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Title: Beethoven - Eine Phantasie
Author: Révész, Béla
Language: German
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                             Béla Révész



                              Beethoven


                            Eine Phantasie



                      Kurt Wolff Verlag München



                  Bücherei »Der jüngste Tag« Band 80

                 Gedruckt bei E. Haberland in Leipzig

          Einzig berechtigte Übertragung aus dem Ungarischen
                         von Stefan J. Klein



       Copyright 1919 by Kurt Wolff Verlag München und Leipzig



Die Ärzte hatten mich im Februar nach Riva geschickt, damit ich warmen
Sonnenschein, trockene Luft rieche.

Nun sitze ich hier auf der Terrasse eines weißgetünchten kleinen Hotels,
die großen Glasflügel sind geöffnet, und die mittägliche Sonne
überflutet uns.

Müßige, lustfrönende Leute sonnen sich in dem geöffneten Glaskäfig,
ältere Leute dösen wach nach dem schmackhaften Essen, unter der Last der
glutenden Strahlen röten sich urlaubfreie jüngere, im Scheine dunklen
Weines hockend, an silbrig gleißenden weißen Tischen keuchen
Neuvermählte, sie betrachten den Sonnenglast, und ihr angespannt offenes
Auge lodert -- wenn sich ihre Blicke treffen -- wie über Schneebergen
der Sonnenstrahl.

Um mich herum Wachen; regungslose Stille.

Kein Ton tönt, kein Wort schwatzt, unter sich aneinander erfreuenden
Menschenpaaren leben wir abgeschieden, ich und der Sonnenglast.

Vor meinem rastenden Auge steht die gleichmäßige, sonnenumspielte
Üppigkeit, mit ihrem flutenden Gold die blaue Luft erfüllend, in dunklem
Gestrüpp grüner Bäume glühen Orangen, auf dem staubigen Hof löst ein
schlafender weißer Hund sich auf, und über allem steht und brennt das
unberührte Sonnenlicht.

Blendendes Funkeln umarmt mich und wäscht meine Augen; der Strahl, der
ihnen entirrt, wer weiß, ob er noch mir gehört, oder bereits vom
güldenden Grau aufgesogen ist? In den fernen Tälern prunkender
Unendlichkeit schaudert das Leben, zuckende Streifen, kämmige Flämmchen,
gebrochene Feuerbilder steigen aus den Sonnenstrahlen empor, und in der
tödlichen Stille, in der Muße des Friedens beginnt das gleißende
Lichtmeer sein Spiel.

Weiter draußen gerät die glatte Weite in Bewegung, die Strahlenwiese
entflammt, versinkt zerstückt, und aus dem Glanzwirbel lodert zuweilen
eine fransengesichtige Flammenschlange auf ... taucht dann wieder unter;
aus der verzehrenden Tiefe rollen in keuchendem Wetteifern andere
Schlangen ihre Feuerköpfe in die Höhe, zucken im mittäglichen Strahlen,
schwanken und verschwinden mit schlankem Hüpfen in den Lichtlabyrinthen.
Glanzdelphine spielen ... über ihnen und um sie herum zittern die
Sonnenstrahlmyriaden, Blendung glüht, Helle zuckt, Goldgarben lösen
sich, ähnlich dem Haar der begehrten Frau. Sonnenstrahlfäden laufen
zusammen, trennen sich, sterben verflochten ineinander, fliegen dann
abermals aus dem Flammenbecken auf, es tollt das Sonnenlichtdickicht mit
wechselnder Eile. Sonnenstrahllegionen zischen, und ich bin mit
vergessendem Staunen abermals ein Kind, höre das Einstürzen des Damms,
wie damals, da wir daheim in einer furchtbaren Nacht das große Wasser
erwartet .... Verflossener Zeiten Brausen umrauscht und umraunt meine
blinden Ohren, und es tost das Wasser über den Erdwällen der Insel; das
Sonnenlicht schaukelt, lauscht still wie der kleine Hain, in dem ich
einst mit dem unwissenden Mädchen saß; über uns gilbten in der
Augustdämmerung späte Akazienblüten, der kleine Hain bebte raunend, und
das unwissende Mädchen blies mir aus geweiteten Nüstern Glut entgegen
....

Unter jedermanns Herzen wacht eine alte Traurigkeit, ein vergessener
Traum, die fahlgewordene Freude. Wohin führt uns das entflammte Auge,
wenn wir Töne entschlummerter Gesänge hören?

In umgürtender Linie stoßen einander die großen Berge, hier und dort hat
einer seine Höhe zum Gipfel aufgeworfen, auf düsterer Schneeberge Haupt
strahlt der blaue Himmel, Schnee und Eis blinken hart im Sonnenglast;
blitzende Gletscher stehen und warten in der stummen Helle. Es flammt
die Sonnenkugel auf den Gipfeln der Schneeberge, rollt mit ihren
Lichtspeichen durch blaue Täler, durch weiße Schluchten, reißt Schleusen
der Strahlen zu meerartigem Gischt auf und bringt mit seiner
Zauberberührung die auf den Kuppen der Gletscher erstarrten Eisglocken
zum Tönen. Jungfräulicher Gesang sickert von den Gefilden der Weiße
herüber ... läßt dein müdes Herz mit Freude erbeben, umarmt den
schlaffen Daumen mit Ermunterung. In deinem gebrochenen Auge blüht
Andacht auf, und wir spielen im Zelt der Einsamkeit mit der nicht
kommenden Liebe, mit schwerem Alpdrücken: begeistert ein Aberglaube oder
Gott sich über uns? vermöchte ein heißer Atem des Weltgeheimnisses die
jahrtausendealten Eisfelsen zu schmelzen? woher kommt der Weg, der aus
dem Schoß der Zeit in den Schoß meiner Mutter geführt? Im strahlenden
All summen die Eisriesen, eine ungeheuere Hand träumt auf der
Angstorgel: Töne, dahinfließend wie das Quellen von Liebespaaren, hüllen
unser bebendes Herz ein; zerren meinen zitternden Körper wach,
besinnungraubend, wie die Augenblicke des Taumels in der Minute des
Lebensabschieds.

