Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Erinnerungen eines Achtundvierzigers
Author: Born, Stephan
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Erinnerungen eines Achtundvierzigers" ***

This book is indexed by ISYS Web Indexing system to allow the reader find any word or number within the document.

ACHTUNDVIERZIGERS***


generously made available by the Google Books Library Project
(https://books.google.com)



      Images of the original pages are available through
      the Google Books Library Project. See
      https://books.google.com/books?id=6f0SAAAAYAAJ&hl=en


Anmerkungen zur Transkription

      Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt; hiervon
      abweichende Schriftschnitte wurden in der vorliegenden
      Fassung mit den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

         gesperrt:      +Pluszeichen+
         Antiqua:       ~Tilden~



ERINNERUNGEN EINES ACHTUNDVIERZIGERS


[Illustration]


[Illustration: Stephan Born]


ERINNERUNGEN EINES ACHTUNDVIERZIGERS


[Illustration]


von

STEPHAN BORN

Mit dem Bildnis des Verfassers



[Illustration]

+Leipzig+
+Verlag von Georg Heinrich Meyer+
1898



Vorwort.


Ich begreife vollständig, wenn man beim Anblick dieser Blätter sich
fragt, wie ich dazu komme, meine „Erinnerungen“ zu schreiben und der
Öffentlichkeit zu übergeben. Mein Name wurde zwar in den Berliner
Zeitungen der Jahre 1848 und 1849 häufig genannt, ich stand dort kurze
Zeit im Vordergrunde der großen Bewegung, aus welcher schließlich
nach gewaltigen Kämpfen Neu-Deutschland hervorgehen sollte, ich war
namentlich einer der Gründer und Leiter der damals entstandenen, jetzt
mächtig auftretenden Arbeiterpartei. Ich gehöre jedoch in Deutschland
schon lange zu den Verschollenen, sogar Vergessenen. Weshalb aus dem
Grabe wiedererstehen? Wesentlich nur aus dem Grunde, weil man jetzt
die Geschichte des Jahres 1848 zu schreiben beginnt, weil andere mich
ausgegraben, meine damalige Thätigkeit darstellen und beurteilen
und dabei Wahres mit Falschem vermengen. Ein sozialdemokratischer
Schriftsteller hat mich sogar zum Helden eines in Arbeiterblättern
erschienenen Romans gemacht. Es werden alljährlich zum 18. März
Erinnerungsblätter an das Jahr 1848 ausgegeben, in denen mit Vorliebe
von mir in jenem Jahre gehaltene Reden oder Zeitungsartikel neu
abgedruckt werden. Ich habe keinen Grund, den Inhalt jener Reden
und Artikel jetzt zu verleugnen, ich könnte sie sogar heute noch
unterzeichnen, obgleich ich in dem seither abgelaufenen halben
Jahrhundert in mancher Beziehung ein anderer geworden bin. Das damals
Gesprochene und Geschriebene ist mir das Zeugnis einer unverkennbaren
Einheit in meiner Gesamtentwicklung.

Es ist nicht eigenes Interesse, das mich dazu führt, richtig zu
stellen, was in unrichtiger Kenntnis der Verhältnisse und in völliger
Unkenntnis meiner Person da und dort in neuester Zeit von mir gesagt
und auch gefabelt worden ist. -- Was liegt an einem einzelnen, an einer
kleinen Schraube in dem großen, geheimnisvollen Schiffe, welches der
Menschheit Geschicke durch aller Zeiten Ozeane trägt? -- Ich schreibe
vielmehr, um etwas Licht zu verbreiten über Menschen und Dinge, die ich
in jenen Bewegungsjahren genau kennen gelernt, um einen bescheidenen
Beitrag zu liefern zur Geschichte des Werdens einer neuen Zeit, und
damit auch die Legendenbildung, die schon in voller Thätigkeit ist,
einigermaßen zu stören, wenn es auch unmöglich ist, sie ganz zu
verhindern.

So weit es sich machen ließ, habe ich für meine Darstellung die Form
leichter Unterhaltung gewählt. Es schien mir diese Form dem Zwecke
am besten zu entsprechen, den ich im Auge hatte. Ich habe in diesen
Aufzeichnungen das nur berücksichtigt, was Beziehungen zum öffentlichen
Leben, zu den Kulturzuständen der Zeit hat, von der ich spreche. Meine
ausführliche Biographie zu geben, dazu fehlt mir die Berechtigung.

    +Basel+, im Januar 1898.

                                                                     B.



Inhalt.


                                                                   Seite

    Vorwort                                                            v

    1. Thronwechsel in Preußen                                         1

    2. Vorschule des Lebens                                            8

    3. Der Berliner Handwerkerverein. Das Rütli                       21

    4. Wanderschaft. Robert Blum in Leipzig. Reise nach Brüssel
       und Paris                                                      33

    5. Friedrich Engels. Der Kommunistenbund. Heinrich Heine          43

    6. Reise in die Schweiz. Der Sonderbundskrieg. Karl Heinzen       54

    7. Ein Winter in Brüssel. Karl Marx                               67

    8. 1848. Die Februarrevolution in Paris. Aufstandversuche in
       Brüssel. Frau Marx. Reise nach Paris                           75

    9. Ein Besuch in den Tuilerien                                    91

    10. Die Deutschen in Paris. Georg Herwegh und der
        Freischarenzug nach dem badischen Oberland                   100

    11. Heimkehr nach Berlin. Die Berliner nach dem 18. März         114

    12. Die Arbeiterpartei. Der Zeughaussturm                        131

    13. Praktische Sozialpolitik                                     143

    14. Der erste deutsche Arbeiterkongreß. „Die Verbrüderung“       162

    15. In Leipzig. Bakunin                                          171

    16. Erschießung Robert Blums in Wien. Steigende Aufregung
        in Deutschland                                               180

    17. Reise nach Heidelberg und nach Köln                          190

    18. Nach Dresden gewählt. Kämpfe um die Reichsverfassung         201

    19. Der Maiaufstand in Dresden. I                                211

    20. Der Maiaufstand in Dresden. II                               219

    21. Zug nach Freiberg. Richard Wagner                            231

    22. Flucht nach Böhmen                                           243

    23. Erste Flüchtlingsjahre in der Schweiz. I                     254

    24. Erste Flüchtlingsjahre in der Schweiz. II                    267

    Nachwort                                                         287



[Illustration]

I.

Thronwechsel in Preußen.


Es war im Sommer 1840. Ich stand in der Vollkraft der Flegeljahre.
Meine Eltern hatten mich aus dem Gymnasium genommen, weil sie schon
für einen Sohn auf der Universität Sorge tragen mußten und es nicht
fertig gebracht hätten, einen zweiten Sohn studieren zu lassen. Man
hatte mich zu einem kinderlosen Oheim nach Löwenberg in Schlesien
geschickt, der über meine Zukunft entscheiden sollte. Zum Kaufmann
-- das war mein Oheim -- und er hatte schon einen anderen Neffen zu
sich in die Lehre genommen -- schien ich nicht geeignet. Ich kümmerte
mich viel zu sehr um brotlose Künste, und was noch schlimmer war, um
öffentliche Dinge, d. h. um Dinge, die mich nichts angingen; ich las
mit Eifer alle Zeitungen, die in meine Hände kamen, in wenigen Wochen
hatte ich daheim in meiner Vaterstadt gar noch alle Romanschätze der
Leihbibliothek -- es waren meist Räubergeschichten von Kramer und Spieß
-- verschlungen, und wenn ich nun auf den grünen Wiesen meines Oheims
die Zickelfelle bewachte, die dort zum Trocknen ausgelegt waren, um
dann in eine Handschuhfabrik nach Grenoble gesandt zu werden, betraf
man mich oft bei dem Absingen politischer Lieder, wie „Noch ist Polen
nicht verloren“ oder gar der Marseillaise.

Was sollte ich werden? Das war die ernste Frage, die meinen Oheim
beschäftigte. Da wurde in einem Abendgespräch von einem dritten Neffen
des braven Mannes gesprochen, der Schriftsetzer geworden und nach
Paris gegangen war. Von ihm war ein Brief eingelaufen, den ich eben
vorgelesen hatte. Ich könnte wohl auch Buchdrucker werden, ließ ich
mich schüchtern vernehmen.

-- Warte bis das Schützenfest vorüber ist, dann schicken wir dich
nach Berlin. Dein dort studierender Bruder mag sich fürs erste nach
einem Lehrherrn für dich umsehen. -- So lautete die Antwort meines
gutherzigen Oheims.

Ich war es zufrieden.

Das bevorstehende Schützenfest hatte für ihn eine ganz besondere
Bedeutung. Mein Oheim war in jenem Jahre Schützenkönig und sollte
demnächst mit der im Orte seit alten Zeiten üblichen Feierlichkeit an
der Spitze des prächtigen Zuges nach dem Festplatz geleitet werden.

Als ich bei meiner Ankunft aus der Heimat zum erstenmale in den
gewölbten Flur seines stattlichen Hauses getreten, war mir eine an der
weißen Wand befestigte Schützenscheibe aufgefallen, mit ihren vielen
Pflöcken, deren jeder das Loch verschloß, das die Kugel sich durch
das Holz gebohrt hatte, und zugleich einen schmalen Zettel mit dem
Namen des Bürgers festhielt, der den Schuß gethan. Genau im Centrum
steckte ein Pflock mit dem Namen meines Oheims. Er hatte „den Punkt
herausgeschossen“, wie der Volksausdruck die geschickte oder vom Zufall
begünstigte That bezeichnete.

Es war ein Glücksschuß gewesen und er erwies sich zugleich als die
erwünschteste Unterbrechung schwerer, sorgenvoller Tage. Einige Wochen
vorher hatte nämlich der so unversehens vom Schicksal zu großen Ehren
ausersehene Schütze den ersten seiner drei Pflegebefohlenen, den er
in sein stilles Haus aufgenommen, einen noch unbärtigen Jüngling,
mit einer großen Fracht Kleesamen nach Hamburg gesandt. Der Junge
sollte dort eine ziemlich beträchtliche Summe für die Ware in Empfang
nehmen und heimbringen. Doch Tage um Tage vergingen und keiner
brachte das geringste Lebenszeichen von ihm. Wie konnte er nur so
hartnäckig schweigen? War er krank geworden? War er beraubt worden
oder gar umgekommen? Mit dieser Sorge im Herzen ging mein trefflicher
Oheim, als die Reihe an ihn kam, an den Stand und schoß -- zu seiner
nicht geringen Verwunderung den Punkt aus der Scheibe. Es war ein
Meisterschuß. Der Zeiger machte seine Luftsprünge vor dem Ziel, Pauken
und Trompeten verkündeten das große Ereignis über den weiten Platz, die
Dienstmädchen mit den Kindern verließen eilig die Buden, in welchen
um den Gewinn von Pfefferkuchen gewürfelt wurde; alles umdrängte
glückwünschend den Helden des Tages. Am Abend, da kein besserer, ja
auch nur annähernd so guter Schuß gethan wurde, proklamierte man den
bei der Bevölkerung sehr beliebten alten Herrn zum Schützenkönig und
geleitete ihn nach allen hergebrachten Regeln und Formen in sein
geräumiges Haus am Marktplatz, in dessen Vorhalle nun die Scheibe als
eine auf spätere Geschlechter zu vererbende Trophäe aufgehängt wurde.

An demselben Abend aber -- welch wunderbares Zusammentreffen! -- langte
der ersehnte Neffe mit dem in Hamburg für den Kleesamen eingenommenen
Gelde an. Er hatte die ihm übertragene Aufgabe pünktlich erfüllt; an
die Ratsamkeit, von Zeit zu Zeit etwas von sich hören zu lassen, hatte
er nicht gedacht. Die gehobene Stimmung, in welche dieser doppelte
Glücksfall den neuen Schützenkönig versetzte, fand ihren glänzenden
Ausdruck in der Fülle des Weines, der seinem Ehrengeleit gereicht
wurde. Es war eine endlose Reihe leerer Flaschen, die am andern Morgen
unter der eben aufgehängten Ruhmesscheibe sich befanden. In der guten
Stadt am Bober, unweit der kriegsberühmten Katzbach, genoß man in jener
Nacht eines festen Schlafes.

Ohne jeden Stolz auf die bewiesene Geschicklichkeit, für die er die
volle Ehrengebühr nur lächelnd auf seine Schultern nahm, hatte mein
Oheim in letzter Zeit oft beim Abendgespräch jenes ereignisreichen
Tages gedacht, denn es nahte der andere, wichtige Tag, wo er als
Schützenkönig auf den Festplatz geleitet werden und sein glorreiches
Amt in andere Hände niederlegen sollte. Für die Ausfüllung der großen
Lücke im Weinkeller war gesorgt worden, die Tante hatte eine Anzahl
Torten gebacken und backen lassen, sie waren unerläßlich für die
würdige Ausfahrt des Schützenkönigs.

Doch es sollte anders kommen, als man erwartet hatte.

Am frühen Morgen stellten sich die Mitglieder der Schützengilde ein.
Sie boten in ihren pomphaften Uniformen einen glänzenden Anblick
dar, dessen komische Seite mir trotz der Bewunderung nicht entging,
die ich für die wunderlich aufgeputzte, heroische Erscheinung eines
meiner Vettern, eines schlichten Färbermeisters hegte, der bei dieser
Gelegenheit mit dem vollen Bewußtsein seiner Mannesschönheit und seiner
bis dahin freilich noch in Verborgenheit schlummernden kriegerischen
Tugenden mir gewaltig imponierte. Die ganze Truppe trug grüne, rot
eingefaßte Schwalbenschwänze, frisch gewaschene, weiße Beinkleider, auf
dem Haupte einen Tschako mit himmelanstrebendem, steifem Federschmuck.
Die Musik stimmte die pathetischsten Akkorde an, der gleich einem
Bajazzo ausstaffierte Schuster Reimschüssel -- er war noch nüchtern,
denn die Glocke hatte eben erst acht geschlagen -- schwenkte kunstvoll
seine kurz geschäftete goldgestickte Fahne um Haupt und Glieder, und
der Herr Bürgermeister, die Herren Stadträte und die ehrenwerten
Offiziere der Gilde traten in das bekränzte Haus, begrüßten den
Schützenkönig, der zwar keine Krone auf dem Haupte, doch eine schwere
silberne Kette auf der Brust trug. Man schüttelte sich die Hände, man
trank den von den weißgekleideten Nachbarstöchtern dargebotenen Wein
und aß ein Stück Torte nach dem andern. Dann ordnete man sich in Reih’
und Glied, um an der Spitze des draußen aufgestellten Zuges den Marsch
nach dem Schützenplatz zu beginnen.

Da geschah etwas Unerhörtes.

Eben war das Kommando zum Abmarsch erschollen, als ein Postbote eiligst
über den Platz rannte, und hoch über seinem Haupte einen großen Brief
haltend, diesen atemlos dem Bürgermeister überreichte. „Der König ist
gestorben,“ ging plötzlich ein Gemurmel durch die Reihen. Und so war
es in der That. Die Anzeige war eben eingetroffen, daß Seine Majestät
Friedrich Wilhelm III. das Zeitliche gesegnet hatte.

Das Schützenfest, erklärte nun das Stadtoberhaupt, ist bis auf
weiteres verschoben. Die Reihen der Gilde lösten sich auf. Mein
Oheim, der Schützenkönig, wurde von einigen Herren wieder in sein
Haus zurückgeleitet. Die Herren waren so freundlich, noch ein Glas
Wein anzunehmen, die Torten aber waren bis auf ein einziges Stück
aufgegessen, und dieses eine Stück, das man niemand anzubieten wagte,
bekam ich.



[Illustration]

II.

Vorschule des Lebens.


Noch vor der Abhaltung des so unversehens unterbrochenen Schützenfestes
mußte ich meine Reise nach Berlin antreten. Auf preußischem Boden
existierte noch keine Eisenbahn. Der schwer belastete Frachtwagen
meines Oheims, der von zwei starken Pferden im Schritt nach der
Hauptstadt gezogen wurde, brauchte mehrere Tage für den weiten Weg. Man
hatte mir einen Sitz neben dem Platz des Kutschers zurecht gemacht,
den dieser übrigens nicht benutzte, da er, der Überlieferung seines
Berufes getreu, immer zu Fuß neben her ging, behaglich seinen Stummel
rauchend, mit der Peitsche knallend, und bald singend, bald pfeifend
mit den Pferden sich unterhielt. Man hatte mir für die lange Fahrt
mancherlei Eßbares mitgegeben und auch etwas Geld in die Westentasche
gesteckt. Ich kam fröhlicher Dinge bei meinem Bruder in Berlin an.
Dieser war um mein leibliches wie um mein geistiges Wohl sehr besorgt
und nur mit Rührung kann ich an die zwei oder drei Jahre fruchtbarer
Anregungen, wenn auch zahlreicher Entbehrungen denken, die ich unter
seiner liebevollen Führung verlebt habe. Er stand im dritten Jahre
seiner medizinischen Studien und war ihnen mit Leib und Seele ergeben.
Er hatte für mich eine Lehrlingsstelle gefunden und, was bei einem
Studenten sich leicht erklärt, in einer Buchdruckerei, deren sich viele
Doktoranden zum Druck ihrer Dissertation bedienten, wobei mir alsbald
das bißchen Latein, das ich vom Gymnasium mitbrachte, recht zu statten
kam. Bevor er mich in das Joch spannen ließ, gönnte er mir jedoch noch
einige Tage, damit ich von der Reise mich ausruhen und mir Berlin
ansehen könne.

War ich einige Wochen vorher in der Provinz Zeuge der Ankündigung
des Todes Friedrich Wilhelms III. gewesen, so hatte ich nun in der
Hauptstadt Gelegenheit, der seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm IV.
dargebrachten Huldigungsfeier von der Straße aus, so weit dies einem
grünen Jungen gestattet war, beizuwohnen. Mein Bruder blieb zu Hause.
Er wollte wegen eines Monarchen, der schon seine Absicht angekündigt
hatte, das absolute Regiment seines Vaters fortzusetzen, keine Stunde
an der Arbeit verlieren, die in jenen Tagen seine ganze Zeit in
Anspruch nahm. Im Jahre 1840 waren die deutschen Studenten noch sehr
liberal, sie standen zum Volke und dieses brachte von vornherein dem
König, der sich vielleicht für einen akademischen Lehrstuhl geeignet
hätte, dem jedoch alle Regenteneigenschaften abgingen, keine Sympathien
entgegen. Er galt für einen geistreichen Kopf, nicht aber für einen
König; dazu fehlte ihm schon die äußere Erscheinung. Zu Pferde,
namentlich, wenn er einen leichten Trab anschlug, nahm er sich recht
schwerfällig aus. Seine Gestalt war nichts weniger als soldatisch.
Dennoch interessierte er sich in hohem Grade für militärische Dinge.
Die Reformen, die er bald nach seinem Regierungsantritt in der
Bekleidung des Heeres veranlaßte, die Ersetzung des unförmlichen
Tschakos durch den Helm, des Schwalbenschwanzes durch den Waffenrock,
mußten allgemeinen Beifall finden; unter seiner Regierung erhielt
die Infanterie auch das Zündnadelgewehr. Auf die Stimmung im Volke
übten diese Neuerungen indessen kaum einen Einfluß. Nach langem
gesicherten Frieden interessierte man sich blutwenig für militärische
Dinge, die Unzufriedenheit über den Fortbestand der Zensur, über die
Zurückweisung der allgemeinen Forderung, dem Lande eine Volksvertretung
zu geben wuchs zusehends und durchdrang die weitesten Kreise, als die
junge Lyrik mit Dingelstedt, Gottschall, Hofmann v. Fallersleben,
Prutz, besonders mit Georg Herwegh einen in Deutschland ungewohnten
politisch-revolutionären Ton anschlug. Die neuen Gedichte, obgleich
verboten, wanderten von Hand zu Hand und erhitzten die Gemüter.
Der geistreiche König konnte dagegen nichts thun. Sein Schwager,
Zar Nikolaus, hatte andere Waffen gegen aufrührerische Poeten, er
verschickte sie nach Sibirien. Friedrich Wilhelm IV., da er nichts
Ernstes gegen den Liberalismus zu unternehmen vermochte, mußte ihm
schrittweise nachgeben und das war sein Verhängnis. Persönlich von
hoher litterarischer Bildung, konnte er anstandshalber es nicht
verhindern, daß Berlin bald nach seinem Regierungsantritt ein
liberales, litterarisches Centrum für Deutschland zu werden begann. Die
oben genannten Poeten fanden sich sämtlich in seiner Hauptstadt ein,
er ließ sich sogar durch den Professor Schönlein den gefeierten Sänger
der „Gedichte eines Lebendigen“ vorstellen. Heine hat dieser Audienz
in boshaften Versen gedacht, er sah hier den Marquis Posa vor dem
König Philipp. Friedrich Wilhelm IV. hatte nun aber nichts von einem
Philipp, er suchte den jungen Poeten durch ein paar schlechte Witze
zu verblüffen; er werde, sagte der König boshaft, in Berlin so gute
Spätzle nicht zu essen bekommen, wie in dem lieben Schwabenland. Als
Herwegh in seinem jugendlichen Posaeifer nun doch von Königsberg aus
sich vermaß, den König zu apostrophieren, ließ dieser ihn des Landes
verweisen. Schillers Marquis Posa steckte noch stark in den Köpfen der
damaligen Generation. Nicht viel später erlaubte sich der Verfasser der
„Vier Fragen“ in einer Audienz Friedrich Wilhelm IV. zuzurufen: „Es
ist der Fluch der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören können.“
Friedrich Wilhelm IV. nahm dies natürlich sehr übel.

Im Jahre 1840 begann man in Berlin, wo bisher das Theater und
vielleicht ein neuer Roman der Frau v. Paalzow oder der Gräfin
Ida Hahn-Hahn die Kosten der Unterhaltung trug, mehr und mehr mit
politischen Dingen sich zu beschäftigen. Am Tage der Huldigungsfeier
bemerkte man davon noch wenig. Auf dem ungeheuren Platz zwischen Schloß
und Museum war nur der vordere Teil stark besetzt, da standen in
feierlichem Aufzug die Mitglieder der staatlichen und der städtischen
Behörden, die Generalität, die Professoren der Universität, die
richterlichen Kollegien, die Abordnungen aus den Provinzen u. s. w.
Die Berliner Einwohnerschaft aber schien gar nicht neugierig, sie war
nicht zahlreich vertreten, es blieb ein großer, leerer Raum von der
prächtigen Granitschale inmitten des Lustgartens bis zum Museum. Ich
sah unbehelligt dem sich abspielenden Vorgang aus ziemlicher Nähe zu;
ich erkannte den König, als er auf dem Balkon erschien, ich verstand
jedes Wort seiner Rede, in welcher er versprach, dem Wohle seines
Volkes sein ganzes Leben zu widmen und mit der Versicherung schloß:
„Das gelobe und schwöre ich!“ Der Volkswitz hatte schon in den nächsten
Tagen dieses feierliche Gelöbnis in die Worte umgewandelt: „Dat jloob
ick schwerlich,“ der König, der ja dem Witz nicht abhold war, lachte,
als er dies erfuhr.

Ich habe mir vorgenommen, meine persönlichen Erlebnisse nur so weit zu
berühren als sie zu öffentlichen Dingen in Beziehung stehen oder doch
einen Beitrag zu dem kulturhistorischen Bilde jener Zeit zu liefern
vermögen. Dies ist der Fall mit meiner Lehrzeit als Schriftsetzer.
Sie dauerte nicht weniger als fünf Jahre. So lernte ich früh einen
wunden Fleck in den damals herrschenden sozialen Einrichtungen kennen
und wurde ich unmittelbar zu kritischen Betrachtungen über dieselben
veranlaßt. Die Kunst, Buchstaben an einander zu reihen, in Zeilen,
Kolumnen und Platten zu schließen, zu korrigieren, abzulegen u. s.
w. erlernt ein halbwegs intelligenter Knabe sicher in zwei Jahren.
Giebt man dem Lehrherrn als Lohn für seinen Unterricht, den er in
der Regel nicht selber übernimmt, noch ein Jahr drein, so wären es
drei Dienstjahre, die der auszubildende Jüngling auf sich zu nehmen
hätte. Einen jungen Menschen fünf Jahre an die Kette zu legen, um
ihn während der letzten drei Jahre als fertigen Arbeiter für eine
lächerlich geringe Entschädigung auszubeuten, war ein schreiender
Mißbrauch, zu dem sich der andere gesellte, daß es im damaligen Berlin
Buchdruckereien gab, die gar keine Gehülfen, sondern nur Lehrlinge
hielten. Eine derselben hielt deren zwölf. Diejenige, in welcher ich
die Ehre hatte, in die Geheimnisse der schwarzen Kunst eingeführt zu
werden, hatte deren sechs. Nur ein einziges Mal hatte sie auf einige
Monate mehrere Gehülfen am Setzkasten. Mit diesen geriet ich einmal in
einen lebhaften Konflikt, als ich in meinem Idealismus mich weigerte,
einem alten Trunkenbold Schnaps zu holen. Wenige Jahre später stand ich
an der Spitze der Berliner Buchdrucker, um den Anstoß zur Aufhebung
verschiedener Mißbräuche und einer fortschreitenden Verbesserung
ihrer Lage zu geben. Den verderblichen Branntwein hat die allgemeine
Kulturentwickelung mit der Hebung des Lebensstandes der Arbeiter in
weiten Kreisen derselben durch das gesellige Bier ersetzt.

Die Buchdruckereibesitzer -- es war die Minderzahl -- welche ihren
Kollegen durch die billige Arbeit der Lehrlinge eine gewissenlose
Konkurrenz machten, gingen übrigens nicht ganz straflos dabei aus. Denn
von Zeit zu Zeit stellte sich Arbeitslosigkeit ein, ihren Lehrlingen
aber hatten sie nichtsdestoweniger den kontraktlich festgesetzten
Thaler wöchentlich auszuzahlen. Mit einem Thaler wöchentlich sollte ich
meinen Unterhalt bestreiten?

Wenn Ebbe in der Kasse eingetreten war, und das geschah häufig genug,
wurde man Vegetarianer bis der Postbote die heißersehnte, aber aus
leicht erklärlicher Rücksicht auf die Eltern, niemals geforderte Hilfe
aus der Heimat brachte. Und was that mir alle Entbehrung? Es gab für
mich in jenen Jahren so viele „Geistesfreuden.“ Für die Erweiterung
meiner Kenntnis der zeitgenössischen Litteratur sorgte die große
Leihbibliothek von Berends. Von meinem studierenden Bruder erhielt
ich täglich fördernde Anregung. Er riet mir, in freien Stunden als
Hospitant gewisse Vorlesungen an der Universität mit anzuhören, und
das that ich mit religiösem Eifer. Mittags von 12 bis 2 war die
Druckerei geschlossen, die nicht weit vom Universitätsgebäude und
nicht weit vom Hause des Professors Magnus sich befand, in welchem
dieser seine Vorlesungen hielt. Wozu brauchte ich zwei Stunden zu
meinem Mittagessen? Eine genügte vollkommen, die andere widmete ich
den Studien. So hörte ich zunächst bei Magnus Physik, bei Werder
Psychologie, bei Ranke Geschichte. Auch eine Abendstunde von 6 bis
7 war für die Universität bestimmt. Und dazu kam das Theater, das
königliche Schauspielhaus, zu dem Herr v. Sommerfeld mir seine
Freikarten häufig abtrat. Herr v. Sommerfeld, ein ehemaliger Offizier,
war Herausgeber einer wöchentlich erscheinenden Theaterzeitung, die
bei uns gedruckt wurde, und deren Satz ich in der Regel besorgte.
Wir wurden bekannt, weil ich mir hie und da erlaubte, seinen nicht
selten sehr holperigen Stil einigermaßen zu glätten. Das nahm der
gute Mann gar nicht übel, er wußte mir vielmehr Dank dafür, ja er
übertrug mir einigemale eine mit Freuden aufgenommene Stellvertretung
als Rezensent. Man frage mich nicht, was ich als solcher geleistet.
Ich zeichnete nicht, meine Sünden gingen also auf Rechnung des Herrn
v. Sommerfeld. Selbstverständlich ist es, daß ich, ein unerfahrener
Jüngling, ebenso wenig wie er zu dem Amte eines Theaterkritikers
berufen war. Das hatte nichts zu sagen. Unsere Theaterzeitung spielte
in Berlin keine Rolle, sie schlief auch sehr bald ein.

Aber ich hatte Blut geleckt, ich hatte mich gedruckt gesehen.

Mein Bruder hatte im Jahre 1843 seine Studien vollendet und sein
Staatsexamen ehrenvoll bestanden. Er ließ sich als Arzt in einer
Provinzialstadt nieder, und ich mußte von nun an, immer noch Lehrling
in einer kleinen Buchdruckerei, seiner geistigen Führung entbehren.
Er empfahl mich der Fürsorge seines studentischen Umgangskreises,
dem ich auch treu blieb, bis der letzte der Freunde sich seinen
Doktorhut erworben und sein eigenes Heim sich geschaffen hatte.
Eines jungen Mediziners, der später sich um die Einrichtung von
Vereins- und Armenärzten in Berlin ein Verdienst erwarb, erinnere
ich mich besonders, weil er nach meines Bruders Abreise meine
schriftstellerischen Versuche mit wachsamem Auge verfolgte. So holte
er mich an einem Sonntag zu einem längeren Spaziergang ab, um mit
mir mein jüngstes Opus, das ihm zu Gesicht gekommen, ernsthaft zu
besprechen. Dickens war damals der geschätzteste Erzähler, und so
hatte ich, wahrscheinlich von diesem großen Meister angeregt, eine
Novelle, meiner Meinung nach in des beliebten Engländers Weise,
verbrochen. Ich weiß von meiner Schöpfung nur noch, daß die Handlung
dem Berliner Volksleben entnommen war. Sonderbarerweise hatte sie in
einer Zeitschrift Aufnahme gefunden, deren Herausgeber, ein ~Dr.~
Julius Lasker, vielleicht ein Verwandter des späteren Abgeordneten
dieses Namens, sie für würdig der Ehre des Drucks erachtete. Diese
Zeitschrift, wenn ich nicht irre, hieß „Der Freimüthige“. Die Kritik
meines Freundes richtete sich nun hauptsächlich gegen meine offenbare
Unkenntnis des wirklichen Lebens; er machte mich darauf aufmerksam, daß
die paar Leute, mit denen ich in den wenigen freien Stunden, über die
ich verfügte, freundschaftlich verkehrte, mir vom Berliner Volksleben
auch nicht die geringste Anschauung gaben und daß man wohl merke, daß
ich meine ganze Weisheit nur aus meiner Lektüre geschöpft hatte. Das
sah ich sofort ein und so zog ich aus dieser Unterhaltung mit einem
wohlmeinenden Kritiker eine nützliche Belehrung. Von dem Inhalt meiner
ersten und einzigen „Novelle“ weiß ich nichts mehr, nicht einmal ihres
Titels erinnere ich mich. Ich habe nichts aufgehoben, nichts gesammelt
von den jugendlichen Erzeugnissen meiner Feder, auch nicht eine
Broschüre, die ich gegen das Ende meiner Lehrzeit geschrieben und die
einen Zipfel der sozialen Frage lüftete. Ich hatte das Manuskript an
Otto Wigand in Leipzig geschickt, der damals, zu Beginn der politischen
Bewegung, eine große Anzahl Broschüren verlegte und mich nach wenigen
Tagen mit einem gedruckten Exemplar meiner Arbeit überraschte. Auch
von diesem Opus weiß ich nichts Näheres anzugeben. Daß es von einem
Handwerker sei, sagte der Titel. Ich habe es seit dem Jahre seines
Erscheinens nicht wieder gesehen. Daß es nicht Eitelkeit war, die mich
zu schriftstellerischer Produktion antrieb, möchte ich aus dem Umstande
schließen, daß ich mich als Autor nicht nannte, daß ich gar keinen
Wert auf die Erhaltung jener auffallenderweise ohne alle Schwierigkeit
untergebrachten Dokumente aus meinem Jugendleben legte. Es war wohl
wesentlich der Drang nach Bethätigung der wogenden Jugendkraft, der
mich zur Feder greifen ließ; eine gewisse bestechende Frische und Wärme
der Darstellung mochte wohl die rasche Annahme der von mir angebotenen
Arbeiten und ihre Drucklegung erklären.

Die von Otto Wigand gedruckte Broschüre brachte mir das erste Honorar
ein, ein wichtiges Ereignis im Leben eines jungen Mannes. Mit jener
Broschüre, deren Titel ich nicht einmal angeben kann, betrat ich zum
erstenmale das Gebiet der sozialen Frage, damit aber auch das Gebiet
einer ruhelosen Thätigkeit, die mich die nächsten Jahre beschäftigte,
mir die Mitwirkung an dem Werden einer großen sozial-politischen Partei
gestattete, meinen Namen in den Jahren 1848 und 1849 an die Oberfläche
des öffentlichen Lebens brachte, mich ins Exil führte und mir
schließlich nach langer Verschollenheit, aus der ich nicht hervortrat,
zu diesen „Erinnerungen“ die Veranlassung gab. Lorenz von Steins Buch
-- „der Sozialismus und Kommunismus in Frankreich“, auch dasjenige von
Friedrich Engels über „die Lage der arbeitenden Klassen in England“
mochten mir den Anstoß zur Verfolgung dieser Richtung gegeben haben.

[Illustration]



[Illustration]

III.

Der Berliner Handwerkerverein. Das Rütli.


Friedrich Wilhelm IV. wollte das absolutistische Regiment, das
er von seinem Vater geerbt hatte, nicht aufgeben. Er glaubte im Geiste
des wohlwollenden Despotismus des achtzehnten Jahrhunderts regieren zu
können. Dem von allen Seiten bis an seinen Thron dringenden Ruf nach
einer Verfassung schenkte er kein Gehör. Kein Blatt Papier, so erklärte
er, solle sich zwischen ihn und sein Volk drängen. Wollte er bei dieser
Politik Herr der Situation bleiben, so mußte er seinen Standpunkt
auf das energischste verteidigen, unerbittlich jede liberale Regung
verfolgen. Dazu aber besaß er nicht Charakter genug. Der Revolution
wäre seine Regierung in keinem Falle entgangen, doch wäre er männlich
ihr erlegen. Dies sollte nicht sein. Er suchte dem kommenden Sturm
auszuweichen, indem er zu halben Maßregeln griff, und so stärkte
er die öffentliche Meinung in ihren weitest gehenden Forderungen.
Er bewilligte Büchern von mindestens zwanzig Bogen Umfang die
Censurfreiheit und erreichte damit nur, daß der Ruf nach vollständiger
Abschaffung der Censur nur um so lauter ertönte. Er bewilligte statt
der verlangten Volksvertretung mit beschließender Stimme provinzielle
Vertretungen mit beratender Stimme; er mußte nachträglich einen
Schritt weiter thun und aus den Provinzial-Landtagen den sogenannten
vereinigten Landtag hervorgehen lassen.

Lauter halbe Zugeständnisse, für die er statt Dankes nur immer
heftigere Angriffe und Erbitterung erntete. Die theologische
Richtung, der er huldigte, die theologisierende Diplomatie und
Generalität, von der er umgeben war, machte ihn vollends in hohem
Grade unpopulär. Es wehte ein pietistischer Wind bei Hofe und
ermutigte die protestantischen Synodalbehörden zu strengerer Ausübung
der ihnen zustehenden Disziplinargewalt. Damit wurde Öl ins Feuer
gegossen. Bei alledem wurde, weil man nicht für bildungsfeindlich
gelten wollte, in vollständiger Verkennung aller Verhältnisse die
Eröffnung von Arbeiter-Bildungsvereinen gestattet, die natürlich
zu Sammelpunkten für alle Nüancen des damaligen Liberalismus sich
gestalteten. Der Berliner Handwerkerverein in der Sophienstraße,
der im Jahre 1843 gegründet wurde, war eine Bildungsstätte für
heranwachsende Revolutionäre, nicht bloß des Arbeiterstandes, sondern
aller Berliner Gesellschaftskreise. So wie ich im Sommer des Jahres
1845, zwanzigjährig, von meiner fünfjährigen Knechtschaft losgesprochen
wurde, trat ich in den Handwerkerverein ein und während anderthalb
Jahren war ich nun eines seiner rührigsten Mitglieder. In dem Vereine
wurden belehrende Vorträge gehalten. Die Beantwortung der eingelaufenen
Fragen gab zu Diskussionsübungen Gelegenheit. Der Verein hatte seinen
Männerchor, sogar einen Kreis junger Poeten aus dem Handwerkerstande.
Mein erstes Auftreten mit einem Liede „der Bettelmann“, zu dessen
sentimentaler Melodie ich den Text gedichtet hatte, war, wie alles,
was der politischen Stimmung der Zeit Ausdruck gab, von ungeheurem
Erfolg. Der vor der Pforte des Palastes singende Bettelmann war das
Volk, dem in der letzten Strophe zugerufen wurde, um die Freiheit
dürfe man nicht betteln, man müsse sie sich erkämpfen. Das Gedicht
war recht gering, seine Wirkung aus dem angegebenen Grunde trotzdem
sehr groß. Etwas besser, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, waren
die Verse, mit denen ich einige Monate später Berthold Auerbach
im Handwerkerverein begrüßte. Dem Bettelmann wäre damals in keinem
Falle vom Censor das „~imprimatur~“ erteilt worden, der Gruß an
Berthold Auerbach erschien Ende 1845 in den poetischen Jahresheften
des Handwerkervereins. Er ist nicht in meinem Besitz. Der Dichter
der „Schwarzwälder Dorfgeschichten“, dem ich zwanzig Jahre später im
Bade Tarasp begegnete, erinnerte sich noch wohl des Huldigungsabends,
der ihm im Handwerkerverein bereitet worden war, als höflicher Mann
natürlich auch meiner poetischen Ansprache.

Begründer und Präsident des Vereins war damals ein städtischer
höherer Beamter, ein wohlwollender Mann, gemäßigter Liberaler, der
sein Hauptaugenmerk darauf richtete, daß der politisch oppositionelle
Geist, der unter uns herrschte, nicht in zu hellen Flammen aufschlug
und die Regierung zum Einschreiten veranlaßte. Die eigentliche Seele
des Handwerkervereins aber war Julius Berends, ein junger Theologe,
der nach seinem ersten Auftreten auf der Kanzel wegen seiner bei den
geistlichen Vorgesetzten mißliebig aufgenommenen Betrachtungen über die
Bergpredigt kalt gestellt worden war und nun mit seinem Freunde Krause
eine kleine Buchdruckerei betrieb, in welcher er selbst am Preßbengel
stand. Diese Association war nicht von langer Dauer. Krause druckte
vom Jahre 1848 an die damals entstandene „Nationalzeitung“, welcher
Schöpfung mehrere Mitglieder des Handwerkervereins, wie Ehrenreich
Eichholz, Hermann Lessing und der Assessor Volkmar nahe standen.
Die Redaktion übernahm ~Dr.~ Zabel, den ich als Oberrevisor
mancher von mir gesetzten Doktordissertation kennen gelernt, die er
auf Anordnung der Universität auf die Korrektheit ihres Lateins zu
prüfen und eventuell zu korrigieren hatte, ein Liebesdienst, der von
den Studenten nicht, wie er es verdiente, dankbar aufgenommen wurde;
denn die armen Jungen hatten dafür zwei Thaler für den Druckbogen zu
entrichten. Herr Zabel aber erwies sich an der „Nationalzeitung“ als
ein eben so gewandter Redakteur wie er in seiner früheren Stellung ein
tüchtiger Lateiner gewesen war.

Durch Berends wurde ich in die damaligen litterarischen Berliner Kreise
eingeführt. In der Hinterstube eines Cafés am Gendarmenmarkt machte
ich die Bekanntschaft Hoffmanns von Fallersleben, des unverwüstlichen
Liedersängers; in einem Restaurant an der Spittelbrücke wurde ich in
das „Rütli“ aufgenommen, das eine Anzahl junger Poeten, Journalisten
und Künstler in geselligem Verein zusammenfaßte. Da kamen Titus
Ulrich, ein Epigone der Weltschmerzdichtung, Ernst Dohm und Rudolph
Löwenstein, einige Jahre später Redakteure des „Kladderadatsch“, der
Komponist Truhn, der Bildhauer Tod, der Karikaturenzeichner Scholz, der
lange Saß und verschiedene andere zusammen, deren Namen mir nicht mehr
gegenwärtig sind, weil sie im Strom der bald eingetretenen politischen
Bewegung versanken und dann nicht mehr ans Tageslicht gelangten.

Es ist überhaupt auffallend, wie gering die Zahl derjenigen war, die,
obgleich sie vor 1848 als Führer der litterarischen Opposition die
öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten und als kommende
Männer angesehen wurden, im Revolutionsjahre sich in irgend welcher
Weise hervorthaten. Ich erinnere an Bruno Bauer, an Max Stirner und den
Kreis lärmender Persönlichkeiten in ihrer Umgebung, die durch ihren
offenen Umgang mit emanzipierten Weibern die Blicke auf sich zogen. Nur
Edgar Bauer sah man noch in den ersten Monaten des Revolutionsjahres.
Er suchte den enthusiastischen Jüngling Schlöffel an sich
heranzuziehen, der berufen schien, einst einen Camille Desmoulins zu
spielen, sein junges Leben aber bald im Großherzogtum Baden im ersten
Gefecht der Aufständischen gegen die preußischen Truppen verlor.
Jener Edgar Bauer gab zu Anfang der vierziger Jahre gemeinsam mit dem
Elsässer Alexander Weill, der damals Berlin besucht hatte, einen Band
Novellen heraus. Sie wurden bei meinem Lehrherrn gedruckt, deshalb
hatte ich Bauer einigemal die Korrektur zu bringen. Schon beim Eintritt
in sein Zimmer wurde ich durch die obszönen Lithographien verblüfft,
die er an die Wand geklebt hatte; auch die Unterhaltung, die er mit
mir während des Lesens der Korrektur begann, hatte einen widerwärtigen
Charakter. Ich faßte von da ab eine unüberwindliche Antipathie gegen
den Menschen, der denn auch, wie ich nachher erfahren, in einem Sumpf
versunken ist. Aber auch die Männer im Handwerkerverein, welche berufen
schienen, beim Eintritt einer Umwälzung auf der politischen Bühne eine
Rolle zu spielen, gelangten zu dieser Ehre nicht. Berends, der wohl
mit Glanz in die Nationalversammlung gewählt wurde, blieb ohne Einfluß
und fast unbeachtet als parlamentarischer Volksvertreter. Alle diese
freisinnigen Vereinsredner, die so großes Verdienst um die Vorbereitung
der Ereignisse von 1848 sich erworben hatten, waren eben doch nur
Gefühlspolitiker, zur Lösung praktischer Aufgaben fehlte ihnen die
Vorschule und der politische Blick. Runge allein machte unter ihnen
eine Ausnahme, er war später ein vorzüglicher Verwalter der Finanzen
der Stadt Berlin.

Unter den Arbeitern, die zu den Zierden des Handwerkervereins gehörten,
ist mein unvergeßlicher Freund, der Goldschmied Bisky als erster zu
nennen. Wir schlossen uns eng zusammen. Er war nur wenige Jahre älter
als ich, auch ein Stück Poet, seine Freiheitslieder wurden wegen
ihres markigen Tons gern gehört und im Album des Handwerkervereins
abgedruckt. Er war eine schöne, männliche Erscheinung, mehr als dies:
ein goldner Charakter, ein ganzer Mann. In den Verein kam auch ein
später in einen politischen Prozeß verwickelter junger Kaufmann Neo
mit seinen geistvollen Schwestern, wie denn Frauen und Mädchen an den
Vortrags- und Vergnügungsabenden reich vertreten waren. Da wurde manche
Blume umflattert, die infolge der nun kommenden politischen Ereignisse
einsam verblühen sollte.

In dem Berliner Handwerkerverein atmete man in jenen Tagen den
Lebensodem einer für Deutschland nahenden neuen Geschichtsepoche.

In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, nach den Kriegen gegen
Napoleon, trat eine Wandlung im öffentlichen Geiste ein. Die besten
Männer der Nation erstrebten eine stärkere Einheit als sie der deutsche
Bundestag darbot, eine Volksvertretung und die Verantwortlichkeit
der Regierungen in den bisher absolutistisch beherrschten Ländern.
War es damals die studierende Jugend, welche in vorderster Reihe in
der freiheitlichen Bewegung stand, so wurde sie im Jahre 1848 durch
die vorwärts drängende Jugend der arbeitenden Klassen in die zweite
Reihe gedrängt, um teilweise ihren Standesinteressen sich gefangen
zu geben und in deren Dienste die Reaktion zu unterstützen. Als
charakteristisches Merkmal des Jahres 1848 ist für Deutschland der
Eintritt der arbeitenden Klassen in die politische Welt zu betrachten.
Das wurde anfangs von dem für Erlangung der Bundeseinheit und eines
modernen Verfassungslebens eintretenden bürgerlichen Ständen nicht klar
erkannt, es kam diesen erst nach und nach zu vollem Bewußtsein, nachdem
aus den anscheinend harmlosen Arbeiter-Bildungsvereinen eigentliche
Arbeitervereine hervorgegangen waren, die als ihre Aufgabe die
Verteidigung spezieller Arbeiterinteressen darlegten. Diese Interessen
gelangten in den neu gebildeten Vereinen nicht von vornherein zu vollem
Verständnis der Beteiligten. Eine von der Wissenschaft längst überholte
Zunftmeierei, verführte noch viele junge Köpfe zu Forderungen, die
sich in den meist sehr der Zeit vorauseilenden sozial-politischen
Programmen sonderbar genug ausnahmen. Doch genügten wenige Jahre zur
Klärung der Geister, es entstand die sozialdemokratische Arbeiterpartei.

Dieser Entwicklungsgang konnte schon in den Jahren 1845 und 1846 in
dem Berliner Handwerkerverein von schärferen Beobachtern vorausgesehen
werden. Von Paris in die deutsche Heimat zurückkehrende, wandernde
Handwerksburschen, wurden die Apostel einer neuen, der sozialistischen
Lehre. Der Handwerkerverein konnte ihnen nicht verschlossen werden.
Vorsichtig tastend, suchte ein solcher Sendling, namens Mäntel,
Mitglieder für seine geheime Verbindung anzuwerben. Man warnte vor
ihm, man hielt ihn für einen Lockspitzel. Damit that man ihm unrecht.
Er wandte sich namentlich an die jüngeren, nicht viel über zwanzig
Jahre zählenden Vereinsmitglieder. Durch den Schuhmacher Hetzel,
einen unruhigen Kopf, den er gewonnen hatte, wurde ich in seine
Geheimnisse eingeweiht. Er gehörte nicht der Richtung des in der
Schweiz aufgetretenen Schneiders Weitling an, welcher in verschiedenen
Schriften die Grundlinien zu einem ihm vorschwebenden utopistischen
Gleichheitsstaat gezeichnet hatte, der mir als ein pures Luftgebilde
durchaus nicht imponierte; er sprach vielmehr von einer geheimen
Arbeiterverbindung, welche auf dem Boden der zunächst zu erlangenden
politischen Freiheit die Befreiung des Proletariats von den Fesseln des
Kapitalismus sich zur Aufgabe gestellt habe. Ich fühlte aus dem, was
Mäntel ziemlich verworren darlegte, den Grundgedanken heraus, daß er
die Ansicht vertrat, der historische Werdegang einer sich ankündenden
neuen Zeit solle im Auge behalten werden, es handle sich nicht um einen
aus dem Haupte eines Schneidergesellen, wie Weitling hervorgegangenen
neuen Staat, sondern um die Unterstützung einer aus den gegebenen
Verhältnissen mit historischer Notwendigkeit entstehenden Partei,
welche in ihrer Weltanschauung den Alltags-Liberalismus nur als eine zu
überwindende Zwischenstufe ansah und ihn theoretisch überholt hatte.

Dies leuchtete mir vollkommen ein. Ich hörte Mäntel ruhig an, ohne mich
des Weiteren ihm gegenüber zu etwas anderem als zur Diskretion, zu
verpflichten, woraus sich die Thatsache erklärt, daß ich selbst meinem
Freunde Bisky von dem Gehörten keine Mitteilung machte. Schon seit
einiger Zeit trug ich mich mit dem Gedanken, mir die Welt anzusehen:
Ich hatte eine unwiderstehliche Sehnsucht, Paris kennen zu lernen.
Schon seit Monaten hatte ich mir von meinem wöchentlichen Verdienst
etwas für die Reise zurückgelegt. Meine zwei älteren Brüder, der
älteste hatte sich bald nach der Abreise des zweiten, der als Arzt in
die Provinz gegangen war, in Berlin niedergelassen, trugen das Ihre zu
den Kosten der Reise bei und so durfte ich mich auf den Weg machen.

[Illustration]



[Illustration]

IV.

Wanderschaft. Robert Blum in Leipzig. Reise nach Brüssel und Paris.


Ich war frohen Mutes. Die Freunde im Rütli hatten mir einige
Empfehlungen mitgegeben, unter anderen eine solche an Friedrich Engels
in Paris. Der Sängerchor des Handwerkervereins hatte mir am Abend
vorher ein Abschiedsständchen gebracht. Wie konnte es mir nun anders
als gut gehen? Und es ging nicht schlecht. War ich doch kein verwöhntes
Muttersöhnchen. Das damals noch neue Lied „Was braucht man Vieles, um
glücklich zu sein“? war mein Leiblied geworden; ich stand ohne jede
Anstrengung auf der Höhe der Lebensweisheit seines Verfassers. Das
will sagen, daß ich das Leben in keiner Weise kannte und das, was ich
als Weisheit ansah, nur die Unerfahrenheit eines eben aus dem Neste
fliegenden jungen Zeisigs war. Nur eine wertvolle Eigenschaft war mir
für die angetretene Fahrt von der gütigen Natur mitgegeben: die Lust
und die Kunst zu lernen. Diese habe ich bis in mein hohes Alter nicht
eingebüßt.

