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Title: Mein Leben und Streben
Author: May, Karl
Language: German
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Mein Leben und Streben

Selbstbiographie von Karl May

Band I

Freiburg i. Br.
Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld


Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.



Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt,
  So gehe ruhig fort, und laß das Klagen.
Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst
  Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen.

           (Karl May "Im Reiche des silbernen Löwen")



                          Inhalt.

                           _____


   I. Das Märchen von Sitara
  II. Meine Kindheit
 III. Keine Jugend
  IV. Seminar- und Lehrerzeit
   V. Im Abgrunde
  VI. Bei der Kolportage
 VII. Meine Werke
VIII. Meine Prozesse
  IX. Schluß

                         _________


                             I.
                  Das Märchen von Sitara.

                           _____

Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden
Weges nach der Sonne geht und dann in derselben
Richtung noch drei Monate lang über die Sonne
hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara
heißt. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet
eben "Stern".

    Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel
gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein
Aequator 5400 Meilen lang.  Er dreht sich um sich selbst
und zugleich auch um die Sonne.  Die Bewegung um
sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um
die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr
oder weniger.  Seine Oberfläche besteht zu einem Teile
aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser.  Aber während
man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile
zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel
einfacherer Weise gegliedert.  Es hängt zusammen.  Es
bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen,
der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland
und ein der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland
zerfällt, welche beide durch einen schmäleren, steil
aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden
sind.  Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen
und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu
Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben.  Man
nennt es Ardistan.  Ard heißt Erde, Scholle, niedriger
Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im
geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose Trachten
nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen
Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht
gewillt ist, ihm zu dienen.  Ardistan ist also die Heimat
der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich
auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der
_Gewalt-_und_Egoismusmenschen._ Das Hochland
hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im
Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur
und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden,
ein Paradies.  Man nennt es Dschinnistan.  Dschinni
heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches
Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb
nach Höherem, das Wohlgefallen am geistigen und
seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten nach Allem,
was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die
Freude am Glücke des Nächsten, an der Wohlfahrt aller
derer, welche der Liebe und der Hilfe bedürfen.  Dschinnistan
ist also das Territorium der wie die Berge aufwärtsstrebenden
Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene
Land der _Edelmenschen._

    Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von
finster denkenden, selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes
Gesetz in strenger Kürze lautet: "D u   s o l l st   d e r   T e u f e l
d e i n e s   N ä ch st e n   s e i n,   d a m i t   d u   d i r   s e l b s t
z u m   E n g e l   w e r d e st!"  Und hoch oben regierte schon
seit undenklicher Zeit über Dschinnistan eine Dynastie
großherziger, echt königlich denkender Fürsten, deren oberstes
Gesetz in beglückender Kürze lautet: "D u   s o l l st   d e r
E n g e l   d e i n e s   N ä ch st e n   s e i n,   d a m i t   d u   n i ch t   d i r
s e l b st   z u m   T e u f e l   w e r d e st!"

    Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der
Edelmenschen, besteht, ist ein jeder Bürger und eine jede
Bürgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich und
ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer
Andern zu sein.  Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein,
dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe, seelische
Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer
nach Befreiung aus dem Elende dieser Hölle!  Ist es
da ein Wunder, daß da unten im Tieflande eine immer
größer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand?
Daß die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen
sich aus der Finsternis zu befreien und zu erlösen
suchen?  Millionen und Abermillionen fühlen sich in den
Sümpfen von Ardistan wohl.  Sie sind die Miasmen
gewohnt.  Sie wollen es nicht anders haben.  Sie
würden in der reinen Luft von Dschinistan nicht
existieren können.  Das sind nicht etwa nur die Aermsten
und Geringsten, sondern grad auch die Mächtigsten, die
Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisäer,
die Sünder brauchen, um gerecht erscheinen zu können,
die Vielbesitzenden, denen arme Leute nötig sind, um
ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter
haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen
Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die
Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von
ihnen ausgebeutet zu werden.  Was würde aus allen
diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht
mehr gäbe?  Darum ist es Jedermann auf das allerstrengste
verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem
Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen.  Die schärfsten
Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Lande
der Nächstenliebe und der Humanität, nach Dschinnistan
zu flüchten.  Die Grenze ist besetzt.  Er kommt nicht
durch.  Er wird ergriffen und nach der "Geisterschmiede"
geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden,
bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend
in das verhaßte Joch zurückzukehren.

    Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan,
jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch
dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle
und beschwerliche Weg nach oben geht.  Märd ist
ein persisches Wort; es bedeutet "Mann".  Märdistan
ist das Zwischenland, in welches sich nur "Männer"
wagen dürfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde.
Der gefährlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten
Gebietes ist der "Wald von Kulub".  Kulub ist ein
arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen
Wortes "Herz".  Also in den Tiefen des Herzens lauern
die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen
hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen
will.  Und mitten in jenem Walde von Kulub ist
jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in "Babel und
Bibel," Seite 78 heißt:

      "Zu Märdistan, im Walde von Kulub,
      Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.
      Da schmieden Geister?"

                   "Nein, man schmiedet sie!
      Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,
      Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.
      Der Haß wirft sich in grimmiger Lust auf sie.
      Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.
      Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.
      Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
      Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.
      Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.
      Man stößt dich in den Brand; die Bälge knarren.
      Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,
      Und Alles, was du hast und was du bist,
      Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,
      Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,
      Gedanken und Gefühle, Alles, Alles
      Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert
      Bis in die weiße Glut -- -- --"

                                  "Allah, Allah!"
      "Schrei nicht, o Scheik!  Ich sage dir, schrei nicht!
      Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,
      Wird weggeworfen in den Brack und Plunder
      Und muß dann wieder eingeschmolzen werden.
      Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,
      Die in der Faust der Parakleten funkelt.
      Sei also still!

                     Man reißt dich aus dem Feuer -- --
      Man wirft dich auf den Amboß -- -- hält dich fest.
      Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.
      Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.
      Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu.
      Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer -- -- --
      Die Schläge fallen.  Jeder ist ein Mord,
      Ein Mord an dir.  Du meinst, zermalmt zu werden.
      Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten.
      Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,
      Und dennoch mußt du wieder in das Feuer -- --
      Und wieder -- -- immer wieder, bis der Schmied
      Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual
      Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
      Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.
      Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.
      Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg
      Was noch -- -- --"

                  "Halt ein!  Es ist genug!"
      "Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,
      Der schraubt sich tief -- -- --"
                   "Sei still!  Um Gottes willen!"
                    u. s. w.   u. s. w.

    So also sieht es in Märdistan aus, und so also
geht es im Innern der "Geisterschmiede von Kulub" zu!
Jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt die Sage,
daß die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren
werden sollen, vom Himmel herniederkommen.  Engel
und Teufel warten auf sie.  Die Seele, welche das Glück
hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan
geboren, und alle ihre Wege sind geebnet.  Die arme
Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, wird
von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes
Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die
ihr von oben mitgegeben wurde.  Der Teufel will, sie
soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei
Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten
einen möglichst verkommenen, verlorenen Menschen zu
machen.  Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts;
der Arme ist dem Untergange geweiht.  Und selbst wenn
es ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde
er doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede
geschleppt, um so lange gefoltert und gequält
zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu
widerstreben.

    Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen
nach Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so
groß und so unerschöpflich, daß sie selbst die stärkste Pein
der Geisterschmiede erträgt und dem Schmiede und seinen
Gesellen "aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
ruhig dankbar froh entgegenlächelt".  Einer solchen
Himmelstochter kann selbst dieser größte Schmerz nichts
anhaben, sie ist gefeit; sie ist gerettet.  Sie wird nicht
vom Feuer vernichtet, sondern geläutert und gestählt.  Und
sind alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der
Schmied von ihr zu lassen, denn es ist nichts mehr an
ihr, was nach Ardistan gehört.  Darum kann weder
Mensch noch Teufel sie mehr hindern, unter dem Zorngeschrei
des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan emporzusteigen,
wo jeder Mensch der Engel seines Nächsten
ist.  -- -- --

                         _________


                            II.
                      Meine Kindheit.

                           _____

Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein
Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers.  Mein
Vater war ein armer Weber.  Meine Großväter waren
beide tödlich verunglückt.  Der Vater meiner Mutter
daheim, der Vater meines Vaters aber im Walde.  Er war
zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot
zu holen.  Die Nacht überraschte ihn.  Er kam im tiefen
Schneegestöber vom Wege ab und stürzte in die damals
steile Schlucht des "Krähenholzes", aus der er sich nicht
herausarbeiten konnte.  Seine Spuren wurden verweht.
Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm.  Erst als
der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und
auch die Brote.  Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und
die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine
verhängnisvolle Zeit gewesen.

    Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem
damals sehr ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen
Weberstädtchen Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas größeren
Hohenstein verbunden ist.  Wir waren neun Personen:
mein Vater, meine Mutter, die beiden Großmütter, vier
Schwestern und ich, der einzige Knabe.  Die Mutter
meiner Mutter scheuerte für die Leute und spann Watte.
Es kam vor, daß sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag
verdiente.  Da wurde sie splendid und verteilte zwei
Dreierbrötchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie
äußerst hart und altbacken, oft auch schimmelig waren,
unter uns fünf Kinder.  Sie war eine gute, fleißige,
schweigsame Frau, die niemals klagte.  Sie starb, wie
man sagte, aus Altersschwäche.  Die eigentliche Ursache
ihres Todes aber war wohl das, was man gegenwärtig
diskret als "Unterernährung" zu bezeichnen pflegt.  Ueber
meine andere Großmutter, die Mutter meines Vaters,
habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht hier an dieser
Stelle.  Meine Mutter war eine Märtyrerin, eine Heilige,
immer still, unendlich fleißig, trotz unserer eigenen Armut
stets opferbereit für andere, vielleicht noch ärmere Leute.
Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem
Mund gehört.  Sie war ein Segen für jeden, mit dem
sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre
Kinder.  Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch
erfuhr davon.  Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln
emsig rührend, beim kleinen, qualmenden Oellämpchen
saß und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß
ihr eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als
sie gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange
lief.  Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die
Leidesspur sofort verwischt.

    Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen.  Die
eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll
Uebermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen.  Er
besaß hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt
geblieben waren, der großen Armut wegen.  Er hatte
nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleiße fließend
lesen und sehr gut schreiben gelernt.  Er besaß zu allem,
was nötig war, ein angeborenes Geschick.  Was seine
Augen sahen, das machten seine Hände nach.  Obgleich
nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose
selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen.
Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig
brachte, das hatte Schick und war gar nicht so übel.
Als ich eine Geige haben mußte und er kein Geld auch
zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen.  Dem
fehlte es zwar ein wenig an schöner Schweifung und
Eleganz, aber er genügte vollständig, seine Bestimmung zu
erfüllen.  Vater war gern fleißig, doch befand sich sein
Fleiß stets in Eile.  Wozu ein anderer Weber vierzehn
Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die übrigen
vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren.
Während dieser zehn angestrengten Stunden war nicht
mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand
durfte sich regen.  Da waren wir in steter Angst, ihn zu
erzürnen.  Dann wehe uns!  Am Webstuhl hing ein
dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen
hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte
"birkene Hans", vor dem wir Kinder uns besonders
scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung
im großen "Ofentopfe" einzuweichen, um ihn elastischer
und also eindringlicher zu machen.  Uebrigens, wenn die
zehn Stunden vorüber waren, so hatten wir nichts mehr
zu befürchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere
Seele lächelte uns an.  Er konnte dann geradezu
herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten
und friedlichsten Augenblicken das Gefühl, daß wir auf
vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment
einen Ausbruch erwarten konnten.  Dann bekam man
den Strick oder den "Hans" so lange, bis Vater nicht
mehr konnte.  Unsere älteste Schwester, ein hochbegabtes,
liebes, heiteres, fleißiges Mädchen, wurde sogar noch als
Braut mit Ohrfeigen gezüchtigt, weil sie von einem
Spaziergange mit ihrem Bräutigam etwas später nach Hause
kam, als ihr erlaubt worden war.

    Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine
ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten.  Ich schreibe
dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa
um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu
verteidigen, sondern ich bin der Meinung, daß durch die
Art und Weise, in der man mich umstürmt, jede Antwort
und jede Verteidigung ausgeschlossen wird.  Ich
schreibe dieses Buch auch nicht für meine Freunde, denn
die kennen, verstehen und begreifen mich, so daß ich nicht
erst nötig habe, ihnen Aufklärung über mich zu geben.
Ich schreibe es vielmehr nur  u m   m e i n e r   s e l b st   w i l l e n,
um über mich klar zu werden und mir über das, was
ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft
abzulegen.  Ich schreibe also, um zu beichten.  Aber
ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch
gar nicht einfällt, mir ihre Sünden einzugestehen, sondern
ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was
diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich
maßgebend sein.  Es sind für mich also nicht gewöhnliche,
sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden
Bogen schreibe.  Ich spreche hier nicht nur für
dieses, sondern auch für jenes Leben, an das ich glaube
und nach dem ich mich sehne.  Indem ich hier beichte,
verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich
einst nach dem Tode existieren werde.  Da kann es mir
wahrlich, wahrlich gleichgültig sein, was man in diesem
oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt.  Ich
lege es in ganz andere, in die richtigen Hände, nämlich
in die Hände des Geschickes, der Alles wissenden
Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern
nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt.  Da läßt sich
nichts verschweigen und nichts beschönigen.  Da muß man
Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und
wie es ist, erscheine es auch noch so pietätlos und tue
es auch noch so weh.  Man hat den Ausdruck "Karl
May-Problem" erfunden.  Wohlan, ich nehme ihn an
und lasse ihn gelten.  Dieses Problem wird mir keiner
von allen denen lösen, welche meine Bücher nicht gelesen
oder nicht begriffen haben und trotzdem über sie urteilen.
Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem,
aus dem großen, alles umfassenden Plural in den Singular,
in die einzelne Individualität transponiert.  Und
genauso, wie dieses Menschheitsproblem zu lösen ist, ist
auch das Karl May-Problem zu lösen, anders nicht!
Wer sich unfähig zeigt, das Karl May-Rätsel in
befriedigender, humaner Weise zu lösen, der mag um Gottes
Willen die schwachen Hände und die unzureichenden Gedanken
davon lassen, über sich selbst hinaus zu greifen und
sich mit schwierigen Menschheitsfragen zu befassen!  Der
Schlüssel zu all diesen Rätseln ist längst vorhanden.  Die
christliche Kirche nennt ihn "Erbsünde".  Die Vorväter
und Vormütter kennen, heißt, die Kinder und Enkel
begreifen, und nur der Humanität, der wahren
edelmenschlichen Gesinnung ist es gegeben, in Betracht der
Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die
Nachkommen wahr und ehrlich sein zu können.  Den
Einfluß der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das
Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links
eine Erlösung für beide Teile, und so habe auch ich die
meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit
waren, mag man dies für unkindlich halten oder nicht.
Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen
meine Mitmenschen wahr zu sein.  Vielleicht kann mancher
aus unserem Beispiele lernen, in seinem Falle das Richtige
zu tun.  -- --

    Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten
Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene
Geldbeutel dazu.  Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter
Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein
dritter lauter Groschen.  In einem vierten steckte ein
ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im fünften und
letzten fanden sich zehn alte Schafhäuselsechser, zehn
Achtgroschenstücke, fünf Gulden und vier Taler vor.  Das
war ja ein Vermögen!  Das erschien der Armut fast
wie eine Million!  Freilich war das Haus nur drei
schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafür
aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben
unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern
Häusern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt.
Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das
Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und
die Haustür gab.  Dahinter lag ein Raum mit einer
alten Wäscherolle, die für zwei Pfennige pro Stunde an
andere Leute vermietet wurde.  Es gab glückliche Sonnabende,
an denen diese Rolle zehn, zwölf, ja sogar vierzehn
Pfennige einbrachte.  Das förderte die Wohlhabenheit
ganz bedeutend.  Im ersten Stock wohnten die Eltern
mit uns.  Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad.
Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von
Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die eigentlich
im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen,
uns zu besuchen.  Es gab auch einen Keller, doch war
er immer leer.  Einmal standen einige Säcke Kartoffeln
darin, die gehörten aber nicht uns, sondern einem
Nachbar, der keinen Keller hatte.  Großmutter meinte, daß
es viel besser wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln
uns gehörten.  Der Hof war grad so groß, daß wir fünf
Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoßen.
Hieran grenzte der Garten, in dem es einen
Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen
Wassertümpel gab, den wir als "Teich" bezeichneten.  Der
Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir
uns erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn
wenn das Eine sich erkältete, fingen auch alle Andern
an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen.  Der
Apfelbaum blühte immer sehr schön und sehr reichlich; da wir
aber nur zu wohl wußten, daß die Aepfel gleich nach
der Blüte am besten schmecken, so war er meist schon
Anfang Juni abgeerntet.  Die Pflaumen aber waren
uns heilig.  Großmutter aß sie gar zu gern.  Sie wurden
täglich gezählt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu
vergreifen.  Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr
davon, als uns eigentlich zustand.  Was den "Teich"
betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht
mit Fischen, sondern mit Fröschen.  Die kannten wir alle
einzeln, sogar an der Stimme.  Es waren immer so
zwischen zehn und fünfzehn.  Wir fütterten sie mit
Regenwürmern, Fliegen, Käfern und allerlei andern guten
Dingen, die wir aus gastronomischen oder ästhetischen
Gründen nicht selbst genießen konnten, und sie waren uns
auch herzlich dankbar dafür.  Sie kannten uns.  Sie
kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen näherten.
Einige ließen sich sogar ergreifen und streicheln.  Der
eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir
am Einschlafen waren.  Keine Sennerin kann sich mehr
über ihre Zither freuen als wir über unsere Frösche.
Wir wußten ganz genau, welcher es war, der sich hören
leß [sic], ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie
gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so
sprangen wir aus den Federn und öffneten die Fenster,
um mitzuquaken, bis Mutter oder Großmutter kam und
uns dahin zurückbrachte, wohin wir jetzt gehörten.  Leider
aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Städtchen,
um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen.
Der hatte überall etwas auszusetzen.  Dieser
ebenso sonderbare wie gefühllose Mann schlug, als er
unsern Garten und unsern schönen Tümpel sah, die Hände
über dem Kopf zusammen und erklärte, daß dieser Pest-
und Cholerapfuhl sofort verschwinden müsse.  Am nächsten
Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn
Stadtrichters Layritz des Inhaltes, daß binnen jetzt und
drei Tagen der Tümpel auszufüllen und die Froschkolonie
zu töten sei, bei fünfzehn "Guten Groschen" Strafe.
Wir Kinder waren empört.  Unsere Frösche umbringen!
Ja, wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen
wäre, dann herzlich, herzlich gern!  Wir hielten Rat und
was wir beschlossen, wurde ausgeführt.  Der Tümpel
wurde so weit ausgeschöpft, daß wir die Frösche fassen
konnten.  Sie wurden in den großen Deckelkorb getan
und dann hinaus hinter das Schießhaus nach dem großen
Zechenteich getragen, Großmutter voran, wir hinterher.
Dort wurde jeder einzeln herausgenommen, geliebkost,
gestreichelt und in das Wasser gelassen.  Wieviel Seufzer
dabei laut geworden, wieviel Tränen dabei geflossen und
wieviel vernichtende Urteile dabei gegen den sogenannten
Bezirksarzt gefällt worden sind, das ist jetzt, nach über
sechzig Jahren, wohl kaum mehr festzustellen.  Doch weiß
ich noch ganz bestimmt, daß Großmutter, um dem ungeheuern
Schmerz ein Ende zu machen, uns die Versicherung
gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn
Jahren ein dreimal größeres Haus mit einem fünfmal
größeren Garten erben, in dem es einen zehnmal größeren
Teich mit zwanzigmal größeren Fröschen gebe.  Das
brachte in unserer Stimmung eine ebenso plötzliche wie
angenehme Aenderung hervor.  Wir wanderten mit der
Großmutter und dem leeren Deckelkorb vergnügt nach
Hause.

    Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind
war und schon laufen konnte.  Ich war weder blind
geboren noch mit irgendeinem vererbten körperlichen Fehler
behaftet.  Vater und Mutter waren durchaus kräftige,
gesunde Naturen.  Sie sind bis zu ihrem Tode niemals
krank gewesen.  Mich atavistischer Schwachheiten zu
zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir unbedingt
verbitten muß.  Daß ich kurz nach der Geburt sehr schwer
erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre
siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der
rein örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes
und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer
fiel.  Sobald ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam,
kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein
höchst kräftiger und widerstandsfähiger Junge, der stark
genug war, es mit jedem andern aufzunehmen.  Doch
ehe ich über mich selbst berichte, habe ich noch für einige
Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste
Kindheit verlebte.

    Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm
stehenden Schulden geerbt.  Die waren zu verzinsen.
Hieraus ergab sich, daß wir eben nur mietfrei wohnten,
und auch das nicht einmal ganz.  Mutter war sparsam,
Vater in seiner Weise auch.  Aber wie er in allem maßlos
war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem Fleiße,
seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der Beurteilung
der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein
konnte, weiter zu sparen und das Häuschen von Schulden
frei zu machen.  Aber wenn er auch nicht geradezu
glaubte, plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch
an, jetzt zu einer andern Lebensführung übergehen zu
dürfen.  Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben
lang hinter dem Webstuhl abzurackern.  Er hatte ja nun
ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld.  Er konnte zu
etwas anderem, besserem greifen, was bequemer war und
mehr lohnte als die Weberei.  Während er, nicht schlafen
könnend, im Bette lag und darüber nachdachte, was zu
ergreifen sei, hörte er die Ratten über sich im leeren
Taubenschlag rumoren.  Dieses Rumoren wiederholte
sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem
Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluß,
die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen.  Er
wollte Taubenhändler werden, obgleich er von diesem
Fache nicht das geringste verstand.  Er hatte gehört,
daß da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der
Meinung, daß er auch ohne die nötigen Sonderkenntnisse
genug Intelligenz besitze, jeden Händler zu überlisten.
Die Ratten wurden vertrieben und Tauben angeschafft.

    Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten
zu bewerkstelligen.  Mutter mußte einen ihrer Beutel
opfern, vielleicht gar zwei.  Sie tat es nur mit Widerstreben.
Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen,
welches wir Kinder an ihnen fanden.  Am
meisten Vergnügen machte es uns, wenn wir beobachteten,
wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider veränderten.
Vater hatte zwei Paar sehr teure "Blaustriche" gekauft.
Er brachte sie heim und zeigte sie uns.  Er hoffte,
wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen.  Einige
Tage später lagen die blauen Federn am Boden: sie
waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen.  Die
kostbaren "Blaustriche" entpuppten sich als ganz wertlose
Feldweißlinge.  Vater erwarb einen sehr schönen, jungen,
grauen Trommeltäuberich für einen Taler fünfzehn gute
Groschen.  Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, daß der
Täuberich altersblind war.  Er ging nicht aus dem
Schlage; sein Wert war gleich Null.  Solche und
ähnliche Fälle mehrten sich.  Die Folge davon war, daß
Mutter noch einen dritten Beutel opfern mußte, um den
Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen.  Freilich
gab sich auch Vater große Mühe.  Er feierte nicht.  Er
besuchte alle Markte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften,
um zu kaufen oder Käufer zu finden.  Bald kaufte er
Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er "halb geschenkt"
erhalten hatte.  Er war immer unterwegs, von einem
Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern.  Er
brachte immerfort Käse, Eier und Butter heim, die wir
gar nicht brauchten.  Er hatte sie teuer gekauft, um sich
die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde
sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los.  Dieses
unstäte [sic], unnützliche Leben förderte nicht, sondern fraß das
Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die übrigen
Leinenbeutel.  Mutter gab gute Worte, vergeblich.  Sie
härmte sich und hielt still, bis es Sünde gewesen wäre,
weiter zu tragen.  Da faßte sie einen Entschluß und ging
zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Falle
viel, viel vernünftiger als damals gegen unsere Frösche
zeigte.  Sie stellte ihm ihre Lage vor.  Sie sagte ihm,
daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor
allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten
müsse.  Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher
erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne
noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe.  Der Herr
Stadtrichter solle doch die Güte haben, ihr zu
sagen, wie sie dieses Geld anlegen könne, um sich und
ihre Kinder zu sichern.  Sie legte ihm den Beutel vor.
Er öffnete ihn und zählte.  Es waren sechzig harte,
blanke, wohlgeputzte Taler.  Darob großes Erstaunen!
Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte
er: "Meine liebe Frau May, ich kenne Sie.  Sie sind
eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein.  Unsere
Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere.  Sie gehen
nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme.
Ich werde das besorgen!  Kommen Sie mit der ersten
Zensur zurück, so stellen wir Sie sofort an.  Darauf gebe ich
Ihnen mein Wort.  Kommen Sie aber mit einer niedrigeren
Zensur, so können wir Sie nicht brauchen.  Jetzt aber
gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort
einmal zu mir kommen; ich hätte mit ihm zu reden!"

    Das geschah.  Mutter ging nach Dresden.  Sie
kam mit der ersten Zensur zurück, und der Herr
Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt.
Während ihrer Abwesenheit führte Vater mit Großmutter
das Haus.  Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit
für uns alle.  Die Blattern brachen aus.  Wir
Kinder lagen alle krank.  Großmutter tat fast über
Menschenkraft.  Vater aber auch.  Bei einer der
Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen
unförmigen Klumpen verwandelt.  Stirn, Ohren, Augen,
Nase, Mund und Kinn waren vollständig verschwunden.
Der Arzt mußte durch Messerschnitte nach den Lippen
suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflößen
zu können.  Sie lebt heute noch, ist die heiterste
von uns allen und niemals wieder krank gewesen.  Man
sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten
hat, als er nach dem Mund suchte.

    Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam,
noch nicht ganz vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt
in Dresden großes Glück.  Sie hatte sich durch
ihren Fleiß und ihr stilles, tiefernstes Wesen das
Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase
erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten
und seelisch doch so regsamen Knaben erzählt.  Sie war
aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um
von den beiden Herren behandelt zu werden.  Das geschah
nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolge.
Ich lernte sehen und kehrte, auch im übrigen
gesundend, heim.  Aber das Alles hatte große, große
Opfer gefordert, freilich nur für unsere armen
Verhältnisse groß.  Wir mußten um all der nötigen Ausgaben
willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von
dem Kaufpreise unser war, reichte kaum zu, das Nötigste
zu decken.  Wir zogen zur Miete.  -- --

    Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung
den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung
ausgeübt hat.  Während die Mutter unserer Mutter in
Hohenstein geboren war und darum von uns die "Hohensteiner
Großmutter" genannt wurde, stammte die Mutter
meines Vaters aus Ernsttal und mußte sich darum als
"Ernsttaler Großmutter" bezeichnen lassen.  Diese Letztere
war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast
möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen.  Sie war mir
von Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel,
aus dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals
ausschöpfen zu können.  Woher hatte sie das Alles?
Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die
heutige Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat.  Sie
war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide
aufgewachsen; darum sah sie Alles mit hoffenden, sich
nach Erlösung sehnenden Augen an.  Und wer in der
richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der
hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich
nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen.  Sie
war die Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter
früh verloren und einen Vater zu ernähren, der weder
stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele
Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt
und gebunden war.  Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu
Tränen rührender Aufopferung.  Die Armut erlaubte
ihr nur das billigste Wohnen.  Das Fenster ihrer Stube
zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts.  Sie kannte
alle Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater
nur den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer
im Sarge nach dem Kirchhofe hinüber.  Sie hatte einen
Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber
sie verzichtete.  Sie wollte nur ganz allein dem Vater
gehören, und der brave Bursche gab ihr Recht.  Er sagte
nichts, aber er wartete und blieb ihr treu.

    Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste
mit noch älteren Büchern.  Das waren in Leder gebundene
Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich
als auch weltlich.  Es ging die Sage, daß es in der
Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte
und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese
Bücher noch heut erinnerten.  Vater und Tochter konnten
lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt.  Des Abends,
nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifröckchen *)
_______
    *) Kleines Oellämpchen.

angebrannt, und eines von Beiden las vor.  In den
Pausen wurde das Gelesene besprochen.  Man hatte die
Bücher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer
wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken
fanden, die besser, schöner und auch richtiger zu sein
schienen als die früheren.  Am meisten gelesen wurde
ein ziemlich großer und schon sehr abgegriffener Band,
dessen Titel lautete:

                       Der Hakawati

                            d.i.

der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia,
Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung,
explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung
und Figürlich seyn

                            von
                  Christianus Kretzschmann
                   der aus Germania war.
              Gedruckt von Wilhelmus Candidus
                     A. D:  M. D. C. V.

                             *
                        *         *

    Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller
orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern
Märchensammlung befanden.  Großmutter kannte diese
Märchen alle.  Sie erzählte sie gewöhnlich wörtlich
gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in denen sie es für
nötig hielt, gab sie Aenderungen und Anwendungen,
aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist dessen, was
sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken ließ.
Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen von Sitara;
es wurde später auch das meinige, weil es die Geographie
und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein
ethisch behandelt.  Doch dies hier nur, um anzudeuten.

    Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen.
Die Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter
dem Tode nahe kam, doch überstand sie es.  Nach
verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und
führte sie heim.  Nun endlich, endlich wirklich glücklich!
Es war eine Ehe, wie Gott sie will.  Zwei Kinder
wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester,
welche später einen schweren Fall tat und an den Folgen
desselben verkrüppelte.  Man sieht, daß es an
Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei uns nicht
fehlte.  Und ebenso sieht man, daß ich nichts verschweige.
Es darf nicht meine Absicht sein, das Häßliche schön zu
malen.  Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes
trat jenes unglückliche Weihnachtsereignis ein, welches
ich bereits erzählte.  Der brave junge Mann stürzte des
Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und
erfror.  Großmutter hatte mit ihren beiden Kindern an
den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach
langer Zeit der Qual, daß und in welch schrecklicher
Weise sie den geliebten Mann verloren hatte.  Hierauf
kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der
napoleonischen Kriege und der Hungersnot.  Es war Alles
verwüstet.  Es gab nirgends Arbeit.  Die Teuerung wuchs;
der Hunger wütete.  Ein armer Handwerksbursche kam,
um zu betteln.  Großmutter konnte ihm nichts geben.
Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen
Bissen Brot.  Er sah ihr stilles Weinen.  Das erbarmte
ihn.  Er ging fort und kam nach über einer Stunde
wieder.  Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen
hatte, Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe,
einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Düte [sic] Mehl,
eine Düte [sic] Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges
Eckchen Hammeltalg.  Dann ging er schnell fort, um sich
ihrem Dank zu entziehen.  Sie hat ihn nie wieder gesehen;
Einer aber kennt ihn gewiß und wird es ihm nicht
vergessen.  Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere
Hilfe.  Einem abseits wohnenden Oberförster, den man
als ebenso wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die
Frau gestorben.  Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl
Kinder hinterlassen.  Er wünschte Großmutter zur Führung
seiner Wirtschaft zu haben.  Sie hätte in dieser
Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erklärte aber, sich
von ihren eigenen Kindern unmöglich trennen zu können,
selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, hätte.  Der
brave Mann besann sich nicht lange.  Er erklärte ihr,
es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm äßen;
sie würden alle satt.  Sie solle nur kommen, doch nicht
ohne sie, sondern mit ihnen.  Das war Rettung in der
höchsten Not!

    Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause
tat der Mutter und den Kindern wohl.  Sie gesundeten
und erstarkten in der besseren Ernährung.  Der Oberförster
sah, wie Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein
und seine Zufriedenheit zu erringen.  Sie arbeitete fast
über ihre Kraft, fühlte sich aber wohl dabei.  Er
beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, daß
er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gewährte,
was die seinen bekamen.  Freilich war er Aristokrat und
eigentlich stolz.  Er aß mit seiner Schwiegermutter allein.
Großmutter war nur Dienstbote, doch aß sie nicht in der
Gesinde- sondern mit in der Kinderstube.  Als er aber
nach längerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges
Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer
Beziehung an.  Er erleichterte ihr die große Arbeitslast,
erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends
aus ihren Büchern vorzulesen, und gestattete ihr, dann
auch in seine eigenen Bücher zu schauen.  Wie gern sie
das tat!  Und er hatte so gute, so nützliche Bücher!

    Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit
gewährt.  Sie tollten im Walde herum und holten sich
kräftige Glieder und rote Wangen.  Der kleine May
war der jüngste und kleinste von allen, aber er tat wacker
mit.  Und er paßte auf; er lernte und merkte.  Er wollte
Alles wissen.  Er frug nach jedem Gegenstand, den er
noch nicht kannte.  Bald wußte er die Namen aller Pflanzen,
aller Raupen und Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge,
die es in seinem Bereiche gab.  Er trachtete, ihren
Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennen
zu lernen.  Diese Wißbegierde erwarb ihm die besondere
Zuneigung des Oberförsters, der sich sogar herbeiließ,
den Jungen mit sich gehen zu lassen.  Ich muß das
erwähnen, um Späteres erklärlich zu machen.  Der nachherige
Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen
Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte
auf den Knaben doch nicht glücklich wirken.

    In dieser Zeit war es, daß Großmutter während
des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu
Boden sank.  Das ganze Haus geriet in Aufregung.  Der
Arzt wurde geholt.  Er konstatierte Herzschlag;
Großmutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben.  Aber
sie lebte.  Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal
die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider.
Sie sah und hörte alles, das Weinen, das Jammern
um sie.  Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen
wurde.  Sie sah und hörte den Tischler, welcher kam,
um ihr den Sarg anzumessen.  Als er fertig war, wurde
sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt.  Am
Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf.  Die
Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit
der Kurrende.  Die Familie begann, Abschied von der
Scheintoten zu nehmen.  Man denke sich deren Qual!
Drei Tage und drei Nächte lang hatte sie sich alle mögliche
Mühe gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen,
daß sie noch lebe -- -- vergeblich!  Jetzt kam der letzte
Augenblick, an dem noch Rettung möglich war.  Hatte
man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung
mehr.  Sie erzählte später, daß sie sich in ihrer
fürchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Mühe
gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln,
als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten
Male zu ergreifen.  So tat auch das jüngste Mädchen
des Oberförsters, welches besonders sehr an Großmutter
gehangen hatte.  Da schrie das Kind erschrocken aus:
"Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!"
Und richtig, man sah, daß die scheinbar Verstorbene
ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd
öffnete und schloß.  Von einem Begräbnisse konnte nun
selbstverständlich nicht mehr die Rede sein.  Es wurden
andere Aerzte geholt; Großmutter war gerettet.  Aber
von da an war ihre Lebensführung noch ernster und
erhobener als vorher.  Sie sprach nur selten von dem, was
sie in jenen unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle
zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte.
Es muß schrecklich gewesen sein.  Aber auch hierdurch ist
ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen
zu ihm nur noch tiefer geworden.  Wie sie nur scheintot
gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten
wirklichen Tod nur für Schein und suchte jahrelang
nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und
zu beweisen.  Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich
es zu verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben
glaube, nicht aber an den Tod.

    Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz
überwunden, als Großmutter infolge der Versetzung und
Wiederverheiratung des Oberförsters mit ihren beiden
Kindern in ihre früheren Verhältnisse zurückgestoßen wurde.
Sie kehrte nach Ernsttal zurück und hatte nun wieder
jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte.  Ein
braver Mann, der Vogel hieß und auch Weber war,
hielt um ihre Hand an.  Jedermann redete ihr zu, sie
müsse ihren Kindern doch einen Vater geben; das sei sie
ihnen schuldig.  Sie tat es und hatte es nicht zu bereuen;
war aber leider schon nach kurzer Zeit wieder Witwe.
Er starb und hinterließ ihr alles, was er besessen hatte,
die Armut und den Ruf eines braven, fleißigen Mannes.
Hierauf wurde es still und stiller um sie.  Sie tat ihr
Mädchen zu einer Nähterin und ihren Knaben zu einem
Weber, der ihn von früh bis abends am Spulrad
beschäftigte.  Denn daß der Junge nun weiter nichts als
nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz
von selbst.  Die Lust dazu war ihm freilich während
seines Aufenthaltes im Forsthause vollständig vergangen;
er hatte sich schon ganz anderes gedacht, und es ist
gewiß erklärlich, daß er später, nachdem er in dieses
ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die
Idee kam, sich durch den Taubenhandel wieder daraus
zu befreien.  Doch tat er sowohl als Knabe wie auch als
Jüngling seine Pflicht.  Er war fleißig und wurde ein
tüchtiger Weber, dessen Ware so viel Sauberkeit und
Akkuratesse zeigte, daß jeder Unternehmer ihn gern für
sich arbeiten ließ.  In seinen Freistunden aber strich er
durch Feld und Flur, um zu botanisieren und alle die
Kenntnisse festzuhalten, die er sich bei dem Oberförster
erworben hatte Darum machte es ihm große Freude,
daß sich unter der oben erwähnten Erbschaft unserer
Mutter auch einige alte, hochinteressante Bücher befanden,
deren Inhalt ihm bei diesen seinen Freibeschäftigungen
von großem Nutzen war.  Ich denke da besonders an
einen großen, starken Folioband, der gegen tausend Seiten
zählte und folgenden Titel hatte:

                        Kräutterbuch

Deß hochgelehrten vnnd weltberühmten Herrn Dr. Petri
Andreae Matthioli.  Jetzt widerumb mit vielen schönen
newen Figuren / auch nützlichen Artzeneyen / vnnd andern
guten Stücken / zum dritten Mal auss sondern Fleiß
gemehret vnnd verferdigt /

                           Durch
                   Joachimum Camerarium,
     der löblichen Reichsstatt Nürnberg Medicum, Doct.

Sampt dreien wohlgeordneten nützlichen Registern der
Kräutter lateinische und deutsche Namen / vund dann
die Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt.
Beneben genugsamen Bericht / von den Destillier vund
Brennöfen.

       Mit besonderem Röm. Kais. Majest. Priviligio,
             in keinerley Format nachzudrucken.
               Gedruckt zu Franckfurt am Mayn
                          M. D. C.

                             *
                        *         *

    Es verstand sich ganz von selbst, daß Vater dieses
Buch sofort hernahm und fleißig durchstudierte.  Es
enthielt sogar mehr, als der Titel versprach.  So waren die
Namen der Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch,
böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was
später besonders mir ganz außerordentlich vorwärts half.
Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses köstlichen
Buchs, von Pflanze zu Pflanze.  Er lernte viel, viel
mehr zu dem, was er bereits wußte.  Nicht nur die
Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer
ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer
Heilwirkungen.  Die Vorfahren hatten diese Wirkungen
geprüft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen
versehen, welche sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen
waren.  Dieses Buch wurde mir später eine Quelle der
reinsten, nützlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen,
daß Vater mich dabei vortrefflich unterstützte.

    Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung
biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit
der xylographierenden Kunst.  Ich besitze es, ganz ebenso
wie das Kräuterbuch, noch heut.  Es enthält sehr viele
und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider.  Das
erste ist Moses und das letzte ist das Tier aus dem
elften Kapitel der Offenbarung Johannis.  Das Titelblatt
ist nicht mehr vorhanden.  Darum weiß ich nicht,
wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk
stammt.  Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn sie uns
die biblischen Geschichten erzählte.  Jede dieser
Erzählungen war für uns ein Hochgenuß, und damit komme
ich auf den größten Vorzug, den Großmutter für uns
Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu
erzählen.

    Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie
schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte.  Jeder, auch
der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit
auf ihren Lippen.  Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so
hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß
sie das, was sie erzählte, ganz nur für ihn allein
erzählte.  Und das haftete; das blieb.  Mochte sie aus der
Bibel oder aus ihrer reichen Märchenwelt berichten, stets
ergab sich am Schluß der innige Zusammenhang zwischen
Himmel und Erde, der Sieg des Guten über das Böse
und die Mahnung, daß Alles auf Erden nur ein Gleichnis
sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im
niedrigen sondern nur im höheren Leben liege.  Ich bin
überzeugt, daß sie das nicht bewußt und in klarer
Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern
es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht
bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man
ihn weder kennt noch beobachtet.  Großmutter war eine
arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von
Gottes Gnaden und darum eine Märchenerzählerin, die
aus der Fülle dessen, was sie erzählte, Gestalten schuf,
die nicht nur im Märchen, sondern auch in Wahrheit
lebten.

    In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen
von Sitara, sondern das Märchen "von der verloren
gegangenen und vergessenen Menschenseele" auf.  Sie tat
mir so unendlich leid, diese Seele.  Ich habe mit meinen
blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint.  Für mich
enthielt diese Erzählung die volle Wahrheit.  Aber erst
nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich
mit dem Innern des Menschen eingehend beschäftigt
hatte, erkannte ich, daß die Kenntnis der Menschenseele
in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und daß
alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns
diese Kenntnis zurückzubringen.  Ich habe in meiner
Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und
in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um
nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene
gekommen sei.  Ich wollte und wollte sie finden.  Da nahm
Großmutter mich auf ihren Schoß, küßte mich auf die
Stirn und sagte: "Sei still, mein Junge!  Gräme dich
nicht um sie!  Ich habe sie gefunden.  Sie ist da!"
"Wo?" fragte ich.  "Hier, bei mir", antwortete sie.
"Du bist diese Seele, du!"  "Aber ich bin doch nicht
verloren," warf ich ein.  "Natürlich bist du verloren.  Man
hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan.
Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich
vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen." -- Ich
begriff das damals nicht; ich verstand es erst später,
viel, viel später.  Eigentlich war in dieser meiner frühen
Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als
Seele.  Ich sah nichts.  Es gab für mich weder
Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch
Ortsveränderungen.  Ich konnte die Personen und Gegenstände
wohl fühlen, hören, auch riechen; aber das genügte
nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen.  Ich konnte
sie mir nur denken.  Wie ein Mensch, ein Hund, ein
Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur
innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war
seelisch.  Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen
Körper, sondern seine Seele.  Nicht sein Aeußeres,
sondern sein Inneres trat mir näher.  Es gab für mich
nur Seelen, nichts als Seelen.  Und so ist es geblieben,
auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf
den heutigen Tag.  Das ist der Unterschied zwischen mir
und anderen.  Das ist der Schlüssel zu meinen Büchern.
Das ist die Erklärung zu allem, was man an mir lobt,
und zu allem, was man an mir tadelt.  Nur wer blind
gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine
so tief gegründete und so mächtige Innenwelt besaß, daß
sie selbst dann, als er sehend wurde, für lebenslang seine
ganze Außenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles
hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich
schrieb, und nur der besitzt die Fähigkeit, mich zu
kritisieren, _sonst_keiner!_

    Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den
Eltern, sondern bei Großmutter.  Sie war mein alles.
Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin,
mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte.
Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das
kam von ihr.  So wurde ich ihr ganz selbstverständlich
ähnlich.  Was sie mir erzählte, das erzählte ich ihr wieder
und fügte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet
und teils erschaute.  Ich erzählte es den Geschwistern
und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu
ihnen konnte.  Ich erzählte in Großmutters Tone, mit
ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete.  Das klang
altklug und überzeugte.  Es verlieh mir den Nimbus
eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes.  So
kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich wäre
vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben
worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr
und klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand,
einzuspringen.  Einem blinden Kind wird wenig Arbeit
gegeben.  Es hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als
andere Kinder.  Da kann es leicht klüger erscheinen, als
es ist.  Leider besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit
der Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit
der Mutter.  Er sprach sehr gern und übertrieb,
wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und
was er sagte.  So kam es, daß ich dem Schicksal, dem
ich hier entging, später doch noch verfiel, dem entsetzlichen
Schicksal, totgelobt zu werden.

    Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon
derart entwickelt und in seinen späteren Grundzügen
festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor
meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den Schwerpunkt,
der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen.
Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein um so größeres
Kind, je größer ich wurde, und zwar ein Kind, in dem
die Seele derart die Oberhand besaß und noch heute
besitzt, daß keine Rücksicht auf die Außenwelt und auf
das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas
zu unterlassen, was ich für seelisch richtig befunden habe.
Und so lange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung
gemacht, daß es dem Volke genau ebenso ergeht wie mir.
Es handelt am liebsten nicht aus äußerlichen Gründen,
sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus.
Die größten und schönsten Taten der Nation wurden
aus ihrem Innern heraus geboren.  Und wäre der Geist
eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch,
so wird er es doch niemals fertig bringen der Geschichte eines
Volkes den Stoff zu einem großen, nationalen Drama
aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war.
Und gründen wir hunderte von Jugendschriftenvereinen, von
Jugendschriftenkommissionen und tausende von Jugend-,
Schüler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil
von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir
Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in unserm Pedantismus
und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den
Seelen derer, denen wir sie aufzwingen.  Ich habe diese
Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit.
Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch
heut.  Darum weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend
keine Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es
eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist.  Der
Leser will Wahrheit, will Natur.  Er haßt die sittlichen
Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie
stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur
das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität
angezogen wird.  Die Aufgabe des Jugendschriftstellers
besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen,
die in jeder Lage so überaus köstlich einwandfrei handeln,
daß man sie unbedingt überdrüssig wird, sondern seine
größte Kunst besteht darin, daß er von seinen Figuren
getrost die Fehler und Dummheiten machen läßt, vor
denen er die jugendlichen Leser bewahren will.  Es ist
tausendmal besser, er läßt seine Romanfiguren zugrunde
gehen, als daß der ergrimmte Knabe hingeht, um das
Böse, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach
geschehen mußte, nun seinerseits aus dem Buche in das
Leben zu übertragen.  Hier liegt die Achse, um die sich
unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat.
Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie
stoßen ab.  Man zeige Negatives, aber lebenswahr und
packend, so wird man Positives erreichen.

    Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten
wir am Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand.
Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder.
Gegen Abend versammelten sich die älteren Schulknaben
unter dem Kirchentore zum Geschichtenerzählen.
Das war eine höchst exklusive Gesellschaft.  Es durfte
nicht jeder hin.  Kam einer, den man nicht wollte, so
machte man keinen "Summs"; der wurde fortgeprügelt und
kehrte gewiß nicht wieder.  Ich aber kam nicht, und ich
bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst
fünf Jahre alt war, die Andern aber dreizehn und
vierzehn Jahre.  Welch eine Ehre!  So etwas war noch
niemals dagewesen!  Das hatte ich der Großmutter und
ihren Erzählungen zu verdanken!  Zunächst verhielt ich
mich still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen
kannte, die hier im Schwange waren.  Man nahm mir
das nicht übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen
gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde
von Allen geschont.  Dann aber, als das vorüber war,
wurde ich herangezogen.  Alle Tage ein anderes Märchen,
eine andere Geschichte, eine andere Erzählung.  Das war
viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar
mit Vergnügen.  Großmutter arbeitete mit.  Was ich
in der Dämmerstunde zu erzählen hatte, das arbeiteten
wir am frühen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe
aßen, durch.  Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor
kam, wohlvorbereitet.  Unser schönes Buch "Der Hakawati"
gab Stoff für lange Zeit.  Hierzu kam, daß dieser Stoff
sich mit der Zeit ganz außerordentlich vermehrte, doch
freilich nicht im Buche, sondern in mir.  Das war die
sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, daß ich
nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch
den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare
Welt der Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen
hatte.  Dadurch entstanden unzählige Variationen
und Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, daß ich sie
erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte.

    Inzwischen hatte Vater es erreicht, daß ich in die
Schule gehen durfte.  Das durfte man erst vom sechsten
Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme
sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch
als Lokalschulinspektor sehr gern erfüllte, und mit dem
Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater wöchentlich
zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen,
und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von
dieser Seite zu erlangen.  Ich lernte sehr schnell lesen
und schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei,
und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit
gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen.
Es sollte sich nämlich an mir erfüllen, was sich an ihm
nicht erfüllt hatte.  Er hatte im Forsthause einen Blick
in bessere und menschlichere Verhältnisse tun dürfen.  Und
er mußte immer daran denken, daß es unter unsern
Vorfahren bedeutende Männer gegeben hatte, von denen wir,
ihre Nachkommen, sagen mußten, daß wir ihrer nicht
würdig seien.  Er hatte das werden gewollt, war aber
von den Verhältnissen gewaltsam niedergehalten worden.
Das kränkte und das ärgerte ihn.  Für sich hatte er mit
diesen Verhältnissen abgeschlossen.  Er mußte bleiben,
was er war, ein armer, ungebildeter Professionist.  Aber
er übertrug seine Wünsche und Hoffnungen und alles
Andere nun auf mich.  Und er nahm sich vor, alles
Mögliche zu tun und nichts zu versäumen, aus mir den
Mann zu machen, welcher zu werden ihm versagt
gewesen war.  Das kann man gewiß nur löblich von ihm
nennen.  Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche
Weise er meiner Erziehung gab.  Er wollte, was für
mich gut und glücklich war.  Das konnte er nur mit
guten und glücklichen Mitteln erreichen.  Leider aber muß
ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, daß meine
"Kindheit" jetzt, mit dem fünften Jahre, zu Ende war.
Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum
Sehen öffnete.  Was diese armen Augen von da an bis
heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit,
Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual
am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende
peinigt.  -- -- --

                         _________


                            III
                       Keine Jugend.

                           _____

Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit!  Wie oft habe
ich dich gesehen, wie oft mich über dich gefreut!  Bei
Andern, immer nur bei Andern!  Bei mir warst du nicht.
Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen.
Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum
Neid habe ich überhaupt keinen Platz in mir; aber wehe
hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem
Leben Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten,
kalten Schattenwinkel.  Und ich hatte doch auch ein Herz,
und ich sehnte mich doch auch nach Licht und Wärme.
Aber Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und
wenn dieser Aermste nur will, so kann er reicher als der
Reiche sein.  Er braucht nur in sich selbst zu suchen.
Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und
kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts
bekommt.  Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm
und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der
immer nur Empfangende!

    Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem
man sich über mich befindet, gleich von vornherein
aufzuklären.  Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar
für einen Millionär; das bin ich aber nicht.  Ich hatte
bisher nur mein "gutes Auskommen," weiter nichts.
Selbst hiermit wird es höchst wahrscheinlich zu Ende sein,
denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen
endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will.
Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, daß ich
genau so sterben werde, wie ich geboren bin, nämlich
als ein armer, nichts besitzender Mensch.  Das tut
aber nichts.  Das ist rein äußerlich.  Das kann an
meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts
ändern.

    Die Lüge, daß ich Millionär sei, daß mein Einkommen
180 000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten,
sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer
Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt,
diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des
Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen.  Er wußte
sehr wohl, was er tat, als er seine Lüge in die Zeitungen
lanzierte.  Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und
allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid.  Die früheren
Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert.  Aber
seit man mich im Besitz von Millionen wähnt, geht man
geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor.
Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner
Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle.  Es
berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen
Falle als litararische [sic] Kavaliere erweisen, auf diesem
ordinären Gaul herumreiten zu sehen!  Ich besitze ein
schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines
Kapital als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter
nichts.  Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig.
Das reicht grad aus für meinen bescheidenen Haushalt
und für die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen
Prozessen zu bringen habe.  Früher konnte ich meinem
Herzen Genüge tun und gegen arme Menschen, besonders
gegen arme Leser meiner Bücher, mildtätig sein.  Das
hat nun aufgehört.  Zwar werde ich infolge jener
raffinierten Millionenlüge jetzt mehr als je mit Zuschriften
gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich
kann leider nicht mehr helfen, und fast ein Jeder, den ich
abweisen muß, fühlt sich enttäuscht und wird zum Feinde.
Ich konstatiere, daß jene Gewissenlosigkeit, mich als einen
steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr
geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen
Feindseligkeiten zusammengenommen.

    Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt,
nun wieder zurück zur "Jugend" dieses angeblichen
"Millionärs", der nach ganz anderen Schätzen strebt als alle
die, welche ihn auszubeuten trachten.

    Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die
armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat
liegt.  Dem gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich,
sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange
der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte.
Arbeitslosigkeit, Mißwuchs, Teuerung und Revolution,
diese vier Worte erklären Alles.  Es mangelte uns an
fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft
gehört.  Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt
"Zur Stadt Glauchau", des Mittags die Kartoffelschalen
aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch
daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden.  Wir
gingen nach der "roten Mühle" und ließen uns einige
Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um
irgend etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen.
Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den
Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich,
um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen.
Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an.  Das ergab
beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die
auf dem Wasser schwammen.  Wie nahrhaft und wie
delikat uns das erschien!  Glücklicherweise gab es unter
den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch
einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz
zum Stillstehen kam.  Sie webten Handschuhe, so
außerordentlich billige weiße Handschuhe, die man den Leichen
anzieht, ehe sie begraben werden.  Es gelang Mutter,
solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen.  Da
saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh
bis abends spät und stichelten darauf los.  Mutter nähte
die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen
mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die
Mittelfinger.  Wenn wir recht sehr fleißig waren, hatten
wir alle zusammen am Schluß der Woche elf oder sogar
auch zwölf Neugroschen verdient.  Welch ein Kapital!
Dafür gab es für fünf Pfennig Runkelrübensyrup, auf
fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft
zerkleinert und verteilt.  Das war zugleich Belohnung
für die verflossene und Anregung für die kommende
Woche.

    Während wir in dieser Weise fleißig daheim arbeiteten,
hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu tun; leider
aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend.  Es
galt nämlich, den König Friedrich August und die ganze
sächsische Regierung vor dem Untergange zu retten.
Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der
König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande
gejagt werden.  Das wollte man fast in ganz Sachsen;
aber in Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon
zurück, und zwar aus den vortrefflichsten Gründen;
es war nämlich zu gefährlich!  Die lautesten Schreier hatten
sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt.  Da
kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein.  Sie
fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer
und Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen wollten
von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten sich
mit aller Gewalt dagegen.  Sie kamen zusammen; sie
gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen
die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten;
sie drohten; sie baten.  Ruhige, vernünftige Männer gesellten
sich zu ihnen.  Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt
hielt Friedensreden.  Der Herr Stadtrichter Layritz auch.
Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und
warnte vor den schrecklichen Folgen der Empörung; der
Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei.  Am großen
Kirchentor erzählten sich die Jungens in der Abenddämmerung
nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehangenwerden
und ganz besonders vom Schafott, welches derart
beschrieben wurde, daß Jedermann, der es hörte, sich
mit der Hand nach Hals und Nacken griff.  So kam es,
daß die Stimmung sich ganz gründlich änderte.  Von
der Absetzung des Königs war keine Rede mehr.  Im
Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als
ihn konnte es nirgends geben.  Von jetzt an galt es nicht
mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu beschützen.  Man
hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise
dies am besten geschehe, und da allüberall vom Kampf
und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es
sich ganz von selbst, daß auch wir Jungens uns nicht nur
in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische
Gewänder und kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten.
Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu
und hatte keine Zeit; ich mußte Handschuhe nähen.  Aber
die anderen Buben und Mädels standen überall an den
Ecken und Winkeln herum, erzählten einander, was sie
daheim bei den Eltern gehört hatten, und hielten höchst
wichtige Beratungen über die beste Art und Weise, die
Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben.
Besonders über eine alte, böse Frau war man empört.
Die war an Allem schuld.  Sie hieß die Anarchie und
wohnte im tiefsten Walde.  Aber des Nachts kam sie in
die Städte, um die Häuser niederzureißen und die Scheunen
anzubrennen; so eine Bestie!  Glücklicherweise waren
unsere Väter lauter Helden, von denen keiner sich vor
irgend Jemand fürchtete, auch nicht vor dieser ruppigen
Anarchie.  Man beschloß die allgemeine Bewaffnung für
König und Vaterland.  In Ernsttal gab es schon seit
alten Zeiten eine Schützen- und eine Gardekompagnie.
Die erstere schoß nach einem hölzernen Vogel, die letzere [sic]
nach einer hölzernen Scheibe.  Zu diesen beiden Kompagnieen
sollten noch zwei oder drei andere gegründet werden,
besonders auch eine polnische Sensenkompagnie zum
Totstechen aus der Ferne.  Da stellte es sich denn heraus,
daß es in unserem Städtchen eine ganz ungewöhnliche
Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch veranlagt
waren, strategisch sowohl als auch taktisch.  Man
wollte keinen von ihnen missen.  Man zählte sie.  Es
waren dreiunddreißig.  Das stimmte sehr gut und rechnete
sich glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompagnie
je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen
Leutnant; wenn man zu den Schützen und der Garde noch
neun neue Kompagnieen formte, so ergab das in Summa
elf, und alle dreiunddreißig Offiziere waren unter Dach
und Fach.  Dieser Vorschlag wurde ausgeführt, wobei
die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen ganz selbstverständlich
nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor,
Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim Militär
gestanden und darum alle dreiunddreißig Offiziere
einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn
je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger Leute könnten
im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so blieb es
bei dem, was beschlossen worden war.

    Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie.
Er bekam einen Säbel und eine Signalpfeife.
Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete
nach höherem.  Darum beschloß er, sobald er ausexerziert
war, sich ganz heimlich, ohne daß irgend Jemand etwas
davon bemerkte, im "höheren Kommando" einzuüben.  Und
da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde
ich einstweilen vom Handschuhnähen dispensiert und wanderte
mit ihm tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer
rings von Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere
geheimen Evolutionen vorgenommen wurden.  Vater war
bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General;
ich aber war die sächsische Armee.  Ich wurde erst als
"Zug", dann als ganze Kompagnie einexerziert.  Hierauf
wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division.
Ich mußte bald reiten, bald laufen, bald vor und bald
zurück, bald nach rechts und bald nach links, bald
angreifen und bald retirieren.  Ich war zwar nicht auf den
Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache.  Aber
ich war noch so jung und klein, und so kann man sich
bei dem jähen Temperamente meines Generals wohl
denken, daß es mir nicht möglich war, mich in so kurzer
Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur
vollzähligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die
Strenge der militärischen Disziplin an mir erfahren zu
haben.  Aber ich weinte bei keiner Strafe; ich war zu
stolz dazu.  Eine sächsische Armee, welche weint, die gibt
es nicht!  Auch ließ der Lohn nicht auf sich warten.
Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu
mir: "Junge, dazu hast du viel geholfen.  Ich baue dir
eine Trommel.  Du sollst Tambour werden!"  Wie das
mich freute!  Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich
der Ueberzeugung war, alle diese Püffe, Stöße, Hiebe und
Katzenköpfe nur zum Wohle und zur Rettung des Königs
von Sachsen und seines Ministeriums empfangen zu haben!
Wenn er das wüßte!

    Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort.
Der Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein
war ihm behilflich, sie zu bauen.  Es war eine sehr gut
gelungene Solotrommel; sie existiert noch heut.  Ich bin
später, als ich etwas größer war, doch auch noch als Knabe,
Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde
diese Trommel noch einmal zu erwähnen haben.  Die elf
Kompagnieen taten ihre Schuldigkeit.  Sie exerzierten fast
täglich, wozu mehr als genug Zeit vorhanden war, weil
es keine Arbeit gab.  Wie wir trotzdem existieren konnten
und wovon wir eigentlich gelebt haben, das kann ich heute
nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein Wunder vor.
Es gab auch an andern Orten "Königsretter".  Die standen
miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, sobald
der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen
und für den König alles zu wagen, unter Umständen sogar
das Leben.  Und eines schönen Tages kam er, dieser Befehl.
Die Signalhörner erklangen; die Trommeln wirbelten.
Aus allen Türen strömten die Helden, um sich auf
dem Marktplatz zu versammeln.  Der Fleischermeister
Haase war Regimentsadjutant.  Er hatte sich ein Pferd
geborgt und saß da mitten drauf.  Es war keine leichte
Sache für ihn, zwischen dem Kommandanten, dem
Vizekommandanten und den Hauptleuten zu vermitteln, denn
der Gaul wollte immer anders als der Reiter.  Die Frau
Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke und ihre
Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus.  Das war geflaggt.
Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach.  Dadurch
gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht.  Man
war überhaupt nur begeistert.  Keine Spur von
Abschiedsschmerz!  Niemand hatte das Bedürfnis, von Frau und
Kindern besonders Abschied zu nehmen.  Lauter Jubel,
dreimal hoch, vivat, hurrah an allen Orten!  Der Herr
Kommandant hielt eine Rede.  Hierauf ein grandioser Tusch
der Blasinstrumente und Trommeln.  Dann die Kommandorufe
der einzelnen Hauptleute: "Achtung -- -- Augen
rechts, rrrricht't euch -- -- Augen grrrade aus -- --
G'wehr bei Fuß -- -- G'wehr auf -- -- G'wehr präsentiert
-- -- G'wehr über -- -- Rrrrechts um -- --
Vorwärts marsch!"  Voran der Herr Adjutant auf dem
geborgten Pferde, hinter ihm die Musikanten mit dem
türkischen Schellenbaum, die Tamboure, sodann der
Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die Schützen,
die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so
marschierten die Heerscharen links, rechts -- links, rechts
zur damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche
vorüber, dem wir damals unsere Frösche anvertrauten,
nach Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach
der Hauptstadt zu gelangen.  Eine Menge Angehöriger
marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das
Weichbild des Städtchens das Geleit zu geben.  Ich aber
stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn
Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haustür,
dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester
des Herrn Stadtrichters Layritz war.  Sie hatten keine
Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaftlichen
Angelegenheiten zu besorgen.  Ihn liebte ich glühend;
sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle
meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten
Aepfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem
Manne nicht, monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu
rauchen, das Stück zu zwei Pfennige.  Die mußte ich
ihm vom Krämer holen, weil er sich schämte, so billige
selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hofe, weil die
Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte.  Auch
er war heut von dem Anblicke unserer Truppen aufrichtig
begeistert.  Indem er ihnen nachblickte, sagte er:

    "Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche
Begeisterung für Gott, für König und Vaterland!"

    "Aber was bringt sie ein?" fragte die Frau
Kantorin.

    "Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre
Glück!"

    Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte
es nicht, zu streiten.  Ich ging nach unserm Hof.  Da
stand ein Franzäpfelbaum.  Unter den setzte ich mich nieder
und dachte über das nach, was der Herr Kantor gesagt
hatte.  Also Gott, König und Vaterland, in diesen Worten
liegt das wahre Glück; das wollte und mußte ich mir
merken!  Später hat dann das Leben an diesen drei
Worten herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen
sich die Formen verändert haben, das innere Wesen ist
geblieben.

    Von allen, die heut ausgezogen waren, um große
Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul
zurück.  Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten
übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als
Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe,
das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder
gar erschossen werden sollte.  Gegen Abend folgte der
Webermeister Kretzschmar.  Er behauptete, daß er mit
seinen Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein
Naturfehler, den er nicht ändern könne.  Als es dunkel
geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche
aus triftigen Gründen entlassen worden waren und die
die Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter
Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg [sic]
geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften.
Gegen Morgen kam die überraschende, aber ganz und gar
nicht traurige Kunde, daß man aus Freiburg [sic] die Weisung
erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar
nicht gebraucht, denn die Preußen seien in Dresden
eingerückt und so stehe für den König und die Regierung
nicht das Geringste mehr zu befürchten.  Man kann sich
wohl denken, daß es heut nun keine Schule und keinerlei
Arbeit gab.  Auch ich empörte mich gegen das Handschuhflicken.
Ich riß einfach aus und gesellte mich den wackeren
Buben und Mädels zu, welche elf Kompagnieen bilden
und ihren heimkehrenden Vätern entgegen ziehen sollten.
Dieser Plan wurde ausgeführt.  Wir kampierten bei den
Wüstenbränder Teichen und zogen dann, als die Erwarteten
kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag
den Schießhausberg hinab, wo unsere verwaisten
Frauen und Mütter standen, um uns alle, Groß und Klein,
teils gerührt, teils lachend in Empfang zu nehmen.

    Warum ich das alles so ausführlich erzähle?  Des
tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte.  Ich
habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen
meines Schicksals zusammengeflossen sind.  Daß ich trotz
allem, was später geschah, niemals auch nur einen einzigen
Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann,
wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze
schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen
verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber
auch in diesen kleinen Ereignissen der frühen Jugend, die
alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten.
Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors
vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern
zu Geist und Seele geworden sind.

    Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine
ruhigen, früheren Bahnen zurück.  Ich nähte wieder
Handschuhe und ging in die Schule.  Aber diese Schule
genügte dem Vater nicht.  Ich sollte mehr lernen als
das, was der damalige Elementarunterricht bot.  Meine
Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltönenden,
umfangreichen Sopran.  Infolgedessen nahm der Herr
Kantor mich in die Kurrende auf.  Ich wurde schnell
treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenüber mutig.  So
kam es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli
übertragen wurden.  Die Gemeinde war arm; sie hatte
für teure Kirchenstücke keine Mittel übrig.  Der Herr
Kantor mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit.  Wo
das nicht angängig war, da komponierte er selbst.  Und
er war Komponist!  Und zwar was für einer!  Aber er
stammt aus dem kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach,
von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch
das Musikstudium förmlich hindurchgehungert und, bis er
Lehrer resp. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und
blaue Leinenhosen kleiden können und sah einen Taler für
ein Vermögen an, von dem man wochenlang leben konnte.
Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht.
Er verstand es nicht, sich geltend zu machen.  Er war
mit allem zufrieden.  Ein ganz vorzüglicher Orgel-, Klavier-
und Violinspieler, konnte er auch die komponistische
Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und hätte
es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können, wenn
ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen
wäre.  Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den
angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde,
da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal,
um sie kennenzulernen und einmal spielen zu können.
Das war die einzige Freude, die er sich gönnte.  Denn
mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu
fehlte ihm außer der Beherztheit besonders auch die
Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein
wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der
Ehe als zweiunddreißigfüßiger "Prinzipal" ertönte, während
dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften
"Vox humana" zugebilligt wurde.  Sie besaß mit ihrem
Bruder gemeinsam einige Obstgärten, deren Erträgnisse
mit der äußersten Genauigkeit verwertet wurden, und
daß ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und
Birnen bekam, das habe ich bereits erwähnt.  Sie wußte
das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Königreich
verschenke.  Für den unendlich hohen Wert ihres Mannes,
sowohl als Mensch wie auch als Künstler, hatte sie nicht
das geringste Verständnis.  Sie war an ihre Gärten und
er infolgedessen an Ernsttal gekettet.  Um sein geistiges
Dasein und seine seelischen Bedürfnisse bekümmerte sie sich
nicht.  Sie öffnete keines seiner Bücher, und seine vielen
Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren,
tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen.
Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur
an die Papiermühle verkauft, ohne daß ich dies
verhindern konnte, denn ich war nicht daheim.  Welch ein
tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, für
das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu
sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den
begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen
kommen läßt, das ist nicht auszusagen.  Mein alter Kantor
konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine
ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine Gutmütigkeit,
die niemals vergessen konnte, daß er ein armer Teufel,
die Friederike aber ein reiches Mädchen und außerdem
die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war.

    Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht.
Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen
zur Violine selbst fertigte.  Dieser Unterricht war ganz
selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm,
ihn zu bezahlen.  Damit war die gestrenge Frau Friederike
gar nicht einverstanden.  Der Orgelunterricht wurde
in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube
gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe
finden.  Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und
wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr
Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus:
"Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl.  Meine
Frau Friederike hält es nicht aus; sie hat Migräne".
Manchmal hieß es auch "sie hat Vapeurs".  Was das
war, wußte ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung
von dem, was ich auch nicht wußte, nämlich von der
Migräne.  Aber daß sich das immer nur dann einstellte,
wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht
gefallen.  Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus,
daß er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit
es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die
Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das
in der späteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt
noch nicht.

    Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte,
so auch in dem, was er meine "Erziehung" nannte.
Notabene mich "erzog" er; um die Schwestern bekümmerte
er sich weniger.  Er hatte alle seine Hoffnungen darauf
gesetzt, daß ich im Leben das erreichen werde, was von
ihm nicht zu erreichen war, nämlich nicht nur eine
glücklichere, sondern auch eine geistig höhere Lebensstellung.
Denn das muß ich ihm nachrühmen, daß ihm zwar der
Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nächsten
stand, daß er aber den höheren Wert auf die kräftige
Entwickelung der geistigen Persönlichkeit setzte.  Er fühlte
das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten
auszudrücken vermochte.  Ich sollte ein gebildeter,
womöglich ein hochgebildeter Mann werden, der für das
allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies
war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad
in diesen, sondern in andern Worten äußerte.  Man sieht,
er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit
von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er
wünschte, und war vollständig überzeugt, es erreichen zu
können.  Leider aber war er sich über die Wege, auf
denen, und über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu
erreichen war, nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen
Hindernisse, die seinem Plane entgegenstanden.  Er war
zu jedem, selbst zum größten Opfer bereit, aber er bedachte
nicht, daß selbst das allergrößte Opfer eines armen Teufels
dem Widerstande der Verhältnisse gegenüber kein Gramm,
kein Quentchen wiegt.  Und vor allen Dingen, er hatte
keine Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er
dazu gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen
zuzusteuern.  Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen
so viel wie möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe,
und hiernach wurde mit größter Energie gehandelt.

    Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen,
aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde.  Das
Lernen fiel mir leicht.  Ich holte schnell meine zwei
Jahre ältere Schwester ein.  Dann wurden die Schulbücher
älterer Knaben gekauft.  Ich mußte daheim die
Aufgaben lösen, die ihnen in der Schule gestellt waren.
So wurde ich sehr bald klassenfremd, für so ein kleines,
weiches Menschenkind ein großes, psychologisches Uebel,
von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand.  Ich
glaube, daß sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was
für ein großer Fehler da begangen wurde.  Sie gingen
von der anspruchslosen Erwägung aus, daß ein Knabe,
den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz
einfach und trotz seiner Jugend in die nächst höhere Klasse
zu versetzen ist.  Diese Herren waren alle mehr oder
weniger mit meinem Vater befreundet, und so drückte
sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darüber zu,
daß ich als acht- oder neunjähriger Knabe schon bei den
elf- und zwölfjährigen saß.  In Beziehung auf meine
geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule
freilich nicht viel gehörte, war dies allerdings wohl richtig;
seelisch aber bedeutete es einen großen, schmerzlichen
Diebstahl, den man an mir beging.  Ich bemerke hier, daß
ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig
und seelisch unterscheide.  Was mir in den Klassen, in
die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte, für meinen
kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern
Seite meiner Seele genommen.  Ich saß nicht unter
Altersgenossen.  Ich wurde als Eindringling betrachtet und
schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen
Bedürfnissen in der Luft.  Mit einem Worte, ich war
gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde
von Jahr zu Jahr klassenfremder.  Die Kameraden, welche
hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen
ich mich befand, zu gewinnen.  Ich bitte, ja nicht über
dieses nur scheinbar winzige, höchst unwichtige Knabenschicksal
zu lächeln.  Der Erzieher, der sich im Reiche der
Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen
Augenblick zögern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen.  Jeder
erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will
festen Boden unter den Füßen haben, den es ja nicht
verlieren darf.  Mir aber war dieser Boden entzogen.
Das, was man als "Jugend" bezeichnet, habe ich nie gehabt.
Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund
ist mir nie beschieden gewesen.  Die allereinfachste
Folge davon ist, daß ich selbst noch heut, im hohen Alter,
in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd.
Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie
verstanden, und so ist es gekommen, daß um meine Person
sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich
ganz unmöglich zu unterschreiben vermag.

    Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte,
beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und
auf die Schularbeiten.  Er holte allen möglichen
sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl
befähigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen
zu können.  Er brachte Alles, was er fand, herbei.  Ich
mußte es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, daß
ich es dadurch besser behalten könne.  Was hatte ich da
alles durchzumachen!  Alte Gebetbücher, Rechenbücher,
Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich
kein Wort verstand.  Eine Geographie Deutschlands aus
dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, mußte ich ganz
abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprägen.  Die
stimmten natürlich längst nicht mehr!  Ich saß ganze
Tage und halbe Nächte lang, um mir dieses wüste, unnötige
Zeug in den Kopf zu packen.  Es war eine Verfütterung
und Ueberfütterung sondergleichen.  Ich wäre
hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich
mein Körper nicht trotz der äußerst schmalen Kost so
überaus kräftig entwickelt hätte, daß er selbst solche
Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte.  Und es gab
auch Zeiten und Stunden der Erholung.  Vater pflegte
nämlich keinen Spaziergang und keinen Weg über Land
zu machen, ohne mich mitzunehmen.  Er pflegte hieran
nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich die, daß kein
Augenblick der Schulzeit dabei versäumt wurde.  Die
Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen seiner
reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant.  Aber
es wurde auch eingekehrt.  Es gab bestimmte Tage und
bestimmte Restaurationen.  Da kamen der Herr Lehrer
Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr
Kämmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann
Lippold und andere, um Kegel zu schieben
oder einen Skat zu spielen.  Vater war stets dabei und
ich mit, denn ich mußte.  Er meinte, ich gehöre zu ihm.
Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen,
weil ich da ohne Aufsicht sei.  Daß ich bei ihm, in der
Gesellschaft erwachsener Männer, gewiß auch nicht besser
aufgehoben war, dafür hatte er kein Verständnis.  Ich
konnte da Dinge hören, und Beobachtungen machen, welche
der Jugend am besten vorenthalten blieben.  Uebrigens
war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft
außerordentlich mäßig.  Ich habe ihn niemals betrunken
gesehen.  Wenn er einkehrte, so war sein regelmäßiges
Quantum ein Glas einfaches Bier für sieben Pfennige
und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder für sechs
Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken.  Bei
besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen
für sechs Pfennige mit mir.  Niemand hat ihn jemals
gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen
mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der
sich auch zuweilen einstellte.  Diese Herren wenigstens
mußten doch wissen, daß ich da selbst auf erlaubten und
vollständig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber
sehr aufmerksamer Zuhörer in Dinge und Verhältnisse
eingeweiht wurde, die mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen
hatten.  Ich wurde nicht frühreif, denn dieses
Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen,
und davon bekam ich nichts zu hören, sondern etwas noch
viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit
herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt,
auf dem meine Füße das Gefühl haben mußten, als ob
sie auf Glassplittern gingen.  Wie wohl ich mich dann
fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei ihr mich
in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten konnte!  Freilich
war ich viel zu jung, um einzusehen, daß dieses Reich
sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob.  Für
mich hatte es keine Füße; es schwebte; es konnte mir
erst später, wenn ich mich zum Verständnis emporgearbeitet
hatte, die Stütze bieten, die mir so nötig war.

    Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte,
die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat.  Es
gab Theater.  Zwar nur ein ganz gewöhnliches, armseliges
Puppentheater, aber doch Theater.  Das war im
Webermeisterhause.  Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz
zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die
Hälfte.  Ich bekam die Erlaubnis, mit Großmutter
hinzugehen.  Das kostete fünfzehn Pfennige für uns beide.
Es wurde gegeben: "Das Müllerröschen oder die Schlacht
bei Jena."  Meine Augen brannten; ich glühte innerlich.
Puppen, Puppen, Puppen!  Aber sie lebten für mich.
Sie sprachen; sie liebten und haßten; sie duldeten; sie
faßten große, kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf
König und für Vaterland.  Das war es ja, was der
Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte!  Mein
Herz jubelte.  Als wir nach Hause gekommen waren,
mußte Großmutter mir beschreiben, wie die Puppen
bewegt werden.

    "An einem Holzkreuze," erklärte sie mir.  "Von diesem
Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder
der Puppen befestigt sind.  Sie bewegen sich, sobald man
oben das Kreuz bewegt."

    "Aber sie sprechen doch!" sagte ich.

    "Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den
Händen hält, spricht.  Es ist genauso, wie im wirklichen
Leben."

    "Wie meinst du das?"

    "Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber
verstehen lernen."

    Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten,
nochmals zu gehen.  Es wurde gespielt "Doktor Faust
oder Gott, Mensch und Teufel."  Es wäre ein resultatloses
Beginnen, den Eindruck, den dieses Stück auf mich
machte, in Worte fassen zu wollen.  Das war nicht der
Göthesche Faust, sondern der Faust des uralten
Volksstückes, nicht ein Drama, in dem die ganze Philosophie
eines großen Dichters aufgestapelt wurde und auch noch
etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten
Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei
um Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens.
Ich hörte, ich fühlte diesen Schrei, und ich schrie ihn mit,
obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war,
damals wohl kaum neun Jahre alt.  Der Göthesche Faust
hätte mir, dem Kinde, gar nichts sagen können; er sagt
mir, aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er
der Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen;
aber diese Puppen sprachen laut, fast überlaut, und was
sie sagten, das war groß, unendlich groß, weil es so
einfach, so unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann
zu Gott zurückkehren darf, wenn er den Menschen mit
sich bringt!  Und die Fäden, diese Fäden; die alle nach
oben gehen, mitten in den Himmel hinein!  Und alles,
alles, was sich da unten bewegt, das hängt am Kreuz,
am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid.  Was nicht
an diesem Kreuze hängt, ist überflüssig, ist bewegungslos,
ist für den Himmel tot!  Freilich kamen mir diese letzteren
Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber
Großmutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht
so deutlich, aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah,
das begann ich doch zu ahnen.  Ich mußte als Kurrendaner
Sonn- und Feiertags zweimal in die Kirche, und
ich tat dies gern.  Ich kann mich nicht besinnen, jemals
einen dieser Gottesdienste versäumt zu haben.  Aber ich
bin aufrichtig genug, zu sagen, daß ich trotz aller
Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich
tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen
habe wie damals aus dem Puppentheater.  Seit jenem
Abende ist mir das Theater bis auf den heutigen Tag als
eine Stätte erschienen, durch deren Tor nichts dringen
soll, was unsauber, häßlich oder unheilig ist.  Als ich
den Herrn Kantor fragte, wer dieses Theaterstück
ausgesonnen und niedergeschrieben habe, antwortete er, das
sei kein einzelner Mensch, sondern die Seele der ganzen
Menschheit gewesen, und ein großer, berühmter deutscher
Dichter, Wolfgang Goethe geheißen, habe daraus ein herrliches
Kunstwerk gemacht, welches nicht für Puppen, sondern
für lebende Menschen geschrieben sei.  Da fiel ich
schnell ein: "Herr Kantor, ich will auch so ein großer
Dichter werden, der nicht für Puppen, sondern nur für
lebende Menschen schreibt!  Wie habe ich das anzufangen?"
Da sah er mich sehr lange und unter einem fast
mitleidigen Lächeln an und antwortete: "Fange es an, wie
du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen
sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst."
Diesen Bescheid habe ich freilich erst später verstehen lernen;
aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr
bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt.  Gott, Mensch
und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und
geblieben, und der Gedanke, daß die meisten Menschen nur
Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern
bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen
Hintergrunde.  Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein
Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der Waffen,
das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in den
Händen hält, um das Volk der Menschen zu beeinflussen,
das ist niemals sofort, sondern immer nur erst später an
den Folgen zu ersehen.

    Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stücke kennen, die
nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das
Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt,
an dem ich auf meine Trommel zurückzukommen habe.
Es ließ sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in
Ernsttal nieder.  Es handelte sich also nicht um ein
Puppen-, sondern um ein wirkliches Theater.  Die Preise
waren mehr als mäßig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter
Platz 25 Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter
Platz 10 Pfennige, nur zum Stehen.  Aber trotz dieser
Billigkeit blieb täglich über die Hälfte der Sitze leer.
Die "Künstler" fielen in Schulden.  Dem Herrn Direktor
wurde himmelangst.  Schon konnte er die Saalmiete nicht
mehr bezahlen; da erschien ihm ein Retter, und dieser
Retter war -- -- -- ich.  Er hatte beim Spazierengehen
meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt.  Beide
berieten.  Das Resultat war, daß Vater schleunigst nach
Hause kam und zu mir sagte: "Karl, hole deine Trommel
herunter; wir müssen sie putzen!"  "Wozu?" fragte ich.
"Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal
über die ganze Bühne herumzutrommeln".  "Wer ist
die Preziosa?"  "Eine junge, schöne Zigeunerin, die
eigentlich eine Grafenstochter ist.  Sie wurde von den
Zigeunern geraubt.  Jetzt kommt sie zurück und findet
ihre Eltern.  Du bist der Tambour und bekommst blanke
Knöpfe und einen Hut mit weißer Feder.  Das zieht
Zuschauer herbei.  Es wird bekannt gemacht.  Wird das
"Haus" voll, so gibt der Herr Direktor dir fünf
Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du nichts.
Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe."

    Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in Wonne
schwamm.  Zigeunertambour!  Eine Grafentochter!  Blanke
Knöpfe!  Weiße Feder!  Dreimal um die ganze Bühne
herum!  Fünf Neugroschen!  Ich schlief in der folgenden
Nacht sehr wenig und stellte mich mit meiner Trommel
sehr pünktlich zur Probe ein.  Sie verlief sehr gut.  Ich
gefiel sämtlichen Künstlerinnen und Künstlern.  Die Frau
Direktorin streichelte mir die Wange.  Der Herr Direktor
lobte mein intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein
schnelles Begriffsvermögen.  Meine Rolle sei aber auch sehr
leicht.  Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennige; schon mit
dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen.
Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig
herunter, denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt
und ließ nicht mit sich handeln.  Ich hatte für die fünfzig
Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem großen Zigeunerumzug
voranzumarschieren.  Ich stand an einer Kulisse,
die Zigeuner alle hinter mir.  Mir gegenüber in der
jenseitigen Kulisse stand der Regisseur, der den alten
Schloßvogt Pedro spielte.  Wenn der die rechte Hand
emporhob, so war dies das Zeichen für mich, meinen Marsch
sofort zu beginnen und nach einem dreimaligen, strammen
Umgang in derselben Kulisse wieder zu verschwinden.
Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht irren.
Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe mit.
Mutter mußte sie mir anflicken.  Es waren über dreißig
Stück; sie gingen fast gar nicht ganz auf meine Weste.
Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut
mit der weißen Feder.  Der wurde als Reklame zum
Fenster hinausgehängt und hat seine Wirkung getan.  Ich
hatte mich eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung
einzustellen.  Da wurde ich von der Frau Direktorin
strahlenden Angesichtes empfangen, denn der Zuschauerraum
war schon jetzt derart gefüllt, daß schnell ganz vorn
noch einige "Logen" eingerichtet wurden mit dem Preise
von zehn Neugroschen pro Platz.  Auch die waren rasch
verkauft.  Vater, Mutter und Großmutter hatten
Freiplätze bekommen.  Ich war eben an diesem Tage ein
höchst wertvolles Menschenkind.  Diese Erkenntnis hatte
sich so allgemein verbreitet, daß die Frau Direktorin sich
bewogen fühlte, mir meine fünf Neugroschen schon ehe
der Vorhang zum ersten Male aufging, in die rechte Hosentasche
zu stecken.  Das erhöhte meine Sicherheit und meine
künstlerische Begeisterung bedeutend.

    Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke
meines ersten Bühnendebüts.  Der erste Akt spielte
in Madrid.  Da hatte ich nichts zu tun.  Ich saß in
der Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der
Bühne gesprochen wurde.  Da wurde ich geholt.  Ich
schnallte die Trommel an, setzte den Federhut auf und ging
nach meiner Kulisse.  Don Fernando und Donna Klara
und noch irgend wer standen auf der Bühne.  In der
gegenüberliegenden Kulisse lehnte der Schloßvogt Pedro,
der mir das Zeichen zu geben hatte.  Er sah mich mit
einem so energischen Schritte kommen, daß er glaubte,
ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium.
Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren.
Ich aber nahm das ganz selbstverständlich für das
verabredete Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter
mir standen, begann meinen Wirbel zu schlagen und
marschierte hinaus, rund um die Bühne herum.  Don
Fernando und Donna Klara standen vor Schreck ganz
starr.  "Lausbub!" schrie mir der Schloßvogt zu, als ich
an ihm vorüberschritt.  Er griff aus der Kulisse heraus,
um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon
war ich an ihm vorüber.  Aus allen Kulissen winkte
man mir, doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber
bestand auf dem, was ausgemacht worden war, nämlich
dreimal rund um die Bühne herum.  "Lausbub!" brüllte
der Schloßvogt, als ich zum zweiten Mal an ihm
vorüberkam, und zwar tat er das so laut, daß es trotz des
Trommelwirbels auch hinaus- und über den ganzen Zuschauerraum
schallte.  Lautes Gelächter antwortete von dorther;
ich aber begann meine dritte Runde.  "Bravo, bravo!"
erklangen die Beifallsrufe des Publikums.  Da kam endlich
Bewegung in den erschrockenen Herrn Direktor, der
den Don Fernando spielte.  Er sprang auf mich zu, faßte
meine beiden Arme, so daß ich stehenbleiben und die
Trommelschlegel ruhen lassen mußte und donnerte mich an:

    "Junge, bist du denn ganz toll geworden?  So halte
doch auf!

    "Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!"
rief man im Zuschauerraum lachend.

    "Ja, weiter, immer weiter!" antwortete auch ich, indem
ich mich von ihm losriß.  "Die Zigeuner haben zu kommen!
Raus mit der Bande, raus mit der Bande!"

    "Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!"
schrie, brüllte und johlte das Publikum.

    Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel
von neuem.  Und da kam sie, die Bande, wenn auch
nur notgedrungen, voran Vianda, die alte Zigeunermutter,
und dann die Andern alle hinterdrein.  Nun begann erst
der eigentliche Umzug, dreimal rund um und dann zu
meiner Kulisse wieder hinein.  Aber damit gab sich das
Publikum nicht zufrieden.  Es rief: "Heraus mit der
Bande, heraus!" und wir mußten den Umzug von neuem
beginnen und immer wieder von neuem.  Und am Schluß
des Aktes mußte ich noch zweimal heraus.  War das
ein Gaudium!  Sodann hatte ich eigentlich nichts mehr
zu tun und konnte gehen, aber der Herr Direktor ließ
mich nicht fort.  Er schrieb mir eine kurze Ansprache auf,
die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der
Vorstellung halten sollte.  Für den Fall, daß ich meine Sache
gut machen würde, versprach er mir noch weitere fünfzig
Pfennige.  Das wirkte äußerst anregend auf mein
Gedächtnis.  Als das Stück zu Ende war und der Beifall
zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal
trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe
die "hohen Herrschaften" zu bitten, sich noch nicht gleich
zu entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und
von Platz zu Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts
zu verkaufen, so billig, wie sie morgen, übermorgen und
auch fernerhin unmöglich abgegeben werden könnten.  Als
Reminiszenz auf den Wortlaut des heutigen Beifalles
hatte der Herr Direktor dem Schlusse dieser Ansprache
folgende Fassung gegeben: "Also rrrrein mit der Hand
in den Beutel!  Und rrrraus mit den Moneten, rrrraus!"

    Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem
Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten
Erfolg.  Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der
hohen Direktion als auch diejenigen aller übrigen
Künstlerinnen und Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen,
denn ich bekam nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen,
sondern dazu auch noch ein Freibillett, welches für den
ganzen, diesmaligen Aufenthalt der Truppe bei uns galt.
Ich habe es wiederholt benutzt, und zwar für Stücke,
in welche Vater mich gehen lassen konnte.  Uebrigens gab
es bei dieser braven Truppe wohl kaum eine sittliche
Gefahr für die Zuhörerschaft, denn als der Herr Direktor
sich eines Tages mit am Kegelschieben beteiligte und bei
dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er alle zärtlichen
Liebesszenen so ängstlich aus seinen Stücken streiche,
antwortete er: "Teils aus moralischem Pflichtgefühl und teils
aus kluger Erwägung.  Unsere erste und einzige Liebhaberin
ist zu alt und auch zu häßlich für solche Rollen."

    In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach
dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen
hangen.  Ich war zu jung, sie zu finden.  Das blieb
einer späteren Zeit vorbehalten.  Auch wollte es mir nicht
gelingen, den Gott, den Teufel und den Menschen
herauszufinden.  Das passiert mir sogar noch heut sehr häufig,
obwohl diese drei Foktoren [sic] nicht nur die bedeutendsten,
sondern sogar die einzigen sind, aus deren Zusammenwirken
sich ein Drama aufzubauen hat.  Das sage ich
jetzt, als Mann, als Greis.  Damals, als Kind, verstand
ich nichts davon und ließ mir von der leeren, hohlen
Oberflächlichkeit gewaltig imponieren, wie jedes andere
größere oder kleinere Kind.  Die Menschen, die solche
Stücke schrieben, die auf die Bühne gegeben wurden,
kamen mir wie Götter vor.  Wäre ich ein so bevorzugter
Mensch, so würde ich nicht von geraubten Zigeunerinnen
erzählen, sondern von meinem herrlichen Sitara-Märchen,
von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede
von Kulub, von der Erlösung aus der Erdenqual und
allen anderen, ähnlichen Dingen!  Man sieht, ich befand
mich hier wieder an einem jener Punkte, an denen ich
aus dem Halt, den andere Kinder haben und der auch
mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde, in
die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten
Männern in reifen Jahren betreten werden darf.  Und noch
Anderes kam hinzu.

    Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch.  Demgemäß
war ich evangelisch-lutherisch getauft worden,
genoß evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und
wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war,
evangelisch-lutherisch konfirmiert.  Aber zu einer
Stellungnahme gegen Andersgläubige führte das keineswegs.
Wir hielten uns weder für besser noch für berufener als
sie.  Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher
Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche
seines Kirchenamtes religiösen Haß zu säen.  Unsere
Lehrer dachten ebenso.  Und die, auf die es hier am
meisten ankam, nämlich Vater, Mutter und Großmutter,
die waren alle drei ursprünglich tief religiös aber von
jener angeborenen, nicht angelehrten Religiosität, die sich
in keinen Streit einläßt und einem jeden vor allen Dingen
die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein.  Ist er das,
so kann er sich dann um so leichter auch als guter Christ
erweisen.  Ich hörte einst den Herrn Pastor mit dem
Herrn Rektor über religiöse Differenzen sprechen.  Da
sagte der erstere: "Ein Eiferer ist niemals ein guter
Diplomat."  Das habe ich mir gemerkt.  Ich habe bereits
gesagt, daß ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal
in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies
gar als Verdienst anzurechnen.  Ich habe täglich gebetet,
in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heut.
Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang
beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit,
Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln.  Ich bin auch heut
noch unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.

    Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus
gehabt, und zwar nicht nur zum religiösen.  Eine jede
Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles,
Tiefes bedeutet, ist mir heilig.  Darum machten einige
religiöse Gebräuche, an denen ich mich als Knabe zu
beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck.
Der eine dieser Gebräuche war folgender: Die Konfirmanden,
welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren,
beteiligten sich am darauf folgenden grünen Donnerstag
zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen
Kommunion.  Nur während dieser einen Abendmalsdarreichung,
sonst während des ganzen Jahres nicht,
standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu
beiden Seiten des Altares, um Handreichung zu tun.
Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock,
Bäffchen [sic] und weißes Halstuch.  Sie standen zwischen
dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten
und hielten schwarze, goldgeränderte Schutztücher
empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen
Speise verloren gehe.  Da ich sehr jung zur Kurrende
gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere
Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam.  Diese
frommen, gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altare
wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.

    Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am
ersten Weihnachtsfeiertage jedes Jahres während des
Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die
Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias
Kap. 9 Vers 2 bis mit Vers 7 zu singen.  Er tat dies
ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung.  Es gehörte
Mut dazu, und es kam nicht selten vor, daß der Organist
dem kleinen Sänger zur Hilfe zu kommen hatte, um ihn
vor dem Steckenbleiben zu bewahren.  Auch ich habe
diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde
sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir
fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise
meiner Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen
den Zeilen meiner Bücher.  Wer als kleiner Schulknabe
auf der Kanzel gestanden und mit fröhlich erhobener
Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat,
daß ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens
kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich
nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von Bethlehem
durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn
alle andern Sterne verlöschen.

    Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird
jetzt wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf
einen der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester
Halt nach dem andern unter den Füßen hinweggenommen
wurde, so daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft
zu schweben hatte.  Es ist aber grad das Gegenteil der
Fall.  Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr
viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der
Richtung nach der Erde zu, dafür aber ein Tau, stark
und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter
mir der Abgrund sich öffnen sollte, dem ich, wie
Fatalisten behaupten würden, von allem Anfang verfallen
war.  Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen
beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten
Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut noch
liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen,
durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen,
endlosen Qual geworden ist.

    Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim
richtigen Namen nenne -- -- Lektüre.  Ich bin ihn nicht
etwa hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet,
sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt,
langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand
meines Vaters.  Freilich ahnte dieser ebensowenig wie
ich, wohin dieser Weg uns führte.  Meine erste Lektüre
bildeten die Märchen, das Kräuterbuch und die Bilderbibel
mit den Anmerkungen unserer Vorfahren.  Hierauf
folgten die verschiedenen Schulbücher der Vergangenheit
und Gegenwart, die es im Städtchen gab.  Dann alle
möglichen anderen Bücher, die Vater sich zusammenborgte.
Nebenbei die Bibel.  Nicht etwa eine Auswahl biblischer
Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als
Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum
letzten Worte, mit allem, was drin steht.  Vater hielt
das für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm
da, auch der Pfarrer nicht.  Er duldete nicht, daß ich,
wenn auch nur scheinbar, müßig stand.  Und er war
gegen alle Beteiligung an den "Unarten" anderer Knaben.
Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie
andern anzupreisen.  Ich mußte stets zu Hause sein, um
zu schreiben, zu lesen und zu "lernen"!  Von dem
Handschuhnähen wurde ich nach und nach befreit.  Auch wenn
er ausging, brachte mir das keine Erlösung, sondern er
nahm mich mit.  Wenn ich meine Altersgenossen auf
dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah,
wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun
zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte,
war dies höchst gefährlich.  Saß ich dann betrübt oder
gar mit heimlichen Tränen bei meinem Buche, so kam
es vor, daß Mutter mich leise zur Tür hinaussteckte und
erbarmend sagte: "So geh schnell ein bißchen hinaus;
aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst schlägt er
dich.  Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!" O, diese
Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter!  Wer da
wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der
schlage in meinen "Himmelsgedanken" das Gedicht auf Seite
105 auf.  Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine
Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh
herausgewachsen ist, jener orientalischen Königstochter, die
für mich und meine Leser als "Menschheitsseele" gilt.

    Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal
von Büchern jeden Genres in Privathänden befand,
zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon
abgeschrieben resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen
Quellen um.  Es gab deren drei, nämlich die Bibliotheken
des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des
Herrn Pastors.  Der Herr Kantor zeigte sich auch hier
als der Vernünftigste von allen.  Er sagte, Bücher zur
Unterhaltung habe er nicht, sondern nur Bücher zum
Lernen, und für diese letzteren sei ich jetzt noch viel zu
jung.  Aber er gab doch eines von ihnen her, denn er
meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr nützlich, den
lateinischen Text unserer Kirchengesänge in die deutsche
Sprache übersetzen zu lernen.  Dieses Buch war eine
lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte,
doch auf dem nächsten Blatte stand zu lesen:

           "Ein buer [sic] lernen muß,
           Wenn er will werden dominus,
           Lernt er aber mit Verdruß,
           So wird er ein asinus!"

    Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und
meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein asinus,
sondern ein dominus werde.  Also nun schnell und fleißig
lateinisch lernen!

    Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den
Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika auszuwandern.
Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist so viel
wie möglich englisch lernen.  Da verstand es sich ganz
von selbst, daß ich mitzutun hatte!  Und sodann geriet
auf irgend eine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein
Buch in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder
mit Text und Melodie enthielt.  Es war im Jahre
1782 in Berlin gedruckt und "Seiner Königlichen Hoheit,
Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen" gewidmet.
Darum mußte es gut und von sehr hohem Werte sein!
Der Titel lautete: "Chansons maçonniques", und zu der
Melodie, die mir am besten gefiel, waren sieben vierzeilige
Strophen zu singen, deren erste hierhergesetzt sein mag:

            "Nons vénérous de l'Arabie
            La sage et noble antiquité,
            Et la célèbre Confrairie [sic]
            Transmise à la postérité".

    Das Wort "Freimaurerlieder" reizte ganz besonders.
Welch eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei
eindringen zu können!  Glücklicherweise erteilte der Herr
Rektor für Privatschüler auch französischen Unterricht.
Er gestattete mir, in diesem "Zirkle" einzutreten, und so
kam es, daß ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen
und Französischen zugleich zu befassen hatte.

    Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen
weniger zurückhaltend als der Herr Kantor.
Sein Lieblingsfach war Geographie.  Er besaß hunderte
von geographischen und ethnographischen Werken, die er
meinem Vater alle für mich zur Verfügung stellte.  Ich
fiel über diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und
der gute Herr freute sich darüber, ohne irgendein doch
so naheliegendes Bedenken zu hegen.  Obgleich er auf
eine Pfarrstelle reflektierte, war er in seinem Innern
mehr Philosoph als Theolog und einer freieren Richtung
zugeneigt.  Das sprach sich aber weniger in seinen Worten,
als vielmehr in den Büchern aus, die er besaß.  Zu derselben
Zeit öffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek.
Er war ganz und gar nicht Philosoph, sondern
nur und nur und nur Theolog, weiter nichts.  Ich meine
mit ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich
schon gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir
zunächst alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu
dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften
von Redenbacher und andern guten Menschen fügte.  So
kam es, daß ich vom Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung
der islamitischen Wohltätigkeit vor mir liegen hatte
und vom Herrn Pastor daneben einen Missionsbericht,
in welchem über das offensichtliche Nachlassen der
christlichen Barmherzigkeit bittere Klage geführt wurde.  In
der Bibliothek des einen lernte ich Humboldt, Bonpland
und alle jene "Großen" kennen, welche der Wissenschaft
mehr als der Religion vertrauen, und in der Bibliothek
des zweiten alle jene andern "Großen", denen die religiöse
Offenbarung himmelhoch über jedem wissenschaftlichen
Ergebnisse steht.  Und dabei war ich nicht etwa ein
Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz dummer Junge;
aber noch viel törichter als ich waren die, welche mich
in diese Konflikte fallen und sinken ließen, ohne zu wissen,
was sie taten.  Alles, was in diesen so verschiedenen
Büchern stand, konnte gut, ja konnte vortrefflich sein;
mir aber mußte es zum Gifte werden.

    Aber es kam noch Schlimmeres.  Der sprachliche
Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mußte bezahlt werden,
und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise
zu verdienen hatte.  Wir sahen uns um.  Für eine Hohensteiner
Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder
Kegelaufsetzer gesucht.  Ich meldete mich, obwohl ich keine
Uebung besaß, und bekam die Stelle.  Da habe ich freilich
Geld verdient, sehr viel Geld, aber wie!  Durch welche
Qualen!  Und was habe ich noch außerdem dafür geopfert!
Der Kegelschub war ein vielbesuchter, zugebauter und
heizbarer, so daß er zur Sommer- und zur Winterszeit und
bei jeder Witterung benutzt werden konnte.  Es wurde
täglich geschoben.  Von jetzt an hatte ich keine freie
Viertelstunde mehr, besonders auch keinen Sonntagnachmittag.
Da ging es gleich nach der Kirche los und dauerte bis
zur späten Abendstunde.  Der Haupttag aber war der
Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes,
an dem die Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre
Erzeugnisse zu bringen, ihre Einkäufe zu machen und --
last not least -- eine Partie Kegel zu schieben.  Aus
dieser einen aber wurden fünf, wurden zehn, wurden
zwanzig, und es kam an diesen Montagen vor, daß ich
mich von Mittags zwölf Uhr an bis nach Mitternacht
zu schinden hatte, ohne auch nur fünf Minuten ausruhen
zu können.  Zur Stärkung bekam ich des Nachmittags
und des Abends ein Butterbrod [sic] und ein Glas abgestandenes,
zusammengegossenes Bier.  Es kam auch vor, daß ein
mitleidiger Kegler, welcher sah, daß ich kaum mehr konnte,
mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister
anzuregen.  Ich habe mich ob dieser übermäßigen
Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie
notwendig man das, was ich verdiente, brauchte.  Der
Betrag, den ich da wöchentlich zusammenbrachte, war gar
nicht unbedeutend.  Ich bekam pro Stunde ein Fixum
und außerdem für jedes Honneur, welches geschoben wurde,
einen festbestimmten Satz.  Wurde nicht gespielt, sondern
frei gewettet oder gar hasardiert, so bekam dieser Satz
eine doppelte oder dreifache Höhe.  Es hat Montage
gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach Hause
brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu unserer
Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg.

    Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung?
Nicht den geringsten, sondern nur Verlust.  Es wurde
zwar nur einfaches, billiges Bier, aber besonders viel
Schnaps getrunken.  Ich werde an anderer Stelle nachweisen,
daß es sich hier nicht um Leute handelte, welche
das kannten, was man unter Rücksicht oder gar Zartgefühl
versteht.  Man platzte mit allem, was auf die Zunge
kam, ohne Scheu heraus.  Man kann sich denken, was
ich da alles zu hören bekam!  Der langgestreckte, zugebaute
Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr.  Jedes Wort, welches
da vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich
heraus zu mir.  Alles, was Großmutter und Mutter
in mir aufgebaut hatten, der Herr Kantor und der Herr
Rektor auch, das empörte sich gegen das, was ich hier
zu hören bekam.  Es war viel Schmutz und auch viel Gift
dabei.  Es gab da nicht jene kräftige, kerngesunde
Fröhlichkeit wie z. B. bei einem oberbayrischen Kegelschieben,
sondern es handelte sich um Leute, welche aus der
brusttötenden Atmosphäre ihres Webstuhles direkt in die
Schnapswirtschaft kamen, um sich für einige Stunden
ein Vergnügen vorzutäuschen, welches aber nichts weniger
als ein Vergnügen war, für mich jedenfalls eine Qual,
körperlich sowohl als auch seelisch.

    Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch
viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche
böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar
was für eine!  Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich
und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche
Büchersammlung, wie diese war, nochmals gesehen!  Sie rentierte
sich außerordentlich, denn sie war die einzige, die es in
den beiden Städtchen gab.  Hinzugekauft wurde nichts.
Die einzige Veränderung, die sie erlitt, war die, daß die
Einbände immer schmutziger und die Blätter immer schmieriger
und abgegriffener wurden.  Der Inhalt aber wurde
von den Lesern immer wieder von neuem verschlungen,
und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner
Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich einmal
gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden steckte,
gänzlich verfiel.  Was für ein Teufel das war, mögen
einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der
Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager.  Sallo
Sallini, der edle Räuberhauptmann.  Himlo Himlini,
der wohltätige Räuberhauptmann.  Die Räuberhöhle auf
dem Monte Viso.  Bellini, der bewunderswürdige [sic] Bandit.
Die schöne Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten
Richters.  Der Hungerturm oder die Grausamkeit der
Gesetze.  Bruno von Löweneck, der Pfaffenvertilger.  Hans
von Hunsrück oder der Raubritter als Beschützer der
Armen.  Emilia, die eingemauerte Nonne.  Botho von
Tollenfels, der Retter der Unschuldigen.  Die Braut am
Hochgericht.  Der König als Mörder.  Die Sünden des
Erzbischofs u. s. w. u. s. w.

    Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine
Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher,
einstweilen darin zu lesen.  Später sagte er mir, ich könne
sie alle lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen.  Und ich las
sie; ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch!
Ich nahm sie mit nach Haus.  Ich saß ganze Nächte
lang, glühenden Auges über sie gebeugt.  Vater hatte
nichts dagegen.  Niemand warnte mich, auch die nicht,
die gar wohl verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen.
Sie wußten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl
daraus.  Und welche Wirkung das hatte!  Ich ahnte
nicht, was dabei in mir geschah.  Was da alles in mir
zusammenbrach.  Daß die wenigen Stützen, die ich, der
seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun
auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nämlich mein
Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.

    Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung
begriffen.  Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und
Seele zu unterscheiden.  Man versucht, sie beide
auseinanderzuhalten, sie scharf zu definieren, ihre Unterschiede
nachzuweisen.  Man behauptet, daß der Mensch nicht
Einzelwesen, sondern Drama sei.  Soll ich mich dem
anschließen, so darf ich das, was auf meinen kleinen, erst
im Entstehen begriffenen Geist und das, was auf meine
kindliche Seele wirkte, nicht miteinander verwechseln.
Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen gewesen
war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur
das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon
gehabt, aber was für eine Wirkung!  Es war zu einem
kleinen, monströs dicken, wasserköpfigen Ungeheuer
aufgestopft und aufgenudelt worden.  Der sehr gut, ja
vielleicht außergewöhnlich veranlagte Knabe hatte sich zu
einer unartikulierten geistigen Mißgestalt verwandelt, die
nichts Wirkliches besaß als nur ihre Hilflosigkeit.  Und
seelisch war ich ohne Heimat, ohne Jugend, hing nach
oben nur an dem erwähnten starken, unzerreißbaren Tau
und wurde nach unten nur dadurch an der Erde
festgehalten, daß ich für König und Vaterland, Gesetz und
Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als materielle
Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an
denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet
hatten, den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und
seine Regierung von dem Untergange zu erretten.  Nun
aber wurde mir auch dieser Halt genommen, und zwar
durch die Lektüre dieser schändlichen Leihbibliothek.  Alle
die Räuberhauptleute, Banditen und Raubritter, von denen
ich da las, waren edle Menschen.  Was sie jetzt waren,
das waren sie durch schlechte Menschen, besonders durch
ungerechte Richter und durch die grausame Obrigkeit geworden.
Sie besaßen wahre Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe,
eine grenzenlose Wohltätigkeit und warfen sich
zum Ritter und Retter aller Armen, aller Bedrückten und
Bedrängten auf.  Sie zwangen die Leser zur Hochachtung
und Bewunderung; alle Gegner dieser herrlichen Männer
aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der
Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde.  Und vor
allen Dingen die Fülle des Lebens, der Tätigkeit, der
Bewegung, die in diesen Büchern herrschte!  Auf jeder Seite
geschah etwas, und zwar etwas Hochinteressantes, irgend
eine große, schwere, kühne Tat, die man zu bewundern
hatte.  Was dagegen war in all den Büchern geschehen,
die ich bisher gelesen hatte?  Was geschah in den Traktätchen
des Pfarrers?  In seinen langweiligen, nichtssagenden
Jugendschriften?  Und was geschah in den sonst
ganz guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors?
Da waren große, weite und ferne Länder beschrieben,
aber es ereignete sich nichts dabei.  Da wurden fremde
Menschen und Völker geschildert; aber sie bewegten sich
nicht, sie taten nichts.  Das war alles nur Geographie,
nur Geographie, weiter nichts; jede Handlung fehlte.
Und nur Ethnographie, nur Ethnographie; aber die Puppen
standen still.  Es war kein Gott, kein Mensch und auch
kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden in die Hand
zu nehmen und die toten Figuren zu beleben!  Und es
gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt
verlangt, nämlich der Leser.  Und auf den kommt doch alles
an, weil er allein es ist, für den die Bücher geschrieben
werden.  Die Seele des Lesers wendet sich von jeder
Bewegungslosigkeit ab, denn diese bedeutet für sie den Tod.
Welch ein Reichtum des Lebens dagegen in dieser
Leihbibliothek!  Und welch ein Eingehen auf die Eigenheiten
und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch in die Hände nimmt!
Kaum fühlt er während des Lesens einen Wunsch, so
wird dieser auch schon erfüllt.  Und welche bewundernswerte,
unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da.  Jeder
gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal Räuberhauptmann
sein, wird unbedingt belohnt.  Und jeder böse
Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König, Feldherr,
Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft.
Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche
Gerechtigkeit!  Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit
und Unumstößlichkeit der göttlichen und der menschlichen
Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch unrecht!
Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den
Rinaldo Rinaldini geschrieben!

    Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in
meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner
Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde.  Hierzu kam
die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in
hohem Grade besitze.  Ich glaubte an das, was ich da
las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit.
Nur Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je länger,
desto mehr; sie wurde aber von uns andern überstimmt.
Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß, von "edlen"
Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer verschenkten.
Daß sie diese Reichtümer vorher andern abgestohlen und
abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das
nicht!  Wenn wir lasen, wieviel bedürftige Menschen durch
so einen Räuberhauptmann unterstützt und gerettet worden
seien, so freuten wir uns darüber und bildeten uns ein,
wie schön es wäre, wenn so ein Himlo Himlini plötzlich
hier bei uns zur Tür hereinträte, zehntausend blanke Taler
auf den Tisch zählte und dabei sagte; "Das ist für euren
Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der
Theaterstücke schreibt!"  Das letztere war mir nämlich,
seit ich den "Faust" gesehen hatte, zum Ideal geworden.

    Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen Bücher
nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich zunächst
meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen
Familien, die ganz versessen darauf waren.  Es ist
gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine
einzige solche Scharteke herbeiführen kann.  Alles Positive
geht verloren, und schließlich bleibt nur die traurige
Negation zurück.  Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen
verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die
Wahrheit zur Lüge.  Das Gewissen stirbt.  Die Unterscheidung
zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger!
das führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat,
die scheinbar Hilfe bringt.  Damit ist man aber nicht
etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern
es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum äußersten
Verbrechertum.

    Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was
nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte.  Ich
wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf
die Universität.  Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle
Mittel.  Ich mußte mit meinen Wünschen weit herunter
und kam zuletzt beim Volksschullehrer an.  Aber auch hierzu
waren wir zu arm.  Wir sahen uns nach Hilfe um.  Der
Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem
Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm
verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann.
Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen
können, aber er versäumte keinen Kirchgang, sprach gern
von Humanität und Nächstenliebe und war unser
Gevatter.  Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns
einen Ueberschlag gemacht.  Wenn wir recht arbeiteten,
recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar
keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur eines
Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr.  Das
hatten wir ausgerechnet.  Freilich stimmte es nicht; aber
wir glaubten, daß es stimme.  Meine Eltern hatten nie
auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu
Liebe zu einer Anleihe entschlossen.  Mutter ging zum
Herrn Layritz.  Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete
die Hände und ließ sich ihr Anliegen vortragen.  Sie
schilderte ihm alles und bat, uns fünf Taler zu borgen,
nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten,
also wenn ich die Aufnahmeprüfung bestanden haben
würde.  Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit.
Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: "Meine
liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie
sind arm, sehr arm.  Aber Sie haben denselben Gott,
den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen
hat, wo wird er auch Ihnen weiterhelfen.  Ich habe auch
Kinder wie Sie und muß für sie sorgen.  Ich kann Ihnen
also die fünf Taler nicht leihen.  Aber gehen Sie getrost
nach Hause, und beten Sie recht fleißig, so wird sich ganz
gewiß zur rechten Zeit jemand finden, der sie übrig hat
und sie Ihnen gibt!"

    Das war abends.  Ich saß da und las in einem
Räuberbuche.  Da kam Mutter heim und erzählte, was
Herr Layritz gesagt hatte.  Sie weinte mehr aus
Empörung über solche Art der Frömmigkeit, als über die
Abweisung selbst.  Vater saß lange Zeit still; dann stand
er auf und ging.  Unter der Tür aber sagte er: "Einen
solchen Versuch machen wir nicht mehr!  Karl geht auf
das Seminar, und wenn ich mir die Hände blutig arbeiten
soll!"  Als er fort war, saßen wir andern noch
lange Zeit traurig beisammen.  Dann gingen wir schlafen.
Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte.  Ich sann auf
Hilfe.  Ich rang nach einem Entschlusse.  Das Buch,
in dem ich gelesen hatte, führte den Titel "Die
Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller
Bedrängten."  Als Vater nach Hause gekommen und dann
eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich
aus der Kammer und zog mich an.  Dann schrieb ich
einen Zettel: "Ihr sollt euch nicht die Hände blutig
arbeiten; ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe!"  Diesen
Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stückchen
trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von
meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete die
Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf,
aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann
gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die
Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über
Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu, nach
Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus
der Not.  -- -- --

                         _________


                            IV.
                  Seminar- und Lehrerzeit.

                           _____

Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und
in ihren Früchten aufzuspeichern hat, aus sich selbst
heraus, sondern aus dem Boden, dem sie entsprossen ist,
und aus der Atmosphäre, in der sie atmet.  Pflanze ist in
dieser Beziehung auch der Mensch.  Körperlich ist er freilich
nicht angewachsen, aber geistig und seelisch wurzelt
er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als mancher Baumriese
in kalifornischer Erde.  Darum ist kein Mensch für das,
was er in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße
verantwortlich zu machen.  Ihm alle seine Fehler vollauf
anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die Behauptung,
daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke.
Nur wer den Heimatboden und die Jugendatmosphäre
eines "Gewordenen" genau kennt und richtig zu
beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen,
welche Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen
Verhältnissen und welche Teile aus dem rein persönlichen
Willen des Betreffenden geflossen sind.  Es war eine der
größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen
Teufel, den die Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze
führten, zu seiner eigenen, vielleicht geringen Schuld auch
noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit
aufzubürden.  Es gibt leider auch heute mehr als genug
Menschen, welche diese Grausamkeit sogar jetzt noch
begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind, die, wenn
es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden
müßten.  Und gewöhnlich sind es nicht etwa die
Fernstehenden, sondern grad die lieben "Nächsten", welche
Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die
Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen
mit ausgegangen sind.  Sie tragen also an der Schuld,
die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld.

    Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus
denen ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen,
so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend
welchen Teil meiner eigenen Schuld von mir ab und auf
andere zu werfen, sondern nur, um einmal durch ein laut
sprechendes Beispiel zu zeigen, wie vorsichtig man sein
muß, wenn man sich die Aufgabe stellt, eine menschliche
Existenz nach ihrer Entstehung und Entwicklung hin genau
zu untersuchen.

    Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe
bei einander liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre
Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände zwischen
einander hineinschoben.  In Hohenstein wurde der
Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen
Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden,
dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus
zuwendeten.  Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt.
Aus Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und
Publizist Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände
zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte.  Ich habe es
hier weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal
zu tun, in dem ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken
pflegt, "das erste Licht der Welt erblickte".  Die
ersten und ältesten Eindrücke meiner Kindheit sind
diejenigen einer beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur
in materieller, sondern auch in anderer Beziehung.
Niemals in meinem Leben habe ich so viel geistige
Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals.  Der
Bürgermeister war ein unstudierter Mann.  Es gab zwar einen
Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an
der Nachtwache zu beteiligen.  Die Hauptbeschäftigung
bildete die Weberei.  Der Verdienst war kärglich, ja oft
überkärglich zu nennen.  Zu gewissen Zeiten gab es
wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine
Arbeit.  Da sah man Frauen in den Wald gehen und
Körbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung
zu haben.  Des Nachts konnte man auf einsamen Pfaden
Männern begegnen, welche Baumstämme nach Hause trugen,
die noch während der Nacht zu Feuerholz zersägt und
zerhackt werden mußten, damit, wenn die Haussuchung
kam, nichts gefunden werden könne.  Es galt für die
armen Weber, fleißig zu sein, um den Hunger abzuwehren.
Am Sonnabend war Zahltag.  Da trug ein jeder sein
"Stück zu Markte".  Für jeden Fehler, der sich zeigte,
gab es einen bestimmten Lohnabzug.  Da brachte gar
mancher weniger heim, als er erwartet hatte.  Dann
wurde ausgeruht.  Der Sonnabend Abend war der
Heiterkeit und -- -- -- dem Schnaps gewidmet.  Man
fand sich beim Nachbar ein.  Da ging die Bulle rundum.
Bulle ist Abkürzung von Bouteille.  In einigen Familien
sang man dazu, aber was für Lieder oft!  In andern
regierte die Karte.  Da wurde "gelumpt", "geschafkopft"
oder gar "getippt".  Das letztere ist ein verbotenes
Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche opferte.
Man trank dazu aus einem einzigen Glas.  Dieses ging
von Hand zu Hand, von Mund zu Mund.  Auch während
der Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem
Gang in das Freie war man mit Branntwein versehen.
Da saß man im Grünen und trank.  Schnaps war
überall dabei; man mochte ihn nicht entbehren.  Man
betrachtete ihn als den einzigen Sorgenbrecher und nahm
seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich das so ganz
von selbst verstände.

    Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über
die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in
ganz geringer Zahl.  Patriziergeschlechter gab es in beiden
Städtchen nicht.  In Hohenstein wohnten einige Familien,
die man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht.
Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch
gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt,
dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen,
sich in klingende Einnahmen zu verwandeln.  So war
die ganze Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige
und der allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt,
die man jetzt kaum mehr für möglich hält.  Im persönlichen
Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als
die wirklichen, richtigen Namen.  Als einziges Beispiel,
welches ich da anführe, diene der Name Wolf.  Es gab
einen Weißkopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf,
einen Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter
Wölfe.  Die Häuser waren klein, die Gassen
eng.  Ein jeder konnte in die Fenster des andern sehen
und alles beobachten, was geschah.  So wurde es fast
zur Unmöglichkeit, Geheimnisse voreinander zu haben.  Und
da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder seinen
Nachbar im Sacke.  Man wußte alles, aber man schwieg.
Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ man
ein Wörtchen fallen, und das war genug.  Man kam
dadurch zur immerwährenden, aber stillen Hechelei [sic], zur
niedrigen Ironie, zu einem scheinbar gutmütigen Sarkasmus,
welcher aber nichts Reelles an sich hatte.  Das
war ungesund und griff immer weiter um sich, ohne daß
man es beachtete.  Das ätzte; das wirkte wie Gift.  So
hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein
lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte,
verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel
zu pflegen.  Die Betreffenden kamen zusammen, um
sich in der Zubereitung und im Gebrauch von falschen
Karten zu üben.  Sie etablierten sich in einer vor der
Stadt gelegenen Wirtschaft.  Sie schickten Zubringer
aus, um Opfer einzufangen.  Da saß man nächtelang
und spielte um hohe Einsätze.  Mancher kam da mit
vollen Taschen und ging mit leeren fort.  Dieses Treiben
war im Städtchen wohlbekannt.  Man erzählte sich von
jedem neuen Coup, der gemacht worden war.  Man
sprach von den erbeuteten Summen, und man freute sich
darüber, anstatt daß man diese Betrügereien verwarf.
Man verkehrte mit den Falschspielern wie mit ehrlichen
Leuten.  Man leistete ihnen Vorschub.  Ja, man achtete,
man rühmte ihre Pfiffigkeit, und man verriet nicht das
geringste von allem, was man von ihnen wußte.  Daß
hierdurch eigentlich das ganze Städtchen an dem Betruge
gegen die herbeigeschleppten Opfer beteiligt wurde und
daß jedermann, der von diesen Gaunereien wußte, sich,
streng genommen, als Hehler zu betrachten hatte, das
leuchtete keinem Menschen ein.  Wer damals gesagt hätte,
daß dies einen beklagenswerten, allgemeinen moralischen
Tiefstand bedeute, der wäre wohl ausgelacht worden, oder
gar noch Schlimmeres.  Das allgemeine Rechtsgefühl war
irregeführt.  Man bewunderte die Falschspieler, wie man
die Rinaldo Rinaldini's und die Himlo Himlini's der
alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände man
verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden
Städtchen gab.  Ich habe niemals gehört, daß der
Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener
Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um
ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der
ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen.  Man duldete
es.  Man ging schweigend darüber hinweg.  Die Jugend
aber, die das alles mit ansah und mit anhörte, mußte
den Eindruck gewinnen, daß diese Betrügereien
bewundernswerte und sehr gut lohnende Taten seien, und
so ein Eindruck wird nie wieder verwischt.  Mir wurde
einst von einem Juristen gesagt, ich sei in einem Sumpf
geboren worden.  Ob dieser Herr wohl recht gehabt hat
oder nicht?

    Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren
die beiden Namen "Batzendorf" und die "Lügenschmiede".
Der erstere leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche
und schweizer Scheidemünze, Batzen genannt, zurück.
Batzendorf war eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder
Einwohner Ernsttals beitreten konnte.  Es war ein Jux,
aber ein Jux, der häufig zum Ausarten kam.  Batzendorf
hatte seinen eigenen Gemeindevorstand, seinen eigenen
Pfarrer, seine eigene Gemeindeverwaltung, das alles
aber von der heiter sein sollenden Seite genommen.  Das
allerkleinste Häuschen Ernsttals, das der alten
Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde zum Batzendorfer
Rathause erhoben.  Eines Morgens stand ein Turm darauf,
den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert
und der alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie
zu fragen.  Sie war aber sehr stolz darauf.  Die Wirtin
zum Meisterhaus war Dorfnachtwächter.  Sie mußte die
Stunden ansagen und tuten.  Jede Behörde und jede
Charge war vertreten, bis tief herunter zum Kartoffel-
und zum Schotenwächter, auch das alles in das Komische
gezogen.  Des Sonnabends war Versammlungstag.  Da
kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die tollsten
Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu
werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge, Verheiratung
zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne
Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung
eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft
sogar sehr tolle Sachen.  Der Herr Stadtrichter Layritz
war alt geworden und duldete das.  Der Herr Pastor
war noch älter und glaubte von allem das Beste.  Er
sagte immer: "Nur nicht übertreiben, nur nicht übertreiben!"
Damit glaubte er, seiner Pflicht genügt zu haben.
Der Herr Kantor schüttelte den Kopf.  Er war zu bescheiden,
öffentlich mit einem Tadel hervorzutreten.  Aber
unter vier Augen hatte er den Mut, meinen Vater zu
warnen: "Machen Sie nicht mit, Herr Nachbar, machen
Sie ja nicht mit!  Es ist nicht gut für Sie und auch nicht
gut für den Karl.  Was man da treibt, ist alles weiter
nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und
Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand
rühren soll!  Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu
sehen noch zu hören bekommen!"

    Er hatte sehr, sehr Recht.  Dieses "Batzendorf",
in dem man nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine
ganze Reihe von Jahren bestanden und manche stille,
heimliche, doch um so bösere Wirkung gehabt.  Da lockerten
sich "die Bande frommer Scheu".  Da gab es wöchentlich
etwas Neues.  Wir Kinder verfolgten die Albernheiten
der Erwachsenen mit riesigem Interesse und höhnten
und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen bewußt
zu werden.  Das ging so fort, bis ein neuer, strammer
Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung
kam, und Batzendorf an sich selbst zugrunde ging.  Aber
einen Nutzen hatte es keinem Menschen gebracht.  Es war
eine Versumpfung, in welche nicht nur die Alten gestiegen
sind, sondern wir Jungen wurden auch mit hinein geführt
und haben sehr viel von unserer Kindlichkeit drin
stecken lassen müssen.  Dem Unbegabten schadet das weniger;
in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem
Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage
treten, nicht mehr einzudämmen sind.

    Die "Lügenschmiede" war etwas neueren Datums.
Indem ich von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine
Namen.  Ich will das, was ich sage, nur gegen die Sache
selbst, nicht aber gegen Personen richten.  Es gab in
Ernsttal einige jüngere Leute, welche außerordentlich
satirisch begabt waren.  An sich sehr achtbare, liebenswürdige
Menschen, hätten sie in andern, größeren Verhältnissen
durch diese Begabung ihr Glück machen können,
so aber blieben sie unten in den kleinen Verhältnissen
hangen und konnten also auch nur Kleinliches und
Gewöhnliches, oft sogar nur sehr Triviales leisten.  Es war
wirklich schade um sie!

    Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und
Witzigste, brachte es zum Hausbesitzer und hatte die
Kühnheit, in diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und
Mittel für Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft
zu errichten, aber natürlich mit Restauration,
denn ohne diese wäre es ganz unmöglich gegangen.  Diese
Restauration hatte zunächst keinen besonderen Namen;
aber nicht lange, so wurde ihr einer gegeben, und zwar
ein sehr bezeichnender.  Man nannte sie die Lügenschmiede
und ihren Besitzer, den Wirt, den Lügenschmied.
Weshalb?  Sowohl dem Wirte als auch seinen Stammgästen
saß allen der Schalk im Nacken.  Ein Anderer
konnte öfters dort verkehren, ohne daß er etwas davon
bemerkte.  Aber plötzlich brach es über ihn los, plötzlich,
ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, der nicht zu
widerstehen war.  Er wurde "gemacht", wie man es
nannte.  Man hatte seine schwächste Seite und seinen
stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine
wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er
mochte wollen oder nicht.  An dieser Lüge blamierte er
sich, mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und
mochte er zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle
die, welche beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen.
Diese Lügenschmiede wurde weithin bekannt.  Tausende
von Fremden kamen, um da einzukehren, und ein jeder,
dem es etwa einfiel, mit dem Wirt und seinen Stammgästen
anzubinden, nahm seine Backpfeife mit und zog
beschämt von dannen.

    Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig.  Verlangte
einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak.  Begehrte
er einen Schnaps, so erhielt er Limonade.  Wollte er
einen marinierten Hering essen, so setzte man ihm
Kartoffeln in der Schale und Apfelmus vor.  Und keiner
weigerte sich, dies zu nehmen und zu bezahlen, denn
Jeder wußte, die Blamage kommt dann hinterher.  Bessere
Gäste hatten keine so gewöhnlichen Witze zu befürchten.
Die ließ man warten.  "Der muß erst noch reif werden,"
pflegte der Lügenschmied zu sagen.  Und Jeder wurde
reif, Jeder, mochte er sein, wer oder was er wollte, ob
studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt oder niedrig.
Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber mit einem
Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus.  Einem Gast,
der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier
sei nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm.
Dieser war aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister.
Er seifte den Betreffenden mit Anilinwasser ein und
rasierte ihn, ohne daß einer der Anwesenden eine Miene
dabei verzog.  Der Rasierte bezahlte und ging dann
vergnügt von dannen, vollständig blau im Gesicht.  Er
konnte sich wochenlang nicht sehen lassen, zur Strafe
dafür, daß er in der Lügenschmiede behauptet hatte, er sei
gescheiter als alle, ihn könne niemand foppen.  Einem
andern Gaste wurde weisgemacht, sein Bruder sei heut'
Vormittag auf dem Jahrmarkt verunglückt.  Er sei einem
Riesenleierkasten zu nahe gekommen und mit dem rechten
Bein in das Räderwerk geraten; man habe ihm infolgedessen
das Bein unterhalb des Knies abnehmen müssen.
Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam
aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig
gesunden Bruder zurück.  Auch die Herren von der
Behörde verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch
nur zu Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet
wußten.  Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen,
und oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse
zu verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne
unangenehme Folgen blieben.  Denn die Sache artete,
wie Alles, was unten aus dem Niedrigen stammt, nach
und nach aus.  Die Witze wurden gewöhnlicher; sie
verloren den Reiz.  Man hatte sich verausgabt.  Und ein
Jeder, der die Lügenschmiede betrat, glaubte, Lügen
machen und Unwahrheiten präsentieren zu dürfen.  Der
Geist ging aus.  Was früher wirklicher Humor, wirkliche
Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und Schwank gewesen
war, das wurde jetzt zur Zote, zur Zweideutigkeit,
zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur unvorsichtigen
Klatscherei und Lüge.  Die Lügenschmiede ist jetzt
verschwunden.  Das Haus wurde der Erde gleichgemacht.
Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten
Witzbolderei nicht auch verschwunden.  Sie existieren noch
heute.  Sie wirken fort.  Auch das war ein Sumpf, und
zwar ein unter hellem Grün und winkenden Blumen
verborgener Sumpf.  Nicht nur die Ortsseele hat unter
ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten
Umkreise rund über das Land gegangen, und leider,
leider bin auch ich einer von denen, die sehr und schwer
darunter zu leiden hatten und noch heutigen Tages
leiden müssen.  Daß meine Gegner es wagen konnten,
den Karl May, der ich in Wirklichkeit und Wahrheit
bin, in die verlogenste aller Karikaturen zu verwandeln
und mich sogar als Marktweiberbandit und Räuberhauptmann
durch alle Zeitungen zu schleppen, das wurde zum
größten Teil durch die Lügenschmiede ermöglicht, deren
Stammgäste gar nicht bedachten, was sie an mir
begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen
über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten
traktierten.  Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück
und habe hier noch ganz kurz zu sagen: Was ich über
jene Falschspielergesellschaft, über "Batzendorf" und über
die "Lügenschmiede" zu berichten hatte, sind nur einige
kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner
Vaterstadt.  Ich könnte diese Einblicke noch überaus
erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich
und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in
den meine Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen,
will dies aber gern und mit Vergnügen unterlassen,
weil ich kürzlich zu meiner Freude gesehen habe, wieviel
sich dort verändert hat.  Ich hatte meine Vaterstadt
schon lange Zeit gemieden und wollte sie auch ferner
meiden, als ich durch eine Rechtssache gezwungen wurde,
sie noch einmal aufzusuchen.  Ich wurde angenehm enttäuscht.
Das meine ich nicht äußerlich, sondern innerlich.
Ich habe der Städte und Orte genug gesehen; da
kann mich nichts überraschen und auch nichts enttäuschen.
Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir bisher fremden
Menschen zunächst und vor allen Dingen seine Seele
kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden
Ortes, den ich neu betrete.  Und die Seele Hohenstein-Ernsttals
war zwar noch die alte; das sah ich sofort;
aber sie hatte sich gehoben; sie hatte sich gereinigt; sie
hatte ein anderes, besseres und würdigeres Aussehen
bekommen.  Ich hatte Gelegenheit, sie einige Tage lang
beobachten zu können, und darf wohl sagen, daß mir
diese Beobachtungen Freude bereiteten.  Ich fand
Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte.  Ich
begegnete einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie
früher irrezuleiten war.  Es gab mehr Gemeindesinn,
mehr Zusammenhangsgefühl.  Ja, die materiellen Verhältnisse
zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in
das Ideale.  Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich
gehoben und zeigte die Fähigkeit, sich auch fernerhin und
zusehends zu veredeln.  Ich begegnete alten Bekannten,
aus denen in Wirklichkeit "Etwas geworden" war.  Das
war mir eine Genugtuung, die ich nicht erwartet hatte.
Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten Gesichter
mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, sondern
die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit, von
gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft.  War
dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her?
Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet werden
kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben auffrischend,
stärkend und verbessernd wirkt.  Ich gestehe
aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen
Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere
und von Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare
Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder
sein möge.  Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten
vorüber sind.  Man hat sich aufgerafft und steigt mit
jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit
dem Erfolg kommt auch der Segen.

    Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun
zu mir selbst zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in
der ich aus Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln
spanischen Räuberhauptmann Hilfe zu holen.  Man glaube
ja nicht, daß dies eine "verrückte" Idee gewesen sei.  Ich
war geistig kerngesund.  Meine Logik war zwar noch
kindlich, aber doch schon wohlgeübt.  Der Fehler lag
daran, daß ich infolge des verschlungenen Leseschundes den
Roman für das Leben hielt und darum das Leben nun
einfach als Roman behandelte.  Die überreiche Phantasie,
mit der mich die Natur begabte, machte die Möglichkeit
dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.

    Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag.
In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von
uns.  Bei ihnen kehrte ich ein.  Sie nahmen mich freundlich
auf und veranlaßten mich, zu bleiben.  Inzwischen
hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen.
Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien liegt.
Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und
machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort
anzutreffen, sofort auf den Weg.  Als er kam, saßen wir
rund um den Tisch, und ich erzählte in aller
Herzensaufrichtigkeit, wohin ich wollte, zu wem und auch warum.
Die Verwandten waren arme, einfache, ehrliche Webersleute.
Von Phantasie gab es bei ihnen keine Spur.  Sie
waren über mein Vorhaben einfach entsetzt.  Hilfe bei
einem Räuberhauptmann suchen!  Sie wußten sich zunächst
keinen Rat, was sie mit mir anfangen sollten,
und da war es wie eine Erlösung für sie, als sie meinen
Vater hereintreten sahen.  Er, der jähzornige, leicht
überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich.
Seine Augen waren feucht.  Er sagte mir kein einziges
Wort des Zornes.  Er drückte mich an sich und sagte:
"Mach so Etwas niemals wieder, niemals!"  Dann ging
er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim.

    Der Weg betrug fünf Stunden.  Wir sind in dieser
Zeit still nebeneinander hergegangen; er führte mich an
der Hand.  Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals,
wie lieb er mich eigentlich hatte.  Alles, was er vom
Leben wünschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich.
Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder ein solches
Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen.  Und
er?  Was mochten das wohl für Gedanken sein, die jetzt
in ihm erklangen?  Er sagte nichts.  Als wir nach
Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner
Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich
müde.  Von meinem Ausflug nach Spanien wurde
nie ein Wort gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und
das Lesen jener verderblichen Romane hörte auf.  Als
dann die Zeit gekommen war, stellte sich die nötige Hilfe
ein, ohne aus dem Lande der Kastanien geholt werden
zu müssen.  Der Herr Pastor legte ein gutes Wort für
mich bei unserem Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau,
ein, und dieser gewährte mir eine Unterstützung
von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man für
mich für hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen.  Zu
Ostern 1856 wurde ich konfirmiert.  Zu Michaelis bestand
ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu
Waldenburg und wurde dort interniert.

    Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist!
Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden!
Nur?  Wie falsch!  Es gibt keinen höheren Stand als
den Lehrerstand, und ich dachte, fühlte und lebte mich
derart in meine nunmehrige Aufgabe hinein, daß mir
Alles Freude machte, was sich auf sie bezog.  Freilich
stand diese Aufgabe nur im Vordergrund.  Im Hintergrunde,
hoch über sie hinausragend, hob sich das über
alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem
ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war:
Stücke für das Theater schreiben!  Ueber das Thema
Gott, Mensch und Teufel!  Konnte ich das als Lehrer
nicht ebenso gut wie als gewesener Akademiker?  Ganz
gewiß, vorausgesetzt freilich, daß die Gabe dazu nicht
fehlte.  Wie stolz ich war, als ich zum ersten Male die
grüne Mütze trug!  Wie stolz auch meine Eltern und
Geschwister!  Großmutter drückte mich an sich und bat:

    "Denk immer an unser Märchen!  Jetzt bist du
noch in Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan.
Dieser Weg wird heut beginnen.  Du hast zu steigen.
Kehre dich niemals an die, welche dich zurückhalten
wollen!"

    "Und die Geisterschmiede?" fragte ich.  "Muß ich
da hinein?"

    "Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,"
antwortete sie.  "Bist du es aber nicht wert, so wird
dein Leben ohne Kampf und ohne Qual verlaufen."

    "Ich will aber hinein; ich will!" rief ich mutig aus.

    Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und
sagte lächelnd:

    "Das steht bei Gott.  Vergiß ihn nicht!  Vergiß
ihn nie in deinem Leben!"

    Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber,
falls ich ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das
niemals schwer geworden ist.  Ich kann mich nicht besinnen,
daß ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben
zu ringen gehabt hätte.  Die Ueberzeugung, daß es einen
Gott gebe, der auch über mich wachen und mich nie verlassen
werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste,
unveräußerliche Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen,
und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst
anrechnen, daß ich diesem meinem lichten, schönen
Kinderglauben niemals untreu geworden bin.  Freilich, so ganz
ohne alle innere Störung ist es auch bei mir nicht
abgegangen; aber diese Störung kam von außen her und
wurde nicht in der Weise aufgenommen, daß sie sich hätte
festsetzen können.  Sie hatte ihre Ursache in der ganz
besonderen Art, in welcher die Theologie und der
Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde.  Es gab
täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder
Schüler unweigerlich teilnehmen mußte.  Das war ganz
richtig.  Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore
in die Kirche geführt.  Das war ebenso richtig.  Es gab
außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und
ähnliche Zwecke.  Auch das war gut und zweckentsprechend.
Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen
wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in
Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre.  Das war ganz
selbstverständlich.  Aber es gab bei alledem Eines nicht,
nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die
Hauptsache ist; nämlich es gab keine Liebe, keine Milde,
keine Demut, keine Versöhnlichkeit.  Der Unterricht war
kalt, streng, hart.  Es fehlte ihm jede Spur von Poesie.
Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab.  Die
Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche
man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte.
Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwölf
erreichte.  Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu
Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben
Worten und Ausdrücken geführt.  Was es am heutigen
Datum gab, das gab es im nächsten Jahre an demselben
Tage ganz unweigerlich wieder.  Das ging wie eine alte
Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und
das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert.  Jeder
einzelne Gedanke gehörte in sein bestimmtes Dutzend und
durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen
lassen.  Das ließ keine Spur von Wärme aufkommen;
das tötete innerlich ab.  Ich habe unter allen meinen
Mitschülern keinen einzigen gekannt, der jemals ein
sympathisches Wort über diese Art des Religionsunterrichts
gesagt hätte.  Und ich habe auch keinen gekannt, der so
religiös gewesen wäre, aus freien Stücken einmal die
Hände zu falten, um zu beten.  Ich selbst habe stets und
bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch
heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar
habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner
Mitschüler fürchtete.

    Ich hätte gern über diese religiösen Verhältnisse
geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe
habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren
und äußeren Werdegang von Einfluß war.  Dieses
Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar
vor.  Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem,
die einzige reine, wahre Lehre zu sein.  Wie arm und
wie gottverlassen man sich da fühlte!  Die Andern nahmen
das gar nicht etwa als ein Unglück hin; sie waren gleichgültig;
ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit
fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück.
Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr
als daheim.  Und ich wurde hier noch klassenfremder,
als ich es dort gewesen war.  Das lag teils in den
Verhältnissen, teils aber auch an mir selbst.

    Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler.  Das
darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei
zu fallen.  Denn was ich wußte, das war eben nichts
weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete
Anhäufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten
Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte.  Wenn ich
mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren
Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an
und lächelte darüber.  Man fühlte instinktiv heraus, daß
ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei.
Die andern, meist Lehrersöhne, hatten zwar nicht so viel
gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert
und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedächtnisses,
stets bereit, benutzt zu werden.  Ich fühlte,
daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und sträubte
mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen.  Meine
stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen
Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das
ging leider nicht so schnell, wie ich es wünschte.  Das,
was ich aufbaute, fiel immer wieder ein.  Es war
wie ein mühsames Graben durch einen Schneehaufen
hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschten.  Und
dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht
beseitigen lassen wollte.  Nämlich den Gegensatz zwischen
meiner außerordentlich fruchtbaren Phantasie und der
Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des hiesigen
Unterrichts.  Ich war damals noch viel zu jung, als
daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam.
Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war,
als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen
hatte.  Man lehrte uns das Lernen.  Hatten wir das
begriffen, so war das Fernere leicht.  Man gab uns
lauter Knochen; daher die geradezu schmerzende Trockenheit
des Unterrichts.  Aber aus diesen Knochen fügte
man die Skelette der einzelnen Wissenschaften zusammen,
deren Fleisch dann später hinzuzufügen war.  Bei mir
aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich
hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt,
aber keinen einzigen tragenden, stützenden
Knochen dazu.  In meinem Wissen fehlte das feste
Gerippe.  Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig
besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich
einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem
sie sich daheim zu fühlen vermochte.  Und das Schlimmste
hierbei war: das knochenlose Fleisch dieser Qualle war
nicht gesund, sondern krank, schwer krank; es war von
den Schundromanen des Kegelhausbesitzers vergiftet.  Das
begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und fühlte mich
umso unglücklicher dabei, als ich mit keinem Menschen
davon sprechen konnte, ohne mich dadurch bloßzustellen.
Grad die Trockenheit und, ich muß wohl sagen, die
Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, welche
mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte.  Ich
fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit
wir sie beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir.
Alles, was ich zusammenfügte und was ich mir innerlich
aufzubauen versuchte, wurde formlos, wurde häßlich,
wurde unwahr und ungesetzlich.  Ich begann, Angst vor
mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner
seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu säubern, zu
reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in
Anspruch nehmen zu müssen, die es ja auch gar nicht
gab.  Ich hätte mich wohl gern einem unserer Lehrer
anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt,
so unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus,
keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine
Psychologen.  Sie hätten mich befremdet angesehen und
einfach stehen lassen.

    Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang
nach geistiger Betätigung.  Ich lernte sehr leicht und
hatte demzufolge viel Zeit übrig.  So dichtete ich im
Stillen; ja, ich komponierte.  Die paar Pfennige, die ich
erübrigte, wurden in Schreibpapier angelegt.  Aber was
ich schrieb, das sollte keine Schülerarbeit werden, sondern
etwas Brauchbares, etwas wirklich Gutes.  Und was
schrieb ich da?  Ganz selbstverständlich eine
Indianergeschichte!  Wozu?  Ganz selbstverständlich, um gedruckt
zu werden!  Von wem?  Ganz selbstverständlich von der
"Gartenlaube", die vor einigen Jahren gegründet worden
war, aber schon von Jedermann gelesen wurde.  Da war
ich sechzehn Jahre alt.  Ich schickte das Manuskript ein.
Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf ereignete,
bat ich um Antwort.  Es kam keine.  Darum schrieb
ich nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren
Tone, und nach weiteren zwei Wochen verlangte ich mein
Manuskript zurück, um es an eine andere Redaktion zu
senden.  Es kam.  Dazu ein Brief von Ernst Keil selbst
geschrieben, vier große Quartseiten lang.  Ich war fern
davon, dies so zu schätzen, wie es zu schätzen war.  Er
kanzelte mich zunächst ganz tüchtig herunter, so daß ich
mich wirklich aufrichtig schämte, denn er zählte mir höchst
gewissenhaft alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne
es zu ahnen, in der Erzählung begangen hatte.  Gegen
den Schluß hin milderten sich die Vorwürfe, und am
Ende reichte er mir, dem dummen Jungen, vergnügt die
Hand und sagte mir, daß er nicht übermäßig entsetzt
sein werde, wenn sich nach vier oder fünf Jahren wieder
eine Indianergeschichte von mir bei ihm einstellen sollte.
Er hat keine bekommen; aber daran trage nicht ich die
Schuld, sondern die Verhältnisse gestatteten es nicht.  Das
war der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen
habe.  Damals freilich hielt ich es für einen absoluten
Mißerfolg und fühlte mich sehr unglücklich darüber.
Inzwischen verging die Zeit.  Ich stieg aus dem Proseminar
in die vierte, dritte und zweite Seminarklasse, und in
dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes Schicksal
überfiel, aus welchem meine Gegner so überklingendes
Kapital geschlagen haben.

    Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die
Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von
jedem eine Woche lang.  Darum wurde der Betreffende
als "Wochner" bezeichnet.  Außerdem gab es in der ersten
Klasse einen "Ordnungswochner" und in der zweiten einen
"Lichtwochner", welch letzterer die Beleuchtung der
Klassenzimmer zu übersehen hatte.  Diese Beleuchtung geschah
damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines
niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde.
Der Lichtwochner hatte täglich die Säuberung der alten,
wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die
Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten
zu reinigen.  Diese Reste wurden entweder einfach
weggeworfen oder von dem Hausmanne zu Stiefel- oder
anderer Schmiere zusammengeschmolzen.  Sie waren
allgemein als wertlos anzusehen.

    Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe,
Lichtwochner zu sein, an mich kam.  Ich besorgte diese
Arbeit wie jeder andere.  Am Tage vor dem
Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien.  Am Tage
vorher kam eine meiner Schwestern, um meine Wäsche
abzuholen und das wenige Gepäck, welches ich mit in die
Ferien zu nehmen hatte.  Sie tat dies stets, so oft es
Ferien gab.  Der Weg, den sie da von Ernsttal nach
Waldenburg machte, war zwei Stunden lang.  So auch
jetzt.  Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen
der Leuchter.  Sie war traurig.  Es stand nicht gut
daheim.  Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst.
Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, für das
Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen.  Das
hatte sie heuer kaum erschwingen können.  Aber bescheert [sic]
werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld
dazu.  Es gab keine Lichter für den Weihnachtsleuchter.
Sogar die hölzernen Engel der kleineren Schwestern sollten
ohne Lichte sein.  Zu diesen Engeln gehörten drei kleine
Lichte, das Stück für fünf oder sechs Pfennige; aber
wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren
Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu
fügen.  Das tat mir wehe.  Der Schwester stand das
Weinen hinter den Augen.  Sie sah die Talgreste, die ich
soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt
hatte.  "Könnte man denn nicht daraus einige
Pfenniglichte machen?" fragte sie.  "Ganz leicht,"
antwortete ich.  "Man braucht dazu eine Papierröhre und
einen Docht, weiter nichts.  Aber brennen würde es schlecht,
denn dieses Zeug ist nur noch höchstens für Schmiere zu
gebrauchen."  "Wenn auch, wenn auch!  Wir hätten doch
eine Art von Licht für die drei Engel.  Wem gehört
dieser Abfall?"  "Eigentlich Niemandem.  Ich habe ihn
zum Hausmann zu schaffen.  Ob der ihn wegwirft oder
nicht, ist seine Sache."  "Also wäre es wohl nicht
gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach Hause
nähmen?"  "Gestohlen.  Lächerlich!  Fällt keinem
Menschen ein!  Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige
wert.  Ich wickle dir ein wenig davon ein.  Daraus
machen wir drei kleine Weihnachtslichte."

    Gesagt, getan!  Wir waren nicht allein.  Ein anderer
Seminarist stand dabei.  Einer aus der ersten Klasse,
also eine Klasse über mir.  Es widerstrebt mir, seinen
Namen zu nennen.  Sein Vater war Gendarm.  Dieser
wackere Mitschüler sah alles mit an.  Er warnte mich
nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging
fort und -- -- -- zeigte mich an.  Der Herr Direktor
kam in eigener Person, den "Diebstahl" zu untersuchen.
Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab
den "Raub", den ich begangen hatte, zurück.  Ich dachte
wahrhaftig nichts Arges.  Er aber nannte mich einen
"infernalischen Charakter" und rief die Lehrerkonferenz
zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden.
Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet.
Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte
gehen, wohin es mir beliebte.  Ich ging gleich mit der
Schwester -- -- -- in die heiligen Christferien -- --
-- ohne Talg für die Weihnachtsengel -- -- -- es waren
das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage.  Ich habe
wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für
mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen
sei.  An diesen Weihnachtstagen löschten heilige Flammen
in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren.  Ich
lernte zwischen Christentum und seinen Bekennern
unterscheiden.  Ich hatte Christen kennengelernt, die
unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken
und Heiden verfahren würden.

    Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus
und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete,
verständiger und humaner als die Seminardirektion.  Ich
erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen
Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen.
Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite,
und bestand nach zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen,
worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt,
bald aber nach Altchemnitz kam, und zwar in eine
Fabrikschule, deren Schüler ausschließlich aus ziemlich
erwachsenen Fabrikarbeitern bestanden.  Hier haben meine
Bekenntnisse zu beginnen.  Ich lege sie ab, ohne Scheu,
der Wahrheit gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst,
sondern mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.

    Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück.
Das Examen hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere
Verhältnisse eine kostspielige Sache.  Hierzu kam, da ich
als Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen
konnte, eine wenn auch noch so bescheidene
Ausstattung an Wäsche und andern notwendigen Dingen.
Das konnten meine Eltern nicht bezahlen; ich mußte es
auf mein Konto nehmen; das heißt, ich borgte es mir,
um es von meinem Gehalte nach und nach abzuzahlen.
Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig umdrehen,
ehe er ausgegeben wurde!  Ich beschränkte mich auf das
Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht
absolut notwendig war.  Ich besaß nicht einmal eine Uhr,
die doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu
richten hat, fast unentbehrlich ist.

    Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden
war, hatte kontraktlich für Logis für mich zu sorgen.  Er
machte sich das leicht.  Einer seiner Buchhalter besaß
auch freies Logis, Stube mit Schlafstube.  Er hatte bisher
beides allein besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert;
er mußte mit mir teilen.  Hierdurch verlor er
seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte
ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich gar
wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen
war und ihm der Gedanke nahelag, sich auf irgend eine
Weise von dieser Störung zu befreien.  Im übrigen kam
ich ganz gut mit ihm aus.  Ich war ihm möglichst gefällig
und behandelte ihn, da ich sah, daß er das wünschte,
als den eigentlichen Herrn des Logis.  Das verpflichtete
ihn zur Gegenfreundlichkeit.  Die Gelegenheit hierzu fand
sich sehr bald.  Er hatte von seinen Eltern eine neue
Taschenuhr bekommen.  Seine alte, die er nun nicht mehr
brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand.
Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark.  Er
bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte
aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so
sollte es eine neue, bessere sein.  Freilich stand dies noch
in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen
hatte.  Da machte er selbst mir den Vorschlag,
seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu
stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet sei.  Ich
ging darauf ein und war ihm dankbar dafür.  In der
ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule
zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück.  Später unterblieb
das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der
Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie nicht
mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lächerlich
vor.  Schließlich nahm ich sie sogar auf Ausgängen
mit und hing sie erst am Abende, nach meiner Heimkehr,
an Ort und Stelle.  Ein wirklich freundschaftlicher oder
gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt.  Er
duldete mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen
absichtlich merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung
nicht behage.

    Da kam Weihnacht.  Ich teilte ihm mit, daß ich
die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und
verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule
gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung
zurückzukehren.  Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr
ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar
nicht weit.  Die Uhr zurückzulassen, daran hatte ich in
meiner Ferienfreude nicht gedacht.  Als ich bemerkte; daß
sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr
gleichgültig.  Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern
Absicht bewußt.  Dieser Abend bei den Eltern war ein
so glücklicher.  Ich hatte die Schülerzeit hinter mir; ich
besaß ein Amt; ich bekam Gehalt.  Der Anfang zum
Aufstieg war da.  Morgen war heiliger Abend.  Wir
begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten.
Dabei sprach ich über meine Zukunft, über meine Ideale,
die für mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen.
Der Vater schwärmte mit.  Die Mutter war stillglücklich.
Großmutters alte, treue Augen strahlten.  Als wir
endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit
wach im Bette und hielt Rechenschaft über mich.  Meine
innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich
bewußt.  Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor
mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer
und mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller
werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen!  Alle
inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten
Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz
für Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde!  In diesen
Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war
der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach
dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine
Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen.
Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich
der Lehrer May sei.  Als ich dies bejahte, forderte er
mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur
Polizei, wo man eine Befragung für mich habe.  Ich
ging mit, vollständig ahnungslos.  Ich wurde zunächst
in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau.  Da saß
eine Frau und nähte.  Wessen Frau, darüber bitte ich,
schweigen zu dürfen.  Sie war eine gute Bekannte meiner
Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit
angstvollen Augen an.  Der Gendarm gebot mir, mich
niederzusetzen, und ging für kurze Zeit hinaus, seine
Meldung zu machen.  Das benutzte die Frau, mich hastig
zu fragen:

    "Sie sind arretiert!  Wissen Sie das?"

    "Nein," antwortete ich, tödlich erschrocken.
"Warum?"

    "Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr
gestohlen haben!  Wenn man sie bei Ihnen findet,
bekommen Sie Gefängnis und werden als Lehrer
abgesetzt!"

    Mir flimmerten die Augen.  Ich hatte das Gefühl,
als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf
geschlagen.  Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine
Gedanken vor dem Einschlafen, und nun plötzlich Absetzung
und Gefängnis!

    "Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur
geborgt!" stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.

    "Das glaubt man Ihnen nicht!  Weg damit!  Geben
Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht
sehen!  Schnell, schnell!"

    Meine Bestürzung war unbeschreiblich.  Ein einziger
klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb
aus.  Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und
die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand
vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber.
Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern
im Anzuge, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies
geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich
abzuholen.  Mache ich es mit dem, was nun geschah, so
kurz wie möglich!  Ich beging den Wahnsinn, den Besitz
der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man
nach ihr suchte, gefunden.  So vernichtete mich also die
Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer;
ich war ein -- -- -- Dieb!  Ich wurde nach Chemnitz
vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die
Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und
Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt.
Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich
zur Berufung, zur Appellation, zu irgendeinem Rechtsmittel,
zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine
Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen.  Jene Tage
sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig
entschwunden.  Ich möchte aus wichtigen psychologischen
Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie möglich
erzählen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge
ganz eigenartiger, seelischer Zustände, über die ich
im nächsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner
Erinnerung ausgestrichen ist.  Ich weiß nur, daß ich
mich vollständig verloren hatte und daß ich mich dann
in der Pflege der Eltern und besonders der Großmutter
wiederfand.  Als ich mich mühsam erholt hatte und wieder
kräftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz
gegangen, um mein beschädigtes Gedächtnis wieder
aufzufrischen.  Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten
vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik,
noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle,
an der ich ganz unbedingt gewesen war.  Aber plötzlich
stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter.
Er kam mir auf der Straße entgegen und hielt den
Schritt an, als wir uns erreichten.  Den erkannte ich
sofort, er mich auch, obgleich er versicherte, daß ich ganz
anders aussehe als früher, so außerordentlich leidend.
Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen.
So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt.
Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben
zu haben!  Ich sah ihn groß an.  Mir meine Karriere
verdorben?  Hätte das überhaupt Jemand gekonnt?
Selbst wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will,
gibt es doch Privatstellen genug, die besser bezahlt werden
als diejenigen des Staates.  Und meine Absicht war es
ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu
bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant und plante das
auch noch heut.  Ich ließ den Mann mitten auf der
Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen
Vorwurf zu machen.

    Ja, ich ging fort, aber wohin?!  Das ahnte ich
damals nicht.  Ich habe im letzten Verlaufe dieser
Darstellung gesagt, daß die Abgründe hinter mir lagen, vor
mir aber keine, und daß ich die Absicht hegte, Großes zu
leisten, vorher aber Großes zu lernen.  Das Erstere war
falsch.  Die Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht
hinter mir, sondern vor mir.  Und das Große, was ich
zu lernen und zu leisten hatte, war, in diese Abgründe
zu stürzen, ohne zu zerschmettern, und jenseits frei
hinaufzusteigen, ohne jemals wieder zurückzufallen.  Dies ist die
schwerste Aufgabe, die es für einen Sterblichen gibt, und
ich glaube, ich habe sie gelöst.  -- -- --

                         _________


                             V.
                       Im Abgrunde.

                           _____

Ich komme nun zu der Zeit, welche für mich und für jeden
Menschenfreund die schrecklichste, für den Psychologen
aber die interessanteste ist.  Es liegt mir in der schreibenden
Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung
jene psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung
zu geben, welche am besten geeignet wäre, das, was damals
in mir vorgegangen ist, für den Fachmann begreiflich
zu machen; aber ich schreibe hier nicht für den seelenkundigen
Spezialisten, sondern für die Welt, in der meine
Bücher gelesen werden, und habe mich also aller Versuche,
Psychologie zu treiben, zu enthalten.  Ich werde infolge
dessen alle Fachausdrücke vermeiden und lieber einen
bildlichen Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der
nicht allgemein verständlich ist.

    Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie
ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den
Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht.
Und ich brach zusammen!  Ich stand zwar wieder
auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer
Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang.  Daß es
grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung
verdoppelt.  Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete,
ob ich Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein
Rechtsmittel ergriffen habe, das weiß ich nicht.  Ich weiß
nur noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte,
zwei andere Männer mit mir.  Sie waren Untersuchungsgefangene.
Man schien mich also für ungefährlich zu
halten, sonst hätte man mich nicht mit Personen
zusammengesperrt, die noch nicht abgeurteilt waren.  Der Eine
war ein Bankbeamter, der Andere ein Hotelier.  Weshalb
sie in Untersuchung saßen, das kümmerte mich nicht.  Sie
zeigten sich lieb zu mir und gaben sich Mühe, mich aus
dem Zustande innerlicher Versteinerung, in dem ich mich
befand, emporzuheben, doch vergeblich.  Ich verließ die
Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben
Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte.  Ich ging
heim, zu den Eltern.

    Weder dem Vater noch der Mutter noch der Großmutter
noch den Schwestern fiel es ein, mir Vorwürfe
zu machen.  Und das war geradezu entsetzlich!  Als ich
damals in meinem kindlichen Unverstand nach Spanien
wollte und Vater mich heimholte, hatte ich mir vorgenommen,
ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu betrüben, und es
war so ganz anders und so viel schlimmer gekommen!
Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir
nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können.  Nun
da es so stand, handelte es sich für mich darum, nicht
erst seitwärts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und für
immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende
die Ideale lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten
Herzen trug.  Schriftsteller werden, Dichter werden!  Lernen,
lernen, lernen!  Am Großen, Schönen, Edlen mich
emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit!  Die Welt
als Bühne kennen lernen, und die Menschheit, die sich
auf ihr bewegt!  Und am Schlusse dieses schweren,
arbeitsreichen Lebens für die andere Bühne schreiben, für das
Theater, um dort die Rätsel zu lösen, die mich schon seit
frühester Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar
fühlte, aber noch lange, lange, lange nicht begriff!

    Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang
war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich
aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das
strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab
nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah,
als grad der heutige Tag mich sehen ließ.  Diese Nacht
war nicht ganz dunkel; sie hatte Dämmerlicht.  Und
sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auch
auf den Geist.  Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank.
Ich besaß die Fähigkeit zu jedem logischen Schlusse,
zur Lösung jeder mathematischen Aufgabe.  Ich hatte
den schärfsten Einblick in alles, was außer mir lag; aber
sobald es sich mir näherte, um zu mir in Beziehung zu
treten, hörte diese Einsicht auf.  Ich war nicht imstande,
mich selbst zu betrachten, mich selbst zu verstehen, mich
selbst zu führen und zu lenken.  Nur zuweilen kam ein
Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu wissen, was
ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten bis
zum nächsten Augenblicke.  Es war ein Zustand, wie ich
ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem
Buche gelesen hatte.  Und ich war mir dieses seelischen
Zustandes geistig sehr wohl bewußt, besaß aber nicht
die Macht, ihn zu ändern oder gar zu überwinden.  Es
bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, daß ich kein
Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit,
ganz dem neuen Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen,
sondern Drama ist der Mensch.  In diesem Drama gab
es verschiedene, handelnde Persönlichkeiten, die sich bald
gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander
unterschieden.

    Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das
Alles beobachtete.  Aber wer dieses Ich eigentlich war
und wo es steckte, das vermochte ich nicht zu sagen.  Es
besaß große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte
alle seine Fehler.  Ein zweites Wesen in mir stand stets
nur in der Ferne.  Es glich einer Fee, einem Engel,
einer jener reinen, beglückenden Gestalten aus Großmutters
Märchenbuche.  Es mahnte; es warnte.  Es lächelte,
wenn ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam
war.  Die dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern
seelische Gestalt, war mir direkt widerlich.  Fatal, häßlich,
höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend; anders habe
ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehört.
Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich hörte sie auch; sie
sprach.  Sie sprach oft ganze Tage und ganze Nächte
lang in einem fort zu mir.  Und sie wollte nie das Gute,
sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich war.
Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst
jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war.  Aber wenn sie
einmal still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt
und aufmerksam zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut
und so bekannt vor, als ob ich sie schon tausendmal
gesehen hätte.  Dann wechselte ihre Gestalt, und es wechselte
auch ihr Gesicht.  Bald stammte sie aus Batzendorf,
aus dem Kegelschub oder aus der Lügenschmiede.  Heut
sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini, morgen wie der
Raubritter Kuno von der Eulenburg und übermorgen
wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem
Talgpapiere stand.

    Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit
einem Male, sondern nach und nach.  Es vergingen viele,
viele Monate, bis sie sich in mir so weit entwickelt hatten,
daß ich sie mit dem geistigen Auge fassen und durch das
Gedächtnis festhalten konnte.  Und da begann ich zu
begreifen, um was es sich eigentlich handelte.  Was sich in
jedem Menschen vollzieht, ohne daß er es bemerkt oder
auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich es sah
und hörte.  War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade?
Oder war ich verrückt?  Dann aber jedenfalls nicht geistig,
sondern seelisch verrückt, denn ich machte diese Beobachtungen
mit einer Objektivität und Kaltblütigkeit, als ob es sich
nicht um mich selbst, sondern um einen ganz anderen, mir
vollständig fremden Menschen handle.  Und ich lebte das
gewöhnliche, alltägliche Leben ganz so, wie jede gesunde
Person es lebt, die von derartigen psychologischen
Vorgängen nicht angefochten wird.  Es kehrte mir die Kraft
und der Wille zum Leben zurück.  Ich arbeitete.  Ich
gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen.  Ich
dichtete; ich komponierte.  Ich bildete mir eine kleine
Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte,
einzuüben und auszuführen.  Es leben noch heut Mitglieder
dieser Kapelle.  Ich wurde Direktor eines Gesangvereins,
mit dem ich öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend.
Und ich begann, zu schriftstellern.  Ich schrieb erst
Humoresken, dann "Erzgebirgische Dorfgeschichten".  Ich hatte
nicht die geringste Not, Verleger zu finden.  Gute, packende
Humoresken sind äußerst selten und werden hoch bezahlt.
Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere.
Es war eine Freude, zu sehen, wie sich das so vortrefflich
entwickelte.  Aber diese Freude wurde in der grausamsten
Weise durch eine andere Entwicklung vergällt, die sich
zu gleicher Zeit und dem konform in meinem Innern
vollzog.  Die Spaltung dort griff weiter um sich.  Jede
Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen zu
wollen.  Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen,
mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren
wollten.  Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie
hören.  Es war zum Wahnsinnigwerden!  Wie es früher
außer mir selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die
helle und die dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen.
Und je länger es dauerte, daß sie sich von einander
unterschieden, um so deutlicher erkannte ich sie.  Es kämpften
da zwei einander feindliche Heerlager gegen einander:
Großmutters helle, lichte Bibel- und Märchengestalten
gegen die schmutzigen Dämonen jener unglückseligen Hohensteiner
Leihbibliothek.  Ardistan gegen Dschinnistan.  Die
übererbten Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren
wurde, gegen die beglückenden Ideen des Hochlandes,
nach dem ich strebte.  Die Miasmen einer vergifteten
Kinder- und Jugendzeit gegen die reinen, beseligenden
Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich in die Zukunft
schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das Laster gegen
die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen die
Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat,
um zum Edelmenschen zu werden.

    Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch,
der vorwärts strebt, durchzumachen.  Bei ihm sind es
Gedanken und Empfindungen, die gegeneinander streiten.
Bei mir aber hatten diese Gedanken und Regungen sich
zu sichtbaren und hörbaren Gestalten verdichtet.  Ich sah
sie bei geschlossenen Augen, und ich hörte sie, bei Tag und
bei Nacht; sie störten mich aus der Arbeit; sie weckten
mich aus dem Schlafe.  Die dunklen waren mächtiger
als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit gab es keinen
Widerstand.  In gewöhnlichen Stunden herrschte Ruhe
in mir; da gab es keinen Konflikt.  Sobald ich aber zu
arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt.  Eine jede
wollte die Arbeit so, wie sie es wünschte.  Auch kam
es sehr auf das Thema an, welches ich behandelte.  Gegen
eine lustige Humoreske hatte niemand etwas.  Die konnte
ich ohne Streit und Störung vollenden.  Bei einer ernsten
Dorfgeschichte aber erhoben sich zahlreiche Stimmen für
und gegen mich.  In diesen Dorfgeschichten wies ich
regelmäßig nach, daß Gott nicht mit sich spotten läßt,
sondern genauso straft, wie man sündigt.  Hiergegen
empörten sich gewisse Gestalten in mir.  Den größten
Widerstand aber fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten
oder meiner Lektüre noch höhere Linien bestieg.  Wenn
ich mir ein religiös oder ethisch oder ästhetisch hohes
Thema stellte, empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit
aller Macht dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz
unaussprechlich sind.  Um zu zeigen, in welcher Weise
das vor sich ging und was für Qualen das waren, will
ich ein erläuterndes Beispiel bringen: Ich hatte den Auftrag
erhalten, eine Parodie von "des Sängers Fluch"
von Uhland zu schreiben.  Ich tat es.  Die Parodie bekam
den Titel "des Schneiders Fluch".  Ein Schneider
verfluchte einen Schuster, sein baufälliges Häuschen und
winziges Gärtchen, in dem nur zwei Stachelbeerbüsche
standen.  Bei der Verfluchung des Häuschens kam es
zu folgenden Zeilen:

               "Die Hypotheken lauern
                 Schon heut auf euern Sturz.
               Ihr hörts, verruchte Mauern,
                 Ich mach' es mit euch kurz!"

Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich dabei gestört zu
sein.  Gegen so niedrige Sachen gab es nicht die geringste
Empörung in mir.  Nur die lichte Gestalt verschwand;
sie trauerte, denn mein Können reichte zu Besserem und
Edlerem aus.  Einige Zeit später hatte ich ein Lehrgedicht
zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende Strophen
gegenwärtig sind:

           "Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden,
             Das euer Heiland euch gelehrt
           Und es in euren eig'nen Landen
             Befolgt und mit Gehorsam ehrt,
           Dann einet sich zu einem Strome
             Die Menschheit all von nah und fern
           Und kniet anbetend in dem Dome
             Der Schöpfung vor dem einen Herrn.
           Dann wird der Glaube triumphieren,
             Der einen Gott und Vater kennt;
           Die Namen sinken, und es führen
             Die Wege all zum Firmament."

    Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu
diesem hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat
eine seltene Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln
der lichten Gestalt, und hundert schöne, edle Gedanken
eilten herbei, um von mir aufgenommen zu werden.  Ich griff
zur Feder.  Da aber war es plötzlich, als ob ein schwarzer
Vorhang in mir niederfalle.  Die Klarheit war vorüber;
die lichte Gestalt verschwand; die dunkle tauchte auf,
höhnisch lachend, und überall, durch mein ganzes inneres
Wesen, erscholl es wie mit hundert Stimmen "des
Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
Fluch u. s. w.!"  So klang es stunden- und stundenlang
in mir fort, endlos, unaufhörlich und ohne die geringste
Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern wirklich,
wirklich.  Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir,
sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten.  Ich
gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch
war das, solange ich die Feder in der Hand hielt und
zum Schreiben sitzen blieb, vergeblich.  Auch als ich
aufstand, klangen sie fort, und nur als mir der Gedanke kam,
auf das Lehrgedicht zu verzichten, trat augenblicklich
Schweigen ein.  Da ich aber mein Versprechen, es anzufertigen,
halten mußte, so griff ich bald wieder zur Feder.
Sofort erklang der Stimmenchor von neuem "des
Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!" und als ich
trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte,
kamen die lautgebrüllten Sätze hinzu "Die Hypotheken
lauern, die Hypotheken lauern; ihr hörts, verruchte
Mauern, ihr hörts, verruchte Mauern!"  Das ging den
ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch und auch dann
noch immer weiter.  Kein anderer Mensch sah und hörte
es; Niemand ahnte, was und wie furchtbar ich litt.
Jeder Andere hätte das als Wahnsinn bezeichnet, ich aber
nicht.  Ich blieb kaltblütig und beobachtete mich.  Ich
setzte es trotz aller Gegenwehr durch, daß mein Gedicht
zur vereinbarten Zeit fertig wurde.  Aber derartige Siege
hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach dann
innerlich zusammen.

    Leider erstreckte sich diese gewalttätige Verhinderung
meiner guten Vorsätze nicht nur auf meine Studien und
Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch
auf meine Lebensführung, auf mein alltägliches Tun.
Es war, als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs
Wochen lang eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge
unsichtbarer Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte,
die es nun als ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir
einzunisten und mich ihnen gleichgesinnt zu machen.  Ich
sah sie nicht; ich sah nur die finstere, höhnische
Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf und den Hohensteiner
Schundromanen; aber sie sprachen auf mich ein; sie
beeinflußten mich.  Und wenn ich mich dagegen sträubte,
so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und so zu
ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand verlor.  Die
Hauptsache war, daß ich mich rächen sollte, rächen an
dem Eigentümer jener Uhr, der mich angezeigt hatte, nur
um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, rächen an
der Polizei, rächen an dem Richter, rächen am Staate,
an der Menschheit, überhaupt an jedermann!  Ich war
ein Mustermensch, weiß, rein und unschuldig wie ein
Lamm.  Die Welt hatte mich betrogen um meine Zukunft,
um mein Lebensglück.  Wodurch?  Dadurch, daß
ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nämlich ein
Verbrecher.

    Das war es, was die Versucher in meinem Innern
von mir forderten.  Ich wehrte mich, so viel ich konnte,
so weit meine Kräfte reichten.  Ich gab allem, was ich
damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine
ethische, eine streng gesetzliche, eine königstreue Tendenz.
Das tat ich, nicht nur andern sondern auch mir selbst
zur Stütze.  Aber wie schwer, wie unendlich schwer ist
mir das geworden!  Wenn ich nicht tat, was diese lauten
Stimmen in mir verlangten, wurde ich von ihnen mit
Hohngelächter, mit Flüchen und Verwünschungen überschüttet,
nicht nur stundenlang, sondern halbe Tage und
ganze Nächte lang.  Ich bin, um diesen Stimmen zu
entgehen, aus dem Bett gesprungen und hinaus in den Regen
und das Schneegestöber gelaufen.  Es hat mich
fortgetrieben, wie weit, wie weit!  Ich bin aus der Heimat
fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch
es zog mich wieder und immer wieder zurück.  Niemand
erfuhr, was in mir vorging und wie un- oder gar
übermenschlich ich kämpfte, weder Vater noch Mutter noch
Großmutter noch eine der Schwestern.  Und noch viel
weniger ein anderer, ein fremder Mensch; man hätte mich
ja doch nicht verstanden, sondern mich einfach für
übergeschnappt erklärt.  Ob irgend Jemand an meiner Stelle
das ausgehalten hätte, daß weiß ich nicht, ich glaube es
aber kaum.  Ich war sowohl körperlich als auch geistig
ein kräftiger, sogar ein sehr kräftiger Mensch, aber ich
wurde dennoch müder und müder.  Es kamen zunächst
Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollständig
dunkel in mir wurde; da wußte ich kaum oder oft auch
gar nicht, was ich tat.  In solchen Zeiten war die lichte
Gestalt in mir vollständig verschwunden.  Das dunkle
Wesen führte mich an der Hand.  Es ging immerfort
am Abgrund hin.  Bald sollte ich dies, bald jenes tun,
was doch verboten war.  Ich wehrte mich zuletzt nur
noch wie im Traum.  Hätte ich den Eltern oder doch
wenigstens Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so
wäre der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich
unterblieben.  Und er kam, nicht daheim in der Heimat,
sondern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit
führte.  Dort habe ich, der ich gar nichts derartiges brauchte,
Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne
zu bezahlen.  Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu
bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es
wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt.  Denn für mich
ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem
Bewußtsein gehandelt haben kann.  Ich weiß von der
darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr,
weder im Einzelnen noch im Ganzen.  Ich kann mich
auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen.  Ich
habe bis jetzt geglaubt, daß die Strafe vier Jahre
Gefängnis betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierüber
in den Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darüber
gewesen.  Doch das ist Nebensache.  Hauptsache ist, daß
der Abgrund nicht vergeblich für mich offengestanden hatte.
Ich war hinabgestürzt; ich wurde in das Landesgefängnis
Zwickau eingeliefert.

    Ehe ich mich über diese meine Detentien verbreite,
habe ich mich gegen einige Vorurteile und falsche
Anschauungen zu wenden, die sich gegen Alles, was mit dem
Strafvollzug zusammenhängt, richten und mit denen nun
doch endlich einmal aufgeräumt werden sollte.  Ich habe
manchen gebildeten Mitgefangenen in begreiflicher, aber
unberechtigter Erbitterung drohen hören, daß er nach seiner
Entlassung ein Buch über seine Gefangenschaft schreiben
werde, um die ebenso schweren wie unzähligen Mängel
unserer Rechtspflege und unseres Strafvollzuges aufzudecken.
Ein verständiger Mann lächelt über solche Drohungen,
die zwar ausgesprochen, aber nur höchst selten ausgeführt
werden.  Jeder entlassene Gefangene, der Ehrgefühl
besitzt, ist froh, die Zeit der Strafe hinter sich zu
haben.  Es fällt ihm nicht ein, das, was bisher doch nur
wenige wußten, nun, da es überstanden ist, an die volle
Oeffentlichkeit zu bringen.  Er schweigt also.  Und das
ist gut, weil sein Buch, wenn er es schriebe, gewiß
beweisen würde, daß unter tausend Gefangenen kaum einer
ist, der über sich und seine Bestrafung unbefangen und
sachgemäß zu urteilen vermag.  Ich aber glaube, mich
zu dieser Sachlichkeit und Unbefangenheit emporgearbeitet
zu haben; ich halte mein Urteil für wohlerwogen und
richtig und fühle mich verpflichtet, hier folgende Punkte
festzustellen:

    Die Zeiten, in denen die Gefängnisse als "Verbrecherschulen"
bezeichnet werden durften, sind längst vorüber.
In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger moralisch
und nicht weniger human als in der Freiheit zu.

    Das, was man einst als "Verbrecherwelt" brandmarkte,
gibt es nicht mehr.  Die Bewohnerschaft der
heutigen Strafhäuser rekrutiert sich aus allen Ständen
des Volkes.  Sie setzt sich in Beziehung auf Beruf und
Intelligenz aus denselben Prozentsätzen zusammen wie die
der "Unbestraften".

    An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld.
Sie hat ihn um ihrer selbst willen zu "ent"-schuldigen.

    Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses
Satzes wohlbewußt.  Ich habe keinen einzigen Richter
kennen gelernt, auch unter denen, welche gegen mich
entschieden, dem ich einen Vorwurf machen könnte.  Die
zahlreichen Prozesse, zu denen meine Gegner mich förmlich
zwingen, geben mir reichlich Gelegenheit, Erfahrungen
zu machen, und ich muß sagen, daß ich alle diese
Herren, sowohl Straf- als auch Zivilrichter, nur
hochachten kann.  Ich habe sogar den Fall erlebt, daß ein
Dresdener Richter mir recht gab, obwohl alle seine
Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in
diesem Sinne zu beeinflussen suchten.  Welche Genugtuung
und welch ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand
dies erweckt, das weiß nur der, der Gleiches wie
ich erlebte.

    In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe
auszusprechen.  Ich habe während meiner Gefangenschaft
nicht einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher
kennen gelernt, der mir in Beziehung auf Gerechtigkeit
und Humanität Grund zu irgend einem Tadel gegeben
hätte.  Ich behaupte sogar, daß die Aufseher die Strenge
des Dienstes viel stärker empfinden als der Gefangene
selbst.  Ich habe Hunderte von Malen eine Güte, eine
Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmöglich
gewesen wäre.  Das Gefängnis ist kein Konzerthaus und
kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Stätte, in
welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen
hat.  Derjenige Detinierte, der so verständig ist, sich dies
zu sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle
mögliche Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war,
vergessen zu machen.  Es gab Beamte, die ich herzlich
lieb gewann, und ich bin vollständig überzeugt, daß ihre
Erwiderung dieser meiner Zuneigung nicht etwa nur
vorgetäuscht, sondern ehrlich und aufrichtig war.

    Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres
Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns
wünschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch
nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die
Ursachen sind ganz anderswo zu suchen, nämlich in der
Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der törichten
Selbstgerechtigkeit des lieben Nächsten, in gewissen, allzu tief
eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch
in unserer sogenannten, hochgepriesenen "Kriminalpsychologie",
an welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht
aber der wirkliche Menschenkenner und noch viel weniger
der, um den es sich hier eigentlich handelt, nämlich der
sogenannte -- -- -- Verbrecher.

    Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue
Straftaten und neue Rückfälle fließen, obgleich doch sonst
alles mögliche geschieht, diese trüben Wasser einzudämmen
und nach und nach zum Versiegen zu bringen.  Soll ich
sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der
letzten, der "Kriminalpsychologie", beginnen, so liegen vor
mir mehrere Werke dieses hochinteressanten, äußerst
strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen
dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt.  Einer der
Herren Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet
sich durch seine zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung
und den Strafvollzug in mildere, humanere Bahnen zu
lenken.  Er hat sich dadurch einen Namen gemacht.  Er
wird, wann und wo es sich um diese Humanisierung
handelt, oft genannt und würde ein Segen auf diesem
Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das
wieder zerstörte, was er als Vorkämpfer der Humanität
aufzubauen strebt.  Ich nenne auch hier keinen Namen,
denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die
Sache an.  Als Menschenfreund im höchsten Grade
beachtenswert, kann er als "Seelenforscher" in fast noch
höherem Grade unbedachtsam und grausam sein.  Indem
er seine öffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen
versucht, läßt er sich so weit hinreißen, Personen,
die vor dreißig und noch mehr Jahren bestraft worden
sind, nun aber sich in mühsam errungener, öffentlicher
Stellung befinden, mit in seine "psychiatrischen"
Betrachtungen zu ziehen und sie in seinen Schriften derart
kenntlich zu machen, daß jedermann weiß, wen er meint.
Von einem Rechtsanwalt hierüber zur Rede gestellt,
antwortete er, daß er als Wissenschaftler hierzu berechtigt
sei; es gebe einen Paragraphen, der ihm das erlaube.
Ich unterlasse es, kritische Bemerkungen hieran zu knüpfen.
Aber selbst wenn es wahr wäre, daß es einen solchen
Paragraphen gibt, wer zwingt den Herrn Staatsanwalt,
einen derartigen Paragraphen zuliebe gegen seine eigene,
sonstige Humanität zu handeln und Menschen, die ihm
nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm als dem
Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem
Leibe mit dem Messer zu zerschneiden?  Falls dieser
Paragraph in Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es für
den Reichstag höchste Zeit, ihn einer ernsten Prüfung zu
unterwerfen.  Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag
er sich noch so hoch emporgearbeitet haben, durch das
Gesetz gezwungen ist, es sich gefallen zu lassen, daß die
Herren Kriminalpsychologen ihn öffentlich an den
wissenschaftlichen Pranger stellen, so darf man sich gewiß nicht
darüber wundern, daß die Kriminalistik keine Neigung
zur Besserung zeigt.  Ich werde im Verlaufe meiner
Darstellungen auf diesen Punkt zurückkommen müssen.

    Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft,
so brauche ich hier nur auf die völlige Schutzlosigkeit der
Vorbestraften gewissen Rechtsanwälten gegenüber
hinzuweisen.  Der größte Schurke kann durch seinen Anwalt
in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er
verderben will; das wird dann veröffentlicht, und der
arme Teufel ist verloren!  A. ist ein Schuft; B. ist ein
Ehrenmann, aber leider vorbestraft.  A. hat die Absicht,
den B. zu vernichten.  Er braucht ihn bloß zu beleidigen
und sich von ihm verklagen zu lassen.  Er verlangt dann
als Beschuldigter, daß die Strafakten des Klägers vorgelegt
werden.  Das geschieht.  Sie werden in öffentlicher
Verhandlung vorgelesen.  A. bekommt zehn Mark
Beleidigungsstrafe; B. aber ist in die frühere Verachtung
und in das frühere Elend zurückgeworfen und wird nun
darauf schwören, daß für den einmal Bestraften alle Vorsätze,
sich zu "bessern", nutzlos sind.  Wenn er nun rückfällig
wird, ist es gewiß kein Wunder.  Es gibt leider
nicht wenige Rechtsanwälte, welche ganz ohne Bedenken
zu dem höchst unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die
in sachlicher Weise nicht zu gewinnen sind, in persönlich
gehässiger, rücksichtsloser Weise zu führen.  Auch ich selbst
habe es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer
gesehen, daß unsere Richter sich durch derartigen Schmutz
niemals beeinflussen lassen.  Ich bin überzeugt, daß gerade
diese Herren es mit Freuden begrüßen würden, wenn
endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kämen,
durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken
ermöglicht ist, längst Vergangenes und längst Gesühntes
wieder aufzudecken.  Dann würde die bedeutende Zahl der
sogenannten Erbitterungsrückfälle wohl bald in Wegfall
kommen.

    Daß ich die törichte Selbstgerechtigkeit des "lieben
Nächsten" anführte, geschah mit vollstem Rechte.  Sie ist
und bleibt die Hauptursache der Mißstände, die hier zu
besprechen sind.  Ich will keineswegs behaupten, daß dies
auf einem ethischen Mangel beruht.  Ich meine vielmehr,
es liegen alte Vorurteile vor, die sich so tief eingefressen
haben, daß man sie gar nicht mehr als Vorurteile
erkennt, sondern für Wahrheiten hält, an denen niemand
zu rütteln vermag.  Der "Verbrecher" war einst vogelfrei;
er ist es auch noch heute.  Ein jeder hackt auf ihn ein;
ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich.  Er suche
Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem
andern nachgesetzt.  Es gibt im Leben hundert und
aberhundert Punkte, von denen aus er als minderwertiger
Mensch betrachtet und behandelt wird, und es bedarf von
seiner Seite einer ungewöhnlichen Seelenruhe und einer
seltenen Willenskraft, dies immer wieder und immer
weiter zu ertragen, ohne sich auf die alte Bahn zurückwerfen
zu lassen.  Die größte Gefahr für ihn liegt darin,
daß ihm von dem lieben Nächsten das Ehrgefühl nach
und nach abgestumpft oder gar getötet wird.  Läßt er es
so weit kommen, so ist er verloren, und die Kriminalistik
gibt ihr entweder erbittertes oder vollständig gleichgültig
gewordenes Opfer nie wieder her.  Dies wird und kann
gar nicht anders werden, so lange an dem alten, ebenso
unsinnigen wie grausamen Vorurteil festgehalten wird,
daß jeder bestrafte Mensch für die ganze Zeit seines
Lebens als "Verbrecher" zu betrachten sei.  Kürzlich kam
in Charlottenburg der Fall vor, daß jemand, der vor
über vierzig Jahren bestraft worden war, sich seitdem
aber gut geführt hatte, von einem übelwollenden Menschen
als "geborener Verbrecher" bezeichnet wurde.  Der
Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch dieser wurde
freigesprochen.  Heißt das nicht, einen armen Menschen, der
sich mit äußerster Willenskraft aus dem Abgrund
emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewährt hat, mit
brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen?  -- --

    Da unten lag auch ich.  Indem ich hierüber weiter
berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der
Weise zu tun, wie aufregungsbedürftige, sensationslüsterne
Leser es wünschen.  Es ist mehr als genug, wenn man
solche Dinge nur einmal erlebt.  Ist man gezwungen, sie
zum zweitenmale zu erleben, indem man sie für andere
niederschreibt, so besitzt man gewiß die Berechtigung, sich
so kurz wie möglich zu fassen.  Von dieser Berechtigung
mache ich hiermit Gebrauch.

    Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt
eine ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme.  Wer
höflich ist, sich den Hausgesetzen fügt und nicht dummer
Weise immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie über
Härte zu klagen haben.  Was die Beschäftigung betrifft,
die man für mich auswählte, so wurde ich der Schreibstube
zugeteilt.  Man kann hieraus ersehen, wie fürsorglich
die Verhältnisse der Gefangenen von der Direktion
berücksichtigt werden.  Leider aber hatte diese Fürsoge in
meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg.  Nämlich ich
versagte als Schreiber so vollständig, daß ich als
unbrauchbar erfunden wurde.  Ich hatte als Neueingetretener
das Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte
ich nicht fertig.  Das fiel auf.  Man sagte sich, daß es
mit mir eine ganz besondere Bewandtnis haben müsse,
denn schreiben mußte ich doch können!  Ich wurde Gegenstand
besonderer Beachtung.  Man gab mir andere Arbeit,
und zwar die anständigste Handarbeit, die man hatte.
Ich kam in den Saal der Portefeuillearbeiter und wurde
Mitglied einer Riege, in welcher feine Geld- und
Zigarrentaschen gefertigt wurden.  Diese Riege bestand mit mir
aus vier Personen, nämlich einem Kaufmann aus Prag,
einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte war, das
konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon.  Diese
drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen.  Sie arbeiteten
schon seit längerer Zeit zusammen, standen bei den
Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle
mögliche Mühe, mir die Lehrzeit und überhaupt die schwere
Zeit so leicht wie möglich zu machen.  Nie ist ein
unschönes oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen.
Unser Arbeitssaal faßte siebzig bis achtzig Menschen.  Ich
habe unter ihnen nicht einen einzigen bemerkt, dessen
Verhalten an die Behauptung erinnert hätte, daß das
Gefängnis die hohe Schule der Verbrecher sei.  Im
Gegenteil!  Jeder einzelne war unausgesetzt bemüht, einen
möglichst guten Eindruck auf seine Vorgesetzten und
Mitgefangenen zu machen.  Vom Schmieden schlimmer Pläne
für die Zukunft habe ich während meiner ganzen
Gefangenschaft niemals etwas gehört.  Hätte irgend einer
gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wäre er, wenn nicht
angezeigt, so doch auf das energischste zurückgewiesen
worden.

    Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt
wurde, dieser Visitation hieß Göhler.  Ich nenne
seinen Namen mit großer, aufrichtiger Dankbarkeit.  Er
hatte mich zu beobachten und kam, obwohl er von Psychologie
nicht das geringste verstand, nur infolge seiner
Humanität und seiner reichen Erfahrung meinem inneren
Wesen derart auf die Spur, daß seine Berichte über mich,
wie sich später herausstellte, die Wahrheit fast erreichten.
Er hatte, wie wohl alle diese Aufseher, früher beim
Militär gestanden, und zwar bei der Kapelle, als erster
Pistonbläser.  Darum war ihm das Musik- und Bläserkorps
der Gefangenen anvertraut.  Er gab des Sonntags
in den Visitationen und Gefängnishöfen Konzerte,
die er sehr gut dirigierte.  Auch hatte er bei Kirchenmusik
die Sänger mit seiner Instrumentalmusik zu begleiten.
Leider aber besaß weder er noch der Katechet,
dem das Kirchenkorps unterstand, die nötigen theoretischen
Kenntnisse, die Stücke, welche gegeben werden sollten, für
die vorhandenen Kräfte umzuarbeiten oder, wie der
fachmännische Ausdruck heißt, zu arrangieren.  Darum hatten
beide Herren schon längst nach einem Gefangenen gesucht,
der diese Lücke auszufüllen vermochte; es war aber keiner
vorhanden gewesen.

    Jetzt nun kam der Aufseher Göhler infolge seiner
Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich
in sein Bläserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das
vielleicht von guter Wirkung auf mich sei.  Er fragte bei
der Direktion an und bekam die Erlaubnis.  Dann fragte
er mich, und ich sagte ganz selbstverständlich auch nicht
nein.  Ich trat in die Kapelle ein.  Es war gerade nur
das Althorn frei.  Ich hatte noch nie ein Althorn in den
Händen gehabt, blies aber schon bald ganz wacker mit.
Der Aufseher freute sich darüber.  Er freute sich noch
mehr, als er erfuhr, daß ich Kompositionslehre getrieben
habe und Musikstücke arrangieren könne.  Er meldete das
sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die
Kirchensänger auf.  Nun war ich also Mitglied sowohl
des Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte
mich damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und
neue zu arrangieren.  Die Konzerte und Kirchenaufführungen
bekamen von jetzt an ein ganz anderes Gepräge.

    Ich muß erwähnen, daß diese musikalischen Arbeiten
nur Nebenarbeiten waren.  Ich wurde durch sie keineswegs
von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder
Gefangene pro Tag zu liefern hat, wenn er vermeiden
will, sich Unannehmlichkeiten auszusetzen.  Dieses Pensum
ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder Arbeitswillige kann es
liefern.  Wer geschickt ist, der liefert es sogar in wenigen
Stunden.  Darum blieb mir reichlich genug Zeit für
meine kompositionelle Beschäftigung übrig, die ich nicht
aufgab, auch als ich aus der Visitation der
Portefeuillearbeiter versetzt worden war.  Es wurde mir nämlich
mein inniger Wusch erfüllt, isoliert zu werden.

    Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine
Zelle für mich allein zu bekommen; die Erfüllung dieses
Wunsches war aber nicht angängig gewesen.  Erst nun,
da man über mich zu einem psychologisch abgeschlossenen
Resultate kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und
unmittelbar neben dem Arbeitsraume des Inspektors
desselben einquartiert.  Er war ein hochgebildeter, sehr
pflichtbewußter und humaner Herr, dessen besonderer Schreiber
ich wurde.  Das war eine Stelle, die es bis dahin noch
nicht gegeben hatte.  Ich mache hier auf den psychologisch
bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, daß ich zur Zeit
meiner Einlieferung vollständig unfähig gewesen war,
Schreiber zu sein, nun aber für fähig gehalten wurde,
eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche große geistige Um-
und Einsicht erforderte und die höchste Vertrauensstelle
war, die es in der ganzen Anstalt gab.  Mein Inspektor
war nämlich neben seiner Direktion des Isolierhauses
noch beruflich schriftstellerisch tätig.  Diese seine Tätigkeit
bezog sich auf die besondere Statistik unserer Anstalt und
auf das Wesen und die Aufgaben des Strafvollzuges
überhaupt.  Er schrieb die hierauf bezüglichen Berichte
und stand mit allen hervorragenden Männern des
Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz.  Meine Aufgabe
war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre
Zuverlässigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu
vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen.
Das war an und für sich eine sehr schwere, anstrengende
und scheinbar langweilige Beschäftigung mit leblosem
Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen
und diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen,
ihnen Sprache zu verleihen, das war im höchsten Grade
interessant, und ich darf wohl sagen, daß ich da viel, sehr
viel gelernt habe und daß mich diese Arbeiten in stiller,
einsamer Zelle in Beziehung auf Menschheitspsychologie
viel weiter vorwärts gebracht haben, als ich ohne
diese Gefangenschaft jemals gekommen wäre.  Daß mir
hierzu nur die besten und zuverlässigsten Unterlagen zu
Gebote standen, versteht sich ganz von selbst.  Es sind mir
da ganz eigenartige Lichter aufgegangen.  Ich habe da
in die tiefsten Tiefen des Menschenlebens geschaut und
Dinge gesehen, die andere niemals sehen werden, weil sie
keine Augen dafür haben.  Ich habe da erkannt, daß
Großmutters Märchen die Wahrheit sagt, daß es ein
Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein ethisches Hochland
und ein ethisches Tiefland, und daß die Hauptbewegung,
an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von
oben nach unten geht, sondern von unten nach oben,
empor, empor zur Befreiung von der Sünde, hinauf,
hinauf zur Edelmenschlichkeit.  Diese Erkenntnis ist mir
von größtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst
befreit.  Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von
denen ich weiter oben sprach, auch in der Zelle
vernommen.  Ich habe mit ihnen gekämpft und sie stets zum
Schweigen gebracht.  Sie kehrten zwar zurück; sie ließen
sich wieder hören, doch in immer längern Zwischenräumen,
bis ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für
immer stumm geworden seien.

    Außerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen
zu verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand
mir offen.  Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa
nur auf Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren
alle Wissenschaften vertreten.  Ich habe diese köstlichen,
inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert
und sehr viel daraus gewonnen.  Und es waren nicht nur
die Werke der Anstaltsbibliotheken, die mir zur
Verfügung standen, sondern man zeigte sich auch gern
bereit, mir solche von auswärts zugängig zu machen.  Es
war mir ein unwiderstehliches Bedürfnis, die Ruhe und
Ungestörtheit der Zelle so viel wie möglich für mein
geistiges Vorwärtskommen auszunutzen, und die Beamten
hatten ihre Freude daran, mir hierzu in jeder, den
Anstaltsgesetzen nicht widersprechenden Weise behilflich zu sein.
So verwandelte sich für mich die Strafzeit in eine
Studienzeit, zu der mir größere Sammlung und größere
Vertiefungsmöglichkeit geboten war, als ein Hochschüler
jemals in der Freiheit findet.  Ich werde über diesen großen,
unschätzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft mir brachte,
noch fernerhin sprechen.  Noch heut bin ich ganz
besonders dankbar dafür, daß es mir nicht verboten war,
mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch
den eigentlichen Grund zu meinen späteren Reisearbeiten
zu legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten
sind, sondern ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes
Genre bilden sollen.  Doch ist es für jetzt nicht
meine Absicht, mich über diese meine Studien zu verbreiten,
sondern ich habe mich hier allein und ganz besonders
mit dem Umstand zu befassen, daß die mir anvertraute
Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit
zu höchst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen
gab, unter deren Einfluß meine schriftstellerische
Tätigkeit sich zu der gestaltete, die sie geworden ist.

    Wenn ich behaupte, daß ich die literarischen Bedürfnisse,
oder sagen wir, die Lesebedürfnisse der Volksseele
kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst
zu nehmen.  Man soll nicht sagen, daß jeder
Volksbibliothekar und jeder Leihbibliothekar genau dieselben
Erfahrungen machen könne, denn das ist nicht wahr.
Ein Leser in Freiheit und ein Leser in Haft, das sind
zwei ganz verschiedene Gestalten.  Bei dem Letzteren kann
das Lesen geradezu zum seelischen Existenzbedürfnisse
werden.  Sein Wesen wendet sich, es kehrt sich um.  Die
äußere Persönlichkeit hat unter der Anstaltszucht ihre
Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor.  Und diese
ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung
erkannt und gepackt werden muß, wenn der menschlich
große, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll,
moralische Erhebung und Festigung, Aussöhnung zwischen
der Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die
sich beide aneinander versündigten.  Dieses Hervortreten
der innern Persönlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme,
in der Gefangenschaft aber die Regel.  Der Gefangene
hat während seiner Detention auf alle seine leiblichen
Sonderrechte zu verzichten.  In leiblicher Beziehung
ist er nicht mehr Person, sondern nur noch Sache, eine
Nummer, die in den Büchern eingetragen wird und bei
der man ihn auch nennt.  Um so kräftiger, ja ungestümer
tritt seine innere Gestalt, seine Seele hervor, um sich,
ihre Rechte und Bedürfnisse geltend zu machen.  Der
Leib ist gezwungen, sich in die Gefängniskleidung und
Gefängniskost zu fügen.  Wehe, wenn man den Fehler
begeht, den gleichen Zwang auch auf die Seele ausüben
zu wollen!  Sie strebt mit Macht heraus aus dem
Gefängniskleide, und sie verlangt mit Heißhunger nach einer
Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um
sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu
befreien.  Man glaube mir, kein Sträfling wünscht das
Böse für sich; sie alle wünschen das Gute.  Im tiefsten
Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur körperlich
sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der scheinbar
Unverbesserliche.  Woher aber soll diese nackte, hungrige
Seele sich gut kleiden und gut nähren, nämlich gut im
ethischen Sinne?  Aus sich selbst heraus?  Aus den
sonntäglichen Anstaltspredigten?  Aus den wenigen, kurzen
Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten?
Aus dem Zusammenleben mit den Strafgefährten?  Man
beantworte diese Fragen, wie man will, die Hauptquelle
aller Erziehung, Besserung und Emporhebung kann bei
derartig gegebenen Verhältnissen nur die Bibliothek sein.
Der Gefangene, der sich so führt, daß ihm das Lesen
nicht verboten werden muß, bekommt pro Woche ein Buch.
Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang die seelische
Kost für den nach Nahrung Schmachtenden.  Er darf
sich das Buch nicht wählen; er muß nehmen, was er
bekommt.  Was man ihm gibt, kann ihm zum Glück, kann
ihm zum Unglück werden, kann ihm Belehrung oder Strafe
sein, kann ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen,
ihn aber auch empören und verhärten.  Einer meiner
Mitgefangenen, ein geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre
lang weiter nichts als alte "Frauendorfer Blätter" zu
lesen bekommen, trockene Unterweisungen im Gartenbau,
die ihn weder interessieren noch ihm irgendeinen Nutzen
bringen konnten.  Er trug es in steigender Erbitterung,
bis ich die Bibliothek überkam [sic] und ihm Passenderes gab.
Einen Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias
Gotthelfs Erzählungen derart außer sich gebracht,
daß er nahe daran stand, wegen Ungebühr bestraft zu
werden.  Das letzte, was er hatte lesen müssen, hatte
den Titel gehabt "Wie fünf Mädchen im Branntwein
jämmerlich umkommen."  Als ich ihm einen Band von
Edmund Höfer gab, war er so froh, als ob ich ihm ein Vermögen
geschenkt hätte.  Ein sozialdemokratischer Klempnermeister
war einer langen Reihe von Erbauungsbüchern
zum Opfer gefallen.  Er schwor mir wütend zu, daß es
schon um dieser Bücher willen keinen Herrgott geben
könne.  Er habe nur aus bitterer Not Bankrott gemacht;
die Verfasser und Herausgeber dieser Schriften aber seien
aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut bankrott und
verdienten wenigstens dieselbe Gefängnisstrafe wie er.

    Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich
zunächst meine Bibliothek und sodann auch die Bedürfnisse
ihrer Leser kennen zu lernen hatte.  Das war mit
ernsten und schwierigen psychologischen Erwägungen
verbunden und führte zu dem betrübenden Schlußresultate,
daß eigentlich solche Bücher, wie wir sie brauchten,
nur ganz wenige vorhanden waren.  Sie fehlten nicht
nur in unserer Gefängnisbibliothek, sie fehlten auch
überhaupt in der Literatur.  Ich dachte an meine Knabenzeit,
an die Traktätchen, die ich da gelesen und an den Schund,
der mich da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich
verglich.  Da dämmerte in mir eine Erkenntnis auf.  Sind
nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert?  Ist nicht
eigentlich jeder Mensch ein Gefangener?  Stecken nicht
Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar
nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu
fühlbar vorhanden sind?  Ist es nur für die Bewohner der
Strafanstalt der Leib, der gebändigt werden muß, damit
der höhere, von oben stammende Teil unseres Wesens zur
Geltung kommen möge?  Muß nicht überhaupt bei allen
Sterblichen, also bei der ganzen Menschheit, alles Niedrige
gefesselt werden, damit die hierdurch die Freiheit
gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen Ideale, zur
Edelmenschlichkeit, erheben könne?  Und sind es nicht die
Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher
Tiefe zu solcher Höhe führen sollen?  Die Literatur, der
auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene,
mit angehöre!

    Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich
zu Betrachtungen und Schlüssen, die scheinbar höchst
seltsam, im Grunde genommen aber ganz natürlich waren.
Es wurde zwischen meinen vier engen Wänden hell; sie
weiteten sich.  Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich
erkannte ich die zwar verborgenen aber doch innigen
Zusammenhänge zwischen dem Kleinsten und dem Größten,
dem Körperlichen und dem Seelischen, dem Leiblichen und
dem Geistigen, dem Endlichen und dem Unendlichen.
Das war der Zeitpunkt, an dem ich begann, die lieben,
alten Märchen meiner Großmutter in ihrer tiefen
Bedeutung zu begreifen.  Ich lag nächtelang wach und
dachte nach.  Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten,
verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht
und alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan
empor.  Ich stellte mir vor, die verloren gegangene
Menschenseele zu sein, die niemals wiedergefunden werden
kann, wenn sie sich nicht selbst wiederfindet.  Dieses
Wiederfinden kann nie hoch oben in Dschinnistan, sondern nur
hier unten in Ardistan geschehen, im Erdenleid, in der
Menschheitsqual, bei der Träberkost des verlorenen Sohnes
unserer biblischen Geschichte.  Meine Phantasie begann,
das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen
und festhalten zu können.  Es wohnte und lebte in mir.
Aber nicht nur da, sondern auch außerhalb, allüberall, in
jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als
Großes und Ganzes gedacht.  Da entstand in mir meine
Marah Durimeh, die große, herrliche Menschheitsseele,
der ich die Gestalt meiner geliebten Großmutter gab.  Da
tauchte zum ersten Male mein Tatellah-Satah in mir
auf, jener geheimnisvolle "Bewahrer der großen Medizin",
den meine Leser im dreiunddreißigsten meiner Bände
kennen gelernt haben.  Und da wurde auch der Gedanke
"Winnetou" geboren.  Wohlverstanden, nur der Gedanke,
nicht aber er selbst, den ich erst später fand.  Damals
habe ich die psychologischen Werke der Beamtenbibliothek
und alle andern, die mir zugängig wurden -- fast
verschlungen, hätte ich beinahe gesagt; aber das würde nicht
wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort für Wort
zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer Bedachtsamkeit
in mir aufgenommen, die höchst wahrscheinlich nicht
allzu häufig ist; aber ich habe das wie atemlos und mit
einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben,
meine Seligkeit davon abhänge, mir innerlich klar zu
werden.  Und als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen
Wege zu befinden, da griff ich in meine Kinderzeit
zurück und holte den alten, kühnen Wunsch hervor, "ein
Märchenerzähler zu werden, wie du, Großmutter bist."
Ich befand mich ja an einem der größten und reichsten
Fundorte alles dessen, was da zu erzählen war, im
Gefängnisse.  Da kondensiert und verdichtet sich alles, was
draußen in der Freiheit so leicht und so dünn vorüberfließt,
daß man es nicht ergreifen und noch viel weniger
betrachten kann.  Und da erheben sich die Gegensätze, die
draußen sich wie auf ebener Fläche vermischen, so bergeshoch,
daß in dieser Vergrößerung Alles offenbar wird,
was anderwärts in Heimlichkeit verborgen bleibt.  Ich
hatte sie vor mir aufgeschlagen, die anspruchsvollen,
hochgelehrten Werke über Psychologie, besonders über
Kriminalpsychologie.  Fast jede Zeile war mir eingeprägt.  Sie
enthielten die Theorie, ein Konglomerat von Rätseln und
Problemen.  Die Praxis aber lag rund um mich her, in
ebenso klarer wie erschütternder Aufrichtigkeit.  Welch ein
Unterschied zwischen beiden?  Wo war die Wahrheit zu
suchen?  In den aufgeschlagenen Büchern oder in der
aufgeschlagenen Wirklichkeit?  In beiden!  Die Wissenschaft
ist wahr, und das Leben ist wahr.  Die Wissenschaft
irrt, und das Leben irrt.  Ihre beiderseitigen Wege
führen über den Irrtum zur Wahrheit; dort müssen sie
sich treffen.  Wo diese Wahrheit liegt und wie sie lautet,
das können wir nur ahnen.  Es ist nur einem einzigen
Auge vergönnt, sie vorauszusehen, und das ist das Auge
des -- -- Märchens.  Darum will ich Märchenerzähler
sein, nichts Anderes als Märchenerzähler, ganz so, wie
Großmutter es war!  Ich brauche nur die Augen zu
öffnen, so sehe ich sie aufgespeichert, diese Hunderte und
Aberhunderte von fleischgewordenen Gleichnissen und nach
Erlösung trachtenden Märchen.  In jeder Zelle eins und
auf jedem Arbeitsschemel eins.  Lauter schlafende
Dornröschen, die darauf warten, von der Barmherzigkeit und
Liebe wachgeküßt zu werden.  Lauter in Fesseln schmachtende
Seelen, in alten Schlössern, die in Gefängnisse
umgewandelt sind, oder in modernen Riesenbauten, in denen
Humanität von Zelle zu Zelle, von Schemel zu Schemel
geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des Aufwachens
und der Freiheit wert sich zeigt.  Ich will zwischen
Wissenschaft und Leben vermitteln.  Ich will Gleichnisse
und Märchen erzählen, in denen tief verborgen die
Wahrheit liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu
erschauen vermag.  Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel
meines Gefängnislebens.  Ich will die Strafe, die mich
getroffen hat, in Freiheit für andere verwandeln.  Ich
will die Strenge des Gesetzes, unter der ich leide, in ein
großes Mitleid mit allen denen, die gefallen sind,
verkehren, in eine Liebe und Barmherzigkeit, vor der es
schließlich kein "Verbrechen" mehr und keine "Verbrecher"
gibt, sondern nur Kranke, Kranke, Kranke.