Es seufzt, singt das werdende Tongesumme, noch breiten sich fransige
Melodienebel um unser Herz, doch meine verlassene Körperlichkeit bebt,
fühlt um sich herum bereits beklommen, ringend anderer Leute
Lebensnervosität, und mein besonnter Blick gleitet auf die Bewohner des
verandaartigen Käfigs hinab; das krinolinetragende, runzlige Tantchen
blinzelt mit den Augen, streift den Seidenrock gerad und lacht lächelnd,
neben ihm trommelt das Männlein im Jägeranzug mit seinen rundlichen
Fingern, trommelt unentwegt und lacht gierig; die tauigen Jungen, Hand
in Hand, wie die Keilhaue vereinigt, lächeln gekitzelt, und ihnen
gegenüber sitzt an einem verwaisten Tisch ein buckliger Mann, bewegt
sich steif und lacht, lacht, lacht. Vor meinen verwirrten Augen flimmern
Regenbogen, flattern auf die gekrümmten Ohren des Buckligen, laufen über
sein knochiges, sommersprossiges, großes Gesicht, tollen auf seinem
lachenden verbitterten Mund; auf den glänzenden Bäuchen und spitzen
Lippen der Weinflaschen zechen Sonnenstrahlrosen, auf dem ovalen weißen
Bart des kleinen Mannes im Jägeranzug tändeln Sonnenstrahlen, schaukeln
auf seinem seligen roten Antlitz, und Sonnenstrahlen hüpfen auf seinem
runden, grünen Hut, auf dem Stiel der Fasanfeder; mit törichtem Raten
flüstert jemand um mich:

»Dies ist Stüssi, der Flurschütz ...«

»Stüssi, der Flurschütz ...«

hat vielleicht das krinolinetragende Tantchen etwas gesagt? jetzt bewegt
sich der spöttelnde Mund des Buckligen: entpurzeln ihm Worte? alle, die
hier auf der Veranda des Lichtes sitzen, verstehen einander, schütteln
sich plötzlich vor Lachen. Ihre Blicke begegnen einander mit
solidarischer Botschaft,

und ich muß fremd außerhalb ihrer Gemeinschaft bleiben?

hat vielleicht der Alpenjäger etwas Wild-drolliges gebrummt? haben
vielleicht die Jungen etwas von ihrer ungelenken Freude verraten? die
Lippen bewegen sich, die Augen verschrumpfen in des Lachens grauen
Ringen;

ich hülle mich in die verwachsenen Kleider der Scham und der
Verteidigung, verzerre die Linien des Lächelns und schleudere mein
verschrecktes Gesicht vor die Menschen hin ...

Hier gebe ich es, gebe es euch; der müde Zickzack belebt meine
gesprungenen Lippen, grinst stutzend (wie in trostlosen Häusern das
Lächeln armer Leute, deren letzter Gedanke es ist, daß ihnen der liebe
Herrgott aus dem hängenden Kopf den Verstand gesogen), zeigt sich
duckmäuserisch, auf daß ihr mir glaubet, um meine Schande nicht wisset
und mich (den die Larve des Lächelns verbirgt) in meiner verfolgten
Einsamkeit in Ruhe lasset.

Die Larve des Lächelns verbirgt mich ... über kecke, lebensstolze
Menschen flutet Sonnenschein dahin, auf meine verschreckten Augen wirft
die Gnade ihr Strahlenband und jagt mit meinem vergessenden Blick in
ungestümer Hast auf die Gefilde des Gefunkels; mit Flehen, in dem das
Herz der Traurigkeit pocht, taste ich nach meinen zerzausten Gesängen
... Lichtgarben lohen im Glast wie Glockenzungen auf, und die in Licht
getauchten Glocken ertönen, wie einst allabendlich daheim zur Litanei
des weißen Primas. Ich stand auf der Schloßtreppe, alle Sonnenblumen
wandten ihre Gesichter in diese Richtung, die pausbäckige Sonne ließ den
abendlichen Himmel erröten, unten schwitzte die Insel zwischen
Smaragdgräsern, und im breiten Tal der Donau hub das Glockenspiel an;
schlanke, bäuchige Glocken tönten durcheinander, der weiße Primas begab
sich mit Kardinalsschritten zum Gebet.

Mein bezaubertes Auge betrachtet den bestürmten Sonnenglast ... ein
dahingleitender großer Pfau hebt seine seltsamen Flügel, und alles
spiegelt sich bis zur opalenen Gemarkung darin. Wie schön ist dieses
Glockenspiel, wie müder Atem schwingt zitternd das leise Summen der
Marktkirche her, sorglos, wie frischer Kindermund, singt vom
Kalvarienberg die kleine Glocke der Rosalienkapelle, die traurigen
Glockentöne der Franziskaner schlängeln sich dick herüber, und ihre
abgestumpften Fransen flattern hier unter der Schanze. Das Läuten der
Klosterkirche seufzt, ähnlich dem Flüstern vertrockneter Nonnen, wenn
sie der flammäugige Domherr zur Beichte besucht; tiefergriffene,
hocherfreute Töne singen schwirrend, schwimmen aus der Weite herbei; aus
dem Tal langt leise ein ohnmächtiger Arm empor. In die harfenbeschwingte
Stille klingt, tönt, dröhnt die große Glocke der Basilika. Wie ein
stürmender Samum, so erfaßt der aufgepeitschte Ton-Orkan meinen Körper,
und ich spähe zusammengekauert vom Chor der Basilika in schüttelnder
Hitze. Unten, auf dem Goldthron wird der kleine Primas beweihräuchert,
über meinem benommenen kleinen Kopf rauschen die Tore der Orgel auf,
Stimmen blasser, bärtiger Männer tönen erzlos, auf reinen Lippen
bleicher Mädchen dösen lateinische Lamentationen. Von der strahlenden
Höhe der Kuppel schaut St. Hieronymus, ein großes Buch in den vom Mantel
verhüllten Armen, aus der Weihrauchwolke mit düsteren Augen auf mich
nieder ... auch ich war einst im Chor, auch ich sang an Feiertagsabenden
im Gotteshaus; in den schattigen Bänken gerieten die alten Juden in
Bewegung, schoben die Gebetbücher mit schwacher Hand beiseite, hoben
ihre zitternden weißen Köpfe zur Umfriedung empor, mein erschrockenes
Kinderherz pochte mächtig und blieb in der Stille stehn, triumphierend
allein, und ich entließ das Lied auf seinen Weg:

»Mi adir ...«

mit seiner grünberingten, pergamentnen Hand winkte der rote Bischof
Segen; auf dem großen Altarbild breiteten sich die Flügel der weißen
Taube aus ...

der hebräische Gesang entflog meinem warmen Mund ...

