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Title: Die Tote und andere Novellen
Author: Mann, Heinrich
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Tote und andere Novellen" ***


                           Novellen in Gelb
                                Band 3



                             Heinrich Mann
                               Die Tote
                          und andere Novellen


                     O. C. Recht Verlag / München

                       Alle Rechte vorbehalten.

                           Copyright 1921 by
                      O. C. Rechtverlag, München

                    Titelzeichnung: Ottomar Starke



Die Tote


I.

Als am Ende des Sees der Zug hielt, stieg Leo Cromer, ohne die Gedanken an
die gehabte Beratung abzubrechen, aus, ging in dem Mondlicht um den
Schuppen herum, der eine Bahnhofshalle bedeutete, und betrat den dunklen
Baumgang. Einmal erhob er den Kopf; hinter den Stämmen das Wasser lag weiß
wie Gewebe des Lichts, die Ufer schienen unwirklich, die Stille ein
Geschrei von Geistern . . . Dies war der dichtere Schatten seines eigenen
Grundes, er stand und atmete die verborgene Wärme, das tiefe Alleinsein.
Dahinten, zu Wolken versilberten Laubes hinab, stieg die flimmernde Treppe
seines Hauses, die Vasen rannen über von Licht, die Stufen hernieder ging
es wie eine Schleppe. Sie ward bewegt! Aus ihren Falten neigte sich ein
Fuß! . . . »Was heißt das?« dachte Cromer. »Jetzt habe ich also Gesichte?
Ich scheine nicht eben glücklich zu sein -- wenn gerade sie sich mir
zeigt?« Er fragte noch: »Wäre ich es denn zufrieden, daß sie, wie früher,
wenn ich aus der Stadt heimkam, bei dem Busch dort auf mich zuträte? Bin
ich schon alt und müde genug, um billig zu sein und mich zu bescheiden?
. . . Sie hat wohl gebüßt,« sagte er; aber er hob die Schultern. »Buße? Ein
Wesen wie sie, stirbt aus Zorn, seiner Selbstachtung zuliebe, oder einfach
um des guten Abgangs willen. Nicht für mich ist sie gestorben! Ich habe ihr
nicht zu danken gehabt. Ich habe nichts bereut.«

Auf der Terrasse angelangt, wendete er sich nochmals um; er sah aufwärts
und hinab, zu dem Garten, der dunkel duftete, und in die breiten
Sternenströme des Augusthimmels. »Wer schlafen geht, versäumt viel, -- aber
auch, wer denken und handeln geht . . . Unsereiner weiß dies von vormals;
ganz erfaßlich sind solche Nächte nicht mehr für uns . . . Was für Gedanken
übrigens bei jemand, der geradeswegs aus einer Versammlung von
Machtmenschen kommt! Ich kenne mich längst, die Fragen sind erledigt, ich
habe nichts versäumt, was mir gegeben war. Erfolge: ich habe sie gekannt.
Ich habe mit Menschen übergenug zu tun gehabt, ich habe Frauen und Männer
erobert und niedergekämpft, habe vielen die Spur meines Daseins
aufgedrückt, die mich hassen oder lieben mußten. Ich habe selbst gehaßt,
selbst geliebt.«

Er zog sich gegen die Fassade zurück, in den Schatten eines Pilasters. »Wie
dies alles schal wird, sobald man es sich rühmen möchte! Wie es zerrinnt!
Menschen: habe ich denn mehr bei ihnen erfahren, als ein kraftloses und
schmerzliches aneinander Hingleiten? Das Leben ist vergangen wie eine
Diskussion im Klub; man hat einander amüsiert oder weh getan, zum Schluß
aber steht jeder auf, mit seiner Meinung. In Wahrheit habe ich keinen Mann
überzeugt, keine Frau ganz gewonnen, habe niemand je zu mir
herübergebracht.«

Angstvoll folgte sein Blick der Bahn der Sterne, die herabstürzten aus dem
wimmelnden Schein, und die, bevor das Auge sie erfaßte, schon im Dunkel
waren. »Die Menschen halten einander nicht. Ich habe Lida nicht gehalten.
Woher der bittere Geist, der Seelen nehmen will und doch nicht an sie
glaubt! Ich habe lieber verworfen als standgehalten, und bessere Augen für
den Verrat gehabt als für die Hingabe. Lida wenigstens ist mir die Antwort
nicht schuldig geblieben, die Toten haben das letzte Wort. Da stehe ich nun
. . .«

Und er dachte an die längst Vergangene, so nahe, als triebe der
Geisterstrom des Mondlichts, in das er hinausstarrte, ihn bis zu dem Ufer,
wo ihr Schatten wartete. Sie war das glänzende Glück seiner ersten reifen
Jahre gewesen. Er hatte Erfolge gehabt, die bekannt wurden; diese Liebe,
die er entgegennahm, trug zum erstenmal Zeichen von Tribut und Lohn. Aber
auch er huldigte ihrer weltlichen Geltung, dem Reichtum an Bewunderung, dem
die schöne Schauspielerin gebot. Sie liebten einander, wie Geist und Sinne
den Vollbesitz des Lebens lieben. Ihre Beziehungen waren unsentimental und
darum gefährdet bei jedem Versagen. Monate lang getrennt durch ihre
Gastspiele und seine politischen oder Geschäftsreisen, erwarteten sie
einander immer nur auf der Höhe und den Ereignissen überlegen. Probleme?
Jeder von ihnen hatte sie bei anderen abtun können; zwischen ihnen beiden
lagen keine, sie hätten sonst, anstatt ihre Heirat zu erwägen, einen
raschen Strich gezogen. Warum nur, bei solchem Einverständnis, die
unvermittelte Befangenheit seit ihrem letzten Gastspiel, das Erzwungene
jenes Briefes, und als sie zurückkam, das unklare Wesen? Er glaubte an
Mißerfolg, Krankheit, Geldverluste, nur nicht an das, was dann in der
Abschiedsszene wund und verworren endlich aus ihr hervorkam, weil er es
hervorzerrte. Sie hatte ihn betrogen. Wozu betrogen? Sie war frei, war
stolz, nichts nötigte sie, zu berechnen und zu lügen. Sie war vor ihm
zusammengebrochen und weinte -- und er empfand, was er mit ihr, mit ihr nie
hätte empfinden dürfen, Mitleid, ein verachtungsvolles Mitleid. Er drehte
ihr den Rücken. Gleich nachdem er ihre Wohnung verlassen hatte, geschah das
Unglück.

Ein gewöhnlicher Unglücksfall. Die Frau, die nun nicht mehr da war, hatte
sich selbst verloren, bevor er sie verlor. Ihr Ende war äußerlich,
schattenhaft; ihn, der als Freund einer beliebten Künstlerin an ihrem Sarge
repräsentierte, ging es noch weniger an als die anderen. Was ihm übrig
blieb, war Bitterkeit, Zorn und eine Vermehrung seiner Zweifel am Leben
selbst. Man konnte noch gewinnen, man konnte nicht mehr glauben, zu
besitzen . . . Dennoch hatte er wieder geliebt, Zwischenfälle, die auch
schon dahin waren. »Ebenso gut könnte ich der oder jener gedenken, warum
ihrer? Ist es, weil sie sterben mußte, und weil solche süße und weiße Nacht
werben möchte für den Tod? Es ist wahr, sie kam als Letzte, bevor ich
alterte. Aber noch jetzt bin ich weit von fünfzig.«

Er trat in das Haus; es schien ihm erfüllt von einem Duft, wie wenn das
Mondlicht geduftet hätte. Durch das offene Fenster seines Zimmers fiel es
auf die Wand, scharf abgegrenzt und weiß wie ein Spiegel. Er ging im
Dunkeln zu Bett, suchte aber nicht einzuschlafen. Es schien ihm
eigentümlich nutzlos, Verzicht zu leisten auf dieses ungewollte
Lebendigwerden toter Stunden, toter Augen. Sie waren da, viel eher konnten
Stunden und Gesichter des bevorstehenden Tages ausbleiben als sie. Sie war
da! Ihre Augen waren da, ihr Lächeln kühn und lockend wie je! Aus der Tür
ihres Zimmers hervorgetreten, stand sie in einer fremden Helligkeit ihm
wirklich gegenüber und sah ihn an! Er fuhr auf: »Lida!« -- und ihm setzte
das Herz aus. Da begriff er, daß es nichts war als ihr Bild, die große
Photographie, die er nach ihrem Tod aus seiner Nähe entfernt hatte. Das
Mondlicht war dorthin gerückt, scharf begrenzte es das Bild. Wie aber kam
das Bild auf die Tapetentür, genau auf die Tür? Cromer sah nach; Das Bild
war unbeweglich; unten versperrte es den Türgriff, man konnte nicht öffnen.
Er drehte die Beleuchtung auf. Durch zwei kleine Löcher in der Tapete lief
eine Schnur hin und zurück und in die Ringe am Rahmen. Er wollte einen der
Knoten lösen: da war es keine Schnur, es waren viele Fäden, seltsam weich
und zäh. Er riß; das Bild stürzte, und in der Hand hielt Cromer eine lange
goldblonde Haarsträhne.

Darauf sah er in das Gesicht der Toten. Er fragte: »Wozu dies, da es
unmöglich ist. Wozu Rätsel aufgeben, die keine sein können . . .« Dennoch
zögerte sein Gedanke, nicht anders als sie, die Tote, dastand und zögerte.
Sie hielt eine Hand, eine ihrer vielsagenden Hände am Saum eines Vorhanges,
den sie nicht öffnete. Den Kopf verheißend zur Schulter geneigt, die Augen
so wissend in ihrer Umschattung, und dieses Lächeln der gelösten Lippen, --
aber sie öffnete nicht den Vorhang. Er zuckte die Achseln. Die Haarsträhne
ließ er nochmals sachlich durch die Finger gleiten, dann warf er sie zu dem
Bild. Mochten es Frauenhaare sein, so waren es doch nicht ihre. Er hatte
sich keine von ihr zurückbehalten, er war weit davon entfernt gewesen. Sein
Diener, ein eifriger Mensch, hatte in der kurzen Zeit seines Hierseins
schon mehrere Zeichen von Selbständigkeit gegeben. »Er hat es richtig
gefunden, mich mit dieser Neuerung zu überraschen. Die Art der. Befestigung
ist auffallend. Immerhin ist er jung und offenbar romantisch. Ich werde ihn
auffordern müssen, es weniger zu sein.« Er wollte läuten, zog aber die Hand
zurück. »Bin ich denn neugierig? Welchen Zweck hätte es, in der Nacht ein
Gespräch vor diesem Bild zu führen?« Er zuckte die Achseln, stärker als das
erste Mal, und ging ernstlich schlafen.


II.

Gleich beim Eintritt sah der Diener das Bild, das am Boden lehnte. Er
stutzte, sein eifriges, blondes Gesicht erschrak, und er schien dem Bilde
seine Mißbilligung auszudrücken, weil es seinen ordentlichen Platz
verlassen hatte. »Er müßte schon ein guter Komödiant sein,« dachte Cromer,
»sonst ist er eine wohlgeratene Dienerseele.« Er sagte: »Philipp, Sie
bringen mir den Tee ohne die Schürze, die Sie anhaben.« Der junge Mensch
betrachtete seine Schürze, blinzelte mit seinen geröteten Lidern und
erwiderte: »Beim Herrn Grafen von Alten kam ich in der Schürze.« Nein, er
verstellte sich nicht, die natürliche Erklärung des Vorfalles schien
mißlungen. Aber Cromer fühlte nicht das Bedürfnis, eine fernerliegende zu
suchen. Auf der Fahrt zur Stadt verlor er die Sache aus dem Gesicht.

Warum war er dennoch gegen Abend wieder draußen? Er versäumte sogar eine
Verabredung zum Essen. Leichter Kopfschmerz? Ruhebedürfnis? Gewiß; darum
schien es aber nicht nötig, den Garten zu durcheilen, als wartete Jemand.
Es war noch hell, Haus, Wege und Terrasse lagen nackt und klar unter blauem
Himmel. Im Zimmer an der Tapetentür -- nein, nichts, ganz
selbstverständlich nichts. Aber wenn begreiflicherweise niemand und nichts
auf ihn gewartet hatte, blieb doch zu bemerken, daß er selbst nicht frei
von Spannung gewesen war -- und vielleicht nicht frei von Hoffnung? »Wäre
es mehr als Kinderei, wenn ich etwas zu erleben wünschte, was eine
Fortsetzung des gestern Erlebten wäre? . . . Ach! Das Beunruhigende ist
keineswegs, daß ein Bild ohne erkennbaren Grund den Platz gewechselt hat,
sondern meine gleichzeitigen Gedanken. Indes sie kam, fühlte ich sie
kommen,« sagte er halblaut und mit Kopfschütteln. »Anderen soll ein
Sterbender von fern sich ankündigen, wenn sie ihn nur genug liebten. Ich
habe eine bevorstehende Rückkehr geahnt.« Denn es lag in ihm, trotz seinem
besseren Wissen, als hätte er ihre Spur berührt und von ihrem sich wieder
belebenden Schatten ein Zeichen erhalten. Das bessere Wissen sagte:
»Vorgefühl und Gesichte heißen mit ihren ehrlichen Namen Sehnsucht und
Reue. Man lebt nicht ungestraft ein illusionsloses und ungläubiges Leben --
nicht ungestraft, wenn man weder einen leichten Kopf noch ein stumpfes Herz
hat. Der Augenblick ist wohl gekommen, wo ein Wesen mir nicht unwillkommen
wäre, das ich verachtet und verworfen hatte.«

Er stand vom Stuhl auf, er wiederholte sich sein Geständnis am anderen Ende
des Zimmers, als müßte es dort anders klingen. Aber er vernahm nur immer
den Zweifel, ob es denn nötig war, daß sie starb. Da hielt er schon das
lederne Kästchen in Händen, mit ihren Briefen. Er las -- und er fand es
sonderbar, wieder ganz diesen Tonfall zu hören, als sei er erst gestern
ausgeklungen. Angesichts ihrer großen, raschen Schrift traten einem
unverhofft die wechselnden Mienen ihres im Ausdruck geübten Gesichtes
wieder vor Augen. Alle ihre früheren Mitteilungen waren offen, ohne
Rückhalt, und glichen so wenig diesen letzten, andeutungsvollen,
fieberhaften. Von dem ganzen Gastspiel nur der eine Brief -- und aus ihm
bebte die Hast des Zusammenraffens von Ruhm, Geld, Lebensgefühl.
Feststimmung jeden Abend, nach dem zweiten ihr Kontrakt verlängert, ihr
Auto vor dem Bühneneingang immer umlagert. Den Erfolgen entsprachen die
Huldigungen, und des Nachts hieß es, Rollen lernen. Jagd des Vergnügens,
Jagd der Arbeit, nie schnell genug, nie ergiebig genug -- aber mitten darin
etwas wie ein Atemstocken, verhaltenes Erschrecken: es ist nicht mehr weit
. . . »Wie lange soll dies alles noch dauern?« fragte sie. »Manchmal habe
ich es satt zum Sterben -- und sehne mich nach etwas, das kein Erfolg wäre,
kein Triumphieren, o, durchaus kein Triumphieren! Es muß Dinge geben, die
stärker sind als unser Wille: hier, gestern, bin ich zum erstenmal darauf
gestoßen worden; kann sein, daß ich noch mehr erfahre, etwas wie eine
Niederlage; denn Erlebnisse, die wir weder beherrschen, noch verstehen,
sind doch Niederlagen?«

Welch tiefinnere Überreiztheit, diese verderbte Neugier nach der
Selbstaufgabe! Cromer ward gequält davon, wie damals, beim ersten Lesen. Er
sah lange durch die offene Gartentür hinaus in die grau dämmernde Luft. Als
er zu dem Brief zurückkehrte, ließ sich im Zimmer nur schwer noch lesen. Er
entzifferte: »Der Herr, der mich auf diese Gedanken gebracht hat, scheint
an sich selbst nicht sehr empfehlenswert. Er sieht aus wie . . .« Hier ward
das Blatt geknickt von einem Luftzug, der so plötzlich einsetzte, als sei
auch die Tür im Hintergrund geöffnet worden. Sie stand offen; Cromer, der
niemand eintreten sah, tat eine raschere Bewegung, sein Stuhl fiel um. »So
finde ich doch Menschen hier?« sagte eine Stimme, -- und von der Farbe des
Schattens und schlecht aus ihm herausgelöst, zeigte sich eine Gestalt, die
auf hohen Beinen einen kaum erkennbaren Körper fortbewegte. Zwei lange
Schleichschritte, ein zuckendes Anhalten, und wieder ein Anlauf, mit
Verbeugungen über jeden Schritt des linken oder rechten Beins: so kam es
herbei. Cromer, im unwillkürlichen Drang, es aufzuhalten, drehte die
Tischlampe an; der grelle Schein fiel genau auf die Gestalt, da stand sie.
Cromer sah einen großen und scharfen Kopf, der spöttisch grüßte, und, mit
seinen Brillen funkelnd, sagte: »Ich komme wegen des Hauses. Es ist zu
verkaufen.« Und auf Cromers trockenes Nein: »Wie, nicht zu verkaufen? Man
hätte mich falsch berichtet . . .? Oder, die Wahrheit zu sagen. --« Der
Besucher spreizte die Hand, mit einer bedeutsamen Rundung zwischen Daumen
und Zeigefinger. »Vielleicht hat niemand mich berichtet. Nur meine
Einbildung verhieß mir, dies Haus, abseits und verschollen« . . . Er
wiederholte: »Verschollen . . . Genug, ich ziehe mich zurück. Es war dunkel
überall, kein Mensch trat mir entgegen, Verzeihung für mein Eindringen, ich
bin . . .« Er murmelte, sich abwendend, etwas wie einen Namen, wobei er den
gefalteten Sommermantel wieder hinaufschob auf die Schulter, die höher
schien als die andere. Dabei zögerte er und spähte die Wand hinan. Auch
Cromer wendete sich hin -- und er fuhr zurück, das Bild sah ihn an, ihr
Bild, mit ihrem kühnen und lockenden Lächeln, an dem Vorhang, aus dem sie
kam, oder in dem sie verschwinden sollte.

»Ihnen ist unwohl?« fragte der Besucher. Cromer faßte sich.

»Nein.« Seiner noch nicht sicher, setzte er hinzu: »Sie scheinen das Bild
wiederzuerkennen?«

»Nicht im geringsten.« Der Besucher spreizte schon wieder bedeutsam die
Hand. »Höchstens, daß es mich erinnert hat, an eine berühmte
Schauspielerin, die ich kannte.«

»Die Sie kannten.«

»Will sagen, ich weiß nicht einmal, ob sie berühmt war. Ich bin kein
Weltmann.« Dabei lächelte er bescheiden und geistreich. »Aber es gibt
Stunden, und eben Frauen, wie jene, die mir einmal begegnete, haben wohl
solche Stunden, da spricht man zu einem Erstbesten, was man nicht einmal zu
sich selbst sprechen würde -- geschweige zu seinem Nächsten.«

Hier schien sein Blick hinter den Gläsern den Tisch zu streifen, mit den
Briefen darauf, ihren Briefen. »Wollen Sie sich nicht setzen?« sagte
Cromer.

»Danke. Ich verweile nicht ungern ein Wenig. Der Zug fährt erst in einer
halben Stunde hier vorüber. Ich bin ermüdet vom Reisen. Eine Reise, das
Leben,« sagte er und legte, einer Anerkennung gewärtig, die rasierten
Lippen in Falten. Cromer wechselte ungeduldig den Platz. »War es denn so
bemerkenswert, was die Dame Ihnen erzählte?« fragte er nachlässig. Der
Besucher machte es sich bequem, er stützte den schwachen Körper gegen seine
umeinander gewundenen Beine, ließ eine Hand, die schmale Hand eines
Verkrüppelten, über das Knie hängen, und lugte hervor unter seiner
niedrigen, aber umwölkten Stirn, in die Löckchen fielen.

»Bemerkenswert?« sagte er klangvoll und mit runder Aussprache. »Keineswegs
für den Freigeist, der ich bin. Aber wenn Sie es hören wollen, wohlan denn!
Ich glaube nicht, daß die berühmte Schauspielerin mir zürnen würde. Sehr
wahrscheinlich, daß sie alles nur in der Phantasie erlebt und es längst
wieder vergessen hat . . . Sie war damals der Gast eines kleineren
Theaters, dessen Spielplan sie unbedingt beherrschte. Sie hatte sich Rollen
mitbracht, darunter eine, die nirgends erprobt und niemanden bekannt war.
So wenigstens sagte sie mir -- und setzte hinzu, daß trotzdem in einer
Gesellschaft ein Unbekannter ihr den Inhalt eben dieser Rolle deutlich
vorhergesagt habe, ihn ohne weiteres erraten habe aus ihrem Gehaben, aus
unmerklichen Zeichen, einem Lachen, einem Nichts . . . Eine
Taschenspielerei, wie? Die Künstlerin -- man begreift, eine Künstlerin --
kann es nicht so leicht nehmen, wie sie möchte. Der Unbekannte verfolgte
sie nun.«

Der Unbekannte auf dem Stuhl dort lächelte durchdringend. Oben auf seinen
Wangen war ein wenig Röte erschienen. »Sie spielt die Rolle, die er erraten
hatte, und glaubt ihn im Theater. Sie spielt matt, wie betäubt! mit einem
Schlag wacht sie auf, legt los, erreicht alles, was sie will! Nachher
erfährt sie . . .« Der Unbekannte stieß die Worte einzeln aus, er
punktierte sie mit seinen langen Fingern auf dem Knie, und sein spitzes
Gesicht ward unerbittlich anzusehen. »Bei dieser Szene hatte er das Haus
betreten . . . Hier faßt sie die Angst, zum erstenmal echte Angst; sie
schilt sich aus, weil sie versucht ist, abzureisen, nur um nie dem Menschen
wieder zu begegnen, -- der übrigens persönlich nicht weniger unheimlich
gewirkt haben soll, als durch seine Taten.« Das Lächeln des Unbekannten
ward feucht und krampfhaft, ein Lächeln, gemacht aus Bosheit, Eifer und
Scham.

Cromer sagte nach einer Pause: »Natürlich ist sie nicht abgereist.«

»Weit entfernt! Menschen von Rasse sind nicht feige vor dem Unerklärlichen
-- vor dem scheinbar Unerklärlichen! Sie weicht ihm aus, jenem Wesen,
leider hilft es nichts. Ein Abend erscheint, an dem sie in ihrer Garderobe
sitzt, im ersten Stock des Theaters, dies ist wichtig, und bis ihr
Stichwort kommt, noch einmal ihre Rolle durchliest. Das Buch liegt im
vollen Licht der Lampe, die über dem Toilettetisch hängt, aber auf einmal
ist ein Schatten darauf. Die Künstlerin erkennt eine Nase, eine gewisse
lange, gebuckelte Nase, ihr nur zu wohl geläufig.« Und der Unbekannte
hielt, wie zur Erläuterung, sein eigenes Profil hin. »Aufspringen, schreien
-- das tut sie nur innerlich. In Wirklichkeit wendet sie ruhig den Kopf und
sagt: »Wie kommen denn Sie dahin?« Seltsam, er ist nicht da, niemand ist
da. Sie kehrt zu dem Buch zurück, das weiß und leer ist. Kaum aber will sie
lesen, schiebt sich wieder der Schatten darauf. Da ist sie freilich vom
Stuhl gefahren, hat alles durchsucht in dem Raum, das Fenster aufgerissen,
aber es lag zu hoch und in einer glatten Mauer. Die Künstlerin weiß nicht
mehr ein noch aus, ihr schwindelt, sie wäre einfach davongelaufen; zum
Glück klopft der Inspizient an und holt sie. Er geht vor ihr her über die
Treppe, es ist halbdunkel, und merkwürdigerweise weiß sie, daß soeben
jemand hinuntergehuscht ist, an ihr vorbei, wenn sie auch nichts gesehen
hat. Und sie ist nicht im geringsten überrascht, daß auf der Bühne statt
ihres Partners ein anderer steht: man weiß schon, wer. Sie spielt
wahnsinnig aufgepeitscht, wie vor einer Katastrophe, wie um das Leben. Man
sagte, daß sie gut sei. Hinter der Szene trifft sie den Direktor, der
klatscht. Sie fragt ihn: »Warum haben Sie mir denn im letzten Auftritt
einen anderen Partner hingestellt?« Und er ganz verblüfft: »Einen anderen?«
worauf sie macht, daß sie fortkommt.«

Der Unbekannte stand auf. »Da wäre wohl mancher gelaufen. Ich selbst,
nachdem ich Ihnen alle diese Märchen aufgetischt habe, weiß nichts anderes
mehr, als das Weite zu suchen. Leben Sie wohl!«

»Einen Augenblick!« Cromer trat drohend auf ihn zu. »So schließt die
Geschichte nicht.«

Da sah er, daß durch die Brillengläser des Unbekannten eine Flamme stach.

»Möglich, daß sie nicht so schließt. Die schöne und berühmte Künstlerin
fiel gewiß, je schöner und berühmter sie war, um so unrettbarer in die
Macht jenes Unbekannten. Das sind Affären, zu denen kein Blick mehr
reicht.«

Und er ging. Cromer kam ihm zuvor, stieß die Tür auf und überraschte
dahinter seinen Diener. »Geleiten Sie den Herrn hinaus,« sagte Cromer; aber
der junge Mensch blinzelte fragend, rührte sich nicht und sah nicht einmal
hin, als der Besucher vorüberkam. Cromer selbst öffnete ihm das Haus und
auch draußen blieb er dicht hinter ihm.

»Liebliche Nacht,« sagte der Unbekannte. »Man durcheilt sie, war da und
kehrt nie wieder. Aber ich habe nun doch auf Ihrem Stuhl gesessen; und von
jetzt an, so oft Sie in Ihrem Zimmer jenes Bild wiederfinden --. Ah!
Niemand hat das Recht, zu glauben, daß die Menschen nur aneinander
vorbeistreifen und nichts sei geschehen.«

Damit stieg er spinnenartig aus der Gartenpforte. Vor Cromer hielt er sie
zu. »Ich höre meinen Zug schon. Wenn Ihr Haus zum Verkauf steht, sehen Sie
mich wieder.« Und er verschwand im Schatten. Cromer ging schnell zurück, um
nach dem Polizeipräsidium zu telephonieren, man möge das Individuum im
Bahnhof erwarten. In der Nähe des Hauses zögerte er, er überlegte, daß
nichts Greifbares vorliege; im Grunde aber wußte er wohl, daß er gar nicht
gewillt sei, einzugreifen in die Vorgänge um ihn her, nicht fähig, das
Geheimnis, das heranwuchs, vor der Zeit zu zerreißen. Die Terrasse ward
soeben beleuchtet; der Diener hatte den Tisch gedeckt und stand eifrig
wartend. Cromer ging hinauf. »Philipp, warum haben Sie den Herrn
unangemeldet eintreten lassen? . . . Nun?«

»Welchen Herrn meinen der Herr?«

»Den, der soeben mit mir fortging.«

»Ich habe niemand mit dem Herrn fortgehen gesehen.«

»Sie haben niemand gesehen?«

»Nein.«

Cromer sah ihm in die Augen. Der Diener blinzelte fragend wie je. Da sein
Herr mit der Hand andeutete, die Sache sei erledigt, ging er voll
Beflissenheit an das Servieren.

Cromer suchte alsbald wieder sein Zimmer auf. Er nahm den Brief vom Tisch,
ihren letzten und traf mit dem ersten Blick die Stelle, bei der er
unterbrochen worden war. »Er sieht aus wie eine Spinne, und so unheimlich
und unentrinnbar gebärdet er sich auch . . . Natürlich klingt dies, von mir
gesprochen, lächerlich. Nicht wahr, Lieber, was ist unentrinnbar für
unsereinen. Meine Nerven, die neugierig sind, machen sich Erlebnisse vor,
mit denen mein bißchen Wirklichkeit nichts zu schaffen hat. Ich spiele; und
mir geschieht nur, was ich will . . . Um zu dem bewußten Herrn
zurückzukehren, so soll er verschuldet und etwas wie ein Hochstapler, nicht
nur ein geistiger, sein. Es würde stimmen zu meinen Eindrücken. Ich will
nachsehen, ob mir noch keine Wertsachen fehlen. Sobald ich Zeit habe,
Näheres. Aber das ist es, Zeit haben. Ich habe keine, und mir ist, als
sollte ich nie mehr welche haben.«

Die überhasteten Sätze keuchten das Papier hinauf, die Buchstaben brachen
zusammen. Hier endete ihr letztes Wort. Schweigend war sie dann an das Ziel
getaumelt, bis in eine böse, wirre Nacht, auf die für sie kein Morgen mehr
gefolgt war. Cromer sah sich in der Friedhofskapelle, die Händedrücke, die
er erwiderte, und gleich neben ihm, auf einem schwarzen Kasten, in Metall
geritzt, ihren Namen. »Habe ich Schuld daran? Es war wohl ein unabwendbares
Schicksal, auch für mich . . . Unabwendbar? So ist allein das Schicksal
derer, die nicht lieben. Ich hätte anders zu ihr sprechen müssen damals.
Jene Nacht war gemacht, damit ich sie in Wahrheit gewinnen sollte! Mein
Gott, was habe ich versäumt! Lida, du hast gelitten, unverständlich dir
selbst; und ich, der verstehen mußte, habe nur hingeblickt, um zu argwöhnen
und zu entlarven. Ich war natürlich nicht ohne Feinheit, das war ich nie --
aber so trägen Gefühls, mißtrauisch gegen mein eigenes Herz und ohne die
Güte, die keine Einsicht braucht. Verzeih' meiner Ungläubigkeit. Wenn du
kannst, so komm' -- auf die Gefahr, daß ich auch jetzt nicht an dich
glaube!«

Hinter ihm raschelte es, er fuhr herum. Ihre Briefe auf dem Tisch bewegten
sich. In der offenen Tür war die Luft schwach und kaum zu spüren, aber eins
der Blätter ward umgewendet, wie von einer Hand. Ihr letzter Brief: das
Innere des zweiten, halbleeren Bogens geöffnet, und Worte darauf. »Ich will
zu Dir! Ich will zu Dir!« Leo Cromer faßte sich an das Herz, er stand, sein
tiefster Gedanke wagte keine Regung. Plötzlich ein Griff nach der Lampe, er
stürzte hinaus, er durchsuchte mit den Augen den Schein, den er in den
Garten warf. Heftig ausatmend kehrte er zurück, er hielt den Brief unter
das Licht. Diese beiden Zeilen waren früher nicht dagewesen . . . Waren sie
dagewesen? Ihre Schrift schien echt, klarer höchstens und wie besänftigt.
So wären sie nicht dagewesen -- und dennoch von ihr? Noch nicht gedacht,
empörte ihn sein Zweifel. Weit unerhörter war sein Zweifel, als das, was
hier vorging! Er durchmaß mit starken Schritten das Zimmer. Da hielt er an,
die Mienen gelöst zu einem Lächeln des Selbstvergessens. Er löschte die
Lampe, setzte sich lautlos in den dunkelsten Winkel und sah, wie rufend
vorgeneigt, in jenes mondbleiche Gesicht, das lockte zu Geheimnissen, auf
die Hand am Vorhang, diese zweideutige Anmut einer Scheidenden, die
zaudert, ob sie umkehre.


III.

Nichts geschah mehr, nichts kam hinzu, aber Leo Cromer, der die Tage
verbrachte wie immer, trug an irgendeinem schweren Gefühl, wie von einer
Krankheit, die ausbrechen sollte, oder als wäre er in Dinge verwickelt
gewesen, die den Gesetzen widersprächen. Etwas Außerordentliches ängstigte
und lockte. Zehnmal täglich und auch des Nachts zwischen dem Schlaf
erinnerte er sich ihres Briefes, des gefälschten Briefes -- und war
glücklich, ihn dazuwissen. Er wartete nur darauf, daß ihr Bild noch einmal
in sein Zimmer zurückkehre. Es war verschwunden, in derselben Nacht, als er
davorsaß: kaum, daß ihm die Augen zufielen. Er wartete darauf, wie auf das
Zeichen, daß sie ihn ganz in Besitz nehme und ihm verbiete, noch
fortzugehen, noch Schmerzen oder Genugtuungen zu suchen, die nicht von ihr
kämen . . . Und eines Morgens beim Erwachen sah sie ihn an. Sie schien
erwacht mit ihm.

Da verließ er nicht mehr das Haus und den Garten. Die ersten Wochen ihres
Zusammenlebens waren einst hier vergangen; -- und die alten Stunden teilten
ihm jetzt nachträglich mehr mit, als sie damals konnten. Unter den Augen
der Toten hatten sie sich angefüllt mit Reiz, Süßigkeit und Kraft. Ja, in
ihr Gesicht auch, in die vielsagende Hand am Vorhang schien eine neue
Unruhe zu kommen: als wollte sie reden, als drängte sie zu ihm. In solchen
Minuten wendete er sich ab, um das Geschehen des Rätselhaften nicht zu
stören; -- und kam er zurück, lag unter ihren Briefen ein neuer, einige
Zeilen auf einem Blatt, das früher halb unbeschrieben war, oder ein Zettel,
der herausfiel aus einem unscheinbaren Versteck. Das Erste, was er fand,
fügte sich ein in ihre alten Äußerungen; noch vor kurzem würde Cromer
geglaubt haben, es sei ihm solange einfach entgangen. Er glaubte es nicht
mehr; jedesmal deutlicher sagte sie ihm Dinge, die sie früher verschwiegen
hatte. Ihre wahre Natur, immer verkannt von ihm, eröffnete sie ihm nun, den
Überdruß am Weltlichen, am Ruhm, an den kaltherzigen Erregungen, und ihre
Sehnsucht nach Zärtlichkeit, die sich bekennt, nach Hingabe ohne
Zurücknahme. Er las Sätze ihres Tonfalls und Wesens, unverkennbar, und doch
vom Klang des Unwirklichen, längst Entrückten. Sie erwähnte die letzten
Wirren ihres Lebens, aber von fern und nachträglich. Jener Mensch, der
damals die Hand nach ihr ausgestreckt hatte, sie wußte jetzt, wozu sie ihm
gefolgt war. »Es sollte zu Dir führen, Lieber. Er war nicht als ein
Gleichnis der Macht, die mich und Dich überschattete, und die wir nicht
anerkennen wollten. Ich bin überzeugt worden, Du weißt es, wie grausam; und
Du? . . .« An dieser Stelle las er nicht weiter, trat vor sie hin und
antwortete ihr. Das Winken ihrer Augen vor dem geschlossenen Vorhang ward
dringlicher, sie sagte: »Gib dich hin! Glaube! Sei gewärtig, daß ich komme
und endlich dein sei!« »Komm!« rief er.

Mit der Ermüdung ergriff ihn wohl die Besinnung. »Was tue ich! Ich weiß,
daß ich betrogen werde, -- und ich selbst helfe dazu! Ach, mein Bedürfnis
zu lieben, ist schon größer als das, die Wahrheit zu sagen. Diese Briefe
sind untergeschoben von einem Schwindler, es steht zu vermuten, von
welchem. Hier spricht er von sich, er droht. »Wenn er Dir begegnen würde,
Du könntest noch tausendmal besser als ich verstehen, daß er Dich betrügt,
und würdest doch nicht wollen, daß es aufhört. Er ist um Dich her, täuscht
Dir Erscheinungen vor, fälscht Deine Eindrücke und Gedanken, wacht über
Dir, lenkt Dich und weiß allein wohin. Aber überraschtest Du ihn selbst in
dem Augenblick, wo er Dir eine neue Falle legt, Du hättest doch nicht den
Mut, ihn zu entlarven.« . . . »Welche Herausforderung!« sagte Cromer laut.
»Wie er seiner Sache gewiß sein muß! Er weiß wohl, ich werde seine
gefälschten Briefe weder einem Sachverständigen noch dem
Untersuchungsrichter bringen. Ich werde das Zimmer meines Dieners, der für
ihn arbeitet, nicht durchsuchen lassen, werde mich gar nicht wehren, ihm
nie in den Weg treten. Denn was wäre mir seine Entlarvung? Eine Befreiung?
Leider nichts weniger als das. Oder ein Beweis? Daß er betrügt, beweist
nichts gegen das Mysterium, auf das er sich beruft. Ich war ein zu sauberer
Geist, ohne Falsch, und darum ohne Verzücktheit. Das Mysterium ergibt sich
wohl in den Charlatanen, die es ausnützen, aber empfinden. Mir bleibt nur
übrig, dem Charlatan zu folgen, wie sie selbst ihm gefolgt ist, -- wenn ich
denn reif bin für das, was er verspricht. Die Liebe einer Toten: wäre es
denn das Äußerste? Das Wunder der Ankunft aus der Ewigkeit, des
Sichfindens, Einswerdens und nicht mehr Zweifelns -- wie? Sollte alles dies
Unmögliche den Toten möglicher sein als den Lebenden? Sie komme, ich bin
bereit.« Und wieder unter ihrem Bild: »Ich liebe dich, Lida, so sehr, daß
du wahrhaftig wiederkehren solltest. Ich würde es dir glauben -- und auch
nicht glauben. Sieh! ich küsse dein Haar, und weiß doch, es ist gar nicht
deins. Wenn es noch von deinem Nacken hinge und dein Atem noch warm wäre,
würde ich dich wohl wieder sterben lassen, wie das erste Mal. Diese
Sehnsucht ist ungeheuerlich, sie ist verworfen und lächerlich . . .« Er
stieß einen Schrei aus; hinter dem Rahmen des Bildes hervor glitt ein
Papier; in ihren Schriftzügen las er: »Niemals habe ich Dich betrogen.« Und
er, der ihr Geständnis empfangen und ihren Tod gebilligt hatte, sagte: »Ich
glaube dir! Verzeihe mir!«

Er wartete, damit zwischen ihm und ihr der weite Raum geringer werde. Auch
empfing er Zeichen, als sei sie schon nahe. »Halte Dich fertig, mit mir zu
kommen; ich darf nicht bleiben.« Mit ihr? Wohin? Was näher kam in
Wirklichkeit, war also der Schlußakt des Betruges, der ihn umkreiste, --
und schloß der Plan mit seinem Tode? »Muß ich nun doch, mehr als ich
möchte, auf meiner Hut sein? . . . Ich hoffe es nicht. Ich und der
unbekannte Andere, wir haben viel seelische Kraft aneinander gewendet; ich
bin sicher, er würde so ungern einen Revolver auf mich abdrücken wie ich
auf ihn.« Übrigens war schon der nächste Brief deutlicher: »Bereite alles
vor. Wir werden lange und weit fort sein; Du kannst nicht verstehen, wie
weit und wie lange. Nimm mit, was wir brauchen.« Er nickte; man deckte das
Spiel auf. Er sollte bestohlen werden, im großen Stil, wie es schien, aber
doch nur bestohlen . . . An diesem Abend saß er ihr gegenüber und dachte:
»Nun hast du den Vorhang fast schon gehoben. Eine letzte Anstrengung!
. . . Denn sieh, dir glaub ich, unbeschadet dessen, daß ich das Spiel des
anderen durchschaue.« Cromer lachte leise. »Er, der Ärmste, durchschaut
mich keineswegs. Nur du hast schon längst begriffen, daß man glauben, den
Abenteuern des Glaubens sich ergeben und doch klarsichtig bleiben kann;
lieben, sehr lieben, und dabei noch wissen . . . Was ich morgen in der
Stadt vorhabe, würde dich laut auflachen lassen -- und nur dich!« Dabei
lauschte er auf ein noch gedämpftes Lachen, das stolz, leichtsinnig und
nach geheimer Trauer klang.

In der Stadt blieb er einige Tage. Als er eines Abends heimkehrte, fuhr
soeben durch das stille Welken des Sommers der erste Sturm. Die Blätter des
Gartens sausten um ihn her, am Haus schlugen die Läden, Türen öffneten
sich, und dahinter das Dunkel leuchtete manchmal fahl auf vom letzten Licht
der fliegenden Wolken. Plötzlich stand vor ihm der Diener Philipp, weiß im
Gesicht, so fassungslos, daß er es vergaß, seinen Eifer zu bekunden. Cromer
beruhigte den jungen Menschen über die Gefahren einer Nacht wie diese und
ging in sein Zimmer. Er machte Licht, legte ab -- da hielt er ein: sie
folgte ihm mit den Augen! Ihr Bild bewegte die Augen, ihre graublauen
Augen, die sachlich blickten und doch voll Spiegelungen schönerer Himmel
waren. Nie vergessen, da strahlten sie wieder; sie war da! Ein langer
Schauer durchlief Cromer mehrmals. Der Betrug vollendete sich, dieser
ungeheuerliche Selbstbetrug, der die tiefste Wahrheit seines Lebens war.
Ohne ihre Augen loszulassen, mit befangenen Gebärden, nahm er aus seinem
Rock die Brieftasche, öffnete sie, breitere die Wertpapiere, eigens
mitgebracht, auf den Tisch, zählte sie den Augen vor, die allem folgten.
Eine Minute stand er noch, atmete schwer und hielt angstvoll den Blick
erhoben. Die Augen dort oben schlossen sich gewährend: und Leo Cromer ging
leicht schwankend aus der Tür. Mit verhaltener Hast tastete er sich im
Dunkeln zur Schwelle des Nebenzimmers, des Zimmers der Toten. Ein
Lichtschein fiel heraus. Cromer zögerte lange, dann öffnete er wie im
Traum. Da lag nun ihr Zimmer; selten seit ihrem Verschwinden und nur
leichthin hatte er es betreten. Er hätte nicht gedacht, daß es aussähe, als
habe sie es auf Augenblicke verlassen; das Licht brannte, gleich mußte sie
zurück sein. Ihr Schritt? Nein, noch nicht; nur sein Herz fühlte er gehen.
Die alten, leichten Tafeln von Rosenholz, deren zerbrechliche Schnitzereien
diese Wände überzogen, nachdem sie hundert Jahre lang in einem unbekannten
Haus ihre Glätte verloren hatten, sie bebten noch wie sonst bei jedem
Windstoß, wie Kulissen, aufgestellt um die schöne, erfahrene Spielerin, die
hier zu Gast war. Ein stärkerer Schlag des Sturmes, ein Ächzen im Holz --
und ein aufgestörter Duft. Ihr Duft! Ihr Fächerschlag! Die Sinne so sehr
gespannt, daß er zu schweben meinte, hörte Cromer dicht hinter der dünnen
Wand das Rauschen ihres Kleides. Er wollte rufen; da ging das Licht aus --
und mitten im schwarzen Sausen des Wetters unterschied er das trockene
Klappen der Tür, der schwanken Kulissentür, durch die sie eintrat. Sie war
im Zimmer.

»Lida?« sagte er stimmlos, einen Arm ausgestreckt in das Unsichtbare. Und
auch die Antwort kam geflüstert, wie aus einer tief erschütterten Brust.

»Leo.«

»Endlich«, sagte er. »Du bist zurück. Ich wäre sonst auch gestorben, wie
du.«

Da ward ihre Stimme vernehmbar, ja, ihre klare und süße Stimme hörte er
wieder. »Lieber«, sagte sie, »ich war nicht tot. Nur wer nicht geliebt hat,
stirbt.«

»Ist es wahr?« sagte er stehend. »Ist es dies, was du erfahren hast?« Er
trat rasch vor sie hin, auf ihre Stimme zu.

»Ich bin gekommen, um es dir zu sagen«, -- und in einem Schein, der
vorüberflog, sah er, sah ihren Mund sprechen, ihre Augen leben und erkannte
ihr helles Haar. Der oft umfangene Fluß ihrer Glieder bewegte sich, einen
Herzschlag lang, vor seinem Blick, ihre Hand stand vielsagend aufgerichtet.
»Du weißt noch nicht, Lieber, wohin ich dich führen muß, und wie teuer es
ist, mich wiederzusehen. Bist du denn bereit?«

»Zu allem«, sagte er, »deine Lippen!«

»Noch nicht. Mach dich fertig, geh, und dann folge mir!«

Eilig und geschäftsmäßig fielen die Antworten.

»Wir haben einen Wagen?«

»Wir haben einen Wagen. Du nimmst alles mit.«

»Ja.«

»Alles, was du besitzest?«

»Ja. Deine Lippen.«

»Komm!«

Ein neuer Schlag, ein Schein, und darin ihr Gesicht, grell vorgestreckt,
tiefe Schatten um die fahlen Lider, worunter der Blick verging, und die
Lippen, geisterhafte Rosen, aufgeblättert zum berauschenden Zerfallen
. . . Er kehrte zurück aus diesem Kuß, wie aus allen Abgründen, ermattet,
blind, noch umwölkt von der Ewigkeit. Taumelnd fort in sein Zimmer, auf
einen Sessel hingebrochen, die Augen bedeckt und schweigen . . . bis
dahinten im Garten Schritte liefen und Räder knirschten. Das Geräusch eines
Autos: es verlor sich schon. Cromer stand auf. Ein Blick auf den Tisch:
alles, wie vorausgesehen, war fort. Er trat unter das Bild; die Augen waren
ausgeschnitten. Sie hatte glänzend gespielt, die Frau hinter den
ausgeschnittenen Augen, und war nun wohl von dannen mit ihrem Herrn, dem
Unbekannten. Auch Philipp, sein anderes Geschöpf, war fort mit ihm. »Gut
denn: der Mechanismus des Wunders hat sich bewährt bis ans Ende. Aber auch
hier«, sagte er, mit dem Finger auf seiner Brust . . . Er schloß die Läden
der Gartentür, der Diener hatte es sich erspart. »Er war erregt, keiner von
uns hat es leicht gehabt heute. Ich werde nun schlafen dürfen, ich werde
wieder gut schlafen und wohl in Frieden altern dürfen. Jene drei müssen
leider durch die Sturmnacht fahren mit ihren Wertpapieren -- die wertlos
sind, die so wertlos sind, daß man die Diebe nicht einmal festnehmen wird,
wenn sie sie vorlegen.«



Der Bruder


Peter Scheibel blieb nach dem Tode seiner Eltern zurück als ganz verarmter
Siebzehnjähriger und mit einer kleinen Schwester, die niemand hatte, als
nur ihn. Er sagte sich, daß er auf der Schule und später auf der Hochschule
wohl sich selbst noch würde durchbringen können, unmöglich aber ein
heranwachsendes Mädchen; und ohne Säumen ging er auf die Suche nach einer
bezahlten Arbeit. Er fand sie bei Fülle und Sohn, Häute, zuerst als
Ausgeher, aber bald ließen sie ihn Briefe schreiben. Nach acht Jahren war
er Buchhalter und hatte ein Zimmerchen für sich allein, auf einen Hof
hinaus, der nicht hell war, außer im Hochsommer mußte man immer das Gas
brennen. Luft und Licht fand er zu Hause; ihm dünkte es oft, kein Mensch
könne zu Hause, die kurzen Stunden, in denen dies erlaubt ist, so viel
Sonne und frohes Herz finden. Sie wohnten hoch über einem weiten Platz, mit
elektrischen Bahnen, Obstkarren, Soldaten. Ihr kleiner Balkon trug Blumen
und Änne drinnen sang. Andere hörten sie nicht von draußen, ihre Stimme war
nicht stark; der Bruder aber blieb auf der Treppe stehen und hörte sie.

Sie war erwachsen in den acht Jahren unter seiner Pflege, seinen steten
Gedanken, als Lohn für alle seine Mühen; aber noch blieb sie zart und
unsicher, nicht nur von Gesundheit, auch in ihren Formen, Farben und in
ihrer Art, das Leben zu nehmen oder es vorauszuahnen. Bei ihren wenigen
Bekannten galt sie für langweilig oder hochmütig, manchmal argwöhnten sie
Bosheit. Nur ihr Bruder kannte sie wirklich, er war stolz darauf, wie auf
eine treu erworbene Vertrauensstellung. Ihr ward es nur leicht bei ihm. Nur
bei ihr war er glücklich. Am Abend mitunter und dann, wenn sie ihm
Gutenacht wünschte, sah er auf zu ihr, staunte eine Weile und nannte sie
Beatrix. So hatte eine Prinzessin geheißen, in einem Buche mit bunten
Bildern, das sie zusammen lasen, als er zwölf und sie fünf Jahre alt war.
Damals schnitt er Ihr aus Papier den goldenen Gürtel, wie er von den Hüften
der Prinzessin fiel. Wenn sie über ihrem langen Hemdchen den Gürtel hatte,
hieß sie Beatrix. Ob sie ihn überzeugte? Ob er es entdeckte? Ihr
eigentlicher Name und ihr Wesen, das nur er sah, waren Beatrix. Ihm blieb
nichts übrig, als ihr die Rechte zu erobern, die ihr natürlich waren.

Aber noch wollte sie nichts; sie lächelte schwach und wegwerfend zu seinen
Versprechungen von Kleidern und Schmuck, für künftig, wenn sie reich sein
würden, wenn seine Ersparnisse den Nutzen getragen haben würden, auf den er
sann. Es kam unbemerkt, sie war damals zwanzig -- und als er es dann doch
sah, wie gern sie jetzt ihren bescheidenen Tand trug, begriff er noch immer
nicht, daß etwas vorging. Ihre Kopfhaltung machte ihn aufmerksam, das
freiere Auftreten, die erwachte Anmut und dann dies Lächeln, das stolz
einlud: »Sieh doch!« Was er aber sah, ward dem Bruder nicht früher klar,
als bis er Fremde es nennen hörte. Sie sagten: »Die Änne Scheibel ist aber
schön geworden.« Er hörte es und ward von einer solchen Freude erfaßt, daß
er in der winterlichen Straße plötzlich eine laue Luft spürte und Rosen
roch. Beim Betreten des Hauses fand er endlich Worte. »Jetzt haben sie es
heraus!« sagte er. Jetzt sahen alle ihre wahre Natur, und nicht mehr nur
für ihn war sie eine Prinzessin. Freilich verlor er dadurch einen Vorzug
und einen großen geheimen Stolz. Ihr aber tat die Bestätigung so wohl!
Unter den Blicken, die sie bewunderten, entfaltete sich ihre Schönheit, ihm
schien, ins Ungemessene. Ihn blendete sie nur noch. Hiervon hatte er trotz
allem keinen Begriff gehabt: ein Gesicht, so klar, als sei er Fleisch
gewordener Edelstein! Und aufgeblüht das Gold der Haare, in den
herangereiften Gliedern irgendein ungeahnter Saft -- die Hand aber, man
konnte sie unmöglich noch nehmen ohne Demut, sie konnte sie unmöglich
anders geben als mit Herablassung. Sie spürte es selbst, denn sie lachte
manchmal auf dabei, übermütig und wie zum Spott auf ihn und sich, weil
alles sich nun auf diese theatralische Art gewendet hatte. Er zahlte ihre
Kleider, die teuerer wurden, aber nicht sie hatte jetzt zu danken, sondern
er. Dazwischen zeigte sie ihm unversehens ein ernstes, vertrauliches Auge,
das sagte: »Du verstehst natürlich, es ist meine Rolle. Im Grund bist du
alles. Was wäre ich! Glücklich bin ich, weil du nun belohnt bist.«

Aber sie hatte durchaus den Willen zu ihrer neuen Rolle. Sie ging aus, trat
auf, und trug Siege heim. Sie besuchte eine Schauspielschule, kannte
Kavaliere, schlug Heiraten aus, die ihr nicht angemessen waren. Er mußte
häufig warten auf sie am Abend, und kam sie heim, brachte sie Unbekanntes
mit. Erlebnisse, Möglichkeiten und Fragen an das Schicksal, in die er nicht
immer wagte hineinzuhorchen. Sie aß reichlich, wie ihre Schönheit es
erforderte; es geschah aber, daß sie den Teller fortschob, die Arme weiß
auf den Tisch stellte, und, zwischen ihnen kurz den Kopf rückend, über das
zu geringe Zimmer hinsah, die dürre Hängelampe, und auch über ihn --
gereizt hinsah, auch über ihn, und doch, als, sei sie abwesend. Da erschrak
er so tief wie noch nie. Sein alter Rock brannte ihm plötzlich auf dem
Rücken, und leise, aber angestrengt schob er sich mitsamt seinem Stuhl vom
Tisch fort, damit sie ihn nicht mehr rieche. Denn ein wenig, trotz aller
Vorsicht, roch er wohl nach Häuten. Daß er es nicht bedacht hatte,
kürzlich, als ihre Freunde sie besuchten! In einer entsetzten Scham ward es
ihm fühlbar, daß er zu viel da sei, und daß er Ansprüche mache,
unberechtigte Ansprüche, indem er da sei. So begann er ins Café zu gehen,
saß einsam und grübelte, weil in diesem Augenblick die Damen und Herren,
die mit ihr einen heiteren Abend verbrachten, sie in dem mißverständlichen
Rahmen des zu geringen Zimmers sahen. Konnte dadurch nicht ihre Ehrfurcht
leiden! Ach! es war klar, daß dies nicht mehr weiter führte, und daß er
selbst, nur er die Schuld daran trug. Er hatte eine Prinzessin bei sich
aufgezogen und zeigte sich nun unfähig, die Mittel zu beschaffen für ihre
Hofhaltung. Seine Ersparnisse, die bisher ihre Toiletten bezahlt hatten,
waren schon dahin; was nun? Sie wartete, und die Jahre vergingen, die ihre
Jugend waren. Er stahl sie ihr, er war ihr Feind! Einst bekam er im
Geschäft eine unerhört große Summe in die Hand und behielt sie eine Nacht
lang, obwohl sie schon abends wäre abzuliefern gewesen. Es war die Nacht,
in der er mehrmals starb und mehrmals lebte wie noch nie. Als es Morgen
ward, war er dem Abgrund entronnen, und was er fühlte, war Erbitterung
gegen sie, die Gläubigerin, die ihn so schwer bedrängte. Er wolle sie einem
braven Manne geben, beschloß er hart -- aber wie flehentlich bat sein Herz
es ihr ab, als sie am Abend vor der Tür seines Geschäftes stand und ihn
abholte. Schön und vornehm wie keine, ging sie dennoch an seiner Seite
durch die glänzendsten Straßen. Hinter der erleuchteten Glastür eines
Friseurladens sah man eingeseifte Herren sitzen, streng, würdig, aber doch
abgerüstet. Im Vorbeigehen beugte die Schwester sich vor das Gesicht des
Bruders. »Da sitzen sie,« sagte sie und hatte um ihren karminroten Mund
zwei Züge von Haß und Hohn. Noch beim Abendessen dachte sie wohl daran,
denn unvermittelt lachte sie auf, und wie er hinsah, war es wieder dies
Gesicht. Da sie merkte, er sah hin, verwandelte es sich, und ihre Augen
tauchten in seine, mit einer solchen Kraft von Mitleid, Dankbarkeit und
Wissen, daß er fühlte: »Geschehe was immer.« -- »Wir wollen doch noch
unsere Partie spielen,« sagte sie, da ward ihm schon wieder bang, denn es
klang wie ein letztes Mal. Dann gab sie die Karten mit ihren Händen, von
denen Duft wehte. »Du schwindelst wohl?« sagte sie heiter, da er gewann;
und langsam, mit verlorener Miene in die Lampe starrend: »Ach nein. Am
schwersten wird man die Anständigkeit los.«

Künftig zeigte er sich noch seltener, er durfte nicht länger sich
dazwischendrängen in den Lebenskampf, dem er sie nicht hatte entheben
können. Was sie fortan erlebte, gehörte nur ihr -- und wohl noch einem,
aber nicht ihm. Sein waren die Angst, die Sehnsucht und der Zorn, dies
gehetzte Herz, das anbetete und verwünschte in einem. Er wußte gleichwohl
immer, was vorging; ihm schrien es Dinge zu, die kaum waren, ein Hauch in
der Luft, ein Schatten in zwei Augen. Er kannte den Mann -- hatte ihn nie
mit ihr gesehen, war ihm unbekannt, und stand doch unter einem Haustor, um
ihm entgegenzublicken, der Gestalt des Schicksals, um ihm nachzublicken,
dem Gang des Schicksals, unerbittlich wie es ging, und ganz fremd. Einmal
aber verließ er das Geschäft zu einer ungewohnten Zeit, ein hohes Fieber
nötigte ihn; und zu Haus nahm er wahr, sie waren da. Er stand, atmete
nicht, und hörte. Ein entzückter Klang drang hervor, und ja, dieser Klang:
Beatrix. Da ging er fort, fiebernd, aber seine schnellen Pulse klopften wie
ein Glück -- ein Glück, sei es wie immer. Sie hatte von dem, den sie
liebte, genannt werden wollen, wie von ihm! Wenn sie sich von Liebe
verklärt fühlte, ging sie in das Märchenwesen ein, das sein, sein war. Er
fühlte: Meine Schwester!

Tage zogen vorbei, da sie ihn wohl ganz vergessen hatte, und Tage, an denen
sie ihn nicht fortlassen wollte; aber er wußte, wann es aus Güte und
ruhigem Sinn kam, und wann er sie retten sollte. Er rettete sie nie; sie
mußte allein an sich tragen, er konnte ihr nur stumm und treu wie ein Hund
bedeuten, daß er Bescheid wisse um ihre gekrampften Mienen, die Trennung
hießen, bevorstehender Zusammenbruch, Angst des Endes, um ihr Umherirren
und Seufzen, worin schon neue Hoffnungen sich meldeten, ein anderer Mann,
und wieder Leichtsinn und wieder Schmerz. Ihm schien die Zeit stillzustehen
in allem Hin und Her, das nur ablief und zu nichts führte, und dem er
beiwohnte in immer gleicher Demut und Ergriffenheit. Dennoch erschien ein
Abend -- sie hatte ihn nicht fortgehen lassen, und war selbst nicht
vorbereitet zum Ausgehen, setzte sich hin bei ihm, fand keine Ruhe, hatte
schon ihr Zimmer aufgesucht und kam noch zurück. Er sah auf, erstaunt wie
von jeher, wenn die Gunst des Augenblicks ihm ihren Anblick schenkte. In
ihrem Gesicht aber entstand nichts von der kleinen Freude, die sein Staunen
sonst ihr schenkte. Seltsam, sie hatte ein Gesicht, als sähe sie, nun sie
zu ihm sprach, nicht sich, sondern wie vor Zeiten, wirklich ihn. Sie sagte:
»Hast du denn eigentlich nie daran gedacht, zu heiraten?« Er bedachte, was
ihr denn einfiele. Um Zeit zu gewinnen, sah er an sich nieder, und er
murmelte: »Jetzt doch wohl nicht mehr.« Dies war es aber nicht: in ihm
stammelte es anders. »Wer, wie ich . . .« Und: »Beatrix!« Ihr Blick zog
sich schon zurück, sie sah nicht weg, und sah schon nicht mehr ihn.
»Hättest du geheiratet,« sagte sie, »vielleicht würde ich dann ein Asyl
gehabt haben, wenn es mit mir aus ist.« Er schrak auf, fassungslos: »Mit
dir!« Da schwieg sie zuerst gramvoll -- und sagte dann, mit einer Stimme
wie eine Kranke: »Sieh mich doch an! Sieh mich doch nur wirklich an!« Und
weil sie es wollte, sah er sie, sah mit einem Schlag alles. Sie hatte die
Lippen heute nicht gefärbt, die Haut des Gesichtes gelassen, wie sie war,
dem Blick nicht nachgeholfen, das Kleid umgehängt wie um irgendeine
Nebenperson, und stand auf einmal da, als sei sie entblößt von einem
goldenen Nebel und in den Alltag versetzt. Die Augen erkaltet von
Enttäuschungen und geschwächt von Verlusten, der Zug des Hohnes
eingewurzelt um den Mund, umgewühlt die Stirn wie ein Feld mit Leichen und
müde dies menschliche Wesen nach getragenen Lasten, entstellt das Antlitz
und der Leib durch Kampf, den täglichen Kampf um das Brot der Seele und um
ihr Dasein, den nie entschiedenen Kampf: so stand sie vor dem Bruder, der
die Hände erhob, langsam aufhob und sie faltete. Da sie sah, er habe
begriffen, sagte sie: »Diese acht Jahre waren eine lange, lange Zeit.« Und
während ihre Stimme, kranke Kinderstimme, noch nachklang, strich sie
tastend über ihre Hüften, als seien sie wund oder als suchte sie nach ihrer
verlorenen Form. Da riß er sie an sich, und hinsinkend weinten sie.

Das Gesicht noch trocknend, eilte sie schon fort. Unter der Tür,
zurückgewendet, sagte sie: »Morgen gehe ich auf eine Reise. Du kannst
unbesorgt sein . . .« und sagte es inständig, als setzte sie hinzu: »Glaub'
mir oder doch lass' mich es glauben!« Morgen kam, und sie war fort, und er
in seinem Hofzimmer beim Gaslicht erdrückte mit beiden Händen in seinem
Herzen, was er wußte, sein ungeheures Wissen. Zwei Tage, da rief man ihn in
die Frauenklinik: tot sei sie, tot sei seine Schwester. Er ging und beugte
noch einmal seinen grauen Kopf vor ihrer unvergänglichen Schönheit.

Der Sarg schwankte hinaus, da war ein Mensch da und hielt dem Bruder die
Hand hin. Es war ihr erster Geliebter, jener, der an Gestalt und Gang dem
Schicksal geglichen hatte. Armes Schicksal, verstört und bleich. Trotz der
trüben Frühe standen draußen Leute, um den Sarg zu sehen. Der Bruder hörte
sagen: »Sie war nur eine . . .« Er sah sich nicht um nach dem Wort, er
dachte: »Wißt ihr denn gar nichts?« und er fühlte Verachtung und Mitleid.



Die Verjagten


Seit gestern ist nun auch die sechzehnjährige Linda Barocci gestorben.
Alle, die sie kannten, sagen, daß sie glücklich zu leben verdient hätte,
denn sie war gut und tapfer, was sie schon lange vor ihrem letzten Unglück
bewiesen hatte, draußen vor Porta Agnese bei ihrem Verwandten Nazzarri, der
ihr nachstellte. Nazzarri Umberto hatte seine Gärtnerei gleich hinter dem
Heiligtum Santa Agnese. Er war ein stattlicher Mann mit lebhafter
Gesichtsfarbe. Die Linda, blond, weiß und sehr zierlich, fand ihr Heil,
wenn die Laune ihn ankam, stets nur in ihrer Schnelligkeit. Denn der Garten
ist groß und geht in das offene Feld über. Wenn der Nazzarri der Kleinen
lästig fiel, trat manchmal seine Gattin dazwischen, die Frau Amelia, oder
besser gesagt, sie rief ihrem Gatten von der Tür her Namen zu, die keine
Kosenamen waren; aber persönlich zur Stelle zu sein ward ihr schwer wegen
des Gewichts ihres Körpers. Diese beleibte Person hatte ein gutes Herz, das
die Linda die versuchte Untreue ihres Gatten nie entgelten ließ. Vielmehr
bezeigte sie ihr das innigste Mitleid und warnte den Nazzarri vor allem
Unglück, das seine böse Lust nicht verfehlen werde heraufzurufen. Er aber
wollte nicht hören. Gereizt durch den Widerstand des Mädchens, hetzte er
sie oft umher wie toll, und besonders zu der Stunde, wo auf die Campagna
die Dämmerung herabsteigt. Dann sahen Nachbarinnen Linda dahin huschen über
den Boden, klein und leicht wie eine Fledermaus, und irgendwo darin
verschwinden. Denn die Erde hat dort versteckte Löcher, die zu den alten
Katakomben hinabführen, und in ihnen findet man schwer den, den man sucht,
wenn auch zuweilen solche, die man nicht gesucht hat, und die das Licht
scheuen. Der Nazzarri mußte draußen warten, bis es der Linda gefiel,
zurückzukehren. Einmal, sagten sie, habe er achtundvierzig Stunden lang
warten müssen. So verzweifelt war das Mädchen, daß es sich drunten verirrt
hatte und halb verhungert hervorkam.

