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Title: Höxter und Corvey - Erzählung
Author: Raabe, Wilhelm
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Höxter und Corvey - Erzählung" ***


                            Wilhelm Raabe
                               Bücherei
                             Erste Reihe
                               Band 11

                            Wilhelm Raabe
                               Bücherei

                             Erste Reihe:
                               Kleinere
                             Erzählungen

                             Elfter Band

                           Berlin-Grunewald
                  Verlagsanstalt für Litteratur und
                        Kunst / Hermann Klemm

                            Wilhelm Raabe



                                Höxter
                                 und
                                Corvey


                              Erzählung

                            Dritte Auflage
                           11.-16. Tausend

                           Berlin-Grunewald
                  Verlagsanstalt für Litteratur und
                        Kunst / Hermann Klemm

                 Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
            Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz
            Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig



                          Höxter und Corvey



                           Erstes Kapitel.


Wir haben unsern Lesern immer gern die Tageszeit geboten, aber so schwer
wie diesmal ist uns das noch nie gemacht worden. In der Stadt Höxter
waren die Turmuhren sämtlicher Kirchen in Unordnung. St. Peter und St.
Kilian zeigten falsch, St. Nikolaus schlug falsch und bei den Brüdern
stand das Werk ganz still; nur auf Stift Corvey, eine Viertelstunde
abwärts am Fluß, befand es sich noch in geziemlicher Ordnung und hatte
sich auch eine Hand gefunden, die es darin erhielt und es zur rechten
Zeit aufzog. Es schlug vier Uhr am Nachmittage auf dem Turme der Abtei.

So viel für die Tageszeit. Was die Zeit sonst anbetraf, so schrieb man
den 1. Dezember im Jahre 1673: am 23. November 1873 beginnen wir unsere
Erzählung; es sind also gerade ungefähr zweihundert Jahre seit jenem
Wintertage vergangen. Maurer, Zimmerleute, Tischler, Schlosser, Glaser
und, vor allen Dingen, Uhrmacher sind am Werke gewesen, haben die Mauern
wieder aufgebaut, die Pfosten zurecht gerückt, die Türen eingehängt,
neue Fenster vorgeschoben und dafür gesorgt, daß auch die Turmuhren
wieder die richtige Zeit anzeigen. Es hatte viele Arbeit und große
Geduld gekostet; -- wehe dem, welcher von neuem frevelhaft die Hand
bietet, die Wände abermals einzustoßen, die Dächer abermals abzudecken
und die Türen und Fensterscheiben von neuem zu zertrümmern. Der
Gegenwart sei bemerkt, daß das Wiederaufbauen, das Auf- und Einrichten
zu allem übrigen stets auch viel Geld kostet.

Es war ein winterlicher, feuchtkalter Tag. Schweres Regen- und
Schneegewölk wälzte sich über den Solling. Die geschwollene, stets
hastige und übereilige Weser rollte ihre erbsengelben Fluten in
anscheinend völlig breiartigen Wirbeln aus den Bergen zwischen
Fürstenberg und Godelheim und Meigadessen her, quirlte durch das kahle
Weidengebüsch und das welke Röhricht der Ufer und ärgerte sich heftig
über jeden Widerstand, der ihr auf ihrem Wege aufstieß.

Solch einen Widerstand fand sie unter den Mauern der Stadt Höxter; denn
da traf sie nicht nur auf die Eisbrecher, sondern auch auf die
Pfeilertrümmer des uralten Völkerübergangs: die Brücke selber fand sie
wieder einmal, wie so häufig, nicht. Grimmig schäumte und kochte sie
empor an den bis auf den Wasserspiegel abgebrochenen Pfeilern und
Stützen; aber es war auch etwas wie ein Triumphjubel in ihrem Rauschen:

»Hoho, Menschenwerk! Menschennarretei! Hoho, drüber weg und weiter, dem
Weltmeer zu, und mitgenommen, was zu greifen ist! Das alte Spiel durch
die Jahrtausende -- Triumph!«

Die gelben Wellen der Weser mochten wohl höhnisch brausen. Sie hatten
die Brücken des Drusus und des Tiberius, des Königs Chlotar und des
großen Karl auf ihrem Nacken getragen an dieser Stelle; -- jedes
Jahrhundert fast hatte ein halb Dutzend Male für Krieg und Frieden hier
eine neue Brücke gebaut; -- Triumph! wo trieben heute die Balken und
Bohlen der letzten, die vor drei Jahren neu geschlagen wurde, und die
vorgestern Monsieur de Fougerais, der französische Kommandant von
Höxter, vor dem Abmarsche, seinem Feldmarschall Monsieur de Turenne
nach, hatte umstürzen lassen?

Vorgestern war Monsieur de Fougerais dem Marschall nach gen Wesel zu
abmarschiert. Ihre Hochfürstlichen Gnaden Christoph Bernhard von Galen,
Bischof zu Münster, Administrator zu Corvey, Burggraf zu Stromberg und
Herr zu Bordelohe, hatten Kaiser und Reich, sowie der Republik Holland
ihren französischen Trumpf ausgespielt: der Franzmann hatte es sich
bequem gemacht, wie der Deutsche es gewollt hatte; und, wie gesagt, die
Uhrwerke auf den Türmen vom Rhein bis zur Weser waren darob wieder
einmal in Unordnung geraten und zeigten die unrichtige Stunde oder
standen ganz still. Was die westfälischen Glocken anbetraf, so waren
deren eine ziemliche Menge von dem hohen Bundesgenossen des biedern
Reichsstandes mitgenommen worden, um in französische Geschützläufe für
die Reunionskriege, den Überfall von Straßburg und den spanischen
Erbfolgekrieg umgegossen zu werden.

Weiteres zu seiner Zeit. Vom Stift her wissen wir, was die Glocke
geschlagen hat; Christoph Bernhard hat dafür gesorgt. Es ist vier Uhr
nachmittags, und wir stehen im Bruckfelde am rechten Ufer des Flusses,
der zertrümmerten Brücke gegenüber und warten auf die Fähre, die man
nach dem Abzuge der wüsten gerufen-ungerufenen Gäste und Bundesgenossen
aus dem Westen eingerichtet hat.

Wir warten auf einige Leute, die da kommen werden, um sich nach Huxar
übersetzen zu lassen, und sie kommen auch, einer nach dem andern.

Der erste ist ein Mönch aus der Abtei, der unter dem dunkelziehenden
Gewölk von dem Landwehrturm unter dem Walde, dem Solling, auf dem
Feldwege her der Weser zuschreitet. Es ist der Bruder Henricus, vordem
in der Weltlichkeit ein Herr von Herstelle; sein Prior, Nikolaus, vordem
im Säkulum ein Herr von Zitzewitz, hat ihn vor acht Tagen mit einem
Briefe an den herzoglich braunschweigischen Vogt auf dem fürstlichen
Amtshause zu Wickensen abgesendet, und er hat den Brief hingetragen und
kann sonderbare Sachen erzählen.

An Stelle des Vogtes hat er auf dem Amtshause Seine Fürstlichen Gnaden
den Herzog Rudolf August selber vorgefunden und zwar in bester Laune,
den Vorgängen und dem französischen Trubel am linken Weserufer zum
Trotz. Der Herzog hatte den wohlpetschierten Brief des Herrn Priors von
Corvey erbrochen, und es ist ein anderes Schreiben -- französisch
abgefaßt und adressiert -- herausgefallen, welches die Fürstlichen
Gnaden zuerst gelesen haben, zu einem Drittel mit Stirnrunzeln und für
den Rest mit einem Lachen und Spott.

»Ihr tragt gewichtige Sachen im Lande Germanien um, ohne es zu wissen,
Bruder,« hat der Herzog gesagt. »Sintemalen wir nunmehro im Jahre
einundsiebenzig mit Gottes Hülfe und unserer Vettern Liebden Beistand
und freundlicher Handreichung unsere nunmehro zuletzt getreue
Landesstadt Braunschweig mit Waffengewalt und gutem Wort uns zu Willen
und Gehorsam gebracht haben, so danken wir dem Herrn Bischof von
Münster, sowie den Herren Prioren, Kanzlern und Räten von Corvey, wie
imgleichen dem Herrn Marschall von Turenne für freundliches Erbieten und
gedenken fernerhin, wie es uns zukommt, unserer Pflicht und fürstlichen
Eidleistung gegen Kaiser und Reich. Wünschen dagegen dem Herrn Marschall
eine glückliche Reise gen Wesel und haben Euch, ehrwürdiger Bruder,
augenblicklich nichts mitzuteilen, als daß Ihr, so lange es Euch
belieben mag, unser lieber Gast sein mögt; wie wir es gleichfalls in
Euer Belieben setzen werden, Euch in der Gegend umzusehen. Da uns das
Stift und das königliche Hauptquartier zu Höxter aber in Eurer Person
einen Mann geschickt haben, der nicht immer die Kutte trug, sondern
vordem auch den Harnisch und den Kürasserhelm, so verlassen wir uns
darauf, daß Ihr uns zu Hause ^in re militari^ loben und den Herren zu
Huxar und Corvey nach bester Kenntnisnahme empfehlen werdet.«

Da nun der Bruder Henricus außer seinem Schreiben willig auch den
mündlichen Auftrag mitgenommen hatte, sich in der Gegend rechts von der
Weser umzusehen, so machte er Gebrauch von der Einladung des Herzogs. Er
sah sich um, und jetzt kam er zurück, nachdem er sich umgesehen hatte.
Sehen wir uns ihn jetzt vor allen Dingen selber ein wenig genauer an.

Da stand er, auf seinen Wanderstock gestützt, im Bruckfelde an dem
mürrischen Strome und wartete geduldig, bis es dem Fährmann drüben am
Brucktor zu Höxter gefiel, ihn herüber zu holen. Und er sah trotz seinem
geistlichen Gewande wahrlich aus wie ein Mann, der wohl befähigt war,
seinen Vorgesetzten über die militärischen Zurüstungen und Vorkehrungen
Seiner Herzoglichen Gnaden zu Wickensen Bericht abzustatten, und zwar
einen sach- und fachgemäßen. Der Bruder Henricus von Herstelle trug sein
Benediktinergewand würdig und stattlich genug, doch mußte es auch dem
gänzlich Unbefangenen gar nicht unglaubwürdig erscheinen, daß von dieser
breiten Brust und diesen derben Schultern seiner Zeit der eiserne Panzer
ohne alle Beschwerden getragen worden sei. Daß die runzlige, aber immer
noch kräftige Faust vor Zeiten etwas anderes umschlossen habe als den
harmlosen Stab von Weißdorn, konnte dann einem irgend aufmerksamen
Betrachter auch weiter nicht zweifelhaft bleiben. Der Bruder Henricus
trug dem winterlichen Tage ins Gesicht die Kapuze zurückgeschlagen und
bot die Tonsur dem Wind, den vereinzelten Schneeflocken und den scharfen
Schauern seines Regens frei hin. Ein Kranz grauer, ein wenig borstiger
Haare umgab den runden wohlgeformten Schädel, und eine Narbe auf der
Stirn sprach von anderem und wilderem Zusammentreffen als mit den
Brüdern und Vätern in Gott und Jesu Christ bei der Hora und Mette. Der
Junker Heinrich von Herstelle war jetzt ein alter Mann, doch jung und
frisch auf den Beinen. Sein Räuspern selbst und sein Niesen klang
kräftig und mannhaft, und man konnte es dem Vater Adelhardus, dem
Stiftskellner, vordem ein Herr von Bruch, gar nicht verdenken, wenn er
die Freundschaft und gute Kameradschaft gerade dieses ehrwürdigen
Bruders jeglicher andern innerhalb der Mauern der Abtei vorzog.

»Wo die Brücke geblieben ist, kann ich mir schon deuten,« sagte der
Bruder Henricus kopfschüttelnd. »Ein Ärgernis ist es aber doch!« fügte
er hinzu, die Hand über die Augen legend und nach der Fähre ausschauend.
Er hatte noch zu warten, denn der Fährmann drüben zu Höxter beeilte sich
des einzelnen Fahrgastes wegen nicht. Faul hingestreckt lag er neben der
Wölbung des Brückentors auf seiner Bank und wartete auch; nämlich auf
die Ansammlung mehrerer Leute drüben am braunschweigischen Ufer.

Endlich kam der zweite Fahrgast. Diesmal ein altes Weibchen, das auf dem
Schifferpfade von Lüchtringen her heranhumpelte, keuchend unter einem
schweren Bündel; -- ein altes Judenweib, unter dem Namen Kröppel-Leah
dem Pöbel zu Huxar wohlbekannt, doch hochangesehen bei ihren
Glaubensgenossen; -- wegmatt, zeitmatt, kriegszerzaust und kriegerisch,
ja kriegerisch unter ihrem Packen trotz ihrem Alter und ihrer Müdigkeit
anzuschauen.

Mit tiefen Knixen und schüchternen Verbeugungen näherte sich die Greisin
dem greisen Benediktinermönch, der aber neigte das Haupt, winkte mit der
Hand und sagte:

»Der Gott Abrahams knöpfe dem Schlingel da drüben die Ohren auf. Tretet
heran, Frau: werft Euer Bündel ab und setzet Euch. Um uns beide rührt
sich der lüderliche Bursch fürs erste noch nicht.«

»Ich danke Euch, guter ehrwürdiger Herr,« erwiderte die Greisin. »Alte
Knochen, müde Füße, schweres Herz --, ich kann wohl in Geduldigkeit
warten.«

»Ich auch!« sprach der Mönch, und dann, mit einem Blick auf die durch
die Wirbel des Flusses vorragenden Trümmer der Brückenpfeiler, fragte
er: »Wisset Ihr, Mutter, vielleicht genauer, was das nun wieder zu sagen
hat? Wenn man sich auch das Seinige zurechtlegt, so hört man doch gern
eines andern Bericht. Als ich abging von Corvey, schritt ich noch
trocknen Fußes über die Weser.«

Die Greisin schüttelte den Kopf:

»Ich kann es nicht sagen, ehrwürdiger Herr. Anno Siebenzig am
siebenzehnten Januar hat es der Fluß selber getan. Vordem Anno
Sechsundvierzig tat es der Herr Feldzeugmeister von Wrangel; vordem
taten es Herr Kaspar Pflugk und die Herren Liguisten, -- vordem Herr
Christian von Braunschweig, den sie den tollen Herzog nannten.
Dazwischen dann wieder immer der Strom selber. Ja, wer hat's heute
getan?«

Der Bruder Henricus lächelte ein wenig.

»Was Ihr mir da eben ableiert, Frau, kann ich in seiner Richtigkeit für
mehr als einen Axthieb ^in persona^ bezeugen. Wo kommt Ihr denn her,
Frau?«

»Von Gronau, im Fürstentum Hildesheim. Da ist meiner Schwester Sohn
gestorben. Er war der letzte Mann in meinem Hause. Ich hab' ihn sterben
sehen und mir die Erbschaft geholt nach Höxter.«

»Hm!« murmelte der Bruder Henricus und sah auf das Bündel, auf dem die
Alte zusammengekauert hockte, und von dem sie aus scheu und furchtsam zu
ihm seitwärts aufblickte.



                           Zweites Kapitel.


»Um einen Mönch und ein altes Weib tu ich keinen Zug am Seil,« brummte
Hans Vogedes, der Fährmann, und räkelte sich auf seiner Bank von der
linken auf die rechte Seite; und die Bürgerwacht unter dem Torbogen
lachte ^in choro^ und stimmte ihm ganz und gar bei.

Es war eine wunderliche Wachtmannschaft, in deren Zusammensetzung
sich die ganze Verwirrung des Gemeinwesens aussprach. Zwei
Münstrisch-Corveysche Infanteristen schulterten da ihre Musketen; ein
Schuster, ein Zimmermann und zwei Schneider aus dem überwiegenden
lutherischen Teile der Stadtbevölkerung vom Rat aufgeboten, hatten sich
sonderlich gewappnet mit Helm und Harnisch aus der Liguisten- und
Schwedenzeit und lehnten martialisch an ihren Spießen und Stangen. Den
Oberkommandanten des Ganzen aber, Korporal Barthold Polhenne, hatte die
katholische Bürgerschaft aus ihrer Mitte unter Beistand des Stiftes und
der Minoritenbrüder in der Stadt gestellt: die Ordnung, die er hielt,
und die Autorität, deren er sich rühmen durfte, waren denn auch danach.

Niedergetreten vom schweren Stiefelabsatz des Herrn von Turenne, mit
Kontributionen bis zum letzten ausgesogen vom Herrn von Fougerais; von
der welschen Besatzung in den Häusern und auf den Gassen bis zum
äußersten in alles Elend und alle Wut hineingequält -- widerspenstige
Untertanen Seiner bischöflichen Gnaden von Münster, hungrige Bürger der
guten »Munizipalstadt Höxar«, -- kurz, armes, notdürftiges, geplagtes,
verwirrtes, deutsches Volkswesen, wie es aus dem Trümmerschutt des
Religionskrieges aufwuchs, gleich den Wurzelsprossen um einen gefällten
Baum -- es sah eben böse aus in Höxter nach dem Abmarsch der hohen
französischen Alliierten!

Drüben am rechten Ufer der Weser stand der Mönch bewegungslos auf seinen
Stock gelehnt, und Kröppel-Leah saß auf dem Bündel mit dem Nachlaß des
Schwestersohnes. Sie warteten ruhig ab, daß das Schicksal ihnen den
dritten Mann sende, um den Hans Vogedes vielleicht wohl fahren mochte;
und dieser dritte Mann erschien jetzt wirklich. Er kam durch das niedere
Feld und die Allerwiese vom Dorfe Boffzen her, -- auch ein alter Mensch,
hochgewachsen, dürr, im schwarzen Rock und Untergewand, weitbeinig und
energisch-eilig -- Ehrn Helmrich Vollbort, der Pfarrherr der
lutherischen Kilianikirche zu Höxter. Es schien ihm gut zu dünken, bald
nach Hause zu kommen, denn die Witterung wurde nicht freundlicher, und
die Dämmerung nahm immer mehr zu. Ob der Pastor auch noch andere Gründe
für seine Hast hatte, werden wir ja wohl erfahren; fürs erste, als er
die stattliche Gestalt des Benediktiners an der Fährstelle zu Gesicht
bekam, mäßigte er seinen Schritt; jedoch nur für die kürzeste Weile,
denn sofort trat er um so kräftiger auf und heran und grüßte kurz und
schweigend.

Höflich erwiderte der Bruder Henricus den Gruß; die Judenfrau erhob sich
mühsam von ihrem Sitze und knixte. Es war eine seltsame Gruppe, die
unter dem stürmischen, dunklen Himmel, vor den gelben grollenden, wild
hinstürzenden Wassern auf das Höxtersche Fährschiff zu warten hatte; der
Mönch von Corvey aber war der erste, dem das Schweigen peinlich wurde,
und der also auch zuerst den Mund auftat. Wahrhaftig, es ist zweihundert
Jahre her, aber auch der Bruder Heinrich von Herstelle begann mit einer
Bemerkung über das Wetter, und sie hatte dieselbe Wirkung wie
heutzutage.

»Es ist freilich ein rauher Tag,« erwiderte Ehrn Helmrich Vollbort, der
Pfarrherr zu Sankt Kilian, nach der Stadt hinüber und auf die
zertrümmerte Brücke sehend. »Ein Tag oder Abend, wie er wohl für Ort und
Zeit paßt.«

»Sie haben das richtige Wort gesprochen, Herr Pastor,« sagte der Mönch.
»Obgleich ich vom Hause abwesend war, so nehm' ich gern jede Anmerkung,
die hier und heute ^tempora et mores^ in ein Gleichnis bringt,
vollgeltend hin.«

Die jüdische Greisin, die sich wieder auf ihr Bündel niedergekauert
hatte, bedeckte das Gesicht mit der rechten Hand und seufzte schwer und
nickte verstohlen gleichfalls.

»Sie befanden sich nicht beim französischen Abmarsch im Stift, mein
Pater?« fragte der Pfarrherr.

»Ich trug einen Brief zum Herrn Herzog Rudolfus Augustus, -- nämlich ich
traf ihn mit Heeresmacht zu Wickensen, auf seinem Amtshause, -- ich traf
ihn mit Heeresmacht dort im Walde, im Solling.«

»Ei!« murmelte der Prediger von Sankt Kilian, hoch aufhorchend. »Die
Herren zu Corvey waren sich dessen vermutend? Hat der welsche Holofer
--«

Er brach ab und schloß -- seinerseits mit einem schweren Seufzer: »Es
ist gleich; wir bleiben, wie wir sind, in der Not. Der Wille des Herrn
geschehe, jetzt und immerdar.«

»Amen!« sagte der Bruder Henricus.

Das Fährschiff ließ noch immer auf sich warten; aber das Gespräch auf
dem rechten Weserufer war in Gang gekommen. Der Mönch fragte höflich und
der lutherische geistliche Hirt antwortete ebenso höflich, wenngleich
viel finsterer oder, sozusagen, verdrossener. Sie erfuhren beide
mancherlei voneinander, was ihnen wissenswert sein mußte. Was den Bruder
Henricus im besonderen anbetraf, so erfuhr der nunmehr ganz genau, in
welcher Weise diesmal die Höxtersche Brücke stromab geschwommen sei und
wie drüben, wieder einmal, das Haus wandlos und dachlos stehe, jedem
Regen- und Sturmstoß preisgegeben. Die jüdische Greisin murmelte
eintönig ihre Gebete vor sich hin, der schmutzige Fluß rauschte
mürrisch, und am Brucktor von Huxar rüstete Hans Vogedes sich endlich
zur Fahrt. Die sonderbare Wachtgesellschaft unter dem Tor hatte sich um
einen sonderbaren Menschen vermehrt, und dieser war's auch, der den
faulen Schiffer an sein Amt trieb.

Er war die Straße herabgekommen, die Hände in den Taschen, den Hut
schief auf den verwilderten Lockenkopf gedrückt, in abgetragenes
gelehrtes Schwarz gekleidet, eine kurze, gestopfte, doch nicht brennende
Tonpfeife im Munde, sein einziges Eigentum in dieser lustigen
Welt, ^Quinti Horatii Flacci poemata^ in einem abgegriffenen
Schweinslederbande im Sack und -- seine eigene Version des römischen
Poeten zwischen den Zähnen:

   »Nun herrschet mit lockeren Flammen im Herzen
   Die Thrakerin Chloe zu Lachen und Scherzen,
   Nun singt sie, nun schlägt sie die Laute mir fein;
   Zu doppeln ihr Leben setz' meines ich ein.«

Da wir mehr mit dem jungen Mann zu tun haben werden, so wollen wir
sofort sagen, wie er hieß, wer er war, und wie es mit ihm stand.

Mit Namen hieß er Lambertus Tewes, er war der Schwestersohn Ehrn
Helmrich Vollborts, des Predigers zu Sankt Kilian, und seines Zeichens
war er leider ein vor acht Tagen von der berühmten Universität, der
Julia Karolina zu Helmstedt, relegierter Studiosus der Jurisprudenz.
Sein Alter belief sich auf neunzehn Jahre und vielleicht ein halbes
drüber; sonsten war er heute wahrscheinlich der einzige Mensch
vergnügten, wohlwollenden und unbesorgten Gemütes in der Stadt Höxter an
der Weser, und der sich auch dergestalt natürlich gab. Zu der
schmauchenden Wachtmannschaft trat er heran, um sich Feuer auf seinen
Tabak geben zu lassen; zu versäumen hatte er sonst nichts und sah es
gern, wenn man ihm irgendwo, wie zum Exempel hier, augenblicklich Platz
auf der Bank machte.

»Rück zu, Schulkamerad, wenn du nichts Besseres vor hast,« rief einer
von der lutherischen Wacht, der mit dem Studenten vordem dem Höxterschen
Scholarchen durch die Hände gelaufen war. »Willst du aber über die
Weser, so wird dich Hans Vogedes sogleich mitnehmen und sogar umsonst,
das heißt, für ein Stück Latein aus deinem Tröster, während er das
Schiff löst. Nicht wahr, der Handel gilt?«

»Nicht wahr? Ei so!« lachte der verwilderte Helmstedter Bursch. »Du
fielst der alten Mutter Philosophia freilich eher aus der vielgeflickten
Schürze, als sie dich in den römischen und griechischen Topf schütteln
konnte! Nun, du hättest den Höxteranischen gelehrten Sauerkohl auch
nicht fetter gemacht.«

»Meister Polhenne, er fängt an, die Gemütlichkeit zu stören, sowie er
kommt. Man kennt deine Redensarten, du Träbernfresser.«

»Ruhe auf der Wacht. Magister Lambert, haltet den Mund; und Ihr,
Schuster Kappes, das Maul! Sonsten aber stimme ich auch für ein Stück
aus dem alten Heiden,« brummte der Korporal Polhenne.

»Gefällt Euch der alte Heide so gut, Korporal?«

»Hier am Ort ist niemand, der es da Euch gleich tut. Das Latein kommt
immer mehr ab in der Welt. Jesus, wenn ich an meine Jugendzeit denke,
und wie sie da es uns von den Kanzeln an die Köpfe warfen!«

»^O nata mecum consule Manlio^,« summte der Student, aber brach sogleich
ab, um seine Perlen nicht vor die Säue zu werfen, klopfte den Korporal
auf die Schulter und rief: »Lasset nur das Latein, Polhenne --

   Corvinus vermahnt uns
   Bedachtvoll und klug,
   Das Faß aufzuwinden,
   Zu heben den Krug.
   Wie Sokrates redet,
   Doch trinkt auch wie er!
   So klingt schon beim Alten,
   Beim Cato die Lehr.
Sagt, Jungen, was gibt es denn zu trinken am Ufer
des gelben Tibers -- will sagen, der gelben Weser?
Was hat euch der falsche Punier, der grimmige Unhold
Hannibal für euren und meinen Durst übrig gelassen?«

»Wenn Ihr den Fougerais meint, Magister -- da! da läuft es!« schrie wie
ein Mann wütend die Wacht am Brucktor zu Huxar, auf den Weserstrom
deutend.