Wie war meine Stimme? ... sie schmettert, tönt, läuft um meine Ohren
herum, mein kleiner Körper strafft sich elastisch, meine frische Brust
wölbt sich aus der engen Weste hervor, mein weißer Hals wird statuesk,
und mit einemmal wird mein Gehirn, mein Auge, mein Herz von Glut erfaßt;
herausgeschmettert ist meine Stimme; sie jauchzt, fällt ab, wie der
vollkommene Augenblick, in dem Mann und Weib ineinander Leben
überströmen lassen; bis hierher höre ich sie ... heraustönend aus dem
Dickicht, das mich nunmehr mit altem Laub umwächst, und herüber winkt zu
mir die Jugend, wie wenn den auf dem Ufer Lungernden von den sich
entfernenden weißen Segeln einer Jacht Abschied gewinkt wird ...

Wie war meine Stimme? ...

O Stimme, die die meine gewesen, deren Klingen ich gehört, die keuchend
gejammert wie der Kummer, der mit seinen Ranken die Meinen ewig
gedrosselt; o Stimme, die die meine gewesen, gläserner Gartenglocken
Erbeben, das mit allmählichem Ersterben in Trostlosigkeit untergeht; wie
war meine Stimme? ...

Mein Gesicht zuckt ...

Draußen, um meine Körperlichkeit herum, an weißen Tischen ein Zickzack
von Menschen. Sie werfen mit ihrer tonlosen Freude, mit ihrem
verschwisternden Rausch, dessen Fühler mich in die fremde Gemeinsamkeit
rufen, werfen so ihre Harpune nach mir aus.

Auf meinem Gesicht Larve des Lächelns, ich zeige sie unwillkürlich,
diese schlechte Maske der Fröhlichkeit; mein abgewandtes Bewußtsein
träumt von Linderung, doch meine ausgelieferte Körperlichkeit ist
zwischen Menschen geklemmt und übernimmt aus unermeßlicher Ferne ihre
Wildheit ...

Auf meinem starren Gesicht zuckt das Lächeln; mein Mund krümmt sich,
mein Auge wird klein, mein Kinn rundet sich lächelnd ...

Worüber freuen sich eigentlich die Leute?

Den Diamantschoß dem Sonnenlicht geöffnet, mit schützender Güte von den
Strahlen gestreichelt, so empfindet mein mich versuchendes Kinderherz
sprießende Frühlingsbäume, im Regen des Blütenfalls ...

Verzerrt ist mein Gesicht, absichtsloses Lächeln hüpft mit
hinterlistigen Krähenfüßen um meinen Mund herum.

Der Bucklige räkelt sich an dem mimosengeschmückten Tisch hoch, sein
eingefallener Körper hebt und senkt sich, sein rötliches, großes Gesicht
strahlt im Sonnenschein, sein herber Mund zuckt unter der
sommersprossigen Nase, er lacht selbstvergessen,

was haben die Leute gesagt? ...

Auf dem Hut des Stüssi zittert die Fasanfeder, in der Goldluft hüpft der
weiße Bart, das ovale Gesicht läuft flach zusammen, zieht sich dann
länglich aus; das Lachen wogt, in das hübsch rote Gesicht Grübchen
grabend ...

In meine betroffenen Augen schlängelt sich hastend das Lachen,

weshalb lachen die Leute? ...

Es baumelt der schmale Kopf des krinolinetragenden Tantchens, der
Schildkrotkamm glitzert aufgeregt in dem gebrannten Haar, der dicke
Privatier, auf dem Dromedarkörper einen Strahlenmantel, zerplatzt bei
seinem Tiroler Wein, die girrenden Jungen sinken mit hochzeitlichem
Schaudern gegeneinander, fahren auseinander, jedes Gesicht zittert,
jeder Mund speichelt, jede Nase stülpt sich, jedes Auge zwinkert,
überall herrscht das Lachen mit seinen flutenden Wellen,

und es ergießt sich schmetternd über mein erschrecktes Gesicht;
schlängelnde Linien zerschneiden mein Antlitz, schmerzliche Grimassen
krampfen sich mir zwischen Stirne und Kinn, mein ringender Mund tropft
vor Lachen ... es dreht mich, schüttelt mich das Lachen.

»Worüber lachen sie?«

»Was haben sie zueinander gesagt? ...«

»Der Bucklige weiß es ...«

»Der Stüssi weiß es ...«

»Der Zerplatzende weiß es ...«

»Und weshalb lache ich? ...«

Das Lachen glotzt mir aus den Augen, das Lachen läßt meine Zähne
gegeneinander schlagen, krampft mein schmerzendes Herz zusammen:

»Räuberisches Leben, wozu kommst du zu mir, zu dem Ausgeraubten ...«

»Was willst du von mir? ...«

»Was bin ich denn? ...«

»Eines anderen Gedanke freut sich an Freude, und ich lache ... Eines
anderen Gefühl badet in Freude, und ich lache ... Eines anderen
blitzendes Auge spricht mit dem Auge des anderen Sprechenden, und ich
lache ... Lache mit fortgerissener Demut; ich lache, und kein Gedanke
lebt in meiner lachenden Stimme, kein Gefühl in meiner erstickenden
Stimme, meine beiden tränenfeuchten Augen taumeln blind in ihren Höhlen
...«

»Was bin ich denn? ... Ein Spielzeug aus Papier ... das von ichsüchtigen
Händen hin und her gezerrt wird? Ein seelenloses Geschöpf, das von den
Stärkeren hin und her gezerrt wird? Ein abgefallenes Blatt, das von den
Vorbeigehenden mit der Schleppe fortgefegt wird? Dienender Schemel der
Auserkorenen, der getreten wird?«

»Was bin ich denn? ... Räuberisches Leben ...«

Vor meinen umflorten Augen tänzelt gröhlend der Bucklige.

Sein hungriges, großes Kinn hüpft nach dem Hals, sein zersprungener,
wütender Mund klafft erstickend, noch während ihn das Lachen schüttelt,
fährt er zusammen, fährt auf, stutzt, richtet sich steif auf, richtet
mit seinen langen, knochigen Fingern die Weste, zieht auf seinem
gewölbten Hemd tändelnd die verschobene Krawatte breit, bringt eilends
die Flügel seines Jacketts in Ordnung, rafft seinen schiefen Kopf immer
wieder und immer wieder zurück; der Arme ... weshalb schämt er sich? was
verbirgt er? ...

Und wie oft schwindelt es ihn vor dem geheimen Gedanken, der mit Gott
hadert? ... O, wenn jeder Mensch bucklig wäre? ... Wie oft erhebt sich
in seiner umengten, verwaisten Einsamkeit dieses Phantom?: der Mensch
würde so geboren, auf der Brust ein Buckel, auf dem Rücken ein Buckel,
wäre jedes Menschen Hals kurz, zwischen Körper und Kopf vom Adamsapfel
abgegrenzt? jeder Mensch wäre so, und der Bucklige könnte auf den
lenzlichen Straßen promenieren wie die übrigen Menschen, könnte unter
den Menschen sitzen wie die übrigen Menschen, stünde vor dem Chef wie
die übrigen Menschen, badete auf dem Lido wie die übrigen Menschen? ...

