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Title: Das Leben Tolstois
Author: Rolland, Romain, 1866-1944
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Das Leben Tolstois" ***


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  | Anmerkungen zur Transkription                                    |
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  | Kursiver Text ist als _kursiv_ markiert, gesperrter Text als     |
  | $gesperrt$.                                                      |
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  | Eine Liste der Änderungen befindet sich an Ende des Texts.       |
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                            Romain Rolland

                              Das Leben
                              Tolstois


                            [Illustration]

                       Mit sechzehn Abbildungen

                 Der Einband ist von Walter Tiemann

                            Neuerscheinung

                           Rütten & Loening
                           Frankfurt a. Main



Zur Einführung


_Tolstois heldenhafter Lebenskampf spielt sich wie der Michelangelos
in entsetzlicher Einsamkeit ab; denn auch er ist „einer der
Gewaltigen der Menschheit, zu denen die Nachwelt in Ehrfurcht
aufblickt, einer von denen, die Tröster fremder Einsamkeit waren,
Sieger der Welt und arme Besiegte zugleich”. Tolstoi schafft sich
sein Verhängnis selbst aus freiem, bewußtem Willen. Sein Peiniger
ist das Gewissen, sein Dämon der unerbittliche Drang nach Wahrheit.
Für alle schaffend, ist er mit sich allein, und leidend für seinen
Glauben, leidet er für die ganze Menschheit. So zeichnet Rolland das
Lebensbild Tolstois und gibt uns mit diesem erhebenden Buche aufs
neue Trost und Stärkung in den schlimmen Nöten unserer Zeit._

                          RÜTTEN & LOENING
                          FRANKFURT A. MAIN



[Illustration: Tolstoi nach einem Bildnis von Kramskoi]



                            ROMAIN ROLLAND

                                  DAS
                            LEBEN TOLSTOIS

                            HERAUSGEGEBEN
                                 VON
                            WILHELM HERZOG

                                 1922

                        $LITERARISCHE ANSTALT$
                          $RÜTTEN & LOENING$
                            FRANKFURT AM MAIN


                Die Übersetzung ist von O. R. Sylvester

                        Druck der Spamerschen
                      Buchdruckerei in Leipzig

          250 Exemplare wurden auf holzfreies Papier gedruckt
                      und in Halbleder gebunden.



VORWORT


I.

Romain Rolland hat es vor zehn Jahren -- unmittelbar nach Tolstois Tode
-- unternommen, Leben und Werk eines der drei großen Männer
darzustellen, die in Europa den Geist am Ende des 19. Jahrhunderts und
zu Beginn des 20. Jahrhunderts tief beeinflußt haben. Dieses Dreigestirn
leuchtet und glänzt noch heute unvermindert. Und die junge Generation
blickt -- obwohl drängendere aus dem Weltkampf geborene soziale Probleme
gebieterisch Lösung fordern -- zu den drei großen Fanatikern des
Erkennens und Fühlens empor. Neben Nietzsche, dem dionysischen Kritiker,
und Strindberg, dem durch alle Höllen dieser Welt Gejagten, steht
Tolstoi, der Bekenner, Ankläger und Apostel. Ihre Stellung zu Christus
kennzeichnet vielleicht am deutlichsten einen wesentlichen Teil ihres
Ichs. Alle drei rangen mit ihm. Nietzsche wurde sein gefährlichster
Feind (stolz nannte er sich den Antichristen); Strindberg haderte zeit
seines Lebens mit ihm, unterwarf sich, beugte die Knie, um als Rebell
wieder aufzustehen; nur Tolstoi fühlte sich eins, so eins mit ihm, daß
er, ein russischer Junker des 19. Jahrhunderts, der Urchrist selbst zu
sein sich vermaß.

Wer war er in Wirklichkeit? -- Ein Mensch mit seinem Widerspruch. Kein
ausgeklügelt Buch. Sohn eines zaristischen Offiziers und Rousseaujünger;
Ketzer und Büßer; Bauer und Weltmann; schwächlich und zäh; ausschweifend
und asketisch; eitel und demütig; hemmungslos und selbstkritisch; klarer
Erkenner und ewiger Illusionist; anarchistisch und konservativ; Pionier
und Reaktionär; Feind der Intellektuellen und selbst ein Geistiger; wild
und zart; draufgängerisch und furchtsam; weise und kindlich.
Lebenskräftig wie ein gesunder Bauer und von Selbstmordgedanken und
Todessehnsucht gequält wie ein morbider Ästhet. Ein Phantast und der
helläugigste Realist der modernen Literatur. Immer: ein Fanatiker, ein
Besessener. Kurz: ein toller Kerl.


II.

Wie hat ihn Rolland gesehen? -- Er schreibt als einundzwanzigjähriger
Pariser Student -- in der Not seines Herzens -- einen Brief an
Tolstoi, den Sechzigjährigen, dessen Pamphlet gegen die Kunst und
die Künstler gerade alle jungen, vor der Verlogenheit der Zeit und
der Gesellschaft sich ekelnden Geister in Europa aufgerüttelt hatte.
Tolstois Aufklärungsbroschüre „Was sollen wir denn tun?” hatte den
jungen Rolland nicht genügend aufgeklärt. Er wollte mehr.

Das Ziel war schon damals: Einheit zwischen Leben und Denken. Aber wie?
Der Wahrheitsrigorist, zu dem die jungen Sucher und Stürmer unter den
ernsten Künstlern als zu ihrem Führer emporschauten, klagte die Kunst
an, verachtete und schmähte die reinsten und mächtigsten Bildner,
Beethoven und Shakespeare? Unüberbrückbarer Gegensatz. Wo war seine
Lösung?

Tolstoi empfängt den Brief des aus seiner Gewissensqual um Hilfe
flehenden jungen Rolland anders als der sechzigjährige Goethe das
rührende Schreiben des Dichters der „Penthesilea”. Er antwortet ihm in
einem achtunddreißig Seiten langen Schreiben, das mit den Worten
beginnt: Lieber Bruder, ich habe Ihren ersten Brief empfangen. Er hat
mich im Herzen berührt. Mit Tränen in den Augen habe ich ihn
gelesen...” Die Mehrzahl seiner Fragen, erwidert Tolstoi, hätten
ihre Wurzeln in einem Mißverständnis. Und er versucht noch einmal
die von ihm gegen die Überschätzung der Kunst gerichtete Kritik dem
jugendlichen Wahrheitsforscher auseinanderzusetzen. Schon in seiner
Abhandlung hatte er sich gegen die fragwürdigen Verteidiger der
Kunst mit den Worten gewandt: „Sagt mir nicht etwa, daß ich Kunst
und Wissenschaft verwerfe. Ich verwerfe sie nicht nur nicht, sondern
in ihrem Namen will ich die Tempelschänder verjagen.” Wissenschaft
und Kunst seien so notwendig wie Brot und Wasser, sogar noch
notwendiger. Aber daß sie ein Lügenleben führen wollen, daß sie den
Dualismus zwischen Leben und Handeln fördern, daß sie sich zu
„Mitverschworenen des ganzen bestehenden Systems gesellschaftlicher
Ungleichheit und heuchlerischer Gewalttätigkeit” erniedrigen, daß
sie als Forscher, Dichter, Künstler sich stets zu Stützen der gerade
herrschenden Klasse degradieren, das ist es, was die Verachtung des
Wahrheitsfanatikers hervorrief. „Die Betätigung von Wissenschaft und
Kunst ist nur fruchtbringend, wenn sie sich kein Recht herausnimmt
und nur Pflichten kennt... Die Menschen, die berufen sind, den
anderen durch Geistesarbeit zu dienen, leiden immer in der Ausübung
dieser Arbeit; denn die geistige Welt gebiert nur in Schmerzen und
Qualen.” Das war es, was die jungen Künstler mit Tolstoi verband:
sein Ernst, sein Leidenkönnen, seine Kompromißfeindschaft, seine
Unbestechlichkeit, sein absoluter Wahrheitsrigorismus. Das war es,
was den jungen Rolland zu Tolstoi hinzog, kurz nachdem er dessen
aufwühlende Schrift 1887 gelesen hatte. Das war es, was ihn fast
fünfundzwanzig Jahre später dazu drängte, das tragische Leben dieses
im Grunde Einsamen zu malen.


III.

Rolland ist kein Schönfärber. Er schminkt das Porträt seines Helden
nicht an, um ihn liebenswerter oder heldischer wirken zu lassen. Er
zeichnet und malt ihn mit all seinen Flecken, Runzeln, Häßlichkeiten,
mit seinen Schwächen, Irrtümern und Lastern. Er macht keinen Popanz von
Tugenden aus ihm. Sondern: er gibt diesen immer von Leidenschaften
geschüttelten Menschen mit seinen erstaunlichen Gaben, Fähigkeiten,
Vorzügen, mit seinem Reichtum an Ideen, Mut, Willenskraft, mit seiner
Intensität zu denken, zu fühlen, zu arbeiten, und er gibt den
Schwächling, den Schwankenden, den Verzweifelnden, der sich selbst
verachtet, den leichtfertig Urteilenden, der irrt und übertreibt, den
Ungerechten, der sich einbildet, immer gerecht zu sein. Kurz: den
Menschen Tolstoi in seinen Höhen und seinen Niederungen.

Was Tolstoi für die junge Generation Frankreichs und Deutschlands um
1890 geworden war, das wurde nicht wenigen unter uns Romain Rolland
während der Jahre 1914-1918: der erste Bekenner, der Aufrüttler, der
Feind dieser wahnwitzigen „Ordnung”, die Stimme des Gewissens in
Europa. Und wie er zu Tolstoi in seiner Not pilgerte, so
wallfahrteten zu ihm Hunderte und Tausende, die sich in dieser Welt
nicht mehr zurechtfanden. Er enttäuschte sie nicht. Er antwortete
ihnen, wie einst Tolstoi ihm geantwortet hatte. Unbeirrbar blieb
sein Kampf.

Tolstoi und Rolland. Zwei Verwandte im Geiste, und zwei durch Rasse,
Generationen und Welten Getrennte. Der 1828 im Gouvernement Tula
geborene Graf und der 1866 als Sohn eines Notars im burgundischen
Departement Nièvre auf diese Welt gekommene Rolland sind als Künstler,
Moralisten, Geistesmenschen so verschieden voneinander wie die russische
Steppe vom Acker Frankreichs. Und dennoch durchströmt beide ein und
derselbe menschliche Geist, die Liebe zur Vernunft und der Wille zur
Güte. Es ist der Geist der Befreiung des Menschen aus jahrtausendelanger
Knechtschaft unter der Tyrannei der Lüge und der Heuchelei, der Geist
der Welterneuerung. Sie gehören zu seinen edelsten und mächtigsten
Kündern.

Und dennoch... Rolland hat recht, wenn er am Ende seines „Tolstoi” die
melancholische Frage aufwirft, woran es lag, daß der unerbittliche
Apostel der Menschenliebe sein eigenes Leben nicht vollständig mit
seinen Grundsätzen in Einklang bringen konnte. Hier berühren wir die
empfindlichste Stelle seiner letzten Jahre, stellt Rolland fest. Wir
dürfen heute um so weniger daran vorübergehen: nach dem Ungeheuerlichen
der letzten Jahre. Worin wurzelte dieser Dualismus dieses unerbittlichen
Geistes, der wie kein zweiter die Identität von Geist und Tat forderte?

Er hat es selbst einmal angedeutet. Erst als Vierundfünfzigjähriger --
im Jahre 1882 -- bei einer Volkszählung, an der er mitwirkte, sah er das
soziale Elend, in dem die Massen der großen Städte leben müssen, in
nächster Nähe. Rolland schreibt: „Der Eindruck, den es auf ihn machte,
war erschreckend. Am Abend des Tages, an dem er zum erstenmal mit dieser
verborgenen Wunde der Zivilisation in Berührung gekommen war und einem
Freunde erzählte, was er gesehen hatte, hub er an, zu klagen, zu weinen
und die Faust zu ballen.”

Er blieb zwar bei diesen Gefühlsausbrüchen gegen das Unrecht nicht
stehen. Im Gegenteil: er erkannte bereits, daß die Elenden die Opfer
jener Zivilisation waren, an deren Vorrechten er teilhatte, „jenes
Molochs, dem eine auserwählte Kaste Millionen von Menschen opferte”.
„Und Glied um Glied entrollt sich ihm” -- schreibt Rolland -- „die
fürchterliche Kette der Verantwortlichkeit. Zunächst die Reichen und das
Gift ihres verfluchten Luxus, der lockt und verdirbt”. Das
fürchterlichste und unaufschiebbare Problem unserer Tage hat Tolstoi
also gesehen, aber nicht zu Ende durchgedacht, sondern nur schmerzhaft
gefühlt. Mit der Leidenschaft seines Herzens sah er die Verbrechen und
Lügen der Zivilisation. Er suchte ihnen durch Anklage und schonungslose
Kritik beizukommen. Ja, in einem von Rolland zitierten Briefe aus dem
Jahre 1887 glaubt er urplötzlich den Kern des Problems mit der genialen
Intuition, die ihm eigen war, zu entdecken: „Das ganze Übel von heute
kommt daher, daß die sogenannten zivilisierten Leute, denen die
Gelehrten und Künstler zur Seite stehen, eine privilegierte Klasse sind,
wie die Priester. Und diese Kaste hat alle Fehler einer jeden Kaste.”

Tolstoi hat aus dieser Erkenntnis keine Folgerungen gezogen. Er blieb
ein anarchistischer Individualist (mit stark kommunistischen Zügen).
Einer, der gegen die cyklopischen Mauern dieser wahnwitzigen
Gesellschaft immer wieder anrennend sich verschwendete und der sich
schließlich aufrieb... Ein furchtloser Unterminierer der verlogenen und
verbrecherischen „Kultur”.

Er aber, der Seher einer neuen Kunst für eine Menschheitsgemeinschaft,
einer Kunst also, die nicht mehr Eigentum einer einzelnen Klasse sein
wird, blieb mit sich allem, verlassen von seinen Nächsten, unzufrieden
mit sich selbst... Er ging in die Wüste...

                                                          WILHELM HERZOG



Das Licht, das mit Tolstoi erlosch, war für unsere Generation das
klarste, das unsere Jugend erhellte. In der schwerumschatteten Dämmerung
zu Ende des 19. Jahrhunderts war er der trostbringende Stern, dessen
Anblick unsere Seelen anzog und ihnen Frieden gab. Aus dem Kreis derer,
für die Tolstoi weit mehr war als ein verehrter Dichter, für die er der
beste -- und für viele der einzige wirkliche -- Freund in der ganzen
europäischen Kunstwelt war, möchte ich diesem geheiligten Andenken
meinen Zoll der Dankbarkeit und Liebe entrichten.

Die Tage, da ich seine Werke kennenlernte, werden nie aus meinem
Gedächtnis schwinden. Es war 1886. Nach einigen Jahren stillen Keimens
brachen die wunderbaren Blüten russischer Kunst aus dem Boden
Frankreichs hervor. Die Übersetzungen Tolstois und Dostojewskis
erschienen mit fieberhafter Hast gleichzeitig in allen Verlagshäusern.
Von 1885-1887 wurden in Paris „Krieg und Frieden”, „Anna Karenina”,
„Kindheit und Knabenalter”, „Polikuschka”, „Der Tod des Iwan
Iljitsch”, „Geschichten aus dem Kaukasus” und die
„Volkserzählungen” veröffentlicht. Innerhalb einiger Monate, einiger
Wochen, breitete sich vor unseren Augen das Werk eines ganzen
großen Lebens aus, in dem sich ein Volk, eine neue Welt spiegelte.

Ich war damals gerade in die „Ecole Normale” eingetreten. Wir Kameraden
waren sehr verschieden voneinander. In unserer kleinen Gruppe, die
realistische und ironische Geister wie den Philosophen George Dumas,
Dichter, die in Liebe zur italienischen Renaissance glühten, wie Suarès,
Anhänger der klassischen Tradition, Stendhalianer und Wagnerianer,
Atheisten und Mystiker umfaßte, in dieser Gruppe gab es häufig
Wortgefechte, kamen häufig Mißstimmungen auf; aber während einiger
Monate einte uns die Liebe zu Tolstoi fast alle. Jeder liebte ihn
zweifellos aus einem anderen Grunde; denn jeder fand sich selbst in ihm
wieder, und für alle war er die Pforte, die ins unermeßliche All führte,
die Offenbarung des Lebens. Um uns her, in unseren Familien, unseren
Provinzen erweckte die gewaltige Stimme, die von den äußersten Grenzen
Europas her ertönte, zuweilen ganz unerwartet, dieselben Sympathien. Ich
entsinne mich, daß ich einmal zu meinem größten Erstaunen Leute aus
meiner Niverner Heimat, die sich keineswegs für Kunst interessierten und
fast nichts lasen, mit verhaltener Rührung über den „Tod des Iwan
Iljitsch” reden hörte.

Ich habe bei hervorragenden Kritikern die Behauptung gelesen, Tolstoi
verdanke seine besten Eingebungen unseren romantischen Schriftstellern:
George Sand und Victor Hugo. Ohne darüber zu streiten, daß man wohl
kaum von einem Einfluß der George Sand auf Tolstoi sprechen kann --
zumal da er sie nicht ausstehen konnte --, und ohne den viel
tatsächlicheren Einfluß, den Rousseau und Stendhal auf ihn ausübten, zu
leugnen, wäre es doch falsch, die Größe Tolstois und seine Macht, uns zu
fesseln, seinen Ideen zuschreiben zu wollen. Der Ideenkreis, in dem sich
seine Kunst bewegt, ist eng begrenzt. Tolstois Stärke beruht nicht in
den Ideen, sondern im Ausdruck, den er ihnen gibt, in dem persönlichen
Ton, der Prägung des Künstlers, der Atmosphäre, in der er lebt.

Ob die Ideen Tolstois entlehnt waren oder nicht -- wir werden später
noch darauf zurückkommen --, es ist noch niemals in Europa eine Stimme
erklungen, die seiner gleich gekommen wäre. Wie anders sollte man den
Schauer der Erregung erklären, der uns damals befiel, als wir diese
Seelenmusik hörten, auf die wir so lange gewartet hatten und die uns so
sehr not tat. Die Mode sprach bei unserem Gefühl nicht mit. Die meisten
von uns, auch ich, lernten das Buch von Eugen Melchior de Vogüé über den
russischen Roman erst kennen, nachdem sie Tolstoi gelesen hatten; und
seine Bewunderung erschien uns matt im Vergleich zu unserer. De Vogüé
urteilte hauptsächlich als großer Literaturkenner. Aber für uns genügte
es nicht, das Werk zu bewundern, wir lebten es, es war unser. Unser
durch seinen brennenden Lebenshunger, durch sein jugendliches Fühlen.
Unser durch seine Ironie, die uns die Binde von den Augen nahm, durch
seinen schonungslosen Scharfblick, sein Wissen um den Tod. Unser durch
seine Träume von brüderlicher Liebe und Frieden unter den Menschen.
Unser durch seine furchtbare Anklage gegen die Lügen der Zivilisation.
Durch seinen Realismus und seinen Mystizismus. Durch seinen Erdgeruch,
seinen Sinn für die unsichtbaren Mächte und sein Erschauern vor dem
Unendlichen.

Diese Bücher sind vielen von uns das gewesen, was der „Werther” seiner
Generation war: der wundervolle Spiegel unserer Liebeskräfte und unserer
Schwächen, unserer Hoffnungen, unserer Schrecken und unserer
Entmutigungen. Es machte uns weder Sorge, alle diese Widersprüche in
Einklang miteinander zu bringen, noch diese vielgestaltige Seele, in der
das Weltall widerhallte, in enge religiöse oder politische Kategorien zu
zwängen, wie es die meisten tun, die in letzter Zeit über Tolstoi
gesprochen haben, weil sie sich nicht von dem Streit der Parteien
freimachen konnten und ihn nach der Stärke ihrer eigenen Leidenschaften,
nach dem Maßstab ihrer sozialistischen oder klerikalen Kreise
beurteilten. Als ob unsere Kreise den Gradmesser für ein Genie abgeben
könnten!... Was gilt es mir, ob Tolstoi meiner Partei angehört oder
nicht! Kümmert es mich, zu welcher Partei Dante und Shakespeare
gehörten, wenn ich einen Hauch ihres Geistes spüre und ihr Licht in
mich aufnehme?

Wir sagten uns keineswegs wie diese Kritiker von heute: „Es gibt zwei
Tolstoi, den vor dem Wendepunkt und den nach dem Wendepunkt; der eine
ist der gute, und der andere ist es nicht.” Für uns gab es nur $einen$,
und wir liebten ihn restlos. Denn wir fühlten instinktiv, daß in solchen
Herzen alles übereinstimmt, alles in Verbindung miteinander steht.

       *       *       *       *       *

Was wir mit dem Instinkt fühlten, ohne es uns erklären zu können, das
soll unser Verstand heute beweisen. Heute können wir es, nachdem dieses
lange Leben sein Ende erreicht hat und sich den Augen aller
unverschleiert mit beispielloser Offenheit und Aufrichtigkeit darbietet.
Was uns sofort auffällt, ist, wie sehr sein Leben sich von Anfang bis zu
Ende gleich blieb, trotz der Schranken, die man von Strecke zu Strecke
hat aufrichten wollen, -- trotz Tolstoi selbst, der, wenn er liebte,
wenn er glaubte, wie alle leidenschaftlichen Menschen geneigt war zu
meinen, daß er zum erstenmal liebe, zum erstenmal glaube, und jedesmal
von da ab den Anfang seines Lebens datierte. Den Anfang und immer wieder
den Anfang. Wie oft hat sich dieselbe Umwälzung, derselbe Kampf in ihm
abgespielt! Man kann nicht von der Einheit seines Denkens sprechen es
gab nie eine solche --, wohl aber von dem Vorhandensein der
verschiedenen Elemente in ihm, die bald miteinander verbündet, bald
einander feindlich, öfter aber einander feindlich waren. Die Einheit
beruht weder im Geist noch im Herzen eines Tolstoi, sie beruht im Kampf
der Leidenschaften in ihm, in der Tragödie seiner Kunst und seines
Lebens.

Kunst und Leben sind vereinigt. Nie waren Werk und Leben inniger
vermählt; das Werk hat beinahe durchgängig autobiographischen Charakter;
von seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr an läßt es uns Tolstoi Schritt
für Schritt in den widerspruchsvollen Erfahrungen seiner abenteuerlichen
Laufbahn verfolgen. Sein Tagebuch, das er vor seinem zwanzigsten Jahre
begann und bis zu seinem Tode[1] fortgeführt hat, die Angaben, die er
Birukow[2] zu dessen bedeutender Tolstoibiographie machte,
vervollständigen diese Kenntnis und geben uns nicht nur Gelegenheit,
beinahe Tag für Tag in Tolstois Innerem zu lesen, sie lassen uns auch
die Welt, in der sein Genie wurzelte, und die Seelen, von denen seine
Seele zehrte, wiedererstehen.



Ein reiches Erbe. Von beiden Seiten ein sehr vornehmes und sehr altes
Geschlecht -- die Tolstoi und die Wolkonski --, die sich rühmten, bis
auf Rurik zurückzureichen, und ihren Stammbaum auf Waffenbrüder Peters
des Großen, auf Generäle aus dem Siebenjährigen Krieg, Helden aus den
napoleonischen Kämpfen, Dekabristen und politische Verbannte
zurückführten. Familienerinnerungen, denen Tolstoi einige seiner
eigenartigsten Gestalten in „Krieg und Frieden” verdankt: der alte
Fürst Wolkonski, sein Großvater mütterlicherseits, ein später
Repräsentant jener von Voltaireschem Geist durchsetzten,
selbstherrlichen Aristokratie zur Zeit Katharinas II.; Fürst
Nikolaus Gregorewitsch Wolkonski, ein Vetter seiner Mutter, der bei
Austerlitz verwundet und vor den Augen Napoleons vom Schlachtfeld
aufgelesen wurde wie der Fürst Andrej; sein Vater, der einige Züge
von Nikolaus Rostow[3] hatte; seine Mutter, die Prinzessin Marie,
die sanfte Häßliche mit den schönen Augen, deren Güte „Krieg und
Frieden” durchleuchtet.

Er kannte seine Eltern kaum. Die reizenden Schilderungen in „Kindheit
und Knabenalter” enthalten, wie man weiß, wenig Tatsächliches. Seine
Mutter starb, als er noch nicht zwei Jahre alt war. Er konnte sich
demnach nicht des geliebten Angesichts erinnern, das sich der kleine
Nikolaus Irtenjew durch einen Schleier von Tränen hindurch
heraufbeschwört, jenes Angesichts mit dem strahlenden Lächeln, das
Freude um sich verbreitete...

„Ach, wenn ich dieses Lächeln in schweren Augenblicken sehen könnte,
dann wüßte ich nicht, was Kummer ist...”[4].

Aber sie vererbte ihm zweifellos ihren vollkommenen Freimut, ihre
Gleichgültigkeit gegen die öffentliche Meinung und, wie man uns
versichert, ihre wundervolle Begabung, selbsterfundene Geschichten zu
erzählen.

An seinen Vater hatte er immerhin einige Erinnerungen. Er war ein
liebenswürdiger Spötter mit traurigen Augen, der in unabhängiger
Stellung und bar jeden Ehrgeizes auf seinen Gütern lebte. Tolstoi war
neun Jahre alt, als er ihn verlor. Dieser Todesfall „brachte ihm zum
erstenmal die rauhe Wirklichkeit zum Bewußtsein und erfüllte sein Herz
mit Verzweiflung”[5]. Es war das erste Zusammentreffen des Kindes mit
dem Schreckgespenst, dessen Bekämpfung ein Teil seines Lebens und dessen
Verklärung und Verherrlichung der andere gewidmet sein sollte... Spuren
dieser Angst kommen in einigen unvergeßlichen Zügen der letzten Kapitel
der „Kindheit” zum Ausdruck, wo die Erinnerungen auf die Erzählung vom
Tode und vom Begräbnis der Mutter übertragen sind.

In dem alten Hause in Jasnaja Poljana[6] blieben fünf Kinder zurück, in
dem Hause, in dem Leo Nikolajewitsch am 28. August 1828 geboren wurde,
und das er, nur um zu sterben, erst zweiundachtzig Jahre später
verlassen sollte. Das jüngste, ein Mädchen, namens Marie, die später
Nonne wurde (bei ihr suchte der sterbende Tolstoi ein Obdach, als er
seinem Hause und den Seinen entfloh). -- Vier Söhne: Sergius, ein
liebenswürdiger Egoist, „aufrichtig bis zu einem Grade, wie ich es
niemals gesehen habe”. Dmitri, ein verschlossener Mensch voller
Leidenschaft, der sich später als Student mit Ungestüm religiösen
Übungen hingab, unbekümmert um die öffentliche Meinung, der fastete, den
Armen half, den Siechen Zuflucht gewährte, sich aber plötzlich mit
derselben Heftigkeit der Ausschweifung in die Arme warf, dann, von Reue
zernagt, ein junges Mädchen, das er aus einem öffentlichen Hause kannte,
loskaufte und bei sich aufnahm, und der mit neunundzwanzig Jahren an der
Schwindsucht starb[7]. -- Nikolaus, der Älteste, der Lieblingsbruder,
der von der Mutter die Begabung, Geschichten zu erzählen, geerbt
hatte[8], ironisch, schüchtern und feinfühlig veranlagt, später Offizier
im Kaukasus, wo er sich das Trinken angewöhnte. Auch er war voll
christlicher Nächstenliebe, lebte in den bescheidensten Verhältnissen
und teilte mit den Armen alles, was er hatte. Turgenjew sagte von ihm,
daß er „jene Demut dem Leben gegenüber in die Praxis übertrug, die
sein Bruder Leo in der Theorie zu entwickeln sich begnügte”.

Im Hause dieser Waisen waren zwei großherzige Frauen. Die eine war die
Tante Tatjana[9], die, wie Tolstoi sagt, „zwei Tugenden besaß: Ruhe des
Gemüts und Liebe”. Ihr ganzes Leben war nichts als Liebe. Sie opferte
sich unaufhörlich...

„Durch sie habe ich die sittliche Befriedigung, die Liebe gibt,
kennengelernt.”

Die andere war die Tante Alexandra, die allen half und nie Hilfe wollte,
die ohne Dienstboten auskam, und deren Lieblingsbeschäftigung darin
bestand, Lebensbeschreibungen von Heiligen zu lesen und sich mit Pilgern
und „Einfältigen” zu unterhalten. Von diesen „Einfältigen” lebten
mehrere im Haus. Eine von ihnen, eine alte Wallfahrerin, die Psalmen
leierte, war die Patin von Tolstois Schwester. Ein anderer, der
„Einfältige” Grischa, konnte nichts als beten und weinen...

„O, guter Christ Grischa! Dein Glaube war so stark, daß du die Nähe
Gottes fühltest, deine Liebe war so heiß, daß deine Worte den Lippen
entschlüpften, ohne daß dein Verstand sich Rechenschaft darüber gab. Und
da du Gottes Herrlichkeit verehrtest und nicht Worte dafür fandest,
warfst du dich tränenüberströmt zu Boden!”[10]

Wer sähe nicht den Anteil, den alle diese bescheidenen Seelen an der
Entwicklung Tolstois hatten? Es ist, als ob eine von ihnen das Vorbild
zum Tolstoi der letzten Jahre abgegeben habe. Ihre Gebete, ihre Liebe
legten in den Geist des Kindes die Saatkörner des Glaubens, deren Ernte
der Greis reifen sehen sollte. Außer von dem „Einfältigen” Grischa
spricht Tolstoi in seinen Erzählungen aus der „Kindheit” nicht von
diesen bescheidenen Mitarbeitern, die seine Seele aufbauen halfen. Aber
wie leuchtet dafür diese Kindesseele durch das ganze Buch, „dieses reine
und liebevolle Herz, gleich einem hellen Strahl, das immer bei den
anderen die besten Eigenschaften herausfand”, diese außergewöhnliche
Empfindsamkeit! Ist er glücklich, dann denkt er an den einzigen
Menschen, den er unglücklich weiß, er weint und möchte sich für ihn
aufopfern. Er umarmt ein altes Pferd und bittet es um Verzeihung, daß er
ihm Leid zugefügt hat. Er ist glücklich zu lieben, selbst wenn er nicht
geliebt wird. Schon bemerkt man den Keim seines späteren Genies, seine
lebhafte Einbildungskraft, die ihn bei seinen eigenen Geschichten zum
Weinen bringt, sein immer arbeitendes Hirn, das stets zu ergründen
sucht, an was die Leute denken, seine frühreife Beobachtungsgabe und
sein weit zurückreichendes Gedächtnis[11], den aufmerksamen Blick, der
mitten in seiner eigenen Trauer die Gesichter auf die Echtheit ihres
Schmerzes prüft. Mit fünf Jahren fühlte er, wie er sagt, zum erstenmal,
daß „das Leben kein Vergnügen, sondern ein ernstes Geschäft
ist”[12].

Glücklicherweise vergaß er es wieder. Zu jener Zeit vertiefte er sich in
volkstümliche Erzählungen, in russische Bylinen, jene mythen- und
sagenhaften Träume, in biblische Geschichten -- vor allem die erhabene
Josephslegende, die er als alter Mann noch als das Muster aller Kunst
bezeichnet, -- und in Geschichten aus „Tausendundeine Nacht”, die jeden
Abend im Hause seiner Großmutter ein blinder Erzähler, auf dem
Fenstersims sitzend, vortrug.



Er studierte in Kasan[13] mit mäßigem Erfolg. Man sagte von den drei
Brüdern[14]: „Sergius will und kann, Dmitri will und kann nicht, Leo
will nicht und kann nicht.”

Er machte die Zeit durch, die er „die Wüste der Jugend” nennt, eine
Sandwüste, über die stoßweise sengende Winde wehen. Die Geschichten aus
den Knaben- und Jünglingsjahren sind reich an Bekenntnissen
persönlichster Art aus dieser Zeit. Er ist allein. Sein Hirn ist in
einem Zustand ununterbrochenen Fiebers. Während eines Jahres entdeckt er
von sich aus alle Systeme und versucht sich darin[15]. Als Stoiker
unterwirft er sich körperlichen Qualen. Als Epikureer gibt er sich der
Ausschweifung hin. Dann glaubt er an Seelenwanderung, um schließlich in
einen sinnlosen Nihilismus zu verfallen: es scheint ihm, daß er dem
Nichts ins Auge schauen kann, wenn er sich nur schnell genug danach
umdreht. Er analysiert sich und analysiert sich...

„Ich dachte nicht mehr an irgendeine Sache, ich dachte, daß ich an
irgendeine Sache dachte[16].”

Diese fortgesetzte Selbstzergliederung, diese Denkmaschine, die sich im
leeren Raum dreht, bleibt ihm wie eine gefährliche Gewohnheit, die, wie
er äußert, ihm oft im Leben schadete, aus der aber seiner Kunst
unerhörte Hilfsquellen flossen[17].

Bei diesem Beginnen hatte er seine ganzen Überzeugungen eingebüßt; so
glaubte er wenigstens. Mit sechzehn Jahren hörte er auf zu beten und in
die Kirche zu gehen[18]. Aber sein Glaube war nicht tot, er glimmte nur
im Verborgenen weiter:

„Trotzdem glaubte ich an etwas. An was? Das könnte ich nicht sagen. Ich
glaubte noch an Gott, oder vielmehr, ich leugnete ihn nicht. Aber was
für einen Gott? Das wußte ich nicht. Ich leugnete auch Christum und
seine Lehre nicht, aber worin diese Lehre bestand, hätte ich nicht sagen
können[19].”

Für Augenblicke träumte er davon, Gutes zu tun. Er wollte seinen Wagen
verkaufen, den Erlös den Armen geben, ihnen den Zehnten seines Vermögens
opfern, sich ohne Dienstboten behelfen... „denn es sind Menschen wie
ich[20]”. Er schrieb während seiner Krankheit[21] „Lebensregeln”
nieder. Darin weist er naiv auf die Pflicht hin, „alles zu studieren
und alles zu ergründen: Rechtslehre, Medizin, Sprachen,
Landwirtschaft, Geschichte, Geographie, Mathematik, den höchsten
Grad der Vollendung in der Musik und in der Malerei zu erreichen”
usw. Er hatte „die Überzeugung, daß das Schicksal des Menschen in
seiner unablässigen Vervollkommnung liege”.

Aber von den Leidenschaften seiner Jugend, von ungestümer Sinnlichkeit
und grenzenloser Eigenliebe[22] getrieben, irrte dieser Glaube an die
Vollkommenheit unvermerkt ab, verlor seinen selbstlosen Charakter und
wurde praktisch und materiell. Wenn er seinen Willen, seinen Körper und
seinen Geist vervollkommnen wollte, so geschah es nur, um die Welt zu
besiegen und Liebe einzuflößen[23]. Er wollte gefallen.

Das war nicht leicht. Er war damals von affenähnlicher Häßlichkeit: ein
rohes, langes und derbes Gesicht, kurze, tief in die Stirn gewachsene
Haare, kleine Augen, die einen aus dunklen Höhlen hart anblitzten, eine
breite Nase, aufgeworfene Lippen und riesige Ohren[24]. Da er sich über
diese Häßlichkeit, die ihn schon als Kind beinahe zur Verzweiflung
gebracht hatte[25], nicht täuschen konnte, gedachte er das Ideal eines
„erstklassigen Menschen” zu verwirklichen[26]. Um es wie die anderen
„erstklassigen Menschen” zu machen, ließ er sich durch dieses Ideal
zum Spiel, zum unsinnigen Schuldenmachen, zur vollkommenen
Ausschweifung verführen[27].

Etwas rettete ihn immer wieder: seine unbedingte Aufrichtigkeit.

„Weißt du, warum ich dich lieber habe als all die andern?” sagt
Nekludow zu seinem Freund. „Du hast eine erstaunliche und seltene
Eigenschaft: die Offenheit.”

„Ja, ich sage immer Dinge, die mir selbst einzugestehen ich mich
schäme.”[28]

Wegen seiner schlimmsten Verirrungen verurteilt er sich mit
schonungslosem Scharfblick.

„Ich lebe geradezu tierisch,” schreibt er in sein Tagebuch, „ich bin
völlig niedergedrückt.”

[Illustration:

    Sergej    Nicolai    Dmitri    Leo

Tolstoi mit seinen Brüdern nach der Rückkehr aus dem Kaukasus, vor der
Abfahrt zur Don-Armee im Jahre 1854]

Und bei seiner Sucht zu analysieren zeichnet er die Ursachen seiner
Irrungen bis aufs kleinste auf:

1. Unentschlossenheit oder Mangel an Tatkraft.

2. Selbstbetrug.

3. Unbesonnenheit.

4. Falsche Scham.

5. Schlechte Laune.

6. Unordnung.

7. Nachahmungssucht.

8. Wankelmut.

9. Unüberlegtheit.

Mit demselben Freimut des Urteils bekrittelt er noch als Student
die gesellschaftlichen Sitten und die Verbohrtheiten der
Intellektuellen. Er macht sich über die Universitätswissenschaft
lustig, weist ganz ernsthaft die historischen Studien zurück und
läßt sich für die Kühnheit seiner Anschauungen einsperren. -- In
dieser Zeit entdeckt er Rousseau: die „Bekenntnisse”, den „Emil”.
Das trifft ihn wie ein Donnerschlag.

„Ich trieb Kultus mit ihm. Ich trug sein Konterfei im Medaillon um den
Hals wie ein Heiligenbild.”[29]

Seine ersten philosophischen Versuche sind Erläuterungen zu Rousseau
(1846-1847).

Aber er wird der Universität und der „erstklassigen Menschen” so
überdrüssig, daß er nach Jasnaja Poljana zurückkehrt und sich in seine
Felder vergräbt (1847 bis 1851); er nimmt wieder Fühlung mit dem Volk
und will ihm helfen, will sein Wohltäter und Erzieher sein. Seine
Erfahrungen aus jener Zeit verwertet er in einem seiner ersten Werke,
dem „Morgen des Gutsherrn” (1852), einer bemerkenswerten Novelle, deren
Held Fürst Nekludow ist[30], ein Deckname, hinter dem sich Tolstoi mit
Vorliebe verbirgt.

Nekludow ist 20 Jahre alt. Er hat das Universitätsstudium aufgegeben, um
sich seinen Bauern zu widmen. Ein Jahr lang arbeitet er daran, ihnen
Gutes zu tun, und wir sehen ihn, wie er sich, bei einem Besuch im Dorf,
von der sorglosen Gleichgültigkeit, dem eingewurzelten Mißtrauen, der
Gerissenheit, dem Leichtsinn, dem Laster und der Undankbarkeit
abgestoßen fühlt. Alle seine Bemühungen sind vergeblich. Er kehrt
entmutigt zurück und sinnt über seine Träume nach, die er noch vor einem
Jahre hegte, über seine edelmütige Begeisterung, „seine damalige
Überzeugung, daß die Liebe und das Gutsein Glück und Wahrheit
bedeuteten, das einzig mögliche Glück und die einzig mögliche Wahrheit
auf dieser Welt”. Er kommt sich besiegt vor, ist voll Scham und
Überdruß.

„Als er am Klavier saß, berührten seine Finger unbewußt die Tasten.
Ein Akkord stieg auf, dann ein zweiter, ein dritter... Er begann zu
spielen. Die Akkorde waren ziemlich ungleich; oft waren sie gewöhnlich
bis zur Banalität und verrieten keinerlei musikalische Begabung. Aber
er fand dabei ein unerklärbares, trauriges Vergnügen. Bei jedem
Harmoniewechsel erwartete er mit Herzklopfen den nächsten Akkord, und
was diesem fehlte, ergänzte er ungefähr mit seiner Phantasie. Er hörte
den Chor, das Orchester... Und das größte Vergnügen bereitete ihm
seine lebhafte Phantasie, die ihm ohne Schranken, aber mit
bewundernswerter Klarheit die mannigfaltigsten Bilder und
Begebenheiten aus Vergangenheit und Zukunft vorspiegelte...”

Er sieht die liederlichen, mißtrauischen, lügenhaften, faulen und
dickfelligen Muschiks wieder, mit denen er gerade erst kurz vorher
sprach. Aber diesmal sieht er sie mit all ihren guten Eigenschaften,
nicht mehr mit ihren Lastern; er fühlt sich mit Liebe in ihre Herzen
ein; er entdeckt in ihnen Geduld und Ergebung in das sie erdrückende
Schicksal, Versöhnlichkeit gegen erlittenen Schimpf, Liebe zu ihren
Anverwandten, und er sieht ein, warum sie aus Gewohnheit und Frömmigkeit
am Vergangenen hangen. Er sieht ihre Tage, die nutzbringender, gesunder
und ermüdender Arbeit gewidmet sind, mit anderen Augen an...

„Wie schön,” murmelt er... „Warum bin ich nicht einer der
ihren?”[31]

Der ganze Tolstoi steckt schon in dem Helden dieser ersten Novelle[32],
der seine klare Erkenntnis mit seinen nie schwindenden Illusionen
vereint. Er beobachtet die Menschen mit unbeirrbarem Wirklichkeitssinn;
schließt er jedoch nur die Augen, so schlagen ihn seine Träume und seine
Liebe zu den Menschen wieder in Bann.



Aber der Tolstoi von 1850 ist weniger geduldig als Nekludow. Jasnaja hat
ihn enttäuscht; er ist des Volkes so müde wie der Vornehmen; seine Rolle
bedrückt ihn: es liegt ihm nichts mehr an ihr. Außerdem drängen ihn
seine Gläubiger. 1851 flieht er in den Kaukasus zur Armee, bei der sein
Bruder Nikolaus Offizier ist.

Kaum ist er dort, so findet er in der heiteren Gebirgslandschaft seine
Fassung und seinen Gott wieder:

„Vergangene Nacht[33] habe ich wenig geschlafen... Ich habe zu Gott
gebetet. Es ist mir unmöglich, die Süßigkeit des Gefühls zu beschreiben,
die ich beim Beten empfand. Ich habe die üblichen Gebete gesprochen und
dann noch lange weiter gebetet. Ich wünschte etwas sehr Gewaltiges,
etwas sehr Schönes... Was? Das kann ich nicht sagen. Ich wollte aufgehen
in dem Ewigen, ich bat ihn, mir meine Fehler zu verzeihen... Aber nein,
ich bat nicht, ich fühlte, daß er mir schon vergab, da er mich diesen
glückseligen Augenblick erleben ließ. Ich betete, und gleichzeitig
fühlte ich, daß ich nichts zu sagen hatte, daß ich nicht beten konnte,
daß ich nicht zu beten wagte... Ich habe ihm nicht in Worten gedankt,
ich dankte ihm im Fühlen... Kaum eine Stunde war vorüber, da hörte ich
schon wieder die Stimme des Lasters. Ich war eingeschlafen und träumte
vom Ruhm und von Frauen: das war also stärker als ich. -- Was liegt
daran! Ich danke Gott für diesen Augenblick der Glückseligkeit, und daß
er mir meine Kleinheit und meine Größe gezeigt hat. Ich will beten,
aber ich kann nicht; ich will begreifen, aber ich wage es nicht. Ich
beuge mich Deinem Willen!”[34]

Das Fleisch war nicht besiegt (das wurde es nie); der Kampf zwischen den
Leidenschaften und Gott vollzog sich im geheimsten Herzen. Tolstoi
vermerkt in seinem Tagebuch die drei Teufel, die ihn martern:
1. Spielwut: ein aussichtsreicher Kampf. 2. Sinnlichkeit: ein sehr
schwieriger Kampf. 3. Eitelkeit: der schrecklichste von allen.

Im selben Augenblick, in dem er davon träumte, für die andern zu leben
und sich zu opfern, übermannten ihn wollüstige oder leichtfertige
Vorstellungen: das Bild irgendeiner Kosakenfrau oder „die Verzweiflung,
die ihn ergriffe, wenn die linke Schnurrbartspitze mehr in die Höhe
stände als die rechte”[35]. -- „Was liegt daran!” Gott war da und
verließ ihn nicht mehr. Die Hitze des Kampfes selbst wirkte befruchtend,
alle Kräfte des Lebens wurden dadurch gesteigert.

„Ich denke, daß die leichtfertige Überlegung, die mich zur Reise in den
Kaukasus veranlaßte, mir von oben eingegeben wurde. Die Hand Gottes hat
mich geleitet. Ich werde ihm stets dankbar dafür sein. Ich fühle, daß
ich hier besser geworden bin, und bin fest überzeugt, daß alles, was mir
auch zustoßen mag, nur zu meinem Besten ausschlagen wird, da ja Gott
selbst es gewollt hat...”[36]

Das ist die Dankeshymne der Erde im Frühling. Sie bedeckt sich mit
Blumen. Alles ist gut, alles ist schön. Im Jahre 1852 treibt der Genius
Tolstois seine ersten Blüten: „Die Kindheit”, „Der Morgen des
Gutsherrn”, „Der Überfall”, „Knabenjahre”; und er dankt dem
Lebensgeist, der ihn befruchtet hat[37].



„Die Geschichte meiner Kindheit” wurde im Herbst 1851 in Tiflis
begonnen und am 2. Juli 1852 in Pjatigorsk im Kaukasus beendet. Es ist
seltsam, daß Tolstoi im Rahmen dieser Natur, die ihn berauschte,
inmitten dieses neuen Lebens und der aufregenden Kriegsgefahren,
während er eine Welt von ihm bis dahin unbekannten Charakteren und
Leidenschaften entdeckte, in jenem ersten Werk auf die Erinnerungen an
sein verflossenes Leben zurückgreift. Aber als er die „Kindheit”
schrieb, war er krank, seine militärische Tätigkeit war jäh
unterbrochen worden; und während der langen Genesungszeit befand er
sich, da er allein war und Schmerzen litt, in rührseliger Stimmung, in
der sich die Vergangenheit vor seinen Augen abrollte[38]. Nach der
erschöpfenden Anspannung der freudlosen letzten Jahre war es ihm
angenehm, die „wunderbare, unschuldsvolle, poetische und fröhliche
Zeit” des Kindesalters wieder zu erleben und wieder „ein gutes,
weiches und liebefähiges Kinderherz zu bekommen”. Bei dem Ungestüm
seiner Jugend, der Fülle von Plänen, seiner dichterischen
Erfindungsgabe, die zu epischer Breite neigte und sich daher selten
mit einem einzelnen Vorwurf befaßte, für die die großen Romane
vielmehr nur Glieder einer langen historischen Kette waren --
Bruchstücke eines unermeßlichen Ganzen, das nie zu Ende geführt werden
konnte[39] --, sah Tolstoi im übrigen zu diesem Zeitpunkt in den
Geschichten aus der „Kindheit” nur die ersten Kapitel einer
„Geschichte von vier Epochen”, die auch sein Leben im Kaukasus
einbeziehen und zweifellos mit der Offenbarung Gottes durch die Natur
ihren Abschluß finden sollte.

Tolstoi ist später mit seinen Geschichten aus der „Kindheit”, denen er
einen großen Teil seiner Volkstümlichkeit verdankt, sehr streng ins
Gericht gegangen.

„Sie sind so schlecht,” sagte er zu Birukow, „sie sind mit so
geringer literarischer Ehrlichkeit geschrieben!... Es ist nichts aus
ihnen herauszuholen.”

Er stand allein mit dieser Ansicht. Das Werk, das er als anonymes
Manuskript an die große russische Zeitschrift „Sowremennik” (Der
Zeitgenosse) geschickt hatte, wurde sofort veröffentlicht (am
6. September 1852) und hatte einen Riesenerfolg, der von allen
europäischen Lesern bestätigt wurde. Indessen versteht man, daß es
trotz seines dichterischen Reizes, seines vornehmen Stiles und seines
Zartgefühls dem späteren Tolstoi mißfallen hat.

Es hat ihm aus denselben Gründen mißfallen, aus denen es den anderen
gefiel. Man muß zugeben: abgesehen von der Erwähnung gewisser lokaler
Typen und einigen wenigen Seiten, die durch das religiöse Empfinden oder
durch die Echtheit des Gefühls[40] auffallen, ist noch herzlich wenig
von der Persönlichkeit Tolstois darin zu spüren. Eine sanfte, weiche
Empfindsamkeit, die ihm später immer unsympathisch war, und die er aus
seinen anderen Romanen verbannte, herrscht vor. Wir kennen sie, diese
Mischung von Humor und Rührseligkeit; sie stammt von Dickens her. Bei
der Aufzählung seiner Lieblingsbücher zwischen seinem vierzehnten und
einundzwanzigsten Lebensjahre trägt Tolstoi in sein Tagebuch ein:
„Dickens: David Copperfield. Bedeutender Einfluß.” Im Kaukasus liest
er das Buch noch einmal.

Zwei weitere Einflüsse verzeichnet er selbst: Sterne und Toepffer. „Ich
stand damals unter ihrer Wirkung”, äußerte er[41].

Wer sollte glauben, daß die „Genfer Novellen” für den Dichter von
„Krieg und Frieden” das erste Vorbild waren? Und doch braucht man es
nur zu wissen, dann findet man schon in den Geschichten aus der
„Kindheit” ihre gutmütige und spottlustige Biederkeit wieder, die hier
nur in eine vornehmere Natur verpflanzt ist.

So war Tolstoi schon durch seine ersten Werke eine bekannte
Persönlichkeit geworden. Aber seine Eigenart mußte sich noch befestigen.
Das dauerte nicht lange. Die „Knabenjahre” (1853), die weniger rein und
weniger abgerundet sind als die Kindheit, deuten auf selbständigere
psychologische Beobachtung, auf ein sehr lebendiges Naturgefühl und ein
so zerquältes Herz hin, wie sie Dickens und Toepffer wohl kaum hatten.
In dem „Morgen des Gutsherrn” (Oktober 1852)[42] erscheint der
Charakter Tolstois fertig entwickelt mit seiner unerschrockenen
Beobachtungstreue und seinem Glauben an die Liebe. Unter den
bemerkenswerten Bauernporträts, die er in dieser Novelle zeichnet,
findet sich schon die Skizze zu einer seiner schönsten Figuren aus
seinen „Volkserzählungen”, dem Alten mit dem Bienenstock[43], dem
kleinen Alten unter der Birke, wie er die Hände ausbreitet und die
Augen in die Höhe richtet; rings um ihn ein Schwarm golden
schimmernder Bienen, die ihn umschwirren, ohne ihn zu stechen, und
einen Kranz um seinen in der Sonne leuchtenden kahlen Schädel
bilden...

