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Title: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat
Author: Spyri, Johanna
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Heidi kann brauchen, was es gelernt hat" ***


Gerd Bouillon.



Johanna Spyri

Heidi kann brauchen, was es gelernt hat



Inhalt

Reisezurüstungen

Ein Gast auf der Alm

Eine Vergeltung

Der Winter im Dörfli

Der Winter dauert fort

Die fernen Freunde regen sich

Wie es auf der Alp weitergeht

Es geschieht, was keiner erwartet hat

Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen



Reisezurüstungen

Der freundliche Herr Doktor, der den Entscheid gegeben hatte, daß
das Kind Heidi wieder in seine Heimat zurückgebracht werden sollte,
ging eben durch die breite Straße dem Hause Sesemann zu. Es war ein
sonniger Septembermorgen, so licht und lieblich, daß man hätte denken
können, alle Menschen müßten sich darüber freuen. Aber der Herr Doktor
schaute auf die weißen Steine zu seinen Füßen, so daß er den blauen
Himmel über sich nicht einmal bemerken konnte. Es lag eine Traurigkeit
auf seinem Gesichte, die man vorher nie da gesehen hatte, und seine
Haare waren viel grauer geworden seit dem Frühjahr. Der Doktor hatte
eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tode seiner Frau sehr
nahe zusammen gelebt hatte und die seine ganze Freude gewesen war. Vor
einigen Monaten war ihm das blühende Mädchen durch den Tod entrissen
worden. Seither sah man den Herrn Doktor nie mehr so recht fröhlich,
wie er vorher fast immer gewesen war.

Auf den Zug an der Hausglocke öffnete Sebastian mit großer
Zuvorkommenheit die Eingangstür und machte gleich alle Bewegungen
eines ergebenen Dieners; denn der Herr Doktor war nicht nur der
erste Freund des Hausherrn und dessen Töchterchen, durch seine
Freundlichkeit hatte er sich, wie überall, die sämtlichen Hausbewohner
zu guten Freunden gemacht.

»Alles beim alten, Sebastian?« fragte der Herr Doktor wie gewohnt mit
freundlicher Stimme und ging die Treppe hinauf, gefolgt von Sebastian,
der nicht aufhörte, allerlei Zeichen der Ergebenheit zu machen,
obschon der Herr Doktor sie eigentlich nicht sehen konnte, denn er
kehrte dem Nachfolgenden den Rücken.

»Gut, daß du kommst, Doktor«, rief Herr Sesemann dem Eintretenden
entgegen. »Wir müssen durchaus noch einmal die Schweizerreise
besprechen, ich muß von dir hören, ob du unter allen Umständen bei
deinem Ausspruche bleibst, auch nachdem nun bei Klärchen entschieden
ein besserer Zustand eingetreten ist.«

»Mein lieber Sesemann, wie kommst du mir denn vor?« entgegnete der
Angekommene, indem er sich zu seinem Freunde hinsetzte. »Ich möchte
wirklich wünschen, daß deine Mutter hier wäre; mit der wird alles
gleich klar und einfach und kommt ins rechte Geleise. Mit dir aber ist
ja kein Fertigwerden. Du lässest mich heute zum dritten Male zu dir
kommen, damit ich dir immer noch einmal dasselbe sage. -

»Ja, du hast recht, die Sache muß dich ungeduldig machen, aber du mußt
doch begreifen, lieber Freund« - und Herr Sesemann legte seine Hand
wie bittend auf die Schulter seines Freundes -, »es wird mir gar zu
schwer, dem Kinde zu versagen, was ich ihm so bestimmt versprochen
hatte und worauf es sich nun monatelang Tag und Nacht gefreut hat.
Auch diese letzte schlimme Zeit hat das Kind so geduldig ertragen,
immer in der Hoffnung, daß die Schweizerreise nahe sei und daß es
seine Freundin Heidi auf der Alp besuchen könne; und nun soll ich
dem guten Kinde, das ja sonst schon so vieles entbehren muß, die
langgenährte Hoffnung mit einemmal wieder durchstreichen - das ist mir
fast nicht möglich.«

»Sesemann, das muß sein«, sagte sehr bestimmt der Herr Doktor, und als
sein Freund stillschweigend und niedergeschlagen dasaß, fuhr er nach
einer Weile fort: »Bedenke doch, wie die Sache steht. Klara hat seit
Jahren keinen so schlimmen Sommer gehabt, wie dieser letzte war.
Von einer so großen Reise kann keine Rede sein, ohne daß wir die
schlimmsten Folgen zu befürchten hätten. Dazu sind wir nun in den
September eingetreten, da kann es ja noch schön sein oben auf der Alp,
es kann aber auch schon sehr kühl werden. Die Tage sind nicht mehr
lang, und oben bleiben und da die Nächte zubringen kann Klara doch nun
gar nicht. So hätte sie kaum ein paar Stunden oben zu verweilen. Der
Weg von Bad Ragaz dort hinauf muß ja schon mehrere Stunden dauern,
denn zur Alp hinauf muß sie entschieden im Sessel getragen werden.
Kurz, Sesemann, es kann nicht sein! Aber ich will mit dir hineingehen
und mit Klara reden, sie ist ja ein vernünftiges Mädchen, ich will
ihr meinen Plan mitteilen. Im kommenden Mai soll sie erst nach Ragaz
hinkommen; dort soll eine längere Badekur unternommen werden, so
lange, bis es hübsch warm wird oben auf der Alp. Dann kann sie dort
von Zeit zu Zeit hinaufgetragen werden, da wird sie diese Bergpartien
erfrischt und gestärkt, wie sie dann sein wird, ganz anders genießen,
als es jetzt geschähe. Du begreifst auch, Sesemann, wenn wir noch eine
leise Hoffnung für den Zustand deines Kindes aufrechterhalten wollen,
so haben wir die äußerste Schonung und die sorgfältigste Behandlung zu
beobachten.«

Herr Sesemann, der bis dahin schweigend und mit dem Ausdrucke
trauriger Ergebung zugehört hatte, fuhr jetzt auf einmal empor:

»Doktor«, rief er aus, »sag es mir ehrlich: Hast du wirklich noch
Hoffnung auf eine Änderung dieses Zustandes?«

Der Herr Doktor zuckte die Achseln. »Wenig«, sagte er halblaut. »Aber
komm, denk einmal einen Augenblick an mich, lieber Freund! Hast du
nicht ein liebes Kind, das nach dir verlangt und sich auf deine
Heimkehr freut, wenn du weg bist? Nie mußt du in ein verödetes Haus
zurückkehren und dich allein an deinen Tisch hinsetzen. Und dein
Kind hat's auch gut daheim. Muß es auch vieles entbehren, was andere
genießen können, so ist es in manch anderem auch vor vielen bevorzugt.
Nein, Sesemann, ihr seid nicht so sehr zu beklagen, ihr habt es doch
recht gut, so zusammenzusein; denk an mein einsames Haus!«

Herr Sesemann war aufgestanden und ging nun mit großen Schritten im
Zimmer auf und ab, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihn irgendeine
Sache stark beschäftigte. Auf einmal stand er vor seinem Freunde still
und klopfte ihm auf die Schulter.

»Doktor, ich habe einen Gedanken: Ich kann dich nicht so sehen, du
bist ja gar nicht mehr der alte. Du mußt ein wenig aus dir heraus, und
weißt du, wie? Du sollst die Reise unternehmen und das Kind Heidi auf
seiner Alp besuchen in unser aller Namen.«

Der Herr Doktor war sehr überrascht von dem Vorschlage und wollte sich
dagegen wehren, aber Herr Sesemann ließ ihm keine Zeit. Er war so
erfreut und erfüllt von seiner neuen Idee, daß er den Freund unter
den Arm faßte und nach dem Zimmer seines Töchterchens hinüberzog.
Der gute Herr Doktor war für die kranke Klara immer eine erfreuliche
Erscheinung, denn er hatte sie von jeher mit einer großen
Freundlichkeit behandelt und ihr jedesmal, wenn er kam, etwas Lustiges
und Erheiterndes zu erzählen gewußt. Warum er das jetzt nicht mehr
konnte, wußte sie wohl und hätte so gern ihn wieder froh gemacht. Sie
streckte ihm gleich die Hand entgegen, und er setzte sich zu ihr hin.
Herr Sesemann rückte seinen Stuhl auch heran, und indem er Klara bei
der Hand faßte, fing er an von der Schweizerreise zu reden und wie er
sich selbst darauf gefreut hatte. Über den Hauptpunkt aber, daß sie
nun unmöglich mehr stattfinden könnte, glitt er eilig hinweg, denn
er fürchtete sich ein wenig vor den kommenden Tränen. Dann ging
er schnell auf den neuen Gedanken über und machte Klara darauf
aufmerksam, wie wohltätig es für ihren guten Freund wäre, wenn er
diese Erholungsreise unternehmen würde.

Die Tränen waren wirklich aufgestiegen und schwammen in den blauen
Augen, wie sehr sich auch Klara Mühe gab, sie niederzudrücken, denn
sie wußte, wie ungern der Papa sie weinen sah. Aber es war auch hart,
daß nun alles aus sein sollte, und den ganzen Sommer hindurch war die
Aussicht auf die Reise zum Heidi ihre einzige Freude und ihr Trost
gewesen in all den langen, einsamen Stunden, die sie durchlebt hatte.
Aber Klara war nicht gewohnt zu markten, sie wußte recht gut, daß der
Papa ihr nur versagte, was zum Bösen führen würde und darum nicht sein
durfte. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und wandte sich nun der
einzigen Hoffnung zu, die ihr blieb. Sie nahm die Hand ihres guten
Freundes und streichelte sie und bat flehentlich:

»O bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zum Heidi, und dann
kommen Sie, um mir alles zu erzählen, wie es ist dort oben und was das
Heidi macht und der Großvater und der Peter und die Geißen, ich kenne
sie alle so gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich dem Heidi schicken
will, ich habe schon alles ausgedacht und auch etwas für die
Großmutter. Bitte, Herr Doktor, tun Sie's doch; ich will auch gewiß
unterdessen Fischtran nehmen, soviel Sie nur wollen.«

Ob dieses Versprechen der Sache den Ausschlag gab, kann man nicht
wissen, aber es ist anzunehmen, denn der Herr Doktor lächelte und
sagte: »Dann muß ich ja wohl gehen, Klärchen, so wirst du uns einmal
rund und fest, wie wir dich haben wollen, Papa und ich. Und wann muß
ich denn reisen, hast du das schon bestimmt?«

»Am liebsten gleich morgen früh, Herr Doktor«, entgegnete Klara.

»Ja, sie hat recht«, fiel hier der Vater ein; »die Sonne scheint, der
Himmel ist blau, es ist keine Zeit zu verlieren, für jeden solchen Tag
ist es schade, den du noch nicht auf der Alp genießen kannst.«

Der Herr Doktor mußte ein wenig lachen: »Nächstens wirst du mir
vorwerfen, daß ich noch da bin, Sesemann; so muß ich wohl machen, daß
ich fortkomme.«

Aber Klara hielt den Aufstehenden fest; erst mußte sie ihm ja
noch alle Aufträge an das Heidi übergeben und ihm noch so vieles
anempfehlen, das er recht betrachten und ihr dann davon erzählen
sollte. Die Sendung an das Heidi konnte ihm erst später zugeschickt
werden, denn Fräulein Rottenmeier mußte erst alles verpacken helfen;
sie war aber eben auf einer ihrer Wanderungen durch die Stadt
begriffen, von denen sie nicht so schnell zurückkehrte.

Der Herr Doktor versprach, alles genau auszurichten, die Reise, wenn
nicht am Morgen früh, so doch womöglich noch im Laufe des folgenden
Tages anzutreten und dann bei seiner Heimkehr getreulich Bericht zu
erstatten über alles, was er gesehen und erlebt haben würde.

Die Diener eines Hauses haben oft eine merkwürdige Gabe, die Dinge zu
erfassen, die im Hause ihrer Herren vor sich gehen, lange bevor diese
dazu kommen, ihnen Mitteilung davon zu machen. Sebastian und Tinette
mußten diese Gabe in hohem Grade besitzen, denn eben, als der Herr
Doktor, von Sebastian begleitet, die Treppe hinunterging, trat Tinette
ins Zimmer der Klara ein, die nach dem Mädchen geschellt hatte.

»Holen Sie diese Schachtel voll ganz frischer, weicher Kuchen, wie
wir sie zum Kaffee haben, Tinette«, sagte Klara und deutete auf die
Schachtel hin, die schon lange bereitgestanden hatte. Tinette erfaßte
das bezeichnete Ding an einer Ecke und ließ es verächtlich an ihrer
Hand baumeln. Unter der Türe sagte sie schnippisch:

»Es ist wohl der Mühe wert.«

Als der Sebastian unten mit gewohnter Höflichkeit die Türe aufgemacht
hatte, sagte er mit einem Bückling:

»Wenn der Herr Doktor wollten so freundlich sein und dem Mamsellchen
auch einen Gruß vom Sebastian bestellen.«

»Ah, sieh da, Sebastian«, sagte der Herr Doktor freundlich; »so wissen
Sie denn auch schon, daß ich reise?«

Sebastian mußte ein wenig husten.

»Ich bin... ich habe... ich weiß selbst nicht mehr recht... ach ja,
jetzt erinnere ich mich: Ich bin eben zufällig durch das Eßzimmer
gegangen, da habe ich den Namen des Mamsellchens aussprechen gehört,
und wie es so geht, man hängt dann so einen Gedanken an den anderen an
und so... und in der Weise...«

»Jawohl, jawohl«, lächelte der Herr Doktor, »und je mehr Gedanken
einer hat, je mehr wird er inne. Auf Wiedersehen, Sebastian, der Gruß
wird bestellt.«

Jetzt wollte der Herr Doktor gerade durch die offene Haustür enteilen,
aber er traf auf ein Hindernis: Der starke Wind hatte Fräulein
Rottenmeier verhindert, ihre Wanderung weiter fortzusetzen; eben
war sie zurückgekehrt und wollte ihrerseits durch die offene Tür
eintreten. Der Wind hatte ihr weites Tuch, in das sie sich gehüllt
hatte, aber dergestalt aufgebläht, daß es gerade so anzusehen war, als
habe sie die Segel aufgespannt. Der Herr Doktor wich augenblicklich
zurück. Aber gegen diesen Mann hatte Fräulein Rottenmeier von jeher
eine besondere Anerkennung und Zuvorkommenheit an den Tag gelegt. Auch
sie wich mit ausgesuchter Höflichkeit zurück, und eine Weile standen
die beiden mit rücksichtsvoller Gebärde da und machten einander
gegenseitig Platz. Jetzt aber kam ein so starker Windstoß, daß
Fräulein Rottenmeier auf einmal mit vollen Segeln gegen den Doktor
heranflog. Er konnte eben noch ausweichen; die Dame aber wurde
noch ein gutes Stück über ihn hinausgetrieben, so daß sie wieder
zurückkehren mußte, um nun den Freund des Hauses mit Anstand zu
begrüßen. Der gewalttätige Vorgang hatte sie ein wenig verstimmt, aber
der Herr Doktor hatte eine Art und Weise, die ihr gekräuseltes Gemüt
bald glättete und eine sanfte Stimmung darüber verbreitete. Er teilte
ihr seinen Reiseplan mit und bat sie in der einnehmendsten Weise,
ihm die Sendung an das Heidi so zu verpacken, wie nur sie zu packen
verstehe. Dann empfahl sich der Herr Doktor.

Klara erwartete, daß sie erst einige Kämpfe mit Fräulein Rottenmeier
zu bestehen haben würde, bevor diese ihre Zustimmung zum Absenden all
der Gegenstände geben werde, die Klara für das Heidi bestimmt hatte.
Aber diesmal hatte sie sich getäuscht: Fräulein Rottenmeier war
ausnehmend gut gelaunt. Sogleich räumte sie alles weg, was auf dem
großen Tische lag, um die Dinge alle, die Klara zusammengebracht
hatte, darauf auszubreiten und dann vor ihren Augen die Sendung zu
verpacken. Es war keine leichte Arbeit, denn die Gegenstände, die
da zusammengerollt werden sollten, waren vielgestaltig. Erst kam
der kleine dicke Mantel mit der Kapuze, den Klara für das Heidi
ausgesonnen hatte, damit es im kommenden Winter die Großmutter
besuchen könnte, wann es wollte, und nicht warten müßte, bis der
Großvater kommen konnte und es dann in den Sack eingewickelt werden
mußte, damit es nicht erfriere. Dann kam ein dickes, warmes Tuch für
die alte Großmutter, damit sie sich darin einhülle und nicht frieren
müsse, wenn der Wind wieder so schaurig um die Hütte klappern würde.
Dann kam die große Schachtel mit den Kuchen; die war auch für die
Großmutter bestimmt, daß sie zu ihrem Kaffee auch einmal etwas anderes
als ein Brötchen zu essen habe. Jetzt folgte eine ungeheure Wurst;
die hatte Klara ursprünglich für den Peter bestimmt, weil er doch
nie etwas anderes als Käse und Brot bekam. Aber sie hatte sich jetzt
anders besonnen, denn sie fürchtete, der Peter könnte vor Freuden die
ganze Wurst auf einmal aufessen. Darum sollte die Mutter Brigitte
diese bekommen und erst für sich und die Großmutter einen guten Teil
davon nehmen und dem Peter den seinigen in verschiedenen Lieferungen
abgeben. Jetzt kam noch ein Säckchen Tabak; der war für den Großvater,
der ja so gern ein Pfeifchen rauchte, wenn er am Abend vor der Hütte
saß. Zuletzt kam noch eine Anzahl geheimnisvoller Säckchen, Päckchen
und Schächtelchen, welche Klara mit besonderer Freude zusammengekramt
hatte, denn da sollte das Heidi allerhand Überraschungen finden, die
ihm große Freude machen würden. Endlich war das Werk beendet, und ein
stattlicher Ballen lag reisefertig an der Erde. Fräulein Rottenmeier
schaute darauf nieder, in tiefsinnige Betrachtungen über die Kunst zu
packen versunken. Klara ihrerseits warf Blicke froher Erwartung darauf
hin, denn sie sah das Heidi vor sich, wie es vor Überraschung in die
Höhe springen und aufjauchzen würde, wenn das ungeheure Paket bei ihm
anlangte.

Jetzt trat Sebastian herein und hob mit einem starken Schwung den
Ballen auf seine Schulter, um ihn unverzüglich nach dem Hause des
Herrn Doktors zu spedieren.



Ein Gast auf der Alm

Das Frührot glühte über den Bergen, und ein frischer Morgenwind
rauschte durch die Tannen und wogte die alten Äste mächtig hin und
her. Das Heidi schlug seine Augen auf, der Ton hatte es erweckt.
Dieses Rauschen packte das Heidi immer im Innersten seines Wesens und
zog es mit Gewalt hinaus unter die Tannen. Es schoß von seinem Lager
auf und hatte kaum Zeit, sich fertigzumachen; das mußte aber doch
sein, denn Heidi wußte nun recht gut, daß man immer sauber und
ordentlich aussehen muß. Jetzt kam es von dem Leiterchen herunter; des
Großvaters Lager war schon leer; es sprang hinaus. Draußen vor der Tür
stand der Großvater und schaute den Himmel nach allen Seiten hin an,
wie er jeden Morgen tat, um zu sehen, wie der Tag werden wollte.

Es zogen rosige Wölkchen oben hin, und mehr und mehr blaute der
Himmel, und drüben floß es wie lauter Gold über die Höhen und das
Weideland, denn eben kam droben die Sonne über die hohen Felsen
heraufgestiegen.

»O wie schön! O wie schön! Guten Tag, Großvater«, rief das Heidi
heranspringend.

»So, sind deine Augen auch schon hell?« gab der Großvater zurück, dem
Heidi die Hand zum Morgengruß hinhaltend.

Jetzt lief das Heidi unter die Tannen und hüpfte vor Freuden über das
Tosen und Sausen da droben unter den wogenden Ästen herum, und bei
jedem neuen Windstoß und lauten Wipfelbrausen jauchzte es auf vor
Wonne und sprang noch ein wenig höher.

Unterdessen war der Großvater zum Stalle hingegangen und hatte dem
Schwänli und Bärli die Milch abgenommen; dann hatte er beide schön
geputzt und gewaschen zur Bergreise und brachte sie nun auf den Platz
heraus. Als das Heidi seine Freunde erblickte, kam es herangesprungen
und faßte sie beide um den Hals, begrüßte sie zärtlich, und sie
meckerten fröhlich und zutraulich, und jede von den Geißen wollte dem
Heidi mehr Zuneigung beweisen und drückte ihren Kopf noch immer näher
an seine Schultern heran, so daß es zwischen den zweien fast zerdrückt
wurde. Aber das Heidi hatte keine Furcht, und wenn das lebhafte Bärli
gar zu arg bohrte und drängte mit seinem Kopfe, dann sagte das Heidi:
»Nein, Bärli, du stößt ja wie der große Türk«, und augenblicklich zog
Bärli seinen Kopf zurück und stellte sich ganz anständig hin, und das
Schwänli hatte auch schon seinen Kopf in die Höhe gereckt und machte
eine vornehme Gebärde, so daß man deutlich sehen konnte, es dachte bei
sich: Das soll mir denn keiner nachsagen, daß ich mich benehme wie der
Türk. Denn das schneeweiße Schwänli war noch ein wenig vornehmer als
das braune Bärli.

Jetzt hörte man von unten herauf die Pfiffe des Peter ertönen, und
bald kamen sie heraufgesprungen, die lustigen Geißen alle, voran der
flinke Distelfink in hohen Sprüngen. Gleich war das Heidi wieder
mitten in dem Rudel drin, und vor lauter stürmischen Begrüßungen wurde
es hin- und hergeschoben, und dann schob es wieder ein wenig, denn
es wollte zu dem schüchternen Schneehöppli vordringen, das ja von
den größeren immer wieder weggedrängt wurde, wenn es dem Heidi
entgegenstrebte.

Nun kam der Peter heran und tat einen letzten, fürchterlichen Pfiff,
der sollte die Geißen aufscheuchen und der Weide zujagen, denn er
wollte Platz bekommen, um dem Heidi etwas zu sagen. Die Geißen
sprangen ein wenig auseinander auf den Pfiff hin; so konnte der Peter
vorrücken und sich nun vor das Heidi hinstellen.

»Du kannst einmal wieder mitkommen heut«, war seine etwas störrige
Anrede.

»Nein, das kann ich nicht, Peter«, entgegnete das Heidi. »Jeden
Augenblick können sie jetzt von Frankfurt kommen, und dann muß ich
daheim sein.«

»Das hast du schon manchmal gesagt«, brummte der Peter.

»Es gilt aber immer noch, und es gilt, bis sie kommen«, gab das Heidi
zurück. »Oder meinst du etwa, ich müsse nicht daheim sein, wenn sie
von Frankfurt zu mir kommen? Meinst du etwa so etwas, Peter?«

»Sie können zum Öhi kommen«, versetzte der Peter knurrend.

Jetzt ertönte von der Hütte her die kräftige Stimme des Großvaters:
»Warum geht's nicht vorwärts mit der Armee? Fehlt's am Feldmarschall
oder an den Truppen?«

Augenblicklich machte der Peter kehrum, schwang seine Rute in der
Luft, daß sie sauste und alle Geißen, die den Ton wohl kannten, auf
und davon rannten, der Peter hinter ihnen drein, alle miteinander in
vollem Trabe den Berg hinan.

Seit das Heidi wieder daheim beim Großvater war, kam ihm hier und da
etwas in den Sinn, woran es vorher nicht gedacht hatte. So machte es
jetzt alle Morgen mit großer Anstrengung sein Bett zurecht und strich
so lange daran herum, bis es ganz glatt aussah. Dann lief es in der
Hütte hin und her, stellte jeden Stuhl an seinen Ort, und was etwa
da und dort herumlag oder -hing, das kramte es alles in den Schrank
hinein. Dann holte es einen Lappen herbei, kletterte auf einen Stuhl
hinauf und rieb so lange mit seinem Lappen auf dem Tische herum, bis
dieser ganz blank war. Wenn dann der Großvater wieder hereinkam,
schaute er wohlgefällig um sich und sagte etwa: »Bei uns ist's jetzt
immer wie Sonntag, das Heidi ist nicht vergebens in der Fremde
gewesen.«

Auch heute hatte Heidi, nachdem der Peter fortgetrabt war und es mit
dem Großvater gefrühstückt hatte, sich gleich an seine Geschäfte
gemacht, aber es wurde fast nicht fertig damit. Draußen war es heut
morgen gar so schön, und alle Augenblicke geschah wieder etwas, was
das Kind in seiner Tätigkeit unterbrach. Jetzt kam durch das offene
Fenster ein Sonnenstrahl so lustig hereingeschossen, und es war
geradezu, als riefe er: »Komm heraus, Heidi, komm heraus!« Da konnte
es nicht mehr drinnen bleiben, es rannte hinaus. Da lag der funkelnde
Sonnenschein um die ganze Hütte herum, und auf allen Bergen glänzte
er und weit, weit das Tal hinunter, und der Boden dort am Abhang sah
so goldig und trocken aus, es mußte ein wenig darauf niedersetzen
und umherschauen. Dann kam ihm auf einmal in den Sinn, daß das
Dreibeinstühlchen noch mitten in der Hütte stand und der Tisch noch
nicht geputzt war vom Morgenessen. Nun sprang es schnell auf und lief
in die Hütte zurück. Aber es währte gar nicht lange, so sauste es
draußen so mächtig durch die Tannen, daß es dem Heidi in alle Glieder
fuhr, es mußte schon wieder hinaus und ein wenig mithüpfen, wenn alle
Zweige da droben hin und her wogten und rollten. Der Großvater hatte
einstweilen hinten im Schopf allerlei Arbeit zu verrichten; er trat
von Zeit zu Zeit unter die Tür hinaus und schaute lächelnd Heidis
Sprüngen zu. Eben war er wieder zurückgetreten, als mit einemmal das
Heidi laut aufschrie:

»Großvater, Großvater! Komm, komm!«

Er trat rasch wieder heraus, fast erschrocken, was mit dem Kinde sei.
Da sah er, wie dieses dem Abhange zulief, laut schreiend: »Sie kommen,
sie kommen! Und voran der Herr Doktor!«

Das Heidi stürzte seinem alten Freunde entgegen. Dieser streckte
grüßend die Hand aus. Wie das Kind ihn erreicht hatte, umfaßte es
zärtlich den ausgestreckten Arm und rief in voller Herzensfreude:
»Guten Tag, Herr Doktor! Und ich danke auch noch vieltausendmal!«

»Grüß Gott, Heidi! Und wofür dankst du denn schon?« fragte freundlich
lächelnd der Herr Doktor.

»Daß ich wieder heim konnte zum Großvater«, erklärte ihm das Kind.

Dem Herrn Doktor ging's wie ein Sonnenschein über das Gesicht.
Diesen Empfang auf der Alp hatte er nicht erwartet. Im Gefühl seiner
Einsamkeit war er unter tiefsinnigen Gedanken den Berg hinaufgestiegen
und hatte noch nicht einmal gesehen, wie schön es um ihn her war und
daß es immer schöner wurde. Er hatte angenommen, das Kind Heidi werde
ihn kaum mehr kennen; es hatte ihn so wenig gesehen, und er kam sich
vor wie einer, der kommt, den Leuten eine Enttäuschung zu bereiten,
und den sie darum nicht ansehen mögen, weil er ja die erwarteten
Freunde nicht mitbrachte. Statt dessen leuchtete dem Heidi die helle
Freude aus den Augen, und voller Dank und Liebe hielt es immer noch
den Arm seines guten Freundes fest.

Mit väterlicher Zärtlichkeit nahm der Herr Doktor das Kind bei der
Hand. »Komm, Heidi«, sagte er in freundlichster Weise, »führe mich nun
zu deinem Großvater und zeige mir, wo du daheim bist.«

Aber das Heidi blieb noch stehen und schaute verwundert den Berg
hinunter.

»Wo sind denn Klara und die Großmama?« fragte es jetzt.

»Ja, nun muß ich dir's sagen, was dir leid tun wird wie mir auch«,
erwiderte der Herr Doktor. »Sieh, Heidi, ich komme allein. Klara war
recht krank und konnte nicht mehr reisen, und so kam auch die Großmama
nicht mit. Aber dann im Frühjahr, wenn die Tage wieder warm und schön
lang werden, dann kommen sie ganz sicher.«

Das Heidi stand sehr betroffen da; es konnte gar nicht fassen, daß es
nun alles, was es so sicher vor sich gesehen hatte, auf einmal gar
nicht mehr sehen sollte. Regungslos stand es eine Weile wie verwirrt
von dem Unerwarteten. Schweigend stand der Herr Doktor vor ihm, und
ringsum war alles still, nur hoch oben hörte man den Wind durch die
Tannen sausen. Da fiel es dem Heidi auf einmal wieder ein, warum es
heruntergelaufen sei und daß der Herr Doktor ja gekommen sei. Es
schaute zu ihm auf. Da lag etwas so Trauriges in den Augen, die zu ihm
niederschauten, wie es noch gar nicht gesehen hatte. So war es nie
gewesen, wenn der Herr Doktor in Frankfurt es angeblickt hatte. Das
ging dem Heidi zu Herzen; es konnte nicht sehen, daß jemand traurig
war, und nun gar der gute Herr Doktor. Gewiß war er so, weil Klara und
die Großmama nicht hatten mitkommen können. Es suchte schnell nach
einem Trost und fand ihn.

»Oh, es währt gewiß nicht lange, bis es wieder Frühling wird, und dann
kommen sie ja bestimmt«, tröstete das Heidi. »Bei uns währt es gar
nie lange, und dann können sie ja viel länger dableiben, das will die
Klara gewiß noch lieber. Und jetzt wollen wir zum Großvater hinauf.«
Hand in Hand mit dem guten Freunde stieg es nun zu der Hütte hinan. Es
war dem Heidi so sehr daran gelegen, den Herrn Doktor wieder froh zu
machen, daß es ihn noch einmal zu überzeugen anfing, es währe so wenig
lange auf der Alm, bis die langen, warmen Sommertage wiederkommen, daß
man es kaum merke, und dabei wurde das Heidi selbst so überzeugt von
seinem Trost, daß es oben dem Großvater ganz fröhlich entgegenrief:

»Sie sind noch nicht da, aber es währt gar nicht lange, so kommen sie
auch.«

Für den Großvater war der Herr Doktor kein Fremder, das Kind hatte ja
so viel von ihm gesprochen. Der Alte streckte seinem Gaste die Hand
entgegen und bewillkommte ihn mit Herzlichkeit. Dann setzten sich die
Männer auf die Bank an der Hütte. Auch für das Heidi wurde da noch ein
Plätzchen gemacht, und der Herr Doktor winkte ihm freundlich, daß es
neben ihm sitzen solle. Nun fing er an zu erzählen, wie Herr Sesemann
ihn ermuntert habe, die Reise zu machen, und wie er auch selbst
gefunden, es möchte gut für ihn sein, da er sich seit langem nicht
mehr recht frisch und rüstig fühle. Dem Heidi sagte er dann ins Ohr,
es werde bald noch etwas den Berg heraufkommen, das aus Frankfurt mit
hergereist sei und ihm eine viel größere Freude machen werde als der
alte Doktor. Das Heidi war sehr gespannt darauf zu erfahren, was
das sein könne. Der Großvater ermunterte den Herrn Doktor sehr, die
schönen Herbsttage noch auf der Alm zuzubringen oder wenigstens an
jedem schönen Tage heraufzukommen, denn hier oben zu bleiben, dazu
konnte ihn der Almöhi nicht einladen, da war ja keine Gelegenheit, den
Herrn zu logieren. Er riet aber seinem Gaste, nicht bis nach Ragaz
zurückzukehren, sondern unten im Dörfli ein Zimmer zu beziehen, das er
im dortigen Wirthause in einer einfachen, aber ganz ordentlichen Art
finden werde. So könnte der Herr Doktor jeden Morgen nach der Alm
heraufkommen, was ihm wohltun müßte, meinte der Öhi, auch würde er
dann gern den Herrn noch auf allerlei Punkte führen, weiter hinauf
in die Berge, wo es ihm gefallen sollte. Diesem gefiel der ganze
Vorschlag sehr wohl, und es wurde festgesetzt, daß er ausgeführt
werden sollte.

