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Title: Die schöpferische Pause
Author: Klatt, Fritz
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die schöpferische Pause" ***


    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist +so ausgezeichnet+.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Zeitwende

    Schriften zum Aufbau neuer Erziehung



    Fritz Klatt

    Die schöpferische Pause

    [Illustration]

    Drittes bis fünftes Tausend

    Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1922



Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprechen,
vorbehalten. Copyright 1922 by Eugen Diederichs Verlag in Jena



Rhythmische Schwingungen


Alles was der Überlieferung wert erscheint, ist entweder Gekonntes oder
Gewußtes. Jede Überlieferung hat die Absicht, die Jüngeren zu ihrer
+eigenen+ schöpferischen Leistung und zur eigenen liebenden Weisheit
zu führen. Wer zu solch eigenem Können, eigenem Lieben, eigenem Wissen
kommen will, muß zunächst einmal das +Werkzeug+ seines Lebens in die
Hand bekommen. Er muß seinen ererbten und durch die Umstände bedingten
Körper sich zu eigen machen. Und dies kann nur geschehen, wenn der
Mensch diesen seinen Körper einmal wirklich gespürt hat. Nur in einer
günstigen Stunde wird das sein können. Diese Stunde wird eine Stunde
der Bewegtheit sein. Das Lebendige wird dann als das Schwingend-Bewegte
im eigenen Körper gespürt werden. Wer einmal so in sich das Leben
gespürt hat, ahnt, daß diese innere Bewegung gesetzmäßig verläuft, daß
die Schwingungen dies es +selbst+ gelebten Einzellebens Abwandlungen
des allgültigen Lebensgesetzes darstellen, des obersten Gesetzes, das
in der sichtbaren wie der unsichtbaren Gesamtnatur herrscht und Aufbau
und Abbau, Spannung und Entspannung, Kraft und Schwäche in rhythmischer
Folge miteinander wechseln läßt.

Alle Schwingungen des eigenen körperbedingten Lebens, die
kleinteiligsten wie die weitestschwingenden, sind also jedesmal
neuartige Erfüllungen des allgemeinen Gesetzes und können als solche
Erfüllungen +empfunden+ werden. Dieses allgemeine Schwingungsgesetz
vom Auf- und Abbau des Lebendigen ist nun so gebaut, daß zwischen
Abschwellung und Anschwellung, zwischen Entspannung und neuer
Spannung jedesmal eine Pause liegt, eine Pause, in der, ohne daß
etwas getan wird, doch der neue Antrieb verborgen liegt. Und auf die
+schöpferische+ Bedeutung dieser Ruhelage vor allem kommt es an, bei
all den kleinsten wie den größten Rhythmengefügen, durch die das Selbst
des Menschen hindurchschwingt.



Blutschwingungen


Die pulsenden Schläge des Herzens bilden den kleinteiligsten Rhythmus
in der Lebensleistung des Körpers. Wir wissen es alle, das eigenbewegte
Blut ist das Grundfließend-Bewegte in uns. Hier ist der Rhythmus,
der uns mit allem Lebendigen zu unterst in schwingender Verbindung
hält, zugleich der Rhythmus, der uns in die eigenste und einsamste
Absonderung treibt.

Das strömende Blut verbindet den Leib der Mutter unmittelbar mit
dem Kind. Dies ist ja wirklich jedem geschehen. Wer es vermag
sich da hinunter zu ducken, dem schlafen alle Sinne ein. Er wird
wie durch einen dunkel purpurnen Schlund hinunter gezogen auf den
Grund eines Stromes, der zu unterst unter Zeit und Raum, Licht
und Dunkelheit fließt, aus dem alles Lebendige immer von neuem
wirbelhaft aufgeschleudert wird, ein Springbrunn von Blut. Weil dieser
Springbrunnen so langsam durch die Zwischenschichten: Raum und Zeit und
Licht dringt, sind wir meist wie gelähmt in unserer Verbindung nach dem
Grund. Wir spüren nur unsern eigenen Auftrieb, nicht das Woher dieses
Auftriebes. Nur wenn einer so mitten im Leben einmal, ohne zu wissen
warum, an seine Mutter denkt, nicht denkt, sondern so wie von einem
Schreck ganz und gar von diesem Gefühl: Mutter durchschossen wird,
in dem spricht dann das Blut aus seiner schwindelnden Tiefe. Er ist
nicht mehr einsam, sinkt in den Strom von Familie, Geschlecht, Rasse,
verliert sich selbst und wird nur noch Bewegung von irgendwoher nach
irgendwohin.

Verbindung nach unten ist das eine, der Auftrieb ist das zweite
Erlebnis des Blutes. Zur Absonderung treibt es, zu hundert Zweigungen
und Ästen, Liebesgedanken und Lebenswerken und schließlich zum Tod.
Auch dies spürt ein jeder, vielleicht wenn er mitten in der Nacht
einmal aufwacht und in der großen Stille seiner Einsamkeit gewahr
wird. Oder wenn er mitten in freudevollster Arbeit innehält und die
Arbeit seiner Hände oder seiner Gedanken noch fast unmittelbar als die
aus seinem Blut hochgesprossene Blüte riecht, als die letzte, nun der
Erstarrung preisgegebene Endigung abspritzenden Lebens.

Nun kommt alles darauf an, nach der einen +wie nach der anderen+ Seite
voll zur Schwingung zu gelangen. Mit willensmäßiger Anspannung ist
nichts getan. Das Herz schlägt, kann nicht eigenwillig beschleunigt
oder verlangsamt werden. Sich geschehen lassen, hingegeben sein, ist
hier die Haltung. Alles was Liebe, Wissen, Tod genannt wird, alles was
den einzelnen Menschen aus seiner Vereinzelung heraus sich besinnen
läßt, alles was Verbindungen schafft und schließlich das Opfer des
Selbst erfordert, hat hier in der Tiefe des menschenverbindenden
Blutstroms seinen sinnlich-spürbaren Grund, seine Wirklichkeit. Dies
wird später zu verfolgen sein.

Aber alles was Lust, Freude, Leistung, Leben genannt wird, was den
einzelnen Menschen gerade in seiner Vereinzelung, seiner Einmaligkeit
steigert und unverwechselbar in seinem eigenen Selbst schwingen läßt,
das ist der Auftrieb aus dem allverbindenden Blutstrom. Davon soll
zunächst die Rede sein.



Atemschwingungen


Die Schwingungen des Atems übertönen die Herzschläge. Mehrere
Blutwellen gehen während eines Atemzuges ein und aus. Der Atem geht
lauter. Vor allem: die Schwingungen des Atems sind willkürlich dehnbar.
Dabei ist von entscheidender Wichtigkeit, daß die Pause zwischen
Ausatmung und neuer Einatmung dehnbar ist.

Diese +Pause+ ist +schöpferisch+. Aus ihrer Tiefe kann der wahrhaft
eigene Atem sich erheben. Bei den meisten Menschen wird diese
Gelegenheit immer wieder vorbeigelassen. Ihr Atem schwingt achtlos über
diese Besinnungspause hinweg. So kommen alle diese gar nicht zu ihrem
Eigenatem, sondern verbleiben in dem allgemeinen Rhythmus ihres durch
Vererbung bedingten Gattungs-Körpers. Würde man die täglichen Atemzüge
eines Menschen in schwingenden Kurven darstellen über einer Linie,
welche die Ruhepunkte zwischen Ein- und Ausatmen miteinander verbände,
so würde das ein höchst zittriges und klägliches Bild ergeben. Auch
würde diese Kurve mit dem An- und Abschwellen der alltäglichen
Leistungen der Menschen durchaus nicht übereinstimmen. Vielmehr werden
die Atemschwingungen gewöhnlich kurzwellig und ängstlich, wenn die
Leistung größer wird. Die Atempausen werden dann nicht innegehalten.
Der Mensch dringt nicht bis in die Tiefe der Besinnung hinab, atmet
hastig schon wieder ein, wo er eigentlich noch einhalten müßte.

Es besteht zwischen solchem ängstlichen Atem und dem Mißlingen der
Leistungen ein ursächlicher Zusammenhang, der durch Selbstbeobachtung
leicht in seinem ganzen Umfang aufgedeckt werden kann. Wo dann
trotz dieses Widerspruches von Atmung und Leistung Taten entstehen,
geschieht das eben auf Kosten der Lebenskraft. Und dieses ist der
gewöhnliche Zustand der heutigen Menschen, die durch ihre Arbeit
hoffnungslos aufgezehrt werden und oft schon in der Mitte ihres Lebens
verbraucht sind.

Das Wissen von dem grundlegenden Wert des Atems ist Urzeitgut aller
Menschen. In allen großen Religionen ist der Heilswert des Atems bewußt
in das Ritual eingebaut. Ausatmend wird der Gottheit das Opfer der
gesprochenen Gebete dargebracht und nach der schöpferischen Pause einer
inbrünstigen Besinnung dann die Gnade des Gottes mit dem eingeatmeten
Luftstrom in den Körper aufgenommen[1].

Es müßte dann hier der ganze anatomische Vorgang der Atmung und seine
entscheidende Bedeutung für das Körperleben dargestellt werden. Und der
Doppelstrom religiöser Inbrunst und naturwissender Klarheit zusammen
würde dem System der Atemlehre genügend Weite geben.

Die Andeutung dieser großen Zusammenhänge genügt. An der systematischen
Erkenntnis allein ist hier wenig gelegen. Nur wer in irgendeiner
dunklen Stunde des Einklangs mit sich selbst erlebt hat, wie sein
Atem rauschte, und wie der Rhythmus des eigenen Blutes in der Tiefe
der Atempause spürbar wurde, nur der kann begreifen, daß es sich hier
in Wahrheit um das Wesentliche handelt, nämlich um die Aneignung des
Rhythmus, der jeder Regung und Leistung des eigenen Lebens zugrunde
liegt.

Der führende Mensch hat an dieser entscheidenden Stelle seine immer
wieder neue Bildungsaufgabe, nämlich den Eigenrhythmus in dem Atem
seines Anvertrauten hervorzulocken. Bildung ist nur durch Beispiel
möglich. Die Führung an dieser entscheidenden Stelle mißlingt
naturgemäß überall da, wo der Führende seinen eigenen Rhythmus verwirrt
oder sich verwirren läßt. Er merkt es sofort: er hat dann nicht Ruhe
zu warten, und wie lange wird er auf den Rhythmus des Anderen lauschen
müssen, bis er eines Tages wirklich weiß: dies ist sein Rhythmus. Erst
mit diesem Klangbild im Herzen wird er ihn nun zu locken beginnen mit
einer solchen freudevollen Gewißheit, daß sich der Andere dem gar nicht
mehr entziehen kann. Nicht in irgendeinem zwangsmäßigen Sinn: zu jeder
Stunde, wo er merkt, daß jener seinem eigenen Rhythmus nahe kommt, da
wird er mit seinem ganzen führenden Wesen zu rauschen beginnen, er
wird den suchenden Atemklang des werdenden Menschen mit einem ganzen
Bündel mitklingender Töne aus seiner eigenen Seele umgeben, daß jener
sofort merkt: hier wird etwas in mir. Kein Wort wird die Bedeutung
solchen Augenblicks zum Ausdruck bringen können, höchstens, daß es im
Auge mit aufleuchtet.

Selbstatmend wird er ihm helfen, indem er seine eigenen Atemzüge
einfließen läßt in die Atemgezeiten seines Vertrauten, vielmals des
Tags bei Arbeit und Freude und manchmal des Nachts in der wechselnden
Tiefe des Schlafs. Unmerklich wird er so den Atem des Anderen lenken
und vielleicht durch sein immerwährendes Beispiel ihn vermögen, öfter
und tiefer herabzusteigen zu der Ruhelage seines eigenen Selbst. Nur
in völliger Selbstlosigkeit und ohne Machtgelüste und ohne zur Schau
getragene Absichtlichkeit darf diese Lenkung geschehen. Vielleicht wird
der Atem auch bewußt geübt werden können. Die Gefahr dabei ist, daß
der erste Antrieb, die dunkle Sehnsucht zum Eigensten, verdeckt wird
durch die besondere Lust, die jedes Können durch sich selbst bereitet.
Der Führer, der stets jenes erste Klangbild von dem Atemrhythmus des
Jüngeren in sich bewahrt, wird dann an irgendeinem Tage ihm auf die
Schultern klopfen und ihm begreiflich machen: so ist das Bild, und dein
Können bleibt an dieser Stelle. Stimmt das noch?



Tagesschwingungen


Der durch den schwingenden Atem immer sicherer werdende Eigenrhythmus
wird auch allmählich helfend spürbar werden, wo das Selbst des Menschen
durch größere Zeitteile des Lebens hindurch schwingt. Alle diese
größeren Rhythmengefüge, die da in Betracht kommen, unterscheiden
sich in +etwas+ grundsätzlich von dem Blut- und Atemrhythmus. Der
schwingende Atem erbaut seine Periodik nach einer gewissermaßen in
dem Menschen selbst befindlichen Schwingungszahl. Diese größeren
Rhythmengefüge aber, von denen nun die Rede sein wird, schwingen
außerhalb des Menschen selbst. Auf ihre Periodik hat er keinen
willensmäßigen Einfluß. Hier bleibt immer nur die Frage: wie schwingt
sich sein Selbst durch diesen fest bestimmten und unveränderlichen Lauf
der Gezeiten? Oder anders gewandt: Wie behauptet sich sein Selbst in
der Zeit?

Genau so achtlos und ihrer selbst unbewußt wie die Menschen gewöhnlich
hinwegatmen über ihren eigenen Rhythmus, genau so mechanisch leben
sie im allgemeinen über die durch den Umlauf der Gestirne bedingten
kleineren und größeren Gezeiten hinweg, ohne ihren eigenen Rhythmus
darin zu behaupten oder auch nur zu erkennen. Deutlich wird dieser
Zustand an der Tatsache, daß der Kalender zu einer ganz mechanisch
benutzten Zeittabelle herabgesunken ist. Der Abreißkalender ist heute
das Symbol für diese achtlos wegwerfende Gebärde der Menschen. Man
reißt die Tage in seinem Leben ab, achtlos einen nach dem andern und so
die Wochen, Monate, Jahreszeiten und Jahre.

Niemand fragt: was ist das nun, Tag? Diese durch den Sonnenlauf
gesetzmäßig bedingte Einheit, geteilt in Tag- und Nachthälfte, dieser
Doppelrhythmus, ansteigend und absteigend von Morgen zu Abend und
abermals absteigend und ansteigend von Abend zu Morgen. Niemand fragt
auch die zweite darin enthaltene Frage: wie behauptet sich nun das
Selbst des Menschen in diesem rhythmisch schwingenden Tageslauf?

Diese beiden Fragen sind aber von grundlegender Bedeutung für den
Lebensaufbau. Es muß geschehen, daß der Mensch diese rhythmische
Urgewalt von Tag und Nacht immer von neuem wieder spürt und liebend
erkennen lernt und sein Selbst darin einfügen lernt. Zunächst also
dies: von der einfachen Schwere dieses gesetzhaften Ereignens: Tag und
wieder Tag und wieder Tag! muß der Mensch bis zum Rand voll werden. Er
muß leben können wie ein Vogel oder ein Waldtier, hingegeben und ganz
abhängig von der ewigen Wiederkehr der Tage. Ganz klein und schwach
muß er werden, willenlos sich überlassen dieser reißenden Gewalt des
Sonnenlaufs. Er muß sich mit aufnehmen lassen von dem großen Schwung
des Morgens, er muß sanft und langsam mit hinabschwingen bis zur
mittäglichen Pause. Er muß dann mit dem Nachmittag schwerer sich noch
einmal aufschwingen und dann endgültig hinabschwingen in die Ruhe der
abendlichen Pause, in den Feierabend. Die große Frage jedes Tages ist
also: wie ist es möglich, sich ganz offen zu halten, sich ungehemmt von
den rhythmischen Wellen der Sonnenwiederkehr durchfluten zu lassen?

Das ist nur möglich, wenn der Körper des Menschen mit dem Tag, durch
den er hindurchschwingt, gleich gestimmt wird. Wie schwingt nun das
Selbst des Menschen durch seinen eigenen Körpertag? Ein jeder weiß ja
ungefähr von diesem seinem täglichen Auf- und Abbau, aber das Wissen
darum ist eben ganz lückenhaft und das Gesetz, das da zugrunde liegt,
bleibt unvollkommen erkannt und stückweis befolgt.

So ist der tägliche Auf- und Abbau des Menschen, der Stoffwechsel,
zu beschleunigt oder zu stockend geworden, weil er von Jugend an
sein eigenes Gesetz nicht recht beachtend, zu viel oder zu wenig
oder unzuträgliche Nahrung zu sich nimmt und dementsprechend die
Abfallstoffe nicht genügend ausscheidet. Unreinheit des Blutes, Stocken
des ganzen Säfteumlaufs ist die Folge. Nach außen braucht das oft gar
nicht so sichtbar zu werden. Oft aber ist es spürbar als ein fader
oder gar schlimmer Geruch, der sich von dem Körper erhebt. Allgemeine
Nahrungsgesetze und chemische Tabellen können hier nur den äußeren
Rahmen einer vernünftigen Ernährung bestimmen. Nur unmerklich und
zwanglos kann der Führer hier sein Amt erfüllen. Der junge Mensch muß
einfach eine nicht einseitige, sorgfältig und liebevoll bereitete
und in jedem Fall reine Nahrung erhalten und nach seinem Beispiel
allmählich freudig und nachdenkend essen lernen. Er wird lernen, wie
diese Nahrungsstoffe gewachsen, zusammengesetzt und wie sie zubereitet
sind, vor allem aber wie sie auf sein Selbst wirken. Er wird lernen,
wieviel von Aufbau bewirkenden und Ausscheidung bewirkenden Stoffen er
braucht, in welchen Abständen er essen muß und in welchen Abständen er
wiederum sich der Abfallstoffe entledigen muß.

So wird der junge Mensch allmählich überall die noch nicht vom eigenen
Rhythmus beseelte Schwere seines Körpertages zu spüren beginnen. Alle
die vielen Menschen, die noch keinen eigenen Körper besitzen, die
höchstens über dem mit Kleidern behangenen Rumpf einen eigenen Kopf
besitzen, werden schwer begreifen, um was es sich hier handelt, nämlich
um die Eigenbeweglichkeit des Menschen. Der Führer wird lange hinhören
müssen, wo und wann es sich zuerst in dem Körper seines Vertrauten
regt. Am Morgen vielleicht, wenn die ersten Bewegungen des Körpers
noch gegen die Ruhelage der Nacht am ausdrucksvollsten sich abheben,
wird er sagen können: so stürmisch oder so bedächtig ist sein wahrer
Tagesrhythmus. Die Muskeln und Sehnen werden entweder verkrampft sein
oder zu wenig entwickelt. Die Verdauung wird zu schnell oder zu langsam
arbeiten. Überhaupt der ganze Mensch wird entweder zu gespannt oder
zu schlaff sein. Das ist eine Abweichung von dem wahren Selbst dieses
Menschen, der sich in seiner ganzen Schönheit dem Führenden vielleicht
einmal in der gelockerten Haltung des Schlafes oder in einer unbewußten
Gebärde irgendeines wilden Tages +wesentlich+ offenbart hat.

Diese Abweichung im Sinne zu großer Spannung oder zu großer
Entspannung wird vielleicht durch Übung der einzelnen Glieder und des
ganzen Körpers aufgehoben werden können. Solche gymnastische Übung
braucht nun keineswegs jeden Körper womöglich nach demselben System
gleichmäßig in allen seinen Teilen durchzubilden. Wie bei der Ernährung
kann das System nur der äußere Rahmen der Körperübungen sein. Die
+Schwingung des Körpertages+ muß durchschlagen, muß allein bestimmend
sein für die Wahl, Anzahl und Zusammensetzung der Übungen. Oft werden
auch gar keine Übungen nötig sein. Das große Ziel, das immer im Auge
behalten werden muß, ist allein dieses: wie der ganze Mensch ist, so
sollen seine Gebärden, sein Gang, seine Haltung, alle seine Bewegungen
sein, ein immer lebendiger unverwechselbarer Ausdruck +seiner+ Tage.

Beides zusammen, der Stoffwechsel im Innern des Körpers und die
Bewegung des Körpers nach außen, erbauen das Gefüge des Körpertages.
Dieser tagtäglichen Wahrheit gilt es ganz eingehend in sich selbst
nachzuspüren: wie die von außen genommenen täglichen Aufbaustoffe
innen im Körper verarbeitet werden und sich wieder nach außen in die
tägliche Bewegung des Körpers umprägen. Die Gebärde, d. h. die gesamte
Eigenbeweglichkeit der Menschen ist ganz entscheidend von der Ernährung
abhängig. Die auffällige Verschiedenheit des Menschenschlags in oftmals
nahe beieinanderliegenden Gegenden ist aus der verschiedenen Nahrung zu
erklären. In Gegenden, wo viel Fleisch und Fett gegessen wird, bildet
sich ein schwerer Schlag aus, Menschen von langsamen, nachdrücklichen,
schwerflüssigen Gebärden. Und wie im kleinen so sind auch sicherlich
die wenigen großen Rassen der Menschheit in ihrer körperlichen
Artverschiedenheit nicht nur durch das Klima bestimmt, sondern auch
durch grundlegend verschiedene Ernährungsgewohnheiten. Davon hängt
wesentlich ab, was in Gebärde und Geruch bei den anderen Rassen anders
ist und oftmals gerade die unüberwindliche Abneigung der Rassen
voreinander, den Rassenhaß, im tiefsten und unbewußten Sinne begründet.
Die Menschen können sich tatsächlich nicht riechen und geraten in Wut,
wenn sie die grundanderen Gebärden der anderen Rasse sehen.

Die wenigen selbständigen Menschen, die Rassenhaß wirklich überwinden
können, sind nicht etwa die geistig Selbständigen (bei denen bricht
Rassenhaß notwendig, wenn auch oft gegen ihren Willen immer wieder
durch), sondern die körperlich Selbständigen, welche Eigengeruch
und Eigenbeweglichkeit besitzen. Sie allein können die rassenfremde
Körperlichkeit als etwas Schicksalhaftes begreifen, vielleicht
sogar als etwas Fernes lieben, wie sie ja auch die Masse der
eigenen Rassegenossen längst als körperfremd und fern zu empfinden
gelernt haben. Nur die wenigen Menschen, die sich ihren Körper zu
eigen gemacht haben, also ihr körperliches Selbst beherrschen und
lieben können, finden stillschweigend über alle Rassenunterschiede
hinweg unmittelbaren Zugang zueinander. Über alle die andern kommt
notwendig immer wieder der wilde, leidenschaftlich schöne Haß, der
letzten Endes zu Krieg und Vernichtung führt, aber zuvor freilich
auch die herrlichsten Werke des Glaubens und der Kunst im Wetteifer
gegeneinander emporstellen hilft.



Das Bild eines Tages[2]


Der für jeden Menschen nach einem ganz allein ihn selbst angehenden
Gesetz gebaute +Körpertag+ fügt sich ein in den großen, für alle
Menschen, ja für alle Lebewesen gleichgestimmten +Sonnentag+. Diese
tägliche Durchdringung von Körper- und Sonnentag wird sich nun
vielleicht für die gemeinsam Suchenden, für Führer und Gemeinde in den
gemeinsam durchlebten Tagesläufen, allerdings langsam genug, ergeben.

Am frühen Morgen entscheidet sich das Schicksal jedes Tages. Die
aufspringende Wucht des Morgenanstiegs muß vor allen Dingen ungehemmt
bleiben. Die in der Nacht abgebauten Stoffe müssen da sorgfältig aus
dem Körper entfernt werden, so daß der Körper von innen und außen
leicht und rein in den Morgen geht. Aus der Ruhelage der Nacht schießt
die Morgenkraft des Sonnentages auf. Dies Schwebende, Schießende,
Sprießende des Morgens ist so unbeirrt stark und eigenständig, daß
der Mensch sich davon tragen lassen muß. Alles muß er tun, um seinen
Körper leicht zu machen, daß er die Schaukel jedes Sonnentages bei
ihrem Aufschwung möglichst wenig beschwert. Erwachend, muß er seine
Atemschwingungen gleich leicht machen, die Schwere des Schlafes
ausatmen. Sich dehnend, wird er die schlafgebundenen Glieder wieder
beweglich machen. Er wird den ganzen Körper durch ein Bad von außen
und durch die Abführung der Abfallstoffe von innen reinigen. Mit aller
Inbrunst wird er sich dieser Bereitung seiner selbst hingeben, wissend,
daß er nur so in den aufschwingenden Takt des Tages rasch und leicht
hineinkommen kann. Nun muß er sich tragen lassen von dem Aufschwung des
Morgens und alles Eigenwillige unterlassen. Wenn er durch eine große
Morgenmahlzeit dem Körper sehr viel Aufbaustoffe zuführt, ist es vorbei
mit diesem Sichtragenlassen. Nicht viele schwere fett- und mehlhaltige
Stoffe wird er zu sich nehmen, sondern viel eher irgend etwas Zartes
und Aromatisches. Der Führende kann hier seinen Anvertrauten viel
helfen, indem er all das, was die bequemliche Gewohnheit alternder
Menschen dem Morgenanstieg in den Weg gebaut hat, ihnen forträumt oder
vielmehr erst gar nicht an sie heranläßt. Er wird einfach bei jedem
Einzelnen abwarten, ob er auch wirklich das Verlangen hat, solche
schweren Dinge frühmorgens zu essen. Diese tägliche Morgenfrage muß
eben täglich von neuem eine Frage sein, darf nicht durch einen immer
wieder in der gleichen Weise besetzten Frühstückstisch abgestumpft
werden. Erst dann wird allmählich jeder Einzelne lernen, was und
wieviel und zu welcher Zeit er etwas frühstücken soll, ohne sich für
+seinen+ Tag zu belasten.

Die aufsteigende Kraft des Morgens wird sich nun voll und freudig in
Arbeit umsetzen können. Die frühen Morgenstunden sind die Stunden der
schöpferischen Leistung. Das kann nun körperliche wie gedankliche
Leistung sein. In jedem Fall aber muß die Arbeit getragen sein von dem
Morgen, muß drängen und strömen und jubeln mit dem steigenden Bogen der
Tageskraft. Wo die Arbeit des frühen Morgens etwa durch ihre Schwere
oder ihre Zerstreutheit oder ihre Gleichförmigkeit zu unlustiger oder
gedankenloser Verrichtung zwingt, ist gleich der ganze Tagesschwung
in seiner aufspringenden Wucht gefährdet. Der Mensch ergibt sich dann
wohl auch, trägt seine Arbeitslast geduldig oder ungeduldig bis zum
Abend fort, aber Lust und Freude ist dahin. Der lebendige Wettlauf der
eigenen Kräfte mit der steigenden Sonne ist am Anfang gleich unmöglich
gemacht. Das ist das Schicksal der meisten körperlich wie geistig
arbeitenden Menschen unserer Tage geworden.

Hier gilt es umzuordnen. Die wahrhaft drängende, die schöpferische
Arbeit muß an den Morgen des Arbeitstages geschoben werden. Feld- und
Gartenarbeit in dem aufdampfenden Erdboden mit den erwachten Pflanzen
ist so drängende Arbeit. Auch das Versorgen der morgenkräftigen Tiere
im Stall ist so drängend. Die Vorbereitung und Zubereitung der Speisen
für die beiden Tagesmahlzeiten in der Küche, das Schaben und Putzen,
Kochen und Backen der frischen, wohlriechenden Dinge, die dem täglichen
Körperaufbau dienen sollen, auch das ist solche drängende Arbeit. Dies
alles muß den jungen werdenden Menschen früh schon nahegebracht werden,
nicht als harte Notwendigkeit, sondern als spielendes, freudevolles
Tun. Bei solcher drängenden Morgenarbeit müssen sie spielend erst, dann
helfend dabei sein. Solche drängende Wucht und strömende Notwendigkeit
muß zum mindesten hinter aller Morgenarbeit jugendlicher Menschen
stehen. Schöpferische Arbeit muß es sein. Alles handwerkliche und
künstlerische Tun und jede Unterweisung darin gehört in den Morgen des
Tages. Es ist ein trauriges Ergebnis, wenn man die »Stundenpläne« der
Schulen und Hochschulen daraufhin prüft.

Die Kraft des aufsteigenden Tagesbogens reißt Tat- und
Gedankenschöpfung mit sich empor. Das entstehende Werk wird durch die
mitschaffenden Elementarkräfte des Morgens mitgetragen und von jeder
anhaftenden Schwere und Eigenwilligkeit seines Erschaffers befreit.
Die ansteigende Bogenkraft des Tages kann sich dehnen und manchmal ein
stundenlanges Aufsteigen gewähren. Stunden der Schaffenskraft, in denen
der Mensch sich getragen fühlt, in denen die schaffende Kraft durch
ihn hindurch durch die Vermittlung seiner Hände und seines Geistes die
Dinge ordnet und auferbaut.

Aber der Aufstieg wird auch aufhören. Die Stunden des Abbaus beginnen.
Auch hier muß der Mensch für seinen Körpertag lernen, dem Willen des
Sonnentages nachzugehen. Wo der Führer bei seinen Vertrauten die ersten
Zeichen der Ermüdung verspürt, muß er die Kraft haben, den Gang der
Dinge zu unterbrechen, zu sagen: jetzt ist's genug. Jetzt tun wir
etwas anderes. Er muß sie nun zu reproduktiver, zu mechanischer, zu
übender Arbeit hinüberleiten. Körperliche Übungen, Gedächtnisübungen,
Sprachübungen, belehrende Unterredung über die Geschichte der Natur und
des Menschen gehören in diese absteigenden Vormittagsstunden. Fallende,
nicht steigende Kraft treibt hier das Räderwerk der Arbeit, bis die
Tiefe des Tages, die Mittagspause, erreicht ist.

Nur wer im hohen Sommer die mittägliche Ruhe der Natur einmal wirklich
erlebt hat, kennt den Sinn des Mittages. Der Mensch muß hier in sich
selbst versinken, ganz zur Besinnung, zur Ruhe kommen. Und als erste
körperliche Aufbauregung wird nun der Hunger kommen, das Verlangen
nach aufbauender Nahrung, und dieses Verlangen wird befriedigt werden
im Mittagessen, das wahrhaft eingebettet sein muß in die schöpferische
Pause des Tages. Das Essen wird in Stille und Freudigkeit eingenommen
werden und ganz hingegeben an den aufbauenden Sinn des Essens. Wenn es
in Gemeinschaft geschieht, dürfen sich die Menschen dabei gegenseitig
nicht mehr stören durch viel Gespräch und irgendwelche Anforderungen
aneinander. Das Beispiel des Führenden wird hier wirken und allmählich
eine rechte Tischgemeinschaft unter seinen Anvertrauten schaffen müssen.

Nun wird der Nachmittag heraufsteigen; sein Anstieg hat nicht die
Wucht des Morgenanstiegs, dem Eigenwillen der Menschen ist nun viel
mehr Freiheit gegeben. Die durch das Essen zugeführten Stoffe müssen
im Körper verarbeitet werden. Darum ist die Lust, an irgendwelche
Arbeit nach außen Kraft abzugeben, gering. Besonders bei Kindern,
die noch im Wachstum sind, ist der nachmittägliche Arbeitswille
gering. Viel eher ist es dem kindlichen Leben gemäß, am frühen
Nachmittag zu spielen und herumzulaufen, und am späten Nachmittag
erst wird sich das Kind wieder zu kurzer Arbeit entschließen können.
Wo Kinder frühzeitig zur Nachmittagsarbeit gezwungen werden, geht
das sicherlich auf Kosten ihres Körperaufbaus. Wenn späterhin die
dem Kindesalter entwachsenen Menschen am Nachmittag noch schaffende
Arbeit tun wollen, müssen sie wissen, daß diese Arbeit schwere Arbeit
ist. Sie wird dem Körper abgerungen und ist nicht so strömend und so
drängend wie die Morgenarbeit. Der Fluß der Leistung ist zäher, von
dem bewußten Willen abhängiger. Entwerfen, Planen, Beginnen gehört
in die Morgenstunde. Aber das Durcharbeiten und Prüfen, Überdenken,
Verändern, Vollenden gehört in den Nachmittag. Nachmittagsarbeit
ist langsamer und stockender, von vornherein auf die Überwindung
von Hindernissen eingestellt. Schwere problemreiche Arbeit von
wissenschaftlich-philosophischer Art gehört in den Nachmittag, als ein
+Sieg+ des Geistes über körperliche Schwere.

Dieser Sieg kann naturgemäß nur dann errungen werden, wenn die
Wechselbeziehung zwischen der für den Körperaufbau notwendigen Kraft
und der freiwerdenden Arbeitskraft genau bekannt ist. Der Führende wird
jeden seiner Anvertrauten von früh auf genau beobachten müssen, damit
er ihm später auf seine Fragen Aufschluß geben kann. Und alsdann wird
es für alle einzelnen Glieder der Gemeinschaft allmählich klar werden,
daß sie ihr Mittagessen nicht allein nach ihrem Hunger bemessen dürfen,
sondern auch noch irgendwie mit ihren vielleicht sehr verschiedenen
Tagesabsichten in Einklang bringen müssen! Ein wahrhaft schöpferischer
Tag läßt Hungergefühl oft erst sehr verspätet oder gar nicht aufkommen.

Wenn stundenlang schwere und mühsame Arbeit getan ist, kommt die
Abspannung des Gesamttages. Der Mensch geht in den Abend des Tages
ein. Und damit erreicht er wieder die schöpferische Pause. Er überläßt
sich der Ruhe des Sonnentages. In kleinen Städten und auf dem Lande
setzen sich zu dieser Stunde die Menschen auf die Bank vor dem Hause
oder gehen über die abendlichen Felder. Aus dem Zusammenklang der
inneren Abendruhe des Menschentages mit der äußeren Abendruhe des
Sonnentages wird Feierabend. Des Morgens darf der Körper nur möglichst
wenig belastet werden, um den Morgenaufschwung nicht zu hemmen, am
Mittag muß das Gleichgewicht zwischen Körperaufbau und Tagesleistung
geschaffen werden. Am Abend aber erhält der Tag seine Schwere.
Das aufbaubegehrende Gefühl des Hungers bekommt das entscheidende
Übergewicht, das Abendessen wird die Hauptmahlzeit des Tages.

Ein richtiges Gleichgewichtsgefühl wird den Abstand zwischen
Abendmahlzeit und Schlafengehen richtig bemessen. Unmittelbar nach
der Mahlzeit ist noch ein Stück grober Verdauungsarbeit zu tun.
Jeder Mensch muß fühlen lernen, wieviel Zeit er dazu braucht. Es ist
schlecht möglich, diese Arbeit im Schlaf zu tun. Und so wird das Essen
unmittelbar vor dem Schlafengehen eine Unmöglichkeit.

Diese Zeit zwischen Abend und Nacht ist Ruhezeit, ganz und gar dem
Aufbau des Selbst gewidmet, es ist die eigentliche Erbauungszeit
im alten schweren Sinne des Wortes. In breiten Strömen können hier
die gewaltigen Werte der ganzen großen Menschengemeinschaft auf den
Einzelnen einwirken, wenn er sich nur ganz locker und offen zu machen
versteht. Ein völlig hingegebenes Lesen in Büchern, die das Menschliche
vermitteln, ist zu dieser Zeit möglich. Der Abend ist die Zeit, mit den
großen Menschen früherer oder gegenwärtiger Zeit in Verkehr zu treten.
Der Abend ist überhaupt die Zeit der Gemeinsamkeit. Alles dies braucht
nur angedeutet zu werden. Es ist ja längst bekannt, und es gilt nur,
dieses Bekannte nicht zu unterdrücken, sondern im Verlauf eines jeden
Tages immer voll und ganz ausschwingen zu lassen.

Der Abend ist vielgestaltig in seiner Schwere. Aus der kraftbergenden
Ruhezeit des menschlichen Selbst kann sogar noch einmal etwas wie ein
neuer Morgen mitten in die beginnende Nacht hinein aufbrechen. Es gibt
Abende, an denen der Mensch über viele Stunden hinweg noch einmal
wieder schöpferisch zu werden vermag, im festlichen Kreis nahestehender
Menschen oder auch in einsamer Arbeit. Aber nur selten einmal wird
diese Nachblüte des Tages sich wirklich von Natur aus voll entfalten.
Und der Mensch kann diese Gewalt, seinen eigenen Körpertag in die
Erdnacht hinein zu verlängern, leicht mißbrauchen lernen. Viele der
heutigen Menschen zwingen sich selbst fast täglich zu solcher zweiten
Tag-Geburt in die Nacht hinein und erschöpfen damit ihre Kraft. Der
Führer zum Leben wird seinen Anvertrauten sicher erst nach der Zeit der
Reife, und auch dann nur selten, diese geheimnisvolle und so leicht
abnutzbare Kraft brauchen lehren.

Denn das Gesetz des Sonnentages fordert die dunkle Ruhe der
nächtlichen Pause, die völlige Entspannung des Tages in die Nacht. Der
Schlafzustand ist dementsprechend die große Pause des Körpertages.
Aber wie die heutigen Menschen gewohnt sind, ihre Tage zu +verleben+,
so sind sie auch gewohnt, ihre Nächte zu +ver+schlafen. Sie schlafen
hinweg über ihren eigenen Schlaf. Sie können sich nicht mehr in die
große Nachtruhe des Sonnentages fallen lassen. Das Seil ihres Schlafes
ist gewissermaßen zu straff gespannt und vermag gar nicht mehr in einer
großbogigen Schwingung den schöpferischen Tiefpunkt zu erreichen. In
kleinteiligen, vielträumigen Rhythmen flattert ihr Schlaf darüber
hinweg vom Abend zum Morgen. Nur ganz selten geschieht es einmal, daß
einer beim Erwachen spürt, er habe die Tiefe erreicht, er steige aus
dem Abgrund, ganz neu gestärkt, ja neu geboren.

An irgendeiner Stelle des Schlafes liegt sein schöpferischer Kern,
die Pause des Tiefschlafes, zu der die Rhythmen in absteigender Folge
hinführen müssen, um dann von dort im großen Bogen wieder anzusteigen
zum Erwachen. Auf die Erreichung dieser Tiefe kommt es an, viel mehr
als auf die Länge des Schlafes. Auch kurzer Schlaf, wenn er nur steil
hinabführt, vermag Entspannung zwischen Tag und neuem Tag zu sein. In
diese Tiefe des Schlafes hinein kann der Führer seine Anvertrauten
ein Stück geleiten. Er muß sie lehren, sich nicht anzuklammern an
den Tag, der ging, vielmehr nach jedem vollendeten Tage ihr Leben
in die Nacht hineinfallen zu lassen, damit sie wirklich alle in die
schöpferische Tiefe +ihres+ Schlafes hinabgelangen. Er öffnet alle
diese Tag und Nacht umschließenden Zeiträume, er gibt sie jedem seiner
Anvertrauten zu eigen, so daß ein jeder ganz davon durchdrungen wird:
diese Tage können von mir gefüllt werden bis zum Überquellen mit
Leben und Leiden, sie können von mir leicht und leer wie Seifenblasen
fortgeblasen werden. Beides kann ich mir geschehen lassen, mit der
wissenden Inbrunst des lebendigen Menschen, der dem Gesetz in keinem
Falle widerstrebt, sondern sein ganzes Wesen mit dem großen Rhythmus
der Tageswiederkehr mitschwingen läßt.

So werden die Menschen nicht mehr an der Ungeprägtheit ihrer Tage zu
leiden haben. Jeder Tag wird für sie sein eigenes Gesicht bekommen
und ihnen wohlvertraut im Gedächtnis bleiben. Das Tagebuch hat hier
seinen neuen Sinn, zum mindesten für alle Menschen, deren Sehnsucht
immer wieder nach Gesichtgebung, nach Gestaltung, nach Klärung drängt.
Wer Buch führt über seine Tage, wird seine Gedanken allmählich
sammeln lernen auf das Wesentliche, das Gesicht dieses einen nie
wiederkehrenden Tages. Die fertige Tageskugel wird an jedem Abend noch
einmal freudig in beide Hände genommen und gegen das sinkende Licht
gehalten, mit der Frage: was war dies, was da mit diesem nun gewesenen
Heute reigenhaft durch mich hindurchging?



Monats- und Jahresschwingungen


Wer so die Einheit Tag und Nacht einzeln gestalthaft erlebt, als wäre
jeder Tag der erste und jede Nacht die letzte, der wird dann auch
langsam fähig werden zu begreifen, was die Mehrzahl +Tage+ bedeutet:
daß es nicht zu Ende ist mit dem +einen+ Tag, daß es seinen Fortgang
nimmt, daß die Einzelkugeln sich zur Kette reihen. Der Führer zum Leben
muß es seinen Anvertrauten begreiflich machen: morgen ist +auch+ ein
Tag. Denn das Kind lebt einzig in den Tag hinein, so, als wäre der Tag
das ganze Leben. Es mag gar nicht zu Bett gehen, weil es noch viel mehr
hineinleben möchte in den einen Tag. Ganz sacht und allmählich wird
nun der Führer die kindlichen Zeiträume aufweiten, bis diese ungeheure
Tatsache des Morgen, diese +Überhöhung+ der Gegenwart durch Zukunft
ihm zu erlebter Wirklichkeit wird; und das Kind dieses Geschenk zu
gebrauchen lernt nach seinem eigenen Willen. In den heutigen Schulen
wird gewissermaßen vorausgesetzt, daß das Kind schon seine Tage
zusammenhängend verleben könnte. Es erhält einfach seine Aufgabe für
morgen, oder gar für über acht Tage, ohne doch zu wissen, was es damit
vermag, wenn es eine Aufgabe für +morgen vorbereitet+. Es ahnt nicht,
daß dieses eine Erweiterung seines eigenen Tageslebens, eine Eroberung
seiner Zeit bedeutet, vor allem es lernt sich nicht freuen über dieses
Anwachsen seiner Macht.