Nach Leipzig, wo ich zuerst Rast machte, war mir eine Empfehlung an
Robert Blum mitgegeben worden, der sich in weitern Kreisen durch seine
politischen Reden bekannt gemacht, auch nach außen hin als Präsident
eines sogenannten Redevereins viele Beziehungen angeknüpft hatte und
allgemeiner Verehrung sich erfreute. Ich würde ihn abends an der
Theaterkasse finden, hatte man mir gesagt. Robert Blum war Kassierer
am Leipziger Stadttheater. Er nahm meine Empfehlung freundlich auf,
musterte mit wohlwollendem Blick meine jugendliche Gestalt, erkundigte
sich nach seinen Berliner Freunden und lud mich ein, mir das Stück
anzusehen, das eben gegeben werden sollte. Von dem Stück weiß ich
nichts mehr, doch ist mir das joviale Gesicht des Theaterkassierers,
aus dessen hellen Augen männliche Energie leuchtete, nicht mehr aus der
Erinnerung verschwunden. Wenige Jahre später, und der tapfere deutsche
Volksmann fiel als Märtyrer des ersten Freiheitstraumes, den er
mitgeträumt. Ich habe seine Witwe in Wabern bei Bern gekannt und sein
Söhnchen Hans Blum hat damals auf meinen Knieen sich geschaukelt.

Von meinen nächsten Stationen nenne ich Brüssel. Ich war in einem
kleinen, von einem Deutschen geführten Gasthof eingekehrt. Meine
Finanzen waren sehr auf die Neige gegangen und ich fragte den
Wirt nach dem Preise der Fahrt nach Paris. Die Eisenbahn nach der
französischen Hauptstadt war eben eröffnet worden. Er sagte mir, daß
die Messagerie bei herabgesetzten Preisen noch bis zum Jahresschluß
ihre Fahrten fortsetzen werde; wenn ich einen Platz auf der Imperiale,
neben dem Kondukteur nähme, so käme ich noch billiger nach Paris als
mit einem Billet dritter Klasse der Eisenbahn. Ich überzählte meine
Reichtümer. Wenn ich bescheiden haushielt, so langte es. Wäre ich in
Brüssel geblieben, so hätte ich sicher in der Stadt der Nachdrucker
Beschäftigung gefunden und mir die Kosten einer Reise nach Paris leicht
erarbeiten können. Doch das Verlangen, die berühmteste Stadt des
modernen Europa zu erreichen, hatte sich bei mir bis zur Leidenschaft
gesteigert. Ich wollte nicht bleiben. Leider war jedoch die Rechnung
des biedern Landsmannes etwas größer ausgefallen, als ich erwartet
hatte, und als ich mit verlegenem Gesicht mich doch anschickte, die
Reise anzutreten, da trat der Sohn des edlen Vaters an mich heran und
fragte mich, ob er mir nicht meinen kleinen Koffer tragen dürfe. Es
war ein Junge von etwa dreizehn Jahren, ich nahm sein Anerbieten, das
ich als den Ausfluß eines gutmütigen Herzens ansah, dankbar an. Der
dienstfertige Junge forderte aber, als wir am Ziel angelangt waren, mit
so großem Geschrei einen Franken Trägerlohn, daß ich, um keinen Skandal
zu erregen, ihm die für mich in diesem Augenblick sehr kostbare Summe
einhändigte. Es blieb mir noch ein Frank für die Reise von Brüssel
bis Paris in der Tasche. Gegessen hatte ich zum Glück. An der Grenze
gab es einen kleinen Halt. Ich hatte nichts Verzollbares. Ich opferte
hier die Hälfte meines noch vorhandenen Geldes, also einen halben
Franken für ein Glas warme Milch und ein Stück Brot. Das stärkte mich
für die Weiterreise. „Was braucht man Vieles, um glücklich zu sein?“
Es war mitten im Winter und grimmig kalt. Der Kondukteur an meiner
Seite hüllte sich in einen großen Schafpelz, ich existierte nicht für
ihn. Er hätte mir wohl eine der Pferdedecken anbieten dürfen, die in
seiner Nähe unter der Plane lagen; er dachte nicht daran, und ich bat
ihn nicht darum, weil ich ihm schließlich ein Trinkgeld hätte geben
müssen. So kam ich halb erfroren und mit 50 Centimes in der Tasche in
dem ersehnten Paris an. Von Mäntel war mir ein Haus angegeben worden,
in dem man mich gut aufnehmen werde: ~Rue du Temple No. 47.~

Ich nahm meinen kleinen Koffer und fragte mich bis zur ~Rue du
Temple No. 47~ durch. In einer Viertelstunde war ich am Ziel. Der
Portier erklärte mir, ich sei wohl nicht am rechten Ort, es sei hier
kein Gasthaus. Ich war bei diesen Worten gewiß sehr erschrocken,
denn der Portier, nachdem ich ihm den Namen dessen genannt, zu dem
ich zu gehen gedachte, sagte mir tröstend, es sei vielleicht ~Rue
vieille du Temple~, wo dieser wohne. Auch dort, wohin ich mich
hoffnungsreich begab, wohnte der Mann nicht, den ich suchte. Man
nannte mir ~Rue neuve du Temple~, und als ich herzklopfend,
weil der Gesuchte wiederum sich nicht dort befand, nach einer andern
Straße fragte, die etwa auf das Wort ~Temple~ ausging, schickte
man mich ins ~Faubourg du Temple~ und schließlich, da auch dort
das richtige Haus nicht war, nach dem ~Boulevard du Temple~. Da
war ich endlich, nach zweistündigem, ängstlichem Suchen, erschöpft
vor Müdigkeit und Hunger, im rettenden Hafen angelangt. Vertraute
deutsche Laute drangen mir entgegen, man gab mir zu essen und zu
trinken und wies mir ein kleines Zimmer an. An seinem Geburtstag,
deshalb weiß ich noch das Datum, dem 28. Dezember 1846 landete der nun
Zweiundzwanzigjährige in Paris, reich an Hoffnungen und -- einen halben
Franken in der Tasche. Der angebliche Gesinnungsgenosse, an den ich
von Berlin aus gewiesen war, ein gewisser Heidecker, der dies gleiche
kleine ~Hôtel garni~ bewohnte, war nicht zu Hause. Als ich mich
ein wenig erholt hatte, führte man mich noch in derselben Nacht zu
ihm in ein Wirtshaus nahe dem ~Père la Chaise~, wo ich in einen
deutschen Gesangverein trat und als ersten Lohn für meine Reiseausdauer
meinen unerfahrenen Geist mit der wichtigen Entdeckung bereicherte, daß
man in Paris auch den Wein aus Wassergläsern trinke.

Man sang, trank und politisierte, die sozialistische Note beherrschte
die Unterhaltung. Auf dem Heimwege und in den nächsten Tagen wurde es
mir immer klarer, daß schon in diesem engeren Kreise meiner Landsleute,
worüber niemand sich allzusehr verwundern wird, eine große Einigkeit
nicht herrschte. Störenfried war wie immer die Eitelkeit, der Ehrgeiz.
Es fehlt niemals an Individuen, die es nicht erwarten können, bis sie
kraft ihrer besonderen Fähigkeiten an die Spitze einer Vereinigung
gelangen; gelingt ihnen das nicht so rasch, wie sie es wünschen, so
säen sie Zwiespalt, sammeln ihre Anhänger zu einem Sonderbund, und aus
einem Vereine werden zwei. Das geschieht häufig unter den deutschen
Arbeitern im Auslande. Heidecker, wie es sich bald herausstellte, war
seit kurzem einer sozialistischen Gruppe beigetreten, die sich unter
Karl Grün gebildet hatte, und Karl Grün, der Übersetzer Proudhons,
machte lebhafte Propaganda für dessen Evangelium, an dessen Spitze zwar
die Worte standen: „~La propriété c’est le vol~,“ das jedoch der
neu aufkommenden Marxischen Schule und den Programmen aller anderen
kommunistischen Vereine den Krieg erklärte. Konnte Proudhon sich auf
seine umfassenden nationalökonomischen Studien stützen, so stand seinem
Übersetzer nur die Schablone Hegel’scher Dialektik zu Gebote. Karl
Grün war, was ich bei unserer ersten Zusammenkunft sogleich bemerkte,
eher ein Ästhetiker von der Sorte, welche Goethe mit den Worten
gekennzeichnet: „Legt ihr nichts aus, so legt ihr doch was unter“.
Er hat ein ungenießbares Buch über Schiller geschrieben. Er war ein
„Belletrist“, um mich eines zu jener Zeit gebräuchlichen Ausdrucks zu
bedienen, im übrigen ein liebenswürdiger Mann -- in keinem Falle ein
Nationalökonom. So machte er denn keinen rechten Eindruck auf einen
jungen Menschen, der wie ich, nach Aufklärung über die Probleme des
Tages strebte, der die Wassersuppe der damaligen phrasenhaften Ästhetik
entschieden verschmähte. Heidecker hatte mich zu ihm geführt. Es kam
nun zwischen uns beiden bald zu einem Bruch. Ich verließ das ~Hôtel
garni~ auf dem ~Boulevard du Temple~, nahm Wohnung in einem
andern Stadtteil, so daß ich nicht allzuweit von dem Atelier war, in
dem ich durch einen glücklichen Zufall bald Beschäftigung gefunden
hatte. Von der Berührung mit Friedrich Engels hatten mich die Grünianer
fern halten wollen. Ich machte ihn in wenigen Tagen ausfindig,
schloß mich ihm mit jugendlichem Eifer an, und wir wurden eng
befreundet. Darüber im nächsten Kapitel. Hier noch ein Wort über meine
typographische Thätigkeit in Paris. Meine Aufgabe war, in einem für
den Druck der neu gegründeten Nordbahn und Paris-Lyon-Mittelmeerbahn
die einzelnen Teile der Aktien zusammenzusetzen und dann während des
Druckes, von einer der zehn Handpressen zur andern gehend, die Nummern
zu ändern. Das Atelier war in einem Nebengebäude eines dem Hause
Rothschild gehörenden Palastes in der ~Rue Lafitte~ eingerichtet
worden, Druckherr war -- der homöopathische Arzt der Frau Baronin
Rothschild, dem man auf diese Weise einen hübschen Nebenverdienst
zukommen ließ. Er hatte mit der Straßburger Buchdrucker-Firma
Silbermann einen Vertrag abgeschlossen, die das Nötige besorgte. Er
erschien von Zeit zu Zeit auf einige Minuten im Atelier, ~pour faire
acte de présence~, grüßte und entfernte sich lächelnd. Die Arbeit
ging bei dem damaligen Stande der Buchdrucker-Technik langsam genug von
statten, und um so langsamer, als es hie und da dem Verwaltungsrat der
beiden Bahnen, d. h. Herrn von Rothschild gefiel, ganze Partieen der
fertig gewordenen Aktien, weil deren Farbe nicht zusagte, einstampfen
zu lassen und sie durch neue Exemplare in anderer Farbe zu ersetzen.
Daß der junge Sozialist zu der Verschwendung des assoziierten
Großkapitals, deren Zeuge er war, seine stillen Glossen machte, daß er
schon damals an das manchesterliche Dogma nicht glauben wollte, die
Privatgesellschaften arbeiteten billiger als der Staat, braucht wohl
kaum gesagt zu werden. Die Verschwendung mit dem Gelde der Aktionäre,
welche von den französischen Finanz-Mächten beim Bau der ihnen vom
Staat überlassenen Eisenbahnen geübt wurde, machte sehr bald einer
kleinlichen Sparsamkeit Platz, da die Inhaber der Aktien deren Kurs
durch Erteilung möglichst hoher Dividenden zu heben suchten. Man muß
bekanntlich in Frankreich Billets erster Klasse nehmen, will man dort
nur die Bequemlichkeit der Reise genießen, die in Deutschland und der
Schweiz in den Wagen zweiter Klasse geboten wird.

[Illustration]



[Illustration]

V.

Friedrich Engels. Der Kommunistenbund. Heinrich Heine.


Friedrich Engels war in Paris vom Januar bis zum Herbst des Jahres
1847 mein einziger Umgang. Wir brachten die Abende fast ausschließlich
zusammen zu und am Sonntag machten wir häufig gemeinsame Ausflüge in
die Umgegend der französischen Hauptstadt. Er war um fünf Jahre älter
als ich und nahm mich gewissermaßen in die Lehre. Ich hatte schon in
Berlin sein Buch über die Lage der arbeitenden Klassen in England
gelesen. Das bot Unterhaltungsstoff dar, er entwickelte vor mir die
Grundzüge der Nationalökonomie, ich hörte ihn gern sprechen, ich war
ein leicht fassender Schüler. Er führte mich in den Kommunistenbund
ein. Engels und Marx glaubten an den Kommunismus. Bis zu den letzten
Konsequenzen ihrer Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung
vorgehend, sahen sie bei der zu erwartenden Aufhebung des
Einzelbesitzes, der ihnen die Quelle aller Ungerechtigkeit auf
Erden war, den Gesamtbesitz als die unausweichliche Folgerung ihrer
Geschichtsauffassung und ihres daraus entstandenen sozialen Systems
an. Ob die anderen Mitglieder des Kommunistenbundes an die Möglichkeit
des Kommunismus glaubten? Die Frage klingt sonderbar genug, ich kann
sie doch nicht bejahen, obgleich ich selber noch vor Ablauf eines
Jahres den Kommunismus, wie wir später sehen werden, in einer von mir
verfaßten Broschüre gegen einen seiner Angreifer verteidigte.

Was einen jungen Menschen meiner Natur für die Marx-Engels’sche Lehre
zunächst einnahm, das war der wissenschaftliche Grund und Boden
von dem sie ausgeht. Sie erkennt das historisch Gewordene als das
Notwendige an, kennzeichnet in einleuchtender Weise die verschiedenen
Produktionsformen, welche einander in der Kulturentwicklung der
Menschheit ablösen und nach gewissen Zeitabschnitten immer weiteren
Kreisen die Bahn zur Freiheit und materiellen Unabhängigkeit
öffnen; sie weist darauf hin, wie in unserer Zeit die herrschende
Produktionsform, die der freien Konkurrenz, schließlich zum Krieg aller
gegen alle geworden und zweifellos einer neuen Produktionsform Platz
machen müsse, welche die ungehinderte Ausbeutung des Privateigentums,
die zum Massenelend führe, durch Begründung des ausschließlichen
Kollektiveigentums und der kommunistischen Gesellschaft ablösen müsse,
die gewissermaßen den Abschluß aller wirtschaftlichen Kämpfe ausmachen
und die Aufhebung der Klassengegensätze herbeiführen werde. Ob wir nun
im Jahre 1847 die Lehre von der unvermeidlichen Verelendung der Massen
und besonders die kommunistische Schlußfolgerung, die uns gewissermaßen
als eine Krönung der gesamten Kulturarbeit von Jahrtausenden erscheinen
mußte, gläubig hinnahmen? Was mich betrifft, so arbeitete ich mich in
das kommunistische Glaubensbekenntnis, nicht mit dem Verstande, aber
mit ganzer Seele hinein, ich ließ keinen Widerspruch aufkommen, weil
er mich in das Nichts zurückgeworfen hätte, mein ganzer Witz wurde der
Bekämpfung der aufsteigenden Zweifel dienstbar gemacht. Es ging mir
wie allen denen, welche im Glauben allein sich glücklich fühlen und
denen dabei der Spott gegen die Nichtgläubigen nicht ausgeht. Von einer
wirklichen Überzeugung aber, daß der Kommunismus allein den Abschluß
der gewaltigen wirtschaftlichen Bewegung unserer Zeit, ja, aller Zeiten
bilden müsse, war schon deshalb nicht die Rede, weil man sich gar
nicht bestrebte, sie zu gewinnen. Man glaubte.

Nun stand ich doch mit zweiundzwanzig Jahren auf einer Bildungsstufe,
welche eher zur Skepsis geneigt macht. Wie sah es aber bei der Mehrzahl
der Mitglieder des Kommunistenbundes aus? Wie Leute aus dem Volke die
Predigt des Herrn Pfarrers, der ihnen persönlich Vertrauen einflößt
und ja ein braver Mann ist, so nahmen auch die jungen Kommunisten die
Lehre von der Aufhebung des Privateigentums und seine Ersetzung durch
das Kollektiveigentum ohne viel Kopfzerbrechen hin. Für sie handelte
es sich, und das beschäftigte sie vor allem andern, um eine Besserung
ihres materiellen Daseins, die ja auf Grund der Entwicklungsgeschichte
der Menschheit doch einmal kommen mußte. Daran glaubten sie und das
mit Recht. Zu welchem letzten Ziel die ihnen vorgetragene Theorie
führte, ob dies auch erreichbar sei, das machte ihnen keine Sorge.
Anders sollte es werden und besser. Das leuchtete ihnen ein. Und dann
übt ja, um es nicht zu vergessen, das Geheime, das Verbotene einen
ganz besondern Reiz auf den Menschen aus, namentlich, wenn er allein
steht und für sein Thun nicht das Wohl von Weib und Kind abzuwägen hat.
Man vergesse auch nicht, welchen Einfluß die Atmosphäre in Paris auf
uns ausüben mußte. Man atmete den Hauch der großen Revolution und des
Juliaufstandes, deren Denksäule auf dem Platz errichtet worden war,
auf dem die Bastille gestanden. Die Pariser Arbeiter bildeten damals
schon, was in Deutschland nirgends der Fall war, einen ausgesprochenen
Gegensatz zur herrschenden Bourgeoisie, den die Unvernunft Guizots, sie
von allen politischen Rechten hartnäckig auszuschließen, aufs höchste
trieb. Die Blindheit dieses gelehrten, jedoch allem Verständnis für
seine Zeit unzugänglichen Ministers brachte denn auch die revolutionäre
Gesinnung der Pariser Bevölkerung rasch zur Reife. Man fühlte, daß die
Dinge einer Entscheidung entgegentrieben, und in weniger als einem
Jahr war in der That der Thron Louis Philipps zusammengestürzt, und
fast der ganze europäische Kontinent stand in Flammen. Das Vorgefühl
der kommenden Ereignisse zog uns, wie leicht erklärlich von den
Spekulationen über das letzte Ziel der Bewegung der arbeitenden
Klassen um so mehr ab, als die Marx’sche Lehre entgegen derjenigen
der Utopisten den politischen Sieg der Arbeiterpartei, ihre vor allen
Dingen zu gewinnende politische Herrschaft als die Vorbedingung der
wirtschaftlichen Umwälzung bezeichnete.

Der Kommunistenbund hatte keinen andern als einen propagandistischen
Zweck. Er löste sich also während der politischen Umwälzung des
Jahres 1848 auf. Wozu ein Geheimbund, sobald das Vereinsrecht und
die Preßfreiheit als Grundrechte der Nation anerkannt wurden, und
das allgemeine Stimmrecht, wenn auch im einzelnen mit gewissen
Beschränkungen, zur Anwendung gelangte? Eines drängte sich mir schon
mit greifbarer Deutlichkeit im Anfang meiner Beteiligung an politischen
Dingen auf: das war die Erkenntnis, daß mit der Gleichberechtigung
aller die Gleichheit noch lange nicht erreicht ist, daß sie überhaupt
unerreichbar ist, weil die Menschen in ihrer Begabung, ihrem
Temperament, ewig ungleich sind. Wie die Natur nicht zwei absolut
gleiche Ähren in einem Kornfeld hervorbringt, so weisen auch die
politisch-gleichberechtigten Mitglieder einer Gesellschaft nicht zwei
gleiche Menschen auf.

Engels, der mir mein selbständiges Auftreten in Berlin im Jahre
1848 nie vergeben hat, machte mir den Vorwurf, ich hätte es im
Revolutionsjahre „mit meiner Verwandlung in eine politische Größe etwas
zu eilig gehabt.“ Ich werde später auf diese ganz ungerechtfertigte
Beschuldigung zurückkommen. Im Jahre 1847, als wir in Paris als die
besten Freunde lebten, hatte er wohl bemerkt, daß er selber auf die
eigentlichen Arbeiterkreise keinen Einfluß auszuüben vermochte. Er war
denn doch der reiche Bourgeoissohn, der allmonatlich seinen Wechsel
von seinem Vater, dem großen Fabrikherrn in Barmen erhielt; die Sorge
des Lebens trat nie an ihn heran, er hatte nichts von einem Arbeiter
an sich und war vollkommen in seinem Recht, wenn er eine Maske nicht
anlegte, die ihm schlecht gestanden hätte. Als es sich in einer Sitzung
des Geheimbundes darum handelte, einen Abgeordneten zum Centralkomitee
in London zu ernennen, machte man mich zum Vorsitzenden. Ich merkte,
daß es sehr schwer fallen würde, Engels, der seine Ernennung wünschte,
durchzubringen; es regte sich eine starke Opposition gegen ihn. Ich
erlangte nur seine Wahl, indem ich der Regel zuwider, nicht diejenigen,
welche für den Vorgeschlagenen, sondern diejenigen, welche gegen ihn
waren, zum Erheben der Hand aufforderte. Dieses Präsidial-Kunststück
erscheint mir heute als ein Greuel. „Das hast Du gut gemacht,“
sagte Engels, als wir heimgingen. Ich aber hatte an jenem Abend zum
erstenmale die Erfahrung gemacht, daß die Ungleichheit der Menschen
nicht bloß in der Ausübung der Gewalt der Starken über die Schwachen,
in den staatlichen Einrichtungen zu suchen ist, sondern auch in den
Menschen selber liegt, daß die Ungleichheit zwar mit der steigenden
Kultur immer mehr von ihrer Schärfe verlieren muß, nie aber ganz
verschwinden wird. Ein ähnlicher Abstimmungsmodus wie der, von welchem
ich eben erzählte, wird heute zwar von keinem Arbeiterverein zugelassen
werden. Die Macht der Begabteren oder auch der Rührigeren über die
minder Begabten und minder Rührigen bleibt deshalb doch eine ungeheure
-- nicht bloß bei den Arbeitern, sondern bei +allen+ politischen
Verbindungen. Wir in der Schweiz wissen etwas davon zu erzählen, wie
z. B. die Namen der für diese und jene Wahl aufzustellenden Kandidaten
im stillen Hinterzimmer eines Cafés von wenigen Parteiführern gewogen,
erlesen, auf die Liste gebracht und schließlich in öffentlicher
Versammlung durch Mehrheitsbeschluß durchgesetzt werden. Ein anderer
Modus ist nicht zu finden, woraus nur zu folgern ist, was ich oben
gesagt, daß die Gleichberechtigung noch lange nicht die Gleichheit in
der Praxis ist. Man kann seine Glossen darüber machen, wenn die Männer
im Hinterstübchen, welche die Partei-Vorsehung spielen, sich einmal
auffallend geirrt haben; ändern kann man es nicht, daß sie die Macht
an sich reißen und ausüben und daß die andern sie gewähren lassen.

Erfahrungen solcher Art führten natürlich nicht sogleich zu einer
folgerichtigen Anwendung, doch blieben sie in meinem Gedächtnis haften
und waren in späterer Zeit nicht ohne Einfluß auf meine Stellung zu
jeder Parteipolitik. Der Knecht einer solchen bin ich niemals gewesen.
Dazu war ich viel zu sehr Idealist und Individualist.

Ein ausgesprochener Individualist trotz seiner kommunistischen Lehre
war auch Engels. Wir konnten deshalb doch sehr leicht mit einander
verkehren, weil wir beide ganz unabhängig von einander waren, ich mit
meinem bescheidenen, doch für meine Bedürfnisse ausreichenden, er mit
seinem bei weitem größeren Einkommen. Für die schönen Künste, besonders
für Musik, hatte er keinen Sinn, er glich in dieser Beziehung meinem
spätern Freunde Rüstow, der die Trommel als das einzige musikalische
Instrument bezeichnete, das er verstehen und das ihn erfreuen
könne. Es kam Engels niemals der Gedanke, mir die Kunstschätze von
Paris zu zeigen; ich besuchte ohne ihn die Galerieen des Louvre; er
sah sich im Theater des Palais Royal die tollsten Possen an, ich
bewunderte im ~Théâtre français~ die Rachel als Phèdre. Das
hielt er wahrscheinlich für abgeschmackt. Er beschäftigte sich damals
ausschließlich mit historischen Studien, deren Ergebnisse er in seinen
späteren Schriften glücklich verwertete. Seinen näheren Umgang bildete
noch in jenem Jahre ein im Quartier Breda wohnender Maler aus der
rheinischen Heimat, Namens Ritter, der in Paris für einen dortigen
Bilderhändler echte Niederländer malte, dabei aber natürlich kein
Krösus wurde, jedoch mit der lustigen Picarde, die sich zeitweise an
ihn gefesselt, ein vergnügtes Dasein führte.

Der zeitgenössischen Litteratur zu folgen, bot mir ein ~Cabinet de
lecture~ im Palais Royal die Mittel, das neben französischen und
englischen auch die wichtigsten deutschen Zeitungen hielt und über
eine ziemlich große Bibliothek verfügte. Dort saß ich eines Tages,
tief versunken in die Weisheit eines Journalisten, als plötzlich in
dem stillen Saal eine ungewöhnliche Bewegung sich kund gab. Ein Mann
in vorgeschrittenen Jahren war eingetreten, bei dessen Erscheinen ein
halbes Dutzend Leute dienstfertig ihm entgegen eilten. Man reichte
ihm den Arm, man führte ihn zu einem bequemen Sessel, in den er
sich niederließ, man gab ihm die Augsburger Allgemeine Zeitung.
Ich betrachtete ihn staunend und teilnehmend. Das eine Auge war
geschlossen, das andere schien unbeweglich, es folgte nicht den
Worten des Zeitungsblattes, sondern dieses wurde vor dem Auge hin-
und hergeschoben. Über dem blassen Angesicht lag der Zauber still
getragenen Leidens und geistiger Verklärung. Ist das, was ihn unter
so viel Schwierigkeiten zum Lesen jenes Blattes geführt, wohl die
Anstrengung wert, die er dabei sich auferlegt? mußte ich unwillkürlich
mich fragen. Er legte jetzt das Blatt beiseite und erhob sich.
Wieder trat eine allgemeine Bewegung im Saale ein. Einer der Herren
reichte ihm den Arm und begleitete ihn hinaus, andere folgten bis
an den Ausgang des Saales, er nickte dankend, sie verbeugten sich,
er verschwand. Wer mochte der Mann sein? Diese Frage beschäftigte,
beunruhigte mich lange. Ich entschloß mich endlich, den Saaldiener nach
dem Namen jenes kranken Besuchers zu fragen. ~C’était Monsieur Henri
Heine~, raunte er mir ins Ohr. Ich war todeserschrocken. Heine fuhr
damals noch aus, er war noch nicht an die „Matratzengruft“ gefesselt,
von der aus er uns mit seinen erschütternden Lazarusliedern beschenken
sollte.



[Illustration]

VI.

Reise in die Schweiz. Der Sonderbundskrieg. Karl Heinzen.


Im Oktober desselben Jahres erhielt ich vom Centralkomitee in London
den Auftrag, die „Gemeinden“ in Lyon und der Schweiz zu besuchen und
sie durch einige Vorträge in die neue Phase der sozialen Entwicklung
einzuführen und auf die kommenden Ereignisse vorzubereiten. Am
Himmel kündigten dunkle Wolken den Sturm des heraufziehenden
Sonderbundskrieges an. Die Eisenbahn reichte bis Orleans. In einem
Hofe des Börsenviertels zu Paris drückte ich Engels zum Abschied die
Hand, ich nahm einen der vier Plätze in der hinteren Abteilung der
großen fünfspännigen Diligence ein; sie fuhr auf den Bahnhof, dort
wurde unser, von seinen Rädern befreiter Wagen, den wir deshalb nicht
zu verlassen hatten, auf die Plattform eines Eisenbahnwagens durch
eine Winde gehoben, an den Zug angehängt, und fort ging es nach der
berühmten Stadt an der Loire. Im Nu wurde dort unsere Diligence
samt ihrem lebendigen Inhalt wieder auf ihre vier Räder gebracht und
das bereit stehende Gespann eingehängt; im Galopp ging es über den
Marktplatz, wo ich einen Blick auf das Standbild der Jungfrau werfen
konnte, und nun rollten wir durch das gesegnete Burgund der volkreichen
Stadt am Zusammenfluß der Saone und Rhone zu.

Ich war in Lyon angekündigt, ein freundlicher Empfang war mir dort wie
überall gesichert, wo ich meine Mission zu erfüllen hatte. In wenigen
Tagen konnte ich meine Reise nach Genf fortsetzen. Bis dahin hatte
ich, wenn ich von dem Hügelland am Fuße des Riesengebirges absehe, in
der Welt nur ebenes Flachland betreten. Auf der Fahrt von Lyon über
St. Julien nach Genf eröffnete sich mir ein bis dahin ungekannter
Reichtum landschaftlicher Schönheiten. Ich wollte nun nicht etwa ein
maschinenhaft arbeitender Reiseprediger sein, ich suchte und fand
Beschäftigung. Damit auf mich selbst gestellt, blieb ich mehrere Wochen
in Genf. Die fremde Stadt mit ihrer damals noch wohl erhaltenen, auf
große historische Erlebnisse hinweisenden, eigentümlichen Physiognomie,
in der sich strenge Ehrbarkeit, herber Patriotismus mit französischer
Frivolität paarten, der große, blaue See, eine meinem unerfahrenen Auge
völlig neue Erscheinung, die Alpen, der Montblanc! -- warum sollte
ich hier nicht länger verweilen? An den schönen Herbstabenden machte
ich, mit meinen neuen Freunden spazieren gehend, sie mit meiner neuen
Weisheit bekannt, es war dies ein peripatetischer Unterricht wie ein
anderer. An Sonntagen bestiegen wir den Salève, ich war glücklicher
als je vorher und so zog ich erst nach vier Wochen frohen Mutes in die
Neuchâteler Berge nach la Chaux-de-Fonds, in das große, damals schon
nahe an 20 000 Seelen zählende Uhrenmacherdorf.

Der Kanton Neuchâtel war damals noch durch Personalunion mit dem
preußischen Königshause verbunden und besaß infolgedessen noch manche
Institution, die an diese Union erinnerte. In keinem Teile der Schweiz
wurde das Verhalten der Fremden, namentlich der deutschen Arbeiter, die
nach dem Beispiel der französischen sich in sozialistischen Vereinen
zusammenfanden, mit einem polizeilich so wachsamen Auge verfolgt wie
dort. Das führte zu heimlichen, nächtlichen Zusammenkünften in den
Schlüften des Jura. Etwa zwanzig Minuten von der Stadt biegt links
von der bis St. Imier sich fortsetzenden Landstraße ein schmaler
Pfad zu einem, erst in seiner unmittelbaren Nähe wahrnehmbaren Spalt
im Gebirge. Tritt man hier ein und verfolgt zwischen zwei hohen
Felswänden die geheimnisvolle Enge, so gelangt man nach einer Weile in
einen fast kreisrunden, von steilen Wänden eingefaßten großen Saal,
wo der Zugangsstelle gegenüber wiederum ein enger Pfad sich öffnet,
der in einen zweiten Felsenrundbau führt; und so wiederholt sich
diese eigentümliche Erscheinung bis an die Wasser des Frankreich vom
Schweizerland trennenden, in vielen überraschenden Windungen seinen
rauhen Weg sich suchenden, überaus malerischen Doubs.

In dem ersten oder zweiten jener abseits von jeder bewohnten Ortschaft
liegenden, wenig bekannten Thalkessel versammelten sich die jungen
Leute, die mich freundlich aufgenommen hatten, gern in hellen
Mondnächten. Dort suchte sie kein Diener der staatlichen Ordnung, dort
erbauten sie sich an dem Worte ihrer Führer, dort klang ihr männlicher
Gesang, von Spähern ungehört, in die himmlisch reine Luft. Als ich nach
einigen Tagen von ihnen Abschied nahm, begleiteten sie mich bis auf die
Höhe des Mont des Loges, der das Thal von la Chaux-de-Fonds von dem
ackerbautreibenden Val de Ruz trennt, und nachdem ich einige hundert
Schritte abwärts gezogen, begrüßte mich ihr deutsches Lied von einem
Felsenvorsprung herab, auf dem sie sich aufgestellt, zum letztenmal.
Ich winkte in froher Überraschung ihnen meinen Dank zu und eilte den
Fußpfad abwärts, der mich ins Thal, an das Schloß Valangin und nach
Neuchâtel brachte.

Mein Lebensgang wollte es, daß ich mehrere Jahre später nach la
Chaux-de-Fonds in die Redaktion des „National Suisse“ eintrat,
und dann, nach einer kurzen Lehrthätigkeit in Schaffhausen, nach
Neuchâtel in ein Schulamt berufen wurde. Neuchâtel war damals ein
unabhängiger Schweizer Kanton. Da geschah es eines Tages, daß ich mit
Professor Desor, meinem Freunde und Kollegen an der Akademie, mich zum
Mittagessen auf dem Landgute des Herrn Lardy, des Vaters des jetzigen
schweizerischen Gesandten in Paris, befand. Herr Lardy, der in der
alten preußisch-neuenburgischen Zeit Polizeioberster gewesen war und,
obgleich politisch von der herrschenden radikalen Partei getrennt, doch
einen herzlichen Umgang mit einzelnen, ihm sympathischen Mitgliedern
dieser Partei pflegte, erzählte beim Nachtisch in erheiternder Weise
von seiner Amtsthätigkeit gegenüber den rebellischen deutschen
Arbeitern, die in den letzten Jahren vor 1848 im Jura sich eingenistet
hatten und die er, getreu dem ihm von höchster Stelle erteilten Befehl
eifrigst verfolgte. Ich war sein Gast und hörte ihm selbstverständlich
zu, ohne den Vorhang zu lüften. Erst auf der Heimfahrt, mit Desor
allein in dessen lustig dahin trottendem Einspänner, erzählte ich
diesem von den geheimnisvollen Beziehungen, die vor etwa fünfzehn
Jahren, von uns beiden unbewußt, zwischen mir und dem braven Herrn
Lardy existiert hatten und in denen nichts von der Jugendromantik in
den jurassischen Bergen steckte, von denen ich eben gesprochen. Jetzt
hat sie längst der Tod abgerufen, Herrn Lardy und Freund Desor, und die
Jugendromantik weht auch nur noch an seltenen Tagen beschwichtigend um
mein schneeweißes Haupt.

Meine nächste Station war Bern. Der Sonderbundskrieg konnte in den
nächsten Tagen ausbrechen und ich wollte doch mindestens dem Auszug
der Truppen beiwohnen und dem Gang der Dinge, die mich so sehr
interessierten, nahe sein. Ich sah kurz nach meiner Ankunft in der
Bundesstadt die bernische Artillerie ins Feld ziehen. Ich erfreute mich
an dem Anblick der langen Reihen von Geschützen, an der fröhlichen
Mannschaft und der meist kräftigen Bespannung. Hie und da sah man den
Bauer, der die Pferde gestellt, in seiner unkriegerischen gelben Kutte
auf deren Rücken. Der Mann fürchtete die feindliche Kugel weniger als
den Verlust seines Gauls, von dem er sich nicht trennen mochte. Auf
den wohlgesinnten Zuschauer, und ein solcher war ich, machte dieses
militärische Bild einen erhebenden Eindruck. Der Krieg war, Dank der
weisen Führung des Generals Dufour, nicht blutig, die aufrührerischen,
jesuitenfreundlichen Kantone wurden durch die gegen sie aufgebotene
Übermacht rasch zur Kapitulation gezwungen. Das einzige Gefecht bei
Gislikon forderte nur wenige Opfer, nach drei Wochen war alles beendet
und der Landmann, der seine Zugtiere dem Feinde entgegengeführt,
brachte sie wohlbehalten wieder heim und konnte jetzt sorglos den
herbstlichen Acker mit ihnen bestellen.

Die Schweiz war damals der Zufluchtsort vieler Verfolgter aus allen
Ländern Europas, England ausgenommen. Zu den Charakterköpfen, die sie
beherbergte, gehörte auch der deutsche, politische Schriftsteller
Karl Heinzen. Der Mann hatte viel Bitteres erlebt. Von der
Universität Bonn relegiert, hatte er sich nach Batavia anwerben
lassen, von wo ihm indessen bald die Rückkehr ermöglicht wurde.
Er fand eine Anstellung, erst im Steuerfach, dann bei der Aachener
Feuerversicherungsgesellschaft und schrieb außerdem in die zu jener
Zeit oppositionell redigierte „Leipziger Allgemeine Zeitung“, aber
auch in die radikale „Rheinische Zeitung.“ Beide Blätter, obgleich
sie wie alle deutschen Drucksachen unter Censur standen, wurden ihrer
Haltung wegen unterdrückt, worauf Heinzen in einem Buch „die preußische
Bureaukratie“, das schon bei seinem Erscheinen konfisziert wurde,
seiner Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen Ausdruck
gab. Mit einer Anklage bedroht, floh er in die Schweiz, von wo aus er
eine Anzahl der grobkörnigsten Pamphlete nach Deutschland versandte.
Heinzen schrieb über alles und jedes, was ihm mißfiel -- und was
mußte seiner Freiheitsliebe damals nicht mißfallen? -- Er schrieb
über alles, was ihm Gelegenheit zur Entfaltung eines rücksichtslosen
Angriffs bot. Er fiel nicht bloß über die Monarchie her, wodurch er
sich später in Amerika, wo er nach vielen harten Bedrängnissen sich
schließlich niederließ und den „Pionier“ herausgab, den Übernamen „der
Fürschtekiller“ zuzog; er wandte sich auch gegen die sozialistischen
Arbeiterverbindungen und deren Führer, mit ganz besonderer Streitgier
gegen die Kommunisten. Ich besitze keine Zeile mehr von dem, was
dieser überhitzte Schriftsteller in die Welt gesandt; ich erinnere mich
nur, daß eine von ihm ausgegangene Schrift gegen die Kommunisten mich
sehr gegen ihn einnahm und zu einer ihm gewidmeten Antwort veranlaßte.

Ich hatte in der Buchdruckerei Reber Beschäftigung gefunden, ich
setzte dort mit Zustimmung des „Herrn Prinzipals“ die von mir in den
Abendstunden gegen Heinzen verfaßte Schrift. Herr Reber, obgleich
ein ausgesprochener Konservativer, ließ sie auf seiner Presse gegen
Entrichtung des gebräuchlichen Preises drucken, und ich versandte
sie nach London zu weiterer Verbreitung. Ich habe kein Exemplar
meines Opus für spätere Tage aufbewahrt. Nicht einmal der Titel
dieser Verteidigungsschrift des Kommunismus ist mir im Gedächtnis
geblieben. Einmal gedruckt, hatte sie für mich keinen Wert mehr.
Heinzen hatte in seinem Angriff wahrscheinlich die bekannten Argumente
gegen den Kommunismus angewendet. Er hatte in dem, was er sagte, eben
so wahrscheinlich recht; doch da ihm alle von der Entwicklungsidee
ausgehende Schulung fehlte, so bot er dem Angriff schwache Seiten genug
dar, die ich dann ohne Zweifel mit Wonne gegen ihn ausbeutete, ohne
deshalb in seinen hanebüchenen Stil zu verfallen, den ich eben so
wenig bei ihm wie bei anderen jemals zu bewundern vermochte. So stelle
ich mir jetzt, nach fünfzig Jahren, diesen litterarischen Waffengang
vor, der mir in seinen Einzelheiten nicht mehr gegenwärtig ist.
Heinzen, wie fast alle politischen Schriftsteller jener Zeit, hatte
keine Ahnung von der Wendung im Volksleben, die mit dem Auftreten der
arbeitenden Klassen als Partei in allernächster Zeit beginnen sollte.
Ich, ohne alle Menschenkenntnis und ohne alle Erfahrung, schoß mit
der Verteidigung des Kommunismus weit übers Ziel hinaus und war trotz
der erworbenen historischen Weltanschauung, soweit es das supponierte
Zukunftsbild betraf, noch tief in Wolkenkuckucksheim zu Hause.

Zur näheren Charakteristik Karl Heinzens sei es mir übrigens gestattet,
folgende Anekdote aus den von mir herausgegebenen „Erinnerungen v.
I. D. H. Temme“ (Leipzig, Ernst Keil 1883) hier mitzuteilen: „Einmal
brachte hier in Zürich,“ erzählt Temme, „ein Freund mir eine Nummer
der Zeitschrift, „der Pionier,“ die Heinzen in Boston herausgab. Lesen
Sie, sagte mein Freund, zunächst die erste Seite, und schlagen Sie erst
dann das Blatt um. Ich las die erste Seite. Sie war ganz angefüllt
mit einem offnen Brief an mich. Die New-Yorker Staatszeitung brachte
damals gerade einen Roman von mir. Das hatte den höchsten Zorn Heinzens
erregt, da die New-Yorker Staatszeitung eine andere Politik verfolgte,
als er. Der offene Brief war eine donnernde Philippika gegen mich
und schloß mit folgendem Rat: Ich höre, daß Sie, um mit den Ihrigen
leben zu können, auf Romanschreiben angewiesen sind. Aber ehe Sie
Ihre Produkte einem Schandblatte, wie die New-Yorker Staatszeitung
überlassen, sollten Sie sich eine Kugel durch den Kopf schießen. -- Ich
mußte herzlich lachen über den Zorn, der diesen liebenswürdigen Rat
eingegeben hatte, und über die wunderliche Logik, die er enthielt. Und
nun, sagte mein Freund, schlagen Sie das Blatt um! Ich schlug um, und
auf der zweiten Seite druckte Heinzen eine meiner Novellen nach.“

Ich habe seit jener Verteidigung des Kommunismus gegenüber einem
originellen Schriftsteller, der in einem Bilde jener Zeit nicht
übergangen werden darf, nichts mehr über dieses Thema geschrieben.
War mit diesem Glaubensmanifest auch mein Glaube erschöpft? Durch
die Widerlegung der erhobenen Einwürfe war ich denn doch wohl mehr
oder weniger zu der Einsicht gelangt, daß der Gedanke, es müsse die
eingetretene Bewegung gegen die Herrschaft des Kapitals notwendig zur
Aufhebung des Privateigentums und seiner Umwandlung in gemeinsames
Eigentum führen, nicht so ganz selbstverständlich sein könne, wie ich
angenommen und gepredigt hatte. Viele Fragen wurden nun in meinem
Geiste angeregt, aber ich kam mit ihnen noch nicht zu einem Abschluß.
Entwickelte die Menschheit sich in der That ausschließlich nach rein
mechanischen Gesetzen, die ihr mit Naturnotwendigkeit den nicht
zu vermeidenden Weg vorschrieben? Sind mit der materialistischen
Weltanschauung allein alle welthistorischen Erscheinungen zu erklären?
Ist ein so kompliziertes Wesen wie der Mensch, mit seinen teils auf
Vererbung, teils auf Erziehung und dem Milieu beruhenden Tugenden und
Lastern, mit seinem Individualismus und seinem Herdensinn, ein Wesen,
in welchem sich die widersprechendsten Anlagen und Eigenschaften zu
einem persönlichen Charakter einigen, der es von seinem Nachbar so
auffallend unterscheidet -- ist angesichts der sich unserer Beobachtung
aufdrängenden Thatsache der unendlichen Teilung der Arbeit, welche die
Natur den Menschen in deren gesellschaftlichem Zusammenschluß ohne
Vernichtung ihres Einzelcharakters auferlegt hat, eine mathematische
Formel angebracht, an der man nicht zu mäkeln hat? Weil der Starke
dem Schwachen +sein+ Gesetz auferlegte, ihn zum Zweck der Häufung
seines Privateigentums ausbeutete und so die Klassengegensätze schuf,
müßte deshalb das Privateigentum aufgehoben werden? Suchte die
Menschheit nicht vielmehr einen Weg, der zur Verminderung, schließlich
zur Aufhebung aller den Schwachen beeinträchtigenden Gegensätze führte,
ohne die persönliche Freiheit der Idee der Gleichheit zu opfern?

Ist überhaupt die Gleichheit jemals erreichbar, ohne der Natur des
Menschen Gewalt anzuthun? Und gelänge es wirklich, das Privateigentum
völlig aufzuheben und die absolute Gleichheit einzuführen, würde die
Natur des Menschen sich dann nicht nach erlittenem Zwange rächen und
eine furchtbare Revolution herbeiführen?

Diese Fragen fingen an, mich gerade damals zu beschäftigen, wo ich in
die Nähe von Karl Marx gelangen sollte, und durch des Meisters Ideen
mich meiner Zweifel siegreich zu entledigen gedachte. Doch -- Marx
sprach damals mehr von der sich ankündigenden politischen Umwälzung,
die er ganz richtig als die Vorbedingung der sozialen Umwälzung erkannt
hatte, denn von dieser selbst.



[Illustration]

VII.

Ein Winter in Brüssel. Karl Marx.


Ich kam wieder durch deutsche Lande. Ich ging von Bern ohne Aufenthalt
über Basel nach Straßburg, von dort mit dem Dampfschiff, das zu
jener Zeit in Straßburg seinen Ausgangspunkt hatte, nach Köln und
dann weiter nach Brüssel, das gewissermaßen das geistige Centrum der
kommunistischen Verbindung bildete. Dort lebte Karl Marx. Ich war
gespannt darauf, ihn kennen zu lernen. Ich fand ihn in einer höchst
bescheiden, man darf wohl sagen ärmlich ausgestatteten kleinen Wohnung
in einer Vorstadt Brüssels. Er nahm mich freundlich auf, befragte
mich über den Erfolg meiner propagandistischen Reise, machte mir
ein Kompliment über meine Broschüre gegen Heinzen, in welches seine
Frau einstimmte, die mich freundlich willkommen hieß, und wie sie
ihr Lebenlang den innigsten Anteil an allem nahm, was ihren Mann
interessierte und beschäftigte, so war sie auch nicht ohne besonderes
Interesse für mich, der ich ja für einen hoffnungsvollen Jünger der
Lehre ihres Mannes angesehen wurde.

Marx, so wurde mir später erzählt, hatte als Bonner Student seine
Frau auf einem Ball kennen gelernt; Fräulein von Westphalen, dies
war ihr Mädchenname, gehörte einer preußischen, finanziell etwas
zurückgekommenen Junkerfamilie an. Marx liebte sie und sie teilte
seine Leidenschaft. Sie heirateten sich, gewiß nicht ohne Überwindung
mancher Schwierigkeiten seitens der Familie von Westphalen. Diese
Liebe bestand alle Proben eines ununterbrochenen Lebenskampfes. Ich
habe selten eine so glückliche Ehe gekannt, in welcher Freud’ und
Leid, das letztere in reichlichstem Maße, geteilt, und aller Schmerz
in dem Bewußtsein vollster, gegenseitiger Angehörigkeit überwunden
wurde. Ich habe auch selten eine in ihrer äußern Erscheinung wie in
ihrem Herzen und Geiste so harmonisch gestaltete Frau gekannt, die
bei der ersten Begegnung so sehr für sich eingenommen hätte wie Frau
Marx. Sie war blond, ihre Kinder, damals noch klein, waren dunkelhaarig
und dunkeläugig wie ihr Vater. Des letzteren in Trier lebende Mutter
gab einen Beitrag zu den Bedürfnissen des Haushaltes, die Feder des
Schriftstellers mußte wahrscheinlich für die Haupteinnahme sorgen.
Marx hatte wohl die Bekanntschaft einiger freisinniger Politiker in
Brüssel gemacht, doch kam es zwischen ihm und seinen Freunden, meist
Ausländern, nicht zu einem wirklich geselligen Verkehr, und weder er
noch seine Frau schienen einen solchen zu vermissen. Frau Marx lebte in
den Ideen ihres Mannes, sie ging dabei ganz und gar in der Sorge für
die Ihrigen auf und war doch so himmelweit von der strumpfstrickenden,
den Kochlöffel rührenden deutschen Hausfrau entfernt. Mehrere Jahre
später fügte sie am Schluß eines Briefes, den sie mir aus London
geschrieben hatte, die Trauernachricht hinzu, durch welche innere
Entrüstung ein wenig hindurchklang, daß ihre so treue und unverdrossene
Magd, die gewissermaßen als ein Mitglied der Familie betrachtet wurde,
sie verlassen habe.

In Brüssel wurde alljährlich am 29. November der Jahrestag der
polnischen Revolution des Jahres 1830 von den dort lebenden polnischen
Emigranten festlich begangen. Die städtische Verwaltung hatte
dazu regelmäßig einen Saal im Rathause hergegeben. Diesesmal --
geschah es im Vorgefühl der großen politischen Ereignisse, welche,
von Frankreich ausgehend, sich über einen beträchtlichen Teil
Europas verbreiten sollte? -- waren für den 29. November besondere
Festlichkeiten vorhergesehen, und deshalb lud man auch Vertreter
anderer Nationalitäten als nur der polnischen, zu dem öffentlichen
Akt auf dem Rathause ein. Unter den französischen Flüchtlingen war
es ein Blanquist aus Marseille, Namens Imbert, der mit einer Rede
auftreten sollte; unter den Deutschen war Marx dazu berufen. Er
wollte der Einladung sich entziehen, wahrscheinlich wohl, weil er in
einer zu bunten Gesellschaft hätte auftreten müssen -- Graf Merode,
ein bekannter Führer der belgischen Ultramontanen, hatte den Vorsitz
bei der Feier -- dann stimmte auch seine ganze politische Anschauung
nicht recht zu dem Geiste, der in der polnischen Kolonie herrschte.
Engels, der seit kurzem von Paris nach Brüssel übergesiedelt war,
hätte ihn wohl ersetzt, aber -- er war aus Paris ausgewiesen worden,
und als die Regierung deshalb von einem Mitgliede der äußersten Linken
interpelliert worden war, antwortete der Minister, es seien keine
politischen Gründe gewesen, die zu dieser Ausweisung geführt hätten.
Die Sache war durch alle Zeitungen gegangen, und Engels weigerte sich,
mit seinem Namen jetzt hervorzutreten. Was zu seiner Ausweisung geführt
hatte, war in der That nicht politischer Natur. Er hatte, von dem
oben genannten Maler Ritter davon unterrichtet, daß ein französischer
Graf X. sich von seiner Maitresse getrennt, ohne in irgend einer Weise
für sie zu sorgen, diesem Grafen gedroht, die ganze Sache an die
Öffentlichkeit zu bringen, wenn er seine Menschenpflicht gegen die
Verlassene nicht zu erfüllen gedenke. Der Graf wandte sich mit einer
Beschwerde an den Minister, und der Minister wies den Fremden mit
seinem Freunde Ritter aus.