Unterdessen war die Sonne in den Mittag gekommen; der Wind hatte sich
schon lange gelegt, und die Tannen waren ganz still geworden. Die Luft
war für die Höhe noch mild und lieblich und säuselte erfrischende
Kühle um die sonnenbeschienene Bank.

Jetzt stand der Almöhi auf und ging in die Hütte hinein, kam aber
gleich wieder und brachte einen Tisch heraus, den er vor die Bank
hinstellte.

»So, Heidi, nun hol herbei, was wir zum Essen brauchen«, sagte er.
»Der Herr muß nun vorlieb nehmen; ist unsere Küche auch einfach, so
ist das Eßzimmer doch anständig.«

»Das meine ich auch«, erwiderte der Herr Doktor, indem er auf das
sonnenbeleuchtete Tal hinunterschaute, »und die Einladung nehme ich
an, hier oben muß es schmecken.«

Das Heidi lief nun hin und her wie ein Wiesel und brachte herbei,
was es nur drinnen im Schranke finden konnte, denn daß es den Herrn
Doktor bewirten durfte, war ihm eine ungeheure Freude. Der Großvater
bereitete unterdessen das Mahl und trat nun heraus mit dem dampfenden
Milchkruge und dem goldig glänzenden Käsebraten. Dann schnitt er
schöne, durchsichtige Schnitten von dem rosigen Fleisch herunter, das
er hier oben an der reinen Luft getrocknet hatte. Dem Herrn Doktor
schmeckte sein Mittagsmahl so gut wie das ganze Jahr durch noch kein
einziges Mal.

»Ja, ja, hierhin muß unsere Klara kommen«, sagte er jetzt. »Da wird
sie zu ganz neuen Kräften gelangen, und wenn sie eine Zeitlang ißt wie
ich heute, so wird sie rund und fest werden, wie sie in ihrem Leben
noch nie war.«

Jetzt kam von unten herauf einer angestiegen, der hatte einen großen
Ballen auf dem Rücken. Wie er oben bei der Hütte ankam, warf er seine
Last auf den Boden hin und zog ein paar gute Züge von der frischen
Almluft ein.

»Ah, da kommt, was mit mir von Frankfurt hergereist ist«, sagte der
Herr Doktor aufstehend, und das Heidi mit sich ziehend, trat er an den
Ballen hin und fing an, ihn aufzulösen. Als die erste schwere Hülle
weg war, sagte er: »So, Kind, nun fahr weiter fort und hol dir deine
Schätze selbst heraus.«

Das Heidi tat so, und wie nun alles auseinanderrollte, schaute es mit
großen, verwunderten Augen auf die Dinge hin. Erst als der Herr Doktor
wieder herzutrat und von der großen Schachtel den Deckel weghob, dem
Heidi bedeutend: »Sieh, was die Großmutter zum Kaffee bekommt«, da
schrie es auf vor Freuden: »Oh! Oh! Jetzt kann die Großmutter einmal
schöne Kuchen essen!« und sprang rings um die Schachtel herum und
wollte gleich alles zusammenpacken und zur Großmutter hinuntereilen.
Aber der Großvater sagte, gegen Abend wollten sie dann miteinander den
Herrn Doktor begleiten und die Sachen mitnehmen. Jetzt fand das Heidi
auch das schöne Säckchen Tabak und brachte es schnell dem Großvater
herüber. Das gefiel ihm sehr wohl. Er füllte gleich sein Pfeifchen
damit, und die beiden Männer sprachen nun, auf der Bank sitzend und
große Rauchwolken von sich blasend, über allerhand Dinge, während das
Heidi hin und her sprang von einem seiner Schätze zum andern. Auf
einmal kam es wieder zu der Bank zurück, stellte sich vor den Gast
hin, und sowie die erste Pause im Gespräch entstand, sagte es sehr
bestimmt:

»Nein, das andere hat mir nicht mehr Freude gemacht als der alte Herr
Doktor.«

Die beiden Männer mußten ein wenig lachen, und der Herr Doktor sagte,
das hätte er nicht gedacht.

Als die Sonne halb hinter die Berge hinabsteigen wollte, stand der
Gast auf, um seine Rückreise nach dem Dörfli anzutreten und dort
Quartier zu nehmen. Der Großvater packte die Kuchenschachtel, die
große Wurst und das Tuch unter seinen Arm, der Herr Doktor nahm das
Heidi an die Hand, und so wanderten sie den Berg hinunter bis zur
Geißenpeter-Hütte. Hier mußte das Heidi Abschied nehmen. Es sollte
drinnen bei der Großmutter warten, bis es wieder abgeholt würde vom
Großvater, welcher seinen Gast nach dem Dörfli hinunter geleiten
wollte. Als der Herr Doktor dem Heidi die Hand zum Abschied bot,
fragte es: »Wollen Sie etwa gern morgen mit den Geißen auf die Weide
hinaufgehen?«, denn das war das Schönste, was es kannte.

»Es bleibt dabei, Heidi«, erwiderte er, »wir gehen zusammen.«

Nun gingen die Männer weiter, und das Heidi trat bei der Großmutter
ein. Erst schleppte es mit Anstrengung die Kuchenschachtel mit, dann
mußte es wieder hinaus, um die Wurst zu holen, denn der Großvater
hatte alles vor der Tür niedergelegt. Nachher mußte es erst noch
einmal hinaus, das große Tuch zu holen. Es brachte alles so nahe an
die Großmutter heran als nur möglich, damit sie recht alles berühren
könne und wisse, was es sei. Das Tuch legte es ihr auf die Knie.

»Es ist alles aus Frankfurt, von der Klara und der Großmama«,
berichtete es der hocherstaunten Großmutter und der verwunderten
Brigitte, der die Überraschung so in die Glieder gefahren war, daß
sie unbeweglich zugeschaut hatte, wie das Heidi mit der größten
Anstrengung die schweren Gegenstände hereingeschleppt und nun alles
vor ihren Augen ausgebreitet hatte.

»Aber gelt, Großmutter, die Kuchen freuen dich furchtbar stark?
Sieh nur, wie weich sie sind!« rief das Heidi immer wieder, und die
Großmutter bestätigte: »Ja, ja, gewiß, Heidi, was sind das auch für
gute Leute!« Dann strich sie wieder mit der Hand über das warme,
weiche Tuch und sagte: »Aber das ist etwas Herrliches für den kalten
Winter! Das ist etwas so Prächtiges, daß ich nie geglaubt hätte, ich
könnte in meinem Leben dazu kommen.«

Das Heidi aber mußte sich sehr verwundern, daß die Großmutter an dem
grauen Tuch noch mehr Freude haben konnte als an den Kuchen. Die
Brigitte stand immer noch vor der Wurst, die auf dem Tische lag, und
schaute sie fast mit Verehrung an. In ihrem ganzen Leben hatte sie
nie eine solche Riesenwurst gesehen, und diese sollte sie nun selbst
besitzen und einmal sogar anschneiden; das kam ihr unglaublich vor.
Sie schüttelte den Kopf und sagte zaghaft: »Man wird doch noch den Öhi
fragen müssen, wie das gemeint sei.«

Aber das Heidi sagte ganz ohne Zweifel:

»Das ist zum Essen gemeint und gar nicht anders.«

Jetzt kam der Peter hereingestolpert: »Der Almöhi kommt hinter mir
drein, das Heidi soll...«; er konnte nicht mehr weiter. Seine Blicke
waren auf den Tisch gefallen, wo die Wurst lag, und der Anblick hatte
ihn so überwältigt, daß er kein Wort mehr fand. Aber das Heidi hatte
schon gemerkt, was kommen sollte, und gab schnell der Großmutter die
Hand. Der Almöhi ging zwar jetzt nie mehr an der Hütte vorbei, ohne
schnell hereinzutreten und die Großmutter zu grüßen, und sie freute
sich auch immer, wenn sie seinen Schritt hörte, denn er hatte jedesmal
ein ermunterndes Wort für sie; aber heute war es spät geworden für das
Heidi, das alle Morgen mit der Sonne draußen war. Der Großvater aber
sagte: »Das Kind muß seinen Schlaf haben«, und dabei blieb er. So rief
er durch die offene Tür der Großmutter nur eine gute Nacht zu und nahm
das heranspringende Heidi bei der Hand, und unter dem flimmernden
Sternenhimmel hin wanderten die beiden ihrer friedlichen Hütte zu.



Eine Vergeltung

Am anderen Morgen in der Frühe stieg der Herr Doktor vom Dörfli den
Berg hinan in der Gesellschaft des Peter und seiner Geißen. Der
freundliche Herr versuchte ein paarmal mit dem Geißbuben ein Gespräch
anzuknüpfen, aber es gelang ihm nicht, kaum daß er als Antwort auf
einleitende Fragen unbestimmte, einsilbige Worte zu hören bekam. Der
Peter ließ sich nicht so leicht in ein Gespräch ein. So wanderte die
ganze schweigende Gesellschaft bis hinauf zur Almhütte, wo schon
erwartend das Heidi stand mit seinen beiden Geißen, alle drei munter
und fröhlich wie der frühe Sonnenschein auf allen Höhen.

»Kommst mit?« fragte der Peter, denn als Frage oder als Aufforderung
sprach er jeden Morgen diesen Gedanken aus.

»Freilich, natürlich, wenn der Herr Doktor mitkommt«, gab das Heidi
zurück.

Der Peter sah den Herrn ein wenig von der Seite an.

Jetzt trat der Großvater hinzu, das Mittagsbrotsäckchen in der Hand.
Erst grüßte er den Herrn mit aller Ehrerbietung, dann trat er zum
Peter hin und hing ihm das Säckchen um.

Es war schwerer als sonst, denn der Öhi hatte ein schönes Stück von
dem rötlichen Fleische hineingelegt. Er hatte gedacht, vielleicht
gefalle es dem Herrn droben auf der Weide und er nehme dann gern sein
Mittagsmahl gleich dort mit den Kindern ein. Der Peter lächelte fast
von einem Ohr bis zum andern, denn er ahnte, daß da drinnen etwas
Ungewöhnliches versteckt sei.

Nun wurde die Bergfahrt angetreten. Das Heidi wurde ganz von seinen
Geißen umringt, jede wollte zunächst bei ihm sein, und eine schob die
andere immer ein wenig seitwärts. So wurde es eine Zeitlang mitten
in dem Rudel mit fortgeschoben. Aber jetzt stand es still und sagte
ermahnend: »Nun müßt ihr artig vorauslaufen, aber dann nicht immer
wiederkommen und mich drängen und stoßen. Ich muß jetzt ein wenig mit
dem Herrn Doktor gehen.« Dann klopfte es dem Schneehöppli, das sich
immer am nächsten zu ihm hielt, zärtlich auf den Rücken und ermahnte
es noch besonders, nun recht folgsam zu sein. Dann arbeitete es sich
aus dem Rudel heraus und ging nun neben dem Herrn Doktor her, der es
gleich bei der Hand faßte und festhielt. Er mußte jetzt nicht mit Mühe
nach einem Gespräch suchen wie vorher, denn das Heidi fing gleich
an und hatte ihm so viel zu erzählen von den Geißen und ihren
merkwürdigen Einfällen und von den Blumen oben und den Felsen und
Vögeln, daß die Zeit unvermerkt dahinging und sie ganz unerwartet
oben auf der Weide anlangten. Der Peter hatte im Hinaufgehen öfters
seitwärts auf den Herrn Doktor Blicke geworfen, die diesem einen
rechten Schrecken hätten beibringen können; er sah sie aber
glücklicherweise nicht.

Oben angelangt, führte das Heidi seinen guten Freund gleich auf die
schönste Stelle, wohin es immer ging und sich auf den Boden setzte und
umherschaute, denn da gefiel es ihm am besten. Es tat, wie es gewohnt
war, und der Herr Doktor ließ sich gleich auch neben Heidi auf den
sonnigen Weideboden nieder. Ringsum leuchtete der goldene Herbsttag
über die Höhen und das weite grüne Tal. Von den unteren Alpen tönten
überall die Herdenglocken herauf, so lieblich und wohltuend, als ob
sie weit und breit den Frieden einläuteten. Auf dem großen Schneefelde
drüben blitzten funkelnd und flimmernd goldene Sonnenstrahlen hin und
her, und der graue Falknis hob seine Felsentürme in alter Majestät
hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf. Der Morgenwind wehte leise
und wonnig über die Alp und bewegte nur sachte die letzten blauen
Glockenblümchen, die noch übriggeblieben waren von der großen Schar
des Sommers und nun noch wohlig ihre Köpfchen im warmen Sonnenscheine
wiegten. Obenhin flog der große Raubvogel in weiten Bogen umher, aber
er krächzte heute nicht. Mit ausgebreiteten Flügeln schwamm er ruhig
durch die Bläue und ließ sich's wohl sein. Das Heidi guckte dahin und
dorthin. Die lustig nickenden Blumen, der blaue Himmel, der fröhliche
Sonnenschein, der vergnügte Vogel in den Lüften, alles war so schön,
so schön! Heidis Augen funkelten vor Wonne. Nun schaute es nach seinem
Freunde, ob er auch alles recht sehe, was so schön war. Der Herr
Doktor hatte bis jetzt still und gedankenvoll um sich geblickt. Wie er
nun den freudeglänzenden Augen des Kindes begegnete, sagte er:

»Ja, Heidi, es könnte schön sein hier, aber was meinst du? Wenn einer
ein trauriges Herz hierher brächte, wie müßte er es wohl machen, daß
er an all dem Schönen sich freuen könnte?«

»Oh, oh!« rief das Heidi ganz fröhlich aus. »Hier hat man gar nie ein
trauriges Herz, nur in Frankfurt.«

Der Herr Doktor lächelte ein wenig, aber das ging schnell vorüber.
Dann sagte er wieder: »Und wenn einer käme und alles Traurige aus
Frankfurt mit hier heraufbrächte, Heidi; weißt du da auch noch etwas,
das ihm helfen könnte?«

»Man muß nur alles dem lieben Gott sagen, wenn man gar nicht mehr
weiß, was machen«, sagte das Heidi ganz zuversichtlich.

»Ja, das ist schon ein guter Gedanke, Kind«, bemerkte der Herr Doktor.
»Wenn es aber von ihm selbst kommt, was so ganz traurig und elend
macht, was kann man da dem lieben Gott sagen?«

Das Heidi mußte nachdenken, was dann zu machen sei; es war aber ganz
zuversichtlich, daß man für alle Traurigkeit eine Hilfe vom lieben
Gott erhalten könne. Es suchte seine Antwort in seinen eigenen
Erlebnissen.

»Dann muß man warten«, sagte es nach einer Weile mit Sicherheit, »und
nur immer denken: jetzt weiß der liebe Gott schon etwas Freudiges, das
dann nachher aus dem anderen kommt, man muß nur noch ein wenig still
sein und nicht fortlaufen. Dann kommt auf einmal alles so, daß man
ganz gut sehen kann, der liebe Gott hatte die ganze Zeit nur etwas
Gutes im Sinn gehabt; aber weil man das vorher noch nicht so sehen
kann, sondern immer nur das furchtbar Traurige, so denkt man, es
bleibe dann immer so.«

»Das ist ein schöner Glaube, den mußt du festhalten, Heidi«, sagte
der Herr Doktor. Eine Weile schaute er schweigend auf die mächtigen
Felsenberge hinüber und in das sonnenleuchtende grüne Tal hinab, dann
sagte er wieder:

»Siehst du, Heidi, es könnte einer hier sitzen, der einen großen
Schatten auf den Augen hätte, so daß er das Schöne gar nicht aufnehmen
könnte, das ihn hier umgibt. Dann möchte doch wohl das Herz traurig
werden hier, doppelt traurig, wo es so schön sein könnte. Kannst du
das verstehen?«

Jetzt schoß dem Heidi etwas Schmerzliches in sein frohes Herz. Der
große Schatten auf den Augen brachte ihm die Großmutter in Erinnerung,
die ja nie mehr die helle Sonne und all das Schöne hier oben sehen
konnte. Das war ein Leid in Heidis Herzen, das immer neu erwachte,
sobald die Sache ihm wieder ins Bewußtsein kam. Es schwieg eine
Weile ganz still, denn das Weh hatte es so mitten in die Freude
hineingetroffen. Dann sagte es ernsthaft:

»Ja, das kann ich schon verstehen. Aber ich weiß etwas: Dann muß man
die Lieder der Großmutter sagen, die machen einem wieder ein wenig
helle und manchmal so hell, daß man ganz fröhlich wird. Das hat die
Großmutter gesagt.«

»Welche Lieder, Heidi?« fragte der Herr Doktor.

»Ich kann nur das von der Sonne und dem schönen Garten und noch von
dem andern langen die Verse, die der Großmutter lieb sind, denn die
muß ich immer dreimal lesen«, erwiderte das Heidi.

»So sag mir einmal diese Verse, die möchte ich auch hören«, und der
Herr Doktor setzte sich zurecht, um aufmerksam zuzuhören.

Heidi legte seine Hände ineinander und besann sich noch ein Weilchen:

»Soll ich dort anfangen, wo die Großmutter sagt, daß einem wieder eine
Zuversicht ins Herz kommt?«

Der Herr Doktor nickte bejahend.

Jetzt begann Heidi:

    »Ihn, ihn laß tun und walten,
    Er ist ein weiser Fürst
    Und wird es so gestalten,
    Daß du dich wundern wirst,
    Wenn er, wie ihm gebühret,
    Mit wunderbarem Rat
    Das Werk hinausgeführet,
    Das dich bekümmert hat.

    Er wird zwar eine Weile
    Mit seinem Trost verziehn
    Und tun an seinem Teile,
    Als hätt' in seinem Sinn
    Er deiner sich begeben,
    Als sollt'st du für und für
    In Angst und Nöten schweben,
    Als fragt' er nichts nach dir.

    Wird's aber sich begeben,
    Daß du ihm treu verbleibst,
    So wird er dich erheben,
    Da du's am mind'sten gläubst.
    Er wird dein Herz erlösen
    Von der so schweren Last,
    Die du zu keinem Bösen
    Bisher getragen hast.«

Heidi hielt plötzlich inne, es war nicht sicher, daß der Herr Doktor
auch noch zuhöre. Er hatte die Hand über seine Augen gebreitet und saß
unbeweglich da. Es dachte, er sei vielleicht ein wenig eingeschlafen;
wenn er dann wieder erwachte und noch mehr Verse hören wollte, würde
er es schon sagen. Jetzt war alles still. Der Herr Doktor sagte
nichts, aber er schlief doch nicht. Er war in eine längst vergangene
Zeit zurückversetzt. Da stand er als ein kleiner Junge neben dem
Sessel seiner lieben Mutter; die hatte ihren Arm um seinen Hals gelegt
und sagte ihm das Lied vor, das er eben von Heidi hörte und das er so
lange nicht mehr vernommen hatte. Jetzt hörte er die Stimme seiner
Mutter wieder und sah ihre guten Augen so liebevoll auf ihm ruhen, und
als die Worte des Liedes verklungen waren, hörte er die freundliche
Stimme noch andere Worte zu ihm sprechen. Die mußte er gern hören und
ihnen weit nachgehen in seinen Gedanken, denn noch lange Zeit saß er
so da, das Gesicht in seine Hand gelegt, schweigend und regungslos.
Als er sich endlich aufrichtete, sah er, wie das Heidi in Verwunderung
nach ihm blickte. Er nahm die Hand des Kindes in die seinige.

»Heidi, dein Lied war schön«, sagte er, und seine Stimme klang froher,
als sie bis jetzt geklungen hatte. »Wir wollen wieder hierherkommen,
dann sagst du mir's noch einmal.«

Während dieser ganzen Zeit hatte der Peter genug zu tun gehabt, seinem
Ärger Luft zu machen. Da war das Heidi seit vielen Tagen nicht mit auf
der Weide gewesen, und nun, da es endlich einmal wieder mit war, saß
der alte Herr die ganze Zeit neben ihm, und der Peter konnte gar nicht
an das Heidi herankommen. Das verdroß ihn sehr stark. Er stellte sich
in einiger Entfernung hinter dem ahnungslosen Herrn auf, so daß dieser
ihn nicht sehen konnte, und hier machte er erst eine große Faust und
schwang sie drohend in der Luft herum, und nach einiger Zeit machte er
zwei Fäuste, und je länger das Heidi neben dem Herrn sitzen blieb, je
schrecklicher ballte der Peter seine Fäuste und streckte sie immer
höher und drohender in die Luft hinauf hinter dem Rücken des
Bedrohten.

Unterdessen war die Sonne dahin gekommen, wo sie steht, wenn man zu
Mittag essen muß; das kannte der Peter genau. Auf einmal schrie er aus
allen Kräften zu den zweien hinüber:

»Man muß essen!«

Heidi stand auf und wollte den Sack herbeiholen, damit der Herr Doktor
auf dem Platze, wo er saß, sein Mittagsmahl abhalten könne. Aber
er sagte, er habe keinen Hunger, er wünsche nur ein Glas Milch zu
trinken, dann wolle er gern noch ein wenig auf der Alp umhergehen
und etwas weiter hinaufsteigen. Da fand das Heidi, dann habe es auch
keinen Hunger und wolle auch nur Milch trinken, und nachher wolle es
den Herrn Doktor hinaufführen zu den großen, moosbedeckten Steinen
hoch oben, wo der Distelfink einmal fast hinuntergesprungen wäre und
wo alle die würzigen Kräutlein wuchsen. Es lief zum Peter hinüber und
erklärte ihm alles und daß er nun erst eine Schale Milch vom Schwänli
nehmen müsse für den Herrn Doktor und dann noch eine, die wolle es für
sich haben. Der Peter schaute erst eine Weile sehr erstaunt das Heidi
an, dann fragte er:

»Wer muß haben, was im Sack ist?«

»Das kannst du haben, aber zuerst mußt du die Milch geben, und
hurtig«, war Heidis Antwort.

So rasch hatte der Peter in seinem Leben noch keine Tat vollendet, als
er nun diese fertigbrachte, denn er sah immer den Sack vor sich und
wußte noch nicht, wie das aussah, was drinnen war und ihm gehörte.
Sobald drüben die beiden ruhig ihre Milch tranken, öffnete der Peter
den Sack und tat einen Blick hinein. Als er das wundervolle Stück
Fleisch gewahr wurde, da schüttelte es den ganzen Peter vor Freude,
und er tat noch einen Blick hinein, um sich zu versichern, daß es
auch wahr sei. Dann fuhr er mit der Hand in den Sack hinein, um die
erwünschte Gabe zum Genuß herauszuholen. Aber auf einmal zog er die
Hand wieder zurück, als ob er nicht zugreifen dürfe. Es war dem Peter
in den Sinn gekommen, wie er dort hinter dem Herrn gestanden und gegen
ihn gefaustet hatte, und nun schenkte ihm derselbe Herr sein ganzes
unvergleichliches Mittagsessen. Jetzt reute den Peter seine Tat, denn
es war ihm gerade so, wie wenn sie ihn verhinderte, sein schönes
Geschenk herauszunehmen und sich daran zu erlaben. Auf einmal sprang
er in die Höhe und lief zurück auf die Stelle hin, wo er gestanden
hatte. Da streckte er seine beiden Hände ganz flach in die Luft
hinauf, zum Zeichen, daß das Fausten nicht mehr gelte, und so blieb
er eine gute Weile stehen, bis er das Gefühl hatte, die Sache sei
nun wieder ausgeglichen. Dann kam er in großen Sprüngen zu dem Sack
zurück, und nun, da das gute Gewissen hergestellt war, konnte er mit
vollem Vergnügen in sein ungewöhnlich leckeres Mittagsmahl beißen.

Der Herr Doktor und das Heidi waren lange miteinander herumgewandert
und hatten sich sehr gut unterhalten. Jetzt aber fand der Herr, es sei
Zeit für ihn zurückzukehren, und meinte, das Kind wolle nun auch gern
noch ein wenig bei seinen Geißen bleiben. Aber das kam dem Heidi nicht
in den Sinn, denn dann mußte ja der Herr Doktor mutterseelenallein die
ganze Alp hinuntergehen. Bis zur Hütte vom Großvater wollte es ihn
durchaus begleiten und auch noch ein Stück darüber hinaus. Es ging
immer Hand in Hand mit seinem guten Freunde und hatte auf dem ganzen
Wege ihm noch genug zu erzählen und ihm alle Stellen zu zeigen, wo die
Geißen am liebsten weideten und wo es im Sommer am meisten von den
glänzenden gelben Weideröschen und vom roten Tausendgüldenkraut und
noch anderen Blumen gebe. Die wußte es nun alle zu benennen, denn der
Großvater hatte ihm den Sommer durch alle ihre Namen beigebracht,
so, wie er sie kannte. Aber zuletzt sagte der Herr Doktor, nun müsse
es zurückkehren. Sie nahmen Abschied, und der Herr ging den Berg
hinunter, doch kehrte er sich von Zeit zu Zeit noch einmal um. Dann
sah er, wie das Heidi immer noch auf derselben Stelle stand und ihm
nachschaute und mit der Hand ihm nachwinkte. So hatte sein eigenes,
liebes Töchterchen getan, wenn er von Hause fortging.

Es war ein klarer, sonniger Herbstmonat. Jeden Morgen kam der Herr
Doktor zur Alp herauf, und dann ging es gleich weiter auf eine schöne
Wanderung. öfters zog er mit dem Almöhi aus, hoch in die Felsenberge
hinauf, wo die alten Wettertannen herunternickten und der große Vogel
in der Nähe hausen mußte, denn da schwirrte er manchmal sausend und
krächzend ganz nahe an den Köpfen der beiden Männer vorbei. Der Herr
Doktor hatte ein großes Wohlgefallen an der Unterhaltung seines
Begleiters, und er mußte sich immer mehr verwundern, wie gut der Öhi
alle Kräutlein ringsherum auf seiner Alp kannte und wußte, wozu sie
gut waren, und wieviel kostbare und gute Dinge er da droben überall
herauszufinden wußte; so in den harzigen Tannen und in den dunklen
Fichtenbäumen mit den duftenden Nadeln, in dem gekräuselten Moos,
das zwischen den alten Baumwurzeln emporsproß, und in all den feinen
Pflänzchen und unscheinbaren Blümchen, die noch ganz hoch oben dem
kräftigen Alpenboden entsprangen.

Ebenso genau kannte der Alte auch das Wesen und Treiben aller Tiere da
oben, der großen und der kleinen, und er wußte dem Herrn Doktor ganz
lustige Dinge von der Lebensweise dieser Bewohner der Felsenlöcher,
der Erdhöhlen und auch der hohen Tannenwipfel zu erzählen.

Dem Herrn Doktor verging die Zeit auf diesen Wanderungen, er wußte gar
nicht, wie, und oftmals, wenn er am Abend dem Öhi herzlich die Hand
zum Abschiede schüttelte, mußte er von neuem sagen: »Guter Freund, von
Ihnen gehe ich nie fort, ohne wieder etwas gelernt zu haben.«

An vielen Tagen aber, und gewöhnlich an den allerschönsten, wünschte
der Herr Doktor mit dem Heidi auszuziehen. Dann saßen die beiden öfter
miteinander auf dem schönen Vorsprunge der Alp, wo sie am ersten Tage
gesessen hatten, und das Heidi mußte wieder seine Liederverse sagen
und dem Herrn Doktor erzählen, was es nur wußte. Dann saß der Peter
öfter hinter ihnen an seinem Platze, aber er war jetzt ganz zahm und
faustete nie mehr.

So ging der schöne Septembermonat zu Ende. Da kam der Herr Doktor
eines Morgens und sah nicht so fröhlich aus, wie er sonst immer
ausgesehen hatte. Er sagte, es sei sein letzter Tag, er müsse nach
Frankfurt zurückkehren; das mache ihm große Mühe, denn er habe die
Alp so liebgewonnen, als wäre sie seine Heimat. Dem Almöhi tat die
Nachricht sehr leid, denn auch er hatte sich überaus gern mit dem
Herrn Doktor unterhalten, und das Heidi hatte sich so daran gewöhnt,
alle Tage seinen liebevollen Freund zu sehen, daß es gar nicht
begreifen konnte, wie das nun mit einem Male ein Ende nehmen sollte.
Es schaute fragend und ganz verwundert zu ihm auf. Aber es war
wirklich so. Der Herr Doktor nahm Abschied vom Großvater und fragte
dann, ob das Heidi ihn noch ein wenig begleiten werde. Es ging an
seiner Hand den Berg hinunter, aber es konnte immer noch nicht recht
fassen, daß er ganz fortgehe.

Nach einer Welle stand der Herr Doktor still und sagte, nun sei das
Heidi weit genug gekommen, es müsse zurückkehren. Er fuhr ein paarmal
zärtlich mit seiner Hand über das krause Haar des Kindes hin und
sagte: »Nun muß ich fort, Heidi! Wenn ich dich nur mit mir nach
Frankfurt nehmen und bei mir behalten könnte!«

Dem Heidi stand auf einmal ganz Frankfurt vor den Augen, die vielen,
vielen Häuser und steinernen Straßen und auch Fräulein Rottenmeier und
die Tinette, und es antwortete ein wenig zaghaft: »Ich wollte doch
lieber, daß Sie wieder zu uns kämen.«

»Nun ja, so wird's besser sein. So leb wohl, Heidi«, sagte freundlich
der Herr Doktor und hielt ihm die Hand hin. Das Kind legte die seinige
hinein und schaute zu dem Scheidenden auf. Die guten Augen, die zu ihm
niederblickten, füllten sich mit Wasser. Jetzt wandte sich der Herr
Doktor rasch und eilte den Berg hinunter.

Das Heidi blieb stehen und rührte sich nicht. Die liebevollen Augen
und das Wasser, das es darinnen gesehen hatte, arbeiteten stark in
seinem Herzen. Auf einmal brach es in ein lautes Weinen aus, und mit
aller Macht stürzte es dem Forteilenden nach und rief, von Schluchzen
unterbrochen, aus allen Kräften:

»Herr Doktor! Herr Doktor!«

Er kehrte um und stand still.

Jetzt hatte ihn das Kind erreicht. Die Tränen strömten ihm die Wangen
herunter, während es herausschluchzte:

»Ich will gewiß auf der Stelle mit nach Frankfurt kommen und will bei
Ihnen bleiben, so lang Sie wollen, ich muß es nur noch geschwind dem
Großvater sagen.«

Der Herr Doktor streichelte beruhigend das erregte Kind.

»Nein, mein liebes Heidi«, sagte er mit dem freundlichsten Tone,
»nicht jetzt auf der Stelle; du mußt noch unter den Tannen bleiben,
du könntest mir wieder krank werden. Aber komm, ich will dich etwas
fragen: Wenn ich einmal krank und allein bin, willst du dann zu mir
kommen und bei mir bleiben? Kann ich denken, daß sich dann noch jemand
um mich kümmern und mich liebhaben will?«

»Ja, ja, dann will ich sicher kommen, noch am gleichen Tag, und Sie
sind mir auch fast so lieb wie der Großvater«, versicherte das Heidi
noch unter fortwährendem Schluchzen.

Jetzt drückte ihm der Herr Doktor noch einmal die Hand, dann setzte
er rasch seinen Weg fort. Das Heidi aber blieb auf derselben Stelle
stehen und winkte fort und fort mit seiner Hand, solange es nur noch
ein Pünktchen von dem forteilenden Herrn entdecken konnte. Als dieser
zum letztenmal sich umwandte und nach dem winkenden Heidi und der
sonnigen Alp zurückschaute, sagte er leise vor sich hin: »Dort oben
ist's gut sein, da können Leib und Seele gesunden, und man wird wieder
seines Lebens froh.«



Der Winter im Dörfli

Um die Almhütte lag der Schnee so hoch, daß es anzusehen war, als
ständen die Fenster auf dem flachen Boden, denn weiter unten war von
der ganzen Hütte gar nichts zu sehen, auch die Haustür war völlig
verschwunden. Wäre der Almöhi noch oben gewesen, so hätte er dasselbe
tun müssen, was der Peter täglich ausführen mußte, weil es gewöhnlich
über Nacht wieder geschneit hatte. Jeden Morgen mußte dieser jetzt aus
dem Fenster der Stube hinausspringen, und war es nicht sehr kalt, so
daß über Nacht alles zusammengefroren war, so versank er dann so tief
in dem weichen Schnee, daß er mit Händen und Füßen und mit dem Kopf
auf alle Seiten stoßen und werfen und ausschlagen mußte, bis er sich
wieder herausgearbeitet hatte. Dann bot ihm die Mutter den großen
Besen aus dem Fenster, und mit diesem stieß und scharrte der Peter nun
den Schnee vor sich weg, bis er zur Tür kam. Dort hatte er dann eine
große Arbeit, denn da mußte aller Schnee abgegraben werden, sonst fiel
entweder, wenn er noch weich war und die Tür aufging, die ganze große
Masse in die Küche hinein, oder er fror zu, und nun war man ganz
vermauert drinnen, denn durch diesen Eisfelsen konnte man nicht
dringen, und durch das kleine Fenster konnte nur der Peter
hinausschlüpfen. Für diesen brachte dann die Zeit des Gefrierens viele
Bequemlichkeiten mit sich. Wenn er ins Dörfli hinunter mußte, öffnete
er nur das Fenster, kroch durch und kam draußen zu ebener Erde auf dem
festen Schneefelde an. Dann schob ihm die Mutter den kleinen Schlitten
durch das Fenster nach, und der Peter hatte sich nur daraufzusetzen
und abzufahren, wie und wo er wollte, er kam jedenfalls hinunter, denn
die ganze Alm um und um war dann nur ein großer, ununterbrochener
Schlittweg.

