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Title: China und Japan - Erlebnisse, Studien, Beobachtungen
Author: Hesse-Wartegg, Ernst von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "China und Japan - Erlebnisse, Studien, Beobachtungen" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1900 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und
    altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
    unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.
    Umlaute in Großbuchstaben wurden in ihrer Umschreibung dargestellt
    (Ae, Oe und Ue). Fußnoten wurden an das Ende des jeweiligen
    Kapitels verschoben.

    Ausdrücke in chinesischer und japanischer Sprache wurden in einer
    Transliteration in lateinischer Schrift wiedergegeben. Diese
    Übertraung wurde vom Verfasser nicht immer konsistent durchgeführt,
    dennoch wurden abweichende Schreibweisen wie im Original
    beibehalten.

    In der Buchversion wurde für den Begriff ‚et cetera‘ die tironische
    Note für ‚et‘ verwendet, welche allerdings mit vielen Schriftarten
    nicht dargestellt werden kann. Aus diesem Grund wurde in der
    elektronischen Version von der Abkürzung ‚etc.‘ Gebrauch gemacht.

    Einige Seitenzahlen des Inhaltsverzeichnisses wurden vom Bearbeiter
    richtiggestellt. In mehreren Bildunterschriften finden sich
    Angaben zur natürlichen Größe der abgebildeten Gegenstände. Diese
    beziehen sich ausschließlich auf die gedruckte Originalversion,
    da Bildgrößen auf unterschiedlichen Wiedergabegeräten zum Teil
    stark variieren können. Fußnoten wurden an das Ende des jeweiligen
    Kapitels verschoben.

    Besondere Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit
    den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

        fett:     =Gleichheitszeichen=
        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua:  ~Tilden~

  ####################################################################



                           China und Japan.



                            China und Japan

                  Erlebnisse, Studien, Beobachtungen

                                  von

                        Ernst v. Hesse-Wartegg.

              Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage.

                    Mit 61 Vollbildern, 212 in den
                    Text gedruckten Abbildungen und
                   einer Generalkarte von Ostasien.

         Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber in Leipzig. 1900.



                       Alle Rechte vorbehalten.



Vorwort zur ersten Auflage.


Ein Buch, das „China und Japan” betitelt ist, bedarf eigentlich keines
Vorwortes. Der Titel allein besagt, daß es sich um eine wenig bekannte,
in jeder Hinsicht eigenartige Welt handelt, die erst in neuester Zeit
der Allgemeinheit erschlossen werden soll. Je mehr man von ihr erfährt,
in desto höherem Maße interessiert man sich für sie, mit desto größerer
Aufmerksamkeit wird jedes neue Buch darüber gelesen.

Leider ist die deutsche Litteratur in Bezug auf die beiden großen
Reiche Ostasiens keineswegs reich zu nennen. Sie besitzt darüber
bedeutende umfangreiche Quellenwerke, aber der Preis derselben oder
die Art der Darstellung ist nicht für die Allgemeinheit geschaffen.
Auch sind in den letzten Jahrzehnten eine Anzahl Reisewerke erschienen,
mit der Schilderung persönlicher Erlebnisse und Einzelheiten, die
nur beschränkte Kreise zu befriedigen vermögen; an leicht faßlichen,
charakteristischen Darstellungen der ostasiatischen Monarchien mit
ihren Städten und Naturwundern, ihren Bewohnern und deren Kultur fehlt
es aber, und doch werden solche Bücher von den Gebildeten aller Stände
gerade +jetzt+ gesucht, wo sich die Beziehungen mit Ostasien in
jeder Hinsicht immer inniger gestalten. Mehr als je zuvor hegt man den
Wunsch, die Wahrheit zu erfahren über das Wesen der ostasiatischen
Kultur und über die Gefahren, mit welcher das ostasiatische Gespenst
nach der Meinung vieler unsere christliche Welt bedrohen soll.

„Völker Europas, hütet eure heiligsten Güter!” So lautet der Mahnruf,
der vor kurzer Zeit von höchster Seite erlassen wurde, und die Völker
Europas suchen die Begründung dieses Mahnrufs in dem Erwachen und
Erstarken der Völker Ostasiens.

Wird die Erschließung von China und Japan dem europäischen Handel, der
Industrie, dem allgemeinen Wohlstand Vorteile bringen, oder wird sie
einen schrecklichen Wettbewerb zur Folge haben, verderbenbringend für
unsere christliche Welt?

Mit diesen Fragen vor Augen habe ich auf meiner jüngsten Reise
um die Welt in den Monarchien Ostasiens länger als beabsichtigt
verweilt und zu ihrer Beantwortung nach Material gesucht. Ich gebe
in dem vorliegenden Werke nicht nur meine eigenen Erfahrungen
und Anschauungen, sondern faßte auch jene zahlreicher anderer
Persönlichkeiten zusammen, die seit vielen Jahren in den
verschiedensten Berufszweigen in Ostasien thätig sind, aber nicht die
Zeit, den Wunsch oder das Vermögen haben, ihre reichen Erfahrungen in
einheitlichen, abgerundeten Darstellungen zu Papier zu bringen. Frühere
große Weltreisen und ihre Schilderung haben mir vielleicht zu größerer
Fertigkeit, geübterem, schärferem Blick für das verholfen, was dem
europäischen Leser von besonderem Interesse ist. Nur wer die Kultur
anderer Länder und Weltteile kennen und aus sich selbst herauszugehen
gelernt hat, kann überall den richtigen Maßstab anlegen. Andere
werden gewöhnlich einseitig nach der von ihrer Jugend an gewöhnten
Elle messen, vieles minderwertig, verzwickt und verrückt halten, was
nicht nach dieser heimatlichen Elle paßt. Und weil die Kultur der
Ostasiaten von der unsrigen so sehr abweicht und so selten einsichtige,
unabhängige Schilderer fand, ist der Begriff „Chinesisch” bei uns zur
landläufigen Bezeichnung für alles Groteske geworden. Daher kommt auch
das allgemeine Aufsehen, um nicht zu sagen Erschrecken, als in neuester
Zeit solch unabhängige Schilderungen über die wahre Kultur, den wahren
Charakter, das wahre Können der Ostasiaten erschienen sind.

Gestützt auf das in Ostasien gesammelte Material habe ich in den
letzten zwei Jahren manche der nachstehenden Kapitel in verschiedenen
großen Zeitschriften veröffentlicht, und die Thatsache, daß diese
Arbeiten von zahlreichen, mitunter von Hunderten anderer Blätter
Deutschlands nachgedruckt und in fremde Sprachen übersetzt worden sind,
liefert den Beweis, daß sie gerade das enthalten, was man in Europa zu
erfahren wünscht. Dieser Erfolg hat mich ermutigt, den eingeschlagenen
Weg weiter zu verfolgen und China und Japan in allgemein faßlichen
charakteristischen Darstellungen zu schildern, soweit es dem Einzelnen
überhaupt möglich ist. Das Ergebnis ist das vorliegende Buch.

    1897.

                                               Ernst v. Hesse-Wartegg.



Vorwort zur zweiten Auflage.


Mehr noch als im Jahre des Erscheinens der ersten Auflage hat das in
den vorstehenden Zeilen Gesagte seine Richtigkeit. Ostasien tritt immer
mehr in den Vordergrund der allgemeinen Aufmerksamkeit, immer mehr
kommt man in Europa zur Erkenntnis der gegenwärtigen Bedeutung der
ostasiatischen Reiche, die sich noch mit jedem Jahre steigern wird.
Das große China wird endlich aus seiner mehrtausendjährigen Erstarrung
aufgerüttelt und der Erschließung durch Europa entgegengeführt; Japan
hat einen weiteren Schritt vorwärts gethan in seiner hochinteressanten
Umwandlung zu einem modernen Reich mit abendländischer Kultur und droht
ein gefahrvoller Rivale auf den ostasiatischen Märkten zu werden;
Rußland tritt durch die Besiedelung Ostsibiriens und den Bau der
transsibirischen Eisenbahn als neue gebietende Macht in Ostasien auf;
das alte ohnmächtige Korea wird wie ein Spielball zwischen den drei
Großmächten umhergeworfen. Durch diese Umwälzungen im fernen Osten
werden auch die Beziehungen Europas mit jenen Ländern in andere Bahnen
gelenkt, der europäischen Industrie werden neue, trotz des japanischen
Wettbewerbs sich immer mehr erweiternde Absatzgebiete erschlossen,
dem europäischen Handel wie dem Touristenverkehr winkt ein gewaltiger
Aufschwung in naher Zeit.

Ueberzeugt von der Wichtigkeit des chinesischen Marktes und von dem
Ringen unter den Industriestaaten des Erdballs, das in Bälde um
diesen Markt platzgreifen wird, habe ich seit Jahren getrachtet,
die Aufmerksamkeit aller Kreise im Deutschen Reich durch zahlreiche
Aufsätze und öffentliche Vorträge auf Ostasien zu lenken und ein
kräftiges Eintreten zur Wahrung der großen und berechtigten deutschen
Interessen dort herbeizuführen. Dieses Streben ist auch an vielen
Stellen der ersten Auflage des vorliegenden Werkes zum Ausdruck
gebracht worden, mit gleichzeitiger Betonung der Wichtigkeit
eines eigenen deutschen Hafens in China und der Absendung eigener
Handelsexpeditionen zum Studium der Märkte.

Früher als allgemein erwartet wurde, sind diese Wünsche zur Erfüllung
gekommen. Deutschland hat sich eine Eingangspforte in das chinesische
Reich, einen Stützpunkt für die Entwickelung seiner kommerziellen und
politischen Interessen in Ostasien geschaffen, mit einem Hafen, auf
welchen ich bereits in der ersten Auflage dieses Werkes, lange vor der
Besitzergreifung, hingewiesen habe.

Um diesen Hafen und sein Hinterland näher kennen zu lernen und zu
schildern, unternahm ich unmittelbar nach der Besetzung Kiautschous
eine neue Reise in das deutsche Gebiet und von dort kreuz und quer
durch Schantung und die angrenzenden Provinzen nach Peking. Die
Ergebnisse dieser Reise, welche ursprünglich in dem 1900 erschienenen
Werke „Schantung und Deutsch-China” (Leipzig, J. J. Webers Verlag,
Preis 14 Mark) niedergelegt wurden, sind kurz zusammengefaßt mit in
die vorliegende Auflage aufgenommen und bis auf die Gegenwart ergänzt
worden. Aber auch sonst hat das vorliegende Werk vielfache Aenderungen
und Ergänzungen erfahren, wie schon aus der +Vermehrung des Inhalts
um hundert Textseiten, 17 Vollbilder und 90 in den Text gedruckten
Abbildungen+ hervorgeht.

Während der genannten Reise von 1898, sowie auf einer darauffolgenden,
im Jahre 1900 unternommenen Reise war ich überall bedacht, alles
Wissenswerte über das hochinteressante Leben, Thun und Treiben der
Bevölkerung, über die Regierung, Kaufleute und Industrielle zu
erfahren, Handel und Gewerbe, Landwirtschaft, Bergbau, Landesprodukte,
sowie auch die landschaftlichen Schönheiten und kulturellen
Merkwürdigkeiten der geschilderten Länder im touristischen Sinne
kennen zu lernen, so daß ich hoffe, daß „China und Japan” auch in der
vorliegenden Auflage zur allgemeinen Belehrung und Unterhaltung, dem
Geschäftsmann zum Nutzen, dem Touristen zur Führung dienen wird.

    1900.

                                               Ernst v. Hesse-Wartegg.



Inhaltsverzeichnis.


    Erster Teil: China.

                                                                   Seite

    Hongkong                                                           3

    Macao                                                             14

    Auf dem Perlfluß                                                  21

    Canton                                                            30

    Die sibirische Beulenpest                                         41

    Gerichtspflege                                                    47

    Spaziergänge in chinesischen Arbeitervierteln                     58

    Wie die chinesischen Jungen das ABC lernen                        69

    Meine erste chinesische Mahlzeit                                  78

    Speisen und Getränke der Chinesen                                 87

    Shanghai                                                          94

    Europäische Republiken in China                                  102

    Chinesische Seide und ihre Metropole                             106

    Leben, Trachten und Sitten der chinesischen Frauen               115

    Der Haarzopf der Chinesen                                        134

    Tschinkiang                                                      138

    Nanking                                                          143

    Wie die Chinesen Theater spielen                                 153

    Chinesischer Thee und seine Metropole                            159

    Hankau als Handelsstadt                                          170

    Eigentümlichkeiten der chinesischen Inlandstädte                 176

    Tsingtau und Deutsch-China                                       188

    Quer durch Schantung                                             203

    Der Kaiserkanal                                                  219

    Tientsin                                                         231

    Die Hauptstadt des chinesischen Reiches                          241

    Kwang-Su, der Kaiser von China                                   255

    Hofhaltung beim Kaiser von China                                 263

    Geistermahlzeiten und Ahnenkultus am Kaiserhofe                  271

    Die Umgebung von Peking                                          278

    Die Große chinesische Mauer                                      285

    Hofetikette und Umgangsformen bei den Chinesen                   292

    Wie die Chinesen Verdienste ehren                                302

    Die Mandarine                                                    306

    Litterarische Wettprüfungen                                      315

    Die geheimen Gesellschaften Chinas                               322

    Chinesisches Zeitungswesen                                       332

    Geld- und Bankwesen                                              341

    Wie die Chinesen ihre Briefe befördern                           355

    Chinesisches Militär                                             364

    Die christlichen Missionsanstalten in China                      377

    Verkehrswege im Innern von China                                 388

    Die künftige Bedeutung Chinas für den europäischen Handel        396


    Zweiter Teil: Japan.

    Nagasaki                                                         409

    Durch das japanische Mittelmeer nach Kobe                        418

    Yokohama                                                         423

    Die Hauptstadt des Mikadoreiches                                 430

    Der Kaiser von Japan und sein Hof                                440

    Die vornehme Gesellschaft                                        457

    Die Japanerin                                                    466

    Japanische Frauentoilette                                        474

    Japanische Jugend                                                481

    Hymens Fesseln bei den Japanern                                  491

    Eine Erdbebenkatastrophe                                         497

    Modernes Theaterwesen in Japan                                   500

    Danjuro, der Salvini von Japan                                   509

    Litteratur und Zeitungswesen in Japan                            515

    Das Heerwesen der Japaner                                        522

    Straßenleben in Tokio                                            531

    Spazierfahrten im mittleren Japan                                541

    Kioto, die alte Hauptstadt von Japan                             549

    Daimondschi, das japanische Totenfest                            557

    Japanische Musmis                                                563

    Die Geishamädchen                                                568

    Japanische Ringkämpfer                                           579

    Wie die Japaner in ihrem Lande reisen                            584

    Ein Birmingham des fernen Ostens                                 592

    Auf dem Gipfel des Fudschiyama                                   601

    Ikao, ein japanisches Karlsbad                                   609

    Nikko, eine japanische Tempelstadt                               617

    Japanische Blumenfeste                                           625

    Formosa                                                          632

    Japan als Industriestaat                                         640

    Dschiudschutsu                                                   647



Erster Teil:

China.



[Illustration: Kartogr. Anst. C. Starke, Leipzig sc.]



Hongkong.


Als wir, von dem sonnigen heißen Hinterindien kommend, nach mehrtägiger
Seefahrt in den Hafen von Hongkong dampften, war der erste Eindruck
dieses vielgerühmten englischen Emporiums von Ostasien keineswegs
ein angenehmer. Der Morgen war feucht und kalt, die See unruhig,
ein dichter Wolkenschleier verhüllte die Spitzen der zweitausend
bis viertausend Fuß hohen Berge, welche die Bucht von Hongkong
einschließen, und wir sahen davon nichts weiter als die massigen,
mehrere Stockwerke hohen Granitpaläste, die sich amphitheatralisch
die steilen Anhöhen emporziehen, und die weite windgepeitschte
Wasserfläche, auf welcher sich unzählige Ozeandampfer, Dschunken und
Sampans schaukelten. Etwa einen halben Kilometer von den Ufern gingen
wir vor Anker, und sofort war unser Schiff von einer Menge von kleinen
chinesischen Booten umschwärmt, deren halbnackte Insassen uns laut
schreiend und lärmend ihre Dienste anboten. Wären sie nicht gewesen,
wir hätten uns ebensogut in Portsmouth oder Plymouth glauben können,
so durchaus englisch erschien uns Hongkong an diesem nebeligen Morgen.
Während wir noch unschlüssig waren, uns bei so bewegter See den
kleinen Chinesenbooten anzuvertrauen, und uns über den recht fühlbaren
Mangel von Anlegebrücken in einem so großen Welthafen wunderten, kam
glücklicherweise für uns wenige Passagiere eine kleine Dampfbarkasse
angefahren, die uns nach viertelstündiger Fahrt ans Land brachte.

Hier, rings um Peddar Street Wharf, erschien uns Hongkong noch viel
englischer, als vom Wasser gesehen. Vor uns eine gerade Straße, zu
beiden Seiten von hohen englischen Geschäftshäusern eingefaßt, links
an der Ecke ein riesiges englisches Hotel, das uns aufnehmen sollte,
rechts eine englische Postoffice, in der Mitte, am Kreuzungspunkt
einer zweiten, natürlich Queens Street genannten Straße, ein plumper,
englischer Glockenturm; über den Kaufläden nur englische Aufschriften:
English Pharmacy, English Book Store, Public House, Drinking Bar, Gin,
Brandy, England for ever!

Brr! Welche Enttäuschung! Wir hatten auf den Sundainseln, in
Malakka, Siam, Kambodscha, in der malerischen fremdartigen Pracht
der Malayenwelt geschwelgt, wir hatten uns schon so sehr auf China
gefreut und von Pagoden und Buddhatempeln geträumt. Statt dessen wurden
wir durch diese englische Provinzstadt in die nüchterne, schmutzige
Alltagswelt zurückversetzt. Im Hongkonghotel gab es schlechte
englische Küche, in den weiten Korridoren liefen die Ratten umher,
und die Mehrzahl der Zimmer war unbewohnt. Nicht viel besser war der
Eindruck, den wir auf unsern ersten Gängen zu jenen Geschäftshäusern
erhielten, an welche wir Empfehlungsbriefe abzugeben hatten, englische
und deutsche. Im Gegensatz zu dem herzlichen, gastfreien Empfang in
Singapore, Colombo, Bangkok, Batavia etc. war die Aufnahme durch die
deutschen Kaufherren von Hongkong frostig, von Einladungen, Einführung
im Klub u. dergl. gar nicht zu sprechen. Aber die Briefe mußten doch
abgegeben werden. Wir waren nun frei und konnten uns nach Herzenslust
das, was Hongkong an Interessantem bietet, ansehen.

Da fanden wir denn doch, daß in Hongkong geradezu alles interessant
ist. Hongkong ist die Eingangspforte in das gewaltige chinesische
Reich, die englisch geschriebene Vorrede zu jenem mit sieben Siegeln
verschlossenen Buche, China geheißen, und die beste Einführung in
dasselbe. Gleichzeitig ist es aber eine der großartigsten Schöpfungen
englischen Unternehmungsgeistes, der hier auf dieser kahlen Granitinsel
binnen fünf Jahrzehnten einen der wichtigsten Handelshäfen der Welt
geschaffen hat. Noch leben hier chinesische Fischer, welche sich des
Tages erinnern, als das erste englische Schiff an ihrer einsamen,
gottvergessenen Felseninsel anlegte. Das war im Jahre 1845. Heute ist
diese Insel ein wahres Paradies, und an ihrer Nordseite zieht sich
in einer Länge von etwa sechs Kilometern eine Großstadt von 300000
Einwohnern hin, während das zwanzig Quadratkilometer große Wasserbecken
vor ihr in jedem Jahre 20000 Schiffe mit acht bis neun Millionen Tonnen
Gehalt beherbergt. Täglich kommen fünfzig Schiffe, täglich verlassen
ebensoviele den Hafen, nach allen Ländern der Alten und Neuen Welt
bestimmt, und der Handel, der in dieser kleinsten aller englischen
Kolonien getrieben wird, erreicht in jedem Jahre beinahe tausend
Millionen Mark!

[Illustration: Das Hongkonghotel und der Klub in Hongkong.]

Man kommt in Hongkong aus der Verwunderung nicht heraus, teils über die
unglaublichen Leistungen der Handvoll Engländer, welche hier ansässig
sind, teils über die fremdartige chinesische Kulturwelt, die sie rings
umgiebt und durch ihre Masse anscheinend zu erdrücken droht, während
sie thatsächlich mit Leichtigkeit durch diese Handvoll Engländer
gelenkt und beherrscht wird. Nur auf dem kleinen, eingangs erwähnten
Teil von Hongkong, rings um Peddar Street, tritt der englische
Provinzialstadtcharakter so unangenehm auf. Die schwere, massige
Bauart der Häuser, der Gegensatz zu den luftigen, verandenumgebenen
Bungalows von Singapore oder Colombo, hat seine Begründung. Hongkong
liegt leider mitten im schlimmsten Taifungebiet, und diese furchtbaren
Stürme würden leichtere Häuser, Veranden, Dächer und dergleichen
spielend fortreißen. Die Stadt hat das schon mehrfach erfahren. Im
Jahre 1874 wurden durch einen Taifun während einer halben Stunde
über tausend Häuser vollständig zerstört, und Tausende von Menschen
verloren dabei ihr Leben. Deshalb diese steinernen Arkaden an Stelle
der luftigen Veranden, deshalb die schweren eisernen oder hölzernen
Läden an den Fenstern, die sofort geschlossen werden, wenn von dem
Taifunobservatorium auf der gegenüberliegenden Halbinsel Kowloon als
Warnungssignal die drei gefürchteten Kanonenschüsse ertönen.

Von meinen Fenstern im fünften Stock des Hongkonghotels zeigte sich
am Morgen nach meiner Ankunft Hongkong, seinem Rufe entsprechend,
in viel freundlicherer, großartigerer Weise. Die helle, warme Sonne
überstrahlte die weite Bucht, die mit Tausenden von Schiffen aller
Art, von den winzigen Pantoffelbooten bis zu den größten Ozeandampfern
besäet war und sich belebter zeigte als irgend einer der Welthäfen,
die ich auf meinen fünfundzwanzigjährigen Reisen durch alle Kontinente
gesehen habe. Gegen Norden, jenseit der etwa zwei Seemeilen breiten
Bucht, auf dem chinesischen Festlande, leuchteten in einer langen
Linie die weißen Warenhäuser, Kasernen und Hongs von Kowloon, umgeben
von einem Kranz üppiger Gärten, und über diese erheben sich kahle,
steile, zerklüftete Höhen von eigentümlicher roter Färbung, schon zu
China gehörig. Zu meinen Füßen lag die Stadt Hongkong oder, wie sie
eigentlich heißt, Viktoria. Der 600 Meter hohe, steile Berg, an dessen
Fuß sie liegt, hat ihr nicht viel Platz zur Ausbreitung gelassen,
und so ziehen sich nur zwei oder drei lange Straßen dem Meeresufer,
hier Praya genannt, entlang, zu beiden Seiten mit mehrstöckigen
Granithäusern besetzt, die im untersten Stockwerk Arkaden für die
Fußgänger besitzen. Zahlreiche Querstraßen führen von der Praya den
Berg hinan und verlieren sich dort in dem Grün prachtvoller Gärten
mit subtropischer Vegetation. Palmen mit schön geschwungenen Wedeln,
Bananen mit ihren mächtigen Blättern, hohe Araukarien, Kakteen und
Agaven der verschiedensten Art zeigen sich dort, und inmitten dieser
zaubervollen Flora erheben sich stattliche Villen und Paläste,
Kirchen mit hohen Türmen. Ganz oben an der Spitze des Peak grüßt von
einem hohen Mastbaum die stolze britische Flagge herab. Fürwahr,
wenige Häfen der Erde können sich an Schönheit und Großartigkeit mit
Hongkong messen, vielleicht Rio de Janeiro, San Francisco, Neapel
allein. In seiner Anlage erinnerte mich Hongkong ein wenig an Genua,
der Hafen mit seinem stolzen Peak dagegen an Gibraltar; Kowloon ist
sein Algeciras. Und ist nicht Hongkong in der That das Gibraltar von
China? Wie der Dschebel al Tarik, so ist auch der Peak, der mit
seinen Vorbergen und kleinen vorgelagerten Inselchen die Einfahrt nach
dem Süden des chinesischen Reiches beherrscht, mit kanonengespickten
Festungswerken versehen, und überdies steht eine eigene Flotte im
Dienste von Hongkong, während in den drei großen Kasernen einige
tausend Mann englischer Linientruppen untergebracht sind. Welch hohen
Wert England auf diesen äußersten gegen Osten vorgeschobenen Posten
seines Weltreiches legt, geht aus der Thatsache hervor, daß es gegen
zwanzig Millionen Mark zu seiner Befestigung verwendet hat; überdies
trägt die aus wenigen tausend Europäern bestehende Kolonie jährlich
über drei Millionen Mark zu Verteidigungszwecken bei. Unter dem
Schutze der Kanonen und Bajonette von Hongkong hat sich nicht nur der
englische Handel, sondern auch jener der andern europäischen Staaten,
vor allem der deutsche, so mächtig entwickelt, und wir müssen England
dafür dankbar sein; denn ohne Hongkong hätte sich dieser deutsche
Handel, der hier jenem Englands an Umfang zunächst steht, niemals so
ausbreiten können. Die englische Flagge hat auch den deutschen Kaufmann
beschützt. Die Engländer haben nicht nur für sich, sondern auch für die
andern Nationen die Kastanien aus dem chinesischen Feuer geholt. Ja
mehr noch, die Chinesen selbst sind ihnen dankbar; denn nahe an 300000
bezopfte Söhne des Reiches der Mitte haben hier auf dem winzigen Stück
englischen Bodens Zuflucht, Sicherheit, Rechtsschutz, Lebensunterhalt,
ja Reichtum gefunden. Der großen Mehrzahl nach sind sie loyale
Unterthanen der Königin Viktoria geworden, und der Geburtstag dieser
Herrscherin wird von den Chinesen in Hongkong ebenso festlich gefeiert
wie von den Engländern.

Die Chinesen bilden auch den weitaus größten und merkwürdigsten Teil
der Bevölkerung der Kolonie, die sonst auch zahlreiche Angehörige
aller Nationen Europas, dann Amerikaner, Malayen, Japaner, Indier,
Araber etc. aufweist. Alle die asiatischen Bürger von Hongkong haben
dabei ihre eigentümlichen malerischen Trachten beibehalten, so daß
man bei einem Spaziergang durch die Hauptstraße, die Queen Street,
sozusagen eine lebende Völkerkarte studieren kann. Nur die Peddar
Street ist spezifisch englisch; verläßt man aber das Hongkonghotel
durch den nach der Queen Street führenden Ausgang, so ist man sofort
in dem denkbar internationalsten Verkehr: Parsis mit ihren schwarzen
gestickten Cereviskäppchen, Malayen mit ihren schürzenartigen Sarongs,
Araber im weißen Burnus, Japaner in ihren Kimonoschlafröcken, Indier
mit mächtigen Turbanen. Ein Teil der Polizisten von Hongkong besteht
aus baumlangen Indiern, und die europäischen Kolonisten der Stadt
unterhalten zu ihrem persönlichen Schutz ein Regiment von Sikhs, die
wohl englische Uniform tragen, aber die hohe, brennrote Zuckerhutmütze
beibehalten haben; dazwischen englische Soldaten und schottische
Hochländer mit nackten Knieen und karrierten Jacken, Matrosen von den
Kriegsschiffen aller möglichen Nationen. Man hört die verschiedensten
Sprachen sprechen, sieht die verschiedensten Begrüßungsarten, aber der
äußere Rahmen, die Straßen, Häuser, städtischen Einrichtungen sind
durchaus englisch, was die Seltsamkeit des Eindrucks noch erhöht.

Selbst die Chinesen wohnen in mehrstöckigen Häusern. Man braucht in
der Queen Street von dem Glockenturm nur wenige hundert Schritt nach
Osten oder nach Westen zu gehen, um mitten in die Chinesenviertel
zu kommen. In dem englischen Teil dieser interessanten Völkerstraße
sieht man die Chinesen nur als Compradores (Angestellte) in den
verschiedenen Geschäftshäusern, hie und da auch einen vornehmen Laden,
von Chinesen gehalten, und seine Insassen zeigen durch ihre seidene
Kleidung, gute Beschuhung und die unfehlbare Brille auf der Nase, daß
sie den wohlhabendern Ständen angehören. Sonst sieht man hier nur
Kulis im Dienste der Weißen, Lastträger, Straßenkehrer, Rickshaw Boys
und Sänftenträger. Wagenverkehr ist in den steil ansteigenden Straßen
Hongkongs unmöglich; ebenso unmöglich wäre er in den wenigen ebenen
Straßen wegen des unglaublichen Völkergetümmels, das dort tagsüber
herrscht. Er wird durch die japanische Rickshaw, den zweiräderigen,
von einem Kuli gezogenen Handwagen ersetzt; an den Straßenecken stehen
deren immer eine Anzahl in langen Reihen. Kaum zeigt sich ein Europäer
vor seiner Hausthür, so wird er sofort von den wild aussehenden, im
Sommer halbnackten Rickshaw-Kulis umringt, die ihre Dienste anbieten,
fünf Cents, etwa zwölf Pfennig, für die halbe Stunde. Vertraut man
sich wirklich einem dieser menschlichen Zugtiere an und hat ihm die
Bestimmung zugerufen, so saust es auch schon pfeilschnell mit dem
kleinen Handwagen von dannen. Es fährt seinen Passagier straßenauf
straßenab und bleibt endlich vor irgend einem beliebigen Hause stehen,
das möglicherweise von dem gewünschten Ziel eine Stunde weit entfernt
ist. Die Hongkong besuchenden Fremden wissen eben nicht, daß die
meisten dieser Kulis nicht ein Wörtchen Englisch verstehen und daran
gewöhnt sind, daß man sie mit dem Spazierstöckchen rechts oder links
berührend, in stummer Weise etwa ähnlich zu lenken pflegt wie Pferde
durch die Zügel. Man kann sich auch dadurch helfen, daß man in irgend
einen Kaufladen tritt und den Inhaber bittet, dem Rickshaw-Kuli auf
Chinesisch das Ziel zu nennen. Wird dies unterlassen, so fährt der Kuli
seinen Passagier planlos oft stundenlang spazieren.

[Illustration: Der Gouverneurspalast in Hongkong.]

Besser sind die Tragstühle, welche von den Europäern Hongkongs mit
Vorliebe benutzt werden; jede Familie, jedes Handlungshaus oder Hotel
besitzt einen eigenen „Marstall” von Kulis und mehrere Tragstühle,
die mitunter sehr kostbar ausgestattet sind. Die Kulis tragen eigene
Uniformen; bald sind es blaue Hemden und Beinkleider mit weißen
Rändern, bald weiße mit roten Rändern, bald verschiedene Ornamente,
Kreise, Quadrate, Monogramme, welche die Tragstuhleigentümer auf Brust
und Rücken der Kuli-Uniformen aufnähen lassen. Je wohlhabender oder
angesehener die Bürger, desto größer ist die Zahl ihrer Chairkulis;
gewöhnlich aber werden die Stühle von zwei bis vier Kulis getragen.
Die an den Straßenecken zum beliebigen Vermieten stehenden Stühle
werden von zwei Kulis bedient. Die Europäer von Hongkong haben diese
Art der Fortbewegung wohl den Chinesen abgesehen. In Canton und allen
anderen Städten bedienen sich die Civilmandarine und wohlhabenderen
Chinesen, besonders die Frauen, stets eigentümlicher verschlossener
Sänften, die auf drei bis vier Meter langen Bambusstangen ruhen. An
Stelle der geschlossenen Sänften treten in Hongkong offene Armstühle
aus Rattangeflecht, mit einer kleinen an Seilen hängenden Fußbank
darunter. Man setzt sich in den Stuhl, die Kulis heben die Tragstangen
auf ihre Schultern, und fort geht es in leichtem, raschem Schritt,
für 20 Cents (etwa 45 Pfennig) die Stunde. Die Menschen sind hier
billiger als die Tiere. Sie erleichtern den Verkehr ungemein, denn in
den heißen Sommermonaten ist das Gehen, überhaupt jede Körperbewegung
mit großer Anstrengung und Schweißerguß verbunden. Dieser Hitze
entsprechend ist auch die Kleidung der Europäer, Herren wie Damen,
von Ende Mai bis Mitte September durchweg schneeweiß, und nur im
Winter, der zuweilen recht empfindlich kalt sein kann, werden dunkele
Kleider getragen. Im Jahre 1892 beispielsweise waren die Abhänge des,
wie bemerkt, etwa 600 Meter hohen Peak bis auf die Hälfte herab mit
Schnee und Eis bedeckt, dagegen gewährt das breite Plateau auf seinem
Gipfel im Sommer stets kühlen, frischen Aufenthalt, und es ist auch
dort oben und an den Abhängen eine ganze Stadt prächtiger Villen
und Hotels mit Gärten entstanden, welche von dem hier herrschenden
Wohlstand und der Leichtigkeit des Erwerbs Zeugnis ablegen. Eine
Drahtseilbahn nach schweizerischem Muster verbindet die Geschäftsstadt
unten mit diesen Residential Suburbs, in welchen die Familien der
Geschäftsleute, hohen Beamten und Offiziere wohnen. Täglich fuhr ich
mit dieser durch die schönsten Parkanlagen führenden Bahn hinauf, um
der Einladung eines englischen Kaufherrn oder des kommandierenden
Generals Folge zu leisten, bis wir schließlich in das reizende Haus des
Chefs der größten Handelsfirma von China, Messrs. Butterfield & Swire,
übersiedelten. Von dort oben genießt man einen Rundblick über Land und
Meer, einzig in seiner Art, und das Bild, welches der mit Tausenden
von hellerleuchteten Schiffen und Booten bedeckte Hafen tief unter
mir, sowie die Straßen der Stadt mit ihren langen Reihen vielfarbiger
riesiger Lampions darboten, wird mir zeitlebens unvergeßlich bleiben.
Welche Großstadt von 300000 Einwohnern besäße auch auf der einen Seite
einen solchen Hafen, auf der andern einen so gewaltigen Berg?

Interessant ist es auch zuweilen, auf den gut gepflegten Wegen zu Fuß
nach Hongkong herabzusteigen, an Palästen vorüber, welche die Europäer
mit chinesischem Gelde sich hier errichtet haben, und durch üppige
Gärten, von denen jene des Gouverneurs und des Militärbefehlshabers
wohl die schönsten sind. In ihrer Mitte erheben sich die durch Pracht
und Eleganz gleich ausgezeichneten Residenzen dieser beiden Beamten,
das Government House und das Headquarter House. Anschließend an sie
breitet sich auf einer Terrasse der entzückende Botanical Garden aus,
eine öffentliche Parkanlage, wie geschaffen für den Sammelplatz der
vornehmen Welt. An ihrer Statt begegnete ich auf meinen Spaziergängen
gewöhnlich nur Fremden, welche sich diesen aus dem nackten Granitboden
gezauberten Feengarten ansehen wollten. Sonst bleiben diese von
chinesischen Gärtnern mit Liebe und peinlichster Sorgfalt gepflegten
Anlagen nur blassen, schwachen Kindern von Weißen oder Mischlingen
überlassen, die unter der Obhut chinesischer oder indischer Wärterinnen
hier mit Steinchen oder Federball spielten. Höchstens daß zuweilen
chinesische Damen der bessern Stände mit ihren verkrüppelten,
Ziegenhufen nicht unähnlichen Füßchen hier im Schatten herrlicher
Koniferen mühsam einherhumpeln. Die „Fashionables” der Kolonie aber
meiden den Botanischen Garten und versammeln sich dafür an bestimmten
Tagen auf den neben der City Hall, dem anspruchsvollen Rathause,
gelegenen Cricket Grounds, um unter den Klängen einer Militärmusik den
Cricketmatch anzusehen. Von den Deutschen behauptet man, daß, wenn
ihrer zwei irgendwo in Afrika oder Asien zusammenkommen, sie sofort
einen Gesangverein gründen. Dasselbe kann man von den Engländern
in Bezug auf Cricket sagen. Auf dem Hongkonger Cricket Ground, dem
einzigen ebenen Platz der Stadt, wird von den merkantilen Gentlemen
der Kolonie im Verein mit den Offizieren Cricket mit einem Eifer
gespielt, als wären sie auf den Grounds von St. John’s Wood oder im
Hurlingham Club. Unter großen Feldschirmen sitzen die Damen in den
elegantesten Toiletten und sehen stundenlang dem Spiele zu oder nehmen
in dem reizenden Pavillon der Grounds Erfrischungen, ein Bild, das man
wohl in London zu sehen gewohnt ist, das aber hier in China geradezu
befremdet. Beliebte Ausflüge der fashionablen Welt sind auch die mit
ungeheuren Kosten aus den Granitfelsen gesprengten und mit Koniferen
beschatteten Wege, die nach dem Happy Valley mit seinen Friedhöfen und
dem Pferderennplatz führen. Dort hinauf, auf den Kennedy Road oder
Bowen Road, lassen sich die Damen nachmittags in ihren eleganten, in
der kühleren Jahreszeit mit Pelzen und Teppichen bedeckten Chairs
tragen; dort, in den reizenden Parkanlagen, bringen sie Stunden mit
Lektüre oder Geplauder zu, während ihre uniformierten Kulis in der
Nähe auf dem Rasen lagern. Am Ende dieser beiden Roads liegt das
breiteste Thal der Insel, das Happy Valley, wohl in Erinnerung an die
geflügelten Worte so benannt, welche Solon an den Krösus richtete:
~Nemo ante mortem beatus~. Fürwahr, die Friedhöfe von Hongkong
sind die schönsten Plätzchen der ganzen Insel, die schönsten auch, die
ich in China gesehen habe. Bambushecken, mit Stämmen, die bis über
fünfundzwanzig Meter emporschießen, umgeben diese Ruhestätten der
Toten. Jede Religion besitzt hier ihren eigenen Friedhof. Der erste
ist jener der Mohammedaner, dann folgt der mit besonderer Sorgfalt
gepflegte der Katholiken, prachtvolle Monumente enthaltend, dann
jener der Protestanten, der größte von allen; in einiger Entfernung
schließt sich daran der Friedhof der Parsen, dann jener der Hindu,
und schließlich der jüdische, während der Friedhof der Chinesen
auf der entgegengesetzten Seite sich die Anhöhe hinaufzieht. Mit
Ausnahme des letztgenannten zeigen sich diese Ruhestätten eher wie
wohlgepflegte, schattige Parks, eine Fortsetzung der Palmenhaine des
vor ihnen gelegenen Rennplatzes, auf dem zur Zeit der Wettrennen (mit
chinesischen Ponies) ein ähnliches großstädtisches Leben herrscht wie
in unseren europäischen Hauptstädten.

[Illustration: Der Peak in Hongkong mit einem Teil der Stadt.]

Eine breite Fahrstraße führt von dort längs des Hafens nach Hongkong
zurück, auf der Landseite mit Fabriken, Maschinenwerkstätten und
Kasernen besetzt. Hier liegt das Militärspital, umgeben von einem
Garten, anschließend daran das Marinearsenal, weiter der große,
palastartige Bau, welcher die Offizierswohnungen enthält. Jedes
irgendwie verfügbare Plätzchen ist von stattlichen Bauten eingenommen,
die auch einer europäischen Großstadt Ehre machen würden. Da sich
aber Hongkong von Jahr zu Jahr mit Riesenschritten weiter entwickelt,
so ist man eben daran, dem Hafen längs des ganzen Ufers von Hongkong
einen breiten Landstreifen abzugewinnen. Vor dem Hongkonghotel ist dies
bereits geschehen, und dort erhebt sich eine große Statue zu Ehren der
Königin Viktoria, für die man sonst gar kein Plätzchen mehr gefunden
hätte.

Ja, die guten Europäer, die auf diesem Stück chinesischen Bodens eine
neue Heimat gefunden haben, verstehen es zu leben und das, was ihnen
durch die große Entfernung von ihrem europäischen Mutterlande abgeht,
durch eigene Schöpfungen reichlich zu ersetzen. Ihre Einkünfte sind
groß und werden leicht verdient. Die Geschäftsstunden beginnen spät
am Tage und sind um fünf Uhr abends wieder vorüber; nur an „Steamer
Days”, d. h. an den Tagen der ein- und auslaufenden Postdampfer ist
die Arbeit anhaltender. Die Europäer sind die Herren der Insel. Alle
körperlichen Verrichtungen werden ihnen durch Kulis, Diener, Aufwärter
chinesischer Rasse abgenommen, und selbst dem ärmsten Irländer würde es
hier nicht im Traum einfallen, irgend eine Dienerstelle zu bekleiden,
wäre es auch beim Gouverneur. Die Europäer haben ihre Klubs, ihre
Vereine, Gesellschaften, Konzerthallen und Theater, in welchem zuweilen
Wandertruppen ihre Vorstellungen geben, und in den unteren Räumen des
Rathauses haben sie sogar ein reichhaltiges Museum von chinesischen
Merkwürdigkeiten gegründet.

Auf den Weltreisenden wird das europäische Hongkong weniger
Anziehungskraft ausüben als das chinesische. Die ganze chinesische
Kultur in allen ihren höchst merkwürdigen Phasen und Einzelheiten
zeigt sich ihm hier, ohne daß er zu reisen oder auf seine europäische
Bequemlichkeit zu verzichten braucht. In den Kaufläden der Queen
Street findet er alle Produkte Chinas in Hülle und Fülle; er
kann die schönsten Porzellane, die kostbarsten Silberarbeiten,
Holzschnitzereien, Stoffe und Stickereien erwerben, er kann das
chinesische Post- und Bankwesen, die Opium- und Spielhöllen, Theater,
Vergnügungen kennen lernen; er wird chinesische Hochzeitszüge,
Prozessionen, Leichenbegängnisse, Festlichkeiten sehen, ohne daß er
sein Hotelfenster zu verlassen braucht. Und wandert er wirklich durch
das Gewirr der engsten, schmutzigsten Gäßchen, die Zufluchtsstätten
des schlimmsten Gesindels, so kann er es in vollkommener Sicherheit
thun; denn überall befinden sich europäische, indische und chinesische
Polizisten, die, bei Tag mit Stöcken, zur Nachtzeit mit Gewehren
bewaffnet, für seine Sicherheit sorgen. Die Chinesen wissen dies wohl
und fügen sich, ja sie werden von den jungen Hongkonger Herrchen
in ihrem Uebermut häufig mit Roheit behandelt, ohne sich darüber
aufzuhalten. Ich habe mehrfach gesehen, wie diese Europäer, darunter
leider auch Deutsche, Chinesen ohne alle Ursache, vielleicht nur weil
sie nicht schnell genug aus dem Wege gingen, mit Püffen, Stockschlägen
und Fußtritten bearbeiteten. Freilich ist Hongkong auch der Sammelplatz
sehr böser Elemente, die Zufluchtsstätte des Gesindels von Canton,
Swatau, Futschau und anderer Häfen. Die chinesischen Wohnungen in den
hohen europäischen Häusern, welche die mitunter kaum zwei Meter breiten
Gäßchen einfassen, starren vor Schmutz; in den Gäßchen selbst ist
übelriechender Unrat aufgehäuft, und die gräßlichste Verkommenheit,
das größte Elend, treten einem entgegen. Die Kolonialregierung hat
dort vieles versäumt und ist viel zu nachsichtig vorgegangen; gerade
während meiner Anwesenheit in Hongkong bildete dieses Chinesenviertel
einen dankbaren Herd für die furchtbare Beulenpest, die, von Canton
ausgehend, sich über das südliche China verbreitete. Aehnlich wie es
in der vornehmen, glänzenden Hauptstadt des englischen Weltreiches,
in London, Stadtteile giebt, die als eine Schmach europäischer Kultur
bezeichnet werden können, ebenso zeigt sich neben dem stolzen,
glänzenden europäischen Hongkong das chinesische als eine wahre
Brutstätte des Lasters, mit Spelunken, Spielhöllen und Orten der
größten Verworfenheit, die leider von den Matrosen der europäischen
Schiffe nur zu häufig aufgesucht werden. Im Jahre 1894 konnte die
Verwaltung der Kolonie der Beulenpest, die in diesem Stadtviertel
wütet, nicht anders Herr werden, als indem sie einen Teil einäschern,
einen anderen vollständig neu umbauen ließ. Aber diese Maßregeln hätten
vorher, nicht nachher ergriffen werden müssen. Durch die Sorglosigkeit
und den Leichtsinn der europäischen Stadtverwaltung hat der Handel
Hongkongs zeitweilig sehr gelitten. Ueber 80000 Chinesen flüchteten
sich während der Epidemie aus der verpesteten Stadt; viele Tausende
wurden dahingerafft. In diesem Chinesenviertel umherwandernd, wunderte
ich mich, wie die Söhne des Reiches der Mitte gerade einem solchen Orte
den Namen „wohlriechendes Wasser” gegeben haben konnten; denn das ist
die Bedeutung des Wortes Hiang Kiang. Der Name Hongkong ist nur der
Cantoner Dialekt dafür, und diesen haben die Europäer angenommen.



[Illustration: Chinesische Spielkarten.]



Macao.


In Hongkong wurde mir der Besuch von Macao von jedem Menschen, mit
dem ich darüber sprach, abgeraten. Macao sei heute ein altes, dem
vollständigen Verfalle rasch entgegeneilendes Nest ohne irgendwelches
Interesse. Was in Macao zu sehen wäre, würde man viel besser in
Hongkong selbst, oder in der berühmten Zweimillionenstadt Canton sehen,
und jeder Tag, den man Macao widme, sei ein verlorener Tag. Hongkong
hatte eine Zeit lang gute Ursache, auf die alte Portugiesenstadt an
der Mündung des Perlflusses eifersüchtig zu sein, damals, als es
selbst noch in den Kinderschuhen steckte, während Macao der größte und
herrschende fremde Hafen von China war. Aber diese Zeiten sind vorüber,
und die guten Hongkonger sollten den von ihrer Größe gefallenen Rivalen
ein freundlicheres Andenken bewahren. Es thut besonders den Chinesen
gegenüber nicht gut, wenn Europäer verschiedener Nationen so schlimm
voneinander sprechen, wie es die Bewohner Hongkongs von jenen Macaos
thun. Dieser Zwiespalt und diese kleinlichen Eifersüchteleien waren
schon vor dreihundert Jahren die Ursache, daß sich die Chinesen die
unangenehme streitsüchtige Gesellschaft verbaten und sich gegen alle
Europäer ohne Unterschied der Nation absperrten. Ohne sie wäre China
vielleicht schon seit Jahrhunderten geöffnet und dem europäischen
Verkehr ergeben.

Ich ließ mich von den Hongkongern nicht abhalten, Macao doch einen
Besuch zu machen, denn Macao ist nicht allein eine Stadt von größtem
historischen Interesse, sondern hat auch heute noch unableugbare
Bedeutung. Wohin mich meine Reisen in Ostasien auch führen mochten, von
Singapore und Batavia bis nach dem nördlichen Japan und Korea, überall
traf ich Portugiesen aus Macao als Geschäftsleute an. Sie waren nicht
immer reine Portugiesen, sondern vielfach vermischt mit chinesischem,
arabischem, malayischem, japanischem Blut, eine merkwürdig
abenteuerliche, unstäte, leidenschaftliche Mischlingsgesellschaft,
aber man nennt sie in Ostasien doch allgemein, wenn auch mit Unrecht,
Portugiesen und giebt Macao als ihre Heimat an.

Macao wurde schon im Jahre 1557 von den Portugiesen gegründet, die,
damals auf ihrer kommerziellen Höhe stehend, den Handel nicht nur
mit China, sondern mit der ganzen ostasiatischen Welt beherrschten.
Durch die Schaffung eines festen Stützpunktes in China waren ihnen
die Mittel in die Hand gegeben, diese Herrschaft auch in späteren
Zeiten aufrecht zu erhalten. Aber sie haben es nicht verstanden. In
ihrem Uebermut, in der Leichtigkeit, mit welcher sie damals große
Vermögen erwerben konnten, in dem Bewußtsein ihrer militärischen Kraft
gegenüber den ostasiatischen Völkern ließen sie sich zu unvernünftigen
Bedrückungen, Roheiten und willkürlichen, ungerechten Schritten
verleiten. Als die Holländer und Engländer in Ostasien erschienen,
wurden mit diesen Händel angefangen, statt einig mit ihnen vorzugehen,
wie es heute geschieht, und diese unkluge, abenteuerliche Politik hat
dem europäischen Handel einen Schaden zugefügt, der in seinem Umfang
ganz unberechenbar ist. Ist Macao die Wiege dieses Handels zwischen
Europa und Ostasien, so ist es auch gleichzeitig sein Grab, und die
heutige verfallene Portugiesenstadt im Süden Chinas zeigt in ihren
verlassenen Warenhäusern und vereinsamten Palästen die Grabsteine ihrer
einstigen Größe. Hongkong und Canton haben die Erbschaft angetreten.
Die Tausende von Schiffen, welche jährlich in die weite Bucht des
Perlflusses einlaufen, dampfen an Macao vorüber, um ihre Schätze in
dem englischen Emporium abzuladen, das auf der östlichen Seite dieser
Bucht, Macao gegenüber, liegt. Mit Macao wird nur noch spärlicher
Verkehr unterhalten. Täglich läuft ein kleiner Dampfer von Hongkong
in mehreren Stunden nach der Portugiesenstadt, um am nächsten Tage
nach Hongkong zurückzukehren. Leicht könnte der Ausflug in einem Tage
gemacht werden, wenn nicht zwischen den Schiffskapitänen und den Hotels
von Macao ein zärtliches Einvernehmen bestände, durch welches die
Besucher dieser portugiesischen Kolonie veranlaßt werden, dort eine
Nacht zuzubringen. Aber diese gewährt ihnen dafür Gelegenheit, eine
der interessantesten Eigenheiten Macaos kennen zu lernen, nämlich die
zahlreichen Spielhöllen. Sie haben Macao zu dem Namen „das Monte Carlo
von Ostasien”, dem berüchtigten Baccaratspiel zu dem Namen „Macao”,
den Dampfern zu dem Spitznamen „Gambling Steamers” und, ~last not
least~, der Verwaltung von Macao zu der reichsten Einnahme verholfen.

Wenn man sich nach zuweilen recht stürmischer Fahrt zwischen
zahlreichen Dampfern, chinesischen Dschunken und Fischerbooten hindurch
Macao nähert, so gewährt diese Stadt einen ungemein malerischen, um
nicht zu sagen großartigen Anblick. Amphitheatralisch ziehen sich die
Häuser, überhöht von zahlreichen Kirchen und Türmen, eine sanfte
Anhöhe empor, gegen die Küste zu von einer Palastreihe begrenzt, wie
sie wohl keine andere Stadt Chinas aufzuweisen hat. An beiden Enden
von alten Festungswerken beschützt, zieht sich diese Praya grande
anderthalb Kilometer dem Meeresstrand entlang, das Regierungsgebäude,
das Rathaus und andere öffentliche Gebäude enthaltend. Leider können
die Passagiere größerer Dampfer das herrliche Panorama der Stadt mit
ihrem Kranz grüner Berge dahinter nur aus der Ferne bewundern, denn
der Hafen versandet immer mehr und ist nur kleinen Dampfern, sowie
Dschunken zugänglich. Die großen Ostasiendampfer müssen sechs bis
acht Kilometer weit draußen in der Bucht vor Anker gehen, und mit der
schlechten Verwaltung und der Konkurrenz von Hongkong hat wohl auch
dieser Umstand am meisten zu dem Verfall von Macao beigetragen.

Dieser Verfall zeigt sich dem Besucher der Stadt nicht so sehr in den
Gebäuden, als in der Stille und Geschäftslosigkeit, die in den engen,
durchaus südeuropäischen Gäßchen herrscht. „~La Cidade do Santo Nome
de Deos en China~” heißt die Stadt im Portugiesischen, und sie trägt
auch ganz den portugiesischen Charakter mit ihren vielen Klöstern und
Kirchen, von denen die schönste, im Jahre 1835 durch eine Feuersbrunst
eingeäschert, leider heute nur noch eine traurige Ruine ist. Der Name
„die Stadt des heiligen Namens Gottes in China” hat leider auf die
Bevölkerung keinen besonders günstigen Einfluß gehabt. Ihrem Leben und
Treiben nach zu urteilen, scheint sie vielmehr dem Chinesengötzen Ama
zu huldigen, dessen Standbild früher auf dem Platze stand; aus diesem
Namen Ama, im Verein mit dem chinesischen Kao (Hafen) entstand Ama-Kao,
später verkürzt zu „Macao”. Und doch kann sich dieses verkommene Nest,
der letzte Rest der früheren portugiesischen Weltherrschaft, rühmen,
einen der größten Gotteskämpfer, den kühnsten und eifrigsten Missionar
Asiens, den heiligen Franz Xaver, in seinen Mauern beherbergt zu haben.
Er starb auch hier, auf einer kleinen Insel nahebei, im Jahre 1552, ein
Zeitgenosse des berühmten Dichters der Lusiade, Camoens, der hier in
den Jahren 1550 und 1560 zusammen achtzehn Monate zugebracht hat. Mit
Andacht stand ich vor dem bescheidenen Denkmal, das die Portugiesen
ihrem größten Dichter hier errichtet haben, bei der Grotte, in die
er sich zurückzuziehen pflegte, um seinen Träumen, seinen Dichtungen
nachzuhängen. Was würde er, der in der Machtperiode seines Vaterlandes
gelebt, heute zu Macao sagen, in welchem zu seiner Zeit der Keim
zur Beherrschung von China geschlummert hat! Und wie Portugal China
verloren hat, so hat es auch mit diesem größten Reiche der Erde das
zweitgrößte der Erde, nämlich Indien, verloren. Was Macao in China, das
ist Goa in Indien, auch nur ein Denkmal der Unfähigkeit und Habsucht
der früheren portugiesischen Machthaber.

[Illustration: Villenviertel von Hongkong auf dem Rücken des Peak.]

Die malerischen Anhöhen hinter der Stadt emporsteigend, konnte ich die
eigentümliche Lage dieser winzigen Kolonie wahrnehmen. Sie erinnerte
mich lebhaft an Gibraltar, das den Spaniern gerade so auf der Nase
sitzt wie Macao den Chinesen, nur daß die Anhöhen des letzteren sich
nicht entfernt mit dem Felsen des Dschebel al Tarik vergleichen lassen.
Auch Macao liegt auf einer langen, nach Süden laufenden Halbinsel,
die nur durch einen flachen, sandigen Landstreifen von fünfundsiebzig
Meter Breite mit dem chinesischen Hinterlande zusammenhängt. Jenseits
davon gewahrte ich die Mauern der chinesischen Stadt Tschingan, das
die Portugiesen in Casabranca umgetauft haben. Wie groß aber der
portugiesische Landbesitz in Wirklichkeit ist, können sie selbst nicht
sagen. Sie haben wohl vor lauter Sklavenverkäufen und Spielen in den
chinesischen Spielhöllen während der dreiundeinhalb Jahrhunderte
ihres Hierseins noch keine Zeit dazu gefunden. Sie behaupten, ihre
Kolonie sei einunddreißig Quadratkilometer groß, ein Zehntel von
Schaumburg-Lippe, aber die Chinesen geben ihnen nicht einmal das, ja
bis zum Jahre 1887 ließen die bezopften Söhne des Himmels überhaupt
keine Ansprüche der Portugiesen zu. Ich erkundigte mich über die
eigentlichen Besitzverhältnisse in dem monumentalen Regierungsgebäude
auf der Praya. Der überaus höfliche Secretario geral do Governo e
Secretario de Legaçao (die Portugiesen lieben lange Titel) widersprach
den Angaben der meisten Reisewerke, daß Macao gar keine portugiesische
Kolonie sei. Bis 1887 hätten die Portugiesen allerdings dem Kaiser
von China eine jährliche Miete von 500 Taëls für die Halbinsel
gezahlt. In dem Vertrage des genannten Jahres aber wurde der wirkliche
Besitz den Portugiesen zuerkannt. Sie haben, um das zu erreichen,
dreihundertfünfzig Jahre gebraucht. Kann man sich da über den Rückgang
ihres einstigen Weltreiches wundern?

Die heute noch in Macao lebenden Portugiesen, etwa 5000, sind, wie
bemerkt, mit wenigen Ausnahmen Mischlinge, denen man die chinesische
oder malayische Mutter an den Schlitzaugen und der dunkeln Hautfarbe
sofort ansieht. Keine andere Nation Europas hat ein so erstaunliches
Anpassungsvermögen, was mit anderen Worten heißt, keine hat sich für
die weibliche Hälfte der dunkelhäutigen Menschenrassen so empfänglich
gezeigt, so wenig kaukasischen Rassenstolz entwickelt. Ich habe diese
Wahrnehmung in Afrika, in Indien, auf den Sundainseln, in Malakka etc.
gemacht und sah sie nun auch in China bestätigt.

Wovon die Portugiesen in Macao leben, ist schwer zu sagen. Während
in Hongkong und Canton der denkbar regste Handel und Verkehr
herrscht, ist es in Macao still, und das ganze noch vorhandene
Geschäftsleben liegt in den Händen der 60000 Chinesen, welche das
weitaus bedeutendste, lebenskräftigste und wohlhabendste Element in
dieser europäischen Kolonie bilden. Das Streben jedes Portugiesen
in Macao scheint es zu sein, in irgend einem andern Hafen Ostasiens
Unterkunft und Beschäftigung zu finden, oder in Macao selbst irgend
eine Regierungsstelle zu ergattern. Es ist gar nicht zu glauben,
welches Beamtenheer hier erforderlich ist, um die einunddreißig
Quadratkilometer Landes zu verwalten. Das Sprichwort „Viele Köche
versalzen die Suppe” hat sich hier glänzend bewährt.

An die europäische Stadt schließt sich jene der Chinesen an, eben
so schmutzig, lärmend, belebt wie das Chinesenviertel in Hongkong,
aber die Elemente, die sich hier zusammengefunden haben, sind
zum Teil noch verlotterter als dort. In früheren Jahrzehnten
steckten die chinesischen Kaufleute hier unter einer Decke mit den
portugiesischen in Bezug auf den schmachvollen Menschenhandel, der hier
getrieben wurde. Harmlose Chinesen wurden unter allerhand falschen
Vorspiegelungen angeworben, auch durch Piraten gewaltsam abgefaßt
und als Sklaven nach Peru, Kalifornien oder Mexiko verkauft. Eine
halbe Million Seelen fielen den Portugiesen so zum Opfer, bevor die
chinesische Regierung die Einstellung dieses Kulihandels erwirken
konnte. Damit ging die leichteste und ergiebigste Einnahmequelle
den Portugiesen verloren, und so warfen sie sich denn im Verein mit
ihren chinesischen Freunden auf das Lotteriewesen, das bei einem so
spiellustigen Volke, wie die Chinesen, günstigen Boden finden mußte.
Wie früher durch den Kulihandel, so wurden nun durch die Lotterie im
wahren Sinne des Wortes spielend ungeheure Vermögen erworben, und
auch die portugiesische Regierung gewann durch die Abgaben jährlich
Millionen. Um das Geld im Lande zu erhalten, hob die chinesische
Regierung das Lotterieverbot in China auf, die in Macao befindlichen
Lotteriegesellschaften fanden in neugegründeten Anstalten dieser Art
in Canton gewaltige Konkurrenten, und damit versiegte auch diese
unlautere Einnahmequelle. Statt der früheren Millionen giebt sie
heute der Regierung nur etwa 200000 Mark jährlich. Nun warfen sich
die guten Bewohner von Macao, dieser Freistätte des Lasters, auf den
Opiumschmuggel. Die Chinesen konnten demselben nicht anders beikommen
als durch die Gründung einer neuen Zollstation auf der benachbarten
Insel Lappa, und so blieben den Portugiesen nur jene Geschäftchen,
welche in Macao selbst betrieben werden können, wo sie die Hand der
chinesischen Regierung nicht erreichen kann: die Spielhöllen mit
Baccarat und dem chinesischen Fan-Tanspiel, das der portugiesischen
Regierung immer noch eine jährliche Einnahme von etwa 600000 Mark
abwirft. Während die Kaufleute anderer europäischer Nationen in China
ihr Augenmerk auf die kommerziellen Bedürfnisse der Chinesen richten,
spekulieren die Portugiesen, wie man sieht, hauptsächlich auf deren
Laster und Leidenschaften; kein Wunder, daß sie sich unter Chinesen wie
Europäern in Asien keiner besonderen Achtung erfreuen.

In den beiden vorzüglichen Hotels von Macao, dem „Boa vista” und dem
auf der Praya Grande (der Strandpromenade) gelegenen Hingkeehotel
findet der Besucher immer Führer, welche ihn auf seinen Spaziergängen
durch die Chinesenstadt begleiten und die hauptsächlichsten Spielhöllen
zeigen. So elegant und einladend, wie jene des europäischen Macao,
Monte Carlo, sind sie keineswegs, aber dennoch trifft man in
ihnen neben Chinesen auch viele Europäer, Portugiesen wie junge
englische Clerks, welche auf den „Gambling Steamers” von Hongkong
herüberkommen, um ihr Glück zu versuchen. Aus Neugierde setzte ich
selbst auch einigemale auf Fan-Tan und -- gewann. Die Einrichtung
des Fan-Tantisches ist sehr einfach. Die Spieler setzen sich an
die mit 1, 2, 3, 4 bezeichneten Seiten des Tisches und legen ihren
Einsatz auf eine derselben. In der Mitte wird ein Haufe von kleinen
Münzen oder auch Bohnen, Steinchen etc. zusammengeworfen und mit
einer Metallschüssel bedeckt. Sind die Einsätze gemacht, so hebt der
Bankhalter die Schüssel ab und zählt den Münzen- (oder Bohnen-)haufen,
indem er immer vier und vier davon abstreift. Bleiben eine, zwei oder
drei Münzen übrig, so haben jene Einsätze gewonnen, welche auf die mit
1, 2 oder 3 bezeichnete Tischseite gelegt wurden. Bleibt kein Stück
übrig, war also die Münzenmenge durch vier teilbar, so streicht der
Bankhalter alle Einsätze ein. Es kann aber auch auf alle vier Seiten
gesetzt werden, und der Bankhalter zieht einen Teil des Gewinstes für
sich ein.

Ein anderes Spiel, das die portugiesische Regierung als Monopol
einer Gesellschaft abgetreten hat und aus dem sie eine Einnahme von
etwa zweihunderttausend Mark jährlich bezieht, ist das Pak-kap-piu.
Die ersten achtzig Schriftzeichen, welche in dem Schulbuche der
Chinesen „Die tausend Schriftzeichen Klassiker” enthalten sind,
befinden sich auf Papierstreifen aufgedruckt, welche unter die Spieler
verteilt werden. Der Bankhalter verkauft nun Karten, welche, auf
die Papierstreifen aufgelegt, gerade zehn der achtzig verschiedenen
Schriftzeichen bedecken. Bei dem Spiele, an welchem ich in einer der
Spielhöllen teilnahm, kostete jede Karte hundert Reis (Macao besitzt
die portugiesische Goldwährung). Ich legte meine Karte auf die ersten
zehn Schriftzeichen. Der Bankhalter zog nun aus einer verdeckten
Schüssel zwanzig Täfelchen und legte sie vor sich auf den Tisch, so
daß alle Mitspielenden sie sehen konnten. Jedes Täfelchen enthielt
ein Zeichen. Mein Führer hob nun meine Karte auf und sah nach, welche
dieser zwanzig gewinnenden Zeichen unter meiner Karte waren. Er zählte
deren drei. Ich hatte meinen Einsatz verloren. Hätte meine Karte deren
sechs bedeckt, so wäre mir ein Gewinst von hundert Reis zugefallen; bei
sieben Schriftzeichen zweihundert, bei allen zehn etwa zehntausend.

Diese beiden Spiele waren in den Spielhöllen, die ich besuchte, die
beliebtesten. Aber es wurden deren noch Dutzende andere gespielt,
mit Würfeln, Dominos, Bambusstäbchen und den fingerlangen kleinen
chinesischen Spielkarten, deren es zwei verschiedene Arten giebt. Ein
Spiel mit Dominopunkten auf den Karten zählt deren 32, ein anderes,
Ngau-pai genannt und schon seit Jahrtausenden bekannt, besitzt in jedem
Päckchen 36 Karten und dürfte wohl das älteste Kartenspiel der Welt
sein.

Indessen, weder in Macao noch sonst irgendwo in dem großen Reiche der
Mitte beschränken die Chinesen ihre außerordentliche Spielwut auf die
Spielhöllen allein. Alt und jung, Männer wie Frauen, reich und arm bis
zu dem elendesten Kuli, alles ist von frühester Jugend an dem Spiel
ergeben. Man sieht die Chinesen in den Häusern, in den Kaufläden, in
Theehäusern, ja selbst in den Vorhöfen ihrer Götzentempel, auf Schiffen
und in den Straßen spielen. Jede Gelegenheit wird dazu benützt. Bei
meiner Wanderung durch den ungemein reichhaltigen Fruchtmarkt von Macao
bemerkte ich ein halbes Dutzend langbezopfter Söhne des Himmels um
einen Fruchthändler versammelt, der unter spannender Aufmerksamkeit
seiner Zuseher eine Apfelsine schälte. Sorgfältig zerteilte er sie und
zählte dann die in ihr befindlichen Samenkörner. Als er das Resultat
laut ausrief, wechselten die sechs zusehenden Chinesen Geldmünzen
untereinander. Ich konnte mir den Grund nicht erklären. Mein Führer
erzählte nun, die sechs Chinesen hätten untereinander auf die Zahl der
Samenkörner in der ersten besten Orange gewettet.



[Illustration: Blumenboot.]



Auf dem Perlfluß.


Giebt es auf dem Erdball einen Fluß, auf welchem sich ebenso
interessantes, reges, malerisches Leben zeigt wie auf dem Perlfluß?
Ich kenne ihn nicht. Man könnte die Themse erwähnen und den Hudson bei
Neuyork, aber die breiten Rücken dieser Ströme tragen hauptsächlich
gewaltige Ozean- und Flußdampfer, Dampffähren, Schleppschiffe und
moderne Segler. Sie sind nur Wasserstraßen, dem Verkehr gewidmet,
nicht dem Leben. Leben zeigen wohl der Ganges, Nil, Irawaddi und der
Menam, allein lange nicht in dem gleichen Maße wie der Perlfluß,
besonders auf der achtzig Seemeilen langen Strecke zwischen dem größten
Handelsemporium und der größten Stadt des himmlischen Reiches, zwischen
Hongkong und Canton. Dort +lebt+ ein großer Teil der Bevölkerung
geradezu auf dem Wasser, und während die modernen Dampfer, welche die
Europäer auch auf diesem urchinesischen Fluß verkehren lassen, nur
dem Transport von Waren und Passagieren dienen, +wohnen+ auf dem
Perlfluß Hunderttausende von Menschen. Auf der breiten Wasserfläche
dieses trüben, schlammigen, reißenden Flusses werden sie geboren,
verbringen sie ihr Leben und sterben; aus seinen Fluten ziehen sie ihre
Nahrung, ihren Lebensunterhalt. Sie sind menschliche Amphibien, denen
das Leben auf dem trockenen Festlande kaum erträglich scheint, und die
sich nur auf ihren Sampans, Fischerbooten und schwimmenden Häusern
wohlbefinden.

Man mag in dem ungeheuren chinesischen Reiche reisen, wohin man will,
nirgends wird sich die chinesische Eigenart malerischer zeigen als auf
dem Cantonflusse und auf dem Wege dahin. In letzter Zeit wird viel von
einer Eisenbahn zwischen Hongkong und Canton gesprochen, vielleicht
wird man schon in wenigen Jahren das Dampfroß durch die gesegneten
Reisgefilde am Kwantung eilen sehen. Aber wer immer in Zukunft Canton
besucht, möge die Flußfahrt dahin unternehmen, wenn er das alte China
kennen lernen will. Prächtige große Dampfer von mehreren tausend Tonnen
Gehalt vermitteln den Verkehr zwischen den beiden so wichtigen Städten.
Als ich eines Morgens nach einer raschen Fahrt in der Jinrickishaw
durch das schmutzige Chinesenviertel in Hongkong den Dampfer Hankau
bestieg, der mich nach Canton bringen sollte, glaubte ich mich auf
einem der schwimmenden Passagierpaläste des Hudson zu befinden,
so groß und prächtig sind die Dampfer der Hongkong-Canton- und
Macao-Dampfergesellschaft. Auch die Einrichtung dieser blendend weißen
Schiffe mit ihren geräumigen, eleganten Salons, ihrem Hurricandeck und
ihren schönen Kabinen erinnerte mich an die Hudsondampfer. Nur besitzen
sie eine bedenkliche Zuthat, die den amerikanischen Flußdampfern fehlt.
In einem an den Salon grenzenden Raume prangte ein kleines Arsenal von
Schieß-, Stich- und Hiebwaffen, zum Zugreifen bereit, und als mich ein
chinesischer Steward mit lang herabhängendem Zopfe in meine Kabine
führte, bemerkte ich in dieser, unmittelbar über meinem Bett, einen
haarscharf geschliffenen Säbel und einen geladenen Revolver. Vor den
zum Zwischendeck führenden Thüren hielten bewaffnete Matrosen Wache
und ließen keinen der tausend oder noch mehr chinesischen Passagiere,
welche dort unten zusammengepfercht waren, auf das Oberdeck.

Warum diese Sicherheitsmaßregeln? Sie scheinen heute vielleicht
überflüssig, aber in früheren Jahren kam es häufig vor, daß sich
chinesische Seeräuber als Passagiere auf die Dampfer einschmuggelten
und, sobald diese das Insellabyrinth vor der Mündung des Perlflusses
erreicht hatten, den Kapitän, die europäischen Offiziere und Passagiere
überfielen, um sie auszurauben. Noch vor einigen Jahren ereignete sich
dies auf einem solchen Dampfer, und bald nachdem ich Canton wieder
verlassen hatte, berichteten die Tagesblätter aus Hongkong von dem
Ueberfall eines chinesischen Schiffes durch Piraten in jenen Gewässern.
Sie ermordeten die ganze Schiffsmannschaft und führten das Schiff
nach einer unbewohnten Insel, wo sie den Anstrich desselben änderten
und es für weitere Piratenzüge benützten. In völliger Sicherheit ist
man auch heute noch nicht, trotz der englischen Kriegsfahrzeuge und
der kuriosen chinesischen Kanonenboote, welche den Patrouillendienst
auf dem Perlfluß versehen. Deshalb wird der Wachtdienst auf den
Passagierschiffen sehr streng gehandhabt; eine Anzahl Matrosen mit
Revolvern und Säbeln sind stets in Bereitschaft, und neben diesen
Waffen giebt es noch andere, nicht minder gefährliche. Der Ingenieur
unseres Dampfers zeigte mir gerade gegenüber der Eisenthüre, welche
zum Zwischendeck führt, die Mündung eines Schlauches, der mit dem
Dampfkessel in Verbindung steht. Im Falle von Meuterei braucht der
wachthabende Matrose nur einen Hahn zu öffnen, um die ganze bezopfte
Gesellschaft mit heißem Dampf abzubrühen.

Während wir, den herrlichen Hafen von Hongkong verlassend, in
das Labyrinth kahler, brauner Felseninseln steuerten, welche der
eigentlichen Mündung des Perlflusses, der Boca Tigris, vorgelagert
sind, besah ich mir die Einrichtung des Dampfers. In den Räumen der
ersten Kajüte gleicht alles, wie gesagt, den Hudsondampfern. Eine
Eisenthür führt nach der auf demselben Verdeck befindlichen zweiten
Kajüte, welche für die Chinesen der besseren Stände bestimmt ist, und
an diese schließt sich eine Kajüte für die chinesischen Damen. In der
vornehmen Welt Chinas herrscht in Bezug auf das weibliche Geschlecht
eine ähnliche Abschließung wie bei den Mohammedanern, nur daß sich die
Chinesinnen niemals verschleiern.

Das Zwischendeck ist für die Chinesen der untern Stände bestimmt.
Der ganze verfügbare Raum war mit Zopfträgern angefüllt, die auf
mitgebrachten Decken oder Strohmatten lagen oder auf ihren Kisten
und Kasten und Kleiderbündeln hockten, denn das Zwischendeck der
chinesischen Dampfer besitzt keine Einrichtungsstücke, und jeder
Passagier muß für seine Bequemlichkeit so gut als möglich selbst Sorge
tragen. Die meisten hatten ihre Tabaks- oder Opiumpfeife im Munde
und gaben sich Karten- oder Dominospiel hin; selbst die bettelarmen,
halbnackten Kulis, die vielleicht nichts ihr Eigen nannten als das
zerlumpte, bis zu den Knieen reichende Beinkleid, ihr einziges
Kleidungsstück, und ein paar Sapeken (Kupfermünzen im Wert von einem
viertel Pfennig), kauerten gruppenweise auf den kahlen Dielen und
frönten dem Spiel. Verkäufer von allerhand Eßwaren, gekochtem Reis,
kleinen getrockneten Fischen, Seegras, übelriechenden Eiern und
sonstigen abschreckend aussehenden Dingen zogen von Gruppe zu Gruppe,
andere verkauften kochendes Wasser für die Theebereitung; hier ließen
sich blinde Musiker mit ihren Gesängen, Pfeifen und Gongschlägen hören,
dort lauschten Gruppen von Kulis den Märchen und Räubergeschichten
von gewerbsmäßigen Erzählern. Auch zahlreiche Frauen befanden sich
unter den Passagieren. Die Chinesen sind ein sehr reiselustiges Volk,
und der Prozentsatz jener, welche sich auf der Wanderschaft befinden,
ist vielleicht größer als bei manchem europäischen Volke. Mütter
mit ihren Kindern, junge Mädchen, arme Bootsfrauen und Kuliweiber
lagen rauchend, spielend oder mit allerhand Arbeiten beschäftigt auf
ihren Binsenmatten. Viele schliefen. Als Kopfkissen dienten ihnen
eigentümliche hohle Porzellankästchen in der Form und Größe unserer
Bauziegel. Die Atmosphäre in diesen Räumen war trotz der weitgeöffneten
Luken geradezu unerträglich. Die kleinen Papierfächer, welche jeder
Chinese mit sich führt, waren unausgesetzt in Bewegung; aber der
Gestank der Lebensmittel, alten Kleider und Matten, die Ausdünstung von
mehr als tausend Menschen, der eigentümliche ~odeur de Chine~,
der jedem Gegenstand in diesem Lande anhaftet, konnten weder von den
Fächern noch von der stark durchziehenden Seeluft verscheucht werden.

Trotz des ungemein interessanten Anblicks, den die bunt
zusammengewürfelte Menge gewährte, eilte ich deshalb bald auf das
Verdeck zurück. Wir waren bei den hohen steilen Felsen der Boca Tigris
angekommen und fuhren zwischen den starken Batterien hindurch, welche
die Chinesen hier zur Verteidigung von Canton durch deutsche Ingenieure
haben anlegen lassen. Auch weiterhin zeigen alle Berge, alle Inseln,
alle den Fluß eindämmenden Felsen Befestigungen, aber nur solche nach
chinesischem Muster. Hohe, blendend weiße Mauern ziehen sich vom
Flusse die Anhöhe hinauf und auf der andern Seite wieder herunter.
Im Innern dieser so umschlossenen weiten kahlen Räume ist nichts zu
sehen als ein oder zwei gemauerte Häuser, welche die Anhöhen krönen,
und Steintreppen, welche vom Flusse zu ihnen emporführen. Kanonen,
Erdwerke, Waffen, Mannschaften schienen diesen chinesischen Festungen
zu fehlen. Die einzigen Anzeichen, daß sich dort Mannschaften befinden
mußten, waren zahllose dreieckige Flaggen, weiß mit roten chinesischen
Schriftzeichen in der Mitte, oder rot mit weißen Schriftzeichen; zu
Hunderten wehten sie auf den Mauern und Gebäuden. Man sagte mir, es
würde heute ein hoher Mandarin zur Untersuchung der Festungswerke
erwartet, und deshalb der Fahnenschmuck. Ja, wenn die Chinesen mit
Flaggen allein Krieg führen könnten!

Weiter stromaufwärts verflachen sich die Ufer, und jedes irgendwie
verwendbare Stückchen Land wurde durch die fleißige Hand der Zopfträger
in Reisfelder verwandelt. Splitternackt, nur mit großen Strohhüten auf
den Köpfen, stehen sie in dem Schlamm und versetzen jedes einzelne
der Hunderttausende von zarten Reispflänzlein in schnurgerade Reihen.
Selbst die Schlammbänke, welche der reißende Strom hie und da mitten in
seinem Bett aufgeworfen hat, zeigen solche Paddy-(Reis-)felder. Wohl
äußert sich die Meeresflut bis hinauf nach Canton und hat dort noch ein
Spiel von über einen Meter, aber das Salzwasser selbst dringt nicht
viel weiter als bis zu der Boca Tigris, und es ist nur die Anstauung
des schlammigen Süßwassers, welche weiter oben das Flutenspiel
mitmacht. Die weiten, sumpfigen Ebenen werden durch Erddämme eingefaßt,
welche mit Lichee und Bananen bepflanzt sind. Nur vereinzelt gewahrt
man in diesen Gegenden Palmen. Wären diese zahlreicher vorhanden,
die Dörfer zu beiden Seiten des Flusses würden mit ihren düstern,
dunklen Schlammmauern an die Fellachendörfer des Nilthales erinnern.
An Stelle der Minarets treten hier die eigentümlichen vielstöckigen
Pagoden, an Stelle der Moscheen nicht etwa Buddhatempel, sondern
die festen viereckigen Steintürme der Pfandhäuser, deren es wohl in
jedem Dorfe eins oder mehrere giebt. Sie sind nächst den Pagoden die
höchsten und solidesten Bauten in China. Auffällig ist es, daß auch in
den Dörfern alle Häuser mit gebrannten Hohlziegeln eingedeckt sind,
und daß die Dörfer durchweg parallel zu der Flußrichtung stehen;
die abergläubischen Chinesen thun dies aus Furcht vor den bösen
Geistern, welche, unsichtbar für sie, in der Richtung des Flusses
durch die Lüfte jagen und ihrer Meinung nach durch quergestellte
Dächer aufgehalten würden. Im Gegensatz zu der Armseligkeit der
Dörfer steht die ungemein sorgfältige Bebauung der sie umgebenden
Ländereien. Sie verraten die Jahrtausende alte Kultur, der sie
durch die arbeitsamen Chinesen unterworfen wurden. Jede irgendwie
verwendbare Erdscholle ist bebaut; neben den Reisfeldern gewahrt man
Gemüsegärten, Orangen- und Obstpflanzungen, hie und da erheben sich
gewaltige Schattenbäume, und zwischen ihnen hindurch sieht man noch
in weiter Ferne Segelboote dahinziehen, wie in Holland. Der Fluß ist
in viele Seitenarme gespalten, und je nach ihrer Bestimmung stromauf-
oder -abwärts benutzen die chinesischen Fahrzeuge die Flutströmungen
im Hauptfluß oder in kleinen Nebenarmen. Ja, diese chinesischen
Schiffe! Jedes einzelne verdient in Europa in irgend einem Museum
aufgestellt zu werden. Gewiß waren es nicht die Phönizier, sondern
die Chinesen, welche die Segelschiffahrt erfunden haben, denn schon
vor Jahrtausenden war dieselbe sehr entwickelt. Chinesische Fahrzeuge
besuchten die verschiedenen Länder der ostasiatischen und australischen
Welt, und wenn sie auch im Laufe der Zeit erheblich verbessert worden
sind, so heimeln sie den Reisenden, der ihnen hier auf dem Perlfluß
begegnet, doch an, wie die kuriosen Fahrzeuge der alten Portugiesen
und Holländer aus der Zeit der großen Entdeckungsreisen. Gegen sie
erscheinen die Karavellen des Kolumbus noch modern. Und dabei haben
sie sich in China vielleicht in demselben Verhältnis vermehrt wie die
riesige Bevölkerung, denn die zahlreichen Flüsse, Seen und Kanäle des
großen Landes, wo immer man auch hinkommen mag, sind mit ihnen bedeckt,
zu Tausenden und Abertausenden drängen sie sich in den Häfen, an den
Kanalschleusen, in den Marktstädten zusammen, zu Tausenden schwimmen
sie auch hier auf dem Perlfluß.

[Illustration: Dschunken.]

Am zahlreichsten sind wohl die Fischerboote, dem ungeheuren
Fischreichtum dieses merkwürdigen Flusses entsprechend. Fischerboote
überall, in der Mitte des Stromes verankert, in den zahlreichen Buchten
oder längs der schlammigen, schilfbedeckten Ufer, mit Netzen, Angeln
und Kormoranen, diesen eigentümlichen Vögeln, welche sich die Chinesen
ganz unterthan gemacht haben und die mit unendlicher Geduld den lieben
Tag lang die Fische aus den Fluten für ihre Herren hervorholen.

An verschiedenen Stellen ist der Fluß von den Chinesen zur Verteidigung
gegen die Franzosen und Engländer gesperrt worden. Sie trieben in
kleinen Abständen starke Pfähle in den Grund quer über den Fluß und
ließen nur schmale, leicht zu verteidigende Durchfahrten für die
Schiffe frei. Diese schwarzen, über die Wasserfläche hervorlugenden
Pfähle sind für den Fischfang wie geschaffen; die Angriffe der weißen
Barbaren waren doch für etwas gut. Ungeheure kohlschwarze Netze
hängen an diesen Pfählen, und während die letzteren den Schiffen den
Durchzug versperren, thun die ersteren dies in Bezug auf die Fische.
Stromabwärts schaukeln sich, durch Seite an die Pfähle befestigt,
zahllose aneinandergekettete Sampans, plumpe offene Boote, mit den
Fischern darin. Diese haben ihren Opfern, den Fischen, die Art der
Fortbewegung im Wasser abgelauscht, denn statt Ruder nach unserer Art
zu benützen, hängt ein einziges großes Ruder über den Hinterteil des
Bootes ins Wasser und wird durch die Bootsleute hin und her bewegt,
ähnlich wie der Fisch seine Schwanzflossen braucht. Hunderte anderer
Boote liegen in den Buchten verankert, die schwarzen Netze zum Trocknen
auf den Masten aufgehängt.

Nächst zahlreich sind auf dem Perlfluß die kuriosen chinesischen
schwimmenden Wohnhäuser, die, aus der Ferne gesehen, das Aussehen
schwimmender Pantoffel haben und auch Pantoffelboote genannt werden.
Zehntausende dieser Boote bedecken den Fluß, andere Zehntausende
liegen in Canton an den Ufern verankert, mit einer Bevölkerung, die
nach Hunderttausenden zählt. Jedes dieser Boote beherbergt eine,
mitunter auch mehrere Familien. Der hintere Teil des Pantoffelbootes
ist offen und dient für die Ruderer. Unter ihnen sind die Vorratsräume
für Lebensmittel, Getränke, allerhand Hausrat, lebende Schweine,
Enten, Gänse und gar häufig auch Kinder. Sind die Eltern an der
Arbeit, oder werden Passagiere mit dem Boote befördert, so wird die
kleine unangenehme, störende Gesellschaft einfach in diese dunkeln
Vorratsräume gesteckt. Das Vorderteil des Bootes ist durch ein
tonnenartiges, nach hinten offenes Gewölbe eingedeckt, aus Reifen
bestehend, die mit Brettern oder Leinwand überzogen sind. Unter dem
Gewölbe befinden sich lange Bänke, welche der Bootsfamilie tagsüber
als Sitze, zur Nachtzeit als Betten dienen. Der Fluß ist die Welt,
in welcher diese Leute leben. Unaufhörlich kreuzen sie mit ihren
Fahrzeugen hin und her, vollständig unbekümmert um die großen Dschunken
und europäischen Dampfer, welchen sie häufig den Weg versperren. Die
Steuerleute müssen die Dampfpfeife unaufhörlich ertönen lassen, um
diese Boote zu warnen, und an den Flußsperren, wo sich Hunderte von
Booten an den kaum vierzig Meter breiten Durchlässen zusammendrängen,
werden gar häufig einzelne umgerannt. Sie scheinen aber geradezu
mit Absicht das Fahrwasser der Dampfer aufzusuchen und fahren auf
zwei, drei Schritte Entfernung vor dem scharfen Bug vorbei, in
beständiger Lebensgefahr. Wie mir der Kapitän des „Hankau” erzählte,
betrachten sie dieses Passieren des Dampferbuges in ihrem Aberglauben
als glückbringend. Was mir gelegentlich meiner ersten Fahrt auf
dem Perlflusse auffiel, waren die roten Leinwandlappen und roten
Papierstreifen, welche jedes einzelne Boot, jede Dschunke auf den
Masten, am Bug und an den Seiten zeigte. Vorn auf der Spitze jedes
Schiffes brannten außerdem Joß-sticks (Räucherkerzen) in großen Mengen,
und wer immer ein Gong besaß, schlug wie besessen unaufhörlich darauf
los. Durch diese abergläubischen Mittel wollten die Bootsinsassen die
bösen Geister bannen. In Canton und den umliegenden Ortschaften wütete
gerade die sibirische Beulenpest. Tausende fielen dieser schrecklichen
Plage täglich zum Opfer, und die Chinesen kennen kein anderes Mittel,
ihr entgegenzutreten, als daß sie die bösen Pestgeister auf die
genannte Art verscheuchen.

Zwischen den Sampans und Fischerbooten schwimmen Hunderte von Dschunken
den Fluß auf und ab, große plumpe Kästen mit hohem Bug und noch viel
höherem Stern, mit bunten Farben überschmiert und an den Seiten mit
grotesken Fratzen bemalt. Die Seitenwände dieser Fahrzeuge laufen
gegen das Steuer zu nicht zusammen wie bei unseren Schiffen, sondern
verlängern sich geradlinig um etwa einen Meter oder noch mehr über das
Steuer hinaus. In diesem so gebildeten Schlitz steckt das Steuerruder
mit einer Reihe vertikaler Einschnitte, durch welche beim Steuern
das Wasser durchschießt. Auf dem plumpen, bunt bewimpelten Mast
sitzt gewöhnlich nur ein großes Segel, nicht aus Stoff, sondern aus
einer Binsenmatte bestehend, die mit fächerartigen Rippen versehen
ist. Wird das Segel entfaltet, so öffnet es sich mit divergierenden
Rippen ähnlich wie ein Fächer, dem der Knopf abgeschnitten wurde.
Die zahlreichen Löcher und aufgesetzten Flecke zeugen nicht nur von
dem Alter dieser Mattensegel, sondern auch von den Stürmen, welche
die Boote in den chinesischen Gewässern, besonders zur Teifunzeit,
zu überstehen haben. Der Bug mancher Dschunke zeigt eine grotesk
geschnitzte scheußliche Fratze, bei allen Dschunken aber sitzen nahe
dem Bug zwei ungeheure runde Fischaugen, welche den Schiffskörpern das
Aussehen scheußlicher Seeungetüme verleihen. Als ich einen Chinesen in
Canton über den Zweck dieser aufgemalten Augen befragte, meinte er in
der merkwürdigen Verkehrssprache zwischen Europäern und Chinesen im
fernen Osten, dem Pidgen-English: „~No got eye, no can see; no can
see, no can go~” (hat kein Auge, kann nicht sehen; kann nicht sehen,
kann nicht gehen).

Viele von den Dschunken, in chinesischer Sprache Tschuank genannt,
sind für den Passagierverkehr zwischen Canton und den Küstenstädten,
sowie Formosa, Hainan, ja Singapore und den Sundainseln bestimmt;
andere liegen nur dem Frachtenverkehr oder dem hier in großartigem
Maßstabe betriebenen Schmuggel ob. Zu seiner Verhinderung besitzt
die Zollbehörde eine Anzahl von Kanonenbooten, welche sich durch
besondere Schnelligkeit auszeichnen und deren Befehlshaber Europäer
sind. Aber auch die Chinesen haben auf dem Perlflusse eine Menge von
Kanonenbooten, hauptsächlich gegen die Seeräuber bestimmt, auf die
sie nach Thunlichkeit Jagd machen. Diese Kanonenboote sind nichts
weiter als gewöhnliche Dschunken mit einer Kanone auf dem Stern und
einer Bemannung von etwa einem Dutzend Soldaten. Die großen rotweißen
Flaggen auf der Mastspitze künden den Schmugglern schon von weitem die
chinesische Hermandad an, so daß sie beizeiten Reißaus nehmen können.

Aus dem Perlfluß verkehren gegen sechzig verschiedene Arten von
Dschunken. Viele von ihnen, besonders die Privatfahrzeuge reicher
Chinesen, sind mit prachtvollen Schnitzereien und Vergoldungen
geschnitzt und sehr rein gehalten. Nichts kann malerischer sein als
diese kurios geschwungenen, stets wie zu einer Hochzeit mit Wimpeln
und bunten Flaggen geschmückten großen Schiffe, die nirgends als
nur in China zu sehen sind und eine der größten Merkwürdigkeiten
dieses Landes bilden. Für den Passagierverkehr zwischen Hongkong und
Canton, auch weiter stromaufwärts bis Shaoking, dienen unter anderen
eigentümliche Fahrzeuge, welche die Europäer spottweise „chinesische
Dampfer” nennen. Eben kam uns eines derselben entgegengefahren, und
es hätte nicht viel gefehlt, so wären wir mit ihm zusammengestoßen.
Der Form nach war dieses Schiff den europäischen Dampfern ähnlich, nur
besaß es statt der Schaufelräder an den Seiten ein einziges Schaufelrad
auf dem Stern, ähnlich den berüchtigten Stern-wheelers auf dem Ohio
und Mississippi, die ich auf meinen amerikanischen Reisen so häufig
zu benutzen gezwungen war. Aber statt durch eine Dampfmaschine, wurde
dieses Schaufelrad durch Menschenarbeit in Drehung versetzt. Vor dem
Schaufelrad befand sich nämlich unter dem Verdeck ein großes Tretrad,
und auf diesem steigen unaufhörlich, in Schweiß gebadet, etwa zwei
Dutzend halbnackter Kulis einher. In früheren Jahren führten manche
dieser „Dampfer”, um die Täuschung für die chinesischen Passagiere noch
vollständiger zu machen, mittdecks einen hohen schwarzen Schornstein,
unter dem ein Feuer aus feuchtem Holz unterhalten wurde, damit der aus
dem Schornstein qualmende Rauch recht weit sichtbar war. In neuerer
Zeit sind die Schornsteine verschwunden, aber die Treträder sind
geblieben, fürwahr eine billige Triebkraft, denn jeder Passagier,
der sich dazu hergiebt, das Rad zu treten, hat freie Fahrt. Dabei
melden sich stets doppelt und dreifach so viele Passagiere, als der
Schiffseigentümer zur Fortbewegung des Schiffes braucht.

Die einzige Station, bei der wir auf dem Wege nach Canton anhielten,
war das alte Whampoa, früher der Handelshafen der Riesenstadt Canton,
denn bis hierher konnten die großen Seeschiffe vordringen. Auf den
benachbarten Anhöhen erheben sich zwei alte, vierstöckige Pagoden,
die sich in der herrlichen Umgebung dieses einstigen Welthafens sehr
malerisch ausnehmen und die Wahrzeichen Whampoas bilden. Aber Glanz
und Reichtum sind längst dahin, und an Stelle der einstigen reichen
Hafenstadt befindet sich ein elendes chinesisches Fischerdorf, von
den Zollbeamten spottweise die „Bambusstadt” genannt. Die einstigen
Docks und Reparaturwerkstätten der Europäern wurden an die chinesische
Regierung verkauft, welche sie zur Ausbesserung und Ausrüstung ihrer
Kanonen- und Torpedoboote eingerichtet hat. Auch eine Marineschule
befindet sich hier.

Während unser Dampfer in der Mitte des Stromes anhielt und einige
Boote den Passagierwechsel bewerkstelligten, wurde mein Augenmerk
durch ein höchst malerisches Schauspiel gefesselt. Von Canton her
kam auf dem Flusse eine Flottille von etwa einem Dutzend Booten
herabgeschwommen; war es denn chinesische Fastnacht? Aus der Ferne
betrachtet, erschienen mir diese Boote wie aus einem kölnischen
Karnevalsumzug herausgerissen. In phantastischen Farben prangend,
über und über mit Fahnen, dreieckigen und viereckigen Bannern,
bunten Wimpeln und roten Papierstreifen geschmückt, zeigte jedes
Boot eine andere mehr oder minder verzwickte Form. Am glänzendsten
und reichsten erschien das erste Boot, auf dessen Mast die gelbe
kaiserliche Fahne mit dem blauen Drachen wehte. Unter seltsamen
Musikklängen und lärmenden Gongschlägen zog es an uns vorüber.
Soldaten mit blauen Kitteln und roten Kreisen auf Brust und Rücken
standen auf dem Verdeck, und unter einem bunten Baldachin saß rauchend
ein hoher Mandarin. Dieses offizielle Mandarinboot wurde von einer
Anzahl Kanonenboote und Dschunken begleitet, die alle ähnlichen
Flaggenschmuck zeigten. Wie mir der chinesische Comprador unseres
Dampfers mitteilte, war der Mandarin der auf einer Inspektionsreise
begriffene Provinzbefehlshaber. Aber selbst diese phantastischen Züge
werden zu gewissen Zeiten weitaus übertroffen, wenn in den größern
Städten und vor allem in Canton das Fest der Drachenboote abgehalten
wird, eine Art Wasserkarneval, der aus dem dritten Jahrhundert vor
Christo stammt und sich seit zwei Jahrtausenden alljährlich wiederholt.
Gerade während meines Aufenthaltes in Canton wurde zur Verscheuchung
der sibirischen Pest von dem Provinzstatthalter ein solches Fest
anbefohlen. Die phantastische Ausschmückung dieser zwanzig bis dreißig
Meter langen, in Drachenform gebauten Boote spottet jeder Beschreibung.
Unter dem furchtbarsten Lärmen, Gongschlagen, Schreien und Singen,
mit Feuerwerk und bengalischen Lichtern schießen diese von fünfzig
bis sechzig Rudern fortbewegten Boote zwischen den Tausenden von
Sampans und Pantoffelbooten, die ebenfalls mit Laternen bedeckt sind,
auf und nieder, und häufig kommt es bei den Wettfahrten zu ernsten
Unglücksfällen.

Bald nachdem wir Whampoa verlassen hatten, passierten wir die
letzte Strombarriere, unter fortwährender Gefahr, einige der immer
zahlreicher werdenden Boote umzurennen, und endlich gewahrte ich in
der Ferne zwischen den zahllosen Masten dieses belebtesten Flusses
der Erde das Häusermeer der Zweimillionenstadt Canton, überragt von
dem höchsten Gebäude derselben, von der katholischen Kathedrale
mit ihren zwei Türmen. Unwillkürlich wurden meine Blicke von dem
aufregenden, malerischen Flußschauspiele abgezogen, und staunend mußte
ich immer wieder diese Wahrzeichen des Christentums betrachten, welche
inmitten dieser fremden, heidnischen Welt uns so packend an die ferne
christliche Kultur gemahnten.



[Illustration: Straße in Canton.]



Canton.


Zu den beiden Seiten des ungemein belebten Flusses erhebt sich die
Riesenstadt; ihr Häusermeer dehnt sich von den Ufern viele Kilometer
in die Ebene aus, zieht sich an den Bergwänden im Westen empor und
schwindet endlich zwischen den Bäumen des ungemein fruchtbaren, reich
bebauten Landes. Aber vergeblich sucht unser Auge nach hervorragenden
architektonischen Werken, nach Tempeln und Palästen und Türmen;
chinesische Städte kennen diesen Schmuck nicht. Vereinzelt hebt
sich eine mehrstöckige alte Pagode über das Meer der einförmigen,
grauen, gleichhohen Hausdächer; hie und da ragen feste viereckige
Türme, aus Grauziegeln gebaut, empor, wie die Türme von Ritterburgen,
aber sie sind nichts weiter als Pfandhäuser, die in China eine gar
wichtige Rolle spielen; das einzige wirklich bemerkenswerte Gebäude
dieser urchinesischen Millionenstadt, das wir schon auf viele Meilen
Entfernung wahrgenommen hatten, geradezu das Wahrzeichen Cantons
bildend, ist die schon erwähnte gotische Kirche mit zwei hohen Türmen,
die Kirche des katholischen Bischofs von Canton.

Der Ruf unserer Dampfpfeife hatte Hunderte von Sampans in unsere
Fahrbahn gelockt, nur mit schwerer Mühe war es möglich, den Dampfer
zwischen ihnen hindurch an die Werft zu führen. Wir hatten mehrere
hundert chinesische Reisende an Bord, und die Lenker der Sampans
umdrängten in mehrfachen Reihen das Schiff, um Passagiere zu ergattern.
Unter diesem Getümmel und Geschrei ans Land gehen zu wollen, wäre
eitles Bemühen für uns Europäer gewesen; so sahen wir denn eine Stunde
lang dem tollen Treiben zu unseren Füßen zu. Die Mehrzahl der Sampans
waren von Frauen und Mädchen gelenkt. In blauen, weiten, bis an die
halben Waden reichenden Beinkleidern, ein dunkelblaues Hemd mit weiten
Aermeln darübergeworfen, ohne Kopfbedeckung und ohne Schuhe, führten
sie mit kräftigem Arm das Ruder der schweren Boote. Diese sind ihre
Wohnung und gleichzeitig ihr einziges Erwerbsmittel. Die Boote selbst
sind vorne und hinten mit einem Deck versehen, auf welchem die Ruderer
stehen und sich zwischen den anderen Booten geschickt hindurchzwängen,
indem sie Ruder, Kenterstangen und ihre Hände benutzen. In der Mitte
jedes Bootes befinden sich ein Paar Bänke, durch ein rundes Holzdach
gegen Sonne und Regen geschützt. Dies ist der Sitz für die Passagiere
und zur Nachtzeit die Schlafstätte der Bootsleute. Vorne auf dem Bug
wird gewaschen und gearbeitet, hinten gekocht und gegessen. Tagsüber
rudern sie auf dem breiten, gelben Perlstrom umher auf der Suche nach
Arbeit, am Abend ankern sie irgendwo an den Ufern zwischen Tausenden
anderen ähnlichen Booten und pflegen der Ruhe. So geht es Tag für
Tag, Jahr für Jahr von ihrer Kindheit bis zu ihrem Tode. Selten, wenn
überhaupt, kommen sie über die Stadtmauern von Canton hinaus.

Die Ankunft der großen Hongkongdampfer giebt ihnen mehr Arbeit, als sie
sonst finden würden; deshalb der Zudrang dieser Hunderte von Booten,
deshalb dieses Schreien und Stoßen und Drängen und Hasten, daß uns
angst und bange wurde. Endlich, nach langem Warten, war der letzte
Chinese, das letzte seiner Gepäckstücke, Kopfkissen und Strohmatten
(denn auch solche nimmt der Chinese stets mit auf die Reise) in den
Sampans untergebracht, und es kam nun die Reihe an uns. Schon längst
hatte sich eines der Bootsweiber uns angeschlossen, ein strammes,
einäugiges Weib, das gar nicht übel englisch sprach und uns die
Karte des Shameenhotels überbrachte. Der Kapitän des Schiffes, ein
Mann, der seit dreißig Jahren in China weilt, hatte sie als durchaus
zuverlässig empfohlen; Susan, so lautet ihr Spitzname, hat wohl den
größten Teil der europäischen Touristen seit vielen Jahren in ihrem
Sampan nach dem Hotel gebracht. In ihrem Buche hatten die meisten
ihren Namen eingetragen, darunter berühmte Persönlichkeiten; sie
kannte jedermann in Canton, und jeder kannte sie. Ihr Mann faulenzte
in der Stadt und schmauchte Opium, sie arbeitete Tag und Nacht und
hatte sich trotz der Lumperei ihres Gatten ein Vermögen von mehreren
tausend Dollars zusammengescharrt. Mit kräftigen Armen hob sie unsere
schweren Koffer auf die Schulter und beförderte sie behutsam auf ihren
Sampan. Dann führte sie uns über die schmalen schwankenden Bretter in
das Boot und ruderte uns zwischen Tausenden von Booten in den Kanal zur
Landungstreppe des Shameenhotels. Ueberall sahen wir, daß diese Sampans
nur von Weibern gelenkt und bedient wurden; selbst kleine Mädchen, kaum
mehr als sechs bis acht Jahre alt, ruderten schon fleißig und machten
sich auf den kleinen schwankenden Booten nützlich.

Das Shameenhotel liegt auf der kleinen flachen Insel im Cantonfluß,
welche die Chinesen den Engländern und Franzosen als Niederlassung
für ihre Kaufleute und Konsulate vor etwa zwei Jahrzehnten abgetreten
haben. Tausende von Jahren bis zu dieser Abtretung war die Insel
nichts weiter als eine wüste Sandbank im Herzen der chinesischen
Millionenstadt. Zwei Jahrzehnte hatten genügt, um darauf eine der
schönsten und reinlichsten Europäerstädte Asiens hervorzuzaubern. In
ihrer Art ist sie vielleicht ebenso merkwürdig wie Canton selbst. In
dem elenden, schmutzigen, aller Beschreibung spottenden Straßengewirr
der Chinesenstadt ist es natürlicherweise Europäern geradezu unmöglich,
zu wohnen; dafür bauten sie sich auf Shameen schöne einstöckige
Häuser, die sich mit jenen unserer modernen europäischen Villenviertel
vergleichen lassen. In langen Reihen stehen sie da, umgeben von kleinen
wohlgepflegten Gärten, manche von ihnen überhöht von Masten, auf
welchen die Flaggen der verschiedenen Konsulate flattern. Unter den
mehreren hundert Einwohnern sind die meisten europäischen Nationen
vertreten. Am zahlreichsten findet man Engländer und Deutsche, die
hier große Ausfuhrgeschäfte besitzen. Die Stadt untersteht weder
den Chinesen noch irgend einer europäischen Nation, sie ist eine
Republik für sich, und zwar eine der internationalsten Art und im
vollsten Sinne des Wortes unabhängig. Sie hat ihr Theater, ihren
Klub, ihren philharmonischen Verein, ihre Parks, ihre Gärten, ihren
Lawn-Tennis-Ground, aber keinen einzigen Kaufladen nach europäischer
Art, sie hat auch keine Straße. Ein Stadtrat, aus Mitgliedern der
verschiedenen Nationen gewählt, besorgt die Verwaltung. Shameen hat
seine eigene Polizei, Wasserleitung, Feuerwehr, alles in vortrefflicher
Verfassung, ein Muster für das benachbarte Canton, das heute noch
regiert wird und so aussieht wie vor tausend Jahren. Die Bewohner
Shameens, mitten in dem Mongolenreiche lebend, abgeschnitten von der
Außenwelt, sind dabei doch ganz vergnügt; ihren Bedarf an Lebensmitteln
etc. beziehen sie teils aus Canton, teils aus einem Warenlager, das
nach Art der Konsumvereine eingerichtet ist, und Straßen brauchen
sie nicht, weil man im ganzen südlichen China keine Wagen kennt. Das
einzige Verkehrsmittel in Shameen, ebenso wie in Canton sind Tragstühle.

[Illustration: Kanal in Canton.]

Die Insel ist wie eine Festung gegen die Chinesenstadt abgesperrt.
Auf der einen Seite bespült sie der breite Cantonstrom, wo gewöhnlich
ein paar europäische Dampfer, darunter häufig solche mit deutscher
Flagge, vor Anker liegen, auf der anderen Seite trennt sie ein Kanal
mit senkrechten Steinufern von Canton. Die beiden darüber führenden
Brücken sind durch starke Eisengitter abgesperrt und von dem Shameener
Polizeikorps, wie von chinesischen Soldaten bewacht, als würde man
jeden Augenblick einen Ueberfall von seiten der Mongolen befürchten.

Diese Ueberfälle waren in früheren Jahren thatsächlich gar nicht
selten. Noch in den achtziger Jahren drang der tolle Pöbel Cantons
nach Shameen und brannte einen Teil der europäischen Stadt nieder. Die
Konsuln schilderten mir die Bevölkerung Cantons als die gefährlichste
von China: leicht aufbrausend, fanatisch und von Fremdenhaß erfüllt.
Ueberall wurde ich zur Vorsicht gemahnt, selbst in Shameen, obwohl
man dort weniger Furcht vor den Cantonesen hat als anderswo.
Thatsächlich brachte ich Tage auf der Wanderung durch die entlegensten
Viertel Cantons zu, nur begleitet von einem englisch sprechenden
Chinesen, Namens Ah-Kham, aber nirgends begegnete ich der geringsten
Feindseligkeit. Die Leute, von denen manche vielleicht noch niemals
einen Europäer gesehen hatten, betrachteten mich neugierig, aber
sie erwiderten freundlich meinen Gruß. Ich trat, ohne irgendwie
gehindert zu werden, in Buddhatempel und Gefängnisse, in Kaufläden
und Privathäuser, und das Bangen, das ich während der ersten halben
Stunde in dem engen Gäßchenlabyrinth der so übel beleumundeten Stadt
unwillkürlich empfand, wich allmählich dem Gefühl vollständiger
Sicherheit.

Die Chinesen behaupten, die größte Stadt ihres Reiches sei Canton.
Es wird wohl auch so sein, obwohl diese abergläubischen Leute nie
eine Volkszählung gemacht haben. Sie meinen, das wäre schlechtes Joß,
das heißt, es brächte Unglück. Die Angaben, nach einer allgemeinen
Schätzung, schwanken zwischen einer Million und zweieinhalb Millionen.
Es kommt ja auch gar nicht darauf an. Haben sie doch in ihrem
Reiche mehr Einwohner als das ganze große englische Kolonialreich,
Rußland, die Vereinigten Staaten und ein paar europäische Königreiche
zusammengenommen. Manche ihrer Provinzen zählen zwanzig bis dreißig
Millionen, eine ganze Menge von Städten, die man in Europa nicht einmal
dem Namen nach kennt, haben eine bis anderthalb Millionen Einwohner,
Canton aber ist die größte darunter.

Es ist wohl auch die sehenswerteste, nicht etwa wegen architektonischer
Bauten, großstädtischer Anlagen, Schulen, Museen, Fabriken etc. Derlei
Dinge besitzen chinesische Städte überhaupt nicht. Im chinesischen
Reiche giebt es, nicht einmal den Kaiserpalast in Peking ausgenommen,
kein einziges Gebäude, das sich an Größe und Pracht mit irgend einem
unserer modernen Miethäuser messen könnte; die Tempel sind größtenteils
armselige, schmucklose Bauten, in deren Höfen Unkraut wächst. Die
Privathäuser der Reichen sind unscheinbar. Die große Prüfungshalle für
staatliche Beamte in Canton gleicht einer Ruine, Museen existieren
nicht, außer man betrachtet die Städte selbst als solche, Fabriken
kennt man nicht, und in ganz Canton giebt es noch keine Dampfmaschine,
keinen Betrieb durch Wasserkraft, kein Gas, keine Elektrizität. Canton
ist ebenso wie alle anderen Städte Chinas heute noch so, wie es vor
fünfhundert, vor tausend, vor zweitausend und mehr Jahren war, mit
derselben Kultur, denselben Gebräuchen und Sitten und Manufakturen, nur
ist es größer geworden. Es ist gewachsen, nicht fortgeschritten. Vor
viertausend Jahren hatte es schon ähnliche Münzen wie heute, und was es
zur Zeit Christi geschaffen und gethan, schafft und thut es heute noch,
das ewige Einerlei, kein Fortschritt, kein Rückschritt; China blickt
nicht in die Zukunft, es kennt nur seine Gegenwart und besser noch als
diese seine Vergangenheit.

Und weil von all den sogenannten Sehenswürdigkeiten in Canton nichts
vorhanden ist, wird es von unseren modernen Globe-trotters gemieden,
und die Mutigsten unter ihnen widmen ihm höchstens einen Tag. Von den
Hunderten Touristen, die es jährlich besuchen, bleiben nicht zehn
Prozent länger als einen, nicht zwei Prozent länger als zwei Tage. Und
doch ist Canton eine Stadt, die selbst bei monatelangem Aufenthalte
immer etwas Neues bietet, denn nirgends ist das Volksleben anregender,
interessanter, merkwürdiger, seltsamer. Nirgends kann man einen
tieferen Einblick bekommen in das fremdartige Wesen der mongolischen
Welt, die heute noch größer als die kaukasische und dabei so total
verschieden von dieser ist, daß die beiden nichts miteinander gemein
haben als die Geburt, das Leben, das Sterben. China liegt nur in einem
anderen Kontinent, es scheint, als läge es auf einem anderen Planeten.

Schon an der Brücke, die von Shameen nach Canton führt, zeigt sich
diese fremde Welt. Chinesische Soldaten kauern hier rauchend oder
Opium schmauchend auf den Strohmatten in ihrer Wachtstube. Vor
dieser sind große, mit bunten Fratzen bemalte Schilder aufgestellt,
im Innern stehen dreispitzige Lanzen, lange, nur mit zwei Händen zu
gebrauchende Schwerter, Büchsen mit trichterförmiger Mündung, Gewehre
mit Feuersteinschlössern, kurze doppelte Säbel in einer Scheide, rote
und weiße Fahnen mit fremdartigen chinesischen Schriftzeichen. Die
Soldaten tragen keine besondere Uniform, nur ist ihr blaues Hemd mit
roten Borten besetzt, und auf einem weißen runden Schilde auf der Brust
zeigen sich in schwarzer Schrift Nummer und Gattung ihres Regiments.
Auf ihren langbezopften Schädeln tragen sie einen tellerförmigen, spitz
auslaufenden Hut, an den Füßen Sandalen. Bei jeder Wachtablösung wird
an einer großen alten Kesseltrommel ein Heidenlärm gemacht, und vier
Chinesen bringen aus den etwa zwei Meter langen Tuben langgezogene
einförmige Klagetöne hervor. Europäer werden durch das Brückengitter
eingelassen, Chinesen nicht.

[Illustration: Firmentafel vor einem Schuhladen.]

Die schönen, wohlgepflegten Wege Shameens hören mit einem Male auf,
sobald man das jenseitige Kanalufer erreicht, und binnen wenigen
Minuten ist man mitten in dem seltsamen Gewirr schmaler Gäßchen,
welche Canton bilden. Unter den tausenden Gäßchen giebt es nur wenige,
in welchen man mit ausgestreckten Armen nicht beide Seiten berühren
könnte. Stundenlang durchirrte ich dieses Labyrinth, ohne irgend ein
System in dasselbe bringen zu können, ohne zu wissen, wo ich mich
befand, wohin mich wenden. Die Gassen sind alle geradlinig, manche
über ein Kilometer lang, mit unzähligen Seitengassen, gerade so weit,
gerade so aussehend wie die andern, ohne irgend welchen Anhaltspunkt,
um sich zurechtzufinden. Offene Plätze, Boulevards, Kanäle, Gärten
giebt es keine. Ebenso fehlt es an irgendwelchen auffälligen Gebäuden.
Die Hunderttausende von Häusern, die hier dicht aneinander gedrängt
stehen, sind alle gleich gebaut und annähernd von gleicher Größe.
Graue, harte Ziegel sind bei allen das Material; die Ecksteine an den
Eingängen sind Granit, die Dächer überall mit gebrannten Hohlziegeln
bedeckt, die durch Mörtel fest miteinander verbunden sind. Schornsteine
und Kamine sind nirgends zu sehen. Die Mehrzahl der Häuser besitzt
nur ein Stockwerk, und dieses ist ganz von einem einzigen Raume
erfüllt, der sich nach der Straße hin öffnet und von dieser Luft und
Licht empfängt. Fenster giebt es keine. Die Häuser im Innern der
Stadt tragen noch ein zweites, viel niedrigeres Stockwerk, durch eine
steile Leiter oder ebensolche Holztreppe mit dem unteren verbunden.
Nur einige chinesische Speisehäuser, Theater und Gasthöfe sind größer,
höher, geräumiger, aber auch sie haben keine Fenster und Thüren. Die
Thüröffnung nach der Straße hin hat die ganze Breite des Hauses, und
soll sie zur Nachtzeit geschlossen werden, so werden vertikale starke
Pfosten, eine Art Gitter bildend, in die Thüröffnung eingesetzt und
durch Querbalken festgehalten. Nur Privathäuser besitzen Thüren nach
unserer Art. In den Geschäftsstraßen der inneren Stadt giebt es nur
wenige solche; je weiter man aber hinauskommt, desto häufiger werden
die Privathäuser, desto stiller demgemäß auch die Straßen. Die Thüren,
zu denen gewöhnlich einige Stufen emporführen, stehen offen, doch
erhebt sich auf etwa ein Meter Entfernung hinter ihnen eine Holzwand,
welche das Innere des Hauses den Blicken der Vorübergehenden entzieht.
Auf diesen Holzwänden prangen gewöhnlich in bunten Farben die grotesken
Bilder zweier Götzen, der Schutzpatrone des Hauses, auf den Steinstufen
der Thüre kauern ein paar Weiber, auf der Bank vor der Bretterwand
ruhen ein paar chinesische Diener. Trat ich, ungehindert durch diese
Pförtner, in den Hofraum, so fand ich in den meisten Häusern neben
der Thür eine Anzahl alter dreispitziger Lanzen, Schwerter und alter
Feuerstein- oder Luntengewehre aufgestellt. Von dem Hofraum aus
öffnen sich die Thüren nach dem Labyrinth der Wohnungen, Pavillons,
Ahnenhallen, Tempel, Gärtchen und Bassins, welche die Wohnung der
reichen Chinesen und ihrer Familien bilden. Nach außen sind diese
großen Räume von einer hohen grauen, fensterlosen Mauer umschlossen,
eine Art Stadt und Festung für sich. Unmittelbar daranstoßend sind
wieder die labyrinthartigen Gäßchen, in denen jedes Haus ein Kaufladen
ist, dessen entlegenste Winkel man von außen sehen könnte, wäre
hinreichend Licht vorhanden. Aber hier herrscht ewige Dämmerung. Ueber
die Hausdächer sind quer über die Straße Matten und Bretter gelegt, und
von diesen hängen Tausende der eigentümlichen chinesischen Firmentafeln
und Schilder herab, so tief, daß man sie mit erhobener Hand anfassen
könnte. Drei bis fünf Meter lang, prangen sie in den buntesten Farben
und sind mit den eigentümlichen malerischen Schriftzeichen in Gold
oder Schwarz oder anderen Farben bedeckt. Horizontale Firmenschilder
kennt man in China einfach deshalb wenig, weil nicht in horizontaler,
sondern in vertikaler Richtung geschrieben wird. Jeder der lose
herabbaumelnden Tafeln entspricht nur der +eine+ Kaufladen, der
sich in je einem Hause befindet und immer das ganze untere Stockwerk
desselben einnimmt. In Canton giebt es Hunderte von Straßen, in
welchen jedes Haus einen Kaufladen besitzt, und zwar einer dem andern
so dicht sich anschließend, daß nur das Mauerwerk sie voneinander
trennt. Gewöhnlich haben sich bestimmte Industrien in bestimmten Gassen
angesiedelt, die dann auch entsprechend benannt sind. Die Geldwechsler,
Goldarbeiter, Kuriositätenhändler, Schuh-, Kleider-, Schnittwaren-
und Papierhändler, die Fächerarbeiter, Holzschnitzer, Möbeltischler,
Messingarbeiter etc. haben alle ihre eigenen Gäßchen, in denen sie
nicht nur ihre fertigen Waren zur Schau gestellt haben, sondern auch
vor den Augen der Passanten an neuen Waren arbeiten. Die elegantesten
Kaufläden, in verhältnismäßig etwas weiteren Gassen gelegen, zeigen
den einzigen in ganz Canton wahrnehmbaren Luxus, ja diese Kaufläden
mit ihrer Ausstattung würden auch in europäischen Städten Aufsehen
erregen. Herrliche Holzschnitzereien, geschichtliche Ereignisse
darstellend, oder vorzügliche Nachahmungen verschiedener Blumen, Bäume
und Schlingpflanzen, reich vergoldet, schmücken den Eingang; sie
hängen an den Seiten des inneren Raumes und bilden im Hintergrunde
desselben einen altarartigen Aufbau, dessen Mittelstück gewöhnlich
ein bunt gemaltes, groteskes Bild des Kriegsgottes in goldenem Rahmen
bildet. Vor diesem Götzen brennen Oellampen und sind einige Sträuße
von Papierblumen aufgehängt. Unter dem Altar oder an den Seiten des
Kaufladens im Hintergrunde sitzt der Eigentümer an einem kleinen,
mit Holzschnitzereien gezierten Tischchen, auf dem sich gewöhnlich
die Geschäftsbücher, dann eine Wage zum Abwägen des Geldes und ein
Rechenbrett befinden. Ohne Wage würde der Händler betrogen werden, denn
in Canton herrscht in Bezug auf das Bargeld eine ähnliche Sitte wie in
England mit den Banknoten. Dort werden die letzteren von den jeweiligen
Eigentümern unterschrieben, in Canton erhält jeder Silberdollar von
dem jeweiligen Besitzer seinen Stempel aufgeprägt. Deshalb bekommen
die meisten Dollars, die man in Canton erhält, durch das Abstempeln
die Form kleiner, halbrunder Schalen, ja vielen fehlt sogar der Boden;
ich habe zahlreiche Dollars gesehen, die nur aus dem äußeren Kranz
bestanden. Der ganze mittlere Teil war herausgeschlagen und lag in
kleinen und größeren Stücken in den Geldschüsseln der Kaufleute.
Wird einem Kaufmanne als Bezahlung für die gekaufte Ware ein Dollar
dargereicht, so prüft er ihn gewöhnlich zuerst nach dem Metallklange,
dann nach seinem Gewicht, und das Fehlende muß von dem Käufer ersetzt
werden.

[Illustration: Bettlertypus.]

Das Rechenbrett ist jedem chinesischen Kaufmann oder Händler geradezu
unentbehrlich, die allereinfachsten Zählungen werden an den schwarzen
Kugeln des Rechenbrettes ausgeführt, und beim Durchschreiten der
Gäßchen hört man fortwährend ihr Geklapper. Europäische Kaufleute
in China gewöhnen sich auch bald an ihren Gebrauch, bis sie ihnen
schließlich unentbehrlich werden. Wo immer der Chinese sich ansiedelt,
verwendet er auch sein Rechenbrett. Ich fand es in den Chinesenvierteln
in San Francisco, Lima, Batavia, Portland, Singapore bei jedem
einzelnen chinesischen Kaufmann. Alle Kaufläden stehen nach der Straße
zu weit offen; jedermann kann nach Belieben eintreten, kaufen oder
nicht kaufen. Der Chinese wird jedem Besucher seine Waren mit großer
Geduld vorlegen und ebenso geduldig an dem Preise festhalten, obschon
er schließlich doch gerade so nachgiebig wird, wie die Korallenhändler
von Neapel. Die Kaufläden scheinen gewissermaßen Teile der Gäßchen
selbst zu bilden. Bei dem ungemein regen Verkehr, der sich tagsüber
in diesen bewegt, würden sich Menschen, Tragstühle, Lasten aller
Art binnen wenigen Minuten ineinander festkeilen, wenn nicht die
Kaufläden den Menschen Gelegenheit gäben, einzutreten und auszuweichen;
freilich wird dadurch so mancher Laden besudelt; der Inhalt manches
Unratgefäßes, manches Tragkorbes, deren zwei gewöhnlich mittels langer
Stangen auf den Schultern der Träger befördert werden, ergießt sich
in den schönen Juwelier- oder Modeladen, aber die Menschen sind daran
gewöhnt. Die Ladenbesitzer haben von den Bettlern viel zu leiden;
diese ziehen nicht mit offener Hand bittend von Laden zu Laden,
sondern führen allerhand Ohrenmartern mit sich, um dadurch eine Gabe
zu erzwingen. Hier läutet eine Frau, ein Kind auf dem Rücken, eine
große Glocke mit schrillem, durchdringendem Klange, sie tritt in einen
Laden und läutet dem Besitzer so lange die Ohren voll, bis er sich zu
einer Gabe entschließt, dann zieht sie zu seinem Nachbar. Ein strammer
junger Bursche, der aus weiß Gott welchem Grunde Bettler geworden,
geht von Laden zu Laden und schlägt in jedem zwei harte, glatte
Hölzer aneinander, wie riesige Castagnetten, ein Dritter klappert mit
Eisenstücken, ein Vierter schlägt zwei Porzellanscherben aneinander;
denn +ohne+ Lärm scheint es kein Betteln zu geben.

Ohne Lärm giebt es auch keine Straße in Canton. In den dämmerigen
engen Gäßchen, so eng, wie man bei uns nicht einmal Hauseingänge
macht, herrscht tagsüber ein furchtbares Lärmen, Schreien, Klopfen,
Trommeln, kurz alle erdenklichen Geräusche. Nur die vielen Hunde,
diese Abfallräumer von Canton, sind stumm. Die Gäßchen sind alle
wohlgepflastert, aber mit schrecklichem Schmutz und fürchterlichen
Gerüchen erfüllt, zumal man in Canton keine Kloaken und keine
Wasserleitung kennt; schmutziges Gesindel, Bettler, Aussätzige
durchwandern die Gäßchen; Lasten aller Art, Flüssigkeiten, Warenballen,
Düngerkörbe, Möbel, alles Erdenkliche wird auf den Schultern der
Kulis durch dieses dämmerige Labyrinth hindurchgezwängt, so daß der
Fußgänger kaum jemals ohne Beschmutzung und Besudelung seiner Kleider
nach Hause zurückkehrt. Ich trug in Canton stets Leinenanzüge, die
ich nach jedesmaligem Gebrauch zweimal waschen ließ. Die Chinesen der
besseren Stände, Mandarinen, Offiziere, Frauen, zeigen sich niemals in
diesen, dreiviertel von Canton bildenden Stadtteilen. Haben sie dort zu
thun, so lassen sie sich in geschlossenen, mit schwarzer Wachsleinwand
überzogenen Tragstühlen auf dem Rücken von zwei, drei oder vier Kulis
tragen. Nun können sich diese nur durch Geschrei den Weg bahnen; ebenso
schreien die ambulanten Gemüse-, Fisch-, Fleisch- und Fruchthändler,
die Lastenträger; die Bettler machen mit ihren Bettelwerkzeugen einen
furchtbaren Lärm; in den Läden wird geklopft, gesägt, gehämmert, oder
als merkwürdiger Zeitvertreib das Gong geschlagen, die Kesseltrommel
gerührt, kurz es herrscht der furchtbarste Lärm, das regste
Menschengewühl. Alles Erdenkliche geschieht auf offener Straße oder in
den Kaufläden vor den Augen der Vorübergehenden. Geheimnisse können
in den Geschäftsvierteln Cantons nicht gehütet werden. Jeder Einzelne
kann sehen, wie und was der andere ißt, wie er sich an- und auskleidet,
wie er schläft und wie er sich wäscht, wenn er dies bei dem häufig
höchst empfindlichen Wassermangel überhaupt thut. In den Kaufläden
sitzen oder liegen die Menschen gewöhnlich nur mit kurzen dunkelblauen
Hosen bekleidet; viele tragen allerdings eine Art dunkelblaues Hemd,
bei ebensovielen aber ist der Oberkörper bis zu den Lenden nackt; es
war mir überraschend, bei den meisten eine ähnlich weiße Hautfarbe
zu finden, wie bei den anglo-sächsischen Rassen in Europa. Die gelbe
Hautfarbe der Mongolen scheint hier bloße Mythe zu sein; war sie bei
den Kulis überhaupt vorhanden, so war sie nur eine Wirkung der Sonne,
denn die Schenkel und andere, gewöhnlich durch Kleidungsstücke bedeckte
Körperteile waren weiß. Ihre ganze Sorgfalt verwenden sie nicht auf
die Kleidung, sondern auf ihren Haarschmuck. In jedem Gäßchen sah ich
gewiß stets zwei oder drei ambulante Barbiere, welche die Schädel
bis zu dem Scheitelzopfe kahl rasierten, Nasen und Ohren ausputzten
und mit kleinen Zangen die Härchen abklippten. Am Morgen besteht der
gewöhnliche Zeitvertreib der Chinesen darin, daß sie sich gegenseitig
ihre mitunter bis an die Hüften reichenden langen rabenschwarzen
Scheitelhaare kämmen und zu Zöpfen flechten, deren Ende durch bis
zum Boden reichende Seidenschnüre verlängert wird. Das in den Bazars
verkehrende Volk trägt keine Hüte, nur die Wohlhabenden tragen Schuhe
oder Sandalen, alle aber haben ihren Fächer, den sie, wenn sie ihn
nicht gerade zum Fächeln oder als Sonnenschirm benutzen, in den Nacken
gesteckt tragen.

Vom Frauenleben bekommt man in dem Gassenlabyrinth der inneren
Stadt nichts zu sehen. Alle Industrien, der ganze Handel, der ganze
Verkehr liegt in den Händen der Männer, nur in den Korbflechtereien
fand ich Weiber beschäftigt. Selbst die Fächer und die herrlichen
Cantoner Seidenstickereien, vielleicht die schönsten der Erde, werden
von Männern hergestellt. Dafür haben die Frauen, wie erwähnt, den
ganzen großartigen Bootverkehr in den Händen. Maschinen, mechanische
Betriebe etc. sind in Canton gänzlich unbekannt. Die Industrien sind
ausschließlich Hausindustrien. Es gewährte mir das größte Interesse,
die Chinesen an der Arbeit zu sehen. Mit ungeheurer Geduld, mit
staunenswertem Geschick und mit großer Kraft arbeiteten sie unter
meinen Augen all die schönen Erzeugnisse, für welche Canton in ganz
China und auch im Auslande berühmt ist. Nicht nur Seidenstickereien und
Fächer, Juwelen und getriebene Silberarbeiten, auch Bronzen, Porzellan,
Kleider, Schuhe, Ziselier- und Emailarbeiten gehen unter ihren Händen
ohne Zuhilfenahme unserer Instrumente mit erstaunlicher Präzision
hervor.

Oeffentliche Fisch-, Gemüse- und Fleischmärkte, wie sie unsere
Markthallen bergen, hat Canton nicht; jede Straße besitzt an ihrer
Stelle Kaufläden, und sie sind die Hauptursache der fürchterlichen
Gerüche, welche die Stadt verpesten; die Cantonesen nehmen es mit ihrer
Küche bekanntlich nicht sehr genau.

Die elenden Gerüche verleiden dem Besucher den Aufenthalt in Canton
gar sehr, zumal, wie gesagt, auch nicht ein einziges freies Plätzchen
Erholung gewährt. Ganz Canton besteht aus einem einzigen Labyrinth
winziger Gäßchen, denen man wie mit Absicht Luft und Licht und
Wasser zu entziehen scheint. Selbstverständlich mangelt es abends an
Beleuchtung. Deshalb ist jeder Cantonese gehalten, eine brennende
Laterne mit sich zu führen, wenn er des Abends ausgeht. Uebrigens
verläßt er sein Haus oder seine Straße nur in den dringendsten Fällen,
denn nach Sonnenuntergang wird jede einzelne Straße an beiden Enden
durch eiserne Gitter oder feste Thore abgesperrt, und Nachtwächter, mit
Lanzen versehen, übernehmen den Wachtdienst. Sie tragen Trommeln und
Triangel und machen damit zeitweilig Lärm, um zu erkennen zu geben,
daß sie nicht schlafen. Die Tatarenstadt, in welcher sich die Residenz
des Vizekönigs, des Generals und der Gerichtsbehörden befindet, ist
überdies noch mit einer eigenen Mauer umgeben, und um die ganze Stadt
ziehen sich feste Ringmauern und Wälle, auf denen Hunderte alter,
unbrauchbarer Geschütze stehen. Diese Mauern sind die bedeutendsten
Bauten Cantons, denn was die Stadt an Tempeln, Palästen und Pagoden
aufzuweisen hat, ist im Verhältnis zu ihrer Größe kaum der Rede wert.
Canton ist die größte Stadt Chinas; viel eher könnte sie das größte
Dorf des himmlischen Reiches genannt werden.

[Illustration: Siegel des Verfassers (altchinesische Zeichen).]



Die sibirische Beulenpest.


Während meines ersten Aufenthaltes in Hongkong waren Gerüchte von
dem Ausbruch einer pestartigen Krankheit in der größten Stadt des
himmlischen Reiches aufgetaucht, und bei meiner Ankunft in Canton fand
ich diese Gerüchte leider nur zu sehr bestätigt. Seit einem halben
Jahre hatte es dort fast gar nicht geregnet; Schmutz und Unrat, diese
sprichwörtlichen Merkmale chinesischer Städte, hatten sich in dem
engen scheußlichen Straßengewirre während dieser Zeit angesammelt und
verpesteten die Luft derart, daß man sich über die vielen Menschenopfer
kaum zu wundern brauchte.

Schon die plumpen, schweren chinesischen Dschunken und die kleineren
Sampans, die den Strom bevölkern, zeigten, daß sich in Canton etwas
Außergewöhnliches abspielen müsse; statt der zwei kleinen roten
Joßpapierchen, welche die Chinesen zur Beschwörung der bösen Geister
gewöhnlich an den Stern ihrer Schiffe kleben, prangten dort ein halbes
Dutzend oder noch mehr; rote Papierstreifen mit allerhand Inschriften
in Gold und Schwarz klebten auch auf den aus zusammengenähten Matten
bestehenden Segeln, am Bug und an den Seiten. Joßstäbchen brannten
dutzendweise auf den Schiffen und sandten kleine leichte Rauchwölkchen
empor; wie Kleingewehrfeuer knatterten die vielen Fire-Cracker, die auf
dem Flusse und an den Ufern verpufft wurden, und mehr als sonst fuhren
Sampans und Ruderboote, von Chinesenfrauen gelenkt, dicht vor dem Bug
unseres Dampfers vorbei.

Mehr als die zahlreichen burgartigen Pfandhäuser und Tempeldächer der
Riesenstadt verriet die drückende stinkende Atmosphäre, daß wir uns
Canton näherten. Stoßweise führte sie uns der Wind als Grüße aus der
Peststadt entgegen. Die ersten dieser Nasenstüber jagten uns Schrecken
ein, allein nun war nicht mehr zu helfen.

In dem recht gut gehaltenen Shameenhotel wurde mir die tröstliche
Auskunft zu teil, daß in der europäischen „Konzession” noch kein
Pestfall vorgekommen sei und daß Europäer von der tückischen Krankheit
überhaupt nicht viel zu befürchten hätten, indessen man riet mir doch
zur größten Vorsicht. Mit Mühe überredete ich einen die englische
Sprache radebrechenden Chinesen, Ah-Kam, mich in das enge, schwüle,
düstere Straßengewirr zu begleiten, das sich jenseits des Kanals auf
der weiten Ebene des Perlflusses ausbreitet. Schon nachdem wir ein
Viertelstündchen durch das Labyrinth Cantons gewandert waren, konnte
ich das Wüten der Epidemie wohl verstehen.

Nicht nur die verpestete Luft, die Anhäufung faulender organischer
Stoffe und der Genuß schlechten Wassers waren die Ursachen der Pest.
Eine Publikation des Gouverneurs von Canton ließ noch auf eine andere
Ursache schließen: den Genuß verseuchter Tiere. Ich ließ mir aus den
chinesischen Tagesblättern Cantons folgende Notiz übersetzen: „Da die
Ratten die ersten Opfer der Seuche waren, so ließ der Mandarin des
Distrikts des westlichen Thors, Lo Ching, zehn Cash (etwa zwei Pfennig)
als Prämie für jede ihm vorgelegte tote Ratte ausschreiben. In den
ersten vier Tagen wurden ihm 2600 tote Ratten gebracht, von denen 1400
in der To-postraße allein aufgelesen wurden. Der Mandarin ließ sie
zusammen vergraben”.

Ebenso ließ der Stadtpräfekt in einer Proklamation Ende April das
Schlachten von Schweinen verbieten, und am Tage meiner ersten Wanderung
durch Canton wurde eine zweite Proklamation an die Straßenecken
geklebt, derzufolge der Fischfang in Zukunft verboten wurde. Es geschah
dies hauptsächlich, um das Verkaufen verseuchter oder toter Schweine
und Fische zu verhindern.

Wer mit chinesischen Sitten und Gebräuchen nicht vertraut ist, konnte
indessen beim Durchwandern der Stadt nicht viel von der herrschenden
Epidemie wahrnehmen; zunächst ist das Bild der Gäßchen mit ihren
zahllosen Kaufläden, mit ihrer eigentümlichen Bevölkerung, mit
den fremdartigen Sitten und Gebräuchen etc. so ungemein fesselnd
und interessant, wenn auch abstoßend, daß ihr Besucher geradezu
überwältigt wird. Freilich sah er möglicherweise manchen Leichenzug
an sich vorbeikommen, oder er erblickte in diesem oder jenem Hause
durch die weitoffenen Thüren einen Leichnam mit weißem Laken bedeckt,
heulende Trauerweiber auf den Matten zu seinen Füßen kauernd. Aber der
Straßenverkehr zeigte sich im großen ganzen ebenso wie zu normalen
Zeiten. Indessen die Pest nahm immer mehr überhand, die Bevölkerung
wurde immer ängstlicher, denn es starben an manchem Tage an tausend
Menschen, es fehlte an Särgen, und ich sah selbst viele Leichen, die,
nur mit einem Tuche bedeckt, auf Matten nach den Friedhöfen außerhalb
der Stadt getragen wurden. Die meisten waren innerhalb weniger Stunden
oder doch innerhalb eines Tages gestorben. Zuerst fühlten sie heftiges
Fieber mit hoher Körpertemperatur, Kopfschmerz und Durst; dann stellte
sich Bewußtlosigkeit ein, und gleichzeitig mit dieser entstanden am
Halse, in den Achselhöhlen und an den Lenden große, harte, schmerzhafte
Beulen von schwarzer Färbung, schließlich färbte sich der ganze Körper
schwarz. Der Tod trat dann längstens binnen einem Tage ein. In einer
verhältnismäßig geringen Zahl von Fällen zieht sich die Krankheit
mehrere Tage hin, und dann ist Hoffnung auf Genesung vorhanden.
Doch erfuhr ich im Hospitale der achtzehnten Straße in Canton von
den chinesischen Aerzten, daß durchschnittlich von je drei Fällen
zwei tödlich verlaufen. Sie versicherten, die Beulenpest sei nicht
ansteckend und trete nur bei Menschen auf, die unter ähnlich elenden
sanitären Umständen lebten. Das beruhigte mich so weit, daß ich meine
Wanderungen durch Canton mehrere Tage lang fortsetzte. Indessen fand
ich nach meiner Rückkehr nach Hongkong in der dortigen „Preß” eine
Korrespondenz aus Canton, worin es heißt: „Die Pest ist nicht nur jenen
gefährlich, welche in der Stadt wohnen, sondern auch fremden Besuchern.
Wir vernehmen von Chinesen, daß mehrere Fremde starben, während sie
im Tragsessel durch die Stadt getragen wurden”. Gut, daß ich dies in
Canton selbst nicht erfahren hatte.

Und doch war es auch ohne diese Kenntnis unheimlich genug in Canton.
Wohl der Bravste mag erschrecken, wenn er einen so mörderischen Gast
in seiner Nähe weiß, unsichtbar und deshalb nicht anders zu bekämpfen
als durch die Flucht. Durch diese wäre mir aber ein hochinteressanter
Einblick in das innerste Denken und Fühlen der Chinesen entzogen
worden, und so wiederholte ich meine Besuche, jedesmal mehrere Stunden
mitten unter diesem seltsamen Volk im Innersten ihrer Hauptstadt
verweilend. Ich hatte viel von ihrem Haß gegen Europäer, von ihren
thätlichen Angriffen auf diese, von der Zahl der Diebesbanden und
Einbrecher in Canton gehört. Wie lange ist es denn her, daß der
Pöbel selbst Shameen erstürmte und eine Anzahl der europäischen
Häuser niederbrannte? Ich selbst habe von diesem Haß nicht das
geringste wahrgenommen. War es nur der furchtbare, alle Vorstellungen
übersteigende Aberglaube der Chinesen, der mich vor Haß schützte?
Standen sie unter dem alles andere übertäubenden Einfluß der Seuche
in ihrer Stadt, der sibirischen Pest? Wie viele Opfer diese gefordert
hat, konnte ich aus vielen kleinen Anzeichen erkennen, die sonst von
Besuchern unbeachtet bleiben, weil sie ihnen unbekannt sind. Die
Chinesen trauern dadurch, daß sie während sieben Wochen nach dem
Tode ihres Verwandten ihr Kopf- und Barthaar wachsen lassen, daß sie
statt des schwarzen Schwänzchens in ihren Zopf ein weißes oder blaues
flechten; daß sie statt schwarzer Schuhe weiße oder blaue tragen; daß
Frauen und Mädchen während der Trauerzeit kein Messer, keinen Löffel,
keines der kleinen Eßstäbchen beim Essen benutzen, sondern mit den
Fingern essen; an den Häusern der Verstorbenen werden die beiden großen
roten Papierlaternen, die an jedem Chinesenhause vor dem Eingange
baumeln, durch weiße ersetzt; die Thüren der Häuser, in denen sich
eben Verstorbene befinden, werden geschlossen und brennende Kerzen auf
die Schwelle gesteckt. Wie viele dieser und anderer kleinen Merkmale
sah ich doch, die mir mehr sagten, als es die Aerzte oder städtischen
Mandarine konnten!

[Illustration: Eine Leichenprozession.]

Die berühmten Cantoner ~flower boats~, die Blumenboote mit den
Restaurants und den gepuderten und geschmückten Mädchen, standen am
Abend leer, denn niemand wollte, niemand konnte in so drückenden
Zeiten sich vergnügen; das glänzende, reiche, lärmende Flußleben
Cantons zur Nachtzeit hatte sich in Totenstille verwandelt, als
hätten die Tausende von Sampans und Dschunken gar keine Bevölkerung.
Hörte ich auf meinen nächtlichen Flußfahrten auf dem Hausboot des
Shameenhotels irgendwo lärmende Trommeln und Trompeten und ~fire
crackers~, so rührten sie vom Drachen- oder vom Löwentanz her,
womit die Chinesen die bösen Geister aus ihren Häusern treiben wollen;
kehrte ich spät nachts in mein Hotel zurück, so sah ich von meinen
Fenstern aus jenseits des Kanals phantastische Prozessionen, bei
dem flackernden Schein der Fackeln gewahrte ich scheußliche große
Fratzen, buntbemalte Drachenköpfe mit mehrere Meter langen Schwänzen,
die von darunter steckenden fanatischen Chinesen fortbewegt wurden;
andere, mit dreispitzigen Gabeln und Zangen versehen, tanzten um sie
herum; riesige Kupferpauken wurden hinter ihnen einhergetragen und
heftig darauf losgeschlagen; fast die ganze Nacht hindurch währte
das Kleingewehrfeuer der ~fire crackers~ und das Abschießen von
allerhand Feuerwaffen, alles nur zur Vertreibung der bösen Geister;
vom Schlafen war unter solchen Umständen keine Rede, zumal Shameen
eines der verrufensten Mückennester Chinas ist. Hie und da erhellte ein
greller Feuerschein meine Stube, und blickte ich durch die Fenster,
so sah ich, wie die langbezopften Chinesen in den Kanalbooten unter
mir Joßpapiere, d. h. große, mit allerhand Beschwörungsformeln bemalte
Papierbogen verbrannten. Waren sie verglüht, war wieder nächtliches
Dunkel an Stelle des roten Scheines getreten, dann sah ich auf den
Booten Tausende winziger rotglühender Punkte, von den glimmenden
Joßstäbchen herrührend, die massenweise auf den Booten angebracht
waren. Wie gern hätte ich eine nächtliche Wanderung durch die Straßen
der Stadt angetreten, die vor mir lag wie ein Vulkankrater, in dem es
bald hier bald dort aufflammte und krachte und polterte. Allein jede
Straße Cantons ist zur Nachtzeit verbarrikadiert; an beiden Enden
werden die Thorgitter versperrt, und die nächtlichen Straßenwächter mit
dem Schlüssel am Gürtel lassen niemanden durch; wanderte ich dann am
frühen Morgen durch die feuchten, übelriechenden, unheimlichen Gäßchen,
dann sah ich den Boden mit roten Papierfetzen bedeckt, die Ueberreste
der während der Nacht verbrannten Joßpapiere und Feuerwerkskörper. In
jedem Gäßchen befindet sich ein kleiner Altar, an welchem Joßstäbchen
glimmten; außer diesem gemeinschaftlichen Altar besitzt jedes Haus der
inneren Stadt Cantons seinen eigenen Altar auf der Gassenseite neben
dem Haupteingange. Auf jedem einzelnen glimmten einige Joßstäbchen,
auf jedem Arbeitstische der Handwerker, auf jedem Verkaufstische der
Kaufläden standen Sandbüchsen mit diesen wohlriechenden, leichten Rauch
entwickelnden Glimmstengeln. Die Menschen eilten rasch und scheu dahin,
wenige Weiber, fast durchwegs Männer; jeder einzelne hatte an seiner
dunkelblauen Bluse vorn ein kleines Säckchen mit Amuletten hängen;
jeder trug ein ähnliches Säckchen, mit riechender Substanz gefüllt, in
der Hand und hielt es an die Nase; oder er trug statt des Säckchens
einen Rosenkranz oder ein Stück Sandelholz. In jedem Gäßchen hockten
Chinesenjungen an den Häusern, dabei Beschwörungsmittel feilbietend,
und die Verkäufer von Joßpapieren machten ausgezeichnete Geschäfte.
Alles eilte so schnell wie möglich durch die verpesteten Gäßchen, nur
die Kolonien aussätziger Weiber behielten ihre angestammten Plätze bei,
zeigten ihre wunden, aussätzigen oder gänzlich abgestorbenen Gliedmaßen
und bettelten um Almosen. Zuweilen stieß ich auf die lärmenden
Drachenprozessionen, gefolgt von Banden verlotterter Chinesen, Tamtam
und Pauken schlagend oder kleine Holzstäbchen aneinander klappernd;
oder es huschte ein Leichenzug rasch vorbei, Musikanten voraus,
dann der Tote, dann der prächtige Tragstuhl mit der Ahnentafel des
Verstorbenen, einige Anverwandte dahinter. In den Buddhatempeln wurde
überall von den zahlreichen Priestern gebetet; gefühl- und gedankenlos
murmelten sie stehend ihre Gebete zu den großen vergoldeten Götzen
empor, die grotesk mit verschränkten Beinen auf den Altären sitzen.
Der Stadtpräfekt hatte diese allgemeinen Gebete angeordnet, um den
Dämon aus der Stadt zu treiben, und den Göttern wurden außerdem reiche
Sühnopfer dargebracht. Eine andere Verordnung der Regierung befahl, daß
die langen grotesken Ruderboote der alljährlichen Drachenfeste, die
gewöhnlich nach der Festzeit in den Schlamm des Perlflusses versenkt
werden, wieder auszugraben seien, um damit Rundfahrten auf dem Flusse
zu unternehmen, denn ihnen wird besondere Kraft zur Teufelsvertreibung
zugeschrieben. So begannen denn gerade während meines Besuches der
Stadt die Fahrten dieser Drachenboote im Distrikt des Ostthores, ohne
selbstverständlich irgendwie zu helfen. Aber das merkwürdigste Mittel
zur Vertreibung der Pest erfand doch die Regierung, ein Mittel, das
selbst in den Annalen des himmlischen Reiches nur selten vorkommt und
ein grelles Streiflicht auf den Aberglauben und die Geisterfurcht der
Chinesen wirft. Das chinesische Jahr ist nicht wie das christliche
ein festes Jahr. Die Monate werden nach dem Monde gemessen, und in
jedem dritten Jahre wird willkürlich nach irgend einem der zwölf Monde
ein dreizehnter Monat eingeschoben. Der Jahreswechsel jedoch richtet
sich nach der Sonne. Neujahr fällt jedesmal auf den ersten Neumond,
nachdem die Sonne in das Sternbild des Aquarius eingetreten ist, also
nach unserer Zeit auf bestimmte Tage zwischen dem 21. Januar und 19.
Februar. Im Jahre 1893 fiel das chinesische Neujahr beispielsweise
auf den 17. Februar; nun ist der Neujahrstag in China das größte Fest
des ganzen Jahres und wird überall in der lärmendsten Weise gefeiert,
alle Schulden müssen vor dem Neujahrstage getilgt werden, es wird den
Göttern geopfert und von den Wahrsagern das Glück des neuen Jahres
erforscht. Da nun das Jahr 1894 bisher einen so unglücklichen Verlauf
hatte, so erließ die Regierung eine Proklamation, derzufolge der erste
Tag des bevorstehenden vierten Monats als neuer Neujahrstag allgemein
gefeiert werden müsse, um die übrigen Monate des Jahres in ein
glückliches Jahr zu verwandeln. Der Erlaß ist vom 2. Mai christlicher
Zeitrechnung datiert und in den englischen Blättern Hongkongs vom 4.
Mai 1894 zu lesen. Aber die Leute starben trotz des dekretierten neuen
Jahreswechsels, ja die sibirische Pest griff immer mehr um sich, das
benachbarte Hongkong wurde zu einem ihrer Hauptherde, und von dort
wurde sie durch die Schiffe im Laufe der Jahre nach Afrika, Australien,
Indien und sogar bis ans Mittelmeer verschleppt. Nur den strengen
sanitären Maßnahmen ist es zu danken, daß man nicht auch in Europa die
Bekanntschaft dieser schrecklichen Epidemie gemacht hat.



[Illustration: Vor dem Polizeirichter.]



Gerichtspflege.


Wer jemals irgendwelche Gefängnisse in China gesehen oder dort
Gerichtssitzungen beigewohnt hat, der wird es gewiß begreiflich
finden, daß die Zopfträger des Reiches der Mitte nur in seltenen
Fällen Schutz und Recht bei ihren Mandarinen suchen. Nicht daß die mit
geringen Veränderungen seit Jahrtausenden bestehenden Gesetze etwa
ungerecht oder unklar wären. Im Gegenteil. Kenner, wie beispielsweise
die europäischen Beisitzer bei den gemischten Gerichten in Shanghai
oder Tientsin, versicherten mir, sie wären vortrefflich, und die
Gesetzbücher seien zutreffender, klarer und kürzer abgefaßt als jene
so mancher europäischen Staaten. Es ist nur ihre Handhabung von seiten
der Mandarine, die Bestechlichkeit und Nachlässigkeit der Beamten,
die Grausamkeit der Foltern und Strafen, welche den Chinesen einen
heillosen Respekt vor den Gerichten einflößen und sie nur in Fällen
der äußersten Notwendigkeit bei diesen Schutz suchen lassen. Auch
dann bedarf es immer noch eines gut gespickten Geldbeutels und großen
Einflusses, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Fast hat es den
Anschein, als sei die ganze Rechtspflege mit Absicht darauf zugespitzt,
die Chinesen auf den gütlichen Ausgleich ihrer Streitigkeiten
hinzuweisen. Der Kaiser Kang-Hi äußerte sich darüber folgendermaßen:
„Es ist gut, daß die Menschen sich vor den Gerichten fürchten. Ich
wünsche, daß jene, welche sich an die Richter wenden, ohne Mitleid
behandelt werden. Mögen sich doch alle guten Bürger untereinander
wie Brüder vertragen und Streitfälle dem Urteil der Greise und
Ortsvorsteher vorlegen. Was die Streitsüchtigen, die Eigensinnigen
und die Unverbesserlichen betrifft, so sollen sie nur von den Beamten
zerschmettert werden. Das ist das einzige ihnen zukommende Recht”.

In diesen Kaiserworten werden die Rechtsbegriffe Chinas, wie sie noch
heute obwalten, in kürzester und treffendster Weise gekennzeichnet.
Thatsächlich werden in dem ganzen großen Reiche kleinere Streitfälle
immer zuerst den Häuptern der Familie vorgelegt, welche ihr Urteil nach
uralten Traditionen und Gebräuchen fällen. Ist doch das Familienleben
wie das ganze Staatswesen Chinas nach patriarchalischen Grundsätzen
geregelt, der Ortsvorsteher ist der Vater aller Einwohner, der
Provinzgouverneur der Vater aller seiner Untergebenen, der Kaiser aber
der Vater aller Chinesen. Derselbe Geist erfüllt auch die Rechtspflege.
Das chinesische Gericht kennt keine Rechtsgelehrten, keine Advokaten
und Staatsanwälte. Der Mandarin des Ortes, des Distriktes oder der
Provinz ist der alleinige Richter, nur das Recht über Leben und Tod
liegt in den Händen des Kaisers.

Bei den vielen Obliegenheiten des Mandarins gebricht es ihm
selbstverständlich an Zeit, den verschiedenen Streitfällen, die ihm
vorgelegt werden, besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das summarische
Verfahren, mit welchem die Mandarine selbst bei wichtigen Fällen
vorgehen, erinnerte mich lebhaft an ähnliches, das ich in verschiedenen
anderen Ländern, hauptsächlich in Marokko, Tunis und in dem fernen
Korea gesehen habe. Geradeso wie dort, giebt es auch hier kein langes
Prozessieren, Vertagen der Verhandlungen, Hinausschleppen durch
allerhand Kniffe der Anwälte, keine Geschworenen, Beisitzer u. dergl.
Der Fall wird vorgetragen, und ist die Zeugenvernehmung vorüber, so
erfolgen Urteilsspruch und Strafe auf der Stelle. Dann kommt der
nächste Fall an die Reihe, und so geht es fort, bis der Mandarin die
Sitzung abbricht.

[Illustration: Die Familie meines Gastfreundes in Canton.]

Dabei ist das ganze Rechtsverfahren öffentlich. Es spielt sich
sozusagen auf der Straße ab, und der Besucher chinesischer Städte
hat auf seinen Wanderungen fast täglich Gelegenheit, etwas davon zu
sehen, seien es Gefängnisse oder Bestrafungen, Gerichtssitzungen oder
Foltern. Je größer die Stadt, desto häufiger sind diese keineswegs
immer willkommenen Gelegenheiten. Schon am ersten Tage meines
Aufenthaltes in Canton sah ich eine öffentliche Bestrafung. In der Nähe
des Yamens (Residenz) des Tatarengenerals wurde meine Aufmerksamkeit
durch laute Gongschläge auf einen seltsamen Aufzug gelenkt, wie er
wohl in keinem anderen Lande der Welt vorkommen dürfte. Hinter dem
Gongschläger, einem Polizisten, schritt ein Mensch einher, dessen
Hände hinter seinem Rücken zusammengebunden waren. In seinen heftig
blutenden Ohrläppchen steckten etwa dreißig Centimeter lange Stäbchen,
und an diesen waren Papierstreifen, mit Schriftzeichen bedeckt,
aufgeklebt. Hinter ihm marschierten zwei Soldaten der Wache. Auf
meine Frage antwortete mir der mich begleitende Dolmetscher, dies
wäre ein Dieb. „Auf den Papierchen”, so fuhr er fort, „stehen sein
Name, seine Verbrechen und die Bestrafung. Ich lese eben, daß er zu
fünfzig Stockstreichen verurteilt wurde. Wahrscheinlich führen sie
ihn jetzt vor den Mandarin. Wollen Sie zusehen?” Wir schlossen uns
dem Menschenhaufen an, der dem Zuge folgte. Bald waren wir vor dem
Gerichtshofe angelangt. Soldaten hielten das bezopfte Gesindel an
dem Eingange zurück, während wir uns durch ein „Kumscha” von einigen
Sapeken den Einlaß erkauften. Der Kumscha ist in China dasselbe, was in
Europa die Eintrittskarte, im ganzen Orient aber der Bakschisch ist.
Kaum hatten die Gerichtswachen ihren Kumscha in der Hand, so stand uns
alles offen. Wir befanden uns in einem Hofraum, auf drei Seiten mit
Gefängnissen besetzt; durch einen Thorbogen gelangten wir in einen
zweiten Gefängnishof, in dessen Hintergrund sich der nach dem Hofe
offene Gerichtssaal befand.

Dorthin wurde auch der Dieb geführt. Im Hintergrunde saß hinter
einem langen Tische der Mandarin, große runde Augengläser auf der
Nase, den chinesischen Beamtenhut mit Knopf und Roßschweif auf dem
bezopften Haupte. An kleinen Tischchen zu beiden Seiten saßen Beamte,
die mit Pinseln allerhand Schriftzeichen auf Papierstreifen malten.
Gerichtsschergen mit ruderartigen Stäben in der Hand standen im
Hintergrunde. Die Wände waren mit Papierbogen, ähnlich den japanischen
Kakemonos, behangen, und mein Dolmetscher erklärte mir, die großen
Schriftzeichen auf denselben bedeuteten die Ehrentitel, Würden
und Aemter des Mandarins, sowie allerhand auf die Gerichtspflege
bezugnehmende Sprüche.

Beim Eintritt wurden dem Diebe die Handfesseln abgenommen, und er
warf sich vor dem Mandarin auf die Knie, mit der Stirn auf den Boden
schlagend. Nach einigen Worten des Mandarins wurde er von den Schergen
auf eine lange, niedere Bank gelegt, seine Beinkleider wurden bis zu
den Knien heruntergeschoben, so daß seine Schenkel entblößt waren, dann
faßte ihn ein Scherge beim Haarzopfe, ein anderer bei den Füßen. Auf
ein Zeichen des Mandarins trat der Strafvollstrecker auf ihn zu und
begann mit einem dünnen Streifen Bambusholz auf den oberen Teil der
Schenkel loszuschlagen. Wie der Dolmetscher mir sagte, giebt es zwei
verschiedene Arten von Schlägern, nicht etwa Ruten oder Stöcke, wie
bei den Bastonnaden, die ich im Orient gesehen habe, sondern dünne,
ungemein zähe und elastische Streifen, aus armdicken Bambusrohren
herausgespalten, die einen handbreit und etwa meterlang, die anderen
schmäler und kürzer.

[Illustration: Gerichtssitzung vor dem Mandarin.]

Die Streiche fielen in außerordentlich rascher Folge, und das
Geräusch der kurzen, trockenen Schläge, das in eigentümlichem Tonfall
stattfindende Zählen derselben, das Stöhnen des unter jedem Schlage
zuckenden Verurteilten vertrieben uns bald aus dem schwülen Raume. Wie
ich nachher erfuhr, werden für größere Vergehen bis zu dreihundert
Streiche verabfolgt. Gewöhnlich haben aber schon hundert Streiche
ernste Verletzungen zur Folge, und wenn es immer möglich, wird der
Verurteilte selbst oder durch seine Freunde die Hand des Schergen
„schmieren”, um eine zartere Behandlung oder ein „Verzählen” während
der Bestrafung zu erwirken. Thatsächlich sah ich später in Tschingkiang
eine ähnliche Exekution. Der Schuldige schrie, als stecke er auf dem
Spieß, aber dennoch bemerkte ich, daß ein großer Teil der Streiche auf
die Bank, statt auf die Schenkel auffiel. Gerade dann war das Geschrei
des Delinquenten am stärksten.

Ist die Bestechung der Richter und Schergen aus verschiedenen Ursachen
nicht durchzuführen, oder will der Schuldige der entehrenden Strafe
überhaupt entgehen, so wird er an seiner Statt einen Prügelknaben
anwerben, der für ihn die Strafe empfängt. Aber nicht nur diesen
Bastonnaden, auch Gefängnisstrafen, ja sogar der Erdrosselung oder
Enthauptung kann der Verurteilte sich dadurch entziehen, daß er
Stellvertreter anwirbt. Es giebt in China viele Tausende armer Teufel,
deren trauriger Lebensberuf und Erwerb es ist, sich für andere prügeln
und einsperren zu lassen, was ja mitunter im europäischen Zeitungswesen
auch vorkommen soll. Mit der Zeit werden die in Mitleidenschaft
gezogenen Körperteile derart hart und unempfindlich, daß die Sache für
die berufsmäßigen Prügelknaben gar nicht so schlimm ist. Häufig kommt
es aber, wie gesagt, auch vor, daß sich sogar Menschen finden, die
sich aus Not und Verzweiflung köpfen lassen, um mit dem Lösegelde, das
sie mit ihrem Leben bezahlen, ihre Familien, ihre Kinder vor Elend und
Verhungern zu erretten. Diese Stellvertretung ist in China allgemein
gebräuchlich und gesetzlich erlaubt. So werden beispielsweise Frauen
selten wirklich bestraft, denn ihre Männer und Kinder geben sich zur
Erduldung der Strafe her. Körperliche Züchtigung von Frauen findet
gewöhnlich dadurch statt, daß die Streiche mit einem Stück zähem
elastischen Leder auf Lippen und Backen der Betreffenden verabfolgt
werden. Den meisten von ihnen wäre wohl die früher geschilderte
Bastonnade lieber.

Die chinesischen Gefängnisse sind nicht etwa hohe, feste Gebäude mit
vergitterten Fenstern und starken Umfassungsmauern, wie bei uns,
sondern ebenerdige Räumlichkeiten, die sich auf viereckige Höfe
öffnen. Das Entspringen der Sträflinge wird dadurch verhindert, daß
gewöhnlich eine Hand und ein Fuß derselben aneinander gekettet werden.
Außerdem sind alle Straßen in der Umgebung der Gefängnisse scharf
bewacht. Beim Verlassen des Cantoner Gerichtshofes wurden wir von
den freundlich grinsenden Gefangenwärtern, die sich natürlich ihren
Kumscha erobern wollten, eingeladen, die anstoßenden Gefängnisse in
Augenschein zu nehmen. Sie sind gar nicht so schlimm, als man erwarten
sollte. Freilich fehlt es in den einzelnen, für etwa acht bis zwölf
Gefangene bestimmten Räumen an jeglicher Einrichtung; sie schlafen auf
Matten auf dem Boden und kochen sich ihren Reis auf offenen Herden
im Hofe. Schmutz und Gestank sind auch nicht schlimmer als in den
elenden Kuliwohnungen in Hongkong, dieser vielgepriesenen Kolonie der
Engländer. Dafür sind aber die Sträflinge selbst, wenigstens ihrem
Aussehen nach, das schlimmste, zerlumpteste Gesindel, das mir jemals
vorgekommen ist. Schmutzstarrend, mit zerzaustem, wirr herabfallendem
Haar, ausgehungert, mit Ungeziefer bedeckt, drängten sich die
Gefangenen um uns, ungestüm ihren Kumscha fordernd, und angewidert
beeilten wir uns davonzukommen. Die Gefängniswärter ließen uns indessen
nicht so leicht aus den Händen. Wir mußten noch das Gefängnis der
zum Tode Verurteilten in Augenschein nehmen, und niemals werde ich
den entsetzlichen Anblick dieser Dutzende von Leuten vergessen, die
in dem dunkeln, modrigen, von scheußlichen Gerüchen erfüllten Raume
ihrem Tode entgegensahen: Piraten, Vatermörder, Straßenräuber, wahre
Bestien, nicht nur ihren Verbrechen, sondern auch ihrem Aussehen und
Benehmen nach. Hyänen in Menschengestalt, ihre schmutzstarrenden,
mit Aussatz bedeckten Körper notdürftig in faulende Kleiderfetzen
gehüllt; mit entsetzlichem Geheul erhoben sich diese Elenden bei
unserem Eintritt von dem feuchten, unflätigen Boden und stürzten mit
wirrem Haar und stierem Blick auf uns zu, um ein paar Kupfermünzen zu
erhaschen. Erleichtert atmeten wir auf, als die geschlossene Thüre uns
wieder von ihnen trennte. Welches Elend! welches Schicksal! Monatelang
müssen sie hier warten, bis die Bestätigung ihres Todesurteils von
Peking herabkommt, denn nur bei Aufständen, im Kriegsfalle oder bei
außergewöhnlichen Verbrechen hat der Provinzgouverneur das Recht über
Leben und Tod. Sonst gelangen alle Todesurteile, und es sind deren
Tausende in jedem Jahre, vor den Kaiser, der sie gewöhnlich im Herbst
zu prüfen pflegt. Um die Namen derjenigen, denen er das Leben schenkt,
zieht er mit seinem roten Pinsel (der Kaiser schreibt nur mit solchen)
einen Kreis. Die anderen verfallen dem Henker. Sind die Dokumente von
Peking eingetroffen, so wird mit der Vollstreckung des Urteils nicht
länger gezögert. Der Weg der Unglücklichen zum Richtplatz ist nicht
lang. Sie werden in neue Kleider gesteckt und ohne weiteres geköpft
oder erdrosselt.

Als wir das Gefängnis verließen, führte mich der Dolmetscher nach dem
berüchtigten Töpfermarkt nahebei, dessen Boden mit dem Blute so vieler
Tausende von Unglücklichen gedüngt ist. Eigentliche Richtplätze giebt
es in China nicht. In Peking werden die Hinrichtungen öffentlich in
der Nähe des Gemüsemarktes, in Canton auf dem Töpfermarkt vollzogen.
Die Töpfer unterbrechen eben für einige Stunden die Arbeit, ein
Plätzchen wird von Töpfen und Gefäßen aller Art freigemacht, und sind
die Verurteilten hingerichtet, so wird die Arbeit wieder aufgenommen.
Das Erdrosseln gilt als die weniger schmachvolle Art der Hinrichtung
und ist den Verurteilten auch insofern lieber (der Tod selbst ist dem
stoischen Chinesen durchaus nicht schrecklich), als er im Jenseits
so seine Glieder beisammen behält. Der Geköpfte aber kommt ohne Kopf
zu seinen Ahnen ins Jenseits, und wie können die Opfergebete seiner
Nachkommen ihn finden, wenn sein Körper nicht zu erkennen ist! Deshalb
werden die Verwandten oder Freunde des Geköpften, denen der entseelte
Körper zur Beerdigung übergeben wird, den Kopf gewöhnlich wieder an
den Rumpf befestigen. Dem Verurteilten gilt es als die schlimmste
Verschärfung seiner Strafe, wenn ihm angekündigt wird, daß sein Kopf
nach der Hinrichtung noch als warnendes Beispiel ausgestellt, also vom
Körper getrennt bleiben soll.

Auf dem Töpfermarkt zeigte mein Führer mir ein Kreuz, auf welchem
kurz zuvor ein Verbrecher gefoltert worden war, und daneben lag ein
mit einer kleinen Strohmatte bedeckter Gegenstand. Als der Führer
diese Matte wegzog, zeigte sich meinen entsetzten Blicken ein blutiger
Menschenkopf, der von einer Hinrichtung herrührte. Nahebei lag ein
etwa fußhoher, mit Blutspuren und zahlreichen tiefen Einschnitten
versehener Holzklotz. Weil die zum Tode Verurteilten freiknieend
enthauptet werden, so konnte ich mir die Bestimmung des Holzklotzes
nicht erklären. Da erwähnte der Führer nur das Wort Lei-tschei und
machte mit der Rechten die Bewegung des Zerhackens. Nun entsann ich
mich, in Hongkong auf einer grauenvollen Photographie denselben
Holzklotz bemerkt zu haben. Lei-tschei ist die gesetzliche Todesart für
Elternmörder und besteht darin, daß der Verurteilte, wie die Vorschrift
lautet, vor der Enthauptung in tausend Stücke zerhackt wird. Die
Scharfrichter beginnen mit dem Abhauen der Weichteile ... doch, man
möge mir die Schilderung dieser entsetzlichen Grausamkeit ersparen.
Genug, das Lei-tschei wird jetzt noch alljährlich in Dutzenden von
Fällen angewendet.

[Illustration: Hinrichtung.]

Die drei genannten Todesarten, das Erdrosseln, Köpfen und Zerstückeln,
sind noch nicht die schlimmsten. Sind sie auch die allein gesetzlichen,
so giebt es noch viel grausamere, wenn auch nicht so blutige. In
der großen Stadt Futschau wird der ausländische Stadtteil durch die
berühmte Wan-schan-Kian, die Brücke der zehntausend Alter, mit dem
chinesischen Stadtteil verbunden. Mitten unter den vielen Kramladen und
Kaufständen, welche die Ränder der Brücke einnehmen, und über welchen
häufig genug auf langen Stangen die Köpfe enthaupteter Verbrecher
prangen, sieht der Spaziergänger zuweilen einen Käfig aus Bambusstäben,
in welchem irgend ein Verbrecher unter den glühendsten Sonnenstrahlen
schmachtet. Zwei den Hals umschließende Querbretter halten den Kopf so
hoch, daß die Fußspitzen des aufrecht stehenden Unglücklichen kaum den
Boden berühren. Papierstreifen, auf den Käfig geklebt, verkünden den
Vorübergehenden sein Verbrechen. So bleibt er tagelang ausgestellt,
bis endlich der Tod ihn von dieser langsamen Folter befreit.
Aehnliche Käfige sah ich nachher bei meinen Reisen durch das Innere
von China beinahe in allen Städten, gewöhnlich auf den belebtesten
Verkehrspunkten, an Brücken, vor den Yamen der Mandarine und vor den
Stadtthoren.

[Illustration: Hinrichtung von Seeräubern.]

Aber noch mehr. Als in den siebziger Jahren die furchtbarste Hungersnot
in den nördlichen Provinzen herrschte, blieb Tausenden der darbenden
Landleute nichts übrig als der Kannibalismus, und die Feder sträubt
sich, die entsetzlichen Vorkommnisse niederzuschreiben, die der
Geschichte angehören. Wurden derlei Unmenschen auf der That ertappt, so
wurden sie in Tientsin in Käfigen an den Pranger gestellt und mußten
verhungern; andere wurden lebendig an die Stadtmauern gepflöckt, und
eine Anzahl Frauen, welche des Kannibalismus an ihren eigenen Kindern
überwiesen wurden, ließen die Mandarine lebendig begraben.

In Kowloon, der Hongkong auf dem Festlande gegenüberliegenden
Chinesenstadt, wurde mir die Stelle gezeigt, wo vor einigen Jahren
fünfzehn Piraten, welche ein europäisches Schiff überfallen und die
Mannschaft getötet hatten, summarisch geköpft wurden. Vertreter der
europäischen Konsulate in Hongkong waren dabei zugegen, und ich erwarb
in Hongkong Photographien dieser Exekution, welche die letztere in
verschiedenen Momenten darstellen.

Die Köpfe waren mit erstaunlicher Sicherheit von den Körpern getrennt
worden; kein einziger der letzteren zeigte die geringste Verletzung.
Wie mir Chinesen erzählten, wird die Enthauptung selten vom
Scharfrichter selbst, sondern gewöhnlich von einem Sträfling vollzogen,
der sich vorher an Gurken für sein schauerliches Amt einübt. Er ist
wohl zu derartigen Vorstudien gezwungen, denn trennt er das Haupt nicht
auf den ersten Strich, so darf er keinen zweiten ausführen, sondern muß
die Trennung durch Sägen vollenden.

Hat der chinesische Provinzmandarin auch nicht das Recht über Leben
und Tod der Verbrecher, so hat er auf andere Weise die Mittel hierzu
doch in seiner Hand. In China besteht nämlich heute noch die
gesetzliche Folter. Kein Verbrecher darf verurteilt werden, ohne daß
er sein Verbrechen selbst eingestanden hat, selbst wenn die Beweise
erdrückend wären. Erst wenn er sein Geständnis selbst unterschrieben
hat, und häufig genug unterschreibt auch der Unschuldige ein solches,
um der Tortur zu entgehen, wird ihm die Strafe zugemessen. Die Foltern
selbst, obschon grausam genug, sind lange nicht so entsetzlich wie
jene, welche in früheren Zeiten in Europa gebräuchlich waren, und von
denen in manchen unserer alten Burgen und in den Museen heute noch die
Folterwerkzeuge Zeugnis ablegen.

[Illustration: Enthauptete Seeräuber.]

Die gebräuchlichsten Foltern in China sind eine Art von Hand- und
Fußschrauben, Knien auf Ketten, auf Glassplittern gemischt mit Salz
und andere. Das Entsetzliche der Sache liegt hauptsächlich darin,
daß nicht nur der Angeklagte, sondern auch Kläger und Zeugen häufig
der Folter unterworfen werden, um weitere Geständnisse von ihnen
zu erpressen. Ist der Drang der Geschäfte zu groß, so werden die
Beschuldigten mit den Zeugen zusammen ins Gefängnis geworfen, bis der
Mandarin Zeit hat, den Fall zu prüfen; und das allein erklärt schon
die heilige Scheu der Chinesen vor dem Gesetz. Stirbt jemand an den
Folgen dieser entsetzlichen Behandlung, so wird die Sache möglichst
vertuscht; auch lassen die Mandarine mit sich reden, und gewöhnlich
bekommt von zwei streitenden Parteien diejenige recht, welche den
Mandarin durch Schmieren beeinflußt hat. Diese Bestechlichkeit der
Richter ist in China geradezu sprichwörtlich und erklärt auch die
bedeutenden Einkünfte derselben, sowie das Streben der chinesischen
Litteraten, Beamtenposten zu ergattern. Freilich wird der Willkür
der Mandarine teils durch die Furcht vor ihren Vorgesetzten, teils
durch die öffentliche Meinung ein wirksamer Hemmschuh angelegt. Wird
das Treiben eines Mandarins der Bevölkerung zu bunt, so wird er,
besonders häufig in den Inlandstädten, von den Stadtältesten höflich
eingeladen, die Stadt zu verlassen. Man stellt ihm die Sänfte vor die
Thür, veranlaßt ihn sie zu besteigen und trägt ihn vor die Stadtthore.
In solchen Fällen behält die Bevölkerung gewöhnlich recht, und der
Provinzgouverneur oder die Zentralregierung ernennt einen anderen
Mandarin auf den freigewordenen Posten.

[Illustration: Bestrafung von Kupplerinnen.]

Häufiger noch als die Bastonnade kommt in China die Strafe des
Kangtragens zur Anwendung. Auf meinen Wanderungen in chinesischen
Städten fand ich fast überall derartige unglückliche Kangträger,
besonders zahlreich in den Gefängnissen selbst. Der Kang besteht ans
zwei Brettern, welche, an den Innenseiten mit Ausschnitten für den Hals
versehen, dem Verurteilten als eine Art Halskrause angelegt und durch
Ketten oder Riegel miteinander verbunden werden. Diese Halsbretter,
etwa sechzig bis achtzig Centimeter im Geviert und bis zu zwei Finger
dick, bleiben dem Sträfling während der ganzen Strafdauer, von ein
bis drei Monaten. Sie wären an und für sich, obschon bis zu fünfzehn
oder zwanzig Kilogramm wiegend, gar nicht so schrecklich. Die Schwere
der Strafe kann man sich erst vorstellen, wenn man erfährt, daß der
Kang Tag und Nacht auf dem Nacken des Unglücklichen ruht, daß er sich
also niemals niederlegen kann, sondern stehend oder sitzend schlafen
muß. Ebensowenig kann er seine Hände zum Kopfe führen oder Nahrung zu
sich nehmen und muß also durch mitleidige Vorübergehende oder Freunde
gefüttert werden. Auf die Bretter geklebte Papierstreifen enthalten
seinen Namen, das Verbrechen und die Dauer der Strafe.

In manchen Werken über China wird behauptet, daß Frauen zum Tragen
des Kangs niemals verurteilt würden. Ich habe aber selbst weibliche
Kangträger gesehen und auch Photographien erworben, welche nicht nur
einzelne, sondern auch drei Frauen zusammen in einem Kang mit drei
Halslöchern steckend darstellen. Wie stark das weibliche Geschlecht
unter den Gefangenen oder sonstigen Verurteilten in China vertreten
ist, konnte ich trotz eifriger Nachfragen ebensowenig erfahren, wie
die Zahl der letzteren überhaupt. Ja in den Gefängnissen der größten
Städte konnte man mir nicht einmal die Zahl der Gefangenen während
eines Jahres angeben. Mit der Statistik ist es in China schlecht
bestellt, aber doch kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Zahl
der Gerichtsfälle in dem Reiche der Mitte verhältnismäßig bedeutend
geringer ist, ja vielleicht kaum die Hälfte jener in zivilisierten
Ländern beträgt. Der Wunsch des Kaisers Kang-Hi in Bezug auf die
Rechtspflege in China ist also in Erfüllung gegangen.

[Illustration: Verbrecher im Kang.]



[Illustration: Schuhflicker.]



Spaziergänge in chinesischen Arbeitervierteln.


An den Sehenswürdigkeiten chinesischer Städte, an Tempeln, Pagoden
und Ehrenpforten, hat sich der Europäer gewöhnlich bald satt gesehen,
denn der großen Mehrzahl nach sind sie von einem ewigen Einerlei.
Kam ich im Reiche der Mitte in eine mir noch unbekannte Stadt, so
bangte mir gewöhnlich schon vor dem Confuciustempel oder der Pagode,
die ich besichtigen sollte. Was wirklich interessant wäre, wie die
Kaiserpaläste und Ahnentempel in Peking, ist nicht zugänglich, und
wo diese Kaiserpaläste und Tempel wirklich zugänglich wären, wie in
Nangking, sind nur noch traurige Ruinen davon übrig.

Weit interessanter als diese Bauten in den chinesischen Städten ist das
Leben und Treiben ihrer Einwohner, darunter vor allem die chinesische
Industrie. Gewöhnlich ließ ich mich von einem Dolmetscher zuerst
in die Geschäftsstraßen führen, wenn die engen, dunklen, feuchten
Gäßchen der meisten Städte den Namen Geschäftsstraßen überhaupt
verdienten. Allerdings war ich selbst dort viel mehr der Gegenstand
der Neugierde, als es die Chinesen für mich waren. Solange ich mich
mitten durch das rege Gewühl und Gedränge fortbewegte, beschränkte sich
mein neugieriges Gefolge gewöhnlich auf etwa ein Dutzend Personen;
blieb ich irgendwo stehen, so verdoppelte sich der mich umdrängende
Menschenhaufe, und begann ich gar durch meinen Dolmetscher zu fragen
oder zu feilschen, dann schrieen die bezopften Straßenjungen vor lauter
Verwunderung und lockten noch die Menschen aus den Seitengäßchen
herbei. In der ersten Zeit war mir diese schmutzige, zerlumpte
Gesellschaft in hohem Grade lästig, aber später gewöhnte ich mich
daran. Bei solchen Gelegenheiten kam mir immer der erste Chinese in
den Sinn, den ich als kleiner Junge in Europa gesehen habe. War ich
ihm dort etwa nicht ebenfalls nachgelaufen? Wurde er nicht durch böse
Gassenjungen geneckt und beim Zopfe gezupft und ausgelacht? Jetzt
zahlten seine Landsleute mir diese Neugierde zurück.

[Illustration: Im Kaufladen.]

In Canton kümmern sie sich um die Europäer wenig mehr. Canton, diese
größte Stadt des Reiches der Mitte, ist an Europäer schon seit
dreihundert Jahren gewöhnt, man sieht ihrer dort viel mehr als in
anderen Städten Chinas, und das Gefolge beschränkt sich gewöhnlich nur
auf ein halbes Dutzend Menschen, die man sich hier auch leichter vom
Leibe halten kann. Dazu ist Canton das Paris, oder ich möchte lieber
sagen das Neuyork von China, Peking ist sein Washington. Canton ist der
Hauptsitz der chinesischen Industrie; Hunderttausende sind dort mit
der Anfertigung von Waren beschäftigt, die auf zahllosen Dschunken und
Kanalbooten, auf dem Rücken von Mauleseln oder Lastträgern durch das
ganze Reich geführt werden; in Canton sind die geschicktesten Arbeiter,
die reichsten Kaufleute, die schönsten Läden, und wohin ich auch kam,
nach Städten in Nord und Süd, in den Industrievierteln fand ich mit
geringen Abweichungen doch nur den Abklatsch des industriellen Lebens
von Canton. Es ist in dieser Hinsicht die erste Hauptstadt Chinas,
alles andere Provinz.

Gerade wie es in vielen Städten Europas der Fall ist, so sind auch
in den chinesischen Städten die einzelnen Industrien gewöhnlich in
bestimmten Quartieren zu finden; hier eine Gasse, vielleicht ein
bis zwei Kilometer lang, gefüllt mit Goldarbeiterläden, die sich
dicht aneinander reihen, so daß ich oft gar nicht wußte, ob ein
Schaukasten zu dem einen oder dem anderen Laden gehörte; bog ich
um eine Straßenecke, so befand ich mich vielleicht im Viertel der
Fächerfabrikanten, in der nächsten Straße in jenem der Möbeltischler,
und so ging es weiter.

Ein Haus gleicht dort dem andern: das untere Stockwerk wird ganz von
dem Geschäft eingenommen, das von der einen Hauswand zur anderen
offen steht, um das in den düsteren Gäßchen an und für sich spärliche
Licht einzulassen; im oberen Stockwerk sind die Wohnungen, und vor
jedem Hause baumeln die roten, gelben, goldenen oder schwarzen langen
Schilder herab, ein Wald von Schildern, der jeden Ausblick verhindert,
das Sonnenlicht ausschließt und die Gäßchen selbst in ewige Dämmerung
hüllt, während die Schilder darüber glitzern und glänzen. Man denke
sich nur sämtliche Firmentafeln des Wiener Grabens oder der Berliner
Friedrichstraße, statt an den Häusern befestigt, vor denselben von
Stangen der Länge nach herunterbaumeln! Unten in den Gäßchen ein ewiges
Gewoge und Getriebe, ein Lärmen, Schreien, Stoßen und Drängen, ein
Hin- und Herzerren, Schieben und Drücken von Zehntausenden bartloser,
langbezopfter, halbnackter Gestalten, alle auf der Jagd nach Erwerb,
alle im Kampf ums Dasein. Rechts und links in den kleinen finsteren
Gewölben aber wird gehämmert und geklopft, gesägt und gefeilt, ohne
Unterlaß vom Morgengrauen bis zur anbrechenden Dunkelheit. Ueberall
wird so emsig gearbeitet, als gälte es, Bestellungen auszuführen,
die unbedingt am Abend fertig sein müssen. Welcher Fleiß! Welche
Unermüdlichkeit des Schaffens!

In diesen Industrievierteln Cantons wie anderer chinesischer Städte
sah ich niemals die Menschen rasten und ruhen, ausgenommen, sie lagen
still und tot unter dem weißen Leinentuche, aufgebahrt in denselben
Läden, in denen sie ihr ganzes Leben in Arbeit verbracht hatten. Aber
in den Läden ringsum wurde dabei doch rastlos geschafft, obschon
niemand wußte, ob nicht die Arbeit unter seinen Händen die letzte war,
ob nicht der tückische Tod sich ihn als nächstes Opfer ausersehen
hatte. Wanderte ich durch diese Straßen, Kampfer im Munde und ein mit
Kampfergeist getränktes Taschentuch vor der Nase, so vergaß ich über
dieser Emsigkeit des Schaffens selbst die furchtbaren Verhältnisse,
die eben in Canton herrschten. Ich war der einzige Spaziergänger, der
einzige Müßiggänger unter all diesen Zehntausenden und hätte mich
selbst hinsetzen mögen, um mitzuthun. Betrachte ich heute die Dutzende
von Sachen, die ich auf meinen Spaziergängen in den chinesischen
Städten erworben habe, dann sehe ich im Geiste auch die Arbeiter vor
mir, die sie verfertigten, diese halbnackten, schweißtriefenden,
emsigen Gestalten, wie sie stumm, ihrer Arbeit vollständig hingegeben,
auf dem feuchten Boden kauern, und der höchst eigentümliche Geruch, der
all den Industriestädten Chinas eigen ist, haftet auch meinen Fächern
und Stickereien, Stoffen und Gerätschaften noch heute an. Entfalte
ich eine der herrlichen Stickereien, so ist bald mein ganzes Zimmer
mit diesem berauschenden modrigen Duft geschwängert, ein Gemenge von
Opium-, von Sandelholz- und Theegeruch. Er ist unangenehm, bedrückend,
ich möchte sagen furchteinflößend. Er erinnert an Grüfte. Es sind ja
in der That Grüfte, in denen die großen Massen der Chinesen arbeiten,
und auch ihre Arbeit ist furchteinflößend. Wie, wenn diese Hunderte von
Millionen fleißiger Menschen ihre althergebrachten Werkzeuge fortwürfen
und zu unseren modernen Arbeitswaffen, zu unseren Maschinen, griffen?
Wie, wenn ein industrieller Li-Hung-Tschang den rastlosen Fleiß, die
Fertigkeit dieser größten Arbeiterarmee der Welt gegen die unserige,
europäische, ins Feld führte und in China Hunderte von Fabriken, von
Hochöfen und Gießereien schaffen sollte? Was würde dann aus uns?

Dieses Gedankens konnte ich mich niemals erwehren, wenn ich die
Chinesen bei der Arbeit sah, und als Europäer, als Weißer, dankte
ich im stillen der Vorsehung, daß sie den Chinesen wohl Fleiß,
Enthaltsamkeit, Kraft, Geschicklichkeit, aber keinen Fortschrittsgeist
gegeben hat. Wie vor Tausenden von Jahren, so arbeiten sie heute
noch mit den gleichen rohen Werkzeugen, und ich kaufte mir in China
dieselben Fläschchen, die man unter den Pyramiden in den Gräbern
der alten Aegypter gefunden hat, Artikel, welche die Chinesen
damals in alle Welt versandten, bis andere Völker, andere Kulturen
des Abendlandes als ihre Konkurrenten auftraten und sie vom Markt
verdrängten. Aber droht die mongolische Flut nicht von neuem über das
Abendland hereinzubrechen?

Nicht so bald! Der konservative Zug der Chinesen, die Achtung vor dem
Althergebrachten schützt uns noch für lange Zeit vor ihnen. Kennen
sie doch die Europäer schon seit Jahrhunderten und ihre Werkzeuge,
ihre Maschinen, ihre praktischen Arbeitseinrichtungen schon seit
Jahrzehnten. Die weißen Barbaren brachten ihnen bequeme Arbeitswaffen,
einfach, leicht, der doppelten Leistung fähig, aber die Mongolen
ließen sie unbeachtet und arbeiteten mit den alten plumpen, schweren
Werkzeugen weiter, dabei möglicherweise besser, sorgfältiger als wir
mit unserer praktischen Schulung und unseren praktischen Werkzeugen.
Man sehe sich nur ihre Bronzen, ihre Holzschnitzereien, ihre Lackwaren,
Porzellane, Möbel an! Jeder Artikel ist das Werk einer einzigen
Familie, vielleicht eines einzigen Arbeiters, denn Arbeitsteilung
kennt der Chinese nicht. Sang Ting oder Han Tschang hat möglicherweise
die Form für seine Bronze selbst modelliert, die Metallmischung und
den Guß vorgenommen; er hat selbst mit dem Stichel die einzelnen
Figuren ciseliert und emailliert, vergoldet und vollendet. Sang Ching
macht nicht etwa nur die Holzarbeit eines Möbels. Er webt die Stoffe,
macht die Stoffmuster, das Gerippe des Möbels, schnitzt kunstvolle
Verzierungen, lackiert und tapeziert selbst. Mag man über die bizarren
Formen dieser uns fremdartig berührenden Erzeugnisse lächeln, jedes
Stück hat doch einen gewissen Charakter und zeigt etwas Individuelles.
Maschinen wurden schon vor fünfzig Jahren eingeführt, und die Engländer
boten alles Erdenkliche auf, sie unter die Leute zu bringen, aber die
Chinesen nahmen nur solche an, welche kraftspendend waren, andere
jedoch, welche die Handarbeit selbst übernehmen und vollkommener
verrichten, wie z. B. die Nähmaschinen, wiesen sie zurück. Tausend
Fächer, einander so gleich wie ein Ei dem anderen, werden Stück
für Stück, Blatt für Blatt von einem einzigen Arbeiter geschnitzt,
gebunden, gemalt und verkauft. Reichen bei größeren Arbeiten die
Hände nicht aus, so werden die Füße, die Zehen zu Hilfe genommen,
und mancher Chinese leistet mit seinen Zehen Besseres als mancher
Weiße mit seinen Händen. Sie haben ein erstaunliches Geschick; jeder
einzelne ist ein Meister Hämmerlein. In manchen chinesischen Dörfern
fand ich keinerlei Kaufläden, und als ich mich erkundigte, wo denn die
Menschen ihre Stoffe, Schuhe, Gerätschaften hernähmen, hieß es, sie
verfertigten sie selbst. In Bauernhäusern fand ich uralte Webstühle,
vor den Häusern saßen Frauen, die Kleider nähten, hockten Männer, die
Sandalen flochten. Ist etwas zu besorgen, wozu ihnen die Werkzeuge
fehlen, so rufen sie irgend einen der wandernden Handwerker. Schmiede,
Flickschneider, Schuster, Barbiere, Gewerbtreibende aller Art wandern
von Ort zu Ort, gerade so, wie ich es auch in Korea getroffen habe und
wie es bei uns die Scherenschleifer thun. Wo sie Arbeit finden, wird
Halt gemacht, das Ränzlein ausgepackt und gearbeitet. Auf dem Wege von
Zikawei nach Sutschan begegnete ich einem Schmied, der eben im Begriffe
war, seine ambulante Schmiede einzurichten, um einige Flickarbeiten
zu besorgen. Statt wie bei uns die Ränzchen auf dem Rücken zu tragen,
oder einen Handwagen mit sich zu führen, schieben die chinesischen
Handwerker ihre Siebensachen auf einem unförmlichen Schubkarren vor
sich her, oder sie verteilen sie in zwei flache Körbe und hängen
diese an die beiden Enden eines mannslangen, armdicken Bambusrohres,
das sie auf den Schultern oder auf dem Nacken tragen. So befördern
sie meilenweit Lasten, welche wir nicht hundert Schritte weit tragen
würden, ohne erschöpft zu sein. Mein guter Schmied hatte an dem einen
Ende des Bambusrohres einen Blasbalg hängen, an dem ein unförmiges
Stück Eisen, sein Amboß, festgebunden war. Am anderen Ende hing ein
schwerer Korb mit alten Eisenstücken, Werkzeugen und einem Kohlensack.
Darüber thronte eine Pfanne und ein irdener Topf. Während ich meinen
Tiffin (Gabelfrühstück) einnahm und ein wenig ruhte, beobachtete ich
seine Thätigkcit. Er legte den Amboß auf einen Stein, den er zuvor mit
etwas feuchter Erde bedeckt hatte, holte die Pfanne hervor, die er mit
Kohlen füllte, fügte durch eine Oeffnung in der ersteren den Blasbalg
ein und begann das Feuer anzufachen. Dann füllte er den Topf in dem
nahen Kanal mit Wasser, und nun sah ich erst, daß er im Begriff war,
zuerst seine Mahlzeit zu kochen, denn er warf eine Handvoll gepreßtes
Seegras in den Topf, dazu eine Menge gekochten Reis. Mit einem Appetit,
als wäre es Trüffelragout, verschlang er dann dieses Gemengsel, und
derselbe Topf diente ihm später zum Abkühlen der Eisenstücke und
Gerätschaften, die ihm von den Einwohnern zur Ausbesserung gebracht
wurden.

In den Städten halten sich diese wandernden Künstler länger auf;
sie bleiben stunden-, auch tagelang an irgend einer Mauer hocken
und warten auf Kundschaft. In Tschinkiang am Jangtsekiang wohnte
ich einer ergötzlichen Szene bei. Es war gerade großer Festtag, die
Feier irgend eines Provinzheiligen, und in der Stadt drängten sich
viele Tausende von Landleuten aus der ganzen Provinz. Ein zerlumpter,
struppiger Mongole kam durch die Hauptstraße gewandert und kauerte
vor einem an der Schattenseite im Freien thätigen Barbier nieder.
Bevor er sich seinen Schädel kahl rasieren ließ, zog er seine blaue
Aermeljacke aus und warf sie einer wandernden Flickschneiderin zu, die
vor seinen Augen mitten auf der Straße die Schäden ausbesserte. Da
kam ein Flickschuster mit seinem Schnappsack herbeigelaufen, und wie
in England die Bootblack- (d. h. Stiefelwichs-) Jungen, so wies auch
dieser mongolische Crispinusjünger beharrlich auf die Schäden an den
Filzschuhen des Chinesen. Nach längerem Geschrei und Geplapper schienen
die beiden handelseinig; der Schuster zog dem Chinesen die Schuhe ab,
setzte sich neben das Flickweib und begann nun seinerseits, Lederflecke
auf die Löcher der Fußbekleidung zu setzen.

Leder findet in China bei weitem nicht die ausgebreitete Verwendung wie
bei anderen Völkern. Lederschuhe sieht man fast gar nicht, denn die
Fußbekleidung der ärmeren Klassen besteht aus Strohsandalen, jene der
bemittelteren aus Seide, mit Filzsohlen.

In gar manchen Industrien sind uns die Chinesen wie gesagt trotz
ihrer primitiven Werkzeuge ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Ihre
Silberarbeiten sind bewundernswert; einzelne Arbeiter modellieren,
schmieden und vergolden die herrlichsten Vasen, Prunkbecher,
Blumenhalter mit Hunderten von getriebenen Figürchen, kaum ein oder
zwei Centimeter groß, aber so zart gearbeitet, daß man die Gesichtszüge
und den Faltenwurf der Gewänder daran unterscheiden kann; dann werden
diese Arbeiten von denselben Künstlern noch ciseliert.

Noch zarter und künstlerischer sind die herrlichen Stickereien. Viele
Tausende von Männern und Frauen sind in Canton mit Stickarbeiten
beschäftigt, die auch in großen Mengen nach Europa ausgeführt werden
und hier willige Abnehmer finden. Monatelang wird manchmal an einem
Stück gearbeitet; die Blumen, Vögel, Schmetterlinge werden ihnen
nicht vorgezeichnet; sie arbeiten direkt nach dem Muster auf der
Seide und führen bestimmte Stickereien auf beiden Seiten derselben
aus, wobei sie die Enden der Fäden so geschickt verarbeiten und
verstecken, daß man sie nicht entdecken kann. Die schönsten Muster
werden in Seidenstoffe auf ganz einfachen Webstühlen eingewebt. Mit
den Geheimnissen der Färberei sind sie, obwohl sie von der Chemie als
Wissenschaft keine Ahnung haben, wohl vertraut, und die von ihnen
gefärbten Stoffe halten die Farben besser als diejenigen, die sie
von Europa geliefert bekommen. In der Zartheit und Genauigkeit von
Holz-, Elfenbein- und Steinskulpturen stehen sie unerreicht da. Mit
großer Findigkeit benutzen sie z. B. in geädertem Marmor die dunklen
Adern, in Astholz die Astknoten für die Zwecke ihrer Arbeit; aus einer
knorrigen Wurzel schneiden sie im Handumdrehen einen langbärtigen
Götzen, aus einem vielkantigen Speckstein einen grotesken Alten, wobei
ihnen die Auswüchse und Vorsprünge des Materials eher förderlich als
hinderlich sind. An Häuserfronten, Thüren, Wänden, Möbeln bringen sie
derlei Skulpturen an, wo sich nur Platz bietet, schneiden, polieren,
vergolden und bemalen sie mit großer Kunst, aber sie verstehen es
nicht, den Figuren die richtigen Verhältnisse, landschaftlichen
Darstellungen die Perspektive zu geben. Das zeigt sich auch bei ihren
Malereien. In Canton fand ich Tausende mit dem Bemalen des sogenannten
Reispapiers beschäftigt, eine Eigenart der chinesischen Industrie.
Dieses vermeintliche Reispapier, zart, blendend weiß, sehr gebrechlich
und federleicht, ist keineswegs Papier, sondern das Mark einer Abart
des Brotfruchtbaumes, das sehr sorgfältig abgelöst und dann mit dünnen,
breiten Messern in ganz dünne Scheiben geschnitten wird. Auf diese
Scheiben malen die Chinesen mit Wasserfarben alle möglichen Bildchen
aus dem Volks- und Familienleben, Porträts, Landschaften, aber sie
haben es nicht gelernt, den Bildern Schatten zu geben, ja in einem
Porträt wird beispielsweise die Schattierung als Fehler angesehen; bei
Darstellungen von Landschaften denken sie sich dieselben nicht von
einem einzigen Standort aus gesehen, sondern sie verändern denselben
jeweilig und malen also eine entfernt stehende Person ebensogroß und
mit ganz denselben Einzelheiten, wie eine nahestehende, nur stellen sie
die letztere tiefer, die entfernt stehende höher im Bilde.

In der Mehrzahl der Städte, selbst der kleinsten, werden Seidenstoffe
gewebt, aber nirgends befindet sich eine Fabrik in unserem Sinne
des Wortes; die Seide wird in einzelnen Familien verarbeitet, deren
wertvollste Habe ihr unförmiger Webstuhl bildet. Und doch verstehen
diese armen, unwissenden Mongolen bessere Seidenstoffe zu machen als
wir. Die Worte Seide (Setum), Satin, Senshaw, die heute in der ganzen
Welt eingebürgert sind, stammen aus dem Chinesischen, wo sie Sse,
Ssetum und Ss’inscha heißen. In Nanking ließ ich mich in die berühmte
kaiserliche Seidenfabrik führen, wo die Seide für den kaiserlichen
Hof in Peking, sowie für die Ahnen- und Götzenopfer angefertigt wird,
gewaltige Mengen, denn in Peking werden für Opferzwecke jährlich
dreißigtausend Stück Seide allein verbrannt. Statt einer Fabrik fand
ich dort eine Reihe schmutzstarrender dunkler Räume und in jedem
einen plumpen, vorsündflutlichen Webstuhl; aber auf diesen entstanden
allmählich unter meinen Augen die herrlichsten Damastbrokate, welche am
chinesischen Kaiserhofe die Bewunderung der Gesandten in so hohem Grade
erregen.

Welche Künstler die Chinesen in Bezug auf das Porzellan sind, ist ja
bekannt; von China kam die Porzellanfabrikation auch nach Korea und von
dort nach Japan, wo man heute vielleicht noch zarteres Porzellan macht
wie in dem eigentlichen Mutterlande desselben.

[Illustration: Handwerker.]

Ob es wohl bekannt ist, daß der Name Porzellan nicht aus diesem
letzteren, sondern aus dem Portugiesischen stammt? Als die Portugiesen
vor drei Jahrhunderten die zarten durchscheinenden gebrechlichen
Theetassen zum erstenmal sahen, hielten sie das Material für
geschliffene Perlmuttermuscheln, im Portugiesischen Porcellana genannt,
und dieser Name blieb dem Porzellan in den meisten Ländern und Sprachen
bis auf den heutigen Tag.

Papier war ihnen schon im ersten Jahrhundert vor Christo bekannt, aber
gerade so wie damals machen sie es heute noch aus Bambusfasern, die
sie in einem großen Mörser zerstampfen und mit etwas Baumwollfaser
mischen. Sie selbst betrachten das koreanische Papier als das beste,
und bis auf die jüngste Zeit bestand ein Teil des Tributs, welchen
Korea an den Kaiser von China zu zahlen hatte, in Papier. Aus
derselben Zeit stammt die Erfindung der Tusche, die sie immer noch
aus denselben Stoffen, Oel-, Kohlen- und Fichtenholzruß (also nicht
etwa aus dem Tintenfisch, wie es in Europa vielfach angenommen wird),
erzeugen. Vielfach wurde von seiten der Europäer in China versucht,
besonders bei Artikeln, welche nach Europa ausgeführt werden, den
Chinesen billigere Erzeugungsmethoden beizubringen, aber sie bleiben
mit rührender Beharrlichkeit bei ihren althergebrachten Methoden, wie
sie möglicherweise schon zur Zeit des Confucius gebräuchlich waren.
Fast könnte man daran verzweifeln, daß sie sich in ihren Industrien
überhaupt aufrütteln lassen, wenn nicht die wohlfeilen europäischen
Produkte die chinesischen unterbieten und deshalb immer mehr und mehr
Eingang finden würden.

Der Chinese ist viel zu sehr Rechenmeister und Handelsmann, um sich
auch dann auf seine Ueberlieferungen zu steifen, wenn es ihm an den
Geldbeutel geht; einzelne Artikel hat er schon aufgegeben, um sie durch
europäische zu ersetzen, andere europäische hat er selbst zu erzeugen
begonnen. So z. B. machen die Chinesen wohl schon seit langer Zeit
Nähnadeln, aber jede einzelne wird mit der Hand gefeilt und gebohrt
und ist deshalb nicht nur kostspielig, sondern auch so plump, daß sie
sich mit unseren spottbilligen Nadeln gar nicht vergleichen lassen.
Bekanntlich werden unsere Nadeln in kleine schwarze Paketchen gepackt.
Die guten chinesischen Damen stießen sich anfänglich an der schwarzen
Unglücksfarbe des Packpapiers und meinten, wenn die Nadeln in rotes
Papier gepackt wären, würden sie sie doch versuchen. Natürlich beeilten
sich die Birminghamer, ihre zarten Produkte für den chinesischen Markt
in schönes rotes Papier zu hüllen, und jetzt haben sich die Chinesen so
sehr an die billigen europäischen Nadeln gewöhnt, daß sie auch schwarze
Packungen annehmen. Der chinesischen Nadelindustrie aber ist der Garaus
gemacht. In den entfernten Provinzen des Innern schmieden sich die
Bauern ihre Nadeln freilich noch immer selbst. Auch den Nutzen von Glas
haben sie einsehen gelernt, das sie bis zum Verkehr mit den Europäern
gar nicht gekannt haben. Ihre Fensterscheiben waren Papierbogen,
ihre Spiegel aus Metall. Allmählich lernten sie das Schmelzen des
Glases, und Tausende von Tonnen Glasscherben und alten Flaschen wurden
jährlich nach China exportiert; jetzt verstehen sie es schon, den Kies
selbst zu schmelzen und Glasscheiben zu erzeugen, so daß die Ausfuhr
von Glasscheiben nach China vollständig aufgehört hat. Aber Spiegel
können sie noch immer nicht erzeugen, dafür schleifen sie ihre runden
Metallspiegel so glänzend, daß dieselben wirklich Ersatz für die
Glasspiegel bilden.

Auch Brillen fanden bei den Zopfträgern willigen Eingang, aber während
sie viele aus Europa einführen lassen, machen sie die Linsen und
Horneinfassungen auch schon selbst; je größer die Linsen, je dicker
die Rahmen, desto besser, denn es gehört in China zum guten Ton, große
Brillen zu tragen. Die Mandarine, Beamten, wohlhabenden Geschäftsleute
und die Compradores (Zahlmeister) der europäischen Kaufleute tragen
gewöhnlich unförmig große Augengläser mit Krystallscheiben darin,
welche ihr halbes Gesicht bedecken. Unsere europäischen Linsen können
sie nicht gebrauchen, weil diese ihrer Ansicht nach viel zu klein sind.
Deshalb bestehen in China einige Schleifereien solcher Linsen, und da
ihr Glas zu unrein ist, verwenden sie nur Krystall und schleifen die
Linsen so lange, bis sie den betreffenden Augen entsprechen. Auf meiner
Reise den Jangtsekiang aufwärts legte unser Schiff auch in Wuhu an.
Während eines Spazierganges dort begegneten wir einem meinem Begleiter
bekannten Chinesen, der eben zum Sekretär des Tao-Tais (Präfekten)
ernannt worden war. Durch unseren Dolmetscher ließ er uns mitteilen, er
wäre eben im Begriff, zum Optikus zu gehen, um sich Brillen für seine
schwachen Augen schleifen zu lassen. Offenbar schämte er sich vor uns,
als Beamter noch keine Brille zu tragen. Thatsächlich sahen wir ihn bei
einem Brillenmacher halten, und als wir zwei Stunden später zufällig
wieder vorbeikamen, rief er uns lächelnd zu, die Linsen wären nun für
sein Auge passend geschliffen. Der Neugierde halber blickte ich durch
diese riesigen kreisrunden Gläser; sie waren flach wie Fensterscheiben.

Aus dem ganzen industriellen Leben der Chinesen konnte ich erkennen,
daß sie mit Zähigkeit an ihren althergebrachten Werkzeugen und
Herstellungsarten festhalten und ungemein schwer dazu gebracht
werden können, sich die unsrigen anzueignen. Selbst im Auslande,
wie z. B. in Kalifornien, wo sie doch mitten unter den Amerikanern
leben und arbeiten, haben sie ihre altchinesischen Handwerksmethoden
beibehalten; sie lassen sich ihren ganzen Bedarf an Kleidern,
Gerätschaften, Werkzeugen aus China bringen, statt die praktischen,
billigen amerikanischen Artikel anzuschaffen. Nur Artikel, die sie vor
der Berührung mit den Europäern nicht besaßen, nehmen sie willig an,
vorausgesetzt, daß ihnen deren Nützlichkeit einleuchtet. So war es gar
nicht schwer, den Gebrauch von Petroleum und damit auch Petroleumlampen
bei ihnen einzuführen, aber die letzteren machen sie jetzt in Canton
schon selbst und verschicken sie jährlich nach vielen Tausenden ins
Innere. Ebenso unbekannt war ihnen unsere Eisenindustrie mit ihren
großen Gießereien, ihren gewaltigen Stahlwerken, Maschinen aller Art.
Es dauerte gar nicht lange, so besaß die Regierung an verschiedenen
Orten Arsenale und Maschinenwerkstätten, geleitet von Europäern, die
sie aber allmählich durch eingeborene Ingenieure und Mechaniker zu
ersetzen bestrebt sind. Augenblicklich sind sie daran, den Eisenbahnbau
von Europäern zu studieren, um seinerzeit ihre Eisenbahnen selber bauen
zu können.

[Illustration: Christliche Chinesen (Schneider).]

Trotz der großen Erfindungen, welche die Geschichte den Chinesen
des Altertums zuschreibt, sind die heutigen Bewohner Chinas kein
erfindungsreiches Volk; dafür ist ihr Nachahmungsvermögen ungewöhnlich
stark ausgeprägt. Haben sie einmal europäische Gegenstände, von deren
Nützlichkeit sie überzeugt sind, und werden sie durch Europäer in die
Geheimnisse ihrer Herstellung eingeweiht, so ist es ihnen ein leichtes,
selbständig zum Nachteil der europäischen Industrien weiter zu schaffen.

In Hongkong, Shanghai, Singapore und anderen Großstädten Ostasiens ist
die Kleinindustrie fast ganz in die Hände der Chinesen übergegangen,
denn der Europäer kann mit ihnen nicht konkurrieren. Der Bedarf
an Kleidern und Schuhwerk für die dort ansässigen Europäer wird
größtenteils von Chinesen geliefert, die sich auch in diesen Sachen als
sehr flinke, verläßliche und äußerst anspruchslose Arbeiter erweisen.
Für neue Kleider, Wäsche oder Schuhe Maß zu nehmen, ist nicht ihre
Sache; aber sobald ich ihnen ein europäisches Kleidungsstück als
Muster mitgab, verfertigten sie danach in der kürzesten Zeit genau das
gleiche Kleidungsstück zu erstaunlich billigen Preisen. Ganze Anzüge
aus guten europäischen Stoffen wurden mir in Shanghai und Singapore für
zehn bis zwölf Silberdollars (nach dem gegenwärtigen Werte zwanzig bis
fünfundzwanzig Mark) binnen vierundzwanzig Stunden geliefert. Nur muß
in kleineren Orten darauf Bedacht genommen werden, diesen bezopften
Kleiderkünstlern nicht etwa geflickte Kleider als Muster mitzugeben,
weil das neue Kleidungsstück dann gewiß den gleichen Flickschaden an
der gleichen Stelle zeigen würde.

[Illustration]



Wie die chinesischen Jungen das A B C lernen.


Wie in den mohammedanischen Ländern, braucht man auch in China die
Kinderschulen nicht lange zu suchen; schon aus der Ferne künden sie
sich durch einen Heidenlärm an, und es ist geradezu erstaunlich,
welches Geschrei die kleinen kahlrasierten sechs- bis achtjährigen
Rangen entwickeln können. Gewöhnlich sitzen ihrer nicht mehr als
zwanzig bis dreißig in einer Schule, aber man könnte glauben, sie wären
von der zehnfachen Zahl, so kräftig sind ihre Lungen. Vom frühen Morgen
bis nach Sonnenuntergang schreien sie sich ihre Kehlen aus, Tag für
Tag, Monat für Monat, ohne sonntägliche Unterbrechung, ohne Ferienzeit,
denn diese schönste Zeit der europäischen Schuljugend ist in China
unbekannt. Zu Neujahr ist Schulanfang, und kurz vor dem nächsten
Neujahr geht der Kursus zu Ende, um nach den Festlichkeiten neuerdings
zu beginnen. So geht es drei, sechs, zehn Jahre lang, je nach der
Schulbildung, welche die chinesischen Eltern ihren Söhnen zukommen
lassen wollen. Ihren Söhnen allein, denn die Töchter sind im Reiche der
Mitte von der Schulbildung ausgeschlossen. Sie gehören in das Haus,
nicht ins Leben, und selten begegnet man einer Chinesin, die geläufig
lesen und schreiben kann.

[Illustration: Dorfjugend am Wege.]

Bei meinen Spaziergängen durch Canton wollte ich auch diese
chinesischen Kinderschulen kennen lernen, allein der Besuch eines
Europäers hätte wohl Lehrer wie Schüler befangen gemacht. So trachtete
ich, Gelegenheit zu erhalten, sie unbemerkt zu beobachten. Gegenüber
einem der vielen gemauerten, mehrstöckigen Pfandhäuser, welche
das Häusermeer der Zweimillionenstadt überragen, befand sich ein
kleines, einstöckiges Häuschen. Das untere Stockwerk wurde von einem
Kastenverfertiger eingenommen, der den ganzen lieben Tag an seinen
Kisten und Kasten hämmerte. Das obere Stockwerk hatte er an einen
Privatlehrer vermietet, der etwa zwanzig schlitzäugige Söhnchen des
Himmels in den Lehren des Confucius unterrichtete. Mein Dolmetscher
hatte von dem Pfandhausbesitzer die Erlaubnis für mich erwirkt, einen
Vormittag im ersten Stock seines festen, turmartigen Gebäudes zubringen
zu dürfen. Ich schloß die schweren Holzläden des der Schule gerade
gegenüberliegenden Fensters und stellte mich an das Guckloch. Das
Schulzimmer war nur etwa ein Meter von mir entfernt, und ich konnte es
ganz übersehen.

Der Mentor war bereits am Werk: ein alter Mann mit ungeheurer Brille
auf der Nase, über welche er beim Lesen hinwegguckte. Alle Lehrer,
die ich später in anderen Städten zu sehen bekam, trugen Brillen,
nicht etwa ihrer schlechten Augen wegen, sondern als Zeichen ihrer
Gelehrsamkeit und größeren Autorität. Neben meinem Lehrer stand ein
kleines Tischchen, auf dem sich ein langes elastisches Bambusröhrchen
befand. Der Zweck desselben ist bekannt. Auch in Europa weiß es jeder
Schuljunge. In einer Ecke der hinteren Wand stand etwa ein Meter hoch
vom Boden ein spannenlanges Holztäfelchen, mit einigen chinesischen
Schriftzügen bedeckt, wie mir mein Dolmetscher erklärte, zu Ehren des
Confucius. In der anderen Ecke bemerkte ich eine scheußliche Fratze
auf Papier gemalt, den Gott der Schulweisheit darstellend. Vor beiden
standen mit Sand gefüllte Töpfe, in denen einige Räucherkerzchen
glimmten. Der Rest der Schulstube wurde von etwa zwei Dutzend kleinen
Tischchen und Stühlen für die Schüler eingenommen; die Jungen standen
in Reihen vor dem Lehrer und schrieen laut die Sätze nach, die er
ihnen aus einem kleinen Buche vorsagte. Dabei schlenkerten sie mit
den Händen und tanzten von einem Fuße auf den andern, daß die langen
Scheitelzöpfchen ihrer sonst kahlrasierten Schädel wie Uhrenpendel
hin- und herbaumelten. In einer Hand trug jeder ein kleines rotes
Zettelchen, mit einigen Schriftzeichen bedeckt, auf welche mitunter
ein Blick geworfen wurde. Von Zeit zu Zeit kehrte die ganze bezopfte
Gesellschaft zu ihren Sitzen zurück, augenscheinlich um das eben vom
Lehrer Gehörte auswendig zu lernen. In sitzender Stellung konnten die
Jungen nicht so gut mit den Beinen strampeln und die Arme bewegen,
dafür schüttelten sie die Köpfe oder wiegten den Oberkörper hin und
her und schrieen dabei nach Leibeskräften ihre Lektion herunter.
Das verhinderte den bebrillten Lehrer aber nicht, allmählich
einzuschlummern. Zuerst schien es, als würde er in dem vor ihm auf
dem Schoße liegenden Büchelchen lesen; dann begann er mit dem Kopfe
zu nicken, wie eine chinesische Porzellanfigur mit beweglichem Kopf,
und endlich schlief er ganz fest, trotz des Gebrülles rings um ihn.
Mitten während der Schulstunde trat ein verspäteter Schüler ein,
was die anderen zu noch stärkerem Schreien veranlaßte. Der Lehrer
erwachte. Zornig blickte er auf den kleinen putzigen Nachzügler, der
schüchtern vor das Bild des Weisheitsgottes trat und sich davor auf
die Knie werfend mit der Stirn den Boden berührte; dann bezeigte er
dem Confuciustäfelchen und schließlich auch dem Lehrer die gleiche
Verehrung. Aber dieser nahm den Jungen sehr ungnädig auf. Ihn bei den
Kleidern packend, legte er ihn über seine Knie und drosch mit dem
Bambusrohr recht unbarmherzig auf ihn los. Die anderen Schüler wagten
es gar nicht, aufzublicken. Hatte einer von ihnen seine Lektion
erlernt, so trat er vor den Lehrer, reichte ihm das rote Zettelchen
und plapperte dann den Inhalt herunter, aber nicht mit der Vorderseite
dem Lehrer zugewandt, wie bei uns, sondern mit der Kehrseite. Bei den
Chinesen ist eben alles umgekehrt.

[Illustration: Beim Schreiben und Tuscheanreiben.]

Die letzte Schulstunde wurde dem Schreiben gewidmet. Jeder Schüler
hatte vor sich auf dem Tische ein kleines Schreibheft aus dünnem,
durchscheinendem Papier, eine Tuschschale, ein Stückchen Tusche
und einen Haarpinsel mit Bambusstiel. Der Lehrer verteilte kleine
Schreibunterlagen mit einigen chinesischen Schriftzeichen; diese wurden
unter das letzte Blatt des Heftes geschoben (die Chinesen schreiben
bekanntlich von oben nach unten, von hinten nach vorn), und jeder
Schüler malte nun mit schwarzer Tusche die durch das dünne Papier
sichtbaren Schriftzeichen mit ziemlicher Gewandtheit nach, ohne daß
sie dabei ihren Arm auf den Tisch legten, sondern ganz frei hielten.
War eine Seite damit bedeckt, so wurde die Uebung auf der zweiten von
neuem begonnen, während der Lehrer von Schüler zu Schüler schritt und
die Reihenfolge der einzelnen auszuführenden Striche erklärte. Jedes
der zahllosen Schriftzeichen der chinesischen Sprache besteht nämlich
aus verschiedenen Strichen, viele darunter haben deren sogar dreißig
oder mehr, und die unrichtige Stellung auch nur eines einzigen Striches
würde den Sinn des ganzen Zeichens verändern. Ebenso ist es auch nicht
einerlei, ob man das Zeichen von oben oder unten oder in der Mitte zu
malen beginnt; der unrichtige Anfang erschwert das Malen des ganzen
Zeichens, ähnlich wie es bei unserer Schrift der Fall ist, wenn wir ein
Wort mit einem Buchstaben in der Mitte zu schreiben beginnen würden.
Etwas nach zehn Uhr vormittags wurde der Unterricht für eine Stunde
unterbrochen, die Jungen packten ihre Siebensachen zusammen und gingen
nach Hause, nicht lärmend und schreiend und lachend, wie zuweilen
unsere Schüler, sondern ernst und gravitätisch. Wieder die verkehrte
Welt!

Die Schulstube war nun leer, und mein Dolmetscher führte mich
hinüber. Die Tische und Sitze waren nicht beschmutzt, bekritzelt
und zerschnitten, wie jene unserer Schulen, sondern von makelloser
Reinheit. Auf dem Tische des Lehrers lag das Buch, aus welchem er
seine Weisheit schöpfte, dasselbe Buch, das ich später in Shanghai, in
Nanking und anderen Städten Chinas überall in Verwendung finden sollte
und das den Chinesen seit tausend Jahren unverändert von Generation zu
Generation als Urquell ihres Wissens dient. Ein Zeitgenosse Karls des
Großen war sein Verfasser. Mit einer gewissen Ehrfurcht nahm ich das
Buch zur Hand. In der chinesischen Schrift giebt es bekanntlich keine
Buchstaben, sondern jedes Wort, jeder Begriff hat sein eigenes Zeichen.
Immerhin ist es befremdend, daß die Tausende von Millionen chinesischer
Schulkinder, welche seit dem neunten Jahrhundert nach diesem Lehrbuche
unterrichtet worden sind, als ersten Anfang, unserem ABC entsprechend,
gleich die philosophischen Lehren des Confucius eingetrichtert bekommen
haben. Der erste Satz dieses Sant-tsz-king genannten Lehrbuches lautet
nämlich folgendermaßen:

    „~Dschin tschi tsu, sing pun schen
    sing siang kin, si siang yeten~”.

Da stand es in den eigentümlichen, verzwickten Hieroglyphen, jedes
Zeichen eine Art Rösselsprung mit Strichlein und Punkten, dick
und dünn, keilförmig oder gebogen, mit Quadrätchen und Dreiecken
dazwischen, ohne irgendwelche Anleitung zur Erforschung des Rätsels,
ein Dutzend Rösselsprungfiguren in vertikalen Reihen untereinander.
Mein Dolmetscher sagte mir den Inhalt her, ohne die Zeichen auch nur
anzusehen, denn ebenso wie jeder andere Chinese, vom Kaiser bis zum
letzten Handwerker, hatte auch er als Kind dieses ABC des chinesischen
Unterrichtswesens auswendig lernen müssen. Die Uebersetzung lautete:

    „Menschen sind bei ihrer Geburt von Natur aus gut,
    Im praktischen Leben weichen sie weit voneinander ab”.

Dann folgen gelehrte, tiefsinnige Sätze über die Notwendigkeit der
Kindererziehung und die Art, wie sie erfolgen soll, endlich einige
Fundamentallehren, z. B.:

    „Es giebt drei Mächte -- Himmel, Erde, Mensch.

    Es giebt drei Lichter -- Sonne, Mond und Sterne.

    Es giebt drei Bande -- zwischen Fürst und Beamten: Gerechtigkeit,
    zwischen Sohn und Vater: Liebe -- zwischen Mann und Weib: Eintracht.

    Menschlichkeit, Gerechtigkeit, -- Anstand, Weisheit, Wahrheit:
    diese fünf Kardinaltugenden muß man beachten.
    Reis, Hirse, Hülsenfrüchte, Weizen, Roggen und Gerste --
    sind sechs Lebensmittel, mit denen die Menschen sich ernähren.

[Illustration: Das chinesische ABC.]

    Gegenseitige Liebe zwischen Vater und Sohn, Eintracht zwischen Mann
    und Weib, vom älteren Bruder Güte, vom jüngeren Bruder Achtung;

    Ordnung zwischen älteren und jüngeren Leuten, Freundschaft zwischen
    Gefährten, vom Fürsten Rücksicht und vom Minister Treue:

    diese Pflichten sind allen Menschen auferlegt”.

Dieser Art sind die Sätze, welche alle chinesischen Jungen auswendig
zu lernen haben, ohne auch nur ein Wort davon wirklich zu verstehen,
denn sie sind in der alten klassischen Sprache der Chinesen verfaßt,
die von den vielen Dialekten, wie sie heute in dem ungeheuren Lande
gesprochen werden, mitunter ebenso verschieden ist, wie etwa Lateinisch
vom Deutschen. Der Unterricht der Chinesen beginnt also etwa ebenso,
als würde man unseren des ABC unkundigen Schülern einen lateinischen
Klassiker, etwa Cicero, in die Hände geben und z. B. mit dem Satz
beginnen:

    ~Homo sum; humani nihil a me alienum puto --~,

wobei man ihnen sagt, wie die einzelnen Wörter ausgesprochen werden.
Aehnlich hat es ja wirklich der Dichter des Verlorenen Paradieses,
der blinde Milton gethan, der sich von seinen Töchtern lateinisch
vorlesen ließ, ohne daß sie selbst ein Wort davon verstanden; aber sie
kannten doch zum mindesten die Buchstaben und ihre Zusammensetzung zu
Wörtern; nach der chinesischen Lehrmethode aber müssen die Kinder das
Wort nicht nach den einzelnen Schriftzeichen, aus denen es besteht,
sondern nach seinem allgemeinen Aussehen erkennen und die Aussprache
wissen, ohne auch nur von einem den Sinn, die Bedeutung zu verstehen.
Wie geplagt müßte ein europäischer Schriftsetzer sein, der, ohne jemals
ein chinesisches Schriftzeichen gesehen zu haben, ein chinesisches
Buch in Typen setzen sollte! Aber er wäre noch glücklich zu preisen
im Vergleich zu den jugendlichen Söhnen des Reiches der Mitte, welche
außerdem noch die Aussprache jedes dieser Tausende und Abertausende von
Schriftzeichen kennen müssen.

Tausende und Abertausende von Zeichen! Mit jenen des San-tsz-king ist
es nämlich lange nicht abgethan. Denn auf dieses erste Lehrbuch folgt
ein zweites mit ähnlichem Inhalt und tausend Wortzeichen, von denen
nicht zwei in Aussprache oder Bedeutung einander gleich sind. Das Buch
stammt aus dem Jahre 550 nach Christi Geburt, also aus der Zeit der
Langobardenzüge über die Alpen. Und haben die chinesischen Jungen auch
dieses von Anfang bis zu Ende auswendig gelernt, so müssen sie dasselbe
mit den vier Büchern und fünf Klassikern thun, welche die großen
Schätze der chinesischen Litteratur enthalten.

Der dritte Band der fünf Klassiker, Lun-yü, enthält die wichtigsten
Gespräche von Confucius und darunter auch das in Deutschland so viel
gebrauchte Sprichwort: „Was du nicht willst, das man dir thut, das thue
auch den anderen nicht”.

In diesen sogenannten neun heiligen Büchern befinden sich 4601
verschiedene Wortzeichen, von denen manche, wie gesagt, bis zu dreißig
verschieden gestellte Striche, Punkte, Keile enthalten, wobei
die falsche Stellung eines einzigen den Sinn des ganzen Zeichens
ändert. Die chinesische Schriftsprache enthält im ganzen gegen
200000 verschiedene Wortzeichen, von denen jedoch die größte Zahl
veraltet ist. Das große Wörterbuch von Kang-hyi enthält 44449 der
gebräuchlichsten.

Erst wenn die Jungen eines dieser Bücher nach dem anderen auswendig
gelernt haben, erfolgt die Erklärung des Sinnes durch den Lehrer, wobei
gewöhnlich die Kommentare von Tschu-fu-tze benützt werden, welche zur
Zeit der Kreuzzüge geschrieben wurden. Das ist das Um und Auf des
Wissens, welches der chinesischen Jugend beigebracht wird. Mathematik,
Geographie, Geschichte, Religion, ihre eigene Umgangssprache, irgend
welche praktische Wissenschaften sind dem chinesischen Lehrplan absolut
unbekannt, und selbst Leute, welche von den Chinesen als die größten
Gelehrten angesehen werden, haben häufig nicht die leiseste Ahnung von
der Lage der Kontinente, geschweige denn der einzelnen Länder. Alles,
was jenseits der Grenzen des himmlischen Reichs liegt, heißt einfach
Barbarei, und nur die Mandarine, welche in den offenen Häfen Dienst
thun, kennen die Bedeutung, wenn auch nicht die Lage von Deutschland,
England, Rußland. In all diesen Dingen, welche bei uns jedem
Schuljungen der ABC-Klassen geläufig sind, herrscht eine ebensolche
Unkenntnis wie etwa bei unseren ABC-Schülern über Confucius. In China
giebt es keinen staatlichen Unterricht, keine Staats- oder städtischen
Schulen, Schulzwang, Schulklassen, Diplome, Schulferien und Prüfungen,
ausgenommen die allgemeinen Wettprüfungen für die Beamtenstellen.
Aber dennoch hat jede Stadt, jedes Dorf eine bestimmte Anzahl von
Privatschulen, welche gewöhnlich von durchgefallenen Prüfungskandidaten
für Beamtenposten unterhalten werden. Sie erheben von den Schülern ein
jährliches Schulgeld von zwei bis fünf Taels (etwa sechs bis fünfzehn
Mark), was ihnen bei einer Schülerzahl von zwanzig bis vierzig ein
spärliches Jahreseinkommen von hundert bis hundertundfünfzig Taels,
oft auch weniger, gewährt, also ein ähnliches Schullehrerelend wie in
Ländern, die uns näher liegen. In größeren Städten kommt es häufig vor,
daß die wohlhabenderen Einwohner einer Straße oder eines Stadtviertels
sich zusammenthun und einen eigenen Lehrer zum Unterricht für ihre
Kinder nehmen, zuweilen geschieht dies auch von einzelnen reichen
Familien allein, oder von kaufmännischen Zünften, welche gewöhnlich
einen Raum ihres Zunfthauses oder Klubs für Schulzwecke einrichten.
Auch die in China sehr ausgebreitete Wohlthätigkeit hat viele Schulen
geschaffen, aber der Unterricht ist in allen derselbe. Auch in den
höheren Schulen, welche in manchen Großstädten, wie z. B. in Canton,
Shanghai, Tientsin, in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, giebt
es keine anderen Lehrbücher; die wichtigste Fertigkeit, die dort
gelehrt wird, ist der elegante Stil, die Dichtkunst und Korrespondenz;
bei der letzteren kommt es aber nicht darauf an, eigene Gedanken
leicht und klar niederzuschreiben, sondern die größtmögliche Zahl
stereotyper Wendungen und Floskeln auswendig zu lernen, in welchen der
Schreiber sich und seine Familie möglichst herabzusetzen, die Person
des Adressaten in den übertriebensten Ausdrücken herauszustreichen
sucht. Auch die neugegründeten Hochschulen und Universitäten in
Peking, Tientsin, Nanking sind keineswegs als solche aufzufassen,
doch gehen sie weiter als die gewöhnlichen chinesischen Schulen und
zeigen Mathematik, Geographie, Geschichte und vor allem moderne
Sprachen unter ihren Lehrfächern. Soll ein Junge in Arithmetik, in
verschiedenen Künsten und Fertigkeiten ausgebildet werden, so wird er
nach mehrjährigem Besuch einer der oben geschilderten Schulen zu einem
Handelsmann oder Gewerbetreibenden in die Lehre gegeben. Was er ins
Leben an Kenntnissen mitbringt, sind Lesen und Schreiben, aber auch
das nur in beschränktem Maße, das desto größer wird, eine je größere
Zahl von Jahren er in einer Schule Unterricht genossen hat. Die unteren
Stände begnügen sich damit, ihre Jungen zwei, drei Jahre in die Schule
zu schicken, Gärtner, Bootsleute, Kulis, Lastträger thun auch das
nicht. Im allgemeinen kann man annehmen, daß etwa dreißig Prozent
mindestens ihren Namen schreiben und die einfachsten Aufschriften,
Firmenschilder und dergleichen lesen können, etwa zehn bis zwanzig
Prozent, je nach der Provinz, können einfache Briefe schreiben, und
nur vielleicht fünf Prozent beherrschen die Sprache und Litteratur
einigermaßen. Sie genießen dafür aber auch bei ihren Mitbürgern das
größte Ansehen.

Nach dem Buch der Gebräuche, das seit vielen Jahrhunderten von den
Chinesen nach Thunlichkeit befolgt wird, soll der Knabe im siebenten
Lebensjahr die Kardinalpunkte des Wissens und das Zählen lernen; aber
es darf ihm nicht gestattet werden, auf derselben Matte (mit den
Eltern) zu sitzen, oder an demselben Tische zu essen; im achten Jahre
muß ihm gelehrt werden, Näherstehende zu bedienen und anderen vor
sich selbst den Vorrang zu lassen; mit zehn Jahren muß der Knabe zu
Privatlehrern in die Schule geschickt werden und dort Tag und Nacht
bleiben, um Arithmetik und Schreiben zu lernen; er muß dort einfache
Kleider tragen und sich anständig, aufrichtig und zweckentsprechend
benehmen. Mit dreizehn Jahren soll der Knabe sich mit Musik und
Dichtkunst befassen; mit fünfzehn Bogenschießen und militärische Künste
lernen. Dann ist er mit zwanzig Jahren so weit, um als Mann ins Leben
zu treten und noch mehr Anstandsregeln zu lernen, sowie seinen Kindes-
und Geschwisterpflichten treu nachzukommen; mit dreißig Jahren soll er
heiraten und die Leitung von Geschäften übernehmen; mit vierzig Jahren
kann er in den Staatsdienst eintreten, und wenn der Landesfürst seine
Regierungspflichten mit Weisheit erfüllt, soll er ihm treu dienen,
sonst nicht. Mit fünfzig Jahren kann er zum Rang eines Ministers
erhoben werden, und mit siebzig Jahren muß er sich ins Privatleben
zurückziehen.

Diese Vorschriften lesen sich sehr schön, aber mit ihrer Ausführung
kann es natürlich nicht sehr genau genommen werden. Immerhin steht der
Lebenslauf der Chinesen trotz der einseitigen Schulbildung auf einer
viel höheren Stufe, als es gewöhnlich angenommen wird. Dank ihrer guten
und strengen häuslichen Erziehung und ihrer Beobachtungsgabe lernen
sie zu Hause von praktischen Dingen vielleicht ebensoviel wie in den
Schulen von den alten Klassikern, und das Auswendiglernen der letzteren
stärkt ihr Gedächtnis in hervorragender Weise. Welch große Fähigkeiten
in der jungen Welt Chinas schlummern und nur geweckt zu werden
brauchen, zeigt der überraschende Erfolg und das rasche Vorwärtskommen
jener, welche in den vielen christlichen Missionsschulen Chinas, in den
von Europäern geleiteten Schulen in den offenen Vertragshäfen, dann
in jenen der ostasiatischen Kolonien erzogen werden. Ich habe deren
in Shanghai, Hongkong, Batavia und vor allem in Singapore besucht,
und die Lehrer waren des Lobes voll über die Lernbegierde und das
verhältnismäßig rasche Auffassungsvermögen der chinesischen Schüler.
Am meisten Gelegenheit, dies zu beobachten, bietet wohl das großartig
angelegte, reich ausgestattete Raffle’s Institute in Singapore, wo
ich selbst mehrere Tage in den verschiedenen Klassen unter mehreren
Hunderten chinesischer Schüler zubrachte. Junge Chinesen, welche in
europäischen oder amerikanischen Lehranstalten ausgebildet wurden,
haben ihre Lehrer in Erstaunen gesetzt und bei den Prüfungen die besten
Studenten der kaukasischen Rasse in mancher Hinsicht übertroffen.

[Illustration]



Meine erste chinesische Mahlzeit.


In den ersten Tagen meines Aufenthalts in Canton machte ich die
Bekanntschaft eines der reichsten und vornehmsten Kaufherren der
chinesischen Millionenstadt und stattete ihm in seinem aus Dutzenden
von Hallen und Häusern bestehenden Heim meinen Besuch ab. Kaum war ich
wieder in mein Hotel, auf der Insel Shameen gelegen, zurückgekehrt,
so fand sich auch schon ein langbezopfter Bote mit einem großen roten
Papierblatt bei mir ein, auf welchem einige chinesische Hieroglyphen
verzeichnet waren. Mein Dragoman las: „Am sechsten Tage des Mai wird
ein bescheidenes Fest das Licht deiner Gunst erwarten. Grüße von T.
T.” -- also eine Dinereinladung, wie ich sie gewünscht hatte. Nur war
die Stunde nicht angegeben. Mein Dolmetscher erklärte mir, diese würde
später mitgeteilt werden. Am Morgen des sechsten Mai erschien in der
That wieder ein Diener mit einer zweiten roten Karte, auf welcher die
Speisestunde, sieben Uhr abends, angegeben war.

[Illustration: Chinesische Theetasse.]

Als ich eine halbe Stunde früher im Begriff stand, meine Sänfte
zu besteigen, erschien ein Abgesandter meines Gastgebers, um mich
nach dessen Haus zu geleiten. Am Eingange zu seiner mit einer hohen
grauen Ziegelmauer umschlossenen Wohnung empfing mich der Wirt in
eigener Person mit einer tiefen Verbeugung, indem er gleichzeitig die
zusammengeballten Hände zur Stirn erhob. Er war in einen langen Talar
von schwerer Seide gekleidet und trug auf seinem bezopften Haupte den
schildförmigen Tatarenhut mit langer roter Seidenquaste. In seinem
Empfangssalon, geschmückt mit herrlichen Ebenholzschnitzereien,
Lampions und Vasen mit künstlichen Blumen, befanden sich bereits
einige chinesische Gäste, sowie ein junger Engländer, der mit mir
auf demselben Schiffe nach Canton gekommen war. Wir wurden allen
Anwesenden vorgestellt, und diese beeilten sich, die gewöhnliche
Frage an uns zu richten, welches denn unser „ehrenwertes” Alter wäre.
Vor mir, dem Vierziger, machten die Zopfträger tiefere Verbeugungen
als vor dem viel jüngeren Engländer. Natürlich mußten auch wir uns
nach dem ehrenwerten Alter der Chinesen erkundigen. Mr. Clark, mein
Engländer, schien überrascht, als unser Gastherr ihm sein Alter als
Sechziger nannte, und auf die Frage nach der Ursache seines Staunens
ließ Clark ihm sagen, er sähe viel jünger aus, er hätte ihn nicht für
so alt gehalten. Konsternation auf allen Gesichtern. Diese europäische
Höflichkeitsäußerung zog hier entschieden nicht, Clark hätte besser
gethan, ihm zu sagen, daß er ihn für einen Achtziger hielte. Während
es in Ländern, die uns Europäern näher liegen, Sitte sein soll, daß
besonders die Damen von ihrem Alter einige Jährchen abzwacken, hören es
die Chinesen sehr gern, wenn man ihnen ein paar Jahre mehr giebt.

[Illustration: Im Herrensalon.]

Sieben Uhr. Schon hatten wir auf Damengesellschaft verzichtet, als
plötzlich aus dem benachbarten Raum sechs höchst elegant gekleidete
junge Damen trippelten, mit Füßchen kaum so lang wie mein Zeigefinger,
mit Perlenschnüren und Schmetterlingen in dem glattgekämmten, glänzend
pomadisierten Haar, weißgeschminkten Gesichtern und brennroten
Lippen, reizende kleine Wesen, deren Erscheinen sofort alle Gesichter
aufheiterte. Hinter ihnen schritten ebensoviele noch jüngere Mädchen in
einfacherer Kleidung einher, die an der Thür stehen blieben. Jede hielt
eine Wasserpfeife und eine glimmende Lunte in der Hand. Sie waren die
Dienerinnen der Damen.

Der Ausdruck Dame ist hier nicht recht gewählt, denn die Frauen
der Chinesen sind bei den Mahlzeiten, an denen andere Männer, ob
Chinesen oder Europäer, teilnehmen, niemals zugegen. Da aber die
Bewohner des Reiches der Mitte sich bei solchen Festlichkeiten auch
gern unterhalten, so ziehen sie an Stelle ihrer Frauen öffentliche
Sängerinnen bei, von jener Sorte, die nach unseren Anschauungen den
Namen Dame nicht verdienen. Nicht etwa, daß sich die anwesenden
Chinesinnen irgend welche Freiheiten in der Toilette oder im Benehmen
gestattet hätten. Beileibe nicht. Ihre langen, blauseidenen Gewänder,
über und über mit den köstlichsten Stickereien bedeckt, reichten
vom Halse bis an die Knöchel, und niemals würde sich bei solchen
Gelegenheiten auch die Schlimmste dieser „Blumen” nur halb so viel
Toilettefreiheiten erlauben wie unsere Damen der Gesellschaft. Die
sechs Blumen unserer Tafelrunde gebärdeten sich sittsam und bescheiden,
und als endlich der Gastherr uns einlud, den Speisesaal zu betreten,
trippelten sie alle zusammen uns Männern nach. In China würde es für
Verrücktheit oder gar Unverschämtheit angesehen, wollte man einer Dame
den Arm reichen, um sie zu Tisch zu führen.

Der Speisesaal war ein geräumiges, hohes Gemach, dessen eine Wand ganz
aus kuriosen, durchbrochenen Ebenholzschnitzereien bestand, mit runden,
weiten Oeffnungen, durch die wir den schönen Garten und Lotosteich des
Gastherrn sehen konnten. Die Tafel stand der gegenüberliegenden Seite
etwas näher und war zickzackförmig angeordnet; die Sitze befanden
sich aber nur an der äußeren Langseite, sowie an den Stirnen, während
die innere Langseite frei blieb. Den chinesischen Gastmahlzeiten
pflegen nämlich Vorstellungen von Sängerinnen, Zauberkünstlern und
dergleichen zu folgen, und eine vollständige Besetzung der Tafel würde
den Ausblick auf dieselben verhindern. Große farbige Laternen hingen an
Seidenschnüren von der Decke; die Wände bedeckten lange Papierstreifen
mit Inschriften und Sinnsprüchen, und rings um den Saal waren kleine
Ebenholztischchen aufgestellt mit ebensolchen, schön geschnitzten
Stühlen zu beiden Seiten. Auf einem dieser Tischchen stand ein großer
Kohlenbehälter mit einem Kessel darüber für den Wein, ein anderer
größerer Tisch diente als Serviertisch, dicht besetzt mit Schalen,
Schüsseln und Täßchen.

[Illustration: Opiumkneipe in Nanking.]

Es war köstlich anzusehen, unter welchen Verbeugungen und Zeremonien
die Gäste Platz nahmen. Der Hausherr hatte mir den Ehrenplatz zu
seiner Linken angewiesen; die Höflichkeit erfordert es, zu warten, bis
der Gastgeber Platz genommen hat, er aber lud seinerseits wieder die
anderen Teilnehmer zum Sitzen ein, und es vergingen einige Minuten, ehe
die Verbeugungen ihr Ende erreichten. Mir zur Linken hatte eine der
kleinen Dämchen Platz genommen, die fortwährend kicherte und mit ihren
Kolleginnen Bemerkungen austauschte, die wohl uns Fremde betrafen. Der
Tisch war über und über mit Speisen und Blumen bedeckt; große Schüsseln
mit Enten, Schinken, Gemüsen und Früchten, und über jede Schüssel waren
noch Blumen gestreut. Die herrlichen Blumenvasen, Schüsseln, kleinen
Thee- und Weintäßchen, die vor jedem Gaste standen, waren aus
feinstem Porzellan. Zu meinem Schrecken bemerkte ich, daß neben meinem
Tellerchen nicht Messer und Gabel, sondern nur Chop Sticks lagen. Weiß
der geneigte Leser, was Chop Sticks sind? Die Chinesen ebenso wie die
Japaner essen nur mit zwei etwa zwanzig Centimeter langen Stäbchen, die
den Netznadeln unserer Damen so ziemlich gleichen. Gewöhnlich sind sie
aus Holz geschnitzt, in diesem Falle waren sie aus Elfenbein und hatten
überdies noch hübsch ciselierte silberne Köpfe. Aber was nützte mir das
kostbare Material, da ich auf ihren Gebrauch noch nicht eingedrillt
war? Die Chinesen nehmen zwei Sticks in eine Hand, derart, daß der
Mittelfinger zwischen ihnen liegt, und handhaben sie so geschickt, daß
sie selbst einzelne Reiskörner damit aufnehmen können. So haben sie
es schon vor Jahrtausenden gethan, während unsere Vorfahren noch im
siebzehnten Jahrhundert mit den Fingern aßen und keine Teller kannten.
Wem kommt nicht die Verordnung der großen Kaiserin Maria Theresia in
den Sinn, in welcher sie den Offizieren verbot, an der Hoftafel mit den
Fingern zu essen, oder sich die Nase am Rockärmel abzuwischen? Und doch
machte ich diesmal den Chinesen im stillen einen Vorwurf daraus, daß
sie noch keine Gabeln besaßen, denn wie sollte ich denn all die guten
Dinge essen? Sollte ich wie Ludwig XIII. von Frankreich auch die Finger
gebrauchen? Die Antwort gab mir mein Gastherr selbst, indem er zu
Beginn der Mahlzeit seinen kleinen Porzellanbecher mit warmem Reiswein,
Samschu, d. h. dreimal gebrannt, zur Hand nahm und erklärte, er hätte
auf meinen Wunsch dieses Gastmahl veranstaltet, um mir Gelegenheit
zu geben, die chinesische Küche kennen zu lernen. Dazu gehörten auch
die Chop Sticks. Er hoffe, ich werde dieselben noch recht häufig in
seinem Hause gebrauchen. Darauf leerte er sein Schälchen Wein, und
sich gegen mich verneigend drehte er das Schälchen in seiner Hand um.
In ähnlicher Weise zeigten mir auch die anderen Gäste ihre geleerten
Samschuschälchen, und ich mußte selbstverständlich das gleiche thun.
Der Geschmack des Weines war wie lauwarmer scharfer Sherry.

Neben meinem winzigen Tellerchen lag glücklicherweise noch ein Löffel
von Porzellan und Silber, in seiner Form einem kleinen Kochlöffel nicht
unähnlich; an Stelle der Serviette hatte jeder Gast einige bedruckte
Papierblättchen, wie sie durch die Japaner auch in Europa bekannt
geworden sind, nur kleiner, denn sie dienen nicht als Serviette,
sondern zum Abwischen der Eßstäbchen, die während der Mahlzeit nicht
gewechselt werden. Die schmutzigen Papierchen werden einfach unter den
Tisch geworfen. Vor jedem Gast stand überdies ein kleines silbernes
Schälchen für Gewürze und ein zweites aus schönem blauen Porzellan für
Soya, eine Gewürzsauce, die bei den wenigsten Mahlzeiten fehlt.

Ich hatte schon gefürchtet, daß die schönen Schinken und Gänse, die
vor uns in so leckerer Weise den Tisch zierten, die Mahlzeit bilden
würden; gefürchtet deshalb, weil ich ja kein Messer zum Zerschneiden
der Speisen hatte. Ich wurde aber eines Besseren belehrt, als die
Diener jedem einzelnen Gaste aus der Küche kommende Speisen, schon
in winzige Stückchen zerschnitten, in kleinen Porzellanschälchen
vorsetzten. Was diese Fleischstückchen wirklich waren, konnte ich wegen
der dicken verschiedenfarbigen Saucen, in denen sie schwammen, nicht
ausfinden. Vergeblich bemühte ich mich, mit Hilfe meiner Stäbchen
einzelne Stückchen herauszufischen, zum höchsten Gaudium der kleinen
Mädchen, bis sich endlich mein Gastgeber erbarmte und ein Stückchen
mit den von ihm benutzten Stäbchen aus seiner Schale nahm und mir in
den Mund schob; er that dies nicht sowohl um mir zu helfen, sondern
weil dies bei den Chinesen auch als besondere Auszeichnung gilt. Es
war nicht gerade appetitlich, aber „~in Rome, one must do as the
Romans do~”. Der Geschmack war süßlich, ölig und so widerwärtig,
daß ich den Ehrenbissen am liebsten wieder von mir gegeben hätte. Aber
wie konnte ich die Gastfreundschaft so verletzen! Also herunter damit.
Hätte ich nur ein Gläschen Wasser gehabt! Mit Verlangen blickte ich auf
die schönen Orangen und Leitschis und Mangos, die vor mir aufgetürmt
waren, dabei war ich hungrig wie ein Wolf und konnte es doch nicht
über mich bringen, einen zweiten Bissen hinunterzuwürgen. Vielleicht
brachte der nächste Gang, der uns etwa vorgesetzt wurde, etwas
Besseres. Abermals Fleischstückchen, abermals Sauce, aber so sehr mit
Knoblauch versetzt, daß ich mich mit einem geschickt erwischten Bissen
begnügte. Ich hoffte über diesen zweiten Gang dadurch hinwegzukommen,
daß ich recht lange mit meinen Stäbchen herumfischte. Ja, wenn nur
meine holde Nachbarin nicht gewesen wäre! Kichernd beobachtete sie
meine Versuche, dann erbarmte sie sich meiner, der ich dieses Erbarmen
gar nicht wollte. Sie nahm ein Stückchen aus ihrer Schale und schob es
mir in den Mund. So wurde ich auch während der folgenden Gänge bald
von rechts, bald von links gefüttert, mein Schälchen Reiswein wurde
immer wieder halbgeleert weggenommen und durch ein neues, gefülltes
ersetzt. Nun bemerkte ich erst, auf welche Weise dies geschah: Auf
einem Seitentischchen standen zwei Weingefäße in heißer Kohlenasche.
Die halbgeleerten Schalen wurden bei jedem Gange vom Tische genommen
und die Reste in das eine Gefäß zusammengegossen; dann wurden die
Schalen aus dem anderen wieder gefüllt. War dieses leer geschöpft, so
holte sich der Mundschenk den Wein aus dem anderen Gefäß, in welchem
die zusammengeschütteten Reste mittlerweile wieder warm geworden waren.

Neun Uhr. Immer noch wurden neue Gerichte aufgetragen, es mochte wohl
der zwölfte oder vierzehnte Gang dieses Banketts sein, und gar keine
Aussicht auf ein baldiges Ende. Die Geschichte war recht langweilig.
Mein Nachbar zur Rechten schob mir unter höflichen Verneigungen immer
neue Bissen in den Mund, meine Nachbarin zur Linken kicherte fröhlich
weiter und trank mir zu. Die anderen Gäste begannen ihre Befriedigung
über die gebotenen Leckerbissen in einer Sprache zum Ausdruck zu
bringen, zu der man keine chinesische Grammatik braucht, biedere,
kräftige Naturlaute, die so recht von Herzen zu kommen schienen.
Es war aber auch gar nicht anders möglich auf die vielen Zwiebeln,
Knoblauch, die verschiedenen Oele, Fette, Wurzeln, Gemüse, Kräuter,
Suppen, Leckereien, Präserven, Saucen, Fleisch- und Fischstückchen
und den warmen Wein. Meine Odaliske bestand fest darauf, mit mir zu
konversieren. Sie fragte mich die allermerkwürdigsten Dinge, die von
ihrem Nachbar zur Linken, meinem Dolmetscher, in erbärmliches Englisch
übertragen wurden. Ich suchte meine Antworten durch Kopfnicken und
Zeichen aller Art auszudrücken, um nicht meinen Dolmetscher durch
englische Antworten in Verlegenheit zu bringen. Sprach ich wirklich mit
ihm, so lachten die Dämchen alle laut auf und schrieen ~yes, yes~,
was es nur Platz hatte. Clark benutzte fortwährend das Taschentuch,
um die in seinen Mund geschobenen Bissen auf unmerkliche Weise zu
beseitigen. Sein ganzes Diner mußte unter dem Tische liegen.

[Illustration: Hausmusik.]

Die Hitze, der ~odeur chinois~, der in dem Raume herrschte, der
warme Wein, die Gerüche der Speisen hatten den Aufenthalt für uns
zwei Kaukasier geradezu unerträglich gemacht, und wir ermunterten
uns gegenseitig durch Zeichen, den Tisch für einige Augenblick zu
verlassen. Der Gastherr schien diese Zeichen zu verstehen, denn er
selbst stand nun auf und sprach unter einer Verbeugung gegen mich
einige Worte, auf welche die ganze Gesellschaft sich von den Sitzen
erhob. Endlich! Erleichtert sprangen wir auf unter dem Eindruck, die
Sache wäre beendigt. Zeremoniös kam aber der Dolmetscher auf mich zu,
um mir zu sagen, der Hausherr wünsche uns Gelegenheit zu geben, die
jungen Damen, ausgezeichnete Sängerinnen Cantons, zu hören und ein paar
Pfeifen Tobak zu rauchen; dann würden wir das Diner fortsetzen. Welcher
Schrecken! Es stand uns also noch eine zweite Auflage Knoblauch und
Zwiebel, Oel und Fett bevor! Wir begaben uns in den anstoßenden Raum,
wo die Dienerinnen der Dämchen uns die eigentümlichen Wasserpfeifen
der Chinesen zu rauchen gaben und langbezopfte Aufwärter schön
servierten. Jeder von uns erhielt ein kleines Theetäßchen ohne Henkel,
aber wie eben in China alles verkehrt ist, so stand auch das Täßchen
nicht auf der Untertasse, sondern die letztere lag umgekehrt auf dem
Täßchen und deckte dasselbe zu. Die Aufwärter hoben diesen Deckel auf,
schütteten einige graue Theeblätter in das Täßchen, gossen kochendes
Wasser darüber und legten die Untertasse wieder auf. Wollten die
Gäste den Thee trinken, so faßten sie die heiße Tasse so, daß sie
mit den Fingern gleichzeitig die obenliegende Untertasse ganz wenig
zurückschoben und so festhielten. Durch den offenen Spalt wurde der
Thee mit einem Male ausgeschlürft, während die Theeblätter durch den
Deckel zurückgehalten wurden. Sahne und Zucker werden in China zum Thee
nicht verwendet, bei der vorzüglichen Qualität der Theeblätter durchaus
kein Nachteil.

Als die Sängerinnen ihre monotonen, fortwährend zwischen Dur und
Moll einherschwebenden Gesänge unter Guitarrebegleitung abgeleiert
hatten, ließ der Gastherr einen chinesischen Taschenspieler seine
in der That merkwürdigen Kunststückchen ausführen. Die Abwechselung
war uns sehr willkommen, denn das ~pehng, pehng, pit, pit, pit~
des Guitarregezupfes war nicht länger zu ertragen. Gern hätten wir
uns nach den Vorführungen des Taschenspielers verabschiedet, um dem
zweiten Teil des Diners zu entgehen, aber der Gastherr ließ uns durch
den Dolmetscher sagen, er hätte gerade für dieses zweite Diner einige
chinesische Delikatessen, Schwalbennestsuppe und Haifischflossen,
zubereiten lassen, und so folgten wir denn wieder der bezopften
Gesellschaft in den Speisesaal. Es war zehn Uhr, und während der
ganzen folgenden Stunde wurden uns wieder ein Dutzend Gänge der
verschiedensten Art vorgesetzt: Entenzungen, Schweinsmaul, Garnelen
mit Knoblauch und Zucker zubereitet, kleine Fischchen mit eingemachten
Fichtenzäpfchen, geröstete Lilienwurzeln, Fischhirn mit Pilzen und
anderes. Wo das Englisch meines Dolmetschers zur Erklärung der Speisen
nicht ausreichte, zeichnete er mir die betreffenden Dinger auf eine
Papierserviette. Eine fade schmeckende Speise, die wie Kalbskopf nach
Schildkrötenart zubereitet aussah, wurde mir endlich als die berühmten
Schwalbennester bezeichnet; beim nächsten Gang bekamen wir in kleinen
Schälchen eine schwärzliche Gallerte vorgesetzt, in welcher dunkelrote
Eidotter staken; die Gallerte, von der ich ein Stück mit einem Stäbchen
aufspießte, schmeckte uns doch so sehr nach Schwefelwasserstoffgas, daß
ich mich desselben sofort wieder entledigte; mein Nachbar zog erstaunt
die Augenbrauen in die Höhe, der Dolmetscher machte ein wichtiges
Gesicht und meinte: „~vely good, that vely old egg~” „sehr gut,
das sehr altes Ei” (ich schreibe ~vely~ und nicht ~very~,
weil der Chinese das ~r~ nicht aussprechen kann und statt ~r~
stets ~l~ anwendet). Sehr altes Ei! Ich erfuhr die Zubereitung
dieser Eier aus einem chinesischen Kochbuch. Vielleicht ist sie unseren
Köchinnen von Nutzen: Aus Holzasche, Kalk, Salz, Wasser und einigen
aromatischen Kräutern wird ein dicker Brei bereitet, in welchen die
frisch gelegten Eier gelegt und darin unter hermetischem Verschluß
vierzig Tage lang aufbewahrt werden. Dann sind sie schon genießbar,
aber je länger sie liegen bleiben, desto besser werden sie nach
chinesischen Begriffen, gerade so wie unsere Weine, und ein mehrere
Jahre altes Ei ist das Nonplusultra einer Delikatesse. Solche Eier
waren es, die wir vorgesetzt bekamen!

[Illustration]

Indessen, es ist doch alles Geschmacksache auf unserer Erde.
Ich forderte meinen Dolmetscher auf, mir die Bemerkungen meines
Gastfreundes mitzuteilen, und er antwortete, der letztere hätte
gehört, die Europäer äßen Käse aus Milch von Kühen, Eseln und Schafen
zubereitet. Sie ließen diese Käse auch so lange liegen, bis sie
schimmlig würden und noch viel schlimmer stänken als diese Eier; wie es
denn käme, daß wir gerade die alten Eier schlecht fänden. Ich mußte ihm
darauf meine Antwort schuldig bleiben.

Nach einigen Suppen, mit wohlriechenden Oelen versetzt und gekochten
Nudeln darin, kam eine Speise, die aus dünnen, weichen Knorpeln
zubereitet schien und gar nicht so schlimm mundete. Das waren die
berühmten Haifischflossen, von denen nicht etwa das Fleisch, sondern
nur die weichgekochten Gräten gegessen werden. Die Pausen zwischen den
einzelnen Gängen stillten die anscheinend noch immer hungrigen Gäste
damit aus, daß sie fortwährend getrocknete Melonenkerne knabberten,
die in kleinen Schüsselchen vor ihnen standen, ebenso wie man bei
englischen Mahlzeiten mit Salz gebrannte Mandeln knabbert. Eine Speise,
die bei großen Banketten in China gewöhnlich auf den Tisch kommt, Fisch
in Ricinusöl gebacken, fehlte glücklicherweise diesmal, daß sie aber
thatsächlich serviert wird, geht aus den übereinstimmenden Mitteilungen
der Chinareisenden hervor. Ich habe vier Jahre später in Tsiho, an der
Südgrenze von Petschili, am Hoangho, auch Kuchen vorgesetzt bekommen,
die in Ricinusöl gebacken waren[1].

Auch bei diesem Diner bewahrheitete sich das Sprichwort: „Das Letzte
ist das Beste”. Es kam in Gestalt einer dampfenden Schüssel gekochten
Reises, der uns vorzüglich mundete. Damit war die Mahlzeit beendet.
Es war elf Uhr geworden, und wir verabschiedeten uns mit herzlichem
„Tschin-Tschin” (Heil, Heil!) von unserem Gastgeber und den übrigen
Anwesenden. In unser Hotel zurückgekehrt, ließen wir uns noch eine
Flasche Bier und ein Stück Roquefortkäse gut munden, denselben Käse,
den die Chinesen so sehr verschmähen, und der bei uns als Delikatesse
gilt. Andere Länder, andere Sitten.

Wie ich nachher auch in anderen Städten erfuhr, spielen sich die
Festmahlzeiten der Chinesen, auch jene der Regierungsmandarine in
Peking, in ähnlicher Weise ab wie das geschilderte. Speisen sie allein
oder doch nur in Gesellschaft näherer Freunde, so sind die Mahlzeiten
selbstverständlich viel einfacher, ja, es giebt selbst in Ostasien kaum
eine Nation, die genügsamer und einfacher wäre wie eben die Chinesen.
Nur die Wohlhabenden und die Mandarine gestatten sich zuweilen den
Luxus eines derartig großartigen Banketts, dessen Speisen unter
gewöhnlichen Verhältnissen hinreichen würden, das Menü für einen ganzen
Monat zu füllen.

[Illustration: Eßstäbchen.]


[1] Siehe Hesse-Wartegg, „Schantung und Deutsch-China”, Leipzig, J. J.
Webers Verlag, 1900.



Speisen und Getränke der Chinesen.


Wem kämen beim Lesen der vorstehenden Ueberschrift nicht Ratten, Mäuse,
Katzen und Regenwürmer in den Sinn? Wer hat nicht schon gehört, daß
diese und andere Dinge zu den Leibspeisen der bezopften Söhne des
Reiches der Mitte zählten? Als ich zuerst meinen Fuß auf chinesischen
Boden setzte, graute mir vor den verschiedenen Leckerbissen, die ich
im Laufe meiner Reisen möglicherweise vorgesetzt bekommen würde, und
ich nahm mir fest vor, kein Ragout, keine Fleischspeise mit kleinen
Knochen, und wenn sie noch so lecker aussähe, zu genießen. Als ich
China verließ, war mein Widerwille gegen die Küche der Chinesen
verschwunden, nicht etwa, weil ich mich an die Regenwurm- und
Rattenragouts gewöhnt hatte, sondern einfach deshalb, weil ich selbst
in den Hütten der Landleute statt der genannten ekelhaften Dinge ganz
schmackhafte Mahlzeiten zu genießen bekam.

Freilich ist es nicht zu leugnen, daß der zerlumpte Pöbel in den
chinesischen Großstädten, besonders in Canton und Swatow, nicht nur
Ratten und Hunde, sondern auch noch andere, viel unappetitlichere
Tiere mit Wohlgefallen verzehrt, aber man möge ja nicht glauben, daß
dieselben etwa auf den Mittagstisch der besseren Stände oder gar der
Mandarine kämen. Was wird in unsern europäischen Großstädten nicht
alles verzehrt! Haben wir nicht auch Gasthäuser, in denen Pferdefleisch
und, unter wohlgewürzter Wildbretsauce verborgen, schmackhafte
Katzenragouts verkauft werden? Essen wir etwa nicht auch Schnecken,
Austern, Seespinnen, Tintenfische, faulen Käse, Aale und Krebse
geradezu als Delikatessen? Wer mit solchen Genüssen einverstanden
ist, den sollte es gar nicht wunder nehmen, daß der weniger verwöhnte
Gaumen der Chinesen auch an Schlangen, fettgemästeten Hunden und
mürbegebackenen Seidenwürmern Gefallen findet.

Der Chinese verzehrt eben alles, was da kreucht und fleugt, und in
dieser Hinsicht steht das vielgerühmte Kulturvolk der Japaner auch
nicht viel über ihm. Ich erinnere mich, auf dem Wege von Nikko nach
Chuzendschi im Innern von Japan in einem Gasthause eingekehrt zu sein,
an dessen Balkendecke seltsame Dinge, Cigarrenbündeln nicht unähnlich,
herabhingen. Als ich eines dieser Bündel zur Hand nahm, bemerkte ich,
daß es braungeschmorte Eidechsen waren. Gegessen habe ich sie freilich
nicht, aber sie können ebenso schmackhaft sein wie Schnecken. Daß auch
die Chinesen Eidechsen essen, habe ich nicht erfahren, dafür haben
sie in ihren Mahlzeiten aber doch mehr Abwechselung als irgend ein
anderes Volk der Erde. Würden sie zur Bereitung ihrer Speisen nicht
so viel schlechtes Oel, zuweilen sogar Ricinusöl, dann große Mengen
von Zwiebel und Knoblauch verwenden, so könnte sich der Europäer mit
der chinesischen Küche, wenigstens bei den besseren Klassen, ganz
einverstanden erklären. Die Chinesen sind geborene Köche, selbst
der geringste Landarbeiter ist im stande, schmackhafte Speisen
zuzubereiten, und die Küche ist keineswegs ausschließlich in den Händen
der Frauen.

Im Vergleich mit den Europäern genießen die Chinesen viel weniger
Fleisch; während Gemüse bei uns die Beilagen zu den Fleischspeisen
bilden, sind bei den Chinesen die Gemüse die Hauptgerichte, und
Fleisch oder Fische bilden nur die Beilagen. Das weitaus wichtigste
Lebensmittel im Reiche der Mitte gerade so wie in Japan und in anderen
Ländern Ostasiens ist der Reis, derart, daß „eine Mahlzeit einnehmen”
im Chinesischen Tschi fan, Reis essen, heißt. Begegnen zwei Chinesen
einander, so sind die einleitenden Worte ihrer Unterhaltung „tschi kno
fan”, d. h. „haben Sie Reis gegessen?” Ebenso wie wir uns gegenseitig
mit „Wie geht es Ihnen?” und „Haben Sie gut geruht?” begrüßen. Auch
bei den Mahlzeiten der Mandarine oder bei Festbanketten ist Reis
die ~pièce de résistance~ und wird stets am Ende der oft aus
dreißig bis vierzig Gängen bestehenden Mahlzeit aufgetragen. So viel
andere Dinge die Teilnehmer von den Schwalbennestern an bis zu den
Haifischflossen und Bambussprossen heruntergewürgt haben, niemals
verschmähen sie diese letzte Speise, den Reis.

Der Reis wird in Ostasien in vorzüglicher Weise zubereitet, und
die Europäer gewöhnen sich so leicht an ihn, daß er in den meisten
Häusern und auf den Ostasiendampfern täglich auf den Tisch kommt. Die
Zubereitung ist von der in Europa gebräuchlichen verschieden. Um die
Hülsen der Reiskörner zu brechen, werden sie im Innern Chinas mittels
hölzerner Hämmer in ebensolchen großen Mörsern gestampft; dann werden
sie in einer irdenen Schüssel mit rauhem Boden umhergerieben, um die
noch anhaftenden Hülsenteile zu entfernen. Ist der Reis gereinigt, so
wird er nicht wie bei uns in Wasser gekocht, sondern in ein Sieb aus
Bambusgeflecht gethan, das auf einen halb mit Wasser gefüllten Topf
gestellt wird. Der Dampf des kochenden Wassers erweicht die Körner,
kocht sie aber nicht zu einem Brei, wie es bei uns häufig geschieht.
Gewöhnlich wird in demselben Wasser gleichzeitig auch Fleisch
gekocht, während auf das erste Sieb ein zweites mit Gemüsen, ein
drittes mit Nudeln, vielleicht auch ein viertes mit Popos, das heißt
Fleischklößchen, getürmt wird. Der Dampf durchzieht die Siebe und kocht
alle Speisen der Mahlzeit gleichzeitig. Der Reis ersetzt auch das Brot,
das der Chinese nicht kennt. Wohl bereitet er aus Mehl und Wasser Teig,
aber er läßt diesen nicht backen, sondern in Form unserer Knödel oder
Dampfnudeln abdampfen. Buchweizen, Mais und Gerste werden wohl zu Mehl
zerrieben, aber auch in Körnerform gekocht zu verschiedenen Speisen
verarbeitet.

[Illustration: Chinesische Fischer.]

Neben Reis genießen die Chinesen unzählige andere Feldfrüchte, Gemüse,
Bambussprossen, selbst den gewöhnlichen Seetang, von welchen ungeheure
Quantitäten, besonders zwischen den japanischen Inseln und der
koreanischen Küste, aus dem Wasser gefischt und nach China gebracht
werden. Ich begegnete in den chinesischen Gewässern mehrfach ganzen
Dschunkenflottillen, die mit Seetang gefüllt waren. Wichtiger noch als
dieses sind die Bohnen, besonders im nördlichen China, dann Erbsen, die
in allen möglichen Arten gezogen und zubereitet werden. Alle unsere
Gemüse, von Kohl und Salat bis zu Sellerie und Spinat, leider auch
Zwiebeln und Knoblauch, sind in ganz China zu finden und sind an Größe
und Geschmack mit den unserigen gar nicht zu vergleichen. Im Norden
Chinas kommen auch Kartoffeln vor, im Süden tritt an ihre Stelle die
süße Kartoffel. Unzählige andere Vegetabilien, Wasserpflanzen, Wurzeln,
Blätter, Stengel, manche von absonderlichem Aussehen und Geschmack,
finden sich auf den Märkten von Canton, Swatow und Tientsin, ja, man
kann ruhig sagen, daß der Chinese, wenn er wolle, jeden Tag im Jahre
ein anderes Gemüse auf seinem Tisch haben könnte.

Aehnlich bunt ist die Liste der Fleischspeisen, die aber, wie gesagt,
nicht den Hauptbestandteil, sondern, namentlich bei der ärmeren
Klasse, eine Zugabe der Mahlzeit bilden. Während bei uns das Rind die
wichtigsten Fleischspeisen liefert, ist dieses in China am seltensten
und wird für Nahrungszwecke überhaupt gar nicht gezüchtet. Rinder
ebenso wie Büffel sind zu nützliche Tiere, um geschlachtet zu werden,
auch mag die buddhistische Religionslehre, welche sich dagegen wendet,
mit in Betracht kommen. Wenigstens kommt es bei Ueberschwemmungen und
Trockenheit häufig vor, daß von seiten der Behörden das Schlachten
dieser Tiere gänzlich verboten wird, um die zürnenden Götter zu
versöhnen. Auch Ziegen- und Hammelfleisch wird von den Chinesen selten
gegessen, obschon in der Mongolei ausgezeichnete Fettschwanzhammel
gezogen werden. Pferdefleisch, im Norden auch Kamelfleisch, kommt
auf den Märkten häufiger vor, aber die in ganz China und Tibet bis
nach der Mandschurei beliebteste Fleischspeise liefert das Schwein.
In manchen Sprachen des südlichen China wird sogar unter dem Worte
Fleisch überhaupt nur Schweinefleisch verstanden. „Schwein” heißt im
Chinesischen geradeso wie „Herr”, nämlich Tschu, womit aber keinerlei
Anspielung gemacht werden soll. Selbst die ärmsten Familien halten
wenigstens eines dieser Tiere. Auf dem Perlfluß habe ich Dschunken und
Flöße gesehen, auf denen Schweine gehalten wurden, die frei herumliefen
und von den Abfällen der schwimmenden Haushaltung gefüttert wurden. In
den Märkten der großen Städte fand ich sie braunglänzend, fettstrotzend
in Reihen von Hunderten aufgehängt; oder sie waren schon zerlegt, und
ihre kleinen wohlschmeckenden Schinken, über den Fleischhandlungen
oder an den Bambusstangen wandernder Händler aufgehängt, wurden
zum Kauf aufgeboten. Seltsamer war es schon, wenn ich auf meinen
Spaziergängen in Canton Händlern begegnete, die in ihren an
Bambusstangen aufgehängten Holzkäfigen junge Katzen oder junge, fette
Möpse einhertrugen. Zuweilen blieb ein Käufer davor stehen, nahm ein
Hündchen heraus und befühlte und bezwickte die heulenden Tiere gerade
so, wie es unsere Köchinnen mit den Gänsen thun, wenn sie sich von
der Fleischmenge überzeugen wollen. Diese wohlschmeckenden Möpschen
werden, wie die Straßburger Gänse, eigens gefüttert, nur daß neben Mais
vornehmlich Reis dabei die wichtigste Rolle spielt. Ich besuchte in
Canton ein Hunde- und Katzenrestaurant, fand dort aber nur Gäste aus
den ärmsten Volksklassen. Ueber der Thüre hängen neben den genannten
schon geschlachteten Tieren auch ganze Stränge von getrockneten oder
braungeräucherten fetten Ratten, die aber auch nur von den Aermsten
der Armen gegessen werden und keineswegs, wie man in Europa glaubt, zu
den beliebtesten Lebensmitteln der Chinesen gehören. Sprach ich mit
Mandarinen oder wohlhabenden Kaufleuten darüber, so schienen sie von
dem Gedanken, Ratten oder Mäuse zu essen, gerade so angewidert wie wir
Europäer. Mit „~Tête de chien à la vinaigrette~” oder „~dogs
tail soup~” schienen sie sich eher befreunden zu können. Warum auch
nicht? Die zarten, mit Reis gemästeten Hündchen müssen mindestens so
schmackhaft sein wie die von ekelhaftem Futter lebenden Schweine.

Geflügel wird von den Chinesen massenhaft gegessen, vornehmlich
Gänse und Enten. Auf der Fahrt von Hongkong nach Canton und weiter
stromaufwärts begegnete ich zahlreichen Booten, deren Insassen sich
ausschließlich mit dem Brüten und Mästen der Gänse befaßten. Diese
guten Gaben Gottes werden in China fast ausschließlich in künstlichen
Brutanstalten ausgebrütet, deren es auch an den Ufern der vielen Arme
des Perlflusses unzählige giebt. Nach etwa vierwöchentlichem Lagern in
den gleichmäßig erwärmten Körben kriechen die jungen Tierchen aus der
Schale, und die Gänseboote fahren nun langsam den Fluß entlang, um die
Tiere an günstigen Stellen der schlammigen Ufer zur Fütterung ans Land
zu lassen. Bei einbrechender Dunkelheit kehren sie regelmäßig wieder
auf die Boote zurück. Im nördlichen China, zum Beispiel in Tientsin und
Peking, werden vornehmlich Enten gezüchtet, die fast die Größe und das
Gewicht der Gänse erreichen und von den Chinesen äußerst schmackhaft
gebraten werden. Auch die meisten anderen Arten unseres Geflügels,
Wildenten, Rebhühner, Wachteln, Schnepfen, Fasane, Reisvögel kommen in
den hochkultivierten Ebenen Chinas massenhaft vor und werden von den
Einwohnern entweder in Netzen gefangen oder mit uralten Büchsen mit
Eisenschrot geschossen.

Wie wir, so essen auch die Chinesen Froschschenkel. Die Tiefebenen
rings um die großen Flüsse strotzen von Fröschen. die auf eigentümliche
Weise gefangen werden. Auf einem Spaziergange gegen Whampoa zu
gewahrte ich einen Chinesen, der in dem schilfigen Uferschlamme
umherwatete und seine Angel nicht ins Wasser, sondern in das Gras
warf. Als ich ihm näher kam, bemerkte ich, daß an dem Ende der Leine
ein winziges munteres Fröschlein zappelte, um dessen Leib die zarte
Leine festgebunden war. Geschickt warf der Fischer das Tierchen in das
dichte saftige Gras der Reispflanzung, dem Lieblingsaufenthalt der
dicken, alten, fettgemästeten Frösche. Kaum wurde das Köderfröschlein
von einem solchen alten Quaker bemerkt, so sprang er mit einem Satze
darauf los und verschlang es. In demselben Momente zog aber auch der
Angler die Angelleine ein, packte den alten Frosch mit einer Hand, das
Ende der Leine mit der anderen und zog langsam den verschlungenen Köder
wieder aus dem Magen des Tieres heraus. Der Frosch wurde in einen Korb
gesteckt, das zappelnde Köderfröschlein aber neuerdings ausgeworfen.
Auf diese Weise verloren in dem Viertelstündchen, während dessen ich
den Fang beobachtete, etwa ein halbes Dutzend fetter Quaker nicht nur
ihr Frühstück, sondern gleichzeitig auch Freiheit und Leben.

Nirgends in der Welt dürften die Flüsse, Seen, Tümpel fischreicher
sein als in China, nirgends dürfte auf Fische und Amphibien aller Art
eifriger Jagd gemacht werden. Die Flüsse sind, mit Ausnahme schmaler
Fahrstraßen für die Schiffe, ganz mit Netzen und Netzstangen bedeckt;
in jedem Tümpel, sogar in den Reisfeldern, werden Fische gezüchtet,
und in den Städten des Südens sah ich sogar in den Straßen Bassins
und Kübel, in welchen Salme oder Karpfen gemästet wurden, Tiere,
zuweilen so dick und fett, daß sie sich in den engen Behältern gar
nicht umwenden konnten. In anderen Bottichen lagen lebende Aale und
Wasserschlangen in allen möglichen Größen und Farben, denn auch
die Wasserschlangen werden von den Chinesen gerne gegessen und
hauptsächlich für die Zubereitung schmackhafter Suppen benützt. In Amoy
werden meterlange braune Schlangen mit ihren Köpfen an Bambusstangen
aufgehängt und so feilgeboten. Das Recht des Fischens ist freigegeben,
und da es die bequemste Art von Erwerb bildet, sind Flüsse und Seen
gewöhnlich mit Fischern übervölkert, die in jeder erdenklichen Weise
auf die Wasserbewohner Jagd machen. Sie stechen sie geschickt mit
Speeren, fangen sie mit Angeln, Netzen, holen sie mit Rechen aus dem
Schlamm, locken sie in Fallen oder lassen sie durch Kormorane fangen.
Diese Art des Fischens ist für den Europäer wohl die interessanteste,
und in China sowohl wie in Japan sah ich den flinken klugen Tieren
mitunter stundenlang zu, wie sie auf das Kommando des Fischers von
den Booten ins Wasser glitten und nach einigen Minuten, zuweilen auch
nach längerer Zeit, wieder auftauchend, auf das Boot zurückkehrten.
Der Schnabelkropf war gewöhnlich mit Fischen oder Aalen gefüllt, die
sie hintereinander wieder ausspieen und dafür von dem Fischer mit
einem Stück Fisch belohnt wurden. Damit sie ihre Beute nicht selbst
verschlingen und die Fischer das leere Nachsehen haben, tragen diese
pelikanartigen, häßlichen Vögel ein Hanfseil um den Hals, so eng
geschnürt, daß sie nur kleine Fischchen verschlingen können, nicht
aber größere. Von frühester Jugend an abgerichtet, folgen sie ihrem
Beruf mit größtem Eifer. Die eigentümlichste Art des Fischens ist
wohl in Hankau, am oberen Jangtsekiang. Die (durchwegs chinesischen)
Matrosen der Jangtsedampfer verhelfen sich, wenn sie dort im Hafen
lagern, zu guter Fischkost dadurch, daß sie eine etwa zwei Fuß große
eiserne Kochschüssel, die sonst zum Abkochen von Reis verwendet
wird, an der Innenseite mit Fett beschmieren und das Gefäß dann
horizontal mittels Stricken ins Wasser hinablassen. Ziehen sie die
Schüssel nach einer Stunde wieder heraus, so ist sie bis zur Hälfte
mit kleinen, breitlingartigen Fischchen gefüllt. Das Fett zieht diese
Fische massenhaft an, bis sie sich allmählich in der Schüssel und im
Wasser rings um dieselbe in dichten Schwärmen drängen. Bei dem raschen
Herausziehen der Schüssel können die untersten wegen der über ihnen
befindlichen Fischmengen nicht entschlüpfen und fallen den Matrosen zum
Opfer.

Bei den Apachen und Pueblo-Indianern Arizonas fand ich als
Lieblingsspeise aus gerösteten und gestampften Heuschrecken zubereitete
Kuchen. Diese Speise wird auch von den Chinesen gerne gegessen; viel
lieber haben sie freilich geröstete Seidenwürmer, die in großen Mengen
verspeist werden. Williams behauptet in seinem ausgezeichneten Werke
über China, daß sie auch Regenwürmer äßen. Die Chinesen, bei denen
ich mich hierüber erkundigte, leugneten es entschieden, während sie
von den Seidenwürmern als Leckerbissen sprachen. Zu diesen letzteren
zählen in China vor allem die vielgenannten Schwalbennester, dann
Haifischflossen, Tripang (Seewalze) und Fischmagen, nur sind die
Schwalbennester so kostspielig, daß sie auf den Tisch der Reichen
beschränkt bleiben. Für einen Teller Schwalbennestsuppe bedarf es für
etwa sechs Mark Nester. Es ist bekannt, daß diese Schwalbennester von
den Sundainseln, hauptsächlich von Java stammen, nicht bekannt dürfte
es indessen sein, daß in Canton allein jährlich über acht Millionen
Nester eingeführt werden. Im Innern des Landes wird das Kilogramm
Schwalbennester mit fünfzig bis hundert Mark bezahlt. Der Grund dieser
hohen Preise dürfte weniger darin liegen, daß die Chinesen die Nester
als wohlschmeckende Delikatesse betrachten, sondern vielmehr in dem
Umstande, daß man dem Genuß der seltsamen Speise besonderen Einfluß auf
den Körper zuschreibt. Aus demselben Grunde werden auch die ekelhaften
lederartigen Seewalzen und die Haifischflossen gegessen.

Die chinesischen Schwalbennester sind von der Größe einer kleinen
Damenhand und bestehen der Hauptsache nach aus dem Speichel der
Schwalben, der mit Federn und Seegrasfasern vermengt ist, die
sorgfältig entfernt werden. Ihre Zubereitung fand ich in einem
chinesischen Kochbuch folgendermaßen angegeben:

„Entferne sorgfältig alle Federn. Koche die Nester in Suppe
oder Wasser, bis sie weich und von der Farbe des Nephrytsteines
(gründlichweiß und durchscheinend) sind. Lege sie auf eine Lage
Taubeneier, bedecke sie mit Schinkenschnitten und koche sie nochmals.
Liebst du sie süß, so füge kandierten Zucker bei. Bereite sie
sorgfältig und ohne Oel. Habe acht, daß sie lange kochen, denn ißt du
sie, bevor sie weich sind, so bekommst du Durchfall.”

Haifischflossen werden von den Chinesen ebenfalls massenhaft gegessen,
und in dem südlichen Hafen Koreas, in Fusan, fand ich eine große
Kolonie von Japanern, die sich fast ausschließlich mit dem Haifischfang
beschäftigten. Die zuckenden Leichname der vielen getöteten Haifische
boten keineswegs einen appetitlichen Anblick, denn die kleinen flinken
Japaner sprangen zwischen ihnen umher und hieben den noch lebenden
Tieren die Flossen und den Schwanz ab. Das chinesische Kochbuch giebt
folgende Zubereitung von Haifischflossen an:

„Lege sie in einen Kochtopf, füge Holzasche bei und koche sie mehrmals
ab. Dann kratze sorgfältig die Haut ab. Entfernt sie sich nicht
leicht, koche abermals und kratze wieder. Koche nochmals, schabe das
Fleisch ab und behalte die Floßfedern. Koche diese nochmals und thue
sie hierauf in Quellwasser, das du mehrmals wechseln mußt, damit der
kalkige Geschmack verschwinde. Dann thue die Floßfedern in die Suppe,
lasse sie mehrmals aufkochen, bis sie weich sind. Dann füge der Suppe
Krebsfleisch und ein wenig Schinken bei und esse.”

Die Schilderung ist so deutlich, daß jede Köchin danach Haifischsuppe
zubereiten kann. Die beste Bezugsquelle für Haifischflossen ist Cheng
Ming & Co. in Canton.

Einfacher als die Speisen der Chinesen, von denen hier nur die
gebräuchlichsten und merkwürdigsten angeführt wurden, sind ihre
Getränke. Wasser trinken sie nur wenig; an seine Stelle tritt
überall der Thee, aber ohne Zucker und Milch, da sie Milch ebenso
wie Butter verschmähen. Nur in der Mandschurei wird schmutzige,
schlechtschmeckende Butter und Käse bereitet, auch zuweilen Milch
getrunken.

Geistigen Getränken huldigt der Chinese nur wenig; nie habe ich in
China einen Betrunkenen gesehen. Wohl haben sie viele und schmackhafte
Weinreben, allein die Zubereitung von Wein ist ihnen nicht bekannt.
Dafür machen sie Soki, eine Art Reisbranntwein, und bei keinem
Festmahl fehlt Samschui, das ist warmer Reiswein. Bei den Mandarinen
hat neuestens sogar in den Inlandstädten ein ihnen früher unbekanntes
Getränk Eingang gefunden, dem sie recht gerne zusprechen, und das
chinesisch Hsiang-pin, d. h. wohlriechender Trank für Gäste, heißt. Wir
in Europa haben dafür einen anderen Namen. Er lautet: Champagner.

[Illustration]



Shanghai.


Wer von Hongkong nach dem großen Handelsemporium des Jangtsekiang,
nach Shanghai will, thut gut daran, zu dem Zwecke einen der großen
Palastdampfer des Norddeutschen Lloyds zu benützen, denn je
schneller er die Reise ausführt, desto besser ist es für ihn, und
die Lloydschiffe nehmen gewöhnlich in keinem der fünf offenen Häfen
zwischen Hongkong und Shanghai Aufenthalt, sondern fahren direkt nach
dem letztgenannten Reiseziele. Wohl befindet sich unter den fünf
Vertragshäfen, die man passiert, Futschau, eine der großen Städte
Chinas mit einer Million Einwohnern, aber wer Canton gesehen hat, dem
wird Futschau, ausgenommen die herrlichen Landschaften am Minfluß und
die weitere hochmalerische Umgebung, nur wenig Interessantes bieten.
Die südlich von Futschau gelegenen zwei Vertragshäfen Swatow und Amoy
sind des Besuches kaum wert. Beide werden selbst von den Chinesen
als sehr schmutzige Städte angesehen, auch ist die Bevölkerung den
Europäern durchaus nicht besonders freundlich gesinnt, was seinen
triftigen Grund hat: bald nach der Eröffnung dieser Häfen gaben sich
die Europäer, welche sich dort ansiedelten, einem schmachvollen
Kulihandel hin, ähnlich wie es früher die Portugiesen in Macao thaten.
In den letzten Jahren hat die Feindseligkeit der Chinesen wohl etwas
nachgelassen, aber die Zahl der in den beiden Städten residierenden
Europäer hat doch nicht in ähnlichem Maße zugenommen wie in den
anderen Häfen und dürfte zusammen etwa 350 betragen, die zahlreichen
chinesischen Zollbeamten und Missionäre mit eingeschlossen.

Aehnliches kann auch von den beiden nördlich von Futschau gelegenen
Vertragshäfen Wentschou und Ningpo gesagt werden; beide Häfen leiden
unter der erdrückenden Nachbarschaft von Shanghai, und der europäische
Handel will nicht recht vorwärts; vielleicht teilweise auch deshalb,
weil die Schiffahrt in diesen Gewässern bis hinauf nach Shanghai recht
gefährlich ist.

[Illustration: Pagode in Shanghai.]

Spät am Abend kam ich in Shanghai an und fuhr durch die glänzend
erleuchteten, mit modernen Palästen besetzten Straßen nach dem Astor
House, einem neuen eleganten Hotel ersten Ranges. Dort überreichte
man mir eine Einladung zu der St. Georges Celebration, die gerade
heute Abend um neun Uhr in Chang-Su-Ho’s Garten stattfinden sollte.
Die Einladung war auf schönes Papier mit Goldbuchstaben gedruckt und
mit bekannten, geachteten Namen unterzeichnet. Rasch warf ich mich
in Toilette und war ein halbes Stündchen später an der Pforte eines
Gartens, an der eine Reihe glänzender Equipagen ihre Insassen entlud.
Damen in reichen Abendtoiletten, begleitet von tadellos gekleideten
Gentlemen, eilten scherzend und schäkernd dem Inneren des Gartens
zu, von wo Tausende von Lampions und Lichtern mir entgegenstrahlten.
Triumphbogen aus tropischen Gewächsen und unbekannten Blumen wölbten
sich über dem wohlgepflegten Wege; aus allen Bäumen und Bosketts
glühten verschiedenfarbige Lichter, und in der Mitte einer weiten
Rasenfläche erhob sich ein großer Tempel, ganz aus chinesischen
Laternen zusammengesetzt, ein feenhafter Anblick. Ein schöner dunkler
See mit einer dreißig Meter hohen Pagode in der Mitte trennte diesen
Tempel von einer Reihe von Gebäuden, Tribünen, Schaubuden und Cafés,
die, in ein Lichtmeer getaucht, Tausende von Menschen beherbergten,
Menschen, wie ich sie bei den großen Gartenfesten von London und Paris
zu sehen gewohnt war, alle in großer Toilette, alle von weltmännischen,
ungezwungenen Manieren, alle einander kennend und begrüßend. Nur
ich war fremd und kannte nicht eine Seele. Ueberrascht von diesem
seltsamen und unerwarteten Anblick mengte ich mich in das Gewühl und
beobachtete die einzelnen Gruppen. Niemals und nirgends habe ich auf
einem so kleinen Raum innerhalb weniger Minuten so viele Sprachen
sprechen hören. Zwischen dem Anzünden und Fertigrauchen einer Cigarette
vernahm ich in den einzelnen Gruppen Englisch, Deutsch, Französisch,
Italienisch, Spanisch, Dänisch, Portugiesisch, am meisten aber Englisch
und Deutsch, gutes Hamburger Deutsch. Vermengten sich diese Gruppen
untereinander, dann sprangen die Sprechenden von einer zur andern
Sprache über, mit einer Leichtigkeit, die einfach überraschte. Wo war
ich denn? War der Garten, in dem ich mich eben befand und der mit
Entzücken das Band, das mich an die Heimat fesselt, wieder strammer
anzog, war dies China? Wo waren denn die Chinesen? Im Schatten der
Bäume und der Bosketts, hinter den Häusern huschten sie umher als
dienende Geister, brennende Lampions zu löschen, verlöschende Lichter
durch neue zu ersetzen, Stühle zu tragen, Paletots und seidene zarte
Damenmäntel zu halten. War dies China, das Reich der Mitte, den
Europäern versperrt, beherrscht von einem Kaiser, welcher der Sohn des
Himmels ist, und verwaltet von zugeknöpften, mißtrauischen, finsteren
Mandarinen?

In den Cafés und Schaubuden ging es gar lustig her. Allerhand Allotria
standen auf dem ellenlangen Programm, und die in knisternde Seide
gehüllte, juwelengeschmückte Damenwelt eilte von einer Bude zur
andern, um Konzerte und Dramen und Ballett- und Zaubervorstellungen
mitzumachen, alles das veranstaltet durch Gentlemen-Amateurs. Und als
diese Produktionen im Freien zu Ende waren, strömte alles in einen
großen, säulengeschmückten, glänzend erleuchteten Tanzsaal, wo ein
ausgezeichnetes Orchester lustige Weisen spielte und sich die eleganten
Pärchen im Kreise drehten und über den glatten Parkettboden flogen. War
das China?

Am nächsten Morgen an das Fenster meines Hotelzimmers tretend, hatte
ich einen überraschenden Anblick: ein mächtiger Strom, wohl eine
halbe englische Meile breit und bedeckt mit Dutzenden von großen
Ozeandampfern, Kriegsschiffen, Leichtern und Booten. Die auf den
Masken lustig flatternden Flaggen zeigten alle Farben in allen
möglichen Zusammenstellungen: Engländer, Oesterreicher, Belgier,
Franzosen, Dänen, Spanier, dazwischen die blaue Flagge der englischen
Naval Reserve, der rote Ball in weißem Felde der Japaner, der
chinesische blaue Drache auf gelbem Felde, aber am zahlreichsten
das Schwarz-Weiß-Rot der deutschen Handelsflotte. Die größten und
stolzesten Schiffe, die hier auf dem breiten gelben Strom vor Anker
lagen, waren deutsche, darunter der gewaltige Koloß „Preußen” des
Norddeutschen Lloyds, mit dem ich selbst von Süden heraufgekommen
war. Ein schöner Park mit wohlgepflegten Blumenbeeten und schattigen
Baumgruppen zog sich von meinem Hotel dem linken Stromufer entlang
südwärts, auf der Landseite eingefaßt von großen Steinpalästen mit
Balkonen und Arkaden, mit Gittern und monumentalen Thorbogen davor. Von
den Dächern erwiderten Flaggen aller Nationen die Grüße der fremden
Schiffe; soweit ich nur sehen konnte, boten sich mir Bilder großartigen
Lebens und Verkehrs, wie sie nur noch in den Handelsemporien unseres
eignen alten Kontinents zu finden sind, und dieses Leben und dieser
Verkehr trugen dabei auch das Gepräge unserer eigenen Kultur. War das
China?

Diese europäische Großstadt an der Pforte des Jangtsekiang, des
mächtigsten Stromes von Asien und der Hauptverkehrsader des
chinesischen Reiches, ist eine der merkwürdigsten Schöpfungen unseres
Zeitalters. Rings umgeben von mongolischer Kultur, Tausende von
Meilen östlich von Europa, ebensoviele Tausende von Meilen westlich
von Amerika ist es der entlegenste Außenposten unseres die Welt
beherrschenden Handels, unserer Industrien, nicht etwa eine künstlich
genährte und gehegte Kolonie, sondern eine Hochburg, welche die
furchtlosen Kaufherren der letzten Generation selbst dem Mongolenkoloß
abgezwungen, groß und stark gemacht haben. Man hat Shanghai das „Paris
von Ostasien” genannt, und ein solches ist es in der That.

[Illustration: Das europäische Viertel und der Hafen von Shanghai.]

Im Vergleich zu Shanghai treten alle anderen europäischen Städte
Ostasiens in den Hintergrund, Singapore, Penang, Hongkong, Batavia,
Manila, Yokohama, Kobe, Nagasaki. Manche darunter sind schöner,
größer, behaglicher, keine aber hat einen ähnlich entwickelten
Handels- und Schiffsverkehr, eine so aufgeweckte liberale, energische,
vergnügungslustige Bevölkerung.

Es sind freilich weder architektonische Wunder noch großartige
Schöpfungen nach unseren Begriffen, die man hier zu sehen bekommt, denn
man darf ja nicht vergessen, daß Shanghai in China liegt. Aber die
Menschen, die aus allen Ländern und Weltteilen hierher in das flache,
sumpfige, ungesunde Tiefland an der Mündung des Jangtse verschlagen
wurden, haben sich ihre neue Heimat, dieses europäisch-chinesische
Babel, überraschend schön und behaglich und zweckmäßig eingerichtet.

Ueberraschend, das ist das rechte Wort. Ich hatte mir die
Handelsmetropole Chinas als eine lebhafte, lärmende Geschäftsstadt
mit großen Warenlagern und Quais und Schiffsbureaus, mit chinesischen
Arbeitern und chinesischem Schmutz vorgestellt, etwa so wie Hongkong.
Als ich aber meine erste Promenade auf dem Bund von Shanghai machte,
fühlte ich mich eher in einem europäischen Badeort, etwa einem
nordischen Nizza, so elegant, so vornehm und durchaus europäisch
zeigt sich Shanghai von der Flußseite her. Auf etwa zwei Kilometer
zieht sich dieser Bund dem Ufer entlang, eine von hohen Laubbäumen
beschattete, vorzüglich gehaltene Straße mit schönen Fahrwegen auf
beiden Seiten. Der Raum zwischen dieser Straße und dem Flußufer wird
durch weite Rasenflächen, Baumgruppen und den vorerwähnten Stadtpark
eingenommen, während auf der anderen Seite, die Fronten gegen den
Fluß gewendet, die Paläste des Handels sich erheben. Würden nicht
an den Thoren auf kleinen Schildern die Namen solcher Weltfirmen
wie Butterfield & Swire, Jardine Matthison & Co., Siemssen & Co.,
Melchers & Co., Sassoon & Co., Deutsch-asiatische Bank, Hongkong- und
Shanghaibank und andere zu lesen sein, man würde in jedem einzelnen
dieser langen Reihe von Palästen viel eher vornehme Privatresidenzen
vermuten, so schön und behaglich erscheinen sie, so wohlgepflegt sind
die kleinen ihnen vorgelagerten Gärtchen, so absolut gar nichts sieht
man von den wenig ansprechenden Einzelheiten des Großhandels. Ich bin
während meines ersten vierzehntägigen Aufenthaltes in Shanghai den
Bund mehrmals täglich auf- und abgewandert, aber niemals sah ich auch
nur einen Warenballen, einen Dockarbeiter, einen Frachtwagen in dieser
merkwürdigen Straße. Und doch wechseln hier im Jahre Hunderttausende
von Tonnen Waren die Hände, werden von hier in jeder Woche zahlreiche
Dampfer nach Indien, Japan, den Philippinen und Sundainseln, nach
Europa und Amerika, nach dem nördlichen China, Korea, Ostsibirien und
den Jangtse aufwärts tausend Meilen weit bis nahe nach Tibet expediert.
Alles geht hier merkwürdig still und glatt vor sich; in den großen
Geschäftsbureaus herrscht ein vornehmer Ton, eine gewisse weltmännische
Eleganz, grundverschieden von den Verhältnissen, an die man zu Hause
gewöhnt wurde. Im Verkehr mit den Geschäftsleuten erhält man den
Eindruck, als hätte man es mit lauter wohlhabenden, wohlsituierten
Gentlemen zu thun, welche das Geschäft eben nur als Sport betreiben.
Obschon Shanghai nicht nur der Waren-, sondern auch Geldmittelpunkt von
China ist, und eine stattliche Zahl von Banken hier ihren Sitz haben,
giebt es doch keine Börse. Der ganze Börsenverkehr wird einfach beim
Mittagscocktail an der Bar des Shanghaiklubs abgewickelt. Vor zehn Uhr
morgens sind nur wenige Geschäftsbureaus geöffnet; mittags erscheinen
vor den meisten elegante Equipagen, welche die Herren Prinzipale nach
Hause oder in einen der Klubs bringen; nachmittags wird wieder zwei bis
drei Stunden gearbeitet, und das Tagwerk ist vollbracht, wenigstens was
das Geschäft betrifft. Ich hatte gehofft, den Kleinhandel und etwas
von dem großen Warenverkehr Shanghais in den vom Bund landeinwärts
führenden Seitenstraßen zu sehen, aber auch dort ist wenig davon
zu merken. Diese Seitenstraßen sind auf über hundert Meter nur
Fortsetzungen des Bunds, und darüber hinaus beginnt der chinesische
Stadtteil, jedoch keineswegs mit dem ekelerregenden Hongkonger Schmutz.
Die Straßen behalten auch im chinesischen Viertel ihre beträchtliche
Breite und auffällige Reinlichkeit, und hat man das Chinesenviertel
durchfahren, so gelangt man wieder in hübsche, wohlgepflegte, schattige
Avenuen, wo halb verborgen in großen schattigen Gärten hübsche moderne
Villen stehen. Nur in der eigentlichen, mit einer Ringmauer umgebenen
Chinesenstadt und teilweise auch in der französischen Konzession
sieht man die engen und schmutzigen Gäßchen, welche jede Stadt Chinas
kennzeichnen. Wer das chinesische Shanghai sehen will, muß sich dort
hinein bemühen, denn in der europäischen Stadt ist davon fast gar
nichts vorhanden. Chinesen sieht man hier nur als Kutscher, Rickshaw
Boys und als Angestellte oder Diener in den Handlungshäusern. Die
japanische Rickshaw, eigentlich Jinrickshaw, hat sich auch in Shanghai
eingebürgert, und ich glaube, es sind davon nicht weniger als tausend
vorhanden, kleine zweiräderige, einsitzige Wägelchen, zwischen
deren Deichseln statt Pferden kräftige, dickwadige Chinesen laufen.
Noch ein anderes merkwürdiges Vehikel verirrt sich zuweilen aus der
Chinesenstadt auf den Bund: ein Schubkarren mit einem großen Rad und
Sitzen auf beiden Seiten desselben. Für wenige Pfennige gönnen sich die
Chinesen auf derlei Schubkarren das Vergnügen des Fahrens. Sie setzen
sich auf eine der beiden Sitzbänke, und der kräftige Kuli schiebt sie
rasch, wie eine Ladung Steine, nach ihrem Bestimmungsort. Zuweilen
werden diese Schubkarren auch von zwei Passagieren, gewöhnlich Frauen,
gleichzeitig benutzt, und man muß über die Kraft der Kulis staunen.
Hat ein chinesischer Diener irgend ein Gepäckstück zu befördern, ein
Bauer ein Schwein auf den Markt zu führen, eine Mutter ihr krankes Kind
nach dem Hospital zu bringen, flugs wird ein Schubkarren requiriert,
Gepäckstück, Schwein oder Kind auf die eine Seite angebunden, auf der
andern Seite selbst Platz genommen und fort geht es im Laufschritt
nach dem Ziele. Von Europäern werden diese Schubkarren niemals
benutzt, und selbst die in Japan so beliebte Jinrickshaw scheint bei
der eleganten Welt Shanghais etwas verpönt zu sein. Damen benutzen
sie selten, dagegen sind die Rickshaws bei den Chinesinnen beliebt.
Eines Tages sah ich zwei derselben in einer Rickshaw sitzen, und sie
näher betrachtend, gewahrte ich zu meiner Ueberraschung an ihnen
blondes, in langen Zöpfen herabfallendes Haar, blaue Augen, kaukasische
Gesichtszüge. Blonde Chinesinnen! Aber das ethnologische Wunder wurde
mir bald erklärt. Die Fräuleins der schwedisch-protestantischen Mission
halten es für ihre Zwecke entsprechender, sich in chinesische Gewänder
zu kleiden. Ich sah deren später noch andere in den Uferstädten des
Jangtsekiang. Auch die Missionare tragen fast ausschließlich die
chinesische Tracht.

In den Banken, Geschäftsbureaus, in den Haushaltungen, Gärten, in der
Küche und Kinderstube besteht die dienende Welt nur aus Chinesen,
und ich glaube nicht, daß in ganz Shanghai ein halbes Dutzend weißer
Diener, wenn überhaupt so viele, zu finden sind. Die Kaukasier sind
dort nur Gentlemen und Ladies, die Chinesen im Verkehr mit ihnen nur
Untergeordnete, treu, zuverlässig, ehrlich, aufmerksam, still und
emsig, so daß den Europäern dank ihnen das Leben in Shanghai wirklich
leicht gemacht ist. Häusliche Verrichtungen kennen sie gar nicht. Von
den Einkäufen für die Küche bis zum Hausreinigen und Stiefelputzen
wird alles in der glattesten Weise durch die Chinesen besorgt,
welche Kassierer, Stubenmädchen, Köchinnen, Hausdiener, Kutscher,
mit einem Worte alles sind. Die Europäer haben deshalb sehr viel
Zeit und überdies alle erdenklichen Gelegenheiten, diese Zeit in der
angenehmsten Weise totzuschlagen. Selbst in europäischen Großstädten
dürfte es nicht mehr Klubs, Gesellschaften, Vergnügungen aller Art
geben, und man kommt im Winter und Frühjahr aus diesem Taumel fast
gar nicht heraus. Shanghai hat davon vielleicht sogar ein bißchen zu
viel, und es würde den jungen Herren besser bekommen, wenn sie von
ihren in neuerer Zeit durchaus nicht mehr übermäßig hohen Bezügen etwas
zurücklegen würden, statt sie auf Equipagen, Reitpferde, Klubs und
Jagden zu verwenden.

An der Spitze der Gesellschaft stehen die Konsularvertreter und
Gerichtsbeamten der europäischen Mächte, da ja die europäischen
Bewohner Shanghais den chinesischen Gerichten selbstverständlich nicht
unterstehen, sondern ihre eigenen Konsulargerichte haben. Die Konsulate
Deutschlands, Englands und Frankreichs sind in wahren Palästen
untergebracht, und die betreffenden Vertreter üben die Repräsentation
mit sehr viel Takt und Eleganz. Die Generalkonsuln Englands und
Frankreichs sind gleichzeitig die obersten Behörden Shanghais. England
wie Frankreich erhielten nämlich vor einigen Jahrzehnten die Handvoll
chinesischer Erde, auf welcher Shanghai steht, als Konzession. Auch die
Vereinigten Staaten ergatterten sich eine solche; sie ist aber längst
mit der englischen Konzession vereinigt und hat keine selbständige
Munizipalität mehr wie diese oder die französische. Ein kleiner Kanal
bildet die geographische Grenze zwischen beiden, eine gesellschaftliche
giebt es aber längst nicht mehr, denn viele französische Ansiedler,
müde der Nörgeleien ihres konsularischen Diktators, sind nach der
englischen Konzession ausgewandert, kleinere englische Kaufleute
traten auf französischen Boden über, und die ganze Fremdengesellschaft
bildet in Shanghai eine einzige Happy Family, wo von Rassenhaß und
Nationalitätenhader nichts zu sehen ist. Wohl giebt es einen deutschen,
englischen und französischen Klub, der erstere einer der schönsten
und gastfreiesten Ostasiens, allein bei Festlichkeiten, Soireen,
Musikabenden und dergleichen wird die Gesellschaft geladen ohne
Unterschied der Nationen. Kurz vor meiner Ankunft in Shanghai fanden
auf dem herrlichen Rennplatz zur Seite des Bubbling Well Road große
Wettrennen statt, an denen sich ganz Shanghai beteiligte. Wenige Tage
später veranstaltete die ~Société dramatique française~ in dem
hübschen kleinen Lyceumtheater ganz reizende Amateurvorstellungen in
französischer Sprache, zu denen die Deutschen ebensogut geladen waren
wie die Engländer; und in Erwiderung des englischen St. George- und
des französischen Thalia-Abends gaben wieder einige Tage später die
Deutschen eine glänzende Soiree zu Ehren einer eben durchreisenden
Künstlerin von Weltruf, bei welcher die großen Säle des Konkordiaklubs
mit einer ähnlich internationalen Gesellschaft dicht gefüllt waren und
Champagner in Strömen floß. So geht es auch auf den Jagden, Konzerten,
auf dem Lawntennisboden, wie bei den Regatten auf dem Wusungstrome zu.

Es ist ein wahres Glück, daß sich die Menschen hier so gut vertragen,
denn Organisation auf staatlicher Grundlage ist keine vorhanden, und
kein Mensch kann sagen, wem Shanghai eigentlich gehört. Das Zollwesen
ist chinesisch, die Munizipien sind englisch und französisch, und
an Postämtern giebt es ein deutsches, französisches, englisches,
japanisches, chinesisches und Shanghaipostamt für den Lokalverkehr,
sechs verschiedene Postämter, jedes mit seinen eigenen Postbeamten und
Postwertzeichen. Die Chinesen haben in Shanghai ihr eigenes Militär
und nahe der Stadt auch ein großes, vortreffliches Arsenal. Die
Polizei des europäischen Stadtteils ist größtenteils auch chinesisch,
untersteht aber den Munizipien und hat mit den chinesischen Behörden
nichts zu thun. Neben den etwa dreihundert chinesischen Polizisten
giebt es aber auch fünfzig europäische und fünfzig indische. Dieses
seltsame Gemengsel hält die Ordnung in Shanghai in ausgezeichneter
Weise aufrecht, und kommen größere Unruhen vor, bedrohen Rebellen die
Stadt, wie es vor einem Vierteljahrhundert geschah, so lassen die
Bewohner Shanghais ihre eigene Armee aufmarschieren. Diese besteht
aus drei europäischen Freiwilligenkorps, nämlich einer Schwadron
Kavallerie, einer Feldbatterie und drei Kompagnien Infanterie, durchweg
von Bürgern Shanghais gebildet. Verschiedene Telegraphengesellschaften
verbinden diese Stadt mit der Außenwelt, und die Kaufleute lesen
morgens beim Frühstückstisch in den vortrefflichen englischen
Zeitungen Drahtberichte aus London, Paris, Berlin, Neuyork. Shanghai
hat vier englische Tageszeitungen, von denen die North China Daily
News die beste ist, dann mehrere Wochenblätter, unter denen der
deutsche, vorzüglich redigierte Ostasiatische Lloyd besonders rühmend
hervorgehoben zu werden verdient.

Nun sage man noch, Shanghai sei keine europäische Großstadt!
Europäisch im wahren Sinne des Wortes. Denn die Chinesen mit ihrer
Viertelmillion Seelen leben für sich und vermengen sich, ausgenommen
durch die dienende Klasse, niemals mit den Europäern. Ist es nicht
wunderbar, daß diese letzteren, so verschiedenen Rassen, Nationen,
Gesellschaftsklassen und Berufsarten angehörend, eine so große,
schöne Stadt gründen konnten und so einträchtig darin leben? Man
wird gewiß fragen, wie viele europäische Einwohner Shanghai besitze.
Die Antwort wird vielleicht mehr Staunen erregen als alles andere:
nicht mehr und nicht weniger als irgendeine unserer hauptstädtischen
großen Infanteriekasernen: sechstausend, das ist alles. Am stärksten
sind, wie überall, die Engländer vertreten, und ihnen zunächst kommen
nicht nur an Zahl, sondern auch an Einfluß, Wohlstand, Handel und in
gesellschaftlicher Hinsicht die Deutschen.

Dabei geht es in geschäftlicher Hinsicht in Shanghai mit
Riesenschritten vorwärts. Die Stadt entwickelt sich zusehends, sowohl
was die europäische wie die chinesische Bevölkerung anbetrifft.
Zwischen 1870 und 1880 nahm die europäische Einwohnerzahl ab, während
sie in den fünf auf 1880 folgenden Jahren um fünfzig Prozent wieder
zunahm und sich seit 1885 sogar verdoppelte und heute, wie gesagt,
sechstausend Seelen erreicht hat. Unter diesen sind über 2000
Engländer, 450 Deutsche, 380 Amerikaner und nur 300 Franzosen, dann
800 sogenannte Portugiesen, größtenteils Mischlinge aus Macao. Der
Dampferverkehr erreicht jährlich etwa 6000 Schiffe mit acht Millionen
Tonnen, der Wert des Handels tausend Millionen Mark.

Auch in industrieller Hinsicht wächst Shanghai seit dem Frieden von
Shimonoseki, hauptsächlich deshalb, weil den Chinesen die freie Einfuhr
von Maschinen in die Vertragshäfen abgezwungen wurde. Im Jahre 1896
allein entstanden in Shanghai vierundzwanzig neue Seidenfilaturen,
an denen sich auch Chinesen mit bedeutendem Kapital beteiligten. Die
Erschließung des Stromgebietes des oberen Jangtsekiang, der nicht
mehr zu hemmende Handelsverkehr mit den Provinzen des Innern sichern
Shanghai einen glänzenden Aufschwung, der durch Kriege und Unruhen nur
zeitweise unterbrochen werden kann.



Europäische Republiken in China.


Seit einigen Jahren ist auch das Deutsche Reich Besitzer kleiner
Landstrecken in den Vertragshäfen Hankau und Tientsin geworden.
Deutschland folgte mit dieser Landerwerbung dem Beispiel Englands,
Frankreichs, Nordamerikas und Portugals, welche Staaten schon seit
Jahrzehnten in verschiedenen Teilen Chinas, hauptsächlich in der Nähe
der offenen Häfen Konzessionen, d. h. Gebietsabtretungen von seiten
Chinas erlangt haben, deren älteste an der Mündung des Cantonflusses
gelegen sind: Hongkong und Macao. Freilich zählt die ganze Insel
Hongkong mit ihrer Hauptstadt Victoria nur achtzig Quadratkilometer,
Macao nur zwölf Quadratkilometer Grundfläche, eine Messerspitze voll
im Vergleich zu den elf Millionen Quadratkilometern des chinesischen
Landbesitzes; allein diese beiden Gebiete wurden England und Portugal
unbedingt abgetreten und bilden eigene, von China vollständig
unabhängige Kolonien unter europäischer Verwaltung.

Abgesehen von Hongkong und Macao sind jedoch in der Mehrzahl der
drei Dutzend den Europäern geöffneten Häfen europäische Settlements,
d. h. Ansiedelungen, zu finden, deren Grund und Boden entweder
von der chinesischen Regierung an die eine oder andere auswärtige
Macht bedingungslos abgetreten, oder gegen Zahlung einer Miete für
neunundneunzig Jahre verpachtet wurde; in einigen Häfen verständigten
sich die europäischen Ansiedler mit den chinesischen Ortsbehörden
bezüglich der käuflichen Erwerbung einer Landstrecke für ihre Wohnungen
und Geschäftshäuser, in anderen Häfen, wie z. B. in Futschau, giebt es
überhaupt kein eigenes europäisches Settlement, sondern die Europäer
wohnen zerstreut mitten unter den Chinesen.

Praktisch, wie die Engländer in allen Kolonialsachen sind, und
eingedenk der Thatsache, daß fünfundsechzig Prozent des ganzen
chinesischen Außenhandels in ihren Händen liegen, waren sie auch
diejenigen, welche sich gleich zu Anbeginn die weitestgehenden Vorteile
zu sichern wußten, und die weitaus große Mehrzahl der fremdländischen
Ansiedelungen in China befinden sich auf englischen Konzessionen. Ihnen
zunächst kommen die Franzosen mit ihren Konzessionen in Shanghai,
Canton, Hankau, Tientsin. Allein die Franzosen haben es nicht
verstanden, ihre durch blutige Kriege in China erworbenen Vorteile
auszunützen. Die fremden Kaufleute verschiedener Nationen, vor allem
die Deutschen, zogen es vor, sich in den englischen Konzessionen
anzusiedeln, und selbst die Mehrzahl der französischen Kaufleute entzog
sich der Willkür und dem Absolutismus ihrer eigenen Behörden, so daß
beispielsweise von den in Shanghai ansässigen Franzosen die größere
Zahl in der englischen, nicht in der französischen Konzession wohnt.
In Hankau wohnt auf der dortigen französischen Konzession überhaupt
nur der Konsul, und in Tientsin hat sich der französische Konsul als
Leiter der dortigen Konzession seines Landes durch Eigenmächtigkeiten
aller Art so unliebsam gemacht, daß gerade sie und die fortwährenden
Reibungen mit den Engländern und Deutschen die Hauptveranlassung zu der
Errichtung einer eigenen deutschen Konzession waren.

In den Verträgen der europäischen Mächte mit China ist von diesen
Landschenkungen nicht die Rede; die Mächte haben sich nur das Recht der
unbehinderten Ansiedlung und des freien Handels ihrer Unterthanen in
den offenen Häfen, sowie das Recht der freien Religionsübung und des
Reisens durch alle Gebiete Chinas gesichert. Reisende in China bedürfen
nur eines von ihrem Konsul ausgestellten und von den chinesischen
Behörden visierten Reisepasses; auf etwa vierzig Kilometer rings um
die offenen Häfen und für die Dauer von fünf Tagen sind Reisepässe
nicht erforderlich; die Chinesen sind also in dieser Hinsicht viel
liberaler, als es die Japaner bis 1898 waren, in deren Land Europäer
nur mit gebundener Marschroute reisen durften. Die größte Zahl der
offenen Häfen Chinas verdanken wir England; fünf weitere wurden durch
die Verträge mit Frankreich dem europäischen Verkehr eröffnet, und in
dem Vertrag zwischen Preußen und China vom Jahre 1861 erscheinen die
wichtigen Häfen Hankau, Tschin-kiang und Kiu-kiang als offene Häfen.
Während aber England und Frankreich als Folge dieser Verträge von den
Chinesen territoriale Konzessionen erwarben, wurde dies von Preußen
in den drei letztgenannten Häfen unterlassen, und die Landerwerbung
Deutschlands in Tientsin war überhaupt seine erste in China.

Schon aus dem Gesagten geht hervor, daß die Konzessionen der
verschiedenen Mächte in den Vertragshäfen nicht ausschließlich nur
den eigenen Unterthanen als Wohnort dienen; ja diese ein bis drei
Quadratkilometer großen Gebiete sind nicht einmal den Konsularbehörden
dieser Mächte unterstellt, sondern bilden sozusagen kleine Republiken,
die gegebenenfalls unter dem Schutze aller Mächte stehen. Aehnlich
lagen die Verhältnisse bis 1898 auch in den fünf Vertragshäfen Japans,
und diese Republiken sind eine Eigenart Ostasiens, wie sie sonst auf
dem Erdball nicht wieder vorkommt. In Ostasien hören die Engländer
oder Deutschen dem Chinesen oder Japaner gegenüber auf, Engländer oder
Deutsche zu sein; sie, sowie die Amerikaner, Franzosen und Angehörige
anderer Nationen, sind glücklicherweise einfach Kaukasier, oder, wie
sie von den Chinesen genannt werden, Barbaren. Freilich hat sich
England im Vertrag von Tientsin 1858 ausdrücklich ausbedungen, daß
kein englischer Beamter oder Unterthan mit dem Worte Barbar bezeichnet
werden dürfe, indessen wird dieses Wort doch noch immer, und zwar
täglich, von den Chinesen gebraucht.

Das hervorragendste Beispiel dieser europäischen Republiken in China
ist Shanghai; dort besaßen ursprünglich die Engländer, Amerikaner
und Franzosen eigene streng abgegrenzte Konzessionen, allein die
Bevölkerung dieser Fremdenstadt ist so international, und die
Interessen sind dabei so gemeinsam, daß die Amerikaner und Engländer
ihre Hoheitsrechte aufgaben und die ganze Verwaltung der Bevölkerung
selbst überließen, diese gleichzeitig unter den Schutz aller in Peking
vertretenen Mächte, d. h. deren Gesandten, stellend. Nur die Franzosen
beteiligten sich nicht daran, sondern behielten ihre eigene, unter dem
Generalkonsul stehende Verwaltung, obschon, wie gesagt, der größte Teil
der französischen Kaufleute außerhalb der französischen Konzession
wohnt. Jeder Kaufmann, der eine bestimmte jährliche Steuer zahlt, ist
in dieser Republik Shanghai stimm- und wahlberechtigt. In jedem Jahre
wird eine öffentliche Versammlung einberufen, welche die Mitglieder
des Stadtrats zu erwählen hat. Dieser aus neun Räten und einem
Sekretär bestehende Stadtrat ist die oberste, und man könnte beinahe
sagen, souveräne Behörde der Republik. Da die Engländer und Deutschen
in Shanghai am zahlreichsten sind, so sind sie auch im Stadtrat am
stärksten vertreten, obschon es ebensogut vorkommen könnte, daß dort
die Franzosen oder Portugiesen die Majorität besäßen. Es handelt sich
glücklicherweise in Shanghai nicht um Nationalitäten, ebensowenig
giebt es Parteiwesen und Opposition; die tüchtigsten und angesehensten
Bürger werden gewählt und wiedergewählt, solange sie ihre Schuldigkeit
thun. Unter dem Stadtrat (Municipal Council) stehen die Steuerbeamten,
das Ingenieur- und Vermessungsamt, die Sanitäts- und Polizeibehörden,
die Feuerwehr und das Freiwilligenkorps. Die einzelnen Komitees
des Stadtrats überwachen diese Einrichtungen und legen jährlich in
einer allgemeinen öffentlichen Versammlung den Bürgern der Republik
Rechenschaft ab, ähnlich wie es in einzelnen Kantonen der Schweiz,
z. B. in Unterwalden und Appenzell, der Fall ist.

Während die inneren Angelegenheiten dieser Republik, wie diejenigen
von Hankau, Canton, Tientsin, in den Händen der Bürger selbst liegen,
werden die äußeren Angelegenheiten, vornehmlich der Verkehr mit den
Chinesen, durch die Konsuln vermittelt. Die chinesischen Behörden
haben innerhalb der europäischen, genau abgegrenzten Ansiedelungen
keine Rechte; sie dürfen sie nicht militärisch besetzen lassen, auch
von den dortigen Einwohnern, selbst wenn sie Chinesen wären, keine
Steuer erheben. Deshalb dienen die Settlements auch zahlreichen
Chinesen als Asyl, wo sie, unbelästigt von den Mandarinen, in Frieden
leben und schaffen können. So wohnen innerhalb der Grenzen des
europäischen Settlements in Shanghai (abgesehen von der französischen
Konzession) allein 260000 Chinesen, im Vergleich zu 75000 im Jahre
1870. Sie stehen in allen Dingen unter der europäischen Verwaltung
der Settlements, und nur die Rechtspflege über sie wird von einem
chinesischen Mandarin gehandhabt, dem aber abwechselnd ein Assessor
des europäischen Konsulargerichts zur Seite steht, der thatsächlich
der Richter ist. Die europäischen und amerikanischen Bewohner der
Settlements sind exterritorial, gerade so, wie es die fremdländischen
Gesandten in unseren Staaten sind; in Bezug auf die Rechtspflege stehen
sie unter ihren Konsuln, denen Gerichtsassessoren beigegeben sind. Die
Europäer können aber auch außerhalb der Konzessionen irgendwo in den
Städten oder auf dem Lande Grund und Boden erwerben oder ihrem Beruf
nachgehen und bleiben dennoch unter der Gerichtsbarkeit ihrer Konsuln.
Chinesische Behörden dürfen sie nicht aburteilen, sondern müssen sie
den betreffenden Konsuln abliefern. Bei Rechtsstreitigkeiten zwischen
Europäern und Chinesen treten gemischte Gerichte in Thätigkeit.

[Illustration: Ein Thee- und Konzerthaus in Shanghai.]

Die Konzessionen sind nicht etwa für ewige Zeiten auf den ursprünglich
bestimmten Flächenraum beschränkt. Sind die vorhandenen Bauplätze
vergeben, so daß neue Ankömmlinge keinen Grund und Boden mehr
finden, sollen Gärten, Spielplätze, Fabrikanlagen geschaffen werden,
so erwerben die Betreffenden durch Kauf die ihnen passenden, an
die Konzession grenzenden Strecken, die Kaufbriefe werden von
den chinesischen und europäischen Behörden bestätigt und in dem
betreffenden Konsulate aufbewahrt. Das erworbene Land aber wird in die
Fremdenkonzession einverleibt. Die Zentralregierung in Peking, selbst
die Provinzbehörden haben damit nichts zu thun; in den meisten Fällen
genügt die Bestätigung durch die Ortsbehörden.

Auch in Häfen, wo nur englische Konzessionen bestehen, bilden die dort
lebenden Europäer der verschiedensten Nationen eine kleine Republik für
sich, nur daß die Maßnahmen des Municipal Council, wie Steuerauflagen,
Wege- und Hafeneinrichtungen, polizeiliche Anordnungen, der Bestätigung
des Konsuls bedürfen. Ähnlich sind auch die neuen German Settlements in
Tientsin und Hankau eingerichtet worden.



[Illustration: Vor Taingan-fu.]



Chinesische Seide und ihre Metropole.


Man braucht im Reiche der Mitte gar nicht weit zu wandern, um zur
Erkenntnis zu kommen, daß neben Thee die Seidenzucht die wichtigste
Industrie und die einträglichste Erwerbsquelle der Zopfträger bildet.
Millionen der chinesischen Landbevölkerung, Männer, Frauen und Kinder,
beschäftigen sich hauptsächlich mit der Zucht der Seidenraupen,
Millionen mit Spinnen und Weben der Seidenstoffe, und wollte man
die Geldsummen nennen, welche die fleißigen Bauern der mittleren
Provinzen im Laufe des letzten Jahrhunderts allein durch diese kleinen
unscheinbaren weißen Würmer verdient haben, man müßte zu Milliarden
greifen. Werden doch alljährlich allein nach Europa und Amerika
Seide und Seidenwaren im Werte von etwa zweihundert Millionen Mark
ausgeführt, und diese bilden nur einen Bruchteil der Unmassen Seide,
welche die Chinesen für Kleidung und Opferzwecke jährlich selbst
verbrauchen. In Peking allein werden von dem Sohne des Himmels und den
kaiserlichen Prinzen jährlich Tausende von Stücken der kostbarsten
Seidenstoffe im Werte von Hunderttausenden verbrannt, um den Göttern
und den eigenen Ahnen wohlgefällig zu sein. Quadratmeilen Landes
könnten mit den von fleißigen Händen angefertigten Seidenstoffen
bedeckt werden, und alle diese Massen rühren von der kleinen
Seidenraupe her. Kein Wunder, daß die Chinesen diesen Tierchen die
größte Sorgfalt, die aufmerksamste Pflege angedeihen lassen und sie
mit solcher Auszeichnung, ja Ehrfurcht behandeln, als wären es lauter
Mandarine mit roten Hutknöpfen. Gerade so wie die Mandarine ihre
eigenen strengumschlossenen und bewachten Yamen (Amtslokale) haben,
so besitzen auch die Seidenraupen ihre eigenen Häuser, fern von jedem
Straßenverkehr, von jedem Lärm gelegen, geschützt gegen Zug und Wind,
gegen Kälte und übergroßes Licht. Die Chinesen, die sie zu pflegen
haben, essen keinen Knoblauch und keine Zwiebel, weil den Tierchen
der Geruch unangenehm sein soll; sie kleiden sich viel reinlicher und
waschen sich vor dem Eintritt in das Raupenhaus die Hände; innerhalb
des Hauses aber ist Singen, Pfeifen, lautes Sprechen streng verboten.
Wenn überhaupt gesprochen wird, so darf dies nur im Flüsterton
geschehen. Wie beneidete ich häufig die Seidenraupen um ihre köstliche
Nachtruhe! Was herrschte in den chinesischen Städten, die ich besuchte,
für ein Höllenlärm! Schreien, Schießen, Gongschlagen, Trompeten die
ganze Nacht hindurch! Wir Menschen mußten leiden, und diese kleinen
Dingerchen, die ja nur unsertwegen überhaupt gezüchtet werden, können
ruhig schlafen! Was wurde ich bei meinen Wanderungen durch die
Chinesenstädte von zerlumpten, aussätzigen, verkrüppelten Bettlern
belästigt, und ich mußte es geduldig ertragen. Wehe aber diesen
Bettlern, wenn sie sich einem Raupenhause auch nur nähern sollten! Mit
Stöcken werden sie davongejagt. Selbst kerngesunde Menschen dürfen
ein derartiges Heiligtum nur betreten, wenn sie sich mit Wasser, in
dem Maulbeerblätter liegen, besprenkelt haben. Wo das Wasser fehlen
sollte, müssen sie vor dem Eintritt Sand auf ihr Haupt streuen, ähnlich
den Mohammedanern, denen es auch gestattet ist, ihre Waschungen vor
dem Gebet statt mit Wasser mit Sand vorzunehmen. Man könnte glauben,
die Seidenraupe sei der Gott der Chinesen. In ihren Tempeln verkehren
sie mit derselben Gleichgültigkeit wie auf der Straße; sie wickeln
sogar Geschäfte dort ab und spielen in den Tempelhöfen Theater.
Die Raupenhäuser aber sind geheiligt; niemand darf sie während der
Trauerzeit um einen Anverwandten betreten, und auch Frauen, die einen
Zuwachs in ihrer Familie erwarten, sind von dem Besuche ausgeschlossen.

Diese Gebräuche sind durch Jahrtausende geheiligt, wie so viele andere
in dem blumigen Reiche der Mitte. China ist ja die eigentliche Heimat
der Seidenraupe, von wo sie ihren Weg nach anderen Ländern Ostasiens
und nach Europa genommen hat. Die Gattin des Kaisers Huang-Li war es,
die im 26. Jahrhundert vor Christi Geburt als erste die Seidenraupe
nährte und mit ihren zarten Fingern die Seidenfäden von den Cocons
haspelte. Sie wird darum auch in ganz China unter dem Namen Yuen-fi als
Göttin der Seide hoch verehrt.

In Peking ist ihr ein innerhalb der verbotenen Kaiserstadt gelegener
Tempel geweiht, und dort werden ihr alljährlich einmal von der ersten
Kaiserin (der Sohn des Himmels hat deren nämlich zwei) und ihrem ganzen
Hofstaate Opfergaben dargebracht. In feierlichem Aufzuge begeben sie
sich nach dem Yuen-fi-Tempel. In dem Tempelgarten angelangt, schneiden
sie eigenhändig Blätter von den Maulbeerbäumen, wozu die Kaiserin eine
goldene Schere verwendet, während die Hofdamen solche aus Silber haben.
Mit diesen Blättern füttern sie die Seidenraupen im Innern des Tempels;
dann werden ihnen von den Priestern Cocons dargereicht, von denen die
hohen Damen die Seide abwickeln. Ob es ihnen gelingt, die zarten Fäden
wirklich unversehrt auf die Spule zu bringen, ist zweifelhaft, denn
diese Arbeit erfordert ungemein viel Übung; aber sie geben wenigstens
dem Lande ein gutes Beispiel, das auch überall befolgt wird. Das
Coconfest gehört zu den großen Feiertagen des chinesischen Jahres, und
wie in Peking, so wird es auch in den Provinzen von den Mandarinen und
den Beamten in feierlichster Weise begangen.

Indessen, die gute Yuen-fi und ihre Schützlinge, die Seidenraupen,
werden erst seit ein paar hundert Jahren so sehr verehrt. Als im
Jahre 1260, unter der Yuandynastie, Baumwolle von Indien her in
China eingeführt wurde, verdrängte diese durch ihre Wohlfeilheit die
Seide immer mehr. Die Seidenindustrie verfiel, und zu Beginn des
siebzehnten Jahrhunderts wurde noch gerade so viel Seide erzeugt, als
der kaiserliche Hof für seine Opferfeste und die Mandarine für ihre
Kleidung bedurften. Erst die Europäer waren es, die die Seidenzucht in
China wieder zu Ansehen brachten, denn die europäischen Damen fanden
bekanntlich an den kostbaren, reizenden Seidenstoffen besonderen
Gefallen, und da der Bedarf von den europäischen Seidenzüchtereien
nicht befriedigt werden konnte, so bestellten die europäischen Händler
Seidenstoffe in China.

Die Industrie entwickelte sich immer mehr, die vielen Millionen
Silber, welche die Europäer den Chinesen für ihre Seide bezahlten,
brachten erneuten Wohlstand unter die letzteren, so daß sie sich
bald selbst wieder in kostbare Seidenstoffe kleideten. Statt der
Kaiserin Yuen-fi sollten also die Chinesen eigentlich die europäischen
Damen als Göttinnen verehren und in ihren Tempeln Bildnisse von
Europäerinnen aufstellen, die sich an Liebreiz und Schönheit gewiß
mit der vorsündflutlichen Kaiserin messen können und denen auch von
Rechts wegen der Dank der Zopfträger gebührt. Jetzt wird Seide wieder
in allen Provinzen des eigentlichen Chinas, vornehmlich in Schantung,
ja sogar in der fernen Mandschurei hergestellt, und auf meiner Reise
nach Korea fand ich, daß die Seidenkultur auch dort Eingang gefunden
hat. Die beste chinesische Seide aber wird in der Provinz Tschekiang
hergestellt, und die Hauptstadt derselben, Hangtschou, ist gleichzeitig
das Lyon von China, die Metropole der Seidenindustrie.

Man darf aber nicht etwa glauben, es gäbe in China große
Maulbeerplantagen, Massenkultur in Seidenraupen, Spinnereien und
Webereien mit Dampfbetrieb. Die chinesische Industrie bewegt sich
in anderen Bahnen. Gerade so, wie zur Zeit der Gattin des Kaisers
Huang-Li, liegt auch heute noch die ganze Seidenzucht in den Händen der
Bauern. Der Arbeitsteilung, Vereinfachung der Arbeit durch Maschinen,
Neuerungen und Verbesserungen ist der Chinese schwer zugänglich.
Wie unsere Bauern ihre eigenen Kartoffeln und gelben Rüben in ihren
Gärtchen pflanzen, so pflanzt auch jeder Bauer in Tschekiang seinen
Reis und Thee und zieht seine Seidenraupen, die letzteren nicht etwa
allein der Seide, sondern auch der Nahrung wegen. Sind nämlich die
Cocons abgebrüht und die Seidenfäden abgewickelt, so werden die Larven
den Cocons entnommen und als Leckerbissen verzehrt.

Da nun für die Raupenzucht Maulbeerbäume unerläßlich sind, so findet
man deren auch auf den meisten kleinen Landgütern, wo immer nur ein
Plätzchen vorhanden ist, auf dem weder Reis noch Thee gepflanzt werden
kann. Es giebt aber auch zahlreiche größere Maulbeerpflanzungen,
in die die jungen Bäumchen gewöhnlich im Dezember in Abständen von
etwa zwei Meter voneinander gepflanzt werden. Man läßt sie nicht zu
Bäumen emporwachsen wie bei uns, sondern schneidet sie bis auf fünfzig
Centimeter Höhe, und dieses fortwährende Beschneiden giebt ihnen ein
Aussehen, wie es beiläufig unsere Weidenbäume zeigen, mit dicken
Knollen am oberen Ende des Stammes, an dem zahlreiche Schößlinge
hervorsprießen. Die Bäume werden fünfzig bis sechzig Jahre alt, und
würde man sie wachsen lassen wie die wilden Maulbeerbäume, so besäßen
sie in diesem Alter eine Höhe von zwanzig bis fünfundzwanzig Meter.

Für die Zucht der Seidenraupe werden natürlicherweise nur die größten
und vollkommensten Cocons verwendet. Schon am ersten Tage, nachdem der
weibliche Falter sich durch die seidene Hülle des Cocons gebohrt und
das Licht der Welt erblickt hat, legt er gewöhnlich mit musterhafter
Pünktlichkeit die Eier. Man setzt ihn für diesen Zweck auf einen
großen Bogen groben Papiers, in den nördlichen, kälteren Provinzen
wohl auch auf ein Stück Stoff, und auf diesem sieht man bald gegen
fünfhundert winzige Eierchen. Diese Papierbogen oder Stoffe werden nun
sorgfältig in reines Wasser getaucht und auf horizontale Bambusstangen
zum Trocknen aufgehängt. Dort bleiben sie den Sommer und Herbst
über bis zum Dezember und werden dann in ein reines, staubfreies,
sonniges Zimmer auf den Boden gelegt. Im Februar werden die Eierbogen
nochmals dadurch gewaschen, daß man sie eine Zeit lang mit lauwarmem
Wasser übergießt; dies geschieht teilweise auch, um ein möglichst
gleichzeitiges Auskriechen der Raupen zu erzielen. In manchen Gegenden
bewahren die Chinesinnen die Eierbogen an ihrem Körper, um den Eiern
die natürliche gleichmäßige Wärme zu teil werden zu lassen, oder sie
legen sie auch zwischen die Untertücher ihrer Betten.

Naht die Zeit des Auskriechens der Würmer, so werden die Papierbogen
auf reine Bambusmatten gelegt und diese in Fächer eingeschoben, die
sich ringsum an den Wänden des Raupenhauses hinziehen. Diese Fächer
sind ebenfalls aus Bambus angefertigt, weil Bambus geruchlos ist und
die Raupen nach der Meinung der Chinesen Gerüche nicht vertragen
können. Wenn nur die guten Zopfträger diese vortreffliche Eigenschaft
ebenfalls besäßen! Das Reisen in China und der Aufenthalt in den
Städten wäre dann unendlich viel angenehmer.

Es ist erstaunlich, welche Mengen an Maulbeerblättern die neu
ausgekrochenen Würmchen vertilgen können. Sie sind kaum ein viertel
Centimeter lang und von der Dicke eines Menschenhaares, aber dabei
fressen sie sich in die saftigen grünen Blättchen hinein, daß es eine
wahre Freude ist. Ursprünglich sind sie von schwarzer Farbe; während
der zweiunddreißig Tage ihres Raupendaseins werden sie aber immer
heller, bis sie schließlich eine schmutzigweiße Farbe zeigen und die
Länge eines kleinen Fingers erreicht haben. Ihre einzige Lebensaufgabe
scheint es zu sein, möglichst viel zu fressen, und die Chinesen
behaupten, daß sie in einem Tage zwanzigmal ihr eigenes Gewicht an
Maulbeerblättern verzehren. Alle fünf Tage setzen sie mit ihrem Fraß
aus und geben sich dem Schlafe hin, während dessen sie sich häuten. Am
zweiunddreißigsten Tage werden in den Raupenhäusern lose Strohbündel
aufgehängt und auf jedes derselben sechzig bis siebzig Raupen gesetzt.
Die Strohhalme geben ihnen den Halt, um sich einzuspinnen, und nach
fünf Tagen haben sie sich aus den zartesten Seidenfäden ihren Sarkophag
gesponnen. Ließe man sie darin ruhig schlafen, so würden sie am zehnten
Tage als Schmetterlinge ihre Auferstehung feiern.

[Illustration: Landbewohner.]

Dies ist natürlich keineswegs die Absicht der Seidenzüchter. Kaum
sind die Cocons fertig gesponnen, so werden sie von den Strohhalmen
abgelöst, auf Bambusmatten gelegt und der Hitze von Holzkohlenfeuern
ausgesetzt, welche die Puppen tötet. Nun werden die Cocons in heißes
Wasser gelegt, um die Seide zu lockern, und die Fäden mittels
primitiver Mittel abgewickelt. Nur in Shanghai, Macao, Canton und
Tschifu haben bisher europäische Filaturmaschinen zum Aufwinden der
Coconfäden Anwendung gefunden. Wären diese in China ebenso allgemein
eingeführt wie in Europa oder in Japan, das auch hierin die Europäer
nachgeahmt hat, so würde die chinesische Seide noch viel mehr begehrt
werden und größeren Wert besitzen, als jetzt, aber wem gelänge es, die
Chinesen dazu zu bringen? Sie sind all diesen, von den europäischen
Barbaren stammenden Neuerungen abhold, und wie ihre Großväter und
Väter, so arbeiten auch sie heute noch in der althergebrachten
Weise. Ich habe Bauernhäuser besucht, deren Inwohner nicht nur die
Maulbeerbäume auf ihrem Grund und Boden pflegten und Seidenwürmer
großzogen, die Weiber wickelten auch die Seide von den Cocons, spannen
die Fäden und webten die Stoffe auf den ursprünglichen Webstühlen, die
vielleicht seit Jahrhunderten schon in ihren Familien sich von einer
Generation auf die andere vererbt haben.

Dabei sind die Stoffe fester, dauerhafter als jene, die auf
europäischen Maschinen angefertigt werden, allein die letzteren
sehen hübscher und gefälliger aus, und deshalb wetteifern sie mit
chinesischen Stoffen in China selbst. Es giebt in dem ganzen großen
Vaterlande der Seide heute noch keine einzige von Chinesen geleitete
Seidenfabrik nach europäischem Muster. Selbst die kaiserliche
Seidenfabrik in Nanking, die ich auf meiner Fahrt den Jangtsekiang
aufwärts besuchte, hat noch keinen Dampfbetrieb, und die schweren
herrlichen Brokate für die kaiserliche Familie, welche in Peking das
Entzücken der europäischen Gesandten erwecken, werden auf den plumpen
chinesischen Webstühlen gerade so wie um Christi Geburt hergestellt.

Aber es giebt doch eine Stadt in dem großen Reiche, wo man wirklich
von einer großartigen, ausgebreiteten Seidenindustrie sprechen kann,
wo gegen hunderttausend Menschen jahraus jahrein Stoffe weben,
während in der Umgebung dieser Stadt noch eine gleich große Zahl von
Arbeitern ihren Lebensunterhalt durch die Seidenweberei verdienen.
Es ist Hangtschou. Obschon nur zwei Tagereisen von Ningpo, einem
der großen Vertragshäfen Chinas entfernt, und leicht zu erreichen,
wird es von Europäern nur selten besucht. Und das mit Unrecht, denn
Hangtschou, die Hauptstadt der Provinz Tschekiang, ist eine der
bedeutendsten und interessantesten Städte des Reiches der Mitte, bei
den Chinesen hochberühmt seit undenklichen Zeiten. Sogar in Europa
erlangte Hangtschou während einiger Zeit eine gewisse Berühmtheit,
die es den überschwänglichen Schilderungen des großen Weltfahrers
Marco Polo verdankte. „Sie hat hundert Meilen in der Runde”, so
schreibt er, „und hundertsechzigtausend Häuser; dazu dreitausend
Bäder, zwölftausend steinerne Brücken, jede einzelne bewacht von
zehn Soldaten, und so hoch, um ganze Flotten durchzulassen; jede
der zwölf Handwerksgesellschaften besitzt zwölftausend Häuser.”
Nirgends hat Marco Polo etwas gesehen, wie diese „edelste der Städte,
die großartigste und schönste der Welt”. Aber auch andere spätere
Reisende, darunter der arabische Ahasverus Ibn Batuta, schwärmen von
Hangtschou in ähnlicher Ueberschwänglichkeit. Die Chinesen sagen: „Um
glücklich zu sein, muß man in Sutschou geboren sein und in Hangtschou
leben”, und ein ähnliches Sprichwort der Zopfträger lautet: „Der Himmel
über uns, Sutschou und Hangtschou auf Erden”.

Thatsächlich war Hangtschou schon zu Beginn der christlichen
Zeitrechnung eine große Stadt und von 1127 bis 1278 die Hauptstadt des
chinesischen Reiches mit zwei Millionen Einwohnern. Heute entspricht
es freilich weder seiner eigenen Vergangenheit, noch den begeisterten
Schilderungen der früheren Reisenden, aber es ist dennoch eine der
sehenswertesten Städte von China. Wer es besucht, darf allerdings auf
Dampferfahrten, Hotels und andere europäische Bequemlichkeiten, wie
sie heute sogar schon tausend Kilometer den Jangtsekiang aufwärts im
Herzen von China zu treffen sind, keinen Anspruch machen. Er muß von
Ningpo aus in einem chinesischen Kanalboot die Reise unternehmen, will
er nicht auf kantigen Maultierrücken und elenden holperigen Wegen
landeinwärts reiten und in einem chinesischen Hotel übernachten, was
auch nicht gerade zu den Annehmlichkeiten des Lebens zählt. Hangtschou
liegt am Nordufer des breiten Tsientangflusses, nahe seiner Mündung
in die Bucht von Hangtschou. Der Fluß wird auf Fährbooten übersetzt,
welche jedermann, vom Mandarin erster Klasse bis zum letzten Bettler,
zur freien Verfügung stehen. Diese Fährboote sind eine Eigentümlichkeit
Hangtschous, ein Beispiel chinesischer Wohlthätigkeit. Bei dem
ungeheuren Verkehr zwischen der immer noch eine Viertelmillion
Einwohner zählenden Provinzialhauptstadt und ihrem großen Seehafen
Ningpo würde eine geringe Abgabe den Inhabern der Fährboote, ob nun
Regierung oder Privatunternehmer, reiche Einnahmen verschaffen,
Hunderttausende von Taels jährlich. Allein die vornehmen Herren von
Hangtschou, die Gilden und reichen Kaufleute dieser Stadt, sowie von
Ningpo schossen ein beträchtliches Kapital zusammen, aus dessen Zinsen
etwa dreißig Dschunken unterhalten und zur kostenfreien Verfügung der
Reisenden gestellt werden.

Schon an dem seiner wilden Springfluten wegen berüchtigten Fluß
zeigt sich Hangtschou viel großartiger als so manche andere noch
volkreichere Chinesenstadt. Mächtige Mauern und Wälle mit hohen
kanonengespickten Thoren umgeben die Stadt, und über diese ragen
zahlreiche Pagoden und Tempel empor, schöner, prächtiger, höher als
irgendwo in China. Sie sind die einzigen Ueberreste aus der nunmehr
viele Jahrhunderte zurückliegenden Glanzzeit der Stadt. Damals lagen
sie in der Mitte derselben, heute aber erheben sich viele in den
Reisfeldern und Maulbeerpflanzungen der Umgebung, weit außerhalb der
jetzigen Ringmauern. Wie die früheren, weit ausgedehnteren Ringmauern,
so sind auch viele Tausende von Häusern und Palästen der Zeit zum
Opfer gefallen. Die Chinesen bauen aber nicht wie die Griechen, die
Römer und Aegypter es gethan, aus Stein, sondern aus Lehm, und nur
für die wenigsten Bauten, hauptsächlich Pagoden und Ehrenpforten,
verwenden sie Quadern. Welch herrliche alte Städte würde China sonst
besitzen! Was könnte es im Reiche der Mitte für Roms und Athens geben!
Am verderblichsten war für die Größe und Blüte von Hangtschou der
furchtbare Aufstand der Taipings um die Mitte des Jahrhunderts, und
heute noch sind die trostlosen Spuren dieses verderblichsten aller
Bürgerkriege selbst in der inneren Stadt nicht verwischt.

[Illustration: Pagode von Hangtschau.]

Die Chinesen errichten beim Häuserbau eben nur die Grundmauern bis auf
etwa einen Meter über dem Erdboden aus Ziegeln oder Stein. Der Rest der
Mauern wird aus gestampftem Lehm oder Erde errichtet und darüber aus
Balken der Dachstuhl gebaut. Solche Mauern können heftigen Regengüssen
und sonstigen Witterungseinflüssen natürlich nicht lange standhalten.
Aehnlich wurden auch die Stadtmauern hergestellt. So dräuend sie auch
aussehen mögen, sie sind aus Lehm aufgeworfen und nur äußerlich mit
einer Lage von Steinen bekleidet, die aber nicht mit Mörtel aneinander
gefügt werden. Die zahlreichen alten Tempel, Pagoden, Kaiserpaläste,
Lusthäuser und Befestigungstürme, die heute im Umkreis von mehreren
Kilometern um die jetzige Stadt in Feldern und Sümpfen liegen,
liefern wie gesagt den Beweis, daß Hangtschou einstens vielleicht die
überschwänglichen Lobpreisungen Marco Polos und des Ibn Batuta verdient
hat. Auf den Inseln des großen Sees Si-Hu im Westen der Stadt erheben
sich inmitten üppiger Vegetation derartige verfallene Bauten, deren
leichte, elegante Architektur noch heute erkennbar ist. An den Ufern
des Tsientangflusses steht die mächtige aus dem zwölften Jahrhundert
stammende Pagode der sechs Harmonien, und an der Nordseite des Si-Hu
die schlanke, vor nahezu einem Jahrtausend gebaute Pao-Schupagode.
Der gewaltigste Bau ist jedoch wohl die ganz aus gebrannten Ziegeln
hergestellte Lui-Fung-Ta, d. h. die Pagode des donnernden Felsens,
gegen siebzig Meter hoch und aus dem zehnten Jahrhundert stammend.

Indessen Hangtschou geht dank seiner Seidenindustrie neuer Blüte
entgegen und hat sich in den letzten Jahrzehnten abermals weit über
seine jetzigen Ringmauern ausgedehnt, so daß zwischen den Stadtthoren
und dem Tsientangfluß eine neue volkreiche Vorstadt entstanden ist.
Wenige Städte Chinas zeigen in ihren geraden, verhältnismäßig breiten
Straßen so lebhaften Verkehr; die Kaufläden, die nach den verschiedenen
Industrien und Warengattungen beisammen liegen, sind schöner, größer,
reichhaltiger, die Menschen sind besser gekleidet, und über der ganzen
Stadt liegt ein Anstrich von Wohlstand, denn Hangtschou wird von
vielen reichgewordenen Mandarinen und Kaufleuten, von Litteraten und
Industriellen bewohnt. Ganze Quartiere werden von den Seidenwebern und
Spinnern eingenommen, die Tag für Tag ohne Unterbrechung ihrem Gewerbe
nachkommen und sich nur an acht oder zehn Tagen im Jahre, während
des Neujahrsfestes, Ruhe gönnen. Gerade so wie in Canton werden auch
hier in den kleinen Häusern Pongeeseide, Kopftücher, Stückseide und
Brokate in vorzüglichen Gattungen hergestellt, aber während Canton sehr
viel für die Ausfuhr nach Europa arbeitet, wird der größte Teil der
Erzeugnisse von Hangtschou im Inlande abgesetzt, und die ganze Ausfuhr
der Provinz Tschekiang beläuft sich nur auf etwa 400 Pikuls (25000
Kilogramm) im Werte von einer Viertelmillion Taels.

Am meisten Seide wird aus Hankou, im Herzen Chinas am Jangtsekiang
gelegen, ausgeführt und ihr Wert erreicht jährlich gegen vierundzwanzig
Millionen Mark; beiläufig ebensoviel exportiert Canton; dann folgen der
Reihe nach Tschifu und Itschang. Im Jahre 1891 erreichte die Ausfuhr
chinesischer Seide nach Europa zweihunderttausend Pikuls, im Jahre 1893
belief sich der Wert der Seidenausfuhr aus siebenunddreißig Millionen
Taels oder etwa hundertundvierzig Millionen Mark.

In den nördlichen Provinzen, sowie in der Mandschurei werden die
Seidenwürmer nicht allein mit Maulbeerblättern, sondern auch mit
Eichenlaub großgezogen. Man läßt die Würmer auf den Bäumen, wo sie sich
selbst nähren, und sie bleiben ohne Pflege und ohne Schutz, bis sie
sich eingesponnen haben. Die Frühjahrscocons werden nicht eingeheimst;
man läßt die die Falter auskriechen, und erst die Herbstcocons bilden
die Ernte. In diesen nördlichen Provinzen ebenso wie im Stromgebiete
des Jangtsekiang sind die Krankheiten der Seidenraupen, welche in
Frankreich und Italien so große Verheerungen unter ihnen anrichten,
unbekannt, dagegen sind sie in Tschekiang schon aufgetreten.
Trotzdem liefert China unzweifelhaft auch heute noch die beste
Rohseide, und sollten die Chinesen endlich die bewährten europäischen
Erzeugungsmethoden annehmen, so würde es ihnen leicht werden, den
japanischen Wettbewerb aus dem Felde zu schlagen und ihre jetzt schon
so großen Einnahmen zu verdoppeln.



Leben, Trachten und Sitten der chinesischen Frauen.


Am ersten Tage meines Aufenthaltes in Canton gewahrte ich in dem
Straßengewirr dieser größten Stadt des Reiches der Mitte an einer
Straßenbiegung eine junge Chinesin, ihrer Kleidung nach zu schließen,
den besseren Ständen angehörig. Auf ihren winzigen Füßchen trippelte
sie unbeholfen, auf einen Schirm gestützt, einher, ein seltsames Wesen
mit bemaltem Gesicht und üppigem schwarzen Haar, in welchem einige
natürliche Blumen steckten.

[Illustration: Frau aus dem Volke.]

Die Chinesen, die ihr begegneten, blickten sie spöttisch an, einige
riefen ihr mir unverständliche Worte zu, andere verhöhnten sie durch
Gebärden. Die Chinesin aber ließ alle Vorübergehenden unbeachtet.

Das zarte Geschöpf interessierte mich, denn ihr unschuldsvoller
Gesichtsausdruck und ihre Scheu sagten mir, daß sie unmöglich eine
Jüngerin Aphrodites sein könne. Mein Dolmetscher, den ich darüber
befragte, bestätigte meine Vermutung. „So geht es den Frauen immer”,
fügte er hinzu, „wenn sie sich ohne Begleitung auf die Straße wagen.
Anständige Frauen sollen bei uns das Haus nicht verlassen, und thun sie
es, so lassen sie sich in geschlossenen Sänften tragen, oder sie nehmen
Begleiterinnen mit.”

„Aber die vielen Frauen, die wir hier in den Straßen sehen”, frug ich
weiter, „bleiben doch unbeachtet? Kein Mensch scheint sich um sie zu
kümmern.”

„Weil sie arm sind, nur Arbeiterinnen und Frauen aus dem Volke. Aber
Damen dürfen sich so nicht sehen lassen: das ist gegen die Sitte.”

Thatsächlich fand ich während meiner folgenden Reisen und Aufenthalte
in größeren Städten diese Bemerkungen bestätigt. Der Gegenstand war so
interessant, daß ich überall trachtete, so viel als möglich darüber
zu erfahren. Auf vielen früheren Reisen hatte ich beobachtet, daß
nichts so richtig auf den Kulturzustand eines Volkes schließen läßt,
als die Stellung der Frau. In China ist diese Stellung nicht so tief,
als es den Anschein hat. Die Mißachtung der Frau ist nur äußerlich und
durch althergebrachte Formen eingeimpft. In Wirklichkeit spielt sie
vielleicht eine ebenso wichtige, wenn nicht wichtigere Rolle und ist
geachteter und einflußreicher als bei so manchem anderen Volke, dessen
Kulturzustand für höher angesehen wird als jener der Chinesen. Der
Fremde, der länger in China weilt, wundert sich in der ersten Zeit,
den Chinesen niemals in der Gesellschaft ihrer Frauen und Töchter zu
begegnen. Empfängt der Chinese zu Hause, so bleiben die weiblichen
Mitglieder seiner Familie unsichtbar; giebt er Diners, so nehmen nur
Männer, zuweilen auch Courtisanen daran teil, niemals die Frauen;
besucht er das Theater, so werden die Frauen in einer abgesonderten,
den Männern unzugänglichen Galerie Platz nehmen; fährt er an einem
besonderen Festtage spazieren, so geschieht dies ausschließlich nur in
Gesellschaft von Männern; die Frauen fahren in einem anderen Wagen und
zu anderer Zeit aus. Bei Familienfesten, Hochzeiten und dergleichen
bewirtet der Hausvater die Männer, seine Gattin die Frauen. Ja, es
ist unter den Chinesen sogar ein Verstoß gegen die gute Sitte, nach
dem Befinden der Frau überhaupt nur zu fragen, geschweige denn ihr
einen Besuch abzustatten oder die (stets rote) Visitenkarte bei ihr
zu hinterlassen. Im gesellschaftlichen Verkehr werden die Frauen
vollständig ignoriert, als wären sie gar nicht vorhanden, obschon die
Chinesen unter sich ein sehr ceremoniöses, höfliches Volk sind. Das
einzige weibliche Wesen, das im Gespräch unter Bekannten beachtet wird,
ist die Mutter. In einem fremden Hause erkundigt sich der Besucher
nach dem Alter und dem Befinden aller männlichen Bewohner. Er fragt
nicht: „Wie geht es Deinem Vater?” sondern in wörtlicher Uebersetzung:
„Ausgezeichneter Bejahrter, welches ehrenwerte Alter?” d. h. „wie alt
ist Dein Vater?” Der Vater des Hausherrn wird von Besuchern als der
ausgezeichnete Ehrenwerte oder der ehrwürdige große Fürst bezeichnet;
der Sohn nennt seinen Vater Majestät der Familie oder Fürst der
Familie; der verstorbene Vater heißt der frühere Fürst. Will aber ein
Gast der Mutter des Hausherrn (niemals der Frau) seine Aufmerksamkeit
bezeugen, so sagt er: „Ausgezeichnete Langlebigkeit Halle bezeuge für
mich Wunsch Ruhe”. Die drei ersten Worte deuten die Wohnung der Mutter
an. Spricht ein Chinese mit einem näheren Bekannten von dessen Frau, so
nennt er sie die ehrenwerte Dame oder Deine Bevorzugte; spricht er aber
von seiner eigenen Frau, so bezeichnet er sie mit den Worten „tsien
nui”, d. h. die Geringe der inneren Gemächer oder auch die Närrische
der Familie. Selten dringt ein Fremder bis in die Frauengemächer seines
Gastfreundes.

Unter solchen Umständen ist es ungemein schwierig, aus eigener
Anschauung etwas über das Leben und die Stellung der Frauen in der
besseren Gesellschaft der Chinesen zu erfahren; der Fremde wird sie
im Theater, im Wagen oder in der Sänfte, dann bei festlichen Aufzügen
oder in Tempeln sehen können, aber er kann nicht mit ihnen sprechen;
die einzigen Auskünfte über sie kann er nur von Dolmetschern, von
katholischen Missionären, welche vermöge ihres Berufes in das
Familienleben der Chinesen näheren Einblick erhalten, und endlich von
aufgeklärten, an den Umgang mit Europäern gewöhnten Chinesen selbst
erhalten, wie es deren in den Hafenstädten, besonders in Shanghai,
viele giebt. Ich habe diese Quellen nach Thunlichkeit benutzt und mir
überdies die bezüglichen Stellen des in ganz China anerkannten Buchs
der Gebräuche übersetzen lassen; einen tiefen Einblick in das Frauen-
und Familienleben gewährt überdies ein äußerst interessantes Buch eines
neueren chinesischen Schriftstellers, Luhtschau, genannt der weibliche
Lehrmeister. In seiner Vorrede sagt er von den Frauen:

[Illustration: Chinesische Mädchentypen.]

„Im Gespräch soll eine Frau nicht dreist und geschwätzig sein, sondern
streng sich danach halten, was recht ist; ob sie ihrem Gatten einen
Rat erteilt, oder ihm Vorwürfe macht, oder ihre Kinder unterrichtet,
sie muß immer die Etikette beobachten, ihre Erfahrungen unterwürfig
vorbringen.... Das Betragen der Frau soll streng, ernst und nüchtern
sein, sich aber doch den verschiedenen Gelegenheiten anpassen, z. B.
im Bedienen ihrer Eltern, im Empfangen oder Begrüßen ihres Gatten,
beim Aufstehen oder Niedersetzen. Wenn in gesegneten Umständen oder in
Trauer, oder bei der Flucht vor dem Kriege, soll sie durchaus anständig
sein. Die wichtigsten Beschäftigungen eines Weibes sind die Zucht
des Seidenwurmes und das Weben von Stoffen; die Zubereitung und das
Austeilen der Speisen für die Haushaltung, dann das Vorbereiten der
Opfergegenstände; danach können Studien und Lektüre die Zeit ausfüllen.”

Dieser Abschnitt aus dem Werke Luhtschaus sagt in wenigen Worten
sehr viel, und was die Hauptsache ist, seine Vorschriften werden von
der großen Menge der Frauen Chinas streng eingehalten. Es kann kaum
sittsamere, keuschere und tugendhaftere Frauen geben, als es die
Chinesinnen sind, sittsam im Betragen wie in der Kleidung. Im Gegensatz
zu den Japanerinnen zeigt sich die Chinesin unter allen Verhältnissen
stets vollkommen bekleidet, von der Fußspitze bis zum Halse; selbst
unter den untersten Ständen, unter den Bootsleuten Cantons oder den
Theearbeiterinnen Hankaus, bleiben höchstens die Füße und Unterarme
unbekleidet.

Wie kleidet sich die Chinesin? Das ist gewiß für europäische Damen
ein sehr interessantes Kapitel, zumal jetzt, wo die Schöpfer der
Damenmoden wohl ihr ganzes Erfindungstalent aufgebraucht haben, wo
die ganze Geschichte der Mode von der Jetztzeit bis zum Altertum
und vom Altertum bis zur Jetztzeit mehrmals durchprobiert, wo alles
bisher Erdachte schon mehrmals hervorgeholt, eingeführt und wieder
abgesetzt wurde, wo nichts mehr übrig bleibt, als zu den Moden der
letzten Jahre zurückzugreifen; denn mit jedem Jahre, mit jeder Saison
wechseln die Damenmoden zum Schrecken aller Gatten und Familienväter.
Wo kann man noch etwas Neues, nicht Dagewesenes hervorholen? Die
Toiletten der Negerinnen und Indianerinnen sind selbstverständlich
ausgeschlossen, die Gewänder der Bewohnerinnen Indiens und Japans
entsprechen nicht dem europäischen Geschmack, also vielleicht China?
Ich glaube nicht, daß unsere Damen an der Tracht der Chinesinnen
besonderen Gefallen finden dürften, ebensowenig wie die letzteren
an unseren Moden Gefallen gefunden haben. Beträgt die Bevölkerung
Chinas wirklich vierhundert Millionen, so giebt es dort beiläufig
zweihundert Millionen Evatöchter, also um vierzig Millionen mehr als
in ganz Europa. Aber unter diesen zweihundert Millionen hat es bisher
keine gegeben, welche die Tracht der europäischen Damen angenommen
hätte, ja, ich habe in China keine einzige Chinesin gesehen, die
auch nur ein Hütchen, ein Stiefelchen, einen Handschuh oder Strümpfe
nach europäischem Muster getragen hätte. Ein ähnliches Beharren
an althergebrachten Trachten, eine ähnliche Standhaftigkeit habe
ich bisher bei keinem Volke angetroffen. Auf meinen Reisen sah ich
zahlreiche Negerinnen, Indianerinnen, Mulattinnen, Frauen der Indier,
Javaner, Malayen, Siamesen, Japaner, Birmaner, selbst der Araber in
europäischen Frauentrachten. Noch zahlreicher waren jene, welche
wenigstens einzelne Kleidungsstücke, vor allem Strümpfe, Schuhe und
Hüte angenommen haben. Nicht daß diese europäischen Kleidungsstücke
ihrem Aussehen zuträglich gewesen wären, im Gegenteile, bei keiner
einzigen von den Tausenden des bunten Völkergemisches, das mir
vorschwebt, hat ein europäisches Kleidungsstück je eine Erhöhung ihrer
weiblichen Reize, eine Verschönerung ihres Aussehens zur Folge gehabt.
Anderseits kann merkwürdigerweise die Europäerin, besonders jene der
germanischen Rassen, die Tracht irgend einer anderen Rasse, ausgenommen
der Negerinnen und Indianerinnen, die, sagen wir, zu geringfügig ist,
anlegen, sie wird dadurch an eigentümlichem Reiz nur gewinnen. Nur
eine Frauentracht macht darin eine Ausnahme: gerade jene der Chinesin,
die unschönste, die ich unter den Frauentrachten der einzelnen fremden
Völker kennen gelernt habe. Von den Chinesinnen werden die Erfinder der
europäischen Damenmoden wohl kaum jemals etwas holen. In einer Hinsicht
ist dies sehr bedauerlich, und diese ist die Beharrlichkeit, mit
welcher die Chinesinnen an der althergebrachten Tracht festhalten. Wie
ihre Urgroßmütter, so kleiden sie sich auch heute noch, und so werden
sich voraussichtlich auch ihre Enkelinnen kleiden. Die Chinesin hat so
wenigstens Gelegenheit, ihre Kleidungsstücke auszutragen, sie braucht
sie nicht nach einjährigem Gebrauch wieder beiseite zu legen. Sie kann
ihren Geist, ihre Mittel, ihre Zeit nützlicheren Dingen zuwenden als
der leidigen Mode.

Im ganzen großen Weltreiche herrscht eine merkwürdige Gleichheit der
Frauentracht, wie sie sonst in so ausgesprochener Weise nirgends
vorkommt. Von der Mandschurei bis Tonkin, von Tibet bis ans Gelbe
Meer zeigt der Schnitt der Kleider bei hoch und niedrig nur geringe
Unterschiede. Am einfachsten sind wohl die armen Frauen jener
Hunderttausende gekleidet, welche in Canton auf dem Perlflusse leben.
Ihre Armut, ihr Elend gestattet ihnen keine anderen Kleidungsstücke
als ein blaues bis über die Knie reichendes Oberhemd, an der Seite
zugeknöpft, und ein Paar blaue Beinkleider aus Baumwollstoff, die
bis nahe an die Knöchel reichen. Sie kennen keine regelrechte
Kopfbekleidung, und ihre Füße sind nackt. Ebensowenig kennen sie
Unterwäsche. Die einzige Koketterie, die sie entfalten, betrifft die
gewöhnlich sorgfältige Haarfrisur, welche sie noch mit natürlichen
Blumen schmücken; aber die Chinesin flicht ihre Haare nicht in Zöpfe,
sondern kämmt sie glatt von der Stirn nach hinten und steckt sie
dort, bandartig zusammengeklebt und verschlungen, mit einer langen
Stecknadel fest. Jede trägt überdies Ohrgehänge aus milchgrünem
Nephritstein (Jade), und jene, welche sich durch Arbeit mühsam einige
Mark zusammensparen, legen diese gewöhnlich noch in einem ebensolchen
Armring aus einem Stück an. Reichen ihre Mittel nicht dafür aus, so
kaufen sie sich wenigstens Ohr- und Armringe aus grünlich-milchigem
Glas.

Andere Kleidungsstücke als das Baumwollhemd und die Beinkleider
kennen die Frauen und Mädchen der niederen Stände nicht; auch die
Feldarbeiterinnen der südlichen Provinzen tragen sie Tag und Nacht. Bei
brennender Sonnenhitze schützen sie ihren Kopf durch große Strohhüte,
und dann sind sie aus einiger Entfernung von den Männern kaum zu
unterscheiden, besonders wenn diese ihren langen Zopf nicht über den
Rücken fallend, sondern um den Kopf gewunden tragen. In China, diesem
Lande der verkehrten Welt, wo unsere Kultur auf den Kopf gestellt ist,
tragen die Männer Zöpfe, nicht die Frauen.

Je höher man in der gesellschaftlichen Rangstufe der Chinesen aufwärts
steigt, desto zahlreicher werden die Kleidungsstücke der Frauen.
Jene, denen man in den Straßen Cantons, Swataus, Futschaus begegnet,
tragen Sandalen oder Schuhe. Ihre Füße und Knöchel sind mit weißen
Baumwollstreifen umwunden, welche zuweilen das untere Ende der
Beinkleider umfassen. An ihren großen oder vielmehr natürlichen Füßen
erkennt man, daß sie umherziehende Tagelöhnerinnen sind, die sich ihren
Verdienst heute hier, morgen dort durch saure Arbeit erwerben. Die
nächst höhere Stufe, die Frauen der Handwerker und kleinen Händler,
sind durch reichlichere Kleidungsstücke und bessere Schuhe erkenntlich,
die bei den Chinesen beider Geschlechter niemals aus Leder, sondern
stets aus Stoff mit dicken Filzsohlen ohne Absätze bestehen. Gewöhnlich
ist die Farbe der Schuhe schwarz. Sind sie blau, so befindet sich ihr
Träger in leichter Trauer, sind die Schuhe und mit ihnen auch die
Kleidungsstücke weiß, so befindet sich ihr Träger in tiefer Trauer. Nur
die Unterkleider sind unter gewöhnlichen Verhältnissen weiß, und der
Besitzer derselben zeigt dadurch allein schon, daß er dem Mittelstande
angehört. Eine Frau aus diesen Ständen läßt sich schon aus der Ferne
als solche durch ihren beschwerlichen, unbeholfenen Gang erkennen, der
sich ausnimmt, als ginge sie auf kurzen Stelzen einher. Nähert man sich
ihr, so gewahrt man auch die Ursache dieses eigentümlichen Ganges, denn
die Füße zeigen sich wie schmale Ponyhufe, mit weißen Baumwollstreifen
umwunden und in winzigen Schuhen steckend, die, kaum eine Spanne lang,
mit bunten Zieraten und Stickereien versehen sind.

Viele Reisende, die auf ihrer Jagd um den Erdenglobus flüchtig
durch Canton oder Shanghai wanderten, berichten, die Unsitte der
Verkrüppelung der Füße sei im Abnehmen begriffen. Sie haben eben nur
Frauen der untersten Stände gesehen, bei welchen die Fußverkrüppelung
überhaupt nicht vorkommt. Aber bei den Frauen der mittleren und
höheren Stände findet sie heute gerade so statt wie vor Jahrhunderten.
Ja auf meinen Reisen durch die nördlichen Provinzen, vornehmlich in
Schantung, habe ich selbst auf den Feldern, in den ärmsten Dörfern
keine einzige Frau, kein Mädchen von über zwölf Jahren gesehen, deren
Füße nicht verkrüppelt gewesen wären. Je höher die gesellschaftliche
Stufe, welcher die Frau angehört, desto mehr werden auch ihre Füße von
früher Jugend auf eingezwängt, desto kleiner erscheinen die Füßchen,
ja ich habe in China neue sowohl wie getragene Schuhe erworben, die
neun bis zwölf Centimeter lang sind. Als ich in einem Schuhladen in
Hongkong zum erstenmale derlei Schuhe erblickte, hielt ich sie für
solche von zwei- oder dreijährigen Kindern, bis ich erwachsene Frauen
mit solchen Schuhen einhertrippeln sah. Hätte man mir dergleichen in
Europa erzählt, ich hätte es für unglaublich gehalten. Die winzigen
schmalen Füßchen in den hübschen, bunten Seidenschuhen nehmen sich
ungemein zierlich und kokett aus, besonders wenn die Damen sitzen oder
stehen. Gehen sie, so kann man sich der Gedanken an die Qualen, die
sie ausstehen müssen, nicht erwehren, aber hat man Gelegenheit, einen
nackten derartigen Fuß zu sehen, dann wird man von Entsetzen erfaßt. Im
chinesischen Hospitale von Hongkong zeigte mir der (europäische) Arzt
vom Dienste die Füße einer kranken Frau. Die vier kleineren Zehen waren
unter der Fußsohle eingebogen, und ihre Nägel erschienen in die Sohle
eingewachsen. Die Ferse war nach vorn gezwängt, derart, daß der Abstand
zwischen dem fleischlosen Fersenknochen und der Spitze der großen Zehe
kaum zwölf Centimeter betrug; und die Wadenknochen waren vollständig
fleischlos, nur mit der runzeligen, roten Haut bedeckt.

Das ist chinesische Frauenschönheit, auf welche die Männer den größten
Wert legen; das sind Reize, welche die chinesische Braut besitzen muß,
wenn sie überhaupt einen Mann finden will. Von einer Abnahme dieses
entsetzlichen Gebrauches in China habe ich nirgends etwas vernommen,
auf dem Lande wie in der Stadt sind die Kin-lien, d. h. goldenen Lilien
(so heißen die verkrüppelten Füße bei den Chinesen), nach wie vor ein
Schönheitszeichen, und nur in Hangtschou habe ich erfahren, daß viele
dortige Männer in ihren Heiratskontrakten die goldenen Lilien nicht
mehr erwähnen, daß sie also die verkrüppelten Füße der Braut nicht mehr
vorschreiben. Ich habe mit vielen Chinesen über diese entsetzlichen
Martern, welche die armen Frauen ausstehen müssen, gesprochen, aber die
meisten lächelten und meinten statt jeder weiteren Antwort, es wäre
eben Sitte. Ein aufgeklärter Kaufmann in Shanghai stellte statt aller
Antwort die Gegenfrage auf: „Verkrüppeln denn Ihre europäischen Damen
nicht auch ihre Füße, verkrüppeln sie nicht ihre Körper, indem sie
dieselben ebenso zusammenzwängen wie unsere Frauen ihre Füße?”

[Illustration: Schantung-Damenschuh.]

In dieser Hinsicht sind die Frauen der Tataren und Mandschuren viel
besser daran. Die Fußverkrüppelung kommt bei ihnen nicht vor, es genügt
ihnen, ihre an und für sich sehr kleinen, wohlgeformten Füßchen in
zierliche Pantöffelchen zu stecken, und sie finden doch ihren Mann. Da
die herrschende Kaiserdynastie einem Mandschurengeschlechte entstammt,
so besitzt auch die Kaiserin von China keine verkrüppelten Füße, und am
ganzen Kaiserhof ist diese Unsitte unbekannt.

Bei den Chinesen ist sie einfach Modesache, deren Entstehung noch von
niemand erklärt worden ist. Uebrigens können sich viele fashionable
Damen Chinas trotz ihrer Hemmschuhe erstaunlich gut fortbewegen.
Freilich sah ich einmal in Nanking eine Dame, die vor ihrem Hause von
einer Dienerin aus der Sänfte gehoben und auf ihrem Rücken in das
Innere getragen wurde, gerade so wie die Fellachenweiber ihre Kinder
auf dem Rücken tragen. In Chinkiang sah ich mehrere Sklavinnen, die
ihre reich geputzten Herrinnen in derselben Weise über die Straße in
ein Freundeshaus trugen. Die Damen hatten ihre Arme um den Nacken
der Trägerinnen geschlungen, und die letzteren hielten ihre Lasten
wieder dadurch, daß sie, mit ihren Händen nach rückwärts greifend, die
Schenkel der Damen unterstützten. Die goldenen Lilien waren unter den
Kleidern auf beiden Seiten der Sklavinnen sichtbar. Gesprächsweise
erwähnte ich dies einem im Innern von China wirkenden Missionar
gegenüber. Dieser, seit einer Reihe von Jahren dort thätig und mit
dem Leben der Chinesen eng vertraut, erzählte mir seinerseits, er
habe schon viele Chinesinnen kennen gelernt, die ungeachtet ihrer
verkrüppelten Füße ohne Schmerz beträchtliche Strecken weit gehen
konnten. Eine derselben war jeden Sonntag von ihrer mehrere Kilometer
weiten Wohnung zum Gottesdienst in die Kirche gekommen und wieder
zu Fuß heimgekehrt. Viele Hausfrauen haben bei ihren häuslichen
Verrichtungen in den zumeist sehr geräumigen Homes mit ausgedehnten
Gärten und Höfen täglich recht viel zu gehen, so daß der Einwand,
die verkrüppelten Füße hinderten am Gehen, keineswegs richtig ist.
Auf meinen späteren Inlandreisen sah ich Chinesinnen, mit ihren
verkrüppelten Füßchen in Seidenschuhen steckend, auf den Feldern
arbeiten; ja, als ich den heiligen Berg Taischan, sechstausend Fuß
hoch, bestieg, thaten Dutzende von Frauen, darunter Greisinnen, das
gleiche mit ihren winzigen Krüppelfüßchen.

[Illustration: Chinesische Frauenfüße.]

Die Toilette der vornehmen Chinesinnen ist in Schnitt und Farbe
jener der niederen Stände ähnlich, aber mit farbigem Besatz und den
prächtigsten Stickereien reich verziert. Die Aermel sind weiter und
länger, so daß bei herabfallenden Armen sogar die Hand davon bedeckt
wird. Ein steifes Nackenband mit Stickereien hält den Faltenwurf in
Ordnung, und auf der Brust sind dieselben Stickereien von Bären,
Drachen, Reihern, Pfauen und dergleichen zu sehen, welche ihr Gatte
je nach seinem Mandarinsrange tragen darf. Ueber dem Beinkleid tragen
die vornehmen Damen Chinas noch einen langen blauen Rock, der bis an
die Füße reicht und an den Hüften festgehalten wird. Das gestickte
blaue Oberhemd fällt über diesen Rock bis nahe an das Knie herab. Jede
Seite des Unterrockes zeigt sechs senkrechte Doppelfalten, und auf
die Vorder- und Rückseite sind viereckige Stücke aus den schwersten
Seidenstoffen aufgenäht, welche die herrlichsten und zartesten
Stickereien tragen, Arbeiten, die unsere Damen in helles Entzücken
versetzen würden. Sie, sowie der Kopfputz und die Füße bilden den Stolz
der chinesischen Frauenwelt. Auf Schmucksachen, ausgenommen Ohrgehänge
und Armspangen aus Halbedelsteinen, Perlen oder Edelmetall, wird kein
besonderer Wert gelegt. Hüte sind auch bei vornehmen Damen unbekannt;
ebensowenig tragen sie Kopftücher oder Schleier. Der Kopf ist stets
unbedeckt und unverhüllt. Nur wenn Mandarinsfrauen zu Festlichkeiten an
den Kaiserhof befohlen werden, erfordert die ungemein strenge Etikette,
daß sie dieselben Hüte mit denselben Rangabzeichen tragen wie ihre
Männer.

Viele Damen finden Gefallen daran, die Fingernägel des dritten und
vierten, zuweilen auch des kleinen Fingers der linken Hand ein paar
Centimeter lang wachsen zu lassen. Im Hause werden die Nägel durch
zierlich ornamentierte Fingerhüte aus Gold oder Silber geschützt, die
nach unten zu offen sind. Es blieb mir unverständlich, auf welche Weise
die chinesischen Damen Hände und Gesicht waschen konnten, auf welche
Weise sie auch ihre Zeit verbrachten, denn Handarbeiten mit derartigen
Krallen sind ausgeschlossen, und mit dem Romanlesen ist es im Reich der
Mitte schlimm bestellt.

[Illustration: Verkrüppelter Fuß einer Chinesin.]

Die kostbaren Juwelen werden von den Damen im Haar getragen. Ueberhaupt
gefiel mir an ihnen der Kopfputz am besten, denn die Gesichter sind
gewöhnlich mit einer dicken Schicht Puder bedeckt, über welche die
Damen noch eine ebenso dicke Schicht von Rot legen, das bis an die
Augenbrauen reicht. Sie suchen diese Malerei auch keineswegs zu
verbergen, sie ist ehrlich, offen und dick aufgetragen, und gewiß kann
sich niemand rühmen, eine chinesische Dame jemals zum Erröten gebracht
zu haben. Die Augenbrauen werden zuweilen ausgezupft oder abrasiert,
stets aber mit Holzkohle derart nachgezeichnet, daß sie etwa die Form
des Mondes an den ersten Tagen nach Neumond besitzen. Was Wunder, daß
mir unter solchen Umständen das Haar am besten gefiel? Auch hier werden
falsche Haare zu Hilfe genommen, ganz so, wie es bei Damen, die unseren
Rassen näher stehen, zuweilen auch der Fall sein soll. Nur ist es den
Chinesinnen leichter, die Haarfarbe des Chignons zu treffen, denn
sie sind durchweg rabenschwarz. Eine blonde oder rote Chinesin würde
vielleicht größeres Aufsehen erregen als die siamesischen Zwillinge.
Junge Mädchen tragen das Haar lang herabfallend. Frauen verleihen ihrem
gewöhnlich sehr üppigen Haarwuchs erhöhten Glanz dadurch, daß sie es in
harzigen Flüssigkeiten baden und sorgfältig kämmen. Haarbürsten sind
den orientalischen Völkern unbekannt.

Durch Zufall sah ich einmal mit Hilfe des Feldstechers der Haartoilette
einer Dame zu, eine gewiß verzeihliche Indiskretion, wenn man bedenkt,
daß ich sie nur in ethnographischem Interesse, und um die Europäerinnen
vielleicht etwas Neues zu lehren, beging. Die blatternarbige Schöne saß
auf ihren Fersen auf dem Boden. Sie kämmte ihr reiches Haar von der
Stirne glatt zurück und hob es etwas vom Kopfe dadurch, daß sie einen
Finger darunter hielt. Dann wurde der flache Haarstrang am Scheitel
nach vorn umgebogen, so daß er eine Schleife bildete, und mit einer
Nadel festgesteckt. In ähnlicher Weise bildete sie mit dem Seitenhaar
Schleifen, die weit vom Kopfe abstanden, und steckte sie am Scheitel
mit Nadeln fest. Dann schmückte sie das Haar mit Juwelen und Blumen,
von denen die hübscheste in ein kleines schmales Gefäß gesteckt wurde,
das sie in dem Haar verbarg.

In den mittleren Provinzen Chinas wird das Haar von rückwärts nach
aufwärts gekämmt und in einem hohen, vom Kopfe abstehenden Bogen nach
vorn geführt, wo es festgesteckt wird. Ein chinesischer Poet besingt
eine Schöne mit folgenden Worten: „Wangen wie die Mandelblüte, Lippen
wie die Pfirsischblüte, den Leib wie ein Weidenblatt, Augen, so
munter wie in der Sonne glitzerndes Wassergekräusel, und Füße wie die
Lotosblume.”

[Illustration: Frau in eleganter Kleidung.]

Würden unsere Damen die Lage ihrer Schwestern bei den anderen
Völkerrassen aus eigener Anschauung kennen lernen, so würden sie uns
wahrscheinlich größeren Dank wissen für die gewiß beneidenswerte
Stellung, welche wir ihnen, wir wollen es zugeben, auch mit vollem
Rechte eingeräumt haben. Die Chinesen vergleichen beispielsweise die
Stellung der Frau zum Manne wie jene der Erde zum Himmel, wobei der
letztere selbstverständlich durch das starke Geschlecht dargestellt
wird. Die Geschlechter sind in dem uralten Reiche der Mitte keineswegs
gleichberechtigt wie bei uns. Der Chinese huldigt der Frauenschönheit
und Frauentugend nicht wie wir, er besingt und umschwärmt sie
nicht, Frauenwünsche und Frauenlaunen sind ihm nicht Befehle, die
Ritterlichkeit und Höflichkeit, mit welcher unseren Damen, wie sie
meinen, noch viel zu wenig begegnet wird, ist den Chinesen vollständig
unbekannt. Der Mann herrscht dort, die Frau dient, dem Manne allein
gehört das öffentliche Leben, die Frau bleibt im Hause, der Mann
genießt vollständige Freiheit, die Frau ist dem Willen des Mannes
unterworfen. Sie tritt überhaupt nicht an die Oeffentlichkeit und
wird im großen ganzen als ein geringeres Wesen angesehen. Die Geburt
eines Sohnes ist ein Freudenfest im Hause und in der ganzen Familie
des Chinesen; die Geburt einer Tochter wird kaum berücksichtigt. Fragt
man einen Chinesen, ob er Kinder besitze, so wird er das nur auf
die Söhne beziehen und die Töchter gar nicht mit nennen, ja, es ist
Thatsache, daß Tausende von neugeborenen Mädchen jährlich ermordet
werden. Armut und übergroßer Kindersegen sind die Hauptursachen dieses
verbrecherischen Gebrauchs. Von den Eltern selbst wird der Kindermord
selten begangen; das Kind wird gewöhnlich der Hebamme übergeben oder
vielleicht an einer Polizeistation oder an dem Kreuzungspunkt von
Straßen weggelegt. Wird es gefunden, bevor es dem Hunger oder den
Unbilden der Witterung unterlegen ist, so wird es einem der vielen in
den Städten bestehenden Waisenhäuser übergeben und dort großgezogen.
Die Regierung hat den Kindermord in mehreren kaiserlichen Edikten
verdammt und mit Strafe belegt; er ist auch in den meisten Gegenden
nicht so häufig, wie es angenommen wird, nur in Schantung und Honan
scheint er überhand genommen zu haben. Uneheliche Kinder werden stets
beseitigt. Auch bei Knaben kommt es zuweilen vor, besonders wenn sie
mit Gebrechen behaftet sind, oder wenn die abergläubigen Eltern der
Meinung sind, daß das Kind von bösen Geistern besessen ist. So wurde
mir in Tsining am Kaiserkanal erzählt, daß kürzlich ein Knäblein in das
dortige Waisenhaus gebracht wurde, das auf der Brust von Raben ganz
zerhackt war. Ein christlicher Chinese soll es vor den Stadtmauern
gefunden haben. In Tsining und Tsautschou-fu kommt das Weglegen von
neugeborenen Töchtern besonders in Zeiten von Hungersnot sehr häufig
vor. Gewöhnlich werden die armen Wesen schon im Elternhause getötet,
die Leichen aber über die Stadtmauer geworfen, wo sie von Hunden und
Raben gefressen werden. Ein chinesisches Sprichwort sagt: ~Igo guinia
pango örr~, d. h. „eine Tochter ein halber Sohn”, und wenn in einer
Familie der Reihe nach mehrere Töchter geboren werden, so wird häufig
auch in den besseren Ständen eine Tochter geopfert, in der Hoffnung,
daß bei der Seelenwanderung ihre Seele doch in den Körper eines Knaben
kommen dürfte.

In den meisten Großstädten befinden sich eigene Kindertürme, gemauerte
Behälter, in welche die Leichen neugeborener Kinder geworfen werden, um
die Beerdigungskosten zu ersparen. Aber es ist unrichtig, daß sie zur
Aufnahme lebender weggelegter Kinder dienen.

In vielen Familien gleicht das Leben der Mädchen und Frauen, natürlich
nur nach europäischen Begriffen, einem langsamen Hinsterben, denn
sie sind an das Haus gefesselt, keine Frau darf es ohne Bewilligung
ihres Gatten verlassen, und thut sie es, so kann der Mann sie einem
anderen Manne als Konkubine verkaufen. Man hat mir von vielen Frauen
erzählt, welche das Haus jahrelang nicht verlassen haben. Freilich
darf man sich unter den Häusern der Reicheren nicht etwa solche
wie die unserigen vorstellen. In China wohnen ganze Familien, oder
vielmehr Familiengruppen, mit zahlreichen Männern, Frauen, Kindern
und Sklavinnen in einem ausgedehnten Häuserkomplex mit Gärten und
Lotosteichen, Lusthäuschen, Hallen und Tempelchen, alles von einer
hohen Mauer umschlossen, aber über diese Mauer hinaus gelangen die
Frauen nur selten. Sie haben ihre eigenen Häuser und Gemächer,
und schon als Kinder von sechs bis sieben Jahren werden sie von
ihren Brüdern und Vettern, mit einem Worte, von den Männern so
viel als möglich abgesondert. Selbst in den Räumen der ärmeren
Klassen dürfen Knaben und Mädchen nicht auf denselben Matten sitzen
oder gemeinschaftlich ihre Mahlzeiten einnehmen. Ja, einem alten
chinesischen Gebrauch zufolge sollen Frauenkleider mit jenen der
Männer nicht auf denselben Nagel gehängt werden; Frauen sollen nicht
an denselben Stellen baden, an welchen sich Männer zu baden pflegen;
die Frau darf auch nicht mit dem Manne essen. Zuerst stillt er seinen
Hunger, dann kommt die Frau. In den untersten Volksschichten können
diese Gebote natürlich nicht eingehalten werden, aber in den höheren
Ständen werden sie streng beachtet.

Erreicht das Mädchen ein Alter von dreizehn bis fünfzehn Jahren, so
wird sie von den Eltern verlobt, ja sehr häufig findet diese Verlobung
schon statt, wenn die Kinder kaum das fünfte oder sechste Jahr erreicht
haben. Von einer selbständigen Wahl ihrer Gatten ist natürlich niemals
die Rede. Nur in seltenen Fällen hat das Mädchen der besseren Stände
Gelegenheit, andere Männer wenigstens flüchtig zu sehen, aber selbst
wenn zwei junge Leutchen auf solche Art Zuneigung zu einander fassen
sollten, müssen die Eltern ihre Zustimmung geben. Ein chinesisches
Sprichwort sagt darüber: ~T’schü t’schi yu ho, pi ku fu mo~,
d. h. „will man ein Weib freien, so muß man sich an die Eltern wenden”.
Die Eltern sind die unumschränkten Gebieter über ihre Kinder; diese
werden niemals zu Rate gezogen, und nur von Seite der Männer darf
eine Heiratsaufforderung ergehen, niemals von den Mädchen. Papa und
Mama des zukünftigen Ehemannes, selbst wenn er erst acht oder zehn
Jahre alt sein sollte, lassen durch eigene Heiratsvermittler in den
verschiedenen, ihnen im Range annähernd gleichen Familien nach einem
passenden Mädchen Umschau halten. Ohne Heiratsvermittler giebt es in
China keine Heirat. Der Chinese sagt: ~Tien schang wu yün pu hsia yü,
ti hsia wu mei pu t’scheng t’schin~, „wie der Himmel ohne Wolken
keinen Regen spenden kann, so kann auch keine Heirat stattfinden ohne
Heiratsvermittler”, wobei diese Vermittler meistens pfiffige, alte
Weiber sind.

Die beiden Familien erkundigen sich eingehend nach den beiderseitigen
Verhältnissen, und sind diese befriedigend, so wird die Summe
festgestellt, welche die Eltern des angehenden Ehemannes den Eltern
der Braut zu zahlen haben, denn die Ehe in China ist im Grunde nichts
weiter als der Ankauf einer Frau. Unrichtige Angaben dürfen dabei
nicht gemacht werden, sonst erhält der schuldige Papa vom Gerichte
hundert Stockstreiche verabreicht, und die Geschenke, welche der Braut
beim Abschluß der Verlobung gemacht werden, müssen zurückgeschickt
werden. Auch darf kein Zwang eintreten. Sollte es sich herausstellen,
daß jemand die Tochter eines freien Mannes zur Ehe mit seinem Sohne
oder einem sonstigen Anverwandten gegen den Willen ihrer Eltern oder
Vormünder veranlaßt hat, so wird er gerichtlich erdrosselt. Die Tochter
wird aber niemals nach ihren Wünschen gefragt, obschon die chinesischen
Mädchen doch auch Herzen haben. Ihre Pflicht ist es, den Eltern zu
folgen und sich fürs Leben an jenen zu ketten, den die Eltern für sie
angenommen haben, mag auch das Herz dabei zu Grunde gehen. Deshalb
kommen auch in China Liebestragödien gar nicht selten vor. Will die
junge Braut sich der Ehe mit einem ihr verhaßten Manne entziehen, so
bleibt ihr nichts übrig, als Selbstmord zu begehen.

Sind die Erkundigungen, wie gesagt, befriedigend ausgefallen und die
Verträge unterzeichnet, so sendet der Bräutigam seiner ihm gänzlich
unbekannten Braut Verlobungsgeschenke, unter denen sich als wichtigstes
häufig dieses nützliche, aber keineswegs besonders angesehene Haustier,
eine Gans befindet. Die Gans gilt in China wie in Korea als das Symbol
der ehelichen Treue. Mit der Annahme der Gans ist das Mädchen verlobt,
obschon sie je nach ihrem Alter häufig noch Jahre warten muß, ehe
ihr das zweifelhafte Glück zu teil wird, Frau zu werden. Was immer
in manchen Werken über China behauptet werden mag, es kommt doch nur
selten vor, daß Männer unter zwanzig Jahren, Mädchen unter fünfzehn
Jahren wirklich heiraten.

Man kann sich die Gefühle eines solchen eben aufblühenden jungen
Mädchens vorstellen, wenn sie den chinesischen Verlobungsring, die
Gans, erhält. Sie hat keine Ahnung von dem Aussehen und Charakter des
Menschen, mit dem sie für ihr ganzes Leben verbunden werden soll. Von
ihren Eltern und Brüdern oder gar von Bekannten kann sie darüber wenig
erfahren; denn vom Tage ihrer Verlobung an wird sie noch strenger
gehalten als zuvor. Sie darf mit Fremden gar nicht verkehren, und
sollten ihre Eltern Besuche erhalten, so muß sie sich aus dem Raume
entfernen.

Wie ihre kleinen Füßchen, die goldenen Lilien, so werden auch ihre
Gefühle, ihr ganzes inneres Wesen und Sein absichtlich verkrüppelt, und
es wäre unverständlich, wie chinesische Mädchen unter solchen Umständen
noch fröhlich sein, lachen und scherzen können, wüßten wir nicht, daß
sie eben keine Ahnung von den glücklichen Verhältnissen haben, unter
denen ihre kaukasischen Schwestern in Europa und Nordamerika leben.
Ihr Horizont reicht nicht weiter als die Mauern ihres Heims, ihre
Urteilsfähigkeit ist eingedämmt durch die althergebrachten Formen und
Sitten, ihre Lektüre, wenn sie lesen gelernt haben, beschränkt sich auf
langweilige Klassiker, Theaterstücke und chinesische Erzählungen, denn
Bücher über Länderkunde, Geschichte und dergleichen giebt es nur wenige.

Am Tage der Ehe wird sie von einem Freunde ihres Gatten abgeholt,
in eine rote Sänfte eingesperrt und so nach ihrem zukünftigen Heim
getragen. Aber ihre Stellung bleibt nach wie vor die gleiche, denn sie
erhält keinen eigenen Hausstand. Als Mädchen war sie die unterwürfige
Dienerin ihrer Eltern und älteren Brüder, als Frau ist sie die Dienerin
ihrer Schwiegereltern und ihres Gatten. Der Verkehr mit dem Elternhause
hört auf, die Eltern ihres Gatten sind nun ihre Eltern, und selbst
wenn ihr Gatte sterben sollte, so bleibt sie in der Familie desselben
und darf zu ihren eigenen Eltern nicht zurückkehren. Dies ist sogar
der Fall, wenn der Tod ihres Verlobten vor der Heirat erfolgen sollte.
Ein derartiges Los ist gewiß nicht beneidenswert. Sie gelangt mitten
unter Fremde, die ihr nicht immer mit Liebe begegnen, ohne Murren muß
sie die Befehle ihrer neuen Mutter, der Herrin des Hauses, ausführen,
sie selbst hat nichts zu sagen, ja sie findet mit Beschwerden bei
ihrem Manne kaum irgendwelche Unterstützung, denn als erstes Gebot im
chinesischen Familienleben gilt die Unterwerfung gegenüber den Eltern.
Zeigt die junge Frau Unwillen oder Trotz, so kann sie von ihrem Manne
geschlagen werden. Hilfe findet sie nirgends. Nur durch sklavische
Befolgung ihrer Pflichten, durch Demut und Unterwürfigkeit kann sie
sich allmählich die Neigung ihrer neuen Verwandten erwerben; wird
ihr aber ein Sohn geboren, so ist ihre Stellung gesichert, sie wird
fortan mit Achtung und Liebe behandelt. Während des ersten Monats nach
der Geburt ihres Kindes ist sie das Opfer einer Menge eigentümlicher
Gebräuche. Mutter, Vater, ja ihr eigener Gatte meidet das Gemach, in
dem die Kranke liegt. Niemand als ihre Dienerin darf es betreten,
und ein großer Strauß von Immergrün, über der Thür aufgehängt, warnt
alle Besucher vor dem Eintritt. Ja die letzteren dürfen sogar ihre
großen roten Visitenkarten nicht abgeben. Alle Personen, die mit ihr
in demselben Hause wohnen, selbst Fremde, die das Haus während dieses
ersten Monats betreten sollten, werden unrein und dürfen beispielsweise
bis nach Ablauf des Monats keinen Tempel betreten. Stirbt die
unglückliche Mutter während dieser Zeit, so hat sie im Fegefeuer
bestimmte Strafen auszustehen, bis sie aus demselben durch besonders
vorgeschriebene Tempelopfer befreit wird.

Ist das junge Wesen, dem sie das Leben gegeben hat, ein Mädchen, so
wird die Stellung der jungen Frau womöglich noch ungünstiger, denn
nicht nur, daß sie in der Achtung ihrer Eltern und Verwandten sinkt,
ihr Gatte wird sich auch bald, wenn es seine Mittel erlauben, nach
einer zweiten Gattin, oder vielmehr nach einer Konkubine umsehen. Die
chinesischen Gesetze erkennen freilich nur eine Frau, und zwar die
erste, als die rechtmäßige an, allein sie gestatten es dem Manne,
so viele Konkubinen in sein Haus aufzunehmen, als er ernähren kann
oder will. Diese Art der Vielweiberei kommt hauptsächlich bei den
wohlhabenden Kaufleuten und Mandarinen vor, in den ärmeren Klassen
nur selten. Dennoch sind mir auch hier derartige Fälle vorgekommen.
Meine Bootsfrau in Canton, ein energisches, sparsames, flinkes Wesen,
erzählte mir selbst, daß ihr Gatte sich eine Konkubine im Hause hielte,
und beklagte nur das schwere von ihr sauer erworbene Geld, welches
er ihr für diesen Zweck abpreßte. Ruderte sie mich mit ihren starken
Armen auf dem breiten Strom umher, dann kam ihr Gespräch immer wieder
auf ihren verlumpten Mann zurück und auf seine zweite Frau, die sie
im Hause dulden mußte. Aus jedem Worte sprach ihre Eifersucht. Sind
die Chinesinnen denn keine Frauen? Mein Dolmetscher in Canton besaß
drei Frauen, jener in Chinkiang zwei. Durch Zufall begegneten wir
diesen letzteren in der Straße, häßliche, ärmlich gekleidete Wesen:
die eine war in einer Seidenzucht beschäftigt, die andere verkaufte
den chinesischen Bootsleuten im Hafen Eßwaren. Wie ich mir nachher
von einem Zollbeamten sagen ließ, hatte der gute Lin Tun Fung seine
zweite Frau nur ins Haus genommen, weil er durch ihre Thätigkeit seine
Einnahmen vermehrte.

So gefügig und duldsam die chinesische Frau auch sein mag, eine
Nebenbuhlerin im Hause muß ihr doch arge Seelenschmerzen bereiten, denn
nicht selten kommt es vor, daß sie durch allerhand kleine Mittelchen
trachtet, ihre Schwester oder sonst eine Anverwandte ihrer eigenen
Familie mit ihrem Manne zusammenzubringen, damit er sie als Konkubine
wähle. Mehrere Konkubinen sind weniger schlimm als eine einzige. Um die
Ruhe seines Hausstandes zu sichern, weist der Gatte der zweiten Gattin
gewöhnlich eine eigene Haushaltung an, denn ein chinesisches Sprichwort
sagt: „Ein Schlüssel macht keinen Lärm, zwei Schlüssel verursachen
Gerassel”. Auch wenn die erste Frau ihm Söhne geboren haben sollte,
nimmt der Chinese gerne noch eine zweite Frau; besonders Schiffer,
Boots- und Handelsleute, die viel auf Reisen gehen, und wohlhabendere
Beamte, welche die Bäder besuchen wollen. Seine erste Frau kann er
nicht mitnehmen, weil ihr die Leitung der Hausgeschäfte obliegt, als
Reisefrau nimmt er die zweite mit.

Der Ausdruck zweite oder dritte Frau ist nicht in diesem Sinne zu
verstehen, denn nur die erste ist wirklich seine legitime Frau, und
bei ihren Lebzeiten darf er keine zweite heiraten, er darf auch keine
solche an die Stelle der ersten setzen, also ihre Stellungen in
seinem Haushalte vertauschen. Die Nebenfrauen sind nur Konkubinen und
unterstehen der wirklichen Gattin; sie werden auch nicht mit demselben
Ceremoniell wie die letztere geheiratet, sondern einfach ihren Eltern
abgekauft, und dabei kann der Gatte wenigstens dem Zuge seines Herzens
folgen, lieben und in sein Haus aufnehmen, wen er will.

Die Nebenfrauen eines Chinesen sind, wie bemerkt, der Autorität der
ersten Frau unterworfen. Diese allein hat im Hause zu befehlen, und das
ist vielleicht die einzige Genugthuung, die ihr nach ihrer Demütigung
durch den Gatten bleibt. Mädchen der besseren Stände werden auch für
Nebenfrauen nicht hergegeben; gewöhnlich entstammen sie den armen
Volksklassen, sind möglicherweise Sklavinnen oder sogar Dienerinnen aus
dem eigenen Hausstande. Ihre Kinder müssen sie aber der ersten Frau
abtreten, welche die Mutter aller Kinder ihres Gatten wird und mit
diesem allein über ihre Eheschließung und alle andern Verhältnisse zu
verfügen hat. Die wirklichen Mütter dürfen keine Einsprache erheben.

[Illustration: Ehrenpforte bei Tsingtschou-fu.]

In Arbeit, Erziehung der Kinder und Verwaltung des Hausstandes vergehen
die Jahre, und je älter sie wird, desto mehr steigt ihr Ansehen. War
ihr Gatte der älteste Sohn der Familie, und sterben seine Eltern, so
hat sie die höchste Stellung in der Familie erreicht, ist umgeben
und hochgeachtet von den Frauen der jüngeren Brüder, ihren Kindern
und Enkeln, die alle unter ihrer Leitung in demselben Häuserkomplex
wohnen. Stirbt ihr Gatte aber noch bei Lebzeiten seiner Eltern, und
solange sie jung ist, so gilt es nicht für anständig, wenn sie sich
einen zweiten Gatten nimmt, und die Fälle einer Wiederverheiratung
kommen bei Witwen von Beamten niemals, bei solchen der höheren Stände
nur selten vor. Aber ein chinesisches Sprichwort sagt: ~t’ieu yan
hsia, niang yan tschia, wu fa k’o tschy~, d. h. will der Himmel
regnen und deine Mutter wieder heiraten, so kann sie nichts daran
verhindern. Um die althergebrachten Sitten zu wahren und angesehenen
Familien die Schande zu ersparen, eine Witwe ihres Hauses in ein
anderes Haus übertreten zu sehen, werden standhafte Witwen in China
auf eigentümliche Weise belohnt. Ich habe in chinesischen Städten
und Dörfern häufig freistehende Thorbogen aus Stein, mit Inschriften
bedeckt, wahrgenommen. Ursprünglich dachte ich, sie wären Triumphbogen,
zum Andenken an kriegerische Thaten oder tapfere Generale aufgeführt.
Aber diese tapferen Generale sind in diesem Falle gewöhnlich standhafte
Witwen oder besonders brave Töchter gewesen. Ich kann mit meinem
bescheidenen Europäerverstand freilich nicht begreifen, wie es bei
einer Witwe besonderer Standhaftigkeit bedarf, nach den gewöhnlich
sehr traurigen Erfahrungen der ersten Ehe dem Ansturm neuer Freier zu
widerstehen. Aber in China scheint die Sache doch anders aufgefaßt
zu werden, denn dieser tapfere Widerstand wird dem Distriktstaotai
gemeldet, dieser macht einen Bericht an den Provinzgouverneur, und der
letztere sendet ihn sogar an den Kaiser in Peking. Ich fand zuweilen in
der Pekinger Staatszeitung Edikte, mit welchen Seine Majestät anordnet,
daß der Witwe X. X. oder der braven Tochter Y. Y. in ihrem Heimatsorte
ein Triumphbogen zu errichten sei. Wieder die verkehrte Welt. Bei uns
sind es große Staatsmänner und Kriegshelden, welchen solche Ehren
erwiesen werden, in China Mädchen und Witwen.

Stirbt die gesetzliche Frau eines Mannes, so darf er sich wieder
verheiraten oder eine seiner Konkubinen zur ersten Frau erheben,
die mit zunehmendem Alter endlich die Herrschaft über den ganzen
Familienclan erhält. Ja, sollte sie in dieser höchsten Familienstellung
ihren Gatten verlieren, so tritt nicht etwa der älteste Sohn an
dessen Stelle als Leiter der Familie, sondern die Mutter bleibt es
in unumschränkter Weise bis zu ihrem Tode. Der Chinese sagt, seine
legitime Frau sei wie der Mond, die Konkubinen wie die Sterne, und alle
drehen sich in ihrem Laufe um die Sonne, den Mann.

Die chinesischen Ehen sind nicht etwa unauflöslich. Die Gesetze nennen
sieben Gründe für die Ehescheidung, welche die gesellschaftlichen
Verhältnisse des Reiches der Mitte grell beleuchten. Sie sind:
Ehebruch, Unfruchtbarkeit, Eifersucht, Ungehorsam, Diebstahl, Aussatz
und Geschwätzigkeit. Auch kann die Scheidung auf gegenseitiges
Einverständnis erfolgen. Sollte der Mann bei Ehebruch seiner Frau
die Scheidung nicht verlangen, so setzt er sich der Bestrafung durch
Stockstreiche aus; sollte sie während seiner Abwesenheit eine neue
Ehe eingehen, so wird sie erdrosselt; nur wenn diese Abwesenheit drei
Jahre dauert, kann sie nach Anmeldung bei den Gerichten ihre Freiheit
erlangen.

Die armen Frauen der höheren Stände haben es kaum viel besser als
jene der indischen Zenanas oder der arabischen Harems, und beinahe
könnte man sagen, daß die Frauen der untersten Stände Chinas ein
günstigeres Los haben, als ihre reichgekleideten, geputzten und
geschmückten Schwestern. Sie sind wenigstens nicht an das Haus
gefesselt, sie genießen einigermaßen Freiheit. Besonders in Canton und
den südlichen Provinzen sah ich sie allen möglichen Berufen nachgehen.
Schneiderinnen kauern an den Straßenecken, um Kleider zu flicken;
Dienerinnen durchwandern die Gäßchen, um Einkäufe oder Besorgungen
für ihre Herrin zu machen; auf dem Flusse und im Hafen verkehren die
Frauen ungezwungen, durch keine gesellschaftlichen Formen eingeengt,
mit den chinesischen oder fremden Männern. Die ärmsten der Frauen
ziehen durch das Gewirre von Gäßchen der Städte, um allerhand Abfälle
und Unrat für ihre Schweine zu sammeln. Draußen auf dem Lande sind
sie in den Seidenzüchtereien oder auf den Reisfeldern thätig; sie
schneiden Gras oder suchen auf den Bergabfällen nach Wurzeln, Zweigen
und sonstigem Brennmaterial; Hunderte pflücken Theeblätter an den sich
meilenweit hinziehenden kleinen Stauden; überall sind es kräftige,
gut gebaute Gestalten, weit größer und stärker als ihre Schwestern
in Japan oder Hinterindien. Weiter gegen Norden, in der Umgegend von
Swatau oder Amoy, sind sie schon viel seltener; auch am Jangtsekiang
und Kaiserkanal genießen sie lange nicht die gleichen Freiheiten wie in
Canton.

[Illustration: Mandschurenfrau.]



Der Haarzopf der Chinesen.


[Illustration: Mein Photographengehilfe.]

Das auffälligste Merkmal eines Chinesen ist wohl sein Haarzopf. Ohne
Zopf kein Chinese; er ist ihr größter Stolz und der hervorragendste
Gegenstand ihrer Eitelkeit, sowie das Streben jedes Chinesenjungen,
dem der Zopf erst in seinem zwölften bis vierzehnten Jahre zu
tragen gestattet ist. Der Kaiser trägt ihn ebensogut wie der letzte
Lastenträger, der tapfere Reitergeneral ebensogut wie der Apotheker,
und nur eine Berufsklasse ist davon ausgenommen: die Priester, deren
Schädel spiegelglatt rasiert sind. Diese Rattenschwänze entlocken den
Europäern unwillkürlich ein Lächeln, aber sie bedenken nicht, daß
unsere eigenen europäischen Feldtruppen bis zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts, die englischen Seeleute sogar noch bis zur letzten
Generation, ebenfalls Haarzöpfe getragen haben. Allerdings waren die
letzteren nicht so lang wie bei den Chinesen, dafür aber waren sie weiß
gepudert und erhielten sich gerade beim Militär am längsten, während in
China nahezu die ganze männliche Bevölkerung diese bis unter das Knie
herabfallenden Haarzöpfe trägt. Die Mädchen haben in China nur bis zu
ihrer Verlobung einen über den Rücken fallenden Haarzopf. Bis gegen die
Mitte des siebzehnten Jahrhunderts trugen die Chinesen ihr Haar ähnlich
wie wir, und erst von der Vertreibung der angestammten Mingdynastie
durch die Mandschuren stammt die Sitte, das Scheitelhaar zu einem Zopf
zu flechten. Die Mandschuren waren Zopfträger, und kaum hatten sie
die Herrschaft über das gewaltige Chinesenreich an sich gerissen, so
machten sie den Zopf zum Zeichen der Unterwerfung. Jeder Chinese mußte
sich seinen Schädel mit Ausnahme des Scheitelhaares kahl rasieren und
das letztere in einen Zopf flechten lassen. Die Barbiere im ganzen
weiten Reiche wurden mit der Ausführung dieser kaiserlichen Verordnung
betraut. Mit dem Rasiermesser in der einen und dem Schwert in der
andern Hand durchzogen sie ihre Distrikte, und den Chinesen blieb die
Wahl, ihr Kopfhaar oder ihren ganzen Kopf zu opfern. Die große Mehrzahl
entschloß sich natürlich zu der weniger schmerzlichen Operation.
Immerhin kam es zu vielen Aufständen gegen diese drakonische Maßregel,
zumal die Barbiere damals wie bis auf die jüngste Zeit den geächteten
Ständen angehörten und nicht gut kaiserliche Beamte sein konnten.
Deshalb kam der erste Mandschukaiser, einer der größten Herrscher,
die China jemals gehabt hat, auf einen anderen, friedlicheren Ausweg:
er verordnete, daß Verbrecher, Sträflinge und die Angehörigen der
geächteten Volksklassen keinen Haarzopf tragen dürfen. Dadurch machte
er den Zopf zum Wahrzeichen der Ehrbarkeit und des guten Bürgertums,
der Widerstand hörte auf, und bald konnte man sich keinen Chinesen mehr
ohne Zopf denken.

[Illustration: Barbier.]

Uebrigens stammt aus jener Zeit ein charakteristisches Barbierzeichen,
das seinen Weg auch durch ganz Nordamerika, zum Teil auch nach Europa
gefunden hat. Den Besuchern der Neuen Welt wird es aufgefallen sein,
daß die dortigen Barbiere vor ihren Läden kurze, dicke, bemalte Stangen
als Abzeichen ihres Berufes errichten, und bis auf den heutigen Tag hat
man vergeblich nach dem Ursprung dieser Sitte geforscht. Für den Kenner
chinesischer Verhältnisse dürfte es indes zweifellos sein, daß dieser
Ursprung in China zu suchen ist. Wie heute, so war auch schon vor
Jahrhunderten das Abzeichen kaiserlicher Beamter eine oder eine Anzahl
hoher Stangen vor ihren Wohnungen. Der Distriktsgouverneur hat deren
z. B. zwei, der Provinzgouverneur vier vor seinem Amte stehen. Nun waren
die Barbiere, als sie mit dem Abrasieren der Chinesenschädel von seiten
der ersten Mandschuregierung betraut wurden, gewissermaßen kaiserliche
Beamte und errichteten vor ihren Häusern den Beamtenpfahl. Diejenigen,
die mit ihren Werkzeugwägelchen oder Schubkarren im Lande umherzogen,
brachten diesen Pfahl, allerdings von geringerer Länge, an den
Fuhrwerken an, und wie ich auf meinen Reisen selbst wahrgenommen habe,
ist dies noch heute in China allgemein Sitte. Als die Chinesen ihre
Wanderung übers Meer nach Amerika antraten und sich dort ansiedelten,
war das Barbierhandwerk dasjenige, dem sich die Einwanderer am liebsten
zuwandten; sie errichteten auch in Amerika ihre Barbierpfähle, und
von ihnen nahmen die meisten Barbiere dieses Abzeichen an, das bald
allgemein wurde. Den Chinesen ist die schönste Zierde des Mannes, der
Bart, vorenthalten; erst im späteren Alter erscheinen um den Mund
und an den Backen vereinzelte struppige Haare, die dann ihr größter
Stolz sind und sorgfältig gepflegt werden. Sonst zeigen sich Haare
nur auf etwaigen Gesichtswarzen, und auch diesen wenden die Chinesen
besondere Pflege zu. Was ihnen die Natur im Gesicht versagt hat,
ersetzte sie durch überreichen Haarwuchs am Hinterkopf, ein Haarwuchs,
der stets tiefschwarz ist. Der kleinen Chinesenbrut wird der Schädel
bis zum Alter von zwölf oder vierzehn Jahren in eigentümlicher Weise
rasiert. Hier und dort, über den Ohren, am Scheitel, am Nacken werden
einzelne kleine Haarbüschel stehen gelassen, so daß diese possierlichen
Jungen aussehen, als würde die Natur ihnen gleich an sechs oder mehr
Stellen Zöpfe wachsen lassen. Erst nachdem die Knaben das genannte
Alter erreicht haben, wird der Schädel ganz glattrasiert und nur das
Scheitelhaar stehen gelassen. Natürlicherweise wird dies erst nach
Jahren lang genug, um daraus einen Zopf zu flechten. Im Mannesalter
reicht das natürliche Scheitelhaar der Chinesen bis auf etwa den halben
Rücken, bei manchen erreicht es sogar eine Länge von einem Meter
und noch mehr, stets aber muß durch künstliche Mittel nachgeholfen
werden, um dem Zopf die erforderliche Länge bis zu den Fußknöcheln
zu geben. In das natürliche Haar wird gewöhnlich noch ein Strang
Menschen- oder Pferdehaar eingeflochten, der am Nacken dicke, fest-
und glattgeflochtene Zopf wird nach abwärts immer dünner, und etwa
in der Nähe des Sitzteils besteht er nur noch aus einem Geflecht von
Seidenschnüren von schwarzer oder roter Farbe mit einer Seidenquaste am
Ende.

Sind die Chinesen in Trauer um ihre Eltern oder nahe Verwandte, so
dürfen sie ihr Kopfhaar während der Dauer von sieben Wochen weder
in Zöpfe flechten noch schneiden lassen, noch dürfen sie es kämmen.
Stirbt der Kaiser, so gilt diese Vorschrift für alle Chinesen während
der Dauer von hundert Tagen, und man kann sich unter solchen Umständen
das wüste Aussehen dieser Millionen von Menschen leicht ausmalen, eine
Nation von Struwelpetern. Die armen Barbiere haben während dieser Zeit
gegen ihren Willen Ferien, und viele nagen am Hungertuche. Gewiß wird
in dem ungeheuern Reiche niemand für Gesundheit und Langlebigkeit des
Landesvaters eifriger beten, als es diese Ritter des Rasiermessers thun.

Ist die erste Zeit der tiefen Trauer verstrichen, so flechten die
Chinesen in ihr hinteres Anhängsel statt der schwarzen Seidenschnüre
weiße, weil Weiß die Farbe ihrer Trauer ist. Leute, die viel zu
reisen oder in den Straßen der Städte zu thun haben, verwenden statt
weißer auch blaue Schnüre, die den Schmutz weniger zeigen. Um das
Beschmutzen möglichst zu verhindern, wird der Haarzopf auch auf Reisen
oder bei schmutzigen Arbeiten, wie auf Flußbooten, beim Lastentragen,
mehrmals um das Hinterhaupt gewickelt und festgesteckt. Bei der
Annäherung von Höhergestellten oder im Verkehr mit diesen muß der
Zopf losgebunden werden, denn ihn auf dem Kopfe zu behalten, wäre ein
ebensogroßes Vergehen gegen die gute Sitte, als würde bei uns jemand
den Hut aufbehalten oder Besucher in Hemdärmeln empfangen. Auf nichts
verwenden die Chinesen bei ihrer Toilette größere Sorgfalt als auf
ihren Zopf, nicht nur in ihrem eigenen Lande, sondern auch in ganz
Ostasien überhaupt, ja selbst in Amerika. Ich habe auf meinen Reisen
Zehntausende Chinesen gesehen, die den ärmeren Volksklassen angehörten
und weder viel Kleidungsstücke, noch Nahrung, noch Wohnung besaßen,
allein der Haarzopf war selbst bei diesen armen Teufeln in schönster
Ordnung. Es kann einem Chinesen keine größere Schmach angethan werden,
als wenn ihm der Zopf abgeschnitten wird. Mit abergläubischer Sorgfalt
behüten sie ihn, und als vor einigen Jahren die Vegetarianersekte
(Geheimbündler, die den Sturz der fremden Mandschudynastie anstreben)
dem von dieser eingeführten Haarzopf den Krieg erklärten, als in
unheimlicher Weise den Chinesen auf der Straße, im Theater, im
Theehause, überall wo nur möglich, die Zöpfe abfielen, da herrschte
die größte Erregung im Lande. Die Behörden befahlen der Bevölkerung,
am Abend das Haus zu hüten, sowie Thüren und Fenster sorgfältig zu
verschließen, ja, manche Stadtbehörden befahlen durch Maueranschläge
allerhand Zaubermittel zur Beschützung des Zopfes. So verordnete
z. B. der Taotai (Bürgermeister) von Peking als unfehlbares Mittel,
in die Zöpfe einen roten und einen gelben Faden einzuflechten. In
Hangtschau fand der Magistrat ein noch viel besseres Mittel. Drei
verschlungene chinesische Schriftzeichen werden mit schwarzer Tinte auf
gelbe Papierschnitzel dreimal niedergeschrieben. Eins der letzteren
wird verbrannt und die Asche mit einer Tasse Thee getrunken, eins
wird in den Haarzopf eingeflochten, und das dritte wird über die
Hausthür geklebt. Bei solchen Gelegenheiten hat gewöhnlich zuerst die
weiße Bevölkerung zu leiden; der Verdacht, mit den bösen Geistern
in Verbindung zu stehen, fällt zunächst auf Missionare, Kaufleute,
Reisende, und der geringste Anlaß, ein unbedachtes Wort, eine
verdächtige Gebärde reicht hin, die Wut des abergläubischen Volkes auf
die Weißen zu lenken. Also Respekt vor dem chinesischen Zopf!



[Illustration: Partie am Jangtsekiang bei Tschinkiang.]



Tschinkiang.


Von den großen volkreichen Handelsstädten, welche an den Ufern des
mächtigen Jangtsekiang liegen, und der Mehrzahl nach dem fremden
Handelsverkehr geöffnet sind, ist Tschinkiang für den Reisenden
am leichtesten erreichbar. Von Shanghai, der Metropole des ganzen
Jangtsethales und wichtigstem Hafen desselben, fahren nahezu täglich
große, bequeme Passagierdampfer stromaufwärts nach Hankau und berühren
auf ihrer durchschnittlich fünf- bis sechstägigen Fahrt alle größeren
Hafenstädte, darunter Tschinkiang.

Wir waren um Mitternacht von Shanghai abgefahren, und am frühen
Nachmittag des folgenden Tages sahen wir in weiter Ferne die
malerischen Wahrzeichen von Tschinkiang aus der vom gelben schlammigen
Strom durchzogenen sumpfigen Ebene hervorragen: die wie eine riesige
Halbkugel von achtzig Meter Höhe geformte Silberinsel mit ihrem
Adjutanten, dem kleineren bewaldeten Federfelsen, beide mit kurios
geformten Tempeln und Pagoden bedeckt. Kaum hatte unser Dampfer sie
umfahren, so sahen wir am südlichen Ufer des Stromes die große Stadt
vor uns liegen, zu beiden Seiten von bebauten Hügeln eingefaßt, die wie
natürliche Wachttürme aus dem tiefen Sumpflande aufsteigen. Beide Hügel
sind von geschichtlichem Interesse. Auf dem einen, uns näherliegenden,
zeigt sich inmitten von grünen Parkanlagen das größte und imposanteste
Gebäude von Tschinkiang, nicht etwa ein Tempel, eine Pagode oder
Ahnenhallen, sondern das im europäischen Stil gebaute englische
Konsulat. Im Jahre 1889 befand sich dasselbe in einem anderen Gebäude,
als der hier stets unruhige, leicht erregbare Pöbel der Stadt ohne
irgend welche Veranlassung einen Angriff auf das Konsulat unternahm
und mit vielen anderen europäischen Häusern auch dieses Gebäude
niederbrannte. Als Genugthuung den Engländern gegenüber mußten die
Chinesen auf dem bewaldeten Hügel ein neues Konsulatsgebäude errichten.
Auch der jenseits der Stadt, stromaufwärts gelegene Uferhügel erinnert
die Chinesen an ihre vielen Kämpfe mit ihren besten Freunden, den
Engländern. Dieser Hügel, die Goldene Insel genannt, lag noch im Jahre
1842 mitten im Fluß, und an der Südseite war die englische Flotte
verankert, während die Landtruppen zu Lande jene Siege erkämpften,
welche zu dem Friedensvertrag von Nanking führten. Diese einstige
Insel ist längst mit dem Festlande innig verwachsen, ja sogar an ihrer
Nordseite haben die Anschwemmungen des Jangtsekiang schon einen breiten
Landstreifen geschaffen.

Zwischen beiden Hügeln sahen wir das Häusermeer von Tschinkiang in
buntem, malerischem Flaggenschmuck prangen. Jedes Haus, jeder Tempel,
die Masten der Tausende von Frachtbooten, welche sich im großen Kanal
und an den Ufern des Jangtsekiang zusammendrängten, sogar die Bäume
zeigten rote und weiße Flaggen; die ganze Bevölkerung schien auf den
Beinen zu sein, und von der breiten, dem Jangtseufer entlang laufenden
Bundstraße drang entsetzliches Lärmen und Schreien zu uns herüber. Der
Comprador unseres Dampfers, selbst ein langbezopfter Chinese, klärte
mich auf meine Frage darüber auf. Heute wäre gerade das Tiu-Tiufest,
zu welchem gewöhnlich viele Tausende aus dem Innern des Landes
hier zusammenzuströmen pflegten, und es sei an solchen Tagen nicht
rätlich, sich zu weit in die Stadt hineinzuwagen. Allein gerade dieses
heidnische Fest reizte meine Neugierde. Der Ingenieur des Dampfers
erklärte sich bereit, mich zu begleiten, wir schlangen die Feldstecher
um die Schultern, steckten Revolver ein und machten uns auf den Weg.

Wegen der Unterwaschung der Flußufer, wie sie auf dem ganzen unteren
Jangtsekiang vorkommen, können die Dampfer auch hier nicht direkt
an dieselben anlegen, sondern an eigene Hulks, alte abgetakelte
Schiffskörper, die in der Nähe des Ufers fest verankert und mit
dem letzteren durch Brücken verbunden sind. Jede der drei großen
Dampfergesellschaften des Jangtse hat ihren eigenen Hulk, und der ganze
Uferraum zwischen denselben ist mit zahllosen Dschunken, Segelbooten,
Sampans, Frachtschiffen und Kanonenbooten dicht gefüllt. Tschinkiang
ist ja nicht nur ein großer Verkehrshafen und Handelsplatz des
Jangtsethales, es liegt auch im Mittelpunkte eines Netzes von Kanälen,
deren größter, der Kaiserkanal, gerade hier den Jangtse kreuzt. An
diesem Kreuzungspunkte der beiden wichtigsten Wasserstraßen von China
mußte eine große und reiche Stadt entstehen, trotz der schweren
Katastrophen, welche sie während des letzten halben Jahrhunderts zu
überstehen hatte. Im Jahre 1842 wurde sie nach langer Verteidigung
von den Engländern gestürmt und eingenommen, aber die rothaarigen
Barbaren fanden innerhalb der Ringmauern zu ihrem Entsetzen nichts als
Leichen vor. Die Verteidiger, größtenteils Mandschuren, hatten zuerst
alle Weiber und Kinder, dann sich selbst getötet, um ja nicht in die
Hände des von ihnen so sehr gehaßten Feindes zu fallen. Dreizehn Jahre
später hatte die Stadt durch Zuwanderer wieder sehr gewonnen, als die
furchtbaren Horden der Taiping sie einnahmen und teilweise zerstörten,
und weitere vier Jahre später, im Jahre 1859, fiel sie in die Hände
der kaiserlichen Truppen, die hier ebenso wütend hausten, wie in dem
benachbarten Nanking. Die ganze Bevölkerung wurde niedergemetzelt,
die Stadt bis auf die Ringmauern und einige Straßen dem Erdboden
gleichgemacht. Noch im Jahre 1894 sah ich dort Ruinen, welche aus jener
Zeit herrührten.

Aber alles das waren nur zeitweilige Hindernisse für den Aufschwung von
Tschinkiang, das heute wieder an zweihunderttausend Einwohner zählt
und innerhalb des von den Ringmauern umschlossenen Vierecks gar keinen
Platz mehr hat. Es hat sich über die Stadtmauern ausgedehnt, und gerade
in den westlich entstandenen Vorstädten ist der Sitz des Handels,
des hauptsächlichsten Verkehrs und Reichtums der Stadt, während der
östliche Teil ganz dem großartigen Leben und Verkehr auf dem Yunhokanal
untergeordnet ist. An die westliche Vorstadt stoßen gegen die Landseite
zu ärmere Quartiere, die sich bis zu den sanften von Festungswerken
gekrönten Höhen hinter der Stadt hinanziehen und in weit ausgedehnten
Friedhöfen mit kleinen, konischen, grünen Grabhügeln endigen.

Die Fremdenkonzession liegt dicht an den Ufern des Jangtsekiang.
Obschon in derselben alles in allem genommen nur siebzig Europäer
wohnen, haben sie doch einen hübschen mit steinernen Warenhäusern
und schmucken Villen besetzten Bund (d. h. Uferstraße) geschaffen,
der ebenso wie die nächstliegenden Seitenstraßen wohl gepflastert,
beleuchtet und mit üppigen schattenspendenden Bäumen besetzt ist.
Von dem chinesischen Ueberfall im Jahre 1889, bei welchem die Hälfte
aller Häuser der Konzession zerstört wurde, ist keine Spur mehr
wahrzunehmen. Die Handvoll Europäer, welche hier neben und mitten
unter zweihunderttausend Chinesen wohnen, haben ihre eigene städtische
Verwaltung, ihre Feuerwehr, Polizei, zwei Kirchen und einen Klub. Es
fehlt ihnen nur noch eine tägliche Zeitung, aber auch sie wird kommen.

Wir fanden die Mehrzahl der europäischen Bewohner von Tschinkiang im
Garten des Zollkommissärs versammelt. Die gegen den Bund gelegene
Ecke der hohen festen Gartenmauer war mit Erde zu einer Art Terrasse
angefüllt worden, und von dieser beobachteten die europäischen
Damen des Orts (etwa ein halbes Dutzend) in völliger Sicherheit die
Vorgänge auf der Straße, zumal eine Reihe von Polizisten mit langen
mehrzackigen Lanzen, Säbeln und ballschlägerartigen, rot gestrichenen
Holzkeulen hier Wache standen. Der mich begleitende Schiffsingenieur
und ich waren die einzigen Europäer in den Straßen.

War schon auf dem Bund das Brüllen und Stoßen, Lärmen, Schreien,
Gestikulieren, Tamtamschlagen und Musizieren der Chinesen zum
Davonlaufen, so wurde es in der eigentlichen Chinesenstadt noch weitaus
überboten, denn alle Augenblicke fuhren uns auch noch die massenhaft
zum Knallen gebrachten Feuerfrösche (Fire-Crackers) zwischen die Beine,
die Mehrzahl der sich drängenden und umherstoßenden Chinesen trugen
brennende Joßkerzen, rasselten mit langen auf die Erde fallenden Ketten
oder schlugen mit eisernen Pilgerstöcken heftig auf den Boden. Jedes
einzelne Haus, fast ohne irgend welche Ausnahme, war mit rotweißen
Fahnen bunt ausstaffiert, vor jedem Hause, selbst dem ärmlichsten, war
ein Altar errichtet, oder doch wenigstens ein mit einem Tuch bedeckter
Tisch aufgestellt. In der Mitte des Altars oder Tisches standen überall
Sandbüchsen mit glimmenden Räucherkerzchen, und zu beiden Seiten
derselben steckten brennende Kerzen aus rotgefärbtem Wachs in zinnernen
Leuchtern. In den Straßen gewahrte ich nur Männer und Knaben, keine
Frauen. Ihnen blieben die Häuser überlassen, und sie nutzten diese
Gelegenheit, das seltsame Schauspiel zu betrachten, auch gehörig aus.
In den Fenstern, auf Balkonen, Hausdächern und Gartenmauern standen
oder saßen sie in ihren kostbarsten Festkleidern, hauptsächlich von
blauer Farbe, seltener grün, schwarz oder weiß, aber keine einzige von
den Tausenden, die ich sah, war rot oder gelb gekleidet. Ihre mitunter
recht hübschen Gesichter waren mit Puder- oder Schminkeschichten
überzogen, in der äußerst sorgfältigen Haarfrisur steckte allerhand
Schmuck, vom billigsten Flittergold und Papierrosen bei den Armen bis
zu kostbaren Perlschnüren und großen Jade(Nephrit-)steinen bei den
Reichen. Die letzteren waren überdies durch ihre winzigen, nicht viel
mehr als daumengroßen Füßchen kenntlich, die sie kokett zwischen den
Balkongittern hervorstreckten.

Was das Gewimmel und das Getöse in den Straßen zu bedeuten hatte,
war mir nicht recht klar. Jeder schien den Festtag des heidnischen
Schutzpatrons von Tschinkiang in seiner eignen Weise feiern zu wollen.
Die reichen Kaufleute der Stadt hatten große Summen dazu beigesteuert,
und aus der Provinz waren viele Tausende, darunter das schlimmste
Gesindel, hierhergekommen, um sich einen guten Tag zu machen. Sie
wurden noch durch Tausende von Bootsleuten von der Flotte des großen
Kanals verstärkt.

In langen malerischen Prozessionen zogen sie durch das enge
Straßengewirre der Stadt. Viele von ihnen waren in phantastischer
Vermummung, in langen hellroten Talaren mit hohen zuckerhutförmigen
Hüten, von denen lange Fasanenfedern wagerecht abstanden; andere mit
goldenem und silbernem Flitterwerk bedeckt, wieder andere hatten den
Oberkörper ganz unbekleidet, und ihre Köpfe steckten in scheußlichen
Tierfratzen; alle aber trugen groteske Waffen, Dreizack, flammende
Schwerter, Morgensterne, Lanzen oder Pilgerstäbe mit rasselnden Ketten
umwickelt.

Hier und da wurden den Prozessionen bunt aufgeputzte Kinder
vorangetragen, die auf drei bis vier Meter hohen Stangen saßen und auf
die Papierrosen in ihren Haaren und ihre glänzende Goldflitterkleidung
nicht wenig stolz schienen. In jeder Prozession wurden prachtvolle
Sänften umhergetragen, mit Vergoldungen und Schnitzereien bedeckt,
manche sogar aus getriebenem Silber. Durch die Glasfenster gewahrte
ich im Inneren aus Holz geschnitzte, langbärtige Fratzen. Die
zahlreichen Fahnen, Sonnenschirme und Inschriftentafeln, die wie
ein wandelnder Wald jeder Prozession vorangetragen wurden, zeigten
die Namen der einzelnen Zünfte und Gilden der Stadt. Zwischen den
einzelnen Umzügen wogte zerlumptes halbnacktes Gesindel auf und nieder,
von den berittenen Soldaten mühsam in Ordnung gehalten. Zahlreiche
Bettler, die Stirnen seltsamerweise mit weißem Papier verklebt, warfen
sich uns auf den Knien entgegen, so daß wir kaum vorwärts kommen
konnten. Gleichzeitig kam von einer Seitenstraße ein phantastischer
Karnevalszug des Wegs, lärmend, heulend und waffenschwingend, als
wären sie alle eben dem Tollhaus entwichen. Zwischen ihnen befanden
sich einzelne Reiter. Wir konnten weder vor- noch rückwärts. Der Zug,
mehrere hundert Menschen umfassend, hatte uns bald umringt, ich wurde
von meinem Gefährten getrennt, und als ich den Versuch machte, ihm
nachzueilen, versperrten mir die Reiter durch die Pferdekruppen den
Weg. Gleichzeitig begann ein wilder Geselle mit langem zerzausten Haar
und Kettenstäben in den Händen auf mich loszuschreien und schien die
übrigen auf mich zu hetzen, denn ich bemerkte, wie sich die Gesichter
verfinsterten und drohend überall die bewaffneten Hände erhoben.
Schließlich spie der wilde Geselle mich an und trachtete mich über
den Haufen zu werfen. Da war guter Rat teuer. Ich war allein inmitten
vieler Tausende fanatischer Chinesen, deren leichte Erregbarkeit durch
die Aufstände und Abschlachtungen in früheren Jahren hinreichend
bekannt war, und ein Nachgeben, einen Augenblick des Zögerns hätte ich
möglicherweise mit meinem Leben bezahlen müssen. Rasch entschlossen
griff ich nach meinem Revolver, den ich in der rechten Rocktasche trug.
Auf dem Wege dahin streifte meine Hand das Etui mit meinem Fernglase;
ich weiß nicht wie es kam, einer plötzlichen Eingebung gehorchend,
zog ich statt des Revolvers mein Fernglas hervor und hielt es an mein
Auge. Verwunderung malte sich auf den Gesichtern der Umstehenden, das
Geschrei und Geheul verstummte, und derselbe wilde Hallunke, der mich
eben zuvor hatte niederschlagen wollen, riß mir das Glas aus der Hand.
Kaum hatte er es an sein Auge gesetzt, so begann er zu lachen und die
ihn Umgebenden der Reihe nach zu betrachten. Sein Erstaunen mußte die
Neugierde der anderen in hohem Grade erwecken, denn ein Reiter entriß
nun ihm mein Glas, und kaum hatte er lachend durch dasselbe geblickt,
so wanderte es zu seinem Nachbar. Seine Ausrufungen versetzten die
Zopfträger in große Heiterkeit. Alle lachten, und ich glaubte am besten
zu thun, indem ich mitlachte. Mein Glas war nun in den Händen eines
Mannes, der an der Ecke eines seitwärts führenden engen Gäßchens stand.
Ich zwängte mich zu ihm durch, nahm ihm lachend das Glas aus der Hand,
und ohne mich umzublicken, verschwand ich in dem Gäßchen, das gerade
weit genug war, um einen Menschen durchzulassen. Durch dasselbe hatte
sich auch mein Begleiter geflüchtet, und zu meiner Freude erwartete er
mich am anderen Ende dieses finsteren Durchgangs.

Wir hatten nun genug von den Festlichkeiten der Provinzheiligen und
wanderten aus der Stadt hinaus, die sanfte Anhöhe empor, die von
einem Fort mit merkwürdigen Pagodendächern gekrönt wird. Auf den
Umfassungsmauern steckten Hunderte von kleinen dreieckigen Fahnen in
Rot und Weiß. Der Weg führte durch eine ausgedehnte Nekropole mit
Tausenden und Abertausenden von kleinen Grabhügeln, hier und dort
unterbrochen von kleinen Rasenflächen und Baumgruppen. Unter einer der
letzteren gewahrten wir auf einer Steinbank sitzend vier Chinesinnen,
die in den Anblick des wunderbar schönen Jangtsekiangthales versunken
schienen, das sich zu unseren Füßen auf viele Meilen stromauf- und
-abwärts ausdehnte. Als wir ihnen näher kamen, bemerkten wir erst,
daß diese vermeintlichen Chinesinnen hellblonde Haare und blaue
Augen hatten, dabei so große Füße, wie sie eine Tochter des Reiches
der Mitte noch niemals besessen haben mag. Die vier Damen waren
Angestellte irgend einer schwedischen Mission, die hier oben unter dem
Schutz des Forts ein Missionshaus besaß. Neben diesem, und auch auf
dem jenseitigen Abhang der Anhöhe im Freien zerstreut, liegen noch
einige andere Missionshäuser, hauptsächlich amerikanischen Sekten
angehörend. Die Missionäre leben hier mit ihren Frauen recht lauschig
und behaglich und geben den Chinesen die verschiedenen Arten und Wege
an, auf welchen sie als Christen selig werden können. Da giebt es
eine Amerikan-Baptist-Mission, Amerikan-Methodist-Episkopal-Mission,
Amerikan-Southern-Presbyterian-Mission, China-Inland-Mission, aber sie
alle zusammengenommen mit ihren Dutzenden von Missionären und deren
Frauen und ihren reichen Mitteln haben nicht ein Viertel des Erfolges
aufzuweisen, den die beiden katholischen Padres französischer Nation
hier mit ihren bescheidenen Mitteln erzielt haben. Wenn diese vielen
amerikanischen Missionäre wenigstens für die Europäer von irgend
welchem Nutzen wären! Wie wünschenswert wäre es z. B., wenn in den
Spitälern der Missionen kranke Europäer Aufnahme fänden. Leider ist
dies nicht der Fall; Europäer werden abgewiesen und nur kranke Chinesen
aufgenommen.

Das Fort auf der Anhöhe schien mir von den Hunden besser bewacht
als von den Soldaten. Während die ersteren bei unserem Kommen Lärm
schlugen, blieben die letzteren, große Damenstrohhüte auf den
bezopften Köpfen, ruhig auf dem grünen Rasen liegen und schielten
nur mit halboffenen Augen zu uns herüber. Als ich Miene machte, das
Thor zu durchschreiten, sprang einer der Soldaten auf und verwehrte
uns den Eintritt. Nur wenn wir einen Erlaubnisschein vom Mandarin
besäßen, dürften wir in das Innere des Forts. Indessen wir wurden
durch die wunderbare Aussicht auf den Jangtsekiang reichlich für diese
Enttäuschung entschädigt. Von hier oben konnten wir deutlich die
früheren Ufer des ewig wechselnden Stromes verfolgen. Bald reißt er
von einem Ufer ganze Morgen, ja Quadratkilometer Landes ab, um sie am
jenseitigen anzusetzen, bald bricht er sich eine neue Laufbahn durch
die üppigen Gersten- und Roggenfelder, bald läßt er Inseln aus seinem
Bett verschwinden, bald weiter abwärts neue entstehen. Mit dem Fernglas
musterten wir das jenseitige Ufer des gewaltigen Gelben Stromes, wo
sich noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts die große Stadt Koatschen
befunden hat, eines der wichtigsten Salzdepots von ganz China, und
zeitweilig waren zu ihren Füßen im Fluß gegen zweitausend Salzboote
und Dschunken verankert. Wir konnten davon nichts mehr wahrnehmen als
einzelne elende Hütten, mitten im Morast steckend. Der Jangtsekiang
hat die Stadt verschlungen. Auch das einst so berühmte Jangtschau hat
seine frühere Bedeutung gänzlich eingebüßt. Jangtschau liegt nur einige
zwanzig Kilometer von Tschinkiang an der Nordseite des Jangtsekiang und
war in früheren Zeiten die Hauptstadt des Jangreiches. Vor sechshundert
Jahren, lange bevor irgend ein Europäer den Fuß auf chinesischen Boden
setzte, besaß Jangtschau einen europäischen Gouverneur, keinen anderen
als Marco Polo, der drei Jahre hier residierte.

Aus jener Zeit ist wohl weder dort, noch in Tschinkiang etwas übrig,
nicht einmal die alten Pagoden der Goldenen Insel dürften dieses Alter
besitzen. Als wir von unserem Ausflug zurückgekehrt waren, ließen wir
uns nach diesem Heiligtum der Buddhistenwelt rudern, wo kolossale
Buddhastatuen, umgeben von solchen seiner Apostel und Gelehrten, der
Anbetung durch die andächtigen Zopfträger harren, aber das Leben
und Treiben auf dem Bund, der Hauptstraße der Fremdenansiedelung.
interessierte uns mehr, und stundenlang hätte ich dem Treiben in den
offenen Eßbuden, rings um die ambulanten Küchen, bei den Spieltischen,
Frucht- und Eierhändlern zusehen können, wenn nicht der furchtbare,
ohrenbetäubende Lärm gewesen wäre. Die Chinesen scheinen nichts
thun zu können, ohne dabei aus vollem Halse zu schreien; selbst die
Lastenträger schreien bei jedem Schritt ihr ha-ho desto kräftiger, je
größer die Last, die sie zu tragen haben, als ob sie die Arbeit mit
Geschrei allein verrichten könnten. Vom frühen Morgen bis zum Einbruch
der Nacht aus Tausenden von Kehlen ohne Unterbrechung ha-ho schreien
zu hören ist begreiflicherweise kein Vergnügen für die europäischen
Bewohner der Konzession. Vor einigen Jahren wandten sie sich deshalb an
den Taotai von Tschinkiang mit dem Ersuchen, das Schreien zu verbieten.
Das geschah auch, aber am folgenden Tage schrieen die Kulis ihr ha-ho
vielleicht nur noch kräftiger, und dabei ist es bis heute geblieben.

[Illustration: Sommeraufenthalt auf einem Felskegel bei Tschingkiang.]



[Illustration: Steinerne Tierfiguren bei den Kaisergräbern in Nanking.]



Nanking.


Eine Stunde nach Mitternacht hielt der große, nach Hankau bestimmte
Jangtsekiangdampfer mitten auf dem breiten Strom, und der langbezopfte
chinesische Steward bedeutete mir, ich wäre in Nanking angekommen. Vom
Verdeck aus sah ich von dieser Weltstadt, deren Bevölkerung Millionen
zählte, dieser einstigen Hauptstadt des größten Reiches der Erde,
nichts weiter als eine gewaltige Ringmauer. Der Vollmond beschien
die einsamen Ufer des Stromes. Kein Schiff, nicht einmal eines der
vielen chinesischen Kanonenboote, welche auf dem Jangtsekiang den
Polizeidienst versehen, deutete die Einfahrt in den Hafen an; nur zwei
niedrige ärmliche Gebäude standen dort dicht am Stromufer, und von
diesem stieß eben ein kleiner, von ein paar Kulis gelenkter Sampan ab,
um mich abzuholen. Ein paar Minuten später saß ich darin, und während
meine chinesischen Bootsleute mit kräftiger Hand durch die Fluten des
hier reißenden Stromes dem Lande zuruderten, verschwand der große
Dampfer in der Richtung gegen Hankau.

Es war ein Glück, daß die englischen Professoren der Marineschule in
Nanking von meinem Kommen unterrichtet waren und mir eine Sänfte mit
vier Trägern entgegengesandt hatten, sonst hätte ich wohl im Freien
außerhalb der Stadtmauern übernachten müssen. Raschen Schrittes trugen
mich die Kulis durch die elende Hüttenstadt, welche den Hafen von
Nanking bildet. An dem Kanal angelangt, welcher dieses verkommene
Nest mitten durchschneidet, mußten die Bootsleute der Fähre durch
kräftige Hiebe aus dem Schlaf geweckt werden. Was sind die Chinesen
doch für ausgezeichnete Schläfer! Der Kanal war über und über mit
Pantoffelbooten bedeckt, deren jedes einer Familie als Wohnung dient.
Obschon nun Hunderte von Hunden bei unserem Kommen wütenden Lärm
schlugen, ließ sich doch niemand aus dem Schlafe wecken. Nur aus
einem der Boote drangen leise Gongschläge zu mir herüber. Einer der
Insassen mochte wohl im Sterben liegen, und die aufmerksamen Verwandten
trachteten durch diese Gongmusik die bösen Geister zu vertreiben.

Jenseits des Kanals trugen mich die schweißtriefenden, stinkenden Kulis
abermals eine Viertelstunde lang durch eine öde, verlassene Gegend,
ehe wir an die ungeheuren Stadtmauern von Nanking gelangten. In dem
bleichen Mondlichte zeigten sich diese noch viel gewaltiger, als sie
wirklich sind. Auf viele Meilen zogen sie sich zu beiden Seiten unseres
Weges in die Ferne, aus großen Quadern bestehend und vortrefflich
erhalten, noch immer eines der größten Werke, welche Menschenhände
geschaffen haben. Sie umgeben die alte Kaiserstadt in einem Umkreise
von vierunddreißig Kilometern und erreichen bei einer Stärke von
acht bis vierzehn Metern eine Höhe von fünfzehn bis dreißig Metern.
Im ganzen genommen, enthalten sie nicht weniger als sieben Millionen
Kubikmeter Mauerwerk und dreißig Millionen Kubikmeter Erde, also das
Sechzehnfache der größten Pyramide Aegyptens. Hunderttausende von
Menschen müssen jahrelang an diesem ungeheuren Werke gearbeitet haben,
und die Mauer hat auch den Jahrhunderten, die seit ihrer Erbauung
verflossen sind, ebenso wie den vielen Kriegen und Belagerungen
getrotzt, deren letzte zur Zeit der Taipingrevolution die furchtbarste
war. Nur nach langer Mühe gelang es den kaiserlichen Truppen im
Jahre 1864, eine Bresche in dieses gewaltige Werk zu schießen.
Sie wurde seither wieder ausgebessert. Der Vizekönig der Provinz
verwendete dafür, sowie für die Erneuerung der Thortürme mit den schön
geschwungenen Dächern eine Million Mark, eine Geldsumme, welche mit
größerem Nutzen in der Stadt selbst hätte verausgabt werden können.
Das ungeheure Thor, durch welches unser Weg in die Stadt führte,
war fest verschlossen. Lange mußten meine Kulis mit den Tragstangen
der Sänfte pochen, ehe die inneren Querbalken losgelöst wurden und
der eine Thorflügel sich so weit öffnete, um uns durchzulassen. Ein
Soldat in Pantoffeln und ohne irgend welche Bewaffnung sah mich mit
schlaftrunkenen Augen an, richtete aber weder eine Frage an meine
Begleiter, noch verlangte er mir meinen Reisepaß ab. Und das zu einer
Zeit, als die Japaner sich mit allen Kräften zu dem großen Kriege
rüsteten, der einige Monate später wirklich ausbrechen sollte.

Jenseits des vielleicht hundert Meter langen gewölbten Thorweges, der
unter den Mauern und Wällen der Stadt in das Innere derselben führte,
mußten meine Kulis noch eine geraume Zeit wandern, ehe wir das Thor
der Marineschule, meiner Behausung, erreichen. Die Straßen waren
wohl mit gutem Pflaster versehen, allein die Häuser zu beiden Seiten
waren nur erbärmliche Lehmhütten, ähnlich wie ich sie in den ärmsten
chinesischen Dörfern gesehen habe. Die einzigen Menschen, denen wir
auf unserem nächtlichen Marsche begegneten, waren Nachtwächter, die
schläfrig durch die einsamen Straßen wanderten und bei jedem Schritt
mit ihrem eisernen Speer auf den Boden schlugen, oder mit Zinken und
Trommeln etwaigen Dieben und Einbrechern ihr Nahen verkündeten. In der
Wachtstube gegenüber der Marineschule lagen zehn Soldaten schlafend
auf ihrem harten Holzlager ausgestreckt. Bei unserem Kommen wurde von
einem dieser Vaterlandsverteidiger kräftig eine Trommel gerührt, in
der ganzen Stadt, nah und fern, antworteten Dutzende von Trommeln.
Trotz dieses laut durch die Nacht hallenden Wachtrufes rührten sich
die schlafenden Soldaten nicht. Wozu auch? Sie sind ja längst an
diesen nächtlichen Lärm gewöhnt. Als ich eine Stunde später selbst
in dem ganz modernen europäischen Hause der Marineschule zur Ruhe
gegangen war, dauerte das Trommeln noch fort. Alle Augenblicke wurde
ich durch Trommeln aus dem Schlafe geweckt; aber mit der Zeit gewöhnte
auch ich mich daran. In allen chinesischen Städten wird zur Nachtzeit
fortwährend getrommelt, Gong geschlagen, Tuba geblasen, und ohne diesen
Lärm müßte es den Hunderten von Millionen schlafender Chinesen ganz
unheimlich vorkommen.

Als ich am nächsten Morgen meinen ersten Spazierritt durch Nanking
unternahm, wunderte ich mich, warum der Vicekönig, der in einem
bescheidenen Yamen seine Residenz aufgeschlagen hat, für die
Ausbesserung der Stadtmauern so viel Geld ausgegeben haben konnte. Wo
war denn eigentlich das vielgerühmte Nanking? Ich war innerhalb der
Stadtmauern, aber die Stadt selbst suchte ich stundenlang auf- und
niederreitend vergeblich. Reis-, Gerste- und Roggenfelder bedeckten
weite Flächen, andere waren von wüstem Sumpfland eingenommen, wieder
andere bedeckte dicht wucherndes Gestrüpp und Wald. Hie und da zwischen
den Feldern erhoben sich elende Strohhütten, in welchen armselige
Weiber ihren Hausrat besorgten, während die Männer die Wasserbüffel
bewachten, die in den Feldern den Pflug zogen. Weiterhin führte
mich mein Weg durch Trümmerfelder von Quadratkilometern Ausdehnung,
bedeckt mit Steintrümmern und Schutthaufen, zwischen denen das Unkraut
üppig emporschoß. Wohl hatte ich von den furchtbaren Verwüstungen
gehört, die der große Taipingkrieg in den sechziger Jahren in seinem
Gefolge hatte, allein so entsetzlich, wie ich sie nun in Wirklichkeit
fand, hätte ich dieselben nicht für möglich gehalten. Sollte denn
von all den Tausenden von Palästen, Tempeln, öffentlichen Gebäuden,
Pagoden, welche die Millionenstadt in früherer Zeit besessen hat,
wirklich nichts mehr übrig geblieben sein? Wo war die Purpurstadt,
wo der Kaiserpalast, in dem die Kaiser der Mingdynastie residiert
haben, wo der Palast des letzten Taipingkaisers? Ich ließ mir die
Tatarenstadt zeigen, die, von einer eigenen Ringmauer umschlossen,
im östlichen Teil von Nanking gelegen ist. Auch dort nichts als
Steintrümmer, ähnlich jenen des Dschebel Mokattam in Kairo oder denen
von Karthago, wo ich vor Jahren umhergewandert, nur noch trostloser,
weil sie frischer waren, aus der neuesten Zeit stammten. Ich hatte
wenigstens Ruinen erwartet, wie sie Paris in seinen Tuilerien, seinem
Staatsratsgebäude, seinem Hôtel de ville besessen hat, und als ich
auf dem weißen Steingeröll umherreitend endlich meinen Begleiter nach
dem Kaiserpalast fragte, antwortete er mir, ich befände mich eben auf
der Stelle, wo er sich vor der Taipingrevolution befunden hätte. Und
die Ruinen? Das Steingeröll, über das mein Pferd einherstolperte!
Nicht ein Stein liegt dort auf dem anderen. Nanking ist nicht mehr. Es
wurde während der Revolution einfach zu Staub zermalmt, vom Erdboden
weggewischt, wie man Staub vom Spiegel wischt. Kein Erdbeben, kein
Brand, keine Ueberschwemmung hätte hier schlimmere Verwüstungen
anrichten können als die Hand von Menschen während der Revolution. Ich
befand mich in Tokio, als ein Erdbeben viertausend Häuser zerstörte
oder beschädigte. Ich habe Chicago bald nach dem großen Brande gesehen,
der es großenteils vernichtete, und St. Cloud in Minnesota nach dem
furchtbaren Tornado, der es in Trümmer geblasen hat. Nirgends war die
Vernichtung auch nur annähernd so vollständig wie hier, wo nichts
als weiße Trümmerfelder die Stelle anzeigen, wo noch Mitte dieses
Jahrhunderts eine der größten, ältesten und volkreichsten Städte
unseres Erdballes gestanden hat. Innerhalb der Mauern von Nanking
hat sich in der That eines der merkwürdigsten, leider nur zu wenig
bekannten Ereignisse der Weltgeschichte abgespielt. Hier war es, wo der
berüchtigte Hong-Sin-Tsien, ursprünglich ein armer Schullehrer, durch
seine Ueberzeugung und Thatkraft sich zu einem gewaltigen Heerführer
emporgeschwungen und schließlich während elf Jahren als Kaiser über
die Hälfte des chinesischen Reiches herrschend, der Dynastie in Peking
so starren Widerstand entgegengesetzt hat. Seine Armeen waren überall
erfolgreich, überall wurden die kaiserlichen Heere durch die Taiping
geschlagen, und eine Zeit lang glaubten die Chinesen selbst an die
Intervention des Himmels zu Gunsten des Friedenskaisers in Nanking.
Aber als die Kaiserlichen endlich die Europäer um Hilfe anriefen,
war es mit der sagenhaften Unüberwindlichkeit vorbei. Unter ihren
Heerführern waren überdies Zwistigkeiten ausgebrochen; viele kämpften
auf eigene Faust, etliche fielen in den Schlachten, andere gingen mit
ihren Mannschaften zu den Kaiserlichen über. Müde von den Bedrückungen,
dem Sengen, Rauben und Morden der umherziehenden Taipingbanden fielen
ganze Provinzen von dem Rebellenkaiser ab, und diesem blieb schließlich
von seinem großen Reiche nichts weiter als seine Residenzstadt
Nanking. Lange Zeit hielt er sich dort, hauptsächlich geschützt
durch die gewaltigen Ringmauern. Am 30. Juni 1864 gelang es endlich
der Artillerie des kaiserlichen Belagerungsheeres, in diese Mauern
eine Bresche zu schießen, und damit war der weitere Widerstand der
Rebellen ein erfolgloses Bemühen. Aber die letzteren ahnten wohl, welch
schreckliches Schicksal ihnen schließlich bevorstand, und deshalb
entschlossen sie sich, lieber auszuharren, als sich zu ergeben. Nur
der Rebellenkaiser selbst verlor den Mut. Schon lange war sein Geist
durch die rasch aufeinanderfolgenden Schläge getrübt worden, und als er
noch die Nachricht von dem Fall der großen Ringmauer erhielt, nahm er
sich durch Gift das Leben. Seine Generale riefen nun seinen Sohn zum
Kaiser aus, und der sechzehnjährige Jüngling übernahm den Befehl über
die Verteidigungstruppen. Achtzehn Tage hielten sich die Rebellen noch
gegen die Kaiserlichen. Am 19. Juli 1864 aber drangen die letzteren
durch die Bresche in die Stadt. Ein treuer Diener von Hong-Siu-Tsien
rettete den jungen Rebellenkaiser dadurch, daß er ihm sein eigenes
Pferd gab, allein ebenso wie sein Retter, fiel schließlich auch der
Kaiser in die Hände der siegreichen Belagerer und wurde enthauptet.

Beim Lesen des offiziellen Berichts über die Einnahme von Nanking
stehen einem vor Entsetzen die Haare zu Berge. Nicht weniger als
hunderttausend Menschen wurden innerhalb dreier Tage niedergemetzelt,
viele Tausende starben in der durch so viele verwesende Leichname
verpesteten Stadt. Alles wurde zerstört und verwüstet, die ganze Stadt
mit unbeschreiblicher Wut dem Erdboden gleichgemacht. Selbst der
Leichnam des verstorbenen Hong-Siu-Tsien wurde nicht verschont. Die
Kaiserlichen fanden sein Grab; sie rissen der verwesenden Leiche die
Haut vom Körper, warfen seine Gliedmaßen den Hunden vor und ließen
seinen Kopf auf einer Stange steckend durch die aufrührerischen
Provinzen tragen. So endete die Rebellion der Tschang-Mao, vielleicht
die schrecklichste und blutigste aller Zeiten. Nankings Ruinen sind
nicht die einzigen. Im ganzen Jangtsekiangthale und in den südlich
davon gelegenen Provinzen blieb wohl keine Stadt verschont. Jahrzehnte
werden noch vergehen, ehe sich die Bevölkerung der verwüsteten
Provinzen, über hundertfünfzig Millionen, von den furchtbaren
Verheerungen der Taiping erholt haben wird, Nanking aber ist wohl
auf Jahrhunderte hinaus gebrochen. Die Regierung ließ allerdings aus
den umliegenden Provinzen Ansiedler kommen, sie unterstützte die
Wiederaufnahme der einst so berühmten Industrien, der Seidenspinnerei,
der Fabrikation des unter dem Namen Nanking bekannten Baumwollstoffes,
der Porzellanmanufaktur; sie ließ außerhalb der Mauer ein Arsenal
errichten, und die Stadt soll heute chinesischen Berichten zufolge
wieder eine Viertelmillion Einwohner haben. Ich glaube es nicht.
Nach meiner Schätzung können die wenigen Straßen, die hier und dort
auf dem weiten Trümmerfelde wieder entstanden sind, kaum mehr als
hunderttausend Menschen enthalten. Sie wohnen in ärmlichen Häusern,
zum größten Teil aus den Trümmern der zerstörten Stadt erbaut, und
Handel und Wandel sind nur ein Schatten dessen, was er früher, und
wie er heute in benachbarten Städten, in Shanghai, Tschingkiang, Wuhu
herrscht. Armut und Aberglaube überall. In den elenden Kaufläden
hängen lange Schnüre von Shoes, d. h. Silberbarren, aber aus
Silberpapier angefertigt, welche die Chinesen an den Gräbern ihrer
Verstorbenen oder in den Tempeln ihren Götzen opfern. Vor den Thoren
der wenigen besseren Häuser stehen kurze hohe Wände mit allerhand
Fratzen bemalt, um die bösen Geister zu bannen. Als ich nach meinem
ersten Spazierritt in die Marineschule zurückkehrte, fiel mir auf,
daß das Hauptthor nicht in derselben Linie mit der Umfassungsmauer
war, sondern schief stand. Als ich die Professoren, meine Gastfreunde,
darüber befragte, erklärten sie mir, daß auch beim Bau dieses
europäischen Hauses, wie bei jenem der chinesischen Häuser, Gelehrte
und Wahrsager zu Rate gezogen wurden, um die günstigste Lage gegenüber
den guten und bösen Geistern zu bestimmen. Sie erklärten, das Thor
müsse genau nach Süden gerichtet sein, und deshalb die schiefe Lage
desselben. Nun vergingen sich die europäischen Professoren beim Bau
des Hauses insofern, als sie es ein Stockwerk hoch aufführen ließen.
Darob großes Geschrei unter den Chinesen, die es nicht zugeben wollten,
daß dieses Haus höher sein sollte als jenes des obersten Leiters der
Schule, eines chinesischen Generals. Glücklicherweise stand dasselbe
aber auf einem Hügel. Die Professoren erklärten nun ihrerseits, sie
hätten alle Rücksichten für ihren Vorgesetzten beobachtet, denn das
Dach ihres neuen Hauses wäre thatsächlich tiefer gelegen als jenes
des chinesischen Generalshauses. Die Gelehrten überzeugten sich durch
Augenschein von der Richtigkeit dieser Behauptung, und das Haus blieb
stehen. Sonst hätte gewiß das erste Stockwerk wieder abgetragen werden
müssen.

Die verhältnismäßige Neuheit der Häuser in den über die ungeheure
Fläche zerstreuten Stadtteilen läßt diese auch reinlicher erscheinen
als andere chinesische Städte; die Leute, großenteils im Dienste der
Provinzialregierung stehend, die hier ihren Sitz hat, und überdies
durch die vielen christlichen Missionen beeinflußt, sehen auch
reinlicher und besser gekleidet aus; die Straßen sind breiter, und vor
den zahlreichen ärmlichen Kaufläden befinden sich, durch Holzgitter
eingefaßt, kleine Vorplätze mit Sitzbänken, welche den Inhabern und
Käufern tagsüber als Aufenthalt dienen. Die großen Entfernungen
erschweren natürlich den Verkehr; an Stelle der Schubkarren, welche
in Shanghai, Tschinkiang, Tschifu und anderen Städten des Nordens zur
Beförderung von Menschen und Lasten dienen und von kräftigen Kulis
geschoben werden, verwenden die Bewohner Nankings größtenteils Esel,
die im Vergleich zu den elenden, mageren Tieren, die man in Italien
und der Levante sieht, viel kräftiger und besser genährt sind. Kein
Wunder! Befinden sich doch innerhalb der Ringmauern dieser merkwürdigen
Stadt ganze Quadratmeilen von Feldern und futterreichen Wiesen, die
vielleicht vier Fünftel des ganzen Raumes einnehmen. Nur auf einem
Fünftel erheben sich die Anfänge der neuen Stadt. Die christlichen
Missionshäuser sind hier zahlreicher als die Götzentempel, deren es in
dieser alten Kaiserstadt nur drei giebt. Auch sie wurden erst nach dem
Taipingkriege neu erbaut. Der schönste ist wohl der aus mehreren Höfen
und Hallen bestehende Confuciustempel, der friedlich zwischen jenen
der Buddhisten und Taoisten in der Nähe der französischen katholischen
Mission gelegen ist. Kein Priester oder fanatischer Anbeter des großen
chinesischen Weltweisen verwehrt dem europäischen Besucher den Eingang,
und mit Muße kann man die mit schöngeschwungenen Schiffsschnabeldächern
gedeckten Hallen durchwandern. Während in dem Taoistentempel
scheußliche langbärtige Götzenbilder aufgestellt sind, prangt hier nur
eine große Tafel mit dem Namen des unsterblichen Confucius in goldenen
Lettern, umgeben von ähnlichen Tafeln mit den Namen seiner Apostel.

Auf einem Hügel im Mittelpunkte Nankings erhebt sich eine hölzerne
Pagode mit einer ungeheuren Bronzeglocke, die ähnlich wie die
japanischen durch einen horizontal schwingenden Holzbalken, der sich
außerhalb befindet, geläutet wird. Als ich zu diesem von allen Teilen
der Stadt sichtbaren Glockenturm emporritt, warfen sich mir eine
Menge Bettler entgegen. Schon in der Ferne sanken sie mitten in der
Straße auf ihre Knie und schlugen mit ihrer Stirne auf den Boden, so
daß ich Mühe hatte, mein Pferd zwischen ihnen hindurchzulenken. Nahe
der Pagode gewahrte ich mehrere Missionsanstalten und auch die Mauern
eines chinesischen Militärforts mit zahlreichen Schießscharten, aus
denen die Mündungen gewaltiger Kanonen hervorlugten. Als ich diese
näher betrachtete, sah ich erst, daß die Schießscharten sowohl wie
die Kanonenrohre auf die Mauern gemalt waren! Im Innern des Forts
exerzierten chinesische Truppen mit Bogen und Pfeilen, sowie langen
dreieckigen Lanzen. Nur wenige Abteilungen waren mit Schießgewehren
bewaffnet, und diese Soldaten wurden einige Monate später den
japanischen Heeren mit ihren modernen Hinterladern entgegengestellt!

Die größte Sehenswürdigkeit Nankings befindet sich im Osten der
Stadt, außerhalb der Ringmauer: das Mausoleum der berühmten Kaiser
der Mingdynastie. Eines Morgens ritt ich, begleitet von Professor
Hearson der Marineschule, dort hinaus. Da der Weg uns durch Sümpfe und
Reisfelder geführt hätte, galoppierten wir auf der oberen Fläche der
ungeheuren Stadtmauer bis zum Taipingthor, etwa zehn Kilometer weit
von unserer Wohnung gelegen, und gelangten durch dieses ins Freie. In
dem kühlen, dunkeln Thortunnel kauerten Hunderte von Chinesen an den
Wänden und rauchten oder spielten Domino, geschützt gegen die brennende
Sonnenhitze. Draußen vor dem Thore breitete sich ein großer, sumpfiger
See aus, und jenseits desselben auf einer kahlen, hügeligen Fläche
gewahrte ich die ungeheuren Steinfiguren, welche gerade so wie bei den
Kaisergräbern von Peking zu den Minggräbern führen. Die Anlage dieser
Gräber ist sehr merkwürdig. Angelehnt an die Bergketten im Norden,
erhebt sich ein etwa sechzig Meter hoher, dicht bewaldeter Hügel, und
vor diesem liegt ein Tempel, von einer hohen Mauer aus rotgebrannten
Ziegeln eingeschlossen. Die Tempeldecke wird durch eine Säule getragen,
die auf einer ungeheuren steinernen Schildkröte, etwa vier Meter lang
und drei Meter breit, steht. Von diesem Grabtempel führt in südlicher
Richtung eine etwa fünfhundert Meter breite Avenue bis zu zwei hohen
Steinsäulen, wo sie sich im rechten Winkel nach Osten wendet und bei
einer auf einem Hügel stehenden offenen Tempelhalle, etwa ein Kilometer
von den Steinsäulen entfernt, endet. Der erste, nach Süden gerichtete
Teil der Avenue ist zu beiden Seiten mit ungeheuren Steinfiguren
alter Kaiser besetzt, der nach Osten gerichtete Teil dagegen enthält
ebenso ungeheure Tierfiguren, durchwegs aus Steinmonolithen gemeißelt,
deren Größe mich an jene von Oberägypten und Nubien erinnerte. Diese
Tierfiguren stehen mit den Köpfen einander zugewendet an den Seiten
der etwa zehn Meter breiten Straße in Abständen von etwa dreißig Meter
voneinander. Das erste, den Steinsäulen zunächst stehende Tierpaar
sind, wenigstens dem Aussehen nach, zwei ungeheure aufrechtstehende
Tapire, das nächste Paar sind ebenfalls Tapire, jedoch in liegender
Stellung; ihnen folgen zwei aufrechtstehende, dann zwei liegende
Löwen; dann aufrechte und liegende Elefanten; an sie schließen sich
ebensolche Doppelpaare von Kamelen, Pferden und dergleichen bis an die
Tempelhalle. Die Figuren sind ziemlich gut ausgeführt, etwa vier Meter
hoch und von entsprechender Länge, nur haben die chinesischen Bildhauer
es mit der Anatomie der Tiere nicht besonders genau genommen. So z. B.
sind die Vorderfüße der liegenden Elefanten mit den Knieen nicht nach
vorwärts, wie bei den Pferden, angefertigt, sondern mit den Knieen nach
rückwärts, so daß die Füße dieselbe Stellung zeigen wie bei liegenden
Löwen. Auf den Rücken der aufrechten Elefanten bemerkte ich eine Menge
kleiner Steinchen, was wieder mit einem abergläubischen Gebrauch der
Chinesen zusammenhängt. Professor Hearson erklärte mir, Zopfträger,
welche im Begriff stehen, zu heiraten, pilgern zuvor zu einem dieser
Elefanten und werfen ein Steinchen auf seinen Rücken. Bleibt dasselbe
oben liegen, so wird die Ehe innerhalb eines Jahres durch einen Sohn
gesegnet werden. Fällt aber das Steinchen herab, so wird der Zopfträger
Vater einer Tochter. Um dieses Unglück in den Augen der Chinesen zu
verhindern, wird die Ehe mitunter auf ein Jahr hinausgeschoben, oder
findet sie doch statt, so macht der Ehemann von seinen Rechten bis zum
folgenden Jahre keinen Gebrauch und wiederholt dann seine Anfrage bei
dem Elefantenorakel. Vielleicht wird dann durch einen Zauberer oder
Wahrsager künstlich nachgeholfen, um das gewünschte Ziel zu erreichen.

[Illustration: Stadtthor von Nanking.]



Wie die Chinesen Theater spielen.


Die Chinesen lieben das Theater gerade so sehr, wenn nicht sogar
mehr, als Europäer. Auf meinen Reisen im Reiche der Mitte habe ich
in allen Städten, ja in vielen Dörfern Theater angetroffen, und der
Besuch derselben würde den Neid jedes europäischen Theaterdirektors
erweckt haben. Alle waren stets zum Erdrücken gefüllt, und geschlossene
Theater, oder solche mit schlechtem Besuch sind in China unbekannt.
Die dortigen Theater sind eben etwas anders eingerichtet als die
unsrigen, und nur ihr Ursprung dürfte derselbe sein. Seltsamerweise
hatten die Chinesen in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung
noch keine Theater. Seltsamerweise deshalb, weil ja sonst die meisten
Einrichtungen der Zopfträger in die Zeit vor Christi Geburt, einzelne
sogar in die Zeit vor der Erbauung der Pyramiden zurückgreifen.
Musik war ihnen wohlbekannt, das Theater aber wurde ihnen erst durch
die von Westen in China einfallenden Völkerschaften von unseren
gemeinschaftlichen Lehrmeistern des Theaterspiels, den Griechen,
überbracht. Die erste glaubwürdige Nachricht über das Theater in
China stammt aus dem Ende des siebenten Jahrhunderts. Damals regierte
über das große Reich ein sehr vergnügungslustiger Herr, der Kaiser
Tang Ming Huang. Er fand Gefallen an der Musik und an der von den
westlichen Völkern ausgeübten Schauspielerei und suchte sie in seinem
Lande dadurch zu verbreiten, daß er an seinem Hofe eine eigene
Musik- und Theaterschule errichtete. Die Hunderte junger Mädchen,
die er in dieser Schule ausbilden ließ, erregten begreiflicherweise
sein Wohlgefallen; er schuf für sie ein eigenes ~Pensionat des
demoiselles~, das in einem großen Obstgarten mit Birnbäumen
stand, und die jungen, chinesischen Misses führten deshalb unter den
dem Gebrauch von Beinamen sehr ergebenen Chinesen die Bezeichnung
„Die Birnbaumschülerinnen Seiner Majestät”. Noch heute heißen die
chinesischen Schauspieler die Brüder aus dem Birnbaumgarten. Schwestern
giebt es leider keine mehr, und damit haben die chinesischen Theater,
wenigstens nach unserm Geschmack, ihren größten Reiz verloren. Eine
Bühne ohne Schauspielerinnen, Sängerinnen, Tänzerinnen wäre bei uns
wohl undenkbar. Die Chinesen würden diese angenehmen Persönlichkeiten
gewiß auch sehr gerne wieder auf den Brettern, welche die chinesische
Welt bedeuten, sehen und bewundern, aber sie dürfen nicht. Ein
kaiserliches Edikt hat es ihnen verboten. Die Theaterdamen waren in
China wahrscheinlich ebenso verführerisch wie anderswo. Eine derselben
hatte dem Kaiser Yung Tsching, der zu Anfang des vorigen Jahrhunderts
das Szepter führte, den Kopf so verdreht, daß er ihr sogar Herz und
Hand anbot und sie unter jene nach Tausenden zählende Damengesellschaft
aufnahm, welche mit ihm auf dem vielsitzigen chinesischen
Herrscherthron saßen. Die Frucht war ein Sohn, der im Jahre 1736 unter
dem Namen Kien Lung seinem Vater als Kaiser des Reiches der Mitte
folgte, einer der weisesten und gerechtesten, welche die chinesische
Geschichte kennt. Im ersten Jahre seiner sechzigjährigen Regierung
veranlaßte ihn seine Mutter, um an ihren einstigen Beruf nicht
mehr erinnert zu werden, das Auftreten von Frauen auf der Bühne zu
verbieten. Er willfahrte nicht nur ihrem Wunsche, sondern ging sogar
noch weiter. Die Gefahren kennend, welche auch mitunter von seiten
männlicher Bühnenmitglieder zarten Frauenherzen drohen, verbot er
auch Männern die Mitwirkung auf der Bühne, und seither befindet sich
der Schauspielerstand ausschließlich in den Händen der Eunuchen.
Aber glücklicherweise nur bei Hof. Die Schauspieler, aus welchen
sich die wandernden Truppen von China zusammensetzen, erfreuen sich,
wenigstens der Form nach, der vollen Mannbarkeit, selbst wenn sie in
Frauenkleidern stecken und weibliche Rollen spielen.

Ständige Theatergesellschaften giebt es in China nur bei Hofe; alle
anderen sind umherziehende Banden, die bald hier bald dort ihre
Vorstellungen geben, je nachdem in den Ortschaften Märkte, religiöse
oder weltliche Feste abgehalten werden. Ebensowenig giebt es in China
Theatergebäude nach europäischem Muster. Allerdings bestehen solche
in Hongkong und Shanghai; auch in Canton und einigen anderen Städten
hat man die Zweckmäßigkeit derselben eingesehen, und Kapitalisten
haben Theater erbaut, die sie an wandernde Truppen vermieten. Allein
im Innern des ungeheuren Landes fehlen sie vollständig. Kommt eine
Gesellschaft mit ihren Kisten und Kasten in eine Ortschaft, so wird
von einer eigenen Klasse von Handwerkern in aller Eile ein Theater
gebaut. Binnen ein, zwei Tagen ist es fertig. Hohe starke Bambusstangen
bilden das Gerippe; Bühne, Dach und Ankleidezimmer werden durch Bretter
hergestellt, die mit Rattanseilen (einer Art spanischem Rohr) an die
Bambusstangen festgebunden werden. Nägel kommen selten zur Verwendung.
Dann wird ein ähnliches Flugdach vor der Bühne errichtet, unter dem
sich die Stühle für die besser zahlenden Zuschauer befinden, der Rest
der Zuschauer steht rings um die Bühne unter freiem Himmel. Zieht die
Truppe nach einigen Tagen oder Wochen wieder ab, so wird das Theater
wieder auseinandergebunden und für die nächste Gesellschaft aufbewahrt.

Ich habe derlei Theater auch in großen Städten gesehen, selbst in der
größten, in Canton. Dort wollten gerade die Priester ein religiöses
Fest begehen, und um die Götter zu ehren und sie versöhnlich
zu stimmen, wurden auch Theatervorstellungen auf das Programm
genommen. Die Priester sammelten unter den wohlhabenden Einwohnern
freiwillige Beiträge, die sie dadurch öffentlich quittierten, daß
sie die Beträge der Spenden und die Namen der Geber auf rote Zettel
schrieben und diese dann an die Tempelwände klebten. Sobald die
erforderliche Summe beisammen war, ließen sie eine Truppe anwerben
und im inneren Tempelhofe ein Theater bauen, mit der Bühne dem Tempel
zugewendet, damit die bemalten und vergoldeten Götterfiguren, die
grimassenschneidend auf ihren Altären hockten, doch auch die Vorgänge
auf der Bühne wirklich sehen konnten, und während mehrerer Tage wurde
unter kolossalem Andrang des Publikums Theater gespielt. Um ihre
Einnahmen noch zu vermehren, vermieteten die Priester den übrigen
freien Raum der Tempelhöfe für Garküchen, Spielhöllen und noch viel
schlimmere Zwecke, ~ad maiorem dei gloriam~. Der Zweck heiligt die
Mittel.

Die Gesellschaften werden aber auch von reichen Privatleuten häufig
angeworben, um in ihren Häusern vor der weiblichen Welt, deren
Erscheinen in öffentlichen Theatern gegen die gute Sitte verstoßen
würde, Vorstellungen zu geben. Auch Hochzeiten, Geburtstage und
dergleichen werden mit Theatervorstellungen gefeiert, wobei aber
die Gastgeber Sorge tragen, daß kein zu vertraulicher Verkehr mit
den Schauspielern stattfindet, denn diese gehören in China zu den
geächteten Ständen und sind mit ihren Nachkommen bis ins dritte Glied
von allen Beamtenposten ausgeschlossen.

Die Theatervorstellungen beginnen gewöhnlich am Morgen und dauern bis
zur einbrechenden Dunkelheit. Nachtleben giebt es in chinesischen
Städten keines, die Thore, ja selbst einzelne Stadtviertel und
Straßen werden für jeden Verkehr abgesperrt, und die chinesischen
Theaterbesucher könnten gar nicht nach Hause gelangen. Eine Ausnahme
machen freilich die Theater in den großen, den Fremden geöffneten
Hafenstädten. Dort sind die Sing Song, d. h. in chinesischem Patois
Theater, ebenso abends geöffnet wie die englischen Sing Song. Ebenso
habe ich sie auch in San Francisco, Singapore abends geöffnet gefunden.
Es ist aber ein gewaltiger Irrtum, zu glauben, daß die chinesischen
Theaterstücke, wie es vielfach von flüchtigen Globe trotters
dargestellt wurde, tage- und wochenlang ohne Unterbrechung dauern. Die
Chinesen haben ebenso ihre ein- und mehraktigen Stücke wie wir, nur ist
bei ihnen der Vorhang und demnach das Fallen des Vorhangs unbekannt,
ein Stück folgt fast ohne Unterbrechung auf das andere, und will sich
irgend ein reicher Herr unter den Zusehern ein bestimmtes Theaterstück
vorspielen lassen, so braucht er es nur zu verlangen und dafür einige
Taels zu bezahlen.

Fast alle Theaterstücke der Chinesen werden durch Musik begleitet, fast
in allen kommen Gesänge vor. So sehr ich mir während vieler Besuche
in den verschiedensten Theatern Mühe gab, in dem furchtbaren Lärm,
den die auf der Bühne selbst kauernden Gongschläger, Lautenbläser und
Violinenkratzer unausgesetzt machten, irgend eine Methode, Rhythmus,
Melodie zu finden, ist es mir doch niemals gelungen, und als ich
einmal in Shanghai einen der englischen Sprache mächtigen Chinesen
darüber befragte, so antwortete er mir lächelnd, es sei ihm mit der
europäischen Musik, die er gehört, gerade so gegangen. Wir können uns
Gesang nicht ohne Melodie denken, und wenn wir sprechen, geschieht es
in der gleichen Tonart. Die Chinesen sprechen, indem sie jedem Worte
einen anderen Ton geben, also nach unseren Begriffen in singender
Weise, dafür sind aber ihre Gesänge monoton. Wir können die letzteren
mit unseren Musikzeichen nur annähernd wiedergeben, denn statt acht
Töne enthält die chinesische Musik nur sieben. Dabei kennen sie kein
Piano, keine der Modulationen, welche unserer Musik den großen Reiz
verleihen; sie singen mit näselnder Stimme, gewöhnlich so laut, wie
sie nur können, und doch sagt Confucius von der Musik, sie sei die
„Essence der Harmonie, welche zwischen Himmel, Erde und den Menschen
herrscht”. Die Chinesen lieben die Musik über alle Maßen; sie haben
ihre Musikgesellschaften, ihre Musikkorps, und keine Festlichkeit,
keine Prozession, kein Gottesdienst, kein Hochzeitszug oder Begräbnis
ist ohne Musik. Sie sind darin die Deutschen des Orients. Ein großer
Prozentsatz der Chinesen beiderlei Geschlechts kann irgend ein
Instrument spielen; sie haben die Musik schon vor nahezu fünftausend
Jahren, zur Zeit des Kaisers Fu-hsi gekannt und sind auch die
eigentlichen Erfinder der Orgel, auf chinesisch Scheng; sie besitzen
eine große Zahl der verschiedensten Instrumente, darunter sogar
solche aus Stein. Bei einer solchen Leidenschaft für die Musik ist es
begreiflich, daß dieselbe auch im Theater nicht fehlen darf, ja ein
großer Teil der Besucher kommt nur ihretwegen, denn vom gesprochenen
Text ist bei den mit voller Kraft geschrieenen Fisteltönen, deren sich
die chinesischen Schauspieler befleißigen, doch nur wenig zu verstehen.
Die Mehrzahl der chinesischen Dramen sind übrigens den Zuhörern
bekannt; sie stammen aus verschiedenen Jahrhunderten, behandeln die
militärischen Großthaten, die Feldzüge, Schlachten, Hofereignisse,
aber nur bis zur Erhebung der jetzt herrschenden Kaiserdynastie auf
den Thron; seitherige Ereignisse dürfen nicht auf der Bühne behandelt
werden, und da die Schauspieler ihre Rollen nicht aus Büchern, sondern
der Tradition nach von Generation zu Generation lernen, gewähren ihre
Darbietungen einen tiefen, höchst interessanten Einblick in Leben
und Sitten der Chinesen in früheren Jahrhunderten. Von der Gegenwart
darf nur das bürgerliche und Familienleben behandelt werden, nach Art
unserer Volksstücke, und ich habe gerade aus diesen durch aufmerksames
Beobachten und durch die Erklärungen des Dolmetschers sehr viele Züge
aus dem Leben dieses merkwürdigen Volkes gelernt, die mir sonst gewiß
entgangen wären.

Die Bühneneinrichtung der chinesischen Theater ist etwa von derselben
lächerlichen Einfachheit, wie unsere Bühnen sie zur Zeit Shakespeares
zeigten. Im Hintergrund befindet sich irgend eine bemalte Leinwand,
durch welche zwei Thüren nach dem Schauspielerzimmer führen; aus
diesem stürzen die Mimen mit grotesk bemalten Gesichtern und in ebenso
grotesken Anzügen heraus, schreien ihre Rolle herunter und verschwinden
wieder in den Thüren; dabei lärmt und tobt die Musik ununterbrochen.
Die Musiker sitzen auf einer Seite der Bühne im Hintergrunde,
und anscheinend besteht zwischen ihrem Getöse und dem Gesang der
Schauspieler gar kein Zusammenhang. Ein paar Stühle, Kisten und Kasten,
auf der Bühne aufgestellt, vervollständigen die Einrichtung, und je
nach Bedarf werden diese szenischen Hilfsmittel während der Handlung
von den Angestellten umhergetragen, aufeinandergetürmt. Es wird dabei
vorausgesetzt, daß diese letzteren dem Publikum unsichtbar sind.
Ueberhaupt wird die Phantasie der Zuschauer in etwas übermäßiger Weise
in Anspruch genommen. Ich entsinne mich, in Canton eine Schauspielerin,
d. h. einen als Dame verkleideten Schauspieler gesehen zu haben, der
mühselig eine aus Stühlen und Kisten gebildete Pyramide erklomm. Sie
sollte einen Berg darstellen, und die Handbewegungen und Wendungen der
Dame zeigten an, daß sie sich durch einen Wald den Weg bahnte. Bei
einer anderen Gelegenheit legten sich sechs Kerle übereinander auf
die Mitte der Bühne. Von zwei Seiten stürzten phantastisch vermummte
Krieger aufeinander, eine Partei rollte die daliegenden Kerle beiseite
und wurde dann mit der anderen handgemein. Mein Dolmetscher erklärte
mir, die sechs Kerle hätten eine Festungsmauer dargestellt. Ein anderes
Mal sprang ein Krieger, indem er die Bewegung des Reitens machte, quer
über die Bühne von einer Seite zur anderen und schien dort an eine
unsichtbare Person einen Brief abzugeben. Wie ich erfuhr, war dies
ein reitender Bote, der von einer handelnden Person im Stücke nach
der Mongolei gesandt wurde. Damit aber das Publikum die Sache auch
verstände, erklärte der Bote, als er mit seinem Briefe auf der Seite
der Bühne dastand, er sei nun in der Mongolei angekommen und erfülle
gerade seine Mission. Gewöhnlich erscheinen mit den handelnden Personen
auch die guten und bösen Geister, denn ohne Geister geschieht bei
diesem abergläubigen Volke überhaupt nichts. Statt aus der Hinterthür
kommen diese aber ihrem überirdischen Charakter entsprechend aus
Versenkungen. Einmal bemerkte ich, während drei groteske Gestalten ihre
Szene darstellten, den Kopf eines solchen Geistes aus einer Versenkung
erscheinen. Aber weiter schien er trotz aller Anstrengungen nicht
emporkommen zu können. Deshalb schrie er den Schauspielern zu, sie
möchten ihm doch helfen. Sofort sprangen sie auf ihn zu und zerrten ihn
aus seinem Loche. Kaum war er auf den Beinen, so stellte er sich in
Positur, und die Schauspieler machten alle Zeichen des Erschreckens.

So lächerlich diese Dinge mir auch vorkamen, die Tausende, die um mich
herum saßen und ihre Kürbiskerne kauten, die gewöhnliche Beschäftigung
der Theaterbesucher, behielten ihren ruhigen Ernst und folgten mit
Spannung der Handlung. Bei besonders packenden Szenen drückten sie
ihre Bewunderung nicht durch Händeklatschen aus, sondern durch laute
Rufe, wie: Hau Hau, Ei, Hai, Wau, Buh, Jah und dergleichen. Die
reine Menagerie. Uebrigens sollen sich die chinesischen Dramen auch
nach unseren Begriffen durch schöne Sprache und geradezu klassischen
Aufbau auszeichnen, und Sir John Davis, vielleicht der beste Kenner
des chinesischen Theaters, äußert sich voll Entzücken über einzelne
Tragödien, die er auch ins Englische übersetzt hat. Was wenigstens mir
und wohl allen Besuchern Chinas große Bewunderung einflößte, war die
vollkommene Art, wie die Schauspieler sich als Frauen verkleideten
und die weiblichen Bewegungen und Sprache wiedergaben, sowie die ganz
erstaunliche Pracht der Kostüme. Selbst Schmiertruppen in Dörfern
haben deren eine beträchtliche Zahl, und es muß eine gewaltige Summe
Geldes in diesen kostbaren Helmen, Federn, Waffen, Goldbrokaten und
Seidenstickereien stecken.

Die Schauspieler sehen es gar nicht ungern, wenn man ihnen in ihren
Ankleidezimmern einen Besuch abstattet, und sie zeigten mir mit
Befriedigung und Stolz auf ihren Gesichtern alle ihre Kostbarkeiten.
Sie rekrutieren sich der Mehrzahl nach aus den ärmsten Volksklassen.
Kinder werden zu Theaterdirektoren in die Lehre gegeben, viele werden
von armen Eltern sogar an sie verkauft. Während der ersten drei Jahre
müssen sie Handlangerdienste versehen und Rollen lernen, indem sie den
älteren Schauspielern zuhören und von diesen auch Unterricht empfangen.
Aus Büchern lernen sie, wie bemerkt, nicht, und so kommt es auch, daß
durch die Willkürlichkeiten und Extempora der Schauspieler dieselben
Stücke von den verschiedenen Truppen verschieden gegeben werden. Die
einmal erlernten Rollen vergessen sie niemals wieder. Jedes der zwanzig
bis dreißig Stücke, die eine Theatertruppe in ihrem Repertoire haben
dürfte, kann ohne Probe zu jeder Zeit gespielt werden. Souffleure,
Inspizienten, Regisseure sind auf der chinesischen Bühne unbekannte
Pflanzen.

Die chinesischen Schauspieler bilden eine eigene Zunft und haben gerade
so ihre lokalen Vereinigungen wie ihre europäischen Kollegen; ihren
Direktoren gegenüber besitzen sie aber viel größere Unabhängigkeit und
Gewalt als die letzteren. Sie haben sogar ihren eigenen Schutzgott,
einen fratzenhaft aussehenden Götzen, dem sie Opfer darbringen und
den sie in jedem Jahre durch große Festlichkeiten günstig zu stimmen
suchen, eine Art chinesischer Generalintendant.

[Illustration: Zuseher beim Theater.]



[Illustration: Theesortierer.]



Chinesischer Thee und seine Metropole.


Von den vielen Millionen Menschen, welche täglich mit Wohlbehagen ihren
Thee schlürfen, haben wohl noch die wenigsten darüber nachgedacht,
woher die kleinen braunen Blättchen am Grunde ihrer Theekanne
eigentlich stammen. Ob aus Indien oder Ceylon oder China, ob er Oolong
oder Pekko oder Souchong heißt, ist der großen Mehrzahl der Theetrinker
ziemlich gleich. In Hotels oder Kaffeehäusern wird einfach eine Portion
Thee verlangt, bei den vornehmen Five o’clock teas erhält man die
Schälchen mit dem mehr oder minder köstlichen Naß vorgesetzt, ohne daß
man sich weiter darum kümmern würde. Wenn nur die rechte Menge Zucker
und Sahne dabei ist! Ohne diese beiden Dinge kein Thee.

Wie anders ist es im wahren Heimatslande des letzteren, in China! Es
würde dort, wo für Hunderte von Millionen Menschen der Thee nicht nur
das wichtigste, sondern man könnte füglich sagen, das einzige Getränk
bildet, niemandem einfallen, auch nur ein einziges Stückchen Zucker
beizufügen, die Sahne aber ist dem Chinesen ganz unbekannt. Sie trinken
überhaupt keine Milch, und die Kühe werden nicht gemolken. Nur in Tibet
wird dem Thee Grütze und Mehl zugesetzt und so eine Art dicke Suppe
bereitet.

In den ersten Tagen meines Aufenthaltes in China konnte ich mich an den
nach chinesischer Art zubereiteten Thee gar nicht gewöhnen. Machte ich
bei Chinesen Besuche oder besorgte ich Einkäufe, so wurde mir stets ein
Täßchen Thee vorgesetzt. Ein bezopfter, mandeläugiger Mongole brachte
die Täßchen herbei, legte einige Theeblätter hinein, goß kochendes
Wasser darauf und deckte dann jedes Täßchen mit der umgekehrten
Untertasse zu. Nach einigen Minuten nahm mein Gastgeber gewöhnlich
seine Tasse in die Rechte, schob mit dem Zeigefinger derselben Hand
die Untertasse ein wenig zurück, um beim Trinken die Theeblätter
nicht in den Mund zu bekommen, und schlürfte dann mit Wohlbehagen
die gelblich-grüne klare Flüssigkeit. Bei meinem ersten ungeschickten
Versuche entschlüpfte die Untertasse meinen Fingern und zerbrach, ich
verbrannte mir die Hand und Zunge und fand den Thee dazu auch noch
abscheulich. Bei den folgenden Versuchen ging es schon besser, und
nach einer Woche begriff ich vollkommen, daß man Thee nach Chinesenart
trinken muß. Dann ist er ein wahres Labsal. Wenn die Chinesen so
wenig geistige Getränke genießen und unseren Wein, unser Bier gar
nicht kennen, so mag dies großenteils den erquickenden, belebenden
Eigenschaften ihres ausgezeichneten Thees zuzuschreiben sein. Dasselbe
kann von den Indiern und Japanern gesagt werden. Beide Völker
übernahmen den Thee von den Chinesen und sind auch in Bezug auf den
Theebau ihre größten Wettbewerber geworden. Ungeheure Mengen indischen
und japanischen Thees gelangen heute auf den Weltmarkt, in England
und seinen Kolonieen trinkt man fast ausschließlich nur indischen, in
Amerika großenteils japanischen Thee, aber der beste bleibt doch der
chinesische.

In der Umgebung von Canton bekam ich keine Theepflanzung zu sehen, denn
Thee wird in China erst weiter nördlich, hauptsächlich im Stromgebiet
des Jangtsekiang gebaut. Bei Ningpo, einem der den Europäern geöffneten
Häfen, gedeiht er am besten, und dort war es auch eine meiner ersten
Unternehmungen, die Theepflanzungen der Umgebung zu besuchen. Es war
Anfang Mai, und wie bei uns, so ist auch dieser Monat in China der
schönste. In den Reisfeldern unten am Flusse prangten die kleinen
Pflänzlein im herrlichsten Grün; weiter oben am Fuß der Berghänge stand
das Getreide schon kniehoch, vermengt mit Mohnblumen und rotblühendem
Klee; und die Berge bis hinauf zu den Gipfeln zeigten den wunderbarsten
Azalienschmuck. Hier und da, in der Umgebung der weitverstreuten
kleinen Bauernhöfe, erhoben sich Gruppen mächtiger Weiden- und
Kampferbäume mit ihren dunkelgrünen buschigen Kronen. Dickstämmige
Wistarias, diese schönsten und beharrlichsten aller Schlingpflanzen,
wanden sich an den Baumstämmen empor, ihre Zweige umklammerten
die Zweige der Bäume, und zwischen deren Laub prangten ihre lila
Blütentrauben in ungezählten, erdrückenden Massen.

Der Gesang von Drosseln erfüllte die Luft ganz so wie bei uns, und die
warme Frühlingssonne beschien ein so herrliches Landschaftsbild, wie
ich es in China gar nicht erwartet hätte. Ihre Strahlen spiegelten
sich tausendfach in den scharf umgrenzten Wasserflächen der Reisfelder
wieder und glitzerten in dem Flusse, dessen Ufer die üppigste
Vegetation zeigte. In den kleinen, von wohlgepflegten Gemüsegärten
umgebenen Dörfchen und Höfen, die ich auf meiner Wanderung passierte,
zeigten sich nur wenige Menschen. Die ganze Bevölkerung war draußen auf
den Feldern bei der Arbeit.

[Illustration: Pagode in Wutschang im Jangtsethale.]

Nach etwa zweistündigem Marsche erreichte ich ein größeres Dorf,
und jenseits desselben zogen sich auf weite Strecken die ersten
Theepflanzungen hin, durchwegs kleine Felder mit den eigentümlichen,
hagedornartigen Theesträuchern bedeckt. Man war eben an der ersten
Ernte, und auf dem Wege hinauf begegnete ich zahlreichen Landleuten,
welche, meinen Gruß mit freundlichem Tschin-tschin erwidernd, die
frischgepflückten Blättchen in großen Körben heimtrugen, Männer, Frauen
und Kinder, alle gleich gekleidet. Sie trugen ein dunkelblaues, loses
Baumwollhemd mit weiten Aermeln und ebensolche Beinkleider, die bis
etwas unter die Knie reichten. Die Männer hatten auf ihren mehrfach
gewundenen Haarzöpfen große Strohhüte sitzen, Frauen und Mädchen
aber trugen ihr üppiges schwarzes Haar sorgfältig gekämmt und mit
frischen Blumen geschmückt. Hier war es auch, wo ich zum erstenmale
wirklich hübsche schlankgewachsene Chinesinnen sah. Ihre Gesichter
waren gebräunt und nicht wie jene ihrer Schwestern in den Städten
bepudert und bemalt; ihre unteren Gliedmaßen und ihre nackten Unterarme
zeigten runde pralle Formen. Paarweise trippelten sie einher, auf
ihren Schultern Bambusstäbe tragend, von denen die schweren Körbe,
mit Theeblättern gefüllt, herabhingen. Kamen sie an mir vorbei, so
schlugen sie verschämt die Augen nieder und wandten ihre Gesichter
mit verlegenem Lächeln ab. In den Pflanzungen selbst ließen sie sich
durch mein Kommen nicht in ihrer Arbeit stören. Emsig streiften sie
mit ihren kleinen Händchen die Blätter von den Zweigen und warfen sie
in die Körbe auf ihrem Rücken. Hunderte von Mädchen, ja selbst Kinder
von fünf oder sechs Jahren, waren so mit dem Einheimsen der Blätter
beschäftigt, denn in einer Woche mußte die Ernte beendigt sein. Sie
ist ja die beste und kostbarste der drei oder höchstens vier Ernten,
welche der Theestrauch jährlich liefert. Die Blättchen sind Ende April
und Anfang Mai fleischiger, wohlriechender als die nachfolgenden und
zeigen eine zarte weiße Behaarung, welche wahrscheinlich der Grund war,
warum man in Europa den Thee dieser Ernte irrtümlich als Blütenthee
bezeichnet. Die Blüten selbst werden nicht zur Theebereitung verwendet.
Sie sitzen auf den Spitzen der buschigen, etwa meterhohen Sträucher und
sind weißlich, geschmack- und geruchlos. Im Herbst entwickelt sich die
Frucht, eine Kapsel mit drei kleinen Bohnen, aus welchen die Sträucher
gezogen werden.

Mit dem Abstreifen der frischen grünen Blätter ist die Arbeit des
Theebaues nicht etwa beendet. Freilich erfordert der Theestrauch
keine besondere Düngung oder Bearbeitung des Bodens; lehmiger und
sandhaltiger Boden, dazu Sonnenlicht und eine hinreichende Menge
Regen ist alles, was erforderlich ist. Aber dennoch hat der Theebauer
den größten Teil des Jahres mit seiner Pflanzung zu thun. Aus den
Samenkörnern werden zuerst Sprößlinge gezogen und diese, sobald sie
einige Monate alt sind, in die Pflanzungen selbst versetzt, wo sie in
langen Reihen mit etwa anderthalb Meter breiten Abständen voneinander
stehen. Zwischen sie werden noch allerhand Gemüse gepflanzt. Nach dem
zweiten Jahre pflegt man in manchen Gegenden (der Thee ist in dem
ganzen, zwei Millionen Quadratkilometer umfassenden Stromgebiet des
Jangtsekiang verbreitet) die Blätter schon zu pflücken, doch ist die
Pflanze erst im sechsten Jahre ausgewachsen und liefert dann bis zu
ihrem achtzehnten oder zwanzigsten Jahre zwei bis vier Ernten jährlich.
Läßt man die Stauden wachsen, so erreichen sie drei bis fünf Meter
Höhe; sie müssen also jährlich beschnitten werden, um das Pflücken der
Blätter zu erleichtern.

Dieses Pflücken kann nur an warmen, sonnigen Tagen erfolgen, und
deshalb beeilten sich die Mädchen und Kinder so sehr, als ich zwischen
ihnen durch die Pflanzungen wanderte. Wie mir mein Dolmetscher
erzählte, waren sie schon seit Morgengrauen an der Arbeit. Kaum gönnten
sie sich Zeit, um ihren gekochten Reis und ihr Gemüse zu verzehren;
dann arbeiteten sie sich wieder ihre kleinen Händchen blutig und
blickten mitunter ängstlich auf, um zu sehen, ob nicht Wolken im Anzuge
wären, deren Entladung ihre Ernte verderben würde. War ein Korb mit
den glänzenden fleischigen Blättchen gefüllt, dann sprang wohl ein
Mädchen darauf und stampfte die Blätter mit ihren nackten Füßen fester
zusammen, und konnte nichts mehr hineingepreßt werden, so wurde rasch
ein Bambusstock durch die Handhabe gezogen, die Last auf die Schultern
gehoben, und fort gings in raschem Getrippel hinab zum Farmhause.

Unten in den verstreuten Höfen und kleinen Dörfchen sind Männer und
Frauen mit der Zubereitung der Theeblätter beschäftigt, und bricht
die Dämmerung an, dann eilt alles aus den Pflanzungen hinab, um bis
Mitternacht die Blätter zu dörren. Ein paar Stunden Schlaf nur sind den
jungen Arbeiterinnen gegönnt, dann springen sie wieder zurück in die
Pflanzung, und das Tagewerk beginnt von neuem. Ihre einzigen Werkzeuge
sind ihre Hände und Füße. Sobald ein Korb Blätter in die Farmhäuser
gelangt, so machen sich Frauen und Kinder darüber her, um geschickt
die alten und gelben Blätter daraus zu entfernen, die guten Blätter
aber auf luftige Bambusgeflechte zu werfen, wo sie bald welken und
weich werden, so daß sie mit der flachen Hand leicht zu rollen sind.
Diese Arbeit dauert so lange, bis sich an den Blättern rötliche Flecken
zeigen. Das Rollen der Blätter heißt im Chinesischen kung-fu, woraus
die europäischen Handelsleute Kongu oder Kongo machten. Der als Kongo
bezeichnete Thee stammt also nicht etwa vom Kongo, sondern heißt so
viel als gerollter Thee.

Nun werden die Blätter in baumwollene Säckchen gestopft und diese in
durchlöcherte Kisten oder Fässer geworfen. Dann springen die Arbeiter
hinein und treten und kneten die Säckchen, ähnlich wie die Italiener
und Spanier die Weintrauben, so lange, als aus den Oeffnungen noch der
Saft der Blätter, eine klebrige, ölige Flüssigkeit, herausläuft. Auf
diese Weise wird ein großer Teil des bitteren Tanningehaltes entfernt
und das Gewicht der Blätter auf etwa ein Viertel verringert.

Nun sind die Blätter für das Feuern reif. Dies geschieht in manchen
Gegenden von den Theebauern selbst, oder sie verkaufen die Blätter,
nachdem diese einige Stunden in Körben einer leichten Gärung
ausgesetzt wurden, den Händlern der großen chinesischen Theekaufleute.
Diese ziehen Ende April und Anfang Mai durch die Theedistrikte und
kaufen den Bauern ihre Ernten ab. Großer Grundbesitz ist in China eine
Seltenheit. Jeder Bauer hat ein kleines Stückchen Land, höchstens
einige Morgen groß, auf dem er seinen Thee, Reis, Getreide, Bohnen
und Gemüse selbst zieht. Den Ueberschuß verkauft er an die Händler.
Diese senden den Thee nach ihren Hongs oder Warenhäusern, und dort
erfolgt die weitere Zubereitung. Die Blätter werden von halbnackten
Chinesen auf heiße Eisenpfannen geworfen und dort unter fortwährendem
Umrühren erhitzt; dann breitet man sie auf große Bambusrohrtische
aus und drückt nochmals durch Kneten mit der Hand die vorhandene
Feuchtigkeit aus. Dieses Erhitzen, Rollen und Trocknen wird mehrmals
wiederholt, bis die Blätter vollständig gedörrt sind und eine dunkle
Farbe angenommen haben. Blätter verschiedener Ernten werden in den
Hongs auch gemischt; dann werden ihnen auch, um verschiedene Theesorten
zu erzeugen, mancherlei wohlriechende Blüten zugesetzt, und der grüne
Thee wird überdies noch einer Behandlung mit Preußischblau und Gipsmehl
unterworfen, um ihm eine schönere Färbung zu geben.

Alles das ist sehr leicht niedergeschrieben, aber wir europäischen
Theetrinker machen uns kaum eine Vorstellung von der unendlichen
Sorgfalt und Zartheit, welche diese Zubereitungen erfordern. Wohl
stehen den Zopfträgern des Reiches der Mitte jahrhundertelange
Erfahrungen zu Gebote, aber doch bleibt die Theeindustrie die
schwierigste aller chinesischen Industrien. Durch Generationen hat sie
sich ohne irgend welche Neuerungen fortvererbt, und gerade so wie die
Urgroßväter, so machen auch die Enkel ihre Theearten nach denselben
Vorschriften. Indier wie Japaner verwenden praktische, vorzüglich
arbeitende Maschinen, größere Länderstrecken sind durch Gesellschaften
oder einzelne zu einem Betrieb vereinigt worden, und der Wettbewerb
dieser beiden Länder bedroht den chinesischen Theemarkt in der
empfindlichsten Weise, allein die Zopfträger sind viel zu konservativ,
um sich dadurch aus ihrem alten Gleise heben zu lassen. Bei ihnen macht
der Schaden nicht klug. Die Preise sind durch die Indier und Japaner
so sehr herabgedrückt worden, daß es sich bei aller Sparsamkeit und
Enthaltsamkeit kaum mehr lohnt, Thee zu bauen. Und hier zeigt sich eine
der Eigentümlichkeiten der Chinesen, ihr negativer Geist. Statt es den
anderen Völkern durch Annahme von Maschinen, durch vereinigten Betrieb,
durch Arbeitsteilung gleichzuthun, leben sie einfach noch enthaltsamer
und widmen ihren Produkten stets dieselbe zeitraubende und kostspielige
Bearbeitung.

Ihr einziger Bundesgenosse im Kampf mit den anderen Theebauern ist
die ausgezeichnete Qualität ihres Thees. Oolong, Souchong und Pekko
beherrschen noch immer den Markt auf dem europäischen Kontinent,
hauptsächlich in Rußland. Die genannten drei Namen sind nicht
etwa solche von Städten oder Theedistrikten. Oolong heißt in der
chinesischen Sprache schwarzer Drache und ist eine Art schwarzen
Thees, Souchong heißt kleine Pflanze und Pekko weißer Flaum nach dem
Flaum, welchen die Blätter der ersten und besten Ernte zeigen.

[Illustration: Hankau.]

In Europa herrscht immer noch ziemlich allgemein die Ansicht, daß
schwarzer und grüner Thee aus zwei verschiedenen Pflanzen hergestellt
wird und daß besonders Indien und Ceylon die Heimat des schwarzen,
China und Japan die Heimat des grünen Thees seien. Das ist ein Irrtum.
Beide Sorten werden aus demselben Thee hergestellt. Grüner Thee wird
einfach weniger gebrannt als schwarzer.

Aus den Händen der chinesischen Theehändler gelangt der Thee in die
Hongs der europäischen Kaufleute in den großen Hafenorten, wo er für
den Transport nochmals getrocknet und in Kisten, die mit Blei gefüttert
sind, verpackt wird. Von den hundertzwanzig Millionen Kilo Thee, welche
in der letzten Zeit jährlich aus China ausgeführt wurden, stammen etwa
dreieinhalb Millionen Kilo aus Kiukiang am Jangtsekiang, gegen je zwei
Millionen aus Ningpo und Tamsui, dem Haupthafen von Formosa, je eine
halbe Million aus Lappa und Canton, eine Viertelmillion aus Amoy, aber
der große Haupthafen des chinesischen Thees, ja die Metropole des Thees
überhaupt ist immer noch Hankau, von wo jährlich über hundert Millionen
Kilo nach aller Welt verschifft werden.

Den wenigsten ist Hankau, eine der wichtigsten und größten Städte
des Reiches der Mitte, auch nur dem Namen nach bekannt. Es liegt
tausend Kilometer den Jangtsekiang aufwärts im Herzen von China,
im Mittelpunkte des größten Theedistriktes und hat wohl mit den es
umlagernden Städten eine Bevölkerung von anderthalb Millionen.

Als ich meine Reise von Shanghai den gewaltigen Strom aufwärts
unternahm, waren meine Mitpassagiere durchwegs nach Hankau gebucht.
Die Warenballen, die auf den Docks in Shanghai verladen wurden,
gingen nach Hankau, alles sprach nur von Hankau. Was Shanghai für das
ganze chinesische Reich ist, das ist Hankau für das Innere desselben;
Shanghai liegt am Anfang, Hankau am Ende des Dampferverkehrs auf dem
chinesischen Riesenstrom. Wohl gehen heute deutsche Dampfer noch
einige hundert Kilometer weiter aufwärts nach Itschang, allein für die
großen transozeanischen Dampfer, die Kriegsschiffe und die zahlreichen
Passagierdampfer des Jangtsekiang ist Hankau die Endstation. Die Stadt
liegt am linken Ufer des großen Hanflusses, der, aus dem Hochlande
von Schansi kommend, sich hier in den Jangtsekiang ergießt. Jenseits
Hankau, am rechten Hanufer, liegt die alte Chinesenstadt Hanyang, und
beiden gegenüber, am Südufer des Jangtsekiang, liegt die befestigte
Hauptstadt der Provinz Hupei, Wutschang. Sie erinnerten mich in Bezug
auf ihre Lage lebhaft an die Metropole der neuen Welt, an Neuyork
mit seinen Schwesterstädten Brooklyn und Jersey City. Aber während
dort eine gewaltige Brücke und Dampffähren den Verkehr herstellen,
während Tausende von Dampfern und Segelschiffen den breiten Strom
durchfurchen und der Verkehr ein betäubender, alles überwältigender
ist, bekümmert sich in dem Städtetrio des Jangtsekiang keine Stadt um
die andere. Jenseits des ungeheuren, meilenbreiten Stromes zeigen sich
von Wutschang nur die Festungsmauern, hinter denen die Stadt selbst
liegt, und ähnlich scheint auch der Unternehmungsgeist der Chinesen
mit einer hohen, unbezwingbaren Mauer umgeben zu sein. Hanyang, einst
viel bedeutender als Hankau, ist ein elendes, schmutziges Nest, in
dem einige hunderttausend Zopfträger ihr freudloses Dasein fristen
und das nichts von Interesse für den Fremden bietet, es sei denn der
pagodengekrönte Hügel, der sich hinter der Stadt mit ihren geraden,
meilenlangen Straßen auf etwa hundert Meter über den Fluß erhebt. Von
dort genießt man eine herrliche Aussicht auf die beiden Ströme und die
drei Städte an ihrem Zusammenfluß. Das Häusermeer von Hankau mit seinen
niedrigen, unendlich einförmigen Ziegeldächern zeigt ebenfalls nur
geringe Abwechselungen. Gegen Norden schließt es eine hohe Mauer von
den Reisfeldern der Umgegend ab, und in der Mitte erheben sich einige
citronengelbe Porzellandächer, die der Residenz des Taotais oder
Distriktsgouverneurs angehören. An den Ufern der mächtigen, gelben,
trüben Wasserfläche des Jangtsekiang wird das trostlose Stadtbild
Hankaus von einem langgestreckten Park mit hohen Bäumen begrenzt,
zwischen deren Kronen ein paar größere Häuser hervorlugen. Dort ist die
europäische Konzession, die Residenz der Handvoll Europäer, die Hankau
zu dem gemacht haben, was es heute ist, zur Metropole des Theehandels.

[Illustration: Typisches Geschäftshaus in Hankau.]

Und kommt man in diese kleine europäische Niederlassung, so sieht man
von dem großen Geschäftsverkehr erst recht nichts. Die Häuser sind
geräumige, einstöckige Villen mit breiten Veranden und Galerien im
Stile der indischen Bungalows, etwa wie in den vornehmen Stadtteilen
von Bombay und Singapore, umgeben von gutgepflegten Gärten. Parkanlagen
trennen sie von dem steinernen Uferkai des Jangtsekiang, auf dessen
Fluten nahebei ein paar Hulks liegen; sie sind die Anlegestellen
für die gewaltigen schneeweißen Flußdampfer, die mich in Größe und
Einrichtung ganz an die gleichen Hudson- und Mississippidampfer
erinnerten. Weiter draußen im Strome liegen ein paar Ozeandampfer
vor Anker. Zwischen den hübschen Privatresidenzen zeigen sich zwei
Klubhäuser und zwei Kirchen, weiter gegen Osten ein Kloster, und
daran schließt sich ein großer Rennplatz für die Wettrennen, welche
die Handvoll Europäer sogar im Herzen von China veranstalten. Der
Rennplatz ist eigentlich der Boden der französischen Konzession,
während die Wohnungen der Europäer, hauptsächlich Russen, Engländer
und Deutsche, auf der englischen Konzession stehen. Da sich bisher
aber kein Franzose in Hankau angesiedelt hat, steht dort nur das
französische Konsulat. Hinter dieser eigentümlichen Europäerstadt
erheben sich ein paar Theefabriken, und an diese schließt sich das
schmutzige, übelriechende Straßengewirr der Chinesenstadt. Das ist
Hankau.

Nach diesem Fleckchen europäischer Erde im Innern Chinas werden
die ungezählten Tonnen Thee aus dem Stromgebiet des Jangtsekiang
zusammengeschleppt. Sie kommen auf den Rücken von chinesischen Kulis,
auf Maultieren, auf grotesken Dschunken und Booten und auf großen
europäischen Dampfern. Dorthin reisen im Frühjahr die Theehändler
und Tscharsiehs (Theekoster) von Europa, von Singapore und Shanghai;
täglich kommen Dampfer an, täglich lichten andere ihre Anker für ferne
Ziele. Während weniger Wochen in jedem Frühjahr herrscht in Hankau
fieberhafte Thätigkeit. Europäische Handelsherren und ihre Agenten,
Koster und Spekulanten, chinesische Compradores (Geschäftsleiter),
Schroffs (Geldzähler), Kommis und Kulis arbeiten dann von früher
Morgendämmerung bis in die Nacht hinein. Das geht so, wie gesagt,
während einiger Wochen im Jahre, etwa von Anfang Mai bis Anfang Juni.
Dann wird es wieder still in Hankau.

Warum diese Eile? Warum diese angespannte Thätigkeit während so kurzer
Zeit? Die wichtigste Theeernte des Jahres tritt eben dann ein, und
die einzelnen europäischen Theehäuser trachten natürlicherweise,
die besten Sorten zu den niedrigsten Preisen einzukaufen. Dazu muß
aber jede Kiste, jeder Sack geprüft werden, und diese Prüfung ist
die wichtigste Sache des ganzen Theehandels, denn von dem Urteil des
Prüfers oder Tscharsieh hängen mitunter sehr hohe Summen ab. Tausende
von Kisten werden der Reihe nach von flinken Kulis geöffnet, die Farbe
und Qualität der Blätter geprüft. Dann wird jeder Kiste eine Probe
entnommen, aus welcher in kleinen Schälchen Thee bereitet wird.

Während draußen die Kulis lärmen und schreien, sich stoßen und drängen,
Kisten öffnen und vernageln, geht es in den dämmerigen Prüfungsräumen
still und feierlich her. Mit derselben Genauigkeit, mit welcher die
Apotheker bei der Mischung von giftigen Arzneien verfahren, werden
die einzelnen Proben abgewogen, die Schälchen gereinigt, das Kochen
des Wassers und die Dauer des Ziehens auf Sekunden nach Sanduhren
beobachtet, dann schlürft der Tscharsieh einen Schluck durch die Zähne
in den Mund, und nach diesem einzigen Schluck fällt die Entscheidung.
Ein Zögern, Nachdenken, nochmaliges Prüfen ist nicht gestattet. Nun
prüft ein Tscharsieh mitunter hundertundfünfzig bis zweihundert
Theesorten an einem Morgen, und man kann sich denken, welche
Verantwortlichkeit auf dem heiklen Gaumen dieser Theekoster ruht!

Der größte Teil der Theemengen, welche in Hankau von den chinesischen
Kaufleuten erworben werden, geht mittels Dampfer direkt oder über
Shanghai nach Europa, teilweise auch über den Stillen Ozean
und die Kanadische Pacificbahn, um in Montreal oder Neuyork
auf transatlantische Dampfer übergeladen zu werden. Die großen
Theekaufleute Englands ziehen es vor, ihren Thee über den Stillen
Ozean und Kanada nach Europa zu verschiffen, weil der Transport durch
die Singaporestraße und den Indischen Ozean den Thee der Gefahr des
Schwitzens, also einer Art Gärung aussetzt, die dem Geschmack der
wertvollen Theeladung natürlich nicht förderlich wäre.

Die Prüfung der zweiten und dritten Theeernte, welche weniger kostbare
Theesorten liefert, erfolgt gewöhnlich durch lokale Tscharsiehs in
Hankau oder Shanghai.

Während des Rollens und Brennens des Thees sowie während des
Transportes auf den elenden Straßen wird eine große Menge von Blättern
zerbröckelt oder zu Staub zerrieben. Diese Abfälle werden sorgfältig
gesammelt und in den vorerwähnten Hankauer Fabriken zur Bereitung des
Ziegelthees verwendet. Bei uns ist Ziegelthee nahezu unbekannt, in
Rußland und Sibirien aber gehört er neben dem Karawanenthee zu den
beliebtesten Sorten. Die steinharten Täfelchen des Ziegelthees werden
in Sibirien, wo es zuweilen im Geldverkehr an kleinen Münzen fehlt,
sogar an deren Stelle ausgegeben und ziemlich allgemein als Zahlung
angenommen.

In den großen, dunklen, staub- und dampferfüllten Räumen der Fabriken
stehen zahllose Fässer mit feinem Theestaub oder Blätterabfällen,
welche sorgfältig zerkleinert und durch Siebe geschüttelt werden.
Hunderte von halbnackten, schweißtriefenden Kulis, den langen
Scheitelzopf um ihre kahl rasierten Schädel gewunden, wiegen dieses
gelbliche Theemehl in Partien von je einem Kilogramm und füllen damit
kleine Säckchen aus Baumwollstoff, andere werfen diese Säckchen in
große durchlöcherte Metallcylinder, wo sie mit heißem Dampf durchtränkt
werden. Von Zeit zu Zeit beugt ein Chinese seinen Oberkörper über den
dampferfüllten Cylinder, holt die Theesäckchen wieder heraus und trägt
sie zu der Preßmaschine, wo sie in ziegelartige Formen gepreßt werden.
Unter diesen Preßmaschinen darf man sich aber nicht etwa solche aus
Eisen und Stahl vorstellen, wie sie bei uns in Verwendung stehen. Ein
langer Bambusstamm ist mit einem Ende in einem Scharnier befestigt;
nahe diesem trägt er an der unteren Seite einen in die Ziegelform
genau passenden Stempel. Ist die Form mit einem Theesäckchen gefüllt,
so springt ein Chinese mit seinem vollen Körpergewicht auf das andere
Ende des Bambusstammes, und während dieses sich senkt, legen sich
noch ein paar andere Kulis darüber. Dann wird der Bambusstamm wieder
gehoben, der steinhart gepreßte Theeziegel herausgenommen und ein
anderes Theesäckchen in die Form geworfen. Die fertigen Ziegel, etwa
von der Form und Größe unserer gewöhnlichen Dachziegel, nur von nahezu
schwarzer Farbe, werden noch getrocknet, in Papier geschlagen und sind
nun zum Transport durch die Karawane fertig.

In Europa wird ziemlich allgemein angenommen, daß der Karawanenthee
wirklich auf Kamelrücken den viele tausend Kilometer weiten Weg
nach Rußland zurücklegt. Das ist aber ein Irrtum. Von der ganzen
ungeheuren Strecke wird nur ein verhältnismäßig kleiner Teil wirklich
auf Kamelrücken zurückgelegt. Der gesamte produzierte Ziegelthee wird
zunächst den Jangtsekiang abwärts nach Shanghai verschifft. Von dort
geht ein kleiner Teil zu Schiff nach Tientsin und Peking, wird dort auf
Kamele verladen und von diesen karawanenweise quer durch die Mongolei
nach Kiachta in Sibirien gebracht. Von dort gehen die Ladungen zu
Wasser nach Irkutsk am Baikalsee. Die größte Menge des Karawanenthees
wird von Shanghai nach Nikolajewsk an der Mündung des Amur in das
Ochotskische Meer verschifft und dort auf die Amurdampfer verladen,
unter denen sich auch einige deutsche Dampfer befinden. Diese bringen
den Thee den Amur und Schilka aufwärts nach Strjetensk. Von hier aus
übernehmen Karawanen den weiteren Transport landeinwärts über Tschita
nach Werchne-Udinsk am Selengafluß, von wo wieder Dampferverbindung
mit Irkutsk jenseits des Baikalsees besteht. Erst hier beginnt der
eigentliche Karawanentransport quer durch Sibirien nach Tomsk. Dort
wird der Thee wieder auf Dampfer verladen, die ihn über Tobolsk nach
Tjumen führen, von wo die Eisenbahnlinie über Jekaterinenburg nach Perm
benützt wird. Dann geht er in Dampfern die Kama abwärts, die Wolga
aufwärts nach Nischni-Nowgorod und von da mittels Eisenbahn endlich
nach Moskau.

Wie kann sich denn der verwickelte Transport von so wohlfeilen
Theesorten über so ungeheure Strecken überhaupt lohnen? Warum werden
gerade die besseren Theesorten durch Dampfer von Hankau direkt nach
Odessa gesandt und nicht die wohlfeileren? Der Seetransport von
Hankau nach Odessa ist ja unverhältnismäßig billiger als der Landweg
nach Sibirien. Der Grund liegt in den russischen Einfuhrzöllen. In
Odessa beträgt er gerade das Doppelte von jenem an der Amurmündung,
und so kommt es, daß der Thee trotz der größeren Transportkosten auf
dem Landweg in Moskau selbst immer noch billiger ist, als würde er
über Odessa kommen. Auf dem letzteren Wege kommt das Kilogramm Thee
einschließlich Transport und Zoll auf etwa drei Mark, auf dem Land-
oder Karawanenwege nur auf zweieinhalb Mark zu stehen. Darin liegt
der eigentliche Grund des Karawanentransportes, und die herrschenden
Ansichten über die Güte des Karawanenthees, eben weil er zu Land
befördert wurde, gehören in das Reich der Fabel. Nur ein kleiner Teil
der besten Theesorten wird durch Karawanen nach Rußland befördert. Die
Hauptmenge kommt zu Wasser nach Europa.



[Illustration: Wutschang.]



Hankau als Handelsstadt.


Hankau ist unzweifelhaft der wichtigste Handelsmittelpunkt im Innern
von China, eine der größten Städte des Reiches der Mitte, an der
größten Verkehrsstraße des letzteren, an dem Jangtsekiang gelegen.
Etwa tausend Kilometer von der Mündung dieses mächtigen Stromes
aufwärts mündet der von Norden herkommende Hanfluß in den Jangtsekiang,
und rings um diese Mündung liegen die schon im vorigen Kapitel
erwähnten drei Städte, welche irrtümlicherweise zu dem Begriff Hankau
zusammengefaßt werden. Stellt man sich den Zusammenlauf der Flüsse etwa
wie ein umgekehrtes ~T~ (⟂) vor, so bildet der Horizontalstrich
den Jangtsekiang, der Vertikalstrich den Hanfluß. In der linken Ecke
liegt die Stadt Hanyang, in der rechten Hankau, und beiden gegenüber
auf dem südlichen Ufer des Jangtsekiang, also auf der unteren Seite
des Horizontalstriches, die große Stadt Wutschang, die Hauptstadt
der Provinz Hupei und bis vor kurzem Residenz des aufgeklärten und
europäerfreundlichen Vicekönigs Tschang-tschi-Tung. An Einwohnerzahl
ist Wutschang die größte des Städtetrios, aber der Handelsverkehr steht
nicht im Einklang mit dieser Größe, was teilweise auf die steilen, für
Hafenanlagen und dergleichen ungünstigen Ufer und die festen hohen
Mauern zurückzuführen ist, welche Wutschang umgeben und direkt von den
Ufern emporsteigen, ähnlich wie es auch in Nanking der Fall ist. Diese
Mauern verbergen auch die Stadt fast vollständig, und man sieht von ihr
vom Flusse aus nur einige Pagoden, darunter die berühmte Hoang holin,
d. h. die Pagode vom gelben Kranich, eine der bemerkenswertesten und
seltsamsten von ganz China, weshalb ihre Abbildung in geographischen
Werken auch häufig zu sehen ist und auch auf den Briefmarken des
europäischen Postamtes in Hankau vorkommt. Wutschang ist hauptsächlich
Militärstadt und Festung. Von Europäern wohnen innerhalb ihrer Mauern
nur einige Missionare; der Handel mit europäischen Waren für Wutschang
sowohl wie für das angrenzende Gebiet gegen Süden zu liegt in den
Händen von chinesischen Kaufleuten, und der lokale Flußverkehr zwischen
Wutschang und den am gegenüberliegenden Ufer des Jangtsekiang gelegenen
Städten Hankau und Hanyang ist sehr gering. Ebenso gering ist auch
jener über den Hanfluß zwischen den beiden letztgenannten Städten,
obschon alle drei zusammen eine Einwohnerzahl von etwa anderthalb
Millionen Seelen besitzen dürften. Anderswo wären bei einer so großen
Menschenansammlung gewiß längst Dampffähren für den Lokalverkehr
eingerichtet worden, und es ist zu verwundern, daß Tschang-tschi-Tung
diese nicht auf eigene Rechnung laufen läßt. Nächst dem Vicekönig von
Tschili, Li-Hung-Tschang, ist der frühere Vicekönig von Hupei der
unternehmendste aller Provinzgouverneure. Er hat in Wutschang selbst
große Baumwollspinnereien und Eisenwerke anlegen und zu den etwas
weiter flußabwärts befindlichen Eisengruben eine Eisenbahn bauen
lassen. Bis zum Jahre 1894 lag die Leitung dieser Unternehmungen in den
Händen eines deutschen Ingenieurs.

Gerade so wie Wutschang ist auch Hankau mit einer Umfassungsmauer
umgeben, eine der Dutzendstädte des chinesischen Inlandes ohne
besondere Sehenswürdigkeiten, ja man könnte sagen, ohne besondere
Bedeutung, denn die letztere beschränkt sich auf die wenigen Schollen
Landes außerhalb der Chinesenstadt an den Ufern des Jangtsekiang, wo
die Europäer ihre Wohnsitze aufgeschlagen haben. Die Engländer und
Franzosen starteten im Wettlauf um den Handel des Jangtsekiangthales
ziemlich gleichzeitig, aber während sich auf der englischen Konzession
schöne Bungalows (Wohnhäuser indischen Stils), Godowns (Warenlager),
Klubs, Kirchen und dergleichen erheben und dem Bund, d. h. der längs
dem Jangtsekiang angelegten Uferstraße, ein so großstädtisches Aussehen
geben, wie es in Ostasien nur der Bund in Shanghai besitzt, ist die
französische Konzession öde und verlassen. Nur der französische Konsul
hat dort, wie bereits bemerkt, seinen Wohnsitz und mag aus lauter
Langeweile seine Fingernägel benagen, denn französische Geschäftsleute
giebt es in Hankau keine. Wären sie vorhanden, so würden sie
wahrscheinlich ebenso wie jene in Shanghai und Canton fürsorglich die
französische Konzession meiden und in der englischen ihre Wohnsitze
aufschlagen.

[Illustration: Pagode in Wutschang.]

Zu der englischen und französischen Konzession ist im Jahre 1895 nun
auch eine deutsche gekommen, allerdings etwas spät, aber sie ist nun
vorhanden, was in Anbetracht der großen Wichtigkeit Hankaus für den
deutschen Handel die Hauptsache ist. Sie hätte schon vor mehr als drei
Jahrzehnten erfolgen sollen, denn es war Preußen, welches sich in
seinem 1861 mit China abgeschlossenen und 1863 ratifizierten Vertrage
die Eröffnung Hankaus für den fremden Handel ausbedungen hat. Leider
ist dieser handelspolitische Erfolg damals nicht weiter ausgebeutet
worden. Die Engländer und nächst ihnen die Franzosen ließen sich bald
nach der Oeffnung des Hafens von der chinesischen Regierung kleine
Landstrecken längs der Ufer des Jangtsekiang in Hankau abtreten, und
die sieben dort ansässigen deutschen Firmen sind seither bei den
Engländern zu Gast. Nun hat Deutschland das Versäumte nachgeholt, und
die deutsche Konzession im Herzen Chinas kann nur auf das freudigste
begrüßt werden. Sie erstreckt sich auf etwas über einen Kilometer längs
der Uferfront und hat den allerdings nicht sehr großen Umfang von etwa
sechsundvierzig Hektar.

Was Shanghai für das ganze Jangtsekiangthal ist, das ist Hankau für den
oberen Teil desselben und für die angrenzenden mittleren Provinzen, ja,
eine beträchtliche Zahl von Seeschiffen berührt den Hafen von Shanghai,
Wusung, kaum, sondern fährt direkt nach Hankau, klariert, nimmt Ladung
und fährt wieder direkt nach Europa, hauptsächlich nach England und
Odessa zurück. Große Kriegsschiffe erscheinen häufig vor Hankau. Der
Jangtsekiang ist aber für größere Dampfer noch um sechshundertvierzig
Kilometer weiter stromaufwärts bis nach Itschang schiffbar, und
kleinere Dampfer können sogar bis nach Tschungking, das noch einmal
soweit stromaufwärts liegt, vordringen.

1887 liefen in Itschang 24 englische und 31 chinesische Dampfer, von
Hankau kommend, ein. 1896 war diese Zahl auf 46 englische und 43
chinesische gestiegen, und der Tonnengehalt erreichte 63000 Tonnen.
Der Wert der Waren betrug, soweit er überhaupt bekannt wurde, etwa 50
Millionen Mark, dürfte aber in Wirklichkeit viel höher gewesen sein.
Davon waren mehr als die Hälfte für Tschungking bestimmt. Indessen
sind Tschungking sowohl wie Itschang ausschließlich nur Dependenzen
von Hankau. Welchen Handelsverkehr die etwa hundert dort angesiedelten
Europäer zu bewältigen haben, geht aus den großen, stets steigenden
Ein- und Ausfuhrwerten hervor. 1887 beliefen sich die Einfuhrwerte
zusammen auf 120 Millionen Mark, die Ausfuhrwerte auf 92 Millionen; im
Jahre 1896 hatten die Einfuhrwerte den englischen Konsularberichten
zufolge etwa 140 Millionen Mark, die Ausfuhrwerte über 70 Millionen
Mark erreicht, zusammen also 210 Millionen Mark, während der Gesamtwert
des Handels nach mir vorliegenden Privatnachrichten 300 Millionen
Mark überstiegen haben dürfte. Diese Zahlen beweisen die Wichtigkeit
Hankaus für den deutschen Handel und die Notwendigkeit, diesem Emporium
des Jangtsekiang noch größere Aufmerksamkeit zuzuwenden als bisher.
Die Einrichtung eines deutschen Settlements wird dazu wohl das Ihrige
beitragen. An den deutschen Industriellen und Exporteuren liegt es,
auch ihrerseits mehr Unternehmungsgeist zu zeigen und womöglich eigene
erfahrene Leute zum Studium des chinesischen Inlandmarktes nach Hankau
zu senden, wie es mehrere französische Handelskammern gethan haben.
Die Regierung hat die Bresche geschaffen, den Weg geebnet; jetzt liegt
es an den Interessenten selbst, das Weitere zu thun. Der Norddeutsche
Lloyd unterhält einen zweiwöchentlichen Dampferverkehr mit Shanghai,
und im Anschluss an diese Prachtdampfer laufen nunmehr auch deutsche
Dampfer auf dem Jangtse.

Die wichtigsten Ausfuhren Hankaus sind in erster Linie Thee im Werte
von nahezu 100 Millionen Mark. Ein deutscher Theehändler, Herr Theodor
aus London, hat im Jahre 1894 allein für etwa 4 Millionen Mark Thee
aufgekauft und nach Europa verschifft. Nächst Thee kommen Tabak, Seide,
Medizinalwaren, Baumöl, Hanf, Häute, Wachs, Galläpfel und Reis. Die
wichtigsten Einfuhren Hankaus sind:

    Baumwollwaren (Schirtings und Baumwollgarne)
                                im Werte von etwa        30   Mill. Mark
    Wollwaren    im Werte von                             4     „    „
    Metallwaren  „   „     „                              3     „    „
    Opium        „   „     „                              7     „    „
    Zucker       „   „     „                              7     „    „
    Petroleum    „   „     „                              5     „    „
    Farbwaren    „   „     „                              1½    „    „
    ferner Fensterglas, Nadeln, Schirme und dergleichen.

Dieser große Warenverkehr bewegte sich bisher hauptsächlich auf
englischen Schiffen; denn von der gesamten Schiffahrtsbewegung Hankaus
im Jahre 1896, etwa 1400 Schiffe mit 1½ Millionen Tonnen, waren über
1000 englische, 400 chinesische, etwa 38 norwegische und nur 10
deutsche. Frankreich ist an dem Handel von Hankau, wo es, wie gesagt,
ein eigenes Settlement besitzt, gar nicht beteiligt.

Diese Verhältnisse werden sich nunmehr gewiß bald zu Gunsten
Deutschlands ändern, und man möge ja rechtzeitig die erforderlichen
Schritte thun, damit ein noch größerer Anteil an dem Handel gesichert
werden kann; denn Hankau ist dazu ausersehen, der Mittelpunkt des
chinesischen Eisenbahnnetzes zu werden. Die einleitenden Schritte
zur Erbauung der chinesischen Zentralbahn Peking-Hankau sind bereits
geschehen, und die Weiterführung derselben von Hankau nach Canton steht
nicht mehr in weiter Ferne.

Für deutsche Kaufleute bietet Hankau günstigeren Boden zur Ansiedelung
und Errichtung von Agenturen als irgend eine andere offene Stadt
Chinas, Shanghai und vielleicht Tientsin ausgenommen. Die Fahrt von
Shanghai nach Hankau auf prächtigen Flußdampfern erfordert vier Tage,
und fast täglich kommen und gehen Dampfer, so daß die Verbindung mit
der Außenwelt und mit Europa sehr günstig ist. Das Leben in Hankau
ist ganz ansprechend, das Klima ähnlich dem unserigen, nur ist es im
Sommer während einiger Wochen heißer und feuchter. An Vergnügungen ist
dort eher zu viel als zu wenig vorhanden; es bestehen zwei Klubs mit
vielen Zeitungen, Billards und Spielsälen, Cricket, Lawntennis, Jagden,
Ruder-, Yacht- und sonstige Sportvereine. Im Winter werden Bälle, im
Frühjahr Pferderennen und Football matches veranstaltet. Es fehlt nicht
an Aerzten, an Kaufläden für den nötigen Hausbedarf, und die beiden
katholischen Missionen haben eigene Hospitäler, von denen eins eine
Abteilung für Europäer besitzt.

Die chinesische Bevölkerung wird zuweilen ein wenig unangenehm, und es
ist schon zu ziemlich ernsten Unruhen und Aufständen gegen die Europäer
gekommen, doch pflegt im Strome vor den europäischen Ansiedelungen
irgend ein englisches, deutsches oder sonstiges Kriegsschiff zu
liegen, das im Notfalle die ganze fremde Bevölkerung leicht aufnehmen
kann. Ueberdies wissen die Europäer sich sehr gut zu verteidigen. Sie
haben zu diesem Zweck ein eigenes, mit Gewehren, Kanonen, Hieb- und
Stichwaffen versehenes Arsenal, dazu spanische Reiter zur Absperrung
der Zugänge. Gelegentlich der Unruhen im Jahre 1891 erließ der
englische Konsul am 19. Juni an die Europäer Hankaus eine Proklamation,
die zur Charakterisierung der dortigen Zustände und als Kuriosum hier
wörtlich wiedergegeben werden mag, denn ein ähnliches Schriftstück ist
wohl in der Geschichte selten vorgekommen.

I. Das Verteidigungskomitee von Hankau hat die Hongs (d. h.
Warenhäuser) der Herren Moltschanoff, Petschatnoff u. Cie. und der
Herren Jardine, Matheson u. Cie. als die beiden Zufluchtsstätten
bestimmt, wohin im Falle von Alarmierung alle Frauen und Kinder sofort
gebracht werden sollen. Dies soll von den Familienvätern persönlich
besorgt werden.

Alarmsignale. Bei Tage: drei rasch aufeinanderfolgende Kanonenschüsse.
Bei Nacht: außerdem Raketen und blaue Signalfeuer.

II. Der unterzeichnete Konsul hat keine Nachricht, der zufolge in
absehbarer Zeit ein Angriff auf die Europäer beabsichtigt wird. Wir
haben im Strome zwei Kanonenboote liegen, die uns beschützen würden.

Der Unterzeichnete hat volles Vertrauen in den Willen und in die
Macht der (chinesischen) Behörden, Aufstände zu unterdrücken. Dem
Unterzeichneten ist es aus seiner dreißigjährigen Erfahrung in China
bekannt, daß geheime Gesellschaften hier immer bestanden haben, allein
sie sind seiner Ansicht nach heute weniger gefährlich als früher, und
auch in den Gesinnungen der chinesischen Beamten gegen uns ist eine
Wendung zum Bessern bemerkbar.

Der Unterzeichnete unterstützt alle von den Europäern unternommenen
Vorkehrungen zur Verteidigung;... er besitzt in Bezug auf das Verhalten
des chinesischen Pöbels gewisse Erfahrungen; Aufstände des letzteren
können durch einige resolute Männer, welche gemeinsam und unter
einheitlicher Leitung sofort auftreten, leicht unterdrückt werden.

    Der kgl. großbritannische Konsul: C. T. Gardner, ~m. p.~



Eigentümlichkeiten der chinesischen Inlandstädte.


Aehnlich wie die jüngsten Städte der Neuen Welt, so zeigen auch die
uralten Städte des chinesischen Reiches in ihrem Aussehen wie in ihrer
Anlage große Einförmigkeit. Was von den ersteren gilt, kann auch von
den letzteren gelten: hat man eine gesehen, so hat man alle gesehen.

[Illustration: Spaziergänger mit Singvögeln.]

Wer in China erwartet, ähnliche Sehenswürdigkeiten zu finden, wie
die Städte Europas sie in ihren Kirchen, Palästen, Museen, Gärten,
Theatern, Denkmälern, Fabrikanlagen besitzen, würde in ärgster Weise
enttäuscht werden. Die erste Chinesenstadt, welche der Europäer
besucht, sei es Canton oder Tientsin oder Tschifu, wird ihn durch die
eigenartige Bauart der Häuser, die alten Ringmauern und Thore, die
hohen Pagoden und vor allem durch das seltsame bewegte Volksleben
fesseln, das sich in den bunten, kuriosen Straßen abspielt. Aber in der
nächsten Stadt, die er berühren sollte, wird er dieselben Ringmauern,
dieselben Pagoden, dieselben Häuser und Straßen wiederfinden, und so
wiederholt sich dies in dem ganzen Reiche mit geringen Abwechslungen.
Selbst die beiden berühmten Hauptstädte Chinas, Peking und Nanking,
bilden keine Ausnahmen. Es ist wie bei einem Regiment Soldaten: die
Individuen sind verschieden, die Uniform ist dieselbe. Und dabei ist
diese Uniform, das Aeußere der chinesischen Städte, bei weitem nicht so
malerisch, so fesselnd, so altertümlich, wie beispielsweise irgend eine
Stadt unserer schönen, sonnigen Mittelmeerküsten.

[Illustration: Jischang am Jangtsekiang.]

Wer eine chinesische Inlandstadt besuchen will, die nicht gerade an
dem mächtigen Jangtsekiang liegt, der muß entweder ein plumpes, von
Chinesen geleitetes Boot mieten, oder den Weg dahin auf Maultierrücken
zurücklegen, denn mit Ausnahme des genannten Stromes herrscht auf
keinem Fluß Chinas für größere Strecken Dampferverkehr; Eisenbahnen
sind vorläufig unbekannt, und da es in China nur sehr wenige
fahrbare Straßen giebt, ist auch der Reisewagen als Transportmittel
ausgeschlossen. Wo er vorhanden ist, wie etwa zwischen Tientsin und
Peking, wird es sich der Reisende wohl dreimal überlegen, ehe er sich
zu einem derartigen Marterkasten entschließt. Weder die Unsicherheit,
noch die Unkenntnis der ungemein schwierigen Sprache, noch die Kosten
bilden so bedeutende Hindernisse für Reisen in China, wie der Mangel
an Verkehrswegen. Die Unsicherheit ist nicht so groß, als man bei uns
annimmt, keineswegs größer, als in vielen anderen von Europäern gern
bereisten Ländern; die Schwierigkeit der Verständigung mit den Chinesen
wird durch die Anwerbung eines Dolmetschers umgangen, ja ein solcher
ist geradezu eine unbedingte Notwendigkeit; und was die Reisekosten
betrifft, so sind sie sehr gering, kaum die Hälfte, unter Umständen
sogar ein Viertel jener, an welche man in Europa gewöhnt ist.

Gerade wie es bei uns im Mittelalter der Fall war, ist die weitaus
größte Zahl der chinesischen Städte mit festen Ringmauern umgeben,
deren Thore bei einbrechender Dunkelheit gesperrt und erst nach
Sonnenaufgang wieder geöffnet werden. Ist die Sonne hinter dem
Horizont verschwunden, so wird in der Regel von den Militärwachen an
den Stadtthoren eine rote Kerze entzündet, und ist der letzte Rest
derselben verbrannt und die Flamme erloschen, so werden die mächtigen,
mit Eisen beschlagenen Thorflügel geschlossen, ein gewaltiger
Querbalken durch die an den Flügeln und in den Mauern angebrachten
eisernen Lager geschoben und ein schweres Schloß vorgehängt. In vielen
Städten, besonders zur Zeit von Krieg oder Unruhen, werden die Thore
unter keinen Umständen zur Nachtzeit geöffnet, selbst nicht für irgend
einen Mandarin mit dreiäugiger Pfauenfeder. Sollte ein kaiserlicher
Postläufer, an seinem gelben Fähnchen und dem Schellengeklingel
kenntlich, verspätet eintreffen, so wird er vielleicht in einem
herabgelassenen Korbe längs der Stadtmauer emporgezogen. Der Reisende
muß sich also darauf gefaßt machen, inmitten von allerlei Gesindel vor
den Stadtthoren im Freien zu übernachten, will er nicht in irgend einer
der elenden, schmutzstarrenden, übelriechenden Spelunken einkehren,
deren es gewöhnlich vor den Thoren mehrere giebt. In Söul entging ich
der Sache dadurch, daß ich einfach an einer schadhaften Stelle über
die hohe Mauer hinwegkletterte, eine Turnübung, der sich dort schon
sehr oft auch die Gesandten fremder Mächte unterziehen mußten. Einen
chinesischen Paß wird wohl jeder Reisende mit sich führen, obwohl er
nur selten abverlangt wird. Man ist in dieser Hinsicht in China viel
weniger streng als in manchem Lande Europas.

In den meisten chinesischen Städten bildet die Ringmauer das
bedeutendste und interessanteste Bauwerk. Zehn bis fünfzehn Meter
hoch, umgiebt diese mit Granitquadern bekleidete Mauer die ganze
Stadt, und nur die wenigen Pagoden ragen darüber empor, die einzigen
Gebäude, welcher man bei der Annäherung an die Stadt gewahr wird.
Den oberen Rand der Mauer entlang zieht sich eine Parapetmauer mit
Schießscharten, aus denen möglicherweise die Mündungen von alten
eisernen Geschützen hervorlugen. Vor der Mauer befinden sich gewöhnlich
tiefe, breite Gräben, stellenweise mit stagnierendem Wasser oder
übelriechenden Abfällen angefüllt; denn die Chinesen haben in ihren
Städten noch keine Kanalisierung oder Rieselfelder nach europäischem
Muster, sondern lassen den Unrat ihrer Häuser von Kulis in Bottichen
vor die Stadtmauern tragen, falls sie ihn nicht anderweitig verwerten.
In Peking beispielsweise dient dieser Unrat zum Besprengen und
Niederschlagen des Staubes in den Straßen.

Am stärksten und dräuendsten erscheinen die Stadtmauern in der Nähe
der Thore, ansehnlicher als wohl in irgend einer Festung Europas,
vielleicht die alten Sarazenenmauern im südlichen Spanien ausgenommen.
Die Wachthäuser sind auf die Thore aufgesetzt und gewähren mit ihren
geschwungenen doppelten Dächern, ihren Schießscharten und Kanonen
einen ungemein malerischen Anblick. Hat man das Thor durchschritten,
so gelangt man in einen kleinen Festungshof, hinter dem sich mitunter
noch ein zweites, ebenso hohes, starkes Thor erhebt. Treppen führen
zur Festungsmauer empor, die oben gewöhnlich mit Steinen gepflastert
ist und eine Breite von drei bis fünf Meter besitzt. Aber so drohend
und unbezwingbar diese chinesischen Ringmauern von außen auf den
ersten Blick aussehen mögen, so verwahrlost und verfallen zeigen
sie sich bei näherer Besichtigung. Die Parapetmauern liegen in den
meisten Städten in Ruinen, die Granitbekleidung der Hauptmauer ist
an vielen Stellen abgefallen und läßt erkennen, daß der gewaltige
Bau nur aus aufgeschütteter Erde besteht. Die Kanonen sind überall
verrostet, vollständig unbrauchbar und liegen vielleicht sogar ohne
Lafetten in dem üppig emporwuchernden Unkraut. Längs der ganzen, über
fünfzig Kilometer langen Stadtmauer von Nanking sah ich überhaupt
kein einziges Geschütz, und von den Hunderten eiserner Kanonen auf
den Mauern Cantons, der größten Stadt des Reiches der Mitte, fand
ich nicht eine, bei welcher ein Schuß nicht größere Gefahren für die
Verteidiger als für die Angreifer mit sich bringen würde. Die dräuenden
Kanonenmündungen über den Stadtthoren von Peking sind überhaupt nur auf
die schwarzen Holzläden der Schießscharten aufgemalt. Ueberall herrscht
Verwahrlosung und Verfall; die Thorwachen, in zerlumpte Uniformen
gehüllt, lungern schläfrig an den Thoren, Lanzen, Flaggen, Schwerter
und Schilde, in den seltsamsten Formen, verrostet und unbrauchbar,
hängen hinter ihnen an der Wand. Dringt die Kunde von irgend welchen
Unruhen in die Stadt, wird ein neuer Gouverneur ernannt oder eine
Inspektion von seiten irgend eines hohen Generals angekündigt, dann
wird über Hals und Kopf alles notdürftig ausgebessert und übertüncht,
und dabei bleibt es bis zu dem nächsten derartigen Anlaß. In einer
Hinsicht sind diese Mauern aber doch von Nutzen für die Städte: sie
sind die beliebtesten, wenn nicht einzigen Spaziergänge für den
besseren Teil der Bevölkerung. An warmen Sommerabenden kann man dort
oben Hunderte lustwandeln sehen, Gelehrte und Litteraten, Kaufleute und
junge Stutzer in ihren langen blauen Gewändern, gewöhnlich mit einem
kleinen Käfig in der Linken, in dem irgend ein Singvogel oder eine
Wachtel umherhüpft. Was die Schoßhündchen bei uns, das sind die Vögel
bei den Chinesen.

Außerhalb der Stadtthore breiten sich bei vielen Städten Vorstädte
aus, in deren elenden Lehmhütten die ärmeren Klassen der Bevölkerung
wohnen und in deren Straßen es gewöhnlich lebhafter zugeht als in der
Stadt selbst. Ein fortwährendes Schreien und Lärmen, Drücken, Stoßen,
Hin- und Herlaufen, Klopfen und Hämmern, Feilschen und Zanken von
zerplumptem, schmutzigem Gesindel, das tagsüber fast ausschließlich
auf der Straße lebt. Selbst die Frauen scheinen es zu verschmähen,
im Innern der schmutzstarrenden Lehmhütten zu verweilen. In manchen
Städten ist um diese Vorstädte noch eine zweite Ringmauer angelegt
worden, und man hat zwei Thore zu durchschreiten, ehe man in die innere
Stadt gelangt. Auch in dieser ist das Leben und Treiben lebhaft,
wenn auch ruhiger und vornehmer als draußen in den Vorstädten. Das
Straßennetz der chinesischen Städte ist im allgemeinen regelmäßiger
angelegt als jenes der alten europäischen; die Straßen schneiden
sich in rechten Winkeln, über Flüsse und Kanäle führen zahlreiche,
gewöhnlich sehr steile Brücken, um den Schiffen die Durchfahrt zu
gestatten, und wäre alles wirklich so, wie es von den Erbauern der
Stadt und den Behörden vorgesehen wurde, dann wäre der Aufenthalt
dort gar nicht unangenehm. Aber leider teilen die Chinesen eine
charakteristische Eigenschaft mit den meisten anderen Völkern des
Orients, bis ans Mittelmeer: städtische Anlagen, Häuser, Tempel,
Paläste, einmal hergestellt, werden nur in den seltensten Fällen wieder
ausgebessert und bleiben in der Regel bis zum gänzlichen Zerfall sich
selbst überlassen. Ueberdies verwenden die Chinesen nur für ihre
Pagoden, für kaiserliche Paläste, einzelne Tempel und Ehrenpforten
Stein als Baumaterial, ihre Häuser bauen sie zum größten Teil aus Holz
und Lehm, im besten Fall aus ungebrannten Ziegeln. In Hangtschau,
Sutschau, Ningpo, Tschinkiang und vielen anderen Städten werden wohl
die Grundmauern bis auf etwa einen Meter Höhe über dem Erdboden aus
Stein oder Ziegeln ausgeführt. Dann werden von diesen Mauern aufwärts
vertikale Bretterverschalungen errichtet, so hoch als das höchstens ein
Stockwerk hohe Haus werden soll, und zwischen die beiden Bretterwände
wird nun auf die Grundmauern feuchte Erde und Lehm geschüttet. Dieser
wird fest gestampft, und sobald er trocken ist, werden die Bretterwände
entfernt. Auf die Lehmmauern werden nun die Dachbalken befestigt,
das Dach mit gebrannten Hohlziegeln eingedeckt, und das Haus ist
fertig. Die Fenster werden mit Papier verklebt, doch kann man in den
Städten, besonders längs der Küste, schon sehr viele Fenster mit
Glasscheiben finden. Oefen giebt es keine. Im Süden bedarf es deren
nicht, im Gebiet des Jangtsekiang wärmen sich die Leute im Winter wie
im mohammedanischen Orient an Holzkohlenbecken, und im Norden bis nach
Korea wird der Rauch des Küchenfeuers unter den Fußboden geleitet, der
auf diese Weise erwärmt wird. Besitzt das Haus über dem Erdgeschoß noch
ein Stockwerk, so enthält das obere Stockwerk gewöhnlich die Wohnräume,
zu denen man mittels einer steilen, leiterartigen Holztreppe gelangt.

[Illustration: Markt in Wei-hsien, zwischen Stadt und Vorstadt.]

Daß derartige Häuser den Unbilden der Witterung und der Zeit nicht
lange Widerstand leisten können, ist wohl einleuchtend. Deshalb findet
man in chinesischen Städten so zahlreiche Ruinen und Schutthaufen, und
daher kommt es auch, daß in diesem ältesten Kulturlande der Welt keine
Denkmäler aus früheren Jahrtausenden zu finden sind, wie sie selbst
in jenen Ländern heute noch bestehen, welche längst der Geschichte
angehören: Babylonien, Assyrien, Altgriechenland und Altägypten.
Dort ist die Kultur vergangen, und nur die steinernen Kolossalbauten
legen Zeugenschaft ab von dem einstigen Glanze; hier ist die Kultur
geblieben, aber die steinernen Denkmäler fehlen. Was davon vorhanden
ist, Pagoden aus Stein oder Ziegeln, Ehrenpforten, Festungsmauern
und dergleichen, reicht zum größten Teil nicht weiter zurück als in
das achte oder neunte Jahrhundert und geht sicher dem gänzlichen
Verfall entgegen. Handel und Verkehr konzentrieren sich auf einige
wenige Hauptstraßen, wenn man die engen, drei bis vier Meter breiten
Gäßchen überhaupt mit diesem Namen bezeichnen kann. In den Städten des
Nordens sind die Straßen breiter und für den Wagenverkehr berechnet,
die Kaufläden finden sich zumeist nach den einzelnen Geschäftszweigen
beisammen; hier die Goldschmiede, daneben vielleicht Buch- oder
Papierläden, dort Hutläden, Verkäufer von Kleidern, Fächern, Matten,
Möbeln und dergleichen, ähnlich wie es früher auch in vielen Teilen
Europas der Fall war. In den Seitenstraßen geht es viel ruhiger zu, und
am stillsten ist es in den Bezirken, wo sich die Yamen der Behörden
und die mit hohen Mauern umgebenen Wohnungen der Reichen befinden.
Innerhalb dieses Viertels oder anstoßend an dasselbe befindet sich in
den meisten Provinzhauptstädten noch eine eigene mit Mauern umgebene
Stadt, welche die Wohnungen der Mandschukrieger enthält, die sogenannte
Tatarenstadt.

Aehnlich wie die mohammedanischen Städte, so zeichnen sich auch die
chinesischen vor allem durch Schmutz und Unrat aus. Wohl sind in
vielen Kloaken vorhanden, die in der Mitte der Hauptstraßen angelegt
und mit Steinplatten bedeckt worden sind; wohl laufen auch an den
Häusern entlang schmale Abzugsgräben, aber es ist niemand da, der die
Pflasterung, niemand, der die Kloaken in Ordnung hält, und so kommt es,
daß sich beides, Pflaster und Kloaken, längst friedfertig vereinigt
haben, daß man in Kloaken fällt, wenn man auf lockere Steine tritt, und
in den Unratspfützen, in welche man häufig durch den ungemein lebhaften
Verkehr gedrängt wird, über Steine stolpert. Hier und dort haben sich
die Kloaken einen Ausweg nach den Wasserkanälen gesucht, und in diesen
waschen die sorgsamen Hausfrauen am Morgen Reis und Gemüse für ihre
Mahlzeiten. In den Häusern der Reichen geht es wohl besser zu. In den
chinesischen Städten, wo alle Berufszweige zu Zünften vereinigt sind,
selbst die Lastträger, Barbiere und Bettler, giebt es auch eine Zunft
der Kanalräumer. Für geringes Geld holen sie täglich den Unrat aus den
Häusern derjenigen, die sie bezahlen, und tragen ihn in Kübeln, die von
wagerechten Schulterstangen herabhängen, vor die Stadtthore oder auf
offene Plätze neben den Hauptstraßen, um ihn dort in der Sonne trocknen
zu lassen. Welche Gerüche unter solchen Umständen die chinesischen
Städte erfüllen, läßt sich eher ahnen als sagen.

Von passender Unterkunft für europäische Reisende kann natürlich keine
Rede sein; freilich giebt es in allen Städten chinesische Hotels, aber
gewiß würde jeder lieber in unseren Kuhställen die Nacht zubringen
als in diesen elenden, von Schmutz, Unrat und Ungeziefer erfüllten
Löchern, die, gewöhnlich im ersten Stockwerk gelegen, nichts weiter
enthalten als Schlafbretter an den Wänden, ähnlich den Schiffskojen,
die man überdies noch mit chinesischen Reisenden teilen muß. Ueber
diese Bretter sind schmutzige Matten gebreitet, im Winter vielleicht
noch schmutzigere Wolldecken. Von Bequemlichkeiten für die Toilette,
Auskleiden und dergleichen ist nichts vorhanden. Die fensterlosen Räume
sind mit den widerwärtigsten Gerüchen geschwängert, in denen Opiumrauch
den Grundton angiebt; in den unteren Räumen herrscht die Nacht über
Lärmen, Schreien und Gepolter; hat es sich vielleicht zeitweilig
gelegt, dann kommt man wegen des unaufhörlichen Gebells der Hunde oder
dem Geknabber der Ratten nicht zur Ruhe, und steht man bei Tagesanbruch
auf, so ist vielleicht der Reisesack mit Geld und Gut verschwunden.
Glücklicherweise befinden sich heute schon in den meisten Städten
christliche Missionen mit europäischen Missionaren, und dorthin pflegen
sich die Reisenden zunächst zu wenden, um deren Gastfreundschaft in
Anspruch zu nehmen.

Nächst den mehrstöckigen Pagoden und Buddhatempeln sind in den
verschiedenen Provinzstädten wohl die Yamen der Regierungsbehörden die
anspruchsvollsten Bauten. Den Yamen des obersten Mandarins, gewöhnlich
vom Range eines Taotai, kennzeichnen zwei hohe Flaggenmasten vor dem
Haupteingange; residiert in der Stadt ein Provinzgouverneur, so stehen
vor seinem Yamen vier derartige Flaggenstangen, und die Dächer seiner
Wohnung sind mit gelben Glasurziegeln bekleidet, ähnlich wie der
Kaiserpalast in Peking. Auch in Bezug auf die Yamen herrscht in China
große Einförmigkeit. Wer jemals einen dieser Häuserkomplexe betreten
hat, der findet sich ohne Führer in allen zurecht. Während in den alten
Städten Europas häufig genug die Aemter in verschiedenen, voneinander
recht weit entfernten Gebäuden untergebracht sind, liegen sie in
den chinesischen Städten alle innerhalb der Yamenmauer beisammen:
Stadtwache, Gefängnis, Gerichtssaal, Polizei, Kasse und endlich die
Wohnungen der Beamten. Die einzelnen Gebäude sind rechtwinkelig zu
einander angelegt und umschließen mehrere viereckige Höfe, deren
innerster gewöhnlich die Privatwohnung des Taotai selbst enthält.

[Illustration: Ein Tempelbau.]

Der Vorhof der Yamen dient den ärmeren Volksklassen zum Aufenthalt, den
Kindern zum Spielplatz. Obwohl die Chinesen vor dem Regierungsvertreter
einen Heidenrespekt haben, trocknen sie doch in dem Vorhof seines
Palastes ihren Reis oder ihre schmutzige Wäsche oder geben sich
verschiedenen Arbeiten hin. Von diesem Platze führen drei, stets
nach Süden gerichtete Pforten in das Innere. Die mittlere, größte
Pforte wird nur bei besonders festlichen Anlässen geöffnet; auf ihre
schweren, schwarzen Thorflügel sind zwei riesengroße Fratzen gemalt,
welche die bösen Geister abwehren sollen. Die Pforte zur Linken ist
ebenfalls geschlossen und öffnet sich nur, um die zum Tode verurteilten
Verbrecher hinauszulassen. Die Pforte zur Rechten ist die gewöhnliche
Eingangspforte. Ueber alle drei erhebt sich ein kleines Ziegeldach, an
dem große Holztafeln mit den Würden und Titeln des höchsten Mandarins
in Goldlettern befestigt sind. An der Innenseite des Eingangs hängt
eine große Trommel, für jene bestimmt, die den Mandarin um Schutz
und Recht anrufen wollen. Sobald der Mandarin die Trommel hört, ist
er verpflichtet, die Hilfesuchenden sofort zu vernehmen und ihnen
Genugthuung zu gewähren. Ich fand diese Trommeln auch im Norden Chinas
und selbst in den Städten Koreas. Allein gewiß werden sich nur sehr
wenige rühmen können, den Klang der Trommeln jemals gehört zu haben,
nicht etwa, weil sich in China niemand über Unrecht zu beschweren
hätte, sondern vielmehr deshalb, weil die Chinesen dank der Willkür
und Habsucht der Mandarine stets trachten, ihre Differenzen auf
irgendwelche andere Art auszutragen, ehe sie sich den Mandarinen in die
Hände geben.

Von den ebenerdigen Gebäuden mit vorspringenden Ziegeldächern, die
den ersten Hof umschließen, ist jenes zur Linken das Gefängnis, jenes
zur Rechten das Wachthaus, auf dessen Wand gewöhnlich eine ganze
antike Waffensammlung prangt: zweischneidige oder doppelte Schwerter
von verschiedenen Formen, Lanzen, Dreizacke, Schilde, Fahnen und
dergleichen, selten Feuerwaffen. Das der Pforte gegenüberliegende
Gebäude ist eine Art Säulenhalle mit einer nach dem zweiten Hof
führenden, gewöhnlich verschlossenen Pforte. Hier werden die
Gerichtssitzungen abgehalten; an dem in einer Ecke aufgehängten Gong
schlagen die Wachen zur Nachtzeit die Stunden an.

Jenseits der Gerichtshalle liegt ein zweiter Hof, dessen Seitengebäude
die Bureaus der Sekretäre enthalten, während das Mittelgebäude von dem
großen Empfangssaal des Mandarins eingenommen wird. Die Wände sind mit
schönen Ebenholzschnitzereien, Zeichnungen und Inschriften bedeckt,
von der Decke hängen Lampions herab, und an der hinteren Saalwand
liegt eine etwa zwei Fuß hohe Estrade mit einem kleinen Theetischchen
und einigen roten Kissen, der gewöhnliche Sitz für den Mandarin
und seine Besucher; an den Seitenwänden stehen abwechselnd kleine
geschnitzte Tscha-ki (Theetischchen) und ebensolche Armstühle. Durch
zwei Seitenthüren steht diese Empfangshalle mit den Privatgemächern
des Mandarins in Verbindung, die sich in den um einen dritten Hof
angeordneten Gebäuden befinden.

[Illustration: Allee zum Grabe des Confucius in Kin-fu.]

Die Yamenbeamten sind nur die Vertreter der kaiserlichen Regierung,
von dieser bestellt, nicht etwa städtische Beamte. Die Stadtverwaltung
wird ähnlich wie bei uns von der Bürgerschaft gewählt, und nur das
Tatarenviertel der einzelnen Städte untersteht direkt den kaiserlichen
Behörden. Je nach der Größe der einzelnen Städte sind diese in
eine verschiedene Zahl von Stadtvierteln eingeteilt, deren jedes
etwa sechzig bis hundert Familien umfaßt. Man darf sich aber diese
Familien nicht etwa so vorstellen wie bei uns. Häufig gehören mehrere
hundert Personen zu einer Familie und wohnen in eigenen ummauerten
Häusergruppen beisammen: Großeltern, Eltern, Kinder und Kindeskinder,
vielleicht zwanzig bis vierzig Familien derselben Abstammung. Die
Aeltesten jeder dieser Familiengruppen, chinesisch Kia-tschang,
bilden eine Art Stadtrat und wählen unter sich einen Aeltesten oder
Pao-tsching. Dieser ernennt die verschiedenen Beamten seines Viertels
und hat die Bestimmungen des Stadtrates bezüglich der Reinigung,
Aufsicht und Sicherheit in seinem Gebiet auszuführen. Für die
gemeinschaftlichen Interessen aller Stadtviertel wählen die Stadträte
der letzteren eigene Vertreter, und über diesen steht endlich der
Regierungsmandarin oder Taotai.

[Illustration: Mandarinsstiefel im Stadtthor von Kiautschou.]

Man darf nicht etwa glauben, daß diese Mandarine überall mit ihren
Erpressungen und Bedrückungen leichtes Spiel haben. Ganz wie ich es
in den koreanischen Städten gefunden habe, so geht es auch in China
zu, das ja doch nichts weiter als ein großes Korea ist. Treiben es die
Mandarine zu arg, so werden sie von der Stadtbevölkerung einfach vor
die Thüre gesetzt, ohne daß der Provinzgouverneur oder gar die Pekinger
Regierung dagegen Einspruch erheben würde. Ist die Stadtbevölkerung
dagegen mit der Verwaltung des Taotai zufrieden, so wird die
Dankbarkeit ihm gegenüber auf recht eigentümliche Weise zum Ausdruck
gebracht. Am Ende seiner Dienstzeit begeben sich die Mitglieder des
Stadtrats nach dem Yamen und bitten den Mandarin in ihrer blumenreichen
Sprache, der Stadt doch ein Paar seiner Stiefel zu schenken. Gewährt er
diese ihn besonders ehrende Bitte, so werden die Stiefel in feierlicher
Prozession mit Musik und Fahnen nach dem südlichen Stadtthor getragen
und dort an der Decke aufgehängt, wo sie bleiben, bis sie in Stücke
fallen.

Aber nicht nur der Stadtrat, auch das niedere Volk versammelt sich
häufig, um über öffentliche Angelegenheiten zu beraten, und als
Versammlungsort dienen in den Städten eigene Beratungshallen mit großen
Höfen, wo auch die wandernden Theatertruppen ihre Buden aufzuschlagen
pflegen, Hahnen- und Wachtelkämpfe stattfinden. Die unteren, ungemein
abergläubischen Volksklassen sind von Agitatoren leicht aufzuwiegeln,
besonders wenn irgendwo in einer Stadt das Feng-schui verletzt wurde.
Feng-schui heißt wörtlich Wind-Wasser, bedeutet aber den Schutz gegen
die bösen Geister, die in China überall in der Luft wie im Innern der
Erde herumziehen und fortwährend bestrebt sind, den Chinesen Unheil
anzuthun. Die glückliche Seite ist die südliche, und deshalb stehen
auch alle offiziellen Gebäude in China mit den Hauptfronten nach
Süden; vor den Thoren zu Privathäusern werden eigene freistehende
Mauern errichtet, um die bösen Geister abzuhalten. Kein Gebäude darf
höher sein als das andere, es sei denn eine Pagode oder ein Tempel,
und die Fremden, besonders die Missionare, müssen bei dem Bau ihrer
Häuser alle möglichen Finten anwenden, um die Chinesen zu beruhigen.
Selbst Flaggenmaste und Telegraphenstangen zerstören das Feng-schui.
Die Mehrzahl der Unruhen und Aufstände gegen die Missionare hat
diesen einfältigen Aberglauben zur Ursache. In Ningpo bestand der
amerikanische Konsul darauf, einen hohen Flaggenmast vor seiner Wohnung
zu errichten, und da er seinen Willen, gestützt auf die Kriegsschiffe,
durchsetzte, errichteten die Chinesen nahebei einen noch höheren Mast,
auf den sie als Gegenwirkung eine kleine teuflische Fratze setzten.
Lange, gerade Kanäle findet man in chinesischen Städten selten, denn in
solch breiten Avenuen könnten die bösen Geister zu leicht verkehren; wo
solche Kanäle sind, werden sie durch künstliche Inseln durchbrochen,
oder durch zahlreiche, verschieden hohe Brücken überspannt. Die geraden
Straßen der Stadt würden den bösen Geistern auch ungehinderten Durchzug
gewähren, deshalb werden die Firmentafeln vor die Häuser in die Straße
gehängt, wodurch die Teufelchen natürlich abgelenkt werden.

Ebensowenig wie Wasserleitung und Kanalisierung giebt es in den
chinesischen Städten Straßenbeleuchtung. Bis neun oder zehn Uhr abends
geht es in den Geschäftsstraßen recht lebhaft zu, und die kleinen
Oellämpchen in den weit geöffneten Kaufbuden werfen auch auf die
Straßen hinreichend Licht. Aber dann werden die Thore geschlossen,
die hölzernen Läden der Kaufbuden geräuschvoll zugeschlagen, die
Lampen ausgelöscht, und es herrscht überall Dunkelheit und Ruhe. Nur
hier und dort an Straßenkreuzungen oder an Brückenaufgängen flackern
armselige Lichter, die entweder durch gemeinschaftliche Beiträge der
Straßenbewohner oder durch die Freigebigkeit einzelner unterhalten
werden. Verspätete Passanten, die nach Hause eilen, tragen stets
Handlaternen, um auf den elenden Wegen nicht zu stolpern oder in Löcher
zu stürzen. Gegen Mitternacht hört alles Leben in den Straßen auf, man
hört nur den Schritt der Wachen und das Aufstoßen ihres Bambus- oder
Eisenstabes auf das Pflaster; alle zwei Minuten schlagen sie auch noch
kräftig auf einen Gong, um zu zeigen, daß sie wachen. Nichts konnte
mich zur Nachtzeit mehr ärgern als diese dumpfen, feierlichen Schläge,
die mich jedesmal aus dem Schlafe weckten. Schreitet ein einsamer
Wanderer durch die Straßen, erweckt er zufällig einen Hund, so bellen
bald Hunderte oder gar Tausende dieser Bestien und machen während einer
halben Stunde einen derartigen Heidenlärm, daß von Schlafen keine Rede
sein kann.

Gegen Diebe und Einbrecher gewähren die Wachleute natürlich keinen
Schutz, weil sie ja ihr Nahen selbst durch ihre lärmenden Schritte
und Stockschläge verkünden. Häufig folgen ihnen aber ein paar hundert
Schritte hinderdrein andere, ruhig einherschleichende Wachleute,
und diesen gelingt es nicht selten, Einbrecher auf frischer That zu
ertappen.

Zwei oder drei Stunden nach Mitternacht beginnen die zahlreichen
Hähne zu krähen, endlich bricht die Dämmerung an, und bald erwacht
die Stadt aus ihrem Schlafe; das Gepolter mit Thüren und Fensterläden
ertönt von neuem; die niedrigen Schornsteine beginnen zu rauchen, die
Einwohner kochen ihren Morgenreis und bereiten sich zu neuem Tagewerk
vor. So viele Arme es in den chinesischen Städten auch geben mag, ihre
Mahlzeiten, Reis, Gemüse, Fische haben auch die Bettler, ausgenommen
zur Zeit von Hungersnot. Die Glücksgüter sind in China lange nicht so
ungleich verteilt wie bei uns, und herrscht in dem Reiche der Mitte
auch nicht so protziger Reichtum und Luxus, so giebt es dafür auch
nicht so viel offenes und verstecktes Elend.

[Illustration]



Tsingtau und Deutsch-China.

[Illustration]


Schon in der im Jahre 1896 verfaßten ersten Auflage dieses Buches habe
ich auf den Hafen von Kiautschou verwiesen und im Kapitel über die
europäischen Handelshäfen in China bemerkt: „Die Zahl, das Ansehen
und der Handel der Deutschen in Ostasien sind so groß, daß auch in
anderen Häfen deutsche Landerwerbungen sehr wünschenswert wären, wenn
man sich nicht entschließt, einen eigenen Hafen von der chinesischen
Zentralregierung zu erwerben. Niemals war die Gelegenheit dazu
günstiger als jetzt.” -- Ich ahnte damals nicht, daß dieser gewiß
allgemein geteilte Wunsch so bald in Erfüllung gehen sollte. Wenige
Monate nach der Besitzergreifung Tsingtaus durch das Deutsche Reich
traf ich dort ein, um den Hafen und das Hinterland, das bis dahin von
keinem Europäer in allen seinen Teilen bereist worden war, kennen zu
lernen.

Als wir zwischen den kleinen Felseninseln, die Kiautschou vorgelagert
sind, gewissermaßen den Portierlogen des neuen Deutsch-China,
hindurchfuhren, wies der Kapitän unseres Schiffes auf ein langes
felsiges Vorgebirge, das von Süden her weit vorspringt und das er mit
Kap Evelyne bezeichnete. Diesem gegenüber, aber weit landeinwärts,
verläuft eine zweite langgestreckte Halbinsel im Meere, gegen Osten an
eine Gruppe von mächtigen, schwarzen Bergen anschließend, von denen bis
zur Besetzung des Gebietes durch die Deutschen nur der höchste, der
bis auf elfhundert Meter in die Wolken ragende Lauschan, einen Namen
besaß. Seither sind auch die anderen Berge mit Namen belegt worden. Dem
Lauschan zunächst liegt der Prinz-Heinrichberg mit feinen an die Mythen
bei Schwyz gemahnenden Spitzen; dann folgt der Kaiserstuhl, und noch
näher an die Einfahrt zur Kiautschoubucht der Diederichsberg, dann als
Wahrzeichen und Signalpunkt der Bucht der teilweise bewaldete Kegel
des Truppelberges, genannt nach dem wackeren damaligen Kommandanten in
Kiautschou, Kapitän Truppel.

Ich kann nicht sagen, daß mich der Anblick dieses Hafens besonders
fesselte. Die Berge, und selbst die zwischen ihnen liegenden Thäler,
zeigten nur wenige Spuren von Grün, auf dem zackigen Grat des
schwarzen, düsteren Lauschangebirges lag Schnee, und von Besiedlung,
von Dörfern, Städten und Gärten war nicht das geringste zu sehen. Und
doch ist Schantung eine der reichsten, fruchtbarsten, am dichtesten
besiedelten Provinzen Chinas.

Erst als wir der Küste der nördlichen Halbinsel ganz nahe waren und
die Ankerkette rasselnd in dem hellgrünen Seewasser verschwand, lenkte
der Kapitän unser Augenmerk auf eine Anzahl niedriger Lehmmauern,
die sich von der graugelben Umgebung kaum abhoben und nur durch die
schwarzen Dächer kenntlicher gemacht wurden. Das ist der Sitz der
deutschen Regierung, das ist Tsingtau, der Hafen von Kiautschou. Ich
richtete mein Fernglas auf diese öde Häuserguppe. Nahe dem sandigen
Meeresstrande breitete sie sich aus, rings umgeben von Militärlagern,
über denen schwarz-weiß-rote Flaggen wehten. Das nächste Lager oder
Fort, wenn man will, liegt unmittelbar am Meere, und von dort streckt
sich eine lange, eiserne Brücke in die See, der Landungsplatz von
Tsingtau.

[Illustration: Der deutsche Stempel des Gouverneurs von Kiautschou.]

Bald war unser Dampfer umschwärmt von kleinen weißen Dampfpinassen,
bemannt mit fröhlichen, frisch aussehenden deutschen Matrosen,
welche die Post für die verschiedenen Schiffe abzuholen hatten. Die
Frachten und Passagiere wurden in einer chinesischen Dschunke an die
Landungsbrücke gebracht, die noch aus der Chinesenzeit stammt, gerade
so wie alle Militärlager und die meisten von der deutschen Regierung
besetzten Gebäude. In den wenigen Wintermonaten, die seit der ersten
Landung der deutschen Truppen verstrichen waren, ist wohl sehr viel
gearbeitet worden, aber ein chinesisches Küstendorf kann nicht so ohne
weiteres in eine deutsche Hafenstadt verwandelt werden. In Deutschland
war der Name Tsingtau bis zu meiner Abreise Anfang Februar 1898 ganz
unbekannt, und Kiautschou war in aller Mund. Nach Kiautschou wurden
die Postkarten aller Kolonialenthusiasten gerichtet, nach Kiautschou
die Briefe von zahlreichen Briefmarkensammlern, die sich chinesische
Briefmarken mit dem Poststempel Kiautschou erbaten. Kiautschou liegt
aber etwa fünfzig Kilometer landeinwärts und ist von der See aus
ganz unzugänglich, ja es ist überhaupt nur ganz vorübergehend von
den deutschen Truppen besetzt worden. Tsingtau ist, wie gesagt, nur
ein kleines Fischerdörfchen, aber es ist für die Schiffahrt und die
künftigen Hafenanlagen so günstig gelegen, daß es von den Behörden
auch zum Sitz der Regierung ausersehen worden ist. Kiautschou hat in
Deutschland den Rahm abgeschöpft und ist ganz unverdienterweise zu
einer Berühmtheit gelangt, die eigentlich Tsingtau zufallen sollte.

[Illustration: Eine Gruppe des schönen Geschlechts in Deutsch-China.]

Von der Landungsbrücke führte ein Fußweg an dem von deutschen Soldaten
besetzten Brückenfort vorüber, dem sandigen Meeresstrande entlang, nach
dem Dörfchen, als dessen erstes Gebäude sich ein ganz ansprechender,
hübsch gebauter Götzentempel präsentiert. Zwei hohe Flaggenstöcke
ragen über die mit wunderlichen Steinfiguren geschmückten Dächer der
verschiedenen Tempelbauten hinaus. Diese letzteren sind auch die
größten des ganzen Ortes, denn zum Namen des Gouverneurs schreitend,
sah ich zu beiden Zeiten der engen Hauptstraße nur kleine niedrige
Chinesenhäuser mit winzigen, papierbekleideten Fensterchen. Glas war
in dieses entlegene Nest von Schantung noch ebensowenig gedrungen wie
Seife. Hunderte von den langbezopften Söhnen des Reiches der Mitte
drängten sich in dieser Straße zwischen den ärmlichen Kaufläden, alle
in der gleichen charakteristischen Kleidung: blaue Baumwolljacken,
blaue Beinkleider. Im Sommer tragen sie nur diese, im Winter werden
Jacken und Beinkleider mit Baumwolle gefüttert. Wird es kälter, so
legen sie darüber noch eine zweite dick wattierte Jacke an und häufig
noch eine dritte und vierte, so daß manche von ihnen aussehen wie
wandelnde Baumwollballen zumal die Aermel wie bei Zwangsjacken um einen
halben Fuß länger sind, als die Arme. Daß von einem Wechsel der Kleider
während des Winters keine Rede sein kann, sah ich auf den ersten Blick,
und auch meine Nase konnte diese Wahrnehmung machen. Zwischen den
Kaufläden kauerten ambulante Händler mit ihren nichtigen Waren, Nägeln,
Streichhölzern, Tabak in Papierbeutelchen, Pfeifen, Erdnüssen, Kuchen.
Hier und da war an der Häuserfront auch ein Kochherd gebaut, mit einem
kleinen Schutzdach darüber, und darauf wurde in riesigen Töpfen der
Tschau-Tschau, das Mittagmahl, zubereitet.

[Illustration: Hauptstraße in Tsingtau.]

Von der Marktstraße zweigt sich zur Rechten eine zweite, breitere
ab, und diese war augenscheinlich das vorläufige Europäerviertel des
Ortes. Freilich zeigte auch diese Straße nur langgestreckte, ebenerdige
Chinesenhäuser mit Steinmauern, Papierfenstern und Strohdächern, aber
der frische Anstrich, die neu eingesetzten Hausthüren und vor allem die
große Reinlichkeit, die überall herrschte, bewiesen, daß hier unmöglich
Chinesen wohnen könnten. In der That trugen zwei der Häuser die Namen
der zwei einzigen deutschen Handelsherren, welche sich bisher hier
angesiedelt hatten: Schwarzkopf & Co. aus Hongkong und Sietas & Co. aus
Tschifu. Ihnen gegenüber trägt ein Haus die Bezeichnung „Kaiserlich
Deutsche Post”. Ein paar Schritte weiter öffnet sich ein großer Platz,
auf welchem sich der Yamen des Gouverneurs von Tsingtau erhebt, ganz
so eingerichtet, wie alle Yamen der chinesischen Mandarine. Dem von
einem Militärposten besetzten Haupteingang gegenüber erhebt sich eine
hohe Schutzwand gegen die bösen Geister, sowie der große Flaggenstock,
auf dem heute die weiße Kriegsflagge mit dem schwarzen Kreuz weht. Ins
Innere des Yamens tretend, gelangte ich zunächst in einen geräumigen
Hof, von ansprechenden chinesischen Häusern umschlossen, in welchem
sich die Bureaus und Wohnungen der Offiziere des Stabes befanden. Hier
sollte auch ich Unterkunft finden, denn von Hotels oder Logierhäusern
war zur Zeit meines Eintreffens, Mitte März, noch keine Spur vorhanden,
und erst später ging man daran, das frühere chinesische Zollhaus
zu einem Absteigequartier für Fremde einzurichten. Ein breiter
Durchgang in dem Mittelhause führt in einen zweiten Hof, ebenfalls von
chinesischen Gebäuden mit schön geschwungenen Dächern und Veranden
aus geschnitztem Holz eingefaßt. Das mittlere und größte Haus enthält
die nur aus zwei Räumen bestehende Wohnung des Gouverneurs, und die
beiden Zimmer, die für den bevorstehenden Besuch des Prinzen Heinrich
eingerichtet wurden. Bureaus nehmen die anderen Gebäude vollständig
ein, ja es mußten noch die dahinter befindlichen Kasernen der längst
verschwundenen chinesischen Soldaten dafür eingerichtet werden.

[Illustration: Chinesischer Stempel des Gouverneurs von Kiautschou.]

[Illustration: Hauptstraße von Kaumi.]

Dieses Einrichten der Kasernen und Wohnhäuser, das Reinigen der
Straßen und Plätze des Dorfes, die Verbesserung der Wege, Brücken,
Flußläufe, Dämme und dergleichen war die größte Aufgabe, welche die
wackeren deutschen Truppen während der bisher verflossenen kalten
Wintermonate auszuführen hatten. Der chinesische Bauer und der
chinesische Soldat sind keineswegs für ihre Reinlichkeit berühmt, und
andere Bewohner besaß Tsingtau überhaupt nicht. Polnische Dörfer hätten
in Tsingtau vor der deutschen Besetzung als Muster von Reinlichkeit
angesehen werden können, und daß auch die chinesische Regierung
für ihre Unterthanen nur sehr wenig thut, ist sattsam bekannt. Um
diese Mistgrube von Deutsch-China zu reinigen, wurden allerdings die
bezopften Kulis, deren man habhaft werden konnte, in den Dienst
gepreßt, allein die Matrosen von den Kriegsschiffen und die Soldaten
des Marine-Infanteriebataillons mußten fleißig mithelfen. Ihr Fleiß,
ihre Ausdauer, und die Freudigkeit, mit der Offiziere sowohl wie
Mannschaften sich an das ungewohnte, und man kann wohl sagen, unwürdige
Werk machten, verdienen alle Bewunderung. Wohl gab es in Tsingtau
das Gouverneursyamen und die fünf großen mit Lehmmauern umgebenen
Militärlager, in deren ebenerdigen Gebäuden das chinesische Militär
bis zur Besetzung wohnte, ja dieselben waren sogar in einem besseren
Zustande, als ich sie sonst bei früheren Reisen im chinesischen Reiche
angetroffen hatte. General Tschang, der arme Befehlshaber von Tsingtau,
war für chinesische Verhältnisse ein ganz ausgezeichneter Offizier.
Zur Zeit des chinesisch-japanischen Krieges sollte Tsingtau in einen
festen chinesischen Kriegshafen umgewandelt werden, und Tschang hatte
rings um den Ort der ganzen Seeküste entlang Mauern aufführen, die
festen Militärlager anlegen und alles in, allerdings chinesischen,
Verteidigungszustand setzen lassen, so daß die Deutschen bei ihrer
Besetzung des Ortes viel vorgearbeitet fanden. Wollten aber deutsche
Soldaten die chinesischen Kasernen beziehen, so mußten diese doch von
Grund aus neu gereinigt, verbessert, neu eingerichtet werden. Wo die
Maurer, Schlosser, Zimmerleute und dergleichen finden? Da wurde denn
der Offizier zum Maurerpolier, der Soldat zum Handwerker, und statt mit
Gewehr und Säbel, mußten sie mit Kelle und Hobel arbeiten, aber das
Gewehr doch stets zur Seite. Nur der umsichtigen Leitung, der Ordnung,
Disciplin, Anspruchslosigkeit und dem guten Mute, der alle beseelte,
gelang das anscheinend Unmögliche. Nach der harten Tagesarbeit
kamen die Entbehrungen der Nacht. Betten gab es natürlicherweise
nicht, desgleichen waren keine Oefen zum Wärmen der eisig kalten,
dunklen Räume, keine Glasscheiben für die papierüberklebten Fenster,
keine Küchen vorhanden; die armen Leute mußten in Hängematten
schlafen, Offiziere wohnten zu zweien und dreien in engen, dunklen,
feuchten Räumen, speisten wie im Felde vor dem Feinde, entbehrten
der notwendigsten Bequemlichkeiten und mußten dabei auch noch den
anstrengenden Garnisonsdienst versehen.

[Illustration: Der achtzigjährige blinde Abt von Tsingtau.]

Das Ergebnis dieser harten Arbeit zeigte sich schon nach wenigen
Monaten. Die Kasernen, die ganzen Militärlager wurden zu Mustern
von Sauberkeit; ganz Tsingtau wurde gesäubert, die Straßen wurden
beleuchtet, ein in einem chinesischen Dorfe unerhörtes Ereignis;
die Häuser wurden mit Nummern versehen, an den Straßenecken sah
man Tafeln mit Benennungen wie Marktstraße, Bankgasse, Yamenplatz,
Paroleplatz und andere. Die Wege waren ausgebessert, zwischen dem Yamen
und den verschiedenen, Tsingtau umgebenden Militärlagern herrschte
Telephonverbindung, auf dem hohen Truppelberg, der sich über Tsingtau
erhebt, befand sich bereits eine Signalstation, in den Straßen
sah man zwischen dem lebhaften Chinesengedränge schon Polizisten,
überall herrschte Ordnung, und die Grundlage für eine gesicherte
Weiterentwickelung der jungen Hauptstadt von Deutsch-China war
gelegt. Auch die vorläufigen Untersuchungen über den neuen deutschen
Kriegshafen und über das zukünftige Handelsemporium wurden beendet. Die
Offiziere der Kriegsschiffe, welche jenseits der Halbinsel Tsingtau in
der Bucht von Kiautschou ankern, haben die Untersuchungen durchgeführt
und gefunden, daß dieser Hafen längs der Nordküste der Halbinsel von
Tsingtau, an der Bucht von Kiautschou angelegt werden müsse, denn dort
befindet sich ein etwa zehn Kilometer langer, einen Kilometer breiter
Streifen tiefen, sicheren Fahrwassers, der durch die fortschreitende
Anfüllung und Verseichtung der Bucht erst nach Jahrhunderten gefährdet
werden dürfte.

[Illustration: Das Ostlager in Tsingtau.]

Von dem hohen Erdwalle des Höhenlagers, das nahe der Spitze der
Halbinsel Tsingtau liegt, gewann ich den ersten Ueberblick über die
ganze zukünftige Anlage und kam zu der Ueberzeugung, daß die Zeiten
gewiß nicht fern sind, wo an Stelle der sandigen Gerstenfelder,
die sich zwischen dem heutigen Tsingtau und dem Hafen in der Bucht
ausdehnten, eine blühende deutsche Handelsstadt sich erheben wird, mit
allen modernen Einrichtungen, wo elektrische Bahnen zwischen beiden
Küsten verkehren und der Hafen mit Schiffen aller Flaggen gefüllt sein
wird. Vor meinem geistigen Auge sah ich an Stelle der Götzentempel
christliche Kirchen stehen und längs des sandigen Meeresstrandes,
der die Bucht von Kiautschou umfaßt, Eisenbahnzüge laufen, welche
die Schätze der Provinz zum Hafen, die deutschen Industrieprodukte
aber nach der Provinz bringen sollten. Seit Jahren war ich in den
Zeitungen und durch zahlreiche öffentliche Vorträge für diese Erwerbung
eingetreten, und jetzt, da ich sie gesehen, war ich mehr als jemals
überzeugt, daß sie dem deutschen Handel zum Segen gereichen würde.
In Hongkong und Shanghai lagen die Verhältnisse in den Anfangszeiten
viel ungünstiger als in Tsingtau, und es hat Jahre gebraucht, bis auch
nur der Keim zu den Weltstädten von heute gelegt war. Hongkong wurde
im Jahre 1841 als offener Hafen erklärt, aber erst fünf Jahre später,
1846, war der Grund für die neu zu bauende Stadt trockengelegt und
überhaupt bewohnbar. Die Verhältnisse waren dort überaus ungünstig,
Malaria und Fieber wüteten so fürchterlich, daß ein Regiment Soldaten
binnen einem Jahre über zweihundert Mann verlor. Ja der erste
Gouverneur, Sir John Davis, empfahl der englischen Regierung auf
Grundlage mehrjähriger Erfahrungen sogar, die Kolonie ganz aufzugeben.
Und trotz dieser scheinbar kaum zu überwindenden ungünstigen
Verhältnisse ist Hongkong heute ein Welthafen von der größten Bedeutung.

[Illustration: Vor dem Yamen des Gouverneurs.]

Mit Shanghai erging es bei seiner Gründung nicht viel besser wie mit
dem letztern. Am 17. November 1843 als offener Hafen erklärt, bedurfte
es mehrerer Jahre, um die Sümpfe trocken zu legen und die Flußläufe
zu regulieren. Während der ersten zwei Jahre wurden nur fünf Häuser
gebaut, und 1849, sechs Jahre nach der Eröffnung, hatten sich in
Shanghai erst 25 Firmen niedergelassen mit 100 Europäern, darunter
sieben Frauen; Futschou, 1842 eröffnet, brauchte sogar zehn Jahre, bis
es einigen Handel bekam. Zur Zeit meines ersten Besuches war Tsingtau
freilich noch ein ganz merkwürdiger Ort. An fünftausend deutsche Männer
wohnten hier, aber keine einzige deutsche Frau, und seit Monaten hatten
diese fünftausend ein weibliches Wesen ihrer Rasse überhaupt gar
nicht gesehen. Keiner der fünftausend war über fünfzig, keiner unter
zwanzig Jahre alt, es gab keine Greise, keine Kinder. In den Straßen
war niemals ein Wagen gefahren, in den Ansiedelungen hat niemals ein
Hotel oder eine Wirtschaft unserer Art bestanden. Bürgermeister,
Richter, Militärkommandant, Landrat, alles war der Gouverneur in eigner
Person, und Zivilbeamte gab es noch keinen einzigen. Niemals hat es
unter so viel Männern so viel Ordnung, Gemeinsinn, Arbeitseifer und
dabei so wenig Erwerbssinn und Eigennutz gegeben. Ich habe auf meinen
Reisen, hauptsächlich in den jungen Minenstädten der Felsengebirge,
Ansiedelungen gesehen mit einer Bevölkerung, die auch nur aus Männern
bestand. Aber wie anders waren die Verhältnisse hier und dort!

[Illustration: Chinese mit Schubkarren in Tsingtau.]

Das regierte Element bilden hier die Chinesen. Als die rotbärtigen
Teufel mit ihren blinkenden Waffen landeten, gab es in Tsingtau nur
einige hundert Einwohner, vier Monate später waren ihrer ebensoviele
tausend, und die Einwohnerschaft hat sich seither wohl verzehnfacht.
Ein Winter hatte schon genügt, um dieser armen elenden Bevölkerung
verhältnismäßigen Wohlstand zu geben, und so viel Geld wie jetzt haben
sie in ihrem Leben gar nicht gesehen. Früher erhielten sie dreißig bis
vierzig Cash, das heißt sechs bis acht Pfennige am Tage, heute wohl
das sechsfache. Es hat sich in der ganzen Gegend herumgesprochen, daß
die Deutschen nicht stehlen und bedrücken, wie es die chinesischen
Soldaten gethan haben, sondern daß sie alles bar bezahlen. Arbeit gab
es sofort in Hülle und Fülle, und täglich kamen Dschunken mit Waren,
täglich lange Züge von Schubkarren. Diese letzteren sind die Equipagen,
Lastwagen, Karren, das wichtigste Beförderungsmittel der ganzen
Provinz. Für diesen Zuzug mußten Quartiere gebaut werden, überall
entstanden neue Häuser, überall wurde gemauert, gezimmert, gehämmert.
Und diese Thätigkeit wurde seit meinem Besuche, man könnte sagen,
von Tag zu Tag immer lebhafter. Jedes Schiff brachte neue Ansiedler,
Kaufleute, Unternehmer, Beamte, Missionare; dazu massenhaft Waren,
Baumaterial, Maschinen, Bestandteile für industrielle Unternehmungen
aller Art. Unter vorzüglicher Leitung wurde in kürzester Zeit ein
praktischer Stadtplan entworfen und seine Ausführung sofort in
Angriff genommen. Hunderte von Chinesen arbeiteten an dem Unterbau
der breiten Prinz-Heinrichstraße, welche von dem Haupttempel parallel
mit der Meeresküste nach dem Brückenlager führt, und an der dieser
entlang laufenden Kaiser-Wilhelmstraße; zusehends entstanden die
Bismarck-, Tirpitzstraße mit zweckmäßigen Kanalanlagen; es wurde
eine Wasserleitung angelegt, der Bau eines Wellenbrechers im Hafen,
von Regierungsgebäuden und Beamtenwohnungen begonnen; das Material
dazu gewann man aus Steinbrüchen, nach welchen Eisenbahngeleise
gelegt wurden. Neben der Bauthätigkeit der Regierung entwickelte
sich auch jene von Privatunternehmern mit gleicher Lebhaftigkeit,
und heute, drei Jahre nach der Besitzergreifung Tsingtaus, steht an
Stelle des elenden Chinesendorfes eine freundliche, anspruchsvolle
geschäftige deutsche Stadt mit Hotels, Banken, großen Warenhäusern,
Fabriken und industriellen Anlagen der verschiedensten Art; dazu junge
Gartenanlagen, Privathäuser, Villen, im ganzen ein Gemeinwesen, wie es
in solcher Raschheit und verhältnismäßiger Vollkommenheit in China noch
niemals geschaffen worden ist. Das geht auch aus dem Jahresberichte der
kaiserlich-chinesischen Zollbehörde vom Jahre 1899 hervor, in welchem
gesagt wird: „Die neue Hafenstadt Tsingtau, früher ein ärmliches
Fischerdorf, welches auf dem Wasser- wie Landwege sehr viel weiter als
die andern Dschunkenhäfen der Bucht von den Hauptmärkten des Inlandes
entfernt, keinerlei kommerzielle Bedeutung besaß, ist auf dem besten
Wege, in baldigster Zeit eine in vielen Beziehungen mit den schönsten
Städten des Ostens rivalisierende moderne Stadt zu werden. Ausgedehnte
Kanalisations- und breite Straßenanlagen werden aus dem Felsen
gesprengt; elektrisches Licht und Telephonanlagen, Wasserwerke und
Anforstungen werden schnell gefördert, bequeme Wohnungen, komfortable
Hotels, Bureaus und Werkstätten sind überall im Entstehen. Die früheren
chinesischen Häuser sind aufgekauft und die Bewohner in eine gefällig
angelegte Musterstadt verpflanzt worden in der Nähe des nördlichen
Innenhafens. Auf diese Weise, getrennt von einer unter gesunden
Bedingungen untergebrachten chinesischen Bevölkerung, mit vorzüglichen
sanitären Anlagen, dazu beglückt mit einem herrlichen Klima, milder
als Tschifu im Winter und ebenso kühl im Sommer, mit vortrefflichen
Seebädern und luftigen Bergzügen, wie geschaffen für Sommerfrischen, in
unmittelbarer Nähe, bietet Tsingtau die beste Gewähr, sich zu einem der
ersten klimatischen Erholungsorte des Ostens zu entwickeln.

[Illustration: Flottmachen eines chinesischen Bootes in Schatzekau.]

Als Handelshafen erscheint die Zukunft des Hafens von Tsingtau in
gleicher Weise vielversprechend. Seine augenblicklichen Nachteile,
ungeschützte Ankerplätze und das Fehlen von Quais, ein Umstand,
der Umladen in Leichter, Zeitverlust und Unkosten für Schiffe wie
Ladung verursacht, sowie das Fehlen guter ins Hinterland führender
Straßen, werden bald der Vergangenheit angehören. Die neuen Häfen mit
Anlegestellen für die Schiffe, Geleisen, Güterspeichern und allen
modernen Einrichtungen sind schon im Bau begriffen; der kleinere, für
Küstenfahrer geeignet, wird voraussichtlich Ende 1900 fertiggestellt
sein, während der andere, für die größten Schiffe zugänglich, noch
mehrere Jahre bis zu seiner Vollendung bedarf. Die gleichfalls in
der Ausführung stehende Eisenbahn wird Tsingtau zum Ausgangspunkte
nehmen und den Hafen mit Kiautschou und den andern bedeutenden Städten
der reichen und nordwestlichen Distrikte der Provinz in Verbindung
bringen und die Haupt-Kohlen-, Seiden- und Strohgeflecht-Distrikte
durchschneiden.”

[Illustration: Partie aus dem Lauschan.]

Die Umgegend von Tsingtau ist weitaus nicht so reizlos, wie sie sich
vom Schiffe aus zeigt und wie sie vielfach geschildert wird. Zwischen
den einzelnen Küstendörfern ist jedes irgendwie verwendbare Stückchen
Land sorgfältig von den fleißigen Chinesen geackert und bebaut, rings
um die Dörfer und in diesen selbst erheben sich zahlreiche Obstbäume;
über den kegelartigen Erdhügeln der Toten stehen Föhren und Pinien, und
der Baumwuchs würde noch stattlicher sein, wenn es den Bewohnern nicht
vollständig an Brennmaterial fehlen würde. Die Chinesen lieben die
Natur, sie umgeben ihre Heimstätten und die Heimstätten ihrer Toten mit
Baum- und Blütenschmuck, aber der Selbsterhaltungstrieb ist stärker.
Um die Bäume zu schützen, brennen sie trockene Gräser, die sie mit
den Wurzeln ausreißen, sie fällen nicht die Föhren, sondern schneiden
die grünen Nadeläste ab, und jeder abgestorbene Baum wird durch die
Pflanzung eines neuen ersetzt. Dabei liegen reiche Kohlenschätze nur
hundertfünfzig Kilometer nördlich von ihnen. Die Eisenbahn, welche
jetzt schon von deutschen Ingenieuren gebaut wird, wird auch in dieser
Hinsicht segenbringend sein.

[Illustration: Gesamtansicht von Tsingtau.

    1. Tsingtau mit dem Yamen des Gouverneurs im Vordergrunde.
    2. Gegenwärtiger Handelshafen.
    3. Gegenwärtige Landungsbrücke.
    4. Stellung der Kriegsschiffe (hinter der Landzunge).
    5. Der Truppelberg.
    6. Das obere Dorf.
]

Draußen im deutschen Gebiete und auf den entlegenen Außenposten an
den Grenzen von Deutsch-China halten junge Offiziere mit kleinen
Abteilungen Ruhe und Ordnung aufrecht. Sie wohnen in den mehr als
bescheidenen Bauernhäusern der Chinesen, kaum viel besser als die
Chinesen selbst, auf Stunden in der Runde nur von solchen umgeben.
Aber der Aufenthalt auf dem Lande entbehrt nicht eines gewissen Reizes,
besonders wenn der nahende Frühling alles verklärt, wo die Sonne wärmer
scheint und wo auch schon wie traute Grüße aus der fernen Heimat die
lieblichen Veilchen zu blühen beginnen. Ich habe das ganze große Gebiet
kreuz und quer durchzogen und war dabei nicht so sehr überrascht von
der Sorgfalt, mit welcher Obstgärten und Felder gepflegt und gehütet
werden, denn ich kannte den Fleiß des chinesischen Landmannes von
früheren Reisen. Was meine Verwunderung in viel höherem Grade erregte,
war die Dichtigkeit der Bevölkerung, die große Zahl von Dörfern, die
innerhalb Deutsch-Chinas liegen und die zusammen wohl an siebzigtausend
Einwohner zählen mögen. Es ist keineswegs ein wertloses Stück Land, das
deutsche Missionare ihrem Vaterlande mit ihrem Blute erkauft haben,
denn es kann diese ganze Bevölkerung nähren. Auf den elenden Fußwegen
zwischen den Feldern, an ausgewaschenen Flußläufen und gefahrvollen
Schluchten entlang reitend, gewahrte ich überall junge Gerste, Bohnen,
Erdnüsse, süße Kartoffeln; in den Obstgärten stehen in langen Reihen
Birnbäume, sorgfältig beschnitten und mit abgeschälter Rinde, um die
Bäume gegen Insekten zu schützen; in den Dörfern sah ich über die
steinernen Umfassungsmauern der Häuser mitunter Bambusstauden, Myrten
und Lorberbäume, Pinien, ja sogar große blühende Kamelienbäume. Am
Eingang jedes Dorfes erhebt sich ein Götzentempel, gewöhnlich von
alten, hohen Bäumen überschattet; in den Straßen wurde überall fleißig
gearbeitet, an Stelle der Mistjauchen unserer Dörfer liegt der Dünger,
mit zerkleinerten Bauziegeln vermischt, im Hinterhause und wird mit
rührender Sorgfalt und Sparsamkeit auf die Felder verteilt. An freien
Stellen befinden sich in jedem Dorfe Mahlmühlen, aus großen flachen
Steinen bestehend, auf denen sich eine schwere Steinwalze, gewöhnlich
durch Eselchen gezogen, im Kreise wälzt. Frauen bringen die schweren
Säcke herbei, verteilen die Körner auf der Mühle, treiben das Eselchen
an und verbringen die Zwischenzeit noch mit Nähen und Flicken. Bei
der Annäherung eines Europäers wenden sie ihr Gesicht ab oder laufen
davon, so schnell ihre winzigen Füßchen sie nur tragen können. Ich war
überrascht, wie sehr die Qual der Fußverkrüppelung in diesem Gebiete
verbreitet ist. Unter den Tausenden von Frauen, die ich zu Gesicht
bekam, besaß keine einzige ihre natürlichen Füße. Selbst wenn sie auf
den Feldern arbeiteten, oder Lasten trugen, steckten ihre Füßchen in
den kaum spannenlangen gestickten Seidenschuhchen. Sonst ist ihre
Kleidung jener der Männer ähnlich, nur daß sie an Stelle der blauen
oder weißen Beinkleider solche von knallroter Farbe tragen. Die Knaben
tragen schon von etwa zehn Jahren an den langen Zopf, der mit Hilfe von
eingeflochtenen Schnüren bis nahe an den Boden herabbaumelt; die Frauen
stecken ihre prächtigen, rabenschwarzen Haare mit Silbernadeln auf dem
Kopfe fest.

Auch an landschaftlichen Schönheiten ist das deutsche Gebiet reich;
auf der tiefblauen, weiten Fläche der Kiautschoubucht liegen kleine
und große Inseln; die letzteren, mit Dörfern und Tempeln bedeckt,
sind gut bebaut, vor allem Potato-Island und die Tschiposaninsel.
Etwa in der Mitte des Gebietes erhebt sich der mächtige schwarze
Woschan, mit seinem östlichen malerischen Ausläufer, dem bewaldeten
Prinz-Heinrichberg. Die Grenze gegen das chinesische Gebiet aber bildet
der lange scharfgezackte Gebirgszug des Lauschan, dem einer meiner
letzten Ausflüge galt. Aus dem ungemein lieblichen, wohlbebauten
Connythale mit seinen Dörfern, Tempeln und Friedhöfen erhebt sich
seine gewaltige Masse, überragt von himmelanstrebenden Felsnadeln
und Spitzen. Die Besteigung dieses mit ungeheuren Trümmern besäten,
vollständig vegetationslosen Gebirgszuges war nicht gerade ein Genuß,
aber wir wurden doch belohnt durch den Anblick des reizenden Thales
von Jia-kung-tiën, mit dem gleichnamigen Kloster, das zwischen
Bambusstauden, Myrten- und Lorberbäumen halb verborgen daliegt. Die
freundlichen Taoistenmönche zeigen als ihren größten Stolz einen
wunderbaren Kamelienbaum von etwa sechs Metern Höhe und anderthalb
Metern Stammesumfang.

Je mehr ich von dem neuesten und gleichzeitig entferntesten Besitz des
Deutschen Reiches zu sehen bekam, desto mehr stieg meine Dankbarkeit
für diejenigen, die ihn dem deutschen Volke gegeben haben, denn ich bin
überzeugt, daß er mit jedem Jahre an Wert gewinnen und dem deutschen
Handel, wie der deutschen Industrie Segen bringen wird.

[Illustration]



[Illustration: Der Niam-Niamtempel (der „heiligen Mutter”) in
Kiautschou.]



Quer durch Schantung[2].


Mit Tsingtau hat das Deutsche Reich nur eine Pforte zu dem großen
unbekannten Hinterlande erreicht, und dieses, nicht Tsingtau, ist für
den deutschen Handel in China von der größten Wichtigkeit. Von diesem
Hinterlande und seiner Eröffnung wird es abhängen, ob der neue Hafen
an der chinesischen Küste eine Bedeutung erlangen wird, die über jene
einer Kohlenstation und eines Stützpunktes für die deutsche Flotte
hinausgeht, und die Errichtung von Faktoreien, größeren Hafenanlagen,
Leuchttürmen, Befestigungen rechtfertigt.

Wo immer man auf dem Erdball Umschau halten mag, wird man große
blühende Handelshäfen ausschließlich nur dort finden, wo schiffbare
Wasserstraßen nach einem fruchtbaren, dicht bewohnten Hinterlande
führen, oder wo die Bodenverhältnisse die Anlage von Eisenbahnen,
dieses wichtigsten Ersatzes für Wasserstraßen, möglich machen.

Wie sind nun diese Verhältnisse im Hinterlande von Deutsch-China
bestellt? Was liegt dahinter? Worauf stützt man die Hoffnungen
auf eine gedeihliche Entwickelung des Keimes, den die deutschen
Blaujacken an der fernen Küste von Schantung gepflanzt haben? Wer
kennt dieses Schantung aus eigner Anschauung? Was bisher davon ins
Abendland gedrungen ist, beruht großenteils auf Hörensagen. Seitdem
der große Venetianer Marco Polo im dreizehnten Jahrhundert das ferne
Cathai bereist und mit seiner wundersamen Mär von dem chinesischen
Riesenreiche die Alte Welt in Erstaunen gesetzt hat, haben nur ein paar
englische Reisende, hauptsächlich Missionare, verschiedene Teile von
Schantung besucht; ein Deutscher ist vor dreißig Jahren ihren Pfaden
gefolgt, allein hauptsächlich mit wissenschaftlichen Zielen vor Augen.
Was sie berichtet haben, und was die in dieser Hinsicht unzuverlässigen
Chinesen über Schantung erzählen, bildete bis zu diesem Jahre die
Grundlage unseres Wissens. Was dort für den Handel zu holen ist, welche
Aussichten sich für einen Hafen an der Küste darbieten, hat uns noch
niemand, gestützt auf eigne Anschauung, erzählt. In dieser Hinsicht,
wie auch in Bezug auf die Geographie und Ethnographie des Landes, ist
Schantung großenteils noch eine ~terra incognita~.

Und doch sind die wenigsten Gebiete des großen asiatischen Kontinents
interessanter und würden eine so ergiebige Ausbeute für den Reisenden
darbieten, als gerade Schantung; denn abgesehen von den mineralischen
Schätzen, die dort unter der Erde schlummern, abgesehen von dem
eigenartigen Thun und Lassen der Bewohner dieses Landes zwischen dem
mächtigen Gelben Strom und dem großen Kaiserkanal, liegt ja dort, am
Südfuße der malerischen Berge des mittleren Schantung, das heilige Land
von China. Dort liegt die Geburtsstätte des großen Religionsstifters
der Chinesen, Confucius, sowie die seiner Apostel Mencius, Tse-Tse und
anderer. Dort liegen heute noch, wohlbehütet von ihren Nachkommen, die
Gräber dieser Weisen; und in einer Großstadt, Yentschou-fu, werden
ihre Lehren studiert, erklärt und über das ganze Land verbreitet;
unweit davon erhebt sich der sagenhafte heilige Berg von China, der
Taishan, mit seinen zahllosen Tempeln, Opferaltären und kaiserlichen
Denkmälern, zu Füßen des Taishan aber liegt das Mekka von China, die
große Pilgerstadt Taingan.

All das bot mir mehr als hinreichende Veranlassung, von dem deutschen
Hafen Tsingtau aus die Reise kreuz und quer durch die Provinz
Schantung, ein Gebiet so groß wie Süddeutschland, einschließlich der
Reichslande, zu unternehmen. Von meinen früheren Reisen in dem großen
Reiche der Mitte wußte ich, daß es galt Abschied zu nehmen von all den
Bequemlichkeiten des modernen Reiselebens und von allem Verkehr mit
der Außenwelt. In China ist der Reisende auf sich selbst und seine
eignen Hilfsmittel angewiesen, und da in Tsingtau der Handelsverkehr
noch ein Ding der Zukunft ist, hatte ich mir den erforderlichen
Reisebedarf, bis herab zu Kochgeschirren und Bettzeug, von Shanghai aus
besorgt.

An einem kalten, stürmischen, regnerischen Märztage verließ ich,
begleitet von meinen chinesischen Dienern und Photographen, Tsingtau
in einer elenden Dschunke, um über die weite Bucht von Kiautschou nach
der Stadt dieses Namens zu segeln. Eine andere Verbindung besteht
heute mit Kiautschou nicht, wollte ich nicht zu Pferd über Land um
die große Meeresbucht herum nach meinem in wenigen Monaten so berühmt
gewordenen Ziele reiten. Die Stadt war auch schon früher einmal, vor
Jahrhunderten, berühmt, als die Meeresbucht in ihrer nördlichen Hälfte
noch nicht so verschlammt war wie jetzt. Dutzendemale fuhr die kleine,
von fünf blöden Zopfträgern bemannte Dschunke auf den Schlammboden
auf; die einströmende Flut erst führte sie weiter in einen kaum vier
Schritte weiten Kanal, um in der Nähe eines elenden Chinesendorfes,
Tapautau, ganz stecken zu bleiben. Auf meine tags zuvor an den Mandarin
von Kiautschou gerichtete Bitte standen dort drei, mit mageren Gäulen
bespannte zweirädrige Karren bereit, und derartige Karren, mit einem
Reitpferd für mich, bildeten die Transportmittel meiner Karawane
während der ganzen, zwei Monate langen Reise.

[Illustration: Visitenkarte des Präfekten von Kiautschou.]

Die einst so blühende Hafenstadt Kiautschou liegt heute mehrere
Wegstunden von der Meeresbucht entfernt, auf trockenem Lande, und
nichts ist unrichtiger, als in Bezug auf Kiautschou von einer
Hafenstadt zu sprechen. Der Name Kiautschou als Bezeichnung für den
deutschen Besitz in China sollte überhaupt aus allen Zeitungen wie aus
der Leute Mund verbannt und dafür Tsingtau gesetzt werden. Tsingtau ist
ja der deutsche Hafen, von Kiautschou zulande anderthalb Tagereisen
entfernt. Statt Tsingtau Kiautschou zu nennen, ist gerade so, als würde
man in Deutschland statt der deutschen Stadt Emden das holländische
Groningen nennen. Kiautschou steht ja trotz seiner kurzen Besetzung
durch die deutschen Marinesoldaten im Jahre 1897 vollständig unter dem
steinernen Scepter des „Sohnes des Himmels”, und ein bezopfter alter
Mandarin, namens Lo, führt dort in seinem Namen die Regierung. Wohl
liegt Kiautschou in der Zone des sogenannten „deutschen Einflusses”,
und keine wichtigere Regierungsmaßnahme kann dort ohne Einwilligung der
Deutschen getroffen werden, allein Stadt und Gebiet sind unanfechtbar
chinesisch.

Obschon Kiautschou nach europäischen Begriffen kaum mehr als ein
stattlicher, mit hohen Ringmauern umgebener Marktflecken ist, wird es
von den Chinesen doch noch immer als eine bedeutende Stadt betrachtet,
was schon ihr Name „tschou” besagt. Die Städte erster Größe heißen
in China „fu”, wie z. B. die Hauptstadt von Schantung Tsinanfu heißt,
Städte zweiter Größe heißen „tschou”, wie Kiautschou, Tsinningtschou,
jene dritter Größe, oder Kreisstädte, heißen „hsien”, wie Weihsien,
Poschanhsien. Nicht ohne eine gewisse Erregung ritt ich durch das
Stadtthor ein, auf welchem eine Zeitlang die deutsche Flagge geweht
hat; Abgesandte des Mandarins erwarteten mich hier, um mich durch die
von weiten grünen Feldern und schattigen Friedhöfen unterbrochenen
elenden Vorstädte nach der inneren Stadt zu führen. Bald hatten wir
die mächtige innere Ringmauer erreicht. Jenseits des vollständig
unbewachten Thores gelangten wir in ein Gewirr von engen Gassen,
eingefaßt von ebenerdigen Häuschen. Vor einem derselben wurde Halt
gemacht. Durch die weitgeöffneten Flügelthüren erblickte ich einen
Hof, in dessen Hintergrund sich eine Lehmhütte mit Strohdach erhob.
Das war mein „Hotel”, das zur Zeit der deutschen Besatzung auch als
Hauptquartier der Marinetruppen gedient hat. Eine wackelige Thür,
von innen durch hölzerne Querriegel notdürftig verschließbar, führte
in einen dunklen Raum, der als einzige Möbel einen Tisch und zwei
Stühle besaß. Zu beiden Seiten befanden sich kleine Kabinette mit
Holzpritschen; der Fußboden bestand aus festgestampftem feuchten Lehm,
die kleinen Fensterchen waren mit dünnem zerrissenen Papier überzogen,
von Heizeinrichtungen, Betten, Waschgefäßen und dergleichen keine Spur.
All das muß der Reisende in China, wenn er auf etwas Bequemlichkeit
Anspruch macht, mit sich führen, und meine Diener hatten während
meiner Irrfahrten durch die Provinz mit dem Ein- und Auspacken all der
Gerätschaften täglich vollauf zu thun; denn ebenso wie dieses „Hotel”,
so sind auch alle anderen in Schantung, nur daß die Mehrzahl bei weitem
nicht so reinlich und verhältnismäßig so frei von Ungeziefer waren, wie
dieses historische deutsche Hauptquartier in Kiautschou.

Da ich mit offiziellen Empfehlungsschreiben seitens der chinesischen
Regierung reiste, so meldete sich bald nach meinem Eintreffen ein
Yamenbeamter, der mir die große rote Visitenkarte des Präfekten
überbrachte. Chinesische Etikette erfordert es, daß man die eigne
Visitenkarte, mit Namen und Titeln in chinesischen Schriftzeichen,
durch den Beamten zurücksendet und sich bei dem Stadtmandarin zum
Besuch anmeldet. Der erste Besuch, den ich Seiner Ehren, dem Präfekten
Lo machte, war nicht ohne Interesse. Allein mit Bedauern denke ich
heute an die kostbare Zeit zurück, die in jeder einzelnen der vielen
Städte und Marktflecken in Schantung mit den Besuchen und dem Empfang
der Gegenbesuche seitens der Mandarine verloren ging. Jeden zweiten
oder dritten Tag kam ich in eine Stadt, und statt mich sofort an die
Besichtigung derselben machen zu können, mußte ich die ersten zwei
oder drei Stunden derlei gesellschaftlichen Erfordernissen opfern. Wie
der bezopfte alte Lo, so empfingen mich auch alle anderen Mandarine
in vollem Staatskleide, umgeben von ihren Sekretären, Beamten und
Ehrengarden, in der Haupthalle ihres Yamens. Die drei großen Höfe,
die ich dabei zu durchschreiten hatte, waren gewöhnlich von vielen
Hunderten Neugierigen gefüllt, von denen der größte Teil einen Europäer
überhaupt zum erstenmal erblickte. In der Haupthalle angelangt, führten
die Anwesenden vor mir den Kautau aus, indem sie sich mit vor der Stirn
gefalteten Händen bis nahe dem Boden verbeugten. Dann führte mich der
Mandarin zu einem der beiden im Hintergrund befindlichen Stühle, nahm
aus den Händen eines Dieners eine Tasse Thee und stellte sie auf das
zwischen den Stühlen stehende Tischchen. Dann erst nahm er Platz und
die Unterhaltung begann mit Hilfe meines Dolmetschers. Leider verlangt
es die Höflichkeit, nicht früher aufzubrechen, bis der Mandarin seine
Theetasse zum Munde führt, und das dauerte mitunter sehr lange,
denn ebenso begierig wie ich es war, die Verhältnisse in Schantung
kennen zu lernen, ebenso begierig waren auch die Mandarine, etwas
über Deutschland zu erfahren, das sie ja nur dem Namen nach kennen.
Geographie wird in den chinesischen Schulen nicht gelernt.

Kaum war ich nach diesen Besuchen nach Hause zurückgekehrt, so ließen
sich die Mandarine, in mancher Stadt drei oder vier hintereinander, zum
Gegenbesuch anmelden. Den Vortrab bildeten Soldaten und Yamendiener,
die zuweilen die großen phantastischen Paradewaffen trugen, dann kam
die von vier Dienern getragene, von einem großen roten Zeremonienschirm
beschattete Sänfte, in welcher der betreffende Mandarin saß, und die
Kautaus, Theezeremonien und langweiligen, überall ziemlich gleichen
Gespräche begannen von neuem, bis ich durch das Erheben meiner
Theetasse das Zeichen zum Aufbruch gab.

[Illustration: Segelschubkarren.]

Kiautschou hat von seiner einstigen Größe noch recht viel Reichtum und
Industrie bewahrt, auch der Handel mit dem Inlande ist noch ziemlich
rege. Die Stadt besitzt reizende Tempel und zahlreiche Steindenkmäler
in Gestalt von Ehrenpforten, in den Geschäftsstraßen reiht sich
Laden an Laden, in denen die fleißigen Zopfträger unter den Augen
der Passanten Pfeifen drechseln, hübsche Messingwaren, Leuchter,
Opiumlämpchen und dergleichen herstellen, Tapeten mit chinesischen
Ornamenten bedrucken, spinnen, weben, nageln, hämmern, vom frühen
Morgen bis in die Nacht hinein. Ja, ich fand in wenigen Städten so viel
Industrie wie hier, und die Stadt wird durch die geplante Eisenbahn von
Tsingtau nach der Hauptstadt Tsinanfu gewiß viel gewinnen, denn was
Schantung vor allem anderen braucht, sind Schienenwege. Als ich nach
zweitägigem Aufenthalte mit meiner umfangreichen Karawane aufbrach, um
durch die große Ebene nördlich von Kiautschou nach Weihsien zu reisen,
bekam ich den ersten Vorgeschmack der gegenwärtigen Verkehrsrouten. Die
einzelnen Dörfer und Städte in der ganzen Provinz sind nicht etwa durch
Straßen oder auch nur Landwege miteinander verbunden, die irgendwie von
den Mandarinen unterhalten werden, sondern Karren, Reiter, Fußgänger
schlagen einfach die nächste Richtung nach ihrem Ziele ein, und ihren
Spuren folgen die Nachkommenden, so daß allmählich eine breite,
tief ausgefahrene Route in dem weichen Alluvialboden entsteht, im
trockenen Herbst und Frühjahr mit knietiefem, feinem Staub bedeckt,
im Winter festgefroren, in der sommerlichen Regenzeit mit knietiefem
Wasser angefüllt. Selbst die wichtigsten Verkehrsstraßen, wie jene
zwischen dem einzigen Handelshafen von Schantung, Tschifu, nach der
Hauptstadt, und die große, vom Jangtsekiang quer durch Schantung
nach Peking führende sogenannte Kaiserstraße sind nicht viel besser,
so daß man sich die Annehmlichkeiten des Reisens in der deutschen
Provinz von China leicht ausmalen kann. Ermattet, ausgehungert, mit
fingerdickem Staub bedeckt, kam ich nach den langen Tagemärschen
in mein Nachtquartier, und in den Dorfherbergen war zuweilen das
Wasser so schmutzig und übelriechend, daß ich ein paar Flaschen
Apollinariswasser opfern mußte, um mich zu reinigen. Die große Mehrzahl
der Mandarine und fast alle Kaufleute, die ich sprach, begrüßen die
kommende Eisenbahn als einen Segen, und daß dem Bau dieser Eisenbahn
keine übergroßen technischen Schwierigkeiten entgegenstehen, konnte
ich überall erkennen. Von Kiautschou dehnt sich eine ungeheure, fast
durch gar keine Erhebung unterbrochene Ebene in nördlicher Richtung
quer durch Schantung und die Provinz Petschili bis nach Peking aus;
die auf den meisten Karten verzeichneten Gebirge sind dort nicht
vorhanden und erheben sich nur im mittleren Teile von Schantung, so
daß sie von der nach der Hauptstadt Tsinanfu geplanten Eisenbahn, ohne
einen Umweg zu machen, umfahren werden können. Die Mehrzahl der auf
den Karten verzeichneten größeren Flüsse sind einen großen Teil des
Jahres über wasserlos und erfordern keine schwierigen Brückenbauten.
Auch bezüglich der zu erwartenden Einnahmen braucht man sich keinerlei
Sorgen hinzugeben. Ich war auf der Reise nach der Hauptstadt überrascht
von der großen Zahl volkreicher Städte und Dörfer; nach jeder halben
Wegstunde stieß ich auf ein Dorf von mehreren hundert Einwohnern;
häufig sah ich in meiner Sehweite im Umkreis Dutzende von Dörfern,
durch die hohen Weiden und Eschen, welche ihren Hauptschmuck bilden,
leicht erkennbar, von wirklichem Elend bekam ich nichts zu sehen. Und
wenn in manchen Jahren der große Uebelthäter von China, der Hoangho,
ungeheure Länderstrecken überschwemmt, wenn in verschiedenen Gebieten
heftige Regengüsse oder anhaltende Dürre die Ernte vernichten, so
ist dafür in anderen Gebieten der Ertrag der Ländereien an Weizen,
Hirse, Bohnen, Reis und anderen Früchten so groß, daß der stellenweise
entstehenden Hungersnot gesteuert werden könnte, wenn nur Transportwege
vorhanden wären, um den Ueberfluß eines Gebietes nach dem notleidenden
anderen schaffen zu können. Aber diese Transportmittel sind der
Hauptsache nach Schubkarren, welche von Kulis gelenkt werden. All die
zahlreichen Produkte der ungemein fruchtbaren und dichtbevölkerten
Provinz, Kohle, Eisen, Lebensmittel, Seide, Wolle, Stoffe, Glas-
und Töpferwaren, werden auf Schubkarren verfrachtet, und selbst der
Passagierverkehr bedient sich hauptsächlich dieser primitiven Fuhrwerke.

[Illustration: Kaiserliche Pavillons im Park des Confuciustempels in
Kiu-fu.]

Merkwürdigerweise bedienen sich die Schubkarrenkulis um Schantung zur
Beförderung ihres Fahrzeugs auch der Segel. Vor dem Karren stecken zu
beiden Seiten des Rades mannshohe Segelstangen, und zwischen diesen
hissen die Kulis bei günstigem Winde blaue oder graue Segel. Unter
diesen Umständen spricht es ungemein für den natürlichen Reichtum der
Provinz, sowie für den Fleiß, die Nüchternheit und Sparsamkeit ihrer
Bewohner, daß so viele Millionen ihr Auskommen finden können und daß in
einer Reihe von Städten so große Wohlhabenheit herrscht. In Weihsien,
Tsingtschoufu, Tsinanfu, Tsinin und anderen Städten giebt es eine ganze
Anzahl von Millionären, ja die Hauptstadt der Provinz dürfte zu den
reichsten Städten Chinas gezählt werden können. Freilich bekommt nur
der aufmerksame Reisende davon etwas zu sehen, denn ebensowenig wie in
anderen Provinzen besitzen auch die Städte Schantungs irgend welche
Paläste: die Reichen verbergen ihre Wohnungen, ihre Wohlhabenheit
hinter hohen Mauern, und die einzigen ansehnlichen Bauten, die man zu
sehen bekommt, sind vor allem die mächtigen, von kuriosen Türmchen und
Pagoden gekrönten Ringmauern, welche alle Städte und auch zahlreiche
Marktflecken umgeben, sowie die vielen, Buddha oder Confucius
geweihten Tempel, die sich gewöhnlich inmitten schattiger Cedern- und
Fichtenhaine erheben. Sie bilden die einzigen Sehenswürdigkeiten nach
unseren Begriffen, denn Monumente, Museen, Theater, große Fabrikanlagen
und dergleichen gibt es in Schantung ebensowenig wie in dem ganzen
übrigen China. Die Theater werden von den im Lande umherziehenden
Wandertruppen jedesmal auf Marktplätzen oder in Tempelhöfen eigens aus
Bambusrohren errichtet und nach Beendigung ihres „Gastspiels” wieder
abgebrochen. Fabriken giebt es nicht; alles, sogar die Kohlenminen,
Glasbläsereien und Töpfereien der großen Industriestadt Poschan sind
gewissermaßen Hausindustrie, und die einzigen Dampfmaschinen der ganzen
an fünfunddreißig Millionen Einwohner zählenden Provinz befinden sich
in dem Arsenal von Tsinanfu.

[Illustration: Gespann in Ost-Schantung.]

Für den Mangel an sogenannten Sehenswürdigkeiten wurde ich aber durch
das Leben und Treiben der Bewohner in den Städten wie auf dem Lande
mehr als entschädigt, denn die Provinz hat noch keine Beziehungen zu
der Außenwelt, alles hat sich in malerischer Ursprünglichkeit erhalten,
und deshalb war für mich jede Stadt, jedes Dorf eine Art Museum.
Weihsien mit seinen großen Märkten, Tsingtschoufu mit den herrlichen
Buddhatempeln und interessanten mohammedanischen Moscheen, Lintschi
mit seinen mehrtausendjährigen Altertümern, das industriereiche
Poschan, dann Tschangschan, Tschangkin und vor allem die gegen
vierhunderttausend Einwohner zählende Hauptstadt boten mir eine Reihe
von Bildern, wie sie sich dem Reisenden in China selten zeigen. Dazu
reiste ich in der schönsten Jahreszeit, im Frühling, und das Klima
ist jenem von Mitteleuropa ähnlich, wenn auch die Sommer heißer und
an den Küsten viel feuchter sind als bei uns. Die Chinesen sind große
Freunde der Natur, sie haben sich für die Anlage ihrer Städte die
malerischsten Punkte ausgesucht, und auch die grüne Landschaft besitzt
hier großen Reiz; fehlen auch in ganz Schantung die Wälder, so sind
doch alle Ortschaften von großen Obstgärten umgeben, und in den Feldern
erheben sich überall dunkle Cypressen- und Cedernhaine, in deren
Schatten unter mannshohen Erdhügeln die Toten ruhen auf ewig, denn
nur in den seltensten Fällen rührt der Chinese an den Gräbern seiner
Vorfahren. Schantung besitzt aber auch Königsgräber in der Gestalt
hoher Pyramiden, von deren Vorhandensein man im Abendlande bisher
nichts wußte. Jenseits von Putang, westlich von Tsingtschoufu ragen sie
aus dem grünen Meer der wallenden Felder empor, noch mysteriöser als
jene des Landes der Pharaonen. Obschon die Zeit viel von der ganzen
Anlage verwischt hat, konnte ich doch erkennen, daß dieser Friedhof
einer Königsdynastie einst großartig gewesen sein muß, großartiger
vielleicht als jene der Ming, die ich bei Peking und bei Nanking
gesehen habe. Der ganze Komplex umfaßt etwa einen Quadratkilometer
und ist durchschnittlich drei bis vier Meter über die Ebene erhaben.
Nach den aus großen Quadern aufgeführten, stellenweise noch erhaltenen
Umfassungsmauern und der ganzen Terrainbildung zu urteilen, muß
dieses ausgedehnte Plateau künstlich aufgeführt worden sein, eine
übermenschliche Arbeit. Fünf große und mehrere kleine Pyramiden liegen
nördlich des Weges, sechs große südlich desselben. Die Höhe der großen
Pyramiden, vom Plateau aus gerechnet, schwankt zwischen vierzig und
sechzig Meter; die höchsten sind jene, die sich von dem Dorfe in
südwestlicher Richtung in einer Reihe gegen einen hohen Kalkfelsen
hinziehen, auf dessen Spitze sich eine Anzahl Tempel, Opferhallen und
Steindenkmäler erheben.

[Illustration: Visitenkarte des Mandarins von Poschan.]

Wie alle Gräber in Schantung, so sind auch diese Königsgräber nur aus
Erde aufgeführt, und es wundert mich nur, daß die Form ihrer Terrassen
und Stufen so gut erhalten ist. Selbst die Wände sind glatt und vom
Regen nur wenig angegriffen. Dort wo dies der Fall ist, stellte sich
die Anfüllung als ein Gemenge von Lehm und Schutt mit zahlreichen
Scherben dar. Die Wände jedoch bestehen aus festgeknetetem und
gestampftem Lehm. Jede Pyramide hat eine breite Stufenterrasse von
zweihundert bis vierhundert Schritt Umfang und zwanzig bis dreißig
Meter Höhe, und auf dem Plateau dieses massigen Unterbaues erhebt sich,
umgeben von steinernen Inschriftstafeln, eine kleinere Stufenpyramide.
Die nördlichste Pyramide besitzt keine derartige Terrasse, sondern
steigt vom Boden in fünf mächtigen, gleichmäßigen Stufen empor,
so daß sie mich in ihrem ganzen Aussehen lebhaft an die berühmte
Stufenpyramide von Sakkara erinnerte. Leider ist es unmöglich, Näheres
über das Alter und die Bestimmung dieser Pyramiden zu erfahren, denn
der erste Kaiser der Tsindynastie, dieser Napoleon Chinas, dem es
gelungen war, all die Fürstentümer und Königreiche zu unterwerfen und
unter sein Scepter zu bringen, ließ auch alle Geschichtswerke und
Archive der verschiedenen kleinen Dynastien verbrennen.

[Illustration: Chinesische Kohlenarbeiter.]

[Illustration: Das Eingangsthor zum Taischanweg in Taingan fu.]

Der interessanteste Teil von Schantung ist jedoch das Bergland
südlich von Tsinanfu; nach all den offiziellen Besuchen, Mahlzeiten
und gesellschaftlichen Zerstreuungen chinesischer Art, wie sie der
Aufenthalt in der von vielen Mandarinen bewohnten Provinzhauptstadt mit
sich brachte, war ich froh, wieder mit meiner Karawane hinauszuziehen
in die Natur, um das heilige Land von China kennen zu lernen. Ein
Ritt von anderthalb Tagen brachte mich nach dem Mekka von China, nach
der viertausend Jahre alten Stadt Taingan. Schon aus weiter Ferne
sah ich das Wahrzeichen des heiligen Landes, den mächtigen, beinahe
zweitausend Meter hohen Taishan in die Wolken ragen. Mit Spannung ritt
ich durch das Thor der hohen Stadtmauer in Taingan ein, denn hier mußte
ich doch endlich Altertümer, Denkmäler aus der längst vergangenen
großen Zeit Chinas finden, die ich auf meinen bisherigen Reisen in
diesem ältesten Kulturlande des Erdballes vergeblich gesucht hatte. Die
tausendjährigen Städte besitzen keine Burgen, alte Mauern, malerische
Ruinen, wie sie sich in allen Ländern des Abendlandes darbieten, nun
war ich in einer der ältesten Städte der Erde, die aus der Zeit der
ägyptischen Pyramidenbauer stammt. Aber auch hier wurde ich grausam
enttäuscht. Ruinen sah ich wohl, Ruinen von großen Vorstädten und
ganzen Stadtvierteln, doch stammen sie nicht aus alten Zeiten, sondern
sind die traurigen Ueberreste, welche die wütenden Rebellen aus dem
Taipingkriege hier zurückgelassen haben. Dieser Krieg aus der Mitte des
vorigen Jahrhunderts war vielleicht der größte, blutigste, grausamste
aller Zeiten, denn ganze Provinzen von der Ausdehnung europäischer
Reiche wurden verwüstet, zwanzig Millionen Menschen getötet. An wenigen
Stellen wütete er so furchtbar wie hier, denn siebenmal drangen die
Rebellen im Laufe der Kriegsjahre in Taingan ein, plünderten und
zerstörten, was sie konnten, und das heutige Taingan ist nicht viel
besser, nicht interessanter als irgend eine andere Stadt der Provinz.
Nur der große Taishantempel, der mit seinem von tausendjährigen Cedern
und Cypressen erfüllten Park fast die ganze nördliche Hälfte der Stadt
einnimmt, ist von den Taiping verschont geblieben. Dieser Tempel ist
das Ziel von vielen Tausenden von Pilgern, die in jedem Jahre aus allen
Teilen des chinesischen Reiches hier zusammenströmen, um der „heiligen
Mutter des Taishan” zu opfern und ihren Segen zu erflehen. Als ich,
begleitet von einigen Soldaten, den Tempelpark betrat, waren gerade an
die zehntausend Pilger hier versammelt, von denen die Mehrzahl noch
niemals einen Europäer gesehen haben mochte. Natürlicherweise war
ich bald von Neugierigen umringt, und als ich gar mit Hilfe meines
Photographen den Apparat aufstellte, um die großen Tempelbauten, die
uralten Denkmäler und die Menschenmenge selbst aufzunehmen, schienen
die abergläubigen Zopfträger zu fürchten, ich wolle sie verzaubern. Ein
derartiges dreibeiniges Ding mit glänzenden Metall- und Glasplatten
hatten sie ja in ihrem Leben noch nicht gesehen. Bald begann es
Steine auf mich zu hageln, und einige Mutige machten Miene, auf mich
loszuschlagen. Da erhob ich erzürnt meinen Stock, und in demselben
Augenblicke zerstob die Menge vor mir. Meine Soldaten griffen nun
ihrerseits ein und trieben die Tausende wie eine Herde Schafe vor sich
her, den Ausgängen zu. Binnen wenigen Minuten war der Platz gesäubert,
die Thore wurden geschlossen, und ich konnte unbeirrt meine Aufnahmen
machen.

[Illustration: Pagode in Tsiu-hsien.]

Der Taishantempel von Taingan gehört zu den größten Tempeln von ganz
Ostasien; der Provinzgouverneur hatte dem Mandarin von Taingan den
Befehl zukommen lassen, den sonst nur einmal im Jahre geöffneten Tempel
für mich aufschließen zu lassen, und ich war wohl der erste Europäer,
der Gelegenheit hatte, ihn in allen seinen Teilen zu besichtigen und
Aufnahmen zu machen. Mehr als die auf einem Thron sitzende, kunstvoll
geschnitzte und vergoldete Figur der heiligen Mutter bewunderte ich
die herrlichen Malereien, welche die Tempelwände bedecken und die, aus
dem siebzehnten Jahrhundert stammend, wohl zu dem Schönsten gehören,
was die chinesische Kunst hervorgebracht hat. In einer Reihe von
Wandgemälden ist hier die Besteigung des Taishan durch den ersten
Kaiser der gegenwärtigen Dynastie dargestellt, und in Bezug auf
Farbenreichtum, Perspektive, Gruppierung der zahlreichen Figuren habe
ich auch in Japan nichts Schöneres gesehen.

Nachdem die Pilger der heiligen Mutter im Taishantempel geopfert haben,
unternehmen sie gewöhnlich zu Fuß den Aufstieg auf den gewaltigen
Granitberg, dessen Gipfel, etwa fünfundzwanzig Kilometer von Taingan
entfernt, der höchste des ganzen Berglandes von Schantung ist. Am
zweiten Morgen nach meinem Eintreffen in Taingan zog auch ich,
begleitet von meinem Photographen, durch das Nordthor der Stadt, um
die sechstausend Stufen, welche von dem ersten Drittel der Höhe zum
Gipfel führen, emporzuklettern; und mittags stand ich mitten zwischen
den zahlreichen großen Tempeln, welche das oberste Plateau des
heiligen Berges krönen. Meinen Leuten die photographischen Aufnahmen
überlassend, pilgerte ich zwischen kostbaren Bronzedenkmälern und
ungeheuren Steintafeln, welche verschiedene Kaiser hier gestiftet
haben, zu dem heiligsten der Tempel, jenem der heiligen Mutter: sie
thront auf einem rotlackierten Holzaltar, in kostbare, mit herrlichen
Stickereien geschmückte Seidengewänder gehüllt; vor ihr aber ist
der Boden des weiten Tempelraumes meterhoch mit Münzen bedeckt, den
Opfergaben der Pilger. Auch Silberstücke von verschiedener Größe liegen
zwischen den Millionen von Kupfermünzen, die in jedem Jahr einmal
von einem Abgesandten des Provinzgouverneurs hinausgeschafft werden.
Den größten Teil der zusammen immerhin mehrere hunderttausend Mark
betragenden Gaben erhält die Kaiserinmutter in Peking, ein zweiter Teil
fließt in die Taschen des Mandarins, den Rest erhalten die Mönche der
zahlreichen Klöster, welche sich auf dem Taishan befinden.

Zwei Tagereisen südlich von Taingan liegt das berühmte Kiufu, die
Vaterstadt von Confucius, und auch hier war es mir vergönnt, als
der erste Europäer den stets verschlossenen Tempel des Heiligen zu
betreten. Dank meiner Empfehlungen sandte der Herzog Confucius,
der direkte Nachkomme des großen Religionsstifters in der
sechsundsiebzigsten Generation, seine Kammerherren und fünfzig Mann
seiner grotesk uniformierten Leibgarde, um mich zu empfangen und in
den Tempel zu geleiten, der wie jener von Taingan in einem großen Park
mit mehrtausendjährigen Bäumen gelegen ist, den Taingantempel jedoch
an Größe und Pracht weitaus übertrifft. Ich habe auch in Peking, ja
selbst an den heiligen Stätten des Jyeyasu in Japan nichts Schöneres
gesehen. Die Denkmäler, Ehrenpforten, Nebengebäude, Pavillons und
Kioske strotzen von kunstvollen Holzschnitzereien, Skulpturen und
Vergoldungen, am schönsten aber präsentiert sich der ungeheure Tempel
selbst in seiner erhabenen Einfachheit. Er erhebt sich auf einer
weiten, von Balustraden aus weißem Marmor umschlossenen Terrasse,
die etwa mannshoch über dem Parkgrund gelegen ist. Zahlreiche weiße
Marmorsäulen, Monolithen, mit köstlichen Skulpturen bedeckt, stehen
vor der etwa achtzig Meter langen Fassade und tragen die Architraven
des ungeheuren zweistöckigen Daches, das ganz mit Porzellanziegeln von
gelber Farbe, der Farbe des Kaisers, eingedeckt ist. Der ganze Tempel
besitzt kein Fenster, und in dem weiten inneren Raume ist es so dunkel,
daß eine photographische Aufnahme unmöglich war. Mächtige viereckige
Säulen tragen das Dach; an den Wänden hängen mehrere Meter lange, mit
breiten geschnitzten Goldrahmen umfaßte Inschriftstafeln, Widmungen
der Kaiser verschiedener Dynastien. In der Mitte des Raumes erhebt
sich eine Art Heiligenschrein aus rotlackiertem Holz mit vergoldeten
Skulpturen, und in diesem Schrein sah ich die überlebensgroße Statue
des Confucius mit seiner Ahnentafel davor, nach dem Glauben der
Chinesen der Sitz seines Geistes. Eine Reihe von Opfertischen vor
diesem Schrein tragen zahlreiche Bronzegefäße, Urnen, Behälter für
Räucherkerzen, Statuen und dergleichen, Geschenke verschiedener Kaiser
während der letzten zweitausend Jahre. Manche dieser uralten Gefäße
stammen aus dem persönlichen Besitz des alten Confucius, eine Reihe
von seinen Manuskripten und Gegenständen des täglichen Gebrauchs aber
sind in der Familie von Vater auf Sohn durch die Jahrtausende bis heute
erhalten geblieben und befinden sich in dem Palast des gegenwärtigen
Herzogs. Das Wohnhaus des Confucius ist verschwunden, aber eine Ceder,
die er selbst gepflanzt hat, steht heute noch in dem Tempelpark.

[Illustration: Der Confuciusbaum und das Thor der goldenen Stirne in
Kiufu.]

[Illustration: Der Gipfel des Taischan.]

Auch Vater und Mutter des Confucius, sowie seinen Söhnen, Enkeln und
Aposteln sind in diesem Parke eigene Tempel geweiht, umgeben von
steinernen oder bronzenen Gedenktafeln verschiedener Kaiser. Das Grab
des Religionsstifters befindet sich etwa zwei Kilometer außerhalb der
Stadt. Eine Avenue, von tausendjährigen Baumriesen besetzt, führt
hinaus zu dieser Stätte, wo, umgeben von etwa zwanzigtausend Gräbern
seiner Nachkommen, der Heilige ruht. Ein Erdhügel von etwa zwölf Meter
Höhe bedeckt seine sterbliche Hülle, und davor steht ein einfacher
Grabstein mit seinem Namen. Auch seine nächsten Nachkommen sind hier
begraben, und in jedem Jahre versammeln sich die heutigen Träger des
Namens Confucius, oder vielmehr Kung-tse, wie er im Chinesischen heißt,
um in einer eignen Opferhalle dem großen Toten zu opfern. Dasselbe
geschieht auch in dem Confuciustempel der Vaterstadt Kiufu unter
Verbrennung von Opfern, Zeremonientänzen und Mahlzeiten, bei denen dem
Geiste des Verstorbenen von dem jetzigen Herzog Speisen und Getränke
vorgesetzt werden. Wohl zwei Drittel der etwa 18000 Einwohner zählenden
Stadt sind Nachkommen des Confucius und führen seinen Namen; die
Begräbnisstätte außerhalb der Stadtmauer ist seit 2400 Jahren benutzt
worden, und wie damals, so lassen sich auch heute noch alle Angehörigen
des Stammes Confucius hier beerdigen, selbst wenn sie tausend Kilometer
weit von Kiufu das Zeitliche gesegnet haben sollten. Wenn immer die
Mittel vorhanden sind, werden ihre Leichen hierher transportiert.

Merkwürdigerweise ist Kiufu, dieses Jerusalem von China, kein
Wallfahrtsort wie Taingan; nur selten kommen fromme Confucianer
hierher, und noch weniger wird das etwa vierzig Kilometer weiter
südlich gelegene Tsiuhsien besucht, die Geburtsstadt des größten
Apostels der Confuciuslehre, Mencius. Ich fand Tsiuhsien noch ärmlicher
und verfallener als Kiufu; bei meinem Einzug lief die ganze zerlumpte
Bevölkerung hinter mir her, und es herrschte in der Stadt große
Aufregung, so daß mir und meinen Begleitern von seiten des Mandarins
nahegelegt wurde, möglichst bald weiterzureisen. Der Ahnentempel und
die Grabstätte des Mencius ähneln jenen seines großen Lehrmeisters,
nur sind sie kleiner, einfacher, und während die Tempel des Confucius
vorzüglich erhalten sind, gehen jene des Mencius dem Verfall entgegen.
Die direkten Nachkommen des Mung-tse, dies ist sein chinesischer Name,
kümmern sich wenig darum. Die ganze Familie ist verlottert, und ihr
Haupt verdient keineswegs die in der Familie erbliche Würde eines
Mitglieds der berühmten Pekinger Hanlin-Akademie.

Von Tsiuhsien nahm ich den Weg in westlicher Richtung nach der
Gelehrtenstadt Yentschoufu, dem Sitz des kommandierenden Generals von
Schantung und einer der schönsten Städte der Provinz. Bischof Anzer,
der Leiter der deutschen katholischen Mission von Südschantung, die in
Tsining am Kaiserkanal ihren Hauptsitz hat, ließ hier eine Zweigmission
einrichten. Wie in Tsining, in Tsautschoufu und anderen Orten, wo
die Missionare ihre Thätigkeit entfalten, waren sie auch hier bis zum
letzten Jahre unaufhörlichen Verfolgungen ausgesetzt, die bekanntlich
in der Ermordung der beiden Missionare Nieß und Henle ihren Höhepunkt
fanden. Wie das heilige Grab des Confucius, so besuchte ich auch
von Tsining aus die Gräber der beiden Märtyrer, die vorläufig, bis
hinreichend freiwillige Beiträge zur Errichtung würdiger Denkmäler
einlaufen, auch nur Erdhügel nach chinesischer Art sind. Für die
Deutschen besitzen diese Gräber ungleich höhere Wichtigkeit als jene
der chinesischen Heiligen, denn die, welche unter diesen Erdhügeln
ruhen, waren die direkte Ursache, daß Deutschland sich heute einen
Hafen in China und, was mehr ist, den Handel einer großen Provinz
gesichert hat, der mit der Zeit viele Millionen eintragen wird. Des bin
ich heute, nachdem ich das ganze Gebiet durchwandert, gewiß.

In einigen Jahren werden deutsche Eisenbahnen durch die bisher fast
unbekannten Gegenden führen und sie dem deutschen Handel, der deutschen
Kultur eröffnen zum Segen ihrer selbst und zum Nutzen ihrer Erschließer.

[Illustration: Handschrift und Siegel des Präfekten von Tsining.]


[2] Näheres über Schantung und seine Merkwürdigkeiten, über die
Stromgebiete des Hoangho und Kaiserkanals, sowie über die Provinz
Petschili in Hesse-Wartegg, Schantung und Deutsch-China, Leipzig, J. J.
Weber. Preis 14 Mark.



[Illustration: Flußleben auf dem Jangtsekiang.]



Der Kaiserkanal.


Der große Wasserweg, welcher von Süd nach Nord quer durch das
chinesische Reich führend, die südlichen Provinzen desselben mit
Tientsin und Peking verbindet, ist trotz seines gegenwärtigen
Verfalls immer noch eine der wichtigsten Verkehrsstraßen des
Kontinents, ja, man könnte ruhig behaupten, nächst dem Jangtsekiang
und der transsibirischen Eisenbahn die wichtigste. Auf den wenigsten
Wasserstraßen des Erdballs dürften sich so viele Schiffe befinden wie
auf dem Kaiserkanal. Nach Zehntausenden zählen die Fahrzeuge, welche
das durchschnittlich etwa fünfzig Meter breite Bett des Kanals auf
seinem über siebzehnhundert Kilometer langen Laufe von Hangtschau
bis Tungtschau (bei Peking) bedecken. Gelegentlich meines Besuches
von Tschinkiang und Yangtschau, am Ausgangspunkte des Kanals und des
Jangtsekiang, sah ich selbst viele Tausende von Frachtbooten, welche
auf einer Strecke von vielleicht zwanzig Kilometer mit nur geringen
Unterbrechungen dicht aufeinander folgten und manchmal kilometerlange
Ketten bildeten. Noch immer wird der Tributreis auf dem Kanal nach
Peking befördert, noch immer herrscht auf dieser Wasserstraße ein
ungeheurer Warenverkehr, und hat dieser in den siebziger Jahren
vielleicht eine Verminderung erfahren, so ist er seit den letzten
drei bis vier Jahren entschieden wieder im Steigen begriffen und wird
vielleicht in ebensovielen Jahren denselben Verkehr aufweisen wie
zuvor.

Der Anblick, den diese vielen Tausende bei den Schleusen von
Tschinkiang zusammengedrängten Fahrzeuge darboten, wird mir zeitlebens
unvergeßlich bleiben. Der ganze breite Kanal war von einem Ufer zum
andern mit ihnen buchstäblich bedeckt, überhöht von einem Wald von
buntbewimpelten Masten, zwischen denen sich hier und da die Flaggen
der Mandarinboote und Kriegsfahrzeuge zeigten. Jedes Fahrzeug war
von einer Unzahl Menschen bewohnt, welche die vier bis fünf Monate
dauernde Fahrt nach Peking und die ebensolange Rückfahrt nach dem
Süden des Reiches mitmachten. Jedes der schwerbeladenen Boote besaß
auf dem Bug zwei Anker mit je vier Armen und zwischen den über den
Stern des Bootes hinausragenden Seitenwänden ein Steuerruder, das je
nach der verschiedenen Wassertiefe im Kanal gehoben und gesenkt werden
kann. An den Seiten der Boote befanden sich buntbemalte Leeboards
(Schwertbretter), welche die Chinesen ähnlich wie die Holländer zur
Sicherung der Fahrt bei seitlichen Winden herablassen. Viele Boote
waren mit grotesken Fratzen und Ornamenten bemalt, der Bug zeigte
sehr hübsche Schnitzereien, und hinter denselben zwei riesige gemalte
Fischaugen, denn die Chinesen meinen, daß auch die Boote solcher
Augen bedürfen, um ihren richtigen Weg finden zu können. Die Mehrzahl
der Boote hatten eine Ladung von 200 bis 400 Pikul (12000 bis 24000
Kilogramm) Reis, außerdem aber noch verschiedene andere Waren, denn
die Frachten der Boote, welche den kaiserlichen Tributreis nach Peking
bringen, sind von allen Zöllen und Abgaben während der ganzen Reise
befreit. Der Besitzer jedes Bootes erhält überdies von der kaiserlichen
Regierung eine Vergütung von 800 Cash (etwa 2 Mark) für den Transport
jedes Pikul Reis, im ganzen also 400 bis 800 Mark für die acht- bis
zehnmonatliche Reise, und von dieser Summe muß er die Löhne und den
Unterhalt seiner Leute, den Transport durch die vielen Schleusen und
alle sonstigen Ausgaben bestreiten. Die Summe ist nicht so gering, wenn
man die Lebensverhältnisse in China in Betracht zieht. Ich fand in den
beiden genannten Kanalstädten Hunderte von Privatbooten verschiedener
Größe, manche recht bequem eingerichtet, welche mir von den Eigentümern
für etwa zwei Mark fünfzig Pfennig für den Tag angeboten wurden, und
von dieser Summe bestreitet der Lao-pan (Kapitän) sämtliche Ausgaben,
sogar die Nahrung des Passagiers. Auch zahlreiche Omnibusboote
verkehren auf dem Kanal, und die Reisekosten betragen einen Cash,
d. h. etwa einen viertel Pfennig pro Li (575 Meter). Das Reisen in
China ist ungemein billig. Will man statt der langsamen, einförmigen,
durch Aufenthalte an den Schleusen und in den Städten unterbrochenen
Kanalfahrt lieber auf dem Landwege von Tschinkiang nach Peking reisen,
was je nach der Jahreszeit zwei bis drei Wochen Zeit erfordert, so
kostet ein zweiräderiger Karren, mit zwei Maultieren bespannt, etwa
fünfunddreißig Taels (d. h. neunzig bis hundert Mark). Dafür werden
dem Reisenden auf dem über tausend Kilometer langen Wege auch noch
luxuriöse Mahlzeiten, sogenannte San-su-san-hoen, geliefert, deren
jede aus sechs Gängen besteht.

[Illustration: Großer Confuciustempel in Kiu-fu.]

Viel schneller kommen auf dem großen Kanal freilich die Mandarinboote
vorwärts, denn diesen müssen die gewöhnlichen Frachtboote Platz machen,
und sie werden auch zur Nachtzeit durch Schleusen gelassen, was bei
den gewöhnlichen Booten nicht gestattet ist. Die Boote der höheren
Mandarine, vom Taotai aufwärts, dürfen sogar von Dampfschaluppen
gezogen werden. Diese Mandarinboote sind wahre schwimmende Paläste,
wenigstens nach chinesischen Begriffen, mit schönen Schnitzereien,
Vergoldungen, Wimpeln, Flaggen, Ehrenschildern und dergleichen
geschmückt und auch im Innern sehr bequem eingerichtet. Zu ihrer
Sicherheit werden sie zuweilen auch noch von Kanonenbooten begleitet,
deren es auf dem Kanal und den von ihm durchschnittenen Seen des
Schmuggels und Piratenwesens wegen zahlreiche giebt. Durch ihre
Wachsamkeit ist das Reisen auf dem Kanal ziemlich sicher. Uebernachtet
man auf einem, längs der Kanalufer verankerten Boote, so sind bald
eigene Wächter, sogenannte Ta-keng zur Stelle, welche für wenige
Sapeken die Nachtwache auf dem Verdeck übernehmen und alle halbe
Stunden durch heftige Gongschläge ihre Wachsamkeit anzeigen. Bei Tag
aber ist der Kanal viel zu belebt, als daß Piraten einen Angriff wagen
würden.

Woher der große Kanal den in europäischen Werken gewöhnlich gebrauchten
Namen „Kaiserkanal” bekommen hat, ist nicht recht erklärlich. In
China ist dieser Name unbekannt. Dort heißt er Yun-ho, d. h. „Fluß
für Transporte” oder Yun-liang-ho, d. h. „Fluß für Tributtransporte”.
Dabei ist der Name „Fluß” viel richtiger als Kanal, denn der Yun-ho
ist kein Kanal im europäischen Sinne. Er wurde auch nicht von einem
Ingenieur entworfen und ausgeführt, sondern ist das Werk mehrerer
Dynastien, welche Jahrhunderte lang daran arbeiten ließen, bis er seine
heutige Gestalt angenommen hat. In dem letzten Jahrhundert diente er
hauptsächlich für den Transport des Reistributes, welchen die südlichen
Provinzen zu liefern haben. In dem kaiserlichen Jahrbuch fand ich, daß
der Kiangnan jährlich einen Tribut von 1430000 Pikul (90000 Tonnen)
Reis nach Peking abführen muß, wozu vier- bis fünftausend Boote, in 65
Flottillen geteilt, erforderlich sind. Tschekiang hat 670000 Pikul,
Kiangsi 800000, Honan 220000, Schantung 350000 Pikul Reis zu liefern.
Aber diese ungeheuren Massen werden in Wirklichkeit fast niemals
aufgebracht. Eine Million Pikul im ganzen genommen, dürfte der Wahrheit
näher liegen, immerhin eine Menge, für deren Transport vier- bis
fünftausend Boote erforderlich sind.

[Illustration: Ein chinesisches Mandarinboot.]

Der Yun-ho ist selbst auf kleineren Landkarten Chinas durch eine lange
Linie bezeichnet, welche von Hangtschau in der Provinz Tschekiang
ausgehend, in hauptsächlich nördlicher Richtung den Jangtsekiang und
Hoangho überschreitend, nach Tientsin beziehentlich Peking führt.
Bei seiner Anlage wurden in geschickter Weise alte Flußläufe,
Seen, Thalniederungen benutzt, was wohl die augenblickliche Arbeit
erleichterte, den Kanal dafür aber den Ueberschwemmungen durch die
ungeheuren Ströme, welche er durchkreuzt, aussetzt. Noch in der
ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde er durch die Gewässer des
Jangtsekiang gespeist, und die Strömung war gegen Norden gerichtet;
seitdem aber der furchtbare Hoangho in den fünfziger Jahren seinen
alten südöstlichen Lauf aufgab, und statt seine Schlammfluten dem
Gelben Meer zuzuführen, dieselben durch ein neu gegrabenes Bett in den
Golf von Petschili münden ließ, haben sich auch die Verhältnisse im
Transportkanal gründlich verändert. Die jährlichen Ueberschwemmungen
des nahezu 4500 Kilometer langen, ungemein wasserreichen Hoangho lassen
auf dem ausgedehnten Inundationsgebiet erhebliche Schichten von Schlamm
und Erde zurück, und auch das Flußbett wird durch diese Ablagerungen
so beträchtlich erhöht, daß die Uferbewohner ihre Ortschaften und
Felder nur durch die entsprechende fortwährende Erhöhung der Uferdämme
schützen können. Neben diesen Ablagerungen fand, nach den Angaben
von M. Bickmore im Journal der asiatischen Gesellschaft, auch eine
allmähliche Hebung der westlich von der Halbinsel Schantung gelegenen
Länderstriche von innen heraus statt, und diese Umstände brachten
naturgemäß beträchtliche Veränderungen in dem Flußsystem zwischen
Hoangho und Jangtsekiang mit sich.

Heute ist es nicht mehr der letztere, welcher den Transportkanal
speist, und die Strömung in demselben ist auch nicht mehr nach
Norden gerichtet, sondern der Kanal erhält sein Speisewasser aus
dem großen, den Hungtsesee durchfließenden Hoaiho; ja, der Kanal
bildet gewissermaßen die Fortsetzung dieses Flusses und führt seine
Wassermassen in nördlicher und südlicher Richtung ab. Nun ist der
Wasserstand in dem Hoaiho und damit auch in dem ausgedehnten Hungtsesee
sehr heftigen und plötzlichen Schwankungen unterworfen, für welche das
durch hohe steinerne Uferdämme eingefaßte Kanalbett nicht ausreicht.
Das Gebiet westlich des Kanals, eine weite, wasserreiche Ebene,
liegt höher als das Kanalbett, das Gebiet östlich desselben bis zur
Meeresküste liegt tiefer als das Kanalbett. Der östliche Kanaldamm
ragt etwa sechs bis acht Meter über diesen, Hiaho genannten Landstrich
empor, der nichts weiter als ein ungeheurer Polder von der Ausdehnung
des Königreichs Holland ist. Wie dort, mußte auch das Hiahogebiet gegen
die Meeresfluten durch Dämme geschützt werden; wie dort, wird es von
zahlreichen Speise- und Abzugskanälen durchzogen und bildet eines der
ertragreichsten Reisgebiete nicht nur Chinas, sondern vielleicht von
ganz Asien. Noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts befand
sich hier die Mündung des Hoangho, und das ausgedehnte Tiefland war
alljährlich schrecklichen Ueberschwemmungen ausgesetzt. Seither hat
er sich nach Norden gewendet, und die Bewohner sind herzlich froh,
daß sie den unangenehmen Gesellen losgeworden sind. Allein sie wären
aus dem Regen in die Traufe gekommen, wenn die Kanalbehörden nicht
recht sinnreiche Einrichtungen getroffen hätten, um das Hiahotiefland
gegen die Wassermassen des Hoaiho zu schützen und die letzteren für
die Reiskulturen des Tieflandes dienstbar zu machen. Sie legten dazu
an verschiedenen Stellen in dem östlichen Kanaldamm Abzugsschleusen
verschiedener Art und Größe an, deren kleinste Art Tong genannt wird.
Diese Tong sind Oeffnungen von einem Meter ins Geviert, welche in
entsprechender Höhe durch den östlichen Kanaldamm führen, um das
Ueberschußwasser des Kanals in die Speisekanäle des Hiaholandes
abzulassen. Sie bleiben stets geöffnet.

An gewissen Stellen zwischen den Tong sind größere Schleusen,
sogenannte Tscha, im östlichen Uferdamme angebracht. Die Wände dieser
bis nahe an den Kanalboden reichenden Oeffnungen sind mit Steinen
und Zement bekleidet und besitzen vertikale Coulissen, welche zur
Aufnahme schwerer Holzbalken dienen, die horizontal aufeinandergelegt
werden. Reichen die Tong nicht aus, um das überschüssige Kanalwasser
abzuleiten, so werden je nach der Menge desselben ein, zwei oder
mehr dieser horizontalen Balken aus den Tscha genommen, und das
Ueberschußwasser ergießt sich in brausendem Falle in die Abzugskanäle,
welche durch das Hiahotiefland nach dem Gelben Meere führen. Im Mai
und Juni, wenn der aus den Bergen von Honan kommende Hoaiho durch
die schmelzenden Eis- und Schneemassen erheblich geschwollen ist,
reichen die Tong und Tschas nicht mehr aus, um das im Kanal sich
sammelnde Ueberschußwasser abzuführen, und dann liegt die Gefahr
nahe, daß selbst der Kanaldamm durchbrochen und damit der ganze Kanal
auf lange Strecken vernichtet wird. Um dies zu verhindern, haben die
chinesischen Ingenieure an gewissen Stellen des östlichen Kanaldammes
sogenannte Pa angelegt. Dazu wurde auf Strecken von achtzig bis
hundertzwanzig Meter Länge der östliche Kanaldamm bis nahe an den Boden
durchschnitten und durch einen leichten Aufbau aus kleinen Steinen, mit
Erde vermischt, ersetzt, der durch Reisigfaschinen zusammengehalten
wird. Steigt das Wasser im Kanal durch die Anschwellungen des Hoaiho
in gefahrdrohender Weise, so werden in diesen Pa nur ein oder zwei
mittlere Reisigfaschinen entfernt; das Wasser bricht sich nun leicht
eine Bahn durch die so entstandene Oeffnung und erweitert sie durch
seine eigene Kraft. Ist das Ueberschußwasser durch die Abzugskanäle des
Hiaholandes abgelaufen, so werden die Pa erneuert, und der Kanal ist
wieder hergestellt.

Verkehrsunterbrechungen finden im Kanal besonders im Norden recht
häufig statt. In manchen trockenen Sommern sinkt der Wasserspiegel
für einige Wochen, so daß auf kilometerlange Strecken die Wassertiefe
nur zwei bis drei Fuß beträgt und viele Boote stecken bleiben. In
kalten Wintern friert der Kanal zuweilen auch für ein bis zwei
Wochen zu, im Winter 1893 war er sogar drei Wochen lang durch eine
dicke Eisdecke geschlossen; aber im Frühjahr und Herbst kann man im
Kanal kilometerlange Reihen von Frachtbooten sehen, die mit langen
Seilen durch die Bootsmannschaften langsam vorwärts gezogen werden.
Männer, Frauen, Kinder, alles hilft ziehen, von Tagesanbruch bis
gegen neun Uhr abends, und die Wege auf beiden Kanaldämmen zeigen
zuweilen ununterbrochene Reihen von im Gänsemarsch hintereinander
einherzottelnden Chinesen. Liegen an den Kanalufern Boote vor Anker,
über welche das Zugseil der hohen Maste wegen nicht gezogen werden
kann, so springt die ganze Gesellschaft an Bord und rudert die Boote
vorwärts, bis die Bahn wieder frei ist. Dasselbe findet auch auf einer
mehrere Kilometer langen Strecke im Tschao-pe-ten statt, in welchem die
Kanaldämme unterbrochen sind. Bei günstigen Winden werden die Segel
aufgezogen, und die Bootsmannschaften können ruhen.

[Illustration: Chinesische Pyramiden.]

Die schwerste Arbeit auf der einförmigen langen Reise durch den Kanal
erfordert das Passieren der Schleusen, deren es Dutzende giebt. In
der Provinz Kiangsu allein sind deren vier, aber nicht Schleusen
nach europäischer Art, sondern das Passieren von einem Niveau zum
andern erfolgt auf steilen Rampen, über welche das durch Steinmauern
eingezwängte Wasser herabschießt. Auf diesen Mauern zu beiden
Seiten der Rampen sind hölzerne Winden (Gangspille) nach Art der
Pferdegöpel angebracht. Nähert sich ein Frachtboot einer Schleuse,
so sind auch bald achtzig bis hundert Kulis zur Stelle, mit deren
Führer der Besitzer des Bootes sich bezüglich des Preises einigen
muß. Gewöhnlich beträgt er 1000 bis 2000 Cash. Dann wird das Boot
an die Seile der Winden festgebunden, die Kulis stellen sich an die
langen hölzernen Arme der Winden, und unter furchtbarem Schreien und
Lärmen wird das Boot langsam die Rampe emporgezogen, bis es sich auf
dem höhern Wasserspiegel befindet. Während dessen beten und opfern
die Bootseigentümer den Kanalgöttern. Das Passieren von einem höhern
Wasserspiegel zu einem tiefern geht leichter vor sich und kostet
dementsprechend auch weniger.

Auch durch die zahlreichen Zollstationen werden die Boote, besonders
jene der Missionare und Geschäftsreisenden, in ihrer Fahrt erheblich
aufgehalten. Alle acht bis zehn Kilometer trifft man auf ein Zollamt,
dessen Einnahmen entweder den kaiserlichen Kassen oder lokalen
Mandarinen zufließen, und bei jedem Zollamt müssen sich die Boote die
Untersuchung durch die Zollbeamten gefallen lassen. Nur die Boote des
kaiserlichen Reistributs und jene der Mandarine dürfen die Zollämter
ungehindert passieren, ja bei hohen Mandarinen müssen sich die
Zollbeamten in ihre Staatskleider werfen und den Reisenden durch den
Kautau ihre Ehrfurcht bezeigen.

Damit den lokalen Mandarinen ja keine Einnahmen entgehen, wird der
Kanal bei mancher Zollstation zur Nachtzeit durch ein Holzgitter
gesperrt und erst bei Tagesanbruch wieder geöffnet. Am großartigsten
sind die Ansammlungen von Frachtbooten in Hangtschau am Südende und in
Tungtschau am Nordende des Kanals, ferner in Tschinkiang und Tientsin.
Man kann dort häufig viele Tausende von Booten versammelt sehen, die
so dicht aneinander liegen, daß man den Kanal mitunter trockenen
Fußes, von einem Boot auf das andere springend, übersetzen kann. Von
verschiedenen chinesischen Transportgesellschaften wurden seit Jahren
Versuche gemacht, die Erlaubnis zur Einführung von Schleppdampfern
zu erlangen, die den Verkehr ungemein erleichtern würden. Allein sie
scheiterten an dem Widerstand der Regierung, die vielleicht nicht so
sehr den Neuerungen widerstrebt, als das Auswaschen und Zerfallen
der Kanaldämme durch den heftigen Wellenschlag befürchtet. Die
Instandhaltung des Kanals verschlingt in jedem Jahre ohnehin schon
ungeheure Summen, und ihn für den Dampferverkehr einzurichten, dürfte
bei den gegenwärtigen Verhältnissen eine Unmöglichkeit sein.

Obschon der Kaiserkanal den weitaus wichtigsten Verkehrsweg zwischen
dem Süden und Norden Chinas bildet, ist er seltsamerweise von
europäischen Reisenden nur streckenweise befahren worden, ja ich glaube
nicht, daß einer von ihnen jemals den ganzen Weg von Hangtschou, dem
südlichen Anfangspunkte des Kanals, und Peking, eine Strecke von über
achtzehnhundert Kilometern, zurückgelegt hat.

Nachdem ich den südlichen Teil des Kaiserkanals auf früheren Reisen
kennen gelernt hatte, bot sich mir im Jahre 1898 Gelegenheit, auch die
nördliche, gegen fünfhundert Kilometer lange Strecke, zwischen der
Nordgrenze Schantungs und Peking, zu bereisen. Auch hier könnte ich
meine Vorgänger an den Fingern einer Hand abzählen, und wie mir der
Kapitän meines Schiffes selbst mitteilte, war ich der erste Europäer,
den er überhaupt gesehen, einzelne Missionare ausgenommen. Eine solche
Reise ist keineswegs mit besonderen Annehmlichkeiten verknüpft. Schon
beim Aufstehen von dem erbärmlichen Nachtlager auf der Dschunke
beginnen die Schwierigkeiten mit dem Waschen. Wohl fuhr ich auf einem
wasserreichen Kanal einher, aber sein Wasser ist womöglich noch
ärger mit Erde und allerhand Unrat geschwängert als jenes des großen
Hoangho, den ich kurz zuvor befahren hatte. Schwimmen doch auf seinem
schmalen Bette zwischen Tschingkiang und Tientsin Hunderttausende von
Booten, während des Sommers und Herbstes dürften über eine Million
Menschen auf ihm wohnen, und der Kanal nimmt den ganzen Unrat auf.
Der schlammige Kanalgrund wird durch die zum Vorwärtsstoßen der Boote
benutzten Stangen fortwährend aufgerührt, so daß sich das Wasser im
Glase vollständig undurchsichtig zeigt. Ich hätte es nicht mit dem
Mikroskop untersuchen mögen. Und doch ist dieses Kanalwasser das einzig
vorhandene im Umkreis von vielen Kilometern; die Landleute benutzen
es zum Bewässern ihrer Felder, die Bewohner der vielen, längs des
Kanals liegenden Städte und Dörfer zum Trinken, ja es soll nach der
Aussage der Missionare, die ich in den Städten sprach, sogar sehr
gesund sein, wenn sich die darin schwimmenden Schlammteilchen durch
mehrstündiges Stehen auf dem Boden abgelagert haben. Filter fand ich
nirgends in Verwendung. Ich ließ mir gewöhnlich am Abend mehrere Gefäße
vollschöpfen, und des Morgens war das Wasser hinreichend klar geworden,
um wenigstens zum Waschen benutzt zu werden. Zu meinem Thee hatte ich
mir aus den Gebirgen von Mittel-Schantung Quellwasser, in geleerte
Apollinarisflaschen gefüllt, mitgenommen. Wohl giebt es auch in dem
ganzen Gebiete zwischen dem Kaiserkanal und den Küsten des Golfes
von Petschili zahlreiche Quellen, aber das Wasser ist überall erdig,
in vielen Orten auch übelriechend und ungesund, so daß die Einwohner
das Kanalwasser als ein wahres Labsal zu betrachten scheinen. Es
ist wenigstens fließendes Wasser. Die vielen Flußläufe, die auf den
Landkarten dieses Gebietes verzeichnet sind, haben den größten Teil des
Jahres über keinen Tropfen Wasser oder existieren überhaupt nicht. Der
wichtigste dieser Flußläufe ist der Lao-Huang-Ho, nämlich das Flußbett
des Hoangho vor etwa tausend Jahren. Im Grunde genommen sind auch alle
anderen Flußläufe südlich und nördlich davon, bis an den Peiho, nichts
anderes als alte Flußläufe des Hoangho, der in seiner Unbeständigkeit
sich bald hierhin, bald dorthin wandte, ja man könnte füglich
behaupten, daß an den ganzen Küsten des Gelben Meeres von Tientsin bis
an die Mündung des Jangtsekiang keine Strecke von hundert Kilometern
liegt, wo der Hoangho nicht einmal seine Mündung gehabt hätte. Nun
haben sich aus früheren Zeiten die einmal angegebenen Flußläufe auf
den Landkarten erhalten und sind auch in die neueste Wäbersche Karte
aufgenommen worden, so daß dieses Gebiet aussieht, als sei es von
wasserreichen Flüssen durchzogen, während das gerade Gegenteil der Fall
ist.

Die Städte und Dörfer, die ich passierte, liegen zum Teil in Ruinen.
Auf der ganzen Strecke zwischen dem Hoangho und Tientsin befindet sich
keine Schleuse, keine Brücke, erst in der Nähe der Millionenstadt
Tientsin sah ich wieder Zeichen ähnlicher Wohlhabenheit wie in der
Provinz Schantung; der Verkehr auf dem Kanal wurde immer lebhafter,
immer gefährlicher. Aber geschickt manövrierten Kapitän und
Mannschaften zwischen den zahlreichen Booten hindurch, obschon sie nach
der fünf Tage und fünf Nächte dauernden, fast ununterbrochenen Fahrt
todmüde waren. Die Kulis standen mit langen Enterhaken bewaffnet auf
dem Bug, und wollten Schiffe ihrem Geschrei nicht weichen, so benützten
sie rücksichtslos die langen Stangen, ja sie hakten sie in die fremden
Boote ein, um das unsere rascher vorwärts zu ziehen, ohne daß die
Insassen derselben Protest erhoben hätten. Meine in roten Uniformjacken
steckenden Geleitsoldaten und die Flagge auf meinem Boote mochten
sie glauben machen, es befände sich ein hoher Mandarin an Bord, und
Mandarine erfreuen sich auf Reisen der umfassendsten Privilegien.

An den Ufern mehrten sich die Ansiedlungen, Dörfer, Städte, ja ich
gewahrte mitten in dem Gewirre von Häusern, Tempeln mit kurios
geschwungenen Dächern und mehrstöckigen Pagoden schon große Fabriken
mit rauchenden Schornsteinen, das sicherste Zeichen europäischer Kultur
und der Nähe einer europäischen Niederlassung. Der Kanal war hier
an sechzig bis achtzig Meter breit, und hatte schon auf der bisher
zurückgelegten Strecke der ungemein lebhafte Verkehr mein Staunen
erweckt, so überstieg derselbe hier in der Nähe von Tientsin alles, was
ich in China bisher gesehen. Es war im Grunde genommen begreiflich,
denn der Kanal ist ja eine große Verkehrsroute, ähnlich wie eine
unserer Haupteisenbahnlinien. Auf diesen sehen wir vielleicht alle
Viertelstunden Züge laufen, aber die Größe des Verkehrs lernen wir erst
in den Bahnhöfen der Hauptstationen kennen. Tientsin ist eine derartige
Hauptstation des Kaiserkanals, sogar die wichtigste und größte
desselben auf seinem ganzen achtzehnhundert Kilometer langen Wege von
Hangtschou bis Tungtschou bei Peking. Bei einer nach Hunderttausenden
zählenden Menge von Fahrzeugen kann man sich leicht vorstellen, was das
heißt. Schon einige Kilometer vor Tientsin war der Kanal von diesen
Booten buchstäblich bedeckt; lange Reihen davon lagen dicht neben-
und ineinander, vielleicht fünfzig oder noch mehr der Breite nach
von Ufer zu Ufer, und das Fortkommen wurde so schwierig, daß meine
Bootsleute das Segel einziehen und, sich mit Händen und Füßen gegen die
umliegenden Boote stemmend, den Weg für mein Fahrzeug bahnen mußten.

Es dauerte mehrere Stunden, ehe wir wirklich nach der Millionenstadt
Tientsin gelangten. Obschon ich diese zweitgrößte Stadt des Reiches
der Mitte von früher kannte, sah ich doch erst diesmal den am meisten
malerischen, eigenartigsten Teil derselben, jenen, in welchem sich
der großartigste Verkehr von ganz China konzentriert. Vom Verdecke
meines Bootes sah ich das Häusermeer dieser großen Handelsmetropole
mit ihren bis in den Kanal gebauten Warenlagern. Auf beiden Ufern
drängten sich Hunderttausende geschäftiger Menschen mit Lasten beladen,
Lasten ziehend, Karren führend, im Karren sitzend, zu Pferd oder
Maultier oder in Sänften getragen; in den engen Straßen wälzte sich
diese Menschenmasse, absonderlich, bunt, lärmend, gestikulierend,
auf und nieder. Buntbemalte Mauern, Pagoden, Tempel, Ehrenpforten,
Mandarinsyamen mit hohen Flaggenstangen, Tausende von bemalten
oder vergoldeten Aushängeschildern in den Straßen, Farbe, Leben,
Bewegung, Lärm überall, am meisten aber auf dem Kanale selbst, wo sich
Zehntausende von Booten drängten, Boote in allen Farben, mit grotesken
Ornamenten bemalt, mit roten Beschwörungszettelchen beklebt; auf dem
Bug glotzten ungeheure Fischaugen, auf den Masten wehten lustig bunte
Wimpel, am Steuer flatterten allerhand Flaggen mit eigentümlichen
großen Schriftzeichen, und auf jedem Verdeck arbeiteten, schrieen
Dutzende von Menschen. Die Boote waren so dicht nebeneinander, daß ich
bequem, von einem zum andern springend, ans Festland hätte gelangen
können. Wo diese Boote wohl herkamen? Wo sie hinwollten? Was sie für
Lasten, für Waren haben mochten? Die Menschen, die sie bemannten, waren
in ihrem Aussehen verschieden, sie sprachen verschiedene Sprachen,
stammten aus den verschiedensten Teilen dieses ungeheuren, einen
halben Kontinent umfassenden Reiches, aber es waren doch durchweg
Chinesen, nicht ein einziger Angehöriger einer fremden Nation befand
sich unter ihnen, nur ich allein. Selbst in Canton oder Peking oder
Shanghai habe ich keinen so großartigen, so erdrückenden Eindruck des
ungeheuren Handels und Wandels der Chinesen bekommen wie hier, während
der Stunden, die ich mit meinem Boote auf dem Kaiserkanal in Tientsin
zubrachte.

Mit unglaublichen Anstrengungen hatten wir endlich die große Brücke
erreicht, welche die beiden Stadthälften miteinander verbindet, und auf
welcher täglich Hunderttausende von Menschen, Wagen, Karren, Pferden,
Maultieren, Kamelen verkehren; doch ist diese Brücke vielleicht die
elendeste irgend einer Großstadt des Reiches. Auf unförmigen Pontons
liegen lose Querbalken, zerfahren, holperig, mit Löchern und fußbreiten
Spalten, ohne Geländer gegen das Wasser, so daß nicht selten Passanten,
ja Wagen und Pferde darüber hinausgedrückt werden und in den Kanal
stürzen.

Mein Kapitän meinte, hier müßte ich landen, denn die Brücke könnte
nicht geöffnet werden. Das Landen und Ausladen meiner Gepäckstücke
war aber inmitten dieses Wirrwarrs zu Wasser und zu Lande eine
Unmöglichkeit. Ich sandte also meinen Boy mit meinem Reisepaß zum
Brückenmandarin mit der Bitte, die Brücke öffnen zu lassen. Eine halbe
Stunde verrann, dann erhielt die Brückenmannschaft den Befehl, mein
Boot durchzulassen. Gongschläge warnten die Passanten. Wie besessen
stürzten noch alle, die auf der Brücke waren, hinüber und herüber,
die Kutscher hieben auf ihre Pferde ein, daß die Karren aus den
holperigen Balken fußhoch emporsprangen. Die Sänftenträger rannten,
was sie konnten, und selbst als die Brücke schon ein, zwei Schritte
weit geöffnet war, sprangen noch die guten Leutchen über den Spalt.
Endlich war der Raum breit genug, um durchzufahren. Jenseits aber
war das Gedränge der Boote womöglich noch dichter, und ich sah gar
keine Aussicht, durchzukommen. Da nahte sich mir, von Boot zu Boot
springend, ein junger Mandarin, das bezopfte Haupt von einem Tellerhute
mit weißem Knopfe bedeckt, in der Rechten eine Waffe wie eine lange
Cirkuspeitsche. Der Peitschenstiel war ein dickes Bambusrohr, so lang
wie eine Angelrute, und daran hing ein mehrere Meter langer, mehrfach
geknoteter Strick. Nachdem er vor mir den Kautau gemacht, stellte er
sich auf den Bug meines Bootes und übernahm die Führung desselben auf
so eigentümliche und geschickte Art, daß ich ihn wahrhaftig bewunderte.
Er schrie nicht und gestikulierte nicht, ganz gegen alle Chinesenart.
Er gebrauchte nur seine Peitsche. Mit raschem Blick hatte er die
Sachlage übersehen und wußte genau, auf welchem Wege er mich durch das
Labyrinth von Booten in freies Fahrwasser bringen konnte. Dazu mußten
die Boote, die fünf, sechs Reihen breit vor uns lagen, Platz machen.
Er sprang zunächst über mehrere hinweg und ließ dann seine Peitsche
sprechen. Mit unglaublicher Sicherheit fiel das Peitschenende auf den
Rücken des betreffenden Kapitäns, und kaum hatte dieser den Schlag
empfangen und, sich umwendend, den Mandarin erkannt, als er auch schon
sein Boot weiterführte, um dem nächsten Platz zu machen. Abermals
spielte die Peitsche, das zweite Boot wurde in den vom ersten geräumten
Platz gedreht, und so ging es fort, bis wir um eine Bootslänge vorwärts
konnten. Dann wiederholte sich die Taktik des Mandarins bei der
nächsten Reihe, dann bei der dritten, und eine halbe Stunde später
waren wir im freien Fahrwasser. Nun machte der Mandarin wieder seinen
Kautau, nahm von mir einen Vierteldollar Trinkgeld dankbar entgegen und
ließ sich, auf das nächste Boot springend, von diesem ans Ufer rudern.

Ich war in Tientsin. Zu meiner Linken erhob sich der Yamen des
Vicekönigs von Petschili, während so langer Jahre die Residenz von
Li-Hung-Tschang, und ein paar hundert Schritte weiter sah ich die
neuerstandene französische Kirche mit ihren Türmen und kaiserlichen
Schutztafeln, im Jahre 1897 aus den Trümmern jener Kirche wieder
erbaut, die vor einunddreißig Jahren von fanatischen Chinesen
geplündert und verbrannt worden war. Eine Stunde später legte mein Boot
am Bund der europäischen Ansiedelung, dem Astor Hotel gegenüber, an,
meine Irrfahrten im chinesischen Lande waren vorüber, ich befand mich
wieder unter Europäern.

[Illustration: Meine Bootsleute auf dem Kaiserkanal.]



Tientsin.


Von Tientsin wird im Abendlande vielfach als von einer Seestadt, dem
Hafen Pekings und der Hauptstadt der Provinz Petschili, gesprochen;
aber alle drei Bezeichnungen sind nur in beschränktem Grade richtig.
Tientsin ist keine Seestadt, sondern liegt etwa fünfzig Kilometer
vom Meere entfernt; es ist wohl in mancher Hinsicht der Vorhafen von
Peking, hat aber die Hauptstadt des Reiches der Mitte an Bedeutung und
Größe weitaus überflügelt. Während man Peking als eine Millionenstadt
anzusehen pflegt, besitzt es thatsächlich kaum eine halbe Million
Einwohner; dagegen hat Tientsin deren weit über eine Million und ist
nach Canton die bevölkertste Stadt von China, in seinem Verhältnis zu
Peking etwa ähnlich wie Amsterdam oder Rotterdam zum Haag; Tientsin
ist auch nicht die Hauptstadt der Provinz Petschili, diese ist das
kleine Paoting-fu. Der Umstand, daß der letzte Vicekönig der Provinz,
Li-Hung-Tschang, den größten Teil des Jahres in Tientsin zu verweilen
pflegte, mag die Ursache dieses Irrtums sein.

[Illustration: Der chinesische Glücksgott.]

Tientsin, zu deutsch Himmelsfurt, ist im Grunde genommen eine
Inlandstadt, rings umgeben von weiten, vollkommen flachen Niederungen,
in denen man vergeblich einen Felsen oder auch nur einen Stein
suchen würde. Auf Hunderte Kilometer nach Nord und Süd ist das
Land Alluvialboden, die Anschwemmung des von Nordwesten kommenden,
wasserreichen Peihoflusses, zu deutsch „Fluß des Nordens”, dessen
Schlamm- und Erdmassen mit der Zeit die Westhälfte des Golfs von
Petschili ausfüllen werden. Schon jetzt wird die Schiffahrt in dem
Golf durch zahlreiche Untiefen erschwert, und die Barre, welche der
Peihofluß vor seiner Mündung aufgeworfen hat, macht es den Dampfern
unmöglich, zur Ebbe in den Fluß einzufahren. Richten die Seedampfer
ihre Abfahrtszeit von Shanghai oder Tschifu nicht so ein, daß sie zur
Flutzeit die Peihomündung erreichen, so müssen sie vor der Barre liegen
bleiben, und oft sehen die Passagiere der ankommenden Dampfer dort ein
Dutzend oder mehr Schiffe vor Anker liegen.

Haben die Lotsen die Dampfer glücklich über die Barre geführt, so
dauert es immer noch einen Tag Flußfahrt, um Tientsin zu erreichen,
denn obschon die geradlinige Entfernung von dieser Handelshauptstadt
des nördlichen China nur etwa fünfzig Kilometer beträgt, muß das
Schiff doch auf seiner Fahrt den vielen Flußwindungen folgen, welche
diese Entfernung mehr als verdoppeln. Diese Flußfahrt ist wohl eine
der eintönigsten, die man unternehmen kann, an jene auf dem unteren
Mississippi zwischen dem Golf von Mexico und New-Orleans erinnernd.
Ganz wie dort, befindet sich auch hier an den schlammigen Mündungen ein
elendes Dorf, die Wohnungen der Lotsen und Fischer enthaltend, das in
der neuesten Geschichte Chinas so berühmt gewordene Taku, zu deutsch
Große Mündung. Von der Schiffsbrücke gewahrt man in der Ferne die
langen Linien der Takuforts, welche auf Veranlassung Li-Hung-Tschangs
zum Teil von deutschen Ingenieuren erbaut und mit deutschen Geschützen
armiert worden sind. Je weiter der Dampfer stromaufwärts dringt, desto
zahlreicher werden die menschlichen Ansiedelungen, elende Dörfer
mit strohgedeckten Lehmhütten, deren Farbe von jener der weiten
staubbedeckten Ebene kaum absticht. Soweit man sehen kann, kein Baum,
kein Strauch; Grabhügel sind streckenweise die einzigen Erhebungen über
dem Boden, Gräber, Tausende und Abertausende an der Zahl, einzeln oder
gruppenweise beisammen, wahre Totenstädte. An manchen Stellen werden
sie von hohen, schmutzigweißen Salzpyramiden oder Ziegelbrennereien
überragt.

An den Ufern des schmutziggelben, etwa ein Kilometer breiten Stromes
tummeln sich zwischen zahllosen schwarzen Schweinen nackte Kinder umher
und baden sich in der Brandung, welche der Dampfer aufwirft. In der
Umgebung der Dörfer arbeiten fleißige Mongolen in den Getreide- und
Reisfeldern. Mit einem ungeheuern Strohhut als einziger Bekleidung,
versetzen sie die zarten Reispflanzen, graben oder schöpfen Wasser aus
dem Fluß; an manchen Uferstellen knarren und quietschen Wasserräder,
von Büffeln getrieben, auf deren Rücken kleine Chinesen hocken; hier
und da wird das Wasser auch von Windmühlen emporgehoben, die aber
nicht, wie die unserigen, ihre Segel auf senkrechten, sondern auf
wagerechten Flügeln tragen und aussehen wie riesige Haspelräder. Armut
und Elend, wohin man blickt. Selbst die zahlreichen Dschunken, welche
den Fluß bevölkern, sehen ärmlich und schmutzig aus im Vergleich zu
jenen von Canton und Futschau.

[Illustration: Pagode von Tsiu-hsien.]

[Illustration: Die Takustraße in Tientsin.]

[Illustration: Fort des Gouverneurs von Tientsin.]

Nur mühsam kommen die großen Dampfer in dem vielgewundenen Strome
vorwärts. Zuweilen fahren sie beim Ausweichen anderer mit dem Bug
in ein Reisfeld und können nicht weiter vorwärts; dann müssen die
chinesischen Schiffskulis ans Land, um mit Seilen und Stangen das
Schiff wieder in den Strom zu bringen. Die Passagiere auf dem Verdeck
haben fortwährend ihre Plätze zu wechseln, wollen sie sich gegen die
Sonnenglut schützen; bald scheint die Sonne von rechts, bald von links,
bald von hinten oder vorn, so stark sind die Flußkrümmungen, denen
das Schiff folgen muß. Sie bringen die Passagiere fortwährend aus der
Orientierung. Ortschaften, die man auf der einen Seite gesehen hat,
gewahrt man bald darauf auf der andern; dieselben Schiffe sieht
man bald nach Westen, bald nach Osten dampfen, und dabei hat es den
Anschein, als führen sie auf dem trockenen Lande, denn vom Flusse
selbst hat man seiner Krümmungen wegen gewöhnlich nur ein kurzes Stück
vor sich.

Diese Tiefebene wäre ein reich gesegneter, fruchtbarer Länderstrich,
würde sie nicht so häufig von furchtbaren Ueberschwemmungen,
abwechselnd mit anhaltender Dürre, heimgesucht werden. Die
Verwüstungen, welche die Elemente hier zeitweilig anrichten, spotten
der Beschreibung.

Unter solchen Verhältnissen darf der Reisende über die Armut und das
Elend, welches auf der Tiefebene zwischen Taku und Tientsin ihm überall
entgegentritt, nicht überrascht sein. Im Gegenteil, es ist zu staunen,
daß die Bevölkerung innerhalb der letzten Jahre mit so großem Fleiß
wieder die Kulturen hergestellt, die Dörfer wieder aufgebaut hat. Die
Zahl der letzteren mehrt sich, je näher man an Tientsin herankommt.
Auch die Vegetation wird üppiger, man gewahrt sogar den lange auf
weiten Strecken vermißten Baumwuchs. Gegen Nordwesten erscheinen die
zahlreichen rauchenden Schornsteine und Gebäude des von Li-Hung-Tschang
geschaffenen Arsenals, und bald darauf geht der Dampfer vor der
Fremdenstadt am Tientsin vor Anker.

Engländer, Deutsche und Amerikaner, im ganzen kaum tausend Seelen,
haben hier und am Südufer des etwa 120 Meter breiten Stromes ein
kleines, reizendes Städtchen geschaffen. Mit seinen geraden, von Bäumen
beschatteten Straßen und hübschen einstöckigen Häusern in modernem
Baustil ließe dasselbe ganz vergessen, daß man sich nicht in Europa,
sondern im nördlichen China befindet, wenn nicht auf dem schattigen
Bund und an dem davorliegenden Flußufer Tausende langbezopfter
Chinesen schreiend und stoßend sich drängen würden, beladen mit Kisten
und Säcken, Lasten aller Art, die aus den Schiffen auf den Bund
getragen und dort bergehoch aufgetürmt werden. Tientsin ist ja der
Hauptstapelplatz und Hauptmarkt des ganzen chinesischen Nordostens, und
dabei ist die Geschäftszeit auf neun Monate im Jahre beschränkt. Von
Mitte Dezember bis Mitte März ist der Fluß, die große Verkehrsstraße,
von welcher Tientsin lebt, gewöhnlich durch Eis gesperrt, und obschon
die Chinesen auch dann noch Waren mittels Segelschlitten flußauf und
flußab befördern, reicht dieser Transport über das Eis doch lange
nicht hin, um den gewaltigen Warenverkehr zu bewältigen. Immer höher
werden die Warenberge auf dem Bund; jenseits des Flusses, auf dem
Nordufer, gewahrt man noch höhere Berge von Getreide- und Reisfässern,
Theekisten, dazu große Pyramiden von Salz, das gerade in der Umgebung
von Tientsin massenhaft gewonnen wird und ein Monopol der chinesischen
Staatsregierung bildet. Neben diesen Artikeln bilden die Hauptausfuhr
Tientsins: Bohnen, Strohgeflechte, Erbsen, Datteln, Kamelhaar,
Schafwolle und dergleichen, während die Haupteinfuhrartikel Opium,
Baumwollstoffe, Fensterglas, Zucker, Stahl- und Eisenwaren, endlich
Papier sind. Der Handel, hauptsächlich in den Händen englischer und
deutscher Firmen liegend, ist in den letzten Jahren sehr bedeutend
gestiegen, und Tientsin ist heute die dritte Handels- und Hafenstadt
Chinas, nur von Hankau und Shanghai übertroffen.

In der Fremdenkonzession von Tientsin, von den Chinesen „Tze-ku-lin”,
d. h. Bambusgebüsch, genannt, waren nach dem letzten Bericht des
chinesischen Zolldirektors 16 englische, 15 deutsche, 5 französische
und je 3 amerikanische, japanische und russische Firmen ansässig, mit
852 Europäern, darunter 380 Engländer, 200 Amerikaner und 60 Deutsche.
Gerade so wie Shanghai, besitzt auch Tientsin auf seiner Konzession
mehrere Klubs (darunter einen deutschen), Kirchen, Hotels, Konsulate,
Kaufläden, und das gesellige Leben ist ein sehr reges. Die dort
erscheinende Wochenschrift Peking and Tientsin Times ist eines der
besten fremdsprachlichen Blätter von China.

Etwa drei Kilometer oberhalb der Fremdenkonzession oder dem Settlement,
wie es die Europäer nennen, dehnt sich an beiden Ufern des Peiho die
Chinesenstadt Tientsin aus. Die innere Stadt ist ebenso wie die
meisten andern Städte mit einer Ringmauer umgeben, über welche hinaus
sich in den letzten Jahrzehnten mehrere große Vorstädte entwickelt
haben, volkreicher, belebter und geschäftiger als die innere Stadt. Um
diese Vorstädte und das fremde Settlement wurde in den siebziger Jahren
noch eine zweite Erdmauer und ein breiter tiefer Wassergraben gezogen
in einem Umfang von über dreißig Kilometern. Etwa im Stadtmittelpunkte
von der Südseite her mündet der Große Kanal, der allerdings durch die
Seeschiffahrt und langjährige Vernachlässigung von seiner früheren
Bedeutung etwas verloren hat, aber immerhin noch in hervorragender
Weise zur Warenbeförderung benutzt wird.

[Illustration: Deutsches Klubhaus in Tientsin.]

Für die Fremden, welche schon andere chinesische Städte kennen gelernt
haben, bietet die Millionenstadt Tientsin nur sehr wenig von Interesse.
An Sehenswürdigkeiten nach unseren Begriffen hat sie kaum irgend etwas
aufzuweisen. Sie besitzt keine großen Tempel, Pagoden, Plätze, Paläste;
die Wohnungen der Reichen sind gewöhnlich von hohen Mauern umschlossen
und auch vom Yamen des früheren mächtigen Vicekönigs ist nichts zu
sehen als die große, von Soldaten bewachte Pforte. Selbst wem vergönnt
war, in das Innere des Yamens zu dringen und von Li-Hung-Tschang
empfangen zu werden, wird außer der gewaltigen Persönlichkeit des
letzteren wenig bleibende Eindrücke mit sich genommen haben. Wie
alle anderen Yamen in den Provinzhauptstädten enthält auch jenes von
Tientsin mehrere Höfe mit ebenerdigen Gebäuden, die sich keineswegs
durch ihre Architektur oder durch besondere Reinlichkeit auszeichnen.
Nur hat der Vicekönig, seiner Vorliebe für fremdländische Einrichtungen
entsprechend, zwei oder drei Räumlichkeiten neben seiner Privatwohnung
europäisch möblieren lassen.

[Illustration: Schubkarrenequipage.]

Das einzige, wodurch sich Tientsin vor anderen chinesischen Städten,
besonders den südlichen auszeichnet, sind seine breiten Straßen und das
ungemein rege Leben, das sich in ihnen zeigt. Ich habe dasselbe bereits
im vorstehenden Kapitel geschildert. Nirgends, weder in Shanghai noch
in Canton, noch in Hankau wird man einen derart lebhaften Verkehr
finden wie hier, in der Stadt sowohl wie auf dem Flusse. Auf dem
letzteren drängen sich die alten malerischen Dschunken, chinesische
Kanonenboote, Schleppdampfer, Ruderboote so sehr, daß sie mitunter
das Flußbett vollständig bedecken und man des Wassers kaum ansichtig
wird. Und trotz der großen Breite der Straßen kann man sich oft nur
mit Mühe zwischen den Menschen, Kamelen, Maultieren, Eseln, Lastwagen
und Schubkarren Bahn brechen. Wohin der Weg auch führen mag, überall
dasselbe rege, lärmende Leben, derselbe Verkehr. Die ganze Bevölkerung
scheint tagsüber auf der Straße zu sein und dringenden Geschäften
nachzujagen, als wären sie lauter Börsenspieler, bei denen in Minuten
Tausende auf dem Spiele stehen. Im Gegensatz zu den engen Gäßchen der
zweiten Millionenstadt Chinas, Canton, welche einen anderen Verkehr
als zu Fuß oder in der Sänfte gar nicht ermöglichen, wird hier viel
auf Maultieren und Eseln geritten, und an den Straßenecken stehen
tagsüber lange Reihen dieser Tiere, gesattelt und auf Kunden harrend,
wie in unseren Städten die Droschken. Auch die japanische Rickshaw, der
zweiräderige, von Kulis gezogene Handwagen, hat hier schon ebenso wie
in Shanghai ihren Einzug gefeiert, aber für die unteren Volksklassen
der Chinesen ist doch der Schubkarren noch immer das beliebteste
Beförderungsmittel geblieben, weil es das wohlfeilste ist. Die Chinesen
benutzen diese Schubkarren nicht nur für Personenverkehr, sondern
auch zum Transport kleinerer Lasten, der Hauptfrachtenverkehr aber
wird durch die Kamele und zweiräderigen Lastkarren vermittelt, beides
Erscheinungen, die in den südlich gelegenen Städten und selbst noch in
Shanghai unbekannt sind. Sie bringen einige Abwechselung in die sonst
große Eintönigkeit des chinesischen Straßenverkehrs, der, wie bemerkt,
in solcher Lebhaftigkeit nicht nur in China, sondern auch in ganz Asien
nur an wenigen Orten angetroffen wird.

[Illustration: Katholische Kirche in Tientsin.]

Mitten in Tientsin, an den Ufern des breiten, lebhaften Stromes,
erhebt sich seit Ende der neunziger Jahre wieder die katholische
Kathedrale, welche in dem berüchtigten Aufstand des Jahres 1870 von
fanatischem Pöbel am 21. Juni zerstört worden war. Mit ihr wurden
damals das französische Konsulat und das Kloster der Lazaristen
verbrannt, die Priester, Nonnen und eine Anzahl anderer Europäer
wurden in grausamster Weise ermordet. Die chinesische Regierung wurde
veranlaßt, den Hinterbliebenen eine Entschädigung von zwei Millionen
Taels zu zahlen und die zerstörten Gebäude wieder zu errichten, aber
es hat beinahe drei Jahrzehnte gebraucht, bis diese Gebäude vollendet
waren. Heute erheben sich vor der imposanten Kathedrale auf einer
gemauerten Plattform noch zwei offene Pavillons, welche steinerne
kaiserliche Schutztafeln bergen, zur Verhinderung ähnlicher Angriffe
seitens des fremdenfeindlichen Pöbels. Von dem vielgerühmten Wirken
des langjährigen Vicekönigs von Tschihli, Li-Hung-Tschang, sieht
man in Tientsin ebenso wie in der Provinz nur wenig. Er hat seine
Thätigkeit hauptsächlich der Einrichtung von Verteidigungsmitteln
zugewendet, wohl in Vorahnung des Krieges mit den Japanern; er hat die
Kriegsmarine von China geschaffen, die Festungswerke an der Mündung
des Peiho und weiter stromaufwärts anlegen lassen, das Arsenal gebaut,
eine Kriegsschule, sogar ein Hospital gegründet; während früher der
Frachtenverkehr zur See zum weitaus größten Teile durch Schiffe unter
fremdländischen Flaggen vermittelt wurde, ist es ihm zu danken, daß
eine chinesische Dampfergesellschaft, die China Merchant Company,
fast ebensoviele Frachten Tientsins befördert wie die englischen
Schiffe; Li hat auch die Telegraphenverbindung mit Peking und anderen
Inlandstädten, ferner die Eisenbahn nach den Kai-ping-Kohlenminen zu
stande gebracht. Aber für die Hebung des Wohlstandes im Volke ist nur
wenig geschehen. Vielleicht besaß er die Macht und die Mittel nicht, um
jene Werke zu schaffen, die Tientsin, Peking und der ganzen Provinz vor
allem andern not thun: die Eisenbahn nach Peking, die Vertiefung und
Ausbesserung des immer mehr verfallenden großen Kanals, dieser einzigen
Landverkehrsroute mit dem Süden, dann die Entwässerung der Provinz, die
Regulierung des Peihoflusses.

Die großen Katastrophen, welchen der Wohlstand der Provinz zum Opfer
gefallen ist, hätten doch zur Lehre dienen sollen, daß vor allem
für ein Kanalsystem zur Entwässerung der Tiefebenen zu sorgen war.
Millionen und Millionen Menschen waren durch die Ueberschwemmungen
jahrelang brot- und erwerbslos geworden; statt viele Millionen Goldes
zum bloßen Lebensunterhalt dieser Menschenmassen zu opfern, hätte man
diese Arbeitskräfte zur Herstellung der erforderlichen Kanalisierung
heranziehen sollen; sie wären zu spottbilligen Preisen zu haben
gewesen. Nicht für den Krieg allein war zu sorgen, sondern auch für
den Frieden, für den Handel, und dieser ist durch das allmähliche
Verseichten des Peiho unendlich bedroht. Aehnliche Verhältnisse lagen
vor zwei Jahrzehnten an der Mündung des Mississippi vor; ganz wie der
Peiho zeigte sein Stromlauf vielfache Windungen, und seiner Mündung lag
eine Schlammbank vor. Wenige Millionen Dollars haben hingereicht, die
störendsten Flußkrümmungen im Unterlaufe abzuschneiden, den Flußlauf
dadurch zu verkürzen, das Gefälle zu vergrößern und so zu ermöglichen,
daß in derselben Zeit eine erheblich größere Wassermenge abfließt; so
wurde die Ueberschwemmungsgefahr für die Uferländer des Mississippi
verringert. Statt die Barre an der Mündung dieses Stromes mühsam
auszubaggern, hat sie Kapitän Eads durch den Strom selbst wegreißen
lassen, indem er bis nahe an die Barre die reißenden Wassermassen
des Mississippi durch weit über die Meeresküste hinausreichende
künstliche Dämme zusammenhielt. Aehnliches hätte mit erheblich
geringeren Kosten auch am Peiho geschehen können; nicht nur von der
Ueberschwemmung von 1889 wäre das Land verschont geblieben, auch die
elenden Schiffahrtsverhältnisse wären dadurch wenigstens zum großen
Teile beseitigt worden. Erst dem jetzigen Nachfolger Lis bleibt es
vorbehalten, die Eisenbahn nach Peking zu bauen, und die Reise nach
der nur hundertzwölf Kilometer entfernten Reichshauptstadt, die bisher
mühsam in zwei Tagen zurückgelegt werden konnte, beansprucht jetzt kaum
vier Stunden. Aber die Regulierung des Peiho und des ganzen Flußnetzes
steht noch in weitem Felde. Erfolgt sie einmal, so wird Tientsin
einen weiteren und noch größeren Aufschwung erfahren als seit seiner
Eröffnung für den Fremdenverkehr im Jahre 1858.

[Illustration: Handschrift und Siegel von Li-Hung-Tschang.]

[Illustration: Die Straße der Gesandtschaften in Peking.]



[Illustration: Ehrenpforte in Peking.]



Die Hauptstadt des chinesischen Reiches.


Es dürfte auf dem Erdball kaum eine Stadt mit größerem Namen geben,
die diesen letzteren so wenig rechtfertigen würde wie Peking. Alle
Illusionen werden dort schon am ersten Tage unter erstickendem
schwarzen Staube begraben oder in stinkenden Pfützen ertränkt, und je
größer die Sehnsucht war, nach der Hauptstadt des Mongolenreiches zu
kommen, desto größer ist gewöhnlich schon nach eintägigem Aufenthalt
die Sehnsucht, Peking wieder zu verlassen. In keiner Weltstadt
wird das „man war dort gewesen” teurer erkauft, von keiner ist die
Erinnerung weniger befriedigend. China ist ja bekannt als ein Land
voller Widersprüche, aber der auffälligste derselben ist vielleicht
Peking selbst. Durchzieht man im Geiste die Welt, so wird man finden,
daß die Hauptstädte aller Länder ein Zehntel bis ein Dreißigstel
der Gesamtbevölkerung derselben enthalten. Peking aber, dessen
Einwohnerzahl man sich in Europa noch vor gar nicht langer Zeit mit
jener Londons wetteifernd dachte, hat wenig mehr als eine halbe
Million Einwohner, ein Achthundertstel der Gesamteinwohnerzahl des
Reiches. Peking ist die Residenz eines Kaisers, der den Namen „Sohn des
Himmels” und „Bruder der Sonne” führt und unumschränkter Beherrscher
des größten und ältesten Reiches der Erde ist, eines Reiches, das
schon vor Jahrtausenden hohe Kultur besaß, also zu einer Zeit, als wir
Europäer überhaupt noch kein menschenwürdiges Dasein hatten. Sehen wir
anderswo Länder von Jahrtausende alter Geschichte, so strotzen sie von
Denkmälern hoher Kunst, die wir mit Staunen betrachten. Aber vergeblich
sieht man sich in der Hauptstadt des ältesten aller Länder, in Peking,
nach solchen um; es gleicht eher der Hauptstadt eines Nomadenvolkes,
das seine Zelte aus Holz und Ziegel erbaut hat. Von der Pracht und
Herrlichkeit des ältesten Kaiserthrones dieses Erdballs sind nur wenige
Spuren zu sehen.

[Illustration: Stadtmauer in Peking.]

Wie die meisten Hauptstädte geistig und schöpferisch die Mittelpunkte
der einzelnen Reiche sind, von denen das ganze Leben derselben
ausstrahlt, der Verkehr pulsiert, der Kreislauf der Regierungsmaschine
ausgeht, so sind sie auch in geographischer Hinsicht im Herzen
ihrer Länder gelegen, oder sie entwickelten sich an günstigen
Verkehrspunkten, an großen Stromläufen, an Meereshäfen. Die Hauptstadt
des Mongolenreiches aber liegt am Nordostende des letzteren, an keinem
Flusse, an keinem Meere, sondern in einer staubigen, wenig fruchtbaren,
Ueberschwemmungen ausgesetzten Ebene, und vergeblich fragt man sich,
warum diese Hauptstadt gerade dort angelegt worden ist. Begegnen wir in
unserem Leben etwas Unbegreiflichem, Widersinnigem, so bezeichnen wir
es mit Recht als chinesisch. Am allerersten läßt sich das auf Peking
selbst anwenden. Wer Indien, Siam, Birma, Kambodscha gesehen hat, der
erwartet in der Residenz des größten asiatischen Reiches Paläste, große
Tempel, Pagoden ähnlicher Art wie dort. Ja, diese Erwartungen werden
noch bestärkt, wenn man Tungtschau, die letzte Etappe auf der Flußreise
von Tientsin nach Peking, oder mit der Eisenbahn kommend, die weit
außerhalb der Ringmauern gelegene Bahnstation verlassen hat und sich
auf den aller Beschreibung spottenden, mit fußhohem Staub bedeckten
oder vor Schlamm grundlosen Wegen den ungeheuren Mauern nähert, welche
die Hauptstadt des Chinesenreiches umschließen. Fünfzehn Meter hoch,
verstärkt durch mächtige, gemauerte Bastionen, erhebt sich dieses
Bollwerk über die weite, niedrige, von Gärten und Feldern eingenommene
Umgebung. Auf Tausende von Metern kann man es verfolgen, bis es in
dräuenden, mehrere Stockwerke hohen Ecktürmen sein Ende erreicht. Der
Weg führt zu einem weiten Flügelthor, von einem mächtigen Aufbau mit
dreifachem, geschwungenem Dach gekrönt. Je mehr wir uns der Mauer,
hinter welcher Peking liegt, nähern, desto reger wird der Verkehr.
Wie um den Eingang zu einem ungeheuren Bienenkorbe drängt sich hier
alles Leben zusammen, Tausende von Fußgängern, Lastträgern, Reitern
auf Mauleseln und Kamelen, Sänften, getragen von vier und sechs
Trägern, ganze Karawanen von Kamelen, mit schweren Lasten beladen,
alles schreiend, gestikulierend, stoßend, drängend, und wir wundern
uns, wie all diese Massen in dem finsteren, tunnelartigen Thorwege
Platz finden können. Noch größer aber ist die Verwunderung darüber,
daß von all den Tausenden Mongolen an den Thoren der Hauptstadt eines
dem Europäer feindlich gesinnten Reiches unter gewöhnlichen Umständen
kein einziger den reisenden Fremdlingen auch nur durch Blicke oder
Gesten irgend welche Feindschaft zeigt. Wir sind mitten in dem Gedränge
von Fußgängern und Reitern und Lasttieren, aber während sie einander
drücken und stoßen, machen sie dem Europäer freundlich Platz. Die
Soldaten der Thorwache verlangen keinen Reisepaß, unbehindert gelangen
wir durch das finstere Thor und sind in Peking. Lasse man doch ein
paar reisende Chinesen durch die Vorstädte unserer europäischen
Metropolen einziehen! Wie würde der Janhagel sie umdrängen, begaffen
und belästigen!

Peking ist eine der ältesten Städte der Welt. In den chinesischen
Annalen erscheint sie unter dem Namen Ki schon im zwölften Jahrhundert
vor Christi Geburt; aber erst Kublai-Chan, der Enkel des großen
Mongolenführers Dschingis-Chan, gab ihr ihre heutige Gestalt und
Ausdehnung. Marco Polo, der berühmte Venezianer, schilderte sie, als
sie noch den Namen Kambalik führte. Den Namen Peking oder vielmehr
Bedsching (Residenz des Nordens) erhielt sie erst im Jahre 1409, als
sie zur Hauptstadt des chinesischen Reiches erhoben wurde. Die Chinesen
selbst nennen Peking einfach Kingtscheng, d. h. die Residenz, auf den
chinesischen Landkarten aber ist sie als Tschun-tien-fu bezeichnet.
Die gewaltigen Ringmauern und Türme, mit denen sie heute umgeben
ist, wurden in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts erbaut.
Als die siegreichen Mandschu sich ein Jahrhundert später Pekings
bemächtigten, setzten sie sich in der nördlichen Hälfte fest, ihr
Anführer, der Gründer der noch heute regierenden Dynastie, bezog die
alten Paläste der Mongolenfürsten und relegierte die Chinesen in die
südliche Hälfte der Stadt.

[Illustration: Das nördliche Stadtthor in Peking.]

Mit dem Betreten der Hauptstadt beginnt die Enttäuschung, die mit jedem
Schritte, mit jeder Stunde des Aufenthaltes sich steigert. Wo ist auch
nur die Stadt? Auf weite Strecken Staub und Sümpfe, hier und da ein
elendes Chinesenhäuschen, keine Straßen, keine Paläste, keine Pagoden,
ganz wie ich es in der alten Hauptstadt des Reiches, in Nanking,
gefunden habe. Erst nach langem, ermüdendem Ritt über die elendesten
Wege beginnt das Gewirr schmutziger, mit niedrigen Häuschen besetzter
Straßen, dicht gedrängt mit ebenso schmutzigen, ärmlichen Leuten. Auch
wenn die zweite, die Chinesenstadt von der Tatarenstadt trennende Mauer
passiert ist, es wird nicht besser; wir sind endlich in der Straße der
Gesandtschaften, ohne daß ihr Aussehen es irgendwie, höchstens durch
die Flaggenstangen über den niedrigen Thoreingängen, verriete. Auch
das einzige Hotel der Reichshauptstadt Chinas befindet sich hier, kaum
bescheidenen Ansprüchen genügend. Und diese schmutzstarrenden Straßen,
diese armseligen Mauern und ärmlichen Kaufläden bilden Peking? Sollte
es doch nicht irgendwo bessere Stadtteile mit Palästen und schönen
Tempeln, mit reinlichen Straßen und Plätzen geben?

Die große Umfassungsmauer, die wir bei unserem Einzuge bewundert haben,
ist in Peking wie in jeder anderen Stadt Chinas gleichzeitig das
bedeutendste Bauwerk. In der Größe und Mächtigkeit ihrer Ringmauern
sind die Chinesen wohl unübertroffen. Hier am Fuße der Ausläufer des
mongolischen Hochlandes umschließen sie in einem länglichen Rechteck
gegen fünfundsechzig Quadratkilometer Landes, etwa die gleiche
Fläche wie Berlin, aber da die Bevölkerung Pekings kaum ein Drittel
jener von Berlin erreicht, so ist es begreiflich, daß weite Strecken
innerhalb der Ringmauern von Feldern und wüsten, unbebauten Ländereien
eingenommen sind, in denen man sich ganz leicht irgendwo in der
Mongolei, weit von Peking entfernt, denken könnte. Nur die mittleren
Teile des großen Rechtecks sind wirklich mit Häusern und Straßen
besetzt.

Das Merkwürdigste der letzteren ist wohl ihre Regelmäßigkeit. Ich
kenne in der Alten und Neuen Welt wenige Städte, die so abgezirkelt
wären, wie Peking. Unsere alten Städte zeigen ein Gewirr krummer,
enger Gäßchen, als hätten ihre Gründer mit Absicht die gerade Linie
vermieden. Selbst die neuesten Städteschöpfungen in den amerikanischen
Prairien, die wohl einen regelmäßigen, schachbrettartigen Straßenplan
haben, dehnen sich nach verschiedenen Richtungen der Prairie ungleich
aus. Peking, das doch ebenfalls eine uralte Stadt ist, besitzt
zunächst die genau rechteckige Umfassungsmauer der Tatarenstadt, an
welche sich südlich eine ebenso regelmäßige Umfassungsmauer um die
Chinesenstadt anschließt. Innerhalb beider Städte sind die Straßen nach
Schachbrettform angelegt, nur sind jene der Chinesenstadt enger. In
der Tatarenstadt sind manche Straßen wahre Boulevards, bis zu dreißig
Metern Breite.

[Illustration: Endstation der Bahn Taku-Peking.]

Die Umfassungsmauer der Tatarenstadt sperrt diese auch gegen die
Chinesenstadt ab, ein merkwürdiges Wechselspiel! In alter Zeit erbauten
die Chinesen unweit Peking die berühmte Große Mauer gegen die Tataren,
und hier in der Hauptstadt Chinas erbauten die Tataren eine große Mauer
gegen die Chinesen!

Das regelmäßige Straßennetz der Tatarenstadt, die entschieden die
schönere von beiden ist, wird auf eigentümliche Art unterbrochen.
Gewiß hat jeder in japanischen Bazars schon die viereckigen Schachteln
gesehen, in denen man beim Abheben des Deckels kleinere Schachteln
findet, die wieder kleinere einschließen. Aehnlich liegt innerhalb der
Tatarenstadt eine zweite, mit der äußeren parallele Umfassungsmauer,
welche die offizielle Kaiserstadt umschließt, und innerhalb dieser
zweiten Mauer zieht sich parallel zu dieser eine dritte Mauer hin,
ein Rechteck umfassend, welches die allen Europäern und Chinesen
vollständig unzugängliche eigentliche Palaststadt des Kaisers und
seines Hofes enthält. Drei ummauerte Städte sind auf diese Weise
ineinandergeschachtelt, und an die äußerste, größte, schließt sich die
durch Thore verbundene Chinesenstadt an.

Wie von den Städten, so gilt das Einschachteln und Ummauern auch
von den Wohnsitzen der Prinzen, der Mandarine und militärischen
Würdenträger, von den verschiedenen Regierungsämtern und den Yamen.
Während wir unseren Gebäuden nach der Straßenseite zu die schönsten
und imposantesten Formen geben, während wir sie mehrere Stockwerke
hoch aufbauen, mit Türmen, Erkern und Balkonen versehen, ist in
Peking, wie überhaupt in ganz China, das gerade Gegenteil der Fall.
In der Tatarenstadt wandert man in den breiten, staubigen, sonnigen
Avenuen zwischen niedrigen, grauen Mauern einher, die hier und da von
freistehenden Thorbogen unterbrochen sind, unter deren Ziegeldächern
sich in vergoldeten Lettern die Ueberschriften der verschiedenen
Aemter befinden. Von den Gebäuden selbst sieht man höchstens einige
mit blauen und grünen Glasurziegeln bedeckte, kurios geschwungene
Dächer über die äußeren Umfassungsmauern hervorragen. Anders in der
Chinesenstadt. Dort bieten die Straßen einen malerischen, belebteren
Anblick dar, denn der Verkehr ist in den viel engeren Straßen auf einen
kleineren Raum eingeschränkt, die Häuser enthalten überall Kaufläden
der verschiedensten Art, und vor diesen sind noch in der Mitte der
Straße lange Reihen von Kaufbuden aufgestellt, zwischen denen sich die
Tausende und Abertausende langbezopfter Chinesen drängen. Nur hier
bekommt der Fremde ähnliches Leben, ähnlichen Verkehr zu sehen wie in
den anderen Hauptstädten Chinas, in Canton, Hankau, Tientsin, sofern
es ihm der aller Beschreibung spottende Zustand der Straßen überhaupt
gestattet. Während in unseren Ländern den Hauptstädten gewöhnlich
die größte Sorgfalt gewidmet wird, ist in China das Umgekehrte der
Fall. Kaum eine andere Großstadt des weiten Reiches dürfte einen
ähnlichen Schmutz und Unrat zeigen wie Peking. In früheren Zeiten mag
es wohl anders gewesen sein, denn noch jetzt zeigen die Straßen Spuren
einstiger sorgfältiger Pflasterung. Aber in China wird selten etwas
ausgebessert. Einmal gebaut, bleiben die Bauten oder Straßen sich
selbst überlassen, bis sie allmählich gänzlich verfallen. Ursprünglich
waren die Straßen auf eigentümliche Weise angelegt. Während wir
beispielsweise die an den Straßenseiten entlang laufenden Trottoirs
erhöhen und den mittleren Teil der Straße tiefer legen, ist in Peking
der mittlere Fahrweg für Wagen, Reiter und Sänften erhöht, und die
Seitenwege längs der Hausmauern sind tief. Freilich ist durch den regen
Verkehr der Unterschied zwischen Fahr- und Fußweg an vielen Stellen
verwischt worden; die Pflasterung bot den Chinesen einen bequemen
Steinbruch dar, aus welchem sie sich das Baumaterial für ihre Häuser
holten, und stellenweise liegt der mittlere Straßenteil sogar tiefer.
Die Tausende von Fuhrwerken, Kamelen und Maultieren haben im Laufe
der Jahrhunderte den Straßenboden aufgewühlt, und mit Ausnahme der
sommerlichen Regenmonate sind die Straßen mit fußtiefem schwarzen
Staub bedeckt. Durch den lebhaften Verkehr fortwährend aufgewirbelt,
erfüllt dieser Staub die Atmosphäre, legt sich auf Hausdächer,
dringt in die Kaufläden, lagert in dicken Schichten auf den Waren,
Lebensmitteln und den Verkäufern, schwärzt die zuweilen schön bemalten
und mit Vergoldungen geschmückten Häuserfronten, eine furchtbare,
ekelerregende Plage, wenn man in Betracht zieht, auf welche Weise der
Staub entstanden ist. Aller Unrat von Tieren und Menschen wird auf die
Straße geworfen und bleibt dort liegen. Tausende und Abertausende von
Lastträgern, Kutschern, Kamel- und Maultiertreibern entleeren sich
täglich auf der Straße, und ertönen zur Zeit des Sonnenunterganges vor
den Thoren die Gongschläge als Signal der Thorsperre, so erscheinen
gewöhnlich gleichzeitig vor den Hausthüren Knechte, um dem mit dem
scheußlichsten Unrat geschwängerten Staube auf eine originelle
Weise noch weiteren Unrat zuzuführen. Wasser ist nämlich in Peking,
das natürlich keine Wasserleitung besitzt, ein kostbarer Artikel.
Wasserträger durchziehen die Straßen und verkaufen den Kübel für
einige Sapeken. Ebensowenig besitzen die Häuser eigene Kloaken. Die
guten Bewohner der Reichshauptstadt töten also zwei Fliegen mit
einem Schlage dadurch, daß sie die flüssigen Abfälle der Häuser zum
Begießen der Straßen verwenden. Die Knechte schöpfen den Unrat mit
großen Schaufellöffeln aus den Kübeln und schleudern ihn möglichst
weit über die Straße, ähnlich wie unsere Bauern ihre Felder zu düngen
pflegen. Dadurch wird allerdings der Staub für ein Stündchen, gerade
zur schönen, kühlen Abendzeit, gelöscht, aber in Peking wird sich dann
gewiß jeder aus naheliegenden Gründen hüten, sein Haus zu verlassen.

[Illustration: Löwenstandbild vor dem kaiserlichen Sommerpalast zu
Peking.]

Kommen dagegen, besonders im Juli und August, die gewöhnlich sehr
heftigen Regengüsse, dann ist Peking ein einziger stagnierender Sumpf,
aus welchem nur die Häuser und stellenweise der mittlere Fahrweg
hervorragen. Für Fußgänger ist dann selbstverständlich der Verkehr
ganz unmöglich, aber auch für Reiter und die Insassen von Sänften ist
er mitunter lebensgefährlich. Der Schlamm verdeckt die zahlreichen
Untiefen, und stolpern Reittiere oder die zuweilen bis über die Knie im
Schlamme watenden Sänftenträger, dann purzeln gewöhnlich auch die in
kostbare Gewänder gehüllten Mandarine in die stinkende Jauche. Von den
beiden Uebeln, Staub und Schlamm, ist der Staub immer noch das kleinere.

Der Kaiser hat von diesen elenden, verlotterten Zuständen seiner
Hauptstadt kaum eine Ahnung. Selten verläßt er die verbotene Stadt
seiner Paläste, um sich nach irgend einem der großen Tempel zu
Gebeten und Opfern tragen zu lassen, und dieses große Ereignis wird
gewöhnlich vorher in der Regierungszeitung bekanntgemacht. Dann wird
von seiten der Stadtbehörden über Hals und Kopf an der Ausbesserung
jener Straßen gearbeitet, durch welche der kaiserliche Zug seinen
Weg nehmen soll; der mittlere erhöhte Fahrweg wird mit gelbem Sand
bestreut, die Löcher werden ausgefüllt, die Jahrmarktsbuden zu beiden
Seiten geschlossen, und wo sich besonders unflätige Stellen in den
Häuserreihen zeigen, werden große gelbe Tücher vorgespannt, damit ihr
Anblick den kaiserlichen Augen entzogen bleibt. Auch sonst werden alle
Fenster und Thüren der Häuser geschlossen, die Straßen aber für jeden
anderen Verkehr abgesperrt, und während es bei uns unstatthaft ist, den
Souveränen den Rücken zuzuwenden, ist dies bei den Chinesen Vorschrift.

Ja, wenn doch der Kaiser einmal unvermutet den Befehl geben würde,
einen andern als den so vorbereiteten Weg einzuschlagen! Aber ebenso,
wie die Chinesen Sklaven des Kaisers sind, so ist der Kaiser wieder
Sklave der Traditionen und der strengen Hofetikette. Eine derartige
Willensäußerung von seiten eines chinesischen Kaisers ist kaum jemals
vorgekommen, wie es auch unter den verschiedenen Söhnen des Himmels
niemals einen Harun al Raschid gegeben hat.

Recht drollig sind die Namen mancher Straßen der Hauptstadt. Eine
Straße in der Nähe der Gesandtschaften heißt die „Straße der
glücklichen Spatzen” von den zahlreichen, frechen Sperlingen, die in
Peking gerade so ihr Unwesen treiben wie bei uns und im Verein mit
Hunden, Raben und Tauben die einzigen Straßenreiniger sind. Eine Straße
heißt Barbarenstraße (unter welchem Namen die Europäer in China bekannt
sind), andere führen die Namen Affen, Gehorsam, Steinerner Tiger oder
Unermeßbar große Straße; die verkehrsreichste und lärmendste aller
Verkehrsadern aber heißt sonderbarerweise die Straße ewiger Ruhe.
Sackgassen werden in China tote genannt, im Gegensatz, zu den anderen,
die lebende heißen. Auch die Paläste und Tempel haben eigentümliche
Namen. Der Palast des Kaisers heißt der friedliche Palast des Himmels,
jener der Kaiserin der Palast der irdischen Ruhe, ein Confuciustempel
heißt die Halle gespannter geistiger Uebung, und einzelne Thore führen
die Namen wie: das Große Reine oder das Thor des ewigen Friedens, oder
endlich das Thor der standhaften Unschuld.

[Illustration: Der Gelbe Tempel zu Peking.]

Die Paläste der verbotenen Stadt bekommt der gewöhnliche Sterbliche
niemals zu sehen, außer er wäre kaiserlicher Prinz, Tatarengeneral
oder mandschurischer Eunuch. Selbst den Gesandten der Großmächte
wurde niemals der Anblick des eigentlichen Kaiserpalastes zu teil.
Gelegentlich des Neujahrsfestes wurden sie vor einigen Jahren zum
erstenmal innerhalb der Umfassungsmauern des Palastes empfangen, aber
auch nur in einer freistehenden, von der eigentlichen Kaiserresidenz
entfernten Halle. Mandschurische Palastwachen halten jeden Unbefugten
an den Thoren zurück, doch ist wenigstens die äußere oder zweite
Kaiserstadt den Europäern geöffnet. Ein großer Teil derselben wird
von den schattigen Anlagen des kaiserlichen Parkes eingenommen
mit seinem künstlichen See, über welchen mit Statuen geschmückte
hohe Marmorbrücken führen, mit seinen künstlich aufgeworfenen,
tempelgekrönten Hügeln, mit Yamen und offiziellen Bauten verschiedener
Art, durch ihre grünen Dächer kenntlich.

Die orangegelben Porzellandächer, welche über die roten Mauern der
verbotenen oder Purpurstadt emporragen, sind jene der kaiserlichen
Paläste. Die meisten anderen Hausdächer Pekings bestehen aus
grauen Hohlziegeln. Das auswärtige Amt, Tsung-Li-Yamen genannt,
und die ausländischen Gesandtschaften sind in ehemaligen Prinzen-
oder Mandarinenresidenzen untergebracht, und wer das behagliche
Innere einer solchen kennen lernen will, braucht nur eines dieser
Gesandtschaftspalais mit seinen vielen Gebäuden, seinen Höfen und
Gärten zu besuchen. An Sehenswürdigkeiten in unserem Sinne besitzt
Peking nur wenig. Mit Ausnahme der Tempel des Himmels und der Erde
am Südende der Chinesenstadt, der alten Jesuitensternwarte, der
vielen Pagoden, marmornen Thore und Brücken ist in der Hauptstadt
des Chinesenreiches nicht viel zu sehen. Den besten Ueberblick über
die Stadt erhält man, wenn man einen Turm der katholischen Kirche
besteigt oder aus der breiten äußeren Stadtmauer spazieren geht. Dort
ist man wenigstens gegen den furchtbaren Staub und das Gedränge des
schmutzigen Volkes geschützt, und dorthin flüchten sich auch an schönen
Tagen die Mandarine zu einem Spaziergang; statt Hündchen mit sich zu
führen, tragen sie vielleicht auf einem Stöckchen einen Jagdfalken,
Kanarienvogel oder eine Wachtel. Von hier oben aus gesehen zeigt sich
Peking viel freundlicher, denn die hohen Mauern, mit welchen die
Mandarinenwohnungen umschlossen sind, verbergen diese vollständig,
während man von den Stadtmauern wenigstens zwischen den Baumkronen
der vielen grünen Gärten die Dächer der Häuser zu Gesicht bekommt.
Jede größere Residenz hat ihren Garten, und das am meisten ins Auge
fallende Objekt inmitten dieser Gartenstadt bleibt immer das Gelb der
kaiserlichen Porzellandächer, so daß ein witziger Franzose einmal
sagte, von der Stadtmauer aus gesehen zeige sich Peking wie eine
~plat d’épinard aux oeufs~, eine Spinatschüssel mit einem Eidotter
in der Mitte.

Bei weitem interessanter als der äußere Rahmen ist das Leben und
Treiben, das sich in demselben abspielt. Von dem offiziellen Leben
der Kaiserstadt bekommt man allerdings nur wenig zu sehen: Mandarine
mit verschiedenen ihrem Rang entsprechenden Stickereien auf Brust
und Rücken zu Maultier und begleitet von einem Troß von Dienern oder
in Sänften, die, je nach dem Range ihres Insassen, von zwei, vier
oder sechs Trägern getragen werden; mandschurische Bannersoldaten
und Yamenläufer, Angestellte der Regierungsbureaus. Die Straßen der
Tatarenstadt zeigen sonst nur wenig Leben, denn die Chinesen, die
eigentlichen Träger des Handels und Verkehrs, dürfen in derselben nicht
wohnen, und alle Theater, Freudenhäuser, Opium- und Theehäuser sind
hier verboten.

[Illustration: Audienzhalle im Kaiserpalast zu Peking.]

Desto lebhafter ist das Leben und Treiben in der Chinesenstadt. Auf
den Fahrwegen in der Mitte der Straßen drängt sich das Volk, wandert
von Bude zu Bude, kauft und verkauft, schreit, lärmt, gestikuliert,
lebhafter als in der Toledo von Neapel. Endlose Reihen der kleinen,
zweiräderigen Maultierwägelchen fahren auf und nieder, alle Augenblicke
stockt der Verkehr; auf den Fisch-, Fleisch-, Pelz-, Porzellan-
und Gemüsemärkten ein fortwährendes Gedränge, hier und da auch
eine öffentliche, grausenerregende Hinrichtung; unter viereckigen
Sonnenschirmen gehen ambulante Handwerker, Barbiere, Restaurateure
und dergleichen ihren Geschäften nach; zwischen ihnen, besonders aber
an der Bettlerbrücke, kauern zahllose Bettler, zum Teil entsetzlich
verstümmelt, Blinde, Lahme, Aussätzige, mit offenen Wunden bedeckt, und
flehen unter fortwährendem Kumscha- Kumscharufen um Almosen. Als Rahmen
dieses ungemein belebten, farbenreichen, seltsamen Bildes dienen die
vielen Kuriositätenläden, Konditoreien, Restaurants, Kramläden aller
Art; schlanke Pfeiler, von denen verschiedenfarbige lange Holzschilder,
mit allerhand Inschriften in großen Goldbuchstaben bedeckt,
herabhängen, überragen die einstöckigen kleinen Häuschen. Niedliche,
mit geschnitzten Balustraden versehene Galerien ziehen sich unter den
Dächern des ersten Stockwerkes hin, und die Häuserfronten, besonders
jene der Konditoreien, sind über und über mit vergoldeten Schnitzereien
bedeckt, die allerdings von dem schrecklichen Staub geschwärzt sind.

[Illustration: Das Observatorium in Peking.]

Hier und dort werden auf freien Plätzen von den vergnügungssüchtigen
Zopfträgern allerhand Tierkämpfe veranstaltet; nicht nur Hähne,
auch Tauben, Wachteln, ja sogar Grillen werden dazu verwendet, und
mit gespannter Aufmerksamkeit folgen die Wettenden dem Kampfe der
winzigen Tierchen. Leben, Lärmen, Bewegung, Verkehr überall, dazu
Staub, Schmutz, Gedränge, Gestank und furchtbare Hitze, die im Winter
ebensogroßer Kälte Platz macht. Ebenso still und schläfrig, wie es
in der Tatarenstadt zugeht, ebenso lärmend und bewegt ist es in der
Chinesenstadt: in den Chinesen steckt das Leben, der Erwerb, der
Reichtum, und dennoch sind die Tataren die Herren der Stadt und des
ganzen Landes.

An Sehenswürdigkeiten besitzt Peking außerhalb seiner Mauern viel mehr
als innerhalb. Einige Wegstunden nördlich von Peking erheben sich die
Ausläufer des mongolischen Hochlandes, und verborgen zwischen den
stellenweise bewaldeten Abhängen liegen zahllose Klöster, Pagoden,
Grabstätten, Tempel; dort liegen auch die kaiserlichen Sommerpaläste
und ausgedehnten Parks. Dorthin flüchten sich während der heißen
Zeit die fremden Vertreter und Missionare und gehen allerhand Sport
nach; noch weiter gegen Norden liegen die bekannten Kaisergräber
der Mingdynastie, und den Abschluß der belebten, reich bebauten und
bevölkerten Landschaft bildet die ungeheure chinesische Mauer mit
ihren gewaltigen Türmen und Thoren. Sie allein übertrifft die gehegten
Erwartungen, alles andere in und um Peking bleibt weit hinter denselben
zurück, und mit leichtem Herzen verläßt man die weit über das verdiente
Maß berühmte, aber immerhin hochinteressante Kaiserresidenz des
Chinesenreiches.

[Illustration: Pferd

Elefant

Wagen

Kanone

Bauer

Kanzler

Feldherr

Chinesische Schachfiguren.]



Kwang-Su, der Kaiser von China.


Kwang-Su, der Sohn des Himmels, der Herr der zehntausend Jahre,
kam, wie man sich in Peking ziemlich allgemein erzählt, durch ein
Verbrechen auf den Drachenthron, eine interessante und doch kaum
bekannte Geschichte. Sein Vorgänger, der junge Kaiser Tung-Chih, starb
im Januar 1875 an den Blattern, trotzdem seine Aerzte für über tausend
Taels (viertausend Mark) Joßpapierchen verbrennen ließen, um den Segen
des Himmels auf ihn herabzuflehen und den in ihm steckenden Teufel zu
vertreiben. Tung-Chih hinterließ eine junge hübsche Witwe, Ah-Lu-Té,
deren Zustand einen nachgeborenen Thronerben erwarten ließ. Dann wäre
Ah-Lu-Té als Kaiserin-Mutter während der jungen Jahre ihres Sohnes
Regentin geworden, und die beiden bisherigen Regentinnen, die Witwen
des 1861 verstorbenen Kaisers Hien-föng, hätten abdanken müssen. Das
paßte ihnen natürlicherweise keineswegs, und so nahmen sie denn, wie
man sich in Peking erzählt, zu einem Pülverchen Zuflucht, das die junge
Nebenbuhlerin gleich nach dem Tode des Kaisers aus dem Wege räumte. Die
beiden alten Damen beriefen sofort die mandschurischen Prinzen zu einem
Familienrate und ließen den kaum mehr als drei Jahre alten Prinzen
Tsai-tjen, den Sohn des Prinzen Chun, als Thronerben erklären. Es war
Mitternacht, als die Wahl erfolgte, aber die Kaiserinnen mußten doch
ihr Bedenken über die Gesetzlichkeit dieses kleinen Staatsstreiches
à la chinois haben, denn ohne eine Minute Zeit zu verlieren, ließen
sie das schlafende Kind wecken und in den Beratungssaal bringen.
Dort empfing der arme heulende Junge die Huldigung der Prinzen und
wurde unter dem Namen Kwang-Su, d. h. erhabene Nachfolge, zum Kaiser
ausgerufen. In der Pekinger Staatszeitung aber erschien die Nachricht,
der verstorbene Kaiser hätte ihn selbst zu seinem Thronerben ernannt.

Natürlich konnte der den Windeln kaum entwachsene Knabe das gewaltige
Staatsschiff noch nicht lenken, und so blieben die beiden alten Witwen
an der Spitze der Regierung um zu schalten und zu walten, wie es ihnen
beliebte. Im Jahre 1881 starb die Kaiserin des östlichen Zimmers,
Tung-Tai-Hau, und die Kaiserin des westlichen Zimmers, Si-Tai-Hau,
führte die Zügel der Regierung bis Anfang März 1889, d. h. bis zur
Mündigkeitserklärung des regierenden Kaisers ganz allein. Seither trägt
sie den Titel Kaiserin-Exregentin, aber in Wirklichkeit ist sie immer
noch allmächtig und führt den Kaiser am Gängelbande.

Das kleine Söhnchen des Himmels durfte sich seiner Kindheit nicht
lange erfreuen. Schon einige Monate nach seiner Erwählung zum Kaiser
wurde ein Shi-foo oder Hofmeister für ihn ernannt, und die Pekinger
Staatszeitung verkündete auch die Namen der für die Erziehung und
Ausbildung des Knaben bestimmten Lehrer. Das astronomische Amt, dem die
Feststellung der günstigsten Tage für alle kaiserlichen Unternehmungen
obliegt, bestimmte den 14. Mai 1876 für den Beginn des Unterrichtes.
An diesem Tage erschien der kleine Kwang-Su, geführt von seinem Vater,
zum erstenmal im Schulzimmer. Dort lagen die gelahrten Männer, die ihm
angemessene und zweckmäßige Lehren zu erteilen hatten, auf den Knieen
und empfingen ihren Schüler, Gebete murmelnd und mit der Stirne den
Boden berührend. Kwang-Su überreichte ihnen nun eine Schrift, worin
er sie bat, ihn in der chinesischen Weisheit zu unterrichten, und
damit begann die Studienzeit des Kaisers, die ohne Unterbrechung bis
zu seiner Verheiratung, d. h. bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahre
währte. Von Schuleschwänzen, Spielen und Unterhalten war bei dem jungen
Kwang-Su keine Rede, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er
gewiß lieber den Kaiser aufgesteckt und wäre Prinz geblieben. Seine
tägliche Beschäftigung, sein Verhalten gegenüber den Lehrern, das ganze
Zeremoniell ihres Empfanges und ihrer Verabschiedung nach empfangener
Lektion ist auf das strengste geregelt. Schon um drei oder vier Uhr
morgens begann der Unterricht, zunächst in chinesischer Sprache und
Litteratur; dann folgten mandschurische und mongolische Lektionen,
der Unterricht in den verschiedenen chinesischen Dialekten, Reiten,
Fechten, Turnen, Bogenschießen. Dies ging so mit kurzen Unterbrechungen
für die Mahlzeiten den ganzen Tag fort, und mit Sonnenuntergang
mußte der Kleine ins Bett, um am nächsten Morgen mit Sonnenaufgang
wieder seine chinesischen Lektionen zu empfangen. Die starren Lehrer
verstanden keinen Spaß. Nutzten die Ermahnungen nichts, so wurde das
Bambusstäbchen zu Hilfe genommen. Da man aber den Sohn des Himmels
nicht wie einen gewöhnlichen Sterblichen durchbläuen kann, so wurde ein
anderer Junge für ihn geprügelt. Dieser Prügelknabe, in chinesischer
Sprache Hahachutze, war von gleichem Alter wie der Kaiser und hatte
alle Stockschläge, die eigentlich für die kaiserlichen Weichteile
bestimmt waren, zu empfangen. Der Kaiser mußte dabei zusehen. In
ähnlicher Weise hatten früher auch europäische Monarchen ihre
Prügelknaben, z. B. Heinrich IV. von Frankreich, Edward VI. und Edward
VII. von England, ja während der Regierung mancher Souveräne giebt es
heute noch Prügelknaben, Minister genannt.

Im Jahre 1889 vollendete Kwang-Su sein fünfzehntes Lebensjahr. Schon
vorher wurde von der Kaiserin-Regentin eine passende Braut für ihn
ausgesucht, und die Staatszeitung vom 28. Oktober 1888 enthält darüber
folgendes kaiserliche Edikt:

„Seitdem der Kaiser in aller Ehrfurcht das Erbe seiner Vorfahren
angetreten hat, ist er allmählich zum Manne gereift, und es geziemt
sich nun, daß eine Person von hervorragenden Eigenschaften als seine
Gemahlin ausgewählt werde, damit sie ihn in den Pflichten des Palastes
und in seinen tugendhaften Bestrebungen unterstütze. Die Wahl ist
auf Yeh-ho-na-la gefallen. Sie ist die Tochter des stellvertretenden
Bannergenerals Kwei-Hsiang, eine tugendhafte Jungfrau von angenehmem
Aeußeren und Vorzügen. Wir befehlen, daß sie zur Kaiserin erhoben
werde.”

[Illustration: Straße in Peking.]

Damit aber der Kaiser nicht unvertraut mit den ehelichen Pflichten
seine neue Gemahlin heimführe, wurde ihm schon ein Jahr vorher eine
Lehrmeisterin beigegeben. Diese Fei wird stets unter den hübschesten
Töchtern der mandschurischen Bannerleute ausgesucht und muß ein Jahr
älter als der Kaiser, also fünfzehn Jahre alt sein. Von wem diese
ihrerseits die ehelichen Pflichten lernt, wird in dem Zeremonienbuche
nicht gesagt.

Unmittelbar nach der Vermählung des Kaisers erfolgte seine
Thronbesteigung. Eine Krönung giebt es an den orientalischen Höfen
nicht, ebensowenig, wie es Kronen giebt. Zunächst wurden kaiserliche
Prinzen in großem Aufzuge nach den Tempeln des Himmels und der
Erde, sowie nach der kaiserlichen Ahnenhalle gesandt, um dort die
Thronbesteigung des Kaisers zu verkünden. Am folgenden Tage stattete
der Kaiser, begleitet von allen Prinzen und dem ganzen prächtigen
Gefolge der abtretenden Kaiserin-Regentin einen Besuch ab, und am
4. März erfolgte der feierliche Regierungsantritt unter großartigem
Zeremoniell, an welchem der ganze Hof mit seinen Tausenden von
Würdenträgern und Garden teilnahm. Die Feierlichkeiten fanden jedoch
durchwegs innerhalb der Mauern der Palaststadt statt, und von den
Hunderten von Millionen chinesischer Unterthanen war nicht ein einziger
Zeuge derselben. Selbst bis heute haben nur die höchsten Würdenträger
des Reiches und einige der ausländischen Gesandten den Kaiser von
Angesicht zu Angesicht gesehen. Bei der Thronbesteigung aber waren auch
diese nicht zugegen, und was man davon erfuhr, entstammt dem in der
Regierungszeitung veröffentlichten Zeremoniell.

Sobald die kaiserlichen Astrologen vom Chien-ching-Thore der
Palaststadt aus verkündeten, daß der günstige Augenblick für den
Regierungsantritt gekommen sei, verließ der Kaiser, in seine mit
Drachen bestickten Galagewänder gekleidet, seine Gemächer und bestieg
eine Prachtsänfte, in welcher er zu der Chung-ho-Halle getragen
wurde. Dort nahm er die Huldigung der Beamten und Bannerleute des
inneren Palastes entgegen und begab sich nun in seiner Sänfte nach der
eigentlichen Thronhalle (Tai-ho), vor welcher ihn sein ganzer Hofstaat
unter den Klängen der Musik empfing. Dem Eingange zunächst standen die
Prinzen und höchsten Staatsbeamten; dann kamen zehn Palastgardisten mit
vergoldeten Helmen und mit Pantherschweifen verzierten Hellebarden;
ferner zehn Palastgardisten mit Gürtelschwertern; Beamte des
Zeremonienamtes; fünf kaiserliche Elefanten, unzählige Banner- und
Standartenträger, Garden, Musikkorps. Während die ganze Gesellschaft
sich zur Erde warf, betrat der Kaiser die Halle und bestieg den in
der Mitte stehenden Thron, eine hohe Plattform, auf welcher sich ein
breiter Stuhl mit hoher Rückenlehne befand. Auf diesen Thronstuhl ließ
sich der Kaiser nach mandschurischer Art mit untergeschlagenen Beinen
nieder. Die Musik verstummte, und die Beamten des Zeremonienamtes
führten der Majestät nun die kaiserlichen Prinzen, die mongolischen
Fürsten, den hohen Adel und die Würdenträger des großen Reiches zur
Huldigung vor den Thron. Auf ein Zeichen des Zeremonienmeisters
knieten alle nieder, und der Reichsherold befahl nun die Urkunde der
Regierungsübernahme zu verlesen. Damit war die Thronbesteigung vorüber,
und der Kaiser kehrte als Herrscher über China nach seinem Palaste
zurück.

Nur durch die seltenen Empfänge der ausländischen Gesandten sind
Berichte über das eigentümliche, aber stets würdevolle Zeremoniell
am chinesischen Kaiserhofe durch europäische Augenzeugen in die
Oeffentlichkeit gelangt. So empfing der Kaiser gelegentlich des 60.
Geburtstages der Kaiserin-Exregentin die Gesandten, um die Glückwünsche
ihrer Souveräne in Empfang zu nehmen.

Der Schauplatz des feierlichen Staatsaktes war einem ostasiatischen
Blatte zufolge diesmal das Wenhuatien (d. h. Halle der Blüten der
Litteratur), ein älteres Gebäude von mäßiger Größe im südöstlichen
Teile des Palastes. Dasselbe dient zur Abhaltung einer litterarischen
Feierlichkeit im zweiten Monat jeden Jahres, bei welcher dem Kaiser
von einigen hervorragenden Mitgliedern der Hanlinakademie Vorträge
über die Klassiker gehalten werden. Der Eingang für die fremden
Vertreter und ihre Begleiter fand durch das Tunghuamen (das östliche
Blumenthor) statt, die einzige Oeffnung in der Ostmauer des inneren
Palastes. Dort wurden die Sänften zurückgelassen, und man begab sich
zu Fuß durch den weiten ummauerten Hofraum, an den Spalier bildenden
Palastgarden vorbei, nach dem Chuanhsintien (Halle der Offenbarung der
Herzensgüte), einem kleineren dreigeteilten Gebäude, in welchem den
mythischen Kaisern und alten Weisen einstmals Opfer dargebracht wurden
und das in diesem Falle als Wartesaal für die Gesandten diente. Die
letzteren wurden hier durch die Prinzen und Minister des Tsungli-Yamens
empfangen, um dann nach kurzem Aufenthalt durch das Wenhuamen (Thor
der Blüten der Litteratur) nach einer Reihe offenbar für den Zweck
besonders hergerichteter blauer Zelte geleitet zu werden, die dicht
neben dem Wenhuatien lagen und in denen für jede Gesandtschaft ein
besonderer Raum hergestellt war.

Von hier aus begaben sich die Vertreter mit ihrem Gefolge nach dem
Audienzsaal, bis zu der äußeren Freitreppe desselben durch zwei
Palastbeamte, vor den Thron durch zwei Minister des Tsungli-Yamens
geleitet. Zwanzig Minuten vor zwölf Uhr wurde der Aelteste des
diplomatischen Korps, der Gesandte der Vereinigten Staaten, geladen,
die übrigen folgten der Amtsdauer nach. Das Weitere spielte sich dann
in ähnlicher Weise ab, wie bei früheren Audienzen: der Gesandte näherte
sich mit seinen Begleitern unter drei Verbeugungen der Estrade, auf
welcher der Kaiser saß und zu der mehrere Stufen emporführten, hielt
darauf eine kurze Ansprache, in der er des feierlichen Ereignisses
gedachte, und überreichte, nachdem dieselbe von dem betreffenden
Gesandtschaftsdolmetscher ins Chinesische, von dem zur Seite des
Kaisers stehenden Prinzen Kung bezw. Ching (beide wechselten bei
den einzelnen Gesandten ab) ins Mandschurische übertragen war, das
Glückwunschschreiben seines Souveräns bezw. Präsidenten in die Hände
des ihm entgegenkommenden Prinzen, der es auf den mit gelber Seide
behangenen Tisch vor den Kaiser legte.

Das vom deutschen Kaiser gesandte Glückwunschschreiben bestand in
buchförmig zusammengelegten Pergamentblättern, auf denen der Text in
mehreren Farben kunstvoll ausgeführt war und die durch zwei massive,
mit weißem Leder überzogene und mit reicher Goldverzierung sowie dem
kaiserlichen Namenszuge geschmückte Deckel zusammengehalten wurden. Das
Ganze, ein vornehmes Kunstwerk, das allgemeine Bewunderung erregte, lag
in einem eleganten Holzkasten, auf dem ebenfalls ein großes W mit der
Kaiserkrone angebracht war.

Der Monarch neigte das Haupt beim Empfang, sprach dann in vernehmlichem
Tone zu dem links neben ihm knieenden Prinzen einige Sätze, in denen
er seiner Genugthuung und Freude Ausdruck gab, dieser wiederholte
die Worte, nachdem er die Estrade verlassen, dem Dolmetscher auf
Chinesisch, der letztere in seiner Landessprache dem Gesandten.
Damit war die Audienz beendet, und der Gesandte verließ, abermals
unter Verbeugungen und in derselben Weise geleitet wie vorher, die
Empfangshalle.

Das orientalische Zeremoniell machte sich hierbei in bedeutsamer Weise
geltend: das Wenhuatien hat in seiner Südwand drei Eingänge, zu denen
drei steinerne Freitreppen emporführen; solange nun der Gesandte Träger
des kaiserlichen Schreibens war, überließ man ihm den vornehmsten
Zugang, d. h. die große mit einem Teppich belegte Mitteltreppe und die
Mittelthüre, die sonst nur von dem Kaiser benutzt wird; der Ausgang
fand dagegen durch die linke Seitenthüre statt.

Dem ganzen Vorgang ließ sich eine majestätische Würde nicht
absprechen. Der Kaiser saß, wie bemerkt, auf einer Estrade an einem
mit gelber Seide behangenen Tische; hinter ihm befanden sich die
üblichen Paraphernalien: der Wandschirm, die Pfauenwedel; zur Rechten
standen zwei Prinzen des kaiserlichen Hauses, zur Linken der Prinz
von Kechin und Prinz Kung bezw. Prinz Ching. In der Halle selbst
bildeten schwerttragende Garden zu beiden Seiten Spalier, dahinter
standen Eunuchen und Palastbeamte. Das bei weitem Interessanteste
in der ganzen Scene war natürlich die Person des mit Zobelpelz und
Staatsmütze angethanen jugendlichen Monarchen. Die ungewöhnlich großen,
glänzenden schwarzen Augen gaben dem zarten, fast kindlichen Gesichte
ein ungemein sympathisches Aussehen, das auch durch die von einem
kürzlich überstandenen Fieberanfall herrührende Blässe durchaus nicht
beeinträchtigt wurde.

Beim Heraustreten aus der Halle bot sich dem Auge ein malerisches
Bild. Zu beiden Seiten, d. h. nach Ost und West, von der nach Süden zu
führenden Freitreppe zog sich in weit ausholendem Bogen die lange Reihe
der Palastgarden entlang, davor und dahinter bewegten sich Scharen von
Beamten in ihren langen Tuniken mit den buntgestickten viereckigen
Rangabzeichen auf Brust und Rücken. Bei aller Geschäftigkeit war
keine eilige oder überstürzende Bewegung zu beobachten, alles ging,
dem chinesischen Amtscharakter entsprechend, feierlich und würdevoll
zu. Wandte man sich nach rechts, so erblickte man am Ende des weiten
Platzes die hohe, mit gelbglasierten Ziegeln gedeckte Mauer, welche
die lange Reihe der Mittelhallen des Palastes einschließt; am Südende
derselben gewahrte man das dreiteilige Tsoyimen (Linkes Thor der
Rechtlichkeit), und jenseits davon, weit darüber hinausragend, erhob
sich der mächtige Bau der Taihohalle, das durch seine architektonischen
Verhältnisse am meisten hervorragende Gebäude der Kaiserstadt.
Das Ganze wirkte, wie jede chinesische Anlage, weniger durch die
Einzelausführung als vielmehr durch das Kolossale der Ausdehnung und
das Würdevolle der Gruppierung.

In diplomatischen Kreisen wurde es entschieden mit Genugthuung begrüßt,
daß der chinesische Hof sich endlich entschlossen hat, den mit so
ängstlicher Sorgfalt gehüteten inneren Palast den fremden Vertretern
zu öffnen und so eine endgültige Lösung der langwierigen Audienzfrage
herbeizuführen. Wie schwer ihm dies geworden sein mag, haben die
jahrelangen Verhandlungen zur Genüge dargethan.

Die Hauptpflichten des Kaisers von China bestehen darin, seinen
Vorfahren zu opfern, seiner Stieftante, der alten Kaiserin-Exregentin,
alle fünf Tage einen Besuch zu machen, in den Tempeln des Himmels und
der Erde zu beten und den Großwürdenträgern Audienz zu erteilen, in
denen alle laufenden Regierungsgeschäfte erledigt werden. Nach den
Mitteilungen, die ich von Pekinger Diplomaten erhielt, soll der Kaiser
viel intelligenter und energischer sein als seine Vorgänger. Dem
Aussehen nach ist er klein, mager, bartlos, mit einem unverhältnismäßig
großen Kopf; doch machte er auf die wenigen europäischen Gesandten,
die ihn zu Gesicht bekommen haben, einen sehr günstigen Eindruck.
Daß er auch bestrebt ist, sich über die Grenzen der Purpurstadt
hinaus zu informieren, geht aus vielen Thatsachen hervor. Er hat
das Studium der englischen Sprache begonnen, er liest die ihm zur
Sanktionierung vorgelegten Berichte, und wo er Bestechlichkeit oder
Nachlässigkeit der Beamten wittert, läßt er sofort von den Censoren
genaue Untersuchungen einleiten. Vor einigen Jahren wurde die ganze
chinesische Welt durch die Nachricht überrascht, daß der Kaiser selbst
die Prüfung der Zöglinge der Pekinger Hanlinakademie vorgenommen
hätte, ein unerhörtes Ereignis. Diese Akademie ist die höchste
litterarische Anstalt Chinas. Ihre Mitglieder sind hohe Würdenträger,
Mandarine, Gesandte und dergleichen, und aus ihnen rekrutieren
sich nach erfolgreich bestandenen Prüfungen die Examinatoren in
den Provinzen, sowie die Lehrer für den kaiserlichen Thronfolger,
wie für die kaiserlichen Kinder überhaupt. Seine Majestät ist zwar
bisher trotz seiner zehnjährigen Ehe mit so vielen Gemahlinnen noch
nicht mit Nachkommenschaft gesegnet worden, aber die Lehrer für eine
solche sind schon da. Nun hat sich die in ganz China so ausgebreitete
Bestechlichkeit sogar bis an diese Hanlinakademie herangewagt, und die
Beamten, welche die so wichtigen und einträglichen Examinatorenstellen
erlangen wollen, liefern mit ihren schriftlichen Prüfungsarbeiten
gleichzeitig eine mehr oder minder hohe Geldsumme ab. Wie eine
Bombe fiel nun unter die Prüfungskommission der Befehl des Kaisers,
die schriftlichen Arbeiten der Aspiranten ihm vorzulegen. Bei der
Durchsicht stürzte er die Rangliste von unterst zu oberst; sechs
Beamte, welche die Kommission an die letzte Stelle gesetzt hatte,
erlangten die höchsten Ehren, andere, welche in die erste Klasse
aufgenommen worden waren, wurden in die dritte oder vierte gestellt,
einige sogar ganz abgewiesen. Unter den Aspiranten befand sich auch
Tsui-Kuo-Yin, der frühere chinesische Gesandte in den Vereinigten
Staaten, ein angesehener, ehrwürdiger Mandarin zweiter Klasse und
Lehrer des kaiserlichen Thronfolgers. Seine Arbeit schien den Kaiser
nicht befriedigt zu haben, denn es wurde ihm sein Mandarinknopf zweiter
Klasse und sein Rang als Lehrer entzogen.

Auch sonst zeigt der Kaiser große Selbständigkeit; das Köpfen oder
Degradieren der Generale während des Krieges mit Japan erfolgte direkt
auf seinen Befehl; entgegen der Mehrzahl seiner Mandarine dringt
er auf die Organisation seiner Armee nach europäischem Muster, und
überlebt seine Dynastie die jetzige heftige Erschütterung, so dürften
bald bessere Zeiten für China kommen, vorausgesetzt, daß er nicht
durch irgend ein Pülverchen vorher aus dem Leben geschafft wird. Seine
Hofschranzen, Eunuchen und mandschurischen Bannerleute sind natürlich
bestrebt, ihn möglichst von dem direkten Verkehr mit der Außenwelt
fernzuhalten und alles durch ihre habgierigen, stets offenen Hände zu
leiten. Selbst Audienzen bei dem Sohne des Himmels müssen in vielen
Fällen durch hohe Summen erkauft werden; Pfauenfedern, Mandarinknöpfe
und sonstige Auszeichnungen sind ziemlich offen im Markt, kurz,
alles ist demjenigen erreichbar, der zahlen kann. Zu diesen elenden
Verhältnissen in der unmittelbaren Umgebung des Kaisers haben wohl
auch die vielen Prinzen beigetragen, von denen nur die wenigsten
standesgemäße Bezüge haben. Andere haben wohl Zutritt zu den obersten
Aemtern und damit auch Einfluß, aber dafür keine Bezüge, und so lassen
sie sich häufig ihren Einfluß bezahlen. Viele befinden sich in ganz
untergeordneten Stellungen, ja sogar als Diener in den Gesandtschaften
und bei Fremden, aber sie gehören doch zu dem kaiserlichen Clan, dessen
Oberhaupt der Kaiser ist und der seine eigene Verwaltung und seine
eigene Gerichtsbarkeit besitzt.

Die ganze prinzliche Gesellschaft ist in zwei Gruppen eingeteilt, deren
erste, die Tsung-schih, nur die direkten Nachkommen des Gründers der
Dynastie und ersten Kaisers umfaßt. Sie sind dadurch kenntlich, daß sie
einen gelben Gürtel tragen. Die zweite, Gioro genannte Gruppe, umfaßt
alle Abkömmlinge der Nebenlinien, und ihre Mitglieder tragen einen
roten Gürtel. Die Gesamtzahl der männlichen Mitglieder des kaiserlichen
Clans dürfte etwa sechstausend betragen; ein eigenes Familienamt in
Mukden, der Hauptstadt der Mandschurei, verwaltet die Archive und
kontrolliert die Ansprüche jedes Prinzen. Die ganze Gesellschaft ist je
nach ihrer näheren oder entfernteren Verwandtschaft mit dem Kaiser in
zwölf verschiedene Grade eingeteilt. Die Prinzen erster Klasse heißen
Tsin Wang, d. h. Prinzen von Geblüt, und beziehen aus der kaiserlichen
Schatulle eine jährliche Apanage von etwa 35000 Mark, Seidenstoffe,
Lebensmittel, und verfügen außerdem über eine Hofhaltung von 350
Personen; Prinzen zweiter Klasse, Kiun Wang, d. h. Söhne der Prinzen
erster Klasse, haben die Hälfte der genannten Einkünfte und Hofhaltung;
Prinzen dritter Klasse, Beile, ein Drittel, solche vierter Klasse,
Beitse, ein Viertel, und so fort bis herab zu der letzten Klasse, deren
Mitglieder nur etwa zwölf Mark monatlich und einige Rationen erhalten.
Etwa 500 Mark werden ihnen bei ihrer Verheiratung und eine ähnliche
Summe für Beerdigungskosten bei etwaigen Todesfällen in ihrer Familie
gewährt. Natürlich können sie damit ihr Auskommen nicht finden, und so
nehmen sie zu allerhand unerlaubten Mitteln Zuflucht, um zu Geld zu
kommen. Ja, Wells Williams erzählt in seinem ausgezeichneten Buche The
middle Kingdom, daß sie nicht selten ihre Frauen zu Tode mißhandeln, um
nur so oft als möglich die Beerdigungs- und Hochzeitskosten zu erhalten.

Von der Pracht der orientalischen Höfe, besonders der indischen und
javanischen, ist in China nur sehr wenig zu sehen. Die goldstrotzenden,
glänzenden Uniformen, Ordensketten und Sterne fehlen gänzlich, die
langen weiten Gewänder sind wohl aus reichen schweren Seidenstoffen,
aber mit Ausnahme der Brustplatten, welche die Abzeichen des Ranges
bilden, schmucklos und in dunklen Farben. Der Kaiser verläßt
seinen Palast nur, um sich nach einem Tempel zu begeben oder die
Kaiserin-Exregentin zu besuchen. Einige hundert berittener Garden,
dann die gelbe kaiserliche Sänfte, dann wieder einige hundert Garden
mit Bogen und Pfeilen bewaffnet, das ist alles. Die rot-weiß-blau
gekleideten Sänftenträger dürfen während der ganzen Promenade nicht
miteinander sprechen, nicht spucken oder sich räuspern; gewahren die
Garden irgend einen Neugierigen, so machen sie ihn durch wohlgezielte
Pfeile darauf aufmerksam, daß der Anblick des kaiserlichen Zuges
verboten ist.

Die Ausgänge nach den verschiedenen Tempeln, die Ahnenopfer und Besuche
bei der Kaiserin-Mutter bilden beinahe die einzige Abwechselung in dem
einförmigen, arbeitsvollen Leben des jungen Kaisers. Zuweilen läßt
er sich auch in dem prachtvollen Park der verbotenen Stadt spazieren
fahren. Festlichkeiten, Theater- und Tanzvorstellungen kommen nur
selten vor, und auch zu diesen werden nur einige der nächststehenden
Prinzen und Minister geladen, niemals Frauen. Gewöhnlich werden die
Vorstellungen am folgenden Tage für die Kaiserinnen und Damen des Hofes
wiederholt, und dann sind wieder die Herren abwesend.



Hofhaltung beim Kaiser von China.


Von den Chinesen, Tataren und Mandschuren in Peking ist über das höchst
eigentümliche Frauenleben am Kaiserhofe nichts zu erfahren. Selbst
die kaiserlichen Prinzen haben keinen Zutritt zu den kaiserlichen
Gemächern. Die wenigen Festlichkeiten, die zuweilen bei Hofe gegeben
werden, haben eigene, von den Kaiserpalästen getrennte freistehende
Hallen zum Schauplatz, und auch dort kommen die Prinzen mit den
Haremsdamen nicht in Berührung, weil bei diesen Festlichkeiten die
Damen fehlen. Manchmal giebt die Kaiserin-Exregentin dem Kaiser und
seinem Hofe Bankette oder Empfänge. Dann ist sie wohl selbst mit einer
Anzahl ihrer Hofdamen zugegen, sitzt auf ihrem Throne und läßt sich
von dem Kaiser und den Prinzen die höchsten Ehrenbezeugungen erweisen.
Bei Banketten beläuft sich die Zahl dieser demütigen Kautaus, die
der Kaiser auszuführen hat, auf sechsunddreißig. Aber auch zu der
Kaiserin-Witwe werden nur Männer geladen.

Unter solchen Verhältnissen ist es ungemein schwierig, in das Leben und
Treiben am Kaiserhofe zu Peking einzudringen.

Während meines Aufenthaltes in Peking gelang es mir indessen durch
Zufall, Einblick zu erhalten in das große Zeremonienbuch, das Hwui
Tien. In zweihundert dicken Bänden sind die genauesten Vorschriften
für das ganze Thun und Lassen des Kaisers, der Prinzen und der Damen
des Kaiserhofes verzeichnet, und besonders der achtundvierzigste Band
ist voll des merkwürdigsten Zeremoniells. Daß dieses auch heute noch
im vollsten Umfange gebräuchlich ist, geht aus den Mitteilungen der
Pekinger Zeitung hervor, und diese beiden Publikationen gestatten es
doch, sich eine richtige Vorstellung von dem Leben in dem chinesischen
Olymp zu machen, selbst wenn es auch hinter den roten Mauern und unter
den gelben Porzellandächern der Kaiserpaläste dem Auge des Sterblichen
verborgen bleibt.

Der kaiserliche Hof mit seinen vielen Tausenden von Beamten, Eunuchen,
Garden, Haremsdamen und Sklavinnen bildet ein kleines Reich für sich,
mit eigenen Ministerien, eigener Gerichtsbarkeit, eigenen Finanzen,
und der ganze Apparat ist gewiß viel größer als der Regierungsapparat
so manchen europäischen Staates. Das Oberhofmeisteramt, hier Nuiwu Fu
genannt, hat eine Anzahl von Ministern und Mandarinen, denen wieder
sieben verschiedene Abteilungen untergeordnet sind. Die erste Abteilung
besorgt das selbst für die chinesischen Olympbewohner Unentbehrlichste:
die Verpflegung. Auch darüber enthält das Zeremonienbuch die genauesten
Vorschriften, und es ist interessant, die Mengen von Lebensmitteln
zu erfahren, die dem Kaiser vom Verpflegungsamte angewiesen werden.
Täglich, so heißt es in den Vorschriften, sind Seiner Majestät
vorzusetzen: 15 Kilogramm Fleisch in einer Schüssel und 3½ Kilogramm
Fleisch zu einer Suppe zusammengekocht; 1 Kilogramm Schweinefett und
ebensoviel Butter; zwei Schafe, zwei Enten und zwei Hühner oder anderes
Geflügel und 75 Pakete Thee. Die Kaiserin erhält 10½ Kilogramm Fleisch
auf Tellern, 6½ Kilogramm Fleisch mit Gemüsen zusammengekocht, eine
Ente, ein Huhn oder anderes Geflügel, 12 Krüge mit Wasser und 10 Pakete
Thee. Die Eunuchen, Hofdamen, Konkubinen und Dienerinnen erhalten
täglich ebenso genau vorgeschriebene Rationen, deren kleinste aber
immer noch aus 500 Gramm Fleisch und einem Paket Thee besteht.

Die zweite Abteilung des Hausministeriums ist der nächstwichtigen
Sache, der persönlichen Sicherheit des Kaisers und seines Hofes,
gewidmet und besorgt die Leibwachen, die Verteidigung des Palastes
und die Garden, die den Kaiser auf Reisen begleiten. Diese Leibwachen
belaufen sich zu gewöhnlichen Zeiten auf etwa sieben- bis achthundert
Mann und gehören dem sogenannten Gelben Banner an, das sich durchweg
aus Mandschuren zusammensetzt. Sie tragen bei Festlichkeiten prächtige
seidene Uniformen, reich vergoldete Metallhelme mit dem fünfklauigen
kaiserlichen Drachen geschmückt, sind aber nur mit Hellebarden und
Schwertern bewaffnet. Einzelne Abteilungen der Garden tragen auch Pfeil
und Bogen, aber während ich selbst im Palasthofe des Königs von Korea
Gatlingkanonen sah, gab es in der purpurnen Stadt Pekings bis auf die
jüngste Zeit keine Feuerwaffen.

Die dritte Abteilung der kaiserlichen Hofhaltung überwacht das
Zeremoniell zwischen den einzelnen Mitgliedern der kaiserlichen
Familie; die Herolde und Eunuchen dieses Amtes regulieren den Aufzug
aller Haremsdamen, wenn sie zur Huldigung vor den Kaiser befohlen
werden, sie stellen die Gefolge und die Ehrenwachen, die den Kaiser
bei seinen Ausgängen begleiten, und versehen den Dienst bei allen
Festlichkeiten und Audienzen. Interessanter ist die vierte Abteilung,
denn ihren Beamten liegt die Auswahl der Damen für den kaiserlichen
Harem ob, und weil diese Damen die größten Unkosten der ganzen
Hofhaltung verursachen, ist dieser Abteilung auch die Einziehung der
Steuern und kaiserlichen Revenüen übertragen. Die fünfte Abteilung
hat die kaiserlichen Paläste und Gärten unter sich, besorgt alle
Neubauten und Reparaturen und reinigt die Straßen der Hauptstadt, falls
der Kaiser oder irgend ein Mitglied seiner nächsten Verwandtschaft
Ausgänge unternimmt. Obschon sie niemals den Fuß wirklich auf den Boden
setzen, sondern stets in Sänften getragen werden oder reiten, müssen
doch alle Wege, die sie passieren, mit gelbem Sand bestreut werden.
Für den Kaiser ist eine bestimmte Menge Sand vorgeschrieben, für die
Prinzen je nach ihrem Range weniger. Die sechste Abteilung verwaltet
die kaiserlichen Stallungen, Meiereien und Herden, und die siebente
Abteilung hat die Gerichtsbarkeit über die Bewohner der kaiserlichen
Stadt unter sich.

Am interessantesten sind unzweifelhaft die Befugnisse der vierten
Abteilung, die sich mit dem Harem des Kaisers befaßt. Die Beamten
dieser Abteilung sind selbstverständlich der großen Mehrzahl nach
Eunuchen. Sie bleiben ihr Lebenlang unverheiratet und lassen sich nicht
einmal auf Liebesabenteuer ein. Der männliche Artikel „der” wird ihnen
nur aus Höflichkeit beigelegt. Sie tragen die Kleidung der Männer, aber
keine Bärte. Ihre Zahl beträgt nicht weniger als dreitausend. Die für
den Nachwuchs erforderlichen Leute sind nicht so leicht aufzutreiben,
denn die Operationen der Eunuchentaufe sind keine Kleinigkeit. Man
erwirbt deshalb gewöhnlich passende Knaben von ihren Eltern oder
Anverwandten gegen Zahlung, überdies aber besteht seit 1829 ein
Gesetz, demzufolge die Söhne aller wegen Familienmordes hingerichteten
Verbrecher den kaiserlichen Haremsbehörden auszufolgen sind. Von diesen
werden sie zu Eunuchen verwandelt, ob sie wollen oder nicht.

Dem Namen nach ist allerdings die Kaiserin-Mutter die Herrin über das
ganze Heer der kaiserlichen Haremsdamen, in Wirklichkeit aber muß
auch sie sich den Verordnungen der vierten Abteilung fügen. Wie viele
Frauen der Kaiser im Laufe seiner kurzen Regierungszeit geehelicht
hat, weiß er wohl selbst nicht. Auf ein Dutzend mehr oder weniger
kommt es ja auch gar nicht an. Gesetzlich bestimmt sind ihm neben der
Kaiserin noch neun Frauen zweiten Ranges, siebenundzwanzig dritten
Ranges und einundachtzig Beischläferinnen verschiedener Klassen;
nach welchen Verdiensten diese Damen in die Klassen eingeteilt
werden, ist selbst in dem dicken Zeremonienbuche nicht enthalten,
eine bedauernswerte Unterlassung. Es wäre wohl gegen das Ansehen des
Sohnes des Himmels, jeweilig nur einer einzigen Gattin Herz und Hand
anzutragen, und deshalb werden ihm immer gleich neun Frauen auf einmal
zugeführt. Dazu wird alle drei Jahre im kaiserlichen Palaste eine
große Mädchenparade abgehalten, wozu die Offiziere der mandschurischen
Banner ihre sämtlichen im Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren
stehenden Töchter ausrücken lassen müssen. Der Kaiser, begleitet von
der Kaiserin-Mutter, hält die Revue ab und wählt die ihm zusagenden
Mädchen aus. Sie bleiben nun bis zum vollendeten fünfundzwanzigsten
Lebensjahr Beischläferinnen des Kaisers. Hierauf werden sie wieder
in Gnaden entlassen, diejenigen ausgenommen, die mit kaiserlicher
Nachkommenschaft gesegnet wurden. Diese können dann je nach ihren
Verdiensten die ganze Stufenleiter durch die verschiedenen Klassen
durchlaufen, ja sogar bis zur Kaiserin erster Klasse vorrücken. Auf
hohen Rang und gesellschaftliche Stellung der Familie wird verzichtet.
Jede Korporalstochter kann Kaiserin werden. Die Mutter des Kaisers
Hien-fu, der von 1850 bis 1861 regierte, war ein blutarmes, den
untersten Ständen angehöriges Mädchen und verkaufte in dem schmutzigen
Gassengewirr Pekings Obst. Ihre außergewöhnliche Schönheit erweckte die
Aufmerksamkeit des ersten Ministers, und ohne weitere Umstände wurde
sie in den kaiserlichen Harem aufgenommen.

Der augenblicklich regierende Kaiser Kwang-Su bestieg am 4. März
1889 im Alter von fünfzehn Jahren den Drachenthron. Einem alten
Gesetze zufolge mußte der Kaiser jedoch vor seiner Thronbesteigung
in den Ehestand treten, und die Vermählung fand am 26. Februar
desselben Jahres unter allerhand höchst eigentümlichen Gebräuchen und
Zeremonien statt. Schon 1888 fand im Kaiserpalast zu Peking die erste
Mädchenparade statt; Tausende von jungen, hübschen Backfischchen im
Alter von zwölf bis sechzehn Jahren kamen, begleitet von ihren Vätern,
durchwegs Mandschuren, angerückt, und die Kaiserin-Regentin traf die
erste Auswahl. Einige Tage später wurden die gewählten Kandidatinnen
einer zweiten, engern Wahl unterzogen. Diese wurden nun genau
registriert und nach ihrer Heimat mit dem Bedeuten zurückgeschickt, daß
sie sich für die dritte, entscheidende Wahl bereithalten möchten.

Am 28. Oktober 1888 wurde diese anbefohlen. Die dreißig jungen Mädchen
wurden zunächst im kaiserlichen Palast festlich bewirtet; der Kaiser
unterhielt sich mit ihnen und teilte dann der Kaiserin-Regentin
seine Wünsche mit. Am 8. November 1888 wurde endlich in der Pekinger
Staatszeitung verkündet, daß Yeh-ho-na-la, eine Maid von hoher Tugend,
ansprechendem Aeußeren und geziemendem Benehmen, die Tochter eines
mit der Kaiserin-Regentin verwandten Mandschugenerals, zur Gemahlin
des Kaisers erwählt worden sei. Die Hochzeit konnte aber erst drei
Monate später stattfinden, denn sie erforderte sehr umfassende,
zeitraubende und kostspielige Vorbereitungen. Dem Volke wurde hierfür
eine Hochzeitssteuer im Betrage von zwei Millionen Taels, also etwa
acht Millionen Mark auferlegt, die Gesamtkosten der Hochzeitsfeier
beliefen sich jedoch auf nicht weniger als siebeneinhalb Millionen
Taels. Außerdem mußten die Provinzen noch eine Menge von Lebensmitteln,
Kleiderstoffen und Material liefern; darunter auch die berühmte, die
Manneskraft fördernde Ginsengwurzel und das Holz für die Särge des
Kaiserpaares.

Die feierliche Verlobung fand am 4. Dezember 1888 durch ein großes
Bankett statt, woran aber nur Frauen teilnahmen, während die Männer,
darunter ein kaiserlicher Prinz, der Stellvertreter des Kaisers,
in einem andern Raum bankettierten. Schon bei dieser Gelegenheit
erhielten die Braut und ihr Vater kostbare Geschenke, die aber durch
die eigentlichen Hochzeitsgeschenke weit in den Schatten gestellt
wurden. Ein kaiserlicher Abgesandter überbrachte am 4. Januar 1889 in
feierlichem Aufzuge folgende Geschenke: 200 Unzen Gold, 10000 Taels in
Silber, ein Theegeschirr mit Kannen und Tassen aus massivem Golde, zwei
silberne Waschbecken, 1000 Stück der kostbarsten Seide, 20 mongolische
Reitpferde, vollständig gesattelt und gezäumt, und 40 Packpferde ohne
Ausrüstung. Die Eltern der Braut erhielten ähnlich wertvolle Geschenke,
ja selbst die andern Mitglieder der Familie und die Dienerschaft wurden
reich bedacht.

Für den 26. Februar 1889 war die Hochzeit anbefohlen worden, und
zwei Tage vorher sandte der Kaiser einen Prinzen nach den Tempeln
des Himmels und der Erde, um den Göttern zu opfern, sowie nach
dem kaiserlichen Ahnentempel, um den Vorfahren die bevorstehende
Vermählung zu verkünden. Es geschah dies dadurch, daß diese
Trauungsanzeige auf eine Atlasrolle geschrieben und diese vor den
Altären der Ahnen verbrannt wurde. Am Hochzeitstag versammelte
sich der ganze, aus Tausenden von Personen bestehende Hof, alle in
kostbare neue Seidengewänder gekleidet und mit ihren Rangabzeichen,
goldenen Phönixen, Mandarinknöpfen, Pfauenfedern und dergleichen
versehen, in der großen Thronhalle (Taiho) des Palastes, wo auf zwei
mit gelber Seide überdeckten Tischen die Insignien der Kaiserin,
d. h. eine goldene Tafel mit der darauf gravierten Vermählungsurkunde
und ein goldenes Siegel bereit lagen. Vor dem Thron wurde das goldene
kaiserliche Scepter niedergelegt. Inzwischen beobachteten die
kaiserlichen Astrologen unter allerhand Hokuspokus ihre astronomischen
Instrumente und verkündeten endlich, daß der günstige, d. h. der den
Geistern genehme Zeitpunkt für die Vermählung gekommen sei. Darauf
begab sich der Kaiser in seinem mit goldenen Drachen bestickten
Staatskleid in einer gelbseidenen Sänfte nach der Thronhalle, nahm
dort den Kniefall des Hofes entgegen und besichtigte die Insignien
der Kaiserin, alles unter dem großartigsten, bis in die geringsten
Einzelheiten geregelten Zeremoniell. Während die Anwesenden kniend,
mit der Stirn auf dem Boden, dalagen, verlas ein Zeremonienmeister die
Trauungsurkunde: „Seine Majestät der Kaiser hat von Ihrer Majestät der
Kaiserin-Regentin ein Edikt erhalten, demzufolge Yeh-ho-na-la, die
Tochter des Bannergenerals Kwei-Hsiang, zur Kaiserin erwählt worden
ist. Dem Uns ergangenen Befehl gemäß soll die Investierung der Kaiserin
mit dem Scepter vorgenommen werden.”

Nun wurde dem mit der Investierung der Kaiserin betrauten kaiserlichen
Prinzen das Scepter übergeben. Unter den Klängen der Tatarenmusik
begab sich der Kaiser wieder in seinen Palast zurück, das goldene
Siegel und die Vermählungstafel aber wurden in kostbare, ungemein reich
geschmückte Drachensänften gelegt, um die sich nun der Festzug, der
Prinz mit dem Scepter an der Spitze, gruppierte. Hinter den kolossalen
Drachensänften wurde der gelbseidene kaiserliche Sonnenschirm
einhergetragen; es folgten Minister, Mandarine, unzählige Schirm-,
Fahnen- und Bannerträger und endlich die Eunuchensippe mit den
Gewändern der Kaiserin in eigenen, prachtvoll vergoldeten Sänften.
Vor dem Palast der Braut empfingen der Vater und die männlichen
Anverwandten den Zug; die Eunuchen trugen die Insignien und das
Kaiserscepter in die Gemächer der Braut, die vor diesen Zeichen ihrer
künftigen Würde niederkniete und die vorgeschriebene Zahl von Kautaus
machte. Zuvor hatte sie jedoch unter Beihilfe zahlloser weiblicher
Zeremonienmeister, Herolde und Hofdamen das Hochzeitskostüm angelegt,
das gewiß die Damen interessieren dürfte, zumal es meines Wissens in
Europa noch nicht geschildert wurde. Das Kleid war von dunkelblauer,
schwerer Seide mit goldenen, eingestickten Drachen und breiten
Goldborten an den Aermeln und dem unteren Saume; auf der Vorderseite
des Kleides prangten in Goldstickerei die chinesischen Schriftzeichen
Wau-fu und Wau-scheu, d. h. immerwährendes Glück und langes Leben.
Unterkleider und Schuhe waren von gelber Seide. Die Halsgeschmeide der
Kaiserin, hauptsächlich aus Perlen, Diamanten, Türkisen und Korallen
zusammengesetzt, sollen nach den Mitteilungen der Shanghaier Blätter
einen fabelhaften Wert besitzen. Das Taschentuch war aus grüner
Seide, reich gestickt und mit juwelenbesetzten Quasten und gelben
Bändern geschmückt. Das wichtigste und kostbarste Stück war jedoch der
Kopfputz, eine Mütze aus rotem Samt mit auf die Schulter fallendem
Besatz von Zobelpelz, gelb gefüttert und durch diamantenbesetzte
Samtbänder festgehalten. Auf der Mitte der Kappe erhob sich ein
goldener Phönix, umgeben von einer Anzahl der kostbarsten Perlen.
Rings um diesen Schmuck waren an der Kappe nach hinten andere goldene
Phönixe befestigt, jeder mit achtundzwanzig großen Perlen besetzt, und
auf der Hinterseite der Kappe saß ein goldener Fasan, dessen langer
juwelenbesetzter Schweif über das Zobelfell fiel.

In diesem Aufzuge erschien die Braut vor den Eunuchen, die ihr nun
das kaiserliche Edikt vorlasen und die an dem gleichen Nachmittag
stattfindende Abholung nach dem Kaiserpalast verkündeten. Die
Trauungstafel und das Siegel blieben bei ihr, das Scepter aber wurde
wieder unter dem weitschweifigsten Zeremoniell dem vor der Brautwohnung
harrenden Prinzen übergeben, der es dem Kaiser wieder zurückbrachte.
Nachmittags besuchte der Kaiser mit seinem ganzen Hofstaate die
Kaiserin-Regentin und gab hierauf in der Taihohalle feierlich unter
Trompetengeschmetter und Trommelschlag den Befehl, die junge Kaiserin
abzuholen. Sofort wurde der Hochzeitszug wieder mit dem Prinzen an der
Spitze gebildet, aber diesmal fungierte an Stelle der Drachenstühle
eine Phönixsänfte, mit gelbem Damast ausgeschlagen und von sechzehn
Trägern getragen, denen die kaiserliche Palastgarde in ihren pompösen
Uniformen mit goldenen Helmen und Pantherfellen folgte.

In dem Palast der Braut hatten sich mittlerweile die kaiserlichen
Prinzessinnen, Hofdamen, Frauen der Minister und höchsten Mandarine
versammelt. Beim Eintreffen des Zuges überreichten die Prinzessinnen
der tiefverschleierten Braut einen Apfel und durchräucherten den
Phönixstuhl mit tibetanischem Weihrauch. Nun nahm die Braut allein
darin Platz, Trauungstafel und Siegel wurden in die dafür bestimmten
Drachenstühle gelegt, und begleitet von dem großartigen, glänzenden
Gefolge begab sich die Braut zu dem Palast des Kaisers, diesmal
schon beschattet von dem hohen kaiserlichen Sonnenschirm mit sieben
eingestickten Phönixen. An dem Außenthore mußten den Vorschriften gemäß
alle Sänften zurückbleiben und nur jene mit der Kaiserin wurde bis an
die Eingangspforte des Palastes getragen. Dort mußten die Sänftenträger
und Eunuchen mit abgewendeten Gesichtern zurücktreten, die Palastgarden
aber hinter einem hohen Schirm sich verbergen, um zu verhindern, daß
sie die Kaiserin erblickten. Unter Beihilfe der Prinzessinnen verließ
die Kaiserin nun die Sänfte und erhielt in der Vorhalle des Palastes
abermals einen Apfel sowie ein großes, mit Perlen und Goldstücken
gefülltes Gefäß. Langsam durchschritt sie den Korridor zu dem
Brautgemach, vor dem der Kaiser, ihr Gemahl, sie erwartete. Zu seinen
Füßen lag ein Sattel, daneben standen Pfeil und Bogen. Als der Kaiser
seine Braut gewahr wurde, schoß er einen Pfeil tief in den Sattel, trat
dann auf die junge Kaiserin zu und schlug ihren Schleier zurück. Zwei
Prinzessinnen führten sie nun in das Brautgemach und luden sie ein,
auf dem Brautbette Platz zu nehmen. Der Kaiser setzte sich neben sie,
und mit ineinander verschlungenen Armen tranken sie nun den von den
Prinzessinnen dargereichten Wein. Hierauf genossen sie eine Suppe, die
Brühe des langen Lebens genannt, und einen aus allerhand mysteriösen
Kräutern und Wurzeln gemachten Brei, „die Mehlspeise der Söhne und
Enkel”. Die Prinzessinnen bildeten bei dieser feierlichen stummen
Mahlzeit die Bedienung. Dann machten sie das Brautbett zurecht, legten
an die vier Ecken desselben vier mit Nephritstein (Jade) eingelegte
Scepter und zogen sich zurück. In der offiziellen Pekinger Zeitung,
die den ganzen Hergang in der größten Ausführlichkeit schilderte, ist
leider nicht erwähnt, ob die kaiserliche Braut ihre Phönixe und Fasanen
auf dem Kopf behielt. Es heißt darin nur, daß die Prinzessinnen am
nächsten Morgen um drei Uhr wieder erschienen, um das Kaiserpaar zu
wecken. Eine halbe Stunde später begaben sich die Neuvermählten nach
dem Hwa-Huang-Tempel, um dort ihre Gebete zu verrichten, und hierauf
nach dem Chieng-Ching-Palaste, wo sie sich vor den Gedenktafeln
der kaiserlichen Ahnen neunmal zu Boden warfen. Nach einem kurzen
Höflichkeitsbesuch bei der Kaiserinmutter kehrten sie nach dem
Kaiserpalast zurück. Hier mußte die junge Kaiserin neunmal vor ihrem
Gatten die Knie beugen und gelegentlich dieser Turnübung dem Kaiser ihr
Nephritscepter überreichen. Dafür reichte ihr der Kaiser sein eigenes
Scepter. Nun war die Zeit für den Empfang der Nebenkaiserinnen und des
ganzen Harems mit Gefolge und Dienerschaft gekommen. Alle, selbst die
Nebenkaiserinnen, mußten vor der jungen Herrin den Kautau ausführen.

Glücklicherweise wird nur die Hochzeit mit der ersten Kaiserin mit so
großem Pomp und Aufwand gefeiert, sonst käme der Kaiser sein Leben
lang aus den Heiratszeremonien gar nicht heraus. Mit den Neben- und
Aushilfskaiserinnen wird nicht viel Aufhebens gemacht. Die Pekinger
Zeitung verkündet einfach ihre Ernennung, ebenso wie die Ernennung
einer Anzahl von Beischläferinnen verschiedener Grade. Sie haben alle
ihre eigenen Wohnungen, ihre Dienerschaft und Eunuchen, und der Kaiser
macht bei ihnen nach Belieben die Runde. In dieser Beziehung werden
ihm von dem Zeremonienmeister keine Vorschriften gemacht, dafür hält
dieser unter den Beischläferinnen strenge Ordnung, und sollten sich die
Haremsdamen irgend welche Vergehen zu schulden kommen lassen, so werden
sie zuweilen streng bestraft. So z. B. veröffentlichte die Pekinger
Staatszeitung im Jahre 1895 folgendes Edikt:

„Ich, der Kaiser, habe folgende von mir getroffene Verfügung der
allergnädigsten Kaiserin-Exregentin mitgeteilt: Unser Hof hat seine
Familientraditionen und Vorschriften, die streng und vernünftig sind.
Dem Hofharem gebührt es nicht, sich in Sachen der Staatsverwaltung
einzumischen. Die Frauen zweiten Ranges, Zfin und Tscheshen, haben ihre
bisherige Bescheidenheit aufgegeben. Sie haben sich dem Prunke ergeben
und wenden sich wiederholt an Se. Majestät mit Bitten und Anliegen, ihm
viel Sorge verursachend. Das darf nicht weiter vorkommen. Denn wenn man
sie nicht warnt, so steht zu befürchten, daß die Frauen des Kaisers
von allen Seiten mit Bitten und Intriguen bestürmt werden, während
diese Intriguen doch nur eine Leiter zu allerlei Betrug sind. Deshalb
sind die Frauen Zfin und Tscheshen zu degradieren und solches zur
öffentlichen Kenntnis zu bringen. Jetzt wird Ruhe und Stille im Innern
des Palais einkehren. So geschehe es.”

Noch strenger ist vom kaiserlichen Hausministerium unter den Eunuchen
aufgeräumt worden, deren es in kaiserlichen Diensten wohl dreitausend
giebt. Da sie sich in der unmittelbaren Umgebung des Kaisers befinden,
so ist auch ihr Einfluß auf denselben bedeutend, und sie lassen
sich in Anbetracht ihrer unverantwortlichen Stellung häufig zu
allerhand Gesetzlosigkeiten verleiten. Jeden Monat veröffentlicht die
Staatszeitung Edikte, denen zufolge verschiedene Eunuchen geköpft oder
in die Verbannung gesandt worden sind.

Der Thronfolger wird in China unter den Kindern der verschiedenen
Beischläferinnen ganz nach Gutdünken des Kaisers erwählt; die
Töchter des Kaisers aber werden an hohe mandschurische Generale
oder mongolische Fürsten verheiratet, nur dürfen die letztern ihren
hochgeborenen Gemahlinnen gegenüber keinerlei eheliche Rechte ausüben,
müssen also sozusagen Eunuchen spielen. Sollten sie sich vielleicht
doch zu unerlaubten Beziehungen zu ihren eigenen Frauen verleiten
lassen, so werden sie streng bestraft. Der Kaiser Taokwang ließ einem
solchen kecken Gatten achtzig Stockschläge verabfolgen.



Geistermahlzeiten und Ahnenkultus am Kaiserhofe.


Die Pekinger Regierungszeitung vom 29. Juni 1895 brachte folgendes
Edikt des Kaisers: „In den letzten Wochen ist im Bereiche der
Hauptstadt viel Regen gefallen, und noch immer ist der Himmel mit
Wolken bedeckt, so daß zu befürchten steht, es könnte durch zu viel
Regen die Ernte geschädigt werden. Wir sind auf das tiefste besorgt,
und es erscheint geziemend, um günstiges Wetter zu flehen. Wir werden
uns deshalb am 1. Juli nach Takao-tien zum Opfern begeben und die
himmlische Macht bitten, Regen und Sonnenschein, alles zur rechten
Zeit, zu gewähren, auf daß man beruhigt der Ernte entgegensehen könne.”

Am 30. Juni erschien in der Regierungszeitung folgende Nachricht:
„Der Kaiser wird sich morgen früh drei Uhr zum Opfern nach Takao-tien
begeben.”

Aehnliche Edikte und Nachrichten finden sich in der genannten Zeitung
nahezu jede Woche. Bald opfert der Kaiser in der Ahnenhalle, bald im
Tempel des Himmels oder in jenem der Erde. Die Opferzeit ist gewöhnlich
ungemein früh, zwischen drei und fünf Uhr morgens, zuweilen sogar
mitten in der Nacht.

Wenn in diesen Edikten von Priestern niemals gesprochen wird, sondern
immer nur vom Kaiser, so hat dies seinen Grund darin, daß er selbst
der Stellvertreter der chinesischen Gottheit auf Erden ist, eine
Art Hoherpriester mit dem Zopfe. Wie in biblischen Zeiten König und
Oberpriester häufig in einer Person vereinigt waren, so ist es in
China bis auf den heutigen Tag geblieben. Ja noch mehr: der Kaiser ist
der Sohn des Himmels, seine Vorfahren auf dem Drachenthrone weilen
als Geister in der Gesellschaft der himmlischen Mächte, und er selbst
fährt bei seinem Ableben auf einem goldenen Drachen zum Himmel. Sein
Geist lebt dort fort und beeinflußt das Leben der Hinterbliebenen in
derselben Weise, wie das seine von seinen eigenen Vorfahren beeinflußt
wurde. Aus diesem Glauben entwickelte sich der Ahnenkultus, der in
China und besonders am Kaiserhofe kaum weiter getrieben werden kann.
Innerhalb der verbotenen Purpurstadt im Herzen Pekings befindet sich
ein großer kaiserlicher Ahnentempel, und auch in den anderen, dem
Himmel, der Erde, der Sonne und dem Monde geweihten Tempeln Pekings
sind die kleinen Ahnentafeln der verstorbenen Kaiser aufgestellt. In
dem Tai-miau, d. h. dem Großen Tempel, neben dem Kaiserpalast, befinden
sich außer den Ahnentafeln der Kaiser auch jene der Kaiserinnen aus
den letzten zehn Generationen, einfache Holztäfelchen, auf welchen
die Namen und Titel der Verstorbenen verzeichnet sind und die in
vergoldeten Holzkästchen auf langen Tischen stehen. Anschließend an den
kaiserlichen Ahnentempel befindet sich an der Ostseite eine Halle für
die Ahnentafeln der kaiserlichen Prinzen, an der Westseite eine zweite
für die Tafeln verdienter Staatsmänner, Feldherren und andere, also
eine Art chinesischer Ruhmeshalle, jedoch ohne irgend welchen anderen
Schmuck, ohne Statuen oder dergleichen.

In diesem Tai-miau bankettiert der Kaiser unmittelbar nach seiner
Thronbesteigung mit seinen kaiserlichen Vorgängern, denn die Opfer,
welche diesen dargebracht werden, denken sich die Chinesen als
Festmahle. Sobald der Kaiser in großem Ornat die Halle betreten hat,
werden vor die Ahnentafeln jedes einzelnen Kaiserpaares die Opfer
gesetzt, und zwar vor jede Tafel drei Becher Wein, zwei Schüsseln
Suppe, ein kleines Tischchen und ein Stuhl, auf welchem passende
Kleider für den unsichtbaren Vorfahren liegen. Jeder Kaiser erhält
außerdem noch zwei Stücke kostbaren Seidenstoff. Auf langen Tischen
vor jedem Kaiserpaare werden auch noch zwischen Weihrauchfässern und
glimmenden Räucherkerzchen je ein geschlachtetes Schwein, ein Rind und
ein Schaf gelegt. Hierauf tritt der Kaiser allein in die Mitte der
Halle, wirft sich auf die Knie, und mit der Stirne den Boden berührend
ruft er der Reihe nach alle seine Vorfahren mit ihren Namen und Titeln
an, eine zeitraubende Affaire, wenn man bedenkt, daß diese Titel aus
je zwölf bis zwanzig Wörtern bestehen. Dann bittet er sie, diese
Opfergaben als Ausdruck seiner Fürsorge und Verehrung entgegenzunehmen.
Der Kaiser liest dieses Gebet von einer kleinen gelben Holztafel ab,
die er sodann unter den Klängen eines mongolischen Musikkorps und dem
Gesang von Chorsängern den Zeremonienmeistern übergiebt. Beamte raffen
nun die Seidenstoffe zusammen und tragen sie in feierlichem Aufzuge zu
einem großen offenen Altare, wo sie in Gemeinschaft mit der Gebettafel
verbrannt werden.

Hierauf folgt eine höchst eigentümliche Zeremonie, die lebhaft an
ähnliche Zeremonien im altjüdischen und christlichen Gottesdienste
erinnert. Ein hoher Tempelbeamter reicht dem Kaiser einen Becher mit
dem Wein des Segens dar. Bevor er ihn empfängt, kniet er dreimal nieder
und berührt jedesmal mit der Stirne dreimal den Boden. Hat er den
Becher geleert, so wird ihm das Fleisch des Segens auf einer Schüssel
dargereicht, wobei er dieselbe Anzahl von Kautaus auszuführen hat. Im
Laufe dieses Opferdienstes hat er im ganzen achtzehnmal niederzuknien
und die Stirne vierundfünzigmal auf die kalten Steinplatten zu senken,
eine recht anstrengende Turnübung, die von allen anwesenden Prinzen und
Würdenträgern ebenfalls ausgeführt werden muß.

Der wichtigste Tempel Pekings, in welchem der Kaiser selbst als
Hoherpriester den Opferdienst versieht, ist der berühmte Tempel
des Himmels. In der Chinesenstadt, anschließend an die starken,
hohen Umfassungsmauern Pekings, befinden sich zwei große, mehrere
Quadratkilometer umfassende Tempelhaine, eigentlich schattige, mit
prachtvollen alten Bäumen besetzte Parks, auf deren grünen Matten die
Opfertiere, Rinder, Schafe und andere, grasen. Hohe, blaßrote Mauern
umschließen diese weiten Plätze des Friedens, und nur wenigen Fremden
ist es vergönnt, in das Innere einzudringen. Der westliche Park
enthält den Tempel des Ackerbaues, der östliche den viel größeren
und wichtigeren Tian-niau, d. h. den Tempel des Himmels. Bevor die
augenblicklich regierende Dynastie auf den Thron gelangte, war der
Tempel des Ackerbaues eigentlich der Tempel der Erde. Aber im Jahre
1531 entschieden die Schriftgelehrten, daß dieser Tempel der Erde
außerhalb der Stadtmauern liegen müsse, und es wurde deshalb nördlich
der Tatarenstadt ein Park von etwa dreihundert Morgen angelegt, in
dessen Mitte sich der Tempel oder vielmehr der Altar der Erde erhebt.

[Illustration: Der Tempel des Himmels zu Peking.]

Während des größten Teiles des Jahres sind die heiligen Tempelhaine
einsam und verlassen, die stillsten Plätzchen des weiten chinesischen
Reiches. Aber dreimal im Jahre, zur Zeit der Sommer- und
Wintersolstitien und zu Beginn des Frühlings, drängen sich unter den
schattigen Bäumen rings um den Altar des Himmels die Großen des Reiches
in ihrer ganzen Pracht. Der Kaiser, die Prinzen, Mandarine und Generale
sind dann hier versammelt, begleitet von Musikern, Chorsängern,
Tempeldienern und Tänzern, von Leibgarden und Palastsoldaten, ein
ungemein seltsames, großartiges Bild. Der Kaiser verläßt schon am
Tage vorher bei Sonnenuntergang seinen Palast, um im feierlichsten
Aufzuge durch die frischgescheuerten, mit gelbem Sand bestreuten
Straßen seiner Hauptstadt nach dem Tempel zu pilgern. Aus Ehrfurcht
vor der geheiligten Person des Monarchen müssen sämtliche Thüren und
Fenster der Häuser geschlossen werden, keine Seele, weder Chinese noch
Europäer, darf sich zeigen. Durch diese verödeten Straßen rollt der
von einem Elefanten gezogene gelbe Staatswagen, in welchem der Kaiser
sitzt. Nicht weniger als zweitausend Hofbeamte, Mandarine, Eunuchen und
Garden, mit zahllosen Bannern, Ehrentafeln und Ehrenschirmen begleiten
den Monarchen. Im Tempelhain angelangt, besichtigt der Kaiser zunächst
die Opfertiere und begiebt sich hierauf in die Halle des Fastens und
der Buße, während sein Gefolge sich außen unter den Bäumen auf den
Rasen lagert. Kein Laut unterbricht die nächtliche Stille, denn der
Kaiser liegt mehrere Stunden in der dunklen Halle auf den Knieen, im
Gebet versunken. Hierauf wird der Kaiser in ein Staatszelt geführt, wo
er unter großem Zeremoniell die Händewaschung vornimmt und die langen
blauseidenen Gewänder als Oberpriester anlegt; nun beginnt der Zug
zu dem Opferaltar. Voran schreiten Bannerträger, dann 235 Musiker in
blauseidenen Talaren und eine gleiche Zahl von Tänzern, welche während
des Marsches langsame, feierliche Tanzbewegungen ausführen. Hierauf
kommt der Kaiser, gefolgt von allen Prinzen und hohen Würdenträgern,
viele Hunderte an der Zahl.

Mittlerweile ist an der heiligen Opferstätte selbst alles vorbereitet
worden. Innerhalb einer zweiten Ringmauer erhebt sich auf einer
Marmorterrasse der mächtige runde Tempel des Himmels mit drei hohen,
sich verengenden Stockwerken und himmelblauen Porzellandächern. Hehre
Einfachheit kennzeichnet das Innere. Vergoldete Holzsäulen tragen
die Dächer, und an der Nordseite, dem Eingang gegenüber, stehen auf
reich geschnitzten, rot lackierten Tischen die einfachen Täfelchen
des Shang-te, das heißt des „obersten Herrn des Himmels, der Erde
und aller Dinge”, sowie der acht verstorbenen Kaiser der regierenden
Dynastie. Aus diesem Tempel werden die mit blauem Seidenstoff umhüllten
Täfelchen nach dem heiligen Altar des Himmels getragen, auf welchem das
kaiserliche Opferfest stattfinden soll.

Dieser Altar, eine der heiligsten Stätten des chinesischen Reiches,
befindet sich nahebei in einem dichten Cypressenhaine. Umgeben von
ehrwürdigen alten Bäumen, erhebt sich hier ein aus blendend weißen,
kreisrunden Marmorterrassen bestehender Aufbau, zu dessen oberster
Plattform vier breite Treppen von je neun Stufen emporführen. Die
Terrassen, ebenso wie die Treppen sind von skulpturengeschmückten
Marmorbalustraden umgeben, in denen Drachen- und Phönixmotive die
Hauptrolle spielen. In der Mitte des obersten, mit weißem Marmor
belegten Plateaus erhebt sich ein großer Marmorblock für den Kaiser,
und darüber wird ein die ganze Fläche einnehmender Baldachin gespannt.
Bei dem flackernden Schein zahlreicher Fackeln stellen nun die in
lange, hellblaue Gewänder gehüllten Diener die Kaisertäfelchen auf die
oberste Plattform; auf die nächsttiefere Terrasse werden die Täfelchen
der Sonne, des Großen Bären, der fünf Planeten, der achtundzwanzig
Konstellationen und ein letztes Täfelchen für die übrigen Sterne
aufgestellt. Diesen gegenüber, auf der entgegengesetzten Seite der
zweiten Terrasse, werden die Täfelchen für Mond, Wind, Regen, Wolken
und Donner auf kleine Tischchen gestellt, so daß also der oberste Gott
Shang-te nach chinesischen Begriffen von allen Himmelskörpern umgeben
ist.

Vor jedes Täfelchen werden auf langen Tischen Räucherpfannen für
Weihrauch gestellt und allmählich auch die Kerzen und Räucherstäbchen
entzündet. Während der ganze Cypressenhain durch die brennenden
Fackeln erleuchtet wird, flimmern auf der weißen Marmorpyramide,
den aztekischen Teocalli nicht unähnlich, Tausende und Abertausende
kleiner Lichtchen. Bei ihrem Scheine werden nun vor jedem Täfelchen
die Opfergaben aufgetürmt: zwölf Stück der schwersten blauen Seide
vor Shang-te, je drei Stück weißer Seide vor jedem Kaiser, dann
zusammen siebzehn Stück roter, gelber, blauer, schwarzer und weißer
Seide für die übrigen Täfelchen, die, wie gesagt, nichts weiter als
etwa fußhohe, zwei Zoll breite, aufrechtstehende Holzplättchen sind,
auf welchen die Namen der genannten Himmelskörper stehen. Sobald
die Kunde von dem Anmarsch des kaiserlichen Zuges hierher gelangt,
werden die Opfermahlzeiten aufgetragen: Shang-te ein geschlachtetes
Kalb, den Sternen ein Stier, ein Schaf und ein Schwein. Vor jedes
Täfelchen werden drei Schalen Reiswein aufgestellt und dann in acht
Reihen achtundzwanzig mit allerhand Lebensmitteln und Früchten
gefüllte Schüsseln gesetzt. Manche derselben enthalten Suppe mit
Rind- und Schweinefleischschnitten, andere wieder Pökelfleisch mit
Vermicelli, wieder andere Hasen- oder Rehfleisch, geräucherten oder
gesalzenen Fisch, Bambussprossen, Petersilie, gekochten Reis, Hirse,
Zwiebelblüten verschiedener Art, ja selbst Gewürze, wie Salz und
Pfeffer, werden bei dieser Göttermahlzeit nicht vergessen. Chorgesang
und Musik verkünden das Nahen des kaiserlichen Zuges. Bald ist der
ganze Rasenplatz mit Tausenden von Menschen angefüllt; die Prinzen und
Würdenträger steigen auf die beiden untersten Terrassen, während der
Kaiser allein langsam zur obersten Plattform emporsteigt und dort vor
dem Täfelchen des Shang-te sich dreimal zur Erde wirft und neunmal
mit der Stirne den Boden berührt. Dasselbe wird hierauf von allen
Anwesenden ausgeführt.

Nun schweigt die Musik, Totenstille herrscht ringsherum. Der Kaiser
aber hebt ein prachtvolles Stück blauen Nephritsteines (Jade), das
Symbol des Himmels, mit beiden Händen zu der Tafel des Shang-te empor,
als sichtbares Zeichen des Opfers. Aus der Ferne erhebt sich die Stimme
eines Sängers, der eine Opferhymne singt, und währenddessen wird von
Dienern das Opferkalb des Shang-te mit heißer Suppe besprengt. Zunächst
wird vom Kaiser von einem blauen Gebetstäfelchen ein Gebet abgelesen,
in welchem der Segen des Himmels und die Gunst der verstorbenen Kaiser
herabgefleht wird. Das Musikkorps spielt nun eine Hymne, während
welcher die Tänzer langsam quadrillenartige Figuren ausführen. Bei
dem flackernden Fackelscheine, inmitten der dunkeln Waldbäume, mit
dem klaren Sternenhimmel darüber, müssen diese malerischen Gruppen,
umgeben von Tausenden in prächtige Gewänder gehüllten Prinzen und
Würdenträgern, ein ungemein feierliches, fremdartiges Bild darbieten,
das leider niemals dem Auge eines Europäers sichtbar wird. Wer erinnert
sich aber bei der Vorstellung dieser Scene nicht an die Schilderungen
der biblischen Opferfeste, an Melchisedek und das jüdische Paschal?
Seit Tausenden von Jahren werden die chinesischen Opferfeste in genau
derselben, streng geregelten Weise ausgeführt, und wie sie nach
Westen bis an das Mittelmeer gelangt sind, dürften sie auch ihren Weg
nach Osten zu den Azteken genommen haben, deren Opferfeste mit den
chinesischen bedeutende Aehnlichkeiten besaßen. In Ost und West sind
sie verschwunden, nur an der Quelle selbst, in China, haben sie sich
bis auf den heutigen Tag erhalten.

Abermals schweigt die Musik, und die nächtliche Stille wird durch eine
mysteriöse Stimme unterbrochen, welche die Worte singt: „Reicht den
Becher des Segens und das Fleisch des Segens dar”. Hohe Würdenträger
bieten nun beides in feierlicher Weise dem Kaiser dar, welcher vor
und nach dem Einnehmen dreimalige Kautaus vor den Täfelchen ausführt.
Unter den Klängen einer Jubelhymne werden diese Täfelchen wieder nach
dem Tempel zurückgetragen, die Seidenstücke, Opfertiere und Speisen
aber dem Feuer übergeben, um durch die Verbrennung thatsächlich zu den
Geistern zu gelangen, für welche sie bestimmt sind. In feierlichem Zuge
werden die Opfergegenstände über den nur durch Fackeln erleuchteten
Tempelhain auf den Verbrennungsplatz getragen. In einer Ecke nahe
der Umfassungsmauer erhebt sich ein etwa drei Meter hoher offener
Feuerherd aus grünem Porzellan, und neben diesem stehen acht kleinere
Kamine aus Mauerwerk, in welche runde Eisenschüsseln von etwa einem
Meter Durchmesser eingelassen sind. Auf die in allen Herden glimmenden
Holzkohlen werden nun die Opfer gelegt, jene für Shang-te auf den
grünen Porzellanherd, jene für die Kaiser auf die eisernen Herde, und
während die kostbarsten Seidenstücke, das Fleisch und die Gemüse in
Rauch aufgehen, kehrt der Kaiser von seinem Opfergange nach dem Palast
zurück. Wenn die Sterne am Firmament erblassen und der erste schwache
Schimmer des anbrechenden Tages am Horizont erscheint, liegt der große
Park des Himmelstempels wieder still und verlassen da, kaum daß noch
leichter Rauch sich über den verbrannten Opfern kräuselt.

[Illustration: Beschwörung eines Götzen.]

Neben diesen großen Opferfesten findet alljährlich auf dem Himmelsaltar
noch ein anderer höchst eigenartiger Götterdienst statt. Nicht in den
reichen kaiserlichen Gewändern, sondern in grobe Sackleinwand gehüllt
schreitet der Kaiser von der Halle der Buße zu dem Himmelsaltar. Oben
angelangt, verliest er die Namen aller Verbrecher, an welchen während
des abgelaufenen Jahres das Todesurteil vollstreckt wurde, und fleht
zum Himmel um Gnade für jene, welche möglicherweise an dem ihnen
zugeschriebenen Verbrechen schuldlos waren.

Aehnlich den Opferfesten im Tempel des Himmels sind jene im Tempel der
Erde, nur daß hier nicht den Himmelskörpern, sondern den Erdgeistern
geopfert wird, jenen der vier großen Meere, der vier großen Flüsse
Chinas und der vierzehn höchsten Berge; auch hier werden die Täfelchen
der verstorbenen Kaiser neben jenen der Erdgeister aufgestellt; aber
nur die für die Kaiser bestimmten Opfergaben werden verbrannt, die
Opfer für die Erdgeister werden tief in die Erde vergraben, um auf
diese Weise wirklich ihre Bestimmung zu erreichen.

Manche religiöse Zeremonien am chinesischen Kaiserhofe stammen aus
undenklichen Zeiten. Die Anbetung der Sonne und des Mondes in den ihnen
geweihten Tempeln ist noch ein bis auf den heutigen Tag erhaltenes
Ueberbleibsel der ältesten Religionen; manche andere Zeremonie, wie
z. B. das Ackerbaufest, reicht in dieselbe Zeitperiode zurück, in
welcher die ägyptischen Pyramiden erbaut wurden. Vor viertausend Jahren
regierte beispielsweise in China der Kaiser Shun. Er wendete dem
Ackerbau besondere Aufmerksamkeit zu und eröffnete in jedem Frühjahr
selbst die Feldarbeit, indem er mit einem Pfluge Furchen zog. Ganz
wie vor viertausend Jahren geschieht dies noch heute in dem großen
Tempelhain für Agrikultur, der sich neben jenem des Himmels längs
der Südmauer Pekings hinzieht. An einem bestimmten Tage im Frühjahr
erscheint der Kaiser mit den kaiserlichen Prinzen und dem gesamten
Hofstaate, um zunächst den Göttern zu opfern, oder vielmehr in
symbolischer Weise mit ihnen ein Festmahl zu begehen. Nach den nötigen
Kautaus vertauschen der Kaiser und die Prinzen ihre prächtigen Gewänder
mit der Tracht der Landleute und begeben sich auf ein nahes Feld, wo
sie mit gelb lackierten Pflügen, an welche Büffel gespannt sind, neun
Furchen ziehen. Hinter den Pflügen schreiten Mandarinen einher, welche
den Samen ausstreuen. Während der ganzen Zeit tragen Chorsänger und
Musikkorps Hymnen zum Lobe des Ackerbaues vor.

Wie um reichen Erntesegen, muß der Kaiser auch, wie eingangs
erwähnt, um den erforderlichen Regen, oder wenn es zu viel regnet,
um Trockenheit zum Himmel flehen. Zunächst werden Präfekten oder
Gouverneure nach den verschiedenen Tempeln entsendet; werden ihre
Gebete nicht erhört, so beordert der Kaiser Prinzen seiner Familie
dahin, schließlich geht er selbst opfern und beten, unter der
Voraussetzung, daß ein Kaiser nicht nur auf Erden, sondern auch im
chinesischen Olymp mehr Einfluß hat als ein gewöhnlicher Sterblicher.
So verkündete der Kaiser beispielsweise in der Pekinger Zeitung vom 8.
Juli 1894 folgendes:

„Da seit dem ersten Drittel des vorigen Monats in der Hauptstadt
und Umgebung reichlich Regen gefallen war und das Wetter sich nicht
aufklärte, so begaben Wir Uns zum Opfern und Beten nach Ta-Kao-Tien.
Danach blieb der Himmel immer bewölkt und der Regen hört nicht auf. Mit
ängstlicher Erwartung sehnen Wir einen Umschwung der Witterung herbei
und finden es deshalb angemessen, von neuem darum zu flehen. Wir haben
den 10. Juli dazu erwählt, um Uns in Eigener Person nach Ta-Kao-Tien
zu begeben. Nach dem Tempel Shih-Ying-Kung beordern Wir den Prinzen
dritter Klasse Tsai-Ying, nach Chao-Hsien den Prinzen vierter Klasse
Po-lun und nach Niang-ho mian den Herzog Tsitse, um insgesamt an dem
genannten Tage zu opfern und um gutes Wetter zu bitten.”

Da sich so einflußreiche Persönlichkeiten bei dem chinesischen Jupiter
Pluvius verwendeten und ihm so großartige Opfermahlzeiten gaben, konnte
er nicht anders, als sich erweichen lassen. Schon tags darauf trat
schönes, trockenes Wetter ein.

[Illustration: Der Tempel der fünf Pagoden (Wu-ta-sse) bei Peking.]



Die Umgebung von Peking.


Gegen Süden, Westen und Osten breiten sich um die berühmte Kaiserstadt
weite Tiefebenen aus, mit Schnee bedeckt im Winter, staubgefüllt
und reizlos im Frühjahr und Herbst, gewöhnlich auf weite Strecken
überschwemmt im Sommer. Der Peiho und seine zahlreichen Nebenflüsse
nehmen durch diese langweilige Ebene ihren vielgewundenen Lauf; nichts
zeigt hier die Nähe einer Großstadt, der Hauptstadt des volkreichsten
Reiches der Erde an. Anders ist es aber, wenn man Peking durch das
Nordthor verläßt. In weitem Halbkreis wird das Weichbild der Stadt hier
von einem Kranz kühner, ungemein malerischer Gebirge umzogen, die sich
bis weit in die Mongolei hinein ausdehnen, das beliebteste Jagdrevier
des chinesischen Kaiserhofes; der reizendste Sommeraufenthalt für
die chinesischen Großen, die fremden Gesandten und europäischen
Einwohner Pekings, welche der heißen Jahreszeit entfliehen wollen.
Schon unmittelbar nachdem man die schmutzige, volkreiche Nordvorstadt
durchritten hat (Spaziergänge bieten in Anbetracht der elenden Wege
keinen Genuß), stößt man auf Spuren der tausendjährigen fremdartigen
Kultur, welche sich dieses herrliche Stück Land unterworfen hat.
Ueberall liegen inmitten ausgedehnter Parks Sommerhäuser und Villen
in chinesischem Stil, dazu zahlreiche malerische Tempel, Klöster
und vor allem Schlösser des Kaiserhofes und der Prinzen. Auf den
Bergspitzen erheben sich hohe vielstöckige Pagoden, und wo immer ein
schöner Aussichtspunkt, ein schattiger Wald vorhanden ist, trägt er
gewiß einen Tempel oder ein Kloster. Die Mönche sind gerne bereit,
ihre Wohnungen mietweise den fremden Teufeln zu überlassen, und sicher
werden alle fremden Diplomaten, alle Europäer, welche längere Zeit
in Peking verweilt haben, den Sommeraufenthalt in den Bergen als die
schönste Erinnerung ihrer ganzen Chinareise bewahren. Kommt die heiße
Jahreszeit, dann flüchtet alles in diese prächtige Umgebung, vor
allem der kaiserliche Hof, der in den Vorbergen eine der herrlichsten
Residenzen besitzt, die ich in Asien gesehen habe, den berühmten
Wan-schu-schan, d. h. den Berg der zehntausend Zeitalter.

Der Ausflug von Peking nach Wan-schu-schan ist einer der wenigen in
dem ganzen elf Millionen Quadratkilometer großen Reiche, auf welchem
man nicht in Gefahr kommt, den Hals zu brechen. Der Weg, der nach
Wan-schu-schan führt, wird ja vom Kaiser benutzt und ist demnach in
vorzüglichem Zustande. Die Straße führt einem breiten, mit hohen
Schattenbäumen bepflanzten Kanal entlang, welcher das Ueberschußwasser
des Sees von Wan-schu-schan nach Peking führt, um damit die Bassins,
Kanäle und Seen der dortigen Kaiserstadt zu speisen. Einen so
angenehmen Ritt wie diesen habe ich auf allen meinen Reisen durch
China noch nicht unternommen. Von hundert zu hundert Metern stehen zu
den Seiten des Weges gemauerte Wachthäuser für die Mandschurenwachen,
welche darauf zu sehen haben, daß zur Zeit der kaiserlichen Reisen kein
Fremder den Weg benutzt. Vor dem Eingang zu jedem Wachthause stehen auf
Gestellen sechs Lanzen mit roten Pferdehaarbüscheln, und zu den Seiten
erheben sich Galgen mit darübergelegten Schnüren, die aber nicht etwa
zum Aufhängen der eingefangenen Menschen, sondern nach eingebrochener
Dunkelheit zum Aufhängen von Papierlaternen dienen.

[Illustration: Ehrenpforte in Wan-schu-schan.]

Die einzelnen Farmhäuser und Dörfchen, die Tempel, Brücken,
Gartenmauern, Landsitze und dergleichen, die sich in der Nähe des
Weges befinden, sind in so vorzüglichem Zustande der Erhaltung und von
solcher Sauberkeit, daß man sich irgendwo in der Welt, nur nicht in
China, diesem Lande der Ruinen und Verwahrlosung, glauben könnte. Es
sind Potemkinsche Dörfer, wohl bestimmt, den Kaiser über den wahren
Zustand seines ungeheuren Reiches hinwegzutäuschen, denn gerade die
Umgebung Pekings ist ein Ruinenfeld, wie es in solcher Ausdehnung und
Großartigkeit nur wenige seines Gleichen hat. Ich sah das wieder, als
ich von dem Wege ablenkte, um noch dem großen Tempel von Wu-ta-sse
einen kurzen Besuch zu machen. Dieses herrliche Denkmal, welches Kaiser
Yung-lo vor nahe fünf Jahrhunderten zu Ehren Buddhas mit ungeheuren
Kosten errichten ließ, ist dem Verfall nahe, die großen kaiserlichen
Gedenktafeln vor dem Tempel sind umgefallen, die riesigen, zwei Meter
langen Steinschildkröten, auf denen sie standen, sind mit Erde und
Schutt bedeckt, die Dächer der Tempelgebäude sind eingestürzt, und in
den Ruinen wohnen in Lumpen gehüllte, verlotterte Priester, die mir
für wenige Cents die letzten buddhistischen Gebettafeln verkauften.
Das Denkmal selbst, ein monumentaler Steinbau, mit Hunderten von
Buddhafiguren bedeckt, trägt auf seiner oberen Terrasse noch immer
die wunderlichen fünf Pagoden, doch ist die Treppe, die zu denselben
hinaufführt, eingestürzt und nicht mehr benutzbar. Weiterhin, auf
Meilen rechts und links vom Wege, nichts als Ruinen. Die herrlichsten
und kostbarsten Tempel, einst Zierden des chinesischen Reiches und
Schatzkästlein chinesischer Kunst, sind verfallen, überwuchert,
verlassen, wie die Ruinen von Uxmal und Palenke, die ich vor Jahren
besuchte. Schöne Bronzegefäße, Opferschalen, Glocken liegen halb im
Erdreich vergraben auf den Feldern, und niemand kümmert sich um sie.
Welch herrliches Bild des Friedens, der Kultur und des Wohlstandes
muß dieses Land einstens dargeboten haben! Aber die Chinesen haben es
nicht verstanden, es gegen die Einfälle der Feinde zu verteidigen. Die
letzten waren die schrecklichen Horden der aufständischen Taiping, und
was diese noch in einer Anwandlung von Ehrfurcht verschont hatten,
wurde von noch schlimmeren Vandalen, von den Soldaten Frankreichs und
Englands zerstört, verbrannt, geplündert. Dieser chinesische Krieg wird
immer ein Schandfleck in der Geschichte dieser beiden Völker bleiben.
Es wäre genug gewesen, die Chinesen zu bezwingen und den Kaiser zu
Paaren zu treiben, es war aber ein Verbrechen, diese entzückenden
Paläste und Tempel, diese Sommersitze, Brücken, Denkmäler, Gräber aus
mutwilliger Zerstörungswut zu vernichten.

Auf den Kaiserweg zurückgekehrt, kam ich etwa auf der halben Entfernung
zwischen Peking und Wan-schu-schan auf einen kaiserlichen Tempel,
in welchem der Kaiser, der abwechselnd zu Pferde oder in der Sänfte
reist, abzusteigen pflegt, um dort Thee zu nehmen. Jenseits des Kanals
gewahrte ich eine große Zahl niedriger Gebäude, von einer Lehmmauer
umgeben, die sich wohl einen Kilometer weit den Kanal entlang hinzieht:
das Lager mehrerer tausend mandschurischer Bannertruppen, die gerade
in ihren bunten malerischen Trachten am Exerzieren waren. Bald darauf
stieß ich auf das von einem hölzernen Paifong (Ehrenpforte) überhöhte
Eingangsthor des Parkes von Wan-schu-schan, der selbstverständlich
jedem Fremden, ob Europäer oder Chinese, verschlossen ist. Eine hohe,
viele Kilometer lange Ziegelmauer umgiebt den ganzen großen Sommersitz;
die Wachthäuser für die mandschurischen Soldaten mehren sich, und neben
den daran stehenden langen Lanzen sah ich noch bei jedem Wachthause
ebensoviele Stangen stehen, die an ihrer Spitze scharfe Haken trugen.
Diese Instrumente sind dazu bestimmt, Neugierige, welche vielleicht
die Mauer erklimmen sollten, bei den Hosen zu fassen und wieder
herunterzuzerren.

[Illustration: Ein Kiosk in Wan-schu-schan.]

Nach langem Ritt gelangte ich in das Mandschurendorf Wan-schu-schan, zu
Füßen des gleichnamigen Berges, eine Art mandschurisches Paradedorf.
Wäre doch ganz China so rein, so wohlhabend, so nett wie dieses Dorf!
Und wie leicht wäre dies bei einer halbwegs guten Regierung möglich!
War es doch vor Zeiten so, als gute Kaiser mit ehrlichen Beamten über
das Reich der Mitte herrschten. In der Mitte des Dorfes befindet
sich ein großer, von Wachthäusern und davor stehenden spanischen
Reitern eingefaßter Platz, und dieser führt direkt zur monumentalen
Haupteingangspforte des kaiserlichen Sommersitzes, von zwei ungeheuren
Bronzelöwen bewacht. Hunderte von neugierigen Mandschuren und Chinesen
umdrängten mich, als ich, in der Mitte des Platzes stehen bleibend,
erstaunt mein Fernglas auf die großartigen Paläste richtete, die sich
hinter der Umfassungsmauer auf den Bergabhängen erheben, allein niemand
wagte ein Schimpfwort oder einen Steinwurf.

War es mir auch nicht vergönnt, das Innere des herrlichen Sommersitzes
zu betreten, weil die kaiserliche Familie eben hier weilte, so sah ich
ihn doch in allen seinen Einzelheiten von meinem Standorte hier und
dann von einem im Norden sich erhebenden bewaldeten Hügel. Ich habe in
China und Japan, in Siam und Indien und anderen Ländern des asiatischen
Kontinents keine so eigenartige Palastgruppe gesehen wie jene, welche
sich meinem Auge auf dem Berge der zehntausend Zeitalter entrollte. Die
Sage, die chinesische Kunst sei im Verfall, wird hier zu Schanden. Als
letzter Ausläufer des Hsi-schan (Westgebirges) erhebt sich hier ein
steiler Berg, auf der Südseite von einem großen See bespülte steinerne
Balustraden mit Statuen, Obelisken und bronzenen Tiergestalten umfassen
die spiegelklare Wasserfläche, aus der stellenweise die großen Blätter
der Lotospflanze hervorragen. Die reizendsten Pavillons mit zierlichen,
kurios geschwungenen Porzellandächern erheben sich an den Ufern, auf
der Landseite von Gartenanlagen eingefaßt, hinter denen sich die
mächtigen Cypressen und Kiefern eines großen schattigen Parks erheben.
Zwei Inselchen unterbrechen den Seespiegel, durch herrliche weiße
Marmorbrücken miteinander verbunden; auf einem dieser Inselchen erhebt
sich ein großer Tempel mit einer hohen Pagode von mehreren Stockwerken.
Zu ihren Füßen ruht auf dem Wasser eine mächtige weiße Dschunke mit
einem zweistöckigen Gebäude darauf. Bei näherer Besichtigung ergiebt
sich, daß dieses seltsame Fahrzeug vom Seegrunde aus ganz aus weißem
Marmor gebaut ist, ein Lieblingsaufenthalt der Kaiserin-Mutter, welche
diesen Sommersitz mit dem Kaiser zu teilen pflegt, um ihn so besser
unter den Augen und sicherer unter dem Daumen zu haben, denn nicht der
Kaiser, sondern diese merkwürdige Frau ist die eigentliche Lenkerin der
Geschicke von China.

Noch merkwürdiger, großartiger als der See und die unzähligen in
dem weiten ihn umgebenden Park verstreuten Gloriettes, Wohnhäuser,
Ehrenpforten, Tempelchen und dergleichen sind die Paläste, welche sich
auf dem steilen Berge selbst erheben. Vom Seeufer steigt zunächst
eine ungeheure Steinterrasse empor mit vertikalen vielleicht dreißig
bis vierzig Meter hohen Wänden, und auf der weiten oberen Plattform
steht eine großartige Pagode mit vier schön geschwungenen Dächern aus
orangegelbem Porzellan übereinander, gekrönt von einem goldenen Knauf.
Die Pagodenwände selbst sind mit grünen Porzellanziegeln bekleidet und
auf das reichste ornamentiert. Zu beiden Seiten dieses merkwürdigen
Bauwerks bedecken die Anhöhe Tempelchen, Wohnhäuser, Kioske ohne Zahl,
durch breite Treppenfluchten miteinander verbunden; zwischen ihnen
erheben sich im Schatten mächtiger, knorriger Kiefern Bronzepagoden,
Urnen, Vasen von hohem Wert.

Ein Weg führt zu einem breiten Felsenvorsprung an der Südseite des
Berges. Auf diesem zeigte sich mir ein geräumiges, luftiges Wohnhaus,
mit dreiteiligem grauen Ziegeldach, das auf dicken rotlackierten
Pfeilern ruht und weit über die Wohnräume hinwegreicht, so eine breite
Veranda bildend. Auf der Terrasse davor erheben sich große Fichten,
und unter einer derselben gewahrte ich einen roten Armstuhl mit einem
kleinen Tischchen daneben. Dieses Haus wurde mir als das gewöhnliche
Wohnhaus des Kaisers bezeichnet, und auf der Terrasse davor soll er den
größten Teil seiner Zeit zubringen. Auf meine Frage nach dem Wohnhause
der Kaiserin-Mutter wurde mir die Antwort zu teil, daß diese ihren
Aufenthaltsort häufig wechsle, bald in diesem, bald in jenem der vielen
innerhalb der Umfassungsmauer zerstreuten Gebäude wohne.

Von der kaiserlichen Villa führt ein breiter sonniger, anscheinend
zementierter Weg auf den Gipfel des Berges, und dieser wird von der
eigentlichen offiziellen Kaiserresidenz gekrönt, ein Palast mit
Rundbogenfenstern und ebensolchen Pforten, ganz mit orangegelben
glänzenden Porzellanziegeln bekleidet, die in dem Sonnenlichte wie
Edelsteine glitzerten. Eben als ich mein Fernglas darauf richtete,
erschien auf dem kahlen Wege davor ein farbenreicher Zug von Menschen,
dessen Mittelpunkt eine in Gelb gekleidete sitzende Gestalt bildete,
über die ein großer roter Sonnenschirm einhergetragen wurde. Von unten
herauf näherte sich diesem Zuge ein zweiter, ebenso zahlreicher,
aus welchem eine rotgekleidete Gestalt hervortrat, als beide
Menschengruppen voreinander Halt machten. Das Volk rings um mich
bezeichnete mir die letztere als den Kaiser, die gelbe Gestalt als jene
der Kaiserin-Mutter.

Wie alle anderen Kaiserpaläste und Prinzensitze in der Umgebung
von Peking, vor allem wie der feenhafte nur einen Kilometer von
Wan-schu-schan entfernte Sommerpalast mit seinem ausgedehnten
herrlichen Park, so war auch Wan-schu-schan im Jahre 1860 von den
französisch-englischen Truppen verbrannt und zerstört worden. Die
Kaiserin-Mutter ließ diesen Sommersitz jedoch in den letzten Jahren
neu erbauen, und hier war es, wo Prinz Heinrich als erster Prinz eines
souveränen Hauses von dem Sohne des Himmels empfangen wurde.



Die Große chinesische Mauer.


Von den vielen Reisenden, die China besuchen, gehen nur wenige über
Shanghai hinaus, nach Peking, und von den wenigen, die Peking besuchen,
unternimmt höchstens ein Zehntel den Ausflug zur Großen Mauer, weil
sie von dieser das eigentlich Imposante, die dreitausenddreihundert
Kilometer Länge, doch nicht sehen können, sondern nur ein Stückchen,
und dann, weil die Reise keineswegs eine Vergnügungstour genannt
werden kann. Es ist nicht jedermanns Sache, eine Woche auf hartem
Maultierrücken durch Steinwüsten und über kahle Gebirge zu reiten,
in elenden schmutzigen Chinesenspelunken zu übernachten und
sonnenverbrannt, ermüdet, wenn überhaupt mit gesunden Gliedern,
nach Peking zurückzukehren, nur um eine Mauer gesehen zu haben. Wer
sich aber diesen Strapazen wirklich unterzieht, der wird reichlich
dafür entschädigt, nicht der chinesischen Mauer wegen, sondern weil
er auf dieser Reise das Leben und Treiben der Chinesen im Inlande
kennen lernt, ein ungemein malerisches und landschaftlich großartiges
Stück China sieht und an der Großen Mauer selbst noch einen Blick
in die Mongolei werfen kann, unter die Nachkommen der Horden des
Dschingis-Chan und Kublai-Chan.

Schon das Leben auf der großen Heerstraße zwischen Peking und der
Großen Mauer gewährt das größte Interesse, denn auf dieser Straße
findet der Warenaustausch statt zwischen dem chinesischen Reiche, der
Mongolei und Sibirien. Als ich, begleitet von meinem chinesischen
Dolmetscher, auf einem Eselchen Peking verließ, um mich nordwärts
gegen die Mongolei zu wenden, hatte ich schon im Stadtthore Mühe,
überhaupt durchzukommen, denn nach Tausenden zählen die Kamele,
die, schwerbepackt mit allerhand Waren, täglich hier ankommen oder
ihren Rückweg nach dem fernen Sibirien antreten. Auf dem viertägigen
Ritt nach Nankou, am Südabhange der mongolischen Berge, begegnete
ich zahlreichen Karawanen, gewöhnlich mit sechs bis acht, aber auch
zwanzig und dreißig Kamelen im Gänsemarsch hintereinander, geführt
von breitgesichtigen schlitzäugigen Mongolen. Die Kamele bilden heute
noch das wichtigste Transportmittel auf dieser Weltverkehrsroute;
sie bringen Thee im Werte von vielen Millionen, chinesische
Seidenstoffe, Kleidungsstücke, Stickereien, Industrieprodukte aller
Art nach Norden und kehren mit Kohle, Kamelhaar, Häuten, Kalk, Soda,
Papier und dergleichen von dort wieder nach Peking zurück. Neben
den Kamelkarawanen begegnete ich auch solchen von Maultieren, aber
verhältnismäßig nur wenigen Fuhrwerken, vornehmlich plumpen, schweren
Ochsenkarren. In verschiedenen Werken über China habe ich gelesen,
der elende Zustand dieser Weltverkehrsroute ließe einen Wagenverkehr
überhaupt nicht zu, und die Strecke von Nankou über das Gebirge nach
Kalgan an der Großen Mauer wäre selbst für Reiter auf Maultieren
nur mit Lebensgefahr zu passieren. Das war bis vor einem Jahrzehnt
wirklich der Fall. Seither sind aber, ein in China unerhörtes Ereignis,
die Wege ausgebessert worden, und man kann heute von Peking bis in
die Mongolei fahren. Freilich nicht in Equipagen, sondern nur in
zweirädrigen federlosen Karren, die dem Reisenden beim Fahren die
Knochen aus dem Leibe rütteln, und kommt man zu einer besonders steilen
oder der massenhaft umherliegenden Felstrümmer wegen unpassierbaren
Strecke, so werden die Räder abgezogen und der Karrenkasten mittels
Stangen zwischen zwei hintereinandermarschierenden Maultieren
aufgehängt. Wird der Weg wieder besser, dann wird diese sonderbare
Sänfte, im Chinesischen Schen-tse genannt, durch das Anstecken der
Räder wieder in ein Fuhrwerk verwandelt.

Je weiter ich mich auf meinem Ritt von Peking entfernte, desto kahler
und trostloser wurde die weite Ebene. Rings um Peking ist sie wohl
bebaut und mit zahlreichen Dörfern, Gärten, Lustschlössern der Prinzen
und Großen, Tempeln, Pagoden und Parkanlagen besetzt. Nachdem ich aber
um Mittagszeit auf einer schönen Marmorbrücke den wilden Bergstrom
Schaho übersetzt hatte, wurde die Gegend einsamer, unfruchtbarer,
denn die vielen Wildbäche, welche zur Regenzeit ihre Fluten und
Geröllmassen aus den nahen mongolischen Bergen herabwälzen, verheeren
dieses Gebiet in jedem Jahre. Das ungemein malerische, vielgezackte
Gebirge umschließt die Ebene in einem weiten Halbkreis; nirgends zeigt
sich eine Bresche, ein Paß, um hinüberzugelangen auf die mongolische
Seite. Erst kurz vor Nankou entdeckte ich den Weg, der dem Pei-Scha-ho,
einem kleinen, zeitweilig aber sehr wasserreichen Bergstrom entlang in
das Gebirge emporführt. Am Austritt dieses Flusses in die Ebene liegt
Nankou, das mein erstes Reiseziel war.

Nankou ist ein kleines Chinesennest, eigentlich nur aus einer
einzigen breiten Straße bestehend, in welcher jedes zweite Haus eine
Karawanserei für die Kamel-, Maultier- und Pferdekarawanen ist.
Hier drängt sich des Abends der ganze Verkehr der sibirischen Route
zusammen, um am folgenden Morgen den letzten Tagesmarsch nach Peking
zurückzulegen oder auf dem Wege nach Norden den schwierigen Aufstieg
durch den Nankoupaß nach der Großen Mauer zu unternehmen. Eine andere
Verkehrsroute zwischen der Mongolei und China giebt es auf Hunderte von
Kilometern nicht, denn wäre auch die Große Mauer nicht da, so würden
doch die weg- und steglosen steilen Gebirge jeden Verkehr unmöglich
machen. Binnen wenigen Jahren dürfte es wohl anders werden, denn eine
Eisenbahn zwischen Peking und Sibirien durch die Mongolei ist geradezu
unvermeidlich, und die langsam, aber stetig und sicher vordringenden
Russen haben die Konzession zur Erbauung dieser Bahn bereits erhalten.
Vorläufig aber laufen alle Verkehrsrouten nach Norden hier zusammen,
ebenso wie all die Verkehrsrouten von Sibirien und der Mongolei aus den
verschiedensten Weltgegenden an dem Nordende des Passes oder vielmehr
an jenem Thore der Großen Mauer zusammenlaufen, welches bei Kalgan in
der Mongolei liegt.

[Illustration: Die Große chinesische Mauer.]

Diese ungemein wichtige Lage von Nankou haben die Chinesen schon vor
vielen Jahrhunderten erkannt; sie haben nicht nur Nankou mit einer
hohen und starken, von Türmen flankierten Ringmauer umgeben, sondern
auch ähnliche Mauern als Thalsperren links und rechts der Berge
emporgeführt. Unseren modernen Geschützen würden diese Riesenmauern,
welche bereits einen Teil der gegen die Mongoleninvasion errichteten
großen Mauer bilden, freilich nicht lange stand halten, aber in
früheren Zeiten leisteten sie gegen die nur mit Bogen und Pfeil, Lanze
und Schwert bewaffneten Reiterscharen vorzügliche Dienste.

Als ich nach einer elenden, in einer lärmenden Chinesenspelunke
verbrachten Nacht bei Sonnenaufgang wieder weiter ritt, passierte ich
noch zwei andere derartige Paßsperren, ehe ich die Höhe des Gebirges
und damit auch die Große Mauer selbst erreichte. Oder doch wenigstens
das, was man als diese eigentlich bezeichnen sollte, denn obschon nur
sozusagen ein Vorwerk derselben, ist sie doch viel höher, mächtiger
und besser erhalten als die noch zwei Tagereisen weiter nordwestlich
vorbeiführende Große Mauer.

Der Eindruck, den das gewaltige Bauwerk beim ersten Anblick hervorruft,
wird noch dadurch erhöht, daß der zu ihr emporführende Weg in einem von
steilen Felsen eingefaßten finsteren Engpaß läuft, so schmal, daß der
Weg neben dem Wildbache, der am Grunde der Schlucht braust, kaum Platz
findet. Ist die etwa sechshundert Meter über dem Meere gelegene Paßhöhe
erstiegen, so steht man vor dem berühmten Pa-ta-ling, dem Thore, das
hier durch die Mauer führt und von einem mächtigen Wachturm überhöht
wird. Eine Rampe führt zu der Mauer empor und, auf dieser stehend,
konnte ich erst die ungeheure Mächtigkeit und Ausdehnung derselben
erkennen. Wie die meisten Stadtmauern in China, besteht auch diese
Grenzsperre gegen die Mongolei aus einem Erdwall, der zu beiden Seiten
bis hinauf mit mächtigen Granitquadern belegt ist, so fest und genau
aufeinander gefügt, daß sich auch heute noch, viele Jahrhunderte nach
der Erbauung, nur wenige Lücken zeigen. Dieser Wall, in einer unteren
Breite von etwa achtzehn Metern und einer Höhe von elf Metern, ist oben
mit Steinen oder gebrannten Ziegeln gepflastert und hat zwischen den
Parapetmauern oder Brustwehren, mit denen er auf beiden Seiten seiner
ganzen ungeheuren Länge nach eingefaßt wird, eine Breite von fünf bis
sieben Meter.

Die Brustwehren sind aus halbmeterlangen, fußbreiten Ziegeln aufgeführt
und besitzen auf etwa anderthalb Fuß Höhe vom Boden Schießscharten
für Handfeuerwaffen, während zwischen den gewaltigen, drei Meter
voneinander entfernten Zinnen die Geschütze eingeführt wurden. Von den
letzteren liegen noch Dutzende ohne Laffetten, verrostet, auf dem Wall
umher, denn die Große Mauer wird ihrer ganzen Ausdehnung nach nicht
mehr bewacht, und auch die von hundertfünfzig zu hundertfünfzig Meter
sich über die Mauer erhebenden granitenen Wachthürme sind verlassen,
Schlupfwinkel für Fledermäuse und allerhand Ungeziefer.

[Illustration: Der kaiserliche Reisepaß des Verfassers für Schantung,
Petschili und die Mongolei im Jahre 1898.]

Von meinem hohen Standpunkte aus konnte ich die Mauer auf viele Meilen
weit verfolgen; wie eine ungeheure, zu Stein gewordene Schlange
führt sie unabsehbar nach Ost und West die steilen Berge hinauf auf
schwindelnde Höhen, in tiefe Thäler hinab, ohne die mindeste Rücksicht
auf die Bodenverhältnisse. Kein Berg ist zu hoch, kein Thal zu tief,
kein Fluß zu breit. Alles wird von diesem Riesenwerke überwunden. Jeder
Granitblock, jeder der zentnerschweren Ziegel mußte aus beträchtlichen
Entfernungen durch unwirtliches, unbewohntes Gebiet herbeigeschleppt
und dann erst noch auf steile, mitunter fast unzugängliche Höhen
getragen werden. Und wie viele Granitblöcke, wie viele Ziegel waren
für diese dreitausenddreihundert Kilometer lange Mauer erforderlich!
Auf einer früheren Reise hatte ich den ersten Anfang der Großen Mauer
bei Schanhaikwan im Gelben Meere gesehen, und wie hier, so setzte mich
auch dort ihre Massenfestigkeit, die Höhe und Stärke ihrer Türme,
die weit ins Meer vorgeschobene Endbastion in Erstaunen. Um für
diese Endbastion das Fundament zu schaffen, wurden große Schiffe mit
Eisenstücken und Granitblöcken gefüllt und versenkt. An manchen Stellen
ist die Mauer höher und stärker, an manchen schwächer, streckenweise
nur ein einfacher Erdwall, aber hier, bei Pa-ta-lin, an der Hauptroute
zwischen der Mongolei und China, ist sie durchwegs in verhältnismäßig
vorzüglichem Zustand und selbst auf den wolkenumzogenen Berggipfeln
durch feste Wachtürme verstärkt.

Und diese Mauer, die ich über den Gebirgskamm in unabsehbare Fernen
hinziehen sah, die Steppen der Mongolei und die kahlen Berghänge
Chinas zu ihren Füßen, ist, wie gesagt, nur die zweite, innere Mauer,
im siebenten Jahrhundert aufgeführt und unter der Mingdynastie vor
vierhundert Jahren erneuert. Bei ihrer Erbauung wurden über eine
Million Menschen an die chinesische Grenze befohlen, um an dem
Riesenwerk zu arbeiten. Die innere Mauer zweigt sich von der äußeren
nordöstlich von Peking ab und vereinigt sich mit ihr wieder im Westen
der Provinz Schansi, nahe dem mächtigen Hoanghostrom.

Die eigentliche Große Mauer, oder wie sie von den Chinesen genannt
wird, Wan-li-tschang-tscheng, das heißt das zehntausend Li lange
Bollwerk, liegt auf dem Wege von Nankou nach Sibirien um zwei
kleine Tagereisen weiter, unmittelbar an der großen Handelsstadt
Tschan-kia-kao, dem Kalgan der Russen, in der Mongolei und zieht vom
Gelben Meere bis in die Wüste Gobi im Westen des Reiches. Sie wurde
unter dem Kaiser Tschi-Hwangti im Jahre 214 vor Christi Geburt als
Schutz gegen die wiederholten Einfälle der Mongolen begonnen und im
Laufe der Zeiten wiederholt erneuert, ausgebessert und verstärkt.

Ihre Gesamtlänge beträgt dreitausenddreihundert Kilometer, also wie
etwa die Entfernung vom Ural nach Spanien. Wie der Jesuitenpater de
Mendoza erzählt, sandte der Kaiser, „um sothanes wunderbahres Werck
zu verfertigen, das dritte Theil seiner Unterthanen, und bißweilen
von fünff Mann zween dahin; und obgleich die Einwohner einer jeden
Landschafft an denen Oertern, so ihren Häusern am nächsten, blieben
und arbeiteten, sturben doch nichtsdestoweniger fast alle Diejenigen,
welche dahingingen, entweder vor Langwierigkeit der Reyse, oder vom
Unterschiede der Lufft, so in diesen Ländern ist.”

Peter de Gojern, der 1655 bis 1657 die Gesandtschaft der Ostindischen
Gesellschaft zum großen Tatarenchan, d. h. dem Stammvater der jetzt
regierenden chinesischen Kaiserdynastie, nach Peking begleitete, sagt
in seiner 1666 in Amsterdam erschienenen Reisebeschreibung:

„Den Baw dieses wundergrossen Wercks ließ der Kayser aufführen nicht so
sehr zur Scheide Wandt zwischen dem Sinischen und Tartarischen Reiche,
als zum hochnöthigen Mittel hinfüro dem Einfall der Tarter zu wahren
und solche mächtige Feinde allerdings aus dem Reiche zu halten. Er
ließ eine solche Zahl Menschen daran arbeiten, daß das gantze Werck
innerhalb fünff Jahren fertig und vollzogen ward.”

„Denn da nam dieser Kayser auß jedweden zehen Männern durchs gantze
China drey, und zuletzt auß jeden fünffen zween heraus, welche
täglich an der Mawr arbeiten und ein gewisses Stücke davon fertig
schaffen musten. Das gantze Werck ward von Kiesel- und andern Steinen
auffgeführt, und dermassen dicht und fest gemawret, daß man nicht die
geringste Spalte oder Ritze daran finden konnte. Ja es hatte der Kayser
ein gar strenges Gebot publiciret, daß, wo in einigem Winckel oder
Fugen des Wercks sich ein Nagel hineinschlagen liesse, derjenige, so am
selbigen Stücke gearbeitet, ein Fenster im Galgen geben solte.”

Ein Wort des Kaisers hatte genügt, Millionen von Menschen in Bewegung
zu setzen; Millionen verließen ihre Heimat, ihre Familien, um nach der
Nordgrenze des ungeheuren Reiches zu ziehen und dort unter den größten
Entbehrungen jahrelang zu arbeiten. Hunderttausende büßten ihr Leben
ein, von irgend welchem Lohn, irgend welcher Entschädigung für diese
Opfer war nicht die Rede, und doch opferten sie sich, weil es der
Kaiser befohlen. Aehnliches, wenn auch in unvergleichlich kleinerem
Maßstabe, ist bei der Herstellung des Suezkanals erfolgt, aber es
ist sehr fraglich, ob sich ein gleiches Zusammentreiben von Menschen
noch einmal ausführen ließe. In China indessen gilt das Kaiserwort im
Ernstfalle noch immer für allmächtig. Noch heute richten sich trotz
aller Mißwirtschaft, trotz Elend, Zerfall und Aufständen doch noch
alle Blicke nach Peking. Ich habe das im chinesischen Reiche überall
wahrgenommen, und wenn auch das Vertrauen in den Bestand und in die
Widerstandskraft des chinesischen Volkes durch den letzten Krieg mit
Japan erheblich erschüttert worden ist, so scheint es mir doch sehr
gefehlt, diese Widerstandskraft zu unterschätzen. Droht wirklich ernste
Gefahr für den Bestand des Reiches und dringt davon die Ueberzeugung
in die Massen des Volkes, dann dürfte China nicht so leicht zu besiegen
sein, wie es durch die Japaner geschehen ist.

Dafür wird aber die friedliche Eroberung desto sicherer stattfinden,
soweit es den Handel, den Verkehr, die Erschließung des Landes
betrifft, und gegen diese wird auch die chinesische Mauer nicht
standhalten. Die einstigen tapferen Mongolen, welche unter
Dschingis-Chan das Reich überfluteten, ziehen heute als friedliche
Kameltreiber durch die Mauer nach China; ihre Fürsten sind Vasallen
des Kaisers und kommen zeitweilig nach Peking, um dort ihren Tribut zu
entrichten.

Nicht die Mongolen drohen dem chinesischen Reiche, sondern das Volk,
das nördlich an sie grenzt: die Russen. Gegen sie giebt es keine
chinesische Mauer, und durch denselben Engpaß von Nankou, durch welchen
heute der ganze Verkehr zwischen China und Sibirien auf Kamel- und
Maultierrücken stattfindet, wird binnen einem Jahrzehnt die Lokomotive
dampfen.

[Illustration]



Hofetikette und Umgangsformen bei den Chinesen.


Die Umgangsformen sind bei den Chinesen vielleicht strengeren Regeln
unterworfen als bei irgend einem anderen Volke, nur kommen sie in
einer der unsrigen ganz entgegengesetzten Weise zum Ausdruck. Empfängt
beispielsweise ein Chinese Besucher in seinem Hause, so nimmt er dazu
seinen Hut nicht ab, sondern setzt ihn auf; er schüttelt bei der
Begrüßung nicht die Hände des Besuchers, sondern seine eigenen Hände,
und er weist dem Gaste nicht die rechte, sondern die linke Seite als
Ehrenplatz zu. Es wäre ein schlimmer Verstoß gegen die Etikette, wollte
der Gast sich nach dem Befinden der Damen erkundigen oder den Wunsch
ausdrücken, ihnen vorgestellt zu werden. Die Damen bleiben unsichtbar,
selbst bei Mahlzeiten, und statt ihrer werden Frauen von zweifelhaftem
Ruf zugezogen. Die Tafel wird nicht mit einem weißen Tischtuch bedeckt,
wie bei uns, denn weiß ist bei den Chinesen die Farbe der Trauer.
Während der Mahlzeit werden nicht kalte, sondern warme Getränke
aufgetragen; die Reihenfolge der Speisen ist die umgekehrte der
unsrigen. Der Chinese hat nicht den Wunsch, möglichst jung, sondern
möglichst alt auszusehen, und es ist die größte Schmeichelei, einen
jungen Mann zu seinem ehrwürdigen Aeußeren zu beglückwünschen. Wir
schneiden unsere Kopfhaare kurz, der Chinese verlängert sie noch
künstlich durch Seidenschnüre; wir sind stolz auf unsere Bärte, der
Chinese vertilgt bis zu seinem fünfundvierzigsten Jahre sorgfältig
alle Bartspuren. Die Chinesin schnürt sich nicht den Leib, sondern die
Füße; geht sie aus, so setzt sie nicht einen Hut auf, sondern entfernt
jede Kopfbedeckung und zeigt das Gesicht unverschleiert. Der Chinese
trägt keinen Spazierstock, sondern einen Fächer, statt sich auf seinen
Spaziergängen von einem Hund begleiten zu lassen, trägt er einen Käfig
mit einem Vogel; und reitet er, so hält er die Zügel nicht in der
linken, sondern in der rechten Hand. Er schreibt nicht mit der Feder,
sondern mit einem Pinsel, und zwar von oben nach unten, von rechts nach
links, von hinten nach vorn; Randbemerkungen macht er nicht unten,
sondern oben, Nachschriften stehen dort, wo bei uns der Anfang ist, und
datiert er einen Brief, so schreibt er zuerst das Jahr, dann den Monat,
dann den Tag. Spricht er jemanden an, so nennt er den Namen zuerst,
den Titel nachher, und sagt nicht: „Guten Morgen, Herr Fischer”,
sondern „Fischer Herr, Tschin-Tschin”. Der Chinese kann die schlimmsten
Schimpfwörter an den Kopf geworfen bekommen, er wird darüber vielleicht
lachen; tritt ihm aber zufällig jemand auf die kleine Zehe, was wir
unter gegenseitigen Höflichkeitsformen weiter unbeachtet lassen, so
vergeht er vor Zorn und prügelt sich vielleicht sogar. Stirbt sein
Sohn, ein Ereignis, worüber wir jammern und wehklagen, so lacht
der Chinese, solange er unter Leuten ist, darüber. Alle diese und
tausenderlei andere Einzelheiten in den Umgangsformen sind in China
durch uralte Ueberlieferungen geheiligt, ja sie werden durch ein
eigenes Staatsministerium bis ins kleinste festgestellt. Dieses
Ministerium, eine der sechs großen Zentralbehörden in Peking, führt
den Titel Li-Pu, etwa Amt der Gebräuche und Zeremonien. Der Hof, die
Festtage, der administrative und militärische Organismus, die Geburten,
Hochzeiten, Leichenbegängnisse, Trauer, Götter- und Ahnenverehrung, die
Ehren und Würden, Uniformen, Trachten, Sommer- und Winterkleidung, die
Art der Begrüßung, Gehen, Fahren, Reiten, mit einem Worte das ganze
Leben des Chinesen von seiner Geburt bis zu seinem Tode, ja sogar
darüber hinaus, ist dem Li-Pu untergeordnet, und seine Vorschriften
werden von jedem Bewohner des Reichs der Mitte genau beobachtet.

Das Li-Pu ist in eine Anzahl von Aemtern eingeteilt, deren jedes
seine besondere Bestimmung hat und seine Weisheit aus einem uralten
Werke, dem Buch der Gebräuche schöpft, das nicht weniger als
zweihundert Bände umfaßt. Einem dieser Aemter ist auch der Ahnenkultus
untergeordnet mit den Vorschriften für die Verehrung der verstorbenen
Kaiser, Generale, Staatsmänner und Gelehrten, der Geistermahlzeiten,
Ahnenopfer und dergleichen. Ein anderes Amt, das Amt des Gastes und
des Wirtes genannt, regelt den Verkehr mit den fremden Gesandtschaften
und tributpflichtigen Fürsten; ihm sind die Dolmetscher und die
chinesischen Gesandtschaften im Auslande in Bezug auf die Einzelheiten
der Ausrüstung und Reise untergeordnet. Sogar die Musik hat ein eigenes
Kaiserliches Musikamt mit einer großen Anzahl von Beamten, welche die
Aufgabe haben, „die Grundsätze der Harmonie und Melodie zu erforschen,
Musikstücke zu komponieren und Instrumente anzufertigen, um diese
Musikstücke aufzuführen”. Die Chinesen sind wohl das einzige Volk des
Erdballs, das ein eigenes Musikamt besitzt und so viel offizielle
Musik macht. Selbst die Regeln des Tanzes sind von dem Ministerium der
Gebräuche vorgeschrieben, denn, so sagt Confucius, „in Wirklichkeit ist
nichts ohne seine bestimmten Zeremonien”.

Der Chinese kann sich nicht einmal nach Belieben sein Haus bauen. Er
hat in der Anlage des Hauses, in der Richtung der Front, ja sogar
in Bezug auf die Höhe bestimmte Vorschriften zu beobachten. Er
darf es nicht höher bauen als das nächste Haus eines ihm im Range
Höherstehenden, und neben den Gesetzen, welche die Lebenden ihm zur
Befolgung auferlegen, darf er auch das Recht der Toten nicht verletzen.
Den bösen Geistern, die Himmel und Erde bevölkern, muß er aus dem
Wege gehen, oder wie es in China heißt, das Feng-Schui beobachten.
Auf Schritt und Tritt, in seinem ganzen Thun und Lassen ist er durch
Vorschriften und alte Traditionen eingeengt, besonders dann, wenn er
in den kaiserlichen Dienst getreten ist. Auch der gewöhnliche Bürger
muß sich dem Li-Pu willenlos unterwerfen. Die Farbe, Stoffgattung und
der Zuschnitt der Kleider, die Anzahl der Knöpfe, die Hüte, die Farbe
der Sänften, Sänftenstangen, ja sogar die Regen- und Sonnenschirme
haben ihre bestimmte Bedeutung. Der chinesische Beamte darf nicht
nach Belieben ein wärmeres Kleidungsstück anlegen oder es mit irgend
einem beliebigen Pelz verbrämen lassen. Er mag in den kalten Provinzen
des Nordens frieren, er mag bei der Annäherung des Sommers in dem
tropischen Süden schwitzen, Sommerkleidung oder Pelz muß er anbehalten,
solange nicht von Peking der Tag bezeichnet wird, an welchem Seine
Majestät der Kaiser seinen Sommer- oder Winterhut aufgesetzt hat. An
diesem Tage wechseln auch sämtliche Mandarine ihre Kleidung. Ist es
Sommer geworden, so werden die Pelze, die aufgestülpten schwarzen
Seidenhüte und die kleinen niedlichen Handöfchen, die jeder Beamte bis
dahin zu tragen hat, eingepackt und mit seidenen Gewändern, leichten
Bambushüten und Fächern vertauscht. Generalgouverneur, Tatarengeneral
oder Minister können sich wohl in den Provinzen den Luxus von sechs
oder mehr Sänftenträgern erlauben, in Peking aber dürfen ihre Sänften
nur von vier Trägern getragen werden. Würdenträger geringeren Grades
haben in Peking Anspruch auf zwei, außerhalb der Hauptstadt auf vier
Sänftenträger; noch geringere dürfen sich in Peking der Sänfte nicht
bedienen, können aber reiten. Zieht ein hoher Würdenträger diese Art
der Fortbewegung vor, so muß er von zehn Stalldienern begleitet werden,
von denen zwei vor ihm, acht hinter ihm einherschreiten. Je nach dem
Range sinkt diese Anzahl der Begleiter auf sechs, vier und zwei herab,
und Beamte des geringsten Grades haben nur einen Begleiter, wobei aber
auch noch eine strenge Unterscheidung darin liegt, ob der Begleiter vor
dem Reiter oder hinter ihm einherschreitet.

[Illustration: Mandarinshut im Winter.]

Die gelbe Farbe darf nur von Mitgliedern des kaiserlichen Hofes oder
von solchen Würdenträgern getragen werden, denen diese Auszeichnung
besonders verliehen wird. Die eigentlichen Rangabzeichen sind die
roten, weißen, blauen oder metallfarbenen Knöpfe auf den Hüten und die
viereckigen, reich gestickten Schilder auf Brust und Rücken. Zeigen
diese Schilder einen in Gold gestickten Storch, so sind die Träger
Beamte des höchsten Ranges, zeigen sie einen Drachen mit vier Klauen
an den Füßen, so sind die Träger Edelleute. Als besondere Auszeichnung
dürfen manche von diesen einen Drachen mit fünf Klauen tragen. Näht
sich jemand die fünfte Klaue auf, ohne die Berechtigung dazu zu
haben, so wird er durch hundert Stockschläge bestraft und muß einen
Monat den schrecklichen Holzkragen, Kang genannt, tragen. Nur gewisse
privilegierte Klassen dürfen sich in Seide kleiden; wenn ein Bürger in
die Stickereien seiner Kleider Goldfäden einflechten oder es wagen
sollte, statt schwarzer Tuchschuhe solche aus Seide zu tragen, so wird
er ebenfalls streng bestraft. Das gilt nicht allein von den Männern.
Auch die Frauen sind diesen strengen Kleidungsvorschriften unterworfen,
so daß man die Gattin eines Mandarins dritter Klasse beispielsweise von
einer solchen vierter Klasse, die Beamtenfrau von der Offiziersfrau und
von einer gewöhnlichen Bürgersfrau sofort unterscheiden kann.

[Illustration: Hände bei der Begrüßung (der linke Daumen trägt einen
Ring).]

Die Chinesin kann sich nicht nach Belieben in Samt und Seide hüllen,
Sonnenschirme, Spitzen, Federn von Qualität und Farbe tragen, wie ihre
Mittel es erlauben oder wie ihr es am besten steht. Es wäre gewiß den
gesellschaftlichen und Vermögensverhältnissen in anderen Ländern sehr
zuträglich, wenn man dort ebenfalls einige Vorschriften ähnlicher Art
machte. Außerhalb Chinas ist die Dame Mode souverän, in China nur der
Kaiser.

Wie die Kleidung, so ist auch die Begrüßung bei den Chinesen
strengen Regeln unterworfen. Europäische Reisende in China haben die
gegenseitige Begrüßung der Chinesen unter dem Sammelnamen Kautau
zusammengefaßt. Der Kautau besteht darin, daß man mit geschlossenen
Beinen in die Knie fällt und mit der Stirn den Boden einmal berührt.
Aber diese Begrüßung gebührt nicht jedermann. Der Li-Pu unterscheidet
acht verschiedene Arten der Begrüßung. Die gewöhnlichste besteht
darin, daß man die beiden zu Fäusten geballten Hände vor der Brust
aneinanderhält. Das ist der Kung-schau. Die nächst höhere Begrüßung,
Tso-yih genannt, besteht neben der eben beschriebenen noch in einer
Verbeugung. Bei der dritten, Ta-tsien, hockt der Grüßende nieder, als
ob er in die Knie fallen wollte; bei der vierten, Kwei genannt, fällt
er wirklich auf die Knie. Erst die fünfte Begrüßung ist der einfache
Kautau. Die sechste Art der Begrüßung besteht aus diesem Kautau, aber
mit dreimaligem Aufschlagen der Stirne auf den Boden. Deshalb auch ihr
Name San-kau, d. h. dreimal aufschlagen. Die siebente Begrüßung Lu-kau
besteht aus zwei San-kaus und die achte und ehrfurchtsvollste Begrüßung
aus drei San-kaus. Bei dieser, San-kwei-kin-kau genannt, muß also der
Grüßende dreimal niederknien und jedesmal die Stirne dreimal auf den
Boden schlagen. Dieser Gruß gebührt jedoch nur den höchsten Göttern
und dem Kaiser, dem Vertreter dieser Götter auf Erden. Manchen Göttern
wird nur die siebente oder sechste Begrüßung zu teil.

Die Kaiser der gegenwärtigen Dynastie haben bisher auf diese
Begrüßungsart ungemein streng gehalten, und sie bildete auch den
Gegenstand eines ernsten diplomatischen Zwischenfalles, als im Jahre
1873 der Empfang der Gesandten durch den Kaiser erörtert wurde. Das
Li-Pu bestand darauf, daß auch die Gesandten der Großmächte vor dem
Beherrscher des Reiches der Mitte sich dreimal niederwerfen und mit
der Stirn den Boden neunmal berühren sollten. Die Gesandten weigerten
sich natürlich, diese erniedrigende und keineswegs graziöse Begrüßung
auszuführen, und erklärten sich nur bereit, dem Kaiser dieselben Ehren
zu erweisen wie ihren eigenen, dem Kaiser im Range gleichstehenden
Souveränen. Die Verhandlungen wurden während sechs Monaten fast
täglich geführt, bis endlich den Diplomaten die Geduld riß und der
amerikanische Gesandte erklärte, die diplomatischen Beziehungen
abzubrechen und von seiner Regierung Instruktionen abzuwarten, welche
dem Ernst der Situation entsprechen würden. Daraufhin gab der Kaiser
gnädigst nach und begnügte sich mit drei tiefen Verbeugungen der
Gesandten. Eine andere Schwierigkeit bildeten die harmlosen schwachen
Degen, die zur diplomatischen Uniform gehören. In Gegenwart des Kaisers
dürfen keinerlei Waffen getragen werden, und es dauerte lange, ehe die
bezopften Zeremonienmeister der verbotenen Mode nachgaben.

Ebensowenig dürfen in Gegenwart des Kaisers Augengläser und Zwicker
getragen werden. Nun war einer der Vertreter so kurzsichtig, daß er
ohne Gläser vollständig hilflos war. Die Chinesen beschlossen, daraus
keine diplomatische Frage zu machen, sondern an die Gutherzigkeit des
betreffenden Gesandten zu appellieren. Er gab wirklich nach und wurde
von zwei Kollegen in die Audienzhalle des Kaisers geführt.

Augengläser dürfen in China auch im gewöhnlichen Leben vor im Range
höherstehenden Personen nicht getragen werden. Selbst der Kurzsichtige
muß sie abnehmen, wenn er vor einen Mandarin tritt, und sollte
beispielsweise bei Gerichtsverhandlungen ein Kurzsichtiger in die Lage
kommen, etwas lesen zu müssen, so muß erst die Erlaubnis des Richters
zum Aufsetzen der Augengläser eingeholt werden. Augengläser bilden
überhaupt in China das Zeichen von höherem Ansehen und Würde. Sobald
ein Litterat irgend eine Mandarinstelle erhält, wird es gewiß sein
erstes sein, sich ein paar Augengläser anzuschaffen, selbst wenn er
sich des besten Sehvermögens erfreuen sollte.

Jedem Mandarin des Zivil- oder Militärstandes gebührt je nach seinem
Range eine der vorstehenden Begrüßungsarten. Begegnet ein niedriger
Mandarin auf der Straße einem höheren, so muß er vom Pferde oder aus
der Sänfte steigen, um diese Begrüßung vorschriftsmäßig auszuführen.
Mandarine desselben Ranges thun dasselbe, ja sie überbieten sich
sogar, um einander zuvorzukommen. Man kann sich leicht vorstellen,
welcher Zeitverlust und welche Umstände mit so zeremoniösen Begrüßungen
auf offener Straße verbunden sind, und deshalb trachten Mandarine,
wenn sie einander aus der Ferne ansichtig werden, auszuweichen, oder
sie ziehen die Vorhänge ihrer Sänften zu und thun, als bemerkten sie
einander gar nicht. Das Volk hat sich vor den Mandarinen, wenn sie
im Dienste sind oder zu Gericht sitzen, auf die Knie zu werfen. Nur
die Greise machen darin eine Ausnahme. Selbst grauhaarige Sträflinge
werden gewöhnlich von den Richtern aufgefordert, sich zu erheben.
Diese im Auslande leider so wenig gekannte Achtung vor dem Alter hat
in China für viele Ausländer schon sehr schlimme Folgen gehabt. Vor
einer Reihe von Jahren begegneten sechs junge Engländer in der Nähe
eines Vertragshafens einem alten Manne, der eine schwere Last auf dem
Rücken trug. Nach chinesischer Etikette würde jedermann, ob aus den
niedrigsten oder höchsten Ständen, einem Greise ausweichen, selbst wenn
er keine Bürde trüge. Der Weg war schmal und die Engländer bestanden
darauf, daß der Alte ihnen Platz mache. Als er sich weigerte, schlugen
sie ihn und stießen ihn endlich in den Sumpf zur Seite des Weges. Diese
That sollte ihnen übel bekommen. Die erzürnten Bewohner des Dorfes, zu
welchem der Alte gehörte, machten sich zur Verfolgung der Engländer auf
und töteten sie insgesamt.

Auch bei Besuchen beobachten die Chinesen ein eigentümliches
Zeremoniell. Der Besucher wird sich in seiner Sänfte nicht bis an das
Thor tragen lassen, sondern seinen der Sänfte stets vorausschreitenden
Visitenkartenträger mit seiner gewöhnlich etwa fünfundzwanzig
Centimeter langen roten Visitenkarte zu dem Bewohner des betreffenden
Hauses voraussenden. Ist der Besucher in Trauer, so sind seine
Visitenkarten von weißer Farbe, und die Schriftzeichen sind blau.
Will der Hausbewohner den Besucher nicht empfangen, so verleugnet er
nicht seine Gegenwart, wie es in anderen Ländern zu geschehen pflegt,
sondern sein Thorhüter wird dem Visitenkartenträger sagen: „Dein Herr
braucht sich nicht zu bemühen”. Darauf wird die Karte dort gelassen.
Wird der Besuch angenommen, so begiebt sich der Hausherr bis zum
Eingang, um den Besucher zu empfangen und ihn selbst unter vielen
Verbeugungen in die inneren Räume zu führen. Vorher wird er aber seinen
offiziellen Zeremonienhut aufsetzen. Die größeren Häuser und die Yamen
(Dienstwohnungen) der Mandarine haben gewöhnlich drei Eingänge. Der
mittlere Eingang wird nur Besuchern von gleichem oder höherem Range
als der Hausherr geöffnet. Auch diese Frage hat in China schon viele
Ungelegenheiten gemacht. In Canton z. B. unterhielten die europäischen
Konsuln viele Jahre lang keinen persönlichen Verkehr mit dem Vizekönig,
weil dieser sich weigerte, ihnen die mittlere Ehrenpforte zu öffnen.
Allerdings standen die Konsuln im Range tief unter dem Vizekönig,
allein sie waren die Vertreter ihrer Regierungen und unterließen
lieber den Verkehr mit dem Vizekönig gänzlich, als sich durch
eine Seitenpforte zu ihm zu begeben; nach langen diplomatischen
Verhandlungen setzten sie aber ihren Willen durch.

[Illustration: Visitenkarte des Prinzen Tsching. (¼ der
Originalgröße.)]

Sobald der Hausherr seinem Gast den (stets erhöhten) Ehrensitz zu
seiner Linken angewiesen hat, werden Thee und Pfeifen aufgetragen. Der
Besucher ist nicht verpflichtet, irgend etwas zu genießen, außer wenn
der Hausherr ihm als besonderen Beweis seiner Achtung eine Tasse Thee
selbst darreicht. Er wird dies niemals mit einer Hand, sondern immer
mit beiden Händen thun, indem er sich von seinem Sitze erhebt, und in
derselben Weise muß der Besucher die Tasse Thee auch in Empfang nehmen.
Bei offiziellen Besuchen zwischen Mandarinen und europäischen Beamten
wird der dargebotene Thee erst am Schlusse des Besuches getrunken.
Berührt der Hausherr im Laufe der Unterhaltung seine Tasse, so ist dies
das stillschweigende Zeichen, daß er die Unterhaltung beendet zu sehen
wünscht.

Auch in den einzelnen Redeformen beobachtet der Chinese gewisse
feste Regeln, und eine ungezwungene Unterhaltung wie bei uns ist im
Reiche der Mitte absolut unbekannt. Ja und Nein werden immer in der
sonderbarsten Weise umschrieben, denn es wird in China beispielsweise
als schlimmer Verstoß gegen die gute Sitte angesehen, jemandem
etwas direkt durch ein Nein abzuschlagen. Seit Jahrhunderten sind
die einzelnen Fragen und Antworten bei Besuchen in bestimmte Formen
krystallisiert, mit solchen bombastischen Floskeln verziert, so mit
Komplimenten ausgeschmückt, daß sie in der wörtlichen Uebersetzung
geradezu unverständlich sind. Drückt beispielsweise der Besucher sein
Bedauern darüber aus, daß er den Hausherrn so lange nicht gesehen
hat, so wird dieser nach den bestehenden Formeln antworten: „Wir
beanspruchen die Mühe Ihrer ehrenwerten Schritte zu empfangen; ist
die Person in der Sänfte wohl?” was soviel heißt als „Ich danke
für Ihren Besuch und hoffe, Sie befinden sich wohl”. Gewöhnlich
sendet der Hausherr nach den einleitenden Höflichkeitsbezeugungen
nach seinen Söhnen, die beim Eintreten den Kautau vor dem Besucher
ausführen. Studiert einer der Söhne, so wird vom Besucher die Hoffnung
ausgesprochen, daß er „den Wohlgeruch der Bücher fortführen”, d. h.
den litterarischen Ruf der Familie aufrechterhalten wird. Je höher der
Besucher die Anwesenden preist, desto verächtlicher wird der Hausherr
von seinen Angehörigen sprechen, denn es gehört zur guten Sitte, alles
Fremde in den Himmel zu erheben, alles Eigene herunterzusetzen; aber
immer in der für Ausländer so schwer verständlichen Umschreibung. Die
Frage: „Erfreut sich der ehrenwerte große Mann des Glückes?” will
sagen „Befindet sich Ihr Vater wohl?” Fragt der Besucher: „Wie viele
würdige junge Herren (Söhne) haben Sie?” so antwortet der Vater, wenn
er beispielsweise nur einen Sohn haben sollte: „Mein Los ist armselig,
ich habe nur einen kleinen Käfer”. In ähnlichen Formen bewegen sich
auch die Gespräche von Fremden, die einander begegnen, selbst wenn sie
Bettler sein sollten. So z. B.:

„Wie lautet Ihr ehrenwerter Name?”

„Der erbärmliche Name Ihres minderen Bruders ist Ming.”

„Was ist Ihre erhabene Langlebigkeit?”

„Sehr gering. Nur elende siebzig Jahre.”

„Wo befindet sich Ihr edler Palast?”

„Das Schmutzloch, in welchem ich mich verberge, ist in X.”

„Wie viele würdige junge Herren (oder wie viele „kostbare Pakete”)
haben Sie?”

„Nur drei dumme kleine Schweinchen.”

Unter Gleichgestellten ist es ein Verstoß gegen die Etikette, sie bei
ihrem Namen zu nennen, selbst wenn sie die besten Freunde oder sogar
Brüder sein sollten. Sie sprechen einander als Ehrwürdiger älterer
Bruder oder Ehrwürdiger jüngerer Bruder an. Der älteste Sohn einer
Familie Namens Ming wird als der große Ming bezeichnet, der zweite Sohn
als Ming Nummer zwei, der dritte als Ming Nummer drei und im Verkehr
mit Gleichgestellten werden sie von diesen mit Ehrwürdiger großer Ming,
oder Ehrwürdiger Ming Nummer zwei und so fort angesprochen. Nur der
Höhergestellte hat das Recht, sie bei ihrem wirklichen Namen zu nennen.

So ist das ganze Leben der Chinesen eingeengt durch ein bis in die
kleinsten Einzelheiten gehendes Zeremoniell, auf das mit der größten
Fürsorge geachtet wird. Der Europäer, der glaubt, sich im Verkehr
mit Chinesen darüber hinwegsetzen zu können, wird niemals etwas
ausrichten, denn die Chinesen messen den Charakter und die Stellung
eines Mannes hauptsächlich nach diesen in unseren Augen nichtigen
Einzelheiten. Ich habe das auf meinen Reisen im Innern Chinas und
bei meinen Mandarinbesuchen fast täglich beobachtet. Der frühere
amerikanische Gesandte in Peking, Chester Holcombe, erzählt darüber
einige interessante Beispiele. Einmal sandte er einen Konsul nach
einer Provinzialhauptstadt, um dort eine Angelegenheit mit dem
Gouverneur zu schlichten. Eine halbe Stunde nach seiner Ankunft in der
betreffenden Stadt ritt der Konsul, noch in seinen Reisekleidern, zu
dem Yamen des Gouverneurs und klopfte mit seiner Peitsche an die große
Thür. Der erschreckte Thorhüter nahm seine Karte ab und brachte sie dem
Gouverneur, aber dieser weigerte sich, den Konsul zu empfangen. Während
einer Woche ließ er sich täglich beim Gouverneur anmelden, täglich
wurde er abgewiesen, und schließlich mußte er unverrichteter Dinge die
beschwerliche, wochenlange Rückreise nach Peking antreten. Auf dem Wege
wurde er in einer Stadt von dem Pöbel auch noch thätlich insultiert.
Die fragliche Angelegenheit, die durch ein höfliches Auftreten des
Konsuls ohne weiteres hätte geregelt werden können, zog sich drei Jahre
lang hin, und schließlich mußte sich der Gesandte selbst bequemen, nach
der betreffenden Provinzialstadt zu reisen. Mit allen Einzelheiten
der chinesischen Etikette vertraut, wurde er von dem Gouverneur mit
ausgesuchter Höflichkeit empfangen, und die Sache wurde in der ersten
Unterredung beigelegt.

Einmal hatte Holcombe eine Konferenz mit den chinesischen Ministern im
Auswärtigen Amte in Peking. Als ich eintraf, so erzählt er, waren zwei
von ihnen bereits anwesend. Wir bekomplimentierten einander gegenseitig
geraume Zeit an der Thüre, bevor wir eintraten, und wieder eine geraume
Zeit, ehe wir an dem großen runden Tische im Konferenzzimmer unsere
Plätze einnehmen konnten. Während unserer Beratungen kamen nacheinander
fünf andere Minister. Jedesmal stürzten die anwesenden Minister wieder
aus der Thüre, verbeugten sich unzähligemal voreinander, ohne daß einer
den Vortritt annehmen wollte, und schließlich kämpften sie wieder unter
den tiefsten Verbeugungen um den untersten Sitz am Tische, so daß
während der Konferenz die Teilnehmer fünfmal ihre Plätze wechselten.

Der Chinese wird selten im Verkehr mit seinen Landsleuten oder mit
Ausländern absichtlich eine unangenehme oder anstößige Bemerkung
fallen lassen. Ist er unzufrieden, so sagt er es nicht gerade heraus,
sondern überläßt es dem Zuhörer, die wirkliche Ursache herauszufinden,
während er ihm irgend eine erfundene Geschichte erzählt. Er will
seinen Zweck erreichen, aber auf eine, wie er glaubt, angenehmere
Weise. Erscheint beispielsweise einem chinesischen Diener sein Lohn
zu gering, so wird er sich nicht beschweren. Seiner Ansicht nach wäre
dies äußerst unhöflich. Er wird also sofort seinen Vater krank werden
oder einen Verwandten sterben lassen, um damit seinen Austritt aus dem
Dienst zu entschuldigen. Ist sein Dienstherr ein Ausländer, der mit
den chinesischen Gebräuchen noch nicht vertraut ist, so wird er die
Angaben des Dieners vielleicht als bare Münze nehmen und den Diener
wirklich entlassen. Aber hat er die Chinesen durch langen Verkehr mit
ihnen kennen gelernt, so wird er trachten, durch einen anderen Diener
den wahren Grund herauszufinden und ihn zu berücksichtigen, stets aber
wird er sich dabei den Anschein geben, als schenkte er den Ausflüchten
seines Dieners vollen Glauben, um diesen nicht auf einer Lüge zu
ertappen.

In der Absicht, unangenehme Wahrheiten, ihre wirklichen Gefühle und
Beweggründe zu verbergen, werden die Chinesen zu allen nur erdenklichen
Mitteln und Wendungen Zuflucht nehmen. Hoch oder niedrig, verlieren
sie selten ihren Gleichmut, und nur in ihrem Hause den vertrautesten
Freunden gegenüber legen sie die eisernen Fesseln der Etikette ab
und lassen ihren Gefühlen freien Lauf. Diese Sitte von Unterdrückung
und falscher Auslegung ihrer innersten Gedanken hat, wie Holcombe
sehr richtig sagt, in der Außenwelt den Eindruck hervorgerufen,
daß die Chinesen ein kaltblütiges, gleichgültiges Volk ohne Nerven
seien. Aber in Wirklichkeit sind sie äußerst empfindlich, stolz und
leidenschaftlich. Nichts bringt die Chinesen so sehr außer Fassung und
verwirrt sie, wie die geraden und schroffen Manieren der westlichen
Völker, hauptsächlich der Engländer und Amerikaner, und deshalb
verschanzen sie sich gerade diesen gegenüber hinter ihrer starren
Etikette, während sie dem höflichen, bescheidenen und geduldigen
Deutschen größere Offenheit und größeres Vertrauen entgegenbringen.

[Illustration: Paradewaffen der Mandarine.]



Wie die Chinesen Verdienste ehren.


Nach der letzten großen Schlacht zwischen den Chinesen und Japanern
brachten die Blätter die Drahtmeldung aus China, daß dem Vizekönig
von Tschihli (in Europa unter dem Namen Petschili besser bekannt) zur
Strafe für die Niederlage seiner Truppen ein Pfauenauge unterdrückt
worden sei.

[Illustration: Hutknopf der Mandarine (halbe Größe).]

Diese Nachricht dürfte der großen Mehrzahl der Leser unverständlich
geblieben sein, denn selbst die in China lebenden Europäer sind mit
chinesischen Orden und Ehrenzeichen nicht vertraut, die zuweilen in
den absonderlichsten Formen verliehen werden. Orden nach europäischen
Begriffen besitzen die Chinesen überhaupt nicht. Allerdings wurden
während der Kriege, welche die Chinesen in den letzten Jahrzehnten
gegen Engländer, Franzosen und die eigenen Rebellen auszufechten
hatten, an die im chinesischen Heere dienenden Europäer Orden und
Medaillen verliehen, doch waren diese letzteren nur willkommene Behelfe
der Vizekönige und wurden von der chinesischen Zentralregierung nicht
anerkannt. Erst am neunzehnten Tage des zwölften Monats des siebenten
Jahres Kuangsi (am 7. Februar 1882) stiftete der Kaiser des himmlischen
Reiches einen Orden, Shuanglung-Pao-Sing, zu deutsch den Orden des
doppelten Drachen, doch auch dieser wird nur an verdiente Ausländer
verliehen. So z. B. befanden sich unter den ersten mit dem Großkreuz
dekorierten Ausländern der Direktor der chinesischen Zollämter Sir
Robert Hart und der von der Chartumer Katastrophe her bekannte
englische General Gordon, der sich in der chinesischen Expedition
gegen die Taiping ausgezeichnet hatte. Allein Chinesen erhalten
weder Orden noch Medaillen. Die gebräuchlichste Belohnung für Zivil-
und Militärdienste ist die Erhebung zu einer höheren Rangstufe der
Mandarine oder, wie sie in China heißen, Kwun. Mandarin ist keineswegs
ein chinesisches, sondern ein vom portugiesischen Mandar, Befehlen,
abstammendes Wort, das nur in der lingua franca Ostasiens, dem pidgin
English, gebräuchlich ist.

Die Chinesen haben neun Klassen von Mandarinen, deren jede für Militär
und Zivil besondere Abzeichen besitzt, durchwegs Tiere, die auf einem
etwa einen Quadratfuß großen viereckigen Tuchschild mit farbiger Seide
aufgestickt sind. Diese Schilder werden von den Mandarinen auf Brust
und Rücken getragen, und an ihnen erkennen die Chinesen ihre Beamten,
die Soldaten ihre Offiziere. Die Tiere sind die folgenden:

      Rang        Armee und Flotte      Zivil

    1. Klasse         Nashorn          Kranich
    2.   „        indischer Löwe      Goldfasan
    3.   „            Leopard           Pfau
    4.   „             Tiger          wilde Gans
    5.   „              Bär           Silberfasan
    6.   „          Tigerkatze          Reiher
    7.   „           Waschbär            Ente
    8.   „           Seehund            Wachtel
    9.   „          Rhinoceros          Elster.

Außer diesen Brustschildern ist auch die Art der Leibgürtel genau
festgesetzt, so z. B. tragen die Mandarine erster Klasse rote Gürtel
mit Schnallen aus Jade (Nephrit) und Rubinen, jene der letzten Klasse
Schnallen aus Büffelhorn.

Zu den Abzeichen der Mandarine gehören auch die Knöpfe oder vielmehr
nußgroßen runden Kugeln auf der Spitze der chinesischen Hüte. Bei den
Mandarinen erster Klasse sind die Kugeln Rubinen, bei jenen der zweiten
Klasse Korallen, die Knöpfe der Mandarine dritter und vierter Klasse
sind blau, und zwar durchsichtig blau (Saphir) und undurchsichtig
(Lapis Lazuli); bei der fünften und sechsten Klasse weiß, durchsichtig
(Krystall) und undurchsichtig (Marmor). Sollen Mandarine für leichtere
Vergehen bestraft werden, so wird ihnen für eine bestimmte Zeit der
Knopf entzogen.

Neben diesen mit dem Rang verbundenen Abzeichen giebt es in China
auch außerordentliche Auszeichnungen, von denen die höchste die
gelbe Reitjacke ist (im Chinesischen Ma-Kwa), ein gelbseidener Rock,
der jedoch nur auf Reisen, im Felde und bei Hofe getragen wird. Sir
Robert Hart und von den Chinesen der berühmte Vizekönig von Tschili,
Li-Hung-Tschang, sind die bekanntesten Inhaber der gelben Reitjacke.
Für ganz besondere Leistungen wird auch die gelbe Flagge verliehen,
ein kleines gelbseidenes Fähnchen, das der Inhaber in seiner Rechten
trägt. Der Besitz des Fähnchens führt das souveräne Recht von Leben
und Tod mit sich und es wird deshalb nur äußerst selten verliehen. In
ganz China dürften kaum mehr als sechs Würdenträger die gelbe Flagge
besitzen.

Häufiger wird die Pfauen- oder Krähenfeder verliehen. Die so
Ausgezeichneten tragen die Feder auf dem Hute hinten nach abwärts
geneigt. Prinzen und den höchsten Würdenträgern werden die Pfauenfedern
mit drei Augen verliehen, geringeren Beamten nur solche mit zwei Augen,
und Federn mit einem Auge sind sogar für geringes Geld käuflich.
Li-Hung-Tschang konnte in Anbetracht seines hohen Ranges keine
schlimmere Strafe widerfahren als die 1894 erlassene Verfügung, daß er
eine Zeit lang nur zwei Augen auf seiner Pfauenfeder tragen durfte.

Krähenfedern werden nur Soldaten der kaiserlichen Garde verliehen.
Sie können aber auch die Pfauenfeder erhalten. So z. B. bringt
der Titel Baturu die Pfauenfeder mit sich. Ein Baturu ist in der
chinesischen Armee etwa dasselbe, was der Ritter der Ehrenlegion in
der französischen Armee, nur trägt der chinesische Baturu statt des
Kreuzes am roten Bändchen die Pfauenfeder und erhält einen passenden
Titel, z. B. der Tapfere oder der Großmütige, mit dem auch höhere
Bezüge verbunden sind. Bisher wurde nur ein Europäer, der General Mesny
(ein Franzose), Baturu.

Noch seltsamer als die eben erwähnten sind einige andere Auszeichnungen
der Chinesen, z. B. das Recht, die Schwertscheide mit der gelben Rinde
der Robinia pygmaea, einer Akazienart, überziehen zu lassen, oder das
Recht, beim Reiten rote Zügel zu führen. Li-Hung-Tschang ist auch
Inhaber dieser Auszeichnungen.

[Illustration: Orden des doppelten Drachen dritter Klasse des ersten
Grades.]

[Illustration: Band zum nebenstehenden Orden. (Hälfte bis zu einem
Ende.)]

Zivilmandarinen wird als besondere Belohnung gestattet, die Tragstangen
ihrer Tragstühle rot überziehen zu lassen. Mandarine gehen niemals zu
Fuß aus, sondern reiten oder lassen sich in Tragstühlen tragen. Es wäre
eine Entwürdigung für einen Mandarin, zu Fuß oder ohne entsprechende
Begleitung von Dienern und Sekretären auf der Straße zu erscheinen.

Zu den zahlreichen Orden chinesischer Art, die der frühere Vizekönig
von Tschili besitzt, gehört auch der Zobelorden, wenn diese
Bezeichnung erlaubt ist. Das Tragen von Zobelfellen erfordert in
China die kaiserliche Bewilligung, und die Kaiserinwitwe sandte
Li-Hung-Tschang selbst als Geburtstagsgeschenk die für einen Mantel
erforderliche Zahl von Zobelfellen.

[Illustration: Kaiserliche Ehrenpforte zwischen Kiu-fu und dem
Confuciusgrab.]

In der offiziellen Pekinger Zeitung war vor einigen Jahren von einer
noch seltsameren Auszeichnung zu lesen, die damit zusammenhängt, daß
es in China keinen Erbadel nach unserer Art giebt. Sir Robert Hart,
der früher erwähnte chinesische Zolldirektor, hatte durch seine
vortrefflichen Maßnahmen die Einnahmen des Reiches beträchtlich
vermehrt, und der Kaiser erließ deshalb folgende Verordnung: „Dem
Generaldirektor wird ein Stück Seide verliehen, worauf die Namen seiner
drei nächsten Vorfahren in fünf verschiedenen Farben aufgestickt sind.
Diese Auszeichnung betrachten Wir (der Kaiser) höher als die gelbe
Reitjacke.”

Und bald darauf enthielt die Pekinger Zeitung einen kaiserlichen Erlaß,
demzufolge der Kaiser den drei nächsten Vorfahren des Sir Robert Hart
die Kappenknöpfe ersten Ranges verlieh. Glückliche Vorfahren! Sir
Robert Hart wäre es lieber gewesen, seine Nachkommen so ausgezeichnet
zu sehen, aber, so argumentieren die chinesischen Staatsmänner, was
haben die Nachkommen des Sir Robert zu seinen Erfolgen beigetragen?
Waren die Vorfahren daran nicht viel mehr beteiligt?

Der chinesische Adel ist mit dem europäischen in keiner Weise zu
vergleichen und könnte eher als eine Art amtlicher Würden angesehen
werden. Er wird ausschließlich nur für militärische Verdienste
verliehen und besteht aus neun Klassen, von denen die obersten fünf
beiläufig unseren Herzögen, Markgrafen, Grafen, Vizegrafen (Vicomtes)
und Baronen entsprechen. Ihre chinesischen Namen sind Kung, Hau, Puk,
Tß und Nam. Jede Klasse ist wieder in verschiedene Unterabteilungen
geteilt, je nach den Leistungen, für welche der Adel verliehen worden
ist. Die oberen Adelstitel sind nur während einer bestimmten Anzahl
von Generationen in der Familie erblich, z. B. sechsundzwanzig in der
ersten (Herzog), und nur eine in der achten Adelsklasse, so daß die
Adelsfamilien nach einer bestimmten Zeit allmählich erlöschen. Den
erblichen Adel in europäischem Sinne besitzen in China nur die direkten
Nachkommen von Confucius und Koxinga (der Eroberer von Formosa), sowie
die acht von den alten Mandschurenfürsten abstammenden Familien.



[Illustration: Das Tsungli-Yamen in Peking.]



Die Mandarine.


Würde alles das, was in der letzten Zeit über das chinesische
Mandarinentum geschrieben wurde, der Wahrheit entsprechen, so müßte
man als die erste und wichtigste Maßregel für die Reorganisierung des
chinesischen Staatswesens dem Kaiser empfehlen, alle Mandarine ohne
weiteres aufzuhängen. In Europa gilt der Mandarin als das Urbild von
Bestechlichkeit, Faulheit und Niedertracht, und alles, was diesen
Namen führt, wird mehr oder weniger als ein korruptes Beamtengesindel
angesehen, das den Ruin des chinesischen Reiches herbeiführen muß.

Wäre dem wirklich so, dann müßte es längst kein China mehr geben, denn
wie das Mandarinentum heute besteht, so hat es schon vor Jahrtausenden
bestanden, und China ist doch während dieser Jahrtausende das größte
und volkreichste Reich der Erde geblieben, mit großen Reichtümern
und ausgebreitetem Handel, mit einer hohen Kultur eigener Art und
bedeutenden sittlichen Eigenschaften, welche jener mancher anderer
Völker um ein bedeutendes überragen. Das chinesische Mandarinentum kann
deshalb nicht so schlecht sein wie sein Ruf und ist es auch nicht.

[Illustration: Prinz Chung.]

In China sind Adel- und Kastengeist, sowie die bevorzugten Klassen
nicht so ausgeprägt, das Volk ist wahrhaft demokratisch, und jedem,
der die Fähigkeiten und Kenntnisse besitzt, stehen alle Stellen bis
zu den höchsten Ministerstellen in der unmittelbaren Umgebung des
Kaisers offen. Die Bedingung dafür ist fleißiges Studium der Klassiker,
eine schöne Handschrift, guter Stil, Gewandtheit in Aufsätzen, die
Kenntnis der alten Lehren des Confucius, dessen Geist das chinesische
Staatswesen heute noch regiert. Für alle Beamtenposten werden derartige
litterarische Prüfungen ausgeschrieben; die einen in den lokalen
Distrikten, die anderen in den Provinzhauptstädten, wieder andere in
Peking, ja unter den Augen des Kaisers selbst. Wer diese Prüfungen
besteht, erhält dadurch die Befähigung, Beamter zu werden, und je
besser er sich seiner Aufgaben entledigt hat, desto größer ist seine
Aussicht, wirklich einen Posten zu erhalten. Die Zahl der Beamten ist
nämlich im Verhältnis zu jenen, die sich dafür vorbereiten, eine sehr
geringe und entspricht auch nicht entfernt den Bedürfnissen des Landes.
Im Vergleich zu dem großen Beamtenstand der europäischen Staaten ist
derjenige Chinas wie zehn zu eins, das ganze Riesenreich wird alles
in allem von 2100 Mandarinen verwaltet; dabei ist der chinesische
Beamtenstand der angesehenste und begehrteste aller Stände und steht
auch hoch über dem Militär. Finden z. B. Festlichkeiten statt, an
welchen die Zivil- und Militärmandarine teilnehmen, so gebührt den
ersteren der Ehrenplatz an der Ostseite, den letzteren jener an der
Westseite.

Schon die bestehenden Vorschriften über die Besetzung der
Mandarinenposten zeigen, in welchen Ehren sie gehalten werden. So
dürfen sich z. B. Chinesen, welche von den geächteten Ständen, also von
Barbieren, Schauspielern, Schifferknechten und dergleichen abstammen,
und selbst wenn ihre Ahnen in der dritten Generation eines dieser
Gewerbe betrieben haben sollten, nicht Mandarine werden und auch nicht
an den öffentlichen Prüfungen teilnehmen. Das führte in Hankau zu
einem ergötzlichen Vorfall, der bezeichnend ist für die chinesischen
Sitten. Unter den Bewerbern um die militärischen Prüfungen befand sich
ein junger Mann, der durch seine außergewöhnlichen Kenntnisse und
Fertigkeiten den Neid der Mitbewerber erweckte; um ihn zu beseitigen,
wurde den Examinatoren die Anzeige gemacht, daß der Großvater des
Betreffenden, wie es der Wahrheit entsprach, Barbier gewesen sei.
Daraufhin wurde der unglückliche Kandidat aus den Listen gestrichen und
ihm anbefohlen, die Stadt sofort zu verlassen. Aber die Barbiere von
Hankau erhielten Kunde davon, und diese brachte sie so aus der Fassung,
daß sie beschlossen zu streiken. In Hankau und dem benachbarten Hanyang
legten dreitausend bezopfte Figaros ihre Waffen, die Rasiermesser,
nieder; auf der halben Million Chinesenschädel der beiden Städte
wuchsen die Haarstoppeln immer länger, die Scheitelzöpfe wurden immer
zerzauster, kein Barbier rührte sich. Selbst der Befehl der Behörden
an die Figaros, ihr Handwerk wieder aufzunehmen, blieb unbeachtet.
So wurde denn das Militär beauftragt, die Ritter vom Rasiermesser
abzufassen und in den Yamen zu bringen. Dort zwang man sie unter
Androhung der Bastonnade, jeden um den gewohnten Preis zu rasieren, und
der Vorhof des Yamens war eine Zeitlang eine ungeheure Barbierstube.
Allein da die Mehrzahl der Barbiere ausgerissen war oder sich versteckt
hatte, blieben immer noch Hunderttausende von Chinesenschädeln in
trauriger Verfassung. Auch die Zerstörung der Wohnungen der entflohenen
Barbiere durch das Militär konnte die letzteren nicht zur Reue bewegen,
ja noch mehr, die Barbiere der benachbarten Provinzhauptstadt Wutschang
schlossen sich dem Streik ihrer Brüder an. Allmählich kamen aber
Barbiere aus den anderen Provinzstädten nach Hankau, und die Sache
endete schließlich damit, das sich auch die Figaros der letzteren Stadt
fügten und die Berechtigung der Ausschließung ihres Standeskollegen von
den Prüfungen anerkannten.

[Illustration: Minister Hsu-Keng-shen-Yamen.]

Kein Chinese darf in seinem heimatlichen Distrikte Beamter werden;
um Begünstigungen vorzubeugen, darf er auch keine Verwandten unter
seine Untergebenen aufnehmen, und selbst in verschiedenen Distrikten
derselben Provinz dürfen Vettern nicht gleichzeitig Beamtenposten
einnehmen. Zur Aufrechterhaltung der Unparteilichkeit dürfen Beamte
keine Frau heiraten, die unter ihrem amtlichen Wirkungskreise steht, ja
sie dürfen in gerichtlichen Streitfragen zwischen zwei Parteien keine
Entscheidung fällen, wenn sie durch ihre Frauen mit einer der Parteien
im Verwandtschaftsverhältnis stehen sollten. Ehen mit Tänzerinnen,
Schauspielerinnen und Sängerinnen sind nicht nur ihnen, sondern auch
ihren Söhnen untersagt, und gehören sie dem erblichen Adel an, so darf
selbst ein Enkel keine solchen Ehen eingehen, ohne dadurch in eine
tiefere Adelsklasse versetzt zu werden.

Die höchste Reichsbehörde, etwa das, was im Deutschen Reiche das
Reichskanzleramt, ist das Großsekretariat, aus vier Großsekretären
bestehend, doch sind die Befugnisse desselben und sein Einfluß geringer
als jene der Mitglieder des Tschun-Tschi-Tschu, zu deutsch Reichsrat.
Dieser setzt sich aus fünf Mandarinen erster Klasse zusammen,
gewöhnlich aus einem kaiserlichen Prinzen als Präsidenten an ihrer
Spitze, durchwegs hochbetagten Herren, denen es gewiß recht schwer
fallen muß, häufig um drei Uhr morgens in Gegenwart des Kaisers über
die Regierungsangelegenheiten des Reiches zu beraten. Vom Reichsrate
gelangen die letzteren an eines der sechs Ministerien oder, falls es
sich um Angelegenheiten handelt, welche das Ausland betreffen, an das
in den letzten Jahren so berühmt gewordene Tsung-li-Yamen, welchem
viele Jahre lang das chinesische „Mädchen für alles”, Prinz Kung, als
Präsident vorstand.

Ebenso wie die Wohnungen der Prinzen und Mandarine (von Palästen
kann man bei ebenerdigen, einfachen Gebäuden nicht sprechen), ebenso
wie die Ministerien und anderen Regierungsgebäude, so ist auch
das Tsung-li-Yamen von einer jener hohen, kahlen Mauern umgeben,
welche der Tatarenstadt von Peking ein so einförmiges, düsteres
Aussehen verleihen. Ueber dem mit verschiedenen Ziegeldächern
eingedeckten Haupteingang stehen auf einer Tafel vier große
vergoldete Schriftzeichen, welche, in unsere Sprache übertragen,
lauten: „Reich der Mitte, Ausland, Friede, Glück”, was etwa bedeuten
soll: „Chinesisches Amt zur Herstellung friedlicher und glücklicher
Beziehungen mit dem Ausland”. Von diesen friedlichen und glücklichen
Beziehungen haben die Chinesen bisher freilich nicht viel zu
verspüren bekommen. Ihre Schuld ist es keineswegs. Das Um und Auf
der chinesischen Wünsche in Bezug auf das Ausland ist, in Ruhe
gelassen zu werden, und wollte man die vier Worte: „Reich der Mitte,
Ausland, Friede, Glück” in chinesischen Sinne auslegen, so müßte
man über die Thüren des Tsung-li-Yamens schreiben: „Ausland, lasse
das Reich der Mitte in Frieden, dann ist es glücklich”. Seitdem die
Europäer nach China gekommen sind, ist die Regierung aus Kriegen,
Verlegenheiten, Zahlungen, Verlusten an Macht, Ansehen, Land und
Volk nicht herausgekommen, und man kann es den Chinesen wahrhaftig
nicht übelnehmen, wenn sie den Europäer mit nicht gerade freundlichen
Blicken betrachten, und wenn die Herren des Tsung-li-Yamens bestrebt
sind, die Europäer hinzuhalten. Denn es ist ja eine ausgemachte Sache
für sie, daß niemals ein Europäer kommt, um zu geben, sondern immer
nur, um zu nehmen. Die Gesandten der Mächte wollen Entschädigungen,
Gebietsabtretungen, die Kaufleute Konzessionen, Kaufabschlüsse, die
Missionare gar werfen durch die christliche Lehre, die mit dem ganzen
Gesellschaftsleben, dem Ahnenkultus und der Religion der Chinesen in
schroffstem Widerspruch steht, das ganze Gefüge über den Haufen und
wirken mit ihren Lehren, wie ein Chinese sich drastisch ausdrückte,
wie Sauerteig. Die zehn Mitglieder des Tsung-li-Yamens haben für ihre
Unterhandlungen mit den Ausländern diese Halle eingerichtet, bei deren
Betreten die letzteren mit zweierlei Gepäck ausgerüstet sein müssen,
entweder mit Geduld oder mit Kanonen. Wer Kanonen zu seiner Verfügung
hat, kommt besser fort.

Hinter dem Eingange öffnen sich dem Besucher des Yamens eine Reihe
von einfachen, aber reinlichen und geschmackvoll ausgestatteten
Hallen, deren letzte in einem hübschen wohlgepflegten Garten endigt.
Ein kleiner Raum mit einem rundem Tisch und verzwickten chinesischen
Stühlen aus schwarzem Holz dient als gewöhnliches Empfangszimmer
für fremdländische Gesandte, wobei stets drei Mitglieder des
Tsung-li-Yamens mit einer Schar von Sekretären und Dienern gegenwärtig
sind. An den Wänden hängen an Stelle von Bildern oder Landkarten die
in China allgemein gebräuchlichen langen Papierstreifen mit allerlei
Weisheitssprüchen. Der erste derselben lautet: „Zu lernen ist sehr
verdienstvoll”, der zweite: „Wenn der Thee halb angebrüht ist,
entsteigt ihm das Aroma”, der dritte: „~Wei schan tsui luh~”, was
etwa bedeutet: „Gut zu thun ist das höchste Glück”. Den ersten Spruch
mögen die Herren des Tsung-li-Yamens wohl beherzigen, denn solange sie
nicht wissen, das es neben Frankreich, England und Rußland auch noch
andere Reiche in Europa giebt, taugen sie für ihren Beruf nicht viel.
Bis vor kurzem unterstanden dem Yamen folgende Aemter: eine englische
Abteilung mit sechs Beamten, eine französische mit sieben, eine
russische mit sechs, eine amerikanische Abteilung mit sechs Beamten,
schließlich eine Abteilung für Seeverteidigung. Es wird wohl nicht
lange dauern, bis noch eine deutsche Abteilung hinzukommt.

Ebenso wie die Ministerien sind auch die Mehrzahl der fremdländischen
Gesandtschaften in chinesischen Häusern, ursprünglich Wohnungen von
Prinzen oder hohen Mandarinen, untergebracht, und sie unterscheiden
sich von den übrigen einförmigen Gebäuden nur durch die Flaggenmasten,
die über die Thore ragen. Der Verkehr zwischen den Gesandten und den
chinesischen Mandarinen beschränkt sich auf das Allernotwendigste.
Selten erfolgen gegenseitige Besuche, noch seltener erscheint irgend
ein Mitglied des Tsung-li-Yamens zu einer Soiree oder einem Diner, aus
Furcht, von den anderen als fremdenfreundlich angesehen zu werden.
Ueber das ganze Thun und Lassen selbst der höchsten Mandarine wacht
das Zensorenamt mit zahllosen Beamten, und jeder Mandarin hat in
den Archiven dieses Amtes seine Konduitenliste. Selbst der Kaiser
untersteht den Zensoren. Als Kuang-Su zum erstenmal nach seiner
Thronbesteigung seine Ahnenopfer darbrachte, übergab ihm ein Zensor
eine Schrift, in welcher er dem Kaiser das Recht absprach, diese
Ahnenopfer vorzunehmen, da er nicht direkter Sprosse der letzten
Kaiser, sondern nur ein Neffe des vorletzten Kaisers sei. Dann nahm
er sich vor den Augen des Kaisers das Leben, weil er es gewagt, die
Handlungen des Kaisers zu bemängeln. So ist das ganze Leben an dem
merkwürdigen Hofe, so ist die Regierung des chinesischen Reiches
ein seltsames Gemisch von gut und schlecht, ein Zwiespalt von
Vorwärtsschreiten und Beharren bei dem Althergebrachten, ein Gegensatz
von Patriotismus und kleinlichem Intriguenspiel, von Uneigennützigkeit
und schlimmster Habgier. Die Wasser sind getrübt, und die Europäer
fischen nach Herzenslust darin. An jeder Angel zappelt eine Eisenbahn,
ein Hafen, eine Provinz.

Die chinesischen Mandarine sind in neun Rangklassen eingeteilt, die
sich durch bestimmte Vorrechte, Gehaltsbezüge und äußerlich durch
bestimmte Abzeichen, hauptsächlich durch die eigroßen Rangknöpfe auf
den Hüten und die gestickten Tierwappen auf Brust und Rücken ihrer
Gewänder unterscheiden. Das ganze Beamtentum als Stand führt in China
den Namen Pe-kuan, d. h. die hundert Obliegenheiten, die Mandarine
der höchsten Klassen heißen Tai-fu, jene der niederen Kuang-fu. Der
Name Mandarin ist portugiesischen Ursprungs und unter den Chinesen
unbekannt. Die nominellen staatlichen Bezüge der Ministerbeamten sind
anscheinend gar nicht so gering, ja viel bedeutender als jene der
europäischen Staaten. So bezieht z. B. der Vizekönig einer Provinz
20000 Taels (nach dem gegenwärtigen Kurse entspricht ein Tael im Werte
etwa 3 Mark); der Gouverneur 16000, der Provinzschatzmeister 9000, der
Provinzrichter 6000, ein Präfekt 3000, ein Distriktmagistrat zwischen
2000 und 800 Taels; ein Provinzkommandant 4000, ein General 2400, ein
Oberst 1300 Taels und so abwärts bis zu dem niedrigsten Beamten, der
etwa 130 Taels im Jahre erhält. Wenn diese Bezüge wirklich nur für die
Person des Betreffenden bestimmt wären, dann könnten die Mandarine
vortrefflich auskommen und hätten es kaum nötig, zu Nebenverdiensten
Zuflucht zu nehmen. Allein gewöhnlich kommen sie erst nach einer
mehrere Jahre langen Wartezeit auf ihren Posten, und da es für Personen
mit litterarischen Graden nicht standesgemäß ist, sich irgend welchem
Handels- oder Arbeitsberuf hinzugeben, müssen sie auf ihre zukünftigen
Bezüge hin Schulden machen. Haben sie endlich den Posten, so können sie
ihn den bestehenden Vorschriften nach nur drei Jahre lang behalten.
Um die Beamten nämlich so unabhängig als möglich von Familien- und
Freundschaftseinflüssen zu erhalten, werden sie alle drei Jahre auf
andere Posten versetzt, und selbst solange sie in einer Stadt bleiben,
können sie ihren Gehalt nicht ausschließlich für ihre Bedürfnisse
verwenden, sondern müssen davon auch noch ein Heer von Sekretären,
Schreibern und Dienern füttern, welche vom Staate nicht bezahlt werden
und von den Chinesen nicht mit Unrecht die Bezeichnung Klauen ihrer
Vorgesetzten erhalten haben. Der Mandarin ist in seinem Distrikte nicht
nur der Vertreter der Regierung, er ist gleichzeitig Polizeibeamter,
Richter, Steuereinnehmer, Standesbeamter und Notar, und in seiner Hand
vereinigen sich alle Verwaltungszweige. Seine Hauptpflichten sind es,
Ruhe und Ordnung zu erhalten, die Steuern einzutreiben und darauf acht
zu haben, daß er von den Spionen der Regierung, den Zensoren oder
vom Volke selbst seinen Vorgesetzten nicht wegen Mißbrauchs seines
Amtes angezeigt wird. Gelingt ihm dies, so kann er nach Ablauf der
dreijährigen Amtszeit Beförderung gewärtigen. Er kann auch dem Volk
mehr Steuern abnehmen, als dieses zu zahlen verpflichtet ist, und die
Chinesen lassen sich das auch ganz gerne gefallen. Sie wissen ja, daß
Widerstand gegen die Regierungsvertreter immer Geld kostet und zu
zeitraubenden Untersuchungen, zu weiteren Bedrückungen, möglicherweise
zu Aufständen führt, wodurch sie viel größere Verluste erleiden
würden, als es die rechtswidrige Steuereintreibung verursacht. Der
Mandarin seinerseits wird dieses Spiel auch nicht zu weit führen,
denn wird er bei seinem Vorgesetzten angeklagt, so muß er diesem
vielleicht eine viel größere Geldstrafe zahlen, als sein ganzer dem
Volke abgenommener Gewinn ausmacht. Sollte er dann immer noch seine
Erpressungen fortsetzen, so kann es vorkommen, daß die Bevölkerung
seines Wirkungskreises ihn eines Tages in feierlichem Aufzuge mit einer
Sänfte aus dem Yamen abholt und vor die Stadtthore trägt. In solchen
Fällen giebt die Regierung, der es vor allem um den lieben Frieden
zu thun ist, gewöhnlich dem Volke recht und ernennt einen anderen
Mandarin an die Stelle des verjagten. Ebenso wie das Volk eine maßvolle
Uebervorteilung durch die Mandarine duldet, ebenso geschieht dies auch
von seiten der Regierung, die sehr wohl weiß, daß der Mandarin mit
seinem Gehalte nicht auskommen kann, und die direkt und indirekt aus
den Erpressungen ihrer Beamten Nutzen zieht. Direkt dadurch, daß sie
die Einzahlung eines größeren Steuerbetrages von den Beamten erwarten
kann, indirekt dadurch, daß auch die Hände der höheren Mandarine von
den unteren geschmiert werden. W. Holcombe erzählt, ein chinesischer
hoher Diplomat habe ihm selbst mitgeteilt, er könne in Peking nur dann
eine Audienz erlangen, wenn er dieselbe mit gewichtigen Geschenken
bezahle. Bei seiner ersten Audienz bei einem Prinzen des kaiserlichen
Hauses brachte sein Sekretär hundert Unzen Silber mit, welche er an der
Pforte dem Hausoffizier des Prinzen übergab. Derselbe Gewährsmann sah
einmal bei einem hervorragenden Pekinger Juwelier hundert lackierte,
mit Seide überzogene Servierbretter, von denen jedes zehn kleinere
Abteilungen enthielt, bestimmt zur Aufnahme von Silberbarren von je
zehn Unzen Gewicht. Die Servierbretter waren von einem hohen Mandarin
bestellt worden, der dieselben mit zehntausend Unzen Silber füllen und
einem kaiserlichen Prinzen zum Geschenk machen wollte. Kleine Geschenke
erhalten die Freundschaft, und mit Geld läßt sich eben auch in China
viel erreichen, selbst Mandarinstellen.

[Illustration: Admiral Ting, Oberbefehlshaber der chinesischen Flotte
in der Schlacht am Yaluflusse.]

Daß Titel, Würden, Pfauenfedern und derlei Auszeichnungen im
himmlischen Reiche ebenso käuflich sind wie anderswo, wird niemand
wundernehmen. Auch die Chinesen sind eitel, und es giebt eine ganze
Menge reicher Leute, welchen der Kaiser den Mandarinsrang als Belohnung
dafür verliehen hat, daß sie in Zeiten der Bedrängnis große Summen
für Brücken, Dammbauten oder gemeinnützige Zwecke opferten. Solche
Ehren geben dem Träger gewisse Vorrechte und als äußeres Abzeichen den
vielbegehrten Mandarinknopf auf dem Hut (also das Knopflochbändchen ins
Chinesische übersetzt); doch ist damit nicht etwa das Recht, wirkliche
Aemter zu bekleiden, verknüpft.

Indessen kann man in China auch Aemter für Geld kaufen. Von mancher
Seite ist dies bestritten worden, und der vorgenannte amerikanische
Diplomat behauptet, er hätte während seines mehrjährigen Aufenthaltes
in China niemals einen Mandarin in offiziöser Stellung getroffen, der
diese durch Kauf erlangt hätte, niemals auch nur von einem solchen
gehört, ausgenommen Leute vom Range eines Dorfpolizisten.

Demgegenüber ist es mir wohl erlaubt, ein Edikt des Kaisers von China
anzuführen, das in der offiziellen Pekinger Staatszeitung vom 6. Juli
1894 veröffentlicht wurde. Dasselbe lautet: „Der Lektor im Hanlin
yuan, Wen-ting schi, bemerkt in einer Eingabe, daß der Verkauf von
Aemtern keine althergebrachte Einrichtung sei, und bittet, denselben
zu Gunsten einer geordneten Staatsverwaltung ganz einzustellen. Wenn
die Staatsverwaltung den Aemterverkauf zuließ, so war dies ursprünglich
eine der äußersten Geldnot entspringende Maßregel. In der letzten Zeit
nimmt jedoch der Aemterverkauf dermaßen überhand, daß Verwirrungen
im Beamtenkorps entstehen und allerlei Mißstände eintreten müssen.
Der Taotai und der Präfekt sollen für das Wohl der Bevölkerung Sorge
tragen. Wie können aber Leute, die nichts von Amtsgeschäften verstehen
und sich mit Geld ein Amt erkauft haben, ihren Posten genügend
ausfüllen? Das Finanzministerium soll deswegen zunächst den Verkauf
von Taotai- und Präfektenposten gänzlich einstellen. Wegen der anderen
kleineren Aemter möge die genannte Behörde gleichfalls in Erwägung
ziehen, wie dem Verkauf derselben passend Einhalt gethan werden kann,
und darüber ausführlich berichten.”

Obschon es in China, wie schon aus diesem kaiserlichen Edikt
hervorgeht, eine ganze Menge derartiger durch Stellenkauf auf ihre
Posten gelangten Mandarine giebt, so machen auch diese vielen Schwalben
immer noch keinen Sommer aus. Ein ostasiatisches Blatt bemerkt
darüber ganz richtig: „Das hohe Ideal, das einst in Bezug auf die
Staatsverwaltung bestand, ist gesunken und verdunkelt durch zahlreiche
Fehler und Flecken; dessenungeachtet besteht zweifellos ein Ideal.
Sobald man beispielsweise einen Bezirksrichter findet, der seiner
Pflicht getreu nachkommt, wird er durch das Volk geehrt, und der Kaiser
drückt ihm seine Anerkennung aus. Die Strafen, welche die Pekinger
Staatszeitung beständig verkündet, legen auch einen Beweis für die
Bemühungen der Regierung ab, das System rein und wirksam zu erhalten.
Wie es in der Natur der Religionssysteme liegt, daß sich mit der Zeit
in dieselben Mißbräuche und unnötiges Zeremoniell einschleichen, so
nimmt auch ein verwickeltes System des Beamtentums allmählich ein
gekünsteltes Gewand an und verliert den Lebensatem, der es bei seiner
Entstehung beseelt hat.”

„Man darf also die zweifellos bestehenden Mißstände keineswegs
verallgemeinern. Unter den Beamten findet man zahlreiche Personen
von großer Lauterkeit des Charakters, Talent und Energie; tüchtige,
ehrliche, auf das Volk bedachte Männer füllen die Mehrzahl der Posten
aus, obgleich sie in Gegenständen Prüfungen bestehen müssen, welche
die moderne Wissenschaft verlacht. Die Massen des Volkes erfreuen sich
eines guten Teils persönlicher Freiheit; der bescheidene Chinese,
obgleich übersteuert, wird nicht so bedrückt, wie wir dies in manchen
Ländern des Westens sehen. Es giebt unter den letzteren solche, die
für zivilisiert gehalten werden, in denen aber die Mißwirtschaft viel
größer ist als im Reiche der Mitte.”

Wer die Verhältnisse in China aus eigener Anschauung kennen
gelernt hat, wird derselben Meinung sein. Anders steht es mit der
Ausführbarkeit der europäischen Finanzverwaltung im Reiche der
Mitte. In den offenen Hafenstädten und in den Distrikten längs des
Jangtsekiang wäre sie heute schon wohl möglich, aber im Innern des
Landes ist die Zeit dafür noch nicht gekommen. Die Massen des Volkes
müssen die Ueberzeugung gewinnen, daß sie in Bezug auf ihre Taschen
unter europäischer Steuerverwaltung besser fahren, und das dürfte doch
noch viele Jahre Zeit erfordern.

[Illustration: Ehrenpforte in Kiautschou. Inschrift: „Mein Bruder ist
Doktor geworden”.]



Litterarische Wettprüfungen.


Ein höheres Ziel, als litterarische Ehren und Würden zu erlangen, giebt
es in China nicht, und gerade so wie vor anderthalbtausend Jahren
führt auch heute noch nur ein Weg zu diesem Ziele: die Wettprüfung.
Niemand, der eine solche Prüfung nicht bestanden hat, kann, wenigstens
dem Wortlaut des Gesetzes nach, Mandarin, Beamter, Minister, Gesandter
werden. Und selbst falls er einen solchen Posten nicht erreichen
sollte, bleibt er doch der angesehenste Mann in seinem Orte, er
ist vor dem Gerichte von Körperstrafen befreit, er braucht vor dem
Richter nicht zu knien und mit der Stirne die Erde zu berühren wie
das gewöhnliche Volk, und gerade so wie der Edelmann in Europa über
der Thür seines Palastes das Wappen seiner Väter anbringt, so hängt
derjenige, der in China die Prüfungen überstanden hat, eine große Tafel
mit seinem von ihm selbst erworbenen litterarischen Titel über seine
Hausthür.

Gymnasien, Universitäten, Kollegs, überhaupt Unterrichtsanstalten
wie in Europa, sind in China nur in wenigen Hauptstädten in sehr
beschränkter Zahl vorhanden und überdies Schöpfungen der neuesten
Zeit. Im Inlande treten an ihre Stelle Privatschulen. In diesen
werden die Kinder vom zarten Alter an in die Lehren des Confucius und
Mencius eingeweiht, dort lernen sie ein paar tausend chinesischer
Schriftzeichen lesen und auf Papier malen, dort führt sie der
Privatlehrer in die Feinheiten des chinesischen Stils und die
chinesische Kalligraphie ein. Geographie, Geschichte, Religion,
praktische Wissenschaften sind unbekannte Unterrichtsgegenstände. Eine
höhere chinesische Schule ist etwa mit einem europäischen Gymnasium
vergleichbar, in welchem vom ersten bis zum letzten Jahre nichts
anderes gelehrt würde als die griechischen Klassiker in der Ursprache.
Derjenige, der sie am besten auswendig herzusagen und zu erklären weiß,
wird in den Staatsdienst aufgenommen.

Glaubt ein Chinese, daß er die vor Tausenden von Jahren geschriebenen
Sieben heiligen Bücher hinreichend meistert, so kann er sich zu den
öffentlichen Prüfungen melden, welche zweimal in je drei Jahren in
der Hauptstadt seines Distriktes abgehalten werden. Alt und jung wird
zugelassen, und es kommt häufig vor, daß Großvater, Vater und Sohn
gleichzeitig als Prüfungskandidaten in den Wettkampf treten. Die von
der Provinzregierung ernannten Examinatoren prüfen die schriftlichen
Arbeiten. Diejenigen Kandidaten, welche die besten Arbeiten geliefert
haben, gewöhnlich ein Zehntel der ganzen Zahl, erhalten den
vielbegehrten Knopf auf ihren Hut und den offiziellen Titel Siu-tz-ai,
d. h. Knospendes Genie.

Aber das ist nur die erste und niedrigste Stufe zum chinesischen
Parnaß, eine notwendige Vorbedingung, um als Kandidat zu den Prüfungen
in der Provinzhauptstadt zugelassen zu werden, welche alle drei Jahre
einmal, gewöhnlich im September, abgehalten werden. Die Examinatoren
sind Mitglieder der Hanlinakademie in Peking, dieser chinesischen
Akademie der Wissenschaften, und werden vom Kaiser ernannt. Außerdem
wohnen der Vicegouverneur der Provinz und die hervorragendsten
Mandarine denselben bei.

Den Besuchern der chinesischen Provinzhauptstädte, vor allem der
Städte Canton, Hangtschau und Nanking, werden gewöhnlich die großen
Prüfungshallen gezeigt, in welchen diese Wettprüfungen stattfinden.
Woher der Name Prüfungshalle stammt, kann ich mir nicht recht erklären,
denn als ich, geführt von meinem Dragoman, jene von Canton betrat,
glaubte ich mich eher in einem Viehpark zu befinden, wie ich sie rings
um die großen Schlachthäuser von Chicago gesehen habe, als in dem
Versammlungsort der Gelehrtenwelt der Provinz Kwantung: eine ebene,
mit Gras und Unkraut überwucherte Fläche von etwa sechzehn Morgen
Ausdehnung, eingeschlossen von einer hohen alten Mauer. Ein breiter,
schlecht gepflasterter Weg führt von einem Thore quer über diesen Platz
zu dem gegenüberliegenden Thore und teilt ihn in zwei gleiche Hälften.
Von diesem Mittelweg zweigen sich auf beiden Seiten in Abständen von
etwa fünf zu fünf Schritten niedrige, stallartige Gebäude ab, welche
bis an die Umfassungsmauer reichen. Die Breite dieser sonderbaren
langen Gebäude beträgt kaum drei Schritte, die restlichen zwei Schritte
entfallen auf die engen Gänge oder Gäßchen zwischen ihnen. Auf der
einen Seite zeigt jedes Gebäude etwa hundert kleine Thüröffnungen, die
andere wird durch eine kahle Mauer gebildet, die weder Fenster noch
Thüren hat. Von einer Halle ist nichts zu sehen. Verwundert erkundigte
ich mich nach dem Zweck dieser anscheinenden Stallungen. Mein Dragoman
ließ mich durch eine der vielen kleinen Thüröffnungen treten. Ich
befand mich in einem kahlen, gemauerten Raume, der das Aussehen
und die Größe zwischen einem Schilderhaus und einem Schweinestall
haben mochte. Thüre, Fenster, Einrichtung waren nicht vorhanden.
Nahe beim Thüreingang und an der gegenüberliegenden Mauer bemerkte
ich horizontale Einschnitte. Der Boden starrte vor Schmutz, und bei
meinem Eintritt raschelten Eidechsen davon. Kellerasseln und anderes
Ungeziefer verschwanden in den Rissen und Sprüngen der Mauer. Genau so
sahen auch alle anderen dieser kerkerartigen Räume aus. Jeder zeigte
über der Thüröffnung eine Nummer, und ebenso trug auch jedes Gäßchen
eine Bezeichnung.

Als wir dieses Labyrinth von Tausenden von Kammern durchschritten
hatten, gelangten wir durch das jenseitige Thor in einen kleineren
Hof, in welchem sich einige andere niedrige Gebäude, aber mit größeren
Räumlichkeiten, befanden. Das war alles. Nirgends war eine Spur von
Leben. All diese Räume waren öde und verlassen. Nur an der großen
Eingangspforte lungerten einige Wächter und Soldaten umher.

Aber wie anders ist das Bild dieser Prüfungshalle alle drei Jahre
während der Septemberprüfungen! Fünfzehn- bis zwanzigtausend Menschen,
vielleicht noch mehr, drängen sich dann innerhalb der Umfassungsmauern
zusammen, und die Aufmerksamkeit der ganzen Provinz mit ihren dreißig
Millionen Einwohnern konzentriert sich hier, wie es etwa in England
zur Zeit der großen Rennen auf der berühmten Epsomdown bei Derby oder
zur Zeit der Stiergefechte auf der Plaza de Toros in Sevilla der Fall
ist. Schon eine Woche vorher treffen aus allen Teilen der Provinz die
Prüfungskandidaten mit ihren Familien und Freunden in Canton ein, und
nachdem sie in den chinesischen Hotels oder bei Privaten Unterkunft
gefunden haben, melden sie sich mit ihren Legitimationen bei der
Prüfungskommission, welche in den Gebäuden des vorerwähnten kleineren
Hofes ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat und dort während des ganzen
Prüfungsmonats wohnen bleibt. Die kaiserlichen Kommissare, hohe
Mandarine, Hunderte von Beamten, Schreibern, Sekretären, Soldaten und
Wächtern beleben die öden Räume und bereiten alles für die Prüfungen
vor, zu denen sich gewöhnlich acht- bis zwölftausend Kandidaten
zu melden pflegen, mitunter viel mehr, als die Prüfungshalle
Platz besitzt. Der weite Raum wird gereinigt, und auch die kleinen
vorgeschilderten Zellen, deren es in der Cantoner Prüfungshalle 8653
giebt, werden gekehrt und für die Aufnahme der Kandidaten einfach
dadurch vorbereitet, daß man in die Mauereinschnitte zwei fußbreite
Bretter einschiebt; das eine derselben dient als Tisch, das andere als
Sitz.

Am frühen Morgen des festgesetzten Tages drängen sich die
Prüfungskandidaten, begleitet von ihren Verwandten, Freunden und
Dienern vor dem Hauptthore der Halle zusammen, alle sind mit
Kleidungsstücken, Decken, Lebensmitteln, Kochgeschirren, Theetöpfen
und sonstigem Hausrat schwer beladen, denn die Kandidaten bleiben
während der nächsten neun Tage in den winzigen Prüfungszellen wohnen
und dürfen nur die dritte und die sechste Nacht außerhalb der streng
bewachten Prüfungshalle zubringen. Niemand darf sie in das Innere
derselben begleiten. Am Thore nehmen sie von ihren Begleitern Abschied
und treten, bepackt mit ihrem Hausrat, einzeln durch das Thor. Hier
werden sie von Beamten der Prüfungskommission genau untersucht, ob sie
nicht etwa kleine Taschenausgaben der Klassiker oder sonst irgendwelche
verbotene Gegenstände mit sich führen, und haben sie diese Untersuchung
bestanden, so melden sie sich bei den Mandarinen. Von diesen erhält
jeder Kandidat einige gestempelte Papierbogen, auf welchen sein Name
und seine Nummer der ihm zugewiesenen Zelle verzeichnet stehen. Mit
Spannung erwarten sie die kleinen roten Zettelchen, welche in der
Prüfungshalle selbst gedruckt werden und die Themata enthalten, über
welche sie binnen zwei Tagen drei Arbeiten und ein Gedicht verfassen
müssen. Keine Arbeit darf mehr als vierhundert und weniger als
dreihundert Schriftzeichen enthalten, und etwaige Aenderungen oder
Randnoten dürfen zusammengenommen weitere hundert Schriftzeichen nicht
übersteigen.

Sind diese Arbeiten abgeliefert, so können die Kandidaten unbehelligt
die Halle für eine Nacht verlassen. Bei ihrer Rückkehr werden sie
abermals untersucht, und man weist ihnen neue Zellen an, wo sie
die zweite Serie von fünf Arbeiten über klassische Gegenstände zu
schreiben haben. Die dritte Serie, für welche abermals drei Tage
Zeit gelassen werden, besteht aus fünf Arbeiten über Gegenstände,
deren Auswahl dem kaiserlichen Examinator überlassen bleibt und die
in den letzten Jahrzehnten zuweilen auch moderne Fragen, etwa über
Staatswissenschaften, die Geographie der Provinz oder des Reiches,
oder Mathematik, umfassen. Sind auch diese Arbeiten abgeliefert, so
ist die Prüfung vorüber, die Kandidaten können ihre Zellengefängnisse
verlassen. Aber es vergehen mehrere Wochen, ehe sie das Ergebnis der
Prüfung erfahren. Jedes der bei der Prüfungskommission eingelaufenen
Schriftstücke, mitunter bis zu dreißigtausend an der Zahl, muß
ja vorher sorgfältig geprüft werden, und diese Prüfung geht, zur
Vermeidung von Unterschleifen oder Bevorzugung, mit der größten
Strenge vor sich. Zunächst werden über die Namen der Kandidaten
auf den einzelnen Arbeiten Papierstreifen geklebt und diese mit
Nummern bezeichnet, so daß den Examinatoren die Verfasser der
Arbeiten unbekannt bleiben. Dann werden alle die vielen Tausende von
Schriftstücken mit roter Tinte abgeschrieben, eine dritte Klasse von
Beamten unterzieht sie der ersten Prüfung und wählt die besten aller
Arbeiten aus. Nur diese werden den kaiserlichen Examinatoren selbst
vorgelegt. Immerhin sind dies noch zehn Prozent, also zwei- bis
dreitausend Schriftstücke, von etwa achthundert bis tausend Kandidaten.
Nun sind jeder Provinz nur eine bestimmte Anzahl von litterarischen
Graden, in Kwantung z. B. nur siebzig bis achtzig, zugewiesen, und
den kaiserlichen Examinatoren liegt es ob, unter den nahezu tausend
besseren Kandidaten siebzig bis achtzig auszuwählen, deren Arbeiten
die vorzüglichsten waren. Auch damit sind die Vorsichtsmaßregeln
gegen Unterschleife nicht zu Ende, denn ein kaiserlicher Zensor
hat die Arbeiten der von den Examinatoren zur Erteilung von Graden
vorgeschlagenen Kandidaten durchzusehen und ihnen die Bestätigung zu
erteilen.

Wie mir indessen von chinesischen Litteraten selbst eingestanden wurde,
kommen bei diesen Prüfungen trotz aller Strenge dennoch Unterschleife
vor; Bücher werden eingeschmuggelt, Thorhüter bestochen, andere
Kandidaten verfassen die Arbeiten ihrer Kollegen. Dagegen lassen sich
die Examinatoren nicht so leicht zu Unregelmäßigkeiten herbei, denn
solche werden mit der größten Schärfe bestraft. In der Mitte der
sechziger Jahre wurde beispielsweise ein kaiserlicher Examinator,
Mandarin ersten Ranges und Großsekretär des Reiches, weil er seinen
Neffen begünstigt hatte, enthauptet. Im Herbst 1894 versuchte es ein
reicher Chinese aus der Provinz Tschekiang, den Examinator durch
Zuwendung einer Summe von zehntausend Taels zu bestechen. Der letztere
erstattete Anzeige, und der Chinese wurde zum Tode verurteilt.

In anderen Provinzstädten ist der Zudrang zu den Wettprüfungen zuweilen
noch stärker als in Canton. So z. B. mußten vor einigen Jahren in
Hangtschau, dessen Prüfungshalle zehntausend Zellen enthält, in den
engen Gäßchen dazwischen noch über tausend Sänften aufgestellt werden,
um alle Kandidaten unterzubringen. Man sollte meinen, den siebzig bis
achtzig Glücklichen, welchen es von all den Tausenden allein beschieden
ist, mit litterarischen Graden aus den Prüfungen hervorzugehen,
stände zum mindesten das große Los bevor. Welch große Kosten, welch
mühsame Reisen, welche Arbeiten und Entbehrungen sind mit derlei
Prüfungen verbunden! Der Aufenthalt in den kleinen Zellen ist bei
heißem Wetter geradezu unerträglich, und so mancher alte oder schwache
Mann, der als Kandidat die Prüfungshalle betritt, verläßt sie nicht
mehr lebend. Gar nicht selten sind die Fälle, daß besonders Greise
an Erschöpfung sterben, und da es gegen die Vorschriften wäre, die
Thore der Halle während der Prüfungen zu öffnen, so werden Oeffnungen
in die Umfassungsmauer gebrochen und die Leichname der Unglücklichen
herausgeschafft. Ein großer Prozentsatz der Kandidaten giebt sich auch
mit der einmaligen Prüfung nicht zufrieden. Beharrlich melden sie sich
ein zweites, drittes Mal, ja noch öfter, und vielleicht ist es ihnen
endlich vergönnt, als Greise die Prüfung zu bestehen, d. h. damit den
Titel Chü-dschin, d. h. beförderter Mann zu erringen. Und ist dies
wirklich geschehen, so werden Eilboten zu Land oder Wasser nach dem
Heimatsort gesandt, um das Glück zu verkünden, welches diesem letzteren
zu teil geworden ist. Die Familie des neugebackenen Chü-dschin
veranstaltet große Freudenfeste, sie läßt an den Straßenecken große
rote Plakate anschlagen und alle Freunde und Bekannten durch eigene
gedruckte Anzeigen von der erfolgten Ernennung in Kenntnis setzen.
Ueber die eigene Hausthür aber wird eine große Tafel mit den Worten
Beförderter Mann aufgehängt. Wohlhabende errichten häufig sogar
steinerne Triumphbögen zu Ehren eines glücklichen Prüfungskandidaten.

Und was hat der Kandidat dadurch in Wirklichkeit erreicht? Nicht etwa
einen einträglichen fetten Mandarinsposten, irgend welche besondere
Würden oder Auszeichnungen, sondern einfach die Möglichkeit, mit
der Zeit, vielleicht nach vielen Jahren, irgend eine bescheidene
Staatsstellung zu erreichen.

Wer schneller und sicherer zu einer solchen gelangen will, muß sich
noch zu einer dritten Art von Prüfungen melden, welche alle drei
Jahre einmal, gewöhnlich in dem auf die Provinzprüfungen folgenden
Frühjahr in der Reichshauptstadt selbst stattfinden. Auch in Peking ist
die Prüfungshalle nicht viel besser als in den Provinzhauptstädten,
doch sind die Kandidaten die Gäste des Kaisers, und während sie
dreimal drei Tage mit je einer mittägigen Unterbrechung in den
Prüfungszellen schmachten, erhalten sie aus den Küchen, welche bei
jedem Zellengäßchen eingerichtet werden, reichliche Lebensmittel.
Aber die Kosten der weiten, mitunter monatelangen und beschwerlichen
Reise müssen sie selbst bestreiten. Haben sie keine Mittel dazu, so
wird ihnen möglicherweise ein reiches Bankhaus dieselben vorstrecken,
und sind sie einmal Mandarin geworden, so müssen sie diese Darlehen
mit reichen Zinsen zurückerstatten. Auch in Peking vollziehen sich
die Prüfungen in ähnlicher Weise wie in den Provinzhauptstädten, nur
sind sie entsprechend schwieriger, die Aufgaben über klassische und
philosophische Themata müssen glänzend gelöst werden, die Gedichte
fehlerfrei sein. Durchschnittlich melden sich zu jeder Prüfung
vierzehntausend Kandidaten aus allen Provinzen, und nur ein Zehntel
davon können den vielumworbenen Grad eines Tsen-tse, d. h. fertiger
Gelehrter, etwa unserem Doktorgrad entsprechend, erreichen. Jede
Provinz hat je nach ihrer Einwohnerzahl Anspruch auf eine bestimmte
Zahl von Tsen-tse-Stellen, und diejenigen Kandidaten, welche diesen
Grad erlangt haben, werden gewöhnlich nach kurzer Zeit zu Mandarinen
befördert und erhalten eine Regierungsanstellung. Wer von den Tsen-tse
anstrebt, noch höhere litterarische Ehren zu erreichen, muß sich einer
vierten Prüfung unterziehen. Diese wird in der verbotenen Stadt sogar
unter den Augen des Kaisers selbst abgehalten, und die Glücklichen,
welche diese schwierigste aller Prüfungen bestehen, werden
Mitglieder der Hanlinakademie und führen den stolzen Titel Poeten und
Historiker des kaiserlichen Hofes. Die besten von diesen werden nach
einer formellen Prüfung vor dem Kaiser zu Tschuang-yuen, d. h. etwa
poeta laureatus, ernannt und haben damit Anspruch auf den Posten eines
kaiserlichen Examinators oder auf andere hohe Würden.

[Illustration: Der Hauptaltar des Menciustempels in Tsiu-hsien].

Wie man sieht, ist das Mandarinentum in China nicht ganz so schlecht
wie sein Ruf. Die vielbegehrten Posten müssen mit großen Mühen und
durch jahrelanges Studium erworben werden und kommen nicht etwa durch
Günstlingswesen, hohe Verwandtschaften oder mächtige Freunde zur
Besetzung, wie es in manchen, uns viel näher liegenden Ländern zuweilen
geschieht. Wohl kommen sehr viele Unterschleife vor, im ganzen und
großen aber hat sich das System der Wettprüfungen durch anderthalb
Jahrtausende verhältnismäßig rein erhalten und läßt die Chinesen in
einem ganz anderen, günstigeren Lichte erscheinen, als es gewöhnlich
geschieht. Nur ist es zu bedauern, daß diese Kenntnisse sich nicht auf
nützlichere Gebiete erstrecken als die vergilbten, veralteten Klassiker
Chinas.

[Illustration: Bezopfter Schuljunge.]



[Illustration: Wahrsager.]



Die geheimen Gesellschaften Chinas.


Von allen jenen, die China und die Chinesen durch vieljährige
Beziehungen kennen, von Missionaren, Kaufleuten, Diplomaten, werden die
geheimen Gesellschaften des Reiches der Mitte als die Hauptursachen der
Christenmetzeleien und überhaupt als die Urheber der traurigen Zustände
in den chinesischen Städten bezeichnet. Sie sind durchwegs politischen
Charakters, und bei allen ist der Grundzug Fremdenhaß. Gelänge es der
Pekinger Regierung, diese Geheimbünde zu brechen und zu vernichten,
dann könnte an eine Wiedererwachung des Reiches gedacht werden;
dann wäre es möglich, eine kaiserliche Armee zu schaffen und den
Missionsanstalten sicheren Schutz angedeihen zu lassen; solange diese
Geheimbünde aber fortbestehen, niemals. Den besten Beweis dafür bilden
die englischen Kolonien in Malakka und die holländischen Kolonien in
der Sundasee. Solange man dort der chinesischen Geheimbünde nicht
habhaft werden konnte, waren Aufstände, blutige Kämpfe, Verbrechen
an der Tagesordnung; erst seit den strengen Maßregeln gegen die
Geheimbünde sind Ruhe und Ordnung eingetreten. Dasselbe gilt auch von
Hongkong.

Gerade in diesen Kolonien, wo die oberste Gewalt in den Händen der
Europäer liegt, war es möglich, einen Einblick in das Wesen dieser
chinesischen geheimen Gesellschaften zu erhalten und daraus auf ihre
Macht und Ausbreitung in China selbst zu schließen. Im Reiche der Mitte
gehört die Ausforschung dieser nach Hunderten zählenden Gesellschaften
beinahe zu den Unmöglichkeiten; wird doch Verrat an den Chinesen selbst
durch den Tod bestraft; wie erst würde es den Europäern ergehen,
welche gegen die Geheimbünde vorgehen wollten! Die erste Nachricht
von ihrem Bestehen war in einem Buch des bekannten Sinologen Doktor
Milne enthalten, das im Jahre 1825 unter dem Titel ~Some accounts
of a Secret Society in China~ erschien und die größte dieser
Gesellschaften, die Tien-ti-hwey, behandelte. Das Buch erregte die
Aufmerksamkeit eines Dolmetschers im Dienste der niederländischen
Kolonialregierung, Namens Gustav Schlegel. Gelegentlich einer
Haussuchung bei einem des Diebstahls beschuldigten Chinesen in Padang
(Sumatra) wurden eine Anzahl Bücher und Dokumente vorgefunden, die
Schlegel zur Uebersetzung zugewiesen wurden, und in ihnen fand er die
Bestätigung der Angaben Milnes, sowie die Thatsache, daß sich in Padang
eine Loge der großen Tien-ti-Gesellschaft befand. Gestützt auf das
reiche in seinen Händen befindliche Material, veröffentlichte er 1867
sein berühmtes Buch ~The Thian-Ti Hwei or Hung League~. Einige
Jahre nachher gewann der Protektor der Chinesen in Singapore, Mr. W. A.
Pickering, so viel Einfluß auf die Hung-Gesellschaft, daß sie ihn zu
ihren geheimen Sitzungen zuließ. Er vervollständigte die Kenntnisse,
die bis dahin über das Wesen und den Umfang der Gesellschaft in die
Oeffentlichkeit gedrungen waren.

In ihrem Katechismus heißt es: „Seit der Erschaffung der Welt besitzen
wir den Namen Hung”.... „Ying und Yang, Himmel und Erde zusammen,
erzeugten die Söhne von Hung, in Myriaden vereinigt.” Wirkliche Beweise
ihres Bestehens stammen jedoch erst aus dem siebzehnten Jahrhundert,
d. h. seit der Vertreibung der angestammten Kaiserdynastie durch
die Tataren. Damals war ihr Wahlspruch: „Gehorche dem Himmel und
thue recht”; und dieser Wahlspruch steht auch heute noch auf jeder
Seite ihrer Bücher und Veröffentlichungen; thatsächlich aber ist ihr
Wahlspruch: „Hoan Tscheng, Hok Beng”, d. h. „Vertreibe die Tataren
und setze die Mings wieder ein”. Im Dialekt, wie er in der Provinz
Fokien gesprochen wird, heißt Tscheng die Mandschudynastie und Beng die
Mingdynastie. Neben dem Namen Tien-ti-Hwey wird von den Chinesen auch
Sam-hap, d. h. Triad (oder Dreiheit, Dreieinigkeit) als offizieller
Name des Geheimbundes anerkannt wegen der Vereinigung der drei
Begriffe Himmel, Erde, Mensch. Gestützt darauf strebt der Geheimbund
die Beteiligung aller Chinesen an, und um dieses Ziel zu erreichen,
sind alle Mittel erlaubt. Jede Loge (und es giebt deren wohl in jeder
Stadt Chinas) besitzt eine Anzahl von Tai-ma, d. h. Werbern. Sobald sie
aus irgend einem Grunde die Mitgliedschaft eines bestimmten Chinesen
für wünschenswert erachten, erhält er auf geheimnisvolle Weise einen
geschriebenen Befehl, sich zu der angegebenen Zeit an einem genau
bezeichneten Orte einzufinden. Hat der Betreffende nicht den Wunsch,
der Triad oder, wie sie auch heißt, der Hung-Gesellschaft beizutreten,
so wird er seinen Wohnsitz aufgeben und sich unter anderem Namen in
einem entfernten Orte verbergen, denn Widerstand wäre vergeblich.
Frederick Boyle, der sich mit dem Wesen der Hung-Gesellschaft eingehend
befaßt hat, sagt darüber: „Irgend einen Racheakt, sei es körperliche
Züchtigung oder eine falsche Anklage bei den Gerichten, zu welcher sich
auch falsche Zeugen finden, hat der Betreffende dann gewiß zu erwarten,
wenn ihm nicht noch Schlimmeres passiert. Zuweilen wird der Betreffende
bei passender Gelegenheit von den Tai-ma überfallen und gefesselt nach
der Loge geschleppt oder durch List in eine Falle gelockt.”

Als Versammlungsorte der Hung-Mitglieder werden überall die geheimsten
und entlegensten Schlupfwinkel ausgesucht; in Canton und Singapore
liegen sie zwischen Sümpfen und Dschungeln, und die Zugänge werden
durch Bewaffnete bewacht. Pickering erzählt, daß mehr als einmal
Fremde, die den Geheimspruch als Erkennungszeichen nicht zitieren
konnten, auf der Stelle getötet wurden. Nach diesen Logenplätzen
werden nun die Novizen geführt und dort einem ebenso umfangreichen
wie haarsträubenden Zeremoniell unterworfen, ehe sie als Mitglieder
aufgenommen werden. Es würde wohl einen stattlichen Band füllen, sollte
der ganze Hokuspokus mit seinen Einzelheiten geschildert werden.
Nachdem der Novize nahezu die ganze Nacht in Angst und Pein allen
möglichen Prozeduren unterworfen wurde, gelangt er endlich vor den
Thron des Meisters und liegt dort in weiße Gewänder gekleidet, mit
aufgelöstem Haar und offener Brust auf dem Rücken, während acht Räte
spitze Schwerter nach seiner Brust richten. Dort hat er zu schwören,
daß er seine ganze Familie als tot betrachte und keine irdischen
Beziehungen und Verpflichtungen mehr anerkenne. Dann muß er einige
Tropfen seines Blutes in einen mit Wein gefüllten Becher fallen
lassen, und nachdem er diesen geleert, wird er als Novize in den Bund
aufgenommen, um bei späteren Versammlungen noch weiteren Prüfungen
unterworfen zu werden.

Die Hung-Gesellschaft besitzt keinen obersten Meister, sondern sie
wird von den fünf Großlogen der Provinzen Fokien, Kwangtung, Yüman,
Hunan und Tschekiang geleitet. Alle anderen Logen, auch jene in den
Kolonien, dann in Amerika und Australien sind irgend einer der fünf
Großlogen unterthan, und ihre Mitgliederzahl muß mehrere Millionen
erreichen. In Singapore beispielsweise war sie im Jahre 1887 nahezu
so zahlreich wie die ganze chinesische Bevölkerung. Alle Mitglieder
sind durch die strengsten Gesetze und Androhung furchtbarer Strafen
zu Gehorsam und Einhaltung der Vorschriften des Tien-ti verpflichtet.
Der vierunddreißigste der sechsunddreißig Grundartikel verbietet
ihnen, um nur das Wichtigste hervorzuheben, bei grausamer Todesstrafe,
unter keiner Bedingung sich an die bestehenden Gerichte, Behörden
oder Polizei zu wenden. Der fünfunddreißigste Artikel setzt ebenfalls
die Todesstrafe darauf, wenn ein Mitglied irgendwie vor Gericht
Zeugenschaft ablegt, außer es ist falsche Zeugenschaft auf Befehl
der Logenleiter. Die ganze Gerichtsbarkeit aller Mitglieder der
Loge liegt dem Meister ob. Man kann sich unter diesen Umständen den
ungeheuren Einfluß und die Bedeutung der Hung-Gesellschaft in China
leicht vorstellen. Sie bildet gewissermaßen einen Staat im Staate, viel
stärker, besser organisiert und einflußreicher als dieser selbst, und
wie Boyle sagt: „die verkommenste, blutdürstigste und bedrückendste
Gesellschaft, welche die Weltgeschichte kennt”. Schlegel sagt: „Die
Hung-Gesellschaft hat überall, wohin sie kam, Bürgerkrieg und Mord im
Gefolge gehabt”, und Milne sagt: „Die Mitglieder schützen einander
gegen das Gesetz, verbergen ihre Verbrechen und helfen ihren Brüdern,
sich der Hand der Gerechtigkeit zu entziehen”. Pickering äußert sich
folgendermaßen: „Die Tien-ti ist eine Vereinigung, um die Interessen
ihrer Mitglieder gegen die Gesetze aufrechtzuerhalten und Reichtümer
zu sammeln, indem sie den Freudenhäusern, Spielhöllen und dergleichen
unrechtmäßig Tribut auferlegen”. Der Polizeiinspektor von Singapore
berichtet: „Sie sind eine ständige Gefahr für den Frieden der Kolonie”.
Sie üben überall eine Schreckensherrschaft aus, und die Mandarinen sind
dagegen machtlos, denn irgendwelche Unternehmungen gegen sie werden
durch Tortur, Mord, Brand oder durch falsche Anklagen gerächt, für
welch letztere sich immer, wenn nötig, tausend falsche Zeugen finden.

Die Logenleiter beuten in vielen Fällen ihre Macht zu ihren eigenen
Zwecken aus und gelangen so zu großem Reichtum. Tschang-Ah-Kwi, einer
der Vorsteher der Loge zu Penang, wurde vor einigen Jahren wegen
Mordes angeklagt, und man fand, daß er ein Vermögen von 40 Millionen
Mark besaß. Sein Spießgeselle Tschin-Ah-Yam erfreute sich eines nahezu
ebensogroßen Vermögens. Das Obergericht in Singapore verurteilte den
Distrikt-Großmeister der Hungs, Namens Khu-Tan-Tek, vor kurzem zum
Tode, und er erklärte, man würde nicht den Mut haben, ihn hinzurichten.
Thatsächlich wurde ihm das Leben geschenkt, wie man sagt, weil man sich
vor der Rache der Hung-Mitglieder fürchtete. In China selbst wäre es
bisher natürlich vergebliche Mühe gewesen, gegen die Hungs vorzugehen.
Der beste Beweis ist ja der große Taipingkrieg, der auf Veranlassung
der Hung-Gesellschaft entfacht wurde und den China erst durch die Hilfe
der Europäer zu Ende führen konnte, nachdem die volkreichsten Provinzen
in Wüsten, die blühendsten Städte in rauchende Trümmerhaufen verwandelt
worden waren. In früheren Zeiten schritt die chinesische Regierung
wohl energisch gegen die Hungs ein. So wurden in Canton an einem Tage
allein dreitausend von ihnen enthauptet, und gelegentlich der Unruhen
in Peking im Jahre 1817 wurden zehntausend in die dortigen Gefängnisse
geworfen, wo sie verschmachteten. Allein die Hungs sind eine lernäische
Schlange und der Kaiser von China leider kein Herakles.

Dagegen wurde in den europäischen Kolonien in Ostasien die
Unterdrückung der Hung-Gesellschaft mit mehr oder minder Erfolg
durchgeführt. Die Hungs sind die Ursache, daß sich der Sultan des
unabhängigen Malayenstaates Perak unter den Schutz Englands stellen
mußte, denn er konnte mit seiner Macht gegen die fünfzigtausend Hungs
in seinem Staate nicht ankämpfen. In Niederländisch-Indien und in den
Philippinnen machte man zuerst in furchtbarer Weise Bekanntschaft
mit den Hungs, und dem Morden, Plündern und Rauben wurde dadurch
wenigstens teilweise Einhalt gethan, daß man auf die Verleitung zum
Eintritt in den Geheimbund die Todesstrafe setzte. Ebenso wurden über
jene Chinesen, in deren Besitz man Flaggen, Bücher oder Abzeichen der
Hung-Gesellschaft fand, die schwersten Strafen verhängt. Die ganze
mongolische Bevölkerung wurde strenger Kontrolle unterworfen, indem
man ihnen eigene Quartiere anwies, außerhalb welcher sie nicht wohnen
durften. Die Quartiere wurden in Bezirke abgeteilt und eigenen Beamten
und Polizisten unterstellt, die für die Bevölkerung verantwortlich
waren. In jeder Straße oder Abteilung einer solchen waren eigene
Wachleute, die jeden Einwohner persönlich kannten und dafür zu sorgen
hatten, daß niemand nach einer bestimmten Sperrstunde ohne triftigen
Grund seine Wohnung verließ. Allein auch diese strenge Maßregeln
konnten die geheimen Gesellschaften nicht unterdrücken, wie die äußerst
bewegte Geschichte der spanischen und niederländischen Kolonien
hinlänglich beweist. Wie oft wurde Manila von den Hungs und anderen
Geheimbündlern geplündert und besetzt! Wie oft war es notwendig, mit
der ganzen Garnison gegen sie vorzugehen! Ebenso war Bandjermassin auf
Borneo die Stätte blutiger Kämpfe, so daß die niederländisch-indische
Regierung sich entschloß, alle Mitglieder der Hungs und alle
verdächtigen Chinesen aus ihrem Gebiet zu verweisen. Zehn Jahre später
schrieb aber Schlegel: „Es ist unmöglich gewesen, die Hungs aus ihren
Wohnsitzen gänzlich zu vertreiben. Sie bestehen heute noch an allen
Orten”. Die vielen Tausende, welche Niederländisch-Indien wirklich
verließen, wandten sich nach dem Sultanat von Sarawak im Nordwesten
Borneos, und Rajah Brook konnte sich gegen dieses Raubgesindel nicht
anders helfen, als indem er zehntausend der eingeborenen Dayaks anwarb
und gegen die Chinesen zu Felde zog. So wurden sie vernichtet.

Merkwürdigerweise wurden die Geheimgesellschaften trotz all dieser
traurigen Erfahrungen, trotz der großen Unsicherheit in Singapore
und Penang, trotz der vielen Raubanfälle, Kämpfe und Morde in diesen
englischen Kolonien am längsten geduldet, bis endlich der Aufstand
von 40000 bewaffneten Chinesen im Jahre 1876 auch hier energische
Maßregeln nach sich zog. Statt aber ihre Unterdrückung anzuordnen,
beschränkte sich das englische Kolonialamt auf ihre Registrierung
und Beaufsichtigung. Erst 1888, nachdem die Zustände unerträglich
geworden waren und die englischen Beamten in ihrem Leben bedroht
wurden, beschloß man die gänzliche Ausrottung der Geheimbünde, die auch
thatsächlich gelungen sein soll. Auf wie lange, ist eine andere Frage.

Nächst der Tien-ti-Gesellschaft ist der gefürchtetste, mächtigste und
verbreitetste Geheimbund Chinas die Wu-wei-kian, zu deutsch „Thue
nichts”, jener Bund, welchem das jüngste Hinmorden der christlichen
Missionare 1895 zugeschrieben wird und dessen Mitglieder von den
Europäern Vegetarianer genannt werden. In früheren Zeiten führte der
Bund den Namen „weißer Lotos”, und 1724 erließ der Kaiser Yung-Tsching
gegen ihn ein Edikt, demzufolge alle Mitglieder vogelfrei erklärt
wurden. H. F. Balfour hat sich während seines langjährigen Aufenthaltes
in Shanghai eingehend mit den Vegetarianern beschäftigt, die diesen
Namen deshalb führen, weil ihnen der Genuß von Fleischspeisen verboten
ist. Ursprünglich durften sie keine farbigen Kleider tragen, keine
spitzigen Waffen oder Werkzeuge benutzen (thatsächlich waren die Wunden
der jüngst ermordeten Missionare durchweg Hiebwunden) und kein Vermögen
besitzen. Beim Eintritt in den Bund müssen sie jetzt noch ihre ganze
Habe dem Bund abtreten und behalten nur die Nutznießung, solange sie
leben. Die Mehrzahl der Bündler gehören den wohlhabenderen Ständen an,
und der Bund, der im Gegensatz zu dem Tien-ti einem einzigen Oberhaupt
oder Großmeister untersteht, soll demnach auch ungeheure Reichtümer
besitzen. Zu Beginn des Jahrhunderts beschlossen die Vegetarianer die
Vernichtung der Kaiserdynastie in Peking. Der Plan wurde entdeckt, und
der Kaiser Kia-King dekretierte die Ausrottung der Vegetarianer im
ganzen Reiche. Sie zogen sich unter ihrem Großmeister Fang-Yung-Tschen
nach ihrem Hauptquartier Nanking zurück und hielten monatelang der
Belagerung durch die Kaiserlichen stand. Endlich fiel Nanking, der
Vicekönig ließ Tausende köpfen und gewährte nur jenen Gnade, die sich
entschließen würden, Fleisch zu essen, um dadurch ihre Unterwerfung und
Lossagung von dem Geheimbunde auszudrücken. Thatsächlich unterwarfen
sich sehr viele, allein keiner davon blieb lange am Leben. Sie wurden
als Renegaten von den übriggebliebenen Geheimbündlern ermordet.

Statt unterdrückt und vernichtet zu sein, wechselten die Mitglieder
der Gesellschaft den Namen derselben vom „weißen Lotos” in „Thue
nichts” und sind heute zahlreicher und gefürchteter als je zuvor.
Der Grund davon liegt darin, daß die Wu-wei-kian auf den Aberglauben
des Volkes wirken. Die Chinesen halten sie für Magiker, im Bund mit
diabolischen Mächten. Balfour sagt darüber: „Gebildete Chinesen haben
mir allen Ernstes versichert, daß die Wu-wei-kian aus Papier Vögel
ausschneiden und diesen mittels eines Zaubermittels Leben einflößen.
Sie können auch ihren Atem unglaublich lange Zeit anhalten, bis sie im
Gesichte schwarz werden und alles Leben in ihnen erloschen zu sein
scheint. Während dieser Zeit verläßt die Seele ihren Leib, um allerhand
Auskünfte einzuholen; sobald sie zurückkehrt, gelangen die Wu-wei-kian
wieder zum Leben”.

Das Hauptstreben der Gesellschaft ist wie bei den Hungs ebenfalls gegen
die Fremdherrschaft, also gegen die Mandschuren gerichtet. Allein sie
gehen in ihrem Grundsatz „China für die Chinesen” noch weiter und
stehen allen Europäern und allen europäischen Religionen, demnach
zunächst den Missionaren, feindlich gegenüber. Eine ganze Menge der
Morde und Angriffe auf Missionshäuser in den letzten Jahrzehnten werden
ihnen in die Schuhe geschoben, ebenso wie sie auch direkt der jüngsten
Greuelthaten beschuldigt werden.

Die drittgrößte Geheimgesellschaft ist die Ko-Lao-Wai oder
„Gesellschaft des älteren Bruders”. Als der letztere wird die frühere
Kaiserdynastie Tang angesehen, und das Streben der Gesellschaft ist
es, an die Stelle der Mandschuren die Nachkommen der Tang zu setzen.
Das Hauptquartier der Ko-Lao sind die mittleren Provinzen Chinas,
Hunan und Honan, und die Mitglieder des Bundes bestehen hauptsächlich
aus Soldaten. Boyle sagt über sie: „Nach allen Berichten sind sie
eine tollkühne und gewissenlose Bande, die in den mittleren Provinzen
des Reiches einen großen Teil der Missethäter und Vagabunden zu ihren
Mitgliedern zählt”, und Balfour sagt: „Es ist gar nicht zu bezweifeln,
daß, wenn einer ihrer alten Generale die Fahne des Aufruhrs entrollen
würde, binnen kürzester Zeit hunderttausend Mann um ihn geschart
wären”. Nach Briefen, die ich während meines Aufenthalts in China
erhielt, wird dem Einfluß dieser Ko-Lao großenteils der Mißerfolg
der chinesischen Waffen im Feldzuge gegen Japan zugeschrieben. Die
Regimenter, welche zahlreiche Ko-Lao in ihren Reihen hatten oder ganz
aus solchen bestanden, weigerten sich zu kämpfen oder liefen ganz
davon in der Hoffnung, daß durch die Niederlagen die Mandschudynastie
gestürzt würde und damit ihre Hoffnungen auf die Tangdynastie größere
Aussicht auf Erfüllung hätten.

[Illustration: Proklamation der Behörden von Südschantung zum Schutze
der Missionen.]

Auch die Mohammedaner, deren Zahl in China zwanzig bis fünfundzwanzig
Millionen erreicht, haben ihren eigenen großen Geheimbund,
Hwuy-Hwuy-Jin genannt. Novizen werden dadurch gereinigt, daß man sie
zunächst tüchtig durchbläut und ihnen dann Seifenwasser zu trinken
giebt, was die Nachwirkung des bei den Taoisten so beliebten und bei
den Mohammedanern verpönten Schweinefleisches paralysieren soll. Die
unzähligen anderen Geheimgesellschaften Chinas sind viel kleiner und
mehr auf gewisse Provinzen oder Städte beschränkt, gerade wie bei
unserer eigenen Vereinsmeierei. Auf die sozialen und politischen
Zustände des Reiches üben sie keinen nennenswerten Einfluß aus. Ob
der große Mohammedaneraufstand des Jahres 1895 in den Provinzen
Schensi und Kansu auf den Einfluß der Geheimbünde zurückzuführen ist,
kann nicht gesagt werden. Die Aufständischen waren hauptsächlich von
religiösem Fanatismus und blindem Chinesenhaß erfüllte Banden, die
hier schon seit Jahrhunderten einen Rassenkrieg gegen die Ungläubigen
führen; mit diesem Namen nämlich werden die Chinesen von den
Mohammedanern bezeichnet. Die letzteren, obschon ähnlich gekleidet wie
die Chinesen und allen Gebräuchen derselben, selbst dem Zopftragen
und dem Verkrüppeln der Füße bei den Frauen unterworfen, sind doch
anderer Rasse, denn sie stammen aus dem fernen Turkestan und wurden
vor einem Jahrtausend von den Kaisern der Tangdynastie nach Kansu
gerufen, um dieses gegen die Einfälle der Tibetaner zu schützen. Sie
erhielten dafür die Bewilligung, sich in Kansu und Schensi anzusiedeln,
verbreiteten sich aber auch auf die Nachbarprovinzen, vornehmlich
nach Schantung, und zählen heute zusammen etwa zwanzig Millionen.
Sie leben mitten unter den Chinesen, vermengen sich aber niemals mit
diesen und sind ihnen auch seit jeher feindlichgesinnt geblieben.
Auch die Mohammedaner haben ihre Geheimgesellschaft, deren Streben
es ist, die beiden Provinzen ganz von Chinesen zu befreien und ein
unabhängiges mohammedanisches Reich zu gründen. Teilweise ist auch
religiöser Fanatismus ein Grund des Hasses gegen die Chinesen, denn
diese haben ihnen wohl die Ausübung ihrer Religion gestattet, aber die
Moscheen im Reiche der Mitte dürfen über den Pforten keinen Halbmond
und keine Bezeichnung als Moscheen tragen; im Innern der Moscheen sind
überdies auf Anordnung der chinesischen Behörden Statuen des Confucius
und die Ahnentafeln der chinesischen Kaiser aufgestellt, die von den
Mohammedanern verehrt werden müssen. Das, zusammen mit dem Rassenhaß
und den Bedrückungen durch die Mandarine, läßt die Gärung unter den
Mohammedanern nicht zur Ruhe kommen.

Bald nach dem chinesisch-japanischen Kriege und vielleicht als
Folge desselben und der dabei zu Tage getretenen Ohnmacht der
Mandschuregierung entstand auch in Schantung ein Geheimbund,
Tjiu-dschung-tsau, allem Anschein nach dasselbe wie die weiße
Lotosgesellschaft, nur unter anderem Namen. Die Geheimbündler
verbreiteten unter den Chinesen den Glauben, daß sie unverwundbar
seien; dadurch gewannen sie so großen Einfluß, daß sogar die
Mandarinen sich ihrer bedienten, um dem Räuberunwesen zu steuern,
wenn ihre Militärmacht nicht ausreichte. Allmählich wurden aber die
Geheimbündler selbst zu Räubern, ein Schrecken für Südschantung, so
daß die Provinzregierung endlich reguläre Truppen gegen sie aussandte.
Schon im ersten Kampfe mit den Provinztruppen fiel eine ganze Menge
der Unverwundbaren unter den Schwertstreichen; die Gefangenen wurden
von den Ortsmandarinen in die Holzkäfige gesteckt, wie sie in den
Höfen jedes Yamens in Schantung stehen, und in diesen Käfigen am
Halse aufgehängt. Nach zwei bis drei Tagen fanden die Unverwundbaren
so ihren jämmerlichen Tod. Die Seifenblase war geplatzt, mit den
Tji-dschung-tsau war es schon in den Sommermonaten 1895 vorbei.

Aber die Chinesen sind leichtgläubige Leute, und dazu ist die
Unzufriedenheit mit der Regierung wie mit dem stetigen Fortschreiten
der Europäer so groß, daß es bald zu einem neuen Geheimbunde kam, der
wohl ganz wie der letzte auch nur ein Auswuchs der Sekte der Weißen
Lotos sein dürfte, nur unter einem anderen Namen. Dieser Name ist eben
Ta-tau-hui oder Gesellschaft der Großen Messer. Warum Große Messer,
weiß ich nicht, denn ihre Waffe ist ebenfalls nur eine lange, schmale
zweischneidige Lanze, im Chinesischen Piau-djiang genannt. Ich sah eine
derartige erbeutete Waffe bei einem der Mandarine von Tsinan-fu.

Auch die Ta-tau-hui geben sich als unverwundbar aus, und ihr
Schutzmittel sind ebenfalls Papierzettel mit allerhand Zauberformeln.
Sie haben auch früher, als sie von der Regierung noch nicht so
verfolgt wurden, in ähnlicher Weise Waffenübungen veranstaltet
wie die Tji-dschun-tsau. Ihr Streben ist dasselbe: Vertreibung
der Mandschuregierung, Vertreibung der Europäer. Hauptsächlich zu
dem Zweck, um der Regierung Knüppel zwischen die Beine zu werfen,
haben sie im Jahre 1895 über zwanzig Bethäuser der katholischen
Mission von Südschantung niedergebrannt. China mußte schon damals
der Mission einen Schadenersatz von 10000 Tiau (1 Tiau etwa 1 Mark
60 Pfennig) leisten. Die Provinzregierung wurde angewiesen, die
Ta-tau-hui zu vertreiben, und in der That zog der jetzige Nien-Tai
(Provinzialrichter) von Schantung, welcher damals Yü-ta-dschen
(Mandarin) von Tsau-tschau-fu war, an der Spitze von Regierungstruppen
persönlich gegen die Großen Messer ins Feld. Die letzteren wurden
versprengt, dreißig von ihnen gefangen und in der Stadt Schain-hsien
hingerichtet. Unter den Hingerichteten befand sich auch ein Anführer
der Großen Messer, Namens Liu-schö-dsau. Aber das eigentliche Haupt,
der schon genannte Tschan-tsia-dschi, flüchtete über die Grenze nach
Honan und konnte bis heute nicht festgenommen werden. Ich habe selbst
die Proklamation angeschlagen gesehen, in welcher die Regierung den
Betrag von 1000 Taels auf seinen Kopf setzt.

[Illustration: Chinesisches Räuchergefäß.]

Dieses strenge Vorgehen für die an den Missionen verübten Unthaten
erbitterte die Großen Messer natürlich noch mehr. Bald darauf wurden
in Kü-ye die beiden unglücklichen Missionare Nieß und Henle ermordet
und so viele andere Schandthaten verübt, daß auch von Peking auf
die Beschwerden des Missionsleiters die strengsten Befehle zur
Unterdrückung der Großen Messer kamen. Die Provinztruppen schlugen
die Horden auch in mehreren blutigen Gefechten, und der Gouverneur
berichtete nach Peking, der Geheimbund bestände nicht mehr. Das war
in der That der Fall, denn um der Verfolgung durch die Regierung zu
entgehen, organisierten sich die Mitglieder wieder zu einem neuen
Bunde unter anderem Namen, jenem der Boxer. Aber der Zweck all dieser
Gesellschaften ist, wie die Ereignisse gezeigt haben, stets der
gleiche: Vertreibung der Fremden, China für die Chinesen.



Chinesisches Zeitungswesen.


Wie in so vielen andern Dingen, so zeigt die chinesische Kultur auch
in Bezug auf das Zeitungswesen die größten Widersprüche. Während
Europa nur noch wenige Kleinstädte besitzt, die nicht ihre eigene
Tageszeitung aufzuweisen hätten, wohnen zwischen dem Himalaya und der
sibirischen Grenze gegen vierhundert Millionen Menschen, denen der
Begriff Zeitung in unserm Sinne noch vollständig unbekannt ist. Und
doch wären alle Grundbedingungen dafür in China massenhaft vorhanden.
Die Chinesen sind ja die Erfinder des Papiers, der Druckerschwärze,
des Buchdrucks, ja der Zeitungen selbst. Schon vor dreizehnhundert
Jahren schnitten sie ihre Schriftzeichen in Holzplatten und druckten
ganze Werke. Vor achthundert Jahren, im Jahre 1040, erfanden sie die
beweglichen Drucktypen, und während wir in Europa die Zeitung als eine
Errungenschaft der neuesten Zeit ansehen, besaßen die Chinesen deren
eine schon vor elfhundert Jahren, denn chinesische Werke aus der Zeit
der Dynastie Tang, zwischen den Jahren 713 und 741, erwähnen bereits
die Pekinger Staatszeitung. Sie ist also um viele Jahrhunderte die
älteste Zeitung der Welt, mit seltener Pünktlichkeit durch Generationen
hindurch Tag für Tag erscheinend.

[Illustration: Messing-Opiumlampe aus Kiautschou.]

Zu einer Tageszeitung im Inlande haben es aber die Hunderte von
Millionen Zopfträgern bis auf die jüngste Zeit nicht gebracht, obschon
es weder an schriftstellerischen Talenten, noch an Lesern, noch an
Stoff mangelt. Und an Neugierde fehlt es wahrscheinlich ebensowenig,
wenn man den großartigen Stadtklatsch in Betracht zieht, der durch
Hausierer, Barbiere, Dienerschaft von Straße zu Straße verbreitet wird
und stets willfährige Zuhörer findet. Oder ist vielleicht die Regierung
daran schuld, die mit eiserner Faust alle Zeitungsunternehmungen
niederhält, Redakteure verfolgt und einsperrt, wie es bei uns,
sagen wir vor dem Jahre 1848, der Fall war? Nicht im mindesten. Das
mittelalterliche China ist im Gegensatz zu manchem unserer modernen
Kulturstaaten das Paradies der Preßfreiheit. Jeder kann drucken
und veröffentlichen, was er will. Es giebt kein Preßgesetz, keine
Bürgschaft, keinen Zeitungsstempel, keine Zensur, keine Beschlagnahme.
Litteratur, besonders die klassische, wird in China hochgeschätzt.
Die Litteraten gehören zu den angesehensten Ständen, und von der
Bevölkerung ist vielleicht ein gleicher Prozentsatz des Lesens kundig
wie unter den Völkern von Südeuropa. Dennoch hat sich China bis auf die
jüngste Zeit mit der einzigen Pekinger Zeitung begnügt.

Diese Pekinger Zeitung, im Chinesischen „Tzing pao”, ist in Bezug
auf ihre Redaktion, ihr Aussehen und ihre Verbreitung ein Unikum.
Der Text beschränkt sich auf Hofnachrichten und die Veröffentlichung
von kaiserlichen Erlassen, Ernennungen, Gesetzen und Strafen. Alle
Dokumente der ganzen Regierungsmaschine dieses größten Reiches der
Welt gelangen in den großen Staatsrat, und dieser verfügt, welche
Dokumente veröffentlicht werden sollen. Abschriften derselben werden
dann dem Geheimen Rat übergeben, von welchem täglich ein Mandarin den
Dienst im kaiserlichen Palast versieht. Dem Geheimen Rat liegt es
ob, die Dekrete, Diplome, Urteile und dergleichen an ihre Bestimmung
gelangen zu lassen, und dazu werden sie der Generalpostdirektion, einer
Abteilung des Kriegsministeriums, übergeben, die sie durch eigene
Kuriere nach den verschiedenen Provinzen entsendet, denn ein geregeltes
Postwesen nach europäischem Muster ist ja in China unbekannt.
Gleichzeitig mit den Beamten der Postdirektion finden sich im Geheimen
Rate täglich auch Beamte der Ministerien und die Redakteure der
Pekinger Zeitung ein, um von den verschiedenen Dokumenten Abschriften
anzufertigen. Die Druckerei der Pekinger Zeitung, ein halbamtliches
Unternehmen, untersteht der Oberaufsicht der Postdirektion; sie hat
darauf zu achten, daß der Wortlaut der amtlichen Bekanntmachungen
nicht geändert oder gekürzt werde; sie erhält auch täglich eine für
die verschiedenen Behörden der Hauptstadt wie der Provinzen bestimmte
Anzahl Abdrücke, die sie gleichzeitig mit den anderen Dokumenten durch
die Kuriere versendet.

Man wird sich möglicherweise über den Ausdruck Zeitungsdruckerei
wundern, denn bisher wurde ziemlich allgemein angenommen, daß die
Pekinger Zeitung täglich in der erforderlichen Anzahl von Exemplaren
geschrieben wird. Dies ist ein Irrtum. Die wirklich offizielle Pekinger
Zeitung wird gedruckt, gerade so wie unsere Regierungszeitungen, und
es besteht in Peking hierfür eine eigene Druckerei mit Setzern und
Pressen, nur erfolgt der Zeitungsdruck dort nicht so einfach und rasch
wie bei uns. Es vergehen immer einige Tage, bis eine Ausgabe der
Zeitung hergestellt ist. Man muß sich eben vor Augen halten, daß unsere
Setzer im ganzen mit ein paar Dutzend Buchstaben zu arbeiten haben,
die in Kästen vor ihnen liegen, ja bei den neuen amerikanischen und
deutschen Setz- oder Zeilengießmaschinen fallen sogar diese Setzkästen
fort, und die Setzer arbeiten wie an einer Schreibmaschine. In der
chinesischen Sprache giebt es statt einzelner Buchstaben ebensoviele
Tausende verschiedener Zeichen; jedes Wort oder doch jede Silbe hat
ihr eigenes Zeichen, und dementsprechend giebt es in chinesischen
Druckereien auch ganze Katakomben gefüllt mit Tausenden von Kästchen,
jedes mit anderen Typen. Die größte Druckerei, die ich in China zu
besuchen Gelegenheit hatte, war jene der katholischen Mission in
Zikaway, am Sutschaukanal gelegen. Ich wanderte dort lange Gänge, zu
beiden Seiten mit derartigen Kästen besetzt, auf und ab. In jedem
lagen verschiedene Typen, nicht etwa die winzigen Metallstäbchen,
die so leicht zu handhaben sind, sondern Holzstücke von etwa einem
Quadratcentimeter Durchschnitt für die gewöhnlichen Typen. Unsere
Buchstaben sind einfach in der Form und leicht zu erkennen. Die
chinesischen Zeichen aber bestehen der Mehrzahl nach aus zwanzig bis
dreißig verschiedenen Strichlein, kunterbunt durcheinander gezogen,
mit Auswüchsen, Quadrätchen, Punkten und Kreislinien, daß einem
europäischen Setzer die Haare zu Berge stehen würden, hätte er es auch
nur mit sechsundzwanzig derlei Zeichen zu thun. Und die Chinesen haben
deren mindestens ebensoviele Tausende. Dabei sind mitunter Dutzende
dieser schwer zu unterscheidenden Hieroglyphen nur durch ganz kleine
Strichlein oder Punkte voneinander unterschieden. Welche Freude für den
Setzer und erst recht für den Korrektor! Ein chinesischer Setzer müßte,
wollte er sich aus den langen Galerien die Typen selbst zusammenholen,
so viel umherlaufen wie ein Briefträger; er hat deshalb gewöhnlich
einige Laufburschen zu seiner Verfügung, welche ihm die verschiedenen
Typen, deren er bedarf, aussuchen.

Unter solchen Umständen darf es nicht wundernehmen, daß der Satz
chinesischer Handschriften so viele Zeit beansprucht. Aber auch der
Druck geht ähnlich langsam vor sich. Die Papierblätter der Pekinger
Zeitung, neunzehn Centimeter hoch und zwanzig Centimeter breit, liegen
neben dem Drucker, der den Satz in einem Holzrahmen vor sich stehen
hat. Zunächst nimmt er mittels einer breiten Bürste, einem umgekehrten
Blumenstrauß nicht unähnlich, etwas Druckerschwärze aus einem
muldenartigen Gefäß und schwärzt die Typen. Dann legt er sorgfältig ein
Blättchen darauf und fährt mit einem kleinen harten Handkissen darüber.
Damit ist ein Blatt einer Zeitung fertiggedruckt, denn weder bei
chinesischen noch bei japanischen Büchern wird die Rückseite bedruckt.
Die Blätter werden mit dem Druck nach außen einmal gefaltet und an
den offenen Seiten zusammengeheftet. Würde man ein chinesisches Buch
aufschneiden, so ergäben sich nach je zwei bedruckten Seiten immer zwei
leere.

Ein solches Buch ist nun auch jedes Exemplar der offiziellen Pekinger
Zeitung, denn der Inhalt verteilt sich auf zehn bis zwanzig und
noch mehr Blätter, je nach der Menge des Textes. Sind alle Blätter
in der geschilderten Weise gedruckt worden, so werden sie gefaltet
und zusammengeheftet dadurch, daß man sie etwa einen Centimeter vom
Rückenrand durchlocht, Bindfäden aus gedrehtem Papier durchzieht und
diese zusammenknüpft. Ueber die Bindfäden aus Papier darf man sich
nicht wundern, denn das chinesische Papier ist aus viel zäheren Stoffen
angefertigt als das unserige. In Korea fand ich sogar aus Papier
gedrehte Seile und Schnüre allgemein im Gebrauch.

Jedes Exemplar der Pekinger Zeitung wird nun mit einem Umschlag von
gelbem Papier versehen, denn gelb ist die Farbe des Kaisers; dann wird
noch auf der hintersten Seite des Umschlags in roter Farbe der Name
Tsing-pao, d. h. Hauptstadtzeitung aufgedruckt, und damit ist die
Zeitung zur Ausgabe bereit. Eigene Kuriere der Postbehörde übernehmen
die Pakete und laufen damit durch die Straßen Pekings, um sie den
einzelnen Mandarinen, Gesandtschaften und sonstigen Abonnenten zu
überbringen. Auf die Zeitung kann nämlich auch um den geringen Preis
von beiläufig einer deutschen Reichsmark für den Monat abonniert werden.

Davon machen auch eigene halbamtliche Druckereien in jeder
Provinzhauptstadt Gebrauch. Kaum ist der Kurier aus Peking mit
den Regierungsdepeschen und den Zeitungsnummern im Yamen des
Generalgouverneurs oder Vizekönigs eingetroffen, so kommt ein
Zeitungsexemplar nach der Druckerei, um dort für die Abonnenten und
Behörden der Provinz nochmals vervielfältigt zu werden.

Der ganze geschilderte Vorgang nimmt wie gesagt mehrere Tage
in Anspruch. Nun liegt es aber im Interesse der Behörden und
Gesandtschaften, so rasch als möglich in den Besitz der einzigen
offiziellen Regierungsnachrichten zu kommen, und deshalb werden mit
stillschweigendem Einverständnis der Postverwaltung in Peking noch zwei
andere Ausgaben der Zeitung veranstaltet. Bei der einen, „T’schang
peun”, d. h. lange Zeitung (weil das Format etwas länger ist), wird
der Text der Dekrete auf Wachsplatten rasch eingeschnitten und von
diesen der Druck veranstaltet; für die zweite „Sie’-peun”, d. h.
geschriebene Zeitung, wird der Inhalt der Dokumente von Schreibern
rasch in der erforderlichen Anzahl von Exemplaren abgeschrieben. Sie
besteht aus einem einfachen Blatt Papier ohne Umschlag. Diese Ausgabe
kommt gewöhnlich einige Tage früher als die gedruckte zur Verteilung
und kostet, ihrer Herstellungsweise entsprechend, erheblich mehr, d. h.
etwa 24 Reichsmark monatlich.

Nehmen wir einmal eines der gelben offiziellen Zeitungshefte zur Hand.
Natürlich müssen wir, wie bei arabischen und jüdischen Büchern, von
rückwärts beginnen. Jede Seite wird durch violette Linien in sieben
vertikale, etwas über einen Centimeter breite Rubriken geteilt, und in
jeder Rubrik stehen vierzehn Zeichen, die aber nicht am oberen Rande,
sondern etwa fünf Centimeter weiter unten beginnen. Auf jeder Seite
bleibt dieser obere Raum als Ausdruck der Achtung für die kaiserlichen
Dekrete und Nachrichten frei, gerade so wie wir es in unseren Briefen
an Hochgestellte zu thun pflegen.

Die erste Rubrik der ersten Seite, nach unserer Lesart also die
letzte, enthält das Datum: Tag, Monat und Regierungsjahr des Kaisers;
die zweite die Inhaltsangabe (mu-lu). Dann folgen auf dem Rest der
ersten und zuweilen auch der zweiten Seite Hof- und Palastnachrichten.
Jeder Ausgang des Kaisers, jedes Gebet, jeder Besuch wird genau mit
allen Einzelheiten des Zeremoniells, der Kleidung und des Gefolges
verzeichnet. Die dritte Seite enthält den Garnisonsbefehl, d. h.
den Stand und die Dienstleistungen der verschiedenen Tatarenbanner
von Peking. Auf den folgenden Seiten befinden sich die Edikte des
Kaisers, dann die Ernennungen und Verfügungen auf Grund von Meldungen
der Zensoren und Provinzgouverneure, schließlich Meldungen aus den
verschiedenen Provinzen und Vorkommnisse in Peking, kaiserliche,
militärische oder polizeiliche Strafen und dergleichen. Eine
eigentümliche Einrichtung der Pekinger Zeitung ist es, daß die
Verfügungen des Kaisers gewöhnlich einige Tage früher veröffentlicht
werden als die Berichte der Gouverneure, auf welche hin sie getroffen
wurden, denn die chinesische Hofetikette schreibt vor, daß die
kaiserlichen Worte stets allen andern vorgehen.

Im ganzen und großen ist also die Pekinger Zeitung etwa unseren
offiziellen Regierungszeitungen ähnlich, allein man würde sich gewaltig
irren, wollte man annehmen, ihr Inhalt wäre auch ähnlich langweilig.
Im Gegenteil, die Lektüre derselben oder vielmehr die Uebersetzung
ist für den Europäer, welcher Hof und Regierung, Leben und Sitten in
China kennen lernen will, eine unerschöpfliche Quelle des Wissens,
und ich gestehe offen, ich verdanke dieser Lektüre mehr Nachrichten,
Fingerzeige, Aufschlüsse als allen dickbändigen Reisewerken über
China. Ich bin zuerst in Siam auf diese offiziellen Veröffentlichungen
aufmerksam gemacht worden, und während meiner folgenden Reisen in
China, Korea und Japan war es stets meine erste Sorge, möglichst
viele Nummern der Regierungszeitungen durchzustudieren. Sie sind die
einzigen Bädeker jener Länder. Das ganze China, von Peking bis in
die fernsten Grenzländer, vom kaiserlichen Hofleben bis herab zu dem
Treiben der Wegelagerer und Seeräuber entrollte sich in diesen kleinen,
mit Hieroglyphen gefüllten Blättchen vor meinen Augen: Militär und
Marine, Gerichtspflege, Tempelopfer und Ahnenverehrung, Beamtenwesen,
Agrikultur, Industrie, Aberglauben und Volksgebräuche, und fürwahr, es
könnte kein besseres Buch über China geschrieben werden, als wenn man
einen Jahrgang der Pekinger Zeitung übersetzen und durch Erklärungen
ergänzen würde.

Das, was man in anderen Ländern gewöhnlich als offizielles
Vertuschungssystem bezeichnet, kennen die Chinesen nicht. Ich war auf
das höchste erstaunt, als ich in der Pekinger Zeitung alle Missethaten
der höchsten Mandarine, Ministerialbeamten, Tatarengenerale ganz offen
geschildert fand. Ja sogar Anklagen gegen die Kaiserin-Exregentin,
gegen die Kaiserinnen und Prinzen von seiten der Zensoren finden in der
Tsing-pao Aufnahme, dazu die Strafen, welche der Kaiser auf Grundlage
von Berichten zu erteilen für gut fand. Wo wäre ein ähnliches Vorgehen
in europäischen Staaten denkbar?

Die Erklärung dieses merkwürdigen sozialen Phänomens liegt darin, daß
es in China keine innere Politik, keine politischen Parteien, keinen
Sozialismus und Anarchismus giebt; daß man in China keine absolute,
keine despotische Regierung, sondern im wahren Sinne des Wortes nur ein
Patriarchat kennt. Die Chinesen werden wie eine Familie betrachtet,
deren Patriarch der Kaiser ist, und vor diesem giebt es kein hoch und
niedrig, alle werden nach demselben Recht und Gesetz behandelt.

In den dem europäischen Handel geöffneten Vertragshäfen entstanden in
den letzten Jahren auch einige chinesische Tageszeitungen, aber sie
wurden ursprünglich nicht durch Chinesen, sondern durch Engländer
gegründet. In diesen Vertragshäfen spielt das Zeitungswesen eine
bedeutende Rolle. Obschon beispielsweise Shanghai nur etwa 6000
europäische Einwohner zählt, hat es fünf Tageszeitungen, davon vier
in englischer und eine in französischer Sprache erscheinend, ferner
mehrere Wochenblätter, darunter ein deutsches: Der ostasiatische
Lloyd, das einzige deutsche Blatt in ganz Asien. Hongkong mit
seinen 10000 Europäern besitzt drei englische Tages- und zwei
Wochenblätter, Tientsin, Amoy und Futschau je eine Tageszeitung,
obschon die europäischen Kolonien dieser Städte kaum einige hundert
Einwohner zählen. In der portugiesischen Kolonie Macao giebt es
noch einige portugiesische Blätter. Als nun die Herausgeber einiger
dieser europäischer Zeitungen das rege Interesse sahen, welches ihre
Veröffentlichungen auch unter den englisch sprechenden Chinesen
fanden, versuchten sie die Herausgabe chinesischer Tagesblätter,
welche gleichzeitig mit den englischen erschienen, und der Erfolg war
derartig, daß in den letzten Jahren eine ganze Reihe chinesischer
Blätter entstanden. So erscheint in der Redaktion der China Mail in
Hongkong die chinesische Wa T’ziat Pao, in jener der Daily Preß die
chinesische Tschung Ngoi San Pao. Die größte chinesische Tageszeitung
aber wird von der Redaktion der North China Daily News in Shanghai
hergestellt und heißt Tschen-Pao (Shanghai-Neuigkeiten); ja die
unternehmenden Herausgeber dieser Blätter veröffentlichen seit einiger
Zeit sogar ein illustriertes Wochenblatt in chinesischer Sprache,
Hu-Pao (litterarische Neuigkeiten), und machen damit vortreffliche
Geschäfte. In Tientsin kommt gleichzeitig mit der dortigen Times der
Tsche-Pao (etwa die chinesischen Worte für Times) heraus, und in der
größten Stadt Chinas, in Canton, gab vor zwölf Jahren der damalige
Vizekönig Tschang-Tschi-Tong selbst die Veranlassung zur Gründung einer
chinesischen Tageszeitung, zu deren Redakteur er einen seiner Sekretäre
ernannte. Diese Zeitung, Kwang-Pao (Neuigkeiten der Provinz Kwangtung),
wurde von dem Nachfolger des Vizekönigs eine Zeitlang unterdrückt,
erscheint aber jetzt wieder unter dem Namen Tschung si dsche Pao
(Tagesneuigkeiten aus China und dem Westen). Ist es nicht bezeichnend
für die Zustände in dem Jahrtausende alten Reiche der Mitte, daß der
Vizekönig einer der größten Provinzen desselben zum Zeitungsgründer
wird? Friedlich und freundschaftlich verträgt sich dieses
vizekönigliche Blatt mit seinem einzigen Cantoner Rivalen, dem Ling nam
dsche Pao, zu deutsch Tägliche Nachrichten von Ling nam. Canton hieß
nämlich in früheren Zeiten Ling nam. Auch in dem durch den Frieden von
Shimonoseki eröffneten Hafen Sutschau wurde 1897 eine neue, dreimal
monatlich erscheinende Zeitung gegründet, welche den Namen Schiwu Pao,
d. h. etwa „die Zeiten”, führt. Ihre Druckerei beschäftigt sich auch
mit der Uebersetzung und Herausgabe von nützlichen europäischen Büchern.

Damit sind wohl alle Zeitungen des Vierhundertmillionen-Reiches
erschöpft, ein halbes Dutzend von je drei- bis sechstausend Auflage,
das Shanghaier Tschen-Pao ausgenommen, das täglich in einer Auflage
von zwölftausend Exemplaren gedruckt wird. Aber neben diesen Blättern
wirkt schon seit Jahren noch ein anderes, halbwöchentliches Blatt,
das an Auflage alle zusammen übertreffen dürfte und bis in die
entferntesten Provinzen des Reiches, ja nach Tibet und der Mongolei
geht, überall gelesen, überall beachtet wird und ganz im stillen den
größten Einfluß unter allen periodischen Veröffentlichungen Chinas
ausüben dürfte, ein Blatt, besser gedruckt und von vornehmerem Aussehen
als alle anderen, die Pekinger Zeitung nicht ausgenommen. Es führt den
Titel Y-wen-lu und wird von den Priestern der katholischen Mission in
Zikawei bei Shanghai herausgegeben. In meisterhafter Weise verstehen
es die chinesischen Redakteure, katholische Priester, das Volk zu
belehren, Auszüge aus der Pekinger Zeitung wie aus den europäischen
Blättern zu bringen, dazu gediegene Artikel über Europa und seine
Errungenschaften, aber gleichzeitig wird auch für die katholische
Religion Propaganda gemacht, und es ist nicht zum geringsten diesem
Blatte zuzuschreiben, wenn die katholische Kirche heute in China weit
über eine Million Anhänger besitzt.

Die chinesischen Tagesblätter sind in Aussehen und Einteilung nicht
etwa das, was wir in Europa als chinesisch zu bezeichnen pflegen,
exotisch, eigentümlich, verzwickt, verschnörkelt, denn sie sind ja
nicht der chinesischen Kultur entsprungen, sondern der europäischen
und wurden nur der chinesischen angepaßt. Der Mehrzahl nach besitzen
sie etwa das Format der deutschen Gartenlaube und haben vier
Blätter, bei denen auch die Innenseiten bedruckt sind, gerade so wie
bei unseren Zeitungen. Auch die Einteilung ist ganz dieselbe, nur
umgedreht; dort, wo bei uns die Anzeigen stehen, also auf der letzten
Seite, befinden sich Titel und Leitartikel, und das was bei uns die
erste Seite ist, ist bei den chinesischen Blättern die letzte, ganz
gefüllt mit Reklamen. Da sage man noch, die chinesische Kultur sei
seit Jahrtausenden stehengeblieben! Reklamen von Geheimmittelchen,
Pillen und Pülverchen, von Schneidern und Schustern, von Theatern und
Vergnügungen, Verlustanzeigen, Land-, Häuserverkäufe und dergleichen.
Manche dieser Anzeigen sind sogar schon mit kleinen Bilderchen
illustriert, um die Aufmerksamkeit besser anzuziehen. Und all diese
Dinge findet man nicht nur auf einer Seite. Nein, bei den meisten
Blättern sind vier ganze Seiten, also die Hälfte der Ausgabe, mit
Anzeigen gefüllt, deren Lektüre einen tiefen Einblick in das wirkliche
Volksleben und den Volkscharakter der Chinesen gewährt. Zeigt die
Pekinger Zeitung den Hof, das offizielle China und jene Ereignisse,
welche zur Kenntnis und Behandlung von seiten der Regierung kommen,
so führen die Reklameseiten der lokalen Blätter den Fremden in den
chinesischen Kleinverkehr, in die Details des städtischen Lebens ein
und zeigen, daß dieses Volk in den Fremdenstädten im großen und ganzen
gerade so lebt wie wir Europäer, nur ins Chinesische übertragen.

Besehen wir uns die letzten, d. h. also die ersten Seiten der
chinesischen Zeitungen. Der Kopf ist ganz wie bei unseren Blättern;
der Titel recht groß, daneben in kleineren Zeichen die Stellen, wo
man in der Hauptstadt wie in den Provinzen abonnieren kann, darunter
das chinesische Datum. Der Preis einer Nummer ist durchschnittlich
etwa fünf bis sechs Sapeken, beiläufig anderthalb Pfennig. Dann folgen
vortrefflich geschriebene Leitartikel über in- und ausländische
Dinge, und die chinesischen Redakteure nehmen gar keinen Anstand, der
Regierung allerhand gutgemeinte Ratschläge zu geben. Die zweite Seite
enthält Auszüge aus der Pekinger Zeitung, Ernennungen, kaiserliche
Edikte, welche sich die Zeitungen von ihren hauptstädtischen
Korrespondenten, die es auch in China schon giebt, telegraphieren
lassen. Daran schließen sich Uebersetzungen der Reuterschen Depeschen
über die wichtigsten Ereignisse der westlichen Welt, denn Reuter
hat auch in Ostasien seine Abonnenten. Den interessantesten Teil
der chinesischen Zeitungen bilden indessen die letzten Textseiten:
Lokalnachrichten, Feuilleton, kleine Korrespondenzen aus der
Provinz, Personalsachen, Gerichtspflege. Wie man sieht, haben
sich die chinesischen Ritter der Feder oder vielmehr des Pinsels,
denn man schreibt in China mit einem Pinsel, die europäischen
Zeitungsredaktionen ganz zum Vorbilde genommen. Nun kommen in den
englischen Blättern, aus welchen sie einen großen Teil ihrer Weisheit
schöpfen, eine ganze Menge von Begriffen und Dingen vor, für welche es
begreiflicherweise keine chinesischen Wörter giebt, wie z. B. Telephon,
Telegraph. Statt lange Umschreibungen zu gebrauchen, nehmen sie ähnlich
klingende chinesische Wörter zu Hilfe, die an und für sich ganz andere
Dinge bedeuten, was anfänglich dem chinesischen Leser recht chinesisch
vorkommen mag. In ihrer Art sind sie wie unsere Bilderrätsel. So
z. B. wird das Wort Ultimatum von den chinesischen Redakteuren durch
die Zeichen U-li-ma-tung gebildet, Telephon aus den drei Zeichen
to-li-fung, und status quo aus ße-ta-tu-ko. Ebenso schwierig ist es für
sie, in den Anzeigen europäischer Kaufleute deren Namen zu schreiben.
Deshalb besitzt jedes europäische Haus einen eigenen chinesischen
Namen, so z. B. heißt Ehlers E-li-si, Golding Go-ting, Morrison
Ma-li-sun, Wolf Wa-fu, Wilkinson Way-king-sun. Nur Meier oder Mayer
giebt es wie allüberall auf unserm Erdball, auch sogar in China, Meyer
bleibt Meyer, wohin er kommt, nur wird der Name im Chinesischen Mei-ier
geschrieben.

Trotz all dieser Anpassungen der chinesischen Redakteure an ihre
englischen Vorbilder in Ostasien zeigt sich in ihren Berichten doch
ein naiver Geist, Aberglauben und Leichtgläubigkeit, die dem Leser
unwillkürlich ein Lächeln entlocken. Beim Lesen der einfältigen
Lokalberichte und Korrespondenzen aus der Provinz fiel mir die
merkwürdige Uebereinstimmung mit ähnlichen Berichten auf, wie sie bei
uns noch im letzten Jahrhundert häufig zu lesen waren und allgemein
Glauben fanden. Die Geschichte wiederholt sich eben, und man kann
die einzelnen Phasen unserer eigenen Kulturentwickelung heute noch
in fernen Ländern bei anderen Völkern wiederfinden, unser Altertum,
unser Mittelalter, unsere neuere Zeit. Das habe ich auf meinen Reisen
in allen Weltteilen in tausenderlei Einzelheiten gesehen, das fand
ich, wie gesagt, auch in der chinesischen Presse. Ich erwähne hier nur
einige den Cantoner Blättern entnommene Nachrichten, z. B. vom 8. Mai
1894:

„Eine Jungfrau hatte in einem Rocke unvorsichtigerweise eine Nadel
stecken lassen, die ihr beim Ankleiden in die Haut drang. Ratlos
standen die herbeigerufenen chinesischen Aerzte, ohne Mittel, zu helfen
und den Schmerz zu lindern. Da rief ihr Bruder einen Freund herbei, der
sich auf dergleichen verstand. Er legte dem Mädchen ein mit geheimen
Zeichen beschriebenes Papier auf die Brust, und am folgenden Tage kam
die Nadel richtig zum Vorschein, so daß sie entfernt werden konnte.”

9. Mai: „In Schuntak kamen bei einem starken Regenguß zwei Fischlein
vom Himmel nieder. Sie sahen so lieblich aus, daß die Bevölkerung sie
nicht zu speisen wagte. Sie wurden deshalb sorgfältig in den Fluß
gesetzt, wo sie lustig davonschwammen.”

10. Mai: „In der Pu-Tschi-Tschiaostraße mietete jemand ein Haus und
machte bekannt, daß er von den Heiligen zum Erlöser der leidenden
Menschheit bestimmt sei. Er fand starken Zuspruch, besonders von
Frauen. Da thaten sich die Nachbarn zusammen und jagten ihn davon.”

11. Mai: „In einem Gebäude des Panyü-Ritters wuchs vor einigen Tagen
ein Bambus hervor, der in einem Vormittag die Höhe von sieben Fuß
erreichte, das Dach durchbrach und in drei Tagen siebzig Fuß hoch
war. Es giebt Leute, die das wunder finden, obschon eigentlich nichts
natürlicher ist. Der Boden ist dort schwefelhaltig, und Schwefel ist
bekannt wegen seiner Expansivkraft.”

Derartige Mitteilungen fand ich in jeder Zeitungsnummer, zuweilen auf
derselben Seite mit Reuterdepeschen. Das alte und das moderne China
begegnen sich in diesen Blättern, aber es wird gar nicht mehr so lange
dauern, bis die Bewohner der Hauptstädte derlei naive Nachrichten gar
nicht mehr lesen werden. Dafür werden sie größere Aufmerksamkeit den
Bank- und Verkehrsnachrichten, den Wechsel- und Aktienkursen zuwenden,
die von Jahr zu Jahr in den wenigen bestehenden Blättern immer mehr
Platz einnehmen. Der Keim für den neuen Kurs ist auch in China gelegt,
und in zwei Jahrzehnten dürfte jede größere Stadt des Reiches der Mitte
ihre Zeitung besitzen.

[Illustration: Tabakspfeife der Schantungleute (⅓ der natürlichen
Größe).]



Geld- und Bankwesen.


[Illustration: Vier-Tiau-Banknote in Shanghai (halbe Größe).]

So sehr der Außenhandel Chinas in den letzten Jahrzehnten auch
gestiegen ist, so bildet er noch heute nur einen kleinen Prozentsatz
des Binnenhandels dieses ungeheuren, an Größe den ganzen europäischen
Kontinent weit übertreffenden Reiches. China ist so überaus reich an
Naturprodukten aller Art, daß es bis auf die jüngste Zeit ausländische
Produkte kaum gebraucht hat; die Produkte des Südens gehen nach dem
Norden, jene des Nordens nach dem Süden. Im ganzen Reiche findet der
regste Austausch der eigenen Erzeugnisse statt. Die Flüsse, Kanäle,
Straßen, Pfade sind jahraus jahrein mit Frachtladungen bevölkert, und
wohl kein einziges Reich der Erde dürfte einen so großen Binnenhandel
besitzen wie China.

Dabei hat China noch immer keine von jenen Erleichterungen des
Verkehrs, die wir heute bei uns als unerläßlich für den letzteren
ansehen: wenige Eisenbahnen, nur teilweise geregeltes Postwesen und
kein Münzwesen. Während in allen zivilisierten Staaten der Erde
Banknoten, Gold- oder Silbermünzen den Handel vermitteln, giebt es in
dem chinesischen Reiche keine solchen; nicht Gold und Silber, sondern
Kupfer ist der Standard, und was die Banknoten betrifft, die von den
Chinesen erfunden wurden und deren Einführung in den Handelsverkehr
schon der alte Marco Polo auf seinen Reisen in China vor sechshundert
Jahren gepriesen hat, so sind sogar diese in dem Reiche der Mitte außer
Kurs gekommen und nur noch in größeren Städten in lokalem Gebrauch.
Statt Pfund Sterling, Dollars, Napoleons, Mark und Gulden giebt
es in China nur kleine durchlochte Kupferscheiben als gesetzliche
Münze; sie sind es, die dem Tausende von Millionen Mark erreichenden
Geschäftsverkehr als Grundlage dienen.

Auf welche Weise geschieht dies nun? Wie können die Kaufleute in Canton
und Formosa mit jenen in der Mandschurei oder in Tibet auf Tausende von
Kilometern Entfernung den Geschäftsverkehr unterhalten? Wie können sie
selbst in den einzelnen Provinzen oder Städten ihre Waren bezahlen,
wollen sie es nicht mit ganzen Maultierladungen von Kupfer thun?

Und doch sind diese Kupfermünzen, wie gesagt, die einzigen Münzen des
Reiches und waren es schon vor Jahrtausenden. In Mittel-Schantung fand
ich Münzen, die zweitausend Jahre alt waren, und im chinesischen Museum
zu Hongkong habe ich Kupfermünzen gesehen, die viereinhalb Jahrtausende
alt waren. Münzen, nicht von runder Form, sondern viereckige Scheiben
mit einem Loch am obern und zwei fingerartigen Ansätzen am untern
Rande; die aufgeprägten Schriftzeichen besagten, daß sie im Jahre
2800 vor Christi Geburt unter der Dynastie Wuti zirkulierten; andere
Münzen von ähnlicher Form stammen aus der Zeit der Hia-Dynastie, also
zweitausend Jahre vor Christi Geburt. Ich selbst besitze chinesische
Münzen in der Form und Größe unserer Rasiermesserklingen, die über
zweitausend Jahre alt sind, andere runde von etwa sechs Centimeter
Durchmesser stammen aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung
und besitzen schon die viereckige Durchlochung in der Mitte, welche
alle chinesischen Kupfermünzen ohne Ausnahme noch heute zeigen. Ohne
Loch keine Münze. Wie ist es nun möglich, daß diese Münzen bei so
ungeheuren Summen, um die es sich zuweilen handelt, als Zahlungsmittel
dienen?

Nun war freilich in der letzten Zeit in europäischen Blättern viel von
den chinesischen Taels zu lesen, in denen Zahlungen geleistet werden
und welche nach ihrem Kurse beiläufig drei Reichsmark entsprechen;
auch der Briefmarkensammler findet auf den von der chinesischen
Zollbehörde herausgegebenen Briefmarken als Wertangabe einen, zwei
oder drei Candarins, und fragt er, was der Candarin für einen Wert
besitzt, so wird ihm zur Antwort, daß zehn Sapeken oder, wie sie im
Chinesischen heißen, Li, einen Candarin ausmachen; allein Taels,
Candarins und Li sind nur fiktive Werte, als Münzen bestehen sie
nicht, ebensowenig wie heute die englischen Guineen. Der Tael ist
einfach eine chinesische Unze reines Silber, und soll eine bestimmte
Summe in Silber bezahlt werden, so wird die beiläufige Menge von einem
Silberbarren abgeschlagen, das Zuviel abgeschnitten oder das Fehlende
durch kleine Stückchen ergänzt. Auch wird das Silber in sogenannte
Shoes von der Form einer Badewanne im Gewichte von 5, 10, 20 oder mehr
Taels gegossen. Die wirkliche Münze des Kleinverkehrs in ganz China
ist der Cash, und etwa 1350 bis 1450 dieser Cash bilden einen Tael. Es
befinden sich nämlich unter den Cash so viele falsche oder schlecht
geprägte, abgegriffene Münzen, daß nicht einmal die gesetzliche Zahl
von 1350 eingehalten wird, sondern je nach der Güte der Münzen 1350 bis
1450 Cash dazu gehören, um einen Tael zu machen. Wie die Kupfermünzen,
so haben auch die Taels selbst nicht im ganzen Lande den gleichen Wert.
Am wertvollsten ist wohl der Haikwan-Tael, in welchem die Zollabgaben
geleistet werden. Daneben hat jede Provinz ihren eigenen Tael, und will
ein Kaufmann in Shanghai etwa 100 Taels nach Hankau oder Tientsin
oder Nütschwang remittieren, so gelten diese 100 Taels in Hankau
vielleicht 101, in Tientsin 98, in Nütschwang 103 Taels, bei beständig
wechselndem Kurs.

[Illustration: Cash, heutige Verkehrsmünzen von Schantung, alle vom
gleichen Wert (natürliche Größe).]

[Illustration: Chinesische Münzen von 2000 bis 4000 Jahren Alter.]

[Illustration: Alte Münzen vom Jahre 2000 vor Christi bis zum vorigen
Jahrhundert.]

[Illustration: Silberbarren.]

In Canton sind die Taels überhaupt abgeschafft, und die gesetzliche
Münzeinheit ist seit einigen Jahren der Canton-Silberdollar. Der
Vizekönig der Provinz Kwantung hat nämlich vor mehreren Jahren
in Canton eine Münze mit europäischen Prägemaschinen und unter
europäischer Leitung errichten lassen, eine der großartigsten
Münzstätten der Erde, deren Graveure, Arbeiter aber durchaus Chinesen
sind. Dort kommen nun seit 1890 gut geprägte ganze, halbe und fünftel
Dollars zur Ausgabe, welche trotzdem, daß sie keine Durchlochungen in
der Mitte zeigen, von der dortigen Bevölkerung allgemein angenommen
werden. Auf der Rückseite dieser Canton-Dollars, welche im Wert dem
japanischen Yen und dem mexikanischen Dollar ziemlich gleich sind,
befindet sich das chinesische Wappentier, der mehrfach gewundene
Drache, und die Umschrift in englischer Sprache: Kwantung Province
nebst der Wertangabe, die aber nicht auf den Dollar, sondern auf den
Tael Bezug hat. So zum Beispiel heißt es auf dem Dollarstück nicht
etwa Ein Dollar, sondern 7 mace und 2 Candarins. Auf den silbernen
Zehn- und Fünf-Centstücken, die ebenfalls zur Ausgabe gelangten, heißt
es 72 resp. 36 Candarins. Wohl hat der Canton-Dollar 100 Cents gerade
wie der mexikanische, aber es wird nicht nach Cents, sondern nach Cash
gerechnet, von denen 972 auf den Dollar gehen. Diese Cash der Cantoner
Münze, heute in China die beliebtesten, zeigen auf ihrer runden Scheibe
von 2½ Centimeter Durchmesser chinesische Bezeichnungen, die soviel als
„Gangbare Münze” bedeuten. In der Mitte sind sie gerade so durchlocht
wie die Cash in anderen Provinzen.

Dieser Wirrwarr von Münzen wird in den offenen Häfen, hauptsächlich
in Canton, Shanghai, Tientsin und Futschau, noch durch die vielen
ausländischen Münzen erhöht, Singapore-, Hongkong- und mexikanische
Dollars, dann japanische Yen, spanische und portugiesische Münzen,
alle von verschiedener Silbergüte und demzufolge von verschiedenem
Wert. Wenn sie nur alle echt wären! Aber in wenigen Ländern habe ich
eine so große Zahl schlechter oder falscher Münzen angetroffen wie in
den chinesischen Hafenstädten. Im Inlande oder in den nicht geöffneten
Häfen kommen Silbermünzen überhaupt nicht vor. In Shanghai und Hongkong
nehmen die chinesischen Großkaufleute oder jene, die mit Europäern in
regem Verkehr stehen, die Banknoten der Hongkong and Shanghai Banking
Corporation ohne weiteres an. Diese große Bank, unter deren Direktoren
sich mehrere Deutsche befinden, besitzt in den größten Städten
Ostasiens, von Singapore bis Yokohama, Filialen, und ihre Banknoten
sind bei den Europäern Ostasiens überall im Verkehr. Aber obschon
sie auf fünf, zehn und mehr Silberdollar lauten, ist ihr Wert in den
verschiedenen Städten doch verschieden. So wechselte ich beispielsweise
in Singapore englisches Geld in ostasiatische Dollarbanknoten ein
und erhielt dank der großen Silberentwertung für jeden Goldsovereign
statt 5 Dollar 9½ bis 9¾ Dollar. Man bedeutete mir, daß die
Singapore-Banknoten der Hongkong- und Shanghai-Bank in Shanghai
ebenfalls kursierten. In Shanghai mußte ich jedoch, als ich die
Singapore-Banknoten bei dieser gleichen Bank in Shanghai-Banknoten
einwechselte, fünf Prozent des Wertes bezahlen.

Meine erste Erfahrung mit chinesischem Geld in China selbst machte ich
in Canton. Ich hatte mir von Hongkong einige hundert Silberdollars
mitgenommen, da man mir sagte, Banknoten würden in Canton von den
Chinesen nicht angenommen. Bei meinen ersten Einkäufen in Cantoner
Juwelierläden bemerkte ich auf jedem Tische eine kleine Wage. Sobald
ich meine Silberdollars auf den Tisch gelegt hatte, nahm der Händler
die Münzen in eine Hand und legte der Reihe nach jede einzelne auf
den aufrecht gehaltenen Zeigefinger der anderen Hand; dann schlug er
mit einer zweiten Münze leicht an die erste an, und befriedigte ihn
der Silberklang, so ließ er die erste Münze in den Schoß gleiten,
legte die zweite auf den Finger und schlug mit der dritten auf die
zweite. So ging dies fort, bis alle Münzen geprüft waren. Zwei hatte er
ausgeschieden, für die ich ihm andere geben mußte. Damit war aber die
Prüfung noch nicht beendigt. Die ganze Menge wurde auf die Wage gelegt,
gewogen, und da sich eine Differenz von etwa einem halben Dollar
herausstellte, mußte ich ihm auch noch diesen bezahlen. In den anderen
Kaufläden ging es mir ebenso, und bei meiner Abfahrt von Canton hatte
ich eine ganze Menge zurückgewiesener, schlechter Dollars in der Tasche.

In den großen Bankhäusern von Hongkong und Shanghai bewunderte ich
die unglaubliche Fertigkeit, mit welcher die Schroffs (chinesische
Unterbeamten) die einzelnen Dollars nach ihrer Güte prüfen. Die Banken
Ostasiens, darunter mehrere deutsche, haben nämlich wohl Europäer
als Leiter, Kassierer, Korrespondenten und Buchführer, welche die
eigentlichen Bankgeschäfte führen, allein Banknoten und klingende Münze
sind ausschließlich unter der Obhut der Chinesen. Die langbezopften,
bartlosen, mitunter recht ausgemästeten Gestalten, mit ungeheuren
kreisrunden Brillen auf der Nase, haben in den Bankhäusern eigene
Lokale, wo auf Zähltischen Massen von Banknoten und Geldrollen liegen,
wo schwere Kisten, mit Silberdollars gefüllt, bis zu Manneshöhe
aufgetürmt stehen und Haufen von Silberbarren auf den Fußböden liegen,
oft Hunderttausende von Dollars im Wert. Wird Silbergeld eingezahlt,
so übernehmen die Schroffs die Rollen und prüfen jeden einzelnen
Dollar, indem sie ihn äußerst geschickt mit den Fingern der einen Hand
emporschnellen und mit der anderen auffangen, und jede, deren Klang
den Schroff nicht befriedigt, wird zurückgewiesen. Dann werden diese
minderwertigen Dollars eigens berechnet, die anderen, um ihr Gewicht
zu prüfen, gewogen, und der Eigentümer erhält eine Anweisung an die
europäischen Bankbeamten für die entsprechende Summe, die ihm von
diesen in einem Check oder, wenn er Banknoten will, von Chinesen in
solchen ausbezahlt wird.

Der oberste Beamte der chinesischen Angestellten, selbst ein Chinese,
heißt Komprador. Derartige Kompradores besitzt gewiß jede europäische
Firma in China, von Hongkong hinauf bis nach Nintschuang, Hankau oder
Tschunking, im Innern des Landes, nahe der tibetanischen Grenze.
Ohne Komprador wäre der Verkehr mit den Chinesen überhaupt nicht
möglich. Alle Kompradores sprechen das eigentümliche, in ganz Ostasien
gebräuchliche Pidschen-Englisch, und in dieser, selbst dem englisch
sprechenden Fremden ziemlich unverständlichen Sprache verkehrt der
ostasiatische Kaufmann mit dem Komprador, der seinerseits den ganzen
Bargeldverkehr seines Kaufmanns leitet, das Bargeld in seinen Händen
hat und seine Bücher in chinesischer Sprache führt. Die Kompradores
erlegen bei ihrem Eintritt in das Geschäft eine Bürgschaft, aber auch
ohne diese würden sie das Vertrauen ihrer Firma selten mißbrauchen,
ja ihre Ehrlichkeit ist im gewissen Sinne sprichwörtlich. Nicht nur
der europäische Kaufmann in China, auch der Privatmann hält sich einen
Komprador, der alle Geldgeschäfte seines Herrn unter sich hat. Der
Europäer führt gewöhnlich überhaupt kein Geld bei sich, höchstens
einige kupferne Cash, um sie gelegentlich einem Bettler zu geben. Bei
Einkäufen irgendwelcher Art, auf den Märkten, in Kaufläden, Gasthöfen
und Klubs werden alle Rechnungen mit „Chits” bezahlt.

Der Chit (sprich Tschitt) ist ein leeres Blatt Papier von etwa
zehn Centimeter ins Geviert, mit der Firma des Eigentümers als
Kopf. Gewöhnlich sind deren fünfzig oder hundert zu einem Block
zusammengeklebt. Kauft der europäische Kaufmann einen Anzug oder ein
Buch oder irgend einen Gegenstand, so wird der Verkäufer den Betrag auf
ein Blatt des „Chitbook” schreiben, und der Käufer unterzeichnet es.
Will der Europäer in irgend einem Gasthofe oder Klub ein Glas Wein oder
eine Flasche Sekt trinken, so wird ihm der Kellner (stets ein Chinese)
das Chitbook vorlegen. Der Konsument schreibt den Betrag mit Bleistift
darauf, setzt seinen Namen darunter und entfernt sich. Selbst mir, dem
Fremden, der in jeder Stadt höchstens ein paar Wochen weilte, wurde
nicht Barzahlung abgefordert, sondern einfach das Chitbook vorgelegt.
Diese Papierblättchen werden von den Handelsleuten in bestimmten
Zeiträumen den Firmen nach gesondert und dann von dem eigenen Komprador
den Kompradores der betreffenden Firmen zur Zahlung unterbreitet.
Meine eigenen Chits wurden den Kompradores des Hotels, wo ich eben
wohnte, gesandt, und diese bezahlten die Beträge ohne weitere Frage.
Zahlte ich in größeren Kaufläden mit einer Banknote, auf die ich einen
Betrag herauszubekommen hatte, so erhielt ich von dem Verkäufer einen
Chit für den Komprador des Geschäftes, der irgendwo in der Ecke hinter
seinem Zahltische saß, und dieser zahlte mir den Betrag gegen Abgabe
des Chits. Will eine Hausfrau bare Münze haben, so wendet sie sich
nicht an ihren Gatten, sondern giebt ihrem Komprador einen Chit, und
dieser zahlt ihr den darauf verzeichneten Betrag in bar. Niemand in
diesen Großstädten Chinas hat Bargeld in der Tasche, nur der Komprador
hat es stets. Er ist die lebendige Geldlade. Er kassiert Beiträge ein,
zahlt sie aus, führt Ueberschüsse an die Bank ab und legt zeitweise die
Bücher seinem Brotherrn zur Prüfung vor. Das ist alles, was dieser mit
Geld überhaupt zu thun hat.

Unter den Chinesen dagegen ist im Lokalverkehr, ausgenommen bei
größeren Beträgen, nur Barzahlung gebräuchlich, und deshalb hat auch
jeder Kaufmann seine Goldwage und seinen Probierstein für Silber
neben sich auf dem Kauftisch stehen, um die Münzen nach ihrer Güte zu
prüfen. Goldmünzen hat es in China niemals gegeben und giebt es auch
heute nicht. Gold ist in China überhaupt selten zu sehen. Empfängt
der chinesische Kaufmann einen Silberdollar in Zahlung, und findet er
ihn gut, so prägt er sofort seinen Stempel darauf, den sogenannten
„Chop”, und hat er keinen, so drückt er den Farbenstempel auf oder malt
seine Unterschrift in roter Farbe auf den Dollar. Als ich das erste
Mal in Hongkong Banknoten in Silberdollars umwechselte, erhielt ich
in Papier gewickelte Münzenrollen, die ihrer Länge nach zu schließen,
den doppelten Betrag enthalten mußten. Ich fürchtete, der betreffende
Schroff hätte sich zu seinem Nachteil geirrt, und öffnete die Rolle,
um nachzuzählen. Als ich die Dollarmünzen vor mir sah, war auch die
verdächtige Länge der Rollen erklärt. Von den hundert Dollars, welche
sich in jeder Rolle befanden, waren nicht zehn unversehrt. Alle anderen
zeigten mehrere tiefe Eindrücke von chinesischen Firmennamen, jeder
etwa zweimal so groß als die Stempelzeichen auf unseren Silber- oder
Goldwaren. Bei einzelnen war von der Prägung gar nichts mehr zu sehen,
und durch diese Dutzende, ja vielleicht Hunderte von Stempeln waren
aus den flachen Münzen silberne Hohlgefäße geworden im Verhältnis so
tief wie unsere flachen Theeschalen. Nur die Randprägung war noch
erkenntlich und besagte, daß diese Silberschalen einst Münzen waren.
Diese Hohlprägungen also waren die Ursache, daß die Geldrollen eine so
ungewöhnliche Länge zeigten.

Aber nicht genug damit. In manchen Kaufläden und Wechselstuben
Cantons fand ich auf den Tischen kleine Körbe, gefüllt mit kleinen
Silberstückchen und Silberringen, und als ich sie näher besah,
entpuppten sich die Ringe als die Ränder von Silberdollars, welche so
viele Stempel empfangen hatten, daß endlich Stück für Stück aus der
Mitte herausgefallen und nur der äußere Rand der Münze übrig geblieben
war. Die einzelnen Silberstückchen im Korbe aber waren derartige Teile
der Dollars. Auch sie sind noch gangbare Münzen. Sie werden einfach
abgewogen, und ihr Wert wird nach dem Gewicht berechnet.

Wie die Wage und der Probierstein, so ist dem chinesischen Kaufmann
noch ein dritter Gegenstand für den geschäftlichen Verkehr absolut
unentbehrlich, nämlich das Rechenbrett. Ohne Rechenbrett ist
der Chinese einfach hilflos und nicht im stande, die kleinsten
Rechenexempel auszuführen. Bei jeder gewöhnlichen Addierung, sagen
wir, um 5, 7 und 11 zusammenzuzählen, nimmt er das Rechenbrett zu
Hilfe und fingert darauf herum, wie auf den Saiten einer Zither. Das
Rechenbrett, im Chinesischen Swampan genannt, besteht aus einem Rahmen
von der Größe eines Papierbogens, zwischen den eine Anzahl paralleler
Stäbchen eingesetzt sind. Diese sind durch ein Querstäbchen in zwei
Teile geteilt. Auf der einen Hälfte jedes Stäbchens stecken je fünf
kleine Holzkugeln, auf der anderen je zwei. Jede der fünf Kugeln
zählt eins, jede der zwei Kugeln fünf. Will der Chinese zählen, so
schiebt er zunächst alle Kugeln an die Rahmenwände zurück. Um dann
beispielsweise sechs und acht zusammenzuzählen schiebt er eine einzelne
der fünf Kugeln und eine der zwei Kugeln desselben Stäbchens gegen den
mittleren Teilstab zusammen und hat so sechs; dann schiebt er, um acht
dazu zu bekommen, drei weitere Einserkugeln desselben Stäbchens und
die zweite Fünferkugel zusammen; zwei Fünfer bilden aber eine Zehn;
diese werden durch die auf dem nächsten Stäbchen zur Linken sitzenden
Kugeln dargestellt; er schiebt also wieder beide Fünferkugeln an die
Wand zurück, dafür eine Zehnerkugel vor und hat so zehn und vier, also
vierzehn. Die Kugeln des zweitnächsten Stäbchens stellen die Hunderte,
jene des drittnächsten die Tausende dar. Ich habe nicht nur in China
und Japan, sondern in allen ausländischen Kolonien der Chinesen, in
Siam, Singapore, Japan, Korea, Nord- und Südamerika in jedem einzelnen
chinesischen Kaufladen ausnahmslos derlei Rechenbretter gefunden, und
die Chinesen hängen mit einem gewissen Aberglauben an ihnen. Werden
beispielsweise in Canton morgens die Kaufläden geöffnet, so ist es das
erste Werk der Händler, ihren Swampan zur Hand zu nehmen und allmählich
immer heftiger zu schütteln, daß die Kugeln lärmend aneinander
klappern. Das bringt ihrer Meinung nach gute Geschäfte mit sich.

Im Straßenverkehr der chinesischen Städte spielen die Cashwechsler eine
große Rolle. In den Geschäftsstraßen kauern sie zuweilen dutzendweise
längs der Häuser, vor sich ein Tischchen mit Haufen von Kupfermünzen,
neben sich einen Korb mit einigen zwanzig oder dreißig Strängen von
Cash, ihr ganzes Arbeitskapital. Es war mir immer ein Wunder, wie diese
langbezopften Leutchen ihr Leben fristen konnten, denn ihr ganzes
Barkapital würde einem Europäer mit bescheidenen Bedürfnissen nicht
länger als eine Woche genügen. Und diese Wechsler leben damit nicht
nur Jahr aus Jahr ein, sie verdienen sich auch noch ganz hübsche
Sümmchen. Hat einer der vielen ambulanten Frucht- oder Gemüsehändler,
Barbiere, Restaurateure einen Sack voll kupferner Cash verdient, so
tauscht er sich diese losen Münzen gegen die entsprechende Anzahl
Cashstränge, sogenannte Tiao, ein. Er leert seinen Geldschrank vor
dem Wechsler, und dieser untersucht und zählt die Mengen großer und
kleiner, alter und neuer, guter und schlechter Kupfermünzen, wie sie
eben in dem täglichen Verkehr in ganz China durch so und so viele Hände
wandern. Nach längerem Feilschen werden Händler und Wechsler einig,
und der letztere giebt dem ersteren für den vollen Münzenhaufen schön
zusammengebundene Geldwürste, aus einiger Entfernung betrachtet, einem
Pärchen Frankfurter nicht unähnlich.

Jede Wurst, von je 30 Centimeter Länge, enthält etwa 250 durchlochte
Bronzemünzen; das Gewicht des Wurstpaares beträgt durchschnittlich
2 Kilo, und der Wert beläuft sich auf etwa 1 Mark 20 Pfennig. Da es
im Innern Chinas häufig schwer fällt, Silberbarren gegen derartige
Bronzemünzen umzutauschen, so mußte ich auf meinen Reisen, um nicht
in Zahlungsverlegenheiten zu kommen, gewöhnlich 30 bis 40 Tiao, also
60 bis 80 Kilo Münzen mit mir führen, und meine Geldbörse war ein
zweispänniger Reisekarren.

Während die Zölle und Steuern in Taels bezahlt werden, entsprechen die
Cashstränge aber nicht den Taels, sondern t’scha-pu-to (beiläufig)
eher dem Dollar. In China ist alles t’scha-pu-to, sogar das Geld.
Um einen Strang zu machen, sucht der Wechsler aus seinen Münzhaufen
zuerst zehn Säulen von je 100 Cash zusammen, wobei er aber auch eine
gewisse Anzahl schlechter, durch Falschmünzer zur Verbreitung gelangter
Cash einschmuggelt. In jedem Strange werden sich immerhin 30 bis 50
derartig minderwertige Cash befinden, und darin liegt das Geheimnis des
Verdienstes der Wechsler. Dann dreht er ein Hanfseil fest zusammen,
macht einen Knoten in der Mitte und fädelt nun 100 Cash auf den Strang;
hierauf wird ein kleiner Knoten gemacht, abermals eine Säule von 100
Cash aufgefädelt, bis der Strang zehn derartige Abteilungen von je
100 Cash enthält. Er wird nun fest zu einem Kranz zusammengebunden
und repräsentiert t’scha-pu-to einen Dollar spanischer, japanischer,
mexikanischer oder Hongkonger Münze. Aber die letzte Abteilung enthält
nicht 100, sondern 74 Cash. 20 werden abgezogen, weil es so Sitte ist,
und die übrigen 6 Cash sind für den Hanfstrick. Der Wechsler hat also
von jedem Dollar 26 Cash offiziell, außerdem etwa 30 bis 50 andere, da
er schlechte Cash eingeschmuggelt hat, und überdies läßt er sich für
diesen Strang von dem Kunden nicht 1000, sondern vielleicht 1050 bis
1070 Cash zahlen unter dem Vorwande, daß sich unter dessen Münzen eine
große Anzahl schlechter Cash befänden. Er mag also bei jedem Strang bis
zu 100 Cash verdienen, d. h. bei jedem Dollar ein Zehntel. Verkauft er
im Tage 10 bis 20 Dollar, so hat er sich ein für einen Chinesen recht
annehmbares Sümmchen verdient. Deshalb also die vielen Wechsler in den
Straßen.

Die nächsthöhere Klasse der chinesischen Bankiers sitzt schon in
eigenen Läden, die mit dem Gott des Handels, einer abscheulichen
bärtigen Puppe, mit phantastischen Gewändern angethan, geschmückt sind.
Der Gott des Handels muß ja Glück bringen. In den Geschäften Cantons
sind diese Fratzen in Nischen nahe der Decke im Hintergrund des Ladens
aufgestellt, und eine brennende Lampe davor soll den bezopften Götzen
wach erhalten. Vorn, gegen die Straße zu, befindet sich der Ladentisch
mit Silberwage, Rechenbrett und einigen Körben für das Silber, denn
diese Klasse von Bankiers hat mit Kupfermünzen wenig mehr zu thun. Sie
haben, wie alle anderen Berufszweige, auch ihre eigenen Vereinigungen
oder Klubs mit gedruckten Vorschriften, die bei schweren Geldstrafen
genau befolgt werden müssen. In ihnen wird z. B. den einzelnen
Mitgliedern vorgeschrieben, dieselben Zinsen und Gebühren zu berechnen
und einander nicht zu unterbieten.

Die Hauptgeschäfte dieser kleinen Bankiers sind denen ihrer
europäischen Kollegen nicht unähnlich, nur berechnen sie für Darlehen,
Wechsel, Checks und dergleichen erheblich mehr als die letzteren.
Ein fester Zinsfuß besteht selbstverständlich in China nicht, und
die Zinsen richten sich beispielsweise bei Darlehen ausschließlich
nach der Stellung desjenigen, der ein Darlehen aufnimmt. Genießt er
Ansehen und guten Ruf, so braucht er „nur” ½ bis ¾ Prozent im Monat
zu bezahlen, oder 8 bis 10 Prozent im Jahre. Papiere, Schuldscheine
und ähnliches werden nicht verlangt. Das Wort des Betreffenden oder
höchstens noch eines Bürgen genügt. Andere, weniger „gute” Kunden haben
12 bis 14, ja noch mehr Prozente zu bezahlen. Die Bankiers nehmen
auch Depositen an, für welche sie etwa die Hälfte der Darlehnszinsen
bezahlen. Sind die Geschäftsleute vertrauenswürdig, so können sie
auch mehr ziehen, als ihr Guthaben ausmacht, je mehr, desto besser,
weil sie ja hohe Zinsen dafür zu zahlen haben. Vertrauen spielt in
China vielleicht noch eine größere Rolle als bei uns, und entschieden
wird dort viel weniger geschrieben. Geldanweisungen oder Wechsel
werden ziemlich allgemein, wenigstens in den Provinzen, in denen sie
ausgestellt wurden, als Zahlung angenommen und gehen durch verschiedene
Hände. Die Chinesen haben eigentümlicherweise dreierlei Schreibarten
für Ziffern. Wie wir etwa die arabischen und römischen Ziffern haben,
so besitzen sie für den gewöhnlichen Gebrauch recht einfache Ziffern,
z. B. für eins 一, zwei 二, drei 三, zehn 十 und so fort; hundert, tausend
und zehntausend setzen sie aber nicht wie wir aus den Grundzahlen
zusammen, sondern sie besitzen eigene Zeichen dafür, denn sie haben
keine Null. Für Wechsel und Checks verwenden sie viel kompliziertere
Schriftzeichen, und eine dritte noch schwierigere Art dient für
bedeutende Summen, Urkunden und dergleichen.

Ein chinesischer Wechsel besteht aus einem Streifen zähen Papiers, auf
welchem allerhand schwarze, rote und blaue Schriftzeichen aufgemalt und
aufgestempelt sind. In Blau prangt der Name des Bankiers und das Datum,
in Schwarz jener des Ausstellers und der Betrag, in Rot werden die
Unterschriften jener gemacht, durch deren Hände der Wechsel geht. Die
Bankfirma drückt, bevor sie den Wechsel aus ihrem Buche reißt, ihren
Stempel derart auf, daß die eine Hälfte auf den Wechsel, die andere auf
den entsprechenden Coupon fällt, und von diesem Stempel und dem Namen
oder der Stellung der Firma hängt auch der Wert des Wechsels ab. Die
Provision für den Bankier beläuft sich auf 3 bis 4 Prozent.

In verschiedenen Städten haben die kleineren Bankiers das Recht,
Banknoten auszugeben, ohne irgendwelche staatliche Kontrolle, aber sie
sind doch gehalten, wenigstens die Hälfte des Wertes ihrer im Umlauf
befindlichen Banknoten in Bargeld zu besitzen. Die kleinste Banknote
lautet auf 400 Cash (nach dem gegenwärtigen Kurse beiläufig eine Mark),
die höchste auf 500 Tiao. Für falsche Banknoten sind die Bankhäuser
nicht haftbar.

[Illustration: Tiau-Banknote in Schantung (natürl. Größe).]

Am wichtigsten sind für den Europäer die großen chinesischen Banken,
deren sich in jeder Stadt mehrere befinden, und die auch mit den
europäischen Banken der offenen Häfen in regem Geschäftsverkehr stehen.
Das Kapital dieser Banken wird entweder von den Firmeninhabern selbst
aufgebracht, oder es beteiligen sich große Kaufleute und Aktionäre
daran, ganz wie bei uns. In den offiziellen Berichten der Zollbehörden
an die Zentralstelle in Peking fand ich das Kapital der Mehrzahl
dieser „großen” Banken durchschnittlich mit 20000 bis 150000 Taels
angegeben; das größte Kapital besitzen mehrere Canton-Banken mit
500000 Dollars. Leider hat die Zollbehörde in Shanghai in den letzten
bis auf 1880 zurückreichenden Berichten unterlassen, von den dortigen
Banken zu sprechen, denn Shanghai ist unzweifelhaft der wichtigste
Handelsmittelpunkt des chinesischen Reiches, dasselbe, was die Londoner
„City” für England und seine Kolonien ist. Es wäre möglich, daß in
Shanghai eine oder die andere chinesische Bank ein Kapital besitzt, das
eine Million und mehr erreicht.

Von diesen „großen” Banken sind in den verschiedenen Hafenstädten
die Haikwanbanken die wichtigsten, denn diese befassen sich mit
den Einzahlungen der Zölle an die Zollämter und der Absendung der
Zolleinnahmen nach Peking resp. Tientsin. Die Zölle dürfen nicht in
gewöhnlichen Provinz-Taels, sondern nur in vollwertigen, gesetzlich
bestimmten Taels einbezahlt werden, und daher auch der Name Haikwan
tael, der in der letzten Zeit in den europäischen Zeitungen häufig
zu lesen war. In den Europäern nicht geöffneten Städten nehmen
diejenigen Banken die erste Stelle ein, welche die Steuern, Likin,
Abgaben für Opium und Salz einkassieren, die Beamtenbesoldungen
ausbezahlen und die Einnahmen der einzelnen Distrikte nach Peking
remittieren. Diese Banken sind nicht etwa Staatsbanken. Gewisse, das
Vertrauen des Gouverneurs oder Taotais genießende Bankhäuser werden
eben mit den Regierungsgeschäften betraut. Möglicherweise haben sie
sich diese Stellung durch Bestechung der Beamten erworben, oder die
letzteren beteiligen sich an dem Gewinn. Da sie das größte Ansehen
genießen, werden ihnen häufig auch die Gelder von kaufmännischen
oder Wohlthätigkeitsgesellschaften, Waisenhäusern und Spitälern zur
Verwaltung gegeben. Sie zahlen für Depositen weniger Zinsen und sind
überhaupt konservativer als die gewöhnlichen Banken. Ihnen zunächst
im Ansehen und Vertrauen kommen die sogenannten Schansibanken. Sie
führen diesen Namen deshalb, weil ihre Leiter durchwegs aus der
Provinz Schansi im Norden Chinas stammen; auch ihre Angestellten sind
größtenteils aus der gleichen Provinz, womöglich sogar aus demselben
Orte. Die Hauptsitze dieser Schansibanken befinden sich in den
größten Städten Chinas, und von dort werden in kleineren Städten und
Hafenplätzen Zweigbanken gegründet. Wie groß das Vertrauen ist, das man
diesen Schansileuten entgegenbringt, geht aus der Thatsache hervor, daß
die Zweighäuser häufig ohne irgend welches Kapital gegründet werden.
Kaum hat die Bank ihre Thüren geöffnet, so erhält sie schon Depositen,
mit denen sie ihr Geschäft betreibt.

[Illustration: Das Zunfthaus der Cantoner Kaufleute in Futschau.]

Jede der genannten Banken besitzt einen Beamtenstand von sechs bis
zwölf, ja bis zu zwanzig Leuten, welche feste Summen monatlich
beziehen und außerdem noch an dem Gewinn der Bank beteiligt sind.
Eine Ausnahme machen die Schansibanken. Wird ein Beamter in irgend
einem Zweighause im Innern des Landes angestellt, so geschieht dies
gewöhnlich auf die Dauer von drei Jahren, während welcher Zeit die
Familie des Betreffenden als Pfand unter der Aufsicht des Haupthauses
bleibt und von diesem allen Lebensbedarf erhält, der genau verrechnet
wird. Auch der Beamte erhält während der drei Jahre keinen Gehalt, er
entnimmt den Bankgeldern alles, was er für Nahrung, Wohnung, Kleidung,
für Repräsentationskosten, Bankette und dergleichen bedarf, und bucht
jeden Betrag unter den Bankausgaben. Unterbeamte erhalten ihren
Bedarf an Kleidung, Nahrung und dergleichen von dem Bankchef. Während
der ganzen Dienstzeit dürfen sie mit ihren Familien nur durch das
Hauptbankhaus verkehren, d. h. ihre Briefe an die Familie werden zuerst
von den Chefs gelesen, bevor sie in die Hände der Familie gelangen.
Nach Ablauf der drei Jahre werden sie von anderen Beamten abgelöst
und kehren mit ihren Büchern nach dem Hauptsitz der Bank zurück. Dort
werden die letzteren geprüft, und hat sich neben ehrlicher Verwaltung
der Gelder auch noch ein ansehnlicher Gewinn gezeigt, so erhalten
die Beamten eine bedeutende Summe als Belohnung und dürfen zu ihren
Familien zurückkehren. Werden Unterschleife entdeckt, so müssen sich
die Betreffenden vor dem Gericht verantworten und werden gegebenenfalls
eingesperrt.

Diese großen Banken haben es hauptsächlich mit der Regierung, mit
reichen Kaufleuten, Zöllen, Salz- und Opiumsteuern, Likin (Wegezöllen)
und anderem zu thun. In den Hafenstädten sind das Hauptzahlungsmittel
mexikanische, japanische, spanische, Hongkong- und Canton-Dollars,
selbst den Jangtsekiang aufwärts bis nach Tschunking werden sie überall
als Zahlung angenommen. So z. B. ist in Wuhu der Carolus oder spanische
Dollar allgemein eingeführt, und es sind davon auch in der ganzen
Provinz über eine Million verbreitet. Im Innern des Landes aber sind
es nicht Münzen, sondern Silberbarren, mit denen Zahlungen geleistet
werden. Ihrer dem chinesischen Schuh nicht unähnlichen Form nach werden
diese Barren allgemein mit dem englischen Namen Shoe bezeichnet.
Der gewöhnliche Shoe hat einen Wert von 50 Taels, es giebt aber
auch solche von 20, 10 und 5 Taels, welche wohl die kleinsten sind.
Im Chinesischen heißt dieses ungeprägte Silber Sycee (Seisieh). Um
Fälschungen der Barren zu vermeiden, bestehen in den größeren Städten
eigene Probierämter oder Kung-ku, die aber keineswegs Staatsämter sind,
sondern von den Bankhäusern und großen Geschäftsfirmen unterhalten
werden. Für die Prüfung und Bestimmung eines Shoes von 50 Taels wird
eine Gebühr von 50 Cash bezahlt. Da sich Silber auf dem Probierstein
je nach dem Silbergehalt mehr oder weniger entfärbt, so werden die
Shoes nach der Farbe (im Chinesischen Se) geprüft, und man sagt
„der Shoe hat 97 oder 98 Farbe”. Sobald der gewöhnlich sehr hohe
Silbergehalt bestimmt ist, wird der Shoe gewogen, und das Probieramt
schreibt mit roter Farbe den Inhalt und den Wert des Barrens in Taels
auf denselben. Diese Bestimmung wird von den Handelsleuten selten in
Zweifel gezogen und gewöhnlich in gutem Glauben angenommen.

Die Banken beschäftigen sich nicht nur mit der Verwaltung, Verzinsung
und Versendung von Geldern, sie gewähren auch Darlehen, bezahlen für
Kaufleute die Steuern und Abgaben, und ein höchst seltsames Geschäft
ist das Spekulieren in Beamtenstellen. Hat einer oder der andere
gelehrte Chinese seine Prüfungen gut bestanden, so hat er Anwartschaft
auf irgend einen Beamtenposten, den er nach Monaten oder nach Jahren
in Peking wirklich erhält. Während dieser Wartezeit werden ihm von
Banken, selbst von den Schansibanken, Vorschüsse geleistet, ja bei der
elenden Mandarinwirtschaft und der Käuflichkeit der Stellen schießen
die Banken die Gelder zum Ankauf einer Stellung vor, senden sie nach
Peking, und das Diplom, die Amtsinsignien und dergleichen werden auch
nicht dem Beamten, sondern der Bank zugesandt, welche sie dem neuen
Regierungsangestellten aushändigt. Die Bank zieht dann die Vorschüsse
von dem Gehalt der Beamten ratenweise ab. Der Geldverkehr zwischen
den einzelnen Städten wird gewöhnlich durch Wechsel besorgt, und die
Banken haben eigene, ich möchte sagen lokale Handlungsreisende, die
von Zeit zu Zeit oder auch täglich in den großen Geschäftshäusern
vorsprechen, um sich auf dem Laufenden zu erhalten. Sind beispielsweise
von vier verschiedenen Häusern in Futschau Gelder an ebensoviele
Häuser in Ningpo zu senden, so werden die Banken die Gesamtsumme an
ein europäisches Bankhaus in Futschau einzahlen, welches dafür einen
Wechsel an ein europäisches Haus in Ningpo sendet. Gleichzeitig
benachrichtigt die chinesische Bank in Futschau ihren Korrespondenten
in Ningpo, daß der an sie gelangende Wechsel in vier einzelnen Beträgen
an die vier bestimmten Handelshäuser zu zahlen sei. Kommt es vor,
daß Kaufleute in Ningpo bestimmte Summen an chinesische Kaufleute in
Futschau zu zahlen haben, so verständigen sich die Banken, und es
wird nur die Differenz übermittelt, also etwa das Prinzip unserer
„~Clearing Houses~”, aber ~par distance~.

Der Mittelpunkt dieses clearing für ganz China ist jedoch unzweifelhaft
nicht Canton oder Hongkong, sondern Shanghai. Die Bankhäuser in
Shanghai haben allerorts ihre Korrespondenten, und der größte Teil
des Geld- und Wechselverkehrs spielt sich dort ab. All dies zeigt
entschieden ein großes gegenseitiges Vertrauen, eine Ehrlichkeit und
Anständigkeit des Geschäftsverkehrs, von welcher man in Europa bisher
viel zu wenig Kenntnis hatte, und beweist, daß man die Chinesen in
dieser Hinsicht auch viel zu sehr unterschätzt, wie man bisher gewohnt
war, die Japaner zu überschätzen. Die geschilderten Verhältnisse
zerstören auch gründlich die immer noch in vielen Kreisen bestehende
Annahme, China besitze kein Geld, keinen Geschäftsverkehr, das Land
wäre seit Jahrtausenden erstarrt und verlottert.



Wie die Chinesen ihre Briefe befördern.


Der Umstand, daß in den Briefmarkenalbums nur chinesische
Zollbriefmarken, aber keine eigentlichen Reichspostmarken vorkommen,
hat in Europa die Meinung aufkommen lassen, China besitze überhaupt
kein Postwesen. Das mag richtig sein, wenn man sich darunter das
moderne Postwesen nach Stephanschem Muster vorstellt, mit seinen
regelmäßigen Versendungs- und Lieferzeiten, mit Briefmarken, Postkarten
und internationalen Einrichtungen. Man würde aber gewaltig fehlgehen,
wollte man annehmen, daß es in dem großen Reiche der Mitte überhaupt
keine Post gäbe. Im Gegenteil. Briefe, Pakete und Gelder können in
China heute von einem Ende des viele Millionen Quadratkilometer großen
Landes zum andern befördert werden, und diese Sendungen gelangen
mit erstaunlicher Sicherheit in die Hände der Adressaten. Städte
und Dörfer aller achtzehn Provinzen sind durch die chinesische Post
erreichbar, und unsere europäischen Kaufleute können mit dem Dalai Lama
von Tibet oder dem Vizekönig der Mandschurei beinahe ebenso einfach
korrespondieren, als wäre China ein Glied des Weltpostvereins.

Dabei sind die postalischen Einrichtungen Chinas nicht etwa
Errungenschaften der Neuzeit, den Europäern abgelauscht, wie es
beispielsweise in Japan der Fall ist. Das chinesische Postwesen ist
das älteste des Erdballs, älter als jenes der Aegypter und Chaldäer,
ebenso wie ja auch die chinesische Schriftsprache die älteste ist.
Schon vor fünftausend Jahren haben die Chinesen Briefe geschrieben und
durch ihre Post befördern lassen. Vor einem Jahrtausend besaßen sie
schon ihre Regierungszeitung, die durch Postboten an ihre Abonnenten
bestellt wurde, und da sage man, die Chinesen hätten keine Post! Marco
Polo hat in seinen Werken die erste Schilderung dieser Post entworfen,
und hätten die Europäer damals (etwa im dreizehnten Jahrhundert) mehr
Unternehmungsgeist besessen, es wäre, gestützt auf die Ausführungen
Marco Polos, vielleicht schon zu jener Zeit unserm Kontinent ein Thurn
und Taxis erstanden.

Erst im siebzehnten Jahrhundert gelangte das Postwesen in Europa auf
dieselbe Stufe, auf der es in China schon zu Anfang der christlichen
Zeitrechnung war. Seither ist es den Chinesen freilich in ungeahnter
Weise vorausgeeilt, während es bei den letztern beinahe auf derselben
Stufe wie zur Zeit Christi stehen geblieben ist. Bis vor wenigen Jahren
verschloß sich ja China sogar dem Telegraphen.

Ohne ein eigenes Postwesen wäre es den Chinesen gar nicht möglich
gewesen, ihr ungeheures Reich von einer Hauptstadt aus zu regieren.
Deshalb stand schon vor Jahrtausenden und besteht heute noch ein
eigener Kurierdienst, der in Peking seinen Mittelpunkt hat und dort dem
Kriegsministerium untersteht. In einem der Yamen des letztern stehen
beständig Kuriere und Pferde bereit, um die kaiserlichen Dekrete und
die Pekinger Zeitung an die Vizekönige der einzelnen Provinzen zu
bringen, und es werden davon in jeder Woche eine bestimmte Zahl nach
verschiedenen Richtungen versendet. Die Kuriere nach der Mandschurei
und nach dem nördlichen Tibet sind gewöhnlich beritten, während jene
nach dem Süden die mitunter über zweitausend Kilometer weiten Strecken
zu Fuß zurücklegen. Wie rasch diese Kurierpost funktioniert, geht
beispielsweise aus der Thatsache hervor, daß den kaiserlichen Beamten
für die Reise von Peking nach Canton, eine Strecke von etwa zweitausend
Kilometern, drei Monate eingeräumt werden, während die Postläufer
gehalten sind, diese Strecke in zwölf Tagen zurückzulegen. Es entfallen
also auf jeden Tag gegen hundertsiebzig Kilometer. Gewöhnliche
offizielle Dokumente werden mit einer Schnelligkeit von zweihundert Li
(etwa hundertzehn Kilometer) pro Tag befördert; Dokumente, welche mit
der Bezeichnung „Eilig” versehen sind, müssen mit der Schnelligkeit
von zweihundertzwanzig Kilometern, und solche, welche den Vermerk
„Sehr Eilig” tragen, mit der Schnelligkeit von vierhundert Kilometern
im Tag befördert werden. Während der Taipingrevolution versahen die
Reichspostboten zeitweise den Dienst mit einer durchschnittlichen
Schnelligkeit von zwanzig Kilometern in der Stunde.

Freilich werden zu kaiserlichen Postläufern nur die größten und
stärksten Männer ausgesucht, und sie heißen im Chinesischen auch
Tschien-fu, d. h. starke Männer, oder Tsien-li-ma, d. h. Tausendpferd.
In ihrer Kleidung unterscheiden sie sich nur wenig von dem chinesischen
Landvolk: lose blaue Jacken mit langen, weiten Aermeln, kurze, bis
über die Knie reichende Beinkleider und einen schwarzen Hut, der in
Form und Größe einer umgestürzten Schüssel ähnelt. Die Waden sind
nackt, und die Füße sind mit leichten Strohsandalen bekleidet. In
der Rechten halten die Läufer einen papiernen Sonnenschirm, in der
Linken eine Papierlaterne, deren Licht nach Eintritt der Dunkelheit
angezündet wird. Die Depeschen, Zeitungen und Pakete sind in Oelpapier
eingeschlagen und gewöhnlich in einem Rückenkorb aus Bambusgeflecht
untergebracht, der durch ein um die Brust geschlungenes Tuch
festgehalten wird. An diesem letztern baumelt eine kleine Glocke oder
Schelle, das Abzeichen der Postläufer. Obschon die zu tragende Last
zuweilen vierzig bis fünfzig Kilogramm beträgt, ist die gewöhnliche
Gangart der Postläufer der Laufschritt. Tag und Nacht, bei glühender
Hitze oder grimmiger Kälte traben sie auf den elenden Wegen leicht
einher, oft mehrere Stunden ohne Unterbrechung. Unterkunft und Nahrung
erhalten sie in den einzelnen Ortschaften, die sie berühren, von den
Behörden, doch gilt es den Läufern als Regel, sich niemals zu sättigen,
sondern lieber öfter, dafür aber nur eine geringe Menge Speisen zu
sich zu nehmen. Charakteristisch für die Sicherheitszustände in China
ist es, daß die Postläufer keine Waffen tragen. Nur in unruhigen
Zeiten werden ihnen ein oder mehrere Geleitsmänner mitgegeben, ebenso
kräftig und ausdauernd, wie sie selbst sind. Diese Tschien-fu haben
eine eigentümliche Art, sich auf Kämpfe mit etwaigen Straßenräubern
einzuüben. In einem hohen Raume werden an langen, von der Decke
hängenden Seilen schwere Sandsäcke befestigt. Der Uebende stellt sich
in der Mitte zwischen denselben auf und versetzt der Reihe nach jedem
Sacke einen kräftigen Stoß, bis sie sich alle in schwingender Bewegung
befinden. Die Aufgabe des Uebenden besteht nun darin, die schweren
Säcke fortwährend in Schwingung zu erhalten und darauf zu sehen, daß
kein Sack ihn von hinten trifft oder gar umwirft. Sollte das geschehen,
so wird der Betreffende zum Geleitsdienst nicht mehr zugelassen. Man
glaubt gar nicht, welche Behendigkeit und Kraft es von dem Uebenden
erfordert, sich diese von allen Seiten auf ihn eindringenden Sandsäcke
vom Leibe zu halten, und die chinesischen Straßenräuber haben auch
gewöhnlich vor den Geleitsmännern der Post einen heiligen Respekt.

[Illustration: Briefbogen. Briefumschlag.

Ein chinesischer Brief (ein Viertel der natürlichen Größe).]

Für die reitenden Boten sind auf bestimmte Entfernungen Pferdewechsel
vorhanden, und die Beförderung der Postsäcke erfolgt in ähnlicher
Weise, wie sie beispielsweise in den Vereinigten Staaten noch in den
sechziger Jahren, vor der Eröffnung der Pacific-Eisenbahnen, stattfand.
Dort waren es Privatunternehmer, die bekannte, noch heute blühende
Firma Wells Fargo Expreß, welche die Briefbeförderung zwischen dem
Mississippithal und Kalifornien besorgten, und noch in den siebziger
Jahren bin ich in Arizona diesen Postreitern mitunter selbst begegnet.

Obschon die Läufer der chinesischen Regierungspost nur mit offiziellen
Depeschen Peking verlassen, werden ihnen auf ihrem Wege nach den
entfernten Provinzhauptstädten doch auch viele Privatbriefe zur
Besorgung übergeben, ein recht einträglicher Nebenverdienst, wenn man
bedenkt, daß die Beförderung eines Briefes, je nach der Strecke, zwei-
bis vierhundert oder selbst noch mehr Cash, d. h. vierzig bis achtzig
Pfennig kostet.

Aber der eigentliche nichtamtliche Postverkehr Chinas wird durch
private Postunternehmungen besorgt, deren es in jeder größeren Stadt
eine beträchtliche Anzahl giebt. Es spricht nicht wenig für die
Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit der Geschäftsleute, daß diese
privaten Postanstalten unter keinerlei Regierungsaufsicht stehen,
keine Bürgschaften zu hinterlegen haben und mitunter nur unbedeutendes
Betriebskapital besitzen; dennoch werden ihnen häufig von Kaufleuten
beträchtliche Geldwerte zur Beförderung übergeben. Obschon nun diese
Beförderung gewöhnlich durch einfache, arme Postläufer erfolgt und die
Briefe mitunter mehrmals die Hände wechseln, kommen Verluste doch nur
selten vor. Tragen die Angestellten der betreffenden Firmen die Schuld
an dem Verlust, so wird derselbe von den Firmen voll ersetzt.

Jede dieser Privatposten besitzt in den verschiedenen Städten eigene
Agenten, und wo sich eine Agentur für jeden einzelnen Unternehmer nicht
lohnen würde, bestellen mehrere einen gemeinschaftlichen Agenten,
welcher dafür an ihre Gesamtheit jährlich eine Art Miete zu entrichten
hat. Was er während des Jahres über diese Summe an Beförderungsgebühren
einnimmt, ist sein Verdienst. Wird die Summe aber nicht erreicht, so
wird ihm der Unterschied von den Postanstalten ersetzt.

Die Chinesen schreiben viel mehr Briefe, als man anzunehmen geneigt
wäre, und der ungeheure Geschäftsverkehr im Inland macht die große
Zahl von Briefen und dementsprechend auch die große Zahl von privaten
Postämtern begreiflich. Dennoch ist der Verdienst der letzteren wegen
der Zersplitterung des Postdienstes und der doppelten oder dreifachen
Besetzung desselben Postens nur gering. Würde die Regierung das
ganze Postwesen in eigene Verwaltung nehmen und in ähnlicher Weise
einrichten, wie es heute wohl in allen Staaten des Erdballs geschieht,
so könnten sehr beträchtliche Einnahmen erzielt werden.

Die Chinesen schreiben ihre Briefe gewöhnlich auf kleine, weiche,
gelbliche Papierbogen, die durch rote Striche in vertikale,
fingerbreite Spalten geteilt sind. Jede Spalte enthält eine Zeile
der eigentümlichen, von oben nach unten und von rechts nach links
geschriebenen Schriftzeichen.

Der Brief wird in einen geklebten Umschlag von länglicher Form
gesteckt, der der Länge nach mit einem zweifingerbreiten Streifen von
roter Farbe, der Glücksfarbe, bedruckt ist. Auf diesen wird die Adresse
geschrieben und der nun fertige Brief auf eines der Postämter getragen.
Briefmarken sind in den chinesischen Privatpostämtern unbekannt. Der
Beamte erkundigt sich, ob der Briefschreiber die Beförderung ganz
oder teilweise bezahlen oder die Bezahlung dem Adressaten überlassen
will, und pinselt dementsprechend einen Vermerk auf den Briefumschlag:
„Weingeld (d. h. Postgebühr) bezahlt”, oder „Weingeld nach dem Tarif”,
oder „so und so viel Cash bezahlt, Rest einzufordern”. Nur wenn der
Brief Banknoten, Wechsel und dergleichen enthalten sollte, wird die
Beförderungsgebühr von dem Absender bezahlt, und er erhält dafür einen
Empfangsschein, auf Grund dessen er im Fall des Briefverlustes die
volle Wertsumme vom Postamte einfordern kann. Bei solchen Wertsendungen
sind je nach der Entfernung des Bestimmungsortes für je hundert Taels
ein halber bis anderthalb Tael Versicherungsgebühr zu bezahlen.

Wohl giebt es bei den meisten Privatpostämtern Chinas, und es sind
deren Tausende, feste Tarife; je größer die Entfernung, desto höher die
Bestellungsgebühr; das Briefgewicht ist dabei Nebensache. Deshalb kommt
es auch in den verschiedenen Großstädten täglich vor, daß eine Anzahl
Briefschreiber ihre für dieselbe Stadt bestimmten Briefe in einen
einzigen Umschlag zusammenthun, wodurch je nach der Zahl der Briefe ein
oder mehrere Taels an Postgebühr erspart werden. Am Bestimmungsorte
übernimmt es dann der Adressat, die anderen beigeschlossenen Briefe
an ihre Adressen abzuliefern oder nochmals der Post zur Beförderung
zu geben. So beträgt beispielsweise die Gebühr für einen Brief von
Tschunking am oberen Jangtsekiang nach Hankau, eine Entfernung von 3000
Li, 60 Cash, im Hankauer Lokalverkehr jedoch nur 5 Cash; werden zwanzig
Briefe nach Hankau befördert, so würden sie einzeln 60 Cash, zusammen
1200 Cash, d. h. nahezu einen Tael kosten. In einem Umschlag vereinigt,
kosten sie nur 60 Cash, und dazu in Hankau selbst je 5 Cash, d. i.
100 Cash Bestellungsgebühr. Statt 1200 Cash haben also die Empfänger
zusammen nur 160 Cash zu bezahlen.

Uebrigens gelten die Tarifsätze der Postämter nur für Fremde und
Privatleute, die nur selten Briefe absenden. Die Inhaber der Postämter
lassen mit sich reden. Je geringer ihr Ansehen und ihre Stellung, desto
wohlfeiler ist die Beförderung; haben die Postämter es mit großen
Hongs, d. h. Geschäftshäusern zu thun, die viele Briefe absenden, so
gehen sie mit ihrem Tarif auf zwei Drittel oder die Hälfte herunter;
ja sie befördern die Briefe der Angestellten dieser Häuser ganz frei,
d. h. stempeln diese Briefe „Weingeld bezahlt” und lassen an den
Abgangstagen ihrer Postläufer die Briefe von den einzelnen Hongs durch
ihre Angestellten selbst abholen.

Beim Eintreffen der Kuriere senden die Postanstalten die Briefe den
verschiedenen Adressaten ins Haus und ziehen dabei die Gebühren ein.
Die großen Geschäftshäuser haben aber gewöhnlich bei ihren Postämtern
eine laufende Rechnung und zahlen die Briefgebühren ein- oder zweimal
jährlich.

In den Großstädten haben sich die meisten größeren Postunternehmungen
untereinander bezüglich der Absendung ihrer Läufer nach anderen
wichtigen Städten geeinigt, d. h. einen sogenannten Pool abgeschlossen,
demzufolge jeden Tag oder jeden zweiten, dritten, vierten Tag, je nach
Erfordernis, der Läufer einer anderen Postanstalt abgeht und die Briefe
sämtlicher Postanstalten mitnimmt. Da jeder Brief die zu bezahlende
Summe und den Namen der Postanstalt zeigt, so ist die Abrechnung
ziemlich leicht. Dank dieser Vereinigung der Postämter lohnt es sich
nunmehr auch, zeitweilig Kuriere nach entfernteren, unbedeutenden
Städten abzusenden, so daß heute thatsächlich in ganz China von diesen
Postanstalten Briefe bestellt werden. Der Kurier erhält von seinem
Absender den Auftrag, den betreffenden Brief auf seinem Wege in dem dem
Bestimmungsort nächstgelegenen Wirtshause abzugeben. Der Wirt verwahrt
den Brief, bis ein nach demselben Dorfe ziehender Maultiertreiber
oder Lastträger bei ihm vorkommt, und übergiebt ihn diesem zur
Weiterbeförderung. Gewöhnlich sind diese Leute froh, sich durch
solche Gelegenheiten ein paar Cash zu verdienen, und geben die Briefe
gewissenhaft ab.

Dort, wo zwischen verschiedenen Städten Dampferverkehr herrscht, werden
die Briefsäcke den Compradores, d. h. Zahlmeister, der Dampfer zur
Beförderung anvertraut, und diese beziehen dafür von den Postämtern
gewisse Summen, die entweder für jeden Postsack oder jährlich bezahlt
werden. An den verschiedenen Bestimmungsorten der Postsäcke erwarten
die Agenten der Postämter die Ankunft des Dampfers und nehmen die
Säcke zur Verteilung oder Weitersendung der Briefe in Empfang. In
ähnlicher Weise wird sogar auch der Briefverkehr zwischen China und
den zahlreichen chinesischen Kolonien in Ostasien, in Singapore, Siam,
Tonking, Saigon, den Philippinen besorgt. Die Chinesen gehen so viel
wie möglich den europäischen Postämtern aus dem Wege, besonders wenn
es sich um Beförderung von Geldsummen handelt. Gerade die Chinesen in
den Kolonien senden sehr viel Geld nach ihrem Heimatsland, wohin sie ja
gewöhnlich bei zunehmendem Alter selbst zurückkehren.

Auf Flüssen, die einen Dampferverkehr besitzen, werden die Postboten
gewöhnlich nur stromabwärts in eigenen Segel- und Ruderbooten nach
ihrem Bestimmungsort gesandt; der Verkehr stromaufwärts erfolgt zu
Land mittels Läufern. Am besten wird der ganze Postdienst dieser Art
aus der Schilderung des Verkehrs auf der wichtigsten Verkehrslinie
Chinas, dem Jangtsekiang, erhellen. Der entfernteste dieser Flußhäfen
ist Tschungking am oberen Jangtsekiang, in der Luftlinie nur
vierhundertdreißig Kilometer von der tibetanischen Grenze entfernt,
eintausendfünfhundert Kilometer von Peking und etwa ebensoweit von
Shanghai. Die wirkliche Entfernung dürfte zweitausend Kilometer
übersteigen.

Tschungking besitzt sechzehn Postämter, von welchen sich drei mit dem
Brief-, Geld- und Paketverkehr mit den stromabwärts gelegenen Städten
bis Shanghai befassen, während dreizehn den Postverkehr im ganzen
westlichen und südwestlichen China besorgen. Neun von ihnen besorgen
auch die Beförderung von Waren, Gepäck und Reisenden (mittels Sänften
und Tragstühlen) nach der Mehrzahl der dortigen Städte. Alle dreizehn
Postämter bilden eine Art Postverein, denn sie berechnen die gleichen
Gebühren und senden ihre Läufer, gewöhnlich drei- bis neunmal im Monat,
gemeinschaftlich aus. Von diesen Läufern werden nicht weniger als 48
der wichtigsten Städte und Märkte der Provinz Szetschuan regelmäßig
bedient, ferner fünf Städte in der 1000 Kilometer entfernten Provinz
Schensi, zwei Städte in Kansu, zwei in Kweitschau und drei in Yünnan,
zusammen also 60 Städte, in welchen die Postämter von Tschungking
eigene Agenturen unterhalten. Im Bedarfsfalle werden nach den
verschiedenen Städten noch Extraposten abgesandt, deren Zahl monatlich
im Durchschnitt sechs erreicht.

Die drei mit den Flußhäfen des Jangtsekiang verkehrenden Postämter
benutzen zur Beförderung der Briefe und Pakete sogenannte
Post-Wasserhände, d. h. kleine, von einem, höchstens zwei Mann
gelenkte Segel- und Ruderboote, in welchen die Kuriere und Poststücke
untergebracht werden. Die Briefpakete werden in Oelpapier gewickelt,
dann in wasserdichte Säcke gepackt und mit Schnüren an die Ruder des
Bootes gebunden, damit im Falle eines Schiffbruchs diese Ruder als eine
Art Rettungsgürtel dienen und die Briefsäcke nicht verloren gehen.
Ein Brief von Tschungking nach Hankau kostet 60 Cash, ein Paket etwa
300 Cash für je 500 Gramm Gewicht, ein Wechsel von 1000 Taels nach
Hankau 1000 Cash (also 1/10 Prozent), worin die Versicherungsgebühr
eingeschlossen ist. Die drei Postämter lassen gemeinschaftlich alle
fünf Tage ein Postboot nach Hankau abgehen, und ebenso häufig wird die
Post von Hankau nach Tschungking gesandt. Extraposten kommen jetzt, da
Tschungking bereits eine Telegraphenverbindung mit dem chinesischen
Netz besitzt, auf dieser Linie nur noch selten vor.

Die Postboote sind länger und leichter gebaut als die gewöhnlichen
Flußboote; der Bootsmann sitzt am Hinterteile des Schiffes und rudert
mit den nackten Füßen, wobei die große Zehe etwa wie der Daumen
arbeitet; mit der Rechten handhabt er das Steuerruder. Gleichzeitig
wird, wenn irgend möglich, auch das Segel benutzt; dennoch war die
kürzeste Zeit, in welcher ein Postboot von Tschungking Hankau erreicht
hat, bisher elf Tage, stromaufwärts würde es selbstverständlich noch
viel länger dauern; deshalb werden die Postboote, sobald sie Itschang
oder Hankau erreicht haben, für 3000 bis 4000 Cash verkauft und
Bootsleute, wie Kuriere kehren zu Land nach Tschungking zurück, wobei
sie gleichzeitig die Hankauer Post mitnehmen.

Auf der Reise von Tschungking den Jangtsekiang abwärts ist der nächste
offene Flußhafen Itschang, gleichzeitig der Endpunkt der Dampferfahrt.
Dort befinden sich nur drei Agenturen von Hankauer Postämtern, die aber
Briefe und Wertsendungen nach allen größeren Orten Chinas annehmen.
Der wichtigste Verkehrsmittelpunkt des Jangtsekiangthales ist die
etwa sieben Tagereisen weiter stromabwärts gelegene Stadt Hankau,
die Metropole des chinesischen Theehandels, mit etwa einer Million
Einwohner. Hier befinden sich nicht weniger als siebenundzwanzig
verschiedene Postunternehmungen, von denen fünfzehn ihre Poststücke mit
Dampfern, zwölf mit Landboten versenden. Briefe von hier nach Shanghai
oder Ningpo kosten 80 Cash, nach Canton 100 Cash, nach Peking oder
Tientsin 200 Cash, und die Postanstalten arbeiten so vorzüglich, daß
selbst bei der Beförderung auf Fluß- und Kanalbooten Verluste selten
vorkommen. So sandte beispielsweise, wie der Zolldirektor von Hankau
berichtet, die Postanstalt Hotschang in den letzten fünfzehn Jahren
4200 Postboote aus, von denen nur drei ihre Postsäcke verloren haben.

Die Post des nächsten Posthafens Kiukiang wird durch vierzehn
Agenturen von Hankauer oder Shanghaier Postanstalten besorgt, und
mehrere Agenturen ruhen in den Händen einer einzigen Chinesenfirma.
Auch hier arbeiten die verschiedenen Postämter zusammen und senden
gemeinschaftlich einzelne Kuriere mit den Postsäcken nach verschiedenen
Städten. So wird beispielsweise an allen Tagen des Monats, welche
die Ziffern 1, 4 und 7 enthalten (also am 1., 4., 7., 11., 14., 17.,
21., 24. und 27.), die Post nach den Städten des Südens, an allen
Tagen, welche die Ziffern 2, 5 und 8 enthalten, nach den Städten des
Nordens befördert. Der weiter stromabwärts gelegene offene Hafen Wuhu
ebenso wie das nur zwei Tagereisen von Shanghai entfernte Tschinkiang
liegen bereits gänzlich innerhalb der Interessensphäre der großen
Postanstalten Shanghais, der Hauptstadt des Jangtsekianggebietes.

Neben den privaten Posten und dem oben bezeichneten Kurierdienst für
Regierungsdepeschen besteht in China seit einer Reihe von Jahren noch
eine Art halboffizielle Post, die von dem ausgezeichneten Leiter der
chinesischen Zollämter, Sir Robert Hart, ins Leben gerufen wurde
und wohl den bescheidenen Anfang für die nunmehr zur Einführung
gelangende chinesische Reichspost bilden dürfte. Ursprünglich war
dieser Postdienst nur für den Verkehr der Zollämter bestimmt, allein er
hat sich so sehr bewährt, daß die in den Vertragshäfen residierenden
Europäer ihre für das Innere Chinas, für Peking und Korea bestimmten
Briefschaften hauptsächlich nur der Zollpost anvertrauen. Dieselbe
ist ganz nach europäischem Muster organisiert, und die Beförderung
geschieht im Sommer durch Dampfer, da ja die Vertragshäfen mit wenigen
Ausnahmen Dampferverbindung mit Shanghai und demzufolge auch mit Korea
und Tientsin, dem Hafen von Peking, besitzen. Da im Winter die Häfen
des Gelben Meeres während mehrerer Monate durch Eis geschlossen sind,
erfolgt der Postdienst dann durch Kuriere, und zwar zwischen Peking und
Tientsin täglich, zwischen Tientsin und Nintschwang in der Mandschurei
einmal wöchentlich, und zwischen Tientsin und den südlicheren Häfen
Tschinkiang, Tschifu (d. h. also auch Shanghai) dreimal wöchentlich.

Außerdem geht von Shanghai bei jedesmaliger Ankunft der europäischen
und amerikanischen Postdampfer noch eine Extrapost mit den für
die Regierung und die ausländischen Gesandtschaften bestimmten
Briefschaften über Land nach Peking ab. Diese Extraposten legen die
Strecke Shanghai-Peking in zwölf Tagen zurück. Die Zollpostämter
besitzen für die Freimachung der Briefe eigene Postwertzeichen,
welche in der Mitte den chinesischen Drachen zeigen und am Rande die
Wertangabe in englischer Sprache, ein, zwei oder drei Candarins,
tragen. Die chinesischen Briefmarken haben jedoch nur für den
chinesischen und koreanischen Verkehr Gültigkeit. Sollen Briefe z. B.
von Peking oder Söul mittels der Zollpost nach Europa gesandt werden,
so wird auf dieselben der Wert der Briefmarken für die Sendung nach
Shanghai, also drei Candarins, aufgeklebt und außerdem noch der Wert
in so vielen englischen Briefmarken, als für die Sendung nach Europa
oder Amerika erforderlich ist. In Shanghai wird von seiten der Zollpost
die entsprechende deutsche, englische oder französische Briefmarke
dazugeklebt, je nachdem die Briefe mit deutschen, englischen oder
französischen Postschiffen nach Europa abgehen.

Für den lokalen Briefverkehr in Shanghai, Hankau, Ningpo, Tschifu und
Tschinkiang haben die europäischen Verwaltungen dieser Vertragshäfen
eigene Briefmarken zur Einführung gebracht, und dieselben werden auch
zur Freimachung der Briefe für andere Vertragshäfen benutzt. Die
Behörden machen mit diesen Briefmarken vortreffliche Geschäfte, weniger
durch die Lebhaftigkeit des Briefverkehrs als durch den Absatz, den sie
bei europäischen Briefmarkensammlern finden.

Wie man aus den vorstehenden Ausführungen sieht, ist China ganz im
Gegensatz zu den herrschenden Anschauungen viel mehr mit postalen
Einrichtungen versehen, als es wünschenswert ist, ja in keinem Lande
der Welt giebt es so vielerlei Postanstalten als gerade in China.
Shanghai allein besitzt beispielsweise außer den sechs früher schon
erwähnten staatlichen Postämtern noch gegen dreißig Privatposten für
den Inlandverkehr.

Im Lauf der letzten Jahre hat es der Leiter des chinesischen
Zollwesens, Sir Robert Hart, zu Wege gebracht, an vielen
Hauptverkehrsrouten eine kaiserliche Post einzuführen. Er bediente sich
dazu der Zollbeamten sowie einzelner Privatpostanstalten, und der ganze
Apparat arbeitet so vortrefflich, daß bald das ganze Chinesische Reich
kaiserliche Postämter besitzen dürfte.



Chinesisches Militär.

[Illustration: Militärmandarin in Tsining.]


China hat wohl europäisches Kriegsmaterial erworben, aber der
militärische Geist ist derselbe geblieben, wie er vor drei
Jahrhunderten zur Zeit der Eroberung Chinas durch die Mandschus
war. Die europäischen Instruktionsoffiziere fanden in China nicht
etwa als Lehrmeister von Strategie und Taktik, sondern einfach als
Drillsergeanten Verwendung. Vor drei Jahrhunderten hatte sich die
Kriegskunst der Mandschus in so ausgezeichneter Weise bewährt, daß
sie das größte Kaiserreich Asiens unterjochten und auf den Thron der
gestürzten Kaiserdynastie einen Mandschurengeneral setzen konnten;
warum und wozu sollte diese bewährte Kriegskunst geändert werden? Sie
ebenso wie die ganze Heeresorganisation wurden also bisher mit fast
abergläubischer Konsequenz beibehalten; da aber die Chinesen einsahen,
daß ihre Soldaten mit Bogen und Pfeil gegen die modernen Schießwaffen
der Europäer nicht aufkommen konnten, drückten sie einem Teil ihrer
Streiter an Stelle des Bogens Hinterladergewehre in die Hände und
schafften Kruppsche Kanonen an. Daß die Verschiedenheit der Waffen
auch eine Aenderung der Taktik mit sich bringt, daran haben sie bisher
nicht gedacht, obschon sie während ihrer Kriege gegen die Engländer,
Franzosen und Japaner gewiß hinlänglich Gelegenheit bekamen, dies zu
beobachten.

[Illustration: Die chinesische Mauer bei Ning-Hai.]

Mit rührender Treue halten die Söhne des Himmels an ihren alten
Ueberlieferungen fest und stehen den Erfindungen der Yan-kwei-tse,
ausländischen Teufel (das ist die gebräuchliche Bezeichnung der
Chinesen für die Europäer) fast mit Verachtung gegenüber. Ich sah dies
schon in der ersten Woche meines Aufenthalts in China, als ich von
Hongkong den Perlfluß aufwärts nach Canton fuhr. Canton, die größte
Stadt des himmlischen Reiches, gleichzeitig eines der wichtigsten und
reichsten Handelsemporien Chinas, ist mit hohen, gewaltigen Mauern
umgeben, und auch die Inseln, sowie die Höhen längs der Flußufer sind
von steinernen Festungswerken gekrönt. Doch bestehen diese aus nichts
weiter als festen Mauern, die einen weiten Platz umschließen, in deren
Mitte sich die ebenfalls aus Stein erbauten Kasernen erheben. Natürlich
war es bei der Expedition gegen Canton den Franzosen ein leichtes,
diese Mauern zusammenzuschießen, Canton einzunehmen und dasselbe zwei
Jahre lang besetzt zu halten. Dies hätte den Chinesen doch zeigen
müssen, daß derlei Forts nicht nur kein Verteidigungsmittel sind,
sondern daß die Steinmauern beim Aufschlagen der feindlichen Geschosse
durch die umhergestreuten Trümmer den Verteidigern noch gefährlicher
werden. Man hätte erwarten sollen, daß die Chinesen nach dem Abzuge der
Franzosen moderne Forts anlegen würden. Statt dessen hatten sie nichts
Eiligeres zu thun, als die noch unbesetzten Höhen längs des Perlflusses
mit ganz denselben Steinmauern zu umgeben, wie sie die bisherigen
Forts zeigten. Diese Mauern krönen nicht etwa den Gipfel oder das
oberste Plateau der Höhen, sondern umschließen deren Fuß, ziehen sich
allenfalls auch in den Thälern oder auf den Bergkämmen aufwärts, aber
stets so, als wollten die Erbauer geflissentlich das ganze Innere des
Forts den feindlichen Kugeln bloßstellen. In den Schießscharten dieser
Forts stecken wohl mitunter moderne Geschütze, von Krupp oder Armstrong
geliefert, in Canton selbst jedoch fand ich auf den Ringmauern nicht
ein einziges modernes Geschütz, sondern nichts als verrostete,
vollständig unbrauchbare Kanonen aus früheren Jahrhunderten, auf
zerfallenen Holzlafetten ruhend oder einfach im hohen Grase schlummernd.

Die Garnison Cantons besteht aus den Soldaten der alten Mandschu- und
Tatarenfamilien, die mit Weib und Kind in der mit einer besonderen
Mauer umgebenen Tatarenstadt wohnen. Auf den freien Plätzen dort, sowie
außerhalb der Stadtmauer sah ich diese Soldaten exerzieren. Die einen
hatten moderne Mauser- oder Winchestergewehre, die anderen Bogen und
Pfeil, wieder andere lange dreispitzige Lanzen, Schilde und Schwerter.

Dieselben Festungswerke, dieselben Soldaten fand ich später am
Jangtsekiang, ja selbst in den Hafenstädten am Golf von Tschihli,
welche doch die Hauptstadt des Reiches, Peking, vor feindlichen
Angriffen beschützen sollen. Der wichtigste dieser Häfen ist nächst
Tientsin das auf der Halbinsel Schantung gelegene Tschifu. Diese
Wichtigkeit wurde in den letzten Jahren sogar von den Chinesen
anerkannt, und sie beschlossen, dort neue Forts zu erbauen. Dem
Hafen sind zwei Inseln vorgelagert, welche den Zugang vollständig
beherrschen. Statt dort wurden die Forts, natürlich wieder nach
der alten Schablone, auf dem Festlande weiter einwärts errichtet.
Sachverständige schlugen die Hände über den Köpfen zusammen. Endlich
wurde der Tatarengeneral der Provinz über die Gründe dieser sonderbaren
Art der Küstenbefestigung befragt. „Ja”, antwortete dieser, „wohin soll
sich denn im Fall der Einnahme der Forts die Besatzung zurückziehen,
wenn diese Forts auf den Inseln angelegt würden?”

In Nanking, der alten Hauptstadt des himmlischen Reiches, wollte ich
das dort befindliche Arsenal besuchen. Allein es wurde nicht gestattet.
Doch erfuhr ich, daß alle früher dort bediensteten Europäer vor einigen
Jahren entlassen wurden. Die ganze Erzeugung von Gewehren, Kanonen,
Hieb- und Stichwaffen wird von den Chinesen geleitet. Die Garnison von
Nanking hat dieselben Stadtteile inne wie vor dreihundert Jahren, und
die Waffen sind, wie ich es bei dem Exerzieren der Truppen selbst sah,
auch dieselben geblieben: Lanzen und Schwerter, Bogen und Pfeil. Nur
ein kleiner Teil der Truppen ist mit Schießgewehren bewaffnet.

Der Vicekönig von Wutschang am Jangtsekiang hat einen der am
Strome gelegenen befestigten Lager vor einigen Jahren hundert
Hinterladergewehre mit je hundert Patronen gesandt mit dem Auftrage,
Schießübungen anzustellen. Bei der Inspektion durch den Mandschugeneral
im darauffolgenden Jahre rückten die Truppen wieder mit Bogen und
Pfeil aus. Als nach dem Verbleib der Gewehre gefragt wurde, antwortete
der Lagerkommandant, daß er sie weggegeben hätte, als die Munition
verschossen war.

Pekinger Diplomaten erzählten mir, die Hälfte der dortigen Garnison
hätte ihre Gewehre in den Pfandhäusern, und in den Provinzen käme es
häufig vor, daß die Soldaten ihre modernen Hinterladergewehre gegen
alte Feuersteinflinten sehr gern umtauschen, da sie mit diesen besser
umzugehen wüßten.

Daß übrigens auch die kaiserliche Regierung in Peking keinen
allzugroßen Wert auf die moderne Bewaffnung legt, geht aus einem
Bericht der kaiserlichen Regierungszeitung hervor, der in der Ausgabe
vom 24. Juni 1894 enthalten ist, also schon zur Zeit, als der Krieg mit
Japan nahezu Gewißheit geworden war. Er lautet:

„Der Vize-Generalleutnant Ya er chien hatte in einem früheren
Berichte eine Vermehrung der Ausrüstung seiner in Tscheng-tu
stationierten Bannertruppen mit ausländischen Gewehren beantragt.
Die hierfür erforderlichen Geldmittel sollten den Ueberschüssen der
Opiumsteuer entnommen werden. Der Bannergeneral Kung schon, sowie der
Generalgouverneur der Provinz Szechuan (dessen Hauptstadt Tscheng-tu
ist) wurden seinerzeit zur Begutachtung dieses Antrages aufgefordert.

Nach den nunmehr eingereichten Berichten derselben sind die
Steuerüberschüsse nicht groß genug für die verlangte militärische
Ausrüstung; dieselben müssen auch für Notstandsjahre reserviert bleiben.

Deshalb wird dem Vize-Generalleutnant seine Bitte abgeschlagen.
Wenn die zum Schutze des Landes bestimmten Bannertruppen in der
vorgeschriebenen militärischen Uebung verharren, so braucht an ihrer
Bewaffnung (aus Lanzen, Bogen und Pfeilen) nichts geändert zu werden
und bleibt die Tüchtigkeit der Soldaten gesichert. Der Bannergeneral
und seine untergebenen Offiziere sollen deshalb mit erhöhtem Eifer
die militärische Ausbildung der Truppen betreiben, von welcher die
Leistungsfähigkeit im Felde abhängt.”

In demselben Edikt befindet sich auch noch folgender Paragraph:

„Der obenerwähnte Generalleutnant ist mit einem übermäßigen Gefolge
von siebzehn Offizieren und Soldaten nach Peking gekommen und soll die
Reisekosten eigenmächtig den für den Unterhalt der Truppen bestimmten
Fonds entnommen haben. Diese Verwendung öffentlicher Gelder zu
Privatzwecken läßt sich aus den von sämtlichen Hauptleuten unter Siegel
eingelieferten Dokumenten erweisen. Der Generalleutnant soll über
diesen Punkt genauen Bericht erstatten.”

Am folgenden Tage, den 25. Juni 1894, enthält die Pekinger
Staatszeitung folgendes Edikt:

„Im Januar hatte das Kriegsministerium Uns gebeten, an alle Provinzen
den Befehl zur schleunigen Aufstellung einer Truppenliste zu erteilen,
um eine genaue Zusammenstellung der verfügbaren Armeen machen zu
können. Dieser Befehl wurde allen Generalgouverneuren und Gouverneuren
erteilt und ihnen eine Frist von drei Monaten gestellt.

Da diese Frist abgelaufen ist, so möge das Kriegsministerium die
Aufstellung besorgen, gegen die säumigen Beamten jedoch Strafe
beantragen.”

Der Zufall spielte mir Auszüge aus den offiziellen Truppenlisten in die
Hände, und gestützt darauf, sowie auf die Erkundigungen, die ich in
verschiedenen Garnisonen einzog, fand ich das Heerwesen Chinas heute im
großen und ganzen ebenso, wie es vor dreihundert Jahren geschildert
wurde. Die ganze Organisation des Heeres ist zu interessant, zu
originell, um nicht näher besprochen zu werden.

[Illustration: Karte des kommandierenden Generals von Schantung.]

Vor allem ist es auffällig, daß die Hauptmasse des chinesischen
Heeres nicht dem Kaiser untersteht und in seinem Namen angeworben
und unterhalten wird, sondern daß jeder Vizekönig der achtzehn
Provinzen Chinas seine eigenen, von den benachbarten Heeren völlig
unabhängigen Truppen besitzt. In dieser Hinsicht haben die chinesischen
Vizekönige fast ebenso souveräne Rechte wie früher die einzelnen
deutschen Fürsten. Der eine Vizekönig verwendet mehr Sorgfalt
auf die Uniformierung und Bewaffnung seines Heeres, der andere
weniger; die Vizekönige der mit Fremden mehr in Berührung kommenden
Küstenprovinzen haben schlagfertigere und besser gedrillte Truppen
als jene des Inlandes, wo die Heere mitunter sehr vernachlässigt
werden. Doch ist jedem Vizekönig die Truppenzahl, die er unterhalten
muß, vorgeschrieben, und die Zentralregierung kann von ihm die
Beistellung irgend eines beliebigen Teiles derselben oder des ganzen
Heeres verlangen. So wurden beispielsweise bei Ausbruch des letzten
Krieges die ersten 15000 Mann von den Vizekönigen der drei nördlichen
Küstenprovinzen auf Befehl des Kaisers beigestellt. Das kleinste Heer
besitzt die Provinz Anhuei im Inlande mit 8700 Mann, das größte die
Küstenprovinz Kwangtung mit 70000 Mann. Die anderen Provinzen besitzen
Heere von 20000 bis 60000, Tschihli, die früher von Li-Hung-Tschang
regierte wichtigste Provinz des Reiches, 42000 Mann. Die Gesamtsumme
dieser Provinzialtruppen oder, wie sie in China heißen, der Truppen
des grünen Banners, beläuft sich auf 650000 Mann. Ihr Sold ist
ebenso verschieden wie ihre Bewaffnung und ihre Einteilung. Während
beispielsweise die Ausgaben für die Armee Li-Hung-Tschangs im Jahre
über 1½ Millionen Taels betragen, erreichen jene der um 8000 Mann
stärkeren Armee Kiangfus kaum 1 Million Taels. Die Gesamtausgaben der
Provinzen für die 650000 Mann betragen 14½ Millionen Taels oder etwa 60
Millionen Mark. Diese Ausgaben müssen jedoch bei der Zentralregierung
verrechnet werden, ebenso ist es diese letztere, welche auf Grundlage
der eingereichten Vorschläge sämtliche Offiziere ernennt. Die
Truppen des grünen Banners besaßen nach den erwähnten Tabellen des
Kriegsministeriums in Peking folgende Offiziere: 16 Generale, 64
Generalleutnants, 280 Oberste, 373 Oberstleutnants, 425 Majore, 825
Hauptleute, 1650 Leutnants und 3500 Fähnriche, im ganzen also etwa
7100 Offiziere. Dies dürfte wohl die geringste Offizierszahl in irgend
einem Heere sein, denn beispielsweise besitzt Frankreich bei einer der
chinesischen Truppenzahl nahezu gleichen Friedensstärke mehr als die
vierfache Zahl von Offizieren, nämlich 28555. Italien besitzt bei einem
Drittel der obigen Friedensstärke die doppelte Zahl von Offizieren.

[Illustration: Tatarengeneral mit Gefolge.]

Die Truppen der einzelnen Provinzen sind nicht in Regimenter und
Bataillone eingeteilt, sondern liegen in Abteilungen verschiedenster
Stärke in Städten, Forts oder in einzelnen Lagern. Jede Provinz ist
in eine gewisse Zahl militärischer Distrikte unter dem Befehl eines
Obersten eingeteilt, und in jedem Distrikt befinden sich mehrere Lager.
In den Städten versehen die Garnisonen gleichzeitig den Polizeidienst,
denn Polizei im europäischen Sinne giebt es in China nicht. In den
Lagern, besonders wenn diese auf dem Lande gelegen sind, hat der
Soldat nicht viel zu thun. Ausgenommen zur Zeit der Manöver oder
bei Inspektionen durch die Kommandierenden, beschäftigt er sich mit
Ackerbau, Gartenzucht oder allerhand Gewerben. Gewöhnlich ist er auch
noch verheiratet und hat Weib und Kind bei sich.

In jeder Provinz giebt es einen Mandschu- oder Tatarengeneral,
der unabhängig von dem Provinzgouverneur seine (kaiserlichen)
Mandschutruppen befehligt und direkt der Zentralregierung untersteht,
außerdem noch einen General der Provinztruppen. Der kommandierende
General von Schantung hat sein Hauptquartier nicht in der Kaiserstadt,
sondern in Yentschou-fu, wo ich Gelegenheit bekam, Tieng-min-leh, dies
sein Name, kennen zu lernen. Er erwies mir nämlich die Ehre seines
Besuches. Ihm voraus trabte seine berittene Leibgarde, mit kurzen
Schwertern bewaffnet, dann kamen die Träger der Zeremonienschirme und
fantastisch geformten, auf langen Stangen sitzenden Zeremonienwaffen,
endlich der Karren des Generals, umgeben von zwölf Schwertträgern.
Militärmandarine bedienen sich bei Ausgängen oder Besuchen gewöhnlich
eines zweiräderigen Maultierkarrens, Zivilmandarine der Sänfte. Der
alte Herr war von einer Liebenswürdigkeit, wie ich sie noch bei
keinem Mandarin angetroffen hatte. Er blieb eine halbe Stunde bei
mir sitzen, sprach unter anderm von Napoleon III. und Moltke, dessen
Schriften, ins Chinesische übersetzt, sich in seiner Bibliothek
befänden. Er erwähnte auch, er hätte in den chinesischen Zeitungen
Shanghais und Pekings von meiner Reise gelesen, sowie von meiner
publizistischen Thätigkeit zu Gunsten Chinas während des japanischen
Krieges, und ich könne in China überall des freundlichsten Empfanges
sicher sein. Er sei ein großer Freund der Deutschen, hätte von diesen
viel gelernt und ließe auch seine Truppen nach deutschem Muster
drillen. Wie diese aussehen, ist aus den Abbildungen dieses Kapitels
zu entnehmen. Im ganzen mochte er in seinem Lager einige hundert Mann
haben.

[Illustration: Europäisch gedrillte Truppen in Tientsin.]

Der Sold der Soldaten des grünen Banners ist äußerst gering und beträgt
kaum mehr als zwanzig bis dreißig Pfennige für den Tag, wovon er sich
beköstigen und uniformieren muß, vorausgesetzt, daß ihm der Sold
überhaupt regelmäßig bezahlt wird. Gewöhnlich halten die Offiziere
kleinere Beträge zurück und geben sie den Soldaten dafür an Festtagen
oder zum neuen Jahre. Eine feste Dienstzeit giebt es in China nicht,
ebensowenig eine allgemeine Wehrpflicht. Es giebt keine Pension, keine
Alterszulagen, keine ärztliche Pflege, keine Armeeverpflegung, jeder
muß sich selbst nach Belieben verpflegen, nähren und kleiden. Die
Uniform der Provinzialtruppen besteht aus einer blauen Bluse mit rotem
oder weißem Besatz, auf deren Brust- und Rückenteil in einem etwa
zwanzig Centimeter großen, weißgeränderten Kreise die Provinz und das
Lager, in welchem der Mann steht, in chinesischen Lettern verzeichnet
sind. Die leinenen Beinkleider, gewöhnlich von blauer Farbe, stecken
in den kurzen Schäften der aus Filz verfertigten Stiefeln, und auf
dem Kopfe sitzt ein tellerartiger Tatarenhut aus Bambusgeflecht, bei
manchen Truppen mit einem roten Roßschweif geschmückt. Im Polizeidienst
besteht die Bewaffnung der Soldaten aus einer kurzen, ein-, zwei- oder
dreispitzigen Lanze, zuweilen auch aus einem Doppelschwert mit zwei
Klingen in einer Scheide. Auf dem Lande, außer Dienst, oder in den
Lagern sind die Soldaten gar nicht bewaffnet.

Die Rekrutierung erfolgt am Werbetische, und trotz des erbärmlichen
Soldes ist der Andrang doch immer stärker als der Bedarf. Ich sah
eine derartige Rekrutierung in Nanking. Auf dem freien Platze vor
dem Hause eines der höheren Offiziere war ein Zelt aufgeschlagen, in
welchem sich einige Offiziere befanden. Ein paar Soldaten, mit Lanzen
bewaffnet, hielten die sich herandrängenden Bewerber und das Volk in
Ordnung. Vor dem Zelte lag ein etwa sechs Fuß langer Bambusstock auf
dem Boden mit runden Steinen im Gewicht von zusammen hundert Catties
(etwa 65 Kilogramm), an den Enden des Stabes gleichmäßig verteilt. Die
Soldaten ließen die bis zur Hüfte entblößten Applikanten der Reihe nach
vortreten. Die Offiziere warfen ein paar prüfende Blicke auf sie, dann
wurde ihnen befohlen, den Bambusstock mit beiden Händen bis über den
Kopf emporzuheben. Bestanden sie diese Kraftprobe, so wurde ihr Name in
ein Register eingetragen und ihnen geheißen, im Lager vorzusprechen.
Dort erhielten sie einiges Handgeld, kaum viel mehr als einer Mark
entsprechend, und blauen Stoff, um ihre Uniform daraus nähen zu lassen.
Damit waren sie kaiserliche Soldaten.

Für diejenigen, welche auf Offiziersstellen Anspruch machen, sind
unter der gegenwärtigen Regierung ähnliche Prüfungen eingeführt worden
wie für den Zivildienst, und den erfolgreichen Kandidaten werden je
nach der Art, wie sie die Prüfung bestehen, auch dieselben Titel,
Siu-tsai, Kü-jin und Tsin-sz, verliehen. Für den letzten (höchsten)
Grad erfolgt die Prüfung in Peking. Man darf jedoch nicht glauben,
daß die Offizierskandidaten wie jene für die Beamtenstellen auf ihre
litterarischen Kenntnisse hin oder gar in Taktik und Strategie,
Befestigungs- und Ingenieurkunst geprüft werden. Das wird von einem
chinesischen Offizier nicht verlangt. Dafür müssen die Kandidaten
gewandte Reiter, Fechter und Ringkämpfer sein; nicht die geistige,
sondern die Muskelkraft giebt den Ausschlag, und die besten Noten
erhalten jene, welche sich überdies als Bogenschützen bewähren. Dazu
wird auf dem militärischen Uebungsplatze ein dreißig bis fünfzig
Centimeter tiefer gradliniger Graben von etwa einem halben Kilometer
Länge und hinreichender Breite gegraben, daß ein Pferd in demselben
galoppieren kann. Auf etwa fünfzig bis sechzig Meter Entfernung von
dem Graben sind Scheiben aufgestellt, mit Zwischenräumen von etwa fünf
Meter voneinander. Der Kandidat, mit Bogen und Pfeilen bewaffnet, hat
zu Pferd zu steigen und, während dieses den Graben entlang galoppiert,
Pfeile nach den Scheiben abzuschießen. Treffen diese Pfeile das
Schwarze, so wird von den Wächtern der Gong angeschlagen, um die
Examinatoren davon in Kenntnis zu setzen. Noch 1898 hatte ich selbst
in Yentschou-fu, im Innern von Schantung, Gelegenheit, eine derartige
Prüfung zu sehen.

Mit dem erfolgreichen Bestehen der Prüfung wird jedoch der Kandidat
noch lange nicht Offizier. Dazu muß er entweder viel Geld oder viele
Freunde haben. In einem Aufsatz über das Offizierskorps, der in der
ersten Zeitung Shanghais, der Daily News erschien, heißt es in dieser
Hinsicht: „Irgendwelche wissenschaftliche Ansprüche werden an den
Offizier nicht gestellt; die höheren Offiziersstellen werden verkauft,
die niedrigeren an Freunde und Verwandte gegeben. Die wenigsten haben
eine Ahnung vom praktischen Militärdienst, und es kommt vor, daß die
höchsten Kommandostellen der Armee von gänzlich Unwissenden eingenommen
werden.”

Deshalb ist der Soldatenstand in China auch keineswegs angesehen, ja
man blickt auf ihn verächtlich herab. Die Offizierschargen stehen nicht
im gleichen Rang mit den entsprechenden Chargen des Zivildienstes,
sondern um einen Grad tiefer. Als in den neunziger Jahren zwei
deutsche Instruktionsoffiziere mit dem Einexerzieren der Infanterie
der Provinz Tschihli betraut wurden, nahmen auch die Offiziere an den
einfachsten Exerzitien teil, gerade so wie die Soldaten. Bald hatten
die deutschen Offiziere den Chinesen deutsche Strammheit beigebracht,
und diese führten alle Evolutionen vortrefflich aus. Nun wurden von
den so gedrillten Bataillonen Unteroffiziere als Drillmeister zu den
anderen Truppenkörpern kommandiert, ja die Vicekönige anderer Provinzen
erbaten sich solche, und der Einfluß der deutschen Offiziere ist
heute in den meisten Provinzialarmeen wahrzunehmen. In einigen dieser
letzteren giebt es vortreffliche Truppenkörper, die selbst europäischen
Ansprüchen genügen dürften, vor allem in den Armeen von Kwangtung und
Tschihli, welch letzterer Li-Hung-Tschang besondere Sorgfalt zuwendete.
Die Infanterie ist dort mit dem deutschen Infanteriegewehr bewaffnet,
gut geschult und schlagfertig. Noch besser soll, nach dem Urteil von
Fachleuten, die Artillerie sein, aus dem begreiflichen Grunde, weil die
alten chinesischen Armeen keine Artillerie besaßen, deshalb auch keine
althergebrachten Gebräuche und Vorschriften umzustoßen waren. Das ganze
Geschützwesen mußte von Grund auf neu gelernt werden, und die deutschen
Instruktoren haben in dieser Hinsicht die größten Erfolge aufzuweisen;
die Feldgeschütze wurden hauptsächlich von Krupp geliefert, und das
Material befindet sich im Gegensatz zu dem Festungsmaterial in bester
Ordnung.

Schlimmer ist es in den Provinzialarmeen um die Kavallerie bestellt.
China wird niemals eine solche im europäischen Sinne besitzen können,
denn vor allem hat es keine Pferde. Die mongolischen Ponies sind wohl
kräftig und ausdauernd, besonders auf langen Märschen, aber viel
zu klein und leicht. Alle zehn Jahre wird das Material erneuert,
dadurch, daß der Vicekönig dem Kommandierenden gewisse Summen zum
Ankauf neuer Pferde anweist, oder selbst Remontekommissionen nach
der Mongolei entsendet. Den einzelnen Lagerkommandanten wird für den
Unterhalt der Pferde das Geld monatlich angewiesen. In Tschihli beträgt
dasselbe vierzehn Mark per Pferd und Monat. Die Reiter sind mit
Winchester-Karabinern bewaffnet.

[Illustration: Chinesische Artillerie in Wutschang.]

In den anderen Provinzen ist es um die Kavallerie ebenso schlecht
bestellt wie um die Infanterie, doch soll es in der Mandschurei eine
zwischen 40000 und 50000 Mann zählende Armee von Reitern geben. In den
Garnisonen der Küstenprovinzen ist davon nichts zu sehen. Wären die
650000 Mann der Armee des grünen Banners wirklich gut geschult und vor
allem wirklich vorhanden, so würde dies eine höchst respektable Macht
vorstellen. Allein allgemein erzählt man sich, daß die Kommandanten
vieler Lager im Inland die vorgeschriebene Truppenzahl nur auf dem
Papier besäßen. Das Geld für den Sold und Unterhalt wird eingesteckt.
Steht eine Inspektion bevor, so werden schnell Rekruten in der
erforderlichen Zahl angeworben, in Uniformen gesteckt und gedrillt. Ist
diese Inspektion vorüber, so werden sie wieder entlassen.

Neben dem grünen Banner besteht in China noch die alte Mandschuarmee
in ganz derselben Organisation wie vor dreihundert Jahren, zur Zeit
der Eroberung Chinas durch die Mandschus. Damals teilte ihr Führer,
der nachherige Kaiser Tien-ming, seine Horden in vier Banner, das
rote, gelbe, blaue und weiße. Als im Laufe des Krieges zahlreiche
Mongolen und abtrünnige Chinesen seinem Heere zuströmten, organisierte
er diese in vier weitere Banner mit denselben Farben, nur mit
verschiedenfarbigen Rändern. Nach der Gründung des großchinesischen
Reiches genügten diese acht Banner für den Dienst nicht mehr, und
es wurden neben denselben noch acht weitere Mongolenbanner und
acht Chinesenbanner organisiert, die noch bis auf den heutigen
Tag bestehen, nominell in einer Gesamtstärke von 105000 Mann. Die
stärksten Banner sind jene der Mandschus mit je 85 Kompagnien von
je 80 bis 90 Mann; die Mongolenbanner sind durchschnittlich nur 28
Kompagnien, die Chinesenbanner 33 Kompagnien stark. Zusammen besitzen
die mandschurischen Banner 678, die mongolischen 221, die chinesischen
266 Kompagnien, im ganzen also sind 1165 Kompagnien Bannertruppen
verfügbar, welche von der kaiserlichen Zentralregierung in Peking
unterhalten werden und jährlich 16 Millionen Taels, d. h. etwa 64
Millionen Mark erfordern. Mit den Truppen des grünen Banners zusammen
beträgt das militärische Budget Chinas demnach 30½ Millionen Taels, und
die Bevölkerung Chinas auf 400 Millionen angenommen, entfällt auf den
Kopf eine jährliche Militärsteuer von etwa 35 Pfennigen.

Die vierundzwanzig Banner bilden zum Unterschiede von den
Provinzialarmeen die eigentliche kaiserliche Armee. In Wirklichkeit
aus Leibeigenen bestehend, vom Throne bezahlt und seit Generationen
von Vater auf Sohn militärpflichtig, bilden sie die wahren Stützen
des Kaiserthrones und der Dynastie in dem von dieser unterworfenen
chinesischen Reiche. Die Bannersoldaten sind es, welche den Garnisons-
und Polizeidienst in den Großstädten versehen. Doch sind sie dort
nicht wie europäische Truppen in Kasernen untergebracht, sondern sie
bewohnen in jeder Stadt eigene, mit Mauern umgebene und abgeschlossene
Stadtviertel, die sogenannte Tatarenstadt. Dort hausen sie mit Weib
und Kind in eigenen Häuschen, jeder Soldat für sich; in der Mitte der
Tatarenstadt erhebt sich gewöhnlich der Yamen des Tatarengenerals,
unter welchem diese Bannertruppen sowohl wie die Provinzialtruppen
stehen. Die Bannertruppen sind über das ganze Reich, je nach der Größe
und Zahl der Städte, verteilt, manche Provinzen, wie z. B. Kiangsi,
Hunan, Yünnan und Kueitschau, besitzen deren gar keine, andere
Provinzen, wie z. B. die Mandschurei, besitzen nur Bannertruppen.
Am zahlreichsten sind sie in der Hauptstadt Peking selbst. Dort
stehen außer den 4000 Mann der kaiserlichen Leibgarde etwa 15000
Mann der verschiedenen Banner. Je nach ihrer Farbe garnisonieren sie
in verschiedenen Stadtteilen: das rote Banner im Süden, das weiße
im Westen, das blaue im Norden und die Truppen des grünen Banners
(Chinesen) im Osten. Die eigentliche Kaiserstadt wird von den Truppen
des gelben Banners bewacht.

Daß die kaiserliche Regierung es mit dieser Bewachung wie überhaupt
mit der Disziplin der Pekinger Bannertruppen recht ernst nimmt, geht
aus der Regierungszeitung vom 1. April 1894 hervor, deren Bericht ich
hier folgen lasse, weil er auch auf die Bestrafungsarten in der Armee
einiges Licht wirft. In der Nähe der Stadtthore hatte sich verdächtiges
Gesindel herumgetrieben und war zum Teil sogar in die Stadt gedrungen.
Dies gelangte zur Kenntnis der Regierung, und diese verordnete
Folgendes: „Der Kommandeur der Gardeabteilung des geränderten weißen
Banners, Kochin, welcher an dem betreffenden Tage die Wache hatte,
wird seiner sämtlichen Aemter entsetzt; aus besonderer Gnade wird ihm
aber sein Rangknopf (auf dem Hut) und der Posten eines dienstthuenden
Gardeoffiziers zweiter Klasse geschenkt. Der Oberst desselben Banners,
ferner vier Gardeoffiziere (namentlich angeführt) sind auf der Stelle
zu entlassen. Dem Brigadegeneral des linken Flügels, Shan-yin, und
jenem des rechten Flügels, Chang-liu, werden ihre amtlichen Einkünfte
während eines Jahres, ferner dem Prinzen Tsai-yina und dem General des
mongolischen rotgeränderten Banners ihre amtlichen Einkünfte während
drei Monaten entzogen. Die Mannschaften, welche an dem betreffenden
Tage die Wache hatten, sind zu prügeln und zu entlassen. Beachtet dies
mit Zittern.”

Die Uniform der Bannertruppen weicht von jener der Provinztruppen
einigermaßen ab. Sie besteht aus einer bis über die Knie reichenden,
nachthemdartigen weißen Tunika, über welcher eine ärmellose Jacke von
der Farbe der betreffenden Banner getragen wird. Von derselben Farbe
sind die Beinkleider, von denen jedoch nicht viel zu sehen ist, da
sie in den kurzen Schäften der Filzstiefeln stecken. Der Hut ist mit
zwei Eichhörnchenschwänzen geschmückt. Auf ihren kleinen, kräftigen
Ponies sitzend und zu Kompagnien vereinigt, sehen diese Tatarentruppen
ungemein malerisch aus. Ueber die farbenreichen Uniformen erhebt sich
in jeder Kompagnie ein großes Banner, umgeben von zahlreichen kleineren
Fähnchen, welche die Soldaten in eigenen Schäften auf dem Rücken
tragen. Die Pfeilköcher sind über die Schultern gehängt, die Säbel
aber hängen nicht am Gürtel der Reiter, sondern stecken horizontal auf
der linken Seite des Pferdes unter dem Sattel, der Griff voraus. In
der Rechten halten die Reiter die Zügel, in der Linken den Bogen. Zur
vollkommenen Ausrüstung gehören überdies Tabakspfeife, Fächer und der
mit scheußlichen Fratzen bemalte runde Schild.

Allerdings dürfen diese Truppen einem europäisch geschulten und
bewaffneten Feinde gegenüber weitaus im Nachteil sein. Indessen
müssen die ungeheuren Fortschritte in Betracht gezogen werden, die
in den letzten zwei Jahrzehnten in Bezug auf die Ausbildung mancher
Truppenkörper gemacht wurden. Neben Abteilungen, die heute noch ebenso
sind wie vor hundert Jahren, giebt es andere, die vollständig nach
modernen Mustern ausgerüstet und einexerziert sind und die auch, wie
die letzten Kriege gezeigt haben, an Tapferkeit manchen europäischen
Truppen nicht nachstehen. Von der ganzen verfügbaren Armee, mit den
mongolischen und tibetanischen Truppen etwa eine Million, dürften
vielleicht nur 50000 Mann den Anforderungen der modernen Kriegskunst
entsprechen. Die Armee Li-Hung-Tschangs allein besteht, mit den
Bannerleuten zusammen, aus etwa 50000 Mann gut geschulter Truppen mit
über 500 Geschützen, von denen etwa die Hälfte moderne Hinterlader
sind. Dank dem Einfluß des genannten Vicekönigs von Tschihli sind seit
dem letzten Franzosenkrieg in Tientsin, Nanking und anderen Städten von
europäischen Fachleuten geleitete Militärschulen und Arsenale angelegt
worden, von denen jene von Shanghai und Futschau wohl die bedeutendsten
sind. In Bezug auf Ingenieurwesen, Verpflegung, Sanitätswesen ist es
bisher noch beim alten geblieben, doch tritt dafür wieder ein anderer
wichtiger Umstand in den Vordergrund: die Ausdauer, Furchtlosigkeit und
überraschende Mäßigkeit der chinesischen Soldaten. Hätten sie auch noch
Disziplin, China würde es mit irgend einem Feinde aufnehmen können.
Aber gerade diese fehlt dem chinesischen Soldaten vollständig, und sie
kann ihm auch nicht so rasch beigebracht werden.

[Illustration: Tieng-min leh, kommandierender General von Schantung.]

[Illustration: Besuch des Gouverneurs in der katholischen Mission in
Tsinan-fu.]



Die christlichen Missionsanstalten in China.


Die ziemlich verbreitete Ansicht, die Missionen in China stammten erst
aus neuerer Zeit und fielen beiläufig mit der Eröffnung chinesischer
Häfen für den europäischen Handel zusammen, ist irrig. In China
wurde das Christentum schon viel früher gepredigt als in so manchem
europäischen Lande. Der Tradition nach soll sogar der Apostel Thomas
nach China gekommen sein. Sicher ist es, daß die Nestorianer dieses
große Reich zum Felde ihrer Missionsthätigkeit ausersehen haben und
schon in den ersten Jahren des sechsten Jahrhunderts, etwa um das Jahr
505, dorthin gelangten. Williams sagt in seinem großen Werke über
China u. a.: „Eines der interessantesten alten Denkmäler in China, und
gleichzeitig die älteste christliche Inschrift in Asien, rührt von
den Nestorianern her und stammt aus dem Jahre 781”. Diese Inschrift
wurde 1625 in Schang-an, einer Stadt der Provinz Schensi, entdeckt
und beschreibt die Ankunft der christlichen Missionare, sowie den
Schutz, den die chinesischen Kaiser der neuen Lehre während anderthalb
Jahrhunderten angedeihen ließen. Ein Priester, Olopun, wurde im Jahre
635 vom Kaiser in seinem Palaste empfangen, und in dem gleichen Jahre
wurde ein kaiserliches Edikt erlassen, das mit dem Satze schließt:
„Laßt den neuen Glauben freien Lauf nehmen durch das ganze Reich”.
Nachfolgende Herrscher schützten die christliche Religion, und Klöster
erhoben sich bald in hundert Städten. Zu Ende des achten und in der
ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts wetteiferten die buddhistischen
Missionare mit den Christen. Im Jahre 841 gelang es der Sekte der
Taoisten, den Kaiser zu bewegen, ein Edikt gegen den Buddhismus zu
erlassen, und mit diesem litt auch das Christentum. Kirchen und Klöster
wurden zerstört, und die Nestorianer konnten sich von diesem Schlage
nicht mehr ganz erholen. Wohl erwähnt Marco Polo noch christliche
Kirchen in China, allein es wird bezweifelt, daß sie aus der Zeit der
Nestorianer stammten. Doch gelang es im Jahre 1307 dem Pater Johannes
von Monte Corvino in Peking, oder wie es damals hieß, Khanbalik, festen
Fuß zu fassen. Papst Clement V. ernannte ihn zum Erzbischof von Peking,
und als solcher wirkte er beinahe zwei Jahrzehnte lang. Sein einziger
europäischer Gefährte war ein Deutscher, Bruder Arnold von Köln. Als
bald darauf die mongolische Dynastie gestürzt wurde, fand auch die
neubegründete Mission ein Ende.

Drei Jahrhunderte nach Marco Polo, in den Jahren 1579 und 1581,
erreichten die ersten römisch-katholischen Missionare, die Jesuiten
Michael Ruggiero und Matteo Ricci, das chinesische Reich. Von Canton
wanderte Ricci nordwärts bis nach Nanking, wo er 1610 starb. Der Kaiser
empfing ihn freundlich, und unter seinem Schutz bekehrte Ricci eine
beträchtliche Anzahl vornehmer Chinesen zum Christentum; die Tochter
eines von ihnen, in der Geschichte unter dem Namen Candida bekannt,
erbaute 39 Kirchen, ließ auf ihre Kosten 130 Bücher drucken und sandte
zahlreiche eingeborene Missionare in die Provinzen, um den neuen
Glauben zu predigen. Bald folgten den ersten Jesuitenvätern eine Anzahl
anderer, darunter die berühmten Adam Schaal, Verbiest, Regis, die unter
dem Schutz des letzten Kaisers der Mingdynastie, sowie unter den beiden
ersten Kaisern der neuen Mandschudynastie Hervorragendes leisteten. Das
astronomische Observatorium in Peking, eine Kanonengießerei und eine
Anzahl großer geographischer Werke über China legen davon noch heute
Zeugnis ab. Unter dem mächtigen Schutz des Hofes und der Regierung
machte der Katholizismus in China überaus rasche Fortschritte, bis
es aus Anlaß religiöser Fragen zum Zwiespalt zwischen dem Kaiser und
den dem Papst gehorchenden Missionaren kam. Den Chinesen leuchtete
es nicht ein, daß sie einer außerhalb Chinas residierenden höheren
Autorität als jener ihres eigenen Kaisers gehorchen sollten, und 1724
wurde ein Edikt erlassen, wodurch die Verbreitung des katholischen
Glaubens in China verboten wurde. Alle Missionare, ausgenommen einige
in Peking thätige Gelehrte, wurden des Landes verwiesen. Viele
folgten dem Befehl, andere blieben im geheimen und befestigten die
Uebergetretenen in ihrem neuen Glauben. Bis zum Jahre 1842 machte der
Katholizismus nur geringe Fortschritte. In diesem Jahre jedoch wurde
das Christentum in China durch die Verträge mit den europäischen
Mächten gestattet; zahlreiche Missionare trafen bald darauf wieder in
China ein, und heute giebt es unter den Chinesen weit über eine Million
Katholiken. Die in Hongkong erscheinende katholische Zeitschrift
„The Roman Catholic Register” gab vor kurzem folgende Statistik der
katholischen Missionen in China: 41 Bischöfe, 664 europäische und 559
chinesische Priester; gegen 2000 niedere und 34 höhere Schulen; 34
Klöster, 3000 Kirchen und Kapellen und 1092818 Bekehrte. Es kommt also
auf je 400 Chinesen ein Katholik. Neben den Schulen sind in vielen
der über alle Provinzen Chinas verbreiteten Missionen auch Hospitäler
und Waisenhäuser errichtet worden, die nicht wenig zur Bekehrung der
Chinesen beitragen. Am wirksamsten ist jedoch immer noch die Propaganda
vermittelst Zeitschriften, Büchern und Flugblättern in chinesischer
Sprache geblieben; diese stammen hauptsächlich aus der großen Druckerei
der Jesuitenmission in Zikawei, wohl die bedeutendste Druckerei in ganz
China.

Von den acht in dem Reiche der Mitte thätigen katholischen Missionen
sind jene des Pariser Seminars die zahlreichsten, mit zehn Vikariaten,
gegen 250 christlichen Missionaren und gegen 175000 Christen. Erst dann
kommt der seit 1660 in China thätige Jesuitenorden mit zwei Vikariaten,
130 Missionaren und etwa 140000 Christen. Dann schließen sich an die
Lazaristen, Franziskaner und Dominikaner, deren Mission aus dem Ende
des siebzehnten Jahrhunderts stammen; ferner das belgische Seminar,
das Mailänder Seminar seit der Mitte dieses Jahrhunderts und endlich
der Augustinerorden, der 1879 eine Mission errichtete. Als letzte kam
im Jahre 1887 die deutsche katholische Mission von Südschantung, die
binnen kurzer Zeit sehr große Erfolge erzielt hat. Bemerkenswert ist
es, daß die beiden Kathedralen von Canton und Peking zu den größten
Bauten dieser Städte gehören und daß die katholischen Missionare
vielfach die Kleidung der Chinesen und sogar den langen chinesischen
Haarzopf annehmen.

Der gewiß überraschende Erfolg der katholischen Missionen wäre nach
der Ansicht zahlreicher Katholiken in Ostasien noch großartiger, wenn
Frankreich sich nicht so auffällig als der alleinige und rechtmäßige
Beschützer aller Katholiken in Asien, vor allem in China, aufspielen
würde. Die Sache hat viel zu sehr einen politischen Beigeschmack, und
die Chinesen, die von den Franzosen schon wiederholt bekriegt worden
sind, fürchten, daß die Franzosen diesen Schutz über die Katholiken
nur als Deckmantel für politische Zwecke benützen. Ich habe das von
einflußreichen Chinesen selbst wiederholt aussprechen hören, und
sie trauen der Aufrichtigkeit der Franzosen in dieser Sache um so
weniger, als sie erfahren haben, mit welchem Eifer die Franzosen
in Frankreich selbst gegen alle katholischen Institute vorgehen.
Viel lieber sehen sie hinter Katholiken in China den Papst als die
Franzosen stehen, und es geschah wohl, um ihrem Einfluß möglichst
vorzubeugen, daß sie sich herbeiließen, einen päpstlichen Delegaten
in Peking zu empfangen. Gleichzeitig wurde aber von der obersten
Stelle das sogenannte Duldungsedikt erlassen, worin den Chinesen, die
zum Christentum übertreten, wiederholt eingeschärft wird, daß sie
dadurch nicht aufhören, Chinesen zu sein, und als solche unter dem
Schutz der eigenen Regierung stehen, der allein sie Gehorsam schuldig
sind. Von den vorgenannten Bischöfen, oder wie sie in China heißen,
apostolischen Vikaren, sind die weitaus große Mehrzahl auch Franzosen,
und zwar Jesuiten, Lazaristen oder Priester der schon 1663 gegründeten
Gesellschaft der Missions etrangères in Paris, neun Vikare sind
Italiener, der Rest verteilt sich auf Spanier und Belgier. Als im Jahre
1887 die deutsche (Steyler) Mission in Südschantung gegründet wurde,
ist dort auch ein deutscher Vikar, Bischof von Anzer thätig, und eine
der ersten Maßnahmen dieses eifrigen Mannes war es, seine Mission unter
deutschen Schutz zu stellen. Alle anderen katholischen Missionen in
China stehen auch heute noch unter französischem Schutz.

Der erste protestantische Missionar, der China besuchte, war Doktor
Robert Morrison im Jahre 1807, und er blieb bis auf den heutigen
Tag auch der verdienstvollste. Damals war der Fremdenhaß in China
so stark, daß er an ein Bekehrungswerk nicht denken konnte; dafür
unternahm er die Herausgabe eines großen chinesischen Wörterbuchs und
die Uebersetzung der ganzen Bibel ins Chinesische, Werke, die seinen
Namen für alle Sinologen unsterblich machen. Nach dem Vertrag von
Nanking 1842, in welchem Hongkong an England abgetreten und fünf Häfen
den Europäern geöffnet wurden, kamen eine Anzahl protestantischer
Missionare nach China und begannen ihre Bekehrungsthätigkeit. Damals
gab es nur sehr wenige chinesische Protestanten, kaum einige Dutzend.
Seither wurde das Reisen im ganzen Reiche freigegeben, andere Häfen
wurden eröffnet, den Missionaren der ständige Aufenthalt und die
Errichtung von Kirchen, Schulen und Spitälern in einer Reihe von
Inlandstädten gestattet. Heute giebt es nach der offiziellen Statistik
im ganzen 40 verschiedene protestantische Missionsgesellschaften,
die in fast allen Provinzen Chinas thätig sind und ein Personal
von 1300 Europäern (darunter 700 Frauen) und 1657 chinesischen
Missionaren besitzen. Während die katholischen Missionare europäischer
Abstammung größtenteils der französischen Nation angehören, sind die
protestantischen zumeist Engländer und Amerikaner, dann auch Deutsche
und Schweden. Die Zahl der zum Protestantismus bekehrten Chinesen,
Methodisten, Baptisten, Lutheraner, Presbyterianer und dergleichen
beträgt im ganzen etwa 50000. Berücksichtigt man die große Zahl der
Missionare und die Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, so entfällt auf
die Thätigkeit jedes protestantischen Missionars nicht viel mehr als
jährlich eine bekehrte Seele.

Die Ursachen dieser spärlichen Resultate zu beleuchten, ist hier
nicht der Platz. Wer darüber näheres zu erfahren wünscht, lese die
Werke der, nebenbei bemerkt, protestantischen Reisenden Cummings,
Williams, Moules, Knollys, Spencers, Percivals, Exners und anderer.
Die darin enthaltenen Ausführungen lassen es sehr wünschenswert
erscheinen, daß das ganze System der protestantischen Missionen eine
gründliche Umgestaltung erfahren möge, sollen die ungeheuren Summen,
die für Missionszwecke in China geopfert werden, wirklich wenigstens
einigermaßen Nutzen bringen.

Der frühere kaiserliche Gesandte in China, Herr v. Brandt, sagt
darüber: „Manche Widersprüche würden sich bei gemäßigterem Vorgehen
der Missionare vielleicht vermeiden oder ausgleichen lassen, aber wie
der Zelotismus der Bettelorden im siebzehnten Jahrhundert das klug
begonnene Werk der Jesuiten zerstörte, so tritt jetzt der Fanatismus
protestantischer Eiferer einer Annäherung hindernd in den Weg; es
kann nur gewünscht werden, daß das zwanzigste Jahrhundert nicht einen
Rückschlag zeitigen möge, wie das siebzehnte ihn gesehen.”

Rühmenswerte Ausnahmen bilden nach dem allgemeinen Urteil, das man in
China zu hören bekommt, die vier deutschen protestantischen Missionen,
die seit 1847 thätige Rheinische Missionsgesellschaft, die Berliner
Gesellschaft zur Beförderung evangelischer Missionen, der Allgemeine
evangelische Missionsverein und der Berliner Frauen-Missionsverein für
China. Die drei erstgenannten Missionsgesellschaften, von denen die
Berliner die größte und erfolgreichste ist, haben zusammen etwa 1500
bis 1800 chinesische Gemeindemitglieder aufzuweisen.

Herr v. Brandt sagt über die Missionen weiter: „Versucht man die
Thätigkeit der katholischen und protestantischen Missionen nach ihrer
erzieherischen Thätigkeit zu charakterisieren, so findet man, daß
die ersteren mehr Wert auf praktische, die letzteren auf geistige
Erfolge zu legen scheinen. Selbstverständlich besitzen beide besondere
Schulen und Institute für die Ausbildung der für den Priesterstand
bestimmten Chinesen, aber während in den Waisenhäusern und großen
Schulen der katholischen Missionen die Knaben mehr für die praktischen
Zwecke des Lebens vorgebildet und zu Handwerkern erzogen und die
Mädchen in allen für die künftige Hausfrau erforderlichen Gegenständen
unterrichtet werden, da die Erfahrung gelehrt hat, daß eine christliche
Frau selbst in einer heidnischen Familie einen oft zur Bekehrung
derselben führenden Einfluß auszuüben im stande ist, scheinen die
protestantischen Missionen größeren Wert auf eine wissenschaftliche
Ausbildung zu legen. Man könnte das eine als das System des ~Labora
et ora~, das andere als das des ~Ora et labora~ bezeichnen.”

Wurde von den englischen und amerikanischen Missionen bisher
irgendwo ein thatsächlicher, wenn auch verhältnismäßig nur geringer
Erfolg erzielt, so ist vor allem die Provinz Fukien zu nennen, und
hier, ebenso wie auch in den andern Provinzen, hauptsächlich unter
der Landbevölkerung, nicht in den Städten. So hat beispielsweise
die bedeutendste und hervorragendste der protestantischen
Missionsgesellschaften in China, die Christian Society in Shanghai,
wo sie eine große Missionsanstalt besitzt, während vierzigjähriger
Thätigkeit im ganzen 33 Bekehrungen erzielt. Arthur Moule, einer der
angesehensten protestantischen Missionare in China, sagt in seinem
Buche ~New China and old~, daß in dem Hauptsitze der Church
Missionary Society, also in der großen Stadt Futschau, nach elfjähriger
angestrengter Thätigkeit die Zahl der Christen sehr gering und fast gar
kein Fortschritt wahrzunehmen sei.

Knollys erzählt in seinem Buche ~English life in China~, er sei
einem Missionar begegnet, der während zwölf Jahren in China thätig war.
Auf die Frage, wieviel Bekehrungen er in dieser Zeit vorgenommen hätte,
nannte ihm der Missionar drei.

Ich selbst habe in Taingan-fu, im Herzen von Schantung, aus dem
Munde des vielleicht ältesten Missionars, ~Dr.~ Crawford, einem
Baptisten, vernommen, daß er in seiner sechsundvierzigjährigen
Thätigkeit noch keine wahre Bekehrung zu seiner Glaubenssekte
aufzuweisen hätte.

In Peking übertrug ein protestantischer Missionar während seiner
zeitweiligen Abwesenheit die Besorgung der Kirche und des
Gottesdienstes einem chinesischen Christen, an dessen vollständiger
Bekehrung er dank siebenjähriger Erfahrung mit ihm nicht zweifeln
konnte. Als der Missionar nach Peking zurückkehrte, erfuhr er, daß sein
Stellvertreter in der Kirche eine Spielhölle etabliert habe. Mir selbst
erzählte ein Prediger der christlichen Missionsgesellschaft, einmal
seine Bekehrten dabei angetroffen zu haben, wie sie ihre buddhistischen
Götzen verehrten und nach lang anhaltender Dürre um Regen baten. Als
er sie darüber zurechtwies, antworteten sie ihm: „Dein Gott hat uns
nicht geholfen, wir versuchen es jetzt mit unsern Göttern”. Wiederholt
hörte ich von Missionaren die Ansicht aussprechen, daß sich Chinesen
aus Spekulation dem Christentum zuwenden, indem sie sagen: „Buddha Gott
ist gut, christlicher Gott auch gut, zwei Stück Gott noch besser”. Eine
große Zahl Chinesen zeigen sich wenigstens äußerlich dem Christentum
nicht abgeneigt, weil sie dann Gelegenheit haben, kostenfrei die
Missionsschulen zu besuchen, die englische Sprache, Lesen, Schreiben
und andere praktische Kenntnisse sich anzueignen. Sind sie damit
fertig, so legen sie das Christentum wieder ab.

[Illustration: Mädchen im katholischen Waisenhaus bei Tsinan-fu.]

Aus diesen Beispielen, denen unzählige andere beigefügt werden könnten,
ist zu ersehen, daß die Chinesen für das Christentum im allgemeinen
bisher keine große Empfänglichkeit gezeigt haben, ja sie stehen den
Missionaren, wie überhaupt allen Fremden, feindlicher gegenüber
als jemals zuvor. Das beweisen die wiederholten Angriffe auf die
Missionen, die Zerstörung von Kirchen, Wohnhäusern und Schulen, die
Verfolgung und Niedermetzelung von Missionaren in fast allen Provinzen
des weiten Reiches. Aber man braucht daraus nicht zu folgern, daß die
Missionare den Chinesen besonders viel verhaßter sind als die übrigen
Fremden. Haben die Missionare zunächst unter dieser Fremdenverfolgung
zu leiden, so ist es vornehmlich deshalb, weil sie größtenteils mitten
im Inlande zerstreut, fern von den offenen Häfen vollständig schutzlos
leben und daher feindlichen Angriffen zu jeder Zeit ausgesetzt sind,
während die große Zahl anderer Fremder in den offenen Häfen, die dort
zeitweilig vorhandenen Kriegsschiffe und die regen Beziehungen mit
Nachbarhäfen solche Angriffe viel schwieriger machen.

Der Schutz der Fremden in China ist eine der schwierigsten Aufgaben,
welche die Mächte dort zu lösen haben, um so mehr, als es bisher
der Zentralregierung in vielen Fällen thatsächlich an der Kraft und
Möglichkeit gefehlt hat, den Fremdenschutz selbst durchzuführen. In
Bezug auf die Missionare handelt es sich dabei nicht allein um das
religiöse Moment. Was man von dem Vorgehen, der Gesittung und dem
Wesen einzelner Gruppen von Missionaren auch halten mag, es darf
nicht vergessen werden, daß die Missionare in China, gerade so wie
anderwärts, nicht nur die Pioniere des Christentums, sondern auch
die Pioniere europäischer Kultur und europäischen Handels sind. Wo
die Missionen festen Fuß gefaßt haben, da werden die Chinesen mit
europäischem Wesen vertraut, da ist es auch leichter, Handelsposten
zu gründen, und zu dem idealen kommt mit der Zeit materieller Gewinn.
Mit den Missionen stehen oder fallen die Hoffnungen, friedlichen
Eingang in das Reich der Mitte zu erzielen. Schon deshalb verdienen
und bedürfen die christlichen Missionen ohne Unterschied des Glaubens
den weitgehendsten Schutz der Mächte. Mit Parlamentieren kommt man bei
den Chinesen nicht vorwärts, eine Kanonenmündung flößt ihnen größeren
Respekt ein als alle Gesandten zusammengenommen.

Seit 1891 sind in China, besonders im Stromgebiet des Jangtsekiang,
Dutzende von Missionen zerstört und zahlreiche Missionare ermordet
worden; diese Gewaltthaten vermehrten sich noch seit dem Abschluß des
chinesisch-japanischen Krieges und erreichten ihren Höhepunkt in dem
Ausbruch des Aufstandes in der Provinz Fukien, ja es hat den Anschein,
als ob der Feldzug gegen die Missionen in einer Reihe von Provinzen
systematisch betrieben würde.

Die englischen Blätter von Shanghai, Tientsin und Hongkong enthalten
seit Jahren fast in jeder Woche Berichte über Christenverfolgungen, die
sich nicht allein auf die europäischen Missionen beschränken, sondern
auch gegen die chinesischen Christen gerichtet sind. Besonders hat man
es dabei auf ansässige Missionare und ihre Niederlassungen in größeren
Städten abgesehen, also gerade dort, wo sich Behörden und Garnisonen
befinden.

[Illustration: Inneres des Taischantempels in Taingan-fu.]

Als hervorragendstes Beispiel der letzten Jahre können die Gewaltthaten
in der Provinz Szetschuen im oberen Stromgebiet des Jangtsekiang an
der tibetanischen Grenze gelten. Dort waren seit Jahren etwa dreißig
katholische und protestantische Missionen thätig, mit eigenen Kirchen,
Kapellen, Hospitälern und Schulen und über zweihundert Missionaren.
In der Hauptstadt von Szetschuen, Tscheng-tu, befanden sich elf
Missionen, und die katholische Mission war gleichzeitig der Sitz des
Bischofs Dunand. Seit dem letzten Maitage des Jahres 1895 sind diese
Missionen vom Erdboden verschwunden, mit ihnen wurden auch andere
Missionen in den Provinzstädten zerstört, die Missionare angegriffen,
verwundet und gewaltsam vertrieben. Der eigentliche Anstifter war kein
anderer als der damalige Vicekönig der Provinz, Li-ping-Tschang, ein
fanatischer Fremdenhasser. Während seiner neunjährigen Regierung hat er
der Verbreitung des Christentums und europäischer Ideen unaufhörlich
Schwierigkeiten in den Weg gelegt, und seinem Widerstand ist es
zuzuschreiben, daß der obere Jangtsekiang für die Dampfschiffahrt so
lange Zeit nicht freigegeben wurde.

Auch in Schansi, Yünnan, Hunan und Kiangsi gärt es fortwährend unter
den Christenfeinden, und was Schantung betrifft, so fanden die
Christenverfolgungen nach der Ermordung der deutschen Missionare Nieß
und Henle nur eine zeitweilige Unterbrechung durch das energische
Auftreten der Deutschen. Wagt man es nicht, den Europäern selbst
entgegenzutreten, so wird die einheimische Bevölkerung gegen den
Christenglauben aufgehetzt und die Wut der Leute auf die chinesischen
Christen gelenkt. Auffällig war es bei all den Angriffen auf
die christlichen Missionen, daß sie in verschiedenen Provinzen
fast gleichzeitig vorfielen, und daß nach jeder Greuelthat die
Telegraphenleitungen zwischen den betreffenden Provinzen und Peking
oder Shanghai unterbrochen wurden. Erst nachdem den Ministern in Peking
von seiten der fremden Vertreter energisch zu Leibe gegangen worden,
waren die Telegraphen rasch wieder in Ordnung. Ebenso auffällig ist es,
daß die Edikte zur Beschützung des Christentums, zur Bestrafung von
Gouverneuren und Beamten, welche diese Beschützung unterlassen hatten,
zur Auszahlung von Schadenersatz und dergleichen sehr selten in die
Pekinger Regierungszeitung kommen. Man hat die Regierung deshalb stark
in Verdacht, daß sie gegenüber den fremden Vertretern ein doppeltes
Spiel treibt und indirekt die Ausschreitungen gegen Christentum und
Fremdlinge duldet. Von seiten vieler Mandarine geschieht dies, wie
allgemein anerkannt, ziemlich offen.

Der Grund davon liegt teils darin, daß die Mandarine fürchten,
durch das Ueberhandnehmen der christlichen Kultur und des fremden
Einflusses ihren Halt am Volk zu verlieren, teils darin, daß sie sich
dem Fremdenhaß der Geheimbündler nicht offen gegenüberstellen wollen;
wissen sie doch, daß ein Widerstand der geheimen Hunggesellschaft oder
den Vegetarianern gegenüber die schlimmsten Folgen für sie selbst
hätte. Deshalb hüten sie sich auch, selbst wenn ihnen die wahren
Missethäter bekannt wären, sich an ihnen zu vergreifen. Um den Befehlen
der Pekinger Regierung und den Anforderungen der fremden Vertreter
Genüge zu thun, werden ein paar ganz unschuldige Menschen oder im
letzten Fall ein paar Sträflinge aus den Gefängnissen um einen Kopf
kürzer gemacht, die als Schadenersatz erforderlichen Summen vom Volke
erpreßt, und die Sache ist erledigt. So ist es während der letzten
Jahrzehnte gegangen, so wird es auch in Zukunft gehen, wenn nicht von
seiten der Mächte ganz andere Schritte unternommen werden als bisher.
Es genügt nicht, daß die Chinesen für jede zerstörte Mission, für
den Kopf jedes ermordeten Missionars eine bestimmte Summe zu zahlen
haben; es geht nicht, daß die Schuldigen straflos ausgehen und ein paar
Unschuldige dafür ins Gras beißen. Es handelt sich nicht allein um das
Leben des Missionars als einzelnen Menschen, das durch eine gewisse
Summe gewissermaßen erkauft werden kann. Den Mandarinen würde dies
dann immer ein, allerdings kostspieliger, Spaß bleiben, aber immerhin
ein Spaß, den sie sich mit irgend einem Missionar heute oder morgen
erlauben dürften. In Peking allein ist diesen elenden Verhältnissen
durch Proteste der Vertreter und energisches Einschreiten derselben
nicht abzuhelfen. Da die Regierung, wie gesagt, nicht immer die Macht
oder Mittel hat, die Verbrecher exemplarisch zu bestrafen, so kann dies
nur durch die Mächte geschehen.

Der Jangtsekiang, diese Hanptverkehrsroute Chinas, ist bis über
Tschungking, also bis nahe an die tibetanische Grenze für kleinere
Dampfer schiffbar, im Jahre 1899 wurde sogar eine deutsche Dampferlinie
auf dieser Wasserstraße eingerichtet, und zeitweilig fahren auch
englische, französische und deutsche Kriegsschiffe bis Hankau. Nützen
die Proteste der Mächte zum Schutze der Missionare nichts, dann
brauchen sich die Mächte auch nicht um etwaige Proteste der Chinesen
gegen ein Vordringen der Kriegsschiffe bis Itschang und Tschungking
zu scheren. Und wurden ägyptische, tunesische und marokkanische
Häfen bombardiert, so braucht man vor den chinesischen nicht stille
zu halten. Die Chinesen müssen vor dem Europäer Respekt bekommen
und durch Schaden erfahren, daß er und sein Eigentum durch Kanonen
geschützt wird. Allgemein wird in ganz China, ja in ganz Ostasien, ein
gemeinschaftliches Auftreten der Mächte gefordert und die Flußpolizei
auf dem Jangtse verlangt. Wäre in Tschungking ein Kanonenboot vor
Anker gelegen, so hätten es sich die Chinesen wohl kaum einfallen
lassen, die Missionen in Tscheng-tu anzugreifen, und wären nur hundert
europäische Marinesoldaten von Futschau landeinwärts marschiert, mit
dem Brennen und Morden in den Fukien-Missionen wäre sofort eingehalten
worden. Einen ernstlichen Widerstand hätten die mit Bogen, Pfeilen und
Feuersteingewehren bewaffneten chinesischen Soldaten in den Provinzen
des Innern gewiß nicht geleistet. Allgemein wird auch ein kräftiges
Einschreiten in Peking zur endlichen Anlage von Eisenbahnen verlangt,
die vor allem andern der Zentralregierung in Peking selbst vom
allergrößten Nutzen wäre. Nur mit Eisenbahnen kann das Land regiert
werden, durch Eisenbahnen können Aufstände im Keime rasch unterdrückt,
die Zentralgewalt des Kaisers befestigt werden. Diese Erfahrungen
wurden ja in einer Anzahl anderer Länder gemacht, zuletzt in Mexiko.
Vor der Aera der Eisenbahnen verging kein Jahr ohne Pronunciamento,
ohne Revolution. Seitdem das Eisenbahnnetz von Amerikanern hergestellt
wurde, reicht der Arm der Zentralregierung bis in entfernte Winkel des
Aztekenreiches. Dasselbe würde in China geschehen, dann erst wären
die Mandarine sofort am Kragen zu fassen, dann Ordnung im Lande zu
erhalten. ~Last, not least~ würden die Eisenbahnen die ungeheuren
Schätze Chinas eröffnen, den Missionen und Handelsleuten und damit dem
europäischen Handelsverkehr und Export Schutz und Förderung gewähren.
Kräftiges, gemeinsames Auftreten in Peking, Kriegsschiffe auf den
Flüssen und in Tientsin würden den Widerstand der starren Mandarine
wohl brechen. Freilich kosten derlei Expeditionen Geld, allein die
Summen sind verschwindend im Verhältnis zu dem Nutzen, welcher Europa
durch die Eröffnung des chinesischen Reiches in den Schoß fiele.
Vor einigen Jahrzehnten, im Jahre 1853, waren es die amerikanischen
Kriegsschiffe, welche, mit ihrem wackern Commodore Perry an der Spitze,
auf dieselbe Weise die Eröffnung von Japan erzwangen. Wenige Schiffe
mit ein paar hundert Mann haben dazu hingereicht, der Welt ein großes
asiatisches Reich zu erschließen. Haben wir seither keine Fortschritte
gemacht? Haben die vereinten Großmächte nicht die Mittel und die
Kraft, dieselbe Prozedur mit China vorzunehmen? Ist kein Perry mehr
da? Mit christlicher Liebe allein ist noch kein orientalisches Reich
den Europäern geöffnet worden. Immer und überall mußte die Gewalt
mitsprechen. Die alten, erstarrten, den Fremden trotzenden Mächte sind
wie Austern. Man muß sie mit Gewalt öffnen, dann sind sie tot und
können von den Europäern verspeist werden.



Verkehrswege im Innern von China.


Um sich eine Vorstellung von den Schwierigkeiten des Reisens in China
zu machen, muß man sich zunächst vor Augen halten, daß es im ganzen
chinesischen Reiche keine Straßen, keine fahrbaren Wege nach unseren
Begriffen giebt. Wohl sind in früheren Jahrhunderten (man könnte von
Jahrtausenden sprechen) einzelne sogenannte Kaiserstraßen angelegt
worden, die in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens besser gebaut
waren als unsere Chausseen. Dieser Straßenbau erfolgte aber in vielen
Fällen nicht etwa, um den Bedürfnissen des Verkehrs zu entsprechen,
sondern nur auf Routen, welche die Kaiser des Reiches zu bereisen
beabsichtigten. Als beispielsweise die Residenz von Peking nach
Nanking und ein paar Jahrhunderte später wieder von Nanking nach
Peking verlegt wurde, baute man zwischen diesen beiden Städten quer
durch die Provinzen Kiangsu, Schantung und Petschili eine vorzügliche
Straße, deren Spuren ich vom Jangtsekiang nach Norden an verschiedenen
Stellen begegnet bin. So z. B. in der Nähe von Yangtschou, der früheren
Hauptstadt des längst vergangenen Yangreiches, in welcher vor mehr als
siebenhundert Jahren der berühmte Venetianer Marco Polo drei Jahre lang
Gouverneur war. Dann wieder in verschiedenen Teilen von Westschantung,
wo mir stellenweise die großen, durch eine Art Zement miteinander
verbundenen Steinquader die Richtung der einstigen Kaiserstraße
anzeigten. In China werden, wie schon früher erwähnt, Pagoden und
Tempel, Wohnhäuser, Straßen und Brücken selten ausgebessert; einmal
gebaut, bleiben sie sich selbst überlassen. Geschieht es zeitweilig
doch, dann sind es weniger die Mandarine, die dafür Geld opfern,
sondern die Bürger der an der Verkehrsroute liegenden Ortschaften,
die es als wohlthätiges Werk betrachten und gewöhnlich an den Brücken
oder Wegstrecken, welche sie auf ihre Kosten ausbessern lassen,
womöglich schon vor der Ausbesserung eine Steintafel aufstellen, auf
welcher in großen Lettern ihre Namen und ihre That verewigt sind.
Nur wenn ein Provinzgouverneur oder gar der Kaiser (was freilich
schon jahrzehntelang nicht mehr geschehen ist) eine Reise durch ein
bestimmtes Gebiet unternehmen soll, dann werden die Wege durch die
Mandarine in die schönste Ordnung gebracht. Alle zehn Jahre reist
beispielsweise der Kaiser oder ein Prinz als sein Stellvertreter von
der Hauptstadt durch Petschili und die chinesische Mandschurei nach
Mukden, um dort nach altem Herkommen an den Gräbern seiner Vorfahren
zu opfern. Ungeheure Summen werden dann angewendet, um den elenden
Weg mit Steinen zu pflastern, alle Unebenheiten auszufüllen und das
ganze Straßenbett mit gelbem Sand zu überschütten. Alle Dörfer und
Städte längs der ganzen Strecke werden bis auf den letzten Heller
gebrandschatzt. Von sieben zu sieben Kilometern werden längs der Straße
Pavillons als Rastorte errichtet und mit den kostbarsten Seidenstoffen
und Stickereien ausgeschmückt. Selbst wenn der Kaiser nicht in eigener
Person die Wallfahrt unternimmt, sondern an seiner Statt nur sein
Bildnis nach Mukden schickt, muß dies geschehen. Auf der jüngsten
Flucht des Kaiserhofes von Peking nach dem Westen waren die Straßen
gewiß in schönster Ordnung. Der Telegraph mußte spielen, Meldereiter
wurden vorausgesandt, um den Mandarinen das hohe Glück zu verkünden,
daß die Kaiserin in nächster Zeit passieren würde, und die Mandarine
preßten die Bevölkerung in den Dienst, um die Wege in aller Eile
herzurichten. Leider finden aber diese Reisen des Kaiserhofes und der
hohen Excellenzen nur zu selten statt, und deshalb spotten die Wege in
den meisten Gegenden jeder Beschreibung. Stieß ich bei meinen Fahrten
auf Teile der Kaiserstraßen, dann wich ich ihnen sorgfältig aus und
zog mit meiner Karawane gewöhnlich rechts oder links in die Felder,
denn die alten Granitquader haben sich an vielen Stellen gesenkt,
ein Block steht einen Fuß unter, der nächste oder zweitnächste um
einen Fuß über dem anderen. Streckenweise fehlten sie ganz, und tiefe
Löcher traten an ihre Stelle. Diese Straße zu benutzen, hätte meinen
federlosen Karren wohl die Räder und Achsen, meinen Zugtieren die Beine
gekostet. Und doch haben Straßen das chinesische Reich durchzogen, als
die ägyptischen Pyramiden noch nicht gebaut waren. Kaiser Hwang-Li, der
eigentliche Gründer des Reiches war es, der zuerst im Jahre 2640 vor
Christi Geburt, also vor etwa viereinhalb Jahrtausenden, gepflasterte
Straßen nach allen Großstädten anlegen ließ. Wäre seinem Beispiel doch
nur von einigen seiner Nachfolger gefolgt worden!

Im nördlichen Teile Chinas sind Landwege (Straßen kann man diese über
Stock und Stein führenden Routen nicht nennen) viel häufiger als
südlich des Jangtsekiang, denn im Norden giebt es viel weniger Flüsse
und Kanäle. Wären solche vorhanden, dann gäbe es keine Landwege,
denn der Chinese benutzt, wo immer möglich, nur Wasserwege. Selbst
Großstädte sind untereinander nur durch solche, für Karren kaum
benutzbare Wege miteinander verbunden, und ein europäischer Reisewagen
könnte auf keiner Straße in China zehn Kilometer zurücklegen, ohne daß
die Achsen brechen würden. Am besten sind die Wege auf ebenem Boden
und in den Alluvialgebieten von Westschantung und Petschili. Dort
giebt es keine Steine; wo in der Nähe von Städten die Wege mit Steinen
gepflastert waren, sind die letzteren längst von der Bevölkerung zum
Hausbau weggenommen worden, was dem Reisenden keineswegs unangenehm
ist, denn, wie bemerkt, haben die chinesischen Reisekarren keine
Federn. Der Wagenkasten, einem großen, nach vorne offenen Reisekoffer
ähnlich, sitzt direkt auf der schweren Holzachse zwischen den beiden
Rädern, und man kann sich lebhaft vorstellen, welche Reiseeindrücke
man auf holperigen Steinstraßen von unten hinauf erhält, zumal der
Wagenkasten keine Sitze hat. Der Reisende kriecht von der Gabeldeichsel
aus auf allen Vieren in den Karren und nimmt direkt auf dem nackten
Holzboden Platz.

Wo keine Straßenpflasterung vorhanden ist, sind die zwischen den
Feldern sich dahinschlängelnden, viel gewundenen Wege in der trockenen
Jahreszeit natürlich mit knietiefem Staub, in der nassen Jahreszeit
mit eben so tiefem dünnflüssigen Kot gefüllt, man fährt also ziemlich
weich dahin, hat aber dafür nach einer Stunde Fahrt eine fingerdicke
Schicht Staub oder Straßenkot auf dem Leibe und den Augen, Nase
und Lunge damit halb verklebt. Stellenweise sind längs der großen
Verkehrsrouten schattige Bäume vorhanden, die einzige Labsal während
der ermüdenden, anstrengenden Reisen. In bevölkerten Gegenden reist
man im allgemeinen ziemlich sicher, in einsameren wird der Reisende
nur zu häufig von Räubern angehalten, besonders im Hochsommer, wenn
der Sorghum auf den Feldern zu beiden Seiten des Weges zu Manneshöhe
gewachsen ist und die Wegelagerer vollständig gedeckt sind und ohne
jede Gefahr für sich ihrem einträglichen Beruf nachkommen können. Der
fremde Reisende, welcher das Glück hat, einen kaiserlichen Reisepaß
zu erhalten und überdies an die hohen Mandarine empfohlen ist, erhält
gewöhnlich von den Mandarinen der Ortschaften, die er passiert, eine
Anzahl Soldaten als Schutz, aber ich verließ mich wenig auf meine
überdies nur mit Stöcken oder alten ungeladenen Pistolen bewaffnete
Begleitmannschaft, sondern hielt meinen Revolver schußbereit. In
einsameren Gegenden, sowie auf den sogenannten kaiserlichen Hauptrouten
sind die Wege durch eine Art Landjäger bewacht, oder sollen es
wenigstens sein. Auf Hunderten von Kilometern, die ich diese Straßen
entlang gewandert bin, sah ich trotz dem vielen Raubgesindel, das
die Gegend dort unsicher machte, nicht einen einzigen Soldaten;
doch sagte man mir, die Wachthäuser, die sich alle zwei Kilometer
neben der Straße erheben, wären zur Nachtzeit von mehreren Soldaten
besetzt. Wozu, ist mir nicht klar geworden, denn der Chinese reist
zur Nachtzeit nicht, es ist also auch niemand zu beschützen. Diese
Wachthäuser sind eine charakteristische Beigabe der Kaiserstraßen.
In den Ueberschwemmungsgebieten des Hoangho stehen sie auf drei bis
fünf Meter hohen Erdpyramiden und zeigen nach der Straßenseite eine
von einer Mauer umsäumte Veranda, in anderen Gegenden stehen sie
in gleicher Höhe mit dem Straßenboden, und von ihren Ecken laufen
diagonal zwei mannshohe, mehrere Meter lange Lehmwände aus, wie
Schutzleder für Pferdeaugen. Ihren Zweck konnte ich nicht erfahren. Die
weißgestrichenen Mauern tragen in riesigen schwarzen Schriftzeichen
die Bezeichnung „Wachthaus für Straßenpolizei”. Das Innere dieser
Häuschen ist jeder Einrichtung bar, nicht einmal Strohmatten liegen
auf dem Boden, dafür zeigen sich gewöhnlich viele Beweise, daß diese
Regierungsbauten von den Passanten für Zwecke benutzt werden, zu denen
man gewöhnlich die Einsamkeit und Dunkelheit aufsucht.

Wo Flüsse und Bäche zu überschreiten sind, giebt es an den
Kaiserstraßen überall Brücken, die meisten aus Steinquadern mit
riesigen Pfeilern erbaut, aber mit so holperigem steinernen Pflaster
auf dem Brückenbett, daß die Reisenden zur Sicherung der Körperteile,
auf denen sie sitzen, die federlosen Karren zu verlassen pflegen.
Viele Brücken sind eingestürzt, und neben den Ruinen hat irgend ein
unternehmender Chinese aus Bambusstangen und Reisstroh eine fliegende
Brücke angelegt, für deren Passierung er von dem Reisenden einen
kleinen Betrag erhebt. Freilich senkt sich diese Brücke zuweilen bis
in das Wasser, oder ein schwerer Karren bricht mit den Rädern durch
das Strohbett, aber wer hinüber will, muß sich eben dieser Gefahr
aussetzen. Sind die Flüsse tief genug, dann treten an die Stelle
solcher Brücken Fährboote. Auf großen Verkehrsrouten machen die
Eigentümer derselben vortreffliche Geschäfte, und zuweilen fand ich an
beiden Ufern Dutzende von Karren, Hunderte von Reisenden mit Pferden
und Maultieren auf die Beförderung an das jenseitige Ufer wartend.
Sobald ich aber mit meiner, nur einem hohen Mandarin gebührenden
Begleitmannschaft erschien, mußte alles Platz machen, und ich hatte
den Vorzug, mit der ganzen Reisekarawane allein sofort übergesetzt
zu werden, ohne daß man eine Zahlung von mir begehrte. Ich leistete
sie indessen doch in allen Fällen. Mandarine sind nämlich in China
die größten Freiberger. Sie haben überall den Vortritt, und alle
Verkehrseinrichtungen, sogar der Aufenthalt in den Mandarinsyamen der
verschiedenen Städte, in denen sie übernachten, sind frei, während
der Ortsmandarin verpflichtet ist, sie und ihr Gefolge zu verpflegen.
Natürlich thun sie das auch nicht aus eigener Tasche, sondern das Volk
muß herhalten.

Die gewöhnlichen Reisenden werden auf die verschiedensten Arten
ausgebeutet. So traf ich beispielsweise an dem Westschantung
durchfließenden Tawönho, über welchen mein Weg mich nach dem
Kaiserkanal führte, keine Brücke und keine Fährboote, sondern nur
eine Furt. Am Ufer lagerten einige zwanzig junge Burschen, welche ein
Geschäft daraus machen, für einige Kupfermünzen Zahlung die Reisenden
durch die gelben trüben Fluten zu führen. Damit ihnen dieser Verdienst
nicht entgehe, graben sie an verschiedenen Stellen des Flußbettes unter
dem Wasser tiefe Löcher und lassen nur eine schmale, ihnen allein
bekannte Furt frei. Würde es einem Reisenden einfallen, den Fluß ohne
ihre Führung zu durchschreiten, so ist zwei gegen eins zu wetten, daß
er in eines dieser Löcher fällt, und dann muß er erst recht die Hilfe
der Burschen in Anspruch nehmen, um für zehnfache Zahlung seinen Karren
wieder herauszuziehen.

Ueber den ganzen Unterlauf des Hoangho giebt es keine einzige Brücke.
Die letzte Brücke befindet sich bei der alten Kaiserstadt Kaifung.

Angenehmer als auf den Kaiserstraßen reist man auf den gewöhnlichen
Landwegen, welche die nördlichen Provinzen durchziehen, aber
wohlverstanden nur im Frühjahr und Herbst, denn zu anderen Zeiten
stehen diese Wege unter Wasser oder sind mit knietiefem Staub bedeckt.
Sie sind wenigstens nicht gepflastert und weisen auch nicht so viele
Verkehrsstockungen durch Kamel- und Karrenkarawanen auf, die sich
gewöhnlich den Hauptspaß machen, mitten auf den Straßen ihre Rasten
zu halten. Ehe die Karren, Waren, schlafenden Tiere und Menschen
aus dem Wege geräumt sind, vergeht geraume Zeit. Schlimm werden
die Reiseverhältnisse, wenn man die Provinzen Anhuei, Kiangsu und
Ostschantung verläßt und am unteren Hoangho das ungeheure Lößgebiet
betritt, welches, stellenweise schon in Westschantung auftretend, den
größten Teil von Schensi, Schansi und Honan umfaßt, ja auch noch viele
Tausende Quadratkilometer der westlichen Mongolei einnimmt. Ich stieß
auf die ersten Lößmassen am Nordostfuß der Gebirge von Mittelschantung.
Karrenräder und Pferdehufe reißen den trockenen, aus feinstem Sand und
Erdteilchen bestehenden Boden auf, und der Wind trägt die gelockerte,
staubige Schicht fort; kommen Regengüsse, so fließt das Wasser durch
den tiefen Wegeinschnitt ab und wäscht diesen noch tiefer. Wird das
während Jahrtausenden fortgesetzt, wie es in China der Fall war, so
wird aus dem ursprünglich im gleichen Niveau mit der Ebene liegenden
Wege eine enge tiefe Schlucht mit senkrechten Wänden auf beiden
Seiten. Die Dörfer, Felder, Gärten sind oben, die Wege fünf, zehn,
zwanzig und mehr Meter tief unter ihnen. Wo die Lößschichten nicht so
stark und die Wege demgemäß nicht so tief eingesunken sind, pflegen
Fußgänger diesen, auch noch mit knietiefem, gelbem Staub gefüllten
Wegschluchten auszuweichen und oben den Rand derselben entlang zu
wandern. Schubkarren, Maultierkarren und Reiter aber müssen durch diese
Schluchten, die mitunter viele Kilometer lang sind und nur wenige
Unterbrechungen oder Erweiterungen zeigen. Dabei sind die Wegschluchten
mit ihren senkrecht aufstrebenden kahlen Lößwänden unten kaum zwei
Meter breit. Kommen zwei Karren in entgegengesetzter Richtung gefahren
oder auch nur Lastschubkarren, so können sie einander nicht ausweichen.
Hier lernte ich zum erstenmal den Wert meiner sonst wenig nützenden
Soldatenbegleitung recht kennen; denn kamen wir zu einer derartigen
Wegschlucht, so ritt einer der Soldaten rasch voraus, um die etwa
entgegenkommenden Karren vor dem Einfahren in die Schlucht zu warnen.
Mitunter kam aber dieser bezopfte Vortrab zu spät, eine ganze Kolonne
von Lastkarren war bereits eingefahren, und dann galt es für uns, in
diesen backofenheißen, staubigen, sonnigen, trockenen Schluchten zu
warten, bis die Kutscher ihre Zugtiere ausgespannt, mit unsäglicher
Mühe und Gefahr aus den senkrechten Wänden eine kleine Höhlung gegraben
hatten, um die Tiere zurückführen und hinten wieder an die Karren
spannen zu können. Nun konnten sie die Karren wieder aus der Schlucht
heraus bis zur nächsten Ausweichestelle führen, und der Weg war für
meine Karawane frei. Keiner wagte es, darüber sich aufzuhalten; sobald
sie die nur durch ihre roten oder blauen Kittel erkennbaren, zuweilen
ganz unbewaffneten Soldaten gewahrten, gehorchten sie ohne Widerrede.

Um diese höchst beschwerlichen und zeitraubenden Unterbrechungen zu
verhindern, pflegen die Kutscher beim Einfahren in die Schluchten mit
ihren langen Peitschen zu knallen und laute, langgezogene Warnungsrufe
erschallen zu lassen. Mitunter hören sie einander auch deutlich, aber
einer hofft auf die Nachgiebigkeit des anderen, beide fahren darauf
los, bis sie einander auf der Nase sitzen. Dann geht das Geschimpfe und
das Geschrei los, aber was macht’s? Die Chinesen haben ja Zeit, und
kommen sie nicht heute ans Ziel, so doch morgen.

Viel tiefer eingeschnitten sind die Wege in Schansi und Honan,
und dabei sind sie viele Tausende von Kilometern die einzigen
Verkehrsrouten. In den senkrechten Lößwänden, zwischen denen man
über sich nur einen schmalen Himmelsstreifen wahrnimmt, giebt es
sogar Wohnungen der Landleute, Hotels, Tempel und Götzenschreine. Die
Leute graben sich lange Galerien, die sie als Wohnzimmer, Küchen und
Vorratskammern einrichten, die Reisenden müssen in ähnlichen Höhlen
einkehren, die sie mit ihren Dienern und Zugtieren teilen. In manchen
Gebieten haben die Lößablagerungen, welche ein Flußthal, und damit
auch eine Stadt, von dem nächsten Flußthal mit dem Reiseziele trennen,
Hunderte von Kilometern Ausdehnung, und einmal in der Wegschlucht,
kann man nicht wieder heraus, ausgenommen auf steilen Pfaden, die
sich gewöhnlich am Zusammenfluß zweier Schluchten die senkrechten
Lößwände hinanschlängeln. Man kann unter diesen Umständen begreifen,
warum einflußreiche Mandarine schon lange darauf hinwirken, die
Kaiserresidenz von dem für Europäer leicht erreichbaren Peking mitten
in die Lößgebiete nach dem alten Singanfu zu verlegen. Dort wäre die
Regierung der Beeinflussung durch europäische Kriegsschiffe und Kanonen
entrückt, dorthin kann niemals ein europäisches Heer gelangen, und die
Mandarine könnten nach Belieben schalten und walten. Engpässe wie die
Lößwege von Schansi und Honan habe ich nur noch im nördlichen Arizona
gefunden. Eine geringe Anzahl Leute genügt, um auch der stärksten Armee
den Durchgang zu wehren, und aus diesem Grunde allein schon wäre es
einem Heere unmöglich, auf der Route durch Schansi und Honan gegen
Singanfu vorzugehen.

Während sich der ungemein lebhafte Verkehr zwischen den großen
Städten und Handelsmittelpunkten nördlich des Jangtsekiangs auf den
geschilderten Landwegen abwickelt, findet der weitaus größte Verkehr in
den südlich des Jangtsekiangs gelegenen Provinzen auf dem Wasser statt.
Der Chinese benützt Flüsse und Kanäle in viel größerem Maße, als es
in Europa der Fall ist. Schon Kaiser Hwang-ti, unter dessen Regierung
die Chinesen, lange vor den Phöniziern, zum erstenmal die offene See
befuhren, ließ vor 4500 Jahren ein ausgebreitetes Netz von Kanälen
anlegen, und dieses wurde im Laufe der Zeiten vervollständigt, wo immer
sich nur eine Gelegenheit darbot. Im Süden des Reiches, vornehmlich
in Kwangtung, sind die Flüsse die Hauptstraßen, und Straßen auf dem
Festlande wurden dort nicht als Verbindungen zwischen Handelszentren,
sondern zwischen zwei nicht durch Kanäle zu verbindenden Wasserstraßen
angelegt. Das südliche China ähnelt mit seinen Wasserstraßen Holland.
Diese gewöhnlich nur kurzen Landwege sind im Süden in viel besserer
Verfassung als im Norden, und selbst Pfade im Hinterlande sind zuweilen
mit großen Granitplatten gepflastert, die durch eine Art Zement
miteinander verbunden sind. Am auffälligsten zeigt sich das Gewirr
von Kanälen dem Reisenden im südlichen Kiangsu und in Tschekiang, im
Gebiet der großen Handelsstädte Sutschau und Hangtschau. Fast der
gesamte Handels- und Personenverkehr spielt sich auf den Kanälen
und Flüssen ab. Ist die Wasserreise auch zeitraubender, so ist sie
doch unvergleichlich wohlfeiler als der Landverkehr, und das ist ein
Umstand, der bei den vielen Eisenbahnprojekten eine viel viel zu
wenig berücksichtigte Rolle spielt. Gewinnsüchtige Unternehmer in
Europa haben für den Süden Chinas ein ganzes Netz von Eisenbahnen
ausgeheckt, aber sie sollten die Sache doch eingehender prüfen, ehe
sie das europäische Kapital zur Beteiligung einladen. Bei einem so
ausgebreiteten Kanalverkehr ist der Unterschied in den Transportkosten
zwischen Eisenbahn und Wasser ein so gewaltiger, daß er für die
Chinesen die Vorteile einer schnelleren Beförderung weitaus aufwiegt.
Ueberdies wären über dieses Netzwerk von Kanälen so viele Brücken zu
bauen, in dem weichen Boden so kostspielige Fundierungen vorzunehmen,
daß die Kapitalsanlage in vielen Fällen kaum eine entsprechende
Verzinsung finden würde. Deshalb ist unter anderen auch Hongkong mit
der Zweimillionenstadt Canton noch durch keine Eisenbahn verbunden.

Anders liegen die Verhältnisse im Norden, vornehmlich in Schantung
und Petschili, und dementsprechend sind auch die meisten, ja fast
einzigen Bahnen bisher nur in diesen Provinzen zur Ausführung
gekommen. In Schantung giebt es so gut wie keine Wasserwege, der sehr
bedeutende Verkehr steht im Zeichen des Schubkarrens und Packesels,
und dort werden sich die im Bau begriffenen Eisenbahnen, zunächst
jene von Tsingtau nach Tsinanfu, vortrefflich lohnen. Dabei kommt
ihnen der Umstand zu statten, daß es sozusagen dort, wie bemerkt,
gar keine Straßen giebt und die Mandarine sich im allgemeinen um die
Verkehrswege nicht im mindesten kümmern. Freilich ist ungeachtet
der elenden Verkehrsverhältnisse das Reisen in Schantung doch sehr
wohlfeil. Warentransporte kosten durchschnittlich für je 100 Li und
100 Kattie (= 1 Pikul = 60½ Kilogramm) 50 bis 70 Pfennig. So z. B.
kostet der Transport von Tsinanfu nach Peking, etwa 1000 Li (nahe an
500 Kilometer), 5 Mark für den Pikul. Die Kosten eines Karrens oder
einer der in Ostschantung gebräuchlichen, von Maultieren getragenen
Sänften, Schen-tze genannt, belaufen sich für den Tag auf 3 Mark, und
damit kann der Reisende täglich 60 bis 70 Kilometer zurücklegen. Werden
auf den neuen Bahnen in Schantung dieselben Fahrpreise gerechnet wie
in Deutschland, etwa 6 Pfennig der Kilometer in zweiter Klasse und
4 Pfennig in dritter Klasse, so würden sich die Transportkosten bei
einer Tagesreise von etwa 400 Kilometer auf 24 resp. 16 Mark stellen.
Die Reise im Karren würde auf derselben Strecke etwa 20 Mark kosten,
aber eine Woche Zeit in Anspruch nehmen, so daß die Chinesen wohl die
Eisenbahn vorziehen würden.

Im ganzen sind bis heute in China gegen 450 Kilometer Eisenbahnen in
Betrieb. Die längste ist die von Tientsin über Tongschan und Tongku
nach Schanhaikwan an der großen Mauer führende Bahn mit 214 englischen
Meilen. Eine zweite Bahn läuft von Taku über Tientsin nach Peking, eine
dritte von 80 englischen Meilen Länge von Peking nach Pautingfu. Die
Fahrgeschwindigkeit beträgt auf diesen Bahnen nur 20 englische Meilen
in der Stunde. Sonst giebt es in China nur noch die Bahn von Woosung
nach Shanghai und eine kurze Kohlenbahn am Jangtsekiang. Die Bahn von
Peking nach Pautingfu soll von einer belgischen Gesellschaft durch
Schansi nach Kaifung und von dort nach Hankau verlängert werden. Kommt
sie zu stande, dann öffnen die glänzenden Stahlschienen wie mit einer
Lanzette das Herz des chinesischen Reiches, dann ist Honan und damit
auch Singanfu leicht erreichbar, in Berührung mit der abendländischen
Welt. Aber bis dahin wird noch eine lange, sehr lange Zeit vergehen.
Die Chinesen werden noch viele Jahre fortfahren, ihre bisherigen
Verkehrsmittel anzuwenden, und ob sie die Eisenbahn durch Schansi und
Honan, wenn sie einmal gebaut ist, auch so rasch benutzen werden, ist
noch fraglich.

In Honan, wo ähnlich wie in Schantung der Transport vielfach mit
Schubkarren erfolgt, kostet ein solcher mit einem Mann 50 bis 80
Pfennig, bei einer täglichen Durchschnittsfahrt von 30 Kilometer;
ein Ochsenwagen, der dieselbe Strecke zurücklegt, kostet je nach der
Beschaffenheit der Straße 2 bis 3 Mark täglich. Der Preis eines mit
zwei Maultieren bespannten Karrens vom Jangtsekiang bis Peking kostet
einschließlich der Unterkunft und Mahlzeiten 70 bis 80 Mark. Die etwa
1000 Kilometer lange Strecke wird in zwei bis drei Wochen zurückgelegt.
Bei diesen Verhältnissen ist es zweifelhaft, ob eine Bahn in Honan,
die unverhältnismäßig hohe Baukosten erfordert, auf einer gesunden
finanziellen Grundlage stehen wird.

[Illustration: Chinesischer Briefumschlag.]

[Illustration: Schantungpflug mit Dreigespann.]



Die künftige Bedeutung Chinas für den europäischen Handel.


Angesichts der neuesten Unruhen in China, der ewigen Gefahr, in der
die Fremden dort leben, der großen Opfer an Menschen und Geld, der
kostspieligen militärischen Expeditionen, welche die Beziehungen
Europas mit dem Reiche der Mitte zur Folge gehabt haben und
voraussichtlich noch in Zukunft haben werden, hört man die Frage:
Hat der Handel mit China überhaupt eine so große Bedeutung, daß er
diese Opfer rechtfertigt; wäre es nicht besser, sich anderen Gebieten
zuzuwenden und deren Erschließung anzustreben?

Wie groß ist dieser Handel? Im Jahre 1898 belief sich im Gesamtwert
die Ein- und Ausfuhr, soweit die in den Vertragshäfen bestehenden
Zollbehörden ihn kontrollieren, auf etwa elfhundert Millionen Mark.
Diese Summe erscheint nicht groß, wenn man bedenkt, daß der Außenhandel
des kleinen Belgien einen Wert von über zweiundzwanzighundert Millionen
besitzt, also das Doppelte des Außenhandels von China. Selbst
Argentinien hat trotz seiner Jugend als Staat bereits einen Außenhandel
von nahezu tausend Millionen Mark. In einer Reihe anderer Staaten
entwickeln sich die Handelsbeziehungen mit Europa ruhig, ohne besondere
Schwierigkeiten, ohne jedwede Opfer und militärische Expeditionen.
Warum, so hört man fragen, sollen also die Steuerzahler wegen des
verhältnismäßig geringen Handels so tief in den Säckel greifen?

Und dennoch geschieht dies seitens fast aller Seemächte. Neben dem
Deutschen Reiche sind bei den letzten Unruhen England, Frankreich,
Oesterreich-Ungarn, Italien, Rußland, Holland, selbst das kleine
Belgien an der Expedition gegen China beteiligt gewesen, dazu die
Vereinigten Staaten und Japan. Freilich stand dabei zunächst die
Aufgabe im Vordergrunde: Bestrafung des Bruchs des Völkerrechts durch
die Mißhandlung der Gesandten seitens der chinesischen Machthaber,
man könnte besser sagen, der chinesischen Ohnmachtshaber, Sühne für
die vielen Menschenleben, die schweren Verluste an Hab und Gut der
fremden Einwohner. Aber dabei wurden doch auch geschäftliche Interessen
verfolgt, und man dachte auch an den Nutzen, welchen die Expedition
nach dem Friedensschluß für die verschiedenen Mächte bringen soll.

Ebenso sicher, wie die endliche Niederwerfung Chinas durch die
verbündeten Streitkräfte, ist es auch, daß eine Aufteilung Chinas
in absehbarer Zeit nicht stattfinden wird. Im Gegenteile, statt als
Kriegsbeute verschiedene Provinzen und Länderstriche einzuheimsen,
haben die Mächte alles Interesse daran, das chinesische Reich intakt zu
erhalten und ihm eine feste, starke Regierung zu geben, sogar unter der
Leitung eines Kaisers aus der gegenwärtig herrschenden Dynastie. Ganz
abgesehen von der Eifersucht unter den Mächten bei einer Aufteilung und
der Unmöglichkeit einer Einigung über die von jeder Macht beanspruchten
Gebiete, hat man sich gewiß schon in jedem Kabinette gefragt, auf
welche Weise und zu welchem Zwecke die verschiedenen Provinzen des
aufgeteilten Vierhundertmillionenreiches von den Mächten regiert und
verwaltet werden sollten. Es ist ja hinlänglich bekannt, welchen
Aufwand an Geld, Beamten, Militär, Schiffen und dergleichen schon ein
Landgebiet von der Größe einiger hundert Quadratkilometer, etwa wie
Deutsch-China, erfordert. Wie viele Hunderte Millionen, Zehntausende
von Soldaten, Hunderte von Beamten würde erst die Verwaltung einer
ganzen Provinz bedürfen! Es handelt sich bei den chinesischen Provinzen
um Ländergebiete so groß wie Preußen oder ganz Süddeutschland, mit
Einwohnerzahlen von zwanzig bis vierzig Millionen. Selbst wenn solche
Gebiete an die erobernden Reiche angrenzen würden, wie etwa Nordchina
an Sibirien, würden solche Bissen in Anbetracht der heterogenen
feindlichen Bevölkerung nicht zu verdauen sein. Wie erst, wenn man
die ungeheure Entfernung Chinas von den mitteleuropäischen Reichen in
Betracht zieht! Der Krieg der Amerikaner gegen das im Vergleich mit den
Chinesen verschwindend kleine Völkchen der Philippiner, der Frankreichs
gegen Tonkin und Englands gegen die handvoll Boeren sprechen
deutlicher, als es alle Argumente vermögen.

Und selbst wenn eine solche Verwaltung unter der Anspannung aller
Kräfte doch eingerichtet würde, so würde die Frage entstehen: wozu? Was
ist der Nutzen, den ein solch unsinniges Wagnis hätte? Die Erschließung
der betreffenden Provinz? Die Hebung der Kaufkraft ihrer Bevölkerung?
Die Schaffung eines neuen Absatzgebietes? Würde das letztere wirklich
ausschließlich der Industrie der betreffenden Kolonialmacht zu gute
kommen, dann wäre dies zum wenigsten etwas Greifbares, obschon viele
Jahrzehnte der Aufwand unverhältnismäßig größer sein würde als der
Ertrag. Das Spiel wäre die Kerzen nicht wert, die man dabei verbrennt.
Aber das ausschließliche Recht der kommerziellen Ausbeutung einer
Provinz würde von anderen Mächten niemals zugestanden werden.
Mehrere haben mit Säbelgerassel erklärt, unter allen Umständen an
der Politik der offenen Thür festzuhalten. Gleiches Recht, gleiche
Handelsfreiheit für alle Mächte ist ihre Politik in Bezug auf den
chinesischen Markt, und eine Macht, welcher es gelingen sollte, eine
Provinz als Kriegsbeute zu ergattern, würde dann einfach nur anderen
Mächten, zunächst den Japanern und Amerikanern, die Kastanien aus dem
Feuer holen. Wohl ist heute und wohl auf Jahrzehnte hinaus England
am chinesischen Handel am meisten beteiligt, aber der Handelsverkehr
Japans und Amerikas mit China geht mit Riesenschritten vorwärts; sie
haben heute schon alle anderen Mächte, England ausgenommen, überholt,
und dank ihrer günstigen geographischen Lage, geringen Frachtsätzen und
anderen Umständen wird in Zukunft unzweifelhaft ihnen der Hauptanteil
am chinesischen Handel zufallen. Provinzen auf Kosten europäischer
Steuerzahler zu erschließen, oder gar die Verwaltung selbst zu
übernehmen, hieße also, den genannten großen Handelsrivalen in die
Hände arbeiten.

Ueber diese Fragen ist man in den europäischen Kabinetten wohl schon
längst im klaren. Es giebt in China keine Provinzen zu holen, keine
Kolonien zu gründen, und doch besteht unter allen Industriemächten ein
wahrer Wetteifer in Bezug auf China.

Der Grund und Endzweck dieser Bestrebungen ist der Handel, nicht wie
er heute ist, denn schon eingangs wurde angeführt, daß er im ganzen
nur die Summe von elfhundert Millionen erreicht, sondern der Handel
Chinas, wie er sich in Zukunft gestalten wird. Er ist bisher deshalb
nicht bedeutender gewesen, weil zunächst nur eine kleine Anzahl von
Häfen dem Außenhandel geöffnet waren und es von den wenigsten derselben
Verkehrswege nach dem Hinterlande giebt. Europäische Waren konnten
demnach nur kleinen Gebieten zu entsprechenden Preisen zugängig
gemacht werden. Die Chinesen machen sich diese, wenn sie von ihrem
Nutzen überzeugt sind, zu eigen. Aber sie hegen für die europäischen
Errungenschaften, Maschinen, Dampfschiffe, Eisenbahnen und dergleichen
ebensowenig Bewunderung wie für deren Erfinder und Erzeuger. Es ist
ihnen im Laufe der Jahrhunderte von den benachbarten kleineren Völkern
viel zu viel Weihrauch gestreut worden, sie werden von ihrer Kindheit
an viel zu sehr in dem Glauben ihrer eigenen Unübertrefflichkeit
erhalten, als daß sie den Europäern höhere Achtung schenken sollten als
etwa dem Zauberkünstler, über dessen Kunststückchen sie staunen. Gerade
so wie wir unsere europäische Kultur für die beste halten, so halten
die Chinesen die ihrige für die beste, und ebensowenig wie wir die
unserige mit der chinesischen vertauschen würden, ebensowenig würden
sie die ihrige für die europäische aufgeben. Ein kleines bewegliches
Volk wie die Japaner, mit großem Verkehr und ausgebreiteter Schiffahrt,
war leichter zu überzeugen, aber auch sie nahmen von den Europäern
nur jene Dinge an, deren praktischer Nutzen ihnen sofort ins Auge
sprang, alles andere ließen sie links liegen. Es kann keinen größeren
Irrtum geben als zu glauben, die Japaner hätten die europäische Kultur
angenommen. Dazu gehört unsern Begriffen nach die christliche Religion
und Moral. Die Japaner sind aber in diesen ethischen Beziehungen ganz
dieselben geblieben, die sie vor der großen Umwälzung waren. Für
Christentum und christliche Moral sind sie unendlich viel weniger
zugänglich als die Chinesen, was die beiderseitigen Erfolge der
Missionen auch beweisen.

Die Chinesen werden ähnlich wie die Japaner zu Werke gehen, nur
unendlich viel langsamer; auch sie werden alle europäischen Erzeugnisse
und Einrichtungen annehmen, sobald sie ihre Nützlichkeit einsehen
lernen. Das beweist die ganze Entwickelung des chinesischen Handels mit
Europa. Aber die große Masse der Chinesen kennt mit Ausnahme leicht
zu transportierender kleiner Massenartikel die europäischen Produkte
überhaupt noch nicht. Würden sie den Chinesen vor Augen geführt werden,
so würden sie auch bald ausgedehnte Märkte dort finden, denn die
Chinesen sind zu praktische Menschen, zu vorzügliche Geschäftsleute,
um den Wert eines Artikels nicht sofort zu erkennen. Was bisher an
europäischen und amerikanischen Waren eingeführt wurde, kommt also
nicht ganz China zu gute, sondern nur kleineren Gebieten in der
Umgebung von offenen Häfen und längs der Wasserstraßen.

Um nur einige Beispiele hervorzuheben: Ich habe noch am Hoangho Leute
gefunden, die ihre Kleider mit selbstgeschmiedeten und gefeilten
Nähnadeln nähten; mit Staunen betrachteten sie die glänzenden Näh-
und Stecknadeln, die ich ihnen zeigte. Den Mandarinen im Binnenlande
konnte ich kein willkommeneres Geschenk machen als ein Notizbuch
mit Bleistift. Gewöhnt, ausschließlich mit Pinsel und Tusche zu
schreiben, kennen sie auch die Stahlfeder noch nicht, die sich für die
Niederschrift chinesischer Schriftzeichen auch gar nicht eignet, und
wenn ich des Abends in einer Dorfherberge meine Reisenotizen machte,
umdrängten mich gewöhnlich Dutzende staunender Chinesen, um dem
raschen Lauf meiner Feder auf dem Papier zu folgen. Bleistifte aber
eignen sich für die chinesische Schrift, und die Mandarine konnten
sich nicht genug wundern, daß ein Stift auch ohne Tusche chinesische
Schriftzeichen auf dem Papier hervorbringen kann. Die Verwunderung
stieg jedoch aufs höchste, wenn ich den Bleistift umdrehte und mit dem
am anderen Ende befindlichen Radiergummi die Schriftzeichen wieder
wegputzte. In Städten und Dörfern war ich ein wanderndes Museum. Die
Leute hatten wohl schon zuweilen Weiße gesehen, denn die Missionare
sind bereits in die meisten Gegenden des Innern vorgedrungen, tragen
aber fast ausschließlich chinesische Tracht. Weiße in Europäertracht,
wie ich sie trug, waren ihnen noch fremd. Sie befühlten neugierig
meine Kleider und Stiefel, besahen Hut und Regenschirm, verwunderten
sich in Orten, wo Feuer noch immer mit Feuerstein und Stahl gemacht
wird, über meine Zündhölzchen und noch mehr über den in Papier
gewickelten Tabak, d. h. Cigaretten, die sogar viele Mandarine noch
nicht kannten. Auf den großen inneren Märkten fand ich gerade so
wenig europäische Artikel wie auf unseren Märkten chinesische, und
wo sie sich dort oder hier vorfinden, werden sie als Kuriosa, nicht
als praktische Waren für den allgemeinen Nutzgebrauch betrachtet.
Eisenwerkzeuge, Lampen, Gerätschaften werden immer noch zum weitaus
größten Teil von den Chinesen selbst gemacht, ebenso Kleiderstoffe
und alle möglichen Gebrauchsartikel. Sie kennen eben die praktischen
Erzeugnisse des Abendlandes, wie gesagt, nur in beschränkten Bezirken
ihres ungeheuren Landes. Wird dieses aber durch Eisenbahnen und freien
Verkehr, ungehinderte Ansiedelung seitens europäischer Kaufleute, dann
Abschaffung der Inlandszölle den Europäern wirklich erschlossen, wie es
früher oder später doch geschehen wird und muß, dann wird der Absatz
all dieser Artikel nach vielen Millionen berechnet werden müssen.

Gerade in diesen Massenartikeln ist aber die deutsche Industrie
groß. Jetzt schon werden davon nach den wenigen geöffneten Häfen,
von denen vielleicht nur ein Zehntel bis ein Zwanzigstel der
chinesischen Bevölkerung erreicht wird, große Massen ausgeführt. Wie
erst, wenn es sich um ein Absatzgebiet handelt, das auf seinen elf
Millionen Quadratkilometer Fläche vierhundert Millionen Einwohner
zählt! Die Chinesen brennen heute noch größtenteils Oel in irdenen
Lampen; und doch sind Petroleum und Petroleumlampen bereits wichtige
Einfuhrartikel. Eine einzelne Lampe hat freilich wenig Wert, handelt
es sich aber darum, achtzig Millionen Haushaltungen, so viel wie ganz
Europa zählt, mit Lampen zu versehen, dann gewinnt dieser Artikel eine
ganz andere Bedeutung. Ebenso geht es mit den meisten anderen Artikeln.

Um dafür einen Markt zu gewinnen, müssen die Leute auch die Mittel
haben, alle diese Dinge wirklich zu kaufen. China ist nun thatsächlich
ein Land, das viel größere Mittel und damit Kaufkraft besitzt, als
man gewöhnlich annimmt. Statt daß die Kaufkraft Chinas erschöpft
wäre, könnte man das gerade Gegenteil behaupten. Niemand würde es
beispielsweise einfallen, China mit Ländern wie Siam oder Marokko zu
vergleichen, und doch ist der auswärtige Handel dieser letzteren im
Verhältnis bedeutend größer als jener Chinas. In Siam entfallen etwa 23
Mark jährlich auf den Kopf, in Marokko ungefähr 9 Mark 50 Pfennige, in
China nur 3 Mark. Im Jahre 1874 entfielen vom auswärtigen Handel nur
1 Mark 50 Pfennige auf den Kopf. Es ist also eine Steigerung auf das
Doppelte innerhalb eines Vierteljahrhunderts zu verzeichnen. Ist es
anzunehmen, daß China als einziges Reich der Erde dabei stehen bleiben
und nicht weiter fortschreiten wird?

[Illustration: Das Grab des Confucius.]

Freilich sind die großen Massen der Chinesen arm, und in Zeiten von
Ueberschwemmungen oder Dürre leben Millionen Menschen im größten Elend.
In viel größerem Maße ist dies in Indien der Fall. Land und Bevölkerung
sind dort viel ärmer als in China, dabei auch nur halb so groß, und
doch ist der auswärtige Handel von Jahr zu Jahr gestiegen, bis
er heute an dreieinhalb Milliarden Mark erreicht hat, mehr als das
Dreifache von China. Man hat eben die Hilfsquellen Indiens entwickelt
und dem Lande Eisenbahnen, moderne Verkehrsmittel gegeben. In China
sind alle Bedingungen für den blühendsten Handel, für den reichsten
Absatz an Waren aller Art vorhanden, das Land verfügt selbst über ganz
bedeutendes Großkapital, und Geld ist nach Hunderten von Millionen
Mark im Verkehr. Der einheimische, chinesische Binnenhandel besitzt
ungeachtet der primitiven Verkehrsmittel, der Dschunken auf dem Wasser,
Kamele, Maultiere und Schubkarren auf dem Lande einen Umfang, von dem
man sich kaum eine Vorstellung machen kann. In Schantung allein sind
mehrere hunderttausend Kulis als Schubkarrenführer beschäftigt und
Jahr aus Jahr ein mit Frachten unterwegs. Flüsse und Kanäle wimmeln
von Fahrzeugen, Frachtbooten aller Art. In den Großstädten, darunter
viele mit Hunderttausenden von Einwohnern, Orte, die man in Europa
kaum dem Namen nach kennt, herrscht Wohlstand und Reichtum, giebt
es ausgebreitete Industrien, Bankhäuser, Großkaufleute, Postämter,
Verkehrsanstalten, alles natürlich nach chinesischem Schnitt. Ich habe
all dies in meinem Buche „Schantung und Deutsch-China” (Verlag von J.
J. Weber, Leipzig) mit allen wissenswerten Einzelheiten geschildert.

Indessen, diese schon vorhandene Kaufkraft kann noch verdoppelt,
verdreifacht werden, wenn es einmal dazu kommt, die geradezu
unerschöpflichen Hilfsquellen, welche noch im Schoße der Erde
schlummern, zu öffnen. Welche Massen von Gold bergen die Höhen der
Mandschurei und die „goldenen Hügel” nördlich von Peking, die aus
verschiedenen Gründen nur zum Teil und das auch nur auf die primitivste
Art von den Chinesen ausgebeutet werden! Welche Silbermengen bergen
Schantung, Schansi, Tschili, Honan, und doch sind die Mehrzahl der
Silberlager noch gar nicht eröffnet! Aber wichtiger als Gold und Silber
sind die schwarzen Diamanten, die Kohlen. Schansi, diese ungemein
wichtige, an die deutsche Interessensphäre Schantung grenzende Provinz
hat in seinem südlichen, an den Hoangho grenzenden Teil Kohlenlager,
wo über sechshundert Millionen Tonnen der besten Anthrazitkohle der
Ausbeute harren. Dort, ebenso wie in ungeheuren Kohlenlagern des
benachbarten Honan liegen zwischen den Kohlenschichten solche von
vortrefflichem Eisenerz. Dasselbe gilt, wenn auch in geringerem
Umfange, von Schantung, und in allen diesen Gebieten wird wohl Kohle
schon gewonnen, hat sich auch eine sehr beträchtliche Eisenindustrie
schon entwickelt, aber alles mit den primitivsten Mitteln und bedrückt
durch die beutesüchtigen Mandarine.

Welcher Ausdehnung sind ferner die Thee- und Seidenkultur in China
noch fähig! Und vor allem unter europäischer Anweisung die Industrie,
wenn man in Rechnung zieht, welche Millionen fleißiger, flinker,
genügsamer Arbeiter den Chinesen zur Verfügung stehen! Werden diese in
dem ungeheuren Reiche schlummernden Schätze und Kräfte geweckt, dann
wird es kein größeres und dankbareres Absatzgebiet auf Erden geben als
China. Dieses wird den Industrieländern der Alten und Neuen Welt stets
erhalten bleiben. Vielfach kommt zwar die Befürchtung zum Ausdruck,
China könnte das alte Europa einmal, wenn es zu modernem Leben und
Schaffen erwacht ist, erdrücken. Diese Befürchtung ist unbegründet.
Zunächst wird es noch vieler Jahrzehnte bedürfen, ehe an einen
wirksamen Wettbewerb Chinas ernstlich gedacht werden kann; während
Europa diese ganze Zwischenzeit vor sich hat, entwickeln sich auch hier
die Industrien immer mehr, es entstehen immer neue Industriezweige,
neue Artikel, in welchen die europäischen Industrieländer den Chinesen
voraus bleiben werden. Der zeitliche Abstand, um welchen China in
seiner Entwicklung hinter Europa zurückgeblieben ist, kann nicht leicht
ausgeglichen werden. Weder China noch Japan wird Europa bei den hier
fortwährend auftauchenden neuen Erfindungen einholen können, sie werden
in dieser Hinsicht für absehbare Zeit von Europa abhängig bleiben.

Aus dem Gesagten kann man ersehen, daß der Handel Chinas noch tief
in den Kinderschuhen steckt, aber er schreitet doch rasch voran, und
wenn alle Mächte sich so sehr um China bemühen, so geschieht es, um
sich bei Zeiten einen Platz dort zu sichern. Im Jahre 1766 haben
23 fremde Schiffe hingereicht, den auswärtigen Handel Chinas zu
bewältigen; im Jahre 1830 waren schon 150 Schiffe dazu erforderlich;
im Jahre 1898 erreichte der Schiffsverkehr in den chinesischen Häfen
die Riesenzahl von 43000 Dampfern und 9000 Segelschiffen mit zusammen
34 Millionen Tonnen Gehalt. Vor einem halben Jahrhundert war der
Wert des Außenhandels weniger als hundert Millionen Mark. Heute hat
er elfhundert Millionen erreicht, d. h. soweit er auf europäischen
Schiffen und in den dreißig offenen Vertragshäfen sich abwickelt.
Welche Unmassen ausländischer Waren in den anderen Häfen des Reiches
und in den 21000 chinesischen Schiffen mit acht Millionen Tonnen
Gehalt dazu kommen, entzieht sich der Beurteilung; der Gesamtwert des
Außenhandels kann aber jährlich nicht geringer sein als anderthalb
Milliarden Mark.

Wohl kann dieser Außenhandel in dem einen oder anderen Jahre
durch außergewöhnliche Ursachen, wie Kriege oder geschäftliche
Krisen in Europa, durch Währungsschwankungen oder vor allem durch
Kriege, Revolutionen und dergleichen in China selbst zeitweilig
eine Verminderung erfahren; er wird aber im ganzen und großen
stetig zunehmen, und diese Weiterentwicklung zu hemmen, haben
weder die reaktionären Mandarine, noch die Regierung die Macht.
Ein Blick in die Vergangenheit eröffnet dem Auge auch die Zukunft.
Wie lagen die Verhältnisse in China noch vor sechs Jahrzehnten,
zur Zeit des berühmten Opiumkrieges? Das Innere Chinas war jedem
Europäer verschlossen, und in den wenigen Häfen, in denen sie sich
aufhalten durften, waren sie den strengsten, mitunter schmachvollen
Beschränkungen unterworfen.

Wäre es damals jemandem eingefallen, zu prophezeien, daß fünfzig Jahre
später europäische Großstädte auf chinesischem Boden stehen würden, daß
die Flüsse von europäischen Dampfern befahren, Eisenbahnen, Telegraphen
das Land durchziehen würden, man hätte ihn für verrückt gehalten.
Die Wirklichkeit von heute übertrifft sogar solche Prophezeiungen;
dreißig seiner größten und wichtigsten Häfen sind europäischen
Kaufleuten und Ansiedlern erschlossen, aus Shanghai und Hongkong sind
europäische Großstädte geworden, in denen man mit derselben Sicherheit
und Bequemlichkeit wohnt, als lägen sie in Europa. Telegraphenlinien
verbinden die Hauptstadt mit den Provinzen, Kabel die Inseln mit
dem Festlande; zwischen Tientsin und Shanghaikwan, Tientsin und
Peking, Shanghai und Woosung u. s. w. verkehren Eisenbahnzüge. Die
einzelnen Küstenpunkte von Tongkin bis hinauf in die Mandschurei sind
durch regelmäßige Dampferlinien unter fremden Flaggen miteinander
verbunden; auf den Hauptflüssen verkehren europäische Dampfer, und die
Hauptwasserstraße des chinesischen Reiches, der Jangtsekiang, ist eine
Hanptverkehrsstraße des europäischen Handels geworden bis hinauf gegen
die tibetanischen Grenzdistrikte für Handelsschiffe aller Flaggen,
vornehmlich auch der deutschen Flagge. Das so lange verschlossene
sagenhafte Peking ist heute der Sitz der europäischen Gesandten, die
mit den höchsten Beamten des Riesenreiches verkehren und von dem Kaiser
in seinem eigenen Palaste empfangen werden. In Peking befinden sich
Kirchen, Klöster, Schulen und Universitäten, die letztern chinesische
Unternehmungen, aber mit europäischen Lehrkräften. Die Armee hat
europäische Instruktoren, moderne Arsenale stehen unter europäischer
Leitung, ebenso der ganze Telegraphen-, Post- und Zolldienst mit
Beamten, welchen die höchsten chinesischen Auszeichnungen verliehen
worden sind. Wer hätte das vor dreißig oder vierzig Jahren zu hoffen
gewagt?

Die Wirren der letzten Zeit sind vorübergehend, die Kugel ist einmal
ins Rollen gekommen und, wie gesagt, nicht mehr aufzuhalten. Der
Aufstand gegen die Fremden und ihre Kultur, welche sie dem alten China
bringen wollen, scheint wie ein letztes Aufraffen der Reaktionäre, der
alten Partei der Mandarine und Litteraten, der Geheimgesellschaften
und des von ihnen abhängigen Gesindels, zusammen immer noch bedeutend
genug, daß die schwache Regierung sich ihnen nicht wiedersetzen
konnte. Ihnen gegenüber steht aber eine ganz bedeutende Partei von
aufgeklärten Leuten, welche in den offenen Häfen oder in Singapore,
Hongkong, Batavia moderne Bildung und Kultur kennen gelernt haben,
dann der ganze großenteils vom Auslande abhängige Kaufmannstand in den
Handelsstädten. Dazu kommen auch zahlreiche Mandarine und ein großer
Teil des gebildeten Teils des Volkes. Wenn diese nicht offen für die
Erschließung des Reiches eintreten, so ist es teils aus Furcht vor
der Regierung einerseits, die ihre Absichten niemals klar und offen
zum Ausdruck bringt, und vor den Geheimgesellschaften anderseits,
welche fremdenfreundlichen Mandarinen gleich mit dem Mordstahl zu
Leibe gehen. Ich habe in den verschiedenen Städten des Innern mit
Hunderten von Mandarinen und anderen aufgeklärten gebildeten Leuten
gesprochen und aus ihren Aeußerungen diesen Eindruck gewonnen. Dazu
kommt noch bei ihnen die Furcht, daß durch die Eröffnung des Reiches
die politische Selbständigkeit desselben verloren gehen könnte. So
gern sie die europäischen Industrien verwerten möchten, sie haben
doch eine ganz ausgesprochene Vaterlandsliebe, die in dem Grundsatz
gipfelt: „China für die Chinesen”. Ich hatte Gelegenheit, Einblick
zu bekommen in die Berichte, welche seitens der Zentralregierung von
den Provinzgouverneuren über die projektierten Eisenbahnen eingeholt
wurden. In diesen Berichten kommen Aeußerungen vor, wie: „Zum Bau
der Bahnen können wir chinesisches Material benutzen, zur Ausführung
von Arbeiten können Leute aus unserem Volke herangezogen werden. Die
Gehälter der etwa in Dienst zu stellenden Europäer würden doch nur
einen beschränkten Betrag ausmachen” .... „Das nötige Eisenbahnmaterial
vom Auslande zu beziehen, wäre zu umständlich und kostspielig. Unser
Eisen ist für Schienen ganz geeignet. Wenn sie auch vielleicht
teurer zu stehen kämen, so wären sie doch unsere Landeserzeugnisse”....
„Nur für die erste Strecke würde ich empfehlen, Eisenmaterial aus
dem Auslande zu beziehen, bis die Hochöfen und Hüttenwerke für die
Fabrikation unserer Schienen fertig sind. Dann sollte lediglich
einheimisches Eisen verwendet werden, damit die Entwicklung des
Eisenbahnnetzes unserer eigenen Industrie zum Vorteil gereiche”....
„Wir sollten für den Eisenbahnbau keine ausländischen Gelder
aufnehmen, sondern ebenso wie die chinesische Dampfergesellschaft
dreißig Millionen Taels im Inlande aufgebracht hat, eine inländische
Anleihe aufnehmen. Eurer Majestät möchte ich das allerunterthänigste
Gesuch unterbreiten, alle Anträge, die fremde Anleihen bezwecken,
kurzweg abzulehnen, um das Unwesen der ausländischen Banken und
Geschäftsvermittler, dieses Ratten- und Heuschreckenungeziefers, das
uns aufzehrt, zu vermeiden”... „Wollen wir Bahnen bauen, so müssen
wir uns die Erbauer aus unserem eigenen Volke durch Schulen und
ausländische Lehrer selbst heranziehen”.... „Wir wollen fremdes Kapital
und fremde Arbeit von unseren Eisenbahnunternehmungen ausschließen”....

In diesen Gutachten sprechen die Provinzgouverneure auch die
Ueberzeugung aus, daß die Eisenbahnen dem Handel und Wohlstand der
Chinesen förderlich sein und überdies die Ausländer von diesem Handel
verdrängen werden. Das zeigen unter anderen folgende Stellen in den
Berichten: „Der Handel, der jetzt auf fremden Schiffen erfolgt, würde
wieder den Landweg einschlagen und den Fremden den Gewinn wegnehmen zu
gunsten unserer Bevölkerung. Wenn aber den Fremden kein Gewinn mehr
bei uns in Aussicht steht, so werden sie die Sache bald aufgeben und
nach Hause zurückkehren”... „Eure Majestät würden durch die Eisenbahnen
und die durch sie wachsende Ausfuhr chinesischer Erzeugnisse den
Staat und die Nation auf eine sichere Grundlage stellen und nicht
den fremden Händlern ein Mittel zum Wettbewerb und zu größerem Gewinn
verschaffen”... „Eisenbahnen fördern den Handel, die Maschinen, die
Industrie; durch sie wird man die Erzeugnisse des Landes aus entfernten
Gegenden zu versenden im stande sein. Die Eisenbahnen sollen uns
helfen, durch Eröffnung der verschlossenen Quellen unserer Reichtümer
die Verluste wieder gut zu machen, welche wir durch die Ausfuhr unseres
Kapitals erlitten haben.”

Wie man sieht, wird in diesen Berichten der Fremdenhaß, welcher die
Chinesen kennzeichnet, auch durch die höchsten Reichsbeamten in
offizieller Weise zum Ausdruck gebracht. Fremdenhaß ist die bisherige
Richtschnur der ganzen Beziehungen Chinas zum Auslande gewesen; nur
in geringem Grade bei der Landbevölkerung vorhanden, steigt er mit
den höheren Gesellschaftsklassen und wird zum Fanatismus bei den
Litteraten, sowie bei der Mehrzahl der Machthaber. Er liegt auch den
ganzen jüngsten Unruhen zu Grunde und ist, wenn man die Sache mit
kaltem Blute betrachtet, begreiflich. Man denke sich doch in einem
europäischen Reiche die wichtigsten Häfen in chinesischem Besitz
und den dortigen Welthandel in chinesischen Händen; man denke sich
chinesische Dampfer auf den europäischen Hauptströmen, Eisenbahnen,
industrielle Anlagen mit chinesischem Kapital gebaut, durch Chinesen
verwaltet, in den Hauptstädten chinesische Missionare, den unteren
Volksklassen von Buddha und Confucius erzählend, und alles das unter
dem Schutze chinesischer Gesandten in den Hauptstädten der europäischen
Reiche, mit chinesischen Kanonen und Kriegsschiffen an den Grenzen,
welche alle Begehren der Gesandten unterstützen. Gewiß würde sich der
Haß gegen die chinesischen Eindringlinge ganz gewaltig regen, und man
würde alles einsetzen, um sie wieder hinauszuwerfen. Nun dünken sich
die Chinesen auf einer viel höheren Kulturstufe, als die der Europäer;
sie sind stolz auf ihre uralte Zivilisation, die sich Jahrtausende lang
bewährt und alle anderen überdauert habe. In ihrem Dünkel betrachten
sie die Fremdlinge als ebenso „minderwertige” Wesen, wie wir die
Chinesen betrachten, und hegen ihnen gegenüber denselben Haß, den wir
gegen sie empfinden würden, wenn sie unsere Heimatländer kommerziell
ausbeuten würden.

Indessen, diese Gefühle der Chinesen können nicht geschont werden,
zumal sie selbst mit Europa und Amerika in den mannigfaltigsten
Verkehr getreten sind. China muß entwickelt, erschlossen werden, und
dazu ist es nötig, daß China die erdrückende Macht Europas und die
große Ueberlegenheit seiner Kultur noch eingehender kennen und fühlen
lernt. Es giebt China gegenüber kein Zurück mehr, sondern nur ein
Vorwärts. China wird militärisch niedergezwungen werden, wie schon
mehrmals zuvor. Ist das geschehen, dann soll wieder Friede herrschen.
Damit aber die alten Fehler der Friedensabschlüsse mit China vermieden
werden, ist es erforderlich, daß genügende Macht auch in Zukunft über
die Erfüllung der Friedensbedingungen wache. Eine der vornehmsten
der letzteren wird es sein müssen, daß Angehörige aller Nationen
ungehindert in China verkehren dürfen; es soll keine „Vertragshäfen”
mehr geben; jede Stadt soll offen sein; Flüsse und Kanäle müssen frei
sein für die Schiffahrt der Flaggen aller Länder; es sollen keine
„Interessensphären” für verschiedene Staaten mehr geschaffen werden;
ganz China soll eine Interessensphäre sein für die ganze Welt und damit
auch für sich selbst. Es darf nicht geduldet werden, daß beispielsweise
ausschließliche Absichten Englands auf das ganze Jangtsekiangthal, das
Rückgrat des chinesischen Reiches, zur Ausführung kommen. Hongkong,
Macao, Tsingtau und andere bestehende feste Besitzungen fremder Mächte
werden als solche bestehen bleiben, neue aber sollen nicht dazu kommen.

Wieviel von diesen Wünschen zur Durchführung kommen kann, steht
dahin. Es wird dies mehr von den Mächten, als von China abhängen, am
meisten von England, das schon jetzt bestrebt ist, eine Sonderstellung
einzunehmen und seine eigenen Ziele zu verfolgen. Die größten Gewinner
aber werden jene Mächte sein, welche als jüngste auf der chinesischen
Bildfläche erschienen sind, Amerika und Japan. Alle Konzessionen Chinas
kommen zunächst diesen beiden Mächten zu gute; ihr Einfluß und ihr
Handel sind, wie bemerkt, in den letzten Jahren rascher gestiegen als
die irgend welcher anderer Staaten. Das bringt ihre geographische Lage
und ihre Entwickelung mit sich und kann nicht geändert werden. Von den
europäischen Mächten ist am chinesischen Handel nächst England das
Deutsche Reich am meisten beteiligt. Hoffentlich wird der Friede diese
Beziehungen zwischen Deutschland und China zu noch einträglicheren
machen!

[Illustration: Brücke über den Sze-shui-fluß in Yentschou-fu.]



Zweiter Teil:

Japan.



[Illustration: Der Hafen von Nagasaki.]



[Illustration]



Nagasaki, die Heimat von Fräulein Chrysanthemum.


Fräulein Chrysanthemum, diese eigenartige, possierliche Schönheit
aus dem fernsten Osten, hat vor etwa dreißig Jahren in Europa ihren
Einzug gehalten, einen Einzug, der einem Triumphzuge glich durch den
ganzen Kontinent. Europa fand Gefallen an ihrem bepuderten und bemalten
Rokokogesichtchen, an ihren feinen, geschlitzten schwarzen Augen mit
den hochgezogenen Brauen, an ihrem kirschrot geschminkten, stets
lächelnden Munde, an ihren drolligen Stellungen und Bewegungen. Sie
trug faltenreiche, bunte, blumengestickte Kleider, und ihr reiches,
glänzendschwarzes Haar schmückten papierene Schmetterlinge. Ihrem
Köpfchen diente gewöhnlich ein großer, bunter japanischer Papierschirm
als Folie, wie ein Heiligenschein, aber ein solcher für die Heiligen
der fremden Götterwelt.

Eine so frische, anmutige, naiv-natürliche Erscheinung hatte das alte
Europa schon lange nicht mehr gesehen. Sie war neu und kam sozusagen
über Nacht in die Mode. Man brachte sie auf die Operettenbühne und
das Puppentheater, man malte sie auf Fächer, Vasen und Wandschirme,
man modellierte sie in Porzellan und Bronze, man schnitt sie aus
Holz, und heute ist sie in Millionen von Exemplaren in ganz Europa zu
finden, von Spanien bis Rußland, von Norwegen bis Griechenland, in
Herrscherpalästen wie in bescheidenen Wohnungen. Keine Primadonna hat
sich jemals solchen Ruhmes erfreut wie dieses kleine, putzige, drollige
Fräulein Chrysanthemum.

Sie stammt aus Japan und mußte von dort wohl auswandern und sich eine
neue Heimat suchen, denn in ihrem Vaterlande ist sie in den letzten
Jahrzehnten allmählich aus der Mode gekommen. Sie hat dort lange genug
regiert, Jahrtausende lang. Und während sie Japan verlassen mußte,
um so vielen Menschen bei uns in Europa die Köpfe zu verdrehen, hat
in ihrer alten Heimat eine andere Dame ihren Platz eingenommen und
verdreht den Japanern die Köpfe: Prinzessin Mode aus Paris oder Wien
oder sonst welchem Geburtsort, in seidenen, tief ausgeschnittenen
Schleppkleidern, mit Puffenärmeln und Handschuhen, mit gewaltigen Hüten
und seidenen Strümpfen. Der Hof und die elegante Welt im Lande des
Sonnenaufgangs frönen nunmehr dieser abendländischen Prinzessin Mode.
Fräulein Chrysanthemum aber ist dort leider verschwunden; nur in der
Provinz hält sie noch Hof, und unter jenen Städten, die ihr bis auf den
heutigen Tag die Treue am meisten bewahrt haben, ist Nagasaki.

Nagasaki ist die südlichste große Hafenstadt des japanischen
Inselreiches und dabei wohl auch die entzückendste. Nirgends paßt
Fräulein Chrysanthemum besser hinein; die eine erscheint für die andere
wie geschaffen, sie ergänzen sich gegenseitig, und deshalb sind sie
einander wohl auch so lange treu geblieben.

Wer von dem ungeheuren, düsteren chinesischen Reiche nach Japan
fährt, der kommt in Nagasaki mitten in eine neue Welt hinein, in
die Welt der Feen. Die Landschaften, die sich dem Reisenden bei der
Einfahrt in den tief eingeschnittenen Fjord von Nagasaki zeigen, sind
von klassischer Schönheit, ideale olympische Landschaften, die man
sich nur von den griechischen Göttern oder von den Schwestern von
Fräulein Chrysanthemum bevölkert denken kann. Der Name Fjord erinnert
an die kalten, nackten Meereseinschnitte des nebeligen Norwegens mit
ihren Schneeflocken und Gletschern und ihren düsteren menschlichen
Ansiedelungen in den Thälern; der Fjord von Nagasaki ist das gerade
Gegenteil davon. Während dort die Natur majestätisch, allgewaltig,
drohend und erdrückend auftritt, schmiegt sie sich hier lieblich und
zärtlich an den tiefblauen, klaren, stillen Wasserspiegel, der sich
meilenweit ins Herz der Insel Kiuschiu, einem wahren Phäakenlande,
hineinzieht. Prächtige Felspartien, sanft ansteigende Berge mit
üppigstem Baumwuchs, zierliche, reinliche Dörfchen an den Ufern;
Gärten ringsum, daran anschließend wohlgepflegte Reisfelder, so
zierlich und schön gehalten, als dienten sie den japanischen Phäaken,
ihren Bewohnern, nur als Spielerei; hier und dort ragen Felseninseln
aus der blauen Wasserfläche hoch empor, malerisch in der Form, mit
kühnen Nadeln und Spitzen, und jede derselben gekrönt von ebenso
malerischen Fichten oder hochaufstrebenden Kryptomerien; blühende
Schlinggewächse klettern an den gelben Felsmauern empor und spiegeln
sich in der glatten Wasserfläche ebenso treu und natürlich wieder;
aus dem Grün blickt hier und dort ein Tempelchen hervor, und auf den
Felsen erheben sich brennrote Pagoden. Dutzende dieser Inselchen
sind in den Fjord hineingestreut, und zwischen ihnen ziehen still
und traumhaft die malerisch geschwungenen Boote mit blendend weißen
Segeln wie Schwäne einher. Nirgends in der weiten Welt habe ich so
ideal schöne Landschaften gesehen wie hier rings um das japanische
Inselreich. Fast erscheint es wie eine Profanation, daß die
schnaubenden, schwarzen, Kohlenrauch pustenden Dampferkolosse mitten
durch diese Feenwelt fahren, daß prosaische stählerne Schiffsschrauben
die blauen Wasserfluten aufwühlen, daß noch viel prosaischere
Matter-of-fact-Menschen in die Heimat von Fräulein Chrysanthemum
hineingedampft kommen.

Dort, ganz im Hintergrunde des Fjords, eingesattelt zwischen den hohen,
bewaldeten, tempelgekrönten Bergen liegt diese Heimat, Nagasaki.

Die Dämmerung ist angebrochen, die grauen, einförmigen Dächer der
niedrigen, zierlichen Holzhäuschen der Stadt sind kaum von dem Grün der
Bäume zu unterscheiden. Bald erscheinen rings um den Hafen Lichter,
rot, blau, weiß, in allen möglichen Farben der Papierlampions; sie
werden immer zahlreicher und flimmern endlich in vielen Tausenden
in den Straßen vor den Häusern, an den offenen Veranden auf; sie
ziehen sich die umliegenden Anhöhen hoch hinauf bis zu den Tempeln;
aus der Ferne dringen die Klänge der Samisen schwach zu uns herüber,
dazwischen Gelächter und Gesang, wie von dem fröhlichen Treiben eines
sommernächtlichen Gartenfestes.

Früh morgens werde ich durch ähnlichen Gesang, ähnliches Gelächter
aus meinen Träumen geweckt, in denen zierliche Musmis und Tänzerinnen
im Gewande Chrysanthemums die wichtigste Rolle gespielt haben. Durch
das kleine runde Fensterchen meiner Schiffskabine blickte lächelnd
Chrysanthemum selbst herein. Ja, das ist sie! Dieselben schalkhaften
Schlitzaugen, derselbe rosige Mund. Aber welcher Anzug, welche Gestalt!
Und wie kam sie nur an meine Kabinenluke, die doch gewiß mehr als sechs
Meter über dem Wasserspiegel erhaben ist? Nun sehe ich es; ein großes,
plumpes Kohlenboot, mit Kohlen schwer beladen, liegt an der Seite
unseres Schiffes, und einige hohe, bis aufs untere Verdeck reichende
Leitern sind an das Schiff angelehnt worden. Auf den Sprossen dieser
Leitern sitzen von oben bis unten lauter Chrysanthemen und gucken
neugierig durch die Kabinenluken. Sie sind alle gleich gekleidet:
nicht in die schönen, vielfarbigen, faltenreichen Kimonos, sondern
sie tragen enganliegende, bis etwas über die Knie reichende Hosen und
lose, vorne nur notdürftig schließende Jacken aus dunkelblauem Stoff,
ohne irgendwelche Unterkleider. Die Füße sind nackt, dafür umhüllen
buntgestreifte Kopftücher den Kopf und lassen nur die hübschen,
frischen, freundlichen Gesichtchen frei. Ein Kohlenschiff nach dem
andern legt sich an unsere Seite, ganze Reihen von Leitern stehen nun
nebeneinander, viele Dutzende von kleinen putzigen, prallen japanischen
Mädchen sitzen auf den Sprossen, alle lächeln, schäkern und schwatzen
miteinander. Die älteste mag kaum siebzehn, achtzehn Jahre zählen.
Unten in den Kohlenschiffen werden endlich große Körbe mit Steinkohlen
gefüllt und den Mädchen, die zu unterst auf der Leiter stehen,
gereicht. Diese heben sie über ihre Köpfchen zu den nächsten Sprossen
empor, und so passieren sie von Hand zu Hand, bis sie auf das Verdeck
kommen. Dort nehmen andere Mädchen die Körbe in Empfang, schütten
den Inhalt in den Kohlenschacht und schleudern die leeren Körbe mit
kräftigem Schwung auf die Kohlenschiffe zurück. Der Kohlenstaub
bedeckt sie bald vom Kopf bis zum Fuß, schwärzt die Gesichter, die
winzigen Händchen und die Brüste, denn sie haben der Hitze wegen
die Jäckchen geöffnet. Darunter erkennt man nicht einmal mehr das
stereotype Lächeln, und gar bald sehen sie aus wie kleine, kohlschwarze
Teufelchen. Man sollte es kaum für möglich halten! Diese zarten,
blutjungen Geschöpfchen, die höchstens zum Guitarrezupfen, zu Spiel und
Tanz geboren scheinen, sind in diesem Lande der Phäaken Lastenträger,
Kohlenarbeiter!

Um den Bug unseres Riesenschiffes tummeln sich dicht neben und zwischen
den rußigen, schmutzigen Kohlenbarken hindurch blendend weiße, so
rein gescheuerte Sampans (Ruderboote) herum, daß man glauben könnte,
sie wären alle erst vor einer Stunde aus den Werkstätten gekommen.
Halbnackte Japaner mit bronzefarbigen, sehnigen Gliedern handhaben
sie geschickt und führen die Passagiere des Dampfers ans Land. Ein
langes Ruder ist am Steuer befestigt, und mit diesem machen sie
ähnliche Bewegungen wie der Fisch mit seinen Schwanzflossen. Die
Japaner haben bei ihren kleinen Fahrzeugen die Kunst der Fortbewegung
den Fischen abgelauscht. Vor mir dehnt sich auf der Ostseite der
weiten paradiesischen Bucht eine lange Reihe einstöckiger Häuser in
europäischem Stil aus, die das europäische Settlement von Nagasaki
bilden. Dieser reizende Hafen gehört nämlich mit vier anderen zu den
für Europäer offenen Häfen des japanischen Reiches, und auf dem wenige
Hektare großen Flächenraum, den die Japaner den Weißen zur Verfügung
gestellt haben, dürfen sie ihre Häuser bauen, ihren Geschäften
nachgehen. Nagasaki ist der älteste dieser Häfen, denn schon vor
beinahe dreihundert Jahren hatten die damaligen Herren der Ozeane, die
Holländer, die Bewilligung erhalten, hier ein Settlement zu gründen.
Davon ist freilich nichts mehr vorhanden. Die den Hafen entlang
laufende Bundstraße hat nur moderne, bescheidene Häuser aufzuweisen,
ebenso ihre Parallelstraße landeinwärts und die Verbindungsgassen, in
denen die Chinesen ihre Wohnungen aufgeschlagen haben. Kaum hundert
Europäer, die Konsuln der fremden Mächte mit eingerechnet, wohnen
hier, aber doch haben sie ihren eigenen Klub mit Billard-, Spiel- und
Lesesälen, wo man sich irgendwo im Herzen von Europa, nur nicht in
Japan fühlen könnte. Weiter südlich gegen das Meer zu liegt, versteckt
zwischen üppigen Gartenanlagen, ein bescheidenes Hotel, dessen Name
Bellevue durch die wunderbare Aussicht auf das japanische Nagasaki sehr
wohl begründet ist.

An der Landungsstelle erwarten ganze Batterien von Rickshaws die
ankommenden Reisenden. Weiß der Leser, was eine Rickshaw ist?
Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er sie schon längst in Europa zur
Einführung gebracht. Die Rickshaw ist das bequemste, angenehmste,
schnellste und billigste Fuhrwerk, das je zur Beförderung der Menschen
erschaffen wurde. Helios hätte in keinem bequemeren zur Sonne, der
Teufel in keinem luftigeren zur Hölle fahren können. Die Rickshaw ist
eine offene, niedrige Viktoria ohne Kutschersitz, auf zwei Rädern und
für einen Menschen Raum gewährend, der sie mit derselben Leichtigkeit
besteigt, als wolle er sich in einen Armstuhl setzen. Vorn ist eine
Gabeldeichsel angebracht. Ein japanischer Kuli stellt sich dazwischen,
hebt die Deichsel mit den Händen auf und galoppiert mit der Rickshaw
und ihrem Insassen davon. Der gewöhnliche Fahrpreis für eine Fahrt ist
zehn bis zwanzig Pfennige, und die Miete für einen halben Tag von sechs
Stunden beläuft sich auf fünfzig Pfennige (fünfundzwanzig Sen). Deshalb
fällt es in Japan auch keinem Europäer ein zu gehen. Die Rickshaw
ist ihr allgemeines Beförderungsmittel. Jede Rickshaw und jeder
dazugehörige Kuli hat seine Nummer, gerade so wie unsere Droschken, und
alle stehen unter polizeilicher Kontrolle.

Nummer 415 ist leider nicht zu sehen. Ich hätte gar zu gerne Nummer
415 gewählt, denn wer Pierre Lotis Madame Chrysanthème gelesen hat,
der weiß, daß 415 Pierre Lotis Schwager war. Indessen Nummer vier
hat eben so kräftige Lungen und eben so kräftige Beine. Kaum sitze
ich in seiner Rickshaw, so läuft er auch schon im Galopp von dannen.
Die Frühlingshitze ist groß, und auf die Gefahr hin, von einem
schlitzäugigen Polizisten eingesteckt zu werden, hat sich Nummer vier
seiner zwei Kleidungsstücke, ähnlich wie sie die vorgeschilderten
Kohlenjungfrauen tragen, entledigt. Um den Anstand einigermaßen zu
wahren, thut er es seinen Rickshawkollegen gleich und legt um den Leib
einen weißen Leinwandstreifen, so groß wie eine weiße Ballkravatte.
Sein muskelreicher Rücken glänzt von Schweiß wie polierte Bronze; das
Wasser läuft ihm von den Schultern und Beinen herunter, er keucht und
pustet, aber die Beine tragen ihn und seinen Wagen und mich federleicht
den Bund entlang nach dem alten japanischen Stadtteil, dem eigentlichen
Nagasaki.

Der erste Eindruck, den die langen, engen Gäßchen mit den bescheidenen,
einstöckigen Häuschen jetzt in den späten Vormittagsstunden machen, ist
enttäuschend. Straßen auf, Straßen ab dasselbe ewige Einerlei; gutes,
mit peinlicher Sorgfalt reingehaltenes Pflaster, mit dem Trottoir
nicht längs der Häuser, sondern in der Mitte der Straße; Matten- und
Leinwanddächer schützen die langen Reihen von Kaufläden gegen die
brennende Sonnenhitze; die Kaufläden nehmen die ganzen Häuserfronten
ein, die weder Thüren noch Fenster haben; der ganze verfügbare Raum ist
mit Waren der verschiedensten Gattung belegt, hier kostbare Bronzen
und Porzellane, dort Rüstungen, Schwerter und Helme, daran anstoßend
Papierwaren, Lampions, Schmetterlinge, Drachen; dann wieder Seidenwaren
oder allerhand Artikel aus Schildpatt, eine der Hauptindustrien von
Nagasaki. Ebensowenig wie nach vorne, haben die hölzernen Häuschen
nach hinten eine Mauer; während ich durch die Straßen fliege, kann
ich das Innere der Häuser von einem Ende zum andern sehen; alles ist
offen, auf den ungemein reinlichen Strohmatten des erhöhten Fußbodens
kauern schläfrige Japaner, Männlein und Weiblein, der Hitze wegen
in tiefem Negligé, und rauchen ihre winzigen Pfeifchen, mit Köpfen,
die kaum groß genug sind, um unseren zartesten Damen als Fingerhut
zu dienen; oder sie schlafen, auf die Matten hingestreckt, einen
Holzklotz als Kissen unter dem Kopf; oder sie hocken auf ihren Waden,
die beliebteste Stellung, und schlürfen Thee aus winzigen Täßchen,
den Theetopf vor sich auf dem Boden. Mitten durch die Häuser durch
gewahre ich hier und dort ein winziges Gärtchen mit kurios gebogenen
und verschlungenen Fichten, mit Wassertümpeln und winzigen Brücken
darüber; auf den tischgroßen Rasenflächen stehen allerhand Bronze-
und Steinfiguren, die reine Spielerei, denn viele der Gärtchen nehmen
nicht mehr Raum ein als eines unserer europäischen Wohnzimmer. Plätze,
Squares, öffentliche Gärten giebt es in dem alten Nagasaki keine;
alles ist uralt, klein, niedlich und, was mich seltsam, aber angenehm
berührte, durchaus japanisch. Von der Modernisierung des alten Japan,
die sich dem Besucher von Yokohama, Osaka, Tokio und anderen Städten
so unangenehm aufdrängt, sind in Nagasaki nur wenige Spuren zu sehen,
und doch war gerade dieser Hafen den Kaukasiern schon über zwei
Jahrhunderte geöffnet, als die anderen jedem Europäer noch hermetisch
verschlossen waren. Damals, im alten Japan, war Nagasaki der moderne,
europäische Hafen; jetzt im modernen, europäischen Japan ist Nagasaki
derjenige, der am meisten Alt-Japan bewahrt hat. Nirgends sieht man
in den Kaufläden so gute, alte Prachtstücke der japanischen Kunst wie
hier; nirgends so echtes und schönes Satsuma- und Hizenporzellan; alte
Seidenstoffe und Stickereien, Rüstungen und Bronzen. Man könnte sein
Vermögen opfern, um all diese entzückenden Produkte einer fremdartigen
Kunst zusammenzukaufen; trete ich in einen Kaufladen, flugs liegen
die Händler, Vater, Mutter und Tochter, vor mir auf allen Vieren und
berühren aus lauter Artigkeit mit der Stirn den Boden, und während
der Papa die kostbarsten Stücke aus Schachteln und Papier, Baumwolle
und Seidentüchern herauswickelt, um sie mir zu zeigen, bereitet ein
Fräulein Chrysanthemum, seine Tochter, mit ihren zarten Fingerchen Thee
und überreicht mir kniend eine Tasse. Dabei ist sie so niedlich und
hübsch und lächelt so einschmeichelnd kokett, daß man viel eher vor ihr
auf die Knie fallen möchte.

Am jenseitigen Ende der eigenartigen alten Stadt mit ihren
schnurgeraden, sich rechtwinklig schneidenden Straßen, die wohl noch
selten, wenn überhaupt jemals, von einem Lastwagen oder einer Equipage
befahren worden sind, zieht sich die Vorstadt Dschudschendschi die
reich mit alten Kampferbäumen besetzten Höhen empor. Dort, in einem
der niedlichen Häuschen mit den offenen Veranden und den hübschen
Gärten mit blühenden Wisterias, hat auch Pierre Loti mit seiner Frau
Chrysanthème gewohnt; welches der Häuschen es wohl sein mag? Gegen die
Meeresbucht zu sind die Berghänge mit Tausenden von Grabdenkmälern,
alten, mit Farnkraut und Myrten überwucherten Steinen bedeckt, und
zwischen beiden führt eine wundervolle Treppenanlage mit gewaltigen
steinernen Thorbogen die Anhöhen empor zu dem berühmten Osuwatempel,
einem der schönsten Shintotempel Japans. Nummer vier macht vor der
Riesentreppe Halt, wischt sich mit den Händen den triefenden Schweiß
von den Gliedern und ladet mich ein, den Tempel zu besuchen.

Es ist eher eine ganze Reihe von Tempeln, die dort oben inmitten
eines Waldes von kolossalsten Kampferbäumen und Kryptomerien vor
langer, langer Zeit errichtet wurden: kleine, einfache Holzhäuser
mit schweren, grauen, bemoosten Dächern und weiten, von Galerien
umgebenen Vorhöfen, in denen fromme Daimios im Laufe der Jahrhunderte
Opferlaternen, steinerne Wasserbecken, Drachen- und Götzengestalten,
ja sogar ein bronzenes Pferd haben aufstellen lassen. Das letztere ist
eine Berühmtheit Japans, wohl wegen seiner für dortige Verhältnisse
selten schönen Ausführung. Pierre Loti behauptete, es wäre aus Jade
(Nephritstein), indessen sein reizendes Buch Madame Chrysanthème ist
so voll von Unrichtigkeiten, daß man ihm auch wohl das steinerne Pferd
hingehen lassen muß. Nur seine Chrysanthème, diese Gattin auf Zeit, hat
er richtig geschildert, dann auch die Tänzerinnen und Sängerinnen.

Bei jedem Treppenabsatz haben die Japaner hier Tempelchen und
Shintoschreine errichtet; über jedem Thor sind die charakteristischen
Neujahrs-Hanfseile gespannt, mit langen, herabhängenden Papierfetzen,
zur Abwehr der bösen Geister. Die Treppe scheint gar kein Ende zu
nehmen. Weißgekleidete Priester mit kahlgeschorenen Schädeln huschen
in den Gängen auf und nieder, verschwinden hinter weißen Vorhängen;
andere halten eben unter allerhand geheimnisvollem Zeremoniell ihren
Götterdienst; wieder andere ruhen in den Nischen und Seitengebäuden
und schmauchen ihre Pfeifchen, deren Rauch sich mit jenem der
Weihrauchhölzchen vermengt, die in ungezählten Mengen vor den
bronzenen, steinernen und hölzernen Götzenbildern brennen.

Zur Linken führt ein Thor nach einem großen schattigen Garten. Welche
Ueberraschung! Unter den riesigen Kampferbäumen stehen hier eine Anzahl
Theehäuser, und vor jedem derselben laden uns buntgekleidete Musmis
mit freundlichem Lächeln zum Besuch ein, Musmis in roten, blauen und
rosenfarbigen Kimonos, mit Blumen besäet, Blumen auch in dem üppigen
schwarzen Haar, den Samisen, die japanische Guitarre, in der Hand, und
treten wir ein, flugs werfen sie sich zu Boden und harren der Befehle.
Dann bringen sie, immer lächelnd, Stuhl und Tischchen herbei, es folgen
Aschenbehälter mit glühenden Kohlen, dann die zierlichsten kleinen
Porzellanschüsselchen mit den seltsamsten Eßbarkeiten. Sie drücken
einem in reizend naiver Weise die japanischen Chop-Sticks (Eßhölzchen)
in die Hand und lachen über unsere Ungeschicklichkeit. Drei, vier, fünf
von diesen zierlichen Geschöpfchen kauern rings um mich auf dem Boden
und befühlen meine Kleider, zupfen an meiner Uhrkette, nötigen mich
zu essen und zu trinken. Ob ich nicht möchte, daß sie tanzten? Gewiß.
Sofort wird der Samisku herbeigeholt, und während eine an den Saiten
zupft, tanzen die anderen die eigentümlichen japanischen Tänze, den
Manzai, Kisku und Ogurayama, tanzen sie mit den Händen, den Hüften,
den Köpfchen und Knieen, nur nicht mit den Füßen. Dabei sehen sie so
reizend aus, so verführerisch, so jung, vierzehn, fünfzehn Jahre, daß
man nicht französischer Seeoffizier zu sein braucht, um sich in diese
Chrysanthèmes zu vergucken. Und reißt man sich endlich los von den
kleinen Zauberinnen, dann fallen sie nieder auf alle Viere und berühren
ganz demütig mit der Stirne den Boden. Sayonara, Sayonara!

Am andern Tage trete ich den Rückweg nach der Stadt an, und unten
angekommen zeigt sich mir in den Seitenstraßen der Vorstädte vereinzelt
das seltsame, kaum glaubliche Schauspiel, das Pierre Loti in der Heimat
von Fräulein Chrysanthème so oft gesehen hat:

„Zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags ist jedes lebende Wesen
nackt; Kinder, junge Leute, alte Männer, alte Frauen, alles sitzt in
einem Bottich irgendwelcher Art und badet. Und das findet wo immer
statt, in den Gärten, in den Höfen, in den Kaufläden, selbst auf der
Thürschwelle, so daß die Unterhaltung mit den Nachbarn auf der anderen
Seite der Straße leichter vor sich gehen kann. In dieser Situation
werden Besucher empfangen, und die Badenden verlassen ohne das
geringste Zögern die Badewanne, um dem Besucher einen Sitz anzubieten
oder mit ihm einige liebenswürdige Redensarten zu wechseln. Indessen,
weder die jungen Mädchen noch die alten Frauen gewinnen etwas durch
dieses ursprüngliche Auftreten. Eine japanische Frau ohne ihren
langen Kimono und ihren breiten, anspruchsvollen Obi (Leibbinde) ist
nichts als ein winziges, gelbes Wesen mit krummen Beinen und flacher,
formloser Brust; keine Spur bleibt zurück von ihren künstlichen kleinen
Reizen, die gleichzeitig mit ihrer Kleidung verschwunden sind.”

[Illustration: Japanerinnen in der Jinrickshaw.]

Die Wahrheit dieser Bemerkung hat gewiß jeder empfunden, der
die Japanerinnen im Bade gesehen hat, und gesehen hat sie jeder
Japanbesucher, auch wenn er sie nicht gesucht hat, ja selbst, wenn er
getrachtet hätte, ihnen auszuweichen, denn sie sind, wie gesagt,
morgens und abends überall zu sehen. Wie beim Schmetterling, so sind
es auch bei den Chrysanthèmes von Japan nur die Flügel, die Kleider,
welche sie so reizend machen.

Ob denn das Urbild von Madame Chrysanthème, der japanischen Gattin
Pierre Lotis, auch eine solche Enttäuschung für ihn war? Mein Schiff
fuhr erst spät abends weiter, ich hatte also noch hinlänglich Zeit,
ihr meinen Besuch abzustatten. Aber wie sie finden? Ueber den Bund
schlendernd, kehrte ich bei dem Konsul einer großen, uns nahestehenden
Kontinentalmacht ein, um mich nach ihr zu erkundigen. War sie seit dem
Erscheinen von Pierre Lotis Buch zu einer Weltberühmtheit geworden, so
wird man sie doch in Nagasaki noch viel besser kennen. Der Konsul war
nicht zu Hause, und sein Sekretär hatte gar keine Ahnung von Pierre
Loti und kannte weder das Buch noch die Heldin desselben. Vielleicht
konnte ich beim französischen Konsul Auskunft in dieser Angelegenheit
erhalten. Ich kletterte zwischen schönen, tropischen Gärten hinauf
zu dessen Wohnung. Loti? Madame Chrysanthème? Er zuckte die Achseln.
„Bedaure. Unbekannt.” Wie sollte er jeden Marineoffizier kennen, der in
Nagasaki herumspaziert! Es kommen so viele französische Kriegsschiffe
hierher. Gewöhnlich steigen sie bei Madame L., der Besitzerin des
Hotels Bellevue, ab.

Das Hotel ist ganz nahe, und ich hatte doch die Absicht dort zu essen.
Madame L. ist die dritte Witwe eines französischen Journalisten, der
vor einigen Jahren in Tokio eine Zeitung, Courrier du Japan, gegründet
hat. Nach einigen Nummern starb die Zeitung, gerade so wie ihr Gründer,
an der Auszehrung. Seither warf sich die Witwe auf das Hotelwesen
und darbt nicht mehr. Beim Kaffee, den ich auf der Hotelterrasse
an ihrem Tisch einnehme, frage ich sie nach Pierre Loti und Madame
Chrysanthème. Sie lacht auf. „~Mais Monsieur, c’est un farceur!~
Er war in Nagasaki, hat aber weder Haus noch Frau hier gehabt. Das ist
ja alles erdichtet! Er hat bei mir gewohnt und gegessen.” „Und Madame
Chrysanthème?” fragte ich weiter. „~Quand à ça~”, antwortete sie
mir, „es giebt Tausende hier. Sie brauchen nur zu pfeifen, und sie
kommen. Aber Pierre Loti hat niemals mit einer solchen zusammengewohnt.
Das einzige Wahre in seinem Buche ist seine Beschreibung von Nagasaki
und seine Bemerkung, daß das vermeintliche Bronzepferd im Osuvatempel
aus Jadestein ist.”

Ich empfahl mich und kehrte enttäuscht auf mein Schiff zurück. Ein
paar Stunden vorher hatte ich selbst vor dem Bronzepferde gestanden
und mich, mit dem Taschenmesser daran kratzend, überzeugt, daß das
Pferd aus Bronze sei. Ob die Geschichte mit Pierre Loti, welche mir die
Besitzerin des Hotels erzählt hat, ebenso unrichtig ist wie jene mit
dem steinernen Pferd?



Durch das japanische Mittelmeer nach Kobe.


Wenn ich mir die vielen Länder, die ich in den verschiedenen Weltteilen
gesehen habe, vor Augen zaubere, so kann ich doch keines finden, das
sich an leidenschaftlichem Reiz, an idyllischer Schönheit mit dem
Paradiese von Ostasien, mit Japan, vergleichen ließe, und in diesem
letztern ist wieder die Inlandsee das Schönste.

Man denke sich den vielgerühmten Lago Maggiore mit Palanza und
seinen Borromëischen Inseln hundertmal vergrößert, dann hat man ein
annäherndes Bild der Inlandsee. Kein anderer Erdenstrich könnte den
Vergleich mit ihr aushalten, und selbst der Lago Maggiore ist lange
nicht so lieblich und zugleich großartig. Der großen Hauptinsel des
japanischen Reiches, Hondo, sind gegen Südosten drei andere große
Inseln vorgelagert, Kiuschiu, Schikoku und Awadschi, und zwischen ihnen
breitet sich eine Wasserfläche von etwa 350 Kilometern Länge und zehn
bis fünfzig Kilometern Breite aus, die mit der ungeheuren Wasserwüste
des Stillen Ozeans nur durch schmale Straßen verbunden ist. Diese von
den vier genannten Inseln umschlossene Wasserfläche ist die Inlandsee.

Auf meiner Dampferfahrt von Nagasaki nach dem in der letzten Zeit
vielgenannten Schimonoseki bildeten einige Reisebeschreibungen
über Japan meine Lektüre, und unwillkürlich mußte ich über die
Ueberschwänglichkeit lächeln, mit welcher die Schönheiten der
Inlandsee, deren Portierloge sozusagen Schimonoseki bildet, darin
gepriesen werden. Allein die Wirklichkeit übertrifft thatsächlich alle
Schilderungen. Schimonoseki selbst hat daran freilich keinen Anteil;
ein kleines, bescheidenes Städtchen, der Hauptsache nach nur aus einer
Straße bestehend, die sich auf zwei Kilometer längs des Nordufers der
schmalen Meerenge hinzieht. Der Mastenwald von unzähligen Segelbooten
entzog es unserem Anblick, so daß ich den Aufenthalt unseres Dampfers
in der gegenüberliegenden großen, schwarzen Kohlenstation Modschi
benutzte, um auf einer der flinken Dampfschaluppen, welche den Verkehr
zwischen beiden Ufern der Meerenge besorgen, nach dem Städtchen zu
fahren. Vor den Holzhäuschen und rings um die Warenhäuser herrschte
reges Leben. Schimonoseki ist von der europäischen Kultur noch
vollständig unberührt geblieben, und ganz wie vor der großen Revolution
kleiden sich und leben die Einwohner auch noch heute. Selten wird es
von Europäern besucht, kaum daß ein halbes Dutzend von Touristen in
jedem Jahre in einem der kleinen urjapanischen Gasthöfe absteigt.
Hinter dem Orte, die waldgekrönten Anhöhen hinauf, ist jedes Fleckchen
Landes von den fleißigen Japanern bebaut worden, und auf beiden
Seiten der Meeresküste bilden die zahlreichen, mit Kanonen besetzten
Festungswerke die einzige Unterbrechung.

Die Schimonosekistraße mit ihren hohen, malerischen Uferbergen und
der hier stets heftigen Flutströmung erinnerte mich lebhaft an den
Rhein, etwa bei Bingen. Die Breite ist auch nicht viel größer,
nur sind die Krümmungen stärker, so daß die großen Seedampfer mit
besonderer Sorgfalt gelenkt werden müssen. Nach kurzer Fahrt treten
die Ufer zurück, und wir befanden uns in dem am wenigsten schönen Teil
des Binnenmeeres, der weiten, tiefblauen, spiegelglatten Suwo-Nada.
Aber schon nach zweistündiger Fahrt sahen wir vor uns eine Anzahl
von Inseln aus der Seefläche emporsteigen, und während der nächsten
zwanzig Stunden kamen wir aus dem großartigen Insellabyrinth der
Inlandsee gar nicht mehr heraus. Tausende und Abertausende von
Inseln bedecken hier die Wasserfläche, Inseln in jeder Größe, bis
zu kleinen, kaum einige Meter hohen Felsen, alle in so malerischen
Formen und in so entzückender Gruppierung, daß man bei der Betrachtung
dieser idealschönen Scenen in Bewunderung schwelgt. Die Passagiere
unseres Dampfers blieben den ganzen Tag über auf Deck; vergeblich
wurde der Gong zu den Mahlzeiten geläutet, und selbst als nach der
entzückendsten, ewig wechselnden Beleuchtung die Sonne untergegangen
war und schließlich Mond und Sterne auf dem Firmament erschienen,
konnten sich nur die wenigsten entschließen, die Kojen aufzusuchen.
An manchen Stellen befand sich unser Dampfer in einem Seekessel von
zehn bis zwanzig Kilometer Durchmesser, auf allen Seiten von Land
eingeschlossen, und nirgends war eine Durchfahrt zu entdecken. Hohe
Bergketten erhoben sich kulissenförmig hintereinander, manche bewaldet,
manche mit steilen, kühnen Vulkanspitzen; die weite Seefläche wurde von
zahllosen Segelbooten durchfurcht, alle in alten malerischen Formen
mit blendend weißen, viereckigen Segeln; ruhig wie Schwäne glitten sie
einher und näherten sich unserem gewaltigen Dampfer; dann konnten wir
auch die peinliche Reinlichkeit dieser nicht wie die Chinesenboote
bemalten, sondern weiß gescheuerten Schiffe bewundern, deren Insassen
ein geradezu ideales Leben von Ruhe und Behaglichkeit führen mochten.
Zwischen den hoch aus dem Wasser ragenden Bootenden erhob sich auf
den meisten eine kleine Kabine mit Wänden aus Bambusgeflecht, und im
Innern lagerten die Insassen, ganze Familien, anscheinend unbekümmert
um den häßlichen, schwarzen Rauch pustenden, lärmenden Riesendampfer,
der die olympische Ruhe und Erhabenheit dieser einzig schönen Natur so
rücksichtslos störte.

Auf solche scheinbar vollständig landumschlossene Seen folgten enge,
von hohen Felseninseln eingefaßte Meerengen, die durch ihr heftiges,
schäumendes Flutenspiel reißenden Bergflüssen glichen, und waren
sie, nicht ganz ohne Gefahr für den Dampfer, passiert, so traten
uns wieder die entzückendsten Inselgruppen vor Augen; die aus den
blauen Fluten emporsteigenden Anhöhen waren bis hoch hinauf durch
die fleißigen Inselbewohner in Terrassen geteilt worden, um die
Bebauung zu ermöglichen; auf jeder Insel zeigten sich diese parallelen
Terrassenlinien, während in den lauschigen, saftiggrünen Thälern,
halb versteckt zwischen schattigen Hainen, die reinlichen Häuschen
der Einwohner lagen. Zuweilen fuhren wir so nahe an ihnen vorbei,
daß wir mit aller Deutlichkeit die Einzelheiten ihrer bescheidenen
Haushaltungen wahrnehmen konnten; oder den Strand entlang zogen sich
größere Städte hin mit Tempeln und Pagoden und regem Schiffsverkehr.
Tempelchen und Heiligenschreine mit zahlreichen hochroten Opferthoren
thronten auch auf den kleinsten Felseninselchen, gewöhnlich einzelne
von ungemein malerischen, phantastisch geformten Fichten, deren
lange, bis ins Wasser reichende Aeste von dem durch unseren Dampfer
aufgeworfenen Wellenspiel bewegt wurden. Ueber dem ganzen entzückenden,
stets wechselnden Bilde lag solcher Friede, solch Wohlbehagen, daß
man am liebsten gleich hier ausgestiegen wäre, um inmitten dieses
glücklichen Inselvölkchens den Rest seiner Tage zu verleben. Manchmal
erinnerten mich gewisse Strecken dieses Binnenmeeres an die Azoren, an
die schönen Sandwichinseln, Tausende von Kilometern weiter östlich,
mitten im Großen Ozean gelegen; dann wieder an die Thousand Islands
im St. Lorenzostrom, die ich so oft durchfahren hatte, oder an den
herrlichen träumerischen Puget Sound im fernen Washington-Territorium.
Wie die noch heute von Indianern bewohnten stillen Waldinseln
dieser amerikanischen Inlandsee mochten die Inseln, an denen wir
vorüberglitten, vor urdenklicher Zeit ausgesehen haben. Seit
Jahrtausenden aber sind sie schon der Kultur unterworfen, und gerade
diese Vereinigung von verständnisvoller Kultur und idealer Natur ist
es, welche das Inlandmeer so reizvoll macht. Manche dieser Tausende von
Inseln sind heilige Stätten der Japaner, so die Insel Miyadschima in
der Nähe der großen Stadt Hiroschima. Ein einziger herrlicher Park mit
riesenhaften, uralten Kryptomerien umgiebt die wunderbaren Tempel, denn
an diese Baumriesen darf die Axt nicht angelegt werden; mitten unter
den Pilgern ziehen die flüchtigen Waldbewohner, die Hirsche, umher
und lassen sich mit der Hand füttern; nach einer uralten Vorschrift
dürfen auf dieser heiligen Insel keine Geburten und keine Todesfälle
vorkommen. Erwartet man solche Ereignisse, so werden die Betreffenden
ans Festland geschickt.

Zu schnell vergingen uns Passagieren der Tag und die Nacht, und
am nächsten Morgen sahen wir mit Bedauern das Ziel unserer Reise,
gleichzeitig das Ende des Binnenmeeres, die weiße Stadt Kobe vor
unseren Augen am Horizont auftauchen. Aber glücklicherweise wird dem
Weltwanderer durch japanische Dampfer Gelegenheit geboten, die Inseln
der Inlandsee zu besuchen und länger auf ihnen zu verweilen. Freilich
sind diese Dampfer nicht solche europäischer Art. Nur der Schiffskörper
und die Maschinen sind europäisch, alles Uebrige ist japanisch;
der Reisende muß sich mit der recht frugalen japanischen Kost
zufriedengeben, und will er seine Kabine betreten, so muß er sich zuvor
seines Schuhwerks entledigen, gerade so, als würde er ein japanisches
Haus besuchen. Aber wie gerne opfert man die gewohnte Bequemlichkeit,
um diesen ostasiatischen Lago Maggiore zu besuchen und einige Wochen
ungetrübten Glückes inmitten der entzückendsten Inselwelt des Erdballes
zu verleben!

Obschon Kobe, nächst Yokohama der größte und besuchteste Seehafen
des Mikadoreiches, ebenfalls zu den angenehmsten Orten des letzteren
gehört, wirkte die Landung hier doch ernüchternd auf uns, als wären wir
aus dem Olymp herabgestiegen mitten unter das prosaische, geschäftige
europäische Erdenwallen. Kobe ist nämlich in der That nichts weiter
als ein Stückchen Europa, an den Strand der größten Japaninsel
Hondo versetzt. Freilich ein schönes Stück Europa, etwa ein Stück
der Riviera, Mentone oder Bordighera. Eine schöne breite Straße mit
Baumalleen und grünen Rasenflächen legt sich um die stets mit Hunderten
von Dampfern und Segelfahrzeugen belebte Bucht, an der Landseite mit
blendend weißen stattlichen Gebäuden besetzt, in deren Mitte stets
die schwarz-weiß-rote Flagge auf dem deutschen Konsulate flattert.
Am südlichen Ende dieser Häuserreihe ragt eine von einem Leuchtturm
überhöhte Landzunge weit in die Bucht; sie wurde durch die Schlamm-
und Steinmassen des zuweilen sehr wasserreichen Minatogawaflusses
aufgeworfen, der hier an seiner Mündung die Grenze zwischen Kobe und
der japanischen Zwillingsstadt Hiogo bildet. Indessen von einer Grenze
zwischen beiden kann hier eigentlich nicht gesprochen werden, denn
beide Städte sind durch ihre Interessen, durch ihren geschäftlichen
Verkehr längst miteinander vereinigt, und die Ufer zu beiden Seiten des
Minatogawaflusses, welche einst die Städte voneinander trennten, sind
heute in reizende Parkanlagen verwandelt, ein beliebter Spaziergang der
Europäer sowohl wie der Japaner.

Kobe ist ein Beispiel des in seiner Art geradezu amerikanischen
Städtewachstums, das auch mehrere andere Orte Japans seit der großen
Revolution aufzuweisen haben. Erst vor etwa vierzig Jahren kam der
erste europäische Ansiedler nach dem öden Landstrich östlich des
kleinen Städtchens Hiogo, den die Japaner für eine europäische Kolonie
bestimmt hatten, und heute zählen Hiogo und Kobe zusammengenommen gegen
zweihunderttausend Einwohner. Wie Yokohama, so hat auch Kobe seine
englischen und deutschen Klubs, große vorzügliche Hotels ganz nach
europäischer Art, Vereine, Gesellschaften und einen sehr bedeutenden
Handel. Die Straßen Kobes übertreffen sogar jene von Yokohama an Breite
und Reinlichkeit. Inmitten des seinem Aussehen nach lebhaft an den
europäischen Süden gemahnenden Städtchens befand sich zur japanischen
Zeit ein öder Fleck, der Richtplatz von Hiogo. Das Blut Hunderter von
Opfern des Schlachtbeils hat den Boden hier gedüngt; an den Ecken des
Platzes erhoben sich die hohen Stangen, auf welche die abgeschlagenen
Köpfe, eine Beute für Geier, gesteckt wurden. Heute ist dieser Fleck
in einen reizenden kleinen Park verwandelt, hinter welchem sich die
Kobe umgebenden Anhöhen hinauf eine europäische Villenstadt befindet,
die Wohnungen der Geschäftsleute, welche unten am Strande ihre
Bureaus und Warenlager haben. Wer diese anmutige, belebte Hafenstadt
durchwandert und sie mit ähnlichen Städten in Europa vergleicht, der
würde ihre Einwohnerzahl auf mindestens mehrere tausend schätzen.
Und doch erreicht sie in Wirklichkeit nicht einmal achthundert, die
Frauen und Kinder eingeschlossen. Man würde es nicht für möglich
halten. Während meiner Anwesenheit fand in der hübschen Konzerthalle
der Stadt ein Konzert statt; das Auditorium war mit Damen in den
elegantesten Toiletten und Herren im Frack und weißer Binde vollständig
gefüllt, als stände die Halle in Wien oder Berlin und nicht bei den
Antipoden; ein ganz annehmbares städtisches Orchester begleitete die
fremden Künstler, und das Publikum beklatschte Brahms und Schumann mit
Enthusiasmus. Wie tagsüber in den Straßen, so herrschte auch abends
in den Klubs reges Leben; besonders wenn fremde Kriegsschiffe im
Hafen liegen, was sehr häufig vorkommt, geht es in diesen eleganten
Lokalen sehr munter zu. Mein Zimmer im Oriental Hotel ging gerade auf
den benachbarten deutschen Klub, und ich kann von diesem fröhlichen
Treiben recht viel erzählen. Vor drei Uhr morgens konnte ich keine
Nacht die Augen schließen; die Handvoll biederer Germanen machte auf
der Klubterrasse bei schäumendem Münchener Faßbier genug Lärm für einen
großstädtischen Turnvereinsabend. Die meisten Europäer, die nicht als
Regierungsvertreter oder Missionare hier wohnen, sind Importeure,
Seiden- und Theehändler. Mit Interesse besuchte ich eines der großen
Thee-godowns, wo Hunderte von Japanerinnen bei kärglichem Tagelohn die
Theeblätter in heißen Pfannen rösten; mit offenen Jacken, die Brust und
Arme entblößt, stehen sie vom frühen Morgen bis nach Sonnenuntergang an
ihren Röstöfen und wenden mit den Händen die schmutziggrünen Blätter,
die hauptsächlich in Nordamerika guten Absatz finden.

Das Schönste von Kobe ist seine Umgebung. Unmittelbar hinter der Stadt
steigen eine Reihe von Bergen auf mehrere hundert Meter vom Meere
empor, darunter sogar ein Bismarcksberg, wegen der drei einsamen,
schlankstämmigen Bäume, die auf seinem kahlen Scheitel stehen, so
genannt; diese Berge entlang ziehen sich prächtige Spaziergänge
und führen zu schattigen Wäldern, Aussichtspunkten, Tempeln und
Theehäusern. Der anmutigste Spaziergang ist wohl jener zu den berühmten
Wasserfällen von Nunobiki, in deren Nähe man häufig große Affen
herumklettern sieht. An den Wasserfällen spielt sich, besonders an
Festtagen, ein gutes Stück japanischen, recht ursprünglichen Lebens
ab. In den Tümpeln zu Füßen der Fälle baden sich nackte Männlein und
Weiblein zusammen in rührender Ungeniertheit, in den Theehäusern tanzen
die Maikos und singen die Geishas bei unvermeidlichem Samisengezupfe.
Kaum wurden die Mädchen meiner oder irgend eines anderen Europäers
gewahr, so ging der monotone Singsang los. Man hat die Mädchen
hundertmal tanzen gesehen, das Pin-Pin der japanischen Guitarre
tausendmal gehört, aber man läßt es doch immer wieder über sich
ergehen. Japan ist eben das Land des Gesanges und des Tanzes.



Yokohama.


Die Größe und Bedeutung des modernen Japan im Welthandel, die
Leichtigkeit, mit der es sich im Laufe der letzten drei Jahrzehnte
der europäischen Kultur erschlossen und die europäischen Industrien
angenommen hat, lassen die Ansicht gerechtfertigt erscheinen, daß auch
die wenigen europäischen Handelsstädte in Japan in rascher Zunahme
begriffen seien. Aber die Zahl der in Japan ansässigen Europäer,
welche auch in der besten Zeit kaum viertausend erreicht haben dürfte,
hat in den letzten Jahren, besonders nach dem neuen Vertrag mit den
europäischen Mächten, welcher die Europäer in Japan in unerhörter Weise
den japanischen Gerichten unterstellt, eher ab- als zugenommen. Im
ganzen waren in Japan bis 1898 sieben Städte den Europäern geöffnet,
d. h. in sieben Städten wurden ihnen eigene, streng begrenzte Quartiere
für Wohnsitze angewiesen, und die dort ansässigen Weißen, zum größten
Teil Engländer und Amerikaner, verteilen sich bis auf die jüngste Zeit
in folgender Weise:

    Yokohama etwa 1800
    Tokio     „    900
    Kobe      „    900
    Nagasaki  „    400
    Osaka          150
    Hakodate        63
    Niigata         10.

Unter diesen etwas über 4000 Ausländern befinden sich 2100 Engländer,
1000 Amerikaner, 600 Deutsche und 500 Franzosen.

Wenn man berücksichtigt, daß mehr als die Hälfte dieser Ausländer
christliche Missionare sind und daß von den übrigen 2000 wieder mehrere
hundert im diplomatischen Dienst ihrer Heimatsländer oder im Dienst
der japanischen Regierung stehen, so bleiben im ganzen etwa tausend
Europäer, welche in Japan als Kaufleute thätig sind.

Das wichtigste Emporium des europäischen Handels mit Japan und
gleichzeitig die größte europäische Ansiedelung im Reiche des
Mikado ist Yokohama. Die großen Dampfergesellschaften, welche den
Verkehr zwischen Europa, Ostasien und Amerika mit Japan vermitteln,
darunter auch der Norddeutsche Lloyd, lassen ihre Schiffe hier
anlaufen. Yokohama ist das große Thor nicht nur für den ausländischen
Warenverkehr und die Touristenwelt, sondern auch für die Japaner
selbst: es ist der Hafen der Reichshauptstadt Tokio und durch seine
große Nähe beinahe nur ein Vorort der letztern. In gesellschaftlicher
Hinsicht bilden Yokohama und Tokio nur eine Stadt. An größern
Festlichkeiten in der einen Stadt nehmen die Europäer der andern
gewöhnlich teil, und zwischen beiden herrscht das ganze Jahr über reger
Verkehr.

Wer auf einem der großen Passagierdampfer des Norddeutschen
Lloyds von China aus oder mit den Prachtschiffen der kanadischen
Pacificgesellschaft von Nordamerika aus sich dem Hafen von Yokohama
nähert, der wird von dem europäischen Leben dort vor der Hand nichts
gewahr. Beim Anblick der malerischen Pracht der Seeküsten dieses
ostasiatischen Inselparadieses, der Fremdartigkeit des Schiffsverkehrs
auf der tiefblauen, mit zahlreichen, seltsamen Eilanden gespickten
Meeresfläche glaubt er sich nach der langen einförmigen Seefahrt eher
einem anderen Planeten zu nähern, als dessen erstes Wahrzeichen er
bei klarem Wetter den wunderbaren Schneekegel des heiligen Berges der
Japaner, des Fudschiyama, erblickt. Scharf hebt sich die den größten
Teil des Jahres mit Schnee bedeckte Vulkanspitze von dem italienischen
Himmel ab, der mich in seiner Eigenart und Majestät an einen anderen
Bergriesen in der westlichen Hemisphäre erinnerte, an den gewaltigen
Orizaba in Mexiko. Wie dieser, so weist auch der Fudschiyama mit
seinem Schneekegel den Seefahrern leuchtend den Weg. Bald nachdem
er über dem Horizont erschienen, zeigt sich gegen Osten ein zweiter
mächtiger Vulkan, der stets qualmende Oschima auf der Vriesinsel. Dann
kommen die ungemein malerischen Küsten der Bai von Tokio in Sicht, der
Dampfer kreuzt die Mississippibucht mit ihren steilen, bewaldeten,
malerisch geformten Felsen und geht endlich im Angesicht von Yokohama
mitten zwischen Hunderten von Schiffen aller Art, von den größten
fremdländischen Kriegsdampfern bis zu den winzigen japanischen Sampans,
etwa einen Kilometer weit vom Lande vor Anker. Wie das Theaterschiff
im dritten Akt von Meyerbeers „Afrikanerin”, ist auch unser Dampfer
bald von fremdartigem, dunkelhäutigem Volke erobert, das aber nicht
gekommen ist, um den friedfertigen Seefahrern den Garaus zu machen,
sondern mit freundlichem Grinsen in der höflichsten Weise den Kulis
Adressen von Hotels, Schneidern, Schustern und Kuriositätenhandlungen
zu überreichen. Die drei vornehmsten Hotels von Yokohama holen
glücklicherweise die Passagiere in eigenen Dampfbarkassen ab, und
ihre Angestellten überheben sie der Sorge um ihr Reisegepäck. Auf
der ganz europäisch eingerichteten Landungspier stehen wie bei uns
die Droschken, Dutzende von Kurumas, bequeme einsitzige Fauteuils
auf Rädern, bereit, und ein Kuli, der Kutscher und zweibeiniges
Zugtier zugleich ist, bringt uns in raschem Lauf auf einer durchaus
europäischen Straße nach dem ebenso europäischen Grand Hotel.

Was den Reisenden in Yokohama gewiß zunächst auffällt, ist die
Abwesenheit von all den unangenehmen, lärmenden und schmutzigen
Zuthaten unserer europäischen Häfen. Nirgends die hohen, düstern
Warenhäuser, die rauchenden und pustenden Lokomotiven, kreischenden
Dampfkräne, Schienengeleise, Frachtwagen, schmutzigen Hafenstraßen mit
ihrem internationalen Verkehr, ihren Matrosenkneipen und Kramläden.
Yokohama zeigt sich von der See aus eher wie eines unserer fashionablen
Seebäder, Ostende oder Norderney, als wäre es gar nicht eine der
wichtigsten Hafenstädte und Warenzentren eines großen Kontinents,
sondern nur eine Villeggiatur wohlhabender Europäer, die sich hier wie
etwa an der Riviera der herrlichen Natur und des gesellschaftlichen
Lebens erfreuen wollen. Tausende von Globetrottern und Weltreisenden,
vergnügungssüchtigen reichen Amerikanern und Engländern ziehen hier
das ganze Jahr über aus und ein; Hunderte von europäischen Ansiedlern
in Ostasien, hauptsächlich aus Shanghai, Hongkong, ja aus Bangkok
und Singapore bringen den Sommer mit ihren Familien in Japan zu, und
Yokohama ist der wichtigste Landungsplatz, der Verteilungspunkt all
dieses fashionablen Verkehrs.

[Illustration: Der Nankotempel zu Kobe.]

Dabei ist diese europäische Stadt im Reiche des Mikado eine ganz neue
Gründung; noch vor etwa vierzig Jahren war der Name Yokohama höchstens
einigen Diplomaten bekannt, als das damalige elende Fischerdörfchen
von ein paar hundert Einwohnern von der japanischen Regierung den
Europäern für eine Ansiedelung zugewiesen wurde. Damals hätte gewiß
niemand vorausgesagt, daß nach vier Jahrzehnten dieses Fischerdorf zu
einer Großstadt von nahe 200000 Einwohnern und einem Welthafen von
ein paar Millionen Tonnen, mit einem Warenverkehr im Werte von etwa
hundertfünfzig Millionen Yen herangewachsen sein könnte.

Yokohama liegt auf einer nur wenige Meter über dem Meeresspiegel
sich erhebenden, vollständig flachen Insel, auf der Ostseite bespült
von den Wellen der Bai von Tokio, auf den übrigen drei Seiten durch
Schiffahrtskanäle vom Lande getrennt. Diese etwa zwei Kilometer
lange und einen Kilometer breite Insel wird durch einen mit schönen
europäischen Gebäuden besetzten und mit Gartenanlagen geschmückten
Boulevard in zwei Hälften geteilt. Die nördliche Hälfte wird von der
japanischen, die südliche von der europäischen Stadt eingenommen.

Man wäre nun geneigt zu glauben, daß die im Laufe der Jahre hierher
verschlagenen Europäer von der so sympathischen, so ansprechenden und
malerischen Kultur der Japaner, die sie selbst so sehr rühmen, etwas
angenommen haben würden. Jeder nach Japan kommende Tourist hat das
Verlangen, dies zu thun, und erkennt gerne die großen Vorteile an,
welche sie in mancher Hinsicht des Lebens gegenüber der nüchternen,
geschäftigen, europäischen besitzt. Aber die ersten Ansiedler waren
eben Engländer. John Bull bleibt überall derselbe, ob er an den Ufern
der Themse oder bei den Antipoden wohnt. Seine Zivilisation ist ihm
so fest an den Leib gewachsen wie seine Beine, und er trägt sie
überall mit hin. Die Engländer haben das Werk begonnen, die anderen
Nationen sind ihnen gefolgt, und so ist hier eine durchaus europäische
Stadt entstanden, mit geraden, wohlgepflasterten und erleuchteten
Straßen, mit steinernen Häusern im europäischen Stile, mit Kaufläden,
Buchhandlungen, Banken, Apotheken; mit vornehmen Hotels, Klubhäusern,
Kirchen, Zeitungsbureaus, daß man sich ebensogut in Plymouth oder
Penzance wähnen könnte, wären im Straßenverkehr nicht die japanischen
Diener, Arbeiter und Bettler so zahlreich.

Neben dem vorgenannten, Nipon o dori genannten Boulevard mit dem
großen Postamte und mehreren anspruchsvollen Konsulatsgebäuden ist
die schönste Straße Yokohamas der Bund, eine schnurgerade, mit Bäumen
bepflanzte Avenue, die sich wie die Promenade des Anglais in Nizza
längs des Meerufers einen Kilometer weit hinzieht und nur auf der
Landseite von Häusern besetzt ist. Aber hier, ebenso wie in den hinter
dem Bund befindlichen Straßen, befinden sich nur die Hotels, Klubs,
Konsulate und Geschäftshäuser. Doch ist die City, das geschäftliche
Viertel von Yokohama, nur tagsüber belebt. Die meisten Europäer wohnen
auf dem Bluff, südlich der Insel von Yokohama auf dem Festlande
von Nipon. Dort erhebt sich steil aus dem Meere ein etwa fünfzig
Meter hohes Plateau mit einer entzückenden Rundsicht auf die weite
Meeresbucht, die sie umfassenden malerischen Küsten und die entfernten
Bergketten des zentralen Japans mit dem alles überragenden Fudschiyama.
Wer den steilen, mit japanischen Kuriositätenlagern und Kaufläden
besetzten Weg zu dem Bluff emporklettert, befindet sich in wenigen
Minuten in einer reizenden Villenstadt, einem kleinen Homburg, ebenso
durchaus europäisch wie die Geschäftsstadt zu ihren Füßen. Jede der
hübschen, in modernem Baustil errichteten Villen ist von einem Garten
umgeben, in welchem die reiche japanische Flora, von eingeborenen
Kunstgärtnern gepflegt, zu geradezu großartiger Entfaltung gelangt ist,
vor allem in dem weitläufigen, öffentlichen Park, dem Bluff Garden,
hinter welchem man sogar einen Wettrennplatz wie jenen in Goodwood oder
Epsom gewahr wird. Verborgen zwischen majestätischen Kampferbäumen und
japanischen Kiefern liegen hier oben auch das deutsche und englische
Hospital, der Friedhof und eine Anzahl Missionsanstalten. Ebenso wie
die City unter dem Bluff, enthält auch die Villenstadt auf dem Bluff
etwa 300 Häuser mit ebensovielen Gärten. Hier leben die Kaufherren
von Yokohama mit ihren Familien in entzückenden Homes, behaglich in
ganz europäischem Stil eingerichtet, aber mit durchweg japanischer
oder chinesischer Dienerschaft. Ist der Erwerb in Yokohama auch lange
nicht so bedeutend wie in Shanghai oder Hongkong, so ist dafür auch
das Leben billiger; die Chinesen sind die ehrlichsten und treuesten
Diener, die Japaner die freundlichsten, dabei auch ganz vortreffliche
Köche, so daß es in Yokohama den europäischen Hausfrauen bei weitem
nicht so schwer ist, die Haushaltung zu besorgen, wie in Europa und
auch der Junggeselle in seinem eigenen Heim ein sehr behagliches Dasein
führen kann. In diesen Haushaltungen geht es zuweilen recht lustig
her; es werden Gesellschaften, Tänze, Diners veranstaltet, und für die
Vorbereitungen läßt man die japanischen, ungemein findigen Diener Sorge
tragen. Sie stehen mit ihren Kollegen in anderen Häusern in Verbindung;
fehlt es an Fleisch oder Fischen, so wird das Fehlende von diesen
Kollegen entlehnt, und nicht selten kommt es vor, daß ein Kaufherr,
bei einem anderen zu Gaste geladen, seine eigenen Bestecke, Teller und
Schüsseln zu seiner Ueberraschung auf dem fremden Tische findet.

Recht eigentümlich ist in Yokohama, ebenso wie in Kobe, die Numerierung
der Häuser. Wohl führen die Hauptstraßen auch Namen, und die einzelnen
Geschäftshäuser haben ihre kleinen Firmentafeln, aber die Häuser sind
nicht nach Straßen, sondern insgesamt je nach der Reihenfolge ihrer
Erbauung numeriert, so daß es sowohl in der City wie auch auf dem
Bluff nur gegen dreihundert Nummern giebt, wobei z. B. auf dem Bluff
neben Nummer 99 Nummer 251, gegenüber Nummer 115, 186 und 165 liegen.
Wo immer möglich, hat man in den Straßen die Nummern fortlaufend
gehalten; denn sie spielen in Yokohama eine viel größere Rolle als
in europäischen Städten. Da die Boten, Kuruma-Kulis, Briefträger nur
ganz selten die europäischen Schriften lesen und auch die europäischen
Namen nur schwer aussprechen können, so wird im öffentlichen Verkehr
ein Geschäft gewöhnlich nur mit seiner Nummer bezeichnet. Die Kaufleute
drucken auf ihren Briefbogen und Visitenkarten ihre Nummer ebenso bei
wie ihre Kabeladresse, aber sonst weder Straße noch Haus. Bei den
Kuruma-Boys, Dienst- und Geschäftsleuten heißen die Europäer einfach
Gentleman Nummer 3 oder Lady Nummer 10. Einen anderen Namen kennen sie
nicht.

Wie die Lebensmittel, so sind auch die Fahrgelegenheiten in Yokohama
sehr wohlfeil; die Mehrzahl der Europäer haben ihre eigene Kuruma,
die mit dem Lohn und Unterhalt des Kuli monatlich etwa zehn Yen, also
ungefähr fünfundzwanzig Mark kostet; Privatequipagen mit Kutscher
und Pferd kosten nur etwa hundert Mark monatlich, und deshalb wird
auch von den Fahrgelegenheiten ungemein viel Gebrauch gemacht. Das
gesellschaftliche Leben unter dem Häuflein der Europäer und Amerikaner
der verschiedensten Nationen ist sehr rege; die Geschäftszeit
beschränkt sich auf einige Stunden täglich, und auch diese werden nur
an Steamer Days, wenn die einlaufenden Dampfer die Post bringen und
abholen, streng eingehalten. Die Abende werden im Bekanntenkreise
oder in den beiden Klubs zugebracht; zuweilen giebt es Konzerte und
Theatervorstellungen von Wandertruppen, und fehlen diese, so hat doch
Yokohama seine Gesang-, Orchester-, Cricket-, Renn- und Segelvereine,
gerade so wie irgend eine Stadt Europas, obwohl die ganze verfügbare
Bevölkerung kaum tausend Seelen umfaßt. Sogar ein städtisches Orchester
von japanischen uniformierten Musikern ist vorhanden, und an den
Abenden, an welchen dieses Orchester in dem Garten vor dem Grand Hotel
Tafelmusik macht, herrscht in den Speisesälen dieses Hotels ein so
elegantes und bewegtes Leben wie in den vornehmen Restaurants von
Piccadilly, die Damen in großer Abendtoilette, die Herren in Schwarz
mit weißer Halsbinde.

Dieses in Bezug auf Eleganz vielleicht sogar ein bißchen zu weit
getriebene Gesellschaftsleben wäre in geistiger Hinsicht reger
und angenehmer, wenn die Europäer nicht in so viele geschlossene
Gesellschaften gespalten wären. So haben vor allem die sehr zahlreichen
amerikanisch-protestantischen Missionare und ihre Frauen mit der
kaufmännischen und diplomatischen Gesellschaft fast so gut wie gar
keinen Verkehr. Ebenso sind die Engländer von den Amerikanern getrennt,
beide wieder von den deutschen, und nur bei großen Anlässen, wie bei
Wettrennen, Yachtfahrten, Konzerten und dergleichen trifft man sie
vereinigt.

Japaner fehlen in der europäischen Gesellschaft vollständig. Die
Japaner haben ihren eigenen Stadtteil und leben dort gerade so wie
in irgend einer anderen japanischen Provinzstadt. Nur haben sie
durch die fortwährende Berührung mit Europäern doch schon, was ihre
Trachten anbelangt, einzelne abendländische Kleidungsstücke, Hüte,
Schuhe oder Regenschirme angenommen, sie haben im Verkehr mit den
rücksichtslosen, häufig roh auftretenden englischen und amerikanischen
Touristen viel von ihrer Höflichkeit eingebüßt, und auch die Bazare
haben sich diesem, von den ansässigen Europäern nicht mit Unrecht
gehaßten Globetrotterverkehr angepaßt. Wohl sind die Kaufläden ungemein
zahlreich, aber sie enthalten doch nur auf den Globetrottergeschmack
berechnete Artikel, und feine, altjapanische Kunstsachen oder
Antiquitäten wird man nur selten finden. Dennoch gehören die
beiden Hauptstraßen des japanischen Stadtteiles, Benten-dori und
Hondscho-dori, zu den belebtesten und sehenswertesten von ganz
Japan. Die berühmte Isezakicho, die breiteste und belebteste Straße
Yokohamas mit ihren fünf großen Theatern, ihren Schießbuden, Akrobaten
und Märchenerzählern, mit ihren feinen japanischen Restaurants und
Theehäusern, ein beliebter origineller Spaziergang für die Fremden
und wohlbekannt bei den Einheimischen, ist im Sommer 1899 einem
verheerenden Brande zum Opfer gefallen. Die schönen großen Bazare
sind bis auf den Grund zerstört, weit schweifte der Blick auf dem
öden Trümmerfeld vom Bahnhof bis zur griechischen Kirche, wo wenige
Stunden vorher hohe Häuser standen und viele Tausende von Menschen ihr
Heim besaßen. Verbrannt sind auch die Hauptpolizeistation, die große
Yoshidaschule, die Musaschibank, Backsteinbauten, die der Gluthitze
keinen Widerstand zu leisten vermochten.

Von den anderen Häusern sind, da sie nur aus Holz gebaut waren, der
steinerne Kochherd und die Dachziegel übrig geblieben. Auf jedem
Platze, wo ein Haus gestanden, wird bei einem Brande gewöhnlich von
der Polizei eine Tafel mit dem Namen des Besitzers angebracht, damit
derselbe im Schutte nach Gegenständen suchen kann, die die Hitze
überdauert haben sollten. Binnen wenigen Stunden wurden 3300 Häuser vom
Feuer verzehrt, viele Menschenleben sind verloren gegangen, und der
materielle Schaden erreichte viele Millionen.

Glücklicherweise sind wenigstens die anderen Stadtteile Yokohamas,
welche ebenfalls bedroht waren, verschont geblieben. Das japanische
Yokohama wird von den Europäern eher unterschätzt, denn obschon ich
fast alle größeren Städte des Mikadoreiches besucht habe, fand ich
in Yokohama doch sehr Sehenswertes, vor allem in der stets belebten
Theaterstraße mit ihren unzähligen Schaubuden, Theehäusern, Theatern,
Vergnügungen der verschiedensten Art. Dazu ist die Umgebung Yokohamas
von fast paradiesischer Schönheit; auf viele Meilen in der Runde
gleicht die Landschaft einem wohlgepflegten Herrschaftsgarten mit
den entzückendsten Tempelchen und Tempelhainen, mit reizenden,
ungemein reinlichen Dörfchen, in denen die Bevölkerung auch noch
in paradiesischer Einfachheit lebt; Kamakura mit seiner berühmten
kolossalen Bronzestatue des Buddha und seinen alten Tempeln,
Enoshima mit seinen Seebädern, Atami mit seinem heißen Hochsee und
weiterhin die Gebirgsregion von Hakone mit dem gleichnamigen See und
dem fashionabelsten Bade- und Sommeraufenthaltsort der Europäer in
Ostasien, Myanoshita. Wie man sieht, leben die Handvoll abendländischer
Pioniere im fernen Japan ganz behaglich und entbehren nur wenig von den
Genüssen und Annehmlichkeiten unserer europäischen Städte; sie haben
sogar ihre eigenen Zeitungen. In diesem Oertchen, das an Einwohnern
nicht mehr besitzt als irgend eines unserer größern Dörfer, erscheinen
nicht weniger als vier Tagesblätter, durchwegs in englischer Sprache.
Obschon die Deutschen an Zahl den Engländern und Amerikanern zunächst
stehen, haben sie bis jetzt doch noch keine eigene Zeitung, dafür
besteht eine englische Wochenschrift, die Eastern World, welche,
von einem Deutschen, Herrn Schröder, herausgegeben, die deutschen
Interessen in Japan geschickt und kraftvoll vertritt, zuweilen auch
deutsche Aufsätze bringt. Wie die vier englischen Tagesblätter bei
einer Auflage von sechzig bis einigen hundert Exemplaren bestehen
können, dürfte den meisten Zeitungsleuten Europas wohl ein Rätsel
sein, vielleicht ist es auch ihren eigenen Redakteuren ein Rätsel.
Dabei sind diese Blätter ganz vortrefflich geschrieben und gedruckt
und enthalten täglich die wichtigsten telegraphischen Nachrichten aus
Europa. Heute untersteht die europäische Einwohnerschaft leider der
japanischen Verwaltung und bildet nicht mehr eine jener eigenartigen
Republiken, deren Häupter sich aus den Konsuln und angesehenen
Kaufleuten zusammensetzen, wie die chinesischen Vertragshäfen. Die
stolzen englischen Kaufherren, die deutschen Reserveoffiziere, die
anmaßenden Yankees, dazu die den vornehmsten Ständen angehörigen
Touristen aller Herren Länder, ob Minister oder General, sind heute
den kleinen schlitzäugigen häßlichen Japanern unterworfen, und leider
beuten diese ihre souveräne Stellung, welche ihnen in, man kann wohl
sagen, unbesonnener Weise, gewährt worden ist, zum Nachteil der
Europäer aus. Die Gerichtspflege läßt sehr viel zu wünschen übrig, und
die Klagen über erlittenes Unrecht werden immer zahlreicher. Wieder war
es England, das, um seinen gewinnsüchtigen Kaufleuten Handelsvorteile
zu sichern, seinen kaukasischen Rassenstolz vor der gelben Rasse
gebeugt hat. Auch bezüglich des Zoll- und Postwesens enthalten die
Zeitungen seit Jahren fortwährende Klagen über die Unzuverlässigkeit
der japanischen Merkure. Selbst die offizielle Regierungszeitung, die
Japan Mail, hat sich diesen Klagen angeschlossen.

[Illustration: Im Tempelhain von Asakusa. (Winterbild.)]



Die Hauptstadt des Mikadoreiches.


[Illustration: Das erste Gymnasium zu Tokio.]

Japan wird gerne das England oder Frankreich von Asien genannt, aber
seine Hauptstadt Tokio ist nicht das Paris von Asien. Unter den
zahlreichen Reisenden, welche die Hauptstadt des Mikadoreiches in den
seit ihrer Eröffnung vergangenen vier Jahrzehnten besucht haben, dürfte
es nur recht wenige geben, die von dieser frühern Residenzstadt der
Schogune und jetzigen Kaiserstadt nicht sehr enttäuscht gewesen sind.
Tokio ist wohl in Bezug auf seine Ausdehnung und Bevölkerungszahl
mit Paris zu vergleichen; aber seiner Einförmigkeit nach ist es ein
asiatisches Philadelphia, seiner Unfertigkeit nach ein asiatisches
Chicago, vielleicht die häßlichste und ärmlichste aller Millionenstädte
des Erdballs. Man kommt gewöhnlich mit großen Erwartungen nach
Tokio, das als der vornehmste Sitz des europäischen Wissens und der
europäischen Kultur in Asien gilt. Bis zu einem gewissen Grade ist
das auch richtig, allein nehme man die paar Dutzend europäischer
Monumentalbauten und Villen fort, welche innerhalb der letzten zehn
Jahre hier an den Ufern des Sumidagawa entstanden sind, so bleibt
von dem vielgerühmten Tokio, der Hauptstadt des Ostens, nicht viel
mehr übrig als ein ungeheures Dorf. Vergeblich sucht man hier irgend
welche der glänzenden, fremdartigen Prachtbauten, wie sie die alten
Großstädte Indiens oder die Hauptstädte von Persien, Aegypten, Siam,
Birma, selbst einzelne chinesische in so großer Zahl besitzen. Tokio
ist nicht einmal die schönste und interessanteste Stadt des eigenen
Landes. Was die Lage und Umgebung anbelangt, habe ich Nagasaki viel
malerischer gefunden, die frühere Hauptstadt des Mikadoreiches,
Kioto, viel interessanter; Kioto besitzt auch großartigere japanische
Paläste, Nikko schönere Tempel, Nagoya schönere Straßen, Osaka mehr
Leben und Industrie. Tokio ist nur die volkreichste der japanischen
Städte, dazu die besuchteste und bekannteste, die Residenz des Kaisers,
der Sitz der Regierung. In seiner Anlage und Bauart aber wirkt es
sehr ernüchternd. Es ist keine japanische Stadt mehr und noch nicht
eine europäische, in einem keineswegs malerischen Uebergangsstadium
begriffen, das, wenn einmal vorüber, aus dem einstigen urjapanischen
Sitz der Schogune eine alltägliche Stadt geschaffen haben wird, wie
etwa Minneapolis oder Omaha oder sonst eine Stadt des amerikanischen
Westens. Allerdings nur dem äußern Rahmen nach, denn glücklicherweise
steckt in dem japanischen Volke ein gesunder Sinn, der sich der von
oben kommenden Europäisierung mit Erfolg widersetzt. Gerade dieses
harte Aufeinanderprallen der beiden einander so fremden Kulturen, der
europäischen und japanischen, macht Tokio augenblicklich interessant
und sehenswert. Welche von diesen Kulturen die Oberhand gewinnen
wird? Vorläufig ist es nicht zu sagen. Der Druck von oben ist stark;
die Regierung arbeitet mit den ihr zu Gebote stehenden, bedeutenden
Mitteln; die Großen und Reichen des Landes folgen ihr zum Teil aus
Klugheit, zum Teil aus Neigung oder Ueberzeugung. Aber auf das
Leben und Treiben des Volkes haben sie glücklicherweise noch keinen
maßgebenden Einfluß gewonnen, die Japaner sind im großen und ganzen in
der Provinz wie in der Hauptstadt, was Sitten und Trachten anbelangt,
dieselben geblieben, wie sie vor der Europamanie der Regierung gewesen
sind, und so zeigt denn Tokio als einzige Stadt des Mikadoreiches
japanisches Leben im europäischen Rahmen, heute und wohl auch noch für
viele Jahre hinaus. Tokio liegt an der Mündung des Sumidagawa, die
weite, seichte Bucht von Yeddo und seine sumpfigen Ufer gestatten aber
den großen Seeschiffen die Annäherung nicht. Der Seehafen von Tokio
ist das einige Kilometer weiter südlich gelegene Yokohama, mit dem es
eine Eisenbahn nach europäischem Muster verbindet. Von dem Sumidagawa
führt ein breiter Kanal in das Hügelland, auf welchem das Häusermeer
von Tokio sich befindet, und windet sich in zwei nahezu vollständigen
Spiralen um den Stadtmittelpunkt. Die innere Spirale umschließt
die Paläste und Gärten der kaiserlichen Residenz, die äußere jene
Stadtviertel, in denen sich die hauptsächlichsten Regierungsgebäude,
Gesandtschaften, Paläste und Villen der vornehmen Welt befinden, und
jenseits dieser äußern Spirale, mit dem Sumidagawa und der Meeresbucht
durch zahlreiche Kanäle verbunden, dehnen sich die großen, ärmlichen
Dörfer aus, die allmählich miteinander verschmolzen und in das
Weichbild von Tokio einbezogen wurden. Die Japaner bauten sich diese
Dörfer und Wohnsitze in den weiten Thälern, die sich zwischen dem
Kranz der das einstige Yeddo umgebenden Hügel befinden; die letzteren
selbst blieben größtenteils von der Ueberbauung verschont und tragen
heute noch den alten, herrlichen Waldschmuck. Sie bilden die Parke und
Tempelhaine, den Stolz und die schönste Zierde von Tokio. Wenn der
alte Hodscho Udschitsuma, der im Jahre 1524 hier auf dem sumpfigen
Boden zwischen den vereinzelten, kleinen Dörfern eine Festung angelegt
hat, etwa noch einmal zum Leben käme, wie würde er sich wundern, rings
um diese Festung eine der größten Städte des Erdballs zu sehen, noch
mehr aber darüber, daß an derselben Stelle, wo einst sein Wohnhaus
stand, heute der Mikado selbst residiert! Die Macht und der Besitz
der Hodschos wurde durch den ersten Schogun Jjejassu gebrochen, der
die kleine Festung Yeddo im Jahre 1598 zu seiner Residenz machte.
Aber auch das hätte Yeddo nicht zu so großem Wachstum und solcher
Blüte verholfen, wenn die Schogune nicht die Feudalfürsten des Landes
verpflichtet hätten, in ihrer unmittelbaren Umgebung einen Teil des
Jahres zuzubringen. Uneinig untereinander, zu schwach, um der Macht
der Schogune aus dem reichen Hause der Tokogawa zu widerstehen, mußten
diese Daimios rings um die befestigte Residenz der Schogune eigene
Wohnsitze für sich und ihr Gefolge bauen, und so entstanden zwischen
dem innern und äußern Festungskanal die Jaschiki von über dreihundert
Daimios. Jeder dieser Daimios zog jährlich mit einer Gefolgschaft von
zahlreichen Samurai, mitunter mehreren Tausenden, über die Hauptstraße
des Reiches, den Tokeido, nach Yeddo, ein Herold schritt diesen
prunkvollen Zügen voran und rief dem Volke, mit dem Fächer winkend, die
Worte zu: „Schita-ni-Oru”, „nieder auf die Knie!” In der Residenzstadt
der Schogune angelangt, bezogen sie mit ihren Familien und stattlichen
Heerscharen die Jaschiki, und sollten sie auf Geheiß der Schogune in
den Krieg ziehen, so mußten sie dem Schogun als Geisel ihre Familien
zurücklassen.

[Illustration: Theehaus in Tokio.]

Diese Ansammlung des gesamten Adels des Landes in Yeddo ließ die Stadt
immer größer und volkreicher werden, und als endlich nach blutigen
Kämpfen die Macht der Schogune gebrochen und Yeddo unter dem Namen
Tokio zur kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt proklamiert wurde, nahm
sie einen noch viel größeren Aufschwung, der noch lange nicht seinen
Höhepunkt erreicht hat. Aber dies geschah auf Kosten des malerischen
Reizes des alten Yeddo, von dem heute nur wenig mehr übrig ist. Zwei
Jahrzehnte haben genügt, es von der Bildfläche verschwinden zu lassen.
Wer heute von Yokohama mit der Eisenbahn nach Tokio reist, der trifft
nach etwa einstündiger Fahrt auf einem modernen, europäischen Bahnhofe
ein, wie etwa in Leipzig, nur daß an Stelle der Droschken lange Reihen
von Rickshaws, von japanischen Kulis gezogene Handwägelchen, die
Reisenden erwarten. Auch diese Rickshaws sind bereits europäisiert.
Die Kulis tragen blaue Jacken, enganliegende Beinkleider und runde
Hüte, die Rickshaws selbst zeigen Nummern wie unsere Droschken. Ein
Portier in europäischer Uniform besorgt das Gepäck. Man rollt durch
breite Straßen, in denen sich Geschäfte mit europäischen Firmentafeln
und europäischen Waren befinden, und gelangt endlich zu einem von
einem Garten umgebenen europäischen Hotel, dem Imperial, auf japanisch
Taikoku Hoteru genannt, das ebensogut in Wiesbaden oder Trouville
stehen könnte und dort erst recht die eleganteste und modernste aller
Fremdenkarawansereien sein würde. Sogar die freundlichen, hübschen,
kleinen Nesans, die in Japan allgemein die Hotelbedienung besorgen,
sind der modernen Kultur geopfert worden, und an ihre Stelle sind
Kellner getreten. Man schläft in vollständig europäischen Zimmern
mit elektrischer Beleuchtung, speist in einem glänzenden Speisesaal
nach europäischer Küche und zahlt für Wohnung und Beköstigung, alles
einbegriffen, zwölf bis sechzehn Mark für den Tag. Von den Fenstern
dieses vornehmsten Hotels nicht nur von Tokio, sondern von ganz Japan,
sieht man auch nicht viel mehr, als man etwa in dem Auditorium Hotel
in Chicago sehen würde, weite unbebaute Flächen mit einem Dutzend
großer, drei- bis vierstöckiger Paläste darüber verstreut, einsame
Straßenanlagen, die noch der Häuser harren, und lange Reihen hoher
Telegraphenstangen, über die Hunderte von Drähten gespannt sind.
Ich zählte deren an manchen Stellen gegen fünfhundert. Selbst auf
einer ersten Rundfahrt, die gewöhnlich den Kaiserpalast und die
Gesandtschaftsgebäude zum Ziele hat, wird man vergeblich japanisches
Wesen, japanische Eigenart suchen. Die breiten, wohlgehaltenen
Straßen sind mit Gaslaternen versehen, hie und da gewahrt man eine
europäische Villa, von einem Gärtchen umgeben, die Wohnung irgend
eines japanischen Prinzen oder irgend eines ausländischen Gesandten;
an den Straßenecken stehen kleine, höfliche Polizisten in europäischen
Uniformen, möglicherweise mit Brillen auf der Nase; die Menschen, denen
man begegnet, tragen zum großen Teil ähnliche Kleider wie wir, die
Wagen, Equipagen, das Militär, alles wie in Europa. Die Brücken über
die Kanäle und Wallgräben könnten ebensogut über die Spree führen, und
als ich bei einer späteren Gelegenheit zur Vorstellung beim Mikado
in den Kaiserpalast kam, fand ich auch dort einzelne europäisch
eingerichtete Räume, wie in irgend einem Herrscherpalast der Alten
Welt. In der Nähe meines Hotels befand sich ein Klub, der Rokumei-Kwan,
ähnlich eingerichtet wie St. James oder Grosvenor, mit Billard-, Lese-
und Spielsälen, in denen japanische Herrchen in eleganten Pariser
Kleidern französisch parlierten oder ihre Whistpartie spielten. Nur
eins gemahnt den europäischen Spaziergänger hier daran, daß er sich
auf demselben Boden befindet, wo früher die Schogune geherrscht und
die Daimios gewohnt haben: die geradezu kyklopischen Festungsmauern,
welche die Residenz des Kaisers umgeben. Gewaltigere Bollwerke haben
wenige Festungen der Erde aufzuweisen. Dreißig bis vierzig Meter hoch
und etwas konkav nach innen gebogen, werden diese Mauern aus lose
aufeinandergelegten ungeheuren Quadern gebildet, so groß, daß man sich
wundern muß, wie die kleinen japanischen Männlein im stande waren,
sie ohne irgend welche Maschine oder unsere modernen europäischen
Hilfsmittel in solcher Massenhaftigkeit aufeinander zu türmen. Diese
Mauern entlang zieht sich ein fünfzig bis sechzig Meter breiter und
stellenweise ebensotiefer Wallgraben hin, an dessen Herstellung
Hunderttausende von Menschen jahrelang beschäftigt gewesen sein müssen.
Der Wasserspiegel in den Gräben ist zur Sommerszeit mit blühenden
Lotospflanzen bedeckt, und auf den Wällen darüber erheben sich
ungeheure alte Pinien in phantastischen Formen, mit langen, bis an den
Erdboden reichenden Aesten. Während meines Aufenthaltes in Tokio waren
diese so malerisch beschatteten Wälle mein liebster Spaziergang. Selten
begegnete ich dort einem Menschen, selten sah ich auch in den Straßen
jenseits irgend welchen Verkehr, mit Ausnahme eines Nachmittags, als
man die Leiche des verstorbenen englischen Gesandten unter großem Pomp
und stattlicher Militärbegleitung zu Grabe trug.

[Illustration: Das Universitätsgericht.]

[Illustration: Das Gebäude der juristischen und philosophischen
Fakultät in Tokio.]

Ist das wirklich die Stadt, die vor dreißig Jahren in den Werken von
Sir Rutherford Alcock und Lawrence Oliphant so malerisch geschildert
wurde? Tokio ist ihnen dann weit vorangeeilt, und was vor dreißig,
nein, vor zehn Jahren darüber geschrieben wurde, ist heute nicht mehr
richtig. Wo sind die Scenen, welche Alcock folgendermaßen beschreibt:

„Etwa alle hundert Schritte durchschreiten wir ein Thor, das die
Japaner schließen, wenn zur Nachtzeit ein Diebesalarm gegeben wird oder
bei Tage Unruhen sich ereignen, während eine elende Stadtwache in einem
Wachthause nahebei untergebracht ist, die für die Ruhe in ihrem Viertel
verantwortlich und stets wachsam sein muß. Sobald wir eines dieser
Thore passieren, stürzen die Wachleute aus ihrem Häuschen heraus, mit
langen Stangen bewaffnet, an deren oberen Enden eiserne Ringe hängen.
Sie schlagen diese Stangen heftig auf den Boden auf, daß die Ringe
klirren, und das sehen sie als eine uns zu leistende Ehrenbezeugung an.”

Aehnliches habe ich wohl auf meinen Reisen in China und Korea gefunden,
aber in Tokio? Ebensogut hätte ich es in Chicago suchen können.

Und Oliphant, der in den sechziger Jahren Tokio besuchte, schreibt:
„Die einzelnen Straßen sind durch zahllose Thore abgesperrt, und von
einem Thore zum andern werden wir von einer neugierigen Menschenmenge
verfolgt. Sobald wir ein Thor passiert haben, wird es geschlossen,
und der Menschenhaufe bleibt hinter uns, um, an die Gitter gedrückt,
uns mit neugierigen Blicken zu verfolgen, während sich um uns ein
neuer Menschenhaufe sammelt, der uns bis zum nächsten Thore begleitet.
Alle in die Hauptstraße mündenden Seitenstraßen sind hier durch quer
darübergezogene Seile abgesperrt, und niemand versucht es, sie zu
übersteigen oder unten durchzuschlüpfen.”

Wo sind diese Seile, diese Thore heute? Wo die neugierigen
Menschenmassen? Ich bin durch die entferntesten Stadtteile von Tokio
gewandert, kein Mensch kümmerte sich um mich.

Und die Jaschiki? Die Hunderte von Daimioschlössern, die in einem
weiten Kreise das Schloß des Schoguns umgaben? Sie sind der modernen
Aera zum Opfer gefallen. Einige Jahre haben hingereicht, um sie
niederzureißen und eben jene weite, einsame Fläche zu schaffen, auf
der sich die geschilderten Anfänge des europäischen Tokio erheben.
Diese Fläche, mehrere Quadratkilometer umfassend, zieht sich in einem
breiten Ringe um die kaiserliche Palastumwallung und erinnerte mich
in mehr als einer Hinsicht an jene, die in vielen Städten Europas,
vornehmlich in Wien, durch die Schleifung der Festungswälle und Glacis
entstanden sind. Hier und dort, verborgen hinter den großen Neubauten
in europäischem Stil, sind wohl noch einige Jaschiki der Daimio stehen
geblieben. Eins dieser seltsamen Schlösser des alten Japan steht
noch hinter dem Imperialhotel. Seinem Aussehen nach hätte ich es für
eine Stallung gehalten, und thatsächlich dienen die noch vorhandenen
Jaschiki als Kasernen und Stallungen für die moderne japanische
Reiterei. Nur sind die alten Daimiowappen abgenommen und durch die
Chrysanthemumrosette, die das kaiserliche Wappen bildet, ersetzt
worden. Man darf sich unter den Jaschiki nicht etwa Schlösser und
Burgen mit festen Mauern, Türmen, Erkern und Balkonen vorstellen, wie
sie der Adel und auch die Patrizier in unseren Städten, hauptsächlich
in jenen Italiens und Spaniens, besessen haben. Die Japaner haben
nur auf ihre Tempel und Pagoden besondere architektonische Kunst
verwendet, ihre Wohnhäuser waren und sind heute noch mehr als
bescheiden, ebenerdige hölzerne Bauten, die nicht eine einzige feste
Mauer besitzen, sondern im Grunde genommen aus nichts weiter als einem
auf hölzernen Pfählen ruhenden Dache bestehen. Die Wände werden durch
hölzerne Latten oder Papierrahmen gebildet. Die langen, niedrigen
Außengebäude der Jaschiki dienten früher den Zweischwertermännern,
d. h. der bewaffneten Gefolgschaft ihrer Daimios als Wohnungen und
haben wohl das Aussehen, als wären sie aus Mauerwerk aufgeführt. Aber
sie bestehen auch nur aus Holz mit leichtem Mörtelbewurf. In ihren
Residenzen besaßen die Daimios wohl große, mehrstöckige Schlösser,
nicht aber in der Hauptstadt.

[Illustration: Das physikalische Institut der Universität zu Tokio.]

Deshalb zeigen auch die wirklichen japanischen Stadtviertel, die
außerhalb der ringförmigen Kanäle liegen, das Aussehen von Dörfern.
Gegen dreimalhunderttausend Häuschen stehen hier auf dem weiten, an
Ausdehnung Paris gleichkommenden Plane in einem unentwirrbaren Netze
von Gassen und Gäßchen; nur die neuen Stadtteile, die auf dem rings um
die Mündung des Sumidagawa dem Meere abgerungenen Sumpfboden entstanden
sind, zeigen die schachbrettartige Straßenanlage der amerikanischen
Städte. Dort befindet sich auch das Fremdenviertel, Tsukidschi, mit
seinen wenigen Kaufleuten, vielen Missionaren und Kirchen. In dem
freien europäischen Japan war es nämlich den Europäern bis 1898
ebensowenig erlaubt, frei umherzureisen, wie frei zu wohnen; nur jene,
die im Dienste der japanischen Regierung standen, hatten den Vorzug, in
Tokio wohnen zu dürfen; alle anderen Europäer wurden in das Tsukidschi
verwiesen. Wir haben es in Europa in früheren Jahrhunderten mit den
Juden so gemacht und machen es augenblicklich noch hier und da so mit
den Zigeunern. Und die europäischen Großmächte ließen es geschehen,
daß die gelben schlitzäugigen Mongolen die Angehörigen der stolzesten
Rassen des Erdballs in gleicher Weise behandelten! Ist es denn zu
verwundern, daß dieses sehr überschätzte Japanervolk vor Dünkel bersten
könnte?

In das einförmige, ärmliche Straßengewirr von Tokio ist in den letzten
Jahren etwas Ordnung gebracht worden. Den japanischen „Haußmanns”
bleibt das Niederlegen ganzer Quartiere und das Durchbrechen neuer
Straßen und Avenuen erspart. Diese Arbeit wird durch die zahlreichen
verheerenden Schadenfeuer besorgt, die alle Jahre bald hier, bald dort
ausbrechen und gleich einige tausend Häuser verzehren. Ich selbst war
in Tokio Zeuge einer Feuersbrunst, die über tausend Häuser einäscherte,
ohne daß darüber viel Aufhebens gemacht worden wäre. Die leichtgebauten
Holz- und Papierhäuser brennen ja wie Streichholzschachteln, und ist
irgendwo ein Brand entstanden, so denkt die Feuerwehr gar nicht daran,
ihn zu löschen, sondern durch das Niederreißen der umstehenden Häuser
nur einzuschränken. „Die Blume von Yeddo ist das Feuer”, sagt ein altes
japanisches Sprichwort, und die Bewohner von Tokio sind von Tag zu
Tag nicht ihrer Häuser sicher. Viele besitzen in der That die wenigen
Balken und Dachgerippe für neue Häuser in Reserve. Brennt ihnen ihr
Haus zusammen, so haben sie am folgenden Abend schon ihr neues Haus
wieder aufgebaut.

[Illustration: Japanischer Tempelschrein.]

Jedesmal, wenn eine Feuersbrunst ein paar Straßen oder ein Stadtviertel
verheert hat, sind die Stadtbehörden zur Stelle und regulieren oder
verbreitern das Straßennetz, so daß es heute doch schon einige
gerade, breite Hauptstraßen giebt, durch welche sogar Pferdebahnen
gelegt worden sind. Die interessantesten und belebtesten Straßen
Tokios sind wohl die Ginza und Nakadori, interessant, weil sich
in ihnen ein Geschäftsladen an den andern reiht, voll japanischer
Produkte, Kuriositäten und Antiquitäten. Bei den Japanern herrscht
noch großenteils die Sitte, daß die einzelnen Geschäftszweige in
bestimmten Straßen oder Distrikten untergebracht sind, gerade so wie
bei den Chinesen; aber in diesen Industrie- und Handelsvierteln sind
die Häuser auch nicht größer oder stattlicher, nur haben die Japaner
der Feuersgefahr insofern Rechnung tragen gelernt, daß sie kostbarere
Waren in gemauerten Häuschen mit schweren Ziegeldächern und eisernen
Fensterläden unterbringen.

Dieses einförmige, öde, farblose und armselige Häusermeer von Tokio
wird an vielen Stellen durch kleine Hügel mit üppigem Baumwuchs
unterbrochen, und zwischen den Bäumen versteckt schlummert irgend
ein kleines, verschiedenen Gottheiten geweihtes Tempelchen. Was aber
Tokio vor allen anderen Städten Japans auszeichnet, sind seine beiden
prachtvollen Parks, der Schiba und der Uyeno, mit ihren ungeheuren,
alten Kryptomerien und Kiefern, ihren langen Alleen von Aepfelbäumen,
ihren lauschigen Tempelhainen und Lotosteichen. Die wunderbaren Tempel
mit ihren nicht zu beschreibenden Einzelheiten von Ausschmückung und
Einrichtung enthalten nicht nur die Gräber der Schogune, sie enthalten
auch das Grab der altjapanischen Kunst. Wohl hat Tokio dafür moderne
Hochschulen, Hospitäler, Bibliotheken, Museen, Arsenale, Fabriken
erhalten, mit denen sich die Japaner heute brüsten, aber all das
sind fremde Errungenschaften, die sie sich angeeignet haben. Ihr
altangestammtes Eigentum, ihre Schöpfung, das Ergebnis ihrer Liebe und
ihres Verständnisses für die Natur war ihre Kunst, die so herrliche
Blüten getrieben hat; diese haben die Japaner ohne eine Thräne des
Bedauerns geopfert, im Austausch für die modernen Wissenschaften der
alten Welt hergegeben. Wer diese Tempelhaine durchwandert, die hohen,
eigentümlichen Thorbogen durchschreitet, die langen Reihen steinerner
und bronzener Opferlaternen passiert, von alten Daimios dem Andenken
der Schogune gewidmet, und endlich die heiligen Grabtempel und den
Göttern geweihten Hallen betritt, der empfindet neben rückhaltsloser
Bewunderung auch jenes tiefe Bedauern für das Dahinschwinden einer
großen Kultur, für welche der moderne Japaner kein Verständnis, kein
Gefühl zu haben scheint.

Aber es giebt in Tokio noch ein Stück unverfälschten Japans, das
die gütige Vorsehung auch noch recht lange zur Freude aller morgen-
und abendländischen Besucher erhalten möge: jenseits des herrlichen
Uyenoparks, zu Füßen der von gewaltigen Kryptomerien gekrönten Hügel
dehnt sich jene eigentümliche Ausgeburt japanischer Sitten, die
Yoschiwara mit ihren der Venus gewidmeten Freudenhäusern aus, und
dicht daran schließt sich das Quartier von Asakusa, das sehenswerteste
der ganzen Hauptstadt des Mikadoreiches. Ein vielstöckiger Steinturm,
der schon so manches verheerende Erdbeben überstanden hat, bildet das
Wahrzeichen von Asakusa, wenn nicht von Tokio selbst. Rings um diesen
Turm liegen in großen Hainen die stattlichsten Tempel der Stadt, der
Hongwanji und der der Gnadengöttin Kwannon geweihte Buddhistentempel
von Sensodschi. An diesen merkwürdigen Gebäuden mit ihren
absonderlichen Göttergestalten, Inschriften, Bildern und zahllosen
Andächtigen hat sich der Ansturm der amerikanischen Baptisten-,
Methodisten-, Unitarier-, Presbyterianer- und sonstigen Missionare doch
gebrochen, ebenso wie der Ansturm der fanatischen Umstürzler mit ihren
europäischen Reformen. Rings um diese Tempel liegt der Wurstlprater von
Tokio mit zahllosen Schaubuden, Theehäusern, Theatern, Verkaufsständen,
stets belebt, besonders aber an den zahlreichen Festtagen, wenn viele
Tausende grotesk geputzter Japaner mit ihren Frauen, mit Musmis und
Kindern dort hinauspilgern und Volksfeste abhalten, die in ihrer
Eigenart dem Europäer entschieden interessanter sind als der Abklatsch
europäischer Universitäten, Arsenale, Pferdebahnen und Gasanstalten,
mit denen die modernen Japaner gerade dem Europäer gegenüber so gerne
prunken.



Der Kaiser von Japan und sein Hof.


[Illustration: Jimmu Tenno, der Stammvater des japanischen
Herrscherhauses.]

Mit dem alten Japanerreich stand in den letzten beiden Jahrzehnten auch
Mutsu Hito, der Beherrscher desselben, im Vordergrunde des Interesses.
Der Sturz des Schogunats, die Wiedereinsetzung der alten Kaiserdynastie
an die Spitze der Regierung, die Einführung europäischer Kultur, die
Errichtung einer modernen Armee und Flotte, die Konstitution, mit
einem Worte, die ganze wunderbare, in der Geschichte beispiellos
dastehende Verwandlung Japans aus einem alten despotischen Feudalstaate
in ein modernes Reich mit westlicher Zivilisation wird in Europa
ziemlich allgemein der eigensten Initiative des japanischen Herrschers
zugeschrieben. Wäre dies richtig, so müßte Mutsu Hito nicht nur als
der weitaus bedeutendste der hundertzweiundzwanzig Kaiser seiner
Dynastie sein, er wäre auch eine der bedeutendsten Erscheinungen der
ganzen Geschichte, und es ist deshalb wohl begründet, sich mit dieser
Erscheinung näher zu befassen. Schon der Umstand allein, daß er als der
hundertdreiundzwanzigste seiner Familie auf dem gleichen Throne sitzt
und daß sein Stammbaum bis auf das Jahr 660 v. Chr., also auf über 2600
Jahre zurückreicht, macht ihn zu einer interessanten Persönlichkeit.
Ihm gegenübergestellt wären ja die Häupter unserer ältesten
Herrscherfamilien Europas geradezu Parvenus, denn ihr Stammbaum reicht
höchstens auf tausend Jahre zurück.

[Illustration: Bronzebuddhas im Asakusapark zu Tokio.]

Bei näherer Betrachtung gestaltet sich die Sache freilich etwas
anders. In Japan nahm man es mit der Thronfolge lange nicht so genau
wie in den europäischen Herrscherfamilien. Der Thronfolger wurde nach
Belieben aus der Menge der mit Konkubinen gezeugten Söhne auserwählt,
zuweilen wurden Frauen auf den Kaiserthron gesetzt, ja es wurden
häufig Söhne aus anderen dem Throne nahestehenden Adelsfamilien von
verschiedenen Kaisern adoptiert und zu Thronfolgern gemacht. Eine
direkte Thronfolge vom Vater auf den Sohn kam in der japanischen
Geschichte nur selten vor. In den ersten Jahrhunderten der Dynastie,
welche Jimmu Tenno, den Sohn des Himmels, als ihren Stammvater nennt,
waren die Kaiser auch thatsächlich Herrscher; später gelangten Familien
aus der nächsten Umgebung der Kaiserfamilie zu Einfluß und Macht, sie
rissen allmählich die ganze Regierung an sich, und die Kaiser selbst
waren kaum viel mehr als willenlose Puppen, die von den wirklichen
Regenten nach Belieben gewöhnlich als Kinder auf den Thron gesetzt
und wieder verjagt wurden, sobald sie das Mannesalter erreicht und
den Usurpatoren gefährlich werden konnten. So waren beispielsweise
unter dem Mikado Go-Nijo (1302-1308) nicht weniger als fünf Mikados
gleichzeitig am Leben; nämlich er selbst, der von seinem siebzehnten
bis zum dreiundzwanzigsten Jahre auf dem Throne saß; dann seine vier
Vorgänger: Go-Fukakusa, der schon in seinem vierten Jahre Kaiser
wurde und in seinem siebzehnten abdankte, d. h. abdanken mußte; dann
Kameyama, Kaiser von seinem elften bis zum sechsundzwanzigsten Jahre;
Go-Uda, Kaiser von seinem achten bis zum einundzwanzigsten Jahre, und
der fünfte Kaiser, Fuschimi, schien den Ministern gar nicht zu passen,
denn in seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahre zum Kaiser gemacht, mußte
er schon in demselben Jahre abdanken. Wie man sieht, wechselte man
im alten Japan die Kaiser ähnlich wie heute in manchen europäischen
Staaten die Minister. Nur war das Verhältnis umgekehrt. Nicht der Hund
wedelte den Schwanz, der Schwanz wedelte den Hund.

Als die letzte Schogunfamilie, die berühmten Tokugawa, die Macht in
den Händen hatte, wurde den Kaisern wohl alle Achtung und Verehrung
zu teil, die ihnen gebührte, allein von der Regierung waren sie
vollständig ausgeschlossen, ja sie waren kaum besser als Gefangene, die
nicht einmal, wie das Sprichwort sagt, einen goldenen Käfig hatten.
Dank der kaiserlichen Gnade war es mir gestattet, in der früheren
Hauptstadt des Reiches, in Kioto, die Paläste zu besichtigen, die
den Vorgängern des Kaisers und in seinen jungen Jahren auch noch dem
regierenden Kaiser als Wohnung angewiesen waren. In den weitläufigen,
einförmigen Holzgebäuden mit ihren breiten Veranden und papierenen
Zimmerwänden sah ich noch viel weniger Pracht als in dem Palaste
ihrer Unterthanen, der Schogune. Dort wohnten und lebten die Kaiser
vollständig abgeschlossen von der Außenwelt, vollständig unsichtbar
und in gänzlicher Unkenntnis der Größe und Eigenart ihres Reiches. Nur
in den seltensten Fällen kamen sie über die Palastmauern heraus, und
auch das nur in fest verschlossenen und verhängten Wagen. Von ihrem
Regierungsantritte bis zu ihrem Tode bildeten ihre Frauen und ihre
Hofhaltung den einzigen Verkehr. Nur die Kuge und die Daimios, also der
höchste Adel des Landes, wurden in seltenen Fällen in den Thronsaal
zugelassen, um dem Sohne des Himmels ihre Glückwünsche darzubringen
oder ihre Ehrfurcht zu bezeugen. Sie lagen an einem Ende des Saales auf
den Knieen, mit dem Gesichte auf dem Boden, während der Kaiser auf dem
Throne am anderen Ende des Saales saß. Und welcher Thron! Ein Zelt von
der Größe und dem beiläufigen Aussehen unserer kleinsten Feldzelte,
aus weißem Seidenstoff angefertigt. Im Innern desselben liegt auf
dem Holzboden eine Matratze, und auf dieser saß der Kaiser mit
verschränkten Beinen. Während der Audienz wurde auch noch ein dichter
Vorhang herabgelassen, damit kein Sterblicher das geheiligte Antlitz
des Sohnes des Himmels erblicke.

Auch noch der regierende Kaiser empfing seine Fürsten auf diese Weise,
und wer vor einem Vierteljahrhundert gesagt hätte, derselbe Kaiser
würde auf einer Landesausstellung in Tokio angesichts vieler Tausende
seiner Unterthanen selbst die Preise verteilen, mit der Kaiserin an
seiner Seite ein neugeschaffenes Parlament eröffnen oder in seinem
modernen europäischen Palaste Diners und Garden parties geben, der wäre
in Japan als verrückt eingesperrt worden.

Die Sache erscheint in der That unglaublich und liest sich wie ein
phantastisches japanisches Märchen. Am unglaublichsten aber erscheint
es, daß Kaiser Mutsu Hito, der bis zu seinem sechzehnten Lebensjahre
nur wenige fremde Menschen zu Gesicht bekommen hat, der in seinem
siebzehnten Jahre zum erstenmal seinen Palast verließ, zum erstenmal
grüne Reisfelder und bewaldete Berge, Dörfer und Städte mit seinen
eigenen Augen gesehen hat, daß dieser Kaiser einige Jahre später
bereits eine Armee nach europäischem Muster schuf, europäische Kultur
und Kleidung für seine Unterthanen dekretierte und 1889 sogar seinem
Lande eine Konstitution nach europäischem Muster gab.

[Illustration: Mutsu Hito, Kaiser von Japan.]

[Illustration: Haruko, Kaiserin von Japan.]

Alle diese Errungenschaften werden in Europa ziemlich allgemein der
persönlichen Thatkraft und Einsicht des Kaisers zugeschrieben, aber mit
wie wenig Recht, kann man bei einigem Nachdenken schon aus dem Gesagten
erkennen. Zu den herrschenden irrtümlichen Ansichten haben wohl die
Begriffe beigetragen, die wir Europäer von unseren Herrschern haben.
In Europa sind die letzteren Persönlichkeiten mit ausgesprochener
Individualität, in Japan aber ist der Mikado, wie Chamberlain ganz
richtig sagt, einfach der Kaiser. Er hat nicht einmal einen Namen,
der von seinen Unterthanen ausgesprochen werden darf. Nach seinem
Tode wird er unter dem Namen Meji, d. h. Aufklärung, bekannt sein,
den er seiner Regierungszeit gegeben hat. Alle Verordnungen, alle
Maßnahmen, Neuerungen werden allerdings vom Kaiser dekretiert, allein
er ist keineswegs auch der Schöpfer derselben. Es wäre ja auch ganz
unmöglich, daß der Kaiser, der beispielsweise in seinem Leben noch
niemals das offene Meer gesehen hat und niemals auf einem Schiffe
war, eine Kriegsflotte nach europäischem Muster aus eigenem Antrieb
schaffen sollte; oder daß er, der niemals einen anderen Soldaten
gesehen als etwa die Samurai (Zweischwertermänner) seiner Eskorte
auf der Reise nach Tokio, deutsche Stabsoffiziere nach Japan berufen
sollte, um seine moderne Armee Taktik und Strategie zu lehren. Aber
ein großes Verdienst um sein Land und Volk, gleichzeitig auch um den
Triumph unserer europäischen Kultur hat sich der Kaiser unzweifelhaft
erworben: das, thatkräftige, kluge, weitsehende Männer seiner Umgebung
gewähren zu lassen, ihnen Vertrauen zu schenken und sie auf ihren
Posten selbst dann noch zu belassen, als sie seine kaiserlichen
Vorrechte beschnitten, ja ihn veranlaßten, von seiner Gottähnlichkeit
herabzusteigen unter die Menschen und selbst Mensch zu werden. Dazu
gehört viel Seelengröße, viel Einsicht und Klugheit, Eigenschaften, die
bei orientalischen Herrschern bei ähnlichen Anlässen nur äußerst selten
zu finden sind. Statt wie es sonst zu geschehen pflegt, dem Strome
der öffentlichen Meinung nachzugeben, ist er als erster mit seinem
Beispiel vorangegangen, er hat befohlen und hat als erster diesen
Befehlen Folge geleistet. Wo der Kaiser sich der Notwendigkeit beugt
und die tausendjährige eigenartige Kultur seines Landes opfert, um
neue, ihm und seinem Volke durchaus fremde, anfänglich unsympathische
europäische Kulturfesseln anzulegen, da mußten seine Unterthanen ihm
folgen. Die Gebildeten und Klugen der letzteren thaten dies aus eigener
Ueberzeugung, die weitaus größte Masse gehorchte eben dem Gebote ihres
Kaisers, gegen den von alters her ein Widerstand, eine Auflehnung
undenkbar ist. Nur diese allgewaltige Autorität, diese halbgöttliche
Stellung, welche der Kaiser aus der früheren Zeit mit hinübernahm bis
zur Einführung der konstitutionellen Verfassung, konnte die ungeheuren
Umwälzungen möglich machen, welche die Männer der Regierung beschlossen
hatten. Wie in Deutschland und Italien, so muß man in dem neugeeinigten
Japan neben dem Herrscher auch diese seine Ratgeber nennen, vor allen
anderen Graf Ito, den Bismarck von Japan, dann Yamagata, Inouye,
Yamada, Aoki, die beiden Saigo, Kuroda, Mutsu, Oyama, Okubo, Yoshida
und Terashima. Sie sind die eigentlichen Schöpfer des neuen, ich
möchte sagen abendländischen Japan, Männer, beseelt von glühender
Vaterlandsliebe und Loyalität, dabei durch und durch ehrenhaft und
selbstlos. Nicht sich wollten sie heben, sondern nur ihr Vaterland.
Glücklich ein Land, das solche Männer hat!

Der Kaiser wurde am 3. November 1852 geboren und gelangte nach dem Tode
seines Vaters am 13. Februar 1866 auf den Thron. Zwei Jahre später, am
9. Februar 1868, vermählte er sich mit Haruko, der dritten Tochter des
Kuge (Fürsten) Ichijo Tadaka, am 28. Mai 1850 geboren, somit um zwei
Jahre älter als der Kaiser. Am 15. April 1868 verließ das Kaiserpaar
die alte Hauptstadt Japans, um die Residenz nach Yeddo zu verlegen,
das bald darauf in Tokio, d. h. östliche Hauptstadt, umgetauft wurde.
Als der bekannte amerikanische Staatsmann Seward auf einer Reise um
die Welt 1871 Japan besuchte, empfing ihn der Kaiser noch in der
altjapanischen Kaisertracht, die keineswegs als schön bezeichnet werden
konnte: lange, steife Seidengewänder, die den Körper mit Ausnahme der
Hände vollständig verhüllten, und auf dem Kopfe eine eigentümliche,
schwarze Roßhaarkappe mit einem linealförmigen Aufsatz, der sich von
der hinteren Seite der letzteren vertikal etwa einen halben Meter
über das Haupt erhob. Der Kaiser sprach kein Wort und würdigte Seward
überhaupt mit keinem Blicke. Seine Fragen und Bemerkungen waren auf
einzeln bereitgehaltenen Papierbogen niedergeschrieben, die ein
Hofbeamter dem Kaiser unterbreitete und dann ablas. Damit war die
Audienz beendet.

Einige Monate später vertauschte der Kaiser das traditionelle
japanische Kaisergewand mit einer militärischen Uniform nach
französischem Schnitt, und seither hat er sich niemals mehr öffentlich
in japanischen Gewändern gezeigt. Auf kaiserlichen Befehl mußte der
ganze Hof moderne europäische Kleider anlegen, und von der Kaiserin
herab bis zum letzten Hofbediensteten darf bei Hof seither niemand
mehr in der angestammten Landestracht erscheinen. Mit einem Federzug
wurde dem alten Japan, wenigstens den Aeußerlichkeiten nach, ein Ende
bereitet.

Ueberhaupt stürzte man sich mit wahrem Feuereifer auf die Umgestaltung
des ganzen Hofes, der Regierungsmaschine, ja selbst der Hauptstadt
nach europäischen Vorbildern. Prinz Komatsu verweilte während mehrerer
Jahre in den Hauptstädten Europas, um die Verhältnisse an den dortigen
Höfen zu studieren; der Hofmarschall Sannomiya Yoshitane wurde an den
Kaiserhof in Wien gesandt, um bei dem dortigen Oberhofmeisteramte das
ganze altspanische Zeremoniell in allen seinen Einzelheiten kennen
zu lernen, und nach Japan zurückgekehrt, wurde er damit betraut,
dieselben nicht etwa ins Japanische zu übertragen, beziehungsweise den
Verhältnissen in Tokio anzupassen, sondern ganz genau so wie in Wien
einzuführen. Nicht der Schuh wurde geändert, um für den Fuß zu passen,
der Fuß wurde in den schlechtsitzenden Schuh gezwängt.

Damit verlor aber der japanische Kaiserhof seinen eigentümlichen hohen
Reiz, seinen ganzen Charakter und die Romantik, die ihn seit so langer
Zeit umschwebt hat. So sehr man die Japaner zu ihren Unternehmungen
der letzten Jahrzehnte beglückwünschen muß, von allen Europäern und
Amerikanern, ja gewiß auch von der Mehrzahl der Japaner selbst wird
das Aufgeben der Nationaltracht verdammt. Die alte Kaiserinwitwe
beharrte bis auf den heutigen Tag fest an der angestammten Kleidung
und mit ihr ein großes Kontingent Japaner der höchsten Stände. Bei
allen Gelegenheiten, ausgenommen bei Hoffestlichkeiten, legen sie mit
Vorliebe die reizenden, faltenreichen Gewänder an, die sie in ihrer
Jugend getragen, denn sie wissen wohl, daß sie ihren sprichwörtlichen
Liebreiz, ihre unsagbare Anmut nur in diesen Gewändern besitzen.
Hoffentlich ist es zur Rückkehr zu den alten Trachten nicht zu spät,
hoffentlich werden die japanischen Machthaber, welche in anderen
Dingen so bewunderswerte Weisheit und Diskretion gezeigt haben,
die Unzweckmäßigkeit dieser Toilettenreform noch einsehen und die
europäischen Modefesseln, die sie ihren eigenen Landsleuten angelegt
haben, selbst sprengen. Die europäischen Moden haben nämlich in Japan
bei weitem nicht den Eingang gefunden, den man in Europa ziemlich
allgemein annimmt. Nur diejenigen, welche durch ihre Stellung bei Hofe
oder bei den Regierungsbehörden dazu gezwungen sind, tragen europäische
Kleider. Dazu kommen vielleicht noch Mitglieder aristokratischer
Familien, Studenten und Modenarren, welche Europa bereist haben. Alles
in allem genommen, dürften sie aber bei einer Gesamtbevölkerung von
41 Millionen nicht viel mehr als den vierhundertsten Teil ausmachen.
Ich besuchte eine Reihe von Städten, wo ich keinen einzigen europäisch
gekleideten Japaner antraf, ja es giebt in Japan noch zahlreiche
Ortschaften, wo man einen solchen überhaupt noch niemals gesehen hat.

Selbst dem Kaiser scheint die den Japanern ziemlich willkürlich
aufgepfropfte Europäermode unsympathisch zu sein, denn sobald er seine
staatlichen Funktionen beendigt hat, zieht er den Europäer aus und
den Japaner an. Bei Audienzen, Festlichkeiten und Ausfahrten trägt er
gewöhnlich die Uniform eines japanischen Generals, die ihm viel besser
steht als so manchem seiner Offiziere.

Bei einer Privataudienz, zu der ich die Ehre hatte befohlen zu
werden, hatte ich die gewünschte Gelegenheit, den Kaiser eine
Zeit lang in nächster Nähe zu sehen. Das ganze mit der Audienz
verbundene Zeremoniell erinnerte mich lebhaft an jenes bei großen
europäischen Höfen. Am Eingang zum Palast wurde ich durch Kammerherren
empfangen, die europäische Uniform mit Degen und Federhut trugen. Die
Dienerschaft war in europäischer Livree, dunkelblauem Frack mit gelben
Aufschlägen, welche das kaiserliche Wappen, die sechzehnblätterige
Chrysanthemumblüte, eingestickt zeigen, roten Westen, dunkelblauen
Kniehosen und weißen Strümpfen. Ich kann nicht sagen, daß diese
Livree den kleinen, dunkelhäutigen, schlitzäugigen Japanern mit
ihrem struppigen Haar besonders gut stand. Dafür zeigten sich die
Kammerherren, dann der Zeremonienmeister und Hofmarschall Sannomiya,
denen ich nun vorgestellt wurde, als vollendete europäische Gentlemen.
Ihrem Typus, Auftreten und Benehmen nach hätte ich sie für Spanier
oder Italiener gehalten, wenn ich ihnen irgendwo in Europa begegnet
wäre. Sie sprachen mit fließender Leichtigkeit französisch, englisch
und deutsch, und ganz besondere Gewandtheit zeigte der Adoptivsohn des
Grafen Ito, der einige Jahre in Halberstadt die Schulen besucht hat.
Der hochgebildete junge Mann, ein vollendeter Aristokrat, geht einer
ähnlich glänzenden Carriere entgegen wie sein berühmter Vater, einer
der Schöpfer des modernen Japan.

Der Saal, in dem wir uns befanden, war ganz europäisch möbliert. Auf
einem Tische lagen vier Einschreibebücher für die beiden Majestäten, je
eines für Europäer und Japaner.

Nach etwa halbstündigem Warten wurde ich durch lange hohe Korridore
in den Audienzsaal geführt, wo gewöhnlich fremde Gesandte ihre
Antrittsaudienz haben und ihre Beglaubigungsschreiben überreichen.
Mit Ausnahme des herrlichen kassetierten Plafonds, mit Malereien und
einem kleinen Thronstuhl in der Mitte, zeigte dieser Saal keinerlei
Schmuck, auch keine Möbel. Ueber den spiegelglatten Parkettboden war
ein moderner Teppich gebreitet. Zur Linken führte eine Thüre mit großen
Spiegelscheiben auf einen Korridor, welcher den Audienzsaal mit den
Privatgemächern des Kaisers verband; die Thüre zur Rechten führte nach
dem großen Thronsaal.

Auf der Seite, welche wir einnahmen, öffnete sich der Audienzsaal auf
einen wunderbar schönen Garten mit Fontänen, felsigen Wasserbecken und
Grasmatten, welche durch Gruppen von bronzenen Störchen geschmückt
wurden. Dieselben waren weiß übermalt und zeigten so natürliche
Stellungen, daß ich sie im ersten Augenblick für lebende Störche hielt.

Ob dem Kaiser ein Zeremonienmeister voranschritt, ob er angemeldet
wurde, wüßte ich nicht zu sagen. Er stand plötzlich vor mir. Ich kann
es nicht verhehlen, daß ich im ersten Augenblick befangen, überwältigt
war. Keine Persönlichkeit der Gegenwart hat eine so wunderbare
Geschichte, keine kann auf eine so lange Reihe von Ahnen zurückblicken,
die in das graue Altertum hinaufreicht, sechshundert Jahre vor Christi
Geburt! Ich befand mich vor dem Inhaber eines Thrones, auf welchem
hunderteinundzwanzig seiner Vorfahren gesessen haben und deren
Stammvater seine Gewalt von den Göttern selbst empfangen haben soll.

Der Kaiser ist für einen Japaner ein großer, stattlicher,
hochaufgerichteter Mann, mit fahlem gelblichen Gesichte, aus welchem
große, schwarze, stechende Augen blicken; das Kopfhaar ist länger,
als es die Japaner zu tragen pflegen, dicht und struppig; die Nase
ist fleischig, Schnurr- und Vollbart sind dünn, mit langen, steifen
Haaren; die Thränendrüsen treten auffallend stark hervor. Man kann
nicht behaupten, der Kaiser sei ein schöner Mann, allein das wenig
ansprechende Aeußere wird durch seinen hoheitsvollen Ausdruck und
eine gewisse Unnahbarkeit, die sein Wesen zeigt, aufgewogen. Unter
den vielen Tausenden von Japanern, denen ich auf monatelangen Reisen
in dem Inselreiche begegnet bin, habe ich keinen von interessanterem,
charakteristischerem Aussehen gefunden, und wenn man sich vor
Augen hält, daß der Kaiser der Repräsentant einer Familie ist, die
seit zweieinhalb Jahrtausenden nicht über einen enggezogenen Kreis
herausgekommen ist, so muß man in ihm den reinsten Typus des Japaners
sehen.

Der Kaiser trug eine Uniform, die jener der französischen
Artillerieoffiziere ähnelt, aus schwarzem Tuch mit ebensolchen
Seidenborten. Auf der rechten Brust prangte der Stern seines
Chrysanthemumordens und zwei kleinere Ritterkreuze. Nachdem ich durch
den Zeremonienmeister vorgestellt worden war, richtete der Kaiser
mehrere Fragen an mich, die sich auf meine Reisen, hauptsächlich auf
jene nach Korea, bezogen. Er sprach japanisch, mit leiser Stimme, und
seine Worte wurden von einem Dolmetscher ins Französische übertragen.
Meine Antworten und Ausführungen wurden dem Kaiser wieder japanisch
mitgeteilt, der jeden Satz mit heftig ausgestoßenem „hei, hei”,
etwa „ja, ja” oder „ich begreife” beantwortete. Während der ganzen
Unterredung blickte der Kaiser niemandem in die Augen; er hielt sich
steif und unbeweglich wie eine Statue und reichte auch beim Abschiede
niemandem die Hand.

Unter den vorgeschriebenen drei Verbeugungen entfernten wir uns
nun, rückwärts schreitend, aus dem Saale. Im Korridor teilte mir
Hofmarschall Sannomiya mit, der Kaiser hätte ihm aus eigenem Antriebe
Befehl gegeben, mir die Räumlichkeiten des Palastes zu zeigen.
Geführt von diesem äußerst liebenswürdigen, weltmännisch gebildeten
Würdenträger nahm ich nun während der folgenden Stunde die Palasträume
in Augenschein, und es hätte gewiß noch viel längerer Zeit bedurft, um
die prachtvollen Kunstwerke der Japaner, die hier die Säle schmücken,
nach Gebühr zu bewundern.

Die Empfangsräume zeigen eine äußerst glückliche Verbindung zwischen
europäischem und japanischem Stil; der Palast selbst besteht aus einer
Reihe ebenerdiger, aneinanderstoßender Gebäude, deren jedes sein
eigenes Dach, seine eigenen Veranden und Korridore besitzt und nur je
einen großen Saal enthält. Alle diese Gebäude sind aus Holz aufgeführt,
aber statt der verschiebbaren Papierwände, welche die japanischen
Wohnhäuser besitzen, zeigen die Säle feste Wände, mit den herrlichsten
Seidenbrokaten bekleidet; die Plafonds sind gerade so wie jene der
Kaiserpaläste in Kioto kassetiert und mit Vergoldungen und Malereien
geschmückt.

Die ersten Räume, die wir besuchten, waren drei Speisesäle von
verschiedener Größe, ganz so eingerichtet wie jene in europäischen
Palästen. In dem größten dieser Säle, für mehrere hundert Personen Raum
bietend, werden dreimal jährlich große Tiffins d. h. Dejeuners gegeben,
die aber nicht, wie es in manchen Büchern zu lesen ist, stets in
europäischer Weise aufgetragen werden, sondern den daran teilnehmenden
Diplomaten zuweilen durch ihre japanischen Eigentümlichkeiten recht
unbequem sind. Auf einer kürzeren, an die Privatgemächer des Kaisers
stoßenden Seite steht eine kürzere Tafel, von welcher drei längere
Tafeln der Länge nach durch den Saal laufen. An der kürzeren Tafel
sitzt der Kaiser, während an den langen Tafeln, aber immer nur auf
einer Seite, das diplomatische Korps, die Minister und Generale
Platz nehmen, so daß sie kein Gegenüber haben. Die Mahlzeiten finden
um elf Uhr morgens statt; Teller, Gläser und dergleichen sind nach
europäischen Mustern und zeigen an den Rändern die Wappenblume des
Kaisers; an Stelle der Bestecke liegen jedoch japanische Eßstäbchen,
mit denen sich so mancher Diplomat vergeblich abmüht, ein Stückchen
Speise zu erwischen.

An einem kleinen Nebentischchen in der Nähe des Kaisers sitzt ganz
allein der geistliche Chef des kaiserlichen Hauses, der Leiter
der religiösen Shintozeremonien und des kaiserlichen Ahnenkultus,
gewöhnlich ein Prinz der Kaiserfamilie. In der letzten Zeit lag diese
Würde in den Händen des Prinzen Takuhito, aus dem Hause Arisugawa
no-miya. Bei Besuchen europäischer Prinzen wie z. B. des Zarewitsch
oder des österreichischen Thronerben im Jahre 1893 finden derlei
Mahlzeiten gewöhnlich in einem der kleineren Speisesäle statt.

Der große Gesellschaftssaal nahebei ist ganz im europäischen Stil
eingerichtet und enthält fast ausschließlich deutsche Möbel. In der
Mitte des Saales befinden sich zwei runde Divans, über welchen sich
auf Holzpiedestalen zwei große Bronzen Augsburger Fabrikats erheben,
Kämpfe von reitenden Figuren mit Löwen und Bären darstellend. In den
Ecken stehen europäische Sofas mit kleinen Tischchen davor, zwischen
den Fenstern Sèvresvasen und französische Bronzen. Sie würden überall,
nur nicht im japanischen Kaiserpalaste zur Bewunderung einladen.
Ein vollständig neuer Zweig der japanischen Kunstindustrie, der mir
bisher unbekannt war, wird durch zwei Wandgobelins nach französischem
Muster repräsentiert. Die Japaner haben die Gobelinmanufaktur in
Frankreich vor mehreren Jahren erlernt, und die beiden im Kaiserpalaste
aufgehängten Prachtstücke zeigen, wie weit es die Japaner auch darin
in der kürzesten Zeit gebracht haben. Weniger schön ist der anstoßende
Musiksaal eingerichtet, und die schweren Brokatvorhänge an den hohen
Fenstern, die Brokatbekleidung der Wände, die Teppiche auf dem
Parkettboden, die vielen Divans sind auch nicht dazu angethan, die
Bestimmung dieses Saales zu fördern. In einer Ecke steht ein großer
Konzertflügel. Die schönen Vasen, Bronzen und Emailgegenstände,
darunter ein wunderbar emaillierter Hahn in natürlicher Größe, stehen
merkwürdigerweise auf deutschen Sockeln billigster Arbeit, plump in
der Form, schlecht lackiert und vergoldet. Warum man an ihrer Stelle
nicht solche japanischen Ursprunges mit dem schönen Gold- oder Rotlack
verwendet hat?

[Illustration: Die Löwenstraße in Kioto.]

Am imposantesten von allen Räumen des Palastes ist der große Thronsaal,
den wir nun betreten, ein gewaltig großer hoher Raum, dessen Wand- und
Deckenschmuck ein wahrer Triumph der japanischen Kunstindustrie
ist. Von der Decke hängen zwei Glaslüster mit unzähligen elektrischen
Lämpchen, die aber selten angezündet werden, da man sich in dem
hölzernen Gebäude sehr vor Schadenfeuern fürchtet. Deshalb giebt es
in dem Palaste auch keine Kamine, und die im Winter recht notwendige
Erwärmung wird durch Luftheizung besorgt. Auf einer niedrigen,
teppichbedeckten Estrade an einer Langseite des Saales stehen zwei
gleich große, in Deutschland angefertigte Thronstühle für die beiden
Majestäten unter einem hohen faltenreichen Sammetbaldachin. An Stelle
der Kronen, welche in europäischen Herrscherpalästen Baldachin und
Thronstühle schmücken, sind hier überall sechzehnblätterige goldene
Chrysanthemumblüten, sowie drei Blätter und drei Blüten der Kiripflanze
(~Paulownia Imperialis~) verwendet. Während die ersteren das
Staatswappen bilden, ist die letztere seit undenklichen Zeiten das
Familienwappen der Mikados von Japan. Obschon sonst die europäischen
Höfe in allen Dingen genau nachgeahmt worden sind, hat man doch, ich
möchte sagen glücklicherweise, vor den erhabensten Insignien des
europäischen Herrschertums, Krone, Szepter und Reichsapfel, Halt
gemacht. Es giebt in Japan keine Krone, ebensowenig wie in China und
Korea. Erst die Herrscher der an China grenzenden hinterindischen
Reiche, dann jene Zentralasiens tragen Kronen. Die größte Sammlung
der letzteren habe ich im Kreml zu Moskau gesehen, die schönsten
und kostbarsten jedoch in der Hauptstadt von Siam. Die Insignien
der japanischen Kaiserwürde sind auch in der neuen Aera dieselben
geblieben, die sie in früheren Zeiten waren, das heilige Schwert
des Mikado Uda aus dem neunten Jahrhundert und der heilige Spiegel,
das Sinnbild der Tonno. Der letztere wurde dem Stammvater der
Kaiserdynastie von seiner Mutter, der Sonnengöttin, mit auf die Erde
gegeben, und seit jener Zeit blieb dieses kostbare Kleinod in dem
Besitz der Familie.

[Illustration: Das japanische Staatswappen.]

[Illustration: Das Familienwappen des Kaisers von Japan.]

In dem Thronsaale finden am Neujahrstage, am Geburtstage des Kaisers
und bei außergewöhnlichen Anlässen große Empfänge statt. Die
Majestäten stehen auf der Estrade vor den Thronen, rechts von ihnen
neben der Estrade die kaiserlichen Prinzen, links die Prinzessinnen;
die Gesandten, Minister, Generale und sonstigen hohen Würdenträger
defilieren in der in Europa, vornehmlich am spanischen Königshofe
üblichen Weise, während das kaiserliche Musikkorps die Mikadohymne
spielt, dieselbe Hymne, die Japan schon vor dem Sturz des römischen
Reiches und vor der Regierungszeit Karls des Großen besessen hat.

Aber während bei diesen Festlichkeiten von der alten Pracht des
feudalen Japan absolut nichts mehr zu sehen ist, während die Prinzen
in moderne Uniformen, die Prinzessinnen in Pariser Toiletten gekleidet
sind und unter den Hunderten von Anwesenden auch nicht einer das
japanische Nationalgewand trägt, hat sich hinter den Kulissen dieses
modernen Kaiserhofes ein ganz erkleckliches Stück des Alten erhalten.
An den genannten Festtagen pflegt der Kaiser schon um zwei Uhr morgens
aufzustehen und unter allerhand Zeremoniell ein Bad zu nehmen; dann
werden ihm die altjapanischen Kaisergewänder angethan, und so begiebt
er sich, begleitet von seinem engeren Hofstaate, zu dem Shintotempel
innerhalb der Mauern des kaiserlichen Palastes; der Hofstaat bleibt vor
dem Tempel auf den Knien liegen, während der Kaiser allein eintritt
und eine Andacht vor den Tafeln seiner göttlichen Ahnen verrichtet.
Dann erst wird das alte Japan abgelegt, das moderne angezogen, und der
Kaiser hält die Gratulationscour und die Truppenrevue ab.

Ebenso durchaus altjapanisch ist auch die gewöhnliche Lebensweise
des Kaisers. Seine Privatgemächer zeigen nichts von europäischer
Einrichtung. Ein langer, kahler Korridor führt von dem eben
geschilderten Kaiserpalast zu einer inmitten von prachtvollen Gärten
gelegenen Gruppe niedriger Häuser, und hier bewohnt der Kaiser drei
Gemächer. Nach unseren europäischen Begriffen würde man dort wahre
Schatzkästlein japanischer Kunst erwarten, mit glänzendem Goldlack,
herrlichen Bronzen, Vasen und Porzellannippes. Statt dessen ist in
diesen aus unscheinbaren Papierwänden gebildeten Räumen alles kahl.
Kein Stuhl, kein Bett, nichts von den Bequemlichkeiten des Europäers
ist vorhanden. Der Boden ist mit geflochtenen Matten belegt, und der
Beherrscher des japanischen Reiches schläft auf einer harten Matratze.
Nicht einmal unsere europäischen Badeeinrichtungen sind hier eingeführt
worden, und gerade so wie der geringste seiner Unterthanen badet der
Kaiser in einem hölzernen Bottich.

Auch die Kaiserin bewohnt hier drei ähnliche Gemächer, und nahebei
waren für den Thronfolger bis zu seiner 1900 erfolgten Vermählung
einige Zimmer reserviert, welche er bewohnt, wenn er das Kaiserpaar
besucht. Jedes der vielen kaiserlichen Kinder von verschiedenen Müttern
hat nämlich eine eigene Hofhaltung. Sie werden von ihrer frühesten
Jugend auf verschiedenen Familien im Lande zur Pflege und Erziehung
gegeben, wachsen in diesen auf, und je älter sie werden, desto größer
wird ihr Hofstaat. Zeitweilig werden sie zum Besuch des Kaiserpaares in
den Palast gebracht. Die Kaiserin selbst ist kinderlos geblieben. Dem
Kaiser ist es freigestellt, sich so viele Gattinnen beizulegen, als er
wünscht, allein nur eine, Haruko, hat den Rang einer Kaiserin und wohnt
im kaiserlichen Palast an seiner Seite.

[Illustration: Japanische Hymne.]

[Illustration: Chinesisches Lied.]

[Illustration: Japanisches Lied.]

Der Kaiser pflegt sich gegen Mitternacht zur Ruhe zu begeben und
zwischen sechs und sieben Uhr aufzustehen. Bald darauf empfängt er die
Minister und unterschreibt die ihm vorgelegten Dokumente. Die Zeit bis
zu den Mahlzeiten, die er um elf Uhr vormittags und sieben Uhr abends
in Gemeinschaft mit der Kaiserin einnimmt, verbringt er mit Reiten,
Bogenschießen und allerhand Sport. In den achtziger Jahren bewog man
ihn zum Studium der englischen und französischen Sprache, allein er
gab die Sache bald wieder auf und versteht auch jetzt noch keine
europäische Sprache.

Innerhalb der weiten Parkanlagen, die, inmitten von Tokio gelegen,
von einer dreifachen festen Mauer und dreifachen tiefen Wassergräben
umgeben sind, befinden sich auch einige Hofämter, sowie die Wohnungen
der kaiserlichen Dienerschaft und der Hofdamen. Jede derselben besitzt
ihr eigenes Haus und selbständige Haushaltung und Küche. Sie kommen
als Kinder im Alter von zehn bis elf Jahren an den Hof und werden
dort in aller Abgeschiedenheit großgezogen und mit den Pflichten
gegen den Kaiser, sowie dem ganzen weitläufigen Zeremoniell vertraut
gemacht. Früher wurden zu Hofdamen nur Töchter von Kuges und Daimios
gewählt, seit einigen Jahren wird diese Ehre jedoch auch Töchtern der
Samuraiklasse (niederer Militäradel) zu teil.

Seinem Volke zeigt sich der Kaiser ausschließlich als europäischer
Herrscher, in europäischer Uniform und mit den Bändern oder Sternen
von Orden, die natürlich bei der Europäisierung des Reiches ebenfalls
eingeführt werden mußten und auch dieselbe Einteilung zeigen wie die
europäischen Orden. In ihrer Ausführung sind sie bunt und unschön. Der
höchste derselben ist der Chrysanthemumorden, der nur an Mitglieder
von Herrscherfamilien verliehen wird. Im Range nächststehend ist
der Sonnen- oder Paulowniaorden, so genannt, weil die Insignien
derselben den Sonnenspiegel, umrahmt von den Blättern der vorerwähnten
Paulowniapflanze zeigen. Dasselbe gilt indessen auch von dem dritten
Orden, jenem der aufgehenden Sonne, der in acht Klassen eingeteilt
wird. Geringere Orden sind jener des Spiegels oder des geheiligten
Schatzes, der Verdienstorden der goldenen Weihe (Militärorden), dann
der Kronenorden, ein Damenorden, dessen Kleinod einen Blumentopf mit
Blumen und den goldenen Vogel Hoo zeigt. Die Japaner haben an wenig
Dingen so rasch Geschmack gefunden wie an den Orden. Bei seinen
Ausfahrten benutzt der Kaiser gewöhnlich einen reich vergoldeten
Staatswagen mit Spiegelscheiben, in dem er allein zu sitzen pflegt.
Im Februar 1889 geschah es zum erstenmal, daß der Kaiser auch seine
Gemahlin in dem gleichen Wagen mitfahren ließ, ein in den Annalen des
japanischen Hofes unerhörtes Ereignis, gleichzeitig die indirekte
Anerkennung der Ebenbürtigkeit der Kaiserin. Dem kaiserlichen Wagen
pflegen Polizeibeamte, dann drei Ulanen vorauszureiten, deren einer,
in der Mitte der Straße, die Lanze aufrecht hält, während die zwei an
den Straßenseiten reitenden Ulanen die Lanze gefällt halten. Auch den
Schluß des kaiserlichen Zuges bilden drei Ulanen, die jedoch die Lanzen
mit der Spitze nach hinten halten. Unmittelbar vor dem Wagen reiten
unter Anführung eines Generaladjutanten einige Offiziere, von denen
einer die goldene Kaiserstandarte mit der Chrysanthemumblume trägt. Das
Volk verhält sich beim Anblick des Kaisers stumm und wagt gar nicht, zu
ihm emporzusehen. In einigen Gegenden des Landes herrscht der Glaube,
daß es Unglück und Tod mit sich bringen würde, das Antlitz des Mikado
zu sehen. Dem Wagen des Kaisers folgen stets einige andere mit der
Suite.

[Illustration: Chrysanthemumorden.]

[Illustration: Sonnenorden I. Klasse.]

Stünde die Person des Kaisers in Japan nicht so göttergleich, so hoch
erhaben über jedes irdische Getriebe, sie würde gewiß, wenn möglich,
noch an Volkstümlichkeit gewinnen durch die Gattin des Mikado, die
Kaiserin Frühling (Haruko). Geboren in Kioto als die dritte Tochter
eines Kuge (Prinzen), wurde sie in den strengen, starren Grundsätzen
des alten Japan erzogen; sie lernte die chinesischen Klassiker, die
japanische Dichtkunst, das Samisen- und Kotospiel (Guitarre und
Lyra), Nähen und Sticken. Nach ihrer Vermählung mit dem Kaiser ließ
sie sich der früheren japanischen Sitte gemäß die Zähne schwärzen und
die Augenbrauen abrasieren. Seit der Europäisierung des Landes kam
glücklicherweise diese Sitte außer Gebrauch, und heute ist diese edle
Frau mit dem schönen Namen der modernisierte Typus einer japanischen
Aristokratin, klein, schwächlich, mit wunderbar kleinen Händchen
und langem, schmalem Gesicht. Wohl wenigen dürfte das Aufgeben der
malerischen Frauentracht des alten Japan und das Annehmen von Schuhen
und Korsett, steifen Röcken und großen Hüten nach europäischer Mode
schwerer gefallen sein, wenigen steht diese moderne Tracht auch
ungünstiger als der Kaiserin. Heute kann ein europäischer Besucher
des Landes dies kaum mehr beurteilen, aber wer Gelegenheit gehabt
hat, eines der großen Gartenfeste am Kaiserhofe vor und nach 1885
mitzumachen, der wird diese Wandlung vom Schönen zum Häßlichen
schmerzlich empfinden. Alljährlich werden zwei dieser Feste gegeben,
eines im Frühjahr während der Blütezeit der Kirschen, eines im Herbst,
wenn die Nationalblumen der Japaner, die Chrysanthemen, in ihrer
unbeschreiblichen Blütenpracht stehen. Tausende und Abertausende dieser
Blumen, in allen erdenklichen Farben und Größen bis zu jener unserer
Sonnenrose, stehen in den breiten Avenuen des kaiserlichen Parkes
unter langen Mattendächern; manche Pflanzen tragen nur eine einzige
Blüte, manche Dutzende, ja geschützt durch seidene Zelte kann man dort
einzelne Pflanzen mit zwei- bis vierhundert Blüten sehen.

[Illustration: Kronenorden I. Klasse.]

Wer könnte die bezaubernde Anmut und Schönheit der japanischen Damen,
ihre zarte, faltenreiche Kleidung, den Reichtum und die Zeichnung
der Stoffe schildern, wie sie damals vor 1885 sich zeigten! In den
Avenuen und auf den weich besandeten Plätzen des Parkes harrten diese
reizenden Gestalten der Majestäten, bewundert von den Gesandten, den
Würdenträgern und sonstigen geladenen Europäern. Und nun erst die
Kaiserin selbst, mit ihrem zahlreichen Gefolge von Prinzessinnen und
Hofdamen, die in langer Prozession langsam die Zelte entlang wandelten.
Die Tracht der Kaiserin bestand damals aus weiten, faltenreichen Hakama
(Beinkleidern) aus dem schwersten, scharlachroten Damast, einem Ziban
(Unterkleide) und einem Kimono (eine Art Schlafrock) von lila Seide mit
eingestickten Wistaria und Chrysanthemumblüten. Um den Hals war ein
vielfarbiges Seidentuch geschlungen. Das reiche, schwarze Haar umrahmte
in einem breiten Zopf das Gesicht und fiel hinten bis zu den Hüften
herab; stellenweise waren in das Haar kleine Stückchen von weißem
Reispapier eingebunden wie bei den Shintopriesterinnen. Ueber der hohen
Stirn prangte ein kleiner, goldener Phönix, in Japan wie in China das
Abzeichen des Herrschers. In der einen Hand trug sie einen vielfarbigen
Sonnenschirm, in der anderen einen hölzernen, bemalten Fächer mit
schweren, lang herabfallenden Seidenschnüren.

Die Prinzessinnen und Damen des Gefolges trugen ähnliche Kostüme aus
den herrlichsten Gold- und Silberbrokaten, wie man sie in Europa nur
an den alten Priestergewändern findet. Der Aufzug dieser seltsamen
farbenreichen, glitzernden Gestalten inmitten einer wahren Wildnis von
Chrysanthemumblüten muß traumhaft gewesen sein.

Bei dem nächsten Kirschblütenfeste war all diese Herrlichkeit vorbei.
Die Pariser Moden waren im Winter in Japan eingezogen und hatten den
weiblichen Schmetterlingen Japans ihre Flügel abgeschnitten. Aber das
ging nicht so leicht von statten, als es gesagt ist. Welche profane
Schneiderin der Rue de la paix hätte die geheiligte Person der Kaiserin
mit ihren Händen berühren und ihr die Kleider anpassen können? Lange
sträubte sich die Kaiserin, lange wußte man keinen Ausweg. Endlich
entschloß sich die kluge Gräfin Ito, Gattin des ersten Ministers und
die Leiterin der europäischen Mode in Japan, als Probiermamsell für
die Kaiserin zu dienen, und seither sieht man die Kaiserin nur mehr
in europäischen Kleidern, die allerdings aus japanischen Stoffen
angefertigt werden. Ihr mußten alle Damen des Hofes notwendigerweise
folgen. Die herrlichsten alten Kimonos, die zartesten Stickereien,
die reichsten Goldbrokate und schwersten Stoffe wurden geopfert, um
dafür moderne Hüte und Schuhe und Pariser Kleider zu kaufen, und heute
ist ein Gartenfest bei Hofe oder ein Ball beim ersten Minister nahezu
eben so langweilig und einförmig wie in Europa. Die Wandlung hat der
japanischen Aristokratie, die nach dem Sturz des Schoguns ohnehin
schon den größten Teil des angestammten Vermögens auf den Altar des
Vaterlandes legen mußte, große Kosten verursacht, von denen sie sich
nur schwer erholt. Selbst das Kaiserhaus ist mit irdischen Gütern nicht
überreich gesegnet. Das Familienvermögen ist gering, und die jährliche
Zivilliste beläuft sich nur auf drei Millionen Yen (etwa sechs
Millionen Mark).

Auch von diesen opfert die Kaiserin ihren Anteil für allerhand
wohlthätige Anstalten, deren eifrigste Schöpferin und Förderin sie
ist. Der eigene Kindersegen blieb ihr vorenthalten, dafür trachtet sie
im schönsten Sinne des Wortes die Mutter ihres Volkes zu sein. Das
Hospital des Roten Kreuzes und die Adelsschule erfreuen sich ihrer
besonderen Fürsorge. Häufig sieht man die Kaiserin im Frühling durch
die Straßen Tokios fahren, um diesen Anstalten Besuche abzustatten,
die gewöhnlich mehrere Stunden währen. Mit engelgleicher Geduld
hört sie den französischen und englischen Prüfungen der Schulkinder
zu, obschon sie selbst kein Wort dieser Sprachen versteht. Sie
ermuntert und beschenkt die Schüler, unterhält sich mit den Lehrern
und verläßt selten eine Schule, ohne den Damen des Lehrerpersonals das
gewöhnliche kaiserliche Geschenk, eine Rolle japanischen Seidenstoffes,
zurückzulassen. Bei ihren Ausfahrten in einem prächtigen Galawagen wird
sie gewöhnlich von zahlreichem Gefolge begleitet. Eine seltsame, wohl
nur Japan eigentümliche Einrichtung ist es, daß der kaiserliche Wagen,
sobald die Kaiserin denselben, am Bestimmungsorte angelangt, verlassen
hat, von Dienern während des Wartens sorgfältig gewaschen und mit einer
grünen Seidendecke verhüllt wird.

Hoffestlichkeiten finden außer den geschilderten nur wenige statt.
Der Kaiser scheint an denselben keinen besonderen Gefallen zu finden.
Zuweilen werden jedoch ihm zu Ehren von den anderen Mitgliedern der
kaiserlichen Familie oder von den zehn Fürstenfamilien des Landes
Festlichkeiten veranstaltet, denen das Kaiserpaar gerne beiwohnt.

Der Thronfolger Prinz Joschihito Harunomiya, ein Sohn des Kaisers und
der Frau Yanagiwara, im Jahre 1879 geboren, wird als sehr aufgeweckt,
energisch und ehrgeizig geschildert. Er erhielt seine Erziehung in der
ganz nach europäischen Vorbildern geleiteten Adelsschule, und sollte
seine schwächliche Gesundheit ihm je gestatten, den Thron seiner Väter
zu besteigen, so dürften noch weitere europäische Reformen in Japan
zu gewärtigen sein. Soweit das japanische Staatshandbuch es angiebt,
ist er heute der einzige lebende Sohn des Kaisers, aber das Aussterben
der kaiserlichen Familie ist deshalb keineswegs zu befürchten, denn es
bestehen neben dieser noch neun Nebenlinien, deren Häupter kaiserliche
Prinzen sind und Zivillisten in der Höhe von zehn- bis dreißigtausend
Yen beziehen.

[Illustration: Die Asakusapagode zu Tokio.]



Die vornehme Gesellschaft.


Im heutigen Japan ist von dem alten Glanze der Kugefamilien, von der
Pracht der Daimios, wie sie in früheren Werken über das Inselreich des
Mikado geschildert werden, gar nichts mehr zu finden. Mit dem Jahre
1871 fand die Feudalherrschaft in Japan, welche achthundert Jahre lang
gewährt hatte, ihr Ende. Ein Federstrich ließ sie verschwinden, als
wäre sie nichts weiter gewesen als Staub, im Laufe der Jahrhunderte
angesammelt. Der uralte Hofadel ebenso wie die Duodezfürsten des
Landes gaben in vielen Fällen ganz freiwillig ihre Länder, ihre Güter,
Reichtümer und Einkünfte auf und wurden getreue Unterthanen ihres seit
sechsundzwanzig Jahrhunderten regierenden Herrscherhauses. Keine Klasse
der Bevölkerung nahm die Reformen, welche der Kaiser dekretierte,
williger an als gerade der Adel, und keine hat sich so rasch in die
europäischen Sitten und Gebräuche, wie sie heute wenigstens äußerlich
am japanischen Kaiserhofe bestehen, eingewöhnt.

Welche Opfer dieser uralte Adel des Reiches dem Vaterlande gebracht
hat, kann man ihrer wahren Größe nach erst beurteilen, wenn man den
Einfluß und die Machtstellung der einzelnen Familien in früheren
Zeiten kennen gelernt hat. Wohl kaum irgend ein Adelsgeschlecht
Europas kann auf so zahlreiche Ahnen zurücksehen wie eine ganze Reihe
der japanischen Kugefamilien, von denen einzelne ihre Abstammung
bis in das sechste Jahrhundert vor Christi Geburt zurückführen. Die
berühmteste Adelsfamilie Japans, die Fujiwara, stammen beispielsweise
von einem Diener des Großvaters von Jimmu Tenno, dem Gründer der
japanischen Kaiserdynastie, ab und sind seit mehr als 2600 Jahren mit
den Geschicken der japanischen Nation auf das innigste verflochten.
Andere, wie die Sugawara, die Taira und Minamoto, wenn auch viel jünger
als die Fujiwara (zu deutsch Glycinenfeld), sind doch älter als alle
europäischen Herrscherfamilien, und ihre Ahnen nahmen fast durchgehends
die höchsten Stellen im Reiche ein. Von den heute noch bestehenden
155 Kugefamilien leiten 95 mehr oder minder direkt ihre Abstammung
von den Fujiwaras ab, alle aber sind mit der Kaiserfamilie verwandt,
und eine große Zahl dieser Familien des Hofadels haben kaiserliche
Prinzen zu ihren Stammvätern. Gewöhnlich waren es Söhne des Kaisers mit
Konkubinen, welche eigene Namen annahmen und eigene Familien gründeten;
ihre Söhne erhielten dank ihrer innigen Verbindung mit dem Kaiserhause
einträgliche Aemter, und fast in jeder Familie ist eines oder das
andere erblich geblieben. Die Mehrzahl der Aemter hatten die Fujiwara
an sich gerissen, und sie verstanden auch, dieselben jahrhundertelang
in ihrem Besitze zu erhalten. Im siebenten Jahrhundert waren sogar alle
Hofämter und die Mehrzahl der Gouverneurstellen in den Provinzen in
ihren Händen. Gerade so wie ich es in meinem Buche „Korea” bezüglich
der mächtigen Familie der Min geschildert habe, bildeten auch die
Fujiwara einen undurchdringlichen Ring um den Mikado, der nichts weiter
als ihr willenloses Werkzeug war. Wie die Min in Korea gewohnt sind,
aus den Reihen ihrer Töchter eine Gattin für den König auszusuchen,
um dadurch ihren Einfluß auf diesen zu sichern, so waren auch in
Japan Jahrhunderte hindurch die Kaiserinnen stets Töchter des Hauses
Fujiwara, und noch die in Tokio residierende Witwe des verstorbenen und
Mutter des regierenden Kaisers entstammt diesem allmächtigen Hause.
Wie Parasiten wanden sie sich um den Herrscherstamm und saugten an
seinem Safte, sich selbst stärkend, indem sie ihn schwächten. So ging
allmählich die ganze Macht der Mikados in die Hände des Hofadels über;
den Kreisen der letzteren entstammten die Schogune bis auf die letzte
Zeit, und sie, nicht die Kaiser, waren die eigentlichen Regenten und
Herren des Landes.

Neben diesen Kuge oder dem Hofadel bildete sich in den Provinzen von
Japan, sowie bei uns, allmählich ein Landadel heraus. Wohlhabendere
Bauernfamilien vermehrten ihren Grundbesitz durch Erbschaft und
Heiraten, ihre Stellung und ihr Ansehen aber durch einzelne tapfere
Familienmitglieder; die fortwährenden Räubereien veranlaßten minder
zahlreiche, minder wohlhabende Familien, bei ihren reichen und
mächtigeren Nachbarn Schutz zu suchen; Aufstände und Unruhen in
verschiedenen Teilen des Reiches zwangen die Regierung, diese Familien
zur Unterdrückung derselben in Anspruch zu nehmen, und zu Beginn des
siebenten Jahrhunderts wurden ihnen für ihre Dienste kaiserliche
Vorrechte zu teil, sie erhielten Beamtenposten in der Provinz oder an
den Grenzen des Reiches. Die Kaiserin Suiko erließ im Jahre 603 ein
Dekret, demzufolge jedem Beamtenposten eine entsprechende Adelsstellung
gebühre, und so entwickelten sich allmählich in den Provinzen adelige
Familien, die an der Spitze ganzer Distrikte oder Clans standen, wie
es noch heute beispielsweise in Schottland der Fall ist. Die Häupter
dieser Familien sind die Daimios, zu deutsch „große Namen”, deren es
bei dem Zusammensturz des alten Feudalsystems in den siebziger Jahren
etwa dreihundert gab.

Nachdem diese Daimiofamilien in ihren Distrikten sich einmal zu
den reichsten und mächtigsten emporgeschwungen hatten und der Ball
ins Rollen gekommen war, stieg diese Macht je nach der Größe ihres
Distriktes, nach der Energie, mit der sie auftraten, oder durch Zufall,
so daß sie bald zu einer Art Souveränität gelangten. Damals war dies
um so leichter, als es keine Verkehrswege gab und die Zentralregierung
am Hofe des Mikado selbst viel zu schwach war, um dem Weitergreifen
der Daimioherrschaft einen Damm entgegenzusetzen. Die Kuge blieben
freilich die höchste Aristokratie des Landes, Legitimisten, könnte man
sagen; die Daimios aber waren die reichsten und mächtigsten, und viele
von ihnen besaßen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ungeheure
Einkünfte. Ihr Rang wurde je nach der Größe der letzteren bemessen.
So hatte beispielsweise der reichste Daimio, jener von Kaga, eine
jährliche Einnahme von einer Million Koku Reis (nahezu zwei Millionen
Hektoliter), während sich die niedrigsten Daimios auf Einkünfte von
zehntausend Koku Reis (etwa achtzehntausend Hektoliter) standen.
Die Macht der Daimios wurde im achten Jahrhundert noch durch eine
Verordnung des Hofes vergrößert, derzufolge alle wohlhabenderen Bauern,
welche im Waffenführen, Bogenschießen, Reiten bewandert waren, eine
Art Miliz im ganzen Lande bilden sollten, unter Anführung der Daimios.
Diese Maßregel war eine der wichtigsten in der ganzen Geschichte des
Mikadoreiches, denn sie teilte die Bevölkerung in zwei große Klassen,
die Ackerbauer und die Soldaten. Griffin sagt in seinem Werke „The
Mikados Empire” sehr richtig: „Dabei wurde ein Teil des Volkes auf
eine Lebensweise geführt, in welcher Reisen, Abenteuer, soldatische
Tugenden, Ehre und Ritterlichkeit eine bedeutende Rolle spielten,
und damit wurde die beste Klasse der Männer von Japan, die Samurai,
geschaffen. Die Samurai haben jahrhundertelang das Waffenwesen,
Ritterlichkeit, Patriotismus und Intelligenz des japanischen Reiches
nahezu monopolisiert. Sie sind die Männer, welche stets bereit waren
zu lernen und denen die großen Reformen des modernen Japan, das
Aufheben des Feudalwesens, die Niederwerfung des Schogunats und die
Wiederherstellung der einstigen Macht der Kaiser zuzuschreiben sind.
Ihr Geist ist es, welcher Japan heute regiert; ihre Söhne sind es, die
in Europa die Zivilisation des Abendlandes studieren; die Samurai sind
die Seele der Nation.”

Jeder Daimio hatte eine mehr oder minder große Zahl von Samurai
(Zweischwertermännern) unter seinem Befehl; sie teilten sich in zwei
Klassen: Schizuko oder Samurai höheren Grades, deren es in Japan nach
Aufhebung der Feudalherrschaft etwa 260000 gab, und Sotsu oder Samurai
niederen Grades in einer Gesamtzahl von 167000. Die mächtigsten Daimios
mit der größten Zahl und tüchtigsten Klasse von Samurai waren jene von
Satsuma, Chosu, Tosa und Hizen; von ihnen gingen auch hauptsächlich
die Ideen aus, welche zu den großen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte
führten, und Männer aus diesen Clans oder Stämmen haben auch heute
die Zügel der Regierung in ihren Händen. Die Träger der Namen Ito,
Yamagata, Yamada, Inouye und Aoki sind frühere Samurai von Chosu, die
beiden Saigos, Terashima, Yoshida, Oyama, Kuroda sind frühere Samurai
von Satsuma, welchem Clan überdies nahezu die ganze Seemacht Japans
angehört.

Wie am Hofe des Mikado die Kuge allmählich die Gewalt an sich rissen,
so erging es auch an den kleinen Höfen der Daimios, wo die Samurai
die Rolle der Kuge übernahmen und die Gewalt der Daimios in ihre
Hände bekamen. Die ganze Regierung des Clans, die Verwaltung des
Landes wurde durch die Samurai besorgt, die Daimios hatten sich um
die Regierungsgeschäfte gar nicht zu kümmern; sie wohnten mit ihren
Familien in ihren prachtvollen Schlössern auf dem Lande oder in
der Nähe ihrer Hauptstädte und vertändelten ihre Zeit weniger mit
Waffenübungen als mit allerhand Spielereien, Theezeremoniell, Poesien,
Aufführungen von alten Theaterstücken, Tänzen und Gesängen; allerdings
unterstützten sie die schönen Künste, und die herrlichen Porzellane,
Bronzen, Waffen, Metallarbeiten, Stoffe und Stickereien, die heute in
unseren Museen so große Bewunderung erregen, wurden zum größten Teile
auf Bestellung der Daimios ausgeführt. Aber auf der anderen Seite war
dieses weichliche, thatenlose Leben nicht dazu angethan, den Daimios
ihre frühere Energie, ihren Thatendienst zu erhalten, und was ihre
Frauen anbelangt, so waren sie nicht viel mehr als Puppen. In den
Schlössern der Daimios gab es weder die geistige Thätigkeit, welche
an dem Hofe des Mikado herrschte, noch die Pflichten und Arbeiten
der Samuraifrauen, so daß das Leben der Daimiofrau vielleicht, wie
Alice Bacon in ihrem reizenden Büchlein über die japanischen Frauen
sagt, langweiliger und zweckloser war als das irgendwelcher Frauen
des Landes. Umgeben von endlosen Vorschriften der Etikette, ohne die
Anregung, die von physischer Arbeit oder intellektueller Thätigkeit
kommt, vegetierten diese Frauen mehr, als daß sie lebten. Kein Wunder,
daß die Daimios unter der Herrschaft der Schogune aus dem Hause
Tokugawa geistig wie physisch degeneriert waren, denn in dem Leben der
Frauen gab es absolut nichts, was sie befähigt hätte, Gattinnen und
Mütter starker Männer zu sein. Zart, niedlich, gekünstelt, geschickt in
allerhand kleinen Nichtigkeiten, aber unfähig, selbständig aufzutreten,
waren sie wohl vornehme Damen in jeder Weise, mit Instinkten von Ehre
und Noblesse von ihrer frühesten Kindheit an, aber diese Jahre von
Absperrung, von Unterwürfigkeit seitens ihrer Hunderte von Dienern,
von fortwährendem Unterricht in den Pflichten, Würden und Zeremonien
ihrer Stellung zeigen sich heute in auffälliger Weise an diesen
Geschöpfen. Alice Bacon sagt über sie: „Es fehlt ihnen an Kraft,
Ehrgeiz, an Klarheit des Denkens, während die Nation der Japaner diese
Eigenschaften im höchsten Grade besitzt; dafür haben sie aber seltenen
Anstand, reizvolles Benehmen, starkes Ehrgefühl und Rassenstolz,
gepaart mit persönlicher Bescheidenheit, die nahezu Unterwürfigkeit
erreicht.” Alice Bacon kennt sie genau, denn sie war einige Jahre lang
Lehrerin in der seit anderthalb Jahrzehnten bestehenden Adelsschule in
Tokio, wo die Söhne und Töchter der Aristokratie ganz nach europäischen
Vorbildern ihre Erziehung genießen.

Während der letzten Generationen waren die Daimios durch ihr
weichliches, üppiges Leben so weit herabgekommen, daß die Schogune
der Dynastie Tokugawa leichtes Spiel mit ihnen hatten. Um sie besser
im Zaume zu halten und etwaigen Unternehmungen zu Gunsten der
Wiederherstellung der Kaisergewalt vorzubeugen, zwangen die Schogune
sie, in der Hauptstadt Tokio Paläste zu bauen und während einer
Hälfte des Jahres dort, in der unmittelbaren Umgebung der Schogune,
zu wohnen. Aeußerlich wurden ihnen alle erdenklichen Ehren zu teil,
aber in Wahrheit waren sie der Mehrzahl nach machtlose Puppen der
Schogune. Griffin sagt über sie: „Rang-, Ehren- und Titelsucht ist
die hervorragendste Leidenschaft der Japaner. Die reichsten Daimios
opferten große Summen und ließen alle Einflüsse in Kioto spielen, um
nur einen neuen Titel zu erhalten.” Titel und Orden spielen deshalb
auch im modernen Japan eine wichtige Rolle, und selbst posthume Titel
werden heute verliehen.

Von dieser Kuge- und Daimiowirtschaft ist in Tokio, wenigstens was
die Aeußerlichkeiten betrifft, heute alles verschwunden; verschwunden
sind auch die geräumigen Paläste des Adels, die sich noch vor zwanzig
Jahren in weitem Kreise rings um die feste, mit Mauern und Wällen
umgebene Residenz der Schogune hinzogen und eine Adelsstadt, ein
Faubourg St. Germain, bildeten, wie es in dieser Art wohl auf Erden
nicht wiederzufinden war. An der Stelle des Schogunpalastes innerhalb
der Ringmauern steht heute der moderne Palast des Kaisers; auf den
Trümmern der niedergerissenen Adelspaläste erheben sich kolossale
moderne Bauten, Ministerien, Schulen, Universitätsgebäude, oder die
weiten Grundflächen wurden zur Anlage von Parks und Gärten verwendet.
Nur wenige jener Paläste sind der Zerstörungswut des modernen Japan
entgangen, und an ihnen kann man erkennen, wie die Daimios in
ihnen gewohnt haben. In den langen niedrigen Außengebäuden, welche
viereckige Höfe bilden, wohnten die Samurai, die ihre Herren auf den
Reisen nach der Hauptstadt zu begleiten pflegten, und in den inneren
Gebäuden, einfach, kahl, niedrig, mit papierüberzogenen Holzrahmen
als Wänden, wohnten die Daimios. Ihre Wappenblumen sind von den
Thoren verschwunden, und an ihrer Stelle zeigt sich dort das Wappen
des Kaisers, die Chrysanthemumblüte; an Stelle der Samurai hausen in
diesen Räumen japanische Kavallerie und Artillerie modernen Musters.
Ebenso sind die stolzen, vielstöckigen, eigentümlichen Stammburgen und
Schlösser in den Provinzen in Kasernen umgewandelt worden. Die Familien
selbst wohnen teils in altjapanischen Häusern, teils in modernen
englischen Villen, je nachdem es ihre Mittel gestatten, denn der größte
Teil ihrer Einkünfte wurde ihnen bei der Aufhebung der Feudalherrschaft
ebenso entzogen wie ihre Länder. Sie wurden viel gründlicher
mediatisiert, als es in Europa seinerzeit geschah. Es war auch bei
diesen verweichlichten, mittellosen Herren leichter durchzuführen,
zumal einige wirklich groß angelegte, patriotische Daimios selbst den
Anstoß dazu gaben. Jene von Satsuma, Choshiu, Tosa und Hizen richteten
eine Eingabe an den Thron, in welcher sie ihre Ländereien nicht als
Privatbesitz, sondern als Eigentum der Krone bezeichneten und sich
bereit erklärten, dieselben zusammen mit den Registern des ganzen Clans
dem Kaiser zur Verfügung zu stellen. Die kleineren Daimios wußten
nun, daß auch die Tage ihrer Herrschaft gezählt seien und Widerstand
vergeblich wäre. Im September 1871 erschien ein kaiserliches Edikt,
welches alle Daimios des Landes nach Tokio berief und ihnen befahl,
sich ins Privatleben zurückzuziehen. In ihren Schlössern, in den weiten
Hallen ihrer Vorfahren, nahmen sie Abschied von ihren Samurai und
begaben sich, von einigen Dienern begleitet, nach der Hauptstadt. Ihre
ehemaligen Fürstentümer wurden in Provinzen geteilt und unter Präfekten
gestellt. Mit der Feudalherrschaft in Japan war es voraussichtlich für
immer vorbei.

Selbst ihren alten angestammten Namen büßten sie vielfach ein. Die
Bezeichnungen Kuge und Daimio wurden fortdekretiert und an ihrer Stelle
eine neue Rangordnung des Adels eingeführt, ganz nach europäischem
Muster. Es wurden Fürsten, Marquis, Grafen, Vizegrafen und Barone
geschaffen und die früheren Daimios je nach ihrem alten Rang und
Reichtum dieser oder jener Klasse zugeteilt. Sogar Samurais, die sich
um die moderne Bewegung Verdienste erworben hatten, wurden diese neuen
Adelstitel verliehen. Aber die alten Kuge konnten sich auch in dem
neuen Gewande nicht dazu bequemen, die Daimios und geadelten Samurais,
obschon sie vielleicht denselben Adelstitel besaßen, als ebenbürtig
zu betrachten; die Hofkreise Japans sind in ähnliche Fraktionen und
Cliquen gespalten wie die Aristokratie Frankreichs. Auch in dem Reiche
des Mikado giebt es ein Faubourg St. Germain und ein Faubourg St.
Honoré, bei allen aber dreht es sich hauptsächlich um die Gunst des
Kaisers.

Der heutige Adel von Japan zählt 10 Fürsten, 25 Marquis, 80 Grafen, 352
Vicomtes und 98 Barone. Von den 10 Fürsten sind die 5 alten Gosekke,
d. h. die höchststehenden der früheren 155 Kugefamilien, nämlich die
Ichijo- (denen die regierende Kaiserin entstammt), Kujo-, Takatsukasa-,
Nijo- und Konoyefamilien; ihnen wurden 1883 noch die Häuser Sanyo,
Iwakura, Shimadzu, Mori und Tokugawa beigesellt, und diese zehn
Familien genießen das Privilegium, daß aus ihren Töchtern die Braut des
Kaisers oder des Thronfolgers gewählt wird.

Der Kaiser verkehrt auch in den Häusern der Fürsten, und vor einigen
Jahren waren es gerade die Tokugawa, welche dem Souverän in ihrem
Palaste eine große Festlichkeit im altjapanischen Stile gaben. Bei dem
Preisfechten und der Novorstellung (eine Art lyrischen Dramas) kamen
dieselben Gesichtsmasken und unschätzbaren Kostüme zur Verwendung,
die in der Familie der Tokugawa seit Jahrhunderten im Gebrauch waren.
Uralter Sitte gemäß wurden dem Kaiser bei seinem Besuche ein kostbares
Schwert und ein Festgedicht in einem Kästchen aus Goldlack überreicht.
Der Kaiser nahm diese Geschenke aus den Händen des Gastgebers entgegen,
eines Mannes, dessen Vater Keiki der letzte der Schogune war. Dieser,
ein Rebell gegen die kaiserliche Gewalt, lebt heute vergessen, ohne
jeden Anhang und ohne politische Absichten und Hoffnungen, auf einem
kleinen Landgute in der Nähe von Shidzuoka, während sein Sohn sich
mit der gegenwärtigen Regierung vollständig ausgesöhnt hat und sich
der Gunst des Kaisers erfreut. Den heutigen Marquis und Grafen
und Vicomtes würde man es gewiß nicht ansehen, daß sie vor dreißig
Jahren noch in den alten Daimiokostümen, begleitet von einer Anzahl
Zweischwertermännern und zahllosem, malerischem Gefolge, auf dem
Tokaido oder anderen Straßen des Landes einherzogen, kleine Souveräne
mit Hofstaaten und großen Einkünften. Schmächtige, bewegliche, ungemein
höfliche Männer, kleiden sie sich nach der neuesten Mode und sehen so
elegant aus, als wären sie ihr Leben lang nicht über Piccadilly oder
St. James hinausgekommen. Sie fahren in modernen Equipagen umher,
reiten, spielen Lawn Tennis und unterhalten sich mit den ausländischen
Diplomaten in französischer, deutscher oder englischer Sprache über
allerhand europäische Dinge. In ihrem Adelsklub, dem Rokumeikwan,
lesen sie die Times oder Kreuzzeitung, spielen Billard wie Franzosen
und Poker wie Yankees; dazwischen machen sie Damen den Hof, besuchen
Afternoon Teas und lassen sich bei Wohlthätigkeitsbazars ausplündern.
Der vornehme Prinz Shimadzu von heute ist kein anderer als der einstige
Daimio von Satsuma; der Marquis Maeda, bekannt wegen seines Reichtumes
und Schwager eines kaiserlichen Prinzen, ist der frühere Daimio von
Kaga. Sein Palast hat den Bauten der neuen Universität Platz gemacht,
seine früheren Jahreseinkünfte von nahe zwei Millionen Hektoliter
Reis fließen in die kaiserlichen Kassen, aber er hat doch genug übrig
behalten, um überall, auch in Europa, als reicher Mann zu gelten.

Aber noch auffälliger ist die Wandlung, die mit den früheren Kuge- und
Daimiodamen vor sich gegangen ist. Die zarten, bemalten Geschöpfchen
mit den glattrasierten Augenbrauen und geschwärzten Zähnen, mit den
buntfarbigen Kimonos und schweren Holzpantoffeln, die ihr ganzes
Leben auf den Schlössern ihrer Väter verträumten, sind heute Pariser
Modedamen mit modernsten Toiletten und Brillantenschmuck; sie haben
sich die Augenbrauen wieder wachsen lassen, ihre Zähne sind wieder
weiß geworden, und wären sie nicht so schlitzäugig und von gelblichem
Teint, man könnte sie für vornehme Europäerinnen halten. Während
sie früher vom Hauswesen, von Gesellschaften und dergleichen gar
nichts wußten, sind manche heute die Leiter ihrer Hauswesen in großen
Palästen oder Villen, ganz nach abendländischem Muster, und erfüllen
ihre vielen Pflichten mit einer Gewandtheit, die Staunen erweckt.
Selbst ans Reiten und Fahren haben sie sich gewöhnt. In Tokio besteht
unter dem Schutze der Kaiserin, die selbst eine passionierte Reiterin
ist, eine Damenreitschule, wo sich die jungen Aristokratinnen auf
vortrefflichen Pferden, Mischlingen von japanischen und ungarischen
Tieren, herumtummeln.

Nichts spricht so sehr für das Nachahmungs- und Anschmiegungstalent
der Japaner als die Schnelligkeit, mit welcher selbst ihre Frauen
ihre ganze Kultur und Anschauungsweise verändert haben. Sie legten
das alte Japanertum anscheinend mit ebensowenig Schwierigkeit und
Bedauern ab wie ein Paar getragene Handschuhe, aber nur anscheinend,
denn ihre Anstrengungen mit den neuen, fremden Sprachen, Kleidern und
Etikettevorschriften waren geradezu heroisch. Die Mütter studierten
Sprachen und Sitten gleichzeitig mit ihren Töchtern bei denselben
Lehrerinnen, und die Frauen der japanischen Diplomaten, wie zum
Beispiel die Prinzessin Komatsu, welche einige Jahre in Europa gelebt
hat, gaben der vornehmen Gesellschaft Japans nach ihrer Rückkehr
dorthin Unterricht in abendländischer Etikette und Lebensart. Viel
haben dazu auch einige europäische an Japaner verheiratete Damen
beigetragen, in erster Linie Madame Sannomiya, die englische Gattin
des japanischen Hofmarschalls dieses Namens. Zwei Japanerinnen, den
vornehmsten Hofkreisen angehörig, haben das bekannte Vassar Kollege
in Nordamerika mit Erfolg absolviert, und die Anschauungen, die
sie von dort nach Japan mitgebracht haben, wirkten auf die dortige
Gesellschaft wie Sauerteig. Die eleganteste und schönste der modernen
Damen des Hofes ist wohl die Marquise Nabeshima, die Gattin des
Oberzeremonienmeisters und reichsten Pairs von Japan.

[Illustration: Japanerinnen beim Thee.]

Wie Paris und Wien, so hat auch Tokio seine gesellschaftliche
Wintersaison, die gewöhnlich vom Oktober bis Mai, d. h. bis zum
Eintritt der heißen Jahreszeit dauert, und während dieser Saison geht
der soziale Eiertanz noch viel peinlicher und zeremoniöser vor sich
als in den großen Residenzen Europas. Staats-, Diners- und sonstige
Visiten müssen genau innerhalb einer gewissen Zeit gemacht werden,
und der Europäer, der eine Wintersaison in der Gesellschaft von
Tokio zubringt, kommt vor Visitenkartenabgabe kaum zum Atemholen.
Und fügen muß er sich, will er nicht aus den Gesellschaftslisten
gestrichen werden. Sogar das Tanzen nach europäischer Mode hat die
junge Welt Japans schon erlernt, und auf den zahlreichen Bällen bei den
Ministern, Hofwürdenträgern und Gesandten tanzen die schlitzäugigen
Komtessen und Baronessen mit einer Präzision, gehen durch die Figuren
der Quadrille und der Lanciers mit einer Kenntnis der Details wie
alte pommersche Grenadiere auf dem Exerzierplatz. Wehe dem Europäer,
der da irgend einen falschen Schritt macht! Er wird nicht durch
Scherze oder huldvolles Lächeln, sondern im Gegenteil, durch tiefen
Ernst zurechtgewiesen und könnte vor Scham über die Kenntnis seiner
Tänzerinnen unter den Parkettboden versinken. In den Tänzen auf
japanischen Bällen wird der Europäer zumeist nur militärischen
Drill finden, und es ist kaum anzunehmen, daß die japanischen Damen
besonderen Gefallen daran haben. Aber es ist eben europäische
Sitte, und ihr muß gefolgt werden. Die Festlichkeiten am Kaiserhofe
beschränken sich auf einige Staatsbankette an besonderen Festtagen
und auf zwei Garden parties, bei welchen die Majestäten zu erscheinen
pflegen. Dagegen giebt der Premierminister gewöhnlich am Vorabend
des kaiserlichen Geburtsfestes einen Staatsball, und ihm folgt kurze
Zeit darauf der Gouverneur von Tokio mit einem zweiten. Auch in
den Gesandtschaften der europäischen Großmächte finden zahlreiche
Festlichkeiten, Soirées dansantes, Diners und Garden parties statt,
dann bei den Prinzen und Mitgliedern der hohen Aristokratie. Nur
mit musikalischen Unterhaltungen war es bisher sehr schlecht bestellt.
Neben diesen europäischen Kreisen giebt es in Tokio jedoch immer noch
altjapanische Kreise, ja dieselben nehmen in der letzten Zeit eher zu
als ab. Sie stellen sich die Erhaltung ererbter Sitten und Gebräuche
zur Aufgabe, pflegen die alte Musik und das alte Theater und stellen
sich auch in der Kleiderreform auf die Seite der feudalen Trachten.
Die glänzenden, goldstrotzenden und gestickten Daimiokostüme sowie die
Waffen haben sie wohl abgelegt, aber der nationale Kimono und der Obi
sind in diesen Kreisen des legitimistischen Adels alleinherrschend.
Daß sie diesem Adel angehören, lernt der Europäer schon nach kurzem
Aufenthalte erkennen, denn die Japaner beiderlei Geschlechts tragen
auf den Kimonos ihr Familienwappen aufgestickt. Gewöhnlich sieht
man rückwärts auf dem Kragen, dann auf beiden Aermeln und auf der
Brust weiße Kreise in der Größe unserer Damenuhren und innerhalb
dieser Kreise weißgestickte Figuren, Blätter und Blüten verschiedener
Pflanzen, Schmetterlinge, Vögel. Dies sind die alten Daimiowappen, an
ihnen erkennt man die Angehörigen der Tokugawa, der Satsuma, Fujiwara
und anderer großer Familien. Selbst die Samurai tragen derartige Wappen
als das einzige, was die europäische Kultur von dem alten Japan noch
nicht weggeschwemmt hat. In mancher Hinsicht ist dies bedauerlich. Eine
Verbindung der altjapanischen mit der modernen europäischen Kultur
wäre gewiß zweckentsprechender gewesen und hätte auch bei den Japanern
selbst größeren Beifall gefunden.

[Illustration: Das Wappen der Schogune der Familie Tokugawa.]

[Illustration: Spielen mit Sand-, Papier- und Seidenformen.]



Die Japanerin.


Das Studium der Frauen (und welches Studium wäre interessanter?)
fällt dem Reisenden in Japan viel weniger schwer als in den meisten
anderen Ländern des Orients. In der Heimat des Islam werden die
Frauen verborgen und streng gehütet, so daß kein fremdes Männerauge
sie erblicken kann; in Indien stecken sie in ihren Zenanas, in China
hausen jene der besseren Klassen hinter den hohen Umfassungsmauern
ihrer weitläufigen Familienwohnungen, in Korea bedecken sie bei der
Annäherung eines fremden Mannes die Gesichter oder fliehen. Der
Reisende kann also dort gewöhnlich nur die eine, die männliche Hälfte
der Bevölkerung in ihrem Thun und Lassen genauer kennen lernen. Anders
in Japan. Den Bewohnern des großen asiatischen Inselreiches sind
Harems oder Zenanas unbekannt, und die Frauen werden in der Freiheit
ihrer Bewegung viel weniger beschränkt. Keine Kopftücher oder Schleier
verhüllen ihre Gesichter, ja statt des Verbergens ihrer reizenden,
liebenswürdigen Persönlichkeit findet oft das gerade Gegenteil statt,
eher ein Zuviel als ein Zuwenig. Die Sprache ist bei weitem nicht so
schwierig als jene anderer Völker, und auch in Bezug auf den Verkehr
mit den Ausländern werden ihnen ebensowenig Beschränkungen auferlegt
als wie mit ihren eigenen Landsleuten des starken Geschlechts. Selbst
für denjenigen, der sich nicht die Mühe giebt, die klangvolle,
sympathische Sprache der Japaner zu studieren, offenbart sich das
Frauenleben bis in viele seiner interessantesten Einzelheiten. Nicht
etwa deshalb, weil sich die Japaner in Bezug auf ihre Frauen, oder gar
diese selbst, großer Mitteilsamkeit befleißigten. Im Gegenteil. Sie
sind darin gerade so schweigsam wie andere orientalische Völker, aber
dafür tritt das Familienleben in Japan in vieler Hinsicht ganz offen zu
Tage. Im Straßenleben, bei Festlichkeiten, in Theehäusern und Theatern,
in Hotels, auf Reisen spielen die Frauen eine fast ebensogroße Rolle
wie die Männer, und wer Japan im Sommer besucht, dem gewähren die
tagsüber offenen Häuser mit ihren Gärtchen und Höfen einen tiefen
Einblick in das häusliche Leben. Die Japaner thun gut daran, denn
gerade ihre Frauen verleihen diesem herrlichen Lande den größten Reiz.
Gewiß wird jeder Reisende, der einige Monate in Japan verweilt hat, von
den Frauen schwärmen, sein Entzücken steigert sich, je länger er dort
verweilt.

Eine Reihe von liebenswürdigen Bildern der Erinnerung zieht vor
meinen Augen vorüber, während ich diese Zeilen schreibe. Vornehme
Damen mit langen schmalen Gesichtern und schwarzen schönen Augen,
angethan mit den kostbarsten Seidengewändern, gefolgt von kleinen
bescheidenen Dienerinnen; festlich geputzte Mädchen in farbenreichen,
blumengestickten Kimonos, den bunten Sonnenschirm in der einen, den
einem Schmetterling gleichenden Fächer in der anderen Hand, die
Gesichter weiß gepudert, die schwarzen Augen munter und kokett in die
Welt blickend, ein ewiges Lächeln um ihre rot geschminkten Lippen;
fleißige Frauen in dunkelblauen Schlafröcken beim Kochen, Nähen und
Waschen; auf den Feldern andere, die mit hochgeschürztem Kleid bis
über die Knie im Schlamm stehend und im höchsten Sonnenbrand sorgsam
ein Reispflänzlein um das andere pflanzen, stundenlang ohne Unterlaß;
reizende junge Mädchen mit vollen blühenden Gesichtern und üppigen
Formen, die, in enge Röckchen und Hosen gekleidet, rittlings auf
schwer bepackten Pferden sitzen und sie geschickt über gefahrvolle
Bergpfade lenken, die zierlichste Kavallerie, die man sich denken
kann; freundliche aufmerksame Dienerinnen in den Hotels, die sich bei
meinem Kommen und Gehen ehrfurchtsvoll auf den Boden werfen und ihn
mit ihren weißen Stirnen berühren; Damen, kleine Tabakspfeifchen im
Munde, in Theaterlogen auf ihren Fersen hockend, Aug’ und Ohr für die
grotesken Vorgänge auf der Bühne; einschmeichelnde, putzige, hübsche
Wesen, die mir in den Theehäusern die winzigen Schälchen mit Thee und
Sake kredenzen und dann mit Samisenspiel und anmutigem Tanz die Zeit
vertreiben: Frauen überall, daß man darüber fast die Männer vergessen
könnte. Nirgends in Asien erscheinen sie so sehr als die bessere
Hälfte wie hier, aber nirgends wird dies auch von den Männern so wenig
gewürdigt. Und doch sind sie zeitlebens bestrebt, nur den Männern zu
dienen, ihnen zu gefallen, das Leben zu erleichtern und zu verschönern,
willig sich selbst dabei aufopfernd. Hier sind die lieblichsten Babies,
die muntersten Kinder, die zärtlichsten Töchter, die liebendsten
Frauen, die besten Mütter, die man in Ostasien vielleicht finden kann.

[Illustration: Japanerinnen bei der Begrüßung.]

Es ist die verkehrte Welt. In Europa würde man derartige Frauen auf
den Händen tragen, sie verzärteln und lieben, und hier in ihrer
Heimat werden sie von der männlichen Welt mit Geringschätzung als
untergeordnete Wesen behandelt, und ihre Aufopferung wird als etwas
ganz Selbstverständliches hingenommen. Niemals gab es in Japan einen
Werther, einen Toggenburg, einen Romeo, niemals hat ein Japaner
einer schönen Frau zuliebe ritterliche Thaten begangen, ein Turnier
ausgefochten oder gar sein Leben eingebüßt. Schillers Lied vom
„Handschuh” muß dem Japaner einfach lächerlich erscheinen. In Japan
giebt es keinen Ritter Delorges, und das edle Fräulein Kunigunde hätte
sich wohl selbst hinabbemühen müssen unter die Löwen und Leoparden, um
ihren Handschuh zu holen. Entfällt einem Japaner Fächer oder Pfeife,
so wird sich seine Frau eifrig bücken, um den Gegenstand vom Boden
aufzuheben. Nicht den Damen wird der Vortritt gelassen, sondern den
Männern; ~Place aux Messieurs~ ist dort die Parole.

Allerdings wird der Frau von den überaus zuvorkommenden und höflichen
Japanern ein gewisser Grad von Höflichkeit gezeigt; die Tochter des
Hauses wird von ihrer eigenen Familie O Jo Sama, d. h. junge Dame,
genannt, und spricht man von der Hausfrau, so wird ihrem Namen stets O,
d. h. ehrenwerte, vorgesetzt. Das will aber nicht viel sagen, denn auch
die Kulis werden mit ehrenwert angesprochen. In seinem Buche über Japan
erzählt ~Dr.~ Kleist, sein europäischer Nachbar habe einen Hund
besessen, der auf den nicht ungewöhnlichen Namen Meyer hörte. Riefen
ihn die japanischen Diener, so setzten sie jedesmal O vor, also etwa
„ehrenwerter Herr Meyer!”

Hat die japanische Frau ihre demütigende Stellung vielleicht selbst
verschuldet? Betrachten wir sie näher. Ein ungemein zierliches,
reizvolles Wesen von kleiner Gestalt, mit winzigen Händen und Füßen
und sorgfältig frisiertem, rabenschwarzem Haar, ihre Augen sind die
einer Madonna, ihr Herz das eines Kindes; ihr Lächeln, als würde sie
ewig ihren Geliebten vor Augen haben, ihr Benehmen unsagbar einnehmend
und höflich; ihr Gesicht nach europäischen Begriffen entschieden
hübsch. Die Hautfarbe ist jene der Andalusierin, soweit man die
Hautfarbe bei den Damen beider Rassen unter der dicken Puderschicht
überhaupt entdecken kann. Sie spricht mit sympathischer, leiser,
einschmeichelnder Stimme, und aus ihrem Alter macht sie kein Geheimnis.
Im Munde sitzen kleine, regelmäßige weiße Zähne, die sie nach der
Verheiratung schwarz färbt, damit sie keinem Manne mehr gefalle.
Vergebliches Bemühen, denn bei geschlossenem Munde ist sie gerade
so hübsch. Und die Japanerinnen können den Mund geschlossen halten.
Sie wissen, daß die Geschwätzigkeit eine der sieben Ursachen der
Ehescheidung bildet. Das ganze Persönchen steckt in einem an den Hüften
zusammengebundenen Schlafrock von verschiedenen Farben. Setzt sich die
Japanerin, so kniet sie zuvor nieder und legt ihren Körper auf ihre
Fersen zurück. Liegt sie, so dient ein Holzklotz als ihr Nackenkissen,
damit ihre sorgfältige Frisur nicht zu Schaden komme; geht sie, so thut
sie das mit einwärts gewandten Füßen, wie die Enten, und neigt den
Körper vor, als müsse sie bei jedem Schritt vornüberfallen. Begegnen
ihr Bekannte, so verneigt sie sich mehrere Male zeremoniös zur Erde,
als wären es lauter Könige, und ihr ganzer gesellschaftlicher Verkehr
wird durch die strengste Etikette geregelt; sie trinkt nicht, spielt
wenig, dafür raucht sie gerne bei jeder Gelegenheit ihr Pfeifchen, das
sie immer nebst Tabaksbeutel und Zündhölzchen in den Aermelsäcken ihres
schlafrockartigen Kimono trägt. Reinlichkeit ist eine ihrer schönsten
Tugenden; um ihr zu frönen, opfert sie gerne eine andere Tugend, die
Schamhaftigkeit. Sie nimmt täglich ein oder mehrere Bäder in oder außer
dem Hause, allein oder in Gesellschaft, und zeigt dabei in ihrer naiven
Unschuld aller Welt, wie sie gewachsen ist. Sie ist aber entsetzt
über die tief ausgeschnittenen Ballkleider unserer Damen. Nur keine
verführerischen Halbheiten! Entweder sie ist ganz bekleidet, oder, wo
es die Umstände erfordern, wirft sie den Kimono ab und kleidet sich nur
in ihren natürlichen Liebreiz, der ihr aber lange nicht so gut steht
wie der Kimono. Auch in der heißen Jahreszeit, in ihrem Hause oder bei
der Arbeit im Freien, befreit sie häufig ihren Oberkörper von aller
Gewandung.

Besonders anregende Unterhaltung, geistige Genüsse, kann man von ihr
nicht erwarten, denn sie lernt in ihrer Jugend wohl Singen, Tanzen,
Samisen (die japanische Guitarre) spielen, sie lernt notdürftig lesen
und schreiben und das Hauswesen führen. Dafür versüßt sie den Männern
das Leben durch ihren Liebreiz, ihre Engelsgeduld, ihre Sanftmut und
Unterwürfigkeit. Sie versteht es vortrefflich, einen Blumenstrauß in
künstlerischer Weise zu binden und ihrem Gatten die Kleider zu flicken.
Sie zieht ihre Kinder groß, liebt und verzärtelt sie und verbringt ihr
eigenes Leben in Arbeit und Enttäuschungen. Ihre glücklichste Zeit
ist ihre Kindheit. Einmal verheiratet, kann sie einen dicken Strich
durch ihren Kalender machen. Mit vierzehn, sechzehn Jahren beginnt ihr
Ehejoch, das sie schwer durchs ganze Leben trägt.

[Illustration: Im Familienzimmer.]

Der Schlüssel zu ihrem ganzen Charakter ist Unterwürfigkeit, Gehorsam.
Als Mädchen schuldet sie diesen dem Vater, als Gattin dem Manne, als
Witwe ihrem ältesten Sohne. Was immer ihr befohlen wird, hat sie
auszuführen, und sie wird einen ihr unsympathischen Gatten nehmen,
ohne zu murren. Zieht sie als Hausfrau in die Wohnung ihres Gatten,
so ist es nicht, um an seiner Seite dem Hause vorzustehen. Sind ihre
Schwiegereltern am Leben, so wird sie sofort deren Dienerin, und selbst
ihr eigener Gatte wird sie gegen die Nergeleien ihrer Schwiegermutter
nicht schützen können. Alice Bacon ruft in ihrem hübschen Buche über
die japanischen Frauen mit Recht aus: „Glücklich die Frau, deren
Schwiegereltern nicht mehr am Leben sind!” Das Unglück ihres Gatten
gereicht ihr zum Vorteil, denn statt zwei Herren hat sie dann nur einem
zu dienen.

Allerdings liegt ihr dann allein die Leitung des ganzen Hauswesens ob,
aber nicht als die ebenbürtige Gattin des Mannes, sondern als seine
erste Dienerin. Sie erscheint im öffentlichen Leben selten an seiner
Seite; auch zu Hause sitzt sie nicht an seinem Tische. Er nimmt die
Mahlzeiten allein ein, sie hat ihn dabei zu bedienen. Seine Wünsche
sind ihre Befehle, die sie willig und freundlich ausführen muß. Sie muß
nicht nur seine Kleider nähen und waschen, sie muß ihm selbst beim
An- und Auskleiden behilflich sein; ja häufig setzt sie sogar einen
gewissen Stolz darauf, mit eigener Hand Dienste zu leisten, welche
sonst der Dienerschaft obliegen. Selbst die Kaiserin ist von diesen
Pflichten des persönlichen Dienstes nicht befreit, sondern muß den
Kaiser, ihren Gatten, auf verschiedene Weise bedienen.

Wie strenge es mit ihren Pflichten genommen wird, geht aus einem
weit verbreiteten Werke des japanischen Moralisten Kaibara hervor.
Darin heißt es: „Niemals darf die junge Frau sich gegen die Befehle
ihrer Schwiegereltern auflehnen; in jedem Punkte muß sie dieselben
befragen und ihnen gehorchen; selbst wenn sie von diesen gehaßt oder
beschimpft würde, hat sie zu schweigen. Sie darf nicht selbstsüchtig
zuerst an ihre Eltern denken. Jenen ihres Gatten, dann ihren Schwägern
und Schwägerinnen gebührt zunächst ihre Achtung, denn die letzteren
sind die Geschwister ihres Gatten. Eine Frau soll zu ihrem Gatten
emporsehen, als wäre er der Himmel selbst, und niemals soll sie
ermüden, ihrem Gatten in allen Dingen zu folgen, um so der himmlischen
Züchtigung zu entgehen. Möge sie niemals von Eifersucht auch nur
träumen; sie kann sich dadurch ihren Gatten nur noch mehr entfremden
und sich in seinen Augen unerträglich machen. Am Morgen muß sie früh
aufstehen, am Abend spät zu Bett gehen. Statt in der Muße des Tages zu
schlafen, soll sie ihre Haushaltung besorgen und nimmer müde werden zu
weben, zu nähen und zu spinnen. Sie darf nicht zu viel Thee und Wein
trinken, noch zu vielen Vergnügungen nachgehen. Sie darf sich durch
Medien oder Wahrsagerinnen nicht verleiten lassen, in unehrerbietige
Vertraulichkeit mit den Göttern zu verfallen, und soll nicht
fortwährend mit Beten beschäftigt sein. Wenn sie ihre Pflichten als ein
menschliches Wesen zufriedenstellend erfüllt, braucht sie überhaupt
nicht zu beten und wird sich doch des göttlichen Schutzes erfreuen.
Väter”, so endet Kaibara seine Ausführungen, „lehrt eure Töchter diese
Maximen schon von ihrer frühesten Kindheit an!”

Daß diese Mahnungen von den Eltern thatsächlich befolgt werden,
zeigen ihre Töchter durch ihr ganzes dornenvolles Leben, und es ist
nur erstaunlich, mit welcher Anmut, welcher demutsvollen Hingebung
die Frauen die größten Erniedrigungen ertragen. Sie bleiben Kinder so
lange, bis sie selbst Mütter werden, und dann wenden sie ihre ganze
Liebe, ihr ganzes Leben ihren eigenen Kindern zu, deren Sklaven sie
sozusagen werden. Niemals verschwindet das Lächeln von ihren Lippen:
ein kindliches Lächeln, solange sie unter der Mutter Obhut sind, ein
naiv-fröhliches Lächeln als Mädchen, ein bitteres Lächeln als Frauen.
Aber daß es in Gegenwart ihres Gatten von ihren Lippen schwinden würde?
Nein. Während mehrmonatlicher Reisen in Japan habe ich viele Tausende
von Frauen in allen Lebenslagen gesehen, aber niemals sah ich eine im
Zorn, niemals hörte ich eine Frau laut sprechen oder schelten, niemals
ein Gezänk mit Männern oder anderen Frauen. Sie wissen, daß die Männer
ihre unumschränkten Herren sind und von diesen nur so lange geduldet
werden, als sie ihnen gehorchen und angenehm sind. Eifersuchtsscenen,
Ungehorsam, Zänkerei, Geschwätzigkeit sind hinreichende Gründe, um sie
aus dem Hause zu jagen. Der geringste Anlaß kann als Scheidungsgrund
gelten, und sie müssen dann unter Zurücklassung ihrer Kinder enttäuscht
und unglücklich in ihr Vaterhaus zurückkehren, ohne von ihren
geschiedenen Gatten auch nur den geringsten Beitrag zu ihrem ferneren
Lebensunterhalt zu bekommen. Sie fallen dann wieder ihren Eltern und
Brüdern zur Last, denn eigenes Vermögen besitzen Japanerinnen niemals.
Nur die Söhne sind erbberechtigt, und ist kein eigener Sohn vorhanden,
so wird ein fremder adoptiert. Die Frauen besitzen nichts als ihre
Kleider und einige Hausgerätschaften. Erwerbszweige stehen ihnen keine
offen; was bleibt ihnen also übrig als zu leiden und zu dulden?

Wenn all ihre Mühen und Plagen für ihre Gatten von diesen nur durch
Liebe und Zärtlichkeit vergolten würden! Aber ebensowenig wie von ihnen
erwartet wird, daß sie den Gatten, denen sie von ihren Eltern gegeben
werden, Liebe entgegenbringen, ebensowenig werden sie auch von ihren
Gatten wirklich geliebt. Professor Chamberlain, der seit mehr als
zwanzig Jahren in Japan weilt, gesteht in seinem Werke Things japanese,
er hätte in dieser langen Zeit nur von einer einzigen Liebesheirat
gehört, und dabei hatten die beiden jungen Leute ihre Erziehung auch
noch in Amerika genossen. Sehr häufig kommt es allerdings vor, daß
zwischen den Gatten eine gewisse Neigung herrscht, allein diese ist
weit entfernt von Liebe in unserem europäischen Sinne.

Und doch erscheinen diese kleinen, herzigen, zärtlichen Wesen, die
hübschesten Mädchen, die geduldigsten Frauen, die aufopferndsten Mütter
wie für die Liebe geschaffen. Ist es nicht wie ein Fluch, daß der
Himmel diesem intelligenten und zivilisierten Volke das herrlichste
aller Gefühle, unsere Liebe, versagt hat? Sogar der Kuß ist ihnen
unbekannt. Er erscheint ihnen als etwas Tierisches.

Wenn die Frauen noch wenigstens in ihrem Hause mit Gatten und den
Kindern ihr Leben lang allein bleiben würden! Aber bald nach der Geburt
des ersten Kindes entfremdet sich ihnen der Gatte nur zu häufig, und
sie müssen es geduldig ertragen, daß er eine zweite Frau, vielleicht
auch eine dritte, ins Haus nimmt, sie müssen lächeln, während er
diesen seine Zärtlichkeit zuwendet, sie müssen schweigen, wenn er sie
fürderhin nicht mehr beachtet. Ihr ganzes Wesen sollte sich dagegen
aufbäumen, aber die Japanerin hat von frühester Jugend an dulden und
leiden gelernt, und sie leidet auch nicht in dem gleichen Maße, wie
unsere Frauen, eben deshalb, weil sie die wahre Liebe nicht kennt.

[Illustration: Frauen, Gobang (Sugoroku) spielend. (Obi von hinten
gesehen.)]

[Illustration: Beim Thee.]

Wenn vorhin davon die Rede war, daß den Frauen Japans keine
selbständigen Erwerbsquellen offen stehen, so müssen doch einige
Ausnahmen gemacht werden, die hauptsächlich für die Frauen der
unteren Volksklassen gelten. Sehr zahlreich sind die Dienerinnen
in Privathäusern, Hotels und Theehäusern, sowie jene, welche
Terpsichore ihr Talent, und wenn auch das nicht, so doch ihre Jugend
weihen. Wer hat nicht schon von den reizenden Gaishamädchen gehört,
welche mit Musik und Tanz die geselligen Abende der Japaner erheitern?
Aber auch diese finden trotz ihres losen Lebenswandels zuweilen einen
Mann, ja die Gaishas heiraten sogar in die höchsten Stände ein und
werden ehrbare Hausfrauen, die ihre Männer durch ihren Witz und ihr
Talent viel länger zu fesseln verstehen als viele andere Frauen.

Die glücklichsten Frauen sind in Japan doch jene der ärmsten
Volksklassen, und vornehmlich auf dem Lande. Die Männer haben
nicht die Mittel, sich Nebenfrauen zu nehmen, und Not kennt kein
Gebot. Gemeinschaftlich begeben sich Mann und Frau zur Arbeit,
gemeinschaftlich wird gegessen, sie teilen Freud und Leid miteinander,
und die Frau ist mitunter, statt Dienerin zu sein, selbst der
herrschende Geist der ärmlichen Haushaltung. Bei dem geringen Ansehen,
das die Frauen in Japan genießen, und bei der großen Freiheit der
Männer, ihrer Herren, ist es ein wahrer Segen, daß die Japaner im
allgemeinen so höflich, zuvorkommend und ruhig sind, selbst bis in die
unteren Stände. Welches elende Los wäre den Frauen beschieden, wenn
in den ersteren ebensoviel Roheit, Rücksichtslosigkeit und Flegelei
herrschen würde wie in Ländern, die dem unserigen viel, viel näher
liegen!

[Illustration: Arten der Fußbekleidung der Japanerinnen.]

[Illustration: Bei der Toilette.]



Japanische Frauentoilette.


Einer der Hauptreize der Japanerin liegt wohl unbestreitbar in ihrer
Toilette. Nicht in jener, die durch eine der unsinnigsten Verordnungen
des neuen Japan aus unserer alten westlichen Welt auch in dem fernen
Lande des Sonnenaufgangs teilweise zur Einführung kam, sondern in
jener Toilette, die die Japanerin seit undenklichen Zeiten bis auf die
Gegenwart beibehalten hat. In Japan sind die Toiletten glücklicherweise
nicht so sehr den Launen der Prinzessin Mode unterworfen wie anderswo.
Dort hat man niemals etwas von Krinolinen, von Puffenärmeln und Culs
de Paris gehört, der Schwerpunkt der Damentoiletten springt nicht in
jedem Jahre, in jeder Saison von oben nach unten, von hinten nach vorn.
Die japanischen Damen tragen keine mit ausgestopften Vögeln, Flügeln
von Käfern, Federn und anderen barbarischen Zuthaten geschmückten Hüte;
sie durchlöchern sich ihre Ohrläppchen nicht, um sie mit schwerem
Geschmeide aus Edelmetall und Steinen zu beschweren; sie schnüren ihre
zarten Füßchen nicht in enge, drückende Schuhe, und was den Stahl-
und Fischgrätenpanzer anbelangt, mit welchem die Damen anderer Länder
ihre Leiber umspannen, um sich, nach dem Ausspruch eines chinesischen
Mandarins, das Aussehen von Wespen zu geben, so sind ihnen dieselben
vollkommen unverständlich.

Die Toilette der Japanerin ist, was ihre Zusammensetzung und ihren
Zuschnitt betrifft, von klassischer Einfachheit; sie erinnert am
ehesten an jene der Griechin aus der klassischen Zeit und ist
vielleicht ebenso alt wie diese. Aber dabei ist sie im ganzen genommen
schöner, denn zu den langen, faltenreichen Gewändern treten noch die
Feinheit und Kostbarkeit der Stoffe und vor allem die herrlichen
Farben, an denen sich das künstlerische Auge niemals sattsehen kann.
Wer jemals in Tokio oder in der alten Hauptstadt von Dai Nipon, in
Kioto, eines der zahlreichen Volksfeste mitgemacht hat, den wird neben
der Anmut und Lieblichkeit der japanischen Frauen nichts so sehr in
Entzücken versetzt haben wie diese zarten, duftigen, farbenreichen
Trachten, die den Volksmassen, aus der Ferne gesehen, das Aussehen
lebendiger Blumenbeete geben, umflattert von den herrlichsten
Schmetterlingen. Den Flügeln der letzteren, den Farben der ersteren
mögen die Japaner bei ihrem einträchtigen Zusammenwirken mit der
sie umgebenden herrlichen Natur, ja ihrem vollständigen Aufgehen in
derselben ihre Toiletten abgelauscht haben. Wie Blüten um den Stengel,
wie die Flügel an den Schmetterlingen liegen diese reizenden bunten
Trachten auf der Japanerin, und beinahe könnte man sagen, nur diese
verleihen ihr jenen eigenen, seltsamen Reiz; ohne sie erscheint auch
die Japanerin wie der Schmetterling ohne Flügel, denn sie ist im
Gegensatz zu ihrer europäischen Schwester keineswegs von besonderer
Körperschönheit.

Kein Wunder, daß die Japanerin auf ihre Toilette vielleicht noch mehr
Wert legt als die Europäerin. Aber sie thut es naiver, unbewußter als
besonders jene Erscheinungen des Fin de siècle, welche ein geistreicher
Franzose mit dem Namen Demi-Vierges bezeichnet hat. Die Japanerin
schmückt sich, um sich und den anderen zu gefallen, aber mit derselben
Harmlosigkeit entkleidet sie sich auch dieses Schmuckes und zeigt sich,
wie die Natur sie erschaffen hat. Badet sie, so thut sie es offen und
findet jedes Kleidungsstück vollständig für überflüssig; ist sie zu
Hause, so wird sie, der heißen Sommerzeit entsprechend, die langen
Kimonos abwerfen und vielleicht nur einen Lendenschurz anbehalten;
sie macht kein Geheimnis aus ihren Schönheitsmittelchen, aus Puder
und Schminken, aus Pomaden und dergleichen; die Häuser, vornehmlich
in den Landstädten und Dörfern, sind weit geöffnet, die Holz- und
Papierwände sind zur Seite geschoben, um der Luft möglichst freien
Durchzug zu gestatten, und das ganze Hauswesen, bis zu den hintersten
Räumlichkeiten, liegt dem Auge des Spaziergängers offen da. Kein
Wunder, daß der Reisende, vielleicht ohne es zu wollen, in die ganze
weibliche Intimität der japanischen Haushaltung eindringen kann und
alles dort tausendmal unbehindert sieht, was ihm im Abendlande immer
streng verborgen bleibt. Er lernt die Japanerin nicht nur im Theater,
im Theehause und auf Festlichkeiten kennen; er sieht sie bei ihren
häuslichen Verrichtungen, bei der Toilette, ja selbst im Bade, und es
kann ihm in den volkstümlichen Badeorten Japans, wie z. B. in Ikao,
selbst begegnen, daß er bei seinem eigenen Bade von einigen reizenden
Nymphen überrascht wird, die, ohne sich in ihrer Naivität das geringste
dabei zu denken, das Bad mit ihm teilen. Mit Ausnahme der Hauptstadt
baden beide Geschlechter in ganz Japan gemeinsam in öffentlichen
Bädern, und eben der Umstand, daß sie von frühester Jugend daran ebenso
gewöhnt sind, wie es vor ihnen ihre Väter und Großväter waren, läßt
ihnen das Befremden der Europäer darüber ganz unverständlich erscheinen.

Der Schnitt der japanischen Damenkleider ist bei hoch und niedrig,
bei arm und reich, bei jung und alt, im ganzen Lande der gleiche,
und überall sind auch die Kleidungsstücke dieselben. Die kleinen
drei- bis fünfjährigen Püppchen, die mit ihren rasierten Schädeln auf
den Veranden, vor den Häusern oder auf der Straße ihren fröhlichen
Schabernack treiben, sind gerade so gekleidet wie ihre Großmama. Der
einzige Unterschied liegt in der Gattung und Farbe der Stoffe. Wie
die Aristokratin der vornehmsten Fürstenfamilie zottelt auch das
Mädchen aus dem Volke auf plumpen, schweren Holzsandalen einher,
und ebensowenig wie die letztere trägt auch die erstere jemals eine
Kopfbedeckung, es sei denn im Winter bei kaltem Wetter. Dann wird bei
Ausgängen eine Art Kapuze über den Kopf gezogen.

Beginnt die Japanerin der mittleren und oberen Stände ihre Toilette,
so wird sie zuerst den Yumodschi, ein weißes Tuch von der Form und
Breite unserer Handtücher, aber von der doppelten Länge, um die Hüften
winden und dann einen ziemlich knapp sitzenden Bademantel aus zartem,
hellfarbigem Seidenkrepp mit weiten Aermeln, den sogenannten Dschiban,
anziehen. Dieses reizende, den ganzen Körper bis zu den Füßen leicht
verhüllende Kleidungsstück vertritt bei den Töchtern Nipons unsere
Hemden. Im Winter wird darüber noch ein zweites wollenes Unterkleid,
Schitagi genannt, getragen, im Sommer aber folgt auf den Dschiban
gleich der Kimono, das äußere Kleid. Alle drei, Dschiban, Schitagi und
Kimono, sind ganz von demselben Zuschnitt und passen so genau in- und
aufeinander wie die bekannten japanischen Schachteln. Der Kimono ist
aber stets aus viel kostbarerem Stoff als die Unterkleider, und auf
ihn wird von der Japanerin viel mehr Sorgfalt verwendet; denn an der
Farbe, an dem Stoff und an der Ausschmückung desselben erkennt man die
gesellschaftliche Stellung, ja selbst das Alter der Trägerin. Zu Hause
werden einfache Kimonos aus gewöhnlichen Stoffen getragen, für Ausgänge
und Festlichkeiten solche aus Seide oder Seidenkrepp, und für besondere
Feierlichkeiten dienen Kimonos aus den kostbarsten, schwersten
Brokatstoffen, in so herrlichen Mustern, mit so zarten und dabei
reichen Stickereien, wie sie in Europa höchstens für die Prunkgewänder
von Kirchenfürsten Verwendung finden. Wer in den achtziger Jahren das
Glück gehabt hat, einer Festlichkeit bei Hofe beizuwohnen, etwa wie
den berühmten Chrysanthemumfesten in den kaiserlichen Gärten, dem wird
dasselbe wie ein Feenmärchen in der Erinnerung schweben. Inmitten
des entzückendsten Blumenflors, wo Zehntausende der herrlichsten
Chrysanthemen in allen erdenklichen Farben im Sonnenlichte prangten,
wogten Hunderte japanischer Damen, selbst blumengleich, auf und
nieder, und ihre lang wallenden Kleider wetteiferten mit den Blumen
an Farbenreichtum; nur verging jener der letzteren mit den kalten
Wintertagen, während die Gewänder der japanischen Aristokratie für die
Ewigkeit gewebt zu sein scheinen. Von Generation zu Generation wurden
diese Gewänder fortererbt bis auf den heutigen Tag, wo eine kalte,
herzlose Verordnung der japanischen Regierung sie fortdekretiert hat,
um sie durch die reizlosen Trachten der Europäerin zu ersetzen. Die
Prachtkimonos, in Farbe und Zeichnung wahre Gedichte, wanderten zu den
Händlern und durch diese in die Museen und Privatsammlungen Europas,
wo sie heute das Entzücken aller Kunstfreunde erregen. Jede vornehme
Japanerin besaß eine ganze Auswahl solcher Prunkgewänder für jede
Jahreszeit. Standen die Pfirsich- und Kirschbäume in Blüte, dann trug
sie einen Kimono über und über mit den gleichen Blüten gestickt; kam
die Zeit der Chrysanthemen, dann vertauschte sie dieses Gewand mit
einem anderen, welches in zartester Seidenstickerei nur Chrysanthemen
zeigte, und so wechselten die Gewänder der Frauen, dieser menschlichen
Blüten, je nach den Blütezeiten in der japanischen Flora. Aber nur bei
Gesellschaften und festlichen Anlässen wurden und werden vielfach heute
noch diese Gewänder getragen. Im gewöhnlichen Leben und auf der Straße
sind die Kimonos der Damen viel einfacher, leichter, ruhiger in der
Farbe, ohne Blumen und Stickereien. Die einzige Ausschmückung, welche
diese Straßenkimonos zeigen, sind die auf dem Nacken und den Aermeln in
weißer Farbe aufgestickten Wappen der Trägerin.

Nur die Kinder werden auch im gewöhnlichen Leben in die buntesten
Kleider gesteckt; in allen Farben des Regenbogens prangen ihre
Kimonos, geschmückt mit großen, auffälligen Stickereien. Je älter das
Kind, desto zarter werden die Farben, desto kleiner die Muster, und
die jungen Damen tragen nur einfarbige helle Kimonos, zumeist zart
rosenrot, lichtblau, lila oder taubengrau, das heute die fashionable
Farbe zu sein scheint. Je älter die Dame, desto dunkler wird die Nuance
des Kimono, ohne jemals ganz schwarz zu werden.

Aber es giebt doch eine Klasse von Frauen, welche sich darin gefallen,
auch im gewöhnlichen Leben die geschilderten reichen Trachten zu
tragen, ja jene der vornehmen Welt darin zu überbieten: die Sängerinnen
und Tänzerinnen, jene leichtlebigen originellen Geschöpfe, welche bei
den Japanern eine so große Rolle spielen.

[Illustration: Haartrachten der Japanerinnen.]

Der Kimono wird um den Leib durch ein breites Band, den Obi,
zusammengehalten, und auf dieses Band verwenden die Japanerinnen
aller Stände die größte Sorgfalt. Der Obi ist ihr größter Stolz, ihr
Reichtum. Der Reisende, welcher in den ersten Tagen seines Aufenthaltes
in Japan auf der Straße oder im Eisenbahnwagen, in Theehäusern oder
im Theater Japanerinnen sieht, wird von diesem Kleidungsstück nicht
sonderlich erbaut sein, denn wie eine wattierte Leibbinde, stets von
dunklerer Farbe als der Kimono, umgürtet der Obi den zarten Leib der
Japanerin, um sich rückwärts zu einem Cul de Paris aufzubauschen, der
mit einem großen Kopfkissen verzweifelte Aehnlichkeit hat. Wären die
Obis weiche, schmale Schärpen, wie sie die Männer in Japan um ihren
Kimono tragen, das Aussehen der Japanerin würde dadurch entschieden
gewinnen. Der Obi ist ein drei bis vier Meter langes und etwa einen
Meter breites, viereckiges Stück Stoff, aber stets von der schwersten
Seide und so kostbar, wie ihn die Trägerin nur erschwingen kann.
Es giebt Obis, welche Hunderte von Mark kosten, und gewöhnlich
ist der Preis dieses Gürtelbandes höher als jener aller anderen
Kleidungsstücke, welche die Japanerin trägt, zusammengenommen. Um den
Obi anzulegen, ist immer die Hilfe einer zweiten Person erforderlich,
und es scheint in der That eine wahre Kunst zu sein, den Obi zu
knüpfen. Zunächst wird über die langen, faltenreichen Kleider eine
Schärpe aus Krepp, der Hoso-Obi, gebunden, dann wird der Obi der Länge
nach zu einer etwa fußbreiten Schärpe zusammengefaltet und mit der
Faltung nach oben der Japanerin zwei- bis dreimal um den Leib gewunden.
Die Enden werden rückwärts in kunstvoller Weise zu einer riesigen
Masche gebunden, und diese zwölf bis fünfzehn Lagen des ungemein
schweren, dicken Stoffes bilden eben das eigenartige Kissen, das die
Japanerin unter ihrem Rücken trägt. Um seinerseits wieder den Obi zu
halten, wird darüber ein elastisches dünnes Seidenband mit kleinen
kunstvollen Goldschließen an den Enden, das Obi-dome, gebunden. In
den Falten des Obi verbirgt die Japanerin eine ganze Menge kleiner
Artikelchen, die sie stets bei sich zu tragen pflegt, und was im Obi
nicht Platz findet, wird in die weiten, sackartig herabfallenden Aermel
des Kimono gesteckt. Da sind zunächst die kleinen, weichen Papierchen,
welche die Japanerin statt des Taschentuches zu benutzen pflegt; ferner
Pfeife, Tabaksbeutel und Zündholzschachtel, denn die Töchter Japans
sind eingefleischte Raucherinnen und ziehen alle Augenblicke die
winzigen Pfeifchen mit den fingerhutgroßen Köpfen und bleistiftlangen
Stielen hervor, um sich diesem Genuß hinzugeben. Dann kommen allerhand
Toilettenartikel, Kamm, Nadeln, Puderbüchse, Schminkkästchen,
Schwärzestifte für die Augenbrauen, ein kleines Spiegelchen und
schließlich der unentbehrliche, allgegenwärtige kleine Papierfächer.

[Illustration: Haartracht einer Japanerin.]

Noch häßlicher als der Obi erscheint dem Europäer die Fußbekleidung
der Japanerin. Diese zarten, ätherischen, reizenden Geschöpfchen
gehen ihr ganzes Leben lang auf schweren Holzschuhen einher. Schon
in den ersten Jahren ihrer Kindheit werden ihre winzigen Füßchen in
zolldicke Holzsandalen gesteckt, die durch Lederstreifen an den Füßen
festgehalten werden, und ein anderes Schuhwerk bleibt ihnen bis zu
ihrem Tode unbekannt. Die Japanerin trägt keine Strümpfe. Ihre Waden
bleiben nackt, und gehen sie im warmen Sommer in den Straßen oder den
schattenreichen städtischen Parks spazieren, dann legen sie wohl auch
ihre Kimonos über den Arm und zeigen mit rührender Unverfrorenheit
ihre Beine. Aber auch bei herabfallenden Kimonos öffnen sich diese
Gewänder beim Gehen und enthüllen die Beine mehr oder weniger bei jedem
Schritte. An Stelle der Strümpfe trägt die Japanerin ganz kurze, etwa
bis über die Fußknöchel reichende Leinen- oder Seidensocken mit einer
Abteilung für die große Zehe und fester Sohle aus dickem Baumwollstoff.
In ihren Häusern, im Theater, in Tempeln und Theehäusern gehen die
Japanerinnen nur in diesen Socken einher, und die Holzsandalen bleiben
vor der Thüre stehen. Treten sie auf die Straße, so schlüpfen sie
mit ihren Füßen wieder in die schweren Klötze und schleifen damit
mühsam und mit gebeugten Knien, vornüber geneigt, einher. Stehend oder
sitzend ist die junge Japanerin von unsagbarem Reiz, der aber sofort
verschwindet, wenn sie auf der Straße einherschlürft.

Man geht in Europa fehl, wenn man glaubt, die Verordnung der
japanischen Regierung hätte im Volke irgendwelche Wirkung gehabt
und das alte Japan hätte seine bisherigen malerischen Trachten
modernen Kleidern, Miedern, Federhüten und Stöckelschuhen geopfert.
Ausschließlich bei Hofe werden diese Produkte der europäischen
Modeknechtschaft getragen, und die in solcher Maskerade erscheinenden
Damen mögen wohl als abschreckendes Beispiel für all ihre nicht
hoffähigen Schwestern gedient haben, denn, der Vorsehung sei es
gedankt, man begegnet in Japan, wohin man auch reisen mag, in Städten
und Dörfern, bei hoch und niedrig, nur japanischen Toiletten. Statt
dieselben durch europäische ersetzt zu sehen, müßte man eigentlich
herzlich wünschen, daß der japanische Kimono, aber ohne Obi und
Holzsandalen, im Abendlande Einführung fände.

[Illustration: Mädchentrachten; Rückenansicht.]



[Illustration: Kinderspiele bei einem Volksfeste.]



Japanische Jugend.


Dem europäischen Besucher Japans muß das ganze, ferne, schöne
Inselreich wie ein einziger großer Kindergarten vorkommen. Alles
scheint sich dort um die liebe, kleine, herzige Welt zu drehen. Die
Häuser sind so klein und nett und zierlich, die Gerätschaften darin
erinnern an Spielzeuge, die Gärtchen rings herum mit ihren kurios
beschnittenen und verkrümmten Bäumchen, ihren winzigen Rasenflächen,
Wassertümpeln, Miniaturbrücken und Tempelchen sehen aus, als wären sie
für Puppen und nicht für Menschen geschaffen worden. In Japan sind eben
auch die Erwachsenen in vielen Beziehungen Kinder. Man kann dort wohl
sagen, wo die Kindheit anfängt, aber nicht, wo sie aufhört. Es ist das
reine Kinderparadies.

Kinder bilden die einzige Sehnsucht des neuvermählten Ehepaares und,
sind sie einmal vorhanden, dessen größten Stolz, ja dessen wichtigsten
Besitz. Der Vater arbeitet nicht bis zu seinem Greisenalter, um die
Kinder zu ernähren. Die Kinder sind es, die den Vater ernähren. Ist
sein Haar grau geworden, so pflegt er sich von seinen Geschäften
zurückzuziehen und überläßt die weitere Sorge, ja überhaupt seine ganze
Habe, seinem ältesten Sohne. Er selbst verbringt den Rest seines Lebens
in Ruhe und Behaglichkeit. Japanische Eltern blicken nicht mit Sorge in
die Zukunft, denn sie wissen und können in allen Fällen darauf zählen,
daß das Uebermaß von Liebe und Zärtlichkeit, das sie ihren Kindern zu
teil werden lassen, von diesen reichlich vergolten wird, daß sie bis zu
ihrem Tode von ihren Nachkommen gepflegt, geliebt und geachtet werden.
Der größte Segen der Japaner ist ihr Kindersegen.

Die Ankunft eines Kindchens wird mit Freude begrüßt, besonders wenn der
neue Ankömmling auf Erden männlichen Geschlechts ist, denn nur ein Sohn
kann Namen und Besitz der Familie erben. Sofort werden Verwandte und
nähere Freunde durch eigene Boten von dem großen Ereignis in Kenntnis
gesetzt, und bald darauf stellt sich ein Strom von Besuchern in dem
glücklichen Hause ein, um die Eltern zu beglückwünschen und das junge
Wesen in Augenschein zu nehmen. Freude auf allen Gesichtern, nur nicht
bei dem kleinen Weltbürger, der von Hand zu Hand gereicht wird und
dem die Welt in den ersten Wochen seines Daseins recht unbehaglich
vorkommen mag. Die Geschenke, die er erhält, kann er ja nicht nach
ihrem Werte schätzen, und Geschenke erhält er in Hülle und Fülle. Bald
sind es Kleidungsstücke oder Stoffe verschiedener Art, bald Spielzeug
oder Lebensmittel, hauptsächlich Eier. Alle Geschenke sind niedlich in
Papier verpackt und mit rotem Bindfaden zusammengebunden. An diesem
hängt, in einem winzigen Paketchen aus rotem Papier, ein Stückchen
Fisch, Noski genannt, der bei den abergläubischen Japanern als
glückbringend gilt.

Am siebenten Tage nach der Geburt des Kindes wird ihm von seinem
Vater oder einem Freunde der Familie ein Name gegeben, gewöhnlich der
Vatername, etwas verändert, oder der Name eines Vorfahren. Ist das Kind
ein Mädchen, so wird es nach irgend einer hübschen Naturerscheinung
benannt, wie Frühling, Sonnenschein oder Gold, Apfelblüte,
Chrysanthemum, Lilie und so fort.

Der neue Ankömmling und sein Name wird in dem Verwaltungsamte des
Distriktes registriert, darauf folgt ein Festmahl von Reis mit roten
Bohnen, und die Taufe ist vollzogen. Ein wichtiger Akt an diesem Tage
ist auch das Rasieren des Kindesschädels. Das zarte, flaumige Kopfhaar
verfällt dem Rasiermesser mit Ausnahme eines kleinen Schöpfchens am
Scheitel. Je nach der Laune der zärtlichen Mama bleiben auf dem Schädel
ihres jüngsten Sprößlings auch mehrere derartige Schöpfchen oder ein
schmaler Kranz oder sonstige willkürliche Haarfiguren stehen, die den
japanischen Kindern ein ungemein possierliches Aussehen geben. Erst
wenn sie alt genug sind, um die Schule zu besuchen, läßt man ihnen die
Haare stehen.

[Illustration: Begrüßung des Neugeborenen.]

Dreißig Tage nach der Geburt erhalten die Kleinen ihre religiöse Weihe
dadurch, daß sie in großer Familienprozession in einen Shintotempel
getragen und dort unter den besonderen Schutz eines der Götter gestellt
werden. An diesem Tage pflegen die glücklichen Eltern auch die vielen
Geschenke, die ihrem Jüngsten bei der Geburt dargebracht wurden, zu
erwidern, indem sie jedem Geber etwas Reiskuchen oder Eier oder sonst
dergleichen senden, begleitet von einem höflichen Dankschreiben.
Wenn man bedenkt, daß besonders in den besseren Ständen mitunter
hundert oder noch mehr Geschenke einlaufen, so kann man sich die Mühen
der jungen Mutter wohl vorstellen. Die Kuchen werden gewöhnlich in
lackierten Holzkästchen gesendet, die aber durch den Ueberbringer
wieder zurückgestellt werden müssen, wobei sich die Empfänger hüten,
die Kästchen zu reinigen. Das würde Unglück über das Kind bringen.

Damit ist das ganze Zeremoniell, das mit dem Inslebentreten des Kindes
verbunden ist, beendet, und es kann sich nun unbehindert seines Daseins
freuen. Bei kaltem Wetter bleibt es hübsch zu Hause auf den reinlichen,
weichen Matten der Wohnzimmer; Möbel giebt es in den japanischen
Häusern keine, an denen es sich Löcher in den Kopf stoßen könnte; es
giebt keine Glasschränke und Etageren mit allerhand Porzellan und
Nippsachen, die es zerbrechen könnte; selbst die Wände des Zimmers
bestehen aus weichem, auf Holzrahmen gespanntem Papier, und das größte
Unglück, das die Kinder anstiften könnten, wäre, ihre Finger durch das
Papier zu stoßen. Auch die Kleider können sie sich kaum beschmutzen, im
Sommer tragen sie überhaupt keine, nicht das geringste Feigenblättchen.
Werden sie hungrig, so nähren sie sich an dem Born der Natur, und die
Muttermilch bleibt ihre hauptsächlichste Nahrung bis zum Alter von zwei
bis drei Jahren.

In den besseren Ständen und in den Familien der Kuges (Fürsten) und
Daimios (Adeligen) werden die Kinder in Kleider gesteckt, die ganz
denselben Schnitt zeigen wie jene der Erwachsenen. Es kann nichts
Possierlicheres geben als die liliputanischen Herrchen und Dämchen mit
ihren glattrasierten Schädeln und den langen faltenreichen Gewändern,
wenn sie, gerade so wie die Alten, tiefe Verbeugungen vor einander
machen oder, kaum zwei bis drei Jahre alt, schon am Familientische
teilnehmen und statt des Kinderlöffels schon die Reisstäbchen (Chop
sticks) handhaben. Ankleiden können sie sich freilich noch nicht
selbst, das besorgt Mama oder die ältere Schwester. Der nationale
Kimono wird auf dem Boden ausgebreitet und das Kleine daraufgelegt.
Dann werden ihm die Aermel auf die Aermchen gezogen, der Kimono über
den kleinen Körper gefaltet und mit einer Schärpe zusammengebunden.
Gewöhnlich trägt das Kind um den Hals auch ein kleines
Messingschildchen mit Namen und Adresse, damit es nicht verloren gehen
kann; zum besonderen Schutz gegen Unglücksfälle trägt es am Gürtel
ein Kintschaku, d. h. ein Beutelchen aus kostbarem Stoff, in dem sich
irgend ein Zaubermittelchen befindet. Bei kaltem Wetter werden zwei
oder drei Kimonos ineinandergesteckt, und ihre Länge schützt Füßchen
und Händchen.

In den armen Familien (und bei weitem die Mehrzahl der Japaner ist arm)
kann man den jungen Sprößlingen nicht diese Pflege angedeihen lassen.
Sie bleiben nackt oder bekommen höchstens einen Kimono. Mama hat viel
zu viel im Hause, im Garten oder auf den Feldern zu thun, als daß sie
sich viel mit ihrem Kindchen beschäftigen könnte; allein lassen kann
sie es auch nicht, und so bindet sie es mit langen Bändern auf ihren
Rücken. Ist aber ein älteres Schwesterchen da, selbst wenn es nur sechs
oder sieben Jahre alt sein sollte, so wird das Kleine dem Schwesterchen
aufgesattelt, und Mama kann ungehindert ihren Arbeiten nachgehen. Wo
immer ich in Japan hinkam, in Städten und Dörfern, auf den Feldern wie
in den Straßen, selten sah ich ein junges Mägdlein zwischen sieben und
fünfzehn Jahren, das nicht ein Kindchen auf seinem Rücken getragen
hätte, und der Kopf des kleinen Wesens ragte darüber hervor wie das
Tüpfelchen über dem i. Es findet sehr bald Gefallen an dieser reitenden
Stellung, guckt fröhlich über die Schultern des Schwesterchens in die
Welt und bleibt dort Tag für Tag, Woche für Woche, bis es endlich
selbst zappeln und gehen gelernt hat. Und ist es erst fünf, sechs Jahr
alt geworden, so ist vielleicht wieder ein junges Brüderchen oder
Schwesterchen zur Welt gekommen, dem es nun seinerseits den Rücken
leihen muß.

[Illustration: Junge Mädchen, ihre kleinen Geschwister tragend.]

Wie das Kleine, so gewöhnt sich auch die jugendliche Trägerin ganz
unbewußt an diese Last und tummelt sich vor den Häusern herum, spielt
mit den Nachbarkindern oder arbeitet, als wäre ihr das Kindchen
angewachsen wie ein Höcker. Stundenlang trägt sie dasselbe umher, und
wird dieses schläfrig, so schläft es ein, ohne sich durch das Schütteln
beim Laufen und Herumspringen hindern zu lassen; die Händchen fallen
schlaff herunter, das Köpfchen baumelt hin und her, fällt zurück
oder auf die Seite, daß ich oft fürchtete, jetzt müßte das Genick
brechen; aber das Kind schlief ruhig weiter. Daß ein Kindchen der
Trägerin entfallen würde, kommt äußerst selten vor; wie ein gewandter
Naturreiter auf seinem Pferde, so klammert es sich mit den gespreizten
Beinchen an die Seiten der Trägerin, die thun und lassen kann, was sie
will, es bleibt fest im Sattel. Wird es hungrig, so setzt sich die
Trägerin neben Mama oder vielleicht auf deren Schoß, das Kleine dreht
sich herum und nährt sich an Mamas Brust, ohne daß die letztere es zu
halten braucht. Und wie fröhlich, wie still und wohlerzogen sind diese
Kinder! Selten habe ich ein japanisches Kind weinen gesehen, niemals
schreien gehört; niemals nahm ich schlechtes, ausgelassenes Benehmen
wahr; niemals Prügeleien unter Jungen, niemals eine Bestrafung durch
die Eltern. Werden sie irgendwie ungebührlich, so droht Mama oder Papa
mit dem Oni, dem roten Teufel, der die Kinder holen wird. Der rote
Teufel ist ihr größter Schrecken, und man kann sich vorstellen, welches
Entsetzen das Kommen eines rothaarigen, rotbärtigen Deutschen etwa
unter den Kindern eines Dorfes hervorruft. Sie zerstieben, laufen und
verstecken sich in alle Schlupfwinkel.

Himmelbetten und Wiegen nach europäischem Muster giebt es in Japan
nicht. Das Kleine wird fleißig gebadet, noch dazu in fast brühend
heißem Wasser, was ihm aber nicht zu schaden scheint. Arme Leute, die
keine eigenen Bäder besitzen, nehmen das Kindchen in die öffentlichen
Bäder, wo sie in Gemeinschaft mit anderen Eltern und Kindern ohne
irgend welche Scheu in dasselbe Bassin steigen.

[Illustration: Kinderszene.]

Diese Bäder, der beständige Aufenthalt in der freien Luft, die
unfreiwillige Bewegung, welche die Kinder auf dem Rücken ihrer
Geschwister machen, scheinen ihrer Gesundheit sehr zuträglich zu
sein. Die Sterblichkeit unter den japanischen Kindern ist geringer
als bei uns, und die einzige ziemlich allgemeine Krankheit ist ein
Hautausschlag auf den Köpfen und Nacken, der aber bald schwindet. Ist
er überstanden, dann sehen die Kinder so gesund, kräftig und pausbackig
aus wie Posaunenengel, eine wahre Freude für Eltern und Freunde, die
das Kind bewundern, die feisten, harten Glieder befühlen und ihm eine
glänzende Zukunft prophezeihen. Welches Kind ist denn überhaupt in
den Augen seiner Eltern nicht das schönste und klügste, das es jemals
gegeben hat!

Allmählich lernt das Kleine auch ein wenig sprechen, lange bevor ihm
das freie Gehen gelingt. Die japanische Sprache ist so klangvoll,
einfach und leicht zu erlernen, wenigstens was die notwendigsten
Ausdrücke betrifft. Auch bei dem japanischen Kindchen sind die ersten
Ausdrücke mama, tata, bebe, nur bedeuten sie ganz andere Dinge als bei
uns. Mama heißt Nahrung, Essen, Trinken; bebe heißt Kleid, tata Socken;
mit dem Worte ija wird nein, ich mag es nicht, es ist mir unangenehm
bezeichnet. Das Kind lernt nun auch das Gehen, zuerst im Hause, dann
außerhalb, in dem Gärtchen, das die meisten japanischen Familien hinter
ihren Holzhäusern besitzen, oder auf der Straße, die ja selten von
Fuhrwerken befahren wird und so besonders in Dörfern den gewöhnlichen
Tummelplatz der Kinder bildet. Ist das Gehen im Hause gelungen, so
wird dem Kinde der Gebrauch der geta oder stelzenartigen Holzpantoffel
gelehrt, und es ist staunenswert, mit welcher Leichtigkeit es sich an
diese plumpe, schwere Fußbekleidung gewöhnt, damit läuft, springt und
den tollsten Schabernack treibt.

Die Eltern verfolgen die Entwickelung ihrer Kinder mit der
liebevollsten Zärtlichkeit, ja die Liebe zwischen Eltern und Kindern
ist vielleicht die einzige, wahre Liebe, welche die Japaner kennen.
Sie bewachen und lehren die Kleinen und strafen sie kaum jemals.
Aberglaube hat damit sehr viel zu thun. Wenn Blattern oder epidemische
Kinderkrankheiten im Orte wüten, dann schreibt der sorgsame Papa über
seine Hausthüre, die Kinder wären nicht zu Hause, damit die bösen
Geister sich gar nicht bemühen, die Schwelle zu überschreiten. Vor
Lügen werden die Kinder dadurch gewarnt, daß man ihnen sagt, der böse
Oni würde ihnen die Zunge ausreißen.

Den Knaben wird gewöhnlich viel größere Freiheit gestattet als den
Mädchen. Der Knabe wird ja von selbst seinen Weg machen; er ist der
Erbe und Nachfolger des Vaters, dessen Handwerk er erlernt und dem
so viele andere Berufszweige offen stehen. Anders das Mädchen. Es
muß lernen, einen Mann zu gewinnen und nach der Verheiratung ihn für
immer zu fesseln. Es darf keinen eigenen Willen haben, darf weder
Unzufriedenheit noch Zorn, Heftigkeit oder Schmerz äußern; alle diese
Gefühle muß es lernen unter freundlichem Lächeln, unter höflichen
unterwürfigen Manieren und mit einer gewissen Koketterie zu verbergen;
es muß lernen, sich selbst anziehend und den anderen das Leben angenehm
und behaglich zu machen.

Glücklicherweise wird dem Töchterchen dies alles in zartester Weise und
vielleicht ganz unbewußt beigebracht. Sie ist ja der Liebling im Hause.
Die Eltern und Brüder behandeln sie mit Liebe und Zärtlichkeit, die
Diener mit Achtung.

Allmählich werden ihr auch die häuslichen Verrichtungen sozusagen
spielend beigebracht. Sie sind in japanischen Haushaltungen nicht
so bedeutend wie bei uns, denn die einfachen, einstöckigen Häuschen
haben, wie gesagt, fast gar keine Möbel, Nippsachen, Bilder, Spiegel,
Teppiche, Fenster und dergleichen. Die Zimmer sind kahle Räume mit
mattenbedecktem Boden, die Wände Papierrahmen, und die Reinhaltung
derselben sowie der Engawa, d. h. der rings um das Haus laufenden
Galerie, ist ziemlich leicht. Die Schlafstätten beschränken sich auf
einfache Matratzen, die abends auf den Fußboden gelegt und morgens,
wieder zusammengerollt, in einem Schrank aufbewahrt werden, und was die
Mahlzeiten anbelangt, so brauchen sich die japanischen Mädchen nicht
mit der höheren Kochkunst abzumühen, verschiedene Suppen, Braten und
Mehlspeisen zubereiten zu lernen, in die Geheimnisse der Tunken und
Konserven einzudringen, denn alle diese kulinarischen Genüsse wird
auch der verwöhnteste Gatte nicht von ihr verlangen. Morgens Reis,
mittags Reis, abends Reis, dazu getrocknete Fische und einfach gekochte
Gemüse, das sind die Gerichte des täglichen Speisezettels. Es giebt
auch keine Spitzen und feine Wäsche zu reinigen, keine Balltoiletten
nach neuester Mode anzufertigen, keine Hüte zu schmücken; die einzige
Fertigkeit, welche die jungen Mädchen in Japan brauchen, ist das
Nähen; ihr schlafrockartiger Kimono und das Unterröckchen, das sie
tragen, bedürfen keiner Modistin und Damenschneiderin; sie nähen ihre
Kleidungsstücke selbst, und sind diese schmutzig, dann werden sie
zertrennt und in kaltem Wasser ohne Seife gewaschen. Das Plätteisen ist
den Japanern unbekannt. Nach jeder Wäsche werden die Kleidungsstücke
neu genäht. Strümpfe und Schuhe in unserem Sinne werden von den
Japanerinnen ebensowenig getragen wie Hüte. Ihre einzige Kopfbedeckung
ist die allerdings sehr sorgfältige, mit Nadeln und Blumen geschmückte
Haarfrisur, und diese wird alle Wochen einmal von eigenen
Haarkünstlerinnen gegen ganz geringes Entgelt sorgfältig aufgebaut.

[Illustration: Knabe im Kimono.]

Die geistige Erziehung hat bis auf das letzte Jahrzehnt viel weniger
Zeit erfordert als das Anlernen verschiedener Nichtigkeiten, die aber
im Lande des Mikado eine große Rolle spielen. Die jungen Mädchen
werden sorgfältig in die Geheimnisse der zeremoniellen Theebereitung
(Tscha no yu) eingeweiht, sie lernen das umfangreiche Zeremoniell der
Begrüßung und Bewirtung der Gäste, das Zusammenstellen und Binden von
Blumensträußen, Samisen (Guitarre) spielen und in besseren Familien
wohl auch verschiedene alte Tänze und Pantomimen zur Unterhaltung ihrer
Eltern und etwaiger Gäste. Im Alter von sechs bis zehn Jahren besuchen
sie irgend eine Privatschule, wo ihnen das Lesen und Schreiben der
chinesischen und japanischen Schriftzeichen, chinesische Litteratur,
japanische Dichtkunst und Geschichte beigebracht werden. Arithmetik,
Geographie, Weltgeschichte und all die anderen Wissenschaften
unserer Schulen werden den japanischen Kindern erst seit etwa einem
Jahrzehnt bis zu einem gewissen Grade gelehrt; zuerst aber müssen sie
dem chinesisch-japanischen Schulgang folgen. Es ist keine geringe
Aufgabe für die armen jungen Wesen, nachdem sie mühsam die ungemein
schwierige Schriftsprache der Mongolen und das Malen der Tausende von
Hieroglyphen mit Pinsel und Tusche erlernt haben, die letzteren mit
Feder und Tinte zu vertauschen und Englisch, Deutsch oder Französisch
zu lernen; statt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden zu hocken,
auf Schulbänken zu sitzen, an Schultischen zu schreiben; und diese
Schulfrage gehört in Japan noch immer zu den ungelösten, ja vielleicht
unlösbaren Fragen. In Tokio, Yokohama und anderen Städten, in denen
die europäische Kultur einigermaßen Fortschritte gemacht hat, war es
mir ein befremdender Anblick, an Stelle der reizenden, buntgekleideten
und geschmückten Miniaturjapaner diese kleine Welt in europäischer
Kleidung mit Schulbüchern unter dem Arm zu sehen, ganz so wie bei uns.
Den Eltern bereitet diese von der Regierung dekretierte europäische
Erziehung und Kleidung ihrer Kinder schwere Sorgen und Kosten. Für die
Jungen sind die Vorteile der neuen Erziehung noch leichter zu erkennen,
bei den Mädchen aber wird die letztere einen vollständigen Umschwung
in ihrem ganzen Leben und damit auch einen Umschwung der Kultur und
Lebensweise des ganzen Volkes mit sich bringen. Ob aber die sittliche
Grundlage für die letztere wirklich vorhanden ist?

[Illustration: Der Wurstlprater in Tokio.]

Augenblicklich muß man noch im verneinenden Sinne antworten, denn
die japanischen Kinder genießen keinerlei Religionsunterricht, das
Christentum macht nur ungemein langsame Fortschritte, und die Moral
nach unseren Begriffen steht bei den Japanern auf einer verhältnismäßig
sehr niedrigen Stufe. Unsere Ansichten über die Tugend und Keuschheit,
über die Liebe, Liebeswerben und Sittsamkeit sind der großen Mehrzahl
des Volkes überhaupt unverständlich, und es muß gerechtes Erstaunen
erwecken, daß die japanische Jugend trotzdem einen so hohen Grad
kindlicher Naivität besitzt.

Und dabei bleiben Knaben und Mädchen in Japan länger Kinder als bei
uns; sie sind sich keines Unrechts bewußt und freuen sich ihrer
Kindheit, freuen sich an niedlichen, unschuldigen Spielen, freuen sich
an Puppen und Märchen und Festlichkeiten, an denen es gerade in Japan
eine übergroße Zahl giebt. Schon in ihrer frühesten Jugend lernen sie
die Arithmetik, indem sie an den Fingern abzählen, wieviel Tage es
noch bis zu dem nächsten Matsuri (Volksfest) sind. Zu Neujahr, an den
buddhistischen oder nationalen oder häuslichen Festtagen werden sie in
die denkbar buntesten Kleider gesteckt und wie Püppchen geputzt; die
Mädchen pudern und bemalen ihre Gesichter, schwärzen die Augenbrauen,
schminken die Lippen, gerade so, ja eher noch mehr als die Alten,
und es kann keinen lustigeren Anblick geben als an solchen Festtagen
die zu den Tempeln führenden Straßen und die Tempelhöfe selbst, wo
Hunderte von Buden mit allerhand bunten und sinnreichen Spielwaren
errichtet sind, zwischen denen dieses kleine Puppenvolk, begleitet von
den Eltern, sich drängt, alles betrachtet, alles kauft und sich freut,
so daß auch der ärgste Kinderfeind sich mit freuen muß. Jede Stadt
Japans ist eine Art Nürnberg oder Sonneberg; in jeder Straße findet
man Spielzeuge aller Art, und die Spielwarenindustrie ist eine der
bedeutendsten des ganzen Landes.

Das größte Fest der Mädchen ist das Puppenfest, das am dritten Tage des
dritten Monats abgehalten wird, und es giebt an diesem Tage wohl wenige
Häuser im Reiche des Mikado, wo nicht sämtliche Puppen aus den Truhen
hervorgeholt, sorgfältig herausgeputzt, gekleidet und auf Gestelle
gesetzt werden, zur Freude der jungen Welt. In den Häusern des Adels
kommen dabei zuweilen Hunderte von Puppen zum Vorschein, die zum Teil
alte Familienerbstücke sind und gewöhnlich den Kaiser, die Kaiserin,
das Gefolge und den Adel in Prachtgewändern darstellen. Die kleinen
Mädchen dürfen dann den Puppen in winzigen Geschirren die Speisen
kochen und auf ebenso winzigen Tischchen vorsetzen, sie spazieren
führen, an- und auskleiden. An den öffentlichen Feiertagen freuen sich
die Kleinen mit den Großen; sie spielen auf der Straße fast dieselben
Spiele wie unsere Kinder: Ball, Drachen und Federball; im Winter, wenn
es kalt ist, hocken sie um den Hibatschi (offenes Holzkohlenbecken) in
der Mitte des Wohnzimmers, spielen Karten oder lassen sich von Großmama
oder der Tante (O Ba San) die reizenden japanischen Märchen erzählen.

Für die Jungen ist das größte Fest das Flaggenfest am fünften
Tage des fünften Monats; in jeder Familie, welche Söhne besitzt,
werden an diesem Tage papierne Fische von ungeheurer Größe auf
Bambusstangen gebunden und diese am Hause aufgestellt. Der Wind
bläst die Papierfische wie Luftballons auf, und dann sieht man über
dem Häusermeer der Städte Zehntausende derartiger Fische schweben.
Die Jungen aber ziehen, womöglich als Soldaten oder Samurai
(Zweischwertermänner) gekleidet, bunte Flaggen in der Hand, umher und
stopfen sich mit Süßigkeiten voll. Große Freudentage sind es jedesmal,
wenn die Eltern ihre Kinder mit in das Theater nehmen, Freudentage
im wahren Sinne des Wortes, denn die Familien pflegen morgens ins
Theater zu gehen und es erst spät abends zu verlassen. Die Kinder hören
andächtig den geschichtlichen Darstellungen zu, und was daran häßlich
und gemein ist, thut ihrer Ehrfurcht vor den Eltern keinen Abbruch.
Nichts dürfte dem europäischen Besucher japanischer Inselstädte mehr
auffallen als dieser schönste Zug des japanischen Charakters. Er
wird so weit getrieben, daß sich alle Kinder und Diener eines Hauses
jedesmal auf die Knie werfen und mit der Stirne den Boden berühren,
wenn ihre Eltern ausgehen oder nach Hause kommen; nirgends ist Gehorsam
so sehr die erste Kindespflicht wie in Japan, und in dieser Hinsicht
könnten sich die Kinder in andern Ländern die Japaner zum Beispiel
nehmen.



[Illustration: Kleidermachen.]



Hymens Fesseln bei den Japanern.


Für die junge, unverheiratete Japanerin ist die Zeit, welche sie
in ihrem Elternhause zubringt, wohl die glücklichste. Eltern und
Geschwister hängen mit großer Zärtlichkeit und Liebe an ihr und
erfüllen nach Thunlichkeit alle ihre Wünsche; sie freut sich ihrer
Kindheit und genießt bis zu ihrer Vermählung zwischen dem vierzehnten
und siebzehnten Jahre weit größere Freiheiten als die Töchter anderer
Völker. Man kann es diesen kleinen, munteren, bemalten und bepuderten
Püppchen in ihren bunten Kleidern auf den ersten Blick auch ansehen,
daß sie glücklich sind. Ein ewiges Lächeln schwebt um ihre rotbemalten
Lippen, freundlich blicken ihre schwarzen, großen Augen in die Welt,
und mögen sie auch schon längst in die Geheimnisse des Ehelebens
eingeweiht worden sein, sie sind doch Kinder geblieben, die sich mit
ihren jüngeren Geschwistern an allerhand Spielen erfreuen.

All diese Freuden und diese kindliche Selbständigkeit müssen sie
aufgeben, sobald sie heiraten. Wenn sie sich nur ihre zukünftigen
Gatten selbst auswählen dürften! Wenn es ihnen nur gestattet würde,
ihre Herzen zu Rate zu ziehen, umworben und in unserem Sinne geliebt zu
werden! Aber das Liebesleben unserer Völker ist den Japanern unbekannt.

Hat das junge Mädchen das genannte heiratsfähige Alter erreicht, so
trachten die Eltern, sie sobald als möglich unter die Haube zu bringen.
Aber die einleitenden Schritte werden selten von der Familie des
Mädchens unternommen. In der Regel wendet sich der heiratslustige junge
Mann an einen schon verehelichten Freund, der unter den jungen Musmis
seiner Bekanntschaft Umschau hält; hat er eine gefunden, die ihm für
seinen Freund passend erscheint, so trägt er die Sache ihren Eltern
vor. Diese erkundigen sich nun ihrerseits nach den Verhältnissen des
jungen Mannes, und sind sie geneigt, ihm ihre Tochter zu geben, so wird
gewöhnlich im Hause des Vermittlers oder bei einer Theegesellschaft
oder bei einer Theatre party eine Begegnung der jungen Leute zu
stande gebracht. Des jungen Mädchens Wille wird dabei nicht besonders
berücksichtigt, und es scheint ihr auch gar nicht so sehr daran gelegen
zu sein. Sie weiß, daß sie der Ehe ebensowenig entgehen kann wie dem
Tode, und so kann es sich ihr dabei hauptsächlich nur darum handeln,
von allen Uebeln das kleinste zu wählen, d. h. einen Mann zu finden,
gegen den sie nicht gerade Abneigung empfindet. Wärmere Gefühle,
Sympathie oder gar Liebe werden von ihr nicht erwartet. Hat auch der
Freier nichts Besonderes an ihr auszusetzen, so wird die Sache gleich
in Ordnung gebracht. Er hat ja nicht viel dabei zu verlieren, da er
sie nach ein paar Monaten Probezeit ohne weiteres ihren Eltern wieder
zurückschicken kann. Zum Zeichen seines Einverständnisses sendet er
seiner Zukünftigen gewöhnlich ein Stück Seidenstoff, das die Stelle des
Verlobungsringes vertritt. Die Familie des Mädchens dagegen sendet ihm
ein ähnliches Stück Stoff für einen Kimono. Nun wird mit Brautstand und
Hochzeitsvorbereitungen nicht mehr viel Zeit verloren. Die Freunde des
Bräutigams lassen sich bei Wahrsagern einen glücklichen Tag für die
Hochzeit nennen, und am Abend dieses Tages begiebt sich die Braut in
das Haus ihres Bräutigams.

Religiöse oder gesetzliche Förmlichkeiten sind bei japanischen Heiraten
nicht erforderlich. Der ganze Vorgang ist nicht viel mehr als die
Uebersiedelung des Mädchens aus ihrem Elternhause in jenes des jungen
Mannes. Ihre Kleider, ein Schreibtischchen, ihr Arbeitskorb, das
Kästchen mit ihren Schminken und Pomaden, dann zwei Eßtischchen und ein
paar Teller aus lackiertem Holz bilden die gewöhnliche Aussteuer. Je
wohlhabender die Familie, desto größer ist die Last ihrer Kleider, und
häufig kommt es vor, daß junge Mädchen davon mehr in die Ehe bringen,
als sie für ihr ganzes Leben brauchen. Auch ihre persönliche Dienerin,
wenn sie solche besitzen, pflegt ihnen in das neue Haus zu folgen.

Am Abend des Hochzeitstages kleidet sich die Braut ganz in Weiß, in
Japan die Farbe der Trauer, zum Zeichen, daß sie für ihre eigene
Familie gestorben ist. Sobald sie das Elternhaus verlassen hat, wird
dieses sorgfältig gekehrt, und in früheren Zeiten wurde vor demselben
auch ein Feuer entzündet, Gebräuche, welche anzeigen, daß ein Leichnam
aus dem Hause entfernt wurde. Sobald die Braut, begleitet von dem
Heiratsvermittler und seiner Frau, im Hause des Bräutigams eingetroffen
ist, vertauscht sie die weißen Kleider mit anderen, prunkvolleren,
und begiebt sich in das Gemach des Bräutigams. Eine junge Freundin
reicht dann eine mit Sake (Reiswein) gefüllte Schale abwechselnd der
Braut und dem Bräutigam zum Trinken. Nach dreimaligem Nippen wird eine
zweite, dann eine dritte Schale in derselben Weise dargeboten, und
dieses dreimalige Darreichen der Weinschalen besiegelt den Ehebund.
Bei wenigen Völkern der Erde vollzieht sich die Heirat einfacher und
poesieloser wie hier.

In einem Nebengemache haben sich mittlerweile die Familien und
Freunde des jungen Paares zu einem Festmahle versammelt, bei dem es
gewöhnlich recht lustig zugeht. Die Familien und der Hausstand des
Bräutigams sind in fröhlicher Stimmung, denn alle, bis zum letzten
Diener und Stallknecht, werden von der Familie der Braut mit Geschenken
bedacht; auch ist es in Japan gerade so wie bei uns Sitte, daß die
geladenen Freunde des jungen Ehepaares diesem Geschenke, gewöhnlich
Hausgerätschaften oder Kleiderstoffe, darbringen. Edelsteine und
Schmucksachen sind ausgeschlossen, da die Japanerinnen keine tragen.
Gewöhnlich bleibt die lustige Hochzeitsgesellschaft bei allerhand
Leckereien und Reiswein bis spät in die Nacht hinein versammelt;
Tänzerinnen und Sängerinnen tragen unter Begleitung von Samisen und
Kotospiel das Ihrige zur Unterhaltung der Gäste bei, und haben sich
diese endlich entfernt, so wird das Brautpaar von einem jungen Mädchen
in das Brautgemach geführt; dort müssen Braut und Bräutigam nochmals
je dreimal an drei Sakeschalen nippen, aber diesmal werden die Schalen
dem Bräutigam zuerst gereicht. Nun sind die jungen Leute Mann und Weib,
und die einzige Förmlichkeit, die noch erfüllt werden muß, ist eine
schriftliche Anzeige des Vaters der Braut an die Polizeibehörde seines
Stadtteils, daß seine Tochter aufgehört hat, bei ihm zu wohnen und in
das Haus ihres Gatten übergesiedelt ist. Das letztere ist nicht immer
ein eigenes Haus, das die jungen Leute allein bewohnen. Die Ehen werden
in Japan gewöhnlich so früh geschlossen, daß der Gatte häufig noch
gar keinen eigenen Erwerb oder irgend eine Stellung hat und deshalb
im Hause seines Vaters wohnt. Die Braut ist dann einfach ein neues
Mitglied der Familie, und dieser allein ist sie Ehrfurcht und Gehorsam
schuldig.

Am dritten Tage nach der Heirat findet ein festlicher Empfang im Hause
der Eltern der Braut statt, zu welchem alle Freunde der letzteren
geladen werden. Gewöhnlich werden bei dieser Gelegenheit die an die
Familie des Bräutigams gesandten Geschenke von dieser erwidert. Auch
die jungen Eheleute sind durch uralten Gebrauch gehalten, zwei oder
drei Monate später ein größeres Fest zu geben, entweder ein Festmahl
oder eine Garden party, zu welchem der ganze Bekanntenkreis eingeladen
wird. Für viele ist dieses Fest die erste Kunde von der vollzogenen
Vermählung, denn Verlobungs- oder Vermählungskarten werden in Japan
nicht ausgegeben. Die ganze Angelegenheit besitzt ja bei weitem nicht
die Wichtigkeit wie bei uns. Die Frau wird in Japan nur als die erste
Dienerin des Mannes angesehen, und ob es diese oder jene ist, die er
heiratet, bleibt sich ziemlich gleich. Standes- und Familienrücksichten
giebt es nur in beschränktem Maße, und besondere Veränderungen
treten ja durch die Heirat nicht ein. Der Mann bleibt derselbe, ob
Junggeselle oder Ehegatte; er hat keinerlei neue Pflichten, keinerlei
Beschränkungen und kann thun und lassen, was er will. Er kann seine
Abende außer dem Hause zubringen, wo er will, er kann andere Mädchen
als Konkubinen in sein Haus aufnehmen, Liebe und Treue wird von ihm
nicht erwartet. Seine Frau hat ihm in jeder Hinsicht zu gehorchen,
hat alles ruhig und freundlich hinzunehmen, ihn zu pflegen, seine
Mahlzeiten zu bereiten, seine Kleider zu nähen, sein Haus in Ordnung
zu halten: sie ist mit einem Worte nicht viel mehr als eine Dienerin
im Hause eines unserer Junggesellen, nur mit dem Unterschiede, daß sie
bei uns ihren Monatslohn erhält und freiwillig ihren Dienst kündigen
kann, wann sie will, während die japanische Frau diesen Dienst bis zu
ihrem Tode versehen muß, ja, als Zeichen, daß sie gewillt ist, dies zu
thun und keine Absicht hat, ihren Herrn zu wechseln, verunstaltet sie
freiwillig ihr Aeußeres dadurch, daß sie sich die Zähne schwarz färbt
und ihre Augenbrauen abrasiert. In den Großstädten verliert sich dieser
Gebrauch immer mehr, in den Provinzstädten und Dörfern aber fand ich
noch viele junge Frauen mit kohlschwarzen Gebissen.

Die geschilderten Gebräuche werden bei der europäischen Leserin kein
geringes Entsetzen erwecken, und gewiß wird sie ihre japanischen
Schwestern herzlich bedauern, hauptsächlich darüber, daß sie sich ohne
Liebeswerbung, ohne Brautjungfern und gar erst ohne Hochzeitsreise in
das anscheinend denkbar unglücklichste Ehejoch begeben müssen. Doch bei
den untersten Volksklassen der Japaner liegen die Verhältnisse noch
schlimmer. Die Arbeiter, Rickshawkulis, Hausdiener ersparen sich sogar
die Festmahlzeiten und das zeremoniöse Saketrinken. Sie vermählen sich
mit einer Frau, wenn es ihnen eben paßt, und vertauschen sie wieder
mit einer anderen, mit ebensowenig Umständen, wie wir etwa unsere
Kleider wechseln. Gar mancher in Japan wohnende Europäer wird beim
Nachhausekommen durch die Anzeige seines Boy oder Betto (Pferdeknecht)
überrascht, daß er sich eben vermählt habe. Einige Monate später ist
er vielleicht wieder Junggeselle, und kommt ihm wieder einmal die Lust
zu heiraten an, flugs bringt er sich eine neue Frau ins Haus, die ihm
seine Kleider flickt, seine Mahlzeiten bereitet und ihn meistens viel
besser bedient als er seinen Herrn.

Je höher man auf der gesellschaftlichen Stufenleiter emporsteigt,
desto seltener begegnet man dem Wechsel der Frauen, oder, um ein in
Europa geläufigeres Wort zu gebrauchen, den Ehescheidungen. Immerhin
entfällt sogar in den von europäischer Kultur angehauchten Hauptstädten
des Landes auf je drei Vermählungen eine Scheidung, und dieses
Verhältnis würde sich vielleicht noch weiter ausgleichen, wenn in den
wohlhabenderen Ständen nicht Umstände obwalten würden, welche die
Scheidung überflüssig machen. Es sind nicht etwa ethische Momente,
nicht größere Achtung oder Liebe für die eigene Frau, sondern es wird
dort eben wegen der zahlreichen Japaner, welche die europäischen
Verhältnisse kennen, immer weniger gern gesehen, daß man die Frau ohne
weiteres aus dem Hause jagt. Ueberdies stammen die Frauen der höheren
Stände doch aus besseren Familien, und man will sich durch eine nicht
wohlbegründete Scheidung diese letzteren nicht zu Feinden machen.
Deshalb behält man sie wohl im Hause, aber verheiratet sich dennoch mit
einer Konkubine, vielleicht auch mit zwei oder noch mehr, je nach der
Neigung oder den Mitteln. Möglicherweise wohnen diese Dämchen auch noch
mit der legitimen Gattin in demselben Hause zusammen, und ihre Kinder
wachsen gemeinschaftlich auf.

Man kann sich unter solchen Umständen die Lage der armen Frau wohl
vorstellen, die all dies geduldig und lächelnd ertragen muß. Jeder
Widerstand ihrerseits wäre vergeblich. Die Scheidung würde dann doch
erfolgen, und sie müsste unter Zurücklassung ihrer Kinder in ihr
väterliches Haus zurückkehren. Dazu ist die Liebe der japanischen
Frauen zu ihren Kindern doch zu groß. In neuerer Zeit hat die
Konkubinenwirtschaft in den besseren Ständen allerdings erheblich
abgenommen, aber Professor Chamberlain von der kaiserlichen Universität
in Tokio, vielleicht der beste Kenner des modernen Japan, sagt in
seinem 1891 in Yokohama erschienenen Buche über Japan doch noch
folgendes: „Warum sollte sich ein Mann überhaupt die Mühe geben, sich
von einer ihm unsympathischen Frau scheiden zu lassen, wenn irgend eine
Frau, die immer eine viel zu untergeordnete Stellung einnimmt, als daß
sie ihm ernstlich lästig wäre, und wenn die Gesellschaft nichts dagegen
hat, daß er sich irgendwelche Anzahl von Konkubinen hält?”

Derselbe Verfasser sagt weiter: „Die Scheidungsgründe in Japan sind:
Ungehorsam, Unfruchtbarkeit, Lasterhaftigkeit, Eifersucht, Aussatz oder
andere unheilbare Krankheiten, Geschwätzigkeit und Hang zum Stehlen,
mit einem Worte, ein Mann kann seine Frau los werden, wenn immer er
ihrer müde wird.”

Eine geistreiche Französin hat einmal gesagt: „~Fille, on nous
supprime; femme, on nous opprime~” (als Mädchen unterdrückt man uns,
als Frauen bedrückt man uns), aber in Japan giebt man sich dazu nicht
einmal die Mühe. Der Mann hat zu befehlen, die Frau hat zu gehorchen;
der Mann hat alle Rechte und Freiheiten, die Frau hat gar keine; der
Mann ist der Herr der Schöpfung, die Frau ist ein untergeordnetes
Wesen; und wenn sie irgendwelchen Einfluß in ernsten Dingen auf den
Mann ausübt, so hat sie diesen Einfluß nicht sich selbst, sondern den
Männern ihrer eigenen Familie, also ihrem Vater, ihren Brüdern zu
verdanken, auf welche ihr Gatte Rücksicht nehmen muß, bevor er zum
äußersten schreitet.

Als Beispiel dafür kann ein Fall gelten, der vor nicht langer Zeit in
Tokio vorkam: Ein junger verheirateter Adeliger verliebte sich, im
japanischen Sinne, auf dem Lande in ein junges Mädchen. Er brachte sie
nach Tokio, nahm ihr eine Wohnung und vernachlässigte seine Frau. Die
Schwiegermama entdeckte bald die Liaison, schrie Zeter und Mordio,
die Zeitungen nahmen Notiz davon, und seine Freunde fürchteten, er
würde am Ende seine offizielle Stellung bei der Regierung verlieren.
Sie legten sich ins Mittel, und zwischen Mann und Frau, Schwiegermama
und Konkubine wurde ein allseitig befriedigender Pakt geschlossen.
Der Mann kündigte seiner Liebe die Wohnung, Frau und Schwiegermutter
versprachen, keinen weiteren Lärm zu schlagen, das Mädchen kehrte zu
ihren Eltern zurück, aber unter der Bedingung, daß sie den jungen
Mann allmonatlich während mehrerer Tage in seinem Hause besuchen
dürfe. Derlei Rücksichten werden aber, wohlverstanden, nur in den
höheren Gesellschaftskreisen genommen. Selbst die Japan Mail, das von
der Regierung subventionierte Organ, enthält in einer seiner Nummern
folgenden Passus: „Streng genommen, wird Polygamie in Japan heute nicht
getrieben. Thatsächlich war sie niemals legal, denn das Gesetz erkennt
nur eine Frau an. Aber in vielen ehrbaren Haushaltungen giebt es eine
Konkubine, vielleicht zwei oder selbst drei, neben der Hausfrau,
ein elender Zustand, erniedrigend, unglücklich und mittelalterlich.
Zur Ehre des Beamtenstandes, des Adels und der hervorragendsten
Handelsherren muß es gesagt werden, daß dort mit wenigen Ausnahmen
die Konkubinenwirtschaft nicht länger getrieben wird; ob aber die
öffentliche Meinung reif genug ist, dieselbe als verbrecherisch zu
verdammen, können wir nicht sagen.”

Indessen kommen in Japan Fälle vor, wo auch das Mädchen sich einen
Gatten wählen kann. Giebt es in einer Familie beispielsweise keine
Söhne, sondern nur Töchter, so wird dies von dem Vater als ein großes
Unglück angesehen. Es ist niemand da, der seinen Namen, sein Geschäft
erben kann, niemand, der die Ahnenopfer bringen kann, denn nur
Männer können zu ihren Vorfahren beten und ihnen Opfer darbringen.
Deshalb wird der Vater bestrebt sein, unter den jungen Männern seiner
Bekanntschaft einen passenden Gatten für seine Aelteste auszuwählen,
und dann wird auch diese zu Rate gezogen, ob ihr Zukünftiger auch
hübsch und liebenswürdig genug sei. Ist sie einverstanden, so wird
geheiratet. Der Mann muß aber dann ganz dieselbe traurige Rolle spielen
wie sonst die Frau. Er muß seinen Namen ablegen und jenen der Familie
seiner Braut annehmen, er muß in das Haus der letzteren ziehen und
hübsch stille halten, sonst wird er gerade so davongejagt wie eine
Frau. Natürlich geben sich zu solchen Geschäften nur arme Junggesellen
her, denn „~c’est alors Madame, qui porte les pantalons~”.

[Illustration: Oeffentlich badende Japanerinnen.]



Eine Erdbebenkatastrophe.


Zwei Jahrzehnte lang waren Tokio, die Hauptstadt, und Yokohama, der
Haupthafen des Mikadoreiches, von den furchtbarsten Schrecken der
Elemente, von den Erdbeben, verschont geblieben. Der große Fudschiyama,
dieser zum Teil mit ewigem Schnee bedeckte Riesenvulkan, schlummert
seit Generationen, und die Reisenden, die von den beiden Städten aus
mit stummer Bewunderung den herrlichsten aller Berge Japans betrachten,
denken fast gar nicht mehr an die Möglichkeit eines Ausbruches. Für
die letzte Juniwoche 1894 hatte ich eine Partie auf den Fudschi in
Aussicht genommen, denn nachdem ich vor Jahren auf der Spitze des
höchsten Vulkans Nordamerikas, des Popokatepetl, gestanden, war es
ein begreiflicher Wunsch, auch den höchsten Vulkan Ostasiens zu
besteigen. Da kam die Kunde, daß die schlummernden Geister des heiligen
Fudschiyama sich wieder zu regen begonnen hätten; in seinem nördlichen
Zwillingsberge, dem Asamayama, brodelte und grollte es fürchterlich,
und aus seinem großen Krater stürzten gewaltige Lavamassen hervor.
Desto interessanter dürfte die Besteigung werden, dachte ich mir, und
fuhr von Tokio nach Yokohama, um die Vorbereitungen für meinen Ausflug
zu treffen.

Der Tag war furchtbar heiß; drückende Schwüle lag über den weiten
Reisfeldern der Tokiobucht; der Himmel zeigte bleierne Färbung, und
mit Sehnsucht erwarteten wir Passagiere einen Regenguß. In Yokohama
angekommen, fand ich unter den Gästen des Grand Hotel dasselbe
Unbehagen, das ich selbst empfand; das Tiffin (Gabelfrühstück) wurde
kaum genossen, und wir zogen uns gegen zwei Uhr nachmittags in unsere
Zimmer zurück. Kaum hatte ich mich auf das Ruhebett geworfen, als
plötzlich die Möbel rings um mich zu tanzen begannen; die Kommode fiel
um, die Wände und der Fußboden krachten und schwankten wie auf bewegter
See. Ein furchtbares Poltern und Dröhnen ließ mich vermuten, es wäre
irgend ein Pulvermagazin in die Luft geflogen; als ich aber, zum
Fenster hinausblickend, die Kamine von den Hausdächern fallen und diese
selbst einstürzen sah, da wußte ich sofort den wahren Grund dieser
Erscheinung. Hatte ich doch schon ein heftiges Erdbeben in Venezuela
durchgemacht. Mit einem Satze war ich zur Thüre hinaus und eilte über
die krachenden Treppen zwischen den heftig schwankenden Mauern hinab
ins Freie an den Meeresstrand; Dachziegel, Mörtelstücke, Trümmer der
Gesimse fielen rings um mich zu Boden. Das noch vor wenigen Minuten
spiegelglatte Meer war wild aufgeregt und sandte hohe Brandungswellen
den Strand empor; die schweren Dampfer und Kriegsschiffe draußen
schaukelten heftig; eine ungeheure Rauch- und Staubwolke erhob sich
über dem Weichbilde der Stadt, und man konnte sich bei dem schwankenden
Boden kaum aufrecht erhalten. Während solcher Katastrophen ist es
schwer, Beobachtungen zu machen; ich erinnere mich nur an das
furchtbare unterirdische Dröhnen, an die einstürzenden Schornsteine und
Dächer, das Rasseln der Fenster und das Abstürzen großer Felstrümmer
von den Klippen des nahen Bluff; ich weiß nur, daß rings um mich Damen
ohnmächtig auf dem Boden lagen, daß die Einwohnerschaft der Häuser
längs der ganzen Straße des Bundes entsetzt aus ihren vier Mauern
hinaus ins Freie stürzte, daß die Häuser ebenso schwankten wie die
Schiffe draußen in der Bucht.

Wie lange die schreckliche Katastrophe währte, wußten wir nicht; erst
nachträglich erfuhren wir, daß die Erschütterungen viereinhalb Minuten
gedauert hatten. Endlich beruhigte sich der Boden, aber die wenigsten
Menschen waren zu bewegen, in ihre Häuser zurückzukehren, da sie
eine Wiederholung des Erdbebens befürchteten. Ich hatte keine Zeit
zu verlieren, denn mit Bangen dachte ich an meine in Tokio weilenden
Lieben. Ueber die Schuttmassen zwischen den geborstenen Wänden hinweg
eilte ich nach meinem Zimmer, um meine Effekten zusammenzupacken, und
ließ mich in einer Jinrickshaw nach dem Bahnhof führen. Dort erfuhr
ich, daß infolge des Erdbebens der nächste Zug erst in einer Stunde
abgelassen würde, und so benutzte ich diese letztere zu einer Rundfahrt
durch die Stadt. Schuttmassen lagen in den Straßen, größtenteils von
der abgeworfenen Bedachung, dem Maueranwurf und den Schornsteinen der
Häuser herrührend; manche Häuser waren ganz eingestürzt, andere drohten
einzufallen, und eine große Zahl zeigte weitklaffende Risse und Sprünge
in den Mauern; bei einer Theefabrik waren Polizisten und Feuerwehrleute
beschäftigt, Trümmer fortzuräumen, unter denen gegen dreißig Menschen
begraben waren; auf Strohmatten oder notdürftig zusammengebundenen
Tragbahren wurden Verwundete fortgetragen. Viele Dächer waren von
den einstürzenden gemauerten Schornsteinen durchschlagen worden und
zeigten große Löcher; im Straßenboden waren hier und dort klaffende
Risse bemerkbar; in den Bazars, hauptsächlich in den vielen Läden mit
den schönen japanischen Porzellan- und Emailwaren hatte das Erdbeben
furchtbaren Schaden angerichtet; die prächtigsten, kostbarsten Sachen
lagen zertrümmert auf der Erde.

Die meisten Schäden zeigten die Häuser in den europäischen Quartieren,
da sie größtenteils aus Mauerwerk bestehen und ein Stockwerk hoch sind;
die japanischen Häuser sind zumeist ebenerdig und aus Holz gebaut, aber
während sie auf diese Weise von dem Erdbeben mehr verschont blieben,
hatte doch am Tage zuvor eine andere furchtbare Katastrophe unter
ihnen gewütet; nicht weniger als tausend Häuser waren einer großen
Feuersbrunst zum Opfer gefallen, und noch rauchten die schwarzen
verkohlten Reste dieses zerstörten japanischen Stadtviertels.

Rechtzeitig kehrte ich nach der Eisenbahnstation zurück, um den Zug
nach Tokio zu benutzen. Während der einstündigen Fahrt sah ich überall
Spuren des Erdbebens, eingestürzte Mauern und Häuser, beschädigte
Dächer, umgestürzte Toris (Tempelthore) und Statuen. Auf dem Wege von
der Schimbaschistation in Tokio nach dem dortigen Imperial Hotel sah
ich, daß das Erdbeben hier noch heftiger gewesen sein mußte als in
Yokohama, denn noch viel mehr Häuser waren beschädigt, besonders in dem
Stadtviertel der Europäer; fast jedes zweite Dach hatte gelitten; die
Schornsteine waren überall eingestürzt, die Mauern waren geborsten, der
Mörtelanwurf abgefallen, viele Häuser ganz zertrümmert; von den das
kaiserliche Palais umgebenden Festungswällen war die aus großen Quadern
bestehende Bekleidung auf Strecken von fünfzig Metern abgefallen.
Endlich war ich am Imperial Hotel angelangt, und glücklicherweise
war unter den Gästen kein Unglücksfall zu beklagen. Dagegen bot der
prachtvolle Bau selbst einen schrecklichen Anblick dar. Das große
Einfahrtsthor war eingestürzt und lag nebst dem Eisengitter in Trümmern
auf dem Boden; die Kamine waren abgestürzt und hatten große Löcher
in das Dach geschlagen; die Mauern zeigten durchgehends klaffende
Sprünge; mehrere Angestellte waren durch herabfallende Mauerstücke
verwundet worden; in den Salons und Wohnzimmern waren Möbel umgestürzt,
Bilder, Spiegel, Vasen und Statuen herabgefallen und zertrümmert. Die
benachbarten Häuser waren schwer beschädigt und mußten zum Teil ganz
abgetragen werden.

Merkwürdigerweise war das kaiserliche Palais durch das Erdbeben nur
wenig betroffen, und das Kaiserpaar war mit dem bloßen Schrecken
davongekommen; die Paläste der kaiserlichen Prinzen waren teilweise arg
beschädigt. In den Straßen waren die Japaner schon überall beschäftigt,
die Schuttmassen fortzuräumen, die Verschütteten auszugraben und
die Schäden auszubessern. Doch gewärtigte man eine Wiederholung des
Erdbebens. Um neun Uhr abends wurde auch ein zweiter Stoß, jedoch von
geringerer Heftigkeit, empfunden. Am folgenden Tage hatte sich die
allgemeine Furcht etwas gelegt, aber wie wohlbegründet sie war, geht
aus der Statistik der Unglücksfälle hervor, welche die japanischen
Morgenzeitungen auf Grund der eingelaufenen Meldungen veröffentlichten.
In Tokio allein wurden innerhalb der viereinhalb Minuten des Erdbebens
36 Menschen getötet, über 300 verwundet; die Zahl der beschädigten
Häuser erreichte 3720, der umgestürzten Mauern 162, der Schornsteine
289, der Risse im Erdboden 96. Seltsamerweise beschränkte sich das
Erdbeben auf den zentralen Teil Japans zwischen Yokohama und Tokio; in
den entfernteren Städten wurden die Erdstöße nur ganz leicht verspürt
und verursachten nur geringe Unglücksfälle. Die Vulkane zeigten während
des Erdbebens keine erhöhte Thätigkeit.

Dafür sind sie in den letzten Jahren wieder desto thätiger gewesen, vor
allen anderen hatte der schreckliche Bandaisan im Norden Japans im Juli
1900 einen heftigen Ausbruch, dem mehrere hundert Menschen zum Opfer
fielen. Nur der höchste Vulkan Japans, der berühmte heilige Fujiyama,
hat seit Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag seine erhabene Ruhe
bewahrt.



Modernes Theaterwesen in Japan.


Frauen auf der japanischen Bühne! Das ist die wichtigste Neuigkeit, die
eben aus dem fernen Lande des Sonnenaufganges zu uns herüberdringt.
Frauen als Schauspielerinnen und Tänzerinnen auf den Brettern, welche
in Japan, wie bei uns, die Welt bedeuten! Die Kaiserin von Japan hat
selbst die Initiative dazu ergriffen, ihren weiblichen Unterthanen
diesen neuesten Beruf zu eröffnen, und in Zukunft wird es im Reiche
des Mikado auch weibliche Sterne am Theaterhimmel geben. Bisher haben
wohl die reizenden Musmis von Japan die dramatische und lyrische Kunst
eifrig gepflegt, allein es war ihnen nicht gestattet, im Verein mit
ihren männlichen Kollegen öffentlich aufzutreten. Bei uns gefallen
sich die Theaterdamen von stattlichem Wuchs darin, in Hosenrollen
aufzutreten, in Japan aber, diesem Lande der verkehrten Welt, gefallen
sich die schönsten Männer darin, in Unterröcken zu spielen. Alle
Weiberrollen, nicht nur die alten, wurden von geschminkten Jünglingen
gespielt, ja sogar das japanische Ballett zählte bisher nur männliche
Ballerinen. Warum? Wieder die verkehrte Welt: weil es gegen den Anstand
und die gute Sitte verstoßen hätte, Mädchen neben jungen Männern
öffentlich auftreten zu sehen. Die Japaner haben eben eigentümliche
Begriffe von Anstand. Während die kleinen hübschen Mädchen im Alter
von zwölf bis achtzehn Jahren, die Frauen im Alter von achtzehn bis
dreißig Jahren, die Großmamas im Alter von dreißig bis wer weiß wie
viel Jahren ihre Bäder häufig öffentlich auf der Straße nehmen, während
die Damen in den fashionabeln Badeorten Ikao oder Karuizawa mit der
größten Ungeniertheit im Verein mit fremden Männern in demselben
kleinen Baderaum stecken, ohne irgend etwas Schlimmes davon zu denken,
dürfen sie in voller Bekleidung auf der japanischen Bühne nicht neben
und mit Männern auftreten. Im vergangenen Jahre hat eine amerikanische
Sängerin von Weltruf, welche Japan als die erste Primadonna überhaupt
besuchte[3], die dortigen Hofkreise auf das Widersinnige dieser
Anstandsregeln aufmerksam gemacht und die hohe Stellung erklärt,
welche die Frauen der europäischen Bühne nicht nur auf dieser, sondern
vielfach auch im gesellschaftlichen Leben einnehmen. In ihrem Streben,
es den Europäern auf allen möglichen Gebieten gleichzuthun, haben sie
sich nun, gestützt auf diese und andere Berichte, auch die Reform
des Theaterwesens zur Aufgabe gestellt, und sie beginnen damit, daß
sie den Japanerinnen die Thüre zum Hinterpförtchen der Theater, zum
Bühneneingang, öffnen.

Glücklicherweise ist dies eine der wenigen Neuerungen in der
japanischen Kultur, die mit dem ganzen Wesen derselben verträglich
ist, ja ihrer malerischen Eigentümlichkeit ein neues, glänzendes
und erhaltendes Element zuführt. Im übrigen haben die Japaner ja
leider aus europäischen Fräcken und Schleppkleidern, Vatermördern
und Beinkleidern ein großes Leichentuch für ihre eigene, so ungemein
malerische Kultur zusammengenäht. Wer diese letztere in ihrer ganzen
Eigenheit, und so wie sie vor Jahrhunderten war, sehen will, muß
japanische Theater besuchen. Dort hat sie ihre letzte Zufluchtsstätte
gefunden, dort wird sie auch noch von den hochkonservativen
aristokratischen Elementen erhalten.

Das japanische Theater ist gar nicht so alt, als man bei einer für
asiatische Verhältnisse gewiß hohen und viele Jahrhunderte alten
Zivilisation anzunehmen geneigt wäre. Es entwickelte sich aus den
religiösen Gesängen und Tänzen, mit denen die buddhistischen Priester
in früheren Zeiten ihren Tempeldienst zu begleiten pflegten und wie
ich sie noch gelegentlich meiner eigenen Reise in den berühmten
Tempeln von Nikko und Nara vorfand. In ähnlicher Weise haben ja auch
die alten Griechen und Römer ihre Götter gefeiert, und dieser Kultus
hat sich sogar nach Spanien verpflanzt, wo der Ostertanz der Pagen
in der Kathedrale von Sevilla ein Ueberbleibsel des heidnischen
Götterdienstes sein dürfte. Die großen Feudalfürsten des alten Japan
ließen derlei Tänze und Gesänge an ihren Höfen zur Aufführung bringen;
allmählich legten sie den ersteren andere Handlungen unter, die sie
fast ausschließlich der japanischen Geschichte oder der Märchenwelt
entnahmen, und so entstand, dabei immer weltlicher werdend, das
japanische Theater von heute. Doch war es nur das gewöhnliche Volk,
das an diesen öffentlichen Darstellungen in öffentlichen, auch an die
alten Tempel gemahnenden Theatern Gefallen fand. Die Daimios (Fürsten)
hielten an den alten Traditionen fest und unterstützen sie auch noch
heute. In Tokio hatte ich Gelegenheit, mancher der traditionellen
Privatvorstellungen von alten No-Spielen beizuwohnen, die nur vor
geladenen Gästen der Aristokratie stattfinden und in denen Schauspieler
auftreten, die ihre Kunst gerade so wie ihre herrlichen, kostbaren
Kostüme von ihren Vätern und Vorvätern geerbt haben. Manche dieser
Schauspielerfamilien haben einen theatralischen Stammbaum von sechs
bis zehn Generationen aufzuweisen. Sie allein werden gesellschaftlich
geachtet und anerkannt. Die Schauspieler der gewöhnlichen öffentlichen
Theater aber waren bisher ebenso geächtet wie bei uns noch zur
Zeit der alten Neuberin. Sie wurden geradezu der Klasse der „Eta”
(Gesetzlose, Vogelfreie) beigezählt, und noch heute würde es in Japan
keinem Aristokraten, Offizier oder Beamten in den Sinn kommen, eines
der öffentlichen Theater zu betreten. Nur bei außergewöhnlichen
Gelegenheiten, etwa wenn der Lewinsky von Japan, Danjuro, auftritt,
oder bei Wohlthätigkeitsvorstellungen erscheinen sie, aber auch nur in
zwei oder drei der vornehmsten Theater der Hauptstadt. Der Mikado hat
noch niemals ein Theater besucht, und die einzigen Vorstellungen, die
er gesehen hat, sind alte klassische No-Stücke, die in seinem Palast
aufgeführt werden.

Das gewöhnliche Volk in Japan liebt die Theater über alle Maßen, ja ich
kenne unter den Völkern der Erde keines, das mit solcher Begeisterung
dem Theater ergeben wäre. Jede größere Stadt hat ihre Theater; Tokio,
Kioto und Osaka haben deren eine ganze Anzahl, und wer das japanische
Volksleben kennen lernen will, darf den Besuch der Theater, sowie die
gewöhnlich ungemein belebten Straßen, in denen sie gelegen sind, mit
ihren Theehäusern und Tingeltangeln aller Art nicht versäumen. Man
muß sich aber unter den japanischen Theatern nicht etwa solche nach
europäischem Muster vorstellen. Für den Japaner, der Europa besucht,
dürfte es kaum eine größere Ueberraschung geben, als wenn er die
glänzenden Räume unserer hauptstädtischen Opernhäuser betritt. Unsere
bescheidensten Provinztheater sind immer noch eleganter und vornehmer
in Bezug auf die Ausstattung sowohl wie auf die Masse der Besucher
als die schönsten japanischen Theater. Der Mehrzahl nach sind sie
große, leichtgebaute Bretterbuden, deren Zuschauerraum für drei- bis
fünfhundert Personen Platz bieten dürfte. Vor dem Eingange stehen
gewöhnlich acht bis zehn Meter lange Bambusstangen, gegen die Straße zu
geneigt, wie riesige Angelruten, und an diesen hängen blaue und rote,
mit bunten Inschriften bedeckte Leinwandstreifen. Die amerikanische
Reklame mit ihren großen, bunt bemalten Affichen hat auch schon in
Japan ihren Einzug gefeiert, die Theaterfronten sind gewöhnlich mit
derlei Papierbogen ganz verklebt. An das Theater schließen sich in der
Regel zierliche Theehäuser mit halbverdeckten, lampiongeschmückten
Balkonen und Galerien an. Die Theaterstraßen der japanischen
Großstädte bestehen gewöhnlich nur aus derartigen Theehäusern,
Theatern und Schaubuden, in denen allerhand Zauber, ähnlich dem Wiener
Wurstlprater oder der Pariser Foire de Neuilly, gegen ein paar Pfennige
Eintrittsgeld zu sehen ist. Vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein
herrscht in diesen Straßen reges Leben, denn die Theater Japans sind
nicht nur des Abends geöffnet, die Vorstellungen dauern den ganzen
Tag über, und die Japaner, die sie besuchen wollen, nehmen Kind und
Kegel, ihre ganze Familie mit und bleiben den ganzen Tag im Theater.
Andere kommen nur für eine oder mehrere Stunden, um die wichtigsten
Scenen oder die beliebtesten Schauspieler zu sehen. Wird ein neues
Stück aufgeführt, so spricht es sich bald in der Stadt herum, welche
Stunde die sehenswertesten Akte vorkommen, und dann sind die Theater
gewöhnlich zum Erdrücken gefüllt. Die vielen Theehäuser mit ihren
Kellnerinnen und Gaishamädchen (Sängerinnen) tragen dazu bei, einen
dichten Menschenstrom durch die Theaterstraßen zu leiten, so daß dort
der Wagen- und Rickshawverkehr verboten ist. Die Theaterbesucher müssen
auch bei schlechtem Wetter ihre Rickshaws schon an der Straßenecke
verlassen und den Weg zum Theater zu Fuß zurücklegen.

Wohl befinden sich neben den einzelnen Theatern oder am Haupteingange
derselben auf der Straße Billetverkäufer, welche den Passanten gegen
Erlag weniger Cash ein mit Schriftzeichen bedecktes Holzplättchen
einhändigen; allein der Japaner, der für seine ganze Familie Platz
haben will, muß sich denselben tags vorher, bei Zugstücken sogar
schon mehrere Tage vorher sichern. Gewöhnlich vereinigt sich der
Theaterbesitzer mit dem Besitzer des benachbarten Theehauses; dieser
ist häufig sein Geldgeber und Kassierer, verkauft die Theaterplätze
gegen einen gewissen Prozentsatz und liefert den Theaterbesuchern
Speisen und Getränke. Wären die Theater nicht schon an den großen
Angelruten kenntlich, die sozusagen die Besucher von der Straße
fischen, so würden die Hunderte von Sandalen und Strohschuhen vor
den Theatergebäuden dieselben schon als solche kennzeichnen. Keinem
Japaner würde es einfallen, mit seinen Sandalen das Innere eines
Theaters zu betreten, ebensowenig wie einen Tempel, einen Kaufladen
oder sein eigenes Wohnhaus. Vor den Theatern stehen lange Gestelle,
auf denen in mehreren Reihen die ganze Theaterfront entlang die
plumpen, mit Stelzenstöckchen versehenen Holzsandalen oder Strohschuhe
paarweise aufgehängt sind. Am Eingang zieht der Besucher die Füße aus
seinen Sandalen und erhält für dieselben von dem Garderobier eine
entsprechende Nummer, auf einem kleinen Holzklotz verzeichnet.

Das Innere der japanischen Theater ist von jenem der unserigen
vollständig verschieden. Wohl giebt es eine Bühne mit Vorhang,
allein Seitenkulissen, Rampenlichter, Souffleurkasten, Schnürboden
und dergleichen fehlen. Dafür verlängert sich die Bühne auf beiden
Seiten in den Zuschauerraum hinein, und diese etwa zwei Meter breiten,
mannshohen Podien laufen, das Parkett zwischen sich einschließend,
bis an die hintere Wand des Zuschauerraumes. Von dort gelangen die
Schauspieler durch eigene, dem Publikum nicht zugängliche Korridore
wieder auf die Bühne zurück. Die Mehrzahl der Theater besitzt über dem
Parkett noch eine Galerie, und diese ist gerade so wie das erstere
ganz in Logen eingeteilt. Nur der kleine Raum hinter den Logen bis
zur Wand zeigt eine Reihe von Sitzbänken für die geringsten Klassen
des Theaterpublikums, und in manchen Theatern ist wohl eine, von den
übrigen Logen gesonderte Abteilung für europäische Besucher mit Stühlen
zum Sitzen versehen. Sonst giebt es in den Theatern keine Sitze, denn
das Publikum kauert auf dem Boden. Das ganze Parkett ist bis zu der
Rampe durch zwei Fuß hohe Bretterwände in viereckige Räume von etwa
vier Quadratmetern Fläche eingeteilt, und diese schachbrettartigen
Felder sind die Logen. Wird jemandem eine Loge in der Mitte des
Parketts zugewiesen, so muß er über die Abteilungsbretter und durch
eine Reihe anderer Logen steigen, um zu der seinigen zu gelangen.
Dort angekommen, ist er für den Tag ausschließlicher Besitzer des
vollständig kahlen Kastens. Will er Sitzmatten, Ecktischchen, Kohlen-
und Aschenkästchen, so muß er sie von den Angestellten eigens entlehnen
und erhält für jeden gezahlten Betrag eine entsprechende Quittung,
die auf Verlangen der Kontrolleure vorgewiesen werden muß, denn sonst
wird der Betrag nochmals abverlangt. Gewöhnlich versammeln sich die
Teilnehmer einer Theatre party oder einzelne Familien, welche Logen
reserviert haben, in den Morgenstunden im Theater und je vier nehmen in
einer Loge auf den Bambusmatten des Bodens Platz. In den Zwischenakten
kommen die Kellner und Kellnerinnen des Theehauses, um nach ihren
Wünschen zu fragen, Thee, Süßigkeiten, Früchte oder die bestellten
Mahlzeiten zu bringen. Ueberdies befinden sich im Theater selbst, nahe
dem Eingange, Stände mit Früchten, Tabak, Backwerk und Getränken aller
Art, so daß die Besucher tagsüber das Theater gar nicht zu verlassen
brauchen. Für die eigenen Familiendiener wird kein Eintrittsgeld
berechnet; häufig legen diese oder das Theehaus alle Beträge aus,
und am Schlusse der Vorstellung wird die Rechnung überreicht, die
in den besseren Theatern für eine Familie von vier Personen etwa
folgendermaßen lautet:

    Eintrittsgeld                   60 Sen
    Loge                            80  „
    Matten und Kohlenkästchen       25  „
    Bedienung                       10  „
    Thee und Süßigkeiten            25  „
    Früchte                         25  „
    Fische und Reis                 25  „
    Theehausrechnung                50  „
    Trinkgeld für die Dienerschaft  20  „
                        ------------------
                     zusammen 3 Yen 20 Sen (etwa 6½ Mark).

So bleiben denn die Theaterbesucher den ganzen Tag über im Theater,
und für den Fremden bilden die einzelnen Logen mit ihren Insassen
ebensoviele Schaubühnen, durch die er das Leben und Treiben der Japaner
viel besser kennen lernt als auf der wirklichen Bühne. Die Mehrzahl der
Besucher sind gewöhnlich Frauen und Mädchen. Mit ihren Kindern, mit
Kopfkissen, Päckchen, Papiertüten, Pfeifen, Tabaksbeuteln, Theekannen
treffen sie im Theater ein und machen es sich in ihrer Loge bequem.
Die Kinder werden vor ihnen auf den Boden gebettet, der Aschenbehälter
mit den glimmenden Kohlen steht zwischen ihnen, sie stecken sich ihre
winzigen Pfeifchen an und kauern auf den Boden nieder. In dieser für
Europäer unbequemen und ermüdenden Stellung verharren sie stundenlang;
es war mir in Japan immer ein Rätsel, wie die zarten Frauen und Mädchen
ihre Kniebeuge so lange aushalten konnten. Zeitweilig strecken sie sich
ganz auf die Matten nieder, legen den Arm unter den Kopf und schlafen.
Oder sie geben den schreienden Kindern in recht ungenierter Weise die
Brust, rauchen dabei ihr Pfeifchen, knabbern an Zuckersachen, schlürfen
Thee und fächeln sich Kühlung zu. Jeder Japanerin ebenso wie jedem
Japaner sind Fächer und Pfeifchen ganz unentbehrliche Dinge; einer oder
der andere dieser Gegenstände ist stets in ihren Händen.

[Illustration: Im Hausgarten mit Holzschuhen.]

[Illustration: Vor dem Familienschatz.]

Während der Vorstellung lauschen die Theaterbesucher andächtig den
Ausführungen der Schauspieler, wälzen sich vor Lachen über den
geringsten Scherz, vergießen Thränen bei jeder ernsten Scene, schaudern
und gruseln bei Hinrichtungen und Selbstmorden, die auf der japanischen
Bühne eine große Rolle spielen und mit allen blutigen Einzelheiten
ungemein realistisch dargestellt werden. Fällt der Vorhang, dann geht
der Lärm los. Die Hälfte der Anwesenden erhebt sich und eilt, über die
Logenwände kletternd, zwischen den Insassen der Logen hindurch dem
Ausgange oder den Büffettbuden zu; anderseits erscheinen wieder ein
paar Dutzend Aufwärter oder Theehausmädchen, welche dampfende Schüsseln
und Theetöpfe durch die verschiedenen Logen tragen; die Kinder klettern
aus einer Loge in die andere, oder wohl gar auf die Bühne hinauf und
tummeln sich dort lachend und schäkernd herum; mitunter steigen ganze
Familien auf die Bühne, um vor dem Vorhang ihre Mahlzeiten einzunehmen;
die in den Logen Zurückgebliebenen müssen sich in acht nehmen, daß
ihnen nicht ihre Zehen abgetreten werden; ich mußte häufig ebensosehr
die Geduld wie die Höflichkeit bewundern, mit der die japanischen Damen
alle diese fremden Menschen, Besucher, Aufwärter, Kinder in ihren
Logen und mitten zwischen sich hindurch umhersteigen ließen. Nicht ein
finsteres Gesicht, nicht eine Gebärde des Unwillens oder der Ungeduld;
lächelnd verneigen sie sich vor den Kellnern, lächelnd spielen sie
mit den fremden Kindern, lächeln müssen sie bei allen Gelegenheiten.
Dort zieht eine hübsche Musme aus den Aermeln ihres vorne offenen, den
Busen entblößenden Kimono ein kleines Spiegelchen hervor, kramt aus
den Tiefen der sackartigen Aermel Kamm, Puderbüchse, Lippenschminke
und sonstige Toiletteartikel hervor und hantiert angesichts der ganzen
Versammlung mit diesen Dingerchen. Allmählich kehren die Theatergäste
wieder auf ihre Plätze zurück, von der Bühne ertönen drei dumpfe
Schläge, ähnlich jenen, mit welchen auf den französischen Theatern
der Beginn angezeigt wird; der Vorhang wird in die Höhe oder nach den
Seiten zurückgezogen, und der nächste Akt beginnt.

Von Akten kann eigentlich keine Rede sein, ebensowenig wie von
Tragödien, Lustspielen und Dramen nach europäischem Muster. Die
Darstellungen, welche, wie bemerkt, morgens beginnen und spät abends
endigen, beziehen sich gewöhnlich auf geschichtliche Ereignisse oder
sind Märchen, Sagen und Romanen der alten Japaner entnommen. Auch
giebt es keine eigene Theaterlitteratur. Als ich in Tokio einmal durch
meinen Dolmetsch den Theaterunternehmer nach dem Verfasser des eben
zur Ausführung gelangenden Stückes fragte, that er sehr verwundert
und wußte nicht, was er antworten sollte. Erst als ich ihm meine
Frage näher erklärte, erfuhr ich von ihm, daß an den japanischen
Theaterstücken Direktor, Schauspieler, Theatermaler, Maschinisten, ja
selbst das Publikum mitarbeiten. Irgend ein Märchen, eine Erzählung
oder eine in den Zeitungen berichtete Begebenheit wird zum Vorwurf
genommen, die Schauspieler arbeiten ihre Rollen selbst aus, jeder gute
Einfall, der von irgendwelcher Seite kommen mag, wird bereitwilligst
verwendet, und so entsteht allmählich das Stück, das aber während der
ersten sechs oder acht Aufführungen täglich verändert und verbessert
wird. Selbst später noch extemporieren die Schauspieler ganz nach
Belieben, Scenen werden versetzt oder ganz weggelassen, und nur bei
historischen Begebenheiten befleißigt man sich möglichster Treue in den
geringsten Einzelheiten.

Mit Ausnahme von einigen der vornehmsten Theater, vor allem des
Shintomiza-Theaters in Tokio, sind die scenischen Einrichtungen noch
ganz so primitiv wie zu Shakespeares Zeiten in Europa, ja, wie sie
Shakespeare selbst in seinem Sommernachtstraum verspottet hat. Für
Interieurs bleibt die Bühne vollständig kahl. Eine Mauer mit einem
Thor wird dadurch angezeigt, daß man in der Mitte der Bühne ein Thor
aufstellt, und es bleibt der Einbildung des Publikums überlassen,
sich zu beiden Seiten die hohe Mauer dazu zu denken. Die Schauspieler
dürfen nur das Thor benutzen und nicht wissen, was jenseits desselben
vorgeht; Theehäuser werden dargestellt, indem man ein paar Lampions
mit der Inschrift „Theehaus” auf den Boden steckt. Gärten werden durch
natürliche Pflanzen dargestellt. In den ersten Theatern Tokios hat man
neben einer Menge anderer europäischer Einrichtungen auch schon gemalte
Dekorationen, elektrische Beleuchtung und dergleichen angenommen, und
besonders in dem vorerwähnten Shintomiza-Theater werden ganz hübsche
scenische Effekte erzielt. Sonst beschränkt sich der theatralische
Pomp fast ausschließlich auf die Kostüme der Schauspieler, deren
Garderobe viele historische Waffen, Rüstungen, Mäntel und dergleichen
von bedeutendem Wert enthält. Häufig bekommen beliebte Schauspieler
derlei Gegenstände von aristokratischen Familien zum Geschenk. Die
Schauspieler haben aber auch bessere Gelegenheit als bei uns, diese
Prachtgegenstände aus nächster Nähe bewundern zu lassen, denn sie
treten nicht nur auf der Bühne selbst auf, sondern benutzen zu ihrem
Kommen und Abgehen die vorgenannten Estraden, auf denen sie langsam
und feierlich mitten durch das Publikum schreiten. Zudem ist es
gang und gäbe, den Schauspielern in ihren Ankleidezimmern Besuche
abzustatten, wobei man ihnen gewöhnlich allerhand kleine Geschenke
überreicht. Auch noch auf andere Weise kommen sie in die Lage, kleine
Privatmuseen anzulegen oder sich durch Geldgeschenke zu bereichern,
denn beliebte Schauspieler werden in Japan vom Publikum noch viel mehr
verhätschelt als bei uns. Die beiden durch das Auditorium führenden
Estraden heißen Hans mischi, d. h. „blumige Wege”, weil man den
Lieblingen des Publikums dort vor ihrem Auftreten Blumen streut. Haben
sie das Publikum zu besonderer Begeisterung hingerissen, so wird diese
häufig in ähnlicher Weise zum Ausdruck gebracht, wie ich es bei den
Stiergefechten in Spanien gesehen habe. Hüte, Schirme, Fächer, Pfeifen,
Toiletteartikel aller Art werden dem abgehenden Schauspieler von zarten
Händen zugeworfen, gerade wie einem siegreichen Torero, und diese
Gegenstände werden dann in seiner Garderobe von den Eigentümern durch
Bargeld oder andere Gegenstände wieder eingelöst.

Ob die Schauspieler diese Huldigungen nach unseren europäischen
Begriffen verdienen, ist eine andere Frage. Der Mehrzahl der
europäischen Besucher kommen diese Vorstellungen ungemein gekünstelt,
unnatürlich und langweilig vor. Der ersten Vorstellung in einem
japanischen Theater wohnt man gewöhnlich mit Interesse bei, aber
damit ist der Reiz des Neuen und Ungewöhnten erschöpft, und wenige
lassen sich verleiten, eine zweite zu besuchen. Nach meinen eigenen
Erfahrungen halte ich das für unrichtig, denn erst, wenn man sich
durch mehrmaligen Besuch an die Eigentümlichkeiten der dramatischen
Kunst in Japan gewöhnt hat, kann man die Vorzüge der Darstellung
beurteilen. Die Tradition scheint von den darstellenden Künstlern in
Japan zu verlangen, daß sie auf der Bühne das Gegenteil des Natürlichen
thun; ihre Bewegungen, ihre Kleidung, ihre Sprache, ihr Thun und
Lassen sind eher Zerrbilder der Wirklichkeit, aber auch darin liegt
eine Kunst, die gelernt werden muß. In Bezug auf das Mienenspiel und
den Gesichtsausdruck leisten die japanischen Schauspieler mitunter
Großartiges, und da es bis vor wenigen Jahren in den hauptstädtischen
Theatern an Rampenlichtern gefehlt hat, ließen sich die Schauspieler
während der Handlung auf der Bühne durch schwarzgekleidete Diener
begleiten, welche Lampions trugen, die an der Spitze von Bambusstäben
hingen und den Schauspielern vor die Nase gehalten wurden, damit
ihr Gebärdenspiel im wahren Sinne des Wortes in das richtige Licht
gesetzt werde. Neben den Schauspielern befinden sich übrigens immer
Diener auf der Bühne, um ihnen die Kostüme und die Frisur während
der Handlung zurecht zu zupfen, Gerätschaften herbeizutragen, die
Scenerie zu versetzen und dergleichen. Es wird dabei stillschweigend
angenommen, daß diese Diener für das Publikum unsichtbar sind. Der
Souffleur befindet sich ebenfalls auf der Bühne; zuweilen sitzt er an
einem Tischchen an der Seite und erzählt mit unnatürlicher Stimme den
Lauf der Handlung, oder preist die Kunst der Schauspieler oder singt,
begleitet von einem Orchester, das in einem Bambuskäfig zu Rechten der
Bühne auf dem Boden hockt und im Trommeln, Guitarrezupfen, Pauken- und
Lärmschlagen Großartiges leistet. Am meisten pflegt sich dabei ein
Musiker auszuzeichnen, der zwei kurze Holzstäbe in mehr oder minder
rascher Folge aneinanderschlägt, je nachdem es die Handlung verlangt.

Während die Japaner sich mit diesen und anderen Einrichtungen an die
Seltsamkeiten des Theaterwesens anlehnen, wie ich es in China, Siam
und Java kennen gelernt habe, sind sie in einer Hinsicht sogar den
Europäern vorangeeilt. Vor einigen Jahren besuchte ich in Neuyork das
Madison Square-Theater und sah dort eine eben erfundene Einrichtung,
welche es gestattete, auf offener Scene einen vollständigen
Dekorationswechsel in weniger als einer Minute auszuführen. Unterhalb
der eigentlichen Bühne befand sich eine zweite gleich große. Während
auf der ersteren gespielt wurde, setzten die Bühnenarbeiter auf der
zweiten unteren die nächstfolgende Scene. Auf ein gegebenes Zeichen
wurde eine sinnreiche Maschinerie in Thätigkeit gesetzt. Die obere
Bühne verschwand im Schnürboden, die untere trat an ihre Stelle, ein
Zwischenakt war erspart. Diese amerikanische Erfindung war in Japan
schon längst im allgemeinen Gebrauch, nur daß die beiden Bühnen nicht
übereinander, sondern hintereinander liegen. Durch eine einfache
Vorrichtung wird der ganze Bühnenapparat, ähnlich wie die Drehscheibe
bei Eisenbahnen, um eine vertikale Achse gedreht, die vordere Bühne
kommt nach hinten, die hintere mit ganz verschiedener Scene nach vorne,
und das Spiel wird ohne Unterbrechung fortgesetzt.

Die Annahme europäischer Sitten und Gebräuche in so vielen
Berufszweigen ist auch nicht ohne Einfluß auf das Theater geblieben.
Man verlangt Darstellungen, die dem modernen Leben entnommen sind, man
verkürzt ihre Dauer und verwendet immer mehr die freien Abendstunden
für den Theaterbesuch. In Tokio hat man begonnen, unsere modernen
Theatereinrichtungen anzunehmen, und nun sollen, wie eingangs erwähnt,
auch die Frauen als Darsteller zugelassen werden. Um den Theaterbesuch
so rege als möglich zu gestalten, werden an jedem Tage eine Anzahl
kleinerer Stücke aufgeführt, und zwar pflegen die Direktoren zwischen
historischen Darstellungen und Tragödien Possen und Balletvorstellungen
einzuschieben. Die Billets können für jedes einzelne Stück gelöst
werden, ähnlich wie es in den Zarzuela-Theatern in Spanien der Fall
ist. Nur Oper und Operette fehlen in Japan noch gänzlich, und es wird
kaum innerhalb eines Menschenalters dazu kommen, daß die Japaner an
unserer Vokalmusik Geschmack finden. Die einzigen lyrischen Dramen,
welche die Japaner kennen, sind die aus der klassischen Zeit stammenden
No-Darstellungen, und diese sind noch viel einförmiger und langweiliger
als die gewöhnlichen japanischen Theaterstücke. Immerhin sollten die
Japaner ihrer Kaiserin dafür Dank wissen, daß sie dem Theater durch die
Zulassung von Frauen neue Abwechselung und neue Anziehungskraft gegeben
hat.


[3] Minnie Hauk.



Danjuro, der Salvini von Japan.


In rascher Folge kommen die Kurumas, gezogen von flinken,
strammbeinigen Kulis, angefahren und entladen ihre Insassen,
europäische Diplomaten und Offiziere, japanische Minister, Aristokraten
und Beamte, reizende buntgekleidete Musmis, Frauen in jedem Alter,
alle in das japanische Nationalgewand, den Kimono, gehüllt, alle
mit Blumen und schönen Nadeln im Haar, den Fächer in der einen,
den bunten Sonnenschirm in der andern Hand. Vor dem Eingang zu dem
Shintomiza-Theater, dem vornehmsten von Tokio, ein Gedränge wie selten.
Aber obschon Hunderte derselben Pforte zustreben, giebt es doch kein
Drücken und Stoßen; mit der größten Höflichkeit machen die kleinen
japanischen Menschlein einander Platz, verneigen sich tief voreinander,
lächeln und entschuldigen sich mit vielen Worten. Man sieht, es ist die
vornehme Welt der Hauptstadt, die sich heute hier Rendezvous gegeben
hat. Unter Bücklingen überreichen die eleganten Damen dem Garderobier
ihre Strohsandalen und Holzschuhe, nehmen unter Bücklingen dafür ihre
hölzerne Garderobenummer in Empfang und betreten in ihren weißen
Strümpfen das Innere des Theaters, um in den einzelnen Logen auf dem
Boden Platz zu nehmen. Auch wir haben uns schon vor einigen Tagen eine
Loge gesichert.

Die Vorstellung hat schon längst begonnen; wenn wir, und mit uns
so zahlreiche Japaner der besten Stände, erst jetzt unsere Plätze
einnehmen, so geschieht es deshalb, weil für diese Nachmittagsstunden
das Auftreten des berühmtesten Schauspielers Japans, Danjuro,
angekündigt war. Die ganzen, frühmorgens beginnenden, spät abends
endigenden Vorstellungen mitzumachen, ist nur die Sache der mittleren
und unteren Volksklassen Japans, für diese beginnen die tagelangen
Aufführungen niemals früh genug und hören niemals spät genug auf.
Glücklicherweise wird es nach den ersten Vorstellungen bald bekannt,
um welche Stunde die besten Kräfte auftreten, die aufregendsten Scenen
stattfinden, und dann pflegen die Theater zum Erdrücken gefüllt zu
sein. Rechts und links von uns in den Balkonlogen, unter uns in den
viereckigen Logenabteilungen des Parketts sitzen die Besucher, der
größeren Zahl nach dem weiblichen Geschlecht angehörend, ausgestreckt
auf dem Boden oder den Knien liegend, hocken in den verschiedensten
Stellungen, essend, trinkend, rauchend; die verschiedenfarbigen,
faltenreichen Gewänder, die Blumen in den Haaren, die Hunderte bunter,
fortwährend bewegter Fächer vereinigen sich zu einem fremdartigen,
malerischen Bilde. Aller Augen sind unverwandt auf die Bühne gerichtet,
und mit der gespanntesten Aufmerksamkeit sehen sie den Scenen zu, die
sie möglicherweise schon hundertmal gesehen haben und an denen dieses
liebenswürdigste und genügsamste Theaterpublikum aller Länder immer
wieder neuen Gefallen findet.

Dort oben auf der Bühne wird eben eines der Paradestücke Danjuros
aufgeführt. Er selbst spielt gerade einen bejahrten Daimio aus der
alten ritterlichen Zeit des japanischen Reiches; in die prachtvollsten
goldgestickten Gewänder gehüllt, sitzt er starr und stumm auf dem
Boden und kümmert sich nicht um die beiden Frauen, die, ebenfalls in
herrlichen Kostümen, neben ihm kauern. Sie schluchzen und jammern und
klagen, Thränen rollen über ihre Wangen und benetzen einen Gegenstand,
den sie einander abwechselnd reichen und mit dem Ausdruck des höchsten
Schmerzes an ihre Brust drücken. Bei genauerer Betrachtung sehe ich
zu meinem Entsetzen, daß dies ein blutender Menschenkopf ist. „Mein
Sohn, mein armer Sohn!” klagt fortwährend die ältere der beiden Frauen.
„Mein Gatte!” ruft schluchzend die andere. Der Daimio zwischen beiden
verzieht aber keine Muskel seines Gesichts. Kalt und teilnahmlos läßt
er den Blick über das blutende Haupt seines einzigen Sohnes gleiten,
des letzten Sprossen seiner Familie, der im Kampfe gegen die Armee des
Mikado gefallen war. Auf ein stummes Zeichen von ihm entfernen sich die
beiden Frauen.

Nun erhebt sich der Greis mühsam vom Boden und wendet sich langsam
herum, um zu sehen, ob er wirklich allein sei. Niemand ist da, um Zeuge
seines Schmerzes zu sein. Er atmet hoch auf und wirft sich plötzlich
mit einer unnachahmlichen Gebärde der Verzweiflung über den am Boden
liegenden Kopf. Sein ganzer Körper zittert, sein Greisengesicht ist in
Thränen gebadet, während er das blutende Haupt mit dem wirren Haar und
den verglasten Augen mit beiden Händen erfaßt und weit von sich haltend
lange betrachtet; dann drückt er es an seine Brust und seine Wangen,
verharrt eine Zeit lang in dieser Stellung und sinkt plötzlich wie
leblos zu Boden, während das Haupt aus seinen Händen kollert.

Allmählich kehrt das Leben in den Körper des Greises zurück, er erhebt
sich, seine Augen blicken teilnahmlos und verwundert umher, als
suchte er sich die letzten Momente ins Gedächtnis zurückzurufen, dann
zeigt eine schmerzliche Verzerrung seiner Gesichtsmuskeln, daß er das
Bewußtsein seines entsetzlichen Unglücks wiedererlangt hat. Ein tiefer
Seufzer entflieht seiner Brust, sein Gesichtsausdruck wird ruhiger, ja
es hat den Anschein, als wäre es auch mit seiner Trauer vorbei. Nun
zieht er langsam sein Schwert aus der Scheide und legt es neben sich
auf den Boden; sorgfältig, bedächtig löst er Stück für Stück von seiner
Kriegerrüstung; dann öffnet er die seidenen Untergewänder, läßt sich
auf den Boden nieder, nimmt das Schwert und schlitzt sich damit den
Leib auf. Das Blut entquillt der klaffenden Wunde, der entseelte Körper
fällt zusammen, der alte Daimio hat Harakiri begangen.

Damit schließt das erste Stück, an welchem Danjuro teilnimmt, der
Vorhang fällt, und erleichtert atmen alle auf. Nun begreife ich den
Ruhm des japanischen Salvini, der seit nahezu fünfzig Jahren die
Japaner entzückt und begeistert, gerade so wie vor ihm sein Vater,
sein Großvater und so fort bis zurück in die neunte Generation vor
ihm, eine ganze Dynastie von Danjuros, ein Schauspieleradel, der auf
neun Ahnen zurückblicken kann. Mit dem Leben haben diese letzteren ihm
auch ihre hohe Kunst eingeflößt, sie haben ihn in die Traditionen des
alten klassischen Schauspiels eingeweiht; von Vater auf Sohn sind die
Sitten und Gebräuche der ritterlichen Feudalzeit bis aus die Gegenwart
herabgekommen und mit ihnen auch die alten Kostüme und Trachten, die
Danjuro als die kostbarsten Erbstücke bewahrt und verehrt. In ihm ist
das alte Japan verkörpert, und die Japaner, die ihn sehen, sehen in ihm
ihre eigenen Vorfahren.

Nach kurzer Pause hebt sich der Vorhang wieder, und Danjuro, den wir
eben als alten Ritter bewundert haben, erscheint jetzt als alte Frau.
Mit staunenswerter Kunst hat er sein Gesicht in ein aristokratisches
Frauengesicht verwandelt und trägt das Frauenkostüm mit so viel Anmut,
daß man schwören könnte, eine Frau vor sich zu haben. Sie beweint und
beklagt den Tod ihres Gatten; ihr Sohn steht vor ihr, schmerzerfüllt
über den Verlust des Vaters und entschlossen, sich selbst den Tod zu
geben. Doch seine Mutter ruft ihm mit bewundernswertem Pathos die Worte
zu: „Hab ich dich dafür mit meiner Brust genährt? Ist das in der That
mein Sohn, der sterben will, ohne den Tod seines Vaters gerächt zu
haben?”

Der alte Liebling der Japaner interessierte mich in so hohem Grade,
daß ich mit Freuden den Antrag meines Dolmetschers annahm, das nächste
Stück auf der Bühne zuzubringen und den Künstler persönlich kennen zu
lernen. Aber gerade so wie in manchen anderen Ländern ist auch in Japan
der Künstler vor den Kulissen ein anderer als hinter den Kulissen,
und Danjuro ist ein ebenso eitler Geck wie viele seiner Kollegen in
den uns näher liegenden Ländern. Ja er treibt es mit seinem Ruhme
noch viel ärger. Ihn auf der Bühne oder in seinem Zimmer zu besuchen,
ist nämlich nicht etwa eine Auszeichnung, sondern ein einfaches
Geldgeschäft. Wie man zahlt, um in das Theater zu gehen, so zahlt man
in Japan noch einmal, um die Lieblingsschauspieler des Landes in ihrem
Toilettenzimmer zu sehen und von ihnen empfangen zu werden. Eine ganze
Menge von Bewunderern umstanden den Eingang zu Danjuros Garderobe,
und sein japanischer Impresario war gerade damit beschäftigt, ihnen
gegen Erlag eines mehr oder minder großen Lösegeldes ihre Hüte und
sonstigen Toilettegegenstände, die sie dem Schauspieler in ihrem
Enthusiasmus zugeschleudert hatten, wieder zurückzugeben. Andere hatten
Einlaß in das Heiligtum gefunden, und es war ergötzlich, die tiefen
Verbeugungen und Huldigungen zu sehen, mit denen sie Danjuro begrüßten.
Er selbst nahm diese mit anscheinend gleichgültiger Miene als etwas
Selbstverständliches entgegen. Allmählich wurde er freundlicher, und
als ihm einer seiner Verehrer vermutlich eine besondere Schmeichelei
gesagt hatte, ließ er sich so weit herab, ihn mit einer Nadel aus
seinem Haare zu beschenken; einigen Damen schrieb er seinen Namen
in schwungvollen Zügen auf den dargereichten Fächer, und schließlich
bereitete er sogar eigenhändig Thee zu und reichte den Damen die
kleinen gefüllten Schälchen dar.

Die Zeit verrann, die Besucher verließen die Bühne, und Danjuro mußte
daran denken, seine Toilette für das nächste Stück zu machen. Von
seinem Zimmerchen oberhalb der Bühne konnte er diese ganz übersehen,
und wie eine eigensinnige Primadonna begann er nun seine Anordnungen
herunterzuschreien; nichts schien ihm recht zu sein; nervös ließ
er sich dabei von drei oder vier unterthänigen Dienern die Kleider
ausziehen, schließlich nahm er vor einem großen Spiegel auf dem Boden
Platz, um sein Gesicht zu bemalen. Er sollte zunächst als japanische
Tänzerin auftreten, und mit erstaunlicher Geschicklichkeit schuf er
sich mit einer wachsartigen Salbe eine andere Nase, malte sich neue
Augenbrauen, ließ sich Haar und Chignon zurechtrichten und schließlich
die wunderbarsten Kleider anlegen, die in großen Bambuskörben verwahrt
waren. Danjuros Garderobe hat nicht wenig zu seinem Ruhme beigetragen.
Er besitzt viele Dutzende der kostbarsten alten Kleider aus Brokaten
und anderen Stoffen, die in Bezug auf Qualität, Form und Zeichnung
geradezu einzig sind. Viele sind seit Generationen Erbstücke in
seiner Familie, nicht nur Theaterkleider, sondern wirkliche Rüstungen
und Hofkleider alter Fürsten, die seinen Vorfahren zum Geschenk
gemacht wurden und deshalb neben dem reellen auch historischen Wert
besitzen. Seine Waffen, Pfeifen, Fächer, Ornamente aller Art sind
wahre Prachtstücke, und mit Stolz zeigt er sie zuweilen selbst seinen
Günstlingen oder Schülern. Vor einigen Jahren wurde ein Teil dieser
Garderobe gestohlen. Die ganze Polizei von Tokio wurde aufgeboten,
und nach langen Nachforschungen gelangte man wieder in den Besitz
der gestohlenen Stücke. Als sie aber Danjuro gebracht wurden, wies
er sie stolz zurück; niemals, so äußerte er sich, würde er wieder
Kleidungsstücke anlegen, die durch die Hand von Dieben entweiht worden
wären.

[Illustration: Theaterstraße in Yokohama.]

Der alte Mime hatte die Vorstellung so lange aufgehalten, bis er
mit seiner Toilette fertig war, dafür war auch die Verwandlung in
eine jugendliche Tänzerin so vollkommen, daß ich Danjuro in dieser
niemals wiedererkannt hätte. Wir eilten nach unserer Loge zurück.
Eben geht der Vorhang, ein Geschenk des Königs Kalakaua von Hawai, in
die Höhe; ein halbes Dutzend Trommler erscheinen, gekleidet in die
herrlichsten, blumenbestickten Seidengewänder, Trommeln in der Form
von riesigen Sandgläsern auf dem Rücken, und kauern im Hintergrunde
der Bühne auf dem Boden nieder. Ihnen folgen ebensoviele Musiker mit
dem nationalen Musikinstrument der Japaner, dem Samisen, einer Art
Guitarre. Die Trommler schlagen auf ihre Felle, die Guitarrespieler
zupfen an ihren Samisensaiten, und Danjuro erscheint in geradezu
traumhaft schönen, überreichen Gewändern, feenhaft leicht und graziös,
das Vorbild eines japanischen Gaishamädchens. In der Mitte der Bühne
angekommen, führt der Greis, den wir schon als Daimio und als alte
Frau bewundert hatten, die berühmtesten Tänze der losen Gaishamädchen
auf, wobei es seinem hohen Alter allerdings sehr zu statten kam, daß
die japanischen Ballerinen ihre Tänze mit allen Teilen des Körpers,
nur nicht mit den Beinen ausführen, und daß diese letzteren den
Blicken des Publikums verborgen bleiben. Während unsere Ballettdamen
in Bezug auf die Dekolletierung die äußersten Grenzen des Möglichen zu
erreichen trachten, suchen ihre japanischen Kolleginnen im Gegenteil
so viel der kostbarsten Stoffe als nur möglich auf sich zu häufen
und jeden Körperteil, mit Ausnahme des Gesichtes, der Hände und der
Fußspitzen zu verbergen, die verkehrte Welt. Ein geistreicher Mann
hat einmal ganz richtig gesagt: „~La décense commence, où finit la
beauté!~” Das gilt aber nur für Europäerinnen; ihre japanischen
Schwestern haben das Wort „décence” nicht in ihrem Dictionnaire, denn
dieselben Gaishamädchen, die bei ihren Tänzen ein ganzes japanisches
Modemagazin auf ihr winziges Körperchen laden, baden vielleicht in
ihrem Heimatdorfe auf offener Straße ohne das geringste Feigenblatt.

Danjuro tanzt ein Viertelstündchen lang; dann springt ein
schwarzgekleideter Theaterdiener vor und hält eine Decke mit
ausgestreckten Armen derart vor den Tänzer, daß dieser den Blicken
des Publikums verborgen bleibt. Andere Diener mit schweren Kleidern
auf den Armen erscheinen, und auf der Bühne, während Trommelschlag,
Samisengezupfe und der miauende Gesang eines verborgenen Chors ertönen,
wechselt Danjuro seine Toilette. In dieser, womöglich noch schöneren,
führt er einen zweiten Tanz auf, ebenso graziös, aber ebenso monoton
wie der erste. Ein dritter und vierter folgt, und schließlich kommt
der Knalleffekt, das Auftreten der Damen Fukiko und Dschisuko, der
Töchter Danjuros, als Tänzerinnen in Gemeinschaft mit ihrem Vater. Für
die anwesenden Japaner mögen sie bewundernswerten Reiz und jugendliche
Anmut in noch höherem Grade besitzen als der Vater, uns Europäern sind
diese feinen Unterschiede nicht ganz verständlich. Unseren Begriffen
nach erreicht niemand den alten Danjuro in Gesichtsausdruck, in der
Klarheit und Deutlichkeit der Sprache, bei der jede einzelne Silbe,
jeder Laut seine Bedeutung hat und die so manchem unserer europäischen
Mimen als Muster dienen könnte, schließlich auch in der Pracht der
Kostüme, sowie in der Leichtigkeit und Natürlichkeit, mit welcher
Danjuro sie trägt.

Der alte Knabe nimmt in dem Shintomiza-Theater natürlich die erste
Stellung ein, und seine festen Bezüge sind die höchsten, die je
einem japanischen Schauspieler gezahlt wurden, dreitausend Yen, etwa
sechstausend Mark jährlich. Was mögen unsere Salvinis und Rossis, die
solche Summen für einen einzigen Abend erhalten, dazu sagen? Freilich
tritt Danjuro auch in anderen Theatern Tokios und der Provinzstädte
auf und verdient sich mit derlei Gastvorstellungen, mit Geschenken
und Unterricht vielleicht noch ebensoviel. Die jüngeren Schauspieler
spielen jahrelang ohne irgendwelche Bezüge in seiner Gesellschaft, nur
um von dem großen Meister zu lernen, ja sie zahlen für den Vorzug, mit
ihm auftreten zu können. Durch sie erhält sich auch auf der japanischen
Bühne die alte Ueberlieferung, auf die man im Reiche des Mikado noch
immer große Stücke hält, trotz des modernen Realismus, dessen Hauch mit
der europäischen Kultur auch zu diesen Antipoden gekommen ist und das
japanische Theater zu beeinflussen beginnt.

In seinem Privatleben ist Danjuro ein japanischer Gentleman, dessen
Hauptleidenschaft das Angeln ist. Danjuro ist übrigens nur ein
Theatername, der sich aus dem sechzehnten Jahrhundert von Vater auf
Sohn bis zum heutigen Träger vererbt hat. In Japan führen nämlich
merkwürdigerweise Maler, Schriftsteller und Schauspieler ebenso
angenommene Namen wie bei uns. Seinen Freunden ist Danjuro unter seinem
wirklichen Namen Horikoschi Schu bekannt.

Danjuro ist indessen nicht der einzige Repräsentant aus alten
japanischen Theaterfamilien; allerdings hat keiner eine so große
Zahl von Theaterahnen aufzuweisen wie er, aber doch giebt es einige
Schauspieler, in deren Adern Jahrhunderte altes blaues Komödiantenblut
rollt. So ist der nächst Danjuro beliebteste Schauspieler Genoske
der vierte seines Namens. Auch Sodansche, ein Vetter Danjuros, hat
mehrere Ahnen, aber dennoch werden selbst diese Schauspieler von
der guten Gesellschaft in Japan gemieden und stehen in einer Art
sozialem Bann, gerade so wie unsere eigenen Thaliajünger noch im
vorigen Jahrhundert. Mit den modernen Anschauungen, die heute in Japan
herrschen und immer mehr um sich greifen, dürften auch die Vorurteile
gegen die Schauspieler allmählich verschwinden; mit ihnen wird aber
auch die altjapanische klassische Bühnenkunst verschwinden, deren
hervorragendster Vertreter heute noch der alte Danjuro ist.



[Illustration: Gelegenheitsdichterin. Einübung eines Liedes.]



Litteratur und Zeitungswesen in Japan.


In früheren Zeiten brachte die japanische Litteratur manches Schöne zum
Vorschein; aber man würde weit vom Ziele schießen, wollte man annehmen,
sie hätte sich jemals auf der gleichen Stufe mit der japanischen Kunst
und Kunstindustrie befunden. Wohl reicht sie zurück in jene Zeiten,
als wir Germanen noch Barbaren waren, und hat Werke aufzuweisen, wie
das Koschiki, das aus dem Jahre 712, und das Nihondschi (japanische
Chronik), das aus dem Jahre 720 stammt, aber die Romandichtung hat
sich niemals auf besondere Höhe emporgeschwungen, und man würde gar
nicht fehlgehen, den Roman von Tamenaga Schunsui „Treu bis in den
Tod” nach unseren Begriffen als den besten zu bezeichnen, welchen
die japanische Litteratur besitzt. Er ist auch in Japan selbst der
populärste. Die ersten Dichtungen stammen aus dem elften Jahrhundert,
und merkwürdigerweise waren ihre Verfasser auch in den folgenden
Jahrhunderten bis auf die neuere Zeit hauptsächlich Damen. Griffis
sagt darüber: „Im Mittelalter war es ein Hauptzeitvertreib der
Hofgesellschaft, Gedichte zu schreiben und vorzutragen. Der Kaiser
selbst ehrte eine Dame oft dadurch, daß er ihr ein Thema für ein
Gedicht angab, und ein glücklicher Gedanke, eine wohlklingende Stanze
oder ein hübscher Vortrag genügten, die betreffende Dame zur Ehrendame
des Hofes, zur kaiserlichen Konkubine, ja selbst zur Kaiserin zu
machen. Ein anderes Vergnügen bestand darin, Geschichten zu schreiben
und vorzulesen, und so entstanden die Monogataris, aus welchen wir
das Hofleben Japans im zehnten und elften Jahrhundert kennen lernen;
die Edelleute und Edelfrauen der damaligen Zeit treten vor uns in
all ihrer Frivolität, aber auch mit all der Eleganz ihres damaligen,
in so aristokratischen Kreisen sich bewegenden Daseins.” Wir lernen
aus diesen Schriften ihr Denken, ihre Liebeständeleien, ihre ewigen
Mondlichtschwärmereien kennen, ebensogut wie die Gesellschaften, die
sie veranstalteten, und die Kleider, die sie bei solchen Gelegenheiten
trugen. Das erste aus jener romantischen Zeit stammende Buch ist ein
Märchen, Taketori monogatari, d. h. Die Erzählung vom Bambusflechter,
in welcher die Abenteuer eines Mädchens geschildert werden, das aus
dem Monde nach unserer Erde verbannt wurde. Das bedeutendste und
berühmteste Buch jener Zeit ist das Gendschi monogatari, von Murasaki
Schikibu, der Tochter des Daimio von Etschizen, im Jahre 1004 verfaßt.
Die schönste und reinste Sprache soll in ihren Dichtungen eine
Konkubine des Kaisers, Sei Schonagan, besessen haben, die ebenfalls
im elften Jahrhundert lebte. Die Männer schrieben damals und auch
noch in den späteren Jahrhunderten nicht das reine Japanisch, sondern
gebrauchten zahlreiche chinesische Ausdrücke, wie wir in unserem
Mittelalter Griechisch und Lateinisch gebrauchten. China war das
Griechenland von Ostasien; von dort stammten Wissen, Religion, Künste
und Litteratur; nur die Frauen pflegten die reine japanische Sprache;
einer der besten Kenner der japanischen Litteratur, W. G. Aston, sagt
darüber: „In der Geschichte der Litteratur steht die Thatsache einzig
da, daß der größte Teil der besten litterarischen Leistungen einer
Nation aus der besten Epoche das Werk von Frauen ist.”

Nach der Wiedereinsetzung des Mikado in die weltliche Gewalt war es
das Bestreben der leitenden Staatsmänner, die alten Traditionen wieder
aufzufrischen; einmal in jedem Jahre, gewöhnlich im Januar, wird ein
Thema zur poetischen Bearbeitung ausgeschrieben, und die ganze Nation
kann an diesem Preisdichten teilnehmen. Auch der Kaiser, die Kaiserin
und die höchsten Würdenträger senden ihre Arbeiten ein, die durchweg
aus einunddreißig Silben in fünf Zeilen zu bestehen haben. 1889 war
das Thema: Gebet für die Dynastie in einem Shintotempel, 1890 war es:
Patriotische Glückwünsche, 1891: Die Langlebigkeit des grünen Bambus
und dergleichen. Der bekannteste und gelesenste Novellist Japans ist
wohl Bakin (1767 bis 1848), dem die japanische Litteratur nicht weniger
als zweihundertneunzig Werke verdankt, darunter solche mit Dutzenden
von Bänden. Das bedeutendste Werk dieses fruchtbaren Dichters ist
Hakkenden, d. h. Die Geschichte von acht Hunden, in hundertundsechs
Bänden. Eines der hübschesten von Bakins Büchern heißt „Die Gefangenen
der Liebe” und wurde ganz kürzlich von einem Amerikaner, Edward Grey,
ins Englische übersetzt. Glücklicherweise hat der Uebersetzer die
Eigentümlichkeiten der japanischen Ausdrucksweise so viel wie möglich
beibehalten, vor allem die steifen Höflichkeitsformeln, die sich so
anhören, als ginge die Sprache auf Stelzen. In den „Gefangenen der
Liebe” handelt es sich um zwei Samurai, die gegen die Ehre gesündigt
haben, und um einen Jägersmann, der sich gegen die Religion vergangen
hat, und nicht nur diese drei Personen, auch ihre Kinder werden dafür
vom Zorn des Himmels verfolgt. Der Jäger hatte dadurch, daß er wie ein
Priester betete, den heiligen Hirsch von fünf Farben in den Bereich
seines Bogens gelockt und durch einen gutgezielten Pfeil getötet. Die
beiden Samurai aber hatten ihren Daimio, Nitta Yoschisada, als dieser
mit einem schwachen Gefolge von einem dreitausend Streiter zählenden
Feind angegriffen wurde, nicht verteidigt, sondern waren feige geflohen.

Der ältere Samurai, Ritter Itara Tarago Takeyasu, trat in den Dienst
eines anderen Daimio und heiratete Haschibusa, die Maitresse eines
heruntergekommenen Priesters Namens Saikei, welcher der Sohn des
obenerwähnten Jägers ist. Haschibusa vergiftet ihren Gatten zufällig
dadurch, daß sie eine Eidechse in den Brunnen fallen läßt, aus dem der
Samurai seinen Theetopf füllt. Der jüngere Bruder des Samurai, Ritter
Itara Schiro-Schiro-Takeakira, schwört Rache, und in der Meinung, in
der Dunkelheit den Priester Saikei vor sich zu haben, schlägt er der
Witwe seines Bruders, Haschibusa, den Kopf ab. Er wird wegen Mordes
angeklagt und begeht Harakiri.

Die Frau des Jägers stirbt an demselben Tage, an welchem der Jäger
mit dem toten Hirsch von fünf Farben heimkehrt, und neun Jahre später
stirbt er selbst an Wasserscheu. Ebenso ereilte seinen Sohn ein
unnatürlicher Tod, und jeder, in dessen Besitz das Hirschfell gelangt,
geht elend zu Grunde. Nach vielen Abenteuern wird auch Saikei, der Sohn
des Jägers, von Taye, der Tochter des jüngeren Samurai, ermordet, und
die Geschichte hat damit ihr Ende.

Bakin hat in seine Erzählung auch übernatürliche Elemente
eingeflochten. Saikei hat einmal den Donner aus den Aesten eines Baumes
befreit, in welche sich dieser verfahren hatte. Dafür schützt ihn die
Frau des Donners eine Zeitlang vor den Verfolgungen der Taye; ja sie
läßt ihn sogar während einer zeitweiligen Erlahmung des Donners dessen
Platz in den Wolken einnehmen.

Sehr naiv sind die vielen Randbemerkungen, welche Bakin seiner
Erzählung beifügt. So sagt er vom Donner ganz ernstlich: „Die Erde ist
voll von Schwefel und Salpeter, die in Form von Dunst emporsteigen
und oben sich vereinigend zu Dampf werden, der die Eigenschaften von
Schießpulver hat. Wenn dieser Dampf sich der Sonnenhitze zu sehr
nähert, so entzündet er sich plötzlich, und die Explosion wird in der
ganzen Welt gehört.”

An einer anderen Stelle, wo er von Mord und Totschlag seiner
Romanhelden erzählt, sagt er in einer Randnote: „Es ist manchmal
schwer, die Sucht, Böses zu stiften, zu beherrschen, aber wenn Du
Dich (Leser) nur ernstlich bestrebst, gut zu sein, so wird es schon
gelingen. Ich wünsche sehr, daß dies geschähe. Bakin.”

Nächst Bakin und Tamenaga Schunsui wird wohl Schippenscha Ikku der
geistvollste moderne Romanschreiber sein; seine Dichtung Hiza Kurige
zählt zu den ersten Meisterwerken der japanischen Litteratur. Ikku
schildert darin mit sehr viel Humor die Abenteuer zweier armer
Schlucker, welche zu Fuß den weiten Weg auf dem Tokaido von Kioto nach
Tokio zurücklegen.

Im ganzen und großen ist die Romanlitteratur Japans lange nicht
so reichhaltig, als man in Europa anzunehmen scheint, und nur die
wenigsten Werke sind für Europäer wirklich ansprechende Lektüre. Unter
ihnen nimmt gerade der eben in deutscher Uebersetzung erschienene
Roman von Tamenaga Schunsui, wie gesagt, die erste Stelle ein, weil
er auf den erhebendsten Ereignissen der japanischen Geschichte fußt,
und die Japaner können von Glück sagen, daß sie gerade mit diesem
Roman in der europäischen Leserwelt debütierten. Der weitaus größte
Teil der japanischen Romane sind eher Ammenmärchen oder abenteuerliche
Geschichten für Schuljungen. Basil Hall Chamberlain, Professor an der
kaiserlichen Universität von Tokio und auch von den Japanern als der
beste Kenner ihrer Litteratur angesehen, sagt darüber den Japanern
ins Gesicht: „Es finden sich in ihren Erzählungen manche hübsche und
geistreiche Stellen; sie sind auch von großem Werte für Philologen,
Archäologen, Geschichtsforscher, aber vieles, was die Japaner in ihrer
Litteratur am höchsten schätzen, ist nach europäischem Geschmacke
unausstehlich fade und nichtssagend. Die Romane sind ebenso langweilig
wie die Geschichtswerke, und viel zu langatmig.” An einer anderen
Stelle sagt Chamberlain gerade von dem Meister des japanischen Romans,
von Bakin: „‚Wie unnachahmlich!‘ rufen die Japaner entzückt von
Hakkenden, einem Roman, den jeder gelesen und wiedergelesen hat, bis
er ihn beinahe auswendig kennt. ‚Wie ausgezeichnet!‘ Ausgezeichnet,
ja, antwortet der Europäer, ausgezeichnet zum Einschlafen, mit
seinen langweiligen Schilderungen unmöglicher Abenteuer, die sich
durch hundertundsechs Bände winden. Die japanische Litteratur ist
ohne Genius, ohne Gedanken, ohne Logik, Tiefe und Breite, ohne
Vielseitigkeit.”

Das ist das Urteil jenes Gelehrten, der in seiner Stellung am ersten
berufen ist, ein solches zu fällen. Die Japan-Enthusiasten, die alles
in den Himmel erheben, was aus Japan kommt, was Japan thut und Japan
läßt, können aber auch andere anerkannte Autoritäten zu Rate ziehen,
sie werden überall das gleiche Urteil finden, Satow, Griffis, Aston und
so fort. Vielleicht werden diese Enthusiasten erwidern, daß die moderne
japanische Litteratur seit der Restauration des Mikado zu größeren
Hoffnungen berechtigte. Chamberlains Urteil ist in dieser Hinsicht
geradezu vernichtend. In seinen Things japanese, ein Buch, das 1891
in Yokohama erschienen ist, heißt es darüber in sehr bemerkenswerter
Weise:

„Die Eröffnung des Landes (der europäischen Kultur) hat der
eigentlichen japanischen Litteratur den Todesstoß versetzt. Wohl
verlassen die Presse jährlich Tausende von Büchern und Broschüren,
also vielleicht mehr als jemals zuvor. Aber die Mehrzahl davon sind
Uebersetzungen europäischer Werke oder Bücher, von europäischen Ideen
beeinflußt. Das ist auch natürlich und ganz in Ordnung. In jedem
Wissenszweig wird von der gegenwärtigen Schule europäisierter Autoren,
wie Fukuzawa, Nischi Schu, Kato Hiroyuki, Toyama Masakazu und anderen
ungemein viel den Japanern zugänglich gemacht. Aber natürlicherweise
interessieren diese Uebersetzungen, Umschreibungen und Nachahmungen
den europäischen Leser, dem die Originalwerke zur Verfügung stehen,
viel weniger als die japanischen Bücher des alten Regime. Selbst die
japanische Romanschreiberei geht nun nach europäischem Muster von
statten. Nicht nur Methoden werden im Bausch und Bogen angenommen,
sondern ganze Geschichten, und die europäischen Namen werden in
japanische umgewandelt, z. B. Schmidt in Schimidu, Elisa in O Riza
und andere. Europäische lokale Verhältnisse werden den japanischen
Verhältnissen angepaßt.... Wir würden gerne zehntausend gegen eins
wetten, daß nicht ein einziger Leser dieses Buches (Things japanese)
jemals den Helden des volkstümlichsten Romans erraten würde, das unter
dem gegenwärtigen Herrscher erschienen ist. Er ist Epaminondas. Das
fragliche Werk nimmt sich unter dem Titel Keikoku Bidan das ganze
Feld der thebanischen Politik zum Vorwurf. Ein Grund der ungeheuren
Verbreitung des Werkes ist wohl der, daß nicht wenige Stellen des
Inhalts ohne viel Schwierigkeit auf die moderne japanische Politik
gedeutet werden können. Der Verfasser, Yano Fumio, hat sich aus dem
Ertrag des Buches ein schönes Haus gebaut und eine Reise nach Europa
unternommen.”

„Eine andere erfolgreiche Novelle, Kaschin no Kigu, beginnt im Kapitol
zu Washington, wo ein Japaner seinem Begleiter die amerikanische
Unabhängigkeitserklärung vorliest. Die Karlisten, die schlimmen
Engländer, welche die Aegypter ihres eingeborenen Helden Arabi Pascha
beraubten, alles das erscheint in kaleidoskopartiger Mannigfaltigkeit
in diesem Werke, das, merkwürdig genug, im klassischen chinesischen
Stil geschrieben ist.”

So weit Professor Chamberlain. Freilich wäre es doch möglich, daß
gerade wegen der so weitgehenden, um nicht zu sagen, ausartenden
Europäisierung der japanischen Litteratur eine Gegenströmung zum
Vorschein käme, wie ich sie in Japan in Bezug auf Kleidung, Manieren,
Kunst, Theater vielfach bemerkt habe. Es bestehen jetzt schon eine
Anzahl Vereine zur Pflege der alten Traditionen, zur Erhaltung
des geschichtlichen vormärzlichen Japan, wenn man so sagen darf.
Aber es ist doch eine eigene Sache, wenn eine Litteratur wie eine
Treibhauspflanze künstlich gepflegt und erhalten werden muß. Der innere
Wert, die auf dem Leben und Treiben des Volkes ruhende Grundlage,
Kraft und Saft, fehlen gewöhnlich derartigen Erzeugnissen, und wird
schwerlich mehr in Japan ein zweiter Sumschin, ein zweiter Bakin
kommen. Kommt er aber, so wird auch sein Geist, gerade so wie er
selbst, europäische Formen zeigen.

Zum Schlusse noch ein Wort über die japanischen Bücher. Bei Romanen
und Novellen, Märchen und alten Geschichtswerken wird auch heute noch
die alte Form angewendet; die Papierbogen, lange Streifen, werden nur
auf einer Seite bedruckt und dann in dem Format unserer Bücher so
zusammengefaltet, daß die bedruckten Seiten die Außen-, die leeren die
Innenseiten bilden. Dann werden diese gefalteten Bogen mit Bindfaden
zusammengeheftet, und ein dünner Umschlag wird darübergeklebt. Würde
man die Blätter aufschneiden, so würden auf diese Weise immer zwei
bedruckte und zwei leere Seiten einander folgen. Aber die Blätter
der japanischen Bücher werden nicht aufgeschnitten. Umschläge und
Text sind sehr häufig in künstlerischer Weise mit farbigen Bildern
ausgestattet. Die Seiten sind nicht numeriert, und wie bei arabischen
und chinesischen Werken befindet sich der Titel auf der letzten
Seite. Das Papier ist viel leichter, fester und weicher als jenes der
europäischen Druckwerke. In neuester Zeit ist weiches, geripptes Papier
für Märchenbücher und ähnliche Druckwerke sehr beliebt geworden. Die
eigentümlichen, crêpeartigen Rippen werden dadurch hergestellt, daß
die bereits gedruckten Bogen über Bambusstäbe gepreßt werden, deren
Faserzeichnung das Papier dadurch annimmt.

Die wissenschaftlichen Werke, Uebersetzungen europäischer Werke und
auch manche einheimische werden in den letzten Jahren ganz so gedruckt
und gebunden wie die europäischen Originale: steifer Deckel und
Leinwandrücken mit Golddruck.

Ueberraschend schnell hat sich in Japan das +Zeitungswesen+
entwickelt. Im Jahre 1864 wurde das erste Blatt in japanischer Sprache
gegründet und hatte in der ersten Zeit mit großen Schwierigkeiten zu
kämpfen. Dennoch entstanden bis zum Jahre 1874 weitere zehn Zeitungen,
die indessen nicht regelmäßig erschienen und keine selbständigen
Nachrichten, sondern nur Uebersetzungen aus den englischen
Tagesblättern brachten. Redakteur und Herausgeber, Nachrichtensammler,
Drucker und Austräger waren in einer Person vereinigt. Erst nach
der Revolution, mit dem Beginn der neuen Aera, entwickelte sich das
Zeitungswesen und umfaßt heute 600 regelmäßig erscheinende Blätter.
Tokio allein hat über zwanzig Tagesblätter mit zusammen einer
Viertelmillion Auflage, ferner 130 Wochen- und Monatsschriften mit
zusammen einer halben Million Auflage.

Unter den bedeutenden einheimischen Tageszeitungen steht der offiziöse
Nitschi Nitschi Schimbum (Die neuesten Nachrichten) an der Spitze. Er
beschäftigt über hundertundfünfzig Personen, darunter einen Chef-,
einen politischen, fünf Hilfsredakteure, zwölf Berichterstatter, zwei
Stenographen, nur vier Setzer, deren jeder allerdings mehrere Gehilfen
hat, dagegen zwölf Drucker. Wie bei fast allen japanischen Blättern
bildet auch bei diesem das Reportertum den wundesten Punkt. Da die
Reporter nach der Zeile bezahlt werden, und zwar sehr schlecht, so
besteht der größte Teil der von ihnen berichteten Neuigkeiten aus
Gebilden der eigenen Phantasie. Trotzdem verdienen sie durchschnittlich
nur vierzig Mark monatlich. Sehr hervorragend sind unter den
hauptstädtischen Zeitungen ferner der radikale Dschidschi Schimpo
(Unsere Zeit) und der Hotschi Schimbun, das Organ des Grafen Okuma. Der
Dschidschi Schimpo hat die Besonderheit, fortwährend große Reformpläne
vorzubringen, die sich auf dem Papier sehr gut ausnehmen, denen es aber
an Berührungspunkten mit dem praktischen Leben fehlt.

Großes Ansehen genießen auch der liberale Mainitschi Schimbun
(Tägliche Neuigkeiten), der Herrn Nüma gehört, dem Vorsitzenden des
Parlaments, dann der ebenfalls freisinnige Tschoja Schimbun (Amts- und
Volksnachrichten), der konservative Tokio Dempo (Jedoer Telegraph),
welcher als das Organ des früheren Handelsministers Generals Tami gilt,
endlich der radikale, von einem japanischen Mitglied des britischen
Barreaus redigierte Koran Schimpo (Oeffentliche Meinung), das
Sprachrohr des Chauvinisten Grafen Itagaki und des Grafen Goto, eines
strebsamen Politikers, der sich seit längerer Zeit vergeblich bemüht,
die Führerschaft der radikalen Opposition zu erhalten. Uebrigens decken
sich die Ausdrücke liberal, radikal, freisinnig in ihrer Anwendung
auf japanische Zeitungen und Politiker vorläufig noch nicht mit dem,
was man in Europa unter denselben versteht, denn einstweilen hat der
blutjunge Parlamentarismus des Mikadolandes noch nicht zur endgültigen
Bildung von bestimmten Parteien geführt.

Die Zensur ist zwar abgeschafft, aber die Presse hat, wie in
Rußland, nicht wenig von den Behörden zu leiden. In einem Saale des
Polizeigebäudes von Tokio sitzen zahlreiche Beamte, denen die Aufgabe
obliegt, sämtliche einheimische Preßorgane nach Erscheinen auf
Gesetzwidrigkeiten hin zu prüfen. Hat einer der mit Schere und Rotstift
bewaffneten Herren etwas Verdächtiges erspäht, so legt er es seinem
Chef vor, der seinerseits mit der Regierung sich ins Einvernehmen
setzt. Wird es höhern Orts gewünscht, so ladet man den betreffenden
Redakteur höflichst ein, bei der Polizei zu erscheinen, wo er dann ohne
Umschweife die freundliche Mitteilung erhält, sein geschätztes Blatt
sei auf so und so viele Tage und Wochen verboten. Nicht immer bleibt es
bei dem Verbote, häufig kommt es auch zur gerichtlichen Verurteilung,
zu Gefängnis. Um sich dieser Unannehmlichkeit zu entziehen, stellen
viele Redakteure, was ja auch anderswo vorkommen soll, Strohmänner an,
die gegen geringe Bezahlung und in Anbetracht eines beneidenswerten
Müßigganges den Verantwortlichen spielen.



[Illustration: Scene aus dem Kriege Japans gegen China:

Fünf japanische Pioniere schlagen über hundert chinesische Soldaten in
die Flucht.]



Das Heerwesen der Japaner.


Es mag sein, daß sich die Japaner, als sie den tollkühnen Entschluß
faßten, den chinesischen Koloß zu bekriegen, nicht ihre eigenen
Erfahrungen vor Augen hielten, sondern jene der Franzosen und
Engländer, die dasselbe Wagnis noch unter viel ungünstigeren Umständen
und mit noch viel geringeren Mitteln ausführten. Zehntausend Franzosen
und Engländer waren vor etwa vier Jahrzehnten im stande, selbst
Peking einzunehmen und den Chinesen in ihrer eigenen Hauptstadt den
Frieden zu diktieren. In ihrem Dünkel hielten die Japaner ihre Truppen
thatsächlich jenen der europäischen Mächte für gleichwertig, und
möglicherweise sagten sie sich, wenn so geringe Truppenmengen aus so
großen Entfernungen derartige Erfolge zu erzielen vermochten, so konnte
der Sieg der so viel größeren Armee ihres, China so nahe gelegenen
Heimatlandes nicht ausbleiben.

In der That haben die Japaner in der Organisierung und Ausbildung ihrer
kleinen Armee Staunenswertes geleistet, ja, wer die japanischen Truppen
auf dem Exerzierplatz oder auf dem Manöverfeld gesehen hat, dem muß
es geradezu unglaublich erscheinen, daß dieselben Leute, die heute so
stramm und nach allen Regeln europäischer Kriegskunst exerzieren, noch
vor fünfunddreißig Jahren in mittelalterlichen Rüstungen steckten,
daß sie an Stelle von modernen Hinterladergewehren und gezogenen
Feldgeschützen mit Bogen und Pfeil bewaffnet waren.

Die Zustände in Japan waren damals jenen ähnlich, die in Deutschland
vor der Erfindung des Schießpulvers herrschten. Das Land war in den
Händen der feudalen Edelleute, die in ihren Ritterburgen saßen und
ihre eigenen Fähnlein von Knappen und gerüsteten Kriegsleuten, die
Samurai, unterhielten. Jeder dieser Daimios war ein kleiner, nahezu
unabhängiger Fürst, der Kaiser aber war machtlos. Heute ist er der
Herrscher, die Daimios sind mediatisiert, ihre Staaten sind in Dai
Nipon, d. h. Großjapan, aufgegangen, ihre Armeen aufgelöst, und die
alten Samurai stecken in Uniformen nach europäischem Muster.

Wenn man heute in Japan einer, wenn auch kleinen, so doch vollständig
modernen Armee begegnet, die innerhalb der letzten zwanzig Jahre
geschaffen wurde, wenn man erfährt, daß ihre Bewaffnung und Ausrüstung
im Lande gefertigt und dort große Arsenale, Schiffbauwerkstätten,
Militärschulen und Akademien sozusagen aus dem Boden gestampft wurden,
so muß dies bei dem militärischen Fachmanne gerechtes Erstaunen, wenn
nicht Bewunderung erwecken. Aber die Leistung ist in Wirklichkeit
noch großartiger, als sie für den ersten Augenblick erscheint; denn
die Soldaten hatten nicht etwa wie unsere Rekruten den Zivilrock aus-
und den Militärrock anzuziehen. Sie mußten, figürlich gesprochen, die
altjapanische Zivilisation ausziehen und in die moderne europäische
Zivilisation hineinschlüpfen, denn das moderne Soldatentum ist mit den
alten Sitten und Trachten der Japaner vollständig unverträglich. Bei
den alten Samurai und Daimios war der asiatische, streng ausgesprochene
Kastengeist seit vielen Generationen in Fleisch und Blut übergegangen.
In die moderne Armee eintretend, fanden sich viele Samurai plötzlich
ihren einstigen Untergebenen untergeordnet. Anscheinend war dies ein
geradezu unübersteigbares Hindernis für die Disziplin des Heeres. Die
übergroße, für europäische Augen geradezu lächerliche Höflichkeit der
alten Zeit ist bis auf den heutigen Tag in Japan allgemein wahrnehmbar.

Unter Männern verschiedener, nie gleicher Stellung herrscht ein
fortwährendes Verbeugen und Komplimentieren, der Untergebene wirft sich
vor dem Höheren bei Besuchen in seinem Hause auf die Knie und berührt
mit der Stirn den Boden. Gestern that er es noch und heute, nachdem
er den Soldatenrock angezogen, soll er stramm und steif vor demselben
Höheren dastehen und möglicherweise ihm scharf ins Auge blicken.
Gestern bestand seine einzige Kleidung in einem losen, an den Hüften
umgürteten Schlafrock, dem Kimono, und einem Paar Schlappschuhen oder
Strohpantoffeln. Hals und Brust, Arme und Beine waren bloß. Heute hat
er die stramme Militäruniform zu tragen mit dem beengenden Halskragen
und den vielen, ihm vollständig ungewohnten, ja sogar unbekannten
Knöpfen; statt des leichten Strohhutes muß er den schweren Tschako,
statt des kleinen Fächers das Gewehr, statt der Strohpantoffel die
schlimmsten Marterinstrumente der Japaner, Röhrenstiefel, anziehen, in
denen er sich fühlen muß wie in den spanischen Stiefeln der Inquisition.

Gestern schlüpfte er beim Betreten eines Hauses aus seinen
Strohpantoffeln und betrat die schönen reinen, teppichgleichen Matten
mit bloßen Füßen oder in Strümpfen. Heute wird nun gerade das
Gegenteil von dem Soldat gewordenen Japaner verlangt: er darf seine
Stiefel nicht ausziehen, wenn er Wohnräume betritt. Gestern waren ihm
Tische und Stühle unbekannte Dinge. Er saß und lag und aß auf dem
Boden. Heute muß er auf Betten liegen, auf Stühlen sitzen, an Tischen
seine Mahlzeiten einnehmen.

Diese wenigen Beispiele genügen, um zu zeigen, daß der Japaner beim
Eintritt in die Armee seine ganze bisherige Lebensweise, ja sein
Japanertum aufgeben muß, und es kann der japanischen Armee deshalb kein
größeres Kompliment gemacht werden, als wenn gesagt wird, daß sie sich
diesen ihr fremden, steifen, ja geradezu abstoßenden Vorschriften ohne
Murren fügte und daß Insubordination nur selten vorkommt. Wie ich von
europäischen Offizieren in Japan erfuhr, sind in den Kasernen gar keine
Arrestlokale vorhanden; die wenigen, die hie und da zu finden sind,
stehen meistens leer. Die Leute gewöhnen sich überraschend schnell an
die europäisch-militärische Erziehung, sie lernen rasch und sehen in
den reinlich gehaltenen, gut sitzenden Uniformen ganz martialisch aus.

Diese Thatsachen sind viel überraschender als das Vorhandensein der
europäischen Militäreinrichtungen selbst. Die letzteren wurden einfach
mit affenartiger Leichtigkeit und Genauigkeit Europa abgelernt. Die
Japaner schickten zahlreiche Offiziere und Techniker nach Europa, wo
ihnen mit etwas zu weit gehender Liebenswürdigkeit Thüren und Thore
geöffnet wurden; sie beriefen Offiziere aus den europäischen Armeen,
Ingenieure und Werkleute aus den europäischen Arsenalen, erwarben
europäische Waffen, Gewehre, Geschütze, Ausrüstungsgegenstände,
Maschinen und dergleichen, aber diese letzteren wurden nicht etwa in
der erforderlichen Zahl bezogen, sondern nur als Modelle, um darnach
andere in Japan selbst herzustellen. Die Europäer zeigten ihnen das
Wie, und als die Japaner ihnen alles genau abgeguckt hatten, gab man
den Europäern den Laufpaß. Selbst mit den Patenten wurde weitgehender
Mißbrauch getrieben; man veränderte nur irgend einen Bestandteil
und gab dann den betreffenden Gegenstand als eigene Erfindung aus.
So z. B. ist die Infanterie mit Hinterladergewehren System Murata
bewaffnet, die nichts anderes sind als französische Grasgewehre, von
dem findigen japanischen Oberst Murata etwas verändert. Dank diesem
recht fragwürdigen Vorgehen findet man heute in Tokio ein Arsenal,
das vollständig den europäischen Waffenfabriken nachgemacht ist, und
das von den Japanern mit so viel Stolz gezeigte Arsenal in Osaka ist
im ganzen wie in allen Details eine verkleinerte Kopie des Arsenals
von Woolwich; dieselbe Einteilung, dieselben Maschinen, dieselbe
Arbeit, nur daß sich die guten Japaner aus anderen Arsenalen die
modernsten Erfindungen und Verbesserungen absahen oder vielmehr
abstahlen und in Osaka zur Anwendung brachten. Der Europäer aber, der
diese Kriegswerkstätten, diese Militärschulen und Akademien, diese
Kasernen und militärischen Einrichtungen besichtigt, wird von den
stolzen Japanern mit dem Zaunpfahl eingeladen, alles rückhaltlos zu
bewundern, und sie sind höchst ungehalten, wenn man ihnen vorwirft, daß
das alles andere, nur nicht japanisch ist. Dank der Nachsicht und dem
Entgegenkommen der europäischen Militärbehörden ist es den Japanern
gelungen, diese letzteren und damit auch die europäischen Industrien
über den Löffel zu barbieren. Mit diesen geborgten Einrichtungen haben
die Japaner nun ein vortreffliches Heer geschaffen, das auf allgemeiner
Wehrpflicht fußt. Vom siebzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahre ist
jeder Japaner auf Grund der 1889 etwas umgeänderten Militärgesetze des
Jahres 1872 wehrpflichtig. Die Armee besteht aus dem stehenden Heere,
der ersten Reserve, der zweiten Reserve und der Territorialarmee. In
dem stehenden Heere beträgt die Dienstzeit drei Jahre, in der ersten
und zweiten Reserve vier Jahre und in der Territorialarmee fünf Jahre.
Die letztere wird nur im Kriegsfalle einberufen, die erste und zweite
Reserve nur während sechzig Tagen im Jahre.

Nun beträgt die festgesetzte Friedensstärke der Armee auf dem Papier
etwa 70000, in Wirklichkeit aber nur 40000 Mann. Bei einer Bevölkerung
von 41 Millionen Seelen werden jedoch im Jahre über 200000 junge Leute
dienstpflichtig. Was geschieht mit den Ueberzähligen?

Vor allem wurde das System der Einjährig-Freiwilligen ganz nach
deutschem Muster eingeführt; ferner werden vom aktiven Militärdienst
ausgenommen: Personen, die unter 4 Fuß 11½ Zoll groß sind, und das
scheidet bei der kleinen Körperstatur der Japaner schon einen ganz
beträchtlichen Prozentsatz der Rekruten aus.

Ebenso sind vom aktiven Dienste befreit: Familienhäupter, Priester,
Lehrer und Schüler der von der Regierung anerkannten Bildungsanstalten,
Aerzte und Regierungsbeamte, deren Dienst nicht von Stellvertretern
besorgt werden kann; einer von zwei gleichzeitig einberufenen Brüdern
oder ein Mann, dessen Bruder dient oder der einen Bruder im aktiven
Dienste verloren hat.

Diese Ausnahmen erreichen im Jahre durchschnittlich vierzig Prozent
der Stellungspflichtigen, da aber noch immer nahezu dreimal so viel
Rekruten als erforderlich zur Verfügung bleiben, so wird eine durch das
Los bestimmte Anzahl nur für ein Jahr dem aktiven Dienste einverleibt
und dann in die erste Reserve versetzt.

Der Oberstkommandierende der Armee ist der Kaiser, dem als
Generalstabschef der Marquis Oyama zur Seite steht und der
gewissermaßen als Armeechef anzusehen ist. Die Organisation und
Verwaltung der Armee untersteht dem Kriegsministerium. Die stehende
Armee ist in 12 Divisionen eingeteilt, deren Hauptquartier in
verschiedenen Hauptstädten des Inselreiches liegt. Jede Division
besteht aus 2 Infanteriebrigaden, 1 Kavallerie- und einem
Feldartillerie-Regiment, dann je 1 Genie- und Trainbataillon;
jede Brigade aus 2 Infanterieregimentern zu 3 Bataillonen mit je
4 Kompagnien. Ein Infanterieregiment besteht aus 1 Oberst oder
Oberstleutnant, 4 Majoren (von denen einer im Stabe), 1 Adjutanten, 12
Hauptleuten als Kompagniechefs, 27 Leutnants, von denen je 2 in einer
Kompagnie und 3 im Stabe, 25 Fähnrichen, 15 Feldwebeln, 82 Gunso oder
Obersergeanten, 48 Sergeanten, 192 Korporalen, 432 Soldaten erster
und 816 Soldaten zweiter Klasse. Hierzu kommen 65 Nichtkombattanten,
darunter Zahlmeister, Aerzte, Krankenpfleger, Rüstmeister, Handwerker
und dergleichen und 14 Pferde, zusammen also 1720 Mann und 14 Pferde.

Im Kriege wird das Regiment auf 2880 Mann gebracht.

Ein Kavallerieregiment besteht aus 3 Schwadronen mit je 159 Offizieren
und Soldaten und 135 Pferden, in Kriegsstärke mit 189 Mann und 145
Pferden. Die Artillerie ist in Brigaden zu je 2 Batterien mit 4
Geschützen eingeteilt, und jede Brigade besteht in Kriegsstärke aus 10
Offizieren und 326 Mann mit 12 Geschützen und 258 Pferden.

Im Kriege kommen zu den einzelnen Divisionen noch 1 Pionierkompagnie
mit Brückenequipagen und dergleichen, ferner je 1 Sanitäts-
und Feldtelegraphenabteilung; ein Pferdedepot, Munitions- und
Verpflegungskolonnen, endlich eine Anzahl Ambulanzen. Die
Truppenergänzung geschieht durch 24 über das ganze Land verteilte
Depotsbataillone der aktiven und 12 der Territorialarmee. Die
letztere stellt im Kriege 12 Infanterieregimenter, ebensoviele
Kavalleriepeletons und Geniekompagnien mit der entsprechenden Menge der
anderen Waffengattungen.

Die Kriegsstärke der japanischen Armee mit Ausschluß der
Territorialarmee wird von den Japanern wie folgt angegeben:

                    Aktiv       Beide Reserven      Zusammen

    Infanterie      38089           64293            102382
    Kavallerie        671             788              1459
    Artillerie       3817            4064              7881
    Pioniere         1708            1814              3522
    Train             548           54458             55006
    Gendarmerie      1435               1              1436
                   ----------------------------------------
          Zusammen: 46268          125418            171686,

davon Stabsoffiziere 450, Oberoffiziere 3360, Unteroffiziere 10391; die
Zahl der Feldgeschütze ist 252.

In den vorstehenden Zahlen dürfte dem militärischen Fachmanne wohl
die geradezu verschwindend kleine Kavallerie am auffälligsten sein.
Allerdings ist dieselbe, wie ich höre, in den letzten Jahren auf über
3000 Mann gebracht worden, doch beträgt sie im Verhältnis auch dann nur
ein Zehntel der Kavallerie in den europäischen Heeren. Erklärlich wäre
dieses Mißverhältnis im Falle eines feindlichen Angriffes auf Japan, da
das Land größtenteils aus Gebirgen und sumpfigen Reisfeldern besteht,
Kavallerie also nicht entfernt in ähnlichem Maße verwendet werden kann
wie in Europa. Für einen auswärtigen Krieg aber, wie der jüngste in
China, ist die japanische Kavallerie absolut unzulänglich, einer der
größten Nachteile, unter denen die Japaner zu leiden gehabt haben.

Soweit eine Reiterei in Japan vorhanden ist, wird sie von europäischen
Fachleuten günstig beurteilt. Die Reiter sind nett uniformiert,
sehen gut aus, sitzen stramm auf den kleinen, aber kräftigen Pferden
und exerzieren gut. Auffällig ist hier, wie auch bei den anderen
Waffengattungen, die geringe Verwendung von Trompetensignalen; die
Kommandos werden hauptsächlich durch Säbelsignale gegeben; außer dem
Säbel führen die Reiter der Gardekavallerie Lanzen, jene der Linie
Muratakarabiner.

Die Pferde werden mit vier Jahren in den Dienst gestellt und
durchschnittlich mit sechzehn Jahren ausgeschieden. Der Kaufpreis
beträgt etwa 280 Mark. Seit neuester Zeit ist das deutsche Hufeisen als
Beschlag eingeführt, auch erhalten die Pferde jetzt im Stalle Streu,
während sie bisher auf dem nackten Holzboden standen, aber nicht mit
dem Kopfe gegen die Stallwände, sondern, wie ich es auch in China
und Korea wahrgenommen, mit dem Kopfe gegen den mittleren Durchgang,
resp. nach außen gewendet, wodurch sie entschieden mehr Luft und Licht
genießen als europäische Pferde. Die Stallungen sind auch viel höher
und breiter, die Abteilungen viel geräumiger als in Europa.

Die Infanterie wird von Fachleuten ebenfalls sehr gelobt; obschon in
Statur viel kleiner als europäische Soldaten, sehen die Leute doch
stramm und kriegerisch aus, halten sich und marschieren gut, führen
Bewegungen mit Sicherheit und Verständnis aus und handhaben ihre
Waffen auf dem Exerzierplatz wie bei Schießübungen überraschend gut.
Auffällig ist es, daß sie beim Bajonettfechten, ebenso wie die Reiter
beim Säbelfechten, Ausfälle oder Paraden mit Schreien begleiten. Der
Dienst wird sehr streng gehandhabt, entschieden strenger als in manchen
europäischen Armeen, und die Leute dürfen nur zweimal in der Woche
die Kaserne verlassen. Dafür ist in diesen Kasernen alles mögliche
geschehen, um die Soldaten bequem unterzubringen. Die Schlafsäle,
gewöhnlich für zwanzig bis dreißig Mann bestimmt, sind hoch, luftig,
licht, geräumig, mit erträglichen Betten und Kopfbrettern und
hinreichend Tischen und Bänken, alles von peinlichster Sauberkeit. Jede
Kaserne ohne Ausnahme hat Krankenzimmer und eigene große Badehäuser mit
heißem und kaltem Wasser, wo die Soldaten nach Belieben täglich zwei-
oder dreimal baden können, ein Luxus, der bei uns nur den wenigsten
vergönnt ist. Auch die Küche ist von besonderer Sauberkeit, allerdings
keine außerordentliche Leistung, wenn man die überaus einfache Kost
der japanischen Soldaten berücksichtigt. Fleischspeisen erhalten
sie überhaupt nicht, ebensowenig Brot in unserm Sinne als tägliche
Nahrung. An ihre Stelle treten dreimal am Tage gekochter Reis mit etwas
Gemüse, die großen weißen Rettiche, Daikon genannt, und allenfalls zur
Abwechslung Bohnen oder getrocknete Fische. Ihre Löhnung, nach allen
Abzügen etwa zwei Yen (nach dem heutigen Kurse ungefähr vier Mark),
wird ihnen monatlich ausbezahlt.

Von allen Waffengattungen wird die Artillerie am meisten gelobt.
Ein englischer Artilleriemajor, namens Henry Knollys, erlaubt sich
in seinem Buche „Life in Japan” folgendes, von englischem Dünkel
diktiertes Urteil über dieselbe: „Sie ist in keiner Hinsicht auch
nur annähernd so gut wie die englische Artillerie, aber soweit die
Beurteilung in Friedenszeiten überhaupt möglich ist, werden die
japanischen Feldbatterien im Vergleich mit jenen Frankreichs, Belgiens
oder Deutschlands nicht zurückzustehen brauchen.” Ihre Geschütze
sind 7½-Centimeter-Hinterlader aus der Uchatiusschen Stahlbronze
im Arsenal von Osaka hergestellt und mit je sechs Pferden bespannt.
Die Geschütze sind nicht aus blankem Metall, sondern mit japanischem
Lack überzogen. Als Bedienungsmannschaft sind für jedes Geschütz fünf
Kanoniere und ein berittener Unteroffizier vorhanden.

Das Offizierkorps der Japaner verdient alles Lob; viele Offiziere
haben in europäischen Armeen gedient und sprechen eine der drei
europäischen Hauptsprachen, wie ich es selbst unter den Offizieren
der in Korea stehenden Division erfahren habe. Diese Division war die
erste, welche seit der Neuorganisierung der japanischen Armee auf
den Kriegsfuß gebracht wurde, und ich fand all das auf dem Papier
verzeichnete Material thatsächlich vorhanden. Die Pioniere führten
ihr ganzes Brückenmaterial mit sich, eine Telegraphenabteilung legte
während meines Rittes von der Hauptstadt Söul nach Chemulpo den
Feldtelegraphen, auf dem Wege fand ich Munitions- und Sanitätskolonnen,
die Batterien hatten ihre sechs Geschütze und ihren ganzen
vorgeschriebenen Bestand, das ganze Korps machte überhaupt einen
vortrefflichen Eindruck.

Deshalb ist auch die Armee in Japan, im Gegensatz zu China, sehr
beliebt und geachtet. Von seiten wohlhabender Bürger geschieht schon
im Frieden vieles, um das Los der Vaterlandsverteidiger zu verbessern,
aber während des Krieges mit Korea war es geradezu rührend, welche
Massen von Tabak, Sake (Reiswein), Nahrungsmitteln aller Art sowie
Geldbeiträge den Soldaten von Japan aus zugesandt wurden.

[Illustration: Das Daimioschloß zu Kumamoto.]

Eines wichtigen Zweiges des Militärwesens muß hier noch gedacht werden:
der Krankenpflege. Bei dem chinesischen Heere besteht eine solche als
selbständige Organisation überhaupt nicht. Die Chinesen haben weder
Militärärzte noch irgend welche Einrichtungen, um die Verwundeten von
den Schlachtfeldern zu holen und zu pflegen. Im jüngsten Kriege nahmen
sich die gesunden Kameraden ihrer gefallenen Brüder nach Thunlichkeit
an; allein das Los der großen Mehrzahl der verwundeten Chinesen war
der elendeste Tod, sofern ihnen nicht von den Japanern oder von
europäischen Missionsärzten Beistand geleistet wurde. Ebensowenig
kennen die koreanischen Soldaten unser Sanitätswesen, wie es ja
überhaupt in ganz Korea keine Aerzte giebt, die auf diesen Namen
überhaupt Anspruch erheben könnten. Nur die zahlreichen katholischen
Missionare in Korea sind immer bestrebt gewesen, neben dem Seelenheil
auch für das leibliche Wohl der Koreaner nach Kräften zu sorgen, und
ihren ärztlichen Kenntnissen sind zum großen Teil ihre bisherigen
überraschenden Erfolge zuzuschreiben. Auch einige andere Missionen
haben Hospitäler in einzelnen Städten errichtet, und in erster Linie
ist hier jenes des anglikanischen Bischofs Corfe in Söul hervorzuheben.
Bischof Corfe war früher Seelsorger bei der englischen Kriegsmarine
und Kaplan des Admirals Herzog von Edinburg. Dank dieser Stellung
gelang es ihm, unter den englischen Seeoffizieren hinreichend Kapital
zu sammeln, um in Söul eine englische Mission mit einem größeren
Hospital einzurichten. In dieser vortrefflichen, von zwei europäischen
Aerzten geleiteten Anstalt sah ich 1894 gegen zwanzig koreanische
Soldaten, die auf der Expedition gegen die Rebellen des Togakuto
verwundet worden waren. Sie erzählten mir von dem entsetzlichen Elend
auf den koreanischen Schlachtfeldern, wo die Verwundeten hilflos
verschmachteten, falls sie nicht von den Siegern verstümmelt wurden.

Es ist eine der vornehmsten zivilisatorischen Errungenschaften der
Japaner, daß sie ihr Augenmerk nicht nur auf die in der Schlachtlinie
kämpfenden, sondern auch auf die verwundeten Soldaten richteten, und
mehr als mit den Hinterladerkanonen und dem preußischen Drill haben
sie durch die Organisierung der Krankenpflege ihren Platz unter den
Kulturstaaten gesichert.

Die Japaner besitzen nicht nur ein vorzügliches militärärztliches Korps
mit Aerzten, die sich auf europäischen Universitäten ihr Diplom geholt
haben, sondern sie besitzen auch eine Gesellschaft vom Roten Kreuz.
Erst im Jahre 1877 mit etwa 20 Mitgliedern gegründet, zählt sie deren
heute über 28000 und besitzt ein Jahreseinkommen von etwa 70000 Yen,
ungefähr 150000 Mark, mit einem Reservefond von nahe einer Million Mark.

Der große Aufstand von 1877 in der Provinz Satsuma bot die Veranlassung
zur Gründung dieser Gesellschaft. Vicomte Sano, der jetzige Präsident
der Gesellschaft, war auch ihr Gründer, und seinem unermüdlichen
Wirken, verbunden mit dem Beistand, den ihm die beiden Barone Siebold,
Söhne des berühmten Japanschilderers, liehen, ist das heutige Blühen
der Gesellschaft zu danken. Der Mikado und seine Gattin nahmen sich
des jungen Unternehmens eifrig an; ihre Beiträge allein erreichten
bisher eine Million Mark, und sie stellten die Gesellschaft unter
ihren kaiserlichen Schutz. Vicomte Sano konnte sich kein besseres
Vorbild für die Organisation seines Werkes nehmen als die von Baron
Mundy gegründete Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft. Wie dort,
so beschränkt sich auch in Japan die Krankenpflege nicht auf den
Krieg. Die häufigen Erdbeben geben genug Veranlassung für segensreiche
Thätigkeit im Frieden. So wurden bei dem großen Erdbeben im Oktober
1891 in den Provinzen Owari und Mino allein über 7000 Personen getötet
und 11600 Personen verwundet. Sofort wurden Aerzte und Pfleger nach den
zerstörten Orten gesandt und über 2000 Personen in Pflege genommen.

In demselben Jahre wurde in Tokio ein großes, ganz von den
Mitteln der Gesellschaft erbautes Hospital eröffnet, für welches
das Universitätshospital von Heidelberg als Muster diente. Alle
Einrichtungen des Hospitals wurden in Tokio kopiert und als Chefarzt
~Dr.~ Hashimoto, der Chefarzt der japanischen Reservetruppen,
erwählt.

Kaum war die Kriegserklärung gegen China erlassen, so meldeten sich
sofort freiwillige Krankenpfleger in großer Zahl, die, in Kolonnen
organisiert und mit allem nötigen Material ausgerüstet, der Armee nach
Korea folgten.

Die Krankenpflege bei den Japanern in Korea und China war großenteils
in ihren Händen, und in rühmenswerter Weise beschränkten sie ihre
Thätigkeit nicht auf ihre Landsleute, sondern nahmen auch verwundete
Chinesen auf.

Im Jahre 1886 trat die Gesellschaft durch Vermittelung der japanischen
Regierung der Genfer Konvention bei und nahm auch trotz der heidnischen
Religion ihrer Mitglieder merkwürdigerweise das christliche Abzeichen
derselben an, das rote Kreuz im weißen Felde, das nun sogar auf den
Schlachtfeldern des fernen Ostens seine segensreiche Thätigkeit
entfaltet hat.



[Illustration: Vergnügungsboot.]



Straßenleben in Tokio.


Von all den Sehenswürdigkeiten, welche die Hauptstadt des Mikadoreiches
dem fremdländischen Touristen bietet, ist keine so interessant und
reizvoll wie das Volksleben in den Straßen, Winter und Sommer, Tag
für Tag, von Sonnenaufgang bis in die zehnte oder elfte Abendstunde,
ein Museum eigener Art, das uns ganz Japan, arm und reich, hoch und
niedrig, in allen Ständen und Berufsarten, auf die bequemste und
anziehendste Weise vor Augen führt: am frühen Morgen bei der Toilette,
vormittags im geschäftlichen Verkehr, nachmittags auf der Promenade,
abends bei den Vergnügungen.

Schon um sechs Uhr morgens stehen vor dem Hotel die eigentümlichen,
japanischen Droschken, die von flinken, strammbeinigen Burschen
gezogenen Kurumas, und trat ich um diese frühe Stunde auf die Straße,
so begrüßte mich gewiß mein gewöhnlicher Kurumaja, den Hut in der
Hand, mit den Worten: „Sukoschi o aruki irraschai?” (Herablassen, eine
kleine ehrenwerte Spazierfahrt machen?) Ihn abzulehnen hätte mir nicht
viel genützt, denn ein paar andere wären mir mit ihren Handwägelchen
gefolgt, straßenauf und -ab, bis ich mich doch entschlossen hätte,
einen davon für meine Spazierfahrt zu mieten.

Die Japaner sind keine Frühaufsteher. Um sechs Uhr morgens sind die
Straßen noch menschenleer, die Häuser größtenteils geschlossen,
und nur hier und da sieht man Weiber, welche die Straßen vor ihren
Häusern kehren. Die japanische Polizei ist sehr streng, und jede
Vernachlässigung wird empfindlich gestraft. Die Straßen der Hauptstadt
haben ja keine Trottoirs; sie sind auch nicht so notwendig wie
in europäischen Städten, denn in Tokio giebt es fast gar keinen
Wagenverkehr. Alle Welt geht zu Fuß oder fährt in den kleinen Kurumas,
deren Zahl in der Hauptstadt allein vierzigtausend übersteigt. Deshalb
sind die Straßen auch leicht reinzuhalten. Was die Hauseigentümer
nicht zusammenkehren lassen, wird von den zahlreichen Hühnern vertilgt,
die um diese Stunde für kurze Zeit aus ihren Käfigen gelassen werden.
An den Straßenecken stehen schläfrige Polizisten in ihren europäischen
Uniformen; Kulis mit langen, schmalen Bottichen auf dem Rücken eilen
geschäftig von Haus zu Haus, um den Unrat des vorhergehenden Tages
einzusammeln und auf die Felder vor der Stadt zu tragen, ein gar
kostbarer Schatz, denn nur durch diesen ist der Ertrag der japanischen
Kulturen so reichlich. In den ärmeren Quartieren bezahlen die Bewohner
mancher Häuser mit dem Unrat allein ihren Mietzins. Diese sorgfältige
Verwendung der städtischen Abfälle hat freilich auch ihren Nachteil.
Tokio besitzt noch immer keine Wasserleitung, die Ziehbrunnen in den
Straßen reichen für den Wasserbedarf nicht hin, und in den ärmeren
Quartieren muß man zu den Flüssen und Bächen Zuflucht nehmen, welche
durch die auf dem Lande allgemein übliche, künstliche Bewässerung einen
Teil dieser Abfälle wieder in die Stadt führen, eine der Hauptursachen
der Cholera- und Typhusepidemien.

Bald erscheinen in den Straßen auch Landbewohner und Fischer, die
den Ertrag ihrer Felder resp. ihres nächtlichen Fanges auf den Markt
bringen. Manche tragen ihre Lasten auf dem Rücken, andere haben sie auf
Handwägelchen verladen, zuweilen sieht man auch einzelne von Pferden
oder Ochsen gezogene Wagen, aber der hauptsächlichste Frachtenverkehr
erfolgt doch auf Schultern und Rücken der fleißigen, arbeitsfreudigen
Kulis.

Allmählich werden auch die Häuser geöffnet. Mit lautem Rasseln und
Knarren werden die Amado (hölzerne Sturmwände), die zur Nachtzeit rings
um die Veranden der Häuser aufgestellt werden, beiseite geschoben,
und während meiner langsamen Fahrt erhalte ich gar manchen Einblick
in die intimen Verrichtungen des japanischen Hauswesens. Hier lagert
eine Familie auf den weichen, reinlichen Matten und nimmt das Frühstück
ein. Eltern und Kinder hocken im Kreise um die mit blendend weißem
dampfenden Reis gefüllten Schüsseln und schlürfen aus zarten winzigen
Täßchen heißen Thee. Dort liegt ein Japaner noch auf der Matratze und
schmaucht sein Morgenpfeifchen, während die weiblichen Wesen seines
Hausstandes waschen und fegen und kochen. Im Nebenhause breitet ein
Kuriositätenhändler seine Schätze zum Verkaufe aus, ohne sich um seine
Nachbarinnen zu kümmern, die eben in einem großen hölzernen Bottich
ohne irgendwelche Bekleidung ihr Morgenbad nehmen. In einem anderen
Hause kauert ein junges Mädchen, bis zu den Hüften unbekleidet, vor
einem Spiegel, pudert ihr hübsches Gesichtchen und schminkt ihre Lippen
so ungeniert, als wäre sie zwischen vier Wänden eingeschlossen. In
demselben Raume macht vielleicht ein Japaner seine einfache Toilette.
Seit der Europäisierung des Landes tragen die Japaner ihre alten,
sorgfältigen Haartrachten nicht mehr; ihre Zöpfchen fielen der Schere
des Friseurs zum Opfer, und die bürstenartigen Haarstoppeln folgen
dem Kamme doch nicht. Bärte werden in Japan vornehmlich nur von den
Beamten, den Aristokraten und Gelehrten getragen; die Männer des Volkes
aber rasieren ihre Gesichter vollständig glatt. Ist diese Arbeit
besorgt, so wird der lange, schlafrockartige Kimono angezogen, die Füße
werden mit weißen oder blauen Leinensocken bekleidet, und die Toilette
ist gemacht.

Die Straßen füllen sich immer mehr, hauptsächlich mit Männern, die
in ihre Geschäfte eilen oder auf den Märkten Einkäufe besorgen.
Reis, Fische und Gemüse bilden die Hauptnahrung der Japaner. Fleisch
wird nur wenig gegessen, an seine Stelle treten die Fische, die in
unzähligen Arten auf den interessanten, belebten Fischmärkten zum
Verkauf dargeboten werden, und merkwürdigerweise sind es auch hier nur
Männer, die ihren täglichen Hausbedarf einkaufen. Alles spielt sich in
größter Ruhe ab, Käufer und Verkäufer verneigen sich ehrfurchtsvoll
voreinander, und Szenen, wie sie sich auf unseren europäischen
Fischmärkten abspielen, sind in Japan ebenso undenkbar wie die
unflätigen Flüche, die man bei uns zu hören bekommt. Die japanische
Sprache kennt keine Flüche.

Noch größer sind die Höflichkeitsbezeugungen in den Häusern oder
auf der Straße, wenn Bekannte einander begegnen. Die große Mehrzahl
der Japaner geht noch immer barhäuptig umher; nur Soldaten, Beamte,
Studenten oder elegante Dandys tragen Kopfbedeckungen, und bei diesen
besteht der Gruß im Salutieren oder ehrerbietigen Abnehmen der Hüte
unter mehrfachen tiefen Verbeugungen. Bei Altjapanern wirken die
Begrüßungen, selbst in den unteren Ständen, auf den europäischen
Beschauer geradezu komisch. Bei einem besseren Zustande der Straßen
würden sie wohl voreinander niederknien. So beschränken sie sich bei
der Begegnung darauf, stehen zu bleiben und halbwegs in die Knie zu
sinken. In dieser Stellung machen sie mehrere tiefe Verbeugungen
voreinander, während sie mit den Händen auf ihren Schenkeln mehrmals
auf- und niederfahren und bei geöffneten Lippen, aber geschlossenen
Zähnen die Luft mehreremale laut hörbar einziehen. So bleiben sie eine
geraume Zeit einander gegenüber, bis sich endlich der eine entschließt,
seinen Weg fortzusetzen. Er wird stets als der Unhöflichere von beiden
betrachtet, außer wenn seine Rangstellung ein höhere sein sollte.

In der gegenwärtigen Uebergangsperiode von Alt- zu Neujapan bekommt
man in den Straßen Tokios zuweilen eine ergötzliche Mischung von
Volkstrachten zu sehen. Das konservative Element bilden in Japan
ebenso wie anderwärts die Frauen. Während monatelanger Reisen im
Mikadoreiche habe ich Japanerinnen in europäischer Kleidung niemals
auf der Straße, niemals in Theehäusern und Theatern und nur vereinzelt
in vornehmen Gesellschaften in der Hauptstadt gesehen. Selbst einzelne
Kleidungsstücke, wie Hüte, Schuhe, Strümpfe und dergleichen, haben
bei den Japanerinnen noch nicht Eingang gefunden; auf der Straße wie
im Hause kleiden sie sich glücklicherweise noch durchwegs japanisch,
tragen ihre Kimonos und Obis, fächeln sich mit Papierfächern, rauchen
ihre winzigen Pfeifchen, schneuzen sich mit Papierläppchen. Nur ein
europäischer Artikel hat Gnade vor ihren Augen gefunden: an Stelle
der reizenden Sonnenschirme aus Bambus und buntgeblümtem Papier
tragen sie heute schon vielfach unsere unschönen Regenschirme mit
dunklem Stoffüberzug. Bei den Orientalinnen fing die europäische
Kultur von unten an; in Algier, Tunis, Aegypten, Kleinasien haben
die Schönen willig ihre Pantöffelchen mit europäischen Schuhen und
Strümpfen vertauscht; bei den Japanerinnen kommt der europäische Segen
in Gestalt des Regenschirmes von oben, während sie mit Eigensinn an
ihren unschönen, etwas über die Knöchel reichenden Socken und an den
schweren, plumpen Holzsandalen, den Getas, festhalten. Auf diesen ein
bis zwei Zoll hohen Holzklötzen schlürfen sie mit geknickten Knien
und vorwärts geneigtem Oberkörper einher, und wenn die Frauen im
Straßenleben Tokios dennoch die reizvollsten Erscheinungen sind, so
verdanken sie dies nur ihren lieblichen, freundlichen Gesichtchen und
den bunten, langen, faltenreichen Gewändern. Madame de Staël hat in
Bezug auf die Europäerinnen sehr richtig bemerkt: „Es ist ihnen schwer,
schön zu tanzen, schwerer, schön zu gehen, am schwersten, schön zu
stehen.” Den Japanerinnen ist es schwer, schön zu stehen, schwerer,
schön zu gehen, und tanzen nach unseren Begriffen können sie gar nicht.

[Illustration: Mutter mit Kind.]

Auch unter den Männern, denen man in den Straßen Tokios begegnet, sieht
man nur wenige in europäischer Tracht. Hier reitet wohl ein Offizier
in europäischer Uniform einher, stets begleitet von einer Ordonnanz;
die Polizisten und Postboten tragen Uniformen, die Beamten, Aerzte,
Professoren, Edelleute, Angestellte des Hofes und einzelne Elegants,
die Europa besucht oder dort studiert haben, tragen europäische
Kleidung. Aber sonst sind die Japaner ihrer alten Tracht treu
geblieben. Dem Fortschritt huldigen viele von ihnen höchstens insofern,
als sie zu ihren langen Kimonoschlafröcken europäische runde Hüte oder
Seidencylinder tragen, was ihr Aussehen keineswegs malerisch macht.
Man denke sich nur in einer europäischen Stadt einen Spaziergänger
mit Brille, Cylinderhut, Regenschirm und plumpen Holzpantoffeln, den
Körper in einen langen, dunkeln Schlafrock gehüllt, der beim Gehen
auseinanderschlagend die nackten Beine des Spaziergängers zeigt! Und
solche Gestalten sieht man in den Straßen Tokios zu Tausenden. Noch
grotesker ist ihr Anblick bei Regenwetter. Um ihren Kimono nicht zu
beschmutzen, heben sie denselben zuweilen bis an die Hüften empor
und schlürfen in nackten Beinen umher. Dasselbe thun aber auch die
japanischen Frauen und Mädchen mit rührender Ungeniertheit.

[Illustration: Im Asakusatempel.]

Dem Reinen ist alles rein. Das dachten wohl auch die vierzigtausend
strammen jungen Burschen, die behende die Kurumas durch die Straßen
Tokios ziehen, als ihnen durch die Behörden eine Uniform dekretiert
wurde. Bis dahin schienen sie schon reich gekleidet, wenn sie sich
ein paar hübsche farbige Figuren auf ihre Bronzehaut auftättowieren
ließen. Nun müssen sie aber Uniformen tragen. In Europa dürften sie
auch in diesen wegen zu großer Nacktheit eingesteckt werden, aber
für japanische Verhältnisse sind sie mehr als genügend bekleidet.
Dunkelblaue, strammanliegende Kniehosen bedecken ihre Hüften und
Schenkel, ein vorne offenes Jäckchen aus grobem, dunkelblauem
Baumwollstoffe den Oberkörper. Auf ihrem Kopfe sitzt ein mächtiger,
pilzförmiger Strohhut, auf der Außenseite mit weißem Stoff überzogen,
und an ihren Füßen stecken Strohsandalen. Jeder Kurumaj hat überdies
auf dem Rücken seines Jäckchens die Nummer seines Handwägelchens
aufgenäht. Aehnlich sind auch die Post- und Telegraphenboten
uniformiert, nur daß sie außerdem noch weiße gestrickte Handschuhe
tragen. Die Kulis, die im Hafen oder an den Ufern des stets mit Booten
und Frachtschiffen bedeckten Sumidaflusses arbeiten, ersparen sich auch
die Kniehosen. Das vorne offene Jäckchen und ein weißes Lendenband,
nicht viel breiter als unsere Kravattenschleifen, bilden ihre einzige
Bekleidung.

Die Studierenden der Universität, ja selbst die Schuljungen von
Tokio tragen heute der Mehrzahl nach europäische Kleidung, und es
befremdet den Touristen nicht wenig, inmitten des fremdartigen, bunten
Straßenverkehrs die schlitzäugigen kleinen Japaner statt im Kimono in
Beinkleidern und Stiefeln einherwandern zu sehen, die große Schultasche
oder ein Paket Schulbücher unter dem Arme. Die kleinen Mädchen dagegen
halten gerade so wie ihre Mütter an der reizenden Nationaltracht fest,
und unter all den weiblichen Gestalten, die mit dem Fortschreiten des
Tages immer zahlreicher im Straßenleben auftreten, sind die Mädchen die
lieblichsten. Gewöhnlich tragen sie schon im Alter von sechs oder acht
Jahren ein jüngeres Schwesterchen oder Brüderchen, das die Kunst des
Gehens noch nicht erlernt hat, auf ihre zarten Rücken gebunden, lassen
sich aber dadurch in ihren munteren Spielen keineswegs hindern. Die
Abwesenheit von Straßenschmutz und Wagenverkehr erlaubt es ihnen, sich
vor ihrem väterlichen Hause umherzutreiben. Zuweilen rollen am späten
Vormittage doch einzelne Equipagen von Prinzen oder Gesandten durch
die Hauptstraßen, aber gewöhnlich läuft den Pferden ein flinkbeiniger
Diener nach Art der ägyptischen Sais voraus und verhindert durch seine
Warnungsrufe Unglücksfälle.

[Illustration: Arbeiter bei der Mahlzeit.]

Immer lebhafter wird das Leben in den Straßen, und gegen Mittag
scheint es, als ob sich die ganze Bevölkerung Tokios auf den Beinen
befinde; Priester in ihren eigentümlichen Gewändern erscheinen, hier
und dort zieht irgend eine Tempelprozession oder ein Leichenbegängnis
mit bunten, glänzenden Schaustücken und Ornamenten einher, ohne daß
diese von seiten der Passanten besondere Beachtung fänden. Die vielen
Kaufläden, die in manchen Hauptstraßen in kilometerlangen Reihen dicht
aufeinander folgen und ihren ganzen Kram, Toiletteartikel für Damen,
Fächer, Spielzeuge für Kinder, Porzellane, Geschirre, Pantoffeln,
Papierlaternen und dergleichen auf der Straßenseite ausgebreitet
haben, sind mit Käufern und Käuferinnen gefüllt, und der ganze Verkehr
zwischen diesen Tausenden, das ganze Geschäftsleben spielt sich in
so leichter, ungezwungener, man möchte sagen spielender Weise ab,
als gäbe es in dem fernen Mikadoreiche überhaupt gar keinen Kampf
ums Dasein, als wären alle Einwohner Kapitalisten, die behaglich
von ihren Renten leben und die Geschäfte nur so nebenbei, zum
Zeitvertreib, führen, ohne Absicht auf Gewinn. Die leichte, fröhliche
Lebensart der Japaner, der Hang zu Vergnügungen, Spielen, Leckereien
zeigt sich auch durch die zahlreichen ambulanten Händler, mit denen
die Straßen gefüllt sind, Tag für Tag, Woche für Woche, als wäre jeder
Tag des Jahres ein Matsuri (Festtag). Um sie besser kennen zu lernen,
verlasse ich meine Kuruma und wandere zu Fuß durch die sich dicht
drängende Menschenmenge. Aber sofort werde ich von anderen Kurumaja
erspäht, und mehrere umringen mich mit derselben Zudringlichkeit wie
die Eseltreiber in der Muski von Kairo oder die Vetturini von Neapel.
„Riksha? Danna? O ide nasai? Irraschaimas no desaka?” „Wollen Sie eine
Rickshaw, Herr? Wollen Sie nicht fahren? Wollen Sie nicht ehrenwerten
Platz nehmen?” Und wenn ich versuche, sie abzuschütteln, entschuldigen
sie sich: „Sore kara O mi aschi de ikimas.” „Sie wollen also vorwärts
schreiten mit den ehrenwerten Beinen?” Alles ist in Japan ehrenwert.
Ueberall hört man die gebräuchlichsten Begrüßungen: „Ohaio”, oder
„Yo o ide nafaimaschta”, oder „Sajonara” und „Irraschai”, von allen
Seiten werden einem verschiedene Waren, Leckereien, geschabtes Eis
oder Limonaden angeboten, stets in freundlichster Weise. Hier der
Modschi-Yaki (Briefverbrenner), mit seinen süßen Kuchen, welche die
Form von allerhand Schriftzeichen, Tieren, Ornamenten und dergleichen
zeigen. Neben ihm der Ameya oder Gallertenmann, der den Kindern für
einen Pfennig mittels eines Röhrchens aus Gerstenbrei allerhand
Figuren bläst; an einer vom Verkehr verschonten Ecke kauert ein
Wahrsager, ein Tuch vor sich gebreitet, auf dem er mittels fünfzig
kleiner Stäbchen und sechs roten und schwarzen Holzwürfeln allen,
die es wünschen, für ein paar Pfennige ihre Zukunft vorhersagt; dort
lenkt ein ambulanter Verkäufer von klebrigen Bohnenkuchen mit Gong und
Schellengeklirre die Aufmerksamkeit auf sich, während ein blinder Amma
(Masseur) dies mittels eines Pfeifchens thut; für wenige Pfennige ist
er bereit, irgend jemandem, ob Mann oder Frau oder Kind, die Glieder
durchzukneten. Hier schreitet gravitätisch ein bebrillter Arzt einher,
gefolgt von einem Jungen, der ihm den Arzneikasten und Mörser trägt;
dazwischen schleicht scheu ein zerlumpter Eta (ein Paria) umher; oder
ein Kami-Kudsuhiroi (Lumpensammler) sammelt mit seinem Bambushaken
Papierstückchen oder Kleiderfetzen; oder ein Spatzenfänger stiehlt sich
vorsichtig, mit einem klebrigen Bambusstocke bewaffnet, den Hausdächern
entlang und fängt mit erstaunlicher Geschicklichkeit die ahnungslosen
frechen Vöglein. Vor den Tempeleingängen drängen sich Schaubuden,
Verkaufsstände mit Spielwaren für Kinder, buntgeschmückten Haarnadeln
für Mädchen, Toiletteartikeln, Früchten und Leckereien; zwischen
ihnen kauert, umringt von Bewunderern, ein Künstler, mit Säckchen
verschieden gefärbten Sandes versehen, aus denen er abwechselnd eine
Handvoll nimmt und damit allerhand Landschaften, Figuren, Ornamente
und dergleichen auf den Boden streut. Die Tempel selbst werden eifrig
besucht, vornehmlich von Frauen und Mädchen. Sie waschen zunächst an
dem Tempelbrunnen ihre Hände, dann schreiten sie langsam an die Stufen,
die zum Götzenschreine emporführen, und machen die Gottheit dadurch
auf sich aufmerksam, daß sie den vom Dache hängenden Glockenzug stark
anziehen; erschallt die Glocke oder der Gong, so klatschen sie laut
ihre Hände zusammen und sagen mit gebeugtem Oberkörper ihr Gebet her.
Darauf verkünden sie durch abermaliges Händeklatschen der Gottheit, daß
sie fertig sind, werfen einige Kupfermünzen vor den Altar oder in eine
danebenstehende Holzkiste für die Priester und gehen ihres Weges.

In der Mittagsstunde leeren sich die Straßen, und zur Sommerzeit
erscheinen sie zwischen zwei und vier Uhr nachmittags wie ausgestorben,
höchstens daß bei großer Hitze Frauen oder Kinder die Straße vor ihren
Häusern mit Wasser besprengen, oder daß dies von seiten der Stadt
mittels großer Wasserkarren geschieht. Drei oder vier Mann schöpfen
das Wasser aus den offenen Bottichen mittels Kübeln, die an Stangen
befestigt sind, und schleudern es kräftig über die Straße; vor vielen
Kaufläden hängen große, blaue oder schwarze Tücher vom Dache bis zum
Straßenboden, um die Sonnenstrahlen abzuhalten. Die Hausbewohner geben
sich der Siesta hin, schlafen, schlürfen ihren Thee oder rauchen
ein paar Pfeifchen. Später, gegen fünf Uhr, wird der Straßenverkehr
wieder lebhafter, die Leute besuchen vielleicht Theehäuser oder die
vielen Sakebuden, die an dem vorgehängten Fichtenzweige und den
großen, grell bemalten Sakebottichen sofort kenntlich sind. Die beste
Gattung Reiswein zeigt auf dem Bottich eine große gemalte Blume,
Hanazakari, die zweite die Schriftzeichen Muso-itschi, d. h. von
keinem übertroffen, eine dritte hat eine große Päonie aufgemalt. In
den letzten Jahren hat die Einführung von Eismaschinen eine ganze
Menge von Eisbuden entstehen lassen, in denen geschabtes Eis mit
Fruchtwässern versetzt feilgeboten wird, eine rasch beliebt gewordene
Leckerei bei den unteren Volksklassen. Tausende wandern auch zu dieser
Stunde nach dem nächsten Badehause, um trotz der Hitze ein heißes Bad
zu nehmen. Tokio besitzt über tausend öffentliche Badehäuser, in denen
durchschnittlich täglich dreihunderttausend Bäder genommen werden,
ganz abgesehen von den Furodo oder Hausbädern, von denen sich in jedem
besseren Hause eins befindet und von den Bewohnern täglich mehrmals
benutzt wird. Man braucht in diese Badehäuser gar nicht einzutreten,
um das Treiben im Innern wahrzunehmen, denn die Wände der Badehäuser
bestehen vielfach aus Latten, zwischen denen man durchblicken kann.
Männer, Weiber, Kinder treten scharenweise ein, zahlen am Eingange
einige Pfennige, bewahren ihre Kleider in Kästchen an den Wänden auf
und steigen splitternackt in das mit heißem Wasser gefüllte Bassin,
das nur durch ein Seil oder eine Bambusstange in zwei Hälften für die
beiden Geschlechter geteilt ist. Manche Frauen hocken auf den ins
Wasser führenden Stufen, manche Fräulein stehen, nur in ihre Haut
gekleidet, lachend und plaudernd am Rande des Bassins, wieder andere
trocknen sich in höchst naiver Weise ab. Die ganze Gesellschaft benimmt
sich dabei so ungeniert, als ob sie im Theater oder Theehause wäre.
Solche Theehäuser sind in der That mit manchen Bädern verbunden, und in
den kleinen abgeschlossenen Räumen ruht sich vielleicht nach dem Bade
ein junges Pärchen auf weichen Matten aus.

Ist der Abend angebrochen, so erscheint wieder alles in den Straßen;
Tausende pilgern hinaus unter die gewaltigen, uralten Fichten des
Shiba- oder Uyenoparkes und lagern sich auf den Rasen oder in die
Theehäuser, die rings um die Lotosteiche oder an den Ufern des
Sumidagawa massenhaft stehen, andere mieten Vergnügungsboote, gehen
in Theater oder Klubs, um Tanz und Gesang der zahllosen Gaishamädchen
zu bewundern; in den Straßen leuchten allmählich lange Reihen von
buntfarbigen Lampions auf, aus vielen Häusern ertönt Gesang und
Samisenspiel, überall ist Leben und Fröhlichkeit, als gäbe es bei
diesem leichten Phäakenvölkchen gar keinen Ernst, keine Arbeit und als
wäre die ganze Hauptstadt des Mikadoreiches nichts als ein ungeheurer
Badeort in der Hochsaison. Den Ernst des Lebens unter den Japanern
lernt der Fremde im Straßenverkehr nur kennen, wenn eines der häufigen
Erdbeben den Boden der Stadt erschüttert, Schornsteine, Dächer, ganze
Häuser einstürzen und die Bevölkerung erschreckt auf die Straße eilt.
Oder wenn sich am dunkeln Nachthimmel glühendrot die Blumen von Yeddo,
die Flammenzungen von Schadenfeuern zeigen. In jedem Stadtviertel wird
der Besucher Tokios hohe Pfähle mit Glocken und Leitern finden, an
deren Spitze Wachtleute beständig nach verdächtigem Rauch oder Flammen
Umschau halten. Bemerken sie dergleichen, dann verkünden sie durch
eine bestimmte Anzahl von Glockenschlägen das Quartier, in dem Feuer
ausgebrochen ist, und sofort entsteht unter der heiteren, sorglosen
Bevölkerung lebhafte Bewegung. Hastig eilt alles nach Hause, die
Bewohner des bedrohten Stadtteiles laufen oder fahren in Kurumas so
rasch als möglich in ihre Quartiere, um ihre Siebensachen in Sicherheit
zu bringen. Die kleinen, aus dürrem Holz, Strohmatten und Papierwänden
bestehenden Häuschen flammen ja bei dem geringsten Anlaß wie Zunder
auf, und an eine Rettung des Hauses oder der nächsten Nachbarhäuser
ist gar nicht zu denken. Tokio ist schon vielmals durch Feuer zerstört
worden, und in jedem Jahre, ja in jedem Monate werden Hunderte oder
Tausende von Häusern eingeäschert. Kein Wunder, daß bei solchen
Anlässen die ganze Stadt in furchtbarer Aufregung ist, die freiwilligen
Feuerwehrgesellschaften mit ihren phantastischen Bannern und glänzenden
Helmen rasch nach der Brandstelle eilen und selbst in entfernteren
Straßengevierten das entsetzte Volk mit fieberhafter Schnelligkeit den
ganzen Hausrat zusammenrafft, um ihn nach einem sicheren Stadtteil
zu tragen. Die ungemein einfache Einrichtung der Häuser erleichtert
dies. Die Mädchen rollen eiligst die dünnen Matratzen, Strohmatten und
Kleidungsstücke zusammen, die Frauen werfen ihre Koch- und Eßgeschirre
in einen Korb, die Männer heben die verschiebbaren Holz- und
Papierwände aus den Fugen, und ein kleiner Handkarren nimmt die ganze
Einrichtung auf. Nur das Dach und die Pfähle, auf welchen es ruht,
bleiben zurück und werden ein Raub der Flammen, wenn es der Feuerwehr
nicht gelingt, rings um die Brandstätte einen Kranz von diesen leeren
Häusern rasch niederzureißen.

Manchmal steht ein hohes, außerordentlich massiv aussehendes Gebäude
beinahe unversehrt da, eine Kura, d. h. ein feuerfestes Haus aus etwa
vierzig Centimeter dicken Lehmwänden, worin der wohlhabendere Japaner
seine wertvollen Sachen aufzubewahren pflegt. Diese weiß polierten
Häuser, die trotz dem Material, aus dem sie gebaut werden, äußerlich
sehr geschmackvoll aussehen, werden äußerst sorgfältig aus Lehm und
Bambusflechtwerk errichtet. Die Bauzeit dauert ein bis zwei Jahre, da
von den vielen Lehmschichten die unteren immer vollständig trocken
sein müssen, bevor eine weitere darüber aufgetragen werden kann. Das
Dach besteht aus dicht gefügten, schweren Ziegeln. In Feuersgefahr
werden die dicken Läden und Thüren, deren staffelförmige Ränder
ineinander greifen, geschlossen und die Ritzen derselben von besonders
dazu Angestellten mit immer bereitstehendem Lehm zugeschmiert. Die
Kura wird dann gleichsam versiegelt, indem der Schließende die
Schriftcharaktere seines Namens auf Thüre und Fenster in den Lehm
gräbt, und sie darf erst nach Beendigung des Brandes im Beisein einer
Urkundsperson geöffnet werden. So ist in Japan bei Feuersgefahr
alles sorgsam organisiert, sowohl das Verhalten des Einzelnen, wie
das der Gesamtheit, da dieses Volk seit alters mit elementaren
Gewalten wie Feuer, Erdbeben und Wassersnot zu rechnen gewohnt ist.
Unter der Shogunherrschaft mußten die Lehensfürsten und die höchsten
Staatsbeamten in voller Rüstung zu Pferde auf dem Brandplatze
erscheinen und den Kampf mit dem Elemente leiten. Jetzt ist die
Feuerwehr vollständig nach europäischem Muster eingerichtet.

Sonderbar ist das Verhalten der Ueberlebenden, die Familie oder
Eigentum, oder beides verloren haben. Kein herzzerreißendes Klagen,
kein Zeichen überquellender Verzweiflung, sondern nur stumme
Resignation in das Unabänderliche sieht man auf allen Gesichtern. Ein
so großer Gemütsmensch der Japaner sonst ist, Aeußerungen seelischen
Schmerzes weiß er zu unterdrücken.



[Illustration: Landleute.]



Spazierfahrten im mittleren Japan.


Wer Japan jemals im Sommer besucht hat, wird es begreiflich finden,
daß die Europäer die Hauptstadt ebenso wie die Hafenstädte des
Inselreiches, wenn immer möglich, fliehen, um auf den hohen Bergketten
der japanischen Hauptinsel Hondo Kühlung zu suchen. In dieser
ostasiatischen Schweiz sind es vor allem zwei Distrikte, die von den
Europäern nicht nur Japans, sondern von ganz Ostasien bevorzugt werden:
Nikko, im Norden der Hauptstadt Tokio, und Hakone, im Süden derselben
gelegen. Die Japaner sind sich der Schönheit ihres Heimatlandes wohl
bewußt, und stolz, wie sie sind, bestrebt, sich und ihr Inselreich
den Bleichgesichtern des Abendlandes in möglichst günstigem Lichte
zu zeigen, haben sie alles Erdenkliche gethan, um die schönsten
Gebirgspartien Japans leicht zugänglich zu machen. Der europäische
Unternehmungsgeist, der sich sonst in Asien überall zeigt, auf Ceylon
und Java, in Indien und China, hat damit in Japan nichts zu thun
gehabt. Mit japanischem Gelde und durch japanische Ingenieure wurden
Eisenbahnen, Brücken, Straßen, Pferdebahnen, Fußwege angelegt, Hotels
und Badeanstalten nach europäischem Muster eingerichtet, so daß man
heute die prächtigsten Gegenden der asiatischen Schweiz, vor allem den
Distrikt von Hakone, mit ähnlicher Bequemlichkeit besuchen kann wie
Grindelwald.

Von dem trotz der Nähe des Meeres heißen, sonnenverbrannten Yokohama
brachte mich eine mehrstündige Eisenbahnfahrt nach Kozu. Dieses ist ein
kleines, ärmliches Städtchen nahe der Mündung des steinigen Sakawagawa
in das Meer gelegen und würde wohl kaum jemals einen europäischen
Reisenden zum Aufenthalt verlocken, wenn es nicht die Pforte zu dem
herrlichen Bergdistrikt von Hakone wäre.

Während die altberühmte Hauptstraße des Landes, der Tokaido, von Kozu
aus quer in den Bergdistrikt von Hakone hineinlenkt, muß die Eisenbahn
ihm ausweichen; sie führt in einem weiten, hufeisenförmigen Bogen um
ihn herum und erreicht erst auf der anderen Seite bei Numazu wieder
das Meer. Den Tokaido entlang, der noch vor drei Jahrzehnten den
Feudalfürsten des Landes mit ihrem malerischen Gefolge als Reiseweg
diente, führt heute eine Pferdebahn mit schlechten Wagen, von elenden
Kleppern gezogen, und diese bestiegen wir nun, um uns bis Yumoto an
den Fuß der bewaldeten Berge führen zu lassen. Japanische Landleute,
Kulis, barfuß bis zu den Schultern, dazwischen reizende Musmis in
bunten Kimonos und alte Weiber mit Bündeln und Körben bildeten unsere
Reisegefährten. Untereinander befleißigen sie sich der größten
Höflichkeit, aber uns Europäern gegenüber zeigten sie nur vornehme
Verachtung, im besten Falle Gleichgültigkeit. Waren ihnen doch in
den letzten Jahren so viele anglo-amerikanische Flegel in den Weg
gekommen, die ihren Gruß mit Grobheiten erwiderten, ihre Höflichkeit
laut belachten und sich als so ungezogene Bengel benahmen, daß man den
Insulanern ihren Abscheu vor der ganzen abendländischen Touristenwelt
gar nicht verübeln kann.

In Odawara, wo sich der Pferdebahnstation gegenüber die gewaltigen
Ringmauern einer zerstörten Feudalburg erheben, wurde kurzer Halt
gemacht, dann ging es zwischen den wohlgepflegten, sorgsam bewässerten
Reisfeldern auf hohem Damme weiter über das steinige, breite Bett des
Hayagawa nach Yumoto.

Hier wurden wir europäischen Passagiere von Dutzenden halbnackter Kulis
umringt, die uns ihre Rickshaws zur Weiterfahrt in die Berge hinauf
anboten. In langen Batterien waren die leichten zweiräderigen Wägelchen
aufgefahren; ohne daß man es wehren konnte, wurde das Gepäck auf die
Rickshaws verladen, und mit derselben Zudringlichkeit, wenn auch mit
größerer Höflichkeit wie die Beduinen an den ägyptischen Pyramiden,
ließen uns die Kulis nicht los, bis jeder von uns eine Rickshaw mit
zwei oder drei strammbeinigen bronzenen Gesellen angeworben hatte.
Der eine stellte sich zwischen die Gabeldeichsel und erfaßte diese,
ein zweiter vor ihm schlang sich eine Zugleine über die Schulter, und
während dieses menschliche Tandemgespann unter lautem Hallo anzog,
schob ein dritter von rückwärts nach. So durcheilte die ganze Karawane
von mehreren Dutzend Rickshaws das Dorf, reizend eingenistet an den
steilen Ufern der Schlucht, aus welcher der wasserreiche Hayagawa, ein
Abfluß des herrlichen Bergsees von Hakone, hervorbraust. Die heftigen
Regengüsse des Sommers hatten kurz zuvor die Brücke weggerissen, und
notdürftig waren einige Bretter und Balken zu einem halsbrecherischen
Steg gezimmert worden, über den uns die Kulis geschickt hinüberhalfen.
Jenseits der Schlucht bestiegen wir andere bereitstehende Rickshaws,
und nun ging es auf breiter, aber von Regenbächen zerrissener,
steiniger Straße steil aufwärts in die Berge. Zur Rechten tief unter
uns schäumte der Strom, zur Linken erhoben sich steile, stellenweise
überhängende Bergwände, mit der üppigsten Vegetation überwuchert.
Die herrlichsten Blüten, große japanische Lilien, die bei uns als
Topfpflanzen sorgsam gepflegt werden, bedeckten die Abhänge nach
vielen Tausenden; überall rauschten Bäche, in Kaskaden über Stock und
Stein hüpfend, herab, dem Hayagawa zu. An manchen Stellen hatte der
Regen Bergstürze zur Folge gehabt, durch welche die Regierung mit
Mühe einen Weg bahnen ließ; in vielfachen scharfen Windungen, tiefe,
finstere Schluchten entlang führte die Straße aus der nicht viel über
dem Meeresspiegel liegenden Ebene aufwärts nach der entzückenden
Bergidylle Miyanoshita, die fünfhundert Meter hoch zwischen der grünen
Felspyramide Myojogatake und dem bewaldeten Sengenyama eingeschachtelt
ist. Ich mußte die Ausdauer meiner flinken Kulis bewundern, die auf
dem ganzen einstündigen Wege nur einmal anhielten, um sich an einer
Quelle Kopf und Schultern zu baden und mehrere Holzbecher voll Wasser
zu trinken. Der Schweiß rann in Strömen über den bronzenen Rücken und
an den muskulösen Beinen hinab; schon kurz oberhalb Yumoto hatten
sie sich ihrer Leinenjacken entledigt, sie ausgewunden wie ein Stück
ausgespülter Wäsche und zum Trocknen über die Deichselstangen gehängt.
Mit Bewunderung, gemischt mit Neid, betrachteten wir zarter veranlagten
Europäer den prächtigen Körperbau dieser Bergbewohner.

Miyanoshita besteht aus zwei kleinen, urjapanischen Dörfchen, zwischen
denen sich auf einem mit europäischen Gartenanlagen geschmückten
Plateau das stattliche Fuji-ya-Hotel erhebt; etwas weiter unterhalb,
am oberen Rande der steilen Hayagawaschlucht, befindet sich ein
zweites Hotel von europäischem Aussehen, Nara-ya genannt, das aber
der Hauptsache nach vornehmen Japanern zum Aufenthalt dient. Gerade
während meines ersten Besuches von Miyanoshita weilten hier zwei
putzige kaiserliche Prinzchen, Söhne Seiner Majestät und irgendwelcher
japanischen Komtesse oder Baronesse; sie besaßen einen aus zahlreichen
Personen bestehenden Hofstaat, und unternahmen sie ihre täglichen
Spaziergänge, so wurden sie von einem ganzen Schwarm von Höflingen und
Polizisten begleitet.

Auch das Fuji-ya-Hotel, eines der besten von ganz Ostasien, ist
zur Hälfte nach japanischer Art eingerichtet, das heißt an das
im Schweizer Villenstil erbaute, ganz europäisch eingerichtete
Haupthaus lehnen sich die Flügel, so leicht und zart wie schwedische
Streichholzschachteln. Die einzelnen Schlafräume haben wohl Betten und
sonstigen abendländischen Hausrat, die Wände aber sind nach japanischem
Muster nur verschiebbare Holzrahmen, mit weißem Papier überzogen,
ohne Fenster, ohne Thüren, nur von einer langen Holzveranda umgeben,
von der man in die Schlafräume gelangt, indem man die Papierrahmen
auseinanderschiebt. Ein weggeworfenes brennendes Zündhölzchen,
unvorsichtiges Handhaben des Kerzenstockes würde das ganze Hotel wie
einen Haufen trockener Holzspäne aufflammen lassen. Dafür spüren die
europäischen und japanischen Gäste dieses Kartenhauses nur wenig
von den häufigen Erdbeben, dieser schrecklichsten Landplage Japans.
Während wir im Haupthause mehrmals durch die Erschütterungen, die das
Gebäude in allen Fugen krachen und die Einrichtungsstücke herumtanzen
ließen, aus unserer Ruhe geschreckt wurden, waren diese Erdbeben in den
japanischen Anbauten kaum wahrnehmbar.

Wenn mich inmitten des vornehmen europäischen Lebens, das sich im
Fuji-ya-Hotel abspielte, irgend etwas daran gemahnte, daß ich mich
nicht in einer schweizerischen Gebirgskarawanserei, sondern viele
Tausende Kilometer davon entfernt bei den Antipoden befand, so waren
es die kleinen, freundlich lächelnden Nesans, die in den Wohnzimmern
und im Speisesaale die Bedienung besorgten; hübsche Mädchen mit
sorgfältig frisiertem Haar, in buntfarbige Kimonos gekleidet. Auf den
reingescheuerten Matten der Korridore und Säle wackelten sie in Socken
lautlos einher, die Zehen nach einwärts gerichtet wie Enten. Außer good
morning, good night und thank you verstanden sie keine Silbe einer
europäischen Sprache, und wer nicht japanisch sprach, mußte sich durch
Zeichen mit ihnen verständigen. Die Speisekarten bei den Mahlzeiten
trugen neben den englischen Namen arabische und japanische Nummern,
ebenso die Weinkarten, und begehrte man gewisse Speisen und Getränke,
so brauchte man nur auf die dabeistehenden japanischen Nummern zu
zeigen, um das Gewünschte zu erhalten. Sonst waren Auseinandersetzungen
mit ihnen nicht nötig; sie kannten ihre Pflicht, die Betten waren
stets in Ordnung, und auf ihnen lagen allabendlich die Hotel-Ukatas
sorgfältig ausgebreitet zum Gebrauch. Diese Ukatas sind eine Art
Kimono, die Japaner wie Europäer als Schlafrock oder Bademantel
benutzen und vom Hotel gerade so geliefert werden wie Handtücher und
Bettwäsche. Morgens früh schlüpften die Hotelgäste aus ihren Betten
in die Ukatas und eilten durch die langen Korridore hinab zu dem
weitläufigen Badehaus, das aber, glücklicherweise für die Damen, keine
gemeinschaftlichen Bassins besaß wie das benachbarte Nara-ya-Hotel
und wie alle anderen japanischen Hotels und Badeorte des Landes. Dafür
giebt es im Fuji-ya-Hotel lange Reihen geräumiger Badezimmer mit
in den Fußboden versenkten großen Holzwannen, in denen bequem zwei
oder drei Menschen zusammen baden könnten. Aus Bambusrohren kann man
nach Belieben kaltes und warmes Wasser zuströmen lassen. Daran ist
kein Mangel, denn hinter dem Badehause pritschelt und rieselt es in
zahllosen Bächlein den Abhang herab. Diese Bäder gewähren so großen
Genuß, daß die europäischen Gäste es den Japanern nachmachen und
sich täglich durch zwei, drei Bäder erfrischen, nur werden sie von
ihnen nicht so heiß genommen wie von den Japanern, die ein seltsames
Wohlgefallen daran finden, sich mit heißem Wasser krebsrot brühen zu
lassen.

[Illustration: Tempelthor am See von Hakone.]

Miyanoshita ist reich an den herrlichsten Spaziergängen, und ohne seine
europäische Bequemlichkeit aufzugeben, hat man nirgends im Mikadoreiche
so gute Gelegenheit, das japanische Dorf- und Landleben kennen zu
lernen wie hier. Der ganze Distrikt ist eine entzückende Idylle, ein
Olymp in Wirklichkeit, mit zufriedenen, höflichen, stillen, arbeitsamen
Menschen, die aus der sie umgebenden herrlichen Natur einen Garten
gemacht haben. Arm wie Kirchenmäuse, hegen sie doch anscheinend keinen
Neid gegen die europäischen Protzen, die sie den Sommer über in ihrem
Bergparadiese stören, vielleicht haben sie einsehen gelernt, daß ihr
friedliches Landleben, ihre Beschäftigung, ihre bequeme Kleidung, ihre
einfache Gemüse- und Fischnahrung immer noch vorzuziehen ist der tollen
geschäftlichen Jagd, der Unruhe und Genußsucht dieser fleischfressenden
Ungetüme John Bull, Onkel Sam und Bruder Sauerkraut. Das japanische
Dorf Miyanoshita hat dem europäischen Badeort Miyanoshita nur insofern
Rechnung getragen, als in dem reizenden Theehause thalaufwärts Tische
und Bänke für die Badegäste angelegt wurden und zum Thee auch Löffel
und europäisches Backwerk serviert werden. In der Mitte des reizenden
kleinen Theehausgartens befindet sich ein Teich mit Tausenden von
Goldfischen, so zahm, daß sie Biskuit aus der Hand schnappen.

Die Missionare, Diplomaten, Kaufleute, Touristen, die sich hier in
den Bergen des Herzens von Japan allsommerlich aus allen Erdteilen
und Ländern zusammenfinden, kann man nur des Morgens und Abends
im Speisesaale vereint sehen. Tagsüber ist das große Hotel wie
ausgestorben. Nach dem Frühstück werden verschiedene Wanderungen
ins Gebirge angetreten. Die freundlichen japanischen Hauswirte in
tadelloser europäischer Toilette lassen den Wanderern ihren Lunch auf
japanische Weise in frisch gehobelte kleine Kästchen packen, vor der
Thüre stehen Dutzende von sehnigen jungen Kulis mit ihren Rickshaws,
Kagos oder europäischen Tragstühlen, dazu höfliche Führer, und man kann
wochenlang täglich auf anderen Wegen die Umgebung durchstreifen, um mit
jedem Tage entzückter von diesem herrlichsten aller außereuropäischen
Länder nach Miyanoshita zurückzukehren. Der Reihe nach besuchte
ich die reizenden Gebirgsdörfer Kiga, Dogashima, Miagino, badete
in gemischter japanischer Herren- und Damengesellschaft in den
Schwefelquellen des Badeortes Kodschigoku, bestieg den Sengenyama
und den Myojogatake, um den wunderbaren Ausblick auf die japanischen
Meeresküsten mit der vorgelagerten Vulkaninsel Oschima zu genießen und
auf der entgegengesetzten Seite die stolzen Formen des Fudschiyama zu
bewundern. Einige Tage später stand ich auch während eines wütenden
Taifuns auf der etwa viertausendzweihundert Meter über dem Meere
gelegenen Spitze dieses höchsten Bergriesen Ostasiens und blickte in
den furchtbaren, mit Rauch und Schwefeldämpfen gefüllten Krater hinab.

Aber der reizendste Tagesausflug von Miyanoshita ist doch jener nach
dem idyllischen Bergsee von Hakone. In bequemen Stühlen ruhend, die
von je vier kräftigen Kulis mittels langer elastischer Bambusstangen
auf den Schultern getragen wurden, brachen wir frühmorgens auf, um
zunächst in dem etwa fünfhundert Meter weiter oben im Gebirge gelegenen
Schwefelbad Ashinoyu Halt zu machen. Das Matsuzakahotel, halb in
europäischem Stil geführt, war gerade so gefüllt wie alle anderen mit
Hunderten von rheumatischen Japanern beiderlei Geschlechts, die in den
heißen Quellen dieser vulkanischen Regionen Heilung suchten, aber für
Europäer muß ein längerer Aufenthalt in diesem Ashinoyu entsetzlich
sein. Der Ort liegt auf einem vollständig kahlen, trostlosen Plateau
und ist den halben Sommer über in dichten Nebel gehüllt, während die
Schwefelquellen die ganze Gegend durchstänkern und die umliegenden
Sümpfe giftige Dämpfe aushauchen. So brachen wir denn nach kurzer
Rast wieder auf, um auf öden Bergwegen zwischen den gewaltigen
Kegeln des Kamiyama und des zweispitzigen Futagoyama (Zwillingsberg)
hinabzuwandern zu dem Hakonesee.

Auf der ganzen Strecke begegneten wir keiner menschlichen Seele;
ausgebrannte Kraterkegel ragen überall aus der baumlosen Hochebene
hervor, hier und dort liegen kleine, bläulich-grüne Seen, nirgends
ein Haus oder auch nur ein Flugdach; in dieser Einsamkeit haben
buddhistische Heilige sich durch Bildwerke, in die Felswand gegraben,
verewigt. Wie man in ganz Japan überall auf Weg und Steg kleinen
Steindenkmälern und Götzenstatuen begegnet, so schlummern auch hier
Dutzende in dem hohen, dürren Grase, darunter auch der riesige Dschizo,
eines der Meisterwerke japanischer Bildnerkunst.

Endlich sahen wir einen Teil des blauen, stillen Hakonesees zu unseren
Füßen liegen und hatten bald wieder die von ungeheuren Kryptomerien
beschattete Tokaidostraße erreicht. Auf dieser hier noch vortrefflich
erhaltenen, mit großen Steinen gepflasterten wichtigsten Heerstraße des
alten Japan weiterwandernd, erreichten wir gegen Mittag das idyllische
Dörfchen Moto-Hakone, am südlichen Ende des Sees gelegen, und einen
halben Kilometer davon entfernt ein japanisches Theehaus, Tsudschi-ya.
Mit seiner Vorderseite in den See hineingebaut, öffnen sich die durch
Papierwände in einzelne Zimmerchen geteilten Veranden auf die weite,
von Bergen umsäumte Wasserfläche, in deren Hintergrund der gewaltige
Fujiyama emporragt. Zur Rechten erhebt sich auf einer schmalen, in den
See vorspringenden Landzunge ein kaiserliches Schloß, das im Sommer
zeitweilig Mitgliedern der Herrscherfamilie zum Aufenthalt dient. Auf
der Theehausveranda nahmen wir unseren Imbiß ein, aufgetragen durch
ein liebliches, junges Mädchen, das uns zum Andenken auch noch kleine
Porzellannippsachen zusteckte, wohl als Erwiderung auf das reichliche
Trinkgeld, das sie sich mehr durch ihr freundliches Wesen als durch
besonders rasche Bedienung erworben hatte.

Als wir aufbrachen, um das bereitstehende Ruderboot zu besteigen,
kam ein gewaltiger Platzregen niedergeprasselt, der unsere weißen
Leinenanzüge und die Unterkleider bald bis auf die Haut durchnäßte. Das
Boot war mit Wasser derart gefüllt, daß wir auf unseren Stühlen Platz
nehmen und die Beine hochhalten mußten, während zwei von unseren Kulis
fortwährend mit den Kübeln das Wasser ausschöpften. Das ähnlich wie
unser Baedeker rot gebundene Murraysche Handbuch von Japan hatte ich
zum Schutz gegen die Nässe unter meinen Sitz geschoben. Da der Führer
ein baldiges Aufhören des Regengusses prophezeite und wir doch abends
wieder nach Miyanoshita zurückkehren mußten, machten wir gute Miene zum
bösen Spiel und ließen uns über den See nach dem Nordende desselben
rudern.

Von den Ufern, die an malerischer Pracht mit den Gestaden der
italienischen Riviera wetteifern, bekamen wir nur einzelne Stellen zu
sehen. Nach zweistündigem, angestrengtem Rudern erreichten wir die
Stelle, wo wir aussteigen mußten, um über die sogenannte Große Hölle
den Rückweg anzutreten. Unsere Kulis hoben uns mit den Stühlen aus
dem Boot und trugen uns, bis an die Hüften im Wasser watend, unter
fortwährendem, strömendem Regen ans Ufer. Als ich dort meinen Tragstuhl
verließ, um die steile Anhöhe des Kamuri zu Fuß emporzuklettern,
brachen plötzlich meine Reisegefährten, Europäer wie Japaner, in
schallendes Gelächter aus. Der rote Murray war in der Regenlache, die
sich unter meinem Sitz gebildet hatte, vollständig durchnäßt worden und
hatte meine weißleinenen Beinkleider gerade an ihrer bescheidensten
Stelle knallrot gefärbt.

Auf halsbrecherischen Pfaden, an den Seiten schwindelnder Abgründe,
führte unser Weg in das Thal von Miyanoshita zurück, und die
Höllengegend, die wir zu durchwandern hatten, wird uns durch ihre
großartige Wildheit und Einsamkeit wohl zeitlebens in Erinnerung
bleiben. Heiße Schwefeldämpfe dringen überall aus dem weichen Kalk-
und Schwefelboden, in dem unsere Füße stellenweise bis an die Knöchel
versanken; das Wasser, das aus zahlreichen Quellen hervorsprudelt, ist
ebenso heiß wie die nackten Felsen, die sie umgeben; dichte Nebelwolken
raubten uns den Ausblick, warme Schwefelwasserstoffgase den Atem; an
manchen Stellen brannte uns der Boden unter den Füßen, an anderen
mußten wir über gewaltige Steintrümmer uns den Weg bahnen, und das
bei unausgesetztem, strömendem Regen. Erst gegen Abend, als wir das
lachende, grüne Thal der Hayagawa erreicht hatten, kam die Sonne wieder
zum Vorschein.

Gerade diese Verschiedenheit der Landschafts- und Kulturbilder macht
Miyanoshita zu dem entzückendsten Aufenthalt, den man sich denken kann,
und wäre es in Europa gelegen, es würde gewiß zu unseren besuchtesten
Wallfahrtsorten der Sommertouristen zählen.

Nach mehrwöchentlichem Verweilen in dieser Bergregion des mittleren
Japan brachen wir endlich, nicht ohne Bedauern, auf, um nach der alten
Hauptstadt des Reiches, nach Kioto, zu fahren. Auf dem Wege dahin
blieben wir noch einige Tage in dem interessanten Nagoya, das, auf der
großen Eisenbahnlinie Tokio-Kioto gelegen, doch noch von europäischen
Einflüssen verschont geblieben ist und neben echt japanischem Leben
auch noch großartige Tempel, reichgefüllte Antiquitätenläden und
vor allem sein stolzes Daimioschloß besitzt. Dieses letztere, ein
mehrstöckiger Bau in Pyramidenform, wird von den berühmten zwei
goldenen Delphinen gekrönt, von denen einer auf der Weltausstellung
in Wien allgemeine Bewunderung erregt hat. Das alte Schloß, einst
die Residenz der mächtigen Fürsten von Owari, enthält in seinem
Innern nicht viel Sehenswertes mehr, denn die Zerstörungswut der
Staatsbehörden, der in den ersten Jahren der gegenwärtigen Regierung
so viele Herrlichkeiten des alten Japan zum Opfer gefallen sind, hat
auch dieses großartige Denkmal der Feudalzeit nicht verschont. Nur in
seinem Aeußern ist es so geblieben, wie es in der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts war.

Von Nagoya führte uns der Weg, teilweise in Rickshaws, teilweise im
Eisenbahnwagen, durch die gesegneten Gefilde des ehemaligen Fürstentums
Owari über Gifu an die Gestade des großen Biwasees und schließlich nach
Kioto.



[Illustration: Japanischer Buddha.]



Kioto, die alte Hauptstadt von Japan.


Der österreichische Thronerbe Erzherzog Franz Ferdinand sagt in seinem
spannenden Werke über die von ihm unternommene Weltreise mit vollem
Recht: „Was dem Katholiken Rom, dem Russen Moskau, dem Mohammedaner
Mekka, dem Buddhisten Kandy, das ist Kioto dem Japaner.”

Damit soll freilich nicht auch gesagt sein, daß Kioto sich irgendwie
mit Kandy, Mekka, Moskau oder gar mit Rom vergleichen lasse. Wer von
der alten Hauptstadt des Mikadoreiches eine Art Rom erwartet, wird
bei seinem Besuche dieser Hauptstadt gründlich enttäuscht. Kioto ist
keine Stadt von Palästen, von Kunstwerken, Denkmälern, Museen, von
großstädtischem Leben und Reichtum, wie Moskau oder Rom. Es besitzt
davon im vollen Sinne des Wortes nichts, und würde irgend einer der
zahllosen Adelspaläste der ewigen Stadt, irgend eine ihrer Kirchen
nach Kioto verpflanzt werden, sie würden die größten und vornehmsten
Bauten dieses japanischen Rom bilden; ja ich zweifle, ob die
hundertfünfzigtausend Häuser von Kioto zusammengenommen hinreichend
Mauerwerk enthalten, um damit nur einen einzigen römischen Palast bauen
zu können.

Kioto ist eine hölzerne Hüttenstadt, gerade so wie der Hauptsache nach
Tokio, wie Nagoya, Nagasaki und alle anderen Städte des japanischen
Inselreiches, nicht schöner, nicht reicher, nicht großartiger; aber es
ist dennoch die interessanteste Stadt. Warum, lernt der Reisende schon
nach einem Aufenthalte von mehreren Tagen kennen, besonders wenn er
zuvor die anderen Städte Japans besucht hat.

Die Landkarte zur Hand. Dort, wo die größte Insel des Mikadoreiches die
schmalste Stelle zeigt, beiläufig im Mittelpunkt des ganzen japanischen
Archipels, liegt der malerische Biwasee, an Größe etwa den Genfersee
erreichend. Westlich von diesem See liegt in einem von hohen Bergen
umschlossenen Thalkessel das alte Kioto. Für eine Kaiserresidenz war
die Lage gut gewählt, und thatsächlich lebten und starben hier seit
beinahe einem Jahrtausend eine lange Reihe von Kaisern, ungesehen
von ihrem Volke, eingeschlossen in einen von hohen Mauern umgebenen
Palast aus Holz und Papier. Erst die große Revolution sprengte vor
etwa fünfunddreißig Jahren die Fesseln, mit denen die allmächtigen
Vizekaiser, die Schogune, ihre kaiserlichen Puppen auf dem Throne
umfangen hielten. Im Triumph wurde der Kaiser, dieser Nachkomme der
Sonnengöttin, nach der neuen Residenzstadt Tokio, dem alten Yeddo,
geführt, Japan warf sich der europäischen Kultur in die Arme und
ließ Kioto zurück, wie ein ausgekrochener Schmetterling sein dünnes,
vertrocknetes Puppengehäuse zurückläßt. Der ganze Schwarm der Kuge,
dieses japanischen Hofadels, der Daimios, das schmetterlingsgleiche,
glänzende Gefolge des Kaiserhofes zog mit dem Mikado nach seiner neuen
Hauptstadt, und statt mit einem Rom ist Kioto eher mit einer unserer
verlassenen Fürstenresidenzen zu vergleichen.

Schon während der seither verflossenen drei Jahrzehnte hat es von
seiner früheren Bevölkerung etwa ein Drittel eingebüßt und besitzt
heute nur noch gegen dreihunderttausend Einwohner. Aber das ist nur der
Anfang von seinem Ende; die gegenwärtige Hauptstadt zieht viel von dem
Glanz und Reichtum, das benachbarte Osaka viel von Industrie und Handel
an sich; die verarmte Bevölkerung sucht anderswo besseren Erwerb, und
es wird Kioto vielleicht ähnlich, wenn auch nicht ganz so gehen wie
den japanischen Kaiserresidenzen vor Kioto und wie jenen in anderen
Ländern; es wird eine Stadt bleiben von historischen Erinnerungen.

Schade darum, denn die Lage dieser urjapanischen Stadt ist
entzückend. Ihre schnurgeraden, nach amerikanischer Schachbrettmanier
angelegten Straßen liegen zu beiden Seiten des Kamoflusses (Kamogawa)
ausgebreitet, in einer weiten, ovalen Mulde von der Form eines alten,
ausgebrannten Kraters. Aber an die Stelle der starren Lava sind üppige
Gärten getreten, das weite, graue, einförmige Häusermeer wird hier
und dort doch von schattigen Tempelhainen, von Gartenanlagen und
Squares unterbrochen und von den silbernen Bändern mehrerer Flußläufe
durchzogen. Die sanften Abhänge der Kioto umgebenden Berge sind mit
schönen Gärten bedeckt, zwischen denen zahlreiche Klöster, Tempel,
Heiligenschreine und Pagoden hervorlugen, und die Länderstriche der
ferneren Umgebung sind von den üppigsten Kulturen eingenommen, denn
diese zentralen Provinzen von Japan, in deren Mitte Kioto liegt, sind
die fruchtbarsten des ganzen Reiches.

Auch die neue Eisenbahn von Osaka nach Kioto hat kein neues Leben in
die alte Stadt gebracht, und die moderne halbeuropäische Kultur, deren
Einfluß man an vielen Dingen in Tokio und anderen Städten gewahrt, hat
Kioto vollständig unberührt gelassen.

Als ich, von der ganz europäischen Hafenstadt Kobe kommend, in Kioto
eintrat, brachte mich ein Kuli in einem der bequemen Rollstühle,
diesen japanischen Droschken, durch gerade, einsame Straßen nach einem
zweistöckigen Hotel, dem Kiotohotel. Es ist heute noch das einzige
europäische Gebäude der Stadt, ganz modern gehalten, wie irgend ein
Hotel in Europa. Trat ich aber aus dieser abendländischen Touristenoase
auf die Straße, so befand ich mich mitten im urjapanischen Leben.
Unabsehbare Reihen kleiner, höchstens ein Stockwerk hoher Holzhäuschen,
nach der Straßenseite weit geöffnet; hier und da Kaufläden mit Büchern,
japanischen Nippsachen oder Antiquitäten, oder ein Tempel mit mehreren
Thorbogen und schöngeschwungenem Dach. Die Straßen ungepflastert,
aber doch sehr reinlich gehalten; bei Tage nur wenig Verkehr, am
Abend schlecht erleuchtet und noch einsamer. Meilenweit auf und ab,
überall dasselbe. Die vollständig in europäische Tracht gekleideten
Japaner, die Männer ebensogut wie die Frauen und kleinen possierlichen
Mädchen, blieben stehen, um den Fremdling mit neugierigen Blicken
zu betrachten; die Kinder liefen mir nach oder bildeten einen Kreis
um mich, wenn ich bei irgend einem Kaufladen anhielt. Dem äußeren
Rahmen nach präsentierten sich die einzelnen Stadtviertel Kiotos wie
ebensoviele Dörfer des Berner Oberlandes, die ähnliche braune, mit
Veranden geschmückte Holzhäuser zeigen. Denkt man sich irgend eines
dieser Stadtviertel nach der Schweiz, etwa in das Emmenthal, versetzt,
so könnte es ganz gut als ein Berner Dorf gelten, nur würde das dichte
Beisammenstehen der Häuser und die Regelmäßigkeit und Reinlichkeit der
Straßen Verwunderung erregen.

Der Zauber von Kioto, ebenso wie der anderen Städte Japans, liegt
nicht in den Aeußerlichkeiten, die mehr als bescheiden sind, sondern
in dem Leben und Treiben seiner Einwohner, in Sitten, Trachten
und Festlichkeiten. Ueberdies birgt das äußerlich so einförmige
Straßengewirre in seinen unscheinbaren Häuschen dasjenige, was wir an
der japanischen Kultur am meisten bewundern und um was wir die Japaner
geradezu beneiden könnten: ihre Kunst und Kunstindustrie. Am Hofe des
Kaisers und seiner Großen ist sie in früheren Jahrhunderten großgezogen
worden, die Künstler standen ihr ganzes Leben lang im Solde der
Fürsten, und ihr Streben war es nicht, wie jener in anderen Ländern,
möglichst rasch zu Ansehen und Reichtum zu kommen, sondern Kunstwerke
zu schaffen, diesen ihre Individualität aufzuprägen. Arbeitsteilung war
diesen Künstlern unbekannt. Jedes ihrer Werke wurde von ihnen entworfen
und vom Anfang bis zur gänzlichen Vollendung allein ausgeführt. Die
Zeit, die sie dazu bedurften, war nebensächlich, und häufig ist es
vorgekommen, daß Künstler an einem einzigen Kunstwerk ihr ganzes Leben
lang gearbeitet haben. Da kam die Revolution. Der Kaiser und die
Fürsten zogen von Kioto fort, aber viele Künstler blieben in der alten
Hauptstadt zurück. In den kleinen Werkstätten, die sich durch keine
Schilder oder äußere Zeichen dem Fremden offenbaren, wird fleißig nach
den alten Grundsätzen weitergearbeitet, nur geschieht dies jetzt nicht
mehr für die bisherigen Ernährer und Förderer dieser Künstler, die
Fürsten, sondern für den allgemeinen Markt. Das konservative Element
ist in diesen Künstlerfamilien zu stark, und die Zeit, die seit der
Revolution verstrichen ist, war zu kurz, als daß sie sich den modernen
Verhältnissen hätten anpassen können, wie es leider in Tokio, in Osaka
und anderen japanischen Städten der Fall ist. Dazu ist in Kioto die
künstlerische Atmosphäre noch dieselbe geblieben; zahlreiche Fürsten
und Große entäußerten sich ihrer Kunstschätze, als die Regierung
ihre Länder und Einkünfte konfiszierte, und obschon der größte Teil
dieser Kunstschätze nach dem Abendlande gewandert ist und heute in
Museen und Privatsammlungen die Bewunderung aller Kenner erweckt, ist
doch noch vieles gerade in Kioto zurückgeblieben, das den dortigen
Künstlern zum Vorbilde und zur Grundlage für andere Kunstwerke dient.
So gewährt es dem Fremden das größte Interesse, diese bescheidenen
Künstlerateliers zu besuchen und zu sehen, wie die entzückenden Bronze-
und Emailsachen, Porzellane, Lackwaren, