park an einem Teiche saß der Kaiser allein auf einem
Schemel und hielt grüne Salatblätter im Schoß. Vor ihm schlief eine
ungeheure Schildkröte.

Sie trug ein Rückenschild von schwarzer Farbe mit gelben Riefen. Die breite
Mittelleiste des Rückens war gelb gefeldert mit tiefen Kerben. Die plumpen
Vorderfüße ragten seitlich heraus wie Schwimmflossen, mit Zehen wie Stifte,
die man in die Füße eingeschlagen hat. Die Hinterbeine eingezogen unter dem
Panzer. Der Kaiser im schwarzen Seidenkleid und Seidenmütze ohne Schmuck,
schlug auf das Tier mit einem dicken Ast, an dem Tannenzapfen hingen.

Und dann kam aus dem Gehäuse das graue hornige Haupt, das wunderliche
leidenschaftslose Haupt an einem faltigen Hals, der wie getrocknete
Fischhaut glänzte. Wie eine Königsmumie: der lang sich reckende verwelkte
Hals, in spöttischer Ruhe den dreieckigen Schädel wendend. Die Kiefer fest,
mit Lineal und Hobel streng gearbeitet. Die Nüstern mit dem Lochbohrer
eingeschlagen. Zur Seite, lidlos, unbeweglich, kluge weise Augen, Fenster
eines erkühlten Gehirns.

Langsam hebt sich das Schild von einer Seite auf, senkt sich, schiebt sich
vor. Es ist der mühselige Gang eines behenden doch gichtischen uralten
Mannes, der den Steiß anhebt, das Knie nicht beugt, die Beine seitwärts
steif herumschleift, sich langsam um Kanten windet. Die Vorderflossen
schwimmen, rechts, links, stoßen ab. Der Panzer senkt sich, weit strecken
sich die Hinterbeine und folgen. Ein hohes Schnaufen, ein sanftes Zischen
kommt aus den gestanzten Nüstern. Wieder hebt sich der Steiß an, die
Vorderflossen schleifen vor. Es ist ein Klettern über den Boden.

Der Kaiser saß mit seinem Tannenzweig auf dem Schemel. Er suchte der
Schildkröte nachzukommen, ihr nachzuahmen, und sann darüber nach. Im
Vorüberschieben richtete sie scheinbar die Augen auf ihn. Er glitt langsam,
seinem Zweig nach, auf die Erde, lag auf den Knien hinter dem Tiere, das
sich von ihm entfernte nach dem Teich. Aus irgendeinem Grunde beugte er
sich hinter dem Tiere.

Sehr langsam, so wollte Khien-lung, rückte der Zug weiter. Breite
Sandflächen wechselten ab mit Feldern der Wassermelone. Der Liau-ho rollte
schwarze breiige Wassermengen, in denen grüne Streifen auftauchten. Man
wartete zwei Tage, um dem Flußgeist zu opfern, einem uralten
Verkehrsdirektor aus Niu-tschwang, bis man die Fähre mit dem stillen Kaiser
dem Wasser anvertraute.

Seine Umgebung kannte die Zustände schwerster Versunkenheit und
Erschlaffung an ihm. Sie stellten sich mit dem höheren Alter ein. Man mußte
mit dem sonst energischen, ganz beherrschenden Manne alles tun, ihn führen,
setzen. Das Gesicht des großen Fürsten war, als sie die viele Li lange
Verkaufsstraße von Hsin-mit-sun ohne Laut durchschritten, beängstigend in
seiner unglaublichen Willenlosigkeit, der gummiartigen Weiche und
Stumpfheit der Augen. Seine Lippen hingen, er brummelte nichtssagend. Wie
die acht Träger auf dem welligen Sandboden langsam marschierten, öffnete
sich seine Sänfte von innen, er stieg aus, während die vorderen Träger sich
erstaunt umwandten, und pendelte allein neben einem alten
Hellebardenträger, der ihn nicht erkannte. Als hinten die Zeremonialmeister
entsetzt aus ihren Sänften sprangen, vor ihm hinfielen, ihn bei den Händen
zu seiner Sänfte führten, schwankte er mit, hob seine gequollenen Lider
schwerfällig, sah sie unsicher fragend an. Seine Augen tränten. Sie
wischten ihm, ehe er in die Sänfte stieg, den Speichel aus seinem grauen
Kinnbart. Sie gingen neben seiner Sänfte einher. Jenseits des Ta-ling-ho
kam man auf kaiserlichen Weidegrund. Aus den hohen Wachtürmen im Zentrum
von Kint-schu-fu schollen wieder die grüßenden Böllerschüsse.

Die Behörden standen vor der verschlossenen Sänfte. Sie lagen im Staub vor
seinem schlafenden Körper. Der teilnahmslose Zustand besserte sich, als man
sich der Großen Weißen Wand, der Großen Mauer, näherte. Eine leichte
Erregung befiel den Kaiser. Er aß viel, weigerte sich in der Sänfte zu
liegen, riß Blumen am Wege aus. Die Reise mußte beschleunigt werden. Ohne
zu sprechen, winkte er, wenn man sich nach seinem Befinden erkundigte, mit
seinem Fliegenwedel ab. Halb verwirrt stieg er einmal während dieser Tage
auf einen Gneisblock, der seitlich der Straße lag, und stürzte. Aber er
wurde sichtlich zugänglicher, beobachtete die Arbeit auf den Feldern,
befahl seinen Reisebibliothekar neben sich, den er aber nichts fragte. Man
war glücklich zu sehen, daß er wieder seine eisigen Blicke warf.

Eine warme Luft wehte. Die Vorhänge seiner gelben Sänfte hatte er
aufgezogen. Am Spätnachmittag spazierten vor der kaiserlichen Sänfte der
Direktor des Ritenministeriums Song und Hu-chao, der Oberaufseher der
kaiserlichen Eunuchen. Song, ein gebückter Mann, der in seinem faltigen
kleinen Gesicht eine Hornbrille trug und aus seinen verkniffenen Augen
vergeblich die landschaftliche Schönheit zu erblicken suchte, die ihm Hu
warm schilderte. Hu, der wohlbeleibte Herr mit aufgeschwemmten Backen,
griff im Eifer seiner Beschreibung öfter nach der Hand des würdigen Song
und drückte sie, so daß wenigstens so der begierige Minister etwas von der
allgemeinen Hingerissenheit empfand.

Sie plauderten über die Zartheit, mit der ein junger eben aufkommender
Dichter die Schwermut der Silberpappeln behandelt habe und wie ihm ein paar
interessante Verse geglückt seien über das alte Thema einer Mondscheinfahrt
auf dem Weiher. Hu, obwohl nicht gebildet wie der Akademiker Song, erging
sich in Lobsprüchen über die strenge Form dieses Gedichtes, über die
wunderbaren, zum Teil neuen Charaktere, die der Dichter gemalt hätte. Sie
atmeten den starken Dunggeruch der Äcker.

Da wehte ein feines Parfüm neben ihnen. Ein seidenes Rauschen. Zwischen
ihnen ging ein mittelgroßer kräftiger Mann, der sie schon, als sie sich
hinwerfen wollten, bei den Zöpfen packte und mit ihnen weiterspazierte, die
Arme auf ihren Schultern. Die leise harte Stimme Khien-lungs klang zwischen
dem gemessenen Fistelton Songs und dem enthusiastischen Dröhnen des dicken
Hu.

Der Kaiser lächelte, als sie sich betreten anblickten, weil er eine Wendung
ihres Gesprächs aufgriff: »Sprich nicht auf der Straße, sagt man zwischen
den vier Seen; unter dem Pflaster sind Ohren. Exzellenz Hu meinten, in wie
wundervollen Charakteren der junge Verfasser das Gedicht niedergeschrieben
hätte. Ich hatte vor Monaten in Pe-king das Vergnügen, einen Missionär der
Jesureligion zu sprechen. Die rothaarigen Völker sind barbarischer, als man
bei uns weiß. Sie erzählten mir in ihrer aufdringlichen Händlerart vieles;
auch von ihren Dichtern. Diese Herren schreiben, wie es ihnen gefällt. Die
Handschrift ist für die Dichtung belanglos. Dichter kann sogar ein
schreibunkundiger Bauer sein.«

»Es ist lächerlich, Majestät,« meinte der greise Song, »die westlichen
Langnasen sind eben, -- die Ameise hätte bald gesagt: Strolche. Wie
einsichtslos überhaupt, uns von ihren sogenannten Dichtern zu erzählen.«

»Durchlaucht Song haben ja von mir manches gelesen.«

»Alles, Majestät.«

»Nun alles. Ich will nicht geschmeichelt sein. Auch Exzellenz haben manches
von mir gelesen?«

Hu marschierte unruhig; er begeisterte sich zwar leicht, machte einen
aufrichtigen Bewunderer und Beschützer der Künstler, doch ließ seine
Sachkenntnis zu wünschen übrig.

»Der Esel hier, Majestät, hat in der Tat manches aus dem kaiserlichen
Pinsel gelesen --«

»Aber nicht verstanden; keinen Vorwurf darum, Hu. Wird auch kein Urteil
verlangt. Was ich meine, ist ja etwas anderes. Eine Bauersfrau, wie die
dort drüben, wirft das weiße Korn in den Boden; ein Knabe führt eine Karre
hinter ihr her mit Jauche. Lerchen singen, Herbst. Man hat keinen Anlaß,
diesen Anblick -- zu dichten; er ist unübertrefflich vorhanden. Immerhin
könnte ich in die Versuchung kommen ihn zu dichten, aber dann übernehme ich
eine Verpflichtung gegen -- den Anblick.«

»Sehr fein, Majestät.«

»Noch nicht, Durchlaucht. Nämlich die Verpflichtung, ihn ehrerbietig zu
schonen, den Geist dieser Minute unberührt zu lassen, ihm als irdisches
Geschöpf zu opfern. So denke ich mir, wenn ich in der Schreibstube sitze,
das Dichten. Ich, das kleine Menschenkind, sitze in meiner Schreibstube,
und vor fünf Tagen lebte der Geist einer verehrungswürdigen Minute: das
sind zwei Dinge. Ich opfere dem himmlischen Geist in der Weise eines
reichen Mannes und mühe mich, dem Geist der ehrungswürdigen Minute zu
gefallen. Das kann ein Bauer, ein Bettler gar nicht; für den sind auch
andere Geister da. Das schönste weicheste Papier muß dienen; für den Pinsel
steht Tusche aus tiefstem Rot und Schwarz bereit. Und jetzt male ich die
Charaktere. Das sind keine Mitteilungen, obwohl sie doch auch zu
Mitteilungen dienen; runde beziehungsvolle Bilder, Anklänge an die Bücher
der Weisen, schön in sich, schön gegeneinander. Diese Bilder sind selbst
kleine Seelchen, und das Papier nimmt an ihnen teil.«

»Noch immer fein, Majestät,« fistelte Song, »ich Dummkopf habe mir von
unserem Astronomen, dem Portugiesen, gleichfalls sagen lassen, daß man im
Westen schreibt wie man spricht. Was natürlich ebenso bequem wie einfältig
ist. Aber, wenn die Allerhöchste Majestät mich einer Gnade würdigen will,
möchte ich eine Bitte vortragen.«

»Durchlaucht?«

»Mich setzen zu dürfen in meine Sänfte oder am liebsten in ein Zelt hier
auf der Wiese, um Eure Majestät noch zu hören, so lange sie es mir gewährt.
Die alten Füße des Sklaven Eurer Majestät versagen.«

Der Minister gab auf das Kopfnicken Khien-lungs zwei Lanzenträgern vor ihm
kurzen Befehl; der riesige Zug hielt unter dem freien Himmel. Während das
gelbe kleine Reisezelt des Kaisers mitten auf einer Wiese aufgeschlagen
wurde, die Lanzenträger das Feld von den Bauern säuberten, stand er selbst
vor dem schmerbäuchigen Hu und dem Minister, dessen Gelehrtengesicht
Zeichen von Müdigkeit trug, ließ die Hände schlaff fallen und seufzte.

Aber die beiden hohen Beamten, die sich bestürzt ansahen, hatten unrecht;
Khien-lung dachte an Pe-king und seufzte vor Ungeduld.

Der Kaiser wünschte noch zwei Tage zu reisen.

Der Aufschub der Heimreise erregte im ganzen Zuge Freude. Der ungewohnte
Anblick des Himmelssohnes, der in voller Elastizität nach seiner Art sich
bewegte, belebte alle Mitreisenden. Stundenlang disputierte der Kaiser bald
mit Song, dessen Gelehrsamkeit er außerordentlich schätzte, bald mit dem
derben untersetzten General A-kui, den er selbst aus einem gemeinen
Soldaten zum Offizier befördert hatte. Das schlagfertige Wesen A-kuis
erfrischte ihn; die Drolerien dieses ungebildeten Mannes bildeten eine
Quelle des Vergnügens für die ganze kaiserliche Umgebung.

Man rückte längs des Chao-ho vor, überschritt auf der grauen Steinbrücke
den Pai-ho. Jenseits des Dorfes Niu-lang-schan bog der Zug westlich von der
Straße ab, um auf eigens angelegten Chausseen zu den Bergen nordwestlich
der Residenz zu gelangen, wo Lustschlösser des Kaisers standen.

In der nördlichen Tatarenstadt Pe-kings säuberte und glättete man die
Straße, die der Zug passieren mußte; man vernagelte den Zugang der
Querstraßen mit bemalten Brettern; verbot das Verlassen der Häuser und
Kasernen für die Vormittagsstunden bei Todesstrafe: Gongschläger und
Trommler riefen den ganzen Tag aus. Da die Astrologen im kaiserlichen Zuge
nicht rechtzeitig die Stunde des Einzugs in die Rote Stadt berechnen
konnten, verzögerte sich der Einzug über den Vormittag, obwohl die
Reisegesellschaft einen ganzen Tag auf den nordwestlichen Bergen lag, die
Landleute die wunderbare Musik der Hofkapelle hörten, die fast
ununterbrochen spielte über dem blanken See Kun-ming-hu.

Auf dem Gipfel des Wan-wu-schan, in den Hainen der weißrindrigen Fichten
verlebte der Kaiser den letzten Tag vor der Heimkehr; bevor es dunkelte,
ging er zum östlichen Seeufer herunter; über die siebzehnbogige
Marmorbrücke wandelte er auf die kleine Insel, welche einen Tempel trug,
den nur er betreten durfte; stumm stand eine Bronzekuh am Eingang. Im
Tempel sprach der Kaiser mit seinen Ahnen.

Die Wasseruhr zeigte die Doppelstunde des Drachens, als der Kaiserzug
morgens das Dorf Hai-tien passierte. Auf dem Steinwege kam man an das
nördliche Tor der Mandschustadt Pe-kings, Te-schang-man. Die
Schlangendoppelstunde brach an, als der Himmelssohn die purpurnen Mauern
erblickte.

Kia-king war ein Sohn Khien-lungs, der Sohn der legitimen Gemahlin des
Kaisers; Kia-king war der einzige, der Khien-lung auf den Spaziergängen
durch die Gärten der Roten Stadt begleiten durfte. Der Kaiser übersprudelte
von Lebendigkeit, unter den ungeheuren Zypressen blieb er stehen, redete
auf seinen schwerfälligen Sohn ein, der ihn um einen Kopf überragte. Der
Prinz, noch nicht vierzig Jahr alt, hatte ein schwammiges faltiges Gesicht,
ein Lächeln fand auf dieser breiten aufgeschwommenen Fleischmasse keinen
Platz. Wenn der hochgewachsene Mann, der den kugelrunden Kopf stark in den
Nacken drückte, sich freute, entstand ein Flimmern und Flirren um den
kleinen prallen Mund; die Linien, die aufschlängelten, wurden von den
unbeweglichen Wangen zurückgeworfen, und so zappelte das Lächeln wie auf
einer Insel um seine Lippen. Die wulstigen Augenlider hingen. Das linke
Auge konnte er nur wenig öffnen. Krankhaft hell war seine Hautfarbe. Seine
Hoheit war unsäglich, keiner kam ihm wirklich nahe; vor der körperlichen
Nähe der meisten Menschen seines Umgangs hatte er geradezu Angst. Der Prinz
hörte unentschlossen und gleichgültig seinem Vater zu. Er hing an seinem
Vater wie an einer gesegneten Sache, die man nicht beschnüffelt, mit
Dankbarkeit empfängt. Sie sprachen von den mohammedanischen Unruhen.
Kia-king lenkte ab auf seine und des Kaisers Neigung, die Menagerien. Ein
grünschillernder Pfau stolzierte über die Marmorbalustrade einer weißen
Brücke. Ein ganz leichter Wind verzog das Bild der Brücke, das sich in dem
dunklen Wasser spiegelte. Er hob den Saum des gelben kaiserlichen Mantels
wenig an und schlenkerte Kia-kings goldene Gürtelquaste.

Schon in der Nacht trat Regenschauer und Kühle in die Purpurstadt. Zwei
Tage gönnte sich der Gelbe Herr Ruhe. Er saß morraspielend in der
Säulenhalle des kaiserlichen Wohnhauses. Dicht hinter ihn rückte man seinen
Schreibtisch aus massivem Gold, niedrig. Die Platte ruhte auf dem Rücken
eines Elefanten, dessen plumpe Beine die Säulen des Tisches bildeten; von
dem langen Gesicht des Literatengottes, der vor einer zierlichen Pagode
inmitten des Tisches stand, und von den Gewandfalten pflegte Khien-lung
seine Gedichte abzulesen. A-kui, sein Spaßmacher, der biedere Draufgänger,
kauerte dem Kaiser gegenüber an der Ebenholzplatte. Ein untersetzter
kurzbeiniger Mann mit vierkantigem Gesicht und steifem Nacken. A-kui war
immer gleichmäßig; man konnte ihn in eine Ecke stellen und wieder
hervorholen: er bewegte sich, als wäre nichts geschehen. Seine
Rauhbeinmanieren, heiseres Lachen, grobe Wendungen, galten als
sanktioniert, wurden gepflegt am Roten Hofe. Er selbst schien sich dessen
nicht bewußt, zeigte sich unglücklich über jede Verletzung der Etikette,
machte sich durch gelegentliche Versuche zur Vorsicht noch komischer. Er
spielte glänzend Morra, der Bauer, besser als Khien-lung. Bei einigen
verlautete, A-kui sei nicht nur geizig und habgierig, sondern direkt
unzuverlässig; er sei ein Intrigenflechter, ein Klatschträger, der seine
Tolpatschigkeit kräftig ausnütze. Freilich bildete sich solch Gerede leicht
um hervorragende Hofmänner; die großen Verdienste A-kuis in dem schweren
Feldzug gegen die Miao-tses ließen anderen keine Ruhe. Wenn der graue
kapriziöse Herrscher mit A-kui vor den Spielbrettern saß, lachten die
eleganten und hochgebildeten Herrschaften, die sich auf der
Fischfangterrasse damit vergnügten, Drachen steigen zu lassen; sie glaubten
zu wissen, daß der Kaiser seinen dummen Spaßvogel schnattern ließe;
ernsthaft gehöre er ihnen. Aber der Kaiser gehörte ihnen auf der
Fischfangterrasse und A-kui und andern; er brauchte vieles zu seinem Leben
und ging an allen vorüber.

Am Morgen des zweiten Tages ritt Chao-hoei durch das Mittagstor und machte
den neunfachen Fußfall vor Khien-lung im Palast der Höchsten Eintracht. Der
Gelbe Herr bestieg sein Pferd; es ging zum westlichen Blumentor hinaus und
in mäßigem Trab um die drei Seen herum, Chao-hoei neben dem Kaiser, auf den
vogelzwitschernden Kohlenberg. Der hagere elastische Mandarin war nicht nur
berühmt durch seine unvergleichlichen Verdienste im Feldzug gegen die
Dsungaren an der Nordwestgrenze des Reiches; niemand vergaß, was der
elegante Mann geleistet hatte am grünen Ili; das knochig ausgearbeitete
Gesicht Chaos hatten die Schneestürme gebeizt; seine kleinen wenig
gefälteten Ohren hatten mehr Todesschreie einlassen müssen, als irgendein
Mensch seiner Zeit. Chao-hoei, der den Titel: »Bewacher eines Tores von
Pe-king« erhielt, dem der Kaiser nach der Niederwerfung der Dsungaren mit
einer Teetasse an der Tür des Sommerpalastes entgegenkam, war auch berühmt
durch seine rechtliche Frau. Ihre Gedichte, ihre stürmische und doch
gehaltene Prosa las Khien-lung oft. Hai-tang hieß sie; sie war die Tochter
des ehemaligen Statthalters von An-hui. Als sie heirateten, erlangten sie
durch kaiserliche Dotation große fruchtbare Ländereien im Hia-ho, dem
südlichen Gebiet am Jang-tse-fluß; noch jetzt sangen die Literaten dort am
Muschelkanal unter dem warmen Himmel von Hai-tangs Klugheit und
Lieblichkeit, von ihrer hohen Bildung, auch von ihrer Unbezähmbarkeit. Ihm
waren die berüchtigten Ilitruppen, die Mordbrenner vom Ili unterstellt; man
hatte nicht gewagt diese Bestien zu entlassen; sie standen in Tschi-li als
Reservegarde.

Man ergötzte sich zwei Tage an dem Spiel der Kampfvögel, der Wami und
Chuschitscha, ruderte über die künstlichen Lotosteiche. Kia-king, der
Thronfolger allein spazierte die Ufer entlang; er bestieg kein Boot; er
konnte die Ruderer nicht in seiner Nähe ertragen; er machte, eingeladen,
stets seine typische Bewegung: das abwehrende Aufstellen beider Hände vor
der Brust; schon die Einladung beängstigte ihn und man mußte ihn zu Hause
beruhigen, mit seidenen Tüchern Gesicht und Hals abreiben.

Dann deckten den Gelben Herrn die schweren heiligen Laken der
Vergangenheit. Er tauchte in die grauenhafte Höhe, das abgöttische Licht
seines Ranges ein; er fand sich an seinem bereiteten Platz. Mit keiner
Fingerbewegung rührte er an die strengen Riten. Ohne den geheiligten Ritus
zersprang die Welt: die Erde lag für sich da, die Menschen rannten
gegeneinander an, Luftgeister rasten, der Himmel rollte sich ein; alles
fiel sich an. Der Zusammenhang mit dem Himmel und der Unterwelt mußte
festgehalten werden. Das Altertum und seine glanzvolle Blüte, Kung-tse,
erkannte, daß durch jede Bewegung des scheinbaren Alltags das Blut des
Himmels fließen müsse; nichts war bedeutungslos. Darum entzog sich
Khien-lung rädernden Zeremonien nicht. Er war sich nicht zu gut dafür; er
pries sich glücklich, Träger dieser von Menschen unabhängigen furchtbaren
Dinge sein zu dürfen.

Wenn er am Tage vor dem Himmelsopfer fastete und aus seinem reglosen
Gesicht die scharfen Augen blitzten, so wußten seine Diener so gut wie die
Priester, die Vertrauten des Gefolges, daß dieser Mann nichts Äußerliches
tat. Das Mechanische ihrer Handlungen war durch einen einzigen Blick seiner
Augen aufgedeckt. Khien-lung betete wahrhaft, zum Erschauern echt, als Sohn
des Himmels.

Eines finsteren Herbstmorgens trug man den Gelben Herrn in den Ahnentempel.
Wie er die letzte Stufe stieg, prasselte ein Stein keine Handbreit vom
Kaiser entfernt auf die Plattform und zerspritzte. Über das böse Vorzeichen
verwirrt, ging der Kaiser hinein an die Tafeln, verrichtete die Gebete. Man
sah ihn im Wohnpalast in großer Zerstreutheit auf und ab gehen. Die Ahnen
lasteten auf Khien-lung; sie peitschten ihn. Der hitzige rastlose Mann
vermochte, je älter er wurde, seinen Vorfahren nicht gerecht zu werden. Ihn
schüttelte, daß er in die furchtbare Verantwortung des Nachfolgers geboren
war.

Dies war der Tag, an dem ihm der Bericht von der Mongolenstadt und dem
Untergang Ma-nohs vorgelegt werden mußte. Ein Unterdrücken oder Verzögern
war nach dem erfolgten Einlauf der vizeköniglichen Akte unmöglich. Der
ersuchte Astronom berichtete nach einer Doppelstunde, daß der gefallene
Stein ein Meteorbröckel war; unbewegt nahm der graue Herrscher die Meldung
an. Da man das kaiserliche Signum dieses Tages auf die Akte erhalten mußte,
wandte sich der stellvertretende Vorsitzende des Hohen Rats an Kia-king.
Der, angewidert von der Feigheit des Menschen, übernahm den Vortrag. Der
Bericht des Tsong-tous war nackt; er begann mit dem Hinweis auf die
eingeleitete militärische Aktion gegen die Reste der Sekte, beschrieb die
eingeleitete Zernierung von Yang-chou, den letzten Stand der Truppen unter
den namentlich aufgeführten Generälen, dann den Befund beim Anmarsch des
Heeres, wobei man die gesamte eingeschlossene Bevölkerung tot vorfand;
Wang-lun wurde als Mörder bezeichnet, das Gerücht von einem Untergang durch
Dämonen nicht unterschlagen.

Kia-king, dem das Schaudern über den Rücken lief, wog die Rolle in der
Hand. Wäre er Kaiser, so wären innerhalb eines weiteren Tages der Vizekönig
von Tschi-li und sämtliche beteiligten Generäle hingerichtet worden, mit
Einschluß des Trägers der Botschaft und der Kuriere. Er bestellte für den
Nachmittag drei Subdirektoren der Enzyklopädie zum Vortrag bei dem Gelben
Herrn, darunter den geistvollen Khui, der den Kaiser stets zu fesseln
verstand. Auf der Fischfangterrasse trug erst der stellvertretende
Vorsitzende des Hohen Rats Neuigkeiten vor von den Rüstungen gegen Birma;
Khien-lung fragte lebhaft; Khui wurde vorgeschickt. Dann Kia-king. Der
Kaiser war noch halb versunken im Nachdenken über die Zitate Khuis, als er
sein rotes Signum auf die Rolle zeichnete. Die Knaben sangen aus dem
dreidächrigen Pavillon der Instrumente im Wechselgesang mit zwei Chören im
Boot. Der Kaiser plötzlich wieder zerstreut schob eine Vase aus dem
Porzellan der »blauen Familie« zurück; er wollte Khui noch etwas fragen.
Dann: nicht Khui; er verstünde schon die Anspielung. Vielmehr was da
berichtet sei von den --. Kia-king in Unruhe meldete Details von den
Birmanen. Der Kaiser verblüfft fragte, woher er die Details wüßte.
Kia-king: es sei doch eben vorgetragen worden. Und was ihn denn die
Birmanen interessierten neuerdings, daß er so die Details behielte;
übrigens dies sei es nicht; vielmehr hätte doch Khiu --. Nach längerem Hin-
und Herfragen und -blicken blieb der Kaiser an Kia-king haften: was er sich
nur für Politik interessiere und was Kia-king selbst vorhin vorgetragen
habe, diese Lokalangelegenheit aus Tschi-li. Er wolle ihm einmal
demonstrieren, mit was für Dingen man einen Kaiser belaste, was für
Lappalien vor ihn kämen. Also die Akte. Der Thronfolger kniete neben dem
Kaiser, der ihm mit einem kleinen roten Stäbchen Zeile nach Zeile des
Berichts vorlas. Schon nach dem ersten Drittel legte er das Stäbchen hin,
las stumm, dann hieß er Kia-king etwas von ihm entfernt hinzuknien. Und
eine Viertelstunde lang schwiegen die zehn Menschen um den lesenden Gelben
Herrn; den Gesang schien der Kaiser nicht zu hören, denn er verbot ihn
nicht. Ohne einen Blick auf einen einzigen des Gefolges zu werfen, erhob
sich der Kaiser rasch, die Rolle in der Hand, bestieg seine Sänfte.

Was an diesem Tage abends sich weiter in der Purpurstadt begeben hat, ist
in Details nicht bekannt. Der Kaiser verblieb den Abend mit A-kui allein
auf dem Zimmer, nachdem ein Teil der Vertrauten das Zimmer aus
irgendwelchen Gründen, anscheinend wegen eines plötzlich ausbrechenden
Erregungszustandes des Kaisers hatten verlassen müssen. Weinend und
fassungslos soll Khien-lung drin ein wunderbares seltenes Gefäß zerschlagen
haben, das auf einer Porphyrsäule stand: ein altes tellerförmiges
Bronzegefäß, ein Lotosblatt, das von dem Rücken einer Blindschleiche
abglitt. Spät abends wurden zwei Astrologen in den dunklen Wohnpalast erst
gerufen, dann weggeschickt. Erst als die Obersten der Leibgarde unruhig
sich vor den kaiserlichen Fenstern bewegten, weil es drin zu lange still
blieb, schlug das Gong Khien-lungs an. Der saß in einer gezwungenen Haltung
vor den Trümmern der Schale; A-kui überbrachte mit drohendem Ernst den
Befehl, für morgen den besonderen Staatsrat zusammenzurufen, sogleich für
eine Reise nach dem Sommerpalast zu rüsten. Die Majestät verlange in ihre
Schlafräume. Die Fackelträger erschienen.

                   *       *       *       *       *

Am folgenden Nachmittag fand eine Beratung statt, in der der Zensorenhof
zur Untersuchung der Angelegenheit Ma-noh aufgefordert wurde. Den Morgen
darauf verließ der Gelbe Herr mit kleinem Gefolge fluchtartig die
Purpurstadt. Auf Booten fuhren sie über die künstlichen Seen bei den
kaiserlichen Palästen, durch die nördliche Stadtmauer den Abfluß des
Kun-ming-husees hinauf. Keine Flöten spielten auf den gelbbewimpelten
Booten: der frische Herbst griff in die Pinien der prächtigen Ufergärten,
läutete die feinen Glöckchen, die zu Tausenden an den geschwungenen Dächern
der eleganten Lusthäuser, der versteckten Pavillons hingen; aus den Booten
traf sie kein Blick. Die Ruder knarrten in den Gabeln, gleichmäßig schlugen
sie ein, man glitt unter die eisig weißen Marmorbrücken, von Kao-liang-kao
bis herauf zur prunkvollen Buckelbrücke, lief in den Kun-ming-hu ein. In
der herrlichen Umgebung schien sich der Kaiser zu beruhigen. Die Zensoren
kamen herüber aus Pe-king.

Viel mehr als die Unterhaltungen darüber, ob in der Geschichte des Reiches
irgendwann Dämonen derart massenweise Menschen umgebracht hätten, förderte
der Bericht der kommandierenden Generäle die Einsicht: daß sich ein
berüchtigter Räuber, namens Wang-lun, der mehrere Morde begangen hatte, wie
man nachträglich erfuhr, angeboten hatte, die Sekte innerhalb dreier Tage
zum Verschwinden zu bringen auf irgendeine Weise; dies zusammen mit
eigentümlichen Vorfällen in der bewohnten unteren Stadt Yangs vor dem
Untergang lege die Vermutung nahe, daß Wang-lun sich der Brunnenvergiftung
mit noch unbekannten Helfershelfern schuldig gemacht hatte. Die Spuren des
in Schan-tung und Tschi-li berüchtigten Mannes, der bei dem gemeinen Volk
als Zauberer in ganz ungewöhnlichem Ansehen stehe, wurden zur Zeit
verfolgt.

Khien-lung schlotterte und fror vor Entsetzen. Er meinte zu Chao-hoei, es
sei unmöglich, sich in solch Ungeheuer hineindenken; das seien in der Tat
Handlungen, die man nicht messen könnte. Er verfügte mit einer gewissen
Lauheit, einer rätselhaften Nachdenklichkeit die möglichst rasche Festnahme
des Mörders, sofortiges Transportieren nach Pe-king; keine Vernehmung; die
einzige Vernehmung Wang-luns werde er selbst vornehmen. Niemand durfte den
Namen Kia-kings erwähnen.

Für die Minister war mit der Entscheidung die Sache zu Ende. Der Kaiser
aber wälzte sie in sich. Der eben genesene Mann war mehr als je geneigt,
auf Dinge von außen zu achten, zusammenzufahren beim Klirren unbekannter
Ereignisse. Wund, gereizt ließ er nicht los. Er schnüffelte nach
Zusammenhängen, Winken, Stimmen.

Blieb in Jüan-ming-yuen nicht lange; schon nach einem Monat brach der
kaiserliche Hofstaat nach dem südwestlich von Pe-king gelegenen Dorf
Ko-lo-tor auf, wo sich das Kloster Tsiu-tai-tse, eine riesige Anlage, in
der bergigen Fichtenwaldung dehnte. Dies war Khien-lungs
Lieblingsaufenthalt; der ungehinderte Blick auf die tausenddächrige Stadt
fand Sättigung; die feinen Pavillons auf dem Kohlenberg blitzten auf;
weißes Schimmern der Lou-kou-kiao-Brücke; dicht vor den Füßen die Wellen
des grünlichen Hun-ho.

Während der alte Herrscher auf der Terrasse sann und sann und Pe-king wie
ein Vertriebener mied, sprühte das freche Vergnügen in der Roten Stadt; der
dicke Kia-king benahm sich wie ein Aufsässiger. Jenen stellvertretenden
Vorsitzenden des Hohen Rates ließ er gelegentlich eines Etikettenverstoßes
ohne Ermächtigung des Kaisers durchpeitschen. Dem Gelben Herrn drohte er
Rache, weil er es wagte mit ihm umzuspringen. Mit einem Ruck, zu dem ihn
die Angst vor Beunruhigung drängte, machte er sich entschlossen von der
erschütternden Sache los. Er strich besänftigend an sich herum, gab sich
gute Worte. Am Hofe inszenierte er Späße, Roheiten. Aufzüge veranstaltete
er, die sich zu Travestien hoher und höchster Personen auswuchsen. Als
verlautete, daß der Gelbe Herr zurückkehre, entwich er mit seinen Gauklern
und Musikern nach dem Wan-wu-schan, wo auf dem Berge der Nephritquelle sein
Haus stand, unter dem Schutz einer hohen Pagode aus der Zeit des großen
Mandschukaisers Khang-hi.

                   *       *       *       *       *

An Khien-lung entwirkte sich ungehindert, während an den Grenzen des
Reiches ungewohnte Ruhe herrschte, mehr und mehr jenes grausige Ereignis.
Er begriff die Nachdenklichkeit der Hofastrologen, die vielfache
Zerstreutheit seiner Zensoren; sie erwogen, was mancherlei, das sie nicht
sagten, vor allem dieser Untergang, dieses unerhört scheußliche Unglück
bedeute, welche Instanz verantwortlich gemacht werden müßte. Der Kaiser
wollte dem Lanzenstoß nicht ausweichen; er war der Lenker des Reiches; der
Himmel redete, was er redete, nur zu ihm.

Drei Zensoren trieb er, auffahrend aus unzugänglicher Stummheit, noch
einmal im Winter zur Untersuchung des Falls nach der Mongolenstadt
Yang-chou. Sie kamen kopfschüttelnd zurück: es handle sich um eine der
vielen verbotenen Sekten, die den Geist der kleinen Leute verwirren und die
Provinzen verarmen.

Khien-lung höhnte über diese ablenkende Erklärung; Vorgänge von solcher
Ungeheuerlichkeit konnte man nicht rationalistisch erklären.

Im zehnten Monat des Jahres liefen die kaiserlichen Kuriere eines Tages
nach Pe-king hinein, in dieses ummauerte Areal, das neben Wiesen,
Brachland, auch eine Stadt trug, die sich auf Stunden zu einem
überschlagenden Geschrei aufquälte. A-kui wurde zu Khien-lung geladen, der
treue Chao-hoei, Song, der Geschichtskenner, und einige andere.

In der Halle des Geistigen Wachstums, dem Yang-hsin-tien, empfing sie der
Kaiser, in einem hohen schmalen Raum, der nur zu geheimen Vorberatungen
diente. Eine absolute Stille herrschte, nachdem der Kaiser erschienen war
und die Gäste sich niedergeworfen hatten; dann nahmen sie auf ein Wort des
Herrschers Platz. Mit einem riesigen gelben Seidenstoff war die Decke der
kleinen Halle bespannt; ein mächtiger Drache, in Gold, blau und rot
gestickt, rauschte über die gleichmäßig gerafften Seidenfalten, die in der
Mitte der Decke sich zusammenschlossen. Die Fenster waren verhängt trotz
des Tageslichts; schwere Bronzeampeln, an Ketten hängend, durchbrachen die
seidene Decke, warfen ihr rötliches Öllicht über die teppichbekleideten
Stufen, den Herrn in der gelben Jacke und die prunkenden stillen Gäste.
Lautlos bewegten sich oben und unten die jungen Eunuchen, trugen auf den
goldenen Servicen Tee auf. Khien-lung hielt, das Täßchen über seine Gäste
schwingend, sein Porzellanschälchen noch lange in der Hand und las den
Vers, der auf dem Täßchen stand, den er selbst gedichtet hatte: »Über ein
gelindes Feuer setze einen Dreifuß, dessen Farbe und Korn seinen langen
Gebrauch zeigen, fülle ihn mit reinem Schneewasser, koche es so lange, als
es erforderlich wäre, Fische weiß und Krebse rot zu machen. Gieß es auf die
zarten Blüten von erlesenem Tee in eine Tasse von Ju-eh. Laß es so lange
stehen, bis der Dampf in einer Wolke emporsteigt und auf der Oberfläche nur
einen dünnen schwimmenden Nebel zurückläßt. Trink diese köstliche
Flüssigkeit, wie es dir bequem ist; so wirst du die fünf Ursachen des
Mißmuts vertreiben. Ich kann diesen Zustand der Ruhe nur schmecken und
empfinden, nicht beschreiben.«

Die harte leise Stimme des Gelben Herrn tönte. Die Umtriebe im Lande,
besonders die nördlichen Provinzen erfordern verschärfte Aufmerksamkeit.
Die sogenannte Wu-weisekte sei gebildet von einem Manne namens Wang-lun;
Zwistigkeit unter den Anhängern habe zur Ablösung einer Gruppe geführt, die
sich den schimpflichen Namen Gebrochene Melone gab und offene Rebellion
trieb. Die Wu-weisekte sei selbst scheinbar vom Boden verschwunden, ebenso
Wang-lun; man müsse den Leuten nachspüren, die sich in die großen Städte
und Landbevölkerung eingegraben hätten.

Song erklärte, es sei Chen-yuen-li, der Tsong-tou von Tschi-li, ebenso
Sü-tsi, Gouverneur von Schan-tung, orientiert worden. Der geheime
Beobachtungsdienst in den Städten wäre vermehrt; die Kontrolle über
plötzliche Todesfälle, unerklärliche Angriffe, erführe mehrfache
Verbesserungen; die Aufsicht über Zuzug und Abwanderung sei auf Dörfern wie
Städten der beiden bedrohten Provinzen in strengster Weise geregelt, die
Oberaufsicht und Listenführung absolut zuverlässigen Beamten anvertraut.

Der Kaiser sprach: »Ich habe verboten, daß die Elitetruppen der Exzellenz
Chao-hoei vor meinem besonderen Befehl aufgelöst werden. Ich behalte mir
vor, diese Truppen gegen die Aufrührer zu verwenden; schon jetzt ordne ich
an, Exzellenz Chao, daß Sie mit Ihren kriegsmäßig ausgerüsteten
Mannschaften sich nördlich von Pe-king konzentrieren. Die lokalen Behörden
mögen bekannt machen durch Maueranschläge und Ausrufer, daß von
Zivilmaßnahmen abgesehen werden wird; die siegreichen Elitetruppen der
Exzellenz Chao werden ermächtigt, unter Mitwirkung des Tsong-tous
unmittelbar gegen verräterische Ortschaften vorzugehen.«

Liu-ngoh, ehemaliger Vizekönig von Tschi-li war anwesend; gebeugte große
Gestalt mit langem Kinnbart; erschreckt wie die andern warnte er vor
scharfen Drohungen, die eine unerwartete Wirkung üben könnten; der
antidynastische Charakter der Wu-weisekte stünde nicht fest, nicht einmal
das Vorhandensein dieser Sekte sei erwiesen; man könne mit den Drohungen
etwaige Überreste der Sekte stärken, unruhige Elemente zusammenführen.

Chao-hoei, die Spannung in dem kaiserlichen Gesicht erkennend, replizierte;
er wies auf das Faktum hin, daß vor einem Monat vierzig Männer und Frauen
im Distrikt Ta-ming ergriffen seien, zugestandene Anhänger Wang-luns, die
unter den Provinzialtruppen agitierten gegen den Krieg und die kriegerische
volksfeindliche Reine Dynastie.

Khien-lung fixierte eisig den alten Vizekönig. »Was will man gegen die
Reine Dynastie? Meine Ahnen sind nicht freiwillig in das Land der blumigen
Mitte heruntergestiegen. Wenn wir Tai-tsings nicht gekommen wären, wo wäre
dies Land heute?«

Nach einer Pause hitzigen Vorsichhinstarrens fuhr Khien-lung fort: »Die
Herren, die zu begrüßen ich die Ehre hatte, sind keine Astrologen. Meine
Astrologen sind gewissenhafte Gelehrte; sie brauchen viel Zeit, um ein
Resultat herauszurechnen. Jetzt sind sie mit einer Vermutung sehr rasch
gewesen; sie haben eine Vermutung ausgesprochen, bevor ich eine Frage
gestellt habe. Auch die drei Zensoren, die diesen Winter gereist sind, um
das Unheil in der Mongolenstadt Yang-chous aufzuklären, haben mir eine
versüßte Vermutung zurückgebracht. Wenn irgendwo ein Haus, ein Theater, ein
Regierungsgebäude brennt, so gilt dafür verantwortlich, neben dem
Stadtgott, der Tao-tai bis zum Feuerlöschmann und Polizisten. Die alten
Bücher sagen, daß dies Verfahren nicht auf einen außergewöhnlichen Vorgang
anzuwenden sei: das weitere können sich meine Herren Berater denken. Nach
Vermutung, zehnfach verheimlichter, eingewickelter, kandierter Vermutung
der Astrologen und Zensoren soll ich mich an die Stirn fassen und in den
Himmelstempel gehen, mich rechtfertigen, Sühneopfer bringen, fragen.«

»Ketzereigesetze«, begann A-kui mit ungeölter Stimme, »sind notwendig. Sie
sind nicht erst von Eurer Majestät erfunden und angewandt. Das Handeln der
Wu-weileute und der unflätigen Sekte fällt unter die Bestimmungen dieser
Gesetze.«

»Folglich«, schloß Chao-hoei, »liegt hier ein ordnungsmäßiges Ereignis vor
mit sachlichem Abschluß.«

»Die achtzehn Provinzen, Tibet, Ili, die Inseln fasse ich nicht mehr. Ein
kleines Ereignis wahrscheinlich, die Tat dieses Wang-lun kommt mir zu
Ohren: was höre ich alles nicht? Und nichtsdestoweniger hat man mich
hingesetzt auf den Drachenthron, damit ich sehe, aufnehme, lenke, dem
Himmel verantworte. Woher soll ich die Kraft nehmen! Und wie kann ein
einzelner gebrechlicher Körper die Foltern tragen, die ihm auferlegt werden
müssen für so viel Fahrlässigkeit, Nachlässigkeit. Daß man mir nicht
beisteht, entschuldigt mich nicht. Sie klagen mich nicht an. Sie leisten
mir nicht viel. Wang-lun läuft noch im Lande herum. Die Sache hat eine
Stimme, die ich deutlich, deutlich schreien und warnen höre, und Sie
bleiben meine Lobredner.«

Chao-hoei wollte bitten, etwas sagen zu dürfen; er trat vor Song, der schon
den Teppich mit der gelehrten Stirn drückte, zurück: »Die Dinge, die Eure
Majestät berühren, sind in der Tat zu fein, um nur von politisch und
militärisch geschulten Männern beraten zu werden. Ich möchte den Vorschlag
unterbreiten, eine Kommission zu ernennen aus den fünf ältesten Astrologen
und drei politisch orientierten Dienern Eurer Majestät. Mag diese
Kommission befähigt sein, den Fall allseitig und gründlich klar zu stellen
und Bericht an Eure Majestät und den Zensorenhof zu erstatten.«

Chao-hoei, der weichlicher war als er erschien, bat mit zitternder Stimme:
»Wie immer Eure Majestät sich entschließt, wollen Sie nicht Abstand nehmen
von Ihrem ersten Befehl: die nördliche Residenz militärisch zu schützen.«

Khien-lung suchte langsam mit den Augen einen nach dem andern ab. Dann
nickte er, streckte den fein geformten Kopf vor, als wenn er etwas mit
Nachdruck sagen wollte; er redete leiser als sonst: »Veranlassen Sie die
Einsetzung der gemischten Kommission. Der Direktor der westlichen Wege der
Provinz hat mir berichtet, daß der Winter dieses Jahr kurz und sanft zu
verlaufen scheint; die Wege von Tibet werden schon in den Talpartien frei.
Ich hoffe noch auf einen andern, außerordentlichen Ratgeber. Ich dürste
nach dem Ozean der Weisheit, dem Taschi-Lama Lobsang Paldan Jische. Dies
wollte ich Ihnen sagen. Denken Sie nach, Durchlaucht Song, Exzellenzen
A-kui, Chao-hoei, mit meinen Astrologen; ich habe Sie zwar ausgezeichnet,
aber Sie sind mir noch mehr, viel mehr schuldig.«

                   *       *       *       *       *

Und dies war in der Tat schon vor der Beratung in dem Palast des Geistigen
Wachstums geschehen: Khien-lung hatte einen Brief an jenen Mann
geschrieben, an jenen Weisheitsozean. In einer unsicheren Scham verschwieg
es der Kaiser. Dreimal hatte der Gelbe Herr ihn in früheren Jahren zu sich
gebeten; der Taschi-Lama, Lobsang Paldan Jische, tibetanischer Papst der
lamaischen Kirche, Stellvertreter des unmündigen Dalai-Lama lehnte ab; er
fühle sich in seinem hohen Alter der Reise nicht gewachsen; im Grunde wußte
der weise Mann, daß er als Vasall und Tributträger vor den östlichen
Herrscher treten solle. Jetzt ergriff den Kaiser auf eine leidenschaftliche
Weise der Wunsch nach dem ungeheuren Menschen im Westen. Der Brief, in
einer großen Hoheit geschrieben, bemüht keine Hilflosigkeit durchscheinen
zu lassen, wies erst politisch auf die Freundschaft, die der Taschi-Lama
dem Georg Bowle bei dessen Besuch in Taschi-Lunpo erwiesen hatte, dem
Gesandten der Engländer aus Indien, dem fremden Mann. Khien-lung billige
diese Freundschaft, denn er erkenne daran, wie weit sich der Einfluß
lamaischen Wissens erstrecke und daß auch barbarische Völker durch den
Papst Anschluß an das beschützende Reich der blumigen Mitte suchten. Er
sehne sich danach, persönlich den Mann zu sprechen, der stündlich zeige,
daß er den Buddha Amithaba verkörpere. »Ich bin jetzt so alt, und die
einzige Wohltat, die ich genießen kann, ehe ich das Leben verlasse, wird
die sein, Sie zu sehen und mit dem göttlichen Taschi-Lama gemeinsam zu
beten.«

Der Taschi-Lama Lobsang Paldan Jische war wenig jünger als der Kaiser. Er
zögerte lange mit der Antwort auf die Einladung Khien-lungs. Der Mann,
dessen Augen so dunkel blitzten wie der türkisblaue See Tsomawang, in dem
sich der ungeheure Kailasberg spiegelt und der Gott Schiwa wohnt, wartete
zwei volle Tage beklommen, bevor er aus den Händen des chinesischen
Residenten den eigenhändigen Brief des östlichen Weltbeherrschers
entgegennahm. Er fastete diese beiden Tage, verließ seine Zelle nicht, im
Labrang, seinem Kloster gegenüber der weißdächrigen Stadt Schigatse im
Flußtal des Ngang-tschu.

Die Ringmauern der Klosterstadt waren am Morgen des dritten Tages mit einem
Reif bedeckt; der goldene Überzug der prunkvollen Grabkapellen früherer
Lamas war erblindet; der weiße Wollschal, den der Großlama am Fenster
sitzend um den Hals geschlungen hatte, spielte mit seinen Fransen über den
schwarzen massiven Fensterrahmen, tastete, im scharfen Wind zuckend, über
die verwitterten Steine der Fassade.

Erst da verwandelte sich die Botschaft des Kaisers vor dem versunkenen
Manne, wich von ihm ab.

Paldan Jische war ein fleischerner Mensch gewesen; etwas Sterbliches,
Kleinliches hatte aus einem Winkel durch die Gewölbe seines Geistes
geblasen. Während der zwei Tage des Zögerns bedeutete ihm der östliche
Kaiser Khien-lung etwas.

Jische hatte für sein Fleisch gefürchtet.

Die Augen des unvergleichlichen Mannes blickten wieder warm, mitleidsvoll;
in einer leisen Scham trat er vom Fenster zurück.

Der Gesandte Khien-lungs möchte kommen; es würde ihm eine tiefe Freude
sein, den Brief des östlichen Herrschers zu lesen. Viel später darauf
erfolgte die Zusage, nachdem fast einen Monat hindurch seine Umgebung in
ihn gedrungen hatte abzulehnen. Sie konnten die Ruhe des Heiligen nicht
mehr stören; er sah in den Gesichtern seiner Schüler, Äbte, Doktoren,
Gelehrten dieselbe Angst wühlen, die seinen Leib zwei Tage geknetet hatte.

Lobsang Paldan Jische stammte aus der südlichen Provinz Tibets; sein Vater
war der tüchtigste Zivilverwalter des Schneelandes gewesen, die
unentbehrliche Stütze des gelehrten und träumerischen Chu-tuk-tu, dem die
Provinz übergeben war. Als der Taschi-Lama starb, sein Vorgänger, war
Paldan Jische drei Jahre alt.

Drei schöne kluge Knaben standen vor dem alten Dalai-Lama unter der
goldstrahlenden Kuppel seines Labrang in Lhassa. Zusammen mit den höchsten
Äbten betete er inbrunstvoll vor dem hundertarmigen Buddha, dessen
Verkörperung er selbst war. Als er sich lächelnd nach den Kindern umsah,
traf sein Blick zuerst die dunkelbraunen Augen des kleinen Jische, der in
einem rätselhaften Ernst seinen Blick ertrug. So wurde in dem Kinde die
wandernde Seele des Taschi-Lama erkannt.

Er wurde seinem Vater entrissen, einsam gehalten die folgenden Jahre;
kannte keine Spiele, keine Spaziergänge durch die belebten Straßen, sah
keinen Knaben, kein Mädchen. Die Welt trat vor ihn nur in den Pilgerzügen,
die in den Höfen Lhassas eintrafen, um einen kleinen Moment den Dalai-Lama
zu sehen, der rasch und freundlich nickend in seine Kapelle oder zu einer
Doktorpromotion ging. Immer geschah dasselbe: Gebete, Niederwürfe,
verzückte Grüße.

In diese Gleichmäßigkeit wuchs Jische hinein, ohne Erregung und Ablenkung.
Er mußte den Kopf neigen wie der Dalai-Lama. Alte Männer, Bettler, hohe
Priester krümmten den Rücken vor ihm; mit seiner Person wurde ein
grausiger, unirdischer Ernst verknüpft; Jische kannte und sah nichts
anderes.

Er erschrak nicht vor sich. Er lernte die ungeheuren Zusammenhänge der
Welten und ihre starre Verflochtenheit kennen. Die Weltalter dreier Buddhas
waren ehemals, das Weltalter des Cakya-muni bestand; der Maitreya sollte
kommen. Ein weltbefreiender Geist, der Buddha Amithaba wuchs in ihm; er
durfte nur sorgsam auf die Regungen des Wandernden lauschen, sich jeder
eigenen Bewegung entschlagen.

Jische reifte. Seine Weisheit war umfassend. Er lebte schon wie der
Dalai-Lama in dem tiefen Glücksgefühl, der reinen Erkenntnis und dem
schweren Mitleid. Den Platz, den er im Weltensystem einnahm, kannte er. Da
wurde er nach Taschi-Lunpo geführt als Lehrer der großen Theorien.

Die Jahrzehnte verstrichen. Mit dem Alter wuchs in dem Ehrwürdigen der
Reinen Andacht das Gefühl der Größe seiner Aufgabe. Das Leiden, das er in
Nähe und Ferne sah, erschütterte ihn gewaltsam. Dies war in der Tat die
Welt, auf die noch die Welt eines Maitreya folgen mußte; die Buddhas dieser
Epoche und ihre Emanationen reichten nicht aus für die niederringende,
niederklafternde Last des Leidens und Verderbens.

Monate vor dem Aufbruch richtete sich der Strom der frommen Bettler, Pilger
und Pilgerinnen aus allen Provinzen und der Mongolei auf Taschi-Lunpo.
Viele, die die golddächrige Priesterstadt erreichten, begannen den Weg, den
der Heilige gehen sollte, in ihrer Weise abzuwandern: sie warfen sich lang
hin, zeichneten mit einem Stein die Stelle ihrer Stirn, traten auf den
Strich, warfen sich hin und maßen so die Strecke mit ihrem Leib.

Von Lhassa zogen Karawanen südwestlich nach Lunpo; sie schwenkten auf den
Reiseweg des Lamas ein; die Strecken, die sie gegangen waren, erkannte man.
Zahllose Gebetswimpel hingen an Schnüren von Baum zu Baum, von Stange zu
Stange: Steinhaufen mit den beseligenden sechs Silben om mani padme hum
wälzten sie auf. Auf den Pässen und Bergen legten sie Schulterblätter von
Schafen nieder. Sie rissen sich Zähne aus und stopften sie zum Opfer in die
Ritzen der Felsblöcke; schnitten sich die Haare ab, banden sie mit Schnüren
zusammen, ließen sie flattern neben bunten Lappen.

Dann erfüllte der Zug die engen Straßen, verlassend die Klosterhäuser mit
den karmesinfarbenen Brustwehren, dem Purpur der Erker, den steilen Wänden,
dem Drüber und Drunter der Felsentreppen, Dächer und Zellen. Das
goldprunkende Labrang blickte aus seinen schwarzumrandeten Fenstern hinter
der heiligen Karawane her, wie eine Witwe, der die Tränen erfrieren. Bunte
Wimpel huschten, Posaunen schrieen. Lobsang Paldan Jische, der Ozean an
Weisheit und Güte, hatte sich auf den Weg nach Pe-king gemacht.

Es war Winter geworden. Das ungeheure Aufgebot, das den lamaischen Papst
begleitete, rückte schwerfällig vor. Baumlose Steppen nahmen kein Ende. Auf
dem harten Boden standen Dornensträuche, kümmerliche Kiefern und Fichten.
Kalte Luft wehte. In kostbarer geschnitzter und bemalter Sänfte mit gelben
Seidenvorhängen trugen vier Mönche den Heiligen, der mit untergeschlagenen
Beinen reglos auf dem roten Polster hockte mit bloßem kahlgeschorenem Kopf.
Seine Ohren waren groß, lang ausgezogen; er trug ein schwarzes
blaubesticktes Seidenkleid mit weiten Pelzärmeln. Blätter aus dem
Kan-dschur vor ihm.

Im Gewimmel um ihn die Lehrlinge, die Geweihten, Doktoren, Magier,
Mediziner, die ausgewählt waren. Der Zug vergrößerte sich im Vorrücken;
Gelehrte der Mongolei und aus Indien schlossen sich an.

Die ganze finstere Heiligkeit der Tempel begleitete den Lama. Priester
schwangen auf den Wegen, die sonst Karawanen mit Ziegeltee und Seidenballen
zogen, die furchtbaren Handtrommeln: zwei Menschenschädel, mit den
Scheiteln aneinander geschlossen und fellüberspannt.

In der Sänfte des Papstes zu seiner Rechten eine herrliche Schädelschale in
Gold gefaßt mit gebuckeltem Golddeckel; sie ruhte auf einem dreieckigen
Untersatz aus schwarzem Marmor; an den drei Ecken stützten die gelbweiße
Schale kleine steinerne Menschenköpfe, in rot, blau und schwarz.

Von Zeit zu Zeit, wenn man zur Andacht haltmachte, bliesen die Trompeten
aus Menschenknochen; in einem Bronzeansatz mit weiten Nüstern endeten sie;
ihr Tönen erinnerte an das Wiehern jenes Pferdes, das die Geister in die
Freudenhimmel trägt.

Vor den wandernden Doktoren, die in spitzen, gelben Filzhüten gingen, auf
deren Rückseite flauschige Kämme in die Nacken liefen, zogen riesige Jaks
die ungeheuren und beispiellos kunstvollen Gebetsmühlen auf Karren.

Einheimische Tunguten in kleiner Zahl, dazu fünfzehnhundert kaiserliche
Soldaten deckten den Zug. Nordöstlich schob man sich vor, an dem blauen See
vorbei, dem Tsomawang, auf dessen Grund der Gott in einem Türkiszelt haust.

Ungeheuer ragte der Eisgipfel des heiligen Kailasberges herüber. Nach
vielen Tagereisen kam man auf die Schneefelder und Berge, die zum Kukunor
führen. Jetzt setzten die gefürchteten Nordstürme ein. Der heilige Zug,
sich in Täler senkend, über Bergrücken windend, begegnete auf allen Wegen
den Spuren des weißen Todes, Tierleichen, Menschengebeinen. Hier waren auf
jedem Paß bittende Fähnchen, Knochen hingelegt für die furchtbaren Götter.

Und die furchtbaren Götter gaben auch den gnadenvollen Wanderern von
Taschi-Lunpo das Geleite. Jamantaka, der grausigste der Göttergespenster,
schrie gefräßig im Sturm über die grenzenlose Einsamkeit der Wege und fiel
die Jaks, die Maulesel und Menschen an, er mit dem Stierkopf und der
Pyramide von neun Köpfen, sechzehn Beinen, vierunddreißig Armen. Aus den
schwingenden Armen sausten die eisernen Speere, er zerfleischte die
Menschenkörper, fraß ihre Herzen, soff ihr Blut, er, der das Entsetzen
verbreitete aus seiner Feste, die er durch sechzehn Tore verlassen konnte.
Den Geweihten und Heiligen vermochte er nichts anzutun; die Dragsed,
höllische Weiber kämpften gegen ihn, von den Magiern beschworen.

In den grausigen Bezirken rückte man langsam vor. Man betrat unter
Dankgebeten die Provinz Am-do, die dicht an der Grenze der kaiserlichen
Provinz Kan-su gelegen war. Dann traf man in der herrlichen talversenkten
Klosterstadt Kumbum ein. Das Haus des Erneuerers der Gelben Kirche, des
heiligen Tsonkapa, des Lehrers der Tugendsekte, träumte noch unter dem
schönen Sandelholzbaum. Nach Osten ein Wall von Eis und Schnee.

Der gelbe Gott verharrte hier den Winter hindurch. Die Welt hatte einen
neuen Mittelpunkt. Die Ströme der Wallfahrten und Karawanen endeten hier.
Ein mongolischer Häuptling, dessen Scheitel Paldan Jische berührte,
schenkte ihm dreihundert Pferde, siebzig Maulesel, hundert Kamele, tausend
Stück Brokat, einhundertfünfzigtausend Mark Silber. Für Ärmste und Arme
legte er täglich an tausendmal seine Hand auf safranbestrichenes Papier.
Das Land schlürfte glückselig an dem Gott, der sich verschwendete.

                   *       *       *       *       *

Dann war der Winter und erste Frühling vergangen. Eine Ehrenwache von
zehntausend Mann zog dem heiligen Tibetaner entgegen; es dauerte noch
sechzig Tage, bis die wundertragende Karawane unter dem Geleit kaiserlicher
Prinzen und des lamaischen Erzbischofs des Reiches, des Tschan-tscha
Chu-tuk-tu, die westlichen Provinzen, die große Mauer, Dolonor überwunden
hatte und sich dem marmorstrahlenden, gesangerfüllten Lustschloß Jehol
näherte. Der Großlama bedurfte seines Schirmträgers nicht nach dem Eintritt
in den kaiserlichen Garten; es waren an niedrigen bemalten Stangen
Seidengewebe, bauschige gestickte Kostbarkeiten aufgehängt über den Weg,
den der Hochwürdige ging zwischen den schwarzen himmelhohen Zypressen und
schlanken Thujen. Rote und weiße Lotosblüten lagen auf der schimmernd
braunen Erde, die seine Sohlen betreten sollten.

Aber an dem eisernen Gitter blieb der Taschi-Lama stehen. Er weigerte sich,
die Blumen zu zermalmen. Er blieb in der warmen Luft fast eine halbe Stunde
vor dem offenen Eingang stehen. Alles verzögerte sich; man räumte hastig
drin von den Gängen die Blüten weg; wehmütig verfolgte Paldan Jische die
Arbeit; auch die Äbte und Doktoren hinter ihm standen mit gesenkten Köpfen
da, peinlich betroffen von diesem barbarischen Empfang.

Und als dann der tibetische Papst auf seinem Wege seitlich neben einem
Zypressenstamm einen kleinen Haufen der zusammengefegten Lilienleichen sah,
konnte er sich nicht enthalten, in einer Art Grauen stehen zu bleiben, zu
dem Hügelchen hinüberzugehen und in Gegenwart des goldüberladenen
Hofstaats, der singenden, fähnchenwedelnden Chöre auf der bloßen Erde
hinzuknieen, Blüte um Blüte mit den segnenden Händen zu berühren.