Von vornherein muß der werdende Mensch lernen, daß er mit dem Auf-
und Abbau der vielen Einzeltage zugleich an bestimmten +größeren+
Rhythmengefügen arbeitet. Die Einheit Tag wird durch die Sonne
bestimmt. Die nächst höhere Zeiteinheit bildet sich durch den Umlauf
des Mondes. Die 28 Tage des Mondumlaufes bilden sicherlich eine sehr
wesentliche Periode, durch die sich das körperliche Selbst eines jeden
Menschen hindurchschwingen muß. Die monatliche Periode ist, wie der
Tagesrhythmus im Leben des Menschen, fast gänzlich verschüttet. Wer
fragt danach, ob Vollmond ist oder Neumond? Wenige fragen überhaupt
nach dem Dasein von Sonne und Mond und nehmen dieses rhythmische
Anschwellen und Abschwellen von Neumond zu Vollmond und wieder
zum Neumond genau so gedankenlos hin, wie sie das Anschwellen und
Abschwellen des Tages von Morgen über Mittag zum Abend hinnehmen.
Die Bedeutung des Mondwechsels lebt höchstens als Erinnerung an
märchenhafte Geschehnisse in den dunkelsten Winkeln des Gedächtnisses
fort: daß die Hexe zu Neumond oder Vollmond ihre Kräutertränke braut,
daß Mädchen ihre Haare zu Vollmond beschneiden, damit sie besser
wachsen; dann erinnert man sich, daß auch die Springfluten mit dem
Mondwechsel zu tun haben, und schließlich etwas tiefer ins tägliche
Leben eingreifend ist die Erfahrung, daß das Wetter bei Vollmond und
Neumond umzuschlagen pflegt. Im übrigen denkt man eben nicht an die
Mondgezeiten, zumal da auch der Kalender nicht mehr nach Mondmonaten
rechnet. Und doch gewinnt diese Periode der 28 Tage bei der Frau
eine ihr ganzes körperliches Dasein beeinflussende Bedeutung. Durch
zu gestraffte Lebensführung kann diese Periode sich verkürzen, auch
kann sie durch eine zu erschlaffte Lebensführung sich verlängern,
ja ganz unkenntlich werden. Der Sinn dieser »monatlichen Reinigung«
ist die schöpferische Pause, in den zwei bis drei Tagen der Schwäche
liegt beschlossen die Sammlung der Kraft. Frauen, die diesen Sinn
mißachten und diese schöpferische Pause ihrem Selbst nicht gönnen,
also dem allgemeinen Gesetz zuwider handeln, werden allmählich starr
oder schlaff. Sinn und Wesen dieses monatlichen Rhythmus ist für den
Mann noch bedeutungsloser geworden, weil er nicht wie die Frau ein so
merkbares Zeichen in seiner Monatswelle hat.

Die nächst höhere Periode, das Jahr, ist wie der Tag vom Lauf der
Sonne abhängig, teilt sich in an- und abschwellende Jahreszeiten.
Dieser Periodik entsprechen jährliche Sammlungszeiten des Menschen, die
in der Hauptsache dem Aufbau des Selbst gewidmet sind und jährliche
Gebezeiten, die durch Abbau des Selbst Leistung schaffen. Die Art, wie
die Erde sich durch den sonnenbedingten Rhythmus hindurchschwingt,
die ganze Summe der jährlichen Taten und Leiden der Erde, wird dem
heutigen Menschen nur noch bruchstückhaft fühlbar. Er spürt zwar
die Witterungstatsachen hier und da, aber die großen Zusammenhänge
innerhalb eines Jahres sind ihm verloren gegangen. Alle die
Erscheinungen der Lufthülle und der Erdoberfläche, wie Luftdruck und
-feuchtigkeit, Wolkenbildung und Windstärke, Wärme und Lichtaufnahme,
Erdströmung und dergleichen fügen sich an ganz bestimmter Stelle dem
Rhythmus des Sonnenjahres ein. Zwischen den einzelnen Jahreszeiten
liegen jedesmal Ruhepausen der Erde, schöpferische Pausen, in denen
etwas geschieht, ohne daß etwas getan wird. Wo der Mensch in und mit
der Natur lebt, wird er bald merken, wie erschütternd tief diese
Jahrespausen in sein Selbst einzugreifen vermögen: die Zeit der
Wintersonnenwende, die Zeit der ersten Frühjahrswinde, die hohe Zeit
des Frühjahrs, die Sommersonnenwende, die Zeit der ersten Reife,
die hohe Zeit des Herbstes, die Zeit der beginnenden Winterstürme
und abermals die Wintersonnenwende. Das Jahr hat viel mehr Zeiten
im Wechsel des steigenden und fallenden Rhythmus, als der Kalender
verzeichnet. Und immer wo der fallende Rhythmus abklingt, liegt die
bedeutungsschwere Pause. Sie ist da und kündigt sich dem Menschen,
der darauf horcht, mit unfehlbarer Sicherheit an. Überhört er dieses
rhythmische Schweigen zwischen den Jahreszeiten hartnäckig immer
wieder, stürmt er immer wieder über die Pausen hinweg, so verwirrt
sich sein eigener Jahresrhythmus immer mehr, daß er mit Gewalt noch
Leistungen aus sich heraus hetzt, wo er schon lange wieder einsammeln
sollte und daß er sich vollstopft und in sich aufspeichert, wo er
längst schon geben könnte.

Wie diese durch Sonne und Mond bedingten Zeitperioden, die das ganze
Erdleben schwingen lassen, im einzelnen auf die einzelnen Menschen
wirken, wird zunächst noch lückenhaft erkennbar bleiben. Doch
werden Menschen, die diesem allgemein erkannten Gesetz nicht mehr
widerstreben, allmählich einen rhythmischen Zusammenhang ihres eigenen
Lebens mit den astronomischen Perioden zu spüren beginnen. In diese
streng gesetzmäßige Periodik des Sonnenjahres muß sich das Menschenjahr
in irgendeiner Form einfügen. Und das Heil kann immer nur da sein, wo
das »Jahr der Seele« zusammenklingt mit dem Sonnenjahr.

       *       *       *       *       *

Die Menschen haben nach dem Gesetz ihres langsameren oder schnelleren
Lebenslaufes weniger oder mehr Feiertage nötig. Die vier Sonntage
des Monats sind für die meisten sicherlich die vollkommen richtig
abgemessene Feierzeit. Auf sechs Tage Arbeit muß notwendig ein Ruhetag
folgen, Entspannung, Umstellung ist der Sinn des Sonntages. Wo Menschen
schwer arbeiten, halten sie ganz von selbst den Sonntag heilig. Wer
am Sonntag aufs Land geht, kann dort in jeder Bewegung eines ihm
begegnenden Menschen merken, daß Feiertag ist.

Feiertag ist Freudentag: die Menschen freuen sich an sich selbst,
an ihrer Ruhe. Und wenn die Freudenwelle hoch genug steigt, flutet
sie auf den anderen Menschen über. So kann der Feiertag zum Festtag
werden. Gemeinsam überflutende Freude an sich selbst bringt die
Menschen zur festlichen Gemeinschaft. Nur aus der glühroten Freude
des eigenen Blutes kann die wahrhaft festliche Erwartung in den
Menschen geboren werden, die schöpferische Erwartung, daß unter allen
zusammen etwas geschehen wird ohne Absicht, ohne gewollte Anspannung
der Kräfte. Dieses innere Wissen von der in allen gleichmäßig stark
anschwellenden Freude des Feiertages ist von solcher Wucht, daß
es nach Gewand, Leib, Gestalt begehrt, um seine Fülle zu bergen,
zu fassen und sichtbar zu machen. Fest ist ursprünglich religiöse
Handlung. Die Sonntage und kirchlichen Feiertage lassen das noch ganz
abgeblaßt erkennen. Fast nur die äußere Hülle ist geblieben, die
innere Bereitschaft, die entscheidende Wucht der gemeinsamen Freude
ist zersprungen in tausend Nichtigkeiten. Die Feste der großen Städte
sind zu Gespenstern ihres eigentlichen Sinnes geworden, grauenvolle
Umkehrung der Wahrheit. Sie bringen nicht Entspannung, sondern zwingen
die Einzelnen gerade zu gespannter, ja gekrampfter Lust. Sie bringen
die Unrast, mit der schon die Arbeit gewöhnlich getan wird, auch noch
in den Feiertag mit. Rastlose Lust jagt die Menschen durcheinander. Der
Ballsaal einer Großstadt am Sonntag hat genau dieselbe übersteigerte
Atmosphäre wie der große Maschinenraum am Werktag. Die Menschen
bewegen sich da wie hier mit derselben Anstrengung, sie schwitzen und
keuchen, und leiden an ihrer Unrast. Kein Überfluten der Freude in
den anderen Menschen, sondern ein lustbegehrendes Zerren aneinander
kennzeichnet die Gemeinsamkeit solches Festes. Nur ganz selten, nur
in den kleinen Gemeinschaften, die sich in diesen Zeiten überall
im Lande gebildet haben, gibt es schon wieder Feste, die in ihrer
strahlenden Schönheit über viele Jahre des Lebens hinaus leuchten für
alle, die dabei waren. Da ist das Fest wieder das Werk der feiernden
Gemeinsamkeit geworden, unwiederholbar, schön wie Musik, wie Tanz;
aber nicht von einem geschaffen, sondern von allen zusammen. Feste
können nur dann zu gemeinsamen Werken der Weihe werden, wenn sie
wahrhaft in die Ruhezeiten des schwingenden Jahres eingebettet sind.
Die alten kirchlichen Feste, soweit sie noch einige Gewalt über
die Menschen behalten haben, das Weihnachtsfest, Ostern, Pfingsten
sind ganz vom Sonnenjahr abhängig. Etwa: der erste Sonntag nach dem
ersten Frühlingsvollmond, das gibt den rechten Zeitpunkt für ein
Fest beweglich nach der Schwingung des Jahres. Nicht kalendermäßig
festgelegt muß der Zeitpunkt der Feste sein. Die innere Ruhe des
einzelnen Menschen, ihre Versenkung in sich selbst ist ja gesetzmäßig
gebunden an die Wartezeit des Sonnenjahres. Diese Zwischenjahreszeiten
sind die natürlichen Räume für die menschlichen Feste. Weil zu solchen
Zeiten alle in der gleichen Lage der Ruhe und Erwartung sind, können
sich hier wahrhaft religiöse Feste erheben, die wieder alle Menschen in
Eins zu verbinden vermögen.



Lebensalter


Wo der Mensch sich des zeitlichen Ablaufes bewußt wird, meint er damit
meistens die astronomisch bedingte Zeitfolge. Vergangenheit ist ihm
nach Tagen und Jahren meßbar. Vor seiner Geburt sieht er eine endlose
Reihe von Jahren; nach seinem Tode sieht er wieder eine unendliche
Reihe von Jahren. Und das Gefühl der Vergänglichkeit überfällt ihn
wie ein Schwindel, wenn er sich so in dem unabsehbaren Netz der
Sternenzeit hängen sieht. In dem Grade, wie einer sich seiner eigenen
Entwicklung, also seines Selbst bewußt wird, wird er unabhängiger von
den astronomischen Zeiteinheiten. Er fühlt sich dann nicht mehr hängend
in einem unübersehbar weiten Zeitgefüge. Viel eher fühlt er sich als
Schöpfer seiner eigenen Lebenszeit. Und wenn er gegen Ende des Lebens
seine Zeit überblickt, mag ihm zumute sein wie einem Künstler vor dem
endlichen Abschluß +seines+ Werkes.

So kann der Mensch also sein Verhältnis zur Zeitlichkeit gewissermaßen
von zwei Seiten her betrachten. Nach außen hin sieht er sich
eingespannt in die stets wiederkehrende Folge der durch Sonne- und
Mondumlauf bedingten Gezeiten. Durch Tage, Monate und Jahre muß sein
Leben hindurchschwingen, um schließlich darin zu verschwinden. Nur
ganz selten vergißt der Mensch die schneidende Gewalt der Sternenzeit
und wird gewahr, daß er ja auch ebenso gewiß aus seinem eigenen
Selbst heraus stetig sein eigenes Zeitnetz spinnt. Als Einheit der
selbsteigenen Zeit des Menschen könnte man von seiner Atemsekunde
sprechen, von der Zeit, die ein jeder zu +seiner eigenen+ Aus- und
Einatmung braucht. Es wäre vorstellbar, daß das atmende Selbst
auch in einem gleichmäßigen dunklen Raum ohne Bewegung verharrend,
gewissermaßen wie die Tiere im Winterschlaf, mit seinen eigenen
Atemsekunden eine eigene Zeit aufbauen könnte. Mit seinem eigenen Atem
schwingt er sich durch die Tage und Jahre. Aber nicht jeder schreitet
nun gleichmäßig fort. Die Allermeisten erreichen nicht die höheren
Altersstufen ihres Selbst. Nach dem ersten Anlauf des Lebens bleiben
sie in sich selber stecken.

Bei dem Aufbau der eigenen Lebensalter ist die Bedeutung der
schöpferischen Pause groß, Glück und Fülle und Schönheit des
Einzellebens hängt davon ab, ob die kraftspendenden Pausen zwischen den
Lebensaltern wirklich innegehalten wurden.

In der Jugend folgen die Lebenswellen schneller aufeinander. Die Pausen
sind dichter aneinander gerückt. Im Alter greifen die Wellen breiter
aus, und weitere Zeiträume umspannend folgen die Pausen.

       *       *       *       *       *

Das Leben wird gleichsam aus der Urpause im Mutterleib mit einer
gewaltigen Wucht ausgestoßen und bildet im frühesten Kindesalter
sicherlich ein Auf und Ab von ganz dicht beieinanderliegenden
Lebenswellen. Nur die Mütter wissen von diesen ersten so schnell
aufeinanderfolgenden Perioden im Leben ihres Kindes und sind recht
imstande, die trennenden Pausen dazwischen einzuhalten. Von diesen
frühesten Perioden kann hier nicht gesprochen werden. Etwa vom sechsten
oder siebenten Jahre an, wo das Kind allmählich der alleinigen Pflege
seiner Mutter entwächst, beginnt dann deutlich ein neuer Lebensteil
sich abzuheben. Auch in den sehr verwirrten Zuständen des heutigen
Europa wird dieser neue Lebensanstieg des »zur Schule kommenden«
Kindes deutlich sichtbar. Diese Welle läuft bis zum elften und
zwölften Jahr. Hier beginnt dann eine zweite Welle, und auch dieser
neue Anstieg ist bei allen jungen Menschen noch voll erkennbar. Es
ist die Zeit, die durch die Firmelung der Kinder nach außen hin von
der Kirche sichtbar gemacht wurde. Von hier an läuft aber das Leben
des europäischen Menschen gewöhnlich schon pausenlos weiter fort. Bei
den wenigen Menschen, die ihrer Bildung von da an noch einige Zeit
widmen dürfen, tritt manchmal noch eine neue, deutlich erkennbare Pause
nach dem Verlassen der höheren Schule ein, ehe der junge Mensch sich
für ein Studium oder eine berufliche Sonderausbildung entscheidet.
Und schließlich als Abschluß des Jugendalters wird dann vor der
eigentlichen Aufnahme eines Lebensberufes in seltenen Fällen nochmal
eine Pause sichtbar. Die Perioden der späteren Lebensalter sind noch
unkenntlicher als die des Jugendalters geworden, die schöpferischen
Pausen werden immer mehr verwischt und bleiben bei den meisten
Menschen ganz aus. Nur bei denen, die gar nicht anders können als ihr
eigenes Gesetz befolgen, treten auch diese späteren Besinnungspausen
noch zutage. Das Leben dieser wenigen zur Selbständigkeit gekommenen
Menschen setzt in deutlichen Wellen Lebensalter an Lebensalter bis zum
Tode als der abebbenden Welle des höchsten Alters.

+Goethes Leben+ ist solch ein bis zu seiner +letzten+ Möglichkeit an-
und abschwellendes Leben gewesen.

Diese menschlichen Werdezeiten können sich natürlich verschieben je
nach dem Eigengesetz eines Lebens. Aber sie müssen da sein. Wo sie
durch eine zu gestraffte Lebensführung überrannt oder infolge einer
zu schlaffen Lebensführung gar nicht erreicht werden, überjagt der
Mensch sein Leben, oder er lebt es nur bis zu einer gewissen Periode.
Tatsächlich sind die meisten Menschen entweder überlebt, früh gealtert,
scheinbar gejagt von unsichtbaren Mächten, oder sie sind stehen
geblieben an irgendeiner Stelle ihres Lebens, und von da an wiederholen
sie mechanisch immer wieder die Schwingungen ihrer schon durchlebten
Jahre. Nur wo das Leben in seinen großen Bögen von einer Ruhelage
zur anderen ungehemmt ausschwingen darf, wo jede neue Lebensperiode
wirklich aus der Tiefe steigt, geboren wird aus der Besinnung auf das
eigene Gesetz, nur da vermag der Mensch sein eigenes Leben bis zu Ende
zu leben »nach dem Gesetz, wonach er angetreten«.

Der Führende muß nun bei jedem seiner Anvertrauten dieses rhythmische
Eigengesetz der jugendlichen Lebensteile in seinem großen Wellenschlag
vollauf zur Schwingung kommen lassen. Nur wer im eigenen Leben, auch
im führenden Alter noch, die Pausen innegehalten hat, ist fähig, den
rhythmischen Lebensgang seiner Anvertrauten zu behüten, von Welle zu
Welle, von Pause zu Pause. Den Stürmischen wird er die Ruhelage zu
zeigen vermögen (ohne ihn da hinein zu zwingen), den Zaudernden wird er
liebend zum Anstieg locken (ohne ihn zu treiben).

Die Machtgebärde des bildenden Führers in seiner Bildungsarbeit reicht
auch hier nie weiter, als es durch die Worte: lauschen, warten, zeigen
und locken angedeutet wird.

       *       *       *       *       *

Kinder von etwa sieben Jahren, die gerade den vielteiligen Anstieg
ihres Lebens unter der mütterlichen Führung beendet haben, sind also
inmitten ihrer ersten großen schöpferischen Lebenspause, wenn der
Führer (an Stelle des Vaters, soweit der Vater nicht selbst Führer
ist) auf ihr Leben Einfluß gewinnt. Hier ist das Problem: wie soll
überhaupt die neue, die zweite große Wachstumsperiode begonnen
werden? Über diesen Anfang wird durch die gewöhnliche Schulform ohne
weiteres hinweggewischt, indem eben einfach eines Tages über das Kind
das Verhängnis hereinbricht und es drei Stunden lang in einer Stube
mit anderen Kindern zusammengetan wird, um dort von nun an Dinge zu
hören, nach denen es nicht verlangt und noch lange nicht von selbst
verlangen würde. Mit einer Pause beginnt dieses neue Leben des Kindes,
einer Pause, die sich vielleicht bei einzelnen Kindern über Monate
oder gar Jahre erstreckt. Hier wird der Kern gepflanzt für viele
kommende Jahre. Es soll etwas werden und zum Ausdruck kommen, das in
dem Wesen des Kindes noch verborgen ist. Alles kommt hier darauf an,
daß der Führer den Sinn dieser Pause begreift. Wie sinnlos ist es, mit
einem bestimmten, vorher überlegten, und in seiner Methodik sorgsam
eingelernten Fragenbündel in das dunkel geschlossene Sein des Kindes
hineinzustechen und sein ruhendes Denken aufzuscheuchen, damit es
dieses Denken in irgendeiner Zukunft einmal gebrauchen lernt!

       *       *       *       *       *

Was muß nun der Führer tun, in diesen schweren Anfangszeiten, zwischen
Schweigen und Reden? Er muß sich niederknieen, daß er so klein wird wie
das Kind. Er muß seine Sinne zusammenschließen, daß er so gespannt wird
wie das Kind, so lauschend auf jede Regung. Und spielend muß er, erst
selten und dann immer öfter, Brücken schlagen von ihm selbst zu dem
Kind hinüber, an dieser und jener Stelle, ob es vielleicht schon einen
ersten Ausgang aus sich tun will. Tag und Nacht wird er bereit sein
müssen auf diesen ersten Ausgang seines Schützlings. Und inzwischen
muß er warten, muß immer wieder nur ganz zarte Versuche der Annäherung
machen, muß immer wieder sein eigenes Leben in gleichen Takt setzen wie
das Leben des Kindes.

Das Anfangsverhalten des Führers ist entscheidend. Kann er nicht
warten, greift er ein in das Leben des Kindes, bevor es seine Pause,
den herrlichen ersten Tiefschlaf des jungen Lebens beendet hat, so hat
er verspielt und muß bei +diesem+ Zögling vielleicht jahrelang warten,
ob er ihm in der nächsten großen Lebenspause den entscheidenden Dienst
leisten kann.

Es ist klar, daß ja bei diesem Anfang schon die meisten Lehrenden und
die meisten Väter scheitern +müssen+. Denn ihr +eigenes+ Dasein wurde
ja in früher Jugend durch irgendeinen eingreifenden Willen irgendeines
Erwachsenen verbogen. Sie wurden frühzeitig gezwungen, irgendeinen
fremden Takt zu gehen und fanden sich darein und glaubten von da an,
daß es eben so sein müßte. Sie lernten ihren eigenen Takt vielleicht
erst sehr viel später, vielleicht überhaupt nicht kennen, und da sie
nun selbst in ihrem eigenen Lebenstakt so unsicher sind, wie wollten
sie da vermögend sein, auf einen fremden Rhythmus hin sich liebend
einzustellen?

Also der Führer muß selbst Ruhe genug haben, um dem Kind Ruhe
zu lassen, solange es noch gesetzmäßig in dem Zustand seiner
Unentfaltetheit verharrt. Bis es eines Tages von sich aus nach
irgendwelchem Ausweg aus sich selbst begehrt! Der Tag wird kommen, und
der Führer darf diesen Tag nicht verpassen und zu dieser Zeit nicht
in irgendwelcher Müdigkeit vergraben sein. Gemeinsam mit dem nun von
selbst erwachenden Kinde muß er den ersten Ausgang machen. Er braucht
nun nicht zu ziehen und zu zerren und zu fragen und zu mahnen. Weit
eher wird ihm das Kind mit geweiteten Augen voranlaufen und wird nur
hier und da stehen bleiben und von sich aus fragen. Und er wird Antwort
zu geben haben. Durchaus nicht immer in dem gleichmäßig belehrenden
Tonfall des erwachsenen Besserwissenden, sondern je nach dem Inhalt der
Frage fröhlich und schnell, oder ernst und behutsam, oder stammelnd und
leidvoll.

So wird allmählich das Leben des Kindes sich überall nach außen zu
entfalten beginnen. Und in der nun anbrechenden Wachstumsperiode wird
je nach der besonderen Schnelligkeit und Dichtigkeit des kindlichen
Geistes Können und Wissen langsam oder schnell, tiefgehend oder an
der Oberfläche zunehmen, bis sich die zweite große Pause im Leben des
jugendlichen Menschen ankündigt.

       *       *       *       *       *

Diese Zeit um das zwölfte Jahr herum, die Zeit der beginnenden
Geschlechtsreife, wird in dem mit Zwang und Überwindung arbeitenden
Erziehungssystem noch viel weniger beachtet. Hier liegt wieder der
schöpferische Kern für die Geschehnisse des weiteren Lebens. Der
jetzt bestehende Zustand ist ein unbegreiflicher. Der Erzieher in
der Schule geht über diese große Pause, die vielleicht bei einzelnen
eine jahrelange Schonung, bei allen aber eine gewisse Zeit völliger
Umstellung zum Leben erforderte, einfach hinweg. Kein Blick, kein Wort
des Lehrers beschäftigt sich mit dem, was in diesen Zeiten allein
Körper und Seele des werdenden Menschen erfüllt. Wenig wird hier
gebessert werden, wenn nun in reformierten Schulanstalten zu dieser
Zeit eine gemeinsame Belehrung über geschlechtliche Dinge einsetzt.
Im Gegenteil, für die allermeisten wird solche Belehrung großen
Schaden bewirken. Deswegen, weil das Mittel der Belehrung überhaupt
unzweckmäßig ist, wenn ein Mensch sich im Zustand des Chaos befindet.
Solche Belehrung verkürzt den chaotischen Zustand und nur wo diese
Besinnungszeit des reifenden Jugendlebens ohnehin schon ihrem eigenen
Ende nahe ist, mag Belehrung das Gegebene sein. Wo aber ein junger
Mensch erst am Anfang seiner Umwandlung steht oder infolge seiner
langsamen Entwicklung viel Zeit dazu gebraucht, kann das aufhellende
Licht die noch schlummernde Schöpfung seines Selbst höchstens zu einer
vorzeitigen Reife bringen, und diese ist genau so tödlich für das
Selbst des Menschen wie die Unreife, die durch das +Übergehen+ dieser
großen Lebenspause, durch das lieblose und gedankenlose +Schweigen+ des
Lehrers verschuldet wird.

       *       *       *       *       *

Der Führende muß hier wie stets lauschen und warten, mit seinem ganzen
Leben nach seinem Anvertrauten hin gerichtet sein. Schon lange ehe
dieser selbst irgend etwas weiß, wird sich dem Führer seine Lebenspause
ankündigen. All die kleinen Schwächen und Unarten, die der heutige
zünftige Erzieher mit dem Begriff »Flegeljahre« geringschätzig oder
gar scherzhaft an sich abgleiten läßt, wird der wahre Führer liebevoll
wissend auf ihren chaotischen Ursprung deuten und ertragen, d. h.
mit-leiden. Sein ganzes eigenes Wesen wird sich erhöhen bei dem
Gedanken an die schöpferische Zeit, die nun dem jungen Menschenkind
bevorsteht. Bei diesem +Wissen+ müssen aber seine eigenen Herzschläge
wechselweis stürmisch und stockend werden, wie bei dem Kind, das er
behütet. In seiner nachempfindenden Glut selbst errötend, muß er jedes
Erröten des Kindes verstehend und zugleich übersehend in sich nehmen.
So wird er merken, wann das hilflose Werden des Knaben nach Einsamkeit
ruft. Er wird ihn an solchem Tage von den Gespielen und von sich selbst
wegschicken, über alle Mauern und Zäune weg in den Wald, an den See,
mitten in die Wildnis werdender Natur. Sein Mund aber wird verschlossen
bleiben wie der Mund seines lieben Kindes. Allein seine Augen werden
wachsam bleiben. Er wird darauf achten, daß es langen kühlen Schlaf
hat, daß seine Nahrung nun besonders ausgewählt ist, daß keine
unreinen Stoffe ihn belasten, daß Wind und Sonne täglich an ihn kommen
und der Mond ihn nicht berührt. Er wird das Versteckenspielen des
Kindes, das vorher doch so offen und zutraulich war, nicht Unwahrheit
schelten, weil er durch sich selbst weiß, daß Werdendes dunkel ist
und sich ungern offenbart, ehe die Zeit da ist. Freuen wird er sich,
wenn der vorher so Regsame faul wird und sich in die Sonne legt und
tagelang nichts tut als so vor sich hindämmern. Selbst wenn Tücke und
Grausamkeit in diesen Tagen bei irgendeiner Gelegenheit ausbricht, wird
er sich freuen, daß solche Restbestände ererbter Dunkelheiten früh zum
Ausdruck kommen und sich nicht im Inneren festsetzen und so unterdrückt
für später sehr viel Schlimmeres vorbereiten. Vor allem aber wird er
die wie auch immer aufquellende jugendliche Tatenlust nicht töricht
hemmen, auch dann nicht, wenn sie den gewohnten Gang des Lebens und
des Unterrichts durchbricht. Im Gegenteil, er wird den Knaben reizen
und herausfordern, sich voll auszutoben in Spiel und Geschrei, im
Laufen und Rennen und Wandern und Schwimmen und allerlei körperlichen
Kunststücken.

Und über alledem darf er ihn niemals aus dem Auge lassen, denn eines
Tages wird es so weit sein, daß eine scheue fragende Gebärde im Körper
seines Schutzbefohlenen ihm sagt: das Werdende in mir ist jetzt sehr
stark geworden, es drängt schon nach dem +eigenen+, nicht mehr nach
+irgend+ einem Ausdruck. Kein fragendes Wort, kein fragender Blick
wird es sein. Viel früher ist die Frage im Körper, vielleicht in einer
plötzlichen eckigen Wendung oder in einem unerklärlichen lauschend
atmenden Stillstehen des Körpers mitten im wildesten Lauf. Wenn der
Führer sonst wohl meistens mit der ganzen Schar in den Wald gegangen
ist, wird er nun an einem wohl ausgesuchten Tage ganz einfach mit
dem +einen+ ausgehen. Es braucht nicht auffällig zu sein, zu einem
notwendigen Gang nimmt er ihn mit, weil doch eben überhaupt einer
mitkommen muß. Hierbei braucht sich auch gar nichts zu ereignen, als
höchstens ein paar freundliche Blicke oder daß sie gemeinsam einen
Abhang herunterlaufen oder am Waldrand ein paar Augenblicke über die
Felder atmen. Nur der Führer +weiß+, was wird und dient dem Werdenden
mit seinem ganzen Wesen. Wenn er dann vielleicht zum zweiten oder
dritten oder zehnten Male mit jenem allein geht, +wird+ auch etwas
geschehen, etwas Geheimnisvolles, das sich nicht näher bestimmen
läßt. Denn daß der Junge vielleicht auf einmal mit einem neuen ihm
ganz +eigenen+ Ausdruck irgendeinen Gedanken formt, oder daß er halb
zitternd, halb ungestüm die Hand des Älteren ergreift und lange nicht
los läßt, oder was es auch sein wird, -- das ist ja nur das außen
Geschehende. Mit dem +inneren+ Auge aber sieht nun der Führende nichts
als lauter aufsteigende Ströme von Kraft, die alle in seine Hände
münden, an denen er liebend und formend entlang gleiten darf, die gar
nicht enden wollen in ihrer Unerschöpflichkeit, die kreisend immer neu
aufsteigen aus der unendlichen Werdefülle des reifenden Knaben.

Und noch viel später wird dann erst die Frage zu der Oberfläche der
Worte aufsteigen: was ist mit mir, warum geschieht mir das, was vorher
doch nicht gewesen ist? Und auf die vertrauende Frage wird die sehr
langsame Antwort kommen und später dann ganz zuletzt zusammenhängende
Belehrung über Zweck und Ziel der körperlichen Wandlung und regelmäßige
Übung. Also erst zu einer sehr späten Zeit, wenn Wort und Begriff schon
zu einem sicheren Hilfsmittel der Verständigung zwischen den Vertrauten
geworden sind, ist es möglich, durch Worte zu geschlechtlichem Wissen
zu führen. Dies Wissen wird sich aber für jeden Einzelnen anders
gestalten. Dinge, die doch »jeder wissen muß«, gibt es hier noch
weniger als wo anders. Einer wird viel Beweisbares hören müssen und
mancher vielleicht nur ein halb betontes Wort zur rechten Zeit. Die
alles gleichmachende Gesinnung unserer Zeit darf hier nicht Einlaß
gewinnen. Ein Körper, der sich nach der Norm entwickelt, wird niemals
lebendig werden. Nur das schon wieder erstarrte oder das noch gehemmte
Körperleben fügt sich dem System.

Das wartende Dasein des Führenden kann dem jungen Menschen allein
dazu verhelfen, über diese entscheidende Pause seines Jugendalters
nicht hinweg zu leben, sondern wirklich ganz hinab zu gelangen zu den
ruhenden Kräften seines Selbst, und darin zu verharren, solange bis er
von sich selbst ganz gesättigt ist. Mit seiner gesamten mitschwingenden
Lebenskraft muß der Führer in seinem Vertrauten bewirken, daß er sich
fallen läßt in seine Tiefe, nicht davor zurückschreckt und nicht durch
irgendwelche gesetzten Ziele und Arbeiten sich etwa daran hindern läßt.
Und dann auch, daß er nicht darin verharrt, daß er nicht erschlafft
in dem untätigen Staunen über sich selbst. Es ist ja das Schicksal
unzähliger Menschen, gewissermaßen in der Zeit ihrer Pubertät stecken
zu bleiben. So daß eigentlich alle weiteren Erlebnisse Wiederholungen
dieser ihrer ersten geschlechtsreifen Erschütterungen bleiben.

An dieser Stelle, wo das jugendliche Leben aus der Tiefe der Pause nun
zur Reife seines Geschlechtes aufbricht, ist dem Führenden alle Macht
gegeben. Die ganze aufsteigende Kraft kann er nun lenken, daß sie in
die selbst geschaffene Tat des jungen Menschen strömt. Diese Kraft kann
auch früh schon als leidenschaftlich dargebrachtes Opfer der Liebe
aufflammen. Vor allem wird der Führende an dieser Stelle die Last der
eigentlichen Wissenschaft bereit halten, die dem jungen Leben von da an
Schwere und Richtung geben kann. Von alle dem wird später ausführlich
die Rede sein.

       *       *       *       *       *

Die dritte schöpferische Pause der Jugend liegt um das zwanzigste
Jahr herum. Auch an dieser entscheidenden Stelle versagt die
Jugenderziehung heutiger Zeit völlig. Denn gerade hier ist der junge
Mensch gewöhnlich schon führerlos. Die Schule hat ihn entlassen,
ohne ihn auf die kommende Zeit der Besinnung genügend vorzubereiten.
Entweder ist er schon in einen Beruf eingespannt, der sein noch
wachsendes Selbst in irgendwelche herkömmlichen Formen lenkt, oder er
geht auf eine Hochschule, um zu studieren. Die Wende seines Lebens
spürt er höchstens als einen angstvollen Zustand der Leere. Grundlose
Traurigkeit, Weltschmerz, Ekel an den Dingen überkommt ihn. Alles wird
ihm fragwürdig. Und je öfter er aus seinem Trotz heraus nein sagen
kann, desto wohler ist ihm. Eine Sehnsucht nach Zerstörung wird in
ihm groß. Darum hat Krieg, Revolution, überhaupt Empörung gegen das
Bestehende für jugendliche Menschen so hohen Erlösungswert. Diese
gewaltsamen Ereignisse werden immer wieder von den Vielen bejaht werden
und immer wieder geschehen müssen, ja eigentlich herbeigeführt werden,
solange Jugend von der Tiefe ihrer großen schöpferischen Lebenspause
nichts weiß, sich davor fürchtet und darum in zerstörerischer Sehnsucht
jede Gelegenheit benutzt, um auszubrechen in einen Zustand, der ihrem
eigenen chaotischen Inneren gleicht. Auch viele andere Ventile werden
geöffnet aus Angst vor dieser Leere. Besinnungslos wirft sich der junge
Mensch an Dinge und Menschen weg. Angst vor dem eigenen chaotischen
Zustand treibt ihn dazu, seine Liebe an Frauen zu geben, die ihm nicht
gehören und die ihm so fremd sind wie irgendein Vogel oder Baum am
Wege. Aus dem chaotischen Grund seiner verzweifelten Einsamkeit heraus
erweckt er Liebe, vielleicht in vielen Menschen, wird verzehrende
Flamme für viele, die ihm nahe kommen. Und alle diese Geschehnisse,
die für ihn selbst nur Rettung vor der Leere seiner jugendlichen Wende
sind, werden um ihn herum Schicksal, ohne daß er es zunächst merkt und
weiß und will. Und erst später, wenn alles das sich ausgewachsen und
längst von ihm getrennt hat, tritt es ihm als +fremdes+ Schicksal
wieder in den Weg und mahnt nun und fordert und zwingt ihn zu unfreiem
Handeln.

Auch alles, was die Menschen in diesem Alter +tun+ und +arbeiten+,
bekommt etwas von diesem Geschmack der Verzweiflung. Junge Künstler
arbeiten selbstquälerisch Tag und Nacht an niemals vollendbaren
Kunstwerken; Fragmente von steiler, später nicht mehr erreichter,
vielleicht gar nicht wieder erreichbarer Schönheit entstehen aus
ihrer Verzweiflung. Andere wiederum ergeben sich einem Studium, einem
Beruf, wahllos und einzig getrieben von ihrem Wunsche, den chaotischen
Raum in ihrem Selbst zu füllen, +irgend etwas+ zu gestalten. Der
Trieb zu gestalten erwächst also aus der gleichen Furcht vor den
Abgründen des Selbst wie die Sehnsucht zu zerstören und zu verneinen.
Und auch diese Gestalten bildende Flucht vor sich selbst wächst
allmählich zum unentrinnbaren Schicksal. Der Mensch, der an irgendeinem
entscheidungsvollen Abend seines jungen Lebens den Plan gefaßt hat,
Künstler zu werden oder Geschichte zu studieren oder Politiker zu
werden, weiß zunächst gar nicht, was er damit auf sich nimmt. Aus der
Mitte seiner lebendigen Kraft türmt er aus Furcht vor dem Chaos wahllos
Sach-Gebirge auf, die dann nachher seinem Lebensstrom unabänderlich
leidvolle Richtung geben können.

       *       *       *       *       *

Was könnte der Führer zum Leben, all diese Unabänderlichkeiten
überschauend, hier wohl tun? Wahrlich nur sehr wenig, weniger als bei
irgendeiner anderen entscheidungsvollen Ausübung seines Führeramtes. Wo
die Führung für dieses Lebensalter versagt, liegt es jedenfalls meist
daran, daß +zuviel+ vom Führer getan und gewollt wurde.

Das Kind und der reifende Knabe ist noch so +weich+, daß ein zu
+harter+ Eingriff des Führers das werdende Selbst meist nur dazu
zwingen kann, +auszuweichen+. Aber aus der schöpferischen Pause der
Jünglingschaft soll ja gerade die Unabirrbarkeit des Selbst geboren
werden. Einwirkung in einer das Selbst verbiegenden Richtung ist
hier verhängnisvoller als vorher. Wie stets zuvor ist die Gebärde
des bildenden Führers ein Horchen und liebendes Warten, nicht aber
Bestimmen und Raten und Handeln. Sein Dasein allein ist die Stärke
und der Wert seiner Führerschaft. Stehen bleiben muß er selbst, wenn
der Jüngere von dem chaotischen Zustand seines Inneren gepeinigt
vorwärts stürmt und alles zerbricht, was er selbst, der Führer, die
ganzen Jahre hindurch hat bauen helfen. Er weiß ja, daß sich der
Zerstörungswille nicht gegen ihn selbst richtet, sondern gegen das
Bestehende überhaupt. Aus Eigenliebe darf er also hier nicht etwa
hindern oder auch nur vorzeitig Ordnung schaffen wollen. Es wird eine
schwere Probe seiner Führerschaft sein, wenn er vielleicht für sich
selbst gerade in höchst fruchtbarer und aufbauender Arbeit ist, den
zerstörerischen Zustand seines Freundes zu ertragen. Wenn er selbst an
irgendeinem sachlichen Aufbau arbeitet, wird er nicht über jene großen
leeren Räume verfügen, deren sein Anvertrauter bedarf, um darein all
sein zerstörerisches Wesen zu ergießen. Doch schon bei dem geringsten
Widerwillen, oder wenn der Führende auch nur mit einem leisen Gedanken
der Wehmut bei seinem eigenen unterbrochenen Werk verharrt, nicht
augenblicklich alles Werkzeug von sich tut und sich selbst weit macht
in seiner wartenden Liebe zu seinem Getreuen, ist er seinem Führeramt
untreu geworden. Er hat sich dann entschieden, Meister zu werden an
irgendeinem selbstgeschaffenen Werk. Das mag auch gut sein, ist aber
etwas anderes und ist in Augenblicken der Entscheidung jedenfalls
+nicht+ mit dem Führeramt zu vereinen. Leicht und mit tiefer Lust muß
das Werk aufgegeben werden in solcher Zeit der wartenden Liebe, so
leicht wie man ein Spiel aufgibt, wenn einer der Gefährten schwach
wird und umzusinken droht. Auffangen muß der Führer dann die ganze
Trümmerlast des jungen Menschen. Er muß ihm Raum geben. Was jener zu
solchen Stunden großer Werdenot in ihn gelegt hat, muß er still in sich
bewahren. Es muß Geheimnis bleiben zwischen ihnen. Denn dies hingebende
Vertrauen in die bergende Liebe fordert von dem Älteren schweigende
Ehrfurcht. Selbst wenn dieser Bund nur für Augenblicke seinen Ausdruck
fand und später vielleicht niemals mehr in Erscheinung treten wird, so
deutet diese Stunde doch auf das Letzte, das zwischen Menschen hin und
wieder schwingt. Nur wenn der Führer ganz und gar mit hinabsteigt in
die Tiefe der Zerstörung und Verzweiflung und auch durch gutes Zureden
und tröstliches Schwatzen vom aufbauenden Leben sich selbst und seinem
Gefährten den Weg +nicht+ ungebührlich verkürzt hat, dann, aber auch
nur dann wird er nun die Macht haben, ihn zu einem wirklich aufbauenden
Leben zu locken. Nicht zu einem Leben, das er selbst in irgendwelcher
guten Absicht für den Freund sich ausdenkt, sondern zu einem Leben,
das sich ganz ohne sein +Zutun+ stolz und gerade auf den Trümmern des
vergangenen Lebensteils erhebt, als wahrer und ureigener Ausdruck des
nunmehr unbeirrbar werdenden Selbst des Jünglings.