Der Öhi war nicht auf der Alm den Winter; er hatte Wort gehalten.
Sobald der erste Schnee gefallen war, hatte er Hütte und Stall
abgeschlossen und war mit dem Heidi und den Geißen nach dem Dörfli
hinuntergezogen. Dort stand in der Nähe der Kirche und des Pfarrhauses
ein weitläufiges Gemäuer, das war in alter Zeit ein großes Herrenhaus
gewesen, was man noch an vielen Stellen sehen konnte, obschon jetzt
das Gebäude überall ganz oder halb zerfallen war. Da hatte einmal ein
tapferer Kriegsmann gewohnt; der war in spanische Dienste gegangen und
hatte da viele tapfere Taten verrichtet und viele Reichtümer erbeutet.
Dann war er heimgekommen nach dem Dörfli und hatte aus seiner Beute
ein prächtiges Haus errichtet; darinnen wollte er nun wohnen. Aber
es ging gar nicht lange, so konnte er es in dem stillen Dörfli nicht
mehr aushalten vor Langweile, denn er hatte zu lange draußen in der
lärmvollen Welt gelebt. Er zog wieder hinaus und kam gar niemals mehr
zurück. Als man nach vielen, vielen Jahren sicher wußte, daß er tot
war, übernahm ein ferner Verwandter unten im Tal das Haus, aber es
war schon am Verfallen, und der neue Besitzer wollte es nicht mehr
aufbauen. So zogen arme Leute in das Haus, die wenig dafür bezahlen
mußten, und wenn ein Stück abfiel von dem Gebäude, so ließ man es
liegen. Seit jener Zeit waren nun wieder viele Jahre darübergegangen.
Schon als der Öhi mit seinem jungen Buben Tobias hergekommen war,
hatte er das verfallene Haus bezogen und darin gelebt. Seither hatte
es meistens leer gestanden, denn wer nicht verstand, vorweg dem
Verfalle ein wenig zu begegnen und die Löcher und Lücken, wo sie
entstanden, gleich irgendwie zu stopfen und zu flicken, der konnte da
nicht bleiben. Der Winter droben im Dörfli war lang und kalt. Dann
blies und wehte es von allen Seiten durch die Räume, daß die Lichter
auslöschten und die armen Leute vom Frost geschüttelt wurden. Aber der
Öhi wußte sich zu helfen. Gleich nachdem er zu dem Entschluß gekommen
war, den Winter im Dörfli zuzubringen, hatte er das alte Haus wieder
übernommen und war den Herbst durch öfter heruntergekommen, um
darin alles so herzurichten, wie es ihm gefiel. Um die Mitte des
Oktobermonats war er dann mit dem Heidi heruntergezogen.

Kam man von hinten an das Haus heran, so trat man gleich in einen
offenen Raum ein, da war auf einer Seite die ganze Wand und auf der
anderen die halbe eingefallen. Über dieser war noch ein Bogenfenster
zu sehen, aber das Glas war längst weg daraus, und dicker Efeu rankte
sich darum und hoch hinauf bis zur Decke, die noch zur Hälfte fest
war. Die war schön gewölbt, und man konnte gut sehen, das war die
Kapelle gewesen. Ohne Tür kam man weiter in eine große Halle hinein,
da waren hier und da noch schöne Steinplatten auf dem Boden, und
zwischendurch wuchs das Gras dicht empor. Da waren die Mauern auch
alle halb weg und große Stücke der Decke dazu, und hätten da nicht
ein paar dicke Säulen noch ein festes Stück der Decke getragen, so
hätte man denken müssen, diese könne jeden Augenblick auf die Köpfe
derer niederfallen, die darunter standen. Hier hatte der Öhi einen
Bretterverschlag ringsum gemacht und den Boden dick mit Streu belegt,
denn hier in der alten Halle sollten die Geißen logieren. Dann ging
es durch allerlei Gänge, immer halb offen, daß einmal der Himmel
hereinguckte und einmal wieder die Wiese und der Weg draußen. Aber
zuvörderst, wo die schwere, eichene Tür noch fest in den Angeln hing,
kam man in eine große, weite Stube hinein, die war noch gut. Da waren
noch die vier festen Wände mit dem dunkeln Holzgetäfel ohne Lücken,
und in der einen Ecke stand ein ungeheurer Ofen, der ging fast bis an
die Decke hinauf, und auf die weißen Kacheln waren große, blaue Bilder
hingemalt. Da waren alte Türme darauf, mit hohen Bäumen ringsum, und
unter den Bäumen ging ein Jäger dahin mit seinen Hunden. Dann war
wieder ein stiller See unter weitschattigen Eichen, und ein Fischer
stand daran und hielt seine Rute weit in das Wasser hinaus. Um den
ganzen Ofen herum ging eine Bank, so daß man da gleich hinsetzen
und die Bilder studieren konnte. Hier gefiel es dem Heidi sogleich.
Sowie es mit dem Großvater in die Stube eingetreten war, lief es
auf den Ofen zu, setzte sich auf die Bank und fing an die Bilder zu
betrachten. Aber wie es, auf der Bank weiter gleitend, bis hinter den
Ofen gelangte, nahm eine neue Erscheinung seine ganze Aufmerksamkeit
in Beschlag: In dem ziemlich großen Raume zwischen dem Ofen und der
Wand waren vier Bretter aufgestellt, so wie zu einem Apfelbehälter.
Darinnen lagen aber nicht Äpfel, da lag unverkennbar Heidis Bett, ganz
so, wie es oben auf der Alm gewesen war: ein hohes Heulager mit dem
Leintuch und dem Sack als Decke darauf. Das Heidi jauchzte auf:

»Oh, Großvater, da ist meine Kammer, o wie schön! Aber wo mußt du
schlafen?«

»Deine Kammer muß nahe beim Ofen sein, damit du nicht frierst«, sagte
der Großvater, »die meine kannst du auch sehen.«

Das Heidi hüpfte durch die weite Stube dem Großvater nach, der auf
der anderen Seite eine Tür aufmachte, die in einen kleinen Raum
hineinführte, da hatte der Großvater sein Lager errichtet. Dann kam
aber wieder eine Tür. Das Heidi machte sie geschwind auf und stand
ganz verwundert still, denn da sah man in eine Art von Küche hinein,
die war so ungeheuer groß, wie es noch nie in seinem Leben eine
gesehen hatte. Da war viel Arbeit für den Großvater gewesen, und es
blieb auch noch immer viel zu tun übrig, denn da waren Löcher und
weite Spalten in den Mauern auf allen Seiten, wo der Wind hereinpfiff,
und doch waren schon so viele mit Holzbrettern vernagelt worden,
daß es aussah, als wären ringsum kleine Holzschränke in der Mauer
angebracht. Auch die große, uralte Tür hatte der Großvater wieder mit
vielen Drähten und Nägeln festzumachen verstanden, so daß man sie
schließen konnte, und das war gut, denn nachher ging es in lauter
verfallenes Gemäuer hinaus, wo dickes Gestrüpp emporwuchs und Scharen
von Käfern und Eidechsen ihre Wohnungen hatten.

Dem Heidi gefiel es wohl in der neuen Behausung, und schon am anderen
Tage, als der Peter kam, um zu sehen, wie es in der neuen Wohnung
zugehe, hatte es alle Winkel und Ecken so genau ausgeguckt, daß es
ganz daheim war und den Peter überall herumführen konnte. Es ließ ihm
auch durchaus keine Ruhe, bis er ganz gründlich alle die merkwürdigen
Dinge betrachtet hatte, die der neue Wohnsitz enthielt.

Das Heidi schlief vortrefflich in seinem Ofenwinkel, aber am Morgen
meinte es doch immer, es sollte auf der Alp erwachen und es müsse
gleich die Hüttentür aufmachen, um zu sehen, ob die Tannen darum nicht
rauschten, weil der hohe, schwere Schnee darauf liege und die Äste
niederdrücke. So mußte es jeden Morgen zuerst lange hin und her
schauen, bis es sich wieder besinnen konnte, wo es war, und jedesmal
fühlte es etwas auf seinem Herzen liegen, das es würgte und drückte,
wenn es sah, daß es nicht daheim sei auf der Alp. Aber wenn es dann
den Großvater reden hörte draußen mit dem Schwänli und dem Bärli und
dann die Geißen so laut und lustig meckerten, als wollten sie ihm
zurufen: »Mach doch, daß du einmal kommst, Heidi«, dann merkte es, daß
es doch daheim war, und sprang fröhlich aus seinem Bette und dann so
schnell als möglich in den großen Geißenstall hinaus. Aber am vierten
Tage sagte das Heidi sorglich: »Heute muß ich gewiß zur Großmutter
hinauf, sie kann nicht so lange allein sein.«

Aber der Großvater war nicht einverstanden. »Heute nicht und morgen
auch noch nicht«, sagte er. »Die Alm hinauf liegt der Schnee
klaftertief, und immer noch schneit es fort; kaum kann der feste
Peter durchkommen. Ein Kleines wie du, Heidi, wäre auf der Stelle
eingeschneit und zugedeckt und nicht mehr zu finden. Wart noch ein
wenig, bis es friert, dann kannst du bequem über die Schneedecke
hinaufspazieren.«

Das Warten machte zuerst dem Heidi ein wenig Kummer. Aber die Tage
waren jetzt so angefüllt von Arbeit, daß immer einer unversehens dahin
war und ein anderer kam. Jeden Morgen und jeden Nachmittag ging das
Heidi jetzt in die Schule im Dörfli und lernte ganz eifrig, was da
zu lernen war. Den Peter sah es aber fast nie in der Schule, denn
meistens kam er nicht. Der Lehrer war ein milder Mann, der nur dann
und wann sagte: »Es scheint mir, der Peter sei wieder nicht da. Die
Schule täte ihm doch gut, aber es liegt auch gar viel Schnee dort
hinauf, er wird wohl nicht durchkommen.« Aber gegen Abend, wenn die
Schule aus war, kam der Peter meistens durch und machte seinen Besuch
beim Heidi.

Nach einigen Tagen kam die Sonne wieder hervor und warf ihre Strahlen
über den weißen Boden hin, aber sie ging ganz früh wieder hinter
die Berge hinab, so als gefalle es ihr lange nicht so gut
herunterzuschauen wie im Sommer, wenn alles grünte und blühte. Aber
am Abend kam der Mond ganz hell und groß herauf und leuchtete die
ganze Nacht über die weiten Schneefelder hin, und am anderen Morgen
glitzerte und flimmerte die ganze Alp von oben bis unten wie ein
Kristall. Als der Peter wie die Tage vorher aus seinem Fenster in den
tiefen Schnee hinabspringen wollte, ging es ihm, wie er nicht erwartet
hatte. Er nahm einen Satz hinaus, aber anstatt ins Weiche hinab zu
kommen, schlug es ihn auf dem unerwartet harten Boden gleich um,
und unversehens fuhr er ein gutes Stück den Berg hinunter wie ein
herrenloser Schlitten. Sehr verwundert kam er schließlich wieder auf
seine Füße, und nun stampfte er mit aller Macht auf den Schneeboden,
um sich zu versichern, daß auch wirklich möglich sei, was ihm soeben
begegnet war. Es war richtig: Wie er auch stampfte und einschlug
mit den Absätzen, kaum konnte er ein kleines Eissplitterchen
herausschlagen. Die ganze Alm war steinhart zugefroren. Das war dem
Peter eben recht: Er wußte, daß dieser Zustand der Dinge nötig war,
damit das Heidi einmal wieder da heraufkommen konnte. Schleunig kehrte
er um, schluckte seine Milch hinunter, welche die Mutter eben auf den
Tisch gestellt hatte, steckte sein Stücklein Brot in die Tasche und
sagte eilig: »Ich muß in die Schule.«

»Ja, so geh und lern auch brav«, sagte die Mutter beistimmend.

Der Peter kroch zum Fenster hinaus - denn nun war man eingesperrt um
des Eisberges willen vor der Türe -, zog seinen kleinen Schlitten nach
sich, setzte sich darauf und schoß den Berg hinunter.

Es ging wie der Blitz, und als er beim Dörfli da ankam, wo es gleich
weiter hinab gegen Maienfeld hin ging, fuhr der Peter weiter, denn es
kam ihm so vor, als müßte er sich und dem Schlitten Gewalt antun, wenn
er auf einmal den Lauf einhalten wollte. So fuhr er zu, bis er ganz
unten in der Ebene ankam und es von selbst nicht mehr weiterging. Dann
stieg er ab und schaute sich um. Die Gewalt der Niederfahrt hatte ihn
noch ziemlich über Maienfeld hinausgejagt. Jetzt bedachte er, daß er
jedenfalls zu spät in die Schule käme, da sie schon lange begonnen
hatte, er aber zum Hinaufsteigen fast eine Stunde brauchte. So konnte
er sich alle Zeit lassen zur Rückkehr. Das tat er denn auch und
kam gerade oben im Dörfli wieder an, als das Heidi aus der Schule
zurückgekehrt war und sich mit dem Großvater an den Mittagstisch
setzte. Der Peter trat herein, und da er diesmal einen besonderen
Gedanken mitzuteilen hatte, so lag ihm dieser obenauf, und er mußte
ihn gleich beim Eintreten loswerden.

»Es hat ihn«, sagte der Peter, mitten in der Stube stillstehend.

»Wen? Wen? General! Das tönt ziemlich kriegerisch«, sagte der Öhi.

»Den Schnee«, berichtete Peter.

»Oh! Oh! jetzt kann ich zur Großmutter hinauf!« frohlockte das Heidi,
das die Ausdrucksweise des Peter gleich verstanden hatte. »Aber
warum bist du denn nicht in die Schule gekommen? Du konntest ja gut
herunterschlittern«, setzte es auf einmal vorwurfsvoll hinzu, denn dem
Heidi kam es vor, das sei nicht in der Ordnung, so draußen zu bleiben,
wenn man doch gut in die Schule gehen könnte.

»Bin zu weit gekommen mit dem Schlitten, war zu spät«, gab der Peter
zurück.

»Das nennt man desertieren«, sagte der Öhi, »und Leute, die das tun,
nimmt man bei den Ohren, hörst du?«

Der Peter riß erschrocken an seiner Kappe herum, denn vor keinem
Menschen auf der Welt hatte er einen so großen Respekt wie vor dem
Almöhi.

»Und dazu ein Anführer, wie du einer bist, der muß sich doppelt
schämen, so auszureißen«, fuhr der Öhi fort. »Was meinst, wenn einmal
deine Geißen eine da und die andere dort hinausliefen und sie wollten
dir nicht mehr folgen und nicht tun, was gut ist für sie, was würdest
du dann machen?«

»Sie hauen«, entgegnete der Peter kundig.

»Und wenn einmal ein Bub so täte wie eine ungebärdige Geiß und er
würde ein wenig durchgehauen, was würdest du dann sagen?«

»Geschieht ihm recht«, war die Antwort.

»So, jetzt weißt was, Geißenoberst: Wenn du noch einmal auf deinem
Schlitten über die Schule hinausfährst zu einer Zeit, da du hinein
solltest, so komm dann nachher zu mir und hol dir, was dir dafür
gehört.«

Jetzt verstand der Peter den Zusammenhang der Rede und daß er mit dem
Buben gemeint sei, der fortlaufe wie eine ungebärdige Geiß. Er war
ganz getroffen von dieser Ähnlichkeit und schaute ein wenig bänglich
in die Winkel hinein, ob so etwas zu entdecken sei, wie er es in
solchen Fällen für die Geißen gebrauchte.

Aber ermunternd sagte nun der Öhi: »Komm an den Tisch jetzt und halt
mit, dann geht das Heidi mit dir. Am Abend bringst du's wieder heim,
dann findest du dein Nachtessen hier.«

Diese unerwartete Wendung der Dinge war dem Peter höchst erfreulich.
Sein Gesicht verzog sich nach allen Seiten vor Vergnügen. Er gehorchte
unverzüglich und setzte sich neben das Heidi hin. Das Kind aber hatte
schon genug und konnte gar nicht mehr schlucken vor Freude, daß es
zur Großmutter gehen sollte. Es schob die große Kartoffel und den
Käsebraten, die noch auf seinem Teller lagen, dem Peter zu, der von
der anderen Seite vom Öhi den Teller voll bekommen hatte, so daß ein
ganzer Wall vor ihm aufgerichtet stand, aber der Mut zum Angriff
fehlte ihm nicht. Das Heidi rannte an den Schrank und holte sein
Mäntelchen von der Klara hervor. Jetzt konnte es, ganz warm
eingepackt, mit der Kapuze über dem Kopf, seine Reise machen. Es
stellte sich nun neben den Peter hin, und sobald dieser sein letztes
Stück eingeschoben hatte, sagte es: »Jetzt komm!« Dann machten sie
sich auf den Weg. Das Heidi hatte dem Peter sehr viel zu erzählen vom
Schwänli und Bärli, daß sie beide am ersten Tage in dem neuen Stall
gar nicht hatten fressen wollen und daß sie die Köpfe hatten hängen
lassen den ganzen Tag und keinen Ton von sich gegeben hatten. Und es
habe den Großvater gefragt, warum sie so tun. Dann habe er gesagt:
Sie tun so wie es in Frankfurt, denn sie seien noch nie von der Alm
heruntergekommen ihr Leben lang. Und das Heidi setzte hinzu: »Du
solltest nur einmal erfahren, wie das ist, Peter.«

Die beiden waren so fast oben angekommen, ohne daß der Peter ein
einziges Wort gesagt hätte, und es war auch, als ob ihn ein tiefer
Gedanke beschäftigte, daß er nicht einmal recht zuhören konnte wie
sonst. Als sie nun bei der Hütte angekommen waren, stand der Peter
still und sagte ein wenig störrisch: »Dann will ich noch lieber in die
Schule gehen, als beim Öhi holen, was er gesagt hat.«

Das Heidi war derselben Meinung und bestärkte den Peter ganz eifrig
in seinem Vorsatz. Drinnen in der Stube saß die Mutter allein beim
Flickwerk. Sie sagte, die Großmutter müsse die Tage im Bett bleiben,
es sei zu kalt für sie, und dann sei ihr auch sonst nicht recht. Das
war dem Heidi etwas Neues; sonst saß die Großmutter immer an ihrem
Platz in der Ecke. Es rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein. Sie
lag ganz von dem grauen Tuche umwickelt in ihrem schmalen Bett mit der
dünnen Decke.

»Gott Lob und Dank!« sagte die Großmutter gleich, als sie das Heidi
hereinspringen hörte. Sie hatte schon den ganzen Herbst durch eine
geheime Angst im Herzen gehabt, die sie noch immer verfolgte,
besonders wenn das Heidi eine Zeitlang nicht kam. Der Peter hatte
berichtet, wie ein fremder Herr aus Frankfurt gekommen sei und immer
mit auf die Weide komme und mit dem Heidi reden wolle, und die
Großmutter meinte nicht anders, als der Herr sei gekommen, das Heidi
wieder mit fortzunehmen. Wenn er auch nachher schon allein abreiste,
so stieg die Angst doch immer wieder in ihr auf, es könnte irgendein
Abgesandter von Frankfurt herkommen und das Kind wieder zurückholen.
Das Heidi sprang zu dem Bett der Kranken hin und fragte sorglich:
»Bist du stark krank, Großmutter?«

»Nein, nein, Kind«, beruhigte die Alte, indem sie das Heidi liebevoll
streichelte, »der Frost ist mir nur ein wenig in die Glieder
gefahren.«

»Wirst du dann auf der Stelle gesund, wenn es wieder warm ist?« fragte
eindringlich das Heidi weiter.

»Ja, ja, will's Gott, noch vorher, daß ich wieder an mein Spinnrad
kann. Ich meinte schon heute, ich wolle es probieren, morgen wird's
dann schon wieder gehen«, sagte die Großmutter in zuversichtlicher
Weise, denn sie hatte schon gemerkt, daß das Kind erschrocken war.

Ihre Worte beruhigten das Heidi, dem es sehr angst gewesen war,
denn krank im Bett hatte es die Großmutter noch nie getroffen. Es
betrachtete sie jetzt ein wenig verwundert, dann sagte es:

»In Frankfurt legen sie einen Schal an zum Spazierengehen. Hast
du etwa gemeint, man müsse ihn anlegen, wenn man ins Bett geht,
Großmutter?«

»Weißt du, Heidi«, entgegnete sie, »ich nehme den Schal so um im Bett,
daß ich nicht friere. Ich bin so froh darüber, die Decke ist ein wenig
dünn.«

»Aber Großmutter«, fing das Heidi wieder an, »bei deinem Kopf geht es
bergab, wo es ganz bergauf gehen sollte; so muß ein Bett nicht sein.«

»Ich weiß schon, Kind, ich spüre es auch wohl«, und die Großmutter
suchte auf dem Kissen, das wie ein dünnes Brett unter ihrem Kopfe
lag, einen besseren Platz zu gewinnen. »Siehst du, das Kissen war nie
besonders dick, und jetzt habe ich so viele Jahre darauf geschlafen,
daß ich es ein wenig flachgelegen habe.«

»O hätt ich nur in Frankfurt die Klara gefragt, ob ich nicht mein Bett
mitnehmen könne«, sagte jetzt das Heidi. »Da hatte es drei große,
dicke Kissen aufeinander, daß ich gar nicht schlafen konnte und immer
weiter herunterrutschte, bis wo es flach war, und dann mußte ich
wieder hinauf, weil man dort so schlafen muß. Könntest du so schlafen,
Großmutter?«

»Ja freilich, das macht warm, und man bekommt den Atem so gut, wenn
man so hoch liegen kann mit dem Kopf«, sagte die Großmutter, ein wenig
mühsam ihren Kopf aufrichtend, so wie um eine höhere Stelle zu finden.
»Aber wir wollen jetzt nicht von dem reden, ich habe ja dem lieben
Gott für so vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben.
Schon das gute Brötchen, das ich immer bekomme, und das schöne, warme
Tuch hier und daß du so zu mir kommst, Heidi. Willst du mir auch
wieder etwas lesen heute?«

Das Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun suchte
es ein schönes Lied nach dem andern, denn es kannte sie jetzt wohl,
und es freute sich selbst, das alles wieder zu hören, es hatte ja seit
vielen Tagen die Verse alle, die ihm lieb waren, nicht mehr gehört.

Die Großmutter lag mit gefalteten Händen da, und auf ihrem Gesichte,
das erst so bekümmert ausgesehen hatte, lag jetzt ein so freudiges
Lächeln, als wäre ihr eben ein großes Glück zuteil geworden.

Das Heidi hielt auf einmal inne.

»Großmutter, bist du schon gesund geworden?« fragte es.

»Es ist mir wohl, Heidi, es ist mir wohl geworden darüber. Lies es
noch fertig, willst du?«

Das Kind las sein Lied zu Ende, und als die letzten Worte kamen:

    »Wird mein Auge dunkler, trüber,
    Dann erleuchte meinen Geist,
    Daß ich fröhlich zieh' hinüber,
    Wie man nach der Heimat reist«,

da wiederholte sie die Großmutter und dann noch einmal und noch
einmal, und auf ihrem Gesicht lag jetzt eine große freudige Erwartung.
Dem Heidi wurde so wohl dabei. Der ganze sonnige Tag seiner Heimkehr
stieg vor ihm auf, und voller Freude rief es aus: »Großmutter,
ich weiß schon, wie es ist, wenn man nach der Heimat reist.« Sie
antwortete nichts, aber sie hatte die Worte wohl vernommen, und der
Ausdruck, der dem Heidi so wohl getan hatte, blieb auf ihrem Gesicht.

Nach einer Weile sagte das Kind wieder: »Jetzt wird's dunkel,
Großmutter, ich muß heim; aber ich bin so froh, daß es dir jetzt
wieder wohl ist.«

Die Großmutter nahm die Hand des Kindes in die ihrige und hielt sie
fest; dann sagte sie:

»Ja, ich bin auch wieder so froh; wenn ich auch noch liegen bleiben
muß, so ist es mir doch wohl. Siehst du, das weiß niemand, der es
nicht erfahren hat, wie das ist, wenn man viele, viele Tage so ganz
allein daliegt und hört kein Wort von einem andern Menschen und kann
nichts sehen, nicht einen einzigen Sonnenstrahl. Dann kommen so
schwere Gedanken über einen, daß man manchmal meint, es könne nie mehr
Tag werden und man könne nicht mehr weiter. Aber wenn man dann einmal
wieder die Worte hört, die du mir vorgelesen hast, so ist es, wie wenn
einem ein Licht davon aufgehen würde im Herzen, an dem man sich wieder
freuen kann.«

Jetzt ließ die Großmutter die Hand des Kindes los, und nachdem es ihr
gute Nacht gesagt, lief es in die Stube zurück und zog den Peter eilig
hinaus, denn es war unterdessen Nacht geworden. Aber draußen stand der
Mond am Himmel und schien hell auf den weißen Schnee, daß es war, als
wolle der Tag schon wieder angehen. Der Peter zog seinen Schlitten
zurecht, setzte sich vorn darauf, das Heidi hinter ihn, und fort
schossen sie die Alm hinunter, nicht anders, als wären sie zwei Vögel,
die durch die Lüfte sausen.

Als später das Heidi auf seinem schönen, hohen Heubette hinter dem
Ofen lag, da kam ihm die Großmutter wieder in den Sinn, wie sie so
schlecht lag mit dem Kopfe, und dann mußte es an alles denken, was sie
gesagt hatte, und an das Licht, das ihr die Worte im Herzen anzünden.
Und es dachte: Wenn die Großmutter nur alle Tage die Worte hören
könnte, dann würde es ihr jeden Tag einmal wohl. Aber es wußte, nun
konnte eine ganze Woche, oder vielleicht auch zwei, vergehen, ehe es
wieder zu ihr hinauf durfte. Das kam dem Heidi so traurig vor, daß
es immer stärker nachsinnen mußte, was es nur machen könnte, daß die
Großmutter die Worte jeden Tag zu hören bekäme. Auf einmal fiel ihm
die Hilfe ein, und es war so froh darüber, daß es meinte, es könne
gar nicht erwarten, daß der Morgen wiederkomme und es seinen Plan
ausführen könne. Auf einmal setzte das Heidi sich wieder ganz gerade
auf in seinem Bett, denn vor lauter Nachdenken hatte es ja sein
Nachtgebet noch nicht zum lieben Gott hinaufgeschickt, und das wollte
es doch nie mehr vergessen.

Als es nun so recht von Herzen für sich und den Großvater und die
Großmutter gebetet hatte, fiel es auf einmal in sein weiches Heu
zurück und schlief ganz fest und friedlich bis zum hellen Morgen.



Der Winter dauert fort

Am andern Tage kam der Peter gerade zur rechten Zeit in die
Schule heruntergefahren. Sein Mittagessen hatte er in seinem Sack
mitgebracht, denn da ging es so zu: Wenn um Mittag die Kinder im
Dörfli nach Hause gingen, dann setzten sich die einzelnen Schüler, die
weit weg wohnten, auf die Klassentische, stemmten die Füße fest auf
die Bänke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten Speisen aus,
um so ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten sie sich daran
vergnügen, dann fing die Schule wieder an. Hatte der Peter einmal
einen solchen Schultag mitgemacht, dann ging er am Schluß zum Öhi
hinüber und machte seinen Besuch beim Heidi.

Als er heute nach Schulschluß in die große Stube beim Öhi eintrat,
schoß das Heidi gleich auf ihn zu, denn gerade auf ihn hatte es
gewartet. »Peter, ich weiß etwas«, rief es ihm entgegen.

»Sag's«, gab er zurück.

»Jetzt mußt du lesen lernen«, lautete die Nachricht.

»Hab's schon getan«, war die Antwort.

»Ja, ja, Peter, so mein ich nicht«, eiferte jetzt das Heidi. »Ich
meine so, daß du es nachher kannst.

»Kann nicht«, bemerkte der Peter.

»Das glaubt dir jetzt kein Mensch mehr und ich auch nicht«, sagte das
Heidi sehr entschieden. »Die Großmama in Frankfurt hat schon gewußt,
daß es nicht wahr ist, und sie hat mir gesagt, ich soll es nicht
glauben.«

Der Peter staunte über diese Nachricht.

»Ich will dich schon lesen lehren, ich weiß ganz gut, wie«, fuhr das
Heidi fort. »Du mußt es jetzt einmal erlernen, und dann mußt du alle
Tage der Großmutter ein Lied lesen oder zwei.«

»Das ist nichts«, brummte der Peter.

Dieser hartnäckige Widerstand gegen etwas, das gut und recht war
und dem Heidi so sehr am Herzen lag, brachte es in Aufregung. Mit
blitzenden Augen stellte es sich jetzt vor den Buben hin und sagte
bedrohlich:

»Dann will ich dir schon sagen, was kommt, wenn du nie etwas lernen
willst: Deine Mutter hat schon zweimal gesagt, du müssest auch nach
Frankfurt, daß du allerhand lernest, und ich weiß schon, wo dort
die Buben in die Schule gehen. Beim Ausfahren hat mir die Klara das
furchtbar große Haus gezeigt. Aber dort gehen sie nicht nur, wenn sie
Buben sind, sondern immerfort, wenn sie schon ganz große Herren sind,
das habe ich selber gesehen. Und dann mußt du nicht meinen, daß nur
ein einziger Lehrer da ist wie bei uns, und ein so guter. Da gehen
immer ganze Reihen, viele miteinander in das Haus hinein, und alle
sehen ganz schwarz aus, wie wenn sie in die Kirche gingen, und haben
so hohe schwarze Hüte auf den Köpfen« - und das Heidi gab das Maß von
den Hüten an vom Boden auf.

Dem Peter fuhr ein Schauder den Rücken hinauf.

»Und dann mußt du dort hinein unter alle die Herren«, fuhr das Heidi
mit Eifer fort, »und wenn es dann an dich kommt, so kannst du gar
nicht lesen und machst noch Fehler beim Buchstabieren. Dann kannst
du nur sehen, wie dich die Herren ausspotten, das ist dann noch viel
ärger als die Tinette, und du solltest nur wissen, wie es ist, wenn
diese spottet.«

»So will ich«, sagte der Peter halb kläglich, halb ärgerlich.

Im Augenblick war das Heidi besänftigt. »So, das ist recht, dann
wollen wir gleich anfangen«, sagte es erfreut, und geschäftig zog es
den Peter an den Tisch hin und holte das nötige Werkzeug herbei.

In dem großen Paket der Klara hatte sich auch ein Büchlein befunden,
das dem Heidi wohlgefiel, und schon gestern nacht war es ihm in den
Sinn gekommen, das könne es gut zu dem Unterricht für den Peter
gebrauchen, denn das war ein Abc-Büchlein mit Sprüchen.

Jetzt saßen die beiden am Tisch, die Köpfe über das kleine Buch
gebeugt, und die Lehrstunde konnte beginnen.

Der Peter mußte den ersten Spruch buchstabieren und dann wieder und
dann noch einmal, denn das Heidi wollte die Sache sauber und geläufig
haben.

Endlich sagte es: »Du kannst's immer noch nicht, aber ich will dir ihn
jetzt einmal hintereinander lesen; wenn du weißt, wie's heißen muß,
kannst du's dann besser zusammenbuchstabieren.« Und das Heidi las:

    »Geht heut das A B C noch nicht,
    Kommst morgen du vors Schulgericht.«

»Ich geh nicht«, sagte der Peter störrisch.