Eine breite Allee führte gerade auf das Schloß. Als von der Schloßterrasse
der Zug sichtbar wurde, die Gongschläger und Posaunenbläser voraus, ging
ein einzelner Mann im gelben Seidenkleide rasch die drei Marmorstufen
herunter; das Gefolge wich auseinander bis vor dem Taschi-Lama; zwischen
zwei der riesigen Zypressen wurden Khien-lung und Lobsang Paldan Jische
einander ansichtig, der schlanke graubärtige Herr der Gelben Erde und der
große etwas fette Papst, dessen Gesicht einen Schatten von Trauer trug. Er
hatte die hohe Mitra auf dem Kopfe; sein goldfarbener Goldmantel war über
und über bestickt mit Buddhafiguren und anbetenden Heiligen. Vor der Brust
trug er zwei ausgestopfte Ärmel, mit künstlichen weißen Händen, die sich
falteten; Jische verkörperte einen vielarmigen Buddha.

Vierzig Schritte kam Khien-lung dem bronzefarbenen Mann mit den weichen
Lippen und den glänzenden stillen Augen entgegen; sie verneigten sich
gegeneinander; die Musik schwieg.

Leise, seufzend pries sich der Gelbe Herr, daß ihm der Himmel das Glück
dieser Minute verliehen habe vor dem Sterben, hieß den Heiligen willkommen,
wollte sich tief vor ihm bücken.

Aber der Hochwürdige hielt ihn bei den Ellenbogen, trat, um weiterzugehen,
neben den Kaiser. Der war verwirrt und stand noch lippenbewegend da. Sie
gingen dann beide, nur von den Fächerträgern begleitet, über die drei
Marmorstufen und die Terrasse in die Zimmer, die dem Geistlichen Herrscher
bestimmt waren, wo sich Khien-lung rasch verabschiedete.

Tage wurden ausgefüllt mit Besuch, Gegenbesuch, Festmählern,
Geschenkaustausch. In einem Seitenflügel des Palastes war eine Halle
hergerichtet worden, ganz gesondert für sich, nach drei Seiten freistehend,
nur durch die Türwand mit dem Hauptgebäude verbunden; in diesem luftigen
Raum, in dessen Mitte sich drei Sessel auf schwerem Teppich erhoben, fanden
die Unterredungen des Heiligen mit dem Gelben Herrn in Gegenwart des
Tschan-tscha Chu-tuk-tu statt, zweimal ohne seine Anwesenheit.

Ein Altar mit der riesengroßen Statue eines sitzenden Buddhas aus Gold
blickte zu den drei Plätzen hin, auf dessen erhöhtem mittleren der
Pantschen Rinpotsche, das hochwürdige große Lehrerjuwel vom Gnadenberg in
Tibet, sich bald nach rechts, bald nach links neigte und dem Kaiser und dem
Kardinal geheimste religiöse Worte ins Ohr flüsterte. Eines Tages riefen
mongolische Karawanen, die bis dicht vor Jehol gereist waren, den
Tschan-tscha ab, um Streitigkeiten bei ihnen in letzter Instanz zu
schlichten; dies war heimlich von Khien-lung veranlaßt worden. Die beiden
Tage, an denen der eine Sessel leer blieb, konnte sich Khien-lung ergehen.

Wie immer bei den Unterhaltungen war die Halle auf dreißig Schritt von der
kaiserlichen Leibwache umstellt; die drei anstoßenden Zimmer wurden
verschlossen, Posten vor die Türe des entferntesten Zimmers gestellt.
Khien-lung rückte seinen Sessel halb von dem mittleren ab, so daß er dem
Pantschen Rinpotsche schräg gegenüber saß und dem Altar an der Fensterwand
leicht den Rücken kehrte. Paldan Jische ließ nachdenklich seinen Kopf auf
die Brust sinken, zog den Rosenkranz durch die Finger der rechten bloßen
Hand, kleine unregelmäßige weiße Kugeln aus Menschenknochen mit Edelsteinen
besetzt.

Bevor er aus seiner Kontemplation auftauchte, fing Khien-lung, der die Arme
verschränkte, zu reden an: »Eure Heiligkeit haben mir Unwürdigen so viel
gegeben; meine Seele glättet sich. Ich bin zwar Kaiser, aber nur ein
Mensch. Ich bin der Sohn des Himmels, aber vor der Innigkeit Ihrer
Beziehung zu den großen Weltherrschern schauere ich. Manchmal schrieb ich
Gedichte; meine Akademie, der glänzende Pinselwald, lobte sie; ich vermag,
vergeben es Eure Heiligkeit, zu Ihnen kaum eine menschliche Stellung
gewinnen. Mögen in Ihrem Lande der Gräser und schwarzen Zelte die Leute
gewöhnt sein an Sie, an Ihre Milde, Ihre überwältigende Gesinnung; ich
vermöchte weder Sie persönlich, noch was Sie mir sagten, zu träumen, zu
dichten.«

»Die Majestät beschützt mein kleines, armseliges Schneeland. Wir nehmen ein
Winkelchen ein in dem Haus, das Eure Majestät beschützt. Cakya-muni hat
seine Laufbahn in dem südlichen Lande beendet; meinem eisigen
verschlossenen Lande ist die Pflege seiner ewigen Lehren überlassen
geblieben. Die Geister sind bei uns; die Wiedergeburten der kostbarsten
Buddhas erlebt das kahle Gebirge, das den Tod speit und die Kälte haucht
wie eine der verheißenen Eishöllen.«

»Die Erde bebt nicht unter dem Atem. Alle Münder schnappen nach dieser
Luft, die vom todspeienden Gebirge ausgeht.«

»Eure Majestät ist ein weiser frommer Krieger. Sie suchen die Länder, die
Ihnen zustehen, zu gewinnen. Tibet hat mit der Reinen Dynastie früh innige
und friedliche Fühlung gehabt.«

»Ich bin nicht fromm. Ich habe mich viel bemüht, zu denken, wie Eure
Heiligkeit sprach. Es wurde mir schwer; man kann nicht Kaiser und fromm
sein. Lassen Sie; ich versichere Sie, es ist so. Man hätte mich längst
ermordet, wenn ich auch nur eine halbe Stunde fromm in Ihrem Sinn gewesen
wäre. Ich bemühe mich. Und darum habe ich Sie gebeten, zu mir alten Manne
zu kommen.«

»Ich bin dem östlichen Herrn zugetan. Die Verstrickungen, in die er fällt,
sind groß. Ich weine mit ihm, wenn er sich ängstigt.«

»Pantschen Rinpotsche, wie hieß jener reiche indische Almosenverteiler, von
dem Sie dem gelehrten Chu-tuk-tu und mir gestern erzählten? Der fromme Mann
kam dem Siegreich-Vollendeten entgegen, ließ ihm ein Kloster bei Sche-wei,
der Stadt des Hörens, bauen; unzählige heilige Bücher, sagten Sie, schrieb
dort der Sohn des Cakya.«

»Ich sprach von Sudatta.«

»Ich heiße Khien-lung, und bin tausendmal reicher als Sudatta bei Sche-wei.
Sie werden meinen Besitz nicht nachprüfen können. Ich lege Ihnen hin,
Pantschen Rinpotsche, was Sie wollen. Ich baue Ihnen Klöster, wie Sie nie
gesehen haben; meine Baumeister, Architekten, Maler sollen ihr Letztes
hergeben. Ich verleihe Ihnen den Besitz der benachbarten Städte, der ganzen
Provinz, in der Sie wohnen. Bleiben Sie eine kleine Zeit in meinem Lande.
Ihr Tibet kann Sie entbehren; dies Land wird noch vor Heiligkeit bersten;
andere, die Sie brauchen, leiden Hunger. Ich brauche Ihnen nicht die
Schönheit meiner Provinzen zu schildern. Sie sind selbst alt, Pantschen
Rinpotsche; der Lobsang Paldan Jische, den Sie jetzt bewohnen, mag sich im
Lande des Östlichen Drachensohnes wärmen. Der siegreich vollendete Gautama
hat solches Geschenk nicht verschmäht; ich denke wie Ihre Gläubigen, wenn
ich sage: Eure Heiligkeit segnet mich, indem Sie mein Geschenk annehmen.«

»Was will der Östliche Kaiser von dem Körper Paldan Jische?«

»Blicken Sie nicht finster, Pantschen Rinpotsche. Es handelt sich nicht
darum, Sie gefangen zu nehmen. Meine Regierung ist fest überzeugt von der
guten Gesinnung in Ihrem Lande. Es ist nicht Politik; glauben mir Eure
Heiligkeit.«

»Ich habe Vertrauen zu der Duldsamkeit Khien-lungs.«

Der Kaiser sah auf das blaßrote Teppichmuster. Der warme Blick des Heiligen
ruhte über seinem Gesicht, unter dessen Linien die Abgründe klafften.

»Setzen Sie sich aufrecht, Khien-lung; sprechen Sie deutlicher.«

»Es ist leicht gesprochen. In den achtzehn Provinzen gibt es Betrüger wie
überall. Ein Mann aus Schan-tung, ein Fischersohn aus einem Seedorf, hat
eine Sekte gestiftet, die er Wu-wei nennt. Dieser Wang-lun ist ein
mehrfacher Verbrecher, Mörder, Räuber. Er entzweit sich mit einem Teil
seiner Anhänger, die sich einen frechen Namen beilegen, in einer nördlichen
Provinz eine Rebellion erheben, zum Teil niedergeschlagen werden, zum Teil
sich in den Vorort einer westlichen Stadt einschließen lassen. Hier ist
nun, Paldan Jische, Pantschen Rinpotsche, das Verbrechen geschehen, unter
dem ich noch bebe, noch keine Ruhe finden kann. Bevor die Truppen vor der
Stadt ankamen, sind in einer Nacht die tausende Menschen, Männer und
Frauen, mit einem Schlage in der Altstadt umgekommen, auf eine so
grauenhafte Weise, wie die Geschichte dieses östlichen Landes nicht kennt.
Wie es nun ist, ob sie durch Wasser vergiftet sind, oder Dämonen über sie
herfielen, ich komme nicht zur Besinnung darüber. Der Verbrecher Wang-lun
scheint seine ehemaligen Anhänger umgebracht zu haben, in einem Gemisch von
Rachegefühl und Hochmut; meine Beamten haben den unerhörten Menschen nicht
ergreifen können. Ich muß mich aber fragen, was ich getan habe, daß solches
Ungeheuer am Abend meiner Regierung sich zeigt. Ich muß erkennen, wessen
ich bezichtigt werde durch eine so offensichtliche Anklage.«

»Khien-lung, Sie sind alt geworden. Früher hat der Todessturz ganzer Völker
nicht Ihr Ohr erreicht; jetzt genügt schon das Schreien und Sterben einiger
tausend Menschen, um Sie schlaflos zu machen.«

»Ich will keine Anklage von Ihnen hören.«

»Ich klage Sie nicht an. Sie leben in der Welt der Gelüste; es ist mir eine
Freude zu hören, daß Sie keinen Schlaf finden.«

»Damit helfen Sie mir nicht, Pantschen Rinpotsche. Sie dürfen es nicht
genug sein lassen mit solchen Worten. Ich bin der Kaiser des mächtigsten
Weltreiches; ich habe nicht wie eine Puppe auf dem Thron gesessen, sondern
mich bemüht um den Ruhm und Reichtum meiner Dynastie. Man muß mich nicht
für einen Menschen wie diesen und jenen nehmen, mich auf gewöhnliche Wege
zerren wollen. Hilfe will ich von Ihnen, Pantschen Rinpotsche. Sie stehen
mit den tiefsten und furchtbarsten Dingen der Welt, in einer Verbindung von
unbegreiflicher, unsagbarer Nähe; in Ihnen herbergt der Geist eines Buddha;
Sie sind der einzige, den ich greifen, fassen, sehen, hören kann, und zu
dem ich Zutrauen habe, nachdem mein bester Sohn von mir abgefallen ist.
Denken Sie, daß ich unverändert Kaiser des Reiches der Mitte bin, legen Sie
mir nicht Unmögliches auf.«

»Majestät, das klingt alles so gut, was Sie sagen. Sie bedürfen der Hilfe
des zeptertragenden Lamas nicht. Sie tauchen aus dem Sansara auf, nachdem
Sie den Ruf gehört haben.«

»Ich bin Kaiser und lebe in keinem Sansara. Ich will keine Wege zum Buddha
gehen; mein Reich ist gut, es war mir nie, auch jetzt nicht eine Hölle.
Paldan Jische, seien Sie nicht taub. Ich bettle doch.«

»Seien Sie nicht taub, Khien-lung! Wie soll die Erweckung im Menschen
erfolgen, wenn nicht so, durch Unruhe, Beängstigungen, im nächtlichen
Umherwandern, Händeringen, Hilferufen in die vier Gegenden.«

»O sind Sie grausam. Ich habe Sie für einen Ozean der Milde gehalten und
mich getäuscht.«

»Lassen Sie mich weinen mit Ihnen. Und lassen Sie mich beten, daß Sie stark
bleiben und daß es nicht von Ihnen abläßt.«

Khien-lung war fassungslos mit der Stirn gegen die goldene Lehne seines
Sessels aufgeschlagen. Seine Schultern und Arme hoben sich stoßweise unter
der dröhnenden Erweiterung seines Brustkorbes. Der Anwesenheit des
Taschi-Lamas achtete er schon nicht. Das Gefühl der grauen Verlassenheit
überwältigte ihn.

Der Heilige nahm seine Mitra vom Kopf; der kahlgeschorene Schädel war mit
feinen Schweißtröpfchen besetzt. In dieser nur von dem schnaufenden Atem
des Gelben Herrn unterbrochenen Tonlosigkeit wuchsen die Minuten zu
gedehnten Stunden. Die Stille war nur durch eine kleine Hülle, dünn wie
eine Gummihaut, geschützt; dahinter spannte sich ein Luftgemisch, das jeden
Augenblick brüllend die Hülle zu durchreißen drohte. Der Pantschen
Rinpotsche rauschte an den Altar, nahm das Gebetszepter in die Hand, warf
sich nieder. Als er sich erhob und umdrehte, war der stechende trübe Blick
Khien-lungs auf ihn gerichtet. Der Heilige scharrte stockend zurück; die
bildgeschmückte Mitra hob er sich langsam auf den Schädel. Er verneigte
sich vor dem steifsitzenden Gelben Herrn, dessen Gesicht den großen
Kriegskaiser zeigte, sagte: »Wenn es Eurer Majestät gefällt, will ich jetzt
zur Andacht gehen.«

»Ich bitte Eure Heiligkeit, mich morgen einer Unterweisung zu würdigen.«

»Ich werde Auftrag geben und den hohen Tschan-tscha Chu-tuk-tu anflehen,
sich auch morgen um die mongolische Karawane zu bemühen.«

Um dieselbe Nachmittagsstunde des nächsten Tages traten Khien-lung und
Paldan Jische in die Halle der drei Sessel. Ein umfangreiches Schmuckstück
prunkte vor dem Sitz des Heiligen. Schwarzer glatter Dreifuß aus Holz mit
kreisrunder grünbemalter Platte, breit wie ein ausgestreckter Männerarm.
Auf der Platte hatte eine wunderbare Miniaturkunst eine Stadt aus
blitzendem Metall, Edelsteinen und bunten Stoffen gebaut. Innerhalb der
Randmauer, der Ringmauer drängten sich die Häuser mit geschwungenen
Dächern. Die Ehrenbögen, Tempel; breite Alleen teilten die Stadt, in der
ein hohes Fest gefeiert wurde, viele Banner wehten von den bemalten
Stangen, prächtige Gebetsmühlen hatte man auf die Wege geschleppt. Das
Zentrum buckelte eine Halle aus, die eine glatte Kristallkuppel trug; vier
Stufen führten in den atemlosen, säulenumstellten Raum; ein goldener Gott
schwieg in der Mitte. Dies war ein Abbild der Götterstadt auf dem
Weltenberge Sumeru.

Nach Austausch der Begrüßungs- und Dankformeln saßen die beiden Herrscher
nebeneinander. Das gelbe Sonnenlicht fiel schräg durch die Halle.

Der Gelbe Herr erschien lebendig, aufgeräumt. Paldan Jisches Brustschmuck
glitzerte, ein kalmykisches Geschenk, eine halbmondförmige blaue Agraffe;
Kettchen, die von ihr herunterhingen, hielten zwei runde Platten aus Silber
mit eingelegten Korallen, Bergkristall und kleinen Perlen; die Kettchen
endeten in langen Seidenpuscheln, die auf den Schoß des Großlamas fielen.

Der Pantschen begann zu reden: »Der gelehrte Tschan-tscha Chu-tuk-tu klagt,
daß seine Amtstätigkeit ihn auch heute von der Zusammenkunft mit Ihnen und
mir fernhält.«

Khien-lung lachte: »Ich finde es recht despektierlich von dem gelehrten
Chu-tuk-tu; für die Karawanen und Viehherden findet sich vielleicht noch
ein anderer geistlicher Richter. Lassen mich Eure Heiligkeit mein Beileid
aussprechen zu einem so anmaßlichen Diener, der in meinem Lande sich eine
zu große Selbständigkeit angewöhnt hat. Wenn Sie anordnen, werde ich seine
Bestrafung verfügen.«

»So hat der Tschan-tscha Chu-tuk-tu nicht sicher gefühlt, als er Sie und
mich allein ließ?«

»Eure Heiligkeit kennen Khien-lung nicht. In einer Hinsicht bin ich noch
kein Jahr gealtert: in meiner Vorliebe für das schöne helle Sonnenwetter.
An solchen Tagen fühle ich nur den Himmel über mir, und ich habe die
Überzeugung, daß er es mit mir gut meint. Paldan Jische, an solchem Tage
braucht Khien-lung keinen Rat; er ist heute nur überströmend froh, ihn mit
der Blüte des Schneelandes gemeinsam zu verleben.«

»Ich zweifle, was ich Eurer Majestät sein kann. Die Sonne und die hellen
Tage sind schön, aber sie sind überflüssig. Sprechen Majestät nicht so zu
mir.«

»Wie soll ich zu Eurer Heiligkeit sprechen? Soll ich anfangen, wie gestern,
die Beängstigungen meiner Nacht in den schönen Tag hineinzerren? Sie werden
mich anblicken, mitleidig, aber: 'Gut, gut, noch mehr!' dazu sagen. Da Sie
nicht verstehen wollen, daß ich alter Mann keine neue Weisheit mehr lernen
kann. Der Tag ist schön; ich bedaure aufrichtig, den weisen Chu-tuk-tu
nicht zu empfangen; belehren Sie mich allein, Pantschen Rinpotsche.«

»Wo ein Fluß das Ufer unterwühlt, wird man ungern eine Pagode errichten.«

»Ich wünschte, Pantschen Rinpotsche, der Chu-tuk-tu wäre hier und hörte
Ihnen zu. Sind Sie nicht Mörder in Ihrem Mitleid um mich, in Ihrem
Verlangen mich zu retten? Ich lobe diesen Tag, der mich aufrichtet und
wieder glücklich macht nach Ihrem harten 'Nein' von gestern. Aber die Sonne
soll nicht wärmen und die Lerchen sollen nicht singen, weil sie für Sie
überflüssig sind. Wissen Sie, Pantschen, was Sie mir bedeutet haben, wie
ich Sie die letzten Monate erwartet habe! Ihr Anblick im Garten hat mich
erschüttert; mir ist zumute gewesen, als sollte eine Art Gericht über mich
hereinbrechen. Ich habe mich getäuscht und will tun, als hätte ich nur den
Besuch des Herrschers von Tibet empfangen, der im Begriff ist, mich unmäßig
zu beschenken.«

»Schlagen Sie gegen mich.«

»Ich will unverändert bleiben wie ich bin. Meine Väter haben wie ich
gedacht. Sie beten wir an, ohne die Kraft zu haben Ihnen zu folgen, ja, es
ist ein Eishauch um Ihre Lehren.«

»Ich habe zum Amithaba für Sie gebetet. Wenn ich das Lichtlein, das in
Ihnen brennt, anfachen wollte: verzeihen Sie mir. Seien Sie der kleine arme
Mensch, Khien-lung, der Kaiser des mittleren Reiches.«

»Ich bin Herrscher des größten Reiches der Welt, und ich verlange keine
Verwandlung. Ich bin als Sohn des Himmels geboren und werde auf dem
Drachenthron sterben.«

»Wenn Sie dieser schöne Tag nicht reut und ich Ihnen das warme Sonnenlicht
nicht verdunkle, will ich Eure Majestät fragen nach den Dingen, die Sie
gestern berührten. Warum haben die Soldaten Eurer Majestät jene tausend
Menschen in die Mongolenstadt getrieben, in der sie untergegangen sind?«

»Diese Menschen waren Rebellen, Paldan Jische, die meine Dynastie
schmähten, ein eignes Königreich in meiner nördlichen Provinz gründeten.

Sie hatten eine verlogene Art, das heilige Wu-wei, das Nichtwiderstreben
des Lao-tse in die Praxis überzuführen. Sie streiften, statt die Felder zu
bestellen und Kinder zu erzeugen, in den Distrikten einher; bettelten,
beteten wenig, hofften auf das Westliche Paradies. Da sie sich rühmten,
durch Vereinigung mit dem Schicksal in den Besitz übernatürlicher Kräfte zu
gelangen, strömten ihnen tausende tüchtige Männer, auch zahllose Frauen aus
allen Gegenden zu. Es ging nicht an, daß meine Beamten da zusahen. Sie
suchten sie zu zerstreuen; auch einige Schichten der Bevölkerung empfanden
das Bedrohliche der Bewegung. Und dies war der Anfang von ihrem Ende.«

»Ich weiß noch nicht gut den Anfang. Aber das Ende weiß ich: daß Khien-lung
ruhelos geworden ist. Wer hat für gut befunden, die Sektierer anzugreifen?
Da sie doch selbst, wie Eure Majestät bemerkten, nicht angriffen.«

»Der Name dieses Mandarins ist mir nicht genannt worden.«

»Es kommt darauf nicht an.«

»Dies ist kein Verbrechen, Eure Heiligkeit: Männer, die ihre Frauen und
Kinder verlassen, in ihre Häuser zurückzutreiben, Söhne, die den Dienst der
Ahnen vergessen, zur Besinnung zu peitschen. Die Äcker müssen gepflügt,
besät werden; die Steuern zur Erhaltung des Gesamtreiches müssen
aufgebracht werden. Wenn Frauen, die ein Schatten und Echo im Hause sein
sollen, unter Sektierer laufen, so soll man sie auf kleinen Ketten knien
lassen; die unzüchtigen Frauen und Nebenfrauen, die ihre Wohnungen
verlassen, um unter Leuten, die sich schamlos 'Brüder, Schwestern' nennen,
Dirnendienste zu tun, mag man bestrafen, wie es in den einzelnen Gegenden
Brauch ist: lebendig vergraben, in Säcke einnähen und ertränken, mit acht
Schnitten töten.«

»Dies alles ist Recht. Ich schweige schon. Ich vermag nicht zu fassen, wie
aus solch prunkendem Anfang das bejammernswerte Ende entstehen soll.«

»Nein, Pantschen Rinpotsche, dies bleibt rätselhaft. Genau soll man tun mit
den Verbrechern, wie ich sagte. Und doch ist das wie ein Kopf, der eben
noch ernst, würdevoll blickte, und plötzlich das Maul und die Augen wie ein
Tiger aufreißt und brüllt. Was ist dieser Kopf, Pantschen Rinpotsche? Warum
gähnt er mich an?«

»Lassen Sie ab, Khien-lung. Schließen Sie Ihre Seele ein. Ich hebe mein
Zepter. Der Buddha Cakya-muni hat die Ursachen des Daseins und ihre
Verknotung enthüllt; zurzeit der Morgendämmerung vor seiner Erhöhung wurde
dem Königssohn von Kapilevastu die Erkenntnis. Sie häkelten Ursache mit
Ursache zusammen; ich nehme den Faden, löse die Naht auf. Die Sekte
wanderte im Dunkeln, suchte den Buddha und hätte ihn gefunden. Sie sind
über die Männer und Frauen gefallen. Sie haben tausend ruhelose Geister
geschaffen. Sie haben die Kette ihrer Wiedergeburten unnatürlich
verlängert. Man kann nicht schlafen, wenn es nachts mit tausend jammernden,
anklagenden Geisterknöcheln gegen Türen und Pfosten klopft. Khien-lung, Sie
halten Ursache neben Ursache.«

»Was soll ich tun, um die Kette zu zerreißen? Ich weiß, meine Ahnen haben
hier etwas nicht gebilligt. Aber ich kann die Menschen nicht wieder zum
Leben bringen. Ich kannte diese Sektierer nicht; ich werde für sie opfern
lassen.«

Der Heilige lächelte; er streichelte die Seidenpuschel seines
Brustschmuckes nachdenklich: »Länder und Menschen sind grundverschieden;
zehn Tagereisen nach Osten von Tibet hat sich alles verändert und man weiß
weder von den Weltumwälzungen noch von dem Kreislauf der Geburt und des
Todes. Hundert Familien nennen Sie sich; nicht einmal der Tod bricht die
Familien in Stücke; Ihre Ahnen bleiben bei Ihnen. Wie abgeschliffen glatt
ist das, häuslich, über den Boden gebückt. Eine Räucherung versöhnt für den
Sturz in die Kaskaden der Wiedergeburten; ein Töpfchen Butter will eine
Seele für die jahrtausend verlängerten Qualen entschädigen. So lassen Sie
für die Geister dieser Toten in Ihrer Weise opfern; errichten Sie ihnen
Wegschreine. Die Reste der Wu-wei-Sekte schonen Sie.«

»Mein Kopf ist leer, faßt keine Gründe. Sie wollen mir helfen, Sie wollen
mir helfen!«

»Wieder ist der Tag schön. Milde sein, still sein heißt die Hand, die alle
Riegel hebt. Kommen Sie zu mir, alter Mann, finden Sie sich, bevor Sie
sterben.«

Der alte Gelbe Herr starrte vor sich hin: »Der Hochwürdige vom Gnadenberg
hat eine leichte sanfte Art, die Fäden zu lösen. Ich werde meinen Ahnen
Sühneopfer bringen; ich werde nach Mukden an die Gräber gehen. Für Wang-lun
und seine beladenen Anhänger Versöhnungen ersinnen. Kang-hi, Jang-tsing
wollen es.«

Khien-lung steifte die Wirbelsäule. Der Papst der Gelben Kirche zog die
Knochenkette durch die rechte Hand; sein Gesicht war dem Kaiser zugewendet.

Den Kaiser umringten die Schatten seiner starken Ahnen; sie drückten auf
seine hochgezogenen Schultern; sie musterten ihren hinsinkenden Nachkommen.
Der Kaiser bäumte sich; dies waren Kang-hi, Jang-tsing, die ihn in ihren
stillen Kreis aufnehmen sollten. Durch ihren Nebel leuchtete das bronzene,
freie Antlitz des Heiligen von Taschi-Lunpo.

In einer Verwirrung und Erschütterung schlotterte der Gelbe Herr vor dem
fremden Mann hoch, berührte seine seidenen Ärmel: »Sie sind, Paldan Jische,
der zeptertragende Lama. Khien-lung fürchtet sich; haben Sie ihm gut
geraten?«

                   *       *       *       *       *

Wang-lun hatte man nur eine Woche nach dem Fall Yang-chous zu verfolgen
vermocht. Der Verbrecher lief am hellen Tage durch die westlichen Flecken;
niemand wagte sich an ihn heran. Ahnungslose warf der riesenstarke Mensch
zur Seite; Angriffen mehrerer entzog er sich auf eine schlaue Art. Zuletzt
wurde er um die Zeit des ersten Schneefalls in Ho-kien, westlich des
Kaiserkanals, gesehen, vor der Mauer dieser volksreichen Stadt.

Seit da hatte ihn niemand in den Provinzen des Nordens gesehen, weder im
Winter noch im folgenden Sommer hörte man von Wang-lun. Auch unter den
Brüdern und Schwestern gingen nur unsichere Gerüchte über ihn. Ngoh, der
ehemalige kaiserliche Hauptmann, schien am meisten Kenntnis über Wangs
Aufenthalt zu haben; Ngoh war es, mit dem Wang vor den Mauern Ho-kiens
zusammengetroffen war. Von ihm erfuhr man, daß Wang lebte; er gab manchmal
in zögernder Weise zu, daß Wang auch bald wieder kommen würde, aber sobald
die Rede auf den Gründer des Wu-weibundes kam, verstummte Ngoh, blickte zur
Seite und war schwermütig.

Wang-lun hatte völlig die nördlichen Provinzen verlassen, zwei Tage,
nachdem er von Ngoh Einzelheiten des Untergangs der Gebrochenen Melone
erfahren hatte. Das Gerücht war rascher als Wang gewesen, der einen ganzen
Tag sich hatte verstecken müssen. Der sehnige Ngoh wußte nicht viele
Vorgänge; einige, die man ihm mitteilte, vergaß er unter der grausigen
Wucht des Ganzen.

Als Wang vor ihm stand, mit eingefallenem Gesicht, blutunterlaufenen Augen,
verwandelt in einen Kriegs- und Rachedämon, nur Gehirn und Arm zu seinem
berüchtigten Gelben Springer, erschrak Ngoh derart, daß ihn Wang an dem
Wams festhalten mußte.

Sie gingen an der Mauer entlang; in einen zerbrochenen Hockkäfig, der von
Bettlern als Nachtlager benutzt wurde, setzten sie sich; Wang wartete, bis
sich Ngoh beruhigt hatte. Dann gab Ngoh Antwort auf die Fragen des Mannes,
leise, vor seiner eigenen Stimme sich entsetzend, öfter fragend: »Was soll
mit dir geschehen, Wang?«

Ngoh konnte von dem nächtlichen Tumult in der Mongolenstadt berichten, von
den Versuchen einzelner Brüder, aus der Stadt zu entkommen, vom Todessturze
über die äußere Mauer. Mehr Einzelheiten wußte er von dem Eindringen der
Bürger in die Stadt bei Anbruch des Morgens; auch die Namen des Führers der
ehemaligen Stadtsoldaten und anderer, die Namen der beschwörenden Bonzen
waren ihm bekannt. Als Wang erfuhr, daß kein einziger der Eingeschlossenen
die Nacht überlebt hatte, atmete er auf, schlug sich dröhnend gegen die
Brust, saß aus Erz da.

Dann fragte Wang, während sie stoßweise der Wind mit lockerem Schnee von
den Latten des Käfigs überschüttete, wessen Schicksal besonders bekannt
geworden.

Ngoh schwieg zuerst, erzählte einige Vorkommnisse, ohne die Namen der
Betroffenen angeben zu können, schilderte, wie man die schöne Liang-li
aufgefunden, noch lebend; er redete sich in große Erregung hinein und
endete klagend mit dem Tode Ma-nohs.

In ein gellendes Geheul brach Wang-lun aus; er hielt sich an Ngoh fest,
stopfte sich die Ohren zu, wand sich.

Er rannte aus dem Käfig hinaus, durch den weichen Schnee an der Mauer
entlang, Ngoh hinter ihm her. Unaufhörlich gellte Wang, warf sich, die Erde
mit Fäusten bearbeitend, auf den Boden, raffte sich wieder auf; schließlich
liefen sie hintereinander auf eine kleine Anhöhe. Der schreiende
speichelnde Mann setzte sich in den Schnee, hielt sein Schwert mit beiden
Händen hoch, schwang es gleichmäßig durch die fallenden Flocken von rechts
nach links, von links nach rechts. Er zog es herunter, küßte stöhnend die
Klinge, betrachtete mit fremden Blicken den ratlosen Ngoh. Er wälzte sich
auf der Erde, rollte den Hügel herunter, malte eine lange hellrote Spur in
den weißen Schnee mit der blutspritzenden Hand, die am Gelenk geschlitzt
war. Ngoh fiel in sein Wimmern ein; er rüttelte an dem Mann, hob ihn auf,
preßte Schnee gegen die Wunde, zerrte Wang hinter sich her, der den Kopf
mit dem verzerrten Gesicht im Kreise drehte, mit der rechten Hand sein
abgerissenes Schwert hinter sich schleifte wie ein Kind sein rollendes
Wägelchen.

Dicht vor einem Tor fühlte sich Ngoh an der Schulter gepackt; Wang stieß
ihn schnaubend mit wilden Blicken von sich, blieb zuckend stehen,
betrachtete, sein Schwert hinwerfend, die breite Schnittwunde am linken
Handteller, wehrte dem unaufhaltsamen Wimmern Ngohs ab. Der riß sich einen
Lappen aus seinem Mantel, band die rote Fläche zu. Rasch entfernte sich
Wang, ohne ein Wort zu sprechen, ohne sich umzusehen.

Am zweiten Tage hatte das zarte Schneegestöber aufgehört; durch die
blendende Landschaft zitterte das Klingeln der Lustschlitten, das
glückliche Kichern. Die Ebene vor dem Tore war mit spazierenden Männern und
Kindern schwarz betupft. An der Mauer drückte sich Ngoh mit Wang-lun
entlang unter den Bettlern, die in Reihen lagen, ihre verstümmelten Glieder
zeigten, den Hundereis, den ihnen die Wohltätigkeitsanstalten schickten,
aus Kübeln schöpften. Jenseits des Hockkäfigs wurde es stiller; sie
schlenderten ohne zu sprechen am Fuß der Mauer weiter.

Ein Pfeifenverkäufer, ein langer Mensch, ging an ihnen vorbei; seine
Bambusrohre, die er auf der Schulter trug, streiften Wang mit ihren
weißkupfernen Saftstücken am Hals; Wang fuhr hastig zusammen und drehte
sich um. Er warf einen bösen Blick auf den Händler, der gemächlich im
Schnee vorantrabte. Auf der Anhöhe, die sie neulich im Gestöber erstiegen,
standen viele Kinder, Knaben mit bunten Kappen; das Schlagen eines
Tamburins scholl herüber; im Kreise der Kinder sprang ein Mann mit einem
angeketteten schwarzen Bär; der Mann klirrte seinen runden fellbezogenen
Rahmen über den Kopf, auf den Rücken, wirbelte sich herum; der Bär umging
ihn sachte, aufrecht, suchte mit den Vorderpfoten die Schultern des Herrn
zu berühren, die Kinder kreischten.

Wang, in sichtlich großer Erschlaffung, sagte, die Nachricht vom Schicksal
Ma-nohs sei auf ihn doch tiefer eingedrungen als er geglaubt hätte. Es
komme ihm vor wie ein Steinschlag in den Brüchen, den er einmal gesehen
hätte; zwei überlebende Leute hätten dagesessen und immer gelacht. So ginge
es ihm wirklich auch. Er redete in dieser Weise weiter, in einem
unnatürlich gleichmütigen berichtenden Tone.

Als Ngoh, der wieder ängstlich wurde und sich Erregungen nicht gewachsen
fühlte, fragte, was Wang vorhabe, lächelte der große Bettler eigentümlich
traurig und sah leer vor sich hin. Sie kehrten um. Und als sie schon in der
Höhe des lustigen Kinderhügels waren, umhalste Wang seinen Bruder und sie
spazierten umschlungen.

Es hätte sich alles so unübersehbar gewendet, meinte Wang, daß er keine
Lust habe, mehr etwas zu ändern oder herbeizuführen oder überhaupt irgend
etwas von Belang zu verrichten. Er führte Ngoh, der unruhig folgte und ihn
nicht verstand, auf den Hügel, um dem Bärentanz zuzusehen. Beim Anblick der
beiden Zerlumpten stoben die Kinder lautlos auseinander; der
Tamburinschläger zerrte sein widerspenstig brummendes Tier hinter sich her.
Die Männer machten abwinkend kehrt.

Ja, er sei fröhlich, fuhr Wang fort. Es sei alles unübersehbar, aber
schließlich hätte Ma-noh recht behalten. Der warnte am Ta-lousumpfe davor,
den Gelben Springer zu gebrauchen; es wäre ein Verstoß gegen die Lehre des
Nichtwiderstrebens. Weil er, Wang, nicht dieser Meinung war, hätten sie
sich getrennt. Das Unglück in der Mongolenstadt wurde heraufbeschworen. Zum
Schluß pralle das Schwert gegen seine Brust zurück: es geht nicht an zu
widerstreben. Ma-noh prophezeite sein Schicksal, und er habe versagt.

Ngoh wendete ein: was denn dabei für ein Grund wäre zu lachen und sich zu
freuen.

Soviel Grund, sagte Wang mit aufleuchtenden Augen, wie einer hat, der ganz
unerwartet, ganz plötzlich über sich belehrt wird von Grund aus, als ob ihm
das Fell vom Leib abgezogen würde. Man ist zufrieden. Man fühlt einen Boden
unter den Sohlen. Man weiß, woran man mit sich ist.

Wang war ersichtlich zu zerstreut, gut aufgelegt, rechts und links
abgelenkt, um viel zu sprechen. Später schwatzte er, aber so eigentümlich
Belangloses, daß Ngoh erstaunte. Wang zeigte Interesse an den einfahrenden
Schlitten, mokierte sich über die wackelnden Damen und die hinter ihnen
schwänzelnde Eleganz, erzählte Gauneranekdoten. Ngoh konnte erkennen, wie
aus dem erschlafften Gesichte Wangs sich neue verblüffende Züge
herausarbeiteten. Ein bäurischer Spaßmacher, ein anderer Mensch mit anderer
Stimme schlenkerte neben ihm.

Sie setzten sich auf einen plötzlichen Einfall Wangs zu ein paar
Bettlergruppen am Tor, würfelten mit ihnen. Ngoh erwartete von Wang eine
auffällige Gebärde, einen schmerzlichen Blick. Aber der Träger des Gelben
Springers schien sich immer mehr wohl unter dem habgierigen faulen
unflätigen Gesindel zu fühlen. Er war heiter ohne Krampf, rekelte sich und
beachtete Ngoh nicht mehr.

Als er ein schmutzstarrendes Mädchen, den Gemeinbesitz dieser Bande, zu
sich auf den Schoß nahm, stand Ngoh angeekelt auf. In einer wühlenden
Verwirrtheit schlich er nach dem Tore.

Am Eingang erreichte ihn Wang mit dem Mädchen. Beide schüttelten sich vor
Lachen. Wang hatte dem Mädchen erzählt, daß der Hauptmann wegen eines
Lustknaben den kaiserlichen Dienst quittiert hätte. Die Dirne konnte fast
platzen vor Vergnügen über den verrückten Kerl und fragte quietschend Ngoh
nach dem Namen des Knaben, indem sie mit dem Zeigefinger ihre Stirn
berührte. Rasch ging Ngoh in die Stadt hinein. Er hörte noch, wie Wang
hinter ihm herrief: »Lebe wohl, alter Bruder! Ein Wiedersehen im Westlichen
Paradiese.« Und wie er zur Freude des Mädchens die Torwache anrempelte.

Nach diesen Ereignissen verschwand er den Brüdern völlig aus dem Gesicht.
Ngoh schwieg über die Begegnung. Als die kaiserlichen Erlasse erschienen
und Wang-lun aus Hun-kang-tsun, Hai-ling, Schan-tung völlige Straffreiheit
verhießen und Duldung seiner Lehre, saß der ehemalige Bandenhäuptling auf
seinem kleinen Acker im Hia-ho, fuhr mit den Kormoranen auf Fischjagd,
seine Frau kannte ihn unter dem Namen Tai. Er war ein gewiegter Mann,
ehrerbietig gegen den Magistrat, kameradschaftlich, nicht ganz zuverlässig
im Umgang. Mit dem Glauben hielt er es wie alle Bauern: betete zu den
Göttern, die ihm am meisten Gewinn versprachen. Unter den Zuwanderern des
letzten Jahres nach Sicherung des Großen Dammes gegen Springfluten war Tai
der meistgeschätzte.

                   *       *       *       *       *

Nach ein paar Wochen erfuhren die Präfekten der Distrikte und Städte
Tschi-lis und Schan-tungs, in wie sonderbarer Weise sich die Untat in
Yang-chou-fu an dem Gelben Herrn ausgewirkt hatte.

Die weitere Verfolgung der Sektenanhänger wurde durch das Tribunal der
Riten, die Zivil- und Militärbehörden gleichzeitig verboten. Ein
kaiserlicher Erlaß an die Tsong-tous und die Präfekten der Kreise belegte
den völligen Sinnesumschwung der höchsten Instanz über das Ereignis.
Magistratsbeamte und Literaten der westlichen Provinz Tschi-li wurden mit
empfindlichen Geldstrafen und Degradierung bestraft, weil sie falsche
Mitteilungen über das Wesen der Sektierer gemacht hätten. Es verlautete aus
dem Astrologenhof der Roten Stadt, daß sich aus der Untat in Yang-chou
schwere Konstellationen für den Gelben Herrn ergeben hätten.

In den Literatenzirkeln, in den Tempeln des Kung-tse saß man
niedergedonnert beieinander. Bestimmter drang durch, daß der
Sinnesumschwung des Kaisers datiere von dem Besuch des Lamas Paldan Jische
beim kaiserlichen Hof in Jehol. Die nicht ordnungsmäßige Begründung des
Abweichens vom Ketzereigesetz fiel auf; nichts verlautete von Eingaben des
Zensorenhofes; das Nachschleppen des astrologischen Bureaus sprach nicht
für eine Initiative dieser Instanz. »Der Lamaismus am Hofe«, dieses alte
verhängnisvolle Lärmwort erschreckte die konservativen Elemente; sie
erregten sich; von den trüben Zuständen des alten Herrschers raunte man,
von einem Mißbrauch finsterer Altersstimmungen durch mystische Pfaffen.

Hetzereien gegen die Wahrhaft Schwachen setzten mit außerordentlicher Wut
ein. Der Erlaß wurde kaum in dem vierten Teil des Landes zur Kenntnis des
Volkes gebracht, zum Schein über Nacht an Mauern angeschlagen, von
gemieteten Strolchen abgerissen. Es erfolgten erbitterte Zusammenkünfte,
Beratungen, Beschlüsse der Kung-tsefreunde. Im Westen Tschi-lis erfolgten
die ersten Zusammenstöße. An mehreren Orten wurden Brüder niedergeschlagen
und gefoltert. Sie zerstreuten sich oft; das Martyrium lockte neue
Bekenner.

In der verhängnisreichen Gegend des Ta-lousumpfes standen zwei Trupps, die,
umzingelt von ihren gehässigen Verfolgern, von einigen Verzweifelten
mitgerissen, sich zur Wehr setzten, ja in einem blinden Aufwallen den
Angreifern ein regelrechtes Gefecht lieferten, das für die Bündler
siegreich verlief. Dies war der Anfang einer besinnungslosen Hetze auf die
Vaganten in dieser Gegend. Im Norden Pe-kings, im südöstlichen Tschi-li
ging es ebenso; unabhängige Ortsbehörden organisierten Angriffe auf sie.
Hier und da wurden lamaische Priester angefallen.

Kia-king, der starke fürstliche Kia-king zweifelte nicht an dem Wahnsinn
seines Vaters, an einer Betörung durch den heimtückischen Taschi-Lama. Eine
Abschrift des kaiserlichen Versöhnungserlasses zerriß er in seinem Palast
vor den Augen Chao-hoeis und Songs, die ihn besuchten. Als die Nachrichten
von dem Umsichgreifen der Rebellen kamen, funkelten seine Augen vor Freude.
Man hetzte ihn Partei zu ergreifen; er konnte des Anhangs aller Freunde des
Kung-tse aller wahren Patrioten sicher sein, die mit Abscheu den Sieg der
Gelbmäntel am Hofe verfolgten. Er hielt an sich; aber die Schlüssel zu
seiner Schatzkammer warf er nach einer solchen zornigen Unterhaltung dem
Aufseher seiner Gärten zu. Jetzt geschah etwas Erstaunliches: der
Widerstand der Behörden hörte in den Provinzen rasch auf; dafür wuchs der
Anhang der Sekte zu einem unerhörten Umfang, und die Anhänger schien alle
zusammen ein Taumel von Wut, ein Rausch von Kampflust zu ergreifen, der wie
ein Meer alle Sanftheit mit einer einzigen Flut ertränkte. Es waren von der
Eunuchenumgebung Kia-kings unbedenklich mehrere Tausend entlassener
Soldaten an verschiedenen Orten angeworben worden, die den Auftrag
erhielten, den Wahrhaft Schwachen zum Schein beizutreten, im übrigen
Befehle aus Pe-king entgegenzunehmen. In einigen Wochen vollzog sich eine
entsetzliche Umwandlung des Bundes.

Zwei Greueltaten wurden von Pe-king aus mit feinstem Geschick arrangiert:
ein Attentat auf den einzigen Sohn Chao-hoeis, des Lieblingsgenerals
Khien-lungs, und ein Scheinangriff auf Mukden, wo der Kaiser sich eben
aufhielt. Lao-sü hieß der Sohn Chao-hoeis; bei Schan-hai-kwang stand sein
Wohnhaus auf den nordwestlichen Abhängen der Magnolien. Während der junge
Lao-sü mit einem Freund eines Abends durch die dunklen Straßen der Stadt
spazierte, um zu scherzen, sie trugen elegant Gardenien in den Händen und
liefen mit dem tänzelnden knickenden Schritt der Gaukler, wenn sie auf
Bambusstäben jonglieren, fielen Kerle im Finstern über sie her, schlugen
ihnen mit Holzkloben über den Kopf, rissen ihnen das mandschurische
Brustschild aus dem Oberkleid. Sie schleppten die beiden Besinnungslosen
vor das Tor eines verfallenen Hauses, malten ihnen mit Erde das Zeichen der
fünf bösen Dämonen auf die Stirn. Chao-hoei, der bei Khien-lung weilte,
brach hin über die Schmach, die man seinem Hause angetan hatte; Lao-sü
heilte schwer. Neben den Kaiser her schleppte der General sein Unglück.

Unmittelbarer Teilnehmer an einem Exzeß der Bündler wurde der versunkene
Kaiser in Mukden; er sah vom Garten aus die züngelnden Flammen, welche eine
Pagode und einen Ehrenbogen ergriffen, die er selbst zu Ehren seiner Mutter
errichtet hatte. Er hörte auch die Todesschreie der Bündler, armer
Soldaten, denen man eine große Geldsumme für ihre Familie gegeben und eine
kostbare Beerdigung versprochen hatte.

Er verließ die Mandschugräber, reiste nach Jehol. Widerstrebend öffnete er
die Berichte, die von den Tsong-tous eingelaufen waren: Rebellion, offene
Rebellion war im Lande.

Todesstille in dem kaiserlichen Wohnhaus, als dem Himmelssohn die Berichte
vorgelegt waren. Er hielt sich eingeschlossen. Am Mittag des folgenden
Tages stieg er gebückt allein in die Ahnenhalle, wo er bis zum Abend blieb.
Khien-lung fühlte sich schlaff und elend. Er fürchtete, sein Tod könnte
jede Stunde eintreten. Das grausige Gespenstergesicht aus der Mongolenstadt
hatte seine Züge nicht verändert. Er konnte es nicht ändern. Er konnte
seine Ahnen nicht versöhnen. Sein Leben endete schmählich. Der Himmel hatte
dies über ihn verhängt. Es sollte nicht anders enden.

Und in diesen Tagen, wo der alte Gelbe Herr auf sich eindrang, um seiner
Seele einen Zornesausbruch abzuringen, traf ihn ein Schlag, der aus seinem
eigenen Hause auf ihn gerichtet war.

                   *       *       *       *       *

In einer Clique, die sich in einem Pe-kinger Hause zur Pflege von Klatsch,
Intrigen, Veranstaltung von Theateraufführungen zusammenfand, spielte eine
große Rolle eine Dame namens Pei, deren Vergangenheit den meisten der
vornehmen Besucher des Hauses unbekannt war.

Die Dame Pei behauptete selbst die Tochter eines westlichen Mühlenbesitzers
namens Pei-sih-fu zu sein; früh verwaist wäre sie nach einer Vorstadt
Pe-kings geschickt worden, wo sie ein im Ruhestand lebender Mandarin
adoptierte und erzog. Die elegante Person hatte unzweifelhaft die Allüren
der gebildeten Gesellschaftsklasse, sprach das reinste Kuan-ha, beging nur
öfter Schnitzer in elementaren Sachen, mißverstand literarische
Anspielungen. Das traf sich gelegentlich, da sie sich sonst
außerordentlicher Zurückhaltung befleißigte. Es hätte niemand aus der
Vorstadt Pe-kings, in der sie wirklich »erzogen« war, in der auffallenden
und klugen Dame Pei die kleine Haussklavin eines verwitweten Barbiers Yeh
wiedererkannt, bei dem sie in einem unsauberen Haushalt den Schmutz
vermehrte, täglich von den verwahrlosten Barbierkindern geprügelt wurde und
fast verhungerte. Sie lief weg und es scheint, als ob sie in einem der
bemalten Häuser am Kanal erst Küchendienste tat, dann unterrichtet, selber
die höheren Weihen empfing und in die Versammlung der Mandarinenten
aufgenommen wurde.

Sie avancierte aber in dem Viertel, in dem sie wohnte, nicht zur Königin
des strahlenden Blumenfeldes. Denn mit achtzehn Jahren befiel sie eine
Augenkrankheit und obwohl sie der sonst zuverlässigen Göttin des
Augenlichtes viele Geschenke machte, silberne Brillen mit Elfenbeinstäben
brachte, heilte nur das rechte Auge, auf dem linken blieben große weiße
Flecken zurück, welche den Kurswert des Fräulein Pei sehr erniedrigten.

Sie vermochte nun durch ihre ganz raffinierte Anschmiegsamkeit einen
reichen Justizbeamten zu veranlassen, sie zur Nebenfrau zu nehmen. Sie
wollte aus dem bemalten Hause heraus. Schon nach zweieinhalb Jahren verließ
sie die Wohnung des Richters, nachdem ihr von der rechtlichen Frau eine
Abstandssumme gezahlt war.

Die Dame Pei bewohnte jetzt mit mehreren Dienerinnen ein kleines Haus,
lebte zurückgezogen, empfing hie und da Besuche, verkehrte nur in Familien
mit großem Namen. In ihrem Zimmer pflegte sie die alten Erinnerungen. Sie
hatte mit einer gewissen Neigung die Galanterien in dem bemalten Pensionat
vollzogen. Duftende Räucherpfannen stellte sie auf, in denen jeden Tag
Ambra, der Drachenspeichel brannte. Morgens löffelte sie den gewohnten Napf
Ingwersuppe. Sogar den heißen Wein trank sie allein, Wein auf Wein,
Trunkenheit auf Trunkenheit, wie man zu sagen pflegt. Das Gesinde begriff
nicht, was die Dame auf ihrem verschlossenen Zimmer den halben Tag trieb.
Da man sie drin leise trällern und das Juch-kin greifen hörte, wurde man
neugierig.

Wie dann die Dame zum Schminken und Ankleiden für die Nachmittagsbesuche
klatschte und man sie oft trotz aller Würde leicht erregt, freudig, noch
unruhig fand, kam man auf Gedanken. Gespräche mit der Nachbarschaft
bekräftigten diese Vermutungen, welche auf nichts weniger hinausliefen, als
daß die Dame Pei ein weiblicher Wu, eine Zauberin wäre, die auf ihrem
Zimmer mit Gespenstern kose.

Die junge Frau bemerkte das scheue Tuscheln der Mädchen. Eine
Blumenverkäuferin trug ihr das Gerede zu und Frau Pei wurde nachdenklich.
Sie nahm unbeschäftigt aus Laune den sonderbaren Wink an, ging zu einem
berühmten Wu, der sich vor Lachen heiser krähte: sie diene ihren sanften
Erinnerungen vom Blumenfelde, und man hielte sie für eine tätige Wu. So
zärtlich nähme doch niemand Schatten auf! Sie bat, sie in den Beschwörungen
und Gebräuchen der Zauberer auszubilden, nur wenig; sie wolle damit nur den
andern Schrecken einjagen; vor der wirklichen Zitierung eines Schattens
fürchte sie sich. Da sie eine runde Summe vorbezahlte, ging der
geschäftskundige Wu auf den Handel ein, versprach, ihr nicht den geringsten
Schatten zu zeigen, ihn nur dicht heranzuzwingen.

So lernte sie die verschiedenen Sorten Geister, Gespenster, Dämonen
benennen, ihre Merkmale unterscheiden, die Umwandlung in Werwölfe, Füchse,
Rattendämonen, die Art ihrer Fesselung und Entlarvung, die Handhabung der
Aschen, Amulette, Papiere, Schwerter, Wasser.

Zwischen Schauern und Zärtlichkeiten schwebend blieb sie die junge würdige
Dame Pei, die reich genug war, um ihren Launen nachzugehen. In den Zirkeln
ihres Verkehrs widersprach sie niemals dem geheimnisvollen Reden hinter
ihrem Rücken. Sie war geduldig, wartete auf die Gelegenheit ihre Kräfte zu
zeigen, denn sie hungerte nach Einfluß in diesen Sphären.

Nun nahm an den Damenunterhaltungen auch eine bildschöne Frau Jing teil,
welche Dienst bei einer kaiserlichen Prinzessin tat; so zierlich und
ebenmäßig die Person war, so dumm war sie auch. Die Dame Pei hielt sich von
ihr fern, weil sie in der Nähe von Schönheiten bitter wurde. Frau Jing riß
staunend den Mund auf, als sie die abenteuerlichen Mächte der Dame erfuhr;
sie drängte sich an die Überraschte heran, fragte sie aus, besuchte sie in
ihrer Wohnung, bewarb sich sichtlich um die kühle Pei, die mit ihr spielte
und sie von oben herab behandelte.

Aber im Augenblick änderte die Pei ihr Benehmen, als eines Tages Frau Jing
entzückt aus ihrer Sänfte stieg, sie umarmte und eine Einladung der
Prinzessin überbrachte zu einer kleinen Tasse Tee. Mit Herzlichkeit
erwiderte jetzt die Pei die stürmischen Liebkosungen der jungen Jing, die
sich in der Nähe einer Wu glücklich und geborgen fühlte. Auf die erste
Höflichkeitsvisite bei der Prinzessin folgten intimere Besuche, und die
schmutzige Haussklavin des Vorstadtbarbiers stand im Beginn ihrer
glänzenden Karriere.

Sie war am Hof der Roten Stadt unter Weiber und Eunuchen hineingeraten, die
im Schwall abergläubischer Verworrenheiten versanken. Hier zentrierte sich
in kurzer Zeit alles um die geschickte Dame Pei. Einige Prinzen fanden sich
bei den Konventikeln ein; die dunklen Seancen wurden im verschlossenen
Zimmer abgehalten, Damen und Herren standen rasch unter der Suggestion der
sich elegant und sicher bewegenden Frau, die heimlich selbst nichts mehr
fürchtete, als daß eins ihrer Experimente gelänge.

Der Günstling Khien-lungs, der Prinz Pou-ouang, war ein freier dreister
Knabe; seine Schwester wünschte ihn zu bekehren; schnell störte er die
geheimnisvollen Arrangements der Dame Pei, die er wegen ihres angeblich
bösen Blicks nicht leiden mochte. Seine Zähmung gelang leicht; die sanfte
und scheue Prinzessin, schokiert durch sein Auftreten und in Schmerz um die
betrübte Pei, drang in die Zauberin, den Prinzen durch eine
Handgreiflichkeit zu überzeugen. Sie bot ihr an, gar keine Mühe an den
Jüngling zu verwenden, ihn zunächst auf einen groben Betrug hereinfallen zu
lassen. Und halb widerwillig mußte die entzückte Frau darauf eingehen, dem
lächelnden Pou-ouang eine morgendliche Begegnung zu prophezeien, für deren
Ausführung die Prinzessin in einem Pflichtgefühl gegen ihren gekränkten
Gast sorgte. Die Verblüffung des Prinzen war nicht geringer als seine
folgende Demut und Unsicherheit vor dem Schützling seiner Schwester.

In seinem Eifer brachte der Knabe den berüchtigten Prinzen Mien-kho in den
magischen Kreis, dem auch der Obereunuch angehörte. Mien-kho,
breitschultrig, gedrungen, immer in Generalsuniform mit dem Löwen im
Brustschilde, ein bramarbasierender tollpatschiger Mensch, fühlte sich
außerordentlich geehrt, in diese ungewöhnliche Gesellschaft aufgenommen zu
sein, saß in dem Balkonzimmer, das für die Sitzungen diente, mit
geschwollenem Kopf und offenem Munde. Khien-lung haßte diesen Sohn, der
durch sein rohes Wesen auffiel und in den Hintergrund gerückt wurde. Als
dieser breitbeinige, von sich eingenommene Mann die Künste der Dame Pei
wahrnahm, lehnte er nicht ab wie der junge Pou-ouang, sondern zeigte sich
bei den gemeinschaftlichen Rückwegen aus dem Boudoir schweigsam, finster
erregt, so daß Pou-ouang noch mehr von der wunderbaren Frau überzeugt war.

In dem wirren Gehirn des Kriegsmannes setzte sich eine Idee fest: sich der
Dame Pei zu bemächtigen und sie zu zwingen, ihre Fähigkeiten ihm zur
Verfügung zu stellen. Die junge Frau Jing, die vor ihrer Verheiratung seine
Konkubine war, und der Obereunuch Schang erschraken, als der Prinz sie auf
dem Wege zur Frau Pei einholen ließ durch seine Läufer, sie in seine eigene
Sänfte einlud und durch die Straßen spazierend ihnen ohne Umwege sagte, daß
die Dame Pei ihm ihre Dienste angeboten hätte und er von ihren dunklen
Kräften Gebrauch machen wolle. Frau Jing und Herr Schang müßten ihm
behilflich sein, sich der Dame zu versichern. Es sollte nicht zum Schaden
der beiden Herrschaften sein. Festnehmen aber müsse man die Zauberin, denn
es sei absolut nötig, sich vor Verrat zu schützen.

Den Einwand des Herrn Schang, daß man ja bei der Bereitwilligkeit der Wu
nichts zu fürchten hätte, wies der heisere Prinz, der aus gequollenen
Bullenaugen blickte, zurück. Man müsse alles mit Entschiedenheit und Gewalt
machen. Auf ein Gespensterweib sei kein Verlaß; wozu die entschlossene Frau
Jing nickte.

So geschah an diesem Nachmittage das Seltsame, daß die geschmückte Dame Pei
von Herrn Schang und Frau Jing abgeholt in der Sänfte des kaiserlichen
Prinzen Mien nach einem abgelegenen Haus der Verbotenen Stadt gebracht
wurde, wo sie angekommen in ein Hinterzimmer geführt von dem häßlichen
Prinzen angefallen, gefesselt und auf den Boden gesetzt wurde. Das
Seidentuch nahm er ihr aus dem Mund, als die fast Erstickende durch wildes
Kopfnicken erklärt hatte, nicht zu schreien. Während sie nun in ihrem
prächtigen pelzgeschmückten Kleid an der Erde saß, leise weinend und für
ihr Leben fürchtete, dröhnte Mien vor ihr auf und ab, prasselte den
Prunksäbel hin und erklärte sich für ihr Leben und ihre Sicherheit
einzusetzen, wenn sie sich ihm ohne Einschränkung zur Verfügung stelle.

Die Dame Pei mußte sich an die Wand lehnen. Sie glaubte, der schwarze Prinz
hätte sie entlarvt, und statt dessen -- begehrte er sie. Das war ein Raub
nach seiner Draufgängerart. Sie tat beschämt, wies auf ihre gute Familie
hin. Der massive Mann stemmte sich auf seine Waffe und resümierte roh: »Ja
oder nein?« worauf sie, trotzdem sie sein Gesicht nicht sonderlich schön
fand, ein zärtliches Ja hauchte, wieder leise weinte und zu ihm
hinschielte.

Er erklärte in demselben mürrischen Tone, sie würde für einige Zeit jetzt
hier wohnen, das Haus nur in verschlossener Sänfte in Begleitung der
Herrschaften Schang und Jing verlassen. Sie dürfe keine Geister beschwören,
Schatten zitieren, Krankheiten in der Entfernung heilen oder erzeugen,
sondern sich ganz ihm zur Verfügung stellen. Was sie mit seufzender
Zustimmung beantwortete.

Frau Jing erstaunte nicht wenig, als sie am Abend bei ihrer
eingeschlossenen Freundin erschien und diese ihr lachend um den Hals fiel.
Die Dame Pei meinte, sie würde sich rasch in die neuen Verhältnisse
einleben. Erst hätte sie sich vor dem wilden Prinzen gefürchtet, aber im
Grunde sei nur sein Benehmen so fürchterlich. Was er von ihr verlange,
würde ihr zwar einige Schwierigkeiten seelischer Art bereiten, aber --. Und
Frau Jing nahm glücklich das Aber auf, redete ihr zu, doch alles in Frieden
und ohne Lärm hinzunehmen. Der Prinz schwöre auf sie, aber es müßte alles
geheim bleiben.