Aber die typischen Werke jener Zeit sind die, die seine augenblicklichen
Gefühle unmittelbar wiedergeben: die Geschichten aus dem Kaukasus. Die
erste, „Der Überfall” (am 24. Dezember 1852 beendet), erweckt durch
die Pracht der Landschaftsbilder Bewunderung: ein Sonnenaufgang in den
Bergen am Ufer eines Flusses; ein merkwürdiges Gemälde, das die
Schatten und die Geräusche der Nacht mit packender Eindringlichkeit
wiedergibt; die Heimkehr am Abend, da in der Ferne die schneebedeckten
Gipfel im blauen Nebel verschwinden, die schönen Stimmen der singenden
Soldaten aufsteigen und in der dünnen Luft verwehen. Mehrere Gestalten
aus „Krieg und Frieden” erproben hier schon ihre Lebensfähigkeit: der
Hauptmann Klopow, der wahre Held, der sich nicht zum Vergnügen
schlägt, sondern weil es seine Pflicht ist, „eines jener einfachen,
ruhigen russischen Gesichter, denen man froh und gerne gerade in die
Augen schaut.” Schwerfällig, linkisch, ein bißchen lächerlich,
unempfindlich gegen seine Umgebung, ist er der einzige, der sich in
der Schlacht gleich bleibt, während alle andern sich ändern; „er ist
genau so wie immer: dieselben ruhigen Bewegungen, dieselbe
gleichmäßige Stimme, derselbe einfache Ausdruck in seinem naiven,
derben Gesicht.” Neben ihm der Leutnant, der die Rolle eines
Lermontowschen Helden spielt, und der, obwohl er in Wirklichkeit der
gutmütigste Kerl ist, tut, als ob die wildesten Gefühle ihn
beherrschen. Und dann der arme, kleine Unterleutnant, ganz begeistert
in der Aussicht auf sein erstes Gefecht, überströmend von
Zärtlichkeit, bereit, jedem um den Hals zu fallen, bewundernswert und
lächerlich zugleich, der sich wie Petja Rostow stumpfsinnig töten
läßt. In der Mitte des Bildes die Gestalt Tolstois, der beobachtet,
ohne sich in die Gedanken seiner Gefährten einzumischen und schon hier
seinen Protestschrei gegen den Krieg erklingen läßt:

„Können die Menschen denn in dieser so schönen Welt, unter dem
unermeßlichen Sternenhimmel nicht zufrieden leben? Wie können sie hier
ihre Zerstörungswut, ihre Gefühle der Bosheit und der Rache gegen ihren
Nächsten bewahren? In der Berührung mit der Natur, wo das Schöne und
Gute am unmittelbarsten zum Ausdruck kommt, sollte alles Schlechte aus
dem Menschenherzen verschwinden.”[44]

Andere aus jener Zeit stammende Geschichten aus dem Kaukasus sind erst
später zu Papier gebracht worden: 1854-1855 „Der Holzschlag”, von
peinlichster Naturtreue, ein wenig kalt, aber voll merkwürdiger
Aufschlüsse über die Seele des russischen Soldaten, -- Aufzeichnungen
für die Zukunft; -- 1856 „Begegnung im Felde” mit einem Moskauer
Bekannten, einem verkommenen Lebemann und degradierten Unteroffizier,
einem feigen versoffenen Lügner, der es nicht vermag, sich an den
Gedanken zu gewöhnen, daß er ebensogut getötet werden könne wie einer
seiner Soldaten, die er verachtet und deren geringster hundertmal mehr
wert ist als er.

Über all diese Werke erhebt sich als höchster Gipfel dieser ersten
Gebirgskette einer der schönsten lyrischen Romane, die Tolstoi
geschrieben hat, der Sang seiner Jugend, das Gedicht vom Kaukasus: „Die
Kosaken”[45]. Die Pracht der schneebedeckten Berge, deren edle Linien
sich von dem strahlenden Himmel abheben, erfüllt das ganze Buch mit
ihrer Musik. Und das Werk ist einzigartig durch das höchste, was dem
Genie gegeben ist, „den allmächtigen Gott der Jugend”, wie Tolstoi
sagt, „jenen Schwung, der nie wiederkehrt”. Ein Bergstrom im Frühling!
Eine Fülle von Liebe!

„‚Ich liebe, ich liebe so innig!... Ihr Tapfern! Ihr Guten!...’
wiederholte er und wollte weinen. Warum? Wer war tapfer? Wen liebte er?
Er wußte es nicht recht.”[46]

Dieser Rausch des Herzens hält unvermindert an. Der Held, Olenin, ist
wie Tolstoi in den Kaukasus gekommen, um dort aus dem Abenteurerleben
frische Kräfte zu schöpfen; er verliebt sich in eine junge Kosakin und
verliert sich in dem Chaos seiner widerspruchsvollen Hoffnungen. Bald
glaubt er, daß „für andere leben, sich aufopfern, Glück bedeutet”,
bald, daß „sich opfern nur Dummheit ist”; dann möchte er fast mit dem
alten Kosaken Eroschka glauben: „Alles hat seine Berechtigung. Gott
hat alles zur Freude des Menschen erschaffen. Nichts ist Sünde. Sich
mit einem hübschen Mädel belustigen, ist keine Sünde, ist ewige
Seligkeit.” Aber was braucht er denn nachzudenken? Es genügt zu leben.
Das Leben ist höchster Besitz, höchstes Glück, das allmächtige Leben,
das allumfassende Leben: das Leben ist Gott. Ein glühendes Naturgefühl
stellt sich ein und erfüllt ihm das Herz. Allein im Wald,
„von wildwachsenden Pflanzen, einer Menge von Wild, Vögeln
und Mückenschwärmen umgeben, in dem schattigen Grün, der
duftgeschwängerten, heißen Luft, zwischen kleinen, trüben Rinnsalen,
die allenthalben unter dem Laub dahinplätschern,” wenige Schritte von
den Fallstricken des Feindes entfernt „wird Olenin plötzlich von einem
solchen grundlosen Glücksgefühl erfaßt, daß er, wie er es als Kind
gewöhnt war, das Kreuz schlägt und irgend jemand danken möchte.” Wie
ein indischer Fakir findet er Genuß darin, sich zu sagen, daß er
allein und verlassen in diesem Strudel des Lebens ist, das ihn
aufsaugt, daß Myriaden unsichtbarer Wesen, die überall versteckt sind,
in diesem Augenblick seinen Tod belauern, daß jene Tausende von ihn
umschwirrenden Insekten einander zurufen:

„‚Hierher, hierher, Kameraden! Hier gilt es einen zu stechen!’

Und es war ihm klar, daß er hier kein russischer Herr aus der Moskauer
Gesellschaft, der Freund und Verwandte von dem und jenem war, sondern
einfach ein Wesen wie die Mücke, der Fasan, der Hirsch, wie alle
Lebewesen, die ihn jetzt umschlichen.

‚Wie sie werde ich leben und sterben. Und Gras wird darüber
wachsen...’”

Und sein Herz ist voll Freude.

Tolstoi lebt zu jener Zeit in einem Rausch von Kraft und Liebe zum
Leben. Er umfaßt die Natur und geht in ihr auf. Ihr vertraut er seine
Schmerzen, seine Freuden und seine Liebesgefühle[47] an. Aber dieser
romantische Rausch mindert niemals die Klarheit seines Blickes.
Nirgends mehr sind die Landschaften mit einem solchen Können und die
Gestalten wahrheitsgetreuer gezeichnet als in dieser glühenden
Dichtung. Der Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft, der den
Kern des Buches ausmacht und der während Tolstois ganzen Lebens einer
seiner Lieblingsgedanken sein sollte, ein Artikel seines
Glaubensbekenntnisses, läßt ihn schon hier, um das Komödienhafte der
Welt zu geißeln, einige der herben Töne der „Kreuzersonate”
anschlagen[48]. Aber er ist nicht weniger schonungslos gegen die, die
er liebt; und die Naturwesen, die schöne Kosakin und ihre Freunde,
sind mit ihrer Selbstsucht, ihrer Habgier, ihrer Schurkerei und allen
ihren Lastern in grellstem Licht gesehen.

Eine außergewöhnliche Gelegenheit sollte sich ihm bieten, diese
heldenhafte Wahrheitsliebe auf die Probe zu stellen.



Im November 1853 war der Türkei der Krieg erklärt worden. Tolstoi ließ
sich der rumänischen Armee zuteilen, ging dann zur Krimarmee über und
traf am 7. November 1854 in Sewastopol ein. Er glühte vor Begeisterung
und Vaterlandsliebe. Er tat wacker seine Pflicht und war oft in Gefahr,
besonders von April bis Mai 1855, wo er einen über den andern Tag Dienst
bei der Batterie der 4. Bastei hatte.

Da er monatelang ein Leben in beständiger Aufregung und Angst Aug in Aug
mit dem Tode führte, belebte sich sein religiöser Mystizismus wieder von
neuem. Er führt Gespräche mit Gott. Im April 1855 verzeichnet er in
seinem Tagebuch ein Gebet zu Gott, in dem er ihm für seinen Schutz in
der Gefahr dankt und ihn anfleht, ihn weiter zu beschützen, „um das
ewige glorreiche Ziel des Seins, das ich noch nicht kenne, aber schon
ahne, zu erreichen”. Dieses Ziel seines Lebens war keineswegs die Kunst,
es war schon jetzt die Religion. Am 5. März 1855 schrieb er:

„Ich bin einer großen Idee nähergekommen, deren Verwirklichung ich mein
ganzes Leben opfern könnte. Diese Idee ist die Gründung einer neuen
Religion, der Religion Christi, aber von Glaubenssätzen und Wundern
befreit... In klarem Bewußtsein handeln, um die Menschen durch die
Religion zu einen.”[49]

Das sollte das Programm seines Alters sein.

[Illustration: Tolstoi vor der Abreise nach dem Kaukasus 1851]

Um sich indessen von den ihn umgebenden Eindrücken abzulenken, machte
er sich wieder ans Schreiben. Aber wie hätte er die nötige geistige
Freiheit finden sollen, um im Schrapnellhagel den dritten Teil seiner
Erinnerungen aus der Jugend zu verfassen? Das Buch ist verworren. Man
kann sein Durcheinander -- und an manchen Stellen eine gewisse abstrakte
analysierende Trockenheit mit Abteilungen und Unterabteilungen in der
Manier Stendhals[50] -- den Bedingungen, unter denen es entstand,
zuschreiben. Aber man muß die ruhige Durchdringung der zahllosen wirren
Gedanken und Träume bewundern, die sich in dem jungen Hirn
zusammendrängen. Tolstoi ist in diesem Werk von seltener Aufrichtigkeit
gegen sich selbst. Und von welcher poetischen Frische ist er zuweilen,
z. B. in dem reizenden Bild vom Frühling in der Stadt, in der Erzählung
von der Beichte und dem eiligen Gang ins Kloster wegen der vergessenen
Sünde.

Ein leidenschaftlicher Pantheismus gibt gewissen Seiten des Buches eine
lyrische Schönheit, deren Ton an die „Erzählungen aus dem Kaukasus”
erinnert. So die Beschreibung jener Sommernacht:

„Der ruhige Glanz des leuchtenden Halbmonds. Der schillernde Teich. Die
alten Birken, deren langsträhnige Zweige auf der einen Seite im
Mondlicht silbern schimmerten und auf der andern Seite Busch und Weg mit
schwarzen Schatten zudeckten. Hinter dem Teich der Ruf der Wachtel. Das
kaum hörbare Geräusch zweier alter Bäume, die sich aneinander scheuern.
Das Summen der Mücken und das Herabfallen eines Apfels auf trockene
Blätter, Frösche, die bis an die Stufen der Terrasse hüpfen und deren
grünliche Rücken im Mondstrahl schillern... Der Mond steigt höher,
schwebt am klaren Himmel und erfüllt den Raum; der wunderbare Glanz des
Teiches wird noch strahlender, die Schatten noch schwärzer, das Licht
noch heller... Doch ich armseliger Erdenwurm, der ich schon von allen
menschlichen Leidenschaften beschmutzt, aber erfüllt von der ganzen
unendlichen Macht der Liebe war, ich hatte in diesem Augenblick das
Gefühl, als ob die Natur, der Mond und ich eins seien.”[51]

Aber die Wirklichkeit der Gegenwart sprach lauter als die Träume der
Vergangenheit; sie verschaffte sich gebieterisch Gehör. Die „Jugend”
blieb unvollendet, und der Stabshauptmann Graf Leo Tolstoi beobachtete
in der Panzerung seiner Bastei, im Kanonendonner, inmitten seiner
Kompagnie die Lebenden und die Sterbenden und zeichnete ihre Ängste und
seine eigenen in seinen unvergeßlichen Erzählungen „Sewastopol” auf.

Diese drei Erzählungen -- Sewastopol im Dezember 1854, Sewastopol im Mai
1855 und Sewastopol im August 1855 -- werden gewöhnlich in einen Topf
geworfen. Sie sind indessen sehr verschieden voneinander. Besonders die
zweite Erzählung unterscheidet sich in der Empfindung und im Stil von
den beiden anderen. Diese sind vom Patriotismus beherrscht; über der
zweiten schwebt unerbittliche Wahrheit.

Man erzählt, daß die Zarin nach der Lektüre der ersten Geschichte[52]
weinte, und daß der Zar in seiner Bewunderung befahl, man solle diese
Seiten ins Französische übersetzen und den Verfasser an einen
ungefährlichen Platz stellen. Man versteht das leicht. Alles
verherrlicht hier das Vaterland und den Krieg. Tolstoi ist gerade erst
hingekommen und noch voller Begeisterung; er schwimmt in Heldentum. Er
bemerkt an den Verteidigern von Sewastopol weder Ehrgeiz noch Eigenliebe
noch sonst irgend ein niedriges Gefühl. Für ihn ist das Ganze ein
Heldengedicht, dessen Heroen „Griechenlands würdig” sind. Andererseits
legen diese Aufzeichnungen keinerlei Zeugnis ab von einem Streben nach
Erfindung oder dem Versuch einer objektiven Darstellung; der Verfasser
spaziert durch die Stadt; er sieht sehr klar, erzählt aber alles in
unfreier Form: „Man sieht... man tritt ein... Man bemerkt...” Es ist
eine Art besserer Berichterstattung mit schönen Natureindrücken.

Ganz anders ist die zweite Geschichte: Sewastopol im Mai 1855. Schon in
den ersten Zeilen liest man: „Tausende menschlicher Eitelkeiten sind
hier aufeinander gestoßen oder haben im Tod Ruhe gefunden...”

Und dann:

„... Und da es viele Menschen gab, gab es viele Eitelkeiten ...
Eitelkeit, Eitelkeit, überall Eitelkeit, selbst an der Pforte des
Grabes. Es ist die unserm Jahrhundert eigentümliche Krankheit... Warum
sprechen Homer und Shakespeare von Liebe, Ruhm und Leid, und warum ist
die Literatur unseres Jahrhunderts nichts als die endlose Geschichte der
Eitlen und der Snobs?”

Die Erzählung, die nicht mehr ein einfacher Bericht des Autors ist,
sondern die Menschen und ihre Leidenschaften unmittelbar auftreten läßt,
zeigt, was sich hinter dem Heldentum verbirgt. Der klare unbeirrbare
Blick Tolstois dringt bis in die Tiefen der Herzen seiner Waffenbrüder;
in ihnen liest er, wie in sich selbst, Hochmut und Furcht, das
Narrenspiel der Welt, das noch drei Schritt vorm Tode weitergespielt
wird. Besonders die Furcht wird eingestanden, ihrer Schleier beraubt und
ganz nackt gezeigt. Diese unaufhörlichen Angstzustände[53], dieser
quälende Gedanke an den Tod werden ohne Scham und Mitleid mit
fürchterlicher Offenheit aufgedeckt. In Sewastopol hat Tolstoi alle
Sentimentalität verlernt, „jenes unklare, weibische, weinerliche
Mitleid”, wie er mit Geringschätzung sagt. Und niemals hat sein Talent
zu analysieren, das man schon während seiner Jünglingsjahre sich
triebhaft entwickeln sah und das manchmal einen geradezu krankhaften[54]
Charakter annehmen sollte, eine bis zur Halluzination verschärfte
Intensität erlangt, wie in der Erzählung vom Tode Praskukins. Dort sind
zwei volle Seiten der Beschreibung dessen gewidmet, was sich in der
Seele des Unglücklichen abspielt, während der Sekunde, da die Bombe
eingeschlagen ist und zischt, ehe sie explodiert, -- und eine Seite
berichtet, was sich in ihm abspielt, nachdem sie explodiert ist und „er
auf der Stelle durch einen Treffer in die Brust getötet worden ist”.

Wie Zwischenaktsmusik mitten im Drama öffnen sich in diese
Schlachtenbilder weite Lichtungen, Sonnenstrahlen, die Symphonie des
Tages, der über dem wundervollen Gelände anbricht, wo Tausende von
Männern mit dem Tode ringen. Und der Christ Tolstoi vergißt den
Patriotismus seiner ersten Erzählung und flucht dem ruchlosen Krieg:

„Und diese Menschen, Christen, die sich alle zu demselben großen Gesetz
der Liebe und des Opferns bekennen, fallen beim Anblick ihrer Tat nicht
reuig auf die Knie vor dem, der, da er ihnen das Leben gab, in die Seele
eines jeden neben die Furcht vor dem Tode die Liebe zum Guten und
Schönen pflanzte! Sie umarmen einander nicht wie Brüder mit Tränen der
Freude und des Glückes!”

Im Augenblick, da Tolstoi diese Novelle beendet hat, die herb im Ton wie
noch keines seiner Werke ist, fühlt er sich von Zweifeln ergriffen. Hat
er unrecht gehabt, so zu reden?

„Ein peinigender Zweifel ergriff mich. Vielleicht sollte man das gar
nicht aussprechen. Vielleicht ist das, was ich ausspreche, eine jener
schlimmen Wahrheiten, wie sie unbewußt in eines jeden Seele schlummern,
und die nicht zutage gefördert werden dürfen, weil sie sonst Schaden
anrichten, wie man die Hefe nicht bewegen soll, um den Wein nicht zu
verderben. Wo ist das Schlechte, das man vermeiden soll, wo das Schöne,
das man nachahmen soll? Wer ist der Bösewicht, und wer ist der Held?
Alle sind gut, und alle sind schlecht...”

Aber er findet sich stolz wieder:

„Der Held meiner Novelle, den ich mit der ganzen Kraft meines Herzens
liebe, den ich in seiner ganzen Schönheit zu zeigen versuche, der immer
war, ist und sein wird, ist die Wahrheit.”

Nachdem der Direktor des Sowremennik, Nekrasow, diese Seiten[55] gelesen
hatte, schrieb er an Tolstoi:

„Gerade das braucht die russische Gesellschaft von heute: die Wahrheit,
die Wahrheit, von der seit Gogols Tod so wenig in der russischen
Literatur übriggeblieben ist... Jene Wahrheit, die Sie in unsere Kunst
tragen, ist für uns etwas ganz Neues. Ich fürchte nur eines: daß die
Zeit und die Niedertracht des Lebens, die Taubheit und Stummheit der uns
Umgebenden aus Ihnen machen, was sie aus den meisten von uns gemacht
haben, -- daß sie in Ihnen die Energie töten”.[56]

Nichts Derartiges war zu befürchten. Die Zeit, die die Energie der
Durchschnittsmenschen verbraucht, hat die Tolstois nur gehärtet. Aber im
Augenblick weckten die schweren Prüfungen des Vaterlandes, die Einnahme
von Sewastopol, mit einem Gefühl schmerzvoller Frömmigkeit aufs neue
das Bedauern über seine allzu erbarmungslose Offenheit. In der dritten
Erzählung, -- Sewastopol im August 1855, -- in der er eine Szene
zwischen spielenden und sich streitenden Offizieren malt, unterbricht er
sich und sagt:

„Aber laßt uns schnell einen Schleier über dieses Bild breiten. Morgen,
vielleicht schon heute wird jeder dieser Männer freudig dem Tod ins Auge
sehen. In eines jeden Seele glimmt der göttliche Funke, der einen Helden
aus ihm machen wird.”

Und wenn auch diese Scheu nichts der Gewalt seiner realistischen
Darstellung raubt, so zeigt doch die Wahl der Personen genügend die
Neigungen des Verfassers. Das Heldenschicksal von Malakoff und sein Fall
werden in zwei rührenden und stolzen Gestalten versinnbildlicht: zwei
Brüdern; der eine, der ältere, ist der Hauptmann Kozeltzow, der einige
Züge von Tolstoi hat[57]; der andere, der Fähnrich Wolodja, der
schüchterne Schwärmer, mit seinen fieberhaften Selbstgesprächen, seinen
Träumen, den Tränen, die ihm um ein Nichts in die Augen treten, Tränen
der Liebe und Tränen der Demütigung, mit seinen Ängsten in den ersten
Stunden auf der Bastei (der arme Kleine fürchtet sich noch vor dem
Dunkel, und wenn er im Bett liegt, versteckt er seinen Kopf in dem
Soldatenmantel), mit der Beklemmung, die ihm das Gefühl der Einsamkeit
und die Gleichgültigkeit der andern verursachen, und schließlich, da
die Stunde gekommen ist, mit seiner Fröhlichkeit in der Gefahr. Dieser
Jüngling gehört zur Gruppe der poetischen Gestalten aus den
„Knabenjahren” (Petja in „Krieg und Frieden”, der Unterleutnant in
dem „Überfall”), die lachend und Liebe im Herzen Krieg führen und
plötzlich ohne Begreifen vom Tode erfaßt werden. Die beiden Brüder
fallen am gleichen Tag, -- am letzten Tag der Verteidigung. -- Und die
Novelle schließt mit folgenden Zeilen, in denen ein vaterländischer
Zorn grollt:

„Das Heer verließ die Stadt. Und jeder Soldat, der nach dem aufgegebenen
Sewastopol blickte, seufzte mit namenloser Bitterkeit im Herzen und
ballte die Faust gegen den Feind.”[58]



Nachdem Tolstoi dieser Hölle entronnen war, wo er ein Jahr lang mit den
schlimmsten Leidenschaften und Eitelkeiten und aller menschlichen Pein
in Berührung gekommen war, fand er sich im November 1855 in einem Kreis
von Petersburger Schriftstellern wieder, für die er Ekel und Verachtung
verspürte. Alles an ihnen kam ihm armselig und verlogen vor. Diese
Männer, die ihm aus der Ferne in idealer Gestalt erschienen waren, --
Turgenjew hatte er bewundert und ihm gerade erst den „Holzschlag”
gewidmet, -- enttäuschten ihn bitter, als er sie aus nächster Nähe sah.
Ein Bild aus dem Jahr 1856 zeigt ihn mitten unter ihnen: Turgenjew,
Gontscharow, Ostrowsky, Gregorowitsch, Drujinin. Durch sein asketisches
und herbes Aussehen, sein knochiges Gesicht mit den eingefallenen Wangen
und die energisch verschränkten Arme sticht er von der zwanglosen
Haltung der andern merklich ab. In Uniform hinter diesen Literaten
stehend, „scheint er”, wie Suarès geistreich schreibt, „diese Leute
eher zu überwachen als zu ihrer Gesellschaft zu gehören: man könnte
glauben, er sei gerade dabei, sie ins Gefängnis abzuführen”[59].

Indessen drängten sich alle um den jungen Kameraden, der, von der
zwiefachen Glorie des Schriftstellers und Helden von Sewastopol umgeben,
zu ihnen kam. Turgenjew, der „geweint und ‚Hurrah!’ gerufen
hatte”, als er die Szenen aus „Sewastopol” gelesen, reichte ihm
brüderlich die Hand. Aber die beiden Männer konnten einander nicht
verstehen. Wenn auch beide die Welt mit derselben Klarheit des Blickes
sahen, so mischten sie doch ihren Bildern die Farbe ihrer feindlichen
Seelen bei: der eine beschwingt und voll von Ironie, verliebt und ohne
Illusionen, Anbeter der Schönheit; der andere heftig, stolz, von
Sittlichkeitsideen zerquält, eines heimlichen Gottes voll.

Was Tolstoi diesen Literaten vor allem nicht verzieh, war, daß sie sich
für eine auserwählte Kaste, für den Gipfelpunkt der Menschheit hielten.
Der Stolz des großen Herrn und Offiziers gegenüber den bürgerlich
freidenkenden Schreibergesellen hatte nicht geringen Anteil an seiner
Abneigung[60]. Es war auch ein bezeichnender Zug seiner Natur -- er
erkannte ihn selbst --, „sich instinktiv gegen alle allgemein
anerkannten Grundsätze aufzulehnen”[61]. Ein Mißtrauen gegen die
Menschen, eine geheime Verachtung ihrer Vernunft ließen ihn überall den
Selbstbetrug oder den Betrug der andern, die Lüge, wittern.

„Er glaubte niemals an die Aufrichtigkeit der Leute. Jede sittliche
Begeisterung erschien ihm unecht, und er hatte die Gewohnheit, den
Menschen, der, wie es ihm schien, nicht die Wahrheit sprach, mit seinem
außergewöhnlich scharfen Blick zu durchbohren...[62]

Wie hörte er zu! Wie betrachtete er den, mit dem er sprach, mit seinen
tief in den Höhlen liegenden grauen Augen! Wie ironisch verzogen sich
seine Lippen![63]

Turgenjew sagte, daß er nie etwas Unangenehmeres verspürt habe, als
diesen durchdringenden Blick, der im Verein mit zwei oder drei Worten
einer giftigen Bemerkung imstande war, einen zum Rasen zu bringen”[64].

Von ihrer ersten Begegnung an spielten sich zwischen Tolstoi und
Turgenjew heftige Auftritte ab[65]. Wenn sie getrennt waren, beruhigten
sie sich und versuchten, einander Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Aber die Zeit bestätigte immer mehr Tolstois Widerwillen gegen seine
literarische Umgebung. Er verzieh diesen Künstlern den Widerspruch
zwischen ihrer verderbten Lebensführung und ihren sittlichen Forderungen
nicht.

„Ich kam zur Überzeugung, daß beinahe alle unmoralische, schlechte,
charakterlose Menschen waren, tief unter denen, die ich während meines
militärischen Zigeunerlebens getroffen hatte. Und sie waren selbstsicher
und zufrieden, wie es eigentlich nur ganz lautere Menschen sein können.
Sie ekelten mich an.”[66]

Er trennte sich von ihnen. Trotzdem blieb noch einige Zeit etwas von der
materiellen Auffassung ihrer künstlerischen Sendung an ihm haften[67].
Er fand dabei seine Rechnung. Es war eine lohnende Religion; sie
verschaffte „Weiber, Geld, Ruhm...”

„Von dieser Religion war ich einer der Hohepriester. Eine angenehme und
sehr einträgliche Stellung...”

Um sich ihr mehr zu widmen, nahm er seinen Abschied aus dem Heer
(November 1856).

Aber ein Mensch seiner Prägung konnte nicht lange die Augen
verschließen. Er glaubte an den Fortschritt, er wollte an ihn glauben.
Es schien ihm, „daß dieses Wort eine Bedeutung habe.” Auf einer Reise
ins Ausland -- vom 29. Januar bis 30. Juli 1857 -- durch Frankreich, die
Schweiz und Deutschland brach dieser Glaube zusammen. In Paris zeigte
ihm am 6. April 1857 das Schauspiel einer Hinrichtung „die Nichtigkeit
des Aberglaubens an den Fortschritt...”.

„Als ich den Kopf sich vom Körper loslösen und in den Korb fallen sah,
begriff ich mit allen Fasern meines Seins, daß keine Theorie über die
Vernunft der bestehenden Ordnung eine solche Handlung rechtfertigen
konnte. Wenn selbst sämtliche Menschen des Weltalls sich auf irgendeine
Theorie stützten und etwas derartiges für nötig hielten, so wüßte ich
doch, daß es unrecht ist: denn nicht der Menschen Reden und Tun
entscheidet über Gut und Böse, sondern mein Herz.”[68]

In Luzern gibt ihm am 7. Juli 1857 der Anblick eines kleinen fahrenden
Sängers, dem die reichen englischen Hotelgäste des Schweizerhofs ein
Almosen verweigern, Anlaß zu einer Eintragung in sein „Tagebuch des
Fürsten Nekludow”[69], worin er seine Verachtung zum Ausdruck bringt
für alle die Gedankengänge, in denen sich diese angeblich Freisinnigen
gefallen, für diese Leute, die künstliche Grenzen zwischen Gut und Böse
ziehen.

„Für sie ist Kultur das Gute, Unkultur das Böse, Freiheit das Gute,
Sklaverei das Böse. Und dieses vermeintliche Wissen zerstört die besten
ursprünglichen Triebe. Und wer kann mir definieren, was Freiheit, was
Gewaltherrschaft, was Kultur und Unkultur ist? Und wo bestehen nicht Gut
und Böse nebeneinander? Es gibt nur einen unfehlbaren Führer in unserm
Innern, das ist die Nächstenliebe.”

Nach Rußland zurückgekehrt, beschäftigte er sich in Jasnaja von neuem
mit den Bauern. Nicht als ob er sich noch Illusionen über das Volk
gemacht hätte. Er schreibt:

„Die Verteidiger des Volkes und seines gesunden Menschenverstandes haben
gut reden, die Masse sei vielleicht die Vereinigung wackerer Leute; aber
dann vereinigen sie sich nur nach der tierischen, verächtlichen Seite,
die nur die Schwäche und Grausamkeit der menschlichen Natur
ausdrückt.”[70]

Deshalb wendet er sich auch nicht an die Masse, sondern an das
persönliche Gewissen eines jeden Menschen, eines jeden Kindes aus dem
Volk. Denn da liegt die Erleuchtung. Er gründet Schulen, ohne allzu viel
vom Lehren zu verstehen. Um es zu lernen, macht er eine zweite Reise
nach Europa, vom 3. Juli 1860 bis zum 23. April 1861[71].

Er studiert die verschiedenen pädagogischen Methoden. Braucht man zu
erwähnen, daß er sie alle verwirft? Ein zweimaliger Aufenthalt in
Marseille zeigte ihm, daß die wahre Belehrung des Volkes sich außerhalb
der Schule, die er lächerlich fand, durch Zeitungen, Museen,
Bibliotheken, die Straße und das Leben vollzog; er nennt sie „die
natürliche Schule”. Er will die natürliche Schule gründen, im
Gegensatz zur Zwangsschule, die er für unheilvoll und unbrauchbar
hält, und er versucht es damit bei seiner Rückkehr nach Jasnaja
Poljana[72]. Sein Grundsatz ist die Freiheit. Er läßt nicht zu, daß
eine Auslese, „die privilegierte, liberale Gesellschaft”, ihr Wissen
und ihre Irrtümer dem „Volk, das ihr fremd ist”, aufdrängt. Sie hat
dazu kein Recht. Diese Zwangserziehungsmethode hat auf der Universität
niemals „Männer hervorbringen können, wie sie die Menschheit braucht,
sondern Männer, wie sie die verderbliche Gesellschaft braucht: Beamte,
Lehrbeamte, Literaturbeamte oder Menschen, die man zwecklos aus ihrer
alten Umgebung herausgerissen hat, denen man die Jugend verdorben hat
und die keinen Platz im Leben finden: reizbare, angekränkelte
Fortschrittler”[73]. Es ist am Volk, zu sagen, was es will! Wenn es
nichts von der „Kunst des Lesens und Schreibens, die ihm die
Intellektuellen aufdrängen wollen”, hält, so hat es seine Gründe
dafür: es hat andere dringendere und gerechtfertigtere geistige
Bedürfnisse. Versucht sie zu verstehen und helft ihm sie zu
befriedigen.

Tolstoi versuchte diese Freiheitstheorien eines eingeschworenen
Revolutionärs, der er immer war, in Jasnaja, wo er sich mehr zum Schüler
als zum Lehrer seiner Zöglinge machte, in die Praxis umzusetzen[74].
Gleichzeitig bemühte er sich, den Landwirtschaftsbetrieb mit humanerem
Geist zu erfüllen. Als er 1861 zum Schiedsrichter im Distrikt Krapiwna
ernannt wurde, verteidigte er das Volk gegen den Mißbrauch der
Amtsbefugnis durch den Grundbesitzer und den Staat.

Aber man darf nicht glauben, daß diese soziale Tätigkeit ihn ganz
befriedigte und ausfüllte. Er blieb weiter die Beute widerstreitender
Leidenschaften. Obwohl er im Grunde gegen sie war, liebte er die große
Welt noch immer und brauchte sie. Zu Zeiten erfaßte ihn wieder die
Vergnügungssucht; oder vielleicht auch die Freude am Wagnis. Er setzte
sich auf Bärenjagden der Todesgefahr aus; er verspielte Riesensummen. Es
kam sogar vor, daß er unter den Einfluß des verachteten Petersburger
literarischen Kreises geriet. Nach solchen Verirrungen verfiel er in
einen Zustand des Ekels. Die Werke jener Zeit zeigen in übelster Weise
die Spuren dieser künstlerischen und moralischen Unsicherheit. „Zwei
Husaren” (1856) sind mit gewollter Eleganz in einem gezierten und
weltgewandten Stil geschrieben, der bei Tolstoi geradezu unangenehm
berührt. „Albert” (1857 in Dijon verfaßt) ist schwach und gesucht und
entbehrt der Tiefe und der Bündigkeit, die Tolstoi sonst eigen sind. Die
„Aufzeichnungen eines Marqueurs”, die knapper, aber etwas überhastet
wirken, scheinen den Ekel widerzuspiegeln, den Tolstoi sich selbst
einflößt. Der Fürst Nekludow, sein Doppelgänger, tötet sich in einem
verrufenen Lokal:

„Er hatte alles: Reichtum, Namen, Geist, kultivierte Neigungen; er hatte
kein Verbrechen begangen, aber er hatte Schlimmeres getan: er hatte sein
Herz, seine Jugend getötet; er hatte sich selbst verloren, ohne
irgendeine große Leidenschaft als Entschuldigung zu haben, nur aus
Mangel an Willenskraft.”

Selbst die Nähe des Todes ändert ihn nicht...

„Die gleiche Unentschlossenheit, die gleiche Oberflächlichkeit und
merkwürdige Unlogik des Denkens...”

Der Tod... In dieser Zeit fängt er an, Tolstois Seele zu verfolgen.
„Drei Tode” (1858-1859) bilden schon einen Auftakt zu der düsteren
Schilderung von dem „Tod des Iwan Iljitsch”, der Einsamkeit des
Sterbenden, seinem Haß gegen die Lebenden, seinem verzweifelten
„Warum?” Das Triptychon der drei Toten -- die reiche Dame, der alte
schwindsüchtige Postillon und die gefällte Eiche -- hat Größe; die
Bilder sind gut gezeichnet, die Vergleiche ziemlich treffend, obschon
das über Gebühr berühmte Werk von etwas zu lockerem Gewebe ist und es
dem Tod der Eiche an unbedingter Gestaltungskraft fehlt, die den Wert
der schönen Landschaftsschilderungen Tolstois ausmacht. Im ganzen
weiß man noch nicht, was ihn hinreißt, ob die Kunst um ihrer selbst
willen oder die moralische Absicht.

[Illustration: Tolstoi im Jahre 1854]

Tolstoi wußte es selbst nicht. Am 4. Februar 1859 hielt er in der
„Moskauer Gesellschaft der Freunde russischer Literatur” seine
Antrittsrede, worin er das Prinzip des „l'art pour l'art”[75]
verteidigte; und der Präsident der Gesellschaft, Komiakow, übernahm,
nachdem er in ihm den Vertreter der rein künstlerischen Literatur
begrüßt hatte, gegen ihn die Verteidigung der sozialen und moralischen
Kunst[76].

Ein Jahr später brachte ihn der Tod seines geliebten Bruders Nikolaus,
der am 19. September 1860 in Hyères von der Schwindsucht dahingerafft
wurde[77], derart außer Fassung, daß sein Glaube an das Gute vollständig
erschüttert wurde und er sich von der Kunst abwandte:

„Die Kunst ist Lüge, und ich kann nicht länger die schöne Lüge
lieben.”[78]

Aber schon nach kaum sechs Monaten kam er auf diese schöne Lüge zurück,
mit „Polikuschka”[79], dem von sittlichen Absichten vielleicht
freiesten seiner Werke, nimmt man den geheimen Fluch aus, der auf dem
Geld und seiner unheilvollen Macht lastet; es ist ein Werk, das nur um
der Kunst willen geschrieben ist, ein Meisterwerk übrigens, an dem
nichts auszusetzen ist, es sei denn sein übergroßer Reichtum an
Beobachtungen, ein Zuviel an Stoff, der zu einem großen Roman
ausgereicht hätte, und der allzu schroffe, ein wenig grausame
Gegensatz zwischen dem gräßlichen Ausgang und dem humorvollen
Anfang[80].



In dieser Zeit des Übergangs, wo das Genie Tolstois im Finstern tappt,
an sich selbst irre wird und, wie Nekludow in den „Aufzeichnungen eines
Marqueurs”, ohne starke Leidenschaft, ohne zielsicheren Willen
schwächlich zu werden scheint, entsteht das reinste Werk, das Tolstoi
jemals schuf: „Eheglück” (1859). Es ist das Wunderwerk der Liebe.

Seit langen Jahren war er mit der Familie Bers befreundet. Er war der
Reihe nach in die Mutter und die drei Töchter verliebt gewesen[81].
Schließlich verliebte er sich endgültig in die zweite. Aber er wagte
nicht, es zu gestehen. Sofie Andrejewna Bers war noch ein Kind: sie war
siebzehn Jahre alt; und er über dreißig. Er hielt sich für einen alten
Mann, der nicht das Recht hatte, sein verbrauchtes, unreines Leben an
das eines unschuldigen jungen Mädchens zu knüpfen. Drei Jahre lang
sträubte er sich[82]. Später erzählte er in „Anna Karenina”, wie er
Sofie Bers einen Antrag machte, und wie sie darauf antwortete --: sie
zeichneten alle beide die Anfangsbuchstaben der Worte, die sie nicht zu
sagen wagten, mit dem Finger auf den Tisch. Wie Lewin in „Anna
Karenina” war er so grausam aufrichtig, sein Tagebuch seiner Braut
einzuhändigen, damit sie ganz genau seine begangenen Schändlichkeiten
kennen lerne; und wie Kitty in „Anna Karenina” empfand Sofie bitteren
Schmerz beim Lesen. Am 23. September 1862 war ihre Hochzeit.

Aber schon seit drei Jahren war diese Ehe im Kopf des Dichters
geschlossen, als er „Eheglück” schrieb[83]. Seit drei Jahren hatte er
schon im voraus die unbeschreiblichen Tage der stillen Liebe durchlebt
und die berauschenden Tage der Liebe, die sich offenbart, die Stunde, da
die ersehnten göttlichen Worte geflüstert werden, die Tränen „über
ein Glück, das für immer schwindet und nie mehr wiederkehrt”; die
jubelnde Wirklichkeit der ersten Ehezeit, den Egoismus der Liebenden,
„die unaufhörliche Freude ohne eigentlichen Grund”; dann die
eintretende Ermüdung, die leise Unzufriedenheit, die Langeweile des
einförmigen Lebens, in der sich die beiden vereinigten Herzen sanft
lösen und voneinander entfernen, das gefährlich Berauschende der
großen Welt für die junge Frau -- Koketterie, Eifersucht, tödliche
Mißverständnisse --, die verdunkelte, die verlorene Liebe; endlich den
milden traurigen Herbst des Herzens, wo das Antlitz der Liebe sich
wieder zeigt, blaß und gealtert und durch seine Tränen und seine
Runzeln noch ergreifender geworden, die Erinnerung an Liebesbeweise,
das Bedauern über das Böse, das man sich zugefügt hat, und über die
verlorenen Jahre, -- einen heiteren Lebensabend, die erhabene Wandlung
von der Liebe zur Freundschaft und vom Roman der Leidenschaft zur
Mütterlichkeit... Alles, was kommen sollte, alles hatte Tolstoi im
voraus geträumt und durchkostet. Und um es besser erleben zu können,
hatte er es in ihr, der Geliebten, erlebt. Das erstemal -- vielleicht
das einzige Mal in Tolstois Werken -- spielt sich der Roman im Herzen
einer Frau ab und wird von dieser Frau erzählt. Mit welch erlesener
Zartheit! Eine schöne Seele hüllt sich in einen schamhaften
Schleier... Diesmal hat Tolstoi bei der Analyse auf seine etwas grelle
Belichtung verzichtet und sucht nicht mit fieberhafter Leidenschaft
die Wahrheit bloßzulegen. Die Geheimnisse des Innenlebens lassen sich
eher erraten, als daß sie sich preisgeben. Das Herz und die Kunst
Tolstois sind milder geworden. In seiner harmonischen Übereinstimmung
von Form und Inhalt erreicht das „Eheglück” die Vollkommenheit eines
Racineschen Werkes.

Die Ehe, deren Glück und deren Wirrungen Tolstoi mit großer Klarheit
schon vorher empfunden hatte, sollte ihm zum Heil werden. Er war müde
und krank, seiner selbst und seiner Arbeit überdrüssig. Auf die
glänzenden Erfolge, die seine ersten Werke errungen hatten, war
vollständiges Verstummen der Kritik[84] und Gleichgültigkeit des
Publikums eingetreten. Stolz tat er, als ob er sich darüber freue.

„Mein Ruf hat viel von jener Volkstümlichkeit, die mich traurig machte,
verloren. Jetzt bin ich ruhig, da ich weiß, daß ich etwas zu sagen habe
und die Fähigkeit besitze, es sehr laut zu sagen. Das Publikum mag
denken, was es will.”[85]

Aber er rühmte sich nur: er war seiner Kunst selbst nicht sicher. Ohne
Zweifel beherrschte er die Feder vollkommen; aber er wußte nicht, was
damit anfangen. Wie er in „Polikuschka” sagt: „es war das Gerede
über den erstbesten Stoff von einem Manne, der die Feder zu führen
versteht”[86]. Seine sozialen Arbeiten scheiterten. Im Jahre 1862 legte
er sein Amt als Schiedsrichter nieder. Im selben Jahre hielt die Polizei
in Jasnaja Poljana Haussuchung, drehte das oberste zu unterst und schloß
die Schule. Tolstoi war damals aus Gesundheitsrücksichten verreist; er
fürchtete die Schwindsucht zu bekommen.

„Die Streitigkeiten, die ich zu schlichten hatte, waren mir so
unerträglich geworden, die Arbeit in der Schule so unsicher, meine
Besorgnisse, die aus dem Wunsch, die andern zu unterrichten und dabei
meine Unkenntnis dessen, was ich unterrichten sollte, zu verbergen,
herrührten, waren mir derart widerwärtig, daß ich krank wurde.
Vielleicht wäre ich an den Rand der Verzweiflung geraten, der ich
fünfzehn Jahre später erlag, wenn es nicht für mich eine unbekannte
Seite des Lebens gegeben hätte, die mir Heil versprach: das
Familienleben.”[87]

       *       *       *       *       *

Er genoß es zuerst mit der Leidenschaft, die er auf alles verwandte[88].
Der persönliche Einfluß der Gräfin Tolstoi war wertvoll für seine Kunst.
Literarisch sehr begabt[89], war sie, wie sie sagt, „eine echte
Schriftstellersfrau”, so sehr lag ihr das Werk ihres Mannes am Herzen.
Sie arbeitete mit ihm, schrieb nach seinem Diktat, übertrug seine
Konzepte immer wieder ins Reine[90]. Sie trachtete, ihn gegen seinen
religiösen Dämon, jenen fürchterlichen Geist, der schon damals für
Augenblicke seiner Kunst gefährlich wurde, zu verteidigen. Sie ließ es
sich angelegen sein, daß seine Tür sozialen Utopien verschlossen
blieb[91]. Sie befeuerte sein schöpferisches Genie. Sie tat mehr: sie
gab diesem Genius den neuen Reichtum ihrer Frauenseele. Abgesehen von
einigen hübschen Schattenrissen in „Kindheit” und „Knabenalter”
ist die Frau aus den ersten Werken Tolstois fast völlig ausgeschaltet,
oder sie bleibt im Hintergrund. Zum erstenmal tritt sie im „Eheglück”
auf, das unter dem Einfluß der Liebe zu Sofie Bers geschrieben ist. In
den folgenden Werken sind Mädchen- und Frauengestalten reichlich
vorhanden und von Leben beseelt, mehr noch selbst als die
Männergestalten. Man glaubt gern, daß die Gräfin Tolstoi ihrem Mann
nicht nur zur Natascha in „Krieg und Frieden”[92] und zur Kitty in
„Anna Karenina” Modell gestanden hat, sondern daß sie ihm auch durch
die Einblicke, die sie ihm in ihr zartes Seelenleben gewährte, eine
wertvolle und feinfühlige Mitarbeiterin sein konnte. Gewisse Seiten in
„Anna Karenina”[93] scheinen mir ganz besonders die Hand einer Frau zu
verraten.

Dank den Segnungen dieser Vereinigung genoß Tolstoi zehn oder fünfzehn
Jahre lang einen Frieden und eine Sicherheit, wie er sie seit langem
nicht mehr gekannt hatte[94]. So konnte er unter den Fittichen der Liebe
in Muße die Meisterwerke seines Schaffens, die gewaltigen Denkmäler, die
die ganze Romandichtung des 19. Jahrhunderts überragen, ersinnen und
ausführen: „Krieg und Frieden” (1864-1869) und „Anna Karenina”
(1873-1877).

„Krieg und Frieden” ist das großartigste Heldengedicht unserer Zeit,
eine moderne Ilias. Eine Welt von Gestalten und Schicksalen lebt darin.
Über diesem von zahllosen Wogen gepeitschten Meer menschlicher
Leidenschaften schwebt eine allbeherrschende Seele, die die Stürme nach
Gefallen entfacht und zügelt. Mehr als einmal habe ich, wenn ich mich in
dieses Werk vertiefte, an Homer und Goethe gedacht, trotz der ungeheuren
Verschiedenheit, sowohl des Geistes als auch der Zeit. Später habe ich
gesehen, daß Tolstoi tatsächlich in jener Periode, als er daran
arbeitete, in seinem Denken von Homer und Goethe[95] zehrte. Ja, er
trägt sogar in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1865, wo er die
verschiedenen literarischen Arten klassifiziert, das Werk „1805”, unter
welchem Titel die beiden ersten Teile von „Krieg und Frieden” 1865-1866
erschienen, als zur selben Familie gehörig wie die „Odyssee” und
„Ilias” ein. Die ihm eigene Beweglichkeit des Geistes führte ihn vom
Roman der Einzelschicksale zum Roman der Heere und Völker, der großen
menschlichen Gemeinschaften, in denen der Wille von Millionen
Lebewesen aufgeht. Seine tragischen Erfahrungen bei der Belagerung von
Sewastopol lehrten ihn die Seele des russischen Volkes und sein Leben
während der letzten hundert Jahre verstehen. Das ungeheure Gemälde
„Krieg und Frieden” war ursprünglich nur als Mittelfeld einer Reihe
von epischen Fresken gedacht, auf denen sich die Geschichte Rußlands
von Peter dem Großen bis zu den Dekabristen abspielen sollte[96].

Um das Mächtige des Werkes richtig zu empfinden, muß man sich über die
Einheit klar sein, die darin verborgen liegt. Die meisten Leser sehen in
ihrer Kurzsichtigkeit nur die tausend Einzelheiten, deren Fülle sie in
höchste Verwunderung versetzt und verwirrt. Sie finden sich in diesem
Walde nicht zurecht. Man muß sich darüber hinaus erheben und den weiten
Horizont, den Kreis der Wälder und Felder mit dem Blick umfassen, dann
wird man den homerischen Geist des Werkes gewahr, die Ruhe der ewigen
Gesetze, den Atem des Schicksals in seinem gewaltigen Rhythmus, das
Gefühl für das Ganze, dem alle Einzelheiten verbunden sind, und das
Genie des Künstlers, der sein Werk, wie der Gott der Genesis, der über
den Wassern schwebt, beherrscht.

Zuerst das regungslose Meer. Der Friede, die russische Gesellschaft am
Vorabend des Krieges. Die ersten hundert Seiten spiegeln mit einer
erbarmungslosen Treue und einer überlegenen Ironie die Hohlheit dieser
Kinder der Welt. Erst ungefähr auf der hundertsten Seite erhebt sich der
Schrei eines dieser lebenden Toten -- des schlimmsten unter ihnen, des
Fürsten Basil:

„Wir sündigen, wir betrügen. Und wozu das alles? Ich habe die Sechzig
hinter mir, mein Freund... Alles endigt mit dem Tod... Der Tod, welch
ein Grausen!”

Von diesen schalen, lügnerischen Müßiggängern, die jeder Verirrung und
jedes Verbrechens fähig sind, heben sich gewisse gesundere Naturen ab:
die Aufrichtigen, teils aus Treuherzigkeit, wie Peter Besukow, teils
dank ihrer völligen Unabhängigkeit oder aus russischem Empfinden heraus,
wie Maria Dmitriewna, teils aus jugendlicher Frische, wie die kleinen
Rostows; -- dann die Gütigen und Gottergebenen, wie die Prinzessin
Marie; -- und schließlich jene, die nicht gut sondern stolz sind, und
die dieses ungesunde Dasein quält, wie der Fürst Andrej.