Und der Hinkende? ... Der Hinkende? ... Ob wohl auch auf dem gehüpften
Lebenspfad mitunter der spielerische Traum aufbebt? ... Gott schuf den
Menschen ... Wenn Gott es so machte, daß bei jedem Menschen das eine
Bein kürzer wäre, als das andere? Und jeder hinkte? Ich eile auf der
Straße dahin, und auf der Straße hinkt jedermann? Die Soldaten hinken,
die Buchhalter hinken? Um die große, blonde Frau herum hinkten alle
Männer? Niemand spielte Fußball, niemand liefe Schlittschuhe, niemand
spränge auf die Elektrische? ...

Wenn jeder Mann klein wäre? Der Krakeeler klein wäre? Der raufende
Gentry klein wäre? Der betrunkene Husar klein wäre? Jeder Christ klein
wäre? Jeder Zylinderhut, jeder Winterrock klein wäre? ... O, wenn jeder
Mensch eine große Nase hätte? Wenn jeder Mensch stotterte? ...

Und der Blinde? der bloß die schwarzen Schleier löst und niemals den
Lichtvorhang erreicht? Sendet auch er, in heimlicher Traumversunkenheit,
Fächervögel der Sehnsüchte aus? Wenn die Menschen das Schlechte nicht
sähen, ihnen nur die Berührung der Hand still verriete, ob Feind? treues
Weib, guter Bruder? ... Wenn sie die Sterne nicht sähen, und die
Dämmerung auf dem dunklen Vorhang mit herzversunkenen Farben auftauchte?
...

Und die übrigen? ...

Fehlerhafte Pflanzen des bunten Menschengartens? ...

alle Traurigkeit der häßlichen Welt beugt mir den Kopf.

Der verschlossenen Mysterien sehnsuchtsschwere Vorhänge, o, könnte ich
sie doch zurückschlagen ...

Schwer keucht meine Brust in der blutenden Mitte der geoffenbarten Welt.
Leben, Mensch, ewiges All zeigen sich mir im Abgrundwirbel der Minute,
und die Februarsonne schreibt klirrende Buchstaben auf meines Herzens
Wand ...

Siebzehnter Februar.

Tag meiner Geburt.

Freude, Traurigkeit, fremdes Ringen, bin nun alldies ich?

Ist mein dargebotenes Herz die dröhnende Grenze, wohin jetzt die sich
entwirrende Erkenntnis pilgert, die durch das Tor des Augenblicks
sichtbare Vergangenheit, die aus ferner Weite herbeischwingende Zukunft?

Sind meine beiden Augen mit Balsam verzaubert? und suche ich, mit
entsetztem Schrei, mit der Qual der Sehnsucht, mich?

Wer bin ich? ...

Heute Nacht wird es neununddreißig Jahre, daß ich zur Welt gekommen.

Und bisher habe ich nicht gelebt?

Und die Zeit, da die mich hervorrufende Zelle aus dem Unbekannten
aufgebrochen, auf daß sie den sich erfreuenden Körper meiner Mutter
berühre?

Und die Zeit, da ich mit meiner Mutter zusammen gewesen, da mein Herz
ihr Herz, mein Blut ihr Blut gewesen?

Heute Nacht wird es neununddreißig Jahre, daß ich zur Welt gekommen.

Ich fühle diese Nacht.

Als ich meiner Mutter Worte zu verstehen begann, erfuhr ich alsbald, daß
meine Geburt in einer hochwasserbedrohten Nacht erfolgt war. Bei den
Inselgrenzen hatte das Hochwasser die Dämme durchbrochen, das Volk
warnende Mörser und Glocken hatten meine leidende Mutter geschreckt, die
in dieser Nacht vor der stetig wachsenden Flut von ebener Erde ins
Stockwerk gebracht worden war.

Ich ruhte noch ohne Leben im schützenden Körper meiner Mutter, hatte
aber über die Ärmste bereits lange Krankheit gebracht.

Kaum daß meine beiden großen Kinderaugen sahen, was sie erblickten,
begegnete ich über meinem Kopf, in den engen Straßen, auf den gelben
Wänden allerhand Marmortafeln, auf diesen steife, kalte Finger, die auf
eine Linie und auf ein Datum zeigten: 1876. 17. Februar ...

Heute Nacht wird es neununddreißig Jahre, daß ich zur Welt gekommen.

Und ich fühle diese Nacht.

Ein grämlicher, schattiger Abend war's, die Petroleumlampe döste mit
halber Flamme, meine ins Bett gefällte Mutter wartete feige zwischen den
heißen Kissen, in der Klemme dolchartiger Ängste.

O, wohlbekannt ist mir die grausame, die zärtliche, die stürmische, die
andächtige Phantasie ...

Sie bricht auf dem Lager der Schmerzen zusammen, eine Blutwelle
erdrosselt den erwachenden, kampflustigen Gedanken, doch taumelt ihr
Bewußtsein auf, und das pochende Herz fragt:

»Bub oder Mädchen? ...«

Überall schwarze Flaggen der Armut gehißt, und auf den trockenen Lippen
zuckt die verstummte Glocke:

»Wieder ein Kind ...«

»Schon wieder ein Kind ...«

Aus ihren Qualen stöhnt das Gefühl auf:

»Wenns nur kein Mädchen wäre ...«

»Ein feuchtes, häßliches, jammervolles Mädchen ...«

In ihrem wirren Kopf verschwimmen geschwächt Fieber, Vorstellung; der
Angst matter Schatten kreist über ihrem leidenden Körper, und sie hofft
zagend:

»Wenn Gott es so beschieden ...«

»Wenn Gott es so will ...«

»Es möge hier bleiben ...«

In ihrem Auge zuckt ungestüme Verständigkeit, und sie schaut, tiefe
Leidenschaft im geweiteten Blick, nach der benachbarten Stube.