Erst der nächste Morgen versetzte die liebeshungrige Pei in eine schwierige
Lage. Sie mußte, vom Prinzen aufgeklärt über seine gar nicht
leidenschaftlichen Absichten, ihre Enttäuschung verbergen und in der
Verwirrung seinen Plan anhören. Der schlimme Plan Miens bestand darin,
einen bestimmten Mann auf sympathischem Wege zu einer gewissen Zeit
erkranken und nicht lange darauf sterben zu lassen. Frau Pei hatte sich
mehrfach bei der Prinzessin in Miens Gegenwart solcher Fähigkeit gerühmt,
die jedem vielerfahrenen Wu innewohnt. Jetzt weinte die Dame Pei aufrichtig
und konnte von dem Prinzen nicht beruhigt werden; sie weinte über ihre
verlorene Schönheit und wie schmählich alles verlaufe. Es fehlte nicht
viel, daß sie aufsprang, dem gewappneten Mann ins Gesicht schlug und ihre
Unfähigkeit herausschrie. Das ganze Manöver zeigte den Prinzen in einer
Dummheit, vor der sich die verwöhnte Frau ekelte. Sie weinte wütend weiter,
erinnerte sich ihrer Kindheit im Hause des Barbiers und beruhigte sich sehr
langsam. Der Prinz, der sie verlassen hatte, kam nach zwei Stunden wieder;
sie bat ihn um Verzeihung, ein weibliches Herz könne sich nicht leicht
neuen Dingen anschließen; Mien fragte sie genauer aus nach den Methoden,
mit denen man Entfernte behext, umbringt; sie hielt es für das einfachste,
ihm einen Trank zuzuschicken, was Mien nach einigem Überlegen ablehnte;
diese Methode schien ihm zu gefährlich. Ob sie im Hause, ohne sich aus dem
Zimmer zu rühren, seine Absicht ausführen könne. Nach einigem Nachsinnen
meinte die Dame Pei aufleuchtend, daß dies ginge. Sie schlug vor, den Geist
des zum Tode Verurteilten in eine Puppe zu zwingen, die Puppe an der
Schwelle der Wohnung des Menschen zu vergraben; in kurzem würde dann der
Mensch verwirrt werden, sich umbringen oder auf andere Weise rasch sterben.

Dazu schwang Mien die Arme; dies sollte ausgeführt werden. Er nahm ihr
nochmals das Gelöbnis des Schweigens und der Konzentrierung ihrer Kraft ab;
sie würde, wenn alles glücke, belohnt werden wie sie wünsche; nichts würde
ihr abgeschlagen werden.

Und so war die Dame Pei, in dieser Weise gefangen, nur wenig erschreckt,
als der ungeheure Mensch sich zu ihr waffenklirrend bückte und ihr ins Ohr
flüsterte, nachdem er die Perlschnüre beiseite geschoben hatte, die ihr vom
Kopfputz herunterhingen, es handle sich um den Kaiser, den sie verzaubern
solle.

Das Vertrauen, das man ihr in diesem Kreise schenkte, hatte sie schon
früher erregt; jetzt schoß ihr eine Wut in den Kopf, eine Blendung fiel
über ihre Augen; sie nahm sich vor, zu können und zu herrschen.

Außer Frau Jing, dem Eunuchen, die für die Geheimhaltung des Aufenthaltes
der Pei raffiniert sorgten, wurde in das Geheimnis ein Steinschneider
einbezogen, der mit dem Eunuchen befreundet öfter in den Palästen der Roten
Stadt arbeitete. Er erhielt vom Prinzen Mien viertausend Taels und ein
goldenes Amulett, den Gott des langen Lebens darstellend. Frau Pei
beauftragte ihn, mit möglichster Sorgfalt eine armgroße Statue des Kaisers
in Jade zu schneiden; er solle den Kaiser liegend nur mit einem Leinenrock
bekleidet darstellen; die weitere Ausstaffierung der Puppe würde sie
übernehmen.

Länger als fünf Wochen dauerte es, bis dieser Bildhauer, der geheim
schaffen mußte, seine Arbeit fertig hatte und abends eine fein gebeizte und
geschnittene Büchertruhe vom Karren hob und aufgeschultert in das Haus
brachte, welches die Dame Pei bewohnte.

Die Puppe aus grünem Nephrit ähnelte erschreckend dem Himmelssohn.
Schlafend lag der Kopf auf die rechte Seite gedreht; der Mund atmend leicht
offen; ein dünnes Kleid wallte bis auf die bloßen Füße und war in der
Schlafunruhe von der rechten Schulter her verzogen, über den linken starken
Knöchel verschoben; die Hände fielen dickgeädert schwer zu beiden Seiten.
Der glasig grüne Stein gab dem Bild eine Leichennähe und gleichzeitig eine
unirdische Bewegtheit, die von innen aus dem Stein heraus geradezu
sprechend gegen den Tod sich wehrte.

Die Verschwörer standen um das Bild herum. Mien mit siegesgewisser Freude
umarmte den einfachen jungen Steinschneider, der mit stolzen Blicken sein
Machwerk prüfte und eine Falte anders gelegt haben wollte.

Frau Jing weinte, wich in eine Ecke, wo man sie schnauben hörte; auch der
Dame Pei, die erst die Puppe mit einer gemachten Ruhe fixiert hatte, wurde
übel; sie seufzte, lief in Angst aus dem Zimmer und mußte von Frau Jing auf
das Geheiß des Prinzen zurückgerufen werden.

Die weitere Arbeit lag der Dame Pei ob. Als sie sich von der Gesellschaft
ihrer Gäste befreit hatte, brauchte sie mehrere Tage, ehe sie sich der
Puppe gelassen nähern konnte; dann gab ihr der Prinz Gelegenheit,
Khien-lung zwischen den Magnolien und Lotosteichen der Purpurstadt
spazierend zu sehen. Und immer wieder sog sie mit beschwörenden Gesten
etwas von der Seele des wandelnden Mannes ein, heute die Geister der fünf
Eingeweide, der Leber, Milz, Lungen, Herz, Nieren, dann den Geist der
Augen, des Hirns; jedesmal trug sie einen kleinen Gegenstand in der
geschlossenen linken Hand, das Organ, dessen Geist sie bannte; aus blauem
Holz die Leber, aus weißem Metall die Lungen, aus feuerroter Seide das
Herz; zu Hause preßte sie die eiförmigen Stoffe der träumenden Puppe auf
den Leib, die Brust, die Stirn; unter Brennen des Weihrauchs, Abdunkeln der
Fenster. Wie ein Schwamm nahm die Puppe die Geister auf; der Stein begann
sich dunkler zu verfärben, die Figur wurde undurchsichtig, braune Kerne
bildeten sich in ihrem Innern, von denen sich feine Linien und Sprünge wie
Adern in die Glieder senkten und über die Haut sprossen.

Nachdem die Dame Pei in einer letzten schmerzvollen Zusammengerissenheit
den Lebensgeist des Kaisers heimgebracht hatte, verschloß sie über fünfmal
fünf Tage die Truhe, in der die Bildsäule ruhte. Gegen Ende dieser Zeit
stöhnte und stocherte es in dem Kasten vernehmlich; der schwarze Prinz
Mien, der Steinschneider und die schöne Frau Jing bückten sich über den
Kasten, als die Pei, die ihre Kniee bezähmt hatte, im gelben
rotüberflammten Wukostüme mit kräftigem Anstemmen der Arme den Deckel
sprengte. Ein warmer Dunst schwälte mit faulig fadem Geruch aus dem Kasten.
Vor dem Gesicht trug die Dame Pei eine schlangenzüngelnde, goldverzierte
Göttermaske; ihre lebendigen, rotgeschminkten Hände ergriffen die Puppe,
die sie rasch wie eine wilde Katze gegen ihre Brust anpreßte.

Sie sahen alle, die Zauberin umringend, daß der Kopf der Bildsäule leicht
nach der Mitte zu gedreht war; das rechte Auge hatte blinzelnd das Oberlid
angezogen; die Gewandfalten lagen glatt; die Puppe hatte sich gestreckt.
Auf dem schwarzgefilzten Tisch neben der Öllampe lagerte die Frau
vorsichtig die Figur, einen Finger immer gegen sie andrückend; die
zitternde, nervös rülpsende Frau Jing, die ohne es zu merken oft wimmerte,
brachte ein zierliches weißes Trauerkostüm, mit dem die Zauberin rasch die
Gestalt bekleidete.

Es war Nacht; der dicke Nebel floß über die stillen Paläste der
Purpurstadt; vor die Glückseligkeitshalle, in der der Kaiser schlief,
tasteten sich die vier Verschwörer an einen uralten Thujabaum, unter dem
Khien-lung zu sitzen liebte. Rasch gruben der Prinz und der Steinschneider
mit einer bereitgelegten Schaufel ein oberflächliches Loch, versenkten die
zwischen zwei Bretter eingeklemmte Puppe. Die Zauberin stammelte ein paar
Worte hinunter; ein Kratzen kam herauf; die Erde wurde übergeworfen.

Man trennte sich; es war geschehen.

Die Puppe würde in Erstickungskämpfen des letzten Restes der Seele
Khien-lungs sich bemächtigen; der Kaiser mußte sterben; die Puppe war
gefesselt, konnte nicht aufstehen.

Diese Ereignisse fielen in das Jahr der Gebrochenen Melone. Wenig hielt
sich der Kaiser in der Purpurstadt auf; die Angelegenheit rückte nicht vor.
Die Dame Pei wohnte schon wieder in der Stadtwohnung. Der Prinz Mien
besuchte sie nicht selten; er wurde bald erregt und drohend zu ihr, da er
überzeugt war, daß sie aus Angst vor dem Kaiser nicht alle Künste spielen
ließ. Er schlug die empörte Dame einmal so heftig auf den Schädel, daß ein
Arzt ihre Kopfgeschwulst behandeln mußte.

Sie klagte ihre Not der Dame Jing und dem Steinschneider, die bei ihr aus-
und eingingen. Die Jing freute sich ersichtlich über das Unglück, denn sie
war eifersüchtig auf die Pei geworden.

Der Steinschneider war ein verschlagener, geldgieriger Mann, der dem
Prinzen große Summen in dieser Sache erpreßte. Als er den Eindruck gewann,
wie schwierig die Angelegenheit war, begann er an dem Erfolg des
Unternehmens zu zweifeln, hielt die Pei für eine Geldschneiderin wie sich
selbst und suchte sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Die Dame Pei
krümmte sich vor Wut, als er vorschlug, den Prinzen noch einmal gründlich
anzuzapfen, dann wolle er sie heiraten und mit ihr in seine Heimat nach
Schan-si gehen. Zurückgewiesen und hart vor den Kopf gestoßen plante er
Rache.

Bei der Herstellung einer steinernen Girlande an der Front eines Pavillons
am südlichen Lotosteich vermißte er angeblich eines Tages ein Stück Jade
von bedeutender Größe. Er erstattete dem Oberaufseher der Bauarbeiten
Meldung, der die Untersuchung energisch in die Hand nahm. Der
Steinschneider erklärte, es wäre möglich, daß der Stein schon seit Monaten
verschwunden sei. Da erhielt er auf der Stelle Prügel für seine
Unachtsamkeit, und nun erst in seinem Schmerz bemerkend, wie dumm er die
Sache angestellt hatte, so daß er schon im Beginn bestraft wurde, gestand
er schreiend die ganze Verschwörung.

Die Jadepuppe wurde ausgegraben unter dem Entsetzen der Hofbeamten, die die
Sache zu vertuschen suchten.

Den Erdboden unter der Thuje fand man gelockert; wenig tiefer dringend
stieß man auf eine eigentümliche Höhlung wie eine Luftblase und auf deren
Grund lag die Puppe; die Bretter in der Mitte gesprengt und nach oben
verbogen; die Puppe, die Hände vor den Mund geschlagen, sitzend vornüber
gekrümmt. Weiße Maden bedeckten sie, als wenn sie ein Leichnam wäre.

Man fahndete nach den Damen Pei und Jing. Beide waren flüchtig.

Den Prinzen Mien traf man in seinem Palaste an; auch er suchte zu
entkommen. Nachdem ihm von dem Minister der Strafen, der die Untersuchung
übernommen hatte, bedeutet war, daß er sich bis zum Entscheid des Kaisers
in seinem umstellten Palaste aufzuhalten habe, brüllte er, fast platzend
vor Wut, von wem der Minister zu solcher Maßnahme gegen einen kaiserlichen
Prinzen autorisiert sei. Auf die kalte Antwort des Ministers, er übernehme
die Verantwortung, hieb der tobende Mann ihm mit seinem Prunksäbel gegen
den Kopf, so daß die Mütze mit der Pfauenfeder herunterfiel. Die
Palastwachen stellten sich vor den Angegriffenen; der Prinz trat,
beschimpfte sie in widerlicher Weise, ohrfeigte andrängend den Hauptmann,
der sich nicht wehrte. Dann zum Fenster hinausblickend und die starke
Besatzung vor seinem Haus bemerkend, zog er sich still mit giftigen Augen
in sein Schlafzimmer zurück, atmete Goldplättchen ein und erstickte.

Zur Zeit, als Khien-lung den Taschi-Lama in Jehol empfing, kam der Prinz
Mien-kho so um. Die Untersuchung wurde auf Befehl des Kaisers weitergeführt
und ergab den dringenden Verdacht einer Beteiligung der Prinzessin und des
Prinzen Pou-ouang.

Diese Nachricht war es, die den Kaiser, dem die Beruhigung seiner Ahnen
durch Sühnung des Verbrechens von Yang-chou fehlgeschlagen war, in Jehol
erreichte und seiner Seele einen grausamen Stoß gab. Briefe von Kia-king
kamen an, in denen der Prinz ihn tröstete, von seiner grenzenlosen
Zugeneigtheit zu seinem Vater sprach, bat, bittere Mißverständnisse
aufklären zu lassen oder zu vergessen. Khien-lung, von der Idee besessen,
bald sterben zu müssen und ungereinigt vor seinen Ahnen zu erscheinen,
erreichten diese Tröstungen nicht. Er rang um seine Stellung unter seinen
Vätern wie nie um ein Land. Er sah sich von rechts und links verlassen;
manchmal glaubte er vom Lande ausgespieen zu sein; meistens stand er allein
auf einem mächtigen Steinacker und kämpfte gegen die Gespenster, vor denen
alle flohen.

Er erfuhr, daß Tschi-li in Flammen stand unter dem Aufruhr. Er sah der
Empörung mit einer kalten Ruhe ins Gesicht. Was er wollte, erfuhren seine
Begleiter später als die Hofbeamten in Pe-king, wohin Khien-lung Briefe
schickte, auch einen kühl dankenden an Kia-king: der Kaiser verlangte rasch
nach Pe-king zurück, um den Taschi-Lama vor seiner Heimreise nach Tibet
noch einmal zu sprechen.

                   *       *       *       *       *

In einem kleinen Fichtenwald nördlich der Tatarenstadt Pe-kings lag das
Kloster Kuang-tse. Hier wohnte der Heilige aus Tibet.

Sein Zug von Jehol nach Pe-king war auf einer einzigen Triumphstraße
erfolgt. Die Vögel der Anbetung rauschten in schwarzen Scharen um seine
Mitra. Als er sich in das kleine Kloster Kuang-tse gesenkt hatte, schienen
tausend magnetische Arme über die Klostermauern nach außen zu wachsen und
die Anbeter herbeizuziehen. Auf kaiserlichen Befehl umgab beständig eine
Kompagnie des Roten Banners den Wohnort des hohen Gastes; sie vermochten
den Andrang nicht zu regeln.

Unübersehbare Menschenströme; Wagen, Karren, Reiter, Mütter mit Säuglingen,
Bettler, Fürsten, Vagabunden; ein Zusammenschlagen und Vereinigen aller
Blicke; ein Brechen aller Knie vor dem hölzernen Zepter, das der ernst
lächelnde starke Lama an der Hoftür hob.

Aus Hintertüren verließ Paldan Jische, der zu Fuß ging, an Vormittagen in
Begleitung zweier Gelehrter das Kloster, spazierte wie ein einfacher
gelbrockiger Lama im spitzen Hute. Er besuchte das östliche Tung-huang-tse,
das Kloster des Tschan-tscha Chu-tuk-tu, machte in der Sänfte einen großen
Ausflug nach dem Jagdpark Hung-schan, westlich des Kun-ming. Die herrlichen
Waldungen der Ulmen, Maulbeerbäume durchschritt er in einem strahlenden
Entzücken; Marmorbrücken führten über Schluchten und grüne Bäche; die
schlanken Rehe jagten dicht vorüber.

Die Tauperlen des Waldes hingen noch an seinem Hute, als er das Kloster der
fünfhundert Lohans betrat, von dem niederstürzenden Abt und dem großen
Mönchskapitel empfangen. Mit hoher Pracht schimmerten hier in einer Grotte
die achtzehn Martern und neun Belohnungen aus Ton geformt.

Eine Nacht verbrachte der Heilige in dem seitlich versteckten Kloster des
Liegenden Buddhas; er war, als der Abend kam, schon seit Stunden in
Kontemplation vor der Kolossalstatue versunken; als er sich losgerissen
hatte, genoß er den Anbruch der weichen, warmen Nacht unter den
Roßkastanien des Parkes, zwischen der gebärenden Feuchtigkeit der Teiche.

Dieses östliche Land war gesegnet. Die Menschen erfüllten es; das gute
Gesetz machte unter ihnen Fortschritte. Mit fremden freudigen Augen
betrachtete der Taschi-Lama die bergehoch gehäuften Schönheiten der
Gebiete, ohne Begier, wie ein Spender, Gönner, der still lächelt und
Vergnügen aus der fremden Freude gewinnt. Die Gebete und Bitten, die
heimlichen Klagen der Fürsten klangen zu ihm; auch die warme Luft besserte
nichts, die Marmorbrücken waren leicht wie ein Atemzug, die hohen
Sorghofelder, die Reispflanzungen mit aller Üppigkeit verschwanden, wenn
man die Hand vor die Stirn legte. Welch gutes, tüchtiges, maskenfrohes Volk
spielte hier; wie es herrisch die Nachbarvölker bedrückte. Aber selbst der
Kaiser, der Herr der Gelben Erde, wußte, wie wenig das bedeutete, zehn
Jahre, fünfzig Jahre, hundert, tausend Jahre, klagte. Es regte sich hier im
Lande von dem reinen, süßen, bewältigenden Geiste des
Allerherrlichst-Vollendeten; noch war nicht die Zeit, wo das Reich des
Cakya-muni sich erfüllen sollte, erst mußte die Bedrängnis der heiligen
Lamas, so lautete die Weissagung, bis ins Unerträgliche wachsen.

Was hatten die Stillen zu leiden, die Träger des Wu-wei, von denen
Khien-lung klagte, deren Untergang schwere Zeichen begleiteten. Arme
Suchende; Buddha würde ihnen ihren Platz unter den Wiedergeburten geben.
Grauenvoller Widerspruch; der Kaiser ahnte, wie er ein Nichts wäre, und
ließ die morden, die es noch tiefer ahnten, die es inniger bekannten.

Rettungsloses Wuchern der Geburten aus allen Teichen, Verzehnfachen,
Vertausendfachen der Welt in einem Augenblick.

Wäre der Weltenberg Sumeru nicht von sieben Meeren und sieben Felsgürteln
umringt, so würde die Wildheit der Gelüste alle Grenzen sprengen und
überfluten, in das Leere eindringen, aufrauchen in die Glanzhimmel der
Formen und Formlosigkeit.

Wie dem Einhalt gebieten, wie nicht erschrecken, den Atem verlieren und
keuchend auf die Stirn fallen -- vor Angst und Ohnmacht.

Die Lamas lebten, Pfähle in dem Morast, Inseln in der erregten See,
Glücksblicke des Lichtes, Beender des Kreislaufs, Ringlöser.

Mehr Hilfe, mehr Kerzen.

Und es brannten nur so fein in der Finsternis die kleinen wandelnden
Kerzen, die Wahrhaft Schwachen, die Laienbrüder, die Toten dieser
Mongolenstadt.

Ein leises, zunehmendes Plärren, Quaken von Fröschen ließ sich vernehmen;
ein breitsitzender, behäbiger Chor blies sich im Wasser auf.

Einmal ließ sich der wunderbare Mensch auch herbei, zu den Frauen des
kaiserlichen Harems zu gehen. Unter einem Schirm von gelber Seide saß er in
der offenen Sänfte; er hielt die Blicke gesenkt, um sich nicht zu besudeln
durch das Anschauen der schönen Weiber; sie erschauerten unter seinen
segnenden Händen und küßten sich, als er sie verlassen hatte, glücklich ihn
gesehen zu haben.

Die Zeit des Aufenthalts in Pe-king neigte sich zu Ende. Da bemerkte man,
wie der Wanderer vom Gnadenberge stiller und zurückhaltender wurde. Eine
Müdigkeit lastete auf ihm. Er seufzte viel; aus seinen Versenkungen erhob
er sich mit leeren, eingesunkenen Augen. Man fragte ihn nicht, in keiner
Weise ließ man erkennen, daß man eine Veränderung seines Zustandes merkte.
Es wäre auch gegen die geistliche Einsicht gewesen, zu trauern, da es ja
dem lebenden Buddha freistand, seinen leiblichen Wohnsitz zu wechseln. Man
wurde von einer menschlichen Angst um den gnadenspendenden Mann ergriffen.
Ihn schien etwas zu drücken. Er rückte mit einer Äußerung zu dem
Tschan-tscha Chu-tuk-tu heraus, zu diesem Bücherwurm, der ihn
beschnüffelte, registrierte; es sei das heiße Klima und die eigentümliche
Feuchtigkeit des Landes vielleicht ungünstig; er habe Verlangen nach den
schwarzen Filzzelten und den Schneesteppen. Das war nur eine einzelne
Bemerkung; der Pantschen Rinpotsche schwieg sich über sich aus.

Er war nicht von der Art der Frommen, die eine Leichtigkeit, Fröhlichkeit
durch die Existenz begleitet; er schloß sich wenig an Kinder und harmlose
Naturen an. Beim Anblick der runden Kinderaugen fror ihn. Wo die schweren
Seelen waren, bettete er sich. Da wurde ihm leicht, er fühlte sich in guter
Luft; ließ sich gehen, ließ sich strahlen. Er kannte von klein auf nur die
härtesten und furchtbarsten Dinge, sah sich von Schicksalgeschlagenen
umringt.

Und nun, in dieses kaum vorbereitete Riesenreich verschlagen, türmte und
wackelte es von allen Seiten ungeheuer über ihn her. Ohne Ende streckten
sich die Länder und Menschen. In einer Verwirrung beugte er sich. In dieser
Verwirrung erschien er sich als ein Bauer, der dieses Land der achtzehn
Provinzen bepflügen sollte, allein bepflügen sollte. Ein unsicheres
Zittern, Schwirren, tiefinneres Schwindeln berührte seine Kopfhaut, füllte
sein Gehirn wie ein Schwamm. Eine große Ermüdung fühlte er im Kreuz; sein
Herz und seine Lungen schienen wie aus Holz in ihm zu hängen und
gelegentlich zu klappern.

Vier Tage waren schon die Tore und Höfe des Klosters Kuang-tse geschlossen.
Paldan Jische war krank. Er erinnerte sich in manchen Augenblicken des
Klosters, das er zuletzt besucht hatte, mit dem Liegenden Buddha. Das Bild
hatte sich seinen Augen sehr eingeprägt. Er lächelte; er konnte sich mit
den Beinen nicht aus dieser Stellung herausfinden. Die Ärzte, die ihn
begleiteten, tibetanische und mongolische, waren noch nicht zu einer
Diagnose gekommen; fünfstündlich wurde einem andern die Gnade zuteil den
Puls des Kranken zu betasten.

Bis am fünften Tage das Fieber ausbrach, im Gesicht des Heiligen kleine
Blütchen, zarte Pusteln erschienen und mit Entsetzen von dem Ärztekollegium
des Klosters die schwarzen Blattern erkannt wurden.

Mit einmal war das Licht aus der Menge der Kardinäle, Priester und Frommen
gerissen. Die Hochbetitelten, die Magister, die Überströmenden, die
Gesetzesfürsten, liefen durcheinander, Sandkörnchen und rollten nur,
rollten. Aus den weihrauchdampfenden Korridoren lief das schreckliche
Gerücht, wie eine schwarze Katze schleichend, heimlich sich an die Wände
zur Seite drückend, die Höfe kreuzend, dann mit einem klatschenden Absprung
der Hinterpfoten hoch, in eine beschwingte Fledermaus verwandelt, breiter,
ein gelles Pfeifen ausstoßend, als klumpige, schwefelhelle Wolke am
Horizont fliegend, den Himmel bedeckend.

Kia-king wechselte mit anderen kaiserlichen Prinzen am Krankenbett in
Kuang-tse ab; der Kaiser selbst, schon unterwegs, ließ durch Eilläufer
anordnen, dreihunderttausend Taels unter die Armen der Stadt zu verteilen.
In Kuang-tse, dicht am Lager des vom Fieber Verbrühten, hörten die Messen
nicht auf. Die Höfe klangen noch unter den Festpauken, den Zinken, weißen
Trompeten, Glöckchen, Gongs, der blauweiße grelle Prunk der heiligen
ausgestellten Gefäße lockte das Licht und die Menschenblicke an. Die Mönche
zogen einen Wall um das Kloster mit Andachtswimpeln, Segensbäumen,
Glücksschärpen. Die Menschenströme, von außen gegen das Kloster anbrandend,
warfen Mauern aus Gebete tragenden Steinen um die Klosterwände aus.

Drin war es still. Der Buddha rang mit der Pockengöttin. Die spitzhütigen
Bischöfe und Würdenträger, in Brokat und bunten Stiefeln, liefen matt und
übernächtig umeinander; ein Fasten höhlte ihre Leiber aus.

In der kleinen Kuppelhalle des Tempels schauerten jeden dritten Tag
Sodschongs, die großen Opferfeiern. Während auf den Klang der Posaune des
Gesetzes sich vor der Klostermauer die Menschenmassen von Osten nach Westen
in Bewegung setzten, schwerfällig vorrückten um die Mauern unter dem
Scharren des Sandes, dem Klappern der Rosenkränze, dem gewitterartig
anschwellenden Om mani padme hum, zerquetschten die Geweihten in der
Kuppelhalle ihre Knie, lastend auf den Matten in langen Reihen, Gelbmantel
hinter Gelbmantel. Murmeln, Glöckchenklingen, Vorbeten, Händeklatschen,
brausende Instrumente. Schwermütig nahm der Tschan-tscha den kleinen
Goldspiegel vom Altar, hob ihn. Der älteste Chan-po schwenkte das
schnablige Weihwassergefäß, hielt in der Linken einen gebuckelten Teller.
Und während der Tschan-tscha den Spiegel drehte, so daß der Schatten
Buddhas hineinfiel, goß der Chan-po. Die Gemeinde hingesunken. Das
zuckersüße Wasser lief über das Gesicht des Spiegels, tropfte in den
Teller. Der leise Gesang bebte, von Hand zu Hand wanderte der gefüllte
Teller. Die Priester bestrichen sich Scheitel, Stirn, Brust, und weinten.

Paldan Jische delirierte. Die Geschwüre krochen über seine Bronzehaut;
flossen zusammen. Erst füllte sie eine gelbe Flüssigkeit, dann begann sie
zu dunkeln, dickrötlich, schwarz zu werden.

Kia-king saß stundenlang am Fenster der Zelle und betrachtete das
verschwollene, unkenntliche Gesicht, das dem weisesten Menschen angehörte,
das Gesicht, in dem manchmal zwei ganz unirdische Augen sich von dem
Verschluß hartkrustiger Lider befreiten und kühle helle Blicke an die blaue
Decke sandten, wie die kristallenen Springbrunnen unter den Ulmen von
Kun-ming-hu. Der feiste Prinz empfand einen stechenden Neid auf den
Taschi-Lama, der sein Nachfolger im Vertrauen Khien-lungs geworden war.
Aber er wurde wehrlos gegen den Fremden beim Beobachten dieser befreiten
Blicke. Bis zu der Krankheit mied der Prinz nach der einmaligen Visite den
Tibetaner, den er als gefährlichen Parasiten ansah, als König der gelben
Pfaffen. Die Hingeworfenheit des Kranken machte den Prinzen geneigter; er
beschnüffelte ihn, schließlich zitterte Kia-king unter dem Gedanken, daß
sein Vater auch diesen Mann verlor. Kia-king tat Gelübde, damit Paldan
Jische leben bliebe.

Die Ärzte bestrichen den Leib des Kranken mit Safran; sie banden seine
Hände zusammen, hielten seine Ellenbogen und brannten siebenmal seine
rechte und linke Seite mit dem trockenen Stengel von Moxaholz, das sie in
Hanföl tauchten. Die Papierfenster bekritzelten sie mit roten Zeichen, die
Wände, die Schwelle. Als die Krankheit zunahm, auch im Mund die Geschwüre
platzten, duldeten die Doktoren, daß die sechs Tschoßkjong, naive
volkstümliche Zauberer, denen der Taschi-Lama wohlwollte, eingelassen
wurden.

Im Federfell, mit Vogelklauen, unförmigen Helmen, an denen der fünffache
Totenkopf grinste, hüpften sie zu dritt im Zimmer vor dem Halbbewußtlosen
herum, flüsternd, überzeugt, heute ihr Meisterstück zu verrichten. Sie
riefen den furchtbaren Takma an.

Sie warfen das Bett umkreisend ein dünnes Pulver in die Luft.

Sie hielten eiserne Rasseln in den Händen; mit leisem Schüttern fuhren sie
über den Kranken: »Die fünfundfünfzig, die auf der Stirn zusammenkommen,
sollen alle verschwinden wie die Blasen der Blattern. Die siebenundsiebzig,
die auf dem Hals zusammenkommen, sollen alle verschwinden wie die Blasen
der Blattern. Die neunundneunzig, die auf der Brust zusammenkommen, sollen
alle verschwinden wie die Blasen der Blattern.« Sie wirtschafteten geraume
Zeit in ihrer halsbrecherischen Art herum; trabten hintereinander heraus,
über die Schwelle noch zu einer krausen Malerei hinkauzend.

In der Tat wurde der Heilige in den nächsten Tagen freier, er konnte den
Mund mehr öffnen, schluckte kalten Tee.

Da langte Khien-lung an.

Auf dem Fensterplatze, den Kia-king eingenommen hatte, wartete der große
Kaiser und rang um die Seele des Sterbenden.

Für Khien-lung gab es keine Zensoren, keinen Astrologenhof mehr; mit einer
greisenhaften Einengung der Gedanken hielt er an dem Pantschen Rinpotsche
fest, den er verantwortlich machte für den Aufruhr in den Nordprovinzen und
der mit der Wahrheit, der eigentlichen Wahrheit zurückhielt. Ja, nur Paldan
Jische konnte helfen.

Mit unbeweglichem Gesicht saß der Gelbe Herr hinter dem rotbemalten
Papierfenster, wartete auf das Erwachen des Heiligen. Khien-lung, die Hände
auf dem Schoß gefaltet, verfolgte jede Regung im Zimmer mit stummen Augen.
Er war ohne die geringste Ungeduld. Paldan Jische konnte ihm nicht
entgleiten.

Am folgenden Tage kam er wieder und wartete.

Am Nachmittag des dritten Tages hielt Paldan Jische die braunen Augen lange
offen, unter der Maske der schwarzen Blatternkrusten hervorblickend,
erkannte Khien-lung und bewegte die Lippen. Er erkannte auch die sechs
Bischöfe, die in Bettlerkleidern an den Wänden standen und keinen
Augenblick das Zimmer verließen, um beim Eintritt des Todes zugegen zu
sein.

Khien-lung beugte sich zum Ohr des Kranken: »Ich traure, Eure Heiligkeit,
daß Sie leiden in meinem Lande.«

Paldan Jische schien lächeln zu wollen. Er schüttelte den Kopf und
gluckste.

Unbeirrt um das ungeheure Ereignis, das sich hier vorbereitete, die
Trennung des Buddhas von seinem jüngsten Körper, redete dann der alte
Kaiser. Er fragte oft, ob ihn der Kranke verstünde. Der nickte deutlich.
Mit einer harten Bestimmtheit trug Khien-lung die letzten Ereignisse vor,
den Aufruhr, die Ruchlosigkeit Miens. Paldan Jisches Augen wurden lebendig,
während Khien-lung flüsterte. Der Heilige war in seinem Element, unter den
schweren geworfenen Seelen. Als Khien-lung zu Ende war, sah er die Glocken
der braunen Augen sich bewegen, aber die Lippen des Kranken zuckten ohne
ein Wort zu bilden.

Der Kaiser richtete sich auf, warf den Kopf mit Strenge zurück.

Am nächsten Nachmittag saß er wieder am Bett des Heiligen. Die sechs
Bischöfe standen unbeweglich in Bettlerkleidung an den Wänden, warteten.
Dringlicher flüsterte der Kaiser, wiederholte den Bericht, faßte den
Kranken bei den Handknöcheln, verlangte neuen Rat, versprach der Gelben
Kirche Klöster in jeder Provinz neu zu bauen.

Der Kranke mühte sich nach Worten, lächelte. Nur der Blick sprach, schwieg.
Der Zorn verzerrte das Gesicht des Kaisers.

Als der Kaiser am nächsten Nachmittag eintrat, fand er den Heiligen sitzend
im Bett. Es standen nur vier Bischöfe barfuß an der Wand in braunen Kutten.
Zwei stützten den Heiligen, der die Augen geschlossen hielt und sie unter
der kissenartigen Schwellung von Wangen, Lidern, Stirn, nicht mehr öffnen
konnte. Die beiden Kahlköpfe hielten ihn, denn er hatte Zeichen gegeben,
daß er wandern wolle. Eine schwere Weihrauchwolke hüllte den Raum ein. In
dem Nebel blieb der Gelbe Herr erstarrt stehen. Keinem Blick begegnete er.
Der Heilige war mit dem Gesicht nach Westen gedreht worden. Khien-lungs
Sänfte kehrte rasch zurück.

Zwischen dem Zickzack der Delirien, Verschleierungen, bunten Wirrsalen
wachte und träumte Paldan Jische. Ein fleischschnürender Krampf, ein hohler
Schwindel über Schlünden, eine klare federnde Helligkeit wechselten. Die
große Ermüdung verdunstete. Die weißen Mauern des Labrang tauchten auf, die
Dächer leuchteten in dem matten Gold. Der tote Dalai-Lama erschien und ging
rasch unter seinem Schirm vorüber. Die Bilder bewältigen, Besinnung,
Besinnung! Kurze Rast in weißen Sälen. Menschen, wieviel Menschen, auf
Kamelen, Karren, tauchende sinkende Menschen. Hoftüren, Sänften, Gongs.
Hilfe über dem Meere, große Boote, kleine Boote. Er schleifte riesengroß,
unkörperlich seinen Glanzleib mit einer phosphoreszierenden Schleppe, war
ein himmelhoher Pfeiler, der sich rund drehte. Ihn befiel kein Zittern. Er
wußte nicht, ob es sein Empfinden war, das er empfand, ob es anderer,
vieler, zahlloser Empfindungen waren. Schwebend. Schwebte geheimnisvoll
zwischen sechs geheimnisvollen Silben.

Drei Tage und zwei Nächte hielten die sechs Bischöfe den Heiligen, der als
Buddha sterben mußte. Sie stemmten sich zu zweien von hinten gegen seinen
Rücken, der sich immer wieder rundete. Einer umfaßte den Kopf und trieb ihn
hoch. Einer preßte die schilfernden Hände gegen die Brust und drückte oft
die winkelspitzigen Ellenbogen dicht an den Leib. Einer schlug die Beine
des Sterbenden übereinander. Der sechste bog die Sohlen, die flammendrot
waren, nach oben um.

Am Morgen des dritten Tages verließ Amithaba den Körper Lobsang Paldan
Jisches. Der tote Leib erstarrte in der Stellung des betenden Buddhas.

Wochen vergingen, bis der Leib Jisches die Rückreise nach Tibet antrat,
Monate, bis er in Taschi-Lunpo, der tränenfließenden Stadt eintraf. Der
Geist des Buddha wanderte schon längst über die geliebten Schneefelder,
Grassteppen, streichelte die zottigen Yaks, irrte herum, suchte das Kind,
in dem er seine neue Wohnung nehmen wollte.

Die Menschen in Pe-kings Kloster Kuang-tse umschlangen den ausgeglühten
Leib des Lobsang Paldan Jische, Sohnes jenes tibetanischen Zivilbeamten.
Sie balsamierten ihn ein.

Am Vormittag nach dem Tode hallten die kaiserlichen Gongs vor dem Kloster.
In der weißen Totenkleidung stand Khien-lung ohne Gürtel, ohne Ring, mit
kahlem Schädel vor der Samtbank, auf dessen Violett im gelben päpstlichen
Ornat ein furchtbarer Buddha die Schenkel kreuzte, thronend in einer
grausigen Ruhe.

Schwarze brandige Borken hingen in Fetzen von einem geblähten Gesicht
herunter. Ein blutiger Schleim tropfte von Minute zu Minute aus dem Munde.
Dicke runde Wülste durchquerten statt Lippen die untere Gesichtshälfte. Die
Lider geschlossen; aber in eigentümlicher Weise hatte sich ihre Schwellung
verloren, so daß neben der kloßförmigen Nasenwurzel zwei grünlich
schimmernde Höhlungen sich in den Schädel senkten. Die Mitra mit den fünf
edelsteinbesetzten Buddhabildern rutschte auf dem Kopf schief vor. Über den
bestickten Goldbrokat der Brust sickerten die Schleimtropfen und rannen
hinter die angelegten Ärmel.

Rechts und links von dem thronenden Buddha standen auf Tischchen die Opfer
für den Toten, niedrige Reis- und Tonpyramiden. Räucherstäbchen brannten.
Die Bischöfe, der Tschan-tscha stopften ihre Münder auf die Dielen.

Khien-lung verharrte minutenlang ohne Bewegung. Sein Blick schweifte nach
dem Fensterplatz, auf dem er das Erwachen des Heiligen erwartet hatte, nach
der Ostwand, wo sich am Boden die Holzklötze des Sterbebettes erhoben. In
einer kalten Gelassenheit prüfte er die Züge des emporgestiegenen Lamas.
Keinen Abscheu spürte er, verfolgte die langsame Entwicklung einer
Blutblase auf der Unterlippe der Leiche und wie die ekle Flüssigkeit
abquoll.

Dieser Mann war mit Recht gezeichnet. Sein Körper zerplatzte aus
Eitergeschwüren. Er war nicht besser als die betenden Pfaffen. Sein
Schicksal bewies es klar. Hier die Mongolenstadt, da die Blattern: man
konnte es auf eine Wage legen. Der hingeraffte Pfaffenkönig vermochte nicht
zu raten trotz der Bücherhaufen Kand-schur und Tand-schur.

Und da wurde Khien-lung unsicher. Seine Kälte zerbrach. Er fiel vor der
thronenden Leiche auf die Knie und weinte, aber niemand im Zimmer wußte,
daß er vor Wut über den Lama weinte, in tobenden Anklagen, weil der
prunkende Weise ihn betrogen hatte. Khien-lung hatte sich in Verblendung
auf das Eis dieses Betrügers locken lassen. Und der Gnadeüberfließende war
ihm entwischt, ehe er ihn gestellt hatte. Blut hatte der Tote speien
können, Trostblicke werfen, aber der hohnvolle Priester entschloß sich zu
keiner Silbe.

Einen Sarkophag in Gestalt einer Reliquienpyramide befahl Khien-lung aus
Gold herzustellen. Da hinein versenkte man den Körper Paldan Jisches. Die
leer bleibende Höhlung und den Körper überschüttete man mit weißem Salz.

Es kamen die hundert Tage für Seelenmessen, an denen die nördlichen
Provinzen, die ganze Mongolei teilnahmen. Ein ganzes Volk zerbrach in
Schmerz um den entschwundenen Buddha. Und noch war man nicht in Tibet.

Der endlose Trauerkondukt setzte sich in Bewegung, nicht nach Norden,
sondern Westen. Man drang mühsam durch die westlichen Provinzen; die
Menschen schlossen sich um die goldene Stupa zusammen und hielten sie fest,
als wäre sie eine Pagode, die den Ort beschützt. Weder Tag noch Nacht
berührte der schwere Schrein mit der Leiche den Boden; von Schultern glitt
er auf Schultern. Nachdem er in Kuang-tse unter Dröhnen der ungeheuren
Posaunen aufgehoben war vom Boden, sank er in Taschi-Lunpo herunter, im
weißen jammerberstenden Labrang, nach sieben Monaten und acht Tagen. Bei
Kuang-tse wuchs im selben Jahre der Marmorobelisk, den Khien-lung dem
Andenken des Heiligen widmete; der Stein von der goldenen Papstmitra
gedeckt; der Opferaltar an einer Seite, umweht von langen Seidenwimpeln.

                   *       *       *       *       *

Zwei Tage nach dem Tode Paldan Jisches saßen in der kleinen Empfangshalle
vor der Estrade des Himmelssohnes die Vertrauten Khien-lungs. Er selbst
blickte viel zu den weitgeöffneten Fenstern hinaus. A-kui kauerte unten
neben Chao-hoei, Song; auch Kia-king, dessen Höflichkeitsbesuch der Kaiser
angenommen hatte, den er zu Audienzen berief, ohne ihn eines Gespräches
unter vier Augen zu würdigen.

An kleinen Tischen gruppierten sich die zwölf Herren, lackierte viereckige
Tische, um die schwarze Holzhocker standen, mit gelben und roten Kissen
belegt. Ein größerer runder Tisch in der Mitte der unteren Halle trug die
Platten mit Obstsorten, Melonen, Salat, gesalzenen Enteneiern. Die
Schälchen mit den zahllosen Suppen verdrängten sich auf den Tischen,
Schwalbennester, Haifischflossen mit Pilzen, Meerwürmer, Wurzeln des
Nenuphar, Bambusschößlinge; Entenbraten mit Wallnüssen, gerösteter
Schweinebraten in Stückchen. Mit Süßigkeiten, Mandeln, Melonenkernen schloß
man. Die kaiserlichen Diener huschten mit Täßchen und Weinkannen.
Allgemeines Verneigen, Schwingen der Täßchen, gemeinsames Setzen, Murmeln.

Die Saitenmusik begann. Es wurde gebeten, sich des Fächers zu bedienen. An
der Längswand der Halle, gegenüber der kaiserlichen Estrade, war eine
kleine Bühne geöffnet. Zu den näselnden Tönen unter Zutritt von
Holzschlägern stiegen Tänzerinnen auf die Bühne; so feine schlanke Leiber
sie hatten, es waren Eunuchen. Aus weichen Augen verhaltene verstummende
Blicke; Wangen, Münder, Augenbrauen unter der Schminke geformt; Perücken
und klingelnder schaukelnder Silberbehang der schwarzen Haare; schwarze
Seidenkittel in bauschigen Falten, lockere gelbe Hosen, in grünen hohen
Stiefeln aus Atlas belebte Füßchen. Nur ab und zu würdigte sie einer der
Gäste eines Blickes. Sie stellten, zu Paaren tanzend, Pfauenfedern auf die
Bühne, wanden sich blitzschnell hindurch, zerrten sich graziös zueinander,
wippten in die Höhe über eine Feder weg und erstarrten auf einen spitzen
Fuß aufspringend, drehten sich langsam auf den Zehen um sich selbst,
während ihre winkligen Arme in die Höhe rangen, sich suchten und
verschlangen.

Sie tanzten lautlos, ein Schattenspiel. Khien-lung richtete oft die Augen
auf Kia-king, der wie immer allein saß und träumte.

Eine zarte Frauenstimme sang zur Geige und Laute hinter der Bühne. Wie es
in dem alten Liede heißt: mit Tönen gedämpft, von Traurigkeit verschleiert,
die tiefen Saiten wie die Flut rauschend, die oberen flüsternd, und als die
Töne lebendiger wurden, glaubte man einen Perlenregen zu hören, der auf
eine Marmorplatte fiel. Die klagende Stimme sang das Lied Tu-fus: »Ich bin
bewegt von tiefer Traurigkeit und lasse mich in das dichte Gras nieder. Ich
beginne, mein Schmerz tönt. Tränenüberströmt, tränenüberströmt. Ach, wer
könnte lange wandeln den Weg des Lebens, den jeder für sich durchläuft?«
Und wie es in dem alten Gedicht heißt: das Ende des Spiels glich einem
zerbrochenen Gefäß, aus dem das Wasser hervorströmt; und zum Schlusse fuhr
der Bogen über die Saiten, die unter einem einzigen Strich erzitterten, wie
wenn man ein Stück Zeug zerreißt.

Khien-lung nickte. Der thronende blatternbesäte Buddha aus Tibet stand vor
seinen Augen; Fetzen schwarzer brandiger Haut hingen von gedunsenen Backen;
die sonst platte gerade Stirn beulte sich wie bei einem Wasserkopf. Als
lebender Buddha von Taschi-Lunpo nach Jehol gewandert, als geschwüriger
Fleischklumpen von Kuang-tse aufbrechend.

Geige, Laute und Frauenstimme sangen auf den Wunsch des Gelben Herrn noch
dreimal das Lied Tu-fus von der Vergänglichkeit.

Dann erhob sich Khien-lung. Ein Eunuch stand neben Kia-king und flüsterte
ihm ins Ohr. Tanz, Gesang, Schmauserei wurden unterbrochen vom feierlichen
neunmaligen Berühren des Fußbodens.

Während in der Halle die Fröhlichkeit zunahm, die wilden Bändertänze zu der
stachelnden Musik geschwungen wurden, Spieler in grünen und roten Säcken
auftauchten, sich sonderbar umringten, gegeneinander wühlten, schritt der
Gelbe Herr hastig neben Kia-king unter der unnahbaren Schwärze der
Zypressen, die ihre finsteren Flammen, Säule neben Säule, zu dem rosigen
Abendhimmel rauchten.

Khien-lung verlangte von seinem Sohne, dessen schokoladenbraunes Obergewand
bei dem raschen Vorwärtsschreiten brandrote Falten warf, sich über das
Vorkommnis zu rechtfertigen, das er kenne.

Kia-king seufzte, er antwortete nicht gleich; drückte seine Gereiztheit und
Ungeduld herunter, wies leise auf seine Briefe hin, die er nach Jehol bei
dem Hochverrat Mien-khos gerichtet hatte.

Das genügte Khien-lung nicht; er verlangte mündliche Rechtfertigung; das
Wort »Entschuldigung« entfuhr ihm und gab Kia-king einen Wink.

Der Kaiser wollte Frieden. Kia-king staunte. Es lag etwas Peinigendes in
der Vorstellung, daß Khien-lung sich schwach fühlte.

Kia-king übertrieb seine Höflichkeits- und Ergebenheitsäußerungen, erklärte
sich schlicht schuldlos, ohne den geringsten bitteren Ton anzuschlagen.

Der Kaiser brach in wilde Vorwürfe aus; sie seien hier in der Purpurstadt
eine saubere Gesellschaft; nach dem Leben trachteten ihm seine Kinder, alle
Ehrfurcht vor den Eltern sei hin; er könne Kia-king nicht stark genug
versichern, wie genug er davon hätte, Vater von Söhnen zu sein, die die
Gesellschaftsordnung kaum dem Namen nach kannten. Das Alter käme an ihn
heran, sie hätten es richtig beobachtet. Das Verhalten seiner Kinder ekle
ihn; er schäme sich für seine Kinder.

Ohne auf die Anklagen einzugehen, seufzte Kia-king, er habe gehofft, dem
toten Paldan Jische sei es gelungen, die Unruhe des Vaters zu beheben. Ob
nicht das große Lehrerjuwel ihm in Jehol geleuchtet hätte und den Weg
beschienen hätte.

»Den Weg beschienen! Kia-king, wir sind keine jungen Knaben. Sieh einmal
hin, wie mir dieses Juwel geleuchtet hat, bevor es erloschen ist: ja, hat
es mich nicht betrogen, dieses Lehrerjuwel, bevor es erlosch? Die Präfekten
schicken mir Berichte auf Berichte vom Aufruhr; ich freue mich, daß es so
schön brennt. Und das ist Paldan Jische gewesen, der Pantschen Rinpotsche,
der Weisheitsozean, die Kostbarkeit vom Gnadenberg. Es wäre dazu nicht so
viel Weisheit nötig gewesen.«

Kia-king flüsterte, vorsichtig sondierend: »Der fremde Mann kennt nicht die
Bodengeister unseres Landes. Er redet und erwägt mit Weisheit. Man kann
kaum mit tibetanischer Weisheit östliche Menschen beruhigen.«

Khien-lung streifte seinen Sohn mit einem fremden Blick; er wurde finster,
als er sich wieder den Zypressen zuwandte. So fremd ging er neben dem
Kia-king, unter dessen Abwesenheit er gelitten hatte. Sie nahmen zum
Entsetzen Kia-kings auf jener Bank unter der Thuje Platz, in deren Erde die
Gespensterpuppe Mien-khos und der Dame Pei begraben war. Der Kaiser ließ
sich wuchtig auf die kleine Holzbank fallen, streckte das Kinn vor, blickte
auf die Erde, die er mit seinem Fächer anwehte, sprach weiter, während er
Kia-kings Augen nicht losließ.

»Du sollst mein Nachfolger sein, Kia-king. Ich gebe die Hoffnung auf, einen
besseren Nachfolger zu finden. Ich mag nichts mehr hoffen, ihr habt mir das
vergällt. Hier, sieh, diesen kleinen Schlüssel, der zu meinem Schreibtisch
paßt; wenn mich der Himmel rufen sollte, so wirst du meinen Schreibtisch
öffnen und ein Schreiben im Buche Li-king finden, das dich zum Thronerben
ernennt.«

Er fixierte immer weiter Kia-kings feistes gleichmütiges Gesicht. Kia-king
blickte traurig vor sich hin; in seinem schlaffen linken Augenlid zuckte
es: »Ich möchte nicht Ihr Nachfolger sein, Majestät. Ich sehe keinen
Unterschied in Ihrer Art, Pou-ouang nach dem Ili und mich auf den Thron der
Tai-tsings zu schicken. Sie klagen mich an. Ich habe es nicht verdient.«

Beide schwiegen. Das feine Singen aus der Halle der Gäste tönte herüber:
»Ach, wer könnte lange wandeln den Weg des Lebens, den jeder für sich
durchläuft.«

Der Kaiser schien das Gespräch vergessen zu haben. Kia-king war tief
erstaunt über den außerordentlichen Wechsel im Gesichtsausdruck des Vaters;
es gab ein Hin und Her von kräftigster Anspannung und völliger
Erschlaffung. Daß Khien-lung eingefallene Schläfen von Jehol zurückgebracht
hatte, einen Mund, dessen Bewegung und Linien die Schärfe verloren hatte,
merkte Kia-king erst jetzt. Zunächst schien der Kaiser die alte
Impulsivität zu besitzen, aber es brach aus den Augen öfter etwas
Hilfloses, Jammerndes, Ängstliches, das an Khien-lung neu war. Besonders
erschreckte Kia-king jetzt ein manchmal auftretender lauernder, gehetzter
Ausdruck, der sich regelmäßig vor der Apathie einstellte. Den Prinzen
lähmte dieser Ausdruck selbst so, daß er sich kaum erwehren konnte, in
seinem unklaren Unglücksgefühl davon zu gehen.

Er fragte, als er merkte, daß Khien-lung dauernd dem fernen Gesang
lauschte: »Mein Vater hat lange Tage die Weisheitssprüche des Westens hören
dürfen. Sie wollten davon sprechen.«

»Von Paldan Jische?«

»Ja.«

»Oder von dieser Bank? Sie gefällt mir mehr als Paldan Jische. Du kennst
doch diese Bank? In einer Neumondnacht sind hintereinander diese drei, vier
geschlichen: die halbblinde Dame Pei, der dicke Mien-kho, Pou-ouang, ein
Kind mit einem Verbrecherherzen, die Frau Jing, die ich nicht kenne. Ich
war der fünfte, Kia-king. Ich saß zwar in Jehol, oder in dem Kloster
Ko-lo-tor und schlief; aber die Dame Pei hatte mich bezwungen, während ich
schlief. Das ist möglich, daran ist nicht zu zweifeln; ich kenne es von
meinen Krankheiten her, wenn ich mich verliere für ganze Wochen und mich
wiederfinde. In die kleine Jadepuppe hat sie vermocht mich hinein zu
quetschen, mich weggezaubert mit einer Handbewegung so oder so oder so; und
dann trugen sie mich Lebendtoten hier vorbei an der Bank, hier herunter in
die Erde. Damit der Vampyr eingesperrt, halberstickend an mir gut reißen
könnte, was das Weib mir noch übrig gelassen hatte. Dabei stand Pou-ouang,
mein Sohn, und Mien-kho, mein Sohn; ihre Augen glitzerten schon vor
hungriger Freude, der kleine Pou-ouang, das Vieh Mien. Ich kann mir diese
Nacht gut vorstellen. Wo warst du denn in dieser Nacht, Kia-king.«

»Bei der Nephritquelle am Wan-schou-schan.«

»Du warst in Wan-schou-schan. Ja, Ihr seid gut um mich, wo ich Euch
brauche. Wenn die Toten nicht wären, wären wir ganz verlassen. Sie sind
meine einzigen Freunde; ich hoffe auf sie noch immer. Die Schatten sind
meine einzigen Freunde.«

»Ich fürchte, der Besuch des Tibetaners hat Eure Majestät sehr angestrengt.
Sie blicken so erschöpft; Ihre Arme zittern.«

»Das war die Dame Pei, und Mien-kho, und Pou-ouang, die ganze Sippe. So
weit haben sie es doch gebracht. Halb verrückt haben sie mich gemacht, daß
ich vor Paldan Jische bettelte um einen Rat, und mich glücklich pries ihn
zu empfangen, ich hier auf der Bank, mit den zitternden Armen, der Sohn
Jong-tsings, der Enkel Kang-his. Das ist die Lösung dieses west-östlichen
Rätsels. Ja, Pantschen Rinpotsche, dein hölzernes Zepter macht mich nicht
beben, deine schwarzen Borken, deine Häutung ist mir viel interessanter.
Entlarvt. -- Ich zittere wohl viel, Kia-king?«

»Es mag an dem späten Nachmittag liegen. Wenn wir in die Halle zu den
Gästen zurückgehen, wird meinem Vater besser werden. Oder wenn wir zu den
Orchideen hinübergehen. Sie hatten früher eine Vorliebe für meine
Orchideen. Wollen Sie sich erheben? Sie würden mir das größte Glück geben
mit Ihrem Vertrauen, Vater. Ich habe nichts unterlassen und will nichts
unterlassen Sie zu verehren. Wollen Sie sich erheben?«

»Nein, bleibe noch hier.«

»Suchen Sie etwas an der Erde? Ist Ihnen etwas hingefallen.«

Khien-lung hatte sich vornüber gebückt und wühlte mit seinem
edelsteinbesetzten Fächer in der Erde.

»Nichts. Nichts ist hingefallen. Ich will dir nur zeigen, daß ich keine
Angst habe. Mit der Dame Pei und dem schlimmen Mien kann ich es aufnehmen.
Vor der Nacht fürchte ich mich nicht. Gestern nacht hättest du mich sehen
müssen. Wie ich an den Wachen vorbei aus der Tür gegangen bin. Durch den
Garten; keiner hat mich gesehen. Es brauchen nicht vier Menschen zu sein,
um eine Puppe zu tragen; man hält sie in einem Leinentuch auf dem Arm wie
ein Kind. Sie ist etwas schwerer, etwas kälter. Ich habe Pou-ouang selber
oft so getragen; ich liebe Kinder sehr. Solche Puppe schreit auch nicht.
Siehst du, Kia-king, ich habe die Stelle.«

Er bohrte mit Anstrengung in dem Boden; einige Stangen seines weißen
Fächers zerbrachen und hingen lose beiseite. In dem Loch mußte er etwas
erkannt haben; er griff hinein, rüttelte. Die Erde lockerte sich. Er zog
ein weißes Tuch hoch an einem Ende; etwas schwarzes kam mit hoch; plötzlich
rollte es auf dem Tuch fort. Kia-king sprang gleichzeitig mit dem Kaiser
auf, der die Puppe von der Erde aufraffte und sie dem zurückweichenden
triumphierend zeigte.

»Hab ich nun Furcht, Kia-king, oder hab ich keine Furcht? Du brauchst dich
nicht zu ängstigen; das bin ich ja selbst; ich hab niemanden andern
bezaubern wollen. Es liegt mir nicht daran, Euch, wie Ihr heißt, zu
bezaubern; mit Euch werde ich schon fertig. Wie schön man mich hier
ausgestattet hat. Die Dame Pei muß eine vorzügliche Schneiderin sein, daß
sie meinen Kittel, mein Obergewand, meinen Gürtel, meinen Fächer, ja sieh,
meinen Ring so genau nachmachen konnte. Wenn ich ein Dämon wäre und nicht
wüßte, wer Khien-lung ist, würde ich mich selber verlaufen in dieses Ding
hier. Schön ist die Figur, kostbar; Brüderchen, Brüderchen, bist du schön,
lebendig! Kannst du mir deinen Ring schenken; wir wollen uns doch begrüßen,
altes spätgeborenes Brüderchen aus Jade.«

Kia-king ächzte und schauderte. Er fürchtete sich die Figur in dem
Leichentuch anzufassen und mußte sie Khien-lung entreißen.

»Vater, was soll das. Geben Sie mir die Figur. Es ist nicht recht, mit der
Figur zu spielen. Tun Sie es mir zuliebe, Vater; man wird Sie und mich von
der Halle aus sehen.«

Die feinen Geigentöne wehten wieder durch die Zypressen herüber. Der Gelbe
Herr, mit freudig verzogenen Mienen, ließ nicht ab, die Puppe zu
betrachten, an sich zu drücken: »Tu-fu hat unrecht, Kia-king. Zu guter
Letzt hat Tu-fu unrecht, das freut mich. Wer könnte lange wandeln den Weg
des Lebens, den jeder für sich durchläuft. Ich kann ihn wandern, denn ich
habe einen Kameraden gefunden, aus Stein. Ich weiß bald nicht, ob er es
ist, der hier steht, oder ich es bin, der da gelegen hat. Wir beide, das
ist sicher, halten zusammen, die Puppe und ich, Kia-king. Und finden den
Weg des Lebens so erträglich. Opfere für uns, Kia-king, mein lieber Sohn,
verehre uns gemeinsam. Und begleite uns beide nach meiner Wohnung herüber,
nach unserer Wohnung.«

Es gelang Kia-king, dem Kaiser die Puppe aus dem Arm zu drehen, sie in das
Loch fallen zu lassen.

Der Kaiser machte ein feierliches Gesicht, über das sich eine Erwartung
spannte. Er sah gerade aus zu den Marmorpfosten seines Palastes herüber,
ein verzücktes Hinhorchen, ein dankbares Neigen des Ohrs zu schwer hörbarem
Geräusch.

Er wiederholte flüsternd: »Begleite uns herüber, lieber Kia-king, in unsere
Wohnung. Wir werden deine Freundlichkeit nicht vergessen.«

Sie wechselten kein Wort mehr. Sie schlugen die Richtung nach dem Wohnhaus
des Kaisers ein über die Marmorbrücke. Khien-lung aber wandte sich
plötzlich nach der tönenden Gästehalle. Auf halbem Wege kehrte er um und
folgte Kia-king.

Immer langsamer ging der Kaiser, je näher sie seinem Palaste kamen, vor dem
die weißen und gelben Laternen brannten. Des verwirrten Kia-king
Abschiedsgruß und Verbeugungen übersah er. Auf der Schwelle bückte sich
Khien-lung, als wenn er unter etwas hindurchginge.

                   *       *       *       *       *

In dieser Nacht, die wieder eine Neumondnacht war, schlief Kia-king
unruhig. Er träumte so wild, daß er schon um die dritte Nachtwache es auf
dem heißen Ofenbett nicht mehr ertragen konnte, heruntertaumelte und sich
in einer halben Schlaftrunkenheit ankleidete im völlig finsteren Zimmer.
Erst als er völlig angezogen war und im Zimmer, auf den Tischen nach seiner
Mütze suchte, kam er völlig zu sich, im Gefühl eines klebrigen zu hohen
Gaumens, an dem er schnalzte, stand da und wunderte sich, warum er sich
mitten in der Nacht angezogen hatte.

Er saß eine kleine Weile so im Finstern, ging ein paarmal zwischen Vasen,
die am Boden standen, hin und her, verließ in einer plötzlichen Unruhe das
Zimmer, und stand auf dem vorderen Hof.

Im Wachtelstall, dessen Umrisse er unsicher erkannte, gurrte und scharrte
es, ein feuchter kalter Nachtwind fegte von Zeit zu Zeit durch die weiten
Parkanlagen der Roten Stadt, die in einer solchen furchtbaren Dunkelheit
lag, wie Kia-king nie gesehen hatte.

Sein Herz klöppelte und fauchte dünn; er wußte nicht, warum er hier stand
und warum er die Baumwipfel betrachtete.

Er drehte sich langsam, um in sein Zimmer zurückzugehen, aber nach ein paar
Schritten bemerkte er, daß dies nicht sein Plan war und daß er lieber
hinausgehen wollte in den Park unter die Wipfel, um sich von seiner Unruhe
zu entlasten.

Er schlurrte langsam durch das Hoftor auf den Weg. Die Kiesel knirschten
unter seinen weichen Sohlen; er ging seitwärts auf den Rasen, um kein
Geräusch zu machen; denn seine Schritte ängstigten ihn. Es ängstigte ihn,
daß hier im Finstern einer ohne Begleiter schlich; und er wunderte sich
dabei, wie es kam, daß dieser sich keinen Begleiter mitgenommen hatte.