Bei dem nun neu anhebenden Lebensanstieg des Jünglings wird der Führer
nur noch lose nebenher gehen. Die führende Wirkung seines Lebens wird
nicht mehr nach außen hin erkennbar sein wie früher. Der Jüngere wird
nicht mehr Tag für Tag an ihn denken. Das Dasein des Führers wird
für ihn allmählich etwas Entferntes werden. Auch räumliche Trennung,
vielleicht zeitweise, vielleicht für immer wird einen Keil zwischen die
Menschen treiben. In Wahrheit gehört aber diese Entwöhnung voneinander
noch in den Bereich der bildenden Aufgaben des Führers. Es ist seine
letzte und schwerste Arbeit, sich selbst dem Anvertrauten entbehrlich
zu machen, ihn zu entlassen, Abschied zu nehmen. Nur in den seltensten
Fällen wird dieser rechte Abschied gelingen, nur dann, wenn der Führer
Einsamkeit-erfahren ganz in sich beruht. Nur dann, wenn der Jüngere
selbständig und aufrecht seinen eigenen Gang zu gehen gelernt hat.
Dann wird Abschied ohne Schmerz sein und Trennung so leicht und so
gesetzhaft wie das Fallen der Frucht vom Baum.

       *       *       *       *       *

Um das achtundzwanzigste Jahr herum liegt abermals eine Pause, die
das Jünglingsalter von dem beginnenden Mannesalter scheidet. Das
heutige europäische Leben läßt allerdings die Innehaltung +dieser+
Pause überhaupt kaum zu, weil der Mensch von achtundzwanzig Jahren
schon lange fertig sein muß. Er muß seinen Beruf und womöglich seine
Familie schon +haben+. Die Notwendigkeiten des materiellen Lebens, aber
auch des geistigen Lebens erfordern nun gleichmäßiges und rastloses
Fortschreiten und zwingen ihn über die wichtigste Bedenkzeit seines
Lebens hinweg. Er hat sich längst entschieden und ist gebunden und
tut seine Pflicht. Wenn einer in diesen entscheidenden Jahren von
seiner Pflicht redet, sieht man es seinen zusammenkrampfenden Lippen
an, wie sein ganzes Selbst eine einzige große unterdrückte Trauer
ist über dieses forttrottende Leben, das ihn hinwegzerrt über irgend
etwas, was unter ihm verborgen liegt, und das er nur noch hier und
da spürt als ein leises Beben des Grundes, etwas, das er selbst sich
lächelnd oder seufzend -- und sehr richtig -- erklärt als ein --
wie er meint - törichtes Erinnern an längst überwundene Werdezeiten
seiner Jugend. Alles was sich an dieser Stelle des Lebens zum letzten
Mal als »Sentimentalität«, als »Hamlet-Stimmung« an die Oberfläche
wagt, wird entschiedener und rücksichtsloser als in den früheren
Besinnungszeiten zurückgestoßen. Der Mann stürzt sich in seinen
Beruf; große Pläne bringt er nun zur Verwirklichung. Es beginnt,
ihm auf Vollendung, auf Vollständigkeit anzukommen. Was sich ihm an
Widerständen entgegenstellt, wird rücksichtslos zurückgeworfen. Zur
Zeit der Jünglingspause um das zwanzigste Jahr treibt die Furcht vor
der Tiefe des eigenen Selbst zur Zerstörungstat oder zur gewalttätigen
Arbeit, in hundert steilen Anfängen. In dieser Hamlet-Zeit aber steht
gerade die Sehnsucht nach Fertigwerden, nach Vollenden überall auf, um
über die Zeit der Besinnung hinwegzulocken. Furcht vor dem nochmals
aufgebrochenen Abgrund des Selbst treibt den Mann in die bürgerliche
Ruhe der Ehe. Unter dem unbewußten Bann dieser Furcht entschließt sich
der geistige Mensch zu einer wirkenden Tat. In Kunst und Wissenschaft
bringt er es allmählich durch seine fertig erscheinenden Werke, durch
seinen nunmehr unverkennbar gewordenen Stil zu Ruhm und Ansehen. Schlau
und ängstlich beginnt sich der Mensch zu hüten vor allem, was ihn etwa
zu der Erkenntnis eines doch vielleicht notwendigen Neuanfangs führen
könnte. Er sucht dann nach Ausflüchten, nach Rechtfertigung vor sich
selbst. Er bringt sein Leben in System, läßt alles fallen, was kreuz
und quer darin liegt, was sich nicht fügt. Sein Wille verdrängt alles,
was sich in ihm selbst auflehnt gegen diese Systematik. Er will und muß
die Herrschaft über sich und seine Aufgaben behalten. Ist er doch in
den Kampf des Lebens getreten und muß nun glauben, daß er »Rechte« und
»Ehre« und »Ziele« habe.

Aber aus all dieser mannigfaltig gespreizten Kämpferstellung des
werdenden Mannes spricht deutlich die Angst, von der letzten
Besinnungszeit seiner Jugend zu Fall gebracht zu werden. Das ist
Todesangst im tiefsten Sinne dieses Wortes, zum ersten Male wahre
Furcht vor dem Tode. Und doch könnte aus dieser Angst allein das
Hinabsteigen in seine Tiefe, das Ersterben in sich selbst Erlösung
bringen.

       *       *       *       *       *

Von Führung und Gefolgschaft kann bei dieser Besinnungszeit des
werdenden Mannes nicht mehr gesprochen werden. Hier ist der Mensch
zum ersten Mal allein. Das klare Bewußtsein von seiner ersten
wirklichen Einsamkeit darf ihn nicht schrecken. Er muß wissen, daß
er nun ins Leben entlassen ist, und bestimmt, dem Tode zuzuwandern.
Gerade die Hingebung an diese Einsamkeit macht ihn mit seinem eigenen
Tode vertraut, daß er nun von Farbe und Geschmack des Todes ganz
durchdrungen wird.

Nur durch diese Todesweihe der ersten Einsamkeit geht der Weg zur Liebe
des Mannes und zum Beruf des Mannes. Erst dann hat er volle Freiheit
und Ruhe, sich umzusehen und die anderen Menschen, alle jene einsamen
Menschen, ringsum in ihrer inselhaft abgeschlossenen Wirklichkeit zu
gewahren. Es wird notwendig werden, daß er etwas +tut+. Sein +Wissen+
und sein +Können ist ausgebildet+. Durch eins von beiden kommt er zur
Tat. Wissend wird er zum Führer, könnend wird er zum Meister. Beides
in Beziehung zu jenen anderen Menschen, die er nun +gesehen+ hat: die
jünger sind als er, noch in Werdenot befangen, oder gleichen Alters
und frei geworden wie er selbst, oder älter als er, schon von Todesnot
befangen. Sein wissendes Leben wird ihn stark machen, die Jüngeren
zu führen, mit den Gleichaltrigen einen Bund zu schließen, Väter
und Mütter zu stützen in ihrer wachsenden Bedrängnis. Unter diesen
vielfachen Verbindungen wissender Mannesliebe wird immer deutlicher
eine Spur zu der Frau hinführen, welche die Ergänzung seines Mannestums
darstellt, die ihn zum Vater machen wird. Aber keine der anderen
Verbindungen wird dadurch nun etwa gelockert, keine darf willkürlich
abgeschnitten werden. Nun muß alles getragen und zur Vollendung
gebracht werden. Das ganze Tauwerk dieser Verbindungen muß der Mann
bewußt durchs Leben +fortführen+.

Wissend wird er zum Führer, könnend zum Meister. Aber auch das nur
in bezug auf die anderen Menschen ringsum. Allerdings sieht der
Werktätige nicht so liebesbewußt auf die einzelnen Menschen wie
der Führende. Er tut seine erwählte Arbeit, seinen Beruf aus der
zwingenden Notwendigkeit seiner eigenen Kraft und fragt nicht viel
nach den Menschen, denen er mit diesem Werke ohne zu wollen eben doch
liebe-dient.

Werktätig oder führend, immer nur das eine +oder+ das andere, beginnt
der Mann seinen Lebensanstieg. Ein jeder kann beides tun. Doch muß er
bei jeder Gelegenheit immer wieder zwischen dem einen oder dem andern
wählen, das eine vor dem anderen zurückstellen. Führendes +oder+
werktätiges Vorzeichen werden auch die noch folgenden Perioden des
+späteren+ Mannesalters tragen. Darüber kann hier nicht mehr gesprochen
werden.



Rhythmischer Wechsel von Schwäche und Kraft


Bei all den Perioden draußen wie drinnen im Menschen ist immer wieder
dasselbe: das Auf- und Abschwingen eines Rhythmus um einen Ruhekern
herum. Die schwachen und für sich allein sogar schlecht klingenden
Zeiten tragen die schöpferische Bedeutung der Pause in sich. Und diese
Bedeutung muß zum Ausdruck kommen.

Es ist aber heute keineswegs so, daß der Mensch diese seine dunklen
Tage anerkennt oder gar liebt und pflegt. Die meisten wüten vielmehr
gegen ihr eigenes Gesetz. Wer eine kraftvolle Natur hat, zwingt sich an
diesen Schwächetagen genau so zu leben als sonst, also genau so viel
Nahrung aufzunehmen und genau so viel Arbeit zu leisten als sonst.
Das heutige Leben, das ganz nach Minutenzeiger und Zentimeterstab
ausgerichtet ist, zwingt ja ohnehin jeden Einzelnen von Jugend auf
zu maschinenhaften Gewohnheiten und läßt jedes Auflehnen der eigenen
Natur dagegen -- auch wenn es einmal aus der Tiefe der Besinnung kommt
-- ungeprüft unterdrücken. So lebt der mit viel Energie ausgestattete
Mensch über seine Schwächetage hinweg auf Kosten seiner zunächst
unerschöpflich scheinenden Lebenskraft, solange bis dieser Vorrat eben
doch erschöpft ist und es in irgendeiner Gestalt zum Zusammenbruch
kommt. Von Zeit zu Zeit kommt es bei solchen starken Naturen zu
irgendwelchen Katastrophen, etwa zu schweren Krankheiten, oder zu
Perioden gesteigerter Genüßlichkeit alkoholischer oder sexueller Art
oder zu irgendwelchen übertriebenen Sportgelüsten, vor allem aber zu
Perioden unzugänglicher und reizbarer Gesinnung gegen nahestehende
Menschen. Und das ist der beste Fall. In den schlimmeren Fällen führt
dies achtlose Hinwegleben über die Schwächezeiten irgendwann sogar zu
einem endgültigen Zusammenbruch des Lebens. Die Menschen können dann
wohl häufig nach außen hin ruhig weiterleben, aber sie haben für den,
der näher zusieht, einen Riß (einen Knacks), den sie gewöhnlich vor
sich und anderen zu verbergen suchen, der aber da ist und je älter sie
werden desto klaffender wird.

Die Menschen von geringer Lebensenergie dagegen geben sich ihren
Schwächetagen gänzlich hilflos hin, als wären sie niemals wieder
gefolgt von Tagen des Aufschwungs. Sie schaffen sich so allmählich ein
immer mehr verdunkeltes Leben. Zunächst wechseln noch Aufschwünge und
Abstürze jäh miteinander. Schließlich aber bekommen sie irgendwann
einmal ein Grausen vor den (wie sie meinen) dunklen Mächten in ihrem
Innern. Sie können sich nicht mehr aufschwingen, weil sie zu sicher
schon den Absturz vorher wissen. So verzweifeln die Schwachen am Leben,
wie die Starken daran zerbrechen, beide, weil sie das Gesetz der
Schwächewiederkehr nicht zu beachten gelernt haben, oder immer wieder
diesem Gesetz wissentlich widerstreben. Die rhythmischen Auf- und
Abschwünge sind bei jedem Menschen nach einem ihm ganz allein eigenen
Urklang gebildet. Es ist der Sinn der Pause, diesen Urklang des Selbst
aus der Ruhelage neu entstehen zu lassen. Dieses Hinabschwingen und
Hinaufschwingen aus der Ruhelage ist immer wiederkehrende Geburt und
Wiedergeburt aus dem Chaos. Die Ruhe der Pause ist gewissermaßen der
Grund, bis zu dem alle Schwingungen des Lebens, die kleinsten wie die
größten, immer wieder hinabreichen müssen, wenn das Leben wirklich
seinen vollen Eigenklang bekommen soll. In den Ruhe+kernen+ liegt die
Entfaltung des Lebens beschlossen.

       *       *       *       *       *

An diesen Stellen, wo das Leben sich stets erneuert, liegt naturgemäß
auch die Gefahr für das Leben. Alles was wir Krankheit, Schwäche,
Fehler, Sünde und Schuld nennen und als lebensfeindlich empfinden,
greift immer an den Kern, ja entwickelt sich im Kern, der den Pausen
zugrunde liegt. Deswegen ist alles dieses unausrottbar. All dies
bedeutet: hier ist Leben, +weil+ eben Feindschaft dagegen da ist.

Wo Verstopfungen der Pausen eintreten, gewinnen diese feindlichen
Kräfte sogleich Über-Macht. Nicht Hinabgelangen zur Ruhelage oder in
ihr Verharren, beides ist Sünde und Schuld.

Tatsächlich ist auch im +einzelnen+ überall zu sehen, wie die
Tiefpunkte der Ruhe und Sammlung, der Kraft, zugleich der Herd der
Gefahr sind. Jede Krankheit und jede Notlage läßt sich ursächlich
verfolgen bis dahin, wo ein solcher Tiefpunkt der Ruhe entweder nicht
erreicht wurde, oder ungesetzlich verlängert wurde. Die Menschen, die
immer wieder über die vielen tausend Atempausen des Tages achtlos
hinweggleiten, fühlen sich dauernd unruhig, gehetzt und gejagt. Alle,
die an zu beschleunigtem oder zu verlangsamtem Stoffwechsel leiden,
sind müde und fühlen sich beschwert. Sie können ihren Körper nicht
erlösen. Sie können nicht mit ausgeprägten Gebärden zu einer täglich
neuen Eigenbeweglichkeit kommen. Um mit der Arbeit schneller fertig
zu werden, überstürmen sie ihr Tempo und kommen niemals zum Genuß der
Ruhe. Übermüdet halten sie fest am Tage und bringen sich selbst um
den allheilenden Segen des Tiefschlafs. Sie haben keine Feiertage,
weil sie zu schlapp sind, um überhaupt etwas zu tun und ihnen so
jeder Tag ein Ruhetag ist, oder weil sie, von Arbeit überbürdet, alle
Tage gleichmäßig fortarbeiten. Die monatliche Schwächewiederkehr,
der Jahreszeitenwechsel bleibt unbeachtet in ihrem Leben, und sie
verschmähen immer wieder den Trost, mit der neu aufschwingenden Natur
aus dem eigenen Grunde mitzuschwingen. +Sichtbar+ wird alles das, was
wir Krankheit, Sünde, Schuld oder wie auch immer nennen, natürlich an
sehr verschiedenen Stellen der steigenden und fallenden Bewegung des
Lebens. Verschiebungen, Übertragungen, Verdrängungen aller Art, machen
das Bild von Ursache und Wirkung im +einzelnen+ völlig unübersehbar.

Gewiß hängt auch all dies Äußere miteinander zusammen, aber das eine
ist sicher: Immer hat das Übel, das sich irgendwo an der Oberfläche
zeigt, seinen Ursprung in der Tiefe, wo die Pausen sind. Behoben
kann das Übel nur werden, wenn man in die Tiefe steigt. Am öftesten
und leichtesten kann man in diese Tiefe steigen auf dem schwingenden
Atem, vielmals in jeder Minute. Und so ist tiefste Wahrheit, was von
dieser alles heilenden Kraft der bewußt atmenden Seele gesagt wird.
Damit ist +keineswegs+ gesagt, daß man das Übel nicht auch an seiner
+sichtbaren+ Stelle bekämpfen könnte und sollte, wie die Ärzte tun. Nur
das ist sicher, daß es immer wiederkehrt, solange der verkehrte, der
dem Selbst +nicht+ eigene Rhythmus bestehen bleibt. Jeder Mensch leidet
eben an +seinen eigenen+ Übeln und Krankheiten als den Abweichungen
von +seinem+ Rhythmus, und diese Übel endgültig beseitigen kann er nur
durch Einlenken in +seinen eigenen+ Rhythmus.

       *       *       *       *       *

Der Führende muß versuchen, die Schwächetage der Einzelnen
herauszuspüren, weil er da die immer wiederkehrende Gelegenheit hat,
helfend einzugreifen. Die jungen Mütter, die ja bei der Erziehung des
kleinen Kindes meist noch unabgelenkt ihrer inneren Natur folgen,
geben hier ein meisterliches Vorbild. Wenn das Kind aus irgendwelchen
Gründen sich schlecht aufgelegt fühlt, unlustig und krank ist, dann
wissen sie es genau. Was tun sie? Sie singen es ruhig in den Schlaf.
Sie gehen nur ganz leise auf den Zehen im Zimmer herum, daß es ja
nicht etwa vorzeitig erwacht. Sie vertrauen seinem Schlaf. Sie geben
ihm weniger Nahrung und lassen es überhaupt in Ruhe. Hier gilt es zu
lernen. Es muß Vertrauen gelernt werden in die Selbstheilkraft des
einzelnen Menschen zur Zeit seiner Schwäche. Oft mag es schwer sein,
wenn das Kind, das dieses alles ja nicht weiß, sich sehr trotzig oder
sehr verzagt gebärdet. Nur das unverwirrbare Wissen des Führenden kann
da helfen. Wenig kann er tun, kann höchstens Schädliches verhindern. Er
muß darauf achten, daß das Kind sich in seinen Schwächezeiten nicht mit
schweren Nahrungsstoffen belastet, daß es im Gegenteil sich gründlich
entlastet, seinen Leib innen und außen reinigt. Er muß darauf achten,
daß es irgendeine gleichmäßige, aber leichte körperliche Arbeit tut
und womöglich so den schwingenden Rhythmus seines Atems wiederfindet,
und schließlich sich beruhigt und in einen frühen und tiefen Schlaf
verfällt.

Später, wenn der junge Mensch allmählich in das bewußte Leben
hineinmündet, muß der Führer ihn in den Sinn der Schwächetage
einführen. Daß er ohne +Widerstreben+ aber auch ohne +Verzagen+ sich
der ihn überkommenden Schwäche überlassen darf, wissend er steige in
die Tiefe seines Lebens und bereite damit den aufschwingenden Tagen
ihren Weg. Ein jeder der Anvertrauten muß dann schon gelernt haben,
wie das Gesetz seiner +eigenen+ Schwächetage verläuft und wie er die
dadurch geschehende Reinigung am besten unterstützt. Der eine wird
an diesen Tagen gar nichts essen oder nur ganz wenig und nur frische
fruchthafte Nahrung, er wird sich baden und sonnen und viel schlafen.
Ein anderer wird vielleicht in den Wald gehen, den ganzen Tag über und
ganz heimlich und wartend das Leben der Pflanzen und Vögel belauschen.
Ein Dritter wird vielleicht ein Buch nehmen und sich in irgendeinen
Winkel damit legen. Ein Vierter wird Lust nach tobendem Spiel und
körperlicher Arbeit haben und befriedigen müssen. Aber alle werden
sich in eine gewisse +wartende+ Stellung begeben, wo sie aufnehmen
können, empfangen können, ohne sich zu belasten. Jeder wird sich so
einstellen lernen, daß der Strom der Natur an solchen Tagen möglichst
wenig gehemmt durch ihn hindurch kann. Um der Gewalt der Strömung
Raum zu schaffen, ist es nötig, die gewöhnliche Tageseinteilung zu
unterbrechen, den gewöhnlichen Arbeitsgang und die gewöhnlichen
Essenszeiten fallen zu lassen. Die ganze Freude des Wissens um die
schöpferische Bedeutung dieser Ruhetage muß darin sein. Auch die
Genossen müssen diese Schwächetage an einander achten lernen, weil
jeder weiß, daß sie über jeden kommen, und es darf keine falsche Scham
und kein Ehrgeiz und kein böser Spott zwischen ihnen stehen. Davon wird
später noch zu sprechen sein.

       *       *       *       *       *

Wenn so die Menschen gelernt haben, die Tage ihrer Schwäche einzubauen
in den Gesamtrhythmus ihres Lebens, wird es vielleicht auch gelingen,
die +Tage der Kraft+ miteinander in Einklang zu setzen, sie in einen
strömenden Zusammenhang zu bringen. Es ist sehr schwierig und erst
in einem späteren Alter möglich, daß die Tage der Kraft sich voll
und ganz in bestimmte Reihen fügen und also +zielgerichtet+ werden.
Gemeint sind die Tage, in denen sich der Mensch geborgen fühlt und
allmächtig zugleich, Tage, in denen die schaffende Natur in ihm und
durch ihn mühelos schafft, Tage des Gelingens, der Freude. Kinder
haben diese Tage in regelmäßiger Aufeinanderfolge. Nur die wenigen
Schwächetage unterbrechen notwendig in rhythmischer Folge diesen
Gang ihres Glücks. Es gibt Menschen, in denen dieser Glückstakt
vorherrschend bleibt. Wie in ihrer Kindheit bleiben sie gesund, und
ihr Leben fließt ohne allzugroße Erschütterungen zwischen ertragbaren
Schmerzen und vielen Freuden, zwischen Tun und Lassen, Neigung und
Abneigung in mäßig bewegten Rhythmen dahin. Ihre Natur scheut sich vor
dem allzugroßen Ausmaß der Schicksalsschläge und vor dem zu schnellen
Tempo. Werden sie in ihrem Takt nicht gestört, so erreichen sie die
eine Möglichkeit des Glückes: sie fügen ihre Krafttage zu einem maßvoll
und schön gegliederten Bau, zu einem Leben voll Heiterkeit, Genuß und
maßvollem Tun. Goethe ist einer von den Wenigen, denen ein solches
Leben gelungen ist. Die meisten so gearteten Menschen aber lassen sich
durch irgendwelche Hindernisse in ihrer Lebensgestaltung früh schon
aufhalten. Sie haben nicht den Mut zur Freude, zum Genuß. Nach Art von
Kindern, die in ihrer Lebensfreude gestört werden, fühlen sie sich
zurückgesetzt, übergangen und verkannt. Es sind die immer Mißmutigen,
von ihren Launen hin und her Getriebenen, recht eigentlich Menschen,
die im kindischen Wesen stecken geblieben sind. Oft wird man noch
den Zeitpunkt nachweisen können, wo sie aus Scham oder Furcht oder
irgendwelcher hemmenden Rücksicht in dem Rhythmus ihrer Glückstage
einmal unterbrochen wurden und niemals wieder recht zum Aufschwung
kamen.

Die andere Glücksmöglichkeit lockt sehr viel mehr Menschen der
nördlichen Länder: nicht Maß und Harmonie, sondern leidenschaftliche
Kraftsteigerung ist ihnen Glück. Die Tage der Kraft werden auf ein
ganz bestimmtes Ziel gerichtet. Nicht die in ihnen aufschwingende
Kraft selbst, sondern das dadurch bewirkte Werk, die Erreichung einer
ganz bestimmten Wirkung heißt Glück für diese Menschen. Dem Glück des
harmonischen Kräfteausgleiches steht das Glück des leidenschaftlichen
Kraftgebrauches gegenüber. Das niemals gehemmte gleichmäßige
Aufschwingen der Kraft verbürgt die erste Glücksmöglichkeit, die
hemmungüberwindende Steigerung der Kraft verbürgt die zweite
Glücksmöglichkeit. Beide Glücksmöglichkeiten haben ihre eigenen
Gesetze. Für den Menschen des Gleichmaßes ist geboten, den Hemmungen in
seinen Krafttagen aus dem Wege zu gehen, ihnen auszuweichen. Der Mensch
der leidenschaftlichen Kraftanspannung dagegen sucht grade Reibung
und Gefahr, um sich an der Überwindung der Hindernisse zu steigern.
Ausnutzung der Kraft bis aufs äußerste ist das Geheimnis, dem diese
Menschen nachspüren: wie ist es möglich, die Kraft durch Verschiebung,
Ersetzung und Stauung zu vervielfachen? Um das zu erreichen, hat
man in unseren Zeiten vor allem nach dem Gesetz der Arbeitsteilung
verfahren. Arbeit wurde die Losung aller Menschen.

       *       *       *       *       *

Die Arbeit machten sie zum Gott, dem sie ihr Leben stückweis opfern,
ihr eigenes Leben und das ihrer Frauen und Kinder noch dazu. Dem Mann
steht sein Beruf am höchsten. Er benutzt die Freude ganz rechnerisch
absichtlich als Antriebsmittel zur Arbeit, er verschafft sich nur so
viel Genuß, wie gerade eben noch durch die darauf folgende Arbeit
wieder unschädlich gemacht werden kann. In ebenso kleinen und
zuträglichen Dosen nimmt man den Schmerz. Das Leben eines solchen
Arbeitsmenschen, eines Großkaufmanns etwa oder Großindustriellen
oder Großgelehrten dieser Zeit ist bis in die letzten Minuten wohl
eingeteilt und geordnet zu dem einzigen Zweck, möglichst viel Arbeit
herauszubekommen. Das ist die typische Verkörperung der einen
Glücksmöglichkeit.

Diese Möglichkeit gilt heute als die +einzige+. Jede +andere+ wird
bestraft. Denn das ist das Schlimme: der Glaube an die Arbeit ist so
einseitig allmächtig geworden, daß es zur Dogmenbildung gekommen ist
und zur Verfolgung der Andersgläubigen. Mittel der Verfolgung sind
Hunger und Verachtung, die wirksamsten Mittel, die große Menge in
Bann zu halten und zugleich den edlen Einzelnen zu bezähmen. Keiner
darf sich der Arbeit entziehen. Denn die Arbeit braucht die Menschen
in +Mengen+. Eine besondere Arbeiterklasse ist entstanden, wie in der
römischen Spätzeit der Sklavenstand. Jeder dieser vielen übt sich auf
möglichst eng begrenzte Arbeit ein, um möglichst viel zu leisten. Alle
staatlichen und kirchlichen Einrichtungen sind auf das Arbeitsdogma
zugeschnitten. Und so hat sich der Rhythmus der europäischen Arbeit
ganz und gar verwirrt und zerknittert. Jede auch nur geringfügige
Pausierung ist daraus verschwunden. Die Fabrikstadt ist das Symbol
dieses Arbeitslebens. Tag und Nacht, wochentags und feiertags brennen
die Öfen. Sie dürfen nicht ausgehen, weil es zu kostspielig ist. Ob es
regnet oder die Sonne scheint, ob es Frühling ist oder weit draußen
auf den unbekannten Feldern das Getreide reif wird, niemand merkt es.
Ob eine Arbeiterin ein Kind trägt, ob ein Vater stirbt, ob ein junger
Mensch zum ersten Mal Liebe empfängt und gibt, über alles das jagt
die Arbeit die einzelnen Menschen so lange mitleidlos hinweg, bis sie
selbst glauben, sie hätten kein Recht daran. Es gilt schon geradezu als
minderwertig, wenn einer sich von einem allzu großen Schmerz übermannen
läßt und seine Arbeit darüber versäumt. Und doch wäre es für die
meisten viel besser, wenn sie einmal gründlich verzweifelten. Selbst
auf die Gefahr, daran zu sterben und nie wieder zu arbeiten. Denn so
können sie weder sterben noch leben. Die Menschen haben keine Zeit zur
großen Verzweiflung, wie sie keine Zeit zur großen Freude haben. Das
rasende Tempo der Arbeit hat alles überrannt, so daß die arbeitenden
Menschen eigentlich nur von ihrer Anfangskraft zehren, die sie aus dem
Mutterleib mitbringen und dann hinfallen und sterben, ohne ein einziges
Mal von sich selbst aus tief Atem geholt zu haben. Vielleicht, wenn sie
nur einmal innehalten könnten, um wirklich und lange genug auszuruhen,
würde ihre Arbeit viel leichter und freudevoller und auch stärker aus
ihnen hervorbrechen können. Sie würden dann einen Überschuß an Kraft
gesammelt haben und nicht immer nur knapp so viel Kraft aufraffen,
wie sie im nächsten Augenblick schon wieder ausgeben müssen, um die
notwendige Arbeit im Gang zu halten.

Gegen den +Glauben+ an die Arbeit soll hier nichts gesagt werden,
nur gegen die +Dogmatik+. Sicher ist das Zeitalter, das Klima, die
nördliche Menschenrasse so beschaffen, daß die +Mehrzahl+ der Menschen
ihre Glücksmöglichkeit in der Arbeit suchen +muß+. Das Glück des
in sich schwingenden Kräftegleichmaßes, die griechische, auch die
christlich-mystische, auch die indische Zielforderung der Harmonie
ist in ihrer Ausschließlichkeit nur für wenige Menschen gültig. Alles
drängt heute zur Sichtbarmachung, zu der +sofortigen+ Umprägung der
inneren Kräfte in Arbeit. Dies ist entwicklungsmäßig das Unumgängliche.
Auch die Erziehung wird dahin gerichtet sein müssen. Die Arbeitsschule
ist der lebenskräftigste neue Gedanke. Alles kommt aber nun darauf
an, den finsteren dogmatischen Geist der Sklaven und Sklavenhalter zu
vertreiben, und damit wirklich und endgültig zu der +Glücks+möglichkeit
der Arbeit durchzustoßen.

Es muß gelernt werden, die Tage der Kraft in strömenden Zusammenhang zu
bringen. Tage der Kraft sind Tage der +Freude+. Solange die Fortsetzung
einer angefangenen Arbeit an den darauf folgenden Tagen Lust, sogar
steigende Lust bereitet, ist die Glücksreihe der Tage gewährleistet.
Wenn der Fortsetzung der Arbeit an einem Tage dann plötzlich ein
Unlustgefühl entgegensteht, bedeutet das einen Knotenpunkt in der
Reihe der Tage. Es ist dies der kritische Punkt, der +schöpferische+
Bedeutung hat und in keinem Fall gedankenlos übergangen werden darf.
Es ist dann zweifache Entscheidung möglich. Entweder der Mensch hört
auf, bricht ab mit der Arbeit, überläßt sich der Ruhe und nimmt damit
alle Nachteile auf sich, die der Abbruch einer Arbeit mit sich
bringt, unter Umständen also Hunger und Verachtung der Menschen. Oder
aber er überwindet das Unlustgefühl. Mit Dransetzung aller Kräfte
setzt er willensmäßig die Reihe der Krafttage fort. Freiwillig, nicht
gezwungen durch irgendein Abhängigkeits- oder Pflichtgefühl muß die
Kraftanspannung geschehen, wenn das werktätige Glück erhalten bleiben
soll. Das Arbeitsdogma befiehlt hier: Ergebung in die unbedingte
Abhängigkeit von der Arbeit, in die »Pflicht«; etwas kirchlicher
ausgedrückt: Hingebung, Liebe zu dem Nächsten, für den man die
Arbeit tut. Natürlich kann man auch zu Zeiten Umwege gehen und das
Arbeitsfeuer erhalten aus Pflicht oder aus Liebe zu einem Menschen.
Für die große Menschenmasse ist das vielleicht sogar auf längere
Zeit hinaus das Notwendige. Aber solche Umwege, solche kleinlichen
Brücken und Krücken bleiben doch immer Unglaube an die unmittelbare
Schöpferkraft in den Menschen selbst. Das eigentliche Glück liegt in
der Spannung der selbsteigenen Kraft auf den gewollten Zweck.

Arbeit ist Freude, und die Fortsetzung der Arbeit über den natürlichen
Ermüdungspunkt hinaus ist das äußerste Glück, das den Menschen zuteil
werden kann. Es ist dem Menschen gegeben, zu Zeiten seiner Kraft durch
den Gedanken an das Ziel sich selbst zu vervielfachen weit über alle
natürliche Möglichkeit hinaus. Monatelang, jahrelang, lebenslang sogar
kann das Bild eines Werkes den Menschen in Schwung halten und den Tagen
seiner Kraft einheitliche Glücksrichtung geben. Nicht aus Pflicht,
nicht aus Liebe, nein aus werkwärts gerichteter Kraft vermag er, wenn
es die Arbeit befiehlt, die durch den Lauf der Gezeiten gesetzmäßig
über ihn kommenden Schwächetage zu seinem höchsten Glück in Tage der
Kraft umzuwandeln. Und er weiß, was dieser Sieg über das natürliche
Gesetz der Schwächezeiten bedeutet. Es ist das Überschwingen der
gesetzlichen Pause. Gefahr, Vernichtung, Tod liegt dort verborgen.
Ein jeder muß lernen und wissen, wann und wie oft er das vermag. Der
Führende muß von früher Kindheit an schon die Kraft seiner Anvertrauten
daraufhin prüfen, wann sie zum ersten Mal um einer Leistung willen
ihre Schwächezeiten ausschalten können. Für Kinder gilt das noch
nicht. Für Kinder gilt zunächst allein der Satz von dem natürlichen
Anschwellen und Abschwellen der Gezeiten. Kindliche Leistungen
werden entweder, wenn die Kraft anschwillt, spielend hervorgebracht
oder eben unterlassen, wenn die Kraft abschwillt. Sinnlos ist es,
Kinder zur Fortsetzung der Arbeit anzuhalten, unter der Begründung,
sie hätten diese Arbeit doch übernommen und also die Pflicht, sie
fertig zu machen, oder sie müßten diese Arbeit diesem oder jenem
Menschen »zuliebe« fertigmachen. Erst spät und meist wohl +nach+ dem
Entwicklungsalter wird es möglich werden, um der Arbeit willen die
Schwäche zu überwinden und also die schöpferische Pause unmittelbar in
Schaffen umzusetzen. Der Hilfsbegriff der Pflicht wird da nicht mehr
nötig sein. Ein Siegestag, ein Tag überschwänglicher Freude wird es
sein, unvorstellbar für die vielen Menschen, die von Kindheit an zur
freudlosen Arbeit gezwungen wurden und von denen darum Arbeit ohne
weiteres gleichgesetzt wird mit Leid und Qual, denen man sich mit List
auf jede Weise entziehen muß. Wo der junge Mensch (nicht zu früh)
solchen Siegestag seiner Kraft erlebt hat, wird es nicht mehr nötig
sein, ihn anzutreiben. Im Gegenteil, der Führende wird sorglich und
unmerklich darauf achten müssen, daß jener in seiner immer wachsenden
Kraftfülle durch ein zu häufiges Überschwingen der Pause diese
Umschaltung nicht mißbraucht und abnutzt.

Denn +nicht alle+ Pausen dürfen übergangen werden. Die Atempause und
die Pause zwischen den Lebensaltern müssen eingehalten werden, denn
dieser kleinteiligste und weitestschwingende Rhythmus ist ja das
Schwingen des lebendigen Menschen selbst. Geht der Atem nicht tief
genug, dann brennt die Flamme des täglichen Lebens nicht so stark,
die überströmende Lust zur Leistung kann nicht frei werden. Ist keine
Besinnungszeit zwischen den verschiedenen Lebensaltern, so bleibt
der Mensch in sich selbst stecken, schwingt zwar noch durch die
Gezeiten, aber ohne mehr selbst noch weiterzuschreiten. Also nur die
astronomisch gesetzten Pausierungen können zeitweise um eines Werkes
willen übergangen werden. Und allmählich wird der Mensch lernen, welche
Umschaltungsmöglichkeiten ihm da zu Gebote stehen, um die Tage seiner
Kraft in strömenden Zusammenhang zu erhalten. Er wird es vermögen,
die jahreszeitlichen, die monatlichen und die täglichen Pausen
zeitweise nicht zu beachten. Er wird darüber hinaus schöpferisch tätig
sein können gegen alles Gesetz, beflügelt durch seine Freude an dem
wachsenden Werk.



Rhythmische Leistung


Der Erzieher in den heutigen Schulen läßt den jungen Menschen in der
Auffindung seiner eigenen Bedingungen, seines eigenen Naturgesetzes
völlig allein. Man setzt voraus, er werde sich schon selbst »finden«.
Die allermeisten finden sich selbst tatsächlich aber niemals. Und alle
diese leitet man nun +trotzdem+ zu einem Können, das überhaupt nicht
oder noch nicht in ihnen selbst bedingt ist. Die Folge davon tritt in
diesen Zeiten schon als ein wahrer Höllenzustand überall zutage.

Alles Können, alles Gekonnte hat sich losgelöst von dem erzeugenden
Menschen und wird getrennt von dem Erzeuger gewertet. Getane
Werke, Erzeugnisse der Hand und des Geistes, Dinge, die Menschen
hervorbringen, haben Eigenmacht gewonnen über die lebendigen Menschen.
Dieser Zweckgedanke, diese ungeheuerliche Überschätzung der Sache, der
Leistungen, hat ihren immer wieder neuen Nährboden in der Erziehung,
welche die Menschen von vornherein doch wenigstens zu einem gewissen
Mindestmaß von Leistung abrichtet. So werden dem jungen Menschen von
vornherein +allein+ die Dinge, die von Menschen geschaffenen Werte,
hingehalten mit dem stillschweigenden Bedeuten: auch du hast später in
deinem Leben zu diesem Haufen der Werke deine Arbeit, mag sie nun klein
oder groß sein, hinzuzulegen. Die sich selbst zur Qual verdammende
europäische Menschheit jagt ihre Kinder mit Hilfe der Erziehung immer
wieder von neuem in diese trostlose Sklaverei, wo die Menschen meist
ohne Freude und weit über ihre Kraft hinaus Dinge herstellen müssen für
Menschen, die auch wieder nichts tun als Dinge herstellen oder Dinge
verbrauchen.

Mit all diesen Worten wurde nichts gegen Arbeit und Leistung selbst
gesagt. Nur gegen die Losgelöstheit der Arbeitsleistung von den
Menschen, die sie hervorbringen. Arbeit ist aber doch Hervorgebrachtes,
ist die Frucht vom Baume Mensch, die Frucht, die zu ihrer Zeit abfällt.

All das atmende, durch Tag und Monat, durch Jahr und Lebensalter
hindurchschwingende Leben ist ja eigentlich nur Kraftbereitung für die
hier und da selten, dann aber wuchtvoll zutage tretende, schöpferische
Leistung des Menschen. Für solche Früchte, solche Werke hat all das
schwingende Leben dann die Bedeutung der +schöpferischen Pause+; denn
aus der +Tiefe+ des Lebens schießt diese Kraft herauf.

Jedes Kind bringt zugleich mit seiner Lebenskraft auch schon die
Urausdrucksform dieses Kraftüberschusses, den +Spieltrieb+ ins
Leben mit. Spiel ist die leichteste Form des Ausbruchs aus dem
ruhenden Selbst, und darum auch selbst in seiner Übertreibung für
die schöpferische Pause nicht gefährlich. Im Spielenkönnen ist
gewissermaßen noch unentfaltet alles Können enthalten, was sich
nachher bei den erwachsenen Menschen in Einzelfähigkeiten gespalten
ausdrücken soll. Die gewöhnlichen Schulbetriebe der heutigen Zeit sind
nun so einseitige Vorbereitungsanstalten für das sogenannte »Leben«
geworden, daß die Form des Spieles in ihnen gar nicht oder nur sehr
wenig Raum findet. Der Grundsatz der +Arbeitsteilung+ beherrscht
den »Stundenplan«, und damit ist das zweckmäßigste Mittel gefunden,
möglichst viel an Leistung herauszupressen. Stundenweise, immer
wenn der Lernende ermüden will, bekommt er ein anderes Gebiet der
Arbeit vorgesetzt. Dies erinnert an die ehemals übliche Methode, bei
überreichen Gastmählern durch die Verschiedenartigkeit der Gerichte
immer von neuem den Appetit anzureizen.

Schnell ausmünzbare kleinteilige Arbeitsweise lernen die Kinder auf
der Schule. Was sie gelernt haben, müssen sie auch gleich anwenden
und benutzen. Daß nur ja nichts verschwindet! Der Lehrer will gleich
Erfolge sehen und die Eltern zu Hause auch, und so muß das Kind denn
von Tag zu Tag immerfort zulernen; je klagloser es sich dazu zwingen
läßt, d. h. je schwächer es in seiner Anfangskraft ist, umsomehr wird
es gelobt. Dieser ganze Zwang zur Arbeitsleistung, diese Vorbereitung
aufs Leben, überhaupt das ganze Arbeitsdogma muß beiseite gelassen
werden, wenn es sich um die Erziehung des +kleinen+ Kindes handelt.
Der Führer braucht nichts weiter zu tun, als den kindlichen Schatz
an spielenden Ausdrucksmöglichkeiten verwalten helfen. Aber nicht
mehr darf er diesen Schatz zerstreuen und vergraben, weil für ihn
+selbst+ das Leben +ernst+ geworden ist. Er muß spielend Führer
sein. Und um das zu können, muß er in seinem Blute den Ursinn alles
gestaltenden Lebens kreisen fühlen: ganz gleich ob so oder so, +wenn+
nur überhaupt! Und zugleich muß er als erster und immer wieder mit dem
spielenden Kind die +Ernsthaftigkeit+ des Spiels freudig bejahen, das
Werfen aller Kraft auf das Ziel dieses +einen+ Spieles: wenn einmal
+überhaupt+, dann so und mit aller Kraft +nur+ so! Beides zusammen: die
freudige Erkenntnis der Zwecklosigkeit alles Spiels und +trotzdem+ die
ernsthafte Ergreifung des einen gewählten Spieles macht allein locker
und leicht genug, um immer und immer wieder in die Tiefen der Ruhe
hinabzuschwingen, aus der sich dann zu ihrer Zeit die schöpferische
Leistung ungezwungen erheben kann.