»Dieses Faß wird Euch so leicht nicht auslaufen, Herr Doktor!« brummte
einer der Münsterschen Musketierer über die Schulter; der Student aber
schüttelte sich:

»Brr! -- er ist zuletzt abmarschiert, seinem Meister Turennius nach; --
^ultimo scabies^, die Krätze auf den Letzten. Bei den unsterblichen
Göttern, ihr Herren, da mag selbst dem Gutherzigsten der Germanen sein
kimmerischer Tag allzu grau werden, um den Horaz zu zitieren. Gebt mir
Feuer auf meine Pfeife.«

Das geschah, und in dem nämlichen Augenblick kam von drüben her über den
Fluß ein heiserer Ruf, und ein schwarzer Mann winkte durch die
Abenddämmerung mit seinem weißen Sacktuch. Herr Lambert Tewes, der sich
zweier Augen von Falkenart rühmte, sagte:

»Ich hab' ihn zu Hause gesucht, um noch einmal kläglich vor ihm zu tun.
Doch ^chère tante^, ehe sie mir die Haustür vor der Nase zuschlug und
verriegelte, tat mir kund, der Herr Oheim sei nicht zu Hause, sei über
die Weser zum Herrn Amtsbruder in Boffzen. ^Ecce vir excellentissimus^
-- ^avunculus divinus ac singularis^, -- und siehe ein Mönch und ein alt
Weib in den Handel! Hinüber, Fährmann, und holt mir den Herrn Oheim, ich
brauche ihn notwendiger, als ihr euch vorstellen möget, ihr Herren und
guten Freunde.«

»Ich hab' es dir schon lange gesagt, daß du dich endlich aufmachest,
Hans,« fiel einer der Spießträger bei. »Es ist unser Herr Pastore, der
zuletzt ungeduldig geworden ist.«

Das wirkte. Der Fährmann stand auf, reckte sich, gähnte, stieg in sein
Schiff und griff nach dem Seil. Seinen Platz auf der Bank nahm, wie
gesagt, der Student ein.

Schwer arbeitete sich der Schiffer mit seinem Kahn, gegen die mächtig
drängenden, winterlich geschwollenen Fluten an, hinüber zum anderen
Ufer. Die Wacht sah ihm mit behaglich-träger Anteilnehmung nach, und
Herr Lambert Tewes, den Rauch aus seiner kurzen Tonpfeife blasend,
summte:

   »Mit Gleichmut nimm, was frommt, was dreut,
   Die Welt fleußt gleich dem Strome her,
   Der sanft in seinem Bette heut
   Abgleitet zum Etruskermeer;
   Doch morgen in Empörung schwillt,
   Aus seinen Ufern überquillt,

   Gesteine schiebt,
   Den Wald zerstiebt,
   Die Herde schluckt in seinen Bauch,
   Den Hirten und die Hütte auch;
   Wenn Jupiter der Menschheit grollt
   Und schwarz Gewölk vom Pol her rollt.«



                           Drittes Kapitel.


Der Student hatte sich eben in solcher Weise die Ode seines römischen
Poeten an den Gönner Mäcenas mundgerecht gemacht, als das Fährschiff das
jenseitige Ufer der Weser erreichte. Mit einer höflichen Mützabnehmung
und mit einem Kratzfuß lud Hans Vogedes den lutherischen Geistlichen
ein, einzusteigen. Den Mönch von Corvey, den Bruder Henricus, grüßte er
auch, doch um ein bedeutendes formloser. Was die alte Jüdin anbetraf, so
machte er selbstverständlich Miene, vom Lande wieder abzustoßen, ohne
sie mit nach Höxter hinüberzunehmen.

Der Mönch aber hatte ihr für ihr Geld zu ihrem Rechte verholfen, zu
einem Sitze im Kahn, und auch der Prediger von Sankt Kilian war
zugerückt, um ihrem Bündel Platz zu machen.

Nun schwamm die Fähre von neuem der Stadt zu. Die beiden geistlichen
Herren saßen still, die Jüdin zusammengeduckt gleichfalls: der rohe
Fährmann murrte bei seiner freilich nicht leichten Arbeit immerfort
leise Schimpfworte vor sich hin und warf von Zeit zu Zeit einen
verstohlenen Blick auf den Sack, der die Erbschaft der Kröppel-Leah
enthielt. In der Mitte des Stromes fragte der Mönch:

»Wie geht es Euch da -- zu Hause, Schiffsmann, seit das fremde Volk
Abschied genommen hat?«

»Der Teufel hat sein Hauptquartier da behalten, Pater,« lautete die
Antwort. »In Corvey war groß Jubilieren -- sie werden auch Euch das
Essen warm gestellt haben. Höxar hungert und kaut Wut; Ihr werdet dort
wenige Hauswände finden, durch die der Wind nicht pfeift. ^Sacré^, wie
die französischen Hunde sagten, ich pfeife auch darauf, ich hab'
wenigstens nicht Weib und Kind zu versorgen. Um ein wenig besser
Handgeld wär' ich auch mit dem Fougerais abgezogen.«

Der Bruder Henricus seufzte: auch der Pastor Helmrich Vollbort seufzte
und schlug mit der Faust auf den Rand des schwerfälligen Fahrzeuges.

Der Pastor sagte dann:

»Der Mann spricht Ihnen die Wahrheit, Herr Pater, wie ich schon vorhin
sie sagte. Es sieht übel aus in der armen Stadt; der Herr bewahre uns
vor weiterem Schaden.«

Der wilde Fluß wand sich unter dem Kahn gleich einem bösen Tier.

»Die Welt ist gleich dem Strom,« fuhr der Pastor fort, »sie gehet
bedeckt mit Trümmern; aber der Herr wandelt dennoch auf den Wassern. Er
wird's wohl zwingen.«

»Amen!« erwiderte der Bruder Henricus, und dann wurde nichts weiter
gesprochen, bis der Kahn unter der Höxterschen ruinierten Stadtmauer ans
Ufer stieß. In demselben Augenblick schon sprang der Student von seiner
Bank am Brucktor auf und an den Rand der Fähre, zog den Hut zierlich,
bot dem Pfarrherrn von Sankt Kilian die Hand zum Aussteigen und sprach:

»Ehrwürden Herr Onkel, ich hab' mir vorhin wieder einmal die Ehre
gegeben, Ihnen in Ihrer Behausung aufwarten zu wollen. Die Frau Tante
hat mich hierher gewiesen ^ab ostio ad Ostiam^, von der Tür -- die sie
mir leider vor der Nase verschloß -- nach Ostia, will sagen an den
Hafen. Ich mache mein Kompliment, Herr Oheim.«

»Und ich habe Euch nichts weiter zu sagen, Herr! Was stellt Ihr Euch
immer von neuem mir in den Weg?«

»Heraus, Alte! marsch, -- her den Fährlohn und fort mit dir, du Hexe!«
schrie der Fährmann die Jüdin an.

»Gott Abrahams, gleich, lieber Mann!« rief die Greisin. »O, Erbarmen,
werdet nicht böse -- da, da!«

Sie reichte mit zitternder Hand die schlechten Pfennige hin und
stolperte und fiel, als sie mit ihrem Bündel über den Bord des Kahnes
stieg. Die von der Wacht lachten alle über das alte Weib.

Von dem Mönch nahm der Schiffer seinen Lohn, ohne weiter etwas zu
bemerken; aber die beiden Münsterschen Kriegsleute und der
Bürgerkorporal Polhenne hielten die Hüte in der Hand. Mit einem stummen
Gruße für alle und mit einem Kopfneigen für seine Glaubensgenossen
schritt der Bruder Henricus durch das Brucktor, den übrigen voran.

Die Kröppel-Leah trieb einer der wachthaltenden Schneider
spaßhafterweise mit dem Spießende zum eiligeren Forthumpeln an. Ihr sah
der Fährmann am nachdenklichsten jetzo nach und nahm einen und den
andern Kumpan aus dem Volk, das sich sonst noch an der Fährstelle
angesammelt hatte, zu einem Geflüster beiseite.

Der Student Meister Lambert Tewes hatte nach der kurzen und derben
Abweisung seines ehrwürdigen Verwandten den Hut wieder aufgesetzt; aber
als ein braver Bursch, der mit den Philistern umzugehen weiß, ließ er so
leicht nicht locker. Wenn er vorhin vom Etruskermeer gesungen hatte, so
begab er sich jetzt auf ein ander Gewässer, griff rückwärts nach dem
Horaz in seiner Tasche, um sich zu vergewissern, daß dieser Trostbringer
noch vorhanden sei, und summte, was voreinst dem Aelius Lamia
vorgepfiffen worden war, dem unwirschen Onkel Helmrich von Sankt Kilian
hin:

   ^Musis amicus, tristitiam et metus^
   ^Tradam protervis in mare Creticum^
   ^Portare ventis^ --

er sang es aber deutsch in absonderlicher Umschreibung:

   »Der Wind pfeift hin zur Kreterflut,
   Verdruß und Wut
   Und Grämlichkeit
   Fährt mit ihm weit!
   Dem Musensohn kommt's närrisch vor,
   Kratzt sich der Philosoph am Ohr;

es würde mir das Herz abdrücken, Ehrwürden Herr Oheim, wann ich als
Eurer Frauen Schwestersohn Euch so leichthin, ohne nochmals Eure Kniee
umfaßt zu haben, Eures Weges in Übelgewogenheit gehen ließe. Es ist wohl
wahr, sie haben mir ^Consilium abeundi^ gegeben, aber --«

»Und ich und meine Hausfrau haben desgleichen getan!« rief der Pastor
zornig. »Herr, haltet mich nicht länger auf; ich und mein Haus haben
nichts mehr mit Euch zu schaffen.«

Der Prediger ging schneller zu; aber der Neffe hielt sich hartnäckig an
seiner Seite.

»Bei den Penaten Eures Herdes, Herr Oheim --«

Er kam mit seiner Rede wiederum nicht zu Ende. Plötzlich stand der alte,
strenge Herr still und rief:

»Was wollt Ihr eigentlich noch, Monsieur, nachdem ich Euch meine Meinung
so deutlich gesagt habe? Ist das eine Zeit für Narrenteiding? Sehet Euch
um, ist das ein Schauspiel dem Auge, um dabei den Horatius abzuleiern?
Sehet mir in das Herz; -- in dem Hause Gottes haben die Fremden ihre
Rosse gestallt; in meiner Kirchen haben sie ihre Bacchanalia gehalten! O
rufet nur ^Evoë^, ^Evoë^, und lobet den Bacchus und die Venus, die --;
greifet Euch doch in das eigene Herz; ist denn das Volk der Teutschen,
das arme elende Volk -- hauslos und dachlos hier und an so mancher
anderen Statt -- in der Lust und Begierde, des römischen Poeten geile
Reime an sein schmerzend Ohr klingen zu hören?! Sehet um Euch, Mensch,
und gehet und lasset mich meines Weges gehen; was hülfe es Euch, daß Ihr
mit mir kämet? Auch bei mir würdet Ihr eine verwüstete Heimstätte und
einen kalten Herd finden.«

Der geistliche Herr hatte eine Handbewegung um sich her gemacht, und was
diese harte, magere, knochige Hand andeutete, das sah freilich trostlos
genug aus.

Sturm auf Sturm war seit dem Jahre 1618 über das Höxtersche Weichbild
hingefahren. Kein Chronist hat noch gezählt, wie oft dieser Ort, die
Fährstelle und Brücke am großen Völkerübergang zwischen Ost und Westen
dem Schwert und der Brandfackel anheimgefallen war. Aber die Ruinen, die
wüsten Stellen, die Ärmlichkeit der wenigen wieder aufgerichteten
Menschenwohnungen und diese in ihrer allerneuesten Verwüstung zeugten
davon. Gleich einem verwesenden Körper lag die Stadt Huxar in dem grauen
Abendlicht des Dezembers da, und die alten schwarzen Kirchen ragten wie
das Knochengerüst aus dem zerfallenen Fleische der Stadt. Und die Gasse
war voll des zerstampften Strohs, des Schutts, der Asche und Trümmer und
stank auch sonst dem Heer des allerchristlichsten Königs übel nach; der
Student hielt sich die Nase zu, schob den Hut von einem Ohr zum anderen
und nickte:

»Bei den Göttern, es ist ein Elend!«

Das war es; aber das Laster saß eben doch zu tief im Blut. Herr Lambert
zitierte wieder; wenngleich mit kläglichster Miene:

   »Wem klagt das Volk des Reiches Fall,
   Wen ruft es an mit Seufzerschwall?
   Wen schickt uns Zeus als Rächer her,
   Wem legt er in die Hand die Wehr?
   Dein Licht verhüllt, schwing nieder dich,
   Augur Apoll errette mich, --

^ad Augustum Caesarem^ ist die Ode überschrieben, Herr Oheim.«

»Den Herrn sollt Ihr anrufen; sein Name ist Zebaoth! Emanuel ist sein
heiliger Name!« sprach der Pfarrherr, die drohende Hand erhebend und
weiter schreitend. Jetzt ließ der Student und Neffe ihn ziehen und stand
still und sah ihm nach und dann noch einmal sich um in Höxter.



                           Viertes Kapitel.


»Die Vetternschaft und zärtliche Verwandtschaft hätten wir demnach also
vergeblich begrüßet!« sagte der in die Wildnis ausgetriebene Bürger und
ungeratene Sohn der erlauchten und erleuchteten Mutter Julia Karolina.
»Sie haben mir immer meinen Weichmut vorgeworfen; aber hier habe ich es
wahrlich nicht an Hartnäckigkeit fehlen lassen. Da hab' ich doch getan
und versucht, was meine seligen Eltern nur verlangen konnten. Ein
anderer wär' längst grob geworden und hätte der lieben Frau Tante und
dem Herrn Onkel den Stuhl vor die Tür geschoben; nur solch ein
gutherziger Gesell wie ich läßt sich dreimal aus ihr herauswerfen, ohne
auf die ihm von früher Jugend an eingebläute Pietas den Teufel
herabzubeschwören. Alle Höllengeister, erlöset mich von dem weichen
Gemüte!«

Er kratzte sich bedenklich am Krauskopf, obgleich er vor zehn Minuten
noch jeden Weltweisen, der dergleichen tun würde, arg in gebundener Rede
gelästert hatte. Dann griff er von neuem hinterwärts in den Sack, traf
aber auch diesmal auf wenig mehr drin als auf den Günstling des Mäcenas,
den Liebhaber Glycerens, den Freund des Varus, -- auf den alten sonnigen
Schäker, den Flaccus. So stand er in der beginnenden deutschen
Winternacht, als plötzlich der weiße Benediktinermönch, der Bruder
Henricus, abermals an ihm vorbeiging. Der Frater hatte noch einen Besuch
bei dem Minoritenprediger, den der Fürstbischof Bernhard von Galen der
katholischen Kirche in Höxter als Hirten vorgesetzt, abgestattet, hatte
ihn jedoch nicht zu Hause angetroffen und war, vom Küster zu Sankt Peter
beschieden, ihm nach dem Hause des Bürgermeisters Thönis Merz
nachgegangen. Er hatte seinen Minoriten richtig gefunden und sein Wort
mit ihm ausgetauscht, und nun war er auf dem Wege zum Corveytor.

»^Salve Domine!^« sagte der Student recht freundlich; und der Mönch
schreckte auf, wie es schien, aus recht unbehaglichem Gedankenspiel. Er
grüßte aber auch freundlich mit einer Verneigung und wollte damit ruhig
an dem jungen Gelehrten vorüber; aber so glatt ging dieses doch nicht.
Herr Lambert Tewes ging sofort mit ihm und führte die Unterhaltung
weiter.

»Sie gehen nach Hause, ehrwürdiger Herr Pater?«

»Ich gehe nach einer langen, mühsamen Wanderung durch die arge Welt heim
in meine Zelle.«

»Und Sie wissen also wohl gar nicht, wie gut Sie es haben, mein Pater?«

Trotz seiner Verstimmung mußte der Alte doch lächeln, und seinen Schritt
mäßigend, fragte er:

»Sie gehen bei diesem üblen Wetter noch nicht heim, gelehrter Herr
Studiosus?«

»Wie gerne!« seufzte der Student; »aber haben Sie auch einmal, Herr
Pater, einen Onkel und eine Tante gehabt? O heiliger Kilianus, in welche
Hände ist dein Haus übergegangen! Ich hatte so sicher da auf eine
Abendmahlzeit und einen Strohsack unter dem Schutze deines Marterzeugs
gezählt! Ehrwürdiger Herr, sehet hier; als sie mich von Helmstedt
wegtrieben, ließ ich ihnen meine Schulden und nahm ihnen diesen
Göttersohn in Schweinsleder aus ihrer Bibliotheka mit. Den werde ich nun
bei dieser lieblichen Witterung die Nacht über in einer dieser
Höxterischen Ruinen an einem eingefallenen Herde als Kopfkissen nehmen
müssen. Was meinen Sie aber, mein Pater, wenn Sie ihn mir abhandelten um
ein Billiges? Wenn Phöbus nicht längst diesem niederträchtigen
Erdenwinkel den Rücken gewendet hätte, würde ich das Volum Ihnen gern
zur genauen Besichtigung ^ad oculos^ rücken. Es ist eine treffliche
Edition -- ^Amstelodami, ex officina Henrici et Theodori Boom^ -- mit
einem Frontispizium vom berühmten Maler und Kupferstecher Romyn de
Hooghe; he?!«

»Ich war ein Reitersmann in meiner Jungheit und habe schon und leider
als Junker Heinrich von Herstelle meines Informators Latein an den
Büschen hängen lassen,« erwiderte der Mönch. »Ich danke Euch herzlich,
mein lieber junger Freund, und befehle Euch dem Schutze des
Allerhöchsten. Sonsten haben wir auch zu Corvey eine mächtige,
fürtreffliche Bücherei, und sie würden mich weidlich auslachen, wenn ich
von der Reise dergleichen ihnen mitbrächte und zutrüge.«

»Eulen nach Athen,« murmelte der Student. »Ich will's aus Höflichkeit
glauben; also -- vergnügliche gute Nacht, mein Pater.«

Der Mönch verneigte sich abermals und ging; der Helmstedtsche Studiosus
blieb und rief, als der Bruder Henricus ihm aus Gehörweite entfernt zu
sein schien:

»Also wiederum abgeblitzt! Da lohnte es sich in Wahrheit, seinen
Musquedonner oder seine Schnapphahnflinte zu laden! Pulver und Blei!
^Palsambleu! mille millions tonnerres!^ kein Fluch in teutscher Zunge
kann da ausreichen, um einem Menschenkind Luft zu machen. Da nimmt der
Pfaff meinen warmen Sitz am Corveyschen Stiftsküchenfeuer in seiner
Kutte mit hin; aber -- das ist die Zeit, so ist die Zeit! so sind sie
alle -- gleichviel ob katholisch oder lutherisch aufgewichst! o du
heiliger Simson von der Kollegienkirche! o ihr Fleischtöpfe der ^alma
mater Julia^! o du lange Burschenbank im Ducksteinkeller! -- Und solch
einem Böotier hab' ich meinen Lauriger für ein Nachtessen angeboten?!
Schäme dich, Lambertus, und geh in dich! Bei den Unsterblichen, es
bleibt also bei einem Nachtquartier in den Ruderibus des Herrn
Feldzeugmeisters von Wrangel. Gesegnet sei sein Angedenken! gesegnet sei
sein Durchmarsch nach dem Allgäu zum Bregenzer Sturm! Gesegnet seien
seine Kartaunen und Bombarden von Anno Sechsundvierzig! Da kriegte man
doch wahrlich Lust, selbst den Tilly und den Generalfeldmarschall von
Gleen und das Jahr Vierunddreißig mit seinem >Salzkotter Quartier!<
hochleben zu lassen. Was finge nun heute unsereiner an ohne die Ruinen
vom Höxterschen Blutbad?!«

Ei ja, aber wer hatte sonst in dieser Nacht ein ruhig, warmes Quartier,
ein sicheres und behagliches Kopfkissen und Deckbett in Huxar an der
Weser? Eigentlich niemand. Es kam keiner zu einem gesunden Schlaf, außer
den gesunden Kindern. Es war eben in der Woche nach der Sündflut, und
wie die übriggebliebene Familie Noah sehr bald in Gezänk und Hohn
gegeneinander ihrem Unbehagen in der verwüsteten Welt Raum gab, so lag
die Höxtersche Bürgerschaft jetzt schon im Hader untereinander und sich
im Haar.

Sie hatten sich -- beide, Katholiken wie Lutheraner, -- manches von der
fremdländischen Besatzung gefallen lassen müssen, von dem Herrn von
Turenne und dem Herrn von Fougerais. Nun waren die Franzosen abgezogen,
aber das Gift in den Herzen und Köpfen war geblieben. Ein jeglicher
suchte nach jemand, an dem er seine Galle, gestraft oder ungestraft --
freilich am liebsten in letzterer Weise -- los werden konnte, und beim
rechten Lichte besehen, war niemand vorhanden, der sich hätte anmaßen
dürfen, den Wächter über die kochenden Leidenschaften zu spielen und den
Deckel überzustülpen. Sie waren alle Partei! Und der, welcher die
stärkste Hand hätte haben können, nämlich Herr Christoph Bernhard, der
Bischof zu Münster, führte Krieg mit den Herren Generalstaaten, pfiff
auf das Deutsche Reich, versah sich nichts Gutes von dem Herzog Rudolfus
Augustus auf dem Amthause Wickensen und wußte zu allem übrigen, daß
seine »gute Munizipalstadt«, nämlich die Stadt Höxter, der Mehrzahl
ihrer Eingesessenen nach, gleichfalls nach Wickensen ausschaute, jedoch
aus einem ganz anderen Grunde als er, der Bischof.

»Laufe schnell mal einer nach dem Bürgermeister!« heißt es sonst wohl in
einem gutgeordneten Gemeinwesen; aber auch das war leider Gottes hier
und diesmal von wenig Nutzen. Auch der Bürgermeister von Höxter, Herr
Thönis Merz, war Partei. Man hatte von katholischer Seite, um ihn und
seine »arme gute Stadt« unter die Botmäßigkeit des Stiftes und des Herrn
Fürstbischofs zu bringen, ihm und ihr mit Schikanen und sogar auch
Handgreiflichkeiten arg zugesetzt. Seine Berichte und Klageschriften an
den Schutzherrn zu Wickensen schrien laut genug darob.

Wie lange war es her zum Exempel, daß man ihn, den hochedlen
Bürgermeister, samt seinem ehrbaren Rat auf die Sperlingsjagd geschickt
hatte? War das keine Schikane, daß man von Corvey aus der guten und
glorreichen Stadt Huxar wie der geringsten Bauernschaft der Umgegend
auferlegte, ihr Quantum Sperlingsköpfe im Stiftshofe abzuliefern,
vorzuzählen und aufzuschütten?!

^Per vulnera Christi^ hatte die Stadt zum Herzog Rudolfus Augustus um
Hülfe geschrien, und der Bruder Henricus konnte darüber aussagen, wie
die herzoglichen Gnaden über den Fall dachten.

Ja, ja, wie sich der Bischof und der Herzog über die Weser mit Briefen
und von braunschweigischer Seite vor kurzem auch mit einigen Kompagnien
Fußvolks und stattlichen Reiterzügen unter die Nase rückten und
jahrelang hin- und herzogen, das steht auf manchem Blatte zu lesen, das
gelb und muffig aus jener Zeit zu uns herabgekommen ist.

»Die gute, uralte Stadt Höxar, welche umb ihrer Gerechtsamen und ihrer
heiligen Religion halber Leib, Gut und Blut verloren, wird nunmehr als
das geringste Dorf gehalten. Ihre Schlüssel sind ihr benommen, in ihrem
guten Rechte, sich selber einen Scharfrichter zu halten, ist sie
turbiret. Selbst das Judengeleit, so die Stadt doch vor und nach Anno
1624 gehabt, ist ihr auch wieder weggenommen, daß anitzo ein Hauffen
Juden alle in bürgerlichen Häusern allda wohnen, ihren Wucher treiben
und dennoch der Stadt nichts geben!«

So schrie die lutherische Bürgerschaft.

»Wir werden Euch lehren, so anzäpfliche Worte ohngescheut
auszusprengen!« grollte der katholische Teil der Bevölkerung; und von
Corvey aus ließen sich die bischöflichen Gnaden vernehmen:

»Mit sonderbarer Milde und Clementz haben wir bis dato Euch ungeratene,
widerspänstige Leute zu Huxar traktiret. Unser landesfürstliches Recht
haben wir gewahret: wie reimet sich dann, was Ihr zur Bemantelung des
Braunschweigischen feindlichen Einfalls hervorbringet?«

»Sind nicht schon Bürgermeistern Johann Wildenhorern deswegen, daß er
vor 16 Jahren bey weyland Herrn Abts Arnolden Zeiten in damaligen seinem
Bürgermeister-Ampte für der Stadt Jura gestrebet, allererst vor drei
Jahren, wie itztermeldeten Herrn Abts Fürstliche Gnaden schon todt
gewesen, Früchte weggenommen?« klang's vom Rathause.

»Und wer war Schuld daran,« klang's zurück, »daß unserm Fürstlich
Münsterischen Hauptmann Meyer, welcher mit zwanzig Mann bei Euch lag,
das Trommelspiel, womit derselbe durch seinen Tambour die gewöhnliche
Reveli, Scharwacht und Zapfenstreich schlagen lassen, gewaltthätig
weggenommen und zu der Braunschweigischen Munition unterm Rathhaus
hingebracht wurde?«

»Seid Ihr nicht in dieser anhängigen Sache gleichsam ^Judex, pars et
advocatus^?« schrie die Stadt.

»Mit nichten! Von Gottes Gnaden sind Wir, Christoph Bernhard, Bischof zu
Münster, Administrator zu Corvey, Eueres heillosen, rebellischen
Municipii eingesetzter und gesalbter Landesherr!« schallte es zurück.

»Hm, Euer Liebden,« kam's vom jenseitigen Ufer der Weser schriftlich
herüber, »ohne Euer Liebden in Ihrer unstreitigen Gerechtsame und
Landes-Fürstlicher Hoheit zu nahe zu treten, so haben wir doch als
Erb-Schutz-Herr wegen unseres Fürstlichen Hauses Interesse dahin zu
sehen, daß die arme Stadt in solchem desperaten Zustande nicht gleichsam
vor unsern Augen zu Grunde gehen muge.« ^Signatum^: »Rudolff Augustus«
»An den Herrn Bischoffen von Münster.«

In der gehörigen Zeit nach diesem freundnachbarlichen Schreiben war --
eben der Herr von Turenne in Höxter eingerückt. Eine verständlichere
Antwort auf den herzoglichen Brief hatte Herr Christoph Bernhard von
Galen nicht zu geben gewußt, daß aber der gute Nachbar auf dem Amtshause
Wickensen sie sofort verstanden hatte, wird uns deutlich werden, wenn
der alte Reiter Heinrich von Herstelle zu Corvey Kunde davon gibt, was
er im Solling sah.