Kia-kings Unruhe wuchs beim Vorwärtsschreiten; sie nahm bei jeder Wendung
des Weges zu. Er wußte selbst nicht, nach welchen Grundsätzen er den Weg
wählte. Er glaubte bei jedem Häuschen, das zwischen den Bäumen auftauchte,
da zu sein; er wußte nicht recht wo, aber er war noch nicht da. In seiner
großen Erregung seufzte er und rieb sich mit beiden Händen die Backen.

Die Wege lichteten sich; an riesigen schwarz fingernden Brunnen tastete er
sich entlang. Da stand er plötzlich in sich geduckt da, die Arme wie ein
Schwimmer zum Hals angezogen, die Augen zusammenkneifend.

Eine schwarze Erscheinung kam rasch über den Weg hergelaufen, er konnte sie
nur an der gleitenden Bewegung erkennen; sie wollte an ihm vorüber, sie war
schon vorbei. Da lief er hinter ihr her, erreichte sie in vier Sprüngen,
hielt sie fest.

Es war eine Frau mit aufgelöstem Haar, die den Kopf gegen seine Brust
stemmte, um ihn wegzustoßen.

Sie flüsterte: »Was hab ich dir getan?«

Er schlug ihr ins Gesicht, rang mit ihr zu Füßen einer Zypresse. Jetzt
erkannte Kia-king, daß er in die unmittelbare Nähe des kaiserlichen
Wohnhauses gekommen war.

Er keuchte ihr zu: »Dämon, wo warst du? Was hast du vollbracht? Nenn deinen
Namen!«

Sie biß ihn in den Finger, sah ihn tückisch von unten an. Er warf das
Gespenst gegen eine Baumwurzel; ohne daß es ein Geräusch gab, sie hielt
sich an seinen Beinen fest.

Er konnte sie nicht bewältigen, und wie er ihr tückisches Lächeln bemerkte,
fuhr ihm ein Grauen über den Rücken, daß er sich mit wilden Fußtritten von
ihren Händen befreite, die Frau warf sich kreischend beiseite. Kia-king
faßte nach ihrem Gürtel, da hatte sie einen festen Strick hängen, den sie
ihm zu entreißen suchte. Aber rasch hatte er sie aufgestellt, ihre Hände in
einer Schlinge gefangen und rannte in großen Sätzen, die leicht wimmernde
Frau hinter sich, nach dem kaiserlichen Wohnhaus, das in die tiefste
Finsternis eingesunken war, band sie, die sich sträubte und geiferte, mit
Händen und Füßen an den Steinpfosten fest, die zum Fesseln der Elefanten
dienten, blieb zitternd an der Türe stehen.

Er schob sich über die Schwelle. Ihm fiel ein, wie merkwürdig sich der
Kaiser, diese schlanke kleine Gestalt unter dem hohen Torbogen gebückt
hatte. Er mußte sich selber so bücken.

Khien-lung war an dem Abend nicht schlafen gegangen. Nachdem er auf seinem
Schreibzimmer Blätter durchgesehen, Korrekturen an seinem großen Gedicht
auf die Stadt Mukden angebracht hatte, aß er wenig zur Nacht. Aber es fiel
den Hofmarschällen auf, wie viel Wein der Kaiser trank, daß er nach
Beendigung der Mahlzeit stumm an der Tafel sitzen blieb, keine Kapelle,
keinen seiner Vertrauten zum Morra befahl.

Verschlossenen Mundes, als säh er sie nicht, ging er an den
purpurgekleideten anmutigsten Schönen seines Harems vorbei, die Hu zur
Erheiterung der kaiserlichen Stimmung herbeigerufen, an die Tür des
Speisesaals gestellt hatte. Die niederstürzende Reihe der Eunuchen und
Dienerinnen passierte er mit raschen, dann wieder zögernden Schenkeln.
Einmal hob er zu dem folgenden leuchtenden Kammerdiener die Hand, stieß
hervor »A-kui«, besann sich, winkte ab.

Bei der Öllampe versuchte er in seinem Schlafzimmer zu lesen; es war ein
Werkchen, das ihm Paldan Jische geschenkt hatte, eine tibetanische Schrift,
die ins Mandschurische übersetzt war, mit dem Titel: »Das von dem Abgrunde
des Zwischenzustandes befreiende Gebet.«

Er streckte sich auf ein Polsterbett, nachdem er die Diener entlassen
hatte, schlief kurze Zeit mit den holzgerahmten Blättern ein, sah sich
aufgewacht in dem breiten hohen Zimmer um, das von Ambragerüchen erfüllt
war. Sein Kinnbart war zerdrückt und zusammengeklebt, eine Wange glühte,
ihn fror an Händen und Füßen. Er schnüffelte. In seiner Kehle steckte eine
heiße Bitterkeit.

Kein Geräusch draußen, es mußte schon späte Nacht sein. Khien-lung tappte
von dem Polster an die Kante des offenen Bettes; sein Gürtel drückte ihn;
er schnürte ihn auf und ließ ihn mit dem zerbrochenen Fächer und klirrenden
Behängen auf den roten Teppich sinken, dessen goldene Orchideen am Boden
Sterne aufblitzten, wie matte Scheiben hingedrückt ihre Fläche deckten.

Er bemerkte, daß er laut stöhnte und daß er wohl wieder krank würde, aber
nur in manchen Augenblicken bemerkte er das. Dann wirtschaftete der
taumlige Mann zwischen Schränken, Spiegeln und Vasen, suchte in Ecken,
tastete mit den Fingern den Teppich ab, kratzte mit dem Daumennagel die
eingelegten Blüten, machte, hingekniet, die Hand hohl und wollte die
aufschimmernden Goldsternchen einfügen oder quetschen, um sich die Zunge
mit ihnen abzureiben.

Eine kleine Bronzekuh in einem Winkel zupfte Gras. Khien-lung legte gebückt
den rechten Arm, dessen Ärmel er hochstülpte, auf den eisigen Metallrücken,
bewegte ein Bein und wippte an, als ob er das Tier besteigen wollte.

Die Blätter des tibetanischen Buches hob er auf. Auf den Polstern sitzend,
drehte er die Tafeln um und um und wieder um, drückte sie laut wimmernd
gegen seine Brust, so daß die Rahmen zerbrachen und seine Halskette abriß.
Lauter winselnd wühlte er das Papier an sein Gesicht, schluchzte »Paldan
Jische, Paldan Jische«, und fühlte, den Kopf so in den linken Arm
verbergend, mit den blinden Fingern der rechten Hand nach den Perlen, die
nacheinander von seiner Kette rannen, ihm über den Schoß liefen.

Der alte Herr suchte sie, hingleitend, auf dem Boden; kaum er eine Handvoll
gefunden hatte, steckte er sie an die Stelle seines Gürtels, so daß sie
sanft abrollten.

Versunken richtete er sich auf, schlürfte über den Teppich, murmelte:
»Beten, beten. Paldan Jische, beten. Man bestiehlt mich. Beten, Paldan
Jische.«

Er drängte sich am Fußende seines weißen Bettes gegen die Wand. Die Mauer
war schrankartig vertieft; ein kleiner Aufbau mit der Ahnentafel füllte
diesen Raum. Khien-lung rutschte seitlich vor dem Aufbau um; sein Winseln
und Stöhnen, von der Höhe zur Tiefe gehend, klang wie der monotone Gesang
eines Gefolterten. Der Kaiser, mit stumpfen Augen, tränentriefend, wandte
sich nach seinem Bett, zog eine purpurne Decke herunter, zerrte sie
hinterher nach der Wandvertiefung. Er stolperte, sich in das Tuch
verstrickend, und hielt zweimal inne, weil unter seinen Sohlen Perlen
knackten. Dann hob er das purpurne Laken auf und hing es mit unsicheren
schüttelnden Händen über den Aufbau, stopfte es fest um die silberne
Ahnentafel.

Er seufzte und ließ sich auf einen Hocker fallen, wo er still blieb,
während ihm der Kopf auf die Brust sank und er von Zeit zu Zeit die Stirn
runzelte und die Lider hoch zog. Er bewegte oft die Lippen.

Gleich nachdem der Wirbel der zweiten Nachtwache verklungen war, schwankte
die Tür. Khien-lung beobachtete es angestrengt, ohne den Kopf anzuheben. Er
hatte geglaubt, die Türe wäre geschlossen. Aber sie mußte offen sein, denn
sie schwankte sichtlich. Auch die lockere Seidenspannung des hohen
Wandschirms neben der Tür blähte sich. Zwei Perlen, dicht zu seinen Füßen,
rollten weiter, von dem Schirm rollte eine große Perle weg. Als hinter
seinem Rücken etwas klapperte, drehte sich der Kaiser um.

Eine schlanke Frau in rauchblauem Mantel ließ sich von einer unbeleuchteten
Ampel herunter und konnte nicht gleich mit den Füßen den Boden finden. Von
der Decke kam ein Luftzug; die Frau war von der Decke eingestiegen.

Mit zerzausten Haaren schwebte das Gespenst auf Khien-lung, der sich erhob,
und schrie ihn, sich gegen seine Brust drängend, an: »Warum stehst du auf?
Warum hilfst du mir nicht?«

Der Kaiser wich ängstlich zurück, bat um Entschuldigung, er kenne sie
nicht.

Sie schlug ihren Mantel zurück; da hing an ihrem Gürtel ein Bündel dünner
Seile. »Lauf nur weg,« schrie sie weiter, »du kennst mich nicht? Auf wen
wartest du denn hier. Mein Mantel ist zerschlitzt.«

Sie huschte, sich im Zimmer umsehend, an die Wandvertiefung: »Meine Kämme
habe ich verloren.«

Sie zerrte das rote Laken von dem Aufbau herunter, der alte Herr lief
bettelnd herbei.

Ein feines Klappern erhob sich in der Ahnentafel. Wimmernd suchte
Khien-lung sie bei den Händen zu fassen. Unter höhnischem Lachen und Bläken
der Zunge warf das Gespenst ein Seil um die Bronzeketten der Ampel,
schleifte die rote Decke hinter sich, so daß Khien-lung auf dem gleitenden
Stoff fehl trat und zu Boden dumpfte, verschwand durch den Türspalt.

Der Kaiser wälzte sich mühsam hoch, hinkte hustend, speiend, seine Brust
haltend, an die Ampel, stieg auf einen Hocker, wand sich unter Schwanken
den Strick um den Hals und stieß, die Schultern anziehend, den Stuhl mit
schlagenden Beinen beiseite.

Als Kia-king in das trüb erleuchtete Zimmer kam, hing der Kaiser, mit den
Füßen den Teppich streifend, an der Ampel. Die Tür war offen, eine rote
Decke lag auf dem Gang vor dem Zimmer, mit einem Zipfel über der Schwelle.
Die Schlinge war nicht fest geknotet. Der Körper sank durch seine Schwere,
das gedunsene Gesicht mit dem schäumenden aufgesperrten Mund, den
glotzenden Augen fühlte sich warm an. Ehe Kia-king in dem verwüsteten
überheizten Raum eine Schere fand, plumpste der Körper auf den Teppich, mit
dem Gesicht nach unten.

Kia-king troff der Schweiß juckend hinter den Ohren, um den Hals. Er
knotete das Seil unter Khien-lungs Kinn auf, wälzte den Körper auf den
Rücken, knetete die offene Brust, goß Wasser aus einem Weihbecken über die
Stirn. Ein Spiegel, den er dem Kaiser vor den Mund hielt, überzog sich mit
einem dünnen Hauch. Knistern und Röcheln stieg ganz von innen aus
Khien-lungs Bronchien. In den hochgezogenen Lidern zuckte es; die
hervorgequollenen Augen traten zurück und bekamen einen blanken Schimmer;
das Herz, das nicht aufgehört hatte, langsam zu schlagen, verfiel in ein
mörderisch überstürztes Tempo ohne Kraft.

Als Kia-king mit tränenschwimmenden blöden Blicken in einer Erschöpfung
über den Teppich sank und das Morgengrauen im Zimmer die Röte des
Ölflämmchens umstellte, stützte sich der Gelbe Herr mit beiden Armen auf,
keuchte, hustete, stammelte. Er stand ganz auf, torkelte an das Fenster,
wobei er sich mit den Händen seinen zerschnürten Hals hielt und rieb,
knickte auf das Polsterbett, unsicher und unausgesetzt den ausgestreckten
Kia-king betrachtend mit blutunterlaufenen Augen. Er rasselte stürmischer.

Den wollte er in der Nähe ansehen, den Menschen, der da feist schlief auf
seinem Teppich; ei, der sich gefangen hatte, der Fuchs mit dem lahmen Bein.
Der hatte sich gut gefangen; nicht einmal die Wachen hatten etwas bemerkt.

Stier und vorsichtig auf Kia-king losschleichend hielt er vergeblich seinen
Atem fest, der kollerte und sägte. Da dunkelte ein Schwindel über seinen
Rücken, zwischen die Schulterblätter gegen den Hinterkopf. Er segelte
langsam um auf die Hände.

Kroch auf den vieren weiter, mit höllischem Vergnügen, schadenfroh, als er
mit dem linken Daumenballen etwas Knackendes zerpreßte und die Hand aufhob.
Er hielt sie dicht an das Auge, leckte den Perlensplitter mit der Zunge
weg, spuckte ihn aus. Den Kopf schaukelnd duckte er sich eine Weile über
den Splitter. Eine große Perle blinkte gerade vor ihm auf dem Teppich.
Khien-lung verlängerte das Gesicht, riß den Mund auf. Er fuhr mit der
Hohlhand sachte von oben über die Perle, als wenn er Fliegen fing, zog sich
nach vorn, glotzte sprachlos abwechselnd auf den dicken Kia-king und die
Hand unter sich. Dann tastete er zweifelnd mit der Linken nach seiner
zerrissenen leeren Kettenschnur. Und breitbeinig, mit horizontalen Armen
balancierend schwankte er aufrecht gegen Kia-king vor, die eine Perle in
der Faust, die Brust kochend, raffte im Vorübergleiten von einem Tischchen
einen zerbrochenen Buchrahmen, schlug hinstolpernd mit Fluchen, dumpfem
Geschrei auf Kia-king ein. Kia-king schnellte hoch, kreischte; sie rangen.

Der Gelbe Herr brüllte heiser: »Der hat meine Perlenkette zerrissen, der
Schuft, der Mörder, der dicke Dieb.«

Verzweifelt krächzte er, als ihn Kia-king umlegte: »Alle hat er
zertrampelt. Meine schönen Perlen. Wache! Wache! Meine Halskette wirst du
mir wiederbringen. Mord!«

Auf den Korridoren rumorte es; Lichtschimmer durch die Türspalte.
Waffenklirren. Aufspringen der Türe. Der anschwingende Eunuch riß sie
auseinander, löste ihre Finger, hob Kia-king an und fuhr ihm mit der
geballten Faust in den Rachen. Zurückprallend beim Blick der erstickenden
Augen erkannte der Mann Kia-king. Um Khien-lung, der sich wälzte, zwei
Wachen. Der Prinz, ächzend, orientierte sie mit atemlosen Silben.

Der Kaiser brüllte auf dem Teppich, mit den Armen nach Kia-king greifend,
schluchzte, jammerte, zeigte seine zerrissene Perlschnur: »Mörder! Meine
Halskette wirst du mir wiederbringen. Haltet ihn fest!«

Schnappend tastete sich der Prinz an die kühle Luft.

An dem Steinpfeiler fand er den Strick angebunden, genau solch Strick, wie
Khien-lung um den Hals trug; in der Schlinge steckte ein trockener
vielzweigiger Baumast. Der Dämon hatte sich schon verwandelt.

Der krankhafte Zustand, in den Khien-lung verfallen war, dauerte zwei
Wochen. Während dieser Zeit wurde der Knebelbart des Kaisers völlig weiß,
sein Gesicht wie eine Mumie.

Als er genas, saß Kia-king bei ihm; der Kaiser erinnerte sich nicht an die
Vorgänge der Nacht.

Der Schnee tanzte über der Purpurstadt; der Kaiser nahm wieder die
Regierung in die Hand. Da sprach er in einem der riesigen Treibhäuser
unerwartet einmal über die Sektenangelegenheit mit seinem Sohne.

Kia-king, völlig über die Entwicklung des letzten Sommers orientiert,
schwoll von Vorwürfen gegen die Bündler über, die das Land zerrütteten und
verarmten.

Khien-lung äußerte mit der Apathie eines Verfallenen, daß sich die Ahnen
schlecht über ihn ausgesprochen hätten, daß der lamaische Papst nicht hätte
raten können und wie schwer die Angelegenheit sei.

Da beschwor der Prinz seinen Vater, indem er ihn aus der Nähe des heißen
Ofens führte, sich zu erinnern, wodurch sich das Reich unter seiner
Regierung ausgedehnt hätte, ob durch Milde oder kriegerische Strenge, daß
Kung-tse und andere Weisen Duldung empfohlen hätten, nicht aber gegen
Rebellen. Ja es mache sich der Herrscher eines Verbrechens gegen seine
Untertanen schuldig, der nicht Rebellen, welcher Art sie seien, mit dem
Schwert und Beil niederschlüge.

Khien-lung stand mit dem abgefleischten Gesicht gegen eine Fächerpalme und
pellte einen langen Rindenstreifen ab. Worüber also, meine Kia-king, seien
die Ahnen erbost und hätten ihre Zeichen gegeben?

Über die Schwäche im Angriff, über die Nachlässigkeit der beteiligten
Behörden; eine Warnung sei das Ereignis gewesen; eine Mahnung, an das
Schicksal der achtzehn Provinzen zu denken, welches unabwendbar
heraufziehe, wenn Neuerer, Schwärmer, Halbnarren und Schwindler ungestört
das kenntnislose Volk beirrten. Und mit blitzenden Augen sprach Kia-king
auf den Gelben Herrn ein, der öfter mit abwesenden Blicken das pralle
mienenbewegte Gesicht seines Sohnes streifte. Es würde der ganze Westen
über das Blumenland stürzen. Statt daß Tibet ein Tributreich des Ostens
sei, unterliegen die achtzehn Provinzen den Hirngespinsten phantastischer
roher Pfaffen. Die Lamas bedienten sich feiner Waffen. Und wie lange würde
es dauern, dann würden die langnasigen Weißen aus Indien sich einstellen,
und die rotborstigen Barbaren mit Knuten von den nördlichen Grenzen. Die
klare uralte Weltregelung des Weisen von Schan-tung ginge verloren unter
dem Schwall ungezügelter Träumerei westlicher Barbaren. Kung-tse müsse
geschützt werden. Das Schwert müsse rechtzeitig gehoben werden.

Sie schleppten zwischen den Palmen und Kakteen ihre Leiber schwer atmend
auf und ab. Ein Silberfasan stolzierte vor ihnen auf den wasserbetropften
Marmorplatten; seine roten Füße setzte er mit einem plötzlichen gnädigen
Entschluß; geziert bog er seinen blauschwarzen Hals, um den Glanz seiner
Federn aufleuchten zu lassen. Vor dem bebuschten runden Stamm eines Ölbaums
trennte sich Khien-lung von seinem Sohne. Die eingesunkenen Augen
Khien-lungs, fältchenumrahmt, blickten unruhig. Er sagte zu Kia-king, dem
er einen Arm auf die Schulter legte, er möchte sich zu den folgenden
geheimen Beratungen einfinden.

                   *       *       *       *       *

In den folgenden Besprechungen, bald mit Kia-king, bald mit A-kui, Song,
Chao-hoei, wand und bog sich der alte Kaiser, wie ein Lebensmüder, den man
retten will. Er wollte diesen blitzartig erleuchtenden Vorschlag Kia-kings
nicht annehmen; er hatte sich tief in hoffnungslose Verworrenheiten hinein
verloren, es war eine heimliche selbstquälerische Freude, die ihn hier
festhielt. Schwer wurde der Entschluß zu hoffen. Eine dunkle Scham kam
hinzu, die des geretteten Selbstmörders vor dem Leben.

Die Deduktionen keiner Beratung hätten das vermocht, was dem feinen Takt
Kia-kings gelang. Der Prinz schwieg über die früheren Ereignisse, ließ
seine ganze Schlaffheit sinken, warb um den Kaiser, den er anbetete um
dieses inneren Zwistes willen.

Als Khien-lung, halb geneigt zu folgen, heimlich erfreut über seinen Sohn,
mißtrauisch wurde, griff Kia-king zu einem Gewaltmittel. Er zeigte sich
betroffen über den Widerstand seines Vaters, stimmte ihm bei, verließ bei
einem Besuch den aufgewühlten Kaiser mit nervösen Worten, unsicheren
Bewegungen, blieb in seiner Wohnung.

Dem Kaiser, der ihn bald aufsuchte, gab er sich trostlos, weil es also wahr
wäre, daß ihre glanzvolle Dynastie von den Ahnen verlassen sei. Der Gelbe
Herr, ungläubig, starr, aufgespalten von einem Beilwurf, suchte sich
angstvoll jammernd den Rest von Hoffnung zu retten, hielt stotternd
Kia-king dieselben Argumente vor, mit denen ihm Kia-king gekommen war. Der
feiste Prinz näselte, grapste tränenselig an den Gründen herum,
beschnüffelte sie, vom Kaiser in jedem Atemzug, Wimpernschlag belauscht.
Sie schoben sich ächzend hin und her, Khien-lung jeden Augenblick sein
Todesurteil fürchtend, beide gegeneinander minierend und sich hitziger
aufstachelnd, sich Entschlüsse abringend. Der Kaiser bot seine ganze blau
und grün gewordene Verzweiflung auf. Er mußte das träge bockige Flennen
seines Sohnes überwältigen. Bis Kia-king nachgab und sich gekränkt umwarf.

Das Spiel war gewonnen. Der Kaiser fühlte sich an Kia-king in einer dunklen
Beziehung gekettet. Khien-lung grollte noch tagelang; man durfte mit nichts
Politischem kommen.

Dann hatte er angebissen. Als wenn es von ihm käme, schleuderte er mit
einem rauchenden Zorn den Wunsch einer gewaltsamen Unterdrückung der
Rebellion in den Hohen Rat.

Drei Wochen vergingen nach jener Nacht. Da trugen Kuriere in die
winterlichen Landschaften den Erlaß des Kaisers hinaus, der unter
Mitwirkung des gesamten Ministeriums, unter Hinzuziehung der ältesten
Prinzen und aller Zensoren formuliert war.

Die Kundgebung bestimmte die Anwendung des Ketzereigesetzes in
verschärfter, genau angegebener Strenge auf die Sektierer der nördlichen
Provinzen. Jeder Widerstand sollte als Rebellion gefaßt werden. In dem
Erlaß klagte der Kaiser, auf wie schlechten Boden seine frühere Milde
gefallen sei. Die sofort einzusetzenden militärischen Maßnahmen zur
Unterdrückung des Aufruhrs würden erfolgen unter Chao-hoei, dem besondere
kaiserliche Vollmacht und der Oberbefehl über die Provinzialtruppen der
beteiligten Gebiete verliehen sei.

Das Land möge sich nicht beunruhigen.

Der Drachenthron würde die Lehren Kung-tses und des Himmels verteidigen.



Viertes Buch

Das Westliche Paradies


Die Veröffentlichung des winterlichen kaiserlichen Erlasses stieß auf
keinen stärkeren Widerstand. Wenige östliche und südliche Präfekturen in
Tschi-li unterschlugen die Befehle. Im übrigen brauste der Erlaß als ein
Kampfruf über die nördlichen Provinzen.

Chao-hoeis Truppen, die gefürchteten Mordbrenner vom Ili, rückten in die
nördliche Provinz ein. Ein paar hundert herumstreifende Brüder und
Schwestern, auf die man in Rotten stieß, wurden ergriffen, nach ihrer
Vernehmung hingerichtet, kleine Trupps, die Widerstand gegen die
Gefangennahme leisteten, waren rasch umstellt, niedergeschlagen, nach
Folterungen in Stücke zerschnitten. Es bedurfte zu diesen Ereignissen nur
weniger Wochen, dann gähnte Chao-hoei in der nördlichen frierenden Provinz,
konnte nicht nach Pe-king Unterwerfung melden und konnte nicht angreifen.
Die Wahrhaft Schwachen waren vom sichtbaren Erdboden verschwunden.
Überfälle auf gefangene Boten, Briefe bewiesen, daß sich die Geheimbündler
in die Städte und Dörfer verschoben hatten, daß die Bevölkerung sie
aufgenommen hatte und daß mit einem Schlage riesige Massen hinter den
Wahrhaft Schwachen schwelten. Die Weiße Wasserlilie tauchte auf wie das
Gespenst einer brutalen undurchdringlichen Menschenwand. Weder Chao-hoei,
noch die Tsong-tous von Tschi-li und Schan-tung trauten sich zu prüfen, wie
diese fürchterliche Freimaurerverbindung zu den Wu-wei-leuten stünde. Ein
eisiger Winter brach an.

Es war nach dem letzten Kampf einer Bündlerrotte mit den Regulären, als
sich fünf Händler aus jenem Dorf, bei welchem der Kampf stattgefunden
hatte, aufmachten und mit ihren Segelkarren nach Süden zogen. Dieses waren
entschlossene Brüder, welche Wang-lun holen wollten. Hochgetürmte
einrädrige Karren ließen sie im frostprustenden Wind vor sich laufen, über
den gefrorenen Schnee rollten sie wie auf Schienen. Nur zwei von ihnen
verstanden den Dialekt der südlichen Provinz, in die sie reisten; aber die
drei andern waren kräftige Burschen, die sich auf Schlagen und
Landstraßenwälzen verstanden. Tang, einer von ihnen, war, als Ngoh
anordnete, man solle sich verstecken, mit einer Anzahl anderer auf die
Dörfer gelaufen, suchte Rebellion gegen die Mandschus zu schüren, erlahmte
bei diesem Treiben. Er faßte es als ein Zeichen auf, daß er der letzten
Umzingelung durch die Kaiserlichen entrann, überredete rasch seine
Begleiter, mit nach Süden zu reisen zu Wang-lun. Er wußte von Ngoh den
Aufenthaltsort Wangs. Nach einer Tagereise kehrten sie um; Tang suchte sich
eine Legitimation zu verschaffen für Wang-lun. Bei dem Dorf wieder
angelangt, fand man aber den alten Chu nicht mehr, der, wie er oft
erzählte, auf den Nan-ku-bergen die Geburtsstunde des Bundes miterlebt
hatte; bei der Plünderung des Dorfes hatte er sich verdächtig gemacht und
nun lag der alte Fanatiker, dem bei dem zudringlichen Ausfragen die Galle
übergelaufen war, neben einem geborstenen Maulbeerbaum im weichen Schnee
und hielt seinen steifgefrorenen Kopf zwischen den Füßen. Sie warteten die
Nacht ab, begruben den Körper hinter der Mauer des Magistrats, damit er der
verräterischen Behörde Unglück bringe, wälzten den klebrigen Kopf in einen
Salzeimer, den Tang an der Lenkstange seines Karrens führte und hatten nun
die Legitimation, die sie brauchten. Viel ist später über die Fahrt dieser
fünf einfältigen Brüder nach dem Hia-ho, wo Wang-lun wohnte, gefabelt
worden. Wahr ist sicher, daß man in allen Städten und Orten hinter ihnen
tuschelte; die Zopfschnüre, Lampen, Dochte, Federblumen, Seidentücher,
Tabaksdosen, die sie verkauften, warf man nach ein paar Tagen weg in Angst
behext zu werden; die, welche Süßigkeiten von ihnen gekauft hatten,
behaupteten, Kriebeln in den Fingerspitzen zu spüren, Absterben der Zunge,
und gaben sich Mühe zu erbrechen. Man erschrak über das rasche Erscheinen
und Verschwinden der Händler; der enorm niedrige Preis, zu dem sie
verkauften, erregte hinterher Verdacht, dazu der grimmige tiefsinnige
Gesichtsausdruck Tangs, der über den Tod des alten Chu trauerte; auch die
sonderbare Ängstlichkeit der fünf Wanderer. In ganz anderer Weise sollte
drei Monate später Tang mit Wang-lun dieselben Ortschaften durchwandern;
freudig still neben dem freudigen und stillen Wang-lun, beide im
herrlichsten Frühling in die Mäntel taoistischer Doktoren gehüllt; sie
schoben abwechselnd einen kleinen Handwagen mit geweihtem Zauberwerk; auch
an der Deichsel dieses Wagens schaukelte der Salzeimer mit dem Kopfe des
toten, hitzigen Chus, den sie neben seinem Körper vergraben wollten. Die
Provinzen Tschi-li, Schan-tung und Kiang-su durchhetzten die fünf Händler,
sie hielten sich an die Richtung des Kaiserkanals; das reiche Tiefland
dehnte sich unermeßlich nach allen Seiten. Den Jubel des Neujahrsfestes,
Lärmen, Knattern der Bambushölzer erlebten sie in Schan-tung; jeder Festtag
ließ sie das Vorrücken der Zeit empfinden, blies in ihre Segel, kniff in
ihre Waden. Tang trug viel Geld bei sich, das er unter Drohungen einem
Kaufmann in Tschi-li abnahm, bevor er auf die Dörfer lief, sechs starke
Barren Hacksilber, die er in den Boden seines Karrens versteckte unter
einer Bretterlage. Sie mußten viermal ihre Warenbestände erneuern, sich
selbst zweimal einkleiden auf dem Wege, um als Händler der Gegend zu
erscheinen, die sie durchfuhren. In Kiang-su war es schon Frühling
geworden. Zuletzt mußte man sehr langsam reisen, weil Chen, ein
Natternhändler, einer der sprachkundigen des Zuges, beim Fang eines Tieres
in den Hacken gebissen war; die feine Rißwunde flammte auf, heilte nicht,
ja an manchen Tagen blühte das ganze Bein schwellend wie ein Kuchenteig.
Die Häuser wuchsen höher, hatten weiße Stirnen, waren umrankt von Efeu,
Kürbis, seltsamen breitblättrigen Pflanzen. Die Dachverzierungen wurden
prächtiger. Dunkle Menschen begegneten ihnen, die sehr rasch, auffallend
laut und weich sprachen. Auf vierrädrigen Büffelwagen holperten Bauern
vorbei; breite Flüsse, welche die Einwohner verschieden benannten,
schaukelten Städte von Booten, in denen die Menschen wohnten. Der
schreckliche Hwang-ho wurde überschritten; über den Hwai-ho setzend, bogen
sie östlicher ein. Sie näherten sich dem Hia-ho, dem seenreichen Gebiet
nördlich vom Jang-tse-kiang, das sich in fruchtbarer Niederung vom Damm des
Kaiserkanals bis an den meerabwehrenden großen Damm Fang-koung-ti
erstreckte. In dem Marktflecken Fou-ngan, an der südlichen Grenze des
großen Damms, sollte ein Mann namens Tai wohnen. Dies war Wang-lun. An den
Grundstücken der großen Salzsieder knarrten die fünf Händler vorbei, ein
reger Wasserhandel wurde hier getrieben. Auf dem Damm wogten die
Pflanzungen von Baumwolle, Ölbohnen, Mais.

An einem stürmischen Mittag langten sie in Fou-ngan an, krochen in ihre
Herberge, schliefen bis zum lichten Morgen. Tang machte sich an den Wirt,
einen älteren schlauen Gesellen, der leise herumging, fragte ihn nach den
Ortsverhältnissen, nach kaufkräftigen angesehenen Leuten, erfuhr dabei die
Wohnung Tais, der eine Baumwollpflanzung besitzen sollte, zurzeit auf
Fischjagd lag.

Die zunehmende Erkrankung des glücklosen Natternhändlers, sein
überkochendes Fieber erübrigte eine Begründung für ihr langes Verweilen am
Ort. Sie brachten ihre Karren in der Herberge unter, Tang schob seinen
kostbaren Karren durch die lange Dorfstraße, die drei andern Männer liefen
hinterdrein. Sie kauerten am Ufer des Jang-tse hin, der breit wie ein See
in wilder Strömung nach dem Meere rollte. Sie hatten bis zum Abend lange
Stunden Zeit, das schlammige gelbe Wasser zu betrachten. Wie in Tschi-li
flogen die Tauben in Schwärmen über ihnen, tönend wie Äolsharfen; wunderbar
fein klangen die Pfeifchen in ihren Schwanzfedern, wenn sie sich näherten.
Niedrige Felsklippen faßten beiderseits dem Meere zu den Fluß ein, an den
Felsbuchten gab es ein Schweben und Senken der Mandarinenten. Im Rücken der
vier träumenden Händler tappste der Lärm, Wasserträger schrieen, die Saat
wurde auf die Felder geschleppt, Bootzieher trabten nach den Querkanälen.

Gegen Abend sprangen die vier auf und rieben die Knie. Eine Flotte von
vierzig flachen Dschunken näherte sich dem Dorf, legte an. Die
Tschi-li-läufer stellten sich in die Gruppe der ausgestiegenen Fischer, die
Körbe und Netze von den Fahrzeugen trugen. Frauen und Kinder zwitscherten
den Damm herunter. Der Himmel schwankte und schwappte wie ein übervoller
Bottich von Purpur, hochgelb, violett. Der Name Tai wurde von Trägern
gerufen, ein riesengroßer Mann mit magerem Gesicht antwortete, der Korb
nach Korb von den rüttelnden Planken eines Schiffes räumte. Die vier
Tschi-li-läufer stießen sich im Gedränge. Sie legten einander die Arme um
die Schultern und ihre beweglichen Augen glänzten. Lauter wurden die
Schreie, das Scharren durcheinander, als die Fischer in die langen,
schmalen Gehege uferentlang ihre Beute hoch aufgeschultert stampften. Tang
stand schon mit seinen Freunden an dem Gehege des knochigen Mannes, wartete
bis zum Ende des Verstauens. Sie folgten Tai, als er über eine
sonnenbeschienene Bodenerhebung mit baumelnden, großen Händen allein ins
Dorf stieg. Der Karren des breitschultrigen Tang querte seinen Weg. Tang
bot dem wassertriefenden Barfüßler im Vorüberrollen einen großen roten
Frauenschal an. Der Fischer: »Heb ihn hoch, sonst wird er naß.«

»Tut nichts«, meinte Tang.

»Aber unser Boden wird rot«, grinste der Knöcherne stärker, schlürfte an
dem Karren vorbei. Sie fuhren hinter ihm her. Tang sauste quer über den
Weg, der zwischen steile Tung-chu-bäume führte. Tai stehen bleibend, schrie
dem ungeschickten Händler ein wütendes »Ho-oooh!« zu. Der Händler aber
seinen Karren festhaltend, der ihm im Schwung fortrollen wollte, riß mit
der freien linken Hand den Salzeimer von der Deichsel: er wolle ihm noch
etwas anderes anbieten; vorher hätte er sich vergriffen; dies hier färbe
auch rot. Die schnüffelnde Nase des Fischers fuhr zurück vor dem auf der
rosigen Salzkruste herausragenden Halsstumpf. Die drei andern Männer
trollten herzu, hielten den zappelnden Karren. Tang stellte sich höflich
neben den Fischer, dessen kleine Augen von einem zum andern hüpften. Den
Eimer auf den Boden gesetzt, zog er am Stumpf den Kopf des alten Chu
heraus, drehte noch im Eimer das Gesicht nach oben. Tai bückte sich tiefer,
tiefer herunter, hockte ohne Wort neben dem Eimer, die Hand des Tang
fortstoßend. Er schien Merkmale von dem stinkenden schwarzbraunen
Leichengesicht abzuzählen: den kleinen zusammengeklebten Kinnbart, die
geriefelte Haut, die dicken Augensäcke, den vorragenden Unterkiefer. Dann
blickte er an dem Holz des Gefäßes entlang, stubbte den Leichenkopf zurück,
sprang auf, wischte sich die Hände im Sand und ging, mit den Fäusten den
vier drohend, die er »Strolche« angiftete, mit langen Schritten zum Dorf
hinüber.

In ihrer Herberge unterhielten sich die fünf in der Kammer des
Natternhändlers. Tang mußte die andern beruhigen. Ob sie geglaubt hätten,
die Sache wäre mit vier krummen Buckeln und einem Grinsen abzumachen.

Der Wirt wußte schon, daß sie sich mit Tai unterhalten hatten, daß er ihnen
aber nichts abgekauft hatte. Er riet ihnen, sich ganz früh bei der Abfahrt
der Kormoranfischer am Fluß einzufinden. Da strömten Frauen und Männer
zusammen. Ihnen läge doch nicht gerade an Tais verschlossenem Beutel.

Als der scharfe Morgenwind über den Gelben Fluß seine prallen pfeifenden
Luftsäcke entleerte, standen die vier unter den rüstenden Leuten. Dutzende
lange Flöße schwankten auf dem Wasser, schmal, vorn wenig aufgebogen. Eine
Anzahl glitt im weißgrauen Morgenlicht stromabwärts, von Männern, die auf
dem Vorderteil des Schiffs mit Ruderstangen liefen, geführt. Als Tai über
den Sand drei lange Schiffsstangen hinter sich schleifte, löste sich aus
der Gruppe der vier Händler Tang gegen ihn zu. Gleichzeitig sah der Fischer
sie an und rief. Sie sprangen zu. Nachdem sie Stangen und Netze auf sein
Floß geworfen hatten, das eine große Breite aufwies, stiegen sie mit ihm
auf das Floß. Er gab jedem der Männer, langsam um sie herum gehend, einen
Platz und eine Stange. Vor jedem Platz auf den schwankenden Brettern stand
ein hoher Korb, auf dem hinteren Floß schrieen und hüpften die
abgerichteten Vögel, die Kormorane.

Während die Fischer der Strömung folgten, um Klippen und Sandbänke glitten,
tauchten die Vögel, watschelten vor dem Floß, brachten feuchtigkeitsprühend
Fische im Schnabel an, die sie in den Korb fallen ließen, nach ihnen
hackten. Die rudernden Männer, torkelnd, breitbeinig, sprachen im
Tschi-li-dialekt miteinander, ohne sich umzudrehen. Tai fragte, wo sie im
Dorf wohnten und wo der Eimer wäre. Als Tang geantwortet hatte,
unaufgefordert vom Tode Chus präludierte, Wang-lun gleichmütig ihn hieß,
seine Arbeit zu tun, dann würde es ihm gut gehen, schwieg ihre
Unterhaltung. Langsam schwammen sie, von Wang gesteuert, gegen eine
schwarze senkrechte Uferklippe, ließen die übrigen Flöße vorüber. Das gelbe
Element schäumte, rieselte unter ihren nackten Füßen, die Vögel flatterten.

Wang-lun drehte sich um: »Ich habe euch schon gestern gedroht. Ihr habt
hier nichts zu suchen, mit dem Kopf des alten Chu. Ich werde euch ins
Wasser werfen.«

Tang erwiderte, es sei einer von ihnen in der Herberge, sie fürchteten sich
nicht.

Verächtlich fixierte ihn der Fischer, hieb abstoßend in die Klippe. Sie
schwammen weiter über den Strom. Als sie ruhiger arbeiteten, schrie einmal
Wang plötzlich: es sei eine Kinderei, eine Niedrigkeit, den Kopf des alten
Chu durch alle Provinzen zu schleppen. Wozu? Wem sie damit einen Gefallen
täten? Chu sei alt, erfahren, hätte genug Provinzen durchwandert, sie
hätten ihm Ruhe gönnen können.

Tang erwiderte, Chu sei noch zuletzt unter die Kämpfer gegangen; er habe
gewünscht, ruhelos weiter gegen die Füchse, die Pelzdiebe, die Mandschus zu
kämpfen, und das wäre ihm jetzt gegönnt.

»Wodurch?« fragte Wang.

Tang trat einen Schritt näher: »Das weißt du selbst. Er wirbt zum Kampf.«
Tangs Augen blitzten.

Wang-lun drohte: »Ich werde euch ins Wasser werfen.«

Tang höhnte: »Die Kormorane werden uns wieder in deinen Korb legen.«

Wang-lun: »Fressen werden die Haie euch.«

Wang-lun und Tang taumelten sich auf dem Floß mit geschwungenen
Ruderhölzern entgegen. Tangs Holz sank. Der Mann warf sich auf die Knie:
»Ich will ins Wasser springen. Verlangst du?«

Als der Fischer drohend verharrte, der Händler an den Rand des Floßes trat,
schwirrten die Kormorane an und der Knöcherne kehlte dem Händler zu: »Geh
an deinen Platz.« Einige Vögel fraßen die zappelnden Fische im Flug; die
Ruten pfiffen auf ihre Rücken; krächzend rissen die Kormorane die Schnäbel
auf, die Fische schnellten blutend in die Körbe. Die Strömung riß heftiger
an dem Floß; die Ruderer bremsten und rangen mit dem Wasser. Wangs Floß
drehte langsam bei zu der übrigen Flottille, die vor einer eben mit platten
Dächern auftauchenden Ansiedlung lag. Während sie mit den langen Stangen
sich gegen den Flußboden stemmten, schoß der lange Fischer unter seinem
ungeheuren Strohhut wilde Blicke auf die arbeitenden Händler.

Tang, der ihm am nächsten stand, rief er an:

»Wer hat euch auf mein Boot mitgenommen?«

»Du selber.«

Wang raste. Seine Steuerstange glitt seitwärts. Sie schwammen weiter.

»Ihr lügt, ihr seid allesamt Betrüger, Nichtstuer, Lungerer. Gesteht es
doch. Was kommt ihr zu mir Arbeit suchen? Euere Körbe sind halbleer. Seht
doch hin, wie die Kormorane schmausen, ihr Affen. Solche Leute brauche ich
nicht. O, solche Halunken mußten mir in den Weg kommen; es gibt hier so
viele tüchtige Leute.«

Er vergaß in seiner Wut völlig zu steuern, der junge Tang balancierte
heran, bückte sich nach der Steuerstange, wurde von dem Fischer an der
Schulter gepackt und hingeworfen. Triefend, wortlos schleifte Tang an
seinem Korb, fing an zu zittern.

Wang führte sie wieder langsam an die Flottille heran. Ein Gewitter war mit
blauem Wolkenschiefer, baßtief orgelnd, heraufgekommen. Die Wellen duckten
sich eigentümlich flach. Plötzlich keifte der gezüchtigte Tang, der die
Fassung zu verlieren schien:

»Wenn es doch herunterführe, alles zerschlüge! Es müßte alles zerschlagen,
ins Wasser gestopft werden. Das wünschte ich.«

Mit gläsernen Augen beobachtete ihn Wang:

»Du auch? Wir fahren an Land. So rasch geht nichts, Tang. Der Drache läßt
dich los. Das sind so ausgerechnete Geschichten, ich kenne das. Nichts
wünschen, nur nichts wünschen.«

In der Schenke, die sie in der kleinen Ansiedlung aufsuchten, stellte Wang
die vier als seine Landsleute aus Schan-tung vor. Wang, wie die andern an
einer Tasse Fleischbouillon hängend, vertiefte sich im Gespräch in die
Details einer verschimmelten lokalen Streitigkeit. Er spann sich in große
Behaglichkeit ein, erzählte von dem Vater seiner Frau, der ihm den
fettesten Teil seiner Maisfelder billig verkaufen wolle.

Ein alter Mann, Freund Wangs, steuerte das Floß am Spätnachmittag zurück
mit der Muskelkraft der vier Händler. Wang selber fuhr mit einem Nachbarn,
einem wohlhabenden Fischer, der ihn nicht losgelassen hatte.

Den Abend verbrachten die Fremden in dem alten Häuschen Wangs. Er
präsentierte ihnen seine junge Frau, ein kleines, lächelndes Wesen, das die
Fremden verwundert ansah, zweimal besorgt nach ihren Absichten fragte, sich
zurückzog.

Als Wang, der sie zärtlich bei den Händen herausgeführt hatte,
wiederkehrte, blieb er am Türpfosten stehen vor ihnen, die nebeneinander
auf der Bodenmatte hockten und Tee schlürften, streckte überkreuz die Arme
vor:

»Also?«

Da sie sich nicht regten, ihn nur anblickten:

»Ihr habt nichts mitgebracht? Schade.«

Die Arme sanken:

»Es wäre einfacher gewesen, mich binden und wegschleppen. Statt langer
Unterhaltung. Ihr seid aber sehr sicher. Es geht auch ohne Stricke.«

Die Matte raschelte, er saß vor ihnen, sie glucksten schweigend.

»Sagt mir nun eure Namen noch einmal, und woher ihr stammt. Erzählt mir
weiter gar nichts. Es ist nicht nötig.«

Sie nannten sich leise.

»Jetzt kenne ich euch. Ihr vier oder fünf kommt euch wohl sehr rühmlich
vor, daß ihr von Tschi-li durch Schan-tung, Kiang-su bis hier an den großen
Damm gedrungen seid? Ich bin auch einmal so nach Schan-tung gefahren.
Besonders du, Tang, machst ein schlaues Gesicht. Es ist eine rechte
Heldentat. Es liegt nicht daran, Tang, daß du den Eimer mit Chus Kopf da
bei deinem kranken Freund stehen gelassen hast. Der Wirt hat den Kopf schon
längst gesehen. Aber du verspekulierst dich, wenn du glaubst, ich bin nun
mit euch verraten und muß weg aus dem Hia-ho. So fängt man mich nicht, ihr
zahmen Kaninchen. Erzähl doch mal, du mit der lahmen Schulter, wie bist du
an die Wahrhaft Schwachen geraten?«

Einer der sprachkundigen Tschi-li-läufer, dem eine Schulter hing, verneigte
sich:

»Es fehlte mir in meiner Heimat nichts. Meine Sippe ist nicht arm. Du bist
ein großer Wundertäter.«

»Ja, ich weiß schon. Es ist richtig so. Als wenn ich Gift um mich gespritzt
hätte. Es geht immer so weiter. Nun redet doch. Wie kommt ihr euch also
vor, wo ihr so dasitzt? Ihr braucht keine Furcht vor mir zu haben. Ich bin
nicht verstockt wie mein toter Bruder Ma-noh war, als ich ihm zuredete. Wie
ich euch am Ufer hab stehen sehen, hab ich alles gewußt. Mein Schicksal,
mein ganzes Schicksal, das Schicksal meiner Frau. Ich hab euch erwartet,
ihr, seit Monaten gefürchtet! Weil mir alles entzwei geht. Gefürchtet, o.«

»Weiß Wang-lun,« fiel nach einer Stille Tang ein, »daß er das Brüllen eines
Löwen ausstößt, eines trägen Löwen, den man aus seinem Käfig jagt?«

»Für euch hab ich zu viel getan, so viel. Nicht einen Käsch gebt ihr mir
zurück. Ihr blitzt mich nur mit solchen Worten an, feilt an mir herum. Ihr
grabt mich aus. Ihr wollt mich nach Tschi-li ziehen, damit ich an der
richtigen Stelle geopfert werde, oder nach Schan-tung. In Tsi-nan-fu muß
ich geopfert werden. Was macht ihr für Wesen um die Dinge. Wie viele hat
der Kaiser Khien-lung von euch wieder morden lassen? Sagt rund tausend,
zehntausend, zwanzigtausend. Ihr werdet gar nächstens noch Menschen zählen,
ein paar mehr, ein paar weniger. Die Weiber auf den Schiffen drücken alle
Tage einem kleinen Wurm den Schädel ein, darum werde ich nicht behelligt,
darum wandert keiner von euch nur von hier bis an den Ofen. Es ist gleich,
es bringt mich in Wut, was der Kaiser macht oder die Weiber machen oder das
Darmfieber macht, es geht mich nichts an. In keinem Buch steht, daß man
mich auch totschlagen soll, wenn zehntausend, hunderttausend in Tschi-li
totgeschlagen sind. Was lauft ihr mir wie Gespenster nach? Ich bin euch
nichts schuldig. Ich kann nichts, ich kann nichts dafür.« Es war ganz
dunkel. Auf dem Fußboden saßen sie mit baumelnden Köpfen, erkannten sich
nicht.

»Was habe ich schon alles geopfert, was hat man mir weggenommen? Ja, zu mir
kommen sie mit solchen Sachen. Mit erwürgten Freunden. Mit abgedrehten
Köpfen. Als wenn ich eine Jahrmarktbude, ein Schaukabinett wäre und sie
mich füllen müßten. Ich bin froh, daß Vater und Mutter tot sind, sonst
liefen der und der hin und schlügen sie rasch tot, brächten mir ein bequem
transportables Bein, ein eingesalzenes Gesicht, ein sauber verpacktes Stück
Brust von meiner Mutter. Um mich zugänglicher zu machen. Das ist mein Los.
Ich weiß schon. Ich werde euch folgen. Eine Frau hab ich, ein Gut,
Baumwolle, ein Floß, man ehrt mich. Man hat mir einen versalzenen Kopf im
Eimer vorgesetzt und daran muß ich fressen und alles hier lassen.«

Wang tappte im Zimmer herum. Ein Feuerzeug schlug an, die kleine Öllampe
brannte oben auf dem Ofenbett. Wang tappte weiter, sackte neben sie, einen
langen bastumwickelten Gegenstand über den Knien. Als er den Bast
abgehalftert hatte, blitzte das lange blanke Schwert. Sie duckten wieder
rasch die Köpfe. Wang-lun wiegte den Gelben Springer in den Armen.

Am nächsten Morgen fuhren die Karren in der ersten Frühe aus der Herberge,
der Natternfänger hinkte und ließ sich stützen, sie verließen das Dorf nach
Norden. Hinter dem Dorf holte den langsamen Zug der fünf Händler die große
gebückte Gestalt im Strohhut ein.

Wang-lun fauchte, warum sie heimlich aufbrächen, so daß erst der Wirt
jemand schicken müßte, um ihm die Reise seiner Landsleute anzuzeigen. Die
Händler sahen sich bedrückt an, der mit der schlaffen Schulter schniefte
unter der Nase:

»Wir haben uns geschämt. Es tat uns leid, daß wir hergekommen sind. Wir
wollen an dem nicht schuld sein, was du gesagt hast.«

»Wir sind Brüder,« gab Tang von sich, »wir wollen dich nicht zwingen.«

Wang-lun drängte an Tang, überfuhr ihn mit Zorn: »Ihr seid feige, ihr
schämt euch, wollt nicht schuld sein! Warum nicht?«

»Was nützt das Schimpfen?«

»Kaum hab ich euch angeblasen, seid ihr fortgelaufen. Ihr seid Boten. Man
flüchtet nicht, sag ich euch, und man fürchtet sich nicht. Warum denn nicht
zwingen, du Schlaukopf, warum denn nicht schuldig sein? So sehen meine
Wahrhaft Schwachen aus! Wahrhaft, wahrhaft Schwache!«

Wang-lun drängte sie zum Weiterfahren, man könnte sie im Morgengrauen vom
Dorf sehen. Sie erlebten an dem letzten Wegstein zum Dorf Wangs
Abschiedsschmerz; er schied von dem Land, von seiner Frau. Dann fuhren sie
getrennt, Wang-lun mit Tang. Wang war nicht mitteilsam; mit Laufen,
Verstecken, heimlichen Einkäufen und Betteln von Reis, Melonen und Wasser
wurden die Tage zugebracht. Tang konnte den Eindruck nicht verlieren, daß
er einen Gefangenen mit nach Tschi-li brächte. Wang, der öfters nachts
leise mit sich sprach, schien sich herumzuschlagen mit sich und sich
niederzuhalten. Auffiel dem klugen Tschi-li-läufer, daß das einzige, was
sich der unheimliche Mensch immer wieder erzählen ließ, brünstig, gierig
danach schnappend, Bluttaten der Ili-Truppen waren, grausame Mißhandlungen,
Quälereien der Brüder, daß er sie mit Vergnügen einsog. Bruchstücke solcher
Erzählungen hörte Tang ihn sogar nachts sich vorsprechen. Der junge Händler
fühlte sich neben seinem Begleiter seines Lebens nicht sicher. Vorwürfe
ließ Wang gelegentlich gegen ihn los und beteuerte grimmig, daß er sie
schon lange mit Grauen erwartet hätte. Aber sie sollten ihn haben. Sie
sollten ihn haben. Vor sich jammerte der junge Händler, was er angerichtet
hatte, überlegte wegzulaufen, aber es war augenscheinlich, daß Wang-lun ihn
beobachtete. Er wagte nicht, den Fischer zu fragen.

Bis sich diese Spannung zwischen ihnen jenseits des Hwang-ho langsam löste,
wo Wang anfing, sich für die Bewohner zu interessieren, Wettläufe mit Tang
anstellte und nachdem er sich in den gelben Brokatmantel eines taoistischen
Wanderdoktors geworfen hatte, mit einer eigentümlichen Heiterkeit
stolzierte. Sie genossen den Frühling, den angehenden Sommer. Die freie
Stimmung erstarb bei Wang, eine Unruhe, Ungeduld schmachtete um ihn. Je
näher sie den Bergen Schan-tungs kamen, um so weniger konnte er sich
beherrschen. Er riß sich hinter einem Dorf das Taoistenkleid ab, zog sein
graues, zerrissenes Bettlergewand mit Ausrufen des Glücks an; sein Schwert
hing ihm an einem Seil um den Hals. Er fragte unermüdlich seinen Gefährten
nach den Ereignissen der letzten Jahre aus, forschte in den Dörfern.
Nachdem er schon halbe Tage den heimkehrenden Tang allein gelassen hatte,
verschwand er vor Tsi-nan-fu völlig. Nur den Auftrag hatte er Tang
hinterlassen, er möchte überall bei den Brüdern und Schwestern verbreiten,
daß sie sich nicht verlieren sollten. Es würde ein Umschwung eintreten.

                   *       *       *       *       *

Wang lief wie vor Jahren die harte Kohlenstraße von Schan-tung.
Rauchsäulen, dunstige Pfeiler in der Luft. Welliger Boden; auf der nackten
steinernen Ebene die große Stadt Po-schan. Chen-yao-fen hatte den Besuch
Wang-luns lange erwartet. Den Kaufmann hatte das Unglück in der
Mongolenstadt mit ungeheurer Ehrfurcht vor seinem ehemaligen Gast erfüllt.
Während des Winters und bis zuletzt fanden Beratungen der Häupter der
Weißen Wasserlilie statt; ungeteilt war die Empörung über die Maßnahmen des
Kaisers, der den fremden Lamaismus begünstigte und die volkstümliche
Bewegung mit Waffen niederschlagen ließ.

Als Wang-lun sich durch die Hintertür des Hauses drückte und neben dem
Altar hinter dem Wandschirm hervorkam, schlang Chen-yao-fen seine Arme um
die Schultern des großen lumpenbekleideten Bettlers und preßte ihn an sich.
Wang fragte, ob sie allein wären und ob er nicht die andern holen wollte.
Der Kaufmann gongte. Sie saßen in der Halle unter der gefelderten Decke, an
der eisengetriebene Vögel und Drachen die Lampen und Laternen hielten. Der
Bettler wies den Tee zurück, zeigte dem Kaufmann, seinen Mantel
zurückschlagend, mit stolzer Mimik den Gelben Springer. Chen, das Schwert
anhebend und mit einem Blick auf die eingelegten Schilder, erzählte von
einem Offizier, der angab zu den kaiserlichen Bannertruppen zu gehören,
viermal selbst in Po-schan erschien und bei Chen sich nach Wang-lun
erkundigte. Er nannte sich Hai, wollte Oberst eines Kavallerieregiments
sein, ein äußerst höflicher, hagerer Mann mit hängendem Kinn- und
Knebelbart. Wang fragte erregt weiter. Ja, der Mann nenne sich auch die
Gelbe Glocke, er hätte Chen beschworen, sich Wangs anzunehmen, der
wahrscheinlich verzweifelt über den Tod Ma-nohs herumirre, und ihn in eine
bestimmte Kaserne nach Pe-king zu wenden, wo Hai sein Jamen hätte. Chen
hätte zwar alles versprochen, aber nichts begriffen, da der Mann sich
ausschwieg und vielleicht ein Spitzel war. Von Wang aufgeklärt wanderte
Chen, die Arme verschränkt, auf den Teppichen. Er war verblüfft; das
Gesicht der ganzen Sache veränderte sich. Auch Wang-luns Augen glitzerten.

Die Sänften hielten vor dem Haus; die Vorhänge rauschten. Verwunderung der
reichen Kaufleute beim Anblick des zerlumpten Mannes, den sie nicht
erkannten, dann freudiges Händeschwenken und Geflüster.

»Luft!« schrie Wang, »Luft, Luft!« und umarmte Chen, der mühsam an sich
hielt. Mit großer Kälte sprach Wang vor den zwanzig eleganten Herren, die
ihn in einem Gemisch von Grauen und Ehrfurcht anschauten; sie traten vor
ihm zurück. Naive Wendungen gebrauchte er; er äußerte seine Absicht, es
nicht beim alten bleiben zu lassen, er brauche Geld, um Männer zu bewaffnen
und zu bezahlen. Das sei schmählich, aber es werde aufgenötigt. Seine
Brüder und Schwestern hätten vielleicht nicht Gewöhnliches, Überliefertes
getan, aber ihre Ausrottung wolle er nicht ansehen. Das dürfte die Weiße
Wasserlilie auch nicht. Sie hätten Schutz versprochen; jetzt komme er, um
ihn zu holen.

Die Herren fragten. Man schwankte, ob man alle Saiten spielen lassen sollte
und den glimmenden allgemeinen Volksaufstand anfachen. Der Anlaß war zu
klein, die ganze Angelegenheit betraf nur zwei nördliche Provinzen; der
ungeheure Süden wußte nichts. Man wollte wagen, was sich wagen ließe. Der
Kaiser Khien-lung hatte Bewunderung, nie Sympathien gehabt; mit der
Begünstigung des Lamaismus, den furchtbaren Verfolgungen hatte er Haß
gesät. Die Feigheit, Besorgtheit der Kaufleute war längst zurückgetreten.
Chen, von Wang mehrfach unterbrochen, gab die Besuche der Gelben Glocke und
ihre Bedeutung preis. Man faßte sich bei den Schultern, Zöpfen, umdrängte
Chen.

»Die Mandschus vertreiben«, wurde geflüstert. Das Geschlecht gezeichnet,
der Kaiser halb irr, die Söhne verbrecherisch, ohne Ehrfurcht.

»Die Bannertruppen fallen ab«, rief man sich lachend zu. Was für ein Hohn
für die Provinz, die bluttriefenden Totschläger vom Ili vor die Stadttore
zu stellen. Der Kaiser liebt das Volk nicht.

Eisig fuhr es den Herren in die Glieder, als Wang in schwerer Bewegung
erklärte, daß die Wahrhaft Schwachen selbst sich beim Beginn der Kämpfe
bewaffnen würden; es sei für die Anhänger des Wu-wei Notwendigkeit da, sich
des Schwertes zu bedienen. Sie müßten alle ihre Reinheit und Hoffnungen wie
schöne Kleider und Weihrauch auf einen Altar von sich entfernen und vor ihm
opfern. Kaiserliche Truppen müßten sie opfern, die letzte Dynastie, sich
selbst; es bliebe nichts übrig. Als Wang dies hervorbrachte, sahen die
Herren von ihm weg, beherrschten sich mühsam.

Chen gestikulierte im Gespräch. Ringgeschmückte Hände, warme Luftwirbel,
Tuscheln. Wang atmete heftig, seine stark gefältete Stirn zuckte. Die
Herren sollten beraten, ob sie ihm Geld geben wollten für Waffen und
Soldaten. Ihre Anhänger an seine Seite neben die Wahrhaft Schwachen
schicken. Man könne nicht wissen, wie es ausginge. Sie selbst sollten nicht
zu viel dran setzen, damit nicht alles für später verloren sei, wenn es
nicht gut verlaufe. Mit heftiger Stimme, die tief hinter der Brustwand
hervorschwoll, endete er: nur zusehen könne er nicht mehr, seine eigene
Aufgabe sei ein für allemal festgelegt; rasch, in ein paar Tagen müßten sie
sich entscheiden, damit die Sache noch vor Beginn des Winters zum Austrag
gebracht würde. Wieder wurde das Gespräch auf die Gelbe Glocke gelenkt.
Chen zog Wang beiseite an den großen Wandschirm. Flüsternd saß man um die
Tischchen, kauerte in den Ecken.

Der Ausgang der durch zwei Tage geführten Unterhaltung war:
Vertrauenspersonen, deren Namen Wang-lun genannt werden, erhalten
Anweisungen, ihm jede geforderte Summe aufs rascheste bereit zu stellen;
der Einfluß der Weißen Wasserlilie in den nördlichen Provinzen wird
mobilisiert, die Gilden zu aktiver Beteiligung bei ausbrechendem Kampfe
angewiesen; Aufruhrpläne für die einzelnen Städte sind rasch zu entwerfen;
wo Beteiligung nicht tunlich oder sinnlos ist, muß von Fall zu Fall
entschieden werden. Man riet, jeweils die Situation zu benutzen, um
mißliebige, ungerechte, bestecherische Mandarine zu beseitigen.