    Aber kein Mensch darf ahnen, daß das, was ich erzähle,
nur Gleichnisse und nur Märchen sind, denn wüßte
man das, so würde ich nie erreichen, was ich zu erreichen
gedenke.  Ich muß selbst zum Märchen werden, ich selbst,
mein eigenes Ich.  Es wird das freilich eine Kühnheit
sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was aber
liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es
sich um große, riesig emporstrebende Fragen der ganzen
Menschheit handelt?  An dem winzigen Schicksälchen eines
verachteten Gefangenen, der für die Gesellschaft schon so
und überhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise,
in der man über das "Verbrechen" denkt und spricht,
nicht baldigst ändert!

    Das war ein Gedanke, der mir ganz plötzlich kam,
sich aber tief einnistete und mich nicht wieder verließ.
Er gewann Macht über mich; er wurde groß.  Er nahm
endlich meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb,
weil er in sich die Erfüllung alles dessen barg, was schon
von meiner Kindheit an Wunsch und Hoffnung in
mir lebte.  Ich hielt ihn fest, diesen Gedanken; ich
erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn aus.  Er
hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide identisch.
Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte eine lange,
lange Zeit, und es gingen noch trübere und noch schwerere
Tage dahin, als die gegenwärtigen waren, ehe ich meinen
Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte, daß
an ihm nichts mehr zu ändern war.  Ich nahm mir vor,
zunächst noch weiter an meinen Humoresken und erzgebirgischen
Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen
Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, daß ich
mich absolut nur auf gottesgläubigem Boden bewege.
Dann aber wollte ich zu einem Genre greifen, welches
im allgemeinsten Interesse steht und die größte Eindrucksfähigkeit
besitzt, nämlich zur Reiseerzählung.  Diesen Erzählungen
wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht
absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse
und nur Märchen sein, allerdings außerordentlich
vielsagende Gleichnisse und Märchen.  Trotzdem aber waren
Reisen wünschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen
Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten
sich zu bewegen hatten.  Vor allem galt es, sich
tüchtig vorzubereiten, Erdkunde, Völkerkunde, Sprachkunde
treiben.  Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen
Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat
zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gemäß
behaupten, daß Alles, was ich erzähle, Selbsterlebtes und
Miterlebtes sei.  Aber ich mußte diese Sujets hinaus
in ferne Länder und zu fernen Völkern versetzen, um ihnen
diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen
Kleidung nicht besitzen.  In die Prärie oder unter Palmen
versetzt, von der Sonne des Morgenlandes bestrahlt oder
von den Schneestürmen des Wilden Westens umtobt, in
Gefahren schwebend, welche das stärkste Mitgefühl der
Lesenden erwecken, so und nicht anders mußten alle meine
Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit ihnen das erreichen
wollte, was sie erreichen sollten.  Und dazu hatte ich in
allen den Ländern, die zu beschreiben waren, wenigstens
theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein Europäer
es nur immer vermag.  Es galt also zu arbeiten, schwer
und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und
dazu war der stille ungestörte Gefängnisraum, in dem
ich lebte, grad so die richtige Stelle.

    Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische
Wahrheiten.  Die irdischen Wahrheiten werden uns durch
die Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung
gegeben.  Die Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu
beweisen; was die Offenbarung behauptet, wird von den
Gelehrten höchstens als glaubhaft, nicht aber als bewiesen
betrachtet.  So eine himmlische Wahrheit steigt an den
Strahlen der Sterne zur Erde nieder und geht von Haus
zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden.
Sie wird überall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein,
aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation
besitzt.  So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu
Stadt, von Land zu Land, ohne erhört und aufgenommen
zu werden.  Da steigt sie am Strahl der Sterne wieder
himmelan und kehrt zu dem zurück, von dem sie ausgegangen
ist.  Sie klagt ihm weinend ihr Leid.  Er aber
lächelt mild und spricht: "Weine nicht!  Geh' wieder
zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an, dessen
Haus du noch nicht fandest, beim Dichter.  Bitte ihn,
dich in das Gewand des Märchens zu kleiden, und versuche
dann dein Heil noch einmal!"  Sie gehorcht.  Der
Dichter nimmt sie liebend auf und kleidet sie.  Sie
beginnt ihren Gang als Märchen nun von Neuem, und
wo sie anklopft, ist sie jetzt willkommen.  Man öffnet ihr
die Türen und die Herzen.  Man lauscht mit Andacht
ihren Worten; man glaubt an sie.  Man bittet sie, zu
bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen.  Sie aber muß
weiter, immer weiter, um zu erfüllen, was ihr aufgetragen
worden ist.  Doch geht sie nur als Märchen; als Wahrheit
aber bleibt sie zurück.  Und wenn man sie auch nicht
sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, für alle
Folgezeiten.

    So, das ist das Märchen!  Aber nicht das Kindermärchen,
sondern das wahre, eigentliche, wirkliche Märchen,
trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die
höchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm
wohnenden Seele gemäß.  Und einer jener Dichter, zu
denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen,
wollte ich sein!  Ich weiß gar wohl, welche Kühnheit
des war.  Doch gestehe ich es, ohne mich zu fürchten.
Die Wahrheit ist so verhaßt und das Märchen so
verachtet, wie ich selbst es bin; wir passen zueinander.
Das Märchen und ich, wir werden von Tausenden gelesen,
ohne verstanden zu werden, weil man nicht in die Tiefe
dringt.  Wie man behauptet, daß das Märchen nur für
Kinder sei, so bezeichnet man mich als "Jugendschriftsteller",
der nur für unerwachsene Buben schreibe.  Kurz,
ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, daß ich so
verwegen gewesen bin, nur ein Märchen- und
Gleichnisschriftsteller sein zu wollen.  Gleicht doch mein "Leben
und Streben" schon an und für sich selbst einem Märchen,
und sind es doch fast unzählige Fabeln und Märchen, mit
denen meine Person von gegnerischer Seite umkleidet
worden ist!  Und wenn ich mich dagegen verwahre, so
glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Märchen
glaubt.  Aber, wie jedes echte Märchen doch endlich
einmal zur Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur
Wahrheit werden, und was man mir heut nicht glaubt,
das wird man morgen glauben lernen.

    Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben
beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein.  Sie
sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag.
Ich wollte Neues, Beglückendes bringen, ohne meine Leser
mit dem Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu
verwickeln.  Und was ich zu sagen hatte, das mußte ich
suchen lassen; ich durfte es nicht offen vor die Türen
legen, weil man Alles, was man so billig bekommt, liegen
zu lassen pflegt und nur das zu schätzen weiß, was man
sich mühsam zu erringen hat.  Es wäre ein unverzeihlicher
Fehler gewesen, gleich von vornherein anzudeuten, daß
meine Reiseerzählungen bildlich zu nehmen seien.  Man
hätte mich einfach nicht gelesen, und Alles, was ich lösen
wollte, wäre Fabel und Märchen geblieben.  Der Leser
mußte ungeahnt finden, was ich gab; er betrachtete
es dann als wohlerrungen und hielt es für das Leben
fest.

    Aber was war denn eigentlich das, was ich geben
wollte?  Das war vielerlei und nichts Alltägliches.  Ich
wollte Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrätsel
lösen.  Man lache mich aus; aber ich habe es
gewollt; ich habe es versucht und werde es weiter
versuchen.  Ob ich es erreiche, kann weder ich noch ein
Anderer wissen.  Es mag bei der Ausführung dann wohl
mancher Fehler untergelaufen sein, denn ich bin ein irrender
Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein gewesen.  Ich
wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur
Veröffentlichung bringen.  Ein junger Lehrer, der bestraft
worden ist, seine psychologischen Erfahrungen?  Ist das
nicht noch lächerlicher als das Vorhergehende?  Mag man
es dafür halten; ich aber habe an hundert und wieder
hundert unglücklichen Menschen gesehen, daß sie nur darum
in das Unglück geraten waren und nur darum darin
stecken blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen
der ganzen irdischen Schöpfung, vollständig vernachlässigt
worden waren.  Der Geist ist das verzogene, eingebildete
Lieblingskind, die Seele das zurückgesetzte, hungernde
und frierende Aschenbrödel.  Für den Geist sind
alle Schulen da, von der A-B-C-Schützen-Schule bis
hinauf zur Universität, für die Seele aber keine einzige.
Für den Geist werden Millionen Bücher geschrieben,
wie viele für die Seele?  Dem Menschengeiste werden
tausend und abertausend Denkmäler gesetzt; wo stehen
die, welche bestimmt sind, die Menschenseele zu
verherrlichen?  Wohlan, sage ich mir, so will ich es sein, der
für die Seele schreibt, ganz nur für sie allein, mag man
darüber lächeln oder nicht!  Man kennt sie nicht.  Darum
werden viele meine Werke entweder nicht oder falsch
verstehen, aber das soll mich ja nicht hindern, zu tun, was
ich mir vorgenommen habe.

    Das war eigentlich genug für einen Menschen; aber
ich wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr.
Ich sah um mich herum das tiefste Menschenelend liegen;
ich war für mich der Mittelpunkt desselben.  Und hoch
über uns lag die Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit,
nach der wir emporzustreben hatten.  Diese Aufgabe war
aber nicht allein die unsrige, sondern sie ist allen Menschen
erteilt; nur daß wir, die wir um so viel tiefer lagerten
als die Andern, weit mehr und weit mühsamer aufzusteigen
hatten als sie.  Aus der Tiefe zur Höhe, aus Ardistan
nach Dschinnistan, vom niedern Sinnenmenschen zum
Edelmenschen empor.  Wie das geschehen müsse, wollte ich
an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und
an einem amerikanischen.  Ich teilte mir die Erde für
diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften, in eine
amerikanische und eine asiatisch-afrikanische.  Dort wohnt
die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische.
An diese beiden Rassen wollte ich meine Märchen, meine
Gedanken und Erläuterungen knüpfen.  Darum galt es,
mich vor allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen
und den Indianerdialekten zu beschäftigen.  Der unwandelbare
Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube
an den "großen, guten Geist" der Andern harmonierte mit
meinem eigenen, unerschütterlichen Gottesglauben.  In
Amerika sollte eine männliche und in Asien eine weibliche
Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches
Wollen emporzuranken hätten.  Die eine ist mein
Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden.  Im Westen
soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der Savanne
und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten
Höhen des Mount Winnetou emporsteigen.  Im Osten
hat sie sich das Treiben der Wüste bis nach dem
hohen Gipfel des Dschebel Marah Durimeh zu erheben.
Darum beginnt mein erster Band mit dem Titel "durch
die Wüste."  Die Hauptperson aller dieser Erzählungen
sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, ein
beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen
Schlacken des Animamenschentumes reinigt.  Für Amerika
sollte er Old Shatterhand, für den Orient aber Kara
Ben Nemsi heißen, denn daß er ein Deutscher zu sein
hatte, verstand sich ganz von selbst.  Er mußte als selbst
erzählend, also als "Icherzähler" dargestellt werden.
Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische Imagination.
Doch, wenn dieses "Ich" auch nicht selbst existiert,
so soll doch Alles, was von ihm erzählt wird, aus der
Wirklichkeit geschöpft sein und zur Wirklichkeit werden.
Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi,
also dieses "Ich" ist als jene große Menschheitsfrage
gedacht, welche von Gott selbst geschaffen wurde, als er
durch das Paradies ging um zu fragen: "Adam, d. i.
Mensch, wo bist Du?"  "Edelmensch, wo bist Du?"  Ich
sehe nur gefallene, niedrige Menschen!"  Diese Menschheitsfrage
ist seitdem durch alle Zeiten und alle Länder des
Erdkreises gegangen, laut rufend und laut klagend, hat
aber nie eine Antwort erhalten.  Sie hat Gewaltmenschen
gesehen zu Millionen und Abermillionen, die einander
bekämpften, zerfleischten und vernichteten, nie aber einen
Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich
und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, daß ein Jeder
Engel seines Nächsten zu sein habe, um nicht an sich
selbst zum Teufel zu werden.  Einmal aber muß und
wird die Menschheit doch so hoch gestiegen sein, daß auf
die bis dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglückende
Antwort erfolgt: "hier bin ich.  Ich bin der erste
Edelmensch, und Andere werden mir folgen!"  So geht
auch Old Shatterhand und so geht Kara Ben Nemsi durch
die Länder, um nach Edelmenschen zu suchen.  Und wo
er keinen findet, da zeigt er durch sein eigenes edelmenschliches
Verhalten, wie er sich ihn denkt.  Und dieser imaginäre
Old Shatterhand, dieser imaginäre Kara Ben Nemsi,
dieses imaginäre "Ich" hat nicht imaginär zu bleiben,
sondern sich zu realisieren, zu verwirklichen, und zwar in
meinem Leser, der innerlich Alles miterlebt und darum
gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich veredelt.  In
dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lösung der großen
Aufgabe bei, daß sich der Gewaltmensch, also der niedrige
Mensch, zum Edelmenschen entwickeln könne.

    Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fühlte
ich gar wohl, daß ich mich durch ihre Ausführung einer
Gefahr aussetzen würde, die für mich keine geringe war.
Wie nun, wenn man diese Imagination nicht verstand
und dieses "Ich" also nicht begriff?  Wenn man glaubte,
ich meine mich selbst?  Lag es da nicht nahe, daß ein
Jeder, dem es an Intelligenz oder gutem Willen fehlte,
zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden,
mich als Lügner und Schwindler bezeichnen würde?  Ja,
das lag allerdings in der Möglichkeit, aber für wahrscheinlich
hielt ich es nicht.  Ich hatte dieses "Ich," also
diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit
allen Vorzügen auszustatten, zu denen es die Menschheit
im Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat.
Mein Held mußte die höchste Intelligenz, die tiefste
Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in allen
Leibesübungen besitzen.  Daß sich das in der Wirklichkeit
nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte,
das verstand sich doch wohl ganz von selbst.  Und wenn
ich, wie ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis
vierzig Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen,
daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde,
daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne.
Nein!  Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler
sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig
ausgeschlossen!  So glaubte ich damals.  Ja, ich war sogar
fest überzeugt, trotzdem ich mit dem "Ich" mich nicht
selbst meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu
können, daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst
erlebt oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen
Leben oder doch aus meiner nächsten Nähe stammte.  Ich
hielt es für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht
und vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen,
daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar niederschreibt,
sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus seinem eigenen
Kopfe stammen, sondern ihm von jenem imaginären "Ich",
also von der großen Menschheitsfrage, diktiert worden
seien.  Ob diese meine Annahme richtig war, wird bald
die Folge zeigen.

    Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische
und teils in orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich
ganz selbstverständlich zu tiefem Mitgefühle für die Schicksale
der betreffenden Völkerschaften.  Der als unaufhaltsam
bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich
ununterbrochen zu beschäftigen.  Und über die Undankbarkeit
des Abendlandes gegenüber dem Morgenlande, dem es
doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt,
machte ich mir allerlei schwere Gedanken.  Das Wohl
der Menschheit will, daß zwischen beiden Friede ist, nicht
länger Ausbeutung und Blutvergießen.  Ich nahm mir
vor, dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und
in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die
Bewohner des Orients zu erwecken, die wir als Mitmenschen
ihnen schuldig sind.  Man versichert mir heut,
dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei Hunderttausenden
erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt,
dies zu glauben.

    Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine
Bücher geschrieben sein?  Ganz selbstverständlich für das Volk,
für das ganze Volk, nicht nur für einzelne Teile desselben,
für einzelne Stände, für einzelne Altersklassen.  Vor allen
Dingen nicht etwa allein für die Jugend!  Auf diese
letztere Versicherung habe ich das größte Gewicht und
den schärfsten Ton zu legen.  Wäre es meine Absicht
gewesen, Jugendschriftsteller sein oder werden zu wollen,
so hätte ich ganz notwendigerweise auf die Ausführung
aller meiner Pläne und auf die Erreichung aller meiner
Ideale für immer verzichten müssen.  Und dies zu tun,
ist mir niemals eingefallen.  Zwar hatte ich auch an die
Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur zeitlich die
erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus der sich
das Volk immer fort und fort ergänzt, sondern sie ist
es, die im Aufwärtsstreben der Menschheit den Alten
und den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern
Pionieren neu gesichtete Terrain schnellsten Tempo's zu
besetzen.  Aber wie sie nur einen Teil des Volkes bildet,
so konnte das, was ich an sie zu richten hatte, auch nur
ein Teil dessen sein, was ich für das Volk als Ganzes
schrieb.  Wenn ich sage, daß ich für das Volk schreiben
wollte, so meine ich damit, für den Menschen überhaupt,
mag er so jung oder so alt sein, wie er ist.  Aber nicht
jedes meiner Bücher ist für jeden Menschen.  Und doch
auch wieder ist es für jeden Menschen, aber nach und
nach, je nachdem er sich vorwärts entwickelt, je nachdem
er älter und erfahrener wird, je nachdem er fähig
geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu begreifen.
Meine Bücher sollen ihn durch das ganze Leben begleiten.
Er soll sie als Knabe, als Jüngling, als Mann, als
Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer
Höhe entsprechend ist.  Das Alles langsam, mit
Ueberlegung und Bedacht.  Wer meine Bücher verschlingt,
und zwar wahllos verschlingt, um den ist es vielleicht
schade; auf alle Fälle aber ist es noch mehr schade um sie!
Wer sie mißbraucht, der soll nicht mich oder sie, sondern
sich selbst zur Verantwortung ziehen.  Ich erinnere da
an das Rauchen, an das Essen und Trinken.  Rauchen
ist ein Genuß.  Essen und Trinken ist unerläßlich.  Aber
jederzeit zu rauchen, zu essen, zu trinken, und Alles, was
einem geboten wird, zu rauchen und zu verzehren, würde
nicht nur töricht, sondern sogar schädlich sein.  Eine gute,
interessante Lektüre soll man genießen, aber nicht wie ein
Haifisch verschlingen!  Da meine Bücher nur Gleichnisse
und Märchen enthalten, versteht es sich ganz von selbst,
daß man reiflich über sie nachdenken soll und daß sie
nur in die Hände von Leuten gehören, die nicht nur
nachdenken können, sondern auch nachdenken wollen.

    Als ich damals diese Gedanken erwog und meine
Pläne faßte, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben
und an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch
nicht eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als
Künstler zu bezeichnen.  Und jeder wirkliche Schriftsteller
muß doch zugleich auch Künstler sein.  Ich hielt mich
noch nicht einmal für einen zünftigen Lehrling, sondern
nur erst für einen außerhalb der Zunft herumtastenden
Anfänger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht.
Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende
Pläne!  Wenn ich diese Pläne überschaute, so hätte mir
eigentlich himmelangst werden sollen, denn es gehörten jedenfalls
mehrere arbeitsreiche, ungestörte, glückliche Menschenleben
dazu, den vor mir liegenden Stoff echt literarisch,
also künstlerisch zu bewältigen.  Aber es wurde mir doch
nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig dabei.  Ich fragte
mich: Muß man denn Schriftsteller sein, und muß man
denn Künstler sein, um solche Sachen schreiben zu dürfen?
Wer will und kann es Einem verbieten?  Machen wir es
ohne Zunft, wenn es nur richtig wird!  Und machen wir
es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht,
was es erreichen soll!  Ob Schriftsteller und Künstler
mich als "Kollegen" gelten lassen würden, das mußte
mir damals gleichgültig sein.  Zwar, meinen individuellen
Stolz besaß ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von
Kunst dachte ich so hoch, wie man nur denken kann.  Aber
diese meine Gedanken waren anders als diejenigen anderer
Leute, besonders der Fachgenossen.  Künstler zu sein,
dünkte mich das Allerhöchste auf Erden, und es lebte tief
in meinem Herzen der heiße Wunsch, diese Höhe zu erreichen,
und sollte es erst noch in der letzten Stunde vor
meinem Tode sein.  Jener Kindheitsabend, an dem ich
den "Faust" zu sehen bekam, stand noch unvergessen in
meiner Seele, und die Vorsätze, die ich an ihn geschlossen
hatte, besaßen noch ganz denselben Willen und dieselbe
Macht über mich wie vorher.  Für das Theater schreiben!
Dramen schreiben!  Dramen, in denen gezeigt wird, wie
der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem
Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des
niedern Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengröße.
Um so Etwas schreiben zu können, muß man Künstler
sein, und zwar echter, wahrer Künstler.  Aber was ich
nur da als Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes
als das, was die heutige Kritik als Kunst bezeichnet, und
so blieb mir weiter nichts übrig, als alle meine Wünsche,
die sich darauf bezogen, als Literat ein Künstler, und
zwar ein wahrer, wertvoller Künstler sein zu dürfen, für
lange, lange Jahre zurückzustellen und bis dahin zu bleiben,
was ich eben war, nämlich ein unzünftiger Anfänger, der
nicht die geringste Prätentien [sic] besaß, ein Zunftgenosse zu
werden.  Wie ich stets, seitdem ich lebte, abgesondert und
einsam gestanden hatte, so war ich schon damals überzeugt,
daß auch mein Weg als Literat ein einsamer sein
und bleiben werde, so weit mein Leben reiche.  Was ich
suchte, fand sich nicht im alltäglichen Leben.  Was ich
wollte, war etwas dem gewöhnlichen Menschen vollständig
Fernliegendes.  Und was ich für richtig hielt, das war
höchst wahrscheinlich für andere Leute das Falsche.
Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch.  Da lag es mir
nahe, ganz für mich zu bleiben und keinen wertvolleren
Menschen mit mir zu belästigen.  In Beziehung auf
Kunst war ich nicht sachverständig.  Vielleicht hatten die
andern recht; ich konnte irren.  Für alle Fälle aber hielt
mich mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach
vollendeter Reife, ein großes, schönes Dichterwerk zu
schaffen, eine Symphonie erlösender Gedanken, in der
ich mich erkühne, Licht aus meiner Finsternis zu schöpfen,
Glück aus meinem Unglück, Freude aus meiner Qual.
Dies für später, wenn mir der Tod einst seinen ersten
Wink erteilt.  Für jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu
lernen und auf dieses Werk vorzubereiten, damit es
nicht mißlinge.  Jetzt Märchen und Gleichnisse geben,
um dann am Schlusse des Lebens aus ihnen die Wahrheit
und die Wirklichkeit zu ziehen und auf die Bühne
zu bringen!

    Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstücke
wie z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern
lange Erzählungen, in denen viele Personen handelnd
auftreten.  Und ihre Zahl ist groß; sie sollen eine
ganze Reihe von Bänden füllen und das Material für
jene spätere große Aufgabe bilden, mit der ich meine
Tätigkeit beschließen will.  Sie können also keine
sorgfältig ausgeführten Gemälde sein, sondern nur
Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorübungen, Etuden, an
welche nicht der Maßstab gelegt werden darf, der nur
für ausgesprochene Kunstwerke gilt.  Ich kann und will
und darf kein kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern
meine Aufgabe ist, aus hochgelegenen Marmor und
Alabasterbrüchen die Blöcke für spätere Kunstwerke zu brechen,
deren Form ich höchstens andeuten kann, weil mir die
Zeit zur Ausführung nicht zur Verfügung steht.  Diese
Andeutung gebe ich eben in Märchen, die meinen
erzählenden Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte
bilden, um welche sich das Interesse des Lesers
konzentriert.  Die künstlerische Kritik braucht sich also mit
meinen Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar
nicht meine Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder
gar Vollendung zu geben.  Sie haben den einfachen,
schlichten Arm- oder Fußringen der Araberinnen zu
gleichen, die weiter nichts sein sollen, als eben nur silberne
Ringe.  Der Wert liegt im Metall, nicht in der Arbeit.
Der Maler, welcher flüchtige Skizzen zeichnet, um ein
großes Gemälde vorzubereiten, würde sich gewiß über
den Kritiker verwundern, der an diese Skizzen denselben
Maßstab legen wollte, den er dann später an das
Gemälde zu legen hat.

    Soviel über die Pläne, welche damals in mir entstanden
und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf
den heutigen Tag.  Sie kamen nicht plötzlich, und sie
kamen nicht in gesellschaftlicher Fülle, sondern langsam,
einer nach dem andern.  Und sie reiften nicht eilig aus,
sondern es dauerte monate- und jahrelang, ehe ich mir
von dem einen Punkt bis zum nächsten klar geworden
war.  Ich hatte aber auch genugsam Zeit dazu.  Ich
legte mir eine Art von Buchhaltung über diese Pläne
und ihre Ausführung an; ich habe sie mir heilig aufgehoben
und besitze sie noch heut.  Jeder Gedanke wurde
in seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert.
Ich stellte sogar ein Verzeichnis über die Titel und den
Inhalt aller Reiseerzählungen auf, die ich bringen wollte.
Ich bin zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen
gegangen, aber es hat mir doch viel genützt, und ich
zehre noch heut von Sujets, die schon damals in mir
entstanden.  Auch schriftstellerte ich fleißig; ich schrieb
Manuskripte, um gleich nach meiner Entlassung möglichst
viel Stoff zur Veröffentlichung zu haben.  Kurz, ich war
begeistert für mein Vorhaben und fühlte mich, obgleich
ich Gefangener war, unendlich glücklich in der Aussicht
auf eine Zukunft, die, wie ich wohl hoffen durfte, keine
ganz gewöhnliche zu werden versprach.

    Das Schicksal schien mit meinen Vorsätzen einverstanden
zu sein.  Es spendete mir, als ob es mich für
alles Leid entschädigen wolle, eine reiche, hochwillkommene
Gabe: Ich wurde begnadigt.  Die Direktion hatte für
mich ein Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein
volles Jahr meiner Strafzeit erlassen bekam.  Ich stand
in der ersten Disziplinarklasse und erhielt ein
Vertrauenszeugnis ausgestellt, welches mir den Rückweg in das
Leben glättete und mich aller polizeilichen Scherereien
überhob.  Der Kenner weiß, was das bedeutet!

    Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die
Anstalt verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand
mit meinen Manuskripten bewaffnet.  Ich hatte nach
Hause geschrieben, um die Meinigen von meiner Heimkehr
zu benachrichtigen.  Wie freute ich mich auf das
Wiedersehen.  Angst vor Vorwürfen brauchte ich nicht zu
haben; dies war ja schon längst durch Briefe geordnet.
Ich wußte, daß ich willkommen sei und daß man mir
mit keinem Worte wehe tun werde.  Am meisten freute
ich mich auf Großmutter.  Wie mußte sie sich gegrämt
und gehärmt haben!  Und wie gern würde sie mir ihre
alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken.  Wie entzückt
würde sie über meine Pläne sein!  Wie sehr würde sie
mir helfen, sie auszudenken und so tief wie möglich
auszuschöpfen!  Ich ging von Zwickau nach Ernsttal, also
genau denselben Weg, den ich damals als Knabe
gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen.  Es
läßt sich denken, was für Gedanken mich auf diesem Weg
begleiteten.  Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem
Vater den Vorsatz gefaßt, ihn nie wieder durch Derartiges
zu betrüben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten!
Sollte ich heut etwa ähnliche Vorsätze fassen, für deren
Erfüllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewähr zu
leisten vermag?  Das "Märchen von Sitara" tauchte
vor mir auf.  Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren
Seelen, wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um
sie in das Elend zu schleudern, so daß sie verloren gehen?
Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem
Untergange geweiht.  Gilt das auch mir?

    Meine Gedanken wurden trüber und trüber, je mehr
ich mich der Heimat näherte.  Es war, als ob mir von
dort aus böse Ahnungen entgegenwehten.  Meine frohe
Zuversicht schien mich verlassen zu wollen; ich mußte mir
Mühe geben, sie festzuhalten.  Von der Lungwitzer Höhe
aus schaute ich über das Städtchen hin.  Da schlängelten
sich vor meinen Augen die Wege, die ich damals so oft
gegangen war, in heißem Kampfe mit jenen fürchterlichen
inneren Stimmen liegend, die mir Tag und Nacht hindurch
in einem fort die Worte "des Schneiders Fluch,
des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch" zuriefen.
Und was war das?  Indem ich hieran dachte, hörte ich
ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz deutlich, wie
erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu nähern, "des
Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
Fluch!"  Sollte und wollte sich das etwa wiederholen?
Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte
von dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die
Höhe hinab, durch das Städtchen hindurch, nach Hause,
nach Hause, nach Hause!

    Ich kam eher, als man mich erwartete.  Meine Eltern
wohnten noch im ersten Stock desselben Hauses.  Ich stieg
die Treppe empor und dann gleich noch eine zweite hinauf
nach dem Bodenraume, wo Großmutter sich immer am
liebsten aufgehalten hatte.  Ich wollte zunächst zu ihr und
dann erst zu Vater, Mutter und Geschwistern.  Da sah ich
die wenigen Sachen, die sie besessen hatte; sie selbst aber
war nicht da.  Da stand ihre Lade, mit blauen und gelben
Blumen bemalt.  Sie war verschlossen, der Schlüssel
abgezogen.  Und da stand ihre Bettstelle; sie war leer.  Ich
eilte hinab in die Wohnstube.  Da saßen die Eltern.  Die
Schwestern fehlten.  Das war Zartgefühl.  Sie hatten
gemeint, die Eltern gingen vor.  Ich grüßte gar nicht und
fragte, wo Großmutter sei.  "Tot -- -- -- gestorben!"
lautete die Antwort.  "Wann?"  "Schon voriges Jahr."
Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme
auf den Tisch.  Sie lebte nicht mehr!  Man hatte es mir
verschwiegen, um mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft
nicht noch zu erschweren.  Das war ja recht gut
gedacht; nun aber traf es mich um so wuchtiger.  Sie war
nicht eigentlich krank gewesen; sie war nur so
hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich!

    Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob,
um die Eltern nun zu grüßen.  Sie erschraken.  Sie
sagten mir später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen
als dasjenige einer Leiche.  Die Geschwister kamen hinzu.
Sie freuten sich des Wiedersehens, aber sie schauten mich
so sonderbar an, so scheu.  Das war nichts weiter als
der Reflex meines eigenen Gesichts.  Ich gab mir zwar
die größte Mühe, aber ich konnte den Schlag, der mich
soeben getroffen hatte, doch nicht ganz verbergen.  Ich
wollte nur von Großmutter wissen, jetzt weiter nichts, und
man erzählte mir.  Sie hatte sehr viel von mir gesprochen,
aber niemals ein Wort, welches mich hätte kränken müssen,
wenn ich dabeigewesen wäre.  Und sie hatte nie geklagt
oder gar geweint.  Sie hatte gesagt, nun wisse sie, daß
ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer Geburt zur falschen
Stelle geschleudert werden, um dort vernichtet zu werden.
Nun sei sie überzeugt, daß ich durch die Geisterschmiede
müsse, um alle irdischen Qualen über mich ergehen zu lassen.
Aber sie wisse, ich werde nicht schreien, ich werde tragen,
was zu tragen ist, und mir den Weg nach Dschinistan [sic]
erzwingen.  Je näher sie dem Tode kam, desto
ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt und
desto ausschließlicher sprach sie nur noch von mir.  An
einem der letzten Tage erzählte sie, daß der längst
verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen sei.
Er war unser Nachbar gewesen.  Die beiden Häuser
stießen aneinander.  Da habe sich plötzlich im Dunkel
die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden,
aber nicht in einem gewöhnlichen Licht, sondern von einem,
welches sie noch nie gesehen habe.  Von ihm beleuchtet,
sei der Herr Kantor erschienen.  Er haben genauso
ausgesehn wie damals, als er noch lebte.  Er sei langsam
bis an ihr Bett gekommen, habe sie freundlich lächelnd
gegrüßt, wie es immer seine Art und Weise war, und
dann gesagt, daß sie sich ja nicht um mich sorgen solle;
ich könne wohl stürzen wie jeder Andere, nicht aber liegen
bleiben; es werde mir zwar schwer gemacht, doch erreiche
ich sicher mein Ziel.  Nach diesen Worten nickte er ihr
wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie er
gekommen war, nach der Mauerlücke zurück.  Sie schloß
sich hinter ihm.  Das Licht verschwand; es wurde wieder
dunkel.

    Als sie das erzählt hatte, war es gewesen, als ob
ein Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes
auf ihrem Gesicht zurückgeblieben sei, und es lag auch
noch dann darauf, als sie die Augen geschlossen hatte
und nicht mehr atmete.  Ihr Tod war ein sanfter, ein
friedlicher, ein seliger gewesen; mir aber war gar nicht
friedlich und gar nicht selig zu Mute, als man mir von
ihm erzählte.  Es tauchten Vorwürfe in mir auf, aber
keine Vorwürfe, die nur Gedanken sind, wie bei andern
Leuten, die nicht von derselben Veranlagung sind wie ich,
sondern Vorwürfe viel wesentlicherer, viel kompakterer
Art.  Ich sah sie in mir kommen, und ich hörte, was
sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, jedes Wort!  Das
waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, wirkliche Wesen,
die nicht die geringste Identität mit mir zu besitzen schienen
und doch identisch waren.  Welch ein Rätsel!  Aber welch
ein ungewöhnliches, furchtbar beängstigendes Rätsel!  Sie
glichen jenen in mir schreienden, dunkeln Gestalten
von früher her, mit denen ich -- -- -- mein Gott, kaum
hatte ich an sie gedacht, so waren sie wieder da, ganz so,
wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in meinem
Innern zu sehen und zu hören.  Ich vernahm ihre Stimmen
so deutlich, als ob sie vor mir stünden und an Stelle
der Eltern und Geschwister mit mir sprächen.  Und sie
blieben.  Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir
schlafen.  Aber sie schliefen nicht und ließen auch mich nicht
schlafen.  Es begann das frühere Elend, die frühere
Marter, der frühere Kampf mit unbegreiflichen Mächten,
die um so gefährlicher waren, als ich absolut nicht entdecken
konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht.  Sie
schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner
Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewußtsein kam.
Und doch konnten sie ganz unmöglich zu mir gehören,
weil das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von
meinem Willen war.  Ich hatte mit meiner Vergangenheit
abgeschlossen.  Der vor mir liegende Teil meines
Lebens sollte ein ganz anderer sein, als der, welcher hinter
mir lag.  Diese Stimmen aber waren bemüht, mich mit
aller Gewalt in die Vergangenheit zurückzuzerren.  Sie
verlangten wie früher, daß ich mich rächen solle.  Nun
erst recht mich rächen, für die im Gefängnis verlorene,
köstliche Zeit!  Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich
aber stemmte mich gegen sie; ich tat, als ob ich nichts,
gar nichts höre.  Das war aber selbst bei der größten
Kraftaufwendung nicht länger als höchstens nur einige
Tage lang auszuhalten.  Indessen besuchte ich einige
Verleger, um mit ihnen über die Herausgabe der im Gefängnisse
geschriebenen Manuskripte zu verhandeln.  Hierbei
stellte es sich heraus, daß während dieser meiner
Abwesenheit die inneren Stimmen um so mehr verstummten,
je weiter ich mich von der Heimat entfernte, und wieder
um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder
näherte.  Es war, als ob diese finstern Gestalten dort
seßhaft seien und nur dann über mich herfallen könnten,
wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort einzufinden.
Ich beschloß hierauf die Probe zu machen.  Ich kassierte
meine Honorare ein und machte eine längere Auslandsreise.
Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses
Werkes zu erzählen, in welchem meinen Reisen und ihren
Ergebnissen ein größerer Raum gewidmet werden soll,
als ich ihnen hier gewähren könnte.  Während dieser
Reise verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde
vollständig frei von ihnen.  Dafür aber stellte sich ein
ganz ungewöhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat
zurückzukehren.  Es war kein gesunder, sondern ein kranker
Trieb; das fühlte ich gar wohl, aber er wurde so stark,
daß ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte.
Ich kehrte heim, und kaum war ich dort, so stürzte sich
Alles, was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich.  Die
Anfechtungen begannen von Neuem.  Ich vernahm unausgesetzt
den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft
Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, daß
ich mich an ihren Gesetzen vergriff.  Ich fühlte, daß ich,
falls ich diesem Befehle Gehorsam leiste, ein höchst
gefährlicher Mensch sein werde, und nahm alle mir gegebene
Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche Schicksal
anzukämpfen.

    Ich halte es hier für nötig, zu konstatieren, daß ich
meinen Zustand keineswegs für pathologisch hielt.  Alle
meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl
körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen.
Es gab nichts Atavistisches an mir.  Was sich in dieser
Beziehung mir angeheftet hatte, das war gewiß nicht
von innen heraus erzeugt, sondern von außen her an
mich herangetreten.  Ich arbeitete fleißig, fast Tag und
Nacht, wie ich überhaupt an der Arbeit stets meine größte
Freude gefunden habe.  Man kaufte meine Sachen gern.
Ich litt also keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern
wohnte, die sich jetzt auch besser standen als früher.  Ich
hätte vollständig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts
verdiente.  Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was
ich schon früher beschrieben habe.  Wenn ich etwas Gewöhnliches
schrieb, stellte sich nicht die geringste Hinderung
ein.  Sobald ich mir aber ein höheres Thema stellte,
eine geistig, religiös oder ethisch wertvollere Aufgabe,
wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen empörten
und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande zu
bringen, daß sie mir, wahrend ich schrieb, die trivialsten,
blödesten oder gar verbotensten Gedanken dazwischenwarfen.
Ich sollte nicht empor; ich sollte unten bleiben.  Hierzu
gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter Hallunke, dem
Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so schmeichelt;
ich meine den Durst.  Der Abscheu vor Branntwein ist
mir angeboren; ich genieße ihn höchstens als Arznei.
Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt,
und auch für Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung,
welche man empfinden muß, um ein Trinker zu werden.
Jetzt aber fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst,
wenn ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause
vorüberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht
mehr arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder
hinzulegen und in die Kneipe zu gehen, wie sie.  Ich tat
es aber nicht.  Vater tat es.  Er konnte sein Glas einfaches
Bier und sein Schnäppschen [sic] nicht gut entbehren.
Ich aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim.  Das
war mir nicht etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa
schwer, o nein.  Ich erzähle es nur des psychologischen
Interesses wegen, weil es mir höchst sonderbar erscheint,
daß dieser meiner ganzen Natur widersprechende und mir
sonst vollständig fremde Durst nach Spirituosen immer
nur dann auftrat, wenn jene Stimmen die Oberhand in
mir hatten, sonst aber nie!

    Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Großmutter
meine Arbeitspläne vorzulegen; nun war sie tot.  Ich
sprach hierüber also mit den Eltern und Geschwistern.
Vater hatte jetzt Anderes zu denken.  Er war in einer
Art sozialer Mauserung begriffen und darum für mich
nicht zu haben, zumal er des Abends nie daheim blieb.
Auch die Schwestern hatten andere Interessen.  Mein
ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd.  So blieb mir
nur die Mutter.  Sie saß des Abends mit ihrem Strickstrumpf
still am Tische, an dem ich schrieb.  Ich legte
ihr so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder
beschäftigte.  Sie hörte mir ruhig zu.  Sie nickte
einverstanden.  Sie lächelte ermutigend.  Sie sagte ein liebes,
tröstendes Wort.  Sie war wie eine Heilige.  Aber auch
sie verstand mich nicht.  Sie fühlte nur; sie ahnte.  Und
sie wünschte von ganzem Herzen, daß Alles so werden
möchte, wie ich es mir ersehnte.  Und als sie sah, wie
fest und unerschütterlich ich an meine Zukunft glaubte,
da glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter
sein kann, deren Kind noch so glücklich ist, sich auf Gott,
auf die Menschheit und auf sich selbst verlassen zu dürfen.
Ich aber fühlte mich einsam, einsam wie immer.  Denn
auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen,
der mich hätte verstehen wollen oder gar verstehen können.
Und diese Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich
so schwer Angefochtenen im höchsten Grade gefährlich.
Nichts war mir nötiger als verständnisvolle Geselligkeit.
Aber ich stand, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich
stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen
wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben.
Und mitten in dieser Schutzlosigkeit wurde ich
nun auch von andern Feinden gepackt, die, obgleich sie
keine inneren, sondern äußerliche waren, doch ebenso wenig
mit den Händen gefaßt werden konnten.

    Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt
in andern Familien zu verkehren.  Sie war Vertrauensperson.
Man hatte sie gern.  Man teilte ihr Alles
mit, ohne daß man sie um Verschwiegenheit zu bitten
brauchte.  Sie erfuhr Alles, was im Städtchen und in
der Umgegend geschah.  Es hatte irgendwo einen Einbruch
gegeben.  Jedermann sprach von ihm.  Der Täter war
entkommen.  Bald gab es wieder einen, in derselben Weise
ausgeführt.  Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich
von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene
gesetzt.  Ich hörte gar nicht hin, als man es erzählte,
bemerkte aber nach einiger Zeit, daß Mutter noch ernster
als gewöhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet
zu sein, so eigentümlich mitleidig betrachtete.  Ich
blieb anfänglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem
Grunde fragen zu müssen.  Sie wollte nicht antworten;
ich bat aber so lange, bis sie es tat.  Es zirkulierte ein
Gerücht, ein unfaßbares Gerücht, daß ich jener Einbrecher
sei.  Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen
Gefangenen?  Ich lachte äußerlich dazu, innerlich aber war
ich empört, und es gab einige schwere Nächte.  Es brüllte
vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern.  Die
Stimmen schrien mir zu: "Wehre dich, wie du willst,
wir geben dich nicht los!  Du gehörst zu uns!  Wir
zwingen dich, dich zu rächen!  Du bist vor der Welt ein
Schurke und mußt ein Schurke bleiben, wenn du Ruhe
haben willst!"  So klang es bei Nacht.  Wenn ich am
Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts fertig.  Ich konnte
nicht essen.  Mutter hatte es auch dem Vater gesagt.
Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu
nehmen.  Sie konnten für mich eintreten.  Sie wußten
ja genau, daß ich in den betreffenden Zeiten nicht aus
dem Haus gekommen war.  Was wir erfuhren, war alles
im Vertrauen gesagt.  Kein Name wurde genannt.  Darum
gab es keinen Punkt, an dem ich zugreifen konnte, mich
zu wehren.  Aber es kam schlimmer.  Die heimatliche
Polizei wollte mir nicht wohl.  Ich war mit Vertrauenszeugnis
entlassen worden und darum ihrer Aufsicht entgangen.
Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich
mit mir zu beschäftigen.  Es kamen einige neue Schelmenstreiche
vor, deren Täter ganz unbedingt mit einer gewissen
Intelligenz behaftet waren.  Man glaubte, dies
auf mich deuten zu müssen.  Das war zu derselben Zeit,
in der sich die schon erwähnte "Lügenschmiede" zu bilden
begann.  Neue Gerüchte kursierten, romantisch
ausgeschmückt.  Der Herr Wachtmeister erkundigte sich unter
der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der und der
Zeit gewesen sei.  Die Augen hingen an mir, wo ich mich
sehen ließ; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute
man schnell hinweg.  Da kam ein armer Wurm, aber ein
guter Kerl, ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt
hatte und auch jetzt noch an mir hing.  Der war sprichwörtlich
unbeholfen und unverzeihlich aufrichtig.  Er hielt
grob sein für Menschenpflicht.  Der konnte es nicht
länger aushalten.  Er kam zu mir und erzählte mir auf
Handschlag und Schweigepflicht Alles, was gegen mich
im Schwange ging.  Das war so dumm und doch so empörend,
so leichtsinnig und gewissenlos, so -- -- so -- --
so -- -- so -- -- -- ich fand keine Worte, dem armen,
wohlmeinenden Menschen für seine schmerzhafte Aufrichtigkeit
zu danken.  Aber als er mein Gesicht sah, machte er
sich so schnell wie möglich von dannen.

    Das war ein schwerer, ein unglückseliger Tag.  Es
trieb mich fort, hinaus.  Ich lief im Wald herum und
kam spät abends todmüde heim und legte mich nieder, ohne
gegessen zu haben.  Trotz der Müdigkeit fand ich keinen
Schlaf.  Zehn, fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten
mich in meinem Innern mit unaufhörlichem Gelächter.
Ich sprang vom Lager auf und rannte wieder fort, in
die Nacht hinein; wohin, wohin, das beachtete ich gar
nicht.  Es kam mir vor, als ob die inneren Gestalten aus
mir herausgetreten seien und neben mir herliefen.  Voran
der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, der
mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von
Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Händen, und hierauf
die Raubritter, Räuber, Mönche, Nonnen, Geister und
Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek.  Das
verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab.
Das schrie und jubelte und höhnte, daß mir die Ohren
gellten.  Als die Sonne aufging, fand ich mich im Innern
eines tiefen, steilen Steinbruchs emporkletternd.  Ich hatte
mich verstiegen; ich konnte nicht weiter.  Da hatten sie
mich fest, und da ließen sie mich nicht wieder hinab.  Da
klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter
kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten.
Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den ganzen
Tag, die ganze nächste Nacht; dann brach ich zusammen
und schlief ein.  Wo, das weiß ich nicht.  Es war auf
einem Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden
Roggenfeldern.  Ein Donner weckte mich.  Es war wieder Nacht,
und der Gewitterregen floß in Strömen herab.  Ich eilte
fort und kam an ein Rübenfeld.  Ich hatte Hunger und
zog eine Rübe heraus.  Mit der kam ich in den Wald,
kroch unter die dicht bewachsenen Bäume und aß.  Hierauf
schlief ich wieder ein.  Aber ich schlief nicht fest; ich wachte
immer wieder auf.  Die Stimmen weckten mich.  Sie höhnten
unaufhörlich "Du bist ein Vieh geworden, frissest
Rüben, Rüben, Rüben!"  Als der Morgen anbrach, holte
ich mir eine zweite Rübe, kehrte in den Wald zurück und
aß.  Dann suchte ich mir eine lichte Stelle auf und ließ
mich von der Sonne bescheinen, um trocken zu werden.
Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir Ruhe.  Ich
fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen Schlaf,
während dessen Dauer ich mich immer von einer Seite
auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern
gequält wurde, die mir vorspiegelten, daß ich bald
ein Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus
Preziosa und bald etwas noch Schlimmeres sei.  Dieser
Schlaf ermüdete mich nur noch mehr, statt daß er mich
stärkte.  Ich entwand mich ihm, als der Abend anbrach,
und verließ den Wald.  Indem ich unter den Bäumen
hervortrat, sah ich den Himmel blutigrot; ein Qualm
stieg zu ihm auf.  Sicherlich war da ein Feuer.  Das
war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich.  Ich
wußte nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer
zu betrachten.  Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt
vorkam.  Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte
in die Glut.  Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war
in mir.  Und der Rauch, dieser dicke, erstickende Rauch!
Der war nicht da drüben beim Feuer, sondern hier bei
mir.  Der hüllte mich ein, und der drang mir in die Seele.
Dort ballte er sich zu Klumpen, die Arme und Beine und
Augen und Gesichtszüge bekamen und sich in mir bewegten.
Sie sprachen.  Aber was?  Ich bin mir erst später, viel
später klar über die Entstehung solcher innerer Schreckgebilde
geworden.  Damals war ich es noch nicht, und so
konnten sie die entsetzliche Wirkung äußern, gegen welche
meine auf das Aeußerste angespannten Nerven keine
Widerstandskraft mehr besaßen.  Ich fiel in mir zusammen, wie
das brennende Haus da drüben zusammenfiel, als die
Flammen niedriger und niedriger wurden und endlich
erloschen.  Da raffte ich mich auf und ging.  In mir war
auch Alles erloschen.  Ich war dumm, vollständig dumm.
Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm
und Häcksel umhüllt.  Ich fand keinen Gedanken.  Ich
suchte auch gar nicht danach.  Ich wankte beim Gehen.
Ich lief irr.  Ich torkelte weiter, bis ich endlich
einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die Straße,
auf der ich mich befand, vorüberführte.  Ich lehnte mich
an die Mauer des Gottesackers und weinte.  Das war
wohl unmännlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu
verhindern.  Diese Tränen waren keine erlösenden.  Sie
brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine
Augen zu reinigen und zu stärken.  Ich sah plötzlich, daß
es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand.  Er
war mir ebenso vertraut wie die Straße, an der er lag;
heut aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt.

    Der Morgen graute.  Ich ging den Leichenweg hinab,
über den Markt hinüber und öffnete leise die Tür unseres
Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der
Wohnung und setzte mich dort an den Tisch.  Das tat ich ohne
Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am
Faden zieht.  Nach einiger Zeit öffnete sich die
Schlafkammertür.  Mutter trat heraus.  Sie pflegte sehr zeitig
aufzustehen, ihres Berufes wegen.  Als sie mich sah,
erschrak sie.  Sie zog die Kammertür schnell hinter sich
zu und sagte aufgeregt, aber leise:

    "Um Gotteswillen!  Du?  Hat jemand dich kommen
sehen?"

    "Nein," antwortete ich.

    "Wie siehst du aus!  Schnell wieder fort, fort, fort!
Nach Amerika hinüber!  Daß man dich nicht erwischt!
Wenn man dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!"

    "Fort?  Warum?" fragte ich.

    "Was hast du getan; was hast du getan!  Dieses
Feuer, dieses Feuer!"

    "Was ist es mit dem Feuer?"

    "Man hat dich gesehen!  Im Steinbruch -- -- im
Walde -- -- auf dem Felde -- -- und gestern auch bei
dem Haus, bevor es niederbrannte!"

    Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!

    "Mut -- -- ter!  Mut -- -- ter!" stotterte ich.  "Glaubst
du etwa, daß -- -- --"

    "Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater
auch," unterbrach sie mich.  "Alle Leute sagen es!"

    Sie stieß das hastig hervor.  Sie weinte nicht, und
sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer
Lasten.  Sie fuhr in demselben Atem fort:

    "Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor
allen Dingen nicht hier bei uns im Hause!  Geh, geh!
Ehe die Leute aufstehen und dich sehen!  Ich darf nicht
sagen, daß du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du
bist; ich darf dich nicht länger sehen!  Geh also, geh!
Wenn es verjährt ist, kommst du wieder!"

    Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich
berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von
mir zu warten.  Ich war allein und griff mir mit beiden
Händen nach dem Kopfe.  Ich fühlte da ganz deutlich
die dicke Lehm- und Häckselschicht.  Dieser Mensch, der
da stand, war doch nicht etwa ich?  An den die eigene
Mutter nicht mehr glaubte?  Wer war der Kerl, der in
seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah, wie ein
Vagabund?  Hinaus mit ihm, hinaus!  Fort, fort!

    Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den
Kleiderschrank zu öffnen und einen andern, saubern Anzug
anzulegen.  Dann bin ich fortgegangen.  Wohin?  Die
Erinnerung läßt mich im Stich.  Ich war wieder krank
wie damals.  Nicht geistig, sondern seelisch krank.  Die
inneren Gestalten und Stimmen beherrschten mich
vollständig.  Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene Zeit
zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fünfzig
Jahren irgend ein Theaterstück gesehen hat und nach
dieser Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu
Augenblick geschah und wie die Kulissen sich verwandelten.
Einzelne Bilder sind mir geblieben, doch so undeutlich,
daß ich nicht behaupten kann, was wahr daran ist und
was nicht.  Ich habe in jener Zeit jenen dunklen Gestalten
gehorcht, welche in mir wohnten und mich beherrschten.
Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen
unglaublich.  Man beschuldigte mich, einen
Kinderwagen gestohlen zu haben!  Wozu?  Ein leeres
Portemonnaie mit nur drei Pfennigen Inhalt!  Anderes
ist schon glaublicher und Einiges direkt erwiesen.  Man
hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen war,
da transportierte man mich als "hoffentlichen Täter" hin.
Das war eine hochinteressante Zeit für die Habitués der
Ernsttaler Lügenschmiede.  Da wurde fast täglich Neues
erzählt oder Altes variiert, was ich begangen haben sollte.
Jeder Vagabund, der in den Ortsbereich dieser Märchen
kam, legte sich meinen Namen bei, um auf meine Rechnung
hin zu sündigen.  Das war selbst für einen äußerlich
und innerlich Gefangenen zuviel.  Ich zerbrach
während eines Transportes meine Fesseln und verschwand.
Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in dem
ich von meinen Reisen erzähle, ausführlich zu berichten.
Für jetzt ist nur dasselbe wie früher zu erwähnen, nämlich,
daß ich seelisch um so freier wurde, je weiter ich mich
von der Heimat entfernte, daß mich draußen in der Ferne
ein unwiderstehlicher Trieb zur Heimkehr packte und daß
ich innerlich wieder um so freier wurde, je mehr ich mich
der Gegend meines Geburtsortes näherte.  Gibt es
Jemand, der das zu ergründen vermag?  Ich folgte teils
jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich freiwillig
zurück, und zwar um meiner guten Pläne und um meiner
Zukunft willen.  Hatte ich gesündigt; so hatte ich zu büßen;
das verstand sich ganz von selbst.  Und bevor diese Buße
nicht erledigt war, konnte es für mich keine ersprießliche
Arbeit und keine Zukunft geben.  Ich kehrte also nach
fünf Monaten wieder heim, um mich dem Gericht zu
stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es richtig
gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren Gewalten,
die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu tun,
was ich mir vorgenommen hatte.  Die Folge davon war,
daß ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen wurde.
Das verschärfte meine Lage derart, daß ich die Strenge
des Richters, der mein Urteil fällte, vollständig begreife.
Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt zu begreifen,
der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt
wurde.  Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet,
und zwar in der schlimmsten Weise.  Er bildete sich ein,
bei dieser billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben
zu können oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm
nicht mehr als Alles, was nötig ist, um eine solche
Aufgabe auch nur einigermaßen zu lösen.  Ich hätte gar
wohl leugnen können, gab aber Alles, dessen man mich
beschuldigte, glattweg zu.  Das tat ich, um die Sache
um jeden Preis los zu werden und so wenig wie möglich
Zeitverlust zu erleiden.  Dieser Advokat war unfähig, mich
oder überhaupt ein nicht ganz alltägliches Seelenleben
zu begreifen.  Das Urteil lautete auf 4 Jahre Zuchthaus
und zwei Jahre Polizeiaufsicht.  So schwer es mir fällt,
dies für die Oeffentlichkeit niederzuschreiben, ich kann mich
nicht davon entbinden; es muß so sein.  Nicht mich bedaure
ich, sondern meine armen, braven Eltern und Geschwister,
welch erstere mir noch im Grabe leid tun, daß
ihr Sohn, auf den sie so große, vielleicht nicht ganz
unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die unendliche
Grausamkeit der Tatsachen und Verhältnisse gezwungen
ist, derartige Geständnisse zu machen.

    Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir
vorgeworfen werden, hier aufzuzählen.  Mein Henker,
Schinder und Abdecker zu sein, überlasse ich jener
abgrundtiefen Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an
das Kreuz geschlagen und während dieser Zeit keinen
Augenblick lang aufgehört hat, immer neue Qualen für
mich zu ersinnen.  Sie mag in diesen Fäkalienstoffen
weiterwühlen, zum Entzücken aller jener niedern Lebewesen,
denen diese Stoffe Lebensbedingungen sind.  Und
ebensowenig bin ich gewillt, mit dieser meiner jetzigen
Gefangenschaft Sensation zu treiben.  Ich habe schlicht
und einfach über sie zu berichten, die Wahrheit zu sagen
und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen Abgrund,
der aber ganz und gar kein Abgrund ist, für immer Valet
zu sagen.

    Meine Strafe war schwer und lang, und der auf
zwei Jahre Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir
bei meiner Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen.
Ich war also auf strenge Behandlung gefaßt.  Sie war
ernst, aber sie tat nicht weh.  Eine Anstaltsdirektion
handelt ganz richtig, wenn sie sich nicht voreingenommen
zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und wie der Eingelieferte
sich fügt.  Nun, ich fügte mich!  Freilich wurde für dieses
Mal auf meinen Stand keine Rücksicht genommen.  Man
teilte mich derjenigen Beschäftigung zu, in der grad
Arbeiter gebraucht wurden.  Ich wurde Zigarrenmacher.
Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete es mir.  Ich
habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke
noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Rührung an
sie zurück, welche man stillen, nicht grausamen Leidensstätten
schuldet.  Auch die Arbeit wurde mir lieb.  Sie
war mir hochinteressant.  Ich lernte alle Arten von Tabak
kennen und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der
billigsten bis zur teuersten.  Das tägliche Pensum war
nicht zu hoch gestellt.  Es kam auf die Sorte, auf den
guten Willen und auf die Geschicklichkeit an.  Als ich
einmal eingeübt war, brachte ich mein Pensum spielend
fertig und hatte auch noch stunden- und halbe Tage lang
übrige Zeit.  Diese Zeit für mich verwenden zu dürfen,
war mein innigster Wunsch, und der wurde mir eher,
viel eher erfüllt, als ich es für möglich hielt.

    Ich betone hier ein für allemal, daß es für mich keinen
Zufall gibt.  Das weiß ein jeder meiner Leser.  Für
mich gibt es nur eine Fügung.  So auch in diesem Falle.
Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische
und eine katholische Gemeinde.  Der katholische Katechet
(Anstaltslehrer) fungierte während des katholischen
Gottesdienstes als Organist.  Nun war er aber im Laufe der
Zeit so mit neuen Pflichten und vieler Arbeit überbürdet
worden, daß er für das Orgelspiel einen Stellvertreter
suchen mußte, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen
die Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch
noch die Orgel übernehmen konnte.  Die Direktion billigte
ihm zu, sich einen Vertreter unter den Gefangenen zu
suchen.  Er tat es.  Es gab eine ganze Anzahl bestrafter
Lehrer unter den Gefangenen.  Sie wurden geprüft.
Warum keiner von ihnen genommen wurde, das weiß
ich nicht.  Sie waren alle länger da, als ich, hatten
also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches
zur Bekleidung einer solchen Stelle gehört.  Ich aber war
mit nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte
der zukünftigen Polizeiaufsicht unmöglich entgehen und
hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, daß ich trotzdem
Vertrauen verdiente.  Hier liegt die Ursache für mich,
keinen Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen.  Der
Katechet kam in meine Zelle, unterhielt sich eine Weile
mit mir und ging dann fort, ohne mir etwas zu sagen.
Einige Tage später kam auch der katholische Geistliche.
Auch er entfernte sich nach kurzer Zeit, ohne daß er sich
über den Grund seines Besuches äußerte.  Aber am
nächsten Tage wurde ich in die Kirche geführt, an die
Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt und mußte spielen.
Die Herren Beamten saßen unten im Schiff der Kirche
so, daß ich sie nicht sah.  Bei mir war nur der Katechet,
der mir die Aufgaben vorlegte.  Ich bestand die Prüfung
und mußte vor dem Direktor erscheinen, der mir eröffnete,
daß ich zum Organisten bestellt sei und mich also sehr
gut zu führen habe, um dieses Vertrauens würdig zu
sein.  Das war der Anfang, aus dem sich so sehr viel
für mich und mein Innenleben entwickelte.

    Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer
katholischen Kirche!  Das brachte mir zunächst einige
Bewegungsfreiheiten innerhalb der Anstaltsgebäude.  Man
konnte mir doch keinen Aufseher mit an die Orgel stellen!
Aber es brachte mir noch mehr, nämlich Achtung und
diejenige Rücksichtnahme, nach der ich in Beziehung auf
gewisse Aeußerlichkeiten strebte.  Der Aufseher unserer
Visitation war ein stiller, ernster Mann, der mir sehr
wohlgefiel; als er im Meldebuch las, daß ich katholischer
Organist geworden sei, kam er verwundert in meine Zelle,
um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen Einlieferungsakten
ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als
evangelisch-lutherisch bezeichnet.  Ich verneinte das Versehen.
Da sah er mich groß an und sagte:

    "Das ist noch gar nicht dagewesen!  Da mußt
du -- -- -- hm, da müssen Sie sehr musikalisch sein!"

    Die Gefangenen werden natürlich "Du" genannt;
von jetzt an aber sagte er "Sie", und Andere taten ihm
das nach.  Das war eine scheinbar kleine, aber trotzdem
sehr wertvolle Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere
folgerte.  Bald stellte sich zu meiner freudigen
Ueberraschung heraus, daß mein Aufseher der Dirigent des
Bläserkorps war.  Ich erzählte ihm von meiner
musikalischen Beschäftigung in Zwickau.  Da brachte er mir
schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu erteilen.
Ich bestand auch diese Prüfung, und von nun an war
dafür gesorgt, daß ich nicht verhindert wurde, in meiner
freien Zeit nach meinen Zielen zu streben.  Dieser Aufseher
ist mir ein lieber, väterlicher Freund gewesen, und
wir haben, als er später pensioniert war und nach Dresden
zog, noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit
einander verkehrt.

    Der katholische Katechet hieß Kochta.  Er war nur
Lehrer, ohne akademischen Hintergrund, aber ein
Ehrenmann in jeder Beziehung, human wie selten Einer und
von einer so reichen erzieherischen, psychologischen
Erfahrung, daß das, was er meinte, einen viel größeren Wert
für mich besaß, als ganze Stöße von gelehrten Büchern.
Nie sprach er über konfessionelle Dinge mit mir.  Er
hielt mich für einen Protestanten und machte nicht den
geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung
einzuwirken.  Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich
zu ihm.  Nie habe ich ihm eine Frage nach dem
Katholizismus vorgelegt.  Was ich da wissen mußte, das
wußte ich bereits oder konnte es in anderer Weise
erfahren.  Mir war das schöne Verhältnis heilig, das
nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne daß
sich störende Gegensätze in das rein menschliche Wohlwollen
schleichen durften.  Er tat seinen Kirchendienst,
ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die Religion
zwischen uns vollständig unberührt und konnte also umso
direkter und reiner auf mich wirken.  Grad dieses sein
Schweigen war so beredt, denn es ließ seine Taten sprechen,
und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen
Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das
Kleinste groß zu nehmen weiß.

    Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt
lernte ich sie kennen.  Was für Orgel- und sonstige
Musikstücke bekam ich in die Hand!  Ich hatte geglaubt,
Musikverständnis zu besitzen.  Ich Tor!  Dieser einfache
Katechet gab mir Nüsse zu knacken, die mir sehr zu schaffen
machten.  Was Musik eigentlich ist, das begann ich erst
jetzt zu ahnen, und die Musik ist nicht etwa das
allergeringste Mittel, durch welches die Kirche wirkt.

    Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn
eine besondere Feststellung in Beziehung auf die
Orgelbegleitung nötig war.  Er sprach nur das Allernötigste,
über Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat
war es stets, als ob bei mir die Sonne zu scheinen
beginne.  Solche Sonnenmenschen sind selten, und doch müßte
eigentlich jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn
der Laie ist nur allzusehr geneigt, die Kirche so zu
betrachten und zu beurteilen, wie ihre Priester sich zu ihm
stellen.  Ueber den Unterschied zwischen dem protestantischen
und dem katholischen Gottesdienst gehe ich hinweg, aber
jeder vernünftige Mensch wird es für ganz naturgemäß
und selbstverständlich halten, daß ich nicht vier Jahre
lang an dem letzteren teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm
beteiligt sein konnte, ohne von ihm beeinflußt zu werden.
Wir sind doch keine Steine, von denen alles Weiche
abprallt!  Und sogar dieser Stein wird warm, wenn
der Sonnenstrahl ihn trifft!  Und diese Gottesdienste
waren ja Sonnenstrahlen!  Es liegt noch heut eine
unendliche Dankbarkeit für diese Wärme und diese Güte in
mir, die sich meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf
für mich hatte, als alles Andere gegen mich war.  Ich
habe sie gesegnet bis auf den heutigen Tag und werde
sie segnen, so lange ich lebe!  Wie arm müssen doch die
Menschen innerlich sein, welche behaupten, daß ich katholisiere!
Es ist ganz unmöglich, daß sie die Menschenseele und die
in ihr liegenden Heiligtümer kennen.  Uebrigens habe
ich über den katholischen Glauben gar nichts geschrieben,
über den mohammedanischen aber ganze Bände.  Der
Vorwurf, daß ich islamitisiere, erscheint also viel berechtigter,
als der, daß ich katholisiere.  Warum macht man mir
diesen nicht?  Die Madonna ist von hundert protestantischen
Malern dargestellt und von hundert protestantischen Dichtern,
sogar von Goethe, behandelt worden.  Warum sagt man
von diesen nicht, daß sie katholisieren?  Ich habe der
katholischen Kirche für die hochsinnige Gastfreundlichkeit,
die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre lang erwies,
durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich für
meinen Winnetou dichtete.  Ist das ein Grund, mich
der religiösen Heuchelei zu bezichtigen?  Noch dazu des
Geldes wegen!  Ich wiederhole: Wie arm müssen diese
Menschen sein, wie unendlich arm!  -- --

    Ich muß konstatieren, daß diese vier Jahre der
ungestörten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich
sehr, sehr weit vorwärts gebracht haben.  Es stand mir
jedes Buch zur Verfügung, das ich für meine Studien
brauchte.  Ich stellte meine Arbeitspläne fertig und
begann dann mit der Ausführung derselben.  Ich schrieb
Manuskripte.  Sobald eines fertig war, schickte ich es heim.
Die Eltern vermittelten dann zwischen mir und den Verlegern.
Ich schrieb diesen nicht direkt, weil sie jetzt noch
nicht erfahren sollten, daß der Verfasser der Erzählungen,
die sie druckten, ein Gefangener sei.  Einer aber erfuhr
es doch, weil er persönlich zu den Eltern kam.  Das war
der später noch viel zu erwähnende Kolportagebuchhändler
H. G.  Münchmeyer in Dresden.  Er war Zimmergesell
gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das
Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden.  In
dieser Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal
und lernte in einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd
kennen, die er heiratete.  Das fesselte ihn an die
Gegend.  Er wurde da bekannt und erfuhr auch von mir.
Was er da Tolles hörte, schien ihm außerordentlich passend
für seine Kolportage.  Er suchte meinen Vater auf und
machte sich vertraut mit ihm.  So kamen ihm meine
Manuskripte in die Hand.  Er las sie.  Einiges war ihm
zu hoch.  Anderes aber gefiel ihm so, daß es ihn, wie er
sagte, entzückte.  Er bat, es drucken zu dürfen, und
bekam die Erlaubnis dazu.  Er wollte sofort bezahlen und
legte das Geld auf den Tisch.  Vater aber nahm es nicht.
Er schob es zurück und forderte ihn auf, es mir persönlich
zu geben, wenn ich entlassen sei.  Hierauf ging Münchmeyer
sehr gern ein.  Er versicherte, ich sei der Mann,
den er gebrauchen könne; er werde mich nach meiner
Heimkehr aufsuchen und alles Nähere mit mir besprechen.

    Dies erzähle und stelle ich für einstweilen fest.  Es ist
für manches Folgende von großer Wichtigkeit, zu wissen,
daß Münchmeyer nicht nur meine Vergangenheit, wie sie
in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles
gehört hatte, was hinzugelogen worden war.

    Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich
Ruhe, vollständige Ruhe.  In den ersten vier Wochen der
letzten vier Jahre war es noch vorgekommen, daß die
dunklen Gestalten mich innerlich gequält und mit Zurufen
belästigt hatten; das hatte aber nach und nach aufgehört
und war schließlich still geworden, ohne sich wieder zu
regen.  Wenn ich hierüber nachdachte, ohne auf psychologische
Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht,
daß diese Gebilde nur solange Einfluß besitzen, wie man
in den betreffenden Anschauungen steckt.  Hat man aber
die letzteren überwunden, dann müssen die Schreckbilder
schwinden.  Und dies schien das Richtige zu sein; der
Katechet war derselben Meinung.  Ich hatte ihm von
meinen inneren Anfechtungen nichts erzählt, wie ich in
rein persönlichen und familiären Dingen überhaupt nie
einen Menschen zu meinem Vertrauten mache.  Aber zuweilen
fiel doch ein Wort, welches nicht andeuten sollte,
aber doch andeutete.  Er wurde aufmerksam.  Einmal
kam ich im Verlauf des Gespräches darauf, von meinen
dunklen Gestalten und ihren quälenden Stimmen zu sprechen;
aber ich tat so, als ob ich von einem Andern spräche, nicht
von mir selbst.  Da lächelte er.  Er wußte gar wohl, wen
ich meinte.  Am nächsten Tage brachte er mir ein kleines
Buch, dessen Titel lautete: "Die sogenannte Spaltung des
menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung
überhaupt." Ich las es.  Wie köstlich es war!  Welche
Aufklärung es gab!  Nun wußte ich auf einmal, woran
ich mit mir war!  Nun mochten sie wiederkommen, diese
Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu fürchten!  Später,
als er sich das Buch wieder holte, dankte ich ihm, der
Freude entsprechend, die ich darüber empfand.  Da fragte
er mich:

    "Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie
erzählten?"

    "Ja," antwortete ich.

    "Haben Sie alles verstanden?"

    "Nein, noch nicht."

    "Dieses hier?"

    Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: "Wer
an diesen schweren Anfechtungen leidet, der hüte sich vor
der Stelle, an der er geboren wurde.  Er wohne niemals
längere Zeit dort.  Und vor allen Dingen, wenn er einmal
heiratet, so hole er sich seine Frau ja nicht von diesem
Orte!"

    "Nein, das verstehe ich noch nicht," gestand ich ein.

    "Ich auch nicht," gab er zu.  "Aber denken Sie
darüber nach!"

    Dieses Nachdenken, welches er mir riet, führte mich
zu keinem Resultate.  Es handelte sich um eine rein
psychologische Frage.  Da ist die Erfahrung die einzige wissende
Lehrerin, und diese Erfahrung mußte ich machen, ehe
ich es begriff, leider, leider!  -- -- --

                         _________


                            VI.
                    Bei der Kolportage.

                           _____

Es war ausgestanden.  Ich kehrte heim.  Es war
ein stürmischer Frühlingstag, es regnete und schneite.
Vater kam mir entgegen.  Es fiel ihm auch dieses Mal
nicht ein, mir Vorwürfe zu machen.  Er hatte meine
Manuskripte gelesen und meine Briefe fast auswendig
gelernt.  Er wußte nun, daß er in Beziehung auf meine
Zukunft nichts mehr zu befürchten hatte.  Er kam bei
dieser Gelegenheit auch auf Münchmeyer zu sprechen und
darauf, daß dieser mich aufsuchen wolle.

    "Das wird vergeblich sein," sagte ich.  "Dieser Mann
will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter
nichts.  Solche Sachen schreibe ich nicht.  Er glaubt
wahrscheinlich, daß ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man
über mich faselt, einen Kolportageroman zusammenzuflicken,
der ihm allerdings viel Geld einbringen, mich aber
vernichten würde.  Da irrt er sich.  Ich habe ganz andere
Zwecke und Ziele!"

    Vater gab mir recht.  Als wir oberhalb der Stadt
angekommen waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er
nach dem nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes,
neugebautes Haus und fragte mich:

    "Kennst du das dort?"

    "Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?"

    "Ja.  Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es
heraus, wer es angezündet hat.  Es wurde mit dem Täter
sehr rasch verfahren.  Er ist noch eher in das Zuchthaus
gekommen als du.  Mutter wird es dir erzählen."

    "O nein!  Ich will nichts wissen, gar nichts.  Bitte
sie, daß sie hierüber schweigen soll!"

    Noch an demselben Abend erfuhr ich, daß der Ortswachtmeister
in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf
er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre
lang; er lasse mich keinen Tag lang aus den Augen!  Er
kam schon am andern Vormittag und warf sich derart in
die Brust, daß man es wirklich keinem in dieser Weise
behandelten Menschen übelnehmen kann, wenn er dadurch
rückfällig wird.  Er behauptete, zwei Jahre lang mein
Vorgesetzter zu sein, bei dem ich mich täglich zu melden habe.
Dann zog er die betreffenden Gesetzesparagraphen aus der
Tasche, um mir eine Vorlesung über meine Pflichten zu
halten.  Ich sagte kein Wort, sondern öffnete die Tür und
gab ihm einen Wink, sich zu entfernen.  Als er das nicht
sofort tat, tat ich es.  Ich ging zum Bürgermeister und
machte kurzen Prozeß.  Ich forderte einen Auslandspaß,
und als mir die Auskunft wurde, daß dies nicht so ohne
weiteres möglich sei, war ich schon am nächsten Tage ohne
Paß unterwegs.

    Im Zuge saß ich in einem sonst leeren Coupé.  Es
ging über die Grenze.  Da begann es plötzlich in mir
laut zu wüten und zu toben, zu schreien und zu brüllen
wie in einem Dorfwirtshause, in dem die Bauernknechte
mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen.  Hunderte von
Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen
das kam.  Früher hätte es mich entsetzt; heut aber ließ
es mich kalt.  Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht
hergeben wollten, hatten ihre Macht über mich verloren.
Ich reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach
ganz von selber still werden.

    Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der
zweite Band berichten.  Inzwischen kam Münchmeyer, um
nach mir zu fragen.  Ich war schon fort.  Da zahlte er
das Honorar und ging unverrichteter Sache wieder heim.
Ungefähr dreiviertel Jahre später erschien er wieder, und
zwar nicht allein, sondern mit seinem Bruder.  Dieses Mal
fand er mich daheim, denn ich war wieder da, um meine
"Geographischen Predigten" zu schreiben und in Druck zu
geben.  Sein Bruder war Schneider gewesen und dann
auch Kolporteur geworden.  Das Geschäft war bisher gut
gegangen, sogar außerordentlich gut; nun aber stand es in
Gefahr, ganz plötzlich zusammenzubrechen.  Man brauchte
einen Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich!  Das
war mir unbegreiflich, weil ich mit Münchmeyer noch nie
etwas zu tun gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu
tun haben wollte und weder ihn noch seine Lage kannte.
Er erklärte sie mir.  Er war ein klug berechnender, sehr
beredter Mann, und sein Bruder sekundierte ihm in so
trefflicher Weise, daß ich beide nicht kurzer Hand
abwies, sondern sie aussprechen ließ.  Aber als sie das
getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen, obgleich ich es
nie für möglich gehalten hätte, daß ich jemals zu der
"Kolportage" in irgend eine Geschäftsbeziehung treten
könne.

    Münchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden
Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw.  gebracht.  Was
er herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage.  Er
sprach von einem sogenannten "Schwarzen Buch" mit lauter
Verbrechergeschichten, von einem sogenannten "Venustempel",
der eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen
Werken gleicher Art.  Für heut aber handle es sich
um ein Wochenblatt, welches er unter dem Titel "Der
Beobachter an der Elbe" herausgebe.  Gründer und
Redakteur dieses Blattes sei ein aus Berlin stammender
Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr geschickter,
tatkräftiger, aber in geschäftlicher Beziehung höchst
gefährlicher Mensch.  Dieser habe sich mit ihm überworfen, sei
plötzlich aus der Redaktion gelaufen, habe alle
Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein ganz ähnliches
Blatt wie den "Beobachter an der Elbe" herausgeben,
um ihn tot zu machen.  "Wenn ich nicht sofort einen
anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen über ist
und es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!"
schloß Münchmeyer seinen Bericht.

    "Aber wie kommen Sie da grad auf mich?" erkundigte
ich mich.  "Ich bin weder Redakteur noch in irgend
einer Weise bewährt!"

    "Das lassen Sie meine Sorge sein!  Ich habe viel
von Ihnen gehört und, vor allen Dingen, ich habe Ihre
Manuskripte gelesen.  Ich kenne mich aus.  Sie sind der,
den ich brauche!"

    "Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur
Kolportage wird mich niemand bringen!"

    "Weil Sie sie nicht kennen.  Man kann doch auch
Gutes mit ihr leisten.  Was haben Sie denn vor?"

    Ich erklärte ihm meine Pläne.  Da fing er Feuer;
er begeisterte sich für sie.  Er gehörte zu jenen Leuten,
die gern vom Hohen schwärmen, aber doch vom
Niedrigen leben.

    "Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!" rief er
aus.  "Und das können Sie Alles bei mir erreichen, am
besten und schnellsten bei mir!"

    "Wieso?"

    "Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen
diesen Freytag und sein neues Blatt damit tot!"

    "Das wäre allerdings bequem.  Aber wenn mir Ihr
,Beobachter an der Elbe' nicht gefällt?  Ich kenne ihn
ja nicht."

    "So lassen wir ihn eingehen, und Sie gründen ein
neues Blatt an seiner Stelle!"

    "Was für eines?"

    "Ganz nach Ihrem Belieben, wie es für Ihre Zwecke
paßt!"

    Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon
mehr als halb gewann.  Das klang in Beziehung auf meine
Pläne ja fast wie ein Himmelsgeschenk!  Er fügte noch
weitere Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht
machte, auf seine Wünsche einzugehen.  Hierzu kamen meine
eigenen Erwägungen.  Es wurde mir hier ganz unerwartet
die prächtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die
Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher
Gehörige in bequemster Weise kennenzulernen.  Das hatte
für mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde
mir wahrscheinlich nie wieder geboten.  Der Gehalt, den [sic]
Münchmeyer mir zahlen konnte, war zwar nicht bedeutend,
aber es flossen mir ja außerdem derartige Honorare zu,
daß ich ihn eigentlich gar nicht brauchte.  Und ich war
gar nicht gebunden.  Er bot mir vierteljährige Kündigung
an.  Ich konnte also alle drei Monate gehen, wenn es
mir nicht gefiel.

    "Versuchen Sie es!  Sagen Sie ja!" forderte er
mich auf, indem er mir einen Monatsgehalt hinzählte.

    "Wann hätte ich anzutreten?" fragte ich.

    "Spätestens übermorgen.  Es eilt.  Dieser Freytag
darf uns nicht vorauskommen."

    "Aber Sie wissen doch, daß ich bestraft bin!"

    "Ich weiß Alles.  Das tut aber nichts."

    "Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!"

    "Das habe ich nicht gewußt; aber auch das tut
nichts.  Grad weil dies so ist, sind Sie mir der
Allerliebste!  Schlagen Sie ein!"

    Das klang gradezu rührend.  Er hielt mir die Hand
hin; Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab
ich ihm den Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur.

    Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst
ein möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr
bald mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur
Verfügung, und ich kaufte mir die Möbel dazu.  Ich fand
den Verlag ganz ungemein häßlich.  Das "Schwarze Buch"
war geradezu empörend verbrecherisch.  Der "Venustempel"
zeigte sich als ein scheußliches, auf die niedrigste
Sinnenlust berechnetes Unternehmen mit zotenhaften
Beschreibungen und entsetzlich nackten, aufregenden
Abbildungen.  Beigegeben war eine Hausapotheke für
Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen verdient wurden, die
mir fast unglaublich erschienen.  Diese schamlosen Hefte
und Bilder lagen überall umher.  Die Arbeiter und
Arbeiterinnen nahmen sie mit heim.  Die vier Töchter
Münchmeyers, damals noch im Schul- und Kindesalter,
lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau
Münchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: "Was
denken Sie!  Das ist unser bestes Buch!  Das bringt eine
Masse Geld!"  Ich nahm mir vor, dies müsse entweder
anders werden oder ich würde ohne Kündigung wieder
fortgehen.  Was den "Beobachter an der Elbe" betrifft,
dessen Redaktion ich übernommen hatte, so sah ich gleich
mit dem ersten Blick, daß er verschwinden müsse.
Münchmeyer war so vernünftig, dies zuzugeben.  Wir ließen
das Blatt eingehen, und ich gründete drei andere an
seiner Stelle, nämlich zwei anständige Unterhaltungsblätter,
welche "Deutsches Familienblatt" und "Feierstunden"
betitelt waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt
für Berg-, Hütten- und Eisenarbeiter, dem ich die
Ueberschrift "Schacht und Hütte" gab.  Diese drei Blätter
waren darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse
der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser
und Herzen zu bringen.  In Beziehung auf "Schacht und
Hütte" bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die
großen Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafür
zu interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedürfnis
war, so erzielte ich Erfolge, über die ich selbst erstaunte.
Unsere Blätter stiegen so, daß Münchmeyer mir zu Weihnachten
ein Klavier schenkte.  Sein Konkurrent Freytag gab
sich alle Mühe, hatte zwar anfänglich auch Erfolg, mußte
sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen lassen.

    In dieser Zeit der Entwicklung war es, daß Münchmeyer
von auswärtigen Behörden wegen der Verbreitung
des "Venustempels" angezeigt wurde.  Verfasser dieses
Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag,
der nur deshalb mit Münchmeyer gebrochen hatte, weil
dieser ihn an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht
partizipieren ließ.  Das Buch enthielt eine lüstern
geschriebene Abteilung über "die Prostitution", die zu
Polizeianzeigen allerdings direkt herausforderte.  Es wurde
Münchmeyer von irgend einer Seite verraten, von welcher,
das weiß ich nicht, daß eine Haussuchung nach dem "Venustempel"
stattfinden werde.  Sofort begann eine fieberhafte
Rührigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu verhüten.
Jedermann, dem man traute, mußte helfen; mir aber
sagte man kein Wort; man schämte sich.  Es lagen
Tausende von gedruckten Exemplaren da.  Man versteckte
ganze Stöße, die bis zur Decke reichten, hinter andern
Werken.  Man füllte den Lift damit aus.  Man benutzte
jede verborgene Stelle.  Man schaffte eine Menge der
gefährdeten Bücher in die Privatwohnungen und verbarg
sie sogar unter den Betten der Kinder.  Das ging so schnell
und gelang so gut, daß die Polizei, als sie sich einstellte,
kaum eine ganz geringe Nachlese fand, und noch lange
hat man sich im Münchmeyerschen Hause des Schnippchens
gerühmt, welches damals der sonst so findigen Dresdener
Behörde geschlagen worden sei.  Ich erfuhr erst später,
viel später hiervon und zog meine Konsequenzen.  Meines
Bleibens war hier nicht.  Ich wollte aus dem Abgrund
heraus, nicht aber wieder hinunter!

    Ich darf wohl sagen, daß ich in jener Zeit fleißig
gewesen bin und mir ehrliche Mühe gegeben habe, die
Münchmeyersche Kolportage in einen anständigen Verlag
zu verwandeln.  Münchmeyer befreundete sich so mit mir,
daß wir wie Brüder verkehrten.  Das war mir ganz lieb,
so lange er tat, was ich für richtig hielt.  Ich begann
gleich in den ersten Nummern der drei neugegründeten
Blätter mit der Ausführung meiner literarischen Pläne.
Ich habe bereits gesagt, daß ich in dieser Beziehung mein
Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhälften, nämlich
auf die Indianer und auf die islamitischen Volker richten
wollte.  Das tat ich nun hier.  Ich bestimmte das "Deutsche
Familienblatt" für die Indianer und die "Feierstunden"
für den Orient.  Im ersteren Blatte begann ich sofort
mit "Winnetou", nannte ihn aber einem anderen
Indianerdialekt gemäß einstweilen noch In-nu-woh.  Ich war
überzeugt, daß diese beiden Blätter eine Zukunft hätten,
und ich bildete mir ein, für eine ganze Reihe von
Jahrgängen Redakteur bleiben zu können.  Da gab es Raum
und Zeit genug für das, was ich wollte.  Ganz
selbstverständlich schrieb ich auch für andere Firmen, die ich
wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich
bei ihnen festzusetzen.  Leider stellte sich meinen guten,
weit ausschauenden Absichten ganz plötzlich ein unerwartetes
Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt
war, ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine
Anerkennung, eine Förderung bedeuten.  Man machte mir
nämlich, um mich an die Firma zu binden, den Vorschlag,
die Schwester der Frau Münchmeyer zu heiraten.  Man
lud, um dies zu erreichen, meinen Vater nach Dresden
ein.  Er durfte zwei Wochen lang als Gast bei Münchmeyers
wohnen und bekam vom Vater der Frau Münchmeyer
die Brüderschaft angetragen.  Das bewirkte grad
das Gegenteil.  Ich sagte "nein" und kündigte, denn
nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben
konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen
Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte,
das Nähere erfuhr.  Nun hatten meine Pläne einstweilen
zu schweigen, doch gab ich sie nicht auf.  Als das
Vierteljahr vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch
nicht von Dresden.  Die Trennung von der Kolportage
tat mir nicht im geringsten wehe.  Ich war wieder frei,
schrieb einige notwendige Manuskripte und ging sodann
auf Reisen.  Hierbei meine Vaterstadt berührend, wurde
ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und
erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und Münchmeyer, der
Verleger des "Venustempels", wegen dieses Schandwerkes
kürzlich bestraft worden seien.  Das hatte man mir
verschwiegen.  Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses
Venustempels hineingeheiratet zu haben!

    Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise
hatte ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in
Hohenstein verheiratet war, aufzusuchen.  Ich wohnte
einige Tage bei ihr und lernte da ein Mädchen kennen,
welches einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich machte.
Ich habe am Anfange dieses meines Buches gesagt, daß
ich die sonderbare Eigentümlichkeit besitze, die Menschen
mehr seelisch als körperlich vor mir zu sehen.  Ob das
ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich
entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es
nicht selten vor, daß ich eine häßliche Person schön und
eine schöne häßlich finde.  Die interessantesten Wesen
sind mir die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft
erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren
Kolorit ich nicht begreife.  Solche Personen ziehen mich
an, selbst wenn sie abstoßend wirken; ich kann nichts
dafür.  Und mit dem Mädchen, von dem ich hier spreche,
hatte es noch eine andere, ganz eigentümliche Bewandtnis.
Nämlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in
Waldenburg war, ging ich eines Novembertages von dort
nach Ernstthal zu den Eltern, um meine Wäsche zu holen.
Auf dem Rückwege kam ich über den Hohensteiner Markt.
Da wurde gesungen.  Die Kurrende stand vor einem
Hause.  Es war da eine Leiche, die beerdigt werden
sollte.  Ich kannte das Haus.  Unten wohnte ein Mehlhändler
und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit,
die man bald als Barbier, bald als Feldscheer [sic], Chirurg
oder Arzt bezeichnete.  Er barbierte nicht Jedermann, und es
war bekannt, daß er noch weit mehr konnte als das.  Sein
Name war Pollmer.  Er hatte eine Tochter, die man für
das schönste Mädchen der beiden Städte hielt; das wußte
ich.  Die sollte jetzt begraben werden.  Darum blieb ich
stehen.  Zwei Frauen, die auch zuhören und zusehen
wollten, stellten sich hinter mich.  Eine dritte kam hinzu,
die war vom Dorfe, sie fragte, was das für eine
Leiche sei.

    "Pollmers Tochter," antwortete eine der beiden ersten
Frauen.

    "Ach?!  Dem Zahndoktor seine?  Woran ist denn
die gestorben?"

    "An ihrem eigenen Kinde.  Besser wäre es, dieses
wäre tot, sie aber lebte noch.  Auf so einem Kinde, an
dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das
bringt Jedermann nur Unheil."

    "Was ist denn der Vater?"

    "Der?  Es hat ja keinen!"

    "Du lieber Gott!  Auch das noch?  Da wäre es
freilich besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben
werden!"

    Jetzt hörte der Gesang auf.  Man brachte den Sarg
heraus.  Der Leichenzug bildete sich.  Droben am offenen
Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person,
welche etwas auf den Armen trug.  Das war das Kind,
der "Nickel", der seine eigene Mutter getötet hatte und
Jedermann Unheil brachte!  Ich verstand von dem allem
nichts.  Was weiß ein vierzehnjähriger Junge von den
Vorurteilen dieser Art von Menschen!  Aber als der
Leichenzug an mir vorüber war, und ich meinen Weg
fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich später noch
oft beschäftigte, nämlich die Frage, warum man sich vor
einem Kinde, welches keinen Vater hat und schuld an
dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß.  Ich
glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an
das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine
Art von Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegräbnis
und an den unglückseligen "Nickel" dachte.  Sobald ich
später über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich
ganz unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der
Oberstube des Mehlhändlerhauses.  Nach Verlauf einer
Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes,
eines Mädchens, herausschauen.  Ich blieb für einen
Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten.  Es
war nichtssagend und hatte weder etwas Wohltuendes
noch etwas Fürchterliches an sich.  Später begegnete ich
einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen
Manne, der ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen
an der Hand führte.  Das war der alte Pollmer mit
seinem "Nickel".  Der Alte sah sehr ernst, das Kind
aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar
nichts an sich, was verriet, "daß seine Mutter an ihm
gestorben war".  Dann habe ich es noch verschiedene
Male gesehen, als angehenden Backfisch, bleich, lang
aufgeschossen, überaus schmal, ganz uninteressant, ein
vollständig gleichgültiges Wesen.  Nie hätte ich gedacht, daß
dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch
nur unbedeutende Rolle spielen könne.  Und nun ich jetzt
bei meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer
Freundinnen einige junge Mädchen vorgestellt, unter
denen sich auch ein "Fräulein Pollmer" befand.  Das
war der "Nickel"; aber er sah ganz anders aus als
früher.  Er saß so still und bescheiden am Tisch,
beschäftigte sich sehr eifrig mit einer Häkelei und sprach
fast gar kein Wort.  Das gefiel mir.  Dieses Gesicht
errötete leicht.  Es hatte einen ganz eigenartigen,
geheimnisvollen Augenaufschlag.  Und wenn ein Wort über
die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend, gar
nicht wie bei andern Mädchen, die Alles grad so
herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge läuft.  Das gefiel
mir sehr.  Ich erfuhr, daß ihr Großvater, nämlich
Pollmer, meine "Geographischen Predigten" gelesen hatte
und sie immer wieder las.  Das gefiel mir noch mehr.
Sie erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden.
Hinter den Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur
von Geist und nur einen Hauch von Seele.  Hinter der
Pollmer aber lag psychologisches Land, ob Hoch- oder
Niederland, ob Wüste oder Fruchtbarkeit, das konnte ich
nicht unterscheiden, aber Land war da; das sah ich
deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, dieses Land
kennen zu lernen.  Daß sie nicht aus einer wohlhabenden
oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich nicht
verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer
Webersohn und eigentlich viel weniger als das.

    Am nächsten Tage kam ihr Großvater zu mir.  Sie
hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch
erweckt, mich nach der Lektüre meiner "Predigten" nun
auch persönlich kennen zu lernen.  Er schien von mir
befriedigt zu sein, denn er forderte mich auf, nun auch
ihn zu besuchen.  Ich tat es.  Es entwickelte sich ein
Verkehr zwischen uns, der dann, als ich meinen Besuch
beendet hatte und wieder nach Dresden ging, sich aus
einem persönlichen in einen schriftlichen verwandelte.
Aber Pollmer schrieb nicht gern.  Die Briefe, die ich
bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter.  Wer
hätte jemals gedacht, daß ich mit dem "Nickel", der Einem
"nur Unheil bringt", in Korrespondenz treten würde!

    Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten
Eindruck.  Sie sprach da von meinem "schönen, hochwichtigen
Beruf", von meinen "herrlichen Aufgaben", von
meinen "edlen Zielen und Idealen".  Sie zitierte Stellen
aus meinen "Geographischen Predigten" und knüpfte
Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte.  Welch
eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau!  Zwar kam es
mir zuweilen so vor, als ob nur ein männlicher Verfasser,
und zwar ein sehr gebildeter, solche Briefe schreiben
könne, aber es war mir nicht möglich, sie eines solchen
Betruges für fähig zu halten.  Meine Schwester schrieb
mir auch.  Sie floß vom Lobe "Fräulein Pollmers" über
und lud mich für die Weihnachtsferien ein, sie wieder zu
besuchen.  Ich tat es.  Ich vergaß, daß grad die
Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist und
daß ich vor der Stelle, an der ich geboren wurde,
gewarnt worden bin.  Diese Weihnacht entschied über
mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte.  Ich hatte
ja Zeit.  Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis
ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte,
um das Seelenstudium des "Nickels", der nun "mein
Nickel" werden sollte, weiter fortzusetzen.  Aber es kam
nicht zu dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer
Entscheidung, wie sie sonst nur auf der Bühne zu sein
pflegt.  Nämlich als Pollmer erfuhr, daß ich wieder da
sei, besuchte er mich und lud mich zu sich zum
Mittagessen ein.  Er war längst Witwer, und seine Familie
bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter.  Ich wußte,
daß er sich überall nur höchst lobend über mich aussprach,
und daß meine Vorstrafen ihn ganz und gar nicht hinderten,
mich für einen guten, vertrauenswürdigen Menschen
zu halten.  Aber ich wußte auch, daß er sein Enkelkind
für das schönste und wertvollste Wesen der ganzen
Umgegend hielt und daß er ganz märchenhafte Gedanken
in Beziehung auf dessen Verheiratung hatte.  Er war
der Ansicht, daß solche strahlende Beautés der größte
Reichtum ihrer Familie seien und nur möglichst reich
und vornehm verheiratet werden dürfen.  Ganz selbstverständlich
konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß
auf seine Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte
ich sehr wohl; und vielleicht war es die höchste Zeit, sie
diesem Einflusse zu entziehen.  Ich antwortete darum,
als er mich bat, heut bei ihm zu Mittag zu essen:

    "Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, daß ich
nicht nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter
willen kommen darf."

    Er horchte überrascht auf.

    "Um Emmas willen?" fragte er.

    "Ja."

    "Wie meinen Sie das?  Haben Sie Absichten auf
sie?  Wollen Sie sie etwa heiraten?"

    "Allerdings."

    "Alle Wetter!  Davon weiß ich kein Wort!  Das ist
aber doch wohl nur Ihre Absicht!  Was sagt denn sie
dazu?"

    "Sie ist einverstanden."

    Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot
im Gesicht und rief aus:

    "Daraus wird nichts, nichts, nichts!  Meine Tochter
ist nicht dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie
sich mit einem armen Teufel durch das Leben schindet!
Die kann andere Männer kriegen.  Die soll mir keinen
Schriftsteller heiraten, der, wenn es gut geht, nur von
seiner Berühmtheit und nur vom Hunger lebt!"

    "Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?"
fragte ich.  "Das würde ich gelten lassen!"

    "Unsinn!  Das kümmert mich nicht.  Es laufen
Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das
Zuchthaus gehören!  Nein, das ist es nicht.  Ich habe ganz
andere Gründe.  Sie bekommen meine Tochter nicht!"

    Er rief das sehr laut aus.

    "Oho!" antwortete ich.

    "Oho?  Hier gibt es kein Oho!  Ich wiederhole
Ihnen, Sie bekommen meine Tochter nicht!"

    Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck
zu verstärken, mit dem Spazierstock auf den Boden.
Es juckte mir förmlich in der Hand, sie ihm auf die
Achsel zu legen und ihm lachend zu sagen: "Gut, so behalten
Sie sie!"  Aber dagegen bäumte sich das väterliche
Erbteil in mir auf, der zähe, unbedachte Zorn, der
niemals das Richtige tut.  Ich brauste nun auch auf:

    "Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!"

    "Versuchen Sie das!"

    "Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde
es tun, wirklich tun!"

    Da lachte er.

    "Sie werden sich nicht zu mir wagen.  Ich verbitte
mir von jetzt an jeden Besuch!"

    "Das versteht sich ganz von selbst.  Aber ich sage
Ihnen im voraus: Sie werden seiner Zeit persönlich zu
mir kommen und mich bitten, Sie zu besuchen.  Jetzt
aber leben Sie wohl!"

    "Ich Sie bitten?  Nie, nie, niemals!"

    Er ging.  Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte
sie seiner Tochter.  Die lauteten: "Entscheide zwischen
mir und Deinem Großvater, Wählst Du ihn, so bleib;
wählst Du mich, so komm sofort nach Dresden!"  Dann
reiste ich ab.  Sie wählte mich; sie kam.  Sie verließ
den, der sie erzogen hatte und dessen einziges Gut sie
war.  Das schmeichelte mir.  Ich fühlte mich als Sieger.
Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, die zwei erwachsene,
hochgebildete Töchter besaß.  Durch den Umgang mit
diesen Damen wurde es ihr möglich, sich Alles, was sie
noch nicht besaß, spielend anzueignen.  Von da aus bekam
sie Gelegenheit, eine selbständige Wirtschaft führen
zu können.  Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit sehr
gutem Erfolg.  Ich wurde bekannt und bezog sehr anständige
Honorare.  Ich hatte mit meinen "Reiseerzählungen"
begonnen, die sofort in Paris und Tours auch
in französischer Sprache erschienen.  Das sprach sich
herum; das imponierte sogar dem "alten Pollmer".  Er
hörte von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein
wohlhabender, vielleicht gar ein reicher Mann zu werden.  Da
schrieb er an seine Tochter.  Er verzieh ihr, daß sie ihn
um meinetwillen verlassen hatte, und forderte sie auf,
nach Hohenstein zu kommen, ihn zu besuchen, mich aber
mitzubringen.  Sie erfüllte ihm diesen Wunsch, und ich
begleitete sie.  Aber ich ging nicht zu ihm, sondern nach
Ernstthal zu meinen Eltern.  Er schickte nach mir; ich
aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt
habe.  Wenn er mich bei sich haben wolle, müsse
er persönlich kommen, mich einzuladen.  Und er kam!

    Ich fühlte mich wieder als Sieger.  Wie töricht
von mir!  Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung
gesiegt, daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen
bringen werde, und es gab sogar die Gefahr für mich,
daß diese Erwägung nicht allein vom Großvater getroffen
worden war.  Uebrigens bat er sie, bis zu unserer
Verheiratung bei ihm in Hohenstein zu bleiben.  Ich hatte
nichts dagegen und gab mein Logis in Dresden auf, um
bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen.  Es war damals
eine Zeit ganz eigenartiger innerer und äußerer
Entwicklungen für mich.  Ich schrieb und machte Reisen.
Von einer dieser Reisen zurückgekehrt, erfuhr ich, kaum
aus dem Kupee gestiegen, daß heute nacht der "alte Pollmer"
gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen.  Ich
eilte nach seiner Wohnung.  Man hatte mir zuviel
gesagt.  Er war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber
weder sprechen noch sich bewegen.  Sein Enkelkind saß
in einer seitwärts liegenden Stube bei einer klingenden
Beschäftigung.  Sie hatte nach seinem Gelde gesucht und
es gefunden.  Es war nicht viel; ich glaube kaum
zweihundert Mark.  Ich zog sie davon fort, zu dem Kranken
hinüber.  Er erkannte mich und wollte reden, brachte es
aber nur zu einem unartikulierten Lallen.  Aus seinem
Blicke sprach eine ungeheure Angst.  Da kam der behandelnde
Arzt.  Er hatte ihn schon gleich früh am Morgen
untersucht, tat dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid,
daß alle Hoffnung vergeblich sei.  Als er sich entfernt
hatte, glitt die Tochter des Sterbenden vor mir
nieder und bat mich, sie ja nicht zu verlassen.  Ich
versprach es ihr und habe Wort gehalten.  Ich habe sogar
noch mehr getan.  Ich habe ihren Wunsch erfüllt, in
Hohenstein wohnen zu bleiben.  Wir mieteten uns eine
Etage des oberen Marktes und hätten da unendlich glücklich
leben können, wenn uns ein solches Glück beschieden
gewesen wäre.

    Ich schrieb damals schon einige Jahre für
Pustet in Regensburg, in dessen "Deutschem Hausschatz"
meine "Reiseerzählungen" erschienen.  Die Firma Pustet
ist eine katholische und der "Deutsche Hausschatz" ein
katholisches Familienblatt.  Aber diese konfessionelle
Zugehörigkeit war mir höchst gleichgültig.  Der Grund,
warum ich dieser hochanständigen Firma treugeblieben
bin, war kein konfessioneller, sondern ein rein geschäftlicher.
Kommerzienrat Pustet ließ mir nämlich schon bei
der zweiten, kurzen Erzählung durch seinen Redakteur
Vinzenz Müller mitteilen, daß er bereit sei, alle meine
Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen
Verlag senden.  Und zahlen werde er sofort.  Bei längeren
Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe
er sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel
Geld!  Es wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem
ein solches Anerbieten gemacht wird.  Ich ging mit Freuden
darauf ein.  Rund zwanzig Jahre lang ist das Honorar,
wenn ich das Manuskript heute zur Post sandte, genau
übermorgen eingetroffen.  Ich erinnere mich keines
einzigen Males, daß es später gekommen wäre.  Und
niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch nur
die geringste Differenz zwischen uns gegeben.  Ich habe
nie mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und
als Pustet es mir plötzlich verdoppelte, tat er das aus
eigenem, freiem Entschlusse, ohne daß ich einen hierauf
bezüglichen Wunsch geäußert hatte.  Solchen Verlegern
bleibt man treu, auch ohne nach ihrem Glauben und
ihrer Konfession zu fragen.

    Aber noch wertvoller als diese Pünktlichkeit war für
mich der Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt
waren und sicher an- und aufgenommen wurden.
Das machte es mir möglich, meine auf die "Reiseerzählungen"
bezüglichen Pläne nun endlich auszuführen.  Es
war mir nun der nötige Spaltenraum für lange Zeit
hinaus sichergestellt.  Durch wen ich diese Erzählungen
dann später in Buchform herausgeben würde, war eine
Frage, die einstweilen noch offenbleiben konnte.  Es gibt
feindselige Menschen, welche behaupten, daß ich mich
nur um des Geldes willen an diesen katholischen Verlag
herangemacht habe.  Das ist eine Unwahrheit, für deren
Gewissenlosigkeit und Verwerflichkeit ich keine Worte
finde.  Ich habe ganz das Gegenteil von dem getan,
dessen man mich da beschuldigt.  Ich habe dem "Deutschen
Hausschatz" und seinem Herausgeber Opfer gebracht,
von deren Größe die Familie Pustet keine Ahnung
hatte.  Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef
Kürschner, der bekannte, berühmte Publizist, mit dem ich
sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich
schrieb.  Es handelte sich um die bei Spemann in
Stuttgart erscheinende Revue "Vom Fels zum Meere",
für welche ich mitgearbeitet habe.  Der Brief lautet wie
folgt:

               "Sehr geehrter Herr!

      Sie haben inzwischen schon wieder für andere
  Unternehmungen Beiträge geliefert, während Sie mich
  mit dem längst Versprochenen noch immer im Stiche
  ließen.  Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte
  Sie dringend, nun Ihr Versprechen mir gegenüber
  wahr zu machen.  Ich will diese Gelegenheit nicht
  vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen, ob Sie nicht
  geneigt wären, einmal einen recht packenden, fesselnden
  und situationsreichen Roman zu schreiben.  Ich würde
  I h n e n  in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend
  Mark pro "Fels"-Bogen zusichern können, wenn Sie
  etwas Derartiges schreiben würden.

          In vorzüglicher Hochachtung

                           Ihr ergebenster

                                Josef Kürschner.

    Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war
gegen diese tausend Mark so unbedeutend, daß ich mich
scheue, seinen Betrag hier zu nennen.  Wenn ich Pustet
trotzdem vorgezogen habe, so ist das ein gewiß wohl mehr
als hinreichender Beweis, daß ich für den "Hausschatz"
nicht geschrieben habe, um "mehr Geld zu machen, als
ich von Andern bekam".  Auch meine andern Verleger
zahlten bedeutend mehr als Pustet.  Das muß ich, um
diesen böswilligen Ausstreuungen zu begegnen, hiermit
konstatieren.  Ueber den Inhalt dieser meiner
Hausschatzerzählungen berichte ich an anderer Stelle.  Ich habe,
der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet
zurück zu Münchmeyer zu wenden.

    Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau
auf einer Erholungstour nach Dresden kam.  Ich hatte
ihr Münchmeyer so lebhaft geschildert, daß sie sich ein
ganz richtiges Bild von ihm machen konnte, obgleich sie
ihn noch nicht gesehen hatte.  Sie wünschte aber sehr,
ihn kennen zu lernen, von dem ihr auch Andere gesagt
hatten, daß er ein hübscher Kerl, ein glanzvoller Unterhalter
und für schöne Frauen begeistert sei.  Er pflegte
in dieser Jahreszeit um die Dämmerstunde in einer
bestimmten Gartenrestauration zu verkehren.  Als ich ihr
das sagte, bat sie mich, sie hinzuführen.  Ich tat es,
obgleich es mir widerstrebte, ihm diejenige zu zeigen, die ich
seiner Schwägerin vorgezogen hatte.  Ich hatte mich
nicht geirrt.  Er war da.  Der einzige Gast im ganzen
Garten.  Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig;
das sah man ihm an.  Aber gab es nicht vielleicht auch
geschäftliche Ursachen zu dieser Freude?  Er hatte gar
so zusammengedrückt und niedergeschlagen dagesessen, den
Kopf in beide Hände gelegt.  Nun aber war er plötzlich
froh und munter.  Er strahlte vor Vergnügen.  Er
machte mir in seiner Kolportageweise die unmöglichsten
Komplimente, eine so schöne Frau zu haben, und meiner
Frau gratulierte er in denselben Ausdrücken zu dem
Glück, einen so schnell berühmt gewordenen Mann zu
besitzen.  Er kannte meine Erfolge, übertrieb sie aber,
um uns beiden zu schmeicheln.  Er machte Eindruck auf
meine Frau, und sie ebenso auf ihn.  Er begann, zu
schwärmen, und er begann, aufrichtig zu werden.  Sie
sei schön wie ein Engel, und sie solle sein Rettungsengel
werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in seiner
jetzigen großen Not.  Sie könne ihn retten, indem sie
mich bitte, einen Roman für ihn zu schreiben.  Und nun
erzählte er:

    Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er
keinen passenden Redakteur für die von mir gegründeten
Blätter gefunden.  Er selbst verstand nicht, zu redigieren.
Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten
fielen ab; sie gingen ein.  Dabei blieb es aber nicht.  Es
wollte überhaupt nichts mehr gelingen.  Verlust folgte
auf Verlust, und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage
Sein oder Nichtsein nicht länger von sich weisen
konnte.  Er habe soeben, in diesem Augenblick, darüber
nachgedacht, durch wen oder was er Rettung finden könne,
doch vergeblich.  Da seien wir beide gekommen, grad wie
vom Himmel geschickt.  Und nun wisse er, daß er gerettet
werde, nämlich durch mich, durch einen Roman von mir,
durch meine schöne, junge, liebe, gute Herzensfrau, die
mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in seinen
Händen sei.  Der Pfiffikus hatte sich durch diese derben
Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau
vollständig versichert.  Er drang in mich, ihm seinen Wunsch
zu erfüllen, und sie bat mit.  Er stellte mir klugerweise
vor, daß eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen schlimmen
Lage sei.  Vor sechs Jahren habe alles außerordentlich
gut gestanden; aber daß ich seine Schwägerin nicht habe
heiraten wollen und aus der Redaktion gegangen sei, das
habe alles in das Gegenteil verwandelt.  Um das wieder
gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu verpflichtet,
ihm jetzt unter die Arme zu greifen.

    Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fühlte ich
gar wohl, daß etwas Wahres daran sei.  Man hatte
damals meine Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau
Münchmeyer zu heiraten, für so selbstverständlich gehalten,
daß überall davon gesprochen worden war.  Dadurch, daß
ich den Plan zurückwies, hatte nicht nur dieses Mädchen,
sondern auch die ganze Familie eine beinahe öffentliche
Zurücksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld
trug, die mich aber geneigt machte, Münchmeyer als Ersatz
dafür irgend eine Liebe zu erweisen.  Hierzu kam, daß
wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde
auseinander gegangen waren.  Es konnte also wohl einen
geschäftlichen, nicht aber einen persönlichen Grund geben,
seinen Wunsch zurückzuweisen.  Aber auch in geschäftlicher
Beziehung lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern.
Zeit hatte ich; ich brauchte sie mir nur zu nehmen.  In
dem Umstand, daß Münchmeyer Kolportageverleger war,
lag kein Zwang für mich, ihm nun auch meinerseits nichts
Anderes als nur einen Schund- und Kolportageroman zu
schreiben.  Es konnte etwas Besseres sein, eine organische
Folge von Reiseerzählungen, wie ich sie Pustet und anderen
Verlegern lieferte.  Tat ich das, so war damit zugleich
auch meinem Lebenswerke gedient, und ich konnte das,
was ich für Münchmeyer schrieb, ganz ebenso später für
mich in Bänden erscheinen lassen, wie das für meine
Hausschatzerzählungen bestimmt worden war.

    Diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, während
Münchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen.
Ich erklärte schließlich, daß ich mich vielleicht entschließen
können, den gewünschten Roman zu schreiben, doch nur
unter der Bedingung, daß er nach einer bestimmten Zeit
mit sämtlichen Rechten wieder an mich zurückfalle.  Es
dürfe an meinem Manuskripte absolut kein Wort geändert
werden; das wisse er ja von früher her.  Münchmeyer
erklärte, hierauf einzugehen, doch möge ich ihn mit dem
Honorar nicht drücken.  Er sei in Not und könne nicht
viel zahlen.  Später, wenn mein Roman gut einschlage,
könne er das durch eine "feine Gratifikation" ausgleichen.
Das klang ja gut.  Er bat, ihm keine Zeit zu setzen, an
welcher der Roman wieder an mich zurückzufallen habe,
sondern lieber eine Abonnentenzahl, nach welcher, sobald
sie erreicht worden sei, er aufzuhören und mir meine Rechte
wiederzugeben habe.  Er berechnete, daß er mit sechs- bis
siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung komme;
was darüber hinausgehe, sei Verdienst.  Darum schlug
ich vor, im Falle, daß ich den Roman schreiben werde,
solle Münchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten
gehen dürfen, weiter nicht; dann habe er mir eine "feine
Gratifikation" zu zahlen, und der Roman falle mit allen
Rechten an mich zurück.  Ob ich ihn dann gegen das
entsprechende Honorar bei ihm oder bei einem anderen
Verleger weiter erscheinen lasse, sei lediglich meine Sache.
Hierauf ging Münchmeyer sofort ein, ich aber gab meine
Zusage noch nicht definitiv; ich erklärte, mir die Sache
erst noch reiflich überlegen und meine Entscheidung dann
morgen geben zu wollen.

    Münchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser
Hotel, um sich meinen Bescheid zu holen.  Ich sagte ja,
halb freiwillig und halb gezwungen.  Meine Frau hatte
nicht nachgelassen, bis ich ihr das Versprechen gab, ihm
seinen Wunsch zu erfüllen.  Er bekam den Roman zu den
erwünschten Bedingungen, nämlich nur bis zum
zwanzigtausendsten Abonnenten.  Dafür hatte er für die Nummer
35 Mark zu bezahlen und beim Schluß eine "feine
Gratifikation".  Er gab den Handschlag.  Unser Kontrakt
war also kein schriftlicher, sondern ein mündlicher.  Er sagte,
wir seien beide ehrliche Männer und würden einander
nie betrügen.  Es klinge für ihn wie eine Beleidigung,
von ihm eine Unterschrift zu verlangen.  Ich ging aus
zwei guten Gründen hierauf ein.  Nämlich erstens durften
nach damaligem sächsischem Gesetz bei Mangel eines
Kontrakts überhaupt nur tausend Exemplare gedruckt werden;
Münchmeyer hätte sich also, wenn er unehrlich sein wollte,
nur selbst betrogen; so dachte ich.  Und zweitens konnte
ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht und
unauffällig durch Briefe verschaffen.  Ich brauchte meine
Geschäftsbriefe an Münchmeyer sehr einfach nur so
einzurichten, daß seine Antworten nach und nach Alles
enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war.  Das
habe ich denn auch getan und seine Antworten mir heilig
aufgehoben.

    Er wünschte sehr, daß ich mit dem Roman sofort
beginne.  Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst
nach Hohenstein zurück, um unverweilt anzufangen.  Meine
Frau trieb fast noch mehr als Münchmeyer selbst.  Er
hatte eine persönliche Vorliebe für den nichtssagenden
Titel "Das Waldröschen".  Ich ging auch hierauf ein,
hütete mich aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen
zu machen.  Schon nach einigen Wochen kamen günstige
Nachrichten.  Der Roman "ging".  Dieses "ging" ist ein
Fachausdruck, welcher einen nicht gewöhnlichen Erfolg
bedeutet.  Ich bekam weder Korrektur noch Revision zu
lesen, und das war mir ganz lieb, denn ich hatte keine
Zeit dazu.  Beleghefte gingen mir nicht zu, weil sie mich
verzettelt hätten.  Ich sollte meine Freiexemplare nach
Vollendung des Romans gleich komplett bekommen.  Damit
war ich einverstanden.  Freilich bekam ich dadurch keine
Gelegenheit, mein Originalmanuskript mit dem Druck zu
vergleichen, aber das machte mir keine Sorge.  Es war
ja bestimmt worden, daß mir kein Wort geändert werden
dürfe, und ich besaß damals die Vertrauensseligkeit, dies
für genügend zu halten.

    Der Erfolg des "Waldröschens" schien nicht nur ein
guter, sondern ein ungewöhnlicher zu werden.  Münchmeyer
zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden.  Er
schrieb wiederholt, daß er sich schon jetzt, nach so kurzer
Zeit für gerettet halte, denn er hoffe doch, daß der Roman
so zugkräftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei.  Er regte
den Gedanken an, daß wir nicht in Hohenstein bleiben,
sondern nach Dresden ziehen möchten, da er mich in seiner
Nähe haben wolle.  Meine Frau griff diesen Gedanken
mit Begeisterung auf und sorgte dafür, daß er so schnell
wie möglich ausgeführt wurde.  Ich sträubte mich keineswegs.
Hatte ich doch während der Hohensteiner Zeit mehr
und mehr an jene Warnung denken müssen, welche in dem
Buche des Katecheten zu lesen gewesen war.  Ich hatte,
dieser Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle,
an der ich geboren worden war, seßhaft niedergelassen,
sondern mir auch eine Frau von dort genommen.  Ich
war für einige Zeit geneigt gewesen, den Inhalt dieser
Buchstelle als Aberglauben zu betrachten, sah sie aber
gar bald wieder mit dem Auge des Psychologen an und
wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen gezwungen,
einzusehen, daß ein einzelner Schwimmer unbedingt leichter
über trübe Gewässer hinüberlangt, als wenn er eine
zweite Person mitzunehmen hat, die weder schwimmen
kann noch schwimmen will.  Darum war mir diese
Ortsveränderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht nicht
nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir
Ellbogenfreiheit zu sichern.  Münchmeyer stellte sich auch da
sofort ein, und zwar wöchentlich mehrere Male.  Es entwickelte
sich ein anfangs ganz förderlicher Verkehr zwischen
ihm und uns.  Ich arbeitete so, daß ich mir fast keine
Ruhe gönnte.  Der Roman schritt sehr schnell vorwärts,
und sein Erfolg wuchs derart, daß Münchmeyer mich bat,
noch einen zweiten und womöglich noch einige weitere
zu schreiben.  Ich ahnte nicht, daß meine Entscheidung
über diesen seinen Wunsch eine für mich hochwichtige sei
und daß sie mir, falls sie bejahend ausfallen sollte, zu
einer Quelle unsagbaren Elendes und unaussprechlicher
Qual werden könne.  Ich betrachtete nur die angeblichen
Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.

    Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus
meinen literarischen Plänen heraus.  Münchmeyer hatte
diese Pläne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut.
Er erinnerte mich jetzt an sie.  Ich hatte sie damals nicht
ausführen können, weil ich meine Stellung bei ihm aufgab.
Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein
freier Mann, der durch nichts verhindert werden konnte,
das zu tun, was ihm beliebte.  Und die Hauptsache, ich
brauchte das, was ich schreiben wollte, nicht, wie bei
Pustet, auf viele Jahrgänge auseinander zu dehnen, sondern
ich konnte es flottweg hintereinander schreiben, um das,
was jetzt als Heftroman erschien, später in Buchform
herauszugeben.  Das bestrickte mich.  Hierzu kam das
beständige Zureden meiner Frau, welche die geringen Einwände,
die ich zu erheben hatte, sehr leicht zum Schweigen
brachte.  Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch einige
Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen
wie das "Waldröschen".  Diese Arbeiten hatten
mir also auch nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten
mit allen Rechten wieder zuzufallen, und dann war mir
eine "feine Gratifikation" zu zahlen.  Es gab nur eine
einzige Aenderung, nämlich die, daß ich für diese Romane
ein Honorar von fünfzig Mark pro Heft bezog, anstatt
nur fünfunddreißig bei dem "Waldröschen".

    Infolge dieser Abmachungen begann für mich von
jetzt an eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung,
zugleich aber auch nicht ohne tiefe Beschämung denken
kann.  Ich frage nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit
blamiere; meine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter
nichts.  Es war ein fast fieberhafter Fleiß, mit dem ich
damals arbeitete.  Ich brauchte nicht, wie andere
Schriftsteller, mühsam nach Sujets zu suchen; ich hatte mir ja
reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich
nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich
suchte.  Und sie alle waren schon fertig durchdacht; ich
hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu schreiben.
Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich weder
rechts noch links schauen ließ, und grad das, das war
es, was ich wollte.  Ich hatte einsehen müssen, daß es
für mich kein anderes Glück im Leben gab, als nur das,
welches aus der Arbeit fließt.  Darum arbeitete ich, so
viel und so gern, so gern!  Dieser ruhelose Fleiß ermöglichte
es mir, zu vergessen, daß ich mich in meinem Lebensglück
geirrt hatte und noch viel, viel einsamer lebte, als es
vorher jemals der Fall gewesen war.  Dieses tiefe, innere
Verlassensein drängte mich, um die trostlose Oede auszufüllen,
zu rastlosem Fleiße und machte mich leider gleichgültig
gegen die Notwendigkeit, geschäftlich vorsichtig zu
sein.  Es kam bei Münchmeyer so viel vor, was mich
veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, daß mehr als
genugsam Grund vorlag, die Zukunft und Integrität alles
dessen, was ich für ihn schrieb, so sicher wie möglich zu
stellen.  Daß ich hieran nicht dachte, war ein Fehler, den
ich zwar entschuldigen, mir aber selbst heut noch nicht
verzeihen kann.

    Münchmeyer war Hausfreund bei uns geworden.
Er hatte sich in Blasewitz eine Art Garçonlogis gemietet,
um seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns
verbringen zu können.  Er kam auch an Abenden der
andern Tage und brachte fast immer seinen Bruder, sehr
oft auch andere Personen mit.  Er wünschte zwar, daß
ich mich dadurch ja nicht in meiner Arbeit stören lassen
möge, doch konnte mich das nicht hindern, Herr meiner
Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies nicht mehr
möglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und aus
Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen.  Meine neue
Wohnung lag in einer der stillsten, abgelegensten Straßen,
und mein neuer Wirt, ein sehr energischer Schloß- und
Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestörenden Lärm und
überhaupt keine Ueberflüssigkeiten in seinem Hause.  Grad
das war es, was ich suchte.  Ich fand da die innere und
äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte.
Münchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr.  Dafür
aber stellten, ich wußte nicht, warum, sich Einladungen
von Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen
durch Wald und Heide zu begleiten.  Diese
Wanderungen waren ihr vom Arzt geraten, der ihr tiefe
Lufteinatmung verordnet hatte.  Ich mußte mich wohl
oder übel an ihnen beteiligen, weil dies der Wunsch
meiner Frau war, deren Gründe ich leider nicht zu würdigen
verstand.  Sie fand sich nicht in die Abgeschiedenheit unserer
jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit dem Wirte.  Ich
mußte kündigen.  Wir zogen aus, nach einer Radauwohnung
des amerikanischen Viertels, die über einer Kneipe
lag, so daß ich nicht arbeiten konnte.  Da wurde sie krank.
Der Arzt riet ihr sehr frühe Spaziergänge nach dem großen
Garten, dem weltbekannten Dresdener Park.  Solchen
ärztlichen Verordnungen hat man zu gehorchen.  Es gab
für mich keinen Grund, diese Spaziergänge zu verhindern,
die morgens vier bis fünf Uhr begannen und ungefähr
drei Stunden währten.  Ich wußte nicht, daß Frau
Münchmeyer auch nicht gesund war und daß auch sie
von ihrem Arzt die Weisung erhalten hatte, frühe
Morgenspaziergänge nach dem Großen Garten zu machen.  Erst
nach langer, sehr langer Zeit erfuhr ich, was während
dieser Spaziergänge geschehen war.  Meine Frau war
mir nicht nur seelisch, sondern auch geschäftlich verloren
gegangen.  Die beiden Damen saßen tagtäglich früh morgens
in einer Konditorei des großen Gartens und trieben eine
Hausfrauen- und Geschäftspolitik, deren Wirkungen ich
erst später verspürte.  Ich machte Schluß und zog von
Dresden fort, nach Kötzschenbroda, dem äußersten Punkt
seiner Vorortsperipherie.

    Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane
für Münchmeyer fertig geworden.  Ich hatte ihm fünf
geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren.  Wenn
man später vor Gericht behauptet hat, daß ich für Münchmeyer
nicht fleißig, sondern faul gewesen sei, so bitte ich,
mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und
zugleich auch noch für andere Verleger gearbeitet hat.
Hiermit sei für heut mit meiner "Kolportagezeit"
abgeschlossen.  -- -- --

                         _________


                            VII.
                        Meine Werke.

                           _____

Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich
diejenigen meiner Bücher, mit denen sich die Kritik
beschäftigt hat oder noch beschäftigt.  Diejenigen, über
welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen
hat, können auch hier übergangen werden.  Zu diesen
gehören meine Humoresken, meine erzgebirgischen
Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den
Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu
sein.  Ich könnte hierzu auch noch meine "Himmelsgedanken"
rechnen, die man nicht erwähnen zu wollen scheint, seit
es Herrn Herman [sic] Cardauns passierte, daß er sich mit
ihnen so wundersam blamierte.  Er schrieb bekanntlich:
"Als lyrischen Dichter aber müssen wir uns ihn verbitten,"
obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges
lyrisches Gedicht befindet!  Auch meine sogenannten "Union-
oder Spemannbände" brauche ich hier nicht zu besprechen,
weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur
als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die
einzigen Sachen sind, die ich für die Jugend geschrieben
habe.  Es handelt sich also nur um die Fehsenfeldschen
"Reiseerzählungen" und um die bei Münchmeyer
erschienenen "Schundromane", welch letztere im nächsten
Kapitel behandelt werden.

    Meine "Reiseerzählungen" haben, wie bereits erwähnt,
bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah
Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und
der Prärie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen.  Auf
diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen
bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen.
Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem
Wege in Seele und Geist verwandelt.  Darum beginnen
diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der "Wüste".
In der Wüste, d. i. in dem Nichts, in der völligen
Unwissenheit über Alles, was die Anima, die Seele und
den Geist betrifft.  Indem mein Kara Ben Nemsi, das
"Ich", die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die
Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, ein
sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen
Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten
Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi
sei, obgleich er schließlich zugeben muß, daß er noch
niemals in einer der heiligen Städte des Islams war, wo
man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt.  Man
sieht, daß ich ein echt deutsches, also einheimisches,
psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand
kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen
zu können.  Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte,
daß alle diese Reiseerzählungen als Gleichnisse, also bildlich
resp. symbolisch zu nehmen sind.  Von einem Mystizismus
oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein.
Meine Bilder sind so klar, so durchsichtig, daß sich hinter
ihnen gar nichts Mystisches zu verstecken vermag.

    Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt
und auch seinen Vater und Großvater noch als Hadschis
hinten anfügt, bedeutet die menschliche Anima, die sich
für die Seele oder gar für den Geist ausgibt, ohne selbst
zu wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen
hat.  Dies geschieht bei uns nicht nur im gewöhnlichen,
sondern auch im gelehrten Leben alltäglich, aber man
ist derart blind für diesen Fehler, daß ich eben arabische
Personen und arabische Zustände herbeiziehen muß, um
diese blinden Augen sehend zu machen.  Ich schicke darum
diesen Halef gleich in den ersten Kapiteln nach Mekka,
wodurch seine Lüge zur Wahrheit wird, weil er nun
wirklich Hadschi ist, und lasse ihn dann sofort seine
"Seele" kennen lernen -- -- -- Hannah [sic], sein Weib.

    Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem
ersten Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und
wie man meine Bücher lesen muß, um ihren wirklichen
Inhalt kennen zu lernen.  Ein zweites Beispiel mag
folgen: Kara Ben Nemsi befindet sich bei dem persischen
Stamme der Dschamikun.  Dieser Stamm soll von dem
Volke der Sillan vernichtet werden.  Da schickt der
Ustad, der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum
Schah, um ihn um Hilfe zu bitten.  Dieser Bote hat
aber den Schah noch nicht erreicht, so kommen ihm schon
die Heerscharen desselben entgegen, die ihm sagen, daß
sie vom Schah gesandt worden seien, den Dschamikun
Hilfe zu bringen.  Der Schah hat also die Bitte des
Ustad erhört, noch ehe sie zu ihm gelangte.  Der Schah
ist aber Gott, und so interpretiere ich durch diese
Erzählung die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8:
"Euer Vater weiß, was Ihr bedürfet, ehe Ihr ihn
bittet!"  Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl
May, und die Dschamikun sind das Volk seiner Leser,
welches von den Sillan vernichtet werden soll.  Ich
erzähle also rein deutsche Begebenheiten im persischen
Gewande und mache sie dadurch für Freund und Feind
verständlich.  Ist das nicht Gleichnis?  Nicht bildlich?
Gewiß!  Und ist es etwa mystisch?  Nicht im
Allergeringsten!  Es ist so offenbar Gleichnis, und so wenig
mystisch, daß mir, offengestanden, ein Jeder, der das Erstere
bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch
erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will.
Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher
Absicht an das Lesen meiner Bücher geht, wird ohne Weiteres
finden, daß ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht.
Und ist er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben
ihm ganz sicher die zahlreichen Himmelsmärchen nicht
verborgen, die in diesen Gleichnissen eingestreut liegen
und den eigentlichen, tiefsten Inhalt meiner Reiseerzählungen
zu bilden haben.  Diese Märchen sind es auch,
aus denen sich mein eigentliches Lebenswerk am Schlusse
meiner letzten Tage zu entwickeln hat.

    Ist doch gleich meine erste Gestalt, nämlich Hadschi
Halef Omar, ein Märchen, nämlich das Märchen von
der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals
wiedergefunden werden kann, außer sie findet sich selbst.
Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die
Anima von Karl May!  Indem ich alle Fehler des
Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege
also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und so
aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt
worden ist.  Ich darf also wohl behaupten, daß ich
gewisse Vorwürfe, die mir von meinen Gegnern gemacht
werden, keineswegs verdiene.  Würden diese Gegner es
einmal wagen, so offen über sich selbst zu sprechen wie
ich über mich, so würde das sogenannte Karl May-Problem
schon längst in jenes Stadium getreten sein, in
welches es zu treten hat, mag man wollen oder nicht.
Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein Gleichnis.
Es ist nichts Anderes, als jenes große, allgemeine
Menschheitsproblem, an dessen Lösung schon ungezählte Millionen
gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares zu erreichen.
Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir
herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der
traurigen Karikatur, als die ich in den Gehirnen und
in den Schriften Derer lebe, die sich berufen wähnen,
Probleme zu lösen, dies aber immer nur da tun, wo
keine vorhanden sind.

    Ich nenne ferner das Märchen von "Marah Durimeh",
der Menschheitsseele, von "Schakara", der edlen,
gottgesandten Frauenseele, der ich die Gestalt meiner
jetzigen Frau gegeben habe.  Das Märchen vom "erlösten
Teufel", vom "eingemauerten Herrgott", vom
"versteinerten Gebete", von den "verkalkten Seelen",
von den "Rosensäulen des Beit-Ullah", von dem "Sprung
in die Vergangenheit", von der "Dschemma der Lebendigen
und Toten", von der "Schlacht am Dschebel Allah",
vom "Mahalamasee", vom "Berg der Königsgräber",
vom "Mir von Dschînnistan", vom "Mir von Ardistan",
von der "Stadt der Verstorbenen", vom "Dschebel Muchallis",
von der "Wasserscheide von El Hadd" und noch
viele, viele andere.  Wie man bei einem geistig und
seelisch so bedeutsamen, ja schweren Inhalte meine Bücher
als "Jugendschriften" und mich als "Jugendschriftsteller"
bezeichnen kann, würde unbegreiflich sein, wenn man nicht
wüßte, daß Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder
nicht begriffen oder überhaupt nicht gelesen haben.  Selbst
"Winnetou", der so leicht zu lesen zu sein scheint,
bedarf, wenn er sich im vierten Bande zum Schlusse neigt,
eines Nachdenkens und eines Verständnisses, welches doch
gewiß keinem Quartaner und keinem Backfisch zuzutrauen
ist!  Wenn man trotzdem noch ferner bei den Ausdrücken
"Jugendschriften" und "Jugendschriftsteller" bleibt, so
muß ich das als einen gewollten Unfug bezeichnen, zu
dem sich kein anständiger, ernster Kritiker hergeben wird.

    Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gemäß zu,
daß meine "Reiseerzählungen" nicht als Jugendschriften
verfaßt worden sind, so ist der jetzt landläufig
gewordenen Behauptung, daß sie schädlich sind, aller Boden
entzogen.  Es lese sie doch nur der, dem sie nicht
schädlich sind; ich zwinge ja keinen Andern dazu!  Weshalb
und wozu die Vorwürfe alle, die man mir jetzt in hunderten
von Zeitungen macht?  Sieht man sich diese Vorwürfe
aber genauer an, so verlieren sie allen Wert.
Früher lobte man mich; jetzt tadelt man mich.  Das ist
so Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder
in das Gegenteil verkehren.  Aber diese Mode ist nicht
nur Mode, sondern Mache!  Selbst wenn meine Bücher
jetzt von keinem Menschen mehr gelesen würden, könnte
mich das doch nicht im Geringsten beunruhigen, denn ich
weiß, daß man sehr bald hinter diese Mache kommen
und sich demgemäß verhalten wird.  Ja, hätte ich meinen
Lesern bloß nur Unterhaltungsfutter geliefert, so hätte
ich von der Bildfläche zu verschwinden, um nie wieder
aufzutauchen, und würde ganz von selbst so verständig
sein, mich darein zu ergeben.  Aber _ich_habe_während_
_meines_"Lebens_und Strebens"_allzu_viele_und_
_allzu_große_Fehler_begangen,_als_daß_ich_so_
_mir_nichts,_dir_nichts_untergehen_und_für_immer_
_verschwinden_dürfte.__Ich_habe_gutzumachen!_
Was der Sterbliche sündigt, das hat er zu büßen und zu
sühnen, und wohl ihm, wenn ihm die Güte des Himmels
erlaubt, seine Schuld nicht mit über den Tod hinüberzunehmen,
sondern sie schon hier zu bezahlen.  Das will
ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun!  Ja,
ich behaupte kühn: das habe ich schon getan!  Dem
irdischen Gesetze habe ich schon längst Alles gegeben, was
es von mir zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr
schuldig.  Und was über diese von Menschen gestellten
Paragraphen hinausgeht, das werde ich begleichen, indem
ich das, was ich noch schreiben werde, dem großen
Gläubiger widme, der ganz genau weiß, ob ich ihm mehr
als jene Andern schuldig bin, die sich besser dünken
als May.

    Ich bin überzeugt, daß meine Sünden, so weit sie
mir anzurechnen sind, nur auf persönlichem, nicht aber
auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich
mir keiner Missetaten bewußt.  Was ich mit meinen
"Reiseerzählungen" erreicht habe, wird erst nach meinem
Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden,
die aber selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen
bekommt; veröffentlicht werden sie nicht.  Man pries
diese Werke und schwärmte für sie, bis es eines Tages
einem gewissenlosen Menschen einfiel, öffentlich zu
behaupten, daß ich außer ihnen auch noch andere, aber
"abgrundtief" unsittliche Sachen geschrieben habe.  Selbst
wenn dies wahr gewesen wäre, hätte das die "Reiseerzählungen"
weder innerlich noch äußerlich im Geringsten
verändern können.  Dennoch wurden sie von jenem Tage
an zunächst mit Mißtrauen betrachtet, dann mehr und
mehr verleumdet und endlich gar für direkt schädlich
erklärt und aus den Bibliotheken gestoßen, in denen sie
früher willkommen geheißen worden waren.  Warum?
Waren sie anders geworden?  Nein!  Hatten sich die
bibliographischen Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze
verändert?  Nein!  Waren die Bedürfnisse der Leser
andere geworden?  Auch nicht!  Aber aus welchem Grunde
denn sonst?  Einfach einer Schund- und Kolportageklique
wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie
sich selbst auszudrücken pflegte, "kaput zu machen".  Aber
ist es denn menschenmöglich, daß eine derartige Klique
einen so großen, unbegreiflichen Einfluß auf Literatur
und Kritik zu gewinnen vermag?  Leider ja!  Ich habe
im nächsten Kapitel hiervon zu erzählen.  Diese Rotte
scheut sich nicht, ihre eigenen Sünden und literarischen
Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu
gebärden!  Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen
meiner Münchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang
mit allen möglichen Schmähungen besudelt, dem Verlage
aber noch nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten
Vorwurf gemacht haben.  Ich bezeichne das als eine
Schande!

    Man sagt, daß unsere Schundverleger jährlich fünfzig
Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen.  Das
ist fürchterlich, aber noch viel zu niedrig geschätzt.  Ein
einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist,
kann dem Volke mehr als fünf und sechs Millionen kosten,
und es gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma
Münchmeyer achtundfünfzig -- man lese und staune --
achtundfünfzig solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist!
Man rechne; man multipliziere!  Welche Verluste!  Welch
eine ungeheure Summe von Gift und Unheil!  Wie viel
hunderte, ja tausende von Menschen arbeiten daran,
dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten!  Und nun
schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den
Büchern nach, wen man für das Alles verantwortlich
macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet,
verspottet und verhöhnt!  Karl May, Karl May,
immer wieder Karl May und nur und nur Karl May!
Wo sieht und liest man jemals einen andern Namen,
als nur diesen einen?  Was habe ich denn getan, daß
man mich überhaupt zum Schunde zählt?  Wo stecken die
zweitausend wirklichen Schundschriftsteller, welche jahraus,
jahrein rastlos dafür sorgen, daß in Deutschland und
Deutschösterreich der Schund kein Ende nimmt?  Vor Gericht,
in "wissenschaftlichen" Werken, bei Kommissionssitzungen,
in öffentlichen Vorträgen, von Schriftstellern,
Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren, Künstlern,
Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden
Gelegenheiten, wo von "Jugendverderbnis" die Rede ist,
da bringt man Karl May, Karl May!  Er ist schuld,
nur er!  Er ist der Typus der Jugendvergifter!  Er ist
der Vater aller ruchlosen Kapitän Thürmers, Nick Carters
und Buffalo Bills!  Mein Gott, wissen diese Herren
denn wirklich nicht, was sie tun?  Wie sie sich
versündigen?  Wie man im Kreise derer, die es besser wissen,
von ihnen spricht?  Man nenne mir nur einen einzigen
Fall, wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist,
daß Jemand durch eines meiner Bücher verdorben worden
ist!  Hunderte von Schundgeschichten der verderblichsten
Art hat so ein Bube gelesen, dabei auch einen
Band oder einige Bände von Karl May.  Den kennt
man, die Andern aber nicht; darum muß er es sein,
dessen Namen man nennt und den man als Täter bezeichnet!
Allwöchentlich werden mir von Zeitungsbureaus
fünfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt,
auf denen ich an Stelle der sämtlichen deutschen
Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde.  Das
ist unmenschlich!  Ich werde mit Schande überhäuft und
vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut.  Warum
nennt man ihre Namen nicht?  Warum nagelt man sie
nicht fest?  Es gibt hunderte von Verlegern und Literaten,
die wegen Verbreitung von unzüchtigen Schriften
bestraft worden sind.  Und noch größer ist die Zahl
derer, die in voller Absicht Jugendschund herausgeben,
nur um Geld zu machen.  Warum nennt man sie nicht?
Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem
man ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke
duldet?  Warum wirft man sich nicht auf sie, sondern
nur auf mich, den Sündenbock für den ganzen literarischen
Mob?  Sehr einfach: Es ist Mache, nichts als Mache!
Und es kann nichts Anderes als Mache sein, weil so
viel, wie man auf mich wirft, kein Einzelner zu begehen
vermag!  Ich habe das im nächsten Kapitel des Näheren
zu beleuchten.

    Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt,
sind bisher immer nur Behauptungen gewesen.  Zu
keiner von ihnen wurde ein wirklicher Beweis erbracht.
Ich habe infolge dieser Anschuldigungen Ungezählte meiner
Leser brieflich oder mündlich gefragt, ob es ihnen möglich
ist, mir eine der Reiseerzählungen oder eine Stelle
aus ihnen zu nennen, von der man behaupten darf, daß
sie schädlich wirke.  Es hat mir Niemand auch nur eine
einzige derartige Zeile nennen können.  Ist doch sogar
meine unerbittlichste Gegnerin, die "Kölnische Volkszeitung",
gezwungen gewesen, mir das Attest auszustellen:
"Alles für die Jugend Anstößige _ist_sorgfältig_
_vermieden,_ obgleich Mays Werke _nicht_etwa_bloß_für_
_diese_ bestimmt sind; _viele_tausend_Erwachsene_ haben
aus diesen bunten Bildern schon Erholung und Belehrung
im reichsten Maße geschöpft!"  Schon aus diesem
Atteste geht die jetzige "Mache" hervor, denn meine
Bücher sind seit jener Zeit genau dieselben geblieben,
und derselbe Herr, der dieses öffentliche Zeugnis aus
stellte [sic], war der Erste, der dieser Mache erlag und hat
sich seitdem nicht wieder aufrichten können.

    Zur Zurückweisung der Vorwürfe, die man gegen
mich erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Veröffentlichung
des nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion
zu begehen, die mir der von mir hoch und aufrichtig
verehrte Herr aber wohl verzeihen wird.  Doktor
Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli dieses Jahres
aus Krieglach:

               "Sehr geehrter Herr!

      Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der
  Charlottenburger Gerichtsverhandlung, und sobald wieder
  das Gericht, und zwar zu Ihren Gunsten, entscheidet,
  werde ich mit größter Freude davon Notiz nehmen.

      Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als
  solcher möchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine
  Meinung zu sagen darauf hin, in welcher Weise Sie
  sich am besten rechtfertigen könnten.

      Ich würde an Ihrer Statt in der Polemik alles
  ausschalten, was sich nicht sachlich auf die
  Anschuldigungen bezieht.  Das, was Sie aus Ihrer
  Jugendzeit selbst eingestanden haben, ist damit wohl auch
  abgetan und würde Ihnen kaum ein rechtlich denkender
  Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das Gericht
  tut.  Daß Sie Ihre Reiseschilderungen nicht persönlich
  erlebt haben, daß es nur Erzählungen in "Ichform"
  sind, kann Ihnen auch kein Literat verübeln.
  So bleibt nur übrig, endlich die sachlichen Beweise zu
  erbringen, daß die berührten obszönen Stellen nicht
  Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat.  Was
  die Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so müssen
  doch Sachverständige entscheiden können, inwiefern es
  Plagiate wären oder inwiefern bloß umgearbeitete Stoffe
  und Gedanken.  Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben
  mit den neuen Auflagen verglichen, müßte doch
  klar zu stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und
  der Stil der neu eingefügten Sätze sich organisch an
  Ihre Art und an das Buch anschließen oder nicht.
  Auf solche Wirklichkeiten, meine ich, sollten Sie nun
  Ihre ganze Abwehr konzentrieren und ununterbrochen
  drängen, daß die Dinge endlich vor Gericht zur
  Entscheidung kommen.  Alle andern Artikel Ihrer Freunde,
  die nur so im Allgemeinen herumreden über die Vorzüge
  Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, können für
  die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere
  Wirkung erzielen.

      Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer
  gerichtlichen Genugtuung zu kommen.  Gelingt das
  nicht, so ist absolutes Schweigen das Beste, und
  gelingt es, so muß doch auch die Presse Ihrer jetzigen
  Gegner die gerichtliche Ehrenrettung anerkennen und
  in das Volk tragen.

      Krankheit hat diesen Brief verspätet.  Verzeihen
  Sie diese Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen
  entspringt, und seien Sie gegrüßt

                     von Ihrem ergebenen

                             P e t e r   R o s e g g e r."

      Krieglach, 2. 7. 1910.

    Daß Peter Rosegger, der hochstehende, feinfühlende
und human denkende geistige Aristokrat, das, was er
über meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan
betrachtet, versteht sich ganz von selbst.  In derartigen
Bodensätzen und Rückständen können nur niedrige
Menschen waten.  Hierdurch habe ja auch ich selbst schon
längst meinen Strich gemacht und habe einen Jeden,
der sich mit mir beschäftigt, nach dem Maße zu beurteilen,
welches mir hier in Roseggers Brief gegeben wird.
Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht verziehen; das ist
im Himmel und auf Erden Recht.

    Was die "Obszönitäten" und den Nachweis betrifft,
daß sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen Gegenstand
im nächsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier eine
mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt.
Nämlich nicht ich habe zu beweisen, daß diese unsittlichen
Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir zu
beweisen, daß ich ihr Verfasser bin.  Das ist so
selbstverständlich wie richtig.  Es wird keinem jetzigen Richter
einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der
spanischen Jungfrau zurückzuschleppen, in welcher der
Ankläger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der
Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, daß er
unschuldig sei.  Das konnte nicht anders als in den meisten
Fällen unmöglich sein.  Man hat mich aus prozessualen
Gründen fälschlicher Weise beschuldigt, für Münchmeyer
das "Buch der Liebe" geschrieben zu haben.  Wie kann
ich beweisen, daß dies unwahr ist?  Gesetzt den Fall, es
wäre dem Münchmeyerschen Rechtsanwalt der wahnsinnige
Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten,
daß Peter Rosegger den berüchtigten "Venustempel"
geschrieben habe.  Würde Rosegger den Beweis antreten,
daß dies eine Lüge sei?  Oder würde er sagen, daß man
die Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe?
Ich bin überzeugt, das Letztere.  Und so thue [sic] auch ich.
Ich verlange die Vorlegung meiner Originalmanuskripte.
Einen andern Beweis kann es nicht geben.

    Was nun die von Peter Rosegger erwähnten Plagiate
betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis:
Der Benediktinermönch Pater Pöllmann hat eine Reihe
von Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben
und ihnen die Drohung vorangeschickt, daß er mir mit
ihnen einen Strick drehen werde, um mich "aus dem
Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen".  Er hat
sich da des richtigen Bildes bedient, denn jede seiner
Behauptungen, mit denen er mich hierauf überschüttete, war
nichts weiter als ein Peitschenknall, spitz, scharf, hart,
lieblos und tierquälerisch, darum die Leser empörend und
ohne Wirkung in die Luft verklatschend.  Ein leerer
Knall mit der Knabenpeitsche war es auch, als er mich
des Plagiates bezichtigte und sich erfolglose Mühe gab,
die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen.  Er sprach
da wie ein Unwissender und konnte darum auch weiter
nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit
erreichen.  Die "Grazer Tagespost" schreibt hierüber:

    "Pater Pöllmann, ein bekannter Herr, der sich unlängst
in echt christlicher Demut selbst das schmückende
Beiwort eines "anerkannten Kritikers" beilegte, hat die
moralische Niederlage, die er in seiner Schimpfschlacht
gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt, sehr bald
vergessen, denn er nahm kürzlich den Mund wieder
voll usw. usw."

    Ich hatte nämlich in einigen meiner allerersten,
ältesten Reiseerzählungen, bei deren Abfassung ich noch
nicht die nötige Erfahrung besaß, die Ereignisse, die ich
schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen
lassen, den ich bekannten, Jedermann zugänglichen Werken
entnahm.  Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht
sehr häufig.  Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann
niemals Diebstahl sein.  Literarischer Diebstahl, also Plagiat,
liegt nur dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile
eines Gedankenwerkes aneignet und diese in der
Art verwendet, daß sie dann wesentliche Bestandteile des
Werkes des Plagiators bilden und dabei als seine eigenen
Gedanken erscheinen.  So Etwas habe ich aber nie getan
und werde es auch nie tun.  Geographische Werke können,
besonders wenn sie geistiges Allgemeingut geworden sind,
ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich nicht um
das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen
handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des
Abschreibens eine selbständige geistige Arbeit bleibt.  In
der Einleitung zum Voigtländerschen "Urheber- und
Verlagsrecht" heißt es:

    "Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus
sich selbst heraus.  Er erbaut sie sich auf dem, was
Andere vor ihm oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben
haben.  Dann erst, im besten Falle, beginnt seine ureigene
Schöpfung.  Selbst die am meisten schöpferische Tätigkeit,
die des Dichters, steht dann am höchsten, erreicht
dann ihre größten Erfolge, wenn sie die Weihe der
künstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich
sein Volk denkt und fühlt.  Und nicht einmal die Form
ist ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird
von der gebildeten Sprache geliefert, "die für dich dichtet
und denkt", und die Manchem, der sich Dichter zu sein
dünkt, mehr als die Form, die ihm auch Gedanken oder
deren Schein leiht.  Kurz, der Schriftsteller und Künstler
steht mit seinem Wissen und Können inmitten und auf
der Kulturarbeit von Jahrtausenden.  Goethe, auf einer
einsamen Insel aufgewachsen, wäre nicht Goethe
geworden.  Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet,
daß er die Kulturarbeit der Menschheit um einen
Schritt hat weiter bringen können, weil er an das von
den Vorfahren Geleistete anknüpfen durfte, dann ist es
nicht mehr als billig, _daß_sein_Werk_zur_gegebenen_
_Zeit_wieder_Andern_zu_zwangslosem_Gebrauche_
_diene,_nicht_nur_der_Inhalt,_sondern_auch_die_
_Form."_

    So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm
ist nicht zu widerstreiten.  Ich, der ich nicht einmal
begangen habe, was er hier gestattet, bin also vollständig
gerechtfertigt.  Ein anderer schreibt: "Alles ist mehr oder
weniger Plagiat an errungener Kultur-, Geistes- oder
Phantasieproduktion.  Der Intellektadel, die obern Träger
der Bildung und Kultur schöpfen ja doch alle mehr oder
minder aus _einem_ Reservoir, welches von den Leistungen
Anderer, Früherer, Größerer gespeist worden ist."

    In Nr. 268 der "Feder", der Halbmonatsschrift für
Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: "Aus
den Fingern kann sich der popularwissenschaftliche [sic]
Schriftsteller nun einmal nichts saugen, und bis zu einem
gewissen Grade muß deshalb auch Jeder ein Plagiator
sein.  Wenn das eigentliche Gedankengebäude neu ist,
dann ist man wohl berechtigt, passende Zierformen von
schon Bestehendem zu gebrauchen.  Nach Emmerson ist
_der_größte_Genius_zugleich_auch_der_größte_
_Entlehner._ Es kommt da ganz auf das Wie an. _Man_
_darf_das_Gute_nehmen,_wo_man_es_findet,_ wenn
man einen großen Zweck damit erreichen will; aber man
darf es sich nicht merken lassen; man muß mit dem
Entlehnten etwas wirklich Neues hervorbringen."

    Es ist bekannt, daß Maeterlinck in einem seiner
Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben
hat.  Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn
aus und ließ das Stück ruhig unter seinem Namen
erscheinen.  Ebenso bekannt ist, daß das populäre Lied
aus dem Freischütz: "Wir winden dir den Jungfernkranz"
nicht von Weber, sondern von einem fast ganz
unbekannten Gothaer Musikdirektor ist.  Weber hörte es
und nahm es in seinen Freischütz auf, ohne sich etwas
aus der Gefahr zu machen, als Plagiator und Dieb
bezeichnet zu werden.  Shakespeare war bekanntlich der
größte literarische Entwender, den wir kennen.  Wenn
es nach Pater Pöllmannschen Grundsätzen ginge, würden
sogar verschiedene Verfasser biblischer Bücher als
literarische Diebe bezeichnet werden müssen.  So könnte ich
noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen weiterführen,
will mich aber damit begnügen, nur noch unsern
Allergrößten, den Altmeister Goethe und den erfolgreichsten
Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas anzuführen.
Dumas entlehnte außerordentlich viel.  Er konnte ohne
fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit
über das Maß des literarisch Erlaubten hinaus.  So ist
es bekannt, daß er die Erzählung von Edgar Poe "Der
Goldkäfer" zu den spannendsten Stellen in seinem "Grafen
Monte Christo" ausgebeutet hat.  Und was Goethe betrifft,
so zitiere ich einen kurzen Artikel, der kürzlich
unter der Ueberschrift "Goethe über das Plagiat" durch
die Zeitungen ging:

    "Für einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage
sehr leicht.  Es darf ein Autor bloß versäumen,
absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der
er diese oder jene Stelle entnommen hat.  Einen lieben
Freund hat Jedermann, der den glücklich entdeckten
Plagiator an den vermeintlichen Pranger stellt.  Richard
von Kralik ist unlängst des Plagiates beschuldigt worden,
weil er -- ohne seine Schuld -- mangelhaft zitiert
worden ist.  Solchen Plagiatschnüfflern möchten wir die
Ansicht Goethes über das Plagiat in das Gedächtnis
rufen.  Der Gegenstand des Gespräches zwischen ihm und
Eckermann am 18. Januar 1825 waren Lord Byrons
angebliche Plagiate.  Siehe "Eckermanns Gespräche mit
Goethe", 3. Auflage Band I S. 133.  Da sagte Goethe:
"Byron weiß sich auch gegen dergleichen, ihn selbst
betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation
nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken
sollen. _Was_da_ist,_das_ist_mein,_ hätte er sagen
sollen. _Ob_ich_es_aus_dem_Leben_oder_aus_dem_
_Buche_genommen_habe,_das_ist_gleichviel;_es_
_kam_bloß_darauf_an,_daß_ich_es_richtig_gebrauchte!_
Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem
"Egmont", und er hatte ein Recht dazu, _und_weil_es_
_mit_Verstand_geschah,_so_ist_er_zu_loben._ So
hat er auch den Charakter meiner "Mignon" in einem
seiner Romane nachgebildet, ob aber mit ebenso viel
Weisheit, ist eine andere Frage.  Lord Byrons "verwandelter
Teufel" ist ein fortgesetzter Mephistopheles,
und das ist recht.  Hätte er aus origineller Grille
ausweichen wollen, so hätte er es schlechter machen müssen.
So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare,
und warum sollte er das nicht?  Warum sollte ich mir
die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von
Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es
sollte?  Hat daher auch die Exposition meines "Faust"
mit der des "Hiob" einige Aehnlichkeit, so ist das
wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als
zu tadeln."

    Soweit diese kurze Auswahl von Gewährsnamen.
Was haben unsere Berühmtesten getan, ohne daß man
sie beschimpfte?  Und was habe ich getan, daß man mich
als den niedrigsten aller Betrüger und Diebe behandelt?
Ich habe, ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner
kleinen, asiatischen Erzählungen mit ganz nebensächlichen
geographischen und ethnographischen Arabesken verziert,
welche ich in Büchern fand, die längst der Allgemeinheit
angehören.  Das ist erlaubt.  Das ist sogar mein gutes
Recht.  Was aber sagt Pater Pöllmann dazu?  Er beschimpft
mich öffentlich als einen _"Freibeuter_auf_
_schriftstellerischem_Gebiete,_für_ewige_Zeiten_das_
_Musterbeispiel_eines_literarischen_Diebes!_ Emerson,
der Berühmtesten und Edelsten einer in Amerika,
sagt: "Der größte Genius ist zugleich auch der größte
Entlehner".  Und Goethe sagt: "Was da ist, das ist
mein.  Ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche
nehme, das ist gleich!"  Wie hätte da wohl das
entsprechende Urteil Pater Pöllmanns über diese beiden
Heroen zu lauten?  Sie hätten für ihn "für ewige Zeiten
die schlimmsten aller literarischen Bestien" zu sein, stinkend
vor Raubgier und Verworfenheit!  Eine Kritik, die so
unwissend, so unerfahren, so selbstüberhebend und so
wenig maßhaltend ist wie diese hier, die bildet eine
Gefahr nicht nur für die Literatur, sondern für das ganze
Volk.

    Ich habe in diesen meinen "Reiseerzählungen" genau
so geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte,
für die Menschenseele zu schreiben, für die Seele, nur
für sie allein.  Und nur sie allein, für die es geschrieben
ist, soll es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen
und begreifen.  Für seelenlose Leser rühre ich keine Feder.
Ein Musterschriftsteller, der Mustergeschichten für
Musterleser schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals
sein und niemals werden.  Haben wir es erst so weit
gebracht, daß wir nur noch Musterautoren, Musterleser
und Musterbücher haben, dann ist das Ende da!  Ich
bin so kühn, zu behaupten, daß wir uns nicht die
vorhandenen Musterbücher, sondern den vorhandenen Schund
zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen wollen,
was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben.
Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht
liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller,
die es verstehen, Hunderttausende und Millionen
Abonnenten zu machen!  Aber unsere Sujets sollen edel
sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele.  Schreibt
für die große Seele!  Schreibt nicht für die kleinen
Geisterlein, für die Ihr Eure Kraft verzettelt und
verkrümelt, ohne daß sie es Euch danken.  Denn gebt Ihr
Euch noch so viel Mühe, ihren Beifall zu erringen, so
behaupten sie doch, es besser zu können als Ihr, obgleich
sie gar nichts können!  Und schreibt nichts Kleines,
wenigstens nichts irdisch Kleines.  Sondern hebt Eure Augen
empor zu den großen Zusammenhängen.  Dort gibt es
zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen
wohnt das wahrhaft Große.  Und wenn Ihr dabei auch
Fehler macht, so viele Fehler und so große Fehler wie
Karl May, das schadet nichts.  Es ist besser, auf dem
Wege zur Höhe zuweilen zu stolpern und diese Höhe aber
doch zu erreichen, als auf dem Wege zur Tiefe nicht zu
stolpern und ihr verfallen zu sein.  Oder gar erhobenen
Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen Aequator
immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst
anzukommen, ohne über irgendeine Höhe gestiegen zu
sein.  Denn Berge müssen wir haben, Ideale,
hochgelegene Haltepunkte und Ziele.

    Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und
laufe darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen;
aber ich befürchte nicht, daß es so ist.  Was ich will und
was ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche
es nicht zu wiederholen.  Und ich habe schon so viele
steile Höhen zu überwinden gehabt, daß ich mich unmöglich
für einen jener armen Teufel halten kann, die immer
auf ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben.  Es gibt
Leute, welche meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt
Andere, welche sagen, ich habe keinen Stil; und es gibt
Dritte, die behaupten, daß ich allerdings einen Stil habe,
aber es sei ein außerordentlich schlechter.  Die Wahrheit
ist, daß ich auf meinen Stil nicht im Geringsten achte.
Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und
ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen höre.
Ich verändere nie, und ich feile nie.  Mein Stil ist also
meine Seele, und nicht mein "Stil", sondern meine Seele
soll zu den Lesern reden.  Auch befleißige ich mich keiner
sogenannten künstlerischen Form.  Mein schriftstellerisches
Gewand wurde von keinem Schneider zugeschnitten, genäht
und dann gar gebügelt.  Es ist Naturtuch.  Ich
werfe es über und drapiere es nach Bedarf oder nach
der Stimmung, in der ich schreibe.  Darum wirkt das,
was ich schreibe, direkt, nicht aber durch hübsche
Aeußerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen.  Ich will nicht
fesseln, nicht den Leser von außen festhalten, sondern ich
will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, in
sein Herz, in sein Gemüt.  Da bleibe ich, denn da kann
und darf ich bleiben, weil ich weder störende Formen
noch störendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie
mich die Seele wünscht.  Daß dies das Richtige ist, das
haben mir jahrzehntelange, schöne Erfahrungen bestätigt.
Diese aufrichtige Natürlichkeit muß, kann und darf ich
mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur
allein durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine
Leser nicht andere oder gar höhere künstlerische Ansprüche
stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen
Arbeiten auch äußerlich eine ästhetisch höhere Form zu
geben habe, noch nicht gekommen ist.  Jetzt skizziere ich
noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie sind.

    Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten
abgerechnet, in meinen Werken keine einzige
Gestalt, die ich künstlerisch durchgeführt und vollendet
hatte, selbst Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht,
über die ich doch am meisten geschrieben habe.  Ich bin
ja mit mir selbst noch nicht fertig, bin ein Werdender.
Es ist in mir noch Alles in Vorwärtsbewegung, und
alle meine inneren Gestalten, alle meine Sujets bewegen
sich mit mir.  Ich kenne mein Ziel; aber bis ich es erreicht
habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine Gedanken
sind noch unterwegs.  Freilich hat keiner unserer
Dichter und Künstler, vor allen Dingen keiner unserer
großen Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er
innerlich reif geworden ist, aber ich bin auch in dieser
Beziehung als Outsider zu betrachten, werde von Vielen
sogar als Outlaw oder Outcast bezeichnet und darf mir
darum noch lange nicht erlauben, was Andere sich
gestatten.  Was bei Andern selbstverständlich ist, das ist
bei mir entweder schlecht oder lächerlich, und was bei
Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung
gilt, das wird bei mir verschwiegen.  Ich habe ein
einziges Mal etwas künstlerisches schreiben wollen, mein
"Babel und Bibel".  Was war die Folge?  Es ist als
"elendes Machwerk" bezeichnet und derart mit Spott und
Hohn überschüttet worden, als ob es von einem Harlekin
oder Affen verfaßt worden sei.  Da weicht man zurück
und wartet auf seine Zeit.  Und diese kommt gewiß.
Man kann wohl literarische Hanswürste beseitigen, nicht
aber Geistesbewegungen unterdrücken, die unbesiegbar
sind.  Es fällt mir nicht ein, hier Anklagen aufzustellen,
denen doch keine Folge gegeben würde.  Unterlassen aber
darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des hier
berührten Punktes ein Beispiel anzuführen, ein einziges,
welches so deutlich spricht, daß ich ohne Weiteres auf
alle andern Belege verzichten kann.  Nämlich ein Verein,
dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und
Verbreitung von Büchern besteht, hat bisher jährlich
mehrere tausend Bände von mir vertrieben.  Plötzlich
stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die
Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen
kursierende Auskunft: "Hierseits wird zwar von dem
weitern Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand
genommen, und werden die Bücher nicht mehr durch unsere
Verzeichnisse angeboten, damit wollen wir aber nicht
sagen, daß der Inhalt der Mayschen Reiseerzählungen
zu verwerfen ist, und wir muten auch den Vorständen
unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese Bücher aus den
Bibliotheken zu entfernen.  Unsere jetzige ablehnende
Stellungnahme gilt nicht den _Schriften,_ sondern der
_Persönlichkeit_ des Verfassers. _Sie_können_also_ohne_
_Bedenken_die_Bände_weiter_ausleihen."_ Das genügt
gewiß!  Meinen Büchern ist nichts anzuhaben; meine
Person aber wird an den Pranger gestellt!  Warum?
Infolge jener "Mache", von der ich schon weiter oben
sprach.  Denn man glaube ja nicht, daß die "Karl
May-Hetze", oder, ein wenig anständiger ausgedrückt, das
"Karl May-Problem" eine literarische Angelegenheit sei.
Es handelt sich hier keineswegs um schriftstellerische oder
gar um ethische Gründe, sondern, die Sache beim richtigen
Namen genannt, um eine rein persönliche Abschlachtung
aus moralisch ganz niedrigen, prozessualen
Gründen.  Was man da von sittlichen und journalistischen
Notwendigkeiten sagt, ist nichts als Spiegelfechterei, um
die Wahrheit zu verstecken.  Wollte man hierüber einen
Roman schreiben, so könnte dieser der sensationellste aller
Kolportageromane werden, und die Hauptpersonen würden
folgende sein: Der Hauptredakteur a. D. Dr. Hermann
Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D. Pauline Münchmeyer
in Dresden, der Franziskanermönch Dr. Expeditus
Schmidt in München, der aus der christlichen Kirche
ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf Lebius in
Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar Pöllmann in
Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse Münchmeyer,
Dr. Gerlach in Niederlößnitz bei Dresden.  Dieser
Roman würde für die Beleuchtung der gegenwärtigen
Gesetzgebung ein höchst wichtiger sein und auch über andere
Verhältnisse, gesellschaftliche, geschäftliche, psychologische,
überraschende Streiflichter werfen.  Es würde da
viel Schmutz, sehr viel Schmutz zu sehen sein, der nichts
weniger als appetitlich ist, und so will ich, da ich ihn
auch hier zu erwähnen und zu zeigen habe, mich bemühen,
so schnell wie möglich über ihn hinwegzukommen.

                         _________


                           VIII.
                      Meine Prozesse.

                           _____

Jörgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt
in seiner Parabel "Der Schatten" zum Dichter: "Sie
wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und
schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines
und der Nacht anschwillt.  Sie wissen nicht, wie viele
Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem
weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern.  Sie
wissen nicht, wie manches Menschenglück Sie töten, wie
manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in Ihrer
stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den
Blumengläsern und der Burgunderflasche.  Bedenken Sie,
_daß_wir_Andern_das_leben,_was_Ihr_Dichter_
_schreibt._ Wir sind, wie Ihr uns bildet.  Die Jugend
dieses Reiches wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung.
Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; wir sind unsittlich,
wenn Ihr es wollt.  Die jungen Männer glauben
je nach Eurem Glauben oder Eurer Verleugnung.  Die
jungen Mädchen sind züchtig oder leichtfertig, wie es die
Weiber sind, die Ihr verherrlicht."

    Jörgensen hat hier vollständig Recht.  Seine Ansicht
ist ganz die meinige.  Ja, ich gehe sogar noch weit über
die seinige hinaus.  Der Dichter und Schriftsteller hat
einen weit größern, entweder schaffenden oder zerstörenden,
reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten
Menschen ahnen.  Wenn es wahr ist, was die neuere
Psychologie behauptet, nämlich "Nicht Einzelwesen, Drama
ist der Mensch", so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers
unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt
nur eine schaffende nennen.  Weil ich mir dessen wohlbewußt
bin, bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung
bewußt, welche auf uns Schreibenden ruht, sobald
wir zur Feder greifen.  So oft ich dieses Letztere
tue, tue ich es in der aufrichtigen Absicht, als Schaffender
nur Gutes, niemals aber Böses zu schaffen.  Man kann
sich also denken, wie erstaunt ich war, als ich erfuhr,
daß ich im Verlage von H. G. Münchmeyer "abgrundtief
unsittliche" Bücher geschrieben haben solle.  Der
Ausdruck "abgrundtief unsittlich" ist von Cardauns, dessen
Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den
übertriebensten Verschärfungen zu ergehen.  Bei ihm ist dann
Alles nicht nur erwiesen, sondern "zur Evidenz erwiesen",
nicht ausgesonnen, sondern "raffiniert ausgesonnen",
nicht entstellt, sondern "bis zur Unkenntlichkeit entstellt".
Darum genügte bei diesen Münchmeyerschen Romanen,
weil sie angeblich von mir waren, das einfache Wort
"unsittlich" nicht, sondern es war ganz selbstverständlich,
daß sie gleich "abgrundtief unsittlich" sein mußten.

    Die erste Spur von diesen meinen "Unsittlichkeiten"
tauchte drüben in den Vereinigten Staaten auf.
Kommerzienrat Pustet, welcher da drüben Filialen besitzt,
schrieb mir von diesem Gerücht und wünschte, daß ich
mich darüber äußere.  Das tat ich.  Ich antwortete ihm,
daß ich von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache
untersuchen lassen werde, wenn es sein müsse sogar
gerichtlich.  Das Resultat werde ich ihm dann mitteilen.
Damit war für ihn die Sache abgemacht.  Er war ein
Ehrenmann, ein Mann von Geist und Herz, dem es
niemals eingefallen wäre, durch Hintertüren zu verkehren.
Wir hatten einander gern.  Auf ihn fällt ganz gewiß
auch nicht die geringste Spur von Schuld an der
unbeschreiblich schmutzigen und widerlich leidenschaftlichen
Hetze gegen mich.  Weil das Gerücht aus Amerika kam,
hatte ich zunächst drüben zu recherchieren.  Das erforderte
lange Zeit, und es war mir unmöglich, etwas
Bestimmtes zu erfahren.  Ich wußte nur, daß sich das
Gerücht auf meine Münchmeyerschen Romane bezog,
doch fand ich Niemand, der imstande war, mir die
Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in denen die Unsittlichkeit
lag.  Und auf ein bloßes, vages Gerücht hin alle
fünf Romane, also ungefähr achthundert Druckbogen nach
Dingen, die ich gar nicht kannte, mühsam durchzuforschen,
dazu hatte ich keine überflüssige Zeit, und das war mir
auch gar nicht zuzumuten.  Wer den Mut besaß, mich
anzuklagen, der mußte die unsittlichen Stellen genau
kennen und war verpflichtet, sie mir anzugeben.  Darauf
wartete ich.  Es meldete sich aber Keiner, der es tat.
Auch Pustet tat es nicht.  Wahrscheinlich kannte er die
angeblichen Unsittlichkeiten ebenso wenig als ich.  Leider
war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm meine
Mitarbeiterschaft zum zweiten Male aufzusagen.  Das erste
Mal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte.
Dieser hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend
gekürzt, ohne mich um Erlaubnis zu fragen.  Ich habe
Korrekturen und Kürzungen nie geduldet.  Der Leser soll
mich so kennen lernen, wie ich bin, mit allen Fehlern
und Schwächen, nicht aber wie der Redakteur mich
zustutzt.  Darum teilte ich Pustet mit, daß er von mir
kein Manuskript mehr zu erwarten habe.  Er versuchte,
mich brieflich umzustimmen, doch vergeblich.  Da kam er,
der alte Herr, persönlich nach Radebeul.  Das war
rührend, hatte aber auch keinen Erfolg.  Er schickte dann
seinen Neffen, ganz selbstverständlich mit demselben
negativen Resultate, denn sie beide waren es doch nicht, die
sich an meinen Rechten vergriffen hatten.  Da kam der
Richtige, Heinrich Keiter selbst.  Er versprach mir, daß
es nie wieder geschehen solle, und daraufhin nahm ich
meine Absage zurück.  Man hat mir das von gewisser
Seite bis heut noch nicht vergessen.  Man drückt das
folgendermaßen aus: "Heinrich Keiter hat Kotau vor
Karl May machen müssen."  Ich besitze hierüber
Zuschriften aus nicht gewöhnlichen Händen.  Aber er trug
selbst die Schuld, nicht ich.  Ich habe Heinrich Keiter
geachtet, wie Jedermann ihn achtete.  Ich erkenne alle
seine Verdienste an, und es tut mir noch leid, daß ich
damals gezwungen war, Charakter zu zeigen.  Es ging
nicht anders.  Ich mußte die Buchform meiner
"Reiseerzählungen" nach dem Texte des "Hausschatzes" drucken
lassen und durfte darum nicht zugeben, daß an meinen
Manuskripten herumgeändert wurde.

    Später schrieb ich für Pustet meinen vierbändigen
Roman "Im Reiche des silbernen Löwen".  Ich war
grad bis zum Schluß des zweiten Bandes gelangt, da
bekam ich von befreundeten Redaktionen einen Waschzettel
des "Hausschatzes" geschickt, dessen Inhalt mich
veranlaßte, meine damalige Absage zu wiederholen.  Ich
telegraphierte Pustet, daß ich mitten in der Arbeit
aufhören müsse und kein Wort weiter für ihn schreiben
werde.  Er mußte mir sogar das in seinen Händen befindliche,
noch ungedruckte Manuskript wieder senden, wofür
ich ihm das darauf entfallende Honorar wiederschickte.
Ich würde hierüber kein Wort verlieren, wenn
mir nicht vor kurzer Zeit, allerdings von sehr unmaßgeblicher
Seite, mit Enthüllungen aus jener Zeit gedroht
worden wäre.  Ich habe darum die Gelegenheit wahrgenommen,
hier die Wahrheit festzustellen.  Und ich stelle
zugleich noch weiter fest, daß ich mit Herrn Kommerzienrat
Pustet niemals persönlich gebrochen habe und eine
aufrichtige Freude und Genugtuung empfand, als er
nach einer Reihe von ungefähr zehn Jahren seinen jetzigen
Hausschatzredakteur, Herrn Königlichen Wirklichen Rat
Dr. Otto Denk, zu mir nach Hotel Leinfelder in München
sandte, um mich zu veranlassen, wieder Mitarbeiter des
"Hausschatzes" zu werden.  Ich habe ihm daraufhin den
"Mir von Dschinnistan" geschrieben.

    Damit bin ich den mir gemachten Vorwürfen der
Cardaunsschen "abgrundtiefen Unsittlichkeit" vorausgeeilt
und kehre nun zu ihnen zurück, um dieser Angelegenheit
auf Grund und Wurzel zu gehen.  Der Grund heißt
Münchmeyer, und die Wurzel heißt ebenso.  Die hierher
gehörigen Tatsachen bilden eine über dreißig Jahre lange
Kette, deren Ringe logisch, geschäftlich und juristisch
innig ineinander greifen.  Das Meiste von ihnen ist
erwiesen.  Einiges liegt noch in den Akten, um an das
Tageslicht gezogen zu werden.  Ich bin nicht gewillt,
den laufenden Prozessen vorzugreifen, und werde also
nur diejenigen Punkte besprechen, über die volle Klarheit
herrscht.

    Ich habe bereits gesagt, daß Münchmeyer meine
Vorstrafen kannte.  Er wußte sogar Alles, was man
hinzugelogen hatte.  Er wünschte sehr, daß ich einen
Roman hierüber schreiben möchte; ich lehnte das aber
entschieden ab.  Ich habe im Kreise seiner Familie und
Bekannten meine Vergangenheit nicht verheimlicht, sondern
ganz unbefangen davon erzählt und meine Ansichten
über Verbrecher und Verbrechen, Schuld, Strafe und
Strafvollzug ausführlich dargelegt.  Kein einziges Glied
der Münchmeyerschen Familie darf behaupten, nicht
davon gewußt zu haben.  Auch die Arbeiter der Firma
erfuhren es, Setzer, Drucker und alle Andern, ebenso die
mitarbeitenden Schriftsteller.  "May ist bestraft; er hat
gesessen," das drang bald leiser, bald lauter, aber überall
durch.  Es ist also grundfalsch, jetzt nun von plötzlichen
"Enthüllungen" oder gar von meiner "Entlarvung" zu
sprechen.  Wer behauptet, er habe mich entlarvt, der lügt.

    Wichtig ist, daß Münchmeyer eine ganz ausgesprochene
geschäftliche Vorliebe grad für bestrafte Mitarbeiter
hatte.  Geht man die Schriftsteller und Schriftstellerinnen
durch, die für ihn geschrieben haben, so bilden die
Bestraften einen ganz bedeutenden Prozentsatz von ihnen.
Das bemerkte ich schon bald, nachdem ich bei ihm
eingetreten war.  Auch Walter, sein Hauptfaktotum, von
dem er alles tun ließ, was Niemand wissen durfte, war
vorbestraft.  Gleich nach meiner Uebernahme der Redaktion
brachte er mir einen Wiener Postbeamten, der sich
an der Kasse vergriffen hatte, als Mitarbeiter.  Als sich
ähnliche Fälle wiederholten und ich ihn nach seinen
Gründen fragte, antwortete er: "Mit einem Schriftsteller,
der bestraft worden ist, kann man machen, was
man will, denn er fürchtet, daß seine Vorstrafen verraten
werden."  "Also auch ich?!" rief ich aus, erstaunt
über diese Aufrichtigkeit.  "Unsinn!" entgegnete er.  "Mit
Ihnen ist das etwas ganz Anderes.  Wir sind Freunde!
Und Sie sind doch kein gewöhnlicher Mensch, der mit
sich machen läßt, was man will!  Selbst wenn ich Sie
nicht aufrichtig lieb hätte, bei Ihnen zöge man den
Kürzern!"  Er gab sich Mühe, das in mir erwachte
Mißtrauen zu beseitigen, aber es wollte doch nicht ganz
verschwinden und trug auch mit dazu bei, daß ich kündigte
und wegen des Heiratsangebotes die Redaktion aufgab.
Auch später, als ich nach sechs Jahren das "Waldröschen"
für ihn zu schreiben begann, tauchte dieses Bedenken
gegen ihn wieder in mir auf.  Aber die Ausnahmestellung,
die er mir persönlich und geschäftlich bei sich
einräumte, das Ausnahmehonorar, welches er mir zahlte,
und vor allen Dingen die Einwürfe, die mir meine Frau
bei jeder Gelegenheit gegen mein Mißtrauen machte, das
alles wirkte dahin, daß ich schließlich zu meinem früheren
Vertrauen zurückkehrte.

    Daß ich von meinen Münchmeyerschen Romanen
keine Korrekturen zu lesen und also auch meine Manuskripte
nicht mehr zurückbekam, habe ich bereits erwähnt.
Ich konnte also nicht kontrollieren, ob der Druck mit
meinem Originalmanuskript übereinstimmte.  Doch war
mir hier so bestimmt Ehrlichkeit versprochen worden, daß
ich einen Betrug für ausgeschlossen hielt.  Auch daß
Münchmeyer später einmal behaupten könne, meine Romane mit
allen Rechten nicht bloß bis zum zwanzigtausendsten
Abonnenten, sondern für immer erworben zu haben, erschien
mir als unmöglich, denn erstens hatte ich mir alle seine
Briefe aufgehoben, in denen er Alles, was wir schriftlich
miteinander ausgemacht hatten, nach und nach wiederholte,
und zweitens hatte ich auch noch einen andern vollgültigen
Beweis in der Hand, daß er diese Rechte nicht für immer
besaß.  Er hatte nämlich den schriftlichen Versuch gemacht,
diese Rechte noch nachträglich zu erwerben.  Er hatte das
durch einen Revers getan, den er mir durch jenes
vorbestrafte Faktotum Walter schickte und zur Unterschrift
vorlegen ließ.  Ich wies aber diesen außerordentlich
pfiffigen Boten mit seinem Revers zurück.  Dieser Walter
war es auch, durch den ich auf meine Anfragen immer
die schriftliche oder mündliche Versicherung bekam, daß
die Zwanzigtausend noch nicht erreicht sei.  Uebrigens
hatte ich nicht die geringste Sorge, weder um meine Rechte
noch um meine "feinen Gratifikationen".  Meine Rechte
waren mir sicher, und Münchmeyers standen sich jetzt in
pekuniärer Beziehung so, daß sie, wie ich glaubte, mehr
als bloß zahlungsfähig waren.  Daß er mit schlechtgehenden
Romanen wieder verlor, was er an gutgehenden
verdiente, und daß er sich auf Wechselreitereien eingelassen
hatte, durch welche seine Kapitalkraft arg geschädigt wurde,
davon wußte ich nichts.  Ich war also überzeugt, ruhig
warten zu können und gar keine Veranlassung zu haben,
verfrühte und darum beleidigende Forderungen zu stellen.
Uebrigens war meine Frau so vollständig gegen alles
geschäftliche Drängen und Treiben, daß ich nun auch um
den äußeren häuslichen Frieden besorgt sein mußte, falls
ich gegen Münchmeyer nicht so nachsichtig war, wie sie
wünschte.  Auch behaupten die Kolportageverleger, daß
es in ihrer Buchführung viel schwieriger sei und viel
längere Zeit erfordere, als bei andern Verlegern,
nachzuweisen, wieviel feste Abonnenten man habe.  Es springen
beständig welche ab, und es kommen beständig welche
hinzu, darum hatte ich Geduld.

    Im Jahre 1891 lernte ich meinen jetzigen Verleger
F. E. Fehsenfeld, Freiburg, Breisgau, kennen.  Ich
übergab ihm den Buchverlag der bei Pustet in Regensburg
erschienenen Werke und vereinbarte mit ihm, nach diesen
dann auch die Münchmeyerschen herauszugeben.  Er nahm
die ersten sofort in Angriff, und sie gingen ausgezeichnet.
Wir waren beide überzeugt, daß wir mit den Münchmeyerschen
nicht weniger Erfolg haben würden, stellten
die letzteren aber bis zur Vollendung der Pustetschen
Serie zurück.  Jede der beiden Serien sollte dreißig
Bände umfassen.  Was daran fehlte, hatte ich noch
hinzuzuschreiben.  Das ergab für die Pustetsche Serie ungefähr
zehn Bände, die ich noch zu liefern hatte.  Das war eine
Arbeit, die mir keine Zeit ließ, mich jetzt um meine
Münchmeyerschen Sachen zu bekümmern.  Darum mußte mich
auch die unerwartete Nachricht, daß Münchmeyer plötzlich
gestorben sei, geschäftlich vollständig gleichgültig lassen.
Ich erkundigte mich nur nach seiner Nachfolge, und als
ich hörte, daß seine Witwe das Geschäft im Namen der
Erben weiterführe, war ich für mich beruhigt.

    Da geschah etwas Ueberraschendes.  Frau Pauline
Münchmeyer schickte mir einen Boten, der den Auftrag
hatte, mich auszuforschen, ob ich vielleicht geneigt sein
werde, ihr einen neuen Roman zu schreiben.  Dieser Bote
war auch ein "Vorbestrafter".  Ich ließ ihn unverrichteter
Sache wieder gehen, ohne über die Ursache seiner Sendung
besonders nachzudenken.  Ich wußte damals nicht, was
ich erst viel später erfuhr, nämlich daß es mit
Münchmeyers nicht so glänzend stand, wie ich dachte.  Man
hatte einen Familienrat gehalten und war zu dem
Entschlusse gelangt, durch einen neuen Roman von Karl
May die Lage zu verbessern.  Ich hatte weder Zeit
noch Lust, ihn zu schreiben, beschloß aber für den Fall,
daß man den Versuch erneuern werde, trotzdem in Verhandlungen
einzutreten, um über die Erfolge meiner bisherigen
Romane etwas Bestimmtes zu erfahren.  Und die
Wiederholung des Versuches kam.  Frau Münchmeyer
stellte sich selbst und persönlich bei uns ein.  Sie besuchte
uns wiederholt.  Sie bat. Sie bot sogar Vorausbezahlung
des Honorars.  Sie schickte auch das Faktotum Walter
und ließ Briefe durch ihn schreiben.  Ich gab den Bescheid,
daß ich nicht eher etwas Neues liefern könne, als
bis über das Alte volle Klarheit geschafft worden sei.
Ich müsse unbedingt erst wissen, wie es mit der
Abonnentenzahl meiner fünf Romane stehe; die Zwanzigtausend
müsse doch schon längst erreicht worden sein.  Frau
Münchmeyer versprach Bescheid.  Sie lud mich und meine Frau
zum Essen zu sich ein, um da diesen Bescheid zu erteilen.
Wir stellten uns ein.  Sie gestand ein, daß die Zwanzigtausend
erreicht seien, und zwar bei allen Romanen, nicht
nur bei einem; nur müsse es erst noch genau berechnet
werden, und das sei in der Kolportage so ungemein
schwierig und zeitraubend.  Ich möge mich also in Geduld
fassen.  Was meine Rechte betreffe, so fallen diese mir
hiermit wieder zu, ich könne die Romane nun ganz für
mich verwenden.  Da forderte ich sie auf, mir meine
Manuskripte zu schicken, nach denen ich setzen und drucken
lassen werde.  Sie sagte, die seien verbrannt; sie werde
mir an ihrer Stelle die gedruckten Romane senden und
sie vorher extra für mich in Leder binden lassen.  Das
geschah.  Nach kurzer Zeit kamen die Bücher durch die
Post; ich war wieder Herr meiner Werke -- -- -- so
glaubte ich!  Freilich war es mir unmöglich, sie sofort
herauszugeben, weil die Pustetschen vorher zu erscheinen
hatten.  Ich legte die Bücher also für einstweilen zurück,
ohne mich mit der Prüfung ihres Inhaltes befassen
zu können.  Ich hatte meinen Zweck erreicht, und von
der Abfassung eines neuen Romanes war keine Rede
mehr.  Frau Münchmeyer ließ nichts mehr von sich hören.
Ich schrieb das auf Rechnung des Umstandes, daß nun
doch die "feinen Gratifikationen" fällig waren, deren
Zahlung man mit Schweigen zu umgehen suchte.  Ich
aber drängte nicht; ich hatte mehr zu tun und brauchte
das Geld nicht zur Not.  Ich will den Umstand nicht
übergehen, daß meine Frau während dieser ganzen Zeit
sich alle Mühe gab, mich von geschäftlicher Strenge gegen
Frau Münchmeyer abzuhalten.  Diese ihre Vorliebe für
Münchmeyer und seine Witwe bilden den Hauptgrund
der sonst unbegreiflichen Nachsicht, die ich übte.

    Ich stand grad im Begriff, eine längere Reise nach
dem Orient anzutreten, als ich erfuhr, daß Frau Münchmeyer
ihr Geschäft verkaufen wollte.  Ich schrieb ihr sofort
einen Brief, in dem ich sie warnte, etwa meine Romane
mit zu verkaufen.  Ich legte ihr alles hierauf Bezügliche
dar und ging zunächst nach Oberägypten.  Von dort nach
Kairo zurückgekehrt, fand ich Briefe vor, aus denen ich
erfuhr, daß der Verkauf trotz meiner Warnung geschehen
sei; der Verkäufer [sic] heiße Fischer.  Ich zögerte nicht, an
diesen Herrn zu schreiben.  Er antwortete mir im
Kolportageton, daß er das Münchmeyersche Geschäft nur wegen
der Romane von Karl May gekauft habe.  Alles Andere
sei nichts wert.  Er werde diese meine Sachen so
ausbeuten, wie es nur möglich sei, und mich, falls ich ihn
daran hindere, auf Schadenersatz verklagen.  Dieser Ton
fiel mir auf.  In dieser Weise pflegt man nur mit sehr
minderwertigen Menschen zu sprechen.  Ich mußte diesem
mir vollständig unbekannten Herrn Fischer in einer Art
geschildert worden sein, die ihn zu dieser Achtungslosigkeit
verleitete.  Ich forderte meine Frau auf, mir über diesen
Fall sofort und so ausführlich wie möglich zu berichten.
Ich gab ihr zu diesem Zwecke meine Reiseroute genau an.
Ich wartete in Kairo sechs Wochen, in Beirut vierzehn
Tage, in Jerusalem mehrere Wochen.  Ich schrieb und
telegrafierte, doch vergebens; es kam kein Bericht.  Endlich
erhielt ich einige Zeilen, in denen sie mir sagte, daß
sie in Paris gewesen sei, aber weiter nichts.  Als in
Massaua, der Hauptstadt von Erythräa am roten Meere, mein
arabischer Diener mir die Post brachte, quoll mir eine
Menge deutscher Zeitungen entgegen, aus denen ich, der
gar nichts Ahnende, ersah, was sich in der Heimat
inzwischen gegen mich ereignet hatte.  Fischer hatte meine
Abwesenheit benutzt, mit einer illustrierten Ausgabe meiner
Münchmeyerschen Romane zu beginnen, und zwar mit
derartigen Reklametrompetenstößen, daß alle Welt auf
dieses Unternehmen aufmerksam werden mußte.  Mein
Name war genannt, obgleich ich diese Romane, nur einen
ausgenommen, pseudonym geschrieben und Münchmeyer
verpflichtet hatte, diese Pseudonymität auf keinen Fall
zu brechen.  Zugleich stellte sich heraus, daß mit den
Romanen eine Umarbeitung vorgenommen werden sollte.
Mir wurde himmelangst.  Ich schrieb heim und beauftragte
einen dortigen Freund, dem ich vollständig vertrauen
konnte, sich einen Rechtsanwalt zu Hilfe zu nehmen
und meine Sache bis zu meiner Heimkehr zu führen, wenn
nötig sogar gerichtlich.

    Dieser Freund hieß Richard Plöhn und war der
Besitzer der "Sächsischen Verbandstoffabrik" in Radebeul,
die er gegründet hatte.  Man wird bald sehen, warum
ich für kurze Zeit bei ihm verweile.  Er war außerordentlich
glücklich verheiratet.  Seine Familie bestand nur aus
ihm, seiner Frau und seiner Schwiegermutter.  Wir waren
so innig mit einander befreundet, daß wir einander Du
nannten und, sozusagen, eine einzige Familie bildeten.
Aber außer zu mir auch noch zu meiner Frau Du zu
sagen, das brachte Plöhn nicht fertig.  Er versicherte, daß
ihm dies unmöglich sei.  Frau Plöhn ist jetzt meine Frau.
Es ist mir also nicht erlaubt, von ihren Eigenschaften oder
gar Vorzügen zu sprechen.  Die letzteren waren rein seelische.
Meine damalige Frau hat nie in einem meiner Bücher
gelesen.  Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr
ebenso unbekannt und gleichgültig wie meine Ziele und
Ideale überhaupt.  Frau Plöhn aber war begeisterte Leserin
von mir und besaß ein sehr ernstes und tiefes Verständnis
für all mein Hoffen, Wünschen und Wollen.  Ihr Mann
freute sich darüber.  Er sah mein Ringen, mein angestrengtes
Arbeiten, oft dreimal wöchentlich die ganze Nacht
hindurch, keine helfende Hand, kein warmer Blick, kein
aufmunterndes Wort; ich stand innerlich allein, allein,
allein, wie stets und allezeit.  Das tat ihm wehe.  Er
versuchte, durch seine Frau auf die meinige einzuwirken,
damit diese mir wenigstens die störende Korrespondenz
abnahm, vergeblich.  Da bat er mich, seiner Frau zu
erlauben, daß diese es tue; das werde für sie und ihn
eine große Freude sein.  Ich gestattete es den beiden
guten Menschen.  Von da an lag mein Briefwechsel in
der Hand von Frau Plöhn.  Tausenden von Leserinnen
und Lesern ist über der Unterschrift von "Emma May"
geantwortet worden, ohne daß sie wußten, daß es nicht
meine Frau, sondern eine schwesterliche Helferin war,
die mir meine Last erleichterte.  Sie arbeitete sich mehr
und mehr in meine Gedankenwelt und meinen Briefwechsel
ein, so daß ich ihr schließlich die ganze, umfangreiche
Korrespondenz getrost überlassen konnte.  Ihr Mann
war stolz darauf.  Noch stolzer fast war ihre Mutter,
eine einfach gewöhnte, sehr arbeitsame, praktische Frau,
die gar zu gern auch mitgeholfen hätte, wenn es möglich
gewesen wäre, denn auch sie besaß eine Seele, die nicht
unten bleiben wollte, sondern nach oben strebte.

    Also diesen Freund beauftragte ich, meine Angelegenheit
so kräftig wie möglich in die Hand zu nehmen, und
er tat es, so gut er konnte.  Er übergab die prozessuale
Durchführung einem Dresdener Rechtsanwalt und
benachrichtigte die gesamte deutsche Presse davon, daß ich
augenblicklich in Asien sei, nach meiner Heimkehr aber
nicht zögern werde, mich bei der beabsichtigten
Vergewaltigung zu erwehren.  Mehr konnte für den Augenblick
nicht getan werden, weil es mir unmöglich war, meine
Reise abzubrechen.  Von meiner Frau bekam ich keine
Nachricht.  Es war ihr unmöglich, sich um so ernste,
geschäftliche Angelegenheiten zu bekümmern.  Plöhns aber
schrieben, doch konnten mich diese Briefe erst in Padang
auf der Insel Sumatra erreichen.  Sie lauteten
aufregend.  Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen
Münchmeyerschen Romanen zu beschäftigen, und zwar in
einer für mich ungünstigen Weise.  Es wurden Gerüchte
über mich verbreitet, die teils lächerlich, teils gewissenlos
waren.  Man las in den Zeitungen, daß ich mich gar
nicht im Orient befinde, sondern mich wegen einer
bösartigen Krankheit im Jodbad Tölz, Oberbayern, versteckt
habe.  Hätte ich geahnt, daß das in dieser lügenhaften,
gehässigen und böswilligen Weise ein ganzes Jahrzehnt
weitergehen werde, so würde ich meine Reise doch
unterbrochen und schleunigst nach Hause zurückgekehrt sein.
Hätte ich das getan, so wären mir alle die unmenschlichen
Martern und Qualen, die ich während dieser langen
Zeit ausgestanden habe, erspart geblieben.  Leider aber
wußte ich damals noch nicht, was mit meinen Romanen
vorgegangen war und welche Leitgedanken im Münchmeyerschen
Geschäft über mich kursiert hatten und heute
noch kursierten.  Ich glaubte, die Sache noch aus der
Ferne beilegen zu können und hielt nichts weiter für
nötig, als eine genaue Information, aus der sich die
einzuschlagenden Schritte zu ergeben hätten.  Ich schrieb
also heim, daß meine Frau mit Plöhns nach Aegypten
kommen möchte, wo ich in Kairo mit ihnen zusammentreffen
würde.  Sie kamen, aber sehr verspätet, weil
Plöhn unterwegs krank geworden war.  Was ich von
ihnen erfuhr, lautete keineswegs günstig und klang
außerdem sehr unbestimmt.  Der Rechtsanwalt stand immer
noch erst bei den Vorbereitungen.  Fischer hatte erklärt,
sich auf das Aeußerste wehren zu wollen; meine Romane
habe er von Frau Münchmeyer gekauft; sie seien sein
wohlerworbenes, bar bezahltes Eigentum, mit dem er
machen könne, was er wolle.  Die Zeitungen waren
gegen mich eingenommen.  Meine Münchmeyerschen
Romane wurden als Schundromane bezeichnet.  Ich sah
ein, daß ein Prozeß mit Münchmeyers nicht zu umgehen
war, und fragte meine Frau nach den für mich hierzu
nötigen Dokumenten.

    Ich habe bereits gesagt, daß ich mir Münchmeyers
Briefe aufgehoben hatte.  Ihr Inhalt war für einen
Prozeß gegen Münchmeyer derart beweiskräftig, daß ich
ihn glattweg gewinnen mußte.  Diese Briefe waren nebst
andern gleichwichtigen Sachen in einem bestimmten
Schreibtischkasten aufbewahrt.  Ich hatte vor meiner
Abreise meine Frau auf diesen Kasten und seinen Inhalt
ganz besonders aufmerksam gemacht, ihr den Zweck der
Briefe ganz besonders erklärt und sie aufgefordert, dafür
zu sorgen, daß ja nicht das geringste Blättchen davon
verloren gehe.  Als ich sie jetzt in Kairo nach diesen
Dokumenten fragte, versicherte sie mir, daß sie noch genau
so lägen, wie ich sie ihr übergeben habe.  Kein Mensch
habe sie berührt.  Das beruhigte mich, denn das bedeutete
den sicher gewonnenen Prozeß.  Als meine Frau mir
diese Versicherung gab, stand Frau Plöhn dabei und
hörte es.  Sie sah sie groß an, sagte aber nichts.  Das
fiel mir damals nicht auf; später aber, als ich mich
dieses großen, erstaunten, mißbilligenden Blickes erinnerte,
wußte ich nur allzu gut, was er hatte sagen sollen.
Meine Frau war nämlich eines Abends zu Frau Plöhn
gekommen und hatte ihr mitgeteilt, daß sie soeben unsern
Trauschein verbrannt habe, der Vorbedeutung wegen,
die sich damit verbinde.  Und einige Zeit später hatte
sie ihr in derselben lachenden Weise gesagt, daß sie nun
auch die Dokumente aus dem Schreibtischkasten genommen
und verbrannt habe; sie wolle dadurch verhindern, daß ich
Münchmeyers verklage.  Frau Plöhn war hierüber entsetzt
gewesen, hatte aber die vollendete Tatsache nicht zu
ändern vermocht.  Jetzt, als sie die Versicherung meiner
Frau mit anhören mußte, daß die Briefe noch unberührt
vorhanden seien, gab es in ihr den ersten Riß zu jener
innern Scheidung, die erst dann auch äußerlich zu Tage
trat, als nichts mehr verheimlicht werden konnte.  Wir
reisten nach Aegypten, Palästina, Syrien, über
Konstantinopel, Griechenland und Italien nach Hause.  Während
dieser Zeit ist meine Frau auf wiederholte Anfragen
immer dabei geblieben, daß die Dokumente völlig
unverletzt noch in dem betreffenden Kasten lägen.  Sie
wurde schließlich zornig und verbat sich jede weitere
Erwähnung.  Aber als ich nach Hause kam und mein erster
Schritt nach dem Schreibtisch war, fand ich den Kasten
-- -- -- leer!  Hierüber zur Verantwortung gezogen,
erklärte sie, daß sie die Briefe allerdings verbrannt und
vernichtet habe.  Sie sei stets eine Freundin Münchmeyers
gewesen und sei es auch noch heute.  Sie wisse zwar,
daß ich recht habe, aber sie dulde nicht, daß ich
Münchmeyers verklage.  Darum habe sie die Papiere
verbrannt.  Man kann sich denken, wie mir zu Mute war,
aber ich beherrschte mich und tat, was ich schon jahrelang
in solchen Fällen zu tun gewohnt war, ich war still,
nahm den Hut und ging.

    Inzwischen waren die Presseangriffe gegen mich
immer zahlreicher und deutlicher geworden.  Man
beschuldigte mich, zu gleicher Zeit fromm und unsittlich
geschrieben zu haben.  Ich nahm die Romane her, die mir
Frau Münchmeyer hatte einbinden lassen, und fand, daß
man von meinen Originalmanuskripten abgewichen war
und sie verändert hatte.  Also darum hatte man die
Manuskripte verbrannt, anstatt sie für mich aufzuheben!
Ich sollte die Aenderungen nicht nachweisen können!
Das Erste, was ich tat, war, daß ich die Presse hiervon
benachrichtigte und sie bat, die gerichtliche Entscheidung
abzuwarten.  Sodann stellte ich schleunigst Klage.  Ich
wollte die Sache nicht auf dem Wege des Zivil-, sondern
des Strafprozesses verfolgen, stieß dabei aber auf solchen
Widerstand bei meiner Frau, daß ich darauf verzichtete.
Ich befragte mich bei verschiedenen Rechtsanwälten,
nicht nur in Dresden, sondern auch in Berlin und
anderswo.  Ich hätte so gern gleich direkt wegen der
"abgrundtiefen Unsittlichkeiten", die mir vorgeworfen
wurden, verklagt, doch wurde mir einstimmig versichert,
daß dies unmöglich sei.  Eine Klage könne nicht auf
ideale Dinge gerichtet, sondern müsse materiell begründet
sein.  Ich müsse vor allen Dingen beweisen, daß ich der
rechtmäßige Eigentümer der betreffenden Romane sei,
und also das Recht besitze, zu verklagen.  Am Besten sei
es, die Klage auf "Rechnungslegung" zu richten.  Das
geschah.

    Um diese Zeit war es, daß sich der Käufer des
Münchmeyerschen Geschäftes, Herr Fischer, bei mir
meldete.  Ich hatte keinen vernünftigen Grund, ihn
abzuweisen; er wurde angenommen.  Die Unterredung war
eine hochinteressante, sowohl psychologisch als auch
prozessual.  Fischer machte gar kein Hehl daraus, daß er
wisse, ich sei vorbestraft.  Er meinte, wer solches Werg
am Rocken habe, der solle sich wohl sehr hüten, zu
prozessieren, sonst könne die Sache sehr leicht ein anderes
Ende nehmen, als man denke.  Meine Romane seien jetzt
sein Eigentum.  Man habe sie schon früher verändert,
und nun lasse er sie von Neuem umarbeiten, ganz so,
wie es ihm gefalle.  Wenn ich gegen ihn prozessiere, so
könne das länger als zehn Jahre dauern; aber bis dahin
sei ich längst kaput.  Er sei aber gekommen, mir die
Hand zu bieten, all diesem Aerger zu entgehen.  Ich
solle ihm siebzigtausend Mark zahlen, so verzichte er auf
meine Romane und liefere sie mir mit allen Rechten aus.
Dann sei es mir leicht, die ganze Aufregung der Presse
gegen mich mit einem einzigen Schlage zum Schweigen
zu bringen.  Er biete mir seine Hilfe dazu an.  Er wisse
mehr, als ich ahne.  Er kenne die ganze Münchmeyerei.
Man habe ihm Alles gesagt.  Aber unter siebzigtausend
Mark könne er nicht verzichten, denn er habe
hundertfünfundsiebzigtausend Mark bezahlt.

    Es ist ganz selbstverständlich, daß ich auf diesen
Vorschlag nicht einging.  Ich erklärte ihm, daß ich keinen
Pfennig geben werde und zur Klage fest entschlossen sei.
Da wollte er wissen, gegen wen ich diese Klage richten
werde, ob gegen ihn oder gegen Münchmeyers Witwe.
Er rate mir zu dem Letzteren, weil er mir da wahrscheinlich
als Zeuge dienen könne, denn er sei mit dieser
Frau keineswegs zufrieden, sondern stehe in
immerwährendem Streit mit ihr.  Hierauf entfernte er sich
mit der Warnung, mich ja mit meinen Vorstrafen in
Acht zu nehmen.

    Ich war gewillt, Frau Münchmeyer zu verklagen.
Aber meine Frau und, wohl infolgedessen, auch mein
Rechtsanwalt bestimmten mich, hiervon abzusehen.  So
wurde also Fischer verklagt.  Aber die Witwe schien
keine Lust zu haben, sich von diesem Rechtshandel
ausscheiden zu lassen.  Sie trat als Nebenintervenientin bei
und ist bis heut meine Gegnerin geblieben.  Es gelang
mir, gegen Fischer eine einstweilige Verfügung zu
erreichen, welche ihm verbot, meine Romane weiterzudrucken.
Er durfte nur noch komplettieren.  In dieser für ihn
sehr heiklen Lage kam er mit meinem Rechtsanwalt zu
sprechen und klagte über den Verlust, der ihm dadurch
entstehe; dieser betrage schon vierzigtausend Mark.  Wenn
das nicht aufhöre, müsse er sich noch ganz anders wehren
als bisher und mich durch die Veröffentlichung meiner
Vorstrafen in allen Zeitungen vor ganz Deutschland
kaput machen.  Als mein Rechtsanwalt mir diese Drohung
mitteilte, ging mir ein Licht auf; ich begann zu begreifen
und fühlte mich verpflichtet, dieses Terrain zu sondieren.
Es kam eine Unterredung zwischen Fischer und mir zustande,
in einer separierten Weinstube, unter vier Augen.
Da wurde er offenherzig.  Er sagte mir Alles, was er
während der Verkaufsverhandlungen von Münchmeyers
über mich und meine Romane erfahren hatte.  Ich erfuhr
den ganzen Feldzugsplan, von dem ich bisher keine
Ahnung gehabt hatte.  Es war ihm weisgemacht worden,
ich sei vorbestraft, und zwar mit Zuchthaus, weil ich als
Lehrer Umgang mit Schulmädchen gepflogen habe.  Das
passe außerordentlich zu dem Vorwurf der Zeitungen,
daß ich unsittliche Romane geschrieben habe.  Man brauche
das nur zu veröffentlichen, so sei ich für immer kaput.
Ich sei jetzt ein berühmter Mann und habe mich vor
solchen Veröffentlichungen zu hüten; das wisse man ebenso
gut wie ich selbst.  Was ich mit Münchmeyer über meine
Romane ausgemacht habe, sei gleichgültig.  Münchmeyer
sei tot.  Es komme darauf an, wer zu schwören habe.
Und daß May den Eid nicht bekomme, dafür werde man
zu sorgen wissen.  Seine Vorstrafen seien die beste Hilfe,
die es gebe.  Man brauche ihm nur mit der Veröffentlichung
zu drohen, so nehme er gewiß jeden Prozeß zurück.
Es genügen zwei Zeilen an ihn, so ist er still.
"Den haben wir in der Hand!"

    In dieser Weise hatte man zu Fischer gesprochen,
und daraufhin hatte er das Geschäft gekauft.  So
versicherte er mir.  Daß meine Romane verändert worden
seien, das wisse er.  Nur wisse er nicht genau, von wem.
Wahrscheinlich von Walter.  Der habe ja weiter gar
nichts Anderes als solche Sachen zu machen und
dann die Korrekturen zu lesen gehabt.  Und das sei gar
nicht schwer und gehe sehr schnell.  Man braucht nur
ein Wort zu ändern oder einige Worte hinzuzufügen, so
ist die "Unsittlichkeit" da, ohne die es bei solchen
Romanen nun einmal nicht abgehen will.  Ich könne diese
Aenderungen sehr leicht nachweisen; ich brauche nur
meine Originalmanuskripte vorzulegen.

    "Aber die sind ja verbrannt!" fiel ich ein.

    Das stellte Fischer aber ganz entschieden in Abrede.
Er behauptete, sie seien noch da.  Er könne sie mir
verschaffen, aber freilich unter den jetzigen Verhältnissen
nicht, wo ich sein Prozeßgegner sei und ihn mit meiner
einstweiligen Verfügung zugrunde richte.  Er könne nur
dann mein Helfer sein und als Zeuge für mich eintreten,
wenn ich diese Verfügung fallen lasse und mich mit ihm
vergleiche.

    Diese Unterredung war für mich von unendlicher
Wichtigkeit.  Es galt, vorsichtig zu sein.  Ich fragte
mich, ob ich trauen dürfe.  Waren die Originalmanuskripte
wirklich noch da, so konnte ich allerdings alle
gegen mich gerichteten Vorwürfe, wie Fischer gesagt
hatte, mit einem Schlage verstummen machen.  Aber er
konnte mich täuschen wollen oder auch selbst getäuscht
worden sein.  Ich durfte nicht vorschnell entscheiden; ich
mußte beobachten und überlegen, zumal diese Wendung
meiner Angelegenheit in eine Zeit fiel, in der mich
schwere, innerliche Kämpfe derart beschäftigten, daß ich
für Anderes weder Zeit noch Raum zu finden vermochte.
Das war die Zeit meiner Ehescheidung.

    Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen
Betrachtung der Ehe, daß diese ein Sakrament
sei.  Wenn ich nicht dieser Ansicht wäre, so hätte ich
diesen Schritt schon längst getan und nicht erst dann,
als es meine Gesundheit, mein Leben und meine ganze
innere und äußere Existenz zu retten galt.  Man hat
mir diesen Schritt in hohem Grade übelgenommen, sehr
mit Unrecht.  Katholische Kritiker, die anstatt auf
sachlichem Gebiete zu bleiben, ihre Angriffe auf das
persönliche hinüberspielten, haben mir in einem Atem
vorgeworfen, daß ich Protestant sei und mich von meiner
Frau habe scheiden lassen.  Wie unlogisch!  Grad weil
ich als Protestant gelte, hat kein Mensch das Recht, mir
den zweiten Vorwurf zu machen.  Für jeden nur einigermaßen
anständigen Menschen ist die Ehescheidung eine
Angelegenheit von selbstverständlichster Diskretion.  Die
meinige aber hat man in den Zeitungen herumgetragen,
mit den widerlichsten Randglossen versehen und zu den
ungeheuerlichsten Verdächtigungen ausgenutzt.  Ich will
das Alles hier übergehen, um meine Bemerkungen, falls
ich zu ihnen gezwungen werde, an anderer Stelle zu
machen.  Diese Zeit war nicht nur für mich, sondern
auch für Frau Plöhn eine beinahe tödliche, weil sie ihr
den Mann raubte, den sie mit einer Aufopferung liebte,
wie selten ein Mann geliebt worden ist.  Ich habe
bereits gesagt, daß Plöhn auf der Reise nach Aegypten
krank geworden sei.  Er erholte sich nur scheinbar
wieder.  Das Uebel repetierte, nachdem er in die Heimat
zurückgekehrt war.  Ein Jahr später kam der Tod.  Frau
Plöhn brach fast zusammen.  Wäre ihre Mutter nicht
gewesen, so wäre sie ihrem Manne sicher nachgestorben.
Glücklicherweise bot ihr auch die Korrespondenz, die sie
für mich mit meinen Lesern führte, die seelische Erleichterung
und Unterstützung, deren sie bedurfte.  Sie besaß
zwei Zinshäuser in Dresden, die sie gern gegen ein ihr
angebotenes Landgrundstück verkaufen wollte, welches zu
dem Dorfe Niedersedlitz gehörte.  Dorthin hatte Fischer
seine Buchdruckerei verlegt.  Auch seine Privatwohnung
lag da.  Frau Plöhn bat mich, sie zur Besichtigung
dieses Grundstückes zu begleiten, und als wir uns nun
einmal in Niedersedlitz befanden, lag der Gedanke nahe,
dies Fischer wissen zu lassen.  Er lud uns nach seiner
Privatwohnung ein, und es entspann sich da eine
Verhandlung, welche am nächsten Tage zu einem Vergleiche
führte.

    Ich will so kurz wie möglich sein.  Fischer klagte
darüber, daß er sich durch den Kauf des Münchmeyerschen
Geschäftes zum "Schundverleger" degradiert habe;
er versicherte, daß er sich heraussehne, und er behauptete,
daß ich ihm dazu behilflich sein könne wie kein Anderer.
Dieses Letztere war auch ich überzeugt.  Er hatte die
veränderten Romane erworben, ohne daß Frau Münchmeyer
das Recht besaß, sie ihm zu verkaufen.  Wenn er
dafür sorgte, daß ich meine Originalmanuskripte
zurückerhielt, konnte er die Schundarbeiten fallen lassen und
an ihrer Statt meine Originale herausgeben; da war
ihm und zugleich auch mir geholfen; er war kein
Schundverleger mehr, und ich konnte beweisen, daß ich nichts
Unsittliches geschrieben hatte.  Das war der Grundgedanke
des Vergleiches, und als wir ihn unterschrieben,
war ich überzeugt, daß aller Streit gehoben sei.  Fischer
bezeugte mir damals öffentlich in den Zeitungen, daß die
unsittlichen Stellen meiner Münchmeyerromane _nicht_aus_
_meiner_Feder_stammen,_sondern_von_dritter_
_Hand_hineingetragen_worden_seien._

    Leider aber erwiesen sich meine Hoffnungen als trügerisch.
Fischer konnte meine Originalmanuskripte nicht
bekommen; sie waren nicht mehr da; sie waren wirklich
vernichtet.  Es war ihm also unmöglich, sich aus einem
"Schundverleger", wie er sich in einem Briefe an mich
bezeichnete, in einen Buchverleger zu verwandeln.  Er
machte zwar den Versuch, auch ohne meine
Originalmanuskripte zu einem Originalroman zu kommen, um
den Schund dann fallenlassen zu können, aber ich mußte
ihm dabei die Hilfe, die er von mir forderte, versagen.
Er verlangte nämlich von mir, daß ich den Schund aus
dem Gedächtnisse in seine frühere, einwandfreie Fassung
zurückverändere; das aber war bei einer Fülle von
ungefähr dreißigtausend engbeschriebenen Seiten ein Ding
der absolutesten Unmöglichkeit.  Er bestand aber auf
seinen [sic] Schein, auf unsern [sic] Vergleich, und obgleich er das
nicht leisten konnte, was er versprochen hatte, sollte ich
doch Alles tun, was grad seinetwegen unmöglich war.
Daraus ergab sich ein neuer Zwist und ein neues Kämpfen,
welches sich über seinen Tod hinaus erstreckte und
erst von seinen Erben zum friedlichen Ende geführt worden
ist.  Diese sahen klarer als er, und sie waren ruhigen,
unbefangenen Gemütes.  Sie waren Fachleute, nämlich
Rechtsanwälte, Kaufleute, Buchdruckerei- und
Buchbindereibesitzer.  Sie vereinigten sich zu folgender
Erklärung:

|     "In einem zwischen Herrn Karl May und        |
| den Erben des Herrn Adalbert Fischer anhängig    |
| gewesenen Rechtsstreite haben die Fischerschen   |
| Erben erklärt, daß die im Verlage der Firma      |
| H. G. Münchmeyer erschienenen Romane des         |
| Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit       |
| durch Einschiebungen und Abänderungen von        |
| dritter Hand eine derartige Veränderung erlitten |
| haben, daß sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr |
| als von Karl May verfaßt gelten können.  Herr    |
| May ist zur Veröffentlichung dieser Erklärung    |
| ermächtigt worden.                               |

|     Dresden, im Oktober 1907.                    |

    Unterzeichnet ist diese Erklärung von Frau Elisabeth
verw. Fischer durch Kaufmann Arthur Schubert,
Buchdruckereibesitzer Otto Fischer, Buchbindereibesitzer Alfred
Sperling, Rechtsanwalt Trummler, Rechtsanwalt Bernstein,
Rechtsanwalt Dr. Elb.  Leichtfertige Menschen
haben behauptet, daß diese Erklärung nur von Kindern
und unmündigen Personen abgegeben worden sei.  Man
sieht auch hieraus, mit welchen Waffen man gegen mich
kämpft.  Für mich aber ist die Abteilung Fischer meines
Münchmeyerprozesses hiermit abgetan.  Die Abteilung
Pauline Münchmeyer aber besteht nach wie vor.  Ihr
habe ich mich in Folgendem nun zuzuwenden.

    Ich scheue mich nicht, dieser Abteilung das Programm,
welches ich von Fischer erfuhr, voranzusetzen,
nämlich:

|     "May ist vorbestraft.  Er hat das zu           |
| verheimlichen.  Wir haben ihn in der Hand.  Zwei   |
| Zeilen genügen, so ist er still.  Wenn er uns      |
| verklagt, so machen wir ihn durch Veröffentlichung |
| seiner Vorstrafen in allen Zeitungen               |
| durch ganz Deutschland kaput.  Was May mit         |
| Münchmeyer ausgemacht hat, ist gleichgültig.       |
| Hauptsache ist, wer den Eid bekommt.  Und daß      |
| May ihn nicht bekommt, dafür wird man zu           |
| sorgen wissen."                                    |

    Fischer hat dieses Programm nicht etwa nur privatim
geäußert, sondern auch durch seine Aussage in den Akten
festgelegt, und es ist im Verlaufe des nun neunjährigen
Rechtsstreites ununterbrochen bestätigt worden.  Von dem,
was Rechtsanwalt Dr. Gerlach im Namen seiner Klientin
Pauline Münchmeyer alles unrichtiger Weise behauptet
oder abgeleugnet hat, will ich hier nicht sprechen.  Mich
aber hat er gleich von allem Anfang an als einen Menschen
hingestellt, der in höchstem Grade eidesunwürdig
ist.  Es ist mir unmöglich, alle die beleidigenden Schimpfworte
hier aufzuzählen, mit denen er mich nun schon seit
neun Jahren überschüttet, ohne daß ich ihn dafür bestrafen
lassen kann, weil er als Anwalt unter dem Schutz
grad jenes Paragraphen steht, welcher mich zwingt, von
ihm zu dulden, was sich kein Anderer jemals erlaubt.
Von den Richtern wiederholt zurechtgewiesen und von
andern Anwälten zur Rede gestellt, bleibt er dieser seiner
Spezialität doch treu.  Zur Ausführung des Münchmeyerschen
Programms war es zunächst nötig, zu meiner
Strafliste zu gelangen.  Zu diesem Zweck wurde eine
Beleidigungsklage fingiert, die man sofort zurücknahm,
als der Zweck erreicht war.  Von da an tauchten in den
Zeitungen mehr oder weniger verblümte Notizen über
meine Vergangenheit auf.  "Ich weiß noch mehr!" schrieb
der Eine; "Sie wissen wohl, was ich meine, Herr May?"
fragte der Andere.  Das "Kaputmachen" begann.  Aber
der Spiritus rector, der eigentliche Täter, blieb stets
schlau hinter dem Busch; er zeigte sich nie; er wirkte
stets durch Andere.  Sein Arbeitsfeld ist weit über seine
Berufspflichten hinaus ausgedehnt, sein Briefwechsel ein
sehr umfangreicher, fast nur Karl May betreffend.  Er
steht mit allen meinen literarischen Gegnern in inniger
Beziehung, und wo in einem Blatt von mir die Rede
ist, da pflegt ein Brief von ihm oder von einem seiner
Vertrauten sich einzustellen.  Und man glaubt ihm fast
überall.  Man glaubt ihm, wie Cardauns seinerzeit dem
Lügner glaubte, der ihm weismachte, daß ich die
Münchmeyerromane genau so geschrieben habe, wie sie im Druck
erschienen sind.

    Dieser Herr Dr. Hermann Cardauns ist von dem
sehr dunklen und sehr häßlichen Punkte, den man in der
zeitgenössischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze
bezeichnet, unzertrennlich.  Er hat es nicht anders
gewollt.  Er steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er
eigentlich nicht gehört.  Er hat auch das gewollt.  Sein
niederschmetternder Stil, seine infallible Ausdrucksweise,
seine "abgrundtiefen" oder "evidenten" Verdoppelungsworte
haben Schule gemacht, besonders bei denen, welche
mir Stricke drehen, um mich "aus der deutschen Kunst
hinauszupeitschen."  Aber alles, was er in Vorträgen
und Zeitungen gegen mich zusammengesprochen und
zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Säule,
an der niemand zu rütteln vermag, sondern einen aus
lauter vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen,
dessen Schnur niemand mehr halten will, es sei denn
Herr Cardauns selbst.  Es ist gewiß sehr viel blinder
Glaube dazu nötig, gleich ihm zu denken, daß meine
"Unsittlichkeiten" auch noch in anderer Weise bewiesen
werden können, als nur durch Vorlegung meiner
Originalmanuskripte.  Der Wortschwall tut es nicht; auch
Behauptungen bleiben ohne Erfolg, wenn sie nicht bewiesen
werden.  Man liest in den Cardaunsschen Aufsätzen
gegen mich zwar viel von Akten, Dokumenten und sonstigen
Beweisen, die er über meine Schuld besitze; aber
bis jetzt habe ich noch kein einziges Aktenstück und kein
einziges Dokument zu sehen bekommen.  Es scheint, dieser
Herr besitzt einen älteren Münchmeyerschen Druck und
eine spätere Fischersche Ausgabe und hält den ersteren
für gleichlautend mit meinem Originale.  Es ist für mich
aber wirklich unmöglich, daß einem "Haupt- oder
Chefredakteur" solche Irrungen passieren können.  Ich gebe
ja gern zu, daß er keine Ahnung davon hat, wie es in
einem berüchtigten Schund- und Kolportageverlag zugeht
und was für Schwindel da getrieben wird, aber das ist
keine Entschuldigung, sondern eine Belastung für ihn,
denn wenn er das nicht weiß, so sollte er sich auch nicht
gestatten, Schlüsse mit der Logik des Kolportageschmutzes
zu ziehen, die man nur mit der Logik ehrenhafter Leute
ziehen darf.  Die ungeheuren Erfolge der umgearbeiteten
Schundromane hatte Fischer nur den überlauten Trommel-
und Paukenschlägen des Herrn Cardauns zu verdanken.
Selbst der unfähigste Politikus weiß, daß man solche
Dinge durch Schweigen tötet, nicht aber durch Gongs
und Tamtams.  Mir aber, der ich durch diese Tamtams,
diese Vorträge und Zeitungsartikel erschlagen werden
sollte, wurde es durch sie unmöglich gemacht, den Schund
so, wie ich wollte, gänzlich aus der Welt zu schaffen.
Mein Wollen war gut; da aber der Herr Cardauns meine
Gegner förderte, indem er mich hinderte, hat er sich um
die Münchmeyersche Kolportage ein Verdienst erworben,
welches man ihm nie vergessen wird.  Er ist während
der ganzen, langen Zeit bis hierher ihr treuer Champion
gewesen, ob gewollt oder ungewollt, ist in Beziehung auf
die Wirkung gleich.

    Der zweite, den ersten auch geistig hoch überragende
Champion für die Münchmeyersache ist der aus der
christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D.
Herr Rudolf Lebius in Charlottenburg.  Ich gebe über
ihn einen Auszug meines Schriftsatzes an die vierte
Strafkammer des Königlichen Landgerichtes III in Berlin:

    "Ich reiste im Jahre 1902 im Süden und wurde
am Gardasee von einer heimatlichen Postsendung erreicht,
bei der sich auch eine Zuschrift eines gewissen Lebius
befand, der sich in ganz überschwenglicher Weise als einen
großen Kenner und Bewunderer meiner Werke bezeichnete
und die Bitte aussprach, mich einmal besuchen zu dürfen.
Diese Ueberschwänglichkeit erregte sofort meinen Verdacht.
"Der will Geld, weiter nichts," sagte ich mir.
Ich antwortete ihm, daß ich nicht daheim sei und ihn
also nicht empfangen könne.  Hierauf schrieb er mir am
7. April 1904:

           "Sehr geehrter Herr!

      Schon vor anderthalb Jahren versuchte ich, mich
  Ihnen zu nähern, wovon die inliegende Karte ein
  Beweis ist.  Inzwischen habe ich hier eine neue Zeitung
  herausgegeben, die großen Anklang findet.  Können
  Sie mir vielleicht etwas für mein Blatt schreiben?
  Vielleicht etwas Biographisches, die Art, nach der Sie
  arbeiten, oder über derartige Einzelheiten, für die sich
  die deutsche May-Gemeinde interessiert.  Ich würde
  Sie auch gern interviewen.

      _Mit_vorzüglicher_Verehrung_
                                      Rudolf Lebius,
                                Verleger und Herausgeber."

    Lebius hatte also meine damalige Karte sorgfältig
aufgehoben, um sich Eingang bei mir zu verschaffen.  Er
unterschrieb sich "mit vorzüglicher Verehrung." Ich sagte
mir wieder: "der will nur Geld."  Die Behauptung, daß
seine neue Zeitung "großen Anklang finde", entsprach
der Wahrheit nicht.  Ich sollte damit geködert werden.
Man darf den Besuch solcher Leute nicht abweisen, zumal
wenn sie mit einer wenn auch noch so kleinen Zeitung
bewaffnet sind, sonst rächen sie sich.  Ich schrieb ihm also,
daß er kommen dürfe, und er antwortete am 28. April:

      "Vielen Dank für Ihr liebenswürdiges Schreiben.
  Ihrer freundlichen Einladung leiste ich natürlich gern
  Folge.  Falls Sie mir nicht eine andere Zeit angeben,
  komme ich am Montag, den 2. Mai 3 Uhr zu Ihnen
  (Abfahrt 3,31).

    _Mit_großer_Hochachtung_und_Verehrung_
                                           Rudolf Lebius."

Er kam.  Doch durfte er mich nicht interviewen.
Ich duldete das nicht.  Er wurde von meiner Frau, die
ihn empfing, nur unter den Bedingung zu mir gelassen,
daß absolut nichts veröffentlicht werde.  Er gab erst ihr
und dann auch mir sein Wort darauf.  Er blieb zum
Kaffee, und er blieb bis nach dem Abendessen.  Er sprach
sehr viel; er sprach fast immerfort.  Ich war absichtlich
schweigsam.  Ich sagte nur, was unbedingt nötig war.
Ich traute ihm nicht und hatte, um später einen Schutzzeugen
zu haben, zugleich mit ihm den Militärschriftsteller
und Redakteur Max Dittrich eingeladen, der an meiner
Stelle die Unterhaltung leitete.

    Lebius trank viel Wein, während ich nur nippte.
Er wurde um so lebhafter, je ruhiger und wägsamer ich
blieb.  Er gab sich alle Mühe, mich und meine Frau
davon zu überzeugen, daß er "ein ganzer Kerl" sei.  So
lautete sein Lieblingsausdruck, den er oft gebrauchte.  Er
sprach unablässig von seinen Grundsätzen, seinen Ansichten,
seinen Plänen, von seiner großen Geschicklichkeit, seinen
reichen Erfahrungen und seinen ausgezeichneten Erfolgen
als Journalist und Redakteur, Herausgeber und Verleger,
Herdenführer und Volkstribun.

    Der Versuch dieses Mannes, uns zu imponieren,
geschah in einer Weise eines ganz gewöhnlichen, unvorsichtigen
Menschen, der so von seinen eigenen Vorzügen überzeugt
ist, daß er gar nicht daran denkt, andere könnten darüber
lachen.  Als er sah, daß nichts bei mir verfing, wurden
seine Anstrengungen krampfhafter.  Ich mußte von seiner
Vortrefflichkeit überzeugt werden, um jeden Preis!  Denn
er brauchte Geld, viel Geld!  Und die Hoffnung, die er
auf mich gesetzt hatte, schien seine letzte zu sein!  Darum
offenbarte er uns in seiner Geldangst seine verborgensten
Geschäfts- und Lebensgrundsätze.  Er glaubte infolge des
vielen Weines, uns dadurch zu gewinnen, stieß uns dadurch
aber um so sicherer ab.  Da ich mich hier kurz zu fassen
habe, gebe ich von diesen seinen Grundsätzen nur die drei
wichtigsten wieder.  Nämlich:

    1. Wir Redakteure und Journalisten haben gewöhnlich
       kein Geld.  Darum dürfen wir uns auch keine eigene
       Meinung gestatten.  Wir wollen leben.  Darum
       verkaufen wir uns. _Wer_am_meisten_zahlt,_
       _der_hat_uns!

    2. Jeder Mensch hat dunkle Punkte in seinem Charakter
       und in seinem Leben. _Auch_jeder_Arbeitgeber,_
       _jeder_Beamte,_jeder_Polizist,_jeder_
       _Richter_oder_Staatsanwalt_hat_solches_Werg_
       _an_seinem_Rocken._ Das muß man klug und
       heimlich zu erfahren suchen.  Keine Mühe darf dabei
       verdrießen.  Und ist es erforscht, so hat man
       gewonnenes Spiel.  Man bringt in seinem Blatte
       eine Bemerkung, die dem Betreffenden sagt, daß
       man alles weiß, doch so, daß er nicht verklagen
       kann.  Dann hat man ihn in der Hand und kann
       mit ihm machen, was man will.  Er gibt klein
       bei.  In dieser Weise habe ich meinen Lesern schon
       außerordentlich viel genützt!

    3. Die Menschen zerfallen in sozialer Beziehung in
       Schafe und Böcke, in Herren und Knechte, in
       Gebietende und Gehorchende.  Wer aufhören will,
       Herdenmensch zu sein, _der_hat_das_
       _Herdengewissen_bei_Seite_zu_legen._ Wenn er das
       tut, dann laufen alle, die dieses Gewissen noch mit
       sich schleppen, hinter ihm her.  Es ist ganz gleich,
       zu welcher Herde er gehören will.  Er kann von
       einer zur anderen übertreten, kann wechseln.  Das
       schadet ihm nichts.  Nur hat er dafür zu sorgen,
       daß es mit der nötigen Wärme und Ueberzeugung
       geschieht, denn das begeistert.  Laufen ihm die
       Sozialdemokraten nicht nach, so laufen ihm die Anderen
       nach!

    Als wir drei diese erstaunlichen Belehrungen hörten,
brauste Max Dittrich einige Male zornig auf; meine Frau
war still vor Erstaunen; ich aber ging hinaus, um den
Ekel zu verwinden!  Lebius bekam infolge dessen weder
Geld noch sonst etwas von mir.  Da sah er ein, daß
diese beispiellose Selbstentlarvung nicht nur ganz umsonst
gewesen sei, sondern daß er sich durch sie in unsere Hände
geliefert hatte.  Wir drei waren nun die gefährlichsten
Menschen, die es für ihn gab. _Er_durfte_uns_nie_
_vor_Gericht_zu_Worte_kommen_lassen,_ sondern mußte
alles tun, _uns_als_unglaubhafte,_eidesunwürdige_
_Personen_hinzustellen._ Ich lege großen Wert darauf,
dies ganz besonders zu betonen, denn
     | es ist der einzig richtige Schlüssel zu seinem |
     | ganzen späteren Verhalten, welches man         |
     | ohne diesen Schlüssel wohl kaum begreifen      |
     | könnte, weil der Haß dieses Mannes gegen       |
     | uns drei fast unmenschlich erscheint.          |

    Noch ehe er sich an diesem Abend mit Max Dittrich
entfernte, beklagte ich mich absichtlich über die vielen
Zuschriften, in denen man mich, den gar nicht reichen Mann,
mit Bitten um Geld überschüttet, und tat dies in einer
Weise, die jeden gebildeten, ehrenhaften Mann abhalten
mußte, mir mit ähnlichen Wünschen zu kommen.  Schon
gleich am nächsten Tag schrieb er mir folgenden Brief:

                          "Dresden-A., den 3. 5. 04.

            Sehr geehrter Herr Doktor!

      Indem ich Ihnen herzlich für den freundlichen
  Empfang und die erwiesene Gastfreundschaft danke,
  bitte ich Sie, wenn Sie die Kunstausstellung besuchen
  oder sonst einmal nach Dresden kommen, bei uns zu
  Mittag essen oder den Kaffee einnehmen zu wollen.

      In einem Punkte muß ich unser gestriges Abkommen
  widerrufen.  Ihre unentgeltliche Mitarbeit kann
  ich nicht annehmen.  Wir zahlen zehn Pfennig für die
  Zeile, was wohl derselbe Preis sein wird, den Sie
  von anderen Blättern erhalten haben.

      Was Sie mir gestern erzählt haben, habe ich heute
  noch einmal überdacht.  Es will mir scheinen, als ob
  trotz des kolossalen Absatzes Ihrer Werke der Umsatz
  noch erheblich gesteigert werden könnte.  Meine
  Buchhändler- und Verlagserfahrungen haben mich gelehrt,
  daß der Wert einer richtig geleiteten Propaganda
  und direkten Reklame gar nicht überschätzt werden kann.

      Meine Frau und ich empfehlen sich Ihrer werten
  Frau Gemahlin und Ihnen in _Verehrung_ und
  _Dankbarkeit_ ergebenst

                                   Rudolf Lebius."

    Ich mache darauf aufmerksam, daß er mich "Doktor"
titulierte, obgleich ich ihm während seines Besuches bedeutet
hatte, und zwar wiederholt, hiervon abzusehen.  Er tat
dies aber nicht, denn dieser Doktor sollte ihm ja als
Waffe gegen mich dienen!

    Um diese Zeit schrieb Max Dittrich eine Broschüre
über mich und meine Werke.  Er war so unvorsichtig,
das Manuskript Lebius zu zeigen.  Dieser kam sofort
nach Radebeul geeilt, um mich zu bitten, mich bei Dittrich
dafür zu verwenden, daß dieser ihm, Herrn Lebius, das
Werk in Verlag gebe.  Er wurde ganz selbstverständlich
mit dieser Bitte abgewiesen, und ich schrieb Herrn Max
Dittrich, daß ich niemals wieder mit ihm verkehren würde,
wenn es ihm einfalle, diesem Manne die Broschüre zu
überlassen.

    Dieser zweite Besuch des Herrn Lebius dauerte höchstens
zehn Minuten lang.  Als er fort war, fehlte mir eine
Photographie, die er mir entwendet hatte.  Er durfte
nie wiederkommen.  Trotzdem hat er wiederholt behauptet,
in meinem Hause vielfach verkehrt zu sein und mich sehr
genau studiert zu haben.

    Am folgenden Tage schrieb er mir:

                           "Dresden-A., 12. 7. 04.
                           Fürstenstraße 34.

            Sehr geehrter Herr Doktor!

      _Ich_möchte_sehr_gern_die_Dittrichsche_
  _Broschüre_verlegen_und_würde_mir_auch_die_größte_
  _Mühe_geben,_sie_zu_vertreiben._ Durch den Rücktritt
  von der "Sachsenstimme" -- offiziell scheide ich
  erst am 1. Oktober d. J. aus -- bin ich aber etwas
  kapitalschwach geworden.

      _Würden_Sie_mir_vielleicht_ein_auf_drei_
  _Jahre_laufendes,_5prozentiges_Darlehen_ gewähren?
  Ich zahle Ihnen die Schuld vielleicht schon
  in einem Jahre zurück.

  |     Als Dank dafür würde ich die Broschüre |
  | so lancieren, daß alle Welt von dem Buche  |
  | spricht.  Ich habe ja auf diesem Gebiete   |
  | besonders große Erfahrung.                 |

      Meine Zeitung kommt zu Stande und zwar auf
  ganz solider Basis.  Nun heißt es arbeiten und zeigen,
  _daß_man_ein_ganzer_Kerl_ist_ usw. usw.  Beste
  Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin

          Ihr Ihnen ergebener
                                  Rudolf Lebius."

  Ich antwortete nicht.  Ich war der Ansicht, daß
jemand, der Ehre besitzt, auf ein solches Schweigen nicht
weitergehen könne, zumal ich Herrn Lebius _mit_der_
_Broschüre_total_abgewiesen_hatte._ Aber am 8. August
schrieb er trotzdem wieder:

      "Die "Sachsenstimme" ist am 4. d. zu vorteilhaften
  Bedingungen an mich allein übergegangen.  Ich kann
  jetzt schalten und walten, wie ich will.  Um mich von
  dem Drucker etwas unabhängig zu machen, _würde_
  _ich_gern_einige_tausend_Mark_(3--6)_auf_ein_
  _halbes_Jahr_als_Darlehen_aufnehmen._ Ein
  Risiko ist ausgeschlossen.  Hinter mir stehen die jüdischen
  Interessentenfirmen, die mich, wie die letzte Saison
  bewiesen hat, in weitgehendem Maße unterstützten.  Das
  Weihnachtsgeschäft bringt wieder alles ein. _Würden_
  _Sie_mir_das_Darlehen_gewähren?__Zu_Gegenleistungen_
  _bin_ich_gern_bereit._ Die große Zahl
  von akademischen Mitarbeitern erhebt mein Blatt über
  die Mehrzahl der sächsischen Zeitungen.  Wir können
  außerdem die Artikel, auf die Sie Wert legen, an 300
  oder mehr deutsche und österreichische Zeitungen versenden
  und den betreffenden Artikel blau anstreichen.  So etwas
  wirkt unfehlbar.  In Dresden lasse ich mein Blatt
  allen Wirtschaften (1760) zugehen.  Mit vorzüglicher
  Hochachtung                        Rudolf Lebius."

    Zu derselben Zeit erfuhr ich, daß Lebius gar nichts
besaß, sondern den Offenbarungseid geleistet hatte, daß
er den Drucker seines Blattes nicht bezahle, daß er
überhaupt nur Schulden habe und daß er sogar Honorar
schuldig bleibe.  Daß seine Zeitung eine solide Basis habe,
war unwahr, ebenso die "große Zahl der akademischen
Mitarbeiter" und Anderes.  Dergleichen absichtliche
Täuschungen gehören eigentlich vor den Staatsanwalt.
Ich mache auf seine Ueber- und Unterschriften aufmerksam:
"Sehr geehrter Herr . . . .  Mit vorzüglicher
Verehrung!"  "Mit großer Hochachtung und Verehrung!"
"Sehr geehrter Herr Doktor . . . .  In Verehrung
und Dankbarkeit."  Als er sah, daß diese Höflichkeiten
nicht zogen, schrieb er nicht mehr an mich, sondern
an Dittrich.  So am 15. August 1904:

             "Werter Herr Dittrich!

      Ich gebe Ihnen für die Vermittlung ein Prozent.
  _Mehr_als_10_000_Mk._brauche_ich_nicht._ Ich
  würde aber auch mit weniger vorlieb nehmen.  Das
  Honorar sende ich am 20. d. wie verabredet.

      Können Sie nicht Dr. May  _b_e_a_r_b_e_i_t_e_n,_  daß
  er mir Geld vorschießt?

      Freundlichen Gruß                  R. Lebius."

    Dann am 27. August:

          "Werter Herr Dittrich!

      Meine Frau kommt am 1. September zu Herrn
  Dr. Klenke, einen kleinen Betrag zu kassieren.  Bei
  dieser Gelegenheit gibt sie Ihnen Ihr Honorar.  Sie
  haben meine schriftliche Zusage, daß ich Ihnen 1 Prozent
  von dem Gelde gebe, welches Sie mir von H. V.
  oder Dr. M. (May) vermitteln.  Sie erhalten das
  Geld sofort . . . .

      Freundlichen Gruß                Lebius."

    Er war nämlich Herrn Max Dittrich ein Honorar
von 37 Mark 45 Pfennigen schuldig, welches er trotz
der Kleinheit dieses Betrages nicht bezahlen konnte.  Es
wurde ihm daraufhin ein Spiegel gerichtlich abgepfändet.
Als er von Dittrich, anstatt der 10 000 Mark von mir,
eine Mahnung um diese 37 Mark 45 Pfennig bekam,
schrieb er ihm am 3. September:

           "Geehrter Herr Dittrich!

      Ich habe Herrn Dr. med. Klenke ersucht, Ihnen
  40 Mk. zu meinen Lasten gutzuschreiben.  Ihr Verhalten
  mir gegenüber finde ich höchst sonderbar, um
  nicht zu sagen beleidigend.

                     Achtungsvoll
                                R. Lebius."

    Diesem Dr. Klenke fiel es aber auch nicht ein, die
Schulden des Herrn Lebius zu bezahlen, und so kam in
logischer Folgerichtigkeit am 7. September in Form einer
Postkarte folgende Drohung bei mir an:

                "Werter Herr!

      Ein gewisser Herr Lebius, Redakteur der "Sachsenstimme",
  erzählte einem Herrn, daß er einen Artikel
  gegen Sie schreibt.  Ich habe es im Lokal gerade
  gehört.  Es warnt Sie ein Freund vor dem Manne.

                                            B."

    Ueber den Verfasser und den Zweck dieser Karte
war ich mir natürlich sofort im Klaren.  Auch das
Gutachten der _vereideten_Sachverständigen_ lautet dahin,
_daß_sie_unbedingt_von_Lebius_selbst_geschrieben_
_ist._ Jedenfalls erwartete er ganz bestimmt, daß ich auf
diese Erpressung hin die 10 000 Mark zahlen werde.
Gab ich sie nicht, so waren mir nicht nur der jetzt
angedrohte, sondern noch weitere Racheartikel sicher und
auch noch anderes dazu, was mich in Besorgnis setzen
mußte.  Aber ich ließ auch jetzt nichts von mir hören
und sah mit gutem Gewissen dem unvermeidlichen Artikel
entgegen, der am 11. September 1904 in Nummer 33
des Lebiusschen Blattes, der "Sachsenstimme" erschien
und die dreifache Ueberschrift hatte:

| "Mehr Licht über Karl May                               |
|    160 000 Mark Schriftstellereinkommen                 |
|       Ein berühmter Dresdner Kolportageschriftsteller." |

    Dieser Mann hatte meiner Frau und mir sein Wort
gegeben, nichts zu veröffentlichen.  Er war sogar nur
unter diesem Versprechen bei uns hereingelassen worden,
und nun veröffentlichte er doch, und zwar in welcher
Weise und aus welchen Gründen!  Er stellte alles auf
den Kopf; er drehte alles um!  Er legte uns alles, was
ihm beliebte, in den Mund, und was wir wirklich gesagt
hatten, das verschwieg er, um sich nicht zu blamieren.
Dieser Aufsatz enthält über 70 moralische Unsauberkeiten,
Verdrehungen und direkte Unwahrheiten.  Aber das war
nur der Anfang; die Fortsetzungen folgten baldigst nach.
Dieser Artikel in Nr. 33 der "Sachsenstimme" war so
gehalten, daß Lebius wieder umlenken konnte, falls ich
das Geld nun endlich noch gab.  Und schon in Nr. 34
kam ein sehr deutlicher Wink, der mir sagte, was
geschehen werde, falls ich mich nicht zum Zahlen bewegen
lasse.  Dieser Wink bestand in einer Münchmeyerschen
Annonce, die ganze Bände zu mir sprach.  Der Besitzer
der Firma Münchmeyer hatte nämlich zu mir gesagt:
"Die Veröffentlichung der andern Romane tut Ihnen
noch gar nicht viel; aber sobald ich mit dem "Verlorenen
Sohn" fertig bin und ihn annonciere, sind Sie verloren!
Der wird so happig, daß es Ihnen dann unmöglich ist,
als Schriftsteller weiter zu existieren!"  Und dieser
"Verlorene Sohn" wurde jetzt in Nr. 34 der "Sachsenstimme"
annonciert.  Das war genau so, als ob mir mit
Riesenbuchstaben geschrieben worden wäre: "Nun aber endlich
Geld her, sonst geht es in diesem Tone weiter!"  Der
gefährlichste Erpresser ist der, welcher es in dieser
raffinierten Weise anfängt, die noch deutlicher ist, als das
gesprochene Wort, aber von keinem Staatsanwalt verfolgt
werden kann.  Ich gab aber trotzdem nichts.  Da
kam in Nr. 44 ein zweites Elaborat, in Nr. 46 ein
drittes und in Nr. 47 ein viertes.  In Nr. 46 wurde
mir die Verbindung des Herrn Lebius mit der Firma
Münchmeyer schon deutlicher gezeigt, denn es wurde da
gesagt, der Inhaber dieser Firma habe einen ganzen
Haufen alter Briefe von mir in der Hand und könne
also ganz genaue Auskunft über mich geben, wenn er
nur wolle.  In Wahrheit aber besaß er nicht einen
einzigen alten Brief von mir, doch wußte ich nun genau,
daß Lebius die Ausführung des Münchmeyerschen Programms,
mich durch meine Vorstrafen "in den Zeitungen
vor ganz Deutschland kaput zu machen", übernommen
hatte.  Ich war überzeugt, daß die Zahlung der 10 000
Mark ihn sofort zum Schweigen bringen würde, hätte
mich aber vor mir selbst geschämt, ihm auch nur einen
einzigen Pfennig zu geben.

    Wie ich gedacht hatte, so geschah es: Schon die
Nr. 48 brachte die ohne alle Veranlassung frei aus der
Luft niederfallende Verkündigung: "Die vier Jahre, die
Herr Karl May in Waldheim verbüßte, waren nach
unserer Information die Folge eines Einbruchdiebstahls
in einem Uhrenladen."  Ich habe aber niemals einen
Einbruch verübt.  Man sieht, daß es nicht auf die Wahrheit
ankam, sondern nur auf das "Kaputmachen".  Diese
Nr. 48 erschien am Weihnachtsheiligenabend.  Da hingen
an den Fenstern der Dresdener Buchhandlungen Plakate
aus, auf denen die "Sachsenstimme" mit den großen
roten Buchstaben _"Die_Vorstrafen_Karl_Mays"_
angekündigt wurde.  Einen schreienderen Beweis, daß es
sich nicht um eine literarische Tat, sondern nur um die
Ausführung ganz niedriger Absichten handelt, kann es
wohl kaum geben!  Daher mag es hier genug sein des
grausamen Spiels.  Es widerstrebt mir, die Heldentaten
des Herrn Lebius einzeln aufzuzählen.  Ich will nur in
Summa sagen, daß er in dieser Weise fortfuhr, bis er
nach einiger Zeit aus Dresden verschwinden mußte.  Ich
habe die Unwahrheiten, die er in seinen Dresdener
Artikeln über mich verbreitete, zusammengestellt, um sie
gerichtlich zu beweisen.  Es sind ihrer trotz der Kürze der
Zeit nicht weniger als hundertzweiundvierzig.  Mehr hat
bisher wohl noch kein Mensch geleistet!  Ich betone aber
ausdrücklich, daß diese Aufstellung nicht etwa alles, sondern
nur eine Auswahl enthält.  Ich könnte diese Ziffer trotz
ihrer Höhe gut verdoppeln.  Ich habe lange dazu
geschwiegen, bis es nicht mehr zum Aushalten war.  Da
mußte ich mich endlich wehren.  Ich erstattete bei der
Staatsanwaltschaft Anzeige wegen Erpressung.  Ich legte
seine Briefe bei.  Auch die drohende Karte vom 7. September
1904.  Die Sachverständigen erklärten, daß Lebius
sie unbedingt geschrieben habe.  Die erwähnte Behörde
aber war der Ansicht, daß dies nicht zureiche, eine
Untersuchung zu eröffnen.  Und Lebius gab sich bei seinen
Auskünften die größte Mühe, mich als einen Menschen
hinzustellen, dem man nicht glauben dürfe.  Das Meisterstück
hat er dabei abgelegt, indem er der Königlichen
Staatsanwaltschaft in Dresden berichtete, daß der Wirt
des Hotels auf dem Berge Sinai in Dresden gewesen
sei und sich sehr schlecht über mich ausgesprochen habe.
Nun weiß aber Jedermann, daß es auf dem Berg Sinai
bis heutigen Tages noch nie ein Hotel gegeben hat!  Ich
zeige damit wohl zur Genüge, was man von der
Erfindungsgabe des Herrn Lebius alles erwarten kann.
Ich erhob zweimal Privatklage gegen ihn.  Die eine zog
ich während der Verhandlung aus reinem Ekel vor dem
Schmutz, in dem ich da waten sollte, zurück.  Die andere
brachte ihm in der ersten Instanz eine Geldstrafe von
30 Mark; in der zweiten Instanz aber wurde er
freigesprochen, weil mein Anwalt krank geworden war und
einen Vertreter stellte, der die Sache führte, ohne
orientiert zu sein.

    Das ist alles, was ich gegen die ebenso zahlreichen
wie unausgesetzten Angriffe des Herrn Lebius getan habe.
Gewiß wenig genug!  Daß ich Berichterstattern Auskunft
gab, wenn sie kamen, mich zu fragen, versteht sich ganz
von selbst.  Es kann mir niemand zumuten, diesen Herren
aus Angst vor Herrn Lebius die Unwahrheit zu sagen.
Dennoch behauptet er noch heute, daß nicht ich von ihm,
sondern er von mir verfolgt und angegriffen werde.

    Selbst als er aus Dresden mit Hinterlassung einer
ganz bedeutenden Schuldenlast verschwunden war, hörten
seine Angriffe gegen mich nicht auf.  Ich erwähne da
nur den Aufsatz in der österreichischen Lehrerzeitung, durch
den er ca. 40 000 Lehrer auf mich hetzte.  Ich schwieg.
Ich schwieg selbst dann, als er in der Wilhelm Bruhnschen
"Wahrheit" in Berlin einen geradezu empörenden
Angriff gegen mich brachte, in dem er mich als "atavistischen
Verbrecher" brandmarkte, der wegen "fortgesetzter
Einbruchdiebstähle" fast ein Jahrzehnt im Gefängnis
und Zuchthaus gesessen habe!  Er behauptete da, daß
ich eine schwere, chronische Krankheit durchgemacht habe,
die "offenbar kulturhemmend" gewirkt habe.  Hiermit
hatte er begonnen, sein in Dresden unterbrochenes Werk
in Berlin gegen mich fortzusetzen.  Leider war ich
gezwungen, ihn dort persönlich aufzusuchen, weil ich in dem
großen Münchmeyerprozeß eine Frage an ihn zu richten
hatte, die nicht zu umgehen war.  Ich fuhr zu diesem
Zwecke mit meiner Frau nach Berlin.  Wir entdeckten
seine Wohnung.  Wir hörten, daß er ein neues Blatt
herausgab, der "Bund" genannt.  Wir telefonierten
ihm.  Er bestellte uns nach Café Bauer.  Wir folgten
dieser seiner Weisung.  Er kam mit seiner Frau und
deren Schwester.  Er beantwortete meine Frage nicht.
Er leugnete alles.  Ich sagte ihm, daß ich sein neues
Blatt sehen möchte.  Das war ganz ehrlich und gut
gemeint, ohne alle böse Absicht.  Er aber begehrte sofort
zornig auf und fragte drohend: "Haben Sie etwas vor?
Dann gehe ich auf der Stelle von neuem gegen Sie los!
Hier in Berlin gibt es über zwanzig Blätter wie die
"Dresdener Rundschau".  Die stehen mir alle zu Gebote,
wenn ich Sie totmachen will!  Hier dauert das gar
nicht lang!"

    Ich antwortete, daß es mir gar nicht einfalle, wieder
in den alten Sumpf zu steigen.  Meine Frau sagte zu
seiner Frau in ruhiger, freundlicher Weise, daß es die
schönste Aufgabe verheirateter Frauen sei, versöhnend zu
wirken und die Härten des Lebens zu mildern; dann
entfernten wir uns.

    Das war am 2. oder 3. September. _Einen_Monat_
_später,_ am 1. Oktober, kam folgender Brief aus Berlin;
ich war verreist:

                Geehrter Herr!

      Obwohl völlig unbekannt, erlaube ich mir, bei
  Ihnen einmal anzufragen, ob Sie mir nähere Mitteilungen
  über einen Herrn Lebius, seinerzeit in Dresden,
  machen könnten.  Genannter Herr, ehemaliger
  Sozialdemokrat, hat gegen mich als den seinerzeit
  verantwortlich zeichnenden Redakteur des "Vorwärts"
  die Privatbeleidigungsklage angestrengt.  Es wird vor
  Gericht meine Aufgabe sein müssen, Herr Lebius als
  "Ehrenmann" zu kennzeichnen.  Auf den Rat eines
  Dresdener Kollegen wende ich mich vertrauensvoll an
  Sie, ob Sie mir über diesen Herrn vielleicht einige
  Auskunft geben könnten.  Sollte dies der Fall sein,
  so sehe ich Ihrer Freundlichkeit sehr verbunden
  entgegen.

    Mit größter Hochachtung
                                   Carl Wermuth,
                             Redakteur des "Vorwärts".

    Ich wiederhole, daß ich verreist war und also auf
dessen Wunsch, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht
eingehen konnte.  Am 5. April 1908, also
|             ein volles halbes Jahr später,             |
erhielt ich von der Redaktion des "Vorwärts" eine weitere
Zuschrift:

      _"Zu_unserem_Bedauern_haben_Sie_es_bisher_
  _unterlassen,_sich_ über die gegen Sie gerichteten
  Angriffe des Lebius _zu_äußern_ resp. _uns_die_
  _notwendigen_Beweismittel_ der ehrenabschneiderischen
  Tätigkeit des Lebius in Bezug auf Ihre Person _zur_
  _Verfügung_zu_stellen._ Wie ich von meinem Kollegen
  Wermuth erfuhr, hat Ihre Frau mitgeteilt, daß
  Sie sich zur Zeit auf Reisen befinden und _nicht_in_
  _der_Lage_seien,_uns_mit_dem_gewünschten_
  _Material_gegen_Lebius_zu_versehen._ Ich hoffe,
  daß Sie inzwischen von der Reise zurückgekehrt sind
  und nunmehr . . . ."

    Hiermit ist wohl zur vollsten Genüge bewiesen, _daß_
_nicht_ich_Herrn_Lebius_verfolge,_sondern_er_mich._
Herr Lebius behauptet, daß ich mich damals, am Sedanstage,
an ihn gemacht habe, um dem "Vorwärts" beizustehen.
Hier beweise ich, daß ich damals von jener
Beleidigungsklage noch gar nichts gewußt habe, sondern
daß der "Vorwärts" es mir erst einen Monat später
mitteilte und dann aber nach wieder sechs Monaten
_noch_gar_keine_Antwort_bekommen_hat!_ Ich hatte
also Herrn Lebius volle sechs Monate geschont, wo es
mir doch durch die Sozialdemokratie so bequem und leicht
gemacht worden war, mich an ihm zu rächen. _Daß_ich_
_ihn_nicht_verfolge,_sondern_von_ihm_fort_und_
_fort_zur_Notwehr_gezwungen_werde,_ ist übrigens
auch schon dadurch erwiesen, daß ich es bis heut
umgangen habe, als Zeuge gegen ihn auszusagen.  Mit
dieser Zeugenschaft für den "Vorwärts"-Redakteur hatte
es damals folgende Bewandtnis:

    Lebius hatte den "Vorwärts" wegen Beleidigung
verklagt, und der "Vorwärts" hatte mich, natürlich ohne
erst viel zu fragen, als Zeugen angegeben.  Das
Gewissen des Lebius sagte ihm, daß er von diesem Zeugen
wohl nicht viel freundliches zu erwarten habe.  Ja, es
kam ihm sogar der Gedanke, daß ich von dieser Zeugenschaft
schon im Café Bauer gewußt habe.  Das erzürnte
ihn.  Er schickte seine Frau zu meiner Frau nach
Radebeul, um mir zu drohen.  Meine Frau wünschte diese
Zusammenkunft in meinem Hause; aber darauf ging Frau
Lebius nicht ein.  Die beiden Frauen trafen sich im
Restaurant unseres Bahnhofes.  Dort wollte Frau Lebius
uns im Auftrage ihres Mannes vorschreiben, was und
wie ich als Zeuge auszusagen habe.  Insonderheit sollte
ich vor Gericht erklären, daß er jene drohende Postkarte
vom 7. September in Dresden nicht geschrieben habe.
Tue ich das nicht, so müsse er den alten Kampf gegen
mich von Neuem beginnen.  Meine Frau lehnte das ganz
entschieden ab, denn wir waren jetzt mehr als je überzeugt,
daß er der Verfasser sei.  Seine Frau kehrte also
unverrichteter Sache nach Berlin zurück.

    Als Lebius diesen Versuch mißlungen sah, beschloß
er, mich eidesunwürdig zu machen, und zwar durch eine
Broschüre, die noch vor dem Termin, an dem ich als Zeuge
aufzutreten hatte, herausgegeben werden mußte.  Da aber
diese Broschüre, wenn sie wirken sollte, derart abzufassen
war, daß sie ganz unbedingt eine Bestrafung des
Verfassers nach sich zog, die Lebius von sich abwenden
wollte, so sah er sich nach einem Strohmanne um, der
ihn und Karl May noch nicht kannte und unerfahren,
vertrauensselig und bedürftig genug war, sich für einige
Hundert Mark _völlig_ungeahnt_ in die ganz sicher zu
erwartende _Gefängnisstrafe_stürzen_zu lassen._ Er
fand ihn in einem gewissen Herrn F. W. Kahl aus
Basel, zog ihn in sein Netz und umspann ihn derart mit
Selbstvergötterungs- und Lügenfäden, daß der junge,
völlig ehrliche Mann es fast für eine Ehre hielt, sich in
den Dienst eines so bedeutenden, geistig, sozial und auch
juristisch hervorragenden Mannes stellen zu dürfen.

    Lebius ging, wie überhaupt und immer, auch hierbei
außerordentlich schlau und raffiniert zu Werke.  Er
verschwieg anfänglich, daß es sich _nur_ um eine Broschüre
gegen _mich_ handle.  Er machte dem jungen Manne
weis, daß er ein  w i s s e n s ch a f t l i c h e s  Werk über
berühmte resp. berüchtigte Männer schreiben solle.  Er
nannte ihm die Namen derselben; darunter befand sich
auch der meinige.  Aber als Kahl sich an das Werk
machte und täglich seine Instruktionen erhielt, lauteten
diese so, daß nach und nach alle diese "Berühmten und
Berüchtigten" verschwanden und nur Karl May allein
übrig blieb.  Aus dem "wissenschaftlichen" Werke aber
sollte ein Pamphlet allerniedrigsten und allergefährlichsten
Ranges werden.  Kahl erkannte das von Tag zu Tag
immer deutlicher.  Er begann zu ahnen, daß er mit aller
Liebenswürdigkeit in das Verderben geführt werden solle.
Als er das Herrn Lebius zu verstehen gab, hielt dieser
es für geraten, ihm den ganzen Zweck der Broschüre
einzugestehen.  Er gab folgendes zu:

|     Lebius hat den Redakteur des "Vorwärts"      |
| wegen Beleidigung verklagt.                      |

|     Der "Vorwärts" hat Karl May als Zeugen       |
| gegen Lebius angegeben.                          |

|     Darum ist es für Lebius notwendig, Karl      |
| May kaput zu machen.                             |

|     Um das zu erreichen, gibt er die hier in     |
| Arbeit liegende Broschüre heraus.                |

|     Der Termin, in dem Karl May als Zeuge        |
| verhört wird, findet anfangs April statt.        |

|     Darum muß die Broschüre ganz unbedingt       |
| bis zum 1. April fertig zum Versenden sein.      |

|     Wenn die Broschüre erst später fertig wird,  |
| hat sie keinen Zweck; dann braucht man sie       |
| überhaupt gar nicht erst zu schreiben.           |

|     Sie wird an die Zeitungen versandt, die      |
| darüber berichten.  Das soll auf die Richter     |
| wirken.                                          |

|     Sie wird auch den Richtern direkt vorgelegt. |
| Sobald dies geschieht, ist May als Zeuge kaput.  |

    Als der ehrliche, junge Mann das hörte, wurden
seine Bedenken noch größer, als sie vorher gewesen waren.
Als er diese äußerste und seiner Besorgnis, gerichtlich
bestraft zu werden, Ausdruck gab, stellte Lebius ihm
folgendes vor:

|     Wir Schriftsteller stehen überhaupt und stets  |
| mit einem Fuße im Gefängnisse.                     |

|     Bestraft zu sein ist für uns eine gute         |
| Reklame.  Auch ich bin schon oft vorbestraft.      |

|     Sie brauchen sich vor dem Gericht gar nicht    |
| zu fürchten.  Sie sind noch nicht vorbestraft, Sie |
| dürfen schwören.  May aber darf nicht schwören.    |

|     May steht unter Polizeiaufsicht.  Es ist ihm   |
| verboten, in einer Stadt zu wohnen.  Darum         |
| wohnt er in Radebeul.                              |

|     I ch   b i n   e i n   g r o ß e s,   f o r e n s i s ch e s      |
| T a l e n t.   W e n n   i ch   a n f a n g e   z u   s p r e ch e n, |
| s i n d   d i e   R i ch t e r   a l l e   m e i n!                   |

|     W e n n   m a n   i n   e i n e m   P r o z e s s e   st e ck t       |
| u n d   m a n   s ch r e i b t   e i n e   s o l ch e   B r o s ch ü r e, |
| d a s   w i r k t   u n g e h e u e r   b e i   d e n   R i ch t e r n!   |

|     Die Frau May hat mich mit Tränen in den            |
| Augen um Gnade für ihren Mann gebeten.                 |

|     May muß durch die Broschüre totgemacht             |
| werden.  Alles übrige ist Beiwerk,  u m   d e n        |
| w a h r e n   Z w e ck   z u   v e r s ch l e i e r n! |

    Die Folge von diesen und ähnlichen sonderbaren
Expektorationen war, daß Kahl beschloß, sich von dieser
Sache zurückzuziehen.  Er verbot Lebius, etwas von ihm
zu drucken oder gar etwa seinen Namen für diese Broschüre
zu mißbrauchen.  Er richtete ganz dasselbe Verbot
auch an den Verleger.  Er glaubte, damit ganz sicher
aus diesem Sumpfe wieder herausgestiegen zu sein.  Aber
er kannte Lebius und dessen Unverfrorenheit noch nicht.
Die Broschüre erschien, und zwar genau am ersten April.
Ihr Titel war:

|                    K a r l   M a y,                    |
|           ein Verderber der deutschen Jugend           |
                           von
|                   F. W. Kahl-Basel.                    |

    Kahl erfuhr erst durch eine Schweizer Zeitung, daß
die Broschüre doch noch erschienen sei, und zwar unter
seinem Namen.  Er tat sofort die geeigneten Schritte.
Der von Lebius gefürchtete Termin, an dem ich als
Zeuge vernommen werden sollte, hat nicht stattgefunden.
Ob er den Herren Richtern die Broschüre dennoch vorgelegt
hat oder nicht, ist mir unbekannt.  Aber an die
Zeitungen versandt hat er sie schleunigst, und zwar mit
Waschzetteln, Begleitworten usw., von deren verleumderischer
Natur man eine Ahnung bekommt, wenn man nur
folgende Zeilen liest, die er an die "Neue Züricher
Zeitung" schickte:

    "Herr May hat sich an mir dadurch gerächt, daß
er durch Verleumdungen meine wirtschaftliche Stellung
untergrub und mich in den Bankrott trieb.  Sobald ich
in einer andern Stadt festen Fuß gefaßt hatte, erschien
er wieder auf der Bildfläche, um dasselbe Manöver zu
wiederholen.  Dabei liebt er es, bevor er zu einem neuen
Schlage gegen mich ausholt, mich jeweils in meiner
Wohnung aufzusuchen und mit tränenden Augen um Frieden
zu bitten."

    Ueber den Inhalt dieser Broschüre habe ich hier
nicht zu sprechen.  Ganz selbstverständlich waren meine
Vorstrafen aufgezählt und auch noch etwas mehr dazu.
Das schickte er in alle Welt hinaus, um mich nach
Münchmeyerschem Rezept "kaput" zu machen.  Ich erlangte
eine einstweilige Verfügung gegen sie.  Sie durfte
nicht weitergedruckt und weiterverarbeitet werden.  Und
ich erhob Privatanklage wegen Beleidigung gegen ihn.
Diese Privatklage konnte nicht zur Verhandlung kommen,
weil mein Rechtsanwalt alle meine Beweise, und deren
waren weit über hundert, verloren hatte.  Sie fanden
sich erst dann, als es zu spät war, bei ihm wieder.  Ich
war also gezwungen, auf die Vergleichsvorschläge, welche
der Vorsitzende machte, einzugehen.  Lebius nahm alle
seine Anwürfe gegen mich, materielle wie formelle, zurück,
drückte sein Bedauern aus, mich angegriffen zu haben,
und versprach, mich von nun an in Ruhe zu lassen.  Das
tat er durch seine Unterschrift.  Es war mir unmöglich,
einem solchen, vor Gericht gegebenen Versprechen nicht
zu glauben.  Und doch war es eine Untreue und
Gewissenlosigkeit sondergleichen, daß er mir dieses
Versprechen gab, denn er konnte es mir nicht anders geben,
als _in_der_Absicht,_es_nicht_zu_halten._ Er hatte
sich nämlich mit meiner geschiedenen Frau in Verbindung
gesetzt.  Sie fühlte, wie meist alle geschiedenen Frauen,
eine unverständige Schärfe gegen ihren geschiedenen Mann;
die trachtete er, für sich auszunutzen.  Er suchte sie in
Weimar auf, wo sie wohnte.  Sie lebte da ruhig und
zufrieden von einer Rente von 3000 Mark, die ich ihr
gab, obgleich ich ihr nichts zu geben brauchte, weil sie
die Alleinschuldige war.  Auch hatte ich sie in jeder Weise
reichlich ausgestattet.  Da kam dieser Mann zu ihr und
entlockte ihr alle ihre Selbsterbitterung, um daraus mit
Hilfe seiner eigenen Hinzufügungen und Verdrehungen
einen Strick für mich zu fertigen.  Er versprach ihr
ebenso heilig und teuer, wie damals mir, daß nichts,
gar nichts veröffentlicht werde, ging aber sofort hin und
schrieb für seinen "Bund" vom 28. März 1909 einen
Aufsatz unter der Ueberschrift "Ein spiritistisches
Schreibmedium als Hauptzeuge der "Vorwärts"-Redaktion." Mit
diesen angeblichen Schreibmedium war meine jetzige Frau
gemeint.

    Es ist ein geradezu unglaublicher Schmutz, der da
über mich und meine jetzige Frau ausgegossen wird, und
zwar mit raffinierter Benutzung und Bearbeitung der
Bitterstoffe, die im Gemüte geschiedener Frauen vorhanden
sind.  Als das arme, unglückliche Weib das las, erschrak
sie.  Er schwieg also nicht!  Er hatte nicht Wort
gehalten!  Sie eilte sofort zu ihm nach Berlin, um ihn zur
Rede zu stellen.  Er behielt sie gleich dort.  Er übergab
sie seinem Schwager Heinrich Medem, einem früher
gewesenen Rechtsanwalt und Notar, der vereint mit ihm
ihr Beistand wurde.  Beide veranlaßten sie zunächst, auf
ihre 3000 Mark Rente zu verzichten, und zwangen sie
sodann, ihre Pretiosen zu versetzen, damit es "nach außen
einen besseren Eindruck mache".  Das heißt doch wohl,
damit man denken möge, daß ich es sei, der diese Frau
in solche Armut und solches Elend gestürzt habe!  Das
hat Lebius in seinem Briefe an die Kammersängerin vom
Scheidt, welcher den Gegenstand der vorliegenden Privatklage
bildet, wörtlich eingestanden, und der Vorsitzende
der ersten Instanz hat ihn gelobt, indem er öffentlich
sagte: "Das ist sehr edel von Ihnen!"

    Lebius hat dieser Frau, als sie nun ohne alles
Einkommen war und vor dem Nichts stand, eine Rente für
das ganze Leben von monatlich 100 Mark versprochen,
er, der wegen zwei oder drei Mark vergeblich ausgepfändet
worden ist!  Sie hat es ihm zunächst geglaubt;
er aber hat sehr wohl gewußt, daß dieses Versprechen
nicht rechtsverbindlich war.  Nichts als Spiegelfechterei!
Sie borgte bei Bekannten 500 Mark, um leben zu
können.  Von ihm aber bekam sie nach und nach nur
200 Mark, aber nicht etwa geschenkt, sondern nur
geliehen, denn als er merkte, daß sie von ihm weg und
wieder zu mir strebte, drohte er ihr, sie wegen dieser
200 Mark um 300 Mark zu verklagen.

    Und was hatte sie davon, daß sie auf ihr ganzes
Einkommen verzichtete, daß sie aus ihren schönen,
wohlgeordneten Verhältnissen in die schmutzige Not und Sorge
sprang, daß sie sogar ihre Kleinodien verkaufte und versetzte?
Nichts, weiter gar nichts, als daß sie das Rachewerkzeug des
Herrn Lebius wurde, daß er sie abrichtete, so über mich zu
denken, zu sprechen und zu schreiben, wie es ihm beliebte,
und daß sie ihm und seinem Schwager Medem in jeder
Beziehung gänzlich in die Hand gegeben war.  Denn als ich
infolge des obigen Artikels im "Bund" gezwungen war,
meine geschiedene Frau zu verklagen, machten Lebius und
Medem ihr die Schriftsätze ganz so, daß Lebius für seine
Angriffe gegen mich den ganzen Nutzen davon hatte und
sie dabei Dinge unterschreiben mußte, von deren Zweck
und Tragweite sie keine Ahnung besaß!  Es kam vor,
daß sie unter Tränen sich sträubte, einen derartigen
Schriftsatz zu unterschreiben.  Man zwang sie aber doch!
Bis sie endlich doch einsah, daß es unmöglich auf diesem
Wege und in dieser Weise weitergehen könne, wenn sie
nicht vollständig zu Grunde gehen wolle!  Sie wendete
sich an mich und bat um Verzeihung.  Mich erbarmte
das arme, verführte Weib.  Ich nahm den Strafantrag
und den Beleidigungsprozeß gegen sie zurück.  Und nun
erfuhr ich, in welch raffinierter Weise sie von Lebius
aus ihrer sicheren, ruhigen Position zu ihm hinübergelockt
worden war, um wirtschaftlich vernichtet und
moralisch ausgebeutet resp. gegen mich ausgespielt zu
werden.  Er sagt in seinem Briefe, welcher den
Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens bildet:

|     "Auf Anraten meines Rechtsanwaltes habe       |
| ich allerdings im Hinblick auf meine gerichtliche |
| Einigung mit May verlangt, daß Frau Emma          |
| erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt,     |
| weil das nach außen hin einen bessern Eindruck    |
| macht."                                           |

    Also weil ich mich gerichtlich mit ihm geeinigt habe,
weil er mir seine Beleidigungen gerichtlich abgebeten hat
und weil er gerichtlich versprochen hat, mich nun für
immer in Ruhe zu lassen, also darum, _"im_Hinblick_
_darauf"_ mußte die Frau nun ihre Kleinodien versetzen,
damit man _mich_ als den Schurken bezeichne,
durch den sie in solches Elend getrieben worden sei!  Wie
nennt man so ein Verhalten?  Und nachdem er sie in
dieser Weise um ihr ganzes, früheres Einkommen und
um ihre Schmucksachen gebracht hat, schreibt er in diesem
seinem Briefe: "Ich habe auch durch meinen Syndikus
Herrn Geheimrat Ueberhorst Schritte vorbereiten lassen,
_um_wieder_zu_meinem_Gelde_zu_kommen!"_ Gibt
es hier überhaupt einen Ausdruck, durch den man
imstande wäre, die Lebiussche Denk- und Handlungsweise
erschöpfend zu charakterisieren?

    Diese arme, von Lebius in fast jeder Beziehung vollständig
ausgezogene Frau ist nicht etwa die erste oder
einzige geschiedene Frau, deren er sich bemächtigte, um
seine Zwecke zu erreichen.  Es ist vielmehr eine ganz
besondere taktische Gewohnheit von ihm, geschiedene
Frauen gegen ihre Männer auszuspielen.  Das eklatanteste
Beispiel hiervon ist der Fall "Max Dittrich".
Indem ich ihn hier kurz erwähne, bitte ich um _ganz_
_besondere_Aufmerksamkeit,_ weil er für die
Beurteilung des Herrn Lebius _von_allergrößter_
_Wichtigkeit_ist._

    Ich hatte bekanntlich, als dieser Herr seinen Besuch
bei mir machte, den Redakteur und Militärschriftsteller
Max Dittrich als Zeugen dazu geladen, aus Mißtrauen
und Vorsicht, um gegen etwaige spätere Lügen und
Schwindeleien des Herrn Lebius durch einen vollgültigen
Zeugen geschützt zu sein.  Herr Dittrich war damals
vom Anfang bis zum Ende anwesend und hatte jedes
von mir gesprochene Wort gehört.  Einen solchen Zeugen
zu haben, wurde Herr Lebius mit der Zeit immer
peinlicher, immer gefährlicher.  Er beschloß darum, _ihn_
_eidesunwürdig_zu_machen,_ also ganz dasselbe, was
er auch bei mir getan hat _und_noch_heute_tut._ Es
ist das, wie sich später zeigen wird, _ein_persönlicher_
_Trick_ von ihm, den er _für_unfehlbar_ hält -- -- --
eidesunwürdig machen!

    Er befolgt dabei den Grundsatz, den er uns während
seines Besuches bei uns vortrug: Jeder Mensch, jeder
Polizist und Richter, jeder Beamte hat Werg am Rocken,
hat eine Schuld auf sich, die er verheimlichen muß.
Man muß das _entdecken_ und _in_die_Zeitung_bringen;_
dann wird man Herrscher und als _"tüchtiger_Kerl"_
bekannt.  So tat Herr Lebius auch hier.  Die erste Frau
Max Dittrichs war gestorben; von der zweiten Frau
hatte er sich scheiden lassen; jetzt war er infolge eines
Schiffbruchs, bei dem er nur gefährlich verletzt dem
Tode entging, schwer nervenkrank geworden.  Das gab
ein hochinteressantes Material, aus dem sich jedenfalls
etwas machen ließ!  Herr Lebius ging also aus, um
nach dem "Werg am Rocken", nach der "heimlichen"
Schuld und Sünde zu suchen.  Er forschte überall,
schriftlich, mündlich, persönlich.  Er stellte sich überall ein,
wo er glaubte, etwas erfahren zu können.  Er scheute
sich nicht, sogar zu Dittrichs Verwandten zu gehen.  Er
schlich sich zu Dittrichs alter Schwägerin, zu Dittrichs
Neffen und Nichte, sogar zu Dittrichs zweiter Frau, die
wieder verheiratet war und in glücklicher, stiller Ehe
lebte.  Er forschte sie aus, ohne daß sie ahnten, warum
und wozu.  Sie antworteten vertrauensvoll und
unbefangen.  Aber als er plötzlich zu ihrem Entsetzen die
Worte "Gericht" und "Eid" fallen ließ, da fühlten sie
die Krallen, in die sie geraten waren.  Sie hatten nichts
Böses sagen können und baten, sie aus dem Spiele zu lassen.
Er versprach es ihnen.  Besonders entsetzt über die Aussicht,
in diesen Lebiusschen Schmutz verwickelt zu werden,
war Dittrichs zweite Frau.  Ihr jetziger Mann war ein
lieber, guter, aber in Beziehung auf die "Ehre" sehr
streng denkender, unerbittlicher Herr.  Seine Frau in
_solcher_ Angelegenheit an Lebius' Seite, das wäre
unbedingt von den schwersten Folgen für ihn und sie
gewesen!  Sie bat also Lebius, sie ja nicht mit darin zu
verwickeln, und er scheute sich nicht, es ihr hoch und
heilig zu versprechen.  Dann aber ging er schleunigst hin
und brachte in Nummer 12 seiner "Sachsenstimme"
einen Bericht, dem ich nur einige Punkte entnehme, die
nicht einmal die schlimmsten sind, nämlich:

    "Max Dittrich hatte von seiner ersten Frau keine
Kinder, wohl aber zwei von seiner Stieftochter, bevor
diese das 16. Lebensjahr erreichte."

    "Seine Frau härmte sich über die Ausschweifungen
ihres Mannes zu Tode."

    "Obgleich seine zweite Frau sehr tolerant war, trieb
Dittrich es schließlich so schlimm, daß eine Ehescheidung
unvermeidlich wurde."

    "Mit der 16jährigen mit im Hause wohnenden
Nichte seiner Frau unterhielt er ein mehrjähriges
Verhältnis."

    "Dann fing er ein Verhältnis mit einem jungen
Mädchen an."

    "Seine Frau ließ ihn durch ein Detektivbureau
beobachten."

    "Während des Ehescheidungsprozesses wohnte Dittrich
mit seiner Braut zusammen und hatte auch seine
Tochter bei sich."

    "Jetzt ist er wegen schweren, syphilitischen
Nervenleidens Halbinvalide" usw.

    Man kann sich den Schreck der Verwandten denken,
als sie das lasen und dann als Zeugen vor Gericht beordert
wurden, weil Max Dittrich ganz selbstverständlich
Herrn Lebius verklagte!  Die Nichte mußte im Hause
vernommen werden; sie lag krank.  Die geschiedene Frau
Dittrichs ging in ihrer Herzensangst zum Richter und
sagte ihm aufrichtig, daß diese entsetzliche Sache ein
absoluter Totschlag für das Glück ihrer jetzigen Ehe sei;
sie werde das wohl kaum überleben.  Dieser vortreffliche
Herr hatte nicht nur das Gesetz im Kopfe, sondern dazu
auch ein menschliches Herz in der Brust und erledigte
die Vernehmung in entsprechender humaner Weise.