»Wohin?« fragte das Heidi.

»Vor das Gericht«, war die Antwort.

»So mach, daß du einmal die drei Buchstaben kennst, dann mußt du ja
nicht gehen«, bewies ihm das Heidi.

Jetzt setzte der Peter noch einmal an und repetierte beharrlich die
drei Buchstaben so lange fort, bis das Heidi sagte:

»Jetzt kannst du die drei.«

Da es aber nun bemerkt hatte, welch eine Wirkung der Spruch auf den
Peter ausgeübt hatte, wollte es gleich noch ein wenig vorarbeiten für
die folgenden Lehrstunden.

»Wart, ich will dir jetzt noch die anderen Sprüche lesen«, fuhr es
fort, »dann wirst du sehen, was alles noch kommen kann.«

Und es begann sehr klar und verständlich zu lesen:

    »D E F G muß fließend sein,
    Sonst kommt ein Unglück hintendrein.

    Vergessen H I K,
    Das Unglück ist schon da.

    Wer am L M noch stottern kann,
    Zahlt eine Buß und schämt sich dann.

    Es gibt etwas, und wüßtest's du,
    Du lerntest schnell N O P Q.

    Stehst du noch an bei R S T,
    Kommt etwas nach, das tut dir weh.«

Hier hielt das Heidi inne, denn der Peter war so mäuschenstill, daß
es einmal sehen mußte, was er mache. Alle die Drohungen und geheimen
Schrecknisse hatten ihm so zugesetzt, daß er kein Glied mehr bewegte
und schreckensvoll das Heidi anstarrte.

Das rührte sogleich sein mitleidiges Herz, und tröstend sagte es: »Du
mußt dich nicht fürchten, Peter; komm du jetzt nur jeden Abend zu mir,
und wenn du dann lernst wie heut, so kennst du allemal zuletzt die
Buchstaben, und dann kommt ja das andere nicht. Aber nun mußt du alle
Tage kommen, nicht so, wie du in die Schule gehst; wenn es schon
schneit, es tut dir ja nichts.«

Der Peter versprach, so zu tun, denn der erschreckende Eindruck hatte
ihn ganz zahm und willig gemacht. Jetzt trat er seinen Heimweg an.

Der Peter befolgte Heidis Vorschrift pünktlich, und jeden Abend
wurden mit Eifer die folgenden Buchstaben einstudiert und der Spruch
beherzigt.

Oft saß auch der Großvater in der Stube und hörte dem Exerzitium zu,
indem er vergnüglich sein Pfeifchen rauchte, während es öfter in
seinen Mundwinkeln zuckte, so, als ob ihn von Zeit zu Zeit eine große
Heiterkeit übernehmen wollte.

Nach der großen Anstrengung wurde der Peter dann meistens
aufgefordert, noch dazubleiben und beim Abendessen mitzuhalten, was
ihn alsbald für die ausgestandene Angst, die der heutige Spruch mit
sich gebracht hatte, reichlich entschädigte.


So gingen die Wintertage dahin. Der Peter erschien regelmäßig und
machte wirklich Fortschritte mit seinen Buchstaben.

Mit den Sprüchen hatte er aber täglich zu fechten. Man war jetzt beim
U angelangt. Als das Heidi den Spruch las:

    »Wer noch das U in V verdreht,
    Kommt dahin, wo er nicht gern geht«,

da knurrte der Peter: »Ja, wenn ich ginge!« Aber er lernte doch
tüchtig zu, so, als stehe er unter dem Eindruck, es könnte ihn doch
heimlich einer beim Kragen nehmen und dorthin bringen, wohin er nicht
gern ginge.

Am folgenden Abend las das Heidi:

    »Ist dir das W noch nicht bekannt,
    Schau nach dem Rütlein an der Wand.«

Da guckte der Peter hin und sagte höhnisch: »Hat keins.«

»Ja, ja, aber weißt du, was der Großvater im Kasten hat?« fragte das
Heidi. »Einen Stecken, fast so dick wie mein Arm, und wenn man ihn
herausnimmt, so kann man nur sagen: >Schau nach dem Stecken an der
Wand!<«

Der Peter kannte den dicken Haselstock. Augenblicklich beugte er sich
über sein W und suchte es zu erfassen.

Am anderen Tage hieß es:

    »Willst du noch das X vergessen,
    Kriegst du heute nix zu essen.«

Da schaute der Peter forschend zu dem Schrank hinüber, wo das Brot
und der Käse darinlagen, und sagte ärgerlich: »Ich habe ja gar nicht
gesagt, daß ich das X vergessen wolle.«

»Es ist recht, wenn du das nicht vergessen willst, dann können wir
auch gleich noch einen lernen«, schlug das Heidi vor, »dann hast du
morgen nur noch einen einzigen Buchstaben.«

Der Peter war nicht einverstanden. Aber schon las das Heidi:

    »Machst du noch Halt beim Y,
    Kommst du mit Hohn und Spott davon.«

Da stiegen vor Peters Augen alle die Herren in Frankfurt auf mit
den hohen schwarzen Hüten auf den Köpfen und Hohn und Spott in den
Gesichtern. Augenblicklich warf er sich auf das Ypsilon und ließ es
nicht wieder los, bis er es so gut kannte, daß er die Augen zutun
konnte und doch noch wußte, wie es aussah.

Am Tag darauf kam der Peter schon ein wenig hoch beim Heidi an, denn
da war ja nur noch ein einziger Buchstabe zu verarbeiten, und als ihm
das Heidi gleich den Spruch las:

    »Wer zögernd noch beim Z bleibt stehn,
    Muß zu den Hottentotten gehn!«,

da höhnte der Peter: »Ja, wenn kein Mensch weiß, wo die sind!«

»Freilich, Peter, das weiß der Großvater schon«, versicherte das
Heidi. »Wart nur, ich will ihn geschwind fragen, wo sie sind, er ist
nur beim Herrn Pfarrer drüben.« Und schon war das Heidi aufgesprungen
und wollte zur Tür hinaus.

»Wart«, schrie jetzt der Peter in voller Angst, denn schon sah er in
seiner Einbildung den Almöhi mitsamt dem Herrn Pfarrer daherkommen und
wie ihn die zwei nun gleich anpacken und den Hottentotten übersenden
würden, denn er hatte ja wirklich nicht mehr gewußt, wie das Z hieß.
Sein Angstgeschrei ließ das Heidi stillstehen.

»Was hast du denn?« fragte es verwundert.

»Nichts! Komm zurück! Ich will lernen«, stieß der Peter mit
Unterbrechungen hervor. Aber das Heidi hätte jetzt selbst gern gewußt,
wo die Hottentotten seien, und es wollte durchaus den Großvater
fragen. Der Peter schrie ihm aber so verzweifelt nach, daß es nachgab
und zurückkam. Nun mußte er aber auch etwas tun dafür. Nicht nur wurde
das Z so manchmal wiederholt, daß der Buchstabe für alle Zeit in
seinem Gedächtnis festsitzen mußte, sondern das Heidi ging gleich noch
zum Syllabieren über, und an dem Abend lernte der Peter so viel, daß
er um einen ganzen Ruck vorwärts kam. So ging es weiter Tag für Tag.

Der Schnee war wieder weich geworden, und darüberhin schneite es
neuerdings einen Tag um den andern, so daß das Heidi wohl drei Wochen
lang gar nicht zur Großmutter hinauf konnte. Um so eifriger war es in
seiner Arbeit an dem Peter, daß er es ersetzen könne beim Liederlesen.
So kam eines Abends der Peter heim vom Heidi, trat in die Stube ein
und sagte:

»Ich kann's!«

»Was kannst du, Peterli?« fragte erwartungsvoll die Mutter.

»Das Lesen«, antwortete er.

»Ist auch das möglich! Hast du's gehört, Großmutter?« rief die
Brigitte aus.

Die Großmutter hatte es gehört und mußte sich auch sehr verwundern,
wie das zugegangen sei.

»Ich muß jetzt ein Lied lesen, das Heidi hat's gesagt«, berichtete
der Peter weiter. Die Mutter holte hurtig das Buch herunter, und die
Großmutter freute sich, sie hatte so lange kein gutes Wort gehört. Der
Peter setzte sich an den Tisch hin und begann zu lesen. Seine Mutter
saß aufhorchend neben ihm; nach jedem Verse mußte sie mit Bewunderung
sagen: »Wer hätte es auch denken können!«

Auch die Großmutter folgte mit Spannung einem Verse nach dem andern,
sie sagte aber nichts dazu.

Am Tage nach diesem Ereignis traf es sich, daß in der Schule in Peters
Klasse eine Leseübung stattfand. Als die Reihe an den Peter kommen
sollte, sagte der Lehrer:

»Peter, muß man dich wieder übergehen, wie immer, oder willst du
einmal wieder - ich will nicht sagen lesen, ich will sagen: versuchen,
an einer Linie herumzustottern?«

Der Peter fing an und las hintereinander drei Linien, ohne abzusetzen.

Der Lehrer legte sein Buch weg. Mit stummem Erstaunen blickte er auf
den Peter, so, als habe er desgleichen noch nie gesehen. Endlich
sprach er: »Peter, an dir ist ein Wunder geschehen! Solange ich mit
unbeschreiblicher Geduld an dir gearbeitet habe, warst du nicht
imstande, auch nur das Buchstabieren richtig zu erfassen. Nun ich,
obwohl ungern, die Arbeit an dir als nutzlos aufgegeben habe,
geschieht es, daß du erscheinst und hast nicht nur das Buchstabieren,
sondern ein ordentliches, sogar deutliches Lesen erlernt. Woher können
zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?«

»Vom Heidi«, antwortete dieser.

Höchst verwundert schaute der Lehrer nach dem Heidi hin, das ganz
harmlos auf seiner Bank saß, so daß nichts Besonderes an ihm zu sehen
war. Er fuhr fort:

»Ich habe überhaupt eine Veränderung an dir bemerkt, Peter. Während du
früher oftmals die ganze Woche, ja mehrere Wochen hintereinander in
der Schule gefehlt hast, so bist du in der letzten Zeit nicht einen
Tag ausgeblieben. Woher kann eine solche Umwandlung zum Guten in dich
gekommen sein?«

»Vom Öhi«, war die Antwort.

Mit immer größerem Erstaunen blickte der Lehrer vom Peter auf das
Heidi und von diesem wieder auf den Peter zurück.

»Wir wollen es noch einmal versuchen«, sagte er dann behutsam, und
noch einmal mußte der Peter an drei Linien seine Kenntnisse erproben.
Es war richtig, er hatte lesen gelernt.

Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Herrn Pfarrer
hinüber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher
erfreulichen Weise der Öhi und das Heidi in der Gemeinde wirkten.

Jeden Abend las jetzt der Peter daheim ein Lied vor. So weit gehorchte
er dem Heidi, weiter aber nicht, ein zweites unternahm er nie; die
Großmutter forderte ihn aber auch nie dazu auf.

Die Mutter Brigitte mußte sich noch täglich verwundern, daß der Peter
dieses Ziel erreicht hatte, und an manchen Abenden, wenn die Vorlesung
vorbei war und der Vorleser in seinem Bett lag, mußte sie wieder zur
Großmutter sagen:

»Man kann sich doch nicht genug freuen, daß der Peterli das Lesen so
schön erlernt hat. Jetzt kann man gar nicht wissen, was noch aus ihm
werden kann.«

Da antwortete einmal die Großmutter:

»Ja, es ist so gut für ihn, daß er etwas gelernt hat; aber ich will
doch herzlich froh sein, wenn der liebe Gott nun bald den Frühling
schickt, daß das Heidi auch wieder heraufkommen kann. Es ist doch, wie
wenn es ganz andere Lieder läse. Es fehlt so manchmal etwas in den
Versen, wenn sie der Peter liest, und ich muß es dann suchen, und dann
komme ich nicht mehr nach mit den Gedanken, und der Eindruck kommt mir
nicht ins Herz, wie wenn mir das Heidi die Worte liest.«

Das kam aber daher, weil der Peter sich beim Lesen ein wenig
einrichtete, daß er's nicht zu unbequem hatte. Wenn ein Wort kam, das
gar zu lang war oder sonst schlimm aussah, so ließ er es lieber ganz
aus, denn er dachte, um drei oder vier Worte in einem Verse werde es
der Großmutter wohl gleich sein, es kommen ja dann noch viele. So kam
es, daß es fast keine Hauptwörter mehr hatte in den Liedern, die der
Peter vorlas.



Die fernen Freunde regen sich

Der Mai war gekommen. Von allen Höhen strömten die vollen
Frühlingsbäche ins Tal herab. Ein warmer, lichter Sonnenschein lag
auf der Alp. Sie war wieder grün geworden; der letzte Schnee war
weggeschmolzen, und von den lockenden Sonnenstrahlen geweckt, guckten
schon die ersten Blümchen mit ihren hellen Augen aus dem frischen
Grase heraus. Droben rauschte der fröhliche Frühlingswind durch die
Tannen und schüttelte ihnen die alten, dunkeln Nadeln fort, daß die
jungen, hellgrünen herauskommen und die Bäume herrlich schmücken
konnten. Hoch oben schwang wieder der alte Raubvogel seine Flügel
in den blauen Lüften, und rings um die Almhütte lag der goldene
Sonnenschein warm am Boden und trocknete die letzten feuchten Stellen
auf, daß man wieder hinsetzen konnte, wo man nur wollte.

Das Heidi war wieder auf der Alp. Es sprang dahin und dorthin und
wußte gar nicht, wo es am schönsten war. Jetzt mußte es dem Winde
lauschen, wie er tief und geheimnisvoll oben von den Felsen
heruntersauste, immer näher und immer mächtiger, und jetzt schoß er in
die Tannen und rüttelte und schüttelte sie, und es war, als jauchze er
vor Vergnügen, und das Heidi mußte auch aufjauchzen und wurde dabei
hin und her geblasen wie ein Blättlein. Dann lief es wieder auf das
sonnige Plätzchen vor der Hütte und setzte sich auf den Boden und
guckte in das kurze Gras hinein, zu entdecken, wie viele kleine
Blumenkelche sich öffnen wollten oder schon offen waren. Da hüpften
und krochen und tanzten auch so viele lustige Mücken und Käferchen in
der Sonne herum und freuten sich, und das Heidi freute sich mit ihnen
und sog den Frühlingsduft, der aus dem frisch erschlossenen Boden
emporstieg, in langen Zügen ein und meinte, so schön sei es noch nie
auf der Alp gewesen. Den tausend kleinen Tierlein mußte es so wohl
sein wie ihm, denn es war gerade, als summten und sängen sie in heller
Freude alle durcheinander:

»Auf der Alp! Auf der Alp! Auf der Alp!«

Vom Schopf hinter der Hütte hervor ertönte es hie und da wie ein
eifriges Klopfen und Sägen, und das Heidi lauschte auch einmal
dorthin, denn das waren die alten, heimatlichen Töne, die es so gut
kannte, die von Anfang an zum Leben auf der Alp gehört hatten. Jetzt
mußte es aufspringen und auch einmal dorthin rennen, denn es mußte
doch wissen, was beim Großvater vorging. Vor der Schopftür stand schon
fix und fertig ein schöner neuer Stuhl, und am zweiten arbeitete der
Großvater mit geschickter Hand.

»Oh, ich weiß schon, was das gibt«, rief das Heidi in Freuden aus.
»Das ist nötig, wenn sie von Frankfurt kommen. Der ist für die
Großmama und der, den du jetzt machst, für die Klara, und dann... dann
muß noch einer sein«, fuhr das Heidi zögernd fort, »oder glaubst du
nicht, Großvater, daß Fräulein Rottenmeier auch mitkommt?«

»Das kann ich nun nicht sagen«, meinte der Großvater, »aber es ist
sicherer, einen Stuhl bereit zu haben, daß wir sie zum Sitzen einladen
können, wenn sie kommt.«

Das Heidi schaute nachdenklich auf die hölzernen Stühlchen ohne
Lehne hin und machte still seine Betrachtungen darüber, wie Fräulein
Rottenmeier und ein solches Stühlchen zusammenpassen würden. Nach
einer Weile sagte es, bedenklich den Kopf schüttelnd:

»Großvater, ich glaube nicht, daß sie darauf sitzt.«

»Dann laden wir sie auf das Kanapee mit dem schönen grünen
Rasenüberzug ein«, entgegnete ruhig der Großvater.

Als das Heidi noch nachsann, wo das schöne Kanapee mit dem grünen
Rasenüberzug sei, erscholl plötzlich von oben her ein Pfeifen und
Rufen und Rutenschwingen durch die Luft, daß das Heidi sofort
wußte, woran es war. Es schoß hinaus und war augenblicklich von den
herabspringenden Geißen umringt. Denen mußte es wohl sein, wie es
dem Heidi war, wieder auf der Alp zu sein, denn sie machten so hohe
Sprünge und meckerten so lebenslustig wie noch nie, und das Heidi
wurde dahin und dorthin gedrängt, denn jede wollte ihm zunächst kommen
und ihre Freude bei ihm auslassen. Aber der Peter stieß sie alle
weg, eine rechts und die andere links, denn er hatte dem Heidi eine
Botschaft zu überbringen. Als er zu ihm vorgedrungen war, hielt er ihm
einen Brief entgegen.

»Da!« sagte er, die weitere Erklärung der Sache dem Heidi selbst
überlassend. Es war sehr erstaunt.

»Hast du denn auf der Weide einen Brief für mich bekommen?« fragte es
voller Verwunderung.

»Nein«, war die Antwort.

»Ja, wo hast du ihn denn genommen, Peter?«

»Aus dem Brotsack.«

Das war richtig. Gestern abend hatte der Postbeamte im Dörfli ihm den
Brief an das Heidi mitgegeben. Den hatte der Peter in den leeren Sack
gelegt. Am Morgen hatte er seinen Käse und sein Stück Brot darauf
gepackt und war ausgezogen. Den Öhi und das Heidi hatte er wohl
gesehen, als er ihre Geißen abholte, aber erst als er um Mittag mit
Brot und Käse zu Ende war und noch die Krumen herausholen wollte, war
der Brief wieder in seine Hand gekommen.

Das Heidi las aufmerksam seine Adresse ab, dann sprang es zum
Großvater in den Schopf zurück und streckte ihm in hoher Freude den
Brief entgegen: »Von Frankfurt! Von der Klara! Willst du ihn gleich
hören, Großvater?«

Das wollte dieser schon gern, und auch der Peter, der dem Heidi
gefolgt war, schickte sich zum Zuhören an. Er stemmte sich mit dem
Rücken gegen den Türpfosten an, um einen festen Halt zu haben, denn
so war es leichter, dem Heidi nachzukommen, wie es nun seinen Brief
herunterlas:


Liebes Heidi!

Wir haben schon alles verpackt, und in zwei oder drei Tagen wollen wir
abreisen, sobald Papa auch abreist, aber nicht mit uns, er muß zuerst
noch nach Paris reisen. Alle Tage kommt der Herr Doktor und ruft
schon unter der Tür: »Fort! Fort! Auf die Alp!« Er kann es gar nicht
erwarten, daß wir gehen. Du solltest nur wissen, wie gern er selbst
auf der Alp war! Den ganzen Winter ist er fast jeden Tag zu uns
gekommen; dann sagte er immer, er komme zu mir, er müsse mir wieder
erzählen! Dann setzte er sich zu mir hin und erzählte von allen Tagen,
die er mit Dir und dem Großvater auf der Alp zugebracht hat, und von
den Bergen und den Blumen und von der Stille so hoch oben über allen
Dörfern und Straßen und von der frischen, herrlichen Luft; und er
sagte oft: »Dort oben müssen alle Menschen wieder gesund werden.« Er
ist auch selbst wieder so anders geworden, als er eine Zeitlang war,
ganz jung und fröhlich sieht er wieder aus. Oh, wie freu ich mich, das
alles zu sehen und bei Dir auf der Alp zu sein und auch den Peter und
die Geißen kennenzulernen! Erst muß ich in Ragaz etwa sechs Wochen
lang eine Kur machen, das hat der Herr Doktor befohlen, und dann
sollen wir im Dörfli wohnen nachher, und ich soll dann an schönen
Tagen auf die Alp hinaufgefahren werden in meinem Stuhl und den Tag
über bei Dir bleiben. Die Großmama kommt mit und bleibt bei mir;
sie freut sich auch, zu Dir hinaufzukommen. Aber denk, Fräulein
Rottenmeier will nicht mit. Fast jeden Tag sagt die Großmama einmal:
»Wie ist's mit der Schweizerreise, werte Rottenmeier? Genieren Sie
sich nicht, wenn Sie Lust haben mitzukommen.« Aber sie dankt immer
furchtbar höflich und sagt, sie wolle nicht unbescheiden sein.
Aber ich weiß schon, woran sie denkt: Der Sebastian hat eine so
erschreckliche Beschreibung von der Alp gemacht, als er von Deinem
Begleit nach Hause kam, wie furchtbare Felsen dort herunterstarren und
man überall in Klüfte und Abgründe niederstürzen könne und daß es so
steil hinaufgehe, daß man auf jedem Tritt befürchten müsse, wieder
rücklings herunterzukommen, und daß wohl Ziegen, aber keine Menschen
ohne Lebensgefahr da hinaufklettern können. Sie hat sehr geschaudert
vor dieser Beschreibung, und seither schwärmt sie nicht mehr für
Schweizerreisen wie früher. Der Schrecken ist auch in die Tinette
gefahren, sie will auch nicht mit. So kommen wir allein, Großmama und
ich; nur Sebastian muß uns bis nach Ragaz begleiten, dann kann er
wieder heimkehren.

Ich kann es fast nicht erwarten, bis ich zu Dir kommen kann.

Lebe wohl, liebes Heidi, die Großmama läßt Dich tausendmal grüßen.

Deine treue Freundin Klara.


Als der Peter diese Worte vernommen hatte, sprang er von dem
Türpfosten weg und hieb mit seiner Rute nach rechts und links so
rücksichtslos und wütend drein, daß die Geißen alle im höchsten
Schrecken die Flucht ergriffen und den Berg hinunterrannten in so
maßlosen Sprüngen, wie sie noch selten gemacht hatten. Hinter ihnen
her stürmte der Peter und hieb mit seiner Rute in die Luft hinein,
als habe er an einem unsichtbaren Feinde einen unerhörten Grimm
auszulassen. Dieser Feind war die Aussicht auf die Ankunft der Gäste
aus Frankfurt, welche den Peter so sehr erbittert hatte.

Das Heidi war so voller Glück und Freude, daß es durchaus am andern
Tage der Großmutter einen Besuch machen und ihr alles erzählen mußte,
wer nun von Frankfurt kommen und besonders auch, wer nicht kommen
werde. Das mußte für die Großmutter ja von der größten Wichtigkeit
sein, denn sie kannte die Personen alle so genau und lebte mit dem
Heidi alles, was zu seinem Leben gehörte, immerfort mit der tiefsten
Teilnahme durch. Es zog auch beizeiten aus am folgenden Nachmittag,
denn jetzt konnte es seine Besuche schon wieder allein unternehmen:
Die Sonne schien ja wieder hell und blieb lange am Himmel stehen,
und über den trockenen Boden hin war es ein herrliches Bergabrennen,
während der lustige Maiwind hinterhersauste und das Heidi noch ein
wenig schneller hinunterjagte. Die Großmutter lag nicht mehr zu Bett.
Sie saß wieder in ihrer Ecke und spann. Es lag aber ein Ausdruck auf
ihrem Gesicht, als habe sie es mit schweren Gedanken zu tun. Das war
so seit gestern abend, und die ganze Nacht durch hatten diese Gedanken
sie verfolgt und nicht schlafen lassen. Der Peter war in seinem großen
Grimm heimgekommen, und sie hatte aus seinen abgebrochenen Ausrufungen
entnehmen können, daß eine Schar von Leuten aus Frankfurt nach der
Almhütte hinaufkommen werde. Was dann weiter geschehen sollte, wußte
er nicht, aber die Großmutter mußte weiterdenken, und das waren gerade
die Gedanken, die sie ängstigten und ihr den Schlaf genommen hatten.

Jetzt sprang das Heidi herein und gerade auf die Großmutter zu, setzte
sich auf sein Schemelchen, das immer dastand, und erzählte ihr mit
einem solchen Eifer alles, was es wußte, daß es selbst noch immer mehr
davon erfüllt wurde. Aber auf einmal hörte es mitten in seinem Satze
auf und fragte besorgt:

»Was hast du, Großmutter, freut dich alles gar kein bißchen?«

»Doch, doch, Heidi, es freut mich schon für dich, weil du eine so
große Freude daran haben kannst«, antwortete sie und suchte ein wenig
fröhlich auszusehen.

»Aber Großmutter, ich kann ganz gut sehen, daß es dir angst ist.
Meinst du etwa, Fräulein Rottenmeier komme doch noch mit?« fragte das
Heidi, selber etwas ängstlich.

»Nein, nein! Es ist nichts, es ist nichts!« beruhigte die Großmutter.
»Gib mir ein wenig deine Hand, Heidi, daß ich recht spüren kann, daß
du noch da bist. Es wird ja doch zu deinem Besten sein, wenn ich es
auch fast nicht überleben kann.«

»Ich will nichts von dem Besten, wenn du es fast nicht überleben
kannst, Großmutter«, sagte das Heidi so bestimmt, daß dieser mit
einemmal eine neue Befürchtung aufstieg. Sie mußte ja annehmen, daß
die Leute aus Frankfurt kämen, das Heidi wiederzuholen, denn da es
nun wieder gesund war, konnte es ja nicht anders sein, als daß sie es
wiederhaben wollten. Das war die große Angst der Großmutter. Aber sie
fühlte jetzt, daß sie es vor dem Heidi nicht merken lassen sollte.
Es war ja so mitleidig mit ihr, und da könnte es sich vielleicht
widersetzen und nicht gehen wollen, und das durfte nicht sein. Sie
suchte nach einer Hilfe, aber nicht lange, denn sie kannte nur eine.

»Ich weiß etwas, Heidi«, sagte sie nun, »das macht mir wohl und bringt
mir die guten Gedanken wieder. Lies mir das Lied, wo es gleich im
Anfang heißt: >Gott will's machen.<«

Das Heidi wußte jetzt so gut Bescheid in dem alten Liederbuch, daß
es auf der Stelle fand, was die Großmutter begehrte, und es las mit
hellem Ton:

    »Gott will's machen,
    Daß die Sachen
    Gehen, wie es heilsam ist.
    Laß die Wellen
    Immer schwellen,
    Denk, wie du so sicher bist!«

»Ja, ja, das ist's grad, was ich hören mußte«, sagte die Großmutter
erleichtert, und der Ausdruck der Bekümmernis verschwand aus ihrem
Gesichte. Das Heidi schaute sie nachdenklich an, dann sagte es:

»Gelt, Großmutter, >heilsam< heißt, wenn alles heilt, daß es einem
wieder ganz wohl wird?«

»Ja, ja, so wird's sein«, nickte bejahend die Großmutter, »und weil
der liebe Gott es so machen will, so kann man ja sicher sein, wie's
auch kommt. Lies es noch einmal, Heidi, daß wir's so recht behalten
können und nicht wieder vergessen.«

Das Heidi las seinen Vers gleich noch einmal und dann noch ein
paarmal, denn die Sicherheit gefiel ihm auch so gut.

Als so der Abend herangekommen war und das Heidi wieder den Berg
hinaufwanderte, da kam über ihm ein Sternlein nach dem andern heraus
und funkelte und leuchtete zu ihm herunter, und es war gerade, als
wollte jedes wieder neu ihm eine große Freude ins Herz hineinstrahlen,
und alle Augenblicke mußte das Heidi wieder stille stehen und
hinaufschauen, und wie sie alle ringsum am Himmel in immer hellerer
Freude herunterblickten, da mußte es ganz laut hinaufrufen: »Ja, ich
weiß schon, weil der liebe Gott alles so gut weiß, wie es heilsam
ist, kann man eine solche Freude haben und ganz sicher sein!« Und die
Sternlein alle schimmerten und glänzten und winkten dem Heidi zu mit
ihren Augen fort und fort, bis es oben bei der Hütte angekommen war,
wo der Großvater stand und auch zu den Sternen hinaufschaute, denn so
schön hatten sie lange nicht mehr heruntergestrahlt.

Nicht nur die Nächte, auch die Tage dieses Maimonats waren so hell
und klar wie seit vielen Jahren nicht mehr, und öfters schaute der
Großvater am Morgen mit Erstaunen zu, wie die Sonne mit derselben
Pracht am wolkenlosen Himmel wieder aufstieg, wie sie niedergegangen
war, und er mußte wiederholt sagen: »Das ist ein apartes Sonnenjahr;
das gibt besondere Kraft in die Kräuter. Paß auf, Anführer, daß deine
Springer nicht zu übermütig werden vom guten Futter!«

Dann schwang der Peter ganz kühn seine Rute in der Luft, und auf
seinem Gesicht stand deutlich die Antwort geschrieben: »Mit denen will
ich's schon aufnehmen.«

So verfloß der grünende Mai, und es kam der Juni mit seiner noch
wärmeren Sonne und den langen, langen lichten Tagen, die alle Blümlein
auf der ganzen Alp herauslockten, daß sie glänzten und glühten
ringsum und die ganze Luft weit umher mit ihrem süßen Duft erfüllten.
Schon ging auch dieser Monat seinem Ende entgegen, als das Heidi
eines Morgens aus der Hütte herausgesprungen kam, wo es seine
Morgengeschäfte schon vollendet hatte. Es wollte schnell einmal unter
die Tannen hinaus und dann ein wenig weiter hinauf, um zu sehen, ob
der ganze große Busch von dem Tausendgüldenkraut offenstehe, denn die
Blümchen waren so entzückend schön in der durchscheinenden Sonne. Aber
als das Heidi um die Hütte herumrennen wollte, schrie es auf einmal
aus allen Kräften so gewaltig auf, daß der Öhi aus dem Schopf
heraustrat, denn das war etwas Ungewöhnliches.

»Großvater! Großvater!« rief das Kind wie außer sich. »Komm hierher!
Komm hierher! Sieh! Sieh!«

Der Großvater erschien auf den Ruf, und sein Blick folgte dem
ausgestreckten Arm des aufgeregten Kindes.

Die Alm herauf schlängelte sich ein seltsamer Zug, wie noch nie einer
hier gesehen worden war. Zuerst kamen zwei Männer mit einem offenen
Tragsessel, darauf saß ein junges Mädchen, in viele Tücher eingehüllt.
Dann kam ein Pferd, darauf saß eine stattliche Dame, die sehr lebhaft
nach allen Seiten blickte und sich eifrig mit dem jungen Führer
unterhielt, der ihr zur Seite ging. Dann kam ein leerer Rollstuhl,
von einem andern jungen Burschen gestoßen, denn die Kranke, die
hineingehörte, wurde den steilen Berg hinan auf dem Tragsessel
sicherer transportiert. Zuletzt kam ein Träger, der hatte auf sein
Reff so viele Decken, Tücher und Pelze übereinandergehäuft, daß sie
oben noch hoch über seinen Kopf hinausragten.

»Sie sind's! Sie sind's!« schrie das Heidi und hüpfte hoch auf vor
Freude. Sie waren es wirklich. Nun kamen sie näher und näher, und nun
waren sie da. Die Träger setzten ihren Sessel auf die Erde, das Heidi
sprang herzu, und die beiden Kinder begrüßten sich mit ungeheurer
Freude. Jetzt war auch die Großmama oben und stieg von ihrem
Pferde herunter. Das Heidi rannte zu ihr hin und wurde mit großer
Zärtlichkeit begrüßt. Dann wandte sich die Großmama zum Almöhi um, der
sich genaht hatte, um sie zu bewillkommnen. Da war gar keine Steifheit
in der Begrüßung, denn sie kannte ihn und er sie so gut, als hätten
sie schon lange Zeit miteinander verkehrt.

Gleich nach den ersten Worten der Begrüßung sagte auch die Großmama
mit großer Lebhaftigkeit: »Mein lieber Öhi, was haben Sie für einen
Herrensitz! Wer hätte das gedacht! Mancher König könnte Sie darum
beneiden! Wie sieht auch mein Heidi aus! Wie ein Monatsröschen!« fuhr
sie fort, indem sie das Kind an sich zog und ihm die frischen Backen
streichelte. »Was ist das für eine Herrlichkeit um und um! Was sagst
du, Klärchen, mein Kind, was sagst du!«

Klara schaute in völligem Entzücken um sich. So etwas hatte sie ja in
ihrem ganzen Leben nicht gekannt, nicht geahnt.