Jenseits der Türe, im Zimmer, läuft ein kleiner Mann umher, eilt auf und
ab und entflieht, wenn ihn meiner Mutter stöhnende Stimme anjammert. In
seinem schönen, runden Kopf hetzen ziellose Spekulationen, der Wunsch
blitzt auf:

»Vielleicht wird es doch kein Bub sein ...«

»Wenngleich der Konditor gesagt hat, daß er auf Kredit Torte gibt,
Likör, anderes ...«

»Doch ist das nicht gewiß ...«

»Wir sind ihm noch von der vorigen Geburt her schuldig ...«

Des Männleins magere Hände zucken nervös in den Hosentaschen, fahren mit
klavierspielender Unruhe flink umher, spielen mit roten
Vierkreuzerstücken:

»Die zwei Faß Wein hab ich doch nicht verkaufen können ...«

»Die Phylloxera tötet die Weinberge ...«

»Man müßte es in einem anderen Beruf versuchen ...«

Meine Mutter schreit auf, das Männlein stutzt,

lauscht mit aussetzendem Atem dem Abfallen der Stimme, es wischt von der
hohen Stirne den Schweiß, und des Schmerzes Laute jammern wieder auf ...
das Männlein steht still, zögert, läuft von Winkel zu Winkel, betet ...
und draußen dröhnen die Mörser auf, heulen die Glocken; das
umherrennende Männlein schielt nach dem Fenster, lauscht aus der
Stubenecke auf die Panik ...

Mörser dröhnen, Glocken tollen, mit herzzerschlagenden Schreien klagt
meine Mutter, und in der Schreckensnacht betet angstzitternd, vernichtet
mein Vater:

»Was hab ich getan ...«

»Was hab ich getan ...«

Nacht vor neununddreißig Jahren ... zu der die heutige Nacht sich
zurückneigt.

Und früher habe ich nicht gelebt?

Es mochte ein geschäftiger, schenkender, die Gebetsandacht des Abends
vorbereitender Tag gewesen sein ... Jahrmarktstag. In der morgentlichen
Luft hüpften die rötlichen Kälblein, braune Bauern schleppten
Weizensäcke, aus schattigen Zelten glänzten wohlriechende, faltige
Stiefel, glockenröckige Bäuerinnen feilschten keifend vor den
Kurzwarenständen, auf dem feuchten Bürgersteig bunte Blumenbeete, im
Sonnenschein nickten Goldregen, Stiefmütterchen; aus den Garküchen
wehten Fisch- und Bratengerüche von gaumenanreizender Fettigkeit hervor.
Am Saume des Marktes, in aufgewirbeltem Staub, wurden Fohlen, stolze
Rosse geschirrt; hier rannte mit feilschender Aufregung, mit
verschmitztem Eifer, ärgerte sich, scherzte erleichtert, mein
arbeitsamer Vater. Und er schickte das rote Kalb zum Metzger, bestimmte
die fünf Sack Weizen für den Getreidehändler, kaufte für den Gastwirt
Enten, Schafe, und bis zum Abend haben sich die flinken Sechserln, die
schwerfälligeren, selteneren Gulden angesammelt; daß nur endlich der
milde, schmeichelnde Abend gekommen ist.

Sabbat Abend ...

Braune Schatten engen die kleine Stube ein, aus ihrem Schoß flattern,
zittern Alkoholflammen auf dem Tisch, violette Kämme beben auf, in der
Höhe wird Goldlicht angezündet, von gaffenden Augen bis an den Tisch
reichender Kinder blinkend gespiegelt; ein verbrämter, versteckender
Käfig ist nun die kleine Stube, auf den Schattenteppichen spaziert und
singt mein Vater, unter des Fensters Baldachin sitzt und schweigt meine
strahlende Mutter.

Mein Vater singt.

Körnt summend die Gebetzeilen ab, seine Stimme rastet mit andächtiger
Mattigkeit, er geht mit seligen Schritten in der Dämmerung auf und
nieder, sein gehetztes Gehirn spielt mit dem Frieden, das hebräische
Lied lockt abermals seine Stimme hervor, und er singt, jammert, wie die
vielen, vielen alten Leute, die zueinander die gottesfürchtigen Freuden
hinübersingen, diese von Traurigkeit verängsteten Melodien.

Spazierend singt mein Vater, seine Stimme schwillt an, bebt vom Feuer
der heiligen Kantoren, das Verständnis des Gelehrten verkostet einzeln
die gejammerten hebräischen Worte; seine gehetzte Phantasie streift
flatternd Geheimnisse der heiligen Bücher und berührt dräuende Schrecken
der erschütternden Sorgen; mein Vater singt. Die Qual des Morgens, die
Verheißung der Schmach, der Schrecken der Phylloxera, sieghafte
Intriguen der geschickteren Feilschereien, Ungemach, Schmerz und
ängstliche Feigheit spuken auch jetzt bösartig in der weißen Betäubung,
doch zieht mein Vater über sein verwirrtes Herz das Gebet, singt
sehnsuchtsvoll, flehentlich:

»Friede mit euch, Selah ...«

Friede mit euch, Selah ... Erschlaffe, schmerzende Ungewißheit,
besänftige dich, sinnlose Drohung, zerstreue dich, niedersinkende
Düsterheit, Geld, Unheil, Schreck, greint lallend, in armer Leute Heim
rastet friedlich der Abend; auf dem Tisch zucken die ersterbenden
Flammen; der duftende Alkohol, die dumpfen Muskaten, des Ölbaumes
silbriger Zweig flattern verschlungen über dem Opfertischchen, in der
Abenddunkelheit züngeln Flammen in die Höhe, mein Vater singt munter,
selbstvergessen heiter:

»Der Du erschaffen die duftenden Gewürze ...«

Seine Stimme gurgelt, schwingt auf:

»Gelobet sei Dein Name ...«

Die zwei jungen, schweren Hände über die Flammen ausbreitend, mißt er
mit taumelnder Müdigkeit des Käfigs Ferne, mißt und mißt; von östlichen
Gewürzen singt mein Vater, über den aneinandergeschmiegten Leuten wölbt
sich ungarischer Duft, am Fenster, in staubendem Regen des Essigbaums,
sitzt meine träumende Mutter, Duftgewänder um den schönen, schlanken
Körper. Feiertag, Abschied ist meines Vaters Gesang, im vertieften
Schatten sinken seine Hände wie müde Vögel nieder; die geflochtene
Wachskerze lodert, flackert, ihr spitzenzackiger Kopf wird einschläfernd
in die auf dem Tisch wühlenden Flämmchen getaucht; mein Vater singt, die
Stimmchen der Kinder zirpen kreisend auf, es summt der Bienenstock, im
verbrämten Nest erfreuen sich zwitschernde Kindlein; auf dem
Opfertischchen entflammt, verlöscht das behende Licht, flackert noch
einmal auf, der ringende Glanz verkriecht sich, und der Abend
verschließt sein Braun. Meines betenden Vaters langsame Hände segnen
streichelnd.

Schlummernde Nacht schütze deine Geheimnisse, Dunkelheit verdichte deine
Schleier; jemandes körperloses Leben geistert bereits auf dem
Lebensvorhang.