Die allgemeine Bildung


Die Stellung des heutigen Menschen der Alltagsarbeit gegenüber ist
ja sinnlos geworden. Der allgemeine Zustand in den großen Städten
ist so: die alltägliche Arbeit, Kleinarbeit und Grobarbeit, wird
einer gewissen Anzahl von Menschen ohne weiteres aufgebürdet und zwar
mit völliger Selbstverständlichkeit, als wäre es das gute Recht
der übrigen Menschen, von dieser Alltagsarbeit befreit zu leben und
zu schaffen, wie es ihnen gefällt. Besonders den +Frauen+ und den
+minderbemittelten+ Ständen ist diese für die Anderen zu leistende
Alltagsarbeit zugeschoben worden. Alles, was infolge der täglichen
Abnutzung des menschlichen Lebens unmerklich immer wieder ersetzt
werden muß, um ein Weiterleben möglich zu machen, alles Kochen und
Flicken und Scheuern, überhaupt alle Haus- und Reinigungsarbeit
wird ohne jedes weitere Nachdenken von den Männern als Frauenarbeit
gestempelt, und von den Frauen auch ohne jeden Einspruch geleistet.
Ebenso ist die Herstellung der vielen für das alltägliche Leben
notwendig gewordenen Dinge, die in Maschinenbetrieben irgendwelcher Art
angefertigt werden, den handarbeitenden Klassen des Volkes auch wieder
ohne jedes Nachdenken zugeschoben, und von dieser Klasse -- bis vor
kurzem -- auch ohne Einspruch geleistet worden.

Gegen diesen bestehenden Zustand soll hier nun nicht etwa vom
Standpunkt der »Gerechtigkeit« Einspruch erhoben werden, als ob jeder
Mensch unbedingt lebenslänglich das gleiche Maß von alltäglicher
Kleinarbeit und Grobarbeit ableisten müßte. Die Verwirklichung +dieser+
Forderung wäre sinnlos, ebenso wie der heutige Zustand sinnlos ist. Die
Kleinarbeit ist zeitraubend und die Grobarbeit ist kraftraubend; und wo
Menschen sind, die ihre Zeit und ihre Kraft für feinere und über viele
Zeit wirkende Arbeit bereit haben müssen, wird ihnen dienende Liebe
auch fürderhin +jene+ Arbeit abnehmen müssen. Aber es ist notwendig,
daß alle diese geistig arbeitenden Menschen endlich erkennen lernen,
was ihnen eigentlich damit an Hilfe geleistet wird, wenn ihnen die
Grundlagen ihres Lebens und Arbeitens von anderen Menschen täglich
untergebaut werden. Es muß so weit kommen, daß sie selbst solche vielen
kleinen und schweren Dienste überhaupt nur noch dann annehmen, wenn
sie wissen, daß sie wirklich durch ihr Leben und ihre Leistung doch
mindestens +Wertgleiches+ aufzubringen vermögen.

Um dieses Gefühl der Selbst-Schätzung zu bekommen, muß jeder Mensch
diese Kleinarbeit lange Zeit hindurch selbst getan haben und gern
und richtig getan haben. Er muß durchdrungen von der Zweckfreiheit
alles Tuns ganz im Innersten wissen: es ist ja ganz gleich, +was+ ich
tue. Wesentlich ist allein, +daß ich etwas hervorbringe+, daß meine
lebendige Kraft überschießend sich Ausdruck schafft. Ob ich nun Korn
mahle oder Gemüse bereite, ob ich gemeinsam bewohnte Stuben täglich
wieder zum Darinleben herrichte, ob ich das Feld bebaue oder eine
handwerkliche Tätigkeit habe, ob ich Kinder beaufsichtige, ob ich
Gedanken in irgendwelche wissenschaftliche oder künstlerische Form
biege, -- die großen Unterschiede zwischen all diesen und hundert
anderen Leistungsmöglichkeiten verschwinden zu +nichts+ gegenüber dem
wesentlich Gleichen: +ich selbst+, meine täglich immer wieder wachsende
Lebenskraft prägt sich da in all diesem Tun ihren +eigenen+ Ausdruck,
wird sichtbar an den Dingen, wird sinnlich greifbare Form durch +meine+
Leistung.

Der Führer zum Leben muß seine Anvertrauten von dem kindlichen
Spiel aus spielend und leicht von vornherein in diese Alltagsarbeit
einführen. Das ist heute der wichtigste, weil am wenigsten geübte Teil
seines Bildungsamtes, und Bildung der Jugend gewinnt so ein weit von
dem üblichen Begriff Bildung abweichendes Gepräge. +Allgemeine Bildung
zum alltäglichen Tun+ ist als Ziel allem anderen vorangestellt. Von den
Lehrlingen wird hier sehr viel mehr und ein sehr Verschiedenartiges
an Leistung verlangt werden als bisher. Das Ziel +dieser+ allgemeinen
Bildung ist, den einzelnen Menschen so weit selbständig zu machen,
daß er jede Arbeit, die ihm in seinem Leben am Wege liegt, aufnehmen
+kann+, wenn er will. Keineswegs +muß+ er nun jede Arbeit aufnehmen.
Zweierlei Folgen wird diese allgemeine Bildung haben. Der Mensch
bekommt Sinn für die Eigentümlichkeit einer jeden Arbeitsleistung,
und somit Ehrfurcht vor denen, die sie leisten, die sie gar für ihn
leisten, um ihn zu entlasten und für andere Arbeit freizumachen. Und
-- er bekommt dadurch allein wahre Freiheit in der Wahl dessen, was er
nun in seinem Leben endgültig tun soll. Er bekommt Freiheit in der Wahl
seines Berufes. Er hat den Umkreis +alles+ Tuns in seiner Weite gesehen
und darf nun +wählen+.

Denn allein die spielende Unbekümmertheit jedem beliebigen Tun
gegenüber macht den Menschen unabhängig genug, daß er letztlich, am
Ende seiner Jugend, das ihm gemäße »Spiel« auswählt, den Beruf, dem er
sich nun mit sehr großem Ernste zuwenden wird, um ihn von da an das
Leben entlang als Hauptaufgabe weiter zu spielen.

Auch von da an aber wird freilich jene allgemeine Bildung dem älter
werdenden Menschen die niemals wankende Grundlage +bleiben+. Gewiß wird
er sich nun mancherlei tägliche Arbeit, Kleinarbeit und Grobarbeit
abnehmen lassen dürfen, von Menschen, die ihm dies zuliebe tun wollen
und denen eben dies Beruf geworden sein kann. Aber er wird nicht mehr
in die Sackgasse des heute noch gültigen bürgerlichen Berufslebens
hineingeraten. Wo einmal die tägliche Hilfe seiner Mitmenschen aus
irgendwelchen Gründen versagt, wird er weder hilflos noch lieblos
werden, wie die heutigen Menschen in solchen Fällen unweigerlich
werden müssen. Er wird eben +nicht+ mit Heftigkeit diese oder jene
Dienstleistung fordern, wenn der, welcher sie ihm gewöhnlich tut,
einmal nicht kann oder mag. Er wird dann einfach hingehen und das
Notwendige selbst tun und tun +können+. Er wird alle dazu gehörigen
Handgriffe können, weil er sie gelernt hat, und er wird sie zugleich
gern tun, untertauchend in die früh geübte Zweckfreiheit jeglichen
Tuns. Ja, es wird oftmals dazu kommen, daß er selbst sich in dieses
weite Meer jeglichen Tuns absichtlich hinabläßt. Diese alltägliche
Arbeit wird für ihn dann die Ruhelage für seine eigentliche Arbeit
sein können, aus deren Grunde er leicht und frei sich täglich erheben
kann. Ist er doch nicht an seinen Beruf gekettet. Er hat unterbrechen
und Unterbrochenes wieder anknüpfen gelernt. Er wird auch in seinem
Alter nicht verlernen, zwischendurch hundert alltägliche Verrichtungen
spielend gern auszuüben, immer wieder von neuem durchdrungen von jener
ersten Spielregel: ganz gleich ob so oder so, wenn nur überhaupt!

So wird er vielleicht an der lieblosen Hilflosigkeit alternder Menschen
in seinem eigenen Alter vorbeikommen und damit die schwerste Probe
der »allgemeinen Bildung« seiner selbst bestehen, weder lieblos noch
hilflos zu werden. Bis an seinen Tod wird jede Leistung zwanglos und
leicht aus der tiefen Ruhe seines Lebens aufquellen und überschießen.



Die Berufsbildung


Der Ausbau der ersten Spielregel: Ganz gleich ob so oder so, wenn
nur überhaupt -- führt das Kind aus dem alltäglichen richtungslosen
Spielen allmählich zur spielenden Beherrschung seiner Alltagsarbeit.
Die Unendlichkeit spielender Kraft wird in die immer wieder neue
Aufgabe jedes Tages hineingeleitet. In umgekehrtem Sinne läßt sich
die zweite Spielregel anwenden. Dieses: »wenn einmal überhaupt, dann
so und nur so« wird das Kind aus dem alltäglichen richtungslosen
Spielen zur Wahl einer ganz besonderen Berufsarbeit leiten. Es wird
sein wie ein Wechselströmen mit entgegengesetzten Richtungszeichen.
Die Allgemeinbildung hat das Ziel, das Einerlei der alltäglichen
Verrichtungen immer wieder mit schöpferischer Kraft zu verlebendigen,
zu verunendlichen. Die Sonderbildung hat das Ziel, die strömende Kraft
auf ein ganz bestimmtes Tun hinzulenken, zu einem ganz begrenzten
Werk zu leiten. Die allgemeine Bildung des Menschen wird nun seiner
besonderen Bildung nicht mehr so beziehungslos gegenüberstehen, wie die
heute übliche »allgemeine Bildung« der Berufsbildung gegenübersteht.
Vielmehr wird die besondere Bildung eines Menschen, sein Beruf, ganz
allmählich und langsam aus der Gesamtbildung seines Könnens erwachsen.

Der Führer zum Leben wird bei der Unterweisung in den verschiedenen
Teilgebieten des Könnens weit vorsichtiger sein, als es in den heutigen
Schulen üblich ist. Die fachmäßige Sonderbildung wird nicht mehr das
berechenbare Ergebnis absichtlicher Züchtung sein. Freilich wird es
eine Kraftprobe werden, dem richtungslosen Auf und Ab der alltäglichen
Arbeit und des alltäglichen Spieles der Kinder zuzuschauen und ihrem
Tun lange Zeit +keine+ Sonderrichtung zu geben, auch dann nicht, wenn
andere Kinder draußen längst zu ganz bestimmten Leistungen abgerichtet
sind und bereits allerlei »können«. Heute wird ein Kind ja doch
oftmals nur darum »beschäftigt«, um es »abzulenken«. Und warum will
man es ablenken? Um es »loszuwerden«. Und gerade dies darf der wahre
Führer nicht tun. Er muß durch das Wirrsal des täglichen Spielens und
Arbeitens mit hindurch bis ans Ende. Dieses Ende wird schon kommen.

An irgendeinem Tage wird einer aus der Schar zu spüren beginnen, daß er
mit seinen Kräften lieber etwas ganz +Bestimmtes+ ausdrücken möchte.
Er wird unzufrieden werden und sich zurückziehen von der gewöhnlichen
Tagesarbeit und nicht mehr mittun. Das ist das entscheidende Zeichen.
Der Führer weiß, daß hier die schöpferische Pause begonnen hat, die dem
Werkgedanken notwendig vorausgeht.

Alles kommt darauf an, solche schöpferischen Unterbrechungen in dem
täglichen Arbeitsgang der Allgemeinheit nun nicht untergehen zu
lassen. Der Führer muß dem Jungen den wahren Grund seiner allgemeinen
Arbeitsunlust begreiflich machen. Nicht mit Worten! Er muß ihn spüren
lassen, daß seine Kraft nach dem Ausdruck eines ganz bestimmten Tuns
sich sehnt, dadurch daß er ihm jetzt irgendein ganz bestimmtes Tun
+nahelegt+. Ob es nun die Herstellung eines Papierdrachens oder die
Einrichtung eines eigenen Blumenbeetes im Garten ist, die +Tat+,
die nach solcher schöpferischen Pause vorgenommen wird, erhält die
Bedeutung eines Probestückes. Die ungehemmte Stoßkraft des aus der
eigenen Tiefe kommenden Gestaltungstriebes prallt auf die ringsum
bereitliegende Masse und formt sie zum erstenmal zu einem ganz
bestimmten Gegenstand, nach einem ganz bestimmten inneren Bilde.

In jedem Knabenleben gibt es an irgendeiner Stelle dieses erste
Gestaltungserlebnis und später immer wieder neue Wiederholungen dieses
Erlebnisses. Und an +dieser+ Stelle muß der Führer die +anderen+ alle
hinter sich lassen und ganz für den +einen+ da sein. Er muß ihm tragen
helfen an dem erschütternden Ernst solcher ersten Tat. Wenn der Führer
früher die vielen richtungslosen Versuche des kindlichen Ausdrucks hat
gewähren lassen, wird er an dieser Stelle plötzlich nicht mehr locker
lassen, sondern er wird womöglich noch ernster werden als der Knabe,
daß er ihn nur nicht zu leicht an dieser Stelle vorüberläßt. Die jetzt
entstehende Tat muß auch wirklich mit dem Grundbilde zusammenstimmen,
sie darf nicht ungefähr, sie muß ganz gelingen. Wenn die Kraft des
Jungen erschlafft und er in das Tändeln des gewohnten alltäglichen
Tuns verfallen will, und er etwas anderes anfangen will, da er ja
gelernt hat, daß es ganz gleich ist ob so oder so ... wird hier nun die
treibende Hilfe des Führers ihn +zwingen+, zum erstenmal bei dem ja
selbstgewählten +Einen+ zu bleiben, und dieses Eine zu Ende zu bringen.
Der Führer wird ihm das eigene innere Vorstellungsbild wach halten und
ihn so zu dem ersten Gestaltungssiege führen.

Die eigene Tat, das eigene Werk wird nun zum erstenmal dastehen vor dem
Kinde. Doch darf der Führer seinen Anvertrauten auch hier nicht etwa
allein lassen. Das gestaltete Ding gehört nicht mehr dem schöpferisch
gewesenen Selbst. Die Tat darf nicht festgehalten und götzendienerisch
betrachtet werden. Die Spannung, die auf die Vollendung dieses einen
Dings gerichtete Kraft, muß sich lösen im Augenblick, wo die Arbeit
fertig ist, wie ein Zweig wieder hochschnellt, wenn die Frucht sich
gelöst hat. Das Kind muß begreifen lernen, was +Entspannung+ nach der
Tat ist. Gerade hier verfahren die Erzieher in den Schulen anders.
Durch das voll ausgebaute Lob-Tadel-System wird der +Ehrgeiz+, d. h.
die Spannung der Schüler dauernd wach gehalten. Nur nicht erschlaffen,
nicht nachlassen in den Leistungen! Immer von Erfolg zu Erfolg! Das
ist der geltende Grundsatz. Das kleine Kind muß sich schon in dies
Zwangssystem immer von neuem gesteigerter Anspannung einfügen. Ja,
es begehrt bald selbst nach immer neuer Anspannung, weil es sich
von selbst gar nicht mehr abspannen kann. So entstehen dann die
Musterkinder mit ihrem vielversprechenden Eifer, mit ihrem lärmenden
Interesse an hundert Dingen, die ganz belanglos sind. Nur wenige Kinder
sind von Natur aus stark genug, sich dagegen abzusperren. Aber gerade
diese verhärten sich dann gewöhnlich in ihrer ständigen Abwehrstellung
und werden faul und dickfellig. Sie spannen sich überhaupt nicht mehr
an. In steter Verzweiflung von Mißerfolg zu Mißerfolg geben sie es
zuletzt überhaupt auf, sich zu rühren.

Hier bleibt noch alles zu tun. Der Führer zum Leben muß darüber wachen,
daß die Spannung nach der Tat sogleich gelöst wird, daß das Kind
wieder in seine Ruhelage eingeht und die nächste Tat von neuem aus
dem tiefen Grunde der Ruhe aufsteigen lassen kann, nicht aber von dem
Dach seiner schon vorher getanen Taten. Dies stets Von-neuem-Tun, das
Vom-Grund-Aufbauen jeder Tat muß vor allen Dingen gelernt und geübt
werden, denn nicht auf das +Tun+ kommt es an, sondern auf den rechten
+Wechsel von Tun und Lassen+. So wie es ja auch nicht auf das Einatmen
allein ankommt, sondern auf den rhythmischen Wechsel von Ein- und
Ausatmen.



Ausbildung in den Ausdrucksmitteln der Künste


Die reinste und vollkommen gelöste Tat menschlichen Könnens offenbart
sich in dem Kunstwerk, welches perlenhaft klar und geschlossen aus dem
Grunde des Selbst aufsteigt, sich dann aber von dem Selbst für immer
loslöst und eigenen Bestand und eigenes Leben hat. Eine jede Tat muß
so getan und nach dem Tun so entlassen werden, wie die Kunst-Tat. Es
ist der untergründige Zweck aller Beschäftigung mit den Künsten und
ihren Ausdrucksformen, dieses rechte Tun und rechte Lassen einer Tat
überhaupt zu lernen und immerfort vor Augen zu haben.

Bei der künstlerischen Tat handelt es sich ja um das Sammeln aller
Kraft auf ein einziges Gestaltungsziel nach jener zweiten Spielregel:
wenn einmal überhaupt, dann so und nur so.

Die Gefahr, daß durch einen +allgemeinen Kunstunterricht+ die Menge der
Schein-Künstler vermehrt würde, besteht nicht. Im Gegenteil: wer von
früh auf mit der Schwerheit künstlerischen Ausdrucks vertraut ist, wird
sich wahrlich scheuen, zu der kleinen Schar schöpferischer Menschen als
Gleichberechtigter, aber auch Gleichverpflichteter zu treten. Durch
den bisherigen Schulzustand, der die Unterweisung in künstlerischer
Ausdrucksform fast gänzlich beiseite schob, wurde erreicht, daß
gerade die lebendigsten Geister mit einer wilden Sehnsucht sich auf
das vorenthaltene Gut stürzten. Weil sie +überhaupt+ den Drang zur
Gestaltung der Dinge in sich spürten, gerieten sie in den romantischen
Wahn, daß sie einzig und allein als +Künstler+ zum Ausdruck ihres
Selbst kommen könnten. Das Künstlertum wurde das abgesperrte
Zauberland, zu dem sich immer wieder die Besten, die Unbefriedigten
aufmachten in dem Wahn, sie könnten dort ihre Jugendkraft endlich in
eigene Tat umprägen. Schriftsteller, Schauspieler, Künstler wollten
sie werden, nur weil sie überhaupt nach einer Ausdrucksmöglichkeit
verlangten, die ihnen durch den Schulbetrieb bisher versperrt wurde.

Wenn aber dieser sinnlose Bann einmal gebrochen ist und jeder von
frühester Jugend an sich der künstlerischen Ausdrucksmittel bedienen
darf, dann werden ganz gewiß nur noch sehr wenige, und diese allerdings
in vollem Bewußtsein dessen, was sie damit tun, zur Ausübung einer
Kunst als lebenfüllende Aufgabe sich berufen fühlen. Alle die anderen
aber werden durch die Übung in den künstlerischen Ausdrucksformen
lernen, sich selbst auszudrücken, ohne mehr dem Wahn zu verfallen, daß
sie damit etwa schon zu +Künstlern+ geworden seien. Sie werden lernen,
+jede+ Tat zu tun, +als ob+ sie Künstler wären.

Es ist also die Aufgabe, das Kind aus seiner Gesamtausdrucksform
»Spiel« zu diesem und jenem ganz bestimmten Kunstausdruck hinzuführen.
Eine Fülle künstlerischer Teilstücke liegt in jeder Äußerung des
spielenden Kindes. Ja, oftmals ist das Spiel des kleinen Kindes unter
der Führung der Mutter schon zu einer Art Gesamtkunstwerk ausgebildet,
enthält Körperausdruck, singendes und schauendes Gestalten, Handwerk-
und Sprachausdruck unlösbar in sich. Die eigentlich +gestaltende+ Kraft
braucht der Führer somit wahrlich nicht anzutreiben. In Überfülle wird
sie da sein. Ziel ist hier vielmehr, der Unendlichkeit spielender
Kräfte immer von neuem ganz bestimmte +Grenzen+ zu setzen. Also die
+eine+ wesentliche Eigenschaft des Kunstwerks, daß es aus dem Grunde
aufquillt, ist nicht lehrbar, und das Kind hat sie ja ganz von selbst
in sich. Aber die +andere+ wesentliche Eigenschaft des Kunstwerks,
daß es ein +endliches+ Gebilde ist, daß es nach allen Seiten begrenzt
ist und aufhört, das weiß das Kind +nicht+ von selbst. Es muß lernen,
aus der Fülle des Möglichen das ganz bestimmte Teilstück, das ja
gewissermaßen drin steckt, auszuschneiden und in seiner Begrenzung zu
gestalten.



Der Tanz


Der Tanz als die rein körperliche Form des Kunstausdrucks wird sich
vielleicht am ehesten und leichtesten aus der Fülle des kindlichen
Spiels heraussondern lassen. Jede Bewegung des spielenden Kindes ist
ja wahrster Körperausdruck und somit Rohstoff zum Tanz, der nur nicht
allseitig begrenzt in Erscheinung treten kann. Alle körperliche Übung
wird im Hinblick auf das befreiende und begrenzende Endziel: »Tanz«
vorgenommen werden. Aber auch die alltägliche körperliche Arbeit des
Kindes wird sich stets leise und unmerklich nach diesem Endziel ganz
hinlenken lassen, wenn nur jede Handreichung und alles Laufen und
Rennen, alles Bücken und Beugen und Heben und Tragen von dem leichten
und tiefschwingenden Atem des Tanzes durchpulst ist. Später dann an
einem kraft- und freudegefüllten Tage wird das Kind seinen Körper
aus seinem eigenen tanzhaften Urtrieb heraus zu gestaltetem Ausdruck
bringen können.



Die Sprachbildung


Der körperlichen Ausdrucksform Tanz am fernsten steht die rein
geistige Ausdrucksform durch das Wort. Wortgeformter Geist ist zwar
auch schon im Spiel enthalten, aber nur sehr bruchstückhaft. Die
Worte im Spiel sind meist noch nicht fest bestimmte Ausdrucksformen
für bestimmte Gedankeninhalte, sondern eher Naturlaute von sehr viel
dehnbarerer Bedeutung. Spät erst wird das Kind danach Verlangen haben,
seine Gedanken in den bestehenden Wortformen der Sprache »richtig«
auszudrücken. Darum klingt ein richtig gebauter Satz, den etwa ein
Kindermädchen ihrem Zögling eingelernt hat, so sinnlos aus dem
kindlichen Munde.

Das Kind spielt zunächst mit den Worten, die ihm gerade geläufig
geworden sind und versucht den Gedanken, den es ausdrücken will,
damit einzukreisen. Und diese Lust am Zusammenbacken der vielen
fremden Worte, noch ohne ihre volle Bedeutung zu wissen, das fröhlich
quatschende Durcheinanderwerfen der Worte ist lange da, ehe der Geist
mit geordneten eindeutigen Worten sich auszudrücken vermag. Viel zu
früh wird das Kind durch seine erwachsenen Lehrer -- und vorher schon
durch die Eltern -- dazu gezwungen, für ein bestimmtes Ding ein ganz
bestimmtes Wort zu gebrauchen und immer wieder zu gebrauchen, das es
von sich aus vielleicht gar nicht wählen und ganz gewiß nicht wieder
wählen würde. Ja, es wird auch noch gezwungen, dieses Wort mit den es
bezeichnenden Buchstaben schriftlich zu fixieren. Durch das viel zu
frühe Lesen- und Schreibenlernen auf der Schule verliert das Kind dann
vollends seine eigene spielende Leichtigkeit im Gebrauch der Worte, und
lernt viel zu früh mit fremden Worten reden und was noch schlimmer ist,
denken.

Die in ganz Europa geübte Vergewaltigung des Geistes hat hier ihren
Hauptansatzpunkt. Die Sprache ist das unscheinbarste und doch
wirksamste Gewaltmittel, mit der jede Generation, wenn sie zu Ansehen
und Macht und damit in den Zustand der Erstarrung gekommen ist, die
aufwachsenden Kinder sacht und sicher in ihre eigene Bahn hinüberlenken
kann.

       *       *       *       *       *

Hier also muß der bildende Führer besonders wachsam sein, daß er seine
Anvertrauten vor der Gewalt der fremden Worte schützt. Wo er merkt, daß
ein Kind ein Wortgefüge braucht, das aus dem Sprachgut der Erwachsenen
stammt, muß er der Sache auf den Grund gehen. Er muß sich von dem Kind
erzählen lassen, was es damit meint. Hinter jedem fremden Wort, das
Eingang in die Gemeinde gewinnt, muß er hinterher sein. Keineswegs
braucht er es zu vertreiben, aber er muß es einkreisen lassen von dem
bunten Spiel ihrer eigenen kindlichen Worte, bis seine Fremdheit ganz
darin untergegangen ist. Das ist das Wesentliche, daß niemals fremde
Wortgefüge allzulange bestehen bleiben. Sie müssen immer wieder gleich
aufgelöst und in den Zusammenhang mit dem schon vorhandenen Sprachgut
hineingezogen werden.

Weil der Machtdämon im Bezirk der Worte so leicht Eingang hat, muß der
Führer hier auch die jüngeren vor den älteren Gefährten der Gemeinde in
Schutz nehmen, daß sie sich deren Sprachgut nicht ohne zu wissen und
ohne zu wollen aneignen. Er muß die Jüngsten immer wieder reizen, sich
nicht unterkriegen zu lassen, immer zu sagen, was sie selbst meinen.
Und schließlich vor allem muß er sich hier selbst in Zucht nehmen.
Denn seine Worte werden natürlich immer wieder Macht gewinnen wollen
über die jüngeren Freunde. Sie werden mit seinen Worten denken, und er
wird es vielleicht gar nicht merken. Die Versuchung ist groß, daß er
seine eigenen Worte aus dem vertrauten Munde des Jüngeren schmeichelnd
begrüßt. Er freut sich über ihre vermeintlichen geistigen Fortschritte,
und es sind doch eigentlich nichts als nachgesprochene Worte. Wo er
seine eigenen Worte wiederfindet, muß er sofort bedenklich werden,
und es muß wie ein Erschrecken über ihn kommen. Zu anderen Worten muß
ihn das treiben. +Wenn seine+ Worte +nach+gesprochen wurden, beweist
dies ja nur, daß sie nicht von innen her, sondern aus Verstand und
Absicht kamen und also auch nur auf den Verstand der Hörenden wirkten.
Er muß seine Worte tiefer hervorholen. Spricht er von Herzen, so geht
es zu Herzen, und die ihn hören, kommen dann gar nicht mehr darauf,
+nach+zusprechen, sondern +selbst+ zu sprechen. Und zunächst einmal
zu +schweigen+. Aus der Tiefe kommende Worte werden in dem Hörenden
zunächst nicht notwendig Gegenworte erzeugen. Schweigen ist vollwertige
Antwort bei wachsenden Menschen. Schweigen sagt: Ich habe gehört.
Schweigen ist die schöpferische Pause zwischen Hören und Sagen, die
Ruhelage, aus der allein die eigenen Worte des Menschen aufquellen
können.

       *       *       *       *       *

Wieder an diesem wichtigsten Punkt versagt die heutige Erziehung.
Schweigen bedeutet heute im allgemeinen: er weiß nichts zu sagen, er
ist unfähig, er ist dumm. Man muß ihn antreiben, daß er sich äußert;
denn der Mensch muß sich äußern können, wenn er in seinem Leben
fortkommen und mit anderen Menschen zusammenleben will. Mit einer
lückenlos ausgearbeiteten Methode zwingt man also das Kind, sich zu
äußern. Man legt nahe, man fragt so dicht an den Dingen entlang, daß
die Antwort unausweichlich kommen muß. Wenn sie dann immer noch nicht
gleich kommt, zeigt man sich erstaunt, erklärt sofort alles noch
einmal, daß nur ja nichts dunkel bleibt. Und dann geht man zum nächsten
Thema über. Erklärt wieder, legt nahe, fragt und ist befriedigt über
die erfolgende Antwort.

So kommt es zu jenem ununterbrochenen Hinwegreden über die Dinge mit
angelernten fremden Worten. Die Schnelligkeit des Ausdrucks wird
gesteigert, die Eigen-Tiefe gemindert oder vielmehr gar nicht erreicht.
Hier muß also der Führende versuchen, aus dem schweigenden Begreifen
heraus langsam und mit Verzicht auf sehr sichtbare Erfolge die eigene
Sprache seiner Anvertrauten hervorzulocken. Nicht nur in den »deutschen
Stunden«, wie es auf den Schulen geschieht, sondern immerfort wird
in diesem Sinn der eigene Ausdruck in deutscher Sprache geübt werden
müssen.

       *       *       *       *       *

Schreiben- und Lesenlernen hat Zeit. Was ist Schreiben und Lesen?
Schreiben ist die Kunst, selbstgedachte und bis zum Aussprechen reif
gewordene Worte durch Schriftzeichen aufbewahren zu können. Wo der
Mensch also noch nicht aus sich selbst heraus sprechen gelernt hat,
ist es sinnlos, ihn das Schreiben zu lehren. Lesen ist die Kunst, die
von anderen gedachten und bis zum Aussprechen reif gewordenen und dann
niedergeschriebenen Worte wieder zu entziffern. Wo der Mensch aber noch
nicht zu hören und zu schweigen gelernt hat, ist es sinnlos, ihn das
Lesen zu lernen.

Immer wieder neue Übung im Schweigen und Hören und Sprechen wird also
noch lange hinaus die Zeit ausfüllen, die heute in den Schulen schon zu
Schreiben und Lesen verwandt wird. Papier und Tinte und Bücher werden
lange unbekannt bleiben dürfen. Erst wenn das Kind von der Fülle des
Selbstgedachten und Selbstgesprochenen sich so bedrängt fühlt, daß es
nach Fächern und Stützen sucht, um diese stets neu andrängende Fülle
der eigenen Gedanken zu bewältigen, ist es Zeit ihm begreiflich zu
machen: es gibt eine Kunst, die für morgen und alle kommenden Tage dir
deine Worte in sichtbare Zeichen umgesetzt aufbewahren hilft. Und jetzt
wird es leicht sein, dem so von seiner eigenen Fülle gedrängten jungen
Menschen zu seiner Erlösung von dieser Fülle zu helfen. Er wird es wie
von selbst lernen, daß alle diese Worte sich in Laute und Buchstaben
auflösen lassen, und daß man mit Hilfe der sichtbar gemachten
Buchstabenzeichen Laute und schließlich Worte zu Papier bringen kann.
So wird er das Schreiben gewissermaßen aus eigener Notwendigkeit
heraus selbst erfinden. Er wird mit all der ungeheuren Erregung und
Entdeckerfreude des schöpferischen Menschen daran arbeiten, das breite
Gebiet der Sichtbarmachung seiner eigenen Worte sich schnell zu erobern
und so vielleicht in wenigen Tagen schreiben lernen. Die Tage, in denen
das geschieht, werden natürlich Tage höchster Kraftentfaltung sein, an
denen der Führer alle seine eigene Kraft in den Dienst dieses +einen+
Lernenden stellen muß, nicht in kühler Absichtlichkeit, sondern mit
hingerissen von der Wucht dieses welterweiternden Geschehens, daß hier
ein Mensch seine bis dahin flüchtig durch die Zeit hingesprochenen
Worte nun festzuhalten, sichtbar zu machen, aufzubewahren lernt. Die
Fülle der Fragen, die der Knabe in diesen Tagen über ihn ausschüttet,
wird ihn allerdings nicht wegschwemmen dürfen. Er wird mancherlei
zurückbehalten müssen, daß er ihn nicht überspannt. Wie stets bei
außerordentlichen Gelegenheiten wird er für den von der schaffenden
Freude Ergriffenen unmerklich und besonders pflegsam sorgen müssen, daß
er die Pausen des Tages nicht überrennt, daß er tiefen Schlaf hat und
rechtes Essen und Luft und Sonne. So wird das Tun gedeihen. Der Knabe
wird schreiben können.

Selbstverständlich wird zu gleicher Zeit das Verlangen da sein, auch
das von anderen Menschen Geschriebene zu lesen. Und der aufgespeicherte
Wort- und Denkschatz der Bücher wird sich dem Knaben öffnen. Gute +und+
schlechte Bücher werden dem Lesenden zufallen. Es ist gar keine Gefahr
dabei; denn er wird von vornherein wertend an die Bücher herangehen. Da
er gelernt hat, selbst aus dem Herzen heraus zu sprechen, wird er nicht
durch Bücher getäuscht werden können, die in irgendwelcher Absicht
Untiefes, Undurchdachtes oder Verstandüberlichtetes sagen. Er wird sie
dann einfach als unwahr beiseite tun.

       *       *       *       *       *

Wenn nun der junge Mensch alle diese Teilgebiete sprachlichen Könnens,
Hören und Sprechen, Lesen und Schreiben aus seinem schweigenden
Verstehen heraus gelernt hat, wird er nun zur Beherrschung der
sprachlichen Gesamtkunst weiterdringen können. Dazu müssen diese
Teilgebiete sprachlichen Könnens dauernd miteinander in Verbindung
gehalten werden. Alles Geschriebene wird auch ausgesprochen werden,
wenn es nicht mit vollem Bewußtsein verschwiegen wird. Und so werden
die jungen Menschen nur das schreiben, was sie wirklich aussprechen
oder wirklich verschweigen und geheimhalten wollen, was sie den andern
sagen wollen, oder vor den andern verschließen wollen. Und außerdem
werden sie alles, was sie lesen, vergleichen lernen mit dem, was
sie gehört und auch mit dem, was sie selber gesprochen oder bewußt
verschwiegen haben, und schließlich auch vielleicht mit dem, was sie
selber schon geschrieben haben. So wird sich aus den Elementen immer
mehr das Ganze sprachlichen Ausdrucks herausheben. Ziel ist hier, daß
der Geist durch das Mittel des eigenen Worts sich völlig ausdrücken
lernt +und+ zugleich auch lernt, den Geist in fremdem Wortgewand
möglichst restlos wieder zu erkennen.

Wie das Kind einst Worte wirklich zu hören gelernt hat, so wird nun
der junge Mensch in der Zeit seiner Reife Dichtwerke in diesem Sinn
aufnehmen und wirklich sich aneignen lernen. Er wird vor die großen
Werke der Dichtkunst treten, als vor die letztmöglichen Erfüllungen
dessen, was sich ja auch stets aus seinem eigenen Geist heraus durch
das Mittel des Wortes hat ausdrücken wollen. Also ein Dichtwerk wird
für ihn nicht mehr als Fremdes außerhalb von ihm selbst stehen, sondern
wird als Vertrautes in ihm sein. Sein eigener Geist wird sich aus dem
Dichtwerk heraus auszudrücken vermögen, ja sich in diesem fremden
Ausdruck erlösen lassen können.

Die Worte besitzen stellvertretenden Erlösungswert, wenn sie wirklich
ganz in der Tiefe angeeignet werden. Wie der Dichter in seinem Werk, so
vermag nun auch der Nachschaffende auf dem steigenden Bogen der Worte
sich aufzuschwingen aus seinem eigenen +Stummsein+, aus der Wirrnis
seiner Gedanken. Er wird nicht mehr Götzendienerei mit den fremden
Worten treiben, er wird sie brauchen wie seinen eigenen Ausdruck. Und
doch wird er ehrfürchtig an den unverwechselbaren Ausdruck eines jeden
wahren Dichters herangehen und gerade diese Einzigkeit zu ergründen
versuchen. Jeder eigene Gefühlsablauf und Gedankengang wird, wenn
er überhaupt zum Wortausdruck kommt, ein vollkommener Ausdruck des
Sprechenden selbst sein und so jedes Mal dem Bruchstück einer echten
Dichtung ähnlich sehen.

Menschen, die so zu Beherrschern des Wortes aufwachsen, müssen der
+Möglichkeit+ nach auch alle zu Künstlern des Wortes werden. Ob einer
von ihnen in +Wirklichkeit+ Dichter wird, hängt dann allein noch von
der Fülle seiner überschüssigen Kraft ab.

       *       *       *       *       *

Eine solche Sprachbildung ist die Grundlage für die meisten heutigen
Berufe. Alle Berufe, die sich mit Schreibarbeit, Schnellschrift
und Kunstschrift befassen, alle Berufe, die mit fremden Sprachen,
Sprachforschung, aber auch mit Bibliothekswesen und Buchhandel zu
tun haben, alle juristischen und politischen Berufe, schließlich
der Beruf des Predigers und zum großen Teil auch der Beruf des
Erziehers -- alle diese Berufe bedienen sich als Ausdrucksmittel der
geschriebenen und gesprochenen Worte und wurzeln also ganz und gar in
der Spachbildung. Neues Leben in all diesen Berufen kann nur entstehen,
wenn die Grundlagen geändert werden, wenn in frühester Jugend schon an
Stelle der oberflächlichen Erlernung einer allgemein gebräuchlichen
Umgangssprache die Übung im eigenen Sprachausdruck tritt, wenn jeder
lernt, Worte und Sprachgebilde in ihrer Tiefe zu verstehen und aus
ihrer Tiefe heraus selbst zu gestalten.

In alledem war nur von der Führung des einzelnen Knaben, konnte nur
davon die Rede sein. Denn Unterweisung in dem sprachlichen Können --
wie in jedem Können -- ist nur durch Einzelunterricht möglich, weil
hier ja gerade das Einzel+sein+ eines Menschen zu der ihm allein
bestimmten Blüte und Frucht gebracht werden soll.

Wenn aber die Einzelnen sprachlich so weit gebildet sind, daß alle
ein Dichtwerk schöpferisch begreifen können, wird es vielleicht
möglich werden, in Gemeinschaft zu lesen. Was dann geschehen kann,
ist gemeinsame Befreiung durch das Wort. Doch das ist nur das
Letztmögliche, selten Erreichbare. Jedes gemeinsame Kunsterleben
ist gefahrvoll. Jeder Einzelne, der dabei ist, trägt das Ganze so
entscheidend, daß seine abschweifende Sonderrichtung, vielleicht
nur in einer unwahren Gebärde unbewußt zum Ausdruck gebracht, die
gemeinsame Lösung schon vernichten kann. Und solch gemeinsames Lesen,
das aus irgendeinem meist nicht recht erkennbaren Grunde nichts
geworden ist, bleibt nun nicht etwa so folgenlos, wie es scheinen
könnte. Es ist nicht etwa nur eine mißglückte Veranstaltung, die man
unter glücklicheren Verhältnissen beliebig wiederholen könnte. Hier
ist vielmehr etwas Unwiederbringliches geschehen. Bei der nächsten
gemeinsamen Handlung macht sich der Riß meist gleich wieder bemerkbar
als leises Mißtrauen, als ein nicht so hingegebenes Bereitsein der
Versammelten. Der Geist der Gemeinschaft ist durch den Eigenwillen des
Einzelnen verletzt. Nur durch verdoppelte Inbrunst kann der Riß wieder
geheilt werden. Aus der gemeinsamen schöpferischen Ruhelage allein kann
die gemeinsame Erlösung durch das Wort kommen.



Der Ausdruck mit den Mitteln der bildenden Künste


Zwischen dem unmittelbaren Körperausdruck in Tanz und dem durch die
Sprache vermittelten Geistesausdruck im Wort liegt das Zwischenreich
der verschiedenen vor allem durch Auge und Ohr vermittelten
+sinnlichen+ Ausdrucksmöglichkeiten. Auch diese müssen aus der
Gesamtform »Spiel« allmählich hervorgelockt werden.

Das Kind schaut schon sehr früh. Die Fülle der Dinge fliegt durch das
Auge in einer ununterbrochenen Reihe von Eindrücken in seine Seele,
und so baut sich in ihm die gestalten- und farben- und bildvolle
Raumwelt. Diese seiner Seele mehr und mehr eingedrückte Raumwelt
gibt allein allen Spielen des Kindes Weite und Zusammenhang. Daß es
an dem Faden seiner Vorstellung das Spiel von seinem Anfang bis zu
seinem Ende überhaupt durchführt, das ist schon eine Wirkung dieser
verbindungschaffenden Raumwelt. Der schauende Sinn gibt dem Kind den
Plan seines Spiels. Wenn nun die Zeit gekommen ist, muß der Führer
dieses dunkle Ahnen von Raum und Gestalt aus der Wirrnis des Spieles
herauslösen, dem Kind begreiflich machen, daß dieser Raum in seiner
Weite wie in seiner Gestaltenfülle ihm ja durch sein Auge zu eigen
gegeben ist und daß er ihn auch bei geschlossenen Augen in sich hat,
daß er ihn beliebig aus sich ausdrücken kann.