Was die Judenschaft anbetraf, über deren in Wegfall gekommenes
»Geleitsrecht« die Bürgerschaft von Höxter gleichfalls so sehr erbost
war, so hielt sie sich verständigerweise so still als möglich, ohne daß
es ihr viel half. -- --

Und nun hatte der Herr von Fougerais am Tage vor der Heimkehr des
Bruders Henricus, nach Wesel abmarschierend, die gute Stadt des
Fürstbischofs von Münster verlassen und -- nicht ohne seine Gründe,
vorher die Brücke, die auf das rechte Weserufer überführte, abgebrochen.
Christoph Bernhard mit seiner Macht stand weit in der Ferne gegen
Holland: für eine Zeit waren Höxter und Corvey sich selber
anheimgegeben, und wild und wüst wie in den Häusern und Gassen sah es in
den Gemütern aus.

Der Helmstedter konsiliierte Studente, der, seinem Worte wenigstens
nach, eben im Begriff war, ein Nachtquartier in irgendeiner Ruine
früheren Wohlstandes zu suchen, konnte da vielleicht unter Umständen den
ruhigsten und behaglichsten Platz in ganz Huxar finden. Es war jetzt
ganz Nacht und viel zu dunkel, um den Horatius hervorzuholen und, mit
dem Zeigefinger zwischen die Blätter greifend, sich ein Vaticinium aus
ihm herauszulangen, wie man früher desgleichen sich aus dem Virgilius
holte. Herr Lambert ging deshalb einfach wie jedes andere Menschenkind,
wie das Schicksal ihn führte; und bis jetzt hatte dasselbe ihn, wo nicht
immer behaglich, so doch stets recht vergnüglich durch die arge Welt
geleitet.



                           Fünftes Kapitel.


Wir sind allesamt in dieser argen Welt gleich Kindern, denen das
Schreiben gelehrt und vom Meister die Hand geführt wird. Nun gingen wir
nur allzu gern sofort dem Bruder Henricus nach; allein schon hat man uns
auf die Schulter geklopft und nach einer anderen Richtung hingedeutet.

Wie die beiden anderen, die mit ihr den wilden Strom überschifft hatten,
war die Kröppel-Leah nach Hause gegangen. Und wenn der Pfarrherr von St.
Kilian hinter der vor dem Neffen verriegelten Tür sein Weib am warmen
Ofen, wenn der Mönch von Corvey seine Zelle fand, so fand die Greisin
ihre Heimat in Ordnung -- wie die Zeitläufte es erlaubten. Fünfzig Mann
von einem pikardischen Musketierregimente hatten in ihrem Hause gelegen
und es sich darin während ihrer Abwesenheit behaglich gemacht! Die
Haustür war halb aus den Angeln gerissen, der größte Teil der
Fensterscheiben auch hier zertrümmert. Sämtliches Gerät war in Stücke
zerschlagen worden. Die Wände waren vom Rauch geschwärzt und sonst
besudelt und mit Namen und wüsten Zeichnungen versaut: die fremden Gäste
hatten nicht alle schreiben können, aber sie hatten sämtlich zu zeichnen
verstanden -- und wie!

Die fünfzig französischen Kriegsmänner hatten das Judenhaus für sich
allein gehabt; aber noch am Tage ihres Abzuges mit dem Herrn von
Fougerais oder vielmehr am Abende dieses Tages hatte sich jemand
eingefunden, der eine Weile starr mit gefalteten Händen und
unterdrücktem Schluchzen ob der Wüstenei dastand, bis er in ein lautes
Weinen ausbrach; und dieser Jemand war ein kleines Mädchen von vierzehn
Jahren, der Greisin letzte Enkelin, gewesen. Wo das Kind sich während
der letzten wilden Wochen verborgen gehalten hatte, war dem Stift und
der Stadt gleichgültig; wenn auch uns nicht. Jetzt war es wieder da und
weinte auf den Trümmern des Hauses seiner Großmutter gerade so laut und
bitterlich wie weiland der Prophet Jeremias auf den Trümmern der großen
Stadt Jerusalem.

Doch das Kind hatte sich gefaßt. Es war eben auch ein Sprößling jenes
tapfersten aller Völker, das sich auf jedem Brandschutt seines Glückes
schier noch hartnäckiger als das deutsche Volk mit seinen Wurzelfasern
wieder anzuheften wußte. Vor allen Dingen hatte das Kind aus dem Hause
der Glaubensgenossen, in welchem es von der Barmherzigkeit aufgenommen
worden war, ein Lämpchen geholt und mit diesem in der Hand seine schwere
Arbeit angefangen. Das kleine Judenmädchen hatte das Haus gereinigt!

Mit seinem Lämpchen in der armen, winzigen, zitternden Hand suchte es
das verwüstete Haus ab vom Keller bis zum Boden, und häufig stöhnte es
und rief den Gott seines Volkes an, wenn es wieder ein schlau und sicher
angelegtes Versteck von der in diesen Angelegenheiten noch schlaueren,
auch auf dergleichen ausstudierten Soldateska des Herrn Marschalls von
Turenne aufgefunden und ausgestöbert fand. Und das Kind war ganz allein
in seiner Not gewesen. Niemand hatte sich darum gekümmert in Höxter,
wenn der Schimmer der kleinen Lampe bald hier, bald dort an einer der
leeren, schwarzen Fensteröffnungen vorüberflimmerte. Der Volks- und
Glaubensgenosse Meister Samuel hatte die Lampe hergeliehen; sein Weib
Siphra hatte einen Handkorb mit einem schwarzen Brot, einem schlechten
Messer ohne Griff, einen irdenen Krug und einen mit Draht umflochtenen
Kochtopf dazugetan:

»Wir würden dir die Taschen mit Gold und Silber füllen und dir eine
Herde von Zicklein und Böcklein voraufgehen und dir einen Wagen voll
Mehl und Honig und Öl und Gewürz nachfahren lassen, wenn wir's könnten;
aber wir können's nicht, Simeath!« hatte man in Meister Samuels Hause
gesagt.

»Da hast du noch einen Besen; es ist wohl der schlechteste, aber wir
brauchen alle übrigen selber,« hatte die Frau Siphra hinzugefügt, und so
war das Kind mit herzlichem Dank und überströmenden Dankestränen
gegangen und hatte es dem König Louis, dem Bischof von Münster, dem
Herrn von Turenne, dem Herrn von Fougerais, dem Stift und der Stadt zum
Trotz möglich gemacht, sich einzurichten, bis die Großmutter heimkehrte.

Nach dem Hofe zu gelegen, befand sich im oberen Stockwerke des Hauses
ein enges, dunkles Gemach, in welchem ^monsieur le Sergeant^ mit seiner
Zuhälterin, einer dicken Champenoise aus Troyes, sein Quartier
aufgeschlagen gehabt hatte und das demnach nicht ganz so ruiniert worden
war als die übrigen Räume. In dieser Kammer stand noch das Bett
aufrecht, sowie auch ein Tisch, dem nicht mehr als ein Bein abgeschlagen
worden war. Zwei oder drei noch sitzgerechte Schemel waren auch dem
scherzhaften Mutwillen des abziehenden Heeres entgangen. Schlimm genug
sah es freilich auch hier auf dem Estrich, in den Winkeln und an den
Wänden aus, und das Bettzeug warf Simeath sofort mit Schaudern in den
Hof hinunter. Jedoch da war der Besen und die fleißige, harte, kleine
Hand! Um Mitternacht war das Stübchen gekehrt, der Tisch festgestellt
und vom nächsten verlassenen Kavallerieposten in der Gasse ein
zurückgelassenes Bund Stroh in die Bettstelle der Mamzelle Genevion
heraufgeschleppt: eine Viertelstunde nach Mitternacht lag Simeath in
diesem Stroh und schlief der Heimkunft der Großmutter entgegen.

Wie das Kind erwachte -- vielleicht aus einem glücklichen Traume! -- wie
es aufrecht saß und sich verstört zum Bewußtsein kommend, in der
Scheußlichkeit rings umher umsah; wie es den Tag bis zur abermaligen
Dämmerung des Abends hinbrachte, wollen wir auch nicht beschreiben. Wir
sahen die Großmutter mit ihrem Bündel, von dem Spott und den bösen
Blicken der Wachtmannschaft an der Weserfähre verfolgt, humpelnd ihren
Weg nach ihrer Behausung zu nehmen. Wir malen uns in der Phantasie aus,
wie sie vor dem Hause stand und nach den zerbrochenen Scheiben
hinaufstarrte, wie sie dann über die zertrümmerte Schwelle durch die
türlose Pforte trat, und wie ihre Enkelin aufschreiend und mit
ausgebreiteten Armen ihr entgegenlief und umherdeutete:

»Sieh! sieh! -- Alles hin! nichts heil; -- alles voll Ekel und Graus; --
alles wüste, alles von den schlechten, wilden Menschen zugrunde
gerichtet!«

Nachher hat die Greisin das Haupt gesenkt und einen Spruch in der
Sprache ihrer Väter gesagt. Nachher hat das kleine Mädchen die alte
Mutter die Treppe hinaufgeleitet und sie in das gereinigte Stübchen
geführt. Nachher ist es wieder ganz Nacht geworden; die kleine Lampe aus
dem Hause des Meisters Samuel und der guten Frau Siphra brennt auf dem
Tische, der von Simeath so künstlich zum Stehen gebracht wurde.
Großmutter und Enkelin sitzen an diesem Tisch einander gegenüber. Das
Bündel mit der Erbschaft aus Gronau im Fürstentum Hildesheim liegt unter
dem Tische.

»Mein gut Kind, wie oft hat der Feind oder das böse Volk in der Stadt
dieses Haus umgestürzt, seit ich Atem ziehe? Wer so weit herkommt aus
der Zeit wie ich; wer den tollen Christian und den Tilly, den Herrn von
Gleen, die Herzogin von Hessen, den Feldmarschall Holzappel, den Wrangel
und so viele kleinere wilde Heeresführer vorüberreiten oder über sich
wegtreten ließ, der macht sich wenig mehr aus dem Herrn von Turenne und
dem Herrn von Fougerais! Ich sehe nur wieder, was ich schon ein Dutzend
Male sah. Es ist eine Zeit, in welcher der Mensch das Schlimmste als das
Gewöhnlichste hinnimmt. Weine nicht, mein liebes Herzchen, du bist jung
und magst noch in eine reinlichere, bessere Zeit hineinleben!«

So hatte die Kröppel-Leah getröstet, und währenddessen hatte der Pastor
zu St. Kilian in der bekannten Weise seinem Neffen eine recht gute Nacht
gewünscht; währenddessen hatte der Student seinen Tröster im Jammer, den
Horatius, dem Bruder Henricus zum Kauf oder für ein Abendessen und
Nachtquartier hingehalten; währenddessen -- war von der Erbschaft der
alten Jüdin an einem Orte, den wir jetzt erst betreten, die Rede.

Am Corveytor in einer Schenke, die im Schild als Zeichen einen Mann
führte, welcher in einem Ölkessel tanzte, in der Kneipe »zum heiligen
Vitus«, wurde von dem Bündel der Kröppel-Leah gesprochen.

Der Student, Herr Lambert Tewes, war dreimal in das zerbrochene
Mauerwerk früheren städtischen Wohlbehagens hineingetappt und hatte sich
nach den Ruderibus der Herdstellen hingetastet:

»Brr,« hatte er jedesmal geächzt, und zum vierten Male wiederholte er
den Versuch, sich ein Nachtlager unter den Ruinen des Dreißigjährigen
Krieges in Höxter zu suchen, nicht.

»^Basolamano, messieurs^, meine hochgünstigen Herren!« sagte er höflich
beim Eintritt in die Kneipe zu Sankt Veit am Corveytor; ein heller Jubel
und lautstimmiges Halloh begrüßten ihn dagegen.

Bis auf den Stadtkorporal Polhenne waren sie allesamt wieder vorhanden
und noch einige ihres Gelichters dazu. Eine saubere Gesellschaft,
meistenteils auch bereits halb angetrunken und zu jeglichem Schabernack
und Unfug bereit! Da war auch der Schulkamerad Wigand Säuberlich, mit
dem die Höxterianischen Scholarchen ihren gelehrten Kohl nicht hatten
schmalzen können; und dieser, nämlich der Säuberlich, war's auch hier,
der den Studenten zuerst wieder am Knopfe faßte, ihm mit einem
schäumenden Bierkrug unter den Bart trat und schrie:

»Da haben wir ihn! Kerl, wo hast du gesteckt? Seit einer Stunde sehnen
wir uns nach dir wie eine alte Jungfer nach dem Hochzeiter. Juchhe,
jetzt ist der Ofen geheizt und der Braten fertig! Tragt auf, gute
Gesellen; Messer und Gabel heraus! Du gehst doch mit uns, Lambert?«

»Wohin, Signor Strillone?«

»Keine fremden Zungen jetzo, Alter! Wir verbitten uns das. Du gehst mit
uns, wohin wir dich führen werden.«

»Schlecht Wetter draußen --«

»Aber gut genug, um eine lustige Nacht daraus zu machen in Höxter!
Sämtliche gegenwärtige, ehrbare und fröhliche Kumpanei, Mann für Mann,
geht mit.«

»Aber zuerst will ich doch wissen, was es gibt, Gevattern.«

»Hunger und Wut, Herr Doktor!« schrie's aus dem Haufen. »Alles, was die
Franzosen uns gelassen haben.«

»Und einen elenden Durst dazu!«

»Ja saufen könnt Ihr, aber es ist das letzte vom Faß, und kein
allerletztes gibt es offenkundig in Höxter! Gerade deshalb wollen wir
die Kellerschlüssel holen. Die Lutherischen fallen auf die Katholiken
und umgekehrt. Daß wir deinem Onkel auch in der Vergadderung einen
Besuch machen, wirst du sicherlich nicht übelnehmen, Lambert.«

»^Scabies capiat^ -- der Teufel hole meinen Herrn Onkel!« rief der
Student; doch jetzt nahm ihn Hans Vogedes am Arm und flüsterte ihm zu,
um, wie er meinte, sein letztes Schwanken und Überlegen triumphvoll zu
besiegen:

»Und nachher oder darzwischen fallen wir auch den Juden auf die Köpfe!
Was? He? Was sagt Ihr?«

Der Student sah den Verführer einen langen Augenblick an, und dann sagte
er:

»Ihr seid eben aus Merxhausen, Fährmann!« Als worauf beinahe schon jetzt
der allgemeine Judenprügel hier in der Kneipe zum heiligen Veit
losgegangen wäre. Um aber die Erwiderung des Studenten und die Erbosung
des Biedermannes Hans Vogedes vollkommen zu würdigen, bedarf es einer
kurzen Erläuterung des Wortes.

Als nämlich der böse Feind, der Versucher, unsern Herrn Jesus Christus
auf die Zinne des Tempels führte, sprach er zu ihm -- nach einer
Tradition, die sich an der Weser erhalten hat --: »Wenn du niederfällst
und mich anbetest, soll dir dieses alles gehören, bis -- bis auf
Merxhausen und Sievershausen dort im Solling; -- die beiden Dörfer
behalte ich mir vor.«

»Aus Sievershausen bist du nicht, Tewes,« brüllte Hans der Schiffer mit
erhobener Faust, »aber deiner Ehrbarkeit wegen haben sie dich auch in
Helmstedt nicht mit Fußtritten aus dem Tor gejagt. Du aufgeblasener
Windsack, du Holzbock, willst hier und in jetziger Stunde einem braven
Kerl aufmucken? Wahre deinen lateinischen Schädel, du Bettelstudent!«

Von oben bis unten betrachtete Meister Lambert sich den wütenden Strolch
von neuem; dann trat er gleichmütig einen Schritt weiter an den Tisch,
ergriff den ersten besten Krug, hob ihn an den Mund, ließ den Inhalt
bedächtig die Gurgel herniederlaufen, seufzte, stieß das leere Gefäß mit
einem Krach auf die Platte nieder und deklamierte mit vollem Pathos:

   »Wie Lamm und Wolf befehden sich
   Von Anfang an, so hass' ich dich.
   Denk du an den Ibererstrick
   Und an die Striemen im Genick,
   Item am Bein der Schellenring,
   Monsieur, war ein beschwerlich Ding!

Ist das der Weg, auf dem du mich mit dir nehmen willst, o Menas?«

»Kreuz und alle Donner!« schrie der Fährmann, mit dem Schaume vor dem
Mund auf den Studenten losstürzend; aber Wigand Säuberlich warf sich ihm
vor und fing seinen Arm auf:

»Halt, halt! Es steht im Buche!«

»Steht das so im Buche? Steht das so in seinem Buche?« schrie die übrige
Kompagneia. »Heraus damit, er soll's beweisen, der Lambert, daß das so
über den Hans gedruckt ist!«

»Es steht in meinem Buch, ihr Herren!« lachte der Helmstedter, »haltet
ihn mir nur noch einen kurzen Augenblick vom Leibe; ich trete den Beweis
der Wahrheit an, und nachher gebt jedem ein Rapier; -- auf die Faust laß
ich mich nicht ein mit ihm!«

Er hatte seinen Horatius hervorgezogen und las und jetzo mit dem
allerhöchsten Pathos:

   »^Lupis et agnis quanta sortito obtigit,^
   ^Tecum mihi discordia est,^
   ^Ibericis peruste funibus latus^
   ^Et crura dura compede!^«

»Sackerment!« stöhnte die ganze hochlöbliche Gesellschaft und kratzte
sich hinter den Ohren. »Gib dich zufrieden, Hans Vogedes, dagegen kommst
du nicht auf! Das ist die Zunge, in der sie Urtel und Recht sprechen.
Das verfluchte welsche Galgenlateinisch könnte einem den ganzen Spaß von
vornherein verleiden. Man sieht dabei ordentlich den grünen Tisch mit
seinem Behängsel von Graubärten und geifernden Rat-, Richter- und
Advokaten-Schnauzen vor sich! Na, wer geht nun noch mit ins Pläsier?«

Sie gingen dem »Galgenlateinisch« zum Trotze alle bis auf den Studenten;
dieser aber hielt noch eine kleine Rede.

»Bin ich deshalb der erlauchten Mutter Julia, der göttlichen Karoline
durchgebrannt, um einem armen Judenweib und seinem Packen schiele Blicke
nachzuwerfen?! ^Apage, apage^ -- weiche von mir, das heißt, ihr Herren,
was kümmert's mich! Macht, was ihr wollt; aber mich laßt damit
ungeschoren. Ich werde das Haus hier hüten und die Bank für euch warm
halten.«

Es ging noch ein Murren durch den schlimmen Kreis, doch Lambert ließ
sich das wenig anfechten. Er rückte behaglich am obern Teil des Tisches
neben dem Ofen in die Reihe der noch Sitzenden, indem er das eine Bein
über die Bank schwang.

»Bruderherz, bedenke dich noch einmal,« sprach ihm Wigand Säuberlich zu.

»Bruderherz, das tu' ich auch; aber sieh mal, Herzbruder, wer sollte
denn die Historie eurer glorreichen Heldentaten auf die Nachwelt
bringen, wenn einer eurer Knüppel mir im Durcheinander das Hirn
ausschlüge?«

»Also ohne dich! Marsch, ihr Brüder! ^En avant^, wie der Herr
Kommandante, der Hund, der Fougerais, zum Abschied schrie. Es ist eben
eine Zeit, in der jeder seinen eigenen Willen haben muß. Unsere Väter
haben es uns nicht anders gelehrt!«

»Bei den unsterblichen Göttern, so ist's!« schrie der Student, als aber
die Rotte hinausgestürmt war, sprang er von der Bank auf und auf den
Tisch und jauchzte:

»Höxter und Corvey!«

So rufen sie dort auf der Kegelbahn, wenn alle Neune fallen.



                          Sechstes Kapitel.


»Das wird eine schöne Katzbalgerei werden! Na, Wirt, bist du für Stift
oder Stadt?«

»Alle beide sollen verrecken! Komm aber erst herunter vom Tisch, und
vertritt mir das Geschirr nicht, 's ist das letzte, was mir die Welschen
heil gelassen haben.«

»Da gilt's freilich Vorsicht für den Rest, Alter,« sprach der Student
und kam dem mürrischen Worte des Wirtes zum heiligen Vitus nach. Er
stieg herunter von der Tafel, reckte und dehnte sich behaglich, streckte
sich sodann lang auf der langen Bank aus, zog die qualmende Lampe näher
zu sich heran und schob seinen Lauriger jetzt als Ruhekissen unter den
Kopf. Dann schlug er die Hände gleichfalls unter dem Hinterkopfe
zusammen und sah so halb schläfrig und ganz gleichgültig dem leise vor
sich hinbrummenden Hospes zu, der die Gläser und Krüge abräumte und von
Zeit zu Zeit an das niedere Fenster oder vor die Tür seiner Spelunke
trat, um in die Nacht hinaus- und seinen liebenswerten Stammgästen
nachzuhorchen. Aus der Tiefe des Hauses ertönte gedämpft das Krächzen
eines Säuglings, dazwischen die singende Stimme der Wirtin zum heiligen
Veit. Auch den Wind vernahm man und von Zeit zu Zeit das Niederrauschen
eines Regenschauers. Bei allem diesem Getön entschlummerte nach den
geistigen und körperlichen Strapazen des Tages Herr Lambert Tewes sanft
und schlief eine halbe Stunde besser als vielleicht sonst irgendein
Mensch in Höxter.

Nach einer halben Stunde aber fuhr er wieder in die Höhe und starrte
verbiestert um sich und nicht ohne Grund.

Die Sturmglocken waren noch nicht ruiniert in Höxter: man läutete Sturm
auf St. Kilian und man läutete Sturm auf St. Niklas!

   »Was will uns dieser Tummel doch?
   Schlagt in den Erdball mir kein Loch!

Hallo, da sind sie aneinander! Juchhe, Höxter und Corvey! Höxter und
Corvey!« schrie der Student jubelnd, und wir -- halten uns beide Ohren
zu und gehen nunmehr den Weg, den vorhin der gute Mönch, Bruder Heinrich
von Herstelle, nach Hause gegangen war.

Heute führt eine schöne Kastanienallee von der Stadt nach der Abtei, und
wir wissen von mehr als einem wolkenlosen Sommertage her ihren Schatten
zu würdigen. Damals zog sich der Pfad, vom Kriege kahl gefressen, die
Weser entlang, nur daß hier und da ein dickköpfiger Weidenstrunk
gespenstisch aus dem niedern Ufergebüsch aufragte. Die Nacht und das
Winterwetter hatten den Weg für sich; der Bruder Henricus zog die Kapuze
über den Schädel und sah nicht nach rechts und links; er stolperte
selbst für seine Geduld auf dem durch Rosseshuf und Räderspur
aufgewühlten und durchfurchten Boden allzu häufig.

»Dem Herrn sei Lob!« ächzte er, als er endlich vor dem Tor von Corvey
stand und nach der Glocke des Pförtners tastete; allein seine Geduld
sollte nunmehr noch auf die höchste Probe gestellt werden. Er hätte
ebensogut vor das schlafende Schloß der Prinzeß Dornröschen kommen
können.

Er läutete, und er läutete vergeblich.

Sie schliefen alle, vom Herrn Prior, Niklas von Zitzewitz, an bis zum
Bruder Pförtner. Kein Lichtstrahl fiel aus irgendeinem Fenster; -- wenn
Vater Adelhardus, der Kellermeister, noch Licht hatte, so half das
Bruder Henricus fürs erste nichts, denn das Gemach des Pater Kellners
war gen Osten, dem Flusse zu gelegen und der müde Wanderer kam von
Westen vor dem Tor an.

»All ihr Heiligen, was hat der Böse ihnen in den Schlaftrunk gemischt?!«
stöhnte der Bruder Henricus nach zehn Minuten unablässigen Pochens,
Rufens und Schellens. Nun hing er sich noch einmal an die Glocke, und
nimmer hatte er dieselbe im Kirchenturme so brünstig zur Hora oder Mette
gezogen.

»Endlich!« rief er grimmig, als sich dann das Fenster neben der Pforte
auftat und der Pförtner die Frage tat, wer da Einlaß begehre?

Das wurde gesagt und der Bruder Henricus eingelassen. In früheren Jahren
würde er jetzo den Torhüter an der Gurgel genommen haben; als alter Mann
und demütiger, sanfter Diszipul des heiligen Benediktus aber begnügte er
sich mit der unwirschen Frage:

»Nun sagt nur, was ist denn eigentlich hier vorgegangen, daß zu dieser
frühen Abendzeit das ganze Stift daliegt wie ein Hamsternest im Januar?«

»Wohlleben und Jubilation, ehrwürdiger Herr,« erwiderte der
schlaftrunkene, kaum auf den Füßen sich haltende und zwischen jeglichen
zwei Worten gähnende Pförtner. »Offenes Haus -- seit Eurer Abfahrt --
wochenlang -- die französische Generalität bei Tag und Nacht! -- O, wir
haben uns als freundliche Wirte erwiesen, mein Frater -- wie es uns
zukam, mein Frater; -- und die französischen Herren waren auch sehr
zufrieden mit uns. Wir haben ein gutes Gedüfte von uns mit ihnen in die
Ferne entlassen.«

»So, so, hm, hm,« brummte der Bruder Heinrich von Herstelle, »und
derweilen mußte unsereiner im unwegsamen Solling umhervagieren und mit
des verdrießlichen Braunschweigers kalter Küche und lackem Kofent
vorlieb nehmen! Ei, ei, und ich bringe doch auch Botschaft vom Gange --
wichtige Nachrichten! Ist denn niemand von den Vätern noch wach, daß er
sie mir abnehme und mich der Responsabilität erledige?«

»Keiner! Wir sind alle zu Bett in der großen Müdigkeit; -- wenn -- nicht
vielleicht der ehrwürdige Vater Adelhard --«

»Aha!« brummte der Bruder Henricus. »Saget nichts weiter, mein lieber
Sohn! Ich danke Euch, daß Ihr mir das Tor geöffnet habt; nun leget Euch
wieder, und Sankt Benediktus versorge Euch mit einem heilsamen und
frommen Traum.«

»Euch desgleichen, mein Frater,« erwiderte der Bruder Pförtner und zog
sich zurück in seine Zelle; der Bruder Henricus fand seinen Weg schon
allein.

Er tappte die Gänge und Zellen entlang, und hinter mancher eichenen Tür
hervor vernahm er das sonore Schnarchen der Brüder und Väter im Herrn.