Ineinanderfunkelnde Sterne tummelt euch, umherirrende Sommerwinde weht
raunend ineinander, reife Bäume, offene Kelche, Blüten schwebt seufzend
ineinander, heiliger David auf dem blassen Thron, spiel, spiel diese
Nacht schöne jüdische Psalmen, denn heute segnet reine Freude zwei
betörte Menschen. Blut, das sich an der Wärme des Euphrat gewärmt,
Phantasie, vom Flüstern der Lotusblume erhitzt, Herz, das auf der
Galeere des Stolzes, der Traurigkeit, der Schmach geschwommen,
entbrennet; versunkenes Ahnentum, großäugige Hohepriester,
Beduinenheiden, Ghettoträumer brechet auf; aus göttlicher Geheimnisse
Schoß schießt zitterndes Leben hervor.

Trampelt sorglos zwischen eueren kinderduftigen Kissen, auf eueren
Traumschaukeln, ihr, meine kleinen Geschwister.

Ich komme, komme.

Einst sah ich einmal, und sah damals zum letzten Mal meiner Mutter
Heimatsdorf Rád; das damalige Kinderaug lebt auch jetzt noch in meinem
Auge. Eine zusammengetakelte, baufällige Hütte, kitzelnder, schwerer
Stallgeruch auf dem Hof, in einem niedrigen, mit kalter Erde
gepflasterten Stübchen zögern sehr alte Leute, und neben dem Herd noch
ältere, eine mütterchenartige Frau und ein Riesengreis dösen, am Ende
des Hofes ein Hang, und noch weiter etwas wie ein Garten, lauter
Pflaumenbäume; dichte Pflaumenbäume, ihre obsttragenden Kronen neigen
sich ineinander und wurzeln mit waldiger Ferne in der Wiese; wie war
dieses Dickicht über mir? Ich vermag es nicht zu sagen.

Wie ein zischender Augenblick, wenn wir das in die Sonne staunende Auge
schließen und um uns herum der Abend mit wildem Tumult, mit wunderlichen
Bildern niedersinkt, wie die Blendung, wenn wir zum erstenmal japanische
Stiche kennen lernen und Laubkronen der japanischen Bäume unsere sich
fortsehnende Neugierde zu Traumreisen verlocken, wie die Decken kleiner
Bauernkapellen, von denen in dicken Wogen die himmelblauen Gipswolken
herabhängen ... Oft hatte hier meine Mutter geweilt, wenn sie stürmische
Traurigkeit von meinem Vater fortführte, und auf den schattigen Pfaden
der Ráder Pflaumenbäume sind wir Kinder, im schlummernden Nichtsein,
wahrlich alle dahingewandelt, wenn wir über unsere Mutter Unheil
gebracht hatten.

Reife Laube, die sich über der müden Phantasie wölbt, o, wie oft hat sie
meine Mutter umschlossen? Hat die kraftlose Frucht, der sich loslösende
Gedanke meine Mutter in der verzückten Stille des blauen Schattens
begleitet? Zeigt die heilige Traumversunkenheit immer nur die Armut, die
ihre Verlobten mit dem Zauber des Leids aufsucht? Spielt der besuchende
Traum immer nur mit seinen Fragen-Prismen, die der Erwählten Bewußtsein
stets lähmen? ...

Armut, schwarzer Blitz über dem Elterngefühl, entfernst du dich denn
niemals? und umrankst deinen Diener, wie das Fleisch den Knochen, wie
der Atem die Lebenssehnsucht? Bebst du düster im Spiegel der Augen auf,
wenn sie sich selbstvergessen öffneten? Gibst Scherben durch Schreck aus
unvorsichtigem Lachen? Und drohst grollend geheimer Tiefe des heiteren
Augenblicks? ...

Meine Mutter träumt, und über weitem Horizont ihrer Phantasie schwingen
die trägen Gedankenvögel:

»Was macht jetzt mein Mann? ...«

»Werde ich immer so leben müssen? ...«

»O, wenn er jetzt hier wäre ...«

»Immer zanken wir ...«

»In unserer Familie kommen alle Frauen wieder nach Hause ...«

»Elend, Zank, Zorn überall ...«

»Wie schön andere Familien leben ...«

»Bei uns nur Zank, Zorn ... immer nur Zorn ...«

»Wir könnten einander töten ...«

»Die Schmach ... diese Schmach ...«

»In unserer Familie war dies immer so ...«

»Wird in unserer Familie dies immer so sein? ...«

Unter hängenden Kronen der Pflaumenbäume, auf den verschwindenden Pfaden
der sich blau färbenden Laube tappt ein Riesengreis dahin.

»Immer ... immer wird es so sein? ...«

»Auch ich werde so alt werden? ...«

»Werde auch ich hundert Jahre leben? ...«

»In unserer Familie werden alle alt ...«

»Hundert Jahre ...«

»Hundert Jahre weinen, traurig sein ... Hundert Jahre immer nur
Schlechtes ... Nur Sorgen, Elend ... Hundert Jahre so leben ...«

»Mein Gott ...«

»Hundert Jahre ...«

»Und das Kind, das noch um nichts weiß, aber schon mit mir hier ist ...
wird auch das alt werden? ...«

»Sich abquälen, weinen ... Hundert Jahre lang sich immer nur schämen
...«

»Wäre nicht besser der kleine Holzsarg? ...«

»Wäre nicht besser unter blauen Blümlein zu ruhn? ...«

»Und wenn es ein Mädchen wird? ...«

»Ein häßliches, altes Mädchen ... das in der Sylvesternacht Blei gießt,
zur Schlafenszeit in sein Hemd beißt? ...«

»Nein, nein, es wird kein Mädchen sein ...«

Widerstand ringt die kreisenden Gedanken nieder, meine Mutter hadert
verwirrt, ereifert sich im Heraufbeschwören schicksalsschwerer
Geheimnisse; die dichte Pflaumenpflanzung sperrt wie ein Tor das Licht
aus, und in meiner Mutter Gehirn spukt es auf:

»Man hat uns verflucht ...«

»Hat uns verflucht ... Mein Vater ... Mein Großvater ...«

»Jetzt fluchen wir ... Wie mein Vater ... Mein Großvater ...«

»Als er dort am Fenster stand ...«

»Er betete am Fenster, die weiße Kappe glitt auf seinem Kopf zurück, er
schlug sich mit seinem umriemten Arm auf die Brust, und sein betender
Mund verfluchte uns ...«

»Und jetzt fluchen wir ...«

»Wenn die Armut uns quält, stets fluchen wir ...«

Und das Entsetzen schnürt meiner Mutter Hirn zusammen. Ihr gehetzter
Atem setzt aus, sie schwankt auf dem schwerer gewordenen Weg, und
jemand, dessen Seele bereits in ihrer Seele loht, beklemmt ihr Herz; der
Mensch, der ich war und der ich meiner Mutter Herzblut getrunken habe.
Die Hülle, die mich einst umschließen würde, hat bereits den Platz
meines Herzens festgelegt; es erwacht schon zum Sein, öffnet die
verlangenden Lippen nach Leben, und meiner Mutter Herzschlag nährt treu
ihren Sproß.