In der Hitze staubte Wang-lun die Kohlenstraße zurück, das Gebirge, das ihn
schon oft verborgen hatte, nahm ihn auf; als die Ebene von Tsi-nan-fu
aufschimmerte, hatte er keinen Blick für sie, lief achtlos nach Nordwesten;
Schafherden, Kao-liangfelder, Reismühlen, ausgetrocknete Kanäle,
Truppenpatrouillen. Kein Bettler auf den Landstraßen; gefangen, erdrosselt,
in Städte verdrängt. Keine Brüder, keine Wahrhaft Schwachen! Das Bündnis
mit den Geistern des Wassers, des Bodens, der Bäume aufgehoben, alle ohne
Gnade zum Verwelken zwischen die Lehmmauern getrieben!

Wang reiste noch als taoistischer Doktor mit dem unruhigen Tang durch
Kiang-su, als die Gelbe Glocke, auf der Suche nach Wang-lun an Ngoh
gewiesen, mit seinen beiden Dienern in Ho-kien einritt und im Sippenhaus
einer befreundeten Familie Wohnung nahm. Die beiden gewandten Diener, ihrem
großmütigen Herrn unbedingt ergeben, in der Frühlingsluft auf den Plätzen,
an der Mauer herumtreibend, stöberten den ehemaligen Hauptmann auf, der
Turn- und Schießlehrer einer Gesellschaft städtischer Beamter geworden war,
im Hause eines höheren Revisors unbemerkt lebte. Ngoh, verschlossen, schon
halb von der Wu-weisache abgefallen, saß mit der Gelben Glocke an vielen
Abenden in einem Pavillon des Revisorgrundstückes. Die Gelbe Glocke
erklärte, für den Fall, daß Wang-lun nicht bald auftauchte, zusammen mit
Ngoh den Widerstand gegen die Regierung organisieren zu wollen. Er könne
für seine Regimenter, denn es hätten sich schon andere Offiziere
angeschlossen, bürgen; die Organisierung der Volksmassen müsse einem andern
überlassen bleiben.

Ngoh, lange lau, unter der Erinnerung an Wangs Abschied leidend, gesundete
unter der ruhigen Entschiedenheit der Gelben Glocke. Als die Gelbe Glocke
auf seinem Schimmel durch das Stadttor hinausritt, von seinen Dienern
gefolgt, Ngoh neben dem Schimmel schreitend im schwarzen Bürgerkittel,
schlossen sich ihnen Bettler, Brüder an, die den vermißten Ngoh stürmisch
begrüßten und klagten. Die Gelbe Glocke, in Erinnerung an Ma-noh und die
schöne Tote Liang-li, wandte tränend den Kopf ab, dann rief er die Bettler
leise an als Brüder. An dem Hügel, den der tobende Wang-lun in seinem
Schmerz um Ma-noh heruntergewälzt war im Schnee, vermochte Ngoh nicht
vorüber zu gehen; er verabschiedete sich von der Gelben Glocke, der sich in
den Bügeln aufrichtete, mit seinem langen Säbel grüßte, davon trabte unter
weiß blühenden Bäumen.

In Ho-kien verbargen sich Massen der Wahrhaft Schwachen; die Weiße
Wasserlilie herrschte. Ngoh sprang hetzend an.

Die Gilden der Ölhändler, der Lastenträger und Schmiede besaßen ein
gemeinsames Klubhaus in der Stadt. Das unansehnliche Gebäude, mit
Restaurationshallen, kleinem Theatersaal, nahm in zahllosen Zimmern die
werktätigen Menschen auf, die aßen, sprachen, sich abtrennten, schliefen,
Musik hörten, rauchten. Das Gerücht von Wang-luns Wiederauftauchen schlug
ein. Zwischen die Mitteilungen von Truppenbewegungen unter Chao-hoei
schwirrten die Aufforderungen des Schan-tungkomitees, keine
Truppenübergriffe zu gestatten. Im Klub schrie man sich an. Ein alter
Schmied, dem sein kleines ländliches Besitztum bei der Stadt Lint-sing
verbrannt war, schüttelte in einer abendlichen Beratung stöhnend die Arme,
verfluchte die Dynastie, verglich sie einer Schmarotzerpflanze. Li hieß der
angesehenste der Lastenträger, ein robuster gerader Mann, der zu den
Wahrhaft Schwachen gehörte, seit dem Sommer der Gebrochenen Melone in der
Stadt wohnte. Während der Beratung kam ein junger Mensch aus seinem
Nachbarhause in das lange Zimmer, hielt sich keuchend die Hand vor den
Mund, berichtete stoßweise mit verstört geisternden Blicken, die Herren
sollten aufpassen: Polizisten mit einer Rotte Soldaten durchsuchten das
Haus, in dem Li bei Sippenverwandten gewohnt hatte; der Lastenträger selbst
--. Als der junge Mensch hier nicht weiterkam, die zusammengedrängten
Arbeiter über ihn herfielen, der Schmied ihm den Rücken klatschte, machte
der atemlose verwirrte eine Handbewegung nach seinem Halse.

Da schlichen schon zwei ältere Gildengenossen herein, sperrten die Tür ab,
japsten, Li sei ergriffen worden; Polizisten seien von Soldaten begleitet,
die den Kopf Lis in einem Käfig auf ihren Lanzen trügen; die
Sippenangehörigen des Toten würden eben ins Gefängnis transportiert. Der
junge Mensch nickte weinend. Das flüsternde Durcheinander nahm ein Ende,
das Durcheinander von Furcht, Wut und Drohung: jeder wollte in sein Haus.

Li war auf die Nachricht von Wang-luns baldigem Eintreffen aus
südwestlicher Richtung dahin aufgebrochen, mit zwei langen Messern und
einem versteckten Dolch; als Bettler an einer Soldatenrotte vorbeigehend,
nicht weit von der Stadt, fiel er durch seine Ruhe auf; sie stellten ihn,
er gab Auskunft über Person, Wohnort; das weitere verlief wie bei dem alten
Chu und zahllosen anderen. Nach Zugehörigkeit zu den Wahrhaft Schwachen
gefragt, meinte er, er sei Bettler und ginge seinen guten Weg; angefaßt zur
Durchsuchung setzte er sich zur Wehr, kam rasch um, sein Kopf kehrte nach
Nordosten zurück.

Der Soldatentrupp lagerte in einem alten Regierungsjamen innerhalb der
Mauern. Die Nachtwächter trommelten die erste Nachtwache; die
Gildengenossen hockten in dem langen Zimmer des Klubhauses bei verhängten
Fenstern. Als einer auf das verabredete Klopfen die Tür öffnete, wand sich
ein einzelner schlanker unbekannter Mann herein, wurde rasch festgehalten;
man leuchtete ihm ins Gesicht, das berußt war; es war Ngoh. Mehrere
pfiffen, was er hier suche; seine Wühlereien in befreundeten kleinen
Genossenschaften waren bekannt. Er bat höflich um Schutz; er fürchte sich,
da der Revisor ihn gewarnt hätte und er warne sie selbst; es verlaute, daß
man in der Stadt auf größere Truppenmassen warte, um über verdächtige
Gilden zu fallen. Die Ängstlichen, um den niedrigen Tisch mit Teetassen
gehend, riefen, er brauche sie nicht zu warnen; was er hetzen wolle?

Ngoh entblößte seinen rechten Arm, zeigte drei große strahlige Brandnarben,
die ihm Ma-noh beigebracht hatte auf seinen Wunsch:

»Meine Arme sehen nicht schön aus. Erst habe ich dies als Male meiner
eigenen Befreiung aufgefaßt; jetzt als Male meiner Fesselung. Wenn ihr mich
schimpft und wartet, werdet ihr andere Fesseln tragen, liebe Herren. Die
Fasane schreien, die Leoparden, Löwen brüllen; ihr wißt schon, welche
Goldfasane ich meine; die Panther von Chao-hoeis Soldaten, die
Literatenlöwen. Aber schimpft!«

»Du warst selbst Panther! Sieh deine Hände; so weiche Finger hat keiner aus
dem Volk!«

»Warum bist du aus deinem Käfig ausgebrochen, Ngoh?«

»Er glaubt er ist besser, als die Soldaten drüben.«

»Schimpft nur, ich will die Male nicht beflecken, indem ich sie von euch
begaffen lasse. Wenn ich Panther bin, seid ihr Hunde und Katzen. Es tut mir
leid, daß ich euch gestört habe. Oder: Hunde ist zu gut gesagt; Hasen,
Bohrwürmer, Maden.«

»Hetzer!«

»Es scheint, als ob hier nur Schreihälse und Männer ohne Leber sich
vordrängen.«

Der Schmied streifte Ngohs Ärmel auf:

»Haltet die Mäuler! Ich nehme mir solch Mal, drei Brenner untereinander.
Ihr Schreihälse werdet am Arm kein Mal gebrauchen; man wird euch schon die
Stirn brennen und die Köpfe abschlagen.«

»Was nutzen die Vorwürfe, Schmied? Wie sollen wir uns helfen? Wir werden
nicht über die Truppen herfallen, damit es mit uns eins, zwei, drei hopp
geht. Der Heuchler, Hetzer!«

»Er ist ein Narr, ein Fopriester!«

»Er hat Li verführt; jetzt kommt er und prahlt mit seinem Kopf.«

»Laßt mich sein, was ich will. Ihr seid nicht meine Brüder.«

Einer sprang besessen um den Tisch und klatschte in die Hände: »Wir wollen
nicht deine Brüder sein, wir wollen nicht deine Brüder sein. Hört ihn nicht
an, werft ihn heraus, er ist gefährlich, er bringt uns alle, alle ins
Unglück. Ich habe einen Vater und drei kleine Kinder!«

»Ngoh soll reden, was er zu reden hat. Ngoh, sprich los.«

»Brüder, ich steh hier, ich geh nicht hinaus, bring euch nicht ins Unglück.
Löscht das Licht aus; man erkennt Schatten von draußen.«

In das finstere lebendige Zimmer sahen die zwei kleinen quadratischen
Papierfenster, die der weiße Mond beschien, als erschrockene Augen hinein.
Scharren, Murren an den Wänden.

»Er bringt uns ins Unglück!«

»Ich halte eure Schimpfworte aus, weil ihr mir leid tut. In ein paar
Wochen, Monaten wird alles geschehen sein. Wang-lun ist unterwegs; die
Weiße Wasserlilie, euer Bund, hat euch aus Schan-tung benachrichtigt, was
geschehen wird. Man hat euch den Halskragen noch nicht übergeworfen; eure
Häuser stehen noch. Jetzt liegen schon die Soldaten in der Stadt. Ich
spreche doch nicht erregt, wie ein Verführer. Wir Wahrhaft Schwachen finden
unseren Weg ohne alle Hilfe; wir können ihn nicht verfehlen.«

»Träume nicht, Ngoh; sprich weiter, weiter.«

»Von unserem Westlichen Paradies will ich euch nichts erzählen. Die
Wahrhaft Schwachen sind nicht süchtig nach dem schwarzen Fluß, man soll uns
nicht wie Unkraut totschlagen dürfen. Ich kann von keinem Feind reden; aber
wenn es einen gibt, so haben wir einen gemeinsam. Und darum spreche ich zu
euch; und darum müßt ihr mich anhören, denn euch liegt am Leben, an Eltern,
Söhnen.«

Der Schmied zischte: »Es ist keine Gerechtigkeit für uns niedrige Menschen,
keine Gerechtigkeit. Es gibt keine Götter, die auf uns hören, nur die
Spione des Totengottes; alle sind auf uns los: der Kaiser ist der Sohn des
Himmels, alle Geister der Städte und Mauern, Flüsse, Äcker sind ihm
untergeben. Freut euch doch, daß Gewalt kommen soll gegen die Verräter des
Bodens. Ich freue mich, seht ihr!«

Ngoh klapperten die Zähne: »Wir sind aus der Bahn geworfen; wir können
nicht unsere Brüder und Schwestern meucheln lassen. Wir wimmern alle und
jammern, wie ich es tue. Ich bin kein Hetzer; ich bin traurig, weil ihr das
glaubt von mir. O was tut ihr, daß ihr uns fortstoßen wollt! Wie soll ich
das Blutbad mit ansehen, das man anrichten wird unter uns und euren
zahlreichen Sippen. Habt ihr von Ma-noh gehört? Schweigt doch nicht, hört
den Schmied; war euch Li nicht lieb, dessen Geist jetzt hier an der Türe
huscht? Ich bring euch kein Unglück; von Eltern, Ahnen, Ehren hab ich mich
losgesagt; glaubt ihr, ich hab das für nichts und nichts getan? Ihr seid
erbarmungslos, sinnlos, ich bin nicht anders. Ich reiß die Türe auf, ich
reiß das Papier von den Fenstern ab und schreie auf die Straße: daß ich
Ngoh bin, der ehemalige Hauptmann der Kaiserlichen Garde, dem der Kaiser
ein Pfefferminzsäckchen verliehen hat, daß ich ein Freund Wang-luns, des
toten Ma-nohs, des erschlagenen Lis bin, hier im Gildenhause sitze,
verlassen von den Gilden, die zu mir halten sollten, aus Feigheit nicht zu
mir halten. Ich schreie es über die Straßen, daß die Geister, böse,
ruhelose Seelen, im Straßenkot zwischen den Ästen es hören. Sie haben
keinen Platz auf der Erde wie wir Wahrhaft Schwachen, keine Schonung,
keinen guten Blick, keinen Weihrauch, sie werden mich hören. Helft mir,
helft mir, böse, liebe Geister!«

Und schon sprudelte er die Namen der verruchten Dämonen heraus, deren
Nennung schon den Tod bringen kann; gleichmäßig bewegte der alte
Dämonenbezwinger den Kopf hin und her, rief die unseligen Namen. Ängstlich
drängten sich Gildengenossen in den Ecken zusammen, stopften sich die
Finger in die Ohren, rangen die Hände. Dem Schmied riefen sie zu, er soll
den Ngoh binden, in eine Kammer sperren. Der Schmied und Ngoh flüsterten
zusammen. Gemeinsam scharten sich alle plötzlich um die beiden, hockten
hin, flüsterten, Pupillen und Nüstern weit in Erregung über den
Geisterherrn. Ngoh, wieder langsam atmend, starrte vor sich, verbeugte
sich.

Am Marktplatz stand das prächtigste Haus des ganzen Viertels, der Tempel
des Stadtgottes. Zwischen Läden und Buden war es eingebaut; weit war das
Hinterland, ein Park mit schönen Blumenanlagen und einem Treibhaus.
Ungeniert warfen die Markthändler ihren Abfall und Kehricht vor der
hölzernen rotbemalten Torhalle auf; bisweilen konnten Gaukler so hoch
springen, daß sie mit der Hand die grünen Büschel der hängenden Lampions
berührten. In Herden trieben sich die Bettler und blinden Musikanten
zwischen den beiden steinernen Löwenhunden zu den Seiten des Eingangs
herum; die grauen Tiere, deren Augen gleich Eiern hervortraten, hielten
ihre Schwanzhaare gesträubt, wie einen Fächer der eine, wie einen
entfalteten Pfauenschweif der andere. Die hohen Doppeldächer schwangen sich
wie Schiffskiele; von ihren schwarzen Rippen blitzten herunter die
gepanzerten Reiter, die Hellebarden, die geschwungenen Schwerter und
Dolche. Auf dem höchsten Dachfirst trabte ein silberner Krieger zwischen
zwei schildbewährten Bogenschützen, die herunterzielten. Durch die Torhalle
schoben sich die Menschen; drängten sich zu Theatervorstellungen auf dem
Tempelhof. Barbiere rasierten in dem Durchgang, Narzissenverkäufer
schrieen; Straßenreiniger, öffentliche und private, gingen auf und ab,
sammelten mit Harke und Schippe den Kot; bestaubte Kinder spielten
Ziegelwerfen.

Vor der Gebetshalle inmitten des riesigen Hofes stand allseitig frei die
Bühne. Über sie hatte der Erbauer jeden Pomp gehäuft, den Glanz
hochgetrieben gegen die gehaltene Pracht des Tempels; sie erhob sich vom
Boden wie eine Tänzerin, die mit ihrem gerundeten Blick die Welt zum
Verschwinden bringt. Acht glatte Holzpfeiler warfen das Dach hoch, dessen
vier Kiele, gewaltsam nach oben gezerrt, über der Traufe endeten, als
sollte die Bewegung, die von oben lautlos herunterrollte, mit einem Anprall
wieder in die Höhe. Rotblaue Puschel, Fähnchen, Glocken von der Traufe.
Über die schwarzen Dachrippen trappelten die weißen Pferdchen, klirrten die
metallenen Behänge, Rüstungen der wilden Kämpfer. Dicht unter das Dach
kroch ein Tier pfeileraufwärts, schmiegte sich mit gestrecktem Bauch an,
dicht unter dem Dach lockerte es die schillernden Flügel, grub den weißen
Schnabel in das Holz, rotgold glitzernde Rücken: Vogeltier, der Phönix.

Erst jenseits der Bühne, so hoch, daß sich sein Dachfirst nicht vom Hof
blicken ließ, ragte der Tempel. Nicht breitbeinig wie ein Bauer, sondern
sein Geheimnis war, daß er dem buckligen Zikadenfänger glich, von dem
Liä-dsi erzählte: er balancierte Erdkügelchen auf der Leimrute; als er fünf
Kügelchen nebeneinander halten konnte, war er reif und konnte die Zikaden
nur so abpflücken, hielt seinen Arm wie einen dürren Ast, seinen Körper wie
einen Baumstrunk; sein Wille hatte sich ohne Zerteilung verdichtet.
Machtvoll stand der Tempel, hörte nicht die Musik der Spieler, er verhehlte
die Bewegung des Stolzes, ließ spöttisch wenig Licht fallen in die
Versammlung der Geister, Götter, die er deckte. Das Unglück lag über ihm.
Die hölzerne Bildsäule des Stadtgottes, vor einem Monat noch reich
bekleidet, im Besitz eines Siegels, lehnte geschändet in dem Dunkel des
Raumes. Man hatte einen Unwürdigen zum Stadtgott gemacht; als die Unruhen,
Überfälle, Feuerbrünste kamen, ließ ihn der Magistrat nackt ausziehen, zur
Verschärfung der Strafe vor die Torhalle schleppen, Ketten um den Hals
hängen. Als sich Ruhe einstellte, fuhr man ihn wieder an seinen Platz,
bekleidete ihn mit billigen Kitteln und Röcken; geschwärzt vom Sonnenlicht
und Anwürfen schwieg er in dem totenstillen Raum. Keiner der vielen bunten
Gehilfen, die ihn umgaben, seine Sekretäre, Spione, Henker, Spitzel,
Polizisten zweifelten daran, daß der zerquälte, willensstarke Gott bald das
Äußerste wagen würde. Einen Dämon hatte sich die Stadt gezüchtet.

Und dicht neben dem Eingang zum Tempel lag der Geheimeingang des großen
Pfandhauses, das den Gilden, Geheimbünden zu Beratungen diente. Die
Rebellen fanden den Ort neben der Wohnung des Beschützers der Mauern und
Wallgräben am sichersten. In dem langgestreckten niedrigen Speicher
stapelten Wohnungseinrichtungen, Kleiderballen, Theatergarderoben,
Schmucksachen, Sänften dicht gereiht. Aus Ballen und Kisten stieg ein
öliger Geruch. Hier liefen durch viele Tage nur Ratten und Mäuse. Am
dritten Tage nach Ngohs Besprechung im Gildenhause hockten hier, es war
nach Ende des Marktes, schweigend und wartend mehr als dreihundert
Menschen. Sie saßen überall herum; meist gewöhnliche Trachten. Grüße,
Winke, sonderbarste Posituren; fast alle kannten sich, Ausschüsse der
führenden Genossenschaften, Brüder, Schwestern der Wu-weisekte, der
verschlossene Ngoh. Der Schmied rief gedämpft einen weißbärtigen Mann an:

»Will der alte Lehrer den Gästen nicht sagen, was sie hören möchten?«

Die wohllautende Stimme des Lehrers:

»Laßt euch ehrerbietig grüßen. Der kenntnislose Knecht wagt nicht, euch zu
belehren. Sein wackelnder Kopf weiß nichts mehr. Danken will der halb Tote,
daß er euch alle sehen durfte!«

Viele setzten sich um ihn; man schob ihm eine niedrige Leiter zu. Ngoh
verneigte sich tief: »Der alte Herr möge uns belehren«; andere riefen
dasselbe. Der Lehrer lächelte nach allen Seiten, pappelte mit dem zahnlosen
Mund, er trippelte zwei Stufen hinauf:

»Ich bin aus dem Dorf in Schan-tung, wo der Weise Lo-hwai geboren ist. Er
ist unser großer Lehrer; diesen Schuppen mit Kleidern, Ballen hätte er
recht gefunden für eine fromme ernste Zusammenkunft. Große Mächte und
Kräfte gibt es; aber, ob ihr dem Wang-lun folgt oder ihm nur Freunde seid,
wißt ihr, daß wir keine tausend Buddhas wie die Bonzen und Fopriester
anbeten, den Taschi-Lama und den Dalai-Lama überlassen wir dem Kaiser
Khien-lung. Unser, unser Buddha blickt uns aus Himmel, Bergen und Bächen
an; die Donnerschläge grüßen ihn besser als Pauken und Gongs; sein
Weihrauch sind Wolken und Wind; er trinkt seinen Tee aus den fünf Seen und
den vier Meeren und horcht auf das Rauschen der Wipfel und Äste, das
Rauschen seiner geschwungenen Banner. Wir haben keinen Buddha, als warmen
Wind und Regen, keinen Buddha, o weh, als die Taifune, die an den Küsten
entlang laufen; niemand ist mit uns, im Süden, Westen und bei uns; wir
schwarzhaariges Volk der Söhne Hans sind allein geblieben. Wir sind gelb
wie die Erde, das Wasser. Die im weichen Süden leben, schwemmen auf,
tänzeln in bunten Kleidern; am schwarzen Drachenfluß ist das Land so hart
wie die Menschen. Und darum können sie alle leben. Unmerklich wie
bodenständige Kresse wachsen unsere Häuser von der Erde ab, achten die
Geisterpulse und Luftströmungen; so machen wir uns ähnlich dem Tao, dem
Weltlauf, versagen uns ihm nicht. Wir, die den Wang-lun aufgenommen haben,
sind nicht mit Halskragen und Beinstricken an das Schicksal gebunden. Wie
die alten Worte lauten: schwach gegen das Schicksal sein ist der einzige
Triumph eines Menschen; zur Besinnung müssen wir kommen vor dem Tao, uns
ihm anschmiegen: dann folgt es wie ein Kind. Der alte Speichler redet ohne
Zusammenhang, o, er schämt sich seines Schwachsinns.«

Der Greis stieg eine Stufe herunter, kauerte, ein weißer Pavian, hin und
schloß die Augen. Vertieft saßen viele der starkknochigen Männer in den
Gängen; Gruppen kauerten auf den riesigen Zeugballen und sahen herüber,
drückten die Ballen platt.

Ein fein gekleideter junger Mensch, der seinen Fächer öffnete, richtete
sich auf einem wackligen Achtgenientisch auf, schräg gegenüber der Leiter
des Alten; man drehte sich nach ihm um, als der Tisch knarrte; er kehlte in
einer hastigen Art.

»Der alte Herr und die werten Genossen wollen es mir nicht mißgönnen zu
tönen. Ich will nicht wetteifern mit dem alten Herrn. Wir haben keine
prächtigen Tempel, keine Klöster, die der Drachensohn ausschmückt und mit
Goldbarren beschenkt. Für uns beten keine Bonzen in Seide, die östliche
Kinder und Mädchen verführen. Für die fremden Altäre haben wir nur Lachen,
Achselzucken. Auch ich gehe den reinen Weg und will zu den Kihs. Dem Gipfel
der Kaisergewalt werden wir und unsere Nachkommen uns nähern. Aber wie ihr
andern, die es nicht mit uns Wu-wei-freunden haltet, über uns denken möget:
wir sind östlich und nicht die gelben Bonzen, wir sind Kinder der hundert
Familien, und nicht der Heilige und Großwürdige vom Gnadenberge, den der
Kaiser in einem Siegeszug empfangen hat. Von Tibet ist der
herübergestiegen, ist bei Kuang-tse gestorben, in einer goldenen Stupa
heimgesandt worden. Die Fremden halten zueinander, die Mandschus und die
Lamas. Die Lamaserien fressen das weiche, warme Gekröse des Landes auf; sie
dürfen das; uns, ja, uns schlägt man die Köpfe, die wir nichts verlangen,
keinen stören. Wir tausende, aber ihr kennt uns doch, liebe geehrte Brüder,
ihr Herren Lastträger, von den Dschunken und die andern. Wir sind auf der
gelben Erde geboren und wollen uns nicht, da wir friedlich sind, von
fremden Priestern und Kaisern ausrotten lassen. Wir müßten gebieten über
die achtzehn Provinzen, über achtzehn Provinzen von Liao-tung bis zu den
Miao-tse. Was haben wir getan? Toll gewordene Strolche in Soldatenuniformen
preschen mit Hellebarden über unsere Märkte; wen wird man heute fesseln und
wem die Zunge abschneiden, wen wird man morgen stäupen? Wir sind in dieser
Provinz geboren und dürfen uns friedlich darin ergehen.«

Ein allgemeines Gemurmel: »Gut, gut.«

Der junge erregt auf dem Tisch zappelnde Mann sprach mehr, der Alte suchte
ihn durch Zurufe zu besänftigen.

»Wißt ihr, wer unsere giftigsten Feinde sind? Ganz und gar unsere und eure?
Wie unser Feind heißt? Der Stein, der Baumstrunk, die zerbrochene Laute?
Kung-tse!«

Weiter lief es über die Gänge: »Die Mandarinen, die Literaten, Kung-tse,
Kung-tse!« Ein allgemeines: »Kung-tse!« Ein zähneknirschendes: »Die
Erpresser, die Mandarinen!« Ein hetzendes: »Kung-tse!«

Von dem zitternden Achtgenientisch krächzte es weiter:

»Wer ist Kung-tse, was will er? Das dritte Übel! Er hat gelehrt den Mund
ausspülen, die Haare kämmen, vor Fürsten buckeln, vieles Gute, vieles
Schlechte. Für uns armen Leute ist er schon lange tot und sagt kein Wort
mehr. Mandschus, Lamas und Mandarinen beten ihn an, darum können wir ihn
nicht anbeten, sie haben ihn uns weggeschnappt, haben weggenommen, was gut
an ihm war für uns. Sein Geist soll sich bedanken in Pe-king, daß wir ihm
nicht räuchern und ihn von unseren Schwellen blasen mit häßlichen Worten.
Ich hasse ihn, wir hassen ihn, den leeren Messingtopf. Der alte kluge Herr,
der vor mir redete, hat recht gesprochen: schwach müssen wir sein gegen das
Schicksal, es bleibt uns nichts weiter. Wir sind arm; gut tut, wer alles
hinwirft, und selbst wenn er alles hinwirft, verliert er den Kopf beim
Spaziergang wie Li. Unterdrücker, fremde Wölfe, Krokodile, Füchse sind
unser Schicksal. In den Ämtern spreizen sich die Mandschus, bei den
Prüfungen lügen sie sich vorwärts, auf der Straße werfen sie unsere Wagen
und Sänften um, treten die Wege breit mit ihren breiten Füßen. Die
verruchte, gottlose Dynastie! Ihr Schicksal wird sich erfüllen, vor
unserem, nach unserem. Die Langnasen werden das Land vernichten und Schuld
hat Kung-tse. Uns bleibt nichts übrig als die Schwäche!«

Er hatte sich selbst ruhig gesprochen, eine höhnende Agitationsschärfe in
Stimme, Geste, Mimik gelegt. Frauen gingen schluchzend auf und ab. Erregte
Gruppen ballten sich, lösten sich; neue strömten zusammen. Der junge
Sprecher, die blasse Stirn mit Schweißtropfen, schlenderte straff Schulter
an Schulter mit Ngoh durch einen Gang. Auch Ngoh waren wider seinen Willen
Tränen in die Augen gerutscht. Das Zauberwort »Ming« lag in der Luft. Es
erschien in allen Versammlungen der Weißen Wasserlilie, oft in den der
Wahrhaft Schwachen, wie in anderen das Chihkraut, die östlichen Inseln, das
Westliche Paradies.

In die langgestreckte Halle leuchteten viele kleine Papierfenster. Es
dunkelte. Das Klappern, Rasseln, Pauken, Ausrufen, Kreischen auf dem Markt,
im Tempelhof ließ nach. Durch die Fenster der Schmalseite des Raums, von
dem Hof her prallten breite blendende Lichtgarben auf Körbe, Geräte. Man
hörte während der Rede des jungen Menschen leise Musik, feinen Gesang,
jetzt Deklamation: Theater hatte angefangen.

Während man sich durcheinander schob, Stirnen runzelte, Schweißgeruch von
sich gab, griffen zwei ältere Männer von der Lastträgergilde einen kleinen
schmerbäuchigen Herrn bei den Armen, suchten ihn nach der Leiter zu
bewegen. Dieser sauber gekleidete, fettglänzende Herr war ein gebildeter
Mann, der ein Gut und eine Windmühle zum Enthülsen von Reis besaß, und wie
viele andere aus Ehrfurcht vor den Vätern die Mingtradition hielt.

Er schmatzte, von freudigen Stimmen übergossen, auf der Leiter, verneigte
sich, man schloß sich um ihn. Der Kopf saß ihm tief zwischen den runden
gepolsterten Schultern. Während der Herr sprach, schwang er die dicken
Pfötchen possierlich nach oben und unten, links, rechts. Er lächelte. Es
war eine Paraderolle, ein Schlager, was er vortrug. Er sagte, sein Organ
war weich und dunkel: »Es lebte einmal ein Abt«, manche unter den Zuhörern
sangen es nach, eingelullt, zeigten entzückt das Zahnfleisch. Der Herr nahm
seinen Zopf über die Schulter vor, streichelte ihn wie ein Kind:

»Es war einst ein Abt. Er lebte in seinem Kloster zufrieden. Als eines
Mittags die Sonne sehr warm schien, legte der Abt seine Mütze auf das
Gesicht, schlief ein. Er träumte. Vom Rat der Götter träumte er. Die drei
großen Reinen sah er an einem Tisch, dabei den Nephritherrn, den
mildtätigen Sohn des Königs Lautertugend und der Königin Mondglanz. Ich
erzähle euch ein halbes Märchen. Da beugte sich der Nephritherr zu dem Abt
herunter, hob die Schultern geheimnisvoll und sagte: 'Ich will in dein
Kloster eine Frau wandern lassen, die wird einen großen Kaiser gebären.
Unter meinen Zeichen, Sonne und Mond wird sie ihn gebären.' Als der Abt
aufwachte, fragte er den Pförtner, ob eine Frau gekommen sei. Keine war
gekommen. Alle Zellen und Hallen durchging der fromme Mann, auf den Berg,
in die Höhlen kletterte er. Kein Kind schrie. Am Abend kam mit seinem
Trödelkarren ein Händler vor das Tor, seine gesegnete Frau begleitete ihn,
in Lumpen waren beide gekleidet. Traurig gab der Abt ihnen Pillen, damit
die Geburt gut vonstatten ginge. Im Kloster schlief alles. Morgens kam das
Kind. Leise Musik von Geigen und Pansflöten war in der Luft, die Vögel
pickten das Papier von dem Fenster, wo die Mutter lag. Dicht saßen sie wie
auf Leimruten und sangen schmetternd zu dem Wimmern des Kindes. Um die
Sonne erschien ein Hof. So arm war der Vater, daß er den Fluß hinauf ging
und einen Fetzen rote Seide fischte. Da hinein schlugen sie das Kind. Den
kleinen Tsi-juen, das zitternde Würmchen Tsi-juen schlugen sie ein in einen
Fetzen rote Seide. Und als er nun größer wurde, mußte er mit den Kuhjungen
auf das Feld. War selbst Kuhjunge. Und als sie eines Tages zu fünf auf dem
Feld waren, wollte er sie bewirten. Er ging hin, schlachtete ein Kälbchen,
den Schwanz klemmte er in eine Felsspalte. Tsi-juen klemmte den
Kalbsschwanz in eine Felsspalte. Und da nannten sie ihn ihren Hauptmann.
Aber der Mann, dem das Kalb gehörte, suchte das Tierchen, fand den Schwanz.
Nahm eine Rute, und zwei Ruten, und betrübt floh der Knabe. Ging Tsi-juen
hungernd über die Felder. Aber die Sonne zeigte den Weg, Mond führte
weiter. Ein Klosterbruder nahm ihn bei der Hand, geleitete ihn in seine
Höhle, schor ihm den Kopf. Wurde Tsi-juen, Zwerglein Tsi-juen mit
geschorenem Kopf Küchenjunge im Kloster. Die Lampen mußte er anbrennen im
Haus, Weihrauchnäpfe schwingen, schwere Näpfe für die feine Hand, viele
Kräuter dörren, die Klingel rief den ganzen Tag. Er war in dem Kloster, in
dem ihn seine Bettelmutter geboren hatte. Sie schlugen ihn, neckten ihn im
Haus herum, auch der Abt, dem der Nephritherr die Prophezeiung gegeben
hatte. Aber wie der Abt einmal den Knaben ansah, hatte der einen rosa
Flammenschein um das Gesicht. Angst bekam der Abt. Er schickte ihn in einen
Wald, jenseits des Sumpfes Brennholz zu holen zu einer feinen Sauce.
Tsi-juen lief eilig, sank, als er an den Sumpf kam, ein, sank ein. Tsi-juen
sank bis an die Schultern ein, bis an den Hals, bis an den Mund. Und da
kam, als er erbärmlich schrie und im Moor wie eine Kröte wühlte, schrie
nach seinem lieben Vater, nach seiner lieben Mutter, kam aus dem Wald eine
goldene Fee. Ei, ich erzähle euch ein Märchen, ein schönes Märchen, das hat
mir mein Großvater erzählt. Die Fee zog ihn an den Fingern heraus. Da war
er kein Küchenjunge mehr. Das Wasser hatte lauter weiße Perlen um seinen
Hals gelegt, mit Purpur und Brokat war er bekleidet, wo er in das Moor
getaucht war; Gürtel und Jadespangen trug er. So übersät mit Prunk
spazierte Tsi-juen anmutig wie ein kaiserlicher Prinz in das Kloster
zurück. Und der Abt wußte gleich seinen Namen.«

Sie stießen sich an, die an seinen Lippen hingen, stießen bekräftigend
heraus: »Ming, es war Ming.«

Sie gingen lächelnd herum. Der Schmied rief, während gegen die Fenster
Regen prasselte: »Eine Mauer brauchen wir, eine weiße Wand um Pe-king
herum!«

»Ach, warum sind die Mings gestorben! Warum hat das Volk sie verlassen!«

»Es leben noch Mings, am Jang-tse sollen welche leben!«

»Wang-lun soll ein Ming sein. Darum haßt ihn der Kaiser so.«

»Das ist's ja eben. Darum versteckt er sich. Er weiß schon warum. Sobald
der Kaiser ihn erwischt, ist er hin.«

»Oder der Kaiser ist hin.«

»Wang-lun weiß, daß er ein Ming ist und daß der Kaiser sich hütet.«

In Ngohs feinem Gesicht zitterte es; auch der junge Agitator und der Lehrer
schmunzelten. Der alte Herr zwinkerte Ngoh an, schüttelte den Kopf: »Sie
haben unrecht und nicht unrecht. Wang-lun ist ein Ming und mehr als ein
Ming.« Ngoh träumte mit verschlossenen Augen. »Ich möchte Wang-lun bald
sehen.« »Ja, Ngoh, wir brauchen ihn alle.« Ngoh seufzte: »Ich bin der Sache
nicht gewachsen. Wenn nicht einer mir die Sache abnimmt, werde ich das
erste Opfer des Krieges sein.« Auch die beiden andern senkten die Köpfe.

Der Alte und der Agitator trennten sich von dem stummen Ngoh. Sie nahmen
teil an dem Strahl der Gesichter, dem Händeschwingen, dem Promenieren,
Schlingern durch die Gänge. Scharren, taktmäßiges Trampeln, Kichern
durchdrang die gedämpfte Unruhe. In einen Seitengang war einer gesprungen,
erging sich in absonderlichen Grimassen, sich plusternd, den Kopf werfend.
Zwei andere pfauchten vor ihm: »Platz für den Tao-tai!« pufften nach vorn
und seitlich, immer in Sätzen auf die Nächststehenden zufahrend. Er trug
ein grobes Sacktuch statt eines Obergewands; auf dem glattrasierten Schädel
hatte er ein Stückchen Kürbis liegen, das den Mandarinenknopf vertrat.
Schnitt unheimliche Gesichter, schritt lächerlich großartig hinter seinen
Läufern her, setzte sich unversehens auf eine niedrige Holzbank, die er aus
einem Stapel herauszog, und ritt auf ihr Galopp, stieß schrille Rufe aus.
Eine Anzahl andere Männer suchten hinter ihm seinen Schritt nachzuahmen;
sie konnten aber vor Lachen nicht Haltung bewahren, torkelten; bis der
reitende Tao-tai sich auf seiner Bank umdrehte und mit einem Säbelhieb
einen von ihnen so zu sagen umbrachte. Die ganze Gesellschaft schüttelte
sich; auch der weise Alte war auf einen Prunkschrank gekrochen und grinste
herunter. Der Niedergeworfene faßte den Tao-tai bei den Schultern, schlug
auf ihn ein; die Nachbarn beteiligten sich vergnügt am Dreinschlagen; der
Reiter wehrte sich, kroch zur brüllenden Freude der Zuschauer unter seine
Bank, die sie umwarfen, ihn mit den Füßen stießen. Der Alte schrie von
seinem Schrank herunter; sie sollten ihn zur Wut bringen. Man zerteilte
sich langsam, als sich der Reiter aufrichtete und an der Wand vor sich
hinblickte; man klopfte ihm auf die Schulter. Die Vertrauensmänner der
Ausschüsse berieten in einer Ecke des dumpfen Speichers. Die Versammlung
schien aufgelöst. In Einzelgruppen wurden Reden gehalten. An die
Vorstandsgruppe im Saalwinkel liefen Männer, baten um Feststellung, wer
hier sei; welche Gilden vertreten seien, wer sprechen würde. Sie erhielten
zur Antwort, daß man warten müsse; es würde bald Bescheid ergehen. Das
»Wang-lun muß kommen« hatte sich der ganzen Gesellschaft mitgeteilt. Das
goldene Wort »Ming« tönte aus vielen Gruppen. Das Getöse nahm ab, als die
Vertrauensmänner mit Ngoh sich erhoben, sich durch die Gänge drängten, der
alte Lehrer auf die Leiter stieg. Der Ernst schlug durch. Der Alte sprach
wie ein Rechner. Wieder wurden die Anklagen gegen den Kaiser, die
Mandarine, die Soldaten auf die Versammlung losgelassen. Die Wahrhaft
Schwachen seien Vertreter, Kinder des Volkes; entstammten einer Bewegung,
die nur in einer Zeit der Unterdrückung möglich sei; das Unglück sei ihr
Schicksal. Und hier blühe die Weiße Wasserlilie. Der Schrecken der
Fremdherrschaft, die Niedrigkeit der Mandarinen vereinigte sie, und so
hätte auch das Komitee in Schan-tung geurteilt. Es sei beschlossen worden,
füreinander einzustehen, und den Beschluß des Poschan-Komitees anzunehmen.
Man müsse das Land von den Mandschus befreien und die lügnerischen,
betrügerischen Beamten ausrotten. »Die Mings!« riefen zwei, drei Stimmen
aus der Versammlung. Das Gesicht des Alten verklärte sich; ja, diese Zeit
der Mings müsse man wieder vorbereiten; wie die Wahrhaft Schwachen nach dem
Westlichen Paradiese suchten, so müßten die Freunde der Weißen Wasserlilie
und des Wang-lun gleichermaßen das Zeitalter der goldenen Mings erstreben.
Kummervoll bewegte er den Kopf: man würde noch warten müssen, bis Wang-lun
selbst käme, noch eine, zwei Wochen. Bis dahin könnte manches Unglück sich
ereignen. Aber ihnen verbliebe Ngoh, und es sei sicher, daß in Pe-king
selber Kaiserliche Truppen sich ihnen anschließen würden.

Die Gruppen gemauert. Der Alte war von der Leiter gestiegen. »Keine
Beschlüsse fassen?« scholl über ihn. Die Theaterlampen brannten noch. Die
Namen »Wang-lun« und »Ming« klingelten. Die Masse lockerte sich. Man schob
sich in Abteilungen durch die Türen, auf den grundlosen fließenden
Tempelhof, auf eine unbelebte Seitenstraße, auf den verregneten Park, der
zum Tempel gehörte. Manche blieben in dem Speicher, knallten Fenster auf,
rollten sich auf die weichen Ballen und schnarchten.

                   *       *       *       *       *

Wang lief nach einem kleinen Dorf bei Ho-kien, das fast nur seine Anhänger
und Freunde der Wasserlilie beherbergte. In einer knappen Woche stand er
mit achthundert leidlich gerüsteten Soldaten hinter dem Ort. Schwere
Erregungen, leidenschaftliche Auseinandersetzungen mit seinen Anhängern,
die sich an anderen Stellen wiederholten, waren der Einstellung Wahrhaft
Schwacher als Soldaten vorausgegangen. Die Verwandlung der friedlichsten
Menschen -- denn hier war man durch keinen Übergriff direkt gereizt worden
-- in eine Schar todspendender und todgewillter Krieger vollzog sich unter
Schmerzen. Ohne kaiserlichen Truppen zu begegnen, rückte Wang-lun auf
Ho-kien zu. Und vier Wochen, nachdem die Gelbe Glocke Ngoh aufgesucht
hatte, drei Wochen nach der Versammlung im Pfandhaus, warf sich Wang mit
seinen Soldaten gegen die Stadtmauern; Torwachen, Polizisten wurden
niedergemacht; die Besatzung der Regierungsarmeen erst eingeschlossen, dann
mit Pfeilschüssen über die Mauern gejagt; die Beamten mitleidlos der
Volkswut preisgegeben. Die große Stadt war schrankenlos Wang-lun
zugefallen. Die Menschen jubelten auf den Straßen. Wie eine klirrende Schar
Bestien waren Wang-luns Soldaten eingebrochen: bissig unter der
Vergewaltigung ihrer Seelen, jetzt wirklich rachedürstig. Der Sieg
bedeutete ihnen nichts; sie mußten fort und alles verrichten, zu nichts
weiter, um wieder ruhige Bettler, stille Handwerker und Arbeiter zu werden.
Chao-hoei konnte aufatmen; der Rauch verzog sich; die nackten, sägenden
Flammen brachen hervor.

Auf dem Hof des geschlossenen Magistratsjamens saßen am Morgen nach der
Einnahme der Stadt Wang-lun und Ngoh. Sie saßen in einem Holzverschlag, den
die Bittsteller aufzusuchen hatten. Das Treiben der Straßen rumorte,
Freudenschüsse, Gongschläge der Umzüge. Wang, im grauen, hängenden Kittel
ohne Gürtel, den breiten Strohteller auf dem Kopf, schlug die Beine
übereinander; seine Stimme hatte einen militärisch hellen, scharfen Klang
angenommen. Wenn er lachte, so ratterte und kolkste es brusttief wie das
Wiehern aus einem Pferd. Er blickte sicher, gerade, rechts, links,
forschend, kontrollierend und äußerte sich willkürlich, erweckte den
Eindruck, als ob er auf eine verdeckte Art befehle, entschiede, Aufklärung
gebe. Er betrachtete Ngoh gutmütig: »Bist du noch schlecht gelaunt von
damals da drüben?« Ngoh antwortete mit einem schwarzen Blick von unten,
strich sein einfaches Obergewand: »Gewesen, Wang.« -- »Ist auch recht,
Ngoh. Es war ein etwas kaltes Bad für mich, was du mir damals brachtest,
von Ma-noh. Hab's zuerst nicht gut vertragen.« Und dabei bellte er so laut,
frei, ungeniert, daß es Ngoh eben an das Gelächter Wangs mit der Dirne
unter dem Torweg erinnerte. »Holter polter den Berg runter, durch den
Schnee; mein Gelber Springer mitten dabei, vergnügt. Hätte mir
zwischendurch die Hand abgeschnitten. Ngoh, was waren das für Zeiten!«

»Mag sein, tolle Zeiten. Wang, ich habe mich wenig verändert seit den
tollen Zeiten.«

»Tausend Li Entfernung, Hia-ho, Kormoranjagden beruhigen. Was hast du?
Ngoh!«

»Trauer, Wang-lun.«

»Das seh ich.«

»Nun also.«

»Du machst mir Vorwürfe?«

»Nicht doch, Wang. Ich halte nicht Schritt mit der Zeit.«

»Meine Soldaten haben es besser verkniffen. Bogen in die Hand, Pfeile vor,
und es wird geschossen. Dazwischen nur der Gedanke: treffen! Wer einen
andern Gedanken hat, den kann ich nicht brauchen, der Mann ist mir zu gut.«

»Das Hia-ho hat dir wohlgetan; ich beneide dich.«

Wang federte hoch, er zog Ngoh an den Händen mit hoch: »Ngoh, aufgepaßt.
Aufgepaßt, überlegt und geantwortet. Wenn ich die Soldaten, meine Wahrhaft
Schwachen so verleite: Bogen anlegen, zielen, schießen und immer treffen,
habe ich recht damit oder unrecht? Gut überlegt, Ngoh.«

Ngoh wiegte den Kopf: »Laß doch meine Hände. Ich bin froh, daß du da bist.«

»Das mag sein. Aber: wer bist du, was mach ich mit dir?«

»Setzen wir uns. Ich bin nicht so weit wie du, am liebsten möchte ich mit
Ma-noh nach der Mongolenstadt gegangen sein und dein Gift getrunken haben.
Dann wäre ich geblieben, wo ich bin und sein wollte. Es ist die Blüte
deines Bundes, Wang, glaub mir, die in der Mongolenstadt umgekommen ist.
Die Gelbe Glocke geht anders, du gehst anders, viele gehen anders; ich kann
nicht mit. Ich häng dir an und kann dir das Unglück Ma-nohs verzeihen; nur,
was jetzt kommt, verstehe ich nicht und kann ich nicht mitmachen. Ich bin
ein Wahrhaft Schwacher, will mich dem Tao anähnlichen, dem Schicksal
niemals widerstreben, bei keinem Schlag, den ich erleide. Auf dem Pferde
hab ich gesessen, bevor ich zu euch auf die Nan-ku-berge kam, geschossen,
das Schwert, die Lanze geschwungen. Was ich damals erduldet habe und weil
ich damals so viel erduldet habe, bin ich fortgeschlichen von den Pferden
und Waffen und habe mich auf deine gute, o so gute, nochmals gute Lehre
gebettet. Frei sein, frei bleiben, was kann mir geschehen, welcher Knabe,
welcher hoffnungslose Wunsch wird mich quälen! Du hörst es an meiner
geschwätzigen Stimme: du hast uns nicht enttäuscht. Unsere Seele
zermergelte sich nicht nach Reichtum, langem Leben. Das Unglück fiel uns
mit einem Seufzer zu. Das türschleichende Unglück, das angebetete,
totgestoßene Kind fand bei uns Einlaß. Wang-lun, das kann alles nicht das
Hia-ho fortgenommen haben von dir. Die Flüsse und das Meer sind so wild;
der große Damm hält nicht stand, aber sie können nicht das Sicherste,
Unverrückbare in dir fortgerissen haben. Ich selbst, Wang, habe ja mit
halbem Herzen das vorbereiten helfen, was nun gekommen ist. Die Gelbe
Glocke redete mir zu; wer krank ist, hält sich an das Nächste, das er
findet. Aber ich weiß jetzt schon besser: es wäre besser gewesen, wir
gingen alle unter wie die hunderte, die Chao-hoei schon getötet hat. Das
ist zehn-, tausend-, endlose Male besser, glaub mir, Wang-lun, bitte, glaub
es mir doch, als daß du in die Stadt einziehst, mordest, bestenfalls ein
neues Königreich aufrichtest, das bald so schlecht sein muß wie alle
andern.«

Ngoh, mit gelöster Mimik, blickte Wang aus überzeugungskranken Augen an.

Er berührte den tiefbraunen Mann nicht: »Es ist gut, Ngoh, daß du zu mir so
geredet hast. Ich werde dir antworten. Auch viele meiner Soldaten haben zu
mir gesprochen.«

»Ja, antworte, erzähle. Du wirst mich heilen, wenn du zu mir sprichst, wie
auf den Nan-ku-bergen zu den Bettlern. Und schließlich, es macht mich
ruhig, du bist ja derselbe, immer Wang-lun, auf den alle bauen, ich gebaut
habe und baue.«

Wang wippte auf, setzte sich erst, während er sprach; er redete in dem
harten, überrennenden Tone: »Daß der Kaiser ein Edikt erlassen hat, uns
auszurotten, weißt du. Wer ist der Kaiser? Ja, wer ist das, 'Kaiser'? Ich
kenne Blitze, die Menschen an Flüssen, auf dem Wasser, unter Buchen
erschlagen; man kann von einem Bergsturz zerquetscht werden;
Überschwemmungen gibt es, Feuer und wilde Tiere, Schlangen. Auch Dämonen.
Die können uns alle umbringen. Es gibt kaum eine Rettung dagegen. Wer ist
'Kaiser'? Die unerhört schamlose Anmaßung des Kaisers, uns umzubringen,
worin liegt die begründet? Er ist ein Mensch wie du, ich, die Soldaten.
Weil sein Ahne, der tote Mann aus der Mandschurei, hier anmarschierte und
das Mingreich eroberte, hat der Kaiser Khien-lung das Recht, die Wahrhaft
Schwachen und mich umzubringen. Diese Tat seines Ahnherrn setzt ihn den
Überschwemmungen, Bergstürzen, Schlägen gleich? Das sollst du mir beweisen,
Ngoh. Solange du mir nicht den toten Chu widerlegst, der in den Kaisern
Einbrecher und Massenmörder sah, bestreite ich, daß sie das Schicksal der
Gebrochenen Melone und der Wahrhaft Schwachen sind. Ich vergifte mich nicht
freiwillig. Ich weise sie zurück, wohin sie gehören. Unser Bund lebt auf
der Erde, die ihm gehört.«

»Das ist ganz neu, das hab ich von dir noch nie gehört, Wang, ich finde
mich darin nicht zurecht.«

»Ist eilig, sich zurecht zu finden, lieber Bruder.«

Tiefer erstaunte Ngoh: »Glaub es, glaub es. Was soll ich tun? Das sind ja
Sätze, die ich selbst gesprochen habe -- zu andern.«

Wang hob die Hände: »So sind wir ja eins.«

Ngoh, sich bewegend mit unsicherer Stimme: »Was soll das heißen, Wang, wir
sind eins? Worin sind wir denn jetzt eins?«

»Was willst du von mir? Warum bedrängst du mich? Bin ich dein Schuldner?
Habe ich dir etwas gestohlen? Der Kaiser ist ein Einbrecher, Chu hat das
gesagt; damit mußt du dich abfinden, Ngoh. Da läßt sich weiter nichts
sagen.«

Ngoh riß die Lider bis zur Stirn hoch; Wangs Augen wanderten über den
leeren Hof. Sie schwiegen. Wang schlug sich aufs Knie.

»Auch die andern haben sich damit abgefunden.«

Eine ganze Zeit stummes Lauern und Visieren. Als ein Umzug am Jamen gongte
und Ngoh, der bei jedem Trommelschlag zusammenfuhr, mit den Blicken nach
der Tür suchte, stampfte Wang verächtlich auf, ging mit plötzlich
zorngedunsenem Gesicht in dem Bretterverschlag hin und her, pflanzte sich
vor Ngoh auf, stülpte ein Knie auf die Bank:

»Es ist mir alles gleich. Du kannst dich entscheiden, wofür du willst. Ich
will keine Menschen sehen, die nicht Vertrauen zu mir haben. Ich will dich
gar nicht; es kommt nicht an auf einen Menschen. Will mir abzwingen, weiß
ich was.«

Der schlanke Ngoh stand müde auf; klares Gesicht, klare Stimme: »Ich geh
schon, Wang.«

»Das sag ich ja; will mir abzwingen, was er kann. Aber kein Vertrauen.
Nein, keine Spur von Vertrauen. Was hab ich euch gegeben: unbesiegbar hab
ich euch gemacht; gerettet seid ihr worden aus --. Aber nichts, wenn ich
einmal komme, als weiße Wände, Holzstücke. Fragen, warum, warum, warum? Es
genügt nicht, daß ich komme und sage, so und so und so; es muß auch bar auf
den Käsch bezahlt werden, begründet von fünf Seiten, daß nur nichts
verloren geht. Ha, ich kenne euch, nicht wahr?«

»Zu wem du sprichst, weiß ich nicht.«

»Zu Ngoh.«

»Wang, ich hänge an dir; ich frage dich eben, weil ich keine tote Wand bin.
Ich kann nicht in diesen Kampf, ich bin geflohen davor. Du hast mir ein
paar Jahre Ruhe gegeben, tausende sind gestorben, weil sie nicht zurück
wollten, und jetzt kommst du selber, willst mich würgen, der ich noch lebe,
und ich soll dich noch nicht einmal bitten dürfen.«

»Bitten dürfen, fragen dürfen. Ich sage ja, sprich doch nur wieder aus:
Warum! Du hast mich einmal in Erregung gebracht. Sprich nur weiter. Gestern
bin ich in die Stadt gedrungen; wir haben uns die letzten Tage
herumgeschlagen. Du solltest mich schonen. Der Kaiser, sag ich, ist ein
Einbrecher. Der Kaiser Khien-lung hat kein Recht gegen uns, Edikte zu
erlassen. Das mußt du verstehen. Er ist ein Henker und kein Schicksal. Und
da gibt es nichts nachzurechnen.«

»Ich rechne schon nicht mehr nach, Wang, verzeih mir doch, halte doch an
dich.«

»Du rechnest mir doch nach, du. Du rechnest alles zweimal nach. Ich sag dir
auch alles, damit du es auch weißt. Da hast du's, da, pack es an.

Es -- ist -- uns -- nicht -- beschieden --, Wahrhaft Schwache zu sein, --
es ist -- uns -- nicht beschieden; ich will mich ganz für dich auspressen.

Fünfmal hab ich es geträumt von der Mongolenstadt, dann hab ich es gewußt.
Ja, du sollst alles hören, speichle nicht dazwischen. Darum bin ich nach
dem Hia-ho geflohen, darum hab ich dich ausgelacht, euch mit den Füßen
fortgestoßen. Ich hab mich geirrt auf den Nan-ku-bergen; das Schicksal
schlägt nach uns, mit dem Huf, wo wir uns sehen lassen. Ein Wahrhaft
Schwacher kann nur Selbstmörder sein. Und sie sind's gewesen, und ich hab's
gesehen in der Mongolenstadt und die kaiserlichen Generäle haben's gesehen.
Und das ist Unsinn, Ngoh, und das kann ich nicht mit anschauen und darum
bin ich wieder hergekommen, weil ich schuld daran bin, und es kann doch
nicht so endlos weitergehen. Es sollen alle zu Grunde und auf einmal
hingeschlagen werden, und ich mit ihnen auf einem Haufen. Ja, die
Mongolenstadt war noch besser! und so soll's mit uns werden und schlimmer.«

Ngoh kam mit zitternden Knien auf Wang gegangen, der gegen die Wand des
Verschlages seine Sätze schäumte und dessen weiße Lippen troffen, betastete
seinen schlenkernden Arm: »Es ist ja nicht wahr, Wang-lun, es ist ja nicht
wahr.«

Als Wang aufröchelte, ließ Ngoh den Arm; Wang zerrte sich den Strohhut
herunter, sackte auf die Bank hin, stöhnte: »Es ist gemein, es ist gemein!«

Er rieb den Schädel rückwärts gegen die Bretter; sein verbissenes starres
Gesicht schattete geradeaus: »Geh, ich will nichts wissen von dir, Ngoh.
Mach mich nicht ungeduldig. Lauf weg, Ngoh, lauf weg, ich fürchte mich für
dich, ich bitte dich. Geh rasch hier weg.«

Der verwirrte Ngoh pendelte automatisch an das Holztor.

Als das Tor hinter ihm knarrte, trommelten Wangs Fäuste gegen die
Holzverschalung. Seine blutdurchwirbelten Klauen wuchteten die Bank los,
auf der er gesessen hatte, zerknickten und zerschleuderten sie. Er
arbeitete erbittert gegen die hinfällige Bude, wütete über den sonnenhellen
Hof: »Schurken, Schurken sind hier, Halunken, Mörder! Ich bin in eine
Schlangengrube gefallen.« Rannte mit anstemmendem Rücken, Knieen gegen den
schwankenden krachenden Verschlag: »Ich kann mich umbringen.«

Nach zwei Stunden schmauchte Qualm aus den Fenstern des Jamens; die beiden
vorderen Gebäude quietschten, zeterten, heulten maulvolle Flammen. Als man
das Hoftor erbrechen wollte, polterte es, von innen geöffnet. Wang-lun
knirschte durch den Spalt; kranke waffenprahlende Blicke: das Jamen solle
abbrennen; man achte auf die Nachbargrundstücke.

Am Abend dieses Tages fand militärische Beratung im Stadtgott-Tempel statt.
Dreißig Männer trafen ein; zwanzig Führer der bisherigen Truppen, zehn aus
der Stadt, von den Gilden präsentiert. Ngoh, auf Wang-luns Wunsch
eingeladen, erschien. Die Debatte, die bis in die Nacht währte, behandelte
die Organisation der Stadtjugend und ihre Bewaffnung. Zum ersten Male
tauchten hier Vorschläge auf, Wang zum König zu machen. Wang-luns Plan,
nach Vorbereitungen direkt auf Pe-king loszugehen, nachdem man sich mit den
abtrünnigen Garden vereint hatte, fand Billigung. Es sollte proklamiert
werden: der Drachenthron wird der Mingdynastie wiedergewonnen.

Am nächsten Mittag, nach dem Turnen und Ringübungen der Soldaten, näherte
sich Ngoh dem rasch ausschreitenden Wang, der sich den Schweiß abwischte.
Sie gingen durch morastige Seitengassen nach dem Innern der Stadt.

Das feine Gesicht des ehemaligen Offiziers vibrierte, es wurde einen
Farbenton blasser: »Ich will mich nicht darum biegen; ich habe dich um
Entschuldigung zu bitten.«

Wang, ablehnende Fingerbewegung ohne Blick: »Arbeiten, Ngoh. Nicht reden.«

»Das soll geschehen. Ich habe mir alles überlegt, Wang.«

»Mit dem Kaiser?«

»Auch mit dem Kaiser. Ich bleibe bei dir. Ich werde mit gegen Pe-king
reiten. Wer wird König werden?«

»Was soll das? Vielleicht du, oder -- ja, ein Mingprinz aus den südlichen
Provinzen.«

»Du nicht. Ja, ja, das ist gut, Wang. Ich bleibe bei dir. Wir wollen über
die alten Sachen nicht reden.«

Wang prüfte Ngoh mißtrauisch von der Seite: »Du wirst mitreiten?«

»Ich rede etwas matt, meinst du. Das wird sich schon verlieren. Ich habe
ein großes Verlangen, mit dir zu reiten. Nach Nordwesten, Pe-king. Die
Mauern der Roten Stadt brechen wir ein; ich bin gut orientiert über alles,
was wir brauchen. Häuser, Mauern, Gärten, Paläste werden wir hinlegen; es
soll nichts stehen bleiben von der Roten Stadt, möchte ich.«

»Alles zerstören?«

Ngoh leidenschaftlich: »Ich kann nicht mitreiten, wenn ihr die Rote Stadt
nicht hinlegt, Wang. Das muß mit ihr geschehn; so reite ich gern mit.«

»Gut, wie du willst; es kommt darauf nicht an; es kommt auf ein paar Häuser
nicht an.«

Sie bogen um eine Ecke, standen am Marktplatz vor einem schmalen Haus, in
dem Wang sich einquartiert hatte; Wang machte, überlegend, kleine Augen;
dann lud er Ngoh ein. Eine Frau kam gestelzt; die beiden Männer saßen in
einem verräucherten Zimmer auf der Matte, schluckten Tee.