»Wie die Engel schlafen sie,« brummte der Bruder Henricus, fügte aber
sonderbarerweise an: »Na, na!«

So kam er vor der Pforte des Stiftskellners Adelhardus von Bruch an und
klopfte.

»^Domi!^« klang es im tiefen Baß -- ^domi^, das heißt »Bin zu Hause! Bin
drin!«

»Gott sei Dank,« murmelte Bruder Heinrich und trat ein mit dem durch die
Ordensregel des heiligen Benedikts vorgeschriebenen Gruße. Wer aber
nicht die Responsen darauf sang, das war der Vater Adelhardus. Der war
wirklich drinnen; er saß breit im bequemen Stuhle vor dem Eichentisch,
und wenn das, was da vor ihm stand, die letzten Überbleibsel vom
französischen Feste waren, so war's freilich hoch hergegangen zu Corvey,
aber auch noch mancherlei übrig geblieben.

Eine Schüssel mit einem zur Hälfte leider vertilgten gekochten Schinken!
Eine Schüssel mit dem Gerippe eines Truthahnes! Ein Brot wie ein halbes
Wagenrad und eine Reihe von Erdkrügen und Glasflaschen nebst einem
Humpen, der an und für sich, das heißt durch seine äußere Erscheinung,
schon das Auge erfreute, was auch der Inhalt sein mochte!

»^Non confido oculis meis^, ich traue meinen Augen nicht!« rief der
Vater Adelhardus, ein wenig lallend. »Bist du es, mein Sohn Heinrich?«

»Ich bin es, und was ich sehe, gefällt mir wohl,« erwiderte der brave,
alte Reitersmann und gute Bruder von Corvey, Heinrich von Herstelle.

»^Cor meum prae gaudio exultat^, das Herz hüpfet mir vor Freude. Soll
ich aufstehen, mein Sohn, dir entgegenzueilen? ^Desiste^, stehe ab davon
-- setze dich lieber selber, denn ich weiß, daß man dich auf einen
mühseligen Gang hinausgesendet hat ^ad paganos^, zu den Heiden -- in die
Wüsten, ^per deserta ac solitudines^. Ich habe dich sehr vermisset, mein
Sohn, in dem Drangsal der letzten Zeiten.«

Der Bruder Henricus stellte seinen Stab im Winkel ab und kam und sah hin
über den Tisch, und froh, gutmütig und heimisch-behaglich lächelnd auf
den Kellner im Weinberge des Herrn.

»Ich bin gewandert und habe gesehen. Ich bin zurückgekommen mit
Nachricht aus der Wüste und dem wilden Wald. Wollen Sie den Herrn
Priorem wecken, mein Pater, daß ich berichte, was ich sah und
erkundete?«

»^Non sum hebes nec stupidus^, da müßte ich ein Esel oder ein Schafskopf
sein. Setze dich, mein lieber Sohn, und erzähle fürs erste mir, was du
sahest -- für die andern hat's Zeit bis morgen.«

»Der Herr Prior hat mir aber bei seiner Seele anbefohlen, nach meiner
Rückkehr sogleich vor ihm zu erscheinen, sei es bei Tage, sei's bei
Nacht.«

»Halt!« rief der Vater Adelhard, beide weiche und breite Hände auf die
Lehnen seines Sessels stützend und sich also mühesam erhebend: »Er
erboset uns auch, so oft er kann; ärgern wir ihn desgleichen! Komm mit
mir, mein Sohn Heinrich; ich wecke ihn dir.«

Sie weckten ihn wirklich, den Prior von Corvey, Herrn Nikolaus von
Zitzewitz, und er nahm ihren Eifer auf, wie es sich gebührte.

Der Kellermeister ging zu ihm hinein, nachdem er dem Bruder Henricus
heimtückisch-schalkhaft den Ellenbogen in die Seite gestoßen hatte. Der
Bruder Henricus wartete vor der Tür; aber er hatte gar nicht lange zu
warten.

»Seine Hochwürden lassen dich grüßen, mein Sohn, und geben dir ihren
Segen --«

»Und?«

»Er hätte mir beinahe das erste, was ihm unter seiner Bettstatt zuhanden
kam, an den Kopf geworfen. Morgen bei guter Zeit will er mit dir reden
und dich anhören, mein Sohn. Wünschest du nun vielleicht, daß wir auch
zum Bruder von dem Felde, dem Vater Florentius, dem Herrn Subprior, uns
verfügen?«

»Ich denke, wir lassen es hiermit bewenden,« meinte der Bruder Henricus
ein wenig kläglich und verdrossen.

»Oder zum Vater Metternich, unserm guten Probst Ferdinandus?«

Der Bruder Henricus schüttelte nur den Kopf.

»Dann komme du wieder mit mir! Ich bin der einzige im Stift, der dir
noch ein Nachtessen und einen Trunk verschafft.«

Der Vater Adelhardus legte traulich seinen Arm in den seines greisen
Sohnes: »Ich sagte es dir ja; die Mühe hätten wir uns ersparen können,«
sagte er, als sie wieder in seinem Gemache vor dem Schinken und dem
Truthahn saßen, und der Bruder Henricus den vorbemeldeten Humpen nach
einem langen, langen Zuge, -- wiederum seufzend, aber diesmal ganz
behaglich -- seinem -- besten Freunde im Stift Corvey zum ersten Mal
zurückschob, nämlich zu neuer Füllung aus einem der ungeheuerlichen
grauen Steinkrüge mit dem in Blau gemalten Wappen der Abtei.



                          Siebentes Kapitel.


Daß in Corvey die Mauern noch heil und die Türen nicht ausgehoben oder
eingeschlagen waren, wissen wir jetzt; in der Beziehung hatte das Stift
es besser als die Stadt; sonst aber ließen die Zustände nach dem Abzug
der hohen Bundesgenossen auch bei den guten Benediktinern vieles zu
wünschen übrig.

Der Pater Adelhardus gab nunmehr dem Bruder Henricus ausführlichen
Bericht darüber.

»Ich rate dir, mein Sohn,« sprach er, »halte dich an die Knochen; ich
habe einen harten Kampf gefochten, ehe ich sie hier im Klosett in
Sicherheit hatte. ^O gula, gula hominum!^ Ach, über der Menschen
Freßgierigkeit! es war nicht einer, nicht ein einziger unter der
Brüderschaft, der mir die schmalen Bissen gönnte. Aber sie sollen es
verspüren beim nächsten Bräu; ^Cellarius sum^, ich bin der
Kellermeister! Halte du dich an mich und nimm vorlieb mit dem
Schinkenbein; an den Puterhahn hab' ich mich gehalten; doch nur weil
seine Besitzergreifung mir die größesten Ängste und Nöte verursacht hat.
Wahrlich, sie bliesen alle selber die Kämme auf und waren hinter mir
drein mit kalekutischem Gekoller, ^sed palmam reportavi^, ich habe
obgesieget!«

»So schlimm steht es hier bei Euch, Vater Adelhard?«

»Woui, ^mon fils^. Ehe sie uns nicht neues Schlachtvieh aus den obern
Dörfern zutreiben, ist freilich Hunger der beste Koch zu Corvey. An den
Geflügelhof mag ich gar nicht gedenken. Halte dich an den Schinken, Sohn
Heinrich: Buchweizen heißt es morgen, und Buchweizen wird es auch
übermorgen heißen. Buchweizen, Buchweizen, eine gesunde Zukost; aber ich
liebe dich, Henrice, und bin nicht wie die anderen: ich gönne dir den
Schinken und sehe zur Seite, während du speisest.«

Er sah wirklich weg, wenngleich tief seufzend.

Und es blieb freilich von dem Schinken wenig für den andern Tag übrig.
Seit langer Zeit hatte kein Corveyscher Mönch sich mit so gutem Rechte
zu seiner »Palme« eine Märtyrerkrone verdient, wie der Vater Adelhard
von Bruch an diesem Abend.

Jetzo aber schlug der mächtige Knochen wie Holz auf den Teller; der
Bruder Henricus war gesättigt, und der Humpen nahm seinen Weg zwischen
den beiden braven alten Gesellen wieder auf.

»Du hättest doch zu Hause sein sollen,« sprach der Cellarius. »Wie es
bei uns herging, als der Herr von Turenne sein Hauptquartier in Höxter
nahm, weißt du noch; aber wie freundlich noch zu guter Letzt der
Kommandante, den Turennius uns zurückließ, der Herr von Fougerais, war,
das ist dir nun leider entgangen. Hoch ging's her, bei Tage und bei
Nacht. Sie konnten nicht von uns lassen, und es wäre auch dumm von ihnen
gewesen, denn wir trugen ihnen auf, daß die Tische knackten -- o, du
hättest die Brüder sehen sollen. Das ging so hin -- unser
griechischgelehrter Vater Agapetus hat es uns aus dem Homero
verdeutschet -- weißt du, Sohn Heinrich, wie, wie -- im Schlosse des
Königs Odixus; und das Stift war die Königin Penelope, und die
Franzmänner waren die ^ambitores^, die ^proci^, die Freier! ^Ebibe!^
trink aus, mein Sohn; ^deposuimus eos vino^, wir haben sie häufig genug
zu Boden getrunken; aber sie standen immer am andern Morgen wieder auf.
Seine fürstlichen Gnaden von Münster, unser Herr Administrator, können
es uns nimmer vergessen, was wir alles angestellt haben, um hochdero
Verbündeten den Aufenthalt bei uns kommode zu machen; ob sie uns
freilich die Auslagen wieder ersetzen werden, das stehet wohl dahin. Man
hat so glorreiche Alliierte eben nicht um ein Stück Haferbrot und einen
Trunk aus der Schelpe, was sonst ein gar kühles und gesundes Wasser sein
soll!«

»Das meinte der Braunschweiger hohngrienig auch,« sagte der Bruder
Henricus.

»Davon nachher. Jetzt laß dir weiter erzählen. Siehe -- da liegt der
Schinken -- knochen! Wir hatten sie zu Hunderten in der Rauchkammer,
einen bei dem andern; vordem ein Anblick des Ergötzens, ^nunc lugubris
et tristis memoria^! Weg sind sie! Ja, ja, mein Sohn, ^via ad coelum
nonnisi lacrymis struitur^ -- der Weg zum Himmel gehet durch ein
Tränental. Wir hatten sie, ^Gallos^, meine ich, auf dem Tische und bei
Tische. Weg sind sie, ^galli et Galli^. Die einen in die Mägen der
andern; und wie es den Hennen zu Höxter ergangen ist, das werden die
nächsten neun Monden ausweisen. Da waren sie sich alle gleich, die aus
dem Languedoc und die aus der Bretagne, die aus der Normandie und die
aus der Pikardie, und ihr Haupthahn war nicht besser als sein Volk.
^Diabolus accipiat animam ejus^, der Böse nehme ihn beim Kragen auf
seinem Wege nach Wesel. Na, mein Sohn, du rittest mit dem Tilly in
deiner Jugend, du weißt Bescheid --«

»Sprechen Sie jetzo das ^Gratias^, mein Pater,« seufzte der Bruder
Henricus. »Grade weil ich mit dem Tilly ritt, will das mir in diesem
Momento nicht anstehen. Nachher wollen wir uns schlafen legen.«

»Das wollen wir mit nichten,« rief der Pater Adelhardus. »^Omnia
tempestive^, alles zu seiner Zeit. Habe ich mich deinethalben so heiser
gesprochen, so berichte mir nun auch, was du uns Gutes mitbringst vom
Herzog Rudolfus Augustus.«

»Das mögt Ihr nun nehmen, wie Ihr wollt,« flüsterte der Bruder Henricus.
»Er hatte den Wald, den Solling, gewaltig verrammelt. Er stand mit
Geschütz, Reitern und Fußvolk vom Idth her bis an den Fluß. Bis hieher
und nicht weiter! sprach er, nachdem er mir seine Rüstung hatte
vorweisen lassen. Es wäre selbst für den Turennius ein harter Marsch
durch den wilden Forst und die Weserberge gewesen.«

»Deshalb blieb er auch ^confortabiliter^ bei uns und zeigte den
^Huxarienses^, den Höxternschen, und uns seine und unseres Herrn
Bischofen und Administratoren Macht und Gewalt!«

»Nachher fand ich heute die Weserbruck abgebrochen.«

Der Cellarius von Corvey neigte bedächtig das Haupt:

»Es hat alles seine Gründe in dieser Welt. Diesmal sind wir in Holland
in Not, sonsten wäre es uns noch länger ganz wohl zu Corvey gewesen; --
nicht wahr, ^messieurs^? -- Uns? uns! lieber alter Sohn Heinrich, wir
leben in einer bittern, verworrenen Zeit. Haben wir die Pikenierer und
Musketierer des Braunschweigers hier gehabt, so könnten wir wohl auch
noch einmal seine Artolleria über den Fluß rücken sehen. Der Herr von
Fougerais war ein kluger Mann und marschierte mit dem Bart auf der
Schulter ab. Sohn Heinrich, weißt du, was mir ein Himmelstrost ist in
diesen schlimmen Tagen?«

»Nun, mein Pater?«

»Daß ich nur Kellermeister zu Corvey bin und nicht Herr Christoph
Bernhard von Galen, Bischof zu Münster; und daß nach unseres guten Abts
Arnolden seligem Abscheiden Er Administrator vom Stift und von
hochberühmter Abtei geworden ist, und ich nicht Abt. Jetzo können wir zu
Bette gehen, mein Sohn!«

Das konnten sie freilich; sie kamen nur fürs erste noch nicht dazu. Sie
hörten die nämlichen Glocken, von denen der Helmstedter Student, Herr
Lambert Tewes, in der Schenke zum heiligen Veit erweckt wurde aus seinem
Schlummer.

»St. Vitus, was ist dieses?« rief der Bruder Henricus, die Hand hinters
Ohr legend.

»Hörst du etwas, Henrice?«

»Es klingt wie Sturm.«

»So summt es mir schon tagelang im Kopfe; -- ich meine, es liegt in der
Corveyschen Luft. ^Collusio Diaboli^, Täuscherei und Blendwerk des
Teufels! Wir wollen schlafen gehen.«

»Nein, nein, das ist keine Gaukelei der Luftgeister. Sie läuten Sturm zu
Höxter!« rief der Bruder Henricus. Er war zu dem hohen Fenster mit den
kleinen runden Glasscheiben getreten und hatte einen Flügel geöffnet.

»Hören Sie, mein Vater?«

»Sohn Heinrich, du hast wieder einmal recht. Hilf mir auf; o, über die
Heringskrämer, sie werden wohl auch einen Brand zu löschen haben! Sehen
wir, ob der Himmel im Westen rot wird.«

Auf den Bruder Henricus gestützt, wackelte der brave Vater Adelhardus
durch den langen Korridor in den westlichen Flügel des Gebäudes, und
beide Alte sahen neugierig nach der Stadt hin. Das Himmelsgewölbe war
und blieb aber dort dunkel; und es war gleich schwarze Nacht im Morgen
und im Abend.

»Dann ist es etwas anderes; und nun werden der Herr Prior, samt Subprior
und Probst doch wohl aus den warmen Nestern herfürmüssen,« brummte der
Cellarius, zwischen Schadenfreude und eigener Unbehaglichkeit
schwankend.

»Ich habe es mir wohl gedacht; es sah böse aus in Höxter, als ich heute
abend von der Fähre kam. Die Gassen gefielen mir nicht, und was darin
geredet und geflüstert wurde, gefiel mir noch weniger.«

»Rebellion? Tumult in der Stadt? ^Seditio ante portas?^«

»Unsern teuren Brüdern zu St. Niklas war's auch nicht wohl zumute.«

»Also das alte Spiel! Trumpf Luther, -- Trumpf Papst! der Herr schütze
uns, Schellenkönig -- Eckerdaus! Stich Münster -- Stich Braunschweig! --
zieht Ihr die Lärmglocke von Corvey, Frater Henricus; treibt mir die
Klostermannschaft in die Hosen; ich will die Väter und Brüder
hervorpochen. O Herr von Zitzewitz, ach Herr von Metternich, der Herr
gibt es den Seinen im Traum. Ho, ho, heraus! heraus! ^all' arme! all'
arme!^ Huxar im Aufstande!!!« --

Nun war es doch spaßig, in diesem Moment in diesem Korridor der großen
Abtei Corvey zu stehen und darauf zu achten, wie auf den Waffenruf das
sonore Schnarchgetön hinter den Zellentüren plötzlich stille stand --
als ob ein Mühlwerk angehalten wurde. Dann aber polterte und grummelte
es hinter diesen Türen, dann öffneten sich die ersten derselben -- dann
wimmelte es hervor und zwar aus allen.

»St. Veit und Benediktus, was gibt es denn nun schon wieder?«

Der Vater Adelhardus ließ sich auf keine Antwort ein; er weckte den
Herrn Prior zum andern Mal. Der Bruder Heinrich von Herstelle aber, ein
Mann, dem es ganz gleichgültig war, ob in seiner Abtei die fünf ersten
Bücher der Annalen des Tacitus wiedergefunden worden waren, verstand es
dagegen noch ganz trefflich, eine Lärmglocke zu ziehen und eine
Wachtmannschaft in den Harnisch und an die Spieße zu bringen.

Corvey lief durcheinander:

»St. Veit, die Braunschweiger sind über den Fluß! St. Benedikt, der
Fougerais ist umgekehrt. Sie sind im Handgemenge in Höxter! Aus den
Betten für das Stift! Auf für Christoph Bernhard, -- auf für Corvey!«

Die ältesten Greise wankten hervor. Der Propst Ferdinand von Metternich
kam; es kam der Subprior Florentius von dem Felde, und zuletzt kam auch
der Herr Prior Nikolaus von Zitzewitz.

»Das war mir eine schwere Mühe,« erzählte nachher der Vater Adelhardus.
»^Elinguis stabat^, gleich einem Ölgötz, gleich einem Stocke stand er
und rieb sich die Augen. ^Vae turbatori^; wer auch die Schuld davon
tragen mag, -- mir vergißt er die Molestierung in seinem Leben nicht.«

Dem sei nun, wie ihm wolle, -- so kam Corvey auf die Beine! ... Höxter
und Corvey!



                           Achtes Kapitel.


Was uns anbetrifft, so kamen wir von den Beinen noch gar nicht herunter.
Verfügen wir uns zurück nach Höxter, und zwar mit kühler Stirn und
gelassenem Gemüt: es ist uns beides vonnöten, und des letzteren rühmen
wir uns vor allem. Der große Autor der Dasselschen Chronik Meister Hans
Letzner, natürlich schnöde zubenamset der Fabelhans, konnte nicht
kritisch-ruhiger in den Wirrwarr seiner Tage oder insbesondere in das
Getümmel des St. Vitus-Festes hineingucken, als wir in diese Höxtersche
Lärmnacht nach dem Abmarsch des Marschalls von Turenne und des Herrn von
Fougerais.

In der Stadt war längst alles auf den Beinen! Der Grimm mußte heraus,
und jetzt hatte eben die Gärung den Zapfen aus dem Spundloch getrieben:
sinnverwirrend ergoß sich die trübe Flut, und da wir von Corvey kommen
und also wissen, wie es dort aussieht, so wissen wir auch, daß fürs
erste niemand vorhanden war, der den Ölzweig über diese schlimmen Wasser
hintragen oder noch besser das Öl selber in sie hineingießen konnte.
Auch die Frauen befanden sich in den Gassen, und das war das
Allerschlimmste. Sie, die Weiber, hatten auch von der französischen
Einquartierung zu leiden, und zwar in mehr als einer Weise, und
wahrhaftig mehr als die Männer. In welchen Winkeln hatten sie sich mit
ihren heulenden hungernden Kindern verkriechen müssen! Glücklich noch,
wenn sie nicht daraus hervorgezogen wurden, um die tägliche und
nächtliche Lustbarkeit durch ihre Gegenwart zu verschönen. Nun kamen sie
von ihren leeren Speiseschränken, versudelten Betten, verschweinigelten
Fußböden und suchten ihrerseits die geeigneten Persönlichkeiten und
Zustände, an denen sie ihren Grimm und Groll auslassen konnten.
Katholikinnen wie Lutheranerinnen waren sich darin einig, daß mehreres
gesagt und getan werden müsse, ehe es wieder Ruhe und Anstand in Höxter
geben könne, und an ihnen -- den Höxterschen »^Dames^« -- hatte der
Helmstedter ^Relegatus^, Herr Lambert Tewes, vor allem sein Vergnügen.

Meister Lambert, von seinem harten Lager in der Schenke zum heiligen
Veit auffahrend, wie beschrieben, schob den Horatius, der ihm als
Kopfkissen gedient hatte, in die Tasche und sprang vor die Tür der
Schenke. Wir haben auch bereits dem Leser mitgeteilt, daß diese Kneipe
am Corveytor, also ein wenig entfernt vom Mittelpunkte der Stadt, lag.
Demnach war es still in der Umgegend; der ausgebrochene Tumult wütete
mehr in der Mitte der Stadt, und weitbeinig verfügte sich der Student
dorthin.

»Was würde mir nun das beste Federbett nebst Schlafrock und Pantuffeln
geholfen haben? Was hilft es nunmehro dem Herrn Oheim, daß er die
Zipfelkappe über die edlen Ohren zog? Muß er nicht auch heraus? Er muß!
Ja, ja, wieder hat es sich gezeigt, daß die Bank das einzig richtige
Lager für die Zeitumstände ist. ^Paratus sum!^ und hinein mit Lust und
Mut in des Säkulums Pläsier und Jokosität. Ein einziger Jammer ist es
nur, daß man hier nicht rufen kann: Bursche 'raus! wie unter den
Fittichen der hochgelobten Julia Karolina.«

Es ging auch ohne das. Von einem heftigen Zulauf des Pöbels mitgezogen,
tauchte er, natürlich mit dem altbekannten ^Quo, quo scelesti ruitis^,
jedoch ohne das diesmal in deutsche Reime zu bringen, zuerst vor der
lutherischen Pfarrei aus dem wüsten Schwall auf und schwang sich auf
einen Prellstein; natürlich nur, um besser sehen zu können, was man
eigentlich mit den lieben Verwandten im Sinne habe.

»Sieh, sieh!« sagte er, und die Szene war in der Tat recht kuriös zu
betrachten. Die katholischen ^Huxarienses^ stürmten die lutherische
Pfarrei und waren natürlich zuerst auf die Frau Pastorin gestoßen, die
von der Pforte ihres Hauses aus, mit dem Besen in der Hand, den tollen
Haufen fürs erste noch mit merkwürdigem Erfolg bekämpfte. Über sein Weib
weg sprach der ehrwürdige Herr mit hocherhobenen Armen Vernunft und
dieses ganz vergeblich; -- sein Küster war's, der im Turm von St. Kilian
am Glockenseil hing und für die Augsburgische Konfession um Hülfe
läutete, während von St. Nikolaus herüber das Geläut kam, das für den
zehnten Klemens -- Altieri -- sich an die städtischen Auktoritäten, das
Stift Corvey, den Bischof von Münster und den dunkeln, stürmischen
Nachthimmel wandte.

Sie hatten Fackeln mitgebracht, die Tumultuanten, um ja an keinen Stein
auf ihrem Wege zu stoßen. Bei dem flackernden Lichtschein beobachtete
der Student alles ganz genau, hielt sich jedoch seinerseits vorsichtig
so viel als möglich im Schatten.

»^Coraggio, chère tante^,« jauchzte er. »Siehest du, Freund Säuberlich,
das heißt man eine treffliche Quart. Pariere den! ... Hui, der saß
wieder, gerade auf dem Schnabel. Siehst du, mein Sohn, da hast du dein
Maul voll von dem französischen Nachlaß in den Gossen von Höxter! ^O
papae^, schlägt die Papissa eine gute Klinge oder besser einen saftigen
Besen!«

Das tat sie; allein zuletzt half es doch wenig gegen den übermächtigen
Andrang. Sie wich, und wäre die Päpstin Johanna an ihrer Stelle gewesen,
so würde die auch gewichen sein. Der Student auf seinem Steine drückte
die Faust auf die Milz:

»Was fällt er ihr denn in die Parade? Soll das Wort hie mehr helfen als
die Tat der Heldin? ^Retro retrorsum, Domine Pastor^, halten Sie sich
nicht auf! Herr Onkel, -- da, da!«

Es war ungefähr so. Der würdige Herr von St. Kilian hatte eingesehen,
daß hier sein Wort von so schlechtem Nutzen sei als der Besen seines
Ehegesponses. Er hatte den Arm der Gattin erfaßt und zog sie rückwärts
die Treppenstufen hinauf in die Pforte des Hauses. Hinter ihnen drein
brüllte der Haufen, hinter ihnen drein lachte der schadenfrohe Neffe:

»Holla, es ist nicht das erste Mal heute, daß Ihr sie einem vor der Nase
zuschlagt und den Riegel vorschiebt! So habt Ihr es denn, wie Ihr es
gewollt habt!«

^Contra aegida Palladis ruere^, mit dem Kopf gegen die Schürze der
Weisheit stoßen, nannte er's dann, als die Vordersten der erbosten
Bande, von den Hintersten geschoben, mit den Stirnen gegen die
verrammelte Pforte anrannten. Das Höxter des Jahres 1673 ließ die
Knüppel fallen und griff zu den Steinen.

Es flog der erste gegen die lutherische Pfarrei, ihm folgte das erste
Dutzend. Noch einen kurzen Augenblick zeigte sich Dominus Helmrich
Vollbort am Fenster, dann verschwand er im Innern des Hauses. Die
geistliche Frau hielt sich einen Augenblick länger; jedoch die
Ochsenaugen zersplitterten um sie her. Sie verschwand gleicherweise,
während, wie der Pater Adelhardus sich ausgedrückt haben würde, die
^infestatio cum bombardis^, das Bombardieren fortdauerte. Und in dem
Augenblicke, wo die Not am größesten wurde, verstummte der angstvolle
Hülferuf vom Turm; eine Handvoll biederer Höxteranischer Stadtinsassen
hatte die Tür des heiligen Kilianus, durch welche der Küster
eingeschlüpft war, erbrochen, hatte den Küster am Werk und am Seil
gefunden, und -- jetzt läutete er nicht mehr, sondern aber es wurde auf
ihm geläutet; er bekam Prügel, entsetzliche Prügel.