Dem konnte die gute Tante Amelia nicht länger zusehen. Sie und die Linda
taten soviel und soviel, bis endlich der Nazzarri dem Mädchen zu gehen
erlaubte. Sie suchte sich eine Stelle als Magd in Rom, er war aber
dahinter, daß es bei strengen Leuten wäre und in einem Haus ohne Jugend.
Die Frau Gräfin Marinotti hat ihren Palast in Via Argentina und bewohnt ihn
allein mit ihrer Zofe und Haushälterin Bona Chichetti, die bei Jahren ist
wie sie selbst und eine Gehilfin braucht, und diese war die Linda. Sie
erlangte die Zufriedenheit der beiden Alten, und so oft der Onkel Nazzarri
sich einstellte -- er stellte sich aber jede Woche zweimal ein mit seinen
Gemüsen -- ward ihm geantwortet, daß nichts Unrechtes zu merken sei an der
Linda. Denn sie gehe nur aus, wenn ihr Dienst es verlange, niemals am
Abend, und kein Mann komme ins Haus. Eines Tages aber sollten die guten
Alten einen kommen sehen. Er war erst achtzehn und war ein Kohlenträger,
Aldo Canta, von Montereale, Provinz Aquila, woher auch die Linda kam. So
trug er ihr das Säckchen mit dem Holz, das sie geholt hatte für den Herd,
und folgte ihr bis vor das Haus. Schon beim zweiten Mal aber ging er mit
ihr die Treppe hinauf, zu dem Saal im Adelsstock, wo die Frau Gräfin in
Gesellschaft ihrer Zofe Chichetti bei einem Kohlenbecken saß. Und als sie
die beiden jungen Leute auf der Schwelle sah, rief sie ihnen zu, herbei zu
treten, und sie taten es, und Aldo sagte, daß er der Linda wohlwolle, und
sie sagte, daß sie beschlossen habe, ihn zum Mann zu nehmen. Da aber die
beiden Alten erwähnten, den Fall müßten sie dem Gärtner mitteilen, fing das
Mädchen zu weinen an und der junge Mann weinte mit ihr aus Zorn, weil sie
ihm gesagt hatte, wie die Dinge standen. Die Tränen der jungen Leute
bewogen sowohl die Gräfin wie die Zofe zum Mitleid, so daß sie dem
Nazzarri, als er wiederkam, die Sache verschwiegen. Dennoch aber faßte er
Verdacht, weil das Mädchen nicht mehr zaghaft schien, sondern den Kopf hob
und sang. So kam es, daß der Aldo und die Linda, als sie eines Abends,
schon im Dunkeln, vor dem Haus hin und her gingen, um die Ecke der Via
Barbieri den Nazzarri erscheinen sahen, und dieses Mal ohne Gemüse und in
der Haltung eines Spähenden. Das Mädchen, zitternd vor Furcht, griff nach
der Hand des Verlobten und zog ihn hinter die Haustür. »Er hat uns schon
gesehen,« flüsterte sie. »O mein Aldo, was jetzt?« -- Er sagte: »Ich will
mich nicht verstecken, laß mich hinauf, Linda, und du sollst sehen wie die
Sache endet.« -- Sie hielt ihn aber fest mit aller ihrer Kraft und beschwor
ihn, daß er das, was er meine, um Gottes willen nicht tue, denn der
Nazzarri sei der Bruder ihrer Mutter. Und damit er nichts unternehmen
könne, zog sie ihn die Treppe hinauf. In die Haustür sprang schon der
Nazzarri und war sogleich hinter ihnen her. Sie liefen über die erste
Treppe. Der Gärtner, auf ihren Fersen, rief: »Das sollst du mir bezahlen,
Verführer meines Kindes!« und Aldo rief zurück, schon von der zweiten
Treppe: »Bezahlen wirst du selbst!« Da waren sie im Adelsstock und von dem
Geschrei kamen die beiden Alten hervor. Durch sie ward der Gärtner
aufgehalten, die jungen Leute erlangten einen Vorsprung, sie erreichten ein
Zimmer unter dem Dach und sperrten sich ein.

Da atmeten sie nun nach dem Lauf, standen und sahen erregt einander an.
»Ich wollte es nicht sagen,« gestand Linda, »aber ich wußte es, denn ich
hatte einen Mönch von Sant' Agnese gesehen, der uns beobachtete, und so
wußte ich, wir seien verloren.« -- »Das sind wir nicht,« sagte Aldo. --
»Aber er wird mich Dir fortnehmen.« -- »Das wird er nicht tun,« sagte Aldo.
Und inzwischen hörten sie schon seinen Schritt vor der Tür. Er riß daran
und trat dagegen, obwohl die beiden Alten ihm zuredeten; aber er hörte
nichts und schrie nur immer nach dem Verführer seines Kindes. »Wohin mit
uns, wenn die Tür zerbricht,« sagte Linda. Aldo aber öffnete das Fenster
und sah, daß das Zimmer in einem Winkel des Hofes lag. An der andern Wand
des Winkels war ein Balkon, dorthin dachte er zu entkommen mit seiner
Geliebten. Er sagte ihr, er wolle den Gang wagen über den Abgrund, und dann
werde er ihr zu helfen wissen. Aber sie zeigte ihm die klaffenden Risse in
dem Stein des Balkons, seine lockeren Eisenklammern und dahinter das
verfallene Haus. Denn dort ist ein Haus, das seine Bewohner verlassen
haben, und die Arbeiter, die es wieder herstellen sollen, betraten es noch
selten. Der junge Kohlenträger sprach nichts mehr, er schwang sich, indeß
Linda dastand ohne Regung, über das Fenster, er faßte ein Stück Eisen in
der Mauer, trat in eine Lücke zwischen den Steinen, dann in die nächste,
und so bis zu dem Balkon. Behutsam stieg er hinein, und aus dem Zimmer
dahinter holte er eine Leiter, die schob er hinüber, in das Fenster zur
Linda. »Komm!« sagte er, und sie kam -- über die Leiter, die er nicht auf
die unsichere Brüstung des Ballons legte, sondern in seiner festen Hand
hielt. Wie sie aber mitten über der Tiefe kniete, gab im Zimmer hinter ihr
die Tür nach und der Nazzarri stürzte herein. Ein Blick, erstarrt waren
sein Geschrei und seine geschwungene Faust. Die beiden Alten kam eine
Schwäche an. Der Aldo drüben empfing in seinen Armen die Linda, und
gemeinsam traten sie in das Dunkel des verlassenen Hauses.

Wer sich nicht zufrieden gab, war der Gärtner. Er machte Aufruhr im Hof und
auf der Straße. Die meisten lachten ihn aus, auch die Wächter glaubten ihm
nicht, denn das Haus war verschlossen von allen Seiten. Mehrere Neugierige
fanden sich immerhin, die im Hof Übungen anstellten, um ein langes Seil bis
dort hinauf und über den Balkon zu werfen. Zum Schluß gelang es ihnen, aber
wie man ein wenig daran zog, fiel ein Stein herab, und so ließ man es. Erst
am Morgen konnte der Nazzarri den finden, der den Schlüssel hatte, und das
Haus aufsperren. Hierbei drangen Viele mit ein, denn der Fall war in der
Straße umhergekommen, und sie sahen es als ein Abenteuer an, das nicht ohne
Grauen und Gefahr wäre, führten einander irre im Haus, erschreckten
einander und ahmten die Stimmen von bösen Geistern nach. Die Liebenden
inzwischen zogen sich vor der nahenden Menge zurück, aus dem Innern des
Hauses, hin und her, bis in seinen äußersten Winkel, und so fanden sie sich
am Ende wieder in dem Zimmer, durch das sie hineingelangt waren. Es sah so
wüst und kahl aus im Tageslicht, als eröffnete es ihnen, hier ende die
Welt. »Nun geht es in Wahrheit nicht weiter,« sagte Linda. »Nur einen
Schritt noch,« sagte Aldo. »Mit Dir!« sagte Linda, und sie traten auf den
Balkon hinaus, an seinen Rand, der schon wankte. Vom Hof die Leute sahen
es, welche ernsten Gesichter sie beide hatten, die Augen groß aufeinander,
und blauer Himmel nahm ihre Stirnen auf. Unter ihren Füßen geschah ein
Krachen. Ihre Arme hoben sich, sie wollten wohl hingreifen, wo ein Halt
wäre; und so faßten sie Eines um das Andere. Umschlungen stürzten sie
hinab. Aldo, der zuerst unten aufschlug, war sofort tot, die Linda fiel auf
ihn, sie brachten sie noch lebend in das Hospital Santo Spirito. Zu ihrem
Glück blieb sie ohne Bewußtsein. In der Nacht starb auch sie. Sie war
sechzehn Jahre alt, ihr Aldo erst achtzehn. Sie hatte die Mutter in
Montereale, Provinz Aquila.



Inhalt


   Die Tote
   Der Bruder
   Die Verjagten

                             »_Buchkunst_«
                Druck- und Verlagsgesellschaft m. b. H.
                            Bad Reichenhall



Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   [S. 21]:
   ... wieder ganz diesen Tonfall zn hören, als ...
   ... wieder ganz diesen Tonfall zu hören, als ...

   [S. 24]:
   ... Verschollen . . . Genug, ich ziehe mich zurück. ...
   ... »Verschollen . . . Genug, ich ziehe mich zurück. ...





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