»Oh, wie schön ist's da! Oh, wie schön ist's da!« rief sie einmal ums
andere aus. »So hab ich mir's nicht gedacht. O Großmama, hier möcht
ich bleiben!«

Der Öhi hatte derweilen den Rollstuhl herbeigerückt und einige der
Tücher vom Reff heruntergenommen und hineingebettet. Jetzt trat er an
den Tragsessel heran.

»Wenn wir das Töchterchen nun in den gewohnten Stuhl setzten, so
wäre es besser daran, der Reisesessel ist ein wenig hart«, sagte er,
wartete aber nicht darauf, ob da jemand Hand anlegen werde, sondern
hob sofort die kranke Klara mit seinen starken Armen sachte aus dem
Strohsessel und setzte sie mit der größten Sorgfalt auf den weichen
Sitz hin. Dann legte er die Tücher über die Knie zurecht und bettete
ihr die Füße so bequem auf die Polster, als hätte der Öhi sein Leben
lang nichts getan, als Menschen mit kranken Gliedern gepflegt. Die
Großmama hatte im höchsten Erstaunen zugeschaut.

»Mein lieber Öhi«, brach sie jetzt aus, »wenn ich wüßte, wo Sie die
Krankenpflege erlernt haben, noch heute schickte ich alle Wärterinnen,
die ich kenne, dahin, daß sie dasselbe tun. Wie ist denn so etwas
möglich?«

Der Öhi lächelte ein wenig. »Es kommt mehr vom Probieren als vom
Studieren«, entgegnete er, aber auf seinem Gesichte lag trotz des
Lächelns ein Zug der Traurigkeit. Vor seinen Augen war aus längst
vergangener Zeit das leidende Antlitz eines Mannes aufgestiegen, der
so in einen Stuhl gebettet dasaß und so verstümmelt war, daß er kaum
ein Glied mehr gebrauchen konnte. Das war sein Hauptmann, den er
in Sizilien nach dem heißen Gefechte so an der Erde gefunden und
weggetragen hatte und der ihn nachher als einzigen Pfleger um sich
litt und nicht mehr von sich gelassen hatte, bis seine schweren Leiden
zu Ende waren. Der Öhi sah seinen Kranken wieder vor sich; es war ihm
nicht anders, als ob es jetzt seine Sache sei, die kranke Klara zu
pflegen und ihr alle die erleichternden Dienstleistungen zu erweisen,
die er so wohl kannte.

Der Himmel lag dunkelblau und wolkenlos über der Hütte und über
den Tannen und weit über die hohen Felsen weg, die grau schimmernd
hineinragten. Klara konnte sich gar nicht genug umschauen, sie war
ganz voller Entzücken über alles, was sie sah.

»O Heidi, wenn ich nur mit dir herumgehen könnte, hier rund um die
Hütte und unter die Tannen!« rief sie sehnsüchtig aus. »Wenn ich doch
alles mit dir ansehen könnte, was ich schon so lange kenne und doch
noch nie gesehen habe!«

Jetzt machte das Heidi eine große Anstrengung, und richtig, es gelang,
der Stuhl rollte ganz schön über den trockenen Grasboden hin bis unter
die Tannen. Hier wurde haltgemacht. So etwas hatte ja Klara wieder
in ihrem Leben nie gesehen, wie die hohen, alten Tannen waren, deren
lange, breite Äste bis auf den Boden herabwuchsen und da immer größer
und dicker wurden. Auch die Großmama, die den Kindern gefolgt war,
stand in hoher Bewunderung da. Sie wußte nicht, was das schönste an
den uralten Bäumen war, ob die vollen, rauschenden Wipfel hoch oben im
Blau oder die geraden, festen Säulenstämme, die mit ihren gewaltigen
Ästen von so vielen, vielen Jahren erzählten, die sie schon da oben
gestanden und auf das Tal niedergeschaut hatten, wo die Menschen kamen
und gingen und immer wieder alles anders wurde, und sie waren immer
dieselben geblieben.

Unterdessen hatte das Heidi den Rollstuhl vor den Geißenstall
hingeschoben und hatte da die kleine Tür weit aufgerissen, damit
Klara auch alles recht sehen könne. Da war nun freilich für diesmal
nicht sehr viel zu sehen, da die Bewohner nicht daheim waren. Ganz
bedauerlich rief Klara zurück:

»O Großmama, wenn ich doch nur Schwänli und Bärli noch erwarten könnte
und alle die anderen Geißen und den Peter! Die kann ich ja alle gar
nicht sehen, wenn wir dann immer so früh fort müssen, wie du gesagt
hast; das ist so schade!«

»Liebes Kind, jetzt erfreuen wir uns an all dem Schönen, das da ist,
und denken nicht daran, was noch fehlen könnte«, berichtigte die
Großmama, dem Stuhle folgend, der nun wieder weitergeschoben wurde.

»Oh, die Blumen!« schrie Klara wieder auf. »Ganze Büsche so feine,
rote Blümchen und alle die nickenden Blauglöckchen! Oh, wenn ich doch
heraus könnte und sie holen!«

Das Heidi rannte augenblicklich hin und brachte einen großen Strauß
zurück.

»Aber das ist noch gar nichts, Klara«, sagte es, die Blumen auf ihren
Schoß legend. »Wenn du einmal mit uns auf die Weide hinaufkommst, dann
wirst du erst etwas sehen! Auf einem Platz zusammen so viele, viele
Büsche von dem roten Tausendgüldenkraut und noch viel, viel mehr blaue
Glockenblümchen als hier und so viele tausend von den hellen, gelben
Weideröschen, daß es ist wie lauter Gold, das am Boden glänzt. Und
dann sind erst noch die mit den großen Blättern, der Großvater sagt,
sie heißen Sonnenaugen, und dann sind noch die braunen, weißt du, mit
den runden Köpfchen, die riechen so gut, und da ist es so schön! Wenn
man da sitzt, dann kann man gar nicht mehr aufstehen, so schön ist
es!«

Heidis Augen funkelten vor Verlangen wiederzusehen, was es beschrieb,
und Klara war wie angezündet davon, und aus ihren sanften blauen Augen
leuchtete ein völliger Widerschein von Heidis feurigem Verlangen auf.

»O Großmama, kann ich wohl dahin kommen? Glaubst du, ich kann so hoch
hinauf?« fragte sie sehnsüchtig. »Oh, wenn ich nur gehen könnte,
Heidi, und so mit dir auf der Alp herumsteigen, überallhin!«

»Ich will dich schon stoßen«, beruhigte sie das Heidi und nahm nun zum
Zeichen, wie leicht das gehe, einen solchen Anlauf um die Ecke herum,
daß der Stuhl fast den Berg hinuntergeflogen wäre. Da stand aber der
Großvater in der Nähe und hielt ihn eben noch rechtzeitig auf in
seinem Lauf.

Während der Besuch unter den Tannen stattgefunden hatte, war der
Großvater nicht müßig gewesen. Bei der Bank vor der Hütte stand jetzt
der Tisch und die nötigen Stühle, und alles lag schon bereit, damit
hier das schöne Mittagsmahl eingenommen werden konnte, das noch in
der Hütte drinnen im Kessel dampfte und an der großen Gabel über
den Gluten schmorte. Es währte aber gar nicht lange, so hatte der
Großvater alles auf den Tisch gesetzt, und fröhlich saß nun die ganze
Gesellschaft beim Mahle.

Die Großmama war in hellem Entzücken über diesen Speisesaal, von
dem aus man weit, weit hinab ins Tal und über alle Berge weg in den
blauen Himmel hinein schauen konnte. Ein milder Wind fächelte den
Tischgenossen liebliche Kühlung zu und säuselte drüben in den Tannen
so anmutig, als wäre er eine eigens zum Feste bestellte Tafelmusik.

»So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Es ist eine wahre
Herrlichkeit!« rief die Großmama wieder und wieder aus. »Aber was seh
ich«, setzte sie jetzt in höchster Bewunderung hinzu, »ich glaube gar,
du bist an einem zweiten Stück Käsebraten angekommen, Klärchen?«

Wirklich lag das zweite golden glänzende Stück auf Klaras
Brotschnitte.

»Oh, das schmeckt so gut, Großmama, besser als die ganze Tafel in
Ragaz«, versicherte Klara und biß mit großem Appetit in die gewürzige
Speise hinein.

»Nur zu! Nur zu!« sagte der Almöhi wohlgefällig. »Das ist unser
Bergwind, der hilft nach, wo die Küche zurückbleibt.«

So nahm das fröhliche Mahl seinen Verlauf. Die Großmama und der Almöhi
verstanden sich ausnehmend wohl, und ihr Gespräch war immer lebhafter
geworden. Sie stimmten in allerhand Meinungen über Menschen und Dinge
und den Verlauf der Welt so gut überein, daß es war, als hätten die
beiden schon jahrelang in einem freundschaftlichen Verkehr gestanden.
So ging eine gute Zeit dahin, und auf einmal schaute die Großmama
gegen Abend hin und sagte:

»Wir müssen uns bald rüsten, Klärchen, die Sonne ist schon weit
vorgerückt; die Leute müssen bald wiederkommen mit Pferd und Sessel.«

Aber auf das eben noch so fröhliche Gesicht der Klara kam ein ganz
trauriger Ausdruck, und sie bat eindringlich: »Oh, nur noch eine
Stunde, Großmama, oder zwei! Wir haben ja die Hütte noch gar nicht
gesehen und Heidis Bett und die ganze Einrichtung. Oh, wenn der Tag
nur noch zehn Stunden hätte!«

»Das ist nun nicht gut möglich«, meinte die Großmama, aber die Hütte
wollte sie auch gern noch ansehen. Man brach also gleich vom Tische
auf, und der Öhi lenkte den Stuhl mit fester Hand der Türe zu. Aber
hier ging es nicht weiter, der Stuhl war viel zu breit, um durch die
Öffnung eingehen zu können. Der Öhi besann sich nicht lange. Er hob
Klara heraus und trug sie auf seinem sicheren Arm in die Hütte hinein.

Hier lief die Großmama hin und her und besah sich genau die ganze
Einrichtung und hatte ihren großen Spaß an der ganzen Häuslichkeit,
die so hübsch aufgeräumt und wohlgeordnet aussah. »Das ist ja wohl
dein Bett dort auf der Höhe, Heidi, nicht wahr?« fragte sie jetzt und
stieg gleich unerschrocken das Leiterchen hinauf zum Heuboden. »Oh,
wie das hübsch duftet, das muß ein gesundes Schlafgemach sein!« Und
die Großmama ging zu dem Loche hin und guckte durch, und schon stieg
auch der Großvater mit der Klara auf dem Arm nach, und hinterdrein
hüpfte das Heidi herauf.

Jetzt standen sie alle um Heidis schön aufgerüstetes Heubett herum,
und ganz nachdenklich schaute die Großmama darauf hin und zog von Zeit
zu Zeit in langen Atemzügen den würzigen Duft des frischen Heues mit
Behagen ein. Klara war von Heidis Schlafstätte völlig hingerissen.

»O Heidi, wie lustig hast du's doch! Vom Bett aus siehst du gerade in
den Himmel hinein und hast einen so schönen Geruch um dich und hörst
die Tannen rauschen draußen. Oh, so lustig und kurzweilig hab ich noch
gar kein Schlafzimmer gesehen!«

Der Öhi schaute jetzt zu der Großmama hinüber.

»Ich hätte so meine Gedanken«, sagte er, »wenn die Frau Großmama mir
glauben wollte und ihr die Sache nicht widerstrebte. Ich meine, wenn
wir das Töchterchen ein wenig hier oben behielten, so könnte es zu
neuen Kräften kommen. Es sind da so allerhand Tücher und Decken
mitgekommen, aus denen bereiten wir hier ein ganz apart weiches Bett,
und um die Pflege des Töchterchens müßte die Frau Großmama keine Sorge
haben, die übernehme ich.«

Klara und Heidi jauchzten miteinander auf wie zwei freigelassene
Vögel, und über das Gesicht der Großmama kam ein ganzer Sonnenschein.

»Mein lieber Öhi, Sie sind ein prächtiger Mann!« brach sie aus. »Was
meinen Sie, was ich eben jetzt dachte? Ich sagte im stillen: Müßte
nicht ein Aufenthalt hier oben das Kind ganz besonders stärken? Aber
die Pflege! Die Sorge! Die Unbequemlichkeit für den Wirt! Und Sie
kommen und sprechen es aus, so als wäre da gar nichts dabei. Ich
muß Ihnen danken, mein lieber Öhi, ich muß Ihnen von ganzem Herzen
danken!« Und die Großmama schüttelte dem Öhi die Hand ein Mal ums
andere und immer wieder, und der Öhi schüttelte auch die ihrige mit
einem ganz erfreuten Gesicht.

Sofort ging der Öhi zur Tat über. Er trug Klara in ihren Sessel vor
die Hütte zurück, vom Heidi gefolgt, das nicht wußte, wie hoch es vor
Freude springen wollte. Dann lud er gleich die sämtlichen Tücher und
Pelzdecken auf seine Arme und sagte wohlgefällig lächelnd: »Es ist
gut, daß die Frau Großmama so wie zu einem Winterfeldzug gerüstet
hatte: Das können wir brauchen.«

»Mein lieber Öhi«, antwortete die Herzutretende lebhaft, »Vorsicht
ist eine schöne Tugend und schützt vor manchem Ungemach. Wenn man auf
den Reisen über Ihre Gebirge ohne Sturm und Wind und Wolkenbrüche
davonkommt, so kann man nur danken, und das wollen wir tun, und meine
Schutzmittelchen sind auch so noch gut zu gebrauchen; darin sind wir
einig.«

Während dieses kleinen Gespräches waren die beiden nach dem
Heuboden hinaufgestiegen und begannen nun die Tücher über das Bett
hinzubreiten, eins nach dem andern. Da waren ihrer so viele, daß das
Bett zuletzt aussah wie eine kleine Festung.

»Jetzt soll mir noch ein einziger Heuhalm durchstechen, wenn er kann«,
sagte die Großmama, indem sie noch einmal mit der Hand auf allen
Seiten eindrückte, aber die weiche Mauer war so undurchdringlich,
daß wirklich keiner mehr durchstach. Nun stieg sie befriedigt die
Leiter hinunter und trat zu den Kindern heraus, die mit strahlenden
Angesichtern nahe zusammensaßen und ausmachten, was sie nun tun
wollten vom Morgen bis zum Abend, solange Klara auf der Alp bleiben
durfte. Aber wie lange würde das sein? Das war nun die große Frage,
welche augenblicklich der Großmama vorgelegt wurde. Die sagte, das
wisse der Großvater am besten, ihn müßten sie fragen, und als dieser
eben herzutrat und nun die Frage an ihn gerichtet wurde, meinte er,
vier Wochen seien gerade recht, um beurteilen zu können, ob die
Alpluft ihre Schuldigkeit an dem Töchterchen tue oder nicht. Jetzt
jubelten die Kinder erst recht auf, denn die Aussicht auf solches
Zusammenbleiben übertraf alle ihre Erwartungen.

Nun sah man von unten herauf wieder die Sesselträger und den
Pferdeführer mit seinem Tier heranrücken. Die ersteren konnten gleich
wieder umkehren.

Als die Großmama sich anschickte, ihr Pferd zu besteigen, rief Klara
fröhlich aus: »O Großmama, das ist nun gar kein Abschied, wenn du
schon fortreitest, denn nun kommst du von Zeit zu Zeit zu uns zum
Besuch auf die Alp, um zu sehen, was wir machen, und das ist dann so
lustig, nicht, Heidi?«

Heidi, das heute von einem Vergnügen ins andere fiel, konnte seine
zustimmende Antwort nur durch einen hohen Freudensprung ausdrücken.

Nun bestieg die Großmama das feste Saumtier, und der Öhi ergriff
den Zügel und führte das Pferd mit sicherer Hand den steilen Berg
hinunter. Wie auch die Großmama eiferte, er möchte doch nicht so weit
mitgehen, es half nichts: Der Öhi erklärte, er werde ihr sein Geleit
bis zum Dörfli hinunter geben, da die Alp so steil und der Ritt nicht
ohne Gefahr sei.

In dem einsamen Dörfli gedachte die Großmama, nun sie allein war,
nicht zu bleiben. Sie wollte nach Ragaz zurückkehren und von dort aus
dann von Zeit zu Zeit ihre Alpenreise wiederholen.

Noch bevor der Öhi wieder zurückgekehrt war, kam der Peter mit seinen
Geißen dahergerannt. Als diese merkten, wo das Heidi war, stürzten sie
alle der Stelle zu. Im Augenblick war die Klara in ihrem Stuhle samt
dem Heidi mitten in dem Rudel drinnen, und drängend und stoßend guckte
immer eine der Geißen über die andere her, und jede wurde gleich vom
Heidi der Klara genannt und vorgestellt.

So kam es, daß diese in der kürzesten Zeit die langerwünschte
Bekanntschaft mit dem kleinen Schneehöppli, dem lustigen Distelfink,
den sauberen Geißen des Großvaters, mit allen, allen bis hinauf zum
großen Türk gemacht hatte. Der Peter aber stand derweilen abseits und
warf seltsam drohende Blicke auf die vergnügte Klara hin.

Als nun die Kinder beide freundlich zu ihm hinüberriefen: »Gute Nacht,
Peter!«, gab er durchaus keine Antwort, sondern hieb mit seiner
Rute so grimmig in die Luft hinein, als wollte er diese völlig
entzweischlagen. Dann lief er davon und sein Gefolge hinter ihm her.

Zu allem Schönen, das Klara heute auf der Alp schon gesehen hatte, kam
nun noch der Schluß.

Als sie oben auf dem Heuboden auf dem großen, weichen Bette lag, zu
dem nun auch das Heidi emporkletterte, da schaute sie durch das offene
runde Loch gerade mitten in die schimmernden Sterne hinein, und voller
Entzücken rief sie aus:

»O Heidi, sieh, es ist gerade, wie wenn wir auf einem hohen Wagen in
den Himmel hineinfahren würden!«

»Ja, und weißt du, warum die Sterne so voller Freude sind und uns so
mit den Augen winken?« fragte das Heidi.

»Nein, das weiß ich nicht; was meinst du denn?« fragte Klara zurück.

»Weil sie droben im Himmel sehen, wie der liebe Gott alles so gut
einrichtet für die Menschen, daß sie gar keine Angst haben müssen und
ganz sicher sein können, weil alles so kommt, wie es heilsam ist. Das
freut sie so; sieh, wie sie winken, daß wir auch so fröhlich sein
sollen! Aber weißt du, Klara, wir müssen auch nicht vergessen zu
beten, wir müssen recht den lieben Gott bitten, daß er auch an uns
denke, wenn er alles so schön einrichtet, daß wir auch immer so sicher
sein können und uns vor gar nichts fürchten müssen.«

Jetzt richteten sich die Kinder noch einmal auf und sagten jedes
sein Nachtgebet. Dann legte sich das Heidi auf seinen runden Arm und
schlief augenblicklich ein. Aber Klara blieb noch lange wach, denn
etwas so Wunderbares wie diese Schlafstätte im Sternenschein hatte sie
noch in ihrem Leben nicht gesehen.

Sie hatte ja überhaupt kaum je die Sterne gesehen, denn außer dem
Hause war sie des Nachts nie gewesen, und drinnen wurden die dichten
Vorhänge längst niedergelassen, bevor die Sterne kamen. Wenn sie nun
jetzt die Augen zumachen wollte, mußte sie sie gleich noch einmal
aufschlagen, um zu sehen, ob denn die beiden großen, hellen Sterne
immer noch hereinfunkelten und so merkwürdig winkten, wie das Heidi
gesagt hatte. Und immer noch war es so, und Klara konnte es nicht
genug bekommen, in das Flimmern und Leuchten hineinzuschauen, bis
endlich ihre Augen von selbst zufielen und sie nur im Traume noch die
zwei großen, schimmernden Sterne sah.



Wie es auf der Alp weitergeht

Eben war die Sonne hinter den Felsen heraufgestiegen und warf nun ihre
goldenen Strahlen über die Hütte und über das Tal hinab. Der Almöhi
hatte, wie er jeden Morgen tat, still und andächtig zugeschaut, wie
ringsum auf den Höhen und im Tal die leichten Nebel sich lichteten
und das Land aus dem Dämmerschatten herausschaute und zum neuen Tage
erwachte.

Heller und heller wurden oben die lichten Morgenwolken, bis jetzt
die Sonne völlig heraustrat und Fels und Wald und Hügel mit goldenem
Lichte übergoß.

Jetzt trat der Öhi in seine Hütte zurück und ging leise die kleine
Leiter hinauf. Klara hatte eben die Augen aufgeschlagen und schaute in
der höchsten Verwunderung auf die hellen Sonnenstrahlen, die durch das
runde Loch hereindrangen und auf ihrem Bette tanzten und blitzten.
Sie wußte gar nicht, was sie sah und wo sie war. Doch jetzt erblickte
sie das schlafende Heidi an ihrer Seite, und nun ertönte auch die
freundliche Stimme des Großvaters: »Gut geschlafen? Nicht müde?« Klara
versicherte, sie sei nicht müde, und, einmal eingeschlafen, sei sie
auch die ganze Nacht nicht mehr erwacht. Das gefiel dem Großvater,
und nun fing er gleich an und besorgte die Klara so gut und so
verständnisvoll, als wäre es geradezu sein Beruf, kranke Kinder zu
besorgen und es ihnen bequem zu machen.

Das Heidi hatte seine Augen jetzt auch aufgemacht und sah auf einmal
mit Erstaunen, wie der Großvater die schon fertig gerüstete Klara auf
den Arm nahm und forttrug. Da mußte es doch dabeisein. Blitzschnell
ging seine Ausrüstung vor sich. Dann ging's die Leiter hinunter, und
nun war auch das Heidi aus der Tür und stand draußen, mit großer
Verwunderung betrachtend, was der Großvater jetzt wieder ausführte.
Er hatte am Abend vorher, als die Kinder schon oben auf ihrem Lager
angekommen waren, überlegt, wo der breite Rollstuhl unter Dach
gebracht werden könnte. Die Tür der Hütte war ja viel zu schmal, hier
konnte er nie eingefahren werden. Da war ihm ein Gedanke gekommen. Er
machte hinten am Schopf zwei große Laden los, so daß da eine breite
Öffnung entstand. Der Stuhl wurde hineingestoßen und die hohen Bretter
wieder an ihre Stelle gebracht, wenn auch nicht festgemacht. Das
Heidi kam eben an, nachdem der Großvater Klara drinnen in ihren Stuhl
gesetzt, dann die Bretter weggenommen hatte und nun mit ihr aus dem
Schopf in den Morgensonnenschein herausgefahren kam. Mitten auf dem
Platze ließ er den Stuhl stehen und ging dem Geißenstall zu. Das Heidi
sprang an Klaras Seite.

Der frische Morgenwind wehte um die Gesichter der Kinder, und ein
würziger Tannenduft kam mit jedem neuen Windeswehen herüber und
durchströmte die sonnige Morgenluft. Klara zog tiefe Züge ein und
lehnte sich in ihren Stuhl zurück, in einem Gefühl des Wohlseins, wie
sie es nie empfunden hatte.

Noch nie in ihrem Leben hatte sie ja auch frische Morgenluft draußen
in der freien Natur eingeatmet, und nun wehte die reine Alpenluft um
sie so kühl und erfrischend, daß jeder Atemzug ein Genuß war. Dazu
der helle, süße Sonnenschein, der gar nicht heiß war hier oben und so
lieblich warm auf ihren Händen lag und an dem trockenen Grasboden zu
ihren Füßen. Daß es so auf der Alp sein könnte, das hatte sich Klara
gar nicht vorstellen können.

»O Heidi, wenn ich nur immer, immer hier oben bei dir bleiben könnte!«
sagte sie jetzt, sich ganz wohlig hin und her wendend in ihrem Stuhl,
um so recht von allen Seiten Luft und Sonne einzutrinken.

»Jetzt siehst du, daß es so ist, wie ich dir gesagt habe«, entgegnete
das Heidi erfreut, »daß es am schönsten auf der ganzen Welt beim
Großvater auf der Alm ist.« Eben trat dieser aus dem Stalle heraus
zu den Kindern heran. Er brachte zwei Schüsselchen voll schäumender,
schneeweißer Milch und reichte eins der Klara, das andere dem Heidi.

»Das wird dem Töchterchen wohltun«, sagte er, Klara zunickend. »Sie
ist vom Schwänli, die gibt Kraft. Zum Wohlsein! Nur zu!« Klara hatte
noch nie Milch von einer Geiß getrunken, sie hatte erst zur Sicherheit
ein wenig daran riechen müssen. Als sie nun aber sah, mit welcher
Begier das Heidi seine Milch heruntertrank, ohne ein einziges Mal
abzusetzen - so erstaunlich gut schmeckte sie ihm -, da setzte Klara
auch an und trank und trank, und wahrhaftig, sie war so süß und
kräftig, als wäre Zucker und Zimmet darin, und Klara trank zu, bis
nichts mehr im Schüsselchen war.

»Morgen nehmen wir zwei«, sagte der Großvater, der mit Befriedigung
zugesehen hatte, wie Klara Heidis Beispiel gefolgt war.

Jetzt erschien der Peter mit seiner Schar, und während das Heidi
durch die allseitigen Morgenbegrüßungen gleich mitten in die Herde
hineingedrängt wurde, nahm der Öhi den Peter ein wenig auf die Seite,
damit dieser verstehen könne, was er ihm zu sagen hatte, denn die
Geißen meckerten immer, eine stärker als die andere, vor lauter Freude
und Freundschaftsbezeugungen, sobald sie das Heidi in ihrer Mitte
hatten.

»Jetzt hör zu und paß auf«, sagte der Öhi. »Von heut an lässest du
dem Schwänli seinen Willen. Es hat die Fühlung, wo die kräftigsten
Kräutlein sind; also wenn es hinauf will, so gehst du nach, den
anderen tut's ja auch gut, und wenn es höher will, als du sonst mit
ihnen gehst, so gehst du wieder und hältst es nicht zurück, hörst du!
Wenn du auch ein wenig klettern mußt, schad't nichts, du gehst, wo es
will, denn in dieser Sache ist es vernünftiger als du, und es muß nur
noch vom Besten bekommen, daß es eine Prachtmilch gibt. Warum guckst
du dort hinüber, wie wenn du einen verschlucken wolltest? Es wird dir
niemand im Wege sein. So, jetzt vorwärts, und denk daran!«

Der Peter war gewohnt, dem Öhi aufs Wort zu folgen. Er trat gleich
seinen Marsch an; man konnte aber sehen, daß er noch etwas im
Hinterhalt hatte, denn er drehte immer den Kopf um und rollte mit den
Augen. Die Geißen folgten und drängten das Heidi noch eine Strecke mit
vorwärts. Das war dem Peter eben recht. »Du mußt mit«, rief er jetzt
drohend in den Geißenrudel hinein, »du mußt mit, wenn man dem Schwänli
nachmuß.«

»Nein, ich kann nicht«, rief das Heidi zurück, »und ich kann jetzt
lange, lange nicht mitkommen, solange die Klara bei mir ist. Aber
einmal kommen wir dann miteinander hinauf, der Großvater hat es uns
versprochen.«

Unter diesen Worten hatte das Heidi sich aus den Geißen herausgewunden
und sprang nun zu Klara zurück. Jetzt machte der Peter mit beiden
Fäusten eine so drohende Gebärde gegen den Rollstuhl hinunter, daß die
Geißen auf die Seite sprangen. Er sprang aber auf der Stelle nach und
ohne Aufenthalt eine ganze Strecke weit hinauf, bis er außer Sicht
war, denn er dachte, der Öhi könnte ihn etwa gesehen haben, und er
wollte lieber nicht wissen, was für einen Eindruck das Fausten dem Öhi
gemacht habe.

Klara und Heidi hatten für heute so viel im Sinn, daß sie gar nicht
wußten, wo anfangen. Das Heidi schlug vor, zuerst den Brief an die
Großmama zu schreiben, den hatten sie ja bestimmt versprochen, und so
für jeden Tag einen neuen. Die Großmama war doch ihrer Sache nicht so
ganz sicher, wie es in die Länge da droben der Klara behagen und auch,
wie es mit ihrer Gesundheit gehen würde, und so hatte sie den Kindern
das Versprechen abgenommen, ihr jeden Tag einen Brief zu schreiben
und alles zu erzählen, was sie erlebten. So konnte die Großmama auch
sogleich wissen, wenn sie oben nötig werden sollte, und bis dahin
ruhig unten bleiben.

»Müssen wir in die Hütte hinein zum Schreiben?« fragte Klara, die wohl
dafür war, der Großmama Bericht zu geben; aber da draußen war es ihr
so wohl, daß sie gar nicht weg mochte.

Aber das Heidi wußte sich einzurichten. Augenblicklich rannte es in
die Hütte hinein und kam mit seinen sämtlichen Schulsachen und dem
niedrigen Dreibeinstühlchen beladen wieder zurück. Nun legte es sein
Lesebuch und Schreibheft der Klara auf den Schoß, daß sie darauf
schreiben konnte, und es selbst setzte sich an die Bank hin auf sein
Stühlchen, und nun begannen sie beide der Großmama zu erzählen.
Aber nach jedem Satze, den Klara geschrieben hatte, legte sie ihren
Bleistift wieder hin und schaute um sich. Es war gar zu schön. Der
Wind war nicht mehr so kühl; nur lieblich fächelnd wehte er um ihr
Gesicht, und drüben in den Tannen flüsterte er leise. In der klaren
Luft tanzten und summten die kleinen, fröhlichen Mücken, und weit
umher lag eine große Stille auf dem ganzen sonnigen Gefilde. Groß und
still schauten die hohen Felsenberge herüber, und das ganze weite Tal
hinab lag alles wie im stillen Frieden. Nur dann und wann schallte das
frohe Jauchzen eines Hirtenbuben durch die Luft, und leise gab das
Echo die Töne in den Felsen wieder.

Der Morgen war dahin, die Kinder wußten nicht, wie, und schon kam der
Großvater mit der dampfenden Schüssel daher, denn er sagte, mit dem
Töchterchen bleibe man nun draußen, solang ein Lichtstrahl am Himmel
sei. So wurde das Mittagsmahl wie gestern vor der Hütte aufgestellt
und mit Vergnügen eingenommen. Dann rollte das Heidi den Stuhl samt
der Klara unter die Tannen hinüber, denn die Kinder hatten ausgemacht,
den Nachmittag wollten sie dort in dem schönen Schatten sitzen
und einander alles erzählen, was sich zugetragen, seit das Heidi
Frankfurt verlassen hatte. Wenn auch da alles im gewohnten Geleise
weitergegangen war, so hatte Klara doch allerlei Besonderes zu
berichten von den Menschen, die im Hause Sesemann lebten und die dem
Heidi ja so gut bekannt waren.

So saßen die Kinder nebeneinander unter den alten Tannen, und je
eifriger sie im Erzählen wurden, desto lauter pfiffen die Vögel oben
in den Zweigen, denn das Geplauder da unten freute sie, und sie
wollten auch mithalten. So flog die Zeit dahin, und unversehens war
es Abend geworden, und schon kam das Geißenheer heruntergestürmt, der
Anführer hintendrein mit Stirnrunzeln und grimmiger Miene.

»Gute Nacht, Peter!« rief ihm das Heidi zu, als es sah, daß er nicht
im Sinne hatte stillzustehen.

»Gute Nacht, Peter!« rief auch Klara freundlich hinüber.

Er gab keinen Gruß zurück und jagte schnaubend die Geißen weiter.

Als Klara jetzt sah, wie der Großvater das saubere Schwänli zum
Melken nach dem Stalle führte, da ergriff sie auf einmal ein solches
Verlangen nach der gewürzigen Milch, daß sie es fast nicht erwarten
konnte, bis der Großvater damit kommen würde. Sie mußte selbst
erstaunen darüber.

»Das ist aber einmal kurios, Heidi«, sagte sie. »Solange ich weiß,
habe ich nur gegessen, weil ich mußte, und alles, was ich bekam,
schmeckte nach Fischtran, und tausendmal habe ich gedacht: Wenn man
nur nie essen müßte! Und jetzt kann ich es fast nicht erwarten, bis
der Großvater kommt mit der Milch.«

»Ja, ich weiß schon, was das ist«, entgegnete das Heidi ganz
verständnisvoll, denn es gedachte der Tage in Frankfurt, da ihm alles
im Halse steckenblieb und nicht hinunter wollte. Klara aber begriff
die Sache doch nicht. Sie hatte aber, solange sie lebte, noch nie
einen Tag lang in der freien Luft gesessen wie heute, und nun gar in
dieser hohen, belebenden Bergluft.