Zerreißen, um an zwei Orten zugleich sein zu können, konnten wir uns
leider nicht, aber daß die Katzenmusik, welche die lutherischen
Huxarienser zu Ehren des französischen Abmarsches den Minoriten bei St.
Niklas besorgten, nicht geringer ausfiel als die bei St. Kilian, das
können wir auf unser Wort und unsere Ehre versichern! Die katholische
Pfarrei litt nicht weniger von den Freunden unseres Freunds Lambert
Tewes als die lutherische; das Schauspiel war das nämliche dort wie
hier. Es fiel in Wort und Werk nichts daneben, und der einzige Trost für
die Herren bei St. Niklas am Klaustor lag einzig und allein in dieser
bösen Nacht darin, daß es den »Herren von der andern Seite« gerade so
ergehe: ein leidiger Trost ist eben auch ein Trost.

Wäre es nunmehr nicht unsere Pflicht, nach dem Burgemeister zu laufen?
Durchaus nicht, denn er kommt am letzten Ende doch immer ganz von
selber, und so auch jetzt, und zwar begleitet von den Ältesten und
Würdigsten der Gemeinde.

Ächzend kam er, Thönis Merz der Bürgermeister, und mit ihm die andern:
Kaspar Albrecht der Senator und Jobs Tielemann und Heinrich Kreckler und
Hans Jakob zum Dahle, und Hans Freisen und Hans Sievers und Hans Tropen
und Hans Heinrich Wulf und Heinrich Voßkuhl und Adam Sievers, die
Dechanten von den Gilden und Konrad Kahlfuß der Gemeinheit Meister! Sie
erschienen, um Ordnung zu stiften, und etwas Großes war das auch gar
nicht, wenigstens an dem Orte, an welchem sie jeweilig auftraten.

»De Burgemester!« krächzte eine Stimme im Haufen, und sofort kam ein
Schwanken und dann ein Erstarren in die wogende Flut. Kopfüber stürzten
die Angreifer von den Treppenstufen des Pfarrhauses hinunter,
auseinander stob der Pöbel, und der Konsul stieß dem Senator den
Ellenbogen in die Seite und sprach:

»Gevatter, was habe ich gesagt?!«

Ob es aber mehr darauf, was er gesagt hatte, oder was der Herr Pfarrer
und die Frau Pfarrerin jetzo sagten, ankam, das wollen wir dahingestellt
sein lassen. Wer da sagt: Racha! der ist des Rats schuldig; und es wurde
dergleichen ausgerufen; -- sehen wir zu, wo derweilen unser Helmstedter
geblieben ist. --

Wenn das erboste katholische Volk bei St. Kilian auseinander gelaufen
war, so war's danach freilich noch nicht ruhig nach Hause und ins Stroh
gegangen, sondern im Lauf durch die Gassen St. Niklas zu.

Leichtfüßig war der Student von seinem Eckstein heruntergesprungen. Er
hatte alles hier in Obacht genommen, was ihn interessieren konnte, doch
die Blüte des Spaßes pflückte er nun erst ab.

Der Platz vor der Pfarrerwohnung war leer. In der wieder geöffneten Tür
standen heftig gestikulierend der Onkel und die Tante, auf den
Treppenstufen der Bürgermeister mit der Hand auf der Brust, am Fuße der
Treppe in einem Halbkreis der Chor der Senatoren, Patrizier, Tribunen
und Gilden-Hauptleute. Gravitätisch schritt jetzt Herr Lambert Tewes aus
der Dunkelheit hervor, in das Licht der Laterne, die der Gemeinheit
Meister Konrad Kahlfuß trug, hinein, zog höflich den Hut, verbeugte sich
tief und richtete an die Herrschaften das, was achtzig Jahre später die
Literaturbriefe, wenn sie Herrn Dusch vornahmen, »mit unsern galanten
Briefstellern die Courtoisie nennen.« Dann schritt er langsam querüber
in die nächste Gasse und lief, sobald er der entrüsteten ^Auctoritas^
aus den Augen war, so schnell ihn die Füße trugen, dem Tumult bei St.
Nikolaus zu:

   »Wer fürchtet des Skythen, des Parthiers Wut,
   Wer scheuet Germaniens greuliche Brut?
   Nun sitzt man geruhig beim fröhlichen Schmaus,
   Es schändet kein Frevler des Biedermanns Haus!«

Hiemit, das heißt mit diesem heitern, wenn auch nicht völlig
zutreffenden Zitat aus der fünften Ode des vierten Buches der Lieder des
Quintus Horatius Flaccus kam er an bei den Minoriten am Klaustor und
wiederum ganz im richtigen Augenblick.



                           Neuntes Kapitel.


Ganz zur richtigen Zeit, denn eben schwieg die katholische Sturmglocke,
und bekam der katholische Küster gleichfalls Prügel. In ganz Höxter aber
hatte Lambertus keinen bessern Bekannten als Jordan Hunger, den
katholischen Küster; dieser ging noch über den Fährmann Hans Vogedes,
den Korporal Polhenne und Seine Hochedelgeboren Herrn Wigand Säuberlich,
der mit dem Studenten dem Onkel Vollbort durch die Schule gelaufen war
und wie er, Meister Tewes, auf keiner Seite Partei nahm, sondern auf
jeder nur sein Vergnügen.

Dieses Vergnügen war nunmehr vor der Pfarrwohnung der von Christoph
Bernhard bei St. Nikolaus eingesetzten Minoriten im vollen Gange. Der
von St. Kilian herströmende katholische Haufen fiel dem lutherischen
beim heiligen Niklas nicht in den Arm, sondern in die Arme. Im letzten
Grunde hatten sie alle nur den einzigen Zweck, Unheil zu stiften, und
das verrichteten sie denn auch, und zwar ohne jegliche Courtoisie. Das
Steinbombardement auf die Fenster der katholischen Herren wurde ebenso
kräftig unterhalten, wie das auf die Fenster des Onkels Vollbort.

»Sieh, sieh!« sagte auch hier wieder der Studente fröhlich; doch eben,
als er sich von neuem auf den Prellstein schwingen wollte, faßte ihn ein
Weib am Rockschoß, zog ihn zurück und zeterte:

»Um Jesu Christi willen, Herr Magister, sie haben meinen Mann
totgeschlagen! Er liegt unter den Glocken, und sie tanzen auf ihm
herum!«

»^O mon dieu!^« rief der Consiliatus. »Ist Sie es, Gevatterin? ^Mon
dieu^, und er war doch so gut Freund mit dem Fougerais bei unserm
letzten Disput!«

»Dafür haben sie ihn auch windelweich geschlagen, und er liegt unter
seinem Seil. O Lambert, kommt und helft mir, laßt Euren besten Kameraden
nicht umkommen. Sie sagen, das Stift sei auf dem Wege hierher; aber was
hilft das mir, wenn sie mir meinen Mann vorher zunichte gemacht haben.
Das leiden wir nun um Corvey!«

»Höxter und Corvey!« jauchzte der Student, und dann ließ er sich von der
Küsterin den Glocken von Sankt Nikolaus nur zu gern zu ziehen. Der Spaß
war ihm in dieser Nacht eben überall in Huxar.

Weggelaufen war der unglückselige Monsieur Jordan nicht aus seinem
Turmgewölbe während der Zeit, daß sein Weib hingegangen war, die
barbarische Welt um Hülfe anzuschreien. Er lag unter seinem baumelnden
Seile noch da, wie ihn seine nichtswürdigen Feinde und seine brave
Gattin verlassen hatten, mit der Nase im Staube. Seine Schultern
zuckten, er zappelte mit den Füßen und ächzte jämmerlich.

Mit der Nase im Staube! und der Student wußte sofort ein Zitat aus dem
Horaz und trug natürlich dasselbe dem Unglücklichen, Geschlagenen erst
lateinisch und sodann in freier deutscher Übersetzung vor:

   »So stürzet der Tannbaum mit donnerndem Hall,
   So liegt nun der Küster nach furchtbarem Fall!
   Im Blachfeld des Teukrers, dem Feinde zum Raub,
   Druckt itzt Don Bravatscho die Nas' in den Staub!«

»Hu,« winselte der Küster von Sankt Niklas, »bist du's, Lambert? Ist
meine Frau auch da? Hu, dreht mich um -- um Gottes Barmherzigkeit
sachte! vorsichtig, sachte. Die Teukrer, oder wie das Dorf heißt, waren
es nicht; der Teufel vergelte es den Höxterschen Bösewichtern, die mich
um der Kirche willen so greulich zugerichtet haben. O, o, o, das ist
viel schlimmer als die letzte Schlacht um die Bosseborner Laterne --
weißt du, Lambert, die vor drei Jahren, in der du auch einen Prügel
führtest, obgleich es dich als lutherschen Ketzer gar nichts anging.«

Der Student hatte den Armen weich und vorsichtig unter den Armen gefaßt,
während die Frau Küsterin die Füße gehoben hatte, um den halb Geräderten
auf den Rücken zu legen; aber der Küster hatte zu seinem Schaden sein
letztes Wort hervorgestöhnt.

Als Herr Lambert Tewes von der letzten Bosseborner Laternenschlacht
hörte, ließ er sofort los und streckte, um einem ganz andern Gefühl als
seinem Mitgefühl Luft zu machen, die ausgespreiteten Hände hoch in die
Luft.

Mit einem lauten Aufschrei fiel der Küster wieder auf das Gesicht; doch
lustkreischend schrie der Student:

»Bei den unsterblichen Göttern, die Bosseborner Laternenschlacht! Ei
freilich, Jordan, von dorther bist du's schon gewohnt, den Mund voll der
ernährenden Erde zu nehmen. Du kriegtest wahrlich dein gut Teil ab von
der Prügelsuppe in der Küsterschlacht.«

»Aber es war doch eben eine Küsterschlacht!« winselte Jordan Hunger,
»eine katholische Küsterschlacht! wir schlugen uns doch nur unter uns
selber um die Ehre Gottes; aber diesmal --«

Er vermochte es nicht, seinen Satz zu Ende zu bringen; jedoch der
Student nahm ihm das Wort tröstend ab:

»Sei nur still, Alter, das Martyrtum ist auch um so größer.«

»Hu, das brauchst du mir wahrlich nicht zu sagen,« stöhnte der Märtyrer,
und während man ihn von neuem umwendet und fürs erste mühsam in eine
sitzende Stellung bringt, können wir unseren Lesern mitteilen, was es
mit der Bosseborner Laterne auf sich hat.

Heute geht das Ding als eine Sage um, mit welcher sie Die von Bosseborn
vom Dorfvorsteher bis zum letzten Kossaten bei jeglicher passenden
Gelegenheit bis aufs Blut, wie die eine Redensart, oder bis zum
Schwarzwerden, wie die andere heißt, ärgern. Sie, die Bosseborner
nämlich, sollen, von einer Hochzeit nach Hause ziehend, ihren Weg
durchaus nicht mehr gefunden haben, sondern arg in Gestrüpp, Sumpf und
Moor verloren gegangen sein. Da soll denn der Küster, der Nüchternste in
der Gemeine (Sokrates beim Symposion Platonis!) ihnen geleuchtet haben,
und zwar auf absonderliche Art. Man sagt, er habe einen Einfall gehabt,
selber ein Licht unter den Umständen; er habe den Hemdenschwanz hinten
aus den Hosen gezogen und niederhängen lassen, und der habe hell genug
durch die Nacht geschienen, um der Bauernschaft als Laterne zu nützen.
So sei der Küster von Bosseborn vorangeschwanket, ihm nach der
Vorsteher, dem nach der Gemeinderat und dem wieder die torkelnde gemeine
Bauernschar, im Gänsemarsche alles -- einer hinter dem andern -- ein
ewig memorabler Zug bis ins Dorf hinein.

Die Geschichte ist gut; wenn ihr nur so wäre! Aber die Sache hat einen
ganz andern und viel ernsthaftern Angang.

   »Wann kompt in Sommer Sanktus Veit,
   So endert sich beid Tag und Zeit.
   Dem schlaff geht zu, dem Wachen ab,
   Wie sich das alter neigt zum Grab,
   Und wer dan hat der pfenning viel,
   Der mach sich auff zu diesem ziel,
   Und wander hin wol nach Sankt Veit,
   Ihr kann man werden leichtlich queid --«

singt bei Hans Letzner ein »rechter erfahrener Landtkündiger«; und von
der großen Prozession nach Corvey auf Sankt-Vitus-Tag stammt die
Laternenfrage her, sowie jede Schlacht, die an dem Tage darum geschlagen
wurde; vorzüglich aber die des Jahres Siebenzig, welche eine der
hartnäckigsten und blutigsten war, infolge der Indulgenz, die Seine
Heiligkeit Papst Clemens IX. kurz vor seinem seligen Abscheiden auf den
Tag für dasmal gelegt hatte.

Nun war es aber ein alt Herkommen, daß die jüngste Pfarrei den
feierlichen Zug eröffne, -- das Ältere und Würdigere folgte, der Reihe
nach; und also -- sollten Die von Bosseborn voran »mit der Laterne« und
wollten's natürlich den Ovenhäusern zuschieben, die ihnen folgten: ^hinc
illae lacrimae!^ Denen von Ovenhausen gingen nach Die von Fürstenau,
diesen die Boedexer, diesen die Amelunger, diesen Die von Wehrden und
Jakobsberge. Dann zogen Ottbergen und Bruchhausen, nachher kam das Dorf
Stahle, nachher Die von Albaxen, Brenckhausen, Lüchtringen und
Godelheim. Zuletzt aber kam dicht vor den Reliquien des Heiligen die
Stadt Höxter mit ihrer Stadtmusik, zusammen mit den Corveyern. Noch
hinter dem heiligen Veit zog das Kapitel auf, sowie der
braunschweigische Gesandte mit einem kleinen Abtsstab in der mit einem
Velum bedeckten Hand (auch nach der Reformation und als Protestant!), er
wurde geleitet vom Corveyer Marschall. Den Beschluß machte das
Venerabile unter einem Baldachin, den die Höxternschen Nobiles trugen,
-- und Jordan Hunger, der Küster von Sankt Nikolaus, war im Jahre 1670
Küster zu Bosseborn gewesen und hatte die Bosseborner Laterne, d. h. die
Kirchenfahne seines Dorfes tragen sollen -- --

   »Wie mancher kompt gar weis' und klug,
   Im Heimgehn er einen Narren trug.
   Mancher kompt daher ganz Sinnreich,
   Und geht weg ganz bös und grimmich.
   Ihr viel da kommen frisch und gesundt,
   Da gehn sie heim in Todt verwundt,
   Oder sonst gefallen, geschlagen --«

singt der erfahrene »Landtkündiger« weiter, und so war es. Sie schlugen
sich jedesmal wacker um die Bosseborner Laterne; und wenn Bosseborn und
Ovenhausen zwischen sich den Streit begannen, so war kein Dorf, das
zurückbleiben wollte, sondern sie fielen alle drein und aufeinander.
Ohne das gab es kein Sankt-Vitus-Fest zu Corvey, und weder das Kapitel
noch der braunschweigische Gesandte konnten das geringste da tun, außer
daß sie es abermals fertig brachten, daß auch das nächste Mal Bosseborn
wieder die »Bosseborner Laterne« trug.

Doch während wir hier das Krumme gerade machten und der Wahrheit zu
ihrem Rechte verhalfen, tobt der Mutwillen viehisch fort in Höxter, wird
der zerschlagene Meister Jordan Hunger von seinem heulenden Weib und
vergnügten Freunde nach seinem Bette geschleift und -- -- zieht eine
andere Prozession langsam heran. Letzterer wenden wir uns jetzt zu und
treffen sie auf dem Wege, den vorhin der Bruder Henricus zur Abtei
beschritten hatte. Der Bruder Henricus maß diesen Weg jetzt zurück, er
befand sich mit an der Spitze dieses Zuges, der von Corvey kam. Er war
ein Kriegsmann gewesen in seiner Jugend, und sein Prior, Herr Nikolaus
von Zitzewitz, hielt sich an ihm und ließ ihn nicht von seiner Seite.
Dicht hinter ihm hielt sich der Subprior Florentius von dem Felde und
der Probst Ferdinandus von Metternich. Den guten Vater Adelhard, den
Cellarius, hatte man seiner Unbehülflichkeit halben in diesen
gefährlichen Nöten zu Hause gelassen, um dort Ordnung zu halten.

Die Abtei zog heldenhaft nach der Stadt, um sich selber Nachricht über
die Vorfälle dort zu holen, da »^impie et nefarie^« ruchloser- und
leichtfertigerweise niemand gekommen war, um ihr solche zu bringen.

Aber Corvey konnte nicht anders; Corvey mußte auf den Plan! Die Abtei,
eben in ihren »Rechten« durch den fremdländischen Helfer, den größesten
der französischen Feldherren, gegenüber der rebellischen Bürgerschaft
von Huxar und dem braunschweigischen Schutzherrn gekräftigt, mußte alles
daran setzen, daß ihr die soeben nach langem Streite endlich einmal
wieder fester gepackte Obergewalt nicht von neuem aus den Händen gleite.
Es galt, Höxter gegen jeglichen Feind oder Aufrührer festzuhalten, und
so zog das Stift in Waffen gegen die Munizipalstadt. Unter Umständen
verstand es Herr Christoph Bernhard von Galen, merkwürdig böse Gesichter
zu schneiden, und Corvey wußte das und kannte das.

Die Lärmglocke, die Bruder Heinrich von Herstelle gezogen hatte, war
gehört worden. Die Klostermannschaft war in die Rüstung gefahren, die
Herren Benediktiner hatten sich ^taliter qualiter^ selber gewaffnet, und
die waffenfähige Mannschaft des nächst, aber am andern Ufer der Weser
gelegenen Dorfes Lüchtringen war in Kähnen über den Fluß gekommen, um
der Abtei zu Hülfe zu eilen. Die Prioren und sonstigen Vorgesetzten
gingen natürlich nur im geistlichen Habit, doch manch rüstiger Frater
und Pater hatte mutig und freiwillig die Büchse oder Halbpike auf die
Schulter genommen und vermaß sich, Heldentaten zu tun, von denen der
Chronist von Corvey noch nach Jahrhunderten zu erzählen haben sollte.
Der Kriegerischste aber in der ganzen geistlich-weltlichen Heerschar war
doch Bruder Henricus, der sicher und männlich, trotz seinem hohen Alter,
mit einem gewaltigen Schwerte ging, das wahrscheinlich beim Übergang der
Hussiten über die Weser im Kloster stehen geblieben war; -- der Zug sah
mehr auf ihn als auf die im Fackelschein voranflatternde Sturmfahne mit
dem Bilde des heiligen Dionys. Der heilige Patron trug seinen Kopf nur
unterm Arm, der Bruder Heinrich dagegen den seinigen noch wacker auf den
Schultern.

»Meinen Segen nimmst du mit, mein Sohn; komme mir aber auch ja gesund
und vergnügt wieder,« hatte beim Abschied am Klostertor der Vater
Adelhardus zu ihm gesprochen und ihn dabei ganz zärtlich auf die
Schulter geklopft.

Nun waren sie auf dem zerfahrenen und zerwühlten Wege, den wir vorhin
geschildert haben, mit der Parole: Sankt Vitus! und dem Feldgeschrei:
^Abbatia urbi imperat!^ Corvey über Höxter! Nun gerieten sie in die
Sümpfe, die Löcher und unter die harten Feldsteine, -- nun hielten sie,
um Atem zu schöpfen -- und nun ächzten sie wieder weiter.

»Bruder von Metternich, das ist eine Nacht, um Anathema zu sagen!«
stöhnte der Prior einmal über das andere. »Was ist deine Meinung?«

»Der Gerechte siehet vor seine Füße und gehet den Weg, den ihn der Herr
schickt.«

»^Bene, bene!^ Wie dunkel aber die Nacht ist! Hätten wir doch ein
jeglicher eine Laterne anstatt der Fackeln mit uns genommen! Nun hört
auch das Stürmen vom Turm gar auf, Henrice.«

»Es ist vielleicht doch nur ein schlechter Gassenlärm gewesen, und die
Tummelanten haben des Spaßes genug und gehen zu Bett.«

»Und wir sind heraus und hier mitten im Felde? ^O corpus Christi^, der
Bann auf ihre Häupter! -- Fort, voran, ihr alle, wahrlich, man soll
Corvey nicht ungestraft hohnnecken; ^abbatia urbi imperat^, da ist das
Corveytor! Ruft: Sankt Vitus! und laßt uns einziehen!«

Nach einem mehr als halbstündigen Marsche waren sie jetzt wirklich vor
diesem Tore von Höxter angelangt; allein das Einziehen ging so leicht
nicht. Fürs erste fand das Stift die Tür verschlossen, obgleich es
selber die Schlüssel dazu hatte -- freilich in den Händen seines
tapfern, oben schon benannten Hauptmanns Meyer, den wir ebenfalls von
Person kennen lernen werden.

»Lasset uns anpochen,« sprach der Subprior.

»Das wird viel helfen, der Graben ist dazwischen,« murmelte der Propst.

»So lasset den Zinkenisten von Corvey hertreten, Sohn Heinrich! Er soll
sich den Hals zersprengen; aber uns den Pförtner auf die Mauer schaffen.
Das ist eine scheußliche Nacht!« grollte der Prior.

Das alte Stift hatte seinen Trompeter mitgebracht, und er blies, -- er
blies und blies sich halb die Lunge heraus, bis sein Blasen von der
gewünschten Wirkung war.

Endlich, endlich flimmerten Laternen auf der Mauer, und dann rasselte
die Brücke unter dem alten Torturm herunter; mit dem Hute in der Hand,
von seinen Laternenträgern begleitet, wackelte der Hauptmann Meyer
eilfertig und atemlos hervor, den Prior und das Stift zu begrüßen: ein
freundlicher, ältlicher Herr, rötlichen Angesichts, breitbäuchig und
behäglich, auch einer der besten Freunde des Pater Cellarius, Adelhardus
von Bruch.

Höchst verdrießlich empfingen ihn für diesmal die übrigen Würdenträger
des Stiftes.

»Sie sind wirklich mit Degen und Feldbinde da, Monsieur?« schrie der
Prior. »Weshalb kommen Sie nicht auch im Schlafrock und denen
Pantuffeln, mein Herr Hauptmann? Aus dem Bett kommen Sie ja doch! Bei
Sankt Veit, Herr, es geht lustig zu in Höxter. Die Sturmglocke bringt
das ganze Land in Aufruhr, und der Herr Kapitän drehen sich auf die
andere Seite und geruhen weiter zu ruhen. Wo steckt Ihr mit Euren
Leuten, Meyer? Hat man Euch dazu der Stadt Obhut zum zweiten Male
anvertrauet?«

Der bischöflich Münstersche Befehlshaber ließ dieses und noch eine Reihe
ähnlicher Vorwürfe und Fragen wie das Hochwasser aus einem aufgezogenen
Schütt über sich hingehen. Erst als der Prior von Corvey mit seinem Atem
zu Ende war, verantwortete er sich oder fing wenigstens an, sich zu
verantworten.

»Aus dem warmen Bett komme ich nicht, Hochwürden, sondern von den
Wesermauern am Brucktor, allwo ich seit angehobenem Tumult auf den Noht
gepasset habe nach meinem Eid und meiner Pflicht.«

»Auf den Noht?!«

»Ja, Hochwürden, auf des Herzogen Rudolf Augusten Oberstwachtmeister
Noht!«

»Sankt Veit und Corvey, aber weshalb denn gerade auf den?«

»Wer anders hat uns denn diesen Aufruhr angerichtet als der? Aber beim
Teufel, hat er mir einmal meine Trommel genommen, zum zweiten Male soll
er sie nicht in die Tatzen kriegen, und wenn er sich noch so verstohlen
über die Weser schliche!«

Bei Fackelschein und Laternenlicht sah sich der Prior, Herr Nikolaus von
Zitzewitz, verzweiflungsvoll und zweifelnd auf den Gesichtern seines
Gefolges um. Sie grinsten alle, und Bruder Heinrich von Herstelle lachte
sogar. Es blieb dem Prior von Corvey nichts anderes übrig, als sich
fußstampfend von neuem an den biedern Hauptmann zu wenden.

»Aber um Gottes willen, was läuteten sie denn Sturm? wer zog die Glocken
und warum?«

»Ja, sehet, Herr Prior,« sagte der tapfere Kapitän gemütlich, »da treten
Sie doch näher und sehen selber! Was uns betrifft, so sind wir, seit der
Lärm anging, unter den Waffen und auf der Mauer. In das Handgemenge habe
ich den Korporal Polhenne hineingeschickt, doch der kann auch nichts
ausrichten. Es geht eben wieder einmal durcheinander, Ratz, Katz und
Ketzer, und unsere sind auch dabei. In allen Pfarreien haben sie zu
Ehren des hohen französischen Abmarsches die Fenster eingeschmissen, und
alle Küster haben sie ganz oder halb totgeschlagen. Doch damit sind sie
auch zu Ende, und eben gehen sie, Ketzer und Katholiken, in christlicher
Eintracht über die Juden.«

»Und dabei steht der Mensch, lehnt sich auf die Ellenbogen und guckt vom
Brucktor aus in die Nacht und über die Weser nach dem Oberstwachtmeister
Noht aus!« ächzte der Prior, die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend.
»Seine Trommel?! seine Trommel! Herrgott und Sankt Veit, sollte man da
nicht wünschen, daß zehn Jahre lang die Trommel auf ihm selber
geschlagen würde?«

»Ich rate nun doch, daß wir schleunigst in Höxter einrücken,« meinte
jetzo Bruder Heinrich von Herstelle, und der Prior, ganz und gar nicht
wie ein geistlicher Hirt, Vater und Berater kommandierte wütend:

»Marsch!«

So zog das Stift in die Stadt und nahm auch seinen Hauptmann wieder mit
hinein.



                           Zehntes Kapitel.


»Nun auf die Juden!« Wer bei Sankt Niklas das Wort zuerst in die
durcheinander tobende und im Unheil gemeinschaftliche Sache und
Brüderschaft machende katholische und lutherische Menge warf, ist
niemals historisch klar geworden. Wir haben unseren Freund, den Fährmann
Hans Vogedes, im Verdacht. Gegen die Juden ging es; -- hier war das
^tertium comparationis^, wie der Helmstedter relegierte junge Weltweise
sich ausdrückte, richtig gefunden. Der Pöbel hatte sich zuerst gegen das
Haus des Meisters Samuel gewälzt, und Lambert Tewes war ihm
selbstverständlich auch dorthin gefolgt.