Jedes Spielzeug, das das Kind sich verfertigen lernt und späterhin
jedes Gerät, zu dessen Herrichtung es angeleitet wird, gibt
Gelegenheit, aus dem eigenen inneren Raumschatz zu gestalten. Und wenn
die Kinder sich eine Hütte bauen oder im Winter einen Schneewall,
so werden sie diese Bauten aus sich heraussetzen als Ausdruck ihres
inneren Schauens. Und wenn sie dann in Sand und auf den Brettertischen
und auf Papierstücken etwas kritzeln, so wird das alles ausdrücken, was
sie seit langem in sich haben. Ganz von selbst entwickelt sich so aus
den Raum- und Gestaltelementen des Spiels allmählich eine Unterweisung
in Handwerk aller Art, ein Unterricht in Formen und Zeichnen. Dies wird
nicht ein Nachahmen, ein Abzeichnen und Abformen von äußeren Dingen
sein, sondern ein Formerfinden aus innerem Drang.

Das Kind, das so aus der Lust des Spiels heraus gestalten gelernt hat,
was in ihm steckt, wird dann vielleicht früher oder später, meist aber
erst zur Zeit der geschlechtlichen Reife merken, daß sein Raumschatz
für irgendeinen +bestimmten+ Ausdruck seines Willens plötzlich
nicht mehr genug hergibt. Das Licht des inneren Raumes mit aller
Gestalt darin wird erloschen sein. Dunkelheit wird sein, Nicht-Raum,
Nicht-Gestalt. Hier wird der Führer wieder sehr notwendig sich der
Pflege des +einen+ Anvertrauten zuwenden müssen. Und an dieser Stelle
ist dann wieder der schöpferische Tiefpunkt erreicht. Wie aus dem
Schweigen das eigene Wort, so entwickelt sich aus dem inneren Dunkel
das eigene Schauen. Doch muß an dieser entscheidenden Stelle gewartet
werden, lange vielleicht in aller Übung und allem Lernen innegehalten
werden.

Wer etwa die Briefe des jungen Feuerbach kennt, wird verstehen, was
hier gemeint ist. An der entscheidenden Stelle seiner Jugend war
ihm versagt, Gestalten+fülle+ einzuatmen. Und so wurde sein ganzes
Schaffen verhauchende Verzweiflung, ein gigantischer Kampf mit den
leeren Räumen, die er niemals mehr ganz zu füllen vermochte, weil sie
ihm zur Zeit seiner Reife leer geblieben waren. Die Geschichte vieler
dem frühem Tode oder dem Wahnsinn verfallener Künstler von Raffael bis
van Gogh ist die Leidensgeschichte vergewaltigter Knaben von hoher
sinnlicher Begabung. Sie alle wurden durch die Schulen, durch ihre
Meister, durch die Zeitumstände gezwungen, aus ihrem Dunkel viel zu
früh aufzutauchen. Bei weniger stark sinnlich begabten Menschen kann
die Wirkung natürlich nicht so merkbar werden. Es tritt im Gegenteil
ein völliges Versiegen aller künstlerischer Begabung ein. Als Kinder
können sich ja die meisten Menschen zeichnerisch ausdrücken. Wenn sie
dann aber in das Entwicklungsalter eintreten und der Zeichenunterricht
geht immer in der gewohnten Weise fort, so verlieren sie einfach jede
Lust und gehören nachher eben zu den Menschen, die »nicht zeichnen
können«.

       *       *       *       *       *

Hier vermag der Führende viel zu tun, oder vielmehr zu unterlassen.
Alle zeichnerische Betätigung läßt er für eine Zeit ganz und gar
vergessen, das Dunkel des raumlosen Zustandes läßt er in dem jungen
Menschen anwachsen, bis seine Augen selbst beweglich werden und nach
Befreiung aus dieser Innen-Dunkelheit suchen. Und nun läßt ihn der
Führende einbrechen in die weiten Räume der Landschaft draußen, läßt
ihn die Gestaltenfülle der Menschen und Dinge einfangen in den dunklen
Raum seines Schauens. Bewußte Augenübung und Einprägung von bestimmten
Formen durch Zeichnen und Abzeichnen wird jetzt von Vielen wie von
selbst begehrt werden. Die Lust, nachahmend hervorzubringen, wird nun
immer größer werden, ja vielleicht bei einigen sich zu fröhlichem
Könnertum verselbständigen. Da wird dann der Führer eingreifen und
irgendwie begreiflich machen müssen, daß ja das eigentlich gar nicht
die ursprüngliche Absicht war. Denn Künstler werden ist schwer und
jenseits der Nachahmung. Und bei solchen Gelegenheiten wird es dann
vielleicht an der Zeit sein, mit dem so in das Können abgeirrten jungen
Menschen gemeinsam vor das Werk eines großen Künstlers zu treten. In
der Stille der Betrachtung wird es dann klar werden, was eigentlich
künstlerische Notwendigkeit ist und wahrer Ausdruck eines inneren
Schauens. Das überschüssige Können wird sich wieder eingliedern in den
Gesamtplan des durch die innere Schau bedingten Bildungswillens. Und
bei den Höchstbegabten wird aus alledem die Ausübung eines gestaltenden
Handwerkes oder einer bildenden Kunst erwachsen können.

       *       *       *       *       *

Das Zwischenreich sinnlicher Ausdruckformen dehnt sich auf der andern
Seite in die Weite von Klang und Schall und Ton. Auch dieses Reich der
Töne ist dem spielenden Kind von Anfang an vertraut. In seinem Lachen
und Jauchzen und tausendfachen Geschrei bricht es immer wieder von
neuem aus dem engen Körpergewölbe hinaus in den schwingenden Luftraum.
In viel höherem Maße noch als die innere Welt der Gestalten drängt
die Klangwelt nach Ausdruck. Hier darf kein Zwang von außen hemmen.
Wer einmal gefühlt hat, wie das unendliche Stimmengezwitscher einer
Schulklasse plötzlich verstummt, wenn die Schritte des Lehrers zu hören
sind, wer einmal erlebt hat, was geschieht, wenn ein singender Vogel
durch ein über sein Bauer geworfenes Tuch geschweigt wird, wer dabei
gewesen ist, wenn der Gesang einer marschierenden Truppe durch ein
schrilles Kommandowort plötzlich entzweigeschnitten wird, oder wenn ein
kleines Kind, das schreit, durch Drohung oder Schläge dazu gebracht
wird, was heraus will, qualvoll in sich hineinzuschluchzen, wer diesen
täglich in tausend Formen begangenen Mord am Ton einmal begriffen hat,
wird sicherlich niemals mehr mithelfen zu hemmen, wo etwas singt oder
schreit oder klagt oder jubelt oder lacht.

Aus dieser von innen her ausbrechenden Klangfülle wird der Führende
vielleicht an einem Tage den eigenen Ton seines Anvertrauten
heraushören. Und von da an wird er ihn locken, daß jener aus dem Chaos
des wahllosen Klangausdrucks vielleicht zu dem +einen+ kommt, der ihm
gemäß ist. Erst wenn der Führer den Vertrauten zu dieser Möglichkeit
der Geburt des eigenen Gesanges geführt hat, ist es an der Zeit, auch
die Fülle der von andern Menschen gesungenen Lieder sich anzueignen,
und im Chor der anderen auch nach ihrem eigenen Ton hungrig gewordenen
Genossen ihn mit einstimmen zu lassen. Mehrstimmiger Gesang ist ja
das einzige, niemals versagende Mittel, durch gemeinsames Können zur
Gemeinschaft zu gelangen. Wenn dieses Mittel zu früh angewandt wird,
ehe das Kind seinen eigenen Ton gefunden hat, wird das kostbarste
Bindungsmittel menschlicher Gemeinschaft nutzlos vertan und zugleich
die eigene Klangentwicklung gehemmt.

Zur Zeit der +Reife+ wird die Klangwelt genau so wie die Raumwelt in
dem werdenden Menschen +verdunkelt+. Ein inneres Verstummen tritt ein,
der +Stimmwechsel+. Die schöpferische Bedeutung dieser Pause für die
Entwicklung der Stimme ist ja allgemein bekannt. Kinder, die zu dieser
Zeit gezwungen werden, zu singen oder sich gegen den aufreizenden
Zustand ihrer Umgebung mit viel Geschrei und lauten Worten wehren
müssen, schädigen ihre Stimme auf eine nie wieder gutzumachende
Weise. Hier kommt alles darauf an, die Stimme des Vertrauten zu
beruhigen, ihre aufgeregte Schrillheit zu dämpfen, daß kein Schaden
geschieht. Selbst schweigend muß der Führer die Stimmen der Nacht
hören können und die jauchzende Stimme des Morgens, Sturm und Gewitter
und Meeresbrausen, das Beben der Blätter, das Ächzen der Stämme, das
prickelnde Geräusch des Sumpfes. Und auf alle diese Laute der Natur
muß er seine Schutzbefohlenen horchen lehren, bis sie vor der Gewalt
dieser Laute verstummen.

Und schließlich wird es dann an der Zeit sein, mit dem Anvertrauten
gemeinsam zum erstenmal ein großes Musikwerk zu hören. Da wird die
Gewalt des großen Klanggebäudes in ihn hineinstürzen und von innen her
alles Eigenwillige auseinandersprengen. Und auf dieses Erlebnis seliger
Zerstörung wird dann nun sich das neue Suchen nach dem eigenen Ton
aufbauen und nun stärker werden und in den Grundmauern weiter. So wird
sich der Klang und Gesang der eigenen Stimme wechselseitig steigern an
dem Hören musikalischer Werke. Stärker wird auch das Verlangen werden,
den Bau solcher Tonwerke ganz klar und voll in sich selbst aufnehmen
zu können, ja sie selbst aus den Instrumenten erzeugen zu lernen. Und
bei den Höchstbegabten wird dann wieder aus alledem die Ausübung einer
Kunst erwachsen.

Diese vier Hauptausdrucksmöglichkeiten: der Körperausdruck, der
Wortausdruck, die Raum- und Klanggestaltung geben gewissermaßen die
vier Richtungen an, in denen alles menschliche Können und Leisten
sich ergießt. Am letzten Ende steht jedesmal die +Kunst+ selbst, zu
deren Ausübung aber nur die Höchstbegabten gelangen können. +In+ und
+zwischen+ diesen Richtungen sind die vielen menschlichen Berufe
einzuordnen. Jede Begabung läßt sich nach einer dieser Richtungen
entwickeln, und führt dann notwendig zu einem dieser Berufe.

Der Führer kann bei alledem das Können nur in die Richtung lenken,
Übung dafür bereithalten und zur eigenen Wahlentscheidung hinführen.
Aber in Wahrheit ist und bleibt dieses Können, der Beruf eines
Menschen, der unverwechselbare Ausdruck dieses Lebens selbst. Dazu ist
nichts hinzuzutun und davon ist nichts wegzunehmen. Das Können wächst
so hoch und so schnell und so freudig, wie das Leben selbst, ja es ist
das wachsende Leben selbst.



Über den Tod


Das Leben ist ein Wurf aus dem Dunkel des Todes wieder in das Dunkel
des Todes zurück. Bei der Empfängnis im Mutterleib springt die
Lebenslinie sogleich senkrecht aus dem Spiegel des Nichtseienden
herauf, durchrast in der Zeit der neun Monate spiralig in sich gekrümmt
mit einer für unser Bewußtsein unvorstellbaren Wucht alle Stufen des
pflanzlich tierischen Lebens und springt dann in fast senkrechtem
Anprall im Augenblick der Geburt als eigenbewegliches Leben ans
Tageslicht, um nun im steilen Bogen aufwärts zu steigen bis zur Höhe
des Lebens. Dort hält sich die Linie eine Weile in scheinbar gleicher
Höhe, um sich dann allmählich zu senken und je nach der Spannweite des
Lebens früh oder spät mit schmerzvollem Anprall in den Spiegel des
Nichtseins wieder unterzutauchen.

Alle Rhythmengefüge, von denen bisher die Rede war, Atem und
Tagesrhythmus, Jahresrhythmus und der Rhythmus der Lebensalter spannen
sich in diesen alles überspannenden Bogen von Geburt zu Tod. Und
dadurch kommt ein völlig anderer Klang auch in die Teilrhythmen des
+Lebens+. Nämlich der Klang des »Einmal«. Bisher wurde das Leben als
ewiges Leben, als ein immerwährend Auf und Ab von Rhythmen angesehen,
so wie es der Mensch in seinen jugendlichen Stunden in seinen
vollklingenden Stunden eben tatsächlich betrachtet und betrachten
muß. Es ist aber auch ein +Gegenklang+ von der Todesseite her. Viele
Namen bezeichnen ihn: Zwang, Notwendigkeit, Schicksal, Fatum, Ananke.
Aus dem wachsenden Wissen um diesen Gegenklang entspringt plötzlich
einmal die Gewißheit: nicht immer geht es so weiter von einem Atemzug
zum anderen, von einem Tag zum anderen, von einem Jahr zum anderen,
von einem Lebensalter zum anderen, von einem Werk zum anderen. Wie
man bei der Erdbetrachtung zunächst einmal ruhig die Krümmung der
Erdoberfläche außer acht läßt und alle Länder und Meere auf einer
Fläche nebeneinander ausbreitet, Erdteil um Erdteil, als ginge es
immer so weiter. Nun aber gilt es, die Krümmung in Rechnung zu setzen.
Der Tod strafft die in sich selbst rhythmisch schwingende Lebenslinie
bogenförmig zusammen und zwingt so das Leben zu seinem +Schluß+. Und
dieser Bogen von der Empfängnis im Mutterleib bis zum Tod, diese alle
anderen umfangende Kurve ist nicht mehr dehnbar oder wiederholbar.
Sie ist festgelegt oder wenigstens erscheint uns festgelegt. Während
der Wille des Menschen das innere Rhythmengefüge dauernd in seiner
Anordnung verändert oder zu verändern scheint, ist die äußerste Kurve,
der Bogen von der Geburt her durch den Tod notwendig bestimmt.

Verfolgt man von hier aus nun alle die vorher betrachteten Teilrhythmen
noch einmal rückwärts bis zu dem ersten Atemzug hinauf, so wird sich
alles als +tod+-gebundene Notwendigkeit erweisen, was zuvor als
aufwallendes +Leben+ angeschaut wurde. Die kleinste Atemschwingung
ist da, wo sie hinabschwingt in die schöpferische Ruhelage, ein
Bild des Todes und faßt darum auch den ganzen +Segen+ des Einmal und
Nichtwieder in sich. Ausatmend kann der Mensch in jeder Minute sterben,
d. h. zur Ruhe kommen, abschließen, zu Ende bringen. In Stunden der
Erschöpfung gelingt es wohl dann und wann einmal, im Ausatmen sich
so ganz und gar zu Ende zu bringen. Und auch die anderen größeren
Rhythmengefüge, von denen die Rede war, sind jedesmal da, wo die
Abwärtsschwingung zur Ruhe kommt, Bilder des Todes, der Tag, der in
den Abend schwingt und den Menschen in den täglichen Schlaf fallen
läßt, der monatliche Abschwung der sexuellen Kräfte, das Abklingen der
Jahreszeiten, die Pausen zwischen den menschlichen Lebensaltern, und
schließlich auch das Abfallen der Arbeitsleistung von dem unbemerkt
tausendfältigen Herabtropfen der alltäglichen Kleinarbeit bis zu dem
seltenen schwerreifen Abfallen wertvoller Lebenswerke. Alles das ist
todüberschattet.

Ja mehr noch: der Tod ist der Verursacher. Der Tod setzt der Kraft des
Lebens Ziel und Grenzen, und ruft eigentlich darum erst dies alles
hervor. +Weil+ Tod ist, darum entsteht alles Begrenzte, alles Geformte,
alles Abgeschlossene, alles Einzelne, alles Selbständige, um sich
+abzugrenzen+ gegen den Tod. Der Tod läßt das Leben überhaupt erst
aufbäumen, daß es zu Rhythmus und demzufolge zu Gestaltung kommt. Sonst
würde es ewig und geradlinig weiterfließen, ungetrennt, formlos. Von
hier aus gesehen ist das Leben in seinem Lauf eine vielfältig prächtige
Flucht vor dem Tode. Jeder aufsteigende Rhythmus ist ein erzwungenes
Ausweichen. Jedes abfallende Werk ist ein zögernd hingeworfener Brocken
von dem großen Raube des glücklich weitergetragenen Lebens. Je größer
die Lust an Leben ist, desto bewußter wehrt sich das Selbst täglich,
stündlich, bei jedem Atemzuge in diesem Auf- und Abschwingen, die alle
doch nur das eine sagen und wiederholen: ich lebe, lebe und will nicht
sterben.

       *       *       *       *       *

Der Tod geht überall in den Dienst des Lebens, und seine Macht wird
scheinbar gering. Je bewußter und kühner die Lebensschwingungen nun
werden, desto gewaltiger wächst aber die Gefahr mit. Unter dem Namen
Krankheit, Sünde, Schuld wurde schon vorher von der Gefahr gesprochen.
Hier wird sie mit ihrem umfassendsten Namen genannt: +Todesfurcht+. Es
kann geschehen, daß der Tod schon lange wohlgezähmt dem Leben diente,
aber bei irgendeiner Gelegenheit, ganz plötzlich wird er in seiner
+Urgestalt+, in seiner +Nichtgestalt+ erkannt. Entsetzen vor dem Tode
ist plötzlich da und nichts anderes als Entsetzen. Einzige Ausflucht
bleibt: das Leben +festzuhalten+. Und dieser Wunsch rät öfter und
öfter zur Vorsicht und Schonung. Die Lebenskraft wird zurückgehalten,
wo der Einsatz zu groß scheint. Man +spart+ sein Leben auf, wird
geizig mit seiner Kraft. Bei der nächsten Gelegenheit könnte man diese
zurückgehaltene Kraft besser anwenden, glaubt man. Aber in Wahrheit
ist alles Furcht vor dem Abnehmen der Kraft, Furcht vor dem Tode. Man
möchte gar zu gern das Leben aufspeichern, um recht lange davon zu
zehren. Es ist der Besitzgedanke, der da das Leben durchseucht hat und
plötzlich alle, aber auch alle Mühe vieler Jahre mit eins zunichte
macht. Es ist hier wie stets, die Gefahr kommt von einer anderen Ecke
als man vermutet. Der, der sein Selbst lange Zeit gepflegt hat und
dem es nun Früchte bringt, dem mancherlei Leistungen immer besser
gelingen, glaubt natürlich, die einzige Gefahr läge im Nichtstun, man
nennt das Zeitverlieren; er sucht alle Löcher zu verstopfen, durch die
seine Lebenskraft noch nutzlos verrinnen könnte. Mit wenig Zeit viel
erreichen, das ist sein Wille. Und während er all sein Augenmerk nur
immer auf Steigerung des Lebens richtet, unvermutet packts ihn von der
anderen Seite. Es ist wie ein Schwindel nach langem Bergsteigen.

Es kann nur zweierlei geschehen. Der +starke+ Mensch verschließt
sich vor diesem ersten Gewahrwerden des Abgrundes. Er erkennt den
Tod einfach nicht an. So ist es heut gewöhnlich. Angst gilt nicht.
Der Mensch +soll+ und soll und soll ... Und so beginnt er den völlig
hoffnungslosen Kampf mit der eigenen Todesangst. Wo man sie findet,
stößt man sie weg, so daß sie in die Träume und unbewachten Augenblicke
flüchtet, bis der Mensch an einem grauenvollen Tage schließlich doch
übermannt und zerbrochen wird. Der schwache Mensch dagegen gibt gleich
beim ersten Mal das Spiel verloren. Der Tod nimmt von ihm langsam
Besitz. Die Lebensfreude weicht. Der Mensch fragt sich bei jeder
Gelegenheit: wozu? Die falsch verstandene Weisheit des Predigers:
»Alles ist eitel« vergiftet die Freude an jedem Tun und jedem Genießen.

Hier gibt es nur eins: Bejahung des Vorhandenen. Die Todesfurcht
ist da und nicht wegzuleugnen. Todesfurcht heißt nur: ich liebe des
Leben! Warum also Scham vor der Todesfurcht? Unterliege ich diesmal
der Furcht, lasse ich mich heute ganz durchdringen von dem Tod, morgen
vielleicht schon werde ich wieder jung werden mit einem anderen Tage,
und mein Leben ist wieder siegreich. Volle Anerkennung der Schwäche,
ein Ersterben in Furcht ist nötig, um die Furcht zu entkräften. Die
heroische Weltanschauung will das nicht zugeben, d. h. sie will es
nicht so weit kommen lassen. Sie verdrängt die Todesfurcht. So sagt man
schon dem kleinen Jungen, der seinen Mund zum Weinen verziehen will:
was, du willst ein Junge sein, du wirst dich doch nicht unterkriegen
lassen? Jawohl. Er soll sich unterkriegen lassen mit aller Inbrunst des
Versinkens in das Unvermeidliche. Viel zu früh geben die allermeisten
auf, sich vor dem Tode zu fürchten, weil sie gar nicht wissen, was sie
mit ihrem Leben verlieren können, weil sie ihr Leben nicht lieben und
es ihnen gleich anfangs leicht und feil ist oder wohl gar unnütz oder
mühselig oder belanglos. Wo man nicht liebt, ist es freilich einfach,
nicht zu fürchten. Aber wo das Leben in einem Menschen groß und hell
und weltenweit geworden ist, da ist +so+ viel zu verlieren, daß
manchmal nächtelang rund um ihn nichts ist als Furcht.

Aber nach solcher Überflutung von Angst und Grauen wird eine verborgene
Kraft wirksam werden. Es gibt eine Kraft, die plötzlich im Untersinken
das +Unvermeidliche lieben+ läßt, sogar wenn das Unvermeidliche das
Aufhören des selbsteigenen Lebens wäre. Wer dieses erfahren hat,
weiß es. (Und viele haben es in dieser Zeit erfahren.) Wer in einem
Augenblick des sehr nahen Todes diese große Umstellung gespürt
hat, vermag von da an die Furcht zu entkräften mit der lächelnden
Abspannung: ich gebe mich hin, ich lasse mich treiben, +selbst+ und
ungezwungen lasse ich mich +fallen+ in den Tod. Diese Kraft kommt
ruckweise über den Menschen und löscht alles Vorhergewesene aus.
Unvergleichbar ist das mit dem lässigen Aufgeben eines gleichgültigen
Dinges. Wo die Umstellung mit dieser +lässigen+ Gebärde geschieht,
ist noch Lüge dabei. In Wahrheit ist es wie nach dem Ziehen einer
herrlichen Last bis an den obersten Rand, bis sie rund und voll daliegt
und im Licht funkelt. +Nun+ aber ist es gut: nun lasse ich meine Hände
davon. Das, was meine ganze Kraft, Freude und Leid in sich enthält, das
lasse ich nun fahren, wende mich davon ab und bleibe leer und arm und
nichts. Gewaltig und schöpferisch ist diese Inbrunst des +Lassens+, und
die Furcht hat nichts mehr wo sie anpacken könnte und wandelt sich in
ein leise fragendes Staunen: Was nun? Hier wird bewußt, was Wahrheit
ist: der +Leben erschließende und Leben beschließende Tod+ nicht mehr
Feind des Lebens, sondern die große schöpferische Pause des Lebens.



Liebe als Macht


Das atmende, das durch Tag und Jahr und Lebensalter hindurch flutende
Leben des Selbst, all dieses schwingende Geschehen im Leben des
+einen+ Menschen, gerinnt zu +Schicksal+ für den +anderen+ und heißt
dann: Liebe. In dem Maße, wie Liebe sich eigenwillig gebärdet, faßt
das Wort noch nicht ganz seinen Inhalt. Erst wo sich das ganze Leben
unter einen anderen Neigungswinkel beugt, also dem anderen Menschen in
seiner Gesamtheit dargebracht wird, ist Liebe im großen Sinn. Solche
große Liebe, die das ganze Leben in ein liebendes Leben verwandelt, ist
aber nicht in +dem+ Sinne Schicksal, als ob es jedem so ohne weiteres
zufallen könnte. Nur +wenige+ vermögen dieses Schicksal zu tragen.
Eine doppelte Erfahrung muß im ganzen Ausmaß ihrer Höhe und Tiefe
vorausgegangen sein. Die im tiefsten Grunde schmerzliche Erfahrung
von dem Alleinsein der Menschen und das beglückende Geheimnis von der
trotzdem möglichen Vereinigung gibt die beiden Pole, die erreicht
werden müssen, wenn die Liebe wirklich umspannend werden soll. Sonst
wird die Liebe eben nicht rund wie die Welt und nicht umfassend wie das
Leben, sondern bleibt Stückwerk, Schmuckwerk, kommt leuchtend hier und
da zutage und verschwindet dann wieder auf lange Strecken.

Das Kind nimmt aus dem Mutterleib die dunkle Glückserinnerung an
den Zustand des völligen Umschlossenseins mit. Da gab es noch nicht
Getrenntheit. Es hatte das Blut der Mutter zu eigen. Geburt ist dann
der große Schmerz des Getrenntwerdens. Mit diesem Schmerz wird zugleich
der Wunsch geboren, den schmerzlosen Zustand wieder zu gewinnen.
Sehnsucht nach Besitz und Macht in den verschiedensten Gestaltungen
quillt von nun an unaufhörlich aus dieser dunklen Wunschquelle und ist
weiter nichts als das zu reißend gewordene allzu ungestüme Verlangen,
selbst in den andern einzugehen. Mit Augen und Händen ergreift das Kind
darum sogleich Besitz von der Welt und den Menschen. Was ihm nahekommt,
gehört ihm. Die Eltern kommen diesem Besitzwunsch des Kindes so lange
entgegen, wie er sich in der liebenswürdigen hilflosen Art des kleinen
Kindes äußert. Wenn das Kind dann erst laufen kann und seine Wünsche
unbequemer werden, beginnt man zu »erziehen«, d. h. abzugewöhnen. Dabei
werden aber die Eltern oft kindischer als die Kinder. Ihre eigene
dunkle Sehnsucht nach Macht benutzt die Gelegenheit, von dem Kind,
das sich ja nicht wehren kann, Besitz zu ergreifen. Aus demselben
dunklen Grund stammt ja bei Eltern und Kindern dieser Wunsch. Auch die
Mutter hat ja das Kind einmal ungetrennt besessen. Daß es +noch+ ihr
eigenes Fleisch und Blut sei, will sie möglichst deutlich immer wieder
erfahren. Auch sie willigt in kein Getrenntsein ein. Grauenhaft ist
es nun zu sehen, wie die meisten Kinder als das allerdings kostbarste
Besitzstück der Familie betrachtet und auch sogar nach außen hin als
solches hin- und hergeschoben und gezeigt werden. Die Erwachsenen sind
stärker. Sie setzen ihren Willen durch. So wird der junge Wille meist
schon ganz früh gebrochen, die Begierde der Kinder wird erdrückt und
kommt erst später wieder zutage. Oder das Gegenteil geschieht (wenn
auch nicht so häufig): dem Kind wird alles zu willen getan. Und es
lernt dann niemals das Getrenntsein, den Abstand von Menschen und
Dingen. Es bleibt unerlöst in seiner Besitzbegierde stecken. Beides,
das gewaltsame Unterdrücken der kindlichen Besitzbegierde wie das
schrankenlose Gewährenlassen dieses Triebes, begründet die spätere
Unfähigkeit zu lieben.

Die bestehenden Schulen versagen hier auch fast vollständig. Die
meisten Lehrer widmen sich ja aus Erwerbsgründen diesem Beruf. Sie
lieben die Kinder gar nicht. Gegen das jugendliche Drängen müssen sie
sich wehren, weil es ihre eigene Macht bedroht. Es bleibt ihnen nichts
anderes übrig, als eine Maske anzunehmen, damit das Schwinden ihrer
Macht nicht bemerkt wird. Wo sie spüren, daß ihre Macht im Schwinden
ist, müssen sie gleich zum Gegenangriff übergehen, weil sonst alles
verloren ist. Ihr Beruf, ihr Amt, ihre Schulklasse wird »ihre Aufgabe«,
an der sie arbeiten, das Material, an dem sie ihre Kraft sehen können,
der Besitz, über den sie verfügen. Wo sich unter den jungen Menschen
anders gerichtete Kräfte regen, da sind sie sofort argwöhnisch, als sei
jedes eigenmächtige Wachstum selbstverständlich +gegen+ ihre Autorität
gerichtet. Aber Autorität wahren, nichts sich vergeben, immer oben
sein, ist ihre einzige Rettung, sonst paßt ihnen ihre Maske nicht mehr
und rutscht ihnen vom Gesicht herunter und sie sind hilflos. Und so ist
es denn auch, wenn sie einmal ihre Autorität nicht ausüben, also nicht
dauernd sich stark genug zeigen, ihren Willen überall durchzudrücken,
dann merken die Jungen sofort das Loch, wo sie ausbrechen können,
um den Zwang, der immer auf ihnen lastet, fortzuschieben. Sie gehen
dann sofort zum Angriff über, um ihrerseits nun Zwang auf den Lehrer
auszuüben. In kurzer Zeit lernen sie die schwachen Stellen unfehlbar
sicher benutzen. Und so bilden sich in den Schulen immer wieder die
zwei Hauptarten des Lehrers, der Tyrann und der Popanz.

Doch auch der wirklich liebende Erzieher kann hier versagen. All seine
bildnerischen Fähigkeiten helfen ihm hier nichts. Leicht und unmerklich
verfällt er dem Besitzgedanken, wenn er vergißt, daß er lebendige unter
seiner Hand wachsende Menschen vor sich hat. Mit der +Gewalt+ seiner
Liebe kann er über die Kinder kommen, sie zur Unterwürfigkeit verführen
und so zum Tyrannen wider Willen werden. Oder er kann in seiner
hingebenden Liebe gar zu hinfällig werden und so dann wieder ungewollt
ihre tyrannischen Instinkte erwecken.



Ehrfurcht als Liebeshemmung


Schon jetzt ist es klar geworden: Liebe ist mit dem Machtgedanken
schicksalhaft verleitet. Die Erziehung zur Liebe wird sich also mit
dem Machtgedanken auseinanderzusetzen haben. Die Haltung des Führenden
wird daher grundsätzlich +anders+ sein als zuvor. Bisher handelte es
sich um die Entfaltung des +einzelnen+ Menschen. Der Führer stand
sorgend, hütend, wartend daneben. Der Mensch wächst aber nicht
+ungestört+ und +unbekümmert+ wie eine Pflanze, um eigne Blüte und
Frucht hervorzubringen. Sondern er hängt entscheidend von den +anderen+
Menschen ab, gibt und empfängt von der Gemeinschaft der Menschen.
Von dem rhythmischen Wechsel dieses zwischen-menschlichen Gebens und
Nehmens ist von nun an die Rede. Hierbei handelt es sich um etwas, das
nicht so wie bisher »von selbst« geschieht. Dem einzelnen Menschen,
wenn er so wächst wie er wächst, wird es nicht einfallen, sich um den
andern zu kümmern. Vielmehr wird ihn, wie geschildert wurde, der dunkle
Trieb zur Machtentfaltung, zur Besitzergreifung des anderen zwingen,
zumal wenn der andere mit ihm dasselbe versucht. Hier muß der Führende
auf irgendeine Weise seinen Anvertrauten jene beiden Erfahrungen
vermitteln, welche die Liebe bedingen: ein jeder ist in sich selbst
allein und hat kein Recht an den anderen: aber +trotzdem+ ist es
möglich, zueinanderzukommen durch freiwillige Hingabe. Wie geht dieses
vor sich?

Aus der Tiefe des Selbst steigen +hemmende+ Kräfte, die jene
elementaren Machttriebe dem anderen Menschen gegenüber zu dämmen
vermögen. Und nun schwillt diese selbst-hemmende Kraft an, fließt
über, gibt sich hin, löst sich auf in den andern. Dieses Wissen von
der liebewirkenden Kraft der Hemmung gilt es zu wecken. Jedes Wissen
hängt ursächlich mit dem Wissen vom Tode zusammen. Nichtswissenwollen
stammt aus Todesfurcht. Und so ist in allen Menschen ein leises
Sträuben auch gegen dieses Wissen von dem Segen der Hemmungen.
Nur das stärkste Mittel kann hier helfen: Zwang! Zwang in einem
besonderen Sinne! Der Führende muß +sich selbst+ mit seiner ganzen
Persönlichkeit seinen Anvertrauten +gegenüber+ stellen, sich ihnen +in
den Weg stellen+, sich +unumgänglich+ machen. In keinem Fall darf er
diesen Gegensatz zwischen ihnen verwischen lassen. Er selbst stellt
eben mit seiner ganzen Persönlichkeit für seinen Anvertrauten +den+
anderen Menschen dar. Und diesen anderen Menschen (sich selbst) muß er
gegen ihn wahren und wenn es notwendig ist, verteidigen. Er muß den
jungen Menschen spüren lassen, daß er kein »Recht« an ihm hat, daß
Liebe nicht Besitzergreifung ist. So leicht ist es ja möglich, daß
seine Vertrauten sich +gewöhnen+, ihn in Anspruch zu nehmen, so wie
man tagtäglich seinen Stiefel oder andere Gegenstände benützt; hält
sich doch der Führende zu jedem Spiel, zu jeder gemeinsamen Arbeit
bereit, Offenheit und Hingebung an das gemeinsame Leben ist seine Lust
und sein Gestaltungstrieb vollauf damit beschäftigt. Aber es gibt
Zeiten, wo die +Offenheit+ dem Anderen gegenüber +Lüge+ wird. Es gibt
Stunden, wo sein eigenes Leben und Arbeiten ihm befiehlt, sich zu
verschließen und ganz mit sich allein zu bleiben. Hier darf er sich
nicht +aus sich herauszerren+ lassen durch die gewohnheitsmäßig an ihn
gestellte Forderung der Anderen. Er muß die Kraft haben, +nein+ zu
sagen, nicht notwendig mit Worten, sondern mit der ablehnenden Regung
seines ganzen Willens. Läßt er sich an solchem Tage +doch+ verleiten,
den Forderungen der Anderen nachzugeben, so tritt das Schlimmste,
die Lüge zwischen ihn und seine Vertrauten. Solche Herablassung,
lustlose Hingabe, Verstellung in irgendeinem Sinne wird durch die
überquellende Lebenslust der Kinder zunächst vielleicht überdeckt
werden und ist darum so besonders schadenvoll. Geschieht diese
täuschende Herablassung, diese Hingabe aus Pflicht öfter, so »merken«
dann die Zarten doch sehr bald etwas, und damit ist das Vertrauen an
seinem Grunde erschüttert. Hier also gilt es, die Kraft zum Nein, zur
Ablehnung, zur Selbstbewahrung aufzubringen und dem Anderen deutlich
zu machen: Heut ist ein Tag der Ferne zwischen mir und dir. Heut ist
alles verschlossen in mir, und wenn ich auch neben dir stehe, bin ich
dir doch fremd. Diese Erfahrung wird dem jungen Menschen nun gewaltsam
den Abgrund aufreißen, der sein Selbst von allen Menschen trennt. Der
Kampf gegen den Besitzgedanken ist hiermit bewußt eröffnet. Wenn in
früher Jugend schon ein gewichtiger Mensch dem Jüngeren bedeutet:
hier ist deine Grenze, du hast kein Recht, in das verschlossene
Gebiet des Anderen einzudringen, so entsteht zunächst +Ehrfurcht+ vor
diesem Anderen, Ehrfurcht vor dem Älteren, Ehrfurcht vor der Ferne
des anderen Menschen wird auch im Kreise der gleichaltrigen Genossen
dem Miteinanderleben die notwendige Spannung geben. Auch der Führende
seinerseits wird durch die Ehrfurcht vor der geschlossenen Art seiner
Anvertrauten ihnen in ihrer Einsamkeit nicht zu nahe treten und so
Machtwunsch und Besitzwillen in sich überwinden.

Ehrfurcht hemmt jedes vorzeitige Wollen, Ehrfurcht läßt innehalten,
Ehrfurcht hüllt sich schützend um alle noch nicht zur Reife gelangten
Liebesformen. Aber Ehrfurcht ist nicht nur eine +Durchgangsform+,
sondern unter Umständen auch etwas +Endgültiges+. Es ist durchaus
möglich, daß es im Verhältnis zwischen Menschen +überhaupt+ nicht,
oder von einem bestimmten Zeitpunkt an endgültig +nicht mehr+ zur
Entfaltung der Liebe kommt. Dann bleibt es aber doch möglich, daß
dieses Entferntsein kein gleichgültiger, sondern ein liebesgerichteter
Zustand ist. Dieser Zustand des liebenden Entferntseins wird heute
selten zugelassen und fast überall in die Scheinformen von Leidenschaft
und Inbrunst hinauf- und hinabgezerrt. Der höfliche Verkehrston
oberer Gesellschaftsschichten, ebenso die höfliche Umgangsart der
Menschen in südlichen und orientalischen Ländern, schließlich die
Geselligkeitsformen der Menschen vor 1840 etwa drückt ungefähr nach
außen hin aus, was hier gemeint ist: Wohlwollendes Entferntsein,
Einandergeneigtsein, ehrfurchtsvolle Achtung des Unbekannten.

In den nördlichen Ländern und den unteren Gesellschaftsschichten,
wozu auch die meisten bürgerlichen Kreise gehören, und in der letzten
Hälfte des 19. Jahrhunderts ist diese Achtung voreinander allmählich
geschwunden, sicherlich aus der dumpfen Sehnsucht nach bewegteren
Formen unmittelbarer Liebe. In den sogenannten gebildeten Schichten
erstarrte ja die Liebe. Andeutende Beispiele genügen: die gute
bürgerliche Ehe führt zwar bestenfalls zu einem gemeinsamen Leben in
Achtung voreinander, aber sie endigt auch darin. Der gut erzogene Sohn
+verharrt+ in der Ehrfurcht vor dem Vater, die Schüler in Ehrfurcht
vor den Lehrern, der Beamte in Ehrfurcht vor dem Vorgesetzten. In
allen diesen Fällen handelt es sich um die +besten+ Fälle. Und gerade
gegen diese +Mustergültigkeit+, die ein durchaus auskömmliches Leben
miteinander sichert, erhebt sich der Sturm der Masse, welche in sich
spürt: der Damm muß zerbrochen werden. Es gilt einzig und allein
zueinanderzukommen. Und nun prallen die Menschen in ihrem Liebeswillen
ungehemmt und zügellos aufeinander. Sie zerquälen und zerreißen sich
mit ihrem Liebeswillen, oder was seltener und +gar nicht+ schlechter
ist: mit ihrem Haß. Freundschaften, Ehen, Kreise und Bünde entstehen
aus diesem reißenden Willen nach Vereinigung um jeden Preis. All
diese neuen Gemeinschaftsformen sind dazu verurteilt, sofort wieder
zu zerbrechen, oder doch in sich unmöglich zu werden, weil eben das
Medium, die Ehrfurcht voreinander nicht da ist.

So ist es das Erziehungsamt der lebendigen Einzelnen, die Ehrfurcht
zu wahren und +trotzdem+ zueinander durchzustoßen. Diese wenigen
Lebendigen spüren den gleichen Drang in sich wie die große Masse:
die erstarrte Liebesordnung im Verhältnis der Menschen zueinander zu
zerbrechen. Aber sie wissen, daß dieser Durchbruch zueinander nur stark
sein kann, wenn die Liebe +Zeit+ hatte zu wachsen und also sich zu
ihrer ganzen Größe aufzustauen.



Leidenschaft und Inbrunst


Durch den Damm der Hemmungen, durch die Ehrfurcht muß durchgestoßen
werden in die dahinter liegenden Höhen- und Tiefengebiete der Liebe.
Von +Zeit+ und Gezeiten war bisher nur bei der rhythmischen Teilung des
Einzellebens die Rede. Das Leben des einzelnen Menschen wächst durch
die Zeiträume seines Lebens. +In der+ Zeit, doch +blind+ vor ihr.

Wer nun in Beziehung zu einem anderen Menschen gerät, setzt zunächst
auch dort stillschweigend seine eigene Lebensbewegung voraus. Doch
merkt er dann bald, daß etwas nicht stimmt. Für den +Anderen+ sind
andere +Zeiträume+ maßgebend, sind die rhythmischen Schwingungen
des Lebens kürzer oder länger, sind die Pausen dichter oder weiter
gesät, jedenfalls an anderer Stelle liegend. Dementsprechend sind auch
die Aufschwünge des Lebens häufiger oder seltener und meist nicht
gleichzeitig. Jeder trägt seine eigene Zeit in sich, und Getrenntsein
heißt andere Zeit haben. Was Ehrfurcht genannt wurde, ist die Verehrung
der anderen Zeit des Geliebten. Diese Ehrfurcht gebietet, auf ihn zu
warten oder ihm vorauszugehen, beides im Hinblick auf ihn. Es ist
leidenschaftliches Verlangen der Liebe, den Rhythmus des eigenen
Lebens dem des anderen gleichzustimmen, den Geliebten zu begleiten,
mitzuschwingen wo es irgendeiner Gipfelzeit entgegengeht. Hier
wird Liebe in hinreißender Form. Wo der Geliebte in Ehrfurcht eine
Zeitlang gewartet oder ruhig ein Stück vorausgegangen ist, und nun die
aufschießende Wucht des anderen Lebens gewaltig hinterdrein flutet,
steigert sich Liebe zu ihrer leidenschaftlichen Gipfelung.

Das Erlebnis +gleicher Zeitaufschwünge+ ist das Hinreißende
daran. Durch den Gleichklang des steigenden Doppellebens wird die
letztmögliche Näherung an den Zustand des Ungetrenntseins erreicht.

Wo es wieder hinabgeht, ist die Gefahr. Es geht nicht gleichzeitig
hinab. Einer macht den Anfang. Kein Bild »wie er war, da man ihn am
meisten liebte« darf nun im Hinabgleiten hemmen. Die ehrfürchtige
Grundregung läßt den Geliebten nun wieder in das Entfernte gleiten, in
die Zeitfolge, die ihm allein gemäß ist. Es gilt wieder zu warten, nun
aber in Richtung auf den Tiefpunkt, wo das Leben des Anderen in seine
Ruhelage hinabschwingt. Das tosende Licht des gemeinsamen Aufschwungs
kann Mißklänge übertäuben. Hier aber wo es schweigt, wo es gärt, wo das
Leben sich sammelt, sinkt Liebe zu der Tiefe ihrer Gewißheit. In dieser
Tiefe der schöpferischen Pause ist es gegeben, in Liebe ganz und gar zu
+sein+. Hier ist das Gegenbild der Gipfel-Leidenschaft, unsichtbare,
unregbare, unerschütterbare Inbrunst.

Wer es vermag, in schöpferischer Inbrunst den Anderen zu erwarten, also
in seinem eigenen Grunde noch liebe-gerichtet zu sein, für den erst
ist der Besitzgedanke wirklich und endgültig aufgehoben. Das nur erst
ahnende Wissen von dem Entferntsein des Anderen braucht Ehrfurcht,
als den ersten schützenden Wall vor der Machtgier. Inbrunst macht
den Wall der Ehrfurcht überflüssig. In der gemeinsamen Tiefe +ist+
Ungetrenntsein, in der Tiefe jedes Atemzuges, in der Tiefe jeder Nacht
ist es zu spüren. Macht wird reizlos und darum sinnlos. In dem dunklen
Jubel dieser umfassenden Gewißheit muß die glänzende Wunschgestalt
von Herrschaft und zeitlichem Besitz auseinanderstieben. Viel tiefer,
unterhalb des Stromes von Zeit und Raum wird der Geliebte +wahrhaft+
besessen.

Inbrunst ist das Gegenbild der Leidenschaft. Es ist die
Liebes-Verhaltenheit, die in jedem einzelnen Menschen je nach Maß
seiner Kraft verborgen liegt. In ihrem inbrünstigen Zustand tritt Liebe
nicht in die Erscheinung. Auch wenn gar niemand zu lieben da ist,
vermag es inwendig zu brennen und weiter zu brennen. Hier gilt all das,
was von der Kraft der schöpferischen Pause gesagt wurde. Je tiefer der
liebende Mensch in die Tiefe der schöpferischen Pause hinabschwingen
kann, desto tragender wird seine Liebe, desto krampfloser seine
leidenschaftlichen Aufschwünge. Trennung von dem Geliebten, Abschied,
Entfernung, jedes gewollte und ungewollte Alleinsein wird in dem
liebe-gerichteten Menschen sogleich zu inbrünstiger Entspannung
umgewandelt.

Die Tiefe des ruhenden Atems, die Entspannung des Tages in die Nacht,
die Ruhe nach einer gereiften Tat ... immer der Abgrund, wo sich die
neue Lebenswoge bildet, heißt dann Inbrunst. Ist der andere, der
geliebte Mensch wieder da und wirklich bei sich selbst, so ist die
Woge der Liebe, die sich aus dieser Tiefe herauf ihm entgegenwölbt,
fast greifbar in ihrer überflutenden Stärke. Ist der Geliebte fern,
so ergießt sich dieselbe Kraft vielleicht in eine neue Tat oder auch
nur springquellhaft müßig in irgendeine einsame körperliche Regung,
irgendeine ausdruckgefüllte Gebärde, die keiner sieht, oder auch in
einen klaren Gedanken, der bald wieder vergessen ist und verfällt.
In der Tiefe ihres Ursprungs sind alle diese Regungen des einsamen
Selbst mit den Liebesregungen eins und dasselbe. Wer in sich Bescheid
weiß, vermag sogar durch einen ganz kleinen Ruck in der Tiefe große
Umstellungen an der Oberfläche zu bewirken. Doch wird dies stets
Geheimnis bleiben.



Der Rhythmus der Liebe innerhalb der Lebensalter


Es soll nun im einzelnen betrachtet werden, wie dies Gegenspiel von
Inbrunst und Leidenschaft durch alle jene Rhythmengefüge, von denen
bisher die Rede war, hindurchpulst. Zunächst soll der weitestgespannte
Lebensrhythmus, die große Welle der Lebensalter, in ihrer
Liebesgerichtetheit überschaut werden. Der Abstand der Jahre ist ja für
Menschen, die sich lieben, von ausschlagender Bedeutung. Es gibt da
liebesnahe und liebesferne Abstände. Gleiches Alter läßt keineswegs am
reibungslosesten zueinanderkommen. Aus diesem Grunde bleiben sich oft
Geschwister, die nur ein oder zwei Jahre auseinander sind, und infolge
ihres nahen Beieinanderlebens die wesentlichen Lebenserfahrungen
gleichzeitig machen, so fremd.

Erst wenn der Abstand der Jahre etwas größer wird, etwa drei oder vier
Jahre dazwischen treten, wird das Verhältnis günstiger. Geschwister
in diesem Jahresabstand halten gewöhnlich am stärksten zusammen.
Die streng durchgeführte Altersklassentrennung ist so besonders
lebensfeindlich, weil das rechte Spiel von Inbrunst und Leidenschaft
in einer Schar gleichaltriger Knaben künstlich gestaut wird. Die
Luft der Schulklassen ist darum voll unerträglicher Spannung, die
sofort gelöst würde, wenn man die Jungen wenigstens in der Schulpause
nach ihren Neigungen zu älteren Freunden aus einer höheren Klasse
laufen ließe. Aber der Geist der Klassenschichtung ist so stark, daß
die Kinder schon gar nicht mehr auszubrechen wagen, auch wenn die
Gelegenheit sich ergibt.

Wo der Jahresabstand noch größer wird, wo etwa sieben Jahre zwischen
zwei Menschen stehen, scheint damit wieder etwas Hemmendes zwischen sie
zu treten. Bei Geschwistern, die so weit auseinander sind, wird das
deutlich. Der Ältere ist dann schon zu alt, um sich noch auf gleicher
Stufe stehend zu empfinden und doch noch nicht alt genug, um dieses
Ältersein klar und schön sprechen zu lassen. Sie stehen unsicher
zueinander. Erweitert sich der Jahresabstand noch mehr, so scheint
das Verhältnis wieder günstiger zu werden. Über all dies kann nur
andeutungsweise gesprochen werden, weil sich dergleichen Feststellungen
nicht in ein System bringen lassen. Viele Beobachtungen müssen erst
noch gemacht werden. Sicherlich ist der Jahresunterschied zwischen
zwei Menschen gleichen Geschlechts und zwei Menschen verschiedenen
Geschlechts dann auch noch verschieden zu bewerten. Hier kommt es nur
darauf an, festzustellen, daß der Altersunterschied dem Verhältnis der
Menschen zueinander +überhaupt+ eine ganz bestimmte Tonhöhe gibt, die
auch immer ungefähr die gleiche bleibt, wenn sie nun miteinander älter
werden.

       *       *       *       *       *

Der Erzieher wird allmählich für diese Tonhöhe, die sich für ihn aus
dem Altersunterschied zu jedem seiner Anvertrauten ergibt, ein völlig
sicheres Gefühl bekommen. Doch der Unterschied der astronomischen
Jahre gibt ja nur das Gerüst für die eigentlichen Unterschiede der
Lebensalter. Es gilt, dichter an das Geschehen heranzutreten. Überall
da, wo ein Mensch in eine Pause zwischen zwei Lebensalter eingetreten
ist, verlangt er nach Einsamkeit, nach weitem Raum für sich selbst
und Entfernung von den Menschen. Diese Zeiten der Knabenreife um
das 15. Jahr, der Jünglingsreife um das 20. Jahr, der Mannesreife
um das 30. Jahr sind Zeiten der Liebesferne. Tadelnde Worte wie
Egoismus, Selbstsucht, Lieblosigkeit bezeichnen diese Zustände
schlecht und oberflächlich. Liebe +ist+ schon +da+, nur verborgen
und ungestaltet. Ja, es sind dies vielmehr gerade Sammelzeiten der
Liebe, Zeiten der Inbrunst. Der Liebeswille steckt drin, kann aber
nicht heraus. Und wenn die Menschen um ihn herum keine Ehrfurcht vor
diesem Zustand haben und den in sich selbst gebundenen Menschen zu
Liebesbezeugungen reizen, durch Worte oder Gebärden oder Klagen oder
vorwurfsvolle Blicke, so entsteht notwendig geheimer oder offener
Haß gegen die liebend-unwissenden Peiniger. Immer wo Liebe in Haß
umschlägt ist es darum, weil aus dem Zustand inbrünstiger Liebesferne
+vorzeitig+ versucht wurde, Liebe zu wecken. Offener Haß durchbrennt
und zerstört dann plötzlich alle hemmenden Schichten der Ehrfurcht.
Solch leidenschaftlicher Haß erreicht genau die gleiche Höhe wie
leidenschaftliche Liebe. Nur ein Unterschied ist, daß Hassende einsam
bleiben. Sie kommen +nicht+ in gleichen Rhythmus, weil der eine von
beiden nicht warten konnte, und den anderen mitriß oder für immer
stehen ließ. Haß ist nichts als überschnellte Liebe. Oft fehlt nur eine
ganz geringe ehrfürchtige Regung, ein unmerkbar kleiner Augenblick
inbrünstiger Sammlung ... und reinste Liebe würde in hohem Bogen
aufsteigen, wo nun flammender Haß wütet.

Nur bei starken Menschen wird solche über-raschte Liebe zu offenem Haß.
Bei schwächeren Menschen bleibt der Haß verborgen, wird unterdrückt,
wirkt aber deswegen fast noch zerstörender. Dies ist der heute
fast überall zutage tretende Zustand. Verborgener Haß, verzerrte
Liebesbezeigung, verkrampfte Leidenschaft ist überall.

Der Führende aber muß Raum breiten um den Knaben in der Zeit seiner
Liebesferne. Sich selbst muß er unscheinbar machen. Selbst wenn
Menschen auf dieselbe Wohnstube beschränkt sind, können sie sich ja
einander entfernt machen. Freilich gehört dazu das stets ehrfürchtige,
ja inbrünstige Wissen um den Zustand des anderen. Dann schlafen die
müßigen oder gierigen Fragen ein. Dann werden die Blicke kühl und
vertrauensvoll ruhig. Dann verlieren die Hände das hastige Greifen
und die Arme das Raffen, das den in sich versunkenen Knaben immer
wieder aus sich herauslockt und reizt, sich darzustellen. So kann der
wissende Erzieher den Raum, den sein Vertrauter braucht, unmerklich
wachsen lassen. Auch den anderen Gefährten muß er das begreiflich
machen. Mit Spaß und Spott übermütig sich aneinander zu reiben, sind
die naturgemäßen Formen kindlicher Liebesäußerung. Gleichaltrige
Knaben kurz vor ihrer Geschlechtsreife haben den Hang, im Spiel
sich gegenseitig anzustacheln und einander bis aufs Blut zu reizen.
Wenn aber die Zeit heran ist, wo einer von ihnen durch die Nähe des
anderen heimlich verletzt ist und die anderen nichts merken und auch
er selbst kaum etwas weiß, muß der Führer ihnen die Augen öffnen,
daß sie sehen, was sie tun. Dann werden sie in Ehrfurcht vor dem
Geschehen, das ihnen da sichtbar wird, zurücktreten und Raum lassen um
den Ruhebedürftigen. Haben sie doch auch gelernt, einen in der Sonne
Liegenden nicht zu stören, einen in Arbeit Vertieften nicht zu fragen,
einen Schlafenden niemals zu wecken. So behütet wird nun in dem so
Gefernten die Liebe wachsen und groß werden und sich an einem Tage zum
ersten Mal leidenschaftlich erheben. Der gewaltig aufsteigende Rhythmus
des jungen Lebens sucht nach gleichklingendem Leben, nach einem
Menschen, der gleich ihm dehnbar ist und sehnsüchtig nach dem Auf und
Ab des Lebens, der erfüllt ist gleich ihm von dem rasenden Verlangen,
zugleich sich hinzugeben und zugleich zu genießen. Acht haben auf sich
selbst oder auf den Menschen, dem die Leidenschaft gilt, ist jetzt
unmöglich. Sinnlos ist jeder Gedanke eines Dritten, der in ermahnendem,
vorbeugendem, abhaltendem Sinn darauf hinweisen wollte. Bewegtes Leben
türmt sich auf, das sich nicht selbst bewahrt und rücksichtslos auch
den Geliebten nicht bewahrt.

       *       *       *       *       *

Wie steht der Erzieher nun solchem Geschehen, solchem Schicksal der
Leidenschaft gegenüber? Zunächst also, wenn es sich +fern+ von ihm
selbst vollzieht, +zwischen+ zweien seiner Anvertrauten.

Der, den er jahrelang führte und täglich behütete, den er in das
lebendig strömende Wasser stieß, daß er seine Tage von da an in
Schönheit dahin brachte und seine Kraft in gelungene Werke fließen
ließ, der, den er liebte in inbrünstiger Freudigkeit, der ihm nahe
war, ja mit der Glut seines jungen Lebens ihn hielt und begeisterte
... plötzlich wirbelt ihn sein fremdes Schicksal fort. Eifersucht
ist solchem Geschehen gegenüber die kleinsinnig-sinnlose Regung des
Augenblicks. Der ältere Mensch muß sich hier auf die Klanghöhe seines
Jahresabstands besinnen. Nur so wird ihm möglich werden, hier +nicht+
einzugreifen. Nur so wird ihm die große umfassende Gebärde gelingen,
die allein solchem Schicksal gemäß wird.

Solange die Woge dieses fremden Doppelschicksals im Schwung ihrer
Aufwärtsbewegung ihn umbraust, bleibt sein Wissen stumm; sein Wissen,
daß Leidenschaft etwas Bewegtes ist und also etwas, das sein Ende
in sich selbst trägt. Leidenschaftliche +Zustände+, +anhaltende+
Leidenschaft gibt es nicht. Wo die Woge der Leidenschaft zurückflutet
und nur noch von dem erregten Willen der Liebenden zwangsmäßig
gehalten wird, für +diesen+ Augenblick muß er sein Wissen vom Ende
der Leidenschaft bereithalten und irgendwie bei seinen Vertrauten
zur Geltung bringen. Daß auch sie ja sagen zu dem Ende, ja sagen
zu den Folgen ihrer leidenschaftlichen Erhebung. Denn wirklich und
unvermeidbar folgt Leid, wo Leidenschaft festgehalten wurde. Die Formen
dieses Leides werden verschieden sein, und die Betroffenen werden gar
nicht wissen, wie ihnen geschieht. Sie werden es am eigenen Leibe
verspüren als körperliche oder seelische Reizbarkeit, als Krankheit,
Unlust, Unfähigkeit zu gewohnter Arbeit. Auch in ihrer Gemeinsamkeit
wird das Leid zu spüren sein als Fernegefühl oder gar als Haß, und
wird sie zu Abschied und Trennung drängen. Und nun ist es die führende
Aufgabe des Erziehers, die beiden Menschen, denen ihre Leidenschaft
so zum Leide gereicht, in seine inbrünstig bereitgehaltene Liebe
aufzufangen, sie zu trösten, zu beschwichtigen und mit diesem seinem
liebe-gerichteten Verhalten auf die +neuen+ Gipfelungen der Liebe
hinzuweisen, die ihnen jede neue gemeinsame Lebenswallung bringen muß.
Wenn sie nur jetzt nachgeben und sich in ihre Ferne fallen lassen, wird
jeder neue Atemzug, jeder neue Morgen, jede in ihnen selbst wieder
ansteigende Kraftwelle sie sicher geleiten.

       *       *       *       *       *

Wie ist es aber, wenn nun das leidenschaftliche Schicksal den Führenden
+selbst+ mitreißt? Der Abstand von einem halben Menschenalter zwischen
ihm und seinem Vertrauten begünstigt die Schwingungsstärke. Es gibt
kein Verwahren vor dem Schicksal der leidenschaftlich sich steigernden
Liebe.

Der Führer ist inmitten einer Schar junger Menschen, die täglich um
ihn ist, dem Leben hingegeben, so rettungslos wie kein anderer Mensch.
An kein Werk, an keinen Beruf kann er sich für die Dauer halten.
Vielleicht kann er sich einige Zeit verschließen, wenn es sein Leben
so will. Aber sobald er sich wieder öffnet, öffnet er sich auch seinen
Vertrauten. Sie sind da, und er ist für sie der Mensch, den sie
verehren, den sie, wenn sie in das Alter ihrer Reife getreten sind,
vielleicht als ersten Menschen lieben werden. Wo Liebe ist, kann es
auch zu leidenschaftlichen Gipfelungen kommen.

Leidenschaft fordert immer volle Ausschließlichkeit. Der Führer
ist dann nicht mehr unbedingt für alle da, er ist auch nicht mehr
Erzieher und Lehrer. Er ist Liebender für seinen Geliebten. Wenn das
gemeinschaftliche Leben schon so stark geworden ist, daß es +alle+
trägt, so werden die Anderen dann ruhig ihren Weg gehen und in
Ehrfurcht geschehen lassen, was geschieht. Aber auch dann, wenn es noch
nicht so weit ist, wenn ein solches Schicksal das gemeinschaftliche
Leben aller bedroht, wenn die Anderen es +nicht+ ertragen, muß es
+trotzdem+ geschehen. Denn es gibt kein Verwahren gegen das Schicksal.
Rücksicht auf die Anderen nehmen, heißt den geliebten Menschen auf der
Woge seiner steigenden Liebe allein lassen. So kommt es hier unter
Umständen zu der Entscheidung: führender Dienst an den Vielen oder
Verrat an dem geliebten Einen. Diese Entscheidung ist schwer.

Das Schwerste aber ist, in der Leidenschaft noch Führer des Geliebten
zu bleiben. Und das wieder erfordert: nicht festhalten und nicht
sich festhalten lassen, wo die Woge wieder +hinab+geht. Es erfordert
zu zeigen: hier ist es zu Ende. Es erfordert, als Wissender
stillschweigend die Folgen auf sich zu nehmen, die Leidenschaft mit
sich bringt und zugleich den geliebten Neuling in dieses Wissen
einzuweihen.

       *       *       *       *       *

Solcher erster Aufschwung der Liebe aus der Tiefe der ersten
Knabeninbrunst überwölbt nun durch Jahre hindurch alle Liebesregungen
des jungen Menschen, bis er dann in den Zeiten seiner reifenden
Jünglingschaft wieder in eine neue entscheidende Periode der
+Liebesferne+ tritt.

Diese Ruhezeit und noch mehr die nächstfolgende große Lebenspause,
die Reifezeit des Mannes wird durchpflügt von der Unrast des Lebens.
Liebe und Leidenschaft kann aber nur groß und umspannend werden, wenn
an diesen entscheidenden Stellen genügend Raum um den in sich selbst
Versunkenen blieb, wenn er nicht vorzeitig aus sich herausgezerrt
wurde und sich nicht zerren und nicht locken ließ. Wo einer noch Macht
hat über Menschen, die sich in diesen Lebenspausen befinden, leistet
er ihnen den entscheidenden Dienst nur dadurch, daß er Raum um sie
breitet, daß er sie entfernt von den Anderen und daß er sich selbst in
ihrem Gesichtsfeld auslöscht.

Es ist gewagt von diesen großen Bogenschwüngen zwischen Inbrunst
und Leidenschaft zu sprechen, wo doch das tausendfältige Spiel der
täglichen Liebesregungen verwirrend dazwischen schwingt und eigentlich
immer das allein Spürbare ist. Diese großen Schwingungen, die von den
einzelnen wenigen ganz großen Inbrunstpausen des Lebens ausschwingen,
+sind+ aber da und jedem sichtbar, der seinen Blick weitet und große
Strecken eines Lebens überblickt.

Auch wenn es den meisten Menschen verwehrt ist, zu ihrer Zeit einsam
zu sein, weil die anderen es nicht zulassen oder auch sie selbst nicht
Mut genug haben, in ihre Tiefe einzugehen, sie spüren doch die Stelle,
wo es hätte sein sollen. Sie wissen genau, in diesem Jahr ist es
gewesen ...



Rhythmus der Liebe im Jahr


Das einzelne Jahr hat seine Inbrunstzeiten und Leidenschaftszeiten.
Das natürliche Jahr, das Sonnenjahr, das für die Tiere und ihre
Liebesregungen so entscheidend ist, schlägt auch durch das Gefüge des
menschlichen Jahres hindurch; gerüstweise bleibt es erkennbar. Die
Jahreszeiten sind in ihrer Liebesgerichtetheit verschieden. Die großen
Sammelzeiten des Jahres im späten Herbst, im tiefen Winter, die Zeit,
wo der Sommer sich vorbereitet und die Früchte ansetzen, schließlich
die Zeit, wo der Herbst sich vorbereitet (oft schon in den letzten
Julitagen), diese Sammelzeiten des Jahres machen es dem Menschen, der
mit dem Jahr zu leben gelernt hat, leicht, sich in seine Inbrunst zu
versenken. Verschlossen zu sein ist dann der Natur gemäß. Es sind das
die Zeiten, wo nichts sichtbar wird, sondern alles unter der Oberfläche
geschieht.

Dem gegenüber stehen die leidenschaftlichen Zeiten des Jahres,
Gebezeiten, in denen die Liebe sichtbar wird. Zu Anfang des Winters
ist solche Zeit, die Frühlingszeit des Winters, die das alte Lied
meint: es ist ein Ros entsprungen ... Manchmal ist diese Gipfelzeit
kurz, aber stets in der gesamten Natur zu spüren. Die eigentliche
Frühlingsgipfelzeit ist sehr viel länger von den frühesten bis zu den
spätesten Blüten. Um die Zeit der heißen Nächte liegt dann die oft nur
kurze Gipfelzeit des Sommers. Und in den jauchzenden Tagen des reifen
Herbstes schwingt sich die Natur wieder zu einer Gipfelzeit auf, die
oftmals lange dauert, von der Zeit der Kornreife bis zur Zeit, wo die
letzten Äpfel reif werden.

Freilich das menschliche Jahr flutet vielfach über diese naturgesetzten
Zeiten hinweg, daß die Grenzen sich verschieben. Doch dies bleibt: es
+sind+ Gebezeiten und Inbrunstzeiten der Liebe im Jahr eines jeden
Menschen deutlich zu spüren, und auch hier ist es Sache des führenden
Erziehers, ferne zu halten und zu schaffen, wo seine Anvertrauten die
Kraft des Jahres in sich sammeln, und mitzuschwingen, wo sie geben und
blühen und jauchzen in ihrer Liebe.



Der sexuelle Rhythmus der Liebe


Durch die gegeneinander beweglichen Brunst- und Inbrunstzeiten des
Jahres flicht sich in sehr viel strengerem Wechsel der +monatliche+
Rhythmus. Hier ist von der geschlechtlichen Liebesgerichtetheit zu
sprechen. Die monatliche Periode der Frau gibt in ihrer strengen
Gesetzlichkeit das führende Zeichen für die Menschen. Auf Tag und
Stunde ist der Eintritt dieser monatlich wiederkehrenden Reinigungszeit
bei gesunden Frauen vorausbestimmbar. Davon war bereits die Rede,
soweit es den Rhythmus des Einzelmenschen betraf. Wie ist diese
Tatsache für das Miteinanderleben der Menschen auszudeuten?

Wie der Herztakt des Blutes sich der Aufsicht des Willens entzieht, so
ist auch die steigende und fallende Bewegung der geschlechtlichen Säfte
der willentlichen Beeinflussung des Menschen entzogen. Wenigstens von
der einen Hälfte, der weiblichen Hälfte der Menschheit ist dies mit
Sicherheit zu sagen. Durch das Leben des Mannes geht allerdings +auch+
ein monatlicher Rhythmus, ein Rhythmus von etwas kürzerer Wellenlänge
als bei der Frau[3]. Dieser Rhythmus ist aber bei den meisten Männern
nicht mehr spürbar, d. h. von allzu starker Willensanspannung übertäubt
worden. Wenige werden diese Taktschläge regelmäßig in sich hören. Nur
wer in die Zeit seiner eigenen Knabenreife hinabzulauschen versteht,
wird wissen, um was es sich handelt. Um die Reifezeit beginnt bei dem
Knaben der Saft zu steigen. Die Kraft spannt alle Glieder. Auch das
männliche Zeugungsglied streckt sich zum ersten Mal. Und in später
Nacht, wenn der Schlaf schon dünn geworden ist und die volle Kraft
des jungen Körpers sich in den Morgen hebt, kann die letzte Welle
irgendeines Traumes zur unwillkürlichen Vergießung des Samens drängen.
Nach solcher Entspannung folgt nun wieder eine Zeit des Aufbaues der
sexuellen Kräfte etwa einen Monat lang, und wieder kommt die Zeit der
Krafthöhe und drängt nach Entspannung dieser Kraft. Diese nächtlichen
Entladungen des Samens in etwa monatlicher Wiederkehr sind aber nur
ein +äußerstes+ Mittel des Körpers, Stauungen zu vermeiden. Bei einem
gesunden Leben wird es selten dazu kommen. Auch ohne Samenverlust wird
der Körper in die Zeit seiner Schwäche zurückzuschwingen vermögen. Denn
die nach außen drängenden Kräfte können auch im Innern des Körpers
verbraucht werden[4].

Die Zeit der sexuellen Krafthöhe ist bei vielen Menschen die Zeit
der Gefahr, wo ihr eigener oder auch fremder Wille Übermacht über
die natürliche Gesetzlichkeit ihres Körpers bekommt. +Willkürlich+
wird durch Onanie eine gewaltsame Entspannung der sexuellen Kraft
herbeigeführt. Von da an vermag der junge Mensch die natürliche,
periodisch ihn überkommende Entspannung nicht mehr abzuwarten. Eigene
leidenschaftliche Wunschbilder oder fremde Verführung übersteigern
seinen Rhythmus, beschleunigen sein Entwicklungstempo oft so übermäßig,
daß der Knabe nach wenigen Monaten einem »Erwachsenen« nach Wort
und Gebärde ähnlich sieht. Dabei wird sein Blutkreislauf gewaltig
gesteigert und seine Haut bleich. Bei schwächlichen Knaben wird dieses
übersteigerte Tempo durch ihren schleppenden Gang, ihre müde Haltung
und ihre verhetzten Augen sehr sichtbar. Starken Knaben wird man
äußerlich nicht so viel ansehen. Sie halten es aus. Aber die Schwächung
der Kräfte ist überhaupt gar nicht die +schädlichste+ Folge der Onanie.
Sie wäre wohl auszugleichen. Der entscheidende Schaden liegt in der
Beschleunigung des Rhythmus der geschlechtlichen Kraftwiederkehr. Ein
+natürlicher+ Ablauf wird durch eine +willkürlich+ herbeigeführte
Ersatzhandlung zunichte gemacht. Dies ist entscheidend und prägt der
ganzen heutigen Kultur den Stempel auf. Was rhythmisch hätte von
selbst geschehen müssen, gerät unter die Knechtschaft des Willens.
Schwer ist die Befreiung aus dieser Knechtschaft. Der Erzieher, der
den Knaben das Häßliche und Entstellende dieser Samenverluste wissen
läßt, ihm »ins Gewissen« redet, hat damit wenig getan, selbst wenn er
so viel Macht auf den Knaben ausübt, daß er die Onaniegelüste von da an
unterdrückt. Denn er hat damit auch nur wieder Willenskraft und zwar
von allerstärkstem Grad in dem Knaben wachgerufen, damit er aus Furcht
vor den schädlichen Folgen, aus Furcht vor ihm, von jener anderen
Willkürhandlung abläßt. Willkür wird durch Willkür vertrieben. Niemals
kann das die Wiederkehr des natürlichen Eigenrhythmus bewirken. Aus dem
übermäßig beschleunigten Rhythmus der Kraftwiederkehr wird von da an
ein übermäßig stockender Rhythmus. Schließlich machen Angstträume den
Schlaf untief und ungewollte Samenergießungen quälen den Knaben öfter
und öfter.

Hier gibt es nur eine Hilfe, das Einlenken in den eigenen Rhythmus.
Nicht angestachelte Willenskraft kann hier helfen, sondern allein die
vertrauende Hingabe an den rhythmischen Lauf der Natur in dem eigenen
Körper.

Der Knabe fühlt in dieser Zeit nur, daß eine Kraft in ihm hoch kommt,
eine Kraft, die zur Vergießung ihrer selbst drängt. Das Wissen von
dieser neuen Möglichkeit zu verströmen muß all sein Denken und Sein
durchdringen. Dies ist das eine. Ein anderes +schwächeres+ Gefühl
ist aber mit dem ersten verschwistert. Kurz bevor die steigende Kraft
in ihm zu ihrem höchsten Gipfel kommt, spürt er: ein +Behälter+ bin
ich, ein Gefäß, in dem die Säfte steigen und ... fallen. Und dieses
schwächere, aber umfassendere Gefühl, daß die Kraftwelle auch wieder
fallen muß, ist die natürliche Ursache für jede geschlechtliche
Hemmung. Mit der steigenden Kraft wächst auch schon, was sie hemmen
wird. Nicht Willensanspannung darf der Führer hervorrufen. Dies innere
Wissen vom Steigen und Fallen der Kraftwelle muß er vielmehr hüten
und pflegen. Hier ist er wahrhaft Erzieher, der sein eigenes +Wissen+
helfend in immer wieder neuen Formen darbieten kann. Locken, reizen, ja
zwingen muß er den Knaben, dieses Wissen in sich groß zu machen. Denn
in diesem hemmenden Gefühl ist zugleich das Geheimnis seiner künftigen
geschlechtlichen Steigerung verborgen. Die Kraft steigt und fällt. Wenn
sie aber +wieder+ steigt, ist sie noch drängender, noch zwingender,
noch herrlicher geworden als vorher. Sie fällt aber auch diesmal
wieder, um abermals gewaltiger anzusteigen. Die sich immer machtvoller
ballenden, immer drängender, flutender, brausender werdenden Kräfte +in
sich+ zu fassen, ist nur möglich für den, der hinabzuschwingen vermag
in die +schöpferische Ruhelage+.

       *       *       *       *       *

Die ältere Erziehung übersah geflissentlich alles, was mit der
geschlechtlichen Kräftewiederkehr, überhaupt mit der Geschlechtlichkeit
zu tun hat. Man ließ den Knaben mit seiner +Kraft+ allein fertig
werden und stärkte durch allerhand Mittel, vor allem durch Ermahnung,
Warnung, Strafe einzig und allein die +Hemmungen+ in ihm. Die neue
Erziehung fällt in den entgegengesetzten Fehler: der Knabe wird auf
die in ihm erwachende Kraft aufmerksam gemacht. Dabei aber werden
häufig die hemmenden Gegenkräfte in ihm selbst durch frühzeitige
Rationalisierung zerstört. Und dies wirkt eigentlich noch schlimmer
als die alte Erziehung. Die edelste und geistigste Steigerung wird
durch +Geheimhaltung+ der +besonderen+ Zwecke hervorgelockt. Geheimnis
darf nicht verwechselt werden mit absichtlichem Verschweigen und
wissentlicher Täuschung, wie es jetzt häufig geschieht. Denn das
Geheimnis verhüllt eben nur die naheliegenden Zwecke, um gerade desto
stärker die eigentliche Richtung weisen zu können.

Wo zu frühzeitig von den besonderen Zwecken der sexuellen Kräfte,
von Fortpflanzung der Art, von Zuchtwahl ... wo immerfort von
Vorbereitung, Reinhaltung und Sparen der Kraft für die kommende Höhe
des Lebens gesprochen wird, wird damit die geschlechtliche Kraft
allmählich aber sicher ihres Geheimnisses entkleidet. Der so gewaltsam
aufklärende Erzieher verletzt damit, was früher Schamgefühl genannt
wurde, den Raum der Hemmungen, der um den Knaben gebreitet ist und
unbetretbar für ihn sein sollte. Was haben denn auch die tatsächlichen
Zwecke der geschlechtlichen Kraft, ihre Folgen, überhaupt ihre
beschreibende Naturgeschichte mit dieser Kraft +selbst+ zu tun? Alle
ausmalenden Bilder, ganz gleich, ob sie die Herrlichkeiten oder die
dahinterlauernden Gefahren der geschlechtlichen Zukunft darstellen,
arbeiten nur darauf hin, die lebendige +Wucht+ dieser Kraft selbst
zu zerstören. Zu früh ins Gebiet der gesonderten Vorstellungen, ins
»Wirkliche« der »Tatsachen« führen, heißt, lebendiges Wasser, ehe es
stromstark geworden ist, in gegrabene Kanäle ableiten. Die gestaltlose,
dunkle, schaffende Kraft, die nur erst als steigende und fallende
Bewegung in dem jungen Körper spürbar wird, ist +allein+ die Wahrheit;
und diesen wuchtenden, ganz ungegliederten Wahrheitsblock muß der
Erzieher mit seinem führenden Wesen bejahen, mit allen stürmischen
Pulsschlägen seines eigenen Herzens bekräftigen.

An die Schwere dieser ungestalten Wahrheit reicht nur Traum und Mythos.
Vielleicht erzählt ihm der Knabe selbst das Bruchstück irgendeines
Traumes, in dem nicht mehr wie früher von lauter bunten Einzeldingen
die Rede ist, wie sie gestern und vorgestern +wirklich+ geschehen sind,
aus denen vielmehr +zusammenfassende Bewegung+ spricht. Vielleicht
erzählt er: Wasser, ein Strom war ich, Schalen, Mulden, Felsentrichter
waren da, in die es hineinsprudelte. Und immer mehr Wasser war da, und
herabstürzend füllte es alles aus, brach alles weg, immer schneller
ging es und in großer Masse fiel es besinnungslos herab. Wenn der Knabe
in den durch den monatlichen Rhythmus vorbestimmten Nächten solche
aus dem Tiefschlaf hervorbrechenden Bilder von bewegter Kraft träumt,
bringt er aus seiner schöpferischen Ruhelage einen völlig entspannten
Körper in den Morgen mit. Der Knabe hat dann +selbst+ den rechten Weg
zur Entspannung seiner Kräfte gefunden, eintauchend in die Ruhe seines
Selbst. Der Führer kann ihm in dieser Zeit nur dadurch helfen, daß er
ihm Räume eröffnet, die ebenso weit und tief sind, wie dieses erste
Erleben seiner geschlechtlichen Kraft in ihm. Er wird ihn das Gebirge
mit seinen aufgesteilten Massen, die Ebene in ihrer dahinfließenden
Fülle sehen lassen. Aus der beliebigen Gegend, die man seit jeher
kennt, wo man rennen und klettern und spielen und Pilze sammeln konnte,
wächst plötzlich der +Raum+ und seine Füllung mit Gestalt. Weil der
Knabe selbst voll steigender und fallender Bewegung ist und seinen
Körper als das umschließende Gefäß dafür empfindet, wird ihn die
fließende, strömende, steigende, fallende, in sich zur Ruhe kommende
Bewegung der Natur in seinem eigenen Inneren erregen und ihn ebenso
vielgestaltig, ebenso weiträumig werden lassen.

Hier ist auch der Grund, weswegen ihn zur Zeit der Reife seine
eigene aufquellende Freude naturgemäß zur eigenen Gestaltgebung in
Tanz und Ton und Wort und Bild drängt. Räume werden da geöffnet, und
die steigende Kraft kann sie mit Gestalt füllen. Davon war schon im
einzelnen die Rede.

Hier ist auch der Grund, weswegen gerade zur Reifezeit dieselbe Freude
naturgemäß die +Frage+ nach dem Wesen dieser Kräfte draußen und drinnen
hervorruft und also zur »Wissenschaft« drängt. Davon wird noch die Rede
sein. Alles Schauen, alles gestaltende Tun, alles drängende Wissen ist
in diesen Jahren nichts als die hemmende Schicht, die das vorzeitige
Ergießen verhindert und zugleich die Steigerung bewirkt.

       *       *       *       *       *

Wie eine immer wachsende Wärme +bleibt+ nun die steigende und fallende
Kraft in dem Menschen drin. Die Kräfte können sich vielleicht jahrelang
in sich selbst ausgleichen und so immer höher ansteigende Lebenswärme
erzeugen. Hier ist das Geheimnis, warum knabenhafte Schönheit
und Geschlossenheit unmittelbar und ungewollt Liebe entzündet.
Knabenhaftigkeit ist rhythmisches Steigen und Fallen in sich selbst
bei ständiger Steigerung. Selten und kurz ist das Wunder knabenhafter
Vollendung und dann von weltbewegender Wirkung. Die griechische Kunst
in ihrer herben Zeit, die Kunst des Donatello, des Memling, die Rede
des Meisters Ekkehard ist von solcher verhaltenen Wärme strahlend. Hier
ist dem Wunder, das nur an dem Knaben erscheint, Ausdruck gegeben. Auch
heute vermag die innere Glut knabenhafter Verhaltenheit wieder die
große Kunst zum Ausbruch reiner Gestalt zu bewegen. Maximin hat die
Kunst Georges in fließende Bewegung gebracht.

Was ist knabenhafte Verhaltenheit? Es ist Inbrunst, Verharren in der
schöpferischen Ruhelage zur Zeit der geschlechtlichen Reife. Wie immer
das Gleiche: hier wird nichts +getan+, aber Entscheidendes +geschieht+.
Dieser Zustand innerer Glut, der den Menschen nur für die kurze Zeit
der Knabenjahre erfüllt und Wärme für das ganze Leben bereiten soll,
wird nun in der schlimmsten Weise mißbraucht. +Auch+ von den jungen
Menschen selbst. Davon war schon die Rede. Mißbraucht vor +allem+
aber durch die +erwachsenen+ Menschen, die mit dem Knaben zusammen
sind. Eltern, Lehrer, Erzieher, alle zehren sie von diesem kostbaren
Gut, als gehörte es ihnen. Meist wissen sie es nicht, aber sie zerren
den jungen Körper, wo er ganz schmiegsam und biegsam und hilflos
ist, nämlich an seiner geschlechtlichen Verhaltenheit. Sie verlangen
von ihm eine zugemessene Arbeit, reizen seinen Ehrgeiz und loben und
tadeln und schmeicheln willkürlich an ihm herum. Sie verlangen, daß
der Knabe alles ihnen »zuliebe« tut. Warum? Sie wollen sich daran
wärmen. So werden sie zu Verführern wider Willen und bringen es endlich
dahin, daß der Knabe seine geschlechtliche Inbrunst viel zu früh in
körperliche oder geistige Arbeit umsetzt, an der sie ihre »Erfolge«
sehen können, an der sie sich freuen, an der sie sich wärmen. Hier
wird auch der wissende Erzieher leicht Verführer. Denn auch er wärmt
sich machtsüchtig, wenn auch meist nicht so prahlerisch und eitel an
der inneren Glut, die von den Knaben ausgeht. Gar zu gern läßt auch er
sich etwas »zuliebe« tun. Ja, er lockt zu sich heran und bringt Liebe
frühzeitig zum Ausbruch. Unter den verschiedensten Formen kann sich das
verbergen und sehr harmlos und sachlich, ja sogar geistig aussehen.
Dieses Schüren der inneren Glut ist und bleibt aber doch immer ein
eigenmächtiges und meist gefallsüchtiges Stören des fremden Lebens, ehe
es Zeit war.

       *       *       *       *       *

Der Führer zum wahren Leben wird hier immer nur auf das eine sehen,
wie er die geschlechtliche Inbrunst in dem Knaben hüten kann, so daß
sie ganz und gar in ihm bleibt. Nur wenn er selbst ihm stets herb und
verhalten gegenübersteht, kann das gelingen. Er braucht darum seine
eigene Lust an den jungen Menschen nicht etwa zu verbergen und zu
unterdrücken, nur hinabschwingen, untertauchen lassen muß er diese Lust
in die inbrünstige Tiefe seiner eigenen Liebe, bis sie sich nicht mehr
laut und zügellos gebärdet, sondern ganz still und mild von innen her
strahlend geworden ist.

Aus der Tiefe seiner wohl behüteten geschlechtlichen Inbrunstzeit wird
der Knabe nun die Kraft zu seiner ersten geschlechtlichen Leidenschaft
aufbringen. Und diese Leidenschaft ist eine Opferung seiner
knabenhaften Verhaltenheit. Geschlechtliche Hingabe bringt Schmerz,
bringt das Ende des in sich selbst beschlossenen Lebens, bringt in
jedem Fall das erste Vertrautwerden mit dem Tode. Die in dem Gefäß des
Körpers bereitete Wärme, diese an den Rand gestiegene Kraft wird auf
einmal dem geliebten Menschen hingegeben. Weiter kann hier nichts
gesagt werden. Geschlechtliche Hingabe entzieht sich jeder allgemeinen
Behandlung durch Worte und bleibt die eigenste Angelegenheit des
Menschen. Der Führer kann da nichts tun, als den Vertrauten in seine
Mannheit entlassen. In der Gewißheit, daß dem Menschen, der in sich
selbst zu schwingen gelernt hat, nichts Gesetzloses mehr geschehen kann.

Wenn der Mensch so aus der verhaltenen Glut der Knabenjahre in die
gespannte Kraft seines Mannestumes eingegangen ist, braucht es für ihn
in seiner eigenen Geschlechtlichkeit keine Hemmung mehr zu geben. Er
ist von sich aus frei. Wohl aber bleibt die Hemmung bestehen, welche
durch die Ferne des geliebten Menschen auferlegt wird: Ehrfürchtige
Haltung vor der geschlechtlichen Ferne der Frau. Das Mädchen geht ja
einen ganz anderen Weg der Geschlechtlichkeit. Unumstößlich sicher
ist das geschlechtliche Leben der Frau um die Inbrunstzeiten, die
Zeiten der ruhenden Liebe, um die Zeiten der schöpferischen Pause
gruppiert und aufgebaut. Die erste Blutung, die an einem Tage ganz
unerwartet das Mädchen in die ruhende Lage zwingt, sieht für die
Entwicklung der weiblichen Geschlechtlichkeit an derselben Stelle,
wie der erste nächtliche Kräfteüberschuß des Knaben. Aus diesen
höchst verschiedenen Anfängen ist die ganze Verschiedenartigkeit des
geschlechtlichen Lebens erkennbar. Periodischer Kräftewiederkehr des
Knaben entspricht eine monatliche Schwächewiederkehr des Mädchens. Das
spannt eine unüberbrückbar scheinende Ferne zwischen die Geschlechter.
Die leidenschaftlichen Höhepunkte bilden beim Mann die Periode, die
inbrünstigen Tiefpunkte bei der Frau. Wahre Liebe muß nun das Wunder
vollbringen, diese gewissermaßen im weitesten Abstand voreinander
hergleitenden Rhythmen dennoch zusammenklingen zu lassen.

Zunächst muß noch einmal von hier aus Rückwärtiges beleuchtet werden.
Wenn der Erzieher in dem Knaben gegenüber der leidenschaftlichen Gier
sich zu vergessen jenes zweite von Natur aus schwächere Gefühl: Gefäß
zu sein für seine eigenen immer wachsenden Kräfte, ausspielt und stark
macht (und gerade dies ist ja Sache der Erziehung), stärkt er damit die
weiblich gerichteten Kräfte des Knaben. Inbrunst schwingt stets nach
der weiblichen Seite hin. Und so kann es kommen, daß der Knabe in dem
meist so kurz dauernden Zustand seiner vollendeten Knabenhaftigkeit
in sich selbst den Ausgleich zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit
vollbringt und darstellt. Er ist das inbrünstige Gefäß für seine
eigene leidenschaftlich schwellende Kraft. Erklärt ist daraus, daß die
Knaben sich zu dieser Zeit gerade von Mädchen abgestoßen fühlen. Sie
brauchen sie nicht, weil sie ja genug von weiblicher Kraft in sich
haben. Kurz ist dieser Zustand meist und hört auf in dem Augenblick,
wo sich seine Leidenschaft nach außen wendet, wo ihn das ferne Sein
weiblicher Geschlechtlichkeit zum Ausbruch aus sich selbst lockt. Das
Mädchen in der Zeit seiner Reife stellt ebenso wie der Knabe eine in
sich geschlossene Einheit dar, die eine Zeitlang gar keine Berührung
von außen her verträgt. Scheue, herb abweisende Bewegungen kommen zu
dieser Zeit in die Gebärdensprache des Mädchens. Noch hilfloser als der
Knabe ist das Mädchen in seiner Unnahbarkeit und meist noch weniger
in ihrem Zustand geachtet. Die Mutter hat in den meisten Fällen ihr
eigenes schweres Leben die Not ihrer Jugend vergessen lassen, so daß
sie verständnislos bleibt. Statt Raum um das Kind zu breiten, jagt sie
es gerade zu den anderen Menschen hin. Man führt das junge Mädchen in
die Geselligkeit ein. Auch hier sonnen sich die Erwachsenen, die Mütter
an den Erfolgen ihrer Kinder, sind stolz auf die Liebe, die durch die
mädchenhaft verhaltene Schönheit erregt wird und wärmen an dieser Glut
Erinnerungsträume aus ihrer eigenen Jugend auf. Und dabei wird an den
Mädchen gezerrt und geschüttelt, geschmeichelt und verbogen, was nie
wieder gut zu machen ist. Wenige wehren sich dagegen und flüchten sich
hinter den Schutzwall der in ihnen liegenden männlichen Teilkräfte.
Sie werden dann meist spröde und unbeugsam. Die meisten geben es aber
von da an auf, einsam zu sein. Sie werden gefallsüchtig, lüstern und
sehen ihren Lebenszweck darin, andere Menschen anzulocken, je älter
sie werden desto absichtlicher und immer mehr mit der Entfaltung aller
Willenskräfte. Hier geschieht also dasselbe wie beim Knaben, die
Verwirrung des eigenen geschlechtlichen Rhythmus durch viel zu frühe
Willensentfaltung, und gerade dies ist das entscheidend Verderbliche.
Darin liegt ja auch der Grund, weswegen sie auch später über die
von der Natur gesetzten Inbrunstzeiten der monatlichen Reinigung
hinwegjagen. Sie müßten einsam sein können und ganz in sich selbst
beruhen in dieser Zeit, und gerade das haben sie nicht gelernt oder
längst verlernt. Bei allen Naturvölkern ist es Gesetz, daß die Frau zur
Zeit ihrer monatlichen Blutung von keinem Manne berührt werden darf,
ja nicht einmal in die Nähe eines Mannes kommen darf. Sie ist unrein,
sie geht in die Einsamkeit -- wie auch die Knaben zur Zeit ihrer Reife
in die Wälder geschickt werden. Dagegen ist in der europäischen Welt
der Zustand schließlich so geworden, daß die Frauen durch allerlei
Künste und Mittel voreinander und vor allem vor den Männern dieses
»Unwohlsein«, wie sie es nennen, zu verbergen wissen. So ist der
Eigenrhythmus der weiblichen Geschlechtlichkeit gerade an der Stelle
fast vollkommen zerstört, wo das Naturgesetz am offensichtlichsten
zutage treten sollte.

       *       *       *       *       *

Die überwiegende Mehrzahl von Männern sucht nach einer ganz kurzen
und meist jäh gebrochenen Knabenzeit sogleich seine leidenschaftliche
Erfüllung in dem anderen Geschlecht. Die Schranke der Ehrfurcht vor
der Fremdheit der Frau hält also nicht mehr stand. Sie ist beim ersten
Ansturm gleich zerbrochen. Hemmungslos prasselt das nächste in das
fernste, verzischt und verbrennt. Der Frau wird Gewalt angetan. Sie
wird aus der inbrunstgerichteten Zeit willkürlich herausgerissen,
hinaufgerissen auf leidenschaftliche Höhe, meist ehe es von Natur so
weit gekommen ist. Seit Jahrtausenden ist das so. Hier gilt es, mit
aller Kraft den Wall der geschlechtlichen Hemmungen aufzurichten,
das Wissen von der Ferne weiblicher Geschlechtlichkeit, von der
Unnahbarkeit der Frau groß zu machen.

Nicht alle Männer brechen so frühzeitig und unhaltbar aus ihrer
Knabenzeit heraus. Gerade im Gegensatz dazu kann es geschehen, daß
sie schwer oder gar nicht daraus herauskommen. Sie vergessen es
gewissermaßen, aus der inbrunsttiefen Zeit ihrer schöpferischen Pause
aufzutauchen. Sie erstarren in ihrer knabenhaften Vollendung. Sie
fürchten sich davor, wieder in Stücke zu gehen und den verlorenen Teil
suchen zu gehen. So werden sie ängstlich in ihrer selbstgenügsamen
Vollendung. Mit ihrer wollenden Regung halten sie an ihrer Reinheit
fest. Immer bleiben sie Gefäß für ihre steigende und fallende Kraft,
aber langsam wird es ihnen überhaupt unmöglich, über ihren eigenen Rand
überzufließen. Zwischen dem zu frühen Ausbrechen aus dem Knabentum und
dem zu langen Verharren darin geht der Weg, den der Erzieher nur führen
kann, wenn er Knaben und Mädchen zugleich erzieht. Er braucht dann nur
die verschiedene Geschlechtlichkeit verschieden zu betonen, einfach
durch die verschiedene Art und Weise, wie er sich zu jedem Einzelnen
stellt. Und das wird beispielhaften Einfluß haben. Die Knaben wird er
in ihrer Männlichkeit lächelnd, schweigend, unmittelbar aus seiner
eigenen Männlichkeit heraus anerkennen. Dem Frauentum der Mädchen wird
er in jeder Gebärde selbst ehrfürchtig und scheu gegenüberstehen.
Seiner selbst ganz sicher und doch zugleich ganz und gar liebeweit
offene Frage, was da so fern von ihm und doch ihm zugewandt geschieht.
So werden die Knaben es dann auch machen. Sie werden die Scheu vor
dem Weiblichen von vornherein lernen. Ritterlichkeit nannte es eine
vergangene Zeit. Diese scheue Zugewandtheit zu dem anderen Geschlecht
wird jedes voreilige Zueinanderprasseln hemmen. Nicht nur die wilde
verfrühte Leidenschaftlichkeit, auch die heute aufgekommene ersatzhafte
Neigung zu allen möglichen Formen burschikoser Kameradschaftlichkeit
wird dadurch ausgeschlossen werden. Die Ferne des anderen Geschlechtes
wird weder rücksichtslos ausgelöscht, noch auch phrasenhaft vertuscht
werden, sondern wird ruhig und klar in ihrer ganzen Weite anerkannt
werden. Damit wird der Bogen des +Trotzdem+ immer mehr an Spannkraft
gewinnen. Die Ferne des anderen Geschlechtes wird nun immer heißer
begehrt werden. Aus der knabenhaften Selbstgenügsamkeit und
Ausgeglichenheit heraus wird sich die bewußt einseitige Männlichkeit
ausprägen und immer steigern. Und aus der mädchenhaften Sprödigkeit
und Herbheit wird Frauentum ausreifen. Diese gegeneinander sich
immer deutlicher ausprägende geschlechtliche Reife wird das Gefäß
ausgeglichener Selbstgenügsamkeit von Knaben- und Mädchentum an einem
Tage in gemeinsam aufspringender Leidenschaft sprengen. Aufhebung aller
eigensüchtigen, eigengewichtigen Schwere, Tod des Selbst wird sein.

Hier liegt die Gefahr, weil sich die zwei Menschen dem Gesetz der
wieder abschwingenden Kräfte meist nicht völlig fügen. Besonders der
Mann wird meist die Leidenschaft übersteigern. Mit Willen festgehaltene
geschlechtliche Leidenschaft scheidet aber sofort stärkstes Gift aus,
das die bindende Liebe augenblicks zerfressen kann. Hier muß die
Frau wissen, daß sie führend ist, führend sein muß. Die Frau allein
vermag aus der Tiefe ihrer geschlechtlichen Eigenart den Abschwung
der Bewegung einzuleiten. Der geschlechtlichen Art des Mannes
entspricht es ja von Natur eigentlich nicht zu hemmen, da gerade die
leidenschaftlichen Höhepunkte bei ihm Periode bilden müssen. Solange
die Frau an dieser führenden Stelle versagt, +ver+führt sie also zu
immer neuen, immer sich steigernden Zügellosigkeiten oder aber sie
zwingt dem Mann gegen seine eigene geschlechtliche Natur hier doch die
Zügel in die Hand, daß er sich besinnt in Augenblicken, wo es gerade
seiner Natur gemäß wäre, besinnungslos zu sein. Nur die Frau, die
gelernt hat, in ihre schöpferische Ruhelage hinabzugelangen, vermag
hier Führerin zu sein.



Die tägliche Erneuerung der Liebe


Alle die großen Schwingungen, der ganze Bogen des Liebeslebens, das
Schwingen der Lebensalter, schließlich die sexuelle Periode der Liebe
reichen noch nicht heran an das, was Liebe eigentlich ist, an das
tägliche Auf und Ab von Leidenschaft und Inbrunst. Nur jene ganz
kleinteiligen Schwingungen lassen mit Sicherheit spüren: hier in
diesem Augenblick ist -- war -- inbrünstige oder leidenschaftliche
Regung. In einem gefüllten Leben wechselt Einsamkeit mit Liebesregung
in einem ständig zuckenden Wechselstrom des täglichen Lebens. Wo einer
im täglichen Leben spürt, daß alle seine einsamen Stunden leer und
trostlos geworden sind, gibt es für ihn nur eins: sich ungehemmt der
inbrünstigen Liebesregung zu überlassen. Er ist dann geladen mit seiner
Einsamkeit und stark Liebe zu geben. Nichts ist sinnloser, als in
solchem Augenblicke sich selbst zu zwingen, an seinem Werk, an seiner
Ruhe festhalten zu wollen. Nur in der Hingabe besteht dann das Heil.
Aber umgekehrt gibt es nach jedem höchsten Augenblick gesteigerter
Liebesregung nur eins: sich fallen lassen in die Einsamkeit seines
Selbst. Einsamkeit ist die schöpferische Pause für die Liebe, und Liebe
ist die schöpferische Pause für die Einsamkeit. Es sind die Pole,
zwischen denen alle täglichen Regungen hin und her fluten. Wo dieser
Wechselstrom nicht strömt, wird das tägliche Leben sinnlos und quälend.
Unmittelbar nahe an der Wirklichkeit pulst für jeden Menschen dieser
Wechselstrom.

Zunächst ist jeder hier mehr oder weniger unterworfen dem Gesetz des
Sonnentages. Es gibt Zeiten des Tages, die liebegerichtet sind und
Zeiten, die das Selbst zur Einsamkeit drängen. Von den schaffenden,
den aufbauenden Zeiten des Tages wurde schon gesprochen. Jetzt muß
noch einmal davon gesprochen werden. Denn es sind zugleich die Zeiten
schöpferischer Pause, in denen die Liebe stark wird, ohne noch sichtbar
zu werden. In den Stunden einsamer Morgenarbeit (Arbeit ist immer
einsam, auch wenn sie mit anderen zusammengetan wird) ballt sich
hauptsächlich die Liebeskraft für den ganzen Tag zusammen. Am frühen
Morgen ist es das Bestreben des Menschen, mit sich allein zu sein, wenn
auch nur eine kurze Zeit. Menschen, die lange schlafen, werden dieses
Alleinsein weniger nötig brauchen, weil sie der Morgenschlaf genügend
isoliert und in die Tiefe ihres Selbst geführt hat. Später am Vormittag
kann sich jeder sehr viel leichter und sicherer zu dem anderen
Menschen finden. Er sieht ihn, hört ihn, spürt ihn um sich. Er tut
mit ihm gemeinschaftlich, was gerade not ist. Und er kommt ihm nahe.
Am Nachmittag wechselt der Strom öfter, der Nachmittag hat nach einer
kurzen Zeit der Ruhe im allgemeinen liebegerichtetes Vorzeichen, und
erst am späten Nachmittag, wenn die schöpferische Kraft wieder langsam
und zäh die Oberhand gewinnt, wird das Verlangen zur Absonderung wieder
stark werden. Doch hat der Wechselstrom am Nachmittag nicht mehr die
Stoßkraft wie am Morgen. Die Sonne verliert an Kraft und in demselben
Maße gewinnt der Mensch gewissermaßen Übergewicht über die tragenden
Kräfte des Sonnentages und so vermag er hier schon sehr viel leichter
den Wechselstrom nach seinem Willen zu lenken. So ist es begreiflich,
daß im gesamten Volksleben nachmittags Arbeit und Geselligkeit viel
mehr durcheinander geht als am Vormittag. Am Abend und in der Nacht
wird dieses Übergewicht des Menschentages über den Sonnentag noch
größer. Die Abende werden liebesbetont sein können oder auch werktätig
je nach der Eigengesetzlichkeit des einzelnen Menschenlebens. Erst in
der zweiten Hälfte der Nacht kommt »Es« wieder über den Menschen und
läßt einsame Arbeit erschlaffen oder die Liebesregung einschlafen.
Tiefschlaf kommt und bereitet die neue Morgeneinsamkeit vor.

       *       *       *       *       *

Mit diesem Gesetz von Liebesnähe und Liebesferne innerhalb des
Sonnentages ist nur das allgemeine Schema zu geben. Der Führende wird
ganz sacht und sicher dafür sorgen müssen, daß die Morgeneinsamkeit
und die nachmittägliche Ruhe und die Zeit des Tiefschlafes, diese drei
großen Perioden der täglichen Liebesferne im allgemeinen innegehalten
werden. Das Bild der ganzen Tageseinteilung wird so im Großen stets
nach diesem umfassenden Gesetz geprägt sein müssen. Für jeden einzelnen
Menschen bleibt trotzdem das Wechselstromnetz von Liebesnähe und -ferne
unberechenbar und andersartig an jedem neuen Tage. Denn jeder wandelt
eben das Gesetz in seiner Weise ab. Es wird Tage geben, in denen die
Liebe ganz und gar überflutend den Tag in seiner Richtung ganz allein
bestimmt und es gibt Tage, die allein zur schöpferischen Arbeit oder
zur Versenkung in sich selbst bestimmt sind. Doch kann der Rhythmus des
Wechselstromes auch sehr viel zuckender gehen und vielmals am Tage von
einem Pol zum anderen überspringen. Das läßt sich weder vorher sagen
noch willkürlich beeinflussen. Wie die Pulsschläge des Herzens jagen
oder langsam werden, unberechenbar, unbeeinflußbar durch Willen, so
ist es auch mit dem Wechselstrom von Liebesnähe und -ferne in dieser
seiner kleinteiligsten Rhythmik. Wer hier seiner selbst sicher geworden
ist, braucht keine Furcht mehr zu haben, daß die Liebesferne einsamer
Stunden die Liebe selbst schädigen könnte. Nein, im Gegenteil, gerade
diese Zeiten sind ja Zeiten der Werbung. Wer in der Frühe die Vögel hat
singen hören, weiß es: Jeder Vogel ist ganz in sich selbst, in seiner
schwingenden Stimme, und doch dient dieses alles gerade zur Lockung des
anderen, es bedeutet nichts als Liebeswerbung. So ist es. Wo der andere
Mensch am fernsten ist und ganz in sich selbst zurückgezogen, wirbt er,
lockt er ungewollt und unbewußt am meisten, weil eben ganz aus sich
selbst.

Der Führende muß hier also vor allen Dingen die Furcht voreinander
entkräften, so daß jeder seiner Anvertrauten sich dem Wechselstrom gern
und willig überläßt. Falsche Liebe wird nicht mehr sein, kann nicht
mehr sein, wenn der junge Mensch täglich immer wieder ohne Scheu für
längere oder kürzere Zeit zu sich selbst kommt, wie sein Lebensgesetz
es verlangt. Die meisten Kinder geraten in ihrem täglichen Rhythmus
schon früh durcheinander. Entweder werden sie lieblos behandelt und
die Zeit, in der sie sich mit sich selbst beschäftigen müssen, wird
über Gebühr lang. So ist es vor allen Dingen in den unbemittelten
Schichten häufig genug. Sie leiden dann an Liebesleere. Ihr ganzes
Leben bleibt unerfüllt von Liebe. Und später versuchen sie dann, die
Liebe herbeizuzwingen oder sperren sich trotzig gegen jede Liebesregung
ab. Die Anderen aber, die Kinder reicher und unbeschäftigter Eltern
werden von den Erwachsenen gezwungen, auch in ihren einsamen Stunden
immer wieder Liebe an ihre Umgebung abzugeben. Man beschäftigt sich
dauernd mit ihnen. So werden sie zuletzt hungrig nach sich selbst
und schlaff und arm an Liebeswillen. Der Führer zum Leben muß nun
die Stunden des Tages wägen und niemals zulassen, daß das lebendige
Wechselströmen von einem Pol zum anderen aufhört. Auch muß er darauf
achten, daß die Umschaltung von Liebesnähe und -ferne beliebig schnell
geschehen kann. Dieses erfordert viel Übung. Was ehedem als Erziehung
zur Demut und Selbsthingabe, gesellschaftlich gesprochen, als Erziehung
zur Höflichkeit gelehrt wurde, hat den Übungswert, solche schnelle
Umschaltung gründlich zu lernen. Ein höflicher Mensch hat es infolge
seiner Übung erreicht, sich schnell aus der Selbstruhe oder aus
irgendeiner Arbeit loszumachen, um für den Anderen da zu sein. Nur ist
die Höflichkeit zu einer ein- für allemal gültigen Formel erstarrt.
Und damit wird ja gerade die lebendige Hingabe aus immer wieder neuem
Antriebe erstickt. Die Lust am Gekonntem, am Erlernten ist da zu groß
geworden. Hier bleibt die tägliche Aufgabe des Führenden, den täglichen
Verkehrston der miteinander lebenden und arbeitenden Genossen stets von
neuem auf eine ins Lebendige aufgelöste Höflichkeit abzustimmen. Nur
wenn er selbst vermag, leicht hinüberzuschwingen aus dem liebesfernen
in den liebesnahen Zustand, wird sein Beispiel stark genug wirken.
Er versagt in dem Augenblick, wo er zu schwerfällig in seinem Selbst
bleibt und zu langsam in seiner Bereitschaft.

       *       *       *       *       *

Hier wird das Geheimnis des Miteinanderlebens im Tiefsten berührt.
Zwischen diesem Wechselstrom werden täglich alle Regungen der
Menschen hin und her getrieben und erscheinen in einem Augenblick als
selbsteigenes Werk und im nächsten Augenblick schon als Liebestat.
Das Fernste wird zum Nächsten und Unterschiede sind nicht mehr.
Öfter noch als der Atem, mehrmals in einer Atemsekunde vermag der
Mensch durch eine leichte Umstellung des Wechselstromes zu dem
Grunde hinabzutauchen, wo es keine Unterschiede mehr gibt zwischen
ich und du. Alles Vorhergesagte wird erst an dieser tiefsten Stelle
unmittelbar greifbar. Liebe ist ja nur in einem einzigen verfliegenden
Augenblick spürbar. In einem solchen Augenblick prallen die
Lebensalter aufeinander. Das menschliche Jahr spitzt sich in seiner
Liebesgerichtetheit vielleicht auf einen einzigen solchen Augenblick
zu. Die geschlechtliche Liebe bäumt sich im Augenblick auf. An jedem
Tage kann es unzählige Male zu solchem polaren Zusammenströmen und
Auseinanderströmen kommen. Zwischen inbrünstiger Gespanntheit und
leidenschaftlicher Opferung des Selbst ist das Wechselstromnetz der
liebesnahen und liebesfernen Augenblicke über alle Tage, Monate, Jahre
und Lebensalter des Menschen ausgespannt. Und immer ist der Augenblick
der Umschaltung, der als das Opfer der stets von neuem erzeugten
Wärme von dem +einen+ verlangt, von dem +andern+ geschenkt wird, der
+schöpferische+ Augenblick. Dies Innehalten ist zeitlich nicht mehr
merkbar, so kurz ist es. Es ist die schöpferische Pause in ihrer
flüchtigsten Form, der Blutwelle vergleichbar und wohl auch mit dem
flutenden Blut ein und dasselbe.



Erziehung zum wissenden Leben


Das Wissen ist ein Abbau des Eigenlebens in die Welt hinein. Es gilt
Brücken zu schlagen zwischen all den fremden Dingen ringsum und vor
allem von sich selbst zu diesen umgebenden Dingen. Nur wo dieses
Suchen der Zusammenhänge in dem Drang geschieht, sich selbst abzubauen,
sich liebend hinzugeben, wird die Kenntnis der Dinge zur wahren
Wissenschaft.

Alles andere, was unter dem Namen Wissenschaft heute erscheint, ist
die Überlieferung technischer Fähigkeiten aus einem Wissen heraus, das
der Mensch allmählich erlernt hat. Jede dieser Fähigkeiten erfordert
ein bestimmtes Fachwissen, das man auch außerhalb jedes Zusammenhangs
sich aneignen und üben kann, um dann damit zu arbeiten. All diese
sogenannten Wissenschaften, am offensichtlichsten die medizinischen
und juristischen Wissenschaften, aber auch alle angewandten
Naturwissenschaften und die übrigen Wissenschaften, so wie sie heute
meistens betrieben werden, sind eigentlich solche Fertigkeiten aus
Wissenschaft. Wenn diese Tätigkeiten recht betrieben werden, sind
es Auswirkungen des Menschen selbst, der sie betreibt, Früchte, die
abfallen von seinem Leben. Durch Schaffung günstiger Bedingungen kann
der einzelne Mensch sich so entwickeln, daß er zur Ausübung dieser
Fertigkeiten geeigneter wird als andere. So wie auch der Künstler
sich einer +bestimmten+ Kunst zuwendet und in ihr sein Werk schafft.
In gleichem Sinne könnte der Künstler von seiner Kunst als von seiner
»Wissenschaft« sprechen, denn er schafft ja auch nicht allein aus
sich heraus, sondern eignet sich zuvor und dann immer wieder die
Fähigkeiten der gesamten Vergangenheit an. Bei den meisten der kleinen
Künstler ist das vielleicht nicht so ohne weiteres sichtbar. Aber
schaut man zu den großen, so wird es klar. Leonardo hat den tiefen
Ernst wissenschaftlicher Methode in jedem seiner Werke enthalten. Auch
George besitzt diese herbe Sachlichkeit des wissenden Menschen durch
und durch. Und doch sind sie in jeder Linie ihres Lebens Künstler
geblieben, d. h. Schaffende aus sich selbst.

Grundsätzlich ebenso müßte es auch in allen jenen wissenschaftlichen
Fertigkeiten, in den Fachwissenschaften sein. Dann würden jene groben
Verzerrungen fortfallen, die heute das Leben aller fachwissenschaftlich
arbeitenden Menschen so unmöglich machen. Als Ärzte, als Richter,
als chemische, physikalische, technische Berater der Menschen würden
doch diese alle nur +sich selbst+ ausdrücken wollen und können. Mit
dem Mut zur freien Künstlerschaft! Nicht mehr gebunden an den Wahn,
als könnten sie in den Besitz eines außer ihnen selbst befindlichen
Haufens von Wissen gelangen, das allen anderen unzugänglich sei und sie
zu Auserwählten erhebe, weil sie nun lebenslänglich daraus schöpfen
könnten. Wissen sei Macht, sagt man und wiederholt man überall. So
ist es auch; aber es sollte damit sein wie mit dem Namen Gottes,
den man nicht unnütz brauchen darf. Unheil ist, wenn Wissen schon
von vornherein und allein zum Zweck dieser Machtausübung angeeignet
wird. Und so ist es ja fast ausschließlich heut geworden. Um Geld zu
erwerben, also um dem Anderen überlegen zu sein in der Lebensstellung,
ergreifen die Menschen heut eine Fachwissenschaft als Beruf. Überlegen
sein, mehr als die andern sein, das ist der Wunsch und die Sehnsucht,
die schon in die Kinder unserer hohen Schulen vom ersten Anfang an
eingepflanzt wird. Es ist dieselbe Sehnsucht, die als dunkle Erinnerung
an den vorgeburtlichen Zustand den Menschen zur Besitzergreifung des
anderen Menschen drängt. Schon die kleinen Schuljungen treiben ihr
Lernen ja wie sie ihre Markensammlung betreiben: mehr können, mehr
wissen, mehr haben als die andern, das vor allem läßt sie lernen,
darin werden sie groß gezogen, um es einst den Erwachsenen dann darin
gleich tun zu können. Wissenschaft wird eine möglichst unfehlbare
Vorbereitung zum Geldverdienen und zu Erlangung von Macht. Und die
wenigen, für die Machtübung in dieser primitiven Form nicht mehr den
allgewaltigen Reiz hat, machen ihre Wissenschaft zu ihrem Gott, den
sie anbeten, dessen selbst geschaffener Macht sie sich beugen, weil
sie das Verlangen haben, sich +irgendwem+ zu beugen. Sie sprechen von
der Disziplinierung des Geistes. Fragt man warum, so sagen sie: Eben
um des Geistes willen, um der Wissenschaft willen. Sie konstruieren
ein Gesetz, daß es notwendig sei, +das+ Wissen, +den+ Geist zu hüten,
zu überliefern, zu mehren. Als wäre der Geist, die Wissenschaft ein
Für-sich-selbst-bestehendes, dem man Opfer bringen müßte, um dann
freilich doch nach langem Dienst ein Auserwählter und Liebling dieses
Götzen zu werden und den wohlverdienten Lohn davonzutragen. Also +doch+
zuletzt Entgelt und Lohn!

In Wahrheit kann man doch in lernbaren wissenschaftlichen Fertigkeiten
immer nur sich selbst ausdrücken, genau nach Art des Künstlers.
Wo überhaupt ein Wissender nach +Ausdruck+ sucht, erweist er sich
eben gerade durch diesen Ausdruckswillen als ein +Werkschaffender+,
einer, dessen Kraft gestaltend überquillt und der eben +nicht+ an dem
schauenden Wissen genug hat.

Wahre Wissenschaft will aber nicht mehr Ausdruck, sondern Schweigen.
Wahres Wissen ist streng genommen unüberlieferbar und stirbt mit dem
Menschen, der weiß, unausgedrückt und unausdrückbar durch ein Werk oder
eine Lehre, höchstens hier und da erkennbar in dem Gesamtleben dieses
wissenden Menschen. Alles was +überlieferbar+ ist, also in die Form des
Gekonnten, des Fertigen, des Systems übergegangen, erweist sich damit
nicht mehr als Wissen im Sinn eines unbezweifelbaren Gewißseins. Die
spielende Lust des Gestaltungstriebes hat es vielmehr aus dem Dunkel
der Gewißheit heraufgerissen.

Hiermit ist wieder der entscheidende Punkt erreicht. Wahres Wissen
hat seinen Sinn in der schöpferischen Ruhelage, in die der Mensch
hinabschwingt.

       *       *       *       *       *

Unter vielen Namen wurde diese schöpferische Pause immer wieder und
wieder erkannt. Mit dem Namen +Wissen+ bekommt sie nunmehr ihren
umfassendsten Sinn. Wissen ist allerdings Macht, aber Macht aus der
Ruhe. Dieses letzte Wissen ist +nicht+ notwendig an irgendwelche
Einzelfähigkeiten gebunden, kann nicht gelernt werden, geübt werden,
ist überhaupt willensmäßig nicht zu erreichen, und braucht sich
schließlich auch nicht notwendig in Tat umzusetzen. Sondern dem
Menschen, dessen Leben nach seinem eigenen Gesetz schwingend geworden
ist, können alle Dinge zu +gewußten+ werden, beliebig, sobald er in die
Tiefe seines Bewußtseins hinabsteigt. Irrtum, Täuschung, Nichtwissen
bedeutet dann nur: nicht tief genug hinabgelangen in die Ruhelage,
bedeutet eigenwilliges und freilich oftmals sehr notwendiges Verharren
in irgendwelchen oberen Zwischenschichten.

Das Hinabschwingen in die Tiefen des eigenen Blutes, das Eingehen in
die Atempausen, das Versinken in Tiefschlaf, das Schweigen und innere
Verstummen, aus dem ein Werk aufwächst, die Tiefe der Inbrunst, aus der
die Liebe sich fortgesetzt erneuert ... es ist immer dieselbe Tiefe
der schöpferischen Pause. Diese schöpferische Pause schien bisher
unter allen diesen Benennungen gerade im +Dunkel des Unbewußten+ zu
sein. Was ist dunkler als Blut, als inbrünstige Liebe! Es schien dies
alles als Gnade, als Gottesgabe, als das, was alle Religionen letzten
Endes verehren; die dunkle schaffende Kraft hinter aller lichtbewegten
Gestaltung. Spüren, ahnen, glauben waren die Worte, die diesen Abgrund
des Unbewußten umkreisten.

Doch all dies Unbewußte kann +Gewißheit+ werden. Unsere Worte: Wissen,
Bewußtsein, reichen lange nicht mehr weit genug, diesen Zustand des
Gewißwerdens zu bezeichnen. Sie sind schwach und geringfügig geworden
infolge des verengten und gestrafften Lebens der nördlichen Menschen.
Die Menschen haben den Mut zur Gewißheit des Wissens verloren, weil
sie allzu lange gezählt und gemessen, zerbohrt und zerteilt und
zergliedert, geprüft und gezweifelt haben, wo doch eigentlich alles
zu Tage tritt, unzerlegbar und ganz mit der strahlenden Gewißheit des
Einmalig-Lebendigen. Das Wissen bekam so etwas Lauerndes. Den Dingen
ihre Geheimnisse ablauschen, eindringen in ihre Zusammenhänge, das war
das Streben der Menschen, die sich die Wissenden nannten und als Hüter
des wissenschaftlichen Gutes galten. Sie wollten überwältigen, sie
wollten herrschen über das, was sie mit ihrem Wissen durchschauten.
Dies Herrschgelüste war ja der Grund, weswegen das Wissen Marktware
wurde, ein Gegenstand, der für Geld zu kaufen ist und Geld einbringt.

       *       *       *       *       *

Die entscheidende Wendung, auf die ja jetzt alle Einzelnen wie alle
Völker so inbrünstig warten, kann erst geschehen, wenn Wissen wieder
den umfänglichen Sinn von Weisheit in sich schließen wird. Wissen,
Bewußtwerden, Weisheit, ist der Weg, der zu dem wissenden Abbau des
eigenen Lebens und also zum bewußten Tode führt.

Hier ist die Aufgabe des Erziehers, das ganze junge Leben durch die
Übermittlung des Wissens dem +Tod entgegen zu entspannen+. Es gilt die
jungen Menschen die Fähigkeit zu lehren, daß sie nicht nur aus einem
dunklen Drang in ihre schöpferische Ruhelage hinabzuschwingen vermögen,
sondern hell und klar +wissen+, was sie damit tun und zu welchem Ende
es führt. Leben lernen war der +eine+ Blick, unter den alle bisherigen
Gedankenführungen fielen. Sterben lernen ist der +zweite+ Blick, unter
den diese Gedankenführungen fallen. Der Bildung zum Leben steht die
Erziehung zum Tode gegenüber. Und dies zweite macht die schwierigere
Hälfte der Führungskunst aus.

Zunächst einmal dies zweite gehört untrennbar zum ersten. Wie der
Schatten zum Licht, wie das Tal zum Gebirge. Die Erziehung zum Tode
darf also niemals aufgespart werden. Sie muß immer zugleich da sein mit
der Bildung zum Leben. Alles was bisher gesagt wurde, wäre für sich
allein Lüge ohne die nunmehr folgende Ergänzung. Aber auch umgekehrt:
der schließende Teil dieser Gedankenfolge hat für sich selbst keinen
Sinn, sondern nur im Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen. Es ist
nicht so, als könnte der junge Mensch zunächst einmal leben lernen
gewissermaßen im Treibhaus seiner jugendlichen Kraft und Schönheit.
Dieser Fehlgedanke liegt sehr nahe. Die Jugend, die jetzt jung ist,
hängt sehr fest im Leben. Mehr noch als sonst eine Jugend. Die
großen Sterbezeiten führen da, wo sie zu Ende zu gehen scheinen,
diese Erscheinung notwendig mit sich. Wie viele sind sinnlos leicht
gestorben, ohne zu wissen, was das Leben wert ist. Nun ist es, als
ob das Leben selbst sich empört hätte, als es sein Gut überall
leichtsinnig und unerkannt verschüttet sah. Zeit der Stauung kommt.
Aufbäumung des Lebens gegen den Tod. Stolze, schöne, eigenwillige
Menschen überall, die aber nicht mehr die Beugekraft der Hingabe
besitzen, Vereinsamte, die nicht mehr lieben können. Das sind die
Übriggebliebenen, Brüder von denen, die so jung und zu leicht und viel
zu unwissend gestorben sind.

Das hingebende Wissen, d. h. der wissende Abbau zum Tode ist das, was
ihnen allen not tut. Nur das Wissen, das Verbindungen schlägt, das
Zusammenhänge schafft, also das Ich des Menschen in die Dinge hinein
erweitert und auflöst, hat den großen entspannenden Wert. Was als
Wissen in den Schulen übermittelt wird, bewirkt das Gegenteil. Es macht
gerade zu Besitzenden, die rund und geschwollen von den Wissensstoffen
werden, daß sie ihr eigenes kleines Leben ängstlich festhalten und
niemals das große Leben durch sich hindurchfluten lassen. +Unter
sich+ zusammenhanglos werden die einzelnen Wissenschaften gelehrt
und auch mit den +Lernenden+ nicht in Zusammenhang gebracht. Man
rechnet hier ziemlich leichtsinnig auf die Selbsttätigkeit der jungen
Menschen, während man sie ja sonst auf allen Gebieten, wo sie wirklich
selbsttätig sein können, gängelt. Man beschränkt sich darauf, in den
jungen Köpfen Wissen von ganz verschiedener Art und Gestalt zu häufen:
Geschichte, Physik, Botanik, fremde Sprachen. Fragt man ein Schulkind,
was es eigentlich gelernt hat, so ist die Antwort: in Physik haben wir
jetzt gerade das Gay-Lussacsche Gesetz gehabt, in Geschichte haben wir
das Zeitalter des Perikles gehabt, in Latein haben wir den accusativ
cum infinitiv durchgenommen. Wenn das Kind fleißig ist, kann es das
alles auch hersagen.

Hier ist dann eigentlich überhaupt kaum mehr zu den Zusammenhängen
durchzudringen. Das Kind würde höchst erstaunt sein, wenn man es durch
Fragen dahin lenken würde, die Verbindung zwischen einem physikalischen
und einem grammatischen Gesetz etwa von selbst aufzusuchen. Physik
ist ihm eben Physik, und Latein ist ihm Latein. Für jedes Fach muß er
besonders lernen, mehr oder weniger, je nach seiner Begabung. Aber
es ist unmöglich zu verlangen, daß es von selbst dazu kommt, die
Wissenszweige als miteinander verbundene +menschliche+ Kulturgüter zu
begreifen und also den Punkt zu finden, wo das alles in ihm selbst
verwurzelt ist. Und doch kommt es +nur+ darauf an.

Diese ganze in den Schulen sich so ernsthaft gebärdende Methode,
Wissenschaft zu häufen und zuvor erst noch in kleinste Teile zu
zerpflücken, züchtet recht eigentlich ein +Verharren+ in +kindischem+
Wesen, einen Zustand, für den das Fachwort +Infantilismus+ sehr
zutreffend ist. Die für den Kindergarten und die Spielschule der
jüngeren Kinder +sehr+ richtige Methode, +spielend+ Stoff zu häufen,
wird ausgerechnet an den Stoffen geübt, die einzig und allein eine
spielende Behandlung sehr +schwer+ vertragen, ja ausschließen, an den
Wissensstoffen. Alle +künstlerische+ und +handwerkliche+ Tätigkeit kann
ohne Schaden für die Sache spielend von dem kleinsten Kind versucht
und spielend geübt werden, weil das Wesen dieser Dinge Spiel ist. Aber
ein philosophisch oder gelehrt spielendes Kind wirkt widersinnig,
ja grauenhaft und frivol. Deshalb sind lernende Schulkinder, die
eigentlich spielen müßten und nun spielend das Wissen zerhacken, ein
so erschütternder Anblick. Denn das wahre Wissen ist todernst und der
Gegenpol zu jedem Spiel, nämlich ausdruckslos tief. Wissen ist kein
Kinderspiel. Die zu früh aufgelegte Wissenslast läßt die Menschen nicht
wachsen, läßt sie vielmehr zwergenhaft verkümmern. Die abgemüdeten und
augenschwachen Gesichter und die gebeugten Rücken und dünnen Hälse
heutiger Schulkinder sind Beweis genug.

+Jugend+ ist +stark+. Sie würde vielleicht sogar +diesen+ Widersinn
überstehen, wenn nun wenigstens zur Zeit der Geschlechtsreife eine
Umstellung erfolgen würde. Aber hier geschieht das entscheidend
Verderbliche. Das Wissen wird auch von da an weiter spielerisch
kindisch in den einzelnen Fächern zerpflückt. Man läßt die jungen
Menschen die Wissensstoffe weiterhin zusammenhang+los+ in sich
aufhäufen. Und so wird erreicht, daß die jungen Menschen in ihrer
stärksten schöpferischen Zeit kindisch und interesselos herplappern,
was ihnen eigentlich die erlösende Brücke in die umgebende Welt
sein müßte. Das stärkste Mittel, aus der Enge des eigenen Selbst
sich zu entspannen, das wissende Begreifen, wird zu nutzlosem Spiel
verschwendet.

       *       *       *       *       *

Hier gibt es nur eins: entschlossener Widerstand, Bruch mit der
bisherigen Art der Erziehung. Nicht aus Mißachtung der Wissenschaft,
sondern gerade aus dem tiefen Glauben an den Erlösungswert des wahren
Wissens. Der Führer zum Leben muß die +Erlebnisse+ des jungen Menschen,
welche die erste Entspannung durch Wissen herbeiführen werden, von
Anfang an genau beobachten. Er muß sie in sich selbst mit erleben und
in Reihe bringen. Es handelt sich hier um das In-reihe-bringen der
nachdenklichen, der tiefen Stunden im Leben des Kindes. Alle Kinder
haben von klein auf solche Stunden, öfter oder seltener, je nach der
Anlage. Die Kinder mit großer Lebenskraft haben solche Stunden selten,
aber meist sehr intensiv, die mit geringerer Kraft öfter, aber mit
weniger Nachdruck. Es sind dies die Stunden, wo das Wissen vom Tode
sich zum ersten Mal ankündigt. Der Erzieher kann es fast mit den Augen
sehen, wie das Kind in solcher Stunde durch die Nebelschutzhülle des
Selbst aus sich herausgreift: tastend, fragend: Was ist das? Warum das?