    Selbst angenommen, daß die von Lebius angegebenen
Punkte alle auf Wahrheit beruhten, so liegt doch wohl
für jeden nur einigermaßen gebildeten und nicht verrohten
Menschen die Frage nahe, ob die Veröffentlichung solcher
Dinge _gesetzlich_ resp. _preßmoralisch_statthaft_ sei.
Ich bin überzeugt, daß jedermann, außer Lebius, diese
Frage mit einem "Nein!" beantworten wird.  Das
würde zur Charakterisierung dieses Herrn jedenfalls
genügen, ist aber noch lange nicht alles, denn wenn man
Gelegenheit findet, die Akten Dittrich contra Lebius
aufzuschlagen, so sieht man am Schlusse derselben Herrn
Lebius in noch ganz anderer Weise beleuchtet.  Er
gesteht da nämlich ein, daß seine Verleumdungen gegen
Max Dittrich
|               nicht wahr gewesen seien,               |
und erklärt sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu
tragen!  Ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen,
um diesen Herrn nun zu kennen.

    Ob jemand aus dem Busch herausspringt und den
anderen ermordet, oder ob jemand aus den Spalten seines
Rowdyblattes heraus die Menschen niederknallt, so oft
es ihm beliebt, das wird von der Strafgesetzgebung der
Zukunft wohl ganz anders betrachtet und ganz anders
behandelt werden als heutigen Tages.  Doch gibt es,
Gott sei Dank, auch jetzt schon geistige und menschheitsethische
Instanzen, welche den Totschlag einer Menschen_seele_
für wenigstens ebenso strafbar halten wie die
Ermordung eines Menschen_körpers._

    Am 27. März 1905 hatte Lebius die oben aufgeführten
Anklagen in seiner "Sachsenstimme" gegen
Max Dittrich geschleudert, und am 18. November darauf
erklärte er in der zweiten Strafkammer des Königlichen
Landgerichtes Dresden zu Protokoll:

|     "Ich erkläre, daß ich die gegen den          |
| Privatkläger in der "Sachsenstimme" vom 27. März |
| 1905 erhobenen, beleidigenden Behauptungen       |
|              ! ! ! als unwahr ! ! !              |
| hiermit zurücknehme und mein Bedauern über       |
| die gemachten Aeußerungen in der "Sachsenstimme" |
| ausdrücke und den Privatkläger deshalb           |
|         ! ! ! um Verzeihung bitte ! ! !          |

    Als dann einige Jahre später Lebius in Berlin
Streit und Prozesse mit dem "Vorwärts" begann, gab
dieser den Militärschriftsteller Dittrich als Zeugen gegen
ihn an.  Sofort griff Lebius zu seinem wohlbekannten
Trick, Zeugen durch die Presse unschädlich zu machen.
Er veröffentlichte genau dasselbe wieder, was er damals
über Dittrich veröffentlicht und dann vor dem Dresdener
Landgericht
|              ! ! ! als unwahr ! ! !              |
mit der Bitte um Verzeihung zurückgenommen hatte.
Dittrich war demzufolge gezwungen, ihn wieder zu
verklagen und auf jene Zurücknahme und Bitte um
Verzeihung hinzuweisen.  Was tat Lebius?  Er erklärte in
seinem an das Königliche Amtsgericht Charlottenburg
gerichteten Schriftsatz vom 24. Dezember 1909, daß er
damals jene Abbitte und jenes Eingeständnis der
Unwahrheit seiner Behauptungen lediglich
|       "aus Gründen wirtschaftlicher Natur"       |
abgelegt habe.  Seine Verhältnisse seien damals so
bedrängt gewesen, daß er nicht zu den Gerichtsterminen
nach Dresden habe reisen können.  Er selbst also ist es,
der das folgende moralische Porträt von sich liefert:

|     Lebius verleumdet den Militärschriftsteller  |
| Dittrich 1905 in seinem Dresdener Blatte.        |

|     Lebius erklärt 1905 vor dem Dresdener        |
| Landgericht, daß diese Verleumdungen erlogen     |
| seien, und bittet um Verzeihung.                 |

|     Lebius bringt 1909 in seinem Berliner Blatte |
| jene von ihm als Lügen bezeichneten              |
| Verleumdungen als Wahrheiten wieder.             |

|     Lebius erklärt 1909 in seinem Schriftsatz an |
| das Amtsgericht Charlottenburg, daß er damals    |
| das Landgericht Dresden angelogen habe.          |

    Und warum dieser Rattenkönig von Lügen vor Gericht!
Und wie ist es möglich, daß ein Mensch, der doch
Ehr- und Schamgefühl besitzen muß, sich vor Gericht als
Lügner erklären und dann auch diese Erklärung als Lüge
bezeichnen kann?  Er selbst gibt uns die Antwort auf
diese Frage: Er befand sich in bedrängter Lage;
|          ! ! ! er hatte kein Geld ! ! !          |

    Also wenn Lebius kein Geld hat, so ist das ein für
ihn vollständig genügender Grund, _Richter_und_
_Gerichtsämter_zu_belügen_und_sich_als_einen_
_Charakter_hinzustellen,_dem_kein_vorsichtiger_
_Mensch_mehr_etwas_glauben_kann!_

    Ich könnte stundenlang fortfahren, in dieser Weise
von Lebius zu erzählen.  Für meine heutigen Zwecke aber
genügt das, was ich bis hierher sagte.  Ich habe mir
die Unwahrheiten, welche Lebius über mich verbreitete,
notiert, nicht alle, sondern nur die augenfälligsten.  Es
sind jetzt _über_fünfhundert,_ die ich ihm gerichtlich
beweisen kann.  Er hat mir allein in den letzten drei
Wochen vier Beleidigungsklagen zugeschickt, obgleich ich
an diesen Beleidigungen ganz unbeteiligt bin.  Das nennt
man Hinrichtung!  Und dabei legt er, wie bereits
erwähnt, den größten Nachdruck immer darauf, daß ich
ihn verfolge, nicht aber er mich.  Auf seine vielen und
fürchterlichen Artikel in den Jahren 1904 und 1905 habe
ich nur einmal bei der Staatsanwaltschaft und zweimal
beim Gericht Hilfe gesucht.  Ich habe dann zu allen
seinen ferneren Angriffen geschwiegen, bis er mich durch
die angebliche Kahl-Broschüre zwang, mich zu verteidigen,
weil ich _"vor_den_Richtern_kaput_gemacht"_werden_
_sollte._ Und selbst da habe ich ihm verziehen, habe mich
mit ihm verglichen, habe gegen sein Versprechen, mich
fortan in Ruhe zu lassen, meinen Strafantrag zurückgezogen,
obgleich der betreffende Richter sagte, daß Lebius
_eine_schwere Strafe_ erleiden werde, falls es zur
Verhandlung komme.  Siehe Gerichtsakten 20 B. 254 08/34,
gezeichnet Schenk, Nauwerk.  Ich habe es ertragen, daß
Lebius trotz seines gerichtlichen Versprechens, mich künftig
in Ruhe zu lassen, meine geschiedene Frau gegen mich
verführte, ausbeutete, ihres Einkommens und ihrer
Schmucksachen beraubte _und_sie_fast_an_den_Bettelstab_
_brachte._ Sie wurde von ihm zu gerichtlichen
Schritten gegen mich verleitet, die man fast wahnsinnig
nennen muß.  Und dabei hatte er den Mut, in der ersten
Instanz des vorliegenden Beleidigungsprozesses zu
behaupten,
  | "daß er ihre Interessen vertreten habe und     |
  | also den Schutz des § 193 beanspruchen dürfe!" |

    Niemals ist eine größere Unwahrheit ausgesprochen
worden als diese!  Lebius hat durch die Verführung der
Frau Pollmer nur seine eigenen Privat- und Prozeßinteressen
verfolgt, _die_Interessen_dieser_armen_Frau_
_aber_geradezu_mit_Füßen_getreten._ Es ist unerhört,
daß er dafür auch noch den Schutz des § 193
verlangt!

    Es ist wiederholt von ihm in den Zeitungen behauptet
worden, daß er ein Mensch sei, "der über Leichen
geht."  Meine geschiedene Frau hat anstatt "Mensch"
sogar ein anderes, äußerst schlimmes Wort gebraucht,
ohne daß er es gewagt hat, sie darüber gerichtlich zu
belangen.  Ob dieser Vorwurf wahr ist oder ob er zu
viel sagt, das könnte ich mit vielen Beispielen belegen;
ich will aber nur das eine bringen: Nach der in den
Blätterberichten völlig korrumpierten Charlottenburger
Verhandlung vom 12. April dieses Jahres brachte der
"Boston American" in Boston, Massachusetts, folgende
ihm aus Berlin zugegangene Depeschennotiz:

    "Autor frommer Bücher, ein Bandit.  Berlin --
-- -- Herr Charles May, der Millionär, Philanthrop,
Autor frommer Bücher und eine hervorragende Persönlichkeit
Deutschlands, wurde heute von einer Jury als der
Verüber vieler, schwerer Verbrechen in der Gebirgsgegend
des südlichen Sachsens, wo er vor 40 Jahren eine
Räuberbande anführte, gebrandmarkt. _May_brach_zusammen_
_und_wurde_unter_den_Schutz_seiner_Freunde_gestellt,_
_um_zu_verhindern,_daß_er_Selbstmord_begehe_
usw."  Sich solche monströse Unwahrheiten aussinnen,
um mich "kaput zu machen", das ist doch wohl
über Leichen gegangen.  Oder nicht?  Doch hiermit genug
über diesen Herrn Lebius.  Alles Andere gehört vor das
Gericht, nicht aber hierher.  Um meine Leser klar sehen
zu lassen, ist nur noch zu konstatieren, daß der Münchmeyersche
Rechtsanwalt Dr. Gerlach auch sein Rechtsanwalt
ist und daß Beide einander gegenseitig die weitgehendste
Hilfe und Unterstützung leisten.  Ich habe noch
zwei äußerst interessante Münchmeyersche Champions zu
erwähnen, die in Beziehung auf geistige Bedeutung zwar
weder an Gerlach noch an Lebius kommen, aber als
fromme, katholische Klosterbrüder mitten unter protestantischen
oder gar aus der Kirche ausgetretenen Kolportageinteressenten
doch einen frappierenden Eindruck machen.

    Der Eine von Ihnen ist der Benediktinerpater Ansgar
Pöllmann in Beuron.  Ich habe schon einmal einem
Benediktinerpater vor Gericht gegenübergestanden.  Der
hieß Willibrord Beßler und bezeichnete sich als Professor.
Er veröffentlichte eine schwere Beleidigung im "Stern der
Jugend" gegen mich.  Ich machte die Benediktinerabtei
Seckau in Steiermark als seinen Wohnsitz ausfindig, reiste
hin und ließ ihn vor das Kreisgericht Leoben zitieren.
Da stellte sich heraus, daß er gar nicht das Recht besaß,
einen Professortitel zu führen.  Er leistete mir folgende
schriftliche Abbitte:

      "Indem ich die mir in Schriftstücken beigelegten
  Bezeichnungen "Professor" und "Jugendschriftsteller"
  auf Wunsch näher dahin bestimme, daß ich Lehrer an
  der Privat-Gymnasial-Lehranstalt der Abtei Seckau
  und Korrespondent der Jugendzeitschrift "Stern der
  Jugend" bin, erkläre ich hiermit der Wahrheit gemäß,
  daß ich die in genannter Zeitschrift (1903 Nro. 25)
  enthaltene Notiz über Krankheitserscheinungen des
  Schriftstellers Karl May bedauere und die von ihm gerichtlich
  inkriminierten Worte in aller Form zurücknehme.

      Seckau, den 20. Oktober 1904.

                            Pater Willibrord Beßler
                                    O.S.P." [sic]

    Und jetzt nun wieder ein Benediktinerpater, den ich
gerichtlich belangen muß!  Der Abt scheint hier wie dort
Ildefons Schober zu heißen.  Ist es vielleicht derselbe?
Nicht in Seckau und nicht in Beuron, sondern anderwärts,
haben die Benediktiner mir meine "Reiseerzählungen"
ohne mein Wissen in Menge nachgedruckt, bis ich es ihnen
untersagte.  Ich weiß nicht, wie es möglich ist, daß ein
Orden meine Werke ganz auf eigene Faust drucken und
verbreiten und mich doch so öffentlich beleidigen und
verfolgen resp. mich und meine selben Werke in Acht und
Bann erklären kann!  Ich bemühe mich vergeblich, beides
logisch zusammen zu bringen.  Denn daß ich diesen
Nachdruck unmöglich dulden konnte, versteht sich ganz von
selbst!  Uebrigens ist dieser Beuroner Pater derselbe, der
mir "einen Strick drehen will, um mich damit aus dem
Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen".  Also, erst
druckt man meine Bücher nach, ohne mich zu fragen, und
dann peitscht man mich hinaus!  In dieser Weise charakterisiert
Pater Pöllmann seinen eigenen Orden, der sich doch
wahrlich mehr als genug Verdienste um unsere Literatur
erworben hat, als daß er von einem seiner Angehörigen
in dieser Weise beleumundet werden sollte!

    Pater Pöllmann hat in der katholischen Zeitschrift
"Ueber den Wassern" eine Reihe von Artikeln gegen mich
geschrieben, und ich habe hierauf in der Wiener "Freistatt"
geantwortet.  Damit wären wir nun eigentlich mit
einander fertig, und das Publikum hätte zwischen ihm und
mir zu entscheiden.  Aber während ich in meinen Antworten
ganz selbstverständlich so sachlich und höflich wie
möglich war, ist er in seinen Artikeln aus den Beleidigungen
fast nicht herausgekommen, so daß er sich zu einem
Gang vor das Gericht zu bequemen haben wird.  Und
außerdem ist sein persönliches und literarisches Verhältnis
zu Herrn Lebius, dem Rechtsanwalt Gerlach und dem
Münchmeyerschen Programm, mich in den Zeitungen "kaput
zu machen", festzustellen.  Er hat geleugnet, mit Lebius,
Gerlach u. s. w. in Beziehung zu stehen; es sind ihm
aber derartige Beziehungen ganz unschwer nachzuweisen.
Hierüber ist Klarheit zu schaffen.  Denn daß er in dieses
"Kaputmachen" auf das Kräftigste mit eingegriffen hat,
kann nicht einmal er selbst in Abrede stellen.  Seine
"Wasser"-Artikel werden sowohl im Lebius- als auch im
Pauline Münchmeyer-Prozeß auf das Eifrigste gegen
mich verwendet.  Er ist sogar von Lebius als Zeuge oder
"Sachverständiger" benannt und wird als solcher in Berlin
auszusagen haben.

    Herr Pater Pöllmann befolgt in Beziehung auf unsern
Beleidigungsprozeß eine Taktik, die ich nicht gutheißen
kann.  Ich muß mich fragen, ob es in dieser seiner Taktik
liegt, das Leserpublikum irre zu führen.  Zuerst erschienen
von Zeit zu Zeit gewisse, ironisch von oben herab
klingende Notizen darüber, daß ich es unterlassen habe,
meine Drohung, ihn zu verklagen, auszuführen.  Und
nun sich herausstellt, daß ich dieses Versprechen doch
gehalten habe, wird in gewissen, mir feindlich gesinnten
Zeitungen fort und fort behauptet, daß meine Beleidigungsklage
bald hier bald dort zurückgewiesen worden sei und
ich sämtliche Kosten zu tragen habe.  Das ist nicht
fair, vielleicht sogar unwürdig.  Es handelt sich hier um
die Zuständigkeitsfrage, um weiter nichts.  Als ich den
Strafantrag gegen Pater Pöllmann stellte, gehörte ich
in den Bezirk des Amtsgerichts Dresden.  Inzwischen
wurde das Amtsgericht Kötzschenbroda eröffnet, dem ich
jetzt nun zuständig bin.  Darum fragt es sich, ob die
Sache infolgedessen hier oder dort oder anderswo zu
verhandeln ist.  Bis das entschieden ist, hat sie zu ruhen.
Wer es anders darstellt, kann nur entweder unwissend
oder böswillig sein.  Von Kosten weiß ich kein
Wort.

    Ganz ähnlich liegt es mit meiner Beleidigungsklage
gegen Pater Expeditus Schmidt in München.  Sie wurde
in Dresden eingereicht und in Kötzschenbroda erstmalig
verhandelt.  Auch hier sind Zuständigkeitsfragen erhoben
worden, doch nicht von mir.  Mir kann es sehr gleichgültig
sein, an welchem Orte das Urteil gesprochen wird,
denn meine Sache ist gerecht.  Ich habe nicht nötig,
spitzfindig zu erwägen, an welchem Orte, bei welchem Gerichte
und in welchem Falle ich meinen Prozeß gewinne oder
verliere.  Ich habe mich nicht an solche Nebendinge
zu klammern, sondern an die Sache selbst und ihre
Wahrheit zu halten; das Uebrige überlasse ich den
Richtern.

    Mir sind diese Schiebereien nicht hinderlich, sondern
förderlich gewesen.  Sie haben mir Gelegenheit gegeben,
die Karten meiner Gegner kennen zu lernen.  Vor allen
Dingen hat es sich herausgestellt, daß die beiden Pater
Schmidt und Pöllmann in naher Beziehung zu dem Namen
und der Sache Münchmeyer stehen.  Ihr Anwalt steht
in Verbindung mit dem Münchmeyerschen und Lebiusschen
Rechtsanwalt.  Ich werde die Beweise erbringen, und
dann wird sich der Zusammenhang mit dem Münchmeyerschen
Programm, mich "in allen Zeitungen vor ganz
Deutschland kaput zu machen", ganz von selbst ergeben.
Um einen kurzen Rundblick über den jetzigen Stand der
Dinge zu ermöglichen, schließe ich dieses Kapitel mit einem
Artikel, den das "Wiener Montags-Journal" am 17.
Oktober dieses Jahres brachte.  Er lautet:

|              Karl May als Schriftsteller.              |
                    (Eine Genugtuung.)

    Vor uns liegt eine stattliche Reihe von Bänden, die
Tätigkeit eines ungemein fruchtbaren und erfolgreichen
Schriftstellers.  Zugleich aber auch seine Ehrenrettung.
Denn nicht oft noch ist die schriftstellerische Tätigkeit eines
Menschen der Grund für solch bodenlos gemeine und
hinterhältige Angriffe gewesen, wie sie Karl May zur
Zielscheibe hatten.  Ehe wir in eine ausführliche Würdigung
der so reichen Phantasie eines deutschen Romanziers
eingehen, wollen wir dem Geschmähten selbst das Wort zu
einer Verteidigung geben, die jetzt, nach den erfolgreichen
Prozessen gegen seine hämischen und boshaften Widersacher,
zugleich eine Genugtuung ist.  Herr May schreibt uns:

    Die ganze sogenannte "Karl May-Hetze" ist auf
Unwahrheiten aufgebaut.  Die erste dieser Unwahrheiten ist,
daß ich Jugendschriftsteller sei und meine Reiseerzählungen
für unerwachsene junge Leute geschrieben habe.  Die meisten
dieser Erzählungen sind im "Deutschen Hausschatz"
erschienen, der doch gewiß niemals eine Knabenzeitung
gewesen ist.  Und den später erschienenen Bänden sieht jedes
ehrliche Auge sofort an, daß sie nur von geistig erwachsenen
Leuten verstanden werden können.  Hiermit fallen
alle Vorwürfe, die man mir als angeblichem "Jugendverderber"
macht, in sich selbst zusammen.  Wenn die Jugend
meine Bücher trotzdem liest, und zwar sehr gerne, so
beweist das doch nicht, daß ich sie für sie bestimmt habe,
sondern daß die Jugendseele in ihnen findet, was ihr von
andern vorenthalten wird.

    Eine zweite Unwahrheit ist die, daß ich in diesen
meinen Reiseerzählungen schwindle.  Wer das behauptet,
ahnt gewiß nicht, welch ein schlimmes Zeugnis er seiner
eigenen Intelligenz erteilt.  Reicht doch der Scharfblick
eines Tertianers aus, zu erkennen, daß alles, was ich
erzähle, nur mit den Wurzeln in das reale Leben greift,
im übrigen aber nach Regionen strebt, die nicht alltäglich
sind.  Jeder Leser, der mich begreift, weiß, daß ich Länder
und Völker beschreibe, die bis heute fast nur in Märchen
existieren, für uns aber nach und nach in das Reich der
absoluten Wirklichkeit zu treten haben.  Wenn ich das, was
anderen noch ein Märchen ist, als Wirklichkeit erschaue und
beschreibe, kann dies nur für unwissende oder übelwollende
Menschen ein Grund sein, zu behaupten, daß ich schwindle.

    Früher ist es keinem Menschen eingefallen, in dieser
beleidigenden Weise über mich zu urteilen.  Wer mich nicht
begriff, der sagte höchstens, daß meine Phantasie eine
sehr ausgiebige sei.  Erst als die größte aller Unwahrheiten,
die es über mich gibt, verbreitet wurde, nämlich
die, daß ich "abgrundtief unsittliche Schundromane"
geschrieben habe, wagte man es, in einem solchen Tone mit
mir zu sprechen.  Diese unwahre Behauptung ging von
einer Kolportagebuchhandlung aus, in deren Interesse es
lag, sie zu verbreiten, um durch meinen Namen möglichst
viel Geld zu verdienen.  Sie fand in Herrn Cardauns,
dem damaligen Hauptredakteur der "Kölnischen Volkszeitung",
den Mann, der durch seine Veröffentlichungen für
diese Verbreitung mehr als reichlich sorgte und es sogar
unternahm, die sogenannten "Beweise" zu liefern, daß die
betreffenden Unsittlichkeiten aus keiner anderen als nur
aus meiner Feder stammen.  Ganz selbstverständlich konnte
der wahre, unanfechtbare Beweis nur durch die Vorlegung
der von mir geschriebenen Originalmanuskripte geführt
werden.  Jeder andere Beweis konnte nur durch absichtliche
Täuschung oder Selbstbetrug ermöglicht sein und
mußte sich schließlich zur Spiegelfechterei gestalten.

    Welche Art des Beweises nun führte Herr Cardauns?
Er brachte Behauptung über Behauptung.  Er führte eine
ganze Reihe von "inneren Gründen" an, hinter denen sich
der Mangel an wirklichen Gründen versteckte.  Er sprach
von Beweisen, Belegen, untrüglichen Aktenstücken und
dergleichen.  Das Wiener "Neuigkeits-Weltblatt" weist ihm
sogar die Behauptung nach, er besitze die Originalbelege
dafür, daß May unzweifelhaft schuldig sei.  Jedermann
mußte hierauf annehmen, daß er meine Originalmanuskripte
in den Händen habe, und darum glaubte man ihm, zumal
die Blätter, in denen er seine Behauptungen aufstellte, mir
die Aufnahme meiner Entgegnungen beharrlich verweigerten.
Er machte mit seiner Selbsttäuschung Schule: andere
täuschten sich mit, bis sie mit der Zeit dann ganz von
selbst zur richtigen Einsicht kamen.  Heute glauben nur
noch Wenige seinen Ausführungen.  Andere akzeptieren
sie aus prozessualen und ähnlichen guten Gründen.  Ob
Pater Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann,
meine beiden neuesten Gegner, wirklich an ihren Cardauns
glauben, das weiß ich nicht; ich kann da nur vermuten.
Was sie behaupten, gilt für mich noch lange nicht als
Beweis.  Aber sie fußen in allem, was sie gegen mich
tun, auf altem Cardaun'schem Grund und Boden und
scheinen wirklich überzeugt zu sein, daß ich nächstens unter
ihren und den Anschuldigungen ihrer Verbündeten
zusammenbrechen werde.

    Diese Verbündeten sind: die frühere Kolporteuse Frau
Pauline Münchmeyer, Herausgeberin des berüchtigten,
von der Polizei konfiszierten "Venustempels".  Ferner
der Rechtsanwalt dieser Frau, Dr. Gerlach in Dresden,
der nun schon seit neun Jahren unausgesetzt gegen mich im
Felde liegt.  Und endlich der wohlbekannte Herr Rudolf
Lebius in Charlottenburg, der aus der christlichen Kirche
ausgetretene Sozialist, dem ich 3000 bis 6000 Mark und
dann sogar 10 000 Mark geben sollte, dafür wolle er mich
in seinem Blatt loben und preisen.  Ich gab ihm nichts.
Da ging er zu Münchmeyers über und war seitdem der
unermüdlichste meiner Gegner.  Ich bemerke ausdrücklich,
daß auch er Herrn Advokaten Gerlach zum Anwalt hat.
Und wenn ich nun hinzufüge, daß dieser Münchmeyersche
Herr Gerlach zugleich auch Anwalt und Berater von Pater
Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann ist, so
ergibt sich folgendes drastische Hetzjagdbild: Ich bin
vollständig eingekreist.  Rund um mich stehen Herr Cardauns,
Frau Kolporteuse Pauline Münchmeyer, Herr Advokat
Gerlach, Pater Schmidt, Herr Lebius und Pater Pöllmann.
Diese alle sind jederzeit schußbereit.  Sie leugnen zwar
den gegenseitigen Verkehr, geben sich aber in ihren
Prozessen gegenseitig als Zeugen und Sachverständige an und
helfen einander bei Sammlung von Beweismaterial gegen
mich und bei der Anfertigung von Eingaben und Schriftsätzen
für das Gericht.  Der Ueberragendste von ihnen
ist aber dieser Münchmeyersche Advokat, der alles und
alle dirigiert, sogar die beiden Patres.  Der unschädlichste
und erfreulichste aber ist Herr Cardauns, der meines
Wissens niemals zu dem Eingeständnis gebracht werden
konnte, daß er meine Originalmanuskripte nicht besitze,
kürzlich aber in Bonn in meiner Gegenwart vor dem
beauftragten Richter als Zeuge zugeben mußte, daß er sie noch
nie gesehen habe.

    Ob mich die Dame Münchmeyer mit Hilfe ihrer fünf
weltlichen und geistlichen Genossen zur Strecke bringen
wird, ist eine schon längst entschiedene Frage.  Kein Kenner
der Verhältnisse stellt sie mehr auf.  -- --

    Radebeul-Dresden, Oktober 1910.
                                                Karl May.

                         _________


                            IX.
                          Schluß.

                           _____

Wie meine "Reiseerzählungen" nur Skizzen sind, so ist
auch das vorliegende Werk nur Skizze.  Es kann gar
nichts anderes sein, weil das, was ich erzähle, noch nicht
zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwungener
Prozesse wie drohende Revolver auf mich gerichtet sind.
Außerdem verhindern mich brutale Körperschmerzen, in
der Weise zu schreiben, wie ich möchte.  Zehn Jahre lang
täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen
erhalten, die von Gift und Hohn und Schadenfreude
überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules aus.
Geist und Seele sind stark geblieben.  Es hat sich in mir
nicht das Geringste geändert.  Mein Gottvertrauen und
meine Menschenliebe sind nicht ins Wanken gekommen.
Aber meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden,
hat es endlich doch gepackt.  Er will zusammenbrechen.
Seit einem Jahre ist mir der natürliche Schlaf versagt.
Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich zu
künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur
betäuben, nicht aber unschädlich wirken.  Auch essen kann
ich nicht.  Täglich nur einige Bissen, zu denen meine arme,
gute Frau mich zwingt.  Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche,
fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts
mich emporzerren und am Tage mir die Feder hundertmal
aus der Hand reißen!  Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß
brüllen, um Hilfe schreien.  Ich kann nicht liegen, nicht
sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch muß ich das
alles.  Ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben,
und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil
meine Zeit noch nicht zu Ende ist.  Ich muß meine
Aufgabe lösen.

    Meine Aufgabe?  Ja, meine Aufgabe!  Die habe
ich endlich, endlich erkannt.  Sie ist genau dieselbe, wie
ich dachte, und aber doch eine ganz, ganz andere.  Ich
sagte bereits: Das Karl May-Problem ist, wie das
Problem jedes andern Sterblichen, ein Menschheitsproblem
im Einzelnen.  Aber während die meisten Menschen nur
dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise gewisse
Phasen des großen Problems darzustellen, gibt es noch
Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild
desselben zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im
Einzelnen, sondern im Ganzen zu liefern.  Die Vielen
stellen Menschheitsteile, diese Wenigen aber stellen
Menschheitsbilder dar.  Die Vielen können ihren engen
Kreis sauber halten; sie sind Dutzendmenschen; sie können
sogar als Mustermenschen erscheinen.  Den Wenigen aber
ist die Tugend und die Sünde, die Reinheit und der
Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem Verhältnisse
wie dieser zugeteilt; sie können berühmte Feldherren oder
rohe Mörder, große Diplomaten oder berüchtigte
Schwindler, segensreiche Finanzgenies oder niedrige
Taschendiebe, niemals aber Mustermenschen werden.
Ihnen ist nicht das wohltuende Glück der unbewußten
Mittelmäßigkeit beschieden.  Ist das Leben mächtiger als
sie, so werden sie zwischen Tugend und Laster, zwischen
Höhe und Tiefe, zwischen Jubel und Verzweiflung hin-
und hergezerrt, bis sie über den Wolken zerstäuben oder
in den Schluchten zerschellen.  Sind sie stärker als das
Leben und sind sie im Glücke geboren, so werden sie in
stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen; kamen sie
aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und
der Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen,
weil sie es erreichen müssen, aber der Widerstand, den
sie zu überwinden haben, wird ein grausamer, ein
unerbittlicher sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren
Siegesruf erschallen lassen können, werden sie ermattet
zusammenbrechen, um die Augen für diese Welt zu
schließen.

    Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von
diesen Menschenarten er gehört, oder er sollte sich doch
wenigstens verpflichtet fühlen, hierüber nachzudenken.
Das habe ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung
gekommen, daß ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück
zu beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend
in seinen tiefsten Tiefen kennen lernen mußte, um
mich ebenso beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm
emporzuarbeiten, wie die Menschheit Ströme von Schweiß
und Blut und die Zeit von Jahrtausenden braucht, sich
aus dem ihrigen zu erheben.  Ebenso bin ich überzeugt,
daß es mir beschieden war, dabei den hartnäckigen
Widerstand zu finden, der sich mir auch heute noch
entgegenstellt, und daß ich mich nicht über ihn beschweren
darf, weil ich ihn mir ebenso selbst bereitet habe, wie
die Menschheit schneller vorwärtskommen würde, wenn
sie endlich aufhören wollte, sich ihren eigenen Weg mit
Hindernissen zu belegen.  Man sieht, daß ich keinen
anderen, als nur mich selbst anklage.

    Habe ich in diesem Buche einmal zu hart oder scharf
gesprochen, bin ich unbillig oder unfügsam gewesen, so
war dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern
die immer noch nicht ganz überwundene Anima ist es
gewesen, die es mir diktierte.  So lange sich der Mensch
im Niedrigen bewegt, und das mußte ich in dieser meiner
Lebensbeschreibung doch mehr als reichlich tun, hat das
Niedrige Macht über ihn, und ich durfte nicht unwahr
sein; ich mußte so schreiben, wie das Milieu es mit sich
brachte.  Nun ich aber zum Schlusse gelange und bessere,
reinere Luft zu atmen beginne, bin ich auch reiner und
freier in dem, was ich schreibe, und bekomme die Kraft
zurück, alles das, was mich verbittern will, zu
überwinden.

    Und mich zu verbittern, war mehr als genugsam
Grund vorhanden.  Ich spreche da nur von den
letztvergangenen zehn Jahren und den Begleiterscheinungen
des Münchmeyerprozesses.  Dieser wurde von Seiten
meiner Gegner resp. ihres Rechtsanwalts Gerlach in
einer Weise geführt, die ich vorher für vollständig
unmöglich hielt.  Ich ahnte nicht, in wie weitgehender
Weise das Gesetz in dieser Beziehung den Anwalt schützt.
Wenn es gilt, den Gegner in den Augen der Richter
herabzusetzen, darf er sich erlauben, was sich sonst
Niemand erlauben darf.  Er steht unter dem Schutze des
Paragraphen 193, denn er handelt im Interesse seines
Klienten.  Ich bringe eine Musterauswahl der Ausdrücke,
die ich mir vom Münchmeyerischen Advokaten Dr. Gerlach
gefallen lassen mußte, weil er sich ihrer in seiner
Eigenschaft als Anwalt bediente:

    Er beschuldigte mich "frecher Anzapfungen", "unberechtigter
Forderungen", zahlreicher "Dreistigkeiten"
und "faulen Zaubers".  Er nannte mich "raffiniert",
"frech", "dreist", "verleumderisch", "pathologisch zur
Unwahrheit reizend", "Lügner", "Lügenmay", Renommist",
"Münchhausen", "Aufschneider", "Betrüger", "Lump",
"Schwindler", "Allerweltsschwindler", "Einbrecher",
"Hochstabler" [sic], "Zuchthäusler" usw.  usw.  Ich frage:
Sind dergleichen Beschimpfungen, selbst wenn sie die
Wahrheit enthielten, im gewöhnlichen Leben erlaubt?
Würde ein wirklich gebildeter Mann mit Einem, der sich
ihrer schuldig macht, verkehren wollen?  Nun, im Verkehr
vor Gericht sind sie gestattet, denn ich habe diesen
Anwalt auf sie hin wegen Beleidigung verklagt und bin
abgewiesen worden.  Aber noch mehr: Er erhob auf
diese meine Klage hin Gegenklage gegen mich, und
diese wurde nicht zurückgewiesen.  Der Richter ist hieran
völlig unschuldig; er kann nicht anders; das Gesetz
verlangt es so!  Eines Tages, als die Zeugenaussagen für
die Münchmeyersche Partei nicht günstig ausgefallen
waren, sagte dieser Anwalt zum Richter: "Aber es ist
doch ganz unmöglich, daß ein vorbestrafter Mensch, wie
May, den Prozeß gewinnen kann!"  "Das haben Sie
abzuwarten," antwortete ihm der Richter.  Ich stand
dabei und mußte mir die Beleidigung gefallen lassen,
denn das Gesetz erlaubte sie ihm.  Das ist nun fast zehn
Jahre lang so gegangen und geht noch heut in diesem
Tone und in dieser Weise fort.  Ein sehr hoch stehender
Richter sagte, hierauf bezüglich, zu meinem Rechtsanwalt:
"Niemals in meiner ganzen, langen Praxis ist mir eine
Sache seelisch so nahe getreten, wie die von Karl May.
Was muß dieser arme, alte Mann gelitten haben!  Er
hätte getrost hinzufügen können: "Was leidet er noch,
und was wird er noch weiter leiden!"  Dieser Richter
kannte meine Vorstrafen genau; er hatte die hierüber
vorhandenen Akten studiert.  Ich gewann trotzdem und
trotz aller gegnerischen Schmähungen den Prozeß in
sämtlichen Instanzen, gewiß ein laut sprechender Beweis,
daß der deutsche Richter sich durch anwaltliche Invektiven
nicht beeinflussen läßt; aber ruhig anzuhören hatte ich
sie doch und habe ich sie noch heut.  Und sie wirken,
wenn nicht auf das Urteil, so doch ganz bestimmt nach
anderer Seite hin.  Sie verrohen den Parteiverkehr und
greifen aus dem Verhandlungszimmer hinaus in das
öffentliche und hinein sogar in das private Leben.  Man
wird alle die beleidigenden Ausdrücke über mich, die ich
oben angeführt habe, schon in den Zeitungen gelesen
haben und ihnen ebenso auch im Privatverkehr begegnet
sein.  Das ist die notwendige Folge der Freiheiten, die
jeder übelwollende, rücksichtslose Rechtsanwalt sich nehmen
darf, wenn er einsieht, daß die Roheit ihn weiter führt
als die Humanität.  Er schreibt diese Roheiten in seine
Schriftsätze und lanciert sie von da als beweiskräftiges
Aktenmaterial hinaus in die Zeitungen.  Oder er schickt
sie zuerst in die Zeitungen und legt sie dann in gedruckter
Form dem Gericht als Beweise vor, ohne zu sagen, daß
sie von ihm stammen.  Stehen einem derartigen Anwalte
einige gleichgesinnte, von ihm gewonnene Blätter oder
Blättchen zur Seite, so ist es ihm ein Leichtes, eine jede
Existenz, und stehe sie noch so fest, in kurzer Zeit zu
erschüttern oder wohl gar zu vernichten.  "In den Zeitungen
von ganz Deutschland kaput machen," nennt man das.
Und das Gesetz begünstigt dieses Treiben!

    Es liegt mir da noch ein anderes, hochinteressantes
Beispiel nahe, welches nichts weniger als empfehlend für
mich klingt.  Ich bringe es aber trotzdem, weil ich, wenn
ich der Allgemeinheit nützen will, nicht fragen darf, ob
ich mir selbst etwa dadurch schade.  Meine erste Frau
hatte die Frau eines Dresdener Schriftstellers beleidigt,
welcher von Münchmeyers aus wußte, daß ich vorbestraft
bin.  Er rächte sich dadurch, daß er mich bei einem
deutschen Fürsten denunzierte und ihm mitteilte, daß seine
Verwandten meine Bücher läsen und mich auch persönlich
besuchten.  Der Fürst antwortete durch Schweigen.
Da kam eine zweite Denunziation, und nun war der
Fürst gezwungen, sich nach Dresden zu wenden, um zu
erfahren, was mit meinen Vorstrafen sei.  Er erhielt
die eingehendste Auskunft.  Es wurde ein Beamter nach
Radebeul geschickt, um sich an Ort und Stelle zu
erkundigen.  Er erfuhr, daß meine Ehe keine glückliche sei,
weshalb ich in meinen freien Stunden nicht zu Hause
bleibe, und daß ich in meinen Büchern über Länder
schreibe, in denen ich gar nicht gewesen sei; Alles, was
ich da berichte, sei nicht wahr.  Infolge dessen steht in
den Dresdener Polizeiakten über mich verzeichnet, daß ich
einen unsoliden Lebenswandel führe und ein literarischer
Hochstabler [sic] sei.  Das wurde dem Fürsten mitgeteilt, und
einer der betreffenden Verwandten erzählte es mir bei
nächster Gelegenheit sehr ausführlich wieder.  Er wußte
sehr wohl, was an der Sache war, bat mich aber um
Diskretion, so daß ich gezwungen war, hierüber zu
schweigen.  Ich glaubte auch, schweigen zu können, weil
ich annahm, daß derartige Polizeiakten zu den
verschwiegendsten Dingen der Verwaltung gehören.  Jetzt
aber werden sie zu meinem Erstaunen von Lebius veröffentlicht
und von meinen Gegnern entsprechend ausgebeutet.
Wie kommt ein aus der Kirche ausgetretener Sozialdemokrat
a. D. zu diesen geheimen Dresdener Polizeiakten?
Das Gesetz gestattet es!  Ganz selbstverständlich fühle
ich mich nun nicht mehr zur Diskretion verpflichtet und
werde darauf dringen, daß diese Akten revidiert und
berichtigt werden.

    Ein weiterer Fall führt mich nach Leipzig, wo ich
wie auf Seite 119 berichtet, vor nun fünfundvierzig
Jahren auf ungesetzlichen Wegen ergriffen wurde.  Das
ist so lange her, daß die betreffenden Gerichtsakten längst
vernichtet worden sind, denn die Menschlichkeit verlangt,
daß solche Spuren nur von einer ganz bestimmten Dauer
seien, und diese Dauer ist vorüber.  Wer hat nun daran
gedacht, daß auch bei der dortigen Polizei Notizen
hierüber gemacht worden und vielleicht noch vorhanden sein
können?  Herr Lebius hat sie kürzlich veröffentlicht!  Wie
kommt ein Mann, wie er, nun auch zu den Leipziger
Polizeiakten?  Das Gesetz erlaubt es!

    Ebenso hat er meine Scheidungsakten veröffentlicht.
Sie sind doch gewiß von diskretester Natur und gehen ihn
gar nichts an.  Aber das Gesetz erlaubt es ihm!

    Er ist über Alles unterrichtet, was sich auf meine
prozessualen Verhältnisse bezieht.  Wer erlaubt ihm das,
und wer ermöglicht es ihm?  Das Gesetz und der Münchmeyersche
Rechtsanwalt, der zugleich auch der seinige ist.
Beide arbeiten einander aus der Hand in die Hand.
Es ist sogar vorgekommen, daß Lebius meine geschiedene
Frau in Berlin zum Unterschreiben eines Vollmachtsblanketts
veranlaßte, dieses aber nach Dresden zum
Münchmeyerschen Rechtsanwalt schickte, der es dann für
sich ausfüllte, wie es für seine besonderen Zwecke paßte.
Das sind nur einige wenige Beispiele aus meiner reichen,
persönlichen Erfahrung dafür, daß das Gesetz Dinge nicht
nur erlaubt, sondern sogar begünstigt, die es eigentlich
auf das strengste verbieten sollte.  Dem steht selbst der
rechtlichste und humanste Richter machtlos gegenüber, und
das war es, woran ich dachte, als ich weiter oben sagte,
daß ich meine Aufgabe endlich, endlich erkannt habe.
Ich bin vor nun vierzig und fünfzig Jahren unfreiwillig
da hinunter gestiegen, wo die Verachteten wohnen, denen
es so schwer gemacht wird, sich die ihnen geraubte Achtung
zurück zu erwerben.  Ich habe sie kennen gelernt, und
ich weiß, daß sie nicht weniger wert sind, als alle die,
welche nur deshalb niemals stürzten, weil sie entweder
niemals hoch standen oder nicht die nötige innere Freiheit
besaßen, stürzen zu können.  Ich will wieder zu ihnen
hinab, jetzt als fast Siebzigjähriger, nicht gezwungen,
sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschlusse.  Ich
will ihnen sagen, was ihnen noch Niemand zu sagen
wagte, nämlich daß ihnen Niemand helfen kann, wenn
sie sich nicht selbst zu helfen wissen.  Daß sie verloren
sind, außer sie retten sich durch eigene Kraft.  Durch
engsten Zusammenschluß unter sich selbst.  Ich will ihnen
mein Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben.
Will ihnen zeigen, was aller gute Wille und alle Mühe
fruchtet, wenn bei Andern dieser gute Wille fehlt.  Ihnen
zeigen, daß ein einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser
eine, einzige Paragraph 193 genügt, selbst die schönsten
und die besten Erfolge der Willensstärke, der christlichen
Liebe und der Humanität mit einem Schlage zunichte
zu machen.  Ich will ihnen sagen, daß es eine Sünde
von der Menschheit ist, ihre Mitschuld an der Schuld
der Schuldigen zu verbergen.  Daß es aber auch von
diesen ein Fehler ist, zu verheimlichen, daß sie einst
schuldig waren.  Unser Leben, mein Leben, ihr Leben soll
frei vor Gottes Auge liegen, besonders aber auch frei vor
unserem eigenen Auge.  Dann zürnen wir nicht, und dann
grollen wir nicht.  Denn dann sehen wir ein, warum
wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst.  Und
sehen wir das ein, so können wir uns selbst verzeihen,
und wer sich selbst verzeihen darf, dem wird verziehen
werden.  Weg also mit der falschen Scham, und heraus
mit der Offenheit!  Nur das Geheimnis, in das wir uns
hüllen, gibt jenem Paragraphen und jedem gewissenlosen
Menschen die Macht, sich höher und besser zu dünken
als wir, und doch unser -- -- -- Henker zu sein!

    Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe.  Wie
alles Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur
Skizze sein.  Aber ich fühle das Bedürfnis, das, was
Andere Böses an mir taten, für meine Mitmenschen in
Gutes zu verwandeln.  Ich werde es denjenigen, die
gleiches Schicksal, wie ich, hatten, ermöglichen, aus der
unmenschlichen Hetze gegen mich diejenigen Schlüsse zu
ziehen, die ihnen heilsam sind.  Was nützt alle sogenannte
"Gerechtigkeit", alle sogenannte "Milde des Gerichtes",
alle sogenannte "Humanisierung des Strafvollzuges", alle
sogenannte "Fürsorge für entlassene Strafgefangene",
wenn es nur eines einzigen spitzfindigen Anwaltes oder
eines einzigen fragwürdigen Paragraphen bedarf, um all
das Gute, welches aus diesen Bestrebungen erwuchs, in
einem einzigen Augenblicke zu vernichten?  Wie kann
man von dem Gefallenen verlangen, daß er wieder aufstehe
und sich bessere, wenn man es unterläßt, auch die
Verhältnisse, in die man ihn zurückversetzt, zu verbessern?
Ist es eine Ermunterung für ihn, zu wissen, daß er trotz
aller Besserung doch, so lange er lebt, der Geächtete, der
Unterdrückte, der Rechtlose bleiben muß und bleiben wird,
weil er gezwungen ist, zu allem zu schweigen und sich
alles gefallen zu lassen?  Denn falls er das nicht tut,
ist er verloren.  Wenn er hingeht, um gegen die, welche
ihn beleidigen, bestehlen und betrügen, sein gutes Recht
zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei und stellt
ihn an den Pranger.  Ich erinnere daran, daß ich von
einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein
"wissenschaftlichen" Gründen an diesen Pranger genagelt
worden bin, bei lebendigem Leibe!  Er konnte nicht
einmal meinen Tod abwarten und behauptete, durch einen
Gesetzesparagaphen zu dieser Vivisektion berechtigt
worden zu sein.  Da schaut man denen, die von Humanität
sprechen, ganz unwillkürlich in das Gesicht, ob sich
da nicht etwa ein sardonisches Lächeln zeigt, welches
verrät, wie es eigentlich steht.  Und da fühlt man mit den
Hunderttausenden, die hierunter leiden, das brennende
Bedürfnis, einmal alle die Paragraphen, an denen der
gute Wille der Menschheit scheitert, an das Tageslicht
zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen müssen, um
durchschaut zu werden -- -- -- vor die Oeffentlichkeit,
vor den Reichstag!

    Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen
hat.  Es hat schon Einige gegeben, die als "entlassene
Gefangene" ihre Erfahrungen niedergeschrieben
haben; aber was man da erfuhr, das war so unbedeutend,
daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen bringen konnte.
Hier genügt es nicht, kleine Menschengeschicke zu zeigen,
sondern schwere, gewichtige Menschenschicksale, die, auch
im klassischen Sinne, wirkliche Schicksale sind. _Und_
_das_meinige_ist_ein_solches._ Ich fühle mich
verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den Dienst der
Humanität zu stellen.  Wie ich mir das denke, das wird
man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen.

    Es gehörte zu dieser meiner Aufgabe, daß die
Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl
May, sondern auch mit dem Menschen May befaßte und
daß Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf
den letzten Tropfen ausgeschöpft werden mußte.  Das
Eine war berechtigte Kritik; das Andere war Henker-,
Schinder- und Kavillerarbeit, die ich über mich ergehen
lassen mußte, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld
von dieser Qual und Marter zu befreien.  Das war die
Geisterschmiede meines Märchens, in der man auf mich
losschlug, daß die Funken durch alle Zeitungen flogen.
Sie fliegen sogar noch heut.  Doch wird bald Ruhe
werden.  Die Zeit des Hammers ist vorüber; es kommt
nur noch die Feile, und dann ist es gut.  Daß all das
Leid, welches über mich kam, auch meine andere, die
schriftstellerische Aufgabe, beeinflussen mußte, versteht sich
ganz von selbst.  Auch da gab es Schlacken, und zwar
mehr als genug.  Auch sie mußten herunter.  Es flog
der Ruß, der Schmutz, der Staub, der Hammerschlag.
Noch liegt das alles um mich her, doch nun wird
ausgeräumt, damit das reine, edle Werk beginne.

    Es war überhaupt ein großes, ein schweres und
ein höchst schmerzhaftes Auf- und Ausräumen.  Nicht
nur in meinem Innern, sondern auch in meinem Aeußern,
in meiner Arbeit, meinem Berufe, meinem Hause, meiner
Ehe.  Alles, was mich in die Schmiede und dem Schmerze
in die Arme getrieben hatte, mußte weichen.  An seine
Stelle trat, was rein und ehrlich war und mit nach oben
strebte, aus Ardistan nach Dschinnistan, dem Land der
Edelmenschen.  Das gab eine Scheidung von Gut und
Bös, die nur unter Kämpfen und Opfern ausgeführt werden
konnte.  Nun ist sie vollzogen.  Die Wetter gingen vorüber.
Zwar rauscht noch hier oder da ein trübes Wasser, irgend
ein Beleidigungsprozeß, eine Staatsanwaltschaftsanzeige,
doch auch das geht bald vorbei, und dann wird Ruhe
und Friede um mich sein, so daß ich endlich, endlich Zeit
und Raum und Stimmung gewinne, an mein eigentliches,
an mein einziges und letztes "Werk" zu gehen.

    Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurück, so bin
ich voller Dankbarkeit, sie überstanden zu haben.  Eine
"Hetze" wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde
steht, noch nie in der Literatur irgend eines Landes, eines
Volkes gegeben.  Das gab Zeitungsstürme, Stürme in
den Gerichtssälen, Stürme im eigenen Hause und Stürme
im eigenen Innern.  Mein alter, treuer, guter Freund,
der Körper, behauptet zwar, nicht länger mitmachen zu
können, aber ich bin überzeugt, daß er doch wieder so
bereitwillig und verständig wird, wie er immer gewesen
ist.  Er hat ertragen müssen, was eigentlich wohl nicht
zu ertragen war.  Zunächst sechs Jahre lang die drei
Instanzen des ersten Münchmeyerprozesses mit allen
Aufregungen und Armseligkeiten, die mit ihm verbunden waren.
Sodann die zweiundzwanzig Monate währende Untersuchung
wegen Meineid und Verleitung dazu.  Denn der
Münchmeyersche Rechtsanwalt hatte, nachdem der Prozeß
für ihn verloren war, mich und meine Zeugen beim
Staatsanwalte wegen Meineides angezeigt.  Der Staatsanwalt
war, nach seiner eigenen Aussage auf diese Anzeige
eingegangen, um endlich einmal Klarheit zu schaffen.
Dieser fast zwei Jahre lange Kampf endete ganz
selbstverständlich damit, daß man weder mir noch meinen Zeugen
etwas Strafbares nachweisen konnte.  Aber damit noch
nicht genug, gesellte sich noch Anderes dazu, was fast
noch schlimmer als alles Vorhergehende war.  Die ersten
Lebiusangriffe.  Eine doppelseitige Lungenentzündung, die
mich monatelang zwischen Tod und Leben schweben ließ.
Die Beschuldigungen, welche meine geschiedene Frau auf
mich, meine jetzige Frau und ihre Mutter wälzte und
mit denen sie uns in schwere Strafe bringen wollte.  Die
Staatsanwaltschaftsanzeigen, welche sie dann wegen dieser
Beschuldigungen durch einen Freund gegen uns erheben
ließ.  Dieselben Staatsanwaltsanzeigen, von Lebius in
Berlin wiederholt.  Glücklicher Weise hatte diese geschiedene
Frau Alles, was sie dann nach der Scheidung leugnete,
während des Scheidungsprozesses ganz fremden Leuten
und ohne all mein Zutun freiwillig erzählt und
eingestanden, so daß sie zu diesem späteren Leugnen nur
verführt sein konnte.  Die Vorlegung dieser Beweise zeigte
alle Anklagen gegen mich als Lügen.  Ferner der Antrag
des Lebius an die Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus
zu sperren.  Sein Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich
verfolgen zu lassen.  Die zahllosen Artikel gegen
mich in seinem Blatte, der "Bund".  Seine Flugblätter
mit den gräßlichsten Unwahrheiten, welche die Runde durch
Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Italien, Frankreich,
England, Nord- und Südamerika machten.  Da beschuldigte
er mich sogar, meinen Schwiegervater erwürgt
zu haben!  Das geht so fort bis in die neueste Zeit.
Schließlich eine Denunziation wegen Beleidigung des
Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefähr vier
Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich
wegen Blutschande, die bekanntlich mit bis fünf Jahren
Zuchthaus bestraft wird.  Man sieht, daß man zu den
alleräußersten Mitteln greift, mich "kaput zu machen"!
Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den
Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und
Lebenskraft zu verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum
jeder fähig ist.  Ich habe es ertragen, ohne mich zur
Selbsthilfe reizen zu lassen, weil ich keinen Augenblick
lang an Gott und seiner Liebe zu zweifeln vermag und
weil mir in dieser überschweren Zeit ein Wesen zur Seite
gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende Seele mich wie
auf Engelsflügeln über alles Leid erhob, dem ich verfallen
sollte, nämlich meine jetzige Frau.  Wenn man berechtigt
gewesen ist, Bücher über das Thema "die Bestie im Weibe"
zu schreiben, so könnte ich mich wohl verpflichtet fühlen,
demgegenüber ein Buch zu veröffentlichen, welches den
Titel "Der Himmel im Weibe" führt.

    Mit einer solchen Frau an der Seite, die mir eine
Quelle alles menschlich Reinen, menschlich Edeln und
menschlich Ewigen ist, läßt sich in Beziehung auf das
Erdenleid Alles erlangen und in Beziehung auf die noch
vor mir liegende Arbeit Alles leisten, was menschenmöglich
ist.  Ich bin nicht mehr so fürchterlich allein.
Ich habe nicht mehr immer nur aus mir selbst herauszuschöpfen,
sondern es hat sich mir ein köstlich reiches
seelisches Leben zugesellt, durch dessen Einfluß sich Alles,
was in mir zum guten Ziele führt, verdoppelt.  Körperlich
schwer leidend, bin ich geistig frisch und seelisch
wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der Jugendzeit.
Ich bin nicht töricht genug, mir zu verheimlichen, daß
man mich als einen Ausgestoßenen betrachtet, ausgestoßen
aus Kirche, Gesellschaft und Literatur.  Der Eine schlägt
auf mich los, weil er mich für einen verkappten
Katholiken oder gar Jesuiten halt; der Andere greift zum
Prügel, weil er meint, ich sei noch immer heimlich
Protestant.  Würden diese Beiden es wohl fertig bringen,
sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen
sie die meisten Prügel bekommen?  Daß man mich als
gesellschaftlich tot betrachtet, rührt mich nicht.  Ich habe
nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft
gehören zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen
war, kennen zu lernen.  Uebrigens haben wir beide alten
Leute, meine Herzensfrau und ich, in Beziehung auf das
Innenleben aneinander so vollauf genug, daß wir es gar
nicht fertig bringen, uns nach "Gesellschaft" zu sehnen.
Und was meine literarische Ausstoßung betrifft, so kann
ich mich auch mit ihr zufrieden geben.  Den Weg, auf
dem ich mich befinde, ist noch kein Anderer gegangen;
ich wäre also auch ohne den Haß, den man auf mich
richtet, gezwungen, ein Einsamer zu sein.  Auch bin ich
überzeugt, daß später, wenn man mich und das, was ich
will, erst richtig kennen gelernt hat, sich Manche, vielleicht
sogar Viele von dem großen Haufen absondern werden,
um sich mir zuzugesellen.  Alte Wege können höchstens
zu alten, toten Schätzen führen.  Wer aber nach neuen,
lebendigen Schätzen sucht, der soll auch neue, nicht alte
Wege gehen.  Und der meinige ist ein neuer!  Das
Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch
ihren Wert oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes.
Taugen sie etwas, so werden sie bleiben, ganz gleich,
ob man sie gegenwärtig lobt oder tadelt.  Taugen sie
nichts, so werden sie verschwinden, ganz gleich, ob man
sie jetzt verwirft oder nicht.  Und, was die Hauptsache
ist, derjenige, der über ihren Wert oder Unwert bestimmt,
bin nur ich allein.  Keiner meiner Gegner, und sei er
literarisch noch so mächtig und einflußreich, kann auch
nur den geringsten Einfluß darauf haben.  Das klingt
stolz und prahlerisch, ist aber wahr.  Diese Werke sind
Skizzensammlungen, sind Vorübungen, sind Vorbereitungen
auf Späteres.  Gelingt mir dieses Spätere, so ist alles, durch
was ich mich darauf vorbereitete, gerechtfertigt, mag man
jetzt darüber denken und schreiben, wie oder was man will.

    Nun bleibt nur noch eine Schlußbemerkung in Beziehung
auf die Münchmeyerromane übrig.  Einer meiner
erbittertsten Gegner schrieb, ich solle es ja Niemandem
weißmachen, daß ein Schundverlag sittliche Romane in
unsittliche verwandeln könne; das würde eine Riesenarbeit
sein, der Niemand gewachsen ist.  Dieser Herr scheint so
glücklich zu sein, dem Leben und Treiben eines Schundverlages
unendlich fern zu stehen.  Erstens wenn Jemand der Zeit
und der Mühe gewachsen ist, einen Roman zu schreiben,
so muß man doch noch viel mehr der kürzeren Zeit und
der geringeren Mühe gewachsen sein, diesen Roman
umzuändern!  Zweitens erfordert eine solche Umänderung
keineswegs soviel Zeit und Arbeit, wie mein Gegner
anzunehmen scheint.  Die Einfügung von einigen Worten
genügt vollständig, einen "moralischen" Druckbogen in
einen "unmoralischen" zu verwandeln.  Drittens sind
Kräfte mehr als genug für solche Umarbeitungen vorhanden,
und sie besitzen eine so erstaunliche Routine darin,
daß selbst der Kenner sich über die Masse, die sie
bewältigen, wundert.  Ich habe hierüber Beweise erbracht
und werde auch noch weitere bringen.  Das oft erwähnte
Faktotum Walther saß bei Münchmeyers täglich von früh
bis abends, nur um solche Arbeiten zu machen und dann
die Korrektur zu lesen, die der Verfasser niemals zu sehen
bekam.  Was erst Fischer, der Käufer des Münchmeyerschen
Geschäftes, und dann einige Jahre später seine Erben
mir über diese Umarbeitung meiner Romane materiell und
gerichtlich bezeugten, ist bekannt.  Hierzu hat Münchmeyers
Neffe, der Obermaschinenmeister war, als Zeuge im Prozeß
bestätigt, daß Münchmeyer mit seiner eigenen Hand ganze
Kapitel verändert hat.  Ein anderer Zeuge hat beschworen,
Münchmeyer habe ihm eingestanden, daß er an meinen
Romanen große, umfangreiche Aenderungen vornehme, ohne
es mir sagen zu dürfen.  Ich brauche hier wohl nicht
noch weitere Beispiele, die mir zur Verfügung stehen,
anzuführen, um es begreiflich zu machen, daß ich absolut
die Vorlegung meiner Originalmanuskripte verlange, deren
Beweiseskraft doch jedenfalls eine ganz andere ist als etwa
die dunkle Erinnerung eines alten Schriftsetzers, der man
es zumutet, sich nach dreißig Jahren in dem Tohu wa bohu
der damaligen Münchmeyerschen Schriftkästen zurechtzufinden.
Uebrigens stechen diese Aenderungen oft so scharf
von meinem Urtexte ab, daß sehr zahlreiche Leser mir
versichern, ganz genau sagen zu können, wo die Fälschung
beginnt und wo sie endet.

    Zuletzt kann ich es nicht unterlassen, auf einen Trick
meiner Gegner und besonders des Herrn Lebius aufmerksam
zu machen, den man anwendet, um meine den höhern
Kreisen angehörenden Leser gegen mich zu empören.  Da
wird zum Beispiel an auffälliger Stelle gesagt, daß ich
in hervorragender Gesellschaft in Dresden verkehre und
daß ich mir überhaupt die größte Mühe gebe, mit
hochstehenden Leuten bekannt zu werden.  Hiervon ist kein
Wort, kein Buchstabe wahr.  Bin ich "Hans für mich",
so fühle ich mich am wohlsten, und ich wünsche in dieser
Beziehung weiter nichts, als "Hans für mich" zu bleiben.
Ich möchte den Menschen sehen, der mir den Nachweis
liefern wollte, ich hätte mich ihm gesellschaftlich
aufgedrängt!  An andern Stellen wird emphatisch behauptet,
daß ich an "Höfen" verkehre.  Das ist erst recht nicht
wahr.  Wenn irgend eine aristokratische Persönlichkeit,
die zu irgend einem "Hofe" gehört, meine Bücher liest
und gelegentlich einige Worte mit mir spricht, so bin grad
ich der Allerletzte, der dies dahin auslegt, daß ich "bei
Hofe verkehre".  Es kann diesen Behauptungen, die pure
Erfindungen sind, nur die Absicht zu Grunde liegen, mich
den betreffenden Kreisen als indiskret oder gar als Lügner
zu kennzeichnen und mich selbst da zu schädigen, wohin
ich absolut nicht gehöre.  -- -- --

-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

    Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang
zurück, auf mein altes, liebes Märchen von "Sitara",
von dem ich ausgegangen bin.  Nicht lange Zeit mehr,
so wird man dieses Märchen als Wahrheit kennen lernen,
und zwar als die greifbarste, die es gibt.  Es ist die
Aufgabe des begonnenen, gegenwärtigen Jahrhunderts,
unsere ungeübten Augen für die große, erhabene Symbolik
des alltäglichen Lebens zu schärfen und uns zu der
beglückenden und erhebenden Erkenntnis zu bringen, daß
es höhere und unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als
diejenigen, mit denen der Werk- und Wochentag uns beschäftigt.
Die Skizzen, die ich zeichnete und veröffentlichte,
sollen der Vorbereitung zu dieser Erkenntnis dienen.
Darum sind sie symbolisch geschrieben und, um verstanden
zu werden, nur bildlich zu nehmen.  Man möchte sich
eigentlich darüber wundern, daß dies dem gewöhnlichen
Leser so schwer zu fallen scheint.  Es ist doch wohl keine
allzu harte Nuß, sich beim Lesen eines Gleichnisses irgend
etwas zu denken.  Wenn ich unter Ardistan das Land
der ethisch niedrig stehenden und unter Dschinnistan das
Land der hochstehenden, edel denkenden Menschen meine,
so kann es doch keiner geradezu akademischen Bildung
bedürfen, einzusehen, was ich meine, wenn ich eine Reise
von Ardistan nach Dschinnistan beschreibe.  Der Leser
hat sich einfach aus seiner Alltagswelt in meine
Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch wohl auch nicht
schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu verlassen,
um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen.

    Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit,
so will ich durch meine Erzählungen das Innere meiner
Leser vom äußeren Druck befreien.  Sie sollen Glocken
klingen hören.  Sie sollen empfinden und erleben, wie es
einem Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser
klirren, weil der Tag gekommen ist, an dem man ihn
entläßt.  So leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich
zu nehmen, so leicht ist es auch, meine Bücher zu
verstehen und ihren Inhalt zu begreifen.  Ich will, daß
meine Leser das Leben nicht länger als ein nur materielles
Dasein betrachten.  Diese Anschauung ist für sie ein
Gefängnis, über dessen Mauern sie nicht hinaus in das von
der Sonne beschienene freie, weite Land zu schauen
vermögen.  Sie sind Gefangene, ich aber will sie befreien.
Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie ich mich
selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen,
seit langer, langer Zeit.  Damals, als ich mich im
Gefängnisse befand, da war ich frei.  Da lebte ich im Schutze
der Mauern.  Da meinte es ein Jeder gut und ehrlich,
der zu mir in die Zelle trat.  Da durfte mich niemand
berühren.  Da war es keinem erlaubt, den Werdegang
meines inneren Menschen zu stören.  Kein Schurke hatte
Macht über mich.  Was ich besaß und was ich erwarb,
das war mein sicheres, unantastbares Eigentum, bis ich
-- -- entlassen wurde, länger nicht!  Denn mit dieser
Entlassung verlor ich meine Freiheit und meine Menschenrechte.
Was andere, die nur materiell zu reden wissen,
als Freiheit bezeichnen, das ist für mich ein Gefängnis,
ein Arbeitshaus, ein Zuchthaus gewesen, in dem ich nun
schon sechsunddreißig Jahre lang geschmachtet habe, ohne,
außer meiner jetzigen Frau, einen einzigen Menschen zu
finden, mit dem ich hätte sprechen können wie damals
mit dem unvergeßlichen katholischen Katecheten.  Ich
lebte und arbeitete nicht für mich, sondern nur für Andere.
Was ich erwarb, um das wurde ich betrogen.  Was ich
mir sparte, das stahl man mir.  Ein Jeder durfte mit
mir machen, was ihm beliebte, denn überall fand er einen
Anwalt, der seine Sache führte.  Ein Jeder durfte mich
verdächtigen, mich beleidigen, auf mich einschlagen, denn
überall gab es einen Paragraphen, der ihn schützte.  Ich
mußte um meines Eigentums willen sechs Jahre lang
prozessieren, und als ich den Prozeß gewonnen hatte,
bekam ich noch lange nichts und wurde wegen Meineides
zweiundzwanzig Monate lang in Voruntersuchung genommen.
Nun prozessiere ich schon fast zehn Jahre lang
und habe noch immer kein Resultat.  Das Gesetz will
es nicht anders.  Inzwischen aber bin ich wie ein
Züchtling gewesen, den Jeder stäupen, quälen und martern
darf, wie es ihm beliebt, wenn es ihm nur gelingt, sich
mit einem jener Paragraphen zu bewaffnen, welche die
Ideale aller "schneidigen" Anwälte sind.  Jawohl, ich
bin Gefangener, Zuchthäusler, noch immer!  Ein Dutzend
Prozesse haben mich festgehalten, damit ich ja nicht
entweichen könne, und Jeder, der Geld von mir wollte, aber
keines bekam, hat sich als Zuchtmeister gebärdet und auf
mich eingeschlagen.  Ich habe das Beste aller derer, für
die ich schreibe, gewollt, ihr inneres und äußeres Heil,
ihr gegenwärtiges und ihr zukünftiges Glück.  Was gab
man mir für diesen meinen guten Willen?  Verachtung,
Spott und Hohn!  Als ich Zuchthäusler war, da war
ich keiner.  Und nun ich aber keiner bin, da bin ich einer.
Warum?

    Und Ihr lacht darüber, daß ich bildlich schreibe?  Ist
für uns, die wir die Allerärmsten sind, nicht selbst die
Hölle und das Fegefeuer bildlich?  Wo gibt es die Hölle,
wenn nicht bei Euch?  Und wo gibt es das Fegefeuer,
wenn nicht bei uns?  Dieses Fegefeuer meine ich, wenn
ich symbolisch von meiner "Geisterschmiede" erzähle, deren
fürchterliche Zeit ich heut oder morgen überwunden haben
werde.  Ich zürne Euch nicht, denn ich weiß, es mußte
so sein.  Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu tragen
und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen
und durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit
zu verwenden.  Ich bin nicht verbittert, denn ich kenne
meine Schuld.  Und was andere gezwungen an mir taten,
das trage ich nicht nach.  Ich bitte nur um das Eine:
Laßt mir endlich, endlich Zeit, mit dieser Arbeit
zu beginnen!

                         _________


      Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag
        Soll Feierabend sein im heil'gen Alter.
      Und was ich hier vielleicht noch schauen mag,
        Das sing ich Euch zur Harfe und zum Psalter.
      Ich habe nicht für mich bei Euch gelebt;
        Ich gab Euch alles, was mir Gott beschieden,
      Und wenn Ihr nun mir Haß für Liebe gebt,
        So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden.

      Nach meines Lebens schwerem Leidenstag
        Leg allen Gram ich nun in Gottes Hände.
      Und was mich hier vielleicht noch treffen mag,
        Das führe er in mir zum frohen Ende.
      Ich hab' die Schuld, die Ihr auf mich gelegt,
        Gewißlich nicht allein für mich getragen,
      Doch was dafür sich irdisch in mir regt,
        Das will ich gern nur noch dem Himmel sagen.

      Nach meines Lebens schwerem Prüfungstag
        Wird nun wohl bald des Meisters Spruch erklingen,
      Doch, wie auch die Entscheidung fallen mag,
        Sie kann mir nichts als nur Erlösung bringen.
      Ich juble auf.  Des Kerkers Schloß erklirrt;
        Ich werde endlich, endlich nun entlassen.
      Ade!  Und wer sich weiter in mir irrt,
        Der mag getrost mich auch noch weiter hassen!

                          E n d e.

                         _________





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