»Ein unsterblich heroisch Poem werde ich schreiben und Professor der
Eloquenz in Helmstedt werden. Bei Venus und Mars, die alten Perücken
dort sollen mir nicht ohne Strafe das Consilium gegeben haben; als ein
kaiserlich gekröneter Dichter will ich sterben! Diese trojanische
Blutnacht haben mir die Götter eigens zubereitet. Es sei ihnen Dank
gesagt!«

So schrie er, und sein Horaz schlug ihm im Laufen an die Schenkel. Wir
wenden uns und sehen, wie die Kröppel-Leah und die kleine Simeath diese
heroische trojanische Nacht bis jetzt hingebracht haben.

Sie hatten kurz vor Anfang des Lärms beide todmüde in das Bett des
Sergeanten und das französische Kavalleriestroh kriechen wollen und
waren natürlich nicht dazu gekommen. Mit einem Angstruf hatte das Kind
den Fuß vom Bettrande wieder zurückgezogen:

»Horch, horch, was ist das, Großmutter?«

Es waren die Höxteraner vor der Pfarrkirche von Sankt Kilian.

»Laß sie rasaunen! Komm, Töchterlein, wir wollen uns wieder an den Tisch
setzen. Lege deinen Kopf an mich. Wir wollen die Decke warm um uns
schlagen, und ich will dir erzählen wieder von der alten Zeit,« sagte
die Großmutter, und die Enkelin kam. Sie kauerten von neuem zusammen vor
der kleinen Lampe in dem kalten verwüsteten Stübchen.

»Unsere Könige waren Hirten in den Zeiten der Ehren. Aber die Herden
weideten unter den Palmenbäumen -- die Sonne des Herrn leuchtete, das
Land unserer Väter duftete nach Myrrhen und Weihrauch. Sie waren große
Krieger in glänzenden Panzern und schlugen Schlachten -- sie fürchteten
niemand -- sie waren tapferer als jetzt irgendein Heerfürst --«

Es ging nicht. Sie mußten zu genau auf den Tumult vor der zerbrochenen
Tür, vor den zerschlagenen Fenstern horchen. Auch die Greisin, die so
viel Brand und Blut in ihrem Leben gesehen hatte, mußte horchen. Das
stärkste und geprüfteste Herz lernt da nicht zu Ende.

»Sie werden auch auf uns wieder hereinbrechen!« jammerte Simeath.

»Sie werden uns nichts nehmen können. Sei still, Liebchen, habe Mut! Ja,
wenn noch der Riegel vorgeschoben wäre und das Haus reich, da wäre Grund
zur Angst. Wenn das Haus noch wäre wie zu deines Urgroßvaters, meines
Vaters, Zeiten, unscheinbar von außen, doch voll Güter drinnen, so
möchten wir eher Furcht haben. Was wollen sie uns heute nehmen, da wir
nichts weiter haben als unser Elend?«

»Sie haben jetzt auch nur noch das ihrige, Großmutter,« sagte das Kind
klug. »Weil sie diesmal so schlimm daran sind wie wir, sind sie so wild;
und sie werden um so grausamer sein gegen uns, je weniger sie finden.«

»Der Herr Gott, der Gott unserer Väter, ist unser Schutz von der Welt
Anfang an. Er wird seine Hand auch in dieser Nacht über uns halten, wie
er sie seit fünftausend Jahren über sein armes Volk in der Prüfung
gehalten hat. Wir sind dem Herrn zu Ehren noch immer da, was sie auch
mit Marter und Bosheit gegen uns ausgeübt haben. Horch -- es ist
Triumph! Sie wüten jetzt gegeneinander! Sei still, Kind, es geht heute
Nacht nicht gegen Israel!«

»Aber, Großmutter, sie haben dich nach Hause gehen sehen mit deinem
großen Bündel. Du hast ihnen gesprochen von deiner Erbschaft,
Großmutter,« flüsterte die verständige Simeath.

»Die armen Lappen!« rief die Alte, ihr Bündel unter dem Tische näher an
sich heranziehend. »Wir sind gewickelt in die Decke von dem letzten
Lager deines Oheims. Das ist aber das Köstlichste von der Erbschaft.«

»Wenn sie es glauben wollten, wären wir wohl glücklich, Großmutter,«
seufzte die Kleine, und -- so war es, wie sie sagte.

Von Sankt Kilian gegen Sankt Niklas und von dort vorerst zum Hause des
Meisters Samuel und seines frommen Weibes Siphra! Sie brachen ein und
stahlen, sie schlugen den Hausherrn zu Boden und drückten seine Ehefrau
gegen die Wand; sie schlugen auch seine jungen Kinder, da kein Küster
mehr zu mißhandeln war, und alles ging drunter und drüber. Vergeblich
wehrten Ratmannswachen und der Korporal Polhenne; -- wie wir wissen, gab
währenddessen der Stadthauptmann Meyer genau darauf acht, daß ihm seine
Trommel nicht zum zweiten Male vom Braunschweigischen Oberstwachtmeister
Noht abgenommen werde. Sie legten jetzo auch die erste Brandfackel an,
und in dem Moment, als der letzte Mann vom Zuzuge des Stiftes Corvey in
das Corveytor zog, schlug die Flamme aus den Fenstern, sprang der rote
Hahn aufs Dach, reckte sich, schlug mit den Flügeln und krähte wild
hinaus:

»Feuer! Feuerjo!«

Jetzt sah der Vater Adelhardus am hohen Bogenfenster im Korridor der
Abtei den Himmel rot werden über Höxter.

»O die ^Incendiarii^! O, die ruchlosen Mordbrenner!« sprach er. »Haben
die Bärenhäuter der Dächer noch zu viel über den gottverlassenen Köpfen?
Nun, ich habe den guten Heinrich gewarnt, daß er sich nicht die Finger
verbrenne. Der Herr Prior und die übrigen werden sich wohl schon selber
zu hüten wissen und nicht zu nahe daran gehen.«

Darauf ließ er sich von einem Laienbruder einen Sessel und Fußschemel an
das Bogenfenster rücken, schickte einen zweiten Laienbruder in den
Keller nach einer Flasche vom Besseren »gegen den Zorn« und stellte
diese Flasche mit dem Glase handgerecht in die Fensterbank. Da saß er
dann, faltete die Hände über dem Bäuchlein und hörte durchaus nicht, wie
die ältesten Herren Patres ihn hinter seinem Rücken mit dem grausamen
Kaiser Nero beim Brande Roms verglichen. In der Stummerigengasse aber
vor dem nun lichterloh flammenden Hause des Juden Samuel wurde es unserm
Freunde, Herrn Lambert Tewes, jetzo doch gar übel zumute.

Er lachte nicht mehr, sondern biß die Zähne aufeinander. Die Lust zum
Zitieren des Horatius war ihm völlig vergangen.

»Was zu viel ist, das ist zu viel!« ächzte er. »Und dies ist eine
Bestialität. ^Hierosolyma perdita?^ Auf für Jerusalem! Nieder mit den
mordbrennerischen Halunken! Und der Monsieur Samuel ist der einzige in
ganz Huxar, der auf ein dankbar Herz bei mir rechnet. Und jetzt stehlen
sie mir meines Vaters Taschenuhr in seinem Verschluß! Himmel, Hölle und
alle Teufel, zu Boden mit dir, du Vieh!«

Das letzte Wort war, begleitet von einem Faustschlag, an einen der
Tumultuanten gerichtet. Der Kerl lag sofort am Boden, allein im selbigen
Augenblicke war auch schon dem Studenten der Hut über Stirn, Augen und
Ohren hinabgeschlagen, und er bekam einen Fußtritt in die Rippen, der
ihm für mehrere Minuten den Atem benahm. Als er den Hut endlich wieder
in die Höhe bekommen hatte, fand er sich zum zweiten Male in dieser
Nacht Aug in Auge mit dem Bruder Heinrich von Herstelle, und der Bruder
packte sofort zu, griff ihm an die Brust und donnerte dem Hauptmann
Meyer zu:

»Fort mit dem! Ins Gewahrsam! Wenn einer in dieser Nacht mitgewürfelt
hat, so ist's dieser! Ins Prison mit ihm!«

»Holla!« rief der Student lachend, »wenn einer in dieser Nacht in Höxter
auf Ordnung, Sitte und Tugend geachtet hat, so bin ich's! Meyer, Ihr
kennt mich und wißt die Unschuld zu ästimieren. Nehmt lieber meine Hülfe
an, ^domine^ -- allein kriegt Ihr die Schlingel doch nicht herunter.«

Prioren, Probst und sämtlicher Zuzug von Corvey sahen zweifelnd beim
roten Schein der Feuersbrunst; doch der Hauptmann Meyer sagte, sich
hinterm Ohr krauend:

»Was ich sagen soll, weiß ich nicht; aber, ehrwürdige Herren, ich kenne
ihn freilich, und das Nutzbarste wär's, wir rollierten ihn ein in unsere
Musterrolle.«

»Dann vorwärts und Sturm!« kommandierte der Bruder Henricus, seinen
Flamberg erhebend; und mit der linken Schulter voran, Piken,
Hellebarden, Halbpiken und hainbüchene Knüppel vorgestreckt und in der
Luft, warf sich die bewaffnete Macht von Corvey auf die ^Huxarienses^,
um den Schutzjuden des Stiftes wenigstens das noch zu retten, was von
ihrem Leben noch übrig geblieben war. Zwei nackte Kinder trug Lambert
Tewes aus dem brennenden Hause, die Siphra errettete vor weiterer Unbill
der Bruder Heinrich; den Freund Säuberlich nahm der Hauptmann Meyer mit
Hülfe des Korporals Polhenne beim Kragen. Die Herren von Metternich und
von Zitzewitz stellten sich ritterlich und trieben jeglichen Corveyschen
Hintersassen, der Lust bezeigte, sich nach Hause zu schleichen, mutig in
die Schlacht zurück. Es kamen überhaupt jetzt die ersten Regungen der
Besinnung in der Bevölkerung wieder zum Vorschein, und Höxter fing an,
sich zu schämen. Bürgermeister Thönis Merz und sein Rat fingen an,
ihrerseits einzugreifen. Die Mordbrenner und Plünderer wurden
überwältigt oder flohen nach allen Seiten; es wurde Raum in der Gasse,
und da jetzt, gegen Mitternacht, der Wind sich legte, so brannte das
Haus des Meisters Samuel ruhig und ohne weitere Gefahr nieder. Man ließ
es brennen.



                           Elftes Kapitel.


In die wollene Decke vom letzten Bett des Schwestersohnes zu Gronau im
Fürstentum Hildesheim gewickelt, hatten währenddessen die Kröppel-Leah
und Simeath mit Schauder und Schrecken gehorcht. Der rote Schein der
Feuersbrunst, der in die leeren Fensteröffnungen und die Tür fiel, hatte
auch den Mut der Alten gebrochen.

»Siehst du, Großmutter, es geht doch wieder gegen uns, sie haben Vater
 Samuels Haus in Brand gesteckt; -- sollen wir nicht fort? Wir können
über den Hof schleichen und in des Nachbars Garten; Herr Jakob zum
Dahle wird nicht zu schlimm sich stellen, wenn er uns morgen früh in
seinem Stalle findet.«

»Ja, ja, Kind,« stöhnte die Greisin. »Leise, leise -- da ist mein Bündel
-- hilf's mir wieder auf! Du hast recht, wir müssen hinaus -- sie
kommen, und sie kennen kein Erbarmen.«

Sie versuchte es, aufzustehen, allein es ging nicht an. Der Weg von
Gronau her war dem alten Weibchen doch zu viel gewesen. Sie fiel zurück
auf den Stuhl, legte die Arme auf den Tisch und das Gesicht auf die
Arme.

»Großmutter, Großmutter,« jammerte das junge Mädchen. »Besinne dich --
wach auf, laß mich deinen Sack tragen! Laß ihnen den Sack, laß uns nur
laufen -- Barmherzigkeit, sie kommen -- da sind sie!«

Nun kreischte die alte Jüdin noch lauter als die junge. Sie kamen, sie
polterten die Treppe herauf -- sie waren da -- nur drei Mann, aber die
Bösesten in Höxter -- Hans Vogedes, der Fährmann, mit einer Axt den
beiden anderen vorauf. In dem Augenblick, als das Stift anrückte und
Lambert Tewes seinen Freund Wigand Säuberlich zu Boden schlug, hatten
sie sich aus dem Getümmel vor dem Hause des Meisters Samuel
weggeschlichen, und sie machten von vornherein gar kein Hehl daraus, daß
sie dem Geruche von der Gronauschen Erbschaft nachgegangen seien.

Fünf Minuten später, nachdem sie die zertrümmerte Schwelle überschritten
hatten, durchschnitt von dem Hause der Kröppel-Leah her ein so
fürchterliches und schrilles Jammergeschrei die Nacht, daß es allen
sonstigen Lärm in der Stummerigenstraße übertönte und jedermann den Kopf
aufwarf und mit jähem Schrecken horchte.

An der Brandstätte hatte die Szenerie sich aber bereits verschoben. Im
Ornate war Ehrn Helmrich Vollbort unter den Mönchen und städtischen
Beamten aufgetreten und hatte scharf geredet, sowohl gegen den dunkeln
Nachthimmel, wie gegen den Herrn Prior von Corvey, Herrn Nikolaus von
Zitzewitz, und gegen den Münsterschen Gubernator und Stadthauptmann
Herrn Meyer.

Er hatte um Rache für sein beleidigt Haus und seinen geprügelten Küster
geschrien, und über die Schulter des Bruders Henricus hatte der Neffe
seine rechte Freude an dem Oheim gehabt.

»Sie haben ja unseren Küster bei Sankt Niklas gleicherweise windelweich
und blitzblau geschlagen, ehrwürdiger Herr,« hatte der Prior
eingeworfen. »Da ist doch wahrlich die vollkommene Parität vorhanden
gewesen -- was sollen wir in dieser Nacht bei solchen Umständen Ihnen
noch zugute tun?«

»Stift und Fürstliche Gnaden von Münster haben immer nach Vernunft mit
sich reden lassen,« hatte Herr Florentius von dem Felde begütigend
hinzugesetzt, »und --«

»Schlagt ihm vor, daß Ihr mich vor seiner Tür hängen lassen wollt,«
hatte der tolle Helmstedter dem Bruder Heinrich von Herstelle ins Ohr
geflüstert.

Der Bruder Heinrich hatte das nicht vorgeschlagen, denn nunmehr hatte
Herr Ferdinandus von Metternich, der Propst von Corvey, Vernunft
gesprochen und wirklich verständige Dinge gesagt.

Es sei eine üble Nacht, hatte er gemeint. Niemand wisse, wie er daran
sei. Morgen sei wieder ein Tag -- totgeschlagen sei gottlob und mit
Hülfe des heiligen Veit bis jetzt keiner; -- die Übeltäter habe man auf
dem Stroh im Prison, und selbst die Juden seien noch mit dem Leben
davongekommen, soviel man wisse. Wer am meisten bei der greulichen
Unruhe gelitten habe, das sei doch wohl das Stift Corvey, das nun auch
noch zu allem übrigen den schlimmen Marsch nach Hause vor sich habe. Er
-- der Propst -- hatte zum Schluß seiner Rede geraten, jetzt vor allen
Dingen wieder zu Bett zu gehen und für alle Fälle vielleicht eine
Salveguardia, gemischt aus Corveyscher Mannschaft und Bürgerwachten, in
der Stummerigenstraße zurückzulassen.

»So soll es sein!« hatte der Prior geschlossen, und zehn Minuten nach
seiner Ankunft vor dem Hause des Meisters Samuel befand sich das Stift
bereits wieder im eiligen Rückmarsche nach den warmen Betten.

»Hoffentlich hat uns der Vater Adelhardus, während wir die Philister
schlugen, ein gutes Warmbier zugerichtet,« flüsterte der Subprior dem
Propst unter dem Corveytor zu.

Dem mochte nun sein, wie ihm wolle; zornigen Herzens schritt doch noch
der Pfarrherr von Sankt Kilian im eifrigen Gespräch mit dem
Bürgermeister Thönis Merz auf und ab und warf finstere Blicke auf den
guten Bruder Henricus. Diesen letzteren nebst einigen handfesten
Klosterknechten hatte die Abtei zurückgelassen, um sich von ihnen bei
möglichen ferneren Ereignissen kriegstüchtig vertreten zu lassen; und
während der lutherische Pastor aufgeregt hin- und widerschritt, stand
der greise Mönch in dieser Stummerigenstraße im Lichte der Feuersbrunst
nachdenklich auf sein hussitisch Schlachtschwert gestützt und gedachte
früherer Tage. Der Student hielt sich zu ihm und zog ihn jetzt am Ärmel
seiner Kutte.

»In so tiefen Gedanken auf der heiligen Straße, mein Pater? Ich hab'
Ihnen vorhin den Lauriger angeboten, um einen Sitz am warmen Herde; nun
hat uns das Fatum einen noch wärmeren Ofen geheizt. Was, mit Erlaubnis
zu fragen, lassen Sie die Ohren hängen, mein Pater?«

Der alte Mönch blickte auf und murmelte:

»O, Just von Burlebecke!«

»Sie sollten ein Wort zu mir sprechen, Ehrwürdiger« meinte der Student
zutunlich. »Sie gefallen mir, und es wäre mir lieb, wenn auch ich Ihnen
gefiele. Haben Sie mich am Abend schnöd abfahren lassen, so haben wir
doch jetzo Schulter an Schulter gefochten, und -- schon den grimmigen
Blicken meines Herrn Onkels da drüben zu Liebe solltet Ihr meinen Arm
nehmen und die Wacht ^suaviter^ mit mir verschwatzen. Mit dem Morgen bin
ich auf dem Wege nach Wittenberg, allwo sie schon längst mit Herzspann
sich nach mir sehnen, und Ihr bekommt mich nimmer wieder zu Gesicht,
alter Hahn.«

»Sie sind ein Narr, mein Herr Studente,« sagte der Bruder Henricus,
wider Willen über den Schelmen lachend. »Wäre Just von Burlebecke nicht,
ich brächte dich auf der Stelle ungesegnet auf den Weg nach Wittenberg.
Aber so war Just auch zu seiner Zeit, und ich stehe eben nie in der
Stummerigenstraße, ohne mit betrübtem Sinn der alten Zeit und an Just
von Burlebecke zu gedenken.«

»So sagen Sie mir, wer Just von Burlebecke war, mein Pater, und ich
werde gern mich mit Ihnen über ihn betrüben.«

»Da,« sprach der Mönch, gegen das Stummerigentor hindeutend, »im Sommer
Zweiundzwanzig nahm er mit zwanzig Reitern Höxter im Sturm. Er ritt für
den tollen Christian, ich mit dem Tilly. Mit zwölftausend zu Fuß und
neuntausend Reitern ging der Christian hier bei Höxter über die Weser,
und ich ihm und dem wilden Just nach als ein Fähnrich im Regiment
Baumgarten. Auf dem Felde bei Stadtloo ist Just von Burlebecke unter den
^Toutpourelle^schen eingescharrt. Ich hab' ihn unter den Toten gesehen,
und er war mein allerbester Herzfreund.«

»Das war der große Krieg, und Ihr seid heute ein Benediktinermönch zu
Corvey, mein Vater!« rief der Student.

»Ja!« sagte der gute Greis ruhig und schüttelte nur noch einmal den
Kopf, die Stummerigenstraße hinaufschauend.

»Er jagte ihnen lachend ins Tor und fiel über die Spießbürger gleich dem
Blitz aus dem Sonnenschein; ich muß heute noch darüber lachen! Ach,
hättet Ihr den tollen Christian und seine Reiter gekannt, so würdet Ihr
auch Just von Burlebecke zu wiegen wissen, Herr Studente. Sie saßen vor
ihren Türen und ließen sich die Sonne in die Mäuler scheinen, da schlug
er ein aus dem blauen Himmel, und ehe sie sich besannen, hatte er mit
seinen zwanzig Gesellen Höxter in der Hand wie der Junge das Vogelnest,
dem Stift und der liguistischen Armada vor der Nasen; freilich nur auf
ein Viertelstündlein, doch das gerade war der Spaß.«

Der Alte hatte jetzt wirklich den Arm Lamberts genommen und schritt mit
ihm langsam die Stummerigenstraße hinauf bis zu dem Hause der
Kröppel-Leah.

»Hier, gerade hier auf dieser Stelle hieß es denn: Simson, Philister
über dir! Weshalb erzähle ich Euch aber das alles, anstatt Euch, wie es
sich gehörte, zur Sittsamkeit zu vermahnen und an Eure Bücher zu
schicken?«

»Weil ich nur allzu lange und zu sittsam über den Büchern gesessen habe,
Herr Pater. O, Sie werden mir doch noch meinen Horaz abhandeln; ich habe
ihn allgemach so fest im Kopfe, daß er mich nur noch dumm macht!
Amsterdamer Ausgabe, Frontispiz von Romyn --«

Der Mönch winkte abwehrend mit der Hand.

»Nein,« sagte er, »ich rede zu Euch, weil Ihr eben noch ein törichter
Knabe seid, und es dem Alter so gut tut, die Jugend bei sich zu haben,
wenn es der Jugendtollheit gedenkt. Wie war es denn? Ja, als sie sich
besonnen hatten um des kleinen Häufleins, das mit Just von Burlebecke
jubilierend die Hand auf sie legte, da bliesen sie Alarm. Damals war
Höxter auch noch ein volkreicher Ort, voll Handels und Gewerbe, und es
gab keine Ruinen und wüste Stätten in den Ringmauern. An den tollen
Christian dachten sie nicht, sie sahen nur auf Just und seine zwanzig
Reiter. So griffen sie denn nach den Spießen und Büchsen. Es ist ein
lustig Schlagen gewesen; aber hier auf dieser Stelle erschossen sie dem
Herzbruder den Gaul, und so kam er zu Boden unter den Gaul und die
Fäuste von Huxar. Seinen Gesellen ging's dann natürlich auch nicht
anders; zu Hunderten schwärmten sie um den Trupp, holten sich ihrerseits
manchen blutigen Kopf, aber schlugen doch auch wacker zu und rissen die
Eroberer mit Haken und Stangen von den Pferden. Das ist denn ein Gezerr
gewesen, bis die alten und verständigen Leute es möglich machten, sich
durch das Getümmel zu zwängen und Vernunft zu sprechen. Da nahm der
Stadtschreiber das Protokoll über den Fall zu Papier, und als sie es auf
dem Papiere hatten, da ging ihnen das richtige Licht auf, und sie
kriegten ein Grauen über ihre eigene heldenmütige Tapferkeit und das,
was sie sich durch dieselbige eingebrockt hatten.«

»Sie überlegten sich, daß der Christian dem guten Ritter Just nachtrabe
und nicht bloß mit zwanzig Mann,« lachte der Student.

»Mit neuntausend zu Roß und zwölftausend zu Fuß, wie ich es Euch schon
sagte. Als ich nachher mit den Liguisten dem Administrator nachritt,
hörte ich die ganze Historia. Ei ja, es war von da an für Rat und
Bürgerschaft an diesem schlimmen Flußübergang ein beschwerlich Ding,
sich durch die Zeiten und Parteien zu winden.«

»Und heute ist's schier noch nicht besser,« meinte Herr Lambert; doch
der Mönch erwiderte:

»Hättet Ihr das Höxtersche Blutbad erlebt, auch selber eine Pike an der
Mauer geführt, Ihr würdet wohl anders sprechen. Seht Euch um danach und
hütet Euch fernerhin, Eure Hand zu bieten, noch mehr der Ruinen zu
machen.«

Dann fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Sie lachten auch in des Tilly Hauptquartier allhier zu Höxter; Merode
lachte, Dem von Piccolomini wackelte der Bauch, und der Savelli
schüttelte sich unter seiner großen Perücke. Es gefiel ihnen allen die
Art, wie Just von Burlebecke die Stadt genommen hatte. Ich lag damals
bei dem Stadtschreiber und hab' sein Protokoll mir zeigen lassen. Es war
ein erbärmlich Gekritzel und Gekratz, gerad ob als die rote Ruhr mit dem
Hasenfuß bei seinem Federkunststück am Tische gesessen habe. Und Just
als ein wackerer Kavalier hatte auch seinen Namen darauf gehauen, und
der ging über die halbe Seite und jede Überschrift von Bürgermeister und
Ratmannen dick und schwarz weg wie ein Kürassierregiment durch ein
Erbsenfeld. Einen ganzen Abend hat mir der Stadtschreiber von dem
Rittmeister Just erzählen müssen; -- wie sie ihn unter dem Gaule
vorzogen, wie sie ihm den Rock bürsteten, wie der eine mit dem Pistol
kam, das er dem Gemeindemeister an den Kopf geworfen hatte, wie der
zweite den Degen brachte, der ihm im letzten Ringen abhanden gekommen
war, und wie der Hader und das Blutvergießen in eine Festivität auf dem
Rathause auslief. Ja, den ganzen Tag hat man getafelt und getrunken zu
Ehren Justs von Burlebecke und seiner Reiter -- den tollen Christian
eingeschlossen! Da haben sie Brüderschaft gemacht und sich mit tränenden
Augen in den Armen gelegen, der Bürgermeister von Höxter und Just von
Burlebecke, und am Abend hat man der Stadt Judenschaft angehalten, den
guten Kavalieren eine Reiterzehrung zu zahlen, und sie mit Triumph, der
Stadt Musici vorauf, vor das Tor gebracht und sie mit einem höflichen
Complimentum an die Fürstlichen Gnaden von Halberstadt ihres Weges
reiten lassen, und nicht einer hat sich um diese Stunde so fest auf dem
Gaule gehalten wie am Morgen beim Einsturm ins Stummerigentor.«

»Ich hab' doch auch schon manche Tür im Sturme genommen, aber so galant
hat mich noch nie ein hochedler Senat oder Magistrat darob traktiert,«
sagte der Student lustig-kläglich; und in diesem Augenblick erscholl das
erbarmungswürdige Weibergeschrei aus dem Hause, vor welchem vordem Just
von Burlebecke unter den Fäusten von Huxar an der Weser gelegen hatte.
Wir wissen, wer da schrie.



                          Zwölftes Kapitel.


Sie stutzten alle in der Gasse, vor allen übrigen jedoch der Mönch und
der Student.

»Sankt Veit,« rief der Bruder Henricus, »will die Mordnacht nie zu Ende
gehen? Hier, hier Corvey!«

Er eilte gegen das Haus, aus welchem der Schrei hervordrang, und von den
Klosterknechten sprangen auch schon einige von der Brandstelle her.