Als der Großvater mit seinen Schüsselchen herankam, erfaßte Klara
schnell dankend das ihrige, und in durstigen Zügen trank sie
hintereinander und war diesmal noch vor dem Heidi zu Ende.

»Darf ich noch ein wenig haben?« fragte sie, dem Großvater das
Schüsselchen hinhaltend.

Er nickte wohlgefällig, nahm auch Heidis Gefäß wieder in Empfang
und ging zur Hütte zurück. Als er wiederkam, brachte er auf jedem
Schüsselchen einen hohen Deckel mit, der war aber von anderem Stoff,
als die Deckel gewöhnlich sind.

Der Großvater hatte am Nachmittag einen Gang nach dem grünen Maiensäß
hinüber gemacht, zu der Sennhütte, wo die süße, hellgelbe Butter
gemacht wird. Von dort hatte er einen schönen runden Ballen
mitgebracht. Jetzt hatte er zwei feste Schnitten Brot genommen und die
süße Butter schön dick daraufgestrichen. Diese sollten nun die Kinder
zu ihrem Nachtessen haben. Gleich bissen auch alle beide so tief in
die appetitlichen Schnitten hinein, daß der Großvater stehenblieb und
zuschaute, wie das weitergehen würde, denn das gefiel ihm.

Als Klara nachher auf ihrem Lager wieder nach den schimmernden Sternen
schauen wollte, ging es ihr wie dem Heidi an ihrer Seite: Die Augen
fielen ihr auf der Stelle zu, und es kam ein so fester, gesunder
Schlaf über sie, wie sie ihn niemals gekannt hatte.

In dieser erfreulichen Weise verging auch der folgende Tag und dann
noch einer, und dann folgte eine große Überraschung für die Kinder. Es
kamen zwei kräftige Träger den Berg heraufgestiegen; jeder trug auf
seinem Reff ein hohes Bett, fertig aufgerüstet in der Bettschaft,
beide ganz gleich bedeckt mit einer weißen Decke, sauber und nagelneu.
Auch hatten die Männer einen Brief von der Großmama abzugeben. Da
stand darin, daß diese Betten für Klara und Heidi seien, daß das Heu-
und Deckenlager nun aufgehoben werden solle und daß von nun an das
Heidi immer in einem richtigen Bette schlafen müsse, denn im Winter
solle das eine der beiden ins Dörfli heruntergeschafft werden, das
andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfinde, wenn sie
wiederkomme. Dann lobte die Großmama die Kinder um ihrer langen Briefe
willen und ermunterte sie, täglich so fortzufahren, damit sie immer
alles mitleben könne, als ob sie bei ihnen wäre.

Der Großvater war hineingegangen, hatte den Inhalt von Heidis Lager
auf den großen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam
er wieder, um mit Hilfe der Männer die beiden Betten dort hinauf zu
transportieren. Dann rückte er sie hart aneinander, damit von beiden
Kopfkissen aus die Aussicht durch das Loch dieselbe bliebe, denn er
kannte die Freude der Kinder an dem Morgen- und Abendschein, der da
hereinglänzte.

Unterdessen saß die Großmama unten im Bade Ragaz und war hocherfreut
über die vortrefflichen Nachrichten, die täglich von der Alp zu ihr
heruntergelangten.

Das Entzücken über ihr neues Leben steigerte sich bei Klara noch
von Tag zu Tag, und sie wußte nicht genug zu sagen von der Güte und
sorglichen Pflege des Großvaters und wie lustig und kurzweilig das
Heidi sei, noch viel mehr als in Frankfurt, und wie sie jeden Morgen
beim Erwachen immer zuerst denke: O gottlob; ich bin noch auf der Alp!

Über diese ausnehmend erfreulichen Berichte war die Großmama jeden Tag
aufs neue froh. Sie fand auch, da alles so stand, so könne sie ihren
Besuch auf der Alp gar wohl noch ein wenig verschieben, was ihr nicht
unlieb war, denn der Ritt den steilen Berg hinauf und wieder herunter
war ihr doch etwas beschwerlich vorgekommen.

Der Großvater mußte eine ganz besondere Teilnahme für seinen Pflegling
gefaßt haben, denn es verging kein Tag, an welchem er nicht irgend
etwas Neues zu seiner Kräftigung ausdachte. Er machte jetzt jeden
Nachmittag weitere Gänge in die Felsen hinauf, immer höher, und
jedesmal brachte er ein Bündelchen mit zurück, das duftete schon von
weitem durch die Luft wie gewürzige Nelken und Thymian, und kehrten
die Geißen am Abend heim, so fingen sie alle zu meckern und zu
springen an und wollten alle miteinander in den Stall eindringen, wo
das Bündelchen lag, denn sie kannten den Geruch. Aber der Öhi hatte
die Tür gut zugemacht, denn er kletterte den seltenen Kräuterchen
nicht nach, hoch an die Felsen hinauf, damit die Geißenschar ohne
Mühe zu einer guten Mahlzeit komme. Die Kräutlein waren alle für das
Schwänli bestimmt, damit es immer noch kräftigere Milch hergebe.
Man konnte auch gut sehen, wie die außerordentliche Pflege bei ihm
anschlug, denn es warf den Kopf immer lebendiger in die Höhe und
machte ganz feurige Augen dazu.

So war nun schon die dritte Woche gekommen, seit Klara auf der Alp
war. Seit einigen Tagen hatte der Großvater des Morgens, wenn er sie
heruntertrug, um sie in ihren Stuhl zu setzen, jedesmal gesagt: »Will
das Töchterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu
stehen?« Klara hatte dann wohl versucht, ihm den Gefallen zu tun, aber
sie hatte immer gleich gesagt: »Oh, 's tut zu weh!« und hatte sich
an ihn festgeklammert; er ließ sie aber jeden Tag ein wenig länger
probieren.

Ein so schöner Sommer war seit Jahren nicht auf der Alp gewesen. Jeden
Tag zog die strahlende Sonne durch den wolkenlosen Himmel hin, und
alle kleinen Blumen machten ihre Kelche weit auf und glühten und
dufteten zu ihr empor, und am Abend warf sie ihr Purpur- und
Rosenlicht auf die Felsenhörner und das Schneefeld hinüber und tauchte
dann in ein golden flammendes Meer hinab. Davon erzählte das Heidi
seiner Freundin Klara immer wieder, denn nur oben auf der Weide konnte
man das alles so recht sehen, und von der Stelle oben am Abhange
erzählte es mit besonderem Feuer, wie dort jetzt die großen Scharen
der glitzernden, goldenen Weideröschen stehen und Blauglöckchen so
viele, daß man meine, dort sei das Gras blau geworden, und daneben
ganze Büsche von den braunen Kolbenblümchen, die so schön riechen, daß
man nur auf den Boden sitzen müsse zu ihnen und gar nicht mehr fort
wolle.

Eben jetzt, unter den Tannen sitzend, hatte das Heidi aufs neue von
den Blumen dort oben und der Abendsonne und den leuchtenden Felsen
erzählt, und dabei war ein solches Verlangen in ihm aufgestiegen,
wieder einmal dorthin zu kommen, daß es mit einemmal aufsprang und
davonrannte, dem Großvater zu, der im Schopf auf seinem Schnitzstuhl
saß.

»O Großvater«, rief es schon von weitem hinüber, »kommst du morgen mit
uns auf die Weide? Oh, jetzt ist es so schön dort oben!«

»Es bleibt dabei«, sagte der Großvater zustimmend, »aber dann muß mir
das Töchterchen auch einen Gefallen tun: Es muß mir heut abend das
Stehen noch einmal recht probieren.«

Frohlockend kam das Heidi mit seiner Nachricht zu Klara zurück, und
diese versprach gleich, sovielmal versuchen zu wollen, auf ihren Füßen
zu stehen, als der Großvater nur wolle, denn sie freute sich ganz
ungeheuer, diese Reise nach der schönen Geißenweide hinauf zu machen.
Das Heidi war so voller Jubel, daß es gleich dem Peter entgegenrief,
sobald es ihn am Abend beim Herunterkommen erblickte:

»Peter! Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag
dort oben.«

Als Antwort brummte der Peter wie ein gereizter Bär und schlug mit
Wut nach dem unschuldigen Distelfink, der neben ihm trabte. Aber der
flinke Distelfink hatte die Bewegung zur rechten Zeit wahrgenommen. Er
machte einen hohen Satz über das Schneehöppli weg, und der Hieb sauste
in die Luft hinaus.

Klara und Heidi bestiegen heute voll herrlicher Erwartungen ihre zwei
schönen Betten, und so erfüllt waren sie von ihren Plänen für morgen,
daß sie beschlossen, die ganze Nacht wach zu bleiben und immerfort
davon zu sprechen, bis sie wieder aufstehen durften. Kaum lagen sie
aber auf ihren guten Kissen, so hörten die Gespräche plötzlich auf,
und Klara sah im Traume ein großes, großes Feld vor sich, das war ganz
himmelblau anzusehen, so dicht besät war es von lauter Glockenblumen;
und das Heidi hörte den Raubvogel oben in den Höhen, wie er
herunterschrie: »Kommt! Kommt! Kommt!«



Es geschieht, was keiner erwartet hat

In aller Frühe trat der Öhi am andern Morgen aus der Hütte und schaute
ringsum, wie der Tag sich gestalten wolle. Auf den hohen Bergspitzen
lag ein rötlich-goldener Schein; ein frischer Wind fing an, die Äste
der Tannen hin und her zu wiegen; die Sonne wollte kommen.

Eine Weile noch stand der Alte und schaute andächtig zu, wie nach den
hohen Berggipfeln die grünen Hügel golden zu schimmern begannen und
dann aus dem Tale leise die dunkeln Schatten wichen und ein rosiges
Licht hineinfloß und nun Höhen und Tiefen im Morgengolde erglänzten;
die Sonne war gekommen.

Jetzt holte der Öhi den Rollstuhl aus dem Schopf heraus, stellte
ihn, zur Reise gerüstet, vor die Hütte hin und trat dann hinein,
um den Kindern zu sagen, wie schön der Morgen erwacht sei, und sie
herauszuholen.

Eben jetzt kam der Peter herangestiegen. Seine Geißen kamen nicht
zutraulich wie gewohnt an seiner Seite und nahe vor und hinter ihm den
Berg herauf; sie schossen scheu umher, dahin und dorthin, denn der
Peter hieb alle Augenblicke ohne jede Veranlassung um sich wie ein
Wütender, und wo er traf, tat es nicht wohl. Der Peter war auf dem
höchsten Punkt des Zornes und der Erbitterung angelangt. Seit Wochen
hatte er nie mehr das Heidi für sich gehabt, so wie er's gewohnt war.
Kam er am Morgen von unten herauf, so wurde schon immer das fremde
Kind in seinem Stuhle herausgetragen, und das Heidi gab sich mit ihm
ab. Kam er am Abend von oben herunter, so stand noch der Rollstuhl mit
seiner Inhaberin unter den Tannen, und das Heidi machte sich mit ihr
zu schaffen. Nie war es noch zur Weide hinaufgekommen den ganzen
Sommer, und nun heute wollte es kommen, aber mitsamt dem Stuhle und
der Fremden darin und wollte die ganze Zeit nur mit dieser sich
abgeben. Das sah der Peter voraus, und das hatte seinen inneren Grimm
auf den höchsten Punkt gebracht. Jetzt erblickte er den Stuhl, der so
stolz da auf seinen Rollen stand, und schaute ihn an wie einen Feind,
der ihm alles zuleide getan hatte und heute noch viel mehr tun wollte.
Der Peter schaute um sich - alles war still, kein Mensch zu sehen. Wie
ein Wilder stürzte er jetzt auf den Stuhl, packte ihn an und stieß ihn
mit so erbitterter Gewalt dem Bergabhange zu, daß der Stuhl förmlich
davonflog und augenblicklich verschwunden war.

Jetzt stürzte der Peter die Alm hinan, als hätte er selber Flügel
bekommen, und er setzte kein einziges Mal ab, bis er oben zu einem
großen Brombeerstrauch gelangte, hinter dem er verschwinden konnte,
denn er begehrte nicht, daß der Öhi ihn erblickte. Er wollte aber
doch gern sehen, was der Stuhl mache, und der Strauch auf dem
Bergvorsprunge war gut gelegen. Der Peter konnte halb verborgen die
Alm hinabschauen und, kam der Öhi zum Vorschein, hurtig sich ganz
verstecken. So tat er, und was erschauten seine Blicke! Weit unten
schon stürzte sein Feind dahin, von immer größerer Gewalt getrieben.
Jetzt überschlug er sich, wieder und wieder, dann machte er einen
hohen Satz, dann schlug es ihn wieder auf die Erde nieder, und
überschlagend rollte er seinem Verderben entgegen.

Schon flogen da und dort die Stücke von ihm weg, Füße, Lehnen,
Polsterfetzen, alles hoch in die Luft geworfen. Der Peter empfand eine
so unbändige Freude an dem Anblick, daß er mit beiden Füßen zugleich
in die Luft springen mußte. Er lachte laut auf, er stampfte vor Wonne,
er sprang in Sätzen im Kreise herum, er kam wieder an denselben
Platz und guckte den Berg hinab. Ein neues Gelächter erscholl, neue
Luftsprünge; der Peter war völlig außer sich vor Vergnügen über diesen
Untergang seines Feindes, denn er sah lauter gute Dinge vor sich, die
nun kommen würden. Jetzt mußte die Fremde abreisen, denn sie hatte
kein Mittel mehr, sich zu bewegen. Das Heidi war wieder allein und kam
mit ihm auf die Weide, und am Abend und Morgen war es für ihn da, wenn
er kam, und alles war wieder in der alten Ordnung. Aber der Peter
bedachte nicht, wie es geht, wenn man eine böse Tat begangen hat, und
was dann nachher kommt.

Jetzt kam das Heidi aus der Hütte gesprungen und rannte dem Schopf zu.
Hinter ihm her kam der Großvater mit Klara auf dem Arm. Die Schopftür
stand weit offen, die beiden Bretter daneben waren weggestellt, bis in
den hintersten Winkel war es taghell. Das Heidi guckte hin und her,
lief um die Ecke, kam wieder zurück, die ungeheuerste Verwunderung lag
auf seinem Gesichte. Nun trat der Großvater heran.

»Was ist das? Hast du den Stuhl weggerollt, Heidi?« fragte er.

»Ich suche ihn ja allenthalben, Großvater, und du hast gesagt, er
stehe neben der Schopftür«, sagte das Kind, immer noch nach allen
Seiten mit den Augen herumsuchend.

Der Wind war unterdessen stärker geworden; eben klapperte er an der
Schopftür herum und warf sie auf einmal krachend gegen die Wand
zurück.

»Großvater, der Wind hat's gemacht«, rief das Heidi, und seine Augen
blitzten auf bei der Entdeckung. »Oh, wenn er den Stuhl bis ins Dörfli
hinabgejagt hätte, dann bekäme man ihn erst viel zu spät wieder, und
wir könnten gar nicht gehen.«

»Wenn er dort hinuntergerollt ist, so kommt er gar nicht mehr
zurück, dann ist er in hundert Stücken«, sagte der Großvater, um die
Ecke tretend und den Berg hinabschauend. »Aber kurios ist's doch
zugegangen«, setzte er hinzu, indem er auf das Stück zurücksah, das
der Stuhl erst um die Ecke der Hütte herum zu machen hatte.

»Oh, wie schade, jetzt können wir gar nicht gehen und vielleicht gar
nie«, jammerte Klara. »Nun muß ich gewiß heimgehen, wenn ich keinen
Stuhl mehr habe. Oh, wie schade! Wie schade!«

Aber das Heidi schaute ganz vertrauensvoll zu seinem Großvater auf und
sagte:

»Gelt, Großvater, du kannst schon etwas erfinden, daß es nicht so
geht, wie die Klara meint, und daß sie nicht auf einmal heim muß?«

»Jetzt gehen wir für diesmal auf die Weide, wie wir uns vorgenommen
haben; dann wollen wir sehen, was weiter kommt«, sagte der Großvater.
Die Kinder jubelten.

Er trat nun wieder in die Hütte zurück, holte einen guten Teil der
Tücher heraus, legte sie auf den sonnigsten Platz an die Hütte hin und
setzte Klara darauf. Dann holte er den Kindern ihre Morgenmilch und
führte Schwänli und Bärli vor den Stall hinaus.

»Warum der nur so lange nicht von da unten heraufkommt«, sagte der Öhi
vor sich hin, denn Peters Morgenpfiff war ja noch gar nicht ertönt.

Jetzt nahm der Großvater Klara wieder auf den einen Arm, die Tücher
auf den andern.

»So, nun vorwärts!« sagte er vorangehend; »die Geißen kommen mit uns.«

Das war dem Heidi eben recht. Einen Arm um Schwänlis und einen um
Bärlis Hals gelegt, wanderte das Heidi hinter dem Großvater her,
und die Geißen hatten solche Freude, einmal wieder mit dem Heidi
auszuziehen, daß sie es fast zusammendrückten zwischen sich vor lauter
Zärtlichkeit.

Oben auf dem Weideplatze angelangt, sahen die Kommenden mit einemmal
da und dort an den Abhängen die friedlich grasenden Geißen in Gruppen
stehen und mittendrin den Peter, der Länge nach auf dem Boden liegend.

»Ein andermal will ich dir das Vorbeigehen vertreiben, Schlafpelz, was
heißt das?« rief ihm der Öhi zu.

Der Peter war bei dem Ton der bekannten Stimme aufgeschossen.

»War noch niemand auf«, gab er zurück.

»Hast du etwas von dem Stuhl gesehen?« frug der Öhi wieder.

»Von welchem?« rief der Peter störrisch zurück.

Der Öhi sagte nichts mehr. Er breitete seine Tücher an den sonnigen
Abhang hin, setzte Klara darauf und wollte wissen, ob's ihr so bequem
sei.

»So bequem wie im Stuhl«, sagte sie dankend, »und am schönsten Platz
bin ich da. Da ist's so schön, Heidi, so schön!« rief sie, rings um
sich blickend, aus.

Der Großvater schickte sich zur Rückkehr an. Er sagte, sie sollten
sich's nun wohl sein lassen miteinander, und wenn die Zeit da sei,
sollte Heidi das Mittagsmahl herbeiholen, das er, in den Sack
verpackt, drüben in den Schatten gelegt hatte. Dann sollte der Peter
ihnen Milch dazu geben, soviel sie trinken wollten, aber das Heidi
sollte gut aufpassen, daß er sie vom Schwänli nehme. Gegen Abend
wollte der Großvater wiederkommen; jetzt wollte er vor allem dem
Stuhle nachgehen und sehen, was aus ihm geworden sei.

Der Himmel war dunkelblau, und um und um war nicht ein einziges
Wölkchen zu sehen. Auf dem großen Schneefelde drüben blitzte es
wie von tausend und tausend Gold- und Silbersternen. Die grauen
Felsenhörner standen hoch und fest an ihrem Platze, wie vor alter
Zeit, und schauten ernsthaft ins Tal hinab. Der große Vogel wiegte
sich oben im Blau, und über die Höhen strich der Bergwind hin
und wehte kühl rings um die sonnige Alp. Den Kindern war es
unbeschreiblich wohl. Von Zeit zu Zeit kam ein Geißlein heran und
ließ sich ein wenig nieder bei ihnen; am häufigsten kam das zärtliche
Schneehöppli und legte sein Köpfchen an das Heidi heran und wäre da
wohl gar nicht mehr weggegangen, hätte es nicht ein anderes von der
Herde wieder vertrieben. So lernte Klara jetzt eine um die andere von
den Geißen so nahe kennen, daß sie niemals mehr eine mit der andern
verwechselte, denn jede hatte ja auch ein ganz besonderes Gesicht und
ihre eigene Art.

Sie wurden jetzt auch so zutraulich zu Klara, daß sie ihr ganz nahe
kamen und ihre Köpfe an ihren Schultern rieben; das war immer das
Zeichen ihrer nahen Bekanntschaft und Zuneigung.

So waren schon einige Stunden vergangen; da kam es dem Heidi in den
Sinn, wenn es doch einmal hinübergehen könnte an den Platz, wo die
vielen Blumen waren, und sehen, ob sie auch alle offenstehen und
so schön seien wie vor dem Jahr. Erst am Abend, wenn der Großvater
wiederkam, konnte man auch mit Klara hinübergehen, und dann machten
die Blumen vielleicht schon wieder die Augen zu. Das Verlangen stieg
immer höher im Heidi, es konnte nicht mehr widerstehen.

Ein wenig zaghaft fragte es: »Wirst du nicht böse, Klara, wenn ich
geschwind von dir fortlaufe und du allein sein mußt? Ich möchte so
gern sehen, wie die Blumen sind. Aber warte...« Dem Heidi war ein
Gedanke gekommen. Es sprang auf die Seite und riß ein paar schöne
Büschel von den grünen Kräutern aus. Dann nahm es das Schneehöppli um
den Hals, das ihm gleich zugelaufen war, und führte es der Klara zu.

»So, jetzt mußt du doch nicht allein sein«, sagte das Heidi, indem es
auf seinen Platz neben Klara das Schneehöppli ein wenig hindrückte,
was das Geißlein gleich gut verstand und sich niederlegte. Dann warf
Heidi seine Blätter der Klara in den Schoß, und diese sagte erfreut,
das Heidi solle jetzt nur gehen und die Blumen recht ansehen, sie
wolle gern allein mit dem Geißlein bleiben; das hatte sie ja noch gar
nie erlebt. Das Heidi rannte fort, und Klara fing nun an, Blättchen
für Blättchen dem Schneehöppli hinzuhalten, und dieses wurde so
zutraulich, daß es sich ganz an seine neue Freundin anschmiegte und
die Blättchen ihr langsam aus den Fingern fraß. Man konnte auch gut
sehen, wie wohl es ihm war, daß es da so ruhig und friedlich in gutem
Schutze liegen durfte, denn draußen bei der Herde hatte es immer viele
Verfolgungen auszustehen von den großen und starken Geißen. Der Klara
kam es so köstlich vor, so ganz allein auf einem Berge zu sitzen,
nur mit einem zutraulichen Geißlein, das ganz hilfsbedürftig zu ihr
aufsah. Ein großer Wunsch stieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener
Herr zu sein und einem andern helfen zu können und nicht nur immer
sich von allen anderen helfen lassen zu müssen. Und es kamen der
Klara jetzt so viele Gedanken, die sie gar nie gehabt hatte, und eine
unbekannte Lust, fortzuleben in dem schönen Sonnenschein und etwas
zu tun, mit dem sie jemand erfreuen konnte, wie sie jetzt das
Schneehöppli erfreute. Eine ganz neue Freude kam ihr ins Herz, so als
ob alles, was sie wußte und kannte, auf einmal viel schöner und anders
sein könnte, als sie es bis jetzt gesehen hatte, und es wurde ihr so
schön und wohl zumute, daß sie das Geißlein um den Hals nehmen und
ausrufen mußte: »O Schneehöppli, wie schön ist es hier oben; wenn ich
nur immer da bei euch bleiben könnte!«

Das Heidi war unterdessen an dem Blumenplatze angekommen. Es stieß
einen Freudenschrei aus. Von leuchtendem Golde bedeckt lag die ganze
Halde da. Das waren die schimmernden Ziströschen. Dichte, dunkelblaue
Büsche von Glockenblumen wiegten sich darüber, und ein so starker
gewürziger Duft wogte um die sonnige Halde, als wären die köstlichsten
Balsamschalen da oben ausgeschüttet worden. Der ganze Wohlgeruch
kam aber von den kleinen braunen Kolbenblümchen her, die ihre
runden Köpfchen da und dort bescheiden zwischen den Goldkelchen
emporstreckten. Das Heidi stand und schaute und zog den süßen Duft
in langen Zügen ein. Auf einmal kehrte es um und kam außer Atem vor
Erregung zu Klara zurück.

»Oh, du mußt gewiß kommen«, rief es ihr schon von weitem zu. »Sie sind
so schön, und alles ist so schön, und am Abend ist es vielleicht nicht
mehr so. Ich kann dich vielleicht tragen, meinst du nicht?«

Klara schaute das erregte Heidi mit Verwunderung an; sie schüttelte
aber den Kopf.

»Nein, nein, was denkst du, Heidi; du bist ja viel kleiner als ich.
Oh, wenn ich nur gehen könnte!«

Jetzt schaute das Heidi suchend um sich, es mußte etwas Neues im Sinne
haben. Dort oben, wo der Peter vorher auf dem Boden gelegen hatte, saß
er jetzt und starrte auf die Kinder herunter. So hatte er schon seit
Stunden gesessen und immerzu herabgestarrt, so als könne er nicht
fassen, was er vor sich sah. Er hatte den feindlichen Stuhl zerstört,
damit alles aufhören und die Fremde sich gar nicht mehr bewegen könne,
und eine kurze Weile nachher erschien sie da oben und saß vor ihm auf
dem Boden neben dem Heidi. Das konnte ja nicht sein, und doch war es
immer noch so, er konnte hinsehen, wann er wollte.

Jetzt schaute das Heidi zu ihm auf.

»Komm hier herunter, Peter!« rief es sehr bestimmt.

»Komme nicht«, rief er zurück.

»Doch, du mußt; komm, ich kann es nicht allein machen, du mußt mir
helfen; komm schnell!« drängte das Heidi.

»Komme nicht«, ertönte es wieder.

Jetzt sprang das Heidi eine kleine Strecke den Berg hinan, dem
Angeredeten entgegen.

Da stand es mit flammenden Augen und rief hinauf:

»Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommst, so will ich dir auch
etwas machen, das du dann gewiß nicht gern hast; das kannst du
glauben!«

Diese Worte gaben dem Peter einen Stich, und eine große Angst packte
ihn an. Er hatte etwas Böses getan, das kein Mensch wissen sollte. Bis
jetzt hatte es ihn gefreut, aber nun redete das Heidi, wie wenn es
alles wüßte, und was es wußte, sagte es alles seinem Großvater, und
vor dem fürchtete der Peter sich ja wie vor keinem andern. Wenn er
nun vernähme, was mit dem Stuhl vorgegangen war! Den Peter würgte die
Angst immer ärger. Er stand auf und kam dem wartenden Heidi entgegen.

»Ich komme, aber dann mußt du das nicht machen«, sagte er, so zahm vor
Furcht, daß das Heidi ganz mitleidig wurde.

»Nein, nein, das tu ich nun schon nicht«, versicherte es. »Komm jetzt
nur mit mir, es ist nichts zum Fürchten, was du tun mußt.«

Bei Klara angelangt, ordnete nun das Heidi an, auf der einen Seite
sollte der Peter, auf der andern wollte es selbst Klara fest unter den
Arm fassen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das
Schwierigere. Klara konnte ja nicht stehen, wie sollte man sie nun
festhalten und vorwärts bringen? Das Heidi war zu klein, um ihr mit
seinem Arm eine Stütze zu bieten.

»Du mußt mich jetzt um den Hals nehmen, ganz fest, so. Und den Peter
mußt du am Arm nehmen und ganz fest darauf drücken, dann können wir
dich tragen.«

Aber der Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfaßte
diesen wohl, der Peter aber hielt ihn ganz steif am Leibe herunter wie
einen langen Stecken.

»So macht man es nicht, Peter«, sagte das Heidi sehr bestimmt. »Du
mußt mit dem Arm einen Ring machen, und dann muß die Klara mit dem
ihrigen durchfahren, und dann muß sie ganz fest aufdrücken, und du
mußt um keinen Preis nachgeben, dann kommen wir schon vorwärts.«

Das wurde nun so ausgeführt. Man kam aber nicht gut vorwärts. Klara
war nicht so leicht, und das Gespann zu ungleich in der Größe. Auf
der einen Seite ging es herab und auf der andern hinauf, das gab eine
ziemliche Unsicherheit in den Stützen.

Klara probierte es abwechselnd ein wenig mit den eigenen Füßen, zog
aber einen nach dem andern immer bald wieder zurück.

»Stampf einmal recht herunter«, schlug das Heidi vor, »dann tut es dir
gewiß nachher weniger weh.«

»Meinst du?« sagte Klara zaghaft.

Sie gehorchte aber und wagte einen festen Schritt auf den Boden und
dann mit dem zweiten Fuß; sie schrie aber ein wenig auf dabei. Dann
hob sie den einen wieder und setzte ihn leiser hin.

»Oh, das hat schon viel weniger weh getan«, sagte sie voller Freude.

»Mach's noch einmal«, drängte eifrig das Heidi. Klara tat es und dann
noch einmal und noch einmal, und auf einmal schrie sie auf:

»Ich kann, Heidi! Oh, ich kann! Sieh! Sieh! Ich kann Schritte machen,
einen nach dem andern.«

Jetzt jauchzte das Heidi noch viel mehr auf.

»Oh! Oh! Kannst du gewiß selbst Schritte machen? Kannst du jetzt
gehen? Kannst du gewiß selbst gehen? Oh, wenn nur der Großvater käme!
Jetzt kannst du selbst gehen, Klara, jetzt kannst du gehen!« rief es
ein Mal ums andere in jubelnder Freude aus.

Klara hielt sich wohl fest an auf beiden Seiten, aber mit jedem
Schritt wurde sie ein wenig sicherer, das konnten alle drei empfinden.
Das Heidi kam ganz außer sich vor Freude.

»Oh, nun können wir alle Tage miteinander auf die Weide gehen und auf
der Alp herum, wo wir wollen«, rief es wieder aus, »und du kannst dein
Lebtag gehen, wie ich, und mußt nie mehr im Stuhl gestoßen werden und
wirst gesund. Oh, das ist die größte Freude, die wir haben können!«

Klara stimmte mit dem ganzen Herzen ein. Gewiß kannte sie gar kein
größeres Glück auf der Welt, als auch einmal gesund zu sein und
herumgehen zu können wie die anderen Menschen und nicht mehr elend die
ganzen Tage lang in den Krankensessel gebannt zu sein.

Es war nicht weit zu der Blumenhalde hinüber. Dort sah man schon das
Glitzern der Goldröschen in der Sonne. Jetzt waren sie bei den Büschen
der blauen Glockenblumen angekommen, wo zwischendurch der sonnige
Boden so einladend aussah.

»Können wir nicht hier niedersetzen?« fragte Klara.

Das war ganz nach Heidis Wunsch, und mitten in die Blumen hinein
setzten sich die Kinder, Klara zum erstenmal, auf den trockenen,
warmen Alpenboden hin; das gefiel ihr unbeschreiblich wohl. Und nun
rings um sie die wiegenden blauen Glockenblumen, die schimmernden
Goldröschen, das rote Tausendgüldenkraut und um und um der süße Duft
der braunen Kolbenblümchen, der würzigen Prünellen. Alles war so
schön! So schön!

Auch das Heidi neben ihr meinte, so schön sei es noch nie gewesen da
oben, und es wußte gar nicht, warum es eine solche Freude im Herzen
hatte, daß es nur immer hätte laut jauchzen mögen. Aber auf einmal kam
es ihm dann wieder in den Sinn, daß Klara gesund geworden war; das war
zu allem Schönen ringsumher noch die allergrößte Freude. Klara wurde
ganz still vor Wonne und Entzücken über alles, was sie sah, und über
alle die Aussichten, die ihr aufgegangen waren durch das eben Erlebte.
Das große Glück hatte fast nicht Platz in ihrem Herzen, und der
Sonnenglanz und Blumenduft dazu überwältigten sie mit einem
Wonnegefühl, das sie völlig verstummen machte.

Auch der Peter lag still und regungslos mitten in dem Blumenfelde,
denn er war fest eingeschlafen.

Leise und lieblich wehte hier der Wind hinter den schützenden Felsen
hervor und säuselte oben in den Büschen. Von Zeit zu Zeit mußte das
Heidi wieder aufstehen und dahin laufen und dorthin, denn es war immer
irgendwo noch schöner, die Blumen noch dichter, der Wohlgeruch noch
stärker, weil ihn da der Wind hin und her wehte; überall mußte es
wieder hinsetzen.

So vergingen die Stunden.