Wang nach einer Pause, versunken: »Ich lebe noch, wie du siehst. Das Jamen
ist heruntergebrannt.«

»Wir wollen nicht davon sprechen.«

»Das Leben dreht sich wie eine Mühle; man weiß nicht, welche Seite man
gerade erwischt hat. Jetzt bin ich wieder einmal -- nicht verbrannt.«

Ngoh sehr leise: »Es geht uns allen so.«

»Seufzen kann man, wüten, brüllen, wenn man nur weiß, wo man hält. Es kann
mich einer umbringen, ohne daß ich wüßte, ob er recht oder unrecht tut.«

»Ich habe das nicht verschuldet, Wang.«

»Im Hia-ho, was machen sie jetzt? Meine Frau -- wohnt bei ihrer Sippe;
meinen Namen wird sie schon wissen; sie wird nicht viel nach mir jammern.
Das ist noch gut. Sonst liegt auch im Hia-ho etwas, das nach Jahren kommt
und sagt, ich müsse kommen, weil irgend etwas von mir noch nicht fertig
ist. Immer liegt irgendwo so Wolken, Wasser, Unbestimmtes, das nach Jahren
sich besinnt und mich haben will.«

»Wang, hat dich einer geholt?«

»Es ist gleich; ich bin gekommen. Die Mühle stand so. Ma-noh hatte es noch
nicht fertig gemacht. O wie habe ich diesen Mann beneidet; er war kein
Priester; er hatte viel mehr Mut als ich, obwohl er kein Schwert angerührt
hat. Ich diene. Er hat rasch alles getan, während ich lief, Hilfe suchte,
die Wasserlilie anrief. Seinen Bund geschlossen; gelitten, was ich voraus
wußte; dann den Sprung getan, sein Königreich gegründet. Es ist schon alles
geschehen.«

»Wir werden alle untergehen und unsere Westliche Heimat gewinnen.«

»Ich möchte noch einmal nach Nan-ku gehen oder nach Tsi-nan-fu und mich
besinnen.«

Wang blitzte Ngoh an: »Oder ich versuch es doch? Wer weiß vorher, was
möglich ist? Die Fische springen eben hoch und gleich ersticken sie im
Netz. Ma-noh war vielleicht nicht gut; man muß Waffen tragen, Pferde haben,
Städte haben.«

»Ja, so, so hast du recht, Wang. Wolken und Wasser sind Unglück. Wir
brauchen Hoffnungen.«

Wangs Oberlippe zuckte böse. »Feinde brauche ich, Ngoh, -- will ich, will
ich. Ich ersticke noch nicht im Netz. Ich tu dem Kaiser nicht die Freude.
Der Kaiser ist der Feind. Man läuft nicht nach dem Westlichen Paradies wie
ins Theater. Ich hab es mir zu leicht gedacht. Die Westliche Heimat liegt
auf dem Kun-lungebirge hinter Klippen und Eis, oberhalb aller Wolken und
Wasser!«

»Ja, das ist alles gut.«

Näher trommelte das Lachen unter Wangs Stimme. »Hinter Pe-king liegt das
Westliche Paradies. Wir sind so viele, das ist unser Unglück gewesen. Wären
bloß du und ich und zehn andere, so wäre uns nichts geschehen. So waren wir
Tausende und Tausende sind schon tot, und der Kaiser hat Angst vor all den
Schatten. Daß sich aus seinen Provinzen Tausende zusammenballen und dem
Wu-wei angehören wollen, frißt ihm an der Milz. Und mir speist es das
Herz.«

Er prustete schadenfroh, schallend heraus. Er stocherte dem träumerischen
Ngoh vergnügt in die heißen Backen, unter die ratlosen Augen, sang aus
offenem Halse durch das Haus.

Bei den folgenden Kämpfen wurden die Wu-wei-Anhänger rasch dezimiert. Diese
Wahrhaft Schwachen waren die tollkühnsten Soldaten, die ihrem Drange zu
sterben nicht widerstehen konnten. In währender Schlacht erschlug Wang
Ängstliche. Sie düngten den Boden für das heilige Reich.

Wang schwankte nicht; kalt und sicher ging er vor; nur hintertrieb er an
manchen Tagen, an denen er ohne Spannung schien, die Aufnahme anziehender
Haufen ohne Grund, um seine Anordnung freilich später zurückzuziehen. Ein
Mädchen, das ihm bei einem Dorf das Leben rettete, indem sie ihn auf einen
Bauer aufmerksam machte, der aus einem Fenster nach ihm seinen Bogen
richtete, nahm er auf seinen weiteren Zügen mit. Ob sie seine Geliebte
wurde, wußte man nicht. Das angenehme, nicht gerade schöne Bauernmädchen
hatte eine naive Zutraulichkeit. Wang schien sich sicherer zu fühlen, wenn
sie in der Nähe war. Man wunderte sich zwar über diese Regung, aber er
erklärte mehrmals, er müsse etwas für sich tun, um die nächsten Monate
durchzuhalten; sie sei sein Amulett. Aber einige behaupteten doch bald, daß
er schwach gegen sie war. Man wußte in diesen Wochen nie recht, wessen man
sich von ihm zu versehen hatte; der Wind blies aus dieser, aus jener Ecke.

Sechstausend Mann zogen aus Ho-kien unter Wang-luns Führung, Reiter und
Fußsoldaten. Und während sie, von dem Volk auf den Äckern gegrüßt,
nordostwärts gegen eine große Abteilung Chao-hoeis marschierten, stießen
starke Haufen von Süden und Norden zu ihnen.

Wang-lun schwang entzückt die Hände: »Sie kommen wie die Ratten aus ihren
Löchern heraus,« sobald die Trommeln von weitem sich näherten, »ich habe
eine Tasse Wein umgestoßen; jeden Tropfen hol ich mir wieder. Ich habe
einen schuppigen großen Drachenleib, den ich hundert Li weit hinter mir
herziehe. Bis ich meine schöne warme Höhle gesucht habe!«

Der Ungestüm ihres Angriffs bei Pau-ting war beispiellos. Hunderte Frauen,
meist Schwestern, mischten sich in den Kampf, schossen Pfeile, hetzten,
warfen brennende Scheiter, gossen Eimer siedenden Öls. Sie liefen mit
großen schwarzen Fahnen, die das Mingzeichen trugen, über die Gräber und
Bodendeckungen hinauf; die Kaiserlichen mußten sie würgen, gliedweise wie
Eidechsen von sich abschlagen. Sobald man in Nahkampf kam, war die Schlacht
entschieden, die Ilisoldaten fanden ihre Meister. Das war ein schauerliches
Wüten. Diese Wahrhaft Schwachen schlugen sich entmenscht; das Bestialische
ihres Aussehens, ihrer Katzen-, Tigermalereien flößte Entsetzen ein. Als
das Dorf, das den Rücken der Kaiserlichen deckte, plötzlich helles Feuer
schnaubte, ohne daß eine Umzinglungsmannschaft bemerkt war und das heisere
Kreischen der Weiber auch vom Dorf anraste, wurden die Kaiserlichen
zwischen zwei Mühlsteine gequetscht und bis auf wenige von den Katzen,
Tigern und Weibern zerrissen.

Bei dem Schmaus nach der Schlacht toste statt der Lieder rauchendes
Gelächter auf Gelächter. Die Männer ahmten das Kreischen der Weiber nach,
die Weiber schrien, kochten und aßen die Lebern von Brüdern und Feinden, um
sich Mut zu erhalten.

Die Woge dieser Menschen hob sich vom Boden und wollte auf Pe-king rollen.
Der Kern von Chao-hoeis Truppen stand nördlich der Hauptstadt; ihre
Heranziehung vor dem Andringen der Wahrhaft Schwachen war nicht mehr
möglich. Die nördliche Residenz mußte sich auf ihre Bannertruppen
verlassen.

                   *       *       *       *       *

Khien-lung hatte Boten an Chao-hoei, an den Tsong-tou von Tschi-li
geschickt. Die ahnungslosen Leute wurden von den Rebellen abgefangen, die
zu einem Teil sich nicht der Hauptmasse Wangs anschlossen, sondern von den
Führern der anmarschierenden Armee orientiert den Nordwesten und Nordosten
auf eigene Faust unsicher machten. Der Krieg unterschied sich in keiner
Weise von früheren Rebellionen; die Grausamkeiten auf beiden Seiten
überboten sich; nur die Raschheit des revolutionären Vorgehens und der
Umstand, daß überall zuerst die Behörden abgeschlachtet wurden, war
einigermaßen bemerkenswert.

Die wichtige Verbindung zwischen der Rebellenarmee und den heimlich
revolutionären Garden bei Pe-king wurde von Ngoh hergestellt. Der Kriegsrat
drang zwar darauf, daß Wang-lun sich seiner unvergleichlichen Gewandtheit
zu dieser Aufgabe bedienen sollte, aber nach einigem Zögern lehnte Wang es
ab. Wie überhaupt bei ihm eine gewisse Lässigkeit und Schwerfälligkeit, die
freilich nur der Näherstehende bemerkte, deutlich hervortrat und einige
Gildenführer irre machte. Sie konnten nichts damit anfangen, daß Wang sich
manchmal mit einer trüben gelangweilten Miene von den Übungen der Truppen
entfernte, den Befehl einem der signierten Offiziere abgab und sich selbst,
die Wasserpfeife rauchend, nervös mit anderen in ein Zelt zurückzog. Er
erzählte seinen Freunden schmachtend in ewigen Wiederholungen von Ma-noh,
wie groß der angestiegen wäre, in der Tat bis zu seinem Ende ein Wahrhaft
Schwacher; er unterschlug die sichere Tatsache, daß Ma-noh von einem
gemeinen Soldaten erwürgt war, und rühmte, wie rasch der Tod alle
hingerafft hätte. Welcher Wahrhaft Schwache wohl jetzt noch den Mut hätte,
das zu ertragen, was die Brüder der Gebrochenen Melone erduldet hätten. Wie
unverständlich, bewundernswert war die Sicherheit Ma-nohs, ja bis zu seinem
Ende. So und ähnlich redete Wang öfter. Und dann träumte er pfeiferauchend.
Die kleine Geliebte mußte vor ihm die Laute schlagen oder ihn angaffen; er
duldete nicht, daß man sie wegwies; sie mußte, so peinlich es den Führern
war, auf einen Einfall Wangs bisweilen während einer Beratung in das Zelt
oder Haus gerufen werden und sich ihm gegenüber setzen.

Ngohs Unterhaltungen mit der Gelben Glocke wurden unbemerkt bei Pe-king auf
dem schönen Begräbnisplatz der Prinzessin Fo-schon-kung-chu am Kanal
geführt. Ngoh und der Offizier promenierten harmlos unter den Menschen
zwischen den weißen Stämmen der Fichten. Wo die Allee der marmornen Tiere
und Männersäulen zum Mausoleum der Prinzessin führte, bogen sie um.

Die Gelbe Glocke hatte die Raschheit und den Umfang des schon errungenen
Erfolges nicht erwartet; aber es war innerhalb der Roten Stadt und
außerhalb alles von ihm vorbereitet. Er verlangte begierig, mit Wang-lun
zusammenzutreffen; Ngoh empfand wieder die große schlichte Sicherheit, die
der Offizier ausströmte, deren Ungebrochenheit noch Wangs zu übertreffen
schien.

Ngoh erfuhr aus dem Bericht der Gelben Glocke, mit welcher Berechnung er
sich der Leute bedient hatte. Da war die Frage der Öffnung der beiden
Westtore der Purpurstadt schwierig gewesen; die beiden hier wachthabenden
Offiziere, selbst einer kaiserlichen Nebenlinie entstammend, konnten mit
den revolutionären Plänen in keinem Fall vertraut gemacht werden. Die Gelbe
Glocke hatte beide Soldaten über ihre Liebe zu Weibern stolpern lassen.

Es hatte sich ihm nämlich ein außerordentlich kluges und schönes Fräulein
aus dem Hause eines Richters genähert, der ihm verwandtschaftlich nahe
stand. Das unverlobte Mädchen ließ dem schweigenden, stets ernsten Offizier
in nicht hergebrachter Art Briefe und Bücher durch ihre Dienerin
überreichen, bei ihren Ausfahrten mit der Dienerin wußte sie, die sonst die
größte Zurückhaltung beobachtete, es einzurichten, daß ihre Sänfte in die
Nähe des Jamen der Gelben Glocke kam, dem auch dies nicht entging. Das
Fräulein, die Enkelin jenes Richters, war nach dem Tode ihrer Eltern von
ihm zu höchster Sittenstrenge, zu einer eisigen Kälte erzogen worden. Da
der einsame Beamte wünschte, die Enkelin bei sich zu behalten zu seiner
Pflege, hatte er ihr von früh auf eine tiefe Abneigung gegen junge Männer
eingeflößt. Er ließ sie sorgfältig unterrichten, hielt sie aber auch von
Altersgenossinnen fern, so daß sie aufblühend zu einer aparten Schönheit
nur Bediente des Hauses und fünf, sechs Herren und Damen kannte. Sie
lächelte eitel, wenn sie mit ihren Puppen und Tieren spielte, lebte ganz in
Musik, in Büchern, in der Ehrfurcht vor ihrem Großvater.

Die Gelbe Glocke, von dem alten Beamten oft empfangen, und ihr begegnend,
setzte sie in Verwirrung. Eine intensivere Beschäftigung mit den Puppen,
eine leidenschaftliche Vertiefung in philosophische Literatur folgte.
Unaufgefordert dankte sie oft ihrem Großvater für die gute Erziehung. Es
wechselten die Neigung zur Einsamkeit und zu weiten Ausflügen; sie führte
einen unverhohlenen Stolz spazieren; sie blickte hinter ihren Schleiern und
Tüchern aus der Sänfte auf andere Damen und fühlte ein Gemisch von Abscheu,
Haß und Spott. Sich selbst betete sie an, ja in dem kleinen Silberspiegel,
den ihre Mutter zurückgelassen hatte, schaute sie sich mit Entzücken und
fieberhafter Erregtheit an; sie streichelte ihr Haar, küßte sich im
Spiegel, ja sie warb um sich, erhörte sich, lehnte sich ab. Sie führte
Wiedersehens- und Abschiedsszenen vor dem Spiegel auf, bei denen sie in
heftiges Schluchzen ausbrach, so daß ihre Dienerinnen davon dem Richter
mitteilten, dem sie erzählte, sie trauere um die tote Mutter, die ihr
manchmal erschiene. Der alte Herr schüttelte dazu den Kopf, sprach von
einer absurden Mädchenschrulle und veranlaßte die Dienerinnen, oft mit ihr
Boot zu fahren, ins Grüne zu gehen, die Theater zu besuchen.

Sehr widerstrebend ließ sie sich zu solcher größeren Lebendigkeit bringen;
aber sie entwickelte bald auf ihren Ausflügen ein derart unterhaltsames
Wesen, daß die Dienerinnen dem Richter die freudigsten Berichte machen
konnten. Das Fräulein übte eine sehr spitze Zunge; sie mokierte sich über
all und jedes und äußerte sich in einer Form, so daß die Begleiterinnen
nicht aus dem Lachen herauskamen. Sonderbar war, wie fein das junge Mädchen
den Dienerinnen ihre grobe Ausdrucksweise abhorchte, wie sie auch auf den
Spaziergängen mit besonderem Behagen die primitiven Äußerungen des Volkes
am Wege beobachtete und aufnahm, ihre witzigen bissigen Reden mit so
gefundenen vulgären Derbheiten untermischte. Vor dem Großvater schwieg sie
von solchen Dingen oder verteidigte eine ihr gelegentlich entfahrene
Wendung, so daß er sich den Bart strich und lachte. Sie küßte sich nach der
Heimkehr von den Ausflügen vergnügt und herzhaft im Spiegel ab; es geschah
aber dabei, daß sie sich bespöttelte, verrückt schalt, tiefsinnig
überlegte, wie merkwürdig Menschen sein können. Sie sann halbe Stunden lang
vor sich hin und trauerte nun wirklich plötzlich um ihre Mutter, die eine
ruhige gute Frau gewesen sein mußte. Sie geriet in den Drang, von der
längst toten Frau zu erfahren. Sie erforschte einiges über sie bei dem
Großvater; als der aber nur Banales und nichts Günstiges erzählte,
belästigte sie ihn nicht wieder damit, war beleidigt und verehrte ihre
Mutter heimlich um so andächtiger. Unter diesem Gefühl nahm sie eine
gemessenere Haltung an, witzelte auf den Ausflügen von oben herab, wiegte
sich in elegischen und pathetischen Empfindungen.

Um diese Zeit wurde die Gelbe Glocke wieder öfter Gast im Hause des
Richters. Das Fräulein nahm mit einem gewissen Mißtrauen gegen ihn an
manchen Unterhaltungen teil. Er sprach nicht viel, immer in seiner
gewählten Höflichkeit; wenig Notiz nahm er von der jungen Dame; denn die
schöne Liang-li aus Schön-ting war tot und er war ohne sie.

Da drang eines Tages nach einem Besuche das Fräulein stürmisch auf den
Richter ein, verlangte, die Gelbe Glocke in Zukunft abzuweisen, er sei
schamlos zu ihr gewesen. Auf die erstaunte Frage des Mandarins, wo und wann
und womit, antwortete sie eben, bei dem Besuch, durch seine ganze Art. Die
Gelbe Glocke tue bloß traurig und streng; der Mann sei hinterlistig, so
viel Menschenkenntnis hätte sie schon; er suche sich durch sein Auftreten
in besonderes Licht zu stellen; sie empfände dies Verhalten als frech und
wolle ihn nicht mehr sehen. Der Mandarin wies sie energisch zurück,
freilich freute er sich innerlich, weil seine Enkeltochter so große
Abneigung gegen Männer offenbare, und lud die Gelbe Glocke nur noch in
Abwesenheit des Fräuleins zu sich.

Als diese aber sah, daß sie ihren Willen durchgesetzt hatte, fand sie ihren
Groll auf die Gelbe Glocke nicht nachlassen, stellte es in Gesprächen mit
ihren Dienerinnen so dar, als ob er sich vor ihr geflüchtet hätte -- aus
einem Grunde, den sie nicht angab; und kam bei ihren Ausflügen auf den
Gedanken, ihm nachzustellen, ihn durchzuziehen und ihr Mütchen an ihm zu
kühlen. Die Vorstellung: ihn durchzuziehen war in ihr besonders lebendig,
wobei sie sich die Gelbe Glocke vorstellte als einen Aal, den sie mit der
Hand am Kopfe faßte und rasch über einen sumpfigen Boden zog. Sie erzählte
einmal, der Offizier hätte ihre Mutter beleidigt; man solle es ihr glauben;
sie würde ihn dafür hassen.

Die mannigfachen mädchenhaften, oft boshaften Scherze, die die Gelbe Glocke
nun jetzt von ihr erfahren mußte, berührten ihn wenig. Er hätte nicht
gedacht, wie wenig Sorgfalt der alte Mandarin auf die Erziehung seiner
Enkeltochter legte. Erst als die Spitzen manche Feinheit erkennen ließen,
er Bücher über vorgeschriebene Gesellschaftsformen empfing, ihm zugleich
auffiel, daß das Fräulein sich nicht mehr an den Empfängen beteiligte,
wurde er nachdenklicher. Dies war die Zeit, wo er sich mit Ngoh zum
erstenmal über den Beginn der Rebellion unterhielt und in der Umgebung der
Hauptstadt Maßnahmen traf.

Die Späße des sonderbaren Mädchens reizten und beschäftigten ihn. Er konnte
nicht leugnen, daß er, inmitten der gefährlichen Vorbereitungen, mit einer
gewissen Teilnahme ihre Sprünge verfolgte. Er pflegte seine Mahlzeiten, da
er unverheiratet war und keiner Pe-kinger Sippe angehörte, an wechselnden
Orten einzunehmen, in städtischen Restaurants, bei schöner Witterung auf
den Blumenbooten, in Wohnungen befreundeter Offiziere. Das Treiben der
Besucher öffentlicher Lokale, die spielerischen und zweideutigen
Unterhaltungen mit den bedienenden Mädchen, stießen ihn ab.

Eines Tages bemerkte er in einem eleganten öffentlichen Restaurant die
besondere Lebhaftigkeit der Gäste, das helle Lachen und Schwatzen,
erblickte drei neue Dienerinnen, erkannte zu seinem Schreck die junge
Enkeltochter des Richters, die seit Wochen geschwiegen hatte, und ihre
beiden Begleiterinnen. Sie tat, als sähe sie ihn nicht, bediente ihn nicht
und dann aus dem Schwarm der kokettierenden Herren zu ihm hinspringend,
fragte sie ihn barsch nach seinen Wünschen, mit einem wilden Blick über ihn
fahrend. Er bestellte seinen Wein; sie schickte ihm Kanne und Tasse durch
eine Dienerin, schäkerte weiter mit einer Gewandtheit, als wenn sie täglich
den Umgang junger Elegants genieße, verabschiedete sich aber plötzlich
nervös von den verblüfften Herren, denen der Wirt erklärte, daß sie nur
gelegentlich zur Aushilfe einspringe.

Die Gelbe Glocke, schwermütiger als sonst, kehrte noch zweimal an den
nächsten Mittagen hier ein. Am zweiten Tage setzte er sich allein in einen
abgeteilten Winkel des Restaurants, sie stolzierte; er bestellte Wein für
sich und eine Dame. Sie blieb starr am Tisch stehen, beugte sich über die
Platte zu ihm herüber, fragte noch einmal: »Eine Dame?« Dann halb
ohnmächtig, während ihre Augen erloschen: »Pfui, pfui«. Und wollte zu ihrer
Sänfte stürzen, zu Hause ihre Wut und Scham auswürgen, ihren Spiegel
zerschmettern und reuevoll sich vor den Großvater hinwerfen. Aber die Gelbe
Glocke hielt den Ärmel ihres grünen Obergewandes; sie zitterte, weinte,
sank hilfewimmernd, bittend, ihr nichts zu tun, auf die Bank neben ihm, wo
er längere Zeit freundlich und sanft zu ihr sprach; ihr fein bemaltes
Gesicht lag auf der hölzernen weinbefleckten Tischplatte.

Sie ging schließlich, sich mühsam schleppend, gebrochen hinaus, mit
schlaffen leeren Gesichtszügen.

In dem Restaurant traf der Offizier sie nicht mehr. Öftere Besuche bei dem
Richter waren erfolglos; sie zeigte sich nicht. Die Empfindung der
Gerührtheit über das kapriziöse kleine Wesen bedrückte ihn; die geheimen
kriegerischen Vorbereitungen ließen alles zurücktreten.

Und mitten, während er in der schwierigsten Arbeit der Gewinnung neuer
Offiziere stand, erschien sie auf der Bildfläche mit höhnischen Briefchen.
Seine erste Verstimmung über diese unerwartete Art der Annäherung überwand
er. Als ihre Sänfte sich in der Nähe seines Jamens zeigte, ritt er heran,
ging, abgesessen, grüßend und plaudernd neben der jungen Dame, die sich
drin auf den Polstern witzelnd und lachend rekelte, dabei ihn dauernd
scharf beobachtete. Die Gelbe Glocke steckte schließlich den Kopf hinter
den roten Vorhang, flüsterte, indem er die Zurückprallende ernst anblickte,
er müsse sie unbedingt und eilig sprechen; er hätte sie um Hilfe zu bitten;
es handle sich um eine Sache von der größten Wichtigkeit für ihn.

Bei dem heimlichen Besuch, den sie bei Anbruch der Nacht in seinem Jamen
machte in Begleitung ihrer Dienerinnen, erklärte er ihr ohne Umschweif
seine revolutionären Pläne, zeigte seine Kartenskizzen, den Gang der
Operationen. Das Fräulein, mit großem Ernst folgend, tat sachgemäße Fragen.
Er entwickelte ihr die Schwierigkeit des Eintritts in die Rote Stadt durch
die Tore von Westen; und man könne nur durch diese Tore eindringen, weil
der Eintritt durch die östlichen und südlichen Tore eine Umzinglung der
gesamten Purpurstadt nötig mache, was eine Zersplitterung der nicht sehr
zahlreichen Mannschaften zur Folge habe. Auf die beiden Wachtoffiziere
kommend, erzählte er mit Vorsicht von deren Eigenheiten, der Unmöglichkeit,
sie in die Revolutionspläne einzuweihen; bemerkte nebenbei, wie eitle
Gesellen das wären, Schürzenjäger schlimmster Sorte. Das Fräulein,
nachsinnend, lächelte bald, und er nahm ihr Lächeln auf, und so brachen
beide in vergnügtes Lachen aus, sie schmetternd, er weich unter Dämpfung.

Aber es gab dann eine große Pause, wo sie mit tränenden Augen auf ihrem
Stuhl saß, nicht antwortete und nur bat, sie hier sitzen zu lassen. Der
Offizier ging von Wand zu Tisch, von Tisch zu Wand, machte sich Vorwürfe
über seine Roheit, nahm entschlossen die Papiere weg, erklärte ihr leise,
er hätte sie nicht kränken wollen, dies alles solle nicht geredet sein. Das
Fräulein stand ernst auf, lehnte solch Mißverstehen ihrer begreiflichen
Ermüdung ab; sie fühle sich übermäßig geehrt durch sein Vertrauen, dessen
sie sich wert zu erweisen hoffe; fragte wieder nüchtern nach Einzelheiten,
nach den Wahrhaft Schwachen, Wang-lun, sagte, sie wolle sich noch morgen
einen Plan aushecken und ließ den unruhigen Offizier, der nicht mit sich
fertig wurde, allein.

Und schon am nächsten Tage begegnete er wieder ihrer Sänfte. Sie prunkte in
einem reichen, mit Fasanen bestickten blauen Kleid, Bänder aus grüner Seide
fielen von den Schultern und aus dem Gürtel; auf dem klugen Kopf erhob sich
das helmförmig getürmte schwarze Haar. Ihre Augen trauerten ihn an; sie
wolle ihm beweisen, daß sie auch anderes leisten könne als zynische Briefe
schreiben. Es gelang ihr in der Tat, in wenigen Tagen das Entzücken der
beiden Offiziere zu gewinnen. Einmal war sie Tänzerin, das anderemal
verlassene Ehefrau; das Fräulein hielt die beiden verliebten Gesellen
völlig in der Hand.

Nachdem Ngoh von der Gelben Glocke über den Stand der Vorbereitungen
orientiert war, Pläne über die gemeinsame Besetzung Pe-kings ausgetauscht
waren, gaben sie ihre Spaziergänge unter den Fichten des schimmernden
Begräbnisplatzes auf. Ngoh riefen Eilboten zurück. Die Heere der Weißen
Wasserlilie und Wahrhaft Schwachen setzten sich in Bewegung.

Glühende Hitze in den nördlichen Provinzen, als sich die rachegeschwellten
Massen der Rebellen gegen Pe-king anwälzten. Die Dürre verbreitete
Entsetzen. Auf ihrem Wege begegneten sie Prozessionen von Bauern, die aus
den Dörfern ins Freie zogen, um Regen zu erbitten. Vor den kleinen
Bauerntrupps lief ein Mensch, der einen grünen Helm bis über den Schädel
gestülpt hatte, ein grünes Holzschild auf dem Rücken trug. Von Zeit zu Zeit
machten alle Halt auf den graubepuderten Feldern. Der kostümierte Mann, der
den Regengott darstellte, stützte sich wie erwischt auf zwei kolbige Stäbe,
ähnlich den Fühlhörnern einer Schnecke. Und nun überfielen die Wütenden
ihn, berieselten ihn mit Wasser aus Gießkannen, mit Jauche, schlugen auf
das krachende Schild mit Flegeln und Mistgabeln. Manche solcher
Bauernhaufen zogen direkt von der Prozession in den Aufruhr, sie gaben dem
Kaiser die Schuld für die schwere Dürre.

Kanäle schlängelten sich wie leere Därme, mit trockener, schmierigfauler
Höhlung durch die Landschaft. Die Blätter der Laubbäume rollten sich,
hingen braun, fahl über den tonig zerriebenen Feldern, es dampfte aus
brühwarmen Bächen, auf denen sterbende Fische trieben, Maul und Kiemen
sperrend.

Die erhitzte Platte der Felder dumpfte unter den Schritten der Soldaten.
Die bunten Schwärme hasteten aufgelöst über die tote Ebene. Voran flohen
die schwarzen anklagenden Fahnen. Das heiße Element überholte sie; ringsum
stiegen die Häuser in Flammen auf. Hingeworfen lagen die Soldaten vor
Pe-king südlich des Flüßchens Liang-choei. Das herrliche Kloster
Tsin-tai-tse jenseits des Hun-ho, den Lieblingsaufenthalt des Gelben Herrn,
erfüllten sie, gröhlten über die roten Mauern nach Pe-king herüber,
zwischen den Eichen und Ligustern des alten Jagdparkes suchten sie
Schatten.

Chao-hoei rückte in Eilmärschen näher. Der kleinste Teil seiner Soldaten
kam von der Stelle, kein Proviant zu beschaffen, Wege verbarrikadiert,
durch Steingeröll, Rebellenhaufen täglich im Rücken und in den Flanken.

An dem Tage, an dem die Mauern der südlichen Stadt Pe-kings von den
siegreichen Truppen Wang-luns erstürmt wurden, saßen Khien-lung und
Kia-king im Tsien-tsang-kung, dem privaten kaiserlichen Palast der Roten
Stadt, und hörten schweigend die unerhörte Musik der brüllenden Schreie aus
dem Chinesenviertel.

Khien-lung, abgemagert, leicht gebückt im gelben Kleid auf den Ruhepolstern
am offenen Fenster: »Als der Taschi-Lama riet, die religiösen Sekten zu
dulden, Schonung zu üben, wußte ich nicht, ob ich recht tun würde im Sinne
meiner Ahnen. Als die Minister und Zensoren zusammenkamen und die Prinzen
der ersten Ordnung neben mir standen, verfaßten wir das Edikt, das die
Sekten zerschneiden sollte.«

Kia-king, den Blick auf dem Boden, murmelte: »Es ist recht. Wir haben gute
Mauern. Chao-hoei ist bald da.«

»Die Schreie kommen über die Mauern. Es muß Gerechtigkeit geben, Kia-king.
Es liegt nicht an meinem Leben. Ich muß gerecht sein. Wäre es vielleicht
besser nachzugeben?«

»Wenn ich meinen Vater anflehen könnte, sich nicht wieder und wieder in die
Beklemmungen zu stürzen.«

»Ich bin ganz ruhig, Kia-king. Wir wollen das nur einmal durchsprechen, es
wird dich belehren.«

»Mein Vater hat dem Himmel zu jeder Zeit geopfert, den großen Ahnen
nachgeeifert, ihnen geräuchert an den vorgeschriebenen Tagen, das Volk ist
aufgeblüht.«

»Das Volk ist nicht aufgeblüht. Mein Volk ist nicht mehr friedlich, denn es
ist nicht mehr glücklich. Sieh die Flammen nördlich dem Ackerbautempel: so
schlimm opfert mir das Volk. Das Volk lieben --?«

»Sie haben für das Volk so Ungeheures, Beispielloses getan, daß ich nicht
den Mut habe, eine Regierung, die kommen wird, mit Ihrer zu vergleichen.«

»Worte, Kia-king, Worte. Die Masse denkt anders. Ich habe das Gesicht
verloren. Meine Zeit ist um.«

»Der Mörder Wang-lun bringt die Mings wieder herauf, die Mings!«

»Das ist lachhaft. Du wirst nach mir regieren. Ich frage nur, ob ich dem
Augenblick genug tue, wenn ich, ich zurücktrete?«

»Vater, ich habe Sie angefleht. Wie soll ich nach Ihnen regieren können,
ich ohne Verdienste, ohne Geist, ohne literarische Ehren, unfähig den Bogen
zu spannen, das Pferd zu besteigen, nach Ihnen, und Sie sollen nicht genügt
haben.«

»Wie diese Chinesen brüllen.«

»Es scheint Jubel zu sein. Das sind Böllerschüsse. Da -- Raketen.«

»Damit wir sehen, Kia-king. Ein tolles Volk. Kein Gehirn.«

»Ich werde die Fenster schließen, die Vorhänge ziehen, Vater.«

»Laß nur, mich stört das nicht. Es ist lehrreich. Du mußt diesen Augenblick
gut miterleben. Wir kommen nicht oft in die Lage, den Menschen so nah ins
Gesicht zu sehen. Es werden die Mings nicht kommen. Ihr -- ihr Dummköpfe.
Man wärmt keine Kaiser auf. Wie gut, wie zehnmal gut, daß die reine
Dynastie gekommen ist mit den Mandschus. Eisen gehört über euch. Für dieses
Volk gibt es keine Freiheit. Nur Liebe, die durch die Straßen marschiert
mit dem krummen Säbel am Gürtel.«

Khien-lung stand am Fenster mit drohend vorgestoßener Faust, Kia-king erhob
sich. Nach einer Pause Kia-king: »A-kui hält die Tatarenstadt. Unsere Wälle
und Mauern sind gut besetzt.«

»Ich weiß, du meinst, sie sind nicht gut besetzt. Es sind genug für die
da.«

»Ob es nicht besser wäre, Vater, vielleicht mehr Truppen von dem
mandschurischen Banner, von den Bogenschützen aus Kirin in die Rote Stadt
zu werfen. Es laufen Gerüchte von der Unsicherheit einiger Regimenter der
anderen Banner.«

»Unsere Banner sind alle gut. Von wo hast du Gerüchte?«

»Ich konnte nichts festes ermitteln. Mein Diener gab mir eine verdächtige
Wachstafel mit Geheimzeichen, verloren in einer Bannerkaserne. Ich habe
herumgefragt, man hat mir sagen können, daß schon sonst gemunkelt wird.«

Khien-lung feixte ihn an: »Gemunkelt. Eine verdächtige Wachstafel gefunden.
Bannerkaserne. Meine Eunuchen sollen besser aufpassen. Weibergeschichten.
Weiter nichts.«

»Immerhin, es beunruhigt --«

»Das merke ich. Es beunruhigt dich.«

»Die Prinzessin und andere Prinzen haben von den Gerüchten gehört. Wenn wir
uns fürchten --.«

»So ist das eure Sache, Kia-king. Prinzessinnen haben sich um die
Verteidigung der Roten Stadt keine Gedanken zu machen. Die Dynastie liegt
auf meinen Schultern.«

Knallte das Fenster zu: »Schließ die Vorhänge, Kia-king. Hitze schlägt
herein. Das Lärmen ist langweilig. Erzähl mir von deinen Pfauen.«

Kia-king blickte ihn fragend an.

»Wieviel hast du jetzt? Hat sich dein Wärter bemüht, Zuchttiere vom Wang
von Turfan zu bekommen? Ich habe sechs außerordentliche.«

Kia-king schwieg. Der Kaiser deklamierte gleichmütig mit strafferer Haltung
auf den Polstern: »Du interessierst dich nicht für Pfauen? Oder jetzt
nicht? Das ist unrecht. Tiere und Bücher sind gleichmäßig gut; sie wechseln
nicht. Die draußen werden schon aufhören zu schießen. Die großen Bewegungen
werden am ehesten matt. Das ist eine rechte Bewegung, dieser Mingaufstand.
Mach dir keine Sorgen, Kia-king.«

Der alte Herrscher ging mit etwas steifen Knien im Zimmer hin und her. An
einem Tisch, der mit Bogen und Büchern bedeckt war, griff er nach einem
Buch, blätterte; seine Stirnfalten stellten sich auf; sein viel
verrunzeltes Gesicht nahm rasch einen vertieften Ausdruck an.

Lesend setzte er sich wieder an das Fenster: »Ja, es ist so. So ist es. Wie
gut, daß es Bücher gibt, die ich selbst geschrieben habe. Ich kann mich
vergleichen, suchen, finden. Ich möchte hin nach Mukden. Wie schön ist es;
ich hab es so beschrieben wie ein Jüngling, der sich die Reize seiner
Geliebten aufzählt; die Berge, die Forsten, die zahllosen Fische in den
Flüssen, der Ta-ling-ho. Die Jagden; ja Tai-tsung sagte: 'Gehen wir
kämpfen! Das ist die einzige Erholung der Mandschus; unsere Gebirge geben
uns eine neue Art Feinde; die Jagd muß uns ein Bild des Krieges geben.'« Er
las weiter; Kia-king leise erhob sich, tastete sich zum Ausgang. Khien-lung
rief ihn an, er lächelte: »Bleib bei dem alten Mann. Er beruhigt dich
vielleicht. Geh nicht zu den Frauen, sonst verlierst du die Haltung.«
Kia-king kauerte hin; der Kaiser betrachtete ihn lächelnd.

Während Kia-king beim Kaiser saß und ihn von neuem vergeblich zu einer
Heranziehung starker Garden nach der Purpurstadt zu veranlassen suchte,
kalt hingehalten und bespöttelt von Khien-lung, herrschte Unruhe zwischen
den Palästen. Das ungewohnte Gemisch von Eunuchen und Soldaten wogte an den
Mauern durcheinander. Die Eunuchen zählten die Soldaten, verstopften sich
die Ohren bei jedem neuen Jubelschrei aus der brennenden Chinesenstadt,
liefen in das Innere der Stadt, um den ängstlichen Damen und Würdenträgern,
die sich hatten einschließen lassen, zu berichten. Viele der
aufgeschwemmten Eunuchen saßen beieinander, angstvollen Herzens,
schwerbewaffnet unter Helmen, Schwertern, Schilden. Manche der älteren
Würdenträger trugen die seidene Schnur oder die feinen Goldplättchen bei
sich, um den leichten Tod zu sterben. Hie und da lief ein gutgelaunter
Soldat mit einem lebenden schwarzen Hahn unter dem Arm herum, zeigte den
schreienden Vogel den rennenden Eunuchen mit der Tröstung, sie sollten
unbesorgt sein; er würde von dem Kammblut dieses dreijährigen Tieres
opfern, um ihre Seelen auf dem Grabweg zu stärken; was sie ihm dafür im
voraus bezahlten? Gegen Abend vor Anbruch der Dunkelheit trug man
Khien-lung an die Mauerstraßen der Purpurstadt; er inspizierte hier eine
Stunde lang die Verteilung der Mannschaften und die Besetzung der
Torwachen. In einer grausamen Ruhe bewegte er sich. Für die Nacht war
Kia-king zum Kaiser befohlen. Fast weinend und außer sich flehte der Prinz,
aufs rascheste mehr Truppen in die Palaststadt zu werfen. Khien-lung wurde
ungeduldig und bemerkte, man dürfe sich nicht vor dem Schicksal verstecken,
wenn es komme, um die Reine Dynastie aufzusuchen. Ob der Prinz daran
zweifle, daß die Mingphantasten sich die Stirne einrennen müßten, müßten!
Und dann quälte er Kia-king mit der Aufzählung der Mannschaften, die so
gering waren.

Wie erwartet begann mitten in der Nacht der Angriff der entfesselten
Rebellen auf die Tataren- und Rote Stadt. Es schien keinerlei Ordnung in
diesem Angriff zu liegen; zu gleicher Zeit hallten die Sturmschreie vor den
beiden Nordtoren, den Toren Te-cheng und An-ting, und vor den drei
südlichen Schun-tschi, Ha-ta und Tschien, das das Einfallstor der großen
Kaiserstraße war. Der Elan des rebellischen Sturms war außerordentlich.
Brechen der Tore, Niederschlagen und Verdrängen der Torwachen beanspruchte
ziemlich kurze Zeit. Auf das anfängliche Zurückweichen der Mandschutruppen
folgte hartnäckiges und erbittertes Festsetzen in Straßen, Kasernen.
Überflutend, ertränkend drangen über Haufen der Gefallenen Rebellenschwärme
durch die angelweiten Tore der Südstadt. Die Massen untermischten sich mit
Händlern, Kaufleuten des Chinesenviertels, die rasch dem siegreichen
Mingbanner folgten.

Die kurzbeinigen plumpschultrigen Mandschusoldaten schlugen sich mit den
riesigen Bauern der nördlichen Ebene, die Rache für die Dürre heischten, in
Kasernenfenster kaltblütig einstiegen, mit wetzenden Dengeln, zischenden
Dreschflegeln, von irgendwoher erschossen wurden. Die gesonderten Gruppen
der Brüder und Schwestern spieen Tod und würgten ihn herunter.

Das blendende Weißrot des Feuermeers im Osten der Tatarenstadt trug in das
Bild die Durchschneidung der Helligkeiten und schwerer Schatten ein. Das
nördliche neue Kornmagazin loderte. Von dem Funkenregen wurde das südlicher
gelegene unermeßliche Reislager befruchtet und gedieh in Minuten zu einer
im Wind tosenden flammenden Riesenmohnblüte. Unter diesen feierlichen
Lichtern wühlten die zuckenden Massen ineinander. Groteskes Zappeln,
Verrenken, Armschwingen, Hüpfen von Silhouetten, gespensterhaftes Rennen
über verschattete Kasernenhöfe und Gassen. Schwirren, Platzen, Prasseln in
überhitzter Luft von allen Seiten, überschüttend die herkömmlichen
Geräusche des Frage- und Antwortspiels zwischen dem Tod und dem
menschlichen Leben.

Über eine Doppelstunde rang man, dann kollerten Mandschus und Rebellen in
die stinkenden nördlichen Gräben vor der Purpurstadt, die kohlschwarz
bewegungslos hinter ihren Mauern wartete.

Die abweisende Starre, in der sie lag, löste sich in dem Augenblick, als
Böllerschüsse vom oberen Nordtor krachten, und als das grelle Licht des
Feuers nicht mehr die Wipfel der Thujen und Zypressen erhellte, sondern
nach Minuten des Schweigens dieser Schein hinkroch zwischen den
angeprallten Stämmen über den Boden, dicht, nah zwischen den Treibhäusern
des nördlichen Blumengartens wanderte. Die Rebellen hatten das obere
Nordtor gebrochen. Sie ergossen ihre verzerrten Gebärden, den Gestank der
Gräben und Gassen in die strenge Kaiserstadt.

Die Karrees der sicheren Garde finsterten hier. Leere Frauenpavillons
bebten unter dem Gestampf der feindlichen Zerstörer. Das kleine östliche
Schatzhaus wurde erbrochen; hier spritzten die Silberbarren, Truhen,
Seidenstoffe die Treppen herunter, die Vasen zerscherbelten ihre gewölbten
Bäuche.

Eingekeilt zwischen der Nordmauer und einer Querwand, welche die
kaiserlichen Wohnungen beschützte, bissen sich die Gegner ineinander fest.
Aus der brennenden Tatarenstadt drang keiner in den vollgestopften Raum.
Kampftolle Weiber erstickten im Torweg.

In die Garden riß voran Wang-lun klaffende Löcher. Er stöhnte, mit seinem
langen Schwert um sich wuchtend. Er arbeitete fast nackt in einer halben
Bewußtlosigkeit, ohne Gefühl seiner automatisch gehobenen und hämmernden
Arme. Von Zeit zu Zeit drängte er sprengend nach hinten, stand, den Kopf
nach vorn gesenkt, schweißträufelnd, beweglos wie ein Bronzestier, in einer
Menschenwoge, die er zerteilte, die Augen blutunterlaufen, die Hände dick
wie in Handschuhen, das Gesicht verschwollen unter einer Lehmmaske. Dann
bogen sich die Scharniere der eisernen Knie, Schultern und Ellenbogen
keilten die Massen auseinander. Der Gelbe Springer blitzte, mischte Blut
mit Blut in dem Mörser des kaiserlichen Blumengartens.

Ngoh, blutübergossen nicht weit von ihm, bohrte mit dem kurzen
zweischneidigen Schwert, zerschmetterte die vorragenden Spießlanzen. Ritze
neben Ritze hieb er in die weiche lebende Mauer, die Körper sprudelten.

Von der Palastmauer flatterten die schlanken Schmetterlinge, die Pfeile
über die Rebellen, setzten sich auf gähnende Wangen, Schultern, Hälse;
schmückten Taumelnde, Leerlächelnde.

Während in der Tatarenstadt über den weiten Plätzen die Kehlen tobten,
klang zwischen den beiden Mauern nur gelegentlich ein geller Ruf. In dieser
wenig von Licht zerfetzten Finsternis pfauchte, ratterte, stampfte eine
Maschine. Zähne malmten. Die Karrees der Garden schmolzen. Das Einfallstor
in die verbotene Stadt mußte bald frei sein. Ein Winseln erhob sich unter
den Verteidigern. Da flogen die kaiserlichen Soldaten seitlich auseinander,
der Pfeilregen von der Mauer hörte auf. Aus der inneren Stadt fegte
donnerklatschend ein frisches Regiment durch das Tor, spießte sich in die
prallen Rebellenhaufen, die barsten.

Jäh wich in der Tatarenstadt das Jubeln zurück vor dem durchdringenden
Pfeifen der Mandschureiter, dem bodenschwingenden Trappeln von Pferden. Der
zehntausendfache Wehe- und Wutschrei zwischen den beiden Mauern.
Schrittweises Zurückkeuchen hinter Pyramiden von Leichen. Das obere Nordtor
preßte die Fliehenden zusammen und zermanschte sie. Die Kaiserstadt erbrach
die Rebellen. Die Gräber rollten sie kopfüber herunter. In die Tatarenstadt
geschoben wurden sie den Hufen der braunen Pferde preisgegeben. Von zwei
Seiten gefaßt posaunten sie Todesschreie zum Himmel. Stirn und Rücken
zerfleischten die krummen Mandschusäbel.

Dann kam ein Zittern in die willenlose Masse.

Ein tiefes, ausholendes Atmen.

Das Platzen eines Kessels.

Die Front der Berittenen im Nu zerrissen.

Der Elan der letzten Wut zerstob die Mandschus. In einer unduldsamen
Bewegung schleuderten sich die Rebellen hinter die brennenden Speicher
durch die beiden verlassenen Osttore Tong-chi und Tschi-hoa, aus der
Tatarenstadt heraus, aus Pe-king heraus.

Ein Flug trug sie in die stumme nachtkühle Ebene, legte sie vor die kleinen
Dörfer.

Pechschwarz die Purpurstadt. Khien-lung seufzte am Fenster seines Palastes,
eine trübe Öllampe auf dem schmalen Tischchen neben sich. Sein Loblied auf
Mukden hielt er noch in der Hand. Kia-king betete, hingeworfen vor einer
niedrigen Kung-fu-tse-statue auf einem Bronzesockel. Der Kaiser beobachtete
ihn eisig. Als sich der Prinz erhob, klatschte der spöttische Greis in die
Hände, flüsterte den Eunuchen etwas zu. Kia-king sah auf zwei Holzschüsseln
die Köpfe der beiden verräterischen Wachoffiziere.

                   *       *       *       *       *

Die schwarzen Fahnen der Weißen Wasserlilie und der Wahrhaft Schwachen
wehten nordwärts und ostwärts. Das Versagen der rebellischen kaiserlichen
Regimenter war bald aufgeklärt. Khien-lung hatte, unterrichtet, die
verdächtigen höheren Offiziere am vorangehenden Abend festnehmen und in der
Roten Stadt einsperren lassen. In dem nördlichen Bezirk, der dem Angriff
ausgesetzt war, untergebracht, waren sie sämtlich während der Schlacht
befreit worden, fünf gefallen, vier andere, darunter die Gelbe Glocke, von
der Flucht mit fortgerissen. Die eingeschüchterten rebellischen Truppen
hatten in der Nacht ihre Kameraden angegriffen und besiegt. Die beiden so
kunstreich gewonnenen Wachoffiziere waren, wie es schien, von Khien-lung in
kurzem Verfahren beseitigt worden.

Die drei Hauptführer, Wang-lun, Ngoh, die Gelbe Glocke, trafen rasch
zusammen. Wang tobte gegen seine Truppen. Eine nicht kleine Zahl seiner
Anhänger ließ er unterwegs enthaupten, weil sie erwiesenermaßen Panik
verbreiteten. Die ganze Hitze seiner Wut war gerichtet auf die geschlagenen
Truppen. Nur seinem steinernen Wesen war es zu verdanken, daß die Heere
schon nach zwei Tagen in geschlossener Ordnung nach Nordosten, unmittelbar
gegen den heranziehenden Chao-hoei sich richteten. Sechstausend Mann unter
Ngoh blieben als Rückendeckung zurück. Man kam in Fühlung mit den
irregulären Haufen, gewann sie zu planmäßigen Plünderungen und Überfällen.

Chao-hoei lehnte jede Unterstützung der Provinzialarmee ab. Auf die
Nachricht von der Niederlage der Aufständischen in Pe-king peitschte er
alle zurückbleibenden verfügbaren Mannschaften zusammen.

Unter dem Donnern und Leuchten des ersten Gewitters dieses Sommers, zehn
Gluttage nach der Flucht aus Pe-king, trafen sich die Heere an den Hügeln
von Ying-ping. Das Schnauben und mähnenschüttelnde Grunzen am Himmel, das
Zähnefletschen, Schwanzschlagen, Augenrollen fand keine Beobachter auf der
Hügelplatte. Aus schwarzer Luft hing an unsichtbarer Leine ein Riesengong
über den Armeen, dessen Schläge hetzten. Zwei weiße Panther übersprangen
sich. Die Ilisoldaten wanden sich in der Wollust des gesättigten
Blutdurstes. Die Bündler ließen sich umklammern von ihren heißesten
Feinden, zerkrachten ihnen das Rückgrat.

Chao-hoei schaukelte auf seinem Schimmel, oben auf dem Hügel. Wang-lun
rollte seine Walze auf der Chaussee, mahlte sein Korn. Dann riß die
Schwärze des Himmels auseinander, Hagelschlossen stürzten aus dem Schlitz,
tanzten auf den Schädeln. Die Wahrhaft Schwachen kämpften in dem blendenden
Gewühl des Unwetters mit eisiger Gelassenheit. Keine Wunde berührte sie. Es
war gleich, ob sie starben oder lebten. Das Feuer der Ilisoldaten fraß sich
nicht durch, fing an zu rauchen, zu flackern. Kein stürmischer Angriff
erfolgte von den Rebellen: still, weniger drängend als von ungewollter
Notwendigkeit gedrängt überwanden sie die Feinde.

Als Chao-hoei sich mit seinen zertrümmerten Soldaten wandte, hingen sich
die Rebellen, gezogen, an seine Spuren. Beides Verfolgte. Liefen davon,
ließen die zerbrochenen Menschen, Wagen mit Stieren, muskellose Schwerter
und Beile, als wäre es Jauche.

Der geschlagene kaiserliche General ließ sich in der Stadt Schan-hai-kwang
einschließen.

                   *       *       *       *       *

Die Gelbe Glocke und Wang-lun umritten den westlichen meerabgewandten
Stadtteil.

Der rote Palast des Generals blitzte wie eine aufgestellte Hellebarde,
südlich spreizte das graue Ehrentor die Beine; die Tafeln an seiner Stirn
priesen Siege über alte Mongolenfürsten.

Man konnte von dem höher gelegenen Außengelände das schlammgelbe Meer
liegen sehen, die weißen Segel der Dschunken schmeichelten sich über das
Wasser. Die Stadt glitt ins Meer; sie überschüttete die Flußmündung und
geschützte Küste mit Hausbooten; wäre nicht die meterbreite Mauer mit den
Wachtürmen, diese steinharten, quetschenden Kiefern der Stadt, konnten die
Rebellen die kaiserlichen Truppen in einem Anlauf ins Meer jagen.

Die Gelbe Glocke sah träumerisch die grauen Dächer, über die die schwachen
Sonnenstrahlen spielten. Er erinnerte an die Nacht, in der der Vollmond
schien, und sie am Rande eines Gehölzes vor einer zerfallenen Stadt
standen. Das Blatt hatte sich gekehrt. Wie lange noch, würden diese Mauern
ihr Schicksal erleben.

Wang betastete seinen Arm. Wenn es auf ihn ankäme, möchten sie die Stadt
bald haben. Aber wie stark und kostbar waren die Brüder und Schwestern in
der Mongolenstadt, wie stark waren sie!

»Weißt du, Gelbe Glocke, wie das Schicksal aussieht? Wie eine Leiche; sie
läßt sich nicht ansprechen, nicht besänftigen, nicht erzürnen; du kannst
nach ihrer Seele mit Tüchern wedeln in Gärten, auf dem Dache, vor der Tür,
im Hof!

Wie viele leben noch von den Brüdern aus Nan-ku? Zu keiner Zeit, glaube
ich, hat die Erde rasch so viele kostbare Krieger aufgenommen; von den
süßen Geistern duftet das Land. Und ich bin noch übrig, und soll zum Sieg
führen. Und was tu ich jetzt weiter und weiter? Verschlingen, den Boden
sättigen mit kostbaren Körpern; hinter Ho-kien in Pe-king, bei Ying-ping.
Mich haben sie nicht mitnehmen wollen. Vor mir häufen sich die Opfer, ich
bin selbst schon eine Leiche, nach der der Boden nicht schnappen will, um
mich fernzuhalten von den teuren Geopferten. So werde ich noch eine
Zeitlang auf der Erde herumrasen; der Name Wang-lun wird den Klang eines
Höllengottes bekommen; ich werde irgendwo irgendwann einschlafen, ohne zu
wissen, warum das alles gewesen ist.«

Sie stiegen in einer Ulmenpflanzung ab, banden ihre Pferde fest, saßen im
Moos.

Die Gelbe Glocke streichelte mit schmerzlichem Ausdruck Wangs Schultern:
»Was ist das? Was ist das?«

»Wir müssen das Reich für uns erobern. Die Mingkaiser, die unsere Kaiser
sein sollen, müssen wir einsetzen. Das darf nicht über mich fallen, daß
alles nichts gewesen ist. Ma-noh sagte, seine Brüder und Schwestern seien
zu einem Ring zusammengeschmiedet; er wollte sich nicht von mir retten
lassen. Und so sage ich auch. Wir dürfen es uns nicht entreißen lassen,
dieses durch keine Niederlage, daß wir das Kaiserreich der Mings
aufrichten. In mir, lieber Bruder, schwirrt es auf und ab. An dieser
eisernen Stange beiß ich mich fest; der Weg ist vorgeschrieben; ich komme
nicht in Frage.«

»Was willst du damit sagen, Wang, daß du nicht in Frage kommst?«

Wang drehte sich geheimnisvoll zu dem langen Offizier: »Es ist ein
Unterschied zwischen dir und mir. Ich bin der Boden, auf dem das Wu-wei
gewachsen ist, das einen Teil meines Geistes mit sich fortgenommen hat.
Früher glaubte ich, ich müßte dem Wu-wei eine schöne, reiche, weiche
Wohnung unter den Menschen Tschi-lis bereiten, bin mit dem Gelben Springer
hin und her gelaufen; jetzt hat das Wu-wei eine Stimme und tönende Kehle
für sich bekommen, seufzt deutlich, es wäre ein Geist meines Körpers und
ich sollte ihm Obdach und Ruhestatt in mir bestellen. Es lacht über mich,
wie Ma-noh gelacht hat. O, Ma-noh, der auf Nan-ku mich belehrt hat über die
milden, wegschauenden Buddhas, kommt so viel über mich. Jetzt richtet sich,
lieber Bruder, alles auf mich, und nimmt ein so sonderbar gequältes Gesicht
an. Meine Frau sitzt im Hia-ho und weint nicht über mich; aber mein Sohn,
den ich ohne Frau gezeugt habe, das Wu-wei winselt nach mir. Du weißt ja
selbst, was ich sagen will. Mein Sohn kann winseln. Ich muß die Brüder und
Schwestern beschützen, wie ich's schon immer getan habe. Wir müssen das
Kaiserreich der Mings aufrichten . . .«

Der Offizier blickte seitlich, ohne sich zu einer Äußerung zu sammeln,
dann: »Du bist anders, als Ma-noh, du bist ganz anders. Mein Bruder
Wang-lun geht einen guten Weg mit -- Angst und Widerangst. Die Gelbe Glocke
hat nicht viel erfahren von dem harten Schicksal Wang-luns. Die Gelbe
Glocke denkt, man muß kühn werden, mit der Welt streiten. Wir sind Kinder
der hundert Familien, ich sage auch: was kommt es auf mich an? Unser Haus
wollen wir reinigen, damit es uns gut geht, Wang, lieber Bruder.«

Wang berührte ihn zärtlich an der Hand: »Komm weiter, Bruder. Ich bin,
seitdem ich aus dem Hia-ho kam, zum Lachen verwirrt. Ich weiß nur, daß ich
aus Hun-kang-tsun stamme, so starke Knochen und solch Maul habe; sonst weiß
ich nichts von mir. Einmal kannte ich einen Mohammedaner und einen Bonzen.
Das waren früher meine Gesellen. Du mußt nicht so darauf hören, was ich
sage. Auch Ngoh hat den Kopf geschüttelt.«

Sie ritten fast auf Pfeilschußnähe an die Mauer, auf der eine Abteilung der
eingeschlossenen Soldaten patrouillierte. Sie konnten noch über die Mauer
wegsehen, die vollgestopften Straßen erkennen, die untätigen Rotten auf den
Märkten zwischen den Händlern unterscheiden. Wang-luns Pferd tänzelte; auf
dem Gesicht des Reiters markierte sich eine freudige Neugier; die listigen
Augen zerlegten die ganz kleinen Gruppen drüben. Auf einen Ruf der Gelben
Glocke riß er sein Pferd um; die Patrouillen spannten ihre Bogen. Sie
sprengten weiter um die Stadt.

Blitzschnell war vor Wang alles Quälerische versunken. Ma-noh und die
Gebrochene Melone hatte er ausgelöscht in der Mongolenstadt, wie mit einem
Strich unter eine verlorene Rechnung. Er war Ma-noh gefolgt, der ohne ihn
alles verwirklichte von der Wu-wei-lehre; mit Spannung und Grauen sah Wang
die Entwicklung und Beendigung; der letzte Schluß lag ihm ob in dieser
Sache, die im Grunde seine Sache war; die Gemeinheit durfte nicht in das
Sterben dieses Traums hineinjohlen. Er schleppte noch in einer Art
Rachsucht sein Schwert, lief todverheißend von dem Totenfeld, aber heimlich
erkannte er schon, daß hier eigentlich nichts zu rächen war, daß kein Feind
da war, gegen den er sein Schwert erheben sollte, weil alles dies Ende
nehmen mußte. Und als Ngoh ihm vom Tod Ma-nohs erzählte, wurde die Decke
der Rachsucht mit einem grausamen Ruck weggezogen; besiegt war er,
vernichtet, schlimmer erwürgt als der Tu-ssee. Der Ekel kam, zu Ende war es
mit dem Wu-wei! Das Hia-ho mit seiner entschlossenen Versenktheit tauchte
auf, die erpreßte Ruhe einiger Monate; der Bauer in Wang schien langsam
hervorzutreten. Inzwischen fraß seine Lehre in Tschi-li um sich; er konnte
sich nicht lange taub und blind stellen, seine Vergangenheit wie Staub von
sich abschütteln; der Grimm über den Kaiser entkorkte ihn wieder; das
Wu-wei, zwar fortgeschleudert, war seine eigenste herzlichste Sache. Halb
gestoßen kehrte er zurück, die stürmische Bewegung riß ihn dann mit sich;
er selbst wußte oft nicht, was er sollte, dachte an die Sanftheit des
Nichtwiderstrebens und sah sich in einem endlosen, hoffnungslosen Morden.
Er fand nicht zu sich. Über die Mauer von Schan-hai-kwang blickend, sah er
das lebendige Gewimmel der Märkte, Straßen; eine freudige Erregung
überwältigte ihn blitzschnell; Entschlüsse, ein Drang unbegründeter Art
wurden in ihm ausgehebelt: »Da hinein, da hinein, ohne Waffen!« Er wußte
nicht, daß das Bild des alten Tsi-nan-fu vor ihm stand, daß das Wu-wei ihm
aus allen Poren schwitzte. Dulden, dulden, leiden, ertragen! Nicht
widerstreben! Su-koh! Zum ersten Mal liebte er wieder das Leben. Er hob
jauchzend seine Arme gegen die Stadt. In einem Gefühl von Schwäche begehrte
er wieder Stadtnarr zu sein.

Das Heer der Bündler hatte seine anfängliche Zweiteilung völlig aufgegeben;
die Waffenbrüderschaft hielt die Weiße Wasserlilie und die Wahrhaft
Schwachen unlöslich gebunden. Die starken Männer und Frauen rannten,
schlugen Zelte, fuhren Proviantkarren, schwangen Beile und Schwerter; die
schwarzen Fahnen klatschten; das weitere stand nicht vor Augen. Man mußte
siegen, Mandschus vertreiben, goldene Mings wieder einsetzen. Die Wahrhaft
Schwachen unterschieden sich nicht von den Geheimbündlern, nur daß sie
stolzer waren, in den Schlachten Berserkerstücke verrichteten, in den
Lagern zum Sport gefährliche Zwei- und Vierkämpfe ausfochten, eine drohende
Zuversichtlichkeit zur Schau trugen.

Man lagerte im weiten Umkreis um Schan-hai-kwang, ruhte von den letzten
Schlachten, erwartete die Hilfstruppen, die aus Schan-tung und Kan-su im
Anmarsch waren. Aus Tschi-li und den Nachbarprovinzen verlautete die
Sammlung von Provinzialheeren; Zuläufer wollten so wissen, daß die
Provinztruppen zu großen Kontingenten angewachsen seien. Jede Nachricht
wurde mit Gelächter und Wonne aufgenommen.