Dann aber setzt die erste Wellenbewegung ein. Die Handlung. Das
russische Heer in Österreich. Das Verhängnis herrscht nirgends
unumschränkter als dort, wo die Urkräfte entfesselt sind: im Krieg. Die
wirklichen Führer sind die, welche nicht zu lenken versuchen, sondern
die wie Kutuzow oder Bagration versuchen glauben zu machen, „daß ihre
persönlichen Absichten in voller Übereinstimmung mit dem sind, was in
Wahrheit die einfache Wirkung der Macht der Verhältnisse, des Willens
der Untergebenen und der Laune des Zufalls ist”. Welch eine Wohltat,
sich ganz der Hand des Schicksals zu überlassen! Welch ein Glück liegt
in dem normalen und gesunden Zustand, bloß handeln zu brauchen. Die
bedrängten Gemüter finden ihr Gleichgewicht wieder. Fürst Andrej atmet
auf, beginnt zu leben... Und während dort unten, weitab von dem
belebenden Hauch dieser gesegneten Stürme, die beiden wertvollsten
Menschen, Peter und die Prinzessin Marie, von der Pest ihrer Umgebung,
der Liebeslüge, bedroht werden, erlebt Fürst Andrej bei Austerlitz
plötzlich mitten im Taumel des Gefechts, der durch seine Verwundung
schroff unterbrochen wird, die Offenbarung der beglückenden
Unendlichkeit. Auf dem Rücken ausgestreckt, „sieht er nichts mehr als
sehr hoch über sich einen grenzenlosen weiten Himmel, über den leichte
graue Wölkchen sanft dahingleiten”.

„Welche Ruhe! Welcher Friede!” sagte er sich, „das war nicht so,
als ich schreiend dahinrannte. Weshalb hatte ich diese uferlose Weite
nicht früher bemerkt? Wie glücklich bin ich, daß ich sie endlich
entdeckt habe! Ja, alles andere ist leer, alles andere ist Täuschung.
Gott sei für diese Ruhe gepriesen!...”

Indessen nimmt ihn das Leben wieder auf, und die Woge ebbt zurück. Die
mutlosen, unruhvollen Seelen irren, in der sittenverderbenden Atmosphäre
der Stadt aufs neue sich selbst überlassen, ziellos durch die Nacht.
Manchmal vermischen sich mit dem vergiftenden Hauch der Welt die
berauschenden und betörenden Ausströmungen der Natur, der Frühling, die
Liebe, die blindwaltenden Kräfte, die die reizende Natascha dem Fürsten
Andrej nahebringen und die sie einen Augenblick später dem erstbesten
Verführer in die Arme treiben. So viel Poesie, Zartheit und
Herzensreinheit wird hier durch die Welt zerstört! Und immer „der weite
Himmel, der sich hoch über der schmählichen Gemeinheit der Erde
breitet”. Aber die Menschen sehen ihn nicht. Selbst Andrej hat die
Erleuchtung von Austerlitz vergessen. Für ihn ist der Himmel nur noch
„ein düsteres, schweres Gewölbe”, das das Nichts überdeckt.

Es ist Zeit, daß der Sturmwind des Krieges aufs neue über diese
blutleeren Seelen dahinbraust. Das Vaterland wird vom Feinde besetzt.
Borodino. Ein Tag von feierlicher Größe. Alle Feindseligkeit schwindet
dahin. Dologow umarmt seinen Freund Peter. Andrej, der verwundet ist,
weint aus Liebe und Mitgefühl über das Unglück Anatol Kuragins, des
Menschen, den er am meisten haßte, und der jetzt auf dem Krankenwagen
sein Nachbar ist. Die Herzen werden eins durch das dem Vaterland
dargebrachte Opfer und die Unterwerfung unter die göttlichen Gesetze.

„Die schreckliche Notwendigkeit des Krieges ernst und gottergeben
hinnehmen... Der Krieg ist für die Freiheit des Menschen die härteste
Form der Unterwerfung unter die göttlichen Gesetze. Die Herzenseinfalt
besteht in der Unterwerfung unter den Willen Gottes.”

Die russische Volksseele und ihre Unterwerfung unter das Schicksal
verkörpert sich in dem Generalissimus Kutuzow:

„Dieser Alte, der, was Leidenschaften angeht, nur die Erfahrung, das
Ergebnis der Leidenschaften, kennt, und bei dem die Intelligenz, die
dazu bestimmt ist, die Tatsachen einzuordnen und Schlüsse aus ihnen zu
ziehen, durch eine philosophische Betrachtungsweise der Ereignisse
ersetzt wird, dieser Alte ersinnt nichts und unternimmt nichts, aber er
hört und behält alles und wird es im geeigneten Augenblick anwenden, er
wird nichts Nützliches verhindern und nichts Schädliches erlauben. Er
erspäht auf den Gesichtern seiner Leute jene unbegreifliche Macht, die
man den Willen zu siegen, den kommenden Sieg nennt. Er läßt etwas
Mächtigeres gelten als seinen Willen: den unaufhaltsamen Lauf der
Tatsachen, die sich vor seinen Augen abrollen; er sieht sie, er verfolgt
sie und versteht es, von seiner Person zu abstrahieren.”

Kurzum, er hat das echt russische Herz. Dieser still-heldenmütige
Fatalismus des russischen Volkes verkörpert sich auch in dem armen,
einfachen, frommen und ergebenen Muschik Plato Karatajew, der noch in
Leid und Tod gütig lächelt. Durch die Prüfungen, das Elend des
Vaterlandes, die Schrecken des Todeskampfes hindurch, gelangen die
beiden Helden des Buches, Peter und Andrej, zu moralischer Befreiung und
schwärmerischer Freude durch die Liebe und den Glauben, die sie den
lebendigen Gott erkennen lassen.

Hiermit schließt Tolstoi keineswegs. Der Epilog, der um 1820 spielt,
bildet einen Übergang von einer Epoche zu einer anderen, vom
napoleonischen Zeitalter zum Zeitalter der Dekabristen. Er gibt das
Gefühl der ununterbrochenen Dauer und des Immerneuerstehens alles
Lebens. Tolstoi beginnt weder, noch schließt er seine Erzählung an einem
entscheidenden Zeitpunkt; er schließt, wie er begonnen hat, in dem
Augenblick, da eine große Welle verebbt und die folgende Welle sich erst
bildet. Schon gewahrt man die künftigen Helden, die Konflikte, die
zwischen ihnen entstehen werden, und die Toten, die in den Lebenden
auferstehen[97].

Ich habe versucht, den großen Linien des Romans nachzugehen; denn selten
gibt man sich die Mühe, sie zu suchen. Aber was soll man von der ganz
außergewöhnlichen Lebendigkeit dieser Hunderte von Helden sagen, die
alle individuell und in unvergeßlicher Weise gezeichnet sind, dieser
Soldaten, Bauern, Edelleute, Russen, Österreicher und Franzosen! Nichts
verrät hier, daß sie erdichtet sind. Zu dieser Reihe von Bildnissen, die
ihresgleichen in der ganzen europäischen Literatur suchen, hat Tolstoi
zahllose Skizzen gemacht, wie er sagt, „Millionen von Entwürfen
miteinander verbunden”, Bibliotheken durchstöbert, seine
Familienarchive[98], seine früheren Notizen, seine persönlichen
Erinnerungen benutzt. Diese bis ins kleinste gehende Vorbereitung bürgt
für die Gründlichkeit der Arbeit, nimmt ihr dabei aber nichts von ihrer
Ursprünglichkeit. Tolstoi arbeitete begeistert, mit einem Eifer und
einer Freude, die sich auch dem Leser mitteilen. Was vor allem „Krieg
und Frieden” den größten Reiz verleiht, ist seine Jugendlichkeit des
Herzens. Kein anderes Werk von Tolstoi weist solchen Reichtum an Kinder-
und Jünglingsseelen auf; und jede dieser Seelen ist Musik aus reinster
Quelle und von einer Anmut, die ergreift und rührt, wie eine Mozartsche
Melodie: der junge Nikolaus Rostow, Sonja, der arme kleine Petja.

Die köstlichste aber ist Natascha. Dieses liebe, seltsame, lachlustige
kleine Mädchen mit dem reichen Herzen, das man neben sich aufwachsen
sieht, und dem man durch das Leben folgt mit der keuschen Zärtlichkeit,
die man für eine Schwester empfände, -- wer glaubt nicht, sie gekannt zu
haben?... Welch wunderbare Frühlingsnacht, in der Natascha an ihrem
mondbeschienenen Fenster tolle Dinge träumt und redet, gerade über dem
Fenster des Fürsten Andrej, der ihr zuhört... Die Aufregungen des ersten
Balles, die Liebe, die Liebeserwartung, das Aufblühen wirrer Wünsche und
Träume, die nächtliche Schlittenfahrt durch den beschneiten Wald, wo
Lichter gespensterhaft schimmern; die Natur, die unklare Sehnsucht
erweckt; ein Abend in der Oper, die seltsame Welt der Kunst, die den
Verstand umschleiert; die Tollheit des Herzens und die Tollheit des
Leibes, der sich nach Liebe sehnt; ein Schmerz, der die Seele läutert;
göttliches Mitleid, das beim sterbenden Geliebten wacht... Man kann
diese Erinnerungen nicht heraufbeschwören, ohne dieselbe Rührung zu
empfinden, als wenn man von der teuersten und geliebtesten Freundin
spräche. Ach, wie läßt einen eine solche Schöpfung die Schwäche der
weiblichen Gestalten in beinahe allen zeitgenössischen Romanen und
Theaterstücken ermessen! Das Leben selbst wird erfaßt, und dabei so
biegsam, so flüssig, daß man es von einer Zeile zur anderen wogen und
wechseln zu sehen vermeint. -- Die häßliche Prinzessin Marie, die durch
Güte schön wird, ist eine nicht minder vollkommene Schöpfung; aber wie
würde sie, dieses schüchterne und linkische Mädchen erröten, wie werden
die, welche ihr gleichen, erröten, wenn sie hier alle Geheimnisse eines
Herzens enthüllt sehen, das sich ängstlich den Blicken entzieht!

[Illustration: Tolstoi im Jahre 1906]

Im allgemeinen übertreffen die Frauencharaktere, wie ich schon
andeutete, die Männercharaktere bei weitem, besonders die der beiden
Helden, die Tolstois eigene Idee verkörpern: die weiche und schwache
Natur Peter Besukows, die lebhafte, aber trockene des Fürsten Andrej
Wolkonski. Dies sind Seelen, denen es an einem festen Ruhepunkt mangelt;
sie schwanken fortwährend, anstatt sich zu entwickeln; sie gehen von
einem Pol zum andern, ohne je vom Fleck zu kommen. Man wird mir
zweifellos entgegnen, daß sie darin echt russisch sind. Ich kann jedoch
dazu bemerken, daß Russen dieselbe Kritik geübt haben. Aus dem gleichen
Anlaß warf Turgenjew der Psychologie Tolstois vor, daß sie nie
weiterkomme. „Keine wahrhafte Entwicklung. Ewige Unschlüssigkeit,
Gefühlsschwankungen.”[99] Tolstoi gab selbst zu, daß er die einzelnen
Charaktere hie und da ein wenig dem historischen Gemälde geopfert
habe[100].

Und die Größe von „Krieg und Frieden” beruht tatsächlich in dem
Wiederaufleben eines ganzen Zeitalters der Geschichte, jener
Völkerwanderung, des Kampfes der Nationen. Seine eigentlichen Helden
sind die Völker und, hinter ihnen, wie hinter den Helden Homers, die
Götter, die sie leiten: die unsichtbaren Mächte, „jene unwägbaren
Größen, die die Massen führen”, der Hauch des Unendlichen. Diese
gigantischen Kämpfe, in denen ein verborgenes Geschick die blinden
Völker aufeinanderstößt, sind von sagenhafter Größe. Auf dem Weg über
die Ilias denkt man an die indischen Heldenlieder[101].

       *       *       *       *       *

„Anna Karenina” bezeichnet mit „Krieg und Frieden” den Höhepunkt
dieser Zeit der Reife. Es ist ein vollkommeneres Werk, ein Werk, das
von einem Geist erfüllt ist, der seiner künstlerischen Berufung noch
sicherer und auch reicher an Erfahrung ist, und für den die Welt des
Herzens keine Geheimnisse mehr hat. Aber ihm fehlen jene jugendliche
Wärme, jene urwüchsige Begeisterung, -- die großen Schwingen von
„Krieg und Frieden”. Tolstoi hat schon nicht mehr dieselbe
Schaffensfreude. Die vorübergehende Beschaulichkeit der ersten Ehezeit
ist dahin. In den Bannkreis der Liebe und der Kunst, den die Gräfin
Tolstoi um ihn zu ziehen verstanden hatte, schleicht sich wieder
langsam innere Unruhe.

Schon ein Jahr nach seiner Heirat weisen in den ersten Kapiteln von
„Krieg und Frieden” die vertraulichen Mitteilungen, die Fürst Andrej
in bezug auf die Ehe Peter gegenüber macht, auf die Ernüchterung des
Mannes hin, der in der geliebten Frau die Fremde sieht, die schuldlose
Feindin, das unwillkürliche Hindernis für seine moralische
Entwicklung. Briefe aus dem Jahre 1865 künden die nahe Wiederkehr
religiöser Qualen an. Zunächst noch weniger bedrohlich, da die Freude
am Leben obsiegt. Aber im Jahre 1869, in den Monaten, in denen Tolstoi
„Krieg und Frieden” vollendet, tritt eine ernstere Erschütterung ein:

Er hatte die Seinen für einige Tage verlassen und sich auf eins seiner
Güter begeben. Eines Nachts lag er im Bett; es hatte gerade 2 Uhr
geschlagen:

„Ich war schrecklich müde, hatte Schlaf, und es ging mir leidlich gut.
Plötzlich wurde ich von einer solchen Angst gepackt, von einem
derartigen Schrecken, wie ich etwas Ähnliches nie empfunden habe. Ich
erzähle Dir das noch in den Einzelheiten[102]: es war wirklich
fürchterlich. Ich sprang aus dem Bett und befahl anzuspannen. Während
man anspannte, schlief ich ein, und als man mich weckte, war ich
vollständig wiederhergestellt. Gestern hat sich dieselbe Geschichte
ereignet, aber in weit geringerem Maße...”

Der Bau der Hoffnung, den die Liebe der Gräfin Tolstoi mühselig
errichtet hatte, weist Risse auf. In der Leere, die den Geist des
Dichters nach Beendigung von „Krieg und Frieden” umfängt, fühlt er
sich aufs neue von seinen philosophischen[103] und pädagogischen
Sorgen bedrückt. Er will eine Fibel fürs Volk schreiben. Vier Jahre
lang arbeitet er mit Feuereifer daran; er ist stolzer darauf als auf
„Krieg und Frieden”; und nachdem er sie im Jahre 1872 geschrieben hat,
arbeitet er sie im Jahre 1875 noch einmal um. Dann vernarrt er sich
ins Griechische, studiert von morgens bis abends, läßt alle andere
Arbeit liegen, entdeckt den „köstlichen Xenophon” und Homer, den
richtigen Homer, nicht den der Übersetzer, „eines Jukowsky, eines
Voss, die mit hohler, greinender, süßlicher Stimme singen”, sondern
„jenen Teufel, der mit voller Stimme singt, ohne daß es ihm je in den
Sinn kommt, es könne jemand zuhören”[104].

„Ohne die Kenntnis des Griechischen keine Bildung!... Ich bin überzeugt,
daß ich von allem, was in dem Wort menschlich wirklich schön, von einer
schlichten Schönheit ist, bis heute nichts wußte.”[105]

Es ist eine Narretei; das gibt er zu. Er wirft sich wieder mit solcher
Leidenschaft aufs Lernen, daß er krank davon wird. Im Jahre 1871 muß er
in Samara bei den Baschkiren eine Kefirkur gebrauchen. Außer dem
Griechischen ist er mit allem unzufrieden. Im Jahre 1872 spricht er
infolge eines Prozesses ernstlich davon, alles, was er in Rußland hat,
zu verkaufen und sich in England anzusiedeln. Die Gräfin Tolstoi härmt
sich darüber:

„Wenn Du Dich immer in Deine Griechen verbohrst, wirst Du nie gesund
werden. Sie sind es, die Dir diese Angst und diese Gleichgültigkeit dem
heutigen Leben gegenüber verursachen. Nicht umsonst nennt man das
Griechische eine tote Sprache: ihre Wirkung ist geisttötend.”[106]

Endlich nach vielen entworfenen und gleich wieder verworfenen Projekten
beginnt er am 19. März 1873 zur größten Freude der Gräfin sein neues
Buch „Anna Karenina”[107]. Während er daran arbeitet, wird sein Leben
durch Trauerfälle in der Familie[108] umdüstert. Seine Frau ist krank.
„Glückseligkeit herrscht nicht in diesem Hause...”[109]

Das Werk trägt ein wenig die Spuren dieser trüben Erfahrungen und
Enttäuschungen[110]. Außer in den hübschen Kapiteln von der Verlobung
Lewins spricht er von Liebe nicht mehr mit dieser jugendlichen Poesie,
die gewisse Seiten in „Krieg und Frieden” neben die schönsten
lyrischen Dichtungen aller Zeiten stellt. Liebe ist jetzt vielmehr
eine stürmische, sinnliche und gewalttätige Angelegenheit geworden.
Das Verhängnis, das über dem Roman schwebt, ist nicht mehr wie in
„Krieg und Frieden” eine Art Gott Krischna, mordlustig und heiter
zugleich, ein Geschick, das über Reiche entscheidet, sondern es ist
die Liebestollheit, „die Göttin Venus”. $Sie$ verleiht der wunderbaren
Ballszene, wo Anna und Wronski, ohne es selbst zu wissen, von der
Leidenschaft erfaßt werden, der unschuldsvollen Schönheit Annas, in
dem schwarzen Samtkleid mit dem Vergißmeinnichtkranz, „eine beinahe
teuflische Verführungskraft”. $Sie$ läßt, nachdem Wronski sich
erklärt hat, Annas Gesicht leuchten, -- „nicht vor Freude: es war
vielmehr das schreckliche Leuchten einer Feuersbrunst in dunkler
Nacht”. $Sie$ ist es auch, die das Blut dieser braven und vernünftigen
Frau, dieser liebevollen jungen Mutter in wollüstige Wallungen bringt
und sich in ihrem Herzen einnistet, um es nicht eher zu verlassen, als
bis sie es vollständig zerstört hat. Niemand nähert sich Anna, ohne
von dem verborgenen Dämon angezogen und erschreckt zu sein. Kitty
entdeckt ihn als erste voll Schauer. Eine geheimnisvolle Furcht mischt
sich in Wronskis Freude, da er Anna sehen soll. Lewin verliert in
ihrer Gegenwart seine ganze Willenskraft. Anna selbst weiß, daß sie
nicht mehr sie selbst ist. Im weiteren Verlauf der Geschichte
untergräbt die unerbittliche Leidenschaft den ganzen moralischen Halt
dieser stolzen Frau Stück für Stück. Alles Gute in ihr, ihr tapferes
und treues Herz verkümmert; sie hat nicht mehr die Kraft, ihre
oberflächliche Eitelkeit zu opfern; ihr Leben hat keinen anderen Zweck
mehr, als ihrem Liebhaber zu gefallen. Aus Angst und Scham versagt sie
es sich, Kinder zu bekommen; Eifersucht martert sie. Die Sinnlichkeit,
von der sie beherrscht wird, zwingt sie in Haltung, Stimme und Blick
zur Lüge; sie sinkt auf die Stufe der Frauen herab, die nichts anderes
wollen, als jedem Mann, wer immer er auch sei, den Kopf zu verdrehen.
Um sich zu betäuben, sucht sie Zuflucht beim Morphium, bis die
unerträglichen Qualen, die sie martern, sie eines Tages im bitteren
Gefühl ihres moralischen Verfalls unter die Räder eines
Eisenbahnwagens werfen. „Und der kleine Muschik, mit dem struppigen
Bart” -- die finstere Erscheinung, die sie und Wronski in ihren
Träumen geschreckt hatte -- „beugte sich vom Trittbrett des Wagens auf
das Geleise hinunter”; und, so sagte der prophetische Traum, „er
beugte sich tief herab über einen Sack und vergrub darin die
Überreste von etwas, das das Leben gewesen war, das Leben mit seinen
Qualen, seinen Täuschungen und seinen Schmerzen...”

„Die Rache ist mein, spricht der Herr.”[111]

Um diese Tragödie eines Herzens, das von der Liebe verzehrt und vom
Gesetz Gottes zermalmt wird, -- ein Werk aus einem Guß und von
erschreckender Tiefe -- hat Tolstoi, wie in „Krieg und Frieden”, die
Romane anderer Leben gruppiert. Leider folgen sich hier die
nebeneinander laufenden Geschichten ein wenig willkürlich und künstlich,
ohne zu einem organischen Ganzen zu werden, wie die Symphonie „Krieg und
Frieden”. Man wird auch finden, daß der vollkommene Realismus gewisser
Szenen -- z. B. die Schilderung der aristokratischen Kreise Petersburgs
und ihrer müßigen Reden -- manchmal im Grunde recht überflüssig ist. Und
schließlich hat Tolstoi seine moralische Persönlichkeit und seine
philosophischen Ideen noch offener als in „Krieg und Frieden” rein
äußerlich in dieses Lebensbild hineingetragen. Deshalb aber ist das Werk
von nicht geringerem wunderbaren Reichtum. Dieselbe Fülle von Gestalten
wie in „Krieg und Frieden”, und alle erstaunlich gut beobachtet. Die
Männer erscheinen mir womöglich noch besser gelungen als die Frauen.
Tolstoi hat sich darin gefallen, den liebenswürdigen Egoisten Stefan
Arkadjewitsch zu zeichnen, dem niemand begegnen kann, ohne sein
einnehmendes Lächeln zu erwidern, und Karenin, den vollendeten Typus
des hohen Beamten, des vornehmen Durchschnittsstaatsmannes, mit der
Sucht, seine wahren Gefühle dauernd hinter Ironie zu verbergen: eine
Mischung aus Würde und Feigheit, Pharisäertum und Christenglauben, ein
sonderbares Produkt einer künstlichen Welt, von der er sich trotz seiner
Intelligenz und tatsächlichen Großzügigkeit nicht freimachen kann, --
und der wohl mit Recht seinem Herzen mißtraut; denn als er sich ihm
schließlich überläßt, verfällt er einem albernen Mystizismus.

Der Roman mit der Annatragödie und den verschiedenartigen Bildern der
russischen Gesellschaft um 1860 -- Salons, Offizierskreisen, Bällen,
Theatern, Rennen -- fesselt aber vornehmlich seines autobiographischen
Charakters wegen. Viel mehr als irgend eine andere Figur von Tolstoi ist
Konstantin Lewin seine Verkörperung. Tolstoi gab ihm nicht nur seine
gleichzeitig konservativen und demokratischen Ideen eines reaktionären
Landedelmanns, der die Intellektuellen[112] verachtet, er gab ihm auch
dieselben Lebensschicksale. Die Liebe Lewins und Kittys und ihre ersten
Ehejahre sind eine Übertragung seiner eigenen häuslichen Erinnerungen,
-- ebenso wie der Tod von Lewins Bruder ein schmerzliches
Heraufbeschwören des Todes von Tolstois Bruder Dmitri ist. Der ganze
letzte Teil, der für den Roman unwesentlich ist, gibt uns Aufschluß über
die Kümmernisse, die damals Tolstoi bewegten. Wenn das Nachwort zu
„Krieg und Frieden” eine künstlerische Überleitung zu einem anderen
geplanten Werke darstellt, so ist das Nachwort zu „Anna Karenina” eine
autobiographische Überleitung zur moralischen Revolution, die zwei Jahre
später in der „Beichte” zum Ausdruck kommen sollte. Schon innerhalb
des Buches wird fortwährend, bald ironisch, bald heftig, Kritik geübt
an der zeitgenössischen Gesellschaft, die er auch in seinen späteren
Werken unaufhörlich bekämpfte. Krieg der Lüge, allen Lügen, den
frommen sowohl wie den gottlosen, Krieg dem freisinnigen Gerede, der
Wohltätigkeit der guten Gesellschaft, der Salonreligion, dem
Philanthropentum! Krieg der Welt, die alle echten Gefühle verfälscht
und die edle Begeisterung der Herzen unheilvoll vernichtet! Der Tod
wirft ein jähes Licht auf die gesellschaftlichen Bräuche. Angesichts
der sterbenden Anna wird der geschraubte Karenin gerührt. In diese
Seele ohne Leben, in der alles erkünstelt ist, dringt ein Strahl von
Liebe und christlicher Vergebung. Alle drei, der Gatte, die Frau und
der Liebhaber, sind plötzlich verwandelt. Alles wird einfach und ohne
Falsch. Aber in dem Maße, wie Anna sich erholt, merken sie alle drei,
„angesichts der nahezu heiligen sittlichen Kraft, die sie innerlich
leitete, das Bestehen einer anderen rohen, aber allmächtigen Macht,
die ihr Leben gegen ihren Willen beherrscht und ihnen keinen Frieden
gönnen wird”. Und sie wissen im voraus, daß sie machtlos sein werden
in diesem Kampf, in dem „sie das Böse, das die Welt für notwendig
hält, werden tun müssen”[113].

Wenn sich Lewin, im Nachwort des Buches, wie Tolstoi, den er verkörpert,
auch seinerseits läutert, so geschieht das, weil der Tod auch ihn
berührt hat. Bis dahin „war er unfähig zu glauben, aber ebenso
unfähig, vollständig zu zweifeln”. Seitdem er seinen Bruder sterben
gesehen, packt ihn der Schrecken über seine Unwissenheit. Seine Heirat
erstickt eine Zeitlang diese Ängste. Aber mit der Geburt seines ersten
Kindes erscheinen sie wieder. Er macht abwechselnd Zeiten der
Frömmigkeit und Zeiten der Gottesleugnung durch. Vergebens liest er
die Philosophen. In seiner Verirrung kommt er so weit, daß er die
Lockung des Selbstmordes fürchtet. Die körperliche Arbeit verschafft
ihm Erleichterung: da gibt es keine Zweifel, alles ist klar. Lewin
unterhält sich mit den Bauern, und einer von ihnen spricht ihm von den
Menschen, „die nicht um ihretwillen, sondern um Gottes willen leben”.
Das ist ihm eine Erleuchtung. Er sieht den Widerstreit zwischen der
Vernunft und dem Herzen. Die Vernunft lehrt den wilden Kampf ums
Dasein; aber die Nächstenliebe hat nichts mit der Vernunft zu tun:
„Die Vernunft hat mich nichts gelehrt; alles was ich weiß, hat mir das
Herz gegeben, hat mir das Herz offenbart”.

Von da ab kehrt Ruhe in ihn zurück. Das Wort des demutsvollen Muschiks,
dem das Herz der einzige Führer ist, hat ihn zu Gott zurückgeführt...
Zu welchem Gott? Er will es gar nicht wissen. In diesem Augenblick ist
Lewin, wie Tolstoi es noch lange bleiben sollte, der Kirche ergeben und
empört sich durchaus nicht gegen ihre Dogmen.

„Es gibt eine Wahrheit, selbst im Trugbild des Himmelsgewölbes und in
der scheinbaren Bewegung der Gestirne.”



Solche Angstzustände, solche Selbstmordgedanken, wie Lewin sie vor Kitty
verbarg, verbarg Tolstoi zu jener Zeit vor seiner Frau. Aber er hatte
noch nicht die Ruhe errungen, die er seinem Helden verlieh. Diese Ruhe
ist in der Tat kaum zu erlangen. Man spürt, daß sie mehr ersehnt als
erreicht ist, und daß Lewin sogleich wieder in seine Zweifel
zurückfallen wird. Tolstoi täuschte sich darüber nicht. Es hatte ihn
viel Mühe gekostet, sein Werk zu Ende zu führen. „Anna Karenina”
langweilte ihn, ehe er es beendet hatte[114]. Er konnte nicht mehr
arbeiten. Er blieb untätig und willenlos als Beute des Abscheus und des
Entsetzens vor sich selbst. Da erhob sich in der Leere seines Lebens ein
starker Sturm aus der Tiefe, der Schwindel des Todes. Tolstoi hat
später, als er gerade dem Abgrund entronnen war, von diesen
schrecklichen Jahren erzählt[115].

„Ich war keine 50 Jahre alt”, sagt er[116], „ich liebte, ich wurde
geliebt, ich hatte gute Kinder, ein großes Gut, Ruhm, Gesundheit,
sittliche und körperliche Kraft; ich konnte mähen wie ein Bauer; ich
arbeitete ununterbrochen zehn Stunden, ohne zu ermüden. Plötzlich
stockte mein Leben. Ich konnte atmen, essen, trinken, schlafen. Aber das
war nicht leben. Ich hatte keine Wünsche mehr. Ich wußte, daß es nichts
zu wünschen gab. Ich konnte sogar nicht einmal wünschen, die Wahrheit
kennen zu lernen. Die Wahrheit war, daß das Leben eine Tollheit ist. Ich
war am Abgrund angelangt, und ich sah klar, daß es vor mir nichts als
den Tod gab. Ich gesunder und glücklicher Mensch fühlte, daß ich nicht
mehr leben konnte. Eine unüberwindliche Macht trieb mich dazu, mich des
Lebens zu entledigen... Ich will nicht sagen, daß ich mich töten wollte.
Die Kraft, die mich zum Leben hinausstieß, war mächtiger als ich. Es war
ein Sehnen, ähnlich meinem früheren Sehnen nach dem Leben, nur im
entgegengesetzten Sinn. Ich mußte mir selbst gegenüber Listen ersinnen,
um ihm nicht zu schnell nachzugeben. Und so versteckte ich glücklicher
Mensch vor mir selbst den Strick, um mich nicht am Balken zwischen den
Schränken meines Zimmers aufzuhängen, wo ich jeden Abend beim Auskleiden
allein war. Ich ging nicht mehr mit meinem Gewehr auf die Jagd, um nicht
in Versuchung zu geraten[117]. Mir kam es vor, als ob mein Leben eine
blöde Posse sei, die mir von irgend jemand vorgespielt wurde. Vierzig
Jahre der Arbeit, der Mühe, des Fortschritts, um schließlich zu sehen,
daß alles umsonst war! Umsonst! Von mir wird nichts übrig bleiben, als
Verwesung und Würmer... Man kann nur leben, wenn man vom Leben berauscht
ist; aber sobald der Rausch vorüber ist, sieht man, daß alles nur Betrug
ist, blöder Betrug... Die Familie und die Kunst konnten mir nicht mehr
genügen. Die Familie, das waren Unglückliche wie ich. Die Kunst ist ein
Spiegel des Lebens. Wenn das Leben keinen Sinn mehr hat, kann das Spiel
des Spiegels nicht mehr erheitern. Und das Schlimmste war, ich konnte
nicht zu mir selbst finden. Ich glich einem Menschen, der sich im Wald
verirrt hat, und der von Entsetzen ergriffen wird, weil er sich verirrt
hat, und nach allen Seiten rennt und nicht still stehen kann, obwohl er
weiß, daß er sich bei jedem Schritt noch mehr verirrt...”

Das Heil kam vom Volk. Tolstoi hatte ihm immer „eine seltsame, geradezu
körperliche Zuneigung”[118] entgegengebracht, die von den wiederholt
erlebten Enttäuschungen nicht erschüttert werden konnte. In den letzten
Jahren war er, wie Lewin, vielfach mit ihm in Berührung gekommen[119].
Er fing an, dieser Milliarden von Wesen zu gedenken, außerhalb des engen
Kreises der Gelehrten, der Reichen und der Müßiggänger, die sich
töteten, sich betäubten oder feige, wie er, ein hoffnungsloses Leben
weiterführten. Er fragte sich, wie es möglich sei, daß diese Milliarden
von Wesen jener Verzweiflung nicht anheimfielen und sich nicht töteten.
Und er erkannte bald, daß sie nicht mit Hilfe der Vernunft lebten,
sondern ohne sich um diese zu kümmern -- durch den Glauben. Was war das
für ein Glaube, der die Vernunft nicht kannte?

„Der Glaube ist die Kraft des Lebens. Man kann ohne den Glauben nicht
leben. Die religiösen Ideen sind in entschwundenen Zeiten vom
menschlichen Geist verarbeitet worden. Die Antworten, die der Sphinx des
Lebens vom Glauben gegeben werden, enthalten die tiefste Weisheit der
Menschheit.”

Genügt es also, diese Weisheitssätze, die das Buch der Religionen
aufgezeichnet hat, zu kennen? -- Nein, der Glaube ist keine
Wissenschaft, der Glaube ist eine Tat; er hat nur Sinn, wenn er gelebt
wird. Der Widerwille, den Tolstoi der Anblick der Reichen und
„religiösen” Leute, für die der Glaube nur eine Art „epikureischer
Lebenstrost” war, einflößte, verwies ihn endgültig unter die einfachen
Menschen, weil nur sie allem ihr Leben mit ihrem Glauben in Einklang
brachten.

„Und er begriff, daß das Leben des werktätigen Volkes das Leben an sich
war, und daß der diesem Leben innewohnende Sinn die Wahrheit war.”

Aber wie soll man es anfangen, zum Volk zu gehören und seinen Glauben zu
teilen? Wenn man auch wissen mag, daß die anderen recht haben, so hängt
es doch nicht von uns ab, wie sie zu sein. Vergebens beten wir zu Gott;
vergebens breiten wir unsere leeren Arme nach ihm aus. Gott entflieht.
Wo soll man ihn fassen?

Aber eines Tages kam die Gnade.

„An einem Vorfrühlingstag war ich allein im Wald und lauschte seinem
Rauschen. Ich dachte an meine Unruhe während der letzten drei Jahre, an
mein Suchen nach Gott, an mein dauerndes Schwanken zwischen Freude und
Verzweiflung... Und plötzlich sah ich, daß ich nur lebte, wenn ich an
Gott glaubte. Wenn ich nur an ihn dachte, erhoben sich in mir die frohen
Wogen des Lebens. Alles ringsum belebte sich, alles bekam einen Sinn.
Aber sobald ich nicht mehr an ihn glaubte, stockte plötzlich das Leben.
-- ‚Was suche ich also noch?’ rief eine Stimme in mir. ‚Er ist es
doch, ohne den man nicht leben kann! Gott kennen und leben ist eins.
Gott ist das Leben...’

Seitdem hat mich diese Leuchte nie mehr verlassen.”[120]

Er war gerettet. Gott war ihm erschienen[121].

Aber da er kein indischer Mystiker war, dem die Ekstase genügt, da sich
in ihm der Hang zur Vernunft und der Tätigkeitsdrang des Abendländers
den Träumen des Asiaten beimischte, so mußte er die ihm gewordene
Offenbarung in praktischen Glauben umsetzen und aus diesem göttlichen
Erleben Regeln für das tägliche Leben ableiten. Ohne jede Parteinahme,
mit dem aufrichtigen Wunsch, den Glauben der Seinen zu teilen, fing er
an, die Lehre der orthodoxen Kirche, der er angehörte, zu
studieren[122]. Um ihr näherzukommen, unterwarf er sich drei Jahre lang
all ihren Zeremonien, beichtete, nahm das Abendmahl, wagte nicht über
das, was ihn befremdete, zu Gericht zu sitzen, ersann Erklärungen für
das, was er dunkel oder unverständlich fand, vereinte sich im selben
Glauben mit allen Lebenden und Toten, die er liebte, und gab die
Hoffnung nicht auf, daß in einem gewissen Augenblick „die Liebe ihm die
Pforten der Wahrheit erschlösse”. -- Aber er konnte machen, was er
wollte: sein Verstand und sein Herz lehnten sich dagegen auf. Handlungen
wie die Taufe und das Abendmahl erschienen ihm unerhört. Wenn man ihn
zwang nachzusprechen, daß die Hostie der wirkliche Leib und das
wirkliche Blut Christi sei, „war es ihm, als ob man ihm ein Messer ins
Herz stieße”. Aber trotzdem waren es nicht die Dogmen, die zwischen ihm
und der Kirche eine unübersteigbare Mauer errichteten, sondern die
praktischen Fragen, -- insbesondere zwei: die haßerfüllte gegenseitige
Unduldsamkeit der Kirchen[123] und die ausdrückliche oder
stillschweigende Sanktionierung des Mordes: -- der Krieg und die
Todesstrafe.

[Illustration: Tolstoi und seine Frau, die Gräfin Tolstoi]

Nun brach Tolstoi völlig mit der Kirche, und sein Bruch war um so
schroffer, als er die letzten drei Jahre seinem Denken ihr gegenüber
Gewalt angetan hatte. Er schonte nichts mehr. Voll Zorn trat er die
Religion, auf deren Ausübung er tags zuvor noch hartnäckig bestanden
hatte, mit Füßen. In seiner „Kritik der dogmatischen Theologie”
(1879-1881) behandelte er sie nicht nur als „Tollheit, sondern als
bewußte, eigennützige Lüge”[124]. Er stellte ihr in seiner
„Konkordanz und Übersetzung der vier Evangelien” (1881-1883) das
Evangelium gegenüber. Auf dem Evangelium baute er schließlich seinen
Glauben auf. „Mein Glaube” (1883).

Er faßt ihn in folgende Worte:

„Ich glaube an die Lehre Christi. Ich glaube, daß das Glück auf Erden
nur möglich ist, wenn alle Menschen tun werden, was diese Lehre
vorschreibt.”

Der Eckstein des Glaubens ist für Tolstoi die Bergpredigt, deren
Hauptlehre er in fünf Gebote zusammenfaßt:

    I. Du sollst nicht in Zorn geraten.

   II. Du sollst nicht ehebrechen.

  III. Du sollst nicht schwören.

   IV. Du sollst nicht Böses mit Bösem vergelten.

    V. Du sollst niemandes Feind sein.

Das ist der negative Teil der Lehre, deren positiver Teil sich in dem
einen Gebot zusammenfassen läßt:

Liebe Gott und deinen Nächsten, wie dich selbst.

„Christus hat gesagt, wer das geringste dieser Gebote übertritt, wird
den geringsten Platz im Himmelreich bekommen.”

Und Tolstoi fügt naiv hinzu:

„So seltsam es klingt, so habe ich doch nach achtzehn Jahrhunderten
diese Regeln als etwas Neues entdecken müssen.”

Glaubt nun Tolstoi etwa an die Göttlichkeit Christi? -- Keineswegs.
Weshalb beruft er sich dann auf ihn? Als auf den Größten aus dem
Geschlecht der Weisen, -- der Brahmanen, Buddha, Lao Tse, Konfuzius,
Zarathustra, Jesaja, -- die den Menschen das wahre Glück, das sie
erstreben, gezeigt haben und den Weg, den sie beschreiten müssen[125].
Tolstoi ist der Schüler dieser großen Religionsschöpfer, dieser
Halbgötter, dieser indischen, chinesischen und jüdischen Propheten. Er
verteidigt sie -- was er unter verteidigen versteht: indem er angreift
-- gegen die, die er „Pharisäer” und „Schriftgelehrte” nennt:
gegen die bestehenden Kirchen und gegen die Vertreter der
stolzen Wissenschaft, oder besser „der wissenschaftlichen
Scheinphilosophie”[126]. Nicht als ob er die Offenbarung gegen die
Vernunft anriefe. Seitdem er die Zeiten der Bedrängnis, über die er in
der „Beichte” berichtet, überwunden hat, ist und bleibt er im
wesentlichen ein Vernunftgläubiger, man könnte sagen ein
Vernunftmystiker.

„Im Anfang war das Wort”, wiederholt er mit dem Evangelisten Johannes,
„das Wort, logos, d. i. die Vernunft.”[127]

Sein Buch „Das Leben” (1887) trägt als Motto die berühmten Worte
Pascals[128]:

„Der Mensch ist nur ein Rohr, das schwächste der Natur, aber ein
denkendes Rohr... Unser ganzes Ansehen beruht auf dem Denken... Bemühen
wir uns also, gut zu denken: das ist das Prinzip der Sittlichkeit.”

Und das ganze Buch ist ein einziger Hymnus auf die Vernunft.

Es ist wahr, daß seine Vernunft nicht die wissenschaftliche, die
beschränkte Vernunft ist, „die den Teil für das Ganze hält und das
tierische Leben für das ganze Leben”, sondern sie ist das höchste
Gesetz, das das Menschenleben lenkt, „das Gesetz, nach dem
notwendigerweise die vernünftigen Wesen, d. h. die Menschen, leben
müssen.”

„Es ist ein Gesetz, ähnlich denen, die die Ernährung und Fortpflanzung
des Tieres, das Wachsen und Blühen von Gras und Baum, die Bewegung von
Erde und Sternen lenken. Erst in der Erfüllung dieses Gesetzes, in der
Unterwerfung unserer Tiernatur unter das Vernunftgesetz, mit der
Absicht, das Gute zu erobern, beruht unser Leben... Die Vernunft kann
nicht definiert werden, und man braucht sie nicht zu definieren; denn
wir alle kennen sie nicht nur, sondern wir kennen nur sie... Alles was
der Mensch weiß, weiß er mittels der Vernunft und nicht des
Glaubens[129]... Das wirkliche Leben beginnt erst in dem Augenblick, da
sich die Vernunft offenbart. Das einzig wahre Leben ist das auf der
Vernunft aufgebaute Leben.”

Was ist somit die sichtbare Existenz, unser Leben als Individuum?
„Es ist nicht unser Leben,” sagt Tolstoi, „denn es hängt nicht von
uns ab.”

„Unsere animalische Betätigung vollzieht sich außerhalb von uns
selbst... Die Menschheit hat längst damit aufgeräumt, das menschliche
Leben als die Existenz eines Individuums zu betrachten. Daß das Gute
unmöglich dem Einzelindividuum eingeboren sein kann, ist eine
unumstößliche Wahrheit für jeden Menschen unserer Zeit, der mit Vernunft
begabt ist.”[130]

Es gibt da eine Reihe von Forderungen, worüber ich hier nicht zu
sprechen habe, die aber zeigen, mit welcher Leidenschaft die Vernunft
sich Tolstois bemächtigt hatte. Im Grunde beherrschte ihn diese neue
Leidenschaft nicht weniger blind und eifersüchtig, als jene anderen
Leidenschaften, die ihn während der ersten Hälfte seines Lebens erfaßt
hatten. Das eine Feuer erlischt, das andere entzündet sich. Oder
vielmehr, es ist immer das nämliche. Nur die Nahrung, die es erhält,
wechselt.

Was diese Ähnlichkeit zwischen den Leidenschaften des Individuums und
der Leidenschaft des Vernunftmenschen noch verstärkt, ist, daß es der
einen wie den anderen nicht genügt, zu lieben, sie wollen handeln, sie
wollen sich in die Tat umsetzen.

„Man soll nicht reden, sondern handeln”, sagt Christus.

Und worin besteht die Betätigung der Vernunft? -- In der Liebe.

„Die Liebe ist die einzige vernunftgemäße Betätigung des Menschen, die
Liebe ist der vernünftigste und lichtreichste Zustand der Seele. Alles,
was der Mensch braucht, ist, daß nichts ihm die Sonne der Vernunft
verberge, die allein ihn zum Wachstum bringt... Die Liebe ist das wahre
Gut, das höchste Gut, das alle Widersprüche des Lebens aufhebt, das
nicht nur die Schrecken des Todes verscheucht, sondern auch den Menschen
dazu treibt, daß er sich für andere opfere; denn es gibt keine andere
Liebe als die, welche ihr Leben hingibt für die, so sie liebt. Die Liebe
ist nur dann dieses Namens wert, wenn sie sich selbst zum Opfer bringt.
So ist denn auch die echte Liebe nur in die Wirklichkeit umzusetzen,
wenn der Mensch begreift, daß ein persönliches Glück für ihn unmöglich
zu erreichen ist. Dann erst versehen alle seine Lebenssäfte das edle
Reis der echten Liebe mit Nahrung; und dieses Reis entnimmt seine ganze
Wachstumskraft dem Stamme dieses wilden Baumes, dem Instinkt des
Individuums.”[131]

So gelangt Tolstoi nicht zum Glauben wie ein ausgetrockneter Fluß, der
sich im Sand verliert, er bringt den Strom ungestümer Kräfte mit, die
sich während eines reichen Lebens angesammelt haben. -- Man wird es noch
im einzelnen sehen.

Dieser leidenschaftliche Glaube, in dem sich Vernunft und Liebe in
inniger Verbindung einen, findet seinen erhabensten Ausdruck in der
berühmten Antwort an den heiligen Synod, der ihn in den Kirchenbann
tat[132]:

„Ich glaube an Gott, der für mich der Geist, die Liebe, der Urquell
aller Dinge ist. Ich glaube, daß er in mir ist, wie ich in ihm bin. Ich
glaube, daß der Wille Gottes nie klarer ausgedrückt wurde, als in der
Lehre des Menschen Jesus Christus; aber man kann Christum nicht als Gott
ansehen und ihn anbeten, ohne die größte Gotteslästerung zu begehen. Ich
glaube, daß das wahre Glück des Menschen in der Erfüllung des Willens
Gottes beruht; ich glaube, daß es der Wille Gottes ist, daß jeder Mensch
seine Nächsten liebe und stets gegen sie handle, wie er möchte, daß sie
gegen ihn handeln, was, wie das Evangelium sagt, der Geist des
Testamentes und der Propheten ist. Ich glaube, daß für jeden von uns der
Sinn des Lebens nur darin besteht, die Liebe in uns zu vergrößern; ich
glaube, daß diese Entfaltung unserer Liebeskraft einem täglich
wachsenden Glück in diesem Leben und einer vollkommeneren Glückseligkeit
im Jenseits gleichkommt; ich glaube, daß dieses Wachsen der Liebe, mehr
als jede andere Kraft, beitragen wird zur Gründung des Reiches Gottes
auf Erden, indem es eine Lebensordnung, in der Zwist, Lüge und Gewalt
allmächtig sind, ersetzt durch eine Einrichtung, in der Eintracht,
Wahrheit und Brüderlichkeit herrschen werden. Ich glaube, daß es nur ein
Mittel gibt, in der Liebe fortzuschreiten: das Gebet. Nicht das
öffentliche Gebet in den Tempeln, das Christus ausdrücklich verworfen
hat (Matthäi VI, 5-13), sondern das Gebet, zu dem er selbst uns das
Beispiel gegeben hat, das Gebet des einzelnen, das in uns das Bewußtsein
vom Sinn unseres Lebens und das Gefühl, daß wir nur vom Willen Gottes
abhängen, wieder stärkt... Ich glaube an das ewige Leben, ich glaube,
daß dem Menschen seine Taten vergolten werden, hier und überall, jetzt
und immerdar. Ich glaube dies alles so fest, daß ich in meinem Alter, an
der Schwelle des Grabes, mir oft Gewalt antun muß, um nicht den Tod
meines Leibes zu erflehen, will sagen meine Geburt zu einem neuen
Leben...”



Er glaubte, er sei im Hafen gelandet und habe die Zufluchtsstätte
erreicht, wo seine unruhige Seele Ruhe finden könnte. Es war nur der
Auftakt zu neuer Unruhe.

Nachdem er einen Winter in Moskau zugebracht hatte (aus
Familienrücksichten mußte er den Seinen dorthin folgen),[133] gab ihm im
Januar 1882 die Volkszählung, an der man ihn teilnehmen ließ,
Gelegenheit, das Elend der großen Städte aus der Nähe zu sehen. Der
Eindruck, den es auf ihn machte, war erschreckend. Am Abend des Tages,
an dem er zum erstenmal mit dieser verborgenen Wunde der Zivilisation in
Berührung gekommen war und einem Freund erzählte, was er gesehen hatte,
„hub er an zu klagen, zu weinen und die Faust zu ballen.”

„So kann man nicht leben!” sagte er unter Schluchzen. „Das kann nicht
sein! Das kann nicht sein!...”[134] Für Monate verfiel er wieder in
schreckliche Verzweiflung. Die Gräfin Tolstoi schrieb ihm am 3. März
1882:

„Vor kurzem sagtest Du: ‚Aus Mangel an Glauben wollte ich mich
aufhängen’. Jetzt hast Du den Glauben, warum bist Du also
unglücklich?”

[Illustration: Tolstoi und seine ältere Tochter Tatjana]

Weil er nicht den Glauben des Pharisäers hatte, den scheinheiligen und
selbstzufriedenen Glauben, weil er nicht den Egoismus des mystischen
Denkers besaß, der allzu beschäftigt mit seinem Heil ist, als daß er an
das der anderen denken könnte[135], weil er voll Liebe war, weil er die
Elenden, die er gesehen hatte, nicht mehr vergessen konnte, und weil es
ihm in der leidenschaftlichen Güte seines Herzens schien, daß er für
ihre Leiden und ihre Erniedrigung verantwortlich sei: sie waren die
Opfer jener Zivilisation, an deren Vorrechten er teilhatte, jenes
Molochs, dem eine auserwählte Kaste Millionen von Menschen opferte. Die
Wohltaten solcher Verbrechen genießen, hieß an ihnen teilnehmen. Sein
Gewissen hatte keine Ruhe mehr, bis er sie nicht aufgedeckt hatte.

„Was sollen wir denn tun?” (1884-1886) ist der Ausdruck dieser zweiten
Krisis, die viel tragischer und viel folgenschwerer war als die erste.
Was bedeuteten Tolstois eigene religiöse Ängste in diesem Meer
menschlichen Elends, eines Elends, das tatsächlich war und nicht nur
ausgedacht vom Geist eines Müßiggängers, der sich langweilt? Es war
unmöglich, dieses Elend nicht zu sehen. Und unmöglich, nicht um jeden
Preis den Versuch zu machen, es zu unterdrücken, nachdem man es einmal
gesehen hatte. -- Aber ach, ist dies überhaupt möglich?...