Die Sonne war längst über den Mittag hinaus, als ein Trüppchen der
Geißen ganz ernsthaft auf die Blumenhalde zugeschritten kam. Es war
nicht ihr Weideplatz, sie wurden nie dahin geführt, denn es gefiel
ihnen nicht, in den Blumen zu grasen. Sie sahen aus wie eine
Gesandtschaft, der Distelfink voran. Die Geißen waren sichtlich
ausgegangen, ihre Gesellschafter zu suchen, die sie so lange im Stich
gelassen hatten und über alle Ordnung hinaus fortgeblieben waren,
denn die Geißen kannten ihre Zeit wohl. Als der Distelfink die drei
Vermißten in dem Blumenfelde entdeckte, stieß er ein überlautes
Meckern aus, und auf der Stelle stimmte der ganze Chor ein, und
fortmeckernd kamen sie alle dahergetrabt. Jetzt erwachte der Peter. Er
mußte sich aber stark die Augen reiben, denn es hatte ihm geträumt,
der Rollstuhl stehe wieder schön rot gepolstert und unversehrt vor der
Hütte, und noch im Erwachen hatte er die goldenen Nägel um das Polster
herum in der Sonne blitzen gesehen, aber jetzt entdeckte er, daß es
nur die gelben Glitzerblümchen auf dem Boden gewesen waren. Jetzt kam
dem Peter die Angst zurück, die er beim Anblick des unbeschädigten
Stuhles ganz verloren hatte. Wenn auch das Heidi versprochen hatte,
nichts zu machen, so war doch nun die Furcht im Peter lebendig
geworden, die Sache könnte auch sonst noch auskommen. Er ließ sich
jetzt ganz zahm und willig zum Führer machen und tat alles perfekt so,
wie das Heidi es haben wollte.

Als nun wieder alle drei auf dem Weideplatz angekommen waren, holte
das Heidi hurtig seinen vollen Speisesack herbei und schickte sich an,
sein Versprechen zu lösen, denn auf den Inhalt des Sackes hatte seine
Drohung sich bezogen. Es hatte wohl bemerkt am Morgen, wieviel gute
Sachen der Großvater da hineinpackte, und mit Freuden hatte es
vorausgesehen, daß dem Peter davon ein guter Teil zufallen werde. Als
er dann aber so störrig war, wollte es ihm zu verstehen geben, daß er
nichts bekomme, was der Peter aber anders gedeutet hatte. Nun holte
das Heidi Stück für Stück aus seinem Sack heraus und machte drei
Häufchen davon, die wurden so hoch, daß es voller Befriedigung vor
sich hinsagte: »Dann bekommt er noch alles, was wir zuviel haben.«

Jetzt trug es jedem sein Häufchen zu, und mit dem seinigen setzte es
sich neben Klara hin, und die Kinder ließen sich's wohl schmecken nach
der großen Anstrengung.

Es ging aber, wie das Heidi vorausgesehen hatte: Als sie beide völlig
satt waren, blieb noch so viel übrig, daß dem Peter noch einmal ein
Häufchen, so groß wie das erste, zugeschoben werden konnte. Er aß
still und beharrlich alles auf und dann noch die Krumen, aber er
vollzog sein Werk nicht mit der gewohnten Befriedigung. Dem Peter lag
etwas auf dem Magen, das nagte und würgte ihn und klemmte ihm jeden
Bissen zusammen.

Die Kinder waren so spät zu ihrer Mahlzeit gekommen, daß schon gleich
nachher der Großvater zu sehen war, der die Alm hinanstieg, um sie
abzuholen. Das Heidi stürzte ihm entgegen; es mußte ihm zuerst
sagen, was sich ereignet hatte. Es war indes so erregt von seiner
beglückenden Nachricht, daß es die Worte fast nicht fand, sie dem
Großvater mitzuteilen. Er verstand aber sogleich, was das Kind
berichtete, und eine helle Freude kam auf sein Gesicht. Er
beschleunigte seinen Schritt, und bei Klara angekommen, sagte er
fröhlich lächelnd:

»So, haben wir's gewagt? Nun haben wir's auch gewonnen!«

Dann hob er Klara vom Boden auf, umfaßte sie mit dem linken Arm und
hielt ihr seine Rechte als starke Stütze für ihre Hand hin, und Klara
marschierte, mit der festen Wand im Rücken, noch viel sicherer und
unerschrockener dahin, als sie vorher getan hatte.

Das Heidi hüpfte und jauchzte nebenher, und der Großvater sah aus, als
sei ihm ein großes Glück widerfahren. Jetzt nahm er aber Klara mit
einemmal auf seinen Arm und sagte: »Wir wollen's nicht übertreiben, es
ist auch Zeit zur Heimkehr«, und er machte sich gleich auf den Weg,
denn er wußte, daß nun der Anstrengungen für heute genug waren und
Klara der Ruhe bedurfte.

Als der Peter spät am Abend mit seinen Geißen nach dem Dörfli herunter
kam, stand eine Menge von Leuten an einem Knäuel zusammen, und eins
stieß das andere ein wenig weg, um besser sehen zu können, was
mittendrin am Boden lag. Das mußte der Peter auch sehen; er drückte
und drängte rechts und links und bohrte sich hinein.

Da, jetzt sah er's.

Auf dem Grase lag das Mittelstück vom Rollstuhl, und noch ein Teil des
Rückens hing daran. Das rote Polster und die glänzenden Nägel zeugten
noch davon, wie prächtig der Stuhl in seiner Vollkommenheit ausgesehen
hatte.

»Ich war dabei, als sie ihn hinauftrugen«, sagte der Bäcker, der neben
dem Peter stand; »wenigstens 500 Franken war er wert, das wett ich mit
jedem. Es nimmt mich nur wunder, wie es zugegangen ist.«

»Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Öhi selbst
gesagt«, bemerkte die Barbel, die nicht genug das schöne rote Zeug
bewundern konnte.

»Es ist gut, daß es kein anderer ist, der's getan hat«, sagte der
Bäcker wieder; »dem ging's schön! Wenn es der Herr in Frankfurt
vernimmt, wird er schon untersuchen lassen, wie's zugegangen ist. Ich
für mich bin froh, daß ich seit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war;
der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben gesehen
wurde.«

Es wurden noch viele Meinungen ausgesprochen, aber der Peter hatte
genug gehört. Er kroch ganz zahm und sachte aus dem Knäuel heraus und
lief aus allen Kräften den Berg hinauf, so als wäre einer hinter ihm
drein, der ihn packen wollte. Die Worte des Bäckers hatten ihm eine
furchtbare Angst eingejagt. Er wußte ja jetzt, daß jeden Augenblick
ein Polizeidiener aus Frankfurt ankommen konnte, der die Sache
untersuchen mußte, und dann konnte es doch rauskommen, daß er es getan
hatte, und dann würden sie ihn packen und nach Frankfurt ins Zuchthaus
schleppen. Das sah der Peter vor sich, und seine Haare sträubten sich
vor Schrecken.

Ganz verstört kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar nichts,
er wollte seine Kartoffeln nicht essen; eilends kroch er in sein Bett
hinein und stöhnte.

»Der Peterli hat wieder Sauerampfer gegessen, er hat's im Magen, daß
er so ächzen muß«, meinte die Mutter Brigitte.

»Du mußt ihm ein wenig mehr Brot mitgeben, gib ihm morgen noch ein
Stücklein von dem meinen«, sagte die Großmutter mitleidig.

Als die Kinder heute von ihren Betten in den Sternenschein
hinausschauten, sagte das Heidi:

»Hast du nicht heut den ganzen Tag denken müssen, wie gut es doch ist,
daß der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir noch so furchtbar stark
beten um etwas, wenn er etwas viel Besseres weiß?«

»Warum sagst du das jetzt auf einmal, Heidi?« fragte Klara.

»Weißt du, weil ich in Frankfurt so stark gebetet habe, daß ich doch
auf der Stelle heimgehen könne, und weil ich das immer nicht konnte,
habe ich gedacht, der liebe Gott habe nicht zugehört. Aber weißt du,
wenn ich so bald fortgelaufen wäre, so wärest du nie gekommen, und du
wärest nicht gesund geworden auf der Alp.«

Klara war ganz nachdenklich geworden. »Aber, Heidi«, fing sie nun
wieder an, »dann müßten wir ja um gar nichts beten, weil der liebe
Gott ja schon immer etwas viel Besseres im Sinn hat, als wir wissen
und wir von ihm erbitten wollen.«

»Ja, ja, Klara, meinst du, es gehe dann nur so?« eiferte jetzt das
Heidi. »Alle Tage muß man zum lieben Gott beten und um alles, alles,
denn er muß doch hören, daß wir es nicht vergessen, daß wir alles
von ihm bekommen. Und wenn wir den lieben Gott vergessen wollen, so
vergißt er uns auch, das hat die Großmama gesagt. Aber weißt du, wenn
wir dann nicht bekommen, was wir gern hätten, dann müssen wir nicht
denken, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ganz aufhören zu beten,
sondern dann müssen wir so beten: Jetzt weiß ich schon, lieber Gott,
daß du etwas Besseres im Sinn hast, und jetzt will ich nur froh sein,
daß du es so gut machen willst.«

»Wie ist dir das alles so in den Sinn gekommen, Heidi?« fragte Klara.

»Die Großmama hat mir's zuerst erklärt, und dann ist es auch so
gekommen, und dann hab ich's gewußt. Aber ich meine auch, Klara«, fuhr
das Heidi fort, indem es sich aufsetzte, »heute müssen wir gewiß dem
lieben Gott noch recht danken, daß er das große Glück geschickt hat,
daß du jetzt gehen kannst.«

»Ja gewiß, Heidi, du hast recht, und ich bin froh, daß du mich noch
erinnerst; vor lauter Freude hätte ich es fast vergessen.«

Jetzt beteten die Kinder noch und dankten dem lieben Gott jedes
in seiner Weise für das herrliche Gut, das er der so lange krank
gewesenen Klara geschenkt hatte.

Am andern Morgen meinte der Großvater, nun könnte man einmal an die
Frau Großmama schreiben, ob sie nicht jetzt nach der Alp kommen wolle,
es wäre da etwas Neues zu sehen. Aber die Kinder hatten einen andern
Plan gemacht. Sie wollten der Großmama eine große Überraschung
bereiten. Erst sollte Klara das Gehen noch besser lernen, so daß sie,
allein auf das Heidi gestützt, einen kleinen Gang machen könnte;
von allem aber müßte die Großmama keine Ahnung haben. Nun wurde der
Großvater beraten, wie lange das noch währen könnte, und da er meinte,
kaum acht Tage, so wurde im nächsten Briefe die Großmama dringend
eingeladen, um diese Zeit auf die Alp zu kommen; von etwas Neuem wurde
ihr aber kein Wort berichtet.

Die Tage, die nun folgten, waren noch von den allerschönsten, welche
Klara auf der Alp verlebt hatte. Jeden Morgen erwachte sie mit der
lauten Freudenstimme in ihrem Herzen: »Ich bin gesund! Ich bin gesund!
Ich muß nicht mehr im Rollstuhl sitzen, ich kann selbst umhergehen wie
die anderen Menschen!«

Dann folgte das Umhergehen, und jeden Tag ging es leichter und besser,
und immer längere Gänge konnten gemacht werden. Die Bewegung brachte
dann einen solchen Appetit mit sich, daß der Großvater seine dicken
Butterschnitten täglich ein wenig größer machte und mit Wohlgefallen
sah, wie sie verschwanden. Er brachte jetzt auch immer einen großen
Topf voll von der schäumenden Milch herbei und füllte Schüsselchen um
Schüsselchen. So kam das Ende der Woche heran und damit der Tag, der
die Großmama bringen sollte!



Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen

Die Großmama hatte einen Tag vor ihrer Ankunft noch einen Brief nach
der Alp hinauf geschrieben, damit sie oben bestimmt wüßten, daß sie
komme. Diesen Brief brachte am andern Tage der Peter in der Frühe
mit sich, als er auf die Weide zog. Schon war der Großvater mit den
Kindern aus der Hütte getreten, und auch Schwänli und Bärli standen
beide draußen und schüttelten lustig ihre Köpfe in der frischen
Morgenluft, während die Kinder sie streichelten und ihnen glückliche
Reise wünschten zu ihrer Bergfahrt. Behaglich stand der Öhi dabei und
schaute bald auf die frischen Gesichter der Kinder, bald auf seine
sauber glänzenden Geißen nieder. Beides mußte ihm gefallen, denn er
lächelte vergnüglich.

Jetzt kam der Peter heran. Als er die Gruppe gewahr wurde, näherte er
sich langsam, streckte den Brief dem Öhi entgegen, und sobald dieser
ihn erfaßt hatte, sprang er scheu zurück, so als ob ihn etwas
erschreckt habe, und dann guckte er schnell hinter sich, gerade als ob
von hinten ihn auch noch etwas hätte erschrecken wollen; dann machte
er einen Sprung und lief davon, den Berg hinauf.

»Großvater«, sagte das Heidi, das dem Vorgang verwundert zugeschaut
hatte, »warum tut der Peter jetzt immer wie der große Türk, wenn der
eine Rute hinter sich merkt; dann scheut er mit dem Kopf und schüttelt
ihn nach allen Seiten und macht auf einmal Sprünge in die Luft
hinauf.«

»Vielleicht merkt der Peter auch eine Rute hinter sich, die er
verdient«, antwortete der Großvater.

Nur die erste Halde hinauf lief der Peter so in einem Zuge davon;
sobald man ihn von unten nicht mehr sehen konnte, kam es anders. Da
stand er still und drehte scheu den Kopf nach allen Seiten. Plötzlich
tat er einen Sprung und schaute hinter sich, so erschreckt, als habe
ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Busch hervor, aus jeder
Hecke heraus meinte jetzt der Peter den Polizeidiener aus Frankfurt
auf sich losstürzen zu sehen. Je länger aber diese gespannte Erwartung
dauerte, je schreckhafter wurde es dem Peter zumute, er hatte keinen
ruhigen Augenblick mehr.

Nun mußte das Heidi seine Hütte aufräumen, denn die Großmama sollte
doch alles in guter Ordnung finden, wenn sie kam. Klara fand dieses
geschäftige Treiben Heidis in allen Ecken der Hütte herum immer so
kurzweilig, daß sie mit Vorliebe dieser Tätigkeit zuschaute.

So vergingen die frühen Morgenstunden den Kindern unversehens, und
schon konnte man der Ankunft der Großmama entgegensehen.

Jetzt kamen die Kinder bereit und zum Empfange gerüstet wieder heraus
und setzten sich nebeneinander auf die Bank vor die Hütte, in voller
Erwartung auf die kommenden Ereignisse.

Auch der Großvater trat jetzt wieder zu ihnen. Er hatte einen
Gang gemacht und hatte einen großen Strauß dunkelblauer Enzianen
mitgebracht, die leuchteten so schön in der hellen Morgensonne, daß
die Kinder aufjauchzten bei dem Anblick. Der Großvater trug sie in
die Hütte hinein. Von Zeit zu Zeit sprang das Heidi von der Bank, um
auszuspähen, ob von dem Zuge der Großmama noch nichts zu entdecken
sei.

Aber jetzt: Da kam es von unten herauf, gerade so, wie das Heidi es
erwartet hatte. Voran stieg der Führer, dann kam das weiße Roß und die
Großmama darauf, und zuletzt kam der Träger mit dem hohen Reff, denn
ohne reichlich Schutzmittel zog die Großmama nun einmal nicht auf die
Alp.

Näher und näher kam der Zug. Jetzt war die Höhe erreicht; die Großmama
erblickte die Kinder von ihrem Pferde herunter.

»Was ist denn das? Was seh ich, Klärchen? Du sitzest nicht in deinem
Sessel! Wie ist das möglich?« rief sie erschrocken aus und stieg nun
eilig herunter. Bevor sie aber noch bei den Kindern angekommen war,
schlug sie die Hände zusammen und rief in der höchsten Aufregung:

»Klärchen, bist du's, oder bist du's nicht? Du hast ja rote Wangen,
kugelrunde! Kind! Ich kenne dich nicht mehr!« Jetzt wollte die
Großmama auf Klara losstürzen. Aber unversehens war das Heidi von der
Bank geglitten, Klara hatte sich schnell auf seine Schultern gestützt,
und fort wanderten die Kinder, ganz gelassen einen kleinen Spaziergang
machend. Die Großmama war plötzlich stillgestanden, erst vor
Schrecken, sie meinte nicht anders, als das Heidi stelle eben etwas
Unerhörtes an.

Aber was sah sie vor sich!

Aufrecht und sicher ging Klara neben dem Heidi her; jetzt kamen sie
wieder zurück, beide mit strahlenden Gesichtern, beide mit rosenroten
Backen.

Jetzt stürzte die Großmama ihnen entgegen. Lachend und weinend umarmte
sie ihr Klärchen, dann das Heidi, dann wieder Klara. Vor Freude fand
die Großmama gar keine Worte.

Auf einmal fiel ihr Blick auf den Öhi, der bei der Bank stand und
mit behaglichem Lächeln nach den dreien herüberschaute. Jetzt faßte
die Großmama Klaras Arm in den ihrigen und wanderte mit ihr unter
immerwährenden Ausrufungen des Entzückens, daß es ja wirklich so sei,
daß sie umherwandern könne mit dem Kinde, der Bank zu. Hier ließ sie
Klara los und ergriff den Alten bei beiden Händen.

»Mein lieber Öhi! Mein lieber Öhi! Was haben wir Ihnen zu danken! Es
ist Ihr Werk! Es ist Ihre Sorge und Pflege...«

»Und unseres Herrgotts Sonnenschein und Almluft«, fiel der Öhi
lächelnd ein.

»Ja, und Schwänlis gute, schöne Milch gewiß auch«, rief nun Klara
ihrerseits. »Großmama, du solltest nur wissen, wie ich die Geißenmilch
trinken kann und wie gut sie ist!«

»Ja, das kann ich an deinen Backen sehen, Klärchen«, sagte jetzt die
Großmama lachend. »Nein, dich kennt man nicht mehr; rund, breit bist
du ja geworden, wie ich nie geahnt, daß du je werden könntest, und
groß bist du, Klärchen! Nein, ist es denn auch wahr? Ich kann dich ja
nicht genug ansehen! Aber nun muß auf der Stelle telegrafiert werden
an meinen Sohn in Paris, er muß sogleich kommen. Ich sag ihm nicht,
warum, das ist die größte Freude seines Lebens. Mein lieber Öhi, wie
machen wir das? Sie haben wohl die Männer schon entlassen?«

»Die sind fort«, antwortete er, »aber wenn's der Frau Großmama
pressiert, so läßt man den Geißenhüter herunterkommen, der hat Zeit.«

Die Großmama bestand darauf, sofort ihrem Sohne eine Depesche zu
schicken, denn dieses Glück sollte ihm keinen Tag vorenthalten
bleiben.

Nun ging der Öhi ein wenig auf die Seite, und hier tat er einen so
durchdringenden Pfiff durch seine Finger, daß es hoch oben von den
Felsen zurückpfiff, so weit weg hatte er das Echo geweckt. Es währte
gar nicht lange, so kam der Peter heruntergerannt, er kannte den Pfiff
wohl. Der Peter war kreideweiß, denn er dachte, der Almöhi rufe ihn
zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier übergeben, das die
Großmama unterdessen überschrieben hatte, und der Öhi erklärte ihm, er
habe das Papier sofort ins Dörfli hinunterzutragen und auf dem Postamt
abzugeben, die Bezahlung werde der Öhi später selbst in Ordnung
bringen, denn so viele Dinge auf einmal konnte man dem Peter nicht
übertragen.

Dieser ging nun mit seinem Papier in der Hand, für diesmal wieder
erleichtert, davon, denn der Öhi hatte ja nicht zum Gericht gepfiffen,
es war kein Polizeidiener angekommen.

Endlich konnte man sich denn fest und ruhig zusammen um den Tisch vor
der Hütte herumsetzen, und nun mußte der Großmama erzählt werden, wie
von Anfang an alles sich zugetragen hatte. Wie zuerst der Großvater
jeden Tag ein wenig das Stehen und dann ein Schrittchen mit Klara
probiert hatte, wie dann die Reise auf die Weide gekommen war und
der Wind den Rollstuhl fortgejagt hatte. Wie Klara vor Begierde nach
den Blumen den ersten Gang machen konnte und so eins aus dem andern
gekommen war. Aber es währte lange, bis diese Erzählung von den
Kindern zu Ende gebracht wurde, denn zwischendurch mußte die Großmama
immer wieder in Verwunderung und in Lob und Dank ausbrechen, und immer
wieder rief sie aus: »Aber ist es denn auch möglich! Ist es denn auch
wirklich kein Traum? Sind wir denn auch alle wach, und sitzen wir hier
vor der Almhütte, und das Mädchen vor mir mit dem runden, frischen
Gesicht ist mein altes, bleiches, kraftloses Klärchen?«

Und Klara und Heidi hatten immer neue Freude, daß ihre schön
ausgedachte Überraschung so gut gelungen war bei der Großmama und
immer noch fortwirkte.

Herr Sesemann hatte unterdessen seine Geschäfte in Paris beendet, und
auch er hatte vor, eine Überraschung zu bereiten. Ohne ein Wort an
seine Mutter zu schreiben, setzte er sich an einem der sonnigen
Sommermorgen auf die Eisenbahn und fuhr in einem Zuge bis nach Basel,
von wo er in aller Frühe des folgenden Tages gleich wieder aufbrach,
denn es hatte ihn ein großes Verlangen ergriffen, einmal wieder sein
Töchterchen zu sehen, von dem er nun den ganzen Sommer durch getrennt
gewesen war. Im Bade Ragaz kam er einige Stunden nach der Abfahrt
seiner Mutter an.

Die Nachricht, daß sie eben heute die Reise nach der Alp unternommen
habe, kam ihm gerade recht. Sofort setzte er sich in einen Wagen und
fuhr nach Maienfeld hinüber. Als er da hörte, daß er auch noch bis zum
Dörfli hinauffahren könne, tat er dies, denn er dachte, die Fußpartie
den Berg hinauf werde ihm immer noch lang genug werden.

Herr Sesemann hatte sich nicht getäuscht; die unausgesetzte Steigung
die Alp hinan kam ihm sehr lang und beschwerlich vor. Noch immer war
keine Hütte in Sicht, und er wußte doch, daß auf halbem Wege er auf
die Wohnung des Geißenpeter stoßen sollte, denn oftmals hatte er die
Beschreibung dieses Weges vernommen.

Es waren überall Spuren von Fußgängern zu sehen, manchmal gingen die
schmalen Wege nach allen Richtungen hin. Herr Sesemann wurde unsicher,
ob er auch auf dem richtigen Pfade sei oder ob vielleicht die Hütte
auf einer andern Seite der Alp liege. Er sah sich um, ob kein
menschliches Wesen zu entdecken sei, das er um den Weg befragen
könnte. Aber es war still ringsum, weit und breit war nichts zu sehen
noch zu hören. Nur der Bergwind sauste dann und wann durch die Luft,
und im sonnigen Blau summten die kleinen Mücken, und ein lustiges
Vögelein pfiff da und dort auf einem einsamen Lärchenbäumchen. Herr
Sesemann stand eine Weile still und ließ sich die heiße Stirne vom
Alpenwinde kühlen.

Jetzt kam jemand von oben heruntergelaufen; es war der Peter mit
seiner Depesche in der Hand. Er lief gradaus, steil herunter, nicht
auf dem Fußwege, auf dem Herr Sesemann stand. Sobald der Läufer aber
nahe genug war, winkte ihm Herr Sesemann, daß er herüberkommen sollte.
Zögernd und scheu kam der Peter heran, seitwärts, nicht gradaus, und
so, als könne er nur mit dem einen Fuß richtig vorankommen und müsse
den andern nachschleppen.

»Na, Junge, frisch heran!« ermunterte Herr Sesemann.

»Jetzt sag mir mal, komme ich auf diesem Wege zu der Hütte hinauf,
wo der alte Mann mit dem Kinde Heidi wohnt, bei dem die Leute aus
Frankfurt sind?«

Ein dumpfer Ton furchtbarsten Schreckens war die Antwort, und so
maßlos schoß der Peter davon, daß er kopfüber und über die steile
Halde hinabstürzte und fortrollte in unwillkürlichen Purzelbäumen,
immer weiter und weiter, ganz ähnlich, wie der Rollstuhl getan hatte,
nur daß glücklicherweise der Peter nicht in Stücke ging, wie es bei
dem Sessel der Fall gewesen war.

Nur die Depesche wurde arg zugerichtet und flog in Fetzen davon.

»Merkwürdig schüchterner Bergbewohner«, sagte Herr Sesemann vor sich
hin, denn er dachte nicht anders, als daß die Erscheinung eines
Fremden diesen starken Eindruck auf den einfachen Alpensohn
hervorgebracht habe.

Nachdem er Peters gewalttätige Talfahrt noch ein wenig betrachtet
hatte, setzte Herr Sesemann seinen Weg weiter fort.

Der Peter konnte trotz aller Anstrengung keinen festen Standpunkt
gewinnen, er rollte immerzu, und von Zeit zu Zeit überschlug er sich
noch in besonderer Weise.

Aber das war nicht die schrecklichste Seite seines Schicksals in
diesem Augenblick, viel erschrecklicher waren die Angst und das
Entsetzen, die ihn erfüllten, nun er wußte, daß der Polizeidiener
aus Frankfurt wirklich angekommen war. Denn er konnte nicht daran
zweifeln, daß der Fremde es sei, der den Frankfurtern beim Almöhi
nachgefragt hatte. Jetzt, am letzten hohen Abhange oberhalb des
Dörfli, warf es den Peter an einen Busch hin, da konnte er sich
endlich festklammern. Einen Augenblick blieb er noch liegen, er mußte
sich erst wieder ein wenig besinnen, was mit ihm sei.

»Gut so, wieder einer!« sagte eine Stimme hart neben dem Peter. »Und
wer kriegt morgen den Puff da droben, daß er herunterkommt wie ein
schlechtvernähter Kartoffelsack?«

Es war der Bäcker, der so spottete. Da er da droben aus seinem heißen
Tagewerk weg sich ein wenig erluften wollte, hatte er ruhig zugesehen,
wie eben der Peter, dem Heranrollen des Stuhles nicht unähnlich, von
oben heruntergekommen war.

Der Peter schnellte auf seine Füße. Er hatte einen neuen Schrecken.
Jetzt wußte der Bäcker auch schon, daß der Stuhl einen Puff bekommen
hatte. Ohne ein einziges Mal zurückzusehen, lief der Peter wieder den
Berg hinauf. Am liebsten wäre er jetzt heimgegangen und in sein Bett
gekrochen, daß ihn keiner mehr finden konnte, denn da fühlte er sich
am sichersten. Aber er hatte ja die Geißen noch oben, und der Öhi
hatte ihm noch eingeschärft, bald wiederzukommen, damit die Herde
nicht zu lange allein sei. Den Öhi aber fürchtete er vor allen und
hatte einen solchen Respekt vor ihm, daß er niemals gewagt hätte, ihm
ungehorsam zu sein. Der Peter ächzte laut und hinkte weiter, es mußte
ja sein, er mußte wieder hinauf. Aber rennen konnte er jetzt nicht
mehr, die Angst und die mannigfaltigen Stöße, die er soeben erduldet
hatte, konnten nicht ohne Wirkung bleiben. So ging es denn mit Hinken
und Stöhnen weiter die Alm hinauf.

Herr Sesemann hatte kurz nach der Begegnung mit Peter die erste Hütte
erreicht und wußte nun, daß er auf dem richtigen Wege war. Er stieg
mit erneutem Mute weiter, und endlich, nach langer, mühevoller
Wanderung, sah er sein Ziel vor sich. Dort oben stand die Almhütte,
und oben darüber wogten die dunkeln Wipfel der alten Tannen.

Herr Sesemann ging mit Freuden an die letzte Steigung, gleich konnte
er sein Kind überraschen. Aber schon war er von der Gesellschaft
vor der Hütte entdeckt und erkannt worden, und für den Vater wurde
vorbereitet, was er nicht ahnte.

Als er den letzten Schritt zur Höhe getan hatte, kamen ihm von der
Hütte her zwei Gestalten entgegen. Es war ein großes Mädchen mit
hellblonden Haaren und einem rosigen Gesichtchen, das stützte sich
auf das kleinere Heidi, dem ganze Freudenblitze aus den dunklen Augen
funkelten. Herr Sesemann stutzte, er stand still und starrte die
Herankommenden an. Auf einmal stürzten ihm die großen Tränen aus
den Augen. Was stiegen auch für Erinnerungen in seinem Herzen auf!
Ganz so hatte Klaras Mutter ausgesehen, das blonde Mädchen mit den
angehauchten Rosenwangen. Herr Sesemann wußte nicht, war er wachend,
oder träumte er.

»Papa, kennst du mich denn gar nicht mehr?« rief ihm jetzt Klara mit
freudestrahlendem Gesicht entgegen. »Bin ich denn so verändert?«

Nun stürzte Herr Sesemann auf sein Töchterchen zu und schloß es in
seine Arme.

»Ja, du bist verändert! Ist es möglich? Ist es Wirklichkeit?«

Und der überglückliche Vater trat wieder einen Schritt zurück, um
noch einmal hinzusehen, ob denn das Bild nicht verschwinde vor seinen
Augen.

»Bist du's, Klärchen, bist du's denn wirklich?« mußte er ein Mal ums
andere ausrufen. Dann schloß er sein Kind wieder in die Arme, und
gleich nachher mußte er noch einmal sehen, ob es wirklich sein
Klärchen sei, das aufrecht vor ihm stand.

Jetzt war auch die Großmama herbeigekommen, sie konnte nicht so lange
warten, bis sie das glückliche Gesicht ihres Sohnes erblicken sollte.

»Na, mein lieber Sohn, was sagst du jetzt?« rief sie ihm zu. »Die
Überraschung, die du uns machst, ist recht schön; aber diejenige, die
man dir bereitet hat, ist noch viel schöner, nicht?« Und die erfreute
Mutter begrüßte nun mit großer Herzlichkeit ihren lieben Sohn. »Aber
jetzt, mein Lieber«, sagte sie dann, »kommst du mit mir dort hinüber,
unsern Öhi zu begrüßen, der ist unser allergrößter Wohltäter.«

»Gewiß, und auch unsere Hausgenossin, unser kleines Heidi, muß ich
noch begrüßen«, sagte Herr Sesemann, indem er Heidis Hand schüttelte.
»Nun? Immer frisch und gesund auf der Alp? Aber man muß nicht fragen,
kein Alpenröschen kann blühender aussehen. Das ist mir eine Freude,
Kind, das ist mir eine große Freude!«

Auch das Heidi schaute mit leuchtender Freude zu dem freundlichen
Herrn Sesemann auf. Wie gut war er immer zu ihm gewesen! Und daß er
nun hier auf der Alp ein solches Glück finden sollte, das machte
Heidis Herz laut schlagen vor großer Freude.

Jetzt führte die Großmama ihren Sohn zum Almöhi hinüber, und während
nun die beiden Männer sich sehr herzlich die Hände schüttelten und
Herr Sesemann begann, seinen tiefgefühlten Dank auszusprechen und sein
unermeßliches Erstaunen darüber, wie nur dieses Wunder hatte geschehen
können, da wandte sich die Großmama und ging ein wenig nach der andern
Seite hinüber, dann das hatte sie nun schon durchgesprochen. Sie
wollte einmal nach den alten Tannen sehen.

Da harrte ihrer schon wieder etwas Unerwartetes. Mitten unter den
Bäumen, da, wo die langen Äste noch einen freien Platz gelassen
hatten, stand ein großer Busch der wundervollsten, dunkelblauen
Enzianen, so frisch und glänzend, als wären sie eben da
herausgewachsen. Die Großmama schlug die Hände zusammen vor Entzücken.

»Wie köstlich! Wie prächtig! Welch ein Anblick!« rief sie ein Mal ums
andere aus. »Heidi, mein liebes Kind, komm hierher! Hast du mir das
zur Freude bereitet? Es ist vollkommen wundervoll.«

Die Kinder waren schon da.

»Nein, nein, ich gewiß nicht«, sagte das Heidi, »aber ich weiß schon,
wer's gemacht hat.«

»So ist's droben auf der Weide, Großmama, und noch viel schöner«, fiel
hier Klara ein. »Aber rat einmal, wer dir heut früh schon die Blumen
von der Weide heruntergeholt hat!« Und Klara lächelte so vergnüglich
zu ihrer Rede, daß der Großmama einen Augenblick der Gedanke kam, das
Kind sei am Ende heute selbst schon dort oben gewesen. Das war doch
aber fast nicht möglich.

