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Title: Peter und Lutz - Eine Erzählung mit sechzehn Holzschnitten von Frans Masereel
Author: Rolland, Romain
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Peter und Lutz - Eine Erzählung mit sechzehn Holzschnitten von Frans Masereel" ***


                            ROMAIN ROLLAND



                            PETER UND LUTZ


                            EINE ERZÄHLUNG
                      MIT SECHZEHN HOLZSCHNITTEN
                          VON FRANS MASEREEL

                               MÜNCHEN
                          KURT WOLFF VERLAG

                  Einzig berechtigte Übertragung von
                              Paul Amann

          Copyright 1921 by Kurt Wolff Verlag A.-G., München
                          Printed in Germany

                            Thaliae Amicae

                            Die Erzählung
               umfaßt den Zeitraum vom 30. Januar 1918
                  (Mittwochabend) bis zum Karfreitag
                     desselben Jahres (29. März)

Peter versank in die Tiefe der Untergrundbahn. Rohe, fiebrig erregte
Menge. In einen Block von Menschenleibern eingekeilt, atmete er die
schwere Luft, die durch aller Lungen ging; er stand dicht bei der
Waggontüre; blicklos waren seine Augen zur schwarzen, dröhnenden
Tunnelwölbung gekehrt, unter der die grellblanken Pupillen des Zuges
hinglitten. In Peters Innern prallte auch so eine harte, zuckende
Helligkeit an schwere Finsternis. Er meinte unter seinem
hochgeschlagenen Winterrockkragen zu ersticken; die Arme drückte er
dicht an den Leib und hielt die Lippen krampfhaft geschlossen; seine
schweißfeuchte Stirn trafen eisige Schauer, wenn bei aufgerissener Türe
ein Hauch von draußen eindrang; in dieser Lage wollte er am liebsten
nicht mehr atmen, nicht mehr denken, nicht mehr leben. Das Gemüt des
Achtzehnjährigen -- fast schien er noch ein Kind -- war voll dumpfer
Verzweiflung. Da oben über ihm, über dieser finsteren Wölbung, über
diesem Rattengang, durch den das metallene Ungetüm voll gespenstigen
Menschengekribbels dahinschoß -- da oben war Paris, war der Schnee, die
kalte Januarnacht, der Alpdruck des Lebens und des Sterbens -- war der
Krieg.

Der Krieg. Seit vier Jahren war er da, hatte sich ins Leben
eingefressen. Mit seiner ganzen Schwere hatte er auf Peters Jugend
gelastet. Er hatte den Jüngling gerade in der entscheidenden Epoche
überfallen, da er durch die Unrast erwachender Sinne erschüttert,
tierhafter, blinder, zermalmender Kräfte gewahr wird, der Kräfte des
Lebens; des Lebens, das er doch gar nicht verlangt hat. Ist nun so ein
Junge, wie es Peter war, von Haus aus zart, ist sein Gemüt so weich und
sein Leib so schmächtig, dann packt ihn -- ohne daß er sich traut, es
wem einzugestehen -- ein Ekel, ein Grauen vor dem Schmutz, vor der
Gemeinheit, vor dem Blödsinn dieser ewig zeugenden, ewig verschlingenden
Natur -- vor dieser werfenden Sau, die ihre Jungen frißt . . . In jedem
jungen Menschen zwischen dem sechzehnten und dem achtzehnten Lebensjahre
regt sich etwas von Hamlets Seele. Wie kann man von ihm Verständnis für
den Krieg verlangen! (Eure Sache, Ihr gesetzten Männer!) Er hat schon
daran gerade genug, das Leben zu verstehen -- und ihm zu verzeihen.
Gewöhnlich verkriecht er sich in ein Traumland und ins Reich der Kunst,
bis er sich mit der Tatsache seiner Fleischwerdung abgefunden hat, der
gefährliche Übergangszustand der Verpuppung glücklich überstanden ist
und der Falter ausschlüpfen kann. In jenen wirren Vorfrühlingstagen des
Lebens bedarf er so sehr des Friedens und der Sammlung! Aber gerade da
holt man ihn aus seinem Schlupfwinkel, entreißt ihn mit roher Gewalt
schützendem Dunkel, mit seiner noch so verletzlichen neuen Hülle stößt
man ihn an die rauhe Luft, mitten ins harthäutige Menschengeschlecht;
dessen Haß und Tollheit soll er sich sofort zu eigen machen, ohne sie zu
begreifen; ohne sie zu begreifen, soll er dafür büßen.

Als Achtzehnjähriger war Peter schon assentiert. In einem halben Jahre
wird das teure Vaterland sein junges Fleisch brauchen. Der Krieg lechzte
darnach. Sechs Monate war noch Schonzeit. Sechs Monate! Wenn man
wenigstens bis dahin nicht nachzudenken brauchte! In dieser Unterwelt
bleiben! Den grellen Tag nicht mehr sehen müssen! . . . Mit dem
hinfliegenden Zuge tauchte er ins Dunkel und schloß die Augen . . . Als
er die Augen wieder auftat -- stand ein paar Schritte weiter, durch die
Körper von zwei fremden Menschen von ihm geschieden, ein junges Mädchen,
das eben eingestiegen war. Zuerst erkannte er im Schlagschatten des
Hutes nur ihr zartes Profil, dann das Blond einer Locke auf der schmalen
Wange, ein Glanzlichtchen auf der lieblichen Biegung dieser Wange, die
feine Linie der Nase und der geschürzten Oberlippe, die noch vom raschen
Laufe zitterte. Durch die Pforte seiner Augen ging sie ein in sein Herz,
trat hinein ganz und gar, und die Pforte schloß sich hinter ihr. Das
Lärmen der Außenwelt schwieg. Stille. Friede. Sie war da.

Sie sah nicht nach ihm hin. Sie wußte noch gar nicht, daß er auf der
Welt war. Und doch war sie in ihm. Er hielt ihr stummes Bild zärtlich in
den Armen und wagte nicht zu atmen, damit sie nicht einmal sein Atem
berühre . . .

Bei der nächsten Station kam wilde Bewegung ins Gedränge. Schreiende
Leute stürzten in den schon überfüllten Wagen. Peter verspürte den
Anprall und tragenden Druck der Menschenwelle. Über dem Tunnel, oben
über der großen Stadt, ein dumpfes Krachen. Der Zug fuhr weiter. In
diesem Augenblicke rannte in wahnsinniger Angst ein Mensch die Treppe
hinunter, indem er die Hände vors Gesicht hielt und -- jetzt kollerte er
ganz hinunter. Man sah gerade noch, wie ihm Blut zwischen den Fingern
floß . . . Dann kam wieder der finstre Tunnel. Im Waggon Schreckensrufe:
die Flieger sind da! . . . In der gemeinsamen Gefahr, darin diese
gepferchten Leiber zu einem Körper verschmolzen, hatte Peters Hand die
Hand ergriffen, die er dicht neben der seinen fühlte. Und wie er die
Augen hob, da war es Sie.

Sie machte sich nicht los. Dem Drucke seiner Finger antworteten ihre
Finger, erst etwas krampfig und aufgeregt, dann sanft hingegeben,
brennend heiß und regungslos. So verharrten ihre Hände im schützenden
Dunkel wie zwei Vögelchen, die im selben Neste kauern; und ihr warmes
Herzblut floß in einem Strome durch ihre verknüpften Hände. Sie sprachen
kein Wort und regten sich nicht. Die Lippen des Burschen streiften
beinahe die Locke auf ihrer Wange und ihr Ohrläppchen. Sie blickte ihn
nicht an. Zwei Stationen weiter löste sie ihre Hand aus der seinen, die
ihr gleich nachgab, schlüpfte leicht durchs Gedränge und war weg, ohne
ihn überhaupt angesehn zu haben. Erst als sie verschwunden war, fiel's
ihm ein, ihr zu folgen . . . Zu spät. Der Zug war im Fahren. Bei der
nächsten Haltestelle stieg Peter an die Oberwelt. Da war wieder
Nachtluft, ein Kitzeln unsichtbaren Schneeflaums und die geängstigte
Riesenstadt, die ihre Furcht schon wieder als Abenteuer genoß, während
hoch über ihr noch Kriegsvögel schwirrten. Peter aber sah nichts als
jene, die in ihm war; er ging heim, Hand in Hand mit der Unbekannten.

                   *       *       *       *       *

Peter Aubier wohnte bei seinen Eltern nächst dem Cluny Platz. Sein Vater
war ein höherer Gerichtsbeamter, der sechs Jahre ältere Bruder war bei
Kriegsausbruch als Freiwilliger hinausgezogen. Es war eine gute, echt
französische Bürgerfamilie, warm fühlende, brave Leute von
menschenfreundlichster Gesinnung, die aber nie gewagt hatten, einen
selbständigen Gedanken zu fassen. Der Gerichtspräsident Aubier war durch
und durch Ehrenmann und hegte eine hohe Auffassung von seinen
Standespflichten. Als ärgsten Schimpf hätte er die leiseste Andeutung
zurückgewiesen, seine richterlichen Entscheidungen könnten jemals nicht
bloß von Recht und Gewissen eingegeben sein. Aber dieses Gewissen hatte
noch nie ein Wort gegen die Regierung gesprochen (besser gesagt:
geflüstert). Es war von Geburt an amtlich-korrekt. Sein Denken war eine
Funktion des Staates, veränderlich, aber immer unanfechtbar. Die
bestehenden Gewalten erschienen ihm in gottgewollter Unfehlbarkeit.
Dabei bewunderte er aufrichtig die ehernen Charaktere der hohen
Richtergestalten vergangener Tage, die so frei und unbeugsam ihre Bahn
geschritten waren; vielleicht hielt er sich sogar insgeheim
gewissermaßen für deren Geistesverwandten. So war er etwa eine
Miniaturausgabe des Michel de l'Hospital, nur daß eben ein Jahrhundert
republikanischer Knechtung über ihn weggegangen war. -- Frau Aubier war
eine musterhafte Christin, wie ihr Gemahl ein musterhafter Republikaner.
So wie der sich im besten Glauben, mit dem ehrlichsten Gefühl erfüllter
Pflicht, zum Werkzeug gegen jede staatlich nicht patentierte
Freiheitsregung gebrauchen ließ, so erhob sie in aller Reinheit ihres
Herzens ihre Stimme fromm im Chor der menschenschlächterischen
Kriegsgebete, wie sie damals in jedem Lande Europas katholische
Priester, protestantische Pastoren, Rabbiner und Popen gen Himmel
schickten, in schönem Einklange mit den gutgesinnten Zeitungen und
Leuten dieser Epoche. Beide, Vater und Mutter, liebten ihre Kinder
abgöttisch, hatten als echte Franzosen eigentlich nur für sie ein ganz
tiefes, inniges Gefühl und würden ihnen jedes Opfer gebracht haben,
brachten jetzt aber ohne Bedenken eben diese Kinder zum Opfer dar, weil
die andern Leute auch so taten. Wem galt dies Opfer? Dem unbekannten
Gott. Immer wieder hat Abraham seinen Isaak zum Brandaltar geführt. Und
seine berühmt gewordene Narretei gilt der bedauernswerten Menschheit
immer noch als Vorbild.

Wie das so oft vorkommt, war in diesem Familienleben zwar die Liebe
groß, aber es gab gar keinen vertraulichen Verkehr zwischen Eltern und
Kindern. Wie sollte man sich einem andern ganz eröffnen, wenn eine
gewisse Scheu einen abhält, sich selber ganz klare Rechenschaft zu geben
von dem, was man empfindet? Was immer in einem vorgehen mochte, man
wurde das Gefühl nicht los, gewisse Dogmen müßten unangetastet bleiben:
war das schon reichlich unbequem, wo die Dogmen brav in säuberlich
begrenztem Gebiete verblieben (so stand es im ganzen mit allem, was das
Jenseits betraf), was sollte man erst anfangen, wenn dergleichen gar ins
Leben eingreifen, es in jeder Hinsicht bestimmen wollte, wie der
neumodisch-unkirchliche Dogmenzwang tut? Wie dem Dogma Vaterland
entrinnen? Die neue Religion brachte alttestamentarische Zustände
wieder. Sie begnügte sich nicht mit bloßem Lippendienst und harmlosen,
der Gesundheit zuträglichen oder komischen Übungen, wie Beichte, Fasten
am Freitag oder Sonntagsruhe, an denen sich der Witz der »Philosophen«
hatte üben dürfen, nämlich in der guten alten Zeit, da das Volk noch
frei war -- unter den Königen. Die neue Religion wollte einfach alles
für sich, mit weniger gab sie sich nicht zufrieden: den ganzen Menschen,
seinen Leib, sein Blut, sein Leben und sein Denken. Vor allem aber sein
Blut. Seit den Tagen der mexikanischen Azteken hatte sich keine Gottheit
so sattgetrunken an Blut. Dabei täte man diesen Gläubigen bitter Unrecht
mit der Annahme, sie litten nicht unter ihren Opfern. Sie litten und
glaubten. Ihr meine armen Menschenbrüder, denen Leid ein Beweis
göttlicher Nähe ist! . . . Das Ehepaar Aubier litt wie die andern und
warf sich in den Staub wie die andern. Aber von einem Halbwüchsigen
konnte man wirklich nicht verlangen, daß er den Schrei seines
Menschenherzens übertäube, die Stimme seiner Menschensinne und seiner
Menschenvernunft. Peter hätte so gern wenigstens genau begriffen, was da
so bedrückend auf ihm lag. Wie viele Fragen brannten ihm auf der Zunge,
ohne daß er sie aussprechen durfte! Denn als Erstes drängte sich ja der
Herzensschrei hervor: »Aber ich glaube ja gar nicht daran!« Schon das
wäre Gotteslästerung gewesen. -- Nein, er konnte nicht reden. Wie sie
ihn ansehen würden! In starrem Entsetzen, entrüstet, mit Kummer und
Scham! Und da er im Alter stand, wo die Seele noch bildsam ist, wo ihre
überzarte Membran sich vor jedem Windhauch kräuselt und in Falten legt
und, unter so flüchtigen Fingern erschauernd, festere Gestalt annimmt,
so war er, ohne gestanden zu haben, doch schon voll Trauer und Scham.
Ach, wie felsenfest sie alle daran glaubten! (Aber ob nur alle wirklich
daran glaubten?) Wie machte man das? -- Er traute sich nicht zu fragen.
Als einzig Ungläubiger inmitten einer gläubigen Menge ist man wie einer,
dem ein Organ fehlt -- ein vielleicht überflüssiges Organ -- aber eins,
das alle übrigen besitzen; so birgt man denn errötend seine Blöße vor
ihren Blicken.

Der einzige, der in diesen Seelennöten der Vertraute des Jungen hätte
sein können, war der ältere Bruder. Philipp war für Peter ein Gegenstand
jener schwärmerischen Verehrung, mit der Halbwüchsige (ohne sich's
irgend merken zu lassen) zu älteren Brüdern, Schwestern oder fremden
Weggenossen aufsehen, ja auch zu Menschen, die ganz flüchtig aufgetaucht
und wieder verschwunden sind -- weil sie ihnen als reine Verkörperung
des Ideals erscheinen, dem sie in Lebens- und Liebesahnung zustreben: in
diesem bewundernden Aufblick liegt keusche Glut und dumpferer Drang, der
Zukunft will. Der große Bruder hatte diese kindliche Huldigung wohl
gemerkt und fühlte sich geschmeichelt. Bis in die letzte Zeit war er
stets bemüht gewesen, im Herzen des Jungen zu lesen und das Gelesene
schonungsvoll zu deuten: denn trotz seiner kräftigeren Natur war er, wie
der Jüngere, aus jenem feinen Stoffe geformt, der die besten Männer noch
etwas frauenhaft erscheinen läßt, ohne daß sie sich dessen schämen. Aber
da kam der Krieg und riß ihn aus Leben und Arbeit, aus seinen
naturwissenschaftlichen Studien, aus seinen Jünglingsträumen und dem
innigen Verkehr mit dem jüngeren Bruder. Im hochgespannten Rausch der
ersten Kriegstage hatte er alles stehen und liegen lassen und war
hinausgestürmt; wie sich ein großer Vogel toll in den Raum wirft, so
wollte der reine, heldische Tor mit Schnabel und Fängen der Ära der
Kriege ein Ende machen, das Reich des ewigen Friedens aufrichten auf
Erden. Seitdem war der große Vogel zwei, drei Mal ins Nest
zurückgekehrt; doch waren ihm leider jedesmal wieder ein paar
Schwungfedern ausgerupft. So mancher holde Wahn war dahin, aber er
konnte sich nicht überwinden, es einzugestehen. Daß er daran geglaubt
hatte, war ihm jetzt Scham und Demütigung. Er war dumm genug gewesen,
das Leben nicht so zu sehen, wie es ist. Jetzt war er unerbittlich im
Bestreben, es allen falschen Zaubers zu entkleiden und doch mit
stoischer Kraft zu bejahen, wie immer es sein mochte. Aber er kehrte
seine Stacheln nicht nur gegen sich selbst; in seiner Verbitterung
verfolgte er seine Illusionen bis ins Herz des Bruders, wo er sie wie
alte Bekannte wiederfand. Als er zum ersten Male nach Hause kam, flog
ihm Peter mit der ganzen Glut seiner eingemauerten Seele zu, fühlte sich
aber sogleich durch die Art und Weise des Heimkehrers schmerzlich
abgekühlt; das Wiedersehen war ja gewiß noch sehr herzlich, aber in der
Stimme des Bruders lag ein so scharf ironischer Klang! Die Fragen, die
sich auf seine Lippen drängten, wurden jäh zurückgescheucht. Philipp sah
diese Fragen auftauchen, aber mit einem Blick fegte er sie weg. Nach
zwei, drei fruchtlosen Annäherungsversuchen zog Peter die Fühler seines
Herzens ein und verkroch sich in sich selbst. Er kannte den Bruder gar
nicht wieder. Der andere erkannte den Zustand des Jüngeren nur zu gut.
Sah er doch in ihm wieder, was er noch unlängst selber gewesen war und
nun nicht mehr zu sein vermochte. Das ließ er ihn büßen. Nachher tat es
ihm leid, aber das ließ er sich nicht merken und fing immer wieder an.
Beide litten darunter; und da begann das allzu häufige Mißverstehen zu
wirken, daß ihr gemeinsames Leid, statt sie einander nahezubringen, sie
sich noch ganz entfremdete. Der einzige Unterschied bestand darin, daß
der Ältere wußte, wie nah verwandt ihre Qualen waren, während Peter
damit ganz allein zu stehen meinte, ohne eine Seele, der er sein Herz
erschließen durfte.

Warum wandte er sich denn nicht an seine Altersgenossen, an die
Schulkameraden? Hätten denn nicht vor allem diese jungen Leute sich
enger zusammenschließen und aneinander eine Stütze finden sollen? Aber
das trat durchaus nicht ein. Ein trauriges Verhängnis hielt sie vielmehr
völlig zersplittert, in kleine Gruppen verzettelt, und noch innerhalb
der letzten Grüppchen verhielt man sich kühl und mißtrauisch. Die
gewöhnlichsten Naturen hatten sich mit geschlossenen Augen kopfüber in
den Strom der Kriegsbegeisterung gestürzt. Die meisten hielten sich fern
davon, fühlten sich mit den vorangegangenen Generationen keineswegs
verknüpft, teilten durchaus nicht deren Leidenschaften, weder in
Hoffnung noch Haß; sie sahen dem rasenden Geschehen zu, wie Nüchterne
dem Treiben Betrunkener. Aber wie sich dagegen wehren? Viele gründeten
Zeitschriftchen, deren schwaches Leben nach den ersten Nummern aus
Luftmangel erlosch; die Zensur machte nicht viel Federlesens.
Frankreichs Geistesleben wurde wie unter der Glocke einer Luftpumpe
erstickt. Die Hochstehenden unter diesen Jünglingen fühlten sich zu
schwach zur Auflehnung, zu stolz zur Klage und lebten einfach im Gefühle
dahin, dem Kriege ans Messer geliefert zu sein. Wie in einem
Schlachthause warteten sie, bis sie an der Reihe waren: bis dahin
machten sie in all er Stille ihre Beobachtungen und bildeten sich ein
Urteil; in ihrem Blick lag etwas Verachtung und viel Ironie. Sie sahen
auf die umnachtete Herde herab und stürzten sich, des Widerspruches
wegen, in eine übertriebene geistige und künstlerische Verfeinerung
ihres Ich, in einen ideal gefärbten Sinnenkult, mit dem die gefährdete
Individualität ihr Recht gegen die Übergriffe der menschlichen
Gemeinschaft behaupten wollte. Welch Spottgebild einer Gemeinschaft, die
sich diesen Jünglingen nur als gemeinschaftlich verübtes oder erduldetes
Morden darstellte! Frühreife Erfahrung hatte ihre schönen Träume welk
gemacht: sie hatten gesehn, wie solche Träume bei ihren älteren Brüdern
greifbare Gestalt annahmen, und sie, die doch nicht daran glaubten,
sollten mit ihrem Leben dafür bezahlen! Sie hatten auch zu den Menschen
ihres Alters kein rechtes Vertrauen mehr; auch ihr Glaube an die
Menschheit im allgemeinen war erschüttert. Zudem konnte einem um diese
Zeit Vertrauensseligkeit teuer zu stehen kommen! Jeden Tag hörte man,
daß irgend jemandes Gedanken und Privatgespräche von patriotischen
Spitzeln verraten wurden, deren Eifer die Regierung ehrte und anfeuerte.
Entmutigung, Menschenverachtung, Klugheit und stoisches Gefühl
seelischer Einsamkeit bewirkten, daß die jungen Leute sich kaum je
aussprachen.