Eine ganz ablehnende Antwort sollte aber dem polnischen Festkomitee
nicht gegeben werden, und so forderte Marx mich auf, an seine Stelle zu
treten. Ich war über diesen Vorschlag nicht wenig bestürzt; ich stellte
ihm vor, daß ich dazu wohl zu jung sei. Das half nichts, und ich hielt
die obligate Rede. Sie erregte nicht geringes Aufsehen. Keine Seele war
auf die Idee gekommen, daß jemand bei einer solchen Gelegenheit, an dem
der polnischen Revolution gewidmeten Gedenktage, im Brüsseler Rathaus
eine Rede halten könnte, in welcher der nicht allzuweit entfernte
Übergang von der politischen zur sozialen Revolution schließlich
angedeutet wurde. Die äußerste Linke im Saal -- auch hier gab es eine
solche -- klatschte stürmischen Beifall, die vornehme Gesellschaft auf
den vorderen Stuhlreihen und auf den Präsidialsitzen war verschnupft,
die Zeitungen suchten die Sache zu vertuschen, doch hatte ein Brüsseler
Korrespondent in deutschen Zeitungen einen Alarmruf ausgestoßen, so daß
selbst mein braver Freund Bisky mir erschrocken schrieb, ob ich denn
die Absicht habe, mir den Rückweg ins Vaterland geradezu abzuschneiden?
-- Diese Befürchtung war nun freilich ganz grundlos. Nur noch wenige
Monate, und die Welt hatte ein ganz anderes Aussehen.

In Brüssel existierte damals ein deutscher Verein, der sich zumeist
aus Arbeitern und jungen Angestellten in Fabriken und Handelshäusern
zusammensetzte. Er war von Mitgliedern des Kommunistenbundes ziemlich
stark durchsetzt. Kommunismus und Kommunisten waren übrigens nur
Worte, die niemand banden, über die man thatsächlich kaum sprach.
Viel näher lag die in Frankreich immer entschiedener sich geltend
machende Bewegung für die Reform des Wahlgesetzes. Mit Spannung
verfolgte man die dortige Entwicklung der Dinge, man ahnte einen
entscheidenden Schlag. Die Tagespolitik war also der Gegenstand unseres
ausschließlichen Interesses. Nebenher sorgte jener Verein für etwas
Unterhaltung. Karl Wallau, mit dem ich die von Herrn von Bornstedt
herausgegebene Brüsseler Deutsche Zeitung setzte -- er gehörte auch
zum engern Bund --, besaß eine schöne Baritonstimme und sang an den
Vereinsabenden gern gehörte, deutsche Lieder; andere musikalische
Beiträge blieben nicht aus, es fehlte natürlich auch nicht an
Deklamatoren, auch junge deutsche Damen wurden eingeführt, und man
tanzte bisweilen. An der Schwelle des sturmerfüllten, geschichtlich
so inhaltschweren Jahres 1848 versammelte man sich sogar zu einem
gemeinsamen Abendessen. Ein von mir verfaßtes, ich brauche es nicht
erst zu sagen, sozial-politisches Festspiel wurde aufgeführt. Unter
den Anwesenden befand sich Marx mit seiner Frau und Engels mit
seiner -- Dame. Die beiden Paare waren durch einen großen Raum von
einander getrennt. Als ich zu Marx herankam, um ihn und seine Frau zu
begrüßen, gab er mir durch einen Blick und ein vielsagendes Lächeln
zu verstehen, daß seine Frau eine Bekanntschaft mit jener -- Dame auf
das strengste ablehne. In Fragen der Ehre und Reinheit der Sitten
war die edle Frau intransigent. Die Zumutung, auf diesem Gebiet ein
Zugeständnis zu machen, wenn eine solche an sie gestellt worden
wäre, hätte sie mit Entrüstung zurückgewiesen. Die Hochachtung, die
ich für sie gehegt, wurde durch dieses Intermezzo sehr gesteigert.
Es war jedenfalls überkühn von Engels, durch die Einführung seiner
Maitresse in diesen meist von Arbeitern besuchten Kreis an einen,
den reichen Fabrikantensöhnen so oft gemachten Vorwurf zu erinnern,
daß sie die Töchter des Volkes in den Dienst ihrer Freuden zu ziehen
wissen. ~Noblesse oblige.~ Engels hat für das arbeitende Volk so
Bedeutendes geleistet als Schriftsteller und als Führer, sein Name
steht so fest auf den Gedenktafeln seiner Partei, daß die Achtung vor
denen, deren Sachwalter er bis dahin und dann sein Leben lang mit
großem Ernst und vielem Erfolg gewesen ist, ihm hier eine durch alle
Umstände gebotene Zurückhaltung hätte auferlegen sollen. In Fragen des
Ewig-Weiblichen oder Unweiblichen war er jedoch sehr sterblich.

[Illustration]



[Illustration]

VIII.

1848. Die Februarrevolution in Paris. Aufstandsversuche in Brüssel.
Frau Marx. Reise nach Paris.


Durch den oben erwähnten französischen Flüchtling Imbert, der in
Brüssel im Besitz einer Fayencefabrik war, dazu einer tüchtigen Frau,
einer lebhaften Marseillerin sich erfreute, die seine republikanischen
Grundsätze teilte, sie jedoch mit ungebrochener katholischer
Glaubenstreue vereinigte, hatten wir Fühlung mit der Bewegungspartei in
Frankreich. Mitte Februar war er heimlich nach Paris gereist und als
er zurückkehrte, versicherte er uns, daß es diesmal zu einem ernsten
Aufstand kommen werde und wir uns auf große Ereignisse gefaßt zu machen
hätten. Er hatte seine Kenntnis von den sich vorbereitenden Dingen an
der Quelle geschöpft, von wo aus die Bewegung in Fluß gebracht wurde.

So jämmerlich ist nie eine Monarchie gefallen, wie diejenige
Louis-Philippes. Der verblendete König brauchte nicht einmal das von
der äußersten Linken geforderte allgemeine Stimmrecht zu bewilligen;
er brauchte nur zu rechter Zeit zu der von der gemäßigten Linken
beantragten Erweiterung des bisherigen Stimmrechts seine Zustimmung zu
geben und die Dinge hätten bis an sein Lebensende ausgehalten. Sein
Nachfolger that dann den weiteren Schritt und die Dynastie der Orleans
existierte vielleicht heute noch auf dem französischen Thron. Wie ganz
anders die europäischen Verhältnisse sich in diesem Fall gestaltet
hätten! Nicht bloß die Weisheit, auch die Thorheit der Fürsten steht im
Dienste der geschichtlichen Entwicklung.

Am Abend des 24. Februar 1848 standen in Brüssel ein halbes Dutzend
deutscher Jünglinge auf dem Perron des Bahnhofes, der nach Paris
führenden Linie. Sie waren fast allein. Kein Zug war seit den
Morgenstunden aus der französischen Hauptstadt angelangt, keine
Nachricht über die Unruhen, die dort ausgebrochen waren. Die redlichen
Einwohner der belgischen Hauptstadt waren doch wohl etwas schwerblütige
Leute, die erst warm werden mußten, ehe sie sich in Bewegung setzten.
Die Neugierde nach dem, was vielleicht in Paris vorgefallen, plagte
sie augenscheinlich nicht. Wir paar Deutsche waren, wie gesagt,
fast allein auf dem Perron, wir, die Ausländer; doch nein, noch
zwei Personen, ein Herr und eine Dame, standen dort stumm und mit
sorgenvollem Blick in einer Ecke. Auch sie warteten auf einen Zug,
der, wenn auch nicht von Paris, so doch von der französischen Grenze
bald eintreffen mußte. Sie warteten augenscheinlich auf Nachrichten
aus Frankreich. Manchmal fiel von ihnen ein düsterer Blick auf uns,
wenn wir in fröhlicher Unterhaltung die Vermutungen und Hoffnungen
aussprachen, die wir auf die Neuigkeiten setzten, die nun nicht lange
mehr ausbleiben konnten. Sie errieten unsere Gedanken. Sie thaten
plötzlich einige Schritte vorwärts, denn ein langer Pfiff hatte die
Annäherung des erwarteten Zuges angekündigt. Noch einen Augenblick,
und er war im Bahnhof. Bevor er noch vollständig gehalten, sprang der
Zugführer ab und rief mit gellender Stimme: ~„Le drapeau rouge flotte
sur la tour de Valenciennes, la république est proclamée.“~

~Vive la république!~ ertönte es wie aus einem Munde aus unserer
Mitte. Der Herr und die Dame aber, welche auch auf Neuigkeiten gewartet
hatten, erblaßten und zogen sich eilig zurück. Es war, wie ein
Bahnhofsbeamter uns sagte, der französische Gesandte, General Rumigny,
mit seiner Gemahlin.

Mit der sinkenden Nacht wurde das große Ereignis in der ganzen Stadt
bekannt. Die Cafés, die Bierhäuser in allen Gassen, namentlich auf
dem altertümlichen großen Rathausplatz, füllten sich, überall erklang
die Brabançonne und die Marseillaise; die friedsamen, verrosteten
Stammgäste -- Brüssel besaß zu allen Zeiten ein zahlreiches
Philistertum -- konnten ihre Plätze nicht behaupten, eine neue,
begeisterte Bevölkerung war plötzlich wie aus der Erde gewachsen, und
halb verschüchtert, halb erstaunt oder aus ihrem zopfigen Traumdasein
aufgerüttelt, sahen die Alten offnen Mundes dem Treiben der Jugend
zu. Ich erinnere mich eines bildschönen, Lütticher Advokaten, Namens
Tedesco, der in einem der großen Cafés, dem Versammlungsort der
wohlhabenden Gesellschaft, auf einen Tisch stieg und die ihm nach vom
Platz hereingestürmte Menge mit einer glühenden Rede in flammende
Begeisterung versetzte. Fort zog er von einem der großen Cafés in
das andere, und die Menge umdrängte überall den unwiderstehlichen
Feuergeist. Immer neue Massen zog er an, die er mit seinem Wort
elektrisierte, und das ~Vive la république~, mit welchem er
jedesmal seine Rede schloß, erschallte als ein donnerndes Echo in
der Volksbrandung, die auf den großen Plätzen immer gewaltigere Wogen
schlug. Man hätte glauben mögen, daß in dieser Nacht das junge Königtum
in Belgien vom Sturm vernichtet werden müßte.

Doch es sollte anders kommen, als man hatte erwarten dürfen. Auf dem
neu errichteten belgischen Thron saß ein kluger Staatsmann, der sein
Schifflein kaltblütig und weise durch die tosenden Wellen steuerte.
Er rief seine liberalen Minister, die einflußreichsten Mitglieder der
liberalen Kammer, er rief den Bürgermeister und den Gemeinderat von
Brüssel zu sich und sagte zu den Herren: „Das Land hat mich zu seinem
König erwählt und ich habe als König stets den Willen des Landes
geehrt, keine ernste Klage hat sich bisher gegen meine Regierung
erhoben. Wozu Blut vergießen? Wenn das Land den Wunsch ausspricht,
daß ich die mir anvertraute Krone niederlege, so werde ich dies ohne
Sträuben thun. Um meinetwillen sollen nicht Bürger gegen Bürger mit
Waffen sich bekriegen. Man sage mir ein Wort und ich gehe.“

Die anwesenden Volksabgeordneten und Vertreter der Hauptstadt waren
von diesen Worten tief bewegt, und wie man am Abend vorher auf
Straßen und Plätzen die Republik hatte hochleben lassen, so riefen sie
jetzt: ~„Vive le roi!“~ In Belgien standen die Dinge denn doch
anders als in Frankreich. Louis Philippe, der Sohn des Königsmörders
~Philippe-Egalité~, war ein Hemmschuh der freiheitlichen
Entwicklung des Landes geworden. König Leopold von Belgien hingegen
war das Muster eines konstitutionellen Herrschers. Der koburgische
Prinz verstand es, das Volk, an dessen Spitze er gestellt war, mit
wunderbarem Geschick zu behandeln, er war sehr populär und er hatte
seine Popularität nicht durch Anwendung schnell verbrauchter Künste,
sondern durch verständiges Eingehen auf den besonderen Charakter seines
Volkes und durch Einsicht in die Forderungen seiner Zeit erworben.
Er konnte nichts Vernünftigeres thun, als seinen Willen kundgeben,
freiwillig zurückzutreten, wenn er damit dem Wunsche seines Landes
entgegenkomme.

Als am nächsten Tage die Worte des Königs bekannt wurden, hatte er
seine Sache, auch der Gesamtbevölkerung gegenüber, schon halb gewonnen.
Wohl war in der Nacht von den republikanischen Gesellschaften alles auf
einen in Szene zu setzenden Aufstand vorbereitet worden, doch fehlte
der revolutionäre Hauch in der Hauptstadt. Ein paar leidenschaftliche
Reden genügten denn doch nicht, einen König heute zu vertreiben, gegen
den gestern noch kein Vorwurf sich erhoben hatte. Wohl füllten am
Abend sich die Straßen und Plätze, die von den revolutionären Klubs
getroffenen Anordnungen machten den Eingeweihten sich bemerklich, aber
es kam nicht zum Barrikadenbau. Ehe damit noch begonnen wurde, rückte
militärische Macht heran. Auf dem Rathausplatz erschien ein Regiment
Infanterie in breitester Front; vor der Truppe der Oberst mit einem
Tambour. Der Infanterie zur Seite stürmte eine Schwadron Dragoner
heran. Die Aufruhrakte wurde verlesen. Nach dem dritten Trommelschlag
sollte von den Waffen Gebrauch gemacht werden, wenn der Platz nicht
geräumt würde. Auf die erste und zweite Warnung erscholl aus der
dichten Menge ein schrilles Pfeifen, ein furchtbares, höhnisches
Geschrei. Sie wich nicht vom Platze.

Der dritte Trommelschlag ertönte.

Es fiel kein Schuß. Mit gefälltem Bajonett drängte die Infanterie
unaufhaltsam vorwärts, die Reiter sprengten an einer Seite des Platzes,
dicht beim Trottoir heran, und die Menge ergriff die Flucht. Ich stand
mit Engels auf dem Trottoir, vor dem Eingang in eines der vielen
Cafés; zu meiner Rechten war Wilhelm Wolf, einer der beliebtesten
unter den in Brüssel lebenden Deutschen. Da drängt plötzlich ein
Reiter auf ihn ein, langt sich vom Roß herab, das auf das Trottoir
gelangt ist, den kleinen Wolf, indem er ihn fest am Kragen packt und
schleppt ihn mit sich fort. Im Nu war es geschehen, im Nu war er
verschwunden. Wilhelm Wolf war damals etwa 40 Jahre alt. Er hatte
in Breslau Philologie studiert, und die Verfolgungen, die er sich
als Burschenschafter zugezogen, trieben ihn ins Ausland. In Brüssel
ernährte er sich durch Privatunterricht in den alten Sprachen. Nach der
Märzrevolution zog er mit Marx nach Köln. Er wurde sehr geschätzt als
Mitarbeiter der „Neuen Rheinischen Zeitung,“ in welcher er namentlich
durch seine Darstellung der bäuerlichen Verhältnisse in Schlesien sich
auszeichnete.

Die belgische Regierung, nachdem sie so leicht den ersten Versuch
eines Aufstandes niedergeschlagen hatte, beschloß, es zu einem zweiten
Putsch nicht kommen zu lassen. Wenn sie gleich mit Verhaftungen unter
den Landesangehörigen vorsichtig sein mußte, so hatte sie doch freie
Hand gegenüber den Ausländern. Wir wurden durch Freunde von der Absicht
der Regierung unterrichtet, die namhaftesten aus unserem Kreise zu
verhaften und über die Grenze zu senden. Ein Brüsseler Bürger, der
außerhalb der Stadt ein ziemlich einsames Haus bewohnte, bot uns für
die nächste Nacht seine Gastfreundschaft an. Marx, Engels und ich
begaben uns nach Sonnenuntergang zu dem wackern Mann. Wir wurden
freundlich aufgenommen. Ein Abendessen erwartete uns, und für jeden von
uns war ein Lager bereitet.

Die Regierung des Herrn Roger, der damals am Ruder war, wollte kein
Aufsehen erregen, bei Tage hatten wir keine Verhaftung zu befürchten.
Wie es sich übrigens nur zu bald zeigte, hatte sie es fürs erste
nur auf Marx abgesehen, den sie nicht mit Unrecht als die Seele der
deutschen Emigration ansah. In nächster Nacht -- er hatte sich nicht
mehr von den Seinen entfernen wollen -- klopfte es ungestüm an seine
Hausthür. Er ließ öffnen. Man kündigte ihm seine Verhaftung an. Die
eingetretenen Polizisten forderten ihn auf, ihnen zu folgen. Marx fügte
sich, ohne ein Wort zu verlieren, in das Unvermeidliche. Seine Frau
jedoch geriet außer sich. Wohin man ihren Mann bringe, fragte sie in
namenloser Angst und Aufregung. Man gab ihr keine Antwort und ließ
sie allein. Der armen Frau bemächtigte sich nun ein entsetzlicher
Gemütszustand. Sie konnte das, was über sie gekommen, nicht fassen.
Verzweiflung im Herzen, händeringend ging sie in ihrem Zimmer auf und
ab. Allein sein hier mit ihren Kindern, und ihr Mann im Gefängnis!
Einem plötzlichen Impuls folgend, setzte sie hastig den Hut auf, warf
ein Tuch über die Schultern, eilte die Treppe hinab. Jetzt war sie
draußen auf der Straße.

Nach welcher Richtung sollte sie sich wenden? Da, etwa dreißig Schritt
von ihrem Hause entfernt, erblickt sie einen Polizisten. Sie stürzt auf
ihn zu. Es war einer von denen, die in ihre Wohnung gedrungen waren,
die die Verhaftung vorgenommen. „Wo haben Sie meinen Mann hingeführt?
Sagen Sie mir, wo er jetzt ist,“ schrie sie ihn an. -- „Sie wollen es
wissen?“ fragte der Polizist. -- „Ich muß es wissen,“ antwortete sie;
„zeigen Sie mir das Haus, führen Sie mich zu ihm.“ -- „Folgen Sie mir,“
antwortete der Diener der öffentlichen Wohlfahrt und Gerechtigkeit. Sie
folgte ihm.

Der Mann führte sie in ein altes, hohes Haus, durch einen schmalen,
langen Gang. Es wurde ihr eng auf der Brust, der Atem ging ihr
aus. Ihr ahnte Unheil. Jetzt schloß er eine Thür auf, stieß sie in
einen kärglich beleuchteten Raum und schloß wieder hinter ihr zu.
Ein tolles Gelächter empfing die taumelnd Eingetretene, eine Schar
der unheimlichsten weiblichen Wesen umringte sie. Man betrachtete
sie mit frecher Neugier. Eine Fremde! eine Unbekannte! ein neuer
Gast! erschallte es um sie her. Und wieder brachen sie in ein
tolles Gelächter aus. Jetzt wußte die unglückliche Frau, in welche
Gesellschaft man sie gestoßen. Ein gräßlicher Schrei entrang sich
ihrer Kehle, ein Schrei, durch den selbst die verlorenen weiblichen
Wesen, in deren Mitte sie sich befand, tief erschüttert wurden.
Plötzlich schwiegen sie. Hier war etwas Unerhörtes geschehen, das
fühlte eine jede. Das war eine anständige Frau, die man zu ihnen, dem
Gassenkehricht der Menschheit, gesperrt. Sie hielten erschrocken mit
ihren schmutzigen Scherzen inne, sie schwiegen. Wie hat das kommen
können? Nach und nach wagte die eine und die andere sich an die
schluchzende, in Thränen vergehende Unbekannte mit einem beruhigenden
Wort heran. „Rührt mich nicht an! Fort!“ erscholl es ihnen entgegen.

Das war eine grausige Nacht, die sich mit all ihren Schrecken und
Schmerzen tief in die Seele eingrub. Als die Wintersonne endlich am
Horizont erschien, öffnete sich jenes unnennbare Gefängnis. Die in so
verbrecherischer Weise Beleidigte nahm alle ihre Kraft noch zusammen,
um bei einem, im Hause anwesenden höheren Beamten wegen der ihr
angethanen Schmach Klage zu erheben.

„Das war ein sehr bedauerlicher Irrtum,“ sagte er. „Ich werde die
Sache näher untersuchen.“ -- „Das war ein sehr bedauerlicher Irrtum,“
sagte auch der Minister des Innern, als er in der Kammer wegen des
Vorgefallenen interpelliert wurde. Und damit war für die offizielle
belgische Welt die Sache abgethan.

In der Stadt wurde am andern Morgen die Verhaftung von Karl Marx
schnell bekannt. Ich eilte in sein Haus, und dort erzählte mir Frau
Marx unter unaufhaltsamen Thränen, wie das zugegangen, und alles
Entsetzliche, was ihr selbst in der vergangenen Nacht widerfahren war.

Bald erschien auch unser vortrefflicher Freund, ein Brüsseler
junger Gelehrter, Namens Gigot der in der Stadtbibliothek ein Amt
als Paläograph bekleidete. Er erklärte sich bereit, sich nach den
Absichten der Regierung bezüglich des Verhafteten zu erkundigen. Er
war überzeugt, daß Marx in wenigen Tagen wieder entlassen sein, und
daß man ihm die Wahl des Landes, in welches er nun überzusiedeln
gedenke, freistellen werde. Dies bestätigte sich in der That. Wenn er,
wie dies jetzt kaum zu bezweifeln sei, Paris wähle, so rate er Frau
Marx, ihm dorthin mit den Kindern vorauszugehen, ich sollte mich ihr
zur Begleitung anschließen, die Magd solle indessen mit seinem eigenen
Beistand den Brüsseler Haushalt auflösen und dann nach Paris folgen.
Frau Marx war mit diesem Rat einverstanden. Sie traf im Laufe des
Tages, nachdem sie es noch erlangt hatte, von ihrem Mann im Gefängnis
Abschied nehmen zu dürfen, alle Vorbereitungen zur Abreise. Ich hatte
meine Angelegenheiten bald geordnet und meinen Koffer gepackt.

Gigot, von dem ich eben gesprochen, bewährte sich nun als ein
zuverlässiger Freund, und kurz vorher hatte sich Marx, als uns von
dem erwähnten Brüsseler Bürger in seinem Hause für die Nacht ein
Asyl bereitet worden war, so bitter über Gigot ausgesprochen, daß es
darüber zwischen ihm und Engels zu einer peinlichen Szene kam, deren
Schilderung ich unterlasse. Es gab einen Menschen, den Marx geradezu
haßte, und das war der Vater des Nihilismus und Anarchismus, der Russe
+Bakunin+. Dieser hatte am 29. November auf der in Paris von den
Polen veranstalteten Feier zur Erinnerung an ihre Erhebung des Jahres
1830 -- auch dort waren diesesmal Nichtpolen zugezogen worden -- eine
Rede gehalten, welche den russischen Botschafter zu einer Beschwerde
bei der französischen Regierung veranlaßte, die Bakunin in Folge dessen
sofort eine Ausweisung zukommen ließ. Er kam nach Brüssel, er suchte
eine Anknüpfung mit uns, Marx wich ihm aus, Gigot that dies nicht.
Bakunin war ihm eine interessante Persönlichkeit und man sah ihn öfter
in dessen Gesellschaft. Daß er, der sich um die grauen, sozialistischen
Theorien überhaupt wenig kümmerte, und wesentlich von der rein
humanitären Seite der Arbeiterbewegung sich angezogen fühlte, Marx
Bakunins wegen nicht vernachlässigte, das bewies er in jenen Tagen,
wo seine persönliche Intervention der schwer heimgesuchten Marx’schen
Familie nützlich sein konnte.

Einen Abschiedsbesuch hatte ich in Brüssel zu machen, im Hause unseres
französischen Freundes Imbert. Er war abwesend, er war am Tage vor
dem Ausbruch der Revolution nach Paris gegangen und nicht mehr
zurückgekehrt. „Mein Mann ist Gouverneur der Tuilerien,“ sagte mir Frau
Imbert freudestrahlend. „Gouverneur der Tuilerien,“ wiederholte sie.
„Sie müssen ihn besuchen. Bringen Sie ihm meine Grüße und die unserer
Kinder. Sie treffen ihn im Pavillon des Prinzen Joinville. Da hat er
seinen Wohnsitz aufgeschlagen.“

Wunderbarer Wechsel der Dinge! Louis-Philippe, seine Söhne und Enkel im
Exil, und Monsieur Imbert, der Exilierte von gestern, Gouverneur der
Tuilerien. Gewiß wollte ich ihn besuchen.

Ich geleitete Frau Marx und ihre drei Kinder nach Paris. Sie war nicht
wie Frau Imbert, voller Glück und Freude. Ihre Gedanken waren bei ihrem
Manne. Sie war angegriffen von den Erlebnissen der letzten Tage und
eine drückende Traurigkeit lagerte auf ihren reinen Zügen. Wir gaben
uns die Hand und trennten uns, als sie ihr provisorisches Heim erreicht
hatte. Provisorisch war alles bis dahin für sie gewesen, ein festes
Heim hatte sie mit ihren Kindern noch nicht gekannt. Doch am nächsten
Tage schon war sie mit ihrem Manne wieder vereint.....

Und auf den Straßen von Paris sah man noch viele Barrikaden, als wir in
die Stadt fuhren. Überall wogte ein neues, frisches Leben. Fortwährend
große Aufzüge von Männern oder auch Frauen, die sich nach dem Rathause
begaben, wo die provisorische Regierung ihren Sitz aufgeschlagen, um
ihr die Huldigung des Volkes darzubringen. Wohin man auch gelangte,
überall traf der schöne Klang desselben Liedes das Ohr; es war nicht
die Marseillaise, die das Volk aufgegeben hatte, ehe sie noch hoffähig
geworden beim weißen Zaren und den weißen Mönchen in Nordafrika; es
war der Gesang der Girondins, der jetzt einzig und allein die Lüfte
erschütterte. Auch die patriotischen Lieder haben ihren Auf- und
Niedergang.

    ~Mourir pour la patrie,
    C’est le sort le plus beau,
    Le plus digne d’envie.~

[Illustration]



[Illustration]

IX.

Ein Besuch in den Tuilerien.


Am Tage nach meiner Ankunft machte ich dem Gouverneur der Tuilerien,
meinem so unversehens vom Fayence-Fabrikanten in Brüssel zu einem
hohen Staatsposten beförderten Freunde Imbert einen Besuch. Das lange
Gitter vor dem Tuilerienhofe lag am Boden, im übrigen war das große
Königsschloß unversehrt. An allen Eingängen stand die sakramentale
Inschrift: ~Propriété nationale~, die gleich einem Schutzengel
wirkte. Das monumentale Gebäude, an welchem seit der Katharina von
Medici so viele weltgeschichtlich hervorragende Fürsten gebaut hatten,
machte trotz seiner Ausdehnung und mancherlei Einzelschönheiten
keinen imposanten Eindruck. Heinrich IV. hatte den ersten Bau durch
Hinzufügung des Pavillon de Flore vergrößern und durch eine Galerie
längs des Seineufers mit dem Louvre verbinden lassen. Ludwig XIV.
ließ daß Schloß teilweise erhöhen, setzte dem Pavillon de l’ Horloge
ein plumpes Dach auf und fügte dem Ganzen einen neuen, geschmacklosen
Pavillon hinzu, von welchem aus Napoleon I. eine zweite Galerie zu
errichten begann, die dazu bestimmt war, noch eine Verbindung mit dem
Louvre herzustellen, jedoch erst unter Napoleon III. vollendet wurde.

Die Tuilerien waren nach tapferer Verteidigung durch die Schweizer
von den Pariser Sektionen am 10. August 1792 erstürmt worden,
und Ludwig XVI. mußte sich mit seiner Familie in den Schutz der
Nationalversammlung begeben. Im Palast der Bourbonen hielt alsdann der
Konvent seine Sitzungen. Später bewohnte ihn Napoleon als erster Konsul
und als Kaiser. Ihm folgte Ludwig XVIII., Karl X. und Louis-Philippe,
der letztere gleich seinem Vorgänger zur Flucht aus dem Schlosse der
Könige Frankreichs gezwungen. Nun aber thronte darin seine irdene
Herrlichkeit, der Steingutfabrikant Imbert, und empfing ohne alle
Zeremonie den geringsten der Sterblichen, der ihm herzliche Grüße von
Frau und Kindern brachte.

Die Tuilerien sind nicht mehr. Nicht einmal die berühmte „eine letzte
Säule“ zeugt von entschwundener Pracht. Die Kommunarden haben den
ausgedehnten Palast, an den so zahlreiche, erhabene und gemeine
historische Erinnerungen sich knüpften, angesichts des deutschen
Siegers, der die befestigte Stadt in seine Gewalt gebracht, in Brand
gesteckt, und jetzt ist die Stelle, auf welcher der Palast sich erhoben
hatte, dem Erdboden gleich.

Ich fragte nach dem Herrn Gouverneur. Ein ehemaliger Fürstendiener,
der in den Dienst der Republik übergegangen war, geleitete mich in
die Appartements des Prinzen Joinville, in denen Freund Imbert seinen
Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Imbert empfing mich mit einem freudigen
Ausruf. Seine neue Würde hatte ihn durchaus nicht stolz gemacht. Er
umarmte mich voll Herzlichkeit, ließ sich von mir erzählen, wie ich
zuletzt die Seinen angetroffen und wie es allen Freunden in Brüssel
ergehe. Ich erzählte, was ich erlebt, und er erzählte seine Erlebnisse.

Ich mußte mit ihm frühstücken. Der Herr Gouverneur läutete. Ein Diener
trat ein. „~Monsier le gouverneur est servi~,“ lauteten seine
Worte. Wir traten in einen Saal nebenan. Für den Gast wurde auf einen
Wink ein zweites Couvert aufgelegt. Wir aßen aus der Küche des Prinzen
Joinville, wir tranken den Wein aus seinem Keller, und ich muß es
ohne zu erröten gestehen, wir hatten in unserm verhärteten Gemüt
nicht einmal die Empfindung einer damit begangenen Missethat. Die
Herrlichkeit aber dauerte für unseren Freund Imbert nicht lange. Nach
einigen Wochen war in den Pariser Zeitungen zu lesen, daß der Posten
eines Gouverneurs der Tuilerien einem General übertragen worden sei. Ob
die Republik sich in anderer Weise gegen Imbert dankbar erwiesen, das
ist mir nicht bekannt geworden.

Die junge Republik war dankbar gegen ihre Begründer und Verteidiger.
Davon sollte mir, als ich eben aus den Tuilerien getreten war und im
Schloßhof mich umsah, ein unvergeßliches Beispiel vor Augen geführt
werden. Aus den zu ebener Erde gelegenen Räumen des alten Palastes
traten wohl an die zweihundert der sonderbarsten Gestalten, die einem
auf Erden begegnen können. Barrikadenkämpfer, so sagte man, und sie
stellten sich auf vorausgegangene Anordnung in zwei Gliedern auf.

Viktor Hugos ausgezeichneter Roman „~Notre Dame de Paris~“ ist
dem modernen Geschlecht leider unbekannt. Sie wüßten sonst, was
es heißen will, wenn ich sage, ich hätte lauter Gestalten aus der
~Cour des Miracles~ vor mir gesehen. Was eine ungeheure Stadt
an menschlichem Bodensatz, an vollständig gescheiterten Existenzen
besitzt, das kommt an Tagen eines Volksaufstandes, auch wenn er aus
den sittlich gesundesten Kreisen der Bevölkerung hervorgegangen, an
die Oberfläche, nicht um zu kämpfen und das Leben für den Sieg einer
hohen Idee einzusetzen, sondern um auf den Augenblick zu warten, wo es
ohne Gefahr etwas zu gewinnen giebt. Während des Kampfes wagt jenes
„Lumpenproletariat“ -- der Ausdruck rührt von Marx her -- sich nicht
hervor. Wenn die Kämpfenden ihre Pflicht erfüllt haben, Sieger und
Besiegte sich todmüde hinlegen, dann ist die Stunde für die Niedrigsten
der Niedern, für die unrettbar Verlorenen herangerückt, dann kommen
die Schlachtenhyänen, wie man sie im ernsten Kriege genannt hat, und
vollziehen ihr nächtliches Werk. Als die Tuilerien eingenommen waren,
gab es natürlich ein arges Drunter und Drüber. Ein Teil derjenigen,
welche den alten Königssitz gestürmt hatten, -- die jungen Idealisten
nämlich -- blieb wohl die Nacht über auf dem eroberten Platz und
schützte ihn. Am frühen Morgen schrieb man dann an alle Thüren das
mahnende Wort „~Propriété nationale~.“ Aber es waren nach und nach
doch wenig achtungswerte Elemente über den seines Gitters beraubten
offnen Schloßhof durch die zertrümmerten Fenster in die unteren Räume
des langgestreckten Gebäudes eingedrungen, und denjenigen, welche mit
ihrer Beute nicht verschwanden, war es eine so wonnige Empfindung,
einmal ihre Glieder auf zusammengetragenen Polstern im Königspalast
auszustrecken. Viele von ihnen zogen freiwillig am andern Morgen wieder
ab, abends aber waren die verführerischen Räume im Erdgeschoß wieder
gefüllt. Es ging nicht gut an, die Leute erbarmungslos in die Nacht
hinauszujagen. Endlich aber mußte Ordnung geschafft werden, und so
wurde den Eindringlingen angekündigt, daß sie am nächsten Tage das
Nationaleigentum der Tuilerien auf Nimmerwiederkehr zu verlassen hätten.

Und so befanden sie sich nun in zwei Gliedern aufgestellt im Schloßhof.
Es waren fast alles Leute, die das kräftige Jugendalter überschritten
und das, was man den redlichen Kampf ums Dasein zu nennen berechtigt
ist, schon hinter sich hatten. Der Alkohol, den Zola in seinem Roman
„~l’ Assommoir~“ mit allen seinen giftigen Wirkungen gewissermaßen
als eine mystisch-diabolische Persönlichkeit uns dargestellt, hatte
auf die meisten der blöden Gesichter seine Signatur eingegraben.
In Fetzen gehüllt, standen die verlotterten Gesellen da, das
Unzusammengehörendste an zerrissenen und schmutzigen Kleidungsstücken
auf dem Leibe. Dazu waren sie noch mit einzelnen Waffenstücken aus
allen Trödlerläden von Paris behängt. Ein ganzes Gewehr, mit dem man
noch einen Schuß hätte abgeben können, hatte niemand aufzuweisen;
der eine blickte stolz auf einen verbogenen Säbel, der andere wies
ein Stück von einer Lanze auf, oder gar nur eine Säbelscheide, eine
Patrontasche. Sehr imposant nahm sich einer der Tapfern mit einem Helm
auf dem Kopfe als einziges Stück einer soldatischen Ausrüstung aus.

Vor diese Spottgestalten trat nun ein General, dessen Name mir nicht
mehr erinnerlich ist. Er hatte den Auftrag, sie zum freiwilligen
Aufgeben ihrer Schlafstellen in den Tuilerien zu bewegen. „Bürger,“
redete er sie an, „Ihr habt um das Vaterland Euch wohl verdient
gemacht, und das Vaterland, das so viel Schmerzen zu stillen, so
viel Wunden zu heilen hat, es gedenkt auch Eurer, der glorreichen
Verteidiger seiner in blutigen Kämpfen errungenen und stets wieder
bedrohten Freiheit, das Vaterland vergißt Euch nicht, Euch, die
ärmsten seiner Söhne, die seiner Fürsorge Würdigsten. Ihr müßt dies
Haus verlassen, das noch vor wenigen Tagen der Sitz eines stolzen
Königs war, den Ihr vertrieben habt, weil er den Volkswillen nicht
zu beachten verstand; dies Haus gehört jetzt der Nation. Sie allein
hat jetzt darüber zu verfügen. Geht zurück in jenen Saal, aus dessen
Fenstern unsere ruhmvolle Tricolore Euch grüßt. Dort harren Eurer
mehrere Eurer Mitkämpfer. Lege ihnen jeder von Euch freimütig seine
Wünsche dar, sie sollen Euch gewährt werden. Nicht Geld, das Ihr
verachtet und dessen Annahme Euch peinlich wäre, bietet die Republik
Euch an; doch möchte sie nicht, daß ihre Verteidiger, die ihren Leib
dem Feinde entgegengeworfen, und dabei das eingebüßt haben, womit der
Tapfere seine Blöße bedeckt, zerfetzt einhergehen. Was jeder von Euch
an ehrbaren Kleidungsstücken braucht, das erkläre er ohne Scheu vor
jenen dazu bestellten Männern. Es soll ihm gereicht werden. Euch alle
aber fordere ich auf, angesichts des klaren Himmels, der auf unsere
junge Freiheit herniederstrahlt, in den Ruf einzustimmen: „Es lebe die
Republik!““

„~Vive la république!~“ erscholl es aus aller Munde. Die Schlacht
war ohne Blutvergießen, ohne jede Gewaltanwendung, durch eine einfache
Rede gewonnen. Die ungebetenen Gäste, nachdem sie ihre Wünsche hatten
aufschreiben lassen -- nur wenige verlangten eine vollständige
Kleidung, die meisten begnügten sich mit der Erneuerung des einen
oder anderen Gegenstandes -- verließen ihre ihnen lieb gewordene
Schlafstätte, und es wurde ohne Verzug für die Wiederherstellung der
Tuilerien in ihren früheren Stand gesorgt.

Als ich in die Stadt zurückkehrte, begegnete ich einem Zuge der Pariser
Wäscherinnen, die im Begriff waren, wie die ~Dames de la Halle~
es schon gethan, der provisorischen Regierung zu gratulieren. Auf
ihrem ganzen Wege erklang wieder das ~Mourir pour la patrie~. Es
war trotz dieses Hymnus auf den Schlachtentod ein heiterer Festzug,
er wurde in den Straßen mit den lebhaftesten Zurufen begrüßt, alles
kicherte, lachte, die Augen strahlten und flammten, und Witzpfeile
flogen hin und her.

Von den fremden Nationalitäten hatten schon die Polen, die Amerikaner
und die Italiener die provisorische Regierung in glänzendem Aufzug
begrüßt. Die Deutschen, die zahlreichsten in Paris niedergelassenen
Ausländer, brauchten längere Zeit, um sich zu einem gemeinsamen,
politischen Akt zu organisieren. Endlich am 6. März, erklärten sie sich
bereit, dem Beispiel der anderen Nationalitäten zu folgen.



[Illustration]

X.

Die Deutschen in Paris. Georg Herwegh und der Freischaarenzug nach dem
badischen Oberland.


Die Deutschen bilden bekanntlich die zahlreichste Fremdenkolonie in
Paris. Im Faubourg St. Antoine allein sollen in jener Zeit 20,000
deutsche Arbeiter gewohnt haben. Der Gedanke, an die provisorische
Regierung eine Abordnung der Deutschen in Paris mit einer Adresse
an das französische Volk zu senden, ist von Herrn Adalbert von
Bornstedt, dem in einem früheren Kapitel dieser Erinnerungen erwähnten
Herausgeber der Deutschen Brüsseler Zeitung ausgegangen. Dieser
ehemalige preußische Offizier kam zu +Georg Herwegh+, dem Dichter
der Lieder eines Lebendigen, der damals seinen Wohnsitz in der
französischen Hauptstadt aufgeschlagen hatte, und forderte ihn auf,
einen Adreßentwurf auszuarbeiten und ihn einer im Saal Valentino
einzuberufenden Versammlung der deutschen Landsleute zur Annahme
vorzulegen. Herwegh willigte ein. Es sei mir gestattet, diese Adresse
hier im Auszug wiederzugeben.[A] Sie ist bezeichnend für die Stimmung,
die in jenen Tagen selbst ungewöhnlich intelligente, aber nicht zu
politischen Dingen berufene Menschen beherrschte. Die Adresse beginnt
mit einem großen Irrtum:

„Der Sieg der Demokratie für ganz Europa ist entschieden, Gruß und Dank
vor allem dir, französisches Volk! In drei großen Tagen hast Du mit der
alten Zeit gebrochen und das Banner der neuen aufgepflanzt für alle
Völker der Erde. Du hast endlich den Funken der Freiheit zur Flamme
angefacht, die Licht und Wärme bis in die letzte Hütte verbreiten soll.
Die Stimme des Volkes hat zu den Völkern gesprochen, und die Völker
sehen der Zukunft freudig entgegen. Vereint auf einem Schlachtfeld
treffen sie zusammen, zu kämpfen den letzten unerbittlichen Kampf
für die unveräußerlichen Rechte jedes Menschen. Die Ideen der neuen
französischen Republik sind die Ideen aller Nationen, und das
französische Volk hat das unsterbliche Verdienst, ihnen durch seine
glorreiche Revolution die Weihe der That erteilt zu haben, u. s. w.“

Als eine ungeheure Selbsttäuschung erscheinen uns heute diese Sätze.
Gewiß war der 24. Februar 1848 ein großes historisches Datum, gewiß hat
die Erhebung der Stadt Paris, die Vertreibung der Dynastie Orleans,
die Ausrufung der zweiten französischen Republik andere Völker Europas
zur Empörung gegen die ihnen auferlegte absolutistische Gewalt
geführt; gewiß hat Frankreich zum zweitenmal den Anstoß gegeben zu
einer großen Bewegung, welche in ihrem vielfach durch vorherzusehende
Hindernisse gehemmten Verlauf endlich zu weitgehenden politischen
Veränderungen geführt haben. Den Widerstand, dem die Volkserhebung des
Jahres 1848 begegnen mußte, hat jedoch der Verfasser jener Adresse
nicht vorhergesehen, er scheint ihn kaum geahnt zu haben. In Preußen
und in Österreich und den anderen deutschen Staaten ist die Republik
nicht ausgerufen worden, weil die republikanische Idee nicht im
Volke lebte; die Polen versuchten es nicht einmal, sich gegen den
russischen Despotismus zu erheben, der Zar hielt das Land durch seine
Truppenmacht so gefesselt, daß es sich nicht zu rühren wagte, er konnte
sogar im Jahre 1849 die bis dahin siegreiche Revolution in Ungarn
niederschlagen, welche Österreich nicht zu bewältigen vermochte. Und in
Frankreich wählte das Volk, „das den Funken der Freiheit zur Flamme
angefacht,“ den Prinzen Louis Napoleon zum Präsidenten der Republik,
der das junge, seiner Pflege anvertraute Kind in der Wiege erdrosselte.

Durch die Herwegh’sche Adresse ging ein kosmopolitischer Zug, der zu
dem gesteigerten nationalen Bewußtsein, das in der Bewegung des Jahres
1848 bei allen Völkern Europas sich kundgab, in grellem Widerspruch
stand. Der Kosmopolit ist stets der Düpierte. In der Adresse heißt
es: „Die Völker sehen der Zukunft freudig entgegen. Vereint auf
+einem+ Schlachtfelde treffen sie zusammen.“ Das Gegenteil ist
eingetroffen, nicht die Völker, sondern die in ihrer Herrschaft
bedrohten Dynastien, die über die militärischen Kräfte der Völker
verfügten, traten vereint auf +einem+ Schlachtfelde gegen die
Völker auf. Das war der erste Akt der mit dem Jahre 1848 begonnenen
neuen Zeit. Langsam trat eine Wendung in freiheitlichem Sinne in
dem großen Drama ein, das sich bis zum Frankfurter Frieden vor uns
abspielte, nicht im Geiste der Völkerverbrüderung, die damals von
Poeten aller Zungen um mindestens ein Jahrhundert zu früh besungen
wurde, sondern in dem nationaler Ausschließlichkeit. Deutschland,
Italien und Österreich-Ungarn waren damals nichts anderes als
geographische Begriffe. Die Völker, die sich verbrüdern sollten,
mußten erst durch schwere Kämpfe ihr politisches Dasein sich erringen.
Es hat ein Vierteljahrhundert und gewaltige Kriege gebraucht, ehe
Deutschland und Italien selbständige Nationen wurden. Noch immer
zittert der Boden, auf dem ihre Neugestaltung sich erhebt und ein
zweites Vierteljahrhundert hat ihre ganze Fürsorge für das mit ihrem
Blut Errungene gefordert. Noch immer sind es nationale Fragen, in
Österreich-Ungarn, in Griechenland, auf der Balkanhalbinsel, im ganzen
Orient, welche die Politik unserer Tage beherrschen. Noch immer sind
wir weit entfernt von der Verwirklichung jener schon lange vor 1848
von Béranger und Alfred de Musset gesungenen Lieder zur Verherrlichung
der Völkerverbrüderung. Ja, die Franzosen sind zur Stunde viel
ausschließlicher national gesinnt als alle anderen Völker.

Sie waren im Jahre 1848 nichts weniger als kosmopolitisch gesinnt. Das
konnte man schon aus der Antwort erkennen, welche Crémieux im Namen
der provisorischen Regierung auf die ihr am 8. März von den Deutschen
überreichte Adresse erteilte. Nach einer Angabe des Moniteur, der
jene Adresse in ihrem Wortlaut veröffentlichte, waren es 6000 Deutsche
gewesen, welche an dem Zuge zum Stadthause teilgenommen hatten. Ich war
natürlich auch dabei. In seiner Antwort auf die Adresse sagte Crémieux:
„Ein Vaterland der Philosophie und der hohen Studien, kennt euer
Deutschland sehr wohl den Wert der Freiheit, und wir sind versichert,
daß es sie aus eigener Kraft und ohne andere fremde Hilfe zu erobern
wissen wird, als diejenige des lebendigen Beispiels, das wir dem Volke
geben.“ Schon in diesen Worten lag die leicht verständliche Andeutung,
daß die junge Republik alles vermeiden wollte, was sie in den Augen
der Monarchen kompromittieren und eine Koalition gegen Frankreich
herbeiführen konnte. An eine solche Koalition war fürs erste nun
freilich nicht zu denken, denn die Monarchen hatten bald im eigenen
Hause genug zu thun. Der Friedensgedanke aber herrschte vor. Im Schoße
der provisorischen Regierung wurde er mit Entschiedenheit von Lamartine
vertreten, und sogar viel weiter nach links stehende Mitglieder
derselben, wie Louis Blanc und der Arbeiter Albert, achteten einzig und
allein auf die Stürme, die im Innern der Republik aus sozialistischen
Kreisen sich ankündigten, infolge der eingetretenen Arbeitslosigkeit
von Woche zu Woche sich drohender näherten, so daß selbst die
Eröffnung der Nationalwerkstätten den gegen die Bourgeois-Republik
gerichteten blutigen Juni-Aufstand nicht verhindern konnte, der den
Untergang der Republik überhaupt nach sich ziehen sollte.

Unter dem allgemeinen Stillstand der Geschäfte, der in Frankreich
eingetreten war und namentlich die arbeitende Bevölkerung von Paris
schwer heimsuchte, litten besonders die deutschen Arbeiter, die
man eher als die einheimischen aus den Werkstätten entließ. Die
Begeisterung, welche die nun einander folgenden Aufstände in Wien
und Berlin sowie im Großherzogtum Baden hervorriefen, führte zu
dem unglückseligen Gedanken, der von Herrn Adalbert von Bornstedt
ausgehend, an Herwegh herantrat, eine deutsche demokratische Legion zu
sammeln und sie zur Unterstützung Heckers nach Baden zu führen. Herwegh
widerstand anfangs dieser Zumutung, doch ging er schließlich auf den
Vorschlag ein, indem er die militärische Führung sachverständigen
Personen, ehemaligen Offizieren überließ und die 850 Mann zählende
Legion nur als politischer Berater begleitete. Vergebens, daß er sich
später auf diese Thatsache berief. Die Unternehmer des Zuges brauchten
einen bekannten und populären Namen und dazu mußte derjenige des mit
dem Lorbeer geschmückten Dichters ihnen dienen. Dieser Zug an der
Spitze der deutschen demokratischen Legion von Paris bis nach dem
badischen Oberland, wo das Gefecht bei Dossenbach dem Abenteuer ein
Ende machte, wurde geradezu verhängnisvoll für Herwegh, denn die durch
Augenzeugen und die gerichtlichen Verhandlungen gründlich widerlegte
Fabel, daß er in einem von seiner mutigen Frau über die Schweizergrenze
geführten Einspänner unter dem Spritzleder sich versteckt gehalten,
wurde geflissentlich von der Reaktion und gedankenlos von der
indifferenten Menge verbreitet, sogar von gelehrten Historikern ohne
Kritik, ohne Quellenangabe in ihren Schriften festgenagelt.