Jetzt hörte man ein leises Geräusch hinter den Tannenbäumen; es kam
vom Peter her, der unterdessen hier oben angelangt war. Da er aber
gesehen hatte, wer beim Öhi vor der Hütte stand, hatte er einen
großen Bogen gemacht und wollte nun ganz heimlich hinter den Tannen
hinaufschleichen. Aber die Großmama hatte ihn erkannt, und plötzlich
stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte der Peter die Blumen
heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Bescheidenheit
so heimlich vorbeischleichen wollen? Nein, das durfte nicht sein, er
sollte doch eine kleine Belohnung haben.

»Komm, mein Junge, komm hier heraus, frisch, ohne Scheu!« rief die
Großmama laut und steckte ein wenig den Kopf zwischen die Bäume
hinein.

Starr vor Schrecken stand der Peter still. Er hatte keine
Widerstandskraft mehr nach allem Erlebten. Er fühlte nur noch das
eine: Jetzt ist's aus! Alle Haare standen ihm aufrecht auf dem Kopf,
und farblos und entstellt von höchster Angst trat der Peter hinter den
Tannen hervor.

»Nur frisch heran, ohne Umwege«, ermunterte die Großmama. »So, nun sag
mir mal, Junge, hast du das gemacht?«

Der Peter hob seine Augen nicht auf und sah nicht, wohin der
Zeigefinger der Großmama wies. Er hatte gesehen, daß der Öhi an der
Ecke der Hütte stand und daß dessen graue Augen durchdringend auf ihn
gerichtet waren, und neben dem Öhi stand das Schrecklichste, das der
Peter kannte, der Polizeidiener aus Frankfurt. An allen Gliedern
zitternd und bebend, stieß der Peter einen Laut hervor, es war ein
»Ja«.

»Nanu«, sagte die Großmama, »was ist denn das Schreckliche dabei?«

»Daß er... daß er... daß er auseinander ist und man ihn nicht
mehr ganz machen kann«, brachte mühsam der Peter heraus, und nun
schlotterten seine Knie so, daß er fast nicht mehr stehen konnte. Die
Großmama ging nach der Hüttenecke hinüber.

»Mein lieber Öhi, rappelt es denn wirklich ernstlich bei dem armen
Buben?« fragte sie teilnehmend.

»Gar nicht, gar nicht«, versicherte der Öhi. »Der Bube ist nur der
Wind, der den Rollstuhl fortgejagt hat, und nun erwartet er seine
wohlverdiente Strafe.«

Das konnte nun die Großmama gar nicht glauben, denn sie meinte,
boshaft sehe der Peter doch ganz und gar nicht aus, und sonst hätte er
doch keinen Grund gehabt, den so notwendigen Rollstuhl zu zerstören.

Aber dem Öhi war das Geständnis nur die Bestätigung eines Verdachtes
gewesen, der gleich nach der Tat in ihm aufgestiegen war. Die
grimmigen Blicke, die der Peter von Anfang an der Klara zugeworfen
hatte, und andere Merkmale seiner Erbitterung gegen die neuen
Erscheinungen auf der Alp waren dem Öhi nicht entgangen. Er hatte
einen Gedanken an den andern gehängt, und so hatte er genau den
ganzen Gang der Dinge erkannt und teilte ihn jetzt der Großmama in
aller Klarheit mit. Als er zu Ende war, brach die Dame in große
Lebhaftigkeit aus.

»Nein, mein lieber Öhi, nein, nein, den armen Buben wollen wir nicht
weiter strafen. Man muß billig sein. Da kommen die fremden Leute aus
Frankfurt hereingebrochen und nehmen ihm ganze Wochen lang das Heidi
weg, sein einziges Gut und wirklich ein großes Gut, und da sitzt er
allein Tag für Tag und hat das Nachsehen. Nein, nein, da muß man
billig sein; der Zorn hat ihn überwältigt und hat ihn zu der Rache
getrieben, die ein wenig dumm war, aber im Zorn werden wir alle dumm.«

Damit ging die Großmama zum Peter zurück, der noch immerfort bebte und
schlotterte.

Sie setzte sich auf die Bank unter die Tanne und sagte freundlich:
»So, nun komm, mein Junge, da vor mich hin, ich habe dir etwas zu
sagen. Höre auf zu zittern und zu beben und hör mir zu, das will
ich haben. Du hast den Rollstuhl den Berg hinuntergejagt, damit er
zerschmettere. Das war etwas Böses, das hast du recht wohl gewußt,
und daß du eine Strafe verdientest, das wußtest du auch, und damit
du diese nicht erhaltest, hast du dich recht anstrengen müssen, daß
keiner es merke, was du getan hattest. Aber siehst du: Wer etwas Böses
tut und denkt, es weiß keiner, der verrechnet sich immer. Der liebe
Gott sieht und hört ja doch alles, und sobald er bemerkt, daß ein
Mensch seine böse Tat verheimlichen will, so weckt er schnell in dem
Menschen das Wächterchen auf, das er schon bei seiner Geburt in ihn
hineingesetzt hat und das da drinnen schlafen darf, bis der Mensch
ein Unrecht tut. Und das Wächterchen hat einen kleinen Stachel in der
Hand, mit dem sticht es nun in einem fort den Menschen, daß er gar
keinen ruhigen Augenblick mehr hat. Und auch mit seiner Stimme
beängstigt es den Gequälten noch, denn es ruft ihm immer quälend zu:
>Jetzt kommt alles aus! jetzt holen sie dich zur Strafe!< So muß er
immer in Angst und Schrecken leben und hat keine Freude mehr, gar
keine. Hast du nicht auch so etwas erfahren, Peter, eben jetzt?«

Der Peter nickte ganz zerknirscht, aber wie ein Kenner, denn gerade so
war es ihm ergangen.

»Und noch in einer Weise hast du dich verrechnet«, fuhr die Großmama
fort. »Sieh, wie das Böse, das du tatest, zum Besten ausfiel für die,
der du es zufügen wolltest! Weil Klara keinen Sessel mehr hatte, auf
dem man sie hinbringen konnte, und doch die schönen Blumen sehen
wollte, so strengte sie sich ganz besonders an zu gehen, und so lernte
sie's und geht nun immer besser, und bleibt sie hier, so kann sie am
Ende jeden Tag hinauf zur Weide gehen, viel öfter, als sie in ihrem
Stuhle hinaufgekommen wäre. Siehst du wohl, Peter? So kann der liebe
Gott, was einer böse machen wollte, nur schnell in seine Hand nehmen
und für den andern, der geschädigt werden sollte, etwas Gutes daraus
machen, und der Bösewicht hat das Nachsehen und den Schaden davon.
Hast du nun auch alles gut verstanden, Peter, ja? So denk daran,
und jedesmal, wenn es dich wieder gelüsten sollte, etwas Böses zu
tun, denk an das Wächterchen da drinnen mit dem Stachel und der
unangenehmen Stimme. Willst du das tun?«

»Ja, so will ich«, antwortete der Peter, noch sehr gedrückt, denn noch
wußte er ja nicht, wie alles enden würde, da der Polizeidiener immer
noch drüben stand neben dem Öhi.

»So, nun ist's gut, die Sache ist abgetan«, schloß die Großmama. »Nun
sollst du aber auch noch ein Andenken an die Frankfurter haben, das
dich freut. So sag mir nun, mein Junge, hast du auch schon mal was
gewünscht, das du haben möchtest? Was war's denn? Was möchtest du am
liebsten haben?«

Jetzt hob der Peter seinen Kopf auf und starrte die Großmama mit
ganz kugelrunden, erstaunten Augen an. Noch immer hatte er etwas
Schreckliches erwartet, und nun sollte er auf einmal bekommen, was er
gern hätte. Dem Peter kam alles durcheinander in seinen Gedanken.

»Ja, ja, es ist mir Ernst«, sagte die Großmama. »Du sollst etwas
haben, das dich freut, zur Erinnerung an die Leute von Frankfurt und
zum Zeichen, daß sie nicht mehr daran denken, daß du etwas Unrechtes
getan hast. Verstehst du's nun, Junge?«

In dem Peter fing die Einsicht aufzudämmern an, daß er keine Strafe
mehr zu befürchten habe und daß die gute Frau, die vor ihm saß, ihn
aus der Gewalt des Polizeidieners errettet hatte. Jetzt empfand er
eine Erleichterung, als fiele ein Berg von ihm ab, der ihn fast
zusammengedrückt hatte. Aber nun hatte er auch begriffen, daß es
besser geht, wenn man gleich eingestellt, was gefehlt ist, und auf
einmal sagte er:

»Und das Papier hab ich auch verloren.«

Die Großmama mußte sich ein wenig besinnen, aber der Zusammenhang kam
ihr bald in den Sinn, und sie sagte freundlich: »So, so, es ist recht,
daß du's sagst! Immer gleich bekennen, was nicht recht ist; dann
kommt's wieder in Ordnung. Und jetzt, was hättest du gern?«

Nun konnte der Peter auf der Welt wünschen, was er nur wollte.
Es wurde ihm fast schwindelig. Der ganze Jahrmarkt von Maienfeld
flimmerte vor seinen Augen mit all den schönen Sachen, die er oft
stundenlang angestaunt und für immer unerreichbar gehalten hatte, denn
Peters Besitztum hatte nie einen Fünfer überstiegen, und alle die
lockenden Gegenstände kosteten immer das Doppelte. Da waren die
schönen roten Pfeifchen, die er so gut für seine Geißen brauchen
konnte. Da waren die lockenden Messer mit runden Heften, Krötenstecher
genannt, mit denen man in allen Haselrutenhecken die besten Geschäfte
machen konnte.

Tiefsinnig stand der Peter da, denn er überdachte, welches von den
zweien das Wünschbarste wäre, und er fand den Entscheid nicht. Aber
jetzt kam ihm ein lichtvoller Gedanke; so konnte er sich noch bis zum
nächsten Jahrmarkt besinnen.

»Einen Zehner«, antwortete Peter jetzt entschlossen.

Die Großmama lachte ein wenig.

»Das ist nicht übertrieben. So komm her!« Sie zog jetzt ihren Beutel
heraus und nahm einen großen, runden Taler heraus; darauf legte sie
noch zwei Zehnerstückchen.

»So, wir wollen gerade Rechnung machen«, fuhr sie fort; »das will ich
dir erklären. Hier hast du nun gerade so viele Zehner, als Wochen im
Jahre sind! So kannst du jeden Sonntag einen Zehner hervornehmen und
verbrauchen, das ganze Jahr durch.«

»Meiner Lebtag?« fragte der Peter ganz harmlos.

Jetzt mußte die Großmama so ungeheuer lachen, daß die Herren drüben
ihr Gespräch unterbrechen mußten, um zu hören, was da vorgehe.

Die Großmama lachte immer noch.

»Das sollst du haben, Junge, das gibt einen Passus in mein Testament,
hörst du, mein Sohn? Und nachher geht er in das deinige über, also:
Dem Geißenpeter einen Zehner wöchentlich, solange er am Leben ist.«

Herr Sesemann nickte zustimmend und lachte auch herüber.

Der Peter schaute noch einmal auf das Geschenk in seiner Hand, ob es
auch wirklich wahr sei. Dann sagte er: »Danke Gott!« Und nun rannte er
davon in ganz ungewöhnlichen Sprüngen, aber diesmal blieb er doch auf
den Füßen, denn jetzt trieb ihn nicht der Schrecken davon, sondern
eine Freude, wie der Peter noch gar keine gekannt hatte sein Leben
lang. Alle Angst und Schrecken waren vergangen, und jede Woche hatte
er einen Zehner zu erwarten sein Leben lang.

Als später die Gesellschaft vor der Almhütte das fröhliche Mittagsmahl
beendet hatte und nun noch in allerlei Gesprächen zusammensaß, da nahm
Klara ihren Vater, der ganz strahlte vor Freude und jedesmal, wenn er
sie wieder anschaute, noch ein wenig glücklicher aussah, bei der Hand
und sagte mit einer Lebhaftigkeit, die man nie an der matten Klara
gekannt hatte:

»O Papa, wenn du nur wüßtest, was der Großvater alles für mich getan
hat! So viel alle Tage, daß man es gar nicht nacherzählen kann, aber
ich vergesse es in meinem ganzen Leben nicht. Und immer denke ich,
wenn ich nur dem lieben Großvater auch etwas tun könnte oder etwas
schenken, das ihm so recht Freude machen würde, auch nur halb soviel,
wie er mir Freude gemacht hat.«

»Das ist ja auch mein größter Wunsch, liebes Kind«, sagte der Vater.
»Ich sinne schon immer darüber nach, wie wir unserem Wohltäter unseren
Dank auch nur einigermaßen dartun könnten.«

Herr Sesemann stand jetzt auf und ging zum Öhi hinüber, der neben der
Großmama saß und sich ausnehmend gut mit ihr unterhalten hatte. Er
stand aber jetzt auch auf. Herr Sesemann ergriff seine Hand und sagte
in der freundschaftlichsten Weise: »Mein lieber Freund, lassen Sie uns
ein Wort zusammen sprechen! Sie werden es verstehen, wenn ich Ihnen
sage, daß ich seit langen Jahren keine rechte Freude mehr kannte. Was
war mir all mein Geld und Gut, wenn ich mein armes Kind anblickte, das
ich mit keinem Reichtum gesund und glücklich machen konnte? Nächst
unserm Gott im Himmel haben Sie mir das Kind gesund gemacht und mir,
wie ihm, damit ein neues Leben geschenkt. Nun sprechen Sie, womit
kann ich Ihnen meine Dankbarkeit zeigen? Vergelten kann ich nie, was
Sie uns getan haben, aber was ich vermag, das stelle ich zu Ihrer
Verfügung. Sprechen Sie, mein Freund, was darf ich tun?«

Der Öhi hatte still zugehört und den glücklichen Vater mit vergnügtem
Lächeln angeblickt.

»Herr Sesemann glaubt mir wohl, daß ich meinen Teil an der großen
Freude über die Genesung auf unserer Alm auch habe; meine Mühe ist mir
wohl dadurch vergolten«, sagte jetzt der Öhi in seiner festen Weise.
»Für die gütigen Anerbietungen danke ich Herrn Sesemann, ich habe
nichts nötig. Solange ich lebe, habe ich für das Kind und für mich
genug. Aber einen Wunsch hätte ich; wenn mir der erfüllt werden
könnte, so hätte ich für dieses Leben keine Sorge mehr.«

»Sprechen Sie, sprechen Sie, mein lieber Freund!« drängte Herr
Sesemann.

»Ich bin alt«, fuhr der Öhi fort, »und kann nicht mehr lange
hierbleiben. Wenn ich gehe, kann ich dem Kinde nichts hinterlassen,
und Verwandte hat es keine mehr; nur eine einzige Person, die würde
noch ihren Vorteil aus ihm ziehen wollen. Wenn mir der Herr Sesemann
die Zusicherung geben wollte, daß das Heidi nie in seinem Leben hinaus
muß, um sein Brot unter den Fremden zu suchen, dann hätte er mir
reichlich zurückgegeben, was ich für ihn und sein Kind tun konnte.«

»Aber, mein lieber Freund, davon kann ja niemals eine Rede sein«,
brach Herr Sesemann nun aus. »Das Kind gehört ja zu uns. Fragen Sie
meine Mutter, meine Tochter; das Kind Heidi werden Sie ja in ihrem
Leben nicht anderen Leuten überlassen! Aber da, wenn es Ihnen eine
Beruhigung ist, mein Freund, hier meine Hand darauf. Ich verspreche
Ihnen: Nie in seinem Leben soll dieses Kind hinaus, um unter fremden
Menschen sein Brot zu verdienen; dafür will ich sorgen, auch über
meine Lebenszeit hinaus. Nun aber will ich noch etwas sagen. Dieses
Kind ist nicht für ein Leben in der Fremde gemacht, wie auch die
Verhältnisse wären; das haben wir erfahren. Aber es hat sich Freunde
gemacht. Einen solchen kenne ich, der ist noch in Frankfurt; da tut er
seine letzten Geschäfte ab, um dann nachher dahin zu gehen, wo es ihm
gefällt, und sich da zur Ruhe zu setzen. Das ist mein Freund, der
Doktor, der noch diesen Herbst hier ankommen wird und, Ihren Rat dazu
in Anspruch nehmend, sich in dieser Gegend niederlassen will, denn in
Ihrer und des Kindes Gesellschaft hat er sich so wohl befunden wie
sonst nirgends mehr. So sehen Sie, das Kind Heidi wird fortan zwei
Beschützer in seiner Nähe haben. Mögen ihm beide miteinander noch
recht lange erhalten bleiben!«

»Das gebe der liebe Gott!« fiel hier die Großmama ein, und den Wunsch
ihres Sohnes bestätigend, schüttelte sie dem Öhi eine gute Weile mit
großer Herzlichkeit die Hand. Dann faßte sie auf einmal das Heidi um
den Hals, das neben ihr stand, und zog es zu sich heran.

»Und du, mein liebes Heidi, dich muß man doch auch noch fragen. Komm,
sag mir mal: Hast du denn nicht auch einen Wunsch, den du gern erfüllt
hättest?«

»Ja freilich, das hab ich schon«, antwortete das Heidi und blickte
sehr erfreut zu der Großmama auf.

»So, das ist recht, so komm heraus damit«, ermunterte diese. »Was
hättest du denn gern, Kind?«

»Ich hätte gern mein Bett aus Frankfurt mit den drei hohen Kissen und
der dicken Decke, dann muß die Großmutter nicht mehr mit dem Kopf
bergab liegen und kann fast nicht atmen, und sie hat warm genug unter
der Decke und muß nicht immer mit dem Schal ins Bett gehen, weil sie
sonst furchtbar friert.«

Das Heidi hatte alles in einem Atemzuge gesagt vor Eifer, zu seinem
gewünschten Ziel zu kommen.

»Ach mein liebes Heidi, was sagst du mir da!« rief die Großmama erregt
aus. »Das ist gut, daß du mich erinnerst. In der Freude vergißt man
leicht, woran man zuallererst hätte denken sollen. Wenn uns der liebe
Gott etwas Gutes schickt, müßten wir doch gleich an diejenigen denken,
die so viel entbehren! Jetzt wird auf der Stelle nach Frankfurt
telegrafiert! Noch heute soll die Rottenmeier das Bett zusammenpacken,
in zwei Tagen kann es dasein. Will's Gott, soll die Großmutter gut
schlafen darin!«

Das Heidi hüpfte frohlockend rings um die Großmama herum. Aber auf
einmal stand es still und sagte eilig: »Nun muß ich gewiß geschwind
zur Großmutter hinunter, es wird ihr auch wieder angst, wenn ich so
lang nicht mehr komme.«

Denn nun konnte das Heidi es nicht mehr erwarten, der Großmutter die
Freudenbotschaft zu bringen, und es war ihm auch wieder in den Sinn
gekommen, wie es der Großmutter angst gewesen, als es zuletzt bei ihr
war.

»Nein, nein, Heidi, was meinst du?« ermahnte der Großvater. »Wenn man
Besuch hat, läuft man nicht mit einemmal auf und davon.«

Aber die Großmama unterstützte das Heidi.

»Mein lieber Öhi, das Kind hat so unrecht nicht«, sagte sie. »Die arme
Großmutter ist auch seit langem viel zu kurz gekommen um meinetwillen.
Nun wollen wir gleich alle miteinander zu ihr gehen, und ich denke,
dort warte ich mein Pferd ab, und wir setzen dann unseren Weg weiter
fort, und unten im Dörfli wird sogleich das Telegramm nach Frankfurt
aufgegeben. Mein Sohn, was meinst du dazu?«

Herr Sesemann hatte bis jetzt noch gar nicht Zeit gehabt, über seine
Reisepläne zu sprechen. Er mußte also seine Mutter bitten, nicht
sogleich ihr Unternehmen auszuführen, sondern noch einen Augenblick
sitzen zu bleiben, bis er seine Absicht ausgesprochen habe.

Herr Sesemann hatte sich vorgenommen, mit seiner Mutter eine kleine
Reise durch die Schweiz zu machen und erst zu sehen, ob sein Klärchen
imstande sei, eine kurze Strecke mitzureisen. Nun war es so gekommen,
daß er die genußreichste Reise in Gesellschaft seiner Tochter vor sich
sah, und nun wollte er auch gleich diese schönen Spätsommertage dazu
benutzen. Er hatte im Sinne, die Nacht im Dörfli zuzubringen und am
folgenden Morgen Klara auf der Alm abzuholen, um mit ihr zur Großmama
nach dem Bade Ragaz hinunter und von da weiterzureisen.

Klara war ein wenig betroffen über die Anzeige der plötzlichen Abreise
von der Alp, aber es war ja so viel Freude daneben, und überdies war
da gar keine Zeit, sich dem Bedauern hinzugeben.

Schon war die Großmama aufgestanden und hatte Heidis Hand erfaßt, um
den Zug anzuführen. Jetzt kehrte sie sich plötzlich um.

»Aber was in aller Welt macht man nun mit Klärchen?« rief sie
erschrocken aus, denn es war ihr in den Sinn gekommen, daß der Gang
doch für sie viel zu weit sein würde.

Aber schon hatte in gewohnter Weise der Öhi sein Pflegetöchterchen auf
den Arm genommen und folgte mit festem Schritte der Großmama nach, die
jetzt mit vielem Wohlgefallen zurücknickte. Zuletzt kam Herr Sesemann,
und so ging der Zug weiter den Berg hinunter.

Das Heidi mußte immerfort aufhüpfen vor Freude an der Seite der
Großmama, und diese wollte nun alles wissen von der Großmutter, wie
sie lebe und wie alles bei ihr zugehe, besonders im Winter bei der
großen Kälte da droben.

Das Heidi berichtete über alles ganz genau, denn es wußte schon, wie
da alles zuging und wie dann die Großmutter zusammengeduckt in ihrem
Winkelchen saß und zitterte vor Kälte. Es wußte auch gut, was sie dann
zu essen hatte, und auch, was sie nicht hatte.

Bis zur Hütte hinunter hörte die Großmama mit der lebhaftesten
Teilnahme Heidis Berichten zu.

Die Brigitte war eben daran, Peters zweites Hemd an die Sonne zu
hängen, damit, wenn das eine wieder genug getragen war, das andere
angezogen werden konnte. Sie erblickte die Gesellschaft und stürzte in
die Stube hinein.

»Jetzt grad geht alles fort, Mutter«, berichtete sie. »Es ist ein
ganzer Zug; der Öhi begleitet sie, er trägt das Kranke.«

»Ach, muß es denn wirklich sein?« seufzte die Großmutter. »So nehmen
sie das Heidi mit, das hast du gesehen? Ach, wenn es mir nur auch noch
die Hand geben dürfte! Wenn ich es nur auch noch einmal hörte!«

Jetzt wurde stürmisch die Tür aufgemacht, und das Heidi war in wenigen
Sprüngen in der Ecke bei der Großmutter und umklammerte sie.

»Großmutter! Großmutter! Mein Bett kommt aus Frankfurt und alle drei
Kissen und auch die dicke Decke; in zwei Tagen ist es da, das hat die
Großmama gesagt.«

Das Heidi hatte gar nicht schnell genug seinen Bericht herausbringen
können, denn es konnte die ungeheure Freude der Großmutter fast nicht
abwarten. Sie lächelte, aber ein wenig traurig sagte sie:

»Ach, was muß das für eine gute Frau sein! Ich sollte mich nur freuen,
daß sie dich mitnimmt, Heidi, aber ich kann es nicht lang überleben.«

»Was? Was? Wer sagt denn der guten alten Großmutter so etwas?« fragte
hier eine freundliche Stimme, und die Hand der Alten wurde dabei
erfaßt und herzlich gedrückt, denn die Großmama war hinzugetreten
und hatte alles gehört. »Nein, nein, davon ist keine Rede! Das Heidi
bleibt bei der Großmutter und macht ihre Freude aus. Wir wollen das
Kind auch wiedersehen, aber wir kommen zu ihm. Jedes Jahr werden wir
nach der Alm hinaufkommen, denn wir haben Ursache, an dieser Stelle
dem lieben Gott alljährlich unseren besonderen Dank zu sagen, wo er
ein solches Wunder an unserem Kinde getan hat.«

Jetzt kam der echte Freudenschein auf das Gesicht der Großmutter, und
mit wortlosem Dank drückte sie fort und fort die Hand der guten Frau
Sesemann, während ihr vor lauter Freude ein paar große Tränen die
alten Wangen herabglitten. Das Heidi hatte den Freudenschein auf dem
Gesichte der Großmutter gleich gesehen und war jetzt ganz beglückt.

»Gelt, Großmutter«, sagte es, sich an sie schmiegend, »jetzt ist es
so gekommen, wie ich dir zuletzt gelesen habe? Gelt, das Bett aus
Frankfurt ist gewiß heilsam?«

»Ach ja, Heidi, und noch so vieles, so viel Gutes, das der liebe Gott
an mir tut!« sagte die Großmutter mit tiefer Rührung. »Wie ist es nur
möglich, daß es so gute Menschen gibt, die sich um eine arme Alte
bekümmern und so viel an ihr tun! Es ist nichts, das einem den
Glauben so stärken kann an einen guten Vater im Himmel, der auch sein
Geringstes nicht vergessen will, wie so etwas zu erfahren, daß es
solche Menschen gibt voll Güte und Barmherzigkeit für ein armes,
unnützes Weiblein, wie ich eins bin.«

»Meine gute Großmutter«, fiel hier Frau Sesemann ein, »vor unserem
Herrn im Himmel sind wir alle gleich armselig, und alle haben wir es
gleich nötig, daß er uns nicht vergesse. Und nun nehmen wir Abschied,
aber auf Wiedersehen, denn sobald wir nächstes Jahr wieder nach der
Alm kommen, suchen wir auch die Großmutter wieder auf; die wird nie
mehr vergessen!« Damit erfaßte Frau Sesemann noch einmal die Hand der
Alten und schüttelte sie.

Aber sie kam nicht so schnell fort, wie sie meinte, denn die
Großmutter konnte nicht aufhören zu danken, und alles Gute, das der
liebe Gott in seiner Hand habe, wünschte sie auf ihre Wohltäterin und
deren ganzes Haus herab.

Jetzt zog Herr Sesemann mit seiner Mutter talabwärts, während der Öhi
Klara noch einmal mit nach Hause trug und das Heidi, ohne aufzusetzen,
hochauf hüpfte neben ihnen her, denn es war so froh über die Aussicht
der Großmutter, daß es mit jedem Schritt einen Sprung machen mußte.

Am Morgen darauf aber gab es heiße Tränen bei der scheidenden Klara,
nun sie fort mußte von der schönen Alm, wo es ihr so wohl gewesen war
wie noch nie in ihrem Leben. Aber das Heidi tröstete sie und sagte:

»Es ist im Augenblick wieder Sommer, und dann kommst du wieder, und
dann ist's noch viel schöner. Dann kannst du von Anfang an gehen, und
wir können alle Tage mit den Geißen auf die Weide gehen und zu den
Blumen hinauf, und alles Lustige geht von vorn an.«

Herr Sesemann war nach Abrede gekommen, sein Töchterchen abzuholen. Er
stand jetzt drüben beim Großvater, die Männer hatten noch allerlei zu
besprechen. Klara wischte nun ihre Tränen weg, Heidis Worte hatten sie
ein wenig getröstet.

»Ich lasse auch den Peter noch grüßen«, sagte sie wieder, »und alle
Geißen, besonders das Schwänli. Oh, wenn ich nur dem Schwänli ein
Geschenk machen könnte; es hat so viel dazu geholfen, daß ich gesund
geworden bin.«

»Das kannst du schon ganz gut«, versicherte das Heidi. »Schick ihm nur
ein wenig Salz, du weißt schon, wie gern es am Abend das Salz aus des
Großvaters Hand schleckt.«

Der Rat gefiel Klara wohl.

»Oh, dann will ich ihm gewiß hundert Pfund Salz aus Frankfurt
schicken«, rief sie erfreut aus, »es muß auch ein Andenken an mich
haben.«

Jetzt winkte Herr Sesemann den Kindern, denn er wollte abreisen.
Diesmal war das weiße Pferd der Großmama für Klara gekommen, und jetzt
konnte sie herunterreiten, sie brauchte keinen Tragsessel mehr.

Das Heidi stellte sich auf den äußersten Rand des Abhanges hinaus und
winkte mit seiner Hand der Klara zu, bis das letzte Restchen von Roß
und Reiterin geschwunden war.


Das Bett ist angekommen, und die Großmutter schläft jetzt so gut jede
Nacht, daß sie gewiß dadurch zu ganz neuen Kräften kommt. Den harten
Winter auf der Alp hat die gute Großmama auch nicht vergessen. Sie hat
einen großen Warenballen nach der Geißenpeter-Hütte gesandt. Darin war
so viel warmes Zeug verpackt, daß die Großmutter sich um und um damit
einhüllen kann und gewiß nie mehr zitternd vor Kälte in ihrer Ecke
sitzen muß.

Im Dörfli ist ein großer Bau im Gange. Der Herr Doktor ist angekommen
und hat vorderhand sein altes Quartier bezogen. Auf den Rat seines
Freundes hin hat der Herr Doktor das alte Gebäude angekauft, das der
Öhi im Winter mit dem Heidi bewohnt hatte und das ja schon einmal ein
großer Herrensitz gewesen war, was man immer noch an der hohen Stube
mit dem schönen Ofen und dem kunstreichen Getäfel sehen konnte.
Diesen Teil des Hauses läßt der Herr Doktor als seine eigene Wohnung
aufbauen. Die andere Seite wird als Winterquartier für den Öhi und
das Heidi hergestellt, denn der Herr Doktor kennt den Alten als einen
unabhängigen Mann, der seine eigene Behausung haben muß. Zuhinterst
wird ein festgemauerter, warmer Geißenstall eingerichtet, da werden
Schwänli und Bärli in sehr behaglicher Weise ihre Wintertage
zubringen.

Der Herr Doktor und der Almöhi werden täglich bessere Freunde, und
wenn sie zusammen auf dem Gemäuer herumsteigen, um den Fortgang des
Baues zu besichtigen, kommen ihre Gedanken meistens auf das Heidi,
denn beiden ist die Hauptfreude an dem Hause, daß sie mit ihrem
fröhlichen Kinde hier einziehen werden.

»Mein lieber Freund«, sagte kürzlich der Herr Doktor, mit dem Öhi oben
auf der Mauer stehend, »Sie müssen die Sache ansehen wie ich. Ich
teile alle Freude an dem Kinde mit Ihnen, als wäre ich der nächste
nach Ihnen, zu dem das Kind gehört; ich will aber auch alle
Verpflichtungen teilen und nach bester Einsicht für das Kind sorgen.
So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, daß es
mich in meinen alten Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein größter
Wunsch ist. Das Heidi soll in alle Kindesrechte bei mir eintreten; so
können wir es ohne Sorge zurücklassen, wenn wir einmal von ihm gehen
müssen, Sie und ich.«

Der Öhi drückte dem Herrn Doktor lange die Hand. Er sagte kein Wort,
aber sein guter Freund konnte in den Augen des Alten die Rührung und
hohe Freude lesen, die seine Worte erweckt hatten.

Derweilen saßen das Heidi und der Peter bei der Großmutter, und
das erstere hatte so viel zu tun mit Erzählen und der letztere mit
Zuhören, daß sie alle beide kaum zu Atem kommen konnten und vor Eifer
immer näher auf die glückliche Großmutter eindrangen.

Wieviel war ihr auch zu berichten von alle dem, das den ganzen Sommer
durch sich ereignet hatte, denn man war ja so wenig zusammengekommen
während dieser Zeit.

Und von den dreien sah immer eins glücklicher aus als das andere über
das neue Zusammensein und über alle die wunderbaren Ereignisse. Jetzt
aber war das Gesicht der Mutter Brigitte noch fast am glücklichsten
anzusehen, da mit Heidis Hilfe nun zum erstenmal klar und verständlich
die Geschichte des unaufhörlichen Zehners herauskam. Zuletzt aber
sagte die Großmutter:

»Heidi, lies mir ein Lob- und Danklied! Es ist mir, als könne ich
nur noch loben und preisen und unserem Gott im Himmel Dank sagen für
alles, was er an uns getan hat.«





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