Peter konnte in diesem Kreise nicht den Horatio finden, den solche
achtzehnjährige Hamlets immer suchen. Es graute ihm davor, sein Denken
der öffentlichen Meinung hinzugeben (diesem öffentlichen Weibe), aber es
war ihm umso tieferes Bedürfnis, innige Vereinigung mit frei gewählten
Seelen zu suchen. Er war zu warm und weich, um ganz für sich bleiben zu
können. Er litt am Leiden der Gesamtheit. Dieser Berg von Qual erdrückte
ihn, zumal er seine Masse überschätzte: denn die Menschheit erträgt eben
all dies, weil ihr Fell etwas härter gegerbt ist als die neue Haut eines
zarten Jünglings. -- Aber eines übertrieb und überschätzte er sicher
nicht und es drückte ihn schwerer als die Qual der Welt: dies war ihr
idiotischer Stumpfsinn.

Leiden und selbst der Tod sind nichts, wenn man weiß wofür. Jedes Opfer
ist gut, dessen Warum man begreift. Aber was ist dies Warum? Was ist in
Jünglingsaugen der Sinn der Welt und ihrer zerstörenden Umwälzungen?
Kann ein gegen sich selber ehrlicher, gesunder Bursche wirklichen Anteil
nehmen an der rohen Balgerei der Nationen, die wie blödsinnige Widder
mit den Hörnern gegeneinander rennen, hart am Rande des Abgrunds, in den
sie alle stürzen werden? Und doch wäre die Straße breit genug für alle.
Warum also solch rasende Selbstvernichtung? Warum diese hochmütigen
Vaterländer, die Raubstaaten und die Völker, die man morden lehrt wie
eine heilige Pflicht? Warum dies allgemeine Gemetzel unter allen Wesen?
Diese Welt, die sich selber auffrißt? Warum dies unheimliche Schreckbild
einer endlosen Kette des Lebendigen, darin jeder Ring die Zähne in den
Nacken des nächsten Ringes einhaut, sich von seinem Fleische nährt, von
seinem Tode lebt? Warum der Kampf und warum der Schmerz? Warum der Tod?
Warum das Leben? Warum? Warum? . . .

Dies Warum schwieg, als der Junge an jenem Abende heimkam.

                   *       *       *       *       *

Und es war doch nichts anders geworden. Er stand wieder in seinem Zimmer
in einem Wirrwarr von Büchern und Papieren. Rings die altbekannten
Geräusche. Auf der Straße unten verkündigten Hornsignale das Ende des
Fliegeralarms. Von der Treppe her vernahm man das befriedigte Schwatzen
der Hausparteien, die aus dem Keller heraufstiegen. Aus dem oberen
Stockwerke hörte man das endlose Auf- und Abrennen des rappligen
Nachbars, der seit Monaten auf die Rückkehr seines verschollenen Sohnes
wartete. -- Doch seine gewohnten Sorgen und Ängste -- die lauerten nicht
mehr im Zimmer. Wird einmal ein unvollkommener Akkord angeschlagen, so
klingt er rauh und wirft Unruhe in unsere Seele, bis der eine Ton
hinzukommt, der die feindseligen oder kühl fremden Einheiten erst zu
einem Ganzen verschmilzt wie gegenseitig unbekannte Gäste, die gewartet
haben, bis man sie einander vorstellt. Sofort ist dann das Eis
gebrochen, und schöner Einklang strömt von Mensch zu Mensch. Bei Peter
hatte die heimliche Berührung einer warmen Hand diese wunderbare
Verwandlung bewirkt. Er wußte nicht, woher der neue Zustand kam; jedes
Zergliedern lag ihm jetzt ganz fern. Er spürte nur, wie die gewohnte
Tücke der Dinge plötzlich besänftigt war. So haben sich etwa stechende
Schmerzen in unserem Kopfe auf Stunden häuslich eingerichtet: auf einmal
merkt man, der Schmerz ist weg; wo ist er nur hingekommen? Ein Summen in
der Schläfe als Nachklang . . . das ist alles. -- Auch Peter traute dem
ungewohnten Frieden nicht recht. Er wurde den Argwohn nicht los, seine
Qual sammle in solcher Atempause nur frische Kräfte, um ihn dann mit
verdoppelter Wut anzufallen. So kannte er schon die Ruhepunkte, wie sie
die Kunst gewährt. Wenn in unsere Augen göttliches Ebenmaß an Linien und
Formen dringt oder im Ohre, in der wollüstigen Tiefe seiner Muschel, mit
spielend vielgestaltiger Schönheit die Akkorde gleich Perlenschnüren
rollen und sich im Gesetz magischer Zahlen edel verknüpfen, dann kehrt
der Friede in uns ein, und wir tauchen tief in die Flut der Freude. Aber
dies Strahlende kommt von außen, wie von ferner Sonne, deren Glühen über
unendlichen Raum hinweg uns mit Zauberkraft dem Leben hoch entrückt
hält. Doch das währt nur eine Weile, und dann sinkt man wieder zurück.
In der Kunst kann man die Wirklichkeit nur vorübergehend vergessen. Der
verschüchterte Peter war auf eine ähnliche Ernüchterung gefaßt. --
Diesmal jedoch kam die Ausstrahlung von innen her. Das Leben blieb ihm
dabei völlig gegenwärtig. Aber alles stand in schönem Einklang.
Erinnerungen und neue Eindrücke. Sogar tote Dinge, die Papiere und
Bücher, die im Zimmer verstreut lagen, bekamen Leben, bekamen eine
Wichtigkeit, die sie ganz verloren hatten.

Seit Monaten war seine geistige Entwicklung gehemmt; er war wie ein
Bäumchen, das in voller Blütenpracht vom Hauche der »drei Eismänner«
welk geworden ist. Freilich gab es praktische Jungen, welche die neuen
Prüfungserleichterungen zugunsten der jüngsten wehrpflichtigen Jahrgänge
so tüchtig ausnützten, daß sie, solange die Prüfer mehr als ein Auge
zudrücken mußten, Zeugnis über Zeugnis unter Dach brachten. Das war
Peters Art nicht. Andrerseits empfand er auch nicht den verzweifelten
Wissensdurst anderer junger Leute, die im Angesicht des Todes sich
gierig mit Kenntnissen vollpfropfen, zu deren Nachprüfung ihr Leben zu
kurz sein wird. Das ständige Gefühl eines grausen Weges ins Leere, ins
Nichts, das allenthalben hinter dem tollen, boshaften Trugbilde der Welt
verborgen war -- das schnitt seinem Wissensdrang die Schwingen durch. Er
stürzte sich auf ein Buch, auf einen Gedanken -- dann hielt er mutlos
inne. Was sollte ihm das? Wozu denn lernen? Wozu inneren Reichtum
häufen, wenn man doch alles verlieren, alles lassen soll, wenn einem
nichts zu eigen gehört? Tätigkeit und Wissen hatte nur dann einen Sinn,
wenn das Leben einen Sinn besaß. Um diesen Sinn des Lebens hatte er mit
höchster Anspannung des Geistes, in tiefster Herzenssehnsucht umsonst
gerungen. -- Und mit einem Schlage hatte sich dieser Sinn des Lebens
ganz von selber aufgetan . . . Das Leben hatte einen Sinn . . . Was war
das nur? -- Als er sich fragte, woher dies innere Lächeln kam, sah er
die halb geöffneten Lippen vor sich, auf denen zu ruhen seine Lippen
heiß begehrten.

                   *       *       *       *       *

In normalen Zeiten wäre dieser Zauberbann kaum von Dauer gewesen. Der
junge Mensch stand ja noch auf einem Punkte der Entwicklung, wo man nur
überhaupt Liebe begehrt und sie in jedem Auge findet; das unruhig
verlangende Herz flattert wie ein Schmetterling von einer zur andern; es
hat keine Eile in seiner Wahl: sein Tag hat erst begonnen. Aber da der
Tag so kurz sein sollte, tat doch Eile not.

Die Hast dieses Jungenherzens war umso größer, je mehr es im Rückstande
war. Die Großstadt erscheint freilich von weitem als dampfender
Schwefelpfuhl der Sinnengier, birgt aber auch unberührte Seelen und
kindlich reine Körper. Wieviel Jünglinge und Mädchen wollen die Liebe
nicht entwürdigen und treten mit keuschen Sinnen in die Ehe! Selbst in
den raffiniertesten Kreisen, wo die Neugier der Nerven vorzeitig gereizt
wird, steckt hinter den freien Redensarten so mancher jungen Weltdame
oder irgendeines Studenten oft ein nur sehr oberflächliches Wissen um
erotische Dinge. Sie haben von allem etwas läuten gehört und gar nichts
selber erfahren. Mitten in Paris gibt es Gebiete von geradezu
provinzieller Unschuld, gleichsam umhegte Klostergärtchen, quellenhafte
Reinheit. Nur seine Literaten bringen Paris in Verruf. Gerade die
sittlich Verkommensten sind die angeblich berufenen Wortführer der
Stadt. Und dabei weiß ja jeder, wie oft falsche Scham die Lautersten
hindert, ihre Reinheit zu bekennen. -- Peter kannte die Liebe noch
nicht; ohne Widerstand folgte er ihrem ersten Rufe. Sein seelischer
Rausch wurde dadurch aufs höchste gesteigert, daß seine Liebe unter den
Schwingen des Todesengels geboren war. In jener aufregenden Minute, als
sie die Drohung der Bomben über den Köpfen spürten und ihr Herz sich im
Anblick des Verstümmelten zusammenkrampfte, da hatte es ihre Finger
zueinander gezogen, und mitten im Schauer körperlich empfundener
Todesangst war beiden der Trost und Balsam eines unbekannten Freundes
zuteil geworden. Was lag nicht alles in diesem flüchtigen Händedruck!
Die Männerhand sagte: lehne dich an mich! -- Die andere aber überwand
mütterlich die eigene Furcht: mein kleiner Junge! Das wurde freilich
weder ausgesprochen noch gehört. Aber solch innerliches Flüstern füllt
die Seele ganz anders aus als Worte, die nur wie ein Vorhang das wahre
Denken unserm Blick entziehen. Peter ließ sich einwiegen von diesen
murmelnden Stimmen. Es klang wie das Summen goldgeringelter Bienen im
Halbschatten der Seele. Jetzt flossen ihm die Tage wieder traumschwer
dahin. Das nackt in Einsamkeit erstarrte Herz ahnte Nestwärme.

In diesen ersten Februartagen überblickte Paris erst die Verwüstungen
des letzten Fliegerangriffs und leckte seine Wunden. Die Presse lag im
Hundehaus an der Kette und kläffte Rache und Vergeltung. Nach dem
Programm des alten Clemenceau (der seinerzeit in seinem Blatte so lange
den »Mann in Ketten« gespielt hatte, bis er alle andern in Ketten
schlagen konnte) führte die Regierung Krieg gegen die Franzosen. Es
begann die Blütezeit der sensationellen Hochverratsprozesse. Der Anblick
eines Elenden, der mit einem blutdürstigen Staatsanwalt um sein armes
Leben rang, war ein Hochgenuß für die Pariser Gesellschaft; ihre
Theaterleidenschaft schien noch nicht durch vierjährigen Krieg und das
Schauspiel der zehn Millionen Toten übersättigt zu sein, die in den
Kulissen der Weltbühne zusammengebrochen waren.

Aber der Jüngling wußte nur noch von dem geheimnisvollen Gaste, der
jetzt bei ihm weilte. Seltsame Gewalt jener Eindrücke, die Liebe werden!
In den tiefsten Grund unseres Wesens sind sie geprägt und doch ohne
festen Umriß. Peter hätte weder die Form ihrer Züge, noch die Farbe
ihrer Augen oder die Linie ihres Mundes beschreiben können. Nur das
Gefühl, das sie in ihm erregt hatte, schwang in ihm nach. Bei jedem
Versuche, das Bild bestimmter zu fassen, wurde es entstellt. Es gelang
ihm auch nicht, sie in den Straßen von Paris wiederzutreffen. Jeden
Augenblick meinte er, sie zu sehen. Da war es ein Lächeln, dort das
Licht eines jungen Nackens, ein aufleuchtendes Auge. Schon schlug ihm
das Herz. Aber es bestand nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen
diesen vorüberhuschenden Eindrücken und dem wahren Bilde, das er suchte
und das er zu lieben meinte. Er liebte also nicht? Gerade weil er
liebte, war es so um ihn bestellt, deshalb sah er sie überall und in
allen Gestalten. Denn jedes Lächeln, jedes Licht, jedes Leben -- das war
Sie! Ein genauer Umriß hätte als Schranke gewirkt. -- Und doch will man
Umriß und Schranke, um Liebe fassen und halten zu können. Sollte er sie
auch nie mehr wiedersehen -- er wußte, sie war auf der Welt, war ein
Nest für seine Seele, der Hafen im Sturm, das Leuchtfeuer in der Nacht,
stella maris. Amor, Gott der Liebe, wache über uns in der Stunde unseres
Todes! . . .

                   *       *       *       *       *

Er ging längs der Seine an der Akademie vorüber und warf einen
zerstreuten Blick in den Kasten eines der wenigen Händler mit Schmökern
und Raritäten, der seinem Platz auf der Kaimauer treu geblieben war.
Dort gehen gerade die Stufen zum Pont des Arts hinauf. Da hob er die
Augen und sah die, auf die er wartete. Mit einer Zeichenmappe unterm Arm
bewegte sie sich die Treppe herunter wie ein zierliches Reh. Ohne sich
einen Augenblick zu besinnen, stürzte er ihr entgegen, und während er
empor- und sie herabstieg, trafen sich zum ersten Male ihre Blicke und
drangen tief ein. Als er sie dicht vor sich sah, blieb er stehen und
wurde rot. Überrascht sah sie sein Erröten und errötete auch. Bevor er
auch nur Atem geschöpft hatte, war der niedliche Rehschritt vorüber. Als
er seiner wieder mächtig wurde und sich umdrehn konnte, verschwand ihr
Kleid schon hinter der Ecke des Laubenganges in der Seinestraße. Er
machte keinen Versuch, ihr zu folgen. Er stützte sich auf das Geländer
der Brückenstiege und fand ihren Blick im fließenden Strome wieder. Da
hatte nun sein Herz für lange Nahrung . . . (O du liebe Jugendtorheit!)
. . .

Eine Woche später schlenderte er durch den Luxemburg-Park, den die Sonne
mit sanftem Gold füllte. Welch strahlend schöner Februar in diesem
todestraurigen Jahre! Offenen Auges träumte er vor sich hin und wußte
nicht recht, ob er davon träume, was er wirklich um sich sah, oder ob
dies Gesehene ein Traumbild war; in sehnsüchtigem Drange, in dumpfem
Liebesglück und -leid, schritt er verloren lächelnd dahin und regte
unbewußt die Lippen zu abgerissenen Worten: es wurde ein Lied. Er sah zu
Boden, in den Sand des Weges; da war ihm wie einem, den der Hauch einer
vorüberfliegenden Taube streift: er mußte einem Lächeln begegnet sein.
Er drehte sich um und sah, daß sie seinen Weg gekreuzt hatte. Sie war
weitergegangen, aber gerade in diesem Augenblicke wandte sie sich
lächelnd, um ihm nachzublicken. Da war es vorbei mit seinem Zaudern, er
kam auf sie zu und hätte ihr bald beide Hände entgegengestreckt; in
seiner Bewegung lag so viel stürmische Jugend und Unschuld, daß auch sie
in aller Unschuld wartend stehen blieb. Er bat nicht um Verzeihung für
die Freiheit, die er sich herausnahm. Die zwei Leutchen fühlten
keinerlei Befangenheit. Es war, wie wenn sie einfach ein begonnenes
Gespräch fortsetzen sollten.

»Sie lachen mich aus,« sagte er; »da haben Sie recht!«

»Ich lache Sie nicht aus.« (So schnell und biegsam wie ihr Gang war auch
ihr Sprechen.) »Sie haben ja selbst vor sich hingelacht, und darüber
mußte ich lachen.«

»Habe ich wirklich gelacht?«

»Sie lachen ja noch immer.«

»Jetzt weiß ich warum.«

Sie fragte nicht nach diesem Warum. Sie gingen nebeneinander her und
waren glücklich.

»Das schöne bißchen Sonne,« sagte sie.

»Das Frühlingskind, das Neugeborene!«

»Dem haben Sie wohl zugelacht, vorhin?«

»Nicht dem allein. Vielleicht Ihnen auch.«

»So ein kleiner Lügenbeutel! Warten Sie nur! Sie kennen mich ja gar
nicht.«

»Doch! Und ob! Wir haben uns ja, ich weiß nicht wie oft, gesehen.«

»Drei Mal, heute mitgerechnet.«

»Sehen Sie! Sie erinnern sich daran! Sie geben also zu, daß wir alte
Bekannte sind!«

»Was Sie nicht sagen!«

»Ja, was wär' da noch alles zu sagen, das meine ich auch . . . Kommen
Sie, setzen wir uns hier nieder . . . nur einen Augenblick, bitte,
bitte! Man sitzt so schön, am Wasser!«

(Sie waren beim Galatheen-Brunnen, den Arbeiter gerade mit einer
Verschalung zum Schutze gegen Bombensplitter versahen.)

»Ich kann nicht, ich versäume meine Tramway.«

Sie nannte die Abfahrtszeit. Er bewies ihr, daß sie noch mehr als
fünfundzwanzig Minuten Zeit hätte.

Das wohl, aber sie wollte erst da drüben, an der Ecke der Racinestraße,
ihr Vesperbrot kaufen; dort gab es so gute Semmeln. Da zog er ein
Brötchen aus der Tasche.

»Besser als das da sind die Semmeln gewiß nicht! . . . Bitte, nehmen Sie
doch! . . .«

Sie lachte und wollte nicht recht. Da steckte er ihr das Brötchen in die
Hand; die Hand behielt er in der seinen.

»Sie machen mir eine solche Freude damit . . . Kommen Sie doch, setzen
wir uns! . . .«

Er führte sie zu einer Bank in der Mitte der Allee, die das Bassin
umsäumt.

»Ich habe noch etwas . . .«

Er zog ein Täfelchen Schokolade aus der Tasche.

»So eine Naschkatze . . . Aber was wollen Sie noch sagen?«

»Hm . . . ich schäme mich, das Papier ist schon weg von der Schokolade
. . .«

»Ach geben Sie nur her, es ist ja Krieg.« Er sah zu, wie sie knabberte.

»Zum ersten Male merke ich, daß der Krieg auch sein Gutes hat.«

»Nur nicht vom Kriege sprechen, das ist so langweilig.«

»Ja,« sagte er begeistert, »nie werden wir vom Kriege reden.«

(Da ward ihnen plötzlich ganz leicht zumute.)

»Schaun Sie, wie diese komischen Kerlchen ihr Duschbad nehmen.«

(Sie zeigte auf die Spatzen, die am Brunnenrande große Wäsche hielten.)
»Aber dann haben Sie mich neulich am Abend« (das mußte er wissen) »doch
gesehn?«

»Freilich.«

»Aber Sie haben ja nie zu mir hingeschaut. Die ganze Zeit waren Sie nach
der andern Seite gewendet . . . Sehen Sie, gerade so wie jetzt . . .«

(Er sah sie im Profil; zierlich aß sie ihre Semmel und blickte
schelmisch vor sich hin.)

»Sehn Sie doch ein bißchen her! . . . Was gibt's denn da drüben zu
sehen?« Aber sie wendete ihm das Gesicht nicht zu. Er faßte ihre rechte
Hand, deren Handschuh am Zeigefinger zerrissen war und das Spitzchen
bloß ließ.

»Worauf sehen Sie denn?«

»Sie sehe ich an, wie Sie meinen Handschuh begutachten . . . aber Sie
zerreißen ihn ja noch mehr!«

(In Gedanken hatte er wirklich versucht, die offene Stelle zu
erweitern.)

»Ach verzeihen Sie! . . . aber wieso können Sie mich sehn?«

Sie antwortete nicht; aber im schalkhaften Profil flitzte die lachende
Pupille in den Augenwinkel.

»O wie durchtrieben!«

»Machen Sie's nach! . . . Aber Sie schielen ja dabei!«

»Das bring' ich nie fertig. Ich muß immer ganz grad und dumm vor mich
hinschaun, sonst seh' ich nichts.«

»Aber nein, nicht gar so arg dumm.«

»Endlich! Ich sehe Ihre Augen!«

Sie sahen einander an und lachten leise.

»Wie ist Ihr Name?«

»Lucia.«

»Wie hübsch! wie dieser Tag!«

»Wie heißen Sie?«

»Peter -- recht abgenützter Name.«

»Ein wackerer Name, mit ehrlichen, klaren Augen.«

»Wie die meinen.«

»Ja, klar sind sie wirklich.«

»Sie sehen doch Lucia an.«

»Lucia! . . . man sagt >Fräulein<.«

»Nein.«

»Nicht?«

(Er schüttelte den Kopf.)

»Für mich sind Sie kein >Fräulein<. Sie sind Lutz und ich bin Peter.«

Sie hielten sich bei den Händen gefaßt, ohne sich anzusehen. Wortlos
sahen sie in das zarte Himmelsblau zwischen den entblätterten Zweigen;
durch ihre Hände strömte ihr Denken und Fühlen ineinander über. Sie
sagte:

»Da neulich am Abend haben wir zwei eine gehörige Angst gehabt.«

»Ja,« sagte er, »das war schön.«

(Erst nachher mußten sie darüber lächeln, daß jeder nur ausgesprochen
hatte, was der andere dachte.)

Sie entzog ihm ihre Hand und stand rasch auf, weil sie die Uhr schlagen
hörte. »Es ist höchste Zeit . . .«

Er begleitete sie, die in jenen anmutigen Laufschritt der Pariserinnen
verfiel, dessen Geschwindigkeit man gar nicht merkt, so leicht scheinen
sie dahinzugleiten.

»Kommen Sie hier oft vorbei?«

»Jeden Tag. Aber meistens auf der anderen Terrassenseite.« (Sie zeigte
in die Tiefe des Gartens, auf die schon von Watteau gemalten
Baumgruppen.) »Auf dem Rückweg vom Museum.«

Er warf einen Blick auf die Mappe, die sie trug.

»Malerin?« fragte er.

»Nein,« sagte sie, »das wäre zuviel Ehre. Ich schmiere ein bißchen.«

»Warum? Zum Vergnügen?«

»Aber nein, für Geld.«

»Für Geld?«

»Abscheulich, nicht? Kunst nur als Gelderwerb!«

»Ich wundere mich nur, daß Sie damit Geld verdienen, wenn Sie also nicht
malen können!«

»Gerade darum. Ich werde es Ihnen schon noch erklären, das nächste Mal
. . .«

»Das nächste Mal beim Brunnen . . . Wir werden da wieder vespern, nicht
wahr?«

»Ich werde schaun. Wenn's schön ist.«

»Aber Sie kommen früher, nicht wahr? . . . Sagen Sie, Lutz . . .«

(Sie waren bei der Haltestelle angelangt. Sie sprang auf das Trittbrett
der Straßenbahn.)

»Antworten Sie mir, sagen Sie doch . . . Lucia . . . Luxchen . . .
kleines Lichtlein . . .«

Sie antwortete nicht; aber als die Bahn schon fuhr, zwinkten ihre
Wimpern »Ja«, und eine lautlose Bewegung ihrer Lippen sagte:

»Ja, Peter.«

Auf dem Heimwege dachten beide: Merkwürdig froh sehen heute abend die
Leute aus!

Sie lächelten, ohne sich einzugestehen, was geschehen war. Sie wußten
nur soviel, daß sie Es nun besaßen, in Händen hielten als ihr Eigen
. . . was denn? Ein Nichts. So reich waren sie an jenem Abende! . . .
Daheim besahen sich beide im Spiegel, mit herzlichen Blicken, wie man
einen Freund betrachtet. Sie sagten sich: »Jenes liebe Auge hat auf dir
geruht.« Beide gingen bald zu Bette, sie waren ganz erschöpft . . .
Wovon nur? Durch wunderbare Mühsal. Beim Auskleiden dachten sie:

»Das Schönste ist jetzt, daß es ein Morgen gibt.«

                   *       *       *       *       *

Morgen . . . spätere Geschlechter werden sich kaum mehr vorstellen
können, was in diesem Worte an stummer Verzweiflung lag, welch
abgründiger Überdruß, als der Krieg sich zum vierten Male jährte . . .
So müde war man . . . Wie oft war die Hoffnung schon getäuscht worden!
Hunderte von »Morgen« waren einander gefolgt und wurden ein immer
gleiches »Heute« und »Gestern«, alle dem Nichts und dem Warten
verfallen, dem Warten aufs Nichts. Es stockte der Lauf der Zeit. Das
lange Jahr war wie ein stygisches Gewässer, das schwarz und fettig das
Leben einschnürte, indem es mit düstern Schillerflecken nicht mehr zu
fließen schien. Morgen? Morgen war tot. Aber in den Herzen der zwei
Kinder war das Morgen auferstanden.

Dieses Morgen sah sie wieder beim Sperlingsbrunnen sitzen, und Morgen
folgte auf Morgen. Das schöne Wetter war diesen ganz kurzen Begegnungen
hold; jeden Tag waren sie etwas weniger kurz. Jedes brachte sein
Vesperbrot mit, weil das Tauschen so eine Freude war. Peter wartete
jetzt schon am Tor des Museums. Er begehrte ihre Arbeiten zu sehen. Sie
war zwar nichts weniger als stolz darauf, zeigte sie aber ohne viel
Umstände vor. Es waren verkleinerte Kopien nach berühmten Gemälden oder
nach Teilen solcher Gemälde, eine Gruppe, ein Kopf, ein Brustbild. Auf
den ersten Blick gar nicht so übel, aber unglaublich schlampig in der
Ausführung. Hie und da ein paar recht gelungene, hübsche Ansätze; aber
dicht daneben schülerhaft Mißlungenes, das nicht nur Unkenntnis der
Grundbegriffe aller Kunstübung verriet, sondern auch eine Sorglosigkeit,
die über fremdes Urteil hoch erhaben schien. -- »Ach was! Ist lange gut
genug! . . .« -- Lutz nannte die Originalgemälde, deren Kopien ihre
Blätter vorstellen sollten. Peter kannte diese Gemälde nur allzu genau.
Sein Gesicht war krampfhaft verzogen im Schmerz der Enttäuschung. Lutz
fühlte, daß er nicht zufrieden war; aber unerschrocken zeigte sie ihm
alles -- und sogar das da -- Krach! -- das Allermiserabelste. Dabei
stand ein spöttisches Lächeln auf ihrem Gesicht, das ebenso ihr selbst
wie Peter galt; bei alledem zwang sie das leiseste Nagen des Ärgers
nieder. Peter biß sich auf die Lippen, um keine Bemerkung zu machen.
Aber zuletzt wurde es ihm doch zu arg. Sie zeigte ihm gerade einen
florentinischen Raffael.

»Aber die Farben stimmen ja nicht!« sagte er.

»Wär' das größte Wunder,« sagte sie.

»Ich bin nicht hingelaufen, mir's anzuschauen. Ich hab's nach einer
Photographie gemacht.«

»Aber was sagen denn die Leute dazu?«

»Wer? Die Kundschaft? Die laufen doch auch nicht ins Museum, sich das
Original anschaun! . . . Und wenn, so nehmen sie's nicht so genau! Rot
oder Grün oder Blau -- wenn nur Farben da sind. Manchmal arbeite ich
wirklich nach farbiger Vorlage, aber dann nehme ich auch andere Farben
. . . Schaun Sie zum Beispiel das da . . .« (Ein Engel von Murillo.)

»Es gefällt Ihnen so besser?«

»Nein, aber Spaß hat es mir gemacht, und bequemer war's auch . . . und
schließlich ist mir's egal; die Hauptsache bleibt, daß ich Käufer finde
. . .«

Jetzt hatte sie ihren letzten Trumpf ausgespielt und hielt inne, nahm
ihm das Gekleckse aus den Händen und lachte hellauf.

»Was sagen Sie? Noch greulicher, als Sie sich's vorgestellt haben?«

Er fragte kummervoll:

»Aber wozu, wozu machen Sie solches Zeug?«

Mit einem guten Lächeln voll mütterlicher Überlegenheit betrachtete sie
sein tiefbetrübtes Gesicht: dieses lieben, verwöhnten Bürgersöhnchens
Lebensbahn war so eben gewesen, daß er sich nicht vorstellen konnte, wie
man oft gar klein beigeben mußte, um nur . . .

Er fragte noch einmal:

»Wozu? Sagen Sie mir nur: wozu?«

(Er war förmlich schuldbewußt, wie wenn er diese Kunstgreuel verbrochen
hätte . . . So ein guter kleiner Junge! Sie hätte ihn küssen mögen
. . . in allen Ehren, auf die Stirn.)

Sie sagte leise:

»Ich lebe davon.«

Das erschütterte ihn. Daran hatte er gar nicht gedacht.

»Ja, das Leben ist eine verzwickte Sache,« fuhr sie in leichtem,
spöttischem Tone fort. »Zunächst muß man essen, und zwar alle Tage.
Gestern abend hat man freilich sein Essen gehabt, aber heute ist's schon
wieder dieselbe Geschichte. Und kleiden soll man sich auch. Alles
kleiden, den Körper, den Kopf, die Hände, die Füße. Was da an
Kleidersachen zusammenkommt! Und bei allem heißt es zahlen. Bei allem.
Leben heißt zahlen.«

Zum ersten Male bemerkte er Einzelheiten, die seinen verliebten Blicken
bisher entgangen waren: das bescheidene, stellenweise recht enthaarte
Pelzwerk, die etwas abgetragenen Schuhe, alle Spuren von Dürftigkeit,
die nur die natürliche Eleganz einer kleinen Pariserin verwischen
konnte. Es schnürte ihm das Herz zusammen.

»Ach könnte ich nicht, könnte ich nicht -- Ihnen aushelfen?«

Sie rückte etwas ab und wurde rot.

»Nein, nein,« sagte sie, peinlich berührt; »keine Rede . . . Niemals!
. . . Das habe ich nicht nötig . . .«

»Aber mich würde es so glücklich machen!«

»Nein . . . Nicht mehr darüber reden. Oder wir sind Freunde gewesen
. . .«

»Dann sind wir also Freunde?«

»Ja. Das heißt, wenn Sie noch mein Freund sein wollen, nachdem Sie
diesen scheußlichen Kitsch gesehen haben?«

»Aber natürlich! Das ist doch nicht Ihre Schuld.«

»Aber es tut Ihnen weh?«

»Das schon.«

Sie lachte vor Behagen.

»Da lachen Sie? So boshaft zu sein!«

»Nein, ist nicht boshaft. Das verstehen Sie nicht.«

»Warum lachen Sie also?«

»Das sage ich nicht.«

(Sie dachte: Mein Liebes! Wie schön, daß dir weh tut, was ich Häßliches
gemacht habe.)

Sie sagte:

»Sie sind gut. Dank dafür.«

(Er sah sie mit erstaunten Augen an.)

»Geben Sie sich keine Mühe, das zu begreifen,« sagte sie, indem sie
leicht seine Hand berührte . . . »So, reden wir von was anderm . . .«

»Ja . . . nur noch ein Wort . . . Ich möchte aber doch wissen . . .
Sagen Sie mir -- aber nicht beleidigt sein! -- sind Sie vielleicht
gerade jetzt etwas in der Klemme?«

»O nein, ich habe das vorhin nur so gesagt, weil's bei uns ein paar Mal
verdammt knapp zugegangen ist. Aber jetzt steht es viel besser. Mutter
hat einen gut bezahlten Posten gefunden.«

»Ihre Mutter hat einen Beruf?«

»Sie ist Arbeiterin in einer Munitionsfabrik . . . zwölf Franken
täglich. Jetzt sind wir reich.«

»In einer Fabrik! in einer Fabrik für den Krieg!«

»Ja.«

»Aber das ist ja fürchterlich!«

»Mein Gott, man nimmt, was sich bietet.«

»Lutz, wenn sich aber Ihnen so etwas bieten möchte . . .«

»Mir? aber Sie sehen ja, ich kleckse lieber . . . Jetzt geben Sie wohl
zu, daß mein Geschmier noch nicht das Ärgste ist!«

»Aber wenn Sie verdienen müßten und es gäbe kein anderes Mittel als
Arbeit in einer solchen Granatenfabrik, würden Sie hingehn?«

»Ich müßte verdienen und hätte kein anderes Mittel? Gewiß ginge ich hin!
Mit beiden Händen griffe ich zu!«

»Lutz! Denken Sie daran, was man alles in solchen Fabriken erzeugt?«

»Nein, daran denke ich nicht.«

»Alles, was Qual und Tod bereitet, was zerreißt, verbrennt, was Wesen
martert, wie Sie, wie ich . . .«

Sie legte sich die Hand auf den Mund, damit er schweige.

»Ich weiß, das weiß ich alles, aber ich will nicht daran denken.«

»Sie wollen nicht daran denken?«

»Nein,« sagte sie.

Nach einer Pause fügte sie hinzu:

»Man muß doch leben . . . wenn man nachdenkt, lebt man nicht mehr
. . . und ich, ich will leben, will leben. Wenn ich, um zu leben,
gezwungen werde, dies oder jenes zu tun, soll ich mich um dies und jenes
kümmern und quälen? All dies geht mich nichts an. Ich will es ja nicht
so. Wenn es etwas Schlimmes ist, meine Schuld ist es nicht. Was ich
will, das ist nichts Schlimmes.«

»Was wollen Sie also?«

»Zunächst will ich leben --«

»Sie leben gerne?«

»Freilich. Habe ich nicht recht?«

»O gewiß! Es ist eine so gute Sache, daß Sie leben!«

»Sie leben nicht gerne?«

»Nicht gerne bis zum Augenblicke, wo . . .«

»Bis wann?«

Aber diese Frage bedurfte keiner Antwort. Die wußten beide im voraus.
Peter aber ließ nicht locker:

»Sie sagten: >Zunächst will ich leben< -- und was noch? . . . Was wollen
Sie weiter?«

»Ich weiß nicht.«

»O Sie wissen schon . . .«

»Sie sind aber schon sehr neugierig.«

»Sehr!«

»Ich schäme mich ein bißchen, wenn ich's Ihnen sagen soll . . .«

»Sagen Sie mir's ins Ohr. Dann hört es niemand.«

Sie lächelte.

»Ich möchte . . .« (Sie stockte.) »Ich möchte ein klein bißchen Glück
. . .«

(Sie waren dicht aneinandergerückt.) Sie fuhr fort:

»Verlange ich zu viel? . . . Man hat mir oft gesagt, das ist egoistisch,
und ich denke mir manchmal auch: Hat man denn ein Recht darauf? . . .
Wenn man um sich herum soviel Elend und Kummer sieht, wagt man nicht
sich aufzulehnen. Aber mein Herz lehnt sich doch auf und schreit: Ja,
ich habe ein Recht auf ein bißchen, ein klein bißchen Glück . . . Sagen
Sie mir aufrichtig, ist das egoistisch? scheint es Ihnen schlecht?«

Peter ergriff ein unendliches Erbarmen. Dieser schwache Schrei aus einem
Kinderherzen erschütterte ihn bis zum Grunde seiner Seele. Es kamen ihm
die Tränen. Aneinandergelehnt saßen sie auf der Bank und jedes spürte
die Körperwärme des andern. Es trieb ihn so sehr, sich zu ihr zu wenden
und sie in seine Arme zu schließen. Er wagte sich nicht zu rühren, aus
Angst, seiner Bewegung dann nicht mehr Herr zu sein. Reglos sahen die
beiden vor sich nieder. Seine Stimme zitterte von verhaltener
Leidenschaft, als er jetzt, fast ohne die Lippen zu regen, sehr rasch
und ganz leise sagte:

»O mein liebes Körperchen du! Du mein Herzchen! Diese kleinen Füße
möchte ich fassen und meine Lippen darauf drücken, ganz aufessen könnte
ich Sie . . .«

Ohne aufzusehen, sagte sie auch sehr schnell und leise, in tiefer
Verwirrung:

»Narr! kleiner Narr! . . . Stillsein! . . . ich bitte Sie . . .«

Ein alter Herr spazierte langsam an ihnen vorbei. Sie fühlten, wie ihre
Körper sich in Liebe zerlösten . . .

Nun war niemand mehr in der Allee. Ein struppiger Spatz badete im Sande.
Der Brunnen warf seine hellen Tröpfchen in die Luft. Befangen zögernd
wandten sich ihre Gesichter einander zu; kaum aber hatten sich ihre
Blicke getroffen, als sie schon wie Vögelchen sich zueinander schwangen;
eilig und ängstlich war ihr Kuß, dann flogen sie wieder auseinander.
Lutz stand auf und wollte gehen. Er war auch aufgestanden. Sie sagte:
»Bleiben Sie!«

Sie wagten nicht mehr, sich anzusehen. Er flüsterte:

»Lutz . . . dies klein bißchen Glück . . . nicht wahr? . . . jetzt haben
wir's!«

                   *       *       *       *       *

Schlechtes Wetter machte den Vesperstunden beim Sperlingsbrunnen ein
Ende. Nebel umhüllte die Februarsonne. Aber die in ihren Herzen
vermochte er nicht zu ersticken. Ach, das Wetter mochte sein, wie es
wollte: kalt oder heiß, regnerisch, windig, mit Schnee oder
Sonnenschein! Ihnen würde es gewiß willkommen sein. Jede Witterung kam
ihnen besonders günstig vor. Denn solange ein Glück im Sprießen ist,
scheint das Heute immer als der schönste Tag.

Der Nebel war ihnen ein lieber Anlaß zu täglichem, stundenlangem
Beisammensein. Die Gefahr gesehn zu werden war sehr verringert. -- Nun
holte er sie schon früh von der Tramway ab und begleitete sie bei ihren
Gängen in der Stadt. Er hielt den Rockkragen aufgeschlagen. Sie trug ein
Pelzhütchen, und ihr Kinn war tief in ihre Boa vergraben. In den dichten
Schleier spannten die geschwungenen Lippen ein winziges Rund. Aber der
beste Schleier war ihnen die feucht hüllende Webe des Nebels. Der lag
schwer und grau wie Asche, von gelblichem Phosphorlicht durchtastet. Man
sah keine zehn Schritt weit. Der Dunst wurde noch dichter, wenn sie
durch eine der alten Querstraßen zur Seine heruntergingen. Du lieber
Nebel, wohlig kühle Ruhstatt der Träume, dein Eishauch ist nur ein
Wonneschauer! Den beiden war darin wie der Mandel in ihrer Fruchthülle,
wie dem Flämmchen in einer abgeblendeten Laterne. Peter hielt Lutzens
linken Arm dicht an sich gedrückt; sie gingen im gleichen Schritt; sie
waren fast gleich groß, Lutz ein bißchen größer; so zwitscherten sie
halblaut, fast Wange an Wange; wie gern hätte er auf dem Schleier das
betaute Rund ihres Mündchens geküßt!

Das gewöhnliche Ziel ihrer Geschäftsgänge war der Laden des fragwürdigen
»Kunst- und Antiquitätenhändlers«, für den sie ihr »Grünzeug«, wie sie
sagte, herstellen mußte. Sie hatten es nie sehr eilig mit dem Hinkommen
und, angeblich nur durch Zufall gerieten sie immer auf die längsten
Umwege und dann mußte der Nebel schuld sein. Wenn trotz allem das Ziel
schließlich doch in greifbarer Nähe erschien, blieb Peter zurück, Lutz
trat in den Laden. Er wartete an der nächsten Ecke. Er mußte lange
warten und die Kälte war recht empfindlich. Aber er war selig, um
ihretwillen warten, frieren und sich langweilen zu dürfen. Endlich kam
sie wieder heraus, lief lächelnd herbei und fragte mitleidig und
besorgt, ob er denn nicht schon ein Eiszapfen war, der Arme! Er las es
ihr jedesmal von den Augen ab, wenn sie beim Trödler Glück gehabt hatte,
und dann freute er sich, wie wenn er den Gewinn eingeheimst hätte. Aber
meistens kam sie mit leeren Händen wieder; sie mußte zwei, drei Mal
hingehen, ehe sie zu ihrem bißchen Gelde kam. Dabei konnte sie noch von
Glück sagen, wenn man die bestellte Arbeit nicht noch mit Grobheiten
zurückwies. Heute, zum Beispiel, gab es großes Geschrei wegen einer
Miniatur nach der Photographie eines verstorbenen Ehrenmannes, den sie
nie gesehn hatte. Die Familie war empört, weil die Haar- und Augenfarbe
nicht stimmte. Sie mußte es noch einmal machen. Sie war geneigt, solches
Mißgeschick tapfer von der heiteren Seite zu nehmen, und lachte nur
darüber. Peter aber lachte nicht. Er war außer sich vor Zorn.

»Solche Trottel! Erztrottel!«

Wenn Lutz ihm Photographien zeigte, die sie in Farben kopieren sollte,
flammte er in grimmiger Verachtung auf -- (wieviel Spaß machten ihr
diese komischen Wutanfälle!) -- gegen diese Idioten-Gesichter, diese
feierlich grinsenden Klötze. Es schien ihm eine Entweihung, daß Lutzens
liebe Augen sich mit diesen Eselsmienen vollsaugen, daß ihre Hände
solche Züge wiedergeben sollten. Es war einfach empörend! Da war ihm
noch das Kopieren im Museum lieber. Aber damit war es vorbei. Die
letzten Museen wurden geschlossen und die Kundschaft verlor jedes
Interesse dafür. Weder Madonnen noch Engel regierten die Stunde; jetzt
galten nur die rauhen Krieger. Jede Familie hatte den ihren, tot oder
noch lebend -- öfter aber tot -- und wollte seine Züge verewigt sehen.
Die Reichsten bestellten Porträts in Farben: diese Arbeit wurde recht
gut bezahlt, bot sich aber nur noch selten; man durfte nicht wählerisch
sein. In Ermanglung besserer Aufträge blieb nichts anderes übrig, als zu
lächerlich niedrigen Preisen sich mit dem Vergrößern von Photographien
zu befassen. Die nächste Folge war, daß Lutz jetzt jeder Vorwand fehlte,
so lange in der Stadt zu verweilen; sie hatte ja nicht mehr in den
Museen zu kopieren, sondern einfach jeden zweiten oder dritten Tag beim
Kunsthändler vorzusprechen, um Arbeiten zu übernehmen oder abzuliefern;
die Arbeit selbst ließ sich zu Hause machen. Das paßte nun den zwei
jungen Leuten ganz und gar nicht. Wie zuvor schlenderten sie ziellos
durch die Gassen und konnten sich nicht entschließen, den Weg zur
Station einzuschlagen. Da sie müde und vom Nebel durchkältet waren,
traten sie in eine Kirche ein; dort setzten sie sich artig in eine
Kapellennische und sprachen leise von den kleinen Dingen ihres Alltags;
dabei sahen sie in die Glasgemälde der Fenster. Von Zeit zu Zeit wurden
sie still, und ihre Seelen, frei vom Joch der Worte (es kam ihnen ja
nicht auf den Sinn der Worte an, sondern auf den Lebenshauch darin, der
wie die zarte Berührung zitternder Fühlfäden war), ihre Seelen also
pflogen dann ernstere, tiefere Zwiesprache. Die traumhafte
Farbenherrlichkeit der Glasgemälde, das Düster der Pfeiler, das Gesumme
der Litaneien mengten sich in ihre Träumerei, weckten die Vorstellung
der Bitternisse des Lebens, die sie vergessen wollten, und flößten
tröstliches Heimweh nach dem Unendlichen ein. Obgleich es fast schon elf
Uhr vormittags war, erfüllte, wie Öl aus heiligem Kruge, gelbliche
Dämmerung das Schiff der Kirche. Aus fernster Höhe floß seltsames
Leuchten: dunkler Purpur, ein roter Tropfen im Veilchenblau eines
Riesenfensters, undeutliche Gesichter, von schwarzer Metallfassung
umrahmt. Das blutfarbene Licht stieß eine Wunde in die hohe Nebelwand.
. . Lutz sagte ganz unvermittelt:

»Kommen Sie auch dran?«

Er begriff sogleich, was sie meinte, weil sein Geist in diesem Schweigen
derselben düsteren Fährte gefolgt war.

»Ja,« sagte er. »Aber nicht davon sprechen!«

»Nur eines sagen Sie mir: Wann?«

»In einem halben Jahre.«

Sie seufzte.

»Sie dürfen nicht mehr daran denken. Das nützt ja gar nichts.«

Sie wiederholte:

»Gar nichts.«

Sie holten recht tief Atem, um diese Vorstellung zu verdrängen. Dann
zwangen sie sich tapfer (oder sollte man nicht eher sagen »feige«? Wer
kann entscheiden, was der wahre Mut ist?), von andern Dingen zu reden,
von den Kerzenflammen, die im Wachsduft wie Sterne flimmerten, von der
präludierenden Orgelmelodie, vom Mesner, der gerade vorbeiging, von den
immer neuen Entdeckungen, die Peter in ihrem Handtäschchen machte, wenn
seine neugierigen Finger darin forschten. Mit wahrer Leidenschaft
stürzten sie sich auf jede Kleinigkeit, die sie heiter ablenken konnte.
Keinem der beiden Kinder fiel es auch nur im Traume ein, sie könnten dem
Schicksal, das sie voneinander reißen wollte, irgendwie entrinnen. Statt
sich dem Kriege entgegenzustemmen, dem entfesselten Strome eines ganzen
Volkes Trotz zu bieten, dürfte man eher versuchen, die Kirche, deren
steinerner Panzer sie umgab, aus ihren Grundfesten zu heben. Das einzige
Auskunftsmittel war zu vergessen, bis zum letzten Augenblicke zu
vergessen und sich insgeheim mit der leisen Hoffnung zu schmeicheln, der
letzte Augenblick würde nie kommen. Bis dahin nur glücklich sein!

Als sie plaudernd den Rückweg von der Kirche antraten, verriet ihm der
Druck ihres Armes, daß sie noch einen Blick auf die Auslage werfen
wollte, an der sie eben vorbeigekommen waren. Ein Schuhgeschäft. Er sah,
wie ihr Blick liebkosend ein Paar hoher Schnürstiefelchen umfing.

»Hübsch?« fragte er.

»Einfach süß!« sagte sie.

Er lachte über den Ausdruck und sie lachte mit.

»Sind sie nicht zu groß?«

»Nein, gerade recht.«

»Da könnte man sie ja kaufen?« Sie drückte seinen Arm und zog ihn fort,
um sich dem verführerischen Anblick zu entreißen.

»Das ist nur für reiche Leute, _ist nicht für uns, ist nicht für uns,_«
sang sie nach einer alten Volksweise.

»Warum denn nicht? Aschenbrödel hat auch den schönen Pantoffel
angezogen.«

»Ja, damals gab's noch Feen!«

»Dafür gibt's heute noch verliebte Jungen.«

Sie sang wieder:

_»Es darf nicht sein, mein Freund, nein, nein!«_

»Warum denn nicht, da wir doch Freunde sind?«

»Gerade darum.«

»Wieso?«

»Gerade von einem Freunde darf man keine Geschenke annehmen.«

»Also nur von einem Feinde?«

»Von einem Fremden, das geht eher; wenn nur mein Kunsthändler mit einem
Vorschuß herausrücken wollte, der Geizkragen!«

»Aber Lutz, ich habe schließlich doch auch das Recht, bei Ihnen ein Bild
zu bestellen, wenn's mir paßt!«

Sie konnte gar nicht weiter gehn vor Lachen.

»Sie wollen also ein >Werk< von mir besitzen? Mein armer Freund, was
sollten Sie damit? Es war schon gerade genug, daß Sie das Zeug
angeschaut haben. Ich weiß ganz genau, daß es Schund ist. Für den Genuß
würden Sie sich bedanken.«

»Aber durchaus nicht, es waren reizende Sachen dabei. Und schließlich
ist das Geschmackssache.«

»Ihr Geschmack hat sich merkwürdig schnell geändert.«

»Darf er das nicht?«

»Nein, bei Freunden nicht.«

»Lutz, porträtieren Sie mich!«

»Na hören Sie, porträtieren soll ich Sie auch noch?«

»Aber es ist mein voller Ernst, neben diesen Schafsköpfen werde ich wohl
noch bestehen können!«

Da drückte sie fest seinen Arm, und ihr entschlüpfte das Wort:

»Mein Schatz!«

»Was haben Sie gesagt?«

»Nichts.«

»Ich habe es ganz gut gehört.«

»Dann behalten Sie's für sich!«

»Nein, ich behalte es nicht für mich, ich gebe es Ihnen doppelt wieder
. . . Mein Schatz! . . . Mein Schatz! . . . Sie machen also mein
Porträt, nicht wahr? . . . Abgemacht?«

»Haben Sie eine Photographie?«

»Nein, ich habe keine.«

»Ja wie soll ich's dann anfangen? Ich kann Sie doch nicht auf der Gasse
malen?«

»Sie haben mir doch erzählt, daß Sie meist allein zu Hause sind?«

»Ja, an den Tagen, wo Mutter in der Fabrik ist. Aber ich getraue mich
nicht . . .«

»Haben Sie Angst, daß man uns sieht?«

»Nein, deswegen nicht. Wir haben keine Nachbarn.«

»Also was fürchten Sie dann?«

Lutz antwortete nicht. Sie waren bei der Elektrischen angelangt. Es
warteten zwar viele Leute, aber man sah sie kaum, der Nebel schied das
Pärchen immer noch von der übrigen Welt. Sie mied seinen Blick.

Da faßte er ihre beiden Hände und sagte warm:

»Keine Angst haben, mein Schatz . . .« Lutz erhob den Blick, und sie
sahen einander in die Augen; diese zwei Augenpaare schauten so klar und
ehrlich! »Ich vertraue Ihnen,« sagte sie. Sie schloß die Augen. Sie
fühlte, daß sie ihm heilig war.

Die Hände lösten sich voneinander. Die Tram gab das Abfahrtszeichen. In
Peters Blick lag eine innige Bitte.

»An welchem Tage?« fragte er.

»Mittwoch,« antwortete sie, »kommen Sie gegen zwei Uhr . . .« Im letzten
Augenblick vor der Abfahrt fand sie ihr schalkhaftes Lächeln wieder; sie
sagte ihm ins Ohr:

»Aber bringen Sie doch Ihre Photographie mit. Ich kann ja zu wenig, um
ohne Photographie zu malen . . . O ja! O ja! Ich weiß, Sie haben schon
welche, Sie kleiner Erzschwindler Sie!«

                   *       *       *       *       *

Äußerste Vorstadt, noch hinter der Malakoffstraße. Halbausgebaute
Straßen stehen zahnlückig da und werden von wüsten, noch unverbauten
Flächen unterbrochen, die schon in eine Art ländliche Gegend von
zweifelhaften Reizen sich verlieren, wo zwischen Plankenzäunen Hütten
von Lumpensammlern lieblich verstreut sind. Trübgraue Wolkenschläuche
liegen lang auf der farbenarmen Erde, aus deren magern Rippen Nebel
dampft. Die Luft ist schneidend kalt. Man kann das Haus nicht verfehlen:
nur drei stehen auf dieser Straßenseite, es ist das letzte und hat kein
Gegenüber. Es ist einstöckig und hat einen von Staketen umzäunten Hof
mit zwei, drei armseligen Sträuchern und einem Gemüsebeet, das jetzt
unterm Schnee liegt.

Peter ist geräuschlos eingetreten; der Schnee dämpft den Schall seiner
Schritte. Aber die Vorhänge im Erdgeschoß bewegen sich; und wie er zur
Türe kommt, öffnet sie sich und Lutz steht auf der Schwelle. Die Stimme
versagt ihnen, wie sie sich im halbdunklen Hausflur begrüßen. Sie führt
ihn in das erste Zimmer, das als Wohnraum dient. Dort arbeitet sie auch,
ihre Staffelei steht beim Fenster. Erst wissen sie nicht, was sie reden
sollen; sie haben den Genuß dieses Zusammenseins schon zu sehr in
Gedanken vorweggenommen; all die schönen Worte, die sie sich
zurechtgelegthatten, bleiben ihnen in der Kehle stecken; sie getrauen
sich nur halblaut zu sprechen, trotzdem sie allein im Hause sind, oder
vielmehr gerade darum. Steif bleiben sie in ziemlichem Abstande
voneinander sitzen. Sie wagen nicht, die Arme zu bewegen, nicht einmal
den Mantelkragen hatte er heruntergeklappt. Sie reden vom kalten Wetter
und vom Fahrplan der Straßenbahn. Dabei sind sie todunglücklich, daß
ihnen nichts Gescheiteres einfallen will.

Endlich rafft Lutz sich zur Frage auf, ob er die Photographien
mitgebracht habe; kaum nimmt er sie aus der Tasche, ist das Eis
gebrochen. Die Bilder sind die erwünschten Mittler, über die hinweg man
erst frei plaudern kann; man ist doch nicht mehr unter vier Augen, es
sind noch andere Augen auf einen gerichtet, aber die stören nicht. Peter
hatte den glänzenden Einfall gehabt (es war ganz ohne Hintergedanken
geschehen), alle seine Bilder, vom dritten Lebensjahre an, mitzubringen.
Eines dieser Bilder zeigt ihn noch im Kleidchen. Lutz lacht hellauf vor
Freude; sie hat für das Bild zierlich lustige Kosenamen und
Schmeichelworte. Gibt es denn etwas Süßeres für eine Frau, als ein
Klein-Kinderbild des Geliebten zu betrachten? In Gedanken wiegt sie ihn
auf den Armen, reicht ihm die Brust -- fast ist ihr, als hätte sie ihn
unter dem Herzen getragen. Dabei spürt sie ganz genau, wie schön sich
dem kleinen Knirps alles sagen läßt, was man dem Erwachsenen nicht sagen
kann. -- Als er sie fragt, welche Photographie ihr am besten gefällt,
sagt sie ohne Bedenken: »Das liebe Kerlchen da . . .«

Wie ernst er schon dreinschaut! Ernster beinahe als heute. Wirklich,
wenn Lutz sich getraut hätte (und richtig, eben traut sie sich), Peter
recht anzusehn, um seine heutige Erscheinung mit den alten Bildern zu
vergleichen, so würde sie jetzt in seinen Augen einen Ausdruck
harmloser, kindlicher Freude entdecken, die dem Kleinen noch fehlt; die
Augen dieses kleinen Bürgerkindchens, das hübsch unter der Glasglocke
gehalten wurde, sind wie Vöglein in verdunkeltem Käfig; jetzt ist eben
das Licht gekommen, nicht wahr, Lucia, Lichtlein? . . . Jetzt möchte er
aber Photographien von Lutz sehen. Da beschaut er nun ein sechsjähriges
Mädelchen mit dickem Zopf, das einen kleinen Hund fest in den Armen
hält; wie Lutz dieses Bild wieder erblickt, meint sie bei sich mit einer
Anwandlung von Bosheit, ihre damalige Liebe zu dem Tierchen wäre nicht
geringer und kaum andern Wesens gewesen als die jetzige; ihr ganzes Herz
gab sie ihrem Peter, wie sie es dem Hündchen gegeben hatte; vielmehr
hatte auch schon die erste Liebe Peter gegolten und der Hund war sein
Platzhalter gewesen. Lutz zeigt auch ein kleines Fräulein von dreizehn
oder vierzehn Jahren, das kokett und etwas geziert den Hals verdreht;
zum Glück wich aus den Mundwinkeln nie ein kleines, schelmisches
Lächeln, das zu sagen schien:

»Wißt ihr? Ich spaße nur; ich nehme mich nicht ganz ernst . . .«

Jetzt hatten beide ihre Befangenheit ganz und gar überwunden.

Sie begann das Porträt mit dem Stifte zu entwerfen. Da er sich nicht
rühren und auch beim Sprechen kaum die Lippen bewegen sollte, redete
fast nur sie allein. Aber wie es aufrichtigen Menschen geht, wenn sie
ein wenig zu lange sprechen müssen, kam sie im Handumdrehen auf die
Geheimnisse ihrer engeren und weiteren Familie zu reden, die sie
durchaus nicht hatte enthüllen wollen. Sie war selber erstaunt, wie sie
sich dabei zuhörte; aber da gab es kein Halten mehr: gerade Peters
Schweigen wirkte wie ein Abhang, der den Strom ihrer Worte unablässig
fließen ließ . . .

Sie erzählte von ihrer Kinderzeit in der Provinz. Sie stammte aus der
Touraine. Die Mutter war aus gutem, wohlhabendem Bürgerhause und hatte
sich in einen Lehrer bäuerlicher Abstammung verliebt. Ihre Familie
wollte von einer solchen Heirat nichts wissen; aber die zwei Liebesleute
bestanden auf ihrem Willen, das junge Mädchen wartete ihre
Volljährigkeit ab und vermählte sich dann ohne die Zustimmung ihrer
Eltern. Seitdem wollten ihre Leute von ihr nichts mehr wissen. Dem
jungen Paare waren bei sehr beschränkten Mitteln ein paar Jahre innigen
Zusammenlebens beschieden. Aber der Mann hielt die Überbürdung auf die
Dauer nicht aus. Er erkrankte. Die Frau nahm nun tapfer auch seine Last
auf sich; sie arbeitete für zwei. Der beleidigte Standesdünkel ihrer
Eltern ließ sie in feindlicher Kälte verharren, sie wollten nichts für
die Tochter tun. Der Kranke war ein paar Monate vor Kriegsausbruch
gestorben. Die beiden Frauen hatten keinen Versuch mehr gemacht,
Beziehungen zur Familie der Mutter anzuknüpfen. Diese hätte gewiß das
junge Mädchen zu Gnaden aufgenommen, wenn es den ersten Schritt getan
hätte -- das wäre dann als ein mea culpa der Mutter aufgefaßt worden.
Aber da konnten die lange warten! Eher Kieselsteine essen!

Peter staunte über die Hartherzigkeit dieser bürgerlichen Verwandten.
Lutz sah darin nichts Unerhörtes.

»Solche Leute sind doch gar nicht so selten, glauben Sie nicht? Im
Grunde sind sie nicht böse. Davon bin ich bei meinen Großeltern fest
überzeugt; sie hätten uns also gewiß so gerne zugerufen: >Kommt wieder
zu uns!< Aber für ihren Dünkel war der Stoß gar zu hart, und was ist
denn allein groß bei solchen Leuten? Eben nur ihr Dünkel! Hat man ihnen
Unrecht getan, so sehen sie nicht nur dies so oder so beschaffene
Unrecht, sondern es wird einfach >das Unrecht< schlechthin: die andern
sind eben im Unrecht, sie aber wohnen im Recht. Und dabei brauchen sie
gar nicht bösartig zu sein (sie sind's auch wirklich nicht) -- aber sie
ließen einen vor ihren Augen eher bei langsamem Feuer verbrennen, statt
zuzugeben, daß sie vielleicht nicht im Rechte waren. Nein, ihre
Verwandten waren die einzigen nicht! Da hatte man noch ganz andere Fälle
erlebt! . . . Habe ich nicht recht,« sagte sie, »sind sie nicht so?«

Peter dachte nach. Es ging ihm völlig ein. Er mußte sich sagen:

»Aber ja. Sie sind so . . .«

Das kleine Mädchen hatte ihm mit einem Male die Augen geöffnet für die
ganze Engherzigkeit, die armselige Dürre der Bürgerkaste, der er
angehörte. Ausgetrocknetes, ausgesogenes Erdreich, das nach und nach
alle seine Lebenssäfte aufgebraucht hat und sie nicht mehr zu erneuern
vermag, wie jene Gegenden Innerasiens, wo befruchtende Ströme
tropfenweis im gleißenden Sande versickert sind. Sogar die Menschen, die
sie zu lieben meinen, lieben diese Bürger nur wie einen toten Besitz;
ihrem Selbstsinn opfern sie jene auf, ihrem versteiften Hochmut, ihren
kleinlichen, verrannten Ideen. Peter sah nun in diesem Lichte mit tiefer
Trauer seine eigenen Eltern und sein eigenes Dasein. Er schwieg. Die
Fensterscheiben erbebten von fernem Geschützfeuer. Peter dachte an die
Menschen, die dort sterben mußten, und sagte bitter:

»Und das ist auch ihr Werk.«

Dies heisere Kanonengebelfer, der Krieg, der allgemeine Zusammenbruch --
ging nicht dies alles großenteils auf Rechnung eben jener Herzenskälte
und Unmenschlichkeit, jenes bornierten Dünkels der Bürgerkaste? Aber
jetzt (es gab noch eine Gerechtigkeit!) wollte das entfesselte Ungeheuer
nicht innehalten, ehe es eben jenes Bürgertum verschlungen hatte.

Lutz sagte:

»Es ist gerecht.«

Sie ahnte gar nicht, wie ihr Denken so ganz gleichen Schritt hielt mit
Peters Gedanken. Der schrak förmlich zusammen vor diesem Widerhall.

»Ja, es ist gerecht,« sagte er, »gerecht ist alles, was da geschieht.
Die Welt war zu alt, sie mußte und wollte sterben.«

Lutz senkte den Kopf und stimmte ein:

»Ja.«

Wie sich doch diese ernsten Kinderstirnen einem unausweichlichen
Geschicke beugten und in scharfen Falten die Spur verzweifelnden
Grübelns trugen! . . .

Es wurde dämmrig im Zimmer, das auch ziemlich ausgekühlt war. Lutzens
Hände waren eiskalt, wie sie ihre Arbeit abbrach. Peter durfte das Bild
nicht ansehn. Sie traten nun ans Fenster und schauten in den Abend
hinaus, über trübselige Felder auf bewaldete Höhenzüge. Über diesem
veilchenblauen Bogenzug von Wäldern lag der blaßgrüne, goldbestäubte
Himmel. Ein Hauch aus der Seele des Puvis de Chavannes war über diesem
Bilde. Lutz verriet durch ein schlichtes Wort, wie sehr sie diesen
zarten Frieden empfand. Als ihn das fast ein wenig wunderte, war sie gar
nicht gekränkt sondern meinte, man könne ganz wohl etwas fühlen, das man
nicht in Kunstwerken auszudrücken vermöge. Es war auch nicht bloß ihre
Schuld, wenn sie gar so stümperhaft malte. In übel angebrachter
Sparsamkeit hatte sie ihren Kurs in der Kunstgewerbeschule nicht bis zu
Ende besucht. Übrigens war sie nur in der Not aufs Malen verfallen. Wozu
überhaupt malen, wenn es einen nicht dazu trieb? Peter mußte doch auch
bemerkt haben, wie die meisten nicht aus innerem Drange sich
künstlerisch betätigten, sondern aus Eitelkeit, aus Langerweile -- oder
auch weil sie sich zuerst den wahren inneren Beruf zugetraut hatten und
später ihren Irrtum nicht eingestehn wollten. Man sollte doch nur dann
Künstler sein, meinte sie, wenn man sein Erleben durchaus nicht für sich
behalten konnte, wenn man an seinem inneren Reichtum sonst förmlich
erstickte. Aber sie selbst, sie hätte gerade genug für sich selbst. Sie
verbesserte sich gleich:

»Und für noch jemand.«

(Er hatte nämlich den Mund zum Schmollen verzogen.)

Der schöne Goldton des Himmels erlosch, wurde bräunlich. Die leere Ebene
lag jetzt tieftraurig da. Peter fragte Lutz, ob ihr diese Öde nicht gar
zu unheimlich sei.

»Nein.«

»Aber wenn Sie spät heimkommen?«

»Es ist keine Gefahr. Apachen kommen nicht in diese Gegend. Die haben
ihre festen Gewohnheiten. Sind im Grunde auch solide Bürger. Und dann
wohnt da unser Nachbar, ein alter Lumpensammler mit seinem Hunde.
Überhaupt habe ich keine Angst. Ich prahle nicht damit. Es ist gar
nichts Besonderes. Ich bin sonst nicht gerade mutig. Ich habe eben noch
keine Gelegenheit gehabt, recht das Gruseln zu lernen. Wenn es einmal
dazu kommt, entpuppe ich mich vielleicht als ärgerer Hasenfuß als
andere. Weiß man denn je, was man ist?«

»Ich weiß, was Sie sind,« sagte Peter.

»Ja, das ist aber auch viel leichter, ich weiß es auch . . . was Sie
angeht. Den andern erkennt man immer besser.«

Der feuchte Abendfrost drang durch die geschlossenen Fenster. Peter
schauerte ein wenig zusammen. Lutz merkte es sogleich am Zucken seines
Nackens. Auf ihrem Spirituskocher bereitete sie ihm eine Tasse
Schokolade. So vesperten sie. In mütterlicher Sorgfalt warf Lutz ihm
einen Schal um die Schultern. Behaglich ließ er sich verwöhnen, wie ein
Kätzchen wohlte er sich in der weichen Wärme des Tuches. Man kam wieder
auf Lutzens Lebensgeschichte zurück, die noch nicht ganz fertig erzählt
war. Peter sagte:

»Wenn Sie sonst in der Welt niemand haben als Ihre Mutter, muß doch das
Verhältnis zu ihr sehr innig sein.«

»Ja,« sagte Lutz, »es _war_ so.«

»_War_?« wiederholte Peter.

»O wir haben uns immer noch lieb,« sagte Lutz. Sie war etwas verlegen,
weil ihr dieses Wort entschlüpft war. (Warum sagte sie ihm immer mehr,
als sie sagen wollte? Dabei fragte er sie nicht aus, wagte es nicht.
Aber sie hörte, wie sein Herz fragte, und es tut so gut, jemandem alles
zu sagen, wenn man es sonst nie gedurft hat. Die Stille im Haus, das
halbdunkle Zimmer, -- all das verlockte zu rückhaltloser Aussprache.)
Sie sagte:

»Seit vier Jahren kennt man sich gar nicht mehr aus. Alle Menschen sind
ganz anders.«

»Meinen Sie, Ihre Mutter ist anders geworden oder Sie selbst?«

»Alle Menschen,« wiederholte Lutz.

»Worin?«

»Man kann es nicht ausdrücken. Man hat nur das Gefühl, daß überall die
Beziehungen zwischen einander nahestehenden Menschen, auch innerhalb der
Familien, irgendwie anders geworden sind. Man kann auf nichts mehr
bauen, jeden Morgen muß man sich jetzt fragen: >was wird es abends
geben, werde ich den auch nur wiedererkennen?< Man ist wie auf einer
Planke im Wasser; die will fortwährend umkippen.«

»Was ist denn geschehen?«

»Ich weiß nicht,« sagte Lutz, »ich kann es Ihnen nicht erklären. Ich
weiß nur, seit dem Krieg ist es so. Es liegt etwas in der Luft. Alle
Welt ist ganz aus dem Häuschen. Wo man sich in den Familien umschaut,
sieht man Menschen ihre eigenen Wege gehen, die früher unzertrennlich
waren. Alle sind wie berauscht; wie Jagdhunde wittern sie irgend etwas
und laufen der Fährte nach.«

»Wohin denn?«

»Ich weiß nicht. Aber die Leute selber, mein' ich, auch nicht. Wohin der
Zufall und ihre Begierde sie treiben. Frauen legen sich Liebhaber zu.
Männer vergessen ihre Frauen. Und das kommt bei den bravsten Leuten vor,
die bis dahin so ruhig und ordentlich schienen. Überall hört man von
zerrütteten Ehen. Aber zwischen Kindern und Eltern ist es gerade so.
Meine Mutter . . .«

Sie hielt inne, dann fuhr sie fort:

»Meine Mutter lebt jetzt ihr eigenes Leben.«

Sie stockte wieder und sagte dann:

»Das ist ja ganz natürlich. Sie ist noch jung, meine arme Mama, viel
Glück hat sie auch nicht erfahren: sie hat noch soviel unverbrauchtes
Gefühl. Sie hat wohl das Recht, sich ein neues Leben aufzubauen.«

Peter fragte:

»Sie will wieder heiraten?«

Lutz schüttelte den Kopf. Man wußte nicht recht . . . Peter wagte keine
weitere Frage.

»Sie hat mich gewiß immer noch gern. Aber nicht mehr wie früher. Sie
könnte jetzt auch ohne mich leben . . . Die arme Mama wäre ja so
zerknirscht, wenn sie sich darüber klar werden müßte, daß ihre Liebe zu
mir in ihrem Herzen nicht mehr an erster Stelle steht! Nie würde sie es
eingestehen . . . Das Leben ist doch eine kuriose Sache!«

Ihr leises Lächeln war traurig und zugleich etwas schalkhaft. Peter
legte zärtlich seine Hand über ihre Hände, die auf die Tischplatte
gestützt waren, sonst rührte er sich nicht.

»Wir sind alles arme Geschöpfe,« sagte er.

Eine Weile später sagte Lutz:

»Wir zwei, wir sind so ruhig! . . . Die andern sind wie im Fieber.
Krieg. Fabriken. Alles hastet, hastet. Arbeiten, leben, genießen . . .«

»Ja,« sagte Peter, »kurz ist die Stunde.« »Um so weniger soll man
laufen, statt zu gehen! Man ist ja doch zu bald am Ziele. Wir wollen
ganz kurze Schrittchen machen.«

»Aber die Stunde selber rennt fort,« sagte Peter. »Halten wir sie recht
fest!«

»Ich halte sie, ich halte sie,« sagte Lutz, indem sie seine Hand
ergriff.

So plauderten sie bald zärtlich, bald ernsthaft, wie gute alte Freunde.
Aber dabei achteten sie wohl darauf, daß immer der Tisch zwischen ihnen
blieb. Aber jetzt merkten sie erst, daß es im Zimmer tiefe Nacht
geworden war. Peter stand hastig auf. Lutz hielt ihn nicht zurück.

Die kurze Stunde war um.

Sie hatten Angst vor der Stunde, die jetzt kommen konnte. Beim Abschied
waren sie so befangen, ihre Stimmen klangen so gepreßt wie bei Peters
Eintritt. Auf der Schwelle wagten ihre Hände kaum sich zu berühren.

Aber wie er die Tür geschlossen hatte und beim Durchschreiten des
Gärtchens den Kopf gegen das Fenster im Erdgeschoß wandte, sah er im
letzten kupfrigen Widerschein auf den Scheiben Lutzens Kopf im Umriß,
wie sie im ungewissen Halblicht ihm mit dem Ausdruck tiefer Leidenschaft
nachsah. Da lief er zum Fenster zurück und legte den Mund an die
Scheibe. Durch die gläserne Wand hindurch küßten sich ihre Lippen. Dann
wich Lutz ins Dunkel des Zimmers zurück und der Fenstervorhang fiel
nieder.

                   *       *       *       *       *

Seit etwa vierzehn Tagen wußten sie nicht mehr, was in der Welt vorging.
Mochte man doch in Paris durch dick und dünn Leute einkerkern und
verurteilen, mochte doch Deutschland eben unterzeichnete Verträge
durchführen oder wieder umstoßen, mochten doch die Regierungen weiter
lügen, die Presse weiter schmähen und die Heere weiter sich töten. Die
beiden lasen keine Zeitungen. Sie wußten wohl, irgendwo oder überall
ringsumher gab es Krieg, wie etwa auch Typhus und Influenza herrscht;
aber das machte ihnen weiter keinen Eindruck; sie wollten nicht daran
denken.

Aber gerade diese Nacht rief sich der Krieg ihnen selber ins Gedächtnis
zurück. Sie waren beide schon zur Ruhe gegangen (die Tage vergingen
ihnen in einer solchen Anspannung des Gefühls, daß sie abends todmüde
waren). Jedes hörte in seinem Stadtviertel das Alarmsignal, beide
wollten aber nicht aufstehen. Jedes vergrub den Kopf in die Polster,
unter die Decke, wie Kinder während des Gewitters -- aber gar nicht aus
Furcht (sie waren überzeugt, es könne ihnen nichts zustoßen), -- sondern
um zu träumen. Lutz vernahm, wie es in der schwarzen Nachtluft dröhnte
und dachte: »Wie wäre es gut, das Unwetter in seinen Armen
vorüberbrausen zu hören!«

Peter hielt sich die Ohren zu. Nichts sollte ihn in seinen Gedanken
stören! Hartnäckig versuchte er auf der Klaviatur der Erinnerung Ton für
Ton das Lied dieses Tages zu wiederholen, die melodische Folge der
einzelnen Stunden von der Minute an, da er Lutzens Haus betreten hatte,
die feinsten Biegungen ihrer Stimme, jede kleine Bewegung, die
ununterbrochene Reihe von Eindrücken, die sein hastiger Blick geschlürft
hatte, -- einen Wimperschatten auf der Wange oder deren Beben im Anhauch
eines Gefühls, das dem Windgekräusel am Wasser glich, der Lichtstrahl
eines Lächelns, der über ihre Lippen glitt, oder die weiche Nacktheit
der zwei ausgestreckten Hände, zwischen denen sein Handballen gelegen
hatte, -- all diese köstlichen Splitter suchte er mit magischer
Liebesglut zu einem Bilde zu verschmelzen. Er duldete nicht, daß äußerer
Lärm in sein Heiligtum drang. Dies Draußen war wie ein lästiger Besucher
. . . Krieg? Weiß schon, weiß schon. Der Krieg pocht an die Tür? Soll
warten! . . . und der Krieg wartete wirklich geduldig vor der Schwelle.
Er wußte, seine Stunde würde auch noch kommen. Das wußte Peter auch und
darum schämte er sich seiner egoistischen Abkehr durchaus nicht. Die
Welle des Todes würde ihn schon auch ergreifen. Zu Vorschüssen war er
nicht verpflichtet. Am Verfallstage mochte der Tod seine Rechnung
präsentieren! Bis dahin aber sollte er ihn in Ruhe lassen, sich hübsch
still verhalten! Ach, bis dahin wollte er wenigstens von dieser
wundervollen Zeit nichts verlieren; jede Sekunde war ein Goldkorn und er
glich dem Geizigen, der seine Schätze betastet und streichelt: Das ist
mein, ist ganz mein eigen! Rührt nicht an meinen Frieden, an meine
Liebe! Die sind mein bis zur Stunde, wo . . . Aber wann wird diese
Stunde kommen? -- Am Ende kommt sie nie! Ein Wunder? . . . Warum nicht?
. . .

Inzwischen floß der Strom der Stunden und Tage weiter dahin. Bei jeder
Biegung kam das Grollen der Katarakte näher. Peter und Lutz lagen im
Kahne hingestreckt und hörten es wohl. Aber sie hatten keine Angst mehr.
Selbst diese gewaltige Stimme wiegte sie wie begleitender Orgelton noch
tiefer in ihren Liebestraum. Wenn man endlich beim Abgrund war, würde
man nur die Augen schließen, sich fester aneinander drängen und alles
würde mit einem Male zu Ende sein. Der Abgrund ersparte ihnen die Pein,
an das spätere Leben zu denken, an das Leben, das sonst noch hätte
kommen können, an die aussichtslose Zukunft. Lutz hatte ein Vorgefühl
von den Widerständen, auf die Peter, wenn er sie heiraten wollte, hätte
stoßen müssen; Peter selbst empfand dies minder klar (er war der
Klarheit minder zugetan), bebte aber auch davor zurück. Was brauchte man
jetzt so weit vorauszusehn? Das Leben hinter dem Abgrunde erschien wie
das »Leben im Jenseits«, von dem die Kirche erzählt. Es heißt, daß man
sich dort wiederfinden wird; aber ganz sicher weiß man es nicht. Sicher
ist nur eines: die Gegenwart, unsere Gegenwart. Da hinein laßt uns, ohne
ängstliches Zögern und Zählen, unser ganzes Teil Ewigkeit ergießen!

Lutz kümmerte sich um die Tagesereignisse noch weniger als Peter. Der
Krieg interessierte sie gar nicht. Er kam einfach als eine Plage mehr zu
den vielen anderen hinzu, aus denen nun einmal das äußere Leben gewoben
war. Nur wer vor der nackten Wirklichkeit des Lebens geborgen ist, macht
viel Aufhebens vom Kriege. Aber das kleine Mädchen mit ihrer frühreifen
Lebenserfahrung -- wie gut kannte sie den Kampf ums tägliche Brot --
panem quotidianum . . . (Gott gab es nicht umsonst!) -- zeigte ihrem
Freunde, dem verwöhnten Bürgersöhnchen, wie der Friedenszustand für die
Armen, besonders für deren Frauen, nur ein Trugbild ist, der gleißende
Deckmantel für einen mörderischen, tückischen, unablässigen Krieg. Sie
verschonte ihn mit Einzelheiten, um ihn nicht zu betrüben: sie fühlte
sich ihm mütterlich überlegen, als sie sah, wie sehr ihn ihre Berichte
erschütterten. Wie die meisten Frauen empfand sie gegenüber gewissen
häßlichen Seiten des Lebens keineswegs den körperlichen und seelischen
Abscheu, von dem sich da der junge Bursch gepackt fühlte. Gewaltsame
Weltverbesserung lag ihr ganz fern. Wenn es ihr einmal noch schlechter
gegangen wäre, wäre sie imstande gewesen, ohne Ekel ekelhafte
Beschäftigung zu übernehmen und deren Spur so leicht und anmutig von
sich abzutun, daß sie dann wieder blitzblank, in aller Seelenruhe, hätte
ihrer Wege gehen können. Jetzt freilich vermochte sie es nicht mehr;
seit sie Peter kannte, hatte ihre Liebe ihr alle Neigungen und
Abneigungen ihres Freundes mitgeteilt; aber dergleichen kam nicht aus
dem Grunde ihres Wesens. Sie gehörte einem ausgeglichenen, heiteren
Menschenschlage an, dem aller Pessimismus fern lag. Melancholie und
großartige Weltverneinung war nicht ihre Sache. Das Leben ist, wie es
ist. Man nimmt es, wie es ist. Hätte schlimmer ausfallen können! Soweit
Lutz nur zurückdenken konnte, war ihr äußeres Dasein immer recht
schwierig gewesen; immer war man da auf der Suche nach rettenden
Auswegen, besonders seitdem Krieg war; die Wechselfälle eines solchen
Daseins hatten Lutz gelehrt, sich nicht um den nächsten Tag zu sorgen.
Dazu kam noch, daß dieser innerlich freien kleinen Französin jeder
Gedanke ans Jenseits fremd war. Dieses Leben genügte ihr. Lutz fand es
hübsch genug, aber es hängt doch nur an einem Härchen, es gehört so
wenig dazu, damit dies Härchen reißt, daß es wirklich nicht lohnte, sich
um Dinge zu quälen, die morgen geschehen könnten. Trinkt, ihr Augen, im
Vorübereilen vom Licht, in dem ihr badet! Und was das Nachher anlangt,
so laß dich, Herz, vertrauend in der Strömung treiben! . . . Und jetzt
hat man sich gar noch so lieb -- ist das nicht köstlich? Lutz wußte
wohl, es würde nicht lange währen. Aber ihr Leben würde ja auch nicht
lange währen . . .

Ihrem Wesen nach war sie ganz anders als der kleine Junge, der sie
liebte und den sie liebte; der war gefühlvoll, leidenschaftlich, nervös,
erregbar, glücklich und unglücklich zugleich, überschwänglich in Lust
und Leid, gleich stürmisch in Hingabe oder Trotz; gerade wegen dieses
Gegensatzes zu ihrer Art war er ihr so lieb. Aber ganz einig waren beide
im unausgesprochenen Vorsatz, keinen Blick in die Zukunft zu werfen: sie
war ein sorglos hinplätscherndes Bächlein, das in sein Los ergeben ist
-- er aber stürzte sich in überspannter Verneinung der Umwelt in den
Abgrund der Gegenwart und nichts sollte ihn daraus vertreiben.

                   *       *       *       *       *

Der große Bruder war wieder daheim. Er hatte ein paar Tage Urlaub.
Gleich am ersten Abend merkte er, daß sich die Atmosphäre des
Vaterhauses irgendwie verändert hatte. Worin denn? Das wußte er selber
nicht zu sagen: aber etwas ging ihm gegen den Strich. Die Seele hat
Fühlfäden, die fernhin Dinge aufspüren, die das Bewußtsein noch gar
nicht abgetastet hat. Die feinsten Fühlfäden aber streckt verletztes
Selbstgefühl aus. Bei Philipp schwangen also diese Fäden aufgeregt hin
und her, suchten verwundert ein Etwas, das ihnen fehlte . . . Dabei
hatte er doch den Kreis seiner Lieben, der ihm den gewohnten Weihrauch
zollte -- das aufmerksame Publikum, dem er kärglich Frontschilderungen
zuzumessen geruhte -- die Eltern hingen in gewohnter Bewunderung an
seinen Lippen, -- der kleine Bruder. . . Oha! Halt! Ja, der, gerade der
war nicht da, wenn man ihn brauchte! Anwesend war er wohl, aber er
drängte sich gar nicht mehr an den großen Bruder heran, er bettelte
nicht, wie sonst, um vertrauliche Eröffnungen, deren Verweigerung dem
Großen so viel Spaß gemacht hatte. Zu welchen Armseligkeiten verleitet
gekränkte Eitelkeit! Sonst setzte Philipp zu all den glühenden
Zweifelfragen des jüngeren Bruders eine müde, spöttische Gönnermiene auf
-- jetzt fühlte er sich verletzt, weil Peter keine solchen Fragen mehr
stellte. Und so suchte er selbst diese Dinge aufs Tapet zu bringen. Er
wurde viel mitteilsamer und sah beim Sprechen immer Peter an, um ihn
merken zu lassen, daß seine Reden ihm galten. Zu andern Zeiten wäre
Peter außer sich gewesen vor Freude darüber und hätte sich nicht lange
bitten lassen, auf die Absicht des Bruders einzugehen. Aber jetzt rührte
er sich nicht und sah in aller Seelenruhe zu, wie Philipp die
ausgestreckten Fühler wieder hübsch einziehen mußte. Der war jetzt
beleidigt und machte ironische Bemerkungen. Peter aber ließ sich nicht
aus der Fassung bringen und antwortete schlagfertig in gleichem Tone.
Philipp wollte nun eine gründliche Aussprache herbeiführen, hielt in
übertriebener Lebhaftigkeit förmliche Reden -- aber nach ein paar
Minuten merkte er, daß er für sich allein redete. Peter sah ihm zu und
schien zu denken:

»Nur zu, lieber Freund, wenn's dir Spaß macht! Nur weiter, ich höre
schon zu . . .«

Welch unverschämtes leichtes Lächeln! . . . Die Rollen waren vertauscht.
Beschämt wurde Philipp still und beobachtete nun etwas aufmerksamer den
jungen Bruder, der sich jetzt nicht weiter mit ihm abgab. Wie der sich
verändert hatte! Die Eltern hatten nichts bemerkt, weil sie ihn jeden
Tag sahen; aber der durchdringende und jetzt noch von Eifersucht
geschärfte Blick Philipps fand nach einer Abwesenheit von ein paar
Monaten Peters gewohnten Gesichtsausdruck nicht wieder. Peter schien in
glückseliger Dumpfheit sorglos dahinzuleben; gleichgültig gegen die
Menschen, ohne einen Blick für die Umwelt, webte und schwebte er
offenbar wie ein junges Mädchen in weicher, warmer Traumluft. Philipp
sah ein, daß er selbst dem Bruder gar nichts mehr bedeutete.

Da er nicht nur andere gut zu beobachten verstand, sondern auch das
eigene Erleben immer tapfer unter die Lupe nahm, wurde ihm die Ursache
seiner Verstimmung bald klar und heilsame Selbstverspottung befreite ihn
davon. Wie nur erst einmal die dumme Empfindelei abgetan war,
beschäftigte er sich um der Sache selbst willen mit Peter und suchte den
geheimen Grund seiner Verwandlung zu entdecken. Gerne hätte er ihn zu
vertraulichen Eröffnungen gebracht. Aber darin fehlte es ihm an Übung
und außerdem schien der kleine Bruder keinerlei Bedürfnis nach
Herzensergießung zu verspüren; mit spöttisch lässigem Gleichmut
betrachtete er sehr von oben herab Philipps linkische Bemühungen, eine
Brücke zu ihm zu schlagen. Lächelnd, die Hände in den Taschen, pfiff er
ein Liedchen vor sich hin und gab beiläufige Antworten, ohne recht auf
die Fragen zu horchen -- und auf einmal hatte er sich schon wieder in
sein Märchenschloß zurückgezogen. Schön guten Abend! Weg war er. Nur
sein Spiegelbild lag noch am fließenden Wasser und rann einem durch die
Finger. -- Wie ein verschmähter Liebhaber fühlte Philipp erst jetzt den
ganzen Wert des Herzens, das er verloren hatte, und die eigentümliche
Anziehungskraft, die von dem Geheimnis ausging, das sich darin barg. Der
Zufall spielte ihm des Rätsels Lösung in die Hände. Als er eines Abends
über den Boulevard Montparnaß heimging, begegnete er im Dämmerlicht
Peter und Lutz. Er fürchtete, sie könnten ihn gesehn haben. Aber sie
kümmerten sich gar nicht um die Außenwelt. Sie waren eng
aneinandergeschmiegt; Peter stützte seinen Arm auf Lutzens Arm, hielt
ihre Hand, und seine Finger schlangen sich zwischen ihre Finger; so
gingen sie mit kurzen Schritten dahin, in heißer, unersättlicher
Zärtlichkeit wie Eros und Psyche in der Farnesina. Ihre Blicke waren
tief ineinander versenkt. Philipp lehnte sich an einen Baum und sah zu,
wie sie vorübergingen, stehen blieben, weiter gingen und im Dunkel
verschwanden. Philipps Herz war voll Mitleid mit den zwei Kindern; er
dachte:

»Mein Leben ist hingeopfert. Meinetwegen! Aber daß die zwei auch daran
glauben sollen, ist das ärgste Unrecht. Wenn ich wenigstens ihr Glück
erkaufen könnte!«

Trotz seines höflich-zerstreuten Wesens merkte Peter doch am nächsten
Tage, wie herzlich die Stimme des Bruders klang, wenn er mit ihm sprach;
allerdings empfand er auch das nicht sofort, sondern es fiel ihm erst
nachher auf, wenn er daran zurückdachte. Da erwachte er doch so halbwegs
aus seinem Traumzustand und sah wieder einmal den guten Blick des
Älteren, den er an ihm gar nicht mehr kannte. Philipp schaute ihn mit so
klaren Augen an, daß Peter den Eindruck hatte, dieser Blick wolle in
sein Geheimnis eindringen; hastig barg er es hinter herabgelassenen
Vorhängen. Aber Philipp lächelte nur, stand auf, legte ihm die Hand auf
die Schulter und schlug einen Spaziergang vor. Peter ging darauf ein; er
hatte ja wieder Vertrauen; sie gingen mitsammen in den nahen
Luxemburgpark. Der große Bruder ließ seine Hand immer noch auf der
Schulter des Jüngeren ruhn und der war stolz darauf, daß es wieder gut
stand zwischen ihnen. Jetzt war ihm die Zunge gelöst. Sie sprachen
lebhaft von geistigen Dingen, von Büchern und Beobachtungen an Menschen,
von neuen Erfahrungen -- nur gerade von der einen Sache nicht, an die
sie beide immerfort denken mußten. Es tat ihnen wohl, so vertraulich
miteinander zu reden, ohne doch an das Geheimnis zu rühren, das zwischen
ihnen stand.

Mitten unter dem Plaudern fragte sich Peter:

»Weiß er's? . . . Aber woher sollte er es denn erfahren haben? . . .«

Philipp beobachtete ihn lächelnd, wie er schwatzte. Peter hielt endlich
mitten im Satze inne . . .

»Was hast du denn? . . .«

»Nichts. Ich schaue dich nur an. Ich bin so froh.«

Sie tauschten einen Händedruck. Auf dem Rückwege fragte Philipp:

»Du bist glücklich?«

Peter nickte wortlos.

»Da hast du recht, Kleiner, das Glück ist was Schönes. Nimm mein Teil
mit dazu . . .«

Um Peter nicht zu betrüben, vermied es Philipp während dieses
Aufenthaltes, über die nahe bevorstehende Einziehung von des Bruders
Jahrgang zu sprechen. Aber am Tage seiner Abreise konnte er doch die
sorgenvolle Bemerkung nicht unterdrücken, daß der Bruder nun so bald der
Prüfung ausgesetzt sein würde, die er aus eigener Erfahrung nur zu gut
kannte. Aber kaum ein Schatten glitt über die Stirn des kleinen
Verliebten. Er zog ein wenig die Brauen zusammen, blinzelte, wie wenn er
ein unangenehmes Bild verscheuchen wollte, und sagte:

»Ach was! . . . noch Zeit! . . . Chi lo sa?«

»Man weiß es nur zu genau,« sagte Philipp.

»So viel weiß ich sicher«, sagte Peter, den Philipps Hartnäckigkeit
verdroß, »wenn ich mal dort drin stecke, -- ich schieße auf niemand.«

Philipp widersprach nicht, aber lächelte wehmütig vor sich hin; wußte er
doch so gut, wie die schwache Einzelseele und ihr Wollen hinschwanden
vor der unerbittlichen Wucht der Herde.

                   *       *       *       *       *

Der März war wieder da und längere Tage und erster Vogelsang. Aber mit
der Kraft des Sonnenlichtes wuchsen auch die düsteren Flammen des
Krieges. Mit fieberhafter Spannung sah man dem Frühjahr entgegen und der
Katastrophe, die in der Luft lag. Das riesige Tosen schwoll lauter an,
der Waffenlärm von Millionen Feinden, die sich seit Monaten vor der
Dammlinie der eigenen Stellung gestaut hatten und nun als Sturmflut über
die Landschaft von Paris und sein von soviel Wettern geprüftes
Wappenschiff hinbrausen wollten. Wie riesige Schatten eilten der
Verheerung Schreckensnachrichten voraus: phantastische Gerüchte über
Giftgase, über tödliche Kräfte, die sich durch die Luft verbreiten und
ganze Provinzen packen und vernichten sollten, wie seinerzeit die
erstickende Rauchwolke des (Vulkans) Mont Pelee. Schließlich ließen auch
immer häufigere Besuche deutscher Flieger die Nerven der Stadt Paris ja
nicht zur Ruhe kommen.

Peter und Lutz wollten von all dem noch immer nichts wissen; aber Keime
des schwelenden Fiebers, die sie unbewußt mit der schweren Gewitterluft
eingeatmet hatten, entfachten heißeres Verlangen in ihren jungen
Körpern. Die drei Kriegsjahre hatten durch ganz Europa alle ethischen
Anschauungen in einem Maße zerrüttet, daß die anständigsten Menschen in
Mitleidenschaft gezogen waren. Dazu kam noch, daß die beiden Kinder an
keinerlei Kirchenglauben Rückhalt hatten. Aber es schützte sie ihre
Herzensreinheit und ganz triebhafte Scham. Doch waren sie innerlich
entschlossen, einander ganz anzugehören, bevor die blinde Grausamkeit
der Menschen sie auseinander reißen würde. Bis dahin hatten sie nie
darüber geredet. Diesen Abend aber sollte es ausgesprochen werden.

Ein- bis zweimal der Woche hatte Lutzens Mutter Nachtschicht in der
Fabrik. Um in dem abgelegenen Häuschen nicht allein zu bleiben,
übernachtete Lutz dann in der Stadt bei einer Freundin. Sie wurde nicht
überwacht. Das Liebespaar benutzte diese Bewegungsfreiheit, um einen
Teil des Abends beisammen zu sein; manchmal speiste man auch bescheiden
in einem kleinen, wenig besuchten Gasthause. Wie sie also an diesem
Abende -- es war Mitte März -- vom Essen kamen, hörten sie das
Alarmsignal. Sie bargen sich im nächstgelegenen Unterstand, wie man vor
einem Platzregen in ein Haustor tritt, und vergnügten sich eine Weile
mit Beobachtungen an der zusammengewürfelten Gesellschaft da unten. Aber
da die Gefahr nun schon fern oder abgewehrt schien, ohne daß der Alarm
abgeblasen wurde, machten sich Peter und Lutz unter heiterem Geplauder
wieder auf den Weg, da sie nicht zu spät nach Hause kommen wollten. Sie
gingen gerade durch ein altes dunkles Gäßchen nächst der
Sankt-Sulpiz-Kirche und waren eben an einem Fiaker vorbeigekommen, der
bei einem Haustore stand; Pferd und Kutscher schliefen fest. Sie waren
auf der anderen Straßenseite, etwa zwanzig Schritt entfernt -- da
erbebte alles: blendendes Rot, stürzender Donner, Prasseln und Klirren
losgerissener Dachziegel und zerbrochener Fensterscheiben. Die Gasse
macht dort eine scharfe Biegung; dahinter drückten sie sich, eng
umklammert, wie angeklebt in eine Mauernische. Beim Aufflammen dieses
Blitzes hatte jeder in des andern Augen Liebe und Entsetzen gelesen.
Schon war es wieder Nacht um sie, aber noch hörte man Lutzens flehende
Stimme: »Nein, noch nicht . . . noch nicht. . .«

Peter spürte auf seinen Lippen im leidenschaftlichen Kuß die Zähne der
Geliebten. Sie standen im Dunkel des Gäßchens und hörten das Klopfen
ihrer Herzen. Ein paar Schritte weiter waren Leute aus den umliegenden
Häusern im Begriffe, den tödlich getroffenen Kutscher unter den Trümmern
des Wagens hervorzuziehen; der Unglückliche wurde ganz nahe an ihnen
vorbeigetragen; sein Blut träufelte zur Erde nieder. Lutz und Peter
waren wie zu Stein erstarrt; als ihr Bewußtsein wieder hell wurde,
fanden sie sich so innig verschmiegt, daß ihnen war, als lägen ihre
Körper nackt aneinander. Sie lösten die verkrampften Hände und Lippen,
die wie Wurzeln das geliebte Wesen hatten einsaugen wollen. Beide
überkam ein Zittern.

»Gehen wir heim,« sagte Lutz, von ahnungsvollem Schreck befallen. Sie
zog ihn mit fort.

»Lutz! nicht wahr, du läßt mich nicht aus der Welt gehen, ehe . . .«

»Mein Gott,« sagte Lutz und drückte seinen Arm, »der Gedanke wär'
schlimmer als der Tod!«

»Mein Liebes!« das sagten sie gleichzeitig.

Sie blieben wieder stehen:

»Wann werde ich dein?« fragte Peter. (Er wagte nicht zu fragen: wann
wirst du mein?)

Lutz merkte dies und es rührte sie.

»Mein Schatz,« sagte sie; ». . . Bald! Dräng' uns nicht! Du kannst es
garnicht inniger wollen als ich! . . . Bleiben wir noch ein Weilchen so
wie jetzt . . . Es ist so schön! . . . Noch bis zum Ende dieses Monats!
. . .«

»Bis Ostern?« sagte er.

(Ostern fiel in jenem Jahre auf den letzten März.)

»Ja, bis zur Auferstehung.«

»Ach«, sagte er, »vor der Auferstehung kommt das Sterben.«

»Sst!« sagte sie und schloß ihm den Mund mit einem Kusse.

Dann lösten sie ihre Umarmung.

»Heute abend feiern wir unsere Verlobung«, sagte Peter.

Aneinandergeschmiegt gingen sie weiter und weinten vor Liebe. Unter
ihren Schritten kreischten Glassplitter, und das Pflaster war blutig.
Rings um die Flamme ihres Gefühls lauerten Nacht und Tod. Ihnen zu
Häupten standen zwei Hauswände der engen Gasse so nah beieinander wie
Schornsteinmauern; aber in diesem Rahmen, als wäre er ein magischer
Kreis, pulste in reiner Himmelstiefe ein Sternenherz . . .

Und horch! Es beginnen die Glocken ihren Gesang, die Lichter flammen
wieder auf, die Straßen beleben sich aufs neue! Kein Feind mehr in den
Lüften. Paris atmet auf. Der Tod ist von ihm gewichen.

                   *       *       *       *       *

So war ihnen der Samstag vor Palmsonntag herangekommen. Täglich waren
sie stundenlang beisammen und suchten dies gar nicht mehr zu verbergen.
Sie schuldeten der Welt keine Rechenschaft mehr. Nur noch durch dünne,
dem Zerreißen nahe Fäden hingen sie mit der Welt zusammen! -- Vor zwei
Tagen hatte die deutsche Offensive eingesetzt. In einer Breite von fast
hundert Kilometern schäumte die Riesenwoge heran. Ununterbrochene
Aufregungen durchbebten die Stadt: -- erst flog das Munitionslager
Courneuve in die Luft, wobei ganz Paris wie von einem Erdbeben zitterte,
dann rissen fortwährende Alarmierungen die Leute aus dem Schlafe und
machten sie völlig nervös. Und gar an diesem Samstagmorgen erwachten
Leute, die erst spät hatten einschlafen können, im Grollen der
geheimnisvollen Kanone, die irgendwo in der Ferne steckte und über den
Sommefluß weg, wie von einem anderen Planeten, aufs Geratewohl Tod und
Verderben streute. -- Die ersten Schüsse hielt man für weitere
Fliegerbomben und flüchtete folgsam in die Keller; aber an eine dauernde
Gefahr gewöhnt man sich rasch und das Leben stellt sich darauf ein; ja,
fast findet es einen Reiz darin, wenn das Unheil nur alle gleich bedroht
und seine Wahrscheinlichkeit für den einzelnen nicht zu groß ist.
Überhaupt war auch das Wetter gar zu schön; jammerschade, sich lebendig
zu begraben: noch vor der Mittagsstunde war alles im Freien; Straßen,
Gärten, Café-Terrassen sahen an jenem strahlend schönen, sommerlich
heißen Nachmittage ganz festtäglich aus.

An eben diesem Nachmittage wollten Peter und Lutz aus dem Gewühl in den
Wald von Chaville flüchten. Seit zehn Tagen lebten sie in einem
gespannten Zustande weltentrückter innerer Stille. Tiefer Friede war in
ihren Herzen, aber erregtes Zittern in ihren Nerven. In solchen
Augenblicken fühlt man sich gleichsam auf einer Insel mitten in rasendem
Wirbelstrom: Auge und Ohr sind völlig überwältigt vom Rauschen und
Schäumen. Aber wie man die Lider senkt und mit dem Finger das Ohr
verschließt und so die Riegel vorgeschoben sind, kehrt mit einem Male
tiefe, berauschende Stille in uns ein, Stille reglosen Sommertags, wo
hohe Freude, wie ein Vöglein aus laubigem Versteck, ihr frisches Lied in
lichten Wellen verrinnen läßt. Du göttlicher, zauberischer Gesang der
Freude, seliges Gezwitscher im Dickicht des Lebens! Ich weiß ja -- nur
einen schmalen Lidspalt muß ich öffnen oder den Finger bloß ein bißchen
weniger fest ans Ohr drücken -- und Gischt und Brausen des Stroms sind
wieder da! Welch schwache Schleuse hält jene fern! Aber gerade dies
Wissen um die Gebrechlichkeit der Schleuse läßt die Freude noch höher
schwingen: man weiß, sie ist bedroht. Selbst Stille und Frieden bekommen
so die innere Spannung der Leidenschaft. Hand in Hand traten sie in den
Wald. Vorfrühling steigt einem zu Kopfe wie neuer Wein. Die junge Sonne
macht trunken mit ihrem lauteren Rebensaft. Das Licht ist über die noch
blattlosen Wälder ausgegossen; durch die nackten Zweige hindurch hält
einen das blaue Himmelsauge in Bann und Betäubung . . . Die jungen Leute
vermochten kaum ein paar Worte zu wechseln. Die Zunge wollte begonnene
Sätze nicht zu Ende sprechen. Ihre Beine waren schlapp und mochten nicht
weiter. Im Schweigen des durchsonnten Waldes taumelten sie dahin. Die
Erde zog sie an. Sich auf der Straße niederlegen! Auf einer Felge des
großen Erdenrades sich mitforttragen lassen! . . .

Sie erkletterten die Böschung jenseits der Straße, drangen ins Unterholz
und streckten sich nebeneinander aufs dürre Laub, durch das die ersten
Veilchen sproßten. Erster Gesang von Vögeln und das ferne Schnauben der
Geschütze mischten sich ins Glockengeläute der Dörfer, das dem morgigen
Feste galt. Die leuchtende Luft erbebte von Hoffnung, Glauben, Liebe und
Tod. Trotz der Einsamkeit sprachen sie nur mit gedämpfter Stimme. Ihr
Herz war so voll: war es Glück? war es Leid? Sie hätten es nicht sagen
können. Wie Lutz so reglos dalag und weit offenen Auges in den Himmel
starrte, fühlte sie das bittere Weh in sich übermächtig werden, gegen
das sie schon den ganzen Tag ankämpfte, um Peter die Freude nicht zu
verderben. Der legte seinen Kopf in Lutzens Schoß wie ein Kind, das
schlafen will, und an der Wange fühlte er die Wärme ihres Leibes.
Wortlos streichelte Lutz Augen, Nase und Lippen des Geliebten. Die
lieben vergeistigten Hände, die, wie es im Feenmärchen heißt, an den
Fingerspitzen ein Mündchen zu haben schienen! Peters Sinne aber waren
eine feingestimmte Harfe und erklangen jedem Gefühl, das in den Fingern
der Freundin bebte. Er vernahm ihren Seufzer, ehe sie ihn getan hatte.
Lutz war jetzt halb aufgerichtet und vorgeneigt; so klagte sie mit
gepreßter Stimme:

»Ach Peterchen!«

Peter sah sie betroffen an.

»Ach Peterchen! Was sind wir denn? . . . Was wollen sie von uns? . . .
Was wollen denn wir? . . . Was geht in uns vor? . . . Diese Kanonen, die
Vögel, der Krieg, unsere Liebe . . . die Hände da, der Leib, die Augen
. . . Wo bin ich denn? . . . und was bin ich denn? . . .«

Peter hatte sie nie in so ratloser Verwirrung gesehen und wollte sie
tröstend in die Arme schließen. Aber sie stieß ihn zurück:

»Nein! Nein! . . .«

Sie barg ihr Gesicht in den Händen; Hände und Gesicht drückte sie tief
ins trockene Laub. Peter war ganz außer sich und flehte:

»Lutz! . . .«

Er legte seinen Kopf dicht neben den der Geliebten.

»Lutz!« sagte er noch einmal. »Was ist denn? . . . Hast du was gegen
mich? . . .« Sie hob ein wenig den Kopf:

»Nein!«

Er sah, daß ihre Augen voll Tränen standen.

»Du bist traurig?«

»Ja«

»Warum?«

»Ich weiß nicht.«

»So sag' doch! . . .«

»Ach, ich schäme mich . . .«

»Du schämst dich? Weshalb?«

»Wegen allem.«

Sie schwieg.

Schon den ganzen Tag stand sie unter dem qualvollen Eindruck eines
peinlichen, erniedrigenden Erlebnisses: jene Fabriken, als Stätten des
Todes und der Unzucht, erzeugten mit ihrem Durcheinander von Männern und
Weibern, als Gärbottiche von Menschenfleisch, ein Gift, von dem auch
Lutzens Mutter bis zum Wahnsinn ergriffen war; sie kannte nun weder
Scheu noch Scham. In rasender Eifersucht hatte sie in der eigenen
Wohnung mit ihrem Geliebten einen lauten Streit gehabt, ohne sich vor
Lutz irgendwie zu mäßigen; so hatte diese bei der Gelegenheit erfahren,
daß ihre Mutter schwanger war. Das war für das Mädchen gleichsam eine
Beschmutzung gewesen, von der auch sie selbst, die Liebe überhaupt und
sogar ihre Liebe zu Peter befleckt wurde. Darum also hatte sie Peter
zurückgestoßen: sie schämte sich für ihn und sich . . . seinetwegen
schämte sie sich? Armer Peter! . . .

Sehr gedemütigt lag er da und wagte sich nicht mehr zu rühren. Da
verspürte sie Reue, lächelte in ihren Tränen, legte den Kopf auf seine
Knie und sagte:

»Jetzt komme ich dran!«

Peter war immer noch besorgt, strich ihr übers Haar, wie man ein
Kätzchen liebkost, und flüsterte:

»Lutz, was war denn das? Sag' doch! . . .«

»Nichts,« sagte sie. »Ich habe traurige Dinge mitangesehen.«

Ihr Geheimnis war ihm heilig und so fragte er nicht weiter. Aber selber
setzte sie nach einer Weile hinzu:

»Du, manchmal . . . manchmal schämt man sich, Mensch zu sein . . .«

Peter zuckte zusammen.

»Ja,« sagte er.

Sie schwiegen eine Weile, dann beugte er sich zu ihr nieder und sagte
ganz leise:

»Verzeih!«

Lutz sprang auf, fiel Peter um den Hals und sagte wie er:

»Verzeih!«

Mund ruhte an Mund.

Die zwei Kinder waren beide recht des Trostes bedürftig, den jedes im
andern fand. Sie sprachen nicht aus, was sie dachten:

»Noch ein Glück, daß wir sterben werden! . . . Das Gräßlichste wäre
doch, so ein erwachsener Mensch zu werden, der noch darauf stolz ist,
ein Mensch zu sein und daß er so gut zerstören und beschmutzen kann
. . .«

Ihre Lippen verwuchsen, Wimper rührte an Wimper, Blick drang tief in
Blick, und sie lächelten in zärtlichem Erbarmen. Und nimmer wurden sie
dieses göttlichen Gefühls müde, das die reinste Form der Liebe ist.
Endlich rissen sie sich aus dieser Versunkenheit; nun sah Lutz wieder
heiteren Auges den weichen Himmel, die aufbrechenden Bäume und sog den
Duft der ersten Blumen.

»Wie schön,« sagte sie.

Sie dachte:

»Warum sind die Dinge so schön? Und wir so ärmlich, gewöhnlich und
häßlich? . . .«

(Nur du nicht, mein Lieb, du nicht!) . . . Sie sah wieder ihren Peter
an:

»Ach! was gehn mich die andern an?«

Und in der prachtvollen Torheit der Verliebten sprang sie mit hellem
Gelächter auf, lief in den Wald hinein und rief:

»Fang mich!«

Die ganze übrige Zeit spielten sie wie kleine Kinder. Und als sie sich
müde getollt hatten, gingen sie mit kurzen Schritten wieder ins Tal
hinunter, das wie ein Fruchtkorb bis zum Rande mit den Strahlengarben
der sinkenden Sonne angefüllt war. Alles, was ihre Sinne einsogen,
schien ihnen neu; ihre zwei Herzen, ihre zwei Körper waren nur noch ein
Herz, ein Körper.

                   *       *       *       *       *

Es war eine Zusammenkunft von fünf gleichaltrigen Freunden und
Studienkameraden bei einem aus ihrer Mitte; vermöge eines erwachenden
Sinnes für seelische Wahlverwandtschaft hatten sie sich gegenüber den
anderen zusammengeschlossen. Dabei dachte nicht einer wie der andere.
Was immer man von der Gleichförmigkeit der vierzig Millionen Franzosen
fabeln mag, in Wirklichkeit gibt es hier soviel Köpfe, soviel Sinne. Wie
die französische Ackerkrume war auch das Denken Frankreichs in winzige
Parzellen zersplittert. So versuchten auch die fünf Freunde nur, jeder
von seinem Fleckchen Land aus, über die trennende Hecke weg Gedanken
auszutauschen. Dabei bestärkte sich jeder erst recht in seiner
besonderen Denkweise. Immerhin waren sie aber doch alle Freie im Geiste
und, wenn auch nicht alle Republikaner, so doch gegen jede geistige und
gesellschaftliche Rückkehr zu abgelebten Zuständen.

Jakob See trug die stärkste Kriegsbegeisterung zur Schau. Dieser edel
geartete Jude hatte jede Leidenschaft Frankreichs in sich aufgenommen.
Durch ganz Europa hin machten so seine Stammesgenossen die Sache und
Denkweise ihrer Adoptivvaterländer ganz zu der ihren. Wie immer, wenn
sie sich einer Sache annahmen, neigten sie sogar zu einer gewissen
Übertreibung. Blick und Stimme des schönen Jungen verrieten ein etwas
schweres Pathos, seine regelmäßigen Züge waren wie mit starkem Griffel
nachgezogen, seine Meinungen äußerte er mit übergroßer Entschiedenheit
und wurde heftig, wenn er auf Widerspruch stieß. Nach ihm handelte es
sich um einen Kreuzzug der demokratischen Staaten zur Befreiung aller
Völker und zur Ausrottung des Krieges. Ein vierjähriges Schlachten im
Namen so menschenfreundlicher Ziele hatte ihn noch keines Besseren
belehrt. Er gehörte zu den Menschen, die sich nie von den Tatsachen
widerlegen lassen. Er trug doppelten Stolz in sich, den geheimen Stolz
auf seine Rasse, deren Wiederaufrichtung er anstrebte, und seinen
persönlichen Stolz, der immer recht behalten wollte. Er wollte es um so
stärker, je weniger er innerlich seiner Sache sicher war. Unter dem
Deckmantel seines aufrichtigen Idealismus entfalteten sich bei ihm
höchst anspruchsvoll lange zurückgedämmte Triebe, nämlich Tatendrang und
Abenteuerlust, die gleichfalls aus dem Kern seines Wesens stammten.

Anton Naudé war auch für den Krieg. Aber nur, weil er sich nicht anders
helfen konnte. Dieses gute, dickliche Bürgerskind mit seinen rosigen
Wangen war im Grunde friedfertig und klug; es war etwas kurzatmig und
ein zierlich gerolltes R verriet seine Herkunft aus Mittelfrankreich;
mit ruhigem Lächeln sah er die redegewandte Begeisterung des Freundes
See; er verstand es sogar, diese Begeisterung mit lässig hingeworfenen
Wörtchen zu hellen Flammen zu entfachen. Doch fiel es dem dicken
Faulpelz nicht im Traume ein, sich selber in diese Flammen zu stürzen.
Warum sollte man sich das Für oder Wider einer Sache zu Kopfe steigen
lassen, wenn man doch nichts daran ändern konnte? Nur in den Tragödien
wird einem immer der heroisch-schwatzhafte Widerstreit von Pflicht und
Neigung vorgeführt. Wenn man keine Wahl hat, tut man seine Pflicht, ohne
große Worte zu machen. Dadurch wird die Geschichte nicht erbaulicher.
Naudé wollte den Krieg weder bewundern noch auf ihn schelten. Sein
hausbackener Menschenverstand sagte ihm, wenn der Krieg schon einmal im
Gange wäre, wie ein Zug in voller Fahrt, so müßte man eben mitfahren: da
wäre weiter nichts zu machen. Diese ganze Fragerei, wer den Krieg
verschuldet habe, schien ihm Zeitvergeudung. Wenn er schon in den Krieg
mußte, wie bitter wenig nützte ihm dann die Wissenschaft, er hätte nicht
in den Krieg müssen, wenn dies und das so und so gekommen wäre -- wie es
aber nicht gekommen war!

Die Schuldfrage! Für Bernhard Saisset lag hier der Kern des ganzen
Problems; leidenschaftlich mühte er sich ab, diesen Schlangenknäuel zu
entwirren oder er fuchtelte vielmehr damit über dem Kopf herum wie eine
kleine Furie. Er war ein zarter, feiner, von innerer Glut verzehrter
Bursche; er war sehr nervös, allzu große geistige Empfänglichkeit
brauchte vorzeitig seine Kräfte auf. Er entstammte einer alten
republikanischen Familie, deren Glieder die höchsten Würden im Staate
bekleidet hatten; gerade darum konnte sich der junge Saisset gar nicht
genug tun an linksrevolutionärer Leidenschaft. Er hatte die maßgebenden
Männer und ihren Anhang gar zu nahe gesehen. Er klagte alle Regierungen
an -- vor allem aber die seines eigenen Landes. Er redete jetzt nur noch
von den Bolschewiken und Kommunisten; von deren Vorhandensein hatte er
zwar eben erst Kunde erhalten, aber schon sah er sie als Brüder an, wie
wenn er sie von Kindesbeinen an gekannt hätte. Er sah das Heil nur noch
in einem allgemeinen Umsturz, über dessen Wesen er sich jedoch selbst
nicht recht klar war. Er haßte den Krieg, aber er hätte sich mit Wonne
in einem Klassenkriege hingeopfert -- in einem Kriege gegen seine eigene
Klasse, gegen sich selbst.

Der vierte, Claudius Puget, würdigte diese Wortgefechte nur einer
kühlen, etwas verächtlichen Aufmerksamkeit. Er stammte aus ärmlichen,
kleinbürgerlichen Verhältnissen; ein Schulinspektor hatte gelegentlich
einer Dienstreise seine Fähigkeiten »entdeckt«, hatte ihn aus dem
Wurzelboden seiner Heimat gerissen; so mußte er vorzeitig die Wärme des
Familienlebens entbehren, gewöhnte sich als Stipendiat einer
Staatsschule nur immer auf sich selber gestellt zu sein, nur mit sich,
aus sich heraus und für sich zu leben. Auf diesem Wege wurde er auch
theoretischer Egoist, ein eifriger Zergliederer seines Ich. Da er mit
solcher Wollust in die Betrachtung dieses Selbst vertieft war wie eine
behaglich eingerollte Katze, ließ ihn das aufgeregte Wesen der anderen
ganz kalt. Die drei disputierenden Freunde hatten sich, wie er meinte,
gegenseitig nichts vorzuwerfen; alle drei gehörten sie zur großen Herde.
Gaben sie nicht ihr bestes Vorrecht auf, indem sie durchaus an
Massenbewegungen teilhaben wollten? Freilich hielt es jeder mit einer
andern Masse. Aber für Puget war jede Masse im Unrecht. Die Masse war
der eigentliche Feind. Der Geist soll abseits bleiben und fern von Pöbel
und Staat das kleine, streng abgeschlossene Reich des Gedankens
aufrichten.

Peter aber saß beim Fenster, sah zerstreut hinaus, träumte vor sich hin.
Sonst hatte er mit leidenschaftlichem Eifer an diesen Wortgefechten
teilgenommen. Aber heute war es ihm nur ein leeres Wortgeklingel, das so
fern herübertönte; es kam ihm komisch und langweilig vor; er wäre bald
eingeschlafen. Die anderen waren so vertieft, daß sie sein Schweigen
erst nach geraumer Zeit merkten. Aber endlich rief ihn Saisset doch an,
weil er bei ihm gewöhnlich für sein bolschewistisches Gerede Widerhall
fand.

Peter fuhr aus seiner Träumerei auf, wurde rot und fragte lächelnd:

»Wovon redet ihr denn?«

Die andern waren empört.

»Aber hast du denn nicht zugehört?«

»Woran dachtest du nur?« fragte Naudé. Peter war etwas verwirrt, wollte
sie aber auch ein bißchen ärgern. So antwortete er:

»An den Frühling hab' ich gedacht. Ohne euch zu fragen, ist er gekommen,
ohne zu fragen, wird er auch wieder gehn.«

Alle zermalmten ihn unter der Wucht ihrer Verachtung. Naudé schimpfte
ihn »Dichter«, Jakob See hieß ihn einen Flausenmacher. Aber Pugets Augen
kniffen sich noch mehr zusammen und sein kalt er Blick forschte mit
spöttischer Neugier in Peters Zügen. Er sagte:

»Du geflügelte Ameise du!«

»Was?« fragte Peter lachend.

»Vorsicht mit den Flügeln!« sagte Puget. »Der Hochzeitsflug dauert nur
eine Stunde.«

»Das Leben dauert auch nicht länger,« sagte Peter.

                   *       *       *       *       *

In der Osterwoche waren sie wieder täglich beisammen. Peter besuchte
Lutz in ihrem einsamen Häuschen. Das dürftige Gärtlein war im Erwachen.
Dort verbrachten sie die Nachmittage. Sie empfanden jetzt einen
Widerwillen gegenüber Paris und der Menge, gegenüber dem Leben. Manchmal
saßen sie wie in seelischer Lähmung schweigend nebeneinander und mochten
sich nicht rühren. Ein absonderliches Gefühl hatte Macht über sie
gewonnen. Sie hatten Angst. Diese Angst wuchs, je näher der Tag
heranrückte, an dem sie sich einander schenken wollten -- dieses
Angstgefühl entstammte einer zum höchsten Grad gesteigerten Liebe, einer
völlig rein gewordenen Seele, der das Häßliche, Grausame, Schimpfliche
des Lebens ein solches Grauen einflößt, daß sie im Rausch ihrer
schwermütigen Leidenschaft davon träumt, sich von all diesem Niedrigen
freizumachen. Sie sprachen nicht darüber.

Ihre liebste Beschäftigung war, sich in hellen Farben auszumalen, wie
ihre Wohnung aussehen sollte, wie sie miteinander arbeiten und ihren
kleinen Haushalt führen wollten. Sie einigten sich über die geringsten
Einzelheiten ihrer Einrichtung, über die Art der Tapeten, der Möbel, und
wie die aufgestellt werden sollten. Als echte Frau bekam Lutz Tränen in
die Augen, wenn liebe Kleinigkeiten erwähnt wurden, an die sich
Vorstellungen eines innigen, beseelten Zusammenlebens knüpften. Sie
kosteten die zarten, kleinen Freuden künftiger Häuslichkeit in der
Vorstellung aus. Dabei wußten sie ganz genau, nichts von all dem würde
je verwirklicht werden, -- Peter ahnte es in angeborenem Pessimismus, --
Lutz aber wurde durch ihre Liebe so klarsichtig, daß sie die
Unmöglichkeit einer Heirat erkannte . . . Deshalb wollten sie dieses
Glück rasch wenigstens im Traume genießen. Die Überzeugung, daß es ein
Traum bleiben müsse, verbarg einer vor dem anderen. Jeder meinte da ein
tiefes Geheimnis zu bewahren und mühte sich in zärtlicher Sorge, den
anderen in der süßen Täuschung zu erhalten.

Wenn sie den schmerzlichen Vorgenuß unmöglicher Zukunft durchgekostet
hatten, befiel sie eine Ermattung, wie wenn sie ihr wirkliches Leben
schon gelebt hätten. Dann saßen sie still in der Laube mit den dürren
Kletterranken, deren erstarrte Säfte die neue Sonne wieder quellen ließ;
Peters Kopf ruhte an Lutzens Schulter, und so lauschten sie verträumt
dem Gesumm der erwachenden Erde. Hinter den treibenden Wolken spielte
die kindliche Märzensonne Verstecken, lachte auf -- und war schon wieder
weg. Heller Strahl und düstre Schatten glitten über die Fläche, wie
durch die Seele Lust und Leid.