Ein wundervolles Bildnis Tolstois aus jener Zeit, das ich nicht ohne
Rührung betrachten kann[136], sagt zur Genüge, was er damals litt. Es
stellt ihn von vorne gesehen dar, sitzend mit verschränkten Armen, im
Muschikkittel; er schaut niedergedrückt drein. Sein Haar ist noch
schwarz, sein Schnurrbart schon grau, sein Kinn- und Backenbart ganz
weiß. Eine doppelte Falte gräbt eine harmonische Furche in die schöne
hohe Stirn. So viel Güte liegt in der breiten treuen Hundenase, in den
Augen, die einen so frei, so klar, so traurig anschauen! Sie lesen so
sicher in einem! Sie klagen und bitten. Das Gesicht ist eingefallen,
zeigt Spuren des Leides, tiefe Runzeln unter den Augen. Er hat geweint.
Aber er ist stark und kampfbereit.

Seine Logik war heldenhaft.

„Ich wundere mich immer über die so oft wiederholten Worte: ‚Ja, das
ist ganz schön in der Theorie, aber wie wird es in der Praxis sein?’
Als ob die Theorie in schönen Worten für die Unterhaltung bestände,
aber keineswegs um sie zur Praxis werden zu lassen!... Wenn ich eine
Sache, über die ich nachgedacht, verstanden habe, dann kann ich sie
nicht anders ausführen, als wie ich sie verstanden habe.”[137]

Er fängt an, das Elend in Moskau, wie er es im Verlauf seiner Besuche in
den Armenvierteln und in den Nachtasylen gesehen hat, mit
photographischer Treue zu beschreiben[138]. Er überzeugt sich davon, daß
er diese Unglücklichen, die mehr oder weniger von der Verderbnis der
Städte ergriffen sind, nicht, wie er erst geglaubt hatte, mit Geld
retten kann. Nun sucht er energisch den Ursprung des Übels zu ergründen.
Und Glied um Glied entrollt sich die fürchterliche Kette der
Verantwortlichkeit. Zunächst die Reichen und das Gift ihres verfluchten
Luxus, der lockt und verdirbt[139]. Die allgemeine Versuchung des Lebens
ohne Arbeit. -- Dann der Staat, diese mörderische Einrichtung, die von
den Gewalthabern geschaffen wurde, um zu ihrem Nutzen die übrige
Menschheit auszurauben und zu beherrschen. -- Die Kirche, die
Wissenschaft und die Kunst als Spießgesellen ... Wie soll man alle diese
Heere des Bösen bekämpfen? Zuvörderst, indem man ablehnt, in sie
einzutreten. Indem man ablehnt, an der Ausbeutung der Menschheit
teilzunehmen. Indem man auf Geld und irdischen Besitz verzichtet[140].
Indem man dem Staate nicht dient.

Aber das ist nicht genug; man soll „nicht lügen”, man soll keine Angst
vor der Wahrheit haben. Man soll „bereuen” und den schon von der Schule
her eingewurzelten Hochmut ausrotten. Schließlich soll man körperliche
Arbeit tun. ‚Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen’
ist das oberste und wichtigste Gebot[141]. Und Tolstoi sagt im voraus
als Antwort auf die Spöttereien der Vornehmen, daß die körperliche
Arbeit in nichts die geistigen Kräfte hemme, sondern daß sie sie im
Gegenteil steigere, und daß sie den normalen Forderungen der Natur
entspreche. Die Gesundheit kann dabei nur gewinnen; die Kunst noch mehr.
Außerdem stellt sie die Einigkeit unter den Menschen wieder her.

In seinen folgenden Werken geht Tolstoi daran, diese Vorschriften der
moralischen Gesundheitslehre zu vervollständigen. Er bemüht sich, die
Seelenkur zu Ende zu führen und die Energie zu stärken, indem er die
lasterhaften Vergnügungen, die das Gewissen einschläfern[142], und die
grausamen Vergnügungen, die es töten[143], in Acht und Bann tut. Er
selbst gibt das Beispiel. Im Jahre 1884 hat er seine zutiefst
eingewurzelte Leidenschaft zum Opfer gebracht: die Jagd[144]. Er übt die
Enthaltsamkeit, die den Willen stählt. Wie ein Wettkämpfer, der sich
eine strenge Zucht auferlegt, um siegreich zu fechten.

„Was sollen wir denn tun?” bezeichnet die erste Strecke auf dem
schwierigen Wege, den Tolstoi damit beschritt, daß er die
verhältnismäßig friedliche Tätigkeit religiöser Betrachtung aufgab und
sich in soziale Fragen verwickelte. Und von diesem Augenblick an begann
jener zwanzigjährige Krieg gegen die Verbrechen und Lügen der
Zivilisation, den der greise Prophet von Jasnaja Poljana im Namen des
Evangeliums führte, allein, außerhalb aller Parteien und gegen sie
alle.



In seiner Umgebung begegnete der moralische Umschwung Tolstois nur
geringer Sympathie; er betrübte die Seinen aufs tiefste. Seit langem
schon beobachtete die Gräfin Tolstoi in Unruhe das Fortschreiten eines
Übels, das sie vergebens bekämpfte. Vom Jahre 1874 ab war sie unwillig
darüber, ihren Gatten so viel Kraft und Zeit an Arbeiten für die Schule
verlieren zu sehen:

„Ich verachte diese Fibel, diese Rechenlehre, diese Grammatik, und ich
kann nicht so tun, als ob ich mich dafür interessierte.”

Ganz anders war es, als auf die Pädagogik die Religion folgte. So
feindselig war die Aufnahme, die die Gräfin den ersten Bekenntnissen des
jüngst Bekehrten bereitete, daß Tolstoi die Verpflichtung verspürt, sich
zu entschuldigen, wenn er in seinen Briefen von Gott spricht:

„Ärgere Dich nicht, wie Du es manchmal tust, wenn ich Gott erwähne; ich
kann es nicht vermeiden, denn er ist der Urgrund meines Denkens.”[145]

Die Gräfin ist zweifellos gerührt; sie versucht, ihre Ungeduld nicht
merken zu lassen, aber sie begreift nicht; sie beobachtet ihren Gatten
voll Unruhe:

„Seine Augen sind seltsam, starr. Er spricht fast gar nicht. Er scheint
nicht von dieser Welt zu sein.”[146]

Sie glaubt, daß er krank ist:

„Leo arbeitet, wie er sagt, immer. Unglückseligerweise schreibt er
irgendwelche religiösen Abhandlungen. Er liest und grübelt, bis er
Kopfschmerzen bekommt, und alles das, um zu beweisen, daß die Kirche
nicht mit der Lehre des Evangeliums übereinstimme. In Rußland finden
sich kaum zehn Personen, die das interessieren könnte. Aber da ist
nichts zu wollen. Ich wünsche nur eines: daß er schnellstens ein Ende
damit mache, und daß es wie eine Krankheit vorübergehe.”[147]

Die Krankheit ging nicht vorüber. Das Verhältnis zwischen den beiden
Gatten wurde immer peinlicher. Sie liebten sich, sie hatten die höchste
Achtung voreinander; aber sie konnten sich nicht verstehen. Sie
versuchten, sich gegenseitige Zugeständnisse zu machen, die -- wie das
gewöhnlich ist -- zu gegenseitigen Quälereien wurden. Tolstoi fühlte
sich verpflichtet, den Seinen nach Moskau zu folgen. Er schrieb in sein
Tagebuch:

„Der übelste Monat meines Lebens. Die Einrichtung in Moskau. Alle
richten sich ein. Wann werden sie wohl zu leben anfangen? Alles das,
nicht um zu leben, sondern weil die anderen Leute es ebenso machen!
Diese Unglücklichen!...”[148]

In diesen selben Tagen schrieb die Gräfin:

„Moskau. Morgen wird es einen Monat, daß wir hier sind. In den beiden
ersten Wochen habe ich jeden Tag geweint, weil Leo nicht nur traurig,
sondern geradezu niedergeschlagen war. Er schlief nicht, er aß nicht,
und manchesmal weinte er sogar; ich glaubte, ich würde verrückt.”[149]

Sie mußten sich eine Zeitlang trennen. Sie bitten einander um
Verzeihung, daß sie sich Leid zufügen. Wie lieben sie sich immer
noch!... Er schreibt ihr:

„Du sagst: ‚Ich liebe Dich, aber Du brauchst meine Liebe nicht.’
Deine Liebe ist das einzige, was ich brauche... sie erfreut mich mehr
als alles auf der Welt.”[150]

Aber sobald sie sich wieder zusammenfinden, macht sich der Mißklang
wieder bemerkbar. Die Gräfin vermag nun einmal nicht Tolstois religiösem
Hang zu folgen, der ihn jetzt dazu treibt, bei einem Rabbiner Hebräisch
zu erlernen.

„Nichts anderes interessiert ihn mehr. Er verschwendet seine Kräfte an
Albernheiten. Ich kann meine Unzufriedenheit nicht verbergen.”

Sie schreibt ihm:

„Ich bin nur traurig darüber, daß solche geistigen Kräfte sich mit
Holzhacken, Schuhflicken und Samowarheizen verausgaben.”

Und mit dem zärtlichen und amüsierten Lächeln einer Mutter, die ihr Kind
allerlei unsinnige Spiele treiben sieht, fügt sie hinzu:

„Schließlich habe ich mich mit dem russischen Sprichwort getröstet:
‚Wie das Kind sich auch zerstreut, Hauptsach' ist, daß es nicht
schreit.’”[151]

Aber bevor der Brief noch abgeschickt ist, sieht sie in Gedanken, wie
ihr Mann mit seinen guten, treuherzigen Augen diese Zeilen liest, und
wie der ironische Ton ihn betrübt; und ihre Liebe zu ihm läßt sie den
Brief wieder öffnen:

„Plötzlich hast Du so klar vor mir gestanden, und ich habe eine solche
Zärtlichkeit für Dich empfunden! In Dir ist etwas so Weises, so kindlich
Einfaches, so Treues, und alles das von hellster Güte überstrahlt, und
dieser Blick, der bis ins Herz dringt... und nur Dir allein ist dies
eigen.”

So quälten sich diese beiden Wesen, die einander liebten, und waren dann
trostlos über das Böse, das sie getan hatten, ohne es verhindern zu
können. Eine Schraube ohne Ende! Dieser Zustand dauerte an die dreißig
Jahre, und er fand erst seinen Abschluß, als der sterbende alte König
Lear in einer Stunde der Umnachtung fort aus seinem Hause in die Steppe
flüchtete.

[Illustration: Tolstoi und seine jüngere Tochter Alexandra]

Man hat den ergreifenden Aufruf an die Frauen, mit dem „Was sollen wir
denn tun?” abschließt, nicht genügend beachtet. Tolstoi hat keine
Sympathie für die moderne Frauenbewegung[152]. Aber für die, die er
„die mütterliche Frau” nennt, für die, die den wahren Sinn des Lebens
kennt, hat er Worte ehrfurchtsvoller Anbetung. Er hält eine herrliche
Lobrede auf ihre Schmerzen und ihre Freuden, auf die Schwangerschaft
und auf die Mutterschaft, diese schrecklichen Leiden, diese ruhelosen
Jahre, auf diese erschöpfende Arbeit in aller Stille, für die man von
niemand eine Belohnung erwartet, auf diese Glückseligkeit, die die
Seele überflutet, wenn der Schmerz endet, wenn das Gebot erfüllt ist.
Er entwirft das Bild der tapferen Ehefrau, die für ihren Mann eine
Stütze und kein Hindernis ist. Sie weiß, daß „nur das blinde
unbelohnte Opfer für das Leben der anderen des Menschen Berufung ist”.

„Eine solche Frau wird nicht nur ihren Mann bei einer verkehrten und
trügerischen Arbeit, die bloß den Zweck hat, aus der Arbeit anderer
Genuß zu ziehen, nicht ermutigen, sondern sie wird diese Tätigkeit, die
ein Verderb für ihre Kinder wäre, mit Entsetzen und Abscheu betrachten.
Sie wird von ihrem Gefährten die echte Arbeit verlangen, die Tatkraft
erfordert und die Gefahr nicht scheut... Sie weiß, daß die Kinder, die
kommende Generation, das Heiligste sind, was dem Menschen anvertraut
ist, und daß sie lebt, um mit ihrem ganzen Sein diesem geheiligten Werk
zu dienen. Sie wird in ihren Kindern und in ihrem Ehegatten die Kraft
zum Opfern zur Entfaltung bringen... Solche Frauen beherrschen die
Männer und dienen ihnen als Leitstern... O, ihr mütterlichen Frauen! In
euren Händen ruht das Heil der Welt!”[153]

Das ist der Ruf eines Flehenden, der noch hofft... Wird er kein Gehör
finden?...

Einige Jahre später war der letzte Hoffnungsstrahl erloschen:

„Sie glauben es vielleicht nicht; aber Sie können sich nicht
vorstellen, wie vereinsamt ich bin, bis zu welchem Grad mein wirkliches
Ich von meiner ganzen Umgebung mißachtet wird.”[154]

Wenn die ihm Nahestehenden die Bedeutung seines moralischen Umschwungs
schon so verkannten, dann konnte man von den anderen weder mehr
Einfühlung noch mehr Achtung erwarten. Als Tolstoi besonderen Wert
darauf gelegt hatte, sich mit Turgenjew zu versöhnen, mehr aus dem
Geiste christlicher Demut heraus, als weil sich etwas in seinen
Empfindungen ihm gegenüber geändert hatte[155], äußerte Turgenjew
spöttisch: „Ich beklage Tolstoi sehr, im übrigen aber muß jeder, wie
der Franzose sagt, seine Flöhe nach seiner Manier fangen.”[156]

Ein paar Jahre später, angesichts des Todes, schrieb er an Tolstoi jenen
bekannten Brief, in dem er seinen „Freund, den großen Schriftsteller der
russischen Erde”, anfleht, „zur Literatur zurückzukehren”.

Alle europäischen Künstler schlossen sich dieser Besorgnis und der Bitte
des sterbenden Turgenjew an. Eugen Melchior de Vogüé nahm am Ende der
Studie, die er 1886 Tolstoi widmete, ein Bildnis des Schriftstellers im
Bauernkittel, die Schusterahle in der Hand, zum Vorwand, um einen
beredten Appell an ihn zu richten:

„Schöpfer von Meisterwerken, dies ist nicht dein Werkzeug!... Unser
Werkzeug ist die Feder; unser Feld die Menschenseele, die es auch zu
schützen und zu nähren gilt. Laß dir jenen Schrei eines russischen
Bauern -- des ersten Druckers von Moskau --, den man wieder an den Pflug
zurückschicken wollte, ins Gedächtnis rufen: ‚Es ist nicht meines
Amtes, Getreide zu säen, sondern die geistigen Saatkörner in der Welt
zu verbreiten’.”

Als ob Tolstoi je daran gedacht hätte, seine Rolle als Sämann der
Gedankensaat aufzugeben. In der Einleitung zu „Mein Glaube” schrieb er:
„Ich glaube, daß mein Leben, mein Verstand, mein Licht mir geschenkt
wurde, ausschließlich um die Menschen zu erleuchten. Ich glaube, daß
meine Kenntnis der Wahrheit eine Begabung ist, die mir zu diesem Zweck
verliehen wurde, daß diese Begabung ein Feuer ist, das nur Feuer ist,
solange es brennt. Ich glaube, daß der einzige Sinn meines Lebens der
ist, in diesem Lichte, das in mir ist, zu leben, und es hoch vor den
Menschen einherzutragen, auf daß sie es sehen.”[157]

Aber dieses Licht, dieses Feuer, „das nur Feuer ist, solange es
brennt”, versetzte die meisten Künstler in Unruhe. Die Klügsten sahen
voraus, daß ihre Kunst Gefahr lief, die Beute des Brandes zu werden.
Sie taten, als glaubten sie, die ganze Kunst sei bedroht, und Tolstoi
zerbräche wie Prospero für immer seinen Zauberstab der schöpferischen
Phantasie.

Nichts ist weniger wahr gewesen; und ich gedenke darzutun, daß Tolstoi,
weit davon entfernt, die Kunst zu zerstören, Kräfte in sich entfaltet
hat, die brachlagen, und daß sein religiöser Glaube seinen
künstlerischen Genius erneuert und nicht zerstört hat.



Es ist seltsam, daß, wenn man von Tolstois Gedanken über Wissenschaft
und Kunst spricht, man gewöhnlich das bedeutsamste der Bücher, in dem
diese Gedanken zum Ausdruck gebracht sind, „Was sollen wir denn tun?”
(1884-1886), außer acht läßt. In ihm nimmt Tolstoi zum erstenmal den
Kampf gegen Wissenschaft und Kunst auf; und nie wieder hat irgendeiner
der folgenden Kämpfe diesen ersten Waffengang an Heftigkeit übertroffen.
Man wundert sich, daß bei den jüngsten Angriffen, die man bei uns gegen
die Selbstgefälligkeit der Wissenschaft und der Intellektuellen
unternommen hat, niemand daran gedacht hat, auf jenes Werk
zurückzukommen. Es bildet die furchtbarste Anklagerede, die je gegen
„die Eunuchen der Wissenschaft” und die „Freibeuter der Kunst”
gehalten wurde, gegen diese Kasten des Geistes, die, nachdem sie die
alten herrschenden Kasten -- Kirche, Staat und Heer -- abgeschafft
oder unterjocht, sich an deren Stelle gesetzt haben und, ohne den
Menschen nützen zu wollen oder zu können, verlangen, daß man sie
bewundere, und daß man ihnen blind diene, die einen schamlosen Glauben
an die Wissenschaft um der Wissenschaft willen und an die Kunst um der
Kunst willen als Dogma aufstellen, -- eine lügnerische Maske, hinter
der sich ihre persönliche Rechtfertigung zu verbergen sucht, die
Verteidigung ihrer ungeheueren Selbstsucht und ihrer Nichtigkeit.

„Sagt mir nicht etwa,” fährt Tolstoi fort, „daß ich Kunst und
Wissenschaft verwerfe. Ich verwerfe sie nicht nur nicht, sondern in
ihrem Namen will ich die Tempelschänder verjagen.”

„Wissenschaft und Kunst sind so notwendig wie Brot und Wasser, sogar
noch notwendiger... Die wahre Wissenschaft ist die Wissenschaft von der
wahren Güte in allen Menschen. Die wahre Kunst ist der Ausdruck der
Kenntnis von der wahren Güte in allen Menschen.”

Und er verherrlicht die, welche, „seit Menschen sind, auf Harfen und
Zimbeln, durch Wort und Bild ihren Kampf gegen die Doppelzüngigkeit zum
Ausdruck gebracht haben; er verherrlicht ihre Leiden in diesem Kampf,
ihre Hoffnung auf den Sieg des Guten, ihre Verzweiflung über den Sieg
des Bösen und ihre Begeisterung beim prophetischen Schauen in die
Zukunft”.

Dann entwirft er das Bild des wahren Künstlers in Worten, die von
schmerzerfülltem und schwärmerischem Feuer durchglüht sind:

„Die Betätigung von Wissenschaft und Kunst ist nur fruchtbringend, wenn
sie sich kein Recht herausnimmt und nur Pflichten kennt. Nur weil ihre
Betätigung dieser Art ist, weil ihr Wesen das Opfer ist, verehrt die
Menschheit sie. Die Menschen, die berufen sind, den anderen durch
Geistesarbeit zu dienen, leiden immer in der Ausübung dieser Arbeit;
denn die geistige Welt gebärt nur in Schmerzen und Qualen. Opfern und
leiden, das ist das Los des Denkers und Künstlers; denn sein Ziel ist
das Wohl der Menschen. Die Menschen sind unglücklich, sie leiden, sie
sterben; man hat nicht Zeit zum Müßiggang und Vergnügen. Der Denker oder
der Künstler verirrt sich nie in olympische Höhen, wie wir zu glauben
gewohnt sind; er ist immer in Bedrängnis und Erregung. Er soll
entscheiden und sagen, was dem Menschen Heil bringt, was ihn vom Leiden
erlöst, und er hat es noch nicht entschieden, er hat es noch nicht
gesagt; und morgen wird es vielleicht zu spät sein, und er wird
sterben... Nicht der ist Denker und Künstler, der in einem Institut
ausgebildet wird, in dem man Künstler und Gelehrte heranbildet (um die
Wahrheit zu sagen, man bildet dort Vernichter von Kunst und Wissenschaft
heran), nicht der ist es, der Diplome und eine Anstellung bekommt,
sondern der ist es, der glücklich wäre, nicht zu denken und nicht $dem$
Ausdruck zu verleihen, was ihm in die Seele gesenkt wurde, der sich dem
aber nicht entziehen kann; denn zwei unsichtbare Mächte treiben ihn
dazu: sein innerer Drang und seine Menschenliebe. Es gibt keine satten,
genießerischen, selbstzufriedenen Künstler.”[158]

Diese herrlichen Zeilen, die ein tragisches Licht auf Tolstois Genie
werfen, waren geschrieben unter dem augenblicklichen Einfluß des
Kummers, den der Anblick des Elends in Moskau in ihm hervorrief, und in
der Überzeugung, daß Kunst und Wissenschaft Mitverschworene des ganzen
bestehenden Systems gesellschaftlicher Ungleichheit und heuchlerischer
Gewalttätigkeit seien. -- Diese Überzeugung sollte er nie verlieren.
Aber der Eindruck von seinem ersten Zusammentreffen mit dem Weltelend
mußte sich allmählich abschwächen; die Wunde hört auf zu bluten[159];
und in keinem seiner späteren Bücher findet man das von Schmerz und
rächendem Zorn erfüllte Beben, das dieses Buch durchzittert: nirgends
dieses erhabene Glaubensbekenntnis des Künstlers, der mit seinem
Herzblut schafft, diese Begeisterung für Opfer und Leid, „die des
Denkers Los sind”, diese Verachtung der olympischen Kunst Goethescher
Art. Die Arbeiten, in denen er später die Kritik der Kunst wieder
aufnimmt, behandeln die Frage vom literarischen und weniger vom
gefühlsmäßigen Standpunkt aus; das Problem der Kunst wird darin
gesondert von jenem menschlichen Elend behandelt, an das Tolstoi nicht
denken kann, ohne außer sich zu geraten, wie an dem Abend nach seinem
Besuch im Nachtasyl, wo er bei seiner Heimkehr verzweiflungsvoll weint
und schluchzt.

Man könnte nicht behaupten, daß jene lehrhaften Werke jemals kalt seien.
Kalt zu sein ist ihm überhaupt unmöglich. Bis an sein Lebensende bleibt
er derselbe, der einst an Fet schrieb:

„Wenn man seine Gestalten, selbst die unwesentlichsten, nicht liebt, muß
man sie derart schlechtmachen, daß es dem Himmel heiß wird, oder sich
über sie lustig machen, bis einem der Bauch platzt.”[160]

[Illustration: Tolstoi im Jahre 1909]

In seinen Schriften über die Kunst läßt er sich nichts davon entgehen.
Die negative Seite -- Beleidigungen und beißender Spott -- ist darin so
stark, daß nur sie Eindruck auf die Künstler gemacht hat. Er traf damit
ihren Aberglauben und ihre Empfindlichkeit zu heftig, als daß sie nicht
in dem Feind ihrer Kunst den Feind jeglicher Kunst überhaupt gesehen
hätten. Aber immer geht die Kritik bei Tolstoi Hand in Hand mit
Besserungsvorschlägen. Er reißt niemals nieder, um niederzureißen,
sondern um wiederaufzurichten. Und in seiner Bescheidenheit behauptet er
sogar, nichts Neues aufzubauen; er verteidigt die Kunst, die immer war
und immer sein wird, gegen die falschen Künstler, die sie ausbeuten und
herabwürdigen:

„Die echte Wissenschaft und die echte Kunst haben immer bestanden und
werden immer bestehen; es ist unmöglich und nutzlos, sie in Abrede zu
stellen”, schrieb er mir im Jahre 1887 in einem Brief, zehn Jahre bevor
seine berühmte Abhandlung über die Kunst[161] erschien. „Das ganze
Übel von heute kommt daher, daß die sogenannten zivilisierten Leute,
denen die Gelehrten und Künstler zur Seite stehen, eine privilegierte
Kaste sind, wie die Priester. Und diese Kaste hat alle Fehler einer
jeden Kaste. Sie erniedrigt und entwürdigt das Prinzip, in dessen
Namen sie sich bildet. Das, was man bei uns Wissenschaft und Kunst
nennt, ist nichts als ein grenzenloser $Humbug$, ein großer
Aberglaube, auf den wir gewöhnlich hereinfallen, sobald wir uns von
dem alten Kirchenaberglauben freigemacht haben. Will man den Weg, den
man zu beschreiten hat, klar vor sich sehen, so muß man beim Anfang
anfangen, -- man muß die Kapuze, die wohl wärmt, aber die Augen
verdeckt, abnehmen. -- Die Versuchung ist groß. Wir werden auf einer
gewissen Höhe geboren, oder wir schwingen uns zu ihr auf; und wir
finden uns unter den Bevorzugten, den Priestern der Zivilisation, der
$Kultur$, wie die Deutschen sagen. Wir bedürfen, wie die brahmanischen
oder katholischen Priester, großer Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe,
um die Grundsätze, die uns diese vorteilhafte Stellung sichern,
anzuzweifeln. Aber ein ernster Mensch, den das Problem des Lebens
beschäftigt, kann nicht zögern. Um zum klaren Schauen durchzudringen,
müssen wir uns von dem Aberglauben freimachen, wo immer er sich
findet, selbst wenn er uns Vorteile brächte. Das ist eine conditio
sine qua non... Nicht abergläubisch sein. Sich in die Gemütsverfassung
eines Kindes oder eines Cartesius versetzen...”

Diesen modernen Kunstaberglauben, in dem sich gewisse Kreise gefallen,
„diesen Mordshumbug”, deckt Tolstoi in seinem Buche „Was ist
Kunst?” auf. Schonungslos zeigt er das Lächerliche daran, die
Armseligkeit, die Heuchelei, die vollständige Verderbnis. Er macht
reinen Tisch mit allem. Er bringt zu dieser Zerstörungsarbeit die
Freude eines Kindes mit, das seine Spielsachen entzweischlägt. Dieser
ganze kritische Teil ist oft voller Humor, aber auch voller
Ungerechtigkeit: dafür ist es eine Kampfschrift. Tolstoi bedient sich
jeder Waffe und haut darauf los, ohne achtzugeben, wen er trifft. So
kommt es recht häufig vor -- wie in allen Schlachten --, daß er Leute
verwundet, die er hätte verteidigen müssen, z. B. Ibsen oder
Beethoven. Das ist der Nachteil seiner Heftigkeit, die ihm nicht
genügend Zeit zur Überlegung läßt, bevor es zum Handeln kommt, seiner
blinden Leidenschaft, die ihn oft die Schwäche seiner Gründe nicht
erkennen läßt, und -- sagen wir es offen -- es ist auch die Folge
seiner unzureichenden künstlerischen Kultur.

Was kann er, abgesehen von seinem literarischen Wissen, schließlich
von der zeitgenössischen Kunst kennen? Was hat dieser Landedelmann,
der drei Viertel seines Lebens in seinem moskowitischen Dorf
zubrachte, der seit 1860 nicht mehr nach Europa gekommen ist, von
Malerei sehen, was hat er von europäischer Musik hören können? Und was
hat er sonst, die Schulen ausgenommen, die allem ihn interessierten,
gesehen? Die Malerei beurteilt er nach dem Hörensagen, nennt als
„Dekadente” Puvis, Manet, Monet, Böcklin, Stuck und Klinger bunt
durcheinander, bewundert in bestem Glauben Jules Breton und Lhermitte
wegen ihrer guten Gesinnung, verachtet Michelangelo und erwähnt unter
den Malern, die sich in das Seelenleben ihrer Modelle zu vertiefen
wußten, nicht einmal Rembrandt. -- Für die Musik hat er ein viel
feineres Verständnis[162], aber er kennt sie kaum: er kommt über seine
Kindheitseindrücke nicht hinaus, hält sich an jene, die schon um 1840
zu den Klassikern gehörten, und hat (außer Tschaikowsky, dessen Musik
ihn zum Weinen bringt) seitdem nichts kennengelernt; er wirft im
Grunde Brahms und Richard Strauß in einen Topf, erteilt Beethoven eine
Lektion[163] und glaubt nach einer einzigen „Siegfried”-Aufführung,
die er nicht einmal von Anfang an und nur bis zur Mitte des zweiten
Aktes gehört hat, genug von Wagner zu kennen, um über ihn zu
urteilen[164]. -- In der Literatur weiß er selbstverständlich etwas
besser Bescheid. Und doch, aus welch sonderbarer Verirrung mag er es
gerade vermeiden, die russischen Schriftsteller, die er gut kennt, zu
beurteilen, während er es sich angelegen sein läßt, fremde Dichter
abzuurteilen, deren Wesensart von der seinen grundverschieden ist, und
in deren Büchern er nur mit überlegener Nachlässigkeit blättert![165]

Sein unbekümmertes Selbstvertrauen wächst noch mit dem Alter.
Schließlich kommt er so weit, ein Buch zu schreiben, um zu beweisen, daß
Shakespeare „kein Künstler” war.

„Er konnte weiß Gott was gewesen sein, aber ein Künstler war er
nicht!”[166]

Diese Sicherheit muß man bewundern. Tolstoi schwankt nicht. Er
untersucht nichts. Sein ist die Wahrheit. Er sagt ohne weiteres:

„Die Neunte Symphonie ist ein Werk, das die Menschen entzweit.”

Oder:

„Außer der berühmten Air für Violine von Bach, dem Nocturno in Es-Dur
von Chopin und etwa zehn ausgewählten Stücken von Haydn, Mozart, Weber,
Beethoven und Chopin, und selbst diesen nicht ganz, kann alles übrige
zurückgewiesen und mißachtet werden als eine Kunst, die die Menschen
entzweit.”

Oder:

„Ich werde beweisen, daß Shakespeare selbst nicht als Schriftsteller
vierter Ordnung betrachtet werden kann. Und als Charakterzeichner ist er
gleich Null.”

Daß die übrige Menschheit anderer Ansicht ist, kann ihn nicht beirren;
im Gegenteil.

„Meine Meinung”, schreibt er stolz, „weicht vollständig von der ab,
die sich über Shakespeare in der ganzen europäischen Welt gebildet
hat.”

In seiner Angst vor der Lüge wittert er sie überall; und je mehr eine
Idee allgemein verbreitet ist, um so mehr sträubt er sich gegen sie; er
mißtraut ihr, er vermutet in ihr, wie er über den Ruhm Shakespeares
urteilt, „einen jener seuchenartig auftretenden Einflüsse, denen die
Menschen immer unterliegen. Wie die Kreuzzüge des Mittelalters, der
Hexenglaube, das Suchen nach dem Stein der Weisen, die Tulpennarrheit.
Die Menschen sehen erst die Verrücktheit dieser Einflüsse, wenn sie sich
von ihnen freigemacht haben. Mit der Entwicklung der Presse sind diese
Seuchen ganz außerordentlich geworden.” -- Und als Typus nennt er die
allerletzte dieser ansteckenden Krankheiten, die Dreyfusaffäre, von der
er, der Feind aller Ungerechtigkeiten, der Verteidiger aller
Unterdrückten, mit einer geradezu verächtlichen Gleichgültigkeit
spricht[167]. Ein gar bezeichnendes Beispiel dafür, wohin ihn seine
Verachtung der Lüge und jene instinktive Abneigung gegen die
„moralischen Seuchen”, deren er sich selbst beschuldigt, ohne sie
bekämpfen zu können, führen konnte. Eine Umkehrung menschlicher
Tugenden, eine unbegreifliche Verblendung führt diesen Kenner der
Seelen, diesen Erwecker der leidenschaftlichen Kräfte dazu, den „König
Lear” als „albernes Werk” und die stolze Cordelia als „Geschöpf
ohne jeden Charakter” zu kennzeichnen[168].

Man beachte, daß er sehr wohl gewisse tatsächliche Fehler bei
Shakespeare sieht, die wir einzugestehen nicht aufrichtig genug sind: so
die gekünstelte Art der dichterischen Sprache, die unterschiedslos allen
Personen verliehen wird, die Rhetorik, gleichgültig ob es sich um
Leidenschaft, Heldentum oder die einfachsten Vorkommnisse handelt. Und
ich begreife vollkommen, daß ein Tolstoi, der von allen Schriftstellern
am wenigsten Literat war, keine Neigung verspürte zu der Kunst dessen,
der der genialste unter den Literaten gewesen ist. Aber weshalb seine
Zeit verlieren, mit Reden über das, was man nicht zu verstehen vermag,
und welchen Wert können Urteile über eine Welt haben, die uns
verschlossen bleibt?

Keinen Wert, wenn wir darin den Schlüssel zu diesen fremden Welten
suchen. Einen unschätzbaren Wert, wenn wir von ihnen den Schlüssel zur
Kunst Tolstois fordern. Von einem schöpferischen Genie verlangt man
keine kritische Objektivität. Wenn ein Wagner, ein Tolstoi von Beethoven
oder von Shakespeare sprechen, so sprechen sie nicht von Beethoven oder
von Shakespeare, sondern von sich selbst: sie stellen ihr Ideal auf. Sie
bemühen sich nicht einmal, uns darüber zu täuschen. Um Shakespeare zu
beurteilen, versucht Tolstoi nicht, sich „objektiv” zu geben. Vielmehr
macht er Shakespeare seine objektive Kunst zum Vorwurf. Der Maler von
„Krieg und Frieden”, der Meister der unpersönlichen Kunst, kann gar
nicht genug Verachtung aufbringen für jene deutschen Kritiker, die im
Anschluß an Goethe „Shakespeare erfanden” und „die Theorie, daß die
Kunst objektiv sein muß, das heißt, daß sie die Menschen ungeachtet
jedes sittlichen Wertes darstellen muß, -- was die Verneinung des
religiösen Wesens der Kunst bedeutet”.

So verkündet Tolstoi seine künstlerischen Urteile von einer hohen
Glaubenswarte herab. In seinen Kritiken darf man keinen persönlichen
Hintergedanken suchen. Er stellt sich nicht als Beispiel hin; er ist
ebenso unerbittlich gegen seine Werke, wie gegen die der anderen[169].
Was will er also, und was bedeutet für die Kunst das religiöse Ideal,
das er aufstellt?

Dieses Ideal ist wundervoll. Das Wort „religiöse Kunst” kann leicht
über den Umfang des Begriffes täuschen. Weit davon entfernt, die Kunst
einzuengen, erweitert Tolstoi sie vielmehr. „Die Kunst”, sagt er,
„ist überall.”

„Die Kunst durchdringt unser ganzes Leben; was wir Kunst nennen,
Theater, Konzerte, Bücher und Ausstellungen, das ist nur der kleinste
Teil davon. Unser Leben ist erfüllt von künstlerischen Offenbarungen
aller Arten, von den Kinderspielen an bis zu den religiösen Gebräuchen.
Die Kunst und die Rede sind die beiden Organe des menschlichen
Fortschrittes. Die eine verbindet die Herzen und die andere die
Gedanken. Wenn eine von beiden verfälscht ist, so ist die Gesellschaft
krank. Die Kunst von heute ist verfälscht.”

Seit der Renaissance kann man nicht mehr von der Kunst der christlichen
Nationen sprechen. Die Klassen haben sich gespalten. Die Reichen, die
Bevorzugten haben sich angemaßt, das Monopol auf die Kunst für sich in
Anspruch zu nehmen; und ihr Vergnügen haben sie zum Kriterium der
Schönheit gemacht. Indem sich die Kunst von den Armen entfernte, ist
sie selbst verarmt.

„Die Gefühle, welche die bewegen, die nicht für ihren Lebensunterhalt
arbeiten, sind weit weniger mannigfaltig als die Gefühle der
Arbeitenden. Nur deren drei beherrschen unsere heutige Gesellschaft: der
Hochmut, die Sinnlichkeit und der Lebensüberdruß. Diese drei Gefühle und
ihre Verästelungen bilden fast ausschließlich den Gegenstand der Kunst
der Reichen.”

[Illustration: Tolstoi beim Tee mit den Bauern im Jahre 1909]

Sie verseucht die Welt, sie verdirbt das Volk, sie begünstigt den
sexuellen Niedergang, sie ist das schlimmste Hindernis für die
Verwirklichung menschlichen Glückes geworden. Sie ist außerdem ohne
wirkliche Schönheit, ohne Natürlichkeit, ohne Aufrichtigkeit, -- eine
gezierte, gemachte Gehirnkunst.

Dieser Ästhetenlüge, diesem Zeitvertreib der Reichen gegenüber wollen
wir die lebendige Kunst aufrichten, die menschliche Kunst, die die
Menschen aller Klassen und aller Nationen eint. Die Vergangenheit
liefert uns dafür ruhmreiche Vorbilder.

„Immer hat die Mehrheit der Menschen das, was wir als erhabenste Kunst
ansehen, verstanden und geliebt: die Schöpfungsgeschichte, die
Gleichnisse des Evangeliums, die Legenden, die Märchen, die
Volkslieder.”

Die größte Kunst ist jene, die das religiöse Gewissen der Zeit
widerspiegelt. Darunter darf man aber nicht eine Lehre der Kirche
verstehen. „Jede Gemeinschaft hat einen religiösen Lebensbegriff:
nämlich das Ideal vom größten Glück, das diese Gemeinschaft
erstrebt.” Alle haben dafür ein mehr oder weniger klares Gefühl;
einige Vorkämpfer bringen es deutlich zum Ausdruck.

„Ein religiöses Gewissen besteht immer. Es ist das Bett, in dem der
Strom dahinfließt.”

Das religiöse Gewissen unserer Zeit ist das Streben nach einem Glück,
das durch die Verbrüderung der Menschen verwirklicht wird. Es gibt keine
wahre Kunst außer der, die auf dieses Ziel hinarbeitet. Die
höchststehende Kunst erreicht dies unmittelbar durch die Macht der
Liebe. Aber es gibt noch eine andere, die bei derselben Aufgabe
mitwirkt, indem sie alles, was sich der Verbrüderung entgegenstellt, mit
den Waffen der Entrüstung und der Verachtung bekämpft. Dahin gehören die
Romane von Dickens und Dostojewski, „Die Elenden” von Victor Hugo, die
Bilder von Millet. Selbst ohne diese Höhen zu erreichen, bringt jede
Kunst, die das tägliche Leben mitfühlend und wahr darstellt, die
Menschen einander näher, z. B. der „Don Quichotte” und die
Theaterstücke von Molière. Es ist richtig, daß die letztere
Kunstgattung gewöhnlich an ihrem zu peinlich genauen Realismus und an
Erfindungsarmut leidet, „wenn man sie mit den alten Vorbildern, z. B.
der erhabenen Josephsgeschichte, vergleicht”. Die übertriebene
Genauigkeit in der Wiedergabe der Einzelheiten schadet den Werken,
und sie können deshalb nicht Allgemeingut werden.

„Die modernen Werke werden durch einen Realismus verdorben, den man
richtiger Kunstprovinzialismus nennen sollte.”

So verdammt Tolstoi ohne Zögern die Grundzüge seines eigenen Schaffens.
Was liegt ihm daran, sich ganz für die Zukunft einzusetzen -- auf die
Gefahr hin, daß von ihm selbst nichts mehr übrigbleibt?

„Die künftige Kunst wird nicht die gegenwärtige fortsetzen, sie wird
sich auf anderen Grundlagen aufbauen. Sie wird nicht mehr Eigentum einer
einzelnen Klasse sein. Die Kunst ist kein Geschäft, sie ist der Ausdruck
echten Empfindens. Der Künstler kann nur dann echt empfinden, wenn er
sich nicht absondert, wenn er das natürliche Leben eines Menschen führt.
Deshalb ist auch ein in gesicherten Verhältnissen Lebender zum Schaffen
am schlechtesten in der Lage.”

In Zukunft „werden alle begabten Menschen Künstler sein können”. Die
künstlerische Betätigung wird jedem zugänglich sein „dadurch, daß
man in den Volksschulen den Unterricht in Musik und Malerei einführt,
der jedem Kind gleichzeitig mit den ersten grammatischen
Grundbegriffen erteilt wird”. Außerdem wird die Kunst kein so
kompliziertes Verfahren mehr notwendig machen wie heute; sie wird sich
der Einfachheit, der Klarheit und der Bündigkeit nähern, die das
Merkmal der klassischen unverbildeten Kunst, der Kunst Homers,
sind[170]. Wie schön wird es sein, allgemein gültige Gefühle mit
reinen Linien in diese Kunst zu übertragen! Eine Erzählung oder ein
Lied für Millionen von Menschen verfassen, ein Bild für sie zeichnen,
ist viel wichtiger -- und schwieriger --, als einen Roman oder eine
Symphonie schreiben. Es ist ein ungeheuer großes und fast unbetretenes
Gebiet. Dank solchen Werken werden die Menschen das Glück brüderlicher
Vereinigung kennenlernen.

„Die Kunst muß die Gewalt unterdrücken, und nur sie kann es. Ihre
Sendung ist, das Reich Gottes erstehen zu lassen, will sagen das Reich
der Liebe.”[171]

Wer von uns möchte sich nicht diese hochherzigen Worte zu eigen machen?
Und wer sieht nicht, bei aller Phantastik und Naivität, das Lebendige
und Fruchtbringende in Tolstois Gedanken! Ja, unsere Kunst als Ganzes
ist nur der Ausdruck einer Klasse, die sich wiederum von einer Nation
zur anderen in kleine, einander feindliche Stämme scheidet. In Europa
gibt es nicht einen Künstler, der die Vereinigung der Parteien und
Rassen verwirklicht. Der universellste in unserer Zeit war gerade
Tolstoi selbst. In ihm haben wir Menschen aller Völker und aller Klassen
einander geliebt. Und wer, wie wir, die hehre Freude dieser großen Liebe
gekostet hat, wird sich nicht mehr mit den kümmerlichen Abfällen von der
großen Menschenseele begnügen können, die uns die Kunst der europäischen
Literaturkreise darbietet.



Die schönste Theorie hat erst Wert durch die Werke, in denen sie sich
erfüllt. Bei Tolstoi sind Theorie und Schaffen, wie Glauben und
Handeln, stets im Einklang. Zur selben Zeit, da er an seiner „Kritik
der Kunst” arbeitete, gab er Musterbeispiele der neuen Kunst, wie er
sie wollte, -- der zwei Kunstformen, der einen erhabeneren und der
anderen weniger reinen, aber beide „religiös” im menschlichsten Sinn,
-- der einen, die an der Einigung der Menschen durch Liebe arbeitet,
und der anderen, welche die der Liebe feindliche Welt bekämpft. Er
schrieb folgende Meisterwerke: „Der Tod des Iwan Iljitsch” (1884-1886),
„Volkserzählungen” (1881 bis 1886), „Die Macht der Finsternis”
(1886), „Die Kreuzersonate” (1889) und „Der Herr und sein Knecht”
(1895)[172]. Als Gipfel und zugleich Grenzstein dieser künstlerischen
Periode ragt wie ein Dom mit zwei Türmen, deren einer die ewige Liebe,
deren anderer den Haß der Welt versinnbildlicht, die „Auferstehung”
(1899) empor.

Alle diese Werke unterscheiden sich von den vorhergehenden durch neue
künstlerische Ansichten. Tolstoi hatte nicht nur seine Meinung über den
Gegenstand der Kunst, sondern auch über ihre Form geändert. Beim Lesen
von „Was ist Kunst?” oder dem Buch über Shakespeare ist man erstaunt
über die Richtlinien, die er für den Geschmack und die Ausdrucksweise
gibt. Die meisten stehen in Widerspruch zu seinen früheren größeren
Werken. „Klarheit, Einfachheit, Bündigkeit” lesen wir in „Was ist
Kunst?”. Mißachtung der stofflichen Wirkung. Verdammung des kleinlichen
Realismus. -- Und im „Shakespeare”: das ganz klassische Ideal von
Vollkommenheit und Maß. „Ohne Gefühl für Maß kann kein Künstler
bestehen.” -- Und wenn auch der alte Mann seine geniale Art zu
analysieren und sein angeborenes Ungestüm, die sich in mancher Hinsicht
sogar noch mehr als früher offenbaren, gänzlich verleugnet, so hat sich
doch seine Kunst wesentlich verändert durch die kräftiger betonte
Klarheit der Zeichnung, durch die psychologische Straffung, durch die
Geschlossenheit des inneren Dramas, das in sich selbst zusammengezogen
ist wie ein zum Losspringen bereites Raubtier[173], durch das
allumfassende Gefühl, das von flüchtigen Einzelheiten eines lokal
gefärbten Realismus befreit ist, und endlich durch die bilderreiche,
saftstrotzende Sprache, die Erdgeruch ausströmt.

Seine Liebe zum Volk hatte ihn seit langem an der Schönheit der
volkstümlichen Sprache Geschmack finden lassen. Als Kind war er mit
Geschichten umherziehender Erzähler eingelullt worden. Als reifem Mann
und berühmtem Schriftsteller bereitete es ihm einen künstlerischen
Genuß, mit seinen Bauern zu plaudern.

„Von diesen Leuten”, sagte er später zu Paul Boyer, „kann man nur
lernen. Als ich früher mit ihnen oder mit jenen Wanderburschen, die, den
Rucksack auf der Schulter, unser Land durchziehen, plauderte, schrieb
ich mir sorgfältig diejenigen ihrer Ausdrücke auf, die ich zum erstenmal
hörte, gute, gediegene, altrussische Ausdrücke, die oft aus unserer
modernen literarischen Sprache verschwunden sind... Ja, der Geist der
Sprache ist in diesen Menschen lebendig...”

Er mußte umso empfänglicher dafür sein, als sein Geist nicht von
Literatur beschwert war[174]. Dadurch, daß er fern von Städten unter
Bauern lebte, hatte er sich ein wenig die Denkart des Volkes angeeignet.
Er hatte von ihnen die langsame Redeweise, die klügelnde Überlegung, die
Schritt um Schritt geht, um dann mit plötzlichem Ruck Halt zu machen,
die Neigung, einen Gedanken, den man für unbedingt richtig hält,
unendlich oft, ohne sich beirren zu lassen, mit denselben Worten zu
wiederholen.

Aber das waren eher die Mängel als die Vorzüge. Erst mit der Zeit bekam
er das richtige Verständnis für den verborgenen Sinn der Volkssprache,
ihre Bildhaftigkeit, ihre poetische Derbheit, ihre Fülle legendärer
Weisheit. Mit „Krieg und Frieden” hatte er sich zum erstenmal ihrem
Einfluß unterworfen. Im März 1872 schrieb er an Strakow:

„Ich habe meine Rede- und Schreibweise geändert. Die Volkssprache hat
Töne, um all das auszudrücken, was ein Dichter zu sagen hat, und ich
liebe sie sehr. Sie ist der beste dichterische Gradmesser. Will man
etwas zu stark, übertrieben oder verkehrt ausdrücken, so erträgt es die
Sprache nicht. Unsere literarische Sprache dagegen hat kein
Knochengerüst, man kann sie nach jeder Richtung hin- und herzerren, und
es sieht immer noch alles nach Literatur aus.”[175]

Das Volk war ihm nicht nur für seine Ausdrucksweise vorbildlich, er
verdankte ihm auch mancherlei dichterische Eingebungen. Im Jahre 1877
kam ein Bylinenerzähler nach Jasnaja Poljana, und Tolstoi schrieb
etliche seiner Geschichten auf. Unter anderen die Legende: „Wovon die
Menschen leben” und „Drei Greise”, die, wie man weiß, zwei der
schönsten Geschichten in den „Volkserzählungen” bilden, die Tolstoi
einige Jahre später veröffentlichte[176].

Diese „Volkserzählungen” sind ein in der modernen Kunst einzigartiges
Werk. Ein über aller Kunst stehendes Werk; denn wer denkt, wenn er es
liest, an Literatur? Der Geist des Evangeliums, die reine Liebe aller
Menschenbrüder eint sich mit der lächelnden Einfalt der Volksweisheit.
Einfachheit, Klarheit, unaussprechliche Herzensgüte -- und jenes
übernatürliche Licht, das für Augenblicke das Bild so natürlich
überflutet, umgibt die im Mittelpunkt der Handlung stehende Gestalt des
alten Jelissej[177] mit einem Heiligenschein, oder schwebt durch die
Bude des Schusters Martin, der durch seine Fensterluke zu ebener Erde
die Füße der Leute vorübermarschieren sieht, und den der Herr besucht in
Gestalt der Armen, denen der gute Schuhflicker schon geholfen
hat[178]. Oft mischt sich in diesen Erzählungen den frommen Gleichnissen
ein gewisser Duft von orientalischen Märchen bei, von den Märchen aus
„Tausend und eine Nacht”, die Tolstoi seit seiner Kinderzeit
liebte[179]. Manchmal auch trübt sich das phantastische Licht und gibt
einer der Erzählungen eine unheimliche Größe. So z. B. der Geschichte vom
Muschik Pachom[180], dem Mann, der sich zu Tode rennt, um möglichst viel
Land zu bekommen, so viel Land, als er in einem Tage durchlaufen kann,
und der tot zusammenbricht, als er am Ziel anlangt.

„Auf dem Hügel saß der Dorfälteste am Boden und sah ihn laufen und er
hielt sich mit beiden Händen den Bauch vor Lachen. Und Pachom stürzte.
-- ‚Ah! Bravo! du Schelm, du hast viel Land ergattert.’ Der Älteste
stand auf, schmiß Pachoms Knecht eine Schaufel hin mit den Worten: ‚Da,
scharr ihn ein.’ Der Knecht blieb allein zurück. Er schaufelte ein Grab
für Pachom, so lang, wie dieser vom Kopf bis zu den Füßen maß, genau
drei Arschin -- und dann begrub er ihn.”

Fast alle diese Geschichten enthalten unter ihrer dichterischen Hülle
dieselbe religiöse Moral des Verzichtes und der Vergebung:

„Bittet für die, so euch beleidigen.”