Hier ist der Ort, wo die +Frage+, die erste echte notwendige Frage
entsteht. Diese echte Frage kommt aus dem Grunde des Selbst und darf
nicht verwechselt werden mit den spielerischen Frageformeln der
gewöhnlichen kindlichen Rede. Unter tausend Fragen kommt vielleicht
eine einzige aus dem Grunde, alle anderen hängen wie schillernde Blasen
an der Oberfläche. Alle diese +oberflächlichen+ Fragen verlangen auch
nur spielende Beantwortung. Viel zu ernst nehmen viele Eltern und
Erzieher solche Fragen des Kindes. Das Kind fragt ja meist nur, um sich
bemerklich zu machen, will damit sagen: ich bin auch noch da. Und dies
kann ihm der Erzieher natürlich auch auf andere Weise bestätigen als
durch eine wohldurchdachte Antwort. Menschen, die pedantisch an einem
viel zu engen Wahrheitsbegriff festhalten, fühlen ihr Gewissen sich
regen, wenn sie auf eine Frage nicht gleich wahrheitsgemäß antworten.
Es sind dieselben, die Märchen unwahr schelten, die Lüge und Geheimnis
verwechseln, die lachenden Ernst nicht kennen. Die meisten Fragen
wollen +nur+ gehört, +nicht+ beantwortet werden.

Ganz selten einmal kommt aber doch unter den hundert anderen die eine
echte Frage auf und die gilt es dann festzuhalten. Wo jede Frage des
Kindes +gleichmäßig+ sorgfältige Behandlung findet, ist es unmöglich,
Unterschiede in der Bewertung der Fragen zu machen. Man erklärt und
antwortet dann einfach immerfort und betont die Antwort auf die
wesentliche Frage gar nicht stärker als die Antwort auf die anderen
Fragen.

Wahllosigkeit in der Beantwortung frühester Kinderfragen ist in der
Tat sehr viel schuld an der allgemeinen Gleichmacherei heutiger Zeit.
Unterscheidungsvermögen, Bewertung, Urteil kann den Kindern nur
anerzogen werden, wenn sie schon sehr früh aufmerksam werden auf die
Schichten verschiedener Tiefe in ihnen selbst, aus denen ihre Fragen
kommen. Und das kann eben wieder nur geschehen durch eine +verschieden+
betonte Beachtung ihrer Fragen. Die Bewertung der Fragen muß also sehr
verschieden sein. Die obersten Schichten der Fragen kommen unmittelbar
selbsttätig hervor unter dem mehr oder weniger leichten Druck der
alltäglichen Freuden und Leiden des Lebens. Diese Fragen bezeugen
zugleich die durchschnittlich sehr hohe Anteilnahme jedes Kindes an der
Außenwelt. Fragt es, so will es damit sagen, dies Ding macht mir Spaß,
oder das tut mir weh.

Die oberste Schicht der Fragen stammt noch aus der Zeit, wo das Kind
vollständig in den dunklen Besitzwünschen seiner vorgeburtlichen Zeit
befangen war. Den allerersten, besitznehmenden, hinzeigenden Gebärden
des Kindes entsprechen seine ersten Worte: da ... da. Es will damit
zeigen, was es haben will. Zunächst gibt es da keine Frage, alles
ist fraglos gewiß. Auch die Fragenschicht bei dem etwas älteren
Kinde hat noch nahezu den gleichen, hinweisenden Gewißheitswert.
Aber es mischt sich doch bereits das erste, leise +Erstaunen+ mit
hinein und verwandelt so das einfach hinweisende +Da+ in das +Was
ist da+. Das heißt, der andere soll doch auch hinsehen, was da so
Seltsames ist. Das Staunen entsteht also aus einer, wenn auch noch so
leisen +Stauung+ des bis dahin allumfassend gewesenen Besitzwunsches
und findet damit zugleich die erste Form der Mit-Teilung in dem
fragenden Tonfall. Diese erste Stauung, Formprägung, Mitteilung ist
für die Geschichte der Menschen von so gewaltiger Bedeutung wie in
der Erdgeschichte die erste leichte Krustenbildung über der feurigen
Kugel. Diese erste Kräuselung bedeutet Anfang und Bedingung für jedes
selbständige Einzelleben. Die staunende Regung in der Frage des Kindes
muß also vor allen Dingen durch die Antwort befriedigt werden. Nicht
Erklärung, sondern Mit-Staunen, Mit-Freude, Mit-Leiden sind die beste
Antwort. Nur Eltern und Erzieher, für die die Dinge selbst noch höchst
staunenswert sind, können allerdings von innen her die Fähigkeit
aufbringen, sich mitzufreuen restlos und vorbehaltlos, weil auch für
sie das Leben in seinem Kern unerklärlich geblieben ist. Wo ein Mensch
sein Leben schon so zersetzt hat, daß er sich nicht mehr staunend in
überströmender Freude einer einzelnen Erscheinung oder auch einem
großen zusammenhängenden Geschehen hinzugeben vermag, ist er als
Erzieher nicht mehr geeignet. Dies ist vielmehr der Prüfstein aller
erzieherischen Fähigkeiten. Nur dieses Vermögen zur unbedingten Freude
an den Dingen ermöglicht es, die Fragen des Kindes nach ihrer Schwere
zu sondern, die leichten spielend leicht dem Kind wieder zurückzuwerfen
und nur die wenigen schweren zu behalten.

       *       *       *       *       *

Wie sind solche schwerwiegenden Fragen nun eigentlich beschaffen,
bei welchen Gelegenheiten kommen sie heraus? Solche Fragen tauchen
auf, immer da, wo das Kind in seine Ruhelage hinabschwingt, wo es
nach erregtem Spiel tiefatmend sich niedersetzt, am Abend eines
sonnedurchglühten Tages, in den Reifezeiten des Jahres und vor allem
zu Zeiten, in denen das Kind seinem Beschützer in kindlicher Inbrunst
zugetan ist. In diesen Zeiten muß der Führer ganz offen sein. In
solcher Ruhezeit sieht das Kind dann vielleicht zum ersten Mal ein
Tier, eine Katze oder einen Sperling +wirklich+ als ein Wesen außer
ihm, fern von ihm, nicht mehr als das selbstverständliche Besitztum
kindlichen Machtwillens. Es ahnt zum ersten Mal: fern von mir ganz
unbeteiligt und unbekümmert um mich geht dies alles da draußen seinen
Weg durchs Leben. Und es flüchtet sich die dunkle, die echte Frage
aus dem Innern des Kindes hilfeflehend an seinen Beschützer: Was
geschieht da so fern von mir? Hier geschieht in dem Kind selbst etwas
unsagbar Schmerzhaftes, etwas wie eine zweite Geburt. Der Abgrund des
Getrenntseins reißt sich auf. Dem Erzieher bleibt nur übrig, dem Kinde
auf solche ernsthaft fragende Regung hin zu bestätigen: Ja, dieses
Tier, dieser Vogel ist ganz und gar außerhalb deines Bereiches. Und
wenn du dich auch noch so sehr anspannst, du hast keine Macht darüber.
Ja, auch wenn du diesen Wesen etwas antun willst, wenn du sie quälst
oder tötest, tust du ihnen nur Unrecht an. Und du vermagst doch
niemals, sie zu besitzen. Höchstens sterben sie dir, und ihr Leben
zerrinnt dir dann unter den Fingern. Kindliche Grausamkeit hat hier, wo
die echte, die dunkle Frage auftaucht, ihren Ursprung und kann darum
niemals durch Verbot und Ermahnung bekämpft werden, sondern nur aus
dem Wissen heraus, wie schwer es ist, diesen Abgrund des Getrenntseins
zwischen sich selbst und den Dingen zu begreifen und anzuerkennen.
Grausamkeit ist ja nur das Nichtbegreifen, das Sichwehren gegen diese
Wahrheit. Es ist die Rache des Unwissenden, der sich an dem schuldlosen
Gegenstand vergreift, zu der Zeit, wo er merkt, daß er doch nicht
allmächtig ist.

       *       *       *       *       *

Aus der Tiefe seines Wissens heraus muß der Erzieher in solchem
Augenblick und später bei ähnlichen Gelegenheiten immer wieder dem
Kinde das fremde Leben ringsum begreiflich machen.

Von Ehrfurcht war schon die Rede als von dem trennenden Wall
zwischen den Menschen, der die Liebe zueinander hemmt und doch
zugleich anwachsen läßt. Ehrfurcht in noch umfassenderem Sinn ist
das verbindende Medium zwischen den Menschen und allen Dingen. Wenn
die Erfahrung, daß die Dinge fern und fremd sind, dem Kinde nicht
mehr verschleiert ist, wird sich an einem schöpferischen Tage der
Besitztrieb stauen. Und wenn der Damm, der da entsteht, liebewärts
aufgestaut war, so wird nun damit in dem nachdenkenden Kinde das
wirkliche, das ehrfürchtige Wissen von den Dingen anwachsen.

Es gibt daraufhin vorbereitende Arbeit. Der Erzieher wird das
Gedächtnis des Kindes üben, indem er ihm die Dinge, nach denen es
erstaunt fragt, +benennt+. Benennung ist nicht Erklärung, soll
zunächst einmal nur die Fülle, die fremd vor dem Kinde da liegt,
zerteilen, gliedern, unterscheiden lassen. Nicht +näher+ soll ihm
das alles durch die Benennung gebracht werden. Es soll die Dinge an
ihrem Namen nur behalten und aufreihen lernen, wie es ihm beliebt.
Durch die Namengebung wird eigentlich den Wesen und Dingen ringsum
Ehrfurcht bezeugt. Menschen im Zustand von Begierde kommen noch nicht
zu eingehender Namengebung. Namen gibt man erst den Dingen, an denen
man Freude hat und vor denen man sich fürchtet. So kann im Kindesalter
Ehrfurcht hauptsächlich durch Namengebung vermittelt werden. Darum
ist es so besonders wichtig, daß dem Kinde auch +wirklich+ nur die
Dinge, nach denen es fragt und die ihm verwunderlich erscheinen,
benannt werden. Wo ein Kind mechanisch lernt, ohne vorher von seinen
staunenden Sinnen zu der Frage geführt zu sein, wird die Ehrfurcht vor
dem Ding dadurch von vornherein untergraben. Es lernt viel zu viele
Dinge benennen und erklären, ehe es sie überhaupt gesehen hat. Es wird
»blasiert«.

Das ist fast niemals wieder gut zu machen. Wenn es nämlich später
einmal das Ding in Wirklichkeit sieht, dessen Namen ihm schon bekannt
ist, ist seine staunende Regung abgestumpft. »Ach, das weiß ich
schon, das kenne ich schon« sagt es, kommt also gar nicht zur Frage
von innen heraus. Der vorher gewußte Name hindert zu der Wirklichkeit
und zu der Freude daran zu kommen. Und dies leiert sich dann so
weiter. Die heutige wissenschaftliche Bildung tut ja -- wenige
Ausnahmen abgerechnet -- die gleiche beschreibende, also gewissermaßen
vorbereitende Arbeit, ohne doch jemals zu dem eigentlichen Zweck der
Wissenschaft durchzustoßen. Es wird fieberhaft an dem »Rüstzeug«
für das Wissen gearbeitet. Aber das Rüstzeug wendet man nur immer
wieder an, um neues Rüstzeug damit herzustellen. Der Hochmut der
»wissenschaftlich Gebildeten« ist der zurückgebliebene Stolz, die
»Blasiertheit« der Kinder, die viel »wissen«, das heißt viel Namen
gelernt haben und dabei das Fragen gründlich +ver+lernt haben. Und
das alles geschieht, weil an der entscheidenden Stelle die Erziehung
versagte.

       *       *       *       *       *

Zur Zeit der Geschlechtsreife wächst der Wissenstrieb mit einem
gewaltigen Schuß aus der Tiefe des Menschen. Das einzige Begehren
der jungen Menschen ist zu dieser Zeit: das Dunkel über ihre
Geschlechtlichkeit aufzuhellen, zu +wissen+, was mit ihnen vorgeht.
Darüber wurde schon gesprochen. Es muß noch einmal aufgegriffen werden,
soweit es sich hier um den Trieb zu +wissen+ handelt.

Der junge Mensch fühlt an seiner Geschlechtlichkeit sein Bewußtsein
überhaupt erst erwachen. Alles in ihm wandelt sich. Er muß darüber
staunen. Es wächst an, erfüllt ihn ganz und gar und wird nun in ihm
zu der brennenden Frage: Was ist das? Und daraufhin erhält er dann
entweder eine Antwort, die der heute geltenden Wirklichkeit vielleicht
gemäß sein mag, aber nicht der Wahrheit auf den Grund geht. Er wird in
»beschreibendem« Sinne geschlechtlich aufgeklärt. Er erfährt, +wie+ das
alles ist, keineswegs aber +warum+ das so ist. Die Folge davon ist,
daß er dann bald aufhört, zu fragen, weil ihm eben alles fraglos wird.
Oder er erhält keine Antwort darauf, sondern muß seine gewöhnliche
Lernarbeit weitertun. Also ein viel zu schnelles und lediglich
beschreibendes Wissen oder gar kein Wissen überlichtet oder verdunkelt
sofort das eben erwachende Bewußtsein. Was wird daraus? Eitle,
blasierte, rücksichtslose Menschen, denen gar nichts mehr geschehen
kann, für die das Leben eine ganz selbstverständliche Rechenaufgabe
wird, auf der einen Seite. Finstere oder geduckte Menschen, die allen
anderen und sich selbst mißtrauen, auf der anderen Seite.

Hier hat der Führer zum Leben seine letzte Aufgabe, aus der
geschlechtlichen Frage über alle Vorbereitungen und Beschreibungen
hinweg zu der Tiefe des wahren Wissens zu führen. Dabei muß ihm
unablässig gegenwärtig bleiben, daß alle Fragen in dieser Zeit aus
dem Dämmern der geschlechtlichen Kräfte entstehen. Davon war schon
eingehend die Rede. Er muß ihnen Räume öffnen, die sie selbst dann
mit ihrer eigenen Fragekraft überspannen können. Das Kind hat vorher
gelernt, die Dinge ringsum zu benennen und aufzureihen und in diesem
untergeordneten Sinn zu wissen. Jetzt aber prallt die Frage: was ist
das, wirkungslos ab an der Härte der geschlechtlichen Problematik.
Beschreibende Aufklärung +kann+ hier nicht mehr genügen, weil ja zum
ersten Mal der Gegenstand der Frage sich nicht mehr +außerhalb+
befindet, sondern in dem fragenden Selbst, in seiner eigenen Tiefe
steckt. Helfen kann ihm jetzt nur Begründung, Entwicklung, Einsicht
in die Zusammenhänge. Mit jenem tiefen Bezug auf den Fragenden selbst
heißt die Frage jetzt einzig und allein: warum.

       *       *       *       *       *

Zwei große Zusammenhangsreihen werden sich von nun an dem in einem
neuen Sinn Fragenden auftun. Die erste Fragereihe geht auf örtliche,
auf gleichzeitige Zusammenhänge, verbindet alles Gestaltete im
Raum unter einander und mit dem Schauenden selbst. Antwort auf die
Frage wird hier immer mehr oder weniger gleichnishaft bleiben.
Erkenntnis der Ähnlichkeit der Dinge in Gestalt und Lage, Erkenntnis
der Verwandtschaft in Stoff und Trieb und Richtung wird das bunte
Durcheinander ordnen und auferbauen, bis es licht und klar und einfach
erscheint. Hier kann die Naturwissenschaft, wenn sie sich über die nur
benennende, beschreibende Vorform erhoben hat, als +Formenlehre+ in
einem umfassenden Sinn Aufschluß geben.

Die Verwandtschaft der Formen in der Erscheinung der Dinge wird
aber dem Fragenden nicht genügen. Fragt er weiter, so stößt er auf
die zweite Reihe, auf die zeitlichen Zusammenhänge der Dinge. Das
Schaubare, Gestaltete ist ja nicht nur räumlich verbunden, ist nicht
nur einander ähnlich und verwandt in seiner Erscheinung. Es gibt auch
unsichtbare Zusammenhänge in die Tiefe der Zeit hinein. Zusammenhänge,
in denen gewissermaßen ein Verbindungsstück zu fehlen scheint.
Entwicklung, Geburt und Wiedergeburt, die Ursächlichkeit der Dinge
wird hier Problem. Die Antwort gibt sich hier nicht in gleichnishafter
Form sondern in Form des Schlusses. In den Geisteswissenschaften, den
Kulturwissenschaften, in der Geschichte können hauptsächlich solche
zeitlichen Zusammenhänge vermittelt, solche ursächlichen Probleme
gestellt werden.

Die räumlichen Erscheinungsformen der Dinge können nur durch das Mittel
des Vergleichens verbunden werden. Die zeitlichen Entwicklungsformen
der Dinge können nur durch das Mittel der Schlußfolgerung verbunden
werden. Überlieferung von Wissenschaft hat nur so weit Sinn, wie die
Dinge entweder in vergleichendem oder folgerndem Sinn untereinander
verbunden werden. Alles andere bleibt kindische Stoffhäufung,
Vorbereitung auf Wissenschaft, nicht aber Wissenschaft selbst.

Aber beide Möglichkeiten, Verbindungen zu schaffen in die Weite
des Raumes und in die Tiefe der Zeit, werden lebendig nur bei der
vollkommenen Hingabe und Ehrfurcht des Wissenden. Denn die bloße
Fähigkeit, jene Verbindungen zu schaffen, genügt an sich noch nicht.
Inbrünstige Hingabe muß die Spannkraft von dem Wissenden selbst zu den
Dingen erst gewaltig anwachsen lassen.

Wenn aber ein junger Mensch zur Zeit seiner Reife diese Spannkraft der
Hingabe, die er ja dann im höchsten Maße besitzt, ganz und gar in eine
Wissenschaft einströmen läßt, sich selbst zum ersten Mal abbaut, sich
auflöst, sich ganz und gar vergißt und vergießt in das Schauen jener
großen zeitlichen oder räumlichen Zusammenhänge, so hat dies erste
wissende Schauen hohen +Erlösungswert+. Es ist das Eingehen in die
schöpferische Ruhelage des klaren Bewußtseins.

An dieser Stelle ist wie stets der Herd der Gefahr.

       *       *       *       *       *

»Tödlich kann lehre sein dem der nicht fasset«. So steht es in einer
Tafel vom »Stern des Bundes« geschrieben. Und nicht nur da. Von überall
her bricht es in breitem Strom in das eng gewordene Bett europäischer
Wissensbehandlung. Nicht mehr darf jeder in dem seicht und träge
fließenden Fluß ungestraft und eigenmächtig seinen Vorteil fischen.
Schon schwillt der Strom, wird wieder tief und reißend und grundlos.
Wissen wird gefahrvoll, ja todbringend für jeden, der zu früh oder aus
irgendwelchen eigensüchtigen Gründen sich hineinwagt.

Und wie es wieder Hüter vor dem Liebesgarten gibt, wird es auch
Hüter an diesem Strom geben. Ritter in blanker Rüstung, einsame,
unbestechliche, riesenhafte Gestalten, Männer, die schweigend alles tun
und alles lassen können, die mit der wissenden Gewalt ihres Wesens ihre
Lehrlinge nach langem eigenen Suchen das Wissen in sich selbst finden
lassen, die gütig einen jeden nach seiner Stärke und seinem Bemühen,
aber immer nur soweit sein Umkreis reicht, ins Wissen steigen lassen,
die herb und streng jeden Unbereiten fortschicken.

Männer, die niemals greisenhaft und grämlich werden, die nach ihrem
erfüllten Leben, wie hier und da die alten Überlieferungen berichten,
den Blicken der Mitlebenden entrückt werden, indem sie wissend und ganz
leuchtend geworden ihr eigenes Leben restlos verzehrt haben.

Diese sind die wahrhaft Wissenden, die Hüter des tiefen Stromes, die
nicht mehr absichtlich und für alle sichtbar in Erscheinung treten und
sich nicht mehr in Werken und Taten bis ans Ende ausdrücken. Es sind
die Entschwindenden, die wissend sich auflösen und mitten im Leben
schon mit dem Tode beginnen.

Schon sind sie vielleicht in ihren Gebärden wieder den gänzlich
Unwissenden ähnlich geworden, einfach und unauffällig, aber doch von
einem inneren Licht strahlend.

Es sind Menschen, an die man glaubt, glauben muß, weil sie in ihrem
ganzen Wesen die schöpferische Ruhe begehrenswert schön verkörpern,
ohne daß etwas Außerordentliches an ihnen und durch sie zu geschehen
brauchte. Nur daß man weiß: sie +sind+, läßt still werden und ganz
stark zu eigenem Leben und Leiden, zu eigenem Können und Wissen.

Nicht daß das Leben beschwerlich sei und verdienstlich, sondern
vielmehr leicht und schön, voller Leid und Freude, aber immer von einer
gleitenden Einfachheit, geht wie ein Duft von ihnen aus.

So daß alle, die in Berührung damit kommen, aufatmen und plötzlich in
sich spüren: es ist ja nicht schlimm. Wir schwimmen ja ganz von selbst
im Meer des Lebens. Überall ist alles. Nirgendwo ist nichts. Lassen wir
uns fallen, lassen wir uns gleiten in dies Überall und Nirgend. Von
+außen+ so schwer es schien, ist ja gar kein Widerstand da. +Innen+
war es, da hat es sich gestaut. Und nun? Eine einzige lösende Gebärde,
vielleicht nur ein mit leichtem Nachdruck hochgehobener Arm genügt
schon, wieder hineinzugleiten in die allgemeine Bewegung.

In ihnen wird offenbar, was jeder in jedem Augenblick dunkel in
sich ahnt: die unaufhörliche Wiedergeburt mit jedem tiefen Atemzug,
mit jedem neuen Morgen, mit jeder erwachenden Jahreszeit, mit jedem
neuen Lebensalter, mit jedem reifenden Werk, mit jeder inbrünstigen
Liebesregung, mit jeder schöpferischen Gewißheit.



Fußnoten


  [1] In den Upanishads des Veda werden die Zusammenhänge von
      Ritus und Atemlehre besonders deutlich (Übersetzung von
      Deussen: 60 Upanishads des Veda, Leipzig, Brockhaus). In der
      Mazdaznan-Atemlehre von Hanisch ist der allerdings leicht zu
      willensüberspannter Einseitigkeit verführende Versuch eines
      Systems der Atemlehre gemacht worden.

  [2] Der Verfasser leitet in Prerow an der Ostsee ein Ferienschul- und
      Jugendheim und gibt auf Wunsch darüber nähere Auskunft.

  [3] Die monatliche Periodik im Leben des Menschen untersucht Wilhelm
      Fließ in seinen Büchern (Verlag Diederichs) auf Grund einer
      gewaltigen Beobachtungsfülle.

  [4] Untersuchungen über innere Sekretion sind gerade jetzt in den
      medizinischen Zeitschriften vielfach zu finden.



Inhalt


                                                        Seite

    Rhythmische Schwingungen                                1

    Blutschwingungen                                        2

    Atemschwingungen                                        3

    Tagesschwingungen                                       5

    Das Bild eines Tages                                    9

    Monats- und Jahresschwingungen                         15

    Lebensalter                                            19

    Rhythmischer Wechsel von Schwäche und Kraft            32

    Rhythmische Leistung                                   41

    Die allgemeine Bildung                                 43

    Die Berufsbildung                                      46

    Ausbildung in den Ausdrucksmitteln der Künste          49

    Der Tanz                                               51

    Die Sprachbildung                                      51

    Der Ausdruck mit den Mitteln der bildenden Künste      57

    Über den Tod                                           61

    Liebe als Macht                                        66

    Ehrfurcht als Liebeshemmung                            68

    Leidenschaft und Inbrunst                              71

    Der Rhythmus der Liebe innerhalb der Lebensalter       73

    Rhythmus der Liebe im Jahr                             79

    Der sexuelle Rhythmus der Liebe                        79

    Die tägliche Erneuerung der Liebe                      90

    Erziehung zum wissenden Leben                          93


Gedruckt bei Radelli & Hille in Leipzig.



Eugen Diederichs Verlag in Jena


Zeitwende

Schriften zum Aufbau neuer Erziehung


Heft 1. Wilhelm Flitner, Laienbildung br. M 10.--

Mit dieser Schrift des Leiters der Jenaer Volkshochschule ist das
Bildungsideal der Zukunft so formuliert, daß es neben dem bisherigen
Ideal Humboldts der sich selbst lebenden Persönlichkeit fest dasteht
und an Stelle von dessen Scheintotalität die wirkliche menschliche
Totalität erobert. Das Humboldtsche Bildungsideal bevorzugte die
kontemplative Menschenart vor der tätig praktischen und bewirkte eine
einseitige Vorherrschaft des wissenschaftlichen Tuns im geistigen
Leben. Der im Leben praktisch tätige Mensch, der +Laie+, verknüpft
dagegen stets Erkenntnis mit Handeln. Wir müssen darum dahin kommen,
gegenüber dem Aufbau der Schulbildung von Volksschule bis zur
Universität eine Spannung des Bildungsbegriffes durch +pädagogische
Laiengemeinschaften+ zu erzeugen. Diese neuartige Gemeinschaftsbildung,
die bereits in den Keimen existiert, verdeutlicht der Verfasser auf den
Gebieten der Musik, Sprache, Dichtung und bildenden Kunst. Es geht ein
stark kultisch-religiöser Zug durch seine Darlegungen.


Rudolf Bode, Der Rhythmus und seine Bedeutung für die körperliche
Erziehung. Mit fünf Zeichnungen von Ludwig Eberle. br. M 8.--

+Dresdner Anzeiger+: Bode geht an den Grundbegriff der Sache heran und
regt vor allem an, über den großen Fehler nachzudenken, der allgemein
mit dem Begriff Rhythmus verbunden ist, und der sowohl Büchers viel
zitiertes Buch »Arbeit und Rhythmus« als auch Dalcrozes Anschauungen
beherrscht, die Verwechslung von Rhythmus und Takt (Regel). Man kann
Bodes Ausführungen auf die kurze Formel bringen, Rhythmus ist das
Unbegrenzte, das ewig Schwingende, Takt das Begrenzte, das sich in der
Wiederholung regeln läßt. So spitzt sich die Forderung der rhythmischen
Erziehung darauf zu: den Körper fähig zu machen, Ausdrucksorgan der
ganz persönlichen inneren Beschwingtheit, des wahren Rhythmus zu
werden. Fünf von Ludwig Eberle beigesteuerte Zeichnungen rhythmischer
Bewegungstypen ergänzen die Bodeschen Ausführungen wertvoll.


Ottmar Rutz, Menschheitstypen und Kunst. br. M 30.--, geb. M 45.--

+München-Augsburger Abendzeitung+: Über allen Rassen und Völkern
im landläufigen Sinn stehen die »Typen« oder »Urgeschlechter« der
Menschheit. Das oberste und letzte gestaltende Prinzip ist der
seelische Menschheitstypus: er gestaltet -- neben und in Änderung
der Gesetze der Materie -- den menschlichen Körper, den Typus
seiner Nerven- und Bluterregung, seiner Muskeltätigkeit, seiner
Atmung, Stimmtätigkeit, Rede und Gesang. Er gibt der gesamten Kultur
die typische Richtung, Gestalt und Form. Drei letzte seelische
Menschheitstypen sind festgestellt worden. Um Typus und Spielart für
den einzelnen Menschen als Persönlichkeit und als Vertreter eines
Volkes festzustellen, hat sich eine besondere Untersuchungsmethode
entwickelt: sie setzt praktisch in den Stand jene seelischen
Eigenschaften zu entwickeln, die den einzelnen Menschen und durch
die Masse von Einzelmenschen gleicher Gattung ein Volk beherrschen.
Diese »Typenprobe« gibt den Schlüssel zur typischen Persönlichkeit,
ohne Voraussetzungen, ohne vorgefaßte Meinung, unbestechlich, an Hand
der praktischen Erfahrung, die jeder nachprüfen kann. Das von der
Rassenforschung so lange gesuchte Unterscheidungsmaterial für die
seelischen Verschiedenheiten oder Ähnlichkeiten der Völker ist damit
gegeben.


Wilhelm Fließ, Vom Leben und vom Tod. Biologische Vorträge. 8. Tausend.
br. M 20.--, geb. M 35.--

+Deutsche Tageszeitung+: Alles Leben, sagt Fließ, läuft nach einem
inneren, in der lebendigen Substanz selbst gegebenen Mechanismus
ab, und dieser Mechanismus ist für Menschen, Tiere und Pflanzen der
gleiche. Leibliches und geistiges Wachstum, Geburt und Tod, der
Zusammenhang der Generationen erweisen das Vorhandensein zweier alles
Leben durchwaltender Perioden von 28 und von 23 Tagen. Die Statistik
wird durch diese merkwürdigen Zahlen auf einmal hell und durchsichtig;
Geburts- und Sterbestatistik gewisser Krankheiten, wie Tuberkulose,
Diabetes, Schlaganfall, Gallensteine, erweist das geheime Walten dieser
Zahlen. Das Buch ist nicht nur ein Genuß wegen des wissenschaftlichen
Neuen, das es enthält, sondern diese neue Fließsche Arbeit ist auch
jedermann verständlich geschrieben, der lernen will.

+Pester Lloyd+: Was Fließ verkündet, ist kein Geringes; denn er hat
nichts weniger entdeckt als ein Naturgesetz, auf Grund dessen sich
das ganze Dasein nach einer inneren Ordnung abrollt und die Zeiten
des Geborenwerdens und Sterbens, des Wachstums und des Vergehens
ihren festen und vorbestimmten Platz in der uns genau zugemessenen
Lebensdauer haben. Das statistische Material, an dem Fließ sein Gesetz
demonstriert, ist sicher über allen Zweifel erhaben, und unzweifelhaft
scheint es auch, daß die neue Lehre befruchtend und aufklärend auf alle
naturwissenschaftliche Sonderzweige wirken wird, ja vielleicht wirklich
das ewige Mysterium vom Ablauf des Lebens im Hauptprinzip löst. Die
Mathematiker haben längst erkannt, daß sich der Forscher, angesichts
der Tatsache, wie sich jahrzehntelange Epochen in der Entwicklung
ganzer Geschlechter dem Fließschen Zahlengesetz fügen, auf richtiger
Spur befinden muß.


Wilhelm Fließ, Das Jahr im Lebendigen. br. M 30.--, geb. M 45.--

In diesem Buch führt Fließ seine Lehre weiter und zeigt, daß beide
Perioden der männlichen und weiblichen Substanzeinheiten im Jahr ihre
höhere Einheit finden. Es leben in unserem Körper also sozusagen
Erinnerungsbilder an kosmische Einflüsse, an die Geschwindigkeiten
des Sonnenlaufes und der Achsendrehung unseres Planeten. Durch diese
Weiterführung der Fließschen Lehre eröffnet sich die Aussicht,
daß eines Tages eine astronomische Kenntnis für die zeitliche
Gesetzmäßigkeit des Lebens ermöglicht wird.

+Natur und Gesellschaft+: Das vorliegende Werk bildet eine wesentliche
Ergänzung der früheren Veröffentlichungen des Forschers. Es räumt auf
mit der klimatischen Erklärung von Blüte und Brunst und zeigt den
Ablauf des Jahres in der lebendigen Substanz. Diese Jahresimmanenz wird
an einem umfassenden genealogischen Material bewiesen. Fließ ist in die
Forschergruppe von allergrößtem Geistkaliber einzuordnen. Er vereinigt
Scharfsinn mit Intuition.


Hans Schlieper, Der Rhythmus des Lebendigen. br. M 15.--, Pappband
M 25.--

+Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für psychische Forschung+:
Schliepers Buch schließt sich zwar an Fließ an, aber als Ganzes
stellt es eine durchaus selbständige Arbeit dar. Schlieper hat selbst
eine Reihe gründlicher Untersuchungen angestellt und damit die
Forschungsergebnisse von Fließ bestätigt gefunden und im einzelnen
erweitert. Vor allem aber ist sein Buch darin von außerordentlichem
Wert, daß es für alle Weiterstrebenden eine solide Grundlage für eigene
Forschungen ist, denn es enthält einen Überblick über die Resultate der
bisherigen Forschungen, zugleich bietet es eine lichtvolle Darlegung
der Technik, die zu solchen Arbeiten erforderlich ist. Nicht nur die
Biologie, auch die Psychologie und schließlich die Philosophie werden
aus diesem Forschungsgebiete bedeutende Anregungen erhalten.


Hans Hackmann, Die Wiedergeburt der Tanz- und Gesangskunst aus dem
Geiste der Natur. br. M 10.--

+Sozialistische Monatshefte+: Hackmann erblickt im reinen Rhythmus den
unmittelbaren Ausdruck des Körperwillens und damit des ursprünglichen
unbewußten Gefühlslebens. Deshalb strebt er eine Reform des Tanzes wie
des Gesanges an, im Sinne einer wahrhaft aus dem Rhythmus geborenen
Kunst, während er z. B. unserer modernen Tanzkunst den Vorwurf des
Intellektualismus macht, weil sie, ähnlich wie die Programmusik auf
bewußte Darstellung eines geistigen Gehaltes abziele. Es ist gerade
das Verdienst der Hackmannschen Schrift, daß sie die Notwendigkeit
der Technik als der bewußten Formung des unbewußten rhythmischen
Ausdruckes betont und den zu Unrecht als intuitiven Schwung gepriesenen
dilettantischen Mangel an Technik und künstlerischer Durcharbeitung
beim Tanz wie beim Gesang scharf zurückweist.

+Alfred Kurella+: Es ist die erste Arbeit, die sich systematisch
mit einem Thema beschäftigt, welches schon lange in den engeren
jugendlichen Gemeinschaften eine große Rolle spielt: +mit dem
Körpergefühl und seiner Erziehung+. (Freideutsche Jugend)


Hans Hackmann, Die Entwicklung der Seelenkräfte als Grundlage der
Körperkultur. br. M 20.--, geb. M 35.--

+Der Bund+: Der Abendländer krankt am Zu-vielen-Wollen und -Wissen.
Das erzeugte den Krampf und den Hochmut unserer Kultur. Es gilt, ihn
zu lösen von der lebendigen Seele, vom Lebensgefühl her. Es gilt vor
allem, den Körper wieder als Organ und Träger des Seelischen neu
zu entdecken und fähig zu machen. Praktisch sind die Bestrebungen
vor allem im neuen Tanz und einer neuen Rhythmik versucht worden.
Dies Buch gibt die psychologische Grundlage für diese praktischen
Versuche und versucht auch eine Theorie der Methode zu geben, die vom
Körper her Seelisches entwickeln will. Unsere Zeit entdeckt neu den
Zusammenhang von Seele und Leib. Auch die Medizin hat auf dem Gebiete
dieser Zusammenhänge noch Größtes zu erwarten. Der Verfasser gräbt
überzeugend zu jenen bildenden Kräften hinab, die die treibenden
Faktoren aller Entwicklung, Heilung und Erziehung sind, und befreit in
diesem Bestreben zusehends den Körper von der Mißachtung, in der ihn
Intellektualismus unserer abgelaufenen Kultur gehalten hat. Das Ganze
aber ist in den Rahmen einer geistigen Weltanschauung gestellt, die
eine neue Synthese zwischen Orient und Okzident sucht.


Ferdinand Lagrange, Physiologie der Leibesübungen. A. d. Französischen
von Ludwig Kuhlenbeck. br. M 35.--, geb. M 50.--

+Akademische Sportblätter+: Der Hauptwert des Buches liegt in seiner
Methode, in der praktischen Anordnung des Inhalts, der geschickten
Verarbeitung eines reichen Beobachtungsmaterials und der klaren,
induktiven Logik, mit der Lagrange verfährt; dann aber auch in seinen
Ergebnissen, die dem physiologisch Ungeschulten teils neu, teils zum
ersten Male verständlich erscheinen werden. Seine Ausführungen werden
in ihrer Einprägsamkeit noch gehoben durch einen überaus flüssigen und
bewegten, an treffenden Vergleichen und prägnanten Bildern reichen
Stil, dessen Frische die Übersetzung gar nicht zu beeinträchtigen
scheint. Möge es auch bei uns allenthalben die Beachtung finden, die
ihm als einer klassischen Leistung auf dem Gebiete der Physiologie der
Leibesübungen gebührt!

+Deutsche Tageszeitung+: Wer das Buch mit Verständnis liest, erhebt
sich mit einem aus der fast noch allgemein herrschenden Empirie; seine
ruhige, klare Wissenschaftlichkeit wird Offizieren und Leitern von
Sportsvereinen nicht minder großen Segen bringen, wie den zur Erziehung
der deutschen Jugend Berufenen.


Lenore Kühn, Das Buch Eros. Studium zur Liebesgeschichte von Seele,
Welt, Gott. br. M 15.--, geb. M 25.--

+Leipziger Tageblatt+: Dieses kleine Werk steht auf jener Grenze
zwischen Wissenschaft und Kunst, wo das Reich Nietzsches liegt.
Das Buch ist erlebt. Seine Leistung besteht darin, daß es eine
Grundanschauung an die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten
heranbringt und die verschiedenen Gebiete in ihren Beziehungen
aufdeckt. Diese Frau würdigt Eros in Plato, Jesus, Spinoza, Fichte,
Schleiermacher, Goethe, Nietzsche, findet ihn im Erleben der Natur
und in der Dichtung, namentlich bei Peter Altenberg und Rilke und
in der Lyrik überhaupt, in der Musik, und zwar auch bei Bach und in
Brahms' Deutschem Requiem, dann in dem Trieb zum Vaterland, in der
Freundschaft, und nicht zum wenigsten natürlich in der Liebe zwischen
Mann und Weib, in der vornehmlich tiefe Blicke getan werden.

+Der Tag+: Ein Hymnus an das Leben. Ein Dithyrambus der reichen Seele,
die die Kraft ihres Gefühls an die ganze Welt verschwendet. Ein hohes
Lied der Freundschaft und Liebe, wie es noch selten so innig und
rein erklang. Mit zarten ehrfurchtsvollen Händen deutet L. Kühn die
Mysterien des Lebens. Ihre Besonderheit liegt in der Verschmelzung
kristallklarer psychologischer Analyse mit echt weiblicher Wärme
und Innigkeit. Es ist ein Buch von großem Schwung. Jede Seite ist
durchströmt von innerem Erleben von der Fülle des Herzens.


Gertrud Prellwitz, Vom Wunder des Lebens. 107. Tausend. kart. M 8.--

+Münchener Neueste Nachrichten+: Gertrud Prellwitz gibt in großen Zügen
im Rahmen einer Erzählung den Weg an, wie man fragenden Kindern, wie
man nachdenklichen Mädchen und Jünglingen allmählich die Wahrheit über
das sexuelle Leben sagen soll, daß sie sich die Keuschheit des Herzens,
die Vollkraft ihrer Gefühle, die Freude am Dasein, die Sicherheit und
Gradheit im Verkehr mit der Welt, die Ehrfurcht vor dem Wunder des
Lebens bewahren.


Karl Zimmermann, Himmelfahrt der Venus. Gedichte. br. M 15.--, geb.
M 25.--

+Frankfurter Zeitung+: Das Lied von der Zerspaltenheit in Ich und
Du, in Mann und Weib. Das Lied von der ewigunstillbaren Sehnsucht,
von dem Ineinander, dem Zueinander, von dem Dreiwerden im Kind, von
dem Über-einander-hinaus. Aber sie singt es neu, dies uralte Lied.
Denn ihre Worte kommen aus dem bebenden Herzen eines schöpferischen
Menschen. In Erdennähe beginnt das Buch. Zwei Menschen, wie tausend
andere auch, wollen zu einander. Finden sich. Scheiden sich. Der
Kreis wird geweitet. Natur und Menschentum, die gleichgestimmt sind,
singen sich in den Versen. Und dann geht es himmelwärts. Ewige
Formen der Liebe, stets wechselnd, stets gleich, werden im Wort
wiedergeboren. Ewigliebende, Göttergleiche stehen auf und kämpfen den
Kampf der Kämpfe, bis das wundersame Wort fällt: »Wir sind unlöslich
geschieden!« Das ist in Versen eingefangen, die ein williges Instrument
geistsehnsüchtigen Gefühls sind, die zu einer Kongruenz zwischen Stoff
und Form gelangen, wie man sie heute selten antrifft.

+Kölner Tageblatt+: Diese Gedichte sind Bekenntnisse einer Frauenseele
zum Eros, die sich mehr zufällig hinter einem männlichen Pseudonym
bergen. Die Venus, die den Himmelswagen fährt, ist vom Stamme
Botticellischer Frauengestalten: unendliche Zartheit und Süße, die das
beste Wissen dem enthüllt, der das geistige in ihr erlebt. Es sind
hier tiefe Dinge aus dem Erosleben einer Frau gesagt, und wenn sie
die letzten Hüllen fallen läßt, immer noch bleibt die zu einer Knospe
gefaltete Seele.


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    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

    Korrekturen:

    S. 32: liebensbewußt → liebesbewußt
      Werktätige nicht so {liebesbewußt} auf die





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