Der französische nachgelassene Unrat lag vor der Tür der Kröppel-Leah in
höheren Haufen als sonst irgendwo in Höxter, und ehe der Bruder Studio
dem Bruder Heinrich von Herstelle mit einem Sprung über den Unflat
nachfolgte, schwang er natürlich den Hut in die Luft und jauchzte:

   »Itzt, römscher Jüngling, zuck dein Schwert
   Und sei der edlen Eltern wert;
   Färb rot die See mit Pönerblut,
   Verlach, verlach des Pyrrhus Wut;
   Wirf nieder den Antiochum,
   Sein syrisch Königreich stürz um;
   Und mit Kanon und Flintenknall
   Scheuch fort den grausen Hannibal!«

Das alles war nun gerade nicht nötig; allein Eile tat nichtsdestoweniger
not. Herr Lambert sprang und überholte infolge seiner Sprünge den
watenden Benediktiner um einen Schritt auf der Treppe. Von allen, die
auf den neuen Notschrei herzuliefen, befanden sich der Bruder Henricus
und der Student auf dem Schauplatze des Jammers und im Handgemenge mit
den Unheilstiftern, ehe ihnen irgend jemand von der Abtei und der Stadt
Hülfeleistung und Handreichung tun konnte. Keine gesperrte Tür hielt sie
ja auf; und dem Mönche voran sprang der Bruder Studio ein in das
Quartier des Sergeanten vom Regiment Fougerais und der lustigen Mamsell
Genevion von dem nämlichen Regimente.

Sie kamen zur richtigen Zeit, wenngleich nicht für die drei Höxterschen
Ruffiane. Der brave Fährmann Hans Vogedes hielt eben die Greisin auf dem
Boden, ihr die Gurgel zusammendrückend, sein einer Raubgenosse zog mit
groben Fäusten die zeternde Simeath an den Haarflechten durch das
Kämmerchen, der andere der Halunken hatte bereits das armselige Bündel
mit der Gronauschen Erbschaft unter dem Tische hervorgezerrt, kniete
gierig wühlend und verstreute fluchend den Inhalt um sich her auf dem
schmutzigen Boden. Die Lampe des armen Vaters Samuel und das flammende
Haus desselben verbreiteten ihren Schein über diese häßliche Szene, wie
sie Callot so gern zeichnete und malte in dem scheußlichen Jahrhundert,
dem alle Gegenwärtigen angehörten. Sechzehnhundert solcher Bilder hat
Maitre Jacques gefertigt bis zum Jahre 1635, und der einzige Trost für
uns liegt darin, daß seine Erbin zuletzt doch das Kupfer sämtlicher
Platten dieser ^misères et malheurs de la guerre^ in Küchengeschirr
verwandelte und ihre Suppen darin kochte.

»^Ecce iterum Crispinus!^« schrie der Student, gegen den die Kehle der
Greisin freilassenden Hans Vogedes losstürzend. Im weit ausholenden
Schwung warf er ihm zuerst den steifen Schweinslederband seines Flaccus
auf die Nase, daß sofort das Blut hervorströmte.

»Da hast du dein Recht auf römisch, du Mauskopf!«

Und schon hatte er ihn selber an der Gurgel und auf dem Boden, ehe der
Fährmann sein Mordbeil aufgreifen konnte. Mit beiden Fäusten aber erhob
der Bruder Heinrich von Herstelle sein mächtig Schlachtschwert und ließ
es flach auf den Schädel des Strolches fallen, der die Simeath
bedrängte. Der dritte der Raubbrüder ließ feige das Bündel der Alten im
Stiche, sprang empor und wollte mit einem Satz über den
niedergestreckten Leib seines Kameraden die Tür, die Treppe und die
Gasse gewinnen, fiel aber auf der Treppe den heraufpolternden
Klosterleuten und dem ihnen nachkeuchenden tapfern und weisen Hauptmann
und Gubernator Meyer in die Arme. Sie fingen ihn zärtlich auf und
drückten ihm fast die Seele aus dem Leibe, und ganz gutwillig ließ er
sich in der Stummerigenstraße die Hände auf dem Rücken zusammenschnüren.
So war die Schlacht hier denn fast eher beendigt, als sie begonnen
hatte, und neben den beiden auf der Erde zappelnden Besiegten stehend,
blickten die zwei Sieger, Bruder Mönch und Bruder Studio, einander sogar
ein wenig verwundert darob an.

Doch jetzo trat der Herr Hauptmann Meyer herein und sah sich seinerseits
ein wenig in dem Gemache der Kröppel-Leah um.

Militärisch grüßend und auf den Fährmann und seinen Gesellen deutend,
fragte er dann:

»Mit Permission, mein Pater, wie ist es nun mit der Gerichtsbarkeit in
Höxter? Hier haben wir den Casum von neuem, behalten wir von Stifts
wegen die beiden Lümmel, oder schicken wir sie dem Bürgermeister Merz?
Hängen wird sie ja doch wohl Corvey in Anbetracht, daß Bischöfliche
Gnaden der Stadt das Blutgericht genommen haben?!«

Zweifelnd krauelte sich der Bruder Henricus am Ohr; doch der Student
nahm ihm das Wort vom Munde:

»Einen schönen Gruß von mir und einen Handkuß desgleichen an den alten
E--, an die hochehrbare Exzellenz von Huxar, Herrn Thönis Merz, und ich
-- Lambert Tewes, schicke ihm hier was und erbitte mir dafür morgen ein
Viatikum auf den Weg nach Wittenberg von wegen geleisteter Dienste fürs
gemeine Wesen. Macht keine langen Worte, behaltet nur ein einziges Mal
Eure Weisheit und ^sesquipedalia^ -- Eure sechs Fuß langen
Bedenklichkeiten -- für Euch. Den Hans da empfehle ich Euch und dem
Bürgermeister besonders, Centurio. Gebt es ihm mit der Weinrebengerte
gleichfalls mit einem Kompliment von mir.«

Der Hauptmann sah höchst verdrießlich auf den seine Würde so wenig
achtenden Redner, doch der Bruder Henricus meinte lächelnd:

»Für diese Nacht wird's wohl das beste sein, daß wir tun, wie der
Tollkopf vorschlägt, Herr Kapitän. Sagen Sie auch meinen Gruß dem Herrn
Bürgermeister. Des Stiftes Rechte zu wahren, stellen Sie zwei Mann zu
der Ratmannswacht vor den Turm.«

Der Hauptmann hob wiederum martialisch den Hut; die zwei blutenden
Hausfriedenbrecher wurden hinaus- und die Treppe hinuntergeschleift, und
der Bruder Heinrich sowie der Student fanden nunmehr die erste Muße,
sich nach den beiden armen Frauenzimmern umzusehen, die sie in so
tapferer Weise aus den Klauen der ihrer französischen Einquartierung,
dem Herrn von Turenne und dem Herrn von Fougerais, nachtumultuierenden
Huxarienses errettet hatten.

Das junge Mädchen kniete auf dem Boden und hielt den Kopf der alten Frau
im Schoße.

»O, Großmutter, Großmutter,« schluchzte es, »sag doch was, sprich doch
nur ein Wort, wir leben noch, sie haben ihren Willen nicht vollführen
können! Die guten Herren haben uns von ihren Griffen erlöst, dem hohen
Gott sei Dank! -- -- Ach, Großmutter, besinne dich!«

Die Greisin zuckte fürs erste nur mit den Armen und krampfte die Finger
auf und zusammen; der Benediktiner beugte sich zu ihr herab und
leuchtete ihr mit der kleinen Lampe ins Gesicht.

»Der Bösewicht hat sie arg gewürgt. Helft mir, Herr Student, wir wollen
sie auf das Bett tragen. Es ist ein Jammer, daß wir den arzneikundigen
Bruder Briccius hier nicht vorhanden haben. Der würde sie uns in einem
Augenzwinkern wieder aufrecht hinsetzen.«

Herr Lambert Tewes hatte bereits den Kopf der Alten der Simeath aus den
Armen genommen; der Mönch faßte sie an den Füßen, und so trugen die
beiden sie auf das Bett des Sergeanten; der Student mit einem
verstohlenen Seitenblick auf das hübsche zerzauste Judenmädchen.

»Trockne deine Tränen, schwarzlockige Neära,« sagte er gutmütig. »Tu's
mir zu Liebe -- das alte Mütterchen hat in seinem langen Dasein mehr
ausgehalten als solch ein Katzengekrall; -- eure Patriarchen und
Patriarchinnen haben ein verflucht zähes Leben, und Großmutter kommt
diesmal noch sicher darüber weg auch ohne den Bruder Briccius.«

»Ich will es dem edlen Herrn nie vergessen!« rief Simeath nur noch
lauter weinend; und dann beugte sie sich, griff nach der Hand des wilden
Scholaren und wollte eben die Lippen darauf drücken, als Meister Lambert
ihr seine Pfote rasch entzog und ihr einen laut schallenden Kuß auf den
Mund gab.

»So steht's geschrieben in den Legibus der Julia Karolina, und Herr
Mynsinger von Frundeck, der Kanzler, wußte wohl, was er tat, als er den
Paragraphum einschob.«

Errötend trat das junge Kind gegen das Lager der Greisin zurück; der
Mönch hatte wohl ein wenig die Stirn gerunzelt, doch er hatte allzu viel
um die allmählich wieder ins Bewußtsein zurückkommende Kröppel-Leah zu
tun, um allzu genau auf die sonstigen Vorgänge in seiner Umgebung achten
zu können. Mit dem Wasser aus dem Kruge des Vaters Samuel rieb er der
Alten die Schläfen; -- da nieste sie endlich und stieß einen heiseren
Schrei aus, und dann saß sie wirklich aufrecht auf dem Stroh und sah aus
stieren Augen umher. Der rote Schein der niedersinkenden Feuersbrunst
leuchtete noch immer in das Gemach.

»Salzkotter Quartier. Die Liguisten in der Stadt!« stöhnte sie und fiel
zurück, die Hände über die Augen schlagend.

»Sie ist noch nicht ganz bei sich -- das Feuer wirrt sie,« murmelte der
Bruder Henricus gegen den Studenten gewendet. »Sie sieht wieder den
Gründonnerstag von 1634. Wir gaben kein Quartier, weil in Salzkotten uns
keines gegeben worden war.«

Und der Greis legte auch die eine Hand auf die Stirn und stützte sich
mit der anderen gegen die Wand mit den unzüchtigen Zeichnungen des
Regiments Fougerais:

»Herr, Herr, mein Gott, wann kommt der Frieden in deine arme Welt?!« --

Lambert Tewes stand nun ernst genug mit untergeschlagenen Armen da.

»Höxter und Corvey!« sagte er finster. »Meine lutherischen Väter standen
für Stadt und Stift. Die Liga war's, die Höxter in Trümmer legte und
Sankt Viti Sarkophagen zerbrach. Eure fremdländischen Obersten und
Kavaliers waren es, die die Gebeine unter sich verteilten, welche der
Kaiser Ludwig hierher an die Weser getragen hatte.«

»So ist es,« sagte Heinrich von Herstelle. »Das ist die Historia von
Höxter, und ich -- bin Mönch zu Corvey! Ich zog für die Liga; für den
Winterkönig, die schöne Elisabeth und den tollen Christian ritt Just von
Burlebecke, der mit mir aufgewachsen und von meiner Mutter mit mir
erzogen war.«

»Just von Burlebecke!« klang es wie ein Echo von dem Bette her, und
unterstützt von der Enkelin deutete die Greisin mit zitternder,
schwankender Hand auf den Erdboden, wo ihre Erbschaft zerstreut lag.



                         Dreizehntes Kapitel.


Der Student griff eben seinen Horaz, den er diesmal zum ersten Male in
dieser Historie als unwiderlegbares Argument gebraucht hatte, auf. Das
Buch lag mitten zwischen dem von der Diebeshand zerwühlten Trödel, und
Lambert, drüber hinblickend, rief:

»Bei Merkur und Radamanth, ist das der Köder, der das Geschmeiß anzog?
Mutter Leah, das habt Ihr aus dem Fürstentum Hildesheim auf Eurem alten
Buckel nach Höxter geschleppt? O Moses und all ihr Propheten, wenn der
Titus nicht mehr aus Jerusalem mit sich geführt hätte, so würde das
^spolium^, der Plunder, wahrlich nicht der Mühe gelohnt haben.«

Das war richtig, und einen erfreulichen Eindruck machte die
Schaustellung, die jetzt der Zufall und die Räubertatze bewerkstelligt
hatten, nicht; armselige Wäschestücke, wohlfeile zinnerne oder bleierne
Schaumünzen auf alle möglichen Ereignisse, kaiserliche, schwedische und
französische Viktorien und Niederlagen -- ein halbverbranntes
hebräisches Gebetbuch mit silbernen Beschlägen und sieben Stück
schlechter Löffel! Eine Halskette von böhmischen Glasperlen mit einem
kupfernen Kreuz und ein zusammengedrückter winziger silberner Becher
waren die wertvollsten Gegenstände, eine kupferne Pfanne und ein kleiner
eiserner Kochtopf die umfangreichsten, bis auf die Decke von dem
Sterbelager des Gronauschen jüdischen Mannes.

»Was weißt aber du von Just von Burlebecke, Weib?« rief der Bruder
Henricus bewegt, die Hand der Greisin fassend.

»Ich hielt seinen blutigen Kopf in meinem Schoß hier vor meines Vaters
Tür,« sagte die alte Leah, mit Mühe die Worte hervorstoßend. »Sie hatten
ihm das Roß erschossen, und niemand wollte den schlimmen Feind im Anfang
aufheben. Ach und doch hub damals der Krieg erst an! Da -- da, sucht; er
gab mir ein Angedenken, das ist aus einer Hand bei uns dann in die
andere gekommen. In Gronau hab' ich es wiedergefunden.«

Die Kröppel-Leah fiel wieder zurück auf das Stroh, der Student hielt dem
Benediktiner sein Buch noch einmal hin:

»Was meint Ihr, Reverendissime, jetzt werfe ich's zum übrigen, und wir
fangen das Trödlergeschäft in Kompagnie an. Was leget Ihr aber in den
Handel ein?«

Der greise Mönch stieß ihn nunmehr wirklich von sich; er kniete schon
und suchte auf dem Boden. Mit unsicherer Hand warf er die Lumpen und
Lappen hin und wider und ließ das Küchengeschirr und die erbärmlichen
Raritäten und Kostbarkeiten untereinander erklingen.

»Beim heiligen Vitus,« rief er plötzlich, »das ist meiner seligen Mutter
Werk! Sie gab die Handschuh ihm, als er vor mir auszog. Sie war im
Herzen für die neue Lehre; ich ging für meinen Vater zu den
Kaiserlichen! Das ist Justs Handschuh mit meiner Mutter Spruch: Geh
grad! -- O Frau, o Leah, meine Mutter hat mit ihrer guten Hand die
Goldfäden gezogen!«

Der Bruder Henricus hielt einen Reiterhandschuh, der mit verblaßtem
Golde gestickt war, und nahm hastig, doch gerührt, von neuem die
fieberhafte Hand der alten Jüdin:

»Das hat er Euch gegeben, Leah?«

Die Greisin strich die weißen, durch das Ringen mit dem Räuber gelösten
Haare aus der Stirn und sagte:

»Ich verstehe den gnädigen Herrn Abt nicht.«

Sie war noch immer nicht ganz bei sich, oder die Betäubung trat doch
immer noch von neuem ein.

»Des tollen Herzogs toller Reiter, Just von Burlebecke!« rief der Bruder
Heinrich, sich wieder an den Studenten und die kleine Simeath wendend.
»Er hat noch ein gut und lustig Jahr gehabt; dann ist er bei Stadtloo im
Ernst erschossen, und niemand hat sein blutend Haupt mitleidig in den
Schoß genommen, Leah!«

»Wie war denn das?« murmelte die Alte. »Es ist soviel nachher gekommen
-- der Herr Feldmarschall von Tilly und im Jahre Neunundzwanzig der Herr
Schwede Baudissin -- nein, Neunundzwanzig war's der Tilly wieder und der
Herr von Pappenheim. Der General Graf Baudissin erstürmte Zweiunddreißig
die Stadt. -- -- Dann war der blutige Gründonnerstag -- Vierunddreißig.
Anno Vierzig berannten Seine Exzellenz der Feldzeugmeister Piccolomini
Höxter. Die kamen mit Akkord herein, aber Sechsundvierzig stürmte wieder
der Herr Feldzeugmeister Wrangel; -- wer redete da von dem Herzog
Christian und Just von Burlebecke? Welch ein Jahr schreiben wir heut,
Simeath?«

Das junge Mädchen nannte leise die Zahl, und die fiebernde Greisin
flüsterte mit geschlossenen Augen:

»Gott Abrahams! der Herr ist der Herr der Heeresscharen; Zebaoth ist
sein furchtbarer Name.«

»Das sagte mein Oheim vorhin auch,« meinte der Student, im schaudernden
Unbehagen die Schultern in die Höhe ziehend.

Der Bruder Henricus hatte den Schemel an das traurige Bett der
Kröppel-Leah gerückt und saß nun da nieder, sein rostiges Schwert zu
seinen Füßen.

»Ja, ja,« sagte die Greisin, in ihrem verwirrten Sinn sich
zurückdenkend, »ich erinnere mich wohl. Wir waren jung, und der Krieg
kam eben erst aus dem Böhmerlande zu uns herüber. Mein Vater war der
einzige Jüd, der in Höxter wohnen durfte, und ich ein jung Mädchen,
Simeath. Wir freuten uns noch des Sommers, und der junge Kavalier ritt
mit Lachen in das Stummerigentor. Was trieb mich aus dem Haus? Es ist
einerlei -- ich trocknete ihm mit meinem Sacktüchlein das Blut von der
Stirn. Seine Kriegsgesellen schlugen sich noch mit der Bürgerschaft; er
aber sah mich an und sagte: ^Merci, mademoiselle!^ er wußte ja nicht,
daß ich ein jüdisch Mädchen war. Dann kam der Herr Bürgermeister, und
mich zog mein Vater ins Haus, und meine Mutter schlug mich. Sie hörten
in der Stadt, mit wie großer Macht der Herzog Christian im Anzuge sei,
und da pokulierten sie zusammen auf dem Rathause. Ja, ja, und am Abend,
ehe sie ihn vors Tor geleiteten, kam er auf dem edlen Pferd, das ihm die
Stadt gegeben hatte, vor meines Vaters Haus, und ich saß am Fenster, und
er warf mir seinen Handschuh zu und eine Kußhand und rief: >Denkt an
Just von Burlebecke, Fräulein; er wird Eurer immer lieb gedenken!< Und
doch wußte er da schon, daß ich eine Jüdin sei -- er war aber ein guter
Ritter, und ich habe seiner wirklich oft gedacht. Meine Mutter schlug
mich noch einmal am Abend und mein Vater dazu: denn der Rat hatte die
Reiterzehrung, die er dem guten Ritter verehrte, auf den jüdischen Mann
gelegt. Den Handschuh hab' ich heimlich versteckt, sonst hätten sie ihn
mir mit einem Fluche vor der Nase verbrannt. Dann haben meine Kinder
damit gespielt; es ist ein Wunder, daß er noch da ist; -- meine Kinder
sind tot, dreimal hat mein Haus im Schutt gelegen. Ja, ich hab' des
tapfern Ritters Handschuh von Gronau mitgebracht, o ehrwürdiger Herr,
nehmet ihn und lasset es die Simeath nicht entgelten, daß Ihr ihn bei
uns fandet. Helfet dem unschuldigen Kinde, der kleinen Simeath, durch
diese Nacht!« --

Das alles war mehr geröchelt als gesprochen worden. Die Greisin schwieg
jetzt und atmete im Halbschlaf schwer weiter. Der Greis sprach:

»So ist es, Mutter; wir beide denken noch zurück an die Zeiten des
Friedens. Als meine Mutter diesen Handschuh dem Just aufs Pferd reichte,
da vermeinte freilich noch niemand, daß länger denn ein Menschenalter
durch das deutsche Volk durch einen See von Blut waten werde unter einem
Himmel rot und qualmig von den brennenden Städten!«

»Was kümmert's mich?« schrie die Kröppel-Leah scharf und schrill aus
ihrem Traum heraus. »Meine Väter haben nie Frieden gehabt seit dem
Kaiser Titus. Was kümmert's uns, was ihr gemacht habt aus eurem Lande?
Ich ängste mich um Luft; der Schubjack hat mir die Brust zerschlagen,
doch ich wollte singen in dieser Nacht, wenn die Simeath nicht wäre.«

»Die Großmutter hat recht mit dem guten Kaiser Titus,« flüsterte der
Student dem Kinde zu. »Nun bin ich auch ein Römer -- ^civis Romanus
sum^, und kenne mein Latein, Jungfräulein; aber für uns beide soll das
kein Grund sein, uns die Gesichter zu zerkratzen.«

»O, freundlicher Herr, scherzet jetzt nicht!« rief Simeath, die der
Greisin eben wieder den Wasserkrug an die Lippen setzte.

Leah trank gierig und lange; dann stieß sie den Krug zurück und setzte
sich wieder kräftig auf. Sie wachte nunmehr vollständig und sah hell
umher.

»Laß ihn, Kind! Er tut wohl, daß er sich lachend in die Welt schickt.
Die Zeit schwingt und schwingt; -- auch seine Stunde wird kommen, wo er
mit gerunzelter Stirn auf den schweren Pendul sieht. Ehrwürdiger Herr
Mönch, Sie waren ein Reiter, nun sind Sie ein Bruder zu Corvey -- Ihr
seid auch ein alter Mann; habt Ihr den Frieden gefunden in den Mauern
der großen Abtei?«

Der Bruder Heinrich von Herstelle hatte, die Stirn mit der Hand
stützend, in tiefen Gedanken gesessen, auf die Frage fuhr er auf und
wiederholte sie:

»Den Frieden?«

Er zog wie im Spiel den Handschuh Justs von Burlebecke an; dann sprach
er:

»Den Frieden? -- Geh grad! -- Den Frieden? Weshalb sollt' ich auch den
Frieden zu finden wünschen? Ich bin kein gelehrter Mann, wie hier der
Herr Student, der den heidnischen Philosophum, den Horatius, auswendig
weiß; ich kann's nicht sagen, wie's mir zumute ist. In meiner Jugend
habe ich Freude gehabt am bunten Leben; -- hab' ich denn den Frieden
suchen wollen, als ich ein Mönch wurde? Ja, ja, -- denn bei Sankt Veit,
es wird wohl so sein! Ei ja, dann hab' ich ihn gefunden. Ich bin
freilich ein alter Gesell, und da hab' ich mein Genügen zu Corvey; aber
-- geh grad! -- die Zeiten haben mich gelassen, wie ich war, als ich
anfing, mich zu besinnen in der Welt. Was Blut und Feuer?! Da das uns
vom Herrgott bestimmt war, so mag auch Er -- sein Name sei gepriesen --
die Rechnung beschließen. Sie wird wohl stimmen, sowohl für ihn als für
uns.«

Die Alte lachte rauh:

»Da seid Ihr also auch auf dem Trost, der uns gesungen wird seit den
Tagen des Königs Nebukadnezar. Die Stolzen beugen sich, und der Herr
lacht über sie -- -- -- --«

»Und dieses alles, weil gestern der Lump, der Monsieur Fougerais, von
Höxter abmarschiert ist!« rief jetzt der Student ungeduldig dazwischen.
»Zum Teufel, den Frieden haben wir erst dann, wenn niemand mehr sofort
nach dem Prügel im Winkel greift, wenn er sich darauf gespitzt hat zu
hören: Vivat Doktor Luther! und es ihm vom andern Tisch herkrächzt:
Vivat Clemens der Zehnte -- oder umgekehrt! Der Fougerais ist fort -- --

   ^Nunc est bibendum, nunc pede libero^
   ^Pulsanda tellus^ --

das Lied vom Trinken und Tanzen ist zwar schon nach der Schlacht bei
Aktium gesungen und auf den Niederfall der Königin Kleopatra von Ägypten
gemünzt; aber ich münze es häufig auf was anderes, und tausend Jahre
nach mir wird man's auch so halten. Item, man hat Jerusalem mehr als
einmal wieder aufgebaut, Mutter Leah.«

»Doch die Fremden hausen auf der Wohnstätte des Samen Abrahams, junger
Herr. Die Kinder von Juda und Israel irren als ein Spott und Spuk
zerstreut; sie haben keinen Ort mehr, da sie Herren ihres Hauses und
Leibes sind. Auch für Euch ist noch keine Zeit, den Siegestanz zu
tanzen, junger Herr. Wollt Ihr wirklich dem Herrn von Fougerais und dem
großen Marschall Turenne nachsingen und tanzen? Sie haben Höxter leer
genug gemacht.«

»Meines hochwürdigsten Herrn zu Münster glorreiche Verbündete!« murmelte
der Bruder Henricus. »Lasset das Tanzen noch eine Weile, Herr Studente.«

In diesem Augenblicke erfüllte von neuem ein heftiges Getöse die Gasse
und näherte sich dem Hause der Kröppel-Leah.



                         Vierzehntes Kapitel.


Wann die Hochwasser sich verlaufen haben, dann hängt der Schlamm noch
für lange Zeit an den Büschen und überdeckt Wiesen und Felder, und es
bedarf mehr als eines klaren Regens und heitern Sonnenscheins, um das
Land der Wüstenei wieder zu entledigen. Und wenn die Flut gar in die
Städte und Stuben der Menschen drang, dann ist das, was sie hineintrug
und zurückließ, gleichfalls nicht so bald ausgekehrt und vor die Tore
abgefahren.

In diesen schlechten und stinkenden Tagen sieht aber der Herr mit
Vorliebe auf solche leichte, unverwüstliche Gesellen, die lachend über
den Schmutz weghüpfen und ihre Hand zur Hülfeleistung gern und lachend
da anbieten, wo sich mancher Ehrbare, Wohlweise und Hochansehnliche mit
Ekel und Unlust abwendet und die Sache sich selber überläßt. Der Herr
der Heerscharen hatte nach dem französischen Abzug in Höxter seine
Freude an dem relegierten Helmstedter, Herrn Lambert Tewes.