„Widerstrebet nicht dem Bösen.”

„Die Rache ist mein, spricht der Herr.”

Und überall und immer als Höchstes die Liebe.

[Illustration: Tolstoi in seinem Arbeitszimmer]

Tolstoi, der den Grund zu einer Kunst für alle Menschen legen wollte,
hat beim ersten Versuch etwas Universelles geschaffen. Das Werk hat in
der ganzen Welt einen bleibenden Erfolg erzielt; denn es ist frei von
allen vergänglichen Kunstbegriffen; es hat Ewigkeitswert.

       *       *       *       *       *

„Die Macht der Finsternis” erhebt sich nicht bis zu dieser erhabenen
Herzenseinfalt; sie macht gar keinen Anspruch darauf: es ist die andere
Schneide des Schwertes. Auf der einen Seite der Traum von der göttlichen
Liebe, auf der anderen die furchtbare Wirklichkeit. Beim Lesen dieses
Dramas kann man beurteilen, ob Tolstoi bei seinem Glauben und seiner
Liebe für das Volk es je vermocht hätte, das Volk auf Kosten der
Wahrheit zu idealisieren!

So unbeholfen er auch in den meisten seiner dramatischen Versuche
gewesen ist[181], hier gelangt Tolstoi zur Meisterschaft. Die Charaktere
und die Handlung sind mit leichter Sicherheit hingestellt; der „schöne
Nikita”, Anisja, in ihrer ungestümen sinnlichen Leidenschaft, Mutter
Matrona, die mit zynischer Gutmütigkeit dem Ehebruch ihres Sohnes
Vorschub leistet, und der alte stotternde Akim, -- der verkörperte Gott
in einem armseligen Leib. -- Dann das Sinken Nikitas, der aus Schwäche,
ohne schlecht zu sein, sich in Sünde verstrickt und immer tiefer in
Verbrechen gerät, trotzdem er sich mit Gewalt dagegen wehrt; seine
Mutter und seine Frau ziehen ihn hinein...

„Die Männer sind nicht viel wert. Aber erst die Weiber! Sie sind wie die
wilden Tiere! Nichts fürchten sie... Solche Weibsbilder gibt's
hierzulande viele Millionen, und alle sind sie blind wie die Maulwürfe,
-- wissen nicht das geringste, nicht das geringste!... Der Mann, der
lernt immerhin etwas in der Schenke oder schließlich im Gefängnis oder
in der Kaserne. Aber so'n Weibsbild! Sie sieht nichts und hört nichts.
So lebt sie und so stirbt sie... Die Weiber sind wie blinde junge Hunde,
die mit der Nase im Straßendreck hinkriechen. Das einzige, was sie
können, sind ihre dummen Lieder: La la la-la la la... Aber was La la la,
das wissen sie nicht.”[182]

Dann die schreckliche Szene von der Ermordung des neugeborenen Kindes.
Nikita will nicht töten. Anisja, die seinetwegen ihren Gatten umgebracht
hat und deren Nerven seitdem von dem Verbrechen gefoltert werden, wird
wild, rasend, droht ihn preiszugeben und schreit:

„Jetzt bin ich wenigstens nicht mehr allein. Jetzt soll er auch ein
Mörder sein. Er soll wissen, wie's tut!”

Nikita zerdrückt das Kind zwischen zwei Brettern. Mitten in seinem
Verbrechen flieht er entsetzt und droht, Anisja und seine Mutter zu
töten. Schluchzend fleht er:

„Mütterchen, ich kann nicht mehr!”

Er glaubt, das zermalmte Kind schreien zu hören.

„Wohin soll ich mich retten?...”

Das ist eine shakespearesche Szene. -- Weniger wild, aber noch quälender
ist die Variante des 4. Aktes, das Zwiegespräch zwischen dem kleinen
Mädchen und dem alten Knecht, die nachts allein im alten Haus das
Verbrechen, das draußen begangen wird, halb hören und halb erraten.

Schließlich die freiwillige Sühne. Nikita kommt mit seinem Vater, dem
alten Akim, ohne Schuhe zu einer Hochzeitsfeier. Er kniet nieder, bittet
jeden um Verzeihung und klagt sich aller Verbrechen an. Der alte Akim
ermutigt ihn, betrachtet ihn mit verzückt schmerzlichem Lächeln und
sagt:

„Das ist Gottes Werk!”

Was dem Drama einen besonderen Reiz künstlerischer Art gibt, ist seine
Bauernsprache.

„Ich habe das ganze Vokabularium, das ich mir in Notizbüchern angelegt
hatte, ausgeräubert, um ‚Die Macht der Finsternis’ zu schreiben”,
äußerte Tolstoi Paul Boyer gegenüber.

Diese verblüffenden Bilder, die der lyrischen und zum Spott neigenden
russischen Volksseele entstammen, sind von einem Schwung und einer
Kraft, neben denen alle literarischen Bilder blaß erscheinen. Tolstoi
ergötzt sich an ihnen; man fühlt, daß der Dichter Tolstoi beim Schreiben
seines Dramas ein Vergnügen darin findet, diese Ausdrücke und Gedanken
aufzuzeichnen, deren Komik ihm keineswegs entgeht[183], während der
Apostel Tolstoi in Betrübnis gerät über die Finsternis der Seele.

       *       *       *       *       *

Während Tolstoi das Volk beobachtete und sein Dunkel durch einen
Lichtstrahl von oben etwas zu erhellen versuchte, widmete er dem noch
weit tieferen Dunkel der reichen und bürgerlichen Klassen zwei Romane
voll tragödienhafter Handlung. Man fühlt, daß zu jener Zeit die
dramatische Form sein künstlerisches Denken beherrscht. „Der Tod des
Iwan Iljitsch” und die „Kreuzersonate” sind alle beide richtige, auf
das knappste Maß zusammengedrängte Seelendramen; und in der
„Kreuzersonate” erzählt der Held des Dramas selbst das Drama.

„Der Tod des Iwan Iljitsch” (1884-86) ist eines der russischen Werke,
die das französische Publikum ganz besonders erschüttert haben. Ich
erwähnte zu Beginn dieses Buches, daß ich Zeuge davon gewesen bin, wie
bürgerliche Leser aus der französischen Provinz, die sonst der Kunst
ganz fremd gegenüberzustehen schienen, von dieser Geschichte tief
ergriffen waren. Das dürfte sich dadurch erklären, daß das Werk mit
verblüffender Echtheit einen Typus jener Durchschnittsmenschen
hinstellt, jener gewissenhaften Beamten, die ohne Religion, bar jeden
Ideals und beinahe jeden Gedankens, in ihrer Amtstätigkeit, in ihrem
einförmigen Alltagsleben aufgehen bis zur Todesstunde, wo sie mit
Entsetzen bemerken, daß sie gar nicht gelebt haben. Iwan Iljitsch ist
der Vertreter jener europäischen Bürgerklasse um das Jahr 1880, in der
man Zola liest, sich die Sarah Bernhardt ansieht und, ohne irgendeinen
Glauben zu haben, nicht einmal ungläubig ist: denn man gibt sich gar
nicht die Mühe zu glauben oder nicht zu glauben, -- man denkt einfach
nicht darüber nach.

Mit der Unerbittlichkeit einer bald strengen, bald fast komischen
Anklage gegen die Welt und vornehmlich gegen die Ehe eröffnet „Der Tod
des Iwan Iljitsch” eine Reihe neuer Werke; er ist Vorbote der noch
krasseren Bilder der „Kreuzersonate” und der „Auferstehung”.
Beklagenswerte und lächerliche Leere dieses Lebens (wie es deren
tausende und abertausende gibt) mit seinem unnatürlichen Ehrgeiz, seinen
armseligen Befriedigungen der Eigenliebe, die dabei kaum Vergnügen
machen, -- „immerhin noch mehr als den Abend allein mit seiner Frau zu
verbringen” --, beruflichem Ärger, verbitternden Zurücksetzungen und
dem einzigen Glück: einer Whistpartie. Und dieses lächerliche Leben
büßt Iwan aus einer noch lächerlicheren Veranlassung ein: eines Tages,
als er einen Vorhang am Salonfenster anbringen will, stürzt er von der
Leiter. Lügnerisches Leben. Lügnerische Krankheit. Lügnerischer Arzt,
der, selbst gesund, nur an sich selber denkt. Lügnerische Familie, die
es vor der Krankheit ekelt. Lügnerische Frau, die Hingebung heuchelt
und sich dabei schon zurechtlegt, wie sie nach dem Tod ihres Mannes
leben wird. Lüge ringsum, der sich allein die Wahrheit eines
mitfühlenden Dieners entgegenstellt, der dem Sterbenden seinen Zustand
nicht zu verbergen sucht und ihm brüderlich hilft. Iwan Iljitsch
beweint „voll unendlichen Mitleids mit sich selbst” seine Vereinsamung
und die Selbstsucht der Menschen. Er leidet entsetzlich bis zu dem
Tage, an dem er merkt, daß sein vergangenes Leben eine Lüge war und
daß er diese Lüge wieder gutmachen kann. Allsobald wird alles licht,
-- eine Stunde vor seinem Tod. Er denkt nicht mehr an sich, er denkt
an die Seinen, er erbarmt sich ihrer; er $muß$ sterben und sie von
seiner Person befreien.

„Wo bist du, Schmerz? -- Da ist er wieder... Recht so, dauere nur fort.
-- Und der Tod? Wo ist der?... -- Er fand ihn nicht mehr. An Stelle des
Todes sah er nur einen Lichtstrahl. -- ‚Es ist zu Ende’, sagte
irgendwer. -- Er hörte diese Worte und wiederholte sie für sich. --
‚Es gibt keinen Tod mehr’, sagte er sich.”

Selbst dieser Lichtstrahl zeigt sich in der „Kreuzersonate” nicht mehr.
Es ist ein Werk voller Wildheit; es stürzt sich auf die Gesellschaft wie
ein verwundetes Tier, das sich für ausgestandene Qualen rächt. Man darf
nicht vergessen, daß es sich um das Bekenntnis eines Menschentieres
handelt, das getötet hat und von dem Giftstoff der Eifersucht verseucht
ist. Tolstoi verbirgt sich hinter seiner Gestalt. Und zweifellos findet
man seine Ideen, nur im Ton verstärkt, in seinen wütenden Schmähungen
gegen die allgemeine Heuchelei wieder: die Heuchelei in der
Frauenerziehung, in der Liebe, in der Ehe -- jener „häuslichen
Prostitution” --, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, unter den
Ärzten, -- „jenen Anstiftern zu Verbrechen”. Aber sein Held reizt ihn
zu einer Brutalität in der Ausdrucksweise, zu einem Ungestüm
fleischlicher Bilder, -- allen Begierden eines ausschweifenden
Körpers, -- und als Gegenwirkung die ganze Wut der Askese, die
haßerfüllte Furcht vor den Leidenschaften, die Verfluchung des Lebens,
gleich der eines mittelalterlichen Mönches, den die Sinnlichkeit
verzehrt. Als er sein Buch geschrieben hatte, war Tolstoi selbst
erschreckt darüber:

„Ich hatte keineswegs erwartet,” sagt er in seinem Nachwort zur
„Kreuzersonate”, „daß eine unerbittliche Logik mich beim Schreiben
dieses Werkes dahin führen würde, wohin ich gelangt bin. Meine eigenen
Schlußfolgerungen haben mich zuerst erschreckt, und ich war versucht,
sie zu verwerfen; aber es ist mir unmöglich gewesen, die Stimme der
Vernunft und des Gewissens zu überhören.”

Tatsächlich nahm er in etwas gemilderter Form die wilden Schreie des
Mörders Posdnischeff gegen Liebe und Ehe wieder auf:

„Wer die Frau -- vor allem seine Frau -- mit Sinnlichkeit ansieht,
bricht schon die Ehe mit ihr.

[Illustration: Tolstoi zu Pferde]

Wenn die Leidenschaften geschwunden sein werden, dann wird die
Menschheit keine Existenzberechtigung mehr haben; dann hat sie das
Gesetz erfüllt. Die Vereinigung der Wesen wird vollkommen sein.”

Er zeigt, gestützt auf das Evangelium Matthäi, daß „das christliche
Ideal nicht die Ehe ist, daß es eine christliche Ehe nicht geben
kann, daß die Ehe vom christlichen Standpunkt aus nicht der
Aufwärtsentwicklung, sondern der Entartung dient, und daß die Liebe
sowie alles, was ihr vorangeht oder ihr folgt, dem wahrhaften
Menschheitsideal im Wege steht...”[184]

Aber diese Ideen hatten sich ihm niemals mit solcher Klarheit gestaltet,
bevor er sie Posdnischeff in den Mund gelegt hatte. Wie man es häufig
bei großen Meistern findet, hat das Werk den Schöpfer mitgerissen; der
Künstler eilte dem Denker voran. Die Kunst hat dabei nichts verloren.
An Macht der Wirkung, an temperamentvoller Straffheit, deutlicher
Greifbarkeit der Erscheinungen und an Fülle und Reichtum der Form kommt
kein anderes Werk Tolstois der „Kreuzersonate” gleich.

Es bleibt mir noch, den Titel zu erklären. -- Eigentlich ist er falsch.
Er täuscht über das Werk. Die Musik spielt darin nur eine
nebensächliche Rolle. Läßt man die Sonate weg, so ändert sich nichts.
Es war unrichtig von Tolstoi, zwei Fragen, die ihm am Herzen lagen,
miteinander zu verquicken: die verderbliche Macht der Musik und die der
Liebe. Der Dämon der Musik hätte ein eigenes Werk verdient; der Platz,
den ihm Tolstoi in diesem zubilligt, genügt nicht, die Gefahr zu
beweisen, wie er es möchte. Ich muß bei diesem Gegenstand ein wenig
verweilen, denn ich glaube nicht, daß man jemals Tolstois Verhältnis zur
Musik richtig verstanden hat.

Es wäre weit gefehlt anzunehmen, daß er sie nicht liebte. So fürchtet
man nur, was man liebt. Man braucht sich nur zu entsinnen, welchen Platz
die musikalischen Erinnerungen in der „Kindheit” einnehmen und ganz
besonders im „Eheglück”, wo die ganze Liebesgeschichte von ihrem
Frühling bis zu ihrem Herbst sich zwischen den Sätzen der Beethovenschen
Sonate „Quasi una fantasia” abspielt. Man erinnere sich ferner der
wundervollen Symphonien, die Nekludow[185] und der kleine Petja in der
Nacht vor seinem Tode[186] in sich erklingen hören. Wenn Tolstoi auch
nur sehr bedingt musikalisch war[187], so ergriff ihn die Musik doch bis
zu Tränen, und er gab sich ihr zu gewissen Zeiten seines Lebens mit
Leidenschaft hin. Im Jahre 1858 gründete er in Moskau eine musikalische
Gesellschaft, aus der später das Moskauer Konservatorium hervorging.

„Er liebte die Musik sehr”, schreibt sein Schwager Bers. „Er spielte
Klavier und bevorzugte die klassischen Meister. Oft setzte er sich ans
Klavier, ehe er an seine Arbeit ging[188]. Wahrscheinlich kam ihm dabei
die künstlerische Eingebung. Er begleitete immer meine jüngste
Schwester, deren Stimme er sehr gern hatte. Ich habe bemerkt, daß die
Empfindungen, die die Musik in ihm auslösten, von einer leichten Blässe
und einem unmerklichen Verziehen des Gesichtes begleitet waren, was
anscheinend Schreck ausdrückte.”[189]

Es war wohl der Schreck, den er empfand bei der Erschütterung durch
diese unbekannten Kräfte, die ihn bis in die Wurzeln seines Seins
aufrüttelten. In dieser Welt der Musik fühlte er seinen sittlichen
Willen, seine Vernunft, die ganze Wirklichkeit des Lebens
dahinschmelzen. Man lese in dem ersten Band von „Krieg und Frieden” die
Szene nach, wo Nikolaus Rostow, der gerade im Spiel verloren hat,
verzweifelt nach Hause kommt. Er hört seine Schwester Natascha singen
und vergißt alles.

„Er wartete mit fieberhafter Ungeduld auf die nächste Note, und einen
Augenblick lang gab es auf der ganzen Welt nichts anderes mehr als den
Dreivierteltakt: Oh! mio crudele affetto!

‚Wie sinnlos ist doch unser Dasein’, dachte er. ‚Glück, Geld,
Haß, Ehre, alles ist nichts... Hier ist das Wahre!... Natascha, mein
Täubchen!... Laß sehen, ob sie das betrifft... Gott sei Dank, sie
hat's getroffen!’

Um das b zu verstärken, begleitete er es in der Terz.

‚Welch ein Glück! ich habe es auch getroffen’ --, rief er aus; und die
Schwingung dieser Terz erweckte alles Gute in seinem Innern. Was waren
gegen diese übermenschlichen Empfindungen sein Verlust im Spiel und sein
verpfändetes Wort!... Torheiten! Man konnte töten und stehlen und doch
glücklich sein.”

Nikolaus tötet weder, noch stiehlt er, und die Musik bedeutet für ihn
nur eine vorübergehende Erregung, aber Natascha ist nahe daran, sich an
sie zu verlieren. Nach einem Abend in der Oper, „in jener seltsamen,
sinnlosen, meilenweit von der Wirklichkeit entfernten Welt der Kunst, in
der Gut und Böse, Überspanntheit und Vernunft sich mengen und mischen”,
hört sie Anatol Kuragins Erklärung an; er betört sie, und sie willigt
ein, sich entführen zu lassen.

Je älter Tolstoi wird, um so mehr fürchtet er die Musik[190]. Ein Mann,
der Einfluß auf ihn hatte, Berthold Auerbach, den er im Jahre 1860 in
Dresden traf, bestärkte ihn zweifellos in seinem Vorurteil. „Er sprach
von der Musik als von einem pflichtlosen Genuß. Nach seiner Ansicht
führte sie zur Verderbnis.”[191]

Warum, so fragt Camille Bellaigue[192], ist hier gerade Beethoven
gewählt, der reinste und keuscheste aller Musiker, wo doch die Auswahl
an verderblichen Musikern so groß ist? -- Weil er der Stärkste ist.
Tolstoi hatte ihn geliebt und liebte ihn noch immer. Seine frühesten
Erinnerungen aus der Kindheit waren mit der „Pathétique” verknüpft;
und als Nekludow am Schluß der „Auferstehung” das Andante der C-Moll
Symphonie spielen hört, kann er nur mit Mühe seine Tränen
zurückhalten; „er empfand Mitleid mit sich selbst und mit denen, die
er liebte”. -- Man hat indessen gesehen, mit welcher Erbitterung
Tolstoi sich in „Was ist Kunst?”[193] über die „krankhaften Werke
des tauben Beethoven” vernehmen läßt, und schon im Jahre 1876 hatte
die Wut, mit der er „Beethoven zu vernichten und Zweifel an seinem
Genie zu äußern liebte”, Tschaikowsky empört und seine Bewunderung
für Tolstoi abgekühlt. Die „Kreuzersonate” läßt uns die fanatische
Ungerechtigkeit so ganz erkennen. Was wirft Tolstoi Beethoven vor?
Seine Macht. Als er die C-Moll Symphonie hört und von ihr aus der
Fassung gebracht wird, lehnt er sich, wie auch Goethe dies tat, voll
Zorn gegen den Meister auf, der ihn beherrschen und unter seinen
Willen zwingen will[194].

„Diese Musik”, sagt Tolstoi, „versetzt mich sofort in den
Seelenzustand, in dem der war, der sie schrieb... Die Musik sollte
eine Staatsangelegenheit sein wie in China. Man dürfte nicht zugeben,
daß der erste beste über eine so furchtbare hypnotische Macht
verfüge... So etwas (das erste Presto der Sonate) sollte eigentlich
nur bei gewissen bedeutsamen Gelegenheiten gespielt werden dürfen.”

Und man muß sehen, wie Tolstoi nach diesem Aufbegehren der Macht
Beethovens weicht, und wie diese Macht nach seinem eigenen Zugeständnis
rein und veredelnd ist. Beim Hören des Musikstücks verfällt Posdnischeff
in einen unerklärlichen Zustand, über den er keine Rechenschaft ablegen
kann, dessen Bewußtsein ihn aber fröhlich macht. „Die Eifersucht hat
keinen Raum mehr in ihm.” Die Frau ist nicht weniger verwandelt. Sie
hat, während sie spielt, „einen Ausdruck erhabenen Ernstes”, dann,
„als sie mit dem Spielen zu Ende, ein kleines schwaches,
glückseliges Lächeln”... Was ist an all dem so sonderbar? -- Daß der
Geist Sklave ist, und daß die unbekannte Macht der Töne aus ihm
machen kann, was sie will. Ihn zerstören, wenn es ihr gefällt.

Das ist wahr; aber Tolstoi vergißt nur eines: daß die meisten, die
Musik hören oder machen, nur über ein sehr schwaches Seelenleben
verfügen. Die Musik kann für die, die nichts fühlen, kaum gefährlich
werden. Der Anblick, den der Zuschauerraum der Oper während einer
„Salome”-Aufführung bietet, ist wohl dazu angetan, einen über die
Unempfindlichkeit des Publikums gegenüber den ungesundesten
Aufregungen in der Tonkunst zu beruhigen. Man muß ein so reiches
Seelenleben wie Tolstoi haben, um in die Gefahr zu kommen, darunter zu
leiden. -- Sicher ist, daß Tolstoi, trotz seiner verletzenden
Ungerechtigkeit gegen Beethoven, dessen Musik tiefer empfindet als die
meisten von denen, die sich heute dafür begeistern. Er kennt zum
mindesten diese frenetischen Leidenschaften, diese wilde Heftigkeit,
die in der Kunst des „tauben Alten” grollen und die heute kaum ein
Virtuose oder ein Orchester mehr fühlt. Sein Haß hätte vielleicht
Beethoven mehr gefreut als die Liebe mancher Beethovenianer.



Zehn Jahre liegen zwischen der „Kreuzersonate” und der
„Auferstehung”[195], zehn Jahre, die mehr und mehr von moralischer
Pionierarbeit ausgefüllt werden. Und wiederum zehn Jahre zwischen der
„Auferstehung” und dem Endziel, dem dieses Leben, hungernd nach dem
Ewigen, zustrebt. Die „Auferstehung” ist in gewissem Sinne das
künstlerische Testament Tolstois. Sie beherrscht das Ende seines Lebens,
wie „Krieg und Frieden” die Zeit seiner Reife krönt. Es ist der letzte
Gipfel, der höchste vielleicht, -- wenn nicht der machtvollste, --
dessen unsichtbare Spitze[196] sich im Nebel verliert. Tolstoi ist
siebzig Jahre alt. Er betrachtet die Welt, sein Leben, seine früheren
Irrtümer, seinen Glauben, seinen heiligen Zorn von oben herab. Derselbe
Gedanke wie in den früheren Werken; derselbe Kampf gegen die Heuchelei;
aber wie in „Krieg und Frieden” schwebt der Geist des Künstlers über
seinem Stoff; die finstere Ironie, das unruhvolle Wesen in der
„Kreuzersonate” und dem „Tod des Iwan Iljitsch” vermischt er mit
einer religiösen Abgeklärtheit, die er ausstrahlt und die nicht mehr
von dieser Welt ist. Man könnte manchmal von einem christlichen Goethe
sprechen.

[Illustration: Tolstoi auf dem Lande]

Alle künstlerischen Charakterzüge, die wir in den Werken der letzten
Periode aufgezeigt haben, finden sich hier wieder, besonders die
Zusammendrängung der Erzählung, die in einem langen Roman noch
erstaunlicher wirkt als in kurzen Novellen. Das Werk ist ein Ganzes.
Und darin unterscheidet es sich sehr von „Krieg und Frieden” und von
„Anna Karenina”. Fast gar keine episodenhaften Abschweifungen. Eine
einzige Handlung wird hartnäckig verfolgt und bis in die kleinste
Einzelheit durchgeführt. Dieselbe Kraft der in satten Farben gemalten
Bilder wie in der „Kreuzersonate”. Eine immer klarer werdende starke,
erbarmungslos realistische Beobachtung, die das Tier im Menschen sieht,
-- „die schreckliche, nie verschwindende Bestie im Menschen, die um so
schrecklicher ist, wenn sie sich nicht offen enthüllt, wenn sie sich
unter einer angeblich poetischen Aufmachung verbirgt.” Diese
Salongespräche, die einfach ein körperliches Bedürfnis befriedigen
müssen, „das Bedürfnis, die Verdauung zu fördern, indem sie die
Muskeln der Zunge und der Kehle in Bewegung setzen.” Ein scharfes
Durchschauen der Menschen, das niemanden schont, weder die hübsche
Kortschagin „mit ihren zwei falschen Zähnen, den hervortretenden
Knochen ihrer Ellbogen, ihren breiten Fingernägeln” und ihrem
Halsausschnitt, der Nekludow „Scham und Ekel, Ekel und Scham”
einflößt, noch die Heldin, die Maslowa, deren Verfall in keiner Weise
beschönigt ist, ihr frühzeitiges Verbrauchtsein, ihr lasterhafter und
gemeiner Ausdruck, ihr herausforderndes Lächeln, ihr Branntweingeruch,
ihr rotes gedunsenes Gesicht. Ungeheuer derb gezeichnete
naturalistische Einzelheiten: so zum Beispiel die Frau, die
schwatzend auf dem Kehrichteimer hockt. Die dichterische Phantasie und
die Jugendlichkeit sind dahin, außer in den Erinnerungen an die erste
Liebe, die wie Musik mit betörender Kraft in uns weiterklingen; die
keusche Charsamstagsnacht und die Osternacht, das Tauwetter, der so
dichte weiße Nebel, „daß man fünf Schritt weit vom Haus nur eine
große, dunkle Masse sehen konnte, aus der das rote Licht einer Lampe
strahlte”, das nächtliche Krähen der Hähne, der zugefrorene Fluß, der
kracht, dröhnt, einbricht und wie splitterndes Glas klingt, der junge
Mann, der von außen durch die Fensterscheiben das junge Mädchen
betrachtet, das beim flackernden Schein der kleinen Lampe am Tisch
sitzt und ihn nicht sieht, -- Katuscha, die sinnend träumt und
lächelt.

Die lyrische Seite der Dichtung nimmt wenig Raum ein. Tolstois Kunst hat
eine mehr unpersönliche Richtung eingeschlagen, die sich von seinem
eigenen Leben weiter entfernt. Er hat sich bemüht, sein Beobachtungsfeld
zu vergrößern. Die Welt der Verbrecher und die Welt der Revolutionäre,
die er hier darstellt, waren ihm fremd[197]; er dringt in sie ein,
nachdem er ihr gewaltsam sein Interesse zugewandt hat; er gibt sogar zu,
daß ihm die Revolutionäre, ehe er sie sich aus der Nähe ansah, eine
unüberwindliche Abneigung einflößten. Um so bewundernswerter ist seine
wahrheitsgetreue Beobachtung, dieser unerbittliche Spiegel. Welche
Fülle von Typen und haarscharfen Einzelheiten! Und wie ist alles
gesehen, Niedrigkeiten und Tugenden, ohne Härte, ohne Schwäche, mit
ruhigem Verstand und brüderlichem Mitleid! Welch beklagenswertes Bild
diese Frauen im Gefängnis! Sie sind mitleidlos miteinander; aber der
Dichter ist der liebe Gott: er sieht einer jeden ins Herz, sieht hinter
der Verworfenheit die höchste Not und hinter der Maske der Frechheit das
Antlitz, das weint. Der reine und bleiche Schein, der sich nach und nach
in der lasterhaften Seele der Maslowa ankündigt und sie schließlich mit
einer Opferflamme bestrahlt, bekommt die ergreifende Schönheit eines
jener Sonnenstrahlen, die eine bescheidene Rembrandtsche Szene
verklären. Nirgends Strenge, selbst nicht den Peinigern gegenüber.
„Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun”... Das
Schlimmste ist, daß sie oft wissen, was sie tun, daß sie Reue darüber
empfinden und daß sie doch nicht lassen können, es zu tun. Aus dem Buch
hebt sich das Gefühl des zermalmenden Verhängnisses hervor, das
gleichermaßen auf denen lastet, die leiden, wie auf denen, die leiden
machen. Zum Beispiel: der Gefängnisdirektor, voll natürlicher Güte,
ebenso müde seines Lebens als Kerkermeister wie der Klavierübungen
seiner armseligen, blassen Tochter mit den dunklen Ringen um die Augen,
die unentwegt eine Rhapsodie von Liszt mißhandelt; -- oder der kluge
und gute Generalgouverneur einer sibirischen Stadt, der, um dem
unlösbaren Konflikt zwischen dem Guten, das er tun möchte, und dem
Schlechten, das er tun muß, zu entrinnen, seit fünfunddreißig Jahren dem
Alkohol ergeben, dabei aber immer noch genügend Herr seiner selbst ist,
um selbst in der Trunkenheit Haltung zu bewahren; -- und die
Zärtlichkeit innerhalb der Familie, die unter diesen Leuten herrscht,
die ihr Beruf den anderen gegenüber herzlos gemacht hat.

Der einzige Charakter, der nicht objektiv wahr ist, ist der des Helden
Nekludow, weil Tolstoi seine eigenen Ideen auf ihn übertragen hat. Das
war schon der Fehler -- oder die Gefahr -- bei mehreren der berühmtesten
Gestalten in „Krieg und Frieden” oder in „Anna Karenina”: dem
Fürsten Andrej, Peter Besukow, Lewin und anderen. Aber damals war es
weniger schlimm; denn die Personen standen nach Lebenslage und Alter
der Geistesverfassung Tolstois viel näher. Hier jedoch senkt der
Dichter in den Körper eines fünfunddreißigjährigen Lebemanns seine
eigene Seele, die Seele eines wunschlosen Greises von siebzig Jahren.
Ich sage keineswegs, daß die moralische Krise eines Nekludow nicht
wahr sein könne, noch bestreite ich, daß sie mit solcher Plötzlichkeit
eintreten kann[198]. Aber nichts im Temperament, im Charakter, im
Vorleben des Helden, wie Tolstoi ihn darstellt, kündigte diese Krisis
an oder macht sie begreiflich. Und nachdem sie eingesetzt hat, hält
nichts mehr sie auf. Ohne Zweifel hat Tolstoi mit größter Schärfe
dargestellt, wie sich seiner Opferbereitschaft unreine Gedanken
beimischen: jene Tränen der Ergriffenheit und der Bewunderung über
sich selbst, und dann später den Schrecken und den Ekel, die Nekludow
angesichts der Wirklichkeit ergreifen. Aber niemals wankt sein
Entschluß. Diese Krisis steht in keinem Zusammenhang mit seinen
früheren heftigen, aber vorübergehenden Krisen[199]. Nichts kann
diesen schwachen und unentschlossenen Menschen mehr zurückhalten.
Dieser reiche angesehene, für die Freuden der großen Welt sehr
empfängliche Fürst, der im Begriff ist, ein hübsches Mädchen, das ihn
liebt und das ihm auch nicht mißfällt, zu heiraten, entschließt sich
plötzlich, alles -- Reichtum, Gesellschaft und soziale Stellung --
aufzugeben und eine Prostituierte zu heiraten, um einen früheren
Fehler wiedergutzumachen; und dieser Zustand der Verstiegenheit dauert
ununterbrochen an, während Monaten, und hält allen Prüfungen stand,
selbst der Nachricht, daß sie, die er zu seiner Frau machen will, ihr
ausschweifendes Leben fortsetzt[200]. Es liegt darin eine Heiligkeit,
deren Quelle in den tiefsten Tiefen des Gewissens und des Organismus
seines Helden uns die Psychologie eines Dostojewski gezeigt haben
würde. Aber Nekludow hat nichts von einem Dostojewskischen Helden. Er
ist der Typus des normalen, gesunden Durchschnittsmenschen, wie es
die Tolstoischen Helden meistens sind. Man spürt in der Tat zu stark,
wie einem durchaus in der Wirklichkeit stehenden Menschen[201]
moralische Erschütterungen gewaltsam zugeschrieben werden, die
eigentlich einem ganz anderen Menschen eignen; -- und dieser Mensch
ist der greise Tolstoi.

Denselben Eindruck der Uneinheitlichkeit empfangen wir am Ende des
Buches, wo einem dritten Teil mit streng realistischen Schilderungen ein
frommer Schluß angehängt wird, der nicht notwendig ist, -- ein
persönliches Glaubensbekenntnis, das nicht logisch aus dem
vorhergehenden Leben folgert. Es ist nicht das erste Mal, daß sich
Tolstois Gläubigkeit seinem Realismus gesellt, aber in den früheren
Werken sind diese beiden Elemente inniger miteinander verschmolzen. Hier
bestehen sie nebeneinander, ohne sich zu verbinden, und der Gegensatz
fällt um so stärker auf, als Tolstois Glaube sich immer mehr jede
Beweisführung schenkt, während sein Realismus sich von Tag zu Tag freier
und schärfer gestaltet. Es zeigen sich da Spuren -- nicht von Ermüdung,
aber von Alter, eine gewisse Steifheit der Gelenke, wenn ich so sagen
darf. Der religiöse Schluß stellt keine organische Entwicklung des
Werkes dar. Er wirkt wie ein Deus ex machina... Und ich bin überzeugt,
daß Tolstoi trotz gegenteiligen Versicherungen in seinem tiefsten Innern
seine verschiedenen Naturen nicht vollkommen in Einklang miteinander
bringen konnte: die Wahrhaftigkeit seiner Kunst und die Wahrhaftigkeit
seines Glaubens.

Aber wenn auch die „Auferstehung” nicht die harmonische Geschlossenheit
der Jugendwerke aufweist, wenn ich, meinerseits, ihr auch „Krieg und
Frieden” vorziehe, so ist sie doch nichtsdestoweniger eine der schönsten
Dichtungen menschlichen Erbarmens -- vielleicht die wahrhaftigste von
allen. Mehr als aus jedem anderen Werk blicken mich aus diesem die
klaren Augen Tolstois an, die mattgrauen tiefgründigen Augen, „dieser
Blick, der bis in die Seele dringt”[202] und in eines jeden Seele Gott
schaut.



Tolstoi sagte sich nie von der Kunst los. Ein großer Künstler kann,
selbst wenn er möchte, nicht auf das verzichten, was seinem Leben den
Wert gibt. Er kann wohl aus religiösen Gründen das Veröffentlichen,
nicht aber das Schreiben lassen. Niemals unterbrach Tolstoi sein
künstlerisches Schaffen. Paul Boyer, der ihn in seinen letzten Jahren in
Jasnaja Poljana sah, erzählt, daß er sich zu gleicher Zeit den
religiösen oder polemischen und den rein dichterischen Werken widmete.
Er erholte sich an den einen von den anderen. Wenn er irgend eine
soziale Abhandlung beendet hatte, dann gestattete er es sich, eine
seiner schönen Geschichten, die er für sich selbst erzählte, wieder
aufzunehmen -- wie z. B. „Chadschi Murat”, ein Militärepos, in dem er
eine Episode aus den Kriegen im Kaukasus und dem Aufstand der
Bergbewohner unter Schamyl besang. Die Kunst blieb seine Erholung, sein
Vergnügen. Aber er würde es für eitel gehalten haben, mit ihr zu
prunken. Seit seinem Büchlein „Für alle Tage” (1904-1905),[203] in
dem er die „Gedanken der verschiedenen Schriftsteller über die
Wahrheit und das Leben” sammelte -- einer richtigen Anthologie der
poetischen Weisheit der ganzen Welt, von den heiligen Schriften des
Orients an bis zu den Zeitgenossen --, sind vom Jahre 1900 ab fast
alle seine ausschließlich künstlerischen Werke Manuskript
geblieben[204].

Dagegen warf er seine polemischen und mystischen Schriften mit
Feuereifer in den sozialen Kampf. Von 1900-1910 zehrt dieser seine
besten Kräfte auf. Rußland machte eine fürchterliche Krisis durch, in
der das Zarenreich zeitweise in seinen Grundfesten zu krachen schien und
nahe am Einstürzen war. Der russisch-japanische Krieg, der
darauffolgende Zusammenbruch, die revolutionäre Bewegung, die Meuterei
in Heer und Flotte, die Metzeleien und die Bauernunruhen schienen „das
Ende einer Welt” zu bedeuten, wie auch der Titel einer Tolstoischen
Schrift besagt. -- Ihren Höhepunkt erreichte die Krisis zwischen 1904
und 1905. In jenen Jahren veröffentlichte Tolstoi eine Reihe von Werken,
die viel Widerhall fanden: „Krieg und Revolution”, „Das große
Verbrechen”, „Das Ende einer Welt”. Während dieser letzten zehn
Jahre nimmt er eine einzigartige Stellung nicht nur in Rußland,
sondern in der ganzen Welt ein. Er steht allein, allen Parteien und
Nationen entfremdet, aus seiner Kirche durch Exkommunikation
ausgestoßen[205].

[Illustration: Tolstoi im Jahre 1910]

Die Logik seiner Vernunft, der Starrsinn seines Glaubens lieferten ihn
dem Dilemma aus: sich von den übrigen Menschen oder von der Wahrheit
loszusagen. Er erinnerte sich des russischen Sprichwortes: „Ein Alter,
der lügt, ist wie ein Reicher, der stiehlt”, und er sagte sich von den
Menschen los, um die Wahrheit zu sagen. Er sagte sie ohne Vorbehalt
allen. Der alte Lügenjäger macht weiter unermüdlich Jagd auf jeden
religiösen oder sozialen Aberglauben, auf jede Fetischanbetung. Er
wendet sich nicht nur gegen die alten böswilligen Mächte, die
verfolgungssüchtige Kirche und die zaristische Selbstherrschaft.
Vielleicht beruhigt er sich jetzt sogar ein wenig über sie, nun, da alle
Welt den Stein auf sie wirft. Man kennt sie, sie sind nicht mehr so zu
fürchten! Und schließlich tun sie nur, was ihres Amtes ist, sie betrügen
nicht. Tolstois Brief an den Zaren Nikolaus II.[206] ist bei aller
schonungslosen Wahrheit gegenüber dem Herrscher voller Güte für den
Menschen, den er seinen „lieben Bruder” nennt, den er bittet, „ihm zu
vergeben, wenn er ihn, ohne es zu wollen, betrübt habe”. Und er
unterzeichnet: „Dein Bruder, der dir das wirkliche Glück wünscht”.

Aber was Tolstoi am wenigsten verzeiht, was er mit großer Heftigkeit
angreift, sind die neuen Lügen, nicht die alten, die längst an den Tag
gekommen sind. Er bekämpft nicht den Despotismus, sondern das Trugbild
der Freiheit. Und man weiß nicht, wen er unter den Anbetern neuer Götzen
mehr haßt, die Sozialisten oder die „Liberalen”.

Seine Abneigung gegen die Liberalen war schon alten Datums. Er hatte sie
gleich damals empfunden, da er als Offizier von Sewastopol in den Kreis
der Petersburger Literaten gekommen war. Es war einer der Gründe gewesen
für sein schlechtes Einvernehmen mit Turgenjew. Der stolze Aristokrat,
der Mensch alter Rasse, konnte diese Intellektuellen nicht ertragen,
und ebenso wenig ihre Anmaßung, dem russischen Volke, ob es wollte oder
nicht, das Glück zu bringen, indem sie ihm ihre Utopien aufdrängten. Als
Urrusse vom alten Stamm[207], war er mißtrauisch gegen die liberalen
Neuerungen, gegen jene konstitutionellen Ideen, die aus dem Westen
kamen; und seine beiden Reisen in Europa bestärkten ihn nur in seinem
Vorurteil. Als er von der ersten Reise heimkam, schrieb er:

„Der Ehrgeiz des Liberalismus ist zu vermeiden.”[208]

Und nach der zweiten:

„Die privilegierte Gesellschaft hat keineswegs das Recht, das Volk, das
ihr ganz fern steht, auf ihre Art zu erziehen.”[209]

In „Anna Karenina” ergeht er sich lang und breit in seiner Verachtung
für die Liberalen. Lewin verweigert seine Beteiligung am Werk der
Provinzialeinrichtungen für die Volksbelehrung und an den sonstigen
Neuerungen, die an der Tagesordnung sind. Das Bild, das die Wahlen zur
Provinzialversammlung aufweisen, zeigt, wie ein Land hereinfällt, wenn
es seine alte konservative Verwaltung durch eine liberale ersetzt.
Nichts hat sich geändert; es gibt nur eine Lüge mehr und Herren von
geringerer Herkunft.

„Wir sind vielleicht nicht allzuviel wert”, äußert der Vertreter der
Aristokratie, „aber wir haben es trotzdem ganze tausend Jahre lang
ausgehalten.”

Und Tolstoi ärgert sich über den Mißbrauch, den die Liberalen mit dem
Wort „Volk”, „Volkswille” treiben. Was wissen sie denn überhaupt
vom Volk? Was ist ihnen das Volk?

Besonders aber zu der Zeit, da die liberale Bewegung sich durchzusetzen
scheint und sie die erste Duma einberufen läßt, drückt Tolstoi heftig
sein Mißfallen gegenüber den konstitutionellen Ideen aus.

„In letzter Zeit hat die Entartung des Christentums einem neuen Betrug
Platz gemacht, der unsere Völker noch tiefer in seine Knechtschaft
hineinstößt. Mit Hilfe eines komplizierten parlamentarischen
Wahlverfahrens wurde ihnen eingeredet, daß, wenn sie ihre Abgeordneten
direkt wählten, sie an der Regierung teilnähmen, und daß sie, wenn sie
diesen Abgeordneten gehorchten, nur ihrem eigenen Willen gehorchten und
somit frei seien. Das ist ein Betrug. Das Volk kann seinen Willen nicht
kundgeben, selbst nicht durch das allgemeine Wahlrecht: 1. weil es einen
solchen Gesamtwillen einer Nation von vielen Millionen Einwohnern
überhaupt nicht geben kann, und 2. weil, selbst wenn es ihn gäbe, die
Stimmenmehrheit nicht sein Ausdruck wäre. Ohne auf den Umstand Gewicht
zu legen, daß die Gewählten nicht mit Rücksicht auf das allgemeine Wohl,
sondern auf die Erhaltung ihrer Machtstellung Gesetze erlassen und die
Verwaltungsgeschäfte besorgen, -- ohne sich auf die Tatsache zu berufen,
daß ein Volk durch die Wahlbeeinflussung und die Wahlmanöver verkommen
muß, -- ist diese Lüge besonders unheilvoll im Hinblick auf das
Anmaßende dieser Sklaverei, in welche die verfallen, die sich ihr
unterwerfen... Jene freien Menschen erinnern an Gefangene, die sich
einbilden, Freiheit zu genießen, wenn sie das Recht haben, sich ihre
Gefängniswärter auszuwählen... Ein Angehöriger eines despotisch
regierten Staates kann, selbst unter dem grausamsten Zwang, vollständig
frei sein. Aber ein Angehöriger eines konstitutionell regierten Staates
ist immer Sklave; denn er erkennt die Gesetzmäßigkeit der gegen ihn
angewandten Zwangsmaßregeln an... In eben denselben Zustand der
konstitutionellen Sklaverei, in der die anderen europäischen Völker
sind, möchte man das russische Volk führen!...”[210]

Für seine Abneigung gegen den Liberalismus ist die Geringschätzung das
Bestimmende. Dem Sozialismus gegenüber ist es -- oder vielmehr wäre es
-- der Haß, wenn sich Tolstoi nicht dagegen verwahrte, überhaupt zu
hassen, was immer es auch sei. Er verabscheut den Sozialismus zwiefach,
weil er zwei Lügen in sich vereinigt: die Lüge von der Freiheit und die
von der Wissenschaft. Behauptet er doch, auf wer weiß welcher
ökonomischen Wissenschaft gegründet zu sein, deren absolute Gesetze den
Fortschritt der Welt lehren!

Tolstoi verfährt sehr streng mit der Wissenschaft. Er hat Worte voll
schrecklicher Ironie für diesen modernen Aberglauben und „diese
wertlosen Probleme: Entstehung der Arten, Spektralanalyse,
Beschaffenheit des Radiums, Zahlentheorie, vorsintflutliche Tiere und
anderen Firlefanz, dem man heutzutage dieselbe Wichtigkeit beimißt,
die man im Mittelalter der unbefleckten Empfängnis oder der
Transsubstantiation im Abendmahl beimaß”. Er macht sich lustig über
„diese Diener der Wissenschaft, die ebenso wie die Diener der Kirche
sich und den anderen einreden, daß sie die Menschheit retten, die ebenso
wie die Kirche an ihre Unfehlbarkeit glauben, nie untereinander einig
sind, sich in Gemeinden spalten und ebenso wie die Kirche der Hauptgrund
sind für die Roheit, für die moralische Unwissenheit, die Hemmung, die
den Menschen davon zurückhält, sich von dem Bösen, unter dem er leidet,
freizumachen; denn sie haben das einzige verworfen, was die Menschheit
einen könnte: das religiöse Gewissen.”[211]

Aber seine Erregung steigert sich, und sein Unwille kommt zum Ausbruch,
als er diese gefährliche Waffe des neuen Fanatismus in den Händen derer
sieht, die angeblich die Menschheit bessern wollen. Jeder Revolutionär
macht ihn traurig, wenn er seine Zuflucht zur Gewalt nimmt. Aber der
intellektuelle Revolutionär und Theoretiker flößt ihm Abscheu ein: solch
einer ist ein Mörder aus Pedanterie, eine hochmütige, stumpfe Seele, der
nicht die Menschen liebt, sondern nur seine eigenen Ideen[212].

Übrigens recht niedrige Ideen.

„Der Sozialismus hat die Befriedigung der niedersten Bedürfnisse des
Menschen zum Ziel: sein materielles Wohlbefinden. Und selbst dieses Ziel
durch die Mittel, die er anpreist, zu erreichen, ist er nicht
imstande.”[213]

Im Grunde ist er ohne Liebe. Er kennt nur Haß gegen die Bedrücker und
„einen blassen Neid auf das bequeme und satte Leben der Reichen: gleich
kotbegierigem Fliegengeschmeiß[214]. Wenn der Sozialismus den Sieg
davonträgt, dann wird es schrecklich in der Welt aussehen. Die
europäische Horde wird über die schwachen und wilden Völker mit
doppelter Macht herfallen und wird sie zu Sklaven machen, damit die
früheren Proletarier Europas nach Herzenslust in ihrem müßigen Wohlleben
zugrunde gehen können, wie einst die Römer[215].

Zum Glück verpufft die beste Kraft des Sozialismus in Rauch, -- in
Reden, wie denen des Sozialisten Jaurès...

„Welch wundervoller Redner! In seinen Reden ist alles und nichts... Mit
dem Sozialismus geht es so ähnlich wie mit unserer russischen
Orthodoxie: man treibt sie in die Enge, man drängt sie in ihre letzten
Verschanzungen, man glaubt sie gefaßt zu haben, da dreht sie sich
schroff um und sagt: ‚Aber nicht doch! Ich bin nicht die, die du
glaubst, ich bin eine ganz andere.’ Und sie entgleitet deiner Hand...
Geduld! Die Zeit wird es machen. Es wird mit den sozialistischen
Theorien sein wie mit den Damenmoden, die ungeheuer schnell ihren Weg
aus dem Salon in das Vorzimmer nehmen.”[216]

Wenn Tolstoi einen solch heftigen Krieg gegen die Liberalen und die
Sozialisten führt, so geschieht es nicht etwa, um der Autokratie das
Schlachtfeld zu überlassen; er will im Gegenteil, daß der Kampf zwischen
der alten und der neuen Welt vollständig ausgetragen werde, nachdem man
erst die störenden und gefährlichen Elemente aus der Kampfreihe entfernt
habe. Denn auch er glaubt an die Revolution. Doch sein Revolutionsglaube
ist ein anderer als der der Revolutionäre: er erinnert mehr an den
Glauben eines mittelalterlichen Mystikers, der für morgen, ja für heute
vielleicht schon, das Reich des Heiligen Geistes erwartet: „Ich glaube,
daß genau zu dieser Stunde die große Revolution beginnt, die sich seit
zweitausend Jahren in der Christenwelt vorbereitet, -- die Revolution,
die an Stelle des verfälschten Christentums und der daraus hergeleiteten
Herrschaft das wahre Christentum setzen wird, die Grundlage für die
Gleichheit unter den Menschen und die echte Freiheit, nach der alle
vernunftbegabten Menschen streben.”[217]

Und welche Stunde wählt er, dieser prophetische Seher, um die neue Ära
des Glückes und der Liebe zu verkünden? Die düsterste Stunde Rußlands,
die Stunde des Unheils und der Schande. Welch herrliche Macht des
schöpferischen Glaubens! Alles um ihn ist Licht, -- bis zur Nacht.
Tolstoi erblickt im Untergang die Zeichen der Erneuerung: in den
unglücklichen Schlachten des Krieges in der Mandschurei, in dem
Zusammenbruch der russischen Heere, in der fürchterlichen Anarchie und
dem blutigen Klassenkampf. Mit traumhafter Logik zieht er aus dem Sieg
Japans den erstaunlichen Schluß, daß Rußland sich von jedwedem Krieg
fernhalten muß; denn die nichtchristlichen Völker werden im Kriegsfalle
immer im Vorteil sein gegenüber den christlichen Völkern, „die die
Phase des knechtischen Gehorsams überschritten haben”. Bedeutet das
eine Absage an sein Volk? -- Nein, es ist höchster Stolz. Rußland soll
sich von jedem Krieg fernhalten, weil es „die große Revolution”
durchführen muß.

„Die Revolution von 1905, die die Menschen von rohem Druck befreien
wird, muß ihren Anfang in Rußland nehmen.”

Warum soll Rußland diese Rolle des auserwählten Volkes spielen? Weil die
neue Revolution vor allem „das große Verbrechen” gutmachen soll, die
Monopolisierung des Bodens zum Nutzen von ein paar tausend reichen
Leuten, die Sklaverei von Millionen Menschen, die grausamste aller
Sklavereien[218]. Und weil kein Volk sich dieses schreienden Unrechts so
bewußt ist wie das russische[219].