»Lutz,« sagte Peter plötzlich, »weißt du noch? . . . Es ist lange, lange
her . . . Aber es war schon einmal so mit uns. . .«

»Ja,« sagte Lutz, »das ist wahr. Ich erkenne alles wieder, alles . . .
Aber wo waren wir damals?«

Es war ihnen eine Freude, darüber nachzudenken, in welcher Gestalt sie
einander schon gekannt haben mochten. Schon als Menschen? Vielleicht.
Dann war aber bestimmt Peter das Mädchen und Lutz der Bursch . . . Als
Vöglein in den Lüften? Als Lutz noch ein Kind war, sagte ihre Mutter
immer, sie sei als kleine Wildgans durch den Kamin in's Haus gefallen:
ach! wie hatte sie sich die Flügel geknickt! . . . Mit besonderer
Vorliebe aber fanden sie sich in den flüchtigsten Formen der Elemente
wieder, wie sie sich durchdringen, sich verschlingen und entrollen,
gleich Irrgängen im Traum oder Ringen von Rauch: weißes Gewölk, das im
Abgrund des Himmels zergeht, spielende Wellchen, oder Regen, wie er die
Erde berührt, Tau im Grase, gefiederte Löwenzahnsamen, die sich von
fließenden Lüften tragen lassen . . . Aber der Wind trägt sie fort. Wenn
er nur diesmal nicht wieder zu blasen anhebt und sie für alle Ewigkeit
auseinandertreibt! . . .

Aber Peter sagte:

»Ich denke, wir haben uns nie verlassen; wir waren immer beisammen, wie
wir jetzt aneinander lehnen: nur daß wir geschlafen haben und allerlei
Träume hatten. Auf kurze Augenblicke erwacht man . . . aber nur halb
. . . Ich fühle deinen Atem, deine Wange an der meinen . . . hie und da
raffen wir uns ordentlich auf: dann küssen wir uns . . . und gleich
sinken wir wieder in Schlaf . . . Mein lieber Schatz, mein lieber, ich
bin da, ich halte deine Hand, verlaß mich nicht! . . . Es ist noch lange
nicht an der Zeit, kaum daß der Frühling ein kaltes Nasenspitzchen zeigt
. . .«

»Wie deins,« sagte Lutz.

»Bald erwachen wir inmitten eines schönen Sommertages . . .«

»Wir sind dann der schöne Sommertag« sagte Lutz . . .

»Wir sind der laue Lindenschatten, die Sonne zwischen den Zweigen, der
Singsang der Bienen . . .«

»Der Pfirsich am Spalier und sein duftendes Fleisch . . .«

»Die Rast der Schnitter und ihre goldenen Garben . . .«

»Die trägen Herden, die ihr Stück Wiese wiederkäuen . . .«

»Der Abendhimmel im Westen, der wie ein Teich ist zwischen Blütenbäumen,
das flüssige Licht, das über die Felder hin verrinnt . . .«

». . . Alles das werden wir sein,« sagte Lutz», alles was gut und süß
tut, ob man es sieht oder erfaßt und faßt, küßt oder ißt oder einsaugt
und atmet . . . Was übrig bleibt, können sich die Leute behalten,« sagte
sie und zeigte auf die Stadt und ihre Rauchwolken.

Sie lachte, küßte den Freund und sagte:

»Fein haben wir unser Duettchen gesungen, was, Peterlein?«

»Ja, Jessica,« sagte er.

»Mein armes Peterlein,« fuhr sie fort, »wir passen aber schon gar nicht
in diese Welt, wo man nur noch die Marseillaise singt! . . .«

»Und dabei wird sie immer so falsch gesungen!« sagte Peter.

»Wir haben uns in der Station geirrt; wir sind zu bald ausgestiegen.«

»Ich fürchte sehr,« sagte Peter, »die nächste Station wäre noch
schlimmer gewesen. Kannst du dir vorstellen, Schatz, wie wir als Glieder
der zukünftigen Gesellschaft leben, im großen Bienenkorb, auf den man
uns vertröstet; wo jeder nur für die Bienenkönigin leben darf oder für
die Republik?«

»Von früh bis Abend Eier legen wie ein Maschinengewehr oder von früh bis
Abend fremde Brut ablecken . . . Schöne Wahl!« sagte Lutz.

»Aber Lutz, du schlimmes Mädel, was du für häßliche Sachen redest!«
sagte Peter lachend.

»Ja, ich weiß, es ist sehr schlecht von mir. Ich tauge rein gar nichts.
Aber du auch nicht, weißt du? Du hast so wenig das Zeug, Menschen tot zu
machen oder zu verstümmeln, als ich zum Zusammenflicken von Verwundeten,
wie man's bei Stiergefechten mit den armen Pferden macht, denen der
Bauch aufgeschlitzt wurde -- damit sie das nächste Mal wieder zu
gebrauchen sind. Wir sind nun einmal unnütze, gefährliche Geschöpfe; wir
haben einen lächerlichen, sträflichen Vorsatz gefaßt, wir wollen ja nur
für alle die leben, die wir lieb haben, und lieb haben wir unseren
kleinen Schatz, ein paar Freunde, alle guten Leute, die kleinen Kinder,
den schönen lichten Tag, auch gutes weißes Brot, eben alles, was schön
ist und dem Gaumen wohltut. Es ist einfach eine Schande, eine Schande,
sag' ich dir! Wirst du gar nicht rot für mich, Peterlein? . . . Aber wir
werden unsere Strafe schon kriegen! Wenn die Erde bald nur noch eine
große Fabrik mit Staatsbetrieb sein wird, der ohne Rast noch Ruh
funktioniert, dann gibt's für uns keinen Platz da drin . . . Nur ein
Glück, daß wir dann nicht mehr da sind!«

»Ja, das ist ein Glück!« sagte Peter.

   »Was gelten mir, die man sehr glücklich preißt,
   Darf ich, o Frau, in Deynen Armen sterben;
   Nicht Ruhm, nicht Glantz, ich will nur Eins erwerben:
   An Deyner Brust verhauchen Seel und Geist . . .«

»Na hör' mal, mein kleiner Schatz, das ist ein kurioser Einfall!«

»Aber ein echt- und altfranzösischer Einfall,« sagte Peter, »'s ist vom
alten Ronsard:

   . . . . . . . . nur dies ist mein Begehren!
   Nach hundert Jahren Muße, ohne Ehren,
   Ein Tod ganz fern der Welt, in Deynem Schoß . . .«

»Nach hundert Jahren,« seufzte Lutz. »Der ist aber bescheiden! . . .«

   »Denn irr ich nicht, dann ist ein größer Glück
   Ein solcher Tod in Dir, als das Geschick
   Des Caesar oder Alexanders Los.«

»So ein schlimmer, schlimmer, schlimmer kleiner Nichtsnutz, schämst du
dich gar nicht? In dieser Zeit der Helden!«

»Es sind ihrer zu viel,« sagte Peter. »Ich will lieber ein kleiner Junge
sein, der wen lieb hat, einfach ein Menschenjunges, aus Menschenleib.«

»Sag' lieber aus Frauenleib! Hast ja noch meine Brustmilch am
Schnäblein,« sagte Lutz und drückte ihn an sich. »Mein Menschlein,
meins!«

                   *       *       *       *       *

Wer jene Tage mitgemacht, aber dann die überwältigende Wendung des
Kriegsglücks erlebt hat, erinnert sich gewiß kaum mehr an das schwere,
drohende Brausen der Flügel, die in dieser einen Woche Frankreichs
Kernland dem Blick entzogen und sogar Paris mit ihrem Schatten
streiften. In der Freude der Erlösung wirft man überstandene
Prüfungszeiten weit hinter sich. Der deutsche Ansturm gipfelte in der
Karwoche zwischen Montag und Mittwoch. Die Somme überschritten, Bapaume,
Nesle, Guiscard, Roye, Noyon, Albert genommen, elfhundert Kanonen
erbeutet. Sechzigtausend Gefangene . . . Es war ein Sinnbild für dies
Zertreten des begnadeten Landes der Anmut, daß am Kardienstag der
Schöpfer zarter Harmonien, Debussy, verstarb. Die Lyra zerbrach . . .
»Armes kleines Griechenland, du stirbst!« . . . Was davon übrigbleibt?
Ein paar ziselierte Gefäße, ein paar rein vollendete Stelen, die bald
das Gras der Gräberstraße überwuchert. Unsterbliche Überreste des
zerstörten Athen . . .

Peter und Lutz sahen wie von eines Hügels Höhe den Schatten, der über
die Stadt kam. Sie waren noch ins Strahlenkleid ihrer Liebe gehüllt und
so erwarteten sie furchtlos das Ende ihres kurzen Lebenstages. Sie
durften ja zu zweit in die Nacht tauchen. Mit süßer Wehmut gedachten sie
der schönen Akkorde Debussys, die ihnen so lieb gewesen waren; wie
Abendgeläute verhallten die in der Tiefe. Mehr als je befriedigte gerade
die Musik den innersten Trieb ihrer Herzen. Nur diese Kunst war Stimme
der befreiten Seele; ihr Ton drang zu ihnen durch den Schleier der Dinge
und Gestalten. Am Gründonnerstag wandelten sie wieder -- Lutz war in
Peter eingehängt und hielt seine Hand umfaßt -- auf regenweichen Wegen
an der Stadtgrenze. Windstöße fuhren über die nasse Fläche. Sie merkten
weder Regen noch Wind, noch die öde Häßlichkeit der Felder, noch den Kot
auf der Straße. Sie setzten sich in die niedere Bresche einer halb
eingestürzten Parkmauer. Peters Regenschirm reichte kaum hin, Lutzens
Kopf und Schultern zu schützen; so saß sie mit baumelnden Beinen und
nassen Händen auf der Mauer und sah zu, wie es von ihrem Gummimantel nur
so troff. Wenn der Wind in die Äste fuhr, gab es ein kleines
Gewehrgeknatter von Regentropfen: »pak, pak!« Lutz bewahrte das
lächelnde Schweigen still seliger Entrücktheit. Tiefe Freudenflut
umspülte sie.

»Warum haben wir uns nur so lieb?« sagte Peter.

»Ach Peter, dann hast du mich nicht einmal so lieb, wenn du erst fragst:
warum.«

»Ich frag' ja nur, damit du sagst, was ich gerade so gut weiß wie du.«

»Du angelst Komplimente,« sagte Lutz. »Aber da kommst du an die Rechte.
Vielleicht weißt du, warum ich dich lieb habe. Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?« fragte Peter ganz bestürzt.

»Freilich nicht!« (Sie lächelte verstohlen.) »Aber ich brauch es auch
gar nicht zu wissen. Wenn man erst nach dem Warum einer Sache fragt, so
steht's schon schwach damit. Ich hab' dich eben lieb' und da brauch' ich
kein Warum, kein Wieso, kein Wann und Woher! Meine Liebe, die spür' ich,
die ist da, die ist da! Was sonst noch da sein mag -- das ist mir
gleich.«

Sie neigten sich im Kusse zueinander. Bei dieser Gelegenheit langte der
Regen unter den ungeschickt gehaltenen Schirm und fuhr ihnen mit den
Fingern über Haar und Wangen; ihre Lippen sogen ein kaltes Tröpfchen
ein.

Peter sagte:

»Aber die andern?«

»Welche andern?« sagte Lutz.

»Die Armen,« antwortete Peter, »alle, die nicht sind wie wir.«

»Sie sollen es machen wie wir. Einen anderen lieb haben.«

»Aber werden sie auch Liebe finden? Das gelingt nicht jedem, Lutz.«

»O doch!«

»Aber nein. Du weißt nicht, wie teuer du das Geschenk bezahlt hast, das
du mir gibst.«

»So gab ich mein Herz der Liebe, meine Lippen dem Geliebten wie meine
Augen dem Sonnenlichte; es ist kein Geben, es ist ein Nehmen.«

»Aber es gibt Blinde.«

»Wir werden sie nicht heilen. Wir müssen sehend sein an ihrer Statt.«

Peter schwieg lange.

»An was denkst du?« fragte Lutz.

»Ich denke daran, daß an diesem Tage, weit, weit von uns und doch uns
ganz nahe, Der am Kreuz gelitten hat, der in die Welt gekommen war,
Blinde sehend zu machen.«

Lutz faßte seine Hand:

»Du glaubst an ihn?«

»Nein, Lutz, ich glaube nicht mehr. Doch bleibt er allen ein Freund, die
er je an seinem Tische gespeist hat. Wie ist's mit dir, kennst du ihn?«

»Fast gar nicht,« sagte Lutz. »Bei uns zu Hause wurde nie von ihm
gesprochen. Ich kenne ihn nicht und liebe ihn doch . . . ich weiß, er
hat geliebt.«

»Nicht wie wir.«

»Warum nicht? Wir haben da nur ein armes kleines Herz, das kann nur dich
lieben, mein Liebes. Er, er hat uns alle geliebt. Aber darum ist's doch
die gleiche Liebe.«

Peter fragte ergriffen:

»Möchtest du morgen, weil doch sein Todestag ist . . . Bei Sankt-Gervas
soll so schöne Kirchenmusik sein . . .«

»O ja, an dem Tage möchte ich gern mit dir in die Kirche gehen. Ich weiß
bestimmt, er nimmt uns freundlich auf. Wir sind uns näher, wenn wir ihm
näher sind.«

Sie schweigen . . . Regen. Regen. Regen. Der Regen sinkt nieder, nieder
und der Abend auch.

»Morgen um diese Zeit sind wir da unten,« sagte sie.

Der scharfe Nebelhauch ließ Lutz ein wenig zusammenschauern.

»Ist dir kalt, Schatz?« fragte er besorgt. Sie erhob sich von der Mauer.

»Nein, nein. Alles ist mir Liebe. Ich liebe Alles, und Alles liebt mich
wieder. Der Regen liebt mich und der Wind, der graue Himmel und die
Kälte, -- und mein kleines Lieb . . .«

                   *       *       *       *       *

Auch am Karfreitag war der Himmel mit langen grauen Schleiern verhangen;
aber die Luft war mild und still. Auf den Straßen wurden schon Blumen
verkauft -- gelbe Narzissen und Nelken. Peter kaufte ein paar und Lutz
behielt die Blüten in der Hand. Sie gingen den stillen Goldschmied-Kai
entlang und vorbei an der edelragenden Kirche Notre-Dame. In süß
gedämpftem Lichte umfing sie die milde, vornehme Schönheit der Altstadt.
Als sie den St. Gervas-Platz betraten, flogen Tauben vor ihnen auf. Ihre
Blicke folgten den Tauben auf ihrem Kreisflug um die Fassade; ein Vogel
ließ sich auf dem Kopf einer Bildsäule nieder. Schon waren sie die
Stufen zum Portal hinangestiegen und wollten eintreten; da sah Lutz sich
noch einmal um und bemerkte, ein paar Schritte seitwärts, mitten in der
Volksmenge, ein etwa zwölfjähriges Mädchen; das rothaarige Kind lehnte
mit statuenhaft über den Scheitel erhobenen Armen im Portale und sah die
Eintretende an. Auch ihr feines, etwas archaisches Gesichtchen gemahnte
an gotische Kirchenstatuetten; rätselhaft war ihr Lächeln, von
überzarter Lieblichkeit, voll Geist und Wärme. Lutz lächelte ihr auch zu
und wollte Peter auf sie aufmerksam machen. Aber der Blick des kleinen
Mädchens glitt jetzt höher hinauf, haftete über Lutzens Kopf und schrak
plötzlich zurück; es barg das Gesicht in die Hände und war nicht mehr zu
sehn.

»Was hat sie denn?« fragte Lutz.

Aber Peter sah nicht hin.

Wie sie eintraten, girrte das Täubchen zu ihren Häupten. Letzter Ton von
draußen. Das Pariser Stimmengewirr verstummte. Die freie Luft war weg.
Teppiche aus Orgeltönen und hochgespanntes Gewölbe, schwere Gewebe aus
Klang und Stein, schieden sie von der Außenwelt.

Sie blieben im Nebenschiff, zwischen der zweiten und dritten
Seitenkapelle, links vom Eingange, setzten sich auf eine Stufe und
schmiegten sich ganz in die Pfeilernische, so daß sie vor den Blicken
der Menge geborgen waren. Sie saßen mit dem Rücken zum Chor; wenn sie
aufblickten, sahen sie von einer Kapelle nur die Spitze des Altars, das
Kreuz und die farbigen Fenster. Wie eine Träne rann die fromme Wehmut
uralter Gesänge. In der schwarz verhangenen Kirche saßen die zwei
kleinen Heiden Hand in Hand vor ihrem großen Freunde. Und beide
flüsterten gleichzeitig die Worte:

»Du großer Freund, in deinem Angesichte nehme ich ihn, nehme ich sie.
Füge uns zusammen! Du siehst in unsere Herzen.«

Und ihre Finger blieben vereint, verschlungen wie die Gerten eines
Weidenkorbes. Sie waren nur mehr ein Leib, den die Wogen der Musik in
Schauern durchdrangen. Sie gaben sich ganz ihren Träumen hin, als ob sie
im gleichen Bette lägen.

Lutz sah im Geiste das rothaarige Mägdlein wieder. Und da war es ihr,
als ob sie das Kind heute Nacht im Traume erblickt hätte. Aber sie
konnte sich nicht darüber klar werden, ob dem wirklich so gewesen war
oder ob sie das Bild, das vor ihrem inneren Auge stand, fälschlich in
den heutigen Schlaf zurückversetze. Dann wurde sie von dieser Anspannung
müde und ließ ihre Gedanken wahllos schweifen.

Peter träumte den entschwundenen Tagen seines kurzen Lebens nach. Die
Lerche steigt von nebliger Ebene empor, um die Sonne zu suchen . . . Wie
fern die ist! So hoch! Wird man sie je erreichen? . . . Der Nebel wird
noch dichter. Es ist keine Erde, kein Himmel mehr. Und die eigene Kraft
erlahmt . . . Gerade rieselte gregorianischer Gesang durch die hohe
Wölbung des Chors, da erhebt sich mit einem Male Lerchenjubel, aus dem
Nebeldüster taucht das froststarre Körperchen auf und schwingt sich in
ein unendliches Meer von Sonne . . .

Der Druck und Gegendruck ihrer Finger erinnerte sie daran, daß sie
selbander dahinglitten. Und so fanden sie sich wieder im Dunkel der
Kirche, wie sie, eng aneinandergeschmiegt, schönen Gesängen lauschten;
ihre Herzen waren eins in Liebe und so standen sie auf der Gipfelhöhe
reinster Freude. Und sie begehrten glühend -- sie beteten -- von dort
nicht mehr herab zu müssen. Lutzens leidenschaftlicher Blick umfing
gerade wie im Kusse ihren teuren kleinen Gefährten -- (fast
geschlossenen Auges und mit halb geöffneten Lippen schien er in eine
Region überirdischen Glückes entrückt und hob in einem Aufschwung
freudigen Dankes das Haupt empor, dem erhabenen Quell der Urkraft zu,
den man aus tiefstem Triebe oben suchen muß) -- da bemerkte Lutz zu
ihrer höchsten Überraschung im goldroten Kapellenfenster das lächelnde
Gesichtchen des rothaarigen Kindes. In starrem Erstaunen brachte Lutz
kein Wort hervor -- da sah sie auch schon, genau wie vordem, daß in das
seltsame Antlitz der gleiche Ausdruck von Schreck und Mitleid trat.

Im selben Augenblick bewegte sich der plumpe Pfeiler, an dem sie
lehnten; die ganze Kirche zitterte in ihren Grundfesten. Lutzens Herz
schlug so laut, daß sie weder den Krach der Explosion, noch das Schreien
der Menge hörte; es blieb ihr keine Zeit, Schreck oder Schmerz zu
empfinden -- so schnell warf sie sich, wie eine Henne vor die Küchlein,
schützend über Peter; geschlossenen Auges lächelte der vor Glück. Wie
eine Mutter drückte sie mit aller Kraft das teure Haupt an ihren Busen;
sie war über ihn gebückt, ihr Mund auf seinem Nacken -- so duckten sie
sich zusammen.

Mit einem Schlag brach auf die beiden der massige Pfeiler nieder.

August 1918.

                    Das 19. bis 24. Tausend dieser
                  neuen, mit Holzschnitten von Frans
                    Masereel geschmückten Ausgabe
               (27. bis 32. Tausend der Gesamtauflage)
                        wurde im Frühjahr 1927
                     von E. Haberland in Leipzig
                               gedruckt





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Peter und Lutz - Eine Erzählung mit sechzehn Holzschnitten von Frans Masereel" ***

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