Verhängnisvoll sagte ich, wurde dieser Zug mit der Pariser deutschen
Legion, die über dem Rhein das republikanische Banner entfalten sollte,
für den hochbegabten Dichter. Die über seine Flucht nach der Schweiz
verbreitete Fabel, die zu widerlegen er zu stolz war, versetzte sein
Gemüt in tiefe Verbitterung und drängte ihn mehr und mehr von seiner
Heimat, drängte den Dichter von seinem Urquell ab. Hieraus erklärt
sich seine lange Unproduktivität. Mir war es manchmal -- ich stand
in Zürich in freundlichstem Verhältnis zu ihm und seiner Familie --
als suchte er Vergessen in dem unausgesetzten Studium von Werken
aus den verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten. Das ewige Lesen
und Lesen ließ ihn nicht zur Produktion gelangen, und er hatte doch
in seiner Nähe das schönste Beispiel fortgesetzter Produktivität
an Richard Wagner, den er nicht selten sah. Der langjährige, fast
ausschließliche Verkehr mit Italienern, Franzosen und Russen konnte
auch nicht befruchtend auf den versiegenden Quell poetischer Schöpfung
wirken. Es vergingen Jahre, bis er durch die Übersetzung der
Lustspiele Shakespeares für die vortreffliche Bodenstedt’sche Ausgabe
des britischen Dichters aus seiner nur durch einzelne Zeitgedichte
unterbrochenen Passivität heraustrat. Da aber setzte ein früher Tod
seinem neu erstandenen Schaffen ein nur zu rasches Ende.

Noch einige Worte über Herwegh: Er hielt es für möglich, in Deutschland
die Republik herzustellen. „Ihr habt ein paar gute Tage gehabt in
Berlin,“ schreibt er einem seiner dortigen Freunde, „aber bei allem
Heroismus echt +deutsche+ Tage. Ihr habt zu kämpfen aufgehört in einem
Augenblick, wo ein Ruf „~au château!~“ für euch und Deutschland alles
entschieden hätte; man macht allerdings die Republik, ein Dutzend
Menschen reicht dazu hin, und wenn sie nur eine Viertelstunde von
diesen aufrecht erhalten wird, so wird sie von Millionen für lange
Zeiten aufgenommen. Die Bourgeoisie fügt sich in alles.“

Für Frankreich mochte die Bemerkung richtig sein, daß man die Republik
machen könne. Das ist in der That in der Februar-Revolution geschehen.
Einige geheime Gesellschaften haben die ihnen durch den Doktrinarismus
und die Verkehrtheiten eines Guizot geschaffene Gelegenheit benutzt, um
Louis-Philippe mitsamt seinen Ministern aus Frankreich zu vertreiben.
Wie lange aber hat die zweite Republik gedauert? Wenn die dritte sich
seit dem September 1870 bis heute erhalten hat, so ist dies wesentlich
dem Umstande zuzuschreiben, daß die alten Dynastien in Frankreich
keinen einzigen zugkräftigen Prätendenten mehr stellen konnten. Der
französischen Bourgeoisie und dem Landvolk ist aber auch die Staatsform
sehr gleichgültig geworden, sie haben sich beide in die Republik
jetzt eingelebt, die Bourgeoisie, weil sie in der Republik wie in
der Monarchie ihre Interessenherrschaft zu wahren vermag, der Bauer,
weil er seiner Natur nach sich stets in die gegebenen Verhältnisse
schickt. Sollte die sozialistische Arbeiterpartei, was übrigens
durchaus nicht wahrscheinlich ist, noch einmal einen Massenaufstand
für ihren Idealstaat wagen, so würde sie wieder eine furchtbare
Niederlage erleiden. Das morsche Königtum konnte in Frankreich durch
eine Handvoll entschlossener Männer vernichtet werden, das wird aber
nicht das Schicksal der Bourgeois-Republik sein. Sie wird nicht durch
das Schwert beseitigt werden, es sei denn nach einem unglücklichen
Kriege, sie geht durch die sozialen Reformen, zu denen sie sich nach
und nach herbeilassen muß, einer Umwandlung entgegen, durch welche der
heutige schroffe Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Arbeiterbevölkerung
sich fortschreitend abschwächt, so daß auf dem natürlichen Wege der
Entwicklung eine neue Gesellschaft entsteht, die zwar, soweit Menschen
blicken können, niemals dem Ideal des Sozialphilosophen, jedoch den
jeweiligen Bedürfnissen der Zeit und den vorhandenen Mitteln zur
Befriedigung dieser Bedürfnisse entsprechen wird. Welche Gestalt
diese Gesellschaft erhält, das kann uns heute wenig kümmern, denn es
wäre thöricht, entfernten Geschlechtern ihre Aufgabe heute abnehmen
zu wollen. In Deutschland aber, um zu dem Ausgangspunkt dieser
Betrachtung zurückzukehren, denkt heute, ein halbes Jahrhundert nach
den Umwälzungen des Jahres 1848, keine revolutionäre Partei daran, die
Republik durch einen Handstreich zu „machen“.

Ein anderer großer Irrtum Herweghs und der damaligen demokratischen
Partei geht aus demselben, kurz nach dem verunglückten Feldzug der
Pariser deutschen Legion an einen Berliner Freund geschriebenen Briefe
hervor. Da heißt es: „Ihr bildet Euch doch nicht ein, mit dem König von
Preußen einen Krieg gegen Rußland zu führen!“ Kein politisch denkender
Mensch in Deutschland hat vernünftigerweise nach der Märzrevolution
an einen Krieg mit Rußland gedacht. -- „Ihr bildet Euch doch nicht
ein, ohne Polen, auch das wenige, was Ihr errungen, zu erhalten? Ihr
verratet Polen oder Ihr werdet Republikaner! Frankreich wird nicht
ruhig zusehen, es wird Polen zu Hilfe eilen, aber es wird nicht bis
dahin gelangen, es wird in Deutschland hängen bleiben, in dem alsdann
feindlichen Deutschland, und die alte Geschichte geht wieder los,
Frankreich ist verloren, Ihr seid verloren, Polen ist verloren, und die
Geschichte wird endlich gerecht sein und Euch von den Kosaken fressen
lassen.“

Ist es möglich, mehr falsche Prophezeiungen in einem Zug aneinander zu
häufen, als in diesen wenigen Zeilen ausgesprochen sind? Frankreich
hat während der abgelaufenen letzten fünfzig Jahre keinen Schritt
gethan, um Polen zu befreien, und wir sehen am Ende dieses Jahrhunderts
den Präsidenten der französischen Republik und den Selbstherrscher
aller Reußen sich brüderlich umarmen, wir sehen die Pariser die
glänzendsten Feste zu Ehren der Allianz der demokratischen Republik mit
der absolutesten aller Monarchien veranstalten, weil sie sich mit der
Hoffnung tragen, unter gewissen, eines Tages vielleicht eintretenden
Verhältnissen dem neu erstandenen deutschen Reich die Provinzen Elsaß
und Lothringen wieder abzunehmen, ja vielleicht die alte, von dem
ersten Napoleon erworbene Rheingrenze bis zur Mündung des deutschen
Stromes zu gewinnen.

Ich habe niemals mich aufs Prophezeien eingelassen, ich habe auch
niemals in den Fesseln der Erinnerung an die erste französische
Revolution gelegen, einer Erinnerung, die in jenen Tagen noch viele
Köpfe beherrschte und sie zu dem Glauben verleitete, die Dinge müßten
genau so wiederkehren, wie sie von 1789 bis zum Ende des achtzehnten
Jahrhunderts sich gestaltet haben. Das Kleben an den Ereignissen jener
Zeit, die das Mittelalter bis auf wenige Überreste begraben, Europa
eine neue Gestalt und einen neuen Inhalt gegeben haben, hat, wie ich
nur zu häufig beobachtet habe, viele ihrer Meinung nach am weitesten
vorgeschrittene, von allen Vorurteilen sich frei dünkende Leute dazu
geführt, daß sie stets nach rückwärts blickten, statt nach vorwärts,
daß sie von der angelernten Bewunderung für die Gewaltmenschen der
Schreckenszeit sich nicht frei machen konnten, von denen die meisten
mir stets als recht feige Gesellen erschienen sind, weil sie aus Angst,
für gemäßigt zu gelten und deshalb abgeschlachtet zu werden, den
Nachbar abschlachten ließen. Neue historische Ereignisse beschäftigen
die Gemüter jetzt, man ist im Besitz der großen Errungenschaften der
französischen Revolution, denkt aber nicht mehr daran, die Danton und
Robespierre, die Schurken des ~tribunal révolutionnaire~, die für
ein lumpiges Taggeld jeden Angeschuldigten zum Tode verurteilten, denkt
nicht daran, die Marat, Fouquier-Tinville und Henriot als Lehrmeister
der Weltgeschichte zu betrachten.


[A] Briefe von und an Georg Herwegh. Herausgegeben von Marcel Herwegh.
Paris, Leipzig, München, Albert Langen.

[Illustration]



[Illustration]

XI.

Heimkehr nach Berlin. Die Berliner nach dem 18. März.


Am 13. März 1848 wurde in Wien das Metternich’sche Regiment
zertrümmert. Wie ein Kartenhaus brach es zusammen, umgeblasen von dem
lauten Freiheitsruf der aufgeregten Bevölkerung. Es bedurfte zu aller
Welt Erstaunen keines langen blutigen Kampfes, um die Herrschaft eines
Staatsmannes niederzuwerfen, der in Europa für allmächtig galt, weil
er seinen verderblichen Einfluß auf sämtliche Monarchen ausübte, die
auch nichts anderes wünschten, als seinem Rat, der nicht selten ein
Befehl wurde, mit ganzer Seele nachzukommen. Metternich war ihnen
die Vorsehung des Königtums von Gottes Gnaden. Und doch hatte sich
in Wien, wo er als unbeschränkter Herr waltete -- der Kaiser war ja
geistig unmündig -- als das Volk sich erhob, keine Hand ernstlich
für ihn gerührt. Die Mitglieder des kaiserlichen Hauses haßten ihn,
weil er sie zu seinen Handlangern degradiert hatte, seine Kollegen im
Ministerium und die alten Generäle haßten ihn, weil er ihnen wie jedem
andern gegenüber der alleinige Gebieter war, alle höheren und mittleren
Staatsbeamten lachten sich ins Fäustchen, als sie ihren Herodes
gedemütigt und die Flut der Empörung ihn verschlingen sahen. Das Wiener
Volk stieg auf die Gasse und seinen wildesten Zornesausbrüchen trat
ein so geringer Widerstand entgegen, daß es mit einem Hohngelächter
den Götzen der europäischen Reaktion aus seinem Tempel vertreiben
konnte. Niemand hatte geglaubt, daß Fürst Metternich, die Säule der
reaktionären Gewalten Europas, so schwach fundiert war, daß er am Tage
der großen Prüfung wie ein Strohhalm in sich zusammenknicken mußte.

Die Leichtigkeit des Triumphes sollte später den Siegern verhängnisvoll
werden.

In Berlin wurde am 18. März das Schicksal der absoluten Monarchie
für immer entschieden. Hier saß ein Mann auf dem Throne, der bei
allem Witz, den er in seinem engsten Hofzirkel entfaltete, bei allem
mannigfaltigen Wissen, das er in sich aufgenommen, in allen politischen
Fragen einen beschränkten Gesichtskreis hatte und eine auffällige
Unkenntnis des Geistes seiner Zeit, ihrer treibenden Ideen, sowie
der Menschen und Zustände verriet, mit und in denen er lebte. Man
hat mit gutem Grund ihn den „Romantiker auf dem Thron der Cäsaren“
genannt. Schade, daß ihn das Schicksal nicht zu einem Poeten gemacht,
er wäre der Rival eines Clemens Brentano und Zacharias Werner oder
eines Geschichtsschreibers wie Görres geworden. Er war eben so anormal
angelegt wie sie und deshalb zum König, zum Haupte einer Nation in
einer gärenden Zeit wie die seine durchaus nicht berufen. Er hat eine
klägliche Rolle auf dem Throne der Hohenzollern gespielt.

Als ich einige Tage nach dem 18. März in Berlin eintraf, wurde ich
von dem Bilde, das sich hier meiner Beobachtung darbot, aufs Höchste
überrascht. In Paris hatte ich eine fröhlich erregte Bevölkerung
gesehen, die noch bis tief in den März von der Siegesstimmung nichts
eingebüßt hatte, die am Abend des 24. Februar sie zu den lautesten
Kundgebungen hinriß. In Berlin war schon wenige Tage nach dem 18. März
von dem Revolutionsrausch, der in Wirklichkeit ja ganz Deutschland
ergriffen hatte, kaum noch etwas zu merken. Der Rausch hatte sich
rasch verflüchtigt. Die Leute sahen ernst darein, als fürchteten sie
die Zukunft. Die Selbstdemütigung des Königs, als er auf den Balkon
trat, um der Aufforderung des unten auf dem Platze drohend versammelten
Volkes nachzugeben und vor den von den Barrikaden aufgehobenen Leichen
den Hut zu ziehen, sein Ritt durch die Straßen der Stadt hinter der,
von dem berüchtigten Geheimpolizisten Stieber vor ihm hergetragenen
schwarz-rot-goldenen Fahne, die bekannt gewordene Thatsache, daß
er während des Kampfes zwischen Bürgern und Soldaten in Thränen
zerflossen, daß er während des Volksaufstandes, ein ganz gebrochenes
Gemüt, gewollt und nicht gewollt und sich vollständig unköniglich
benommen, alles das ließ eine gehobene Stimmung nicht aufkommen. Die
Bevölkerung schwankte zwischen Hohn und Mitleid, sie ahnte auch, daß
die Demütigung, welche Friedrich Wilhelm IV. erfahren hatte, sich
bald in Trotz verwandeln und einen um so hartnäckigeren Widerstand
gegen die Volkswünsche hervorrufen werde. Hatte man doch schon nach
den ersten Tagen die alten feudalen und hochkirchlichen Ratgeber in
der Umgebung des nach Potsdam übergesiedelten Monarchen sich wieder
einstellen sehen. Ein Ruf nach der Republik, wie er in einigen
süddeutschen Landschaften vorübergehend erschallt war, hatte sich in
Norddeutschland, speziell in Berlin nicht vernehmen lassen. Man möchte
sagen, das preußische Volk fühlte sich im Innern selbst gedemütigt, daß
ein Nachfolger Friedrichs des Großen so wenig Mark in den Knochen hatte.

An Paris erinnerte mich nur die mit Kreide an den Eingang zum Palais
des Prinzen von Preußen, späteren Kaisers Wilhelm, geschriebenen
Worte „National-Eigentum.“ Wache hielten davor zwei Männer der im Nu
gebildeten Bürgerwehr, welche den Dienst des zurückgezogenen Militärs
versah. Sie trug keine Uniform, doch war sie mit Infanterie-Gewehren
bewaffnet. Die Bürgerwehr nahm ihren Dienst sehr ernst. Zu ihr hatten
sich wesentlich die bürgerlichen, wohl liberal, doch keineswegs
revolutionär gesinnten Elemente der Hauptstadt gemeldet. Der weiter
nach links stehende Handwerkerverein, von dem ich in einem früheren
Kapitel gesprochen, bildete ein besonderes Bataillon. Wenn die Nacht
hereinbrach, marschierten Abteilungen der Bürgerwehr durch die Straßen
in ganzer Breite derselben, um jede Ansammlung von Volksmassen zu
verhindern. Verdächtige, sogenannte „Bassermann’sche Gestalten“ wurden
von den Hütern der öffentlichen Ordnung manchmal nicht eben sanft
beiseite gedrückt. Die Bürgerwehr sorgte für die Ruhe der Stadt, für
Ordnung auf den Straßen und öffentlichen Plätzen.

Mit der gewissermaßen aus der Erde emporgeschossenen Bürgerwehr waren
sogleich nach der vom König ausgesprochenen Verheißung einer Verfassung
das durch dieselbe erst zu verbürgende, von der liberalen Bevölkerung
in Aussicht genommene Recht der freien Presse und das freie Vereins-
und Versammlungsrecht ohne weitere Formalitäten ins Leben getreten.

Um den Censor, den alten Geheimrat John, ein kleines Männchen mit einem
wie aus Holz geschnitzten Köpfchen, das sich bemühte, einen recht
wohlwollend durch die großen Brillengläser anzuschauen, denn er ahnte
wohl schon lange, daß sein Reich bald zu Ende gehen sollte, und er
wollte doch nicht, daß er in der Erinnerung der jungen Generation als
ein Torquemada der Litteratur gelten sollte, um dieses innerlich längst
geknickte Werkzeug der hohen Reaktion kümmerte sich keine Seele mehr.
Bevor er noch auf Befehl der Märzregierung seine traurige Bude schloß,
konnte man an allen Straßenecken der Hauptstadt große Plakate lesen,
unter denen nicht selten auch mein Name sich fand, und durch welche
ohne vorausgegangene hochobrigkeitliche Erlaubnis die Leser auf diesen
oder jenen Mißstand aufmerksam gemacht, vor dieser oder jener sich
vorbereitenden reaktionären Maßregel gewarnt, oder zu dieser oder jener
Versammlung eingeladen wurden.

Die politischen Parteien gruppierten sich schnell in Vereine,
auffallend genug für ein Land, in welchem das freie Vereinsrecht
bis dahin nicht existiert hatte. Neben den alten zwei Zeitungen,
der Vossischen und der Spenerschen, entstanden eine Reihe anderer
Tagesblätter, von welchen einige nach kurzem Dasein verblichen,
andere, wie die „Nationalzeitung“ und die „Kreuzzeitung“, sich bis
heute erhalten haben. Die „Kreuzzeitung“ war sehr bald nach der
Märzrevolution erschienen, so rasch hatte die Hofpartei, die Partei der
Junker und der Hochkirchlichen, sich kampfbereit gesammelt und ihre
Fahne aufgepflanzt. Aber auch eine Arbeiterpartei stand bald auf dem
Plan und ihr Organ „das Volk“, erschien dreimal wöchentlich in Berlin.
Ich allein schrieb das ganze Blatt, von der ersten bis zur letzten
Zeile, ich hatte und ich suchte auch keine Mitarbeiter.

Die Elemente zu einer Arbeiterpartei waren zumeist in den
Genossenschaften vorhanden, die in einem und demselben Gewerbe einer
Kranken-, Invaliden- und Witwenkasse oder einer Unterstützungskasse
für die reisenden „Kollegen“ angehörten. Nach der Märzrevolution
aber fühlte der einzelne sich sofort als das Glied eines großen und
wichtigen Lebenselementes im Staate, und die verwandten Gruppen suchten
und fanden bald einen Zusammenschluß. Jung, voller Thatkraft und voll
Glaubens an die Macht der werbenden Ideen, war ich überall anzutreffen,
wo es galt, eine Bewegung, die nur auf den ersten Anstoß wartete, in
Fluß zu bringen.

Wenn ich eben vom Glauben an die werbenden Ideen sprach, so muß ich
von vornherein hier feststellen, daß ich nun, wo ich in den Strom des
öffentlichen, politischen Lebens -- ich sage nicht, mich stürzte,
sondern geriet, von allen Spekulationen in die Ferne plötzlich mich
befreit fühlte, die Dinge anschaute, wie sie sich dem Auge darboten,
mit den gegebenen Verhältnissen rechnete und vor allen Dingen das
nächste Ziel im Auge behielt, das sich nur erreichen ließ, wenn man
an manches Vorurteil nicht rührte, dies sogar mit in den Kauf nahm,
wollte man irgend etwas leisten. Dieses Ziel -- und darin war ich
ganz Marxianer und ein zuverlässiger Schüler des Meisters -- ging
darauf hin, die auf den Sieg des liberalen Bürgertums gerichteten
Anstrengungen, d. h. dessen Bestrebungen, um seine in Deutschland erst
zu schaffende Herrschaft im Staate nach Kräften zu unterstützen und
dabei zunächst auf eine zu erlangende Organisation des arbeitenden
Volkes als Vorbedingung der aus ihr sich zu gestaltenden Arbeiterpartei
hinzuwirken. Dieses von der Natur der Dinge gegebene Programm
drängte sich meiner Einsicht in die Verhältnisse ganz von selber
auf. Weggewischt waren für mich mit einem Male alle kommunistischen
Gedanken, sie standen mit dem, was die Gegenwart forderte, in gar
keinem Zusammenhang. Man hätte mich ausgelacht oder bemitleidet, hätte
ich mich als Kommunisten gegeben. Der war ich auch nicht mehr. Was
kümmerten mich entfernte Jahrhunderte, wo jede Stunde mir dringende
Aufgaben und Arbeit in Fülle darbot!

Unter den Arbeitern der Stadt Berlin bildeten die Maschinenbauer und
die Buchdrucker gewissermaßen die tonangebenden, um nicht zu sagen
aristokratische Elemente. Buchdrucker war ich ja selber von Hause
aus, wenn ich gleich seit meinem zweiten Aufenthalt in Paris dem
Winkelhaken entsagt und dafür berufsmäßig die Feder geführt hatte.
Schon zu Anfang des Jahres 1848 hatte ich eine Korrespondenz für ein
süddeutsches Blatt übernommen; in Berlin wurde der Journalismus meine
regelmäßige Beschäftigung. Außer meinem eigenen, oben genannten
Blatte, schrieb ich Korrespondenzen aus der Hauptstadt für die von
Marx in Köln gegründete „Neue Rheinische Zeitung“. Den Berliner
Buchdruckern galt ich bei alledem als einer der Ihrigen. Sie waren
es, die zuerst von allen anderen Arbeitern, auf eine Besserung ihrer
Lage bedacht, eine Lohnerhöhung forderten. Ich wohnte ihrer ersten
Versammlung bei, sie wählten mich zum Vorsitzenden und zum Präsidenten
des leitenden Ausschusses. Ihre Forderungen waren durchaus gerecht,
und charakteristisch für jene Zeit ist es, daß es einer politischen
Revolution bedurfte, ehe man überhaupt daran denken konnte, diese
gerechten Forderungen zu erheben. Ohne sie wäre die Polizeigewalt
sofort eingeschritten, die Aufstellung eines durch die Drohung eines
Ausstandes unterstützten Tarifs wäre als staatsgefährlich nicht
gestattet worden. Den Wortführern der Arbeiter hätte man einfach als
Volksverführern den Prozeß gemacht, im mildesten Falle wären sie
ausgewiesen worden.

Der durchschnittliche wöchentliche Verdienst eines Setzers oder
Druckers betrug zu jener Zeit 3½ Thaler oder 13 Fr. 15 Cent. In Paris
betrug er schon seit dem Jahre 1843 mehr als das doppelte: 28 bis 35
Fr. Dabei war die Arbeitszeit in Berlin auf 13 bis 14 Stunden, in
Paris auf 10 Stunden täglich festgesetzt. Dies einzige Faktum genügt
heute jedem, der diese Zeilen liest, um die auf eine kleine Erhöhung
des Tarifs und eine geringe Verminderung der Arbeitszeit gerichteten
Forderungen der damaligen Buchdrucker als gerechtfertigt anzuerkennen.
Ähnlich wie um die Buchdrucker stand es damals um sämtliche Arbeiter.
In Frankreich, von England gar nicht zu reden, standen sich Arbeitgeber
und Arbeitnehmer als freie Kontrahenten gegenüber. In Deutschland,
das in seiner gewerblichen Entwicklung noch weit zurück war und wo
die Großindustrie kaum erst die zartesten Sprossen aufwies, herrschte
vor fünfzig Jahren noch eine Art patriarchalischen Verhältnisses.
Der Arbeitgeber betrachtete sich in der Regel dem Arbeitnehmer
gegenüber als ein Wohlthäter, dem dieser sein Brot verdanke und der
ein himmelschreiendes Unrecht begehe, wenn er sich so weit vergesse,
mit Forderungen hervorzutreten, gewissermaßen die Annahmebedingungen
für das ihm erwiesene Gute zu stellen. Wie in der Politik noch die
letzten Strahlen des unter Friedrich dem Großen und Joseph II.
blühenden Systems des wohlwollenden Despotismus die besseren unter
den deutschen Fürsten verklärten, so herrschte dasselbe System des
patronalen Despotismus in der Führung der Gewerbe. Der Arbeiter selber
betrachtete sein Verhältnis zum Prinzipal gewissermaßen als ein
Unterthanen-Verhältnis.

Der Sturm des Jahres 1848 hatte diese Art Glaubensartikel, denn als
solcher hatte diese Anschauung in den Köpfen beider Parteien Wurzel
gefaßt, mit einem Schlage vernichtet. Als die Buchdruckereibesitzer
sich anfangs auf keine Unterhandlungen einlassen wollten, weil sie
diese so zu sagen als eine Entwürdigung ihrer bisher innegehabten
Stellung ansahen, und es infolge dessen zum Ausstande kam, hatte
ich den klugen Einfall, als Präsident der Buchdrucker dem Herrn
Handelsminister Pieper -- bis dahin war er ein angesehener Breslauer
Kaufmann -- persönlich in seinem Palais in der Wilhelmstraße meine
Aufwartung zu machen, ihm die bevorstehende Niederlegung der Arbeit
in allen Berliner Buchdruckereien anzukündigen und ihn zu versichern,
daß wir seinem guten Rat gern Gehör schenken würden. Herr Pieper,
ein Manchestermann vom reinsten Wasser, der über die alten, an dem
vermeintlich patriarchalischen Verhältnis zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern haftenden Vorstellungen längst hinaus war, empfing
mich mit größter Liebenswürdigkeit, bat mich, auf dem Sofa Platz zu
nehmen, setzte sich in die andere Ecke desselben und gab, nachdem
er mich angehört, sogleich Befehl, Herrn von Decker, den Geheimen
Ober-Hofbuchdrucker -- er hatte auch sein Palais dicht nebenan in der
Wilhelmstraße -- zu bitten, er möchte die Güte haben, einen Augenblick
zu dem Herrn Minister für Handel und Gewerbe zu kommen. Herr von Decker
-- die Familie stammt aus Basel -- erschien nach wenigen Minuten. Er
verbeugte sich vor Sr. Exzellenz viel, viel tiefer und förmlicher, als
ich in solchen Dingen noch wenig bewanderter Jüngling es gethan. Der
Herr Minister nannte meinen Namen und die Ursache meines Besuches. Ich
habe nie einen Menschen so erstarrt, so wie aus allen Wolken gefallen
gesehen. Herr von Decker stammelte ein paar unverständliche Worte. Er
hatte vielleicht von dem Minister einen großartigen Auftrag für die
Geheime Ober-Hofbuchdruckerei erwartet, jedenfalls war er darauf nicht
gefaßt, ein Frage- und Antwortspiel gemeinsam mit einem so jungen Mann,
einem solchen Nichts wie ich, bestehen zu müssen. Es kochte in ihm und
seine Augen nahmen einen finstern Ausdruck an. Die Unterredung hatte
indessen kein ungünstiges Ergebnis. Herr von Decker, was seine Person
betrifft, sagte nicht nein zu den Forderungen der Gehilfen. Innerlich
wütend war er aber doch, als er sich höflichst empfahl. Ein solches
Rencontre! War’s möglich! Waren dies die Folgen des 18. März? Der gute
Mann -- ich möchte ihm durchaus nicht Übles nachreden -- war gewiß ein
höchst achtungswerter und liebenswürdiger Charakter. Er hatte -- und
das beweist auf das Schlagendste, daß er kein echter Basler mehr war
-- mit einer berühmten Opernsängerin sich vermählt. Das hätte sein
republikanischer Ahnherr niemals gethan.

Es kann nicht meine Absicht sein, eine Geschichte der Lohnkämpfe der
Berliner Buchdrucker zu geben. Eine solche existiert übrigens schon,
wenn ich nicht sehr irre. Einige Zeilen mögen genügen, um den von mir
berührten Gegenstand zum Abschluß zu bringen.

Am 28. April wurde die Arbeit allgemein eingestellt, und dies dem
Publikum durch Maueranschlag angekündigt. Schon am nächsten Tage
erhielt ich infolge der Vermittlungsbemühungen des Stadtmagistrats
die Zusicherung, daß die Angelegenheit endgiltig bis zum 1. Juni
geregelt sein sollte. Die Buchdruckereibesitzer gaben das Versprechen,
keinen Gehilfen wegen seiner Teilnahme an der Arbeitseinstellung
zu entlassen, und so kehrten diese am 1. Mai zur Arbeit zurück.
Kaum hatten sie jedoch ihre Offizinen wieder betreten, als ihnen in
mehreren derselben ein Schein zur Unterzeichnung vorgelegt wurde,
durch welchen sie erklären sollten, daß sie ihren in der Übereilung
gethanen Schritt bedauerten und gern zurücknehmen möchten, daß sie
auch, indem sie zu ihrer Pflicht und an ihre Arbeit zurückkehrten, auf
ihr Ehrenwort versprechen, sich eines ähnlichen Auftretens in Zukunft
zu enthalten. Einige der einsichtsvolleren Buchdruckereibesitzer, wie
die Herren Decker und Reimer, hatten es ihrer unwürdig erklärt, eine
solche Zumutung an ihre Gehilfen zu stellen. Bei ihnen und in den
Zeitungsdruckereien wurde weitergearbeitet. Bei denen, welche ihre
Gehilfen nur als reuige Sünder wieder aufnehmen wollten, sollte die
Arbeit sofort wieder eingestellt werden. Von dem zu unterzeichnenden
Zerknirschungsversprechen hatte der Vorstand der Gehilfen schon am
Samstag den 30. April Kenntnis erhalten. Ohne Verzug mußten die
Gehilfen, welche am Montag Morgen sich wieder auf ihren Plätzen
einstellen sollten, eine Warnung erhalten, und auch das Publikum
mußte von dem Vorgefallenen unterrichtet werden. Das Schriftstück
war rasch abgefaßt, doch wo und wie sollte es eben so rasch gedruckt
werden? Es blieb mir nichts übrig, als mit einigen Gehilfen noch an
demselben Abend nach Charlottenburg zu gehen, und eine dort befindliche
kleine Druckerei, in welcher ein zweiter Bruder Bruno Bauers sein
Wochenblättchen herstellen ließ, zu unserem Zweck zu benutzen. Die
eigentliche Besitzerin dieser auf das kärglichste ausgestatteten
typographischen Anstalt, eine Lehrerswitwe, sträubte sich lange
genug, uns ihr kostbares Gut zu so fragwürdiger Benutzung zu öffnen,
schließlich gab sie freundlichem Zureden nach. In der Nacht wurde
dann ein Anschlagzettel zustande gebracht, der in der Geschichte der
Buchdruckerkunst als ein Unikum seine Stelle finden darf. Nicht nur
einzelne Zeilen, sondern einzelne Worte mußten aus verschiedenen
Schriftgattungen zusammensetzt werden, weil das vorhandene Material
zu einem einheitlichen Satz nicht reichte. Das Ding nahm sich sehr
komisch aus, doch es wirkte. Um 5 Uhr morgens hatten sich auf
geschehene Anordnung zehn Gehilfen am Brandenburger Thor eingefunden,
welche die Zettel in Empfang nahmen und an den ihnen angewiesenen
Stellen anklebten. Die Folge davon war, daß wiederum die Arbeit
eingestellt wurde. Der vom Geiste des 18. März erleuchtete Magistrat
sandte jedoch schon tags darauf einen Stadtrat in die angekündigte
Buchdrucker-Versammlung unter den Zelten. Er bat die Gehilfen, an die
Arbeit zurückzukehren, indem er ihnen ankündigte, daß die Prinzipale
den verhängnisvollen Schein zurückgezogen hätten. Der Ausstand war
damit wieder beendigt. Bis zum 1. Juni kam es dann auch zu einer
vorläufigen Verständigung über den Gegenstand des Streites. Eine
mäßige Erhöhung des Tarifs war die Frucht dieser Bewegung, die sich
bald darauf über ganz Deutschland verbreitete und nach einem Jahre
unter dem Druck der eingetretenen politischen Reaktion zum Stillstand
gebracht wurde, um später doch durch die Gründung eines allgemeinen
Gewerk-Vereins in der ursprünglich von mir in Aussicht genommenen
Organisation einen festen Boden zu erlangen. Der aus jenen ersten
Anfängen hervorgegangene deutsche Buchdrucker-Verein hat, soviel mir
bekannt geworden, bisher als solcher seine volle Unabhängigkeit nach
allen Seiten hin gewahrt, ohne in das Recht der freien Bestimmung
seiner einzelnen Mitglieder einzugreifen.

[Illustration]



[Illustration]

XII.

Die Arbeiterpartei. Der Zeughaussturm.


Der eben geschilderte Lohnkampf der Buchdrucker, an dessen Spitze
ich gestanden hatte, bildete übrigens für mich nur eine Episode in
jenem Bewegungsjahr. Wie es gekommen ist, daß ich überall so rasch
ins Vordertreffen, an die exponiertesten Stellen kam, das kann ich
heute nicht mehr sagen. Ich erinnere mich nur, daß ich von vielen
Gewerkschaften ersucht wurde, den Vorsitz in ihren konstituierenden
Versammlungen zu übernehmen, daß ich in vielen freisinnigen
politischen Klubs freiwillig oder auf Verlangen der Anwesenden das
Wort ergriff, sodaß ich wohl eine gewisse Gewandtheit als Redner
besessen haben mochte. Im konstitutionellen Klub, an dessen Spitze
die Herren Crelinger und Wilhelm Jordan standen, erachtete man es in
der Anfangszeit für angemessen, mich mit einigen anderen Personen
meiner sozialpolitischen Richtung zu einer Sitzung einzuladen, zu der
ich mich denn auch einfand und wo ich zu meiner Überraschung vom
Präsidenten mit einer feierlichen Anrede empfangen wurde, die ich, ohne
meinem Standpunkt etwas zu vergeben, geschickt genug beantwortete.
Von derselben Seite wollte man mich auch auf die Liste der Kandidaten
für das Frankfurter Parlament setzen, was ich mit der Begründung
ablehnte, daß ich das vorgeschriebene Alter noch nicht erreicht
hätte. Ich erwähne dies nur, um darauf hinzuweisen, daß man bei aller
Unklarheit, die noch in den Köpfen herrschte, doch schon die Ahnung
von der Macht hatte, welche in der arbeitenden Klasse lag, und sich
deshalb früh bemühte, diese für sich zu gewinnen. Als ich dann wenige
Wochen darauf nach dem Polizeipräsidium geladen wurde, wo man mir in
höflicher Weise die Mitteilung machte, daß ich binnen vierundzwanzig
Stunden die Stadt Berlin zu verlassen hätte, und diese Neuigkeit sich
wie ein Lauffeuer in den Abendversammlungen verbreitete, ergriffen alle
Parteien sofort Partei für mich, Gemäßigte wie Demokraten sandten noch
vor Mitternacht Abordnungen an den Polizeipräsidenten v. Minutoli,
um gegen diese offenkundige Erneuerung der alten Willkürherrschaft,
die man mit dem 18. März begraben zu haben glaubte, einen lebhaften
Protest zu erheben. Herr v. Minutoli that, als wisse er von dieser
Maßregel nicht das geringste. Er erklärte mich sogar für ein sehr
nützliches Mitglied der Berliner Bevölkerung in einer Zeit, wo man
nicht allzuviel Leute besitze, die einen glücklichen Einfluß auf die
beschäftigungslosen Arbeiter auszuüben vermöchten; es verstände sich
ganz von selbst, daß meine Ausweisung sofort rückgängig gemacht werde.
Das Ergebnis der nächtlichen Intervention der Berliner politischen
Klubs beim Polizeipräsidenten wurde mir auch ohne Verzug mitgeteilt.
Ich war keinen Augenblick um den Ausgang dieses polizeilichen
Reaktionsversuches in Sorge gewesen. In der That wurde ich bald mit
meinem Freunde Bisky, der sich wieder in Berlin eingefunden hatte,
nachdem er sich von einer im Barrikadenkampf erhaltenen Wunde in seiner
Pommer’schen Heimat erholt hatte, zu einer vom Minister v. Patow
mit Mitgliedern des Berliner Stadtrats berufenen besonderen Sitzung
eingeladen, in welcher über Aufhebung der nach dem Muster von Paris
eingerichteten sogenannten Nationalwerkstätten beraten wurde. Man
hatte nämlich mehrere tausend Arbeitslose auf Kosten des Staates und
der Stadt in der Nähe von Berlin damit beschäftigt, daß man sie eine
Anzahl Sandhügel abtragen und an anderer Stelle aufschütten ließ, ein
in keiner Weise durch irgend ein Bedürfnis gebotenes Unternehmen, auf
das man eben nur gefallen war, weil man nichts Gescheiteres wußte. Daß
das Ganze nur eine Komödie war, hatten die Arbeiter bald bemerkt. Sie
thaten deshalb so gut wie nichts, schaufelten so wenig wie möglich,
eben nur etwas zu ihrer Belustigung, nahmen jedoch vergnügt den Lohn
für ihre scheinbare Arbeit in Empfang. Es wurde deshalb beschlossen,
da man das Geld der Steuerzahler nicht geradezu vergeuden durfte,
sich nach einer einigermaßen nutzenbringenden Beschäftigung für die
„Rehberger“ umzusehen. Die Änderungen, die hier vorgenommen werden
mußten, waren natürlich ohne Unruhen nicht durchzusetzen.

Bei dieser Gelegenheit ging mir eine Aufklärung über die Lehre auf,
daß nach der Ablösung des dritten Standes der vierte, derjenige
der Arbeiter, zur Herrschaft gelangen solle, und daß damit alle
Klassengegensätze endgiltig aufhören würden. Es zeigte sich nun
aber schon der fünfte Stand hinter dem vierten, derjenige der nicht
gelernten Arbeiter, der bloßen Handlanger oder Tagelöhner, denen
gegenüber die gelernten eine Art Aristokratie bildeten. Erst hinter
diesem fünften Stande kam das Lumpenproletariat als sechster. Und Marx
hatte gemeint, das Lumpenproletariat werde man eben erbarmungslos
ausrotten müssen. Das schien mir leichter gesagt als gethan, es
war auch nicht sein Ernst, wie es denn auch nicht mit der humanen
Weltanschauung in Einklang zu bringen war, die schließlich doch mehr
oder weniger in allen Gesellschaftsklassen herrschte. Die Humanität
war aber schwerlich als eine aus der herrschenden Produktionsform zu
erklärende ideologische Form anzuschauen.

Ob nun die materialistische Weltanschauung, der zufolge die gesamte
Entwicklung der menschlichen Gesellschaft nur von der Magenfrage
abhänge, ob die Meinung, daß alle von dieser Gesellschaft ausgegangenen
geistigen Schöpfungen nur ein Ausfluß materiellen Bedürfnisses der
herrschenden Klasse seien, wirklich auf Wahrheit beruhte? Jene
Behauptung erschien mir jetzt nicht mehr als ganz und gar unanfechtbar.
Doch hinderte die Einsicht, daß hinter der vierten aufstrebenden
Klasse schon eine fünfte stehe, und auch der entstehende Zweifel an
der Richtigkeit der materialistischen Weltanschauung mich nicht,
an der Organisation des vierten Standes mitzuarbeiten, ohne dabei
die Thatsache aus den Augen zu verlieren, daß der Sieg des dritten
Standes, dessen liberales Programm erst dem vierten die Wege bahnen
konnte, allem vorangehen müsse. Deshalb enthielt ich mich möglichst
aller heftigen Ausfälle gegen die Bourgeoisie, als geschlossene Klasse
existierte sie ja in Berlin und in ganz Ostdeutschland noch nicht, wo
die moderne, gewerbliche Entwicklung eine diesen Namen verdienende
Großindustrie noch nicht geschaffen hatte.

Das Wort „Klassengegensätze“ hatte damals, an den wirklichen Zuständen
Deutschlands gemessen, kaum eine Berechtigung. Wenn man wenige Gewerbe,
die der Maschinenbauer, der Buchdrucker und noch einige andere ausnahm,
so gab es wohl Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der Meister aber war in
der Regel nichts anderes als ein ehemaliger Geselle. Es waren zwei
Altersstufen vorhanden, keine zwei Klassen. In den Köpfen herrschten
dabei noch die Vorstellungen von den verschiedenen Standesstufen, die
aus dem Zunftwesen in die Zeit der Gewerbefreiheit sich hinübergerettet
hatten, der Geselle war, wie oben schon gesagt, dem Meister nach dessen
patriarchalischen Anschauungen untergeordnet, doch war ihm der Weg zur
Meisterschaft, solange das Handwerk nicht fabrikmäßig betrieben wurde,
nicht verschlossen. Vorherrschend war in den Städten Deutschlands
im Jahre 1848 -- einige Punkte im Rheinland ausgenommen -- das
Kleinbürgertum, das sich aus Handwerkern und Krämern zusammensetzte,
und den breiten Mittelstand bildete. Dieser kleinbürgerliche
Mittelstand war durchwegs liberal und schloß sich in liberaler
Gesinnung den sogenannten Honoratioren, Kaufleuten und Beamten an,
deren Bildung sich mit einer längeren Herrschaft des Absolutismus
nicht vertrug und deshalb mit dem eigentlichen Volk des Mittelstandes
die Umwälzung des 18. März als eine Erlösung aufnahm. Deutschland
wäre noch eine kurze Zeit im Stande der vertrauensseligen politischen
Unschuld geblieben, in welchem es sich vor dem 18. März und auch in den
nächsten Tagen befand, wenn nicht die „kleine, aber mächtige Partei“
der Junker sofort mit entschiedenem Klassenbewußtsein aufgetreten wäre
und rücksichtslos die Reaktion in Szene gesetzt hätte. Der feudale
Adel sah seine Interessen bedroht und er wartete keinen Tag, um sich
zu einer festen Phalanx zusammenzuschließen. Die absolute Monarchie
gab er als unhaltbar auf, in der konstitutionellen Monarchie aber, die
nicht mehr zu umgehen war, wollte er seinen maßgebenden privilegierten
Platz behaupten. Das ist ihm, genau genommen, bis zur heutigen Stunde
gelungen.

Die Stadt Berlin hatte nach dem 18. März nur noch +einen+ großen
Tag, denjenigen, an welchem die gesamte Bevölkerung sich zu einer
Huldigung für die Opfer des Freiheitskampfes einmütig zusammenfand.
Es war am 4. Juni. Endlos war der Zug, der auf dem Gendarmenmarkt und
den benachbarten Straßen sich ordnete, um nach dem Friedrichshain
zum Grabe der Kämpfer des 18. März zu ziehen. In warmen Worten wurde
denen, welchen das Morgenrot einer neuen Zeit in das brechende Auge
geleuchtet, der Dank des Vaterlandes dargebracht. Mit mehreren andern
war ich an jenem denkwürdigen Tage zum Sprecher bei dem feierlichen
Akt bestimmt worden. Für den Studentenverein sprach Gaudenz von Salis,
ein Enkel des Dichters, mit hinreißender Glut. Ich habe ihn in der
Schweiz einige Jahre darauf wiedergesehen. Die Flügel schienen ihm
beschnitten. Er ist früh gestorben. Es haben manche von uns nach den
schönen Tagen heißen Kampfes sich in die darauf folgenden Jahre stillen
Furchenziehens im Gleichmaß des Alltagslebens nur schwer gefunden.

Daß die von der junkerlichen Partei organisierte Reaktion früh in
Thätigkeit trat und ihr jedes Mittel, das zum Ziele führte, recht
war, davon gab der Sturm auf das Zeughaus, der zu einer Zeit sich
vollzog, wo auch nicht das geringste Anzeichen das Herannahen
eines revolutionären Ereignisses ankündigte, den vollen Beweis. Bei
eintretender Nacht verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, daß
einige hundert Leute aus der untersten Schicht der Bevölkerung in das
Zeughaus eingebrochen seien und dasselbe plünderten. Der Kommandant
der Bürgerwehr, Herr Rimpler, ließ den Generalmarsch schlagen, rasch
waren die Bataillone zusammen getrommelt, ich schloß mich dem des
Handwerkervereins an, das ohne Verzug zum Zeughaus marschierte und
vor dessen Thor in der Gießhausgasse und auf einem Platz in der Nähe
des Gießhauses aufgestellt wurde. Aus dem Thore des Zeughauses und
aus dessen niederen Fenstern flohen die Plünderer mit Waffen bepackt,
die ihnen von unserer Seite abgenommen und aufgeschichtet wurden. Es
waren darunter auch neuerfundene Zündnadelgewehre, die damals noch als
Staatsgeheimnis betrachtet wurden. An der Stelle, wo unser Bataillon
Wache hielt, konnte keines dieser Gewehre fortgeschleppt werden.
Unsere Wirksamkeit beschränkte sich darauf, dem Gesindel seinen Raub
abzunehmen. War das geschehen, so ließen wir die Burschen laufen. Sie
gefangen zu nehmen, hielten wir nicht für unsere Aufgabe, sondern
für diejenige der Polizei, die ja im Hintergrunde des Schauplatzes
zahlreich genug vertreten war. Sie mochte unter den scheu Abziehenden
manches Individuum erkennen, das schon durch ihre Hände gegangen war.
Als das Bataillon spät in der Nacht entlassen wurde und ich auf dem
Heimweg alles, was ich bei diesem Zeughaussturm beobachtet hatte, einer
Prüfung unterzog, konnte ich mich des Verdachtes nicht erwehren, daß
ich hier einem von der Reaktion ausgeheckten und in Szene gesetzten
politischen Schachzug beigewohnt hatte. Daß die Leute, welche die
Thore des Zeughauses mit Balken eingerammt hatten, oder durch die
eingeschlagenen Fenster eingestiegen waren, und darauf mit Beute
beladen abzogen, hier nicht aus freiheitlicher Begeisterung gehandelt
hatten, etwa in der Absicht, die Revolution, die zu versumpfen drohte,
zu Ende zu führen, davon überzeugte man sich auf den ersten Blick.
Wer allein konnte aus diesem fatalen Ereignis Nutzen ziehen? Die von
allen Seiten sich ankündende Reaktion. In der That erhob sich am
nächsten Tage der Vertreter des Kriegsministeriums zu einer nicht ohne
Eindruck bleibenden Rede, in welcher er auf die aus den Märzereignissen
hervorgegangene Zügellosigkeit der Massen hinwies, die am Staatsgut
sich vergriffen hätten, und sogar die Geheimnisse des Staates dem
Auslande zugänglich machten. Er wies auf die Notwendigkeit der Rückkehr
zu strengeren Regierungsmaßregeln hin.

Daß der Zeughaussturm von der Regierung zu ihren Zwecken ausgebeutet
werden würde, war ja vorauszusehen. Fern lag mir jedoch der Gedanke,
daß das Ministerium selber von den Machinationen etwas wußte, die eine
Gruppe entschlossener Reaktionäre auf eigene Faust gesponnen hatte.
Den Verdacht, daß man es hier mit einem bestellten und bezahlten
politischen Streich zu thun gehabt, konnte ich nicht mehr unterdrücken,
und so sprach ich ihn auch in meinem Blatte, „Das Volk“, ungescheut aus.

Einige meiner ältesten Freunde, wie z. B. Ehrenreich Eichholz, der
später die Redaktion der Weserzeitung übernahm, machten mir bittere
Vorwürfe über meinen, die politischen Gegner einer so unerhörten
Handlung bezichtigenden Artikel; das betrübte mich, aber ich hatte doch
richtig beobachtet. Denn als ich einige Jahre später in Zürich lebte,
und dort mit dem Historiker, Professor Adolph Schmidt, der alsdann von
Zürich nach Jena berufen wurde, in Freundschaft verbunden war, kam
eines Tages zufällig die Rede auf den Zeughaussturm. Ich erzählte ihm,
daß ich wegen meiner Beurteilung dieses Zwischenfalls manche brave
Seele verletzt hatte. „Lassen Sie es gut sein,“ erwiderte Professor
Schmidt, „Sie hatten vollkommen recht. Der Bürgerwehrkommandant
Rimpler, der nach jenem Zeughaussturm seine Entlassung nahm, hat mir
die Dokumente über diesen Fall zu späterer, eventueller Benutzung
übergeben, sie sind noch in meinem Verwahrsam. Der Zeughaussturm war
ein von der Reaktion eingefädeltes Manöver. Die den Beweis hierfür
abgebenden Dokumente sollen der Öffentlichkeit nicht vorenthalten
bleiben.“

[Illustration]



[Illustration]

XIII.

Praktische Sozialpolitik.


Die Organisation der Arbeiter zu einer starken, geschlossenen Partei,
so verstand ich meine Aufgabe, mußte der Organisation der Arbeit,
zu welcher auch der vageste Plan nicht vorhanden war und auch nicht
vorhanden sein konnte, vorausgehen. Zu jener Organisation habe
ich durch Berufung des ersten deutschen Arbeiterkongresses nach
Berlin den Grundstein gelegt. Diesem Kongreß ging die Bildung eines
Centralkomitees voraus, in welchem ich zum Vorsitzenden ernannt wurde
und das dazu bestimmt war, den Mittelpunkt einer über ganz Deutschland
sich ausbreitenden Arbeiter-Verbindung zu bilden. In dem Statut hieß
es: „Wir nehmen unsere Angelegenheiten selbst in die Hand, und niemand
soll sie uns wieder entreißen.“ Organ des Centralkomitees war die von
mir gegründete, weiter oben genannte sozialpolitische Zeitschrift:
„Das Volk“, die dreimal wöchentlich seit dem 1. Juni erschien. Meine
Einsicht in die wirkliche Lage und die Mittel, welche dem Sieger über
das absolutistische Regiment nach dessen Beseitigung zu Gebote standen,
hinderte mich, Politik ins Blaue hinein zu treiben, wie soviele andere
es thaten. Der Vorschlag des jungen Schlöffel, auf revolutionärem Wege
eine Änderung des oktroyierten Wahlgesetzes zu erringen, wurde von
mir bekämpft, weil ich eingesehen hatte, daß die Reaktion, die ihre
Streitmittel mit überraschender Schnelligkeit gesammelt hatte, nur auf
den Versuch einer neuen Erhebung wartete, um sie mit den in der Nähe
von Berlin zusammengezogenen militärischen Kräften niederzuschlagen und
das für die Freiheit Errungene wieder zu vernichten. Der Schlöffel’sche
Plan kam infolge der Opposition, die er von mir und meinen Freunden
erfuhr, nicht zur Ausführung. Zur Kennzeichnung meiner Auffassung der
damaligen Lage mögen übrigens einige Zeilen aus dem Programm meiner
Zeitschrift dienen. „Das Volk“, so erklärte ich in seiner ersten
Nummer, habe den Zweck, einerseits das Bürgertum zu unterstützen im
Widerstand gegen die Aristokratie, im Kampfe gegen die noch aufrecht
gebliebenen Institutionen des Mittelalters, gegen die Mächte von Gottes
Gnaden, andererseits dem kleinen Gewerbetreibenden wie dem Arbeiter
beizustehen gegen die Macht des Kapitals und immer voran zu schreiten,
wo es gelte, dem Volke ein irgend noch vorenthaltenes politisches Recht
zu erkämpfen, damit es die Mittel erhalte, sich die soziale Freiheit,
die unabhängige Existenz um so schneller zu erringen.