Aber ganz besonders, weil das russische Volk unter allen Völkern
dasjenige ist, welches am meisten vom wahren Christentum durchdrungen
ist, und weil die kommende Revolution das Gebot der Einigkeit und der
Liebe in Christi Namen verwirklichen soll. Und dieses Gebot der Liebe
kann sich nicht erfüllen, wenn es sich nicht stützt auf das Gebot:
Widerstrebet nicht dem Bösen[220]. Und dieses Nichtwiderstreben (achten
wir wohl darauf, wir, die wir zu Unrecht darin eine Utopie erblicken, an
die nur Tolstoi und noch ein paar Schwärmer glauben) ist und war immer
ein Grundzug des russischen Volkes.

„Das russische Volk hat in bezug auf die Gewalt immer eine ganz andere
Stellung eingenommen als die anderen europäischen Völker. Nie hat es
einen Kampf gegen die Gewalt eröffnet; es hat sogar nie an einem Kampf
gegen sie teilgenommen, und infolgedessen hat es nie durch ihn besudelt
werden können. Es hat die Gewalt als ein Übel betrachtet, dem man
ausweichen muß. Die Mehrzahl der Russen hat immer lieber
Gewalttätigkeiten erduldet, als daß sie ihnen Widerstand geleistet oder
an ihnen teilgenommen hätte. Sie hat sich also immer unterworfen...”

Es war eine freiwillige Unterwerfung, die mit knechtischem Gehorsam
nichts zu tun hat[221].

„Der wahre Christ kann sich unterwerfen, es ist ihm sogar unmöglich,
sich nicht kampflos jeder Gewalt zu unterwerfen, aber gehorchen kann er
ihr nicht, das heißt, er kann nicht ihre Gesetzmäßigkeit
anerkennen.”[222]

In dem Augenblick, als Tolstoi diese Zeilen schrieb, stand er unter dem
Eindruck eines der tragischsten Beispiele dieses heroischen Duldens
eines Volkes, -- der blutigen Manifestation vom 20. Januar 1905 in
Petersburg, wo eine waffenlose Menge, vom Popen Gapon angeführt, sich
niederschießen ließ, ohne einen Schrei des Hasses, ohne einen Finger zur
Verteidigung zu rühren.

Seit langem verweigerten in Rußland die Altgläubigen, die man die
Sektierer nannte, trotz allen Verfolgungen dem Staate den Gehorsam und
lehnten es ab, die Gesetzmäßigkeit der Staatsgewalt anzuerkennen.[223]
Bei der Unsinnigkeit des russisch-japanischen Krieges konnte sich diese
Geistesrichtung mühelos unter der Landbevölkerung Bahn brechen. Die
Verweigerung des Militärdienstes nahm immer zu, und je grausamer man sie
unterdrückte, um so stärker wuchs die Erbitterung. -- Im übrigen hatten
Provinzen, ganze Stämme, ohne Tolstoi zu kennen, das Beispiel
unbedingter Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Staat gegeben: die
Duchoborzen des Kaukasus seit 1898 und die Georgier aus Gurien um 1905.
Tolstoi wirkte weit geringer auf diese Bewegungen als sie auf ihn; und
das Beste an seinen Schriften ist gerade, daß er, entgegen den
Behauptungen der Schriftsteller von der Revolutionspartei, wie
Gorki[224], die Stimme des altrussischen Volkes war.

Sein Verhalten den Menschen gegenüber, die die Grundsätze, zu denen er
sich bekannte, mit Lebensgefahr in die Tat umsetzten[225], war sehr
bescheiden und sehr würdig. Weder den Duchoborzen und den Guriern, noch
den widerspenstigen Soldaten gegenüber spielt er sich als Lehrmeister
auf.

„Wer keine Prüfung erduldet, kann den nichts lehren, der Prüfungen
erduldet.”[226]

Er fleht alle die um Vergebung an, „die seine Worte und seine Schriften
etwa in Leid gestürzt haben.”[227] Niemals fordert er jemand auf, den
Militärdienst zu verweigern. Jeder soll sich selbst entscheiden. Wenn er
mit einem zu tun hat, der unschlüssig ist, „rät er ihm stets, in den
Heeresdienst einzutreten und den Gehorsam nicht zu verweigern, soweit es
ihm nicht moralisch unmöglich ist”. Denn wenn man unschlüssig ist, dann
ist man noch nicht reif; und „es ist besser, es gibt einen Soldaten mehr
als einen Heuchler oder einen Abtrünnigen, was bei denen der Fall ist,
die sich Taten zumuten, die über ihre Kräfte gehen.”[228] Er mißtraut
der Entschließung des widerspenstigen Gontscharenko. Er fürchtet, „daß
dieser junge Mensch nur von Eigenliebe und Ruhmsucht getrieben sei und
nicht von Gottesliebe”.[229] Den Duchoborzen schreibt er, sie sollten
nicht aus Stolz und Selbstbewußtsein in ihrer Gehorsamsverweigerung
verharren, sondern, „wenn sie dessen fähig seien, ihre schwachen Frauen
und ihre Kinder von dem Leiden befreien. Niemand werde sie darum
verdammen.” Sie dürften sich nur dann widersetzen, „wenn der Geist
Christi in ihnen verankert sei, weil sie dann glücklich sein würden über
ihre Leiden.”[230] In jedem Falle bittet er die, die verfolgt werden,
„um keinen Preis aufzuhören, ihre Verfolger wahrhaft zu lieben”.[231]

Man muß, wie er in einem schönen Brief an einen Freund sagt, Herodes
lieben:

„Sie sagen: ‚Man kann Herodes nicht lieben.’ -- Ich weiß es nicht,
aber ich fühle -- und auch Sie fühlen, daß man ihn lieben muß. Ich
weiß -- und auch Sie wissen es, daß ich leide, wenn ich ihn nicht
liebe.”[232]

Es ist eine göttliche Reinheit, eine nie verlöschende Glut in dieser
Liebe, die sich schließlich nicht einmal genug sein läßt an der
Forderung des Evangeliums: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”,
weil sie darin noch einen Beigeschmack von Egoismus findet[233]!

Nach der Ansicht mancher ist es eine allzu umfassende Liebe und so sehr
von jedem menschlichen Egoismus befreit, daß sie sich in der Leere
verliert! -- Und trotzdem -- wer hegt ein größeres Mißtrauen gegen die
„abstrakte Liebe” als Tolstoi?

„Die größte Sünde von heute ist die abstrakte Liebe der Menschen, die
unpersönliche Liebe zu denen, die irgendwo im Weiten sind... Es ist so
leicht, die Menschen zu lieben, die man nicht kennt, denen man nie
begegnet! Man hat nicht nötig, irgendein Opfer zu bringen. Und dabei ist
man so zufrieden mit sich! So prellt man das Gewissen. -- Nein, den
Nächsten soll man lieben, den, mit dem man zusammen lebt und der einem
lästig ist.”[234]

Ich lese in den meisten Arbeiten über Tolstoi, daß seine Philosophie und
sein Glaube nicht originell seien. Es ist wahr: die Schönheit dieser
Gedanken ist zu ewig, als daß sie jemals als Modeneuheit erscheinen
könnte... Andere heben ihren utopistischen Charakter hervor. Auch das
ist wahr: sie sind utopistisch wie das Evangelium. Ein Prophet ist ein
Utopist; er lebt schon hienieden das ewige Leben. Und daß diese
Erscheinung uns vergönnt war, daß wir in unserer Mitte den letzten der
Propheten sehen durften, daß der größte unserer Dichter von diesem
Glorienschein umgeben ist, -- das ist, wie mir scheint, eine
originellere Tatsache und von größerer Bedeutung für die Welt als eine
Religion mehr oder eine neue Philosophie. Blind sind die, die das Wunder
dieser großen Seele nicht sehen, dieser Verkörperung der Bruderliebe in
einem haßerfüllten Volk und Jahrhundert.



Tolstois Antlitz hatte die Züge bekommen, die als endgültige im
Gedächtnis der Menschen haften werden: die breite Stirn, von zwei Falten
durchfurcht, die buschigen weißen Augenbrauen, den Patriarchenbart, der
eine Erinnerung an den Moses von Dijon weckt. Das alte Gesicht ist
milder, weicher geworden; in seiner innigen Güte trägt es die Spuren von
Krankheit und Kummer. Wie hat es sich verändert gegen die fast tierische
Brutalität des Zwanzigjährigen und die steifleinene Miene von
Sewastopol! Aber die lichten Augen haben noch immer ihre tiefe und
ruhige Klarheit, jene Geradheit des Blicks, der nichts verbirgt und dem
nichts verborgen bleibt.

Neun Jahre vor seinem Tod sagte Tolstoi in der Antwort an den Heiligen
Synod (17. April 1901):

„Ich bin es meinem Glauben schuldig, in Frieden und Freude zu leben und
auch in Frieden und Freude dem Tode entgegenzugehen.”

Wenn ich das höre, denke ich an das alte Wort, „daß man niemand vor
seinem Ende glücklich preisen soll”. Sind ihm dieser Friede und diese
Freude, deren er sich damals rühmte, treu geblieben?

Die Hoffnungen, die man auf die „große Revolution” von 1905 gesetzt
hatte, waren verflogen. Am düsteren Gewitterhimmel hatte sich das
ersehnte Licht nicht gezeigt. Den Zuckungen der Revolution folgte die
Erschöpfung. An der alten Ungerechtigkeit hatte sich nichts geändert,
es sei denn, daß das Elend noch größer geworden war. Schon im Jahre 1906
hat Tolstoi ein wenig sein Vertrauen in die Berufung des slawischen
Volkes von Rußland verloren; und sein unumstößlicher Glaube sucht in der
Ferne andere Völker, die er mit dieser Mission betrauen könnte. Er denkt
an „das große und weise Chinesenvolk”. Er glaubt, „daß die Völker
des Ostens berufen sind, jene Freiheit wiederzufinden, die die
Völker des Westens fast unwiederbringlich verloren haben”, und daß
China an der Spitze der Asiaten die Wandlung der Menschheit im Sinne
des Tao, des ewigen Gesetzes, durchführen wird[235].

Die Hoffnung wurde schnell getäuscht: das China des Lao Tse und des
Konfuzius verleugnet seine einstige Weisheit -- wie es vor ihm schon
Japan getan hatte --, und ahmt die Europäer nach[236]. Die schwer
verfolgten Duchoborzen sind nach Kanada ausgewandert und setzen dort
sogleich, zu Tolstois Entrüstung, das Eigentum wieder in seine Rechte
ein[237]. Die Gurier, kaum vom Joch des Staates befreit, begeben sich
daran, die zu töten, die anders denken als sie selber, und die
herbeigerufenen russischen Truppen müssen wieder Ordnung schaffen.
Selbst die Juden, „deren Vaterland bis jetzt das schönste war, das ein
Mensch sich wünschen kann, -- die Bibel”[238], selbst diese verfallen
der Krankheit des Zionismus, dieser sich national gebärdenden
Bewegung, „die Fleisch vom Fleische des zeitgenössischen Europäertums
ist, sein rachitisches Kind”[239].

[Illustration: Tolstoi mit seinem Freunde Tschertkow]

Tolstoi ist betrübt, aber nicht entmutigt. Er vertraut auf Gott, er
glaubt an die Zukunft:

„Das wäre herrlich, wenn man im Handumdrehen einen Wald wachsen lassen
könnte. Leider ist das unmöglich; man muß warten, bis der Samen keimt,
daß er Triebe, dann Blätter, dann den Stengel hervorbringt, der sich
schließlich zum Baume entwickelt.”[240]

Aber erst viele Bäume machen einen Wald; und Tolstoi steht allein.
Ruhmreich, aber allein. Man schreibt aus der ganzen Welt an ihn: aus den
mohammedanischen Ländern, aus China, aus Japan, wo man die
„Auferstehung” übersetzt, und wo sich seine Ideen über die
„Zurückerstattung des Bodens an das Volk” ausbreiten. Die
amerikanische Presse interviewt ihn; Franzosen befragen ihn über
Kunstangelegenheiten oder über die Trennung von Staat und
Kirche[241]. Aber er hat noch keine dreihundert Schüler, und er
leugnet es gar nicht. Im übrigen hat er sich nie darum bemüht,
Schüler zu bekommen. Er verurteilt die Versuche seiner Freunde,
Tolstoianer zu werden:

„Wir sollen nicht einer zum anderen streben, sondern alle zu Gott... Ihr
sagt: ‚Zusammen ist es leichter...’ -- Was? -- Ackern, mähen, ja. Aber
Gott kann man sich nur allein nähern... Ich stelle mir die Welt als
einen Riesentempel vor, in dem das Licht von oben und gerade in die
Mitte fällt. Um sich zu vereinigen, müssen alle zum Lichte drängen. Dort
werden wir alle, die wir von verschiedenen Seiten kommen, uns mit
Menschen zusammenfinden, die wir nicht erwarteten: und darin liegt die
Freude.”[242]

Wie viele mögen sich unter diesem Lichtstreif zusammengefunden haben? --
Gleichviel! Es genügt, daß einer sich dort mit Gott zusammenfindet.

„Ebenso wie nur ein Stoff, der selbst brennt, das Feuer anderen Stoffen
mitteilen kann, ebenso können nur der wahrhafte Glaube und das wahrhafte
Leben eines Menschen sich anderen Menschen mitteilen und die Wahrheit
verbreiten.”[243]

Vielleicht; aber bis zu welchem Grad hat dieser einsame Glaube Tolstoi
das Glück sichern können? -- Wie weit entfernt ist er in seinen letzten
Lebenstagen von der heiteren Ruhe eines Goethe! Man möchte fast sagen,
er flieht sie, sie ist ihm unsympathisch.

„Man muß Gott dafür danken, wenn man unzufrieden mit sich ist. Könnte
man es nur immer sein! Der Mißklang, den das Leben, wie es ist, mit dem
Leben, wie es sein sollte, hervorbringt, ist gerade das Wahrzeichen des
Lebens, die Bewegung, die vom Kleinsten zum Größten, vom Schlimmsten zum
Besten hinaufführt. Und dieser Mißklang ist die Bedingung für das Gute.
Es ist vom Übel, wenn der Mensch ruhig und mit sich selbst zufrieden
ist.”[244]

Und er ersinnt jenen Romanstoff, der in erstaunlicher Weise zeigt, daß
die ewige Unruhe eines Lewin oder eines Peter Besukow in ihm nicht
erstorben war.

„Ich stelle mir oft einen in den revolutionären Kreisen erzogenen
Menschen vor, der erst Revolutionär, dann Sozialist, Orthodoxer, Mönch
auf dem Berge Athos, nachher Atheist, guter Familienvater und
schließlich Duchoborze ist. Er fängt alles an und gibt alles immer
wieder auf. Die Menschen machen sich über ihn lustig, er hat nichts
vollbracht und stirbt vergessen in einem Asyl. Noch im Sterben denkt er,
daß er sein Leben verpfuscht hat. Und doch ist er ein Heiliger.”[245]

Hegte er also immer noch Zweifel, er, der so voll seines Glaubens war?
-- Wer weiß es? Bei einem Mann, der bis ins höchste Alter kräftig an
Körper und Geist geblieben war, konnte das Leben nicht plötzlich bei
irgendeinem Gedankengang haltmachen. Es mußte weiter voran.

„Bewegung ist Leben.”[246]

Gar viel mußte sich im Laufe der letzten Jahre in ihm geändert haben.
War er nicht auch in der Beurteilung der Revolutionäre milder geworden?
Wer kann sagen, ob nicht sogar sein Glaube an das Nichtwiderstreben
gegen das Böse ein wenig erschüttert worden war? Schon in der
„Auferstehung” ändern Nekludows Beziehungen zu den wegen politischer
Verbrechen Verurteilten seine Ansichten über die russische
Revolutionspartei vollständig.

„Bis dahin hegte er Abscheu gegen ihre Grausamkeit, ihre verbrecherische
Verstellungskunst, ihre Mordanschläge, ihre Anmaßung, ihre
Selbstzufriedenheit, ihre unerträgliche Eitelkeit. Aber nun, da er sie
aus der Nähe sieht, da er sieht, wie sie von den Machthabern behandelt
werden, begreift er, daß sie nicht anders sein können.”

Und er bewundert ihre hohe Auffassung von der Pflicht, die das ganze
Opfer fordert.

Aber seit 1900 hatte sich die revolutionäre Woge ausgebreitet;
ausgegangen von den Intellektuellen, hatte sie nun auch das Volk
ergriffen und brachte Tausende von Unglücklichen in blinden Aufruhr. Die
Vorhut ihres dräuenden Heeres zog in Jasnaja Poljana unter Tolstois
Fenstern vorbei. Drei Geschichten, die der „Mercure de France”[247]
veröffentlichte und die zu den letzten Seiten zählen, die Tolstoi
schrieb, lassen den Schmerz und Kummer ahnen, den dieses Schauspiel ihm
bereitete. Wo war die Zeit hin, da fromme Pilger einfältigen Geistes die
Gegend von Tula durchzogen? Jetzt war es eine Überschwemmung von
umhergetriebenen Hungerleidern. Jeden Tag kommen welche. Tolstoi spricht
mit ihnen und ist betroffen von dem Haß, der sie bewegt; sie sehen
nicht, wie einst, in den Reichen „Leute, die, um ihr Seelenheil zu
retten, Almosen austeilen, sondern Räuber, Schurken, die dem arbeitenden
Volk das Blut aussaugen.” Viele von ihnen sind heruntergekommene
gebildete Leute am Rande der Verzweiflung, die den Menschen zu allem
fähig macht.

„Nicht in den Wüsten und den Wäldern, sondern in den Winkeln der
Städte und auf den breiten Heerstraßen werden die Barbaren
großgezogen, die aus der modernen Zivilisation das machen werden,
was die Hunnen und Vandalen aus der alten gemacht haben.”

So sprach Henry George. Und Tolstoi fügt hinzu:

„Die Vandalen sind schon bereit in Rußland, und sie werden besonders
schrecklich sein für unser tiefreligiöses Volk, weil wir nicht die
Hemmungen kennen, die bei den europäischen Völkern so stark ausgebildet
sind: die Konvention und die öffentliche Meinung.”

Tolstoi bekam von diesen Revolutionären häufig Briefe, in denen sie
gegen seine Lehren vom Nichtwiderstreben Einspruch erhoben und sagten,
daß man auf all das Böse, das die Regierenden und die Reichen dem Volk
antäten, nur antworten könne: „Rache! Rache! Rache!” -- Verdammt
Tolstoi sie noch? Man weiß es nicht. Aber als er einige Tage später
sieht, wie in seinem Dorf den jammernden Armen ihr Samowar und ihre
Schafe vor den Augen der gleichgültigen Behörden abgenommen werden,
kann auch er nicht anders, und er ruft Rache den Henkern, „diesen
Ministern und ihren Helfershelfern, die mit Branntwein handeln, die
Menschen das Morden lehren, zu Verbannung, Gefängnis, Zuchthaus oder
zum Strick verurteilen, -- diesen Leuten, die vollständig überzeugt
sind, daß der Erlös aus den Samowaren, den Schafen, den Kälbern und
der Leinwand, die man den Beklagenswerten wegnimmt, am besten
verwandt wird zum Brennen von Branntwein, der das Volk vergiftet,
zur Fabrikation von Mordwaffen, zum Bau von Gefängnissen,
Zuchthäusern und besonders zu Gehaltszahlungen an ihre Gehilfen und
an sie selbst.”

Es ist traurig, wenn man sein ganzes Leben der Erwartung und
Verkündigung des Reiches der Liebe gewidmet hat, seine Augen inmitten
solch bedrohlicher Erscheinungen schließen zu müssen und davon
verdüstert zu werden. -- Es ist um so trauriger, wenn man das
unbestechliche Gewissen eines Tolstoi hat, sich sagen zu müssen, daß man
sein Leben nicht vollständig mit seinen Grundsätzen in Einklang gebracht
hat.

       *       *       *       *       *

Hier berühren wir die empfindlichste Stelle seiner letzten Jahre -- soll
man sagen, seiner letzten dreißig Jahre? --, und wir dürfen nur mit
ehrfürchtiger und scheuer Hand darüber hinstreichen; denn dieser
Schmerz, den Tolstoi geheimzuhalten trachtete, betrifft nicht nur ihn,
der bereits tot ist, sondern auch andere, die noch leben, die er liebte,
und die ihn lieben.

Es war ihm nicht gelungen, seinen Glauben denen mitzuteilen, die ihm die
Teuersten waren: seiner Frau und seinen Kindern. Man hat gesehen, wie
seine treue Gefährtin, die mutig sein Leben und seine künstlerischen
Arbeiten mit ihm teilte, darunter litt, daß er seinen Glauben an die
Kunst abgeschworen hatte, um eines anderen moralischen Glaubens willen,
den sie nicht begriff. Tolstoi litt nicht weniger darunter, sich von
seiner besten Freundin unverstanden zu fühlen.

„Ich fühle mit meinem ganzen Sein,” schrieb er an Teneromo, „die
Wahrheit der Worte, daß Mann und Frau nicht zwei getrennte Wesen,
sondern nur eines sind. Mein glühendster Wunsch ist, auf meine Frau nur
etwas von jenem religiösen Bewußtsein übertragen zu können, das mich
befähigt, mich zu Zeiten über das Weh des Lebens hinauszuheben. Ich
hoffe, daß es auf sie übertragen wird, wenn auch zweifellos nicht durch
mich, so durch Gott, obgleich jenes Bewußtsein für Frauen kaum zu
erlangen sein dürfte.”[248]

Es scheint nicht, als ob dieser Wunsch Erhörung gefunden hätte. Die
Gräfin Tolstoi bewunderte und liebte die Herzensreinheit, das stille
Heldentum, die Güte dieser großen Seele, die mit ihr nur ein Wesen
bildete; sie sah, daß er „vor der Menge einherzog und den Weg wies,
den die Menschen gehen sollten”[249]. Als der Heilige Synod ihn
exkommunizierte, übernahm sie tapfer seine Verteidigung und beanspruchte
ihr Teil an der Gefahr, die ihn bedrohte. Aber sie konnte nicht so tun,
als ob sie etwas glaube, was sie tatsächlich nicht glaubte; und Tolstoi
war zu ehrlich, als daß er sie zum Heucheln gezwungen hätte, er, dem das
Heucheln von Glaube und Liebe noch verhaßter war, als die Ablehnung von
Glaube und Liebe[250]. Wie hätte er also sie, die nicht glaubte, zwingen
können, ihre Lebensweise zu ändern und ihr und ihrer Kinder Vermögen zum
Opfer zu bringen?

Die Unstimmigkeit mit seinen Kindern war noch größer. Leroy-Beaulieu,
der Tolstoi in Jasnaja Poljana im Familienkreis sah, sagt, daß „bei
Tische, wenn Tolstoi sprach, seine Söhne nur schlecht verbargen, wie
sehr des Vaters Worte sie langweilten, und daß sie Zweifel in ihre
Wahrheit setzten”[251]. Sein Glaube hatte nur auf zwei oder drei seiner
Töchter, von denen die eine, Marie, gestorben war, einen flüchtigen
Eindruck gemacht. Er stand allein unter den Seinen. „Außer seiner
jüngsten Tochter und seinem Arzt” verstand ihn kaum jemand[252].

Er litt unter dieser inneren Entfremdung, er litt unter den
gesellschaftlichen Beziehungen, die man ihm aufzwang, unter diesen
langweiligen Gästen, die aus der ganzen Welt zu ihm kamen, unter den
Besuchen von Amerikanern und Snobs, die ihm lästig waren; er litt unter
dem „Luxus”, in dem zu leben ihn seine Familie zwang. Es war ein recht
bescheidener Luxus, wenn man denen glauben darf, die ihn in seinem
einfachen Haus mit der fast puritanischen Einrichtung gesehen haben, in
seinem kleinen Zimmer mit einem eisernen Bett, armseligen Stühlen und
nackten Wänden! Aber dieser „Komfort” bedrückte ihn: es war ihm ein
immerwährender Vorwurf. In dem zweiten der Berichte, die er im „Mercure
de France” veröffentlichte, stellt er voll Bitterkeit den Anblick des
Elends in seiner Umgebung dem des Luxus in seinem eigenen Hause
gegenüber.

„So nutzbringend meine Tätigkeit manchen Menschen auch erscheinen
mag,” schrieb er schon 1903, „so verliert sie doch den größten Teil
ihrer Bedeutung, weil mein Leben nicht vollständig mit meinen Lehren
in Übereinstimmung gebracht ist”[253].

Warum hat er dann diese Übereinstimmung nicht herbeigeführt? Wenn er die
Seinen nicht zwingen konnte, sich von der großen Welt loszusagen, warum
hat er sich nicht von ihnen und ihrer Lebensweise losgesagt, -- um so
dem Spott und dem Vorwurf der Heuchelei zu entgehen, die ihm seine
Feinde entgegenschleuderten, die sich nur allzu gern auf sein eigenes
Beispiel beriefen, wenn sie seine Lehre verwarfen?

Er hatte daran gedacht. Seit langem war sein Entschluß gefaßt. Unter
seinen hinterlassenen Papieren hat sich ein wundervoller Brief
gefunden[254], den er am 8. Juni 1897 an seine Frau geschrieben hat. Man
muß ihn fast vollständig wiedergeben; denn nichts offenbart besser das
Geheimnis dieser liebevollen, schmerzerfüllten Seele:

„Seit langem, liebe Sofie, leide ich unter dem Mißverhältnis zwischen
meinem Leben und meinem Glauben. Ich kann Euch nicht zwingen, Eure
Lebensweise und Eure Gewohnheiten zu ändern. Genau so wenig gelang es
mir bis heute, Euch zu verlassen; denn ich wagte nicht, die Kinder bei
ihrer großen Jugend des kleinen Einflusses zu berauben, den ich auf sie
haben könnte, und Euch allen großen Kummer zu bereiten. Aber ich kann
nicht so weiterleben, wie ich während der letzten sechzehn Jahre gelebt
habe[255], bald im Widerstreit mit Euch und Euch dauernd aufreizend,
bald den Einflüssen, an die ich gewöhnt bin, und den Versuchungen, die
mich umlauern, erliegend. Ich habe beschlossen, jetzt das zu tun, was
ich seit langem tun wollte: wegzugehen... Wie die Inder sich allein in
den Wald zurückziehen, wenn sie die Sechzig erreicht haben, wie jeder
betagte fromme Mann die letzten Jahre seines Lebens Gott zu widmen und
sie nicht an Scherz, Geschwätz und Spiel zu vergeuden wünscht, so
ersehne ich, der ich das siebzigste Lebensjahr erreicht habe, mit aller
Kraft meiner Seele Ruhe und Einsamkeit und wenn auch keine vollständige
Übereinstimmung, so doch zum wenigsten nicht diesen schreienden Mißklang
zwischen meinem Leben und meinem Gewissen. Wenn ich ganz offen
weggegangen wäre, hätte es Bitten und Auseinandersetzungen gegeben, ich
wäre weich geworden und hätte vielleicht meinen Entschluß nicht zur
Ausführung gebracht, während er doch ausgeführt werden muß. Ich bitte
Euch deshalb, mir zu verzeihen, wenn mein Tun Euch Kummer bereitet. Und
besonders Du, Sofie, laß mich gehen, suche mich nicht, sei mir nicht
gram und tadle mich nicht. Die Tatsache, daß ich Dich verlassen habe,
bedeutet nicht, daß ich einen Vorwurf gegen Dich erhebe ... Ich weiß,
daß Du nicht anders konntest. Du konntest nicht sehen und nicht denken
wie ich; deshalb vermochtest Du auch nicht, Dein Leben zu ändern und es
einer Sache aufzuopfern, die Du nicht anerkennst. Darum tadle ich Dich
auch nicht; ich gedenke vielmehr in Liebe und Dankbarkeit der
fünfunddreißig langen Jahre unseres gemeinsamen Lebens und besonders der
ersten Hälfte dieser Zeit, da Du mit dem Mut und der Hingebung Deiner
mütterlichen Natur tapfer ertrugst, was Du als Deine Mission ansahst.
Du hast mir und der Welt gegeben, was Du geben konntest. Du hast viel
mütterliche Liebe gegeben und große Opfer gebracht... Aber in den
letzten fünfzehn Jahren unseres Lebens haben sich unsere Wege getrennt.
Ich kann mir nicht denken, daß ich schuld daran bin; ich weiß, wenn ich
mich geändert habe, so war es nicht um Deinetwillen und nicht um der
Welt willen, sondern weil ich nicht anders konnte. Ich kann Dich nicht
anklagen, daß Du mir nicht gefolgt bist, und ich danke Dir und werde
mich stets mit Liebe dessen erinnern, was Du mir gegeben hast. -- Lebe
wohl, meine liebe Sofie. Ich habe Dich lieb.”

„Die Tatsache, daß ich Dich verlassen habe...” Er verließ sie
nicht. -- Armer Brief! Es scheint, daß es Tolstoi genügte, ihn zu
schreiben, um seinen Entschluß schon als ausgeführt zu betrachten...
Nachdem er ihn geschrieben hatte, war schon seine ganze
Entschlußkraft erschöpft. -- „Wenn ich ganz offen weggegangen wäre,
hätte es Bitten und Auseinandersetzungen gegeben, ich wäre
weich geworden...” Es brauchte keine „Bitten”, keine
„Auseinandersetzungen”, es genügte ihm, einen Augenblick später
diejenigen zu sehen, die er verlassen wollte, und er fühlte, daß er
sie mit dem besten Willen nicht verlassen konnte; den Brief, den er
in seiner Tasche hatte, vergrub er unter seine Papiere mit der
Aufschrift:

„Meiner Frau, Sofie Andrejewna, nach meinem Tode zu übergeben.”

Und damit war sein Fluchtplan erledigt. War das seine Stärke? War er
nicht imstande, seine Liebe seinem Gott zum Opfer zu bringen? Sicherlich
fehlt es in den christlichen Chroniken nicht an Heiligen mit stärkerem
Herzen, die niemals zögerten, ihre und der anderen Liebe unerschrocken
mit Füßen zu treten... Nun, er war jedenfalls nicht von dieser Art. Er
war schwach. Er war Mensch. Und eben darum lieben wir ihn.

Schon mehr als fünfzehn Jahre vorher legte er sich die schmerzvoll
verzweifelte Frage vor:

„Sag an, Leo Tolstoi, lebst du nach den Grundsätzen, die du predigst?”

Und demütig antwortete er:

„Ich sterbe vor Scham, ich bin schuldig, ich verdiene Verachtung... Und
trotzdem, vergleicht mein ehemaliges Leben mit meinem jetzigen! Dann
werdet ihr sehen, daß ich nach dem göttlichen Gesetz zu leben trachte.
Ich habe nicht den tausendsten Teil von dem getan, was not tut, und ich
schäme mich dessen, aber ich habe es nicht unterlassen, weil ich es
nicht gewollt, sondern weil ich es nicht gekonnt habe... Klagt mich an,
aber klagt den Weg nicht an, dem ich folge. Wenn ich die Straße kenne,
die mich nach Hause führt, und wenn ich ihr taumelnd wie ein Trunkener
folge, ist damit gesagt, daß die Straße schlecht ist? Oder zeigt mir
eine andere, oder stützt mich auf der richtigen Straße, so wie ich
willens bin, euch zu stützen. Aber stoßt mich nicht von euch, ergötzt
euch nicht an meiner Verzweiflung, ruft nicht voller Begeisterung aus:
‚Seht! Er sagt, daß er nach Hause geht, und er fällt in den Morast!’
Nein, ergötzt euch nicht, sondern helft mir, stützt mich! ... Helft mir!
Mein Herz blutet aus Verzweiflung darüber, daß wir uns alle verirrt
haben; und wenn ich mich aus allen Kräften bemühe, um mich
herauszufinden, deutet ihr, statt Mitleid mit mir zu haben, mit dem
Finger auf mich und ruft: ‚Seht, er fällt mit uns in den
Morast!’.”[256]

Dann, als er dem Tode näher war, wiederholte er:

„Ich bin kein Heiliger, ich habe mich nie für einen ausgegeben. Ich bin
ein Mensch, der sich mitreißen läßt und der manchmal nicht alles sagt,
was er denkt und fühlt; nicht, weil er es nicht will, sondern weil er es
nicht kann, weil ihm oft Übertreibungen und Irrtümer unterlaufen. Mit
meinem Tun ist es noch schlimmer. Ich bin ein durchaus schwacher Mensch
mit lasterhaften Gewohnheiten, der Gott in Wahrheit dienen will, der
aber immer wieder strauchelt. Wenn man mich für einen Menschen hält, der
sich nicht irren kann, dann muß jedes meiner Vergehen als Lüge oder
Heuchelei erscheinen. Aber wenn man mich für einen schwachen Menschen
hält, dann erscheine ich als das, was ich in Wirklichkeit bin: ein
bemitleidenswertes aber ehrliches Wesen, das immer und von ganzem Herzen
gewünscht hat und weiter wünscht, ein guter Mensch, ein guter Diener
Gottes zu werden.”

So blieb er, von Gewissensbissen verfolgt, gequält durch die stummen
Vorwürfe von Anhängern, die energischer und weniger menschlich waren als
er[257], gepeinigt durch seine Schwäche und seine Unschlüssigkeit, hin-
und hergezerrt zwischen der Liebe zu den Seinen und der Liebe zu Gott,
-- bis zu dem Tage, wo ihn die Verzweiflung und vielleicht auch der
heiße Fieberhauch, der beim Nahen des Todes spürbar wird, aus dem Hause
auf die Landstraße trieben. Er floh und irrte umher, klopfte an
Klostertüren, zog seines Weges weiter und blieb schließlich in einem
unbekannten kleinen Ort liegen, um nicht mehr aufzustehen[258]. Und auf
seinem Totenbette weinte er nicht über sich, sondern über die
Unglücklichen. Und unter Schluchzen sagte er:

„Es gibt auf Erden Millionen Menschen, die leiden; warum befaßt ihr alle
euch gerade mit mir allein?”

Und dann kam er -- es war Sonntag, den 20. November 1910, kurz nach 6
Uhr morgens --, „der Erlöser”, wie er ihn nannte, „der Tod, der
gesegnete Tod...”



Der Kampf war zu Ende, der zweiundachtzigjährige Kampf, dessen
Schauplatz dieses Leben gewesen war. Ein Leben, gemischt aus Tragik und
Ruhm, an dem alle Daseinskräfte, alle Laster und alle Tugenden, Anteil
hatten. -- Alle Laster, ausgenommen ein einziges, die Lüge; denn sie
verfolgte er unaufhaltsam und spürte sie in ihren verborgensten
Schlupfwinkeln auf.

Zuerst der Freiheitsrausch, die aufeinanderprallenden Leidenschaften in
der stürmischen Nacht, die nur hier und da blendende Blitze erhellen,
Liebe und Verzückung, Offenbarungen des Ewigen. Jahre im Kaukasus, vor
Sewastopol, Jahre gährender und unruhiger Jugend... Dann die wohltätige
Besänftigung der ersten Ehejahre. Das Glücklichsein in der Liebe, der
Kunst und der Natur, -- „Krieg und Frieden.” Höhepunkt des Genies, das
den ganzen menschlichen Gesichtskreis und das Schauspiel dieser Kämpfe,
die seelisch schon der Vergangenheit angehörten, meistert. Er ist ihr
Herr; und schon genügen sie ihm nicht mehr. Wie Fürst Andrej hebt er
seine Augen zu dem grenzenlosen Himmel, der über Austerlitz leuchtet.
Dieser Himmel zieht ihn an:

„Es gibt Menschen mit mächtigen Schwingen, die die Begierde zwingt,
inmitten der Menge zu landen, wo ihre Schwingen zerbrechen: solch einer
bin ich. Dann schlägt man mit seinem gebrochenen Flügel, schwingt sich
mit Macht wieder auf und fällt von neuem herab. Aber die Flügel
heilen wieder. Ich werde sehr hoch fliegen. Gott stehe mir bei!”[259]

Diese Worte sind im schrecklichsten Aufruhr geschrieben, dessen
Niederschlag und Echo die „Beichte” ist. Tolstoi wurde mehr als einmal
mit zerbrochenen Schwingen zu Boden geschleudert. Und immer wieder läßt
er nicht nach und steigt wieder auf. Nun schwebt er dahin in dem
„unermeßlichen, unergründlichen Himmel” mit seinen beiden großen
Schwingen, dem Glauben und der Vernunft. Aber die ersehnte Ruhe findet
er darin nicht. Der Himmel ist nicht außerhalb unser, der Himmel ist in
uns. Tolstoi läßt auch hier seinen stürmischen Leidenschaften freien
Lauf. Hierin unterscheidet er sich von den entsagenden Aposteln; er ging
mit derselben Inbrunst ans Entsagen, mit der er ans Leben heranging. Und
immer ist es das Leben, das er mit dem Ungestüm eines Liebhabers
umfängt. Er ist „lebenstoll”. Er ist „lebenstrunken”. Er kann
nicht leben ohne diesen Rausch[260]. Berauscht von Glück und
Unglück zu gleicher Zeit. Berauscht vom Tod und von der
Unsterblichkeit[261]. Sein Verzicht auf das irdische Dasein ist nur
ein wild leidenschaftlicher Schrei nach dem ewigen Leben. Nein, der
Friede, den er erlangt, der Seelenfriede, den er herbeiwünscht, ist
nicht der Friede des Todes. Es ist der Friede jener brennenden
Welten, die in den unendlichen Räumen kreisen. Sein Zorn ist ruhig,
und seine Ruhe ist Leidenschaft[262]. Der Glaube hat ihm neue
Waffen geliefert, um unversöhnlich den Kampf wieder aufzunehmen, den
er seit seinen ersten Werken ohne Unterlaß gegen die Lügen der
zeitgenössischen Gesellschaft führte. Er begnügt sich nicht mehr mit
ein paar typischen Romanfiguren, er zieht zu Felde gegen alle die
großen Götzen: die Heucheleien der Religion, des Staates, der
Wissenschaft, der Kunst, des Liberalismus, des Sozialismus, der
Volksbildung, der Wohltätigkeit, des Pazifismus...[263] Er geißelt
sie, er verfolgt sie aufs eifrigste.

[Illustration: Tolstois Grab auf Jasnaja Poljana]

Die Welt sieht von Zeit zu Zeit die Erscheinung solch erregter Geister,
die, wie Johannes der Täufer, einen Bannfluch gegen die Sittenverderbnis
schleudern. Die letzte dieser Erscheinungen ist Rousseau gewesen. Durch
seine Liebe zur Natur[264], seinen Haß auf die moderne Gesellschaft,
seine äußerste Bedürfnislosigkeit, seine inbrünstige Verehrung des
Evangeliums und der christlichen Moral ist Rousseau ein Vorbote
Tolstois, der sich auch auf ihn berief: „Manche seiner Worte gehen mir
zu Herzen,” sagte er, „ich könnte glauben, sie selbst geschrieben zu
haben”[265].

Aber was für ein Unterschied zwischen diesen beiden Seelen, und um
wieviel ist die Tolstois von reinerem Christentum! Welcher Mangel an
Demut, welche pharisäische Anmaßung verrät der vermessene Ausruf in den
„Bekenntnissen” des Genfers:

„Du Ewiger! Einer soll dir zu sagen wagen: Ich war besser als dieser
Mann!”

Oder in jenem Fehdebrief an die Welt:

„Ich erkläre es laut und furchtlos: wer immer mich für einen
unredlichen Menschen hält, verdient selbst erdrosselt zu werden.”

Tolstoi weinte blutige Tränen über die „Verbrechen” seines
vergangenen Lebens:

„Ich leide Höllenqualen. Ich erinnere mich aller meiner begangenen
Niederträchtigkeiten, und diese Erinnerungen verlassen mich nicht, sie
vergiften mein Leben. Gewöhnlich bedauert man, daß man sich nicht über
den Tod hinaus an Vergangenes erinnert. Welch ein Glück, daß es so ist!
Wie schrecklich wäre es, wenn ich mich in dem anderen Leben all des
Bösen erinnern müßte, das ich hienieden beging!...”[266]

Er hat nicht, wie Rousseau, seine „Bekenntnisse” geschrieben, weil er,
wie dieser sagte, „im Bewußtsein, daß das Gute das Schlechte
überwiege, guten Grund hatte, alles zu sagen”. Tolstoi verzichtet
nach einem vergeblichen Versuch darauf, seine Erinnerungen zu
schreiben. Die Feder entsinkt seiner Hand. Er will nicht Gegenstand
des Ärgernisses sein für die, die es lesen werden:

„Die Leute würden sagen: ‚Das ist also der Mann, den viele so hoch
stellen! Und was für ein Feigling war er! Demnach befiehlt Gott selbst
uns einfachen Sterblichen, feige zu sein’.”[267]

Niemals hat Rousseau aus dem christlichen Glauben heraus diese schöne
schamhafte Demut gekannt, die dem alten Tolstoi eine solch unsagbare
Güte verleiht. Hinter Rousseau, als Umrahmung seines Denkmals auf der
Schwaneninsel, sieht man Genf, das Rom Calvins. In Tolstoi findet man
die Pilger, die „Einfältigen” wieder, deren naive Bekenntnisse und
Tränen seine Kinderjahre bewegt hatten.

Aber weit mehr noch als der Kampf gegen die Welt, der ihm mit Rousseau
gemeinsam ist, erfüllte ein anderer Kampf die letzten dreißig Jahre von
Tolstois Leben. Ein herrlicher Kampf zwischen den beiden hehrsten
Mächten in seiner Seele: der Wahrheit und der Liebe.

Die Wahrheit, -- „dieser Blick, der bis ins Herz geht”, -- das
durchdringende Licht dieser grauen Augen, die einen durchbohren... sie
war sein ältester Glaube, die Beherrscherin seiner Kunst.

„Die Heldin meiner Schriften, sie, die ich mit der ganzen Kraft meiner
Seele liebe, sie, die immer schön war, ist und sein wird, sie ist die
Wahrheit.”[268]

Die Wahrheit war das einzige Strandgut, das er nach dem Tode seines
Bruders aus dem Schiffbruch rettete[269], der Angelpunkt seines Lebens,
der Fels im Meere.

Aber bald hatte ihm „die schreckliche Wahrheit”[270] nicht mehr
genügt. Die Liebe hatte sie verdrängt. Sie war der lebendige Quell
seiner Kinderjahre, „der natürliche Zustand seiner Seele”[271]. Als
im Jahre 1880 der moralische Umschwung kam, sagte er sich nicht von
der Wahrheit los, sondern er suchte sie mit der Liebe zu
verschmelzen[272].

Die Liebe ist „die Grundlage der Willenskraft”[273]. Die Liebe ist
„der Zweck des Lebens”, der einzige neben der Schönheit[274]. Die
Liebe ist das Wesen des vom Leben gereiften Tolstoi, des Verfassers
von „Krieg und Frieden” und des Briefes an den Heiligen Synod[275].

Diese Durchdringung der Wahrheit mit der Liebe macht den einzigartigen
Wert der Hauptwerke aus, die er in seines Lebens Mitte -- nel mezzo del
cammin -- schrieb, und unterscheidet seinen Realismus von dem Realismus
eines Flaubert. Dieser setzt seinen Ehrgeiz darein, seine Gestalten
nicht zu lieben. So groß er auf diese Weise auch sein mag, ihm fehlt das
„Fiat lux!” Das Licht der Sonne genügt nicht, das Licht des Herzens
tut not. Tolstois Realismus verkörpert sich in jeder seiner
Gestalten, und indem er sie mit ihren Augen sieht, findet er in der
geringsten von ihnen Gründe, sie zu lieben und uns die Bande
empfinden zu lassen, die uns mit allen brüderlich vereinen[276].
Durch die Liebe dringt er bis zu den Wurzeln des Lebens.

Aber es ist schwierig, diese Verbindung aufrechtzuerhalten. Es gibt
Stunden, in denen das Spiel des Lebens und seine Leiden so bitter sind,
daß sie der Liebe gleichsam den Kampf ansagen, und daß man, um sie zu
retten, um seinen Glauben zu retten, sie so hoch über alles Menschliche
erheben muß, daß sie Gefahr läuft, jede Verbindung mit der Welt zu
verlieren. Und was soll der tun, dem vom Schicksal die wunderbare und
unselige Gabe zuteil wurde, die Wahrheit zu sehen, sie sehen zu müssen?
Wer kann sagen, wie sehr Tolstoi in seinen letzten Lebensjahren gelitten
hat unter dem unaufhörlichen Widerstreit zwischen seinen unerbittlichen
Augen, die den Schrecken der Wirklichkeit sahen, und seinem empfindsamen
Herzen, das unentwegt die Liebe bejahte und ihrer harrte!

Wir alle haben diese tragischen Konflikte kennengelernt. Wie oft waren
wir vor die Entscheidung gestellt, nicht zu sehen oder zu hassen!
Und wie oft mag einen Künstler, -- einen Künstler, würdig dieser
Bezeichnung, einen Schriftsteller, der die herrliche und furchtbare
Macht des geschriebenen Wortes kennt, -- wie oft mag ihn Bangigkeit
beschlichen haben im Augenblick, da er diese oder jene Wahrheit
niederschrieb[277]! Diese gesunde und männliche Wahrheit, die inmitten
der modernen Lügen, der Lügen der Zivilisation, so notwendig ist, diese
Wahrheit, die zum Leben so unentbehrlich zu sein scheint, wie die Luft,
die man einatmet... Und dann merkt man, daß so viele Lungen diese Luft
nicht vertragen können, so viele durch die Zivilisation geschwächte oder
einfach durch die Güte ihres Herzens schwach gewordene Menschen. Soll
man keine Rücksicht darauf nehmen und ihnen diese tödliche Wahrheit
unbedenklich ins Gesicht schleudern? Gibt es nicht eine höhere Wahrheit,
die, wie Tolstoi sagt, „zur Liebe bereit ist”? -- Aber kann man wohl
darein willigen, die Menschen mit tröstlichen Lügen einzulullen, wie
Peer Gynt seine sterbende alte Mutter mit seinen Märchen
einschläfert?... Die Gesellschaft steht immer vor dem Dilemma: Wahrheit
oder Liebe. Gewöhnlich entscheidet sie sich dahin, Wahrheit und Liebe
zugleich zu opfern.

Nie hat Tolstoi einen seiner beiden Glauben verraten. In den Werken aus
seiner Reifezeit weist die Liebe der Wahrheit den Weg. In den Werken der
letzten Jahre senkt sich ein Licht von oben, ein Strahl der Gnade auf
das Leben, ohne sich aber damit zu vermischen. Man hat es in der
„Auferstehung” gesehen, wo der Glaube die Wirklichkeit beherrscht, sie
aber nicht durchdringt. Dieselben Menschen, die Tolstoi jedesmal, wenn
er sie einzeln sieht, als sehr schwach und mittelmäßig schildert,
erhalten für ihn, wenn er an sie als ein Ganzes denkt, einen Zug von
göttlicher Heiligkeit[278]. -- In seinem täglichen Leben trat derselbe
Widerspruch zutage wie in seiner Kunst, nur noch schroffer. Wenn er auch
noch so gut wußte, was die Liebe von ihm forderte, so handelte er doch
anders; er lebte nicht, wie es Gott gefiel, er lebte, wie es der Welt
gefiel. Wo sollte er die Liebe fassen? Wie sollte er zwischen ihren
verschiedenen Gesichtern und ihren widerspruchsvollen Forderungen
unterscheiden? Galt es die Liebe zu seiner Familie, oder die Liebe zu
allen Menschen?... Bis zum letzten Tag schlug er sich mit diesen
Zweifeln herum.

Wo ist die Lösung? -- Er hat sie nicht gefunden. Überlassen wir das
Recht, deshalb mit Verachtung über ihn zu urteilen, den hochfahrenden
Intellektuellen. Sie haben gewiß die Lösung gefunden, sie haben die
Wahrheit, und sie stützen sich mit Sicherheit auf sie. Für sie war
Tolstoi ein empfindsamer Schwächling, der ihnen nicht als Vorbild dienen
kann. Zweifellos ist er kein Vorbild, dem sie nacheifern können; dazu
sind sie nicht lebendig genug. Tolstoi gehört nicht zu jenen eitlen
Auserwählten, er gehört keiner Kirche an, -- weder der der
Schriftgelehrten, wie er sie nannte, noch der der Pharisäer vom einen
oder vom anderen Glauben. Er ist der vollkommenste Typus des freien
Christen, der sein Leben lang einem Ideal zustrebt, ohne ihm je näher zu
kommen[279].

Tolstoi redet nicht zu der geistigen Auslese, er redet zu den
gewöhnlichen Menschen -- hominibus bonae voluntatis. -- Er ist unser
Gewissen. Er spricht aus, was wir Durchschnittsmenschen alle denken, und
was wir nur nicht in uns zu lesen wagen. Und er ist uns kein hochmütiger
Lehrmeister, keiner jener hoheitsvollen Geisteshelden, die in ihrer
Kunst und ihrer Weisheit über der Menschheit thronen. Er ist -- wie er
sich selbst gern in seinen Briefen mit diesem schönsten und innigsten
Namen bezeichnete -- „unser Bruder”.

                                $Ende$



Anmerkungen


[1] (S. 6): Abgesehen von einigen Unterbrechungen, -- vornehmlich
einer ziemlich langen zwischen 1865 und 1878.

[2] (S. 6): Es ist die wichtigste Sammlung von Dokumenten über das
Leben und das Werk Tolstois. Ich habe sehr ausgiebig daraus geschöpft.

[3] (S. 7): Er nahm auch an den Napoleonischen Feldzügen teil und war
in Frankreich während der Jahre 1814-1815 in Gefangenschaft.

[4] (S. 8): „Kindheit”, Kapitel II.

[5] (S. 8): „Kindheit”, Kapitel XXVII.