Meiner Mutter Herz ...

einsame Glocke, die beim Gespensterspuk böser Gefühle erschrocken tönt,

voller Kelch, den Gottes Hand mit Unerbittlichkeit der Schöpfung an die
Quellen ewigen Leids führt,

umwolkter Stern, der jauchzend auffunkelt und von lauernden Schleiern
der Düsterheit verdeckt wird,

meeräugige Träne, die winkend blinkt, doch quellt in ihrer Tiefe bereits
sprudelndes Weinen,

Leben, Tod, Sonnenglast, Schatten, alles, erlebte Vergangenheit,
unbekannte Zukunft, alles, alles: meiner Mutter Herz ...

wie oft schon hat in seinem geschlossenen, schwülen, kleinen Hof die
Bahre gestanden? ...

An der Schwelle flügger Jahre, ihr winziges, frisches Herz, als es zum
erstenmal gezuckt? ... Vielleicht im dumpfen, kranken Stübchen, zwischen
aufbegehrenden Menschen, die einander bis ans Grab lieben und von der
Armut gehetzt miteinander hadern, Fluch, kreischende Hölle, gehobene
Faust, sich selbst zerfleischender Haß, der die Sonne verdüstert ...
Eine längst versunkene Winterdämmerung, draußen heulen die Berge vom
Kanonengedröhn, die flüchtige Familie harrt des klirrenden Urteils über
Gebetbücher gebeugt, und zur Türe herein stürzt, mit blutendem Kopf, ein
Kossuth-Honvéd ... meiner Mutter Herz sieht ihn ... Der Wunderrabbi ist
gestorben, der schwarze Tod hat ihn fortgerafft, wahnsinnige Menschen
graben in hüllender Nacht den Heiligen aus der Kalkgrube, waschen ihn,
kleiden ihn an, sprechen über ihn die überlieferten Worte, und es kommt
in der rechenschaftfordernden Nacht der Rächer und schlägt mit fegenden
Fransen seiner furchtbaren Schleppe auch meiner Mutter Herz ... Das
trostlose Heim, in dem die Eltern bereits geschwächt umherlungern, die
Kleinen angstzitternd erlahmen, auf das die Barmherzigkeit nicht mehr
niederblickt, wo der Zusammensturz die einander anstarrende Familie eng
zusammenschnürt ... Doch schlägt das Terno ein, das Lotterieterno,
schmückt mit seinen Strahlen die gebrochenen Augen, behängt die
ohnmächtigen Phantasien mit ausgelassenen Kühnheiten, und die Freude,
die reine, unbekannte Freude zieht bei den armen Leuten ein, und bei dem
freundlichen Zusammentreffen ist auch meiner Mutter Herz zugegen ...
Bittere, schwere Schmach ist der lange Fasttag, da sie in den Tempel
gehen, meine Mutter neben ihrer Mutter Rock, doch steht in der Türe
bereits der Tempeldiener, es sei drinnen kein Platz, den Reichen gehöre
das Vorrecht, die Armen mögen draußen auf dem Hof beten ... Als
mannbares Mädchen, da meine Mutter schön war wie Maiflieder, von
Palmenwuchs; ihre traurigen, sammetschweren Augen, ihr stolzer Mund, ihr
scharfes, klares Gesicht ließen die Jünglinge komplimentieren, und die
Schwindsüchtigen, die Häßlichen, die Mausäugigen heirateten alle vor
ihr, sie aber stand mit ausgebreitetem Herzen auf dem Markt, und es
pochte ihr ins Gehirn:

»Ein armes Mädchen sollte nicht geboren werden ...«

»Für arme Mädchen sind die blauen Blümlein da ... dort im Friedhof,
recht tief unter der Erde ...«

Und die Zeit des Genusses? da ihr Herz wie ein sich öffnender Mund um
die vollkommene Liebe sich krümmte, und in ihre traumversunkenen
girrenden Worte das wache Leben hineinwütete:

»Wieder eine Lizitation! ...«

»Pfui, ist das ein Leben? ...«

»Deine Kinder sind bei Handwerkern in der Lehre ...«

»Was wird man in Rád sagen ... Ich kann mit den Rangen heimgehen ...«

Erhalten wir eine Kerbe nach der anderen? von tändelnden Bewegungen
schaffender Finger, derweil sie unseres Herzens Gebäude bauen, es mit
Glückspflanzen beforsten, Schmerz einschneiden und Träume säen? ...

Meiner Mutter Herz fühlt nun mich ...

taucht das Sein von morgen, das mich bereits ruft, in den Schicksalen
überlieferter Leben unter? altes Leid, umnebelter Schmerz, in Gott
mündender Aberglaube, matte Freude, verängstigter Wille: bäumt sich dies
alles jetzt auf?

meiner Mutter Herzblut ergießt sich über mein aufkeimendes Herz ...

Erstes versunkenes Evoë, das mir entgegenweht, meiner Mutter Evoë; aus
welcher Pfeife des orgelnden Wissens ist es erklungen?

Schießt in die Höhe, bejahrte Pflaumenbäume, streckt euere üppigen
Kronen in den Himmel; blaue Luft, welle befreiend auf. Meine Mutter
steht in gestraffter Schlankheit unter Gott, steht im Kranz reifer
Früchte bezaubert-bezwungen und lächelt; ihr funkelnder Blick schweift
in die Unendlichkeit, und Lächeln blüht auf ihrem schönen, weißen
Gesicht,

ich poche unter ihrem warmen Herzen auf.

Ausgesandter Page der schnaubenden Zukunft, mein ins Leben geschwungenes
kleines Herz, in dunkler Sendung pocht es bereits, flattert im glühenden
Weltall, und in Blut und Kot beschwören schon welterschaffende
Strömungen die Gefühls- und Gedankenkeime.