Der Stubengelehrte wird immer leicht zum Doktrinär und als solcher
sieht er nur einen einzigen Weg, der zu dem vermeintlichen Ziele
führt. Die Sorge um ein letztes ideales Ziel überließ ich kommenden
Jahrhunderten; mein Ziel ging nicht über das zunächst zu Erringende
hinaus, nämlich, ich habe es oben angegeben, aus der formlosen,
ungefügen Masse nach Überwindung der zunächst sich entgegenstellenden
Schwierigkeiten eine geordnete Armee zu bilden, welche einem aller
Welt verständlichen und ausführbaren Programm gehorchte. Engels hat
gegen mich den Vorwurf erhoben, „in den Veröffentlichungen der von mir
begründeten Organisation seien die Auffassungen des kommunistischen
Manifestes mit Zunfterinnerungen und Zunftwünschen, Abfällen von
Louis Blanc und Proudhon, Schutzzöllnerei u. s. w. durcheinander
geworfen.“ Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Ich konnte es
nicht verhindern, daß sich in der allerersten Zeit auch solche
Stimmen in unseren Versammlungen vernehmen ließen, die, nach dem
Beispiel der Kleinmeister, die Gewerbefreiheit und die Handelsfreiheit
als die Quelle alles Unheils betrachteten und ihre sehnsüchtigen
Blicke nach dem wirtschaftlich überwundenen Zunftwesen zurückwandten.
Giebt es ja heute, nach einem halben Jahrhundert, noch eine Partei,
die dasselbe anstrebt. Weder im „Volk“ noch in der „Verbrüderung“,
die ich herausgab, und über deren Inhalt ich allein zu bestimmen
hatte, findet sich jedoch eine Zeile mit wirtschaftlich reaktionärer
Tendenz. Engels, der es mir nicht verzeihen konnte, daß ich arbeitete,
ohne vorher bei ihm, dem päpstlichen Staatssekretär in Köln,
Verhaltungsbefehle einzuholen, hat mich zu jener Zeit ruhig gewähren
lassen, nicht mit einem Wink mir ein Zeichen seines Mißfallens kund
gegeben. Erst viele Jahre später, als die persönlichen Verbindungen
aufgehört hatten, rückte er mit dem weiteren Vorwurf heraus, „ich
habe es mit meiner Verwandlung in eine politische Größe etwas zu
eilig gehabt und mich mit den verschiedenartigsten Krethi und Plethi
verbündet, um nur einen Haufen zusammen zu bekommen.“ Ich sehe aus
diesen Worten, daß er mich trotz langen persönlichen Verkehrs sehr
schlecht gekannt hat. Ich hatte damals, mit dreiundzwanzig Jahren,
auch nicht entfernt die Absicht, mich „in eine politische Größe“ zu
verwandeln. Was ich that, geschah auf den Impuls meines jugendlichen
Idealismus hin, der mich freilich nicht hinderte, die Dinge und die
Menschen zu sehen, wie sie in Wirklichkeit waren, sodaß ich meinen
Mitarbeitern nichts zumutete, was sie nicht zu leisten vermochten.
Mit ehrenwerter Unparteilichkeit nimmt Franz Mehring in seiner
„Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ mich gegen die Engels’schen
Beschuldigungen in Schutz. „Wollte Born,“ sagt er, „die Arbeiter als
Klasse organisieren, so mußte er mit dem Gedankenkreise rechnen, in dem
sie sich vorläufig erst bewegen konnten, und er hat es wenigstens nicht
an Eifer fehlen lassen, sie über ihren Horizont hinauszuführen ...
Entschieden trat Born aller Zünftelei entgegen; er sagte, es sei keinem
Staat, der einmal die Großindustrie eingeführt habe, mehr möglich, zu
einer schon niedergegangenen Produktionsweise zurückzukehren, ohne
sich zu ruinieren oder eine ganz untergeordnete Stellung in der Reihe
der europäischen Staaten einzunehmen.“ Daß der Gedanke Louis Blancs,
durch die Gründung von Produktiv-Genossenschaften und staatliche
Unterstützung derselben einer neuen Produktionsform vorzuarbeiten,
als das Nächstliegende bei vielen Leuten und auch bei uns Anklang
fand, kann niemand auffallen. Dieser Gedanke drängte sich zunächst
allen auf, die sich mit sozialen Fragen beschäftigten. Er wurde von
der „Verbrüderung“ nicht bekämpft, es geschah von meiner Seite sogar
vieles, um die Gründung solcher Genossenschaften zu empfehlen. Und
schließlich hat Lassalle diesen Gedanken wieder mit Eifer aufgenommen.
Er hat freilich deshalb auch von Marx’scher Seite harte Angriffe
erfahren müssen.

Dies, was Louis Blanc betrifft.

Wie ich damals über Proudhon dachte, davon möge ein Artikel Zeugnis
ablegen, den ich bei dem Scheitern der von ihm gegründeten Volksbank
veröffentlichte. „Wir haben diesem Unternehmen“, sagte ich, „durchaus
keinen Beifall zugeklatscht, und wenn sein Untergang uns auch betrübt,
so überrascht er uns doch nicht, denn wir haben diesen Ausgang fast
mit Sicherheit erwartet, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil eine
Idee, sie mag noch so groß und wahr sein, niemals da ohne weiteres zur
Ausführung gebracht werden kann, wo die Elemente zur Ausführung nicht
in hinreichendem Maße vorhanden sind. Wir haben immer die Organisation
der Arbeiter über die Organisation der Arbeit gestellt, immer die
politische Emanzipation der arbeitenden Klasse vorausgesetzt, ehe wir
eine größere, in alle Gesellschaftskreise greifende Ausführung sozialer
Ideen für möglich hielten... In die Zwangsjacke eines Systems läßt
sich die menschliche Gesellschaft, dieser stets lebendige, stets sich
erneuernde, schöpferische Organismus ebensowenig hineinzwängen, wie man
einer um sich greifenden Verarmung mit Volksbanken entgegenwirken kann,
die ihre Fonds aus den Taschen der Armen nehmen müssen. Wir fragen,
welche Zukunft, welche Lebensfähigkeit hatte die Volksbank, wenn sie
zu Grunde gehen mußte -- wegen eines Prozesses des Herrn Proudhon? Mit
der Volksbank wollte Proudhon die neue Welt aufbauen, in der Volksbank
ruhte seine Lösung der sozialen Frage, und wegen sechs Monate Gefängnis
und einiger tausend Franken Strafe, wozu Bürger Proudhon verurteilt
wurde, ist die Welt wieder um ihren Heiland und ihren Erlöser
geprellt. Wir können ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken, denken
wir an die kleinen Eitelkeiten, die der großen Volksbewegung die Wege
lichten wollten, ihr als die Josuas der Neuzeit im Prophetengewande
voranziehen, nicht aber, um selbst mit dreinzuschlagen, das zackige
Schwert zu führen, nein -- um sich bewundern zu lassen. Da kommt Herr
Considérant, ein Prophet zweiten Ranges, und will Herrn Proudhon die
Erfindung der Volksbank streitig machen. Wie erbärmlich dieser kleine
Krieg zwischen zwei Persönlichkeiten zu einer Zeit, wo die ganze Welt
mit Entwürfen schwanger ist, die Erde bebt von den Tritten zweier
großen Heeresmassen, die mit rasender Kampflust einander näher rücken
und sich bald das Weiße der Augen zeigen werden, zu einer Zeit, wo
eine in Ungarn von Dembinski oder Bem gewonnene Schlacht mehr wert ist
als sämtliche gedruckten und ungedruckten Werke der Bürger Proudhon
und Considérant zusammen, in einer Zeit, in welcher die größten
Berühmtheiten sich an einem einzigen Tage abnützen.“

Das hier Mitgeteilte ist charakteristisch für meine damalige Denk-
und Ausdrucksweise, und ich weiß es Herrn Franz Mehring Dank, daß
er es in seinem Geschichtswerk angeführt hat. Der Satz „in die
Zwangsjacke eines Systems läßt sich die menschliche Gesellschaft nicht
hineinzwängen,“ beweist zugleich, welchen Eindruck das im Sommer 1848
erschienene „Kommunistische Manifest“ auf mich hat machen müssen.
Das Manifest war freilich schon kurz vor der Februarrevolution als
„ausführlich theoretisches und praktisches Parteiprogramm“ des
Bundes der Kommunisten abgefaßt. War es nun praktisch, in jenen
ersten Tagen der sozialen Bewegung von einem Ziel zu sprechen, das
heute, nach fünfzig Jahren, noch niemandem in einem nur einigermaßen
bestimmten Bilde sich darstellt? Ist überhaupt die Ersetzung des
Privateigentums durch ein Gesamteigentum, oder wie man später sich
ausdrückte, durch die „Verstaatlichung aller Arbeitsmittel“ die
Lösung, die als unbestreitbares Ergebnis der Kritik der bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse sich uns aufdrängt? Und angenommen,
die wissenschaftliche Betrachtung der Entwicklung des wirtschaftlichen
Lebens der Menschheit hätte zu diesem nicht mehr abzuweisenden
Ergebnis geführt, so konnte es sich dabei ja doch nur um ein aus
dem Nebel weit entfernter Zukunft sich ankündigendes Resultat
geschichts-philosophischer Forschung handeln, aber nicht um etwas,
was mit den Bedürfnissen der Gegenwart irgend welchen Zusammenhang
hatte. Engels hat in seinem Buch „die Entwicklung des Sozialismus von
der Utopie zur Wissenschaft“ den Kommunismus, weil er ihn aus der
Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung der Menschheit als den
Endpunkt der heutigen Bewegung zu erkennen glaubte, noch zu erleben
gehofft. Er steckte als Beurteiler der Welt, in der er lebte, in
großer Unklarheit. Von seinen wiederholten Prophezeiungen über den
bevorstehenden Zusammenbruch dieser schnöden Welt ist auch keine in
Erfüllung gegangen, wenngleich er den Termin für diesen Zusammenbruch
von Zeit zu Zeit etwas hinausrückte. Was mich betrifft, so beschränkte
sich im Lauf der Jahre mein Blick in die Zukunft auf die Erkenntnis,
daß ohne Zweifel der bisherige Eigentumsbegriff wie in allen
vergangenen Zeiten eine fortschreitende Wandlung in dem Sinne erfahren
werde, daß durch den Willen des Volkes gewisse, nicht mehr aufrecht zu
erhaltende, auf dem Kollektivbesitz von Aktiengesellschaften beruhende
Unternehmungen, wenn die Notwendigkeit es dringend zum Besten der
Gesamtheit erfordert, in den Besitz der Gesamtheit, d. h. des Staates,
übergehen werden. Dieser Prozeß hat längst begonnen, in monarchischen,
wie in republikanischen Staaten, und wie die Straßen und Brücken, die
Posten und Telegraphen, die Schulen, die Museen und Bibliotheken, die
städtische Beleuchtung, Parks und Erholungsanstalten, die Spitäler
und mannigfaltigen Einrichtungen zum Besten des Gemeinwohls sich
mehr und mehr im Geist unserer Zeit ausdehnen und vervollkommnen und
immer neue Zweige der verschiedensten Einzelunternehmungen sich
in Unternehmungen der Gemeinden oder Staaten umwandeln, wie man in
der Schweiz Gemeindekäsereien und in Dorfgemeinden aller Länder
gemeinsame Bäckereien besitzt, so werden sicher sehr viele andere der
gemeinsamen Ausbeutung zugängliche Unternehmungen nach und nach in
die Leitung einer größeren oder geringeren Gemeinsamkeit übergehen.
Der Kampf aller gegen alle, wie er aus dem manchesterlichen Dogma
des „freien Spiels der wirtschaftlichen Kräfte“ sich entwickelt hat,
wird nicht ewig dauern, werden ihm ja doch schon von Jahr zu Jahr,
sogar in der Bourgeois-Gesetzgebung Schranken gesetzt. Daß daraus
aber in noch so entfernter Zeit sich die Aufhebung des bürgerlichen
oder Privateigentums -- beide, sich nicht ganz deckende Ausdrücke
wechseln im „kommunistischen Manifest“ ab, -- ergeben müsse, ist im
höchsten Grade unwahrscheinlich. Dieser Überzeugung sind, wie aus
so vielen ihrer Kundgebungen hervorgeht, auch die meisten Führer
der sozialdemokratischen Partei. Sie gehen deshalb mit Recht auf
die Aufforderung nicht ein, doch mit einem klaren Bilde von ihrem
Zukunftsstaat ihre Anhänger wie ihre Gegner zu erfreuen. Zur Zeichnung
eines solchen Bildes, wenn sie dazu nicht die phantastischen Farben
eines Romanschreibers wählen wollen, fehlt es an jeglichem positiven
Material. Die sozialdemokratischen Führer haben sich auch nach manchen
Schwankungen über die Frage, ob sie an der Reformarbeit sich beteiligen
sollen, die auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung
möglich ist, schließlich zur Beteiligung an derselben entschlossen. So
werden sie schrittweise aus Sozialrevolutionären zu Sozialreformern.

In einem Lande wie die Schweiz, wo nahezu die letzten Konsequenzen
demokratischen Staatslebens gezogen worden sind, wo zum allgemeinen,
geheimen Stimmrecht die Wahl der Regierenden und der Richter durch
das Volk gekommen ist, die Volksabstimmung über neue Gesetze und
die Volksinitiative in der Gesetzgebung Regel geworden, fällt
es der sozialdemokratischen Partei gar nicht ein, sich als eine
revolutionäre Partei auszuspielen. Hier regiert das mehr oder weniger
gut informierte, durch den Stimmzettel seinen Willen kundgebende Volk.
Vor einigen Jahren erklärte ich in einem in Basel gehaltenen Vortrag
über die soziale Bewegung, daß, wenn jemals die Gefahr eintreten
sollte, daß die Weissagung von der allgemeinen Verelendung d. h. von
der schließlichen Aufsaugung des gesamten Besitztums der mittleren
Volksschichten durch Millionen besitzende Kapitalisten sich zu erfüllen
drohte, so daß es im Lande schließlich nur Krösusse und Bettler gäbe,
wir zuverlässig die Mittel finden würden, solcher Kalamität durch
unsere Gesetzgebung vorzubeugen. Ich fühlte, als ich diesen Satz
aussprach, daß die Versammlung mit mir in vollstem Einverständnis
sich befand. Der letzten Konsequenz der Lehre vom „freien Spiel der
wirtschaftlichen Kräfte“ würde jedes Volk, auch wenn es nicht im Besitz
des Referendums und der Initiative ist, durch gesetzliche Maßregeln
vorzubeugen wissen. In den nordamerikanischen Freistaaten, wo die
ganze Bevölkerung fieberhaft dem Gotte Dollar nachjagt, und wo es der
Association der Geldmächte, den das ganze wirtschaftliche Leben der
Nation umklammernden Ringen des Großkapitals gelungen ist, den Staat
und die ihrer Ausbeutung überlieferten arbeitenden Klassen ihren
Zwecken dienstbar zu machen, kann und wird diesen Ringen durch die
Reform der Gesetzgebung das Handwerk gelegt werden. Wer aber möchte
behaupten, daß der trockne, alle Ideologie verachtende Amerikaner
deshalb bis zur Aufhebung des Privateigentums vorgehen werde?

Jedem unbefangenen Beobachter drängt sich die Wahrnehmung auf, daß
seit dem jetzt verflossenen halben Jahrhundert ein neuer Geist die
Herrschaft über die Bevölkerung aller europäischen Staaten gewonnen
hat. Der „um seine Emanzipation kämpfende vierte Stand,“ wie der
Exminister Herr von Berlepsch sich kürzlich ausdrückte, ist zu einer
Macht geworden, die von Jahr zu Jahr an Stärke zunimmt, damit aber
an revolutionärem Charakter verlieren muß. Revolutionär sind nur
diejenigen, die noch um die ersten elementaren Rechte des Staatsbürgers
kämpfen müssen. Revolutionär waren die mit dem allgemeinen Stimmrecht
noch nicht ausgestatteten Barrikadenkämpfer des 24. Februar, des 13.
und 18. März 1848, revolutionär die Arbeiter, welche gemeinsam mit
der Bourgeoisie für die Einheit Deutschlands kämpften. Mit jedem
Stück, das erreicht worden, mußte sich der revolutionäre Charakter der
Bewegung abschwächen. Reden in dem Ton, wie sie einst Hasenclever und
andere vor einigen Jahrzehnten noch gehalten, sind für Deutschland
heute vollständig veraltet. Diejenigen politischen Rechte, die dem
„vierten Stand“ noch vorenthalten sind, wird er auf friedlichem Wege
und in nicht allzu langer Zeit besitzen; darüber erhitzt sich niemand
mehr. Auf dem politischen Gebiet ist ein großes Terrain gewonnen
worden. Nicht den geringsten Fortschritt hingegen in der Eroberung
der Geister haben die kommunistischen Ideen gemacht, wie sie das von
Marx und Engels unterzeichnete Manifest vom Ende des Jahres 1847
entwickelt. Verfolgt man übrigens die Vorreden zu diesem Manifest,
(die erste ist vom Jahre 1872, die letzte vom Jahre 1890) so erkennt
man darin auch, daß die Verfasser dieses historisch hochinteressanten
und wichtigen Aktenstückes, zuletzt der Marx überlebende Engels, an
dem ursprünglich gewählten Ausdruck „kommunistisch“ selbst nicht
mehr absolut festhalten. In jener Vorrede des Jahres 1890 heißt es:
„Derjenige Teil der Arbeiter, der von der Unzulänglichkeit bloßer
politischer Umwälzungen überzeugt, eine gründliche Umgestaltung der
Gesellschaft forderte, nannte sich damals (1847) +kommunistisch+.
Es war ein nur im Rauhen gearbeiteter, nur instinktiver, manchmal etwas
roher Kommunismus, aber er war mächtig genug, um zwei Systeme des
utopistischen Kommunismus zu erzeugen, in Frankreich den „ikarischen
Cabets“, in Deutschland den von Weitling. Sozialismus bedeutete
1847 eine Bourgeois-Bewegung, Kommunismus eine Arbeiter-Bewegung:
Der Sozialismus war, auf dem Kontinent wenigstens, salonfähig, der
Kommunismus war das gerade Gegenteil. Und da wir schon damals sehr
entschieden der Ansicht waren, daß „die Emanzipation der Arbeiter
das Werk der Arbeiterklasse selbst sein muß,“ so konnten wir keinen
Augenblick im Zweifel sein, welchen der beiden Namen zu wählen. Auch
seitdem ist es uns nie eingefallen, ihn zurückzuweisen.“

So schrieb Engels am 1. Mai 1890. „Kommunistisch“ nannte er also das
von ihm und Marx 1847 verfaßte Manifest, weil der Sozialismus angeblich
damals schon salonfähig in der Bourgeoisie war. Wir können die eben
zitierten Worte nicht ohne weiteres hingehen lassen. Der „utopische
Kommunismus“ war weder in Frankreich noch in Deutschland vor 1848
so verbreitet, daß er dort die Aufstände von 1834 in Lyon und die
Februarrevolution von 1848 in Paris, in Berlin den Aufstand vom 18.
März 1848 hätte hervorrufen können. Die kleine Sekte der Cabetisten
kam gar nicht in Betracht in einem Lande, wo der Arbeiter seit der
großen französischen Revolution, gewissermaßen von der Tradition
geleitet, um seine politische Gleichberechtigung und um eine Erhöhung
seines gesamten Lebensstandes in den Kampf ging; von Weitling war
kaum der Name in die Arbeiterkreise Deutschlands gedrungen. Als er
1848 in Berlin erschien und dort eine Rolle zu spielen versuchte,
wurde er kaum beachtet. Nicht die Urheber kommunistischer Systeme,
die mit ihren Ideen über einen kleinen Kreis von ein paar hundert
Menschen nicht hinausgedrungen waren, haben 1848 die Arbeiter-Bewegung
gemacht, sondern, wie es in der eben zitierten Vorrede verlangt wurde,
so geschah es in Wirklichkeit: Die Emanzipation der Arbeiter, ohne
Anerkennung, ja ohne Kenntnis irgend eines in festen Formen vorhandenen
sozialistischen Systems, war das Werk der Arbeiter selbst, sie wird
auch ihr Werk bleiben. Die Anschauung stimmt ja auch zu der im Manifest
dargelegten historischen Entwickelung des Klassenkampfes.

Es ist meiner bescheidenen Ansicht nach ein großer Widerspruch
in der Marx’schen Theorie, daß diese auf dem im vorigen
Jahrhundert zuerst aufgetretenen, heutzutage in das Bewußtsein
aller Mitlebenden übergegangenen Entwicklungsgedanken beruht und
dennoch dem geschichtlichen Werdegang nicht die Gestaltung der
Zukunft anheimstellt, sondern schon vor fünfzig Jahren von einer
unausbleiblichen kommunistischen Gesellschaft spricht, in welcher,
weil dann die Klasse der Lohnarbeiter zur Herrschaft gelangt wäre,
aller Klassenkampf überhaupt aufhören würde. Dieser Gedanke, er
mag von nationalökonomischem Gesichtspunkte aus noch so geistreich
begründet worden sein, lebt heute ebensowenig wie vor fünfzig Jahren im
Bewußtsein des Volkes. Der Glaube, den Entwicklungsgang der Menschheit,
als unterliege er wie der Gang der Gestirne unfehlbaren mathematischen
Gesetzen, in mehr als allgemeinen Linien vorausbestimmen zu können,
ist sicher ein Irrtum. Wo man es mit dem Menschen zu thun hat, da
ist man niemals im Besitz aller Faktoren, die in Rechnung gezogen
werden müßten, wollte man ein genaues Ergebnis aus der Betrachtung
seiner individuellen und seiner nationalen Rolle im Haushalt der Natur
ziehen. Gewisse, das Gesamtergebnis beeinflussende Faktoren wird man
immer übersehen oder man wird als konstantes Element das angesehen
haben, was nur eine vorübergehende Erscheinung war. Wie bestechend
auch die Marx’sche Weltbetrachtung sein mag, die alles was ist, aus
wirtschaftlichen Ursachen erklärt, so ist sie sicher nicht das letzte
Wort der Philosophie der Geschichte. Die den Entwicklungsgang der
Menschheit bestimmenden Impulse und Ideen entspringen wohl aus dem
materiell gebundenen menschlichen Organismus, aber einmal in der Welt
wirksam, setzen sie ihr eigenes, unvergängliches Leben Jahrhunderte
hindurch fort, bis sie modifiziert oder von anderen Ideen abgelöst
werden, die wiederum Kinder der Not und des Zeitbedürfnisses, die
Herrschaft mit dem rein stofflichen Alltagszwang teilen, ja, in großen
Entwicklungsmomenten sie vorübergehend ganz allein übernehmen.

[Illustration]



[Illustration]

XIV.

Der erste deutsche Arbeiterkongreß. „Die Verbrüderung.“


Auf den 6. April 1848 berief ich mit einigen Freunden in Berlin eine
Arbeiterversammlung, deren Vorsitz zu übernehmen ich ersucht wurde.
Die Berliner Zeitungen rühmten die große Ordnung, die bei aller
Lebendigkeit und Frische der Verhandlungen in dieser Versammlung
waltete. Gegenüber einigen in Hamburg und Mainz verunglückten
Versuchen, sich über ein Programm zu verständigen, gelangte man zu dem,
was zunächst notwendig war, zum Beginn einer Organisation.

Die Deputierten der verschiedenen Gewerke bildeten auf meine Anregung
aus sich heraus ein Centralkomitee, das seinerseits einen Ausschuß von
fünf Mitgliedern zur Ausarbeitung von Vorlagen an jenes Centralkomitee
wählte. Erst die von diesem genehmigten oder modifizierten Vorlagen
sollten an die Deputationsversammlungen und von diesen an die
einzelnen Gewerke und Arbeiterklubs gehen. Jeder Versuch, diesen Beginn
einer Organisation zu stören, wurde abgewiesen, auch ein solcher des
wohlmeinenden Geheimrats Lette, der an der Spitze eines „Vereins
für das Wohl der arbeitenden Klassen“ gestanden und in humanitären
Unternehmungen manches Gute geleistet hat. Er wollte uns überreden,
die beabsichtigte Organisation in Verbindung mit den Unternehmern
auszugestalten. Nachdem er schon -- ich folge hier dem Buche Dr. Georg
Adlers[B] -- durch ein Flugblatt hierauf hinzuwirken gesucht, erschien
er persönlich in einer der Deputationsversammlungen der Arbeiter und
trug seine Ansichten vor. Er wurde aber von mir in die Minderheit
gebracht, indem ich darauf hinwies, daß eine im Interesse der Arbeiter
liegende Verständigung mit den Unternehmern nur dann möglich sei,
wenn die ersteren zuvor gesondert ihre Interessen gewahrt hätten, da
sonst der Einfluß der Unternehmer dominieren oder mangels Einigung gar
keine Beschlußfassung zustande käme: „Gründe“, sagt Dr. Adler, „deren
Berechtigung viele Jahre später noch im Reichstage vom preußischen
Staatsminister von Bötticher anerkannt wurden (gelegentlich der
Beratung der im Unfallversicherungs-Gesetzentwurf vorgesehenen
Arbeiterausschüsse.)“ Diese Gründe leuchteten auch den Arbeitern ein
und sie verwarfen demgemäß Lettes Vorschläge.

Der erste deutsche Arbeiterkongreß, der nach mehrtägigen ernsten
Beratungen ein im wesentlichen den Anforderungen jener Zeit
entsprechendes Programm aufstellte und dessen Organisationsplan nach
und nach in einem beträchtlichen Teil Deutschlands angenommen wurde
und die Grundlage für die späteren Parteiverbindungen abgab, wurde von
mir am 23. August eröffnet. Auf meinen Antrag wählte die Versammlung
ein Mitglied der Nationalversammlung, den ehrwürdigen Professor Nees
v. Esenbeck, Delegierten des Breslauer Arbeiter-Vereins, zum ersten
Präsidenten. Zum zweiten Präsidenten wurde ich, zum Protokollführer
Bisky gewählt. Die Arbeiten dieses Kongresses dauerten bis zum 3.
September. Das Ergebnis derselben umfaßt eine Broschüre, die unter
den aus jener Zeit erhaltenen Dokumenten ohne Zweifel noch in einigen
Exemplaren sich vorfindet. Sie enthält die Statuten der von dem
Kongreß gegründeten Arbeiter-Verbrüderung, zugleich die Forderungen
jenes Kongresses, sein Programm. Es kann nicht auffallen, daß in
diesem ersten Kongreß einige Gedanken, die vor einer strengen Kritik
nicht bestehen können, trotz lebendigster Redekämpfe schließlich um
des lieben Friedens willen in dem Aktenstück stehen geblieben sind,
das dennoch, alles in allem, für jene Zeit einen großen Sieg über
säkuläre, von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzte Vorurteile
bedeutet. Schon der einzige Abschnitt über Volkserziehung und Schule
zeigt, wie sehr der Horizont des arbeitenden Volkes sich nach jenen
Gewittertagen des März geklärt hat. Gar manche der in diesem Abschnitt
damals aufgestellten Forderungen warten in dem einen und andern
deutschen Staat noch heute ihrer Verwirklichung. Wirtschaftlich
weist das Programm mit Nachdruck auf die Gründung von Konsum- und
Produktivgenossenschaften und auf Beteiligung des Arbeiters am Gewinn
des Unternehmers hin. Im Gegensatz zu Schulze-Delitzsch, der allein
auf Selbsthilfe rechnete, wird in der „Verbrüderung“ die Staatshilfe
in Aussicht genommen. Gewiß, weder die Selbsthilfler noch die
Staatshilfler haben bis zur Stunde an Stelle der alten Gesellschaft
eine ganz neue Gesellschaft mit ausschließlich kollektivistischer
Produktionsform gesetzt. Das beweist nur, daß bis zur Stunde die
Bedingungen zur Herstellung einer die Produktionsform der freien
Konkurrenz ablösenden anderen Produktionsform nicht vorhanden
waren, daß eine so ungeheure wirtschaftliche Wandlung, wie sie von
einer Seite gefordert wird, eine vollständige Wandlung menschlicher
Geistesrichtung, um nicht zu sagen der menschlichen Natur voraussetzt,
und deshalb, wenn sie überhaupt stattfinden soll, einen sehr großen
Zeitraum zu ihrem Vollzuge voraussetzt. Bei solchen Kongreßbeschlüssen
kann es sich ja selbstverständlich nur um praktische, in absehbarer
Zeit zu verwirklichende Aufgaben einer Partei handeln. Die Zeit
selber, welche stets mit unerwarteten neuen Faktoren auftritt, wirkt
nach und nach mit einem gebieterischen „Du mußt!“ ihrerseits mit und
führt nur zu häufig allzu kühne Vorausberechnungen ~ad absurdum~.
Das wichtigste Resultat des Kongresses war jedenfalls die aus ihm
hervorgegangene, sich ziemlich rasch aufbauende Organisation des
vierten Standes.

Sonderbar erscheint mir heute der vom Geometer Schweninger formulierte
und wider alles Erwarten durchgegangene Vorschlag der Wahl besonderer
Komitees in den Bezirks-Vereinen, welche den Minimallohn bestimmen,
die Löhne der Arbeiter von den Unternehmern einkassieren und an die
Arbeiter zur Auszahlung bringen sollten. Letzteres bezweckte die
Möglichkeit eines zehnprozentigen Abzuges vom Lohne zur Gründung einer
Kreditbank, aus deren Mitteln der Bund Häuser und Äcker zur Benutzung
für die Arbeiter zu erwerben gedachte. Dieser Vorschlag gründete
sich auf ein Experiment, das nach Schweningers Bericht bei einem
Unternehmen in Westfalen auf dem Wege der Ausführung sich befand. Im
Grunde schwebte dem Kongreß die Gründung von Produktivgenossenschaften
mit Staatshilfe als das Nächstliegende vor. Solche Genossenschaften,
so rationell sie erscheinen, werden der Staatshilfe noch lange
entbehren, es sei denn, daß sie durch ihre geschäftliche Führung und
ihre Leistungen ein Vertrauen sich erworben haben, welches freilich
an sich schon ihnen den Kredit einer Bank sichern sollte, so daß
sie, wie daraus zu schließen wäre, auch ohne Staatshilfe bestehen
könnten. Diesen Genossenschaften fehlte es bis jetzt in der Regel an
der höheren kaufmännischen Leitung. Man sollte meinen, daß sie diese
unschwer erlangen müßten, sobald sie auf die gleiche Besoldung aller
Beteiligten verzichten und die unentbehrliche höhere Leistung auch
höher honorieren. Dann dürfte sich auch dem Mangel an Betriebskapital
abhelfen lassen. In England haben eine beträchtliche Anzahl von
Produktivgenossenschaften zu den schönsten Ergebnissen geführt.
Dabei stellte sich mehr und mehr die Thatsache heraus, daß im vierten
Stande selber eine Scheidung seiner mannigfaltigen Elemente zu Tage
tritt, sodaß die nicht den Genossenschaften angehörenden, auf einer
unteren Stufe stehenden Arbeiter an den Besserungen im Lebensstand
nicht teilnehmen und die Zahl der Paupers vermehren, aus denen nach
Ablauf einer geraumen Zeit ein fünfter, nach Erlösung trachtender Stand
sich gestalten wird. So will es augenscheinlich die Entwicklung der
Menschheit. Utopistisch erscheint bei dieser Erfahrung jedes System,
welches darauf ausgeht, die ganze leidende Menschheit auf einmal zu
vollkommener materieller Unabhängigkeit zu führen. Soweit man in die
Zukunft zu blicken vermag, bleibt immer ein großer Rest übrig, der nach
unsäglichen Anstrengungen sich endlich zur Freiheit durchringt, und
dieser Rest ist niemals der letzte.

Der Kongreß ernannte zum Schluß ein Centralkomitee für die deutschen
Arbeiter, welches die Aufgabe hatte, die beschlossene Organisation
überall da ins Leben zu rufen, wo sie Schwierigkeiten begegnete, und
da, wo sie begonnen hatte sie kräftigst zu unterstützen. Zu diesem
Zwecke sollte dem Centralkomitee eine zunächst zweimal wöchentlich
erscheinende Zeitschrift, „Die Verbrüderung“ dienen, welche die
Prinzipien der großen Arbeiterverbindung zu erläutern und zugleich
einen Sprechsaal für die arbeitende Klasse abzugeben hatte. Diese
Zeitschrift, von Anfang Oktober 1848 bis Anfang Mai 1849 von mir
redigiert, ist das einzige Dokument aus meiner Jugendzeit, das
sich in meinem Besitz erhalten hat. Indem ich es heute betrachte
und durchgehe, kann ich mich einer gewissen inneren Bewegung nicht
erwehren. Ein Jugendtraum voll warmer Hoffnungen und verlockender
erster Blütenansätze, eine Zeit raschen Entschließens und begeisterten
Handelns wird mit diesen vergilbten Blättern wieder lebendig für
mich, und sie enthalten weniges, das ich nicht geschrieben haben
möchte in jenen schönen Tagen reinster Selbstlosigkeit und gesegneter
Rücksichtslosigkeit, wo einem der Gedanke fern liegt, was wohl die
andern zu unserem Thun sagen mögen, wo wir, auf uns allein gestellt,
nur von dem einen Drang bestimmt werden, unsere Pflicht zu erfüllen und
alles übrige zu verachten.

Ich war mit zwei anderen Mitgliedern des Berliner Kongresses,
Schweninger und Kick, in das Centralkomitee gewählt worden, das seinen
Sitz in Leipzig aufzuschlagen hatte. Das Geschäftliche des von mir
redigierten Parteiorgans „Die Verbrüderung“ übernahm der Buchhändler
Ludwig Schreck, er ließ das Blatt bis zum 1. Januar, wo unsere erste
Assoziation, die Vereinsdruckerei, ins Leben trat, bei Brockhaus
drucken. Der vornehmste Leipziger Buchdrucker lieh seine Lettern und
seine Pressen zur Herstellung eines Arbeiterblattes her, das auf jeder
Seite seinen revolutionären Ursprung bekundete. Auch darin ist das bald
erloschene Frührot jener neuen Zeit zu erkennen.


[B] Die Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in
Deutschland. Breslau 1885. S. 160.

[Illustration]



[Illustration]

XV.

In Leipzig. Bakunin.


Ich stand persönlich viel zu sehr in einem bestimmten Kreise der
Bewegung des Jahres 1848, um als deren Geschichtsschreiber auftreten
zu können. Was ich in dem Vorangegangenen gegeben habe, soll nichts
als ein kleiner Beitrag zu einer von jüngeren Schriftstellern zu
erwartenden Darstellung einer aus dem Chaos sich mühsam losringenden
neuen Zeit sein. Ich beschränke mich möglichst darauf, die Atmosphäre
zu kennzeichnen, in der ich mit breiten Schichten des deutschen Volkes
damals geatmet habe. Das eigentümliche Kolorit jener stürmischen Zeit,
die Physiognomie mancher damals häufig genannten Persönlichkeit mag da
und dort aus dem anspruchslos Erzählten etwas greller hervortreten, als
mein leicht skizziertes Bild verträgt. Was thut’s? So muß ich heute
von Michael Bakunin sprechen, dem ich zuerst in Brüssel begegnet war,
als man ihn wegen einer an der Revolutionsfeier der Polen gehaltenen
Rede aus Paris ausgewiesen hatte. Dieser furchtbare Revolutionär, der
Begründer des Nihilismus und Anarchismus war im Grunde ein hundert
Kilo schweres, naives Kind, ein ~enfant terrible~, wenn man will,
immerhin ein ~enfant~. Die Naivetät, mit der er sich durch alle
Krümmen des Lebens durchzuschlagen wußte, hatte für Leute anderer als
russischer Nationalität etwas geradezu Verblüffendes. Wo ein Deutscher
nicht aus noch ein gewußt hätte, kam er sorglos weiter. Und dabei
vergab er sich nie etwas, er blieb in jedem Falle ein Mann der guten
Gesellschaft, ein Gentleman. Der Kummer hat in dieses runde Gesicht
mit den funkelnden Augen nie eine Furche gegraben. Seinem Aussehen
nach war er stets ein Mann in den besten Jahren. Ob er vierzig oder
fünfzig oder noch mehr zählte, das war ihm nicht anzusehen. Ich sah
ihn einige Zeit nach seiner Flucht aus der sibirischen Verbannung in
Bern wieder. Seit unserem Zusammentreffen in Leipzig und Dresden waren
wohl an die fünfzehn Jahre vergangen. Bakunin sah unverändert aus.
Nur etwas rühriger, lebhafter in seinen Bewegungen, unruhiger war er
geworden. Dies war wohl daher gekommen, daß er einen Hof von jungen
Russen und Polen um sich hatte, die ihn als eine Art Propheten und
Heiland betrachteten. Diese Rolle mochte ihm unbequem sein und ihm die
Unbefangenheit und natürliche Heiterkeit nehmen, die ihn früher nie
verlassen hatte. Einem systematischen Denker wie Marx mußte dieser alte
Knabe, der aus allen philosophischen Töpfen geschleckt und bei seinem
robusten Naturell niemals gemerkt hatte, wie sehr er sich dabei den
Magen verdorben, notwendig antipathisch sein. Bakunin war dies nicht
verborgen geblieben, und er ging ihm aus dem Wege. Mit mir knüpfte
er in Brüssel an, um sich über dies und jenes Auskunft zu holen. Ein
näheres Verhältnis konnte sich zwischen uns nicht entspinnen, ich war
ihm zu jung, er war mir eine zu fremdartige Erscheinung. Er blieb nach
der Februar-Revolution nicht in Paris, nach dem 18. März ging er nach
Berlin. Von dort, der deutschen Stadt aus, betrieb er die Organisation
des Prager Slavenkongresses, auf dem die Vertreter der einzelnen Länder
bekanntlich deutsch sprechen mußten, um sich zu verstehen.

Wir haben uns in Berlin öfter gesehen. Eine Szene, in welcher er eine
durchaus unpolitische, aber für seine Natur sehr charakteristische
Rolle spielte, ist lebendig in meiner Erinnerung geblieben. Es war
in dem engen Hinterzimmer eines Berliner Cafés. Wir waren etwa ein
Dutzend Gäste, von denen die meisten, wie z. B. d’Ester aus Köln, Stein
und Elsner aus Breslau, der preußischen Nationalversammlung angehörten.
Da machte einer den Vorschlag, einen russischen Punsch zu bereiten und
Bakunin übernahm diese Aufgabe. „Ich werde Euch einen Hohenstaufen
machen,“ rief er aus. „Chochenstaufen“ klang das Wort in seinem Munde,
er sprach das h wie ch aus. „Mit diesem Trank im Leibe seht Ihr Chelena
in jedem Weibe!“ Man brachte ihm auf seine Anordnung die verlangte
Quantität Rum, Zucker, mancherlei Gewürz dazu und einen tiefen
kupfernen Kessel. Bakunin zündete den Rum an, löschte die Lichter aus,
den Rock hatte er abgelegt, die Hemdärmel aufgerollt, und nun rührte
der Riese mit breitem Löffel in den bläulichen Flammen, in deren Schein
er wie ein Abgesandter der Hölle sich ausnahm, während wir andern mit
erdfahl beleuchteten Gesichtern seinem unheimlichen Treiben zuschauten.
„Den Teufel spürt das Völkchen nie,“ brummte er vor sich hin, „und wenn
er sie beim Kragen chätte!“ Wasser war für das Gebräu nicht vorgesehen,
als Abschwächungsmittel dienten einige Flaschen Rheinwein, die am
Schluß dem Ganzen zugesetzt und in den brennenden Rum gegossen wurden.

Der Trank wurde eingeschenkt, die Flamme im Kessel war erloschen,
die friedlichen Lichter erhellten wieder das Zimmer, man trank,
ein Rundgesang wurde angestimmt; ich habe niemals wieder einer so
plötzlichen Wirkung des Alkohols beigewohnt. Man wurde sehr -- lustig.

Es mag sonderbar klingen, daß in der Begegnung, die ich einige
Monate später mit Bakunin in Leipzig hatte, das Trinken wieder
eine Rolle spielte. An mir lag das sicher nicht. Polizeilich wurde
damals auf Bakunin gefahndet, der Prager Slavenkongreß, auf dem er
aufrührerische Reden gehalten, hatte die Veranlassung dazu gegeben. Die
Polizei war damals noch nicht wieder, wie unter dem alten Regiment,
sehr dienstbereit; die sächsische Regierung selber wünschte es
wahrscheinlich nicht anders. Bakunin hatte bei einem mir befreundeten
Buchhändler ein Asyl gefunden, es war entweder Ernst Keil oder Schreck
gewesen, der ihn unter sein gastliches Dach genommen. Ein großer
Saal, in welchem der Schützling täglich tausend Schritte abzählen
konnte, da er nicht ganz ohne Bewegung bleiben durfte, war da eine
wahre Wohlthat für ihn. Abends, „wenn die Sonne war gesunken,“ machte
er sogar einen Ausgang in den „goldenen Hahn“, wo er mit mehreren
Vertrauten unbehelligt sich einige Stunden unterhalten durfte. Eines
Tages hatten wir es unternommen, ihn nach einem benachbarten Orte zu
führen, wo er über die ihm gewordene kurze Freiheit so glücklich war,
daß er unverkennbar angeheitert auf dem Heimwege uns immer vorausrannte
und jeden ihm Begegnenden mit der lauten Frage anhielt: „Wo ist der
goldene Chahn?“ -- Ja, wo ist der goldene Chahn? Die Frage, in ihrer
russischen Aussprache, wirkte erst verblüffend, dann so ergötzlich auf
die Angeredeten, daß einer sie dem andern auf dem langen Wege in die
Stadt zurief. Aus jedem Munde erscholl sie mit einem Mal als die größte
und wichtigste aller Zeitfragen: „Wo ist der goldene Chahn?“ Und als
wir in dem trauten Absteigequartier endlich eintrafen, wurden wir unter
schallendem Gelächter mit der Frage begrüßt: „Wo ist der goldene Chahn?“

Nichts charakterisiert übrigens Bakunin besser als die folgenden
Zeilen, die wir dem 1890 erschienenen Buche „~Karl Vogt, par William
Vogt~“ entnehmen: Karl Vogt hatte in jungen Jahren Bakunin in Paris
kennen gelernt und mit ihm einen gemeinsamen Haushalt eingerichtet.
Der dauerte vierzehn Tage. Schon am dreizehnten war kein Heller mehr
in der gemeinsamen Kasse, und zu allem Unglück wurde ihnen der
Kredit im Restaurant gekündigt, weil Bakunin die legitime Gattin des
ehrenwerten Speisewirts zu sehr geplagt hatte. Was war nun zu thun? Der
Beutel leer und -- das allerschlimmste! -- der Vorrat an Zigarretten
völlig erschöpft. Die Tugend der Enthaltsamkeit behagte diesen
auserlesenen zwei Feinschmeckern durchaus nicht. Unbekannt in den
anderen Restaurants, konnten sie nicht daran denken, das Vertrauen der
Leute auf ihr ehrliches Gesicht hin zu gewinnen, besonders mit einem
Appetit, wie der ihrige war. Eine düstere Verzweiflung bemächtigt sich
nun Bakunins, der sich auf’s Bett hinwirft, um sein regelloses Leben,
seine Verschwendung zu beweinen. Über den Hunger konnte ihm selbst die
hochverehrte Hegel’sche Philosophie nicht hinweghelfen; da plötzlich
tritt der Briefträger mit einer Geldsendung für den Doktor Vogt ein.
Hurrah! Hier liegen drei schöne Bankbillets, jedes zu hundert Franken,
ein Reichtum, den der Verleger eines deutschen Fachblattes dem jungen
Naturforscher für seinen Bericht über die wissenschaftliche Bewegung
in der französischen Hauptstadt sendet. Am Abend, als Vogt, der sich
von seinem Freunde Emanuel Arago einen Louisd’or geliehen hatte, nichts
Arges ahnend, ins Zimmer tritt, ist er fast starr vor Entsetzen. Ein
gedeckter Tisch, Champagnerflaschen, und Bakunin, in einer Wolke von
Tabakrauch, hält eine Rede an fünf oder sechs Polinnen, um zum Schluß
einer jeden auf das Galanteste ein Paar Handschuhe zu überreichen. Man
aß gut, man trank viel, am andern Morgen aber war kein Maravadi mehr im
Beutel. Vogt brach die gemeinsame Wirtschaft ab. --

Bakunin war nicht übelnehmerisch, doch ging er nach seinem Exil in
Sibirien nicht mehr zu Karl Vogt, der bekanntlich in einen bösen Streit
mit den Sozialisten geraten war. Bakunin konnte es ihm nicht verzeihen,
daß sein Jugendfreund eine seiner Parteireden in folgenden Versen
persifliert hatte.

    „Wir wollen uns in Schnaps berauschen,
    Wir wollen unsre Weiber tauschen,
    Und aufgelöst sei Mein und Dein.
    Wir wollen uns mit Talg beschmieren
    Und nackt im Sonnenschein marschieren,
    Wir wollen freie Russen sein.“

Der Bruch mit Karl Vogt hinderte Bakunin nicht, am Ende seines Lebens
in Bern die Gastfreundschaft Adolf Vogts, eines Bruders des berühmten
Naturforschers, anzunehmen, unter dessen Dach er gestorben ist. Ich
habe ihn in einem späteren Artikel noch einmal zu erwähnen. Was Karl
Vogts Streit mit Marx und dessen Anhängern betrifft, so wäre ich im
Falle, manches Aufklärende hier beizubringen, doch begnüge ich mich
mit der Bemerkung, daß nicht die „Schwefelbande“, die sich selbstlos,
mühsam und im Dienste einer großen Idee ihr Brod erwarb, sondern der
Verfasser von „Köhlerglaube und Wissenschaft“ entschieden im Unrecht
war.

[Illustration]



[Illustration]

XVI.

Erschießung Robert Blums in Wien. Steigende Aufregung in Deutschland.


Eine ausführliche Analyse des Inhalts der „Verbrüderung“ hat Georg
Adler in seinem Buche, „die erste sozialistische Arbeiterbewegung in
Deutschland“ gegeben, auf das ich meine Leser verweise. Der Verfasser
wundert sich über den revolutionären Ton, der in dieser Zeitschrift
weht, und der Ende November 1848, nach der Einnahme von Wien durch
Windischgrätz und dem Einzug Wrangels in Berlin, sogar bis zu einem
direkten Aufruf sich steigerte, die bedrohten Errungenschaften des März
mit den Waffen in der Hand zu verteidigen. Diese Verwunderung des sehr
geschätzten Nationalökonomen ist mir nur ein Beweis, daß schon die
direkt auf die Ereignisse von 1848 folgende Generation zu abgekühlt
war, um für den Aufruhr, der unser Herz bewegte, ein Verständnis zu
haben. Die „Verbrüderung“ war, was eigentlich selbstverständlich ist,
sehr heißblütig, doch verfiel sie niemals in jenen tyrannenmörderischen
Posaunenton, der einige Jahrzehnte später von hohlköpfigen Strebern mit
lächerlicher Virtuosität geblasen wurde. Den Hauptinhalt bildeten in
lebendiger Darstellung eine Reihe von Untersuchungen über die soziale
Frage. Der Stil zeichnete sich freilich nicht durch kühle Gemessenheit
und Ruhe aus. Das wäre in jener aufgeregten Zeit schlecht am Platze
gewesen. Eine Zeitschrift wie „Die Verbrüderung“ hatte die Aufgabe,
die Massen aufklärend zu packen und zu leiten, und das gelang ihr in
gewünschtem Maße.

Nicht wegen der sozialistischen Artikel kam das Blatt übrigens in
Konflikt mit der wachsamen Justiz, wenn wir den Ruf zu den Waffen
ausnehmen, der kaum unbeachtet bleiben konnte, sondern wegen der
sozial-politischen Gedichte, von denen es eins in jeder Nummer brachte.
Und die Staatsanwaltschaft der guten Stadt Leipzig bewies wahrhaft
ihren vorzüglichen litterarischen Geschmack, indem sie mich zuerst
wegen des Abdrucks der „Weber“ von Heine zur Rechenschaft zog. Wegen
Preßvergehens angeklagt, wurde ich vor den Untersuchungsrichter
geladen. Dieser, ein noch ziemlich junger Mann, schien von seiner
inquisitorischen Aufgabe nicht sehr erbaut. Es war im Herbste des
Jahres 1848 und selbst in dem Gemüte eines königlich sächsischen
Untersuchungsrichters mochte wohl noch etwas von der allgemeinen
Jahresstimmung lebendig sein. Es war auch eine Neuerung im Verfahren
eingeführt: die Untersuchung war nicht absolut geheim, zwei „Männer
aus dem Volke“ wohnten ihr bei. Sie hatten nichts dreinzureden, sie
sollten nur als Bürgschaft dafür dienen, daß dem Angeschuldigten nichts
Ungebührliches von Seiten des Richters widerfuhr. Ich bestritt, daß das
Heine’sche Gedicht einen aufrührerischen Charakter habe. Es sei nicht
an die Weber gerichtet, es spreche von den Webern, von dem peinigenden
Hunger, der sie quäle und der sie in ihrer Verzweiflung selbst bis
zu gotteslästerlichen Worten verleite. Der Untersuchungsrichter
lächelte kritisch, die beiden Spießbürger aber, die als Wächter der
Gerechtigkeit hinter ihm saßen, lächelten mich verschmitzt und zugleich
aufmunternd an. Sie steckten auch noch in der Jahresstimmung und waren
zweifellos mit mir einverstanden. Das ermutigte mich, den grandios
dramatischen Zug in dem Gedicht ausführlicher darzulegen, die von dem
Dichter gesuchte, in so erschütternder Weise herbeigeführte Steigerung
als ästhetisch geboten zu bezeichnen, so daß der Fluch der hungernden
Weber kaum anders als mit einer Gotteslästerung endigen konnte. Der
Richter, in der Form immer liebenswürdig, wollte dies nicht gelten
lassen. Was wahrscheinlich mehr Eindruck auf ihn machte, das war der
Hinweis auf die Thatsache, daß das inkriminierte Gedicht schon ein Jahr
vor der Märzrevolution erschienen war, daß diese die Zensur aufgehoben,
und daß die Heine’schen Schriften jetzt offen in allen Buchhandlungen
verkauft wurden. Die Zeit habe sich geändert, erklärte ich. Ob es
denn die Absicht der Regierung sei, wieder zu einem von ihr selbst
aufgegebenen System der Verfolgung des freien Wortes zurückzukehren?
Dieser Teil meiner Verteidigung machte jedenfalls mehr Wirkung auf
meinen Richter als der ästhetische Teil. Man reichte mir ein Protokoll
zur Unterzeichnung, und ich wurde bis auf weiteres entlassen. Als
ich mich zurückzog, gaben mir die beiden Tugendwächter wieder ein
freundliches Augenblinzeln mit auf den Weg. Die Angelegenheit kam mir
sehr ergötzlich vor, auch nach einem zweiten Verhör, zu dem ich mehrere
Wochen später vorgeladen wurde. Die Zeiten fingen schon an, sich zu
verdüstern. Das glaubte ich daran zu erkennen, daß diesmal nur ein
einziger „Mann aus dem Volke“ der Sitzung beiwohnte.

Die Reaktion hatte mehr Zuversicht gewonnen. Robert Blum war in der
Brigittenau zu Wien standrechtlich erschossen worden.

Man täuscht sich wohl nicht, wenn man annimmt, daß zwischen Österreich
und Preußen eine Verständigung über die gleichzeitig zu ergreifenden
Schritte gegen die Folgen der Märzrevolution stattgefunden hatten. In
beiden Ländern wurden schon Mitte August Truppenmassen zusammengezogen,
welche die Aufgabe hatten, die „Ordnung“ wiederherzustellen. Von
Böhmen aus sollte eine Armee unter dem Oberbefehl des Fürsten
Windischgrätz die Eroberung Wiens besorgen, in der Mark Brandenburg
kommandierte General Wrangel die zum Einzug in Berlin bestimmte
Armee. Als Fürst Windischgrätz vorrückte, um Wien zur Unterwerfung zu
zwingen, schickte das Frankfurter Reichsministerium zwei Kommissäre
zur Vermittlung an ihn ab, die der österreichische Feldherr einfach
zu den Ministern nach Olmütz sandte, welche die ungebetenen Gäste
mit einigen Höflichkeitsphrasen von sich abschüttelten. Die Linke
des Frankfurter Parlaments glaubte ihrerseits zwei Vertrauensmänner
nach Wien senden zu müssen. Sie beehrte mit dieser Mission Robert
Blum und Julius Fröbel. Man begreift nicht recht, welchen Zweck sie
damit im Auge hatte. Einen Volksredner wie Blum brauchten die Wiener
Aufständischen nicht, einen Schriftsteller wie Julius Fröbel noch
weniger. Womit das Frankfurter Parlament allein etwas hätte ausrichten
können, das besaß es eben so wenig wie irgend eine andere deutsche
Volksvertretung: ein Parlamentsheer. Da ein solches nicht improvisiert
werden konnte, so war es im Herbst des Jahres 1848 jedem politisch
denkenden Deutschen klar, daß für den Augenblick die Errungenschaften
des März im höchsten Grade gefährdet waren, und daß man im Kampfe gegen
die militärisch organisierte und nach einer blutigen Entscheidung
dürstende Reaktion wieder auf das nicht organisierte und schlecht
gerüstete freiheitsliebende Volk angewiesen war. Ein Widerstand gegen
die fürstliche Macht hätte vielleicht bei gleichzeitiger Erhebung aller
größeren Städte noch einige Aussicht auf Erfolg geboten. In Österreich
war darauf nicht zu rechnen. Ein intelligenter Mann wie Robert Blum sah
die Hoffnungslosigkeit einer Erhebung der Hauptstadt gegen die 90,000
Mann des Fürsten Windischgrätz sicherlich ein. Er glaubte es trotzdem
seiner Vergangenheit und seiner Ehre schuldig zu sein, mit seinem Leben
für eine Sache einzustehen, die für den Augenblick verloren war, die
jedoch aus jedem Tropfen Blutes, das für sie vergossen worden, für
künftige Tage neue Stärke erzeugte. Robert Blum stand mit dem Volk auf
den Barrikaden. Er wurde auf Befehl des siegreichen Generals am 4.
November mit Fröbel in seinem Gasthof verhaftet, und am Morgen des 9.
November in der Brigittenau standrechtlich erschossen. Er hatte wie
ein Mann gelebt, er starb wie ein Mann, und die Nachricht von seinem
Tode erweckte eine ungeheure Erregung in allen deutschen Landen, mehr
als irgendwo anders in Leipzig, das ihn als seinen Vertreter ins
Frankfurter Parlament gesandt hatte. Hier wie aller Orten wurde für
den geliebten Volksmann eine Totenfeier veranstaltet. Leipzig war zu
jeder Zeit wesentlich Geschäftsstadt gewesen, deren Bewohner wohl
stets den lebendigsten Anteil an den Geschicken des Vaterlandes nahmen
und opferwillig für dasselbe eintraten, sich auch in jeder Bewegung
als Freunde der bürgerlichen Freiheit erwiesen; dem Charakter eines
alten Handelscentrums gemäß war Leipzig jedoch niemals revolutionär.
Ich war deshalb gar nicht überrascht, als ich an dem Morgen, der die
Nachricht von der Hinrichtung Robert Blums brachte, in der Bevölkerung
auch nicht die leiseste Spur aufrührerischer Erregung, sondern nur
tiefe Ergriffenheit und resignierte Trauer auf allen Gesichtern sah.
In dichten Haufen standen die Leute aus dem Kleinbürgerstande auf den
Straßen zusammen und besprachen die entsetzliche Nachricht aus Wien.
Diejenigen, welche den Dahingeopferten persönlich gekannt hatten,
fielen einander weinend in die Arme. Die scheinbar ohnmächtigen Thränen
waren nicht unfruchtbar für die Neugestaltung Deutschlands. Jede
große Sache muß ihre Märtyrer aufweisen können, deren Glorienschein
für kommende Geschlechter als Gedenkzeichen und unvergängliche
Ermahnung wirkt. Ungarn, Österreich, Deutschland befanden sich vor
fünfzig Jahren in einem Krieg zwischen vorwärts strebenden Völkern
und rückwärts drängenden Regierungen. Der Krieg schlug anfangs zum
Vorteil der Reaktion aus. Diese hatte unrecht, die Kriegsgefangenen
durch den Strang oder durch Pulver und Blei des Lebens zu berauben. Die
standrechtlichen Hinrichtungen, wo sie auch nach dem Siege der Reaktion
ausgeführt wurden, haben nirgends den Eindruck eines vollzogenen
Rechts, sondern eher den persönlicher Rache gemacht; sie haben nicht
gehindert, daß in Ungarn, in Österreich, in Deutschland die vorwärts
strebenden Völker einen gewaltigen Schritt vorwärts gethan, und daß die
vormärzlichen politischen Zustände beinahe zu einem Mythus geworden
sind.

Am 9. November war Robert Blum in der Brigittenau erschossen worden;
einen Tag vorher hatte General Wrangel, als Befehlshaber der Truppen in
den Marken, seinen Einzug in Berlin ohne Widerstand ausgeführt, einige
Tage später verhängte er den Belagerungszustand über die preußische
Hauptstadt, die Bürgerwehr wurde zur Ablieferung ihrer Waffen
aufgefordert, die Nationalversammlung geschlossen und nach Brandenburg
verlegt. Ihre letzte Handlung war der Beschluß der Steuerverweigerung.
Er blieb ein Schlag ins Wasser. Was im 17. Jahrhundert in England unter
ganz anderen Verhältnissen sich als wirksam erwiesen hatte, machte
zwei Jahrhunderte später keinen Eindruck mehr. Die Regierung forderte
momentan keine +direkten+ Steuern ein, und die wohlhabenden
Bürger, welche ins Gewicht fallende direkte Steuern zu bezahlen hatten,
waren reaktionär geworden; sie sehnten sich nach „Ruhe und Ordnung,“
nach Belebung der stockenden Geschäfte. In den breiteren Volksschichten
hatte man die Augen nach Frankfurt gerichtet, man war auf die
neue Reichsverfassung gespannt, die aus dem Professorenparlament
hervorgehen sollte.

Ich wollte mich selbst von dem Stand der Dinge überzeugen und ging nach
der Erklärung des Belagerungszustandes auf einige Tage nach Berlin. Am
Anhalter Bahnhof wurde ich wie alle Reisenden nach dem Paß gefragt.
Ich hatte keinen, nannte mich aber. Einem Herrn mit einem blauen Fez
auf dem Haupte gefiel es, zu betätigen, daß ich der sei, für den ich
mich ausgegeben. Man ließ mich ein. Einer der ersten, denen ich auf
meinem Wege in die Stadt begegnete, war Johann Jakoby. „Sie wollen
doch hier nichts anfangen?“ rief er mir erschrocken zu. Die Frage war
sehr bezeichnend für jene Tage. „Durchaus nicht!“ konnte ich mit gutem
Gewissen antworten. Jakoby und seine Freunde erwarteten alles von ihrem
Steuerverweigerungs-Beschluß. Vollständig aufgeklärt über den Stand der
Dinge kehrte ich nach wenigen Tagen nach Leipzig zurück.

[Illustration]



[Illustration]

XVII.

Reise nach Heidelberg und Köln.


Der Winter nahm meine Thätigkeit als leitendes Mitglied des
Centralkomitees vollauf in Anspruch. Ich besorgte die Redaktion der
„Verbrüderung,“ indem ich den größten Teil des Inhaltes dieses zweimal
wöchentlich ausgegebenen Blattes selbst schrieb, mich an der Gründung
oder Förderung einiger Produktiv-Associationen beteiligte und in
mehreren deutschen Städten, in Dresden, Altenburg, Magdeburg, Nürnberg,
Heidelberg, Mainz, dort veranstalteten Versammlungen präsidierte oder
durch Vorträge den Anschluß großer Gebietsteile Deutschlands an die
allgemeine „Verbrüderung“ herbeiführte. In Preußen und Sachsen waren
nach und nach sämtliche Bezirksvereine dem Bunde beigetreten, fast jede
Nummer der „Verbrüderung“ brachte Mitteilungen über die Fortschritte
der Organisation. So kamen wir in Norddeutschland ohne besondere
Anstrengungen dem Ziele täglich näher. Schwieriger war die Aufgabe
der Überbrückung der Mainlinie. Auch sie gelang dank dem Umstande, daß
in Heidelberg ein Distrikts-Kongreß für den 28. und 29. Januar 1849
angeschrieben wurde, auf welchem hauptsächlich die Arbeitervereine
Badens, Rheinhessens und der Rheinpfalz vertreten waren, zu dem aber
auch das Centralkomitee in Leipzig eingeladen wurde, weil es sich darum
handelte, über eine ganz eigentümliche, von dem Kasseler Professor
Winkelblech gepredigte Lehre eine Entscheidung herbeizuführen. Von
dieser Entscheidung hing der Anschluß Süddeutschlands an die allgemeine
„Verbrüderung“ ab.

Winkelblech war ein Meteor, das im Bewegungsjahre am dunklen
Nachthimmel des deutschen Zunftwesens plötzlich erschien, um in
raschem Niederfall zu versinken und zu erlöschen. Nur in einem
Lande wie Deutschland, das in seiner ökonomischen Entwicklung neben
der gesetzlich eingeführten, den Ideen der Neuzeit zugestandenen
Gewerbefreiheit die mannigfaltigsten Gestaltungen des mittelalterlichen
Zunftwesens fortleben ließ, konnte eine Prophetennatur wie Winkelblech,
wenn auch nur auf einige Wochen, Gehör finden und eine Rolle spielen.
Der Mann war Professor an einer höheren Gewerbeschule zu Kassel, las
über Chemie und Technologie und that keinen Menschen etwas zu lieb
noch zu leide, als er -- das wurde sein Verhängnis -- auf einer Reise
in Norwegen mit einem deutschen Fabrikarbeiter zusammentraf, der,
wie es scheint, in beredten Worten sein schweres Elend ihm darlegte.
Ergriffen von den Leiden des arbeitenden Volkes, fühlte Winkelblech
plötzlich den heiligen Beruf in sich, den Mühseligen und Beladenen
ein Retter und Erlöser zu werden. Lykurg, Solon, Moses galten ihm
als Gesetzgeber, die von einer himmlischen Macht geleitet, aus der
Tiefe ihrer Seele das große, einheitliche System sich gegenseitig
unterstützender und ergänzender Einrichtungen schufen, mit denen
sie ihre Völker aus der Verworrenheit zogen und über andere Völker
emporhoben. Der Gedanke, daß diese Männer aus der Erkenntnis der
geschichtlich entstandenen, auf besonderem Boden gekeimten und
allmählich zum Wachstum gelangten materiellen Bedürfnisse und einer mit
diesen eng verflochtenen Geisteskultur ein in seinen Grundzügen schon
vorhandenes wirtschaftliches und staatliches System aufbauten, lag
Herrn Winkelblech fern. Er sah nicht ein, daß jene großen Intelligenzen
die zerstreuten Ideen einer neuen Zeit in sich zu einer Leuchte
sammelten, die sie ihren erstaunten Volksgenossen vorantrugen; ihm
waren sie mit göttlicher Gewalt ausgestattete Propheten, und er selber
glaubte sich zur Schöpfung eines in seinem Gehirn gereiften solonischen
Werkes berufen.

Die Dichtungen der deutschen Romantiker hatten das gesamte Leben des
Mittelalters mit seinen ständischen Gliederungen in eine bestrickende,
den Wirklichkeitssinn ertötende zauberhafte Mondscheinbeleuchtung
gesetzt. Arnims „Kronenwächter“, nahm man als ein Bild des Mittelalters
hin, Hoffmanns „Meister Martin und seine Gesellen“ galt für die
beste Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse vergangener
Zeiten; eine schönfärberische Poesie überwucherte die gewissenhafte
Forschung, sie berauschte die Geister und erschwerte die Arbeit
derjenigen, die ohne Voreingenommenheit der Wahrheit dienen wollten.
Professor Winkelblech war ein Prophet und ein Romantiker auf einem
Gebiet, das alle Romantik und alles Prophetentum ausschließt. Als
Prophet wollte er natürlich alles Elend auf Erden ausrotten, alle
Menschen glücklich machen, als Romantiker glaubte er alles Heil auf
dem Wege zu finden, der zurückführt in die dichterisch verklärten
Hallen des erneuerten mittelalterlichen Zunftwesens. Ihm war die
moderne Produktionsweise, das Fabrikwesen mit den himmelanstrebenden
Schloten, den millionenreichen Herren und den bettelarmen hungernden
Arbeitern ein Greuel, er war von einem starken Haß gegen die
Unternehmer erfüllt, doch sah er nicht ein, daß der moderne Fabrikherr
ein notwendiges Glied in der neuen Gesellschaft war, die aus der
Befreiung des dritten Standes von feudalistischen Staatseinrichtungen
hervorgehen mußte, und daß diese neue Gesellschaft und ihre auf dem
„freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte“ beruhende Produktionsform
eine große Masse von Gütern geschaffen, welche dem vierten Stande zu
Gute kamen, seine Lebensstellung hoben und ihn erst jetzt zu einem
Kampfe für seine Selbstständigkeit befähigten. Er sah nicht ein, daß
man zu einer geschichtlich überwundenen wirtschaftlichen Periode
unmöglich zurückkehren kann, und so gelangte er zu dem Irrtum,
einer zunftmäßigen, von ihm in verführerischen Farben dargestellten
Organisation das Wort zu reden, die den Bedürfnissen der Zeit durchaus
nicht mehr entsprach. Diese „christlich-germanische“ Organisation
glaubte er durch Ideen französischer Sozialisten modern ausschmücken
zu können. Er blieb immerhin ein bedenklicher Reaktionär, da er als
Romantiker sogar für das absolute Königtum im Sinne Friedrich Wilhelms
IV. sich begeisterte und so den Verdacht gegen sich erregte, daß er
damit sich eine Unterstützung und hohe Protektion von allerhöchster
Seite sichern wollte.

Professor Winkelblech entwickelte sein System in Heidelberg. Ich trat
nach ihm auf, um ihn zu widerlegen. Ich muß es, wie die Zeitungen
darüber berichteten, sehr gründlich gethan haben; die ganze, zahlreiche
Zuhörerschaft, die nicht bloß aus den Vertretern süddeutscher
Arbeitervereine, sondern auch aus den Professoren und Studenten der
Heidelberger Universität bestand, rückte nach und nach auf meine Seite,
Winkelblech fühlte sich abgelehnt, er war in dem großen Redekampf
unterlegen und wartete den zweiten Debattiertag nicht ab. Der Anschluß
der süddeutschen Arbeitervereine an die Verbrüderung wurde als Ergebnis
des Kongresses laut proklamiert.

Die Mainzer Kongreßmitglieder, zwei Brüder Stumpf, luden mich ein, auf
einige Tage ihre Gastfreundschaft anzunehmen. Ich willigte ein. Sie
führten mich am ersten Abend in den dortigen demokratischen Verein.
Der sehr große Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch das
schöne Geschlecht war reichlich vertreten. Es schien etwas verabredet
worden zu sein. Nach Abfertigung einiger kurzen Vereinsgeschäfte
ersuchte mich der Vorsitzende, der Versammlung, die mir gewiß dafür
dankbar sein würde, Bericht über den Heidelberger Kongreß abzustatten.
Das that ich. Ich habe nie eine aufmerksamere Zuhörerschaft gehabt.
Als ich nach einer Stunde geschlossen hatte und mich von allen Seiten
umdrängt sah, trat plötzlich mein alter Freund Wallau an mich heran,
um mir die Hand zu drücken. Wir hatten vor anderthalb Jahren die
Deutsche Brüsseler-Zeitung gesetzt. Er war jetzt Besitzer einer kleinen
Buchdruckerei mit einer einzigen Handpresse. Wallau entwickelte sich
rasch zu einer hervorragenden Persönlichkeit in seiner Vaterstadt, er
ist als Oberbürgermeister von Mainz gestorben.

Einmal in Mainz, wollte ich auch die Männer der „Neuen Rheinischen
Zeitung“, Marx, Engels, Wolf ~e tutti quanti~ wiedersehen. Wer
heute die gehässigen Worte liest, mit denen Engels vierzig Jahre
später meiner gedenkt, muß wohl meinen, daß die Häupter der Partei
längst mit mir gebrochen hatten. Das war durchaus nicht der Fall.
Schließlich hätten sie mir keinen anderen Vorwurf machen können, als
den, daß ich, ohne ihr Kommandowort einzuholen, ganz und gar auf
eigene Faust gehandelt hatte. Aber niemand gab mir nur durch eine
Miene irgend welche Unzufriedenheit zu erkennen. Marx nahm mich aufs
freundlichste auf, ebenso Frau Marx. Sie ließen mich nicht in ein Hotel
einkehren, sie betrachteten mich als ihren Gast. Und da fällt mir eine
Bemerkung ein, die Marx bei Tische machte, und die wohl, weil sie
für seine Art und Weise charakteristisch ist, festgehalten zu werden
verdient. Zum erstenmale kam in meiner Gegenwart das Gespräch auf
Familienverhältnisse. Es war die Rede von der politischen Stellung des
Herrn von Westphalen in dem Revolutionsjahr, er war ein ausgesprochener
Reaktionär. „Dein Bruder“, sagte lachend Marx zu seiner Frau, „ist
so dumm, daß er noch einmal preußischer Minister wird.“ Frau Marx,
die über diese mehr als freimütige Bemerkung errötete, lenkte das
Gespräch auf einen andern Gegenstand. Die Prophezeiung ihres Mannes ist
bekanntlich eingetroffen. Ich habe einige Jahre später mich manchmal
jenes Wortes erinnert und dabei an den Gegensatz zwischen den beiden
Geschwistern gedacht. Er der höchste Staatsbeamte in der Zeit der
härtesten Reaktion und deren willigster Diener; sie im Exil und nur zu
oft die Beute der drückendsten Lebenssorge, doch treu sich anschließend
an den Gegenpol ihres Bruders, von dem eine Welt sie für immer schied.
Mich berührte der Gedanke daran stets als tief tragisch.

Am andern Morgen besuchte ich die Herren der Redaktion. Engels,
jedenfalls der Hauptarbeiter in derselben, denn keiner besaß wie
er eine so große Leichtigkeit der Produktion, machte sich ein
Viertelstündchen frei, um mit mir wie in früheren Zeiten ein wenig zu
plaudern, richtiger gesagt, um mir sein Herz auszuschütten. Er war
nicht zufrieden. Nur Wilhelm Wolf, der schlesische Bauernsohn, der
in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ dem hohen feudalen Adel seiner
Provinz allen Raub vorrechnete, den dieser an dem ihm unterworfenen
armen Landvolk begangen, fand Gnade vor ihm. Der zweite Wolf, ein
verbummelter und verkommener Litterat, der, man weiß nicht wie und
warum, unter die Kommunisten geraten war, kam mit den geringen
Nebenarbeiten, die man ihm auftrug, niemals nach. Wenn er eine halbe
Stunde an einer Übersetzung gedrechselt hatte, erhob er sich mit
verzweiflungsvoller Miene von seinem Stuhl und seufzte: „Ich le-ide“,
nach dem kölnischen Dialekt das ei in zwei Vokale trennend. Am
bittersten klagte Engels über Marx. „Er ist kein Journalist“, sagte er,
„und wird nie einer werden. Über einem Leitartikel, den ein anderer in
zwei Stunden schreibt, hockt er einen ganzen Tag, als handle es sich um
die Lösung eines tiefen philosophischen Problems; er ändert und feilt,
und ändert wieder das Geänderte, und kann vor lauter Gründlichkeit
niemals zur rechten Zeit fertig werden.“ Es war Engels eine wahre
Erleichterung, das was ihn ärgerte, einmal aussprechen zu können. Im
Grunde aber hatte er einen tiefen Respekt vor Marx, den er als einen
ihm überlegenen Geist stets anerkannte. Und wenn es Marx, der sehr
zum Jähzorn geneigt war, auch zeitweise für geboten erachtete, ihn an
seinen Platz zu stellen -- er hatte ihn einmal in meiner Gegenwart
einen Elberfelder Gassenjungen gescholten und darauf die Thür hinter
sich zugeschlagen -- so erwiderte wohl Engels: „Das werde ich ihm
gedenken!“ Indessen, er dachte nicht lange an das Vorgefallene.

„Das werde ich der +Schweiz+ gedenken!“ sagte Engels auch, als
ich nach dem Übertritt der badischen Armee im Sommer des Jahres 1849
in Bern auf offenem Platze zufällig mit ihm zusammentraf. Es war
das letzte Mal, daß ich ihn gesehen. Er erzählte mir in höchster
Aufregung, daß er auf einem Ausflug in den Jura mit einem Landjäger
zusammengestoßen sei, der ihn nach seinen Legitimationspapieren gefragt
und ihm, da er dies ungehörig fand und in der freien Republik von der
Polizei sich nichts gefallen lassen wollte, die Handschellen anlegte
und so einem Straßenräuber gleich in die nächste Stadt transportierte.
-- „Warum bist Du auch so widerhaarig gegen diesen rauhen Diener des
Gesetzes gewesen? Mit solchen Leuten kommt man durch Höflichkeit
weiter.“ Das mochte ich gesagt haben, anstatt in lebendige Entrüstung
auszubrechen, und das hat er mir wahrscheinlich nie vergeben. Sein „Das
werde ich der Schweiz gedenken“ hat er hingegen vergessen.

[Illustration]



[Illustration]

XVIII.

Nach Dresden gewählt. Kämpfe um die Reichsverfassung.


Nach und nach wurde ich in Leipzig heimisch und auch zu den Sitzungen
der dortigen Vereine zugezogen, in denen ich bisweilen das Wort
ergriff. So geschah es, daß ich Ende April 1849 von den Leipziger
Arbeitervereinen zu ihrem Vertreter bei einer von der sächsischen
Regierung nach Dresden einberufenen Versammlung von Vertrauensmännern
aus Industrie- und Handwerkerkreisen ernannt wurde, welcher der Entwurf
eines neuen Gewerbegesetzes zur Beratung unterbreitet war.

Diese Ernennung mußte für mich, wie ich nach der Lage der Dinge
wohl vorhersehen konnte, eine unausbleibliche Schicksalswendung
herbeiführen. Ich ging nach Dresden, richtete mich daselbst für einen
mehrwöchigen Aufenthalt ein, aber schon nach wenigen Tagen erhob sich
dort das Volk zu gunsten der vom Frankfurter Parlament ausgegangenen
Reichsverfassung, welcher der König von Sachsen seine Anerkennung
versagte. So befand ich mich plötzlich mitten im blutigen Kampfe.

Ich habe kurz auf die Novemberereignisse in Wien und Berlin
hingewiesen. Schrittweise machte die Reaktion Fortschritte und ihre
Triumphe waren entscheidend für das ganze Land. Darüber jedoch sind
die Bewegungen in den Provinzen nicht zu übersehen. Es wirbelte und
wogte überall. Ortschaften, von denen man vorher kaum gesprochen,
wurden zu Mittelpunkten leidenschaftlichen Vorgehens gegen die alte
Ordnung, und die Meldungen von Unruhen und Aufständen wechselten mit
solchen von heftigen Zusammenstößen zwischen Militär und Volk. In
einzelnen Staaten wurde die Todesstrafe von der Volksvertretung in
gesetzlicher Form aufgehoben, in Wien wurde das Standrecht an Robert
Blum ausgeübt. Auf derselben Seite einer Zeitung stand die Meldung
von Vereinsauflösungen und von der Neugründung demokratischer Klubs.
Während in Berlin ein Arbeiterkongreß ungehindert tagte, kam es in
München zu blutigen Angriffen des Militärs auf das Volk und wurden in
Frankfurt, ja in dem sonst so stillen Darmstadt Barrikaden gebaut. Am
raschesten traten politische Umwälzungen in den kleinsten deutschen
Staaten ein. Die Fürsten von Waldeck und von Sigmaringen sahen sich
genötigt, die Flucht zu ergreifen. In mehreren württembergischen
Städten fanden republikanische Versammlungen statt. In Dresden und
Leipzig waren Freischarenzüge zur Unterstützung der von Windischgrätz
bedrohten österreichischen Hauptstadt geplant worden, während
man in Berlin einen Kongreß demokratischer Vereine eröffnete und
gleichzeitig General Wrangel seinen Einzug in die preußische Hauptstadt
vorbereitete. In mehreren anderen Städten, da und dort, wird der
Belagerungszustand erklärt, die preußische Nationalversammlung wird
gewaltsam aufgelöst, die Bürgerwehr entwaffnet; einige Wochen später
aber wird ein Bürgerwehrkongreß in Breslau eröffnet. Dabei herrscht ein
kleiner Bauernkrieg in Schlesien. In der Provinz Posen stehen polnische
Sensenmänner gegen preußische Soldaten im Felde und in Mecklenburg wird
an der alten Feudalverfassung gerüttelt. Deutschland war aus allen
Fugen. Dies und nicht der gut Wille der im Absolutismus erzogenen
regierenden Herren erklärt es, daß die gestürzte unbeschränkte
Alleinherrschaft des Königtums nicht wieder erstehen konnte. Die
verfassunggebenden Versammlungen wurden gewaltsam aufgelöst, doch
angesichts der überall auflodernden, zum Widerstand geneigten
Volksstimmung sah die Reaktion sich genötigt, über eine gewisse Grenze
in ihren Triumphen nicht hinauszugehen. Es wurden die schon bewilligten
Volksvertretungen nicht vernichtet, sondern in ihren nicht allzugroßen
Befugnissen noch geschmälert; die Preßfreiheit wurde nicht aufgehoben,
sondern polizeilich und richterlich nach und nach zu einem Schatten
verkümmert. Damit wurde aber auch der oppositionelle Geist geschürt,
und der Weg zur Wiederaufnahme der gewaltsam unterbrochenen Bewegung
blieb infolge dessen offen. Es bedurfte eines sehr geringen Zeitraumes
und aus den verworrensten Bestrebungen erhob sich eine starke,
geeinigte Nation, die ihre Geschicke in den eignen Händen hält. Das
„tolle Jahr“ mit allen seinen Jugendstreichen, seinen himmelstürmenden
Anläufen und seiner idealen Begeisterung hatte alle Kräfte des
deutschen Volkes wachgerufen, sie geübt in unablässigen Kämpfen und
sie dazu befähigt, die Grundsteine zu einer gesicherten Zukunft fest
in einander zu fügen. Heute arbeitet dasselbe Volk am Ausbau seiner
stolzen Jugendpläne. Der Streit ist freilich nicht aus den Grenzen des
Landes gewichen, auf allen Gassen ertönen noch die Schlachtrufe der
Parteien; doch Thoren nur können darüber erschrecken. Parteienkämpfe
sind die Zeugnisse von der Gesundheit eines Volkes. Mögen sie nur immer
kräftiger sich ausleben und möge man sie in aller Freiheit gewähren
lassen, so lange sie die Freiheit anderer nicht bedrohen. Was der
Verwirklichung wert ist, wird sich verwirklichen; was ihrer nicht wert
ist, wird untergehen.

Diese Betrachtung mußte ich der Erzählung der Ereignisse voranschicken,
deren Zeuge ich war und an denen ich einen persönlichen Anteil nahm.

       *       *       *       *       *

Ich habe nur einer einzigen Sitzung der oben erwähnten, von der
sächsischen Regierung einberufenen Kommission zur Vorbereitung eines
den Kammern zu unterbreitenden Gewerbegesetzes beigewohnt. Die
Versammlung, in die ich eingetreten war, machte auf mich ganz und
gar den Eindruck eines parlamentarischen Körpers. Auf einem erhöhten
Platz der Vorstand. Der Präsident, ein namhafter Industrieller,
dessen Name mir nicht erinnerlich ist, leitete die Beratungen in
einer sympathischen Weise. Unter den Abgeordneten gab es eine Rechte,
eine Linke und ein Zentrum. Die Vertreter des Handwerks -- und ein
solcher hatte sich eben vernehmen lassen -- steckten noch tief in den
Zunftideen. Dies veranlaßte mich, das Wort zu ergreifen. Ich merkte,
daß man auf den neu hinzugetretenen Mitarbeiter -- die Versammlung
tagte schon seit einiger Zeit, ich verdankte mein Mandat einer Nachwahl
-- ein wenig gespannt war. Das wirkte anregend auf mich und mein Debüt
wurde freundlich aufgenommen. Dabei wäre es wahrscheinlich nicht
geblieben, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, öfter in die Debatte
einzutreten; ich hätte meinem Naturell nach, ein junges Füllen, den
Karren, vor den man mich gespannt, umgeworfen. Dieser einen Sitzung
folgte jedoch keine zweite.

Während wir als ruhige Volksvertreter über einen trocknen Paragraphen
des Gewerbegesetzes debattierten, begann eine ungewohnte Bewegung in
den Straßen. Der Lärm wurde stärker und wilder, und drang durch die
offenen Fenster in unsern Saal. Bureaudiener traten erschrocken ein und
sprachen mit dem Präsidenten. „Der Sturm bricht los, das Volk steht
auf,“ murmelte ich vor mich hin. Dieser Ansicht mußte auch der wackre
Präsident sein. Denn er hob die Sitzung auf und kündigte uns an, daß er
zur nächsten Sitzung persönliche Einladungskarten erlassen werde, da
er heute nicht wissen könne, wann diese stattfinden werde.

Als ich auf die Straße kam, hatte der +Dresdner Maiaufstand+
begonnen und ich wurde, um mich eines bald darauf in Sachsen
entstandenen Ausdrucks zu bedienen, einer der ersten „Maikäfer.“ Ich
habe indessen den Blätterfall jenes kampferfüllten Jahres glücklich
überlebt und hoffe, noch einige Mal des grünen, des wunderschönen
Monats Mai mich zu erfreuen.

Auf den Aufstand in Dresden war niemand vorbereitet. Er war nichts
anderes als ein Zornesausbruch aufgeregter Gemüter und es bedurfte des
Zusammentreffens mancherlei verhängnisvoller Umstände, um ihn möglich
zu machen. Deshalb hat dieser Aufstand, der sich in seiner germanischen
Gründlichkeit sechs lange Tage hinzog, etwas Typisches für deutsche
Verhältnisse und deshalb darf ich mir auch als ein in alle Phasen
desselben direkt Eingeweihter auch eine Schilderung dieser Vorgänge
erlauben.

Die erste Mainummer der von mir redigierten „Verbrüderung“ brachte
unter dem Titel „Worauf wartet ihr noch?“ einen mit ~B.~
unterzeichneten Artikel, der wie folgt beginnt: „So lange es sich nur
um die Reichsverfassung handelte, erwarteten wir vom deutschen Volke
keine Erhebung, denn es giebt nichts Widersinnigeres als durch eine
Revolution einen König zwingen zu wollen, daß er eine Krone annehme.
Jetzt ist die Frage eine andere: Steht es den Fürsten zu, mit den
Vertretern des Volkes zu spielen und sie auseinander zu jagen, wenn
es ihnen so beliebt? Das Volk hat das Recht, seinen Abgeordneten in
Frankfurt die entschiedene Mißbilligung ihres bisherigen Verhaltens
kund zu geben; wir, die Wähler, haben das Recht, sie zurückzuberufen
oder sie auseinander zu jagen, wenn sie nicht gehen wollen, aber
den Fürsten steht dieses Recht nicht zu. Indem wir die Frankfurter
Versammlung unterstützen, unterstützen wir die Volkssouveränetät, und
nichts anderes.“ Der Artikel, der uns heute nicht in allen Punkten
unanfechtbar erscheint, schließt mit den folgenden Sätzen: „Die
hannöversche Kammer ist aufgelöst, die sächsische Kammer ebenfalls,
die Fürsten wollen mit ihren vorsündflutlichen Ministern regieren, der
Mut ist ihnen gewachsen, je mehr der passive Widerstand des Volkes
zur Komödie geworden. Es bleibt der Reaktion nichts mehr übrig als
sich nach einem Sibirien für die Volksführer umzusehen, oder sie
samt und sonders zu Pulver und Blei zu begnadigen. Angekündigt ist
uns die Herrschaft der Knute schon, worauf warten wir noch?“ Aus
diesen letzten Sätzen spricht die Stimmung der Zeit. Sie waren voll
berechtigt. Man durfte das schwer Errungene nicht ohne Widerstand der
wachsenden Reaktion preisgeben, wollte man dieser nicht die historische
Berechtigung zur Rückkehr in die Tage des absoluten Königtums und zur
härtesten Verfolgung der deutschen Einheitsbestrebungen zusprechen.

Zur Kennzeichnung der Situation in Dresden sei hier noch folgendes
angeführt: Der König von Sachsen hatte nach Auflösung des Landtags
dem Ministerium versprochen, die deutsche Verfassung anzuerkennen. Da
erschien ein preußischer Kourier, der König von Sachsen nahm sein Wort
zurück und die Minister reichten ihre Entlassung ein. Deputationen
bestürmten den König, um ihn zur Anerkennung der Verfassung zu bewegen,
allein er wies sie hartnäckig zurück, indem er den oft gehörten Einwand
erhob, daß die Reichsverfassung nicht geeignet sei, die Einheit zu
begründen, sondern nur Zerstückelung hervorrufen könne. Er erklärte,
daß er in dieser Frage ganz im Einverständnis mit dem König von Preußen
handle. Das Volk aber, in allen seinen Schichten, mit Ausnahme der
ganz geringen Minderheit, die ihre Parole vom Hofe anzunehmen gewohnt
war, wollte die Reichsverfassung, und so wuchs die Volksaufregung mit
jeder Stunde.

[Illustration]



[Illustration]

XIX.

Der Maiaufstand in Dresden.


1.

Die Dresdner Bürgerwehr, richtiger „Kommunalgarde“, wollte im Schloßhof
eine Demonstration zu gunsten der Reichsverfassung machen, sie wurde
durch ihren Oberkommandanten, da er im entscheidenden Moment von seiner
Stelle zurücktrat, daran verhindert. Die Bürger schämten sich, ohne
etwas gethan zu haben, wieder nach Hause zu gehen, sie hatten durch
die Zeitungen eben erst erfahren, wie leicht es den Württembergern
geworden, den Widerstand ihres Königs zu brechen, und es war auch eine
allgemein verbreitete Ansicht unter den Dresdnern, Friedrich August
wolle sich nur ein wenig drängen lassen, um dem König von Preußen
gegenüber sich damit entschuldigen zu können, daß er vom Volkswillen
zum Nachgeben gezwungen worden sei. Um 1 Uhr mittags sollte der Zug
nach dem Schloßhof stattfinden und noch mehrere Stunde nachher stand
die Kommunalgarde eines Kommandos gewärtig auf dem alten Markt. Das
Volk sammelte sich während dieser Zeit sehr langsam auf den Straßen,
erst allmählich sah man größere Trupps erscheinen, die sich aber
ziemlich passiv verhielten bis auf einige Äußerungen, die man hie und
da vernahm, die aber keineswegs sehr leidenschaftlichen Charakters
waren. Es befanden sich noch in keiner Straße soviel Menschen, daß
eine Hemmung der hin- und herrollenden Wagen hätte entstehen können.
Das Militär war im Schloß, im Zeughause und in allen öffentlichen
Gebäuden in der Nähe der Elbbrücke zusammengezogen, es ließ sich noch
nirgends blicken; es unterließ es sogar, einzuschreiten, als ein
kleiner Haufen junger Leute, die Pferde, die, wie man sagte, den König
aus der Stadt bringen sollten, zurückhielt und vor alle Eingänge des
Marstalls einige Stangen und Bretter hinlegte, die kaum eine Andeutung
von Barrikaden waren. Ich ging mit einem Freunde nach der Elbbrücke.
Auf einem Wirtshause in ihrer Nähe flatterte eine schwarzrotgoldene
Fahne, etwa zwanzig Menschen sammelten sich um dieselbe und sprachen
gegen den Besitzer den Wunsch aus, sie mitzunehmen. Dieser weigerte
sich, sie herzugeben, that es aber endlich, als sie ihm bezahlt
wurde. Die Kommunalgarde blieb immer noch unthätig, die geringe Anzahl
thatkräftigen Volkes aber, das sich zusammen gefunden, war unbewaffnet,
und nichts natürlicher, als daß es seine Demonstrationen gegen das
Zeughaus begann. Es lärmte in dessen Nähe und machte auch Miene, sich
durch Gewalt Waffen zu holen. Da wurden drei Personen niedergeschossen
und jetzt erst sah ich leidenschaftliche Gesichter.

Es wurde eine Leiche nach dem alten Markt gebracht. Es findet sich in
solchen Momenten stets ein leerer Wagen, der dazu den Dienst leisten
muß; es finden sich immer Menschen, die den Wagen mit seiner blutigen
Last durch die erschreckten Straßen ziehen. Wir hörten Rachegeschrei.
Eine Frau im Hause des zurückgetretenen Oberkommandanten, es war die
berühmte Opernsängerin Schröder-Devrient, reißt das Fenster auf und
schreit in unartikulierten Tönen zu uns hernieder, daß uns graust. Wir
können keine Silbe verstehen, ihre heftigen Gebärden aber sagen allen
nur zu klar, daß sie zum Kampf aufruft. Alles schreit nach Waffen und
eilt hier- und dorthin, um sich in den Kampf zu werfen.

Auch die Kommunalgarde und die Turnerkompagnie erhielten plötzlich den
Befehl, nach dem Zeughaus zu marschieren. Ich schloß mich ihnen, wenn
auch unbewaffnet, mit vielen andere an. „Haltet aus, Brüder!“ so wurde
ihnen vom Volke zugerufen, doch wir bemerkten manches bestürzte Gesicht
unter den privilegierten Bewaffneten. Sie hatten keine Munition.
Ein Teil dieser Mannschaft mochte wohl glauben, man marschiere vor
das Zeughaus, um das dort zum Sturm bereitstehende, wütende Volk zu
vertreiben; ein anderer, kleinerer Teil, um selbst mit Hand an das
Zeughaus zu legen, dessen Hauptthor jetzt durch eine verwegene Schaar
mehrfach mit einem Wagen angerannt wurde. Doch kaum gab es den Stößen
nach, so öffnete es sich auch von innen und drei Kartätschenschüsse
wurden hintereinander auf den dichten Volkshaufen abgefeuert. Die
Kommunalgardisten stoben nach allen Seiten auseinander, nur die Turner
hielten Stand und erschossen zwei Offiziere und einen Kanonier. Die
Leichen der Volksstreiter wurden in das dem Zeughause gegenüberliegende
Klinikum getragen. Während der darauffolgenden Nacht erstanden in allen
Hauptstraßen die Barrikaden, die während sechs Tagen und Nächten mit
hartnäckiger Ausdauer gehalten wurden.

Die blutigen Vorgänge am Zeughause wiesen immer ernster auf die
Notwendigkeit eines Oberkommandos hin. Der Oberstleutnant Heinze,
ehemals in griechischen Diensten, wurde zum Oberkommandanten ernannt,
kurz nachdem man den Fehler begangen, Kommunalgarden und Turner nach
Hause zu schicken, um sie, wie man sagte, „zur nötigen Zeit“ wieder
zusammenrufen zu lassen. Es war vorherzusehen, daß es allen Tambours
der Welt nicht mehr gelingen werde, die Kommunalgarde auf die Straße zu
rufen.

Am andern Tage begnügte man sich damit, mehr Barrikaden zu bauen.
Ich erwartete von dem neuen Oberkommandanten, daß er wenigstens die
wichtigsten Punkte werde besetzen lassen. Herr Heinze aber begnügte
sich damit, mit einem der am wildesten sich gebärdenden Schreier,
dessen ganzes Verdienst darin bestand, daß er den Helm eines gefangenen
Reiters auf dem Kopfe trug und einen höchst lächerlichen Anblick
darbot, in den Straßen umherzuziehen und Anordnungen anzubefehlen, die
dem insurgierten Volke sein eigener Instinkt schon eingegeben. Auf
dem Rathause wurden Schußwaffen und Sensen ausgeteilt. Wer ein Gewehr
empfangen, konnte ohne weiteres damit fortgehen, wohin es ihm beliebte.
Man dachte nicht daran, Kompagnien mit Führern zu formieren, alles
lief bunt durcheinander.

Die daheim schon geordneten Zuzüge, die am 4. und 5. Mai, aus allen
Orten des Landes kommend, in Dresden sich einstellten, brachten bald
ein anderes Leben in die insurgierte Stadt.

Zu gleicher Zeit mit der Ernennung des Oberstleutnants Heinze zum
Oberkommandanten der Kommunalgarde wurde auch von den in Dresden
anwesenden Abgeordneten beider Kammern die provisorische Regierung
gewählt. Nachdem die Abgeordneten Tzschirner, Heubner und Todt
ihre Stellung eingenommen, ließen sie sogleich die anwesenden
Kommunalgardisten und Freischaaren den Eid auf die Reichsverfassung
leisten und zur Verteidigung der Barrikaden kommandieren. Da kam
mit einem Male die überraschende Meldung, das Zeughaus wolle sich
übergeben. Ich war ganz in der Nähe, der Eingang zum Zeughaus
war in der That schon von Kommunalgardisten besetzt und meinem
anständigen Rock hatte ich es zu verdanken, daß man mir nicht wie
andern Nichtuniformierten den Einlaß verweigerte. Ich erinnere mich,
daß jemand hinter mir die Worte äußerte: „Was ist denn der mehr
als ich, ich will auch hinein!“ Der Mann hatte recht. Es war der
gröbste Fehler, den man begehen konnte, daß man nicht die Massen
in das Zeughaus eindringen ließ, Kommunalgardisten waren ja in viel
zu geringer Zahl erschienen. Im Hofe des Zeughauses war der Jubel
allgemein, die Soldaten umarmten uns, wir tranken uns zu mit Hochs auf
die Reichsverfassung, auf die Verbindung von Volk und Heer; ich war der
sicheren Überzeugung, daß die Menschen, die sich hier so herzlich die
Hände reichten, nie wieder gegeneinander die Waffen ergreifen könnten.

Da trat ein Offizier an mich heran, dem ich deutlich ansah, daß ihm
bei der allgemeinen Freude nicht recht wohl zu Mute war. Er sagte
etwas verlegen: „Mein Herr, daß hier nur kein Mißverständnis entsteht.
Wir wollen das Zeughaus nicht an das Gesindel übergeben, denn es
ist unsere Pflicht, das Staatseigentum vor Plünderung zu bewahren.
Die Besatzung soll teils aus Militär, teils aus Kommunalgardisten
bestehen.“ Etwa hundert bewaffnete Bürger, darunter zehn in Uniform,
waren im Hofe des Zeughauses, und trotz des Generalmarsches, der auf
Befehl des Oberkommandanten Heinze durch alle Straßen wirbelte, waren
nicht mehr Kommunalgardisten aufzubringen, mit denen man das Zeughaus
hätte besetzen können. Was Wunder, daß die Offiziere am andern Morgen
die Konvention wieder aufhoben, die wenigen Männer aus dem Volke, die
während der Nacht im Zeughause geblieben waren, fortschickten und die
Eingänge schlossen? Wir hatten also keine Kanonen daraus entnehmen
können, wie es auf unserer Seite die Absicht gewesen war.

[Illustration]



[Illustration]

XX.

Der Maiaufstand in Dresden.


2.

Am Morgen des 5. Mai waren die Barrikaden größtenteils besetzt. Ich
ging nach der Schloßgasse, weil ich annehmen durfte, daß hier der
Hauptangriff von Seiten des Militärs geschehen werde. Die dem Schloß
zunächst gelegene Barrikade war noch sehr schwach und konnte kaum
einige Kanonenschüsse aushalten. Die Besatzung nahm meine Ratschläge
bereitwillig an und befestigte sie derart, daß sie bald eine der
stärksten in der Stadt wurde. Ein Gardist hatte hier das Kommando,
er übergab es mit Zustimmung der Mannschaft an mich und ließ sich
nicht wieder sehen. Ich gab sogleich Befehl, die Wände der Häuser,
die von meiner Barrikade aus sowohl vorwärts nach dem Schlosse zu
als rückwärts nach dem Rathause zu liefen, zu durchbrechen, weil
ich vorauszusetzen Grund hatte, daß das Militär Cavaignacs Methode
vom Juni 1848 befolgen werde. Es war also unsere Aufgabe, dem
Militär in der Besetzung der Häuser und dem Vorwärtsdringen durch
die durchbrochenen Wände zuvorzukommen. Dieser Maßregel ist es
zuzuschreiben, daß die Schloßgasse, der Dardanellenpaß zwischen den
Centren der kämpfenden Parteien, wie sie ein Zeitungskorrespondent
richtig benannt, unbezwinglich war und daß wir hier bis zum Moment des
Rückzugs unsere Positionen behaupteten. Der Oberkommandant, dem ich von
meiner Maßregel Kenntnis gab und der sie ganz und gar billigte, that
aber nichts, daß dasselbe auch in allen übrigen Straßen geschah, und
dieser Fahrlässigkeit ist es zuzuschreiben, daß das Militär plötzlich
in Häusern erschien, in denen man es gar nicht vermutete und Straßen,
die sich am wirksamsten verteidigt hatten, abzuschneiden drohte.

Nachdem ich meine Mannschaft postiert hatte, trat ein Abgeordneter
der sächsischen Kammer zu mir mit der Bemerkung heran, ob wir etwa
gesonnen seien, den berühmten passiven Widerstand hier zu wiederholen.
Ich schickte ihn sogleich mit der Frage auf das Rathaus, ob auf die mit
Soldaten besetzten Fenster des Schlosses Feuer gegeben werden solle?
Er brachte mir die schriftliche Antwort, daß man dies meinem Ermessen
überlasse, behielt aber diesen Zettel als ein ihm teures historisches
Dokument, das er später noch auf der Flucht aus Sachsen besaß, bei
sich. Ich ließ sogleich ein Pelotonfeuer auf die Schloßfenster geben
und hiermit war der eigentliche Kampf eröffnet. Die Erwiderung vom
Schlosse aus ließ keine Minute auf sich warten. Auf allen Straßen
der Stadt brach jetzt zugleich das Gewehrfeuer los. Das Militär ließ
sich nirgends auf offener Straße blicken, es entwickelte sich ein
Kampf von Haus zu Haus. Beide Parteien waren gut gedeckt und diesem
Umstande ist es zuzuschreiben, daß trotz des unausgesetzten Feuerns
auf beiden Seiten die Zahl der Gefallenen eine mäßige blieb. Die
Häuser, welche wir besetzt hatten und besonders die Barrikaden wurden
bald mit Kartätschkugeln überschüttet, auch Vollkugeln wurden gegen
Erker und Balkone abgefeuert, doch meist ohne große Wirkung, da unsere
Mannschaft während des Artillerieangriffs, bei dem die Infanterie
nicht vorrücken konnte, sich rechts und links in die Hausfluren in
geschützte Stellung begab. Unsere Jungmannschaft verteidigte mit
einer Hartnäckigkeit ihre Position, wie dies gewiß selten bei solchen
Straßenkämpfen vorgekommen; außerordentliche Anstrengung aber,
Übermüdung, nicht Mutlosigkeit, lichtete unsere Reihen von Tag zu
Tage. Die Zuzüge, die fortwährend eintrafen, reichten kaum hin, um die
Lücken wieder auszufüllen, die durch die Erschöpfung unserer Kämpfer
entstanden. Unsere Zahl, die höchstens 3000 Mann betrug, verringerte
sich also fortwährend, während die des Militärs, das beim Ausbruch des
Kampfes durch preußische Garden unter Oberst v. Waldersee Unterstützung
erhielt, fortwährend anwuchs. Unsere Bewaffnung stand hinter derjenigen
der Soldaten weit zurück, die zwei Vierpfünder, welche die Freiberger
Bergleute mitgebracht hatten, dienten mehr zum Lärmmachen als zu einem
namhaften Erfolge gegenüber der sächsischen Artillerie.

Am 6. Mai gelang es dem Militär, den Neumarkt, die Moritzstraße und
die innere Pirnaische Straße durch unausgesetzte Angriffe zu gewinnen.
Auch von der entgegengesetzten Seite der Stadt, der Ostra-Allee und
dem Postplatz kam uns das Militär unaufhaltsam näher und es sind die
Verluste, welche wir an diesen Stellen erlitten, teilweise auf Rechnung
des Oberkommandanten Heinze zu setzen. Er hatte sehr wichtige Eckhäuser
entweder gar nicht oder viel zu schwach besetzen lassen, wie er denn
keinen Plan verfolgte, sondern alles den Eingebungen der verschiedenen
Barrikaden- oder Viertelskommandanten überließ. Plötzlich drang das
Gerücht zu uns, Heinze sei gefangen worden. Er war in seiner bayrischen
Uniform am Morgen des 7. Mai ausgegangen, um, wie er sagte, die
Stellung des Feindes zu rekognoszieren; er hatte zwei Wehrmänner mit
sich genommen, denen er befahl, fünfzig Schritte hinter ihm zu bleiben,
und war mit einem Male verschwunden. Man behauptet, vielleicht nicht
ohne Grund, er habe sich fangen lassen. Wir wußten in der Schloßgasse,
die bisher allen Angriffen widerstanden hatte, von den Verlusten in
anderen Teilen der Stadt zwei Tage lang nichts. Einer jetzt von der
unserer Schloßgasse parallel laufenden Schössergasse drohenden Gefahr
konnte noch begegnet werden, indem wir selbst nach der Schustergasse zu
durchbrachen und so den vordringenden Soldaten in den Rücken kamen, die
sich nun, um nicht abgeschnitten zu werden, wieder zurückzogen.

Am 8. Mai früh am Morgen wurden sämtliche Viertelkommandanten auf
das Rathaus berufen und dort wurde uns die Frage vorgelegt, ob wir
glaubten, die Stadt noch länger halten zu können oder ob wir den Kampf
aufgeben und den Rückzug anordnen wollten. Ich sah das Gefahrvolle
unserer Lage ein, der Sieg wäre nur durch eine kaum noch zu erwartende
Vermehrung unserer Streitkräfte zu erringen gewesen, dagegen behauptete
ich, daß wir uns mindestens noch 24 Stunden halten könnten und es nicht
gestattet sei, eine Position aufzugeben, bevor sie völlig unhaltbar
geworden, daß wir das Militär noch eine Zeit lang an verschiedenen
Punkten mit Erfolg beschäftigen und so die Entscheidung hinausschieben
könnten. Die Möglichkeit des Eintreffens eines stärkeren Zuzugs, so
wenig wahrscheinlich eine solche Hülfe jetzt auch sei, nötige uns,
bis zum äußersten Moment auszuharren. Ein Hauptangriff war von der
Wilsdruffer Seite, dem Postplatze aus, zu gewärtigen. In der Post
selbst war ein Corps Techniker, das dieselbe als neutralen Boden
bewachen wollte. Herr Heinze hatte diese Bedingung zugelassen, doch
gerade die Post hätte von uns sehr stark besetzt sein müssen, weil sie
der Schlüsselpunkt der Wilsdruffer Barrikade war. Nun geschah es aber,
daß die neutralen Techniker, so wie ihre Stellung gefährlich wurde,
diese verließen und daß das Militär den von ihnen aufgegebenen Posten
einnahm. Nächst der Post waren es die Soldaten in der Spiegelfabrik,
die die Wilsdruffer Barrikade und diejenige am Eingang der
Scheffelgasse heftig beschossen, so daß die Kugeln bis auf den alten
Markt flogen. Ich schlug deshalb vor, die Spiegelfabrik in der nächsten
Nacht in die Luft zu sprengen, dabei einen Ausfall auf die Post und
die Geschütze in der Ostraallee zu machen, zugleich die Soldaten,
welche rechts und links von der Schloßgasse wieder eingedrungen waren,
durch Durchbrechen der Mauern in der kleinen Brüdergasse, ebenso
wie es von der Sporgasse aus geschehen war, von ihrem Centrum, dem
Schloß, abzuschneiden. Man übertrug mir das Oberkommando. Während des
Tages machten wir auf allen Seiten Fortschritte, so daß ich sogar
einen Ausfall nach dem Freiberger Schlage machen konnte und dort die
Kavallerie, welche unsere Rückzugslinie besetzt hielt, vertrieb. Die
Entscheidung hatte ich von der Sprengung der Spiegelfabrik erwartet
und ein Zufall mußte diesen Plan vernichten. Die Bergleute, welche die
Grube anlegten, konnten ihre Arbeit schon wegen der Gefahr des Verrats,
nicht am hellen Tage ausführen; sie ließen deshalb ihre Werkzeuge
in dem Loche liegen, um in der Dunkelheit ihre Arbeit zu vollenden.
Um zehn Uhr abends kamen sie mit der Meldung zu mir, daß ihnen ihr
Handwerkszeug fortgenommen sei und daß sie deshalb heute nicht mehr
weiter arbeiten könnten. Es waren in der That zu so später Stunde keine
Werkzeuge mehr aufzutreiben und die Sprengung konnte deshalb in dieser
Nacht nicht ausgeführt werden.

Ich darf nicht vergessen, an dieser Stelle eine Persönlichkeit zu
erwähnen, die ich im Rathause antraf, als mir auf den Antrag der
zu einer notwendigen Besprechung einberufenen Viertelskommandanten
nach dem Verschwinden des Oberstlieutenants Heinze das Oberkommando
übertragen wurde: es war Michael Bakunin, der überall dabei sein
mußte, und hier, wie wahrscheinlich an allen anderen Orten, wo nicht
das Wort, sondern die That entschied, sehr überflüssig war. In einigen
Lebensskizzen, die ihm gewidmet sind, wird Bakunins vermeintlicher
Mitwirkung am Aufstande zu Dresden Erwähnung gethan. Er war in früher
Jugend Lieutenant in der russischen Artillerie gewesen. Wahrscheinlich
deshalb schrieb man ihm eine wichtige Rolle in Dresden zu. Ich habe
nur so viel bemerkt, daß er den Mitgliedern der provisorischen
Regierung, die im Rathause amtierten, sehr unbequem war, indem er
in alles dreinredete und alles von ganz falschen Gesichtspunkten
aus betrachtete. Man denke nur einen Augenblick an den ungeheuren
Unterschied der Geistesbildung und Weltanschauung deutscher Juristen
wie Heubner und Todt und dieses, wenn auch kosmopolitisch angehauchten,
immerhin nur stockrussischen ambulanten Revolutionärs. Die genannten
Mitglieder der provisorischen Regierung waren liberale deutsche Bürger,
die ihr gefährliches Amt gewiß nicht ohne inneren Kampf angenommen
hatten und sich ihrer Verantwortlichkeit voll bewußt waren; aber
Bakunin! Er träumte von der Errichtung einer großen panslavistischen
Republik, die von der sächsischen Grenze, denn Böhmen gehörte ja dazu,
bis über den Ural hinaus sich ausdehnte, ihre Macht über den ganzen
Osten Asiens erstreckte, überall das russische Gemeineigentum der
Bauern an Grund und Boden einführte und damit die Welt erlöste, wenn
sie auch gar nicht darauf versessen war, ihre Zivilisation auf den
Kulturgrad des russischen Landvolks zurückzuschrauben. Dieser Russe,
der absolut kein Auge, keinen Sinn für die wirklichen Verhältnisse
hatte, unter denen er in Deutschland lebte, hat natürlich in Dresden
auch nicht den geringsten Einfluß auf den Gang der Dinge gehabt. Er
aß und trank und schlief im Rathaus, und das war alles. Er hatte
auch wirklich Glück in Dingen der Selbsterhaltung. Als die Nacht
angebrochen war, meldete man mir, daß ein Zuckerbäcker dem Oberkommando
einen Kuchen und zwei Flaschen Rotwein gesandt habe. „Ein cherrlicher
Mensch!“ rief er aus. „Dem wird der Chimmel seine Sorge für die
Chungrigen lohnen.“ Er aß und trank, legte sich dann auf eine bereit
gehaltene Matratze hin und schnarchte, während ich mit Heubner über die
Sorge des kommenden Tages mich besprach und wir beide in der Erwartung
der nahenden Dinge kein Auge schlossen.

Vor Morgenanbruch wurde die Wilsdruffer Barrikade von den preußischen
Soldaten angegriffen. Was ich nur an Mannschaft aufbringen konnte,
schickte ich zur Verstärkung an jenen Punkt. Wir mußten der Überzahl
weichen, die Barrikade und das derselben zunächst liegende Eckhaus, die
Engel’sche Wirtschaft, war nicht mehr zu halten. Ein Mädchen, das an
dieser Stelle trotz zweier Verletzungen bis zum äußersten Moment neben
ihren Kameraden ausgehalten, kam mit der Meldung, daß die Position
verloren sei. Sie hatte Lust, wieder in den Kampf zurückzukehren. Ich
überredete sie, jetzt auf dem Rathause zu bleiben, ich sah sie in
Freiberg zum letztenmale.

Wir hätten uns trotz dieses Verlustes wohl noch einen Tag halten
können, die Stadt aber wäre während dieser Zeit vom Militär so zerniert
worden, daß ein geordneter Rückzug zur Unmöglichkeit geworden wäre.
Ich hielt es für vernünftiger, einige Tausend der bravsten jungen
Leute für eine bessere Zukunft zu erhalten, und gab deshalb den Befehl
zur Rückkehr nach Freiberg. Ich ließ ihn derart ausführen, daß in
jeder Straße mehrere Schützen an den Fenstern zurückblieben und den
vorsichtig heranrückenden Gegner beschäftigten, so daß um 5 Uhr des
Morgens vom 9. Mai gegen 2000 bewaffnete Barrikadenkämpfer auf der
Straße nach Freiberg zu marschierten. Nachdem ich den Rückzugsbefehl
erteilt hatte, ging ich hinab in das Erdgeschoß des Rathauses, wo in
allen Räumen und im Flur die todmüden Kämpfer, die bei mangelhafter
Ernährung nach mehrtägigem ununterbrochenen Dienst sich nicht mehr
auf den Beinen halten konnten, und sich dorthin zurückgezogen hatten,
in schwerem Schlafe dalagen. Ich ließ in dem geschlossenen Raume
die Trommel schlagen, sie tönte, als gälte es Tote aus dem Grabe zu
erwecken -- umsonst! Einige Rathausbeamte halfen mit, den einen und
andern emporzuzerren. Wir schüttelten sie, ich schrie ihnen ins Ohr,
sie dürften jetzt nicht schlafen, sie müßten zum Aufbruch bereit sein.
Als ich die Hand von ihnen entfernte, fielen sie wie die Klötze wieder
um und schliefen weiter. Sie waren nicht zu retten, sie gerieten fast
alle in Gefangenschaft.

[Illustration]



[Illustration]

XXI.

Zug nach Freiberg. Richard Wagner.


In Freiberg langte ich mit etwa 2000 Mann aus der eingenommenen Stadt
an. Heubner, das einzige Mitglied der provisorischen Regierung, das
bis zum Moment der Ausgabe des Rückzugsbefehls im Rathaus ausgehalten,
war in Freiberg, wo er zu Hause war, einige Stunden vor uns angelangt.
Ich suchte ihn in seiner Wohnung auf. Als mir die Thür zu seinem
Zimmer geöffnet wurde, in welchem sich mehrere mir unbekannte Personen
befanden, nannte er mich. Da stürzte ein begeisterter Mann mit offenen
Armen auf mich zu, küßte mich und brach in die glühenden Worte aus:
„Nichts ist verloren! Die Jugend, ja die Jugend, die Jugend wird
alles wieder gut machen, alles retten!“ Es war +Richard Wagner+,
der meine Ankunft in dieser Weise begrüßte, und er umarmte mich noch
einmal. Ich hatte ihn nie vorher gesehen, ich war später häufig bei
ihm in Zürich, ich sehe ihn immer noch vor mir in jenem Augenblick
der ersten Begegnung. Wodurch eigentlich der königlich-sächsische
Hofkapellmeister sich so kompromittiert hat, daß er die Flucht
ergreifen mußte, weiß ich heute noch nicht. Ich habe ihn nie darnach
gefragt. Der sächsische Hof hatte besonderes Mißgeschick mit seinen
berühmten Künstlern. Er verlor Gottfried Semper durch den Mai-Aufstand.
Von Frau Schröder-Devrient habe ich schon gesprochen. Den Musikdirektor
Röckel sah ich, von einer Kugel ins Bein getroffen, zusammenknicken.
Er geriet als Verwundeter in Gefangenschaft und man schickte ihn mit
Heubner ins Zuchthaus.

Ich sprach meine Absicht aus, in Freiberg, das mir zur Verteidigung
sehr geeignet schien, einen Versuch weiteren Widerstandes zu wagen.
Heubner bat mich, diesen Gedanken aufzugeben, von seiner Vaterstadt ein
solches Unglück abzuwenden; er selbst sei im Begriff, mit Wagner und
anderen weiter zu ziehen, zunächst nach Chemnitz, dann ins Exil. Es sei
für mich nun auch Zeit, an meine Sicherheit zu denken.

Wir drückten uns die Hand. Ich begab mich auf den Platz hinaus zu
meiner bewaffneten Freischaar. Da ist auch Bakunin. Er zieht mich
beiseite und redet auf mich ein, die jungen Leute über die Grenze nach
dem nahen Böhmen zu führen. „Sie sind wohl toll?“ rief ich erzürnt ihm
zu. „Nach Böhmen sollen wir, zu Ihren Freunden, den Tschechen, die
schon längst in den Dienst der Reaktion getreten sind!“ „Man würde
Euch mit offnen Armen aufnehmen,“ erwiderte er. -- „Man würde über
uns herfallen und uns an die österreichische Regierung ausliefern,“
erwiderte ich ihm, und darauf trennten wir uns.

Ich riet den aus Dresden abgezogenen Maikämpfern, sich in kleinen
Trupps in ihre Heimat zu begeben. Ihnen würde man wenig anhaben, sagte
ich, es gäbe sonst eine zu große Masse der Opfer. Nur auf die Führer
werde man fahnden.

Sie zogen traurig ab. Das Gefühl der erfahrenen Niederlage drückte auf
ihre Gemüter. Da erschien plötzlich ein Wagen. Heubner und Wagner saßen
darin; zu seinem Unglück auch Bakunin, der überall sich unterzubringen
wußte. Man hielt einen Augenblick in meiner Nähe, drückte mir die Hand,
und ich, von einer bösen Ahnung plötzlich erfaßt, rufe ihnen zu: „Geht
nur um des Himmels willen in Chemnitz nicht in einen Gasthof.“ Heubner
und Bakunin gingen aber doch in einen Gasthof und wurden in der Nacht
von mutig gewordenen reaktionären Wehrmännern verhaftet, nach Altenburg
gebracht und an die dort garnisonierenden Preußen ausgeliefert. Wagner
nahm bei seiner Schwester Quartier und dies bewahrte ihn vor dem
gleichen Schicksal.

Ich war allein in Freiberg zurückgeblieben. Die Sonne senkte sich
zum Niedergang. Ein Postillon, der nach Dresden gefahren und mir
versprochen hatte, in meine Wohnung zu gehen, und mir von dort so
manches, dessen ich bedurfte, zu bringen, war noch nicht wieder
erschienen. Als ich den letzten Kameraden verschwinden sah, wurde
mir doch etwas unheimlich zu Mute. In einen Gasthof durfte ich nicht
gehen. Dort wäre ich von den Verfolgern zuerst gesucht worden. Ich
war einen Augenblick ratlos. Da trat ein junger Mann zu mir heran, er
nannte sich, er war Student der Bergakademie, er bot mir freundlich
ein Unterkommen in seinem Zimmer an; er habe, sagte er, daran gedacht,
mich zu sich zu bitten, als er mich so allein auf dem Platze stehen
sah, während die anderen abzogen, meine Verabredung mit dem Postillon
habe er mit angehört, der werde zu ihm kommen, ich müsse jetzt seine
Gastfreundschaft annehmen, da ich gewiß sehr müde sei. Jetzt merkte
ich in der That, daß ich sehr müde war, ich hatte seit dem 3. Mai
nur eine einzige Nacht geschlafen, und wir waren am Abend des 9ten.
Jetzt fiel mir auch ein, daß ich seit dem Abend vorher, seit dem
Kuchengeschenk des menschenfreundlichen Konditors fast nichts zu mir
genommen hatte. Ich ging mit dem jungen Mann, dessen Name mir leider
entfallen ist. Der Gute hatte für ein Abendessen gesorgt, und als ich
mich erquickt hatte, legte ich mich aufs Sofa nieder, wo ich sofort in
festen Schlaf versank. Ich hatte sein Bett nicht annehmen wollen, und
der vortreffliche junge Mann hatte es dann auch selber nicht benützt.
Er wachte über mein Wohl und Wehe.

Als der Morgen graute, weckte er mich. „Sie müssen fort,“ rief er
arg erschrocken, „die sächsischen Gardereiter sind eben in die Stadt
eingezogen.“

„Ist es schon so weit? Gut, so muß ich fort.“

Unter der Kaffeemaschine flackerte die blaue Flamme. Als ich mich
angekleidet und gewaschen hatte, war der Kaffee fertig, etwas Brot lag
auch bereit. Wir frühstückten rasch. „Es ist toll,“ sagte ich, „wogegen
ich mich gestern gesträubt, einen Trupp Freiwilliger nach Böhmen zu
führen, das muß ich jetzt für meine eigene Person thun. Das ist der
einzige Weg, der mir wahrscheinlich noch nicht abgeschnitten ist. Ich
nehme die Richtung nach Annaberg.“

Mein lieber Wirt wollte mich ans Thor begleiten, von dem aus die Straße
nach Annaberg führt. Auf dem Wege dahin keine Menschenseele. Es war
kurz nach Sonnenaufgang. Als wir das Thor in Sicht bekamen, wurden wir
gewahr, daß es von zwei Reitern gesperrt war. Es mochten wohl Rekruten
sein. Sie schienen die Pferde, die sich unruhig hin und her bewegten,
nicht in der Gewalt zu haben. „Leben Sie wohl und tausend Dank,“ raunte
ich meinem Begleiter zu. Im nächsten Moment war ich zwischen den
zappelnden Pferden durchgeschlüpft. Ob die Reiter mich bemerkt haben,
weiß ich nicht. Sie zerrten an ihren Gäulen, sie machten keine Anstalt,
mich zu verfolgen.

So war ich bald auf der offnen Landstraße und schritt tapfer zu.
Ich war nie ein starker Fußgänger gewesen. Nach einer halben Stunde
eifrigen Marschierens begann die Kraft zu erlahmen, was aus der
ungeheuren Anstrengung der letzten Tage sich leicht erklärt. Ich setzte
mich auf einen Steinhaufen, um mich auszuruhen. Ein Wagen rollte heran.
Seine Insassen, ein junges Brautpaar, das merkte man ihnen an, hielten
bei mir und fragten mich freundlich, ob ich mitfahren wolle. Ich nahm
dankend an. Sie fuhren nicht ganz bis Annaberg, aber doch eine Strecke
weit, um beim Herrn Pfarrer das Aufgebot zu bestellen „Immer so viel
gewonnen,“ sagte ich mir. Ob sie in mir einen Flüchtling aus Dresden
vermuteten? Möglich. Der Aufstand, wenn auch das ganze Land sich an ihm
nicht beteiligte, hatte doch die Sympathien des ganzen Landes.

Voller Dank im Herzen für die wackern Leute zog ich weiter. Und siehe
da, als ich wieder eine halbe Stunde gegangen war, stieß ich auf einen
Zug unserer Dresdner Freischaaren, der aus einem abseits von der
Hauptstraße gelegenen Dorfe, wo die Leute die Nacht zugebracht und sich
gründlich ausgeruht hatten, seine Heimfahrt nach Annaberg begann. Ich
wurde sofort erkannt. „Sie dürfen nicht zu Fuß gehen, und wenn wir Sie
tragen sollten,“ riefen die jungen Leute mir zu. -- „Das ist durchaus
nicht nötig,“ erwiderte ich ihnen. „Doch wenn Ihr noch einen Befehl,
den letzten, von mir ausführen wollt, so begeben sich zehn Mann wieder
zurück in das Dorf und requirieren auf meine Anordnung eine Anzahl gut
bespannter Leiterwagen. Ihr seid ja bewaffnet.“

Sie verstanden. Nach einer Viertelstunde waren so viel Wagen vorhanden,
daß wir alle fahren konnten. Es hatte keines Zwanges bedurft. Die
Bauern betrachteten es als eine Ehrenpflicht, uns nützlich zu sein.
Die Wagen setzten sich in Bewegung. Als wir in die Nähe von Annaberg
gelangt waren, stiegen wir ab. Da war ich Zeuge einer ergreifenden
Szene, die ich nie vergessen werde.

Die ganze Einwohnerschaft der Stadt kam ihren Söhnen entgegen. Sie
hatten es drinnen erfahren, daß die braven Jungen aus Dresden nahten.
Die Eltern, die Schwestern, die jungen Kinder, die Greise drängten sich
um die Wiedergekehrten. „Ist Fritz, ist Hans auch da?“ Man umarmte
sich. In die Freude des Wiedersehens mischte sich die Trauer, daß
nichts ausgerichtet worden. „Wir haben uns doch tapfer gehalten!“ --
vernahm ich, wie zum Troste für sich selber und die andern, manche
Stimme aus dem wirren Menschenknäuel -- „wir wollen es ihnen ein
andermal schon zeigen!“ Ich drückte mich beiseite, ich war innerlich
erschüttert. Da trat ein bejahrter Mann, den man an mich gewiesen,
zu mir: „Ich heiße Kindermann“, sagte er, „ich weiß, Sie waren mit
meinem Sohne Karl in Leipzig sehr befreundet. Er hat uns oft von ihnen
geschrieben. Er ist nach Dresden gegangen. Haben Sie ihn gesehen?
Wissen Sie etwas von ihm?“ -- „Seien Sie ohne Sorge,“ beruhigte ich
den erregten Vater, „ich habe ihn kurz vor unserem Abzug gesehen, er
war frisch und munter. Ich bin fest überzeugt, daß er nicht in Dresden
geblieben ist. Er wird zunächst nach Leipzig zurückgekehrt und dann,
wenn er nicht dort geblieben ist, etwas weiter nach Deutschland hinein
gegangen sein. Auf einzelne junge Leute, auf Studenten, fahndet man
sicher nicht.“

Der Mann verließ mich nun nicht mehr, er beruhigte sich in meiner
Gesellschaft und ich mußte ihm zu guten Freunden nach Annaberg folgen.
Am Abend wollte er dann mit mir in sein Heim an der böhmischen Grenze
ziehen. Da sollte ich die Nacht bleiben und dann werde man weiter
helfen. Wie man sieht, kamen mir in meiner gefährlichen Lage überall
gute Menschen entgegen.

Mit der sinkenden Sonne holte Herr Kindermann mich ab. Unser Weg
führte durch einen schönen, in Lenzeswonne frisch grünenden Wald im
Erzgebirge. Ich hatte mich in Annaberg während mehrerer Stunden
ausgeruht, die Kräfte waren wiedergekehrt. Es war kein Marsch, es
war ein erquickender Spaziergang, den wir machten. Keine Vogelstimme
regte sich mehr in dem Gehölz, es war dunkel geworden, wir gingen
plaudernd weiter. Ich hatte viel zu erzählen und der Mann hatte viel zu
fragen. Jetzt hatten wir eine Höhe erreicht. Er blieb stehen. „Sehen
Sie dort mein Haus,“ sagte aufatmend mein Begleiter. „Die Frau hat
die Lichter schon angezündet. Sie wird ängstlich auf meine Rückkehr
warten.“ Wir schritten jetzt stumm nebeneinander her auf dem mäßig
abwärts sich ziehenden Wege. Als wir dem Hause nahe waren, horchte
Herr Kindermann. „Warten Sie hier einen Augenblick,“ sagte er leise,
„es sind wie gewöhnlich um diese Stunde Grenzjäger bei mir. Sie
trinken ihr Gläschen und spielen Karten dazu. Ich muß meine Frau von
dem Besuch unterrichten, Sie müssen hier als ein Verwandter gelten,
dann kümmern die Leute sich nicht um Sie.“ Er verließ mich und war
nur wenige Sekunden fort. „Kommen Sie nur herein, man hat uns schon
lange erwartet,“ rief er mir an der geöffneten Thür zu. Ich trat in
ein sehr geräumiges Wirtszimmer, aus dessen fernster Ecke mir eine
freundliche Frau freudig aufgeregt entgegeneilte. „Seien Sie herzlich
willkommen, lieber Vetter!“ sagte sie und drückte mir die Hand. Rechts
von der Thür, an dem einen Tisch nahe beim Fenster wurde es plötzlich
still. Die Karten spielenden Grenzjäger schauten mich neugierig an,
aber nur einen Augenblick, dann schallte es „Schellenbub und Kreuz und
nochmals Kreuz und Trumpf Aß.“ Ich saß in der entfernten Ecke neben
der prächtigen Frau, die sich so plötzlich in ihre Rolle gefunden
und mich als lieben Vetter begrüßt hatte, ohne mich jemals in ihrem
Leben gesehen zu haben. O, die Not lehrt nicht nur beten, sie lehrt
vielerlei. Ich erzählte meiner so schnell erworbenen Freundin und
Beschützerin von ihrem geliebten Sohn. Sie war stolz auf ihn und sie
hatte Grund dazu, ich habe selten einen gleichwertigen, geistig und
körperlich so urgesunden und herrlichen Jüngling gesehen wie diesen
Karl Kindermann. Mögen ihm diese Zeilen als ein warmer Freundesgruß
gelten, wenn sie ihm zu Gesicht kommen sollten. Wie ich später erfahren
habe, ist er mit seinen Eltern nach Amerika ausgewandert.

Von ihm war natürlich an jenem Abend fast ausschließlich die Rede.
Die Mutter hatte ein Nachtessen besorgt. Wir plauderten noch ein
Stündchen, dann mußte ich mich in mein Zimmer begeben, denn am frühen
Morgen sollte mein vortrefflicher Wirt mich über die Grenze ins
Böhmerland führen.

[Illustration]



[Illustration]

XXII.

Die Flucht nach Böhmen.


Wir gingen am nächsten Morgen in aller Frühe nach dem böhmischen
Fabrikstädtchen Weipert. Herr Kindermann führte mich zu zwei alten
Junggesellen, den Brüdern Müller, die sich für politische Dinge
ungemein interessierten, sehr liberal dachten und mir ohne weiteres
ihre Gastfreundschaft bis zu dem Tage anboten, wo es mir möglich und
auch geraten sein würde, weiter zu ziehen. Ich nahm mit Freuden an.
Zunächst schrieb ich an meinen allezeit hilfsbereiten Oheim, um ihm
meine letzten Schicksale zu erzählen und ihn um die nötigen Subsidien
zur Weiterreise zu bitten. Nach einigen Tagen war das Gewünschte
eingetroffen und ich konnte nun daran denken, mein sicheres Asyl
zu verlassen. Sämtliche Fabrikanten des Städtchens Weipert waren
deutsch und liberal gesinnt, in ihrer Lesegesellschaft sah ich
sogar in Deutschland verbotene Lektüre offen aufgelegt. Ich durfte
trotz alledem nicht vergessen, daß ich mich in Österreich befand,
und um von dort weiterzukommen, bedurfte ich eines Passes. Zu einem
solchen verhalf mir wieder der brave Herr Kindermann. Er war mit dem
Bürgermeister des nahen sächsischen Ortes Jöhstadt befreundet und er
hoffte ihn zur Ausstellung eines Passes für mich bewegen zu können.
Diese Hoffnung war nicht unbegründet. Denn die städtischen Beamten
des damaligen Königreichs Sachsen hatten sich fast ausnahmslos an der
damaligen Bewegung zu Gunsten der Reichsverfassung beteiligt. Unter
den steckbrieflich Verfolgten befanden sich nicht weniger als 20
Bürgermeister und Stadtverordnete, die Zahl der Verhafteten derselben
Kategorie war fast gleich hoch. Der Herr Bürgermeister von Jöhstadt --
jetzt, nach Ablauf eines halben Jahrhunderts begehe ich damit keine
Indiskretion, die von mir näher bezeichneten Personen waren ja alle
beträchtlich älter als ich -- der Herr Bürgermeister also gestattete
seinem Schreiber, einem Verwandten von ihm, mir mit genauer Schilderung
meiner Physiognomie einen Paß auf den Namen Karl Fernau auszustellen,
verlangte aber auch, auf seine Pflicht gegenüber Weib und Kind
hinweisend, daß jener den Paß unterzeichne, was der auch leichten
Herzens ausführte. So brachte ich einen Paß nach Weipert zurück, auf
Grund dessen mir die Herren Müller einen Postschein nach Karlsbad
besorgten, auf welchem ich nach österreichischer Sitte sogleich in
den Adelstand erhoben wurde, denn er war für Herrn von Fernau gültig.
In Karlsbad hatte ich keinerlei Schwierigkeit, mir auf der Post für
die weitere Strecke nach Marienbad die Fahrt zu sichern. Von dort aus
gedachte ich am nächsten Morgen über Eger nach Nürnberg zu gelangen.
Doch es sollte anders kommen.

Während des Abendessens im Gasthof wurde von den Fremden von nichts
anderem als von den Nachrichten über den Dresdner Aufstand gesprochen,
und einer der Gäste las aus seiner Zeitung die Meldung aus Eger, daß
dort mehrere sächsische Flüchtlinge verhaftet worden seien. Ich that,
als hätte ich nichts gehört, unterhielt mich mit meiner korpulenten
Nachbarin über das herrliche Frühlingswetter und das satte Grün, das
rings um Marienbad das Auge erfreue. Sie stimmte ein, sie war ganz
glücklich über die Erfolge der Kur, die sie erst seit wenigen Tagen
begonnen, und nun habe sie schon sechs Pfund abgenommen. Ich wünschte
ihr Glück und ermunterte sie fortzufahren mit der so ersprießlich
angewendeten Kur. In einem Zimmer im Erdgeschoß, dem Kutscherzimmer,
hatte ich eine alte verräucherte Karte des Königreichs Böhmen an der
Wand gesehen. Mit Hilfe derselben suchte ich mich zu orientieren,
ob ich nicht Eger umgehen und auf anderem Wege nach Bayern gelangen
könnte. Es gab einen Weg, der von Marienbad nach Tirschenreut und von
dort nach Amberg und Nürnberg führte. Ein Kutscher, an den ich die
Frage richtete, ob er mich am andern Morgen nach Tirschenreut fahren
wollte, sagte sofort zu. Er forderte anderthalb Thaler, jedoch in
Silber, denn er bleibe nicht in Österreich, wo es nur Papiergeld gebe,
das oft schon in der nächsten Stadt nicht mehr angenommen werde. Auch
damit war ich einverstanden. Der Mangel an hartem Gelde, selbst an
Scheidemünze, war damals in Österreich so groß, daß jede Stadt für
den Kleinverkehr, der große stockte ja ganz, Papiergeld anfertigen
ließ, und so war ich in den Besitz eines auf geringes blaues Papier
gedruckten zwei Zoll großen Kassenscheines gelangt, auf dem die Worte
standen: „Für diesen Schein zahlt die Stadt Eger +einen+ Kreuzer.“
In Marienbad war dieser Schein nichts wert. Ich behielt ihn gern als
ein historisches Dokument, das mir aber in Straßburg, wo ich einige
Wochen später bei einem Banquier eine ganze Mulde voll österreichischer
Silberzwanziger sah, abgebettelt wurde, als ich das Kuriosum in einer
Gesellschaft zeigte.

Morgens um fünf Uhr fuhren wir von Marienbad ab. Es war ein furchtbarer
Knüppelweg, der durch den Böhmerwald führte. Als wir vor einem
Wirtshause unweit der Grenze anhielten, um dem geplagten Pferd etwas
Zeit zum Verschnaufen zu lassen, lag vor dem Eingang zum Hause die
Leiche des Wirts, der in der vergangenen Nacht von Räubern überfallen
und ermordet worden war. Der vernachlässigte Wald, die entsetzliche
Straße, die zerlumpten und hungernden Bewohner, die zu den wenigen
schlechten Hütten paßten, an denen wir vorüberfuhren, gaben kein
glänzendes Zeugnis von der Fürsorge, welche Fürst Metternich während
seiner Herrschaft über die Unterthanen Seiner kaiserlich-königlichen
Majestät entfaltet hatte. Auf der bayrischen Seite sah es dann etwas
besser aus, wenn auch nicht gerade glänzend.

Es mochte etwa zehn Uhr sein, als wir in Tirschenreut anlangten. Der
Gasthof, wie dies allgemein üblich ist, hatte seine Dienstenstube, auf
welche die Herrenstube folgte. Man geleitete mich in die letztere; ich
fragte nach dem Abgang der Post. Ich brauche mich nicht zu beeilen,
lautete die Antwort, vor der Mittagsstunde sei die Post jedenfalls
nicht zu erwarten. Ich bestellte mir ein Frühstück und regelte indessen
meine Schuld an den Kutscher. In diesem Augenblick ertappte ich mich
auf einem großen Leichtsinn, der mich in bittere Verlegenheit bringen
sollte. Seitdem ich Dresden verlassen, hatte ich keine Gelegenheit
gehabt, meine Börse zu ziehen. Mein Oheim hatte mir nach Weipert
preußische Kassenscheine geschickt. Diese benützte ich zum Zahlen der
Postkarten, zum Einkauf von Wäsche in Karlsbad, zur Berichtigung von
allerlei Ausgaben. Als ich nun aus meiner Börse einen harten Thaler
und zwei kleinere Geldstücke für meinen Kutscher nahm, bemerkte ich zu
meinem schlecht verhehlten Schrecken, daß dieses Geld aschgrau aussah,
daß es Blei ähnlich war. Der redliche Kutscher nahm mein Geld dankbar
an und sagte nichts. Da in Dresden schließlich Munitionsmangel eintrat
-- die Patronen wurden im Rathause von gefangenen Soldaten für uns
angefertigt, am Ende mit Kanonenpulver, weil wir zuletzt kein anderes
hatten -- so behielt ich immer einige Patronen in der Tasche, um alle
mir von einzelnen Aufständischen ausgesprochenen Reklamationen und
Befürchtungen damit zum Schweigen bringen zu können.

Nach einer Stunde, als der Kutscher weiter fahren und mit dem
Zehnsilbergroschenstück seine Rechnung bei dem Wirt zahlen wollte,
mochte dieser wohl ein bedenkliches Gesicht gemacht haben; denn ich
hörte durch die kaum angelehnte Thür meines Zimmers, wie der Kutscher
zu ihm sagte, er habe noch zwei solch bleigraue Geldstücke. Und nun
hörte ich den Wirt klimpern und klimpern. Er wolle beim Nachbar fragen,
sagte er endlich, ob das Geld wohl echt sei. Nach einer kleinen Weile
kam er mit dem Bescheid zurück, der Nachbar kenne sich in den Dingen
nicht aus, er wisse es nicht.

In diesem Augenblick hielt ich meine persönliche Intervention für
geboten. Ich trat zu den beiden Männern und sagte in möglichst
gleichgültigem Ton zu dem sehr ernst gewordenen Wirt, er wisse ja aus
den Zeitungen, daß in Dresden ein Volksaufstand ausgebrochen sei.
Man habe vorige Woche überall die Kommunalgarde nach der Hauptstadt
einberufen und sie auch mit Patronen versehen. Da sei mir eine in
der Tasche ausgelaufen, und von dem Pulver sei das Silber so grau
gefärbt worden. Er solle das Geld nur mit Seife abwaschen und er
werde es wieder blitzblank sehen. Es sei uns im Moment des Abmarsches
Gegenbefehl zugekommen, ich habe sofort eine Geschäftsreise antreten
müssen und nicht daran gedacht, selber das Geld abzuwaschen.

Der Wirt maß mich von Kopf bis zu Fuß mit seinen immer ernster
werdenden Blicken. Er begab sich indes an das kupferne Waschgefäß in
der Ecke der Wirtsstube; er reinigte das Geld, es erwies sich als
echt, er machte sich bezahlt, wünschte dem Kutscher glückliche Reise,
mir gegenüber jedoch blieb er stumm. Ich wollte ihn auf die Probe
stellen und bestellte ein Mittagessen. Er nickte zustimmend. Darauf
bat ich ihn, mich nach Nürnberg einzuschreiben. Der Wirt war zugleich
Postmeister. „Haben Sie einen Paß?“ fragte er mich. Ich zeigte ihm das
verlangte Dokument. „Ihr Paß ist nicht visiert,“ sagte er. „Sie haben
Zeit“, fuhr er nach einer unheimlichen Pause fort, „Sie können ihn hier
auf der Polizei visieren lassen, dort auf dem Schloß“ -- und er wies
auf ein altertümliches Gebäude -- „dann können Sie Ihren Postschein
haben.“

Mit einem falschen Paß selber auf die Polizei gehen? Das Abenteuer
schien mir seltsam, es hatte jedenfalls eine sehr unerfreuliche
Seite. Ich sah jedoch ein, daß mir hier keine Wahl blieb, ich mußte es
bestehen. Nach wenigen Minuten war ich im Schloß. Als ein höflicher
Mann klopfte ich an die Thür der „Fremdenpolizei“. Eine helle Stimme
rief herein, und ich stand vor zwei oder drei Knaben, die sich hier
auf den fruchtbaren Beruf des Schreibers vorbereiteten. Der älteste
der Herren Jungens hörte gnädigst meinen Wunsch auf Erteilung des
Visums nach Nürnberg an, entfaltete meinen Paß in möglichst langsamem
Tempo, betrachtete mich und mein Dokument, bewegte sich von seinem
vergitterten Platz aus einem anderen Zimmer zu, öffnete die Thür
und verschwand hinter derselben. Ich war nun allein den anderen
jugendlichen Schreibern gegenüber. Sie musterten mich eine ganze Weile.
Ich war ihnen nicht interessant. Der eine begann wieder an seinen
Buchstaben zu malen, der andere bemühte sich, eine Fliege zu fangen,
die ihm über das Papier schlich. Das erweckte plötzlich den Gedanken
in mir, daß ich in seinem Treiben etwas Analoges mit dem mir drohenden
Schicksal zu erblicken hätte. Wer weiß, ob ich nicht ausersehen war, im
nächsten Augenblick die Rolle der Fliege zu spielen. Warum blieb der
Andere so lange mit meinem Paß aus? Es stellte sich etwas Herzklopfen
bei mir ein. Wäre es nicht geratener, ihm den Paß zu lassen und das
Weite zu suchen? Doch wohin in einem Ort, wo ich weder Weg noch Steg
kannte? In diesem Augenblick öffnete sich die Thür des Nebenzimmers
und ein alter Beamter, die Brille auf der Nase, erschien in derselben.
Er betrachtete das Signalement des Passes und betrachtete mich. Die
Operation schien mir über die Maßen lange zu dauern. Die Prüfung
war endlich beendet. Er winkte dem Jungen zu. Es hatte also alles
gestimmt. Der Alte verschwand wieder hinter der Thür. Der Junge schlich
langsam an einen kleinen Tisch, drückte einen Stempel auf meinen Paß,
überreichte ihn mir. „Drei Kreuzer.“ „Hier.“ Er nahm das Geld, ich den
Paß. Ich war erlöst.

In Nürnberg ging ich nach dieser Erfahrung in ein Hotel ersten Ranges,
wo ich den Portier zum Visieren des Passes auf die Polizei schicken
konnte, und er brachte ihn visiert zurück. Jetzt dürfen wir ohne Paß
reisen, auch eine Errungenschaft des Jahres 1848.

Was mir nun noch auf deutschem Boden begegnete, bis ich das Exil in
der Schweiz erreichte, deren Bürger ich geworden bin, steht mit den
öffentlichen Angelegenheiten in zu entfernter Beziehung, als daß ich
das Recht hätte, es zu erzählen. Ich gehe deshalb zur Schilderung
meiner ersten Flüchtlingsjahre über, die nicht ganz ohne politisches
Interesse sind.

[Illustration]



[Illustration]

XXIII.

Erste Flüchtlingsjahre in der Schweiz.


1.

Ich hatte das erste Flüchtlingsjahr in Bern verlebt, wo ich den Neid
einiger Schicksalsgenossen erregte, weil ich sofort Beschäftigung
fand, und zwar im Journalismus. Dann siedelte ich nach Murten über,
wo ich mich in öffentlicher Steigerung in den Besitz einer kleinen
Buchdruckerei gesetzt hatte. Damals war ich von meinem natürlichen Hang
zu stiller Frohseligkeit noch stark beherrscht und das über die Maßen
ruhige und dabei so sonnige Städtchen am See mit seinen kriegerischen
Erinnerungen stimmte vortrefflich zu meinem inneren Menschen. Von
der Vergangenheit mit Behagen zu plaudern, die Gegenwart nehmen, wie
sie sich gab, und die Zukunft ohne Aufregung an mich herankommen zu
lassen -- das behagte mir; so resigniert war ich durch die Ereignisse
geworden, an denen ich einen für mein jugendliches Alter wohl
auffälligen, im Grunde aber bescheidenen Anteil gehabt.

Ich erinnere mich einer Versammlung deutscher Flüchtlinge, die im
Herbst 1849 im „Maulbeerbaum“ zu Bern stattgefunden: Da erhob sich ein
alternder Mann, der es nicht vergessen konnte, daß er im tollen Jahr in
gar kleinem Kreise eine große Rolle gespielt hatte und sich deshalb in
seine neue passive Lage durchaus nicht zu finden vermochte. Er hatte
sich unter uns, nach dem von den „Fliegenden Blättern“ oft wiederholten
Bilde den Beinamen „der Wühlhuber“ erworben. „Meine Herren,“ so begann
er mit schmetternder Stimme, „Ihr Gedächtnis hat die Rede treu bewahrt,
die ich vor nun bald einem Jahr in der großen Volksversammlung zu
Schweinfurt gehalten...“

-- Ein schallendes Gelächter unterbrach ihn hier, denn nicht ein
einziger der Anwesenden war jemals in Schweinfurt gewesen. Er aber
unterhielt uns noch eine halbe Stunde von seinen berühmten Thaten und
seinen großen Hoffnungen auf die kommenden Tage, welche Deutschland die
Freiheit und Einheit, der Welt das Glück der Verbrüderung aller Völker
bringen sollten. Lebhafter, ironischer, aber auch ernst gemeinter
Beifall lohnte dem Redner, und das leuchtende Zukunftsbild, das er
entworfen, wurde von manchen, die nach ihm das Wort ergriffen, mit
kräftigen Farben weiter ausgeführt. Es kam Stimmung in die Versammlung.
Nun aber erhob sich der Jüngste unter all den Leuten und goß grausam
eiskaltes Wasser über das glühende Pathos, das immer mehr Herzen zu
ergreifen drohte. Er ermahnte seine Schicksalsgenossen, die herbe
Thatsache nicht außer Augen zu lassen, daß sie auf dem Boden des Exils
sich befänden, und daß sie vor allem der Aufgabe zu gedenken hätten,
sich auf diesem fremden Boden eine feste Stellung zu erwerben; er
führte ihnen zu Gemüte, daß sie besser daran thäten, ihre politischen
Hoffnungen auf eine ganze Weile in stiller Brust zu bergen und sie
für spätere Tage warm zu halten. Im Augenblick, sagte er, sei für
Europa eine Zeit der schwersten Reaktion im Anzuge. Gegen diese jetzt
im Saal zum „Maulbeerbaum“ eine ohnmächtige Faust zu ballen, das sei
einer leeren Prahlerei gar zu ähnlich und eines Mannes nicht würdig.
Wilde Hufe zertreten jetzt den Samen, den wir daheim ausgestreut; er
wird trotzdem aufgehen, wenn die rechte Zeit gekommen ist. Den Beginn
jener besseren Zeit werden wir im Exil mit unseren pathetischen Reden
nicht um eine Stunde beschleunigen. Daß sie jedoch nicht allzulange
ausbleibe, dafür werden die eben zur Herrschaft gelangten Gewalten
durch ihren Rachedurst und ihre Maßlosigkeiten zur Genüge sorgen. Es
ist nicht ganz leicht, nach erloschenem leidenschaftlichen Kampfe
plötzlich zu nüchterner Tagesarbeit überzugehen, die verlassenen Bücher
wieder hervorzuholen, wieder zu feilen oder zu hobeln; aber man kann
sich ja eins dabei singen oder pfeifen, wie der Gesell in der Werkstatt
oder der Ackersmann hinter dem Pfluge; man braucht seine ideellen Ziele
deshalb nicht aufzugeben.

So etwa sprach der Jüngste in jener Gesellschaft. Und dieser Jüngste
war ich. Es hat mich selber und die Meinen allezeit verwundert, daß ich
für andere so nüchtern und praktisch zu denken verstand, dazu aber in
keiner Weise mich fähig zeigte, wenn es sich um mein eigenes Wohl und
Wehe handelte. Eine gewisse, auf das Allgemeine gerichtete Träumerei
stellte im Alltagsleben dem unausgebildeten Geschäftssinn stets ein
Bein und brachte ihn regelmäßig zu Falle. Das hing mit meinem ganzen
Entwicklungsgang zusammen, ich hatte mein inneres Auge früh an allerlei
ideale Zukunftsbilder gewöhnt, ich sah im Geiste eine beglückte,
schönere Menschheit und kannte doch die wirklichen Menschen so wenig,
daß jeder Narr mich hintergehen konnte, der leerste Kopf mir in allen
praktischen Dingen weit überlegen war.

Das merkten die guten Leute in der kleinen Stadt Murten, in deren Mitte
ich mich nun niedergelassen hatte, sehr bald. Ich war so grenzenlos
unerfahren, und hatte doch schon so vieles erlebt. Ich war freilich
etwas, das fühlte man in meinem Umgang; aber man fühlte auch das
Unausgeglichene, das Unfertige. Man fand nicht gleich den Schlüssel
zu den Gegensätzen in meiner Natur, behandelte mich trotz alledem
aber mit großer Freundlichkeit und Güte. Ich lernte auch die Menschen
und die Dinge um mich her von Tag zu Tag besser kennen, gewann allem
die schönste Seite ab, akklimatisierte mich nach und nach, aber doch
nicht in dem Grade, daß man mich jemals für einen echten Murtenbieter
hätte halten können. Andere, sehr ehrenwerte Deutsche, von denen ich
im Verlauf dieses Kapitels sprechen werde, waren viel rascher und
viel inniger mit der eingeborenen Bevölkerung, gleichsam wie die
mannigfaltigen Bestandteile der Nagelfluh, zu einem Ganzen verwachsen,
wenn man auch wohl auf den ersten Blick erkannte, daß sie aus weiter
Ferne in das alpine Geröll und Geschiebe geraten waren, das nach und
nach zu dem härtesten Gestein zusammengebacken war.

Es war von vornherein kein kluger Gedanke von mir gewesen, in einem so
kleinen Landstädtchen -- Murten zählte damals kaum 2000 Einwohner --
eine Buchdruckerei zu übernehmen; es war ja durchaus keine Aussicht,
daß ich mir dabei eine einkömmliche, behagliche Stellung erwerben
könnte. Die Hauptbeschäftigung für meine einzige Handpresse war der
Druck eines zwei- oder dreimal wöchentlich erscheinenden Blattes, das
in der ersten Zeit zweisprachig, deutsch und französisch erschien, bis
es zuletzt sich mit dem ehrlichen Deutsch begnügte. An der Redaktion
dieses Blattes, „Das Echo vom Moléson,“ war ich mit keiner Zeile
beteiligt. Mit dem Herausgeber, einem jungen Advokaten, einem Streber
niederster Sorte, war ich durch den ehemaligen preußischen Abgeordneten
d’Ester in Bern bekannt geworden. Der Gründer und Eigentümer
des auf das Emporkommen einiger jüngerer Politiker berechneten
Blattes sorgte für das Manuskript, in welchem fast ausschließlich
freiburgische Parteifragen behandelt wurden, ich druckte und bezog die
Abonnementsgelder, die jedoch niemals die Kosten deckten. Ich brauche
wohl nicht zu versichern, daß ich dabei keine Seide spinnen konnte.
Ich suchte und fand noch andere Arbeit.

Zwei Lehrer in der Kantonshauptstadt waren auf den Gedanken gekommen,
Eugen Sues ~Mystères du peuple~ ins Deutsche zu übersetzen, bei
mir drucken zu lassen und durch Kolporteurs in der ganzen Schweiz zu
verbreiten. Ich half mit an der Übersetzung, ich stand mit den braven
Leuten auf freundschaftlichem Fuße. Ich habe sie noch heute in bester
Erinnerung. Von dem Herausgeber des „Echo vom Moléson“ kann ich das
leider nicht sagen.

Man möchte es als eine üble Laune, einen schlechten Witz oder gar
als eine Bosheit in der geschichtlichen Entwicklung betrachten, daß
das protestantische, deutsch redende Murten und der Seekreis, dessen
Hauptort die alte Veste bildet, zu dem katholischen, französisch
sprechenden Kanton Freiburg gekommen sind. Gewiß, man spricht auch
französisch in Murten, so etwas wie das ~français fédéral~, mit
einem ausgeprägten, lokalen Accent; aber die ganze Ortschaft, eine
breite Straße, mit den gewölbten Lauben und den großen Brunnen in der
Mitte, mit zwei parallelen Nebengassen, ist ihrer äußern Gestaltung und
dem Charakter ihrer Bewohner nach eine deutsch-schweizerische, genau
betrachtet, eine bernische Stadt. Speziell für die republikanische,
sprachlich und konfessionell gemischte Bevölkerung der Schweiz,
verfolgt die Geschichte vielleicht in dem Durcheinanderwürfeln
verschiedener Elemente, wie es an dem Gelände des Murtner Sees sich
vollzogen hat, einen pädagogischen Zweck. Vertragt Euch! heißt es hier
an der Sprachgrenze, und angesichts der Aufgabe, ein unsympathisches
Regiment hinnehmen zu müssen. Man verträgt sich in der That -- bis zu
einem gewissen Grade.

Als ich nach Murten kam, war noch viel von einem Putschversuch die
Rede, der vor dem Ausbruch des Sonderbundskrieges daselbst gegen die
Jesuitenherrschaft in Freiburg in Szene gesetzt worden war. Wie zwei
andere gegen Luzern damals unternommene Putsche, war auch dieser
gescheitert. Die Sprengung des Sonderbundes durch die eidgenössischen
Waffen hatte bald darauf die freiheitliebenden Murtner an ihren
Bedrängern gerächt, und in Freiburg herrschte eine fortschrittliche,
radikale Regierung, die sich kraft der neuen Verfassung den Besitz
ihrer Macht auf zehn Jahre gesichert hatte.

In Murten war man der politischen Gesinnung nach radikal. Nach oben hin
freilich -- denn es gab auch dort ein oben und ein unten -- blaßte die
Farbe der Partei merklich ab. Sowenig wie sie es in den Republiken
des Altertums gewesen, ist in denen der Neuzeit die Gleichheit die
Schwester der Freiheit. In dieser kleinen Stadt existierten, wenn
auch nicht eigentlich Standesunterschiede, so doch gesellschaftliche
Stufen, die von den Frauen sehr gewissenhaft, von den Männern, die
das öffentliche Leben notwendig zusammenführte, weniger streng, aber
immerhin in gewissem Grade innegehalten wurden. So ist es überall
in der Schweiz und so wird es zweifelsohne bleiben, solange nicht
alle Traditionen ausgelöscht, alle Unterschiede des Besitzes, der
Bildung, des Ursprungs verwischt sind. Dagegen zu predigen oder
gar zu poltern, ist zwecklos. Die Geschichte selbst sorgt dafür,
daß die alten Geschlechter sich ausleben und durch jüngere ersetzt
werden. Ich habe dieses historische Gesetz sogar in unserem kleinen
Städtchen beobachten können. In dem Kampfe um die äußere Stellung
zerbröckelten nach und nach die Felsgesteine altangesehener Familien,
junge Alluvialgebilde sammelten sich auf den Trümmern an, und sie
werden bald die Schicht in Vergessenheit gebracht haben, auf welcher
sie sich jetzt stolz und sicher erheben. Damals, als ich in diese
für mich fremde Welt trat, gab es noch -- man lächle nicht! -- eine
~haute volée~ in dem Städtchen. Es gehörten zu ihr eine Anzahl
der liebenswürdigsten Familien, die, vor der gemeinen Lebenssorge
behütet, einer idealen Geistesrichtung sich hingeben durften, Männer,
die auch teilweise akademische Bildung genossen hatten und gern durch
Festhalten an akademischen Jugendeindrücken vor dem Untergang im Sumpf
des Philisteriums sich schützten.

Es ist etwas Schönes um eine Stadt -- und sei sie noch so klein -- mit
reichen historischen Erinnerungen. Stolz auf das immaterielle Erbe
vergangener Geschlechter, wird sie stets etwas auf sich halten und
jenes Erbe niemals verkommen lassen. Brauche ich zu sagen, daß die
hohen, mit starken Türmen ausgestatteten Mauern mich mächtig anzogen,
daß ich ihnen sogleich meine Huldigung durch einen Rundgang auf den
Zinnen darbrachte, daß ich die in patriotischem Selbstbewußtsein von
den Behörden gesammelten und mit religiöser Sorgfalt bewahrten Trophäen
aus der Murtenschlacht häufig betrachtete und dabei wahrnahm, wie
das ~Noblesse oblige~ in die Seele der Bewohner des Ortes tief
eingegraben war. Überall wurde man durch die als selbstverständlich
sich äußernde Absicht erfreut, das Ererbte nicht bloß zu erhalten
und die historischen Sammlungen zu mehren, sondern auch im Anschluß
an die großen Strömungen der Zeit für die kommenden Geschlechter
zu sorgen. Vor dem Bernerthor, auf geräumigem Platze gegenüber der
von den Belagerungsgeschossen Karls des Kühnen hart mitgenommenen
Stadtmauer erhebt sich ein prunkloses, doch in seinen einfachen,
harmonischen Linien jedes Auge erfreuendes Schulhaus. Darin befindet
sich auch die Stadtbibliothek, für die Einwohnerschaft des kleinen
Ortes ein wahrer Segen. Sie wird durch einen jährlichen, von der
Stadtkasse gelieferten Beitrag erhalten und vermehrt. Neben einer
beträchtlichen Anzahl historischer Werke älterer und neuester Zeit
in deutscher und französischer Sprache und den klassischen Dichtern
beider Nationen enthält sie in passender Auswahl das Wertvollste
aus der populärwissenschaftlichen und schönen Litteratur unseres
Jahrhunderts und, da sie jedem Einwohner zugänglich ist, dient sie in
erheblichem Maße zur Erfrischung und Ernährung eines auf höhere Ziele
gerichteten öffentlichen Geistes. Auch für die Pflege besserer Musik
war durch einen gemischten Chor gesorgt, der mit Unterstützung eines
kleinen Orchesters im Winter konzertierte, im ersten Jahre meiner
Anwesenheit in Murten auch für das große Musikfest in Bern, an dem man
sich beteiligte, Händels „Messias“ einstudierte. Das ist gewiß sehr
ehrenvoll für ein so kleines Städtchen.

Der große Rathaussaal wurde zu allen künstlerischen Produktionen
hergegeben. Da wurden auch Theater gespielt, von einheimischen Kräften,
aber auch von den Repräsentanten einer höheren dramatischen Kunst. Herr
Direktor Schmitz mit seiner kinderreichen Gattin und einer auserlesenen
Truppe besuchte uns häufig. Die blonde Frau Direktor, trotz ihres
großen Familiensegens noch immer die jugendliche Liebhaberin, spielte
die Luise in „Kabale und Liebe,“ und Herr Heuser, der wegen Teilnahme
am badischen Aufstand seine Stellung am Karlsruher Theater hatte
aufgeben müssen, gab den Ferdinand. Man war tief erschüttert, und das
alte Stadthaus zitterte bis in seine Grundmauern von dem dröhnenden
Beifall des Publikums, das mit nassen Schnupftüchern den Heimweg antrat.

An Unterhaltung an den langen Winterabenden fehlte es uns also
nicht. Wenn ich an Murten denke, steht es jedoch nicht anders als
in sommerlichem Glanze vor mir. In den Straßen, es ist Mittagszeit,
ist es sehr still. Vor dem Gasthof zum weißen Kreuz steht einsam ein
Frachtwagen -- die Eisenbahn hatte damals das idyllische Seegelände
noch nicht durchschnitten -- der Fuhrmann sitzt drinnen bei der
dampfenden Suppenschüssel, die Pferde sättigen sich aus der vor
ihnen aufgestellten Krippe und wehren sich die Fliegen ab mit ihren
Schweifen; das ist die einzige unruhige Bewegung weitum. Gegen Abend
fanden sich die verwandten Seelen zusammen, im See beim Baden, beim
Glase Bier oder auf einem Spaziergang nach einem der reizenden kleinen
Orte am See, nach Pfauen, nach Avenches oder Wifflisburg, dem Aventicum
der Römer, am liebsten nach Münchenwyler, dem auf weitausschauendem
Hügel an Stelle eines ehemaligen Klosters in prächtigem Garten sich
erhebenden Schlosse der Familie Graffenried, und der die weite
Landschaft beherrschenden sagenumwobenen gewaltigen Linde, die gleich
einer Kathedrale ihren Ehrfurcht gebietenden Bau stolz zum Himmel
erhob. Vor mehreren Jahren hat ein Sturmwind endlich auch diesen
Giganten gestürzt, es war in der Woche, als der erste Kanzler des
neuen deutschen Reiches des Amtes enthoben, von seiner Höhe grollend
herniederstieg. Die ganze Landschaft hat seit dem Untergang jener Linde
eines ihrer weitest bekannten Wahrzeichen verloren.



[Illustration]

XXIV.

Erste Flüchtlingsjahre in der Schweiz.


2.

Man arbeitete, aber man ging auch gern dem Vergnügen nach. Nicht daß
aller Welt das Leben wonniglich blühte. Einen wirklich reichen Mann gab
es nicht in der Stadt, sondern nur mäßige Wohlhabenheit in einer Anzahl
Familien. Die „herrschenden Geschlechter“, wenn dieser Ausdruck damals
noch gerechtfertigt war, brauchten mit wenigen Ausnahmen die mancherlei
bescheidenen Besoldungen aus ihren vielfachen Ämtern und Ämtlein zur
Erhöhung ihres Einkommens und zur Wahrung einer gewissen Präponderanz
in ihrer Stellung nach außen hin. Weit und breit keine Industrie,
kein beträchtlicher Handel; bei den Krämern und Handwerkern der Stadt
versorgte sich die Bauersame rings umher, und so erhielten sich auch
lebhafte Beziehungen zwischen Stadt und Land und ein reger Verkehr
durch den gegenseitigen Austausch der Waaren.

Ein Vergnügen ganz eigner Art waren unsere kriegerischen Übungen als
Glieder der ~Garde civique~. Nichts verpflichtete mich, als einen
Fremden, das soldatische Gewand anzulegen und einen Stutzen über die
Schulter zu nehmen, um, ganz gegen meine revolutionäre Vergangenheit,
die „heilige Obrigkeit, die Familie und das Eigentum“ vor gewaltsamem
Umsturz zu beschützen. Aber die ganze männliche Bevölkerung der Stadt
gehörte der ~Garde civique~ an, man betrachtete es als eine
Ehrenpflicht der liberalen Bürgerschaft, die aus dem Sonderbundskrieg
hervorgegangene neue Ordnung zu unterstützen und vor der Wiederkehr
der Jesuitenherrschaft zu behüten. Alle meine Freunde machten mit. So
erklärte ich mich auf geschehene Anfrage ebenfalls bereit, und Herr
Sturmfels, der Feldwebel sandte mir den Uniformrock, den Stutzen mußte
ich mir selbst anschaffen. Es war der erste der neuen Ordnung für
Spitzkugeln, mit Handhabe am eisernen Ladstock. Ich war sehr stolz auf
meine Waffe. Sie gehört mit samt ihrem damals neuesten Mechanismus
schon längst zum alten Eisen. Die Toten und die modernen Schießgewehre
reiten schnell.

Unser streitbares Korps bestand aus einer starken Schützenkompagnie
und etwas Artillerie. Unter den Offizieren der letzteren sehe ich
noch unsern kernfesten Dr. Huber, einen vortrefflichen, allgemein
beliebten und geachteten Arzt. Unteroffizier war Herr Weger, für mich
eine der interessantesten Persönlichkeiten, denen ich in der Schweiz
begegnet bin. Er war aus Bayern auf der Wanderschaft nach Murten
gekommen, hatte dort als Buchbindergeselle gearbeitet, nach dem Tode
seines Meisters die Witwe desselben geheiratet und wurde nach und
nach, weil man in ihm den tüchtigen Menschen erkannt hatte, kraft
seiner natürlichen Bescheidenheit, seines liebenswürdigen Charakters
und seiner sich niemand aufdrängenden starken Intelligenz eines der
geschätztesten Triebräder im öffentlichen Gemeinwesen. Lange Jahre
mit richterlichen Funktionen betraut, hatte er als Autodidakt und auf
dem Wege der Praxis zum Juristen sich ausgebildet; er wurde endlich
Gerichtspräsident, und genoß in seinem schwierigen Amte und bei einer
gemischten zweisprachigen Bevölkerung das allgemeine Vertrauen, wie es
größer nicht einem Wahrer des Rechts zu Teil wird, der in seiner Jugend
bei den ersten Pandektisten seine Studien gemacht hat.

Unter den Schützen, zu denen ich gehörte, sehe ich, seine Kameraden
fast um Haupteslänge überragend, den stets zu allem guten Thun
herrlich angelegten Rektor der Stadtschule, meinen alten Freund, den
~Dr.~ Brunnemann. Er war gleichzeitig mit mir als Flüchtling in
die Schweiz gekommen und in Freiburg unter vielen Bewerbern zum Leiter
der Jugenderziehung in Murten gewählt worden. Ein gut geschulter
preußischer Gymnasiallehrer, hatte er seinem Examinator in Freiburg,
einem alten Kanonikus, der sein Latein längst vergessen hatte, durch
sein Verständnis des Horaz sehr imponiert. Wir legten weniger Wert auf
sein Latein, als auf seinen liebenswürdigen Charakter, seine heitere
Laune, seine anregende Gesellschaft, seine Gradheit und Herzlichkeit.
Brunnemann war ein geborener Berliner, Sohn eines Geistlichen; er war
in Stettin noch nicht lange im Amte, als ihn der Strom der Revolution
in seine Wogen zog. Wir nahmen das Mittagsmahl an gemeinsamem Tisch. Da
er einige Jahre älter war als ich und es wirklich gut mit mir meinte,
folgte ich gerne seinem Rat, namentlich in ästhetischen Dingen, denn --
ich bitte, nicht allzu sehr zu erschrecken! -- ich hatte von Bern den
ersten Akt eines Trauerspiels „Marcel“, mitgebracht, und ich war damit
beschäftigt, es seiner Vollendung entgegenzuführen.

Der Stoff zu meinem historischen Trauerspiel war glücklich gewählt,
und diese Wahl erklärt sich leicht aus den politischen Ereignissen,
die ich eben selbst erlebt hatte. Während der blutigen Wirren,
welche Frankreich in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts infolge
der bei Poitiers von den Engländern erlittenen Niederlage und der
Gefangennahme des Königs Johann heimsuchten, hatte das Haupt der
Pariser Bürgerschaft, Etienne Marcel, eine Rolle gespielt, die an
das Auftreten eines Cromwell dreihundert Jahre später erinnert, und
in Frankreich vierhundert Jahre später von den Häuptern der großen
französischen Revolution erneuert wurde. Die Jacquerie, welche in
dieselbe Zeit hineinfiel, gab dem inhaltreichen Stoff einen sehr
bewegten Hintergrund. Dramatische Anregungen hatte ich schon als Knabe
genug erhalten durch Herrn von Sommerfeld, den Herausgeber der Berliner
Theaterzeitung, der, wie schon erzählt, den sechzehnjährigen Burschen
nicht selten an seiner Statt ins Schauspielhaus geschickt hatte, um
die Mühe des Schreibens einer Rezension von sich auf ihn abzuwälzen.
Das Jahr 1848 und das Frühjahr des Jahres 1849 und was ich dabei
erfahren, belebten die frühe Absicht, mich auf dramatischem Gebiet zu
versuchen, und so entstand mein Marcel. Die Diktion ist noch ungelenk
genug, durch das ganze Stück jedoch pulsiert ein frisches, jugendliches
Blut, es ist vom Feuer des jungen Knappen durchglüht, der in der ersten
Schlacht sich die Sporen verdienen will, und so kam es, daß „Marcel“
bei seiner ersten Aufführung in Bern, und zwei Jahre später in Zürich
eine beifällige Aufnahme fand, die den jungen Dramatiker zu weiteren
Bühnenstücken ermutigten, über die er jetzt sehr kühl und nüchtern
denkt.

Die erste Aufführung des „Marcel“ beraubte mich der Teilnahme
an einer für den Kanton Freiburg interessanten, ebenfalls
historisch-dramatischen Handlung. Während ich nämlich dem Schicksal
meines Helden auf den Brettern des Berner Theaters beiwohnte, hatte
Carrard, ein Parteigänger des gestürzten Jesuitenregiments, einen
Putsch in Freiburg versucht, war jedoch mit seinen Bauern an der
Überwältigung der liberalen Regierung gehindert und in die Flucht
geschlagen worden. Es war freilich schon alles vorbei, als das Korps
der ~Garde civique de Morat~ stolz in der Hauptstadt einrückte.
Carrard aber war nicht ganz entmutigt, er wiederholte mehrere Monate
später den Versuch eines Handstreichs und verlor dabei das Leben. Wer
weiß, ob nicht ein Jesuitenzögling kommender Jahrhunderte den Tod
dieses Helden dramatisch verherrlicht, wie ich den Tod „Marcels“, des
Pariser Rebellen? Die Murtener ~Garde civique~ kam auch diesesmal
erst nach dem Ereignis nach Freiburg. Wir hatten keine Gelegenheit,
von unserer Tapferkeit Zeugnis abzulegen. Als wir nach drei Tagen uns
wieder auf den Heimweg begaben, ließ uns unser Hauptmann auf eine
Wiese, rechts von der Straße, abschwenken, und dort in die geduldige
Mutter Erde unsere Gewehre entladen.

Es war uns die Ehre zu Teil geworden, die Kantonshauptstadt vor
etwaigen erneuten revolutionären Angriffen zu schirmen und diese Ehre
teilten wir mit den Bürgerwehren verschiedener anderer Ortschaften,
die auf höheren Befehl herangezogen wurden. So hatte ich die Freude,
an der Spitze des Kontingents von ~Chatel St. Denis~ meinen
Freund, ~Dr.~ d’Ester, als Chef ~de la fanfare~ zu erblicken.
Dem ehemaligen Mitglied der äußersten Linken in der preußischen
Nationalversammlung hatte es ein besonderes Vergnügen gemacht, in
seinen Mußestunden einige junge Dörfler zu einem Trompeterkorps
auszubilden, und es war ihm nach redlicher Anstrengung gelungen,
ihnen die Marschmelodie des damals so beliebten, entsetzlichen Liedes
„~Zin, zin, rataplan! Vivent les rouges, à bas les blancs!~“
beizubringen, sodaß sie es ziemlich erträglich in den Straßen der
erstaunten Stadt ertönen ließen. Wir hatten bei unserem nicht allzu
strengen Dienst viele heitere Stunden. Ich erinnere mich einer Nacht,
wo wir, etwas mehr als ein Dutzend, in einem feuchten Wachtlokal
eingepfercht waren, das, von einem schmierigen Öllämpchen karg
beleuchtet, von den unedelsten Gerüchen erfüllt war, welche in einem
seit Monaten ungelüfteten Raum eine von dickem Tabaksqualm und den
Hochgenüssen aus der nächsten Fuhrmannskneipe verpestete Atmosphäre
nur zu erzeugen vermochte. Da plötzlich bemerkte man, daß wir einen
Wehrmann weniger zählten. Der Syndic, d. h. Gemeindeammann eines
welschen Dorfes aus der Nachbarschaft von Murten, war verschwunden.
Der Mann stand schon in reifen Jahren, er war nicht, wie viele von
uns, Krieger aus Neigung, sondern aus Pflicht und Schuldigkeit, wie
das Gesetz der neuen Regierung es den Beamten vorschrieb. Es war ihm
sicherlich an der Erhaltung der radikalen Regierung blutwenig gelegen;
der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, marschierte er in unseren
Reihen und bei der damaligen engen Marschordnung passierte es ihm
sehr häufig, daß er seinem Vordermann auf die Ferse trat, was seine
Beliebtheit im Korps nicht eben verstärkte.

„Wo ist der Syndic von Courlemont hingekommen?“ fragte man mit
Besorgnis. Man suchte ihn an allen Orten, wo ein Mann unter den
gegebenen Verhältnissen in tiefer Nacht zu suchen war. Verschwunden
blieb er, Mann und Gewehr. „Er ist desertiert,“ erscholl es wie aus
einem Munde. Und die fröhlichen Lieder, die uns bis dahin über den
trägen Lauf der Stunden hinweggeholfen, verstummten. „Vor dem Feinde
desertiert! Das muß furchtbar geahndet werden.“ Es wurde sofort ein
Kriegsgericht ernannt und eröffnet. Der Ankläger erhob sich. Mit
eindringlichen Worten stellte er die tiefe Verworfenheit des Beamten,
des Bürgers, des Wehrmannes dar, der heimlich den ihm anvertrauten
heiligen Posten verlassen hatte, auf welchem seine Kameraden mit den
schwersten Opfern, mit Einsetzung ihres Lebens ausharrten. Er erinnerte
an die vielerlei Zeichen bösen Willens, an das öfters verspätete
Erscheinen des Angeklagten auf dem Sammelplatz, an die Unsauberkeit
seiner Uniform und Waffe, an die üble Laune, die er zu allen Zeiten
gezeigt und namentlich an den schmerzlichen Anstoß, den er so häufig
bei seinen Vordermännern erregt hatte. Der Verteidiger erhob sich.
In kunstvoll gesetzter Rede versuchte er es, die Richter zur Milde
zu stimmen. Er schilderte den fleißigen Landmann, den sorglichen
Hausvater, den redlichen Bürger, der seine Steuern stets pünktlich
bezahlt, nie gegen einen Bettler ein verderbliches Mitleiden gezeigt,
mit aller Welt in Eintracht gelebt hatte, mit dem Herrn Oberamtmann wie
mit dem Pfarrer und dem Mönch; er führte in rührenden Bildern die Frau,
die Söhne und namentlich die Töchter des Angeklagten vor, die Zierden
und der Stolz ihres Dorfes, das niemals, seitdem die ersten Hütten dort
gebaut worden, einen Verräter in ihrer Mitte gekannt. So sprach der
wortreiche und gemütvolle Verteidiger. Aber das Gericht ließ sich nicht
irre machen. Es folgte seiner männlichen, soldatischen Überzeugung und
Pflicht; es verurteilte den Syndic von Courlemont zum Tode.

Am anderen Morgen erschien der Verurteilte beim Hauptmann. Er sei
in dem furchtbaren Raume des Wachtlokals, erklärte er, von einer
plötzlichen Übelkeit befallen worden und habe sich zu einem Arzt
gerettet, der ihm dann auch ein Zeugnis über seine Krankheit mitgegeben
hatte. Der Syndic von Courlemont wurde nicht hingerichtet.

An einem schönen Mittag befand ich mich auf Wache vor dem im
Sonderbundskrieg schwer mitgenommenen Jesuitenkollegium. Von meinem
hohen Standort aus, an der Zufahrtsstraße, konnte ich rechts hinabsehen
gegen das Murtner Thor, links hinab gegen das Romonter Thor. Es war
mir befohlen, jede Person, die dem Posten sich nahte, anzurufen. Die
Disziplin ist die Mutter des Sieges, ich war selbstverständlich von dem
festen Willen erfüllt, den mir gewordenen Befehl pünktlich auszuführen.
Da nahte sich tief unten vom Murtner Thor her ein Schatten. Er nahm
bestimmtere, er nahm menschliche Formen an. Mein Auge richtete sich
immer schärfer auf die verdächtige Gestalt. Es war eine alte Frau, die
mühsam ein Bündel Reisig auf dem Rücken, die Höhe hinaufklomm. „~Qui
vive?~“ schrie ich sie an, daß es meilenweit zu hören war. „~Bah,
bah,~“ schüttelte sie gleichmütig den Kopf. In demselben Augenblick
vernahm ich am andern Abhang nach der Seite des Romonter Thors zu das
helle Kommando: „~Canonniers, à vos pièces!~“ Das war die Antwort
auf mein „~Qui vive?~“ -- Jetzt war die Alte oben. „~Passez au
large!~“ rief ich ihr zu. Die Kanoniere standen kampfbereit an ihren
Geschützen. Als sie die Alte nun auf sich zukommen sahen, brachen sie
in ein Höllengelächter aus, daß man in der guten Stadt Freiburg meinte,
die Murtner seien vom Teufel besessen. So wurde uns der Dienst der
Freiheit und des Vaterlandes eine Quelle der unschuldigsten Freuden.

Ich sage „des Vaterlandes“. Die Schweiz hatte ich schon liebgewonnen,
als ich im Sommer des Jahres 1847 zum erstenmal ihren Boden betrat.
Jetzt, drei inhaltsreiche Jahre später, wollte ich mir das Schweizer
Bürgerrecht erwerben. Es wurde mir von der Gemeinde Montelier, einem
Dorfe dicht bei Murten, zugesagt; die Freiburger Regierung hatte ihre
Zustimmung gegeben, der Bundesrat aber versagte die seine.

Als nun meinem Naturalisationsgesuch durch bundesrätlichen Einspruch
so unerwartete Schwierigkeiten entgegentraten, suchte ich den großen
Berner Politiker Herrn Jakob Stämpfli auf, den ich kurz vorher auf
einer Hochzeit im Kanton Bern kennen gelernt hatte, und der mir da
mit großer Freundlichkeit entgegengekommen war. Ich besuchte ihn im
Gefängnis, wo er eine Strafe für ein Preßvergehen abzusitzen hatte,
die er sich mit einer Behauptung über das Verschwinden des Berner
Schatzes während der französischen Revolutionszeit zugezogen hatte.
Als Gefängnis war ihm ein anständiges Zimmer im Burgerspital, nahe
beim jetzigen Bahnhof, angewiesen. Ich traf seine hübsche Frau bei
ihm, sie war mit einer Handarbeit beschäftigt und verkürzte ihm
plaudernd die Zeit. Herr und Frau Stämpfli nahmen mich sehr freundlich
auf. Er schrieb mir einen Empfehlungsbrief an seinen Freund, den
Bundesrat Furrer und riet mir, auch einen Besuch bei Herrn Druey zu
wagen. Ich ging zu Herrn Bundesrat Furrer. Ich überreichte ihm den
Brief des Herrn Stämpfli und trug ihm mein Gesuch vor. Er machte mir
auch nicht die geringste Hoffnung auf die Erfüllung meines Wunsches,
seine Antwort war ein unzweideutiges, rundes Nein. Der Bundesrat
hatte den Beschluß gefaßt, denjenigen Flüchtlingen, welche in ihrer
Heimat eine Führerrolle gespielt, eine Einbürgerung in der Schweiz
nicht zu gestatten. Mitglieder provisorischer Regierungen waren sogar
ausgewiesen worden. Der Mann, der mir ohne alle Umschweife „Nein“
sagte, gefiel mir; er hätte ja sein Nein in ein paar versüßende Phrasen
wickeln können, die mich vielleicht verleitet hätten, doch noch, was
meine Person betraf, an eine Änderung des gefaßten Beschlusses zu
glauben. Er that es nicht, obgleich seine Frau, die zugegen war, mir
einen teilnehmenden Blick zuwarf. Und er hatte recht.

Ganz anders benahm sich Herr Druey. Im Gegensatz zu einem ersten, von
mir nicht gesuchten Zusammentreffen, nahm er mich mit ausgesuchter
Freundlichkeit auf -- ich hatte ihn während der Aufführung des „Marcel“
im Theater gesehen, ich war also für ihn ein Stück Poet, also doch
immer etwas, wenn auch wenig genug -- er drückte mich auf das Sofa,
schüttelte mir die Hand, sprach mit mir über die Quellen, aus denen
ich mein Drama geschöpft, über die Chronik des Froissart, die er vor
Jahren mit Interesse gelesen, und schließlich sagte er mir: was mein
Naturalisationsgesuch betreffe, so solle ich mir für den Augenblick
die Sache aus dem Kopfe schlagen, der Bundesrat könne einen noch so
neuen Beschluß nicht jetzt schon zurücknehmen. Die Zeit werde Rat
bringen, in einem Jahre, vielleicht schon früher, werde die Geschichte
eingeschlafen sein. Dann werde sich alles machen lassen. Er begleitete
mich beim Abschied bis an die Thür. Ich war ganz entzückt von dem
würdigen und dabei so humanen Manne.

Wir werden bald sehen, wie weit auf dieses Mannes Herzlichkeit zu
rechnen war.

Ich habe mich oben lange bei der ~Garde civique~ aufgehalten;
sie spielte indessen nur die angenehme Rolle der Abwechslung in dem
idyllischen Alltagsdasein der kleinen Stadt. Welch gute Menschen! muß
ich noch heute mir sagen, wenn ich an alle die Personen denke, denen
ich während meines zweijährigen Aufenthaltes in Murten näher getreten
bin. Es waren nicht die banalen Leute, denen man überall und allerwegen
begegnet. Wie die Mauern und Türme dem Orte selbst einen individuellen
Stempel aufdrücken, so haben seine historischen Zeugen und Denkmäler
auch auf die Natur und die Physiognomie des einzelnen Bewohners
gewirkt. Es leben so manche liebe und dabei originelle Gestalten aus
jener Zeit in meiner Erinnerung fort. Ich darf sie nicht ins Leben
rufen, weil an ihre Namen leider sich tragische Ereignisse knüpfen.
Wenn man einen noch so kleinen Ort während eines so langen Zeitraums
wie nahezu fünfzig Jahre zu überblicken vermag -- wie viel schwere
Schicksalsschläge haben da sich indessen vollzogen! Auch auf dem
engsten Raume findet die Welttragödie ihre Helden und Opfer.

Herr Druey, der Chef des eidgenössischen Justiz- und
Polizeidepartements, hatte sein liebendes Auge nicht von mir
abgewendet. Eines Morgens überraschte mich der mir wohlgesinnte
Oberamtmann des Seekreises, Herr Chatoney, in Begleitung des
Oberamtsschreibers, um auf Grund eines ihm von Freiburg zugegangenen
Befehls Haussuchung in meiner Druckerei und Wohnung zu halten.
Ich stand bei der obersten eidgenössischen Behörde in Verdacht,
revolutionäre Schriften zu drucken. Dieser Verdacht war vollkommen
unbegründet und die Haussuchung brachte in der That nichts gegen
mich zum Vorschein. Doch hätte es mir leicht schlimm ergehen können.
In meinem Schreibtisch lagen verschiedene Briefschaften; der Herr
Oberamtmann öffnete einige, diskret nur nach der Unterschrift blickend,
und war beruhigt. Mir klopfte das Herz dabei. Hätte er weiter gesucht,
so wäre ihm ein Brief in die Hände geraten, in welchem ein Mann, der
seither von der Weltbühne verschwunden ist, bei mir anfragte, ob ich
geneigt sei, etwas Politisches für Deutschland zu drucken. Ich hatte
abgelehnt. Wie aber hätte ich dies beweisen können, und hätte man
überhaupt meinen Beweis abgewartet? Kaum war der Herr Oberamtmann mit
seinem Schreiber aus meinem Zimmer, als ich rasch jenen unglückseligen
Brief hervorholte, ihn anzündete und in den Ofen warf. In diesem
Augenblicke kam der Schreiber wieder herein. Ich war sehr erschrocken.
Er hätte merken können, was vorgefallen war, er hätte das verbrannte
Papier riechen können. Der Mann hatte keine Nase. Er hatte seinen
Regenschirm vergessen, deshalb war er zurückgekehrt.

Einige Tage darauf erfuhr ich aus dem Munde des Herrn Oberamtmanns,
daß er, um kein Aufsehen zu erregen, die Morgenstunde des Sonntags
gewählt, wo alle Welt sich in der Kirche, keine Seele sich auf der
Straße befand, daß er übrigens sich geweigert hatte, den Befehl
auszuführen, weil nach freiburgischem Gesetz eine Haussuchung nur auf
richterlichen Befehl gestattet sei, daß der Freiburger Staatsrat Herrn
Druey gegenüber denselben Einwand erhoben, jedoch mit der Antwort
abgefertigt worden sei, er habe einfach dem Befehle zu gehorchen. Das
that er schließlich, und ich mache ihm daraus keinen Vorwurf. Die
Schweiz kann nicht wegen eines kleinen Buchdruckers in Murten den
äußersten Widerstand gegen ausländische Zumutungen fortsetzen, wie
sie es zu Gunsten des Prinzen Napoleon Bonaparte gethan. Und dieser
entschloß sich zu gehen, als er merkte, daß es um seinetwillen Ernst
werden könnte.

Auf meine eigenen Entschlüsse sollte übrigens derselbe Prinz Napoleon
sehr bald einen entscheidenden Einfluß ausüben. Sein Staatsstreich vom
2. Dezember 1851 brachte in mir die schon seit einiger Zeit gehegte
Absicht zur Reife, Murten zu verlassen und einen anderen Lebensweg
einzuschlagen. Ich hatte oben gesagt, daß ich „die Geheimnisse des
Volkes“ von Eugen Sue in deutscher Übersetzung druckte. Infolge des
Staatsstreiches sah der französische Dichter sich veranlaßt, die
Fortsetzung seines Werkes einzustellen. Für meine Presse fiel nun die
Hauptbeschäftigung dahin, anderes fand sich nicht sogleich. Ich konnte
meine Buchdruckerei in den ersten Monaten des Jahres 1852 verkaufen und
siedelte nach Zürich über, wo ich an der Universität mich inskribieren
ließ.

Aber auch hier hatte ich vor Herrn Druey noch nicht vollständig
Ruhe. Ob der Käufer meiner Druckerei, ein urchiger Berner, dem man
polizeilich nichts anhaben konnte, etwas für denselben, oben nicht
genannten Mann, druckte, weiß ich nicht, doch ich bezweifle es sehr.
Nachdem ich seit einigen Monaten unbehelligt in Zürich gelebt,
wurde ich eines Morgens auf die Polizei geladen. Herr Billeter, der
Polizeisekretär, hatte einen Brief in der Hand, auf Grund dessen er
mich befragte, ob ich Beziehungen zu dem Käufer meiner Druckerei in
Murten habe. Meine Antwort lautete verneinend. Ob ich nicht wüßte,
was derselbe jetzt druckte. Ich mußte wiederum meine Unwissenheit
über diesen Gegenstand eingestehen. Ich habe ihm kürzlich einen Brief
geschrieben, fügte ich hinzu, er solle mir doch recht bald den Rest
meines Guthabens einsenden. -- Nichts sonst? fragte Herr Billeter.
-- Sonst nichts! war meine treuherzige und wahrheitsgemäße Antwort.
Der Herr Polizeisekretär schenkte zweifellos meiner Aussage volles
Vertrauen. Ich stand sehr nahe bei ihm und er hielt den aus Bern
eingetroffenen Brief so -- war es vielleicht absichtlich? -- daß ich
ihn lesen konnte. Der von Herrn Druey unterzeichnete Brief hatte
folgenden Schlußsatz, der sich fest in mein Gedächtnis eingeprägt hat:
„~S’il y a moyen d’éloigner Monsieur Born de la Suisse, ce serait le
mieux.~“

Herr Druey hatte ohne Zweifel geglaubt, mit der Art und Weise, wie
er die politische Polizei handhabte, seinem Vaterlande nützlich zu
sein. Ich will darüber mit dem Manne, der längst im Grabe ruht, nicht
rechten. Die Züricher Regierung war nicht seiner Ansicht, sie ließ
mich vollkommen unbehelligt; ich muß sogar sagen, daß sie mir während
der nächsten Jahre meinen Weg erleichterte. Dasselbe muß ich überhaupt
von den vielen schweizerischen Männern sagen, mit denen ich das Glück
hatte, in den fünf verflossenen Dezennien in engere oder entferntere
Berührung zu kommen. Man hat mich, wenn ich den einzigen Fall Druey
ausnehme, stets mit Rücksicht und Wohlwollen behandelt. Und wenn ich
meine Erinnerungen an dieser Stelle abbreche, so geschieht es mit dem
Dankgefühl eines Mannes, der unverdienter Weise viel Gutes in dem Lande
erfahren hat, das er als Verfolgter betreten hat.

[Illustration]



[Illustration]

Nachwort.


Die fünfzig Jahre, die seit den Ereignissen verflossen sind, an denen
ich teilgenommen, haben Deutschland so viele Veränderungen gebracht,
daß es mir Bedürfnis ist, ehe ich meine „Erinnerungen“ schließe, eine
kurze Betrachtung an das anspruchslos Dargestellte zu knüpfen.

An der Grenze des neuen Reiches eingebürgert, durch den Umgang
mit Leuten des jenseitigen Rheinufers, mit deutschen oder
deutsch-freundlichen Kollegen an der Basler Universität, und namentlich
als Redakteur der „Basler Nachrichten“ stehe ich in unausgesetzter
Beziehung zur allgemeinen politischen Bewegung, speziell zum
politischen Leben in Deutschland. Ich nehme innigen Anteil an seinen
glücklichen Fortschritten und nicht minder an seinen, hoffen wir,
unbegründeten Sorgen. Die Überzeugung, von welcher alle politisch
denkenden Menschen im Jahre 1848 erfüllt waren, daß die deutsche
Einheit nicht ohne harte Kämpfe, nicht ohne „Blut und Eisen“ errungen
werden konnte, ist durch den Gang der Geschichte bestätigt worden.
Der Riß, der durch die Reformation das deutsche Volk getrennt hat,
ist freilich noch immer nicht ganz geheilt. Wäre er unheilbar? Die
konfessionellen Gegensätze bestehen auch in der Schweiz, die selbst
unmittelbar vor ihrer politischen Erneuerung des Jahres 1848 einen
Bürgerkrieg aus religiösen Motiven durchzukämpfen hatte, die in
neuester Zeit noch einen Kulturkampf bestanden hat und doch ist die
politische Einheit dieser konfessionell und sprachlich geteilten Nation
jetzt felsenfest begründet und über allem Zweifel erhaben. Ich bin
deshalb überzeugt, daß auch im neuen deutschen Reich die geschaffene
Einheit aus konfessionellen Gründen nicht ernstlich gefährdet ist -- so
lange nicht ein ungewöhnlicher Unverstand über die Geschicke des Landes
verfügt.

Deutschland hat, wie ich überzeugt bin, durchaus keine Ursache, an
seiner Zukunft zu zweifeln, so leidenschaftlich auch die Parteikämpfe
sind, welche seine Bevölkerung vorübergehend spalten. Man überschaue
mit Unbefangenheit, was in den letzten fünfzig Jahren geschaffen
worden und man wird über die Größe des Erreichten staunen. Es scheint
im Augenblick ein Stillstand in der Entwicklung eingetreten zu sein. Es
ist nicht zu besorgen, daß die unterbrochene Arbeit nicht in kürzester
Zeit wieder aufgenommen werde. Der konfessionelle Streit, der bis in
die Gegenwart wegen des zur Kaiserwürde gelangten protestantischen
Fürstenhauses einen unversöhnlichen Charakter anzunehmen schien, wird
unter einem jüngeren Geschlecht sich allmählich abschwächen. Nur
verlange man nicht, daß in wenigen Jahrzehnten zusammenbreche, woran
Jahrhunderte gebaut haben.

Neben dem konfessionellen Streit ist es der die ganze Welt
beherrschende Kampf des vierten Standes um seine Selbständigkeit,
der die schwere Sorge der Gegenwart bildet. Dieser Kampf, von dessen
Anfängen ich in den vorliegenden „Erinnerungen“ als Augenzeuge und
Beteiligter erzählt habe, hat seither sein damals ins Auge gefaßtes
Ziel erreicht, er hat eine starke Arbeiterpartei geschaffen und so
deren geschichtliche Berechtigung bewiesen. Damit ist sicherlich
sein Abschluß nicht gewonnen, er tritt vielmehr in eine neue Phase.
Eine starke Partei ist entstanden, sie lebt, der Boden zu ihren
Füßen ist geebnet. Man ist gespannt auf die Schöpfungen, die sie in
Aussicht genommen, sie soll jetzt bauen. Was wird sie bauen? Nichts
anderes als was die Zeit ihr zu bauen gestattet. Ein Baum wird seine
Äste nicht in hohen Lüften wiegen, dessen Wurzeln nicht tief und
weit herum im Erdreich ihre Stütze gefunden haben. So ist in der
Geschichte niemals ein neuer Gedanke zur Wirklichkeit geworden, dessen
Macht nicht in der Vergangenheit wurzelt. Annehmen, daß in dieser
Welt, mit ihren Kasten, ihren Glaubens- und Standesunterschieden,
die in der Erziehung, in der Geburt und im Besitz sich äußern, mit
ihren Eitelkeiten, ihren Mißbräuchen, mit allen ihren offnen und
geheimen Lastern in absehbarer Zeit, bloß durch eine dekretierte
Änderung der öffentlichen Einrichtungen eine Welt der materiellen
Gleichheit und Selbstverleugnung entstehen könne, das ist ein so in
die Augen springender Aberglaube, daß selbst diejenigen, welche an die
Verwirklichung eines solchen Traumes zu glauben sich einbilden, sich
im Grunde doch bewußt sind, daß sie solches sich eben nur einbilden.
Der neue Bau, zu dem der Grundriß noch fehlt, wird noch lange nicht
begonnen, er wird überhaupt nicht begonnen werden. Denn es giebt weder
einen alten, noch einen neuen Bau, es giebt nur einen einzigen,
ewigen Bau, den der Menschheit Urväter begonnen haben, an welchem ein
Jahrhundert nach dem andern sich beteiligt hat, indem es verfallene
Teile fortgeräumt, um sie durch neue zu ersetzen und auf dem festen
Grunde des mühsam Errungenen weiter in die Höhe zu streben, der
Gesittung, der Wohlfahrt, der Freiheit einen Tempel zu errichten, zu
dem unablässig Steine herbeigetragen werden, der nie ganz vollendet
wird und an dem doch Geschlecht um Geschlecht ewig fortarbeiten.
Erlahmen die einen, so werden sie durch andere abgelöst, auf Zeiten der
Zwietracht folgen kurze Pausen scheinbarer Eintracht. Fort und fort
jedoch, wie die nie rastende Stromeswelle, setzt die Jagd nach dem
ersehnten und nie erreichbaren Glück wieder ein, das allgemeine Drängen
nach einem Ziel, dem unsere Phantasie die verführerischsten Farben
leiht, hört niemals auf und keiner erreicht es und jeder verfolgt es.
Denn nicht das ferne Ziel bewirkt es, daß unsere Augen leuchten -- am
Ende entdecken wir vor dem Ziele doch immer das dunkle Grab -- das
Rennen selbst ist unser Bedürfnis und unser Glück, das Ringen, das
Vorwärtsdrängen an sich, weil es uns belebt, über die Gemeinheit und
die Wirrnisse des Daseins erhebt und für alle Mühsal und Sorgen des
Tages uns entschädigt. Darum treibt es uns voran, ewig voran.

Welches Urteil nun haben wir Jubilare einer gewaltigen Bewegung von der
Zukunft zu erwarten? Sie wird gerecht sein, sie wird sagen: Vorwärts
wolltet ihr? Recht so. Ihr Unterdrückten, Übersehenen, Vergessenen, ihr
habt euch an einem Tage heißen Zornes gegen diejenigen erhoben, die
aus eurer Schwäche ihre Kraft gewonnen hatten und euch mißachteten.
Ihr habt euer Leben eingesetzt und habt jene bekämpft. Wer darf euch
tadeln? Ihr wurdet niedergeschlagen. Was thut’s? Ihr habt denen, die
euch das Gesetz gemacht und euch beherrscht haben, eure vereinte Kraft
gezeigt. Sie rächten sich an solchen, die in ihre Hände gefallen
waren, durch grausame Härte; aber sie haben euch kennen lernen und sie
begannen diejenigen zu achten, von denen man bisher kaum gesprochen.
Ihr erhebt euch aus eurer Niederlage, ihr seid stark geworden. Nur
einige Jahrzehnte und ihr stellt eine Macht dar, die aus dem Nichts
zum Lichte emporgedrungen ist; man muß mit euch rechnen, ihr steht da
als ein lebendiges Zeugnis für die Gesetze der Völkerentwickelung.
Mehr noch: Aus den Reihen eurer angeblich gebornen Gegner treten die
Denkenden zu euch heran, sie prüfen die Ideen, die eure Waffen waren
und die euch getrieben zum Bau von Barrikaden und zur Bekämpfung eines
erstarrenden, dem Tode geweihten Systems; eure Ideen erwerben euch
Anhänger und immer mehr Anhänger im andern Lager, es kommt euch Hülfe
von drüben und ihr werdet nicht mehr als tolle, hirnverbrannte Wesen
betrachtet und verabscheut. Die Besten von drüben sagen: Sie haben
recht gehabt und hätten wir schon damals aufrecht gestanden, wir hätten
neben ihnen gestanden.

Das ist der Sieg der Ideen, der mehr wert ist als der Vorteil des
Augenblicks, mehr als materielle Kraft und zufällige Überlegenheit
der Arme oder der Zahl, und dieser Sieg über die Geister, er ist die
wirkliche, die eigentlich gewonnene Schlacht. So dürfen wir, die
Achtundvierziger, in unseren alten Tagen mit Beruhigung aussagen: Wir
haben nicht vergeblich gerungen.

Übersehen wir jedoch eines nicht: Die Zeiten sind nicht mehr dieselben.
Das, was die Jugend vor fünfzig Jahren in den Kampf getrieben, war
der Kampf um die politische Gleichberechtigung und die Einheit der
Nation. Die Ernte ist eingeheimst worden, so weit sie reif war. Und
so wird auch in Zukunft Frucht um Frucht einzeln gepflückt werden,
doch nicht eher als bis sie völlig reif ist. Es kommt auch keinem
vernünftigen Menschen mehr in den Sinn, für irgend eine Forderung mit
einer andern Waffe als dem Stimmzettel zu kämpfen. Diese Waffe ist
von unwiderstehlicher Macht, wenn der öffentliche Geist sie trägt.
Im Bewußtsein der Mitlebenden muß eine Forderung als gerecht und
verständig, d. h. als erfüllbar anerkannt sein, soll sie als Gesetz
ins Leben treten. Auf sozialem Gebiete giebt es keine gewaltsamen
Umwälzungen. Was man die Wandlungen der Produktionsformen zu nennen
berechtigt ist, das ist stets die Frucht vorausgegangener allmählicher
Wandlungen im Verkehr der Nationen, die Folge der Vermehrung der
Bevölkerung, der Entdeckung neuer Seewege, der Unzulänglichkeit der
alten Produktionsformen zur Deckung der gesteigerten Bedürfnisse
gewesen. Es giebt rasch verlaufende politische Revolutionen und sie
können lokal beschränkt sein, es giebt soziale Evolutionen, die
sich langsam und nur unter dem Einfluß des allgemeinen Weltverkehrs
vollziehen. Wohin diese Evolutionen schließlich führen werden, das
braucht heute unsere Sorge nicht zu sein. Die Menschheit ist noch
jung. Warum soll sie nicht noch hunderttausend Jahre und noch viel
länger leben? Welchen Grund haben wir heute, von dem Siege des vierten
Standes das Aufhören aller Klassenkämpfe, d. h. eine Entwicklungsstufe
zu erwarten, die etwas wie das Paradies auf Erden wäre?

Diese Anschauung gelangt sichtbarlich auch in den Kreisen zur
Herrschaft, die sich, so lange es sich um das allgemeine Stimmrecht
handelte, als revolutionär bezeichneten. Aus den Sozialrevolutionären
werden Sozialreformer, das liegt im Zuge der Zeit.

Wollen wir mit Obigem sagen, daß Deutschland ganz sorglos in die
Zukunft schauen darf? Sicher nicht. Infolge seiner Lage im Centrum
Europas, von mehr als einer feindlichen Macht an seinen Grenzen
bedroht, wird es noch lange auf seine Sicherheit gegenüber äußeren
Feinden zu achten haben. Daß seine innere Entwicklung sich ohne allzu
harte Reibungen vollziehe, möge man besonders da nicht außer Augen
lassen, wo man für Deutschlands Zukunft zumeist verantwortlich ist.

[Illustration]


    Druck von Gottfr. Bätz in Naumburg a. S.



      *      *      *      *      *      *



Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1898 erschienenen Buchausgabe
so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben.

Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert.

Ungewöhnliche und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber
dem Original unverändert; Rechtschreibvarianten, insbesondere
bei Personennamen und fremdsprachlichen Ausdrücken, wurden nicht
vereinheitlicht.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Erinnerungen eines Achtundvierzigers" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home