Auf die Kunde von der Ausdehnung der Rebellen kamen aus Nan-king zwei
Männer gewandert, die behaupteten, Nachkommen des alten Minggeschlechtes zu
sein. Sie stießen zu den Bündlern am Tage nach der Niederlage in Pe-king,
kämpften sogleich mit größter Bravour beim Zusammenstoß mit Chao-hoei. Sie
waren Vettern, der Ältere ein Bauer in den fünfziger Jahren, der Jüngere
etwa in den Zwanzigern. Sie fielen durch Ernst und sympathische, zweifellos
vornehme Haltung auf. Sie vermochten sich natürlich nur durch Erzählungen
sehr phantastischer Art zu legitimieren, fanden allgemeinen Glauben. Von
seinem Ritt um die Stadt zurückkehrend, fragte Wang den Jüngeren der
Mingvettern, ob er verheiratet sei. Der verneinte. Da betrachtete Wang den
zarten, tiefbraunen Jüngling, meinte, es sei vielleicht zu erwägen, ob er
sich nicht verheiratete. Der schlanke Mensch drehte sein längliches Gesicht
lächelnd beiseite; er freue sich über Wangs gute Laune; er hätte für Wang
ein kleines Kistchen kandierter Datteln aufbewahrt und sie wollten zusammen
Späße machen. Der andere lobte das, und wo er denn die Datteln hätte. Vor
einem Zelt lutschend und spuckend, sahen sie sich vergnügt an. Er hätte
solche kandierte Datteln schon lange nicht gegessen, sann Wang, zuletzt in
Schan-tung; es sei schon lange her. In Po-schan sei er einmal eingeladen
gewesen bei einem Kaufmann, der die Weiße Wasserlilie führte; da hätte er
viele davon essen müssen und seinen Spaß gehabt. Ja, erwiderte der Ming,
sie seien ziemlich rar in dieser Gegend, besonders jetzt. Ob er also
wirklich nicht verheiratet sei, fuhr der andere fort; in Kriegszeiten sich
verheiraten, zeuge von großer Vorsicht; denn man könne vielleicht einen
Sohn bekommen und dann stürbe man ruhiger. Ja, er brauche ihn nicht so
anzusehen. Also kurz und bündig: ob der junge Ming sich mit der Tochter des
Mandschugenerals Chao-hoei verheiraten wolle. Wenn er wolle, brauche er nur
zugreifen; Wang werde den Vermittler spielen. Der junge Mensch verneigte
sich sehr ernst vor Wang; er wolle Wang nicht verletzen; aber solche Späße
verdiene er nicht; er lege keinen Wert auf seine Mingabstammung in diesem
Moment. Unbeirrt wiederholte Wang: es handle sich um Dinge, die so klipp
und klar wären; gebe Chao-hoei seine Tochter her, so hätte man den General
mitgewonnen; gebe er sie nicht, dann, nun dann würde man ja sehen. Die
Mings sollten nicht trotzig auftreten, durch Ruhe entwaffnen, diplomatisch
denken. Verwirrt, errötend stammelte der Ming etwas. Jedenfalls bliebe es
dabei, bestimmte Wang, bevor sie an das Kochen von Hirse gingen, daß er,
der Ming, unverlobt, Wang zur Vermittlung ermächtige. Er solle ihm sogleich
Geburtstag, Jahr, Monat, Stunde für die späteren Berechnungen aufschreiben.

In der Stadt gab es Anhänger der Bündler. Die Belagerer suchten mit ihnen
in Verbindung zu treten. Die anfänglichen Bemühungen, Nachrichten und
Verabredungen auf Papier in hohlen Lanzen zu befördern, scheiterten; die
Zettel kamen überhaupt nicht an oder an falsche Adressen; man erschwerte
durch jeden mißglückten Versuch den Brüdern drin die Arbeit.
Aussichtsvoller war der Wasserweg.

Zwei Tage nach der Zernierung der Stadt langte eine große Flotte stark
bemannter Schiffe draußen an; sie kamen vom Süden herauf. Die Belagerer,
die zuerst jubelten, weil die Schiffer keine kaiserliche Tracht trugen,
sondern ersichtlich Seeräuber waren, wurden bei dem ersten
Annäherungsversuch schwer enttäuscht; die Rebellendschunken wurden von zwei
der großen Schiffe einfach überrannt. Es waren Seeräuber, die von dem
Tsong-tou von Tschi-li geworben waren und deren Anführer der Kaiser zur
Belohnung eine Pfauenfeder im voraus verliehen hatte. Sie schwammen stolz
auf dem Wasser, kaperten verdächtige Boote, verpraßten in der Stadt und
benachbarten Küstenorten ihr Geld und begönnerten Chao-hoei.

Wang-lun ging mit fünfzig seiner verwegensten Leute in eins der
Küstennester. Er sagte seinen Männern, sie wollten die Stadttore von innen
öffnen. Stark bewaffnet näherten sie sich dem Fischerdorf, in dem die
Mannschaften dreier großer Schiffe saßen. Lärmend zogen sie aus einer
südlichen Seitenstraße in die auf einer Dünensenkung kriechende
Hauptstraße. Die überraschten Piraten, mit Strohhüten und geflochtenen
Strohmänteln, traten aus den Häusern auf die Straße. Wang stieg zu einer
Schenke herauf, vor der eine Rotte stand, fragte, wem die Schiffe draußen
gehörten.

Einer, der Wangs Größe hatte, zweifellos aber nicht Führer war, drängte
sich nach vorn und sagte, das ginge Wang nichts an. Wang schob ihm den
breiten Strohhut aus dem Gesicht; das solle er nicht so sagen; wenn die
Schiffe keinem sicher gehörten, dann wolle er sie mit seinen Kameraden
nehmen. Die Piraten brüllten vor Vergnügen, sicher gehörten die Schiffe
keinem; aber inzwischen gehörten sie ihnen, und da sei es nichts mit dem
Wegnehmen.

Dann sei er ganz zufrieden, meinte Wang; das hätte er ja nur wissen wollen.
Dann sei es eben nichts. Aber ob sie nicht irgend wo anders kleinere
Schiffe, Segeldschunken gesehen hätten, die man wegnehmen könne. Er und
seine Kameraden wollten zu Schiff gehen, weil es mit dem Lande nichts wäre.

Das meinten die Piraten auch, beschauten die Ankömmlinge, zufrieden als
Besitzer, sagten spöttisch, Dschunken würden sich schon irgendwo finden;
sie seien ja rüstige Burschen, die wohl gut schwimmen könnten. Als neulich
das große Hagelwetter war, seien sechzig kleine Dschunken und fünf große
Schiffe vielleicht sechs Li vor der Küste gekentert; die könnten sie bequem
holen, die gehörten jetzt keinem und seien vorzüglich ausgerüstet. Wenn sie
gut tauchen würden, könnten sie die Schiffe nicht verfehlen; es sei da
hinten, in südlicher, etwas östlicher Richtung.

Wang fand diesen Rat außerordentlich; die genaue Ortsangabe würde er sich
gut merken. Freilich seien seine Kameraden ebenso wie er selbst noch zu
wenig an das Wasser gewöhnt, um gleich so anstrengende Tauchübungen zu
machen. Da die Sache nach ihrer Beschreibung so einfach sei, so würde aber
ihnen beiden bald geholfen sein. Er werde sich mit seinen Begleitern der
drei Schiffe draußen bemächtigen, an diese Arbeitsweise seien sie als
Landbewohner gewöhnt, sie sollten dann neben den Schiffen schwimmen; er
werde sie sicher zu der Stelle hingeleiten, sechs Li vor der Küste, wo die
sechzig kleinen Dschunken und fünf große Schiffe auf sie warteten.

Schweigen und Flüstern bei den Piraten, prüfende Blicke auf beiden Seiten.
Der Strand war leer; alle Seefahrer schoben sich vor der Schenke; sie sahen
die Äxte, Dolche, Bogen der Fremden.

Als sie schwiegen, sagte Wang, sie sollten sich die Sache ruhig überlegen;
er werde inzwischen mit seiner Horde schon an den Strand gehen und die
Schiffe besichtigen.

Nach einem Hin und Her zwischen den untersetzten Männern, welche die Führer
zu sein schienen, kam einer von diesen, der eine gespaltene Oberlippe
hatte, auf Wang zu und fragte höflich, wer sie wären. Auf dem
verschlossenen Gesicht des braunen Fremdlings spielte ein bedauerndes
Lächeln; er könne sich die Brust zerschlagen, daß er vergaß, dieser
einfachen Anstandspflicht nachzukommen; man gewöhne sich auf den
Landstraßen schlechte Manieren an. Sie seien aus verschiedenen Dörfern
Nordschan-tungs, hätten sich zusammen getan, um sich durchzuschlagen in ein
fruchtbareres Land; nichts sei ihnen geglückt; bei Pe-king hätten sie sich
den Rebellen anschließen müssen, aber die seien geschlagen, ein paar Tage
hätten sie Hundereis gegessen im Institut der Großen Menschlichkeit zu
Pe-king, nun wollten sie es mit dem Wasser versuchen.

Warum denn so Starke Waffen trügen.

Um nicht mehr bitten zu müssen.

Nach dieser Unterhaltung zog sich der Unterhändler wieder zurück unter
tiefen Verneigungen; Wangs Leute sperrten zu beiden Seiten die Straße; die
Situation war für die Piraten aussichtslos.

Da kamen sie mit einem Vorschlage zu Wang, den sie mit mehreren anderen in
die Schenke nötigten. Sie sagten, daß sie mit ihren Schiffen vom Kaiser zum
Schutz von Schan-hai-kwang geworben seien; ob sich die Fremden ihnen
anschließen wollten gegen hohen kaiserlichen Sold.

Wang erklärte: gern, wenn der Sold für ihn und seine Leute hoch genug wäre.

Freilich, es kämen auf jeden Mann zwei Taels für zwei Monate.

Die Fremden besprachen sich; ihr Führer antwortete, es sei zu wenig,
außerdem, welche Sicherheit gegeben würde; sobald sie alle im Hafen der
Stadt wären, würde man sie auslachen und ans Land setzen.

Nach längerem Feilschen kam man überein: die bewaffneten Fremden besetzten
zwei Schiffe zur Sicherheit; das dritte Schiff fährt in den Hafen,
verschafft die Hälfte des Geldes; alsdann fährt man gemeinsam vor die
Stadt; kommt das dritte Schiff mit Polizei zurück, soll das als Verrat
gelten und an der Besatzung der zurückgebliebenen Schiffe gerächt werden.

Der Plan wurde ausgeführt; Wang empfing das Geld, sie setzten sich auf die
Schiffe, ankerten vor der Stadt. Als sie an Land gingen, wozu sie die
Piraten eingeladen hatten, war dieses Abenteuer rasch zu Ende; denn hinter
ihren Booten scholl das Hohnlachen der Seeleute, denen ihr Streich gelungen
war; die Schiffe, die zu den andern in See stachen, waren Wang und seinen
Leuten verloren.

Wang ging mit mehreren Begleitern wegen der andern Hälfte des Geldes
klagend in die Stadt; die Mandarine wiesen ihn ab, für solche Verträge gäbe
es kein Recht; die Piraten seien nicht zu fassen, und in diesem Augenblick
Freunde des Himmelssohnes. Er suchte seine Anhänger in der Stadt auf;
kleidete sich um, spazierte auf den Märkten und Straßen. Mehrere Tage
unternahm er nichts als Flanieren, Besuchen der Tempel, Anhören des
Klatsches, Feilschen mit Pfeifenhändlern, Lungern in den Teestuben. Es war
frisches schönes Sommerwetter; um seine Begleiter kümmerte er sich in
diesen Tagen nicht. Dann versammelte er sie in dem Hause eines
Gefängnisaufsehers; seine Absicht war, Dinge besonderer Art in der Stadt zu
veranstalten, darauf Revolte, wobei sich das weitere ergeben sollte.

Chao-hoeis Palast stand einsam hinter der Stadt auf den nordwestlichen
Abhängen der Magnolien. Der besiegte General verließ selten sein Haus;
wanderte von einem Zimmer ins andere, aus dem Hof in den Garten. Er stand
nicht mehr an dem Fenster, das nach dem Meer blickte; der Triumphbogen am
Ausgang der Hon-pun-straße störte ihn nicht; nur daß dort das Meer lag, an
das ihn die Rebellen gedrängt hatten, ergrimmte ihn, daß seine Soldaten und
sein Feldherrnglück nichts waren und er wie eine Katze, die man ertränken
wollte, am Wasser hin und her jaulen mußte.

In seinem friesumzogenen Arbeitszimmer saß er viel, blies die Wasserpfeife
und grübelte. Er war ein sonderbarer Torhüter Pe-kings; durch eine
rätselhafte Wendung des Kampfes war Pe-king noch im letzten Augenblick
gerettet worden; ihn setzte man ans Wasser; wo war sein Kriegsruhm, was
dachte Khien-lung? Er konnte nicht mehr A-kui und kundige Eunuchen
anklagen, daß sie ihn auf den verlorenen Posten geschickt hätten. Kampf war
da, und Niederlage war da. Der junge unerfahrene Tsong-tou von Tschi-li
Chen-juen-li wird sich ein Vergnügen daraus machen, die Stadt zu entsetzen;
auch der Herr von Schan-tung und Pi-juen von Ho-nan werden sich Ehren
gewinnen, an ihm, dem Verunglückten. Er hatte das Gesicht verloren. Schande
über sein Haus, Schande über seine Ahnen.

Die jugendliche Hai-tang, seine rechtliche Frau, tröstete den
Melancholischen; sie trieb den ergrauten Mann aus dem Hause heraus, damit
er die Mauern inspiziere, die Zucht in der Stadt kontrolliere. Aber Chao
hatte einen Widerwillen gegen diese Stadt, die er einmal geliebt hatte; ihn
ekelte es vor den zweideutigen Bürgern, er begegnete mit Widerwillen dem
betrügerischen Tao-tai, Tang-schao-i, der sich beim Einzug der Truppen in
die Stadt bedankt hatte, daß ihm das schlimme Schicksal der benachbarten
Magistrate erspart blieb, freilich durch das Unglück seines verehrten
Freundes Chao-hoei. Die Wunden seines Sohnes Lao-sü waren längst geheilt;
untätig saß der General mit ihm beim Morraspiel, hockte in den
Frauengemächern, hörte seiner Frau zu, die die zarte Nai, die
fünfzehnjährige Tochter, im Spiel der Pipa unterrichtete.

Eines Vormittags, während die gesamten Truppen auf den Hügelflächen
zwischen Mauer und Stadt exerzierten, zog aus einer Gasse im Nordwesten der
Stadt, wie aus dem Boden auftauchend, eine feierliche prunkvolle Prozession
geradeswegs über die Chaussee auf das Wohnhaus Chao-hoeis zu. Es mußte sich
um ein freudiges Ereignis handeln; die Männer, die zwei goldgeschmückten
Sänften folgten, trugen lange rote Schärpen über ihren schwarzen Gewändern.
Mit Gongschall und »Platz«rufen marschierte man unter dem warmen
Sonnenlicht; der Zug schlängelte sich rasch den einsamen Magnolienhügel
hinan. Das Väterchen ohne Zunge, Chaos Haussklave, nahm unter grotesken
Verbeugungen die riesige rote Visitenkarte entgegen, die ihm aus einer
Sänfte gereicht wurde. Der schlanke Mandarin im Haus legte seine
Perlenkette um, ging an der Türe des Saales der zwölf grünen Säulen seinen
Gästen entgegen. Ein unbekannter mandschurischer Name hatte auf der
Visitenkarte gestanden. Sechs der Fremden, in ernster Haltung, starke
ausdrucksvolle Gesichter, traten in die Halle; Wang-lun und fünf Gefährten.
Wang stellte sich zuerst vor unter dem mandschurischen Namen der
Visitenkarte, mit frei erfundenen die andern, dann setzte man sich auf
Einladung des Wirtes an einen kleinen Tisch zwischen zwei Pfeilern und
schwieg. Chao-hoei schlug in die Hände nach Diener und Tee; das Blut stieg
ihm ins Gesicht; es kam niemand. In Scham bat er seine Gäste um
Entschuldigung, er klatschte nochmal, vor Erregung zitternd. Aber die
Fremden lenkten begütigend ein, sie seien geschäftlich anwesend, zu Schiff
eingetroffen, würden nur kurze Zeit verweilen; auf das Gesinde sei nirgends
Verlaß.

Man sah sich prüfend an. Chao-hoei wollte in einer plötzlichen Regung sich
erheben, um nach den Dienern zu sehen, aber wiederum baten die Fremden,
sich nicht anzustrengen; sie würden ja in Raschheit ihre Angelegenheit
erledigt haben.

Wieder schwiegen sie. Wang, in einem schwarzen Gewand, das ihm nicht den
Knöchel bedeckte, zog den Fächer aus dem Gürtel, preßte das Gesicht
zusammen, sagte mit kaltem, festem Blick, er und seine Begleiter kämen als
Brautwerber in das Haus des ruhmreichen Generals; er hätte bei einem
Aufenthalt im Hia-ho von der gebildeten und kunstverständigen Hai-tang, der
Tochter des ehemaligen Tsong-tous von An-hui, Hwang-tsi-tung, gehört; von
der Feinheit und Wohlerzogenheit der Tochter spreche die Stadt; so
ungewöhnlich das Vorgehen sei, so bliebe doch seinem Herrn, in dessen
Auftrag er erschiene, keine andere Möglichkeit, die Verbindung anzuknüpfen.
Er reichte mit seinem langen Arm ein großes rotes Kuvert mit dem
Personalschein über den leeren Tisch.

Der General steif, zuckte mit den Mundwinkeln. Wang sprach ruhig weiter,
lud ein, das Kuvert zu öffnen; das Volk singe: »Wie fängt man an, Holz zu
spalten? Ohne ein Beil kann es nicht geschehen. Wie fängt man an, eine Frau
zu nehmen? Ohne eine Mittelsperson kann es nicht geschehen.«

Als der General mit einem Blick auf die Visitenkarte die Lippen bewegte,
den Mund öffnete, tonlos fragte, wer er sei, antwortete der Gast, die
Visitenkarte sei zur Täuschung der Dienerschaft gegeben; er sei Wang-lun,
ein Anführer der Belagerer; er werbe für einen der Mingprinzen, der den
Thron besteigen solle; freilich, es handle sich um einen Chinesen; aber so
niedrig achte kein Chinese die Mandschus, daß er nicht die wohlerzogenen
Mandschutöchter zu rechtlichen Frauen werben möchte.

Der Mandarin, aufgesprungen, stürzte an das Gong, schrie: »Diener!
Tai-tsung! Tai-tsung!«

Die Fremden erhoben sich im Tumult, als der Mandarin an ihnen vorbei ans
Fenster stürzte; zwei deckten das Fenster; Chao-hoei ausgleitend,
hinfallend, wurde von ihnen gehoben, unter Verneigungen, mit eisernen
Händen an seinen Platz gedeichselt.

Wang lauschte an der Tür, am Fenster; im Nu stand er vor dem heftig
stöhnenden General, dessen Augen entgeistert blickten. Der große
Personalschein sei gebracht; die Werbung vorgetragen; den Schein der Braut
zu bringen und das Glück und Unglück der acht Ehezeichen bestimmen zu
lassen, läge dem General ob. Sie würden sich Antwort holen.

Der General schlug auf den Tisch, explodierte: »Verbrecher! Schurken!« Vier
hielten ihn, banden mit roter Schärpe Arme und Beine, legten ihn auf den
dunklen Gang vor der Tür. Wang flüsterte: »Überlegen Sie, General. Wir
kommen wieder.« Und er malte mit dem breiten Tuschpinsel, den er von einem
Wandregal nahm, auf den polierten Boden des Saals die drohenden Zeichen der
Mingdynastie. Schon bestiegen zwei der Männer draußen im Hofe die Sänften;
Gongs, »Platz«rufe; blitzrasch setzte der Zug den Magnolienhügel herunter,
verschwand in einer Seitengasse.

Fünf Offiziere, die zum Mittag bei Chao-hoei eingeladen waren, fanden eine
halbe Stunde später zwei Haussklaven im vordern Hof geknebelt im Schmutz.
Das Väterchen, befreit, rannte heulend ins Haus; das Haus dröhnte vom
Geschrei. Die Frauen kamen aus den Gemächern, als das Väterchen flennte.
Der Schwarm suchte mit Angstrufen nach dem General, über den man stolperte.
Im hellen Empfangssaal hielt Hai-tang seinen besudelten Kopf; er seufzte;
man flößte ihm Wein ein; er betrachtete blaß die vielen, die sich um ihn
drängten. Die Offiziere nahmen mit den Dienern die Spuren der Fremden auf;
es dauerte Stunden, ehe man ermittelte, in welche Gasse der Zug
verschwunden war. Die militärische Durchsuchung aller Häuser des Viertels
ergab nichts Verdächtiges; die wenigen Bewohner der Gasse wurden sofort
ausgepeitscht; das Ergebnis der Untersuchung, das am Abend Chao-hoei
vorgetragen wurde, lautete: die Belagerer müssen in der Stadt viele Freunde
haben. Da ein Eindringen der Rebellen von der Mauer aus unmöglich ist,
müssen die Fremden vom Meere gekommen sein; die Polizei am Seezollamt ist
zu verstärken; auf die befreundeten landenden Seeräuber und Schiffer, die
Proviant bringen, ist ein wachsames Auge zu richten.

Man stöberte in der Stadt alle Keller, verfallenen Häuser nach Wang und
seinen Begleitern auf. Chao-hoei ging im Zimmer der Hai-tang; er riß sich
von ihr los: »Was bleibt, Hai-tang? Du bist so klug und verstehst nicht,
was so klar ist. Ich bin zum Gespött der Stadt geworden, zum Gelächter der
Feinde.«

»Deine Feinde sollen nur lachen, sie werden bald kreischen, wie sie in
Pe-king gekreischt haben. Den teuren Lao-sü haben sie geschlagen, dich
haben sie hingelegt, nach der feinen Nai wollen sie greifen. Die
Seidenschnur gehört nicht dir, sondern den Stadtbehörden, dem Präfekten
Tang-schao-i und den andern. Räche dich, Hoei!«

»Es nützt nichts; wir werden uns nicht halten können. Sie dringen vom Meere
ein. Sie laufen auf der Straße, auf dem Markte zwischen uns herum;
vielleicht grüßen sie uns, wir erkennen sie nicht. Sung hat recht: wenn die
Sandkörner gegen die Menschen sind, sollen die Menschen weggehen. Wir
Mandschus werden gehaßt. Mich machen sie zum Gespött.«

»Wenn Hai-tang in dir wäre, Hoei! Es ist dein und mein Kind, das man
bespeit. Ich will das nicht hinnehmen. Wenn du nicht Rache willst: ich will
sie.«

»Was redest du, Hai-tang? Hier im Haus haben sie gesessen, jetzt sind sie
-- wo? Räche dich, wenn du im Käfig sitzst.«

»Tang-schao-i ist ein Betrüger. Er glaubt nicht an dich; er fürchtet für
sich; er hat den Rebellen diese Schandtat ermöglicht, mit dir will er es
nicht verderben. Die seidene Schnur ist für ihn.«

Chao öffnete das Fenster; die Ulmen standen mit spärlichem Laub gegen den
roten Himmel; laue Luft wehte herein; plötzlich süßes Singen aus dem
Garten.

Hai-tang trippelte neben ihn an das Fenster: »Das Kind singt«, sie bog
entzückt den Kopf auf die linke Schulter. »Warum haben wir die Zeit der
Pfirsichblüte versäumt, als Juen-chings Eltern fragten wegen der Heirat?
Sie wäre nicht mehr bei uns.«

»Ich will das zarte Kind noch behalten.«

»Aber jetzt wünscht Chao-hoei auch, er hätte sie verheiratet zur Zeit der
Pfirsichblüte. Sie werden noch kommen, die Verbrecher, dich fesseln, die
Sklaven fesseln, mich fesseln, das Kind entführen. Sie wollen sie stehlen,
sie werden sie stehlen, o wenn Nai nicht mehr bei uns wäre!«

»Still, Hai-tang, das Kind hört dich. Sie singt wieder. Das Haus ist
gesichert. Meine Wache verdoppelt. Die tollen Hunde werden nicht noch
einmal auf meinem Hofe bellen. Ich werde Tang-schao-i einsperren lassen.
Das Grinsen werde ich dem Gauner vertreiben.«

»Was nützt Tang-schao-i mir? Wenn du siebzig einsperren läßt, kommen
siebenhundert neue. Das Kind singt. Wie lange wird es singen? Wo soll ich
es hinbringen? Hoei, was soll mit meinem Kind geschehen?«

Hai-tang saß auf der Matte, wiegte sich weinend. Die Tränen verwischten die
roten Schminktupfen ihrer runden Wangen. Gefärbte Tränen tropften schmierig
vom Kinn auf das hellblaue Oberkleid: »Für wen hat Wang-lun geworben?«

»Wang-lun? Für einen Mingprinzen, es ist lächerlich, den er nicht beim
Namen nannte. Er gab zu verstehen, welche Gnade der Mingprinz übe, indem er
eine Mandschutochter heiraten wolle. Wir wollen nicht davon sprechen.«

»Ich weiß nicht, was an den Mandschus und den Chinesen schlecht ist. Aber
wäret ihr nicht ungerecht gewesen, wäre es nicht zu diesem Aufstand
gekommen. Sieh Tang-schao-i an; in allen Städten solche Gauner. Mußte es
nicht zum Aufstand kommen? Und wir haben zu leiden. Es ist ein Zeichen von
eurer Schwäche und Unklugheit, daß im Lande Rebellion entsteht; werft die
Bündler nur hin; nach zehn Jahren kommen sie wieder. Wie helf ich Nai? Wo
ist Juen-ching?«

»Juen-ching tut Dienst an der Mauer.«

»Ich möchte ihn gerne sehen. Du mußt jemand schicken und ihn auffordern
lassen, zu uns zu kommen.«

»Er kann in den nächsten Tagen nicht fort; ich weiß auch nicht --«

»Aber ich weiß. Ich will mit ihm reden. Ich will ihn sehen. Ich will seine
Eltern sprechen. Wir müssen beraten, was mit Nai geschehen soll. Wir haben
es abgeschlagen, im Frühjahr sie wegzugeben; jetzt ist Not.«

»Es wird keine guten Zeichen geben.«

»Du brauchst nicht zu sagen, es wird keine guten Zeichen geben, du brauchst
mich nicht noch unglücklicher zu machen, Hoei. Es ist unser Kind, und wir
können nicht am Fenster stehen und zuhören, wie sie singt, und singt und
nichts weiß. Was wird diese Nacht bringen, was wird morgen der Tag bringen?
Sie muß mit ihren Dienerinnen in meinem Zimmer schlafen. Ich will
Juen-ching sehen, ich will mit seinen Eltern sprechen. Oder, ich will dir
sagen, wenn Wang-lun wieder kommt, er kommt wieder, verlaß dich drauf, er
kommt wieder, will ich dabei sein. Ich will ihn sehen, ich will ihn fragen,
für wen er wirbt. Der Prinz soll zu uns kommen, wenn er kein schlechter
Mensch ist. Und er soll Nai haben. Ja, Hoei, die Chinesen sind nicht
schlimmer als die Mandschus; es wird gut tun, wenn wir uns versöhnen. Ich
will mein Kind nicht wegen eurer Laster verlieren.«

»Jetzt, liebe Hai-tang, weißt du nicht, was du sprichst. Nein, du weißt es
nicht. Weißt du, was für ein Schurke dieser Wang-lun ist. Ein Mingprinz! Er
will uns zeigen, wie gefährdet wir sind und was er mit uns machen kann.«

»Ich will Juen-ching sprechen. Er muß für einen Tag, für morgen, vom
Wachdienst befreit werden. Nein, lache nicht, Hoei. Ich kann nicht leben.
Wenn ich ein Weib bin, brauchst du nicht zu lachen. Ich hab den ganzen
Jammer zu tragen; wenn dich ein Spott trifft, greifst du nach der seidenen
Schnur. Hilf mir, Hoei, hilf der Hai-tang, die du einmal geliebt hast.«

Die Verhandlungen der beiden Familien verliefen rasch. Inzwischen, da das
Belagerungsheer noch nicht zum Sturm vorgehen konnte, seine Ergänzung sich
langsam vollzog, weil Detachements der Provinzialtruppen die Verbindung
südlicher Rebellen mit dem Tschi-li-heere verhinderten, ging Wang in dem
Treiben der Stadt auf. Er imitierte fast mit Bewußtsein seine Jugend in
Tsi-nan. Als der Tao-tai Tang-schao-i aus seinem Jamen geholt, im
Halskragen auf den Markt geführt wurde, stand Wang mitten unter den
Gaffern, die das Schild lasen, das dem giftig schielenden Beamten auf Brust
und Rücken gebunden war: daß alle in der Stadt sich ein Beispiel an dem
Tao-tai nehmen sollten, die direkt oder indirekt Sympathien mit den
Aufrührern äußerten und versäumten, Verdächtigen nachzuspüren. Wang war der
erste, der das scheue Umschleichen und Flüstern um den mächtigen Mann
beendigte, indem er von dem Boden faulige Kürbisreste aufhob und sorgsam
nach dem Gesicht des Mannes zielte, ohne zu schleudern. Als die Ladung dann
in die Augen des Gefesselten feuerte, hörte das allgemeine Höhnen, Hänseln,
Anspeien erst auf nach dem Einschreiten des lahmen Aufsehers, der im
schwarzlackierten Strohhelm mit schwarzer Hahnenfeder hockend, von einem
toten Fisch an der Hand getroffen wurde und brüllend mit dem kurzen Bambus
unter die Menge schlug.

Bei einem Bonzen in dem schmierigen Tempelchen einer kindergewährenden
Kuan-yin lungerte er ein paar Tage; er fühlte sich gönnerisch in die
bescheidenen Betrugsmanöver dieses pulverbereitenden harmlosen Geizhalses
hinein, dann flanierte er mit falschem, grauen Bart herum, schäkerte mit
Kindern, denen er spannende und drollige Geschichten erzählte. Nur
gelegentlich sprach er bei den Freunden vor, um Neuigkeiten von der
Reorganisation des Heeres zu hören. Er gurgelte seine Pfeife stundenlang
auf einer sonnenbeschienenen Veranda eines Restaurants, in seinem
Dahinbrüten vermißte er nur das Bauernmädchen, das im Lager geblieben war.
Am Meer nördlich der Anlegestelle lagerte er sich in den steinigen Sand. An
manchen Morgen blickte ihn die See giftig an aus gelben lehmigen Augen,
spie klumpigen Schleim aus, murrte. Dann wieder war ihr Aussehen wechselnd
zwischen grauschwarz und purpur, von einer kaiserlichen Pracht. Unter dem
frischen Wind stolzierten lange Wellenzüge, Karosserien mit blitzendem
Geschirr an das Gestade. Die Ruhe des händerieselnden Sandes. Hier eine
Mulde, da eine Düne. Auftauchen und Hinschwanken der Segel. Anklimmen
großer Dschunken die Kugel des Meeres herauf über die verschwebende
Horizontlinie. Hun-kang-tsun lag südöstlich. Kleine schläfrige Augen machte
Wang-lun, wand seinen Zopf auf.

Am zehnten Tage nach dem Erscheinen der Räuber im Hause des Generals
verlautete, die Hochzeit der Tochter mit ihrem Verlobten, dem jungen
Juen-ching, wäre vorbereitet. In dieser Nacht erwachte die Braut, weckte
Mutter und Dienerinnen, die in demselben Zimmer schliefen. Auffahrend im
Dunkeln hörten auch sie auf dem Gang draußen sonderbares Scharren und
Rumoren. Geraume Zeit wagten die Frauen sich nicht zu bewegen. Als das
Geräusch fortdauerte, stieß Hai-tang ein Fenster auf, gellte Angst in den
hinteren Hof, wo die Bewachung schlief. Fast im Nu flogen die Fackeln über
die dunkle Fläche her, das Haus scholl. Hai-tang lüftete die Türe und wich
zurück. In dem hellen Fackellicht stand ein breiter Tisch vor der Tür, der
aus dem Empfangssaale geholt sein mußte; die verblüfften Köpfe der Männer
steckten sich zusammen über dem feinen Zepter aus Gold, den silbernen
Ringen, den beiden Beutelchen aus Seide, dem Kästchen der gedoppelten
Glückszeichen. Ein Scharren tönte ganz nah; die Männer leuchteten unter den
Tisch; da schnatterten in einem Holzkäfig zwei rotbemalte Gänse und
schlugen mit den Flügeln, vom Licht geblendet, gegen die Leisten. Über
Nacht hatte jemand heimlich Brautgeschenke ins Haus gebracht; die schwarze
an der Wand stehende Fahne mit den Mingzeichen sagte, wer.

Die Diener erschraken nicht weniger als Hai-tang, die man dann ohnmächtig
in ihr Zimmer trug. Ihr Schluchzen und das Jammern der Tochter erfüllten
die Frauengemächer bis zum Morgen, wo sie sich ankleiden und schmücken
mußten für den Hochzeitstag. Chao-hoei fragte nicht, als die Soldaten und
Diener in der Nacht zurückkamen vom Durchsuchen des Geländes in der
Nachbarschaft; er wußte schon, daß sich nichts finden würde.

Die besten Astrologen der Stadt hatten sich widersprochen in der
Festsetzung des Termins, ja in der Frage, ob die Ehe dieser beiden zu
billigen sei; von fünf Astrologen fanden drei Tag, Stunde gut für die
Verbindung, ein vierter las aus den acht Schriftzeichen von Geburtsjahr,
Monatstag, Stunde der Verlobten das zweifelhafte Ehebündnis dritter Klasse;
der fünfte warnte dringend vor dem geplanten Termine; die Verlobten
gehörten zwar zu den harmonischen Elementen Metall und Wasser; aber die
Hochzeit erfordere einen Monat unter den Zeichen des Pferdes oder der
Ratte, nicht in dem verhängnisvollen Hundemonat. Die schreckliche Ehe der
fünf Dämonen müsse er berechnen.

Eine nebelverschleierte Sonne beleuchtete den Hochzeitstag. Von dem
hinteren Balkon des Hauses Chaos hing reglos eine Fahne aus roter Seide
herunter, bestickt mit den Charakteren: »Drachen und Phönix verkünden
Glück.« Die Ehrendame, eine ältliche Verwandte Hai-tangs, ärmelloses Gewand
und roter Schleier, bestieg am Nachmittag die einfache Sänfte; man trug sie
durch die Straßen, die eine größere Unruhe als sonst zeigten, weil Fischer
soeben berichtet hatten, daß ein Truppenkontingent aus vereinigten
Provinzialsoldaten Tschi-lis und Schan-tungs kaum eine Tagereise hinter der
Stadt stünde und in der Belagererarmee große Bewegung herrsche. Im Hof der
Sung-Familie war ein Zelt errichtet; drin speisten die Herren; die
Ehrendame im Hause weihte mit dem Duft von neun Räucherkerzen den
rotseidenen Brautschleier, füllte eine Vase mit Hirse, Weizen, Bohnen,
richtete das Brautbett. Unter dem Schall der Pauken, Trompeten und Gongs
legte ein Kind vier Äpfel auf die Ecken des Bettes, schützte das Zimmer mit
zwei Stückchen Holzkohle auf der Schwelle. Schon glitt die Dame wieder
hinaus, bestieg den Maultierkarren, gelangte im Geleit von Vorreitern,
Weghütern und Treibern weit vom Magnolienhügel im schweigenden starren
Hause des Zolldirektors Chao-sin, eines Vetters des Generals, an.

Hierhin hatte man in der grauen Frühe die Braut und ihre Angehörigen
getragen, um die Hochzeit in Heimlichkeit zu begehen. In der Sänfte flehte
Hai-tang den General an, die Hochzeit einen Tag zu verschieben nach dieser
grausigen Nacht. Aber Chao-hoei sagte mit drohenden Augen: »Nein.« Hai-tang
wußte, wie schwer sie ihm schon die Heimlichkeit der Hochzeit abgerungen
hatte, schwieg, wand die Hände.

Die zarte Nai stand vor ihrer Mutter, ein goldenes Wunder, bewegte sich
nicht in der überirdischen Kostbarkeit, die Hai-tang über sie gehäuft
hatte, purpurnes Hochzeitskleid mit den weiten Ärmeln, metallblitzendes
Diadem auf dem hochgetürmten Haar; die blauen Orchideen blühten auf den
Ärmeln, das zauberische Einhorn lief über die vorquellenden blaugrünen
Untergewänder, zwei Enten schwammen einträchtig über einen Teich; hell
zwitscherte der aufstrebende Phönix. Hai-tang herzte die Hände ihrer
Tochter, die aus ängstlichen Augen blickte; sie spielte lachend mit dem
duftenden Brautschleier, den die Ehrendame ihr gab; sie plauderte, sang der
Tochter das Lied vor, das sie neulich aus dem Garten gehört hatte. Da
näherte sich Musik; die acht Herren, die die Braut holen sollten, fuhren
vor. Laternenträger, Schilderträger, Musikanten voraus; sie trugen lustige
grüne Röcke mit roten Tupfen und flache Filzhüte. Viele Kinder sprangen auf
dem Hof herum; sie sperrten mutwillig vor den Herren das Tor; die klopften,
warfen ihnen Geldmünzen hinein, bis das Tor sich unter dem Kreischen und
Jauchzen der Kinder öffnete und die Musikanten eindrangen. Chao-hoei hatte
die Überwachung des Zuges in eigene Hand genommen trotz der Warnung
Hai-tangs, die gegen alle militärischen Maßnahmen war. Nachdem er im
Empfangssaale des Hauses mit den acht Herren gespeist hatte, ging er
hinüber in die Frauengemächer, in denen die Braut Abschied von ihrer Mutter
nahm, mit zuckendem Gesicht, fliegenden Lippen herumtrippelte und nicht zu
weinen wagte. Teppiche waren über die Stufen des Hauses in den Hof gelegt;
auf dünnen Sohlen rauschte die kindliche Braut neben ihrem Vater, der die
kaiserliche gelbe Ehrenjacke mit der Perlenkette trug; die Pfauenfeder
schwankte an der Mütze; in schwarzseidenen Stiefeln trat er auf. Vor den
Stufen umschlang er seine Tochter, trug sie auf den Armen herunter in die
geschlossene rote Sänfte; das Kind sah ihn demütig an. Ein Trompetensignal;
die Sänftenträger in blauen Jacken, gelben Hosen hoben an, langsam
schritten sie vorwärts; der Zug formierte sich und die helle Musik klang im
Echo von dem stolzen Hause nieder, das düster über die abendliche Stadt
blitzte. Chao-hoei folgte getrennt vom Brautzug in geschlossener Sänfte.

Zunehmendes Gewimmel in den Straßen. Dreißig Soldaten, zehn Berittene, die
Leibwache des Generals, eskortierten ihn mit Hellebarden. Es wurde dunkler,
während man sich über die Straßen schlängelte, durch die Märkte wühlte.
Laternen flammten. Die Trompeten wechselten ab mit dem Flötengesang.

Ohne Zwischenfall erreichte man das rasch aufgesperrte Tor des Juenhauses,
an dessen Eingang die festlichen Herren warteten. Aus der Mitte des Hofes
stieg weißlicher Rauch: über die glühenden Kohlen hoben die Sänftenträger
die feine Braut.

Da, während Diener im Begriff waren die Tore zu schließen, entstand ein
Getümmel der zuschauenden Menschenmasse, die stark mit Soldaten gemischt
war. Das Gedränge schleuderte ein paar vornstehende Frauen und Männer in
den Hofraum hinein. Sie versuchten, in den Haufen zurückzuschlüpfen,
wurden, da sie andere stießen, geschlagen. Heftiges Zanken und Kreischen
erhob sich am halbdunklen Tor, die Menschen schoben sich, indem sie sich
einmischten, in Erregung und Neugier über den Hof. Die Sänftenträger hatten
die Braut noch nicht an die Schwelle des Wohnhauses getragen, da
überfluteten die sich schlagenden gedrängten Männer den ganzen
teppichgeschützten Platz, keilten die Sänfte ein, rissen eine Anzahl der
geschmückten, vor der Tür harrenden Herren seitlich fort. In das strömende
Durcheinander hieben unter »Platz«rufen Soldaten und Polizisten mit Stöcken
und Peitschen. Viele drehten sich um, stolperten über die Teppiche, wurden
umgeworfen, glitten unter die Füße der Menge. Ein langer Soldat, der mit
seinem Stab blind auf Mützen und Schädel trommelte, wurde von zwei Männern
angegriffen. Man wand ihm den Bambus aus der Hand, mit spitzen Fingern
stachen ihm einige in die Augen. Auf den dumpfen Schrei: »Mord! Mord!«
bemächtigte sich einer gewissen Zahl der Menschen sinnlose Angst. An
mehreren Stellen sowohl der Straße wie des Hofes begannen Soldaten und
Bürger zu ringen, sich die Kleider abzureißen. Waffen kamen bei Fischern,
Lastträgern, gutgekleideten Spaziergängern zum Vorschein.

Die Berittenen und Soldaten des Hochzeitszuges, zusammen mit Chao-hoei an
die Hinterwand des Hofes gedrängt, dessen Tor zum zweiten Hof sie nicht
öffnen konnten, fällten luftschnappend ihre Hellebarden bajonettartig. Die
Berittenen spornten die Flanken ihrer geputzten Pferde, die von dem Gejohle
scheu gemacht, sich auf den Hinterbeinen aufrichteten, mit ihren Hufen die
Menschen niederschmetterten, auf den Körpern ausglitten, niederstürzend
Männer begruben. Im Moment war der leere Raum von fallenden, anklammernden,
brüllenden Menschen bedeckt. Vor den Hellebardenstößen suchten die
vordersten auszuweichen. Auf die rückwärtsstehenden aufgemauert krümmten
sie sich, die Leiber einziehend; sie wurden von der Menschenmenge, die sich
wie eine Gasblase ausdehnte, auf die Spieße geschoben, wenn sie sich nicht
hinwarfen und von dem Zentnergewicht der Pferde und Menschen ersticken und
zersplittern ließen.

Chao-hoei kehlte heiser im Winkel nach der Sänfte seiner Tochter. Der
letzte Berittene rief zurück, daß er einen roten Tuchhaufen und zerbrochene
Holzstangen in der Mitte des Hofes sähe, bevor er die Arme aufwarf,
seitlich mit seinem von unten aufgeschlitzten Tiere abkippte. Die
Hellebarden der Soldaten niedergetreten, die Blaujacken umfaßt und
verschlungen, zerrieben von der mit sich ringenden Menge.

Mit Krach barst das überlastete hintere Tor. Die Eingeklemmten, Chao-hoei,
taumelten, flogen rücklings über den zweiten Hof.

Auf der Straße, in der Mitte des Vorderhofes, bekamen die Männer die Arme
frei. Jetzt sah man zwischen sich die Zertretenen und Erstickten.

Horden von kräftigen Männern, an mehreren Stellen im Gedränge arbeitend,
schrien mit verbissenen Gesichtern: »Auf die Präfektur! Die Soldaten
nieder!« Dolche, Messer, Schwerter schwangen sie. Sie spannten und knickten
die Menge auseinander auf der Straße: »Die Soldaten morden uns!«

Bürger, der Liegenden, Niedergeschlagenen, Aufgespießten ansichtig,
stimmten, die Augen verdeckend, besinnungslos in den Ruf ein. Über die
Nachbarstraßen flackerte das entsetzte Geschrei. Gruppen rennender und
tobender, blutender, zerrissener, wutgetragener Männer und Frauen schlossen
sich zusammen. Überall krachten die eingetretenen Haustore auf unter den
Fußstößen der »Mord! Die Soldaten morden uns!« Heulenden.

Die Straßen lagen im Dunkeln.

Aus allen Straßen schäumte es.

Die fernere Stadt erwachte. Über den Präfekturmarkt hallten die Schreie
zuerst. Einzelne Menschen schossen wie Bälle aus den Seitengassen. Dann
warfen die Straßen größere Fetzen einer Menschenmenge über den ungeheuren
Platz. Schließlich stand diese Menge selbst, gleichzeitig aus allen
umliegenden Straßen aufwachsend, ein tausendarmiger Buddha schwarzen
Gesichts vor der stummen Präfektur, dem Gefängnis, der Stadtkaserne.

Trübe Laternen glommen verstreut, schwammen wie Boote über eine Brandung.
Die stummen Gebäude umgürteten den rotäugigen Buddha, dessen Leib schwoll;
sie stachelten in seine Haut. Die Fackeln näherten sich, gierige Wölfe den
Höfen, den Torhäusern der Präfektur.

Bevor noch die Flamme, die im Jamen schmauste, den weißen Kopf aus dem
Fenster steckte, hatte man das Gefängnis erbrochen, die Eingesperrten
losgerissen.

Tang-schao-i erkannt, im Nu erwürgt und zerfleischt.

Das wollüstige Juchzen, das die unsichtbaren Mörder anstimmten, den Kopf
des Tao-tai auf eine Polizeistange gestoßen, hetzte die entfernteren, die
ungesättigt im Chor »Feuer! Niederschlagen!« riefen. Als der weiße
Flammenbogen über das Präfekturdach und den Torweg des Gefängnisses stieg,
tanzte der besessene Riese, johlte gleichmäßig, verzückt, brünstig: »Feuer!
Feuer! Niederschlagen! Zerreißen!« Mit den Armen rissen sie aneinander,
kletterten sich auf die Schultern.

Frauen, aufgesogen von dem vorüberspritzenden Menschenstrahl, verdrehten
die Augen, zerrten sich Kämme aus den Haaren, röchelten, suchten sich zu
entkleiden, zogen einen weißen Schaum durch die mahlenden Zähne. Ihre
Pupillen wurden klein wie Punkte. Sie hantierten an den Schultern und
Nacken von Brüllenden, die sich mechanisch abwischten. Hie und da hing sich
ein schlanker Mann, ein zarter, erschreckter einem Fremden um den
schweißigen Hals, seufzte widerstrebend, als die blaugrüne Flamme in
breiter Ausdehnung aus den Brüsten der Menge brach: »Wie schön, wie schön.«
Schon flackerten seine Arme wie der hitzige Schein. Er war mit walzendem
Gehirn in den steifen strengen Drang hineingenommen.

Die Luft über den Köpfen brodelte.

Innerhalb der westlich auf dem Platz gelegenen Kaserne sperrten zweihundert
alarmierte Soldaten den Torweg. Beim Knistern der Holzspalten dicht über
sich schmissen sie Bogen und Säbel hin, sprengten gegen den Ruf der
Offiziere die Tür. In dem schmalen Eingang entspann sich das Würgen. Die
Menge schraubte sich auf die Höfe.

Von Zeit zu Zeit verhüllte der Qualm das große Licht der Dächer. Dann
leuchtete die Flamme, plötzlich den grauen Mantel ablegend, über den Markt,
entlarvte die tausend verzerrten Tiergesichter, die die schwarze Nacht
versteckte.

Sechs Rotten stürmten die breiten Straßen nach Norden herauf; von dem Lager
und der Mauer trommelten die Kompagnien herunter. Trompetenstöße,
Handgemenge in finsteren Straßen. Von Dächern und nahen Hügeln hauchende
Pfeilschüsse, sausende Speerwürfe in die gebäumte tolle Menge. Die Massen
stauten sich. Neue Kompagnien bullerten von Norden her, pfählten sich in
die Aufrührer, schwangen sich auf die niedrigen Dächer, schossen in langen
Reihen, Straße über Straße bildend auf den Markt. In die kürzeren Pausen
des Johlens klang ein fernes, wildes Blasen, Schurren, Rumoren; ein
Bergrutsch: die Rebellen draußen berannten die Tore. Unbarmherzig drängte
die Masse nach Norden, zerrieb sich an der Barriere der Soldaten.

Als das blitzartige Hinsinken der Pfeilgetroffenen begann, spie man in die
Richtung der Soldaten. Dann dehnte man sich unter Wutgeheul nach den
südlichen Ausgängen, zertrümmerte, was in den Weg kam. Verwundete
bröckelten ab, von der Masse losgelassen. Sie warteten nicht, bis der
Hauptzug, von den Kompanien zurückgeschlagen, über den qualmdicken Markt
zurückhetzte, und das Brausen der Soldatenrufe und die steinernen
Trommelwirbel das Gröhlen, die Hetzrufe, Pfeifen überschallten.

Der Kampf von Gruppen auf Markt und Seitenstraßen dauerte eine Stunde. Die
Kaiserlichen, im Besitz der nördlichen Stadt und des Marktes, protzten auf
vor den verrammelten südlichen Zugängen. Heftiger krawallte es von der
westlichen Mauer.

Am nächsten Morgen schwangen die siegreichen Belagerer auf dem größten
Umfang der Mauer die schwarzen Fahnen, in ihr eigenes Lager marschierte
aber die Vorhut der Provinzialarmee ein. Der entscheidende Kampf dieses
Tages vollzog sich in den ersten Vormittagsstunden. Die an Zahl schwächeren
Aufständischen wurden von den frischen regulären Truppen nach dem härtesten
Ringen geworfen. Sie flohen südöstlich, geführt von Wang-lun und der Gelben
Glocke.

Am Nachmittag fand ein wenig rühmlicher Kampf zwischen den alten
Ilisoldaten, die durch Provinzialmannschaften verstärkt waren und den
städtischen Aufrührern statt. Auch die Piraten nahmen an dieser Phase der
Schlacht teil, indem sie zunächst die Dschunken der Flüchtigen zum Kentern
brachten, dann an Land steigend einen kleinen Teil der verzweifelt
Kämpfenden umstellten und gefangen nahmen.

Chao-hoei wurde bei diesem nachmittaglichen Endgefecht von
Provinzialsoldaten im zweiten Hof des Juen-Hauses aufgefunden. Er lag in
einem Schuppen auf dem Gesicht, mit Quetschwunden beider Arme und Hände, in
einer Art Schlummer oder Verwirrtheit. Er kam zu sich. Man trug ihn durch
die verwüsteten Straßen in einer Mietssänfte in sein Haus.

Wenige Stunden später brachte man auf grauverdeckter Bahre die Leiche der
jungen Nai, die erstickt, dann zur Unkenntlichkeit zertreten war.

Das Kampfgetöse entfernte sich von der Stadt.

Rote Fahnenstangen grub man in die Erde vor Chaos Haus, die totenlockenden
Seelenbanner spannte man daran auf. Auf dem Podium des überdachten vorderen
Hofes stand der offene Sarg mit der Leiche. Blaue Schuhe, bestickt mit
Pflaumenblüte, Kröte, Gans, sahen unter der kostbaren gelben Decke hervor,
die das zerschmetterte Gesicht bedeckte. Die Gebetsformeln des Stoffes
überschütteten die Tote. Um den Hals unter dem Leichentuch hatte ihr
Hai-tang eine goldene Kette mit einem winzigen Glaskrug geschlungen, ein
Briefchen in den Krug geschoben; in dem nannte sie den Namen der Liegenden,
ihrer Sippe, ihr Alter. Sie beschrieb die Schönheit, Wohlerzogenheit und
Unschuld, das Schicksal, das sie erlitten hatte. Die Geister mögen sie
herzlich aufnehmen und mögen sich nicht beklagen, daß sie nicht mehr den
Boden des mittleren Blumenreiches beträten.

Die weißgekleideten Gäste erschienen am Nachmittag, warfen sich vor dem
Libationstisch am Fußende des Sarges dreimal nieder auf die Stirn; Pfeifen
schrillten, der Gast spendete den Wein, Paukenschlag, Klirren eines
einzelnen Gongs, Stille. Zwei lamaische Priester im gelben Mantel,
goldgeschmückte Tiaren auf den Schädeln, sangen Litaneien, Weihbecken
schwingend. Vor dem Magnolienhügel verbrannte man abends die schönen
papiernen Sänften, den Silberschrein, die Flitterkleider, das Schatzhaus,
Lauten und Geigen, die Lieblingsbücher der Braut, damit sie sie über den
Nai-ho mitnehmen könnte.

Als der dritte Tag nach dem Tode gekommen war, wo die Seele noch einmal
zurückkehrt, hasteten Chao-hoei und Hai-tang lange Stunden unter den Ulmen,
lüpften die Ecken, wippten die Äste auseinander, riefen die Entschwundene
bei allen Kosenamen, jammerten, schrien, fielen sich in die Arme,
klammerten sich lauschend an die Gartenpfoste, liefen stöhnend jedem
Vogelruf nach, stiegen auf das Dach des Hauses. Sie solle wiederkommen, die
schlimmen Menschen seien fort, ihr Bräutigam erwarte sie. An ihrem Zimmer
sei nichts verändert, Bücher und Lauten lägen herum, die Freundinnen
weinten und wollten sie wiederhaben; die Feinde seien alle geschlagen und
nun zögen sie wieder nach dem sonnigen Hia-ho. Oh die Thujen da, die
Ziwitbäume, die Fächerpalmen, wenn sie daran dächte, die weiche warme Luft,
und die Bananenstauden. Kein Mosquito würde sie beißen. Boot, kleines
buntes Boot sollte sie fahren, wenn sie bei ihrer Mutter bleiben wollte; ja
sie könnte bleiben, sie müsse bleiben, sollte nur wiederkommen. Um Hing-hoa
stünden sie, Seen voller Rosen, die blühten und dufteten; man wolle wieder
fort von hier, kommen, kommen, kommen sollte sie! Zu ihrem Vater! Zu ihrer
Mutter! Nai! Ob ihr Seelchen in das Haus kommen wollte, oder unten in den
Garten oder wohin? Nai! Nai!

Die Müdigkeit lähmte die Knie; sie tasteten sich in ein Zimmer, sanken auf
eine Bank. Wieder rafften sie sich auf, schleppten sich fort, suchten,
wehten mit Puppenfähnchen, reckten die Hälse, schrien, schluchzten.

Mit winselnden Pfeifen, monotonen Trommeln zogen am Morgen des Begräbnisses
die Knaben vor das stolze Haus; Musik raschelte an den Mauern wie die
unsicheren Hände eines schwindsüchtigen Fieberkranken; ein überlauter
Gongschlag warf sie immer hin.

Zwölf Sargträger, wesenloses Grau und Weiß huschten heran, bemächtigten
sich still des mit weißen Tüchern und Bändern überhäuften Sarges.
Wehklagen, Kreischen, Stöhnen der Gäste im Hof. Das Haus verlassen, das
Podium leer. Das lange blaue Seidenbanner der Sippe Chaos führten
vierundzwanzig Träger; durch das Tor schlüpften noch hinterher die Träger
der Schirme, der viereckigen Mondfächer, der Fähnchen und Hellebarden. Die
Mehlkügelchen für die obdachlosen Geister flogen in den Staub am Weg.

Hai-tang spielte mit der Pipa der kleinen Nai im Zimmer der Toten. Ihre
Haare hingen. Das Gesicht ungeschminkt. Sie drehte das Instrument hin und
her.

An denselben Tagen fuhr man auf großen Lastwagen die gefangenen Bündler vom
Markt auf die Richtstätte vor die Stadt. Die kleine Nai lag schon in ihrem
Hügel, als die Soldaten auf schweren braunen Pferden dem unabsehbaren Zug
der schwankenden Delinquenten voranritten, durch die Mauer in den sandigen
Talkessel. Posaunenstöße vom Markte. Die Wahrhaft Schwachen und die
Anhänger der Weißen Wasserlilie, fast hundertundfünfzig, trugen hölzerne
Fußfesseln; auf ihre Rücken waren Kaoliangrohre gebunden, mit Papier
umwickelt, die die Namen des Verbrechers anzeigten. Die Ochsenwagen
ratterten durch die Straßen; die Brüder lächelten herunter und winkten mit
den Händen den Städtern zu, die ihnen Reisschalen, Tassen mit Wein
hinaufreichten. Sie sangen vom Westlichen Paradies. Von allen Seiten lief
man hinzu, zeigte sich die Freunde, Bekannten, weinte und wagte nicht zu
fluchen auf die Sieger. Draußen umwogte den Richtplatz eine ungeheure
Menschenmenge, die Reiter mit flachen Säbeln und Polizeistöcken in Ordnung
hielten.

Die Ochsenwagen fuhren an; der Gesang verstummte. In Reihen zu zwanzig
hüpften sie hintereinander.

Schon tauchte in ihrem Rücken der Henker auf mit nacktem Oberkörper; den
Knauf des zweischneidigen Richtschwertes mit den Händen umschließend,
schwang er es hoch, daß sich sein Körper auf den Zehen erhob;
niederschmetternd, sich krümmend und von der Wucht seitlich fortgezogen,
trennte er Köpfe von Rümpfen.

Zwei senkrechte armdicke Blutquellen; der Kopf rollte, zwinkerte mit den
Augen. Der Mund schnappte. Der noch knieende Rumpf schnellte mit einem Satz
nach vorn, fiel hin.

Die Soldaten im weiten Umkreis spannten ihre Bogen teils auf die Rebellen,
teils auf die finstere Menschenmenge.

                   *       *       *       *       *

Auf die Meldung des großen Sieges erhielten die Gouverneure von Tschi-li
und Schan-tung die zweiäugige Pfauenfeder. Mit den Dekreten Khien-lungs
traf sein eigenhändiger Brief an die Führer ein, in dem er die vollkommene
Ausrottung der Rebellen und Ketzer befahl. Wie großes Gewicht Khien-lung
auf die gründliche Erledigung der Angelegenheit legte, erhellte aus den
Ernennungen, die er für den zweiten Teil des Feldzuges anordnete; er
stellte den Feldherren den Präsidenten des Zensorenhofes, Sza-hoh, und den
kenntnisreichsten und belesensten seiner Schwiegersöhne
Zoh-wang-tao-roh-tsi als Berater zur Seite. Ferner ließ er in Solon und
Kirin tüchtige mandschurische Bogenschützen in großer Zahl anwerben, die
nach ihrer Aushebung sofort auf den Kriegsschauplatz rückten.

Die geschlagenen Bündler flüchteten durch das südliche Tschi-li, traten in
das Bergland von Schan-tung, sammelten sich an mehreren Gebirgsorten, wo
sie neuen Zustrom erfuhren. Sie stiegen geordnet in die Ebene des großen
Kanals, den sie überschritten. Die kaiserlichen Truppen, nördlicher und
östlicher stehend, konnten nicht verhindern, daß Wang-luns Anhänger in
einer blinden Zerstörungswut die Stadt Sou-chong nicht ganz zwei Wochen
nach dem Fall Schan-hai-kwangs ansteckten, zwei weitere Distriktsstädte
besetzten, schließlich die ummauerte Stadt Tung-chong belagerten und
einnahmen. Diese Orte grenzten dicht an Tschi-li; ihre Eroberung gefährdete
die Grenzdepartements Kwan-ping und Ta-ming; der Tsong-tou erhielt Befehl,
diese Gegend zu decken.

Wang-lun lag in Tung-chong am Kaiserkanal. Alle Rebellentruppen waren
konzentriert in einem Umkreis von zwei Tagesmärschen. Der sengenden Hitze
folgten Regentage, Sturm. In dem prasselnden Wetter warfen die Bauern die
zweite Saat. Der Handel dieser reichen Gegend stand still, der Verkehr auf
dem Kanal abgeschnitten. Die Rebellen in einer rasenden Betriebsamkeit
zündeten alle umliegenden Dörfer in Brand. Den kommenden Anmarsch der
Regulären hemmten sie durch das Ziehen mächtiger Querwälle, in die sie
Kanalwasser leiteten. Die Hauptstraße unterwühlten sie; haushohe Hecken-,
Bambus- und Sandbarrieren richteten sie von Strecke zu Strecke auf. Die
Wachtürme, die durch aufsteigenden Rauch Signale geben konnten, trugen sie
ab. Bauern, deren Anwesen sie nicht zerstörten, leisteten Frondienste.

Vormittags saß Wang im Magistratsjamen von Tung-chong und hielt Gericht.
Die letzten Siege hatten das Heer erfrischt; man lebte im Kriege, man wog
Siege und Niederlagen. Glück und Unglück hing an den schwarzen Mingfahnen;
mit Zärtlichkeit und Entschlossenheit hielt die Masse des Heeres zu ihnen.

In diesen Tagen bot Wang-lun, sitzend auf dem Ofenbett des Gerichtszimmers
im Jamen von Tung-chong, seiner regsamen Umgebung ein vielfach wechselndes
Bild von Heiterkeit, Entflammtheit und Entrückung. Man kannte dies
Verhalten an ihm schon seit der Pe-kinger Schlacht, nur daß die
Auffälligkeiten des Zustandes zunahmen; einige behaupteten sogar, daß er
mitten in den Kämpfen den Ernst verliere, Soldaten der Feinde die Mützen
abrisse, sie auf seinen Gelben Springer stecke, mit den Angreifern wie eine
Katze spiele, unbekümmert um den Stand des Gefechtes. Wie sehr er in die
Eigentümlichkeiten des Kriegslebens versank, zeigte auch seine
Ungeniertheit im Verkehr mit den Weibern der eroberten Städte. Wang nahm
sich, was ihm gefiel, während er strenge Zucht über die Wahrhaft Schwachen
übte. Er bat oft einen oder den andern seiner Freunde um Entschuldigung
wegen seiner Liederlichkeit; sein Verhalten sei vielleicht lächerlich, aber
man solle nicht schlecht davon denken; es solle sich niemand einfallen
lassen, schlecht davon zu denken. Er fühle sich eigentlich recht glücklich
und zuversichtlich; er hoffe, es werde alles noch besser gehen; längere
Gespräche mied er; er mied auch die Unterhaltung mit der Gelben Glocke.
Ngoh, der Sou-chong hielt, ekelte und graute vor Wang; sie hatten,
abgesehen von den dienstlichen Mitteilungen, keinen Verkehr miteinander.
Oft bemühte sich die Gelbe Glocke, Aufklärung von Wang zu bekommen. Als ihm
Wang auswich, ging er in schwerer Beklemmung, in heftiger Trauer umher. Er
hatte den unklaren Wunsch, Wang zu trösten und vor irgend etwas zu
bewahren. Die Besorgnis der Gelben Glocke um Wang war so stark, daß er
einige zuverlässige Leute beauftragte, den eigentümlichen Mann zu
beobachten und ihm zu berichten; aber er konnte diese peinlichen Berichte
nicht anhören und wußte sich in seiner Angst und seinem Mitleid nicht zu
helfen.