Wenn der Zauber innehielte, und ich nichts anderes würde, als ein
versunkenes Herz, das unwissender und schaudernder Weg des Blutes von
den Urbächen zu neuen Lebensmeeren wäre? nichts anderes denn ein
träumendes Pochen, in dem Seufzen aller versunkenen Leben atmet? eine
Harfe im Freien, die vom Wehen wandernder Schmerzen und Freuden gleich
ertönt?

kein Gefühl erzwänge Tränen, denn kein Licht flammte auf meine Augen?
kein Beben schwänge bis zum Gedanken empor, denn noch hat die Phantasie
mein Herz nicht berührt?

wenn ich so verschlossen, in badendem Blut, umarmt vom Fleische in süßer
Wiege entschliefe, in mich weder Erwachen, noch Erkenntnis käme?

wenn mein kleines, verheimlichtes Herz, tik-tak, tik-tak, bloß mit
flinker Emsigkeit pochte?

wenn aus Dampfdickicht des Blutes meine beiden Pupillen nicht aufäugten?
keine Verständnisschnüre der blinden Instinkte Nebelvorhänge belichtend
auseinander zögen?

Wachsames Mysterium des Ursprungs, düsteres Wunder, vor dessen
versperrender Schwelle die dröhnende Seele niedersinkt, woher, wohin
treibst du mich, im Laufe der Zeit?

sprießt aus Zellenmyriaden dampfender Kelche tatsächlich mein Leben
hervor? ...

Ich weiß nicht, ist es Wirklichkeit, ist es Traum ... hinter längst
geschlossenen, tausendfachen Gardinen, hinter der Dichtesten,
Entferntesten, zeigt sich mir in abendlicher Dämmerung die Gestalt einer
kleinen Bauernmagd.

So blond, rötlich-gülden, warm-glänzend ist an ihr alles, daß selbst aus
ihrem appetitlichen Fleisch, aus ihren scharfen, kleinen Augen, aus
ihrer geschwätzigen, seligen Stimme jauchzende Blondheit strahlt; sie
hat kein ausgeprägtes Gesicht, keine bestimmte Form, bloß auf die
gespannten Äpfel ihrer offenen Brust schimmert von ihrem ausgestreckten
Hals das hin- und herpendelnde goldene Kreuz, und sie erzählt. Im Kreise
sitzen auf niedrigen Schemeln die Kinder, und sie verrichtet die
Abendarbeit; ihre emsig-harte Faust verschwindet in den Zugstiefeletten,
in ihrer rechten Hand geht die breitrückige, große Glanzbürste taktmäßig
auf und ab; sie schwingt den Arm und brummt mit verschmitzter,
erschreckender Stimme:

»Liebes, schönes Mägdelein ...«

Die Glanzbürste schwingt ein zweites Mal, und sie zeigt den schönen
kleinen Gesichtern ein entsetztes Gesicht:

»Öffne mir dein Kämmerlein ...«

Süß-üppig steigt der Schuhwichsgeruch in der Luft auf; in dem kleinen
Kreis spiegeln sich in ermüdet aufflammenden Augen die blankgeputzten
schwarzen Schuhe, schlafbefallene Menschlein kriechen schaudernd,
verstohlen ins Bett ...

Meine Mutter umfängt mit Andacht die Traumgesichte der erschrockenen
Herzlein, breitet ihre Liebe über die Betten aus und singt ihrem
verängstigten Volk:

»Blas, blas zu, mein Schäferlein ...«

»Prinzessin war auch ich einmal ...«

Ihre langen Wimpern schlagen auf wie ein schwärmerischer Kuß, in der
grünen Tiefe ihres Auges brütet Staunen, ihr Blick strahlt in die Ferne,
wo das Neue, die Aufregung, in Untiefen kommender Nächte, düster wartet;
meine Mutter summt es, singt, beschwichtigt:

»Blas ... blas zu ...«

»Kleine, kleine Ahornflöte ...«

hartumfriedetes Leid? böses Versprechen auf hundert Jahre?
armausgebreitete Sehnsucht nach der entzogenen Rast? zucken sie jetzt
über den meertiefen Horizont ihrer Augen??

»Prinzessin war auch ich einmal ...«

Ihre kindliche, anmutige Stimme klingt matt ... Erschließt sich ihrem
Gehirn der verborgene Gedanke? begegnen einander Leben, Tod, Zukunft im
Herzen meiner Mutter? denkt sie im losgerissenen Wirbel ihrer
rauschenden Schmerzen und erschütterten Vorstellungen: an mich?

»Mein Schäferlein ...«

Brennt ihr ungelenk ringender Verstand? hat ihre aufrührerische Seele
die Schleusen fortgerissen? fängt ihr träumender Blick die Geheimnisse
auf? und fühle, übernehme ich ihr durstiges Auge? ihre an Abgrundgrenzen
taumelnde Phantasie?

Schlägt mich der Blick, wie das Licht die im Ozean versunkene Koralle
trifft, die ihren tastenden Kranz öffnet, wenn die aus der Dunkelheit
auftauchende Sonne sie mit Auferstehung bestrahlt? ...

Und ich werde schon gerufen, wie Straßenstaub von Gottes Hauch ...
heult, lauscht, versengt, erstarrt, umarmt, zerstückt um mich herum
bereits das Leben? werde ich, noch mit der Nabelschnur verknotet,
bereits erweckt? Ich wehre mich mit meinen Armen im treuen Körper meiner
Mutter:

»Nicht wissen ... Nicht erwachen ...«

»Nicht wissen, was schlecht ... Nicht wissen, was gut ...«

»Fern bleibe mir Gedanke, nicht versuche mich Gefühl ...«

Ein Ringen hebt an, zwischen uns beiden Scheidenden.

»Fern bleibe mir Wille, wenn ich feig ...«

»Nicht erfasse mich Ekel, wenn ich Schönes sehe ...«

und der Krampf, die Qual reißen mich durch verbannende Fügung von meiner
Mutter Leib.

»Leben?! ... Leben?! ... damit ich den Tod erkenne! ...«

Der Orkan, der aus der Zeit kommt und nicht inne hält, ehe die Erde zu
keimen vermag, hebt meiner lieben Mutter armen Körper; Blut, Schaum,
Flut aus ihrem heiligen Fleisch ...

Und nun sitze ich hier am See, mit aufgekeulter Phantasie, in der
Blendung, unter meinen zwei verschlossenen Ohren regt sich kein
menschliches Leben, kein menschlicher Ton, doch strahlt mein Herz von
sonatenhafter Leidenschaft ... o! wenn jeder Mensch hinkte, o! wenn
jeder Mensch bucklig wäre ...

In trauriger, verwaister, wartender Lautlosigkeit stoßen klirrend Sonne
und Gletscher gegeneinander.





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