[6] (S. 8): Jasnaja Poljana, dessen Name etwa mit „Helle
Lichtung” wiedergegeben werden kann, ist ein kleines Dorf im
Süden von Moskau, einige Meilen von Tula entfernt, „in einer der
urrussischsten Provinzen. Die beiden größten Gebiete Rußlands,”
sagt A. Leroy-Beaulieu, „das Waldgebiet und das Getreidegebiet
berühren sich hier und gehen ineinander über. In diesen Gegenden
trifft man weder Finnen noch Tartaren, weder Polen noch Juden oder
Kleinrussen. Das Gebiet von Tula liegt im tiefsten Herzen Rußlands.”
(A. Leroy-Beaulieu: Leo Tolstoi; Revue des deux Mondes, 15. Dezember
1910.)

[7] (S. 9): Tolstoi hat ihn in „Anna Karenina” geschildert mit den
Zügen von Lewins Bruder.

[8] (S. 9): Er schrieb „Das Tagebuch eines Jägers”.

[9] (S. 9): In Wirklichkeit war sie eine entfernte Verwandte. Sie
hatte Tolstois Vater geliebt und war von ihm wiedergeliebt worden;
aber wie Sonja in „Krieg und Frieden” hatte sie sich nicht zu
behaupten gewußt.

[10] (S. 10): „Kindheit”, Kapitel XII.

[11] (S. 11): Hat Tolstoi doch in autobiographischen Aufzeichnungen
aus dem Jahre 1878 behauptet, daß er sich der Empfindungen erinnere,
die er als Kind beim Wickeln und Baden gehabt habe. (Siehe „Erste
Erinnerungen”.)

[12] (S. 11): „Erste Erinnerungen.”

[13] (S. 13): Von 1842-1847.

[14] (S. 13): Nikolaus, der um 5 Jahre älter als Leo war, hatte sein
Studium schon im Jahre 1844 vollendet.

[15] (S. 13): Er liebte die metaphysischen Unterhaltungen „um so
mehr”, wie er sagt, „als sie viel abstrakter waren und bis zu einem
solchen Grad von Unklarheit führten, daß man, im Glauben, man sage,
was man denke, alles andere sagen konnte”. („Knabenjahre”, Kapitel
XXVII.)

[16] (S. 13): „Knabenjahre”, Kapitel XIX.

[17] (S. 13): Hauptsächlich in seinen ersten Werken, in den Berichten
aus Sewastopol.

[18] (S. 14): Das war zu der Zeit, als er mit Vergnügen Voltaire las.
(„Beichte”, Kapitel I.)

[19] (S. 14): „Beichte”, Kapitel I.

[20] (S. 14): „Jugend”, Kapitel III.

[21] (S. 14): In den Monaten März und April 1847.

[22] (S. 14): „Alles was der Mensch tut, tut er aus Eigenliebe”, sagt
Nekludow in „Knabenjahre”. -- Im Jahre 1853 bemerkt Tolstoi in seinem
Tagebuch: „Mein großer Fehler: der Hochmut. Eine grenzenlose, durch
nichts gerechtfertigte Eigenliebe... Ich bin so ehrgeizig, daß ich,
wenn ich zwischen dem Ruhm und der Tugend (die ich liebe) zu wählen
hätte, wohl glaube, ich würde ersteren wählen.”

[23] (S. 15): „Ich wollte, alle sollten mich kennen und mich lieben.
Ich wollte, daß schon allein beim Hören meines Namens alle von
Bewunderung für mich erfüllt und mir zu Dank verpflichtet wären.”

[24] (S. 15): Nach einem Bildnis aus dem Jahre 1844, als er 20 Jahre
alt war.

[25] (S. 15): „Ich bildete mir ein, daß es für einen Menschen, der
eine so breite Nase, so aufgeworfene Lippen und so kleine Augen wie
ich hatte, kein Glück auf Erden gäbe.” („Kindheit”, Kapitel XVII.)
An anderer Stelle spricht er mit Verzweiflung von „diesem Gesicht
ohne Ausdruck, diesen schlaffen, weichen, unentschiedenen Zügen ohne
Adel, die an die einfachen Muschiks erinnern, von diesen zu großen
Händen und Füßen”. („Jugend”, Kapitel I.)

[26] (S. 15): „Ich teilte die Menschheit in drei Klassen ein: die
erstklassigen Menschen, die allein achtungswürdigen; die
zweitklassigen Menschen, würdig der Verachtung und des Hasses; und die
Plebs, die für mich überhaupt nicht existierte.” („Jugend”, Kapitel
XXXI.)

[27] (S. 15): Hauptsächlich während eines Aufenthaltes in St.
Petersburg in den Jahren 1847-1848.

[28] (S. 15): „Knabenjahre”, Kapitel XXVII.

[29] (S. 16): Unterhaltungen mit Paul Boyer (Le Temps), 28. August
1901.

[30] (S. 17): Nekludow kommt auch vor in „Knabenjahre” und „Jugend”
(1854), in „Begegnung im Felde” (1856), in „Aufzeichnungen eines
Marqueurs” (1856), in „Luzern” (1857) und in „Auferstehung”
(1899). Es ist zu bemerken, daß dieser Name für ganz verschiedene
Personen Verwendung findet. Tolstoi hat gar nicht versucht, ihm
immer dieselbe äußere Erscheinung zu geben, und am Schluß der
„Aufzeichnungen eines Marqueurs” tötet sich Nekludow sogar. Es sind
lediglich verschiedene Inkarnationen Tolstois in seinen besten und
schlimmsten Eigenschaften.

[31] (S. 18): „Der Morgen des Gutsherrn.”

[32] (S. 18): Sie fällt zeitlich mit den Berichten aus der „Kindheit”
zusammen.

[33] (S. 19): 11. Juni 1851 im befestigten Lager von Stari-Jurt im
Kaukasus.

[34] (S. 20): Tagebuch.

[35] (S. 20): Tagebuch, 2. Juli 1851.

[36] (S. 20): Brief an seine Tante Tatjana, Januar 1852.

[37] (S. 21): Ein Bildnis von 1851 zeigt schon die Veränderung, die
sich in seiner Seele vollzieht. Das Haupt ist erhoben, die
Gesichtszüge haben sich etwas aufgehellt, die Augenhöhlen sind weniger
dunkel, die Augen bewahren noch ihre strenge Starrheit, und der
halbgeöffnete Mund, den ein keimender Schnurrbart umschattet, wirkt
vergrämt; das Gesicht zeigt noch immer etwas Hochmütiges und
Mißtrauisches, aber doch weit mehr Jugendlichkeit.

[38] (S. 22): Die Briefe, die er damals an seine Tante Tatjana
schrieb, sind angefüllt mit Herzensergüssen und Tränen. Er ist, wie er
sagt, „Liova-riova”, Leo der Greiner (6. Januar 1852).

[39] (S. 22): „Der Morgen des Gutsherrn” ist das Bruchstück eines
geplanten Werkes „Roman eines russischen Gutsbesitzers”.
„Die Kosaken” sind der 1. Teil eines großen Kaukasusromans. Das
gewaltige Werk war nach der Absicht des Verfassers nur eine Art
Einleitung zu einem zeitgenössischen Epos, dessen Mittelstück die
„Dekabristen” sein sollten.

[40] (S. 23): Der Pilger Krischa oder der Tod der Mutter.

[41] (S. 24): In einem Brief an Birukow.

[42] (S. 24): „Der Morgen des Gutsherrn” wurde erst 1850-1856 beendet.

[43] (S. 25): „Die beiden Alten” (1885).

[44] (S. 26): „Der Überfall.”

[45] (S. 27): Obwohl sie erst viel später, im Jahre 1860 in Hyères
beendet wurden (erschienen sind sie erst 1863), so stammt doch der
größere Teil des Werks aus dieser Zeit.

[46] (S. 27): „Die Kosaken.”

[47] (S. 29): „Vielleicht”, sagt der in die junge Kosakin verliebte
Olenin, „liebe ich in ihr die Natur... Indem ich sie liebe, fühle ich,
wie ganz ich an der Natur teilnehme.” -- Oft vergleicht er die Frau,
die er liebt, mit der Natur. „Sie ist wie die Natur gleichmäßig, still
und schweigsam.” An anderer Stelle bringt er den Anblick der fernen
Berge und „dieser majestätischen Frau” in Verbindung miteinander.

[48] (S. 30): Ebenso in dem Briefe Olenins an seine russischen
Freunde.

[49] (S. 31): Tagebuch.

[50] (S. 32): Man findet diese Schreibweise auch im „Holzschlag”, der
zum selben Zeitpunkt beendigt wurde. Zum Beispiel: „Es gibt drei Arten
von Liebe: 1. die ästhetische Liebe; 2. die ergebene Liebe; 3. die
werktätige Liebe, usw.” („Jugendjahre.”) -- Oder auch: „es gibt
drei Arten von Soldaten: 1. die gehorsamen; 2. die befehlshaberischen;
3. die bramarbasierenden, -- die ihrerseits alle wieder in
Unterabteilungen zerfallen”. („Holzschlag”)

[51] (S. 33): „Jugend”, Kapitel XXXII.

[52] (S. 34): Tolstoi hatte die Geschichte an die Zeitschrift
„Sovremennik” geschickt, und sie wurde darin sofort veröffentlicht.

[53] (S. 35): Tolstoi ist viel später, in seinen Unterhaltungen mit
seinem Freunde Teneromo, darauf zurückgekommen. Er hat ihm namentlich
von einem Angstzustand erzählt, der ihn eines Nachts erfaßte, als er
vollständig eingegraben in einer abgedunkelten Verschanzung lag. Man
findet diese Episode aus dem Krieg von Sewastopol in dem Sammelband
„Die Revolutionäre”.

[54] (S. 35): Drujinin warnt ihn später freundschaftlich vor dieser
Gefahr: „Sie neigen zu einer ganz außerordentlichen Feinheit des
Analysierens; sie kann sich in einen großen Fehler verwandeln.
Mitunter könnten Sie sagen: bei dem und dem verriet die Wade den
Wunsch, nach Indien zu reisen... Sie müssen diese Neigung zügeln, aber
um nichts in der Welt sie ersticken.” (Brief aus dem Jahre 1856.)

[55] (S. 37): die die Zensur verstümmelt hat.

[56] (S. 37): 2. September 1855.

[57] (S. 38): „Seine Eigenliebe beherrschte ihn vollständig; es gab
für ihn keine andere Wahl, als der erste zu sein oder sich selbst aus
dem Leben zu löschen... Er wollte gern der erste unter den Männern
sein, mit denen er sich zu vergleichen pflegte.”

[58] (S. 39): 1889 kam Tolstoi beim Schreiben einer Vorrede zu den
„Erinnerungen an Sewastopol von einem Artillerieoffizier”,
A. J. Erchow, auf diese Szenen zurück. Alles Heldenhafte war daraus
geschwunden. Er erinnerte sich nur noch an die Angst, die sieben
Monate gewährt hatte, -- die doppelte Angst: die vor dem Tod und die
vor der Schande, eine entsetzliche moralische und seelische Qual. Alle
„Heldentaten” bedeuteten bei der Belagerung für ihn nur noch das eine:
Kanonenfutter gewesen zu sein.

[59] (S. 40): Suarès, „Tolstoi”, herausgegeben von der „Union pour
l'Action morale”, 1899, (aufs neue veröffentlicht in den „Cahiers de
la Quinzaine”, unter dem Titel: „Tolstoi vivant”).

[60] (S. 41): Turgenjew klagt in einer Unterhaltung über Tolstois
törichten Adelsstolz, über seine junkerhafte Prahlerei.

[61] (S. 41): „Ein Charakterzug, ob er nun gut oder schlecht zu nennen
sei, war mir immer eigen: ich wehrte mich stets instinktiv gegen alle
epidemisch auftretenden äußeren Einflüsse... Ich hatte eine Abneigung
gegen die allgemeine Strömung.” (Brief an P. Birukow.)

[62] (S. 41): Turgenjew.

[63] (S. 42): Grigorowitsch.

[64] (S. 42): Eugen Garchin, Erinnerungen an Turgenjew 1883.

[65] (S. 42): Der heftigste, der zum endgültigen Bruch zwischen
ihnen führte, fand im Jahre 1861 statt. Turgenjew gab seinen
philanthropischen Empfindungen Ausdruck und sprach von den wohltätigen
Veranstaltungen, mit denen seine Tochter sich beschäftigte. Nichts
erregte Tolstoi mehr als die Wohltätigkeit der großen Gesellschaft.
„Ich finde,” sagte er, „daß ein gutgekleidetes junges Mädchen, das
schmutziges und übelriechendes Bettelvolk auf seinen Knien hält, eine
Theaterszene spielt, die der Aufrichtigkeit entbehrt.” -- Die
Auseinandersetzung wurde immer heftiger, Turgenjew geriet außer sich
und bedrohte Tolstoi mit Ohrfeigen. Tolstoi bestand auf sofortiger
Genugtuung und forderte Turgenjew zum Zweikampf. Turgenjew, der seine
Erregung gleich bedauert hatte, schickte einen Entschuldigungsbrief.
Aber Tolstoi verzieh ihm nicht. Fast zwanzig Jahre später bat er --
wie man in der Folge sehen wird -- ihn um Entschuldigung, im Jahre
1878, als er sein ganzes früheres Leben abschwor und seinen Stolz vor
Gott gründlich demütigte.

[66] (S. 42): „Beichte.”

[67] (S. 42): „Es gab”, sagte er, „keinen Unterschied zwischen uns
und einem Tollhaus. Selbst in jener Zeit hatte ich diese unbestimmte
Empfindung; aber wie alle Verrückten behandelte ich alle als Narren,
außer mich selbst.” („Beichte”).

[68] (S. 43): „Beichte.”

[69] (S. 43): „Tagebuch des Fürsten D. Nekludow”, „Luzern”.

[70] (S. 44): „Tagebuch des Fürsten D. Nekludow.”

[71] (S. 44): Er lernte auf dieser Reise verschiedene Persönlichkeiten
kennen: in Dresden Auerbach, der als erster ihn zur Volksbelehrung
angeregt hatte, in Kissingen Fröbel, in London Herzen, in Brüssel
Proudhon, der einen großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben scheint.

[72] (S. 45): Hauptsächlich in den Jahren 1861/62.

[73] (S. 45): „Erziehung und Kultur.”

[74] (S. 46): Tolstoi hat sich in der Zeitschrift „Jasnaja Poljana” im
Jahre 1862 mit diesen Theorien auseinandergesetzt.

[75] (S. 48): Rede über die „Überlegenheit des künstlerischen Elements
in der Literatur über alle ihre Zeitströmungen”.

[76] (S. 48): Er stellte ihm seine eigenen Beispiele entgegen, den
alten Postillion aus „Drei Tode”.

[77] (S. 48): Im Jahre 1856 war schon ein anderer Bruder Tolstois,
Dmitri, an der Schwindsucht gestorben. Tolstoi selbst glaubte sich zu
verschiedenen Malen von der Schwindsucht befallen, in den Jahren
1856, 1862 und 1871. Er war, wie er am 28. Oktober 1852 schreibt, „von
kräftiger Körperbeschaffenheit, aber von schwacher Gesundheit.”
Dauernd litt er an Erkältungen, Halsweh, Augen- und Zahnschmerzen und
Rheumatismus. Im Kaukasus, im Jahre 1852, mußte er „wenigstens zwei
Tage in der Woche das Zimmer hüten”. Im Jahre 1854 hält ihn die
Krankheit mehrere Monate auf dem Weg von Silistrien nach Sewastopol
zurück. 1856 liegt er ernsthaft brustkrank in Jasnaja darnieder. Aus
Angst vor der Schwindsucht macht er im Jahre 1862 eine Kefirkur in
Samara, bei den Baschkiren, und vom Jahre 1870 an geht er fast jedes
Jahr zu diesem Zweck wieder dorthin. In seinen Briefen an Fet spricht
er dauernd von solchen Dingen. Dieser Gesundheitszustand macht es
einigermaßen begreiflich, daß Tolstoi sich andauernd mit dem Gedanken
an den Tod beschäftigte. Späterhin sprach er von der Krankheit als von
seiner besten Freundin: „Wenn man krank ist, scheint es, als ob man
ganz sanft eine leicht abschüssige Fläche hinunterglitte, die an einem
bestimmten Punkt von einem Vorhang, einem leichten Vorhang aus
leichtem Stoff abgeschlossen ist. Diesseits davon ist das Leben,
jenseits davon ist der Tod. Um wieviel ist in bezug auf sittlichen
Wert der Zustand der Krankheit dem Zustand der Gesundheit überlegen!
Sprecht mir nicht von jenen Leuten, die niemals krank gewesen sind!
Sie sind entsetzlich, besonders die Frauen. Eine kerngesunde Frau ist
eine wahre Bestie!” (Unterhaltungen mit Paul Boyer, „Le Temps”,
27. August 1901.)

[78] (S. 48): 17. Oktober 1860, in einem Brief an Fet.

[79] (S. 48): 1861 in Brüssel geschrieben.

[80] (S. 49): Eine andere Novelle aus jener Zeit, ein einfacher
Reisebericht, der persönliche Erinnerungen weckt, „Der Schneesturm”,
ist von großer, eindrucksvollster dichterischer, sozusagen
musikalischer Schönheit. Tolstoi hat einen Teil des äußeren Rahmens
später noch einmal für „Der Herr und sein Knecht” (1895) verwendet.

[81] (S. 50): Als Kind hatte er in einer Eifersuchtsanwandlung seine
damals neunjährige kleine Spielkameradin -- die spätere Frau Bers --
vom Balkon heruntergeworfen, so daß sie lange Zeit hinkte.

[82] (S. 50): Siehe „Eheglück”, die Erklärung Sergius': „Denken Sie
sich einen Herrn A., einen alten Mann, der das Leben kennt, und eine
Frau B., jung und glücklich, die weder die Menschen noch das Leben
kennt. Infolge verschiedener Familienumstände liebte er sie wie eine
Tochter, und dachte nicht daran, daß er sie anders lieben könnte...,
usw.”

[83] (S. 51): Vielleicht verwandte er in seinem Werk auch die
Erinnerungen an einen Liebesroman, der sich im Jahre 1856 in Moskau
mit einem jungen Mädchen angesponnen hatte, das sehr verschieden von
ihm war, sehr leichtfertig und oberflächlich, und das er schließlich
im Stich ließ, obwohl sie beide aufrichtig ineinander verliebt waren.

[84] (S. 52): Von 1857 bis 1861.

[85] (S. 52): Tagebuch, Oktober 1857.

[86] (S. 53): Brief an Fet, 1863.

[87] (S. 53): „Beichte.”

[88] (S. 53): „Das Familienglück erfüllt mich vollständig.”
(5. Januar 1863.) -- „Ich bin so glücklich! so glücklich! Ich liebe
sie so sehr!” (8. Februar 1863.)

[89] (S. 54): Sie hatte einige Novellen geschrieben.

[90] (S. 54): „Krieg und Frieden” soll sie siebenmal abgeschrieben
haben.

[91] (S. 54): Gleich nach seiner Heirat gab Tolstoi alle pädagogischen
Arbeiten in den Schulen und an der Zeitschrift auf.

[92] (S. 54): Ebenso wie ihre kluge und künstlerisch veranlagte
Schwester Tatjana, deren Geist und musikalische Begabung Tolstoi sehr
liebte. -- Tolstoi sagte: „Ich habe Tanja (Tatjana) genommen, habe sie
mit Sonja (Sofie Bers, spätere Gräfin Tolstoi) vermischt, und es ist
Natascha herausgekommen.”

[93] (S. 54): Die Unterbringung Dollys in dem zerfallenen Landhaus;
Dolly und die Kinder; -- viele Einzelheiten in bezug auf
Frauenkleidung; ganz zu schweigen von gewissen Geheimnissen der
Frauenseele, in die vielleicht selbst das Verständnis eines genialen
Mannes nicht so tief hätte eindringen können, wenn eine Frau sie ihm
nicht verraten hätte.

[94] (S. 55): Ein charakteristisches Zeichen dafür, daß das
schöpferische Genie Tolstois Geist mit Beschlag belegt hat: sein
Tagebuch bricht am 1. November 1865 auf dreizehn Jahre ab, zu dem
Zeitpunkt, da er mitten in der Arbeit an „Krieg und Frieden” ist. Der
Ehrgeiz des Dichters ließ den Monolog seines Gewissens verstummen.
Diese Schaffensperiode ist zugleich eine Zeit des körperlichen
Sichauslebens. Tolstoi ist versessen auf die Jagd. „Auf der Jagd
vergesse ich alles...” (Brief aus dem Jahre 1864.) -- Auf einem zu
Pferde unternommenen Jagdausflug brach er sich den Arm (September
1864), und während seiner Genesung diktierte er die ersten Teile von
„Krieg und Frieden.” -- „Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, sagte
ich mir: ‚Ich bin ein Künstler’. Ich bin es auch, aber ein einsamer
Künstler.” (Brief an Fet, 23. Januar 1865.) Alle Briefe aus jener
Zeit, die er an Fet schrieb, atmen Schöpferfreude. „Alles, was ich bis
zu jenem Tage veröffentlicht habe, kommt mir wie ein Versuch vor.”

[95] (S. 55): Unter den Werken, die einen Einfluß auf ihn ausübten,
gibt Tolstoi schon zwischen seinem 20. und 30. Lebensjahr folgende an:

„Goethe: Hermann und Dorothea... sehr großer Einfluß.”

„Homer: Ilias und Odyssee (in russisch)... sehr großer Einfluß.”

Im Juni 1863 schreibt er in sein Tagebuch: „Ich lese Goethe, und
mancherlei Gedanken formen sich in mir.”

Im Frühjahr 1865 liest er aufs neue Goethe, und er nennt „Faust” die
Dichtung des Gedankens, die Dichtung, die ausdrückt, was keine andere
Kunst zum Ausdruck bringen kann. Später opferte er Goethe wie auch
Shakespeare seinem Gotte auf. Aber seiner Bewunderung für Homer blieb
er treu. Im August 1857 las er mit gleicher Ergriffenheit die Ilias
und das Evangelium. Und in einem seiner letzten Bücher, der Schrift
gegen Shakespeare (1903), stellt er Homer als Beispiel der
Aufrichtigkeit, des Ebenmaßes und der wahren Kunst Shakespeare
gegenüber.

[96] (S. 56): Tolstoi begann das Werk im Jahre 1863 mit den
„Dekabristen”, wovon er drei Bruchstücke schrieb. Aber er kam zu der
Überzeugung, daß das Fundament seines Gebäudes nicht fest genug
begründet war, und indem er weiter zurückschürfte, gelangte er zur
Epoche der Napoleonischen Kriege und schrieb „Krieg und Frieden”. Die
Veröffentlichung nahm ihren Anfang im Januar 1865 im „Russki
Viestnik”; der sechste Band wurde im Herbst 1869 beendet. Dann ging
Tolstoi weiter in der Geschichte und entwarf den Plan zu einem
epischen Roman über Peter den Großen und dann zu einem anderen,
„Mirowitsch”, über die Herrschaft der Kaiserinnen des 18.
Jahrhunderts und ihrer Günstlinge. Er arbeitete von 1870-1873
daran, vergrub sich in Dokumente und entwarf mehrere Szenen; aber
bei der ihm eigenen Genauigkeit des Realisten hatte er das Gefühl,
daß es ihm niemals gelingen würde, den Geist jener vergangenen
Zeiten genügend wahrhaft getreu wiederaufleben zu lassen, und er
verzichtete daher auf die Ausführung seines Planes. -- Später, im
Januar 1876, bewegte ihn der Gedanke an einen neuen Roman aus der
Zeit Nikolaus I.; dann machte er sich wieder mit Leidenschaft im
Jahre 1877 an die „Dekabristen”, sammelte Zeugnisse von den wenigen
Überlebenden aus jener Zeit und suchte die in Betracht kommenden
Orte auf. 1878 schrieb er an seine Tante, die Gräfin A. A. Tolstoi:
„Dieses Werk ist für mich so wichtig! Sie können sich nicht denken,
wie wichtig es für mich ist; so wichtig, wie es für Sie Ihr Glaube
ist. Ich möchte sagen: noch wichtiger.” -- Aber er entfernte sich
davon in dem Maße, als er sich in den Gegenstand vertiefte: sein
Denken gehörte ihm nicht mehr. Bereits am 17. April 1879 schrieb er
an Fet: „Die Dekabristen? Gott weiß, wo sie sind!... Ich wiege mich
in der Hoffnung, daß, wenn ich daran dachte, wenn ich schrieb, der
Hauch meines Geistes allein schon denen unerträglich sein würde, die
zum Wohl der Menschheit auf die Menschen schießen.” -- Zu diesem
Zeitpunkt seines Lebens hatte die religiöse Krisis eingesetzt: er
ging daran, alle seine alten Götzen zu verbrennen.

[97] (S. 61): Peter Besukow, der Natascha geheiratet hat, wird ein
Dekabrist sein. Er hat eine geheime Gesellschaft gegründet, um über
das allgemeine Wohl zu wachen, eine Art Tugendbund. Natascha schließt
sich schwärmerisch seinen Plänen an. Denissow will nichts von einer
friedlichen Revolution wissen, sondern ist zu einem bewaffneten
Aufstand bereit. Nikolaus Rostow hat sich seinen blinden
Soldatengehorsam bewahrt. Er, der nach Austerlitz sagte: „Wir haben
nur etwas zu tun: unsere Pflicht zu erfüllen, uns zu schlagen und
niemals zu denken”, er ereifert sich gegen Peter und sagt: „Mein Eid
vor allem! Wenn man mir beföhle, mit meiner Schwadron gegen dich zu
marschieren, würde ich marschieren und losschlagen.” Seine Frau,
Prinzessin Marie, billigt es. Der Sohn des Fürsten Andrej, der kleine
Nikolaus Wolkonski, zart bis zur Krankhaftigkeit, aber reizend, mit
großen Augen und goldenen Haaren, hört mit seinen fünfzehn Jahren
fieberhaft dem Streit zu; seine ganze Liebe gehört Peter und
Natascha; Nikolaus und Marie liebt er kaum; er hegt für seinen Vater,
den er nie gesehen hat, eine wahre Verehrung; er träumt davon, ihm zu
gleichen, groß zu sein und etwas Großes zu vollbringen, was? -- das
weiß er nicht... „Was Sie auch sagen, ich werde es tun... Ja ich werde
es tun. Er selbst würde es gebilligt haben.” -- Und das Werk endet mit
dem Traum eines Kindes, das sich als einen plutarchischen Helden
fühlt, zusammen mit seinem Onkel Peter, vom Ruhm umwittert und von
einem Heer begleitet. -- Wenn die „Dekabristen” damals geschrieben
worden wären, dann hätte der kleine Wolkonski zweifellos darin die
Rolle eines Helden gespielt.

[98] (S. 62): Ich habe gesagt, daß die beiden Familien Rostow und
Wolkonski in „Krieg und Frieden” in vielen Zügen an Tolstois Familie
väterlicherseits und mütterlicherseits erinnern. Auch in den Berichten
aus dem Kaukasus und aus Sewastopol finden sich mehrere Figuren von
Soldaten und Offizieren aus „Krieg und Frieden”.

[99] (S. 64): Brief vom 2. Februar 1868, den Birukow anführt.

[100] (S. 64): Vornehmlich, so sagte er, den Fürsten Andrej im ersten
Teil.

[101] (S. 64): Es ist bedauerlich, daß die Schönheit der dichterischen
Schöpfung manchmal durch philosophisches Gerede, mit dem Tolstoi sein
Werk überlädt, beeinträchtigt wird, vor allem in den letzten Teilen.
Er sucht seine Theorie vom Fatum der Geschichte zu entwickeln, und das
Unglück ist, daß er endlos darauf zurückkommt und sich unentwegt
wiederholt. Flaubert, der beim Lesen der beiden ersten Bände, welche
er „göttlich” und „voll von Stellen im Shakespeareschen Geiste”
nannte, „Bewunderungsrufe ausstieß”, warf den dritten Band gelangweilt
in die Ecke: „Er fällt schrecklich ab. Er wiederholt sich, und er
philosophiert. Man sieht den Herrn Grafen, den Verfasser und den
Russen, während man bisher nur die Natur und die Menschheit gesehen
hatte”. (Brief an Turgenjew, Januar 1880.)

[102] (S. 66): Brief an seine Frau (aus den Archiven der Gräfin
Tolstoi), von Birukow angeführt.

[103] (S. 66): Während er im Sommer 1869 „Krieg und Frieden” beendet,
entdeckt er Schopenhauer und begeistert sich daran: „Ich bin
überzeugt, daß Schopenhauer der genialste der Menschen ist. Das ganze
Weltall strahlt mit einer außergewöhnlichen Klarheit und Schönheit aus
ihm.” (Brief an Fet, 30. August 1869.)

[104] (S. 67): „Homer und seine Übersetzer”, sagt er an anderer
Stelle, „unterscheiden sich voneinander wie gekochtes und
destilliertes Wasser von Quellwasser, das Felsen sprengt und selbst
durch Sand seinen Lauf nimmt, dadurch aber nur immer reiner und
frischer wird”. (Brief an Fet, Dezember 1879.)

[105] (S. 67): Unveröffentlichte Korrespondenz.

[106] (S. 67): Aus den Archiven der Gräfin Tolstoi.

[107] (S. 67): Der Roman wurde 1877 beendet. Er erschien -- bis auf
das Nachwort -- im „Russki Viestniki”.

[108] (S. 67): Durch den Tod von dreien seiner Kinder (18. November
1873, Februar 1875, Ende November 1875), der Tante Tatjana, seiner
Adoptivmutter, (20. Juni 1874) und der Tante Pelagie (22. Dezember
1875).

[109] (S. 68): Brief an Fet, 1. März 1876.

[110] (S. 68): „Die Frau bildet den Stein des Anstoßes in der Laufbahn
eines Mannes. Es ist schwer, eine Frau zu lieben und etwas Gescheites
zu tun; und das einzige Mittel, um nicht durch die Liebe zur
Untätigkeit verurteilt zu sein, ist sich zu verheiraten.”

[111] (S. 70): Motto des Buches.

[112] (S. 71): Vergleiche auch im Nachwort den dem Krieg und dem
Nationalismus, dem Panslawismus, ausgesprochen feindlichen Geist.

[113] (S. 73): Das Böse ist, was für die Welt vernünftig ist. Das
Opfer, die Liebe, gilt als Unvernunft.

[114] (S. 75): „Jetzt treibe ich mich aufs neue an die langweilige und
platte ‚Anna Karenina’ mit dem einzigen Wunsch, sie so rasch wie
möglich loszuwerden...” (Briefe an Fet, 26. August 1875.) -- „Ich muß
den Roman, der mich langweilt, zu Ende bringen.” (Briefe an Fet,
1. März 1876.)

[115] (S. 75): „Beichte” (1879).

[116] (S. 75): Ich fasse hier mehrere Seiten aus der „Beichte”
zusammen und behalte Tolstois Ausdrücke bei.

[117] (S. 76): Vgl. „Anna Karenina”: „Und Lewin, geliebt, glücklich,
Familienvater, schaffte alle Waffen außer Greifweite, als fürchtete
er, er könnte der Versuchung erliegen, seiner Qual ein Ende zu
machen.” -- Dieser Geisteszustand war Tolstoi und seinen Helden nicht
allein eigentümlich. Es fiel Tolstoi auf, wie sehr die Zahl der
Selbstmorde in den besseren Kreisen Europas und besonders in Rußland
im Wachsen begriffen war. Er nimmt häufig in seinen Werken aus jener
Zeit darauf Bezug. Man könnte behaupten, daß eine große Woge von
Neurasthenie über das Europa von 1880 hingegangen sei, die Tausende
von Menschen verschlungen habe. Die damals jung waren, bewahren sich
die Erinnerung daran, und für sie hat Tolstois Stellungnahme zu jener
menschlichen Krisis historischen Wert. Er hat die heimliche Tragödie
einer Generation geschrieben.

[118] (S. 77): „Beichte.”

[119] (S. 77): Tolstois Bildnisse aus jener Zeit verraten diesen
volkstümlichen Charakter. Ein Bild von Kramskoi (1873) -- s. Titelbild
dieses Buches -- stellt ihn in der Muschikbluse dar, mit vorgeneigtem
Kopf und dem Aussehen eines deutschen Christus. Das Haar beginnt sich
an den Schläfen zu lichten, ein Bart umrahmt die hohlen Wangen. -- Auf
einem anderen Bild aus dem Jahre 1881 hat er das Aussehen eines
Werkführers im Sonntagsstaat: die Haare kurz geschnitten, mit vollem
Backenbart; der untere Teil des Gesichts erscheint viel breiter als
der obere; gerunzelte Augenbrauen, ein mürrischer Augenausdruck, eine
breite Hundenase und ungeheure Ohren.

[120] (S. 79): „Beichte.”

[121] (S. 79): Es war aber nicht das erstemal. Der junge Freiwillige
im Kaukasus, der Offizier von Sewastopol, Olenin in den „Kosaken”,
Fürst Andrej und Peter Besukow in „Krieg und Frieden” hatten ähnliche
Erscheinungen gehabt. Aber Tolstoi war so von Leidenschaft erfaßt, daß
er jedesmal, wenn er Gott entdeckte, glaubte, es sei das erstemal und
es habe vorher nur Nacht und Nichts um ihn geherrscht. Er sah in
seiner Vergangenheit nur Dunkel und Schande. Wir, die wir aus seinem
Tagebuche die Geschichte seines Herzens besser kennen als er selbst,
wissen, wie tief religiös dieses Herz immer, selbst in seinen
Verirrungen, gewesen ist. Er gibt es übrigens an einer Stelle der
Vorrede zur „Kritik der dogmatischen Theologie” zu, wo er sagt:
„Gott! Gott! ich habe geirrt, ich habe die Wahrheit gesucht, auch wo
es nicht nötig war. Ich wußte, daß ich irrte. Ich schmeichelte
meinen bösen Leidenschaften, die ich als böse erkannt hatte, -- aber
ich vergaß dich nie. Ich habe dich immer gefühlt, selbst wenn ich
mich verirrte.” -- Die Krisis von 1878/79 war nur heftiger als die
früheren, vielleicht unter dem Einfluß der wiederholten Trauerfälle
und des herannahenden Alters. Und das einzig Neue an ihr lag darin,
daß, während früher die Erscheinung Gottes sich verflüchtigte, ohne
Spuren zu hinterlassen, sobald die Flamme der Verzückung erloschen
war, sich nun Tolstoi, belehrt durch die frühere Erfahrung, beeilte,
den „Weg zu gehen, solange das Licht leuchtete”, und ein ganzes
Lebenssystem aus seinem Glauben abzuleiten. Auch das hatte er
vielleicht schon einmal versucht (man erinnere sich an seine
„Lebensregeln”, die er als Student aufgestellt hatte), aber mit
seinen fünfzig Jahren lief er weniger Gefahr, sich durch die
Leidenschaften von dem eingeschlagenen Weg abbringen zu lassen.

[122] (S. 79): Der Untertitel der „Beichte” lautet „Einführung
in die Kritik der dogmatischen Theologie und die Prüfung der
christlichen Doktrin”.

[123] (S. 80): „Ich, der ich Wahrheit und Liebe einander gleichstelle,
war betroffen von der Tatsache, daß die Religion selbst zerstörte, was
sie aufbauen wollte.” („Beichte”)

[124] (S. 80): „Und ich habe mich davon überzeugt, daß die Lehre der
Kirche theoretisch eine arglistige und schädliche Lüge und praktisch
eine Mischung aus schlimmstem Aberglauben und Zauberkünsten ist,
worunter der Sinn der christlichen Lehre gänzlich verschwunden ist.”
(Antwort an den Heiligen Synod vom 4.-17. April 1901.) -- Siehe auch
„Kirche und Staat” (1883). -- Das schwerste Verbrechen, das Tolstoi
der Kirche vorwirft, ist ihre „gottlose Allianz” mit der weltlichen
Macht. Sie habe dadurch die Heiligkeit des Staates und die Heiligkeit
der Gewalt bestätigt. Es sei ein Bündnis von Räubern und Lügnern.

[125] (S. 81): In dem Maße, als er älter wurde, verstärkte sich dieses
Gefühl von der Einheit der religiösen Wahrheit im Verlauf der
Geschichte der Menschheit und der Verwandtschaft Christi mit den
anderen Weisen seit Buddha bis zu Kant und Emerson derart, daß Tolstoi
sich in den letzten Lebensjahren dagegen verwahrte, „eine besondere
Vorliebe für das Christentum” zu haben. In diesem Sinne ist von ganz
besonderer Wichtigkeit ein Brief, den er zwischen dem 27. Juli und dem
9. August 1909 an den Maler Jan Styka schrieb. Seiner Gewohnheit
gemäß neigt Tolstoi, wenn er von seiner neuen Überzeugung ganz erfüllt
ist, dazu, etwas gar zu sehr seinen früheren Seelenzustand und den
rein christlichen Ausgangspunkt seiner religiösen Krisis zu vergessen:
„Die Lehre Christi”, schrieb er, „ist für mich nur eine der schönen
religiösen Doktrinen, die wir aus dem ägyptischen, jüdischen,
indischen, chinesischen, griechischen Altertum übernommen haben. Die
beiden großen Prinzipien Jesu: die Liebe Gottes, d. h. die absolute
Vollendung, und die Liebe zum Nächsten, d. h. zu allen Menschen ohne
irgendeine Ausnahme, sind von allen Weisen der Welt gepredigt worden:
von Krischna, Buddha, Lao Tse, Konfuzius, Sokrates, Plato, Epiktet,
Mark Aurel, und unter den modernen: von Rousseau, Pascal, Kant,
Emerson, Channing und vielen anderen. Die religiöse und moralische
Wahrheit ist überall und immer die gleiche... Ich habe keinerlei
Vorliebe für das Christentum. Wenn ich besonderes Interesse für die
Lehre Christi gezeigt habe, so kommt dies daher: 1. weil ich unter
Christen geboren bin und unter Christen gelebt habe; 2. weil ich es
als einen großen Seelengenuß empfand, die reine Lehre von den
überraschenden Fälschungen, wie sie die Kirche vornimmt, zu trennen.”

[126] (S. 82): Tolstoi verwahrt sich dagegen, die wahre Wissenschaft
anzugreifen, die bescheiden sei und ihre Grenzen kenne. („Das Leben”,
Kapitel IV.)

[127] (S. 82): „Das Leben”, Kapitel X.

[128] (S. 82): Tolstoi las häufig und immer wieder die „Gedanken” von
Pascal in der kritischen Zeit, die der „Beichte” voranging. Er spricht
von ihnen in seinen Briefen an Fet (14. April 1877 und 3. August 1879)
und empfiehlt sie seinem Freunde zur Lektüre.

[129] (S. 83): In einem Brief über die Vernunft, den er am 6. November
1894 an die Baronin X... schrieb, sagt Tolstoi ähnlich: „Der Mensch
hat von Gott selbst nur ein einziges Werkzeug erhalten, um sich selbst
zu erkennen und mit der Welt zu verständigen; es gibt kein anderes.
Dieses Werkzeug ist die Vernunft. Die Vernunft kommt von Gott. Sie ist
nicht nur die höchste Eigenschaft des Menschen, sondern das einzige
Werkzeug zur Erkenntnis der Wahrheit.”

[130] (S. 83): „Das Leben”, Kapitel X, XIV-XXI.

[131] (S. 85): „Das Leben”, Kap. XXII-XXV. -- Wie bei den meisten
dieser Zitate fasse ich mehrere Kapitel in einige charakteristische
Sätze zusammen.

[132] (S. 85): Ich behalte mir für später vor, wenn Tolstois Werk erst
einmal lückenlos veröffentlicht sein wird, diesen religiösen Gedanken
in seinen verschiedenen Schattierungen zu studieren, denn dieser hat
in bezug auf verschiedene Fragen sich sicherlich mehrfach gewandelt,
hauptsächlich in bezug auf die Vorstellung vom künftigen Leben.

[133] (S. 87): „Ich hatte bis dahin mein ganzes Leben außerhalb der
Stadt zugebracht...” („Was sollen wir denn tun?”)

[134] (S. 87): „Was sollen wir denn tun?”

[135] (S. 87): Tolstoi hat manchesmal seiner Abneigung Ausdruck
gegeben gegen „die Asketen, die für sich selbst handeln, ohne
Rücksicht auf ihresgleichen”. Er wirft sie in den nämlichen Topf wie
die unwissenden und hoffärtigen Revolutionäre, „die behaupten, den
anderen Gutes zu erweisen, ohne zu wissen, was ihnen selber not tut...
Ich liebe”, sagte er, „die Menschen dieser beiden Kategorien mit
derselben Liebe, aber ich hasse auch ihre Lehren mit demselben Haß.
Die einzig wahre Lehre ist die, die eine dauernde Tätigkeit fordert,
ein Leben, das den Regungen des Herzens folgt und sich bemüht, andere
glücklich zu machen. Das ist die christliche Lehre. Sie ist gleich
weit entfernt vom religiösen Quietismus wie von dem anmaßenden Hochmut
der Revolutionäre, die die Welt umzugestalten trachten, ohne zu
wissen, worin das wahre Glück beruht.” (Brief an einen Freund.)

[136] (S. 88): Ein Daguerreotyp aus dem Jahre 1885.

[137] (S. 89): „Was sollen wir denn tun?”

[138] (S. 89): Dieser ganze erste Teil (die ersten fünfzehn Kapitel),
der von Gestalten nur so wimmelt, wurde von der russischen Zensur
unterdrückt. Das Werk ist in seiner ganzen Vollständigkeit erst
achtzehn Jahre nachdem es geschrieben war in den von Tschertkow
besorgten Ausgaben erschienen.

[139] (S. 89): „Die wahre Ursache des Elends sind die Reichtümer, die
sich in den Händen einzelner befinden, die nichts schaffen, und die in
den großen Städten angehäuft sind. Die Reichen finden sich in den
großen Städten zusammen, um in Sicherheit zu genießen. Und den Armen
zieht es nach der Stadt, weil er hofft, sich von den Brosamen nähren
zu können, die von des Reichen Tische fallen. Ihn lockt der leichte
Gewinn: Handel, Bettelei, Ausschweifungen, Betrügereien.”

[140] (S. 90): „Der Angelpunkt des Übels ist der Besitz. Der Besitz
ist nur das Mittel, um aus der Arbeit der anderen Genuß zu ziehen.” --
„Das Eigentum”, sagt Tolstoi an anderer Stelle, „ist das, was uns
nicht gehört, die andern sind es. Der Mensch nennt seine Frau, seine
Kinder, seine Sklaven und mancherlei Gegenstände sein eigen; aber die
Wirklichkeit zeigt ihm seinen Irrtum; und er muß darauf verzichten
oder leiden und andere leiden machen.” -- Tolstoi ahnt schon die
russische Revolution voraus: „Seit drei oder vier Jahren”, sagt er,
„beschimpft man uns in den Straßen und nennt uns Faulenzer. Der Haß
und die Verachtung des geknechteten Volkes nehmen immer mehr zu.”
(„Was sollen wir denn tun?”)

[141] (S. 90): Der Bauernrevolutionär Bondarew hätte am liebsten
gewollt, daß dieses Gesetz als ein allgemeiner Zwang anerkannt würde.
Tolstoi duldete damals seinen Einfluß, wie auch den eines anderen
Bauern namens Sutajew, nicht ungern. „Während meines ganzen Lebens
haben zwei russische Denker eine große moralische Wirkung auf mich
geübt, haben mein Denken bereichert und meine eigene Stellung zur Welt
geklärt, es waren die beiden Bauern Sutajew und Bondarew” („Was sollen
wir denn tun?”). In dem nämlichen Buch entwirft Tolstoi ein Bild von
Sutajew und führt eine Unterhaltung mit ihm an.

[142] (S. 91): „Alkohol und Tabak”.

[143] (S. 91): „Grausame Vergnügungen”, 1895 („Die Fleischesser”;
„Der Krieg”; „Die Jagd”).

[144] (S. 91): Es ist bemerkenswert, daß es Tolstoi solche Mühe
kostete, sie zu opfern. Die Jagd war bei ihm eine atavistische
Leidenschaft, die ihm von seinem Vater überkommen war. Er war nicht
sentimental und scheint niemals ein besonderes Mitleid mit den Tieren
aufgebracht zu haben. Seine durchdringenden Augen haben kaum auf den
zuweilen so sprechenden Augen unserer bescheidenen Brüder geruht; --
mit Ausnahme von denen des Pferdes, für das er als Edelmann eine
besondere Vorliebe hatte. Im übrigen scheint alles, was er sieht, sich
vor seinen Augen in drei voneinander verschiedene Stufen zu
gruppieren. 1. die vernunftbegabten Wesen; 2. die Tiere und die
Pflanzen; 3. die leblose Materie.” („Das Leben”, Kap. XIII.) -- Er
war nicht frei von angeborener Grausamkeit. Als er vom langsamen Tod
eines Wolfes erzählte, den er durch einen Schlag mit einem schweren
Knüppel auf die Nasenwurzel getötet hatte, sagte er: „Ich empfand ein
wahrhaftes Wonnegefühl bei dem Gedanken an die Leiden des verendenden
Tieres”. Sein Gewissen regte sich später ob solchem Empfinden.

[145] (S. 92): Sommer 1878.

[146] (S. 92): 18. November 1878.

[147] (S. 93): November 1879.

[148] (S. 93): 8. Oktober 1881.

[149] (S. 93): 14. Oktober 1881.

[150] (S. 94): 3. März 1882.

[151] (S. 94): 23. Oktober 1884.

[152] (S. 95): „Das sogenannte Frauenrecht ist nichts anderes als der
Wunsch, an der angeblichen Arbeit der reichen Klassen teilzunehmen, um
aus der Arbeit der anderen Genuß zu ziehen und ein Leben zur
Befriedigung der Sinnlichkeit zu führen. Niemals begehrt die Frau
eines ernsthaften Arbeiters das Recht, an der Arbeit ihres Mannes in
den Minen oder auf den Feldern teilzuhaben”.

[153] (S. 96): So lauten die letzten Zeilen von „Was sollen wir denn
tun?”. Sie sind vom 14. Februar 1886 datiert.

[154] (S. 97): Brief an einen Freund, veröffentlicht unter dem Titel
„Glaubensbekenntnis” in dem Band „Grausame Vergnügungen”.

[155] (S. 97): Die Versöhnung fand im Frühjahr 1878 statt. Tolstoi
schrieb an Turgenjew, um ihn um Entschuldigung zu bitten. Turgenjew
kam im August 1878 nach Jasnaja Poljana. Tolstoi erwiderte seinen
Besuch im Juli 1881. Jedermann war erstaunt über seine veränderte
Haltung, seine Sanftmut, seine Bescheidenheit. Er war „wie
neugeboren”.

[156] (S. 97): Brief an Polonski.

[157] (S. 98): An seine Tante, die Gräfin A. A. Tolstoi, schrieb er im
Jahre 1883: „Jeder muß sein Kreuz tragen... Das meine ist die
schlechte eitle Gedankenarbeit, voll von Versuchung”.

[158] (S. 102): „Was sollen wir denn tun?”.

[159] (S. 103): „Schließlich sollte er soweit kommen, daß er dem
Kummer und Leid das Wort redete, -- nicht nur dem eigenen, sondern
auch dem der anderen.”

[160] (S. 104): 23. Februar 1868. -- In dieser Hinsicht mißfiel ihm
die „melancholische und unverdauliche” Kunst Turgenjews.

[161] (S. 104): Dieser Brief vom 4. Oktober 1887 erschien zuerst in
den „Cahiers de la Quinzaine”, im Jahre 1902 -- „Was ist Kunst?”
erschien 1897-98; aber Tolstoi dachte schon seit 15 Jahren, also seit
1882, daran.

[162] (S. 107): Auf diesen Punkt werde ich anläßlich der
„Kreutzersonate” zurückkommen.

[163] (S. 107): Seine Unduldsamkeit hatte sich seit 1886 gesteigert.
In „Was sollen wir denn tun?” wagte er noch nicht an Beethoven zu
rühren (auch noch nicht an Shakespeare). Ja mehr noch, er warf den
zeitgenössischen Künstlern sogar vor, daß sie es wagten, sich auf jene
zu berufen. „Das Schaffen eines Galilei, eines Shakespeare, eines
Beethoven hat nichts gemein mit dem Schaffen eines Tyndall, eines
Victor Hugo, eines Wagner. Geradeso wie die Heiligen Väter jede
Verwandtschaft mit den Päpsten ablehnen würden.” („Was sollen wir
denn tun?”)

[164] (S. 107): Er wollte sogar vor dem Schluß des ersten Aktes
aufbrechen. „Für mich war die Frage gelöst. Ich hatte keinen Zweifel
mehr. Von einem Autor, der fähig war, Szenen wie diese auszudenken,
war nichts mehr zu erwarten. Man konnte von vornherein sicher sein,
daß er niemals etwas schreiben würde, das nicht schlecht wäre.”

[165] (S. 107): Es ist bekannt, daß er, um eine Anthologie von
französischen Dichtern der neueren Schule zusammenzustellen, den
wunderbaren Gedanken hatte, „aus jedem Band ein Gedicht
herauszuschreiben, das auf Seite 28 stand”!

[166] (S. 107): „Shakespeare”, 1903. Das Werk wurde anläßlich eines
Artikels von Ernst Crosby über „Shakespeare und die Arbeiterklasse”
geschrieben.

[167] (S. 109): „Es war eines jener Vorkommnisse, wie sie sich häufig
ereignen, die niemandes Aufmerksamkeit auf sich lenken und nicht nur
die Welt, sondern sogar die militärische Welt Frankreichs unberührt
lassen.” -- Und an anderer Stelle: „Es bedurfte einiger Jahre, bevor
die Menschen aus ihrer Hypnose erwachten und begriffen, daß sie
überhaupt nicht wissen konnten, ob Dreyfus schuldig war oder nicht,
und daß jedermann andere wichtigere und unmittelbarere Interessen
hatte, als die Dreyfus-Affäre.” („Shakespeare”)

[168] (S. 109): „‚König Lear’ ist ein sehr schlechtes, sehr
nachlässig gemachtes Drama, das nur Ekel und Langeweile auslösen
kann.” -- „Othello”, wofür Tolstoi einige Sympathie zeigt
(zweifellos weil dieses Werk mit seinen damaligen Anschauungen über
Ehe und Eifersucht übereinstimmte), „ist, obwohl es das wenigst
schlechte Drama von Shakespeare ist, nur eine Anhäufung von
hochtrabenden Worten”. Die Figur des ‚Hamlet’ hat keinen Charakter;
„sie ist das Sprachrohr des Verfassers, das seine Gedanken der Reihe
nach wiederholt.” „Sturm”, „Cymbeline”, „Troïlus” und
andere erwähnt Tolstoi nur wegen ihrer „Albernheit”. Die einzige
Figur Shakespeares, die er natürlich findet, ist der Falstaff, „eben
deshalb, weil hier die mit rohen Scherzen und albernen Kalauern
angefüllte Sprache Shakespeares zu dem falschen, eitlen und
ausschweifenden Charakter dieses widerlichen Trunkenboldes so gut
paßt”. -- Aber nicht immer hatte Tolstoi so gedacht. In den Jahren
1860 bis 1870, hauptsächlich zu der Zeit, da er sich mit dem Plan
trug, ein historisches Drama über Peter I. zu schreiben, hatte er
Shakespeare mit Vergnügen gelesen. Aus seinen Aufzeichnungen aus dem
Jahre 1869 ist sogar ersichtlich, daß er sich den „Hamlet” zum
Vorbild nahm.

[169] (S. 111): Er nimmt in bezug auf die Verurteilung der modernen
Kunst seine eigenen Theaterstücke nicht aus, „die nach seiner Ansicht
der religiösen Durchdringung entbehren, die die Grundlage des Dramas
der Zukunft bilden müsse”.

[170] (S. 115): 1873 schrieb Tolstoi: „Denkt was ihr wollt, aber denkt
es auf eine Weise, daß jedes Wort allen verständlich sei. In einer
völlig klaren und einfachen Sprache kann man nichts Schlechtes
schreiben. Wenn Unmoralisches klar ausgedrückt ist, erscheint es so
falsch, daß man es ganz bestimmt wieder ausstreichen wird. Wenn ein
Schriftsteller sich ernsthaft ans Volk wenden will, muß er sich nur
bemühen, verständlich zu sein. Wenn der Leser vor keinem Worte stutzt,
ist das Werk gut. Wenn er nicht erzählen kann, was er gelesen hat,
taugt das Werk nichts.”

[171] (S. 115): Dieses Ideal brüderlicher Vereinigung unter den
Menschen bedeutet für Tolstoi keineswegs das Ziel der menschlichen
Tätigkeiten; seine unersättliche Seele läßt ihn ein unbekanntes Ideal
jenseits der Liebe aufstellen: „Vielleicht wird die Wissenschaft eines
Tages der Kunst ein noch höheres Ideal weisen, und die Kunst wird es
verwirklichen.”

[172] (S. 116): Etwa in dieser Zeit wurde auch ein Werk beendigt und
veröffentlicht, das in der Hauptsache in glücklicheren Tagen, während
seiner Verlobungszeit und der ersten Ehejahre, geschrieben war: die
schöne Geschichte eines Pferdes, „Kolstomir” (1861 bis 1886). Tolstoi
spricht darüber in seinem Brief an Fet, 1863. -- Die Kunst des
Beginns, mit ihren feinen Landschaftsschilderungen, ihrer scharfen
Psychologie, ihrem Humor und ihrer Jugendfrische ist den Werken der
Reifezeit („Eheglück”, „Krieg und Frieden”) verwandt. Das
unheimliche Ende, die letzten Seiten, wo der Kadaver des alten
Pferdes und der Leichnam seines Herrn miteinander verglichen werden,
sind von einem krassen Realismus, der an die Jahre nach 1880
erinnert.

[173] (S. 117): „Kreutzersonate”, „Macht der Finsternis”.

[174] (S. 118): „In Ihrem Stil”, sagte ihm sein Freund Drujinin im
Jahre 1856, „sind Sie äußerst ungleich, manchmal wie ein Bahnbrecher
und großer Dichter, manchmal wie ein Offizier, der an seinen Kameraden
schreibt. Was Sie mit Liebe schreiben, ist wundervoll; sobald Sie aber
gleichgültig sind, verwirrt sich Ihr Stil und wird fürchterlich.”

[175] (S. 119): Im Sommer 1879 kam Tolstoi in sehr nahe Berührung mit
den Bauern; Strakow erzählt, daß er außer der Religion „sich sehr für
die Sprache interessierte. Er fing an, die Schönheit der Volkssprache
tief zu empfinden. Jeden Tag entdeckte er neue Worte, und jeden Tag
mißhandelte er die literarische Sprache mehr”.

[176] (S. 119): In den Notizen, die er sich in den Jahren 1860 bis
1870 während des Lesens machte, schrieb Tolstoi: „Die Bylinen... sehr
großer Eindruck.”

[177] (S. 119): „Die beiden Alten” (1885).

[178] (S. 120): „Wo Liebe ist, da ist Gott” (1885).

[179] (S. 120): „Wovon die Menschen leben” (1881) -- „Die drei
Greise” (1884).

[180] (S. 120): „Wieviel Erde braucht der Mensch?” (1886)

[181] (S. 121): Er ist erst ziemlich spät auf den Geschmack des Dramas
gekommen. Im Winter 1869 auf 70 machte er diese Entdeckung, und nach
seiner Gewohnheit begeisterte er sich sofort dafür: „Diesen ganzen
Winter über habe ich mich ausschließlich mit dem Drama beschäftigt;
den Menschen, die bis zu ihrem vierzigsten Jahre über ein bestimmtes
Thema nicht nachgedacht haben, geht es immer so, daß sie plötzlich
diesem vernachlässigten Gegenstand ihre ganze Aufmerksamkeit zuwenden,
und es scheint ihnen dann, daß sie sehr viel Neues darin erblicken...
Ich habe Shakespeare, Goethe, Puschkin, Gogol und Molière gelesen...
Ich möchte Sophokles und Euripides lesen... Ich war krank und habe
lange das Bett gehütet, und in solchem Zustand beginnen die
dramatischen oder komischen Personen sich in meinem Innern wie
unsinnig zu gebärden. Und sie machen ihre Sache sehr gut...” (Briefe
an Fet, 17. bis 21. Februar 1870.)

[182] (S. 122): In einer anderen Fassung des 4. Aktes.

[183] (S. 124): Es wäre eine falsche Annahme, zu glauben, für Tolstoi
sei es eine Qual gewesen, dieses beängstigende Drama zu schreiben. Er
schrieb an Teneromo: „Ich lebe gesund und fröhlich. Ich habe die ganze
Zeit an meinem Drama („Die Macht der Finsternis”) gearbeitet. Ich bin
fertig damit.” (Januar 1887)

[184] (S. 128): Man beachte wohl, daß Tolstoi niemals die Naivität
hatte, zu glauben, das Ideal des Zölibats und der völligen Keuschheit
sei für die heutige Menschheit zu verwirklichen. Seine Ansicht geht
dahin, daß ein solches Ideal zwar nicht zu verwirklichen sei, aber
einen Appell an die heldenhaften Seelenkräfte darstelle.

[185] (S. 129): Am Schluß von „Der Herr und sein Knecht”.

[186] (S. 129): „Krieg und Frieden”. -- Ich spreche nicht von der
Novelle „Albert” (1857), der Geschichte eines genialen Musikers. Diese
Novelle ist sehr schwach.

[187] (S. 129): Vergleiche in „Jugendjahre” den humorvollen Bericht
von der Mühe, die er sich gab, um Klavierspielen zu lernen. -- „Das
Klavierspiel war für mich ein Mittel, die jungen Damen durch meine
Sentimentalität zu bezaubern.”

[188] (S. 130): Es handelt sich um die Jahre 1876-77.

[189] (S. 130): S. A. Bers, „Erinnerungen an Tolstoi”.

[190] (S. 131): Aber niemals hörte er auf sie zu lieben. Während
seiner letzten Lebenstage gehörte ein Musiker namens Goldenweiser, der
den Sommer 1910 in der Nähe von Jasnaja verbrachte, zu seinen
Freunden. Während Tolstois letzter Krankheit kam er fast täglich, ihm
etwas vorzuspielen. („Journal des Débats” vom 18. November 1910.)

[191] (S. 131): Brief vom 21. April 1861.

[192] (S. 131): Camille Bellaigue, „Tolstoi et la musique”
(„Gaulois” vom 4. Januar 1911).

[193] (S. 132): Man darf nicht glauben, daß es sich nur um die letzten
Werke Beethovens handelt. Selbst denen aus der Frühzeit wirft Tolstoi
„ihre gekünstelte Form” vor. -- In einem Brief an Tschaikowsky stellt
er gleichfalls der gekünstelten Art Beethovens, Schumanns und
Berlioz', die die Wirkung berechnen, die wahre Künstlerschaft eines
Mozart und Haydn gegenüber.

[194] (S. 132): Vergleiche die Szene, die Paul Boyer im „Temps” vom
2. November 1902 erzählt: „Tolstoi läßt sich Chopin vorspielen. Am
Schluß der vierten Ballade füllen sich seine Augen mit Tränen. --
‚Ah! l'animal!’ ruft er aus, erhebt sich unvermittelt und verläßt
das Zimmer.”

[195] (S. 135): „Der Herr und sein Knecht” ist eine Art Übergang von
den düsteren Romanen, die vorausgehen, zu der „Auferstehung”, worin
sich das Licht göttlicher Barmherzigkeit ausbreitet. Aber man spürt
darin noch mehr die Nachbarschaft mit dem „Tod des Iwan Iljitsch” und
den „Volkserzählungen”, als mit der „Auferstehung”, wo sich nur
gegen das Ende zu die wunderbare Verwandlung eines selbstsüchtigen
und feigen Menschen ankündigt. Den größten Teil der Geschichte
bildet die äußerst realistische Schilderung eines ungütigen Herrn
und eines ergebenen Dieners, die nachts in der Steppe von einem
Schneesturm überrascht werden und den Weg verlieren. Der Herr, der
zuerst unter Zurücklassung seines Genossen zu fliehen versucht,
kehrt zurück und findet seinen Diener halb erfroren; er wirft sich
über ihn, bedeckt ihn mit seinem Körper, erwärmt ihn wieder, indem
er sich instinktiv aufopfert; er weiß nicht warum; aber seine Augen
füllen sich mit Tränen: es ist ihm, als ob er der sei, den er
retten will, der Diener Nikita, und daß sein Leben nicht mehr in ihm
selbst ist, sondern in Nikita. -- „Nikita lebt; also bin ich noch am
Leben.” -- Er hat fast vergessen, daß er selbst Wassili gewesen ist.
Er denkt: „Wassili wußte nicht, was zu tun war. Aber ich -- ich weiß
es!” Und er hört die Stimme dessen, auf den er wartete (hier
erinnert sein Traum an eine der „Volkserzählungen”), dessen, der ihm
gerade befohlen hatte, sich auf Nikita zu betten. „Herr ich komme”,
ruft er voller Freude, und er fühlt, daß er frei ist, daß nichts ihn
mehr zurückhält... Er ist tot.

[196] (S. 135): Tolstoi hatte einen vierten Teil vorgesehen, der aber
ungeschrieben blieb.

[197] (S. 137): Im Gegensatz hierzu war er mit allen Milieus, die er
in „Krieg und Frieden”, „Anna Karenina”, den „Kosaken” und
„Sewastopol” beschreibt, aufs Beste vertraut: den Salons der
Adelsgesellschaft, dem Heer, dem Landleben. Er brauchte nur auf seine
Erinnerungen zurückzugreifen.

[198] (S. 139): Tolstoi hat vielleicht an seinen Bruder Dmitri
gedacht, der auch eine Maslowa geheiratet hatte. Aber Dmitris heftiges
und unausgeglichenes Temperament unterschied sich wesentlich von dem
Nekludows.

[199] (S. 140): „Mehrere Male in seinem Leben hatte Tolstoi eine
‚Gewissensreinigung’ vorgenommen. So nannte er die moralischen Krisen,
in denen er sich entschloß, den Schmutz, der seine Seele trübte,
auszufegen. Nach Überwindung solcher Krisen unterließ er es nie, sich
Vorschriften aufzuerlegen, die immer zu befolgen er sich schwor. Er
führte ein Tagebuch und begann ein neues Leben. Aber jedes Mal verfiel
er wieder in dieselben Fehler, oder in noch schlimmere, als vor solch
einer Krise.”

[200] (S. 140): Als Nekludow erfährt, daß die Maslowa sich mit einem
Krankenwärter vergangen hat, ist er noch fester als je entschlossen,
„seine Freiheit zu opfern, um die Sünde dieser Frau zu sühnen”.

[201] (S. 141): Tolstoi hat niemals eine Figur mit so festen und
sicheren Strichen gezeichnet, wie die des Nekludow im ersten
Romanteil. Man lese die wundervolle Beschreibung von Nekludows
Aufstehen und dem Vormittag vor der ersten Sitzung im Justizpalast.

[202] (S. 142): Brief der Gräfin Tolstoi aus dem Jahre 1884.

[203] (S. 143): Tolstoi hielt es für eines seiner Hauptwerke: „Eines
meiner Bücher -- „Für alle Tage” --, dem eine große Wichtigkeit
beizumessen, ich selbstbewußt genug bin...” (Brief an Jan Styka,
27. Juli - 9. August 1909.)

[204] (S. 143): Das Hauptwerk der Hinterlassenschaft ist Tolstois
Tagebuch, das die Aufzeichnungen eines Zeitraums von mehr als vierzig
Jahren umfaßt.

[205] (S. 144): Tolstois Exkommunikation durch den Heiligen Synod
erfolgte am 22. Februar 1901. Sie war durch ein Kapitel der
„Auferstehung”, das sich mit der Messe und dem Abendmahl befaßt,
veranlaßt.

[206] (S. 145): Über die Nationalisierung des Bodens (siehe „Das große
Verbrechen”, 1905).

[207] (S. 146): „Reiner Moskowiter des alten Rußlands,” sagt
Leroy-Beaulieu, „Großrusse slawischen Blutes, durch finnischen
Einschlag beeinträchtigt, ist er äußerlich mehr Volkstypus als
Adelstypus”. („Revue des Deux Mondes” vom 15. Dezember 1910.)

[208] (S. 146): 1857.

[209] (S. 146): 1862.

[210] (S. 148): „Das Ende einer Welt” (1905 bis Januar 1906). -- Vgl.
das Telegramm, das Tolstoi an ein amerikanisches Blatt richtete: „Die
Agitation der Semstwos verfolgt den Zweck, die Macht des Despotismus
einzuschränken und eine parlamentarische Regierung einzusetzen. Ob
ihnen das gelingt oder nicht, das Ergebnis wird sicher eine
Verzögerung der wirklichen sozialen Verbesserung sein. Die politische
Agitation hält -- indem sie die unheilvolle Illusion dieser
Verbesserung durch äußere Mittel gibt -- den wahren Fortschritt auf,
wie man dies in allen konstitutionellen Staaten feststellen kann: in
Frankreich, England, Amerika.” -- In einem langen und interessanten
Brief an eine Dame, die ihn ersucht hatte, einer Vereinigung zur
Hebung der Lese- und Schreibkenntnisse des Volkes beizutreten, bringt
Tolstoi noch andere Klagen gegen die Liberalen zum Ausdruck: Sie haben
immer die Rolle der Hereingefallenen gespielt. Sie machen sich aus
Furcht zu Mitschuldigen der Autokratie; ihre Teilnahme an der
Regierung gibt dieser ein moralisches Ansehen und gewöhnt die
Liberalen an Kompromisse, die sie rasch zu Werkzeugen der Gewalt
machen. Alexander II. sagte, alle Liberalen seien, wenn nicht für
Geld, so doch für Ehren käuflich. Alexander III. hat das liberale Werk
seines Vaters ohne Gefahr vernichten können: „Die Liberalen tuschelten
unter sich, daß ihnen das nicht gefalle, aber sie nahmen weiter teil
an den Arbeiten im Staats- und Gerichtsdienst und in der Presse; in
der Presse machten sie Anspielungen auf Dinge, auf die Anspielungen
erlaubt waren, aber sie schwiegen zu solchen, über die zu sprechen
verboten war, und sie traten für alles ein, wofür einzutreten ihnen
befohlen wurde.” Unter Nikolaus II. machen sie es gerade so.
„Protestieren die Liberalen vielleicht, wenn dieser junge Mann, der
nichts weiß und von nichts etwas versteht, mit Frechheit und Mangel an
Takt den Volksvertretern antwortet? Keineswegs... Überall sucht man
sich auf feige Weise durch Glückwunschsendungen bei dem jungen Zaren
einzuschmeicheln.”

[211] (S. 149): „Krieg und Revolution.” -- In der „Auferstehung”
ist bei dem Revisionsverfahren im Prozeß gegen die Maslowa unter den
Senatsmitgliedern ein materialistischer Darwinist der größte Gegner
der Revision, weil er im tiefsten Innern empört darüber ist, daß
Nekludow aus Pflichtgefühl eine Prostituierte heiraten will: jede
Kundgebung des Pflichtgefühls und mehr noch des religiösen
Empfindens wirkt auf ihn wie eine persönliche Beleidigung.

[212] (S. 149): Vgl. einige Figuren von Revolutionären: in der
„Auferstehung” Nowodworow, der revolutionäre Lügner, dessen große
Intelligenz durch seine unerhörte Eitelkeit und Selbstsucht ganz
aufgewogen wird. Keinerlei Phantasie; „völliges Fehlen moralischer und
ethischer Eigenschaften, die Zweifel aufkommen lassen könnten.” --
Dann, ihm stets auf den Fersen, wie sein Schatten, Markel, der infolge
von Demütigungen und aus dem Wunsch nach Rache zum Revolutionär
gewordene Arbeiter, ein leidenschaftlicher Verehrer der Wissenschaft,
die er nicht zu verstehen vermag, ein Asket von fanatischer
Kirchenfeindlichkeit. -- Auch in dem Buche „Noch drei Tode” finden
sich einige Vertreter der neuen revolutionären Generation: Roman und
seine Freunde, die die Terroristen alten Schlages verachten und auf
wissenschaftliche Weise zu ihrem Ziel zu gelangen trachten, indem sie
ein Agrikulturvolk in ein Industrievolk verwandeln möchten.

[213] (S. 150): Brief an den Japaner Izo-Abe, Ende 1904.

[214] (S. 150): Unterhaltungen mit Teneromo.

[215] (S. 150): Unterhaltungen mit Teneromo.

[216] (S. 151): Unterhaltung mit Paul Boyer („Le Temps” vom
4. November 1902).

[217] (S. 151): „Das Ende einer Welt.”

[218] (S. 152): „Die grausamste aller Sklavereien ist, der Erde
beraubt zu sein; denn der Sklave eines Herrn ist der Sklave eines
Einzelnen; aber der Mensch, der seines Rechts auf die Erde beraubt
ist, ist der Sklave Aller.” („Das große Verbrechen.”)

[219] (S. 152): Rußland war tatsächlich in einer besonderen Lage; und
wenn es auch verkehrt von Tolstoi gewesen ist, daraus Schlüsse auf
sämtliche europäischen Staaten zu ziehen, so darf man sich doch nicht
wundern, daß ihn die Leiden, die er in seiner Umgebung sah, besonders
empfindlich berührten. -- Man lese im „großen Verbrechen” die
Unterhaltungen, die er auf der Landstraße nach Tula mit den Bauern
führt, denen allen das Brot fehlt, weil es ihnen an Erde mangelt, und
die alle im tiefsten Innern darauf warten, daß ihnen die Erde
zurückgegeben werde. Die Landbevölkerung macht in Rußland 80 Prozent
der Gesamtbevölkerung aus. Über hundert Millionen Menschen, sagt
Tolstoi, sterben vor Hunger, weil die Grundeigentümer den Boden
einziehen. Wenn man ihnen, als Mittel zur Heilung ihres Übels, von der
Preßfreiheit, von der Trennung von Staat und Kirche, von der
Volksvertretung und selbst vom Achtstundentag spricht, macht man sich
in der frechsten Weise über sie lustig: „Das Verhalten derer, die so
tun, als ob sie überall nach Mitteln suchen, um die Lage der
Volksmassen zu verbessern, ist gerade so, wie wenn im Theater alle
Zuschauer den Schauspieler, der sich versteckt hält, deutlich sehen,
während seine Mitspieler, die ihn auch sehr wohl sehen, so tun, als ob
sie ihn nicht sähen, und sich die größte Mühen geben, ihre
Aufmerksamkeit gegenseitig von ihm abzulenken.” -- Es gibt kein
anderes Mittel, als die Erde dem Volke, das arbeitet, zurückzugeben.
Und zur Lösung dieser Grundfrage beruft sich Tolstoi auf die Lehre
Henry Georges und seinen Plan, nur eine einzige Steuer, eine Steuer
auf den Grundwert, zu erheben. Dies ist sein ökonomisches Evangelium,
auf das er unentwegt zurückgreift und das er sich so zu eigen macht,
daß er häufig in seinen eigenen Werken ganze Sätze von Henry George
gebraucht.

[220] (S. 153): „Das Gesetz vom ‚dem Bösen Nichtwiderstreben’ ist
das Fundament für die Kuppel des Gebäudes. Das Gesetz von der
gegenseitigen Hilfe zugeben unter Verkennung der Vorschrift des
Nichtwiderstrebens, hieße die Kuppel erbauen, ohne sie von Grund auf
zu fundamentieren.” („Das Ende einer Welt.”)

[221] (S. 153): In einem Brief, den Tolstoi im Jahre 1900 an einen
Freund schrieb, beklagt er sich, daß seiner Grundlehre vom
Nichtwiderstreben eine falsche Auslegung gegeben werde. „Man
verwechselt”, sagt er, „das Wort ‚Widersetze dich nicht dem Bösen
durch Böses’... mit ‚Widersetze dich nicht dem Bösen’, d. h. mit
‚Sei gleichgültig dem Bösen gegenüber’... Während der Kampf gegen
das Böse das einzige Ziel des Christentums ist, und das Gebot vom
‚dem Bösen Nichtwiderstreben’ als das wirksamste Kampfmittel gegeben
ist.”

[222] (S. 154): „Das Ende einer Welt.”

[223] (S. 154): Tolstoi hat zwei Typen solcher Sektierer gezeichnet:
den einen am Schluß der „Auferstehung”, -- den andern in „Noch drei
Tode”.

[224] (S. 155): Nachdem Tolstoi die Agitation der Semstwos verurteilt
hatte, machte sich Gorki zum Dolmetscher seiner Freunde und schrieb:
„Dieser Mann ist zum Sklaven seiner Idee geworden. Seit langem hält er
sich abseits vom russischen Leben und hört nicht mehr auf die Stimme
des Volkes. Er schwebt zu hoch über Rußland.”

[225] (S. 155): Es war ihm ein brennender Schmerz, daß er es nicht
fertig brachte, verfolgt zu werden. Es gelüstete ihn geradezu nach dem
Märtyrertum, aber die Regierung war klug genug und hütete sich, dieses
Gelüst zu befriedigen. -- „Rings um mich verfolgt man meine Freunde,
aber mich läßt man ungeschoren; und wenn irgend jemand gefährlich ist,
dann bin ich es doch sicher. Vermutlich bin ich die Verfolgung nicht
wert, und dessen schäme ich mich.” (Brief an Teneromo, 1892.) --
„Offenbar bin ich der Verfolgungen nicht wert, und ich werde wohl so
sterben müssen, ohne durch körperliche Leiden für die Wahrheit zeugen
zu dürfen.” (Brief an Teneromo vom 16. Mai 1892.) -- „Es ist mir
peinlich, in Freiheit zu leben.” (Brief an Teneromo vom 1. Juni 1894.)
-- Gott weiß indessen, daß er nichts dazu tat! Er beleidigt die Zaren,
er greift das Vaterland an, „diesen fürchterlichen Götzen, dem die
Menschen ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Vernunft opfern”. („Das
Ende einer Welt.”) -- Man lese in „Krieg und Frieden” das Resümee,
das er aus der Geschichte Rußlands zieht. Es ist eine Galerie von
Scheusälern: „der verrückte Iwan der Schreckliche, der weinselige
Peter I., die ungebildete Köchin Katharina I., die ausschweifende
Elisabeth, der degenerierte Paul, der vatermörderische Alexander I.
(der einzige übrigens, für den Tolstoi trotzdem noch eine heimliche
Zärtlichkeit empfand), der grausame und unwissende Nikolaus I., der
wenig begabte und eher schlechte als gute Alexander II., der dumme,
rohe und unwissende Alexander III., der einfältige Husarenoffizier
Nikolaus II., ein junger Mann, der von Schurken umgeben ist und selbst
nichts weiß und versteht.”

[226] (S. 155): Brief an den widerspenstigen Gontscharenko vom 17.
Januar 1905.

[227] (S. 155): An die Duchoborzen vom Kaukasus, 1898.

[228] (S. 155): Brief an einen Freund, 1900.

[229] (S. 155): An Gontscharenko, 2. Februar 1905.

[230] (S. 156): An die Duchoborzen vom Kaukasus, 1898.

[231] (S. 156): An Gontscharenko, 17. Januar 1905.

[232] (S. 156): An einen Freund, November 1901.

[233] (S. 156): „Es ist wie eine undichte Stelle an einer Luftpumpe;
der ganze Hauch der Selbstsucht, den man aus der menschlichen Seele
heraussaugen wollte, kehrt in diese zurück.” -- Und er grübelt darüber
nach, um zu beweisen, daß man den Originaltext schlecht gelesen hat
und daß der richtige Wortlaut des zweiten Gebots ursprünglich so war:
„Liebe Deinen Nächsten wie Ihn selbst (nämlich wie Gott).”
(Unterhaltungen mit Teneromo.)

[234] (S. 157): Unterhaltungen mit Teneromo.

[235] (S. 159): Brief an einen Chinesen, Oktober 1906.

[236] (S. 159): Tolstoi gab dieser Befürchtung schon in einem Briefe
aus dem Jahre 1906 Ausdruck.

[237] (S. 159): „Es lohnte nicht, den Militär- und Polizeidienst zu
verweigern, um das Eigentum wieder einzuführen, das sich nur mit Hilfe
des Militär- und Polizeidienstes aufrechterhalten läßt. Die Leute, die
diesen Dienst ausüben und aus dem Besitz Nutzen ziehen, handeln
richtiger als solche, die jeden Dienst verweigern und trotzdem am
Genuß des Besitzes teilhaben.” (Brief an die Duchoborzen vom Kaukasus,
1899.)

[238] (S. 159): Man lese in den Unterhaltungen mit Teneromo die schöne
Stelle von dem „jüdischen Weisen”, der so in das Lesen der Bibel
vertieft war, daß er nicht gewahrte, wie die Jahrhunderte über ihm
hingingen und Völker auf der Erde erschienen und von ihr verschwanden.

[239] (S. 160): „Es ist eine furchtbare Sünde, in dem blutigen
Schrecken des modernen Staates den Fortschritt Europas zu sehen, einen
neuen Judenstaat gründen zu wollen.” (Unterhaltungen mit Teneromo.)

[240] (S. 160): Aufruf an die Politischen, 1905.

[241] (S. 160): Brief an Paul Sabatier vom 7. November 1906.

[242] (S. 161): Brief an Teneromo, Juni 1882, und Brief an einen
Freund, November 1901.

[243] (S. 161): „Krieg und Revolution.”

[244] (S. 161): Brief an einen Freund.

[245] (S. 162): Brief an einen Freund. Vielleicht handelt es sich hier
um die von Tolstoi geplante aber von ihm nicht veröffentlichte
„Geschichte eines Duchoborzen”.

[246] (S. 162): „Stellen Sie sich vor, daß alle Menschen, die in der
Wahrheit sind, sich vereinigen und sich zusammen auf einer Insel
niederlassen. Wäre dies das Leben?” (An einen Freund, März 1901.)

[247] (S. 163): 1. Dezember 1910.

[248] (S. 166): 16. Mai 1892. Tolstoi sah damals, wie seine Frau unter
dem Tod eines kleinen Knaben litt, und er wußte nicht, wie er sie
trösten sollte.

[249] (S. 166): Brief aus dem Januar 1883.

[250] (S. 167): „Ich werde niemals jemand vorwerfen, daß er keine
Religion hat. Wenn die Menschen lügen und vorgeben, eine Religion zu
haben, -- das ist das Schlimme.” -- Und an anderer Stelle: „Gott möge
uns davor bewahren, daß wir Liebe heucheln; dies ist schlimmer als der
Haß.”

[251] (S. 167): „Revue des Deux Mondes” vom 15. Dezember 1910.

[252] (S. 167): Ebenda.

[253] (S. 168): An einen Freund, 10. Dezember 1903.

[254] (S. 168): Veröffentlicht im „Figaro” vom 27. Dezember 1910.

[255] (S. 169): Dieser Zustand reicht also bis in das Jahr 1881
zurück, d. h. bis zu dem in Moskau verbrachten Winter, als Tolstoi das
soziale Elend entdeckte.

[256] (S. 172): Brief an einen Freund.

[257] (S. 173): Es scheint, daß Tolstoi während der letzten Jahre und
besonders während der letzten Monate seines Lebens stark unter dem
Einfluß seines ihm treu ergebenen Freundes Wladimir Grigoritsch
Tschertkow stand, der während seines langen Aufenthalts in England
sein Vermögen daran gesetzt hatte, Tolstois gesamtes Werk zu
veröffentlichen und zu verbreiten. Tschertkow ist von einem der Söhne
Tolstois, von Leo Tolstoi, heftig angegriffen worden. Aber wenn man
ihm auch Starrköpfigkeit vorwerfen konnte, so vermochte niemand, seine
völlige Ergebenheit anzuzweifeln; und ohne die manchmal vielleicht
unmenschliche Härte zu billigen, die in gewissen Handlungen, welche
man auf seinen Einfluß zurückführen kann, zutage tritt (wie in dem
Testament, worin Tolstoi seiner Frau jede Verfügung über all seine
Schriften einschließlich seiner Privatbriefe entzog), darf man
glauben, daß er stolzer auf den Ruhm seines Freundes Tolstoi war, als
dieser selbst.

[258] (S. 173): Die „Correspondance de l'Union pour la vérité” hat in
ihrer Nummer vom 1. Januar 1911 einen interessanten Bericht über diese
Flucht veröffentlicht: Tolstoi verließ plötzlich am 28. Oktober (10.
November) 1910, gegen 5 Uhr morgens, Jasnaja Poljana; seine Tochter
Alexandra, die Tschertkow „seine vertrauteste Mitarbeiterin” nennt,
war in das Geheimnis von seiner Flucht eingeweiht. Am nämlichen Tage,
um 6 Uhr abends, langte er an dem Kloster Optina an, einem der
berühmtesten Wallfahrtsorte Rußlands, wohin er früher schon manches
Mal gepilgert war. Hier verbrachte er die Nacht und den Morgen des
folgenden Tages und schrieb einen langen Aufsatz über die Todesstrafe.
Am Abend des 29. Oktober (11. November) ging er nach dem Kloster
Chamordino, wo seine Schwester Marie Nonne war. Er aß mit ihr und
sagte ihr, daß er den Wunsch gehabt habe, das Ende seines Lebens im
Kloster Optina zu verbringen, „wo er sich den niedrigsten Arbeiten
gern unterzogen hätte, jedoch unter der Bedingung, daß er nicht
gezwungen gewesen sei, zur Kirche zu gehen.” Er verbrachte die Nacht
in Chamordino, machte am folgenden Morgen einen Gang in das
benachbarte Dorf, wo er Unterkunft zu nehmen dachte, und kam am
Nachmittag wieder mit seiner Schwester zusammen. Um 5 Uhr traf
unversehens seine Tochter Alexandra ein. Zweifellos benachrichtigte
sie ihn davon, daß sein Zufluchtsort bekannt geworden und man auf
seiner Verfolgung sei; und in der nämlichen Nacht brachen sie noch
auf. „Tolstoi, Alexandra und Doktor Makowitski gingen nach der
Bahnstation Koselsk, wahrscheinlich mit der Absicht, die südlichen
Provinzen, vielleicht die von den Duchoborzen im Kaukasus gegründeten
Kolonien, zu erreichen.” Unterwegs erkrankte Tolstoi auf dem Bahnhof
von Astapowo und mußte sich zu Bett legen. Dort starb er dann.

[259] (S. 176): Tagebuch unter dem Datum des 28. Oktober 1879. -- Der
ganze Abschnitt, der zu den schönsten gehört, lautet: „Es gibt in
dieser Welt schwerfällige Leute ohne Flügel. Diese bewegen sich auf
der Erde. Unter ihnen gibt es starke Naturen: Napoleon. Er hinterläßt
schreckliche Spuren unter den Menschen. Er sät Unfrieden. -- Es gibt
Menschen, die sich Flügel wachsen lassen, sich langsam emporschwingen
und schweben: die Mönche. -- Es gibt leichtbeschwingte Menschen, die
sich mühelos erheben und wieder herabstürzen: die guten Idealisten. --
Es gibt Menschen mit mächtigen Schwingen... -- Es gibt himmlische
Menschen, die aus Liebe zu den Menschen auf die Erde herabsteigen,
ihre Flügel zusammenfalten und die anderen das Fliegen lehren. Dann,
wenn sie nicht mehr nötig sind, steigen sie wieder empor: Christus.”

[260] (S. 176): „Man kann nur leben, solange man trunken vom Leben
ist.” („Beichte”, 1879.) -- „Ich bin lebenstoll... Dies ist der
Sommer, der köstliche Sommer. Dieses Jahr habe ich lange gekämpft;
aber die Schönheit der Natur hat mich besiegt. Ich freue mich des
Lebens.” (Brief an Fet, Juli 1880.) -- Diese Zeilen sind mitten in der
religiösen Krisis geschrieben.

[261] (S. 176): In seinem Tagebuch unter dem Datum des 1. Mai 1863:
„Der Gedanke an den Tod...” „Ich will und ich liebe die
Unsterblichkeit.”

[262] (S. 176): „Ich berauschte mich an diesem vor Entrüstung
schäumenden Zorn, den ich an mir liebe, den ich selber befeuere, wenn
ich ihn spüre; denn er übt eine besänftigende Wirkung auf mich aus und
gibt mir wenigstens für einige Augenblicke zu allen körperlichen und
moralischen Fähigkeiten eine ungewöhnliche Elastizität, Tatkraft und
Glut.” („Tagebuch des Fürsten Nekludow”, -- „Luzern”, 1857.)

[263] (S. 177): Sein Aufsatz über den Krieg anläßlich des allgemeinen
Londoner Friedenskongresses im Jahre 1891 ist eine tüchtige Verhöhnung
der Pazifisten, die an ein internationales Schiedsgericht glauben: „Es
ist die Geschichte von dem Vogel, den man fängt, nachdem man ihm etwas
Salz auf den Schwanz gestreut hat. Er ist vorher ebenso leicht zu
fangen. Den Leuten von Schiedsgericht und Abrüstung mit Zustimmung der
Staaten sprechen, heißt sich über sie lustig machen. Das alles ist
Gerede! Natürlich stimmen die Regierungen zu: die sind die rechten!
Sie wissen es wohl, daß sie das nie hindern kann, doch zu tun was sie
wollen.” („Grausame Vergnügungen.”)

[264] (S. 177): Die Natur war immer Tolstois „beste Freundin”, wie er
zu sagen liebte. Er nahm am Leben der Natur teil, er fühlte sich im
Frühling wie neugeboren („März und April sind für mich die besten
Arbeitsmonate” -- Brief an Fet vom 23. März 1877), im Spätherbst
verfiel er in eine Art von Erstarrung („Es ist für mich die toteste
Jahreszeit, ich denke nicht, ich schreibe nicht, ich fühle mich
angenehm verblödet.” -- Brief an Fet vom 21. Oktober 1869.) -- Aber
die Natur, die innig zu seinem Herzen sprach, war die Natur seiner
Heimat, die Natur von Jasnaja Poljana. Wenn er auch während seiner
Schweizerreise außerordentlich viel Schönes über den Genfer See zu
schreiben wußte und ganz besonders über Clarens und seine Umgebung,
wo ihn die Erinnerung an Rousseau anzog, so fühlte er sich doch
eigentlich in dieser Schweizer Natur als ein Fremder; und die Bande,
die ihn an die Heimaterde fesselten, erschienen ihm viel enger und
herzlicher. -- „Ich liebe die Natur, wenn sie mich von allen Seiten
umgibt, wenn mich von allen Seiten die warme Luft einhüllt, die sich
in der unendlichen Weite ausbreitet, wenn dieses nämliche fette Gras,
das ich beim Lagern niedergedrückt habe, die endlosen Felder begrünt,
wenn diese nämlichen Blätter, vom Windhauch bewegt, mein Gesicht
beschatten, die das dunkle Blau des fernen Waldes bilden, wenn diese
nämliche Luft, die ich atme, den hellblauen Grund des unendlichen
Himmels erfüllt, wenn ich nicht allein die Natur genieße, wenn rings
um mich Millionen von Insekten surren und schwirren und die Vögel
singen. Es ist für mich der höchste Naturgenuß, wenn ich mich an
allem teilhaben fühle. -- Wie schön ist hier (in der Schweiz) die
grenzenlose Weite, aber ich fühle mich ihr nicht verbunden.” (Mai
1857.)

[265] (S. 177): Unterhaltungen mit Paul Boyer („Le Temps” vom 28.
August 1901).

[266] (S. 178): Tagebuch vom 6. Januar 1903.

[267] (S. 178): Brief an Birukow.

[268] (S. 179): „Sewastopol im Mai 1855.”

[269] (S. 179): „Die Wahrheit,... das einzige was mir aus meiner
moralischen Vorstellung geblieben ist.” (17. Oktober 1860.)

[270] (S. 179): 17. Oktober 1860.

[271] (S. 179): „Die Liebe zu den Menschen ist der natürliche Zustand
der Seele, aber wir bemerken es nicht.” (Tagebuch aus seiner
Studentenzeit in Kasan.)

[272] (S. 180): „Die Liebe wird sich der Liebe öffnen...”
(„Beichte” 1879-1881.) -- „Ich, der die Wahrheit mit der Liebe zu
einer Einheit machte...” („Beichte,” 1879-1881.)

[273] (S. 180): „Ihr sprecht immer von der Willenskraft? Aber die
Grundlage der Willenskraft ist die Liebe, und die Liebe läßt sich
nicht so ohne weiteres gebieten”, sagt Anna in „Anna Karenina”.

[274] (S. 180): „Die Schönheit und die Liebe, die beide allein dem
menschlichen Dasein eine Berechtigung geben...” („Krieg und
Frieden.”)

[275] (S. 180): „Ich glaube an Gott, der für mich die Liebe ist.” (An
den Heiligen Synod, 1901.) „Ja die Liebe!... Nicht die selbstsüchtige
Liebe, sondern die Liebe, wie ich sie das erstemal in meinem Leben
erfahren habe, als ich meinen Feind sterbend neben mir gewahrte und
ihn liebte... Das ist das eigentliche Wesen des Herzens. Seinen
Nächsten lieben, seinen Feind lieben, alle und jeden lieben, heißt
Gott in allen seinen Offenbarungen lieben!... Ein Wesen lieben, das
uns teuer ist, bedeutet menschliche Liebe, aber seinen Feind lieben,
das bedeutet fast göttliche Liebe...” (Der sterbende Fürst Andrej in
„Krieg und Frieden”.)

[276] (S. 180): „Die leidenschaftliche Liebe des Künstlers für seine
Schöpfung ist der Kern der Kunst. Ohne Liebe ist kein Kunstwerk
möglich.” (Brief aus dem September 1889.)

[277] (S. 181): „Ich schreibe Bücher, daher weiß ich, wieviel Übel sie
anrichten können...” (Brief an das Oberhaupt der Duchoborzen, 1898.)

[278] (S. 182): Vergleiche „Der Morgen des Gutsherrn” oder
„Beichte”, wo jene einfachen, guten, ruhigen und mit ihrem Schicksal
zufriedenen Menschen als Idealgestalten gesehen sind, -- oder am
Schluß des zweiten Teils der „Auferstehung” die Vision von einer
neuen Menschheit und einer neuen Erde, die Nekludow hat, als er
Arbeitern begegnet, die von der Arbeit kommen.

[279] (S. 183): „Ein Christ kann dem andern moralisch weder überlegen,
noch unterlegen sein; aber er ist um so christlicher, je schneller er
sich auf dem Weg der Vollendung bewegt, auf welcher Stufe er sich auch
zur gegebenen Zeit befinden mag. So ist die ständige Tugend des
Pharisäers weniger christlich als die Tugend des Schächers, dessen
Herz sich mit Macht zum Höchsten wendet und der an seinem Kreuz
bereut.” („Grausame Vergnügungen.”) --



BILDERVERZEICHNIS


                                                           Gegenüber
                                                               Seite

1. Tolstoi nach einem Bildnis von Kramskoi, 1873                   V

2. Tolstoi mit seinen Brüdern nach der Rückkehr aus dem Kaukasus,
   vor der Abfahrt zur Don-Armee im Jahre 1854                    16

3. Tolstoi vor der Abreise nach dem Kaukasus                      32

4. Tolstoi im Jahre 1854                                          48

5. Tolstoi im Jahre 1906                                          64

6. Tolstoi und seine Frau, die Gräfin Tolstoi                     80

7. Tolstoi und seine ältere Tochter Tatjana                       88

8. Tolstoi und seine jüngere Tochter Alexandra                    96

9. Tolstoi im Jahre 1909                                         104

10. Tolstoi beim Tee mit den Bauern im Jahre 1909                112

11. Tolstoi in seinem Arbeitszimmer                              120

12. Tolstoi zu Pferde                                            128

13. Tolstoi auf dem Lande                                        136

14. Tolstoi im Jahre 1910                                        144

15. Tolstoi mit seinem Freunde Tschertkow                        160

16. Tolstois Grab auf Jasnaja Poljana                            176



INHALTSÜBERSICHT


                                                               Seite

Einleitung                                                         1

„Die Geschichte meiner Kindheit”                                  22

„Geschichten aus dem Kaukasus”                                    25

„Die Kosaken”                                                     27

„Sewastopol”                                                      33

„Drei Tode”                                                       47

„Eheglück”                                                        50

„Krieg und Frieden”                                               55

„Anna Karenina”                                                   65

„Beichte” und religiöse Krisis                                    75

Soziale Krisis: „Was sollen wir denn tun?”                        87

Wissenschaft und Kunst                                           100

Die „Volkserzählungen”                                           119

„Die Macht der Finsternis”                                       121

„Der Tod des Iwan Iljitsch”                                      124

„Die Kreutzersonate”                                             126

„Auferstehung”                                                   135

Die sozialen Ideen                                               143

Die letzten Lebensjahre                                          158

Epilog                                                           175

Anmerkungen                                                      185

Bilderverzeichnis                                                220


                      In ähnlicher Ausstattung
                    erschien im gleichen Verlage

                          Romain Rolland

                      Das Leben Michelangelos

                        Mit 24 Bildertafeln

                            60. Tausend


                            Romain Rolland

                           Meister Breugnon

                          Ein fröhliches Buch

                    Geheftet 18 Mark, Pappband 28 Mark
                      in Halbleder gebunden 50 Mark
                           ($unverbindlich$)

                           Bisherige Auflage
                           55 000 Exemplare

_Seit dem unsterblichen „Onkel Benjamin” von Claude Tillier ist so
kein Buch geschrieben worden. So leicht und so schwer, so ernsthaft
und so froh. Unphilosophisch und unpolitisch sei das Buch, so sagt
der Verfasser im Vorwort, dabei spricht köstlichste, das Dasein
bejahende Philosophie aus jeder Zeile, und neben der lachenden
ernsten Weltanschauung, die sich unter einem Mantel von Scherzen und
Derbheiten verbirgt, steht auch manches politisch feine und kluge
Wort. Wie dieser Bildschnitzer und Künstler des 17. Jahrhunderts
lachenden Mundes über die großen und kleinen Beschwerden des Lebens
dahinschreitet, wie er Pest, Krieg, Tod an sich vorbeilaufen läßt
und bei allem Ungemach immer den Schelm im Nacken sitzen hat, das
kann nur ein ganz wundervoller, innerlich freier Mensch, der selbst
Ähnliches erlebt und bezwungen hat, so schildern._

                                                          _„Die Hilfe”_

                              RÜTTEN & LOENING
                              FRANKFURT A. MAIN


                                Stefan Zweig

                               Romain Rolland

                            Der Mann und das Werk

                  Mit 6 Bildnissen und 3 Schriftwiedergaben

              _Geheftet 27 Mark, in Halbleinen gebunden 35 Mark_

_Dies Buch kommt jetzt zur rechten Zeit. Über Rolland als Menschen,
seine geistige Gestalt und ihre Bedeutung für diese Zeit hat Stefan
Zweig in seinem schönen, aus Liebe und Ehrfurcht entstandenen Buche
Worte gesagt, welche stehenbleiben werden._

                                  _Hermann Hesse in „Wissen und Leben”_


                            Romain Rolland

                          Musikalische Reise
                      ins Land der Vergangenheit

              Mit siebzehn Bildnissen nach alten Vorlagen

          _Geheftet 45 Mark, in Halbleinen gebunden 60 Mark_

_Dieses Buch ist einer Übergangszeit gewidmet, in der sich das moderne
musikalische Empfinden vorbereitet. In den sieben Kapiteln malt Rolland
auf dem Hintergrund der ganzen Kultur-, Sitten- und Geistesgeschichte
des 17. und 18. Jahrhunderts die Bildnisse der großen Musiker ganz
Europas, die von ihren Mitlebenden zu Unrecht verkannt und von der
Nachwelt größtenteils vergessen worden sind. Alle diese Männer sind
„verwegene Moderne” in unserem heutigen Sinn. Schon darum stehen sie
unserem Herzen besonders nahe. Rolland, der unerbittlich Gerechte, zeigt
uns, wie die deutschen unter ihnen der deutschen Musik den Platz an der
Spitze der europäischen Musik erobern. Künstler wie Telemann mit ihrem
starken Sinn für das Leben sind die Vorbereiter eines Haydn, eines
Mozart, eines Beethoven, und man muß sie kennenlernen, weil man sonst
die großen Klassiker als Wunder anstaunen würde, während sie die
logische Folge eines ganzen Jahrhunderts von genialen Begabungen sind._

                  ($Die Preise sind unverbindlich$)

                        Rütten & Loening
                        Frankfurt a. Main



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  | Anmerkungen zur Transkription                                    |
  |                                                                  |
  | Inkonsistenzen wurden nicht geändert, wenn beide Schreibweisen   |
  | mehrfach verwendet wurden oder gebräuchlich waren, wie:          |
  |                                                                  |
  | andern -- anderen                                                |
  | Dreyfusaffäre -- Dreyfus-Affäre                                  |
  | Fortschrittes -- Fortschritts                                    |
  | Gesichtes -- Gesichts                                            |
  | Kreutzersonate -- Kreuzersonate                                  |
  | shakespearesch -- Shakespearesch                                 |
  |                                                                  |
  | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen:                  |
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  | S. 4    "religöse" in "religiöse" geändert.                      |
  | S. 7    "Katherinas" in "Katharinas" geändert.                   |
  | S. 13   "Epikuräer" in "Epikureer" geändert.                     |
  | S. 22   "Piatigorsk" in "Pjatigorsk" geändert.                   |
  | S. 36   "Kniee" in "Knie" geändert.                              |
  | S. 47   "Tryptichon" in "Triptychon" geändert.                   |
  | S. 55   "Odysee" in "Odyssee" geändert.                          |
  | S. 72   "Philantropentum" in "Philanthropentum" geändert.        |
  | S. 87   "Zufluchtstätte" in "Zufluchtsstätte" geändert.          |
  | S. 97   "indem" in "in dem" geändert.                            |
  | S. 91   "zu tiefst" in "zutiefst" geändert.                      |
  | S. 106  "Boecklin" in "Böcklin" geändert.                        |
  | S. 119  "immernoch" in "immer noch" geändert.                    |
  | S. 128  "Eigentich" in "Eigentlich" geändert.                    |
  | S. 132  "Pathéthique" in "Pathétique" geändert.                  |
  | S. 132  "C-Moll-Symphonie" in "C-Moll Symphonie" geändert.       |
  | S. 147  "Sie" in "sie" geändert.                                 |
  | S. 185  "warin" in "war in" geändert (Fußnote 3).                |
  | S. 186  Anführungszeichen ergänzt (Fußnote 23)                   |
  | S. 189  Anführungszeichen ergänzt (Fußnote 57)                   |
  | S. 189  "philantropischen" in "philanthropischen" geändert       |
  |         (Fußnote 65).                                            |
  | S. 191  Anführungszeichen ergänzt (Fußnote 77)                   |
  | S. 199  "Mark-Aurel" in "Mark Aurel" geändert (Fußnote 125)      |
  | S. 199  Anführungszeichen ergänzt (Fußnote 125)                  |
  | S. 200  "Daguerrotyp" in "Daguerreotyp" geändert (Fußnote 136).  |
  | S. 200  "Rechtümer" in "Reichtümer" geändert (Fußnote 139).      |
  | S. 201  Anführungszeichen ergänzt (Fußnote 141)                  |
  | S. 202  "angeborner" in "angeborener" geändert (Fußnote 144)     |
  | S. 207  "etwa" in "etwas" geändert (Fußnote 190).                |
  | S. 219  Anführungszeichen ergänzt (Fußnote 279)                  |
  |                                                                  |
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