Einmal brachte man vor Wang in das Jamen einen Räuber, einen zerlumpten,
finster blickenden Halunken, der sich als Wahrhaft Schwacher vor Bauern
ausgegeben hatte und dann, eingelassen, über die Wehrlosen hergefallen war;
vielleicht zehn Fälle schweren Raubs in der nächsten Umgebung Tung-chongs
waren ihm nachgewiesen. Wang fragte den starkknochigen, nicht mehr jungen
Gesellen, woher er stamme. Der kniete und schwankte viel seitlich, weil man
ihn, um Geständnisse zu erzwingen, nachts einige Stunden auf sechs dünnen
Kettchen hatte knien lassen. Er seufzte und bat, ihn freizulassen; er sei
unschuldig, man habe ihn verwechselt. Dann, den vertieften Blick seines
Richters auf sich gerichtet sehend, bat er dringender mit Händeausstrecken,
ohne Wangs Fragen zu beantworten. Schließlich sagte er, er sei der Sohn
eines Pastetenbäckers aus Tiang-chong; früh wäre er dem weggelaufen, weil
er sich nicht für die Bäckerei geeignet hätte, er könne nämlich keine Hitze
vertragen, auch jetzt nicht; es sei ein unglückliches Geschick. Und dann
log er weiter, bis er schließlich von der Rebellion sprach, wie er mit den
Bündlern sympathisiere; er verplapperte sich, indem er angab, daß ihn
manche Bauern für einen frommen Bruder gehalten hätten. Er mußte auf den
Wunsch des Richters aufstehen und von einem der Häscher geführt in der
Halle auf und ab spazieren. Mit schiefen Blicken, oft zusammenknickend,
beobachtete der Verbrecher seinen sonderbaren Richter, der ihm unverwandt
nachblickte.

So alt wie dieser war Wang auch; dieses Schicksal also hätte er gefunden
ohne den und jenen Zwischenfall, ohne Su-koh in Tsi-nan, ohne das Elend auf
Nan-ku und anderes. In Tsi-nan ging er herum wie dieser; jetzt schleppte
man den Halunken hier; er hätte es vielleicht nicht so dumm gemacht wie
der, aber einmal, einmal wären auch ihm die dünnen Kettchen unter die Knie
ausgebreitet worden.

»Wenden!« rief Wang, »weitermarschiert!«

Ein verhungerter Bursche mit Klauen und Armen, wie ein Affe, zahnloses
Maul, dürre Waden; er konnte klettern wie er lügen konnte. Sein Bruder,
sein Bruder! wie gelogen, so wahr geredet; kein Wahrhaft Schwacher, aber
sein Bruder.

Erstaunt besah sich Wang den Mann, sah sich nicht satt an seinen Lumpen,
verglich seine eigenen Hände mit denen des Strolches; beobachtete ganz
insgeheim den Häscher, ob die etwas merkten und sich auch wunderten, daß er
hier oben saß und nicht selber da unten ging. Nein, man merkte nichts. Ob
man nicht die Rollen vertauschen sollte, war der Halunke nicht zu beneiden?
Verflucht sollten Su-koh und Nan-ku und alles sein, daß sie ihn bezwungen,
weggerissen von seinem Wege hätten. Wer solch großes Maul haben und so
scheel blicken könnte!

Nachdem der Verbrecher mehrmals vor dem Ofenbett auf und ab geschleift war,
ließ Wang den Glücklichen, ununterbrochen sich Verneigenden ohne Strafe ins
Gefängnis zurückschaffen.

Bei Einbruch der Dunkelheit schlich Wang in den Gefängnishof, wies die
Aufseher beiseite, setzte sich neben den grinsenden Mann, der an den Füßen
gekettet freudig seinen Gast umhüpfte. Statt ihn auszufragen, fing der
Richter im Gaunerkauderwelsch mit ihm zu flüstern an, so daß der Gefangene
erst stumm, erschreckt zurückwich, dann vergnügt einfiel, denn er wußte
schon, wie gemischte Elemente zu den Wahrhaft Schwachen strömten. Der
Gefangene erzählte witzige Geschichten von den singenden Brüdern und gar
den aberdummen Schwestern, die die unglaublichsten Tiere seien; sie faßten
zusammen einen Plan zu fliehen, den einen jungen Aufseher zu bestehlen und
zunächst draußen den Bauern einen Denkzettel zu geben, die den Verbrecher
festgenommen hätten. Der Gauner kam ins Schwatzen und Wang hörte zu; sie
schlugen sich flüsternd die Schenkel. Sie mußten sich beiseite setzen, die
andern Gefangenen kamen angehüpft und wollten an der Unterhaltung
teilnehmen. Als Wang die zudringlichen Fratzen der Männer sah, die
verstümmelten Nasen, Ohren, wurde er rasch stiller. Er hörte über das
hastige Geplapper seines Nachbarn weg, starrte die grausigen, lachenden,
struppigen Köpfe an. Beängstigt stand er auf, gab dem Verbrecher ein paar
gute Worte, ging auf die Straße. Ihm fror der Magen; seine Därme stiegen
ihm zum Zwerchfell. Durch die morastigen Straßen, in denen selten eine
Laterne vor einem Hause brannte, hastete er; kleine Patrouillen liefen an
ihm vorbei.

Nicht Verbrecher sein, kein Mord, kein Mord! Wie soll man das ertragen, zu
morden! Helfen den andern, verstümmelten, helfen! Ihre Gesichter wieder
gutmachen! Nan-ku, widerstreben, nicht widerstreben, das Schicksal
besänftigen! O, diese waren schlecht und arm, sie sollten zu ihm kommen;
dann brauchten sie nicht auf Ketten knien, nicht in ihrem Kot liegen, nicht
die lange Rute dulden. Sein Bruder, seine Brüder, o, so wäre er geworden!
Nicht morden, nicht morden!

Er gab am nächsten Morgen Befehl, keinen gefangen zu nehmen, auch die
Gefängnisse alle zu entleeren. Wer von Verbrechern, die ergriffen würden in
den Städten und der Umgebung, sich bekennen würde zum Wu-wei und gegen die
Mandschus kämpfen, sollte in den Bund aufgenommen werden. In lebhafter
Unruhe herumgehend schickte er mittags zu der Gelben Glocke, der eilig kam.

Wang erwartete den graubärtigen Offizier vor der Tür seines Jamens, zog ihn
in das Haus, griff wortlos nach seinen Händen, umarmte ihn: »Wäre Ma-noh
noch am Leben, würde ich zu ihm schicken; du müßtest dabei sein. Ich will
dir bekennen: heute nacht habe ich die armen Verbrecher im Gefängnis
besucht, aber ich kann nicht mehr Verbrecher sein. Ich hoffte es noch
manchmal, aber es ist ein Irrtum von mir; das sind alte Geschichten, man
wird nicht wieder jung. Ich habe sie im Gefängnis gesehen mit den
abgeschnittenen Nasen, Ohren; sie haben nach mir gespuckt; o, giftig
blicken sie. Du hast das noch nicht gesehen, Gelbe Glocke. Such dir einen
aus, sieh ihn dir an, dann wirst du, wirst du mir recht geben, daß diese
Menschen schrecklich, schrecklich sind. Ich weiß nicht, wie man schlafen
kann, wenn man denkt, daß es so schreckliche Menschen gibt. Und wie ich es
selber über mich brachte, einmal zu morden. O, sind dies Unglückliche,
lieber Bruder, sind dies Arme; vom Mord laufen sie ins Gefängnis, vom
Diebstahl legt man sie an Ketten, schlägt ihre Fußsohlen, schneidet ihnen
Stücke Fleisch aus, brennt ihre Ohren ab; und wenn sie dann leben bleiben,
dann rauben sie wieder, und sie wissen gar nicht, was man von ihnen will,
wie das enden soll, warum alles so sonderbar zugeht: Mandarinen da, und da
Kaiser, und da Bauer, und da Verbrecher. Ja wie soll das enden? Ich habe
mein Wu-wei beschworen, damit ich mir und ihnen helfe; es sollte dann gut
sein; alle auf Nan-ku haben es mir geglaubt und es ging vielen so gut. Ich
will doch kein Königreich gründen; stoßen, schlagen könnte ich mich, so
vergeßlich bin ich. Für sie und mich ist das Wu-wei gestiftet, und ich will
uns untergehen lassen.«

Die Gelbe Glocke nahm Wangs Arm von seinen Schultern; sie hockten zusammen
auf eine schmutzige Binsenmatte an der Tür; Wang hob die Arme nach den
Wänden: »Die goldenen Buddhas müßten hier stehen, wie bei Ma-noh in der
Hütte; die milden Götter sagen alles und nur gutes. Bin ich nicht wieder
auf Nan-ku? Ich möchte wieder ganz in Weichheit, in Ruhe auf Nan-ku sein
unter den Brüdern.«

Die Gelbe Glocke sprach mit einer zitternden Stimme:

»Hat es sich so gewendet in dir, Wang? Ich habe so um dich gefürchtet. Du
konntest uns leicht verloren gehen, dachte ich. Ich dachte es nur. Ich bin
ja glücklich für dich und für mich. Was fehlt dir noch?«

»Alles, lieber Bruder. Ich habe dich darum rufen lassen! Was hab ich nun,
sag mir, inzwischen getan, seit ich von Nan-ku herunterkam? Ist das gut
gewesen? Wie soll ich mein Leben verstehen?«

»Ich weiß es nicht, ich hab nicht alles gesehen, was du getan hast.«

»Das Wu-wei ist gut. Das kann mir niemand entreißen. Ich habe solche Angst
um mich, Gelbe Glocke, daß ich den Weg verfehle. Und die Gefangenen sollen
alle mit mir kommen, ich muß für sie sorgen.«

Der andere begütigte Wang; er mußte den Mann in der Halle herumführen; das
Schicksal des Heeres sei gleich, das Wu-wei würde nicht untergehen.

Als sie wieder auf der Matte saßen, schwieg auch Wang bald, der sich
anklagte. Nach einer Pause sagte die Gelbe Glocke leise, aus einer
Versunkenheit auftauchend, er wolle seinem Bruder eine Geschichte erzählen.

»In einem Dorf der Provinz Tschi-li soll einmal eine Familie Hia gelebt
haben. Hör mir ruhig zu, Wang, es ist eine Geschichte, die dich angeht; sei
ruhig, lieber Bruder, ich will dir ganz meine Meinung sagen und dir helfen.
Die Frau tat ihre Arbeit auf dem Feld, sie ging mit den Ochsen in der Frühe
hinaus und pflügte. Ihren Mann liebte sie. Eines Morgens, bevor sie
aufstand, kam aus der Wand ein scharfes Flüstern: 'Dein Mann trinkt Wein in
der Schenke; er hintergeht dich mit deiner Nachbarstochter; er möchte sie
zur Nebenfrau.' Ihr Mann nahm sie in die Arme, bevor sie aufs Feld ging,
und küßte sie; sie faßte ihre beiden Kinder bei den Händen an und sie saßen
mit ihr auf dem Feld. Die Ochsen brüllten; die Frau spielte mit den Kindern
und ging nicht an den Pflug. Um Mittag wanderte sie mit den Kindern wieder
nach Hause; leidenschaftlich herzte sie ihren Mann, sagte, daß sie sich
krank fühle. Er mußte sich die Schürze umbinden, den Strohhut aufsetzen und
pflügen. Sie setzte sich auf ein verfallenes Grab hinter dem Haus, dachte,
wie die Männerliebe von Reisig und Stroh sei, weinte erbärmlich, und sann
auf Trost. Mit entschlossener Miene erhob sie sich: 'Tu mir ein Liebes an,'
betete sie zu einem Buddha, 'rette mich.'

In der finsteren Nacht schlüpfte sie von ihrem Lager herunter, nahm mit
Winken der Hände Abschied von dem schlafenden Mann, mit Streicheln von den
leise atmenden Kindern, ging in die blaue Nacht hinein, über ein breites
Kohlfeld, und hinter einem weiten Brachacker stand ein Berg, in dessen
steile Seitenwand die Treppe eingeschnitten war, auf der man in bestimmten
Monaten zum Buddha kommen konnte. Es mußten schon andere aus dem Dorf diese
Nacht hinaufgestiegen sein, denn während sie kletterte, bemerkte sie
frische, erdige Fußtapfen. Ihr graute, weil die Treppe kein Ende nahm und
sie fürchtete schwach zu werden. Sie trat und trat; sie holte andere ein;
mit einem Mal glitten sie eine kleine Strecke tiefer und wurden dann von
einem Schwung höher und höher getragen, ohne die Füße auseinanderzunehmen.
Auf der Plattform saß der Gott mit angezogenen Knien auf einem Esel; zwei
Männer mit Schirmen, Fächern und Laternen standen hinter ihm, und hielten
den Esel beim Zaum, machten freundliche Gesichter. Auch der Gott lächelte;
er hatte ein schmalausgezogenes Gesicht mit einem Ziegenbart; die Füße
versteckte er in seinem grauen Obergewand. Die Frau stellte sich ganz
zuletzt und wartete gesenkten Gesichts. Als die Männer ihr zuwinkten,
schlich sie zögernd näher in den Lichtkreis; der Gott legte seine dünne
Hand, die wie aus weißer Jade vom Laternenlicht durchschienen wurde, auf
ihr Haar und fragte sie, indem er sie aufforderte, den Rücken ihm
zuzuwenden und dann zu sprechen. Stockend redete sie, wobei ihr wurde, als
ob auch sie aus durchsichtiger Jade war. Sie kehrte sich dem Gott wieder
zu; er bückte sich, flüsterte ihr ein sonderbares Wort ins Ohr, sagte
leise, nun könne sie wieder nach Hause, es sei gut. Sie legte die Hände vor
das Gesicht, stand eine Weile, bis einer der beiden Männer sie an die
Treppe führte.

Nun verging ein ganzer Sommer, bis die Frau, die nur manchmal noch aufs
Feld ging, sich häufiger abermals auf das Grab setzte, ihre Kinder an sich
zog und schließlich am Ende der Ernte wieder nach der Treppe wanderte. Das
Steigen tat ihr wohl; ihre Füße schmerzten, das machte ihr Behagen; es
schien ihr, als ob sie die ganze Nacht in die Höhe stieg. Sie ging ganz
allein; es war nicht der Monat, in dem man den Gott aufsuchen durfte, aber
sie sah dem ernsten alten Wächter oben ins Gesicht und verlangte zugelassen
zu werden; sie habe ein Recht dazu, das ihr niemand bestreiten dürfe. Er
führte sie traurig auf die dunkle, ungeheure Plattform, sagte, der Gott
wäre da, sie sollte nur sprechen. Sie schrie sofort, nannte ihren Namen,
klagte den Gott an, daß er ihr nicht geholfen habe. Er antwortete von
ferne: 'Was willst du von mir, Frau?' Da rief sie: 'Nicht du hast zu
fragen, sondern ich. Ich wollte sterben. Aber du hast mir ein Trostwort
gegeben, hast mein Leben verlängert. Was willst du von mir? Darum komme ich
zu dir. Ich bin die ganze Nacht gelaufen, um dich dies zu fragen.' Hart,
ganz in ihrer Nähe fragte die Stimme: 'Wo hast du deine Kinder? Wer hat
dein Hirsefeld im Sommer bestellt?' 'Mir sollst du helfen; meinen Kindern
geht es gut; mein Hirsefeld kümmert nur mich.' 'Das Wort hat dir nicht
geholfen, weil du widerspenstig warst, Frau.' 'Du hast mich an der Nase
herumgeführt im Sommer, du bist ein sauberer Gott.' 'Frau, du hast deinem
Mann und dir nicht helfen wollen.' Sie brach in Gelächter aus: 'Und das
nennst du noch Trost?' Sie sprach kein Wort weiter. Vor einem Runzeln
seiner schmalen Stirne, die sich dicht vor ihr aufstellte, schrumpfte sie
zusammen, sauste als ein zackiger Stein den Abgrund herunter bis zum Beginn
der Treppe, wo sie aufprallend in die Wolken stieg. Sie tauchte zwischen
den Sternen unter, schwirrte als ein Meteor mit den Schwärmen heimatlos vor
den Wolkentüren. -- Hast du mich verstanden, Wang-lun?«

Der saß mit gesenktem Kopf und nickte: »Ich habe einen Wink bekommen und
soll ihn annehmen. Ich schlage dem Schicksal nicht ins Gesicht; aber glaube
mir, Gelbe Glocke: Entschlüsse helfen dem Menschen nichts, wenn er unruhig
ist. Man bezwingt mit Entschlüssen nichts in sich. Es muß alles von selber
kommen.«

Er hob plötzlich sein ernstes Gesicht zur Gelben Glocke: »Du freust dich
über mich. Und ich freu mich, weil ich heute diesen Wink bekommen habe und
weil es mir wieder gut gehen wird. Ich fühle, lieber Bruder, es wird mir
wieder gut. Ich fange wieder an Menschen zu lieben. Was für ein
Durcheinander habe ich erlebt, jetzt kann ich wieder aufstehen und ruhig
gehen und unser Wu-wei auf den Händen tragen.«

»Weh uns, Wang, daß wir es auf den Händen tragen müssen, mit Schwertern,
mit Beilen. Weh ihnen, die uns Arme, Gute angreifen.«

»Es soll uns nicht kümmern, lieber Bruder. Sie machen das Wu-wei nicht
schlecht. Wir, nur wir gehen den richtigen Weg, der auf den Gipfel der
Kaiserherrlichkeit führt. Ich will leben, so lang ich darf unsere gute
Lehre verteidigen. Diese Nacht wollte ich euch verlassen mit dem
Verbrecher. Ich will diese Nacht nicht vergessen, in der ich zum zweiten
Male auf dem Nan-ku-paß gesessen habe.«

Die Gelbe Glocke hielt immer streichelnd Wangs linke Hand: »Dies bist du,
so wollte ich dich kennen, so bist du, lieber Bruder. Das Fieber hat dich
verlassen. Man kann uns erschlagen; wer kann uns etwas anhaben?«

Sie erhoben sich; auf Wangs Bitte begleitete ihn die Gelbe Glocke durch die
Straßen. Als sie eine Stunde gegangen waren, kamen sie an einen niedrig
bewachsenen grünen Anger, der von einem seichten Bach durchrieselt wurde.
Stämmig und breit schritt Wang-lun aus; es hing sein Gelber Springer an
einem Strick um seinen Hals; er baumelte blank über dem blauen,
kurzärmeligen Kittel; ein spitzer Strohhut bedeckte seine Stirn, die von
einer roten Narbe durchschrägt war; herrische Augen in einem tiefbraunen
Gesicht blinzelten gegen die Sonne. Die Gelbe Glocke machte mit langen
Beinen weite Schritte; er ging gebückt, grauer Kittel und graue Hosen, auf
Strohsandalen wie Wang; eingefallene Schläfen, tiefliegende Augen mit einem
schwarzen Strahl, flatternder Bart. Die Lerchen und Finken sangen über
ihnen.

Wang zeigte mit dem Finger nach der Mauer, lächelnd: »Nach Nan-ku kommen
wir heute nicht.«

Sie streckten sich an dem Bächlein hin, schwiegen. Die Gelbe Glocke
murmelte: »Ich werde nicht mehr viele solche Tage haben. Ich werde nicht
mehr lange im Kao-liang liegen. Vor Schön-ting habe ich mit Ma-noh gelegen;
im Lamakloster war eine schöne Sonne. Die Salzsieder klopften an die Tür,
wir erschraken. Liang-li saß neben mir.«

»Du hast diese Schwester nie vergessen, Bruder Gelbe Glocke.«

Der Offizier hob abwehrend den Arm: »Wenn die Sonne scheint, denkt die
Gelbe Glocke an Liang-li aus Schön-ting; wenn sie nicht scheint, wundert er
sich, warum sie nicht scheint und warum er Liang vergessen hat.«

»Sie ist in der Mongolenstadt gestorben.«

»Wang, sie ist im Westlichen Paradies. Hinter den weißen westlichen Wolken
erkenne ich manchmal ihr feines, kluges Gesicht.«

Das Tuten, Klappern von den Häusern herüber. Ohne Unterlaß zwitscherten die
Vögel, die ganz hoch schwärzliche, regsame Klümpchen waren. Wang, liegend,
zog die Beine an, warf sich um auf den Leib, kroch hoch und beobachtete die
Vögelchen, wie sie fielen und stiegen, und den kleinen Bach. Er nahm seinen
Strohhut ab, zog seinen Kopf aus der Schlinge seines Schwertseils, dann
stach er das Schwert in den weichen Boden, stülpte den Hut über den Knauf,
schwang die Arme und setzte die Beine, als wenn er Anlauf nehme:
»Aufgepaßt, Bruder Gelbe Glocke, ich mache Sprünge.«

Mit einem Satz stand er jenseits des Bächleins: »Jetzt bin ich auf Nan-ku.
Ma-noh tut, was ich tun will. Es wird alles schlecht. Ich muß weiter
springen.«

Er sauste neben sein Schwert; der Hut flog vom Luftzug herunter: »Jetzt im
Hia-ho. Eine schöne Zeit, Gelbe Glocke. Der Damm, der Hwang-ho, der
Jang-tse; eine Frau hatte ich. Das Wu-wei kommt zu mir gewandert, noch bin
ich nicht da, ich kann nicht so rasch folgen. Schlachte, mein gelbes
Schwert! Und jetzt --«

Er hob sich im dritten Sprung über das Wässerlein: »Wo bin ich? Auf Nan-ku
wieder, bei dir, Gelbe Glocke. Der Wink war gut. Die Verbrecher waren gut.
Ich bin wieder zurückgekehrt aus dem Hia-ho, ich bin wieder zu Hause, in
Tschi-li. Komm zu mir herüber, lieber, lieber Bruder: bringe meinen Gelben
Springer mit, denn hier muß gekämpft werden.« Die Gelbe Glocke stand neben
ihm.

Sie umschlangen einander die Schultern, sahen in das rieselnde, flinkernde
Wässerlein: »Der Nai-ho«, lachte die Gelbe Glocke. Beide hielten sich
fester. Wang senkte den Kopf, seufzte leise: »Der Nai-ho. Es kann anders
nicht kommen.« Auch die Gelbe Glocke zitterte leicht: »Ich hatte ein gutes
Schicksal gehofft für uns. Die blumige Mitte muß ich ungern verlassen.«

Am Abend dieses Tages der drei Sprünge ließen sich zwei Damen aus der Stadt
zu Wang führen. Eine elegante, schlanke Dame betrat zuerst das stille
Jamen, in dem Wang auf der Matte sitzen blieb. Sie hob das Lid des linken
Auges selten; dann und wann erkannte man auf dem Augapfel große, weiße
Flecken. Eine rundliche, sehr schöne Frau folgte, die sich weniger sicher
bewegte als jene elegante. Die erste Dame nannte sich Pei, die andere Jing.
Auf der Matte sich niedersetzend erwarteten sie Wangs Begrüßung. Die Ältere
ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen, als der Mann sie barsch nach
ihren Wünschen fragte. Sie kämen aus der Roten Stadt. Sie hätten noch vor
der Belagerung flüchten müssen. Sie böten den Bündlern ihre Dienste an. Die
Dame Pei erzählte in Breite ihr Schicksal, endete mit der Erklärung, daß
sie imstande sei, noch jetzt in die Rote Stadt einzudringen und die Häupter
der Mandschudynastie mit einem Zauber umzubringen. Wang war einiges von der
Angelegenheit dieser Zauberfrau zu Ohren gekommen. Eine kleine Zeit blieb
er stumm auf seinem Platz. Dann stieg er herunter, dankte den Damen, bat
sie, ihm ihre Adressen zu hinterlassen, schickte zwei Soldaten zu ihrem
Schutz mit. Wang kam an dem Abend nicht zur Ruhe unter dieser Sache. Erst
sandte er nach der Gelben Glocke; dann mußte der Bote zurückgeholt werden.
Er wollte allein zu einem Beschluß kommen. Im Hof des Jamens trabte er
herum. Das war ein neues Zeichen. Unerwartetes Ende der Mandschus. Sollte
man zugreifen, mußte man nicht? Noch nicht der Nai-ho! Aber der anfängliche
Widerwille kehrte zurück. Irgend etwas war unerträglich an dem Vorschlag.
Er war ekel, das Ganze war sinnlos, es kam von außen her, war kein Wink, es
störte nur den Verlauf. Was er mit der Gelben Glocke an dem kleinen Wasser
erlebt hatte, war endgültig und da sollte niemand eingreifen. Nicht morden.
Die Wege lagen alle eben da.

Und noch ehe die Nacht kam, schickte er vier Soldaten zu den Damen, die sie
unter Aufsicht eines Offiziers aus der Stadt geleiteten. Man drohte ihnen
Rutenhiebe an, wenn sie den Wahrhaft Schwachen wieder unter die Augen
träten.

Es ist beschlossen, vollendet, jauchzte Wang. Glücklich schlief er ein. Im
Traum stand er unter einer Sykomore, an deren Stamm er sich hielt. Über
seinen Kopf wuchs der Wipfel des Baumes in die grüne Breite und Höhe, so
daß er, als die schweren Äste sich senkten, ganz eingehüllt und versunken
im kühlen Blattwerk war und niemand ihn mehr sehen konnte von den vielen
Menschen, die vorüberspazierten und sich an dem unerschöpflichen Wachstum
ergötzten.

                   *       *       *       *       *

Nachdem die gesamten Provinzialtruppen des Tsong-tous von Tschi-li
Chen-juen-li vor Tung-chong aufmarschiert waren, wurden die Bündler zum
Ausfall gereizt und besiegt. Chen-juen-li zog sich darauf zurück. Der
Tsong-tou von Schan-tung mit Bannertruppen unter Chao-hoei stellte sich den
flüchtigen Bündlern am westlichen Damm des Kaiserkanals entgegen. Der
General des Tsong-tous kam in ein hitziges Gefecht mit den tollkühnen
Rebellen, welche über den Kanal flohen, den weiteren Angriff in der Ebene
vor der Stadt Lint-sing, östlich des Kanals, erwarteten. Hier entspann sich
die große Schlacht, in deren Verlauf der Rest der Bündler in die Stadt
getrieben wurde. Sie hatten sich vorsorglich der Mauern und Tore
versichert, so daß nunmehr die regulären Truppen zu einer Belagerung
Lint-sings gezwungen waren.

Die Zahl der Bündler betrug nicht mehr als Ma-nohs, kaum fünfzehnhundert
Menschen, darunter viele Frauen. Wang-lun und die Gelbe Glocke hatten nur
leichte Säbelhiebe erlitten. Ngohs rechter Arm war bis auf die Schulter
zerschmettert. Der feine Mann hielt sich mühselig aufrecht, suchte sich für
den Endkampf zu üben im Schwingen des Beils mit der linken Hand.

Unbeschreiblich innig hingen Brüder und Schwestern zusammen. Die Freunde
von der Weißen Wasserlilie schienen verschwunden; unter der Schwere der
letzten Ereignisse hatten sie sich aufsaugen lassen von den Wahrhaft
Schwachen. Die frommen Lieder von der Fahrt zum Westlichen Paradies
schallten über die Mauern. Es wogte die freudige Stimmung.

Unter den Frauen befanden sich manche, die glaubten, die Entsetzen einer
Schlacht nicht noch einmal ertragen zu können. Diese waren es, die sich
feierlich auf dem Markte erhängten, am zweiten Tag der Belagerung.

Der Geist einiger Brüder verwirrte sich, als sich erkennen ließ, daß die
Umzingelung der Stadt durch unermeßliche Truppenmassen vollkommen war und
daß es auf ihre Ausrottung ging. Sie tanzten nackt auf den Straßen,
jauchzten mit markerschütternden Stimmen. Sie wüßten den wahren und guten
Weg und den tanzten sie. Geheimnisvoll schlichen sie sich über die Plätze,
sanken mit geschlossenen Augen über den Boden und röchelten im Delirium.
Manche von diesen Männern brachten sich Wunden an den Armen und Lippen bei
mit spitzen Steinen wie Fopriester; faßten, mit weißen Augäpfeln wandelnd,
träumende Frauen bei den Händen an, und unmittelbar an Entrückungen, in
Entrückungen erfolgte die Brunst der Umarmungen, die niemand verachtete.

Ein kleiner Teil der Eingeschlossenen sah schief, mißtrauisch, gehässig auf
die andern, konnte sich nicht zur letzten Hingerissenheit entschließen,
dachte irgendwie zu entweichen, die Bündler zu verraten. Dies waren die,
welche viel auf den Höfen weinten, alle Stunden auf die Mauern krochen,
gramvoll winselnd die Bewegungen der Kaiserlichen verfolgten. Dann horchten
sie wieder alle aus, stopften sich in das Gedränge der Märkte und quälten
sich über ihre zuckenden Gesichter die festliche Ruhe der andern zu
spannen.

Hie und da vollendete sich in aller Raschheit ein Sonderschicksal. Ngoh
hatte das Wu-wei gesucht, um für sich Frieden zu gewinnen. Es bedeutete ihm
Qual, als die Verfolgungen begannen, daß er sich an der Führerschaft
beteiligen mußte. Mit halbem Herzen ging er in die Schlachten und war
glücklich in der Betäubung des Gewühls. Seine Abneigung gegen die Rote
Stadt verdichtete sich mit dem Haß auf die Mandschus, die ihm die Kämpfe
aufzwangen. Kaum einer aller Wahrhaft Schwachen hegte zuletzt einen so
unbändigen Haß auf den Kaiser als der ehemalige Hauptmann Ngoh. Allein
gelassen, von seinem Haß befreit, da der Untergang herannahte, saß er in
Lint-sing. Er hörte trübe die abgestandenen Lieder seiner Freunde, sah sie
in einer großen Entfernung von sich gehen. Die Erinnerung an den Kaiser, an
die Wanderung mit Ma-noh, an seinen geliebten Knaben wachte auf und alles
ohne Gefühl. Sein rechter Arm war zerschlagen; er übte den linken und
bemerkte heimlich, daß es gleich war, ob er mit dem Beil gegen Holzpfosten,
gegen Kaiserliche oder gegen sich selbst schlüge. Die Gespräche und
Gesellschaft der Brüder suchend fand er nicht zurück. Er fragte sich, ob es
nicht eben so gut gewesen wäre, seinen Knaben weiter zu lieben und neue zu
lieben, und fühlte sich so heftig in diese Vorstellung hinein, daß er in
geträumter Zärtlichkeit zerfloß, ja mit einer angstvollen Begierde sich
diesen beglückenden verschollenen Gestalten näherte, bittend ihm zu
verzeihen, weil er so lange ferngeblieben war, keine Parfüms, kein Konfekt
brachte. Er dämmerte so ganze Tage herum. Die Gelbe Glocke fand ihn matt
und in hohem Fieber. Der Offizier ging in Erschütterung von dem Kranken;
diese Blicke tauchten schon in die letzte Dunkelheit ein. Als Ngoh in dem
leeren Zimmer, das man ihm eingeräumt hatte, sterben sollte, tastete er
schon zwischen den Frösten und Farbenblitzen nach den feinen Knien und
Ohren seines Knaben, sperrte sich gegen das rieselnde Wu-wei mit
krampfenden Kiefern, suchte sich bald mit Skepsis, bald mit Ungeduld
zurecht zu finden, irrend, stammelnd, ganz still.

Das Heer, dezimiert, gänzlich erschöpft, war verloren. Dieser Rest durfte
die letzten Tage Wang-luns miterleben. Von Nan-ku klang unter diesen
Bündlern kaum noch ein Gerücht. Als Wang ihnen sagte, daß er von einer
großen Wanderung zu ihnen zurückgekehrt sei, von Nan-ku über das Hia-ho
nach Lint-sing, da wußten sie gut, wer er war und daß es sich lohnte, für
das Wu-wei gelebt zu haben und in das Westliche Paradies einzugehen.

In der ersten Stunde des Nachmittags, an dem sie in die Stadt getrieben
waren, zog Wang-lun, blutend am Hals, schweißtriefend, zitternd die Gelbe
Glocke in den leeren Hof eines Hauses, umarmte ihn stürmisch, stotterte
außer sich, mit leuchtenden Augen: »Bruder, wir sind besiegt. Es ist zu
Ende. Bruder, die Tore sind zu. Wem soll ich danken?«

Die Gelbe Glocke stöhnte: »Wir sind besiegt.«

»Glaubst du? Ich sterbe gern. Es bleibt dabei, was ich in Tung-chong sagte:
es kann anders nicht kommen. Der Nai-ho ist schlammschwarz. Aber ich bin
bei euch, bei euch allen, hier ist das Einzige, was ich in meinem Leben
geliebt habe: Nan-ku. Ich komme wieder zu euch. Die Tore sind zu. Wir
dürfen beten; wir dürfen uns freuen. Wir sind alle auf einmal frei.«

In den nächsten Tagen öffnete sich Wang ganz. Über die Plätze und Straßen
stieg er ununterbrochen. Er suchte jeden einzelnen der Bündler kennen zu
lernen, ließ sich Schicksale erzählen. Er weinte mit ihnen über die toten
Freunde, denen man ein gemeinsames Brandopfer auf dem Markt brachte,
entschuldigte die Kaiserlichen, gegen die man hatte kämpfen müssen. Die
Zeit, wo alle den reinen Weg gingen, sei noch nicht da. Nur durch die
Ergebung und Sanftmut könnte man die Furchtbarkeiten des Lebens, die
Eisenhiebe des Leidens verwinden.

Bei den Andachten auf dem Markte kletterte der barfüßige Barhäuptige auf
die queren Planken einer Verkaufsbude. Er erzählte von seiner Wanderung
nach dem Hia-ho, und wie sie ihm nicht genutzt hätte, von den tausenden
glückseligen Brüdern und Schwestern, die Ma-noh nach dem Kun-lungebirge
geführt hätte. Er nannte viele bei Namen, beschrieb sie. Andere Male, und
dies geschah mit großer Eindringlichkeit, lobte er das Schicksal. Die Worte
von Nan-ku fand er wieder; wie klein die Menschen wären, wie rasch alles
verginge und wie wenig der Lärm nütze. Die Kaiserlichen und Mandschus
könnten siegen; was würde es ihnen helfen? Wer im Fieber lebt, erobert
Länder und verliert sie; es ist ein Durcheinander, weiter nichts. Die Wölfe
und Tiger sind schlechte Tiere; wer sich diese zum Vorbild nehme, fresse
und werde gefressen. Die Menschen müßten denken wie der Boden denkt, das
Wasser denkt, die Wälder denken: ohne Aufsehen, langsam, still; alle
Veränderungen und Einflüsse nähmen sie hin, wandeln sich nach ihnen. Sie,
die wahrhaft schwach gegen das gute Schicksal waren, seien gezwungen worden
zu kämpfen. Die reine Lehre dürfte nicht ausgerottet werden, gelöscht wie
eine schlechte Tusche. Nun sei alles Kämpfen für sie vorbei, sollte vorbei
sein; Beile, Schwerter, Sensen brauchten sie nur noch einmal zu nehmen. Das
Wu-wei sei eingegraben in die Geister der hundert Familien. Es würde sich
nach ihnen ausbreiten in heimlicher, wunderstrotzender Weise, während sie
auf den weißen Wolken des Westlichen Paradieses spazierten und bis an die
Lenden in dem schönen Ambraduft versänken. Von Leichnamen seien sie
umgeben; Schatten und Skelette griffen sie an, der stärkste Zauber könne
diese Bösen nicht bezwingen. Nur das Wu-wei vermöchte es; das trenne Leben
von Tod mit so einfachem Griff. Das wußten schon die grauen Alten, von
denen man spricht. Schwach sein, ertragen, sich fügen hieße der reine Weg.
In die Schläge des Schicksals sich finden hieße der reine Weg. Angeschmiegt
an die Ereignisse, Wasser an Wasser, angeschmiegt an die Flüsse, das Land,
die Luft, immer Bruder und Schwester, Liebe hieße der reine Weg.

Er plätscherte von dem Traum, der ihm Nacht um Nacht erschiene: er stünde
an dem Stamm; erst sei es wie eine Sykomore. Allmählich finge der Baum an,
so schlank und gleichzeitig so zottig um ihn zu wuchern, ihn wie eine
Trauerweide schwelgerisch zu überhängen, wie ein grüner Sarg zu
umschließen. Manchmal beim Aufwachen nehme sein Kopf den Traum mit und dann
käme ihm vor, daß sich der dünne Baumstamm nach Art eines saftigen
Schmarotzers um seine Beine, seinen Leib und Arme gestengelt habe, so daß
er sie nicht herausziehen konnte aus dem wässerigen Mark und ganz
aufgesogen wurde von der reichen Pflanze, an deren Anblick sich alle
beglückten.

Ekstasen schäumten und klatschten auf diese Reden Wangs. Oft kam es vor,
daß sich Haufen zusammentaten, an den Toren versammelten und umnebelt
hinausziehen wollten, um die Feinde zu belehren und ihnen zuzureden. Man
drängte in Wang, in die Gelbe Glocke, man wolle Feste feiern. Und eines
Tages flötete der Jubel eines Festes durch die Stadt, bei dem man das
holzgeschnitzte Bild einer Göttin, der königlichen Mutter des Westlichen
Paradieses, aus einem prächtigen Tempel holte, auf einen freien Platz
außerhalb der Häuser trug, vor ihr räucherte, sprang. Brüder schritten hier
mit bloßen Sohlen über ein Feld glühender Kohlen, die man vor die Bildsäule
der Göttin geworfen hatte, lachend und triumphierend zu der königlichen
Mutter hin. Die Brüder und Schwestern ließen nicht ab, Wang zu bitten, zu
ihr Geister zu schicken, die sich vor sie hinwerfen sollten und sie
lobpreisen für alle, die das heilige Wu-wei verehrten. Sie warfen Stäbe und
losten. Fünf mal fünf Männer und Frauen schleppten Balken und lose Bretter
über das Kohlenfeld. Und als das Holz in ganzer Breite loderte, rasselten
sie unter den frenetischen Rufen der Menge hintereinander, übereinander,
glucksend, belfernd in die blähenden Flammen vor dem sanften Bild, wie
Kücken unter die Flügel der Henne.

Chao-hoei führte den Oberbefehl über eine beinah zehnfach dem Feind
überlegene Truppe. Man erwartete täglich das Eintreffen jener
mandschurischen Bogenschützen, deren Verwendung der Kaiser angeordnet
hatte. Ein junger Offizier stand bei der Bannermannschaft des Generals:
Lao-sü, Chaos und Hai-tangs Sohn. Wie Hai-tang erst Chao-hoei aus dem Hause
gedrängt hatte, um die zarte Tochter zu rächen, so bald danach den
eleganten Flaneur, der sich nach dem Tode seiner Schwester rasch
veränderte. Er hätte des Wunsches seiner Mutter kaum mehr bedurft.

Lint-sing gliederte sich in Altstadt und Neustadt. Nur die Neustadt war
stark ummauert und von einem besonderen Erdwall umgeben; die Mauer der
Altstadt war nicht ganz gediehen, von ihren Wachtürmen nur zwei
gebrauchsfertig. Yin-tsi-tu, ein Hauptmann von Chaos Banner, nahm, noch
bevor die Bogenschützen eintrafen, zweihundert Mann, fiel in das Osttor der
Neustadt, erstürmte die kaum verteidigte Mauer, machte die schlecht
bewaffneten Rebellen nieder. Bei diesem Handstreich kamen nur vierzig
Kaiserliche um, während man zweihundertdreißig tote Brüder und Städter
zählte.

Tags drauf glühte eine rote Sonne. Als sie erlosch, gab Wang in der
Altstadt allen, die Waffen besaßen, Auftrag, sich zu rüsten und die
schlecht verschließbaren Häuser zu verlassen. Sie sollten sich in möglichst
großen Häusern auf den engsten Straßen aufhalten. Kleine Trupps von
Bogenschützen und Steinwerfern hätten sich auf den Mauern an bestimmten
Punkten aufzustellen, sobald die Nacht anbräche. Die militärischen
Anordnungen führte die Gelbe Glocke mit kalter Routine durch; seine Ruhe
nahm dem Augenblick alles Unheimliche.

Wie es finster geworden war, kam jemand vor das Haus, das Wang bewohnte,
gab, als man auf das Klopfen das Tor öffnete, eine Vase ab und sagte, man
solle sie nicht öffnen. Der Mann, der das Tor geschlossen hatte, stand noch
zweifelnd da und wollte fragen, da war der Bote verschwunden. Der Mann
verriegelte unsicher das Tor, trug die verschlossene Porzellanvase, die
nicht schwer wog, auf das Zimmer Wangs, stellte sie auf die Matte. Kurz
darauf langte die Gelbe Glocke vor dem Haus an, um Wang zu sprechen. Er
ging auf das Zimmer und sah Wang bei der Öllampe am Tisch sitzen, den
Rücken nach der Türe gewandt; er schien zu lesen. Da rief der Pförtner vom
Hofe, die Gelbe Glocke solle nach oben gehen; Wang-lun säße im ersten Stock
bei den Brüdern und frage nach ihm. Erschreckt stolperte die Gelbe Glocke
die Treppe hinauf; aus dem Zimmer oben tönte lautes Sprechen und Rumoren;
Wang verteilte den Männern Spieße und kurze Dolche. Die Gelbe Glocke rief
Wang an, der auf den entsetzten Blick des Offiziers die Dolche fallen ließ,
mit ihm die Treppe hinunterstürzte, leise an die Türe trat. Die Erscheinung
las noch am Tisch, Wang rief sie an, sie drehte sich um, sah Wang, der sich
an den Hals faßte, mit seinen eigenen Blicken an, bewegte sich nach der
Matte, verschwand. Die beiden gingen zögernd näher. Die Vase stand da,
verschlossen. Die Gelbe Glocke hielt Wang, der schwankte, bei den
Schultern. »Weißt du, Gelbe Glocke, was das war?«

Die Gelbe Glocke schwieg und schloß die Augen. Wang schlotterte:

»Das heißt, daß ich morgen sterben muß.«

Hastig und verstört gab Wang dem Pförtner Auftrag, die Vase vorsichtig
hinauszutragen. Nach einem kurzen Vorsichhinstarren stieg er mit der Gelben
Glocke hinauf.

Die Berennung der Tore begann kurz vor Sonnenaufgang von der Neustadt her.
Der tapfere riesenstarke Yin-tsi-tu war der erste, der durch das gebrochene
Tor in die Stadt stürmte; er suchte Wang-lun, den er mit eigener Hand
erwürgen wollte. Dicht hinter ihm rannte Lao-sü mit einem roten
Helmbuschel, ohne Schild, in jeder Faust ein langes doppelschneidiges
Messer. Die Sprengung der südlichen Tore durch die Provinzialtruppen, denen
sich die Bogenschützen angeschlossen hatten, erfolgte nicht viel später,
weil im Augenblick, wo Yin-tsi-tu vom Osttor in die Stadt drang, alle
Verteidiger sich von der Mauer in die Straßen und Häuser zurückzogen. Auf
der südlichen Mauer stand eine gußeiserne Kanone, welche die Angreifer mit
dem Blut einer Jungfrau, die sie in der Nacht vor dem Sturm abgestochen
hatten, füllten und in die Stadt schossen, um die Luft von den Geistern der
gefallenen Rebellen zu reinigen. Weiber stürzten den Soldaten mit
grauenhaftem Jubel und Gekreisch aus den Gassen entgegen; sie versperrten
die Zugänge der besetzten Straßen; dickes besessenes Menschenfleisch, das
man wegräumen mußte. Von der Peripherie der Stadt ritten die Flammen der
brennenden Häuser an.

Der tobende Straßenkampf begann. Die Brüder ließen sich nicht in den
Häusern halten, ein Haus nach dem andern machte Ausfälle. Die Stadt bebte
Mord. Die Straßen füllten sich mit würgenden Soldaten. Immer neue drängten
von den Mauern her, fletschten die Zähne und waren nicht zu bändigen. Aus
der Mitte der Stadt schwoll zwischen dem tobenden Gebrüll, den langen
spitzen Schreien das heisere Gröhlen und Jauchzen der Rebellen, erstickt,
wieder aufbrausend.

In einer mit Weiberleichen bepflanzten Straße, die auf den Markt führte,
sahen Brüder, wie sie die Tore ihres Hauses zum Ausfall öffneten, Wang-lun
in großen Sätzen vom Markt herlaufen, barhäuptig, sein Schwert über die
linke Schulter geschwungen. Er rannte an ihnen vorbei, sein
schweißübergossenes Gesicht eingesunken und unkenntlich; seine Augen leer,
Yin-tsi-tu und Lao-sü hinter ihm an der Spitze von Bogenschützen und
Lanzenträgern. Die Brüder hielten den Ansturm der Soldaten aus. Wang
verschwand in ein großes leeres Haus am Ende der Straße. Eine kleine Schar
Bündler mit Dolchen lief die Häuser entlang, stürzte sich auf die
Bogenschützen vor dem letzten Torweg. Yin-tsi-tu hob, von Lao-sü gedeckt,
stöhnend die Torflügel aus. Wang keuchte an der Hofmauer. Yin-tsi-tu
parierte mit seinem Schwert den Schlag Wangs; sie rangen; der Hauptmann
entwand dem Rebellenführer den Gelben Springer. Einem Dutzend Bündler
gelang es, in den Hof einzudringen. Sie stießen Lao-sü mit ihren Messern
nieder, befreiten Wang und krochen mit ihm zusammen in das obere Stockwerk
des Hauses. Hier stapelten Bretter von Kampferholz; sie verbarrikadierten
die Treppen mit dem umgeworfenen Stapel, mit Schränken und Tischen. Während
die Bogenschützen von Kirin Pfeil auf Pfeil in die Fenster jagten, legten
sie oben Feuer an und verbrannten, ehe nur ein einziger Soldat die Treppe
erstiegen hatte.

Yin-tsi-tu toste die Straße herunter nach Rebellen; den Gelben Springer
schleuderte er um sich; an zwanzig Schwestern und Brüder erschlug er.

Im südlichen Stadtteil hielt die Gelbe Glocke am längsten sein Haus. Als es
von brennenden Pfeilen angezündet war, stieg er mit seinen vierzig Mann auf
die Straße. Er focht mit größter Vorsicht gegen die kaiserlichen
Bannersleute, die zurückwichen, als sie den in den Kasernen verehrten
Offizier erkannten. Die ganze Stadt wand sich schon in den Händen der
siegheulenden Regulären, da kämpfte er noch, mit einem hohen Schild sich
deckend, hinter der vorderen Hofmauer. Eine Lanze in den Hals klafterte ihn
um; seine letzten Leute wurden durch Beilwürfe gefällt. Die hundert Männer
und Frauen, die unter Singen waffenlos auf den Markt gezogen waren, um sich
niedermetzeln zu lassen, wurden umstellt, gebunden, zu Paaren in das Lager
vor der brennenden Stadt geschleppt.

                   *       *       *       *       *

Die abschließenden Regierungsmaßnahmen in dieser Angelegenheit dauerten
einen Monat. In dieser Zeit wurden die Gefangenen nach Pe-king
transportiert; Khien-lung hörte sie größtenteils persönlich aus, um
Begünstigungen der Behörden, Saumseligkeit der Verfolgung zu ermitteln.
Dann wurden die Brüder und Schwestern vor Pe-king im Angesicht eines großen
Volkes abgeurteilt nach den Bestimmungen des Ketzereigesetzes. Ihre
Familien und die der bekannten Rebellen verbannte man nach dem Ili und der
Mongolei; es waren etwa zweitausend Menschen. Das Dorf Hun-kang-tsun wurde
völlig eingeäschert; die Leichname der Eltern Wangs ausgegraben,
zerstückelt; sämtliche Einwohner des Dorfes vertrieben, ihr geringes
bewegliches Besitztum konfisziert. Die Leichen der Rebellen verwesten auf
den Straßen Lint-sings, vergifteten die Luft, so daß die wenigen Insassen
der Stadt sich an den Präfekten wandten. Ein Dekret Khien-lungs ordnete
dann an, daß die Kadaver gesammelt und vor die Mauern nächst dem Kanal
geschafft würden. Man schaufelte zwei breite flache Gräber für die Männer
und Frauen am Flußdamm, an einer Stelle, wo böse Geister sich versammeln.
Hier hinein stülpte man die Karren mit den Kadavern, warf den Abraum der
verbrannten Häuser und Balken hinzu. Vom Kanal sahen die beiden langen
gewölbten Gräber und Schutthügel aus wie die Buckel zweier riesiger
Maulwürfe, die sich aus der Erde aufwühlen.

Khien-lung sonnte sich. Dem Hohen Rat gab er bekannt, daß er Kia-king,
seinen Sohn, der ihn mit seinen Ahnen versöhnt hatte, zu seinem Nachfolger
ernenne. Die Offiziere, Generäle, hohen Beamten, Ratgeber, die sich an der
Niederwerfung der Rebellion beteiligt hatten, erhielten Ehrentitel,
Ländereien. Mit fester Hand schrieb Khien-lung am Tage des Dankfestes in
der hinteren Halle des Kung-fu-tsetempels an: 'wenn Kung-fu-tse hier wäre,
er würde nicht gründlicher vorgegangen sein als ich.'

Als noch die Leichen der Rebellen auf den stillen Straßen, in den Häusern
Lint-sings faulten, der verkohlte Leib Wang-luns, welcher als Fischerssohn
geboren, als Verbrecher gelebt, das Wu-wei gestiftet hatte für die
Unglücklichen der achtzehn Provinzen und dafür unter das Ketzereigesetz
gefallen war, der durchlöcherte Körper der Gelben Glocke, der der feinste
und weichste der Brüder war und in tiefer Seelenruhe seinen Speer empfing,
gegen eine weiße schöne Wolke zärtlich aufwallend, Ngoh, der schwächste von
allen, von seinem Elend langsam zermahlen, die zahllosen Brüder und
Schwestern, die unter dem Frieden des Wu-wei geblüht hatten, fuhr auf einem
großen Trauerschiff Hai-tang, umgeben von ihren Frauen, nach ihrer
südlichen Heimat die Küste entlang.

Chao-hoei, den gebrochenen Sieger, hielt Khien-lung am Hofe fest. Hai-tang
wollte allein fahren; sie sagte zu Chao-hoei, als er sein Haus in
Schan-hai-kwang verkauft hatte, er solle sich eine Nebenfrau nehmen, damit
er von ihr einen Sohn bekomme.

Der sanfte Herbst kam. Das Schiff glitt die südliche Küste entlang. Aus den
Städten schrillte Musik; die Ernteprozessionen auf den Feldern böllerten;
die Dschunken flitzten spielerisch über das dunkle Wasser. Totenstille auf
dem schweren breiten Schiff der Hai-tang. Sie segelte nicht gleich in ihre
Heimat, das Schiff landete vor der Insel Pu-to-schan. Hai-tang wollte gehen
vor die gnadenreiche Kuan-yin, das Gebet der frömmsten Mönche für sich
erwirken.

Besonnte Zacken der Granitberge. Träumerische Landschaften eingesenkt.
Schlanksäulige Fächerpalmen mit hellen Stimmen. Kamelien hunderttausend.
Hauchende Teiche, schwimmende Lotos. Zwischen Hecken, hinter steinigen
Wegen Tempel am Fuße des Hanges. Starrgespannter Himmel.

Von zwei Frauen gestützt, knisterte Hai-tang hinauf, in faltenreichen
grauen Gewändern, grauer Schleier vor dem Gesicht. Sie gingen durch die
Eingangshalle, über die mächtige Terrasse und Plattform vor der
Gebetshalle. Hai-tangs Augen erduldeten an der steilen Brüstung der
Terrasse die Reliefs, welche die kindliche Liebe verherrlichten. Vor dem
Altartisch qualmte im geschnitzten Holzgehäuse die ewige Lampe. Vorhänge,
Flickteppiche, Standarten, Pauken, Weihrauch.

Riesengroß hinter allen Kuan-yin. Sie saß an der Wand in einem weißen
Kleide da, die linke Hand fein angehoben; ihr Gesicht war golden; eine
Krone von fünf Lotosblättern trug sie; ein Diadem faßte ihren blauen
Haarknoten zusammen. Mit schlanken Hüften, starken Beinen saß sie, den Kopf
leicht zurücklehnend, auf Marmorsockel; violetter Brustlatz, weißes
Seidentuch floß über ihre engen Schultern. Die Lider unter den schwarzen
Augenbrauen hielt sie gesenkt; aber die gelblichen Wimpern, die schmal
geöffneten Lippen schienen leicht zu zittern. So milde schwieg sie; so
versunken hörte sie und gab sie. Tafeln und Banner priesen: »Kuan-yin, die
große Freundin. Ihr gnadenreiches Boot trägt alle hinüber. Die Gnade ist
groß wie die Wogen der See. Für alles Volk ist sie erstanden. Ein
mütterliches Herz. Ihr goldener Körper wird nicht vergehen.«

Die Mönche in braunen Mänteln vor ihr rieben die Stirnen am Boden; Murmeln,
Klingeln, dumpfes Liturgieren. Hai-tang knüllte ihren Schleier, sie atmete
stürmisch und lächelte, über die Mönche wegsehend.

Es war später Abend. Die Insel verschwand im Finstern. Mit Laternen zogen
hundert Mönche aus ihren Zellen und Kapellen über die steinigen Wege.
Hai-tang hatte eine ungeheure Summe gespendet, damit die Geweihten bei der
Göttin für sie beteten. Sie saß an einer Biegung des Weges unter einem
Granitblock. Der Zug murmelte an ihr vorüber, die Arme verschränkt, Kutte
nach Kutte. Sie zählte die Mönche, kam nicht zu Ende. Stolz, triumphierend
überblickte sie diese grenzenlose Menge: es mußte ihr gelingen, die Göttin
zu überwältigen. Ruhe, Ruhe wollte sie; Wang-lun nahm ihr ihre beiden
Kinder; die Rache war nicht geglückt; und wenn sie geglückt war, so gab sie
keine Hilfe. Ruhe für sich, Frieden für die toten jungen Kinder, endlose,
immer erneute Folter über Wang-lun! In ihr wurde es still, als die Fackeln
unter Singsang in den Tempel verschwanden. Sie schlürfte die warme Luft;
jetzt sollte sich die Göttin wehren, jetzt drangen die Mönche auf sie ein,
rangen mit ihr -- für sie. Die Dienerinnen erhoben sich. Hai-tang ging auf
das Schiff für die Nacht.

Am folgenden Abend saß sie wieder unter dem Granitblock. Die Fackeln
schwankten an ihr vorbei. Sie drohte im Finstern mit siegesheißem,
haßverzehrtem Gesicht nach dem schwarzen Tempel. Sie schüttelte über die
Köpfe der Mönche ihre Arme.

Am dritten Abend schickte sie die Dienerinnen fort. Das Gemurmel des Zuges
erfüllte die Wege. Hai-tang starrte in das blendende Fackellicht. Sie fiel
nieder, schrie, zerriß ihre Brust. Die Göttin war stärker; die Mönche
vermochten nichts. Sie konnten beten und beten und beten. Wer hatte die
Kraft, wer rettete sie?

Da war ihr, als ob die Mönche schon wieder zurückkehrten. Es rauschte. Ein
Licht floß über den Boden. In dem Schein des eben vortretenden Mondes
schritt schmalhüftig Kuan-yin, die Perlmutterweiße, an ihr vorbei. Das
Diadem auf dem geringelten Haar blitzte grasgrün bei der Drehung des
schräggelegten Kopfes. Sie lächelte, sah Hai-tang an, sagte: »Hai-tang, laß
deine Brust. Deine Kinder schlafen bei mir. Stille sein, nicht
widerstreben, oh, nicht widerstreben.«

Hai-tang blickte weiter in den grünschleppenden Mondschein. Sie setzte sich
auf, schob die Schaufeln ihrer Hände über das kalte Gesicht: »Stille sein,
nicht widerstreben, kann ich es denn?«

_Ende_

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig



Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden, zum Teil unter Hinzuziehung späterer
Ausgaben, korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [p. 26]:
   ... Hinter zwei Höckerfrauen, die zusammen einen Korb trugen, ...
   ... Hinter zwei Hökerfrauen, die zusammen einen Korb trugen, ...

   [p. 79]:
   ... erstenmal des Geräusch des Flusses und der stürzenden Schneemassen ...
   ... erstenmal das Geräusch des Flusses und der stürzenden Schneemassen ...

   [p. 80]:
   ... geheimtuerischen Wesens benutzen. ...
   ... geheimtuerischen Wesens benutzten. ...

   [p. 149]:
   ... Ring wird sich zusammenschließen. Die Zeit des Maytreya ...
   ... Ring wird sich zusammenschließen. Die Zeit des Maitreya ...

   [p. 152]:
   ... Wasser, Bodenschwingung zu bestimmen, aus den Werfen der ...
   ... Wasser, Bodenschwingung zu bestimmen, aus dem Werfen der ...

   [p. 154]:
   ... ihr Gemurmel: »Omito-fo, omito-fo!« ...
   ... ihr Gemurmel: »Omito-fo, Omito-fo!« ...

   [p. 200]:
   ... die Höfe und Festigkeit der Ziegelmauern bewunderten, ...
   ... die Höhe und Festigkeit der Ziegelmauern bewunderten, ...

   [p. 242]:
   ... Ein wildes Getümmel herrschte um abgezäumte Räume auf ...
   ... Ein wildes Getümmel herrschte um abgezäunte Räume auf ...

   [p. 247]:
   ... den Enblemen ihre verschlissenen Kittel und gingen barfuß. ...
   ... den Emblemen ihre verschlissenen Kittel und gingen barfuß. ...

   [p. 300]:
   ... Roten Stadt begleiteten durfte. Der Kaiser übersprudelte von ...
   ... Roten Stadt begleiten durfte. Der Kaiser übersprudelte von ...

   [p. 316]:
   ... In diese Gleichmäßgkeiit wuchs Jische hinein, ohne Erregung ...
   ... In diese Gleichmäßigkeit wuchs Jische hinein, ohne Erregung ...

   [p. 318]:
   ... an den drei Ecken stützten die gelbweißen Schale kleine steinerne ...
   ... an den drei Ecken stützten die gelbweiße Schale kleine steinerne ...

   [p. 321]:
   ... von den Gängen die Blüten weg; wehmütig verfolgte Paladan ...
   ... von den Gängen die Blüten weg; wehmütig verfolgte Paldan ...

   [p. 328]:
   ... in dem atemlosen, säulenumstellten Raum; ein goldener Gott ...
   ... in den atemlosen, säulenumstellten Raum; ein goldener Gott ...

   [p. 343]:
   ... höheren Weihen empfing und in die Versammlug der Mandarinenten ...
   ... höheren Weihen empfing und in die Versammlung der Mandarinenten ...

   [p. 390]:
   ... Lampen, Dochte, Federblumen, Seidentücher, Tabekasdosen, ...
   ... Lampen, Dochte, Federblumen, Seidentücher, Tabaksdosen, ...

   [p. 397]:
   ... stellte Wang die vier als seine Landsleute aus Schantung ...
   ... stellte Wang die vier als seine Landsleute aus Schan-tung ...

   [p. 406]:
   ... in Ho-kien eintritt und im Sippenhaus einer befreundeten Familie ...
   ... in Ho-kien einritt und im Sippenhaus einer befreundeten Familie ...

   [p. 407]:
   ... kleines ländliches Besitztum bei der Stadt Lin-tsing verbrannt ...
   ... kleines ländliches Besitztum bei der Stadt Lint-sing verbrannt ...

   [p. 430]:
   ... Ngoh, und daß kann ich nicht mit anschauen und darum bin ...
   ... Ngoh, und das kann ich nicht mit anschauen und darum bin ...

   [p. 431]:
   ... Peking loszugehen, nachdem man sich mit den abtrünnigen ...
   ... Pe-king loszugehen, nachdem man sich mit den abtrünnigen ...

   [p. 444]:
   ... Besetzung Pekings ausgetauscht waren, gaben sie ihre Spaziergänge ...
   ... Besetzung Pe-kings ausgetauscht waren, gaben sie ihre Spaziergänge ...

   [p. 444]:
   ... der Soldaten. Die bunten Schwärme hasteteten aufgelöst über ...
   ... der Soldaten. Die bunten Schwärme hasteten aufgelöst über ...

   [p. 445]:
   ... Pekings von den siegreichen Truppen Wang-luns erstürmt ...
   ... Pe-kings von den siegreichen Truppen Wang-luns erstürmt ...

   [p. 448]:
   ... Jagd muß uns ein Bild des Krieges geben.« Er las weiter; ...
   ... Jagd muß uns ein Bild des Krieges geben.'« Er las weiter; ...

   [p. 463]:
   ... Nordschantungs, hätten sich zusammen getan, um sich durchzuschlagen ...
   ... Nordschan-tungs, hätten sich zusammen getan, um sich durchzuschlagen ...

   [p. 465]:
   ... dort das Mer lag, an das ihn die Rebellen gedrängt hatten, ...
   ... dort das Meer lag, an das ihn die Rebellen gedrängt hatten, ...

   [p. 476]:
   ... abendliche Stadt blitzte. Cha-hoei folgte getrennt vom Brautzug ...
   ... abendliche Stadt blitzte. Chao-hoei folgte getrennt vom Brautzug ...

   [p. 478]:
   ... Chao-hoei kehlte heißer im Winkel nach der Sänfte seiner ...
   ... Chao-hoei kehlte heiser im Winkel nach der Sänfte seiner ...

   [p. 484]:
   ... Zug der schwankenden Deliquenten voranritten, durch die ...
   ... Zug der schwankenden Delinquenten voranritten, durch die ...





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