»Inkommodieren sich Euere exzellenten Liebden nicht,« rief der Student.
»Redet das Beste hinter meinem Rücken von mir; ich werde mich
erkundigen, was für einen neuen Unfug da die alte Bosheit, Meister
Beelzebub, in Huxar ausgebrütet hat. Hab' ich es nicht ein Dutzend Mal
gesagt: -- ^neque tectum neque lectum^, das ist die einzig stichhaltige
Devise für diese Nacht!«

Er sprang hinaus, doch die diesmaligen Hausfriedensbrecher kamen ihm
bereits an der offenen Pforte entgegen, an ihrer Spitze sein Oheim Ehrn
Helmrich Vollbort, der Pfarrherr bei St. Kilian.

Der, Ehrn Helmrich, hatte, während am Bett der Kröppel-Leah über den
Handschuh Justs von Burlebecke gehandelt wurde, in der Stummerigenstraße
sein Zwiegespräch mit dem Bürgermeister Thönis Merz eifrig fortgesetzt
und willige Horcher im erbosten gemeinen Wesen von Huxar gefunden.

»So haben sie wiederum der Stadt Negotien nach ihrem Willen geordnet,
die Herren von Corvey,« hatte er zornig gesprochen. »Wird sich
lutherische Bürgerschaft auch diesmal wieder den Maulkorb selber
überhängen? Lutherisches Kirchenamt wird reden und sich nicht den Mund
verbieten lassen!«

»Wir haben doch auch geredet, Ehrwürden; -- aber was hilft's?« meinte
der Bürgermeister.

»Was es hilft? O ihr närrischen Leute, klingt es euch denn noch nicht
genug in die Ohren von dem Gnaden- und Segen-Rezeß, den euch der von
Galen, so sich Bischof von Münster und euer Landesherr nennt, über
dieselbigen gleich einer Schlafhaube ziehen wird? Behaltet nur das Wort
in der Kehle und die Faust im Sack nach eurer faulen Art und wartet das
nächste Jahr ab. Den Hechtsfang und sonstige schnöde Nichtigkeiten wird
man euch wohl lassen; aber eure Kirchen und Schulen wird man euch vor
den Nasen schließen; dann sehet, ob ihr die Schlüssel mit euren Netzen
wieder auffischen werdet aus dem Fluß.«

»Was sollen wir tun?« rief der Bürgermeister, und -- »Was sollen wir
tun, Ehrwürden?« klang es im Haufen zornig und weinerlich nach.

»Der Herzog --« wollte Herr Thönis Merz schwachmütig von neuem beginnen,
doch der alte eifrige Prediger unterbrach ihn sogleich:

»Redet mir nicht von dem Braunschweiger. Der rückt euch nicht mehr über
die Weser zur Hülfe. Ihr krochet vor ihm, wie ihr vor dem Münsterer
krochet, und sie lachten hinter eurem Rücken über euch. Greifet selber
an und zu, wie und wo ihr könnt, weichet nur zollbreit, rücket immer
wieder zu, Artikul für Artikul; lasset euch das Geringste als das
Höchste sein. Was wollt ihr noch viel verlieren?«

»Das weiß der liebe Gott!« ächzte die lutherische Bürgerschaft von
Höxter.

»Der weiß es und hilft denen, die sich selber helfen wollen,« sprach
Ehrn Helmrich Vollbort feierlich. »Lasset diese Nacht nicht vergehen,
ohne daß ihr euch rührt gegen Corvey. Sie sind heimgezogen und zu Bett,
wir aber sind wachgeblieben. Werfet Panier auf gegen das Stift; fordert
mit heller Stimme, sei es, was es sei; lasset den Kampf nicht schlafen
gehen, wie die Mönche schlafen gegangen sind. Bei Sankt Veit schwören
sie, wir aber rufen den allmächtigen Gott, -- voran gegen Corvey!«

»Sie haben uns der Jüden Geleit genommen; wir aber haben es auf dem
Papier,« meinte zaghaft der Bürgermeister.

»Lasset den Tag nicht dämmern, ohne daß die Abtei sich einem neuen
^Factum, Actum et Gestum^ gegenüber finde; wir sind in dem Kriege, den
sie wollen, und den letzten Frieden wird Gott der Herr machen.«

»Die Jüden aus der Stadt!« schrie gell eine Stimme aus dem Haufen, und
hundertstimmig folgte der Ruf: »Fort mit den Jüden aus Höxter! Unser
Recht! unser Recht! unser Recht!«

Schon drängten sich wütend die Weiber vor:

»Sie standen mit den Franzosen auf du und du! Sehet ihre Häuser, -- sie
blieben unversehrt, während in unseren kein Stuhl und keine Bank heil
blieb! -- Sie zahlten dem Turenne! sie zahlten dem Schandkerl, dem
Fougerais -- sie konnten sich loskaufen, und die hohen Offiziere lagen
bei ihnen und ließen bei uns ihr wüstes Volk nach Belieben hausen. Die
Jüden, die Jüden aus der Stadt! Weg mit den Jüden aus Höxter!«

Nun stehen auch wir abermals einem Faktum gegenüber: das Wort, das in
der lutherischen Bürgerschaft fiel, fand seinen vollen Widerhall in der
katholischen. Zum zweiten Mal in dieser Nacht stürzte sich ganz Höxter
auf seine Juden, und selbst der Gubernator, der Herr Hauptmann Meyer,
ging mit, -- widerwillig freilich; aber sie zogen ihn freundlich, an
jedem Arm einer -- rechts die katholische, links die evangelische
Kirche.

Den Meister Samuel samt seiner Familie nahmen sie von der Gasse vor
seinem brennenden Hause, die zwei oder drei anderen Familien holten sie
zusammen, und so kamen sie im greulichen Gedränge, das elende jammernde
Häuflein halbnackter Menschen in ihrer Mitte, und hielten mit
ohrzerreißendem Lärmen vor dem Hause der Kröppel-Leah, um auch die mit
ihrem Enkelkinde abzurufen und mit den übrigen, Corvey zum Trutz, vor
das Tor zu führen.

Der Mönch war aufgestanden von seinem Schemel und hatte auch das
hussitische Schwert vom Boden wieder aufgegriffen; der Student aber trat
den eindringenden Höxterschen Würdenträgern im Vorgemach entgegen,
kümmerte sich um den Bürgermeister und den Hauptmann gar nicht, nahm
dafür jedoch den Pfarrherrn von Sankt Kilian mit zärtlicher
Unverschämtheit in die Arme und rief:

»^Mon Dieu^, der Herr Onkel -- nach zwei Uhr morgens noch in der
schädlichen Winterluft! Was verschafft mir die Ehre in _meinem_
schlechten Quartier?«

»Fort, Narrenspiel!« sagte der Alte, mit kräftiger Faust den Neffen vor
die Brust schlagend und ihn von sich stoßend.

»Was wünschen die Herren?« fragte der Bruder Henricus von der Schwelle
der Kammer des Sergeanten; und der Gubernator Meyer trat geduckt vor,
mit dem Federhute in der Hand, und stotterte:

»Ehrwürdiger Pater, das Haus und die Gasse ist voll von ihnen -- von den
Unsrigen und Ihrigen. Sie kommen und fordern alle dasselbige. Sie kommen
Arm in Arm gegen die Jüden und wollen sie in dieser Nacht noch vor die
Mauer setzen.«

»Und wir nehmen nur unser Recht, ehrwürdigster Herr Pater,« rief der
Bürgermeister. »Wir haben der Juden Geleit gehabt vor und nach dem Jahre
Vierundzwanzig und sind durch den Frieden auch ^in specie^ dieses
Punktes ganz und gar restituieret. Das weiß man zu Münster wie zu
Corvey, und zu Höxter ist da kein Unterschied des Glaubens. Wir kommen
alle um unser Recht.«

Der Pfarrherr von Sankt Kilian stand mit untergeschlagenen Armen und sah
finster auf den Mönch; der Bruder Henricus aber sah einzig und allein
auf ihn.

»Sie stehen in einem schlimmen Schein, Herr Pastore,« sprach der Mönch.
»Die Flamme des Brandes züngelt noch hinter Ihrem Rücken; hatte dieses
nicht Zeit, bis die Asche und der Schutt dieser Nacht kalt geworden
waren?«

»Ich komme mit den Leuten, die mir in dieser selbigen Nacht das
friedliche Haus stürmten und mit Steinen auf mich und mein Weib warfen.
Ändert es, Herr; -- das ist Höxter und Corvey!«

Es hatte sich während dieses Gesprächs immer mehr des Volkes in das
Gemach eingeschoben. Schrill rief eine Weiberstimme den Namen Leahs und
auf der Straße schrien Hunderte ihn nach. Der Bruder Henricus hatte den
Stadthauptmann zornig am Arm gepackt und schüttelte ihn: »Wo sind Eure
Leute -- sendet einen Boten nach Corvey -- o Sankt Veit und -- Kreuz
Element, bei meiner Reiterehre, der erste, der einen Schritt voran tut,
liegt mit blutiger Platte am Boden! Hier für Corvey! Münster und
Corvey!«

»Höxter und Corvey! Her mit den Jüden! Weg mit den Jüden! Höxter und
Corvey!« schallte es zurück; und nun tat der Student einen Satz fast bis
an die schwarze Decke des Zimmers:

»Höxter und Corvey! Kann ich den Ozean still brüllen und sollte Huxar
nicht stillen?! Bei meiner Burschenehre, wer im Tummel kennt mich als
guten Kameraden und den einzigen Höxteraner mit Grütze im Hirnkasten?
Wollt ihr nun Vernunft annehmen oder nicht? He Wigand -- Wigand
Säuberlich, tu's mir zuliebe und bring mir die Zeter-Liese da vor dir
zur Räson und nach Hause. An die Kröppel-Leah wollt ihr? ^Et tu Brute^,
mein Sohn Hans Rehkop?! Donner und Teufel, seid ihr für Höxter und
Corvey, so bin ich, Lambert Tewes, diesmal für Juda und Israel.
Helmstedt gab mir ^consilium abeundi^, -- Höxter ^relegatio in
perpetuum^, nicht wahr, Herr Onkel? Aber Jerusalem hat mich seit Jahren
ernähret, getränket und gekleidet; -- hier für Juda und Israel, und
wer's gut meint mit Höxter und Corvey, der schreie mit: ^Vivat
Hierosolyma!^«

Nun hatte er die Lacher auf seiner Seite und damit ein Großes gewonnen.
Schon aber hatte er sich im engeren Kreise umher gewandt, und da schlug
er den Bruder Henricus auf die Schulter:

»Wissen Sie noch ein und aus in Höxter, Herr Pater?«

»Sankt Veit!« rief der Mönch, ratlos nach der Decke aufschauend.

»Ihr, Herr Burgemeister?«

»O je, o gütiger Himmel!« ächzte Herr Thönis Merz.

»Ihr, Herr Gubernator?«

»Du hast mich gekannt, ehe mir der braunschweigische Algierer, der Noht,
die Trommel abnahm, Lambert; das ist mein Trost und meine Reputation.
Jetzo gehe ich nur, wie man mich schiebt.«

»So gehet Euren Weg, Herr Oheim,« sprach der Student zu dem Prediger bei
Sankt Kilian, und --

»Ja!« antwortete Ehrn Helmrich Vollbort und trat über die Schwelle in
das Kämmerchen der alten Jüdin.

Vernunft? Wer ist eine Stunde nach der Sündflut imstande, Vernunft
anzunehmen?!



                         Fünfzehntes Kapitel.


Auf das »Ja« des Predigers hatte der Bruder Henricus die Achseln
gezuckt, aber er war zur Seite getreten und hatte ihm weiter kein
Hindernis in den Weg gelegt. Der Student sagte:

»Nicht einmal ein Citatum aus dem Flacco fällt einem ein.«

Am Bette der Großmutter saß Simeath und blickte angstvoll zu dem
finstern Mann im schwarzen Chorrock auf:

»Großmutter ist eingeschlafen!«

Ehrn Helmrich Vollbort beugte sich über das Stroh und das kümmerliche
Kleiderbündel darauf; dann nahm er die Lampe des Meisters Samuel vom
Tische und ließ den Schein auf das Bett fallen:

»Erhebe dich, Weib. Willst du in dieser elenden Stadt die einzige sein,
die da schläft in dieser Nacht?«

Wahrlich, das war so: die Kröppel-Leah schlief! Da hielt der Bruder
Heinrich von Herstelle die übrigen nicht mehr; -- sie drangen in das
Gemach, so viel ihrer es halten wollte. Lambert Tewes schlug den Arm um
die zitternde Simeath:

»Fürchte dich nicht, Juda hat seit der Makkabäer Zeit keinen bessern
Kavalier gehabt als mich. Das Stift ist zu Bett; treiben sie es noch
weiter, so können auch noch andere Leute als der luthersche und
päpstliche Küster Sturm in Höxter läuten. Machen sie es allzu bunt, so
steht der Besen immer in der Ecke, und wir kehren und fegen mit den
Juden auch Höxter wie Corvey doch noch in die Weser!«

Das war ein freches Wort; aber es war Wahrheit dahinter. Es wurde
gelacht im Haufen, und eine haarige Faust hob einen ansehnlichen
Knotenstock gegen die Decke:

»Immer mit dem Zaunpfahl, Bruder Lambert! Gib du das Feldgeschrei, du
Sakermenter. Es sind genug vorhanden, die endlich Ruhe in der Wirtschaft
haben wollen. Höxter und Corvey in die Weser, und -- Vivat der heilige
Veit am Corveytor! Nimm du das Kommando, Lambert!«

Vernunft!? -- --

Sie machten ein großes Geschrei und schüttelten das schlafende alte
Judenweib an der Schulter. Sie hob noch einmal den Arm, als wolle sie
das Gesicht gegen einen Schlag schützen; aber dann fiel der Kopf schwer
zurück und auch der Arm wieder herab, der Leib streckte sich, und der,
welcher sie an der Schulter gerüttelt hatte, trat betroffen zurück und
rief:

»Zum Donner, die weckt keiner mehr in Höxter und Corvey!«

Da stieß das Kind einen Jammerruf aus und warf sich über die Großmutter,
doch die Großmutter konnte auch auf die arme Simeath nicht mehr achten.

»Sie hat nun freilich die Stadt verlassen, und es war nicht nötig, daß
wir mit Stangen und Schießgewehr kamen, sie zu holen,« sagte der Bruder
Henricus gegen Herrn Helmrich Vollbort gewendet. »Es sind nur Minuten,
da fragte sie mich, ob ich den Frieden gefunden habe.«

Der Pfarrherr von Sankt Kilian antwortete nichts, aber der Bürgermeister
murmelte:

»Selbst Herr Christoph von Galen müßte sie jetzo liegen lassen, wie sie
liegt. Herr Pastore, lasset uns zu den Bürgern sprechen und morgen auf
dem Rathause ein weiteres bereden. Ihr Leute, wer von euch will diese
Leiche vor die Mauer schaffen?«

Da ging ein Murren durch die rohe Gesellschaft in der Schlafkammer des
Sergeanten vom Regiment Fougerais, und es kam die verdrossene
Entgegnung:

»Dazu ruft die Gildemeister auf oder ladet sie Euch selber auf den
Buckel.«

Es wurde Raum im Gemach und Platz auf der Treppe; vergeblich hatte sich
schon seit einiger Zeit der Bruder Heinrich von Herstelle nach seinem
Studenten umgesehen. Im richtigen Augenblicke erschien dieser wieder auf
der Schwelle, des Meisters Samuel zitterndes Weib, die Siphra, vor sich
herschiebend:

»Jetzt laßt das Heulen, Mutter. Die Kinder schaffe ich Euch auch, und
wenn's den Trost vollkommen macht, den Alten gleichfalls. Da, hebt das
arme Mädchen auf und sprecht zu ihr. Euer Haus liegt nieder, also nehmt
hier Quartier und richtet Euch ein; es wird Euch niemand mehr stören.
Höxter geht zuletzt doch auch zu Bett, also haltet Eure Totenwacht.«

Vernunft! -- Wenn einer in dieser Nacht in Höxter an der Weser Vernunft
gesprochen hatte, so war das der Tod gewesen.

Die gute Munizipalstadt Huxar benutzte in dieser Nacht nicht mehr ihre
Judenschaft, um einen politischen Widerhaken in das Fleisch des Stiftes
Corvey und des Bistums Münster zu schlagen. Wir wären vollkommen zu
Ende, wenn wir nicht aus vielfacher Erfahrung wüßten, daß der
hochgünstige Leser deutschen Geblütes sich so leicht nicht zufrieden
gibt.

Im großen Refektorium der berühmten Benediktiner-Abtei Corvey sah's um
diese frühe Morgenzeit wunderlich aus. Nachdem der Vater Adelhardus von
Bruch von seinem Bogenfenster aus den Feuerschein über Höxter zur Genüge
beobachtet und glossiert hatte, täuschte er das Vertrauen des Subpriors
Herrn Florentius von dem Felde nicht. Behaglich schaudernd hatte er an
seine geistlichen Brüder in der rauhen Winternacht gedacht, und bei der
Heimkehr hatte des Stiftes Armada wirklich ihr Warmbier in den
dampfenden Krügen auf den langen Eichentafeln aufgetischt gefunden; dazu
die Öfen in Glühhitze und den Cellarius item und bereit, jegliches Lob
von Prior und Probst bescheidentlich, aber seines Wertes bewußt,
entgegenzunehmen.

Nun lag die Abtei zum zweiten Male in den Federn, aber der Vater
Adelhardus hatte sich noch größer erzeigt: er war nicht mit den andern
zu Bett gestiegen; einsam und allein hatte er inmitten der Halle, gerade
unter der großen Kupferlampe, Stand gehalten und auf seinen Sohn
Heinrich gewartet.

»In ihrer Selbstsucht sind sie hingegangen, nach genossenem Guten; mich
aber soll er finden, so er ^labente lingua^, mit lechzender Zunge,
anlangt!« Und der Bruder Henricus hatte seinen geistlichen Vater auf
seinem Posten gefunden, nachdem er mit seiner Schar den Pförtner zum
zweiten Male herausgeschellt hatte; und jetzo wollten wir, wir hätten
des weißen Papieres noch so viel vor uns als zu Anfang dieser echten und
rechten Geschichte, denn mit dem Bruder Henricus kam nun doch der Bruder
Studio gen Corvey, und sie schüttelten einander die Hände über dem
Tisch, der Pater Kellermeister und Meister Lambert Tewes.

Erst um fünf Uhr morgens dann hatte der Cellarius geseufzt:

»^Molliter, molliter!^ sachte, o sachte, mein Kind!« und die Warnung war
vonnöten gewesen, denn es war eben der Studente, der ihn zu Bette
brachte; -- und an des Kellermeisters Tür küßten sie einander, und der
Vater Adelhard schluchzte:

»Nach Wittenberg willt du, mein Junge? Junge, was willt du in
Wittenberg? -- Bleibe bei mir -- eine Bi-bli-_ooo_-thek haben wir auch,
-- ich will sie dir morgen zeigen; -- bleibe du in Corvey, mein braves
Kind -- ich zeige dir auch den Keller.«

»Na, alter Bursch, dieses wollen wir beschlafen. Seht Ihr aber, Pater
Henrice, so haben uns die Götter nach ihrem Ratschluß, dem Ihr schnöde
ins Angesicht sprangt, doch diesen Hafen zubereitet!«

Der Bruder Heinrich von Herstelle aber hatte das Haupt geschüttelt, als
er vor seiner Zellentür sein hussitisch Schwert gegen die Wand lehnte:

»Es ist nur eine gewesen, die den Hafen in dieser Nacht in Höxter oder
in Corvey erreicht hat.«

Der gute alte Mönch trug noch immer den Handschuh Justs von Burlebecke
an seiner linken Hand; jetzt zog er ihn ab und schlang ihn in den Griff
der Hussitenwaffe; er nahm das alte Angedenken nicht mit in seine Zelle.
Dem Studenten wies er ein Bett an, und zehn Minuten später sägte, sang
und raspelte Lambert, wie im Wettkampf mit ganz Corvey, Horen und Metten
zu gleicher Zeit. Da raschelte es im Abteihofe in einem Reisighaufen;
fürsichtig schob sich ein scharfbeschnäbeltes, rotkämmig Haupt hervor,
der eine Hahn, den der Gallier übriggelassen, das heißt, der dem
Küchenmesser sich entzogen hatte, wagte sich halb verhungert zum ersten
Mal aus seinem Versteck, schwang sich auf die Höhe des Reisigs und
krähete: Da horchte der Vater Adelhardus im tiefen Schlafe auf, -- und
es war [eine>>ein] neuer Tag geworden, gerade so grau und winterlich
stürmisch wie der letztvergangene.

In Höxter hielt das hebräische Völklein der toten Leah die Leichenwacht,
und die Weiber sangen den Trauergesang und sprachen der Simeath Trost
zu. Der Meister Samuel aber hatte noch ein anderes zu schaffen. Er war
mit Hammer, Säge und Axt beschäftigt, die Tür des Hauses der
Kröppel-Leah wieder einzurichten. Der Herd war bereits notdürftig in
Ordnung gebracht, und es flackerte auch schon ein Feuerchen darauf und
sang das Wasser in einem Kesselchen. Durch die Fenster zog freilich noch
immer der Wind; wenn jemand im siebenzehnten Jahrhundert in Deutschland
schwer zu beschaffen war, so war das der Glaser.

Ehrn Helmrich Vollbort saß eingeschlossen in seinem Studierstüblein,
welches nach dem Garten zu gelegen war und seine Scheiben noch
unversehrt hatte. Wahrlich ein Mann, so saß der Pfarrherr von Sankt
Kilian inmitten seines Rüstzeugs und spitzte scharfe Keile zum
Eintreiben in die Paragraphen und Fugen des drohenden Gnaden- und
Segen-Rezesses Christoph Bernhards von Galen, Bischofs zu Münster und
Administrators von Corvey, der eben mit dem französischen Louis Krieg
gegen Holland führte und gern das Seinige tat und riet, so beiläufig
Kolmar französisch zu machen. -- Der Bürgermeister von Höxter aber hub
eben an, die Gassen seiner Stadt nach dem französischen Abmarsch zu
kehren: -- er, Herr Thönis Merz, hatte des guten Exempels halber selber
einen Besen genommen und den zweiten Herrn Wigand Säuberlich höflich in
die Hand genötigt.

Nach Mittag inspizierte der Corveysche Gubernator und bischöflich
Münstersche Hauptmann Herr Meyer wieder einmal die Wacht am Brucktore
und warf spähende, argwöhnische Blicke über den Fluß nach dem
verdächtigen, nebeligen jenseitigen Ufer; er traute dem
Oberstwachtmeister Noht immer noch nicht, und dieser heimtückische Nebel
war ihm äußerst unbehaglich. Der alte Fluß rauschte und grollte wie
gestern über die zertrümmerte Brücke fort; doch ein neuer Fährmann war
bestellt worden und zwängte seinen Weg, keuchend, wie gestern Hans
Vogedes den Wassern ab.

Der Fährkahn schwamm auf der Weser, und in ihm stand, mit einer
Scholarenzehrung des Stifts Corvey in der Tasche und seinen Horaz unter
dem Arm, der Student Lambert Tewes und schwang den Hut dem Bruder
Henricus zu, der dem tollen Lateiner wohlwollend nachwinkte. Der Student
ging doch nach Wittenberg, obgleich er den Keller des Vaters Adelhardus
kennen gelernt hatte.

Nun trat eben der Hauptmann zu dem Bruder Heinrich von Herstelle, ihn zu
begrüßen; und der Bruder wendete sich zu ihm und sagte:

Ȇber Sie ist noch geredet im Konvent, Herr Gubernator. Man wird Sie bei
erster passender Gelegenheit Seiner fürstlichen Gnaden von Münster zur
Promotion vorschlagen, zum Avancement.«

Da lächelte der Hauptmann gerührt und meinte:

»Ein Gnadengehalt, vielleicht mit dem Titul Major, wäre mir wohl das
Annehmlichste. Ich bin und bleibe ein halber Mensch seit der verfluchten
Trommelgeschichte.«

Der alte, tapfere Mönch zuckte die Achseln und blickte wieder seinem
Freunde Herrn Lambert nach.

Zu dem sagte eben, als der Kahn drüben ans Ufer stieß, der Fährmann:

»Du willst also doch nochmalen in das gelehrte Wesen hinein, Tewes? Tu's
nicht; laß dir raten, bleib in Höxter. Wir stehen alle zu dir und machen
dich seinerzeit zum Burgemeister, du passest uns ganz und gar auf den
Leib.«

Da lachte der Student und zitierte noch einmal den Flaccus, doch jetzt
nicht in schlechten Reimen, sondern, wie er meinte, in guter poetischer
Prosa, selber verwundert ob des klassisch-melodischen Tonfalls:

»Unsinn trieb ich lange genug und tappte im Irrsal; ging um die Kirche
herum, ein Verächter der Götter und Menschen. Doch nun wend' ich das
Segel und rückwärts steur' ich bedenklich.«

»Na, noch ist's Zeit,« brummte der Fährmann, »besinn dich, Lambert. Es
ist nichts Kleines, Bürgermeister von Höxter!«

»Für heute lassen wir den alten Merz in Ruhe auf seinem kurulischen
Lehnstuhl, Jochen,« rief der Student, dem Schiffer die Hand drückend,
»dem Herrn Onkel und der Frau Tante möchte ich freilich schon das
Vergnügen und die Überraschung gönnen. Weißt du was? -- Ich komme
wieder!«

Damit sprang er ans Ufer und ging raschen Schrittes auf Lüchtringen zu.

Ich komme wieder! das wird oft und leicht gesagt. Dieser Helmstedter
Studiosus der Rechtsgelahrtheit ist zwei Jahre nach der Krönung des
ersten Königs in Preußen als Professor der Beredsamkeit zu Halle
gestorben, und sein Horatius soll sich in den vierziger Jahren des
achtzehnten Jahrhunderts in der Bibliothek des ersten Professors der
Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten, wiedergefunden haben.



Anmerkungen zur Transkription


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(vorher/nachher):

   [S. 13]:
   ... Der Bruder Hinricus lächelte ein wenig. ...
   ... Der Bruder Henricus lächelte ein wenig. ...

   [S. 60]:
   ... Bei allem diesen Getön entschlummerte nach den geistigen ...
   ... Bei allem diesem Getön entschlummerte nach den geistigen ...

   [S. 143]:
   ... uns fandet. Helfet dem unschudigen Kinde, der kleinen ...
   ... uns fandet. Helfet dem unschuldigen Kinde, der kleinen ...

   [S. 154]:
   ... Der Pfarrherr von Sankt Kilan stand mit untergeschlagenen ...
   ... Der Pfarrherr von Sankt Kilian stand mit untergeschlagenen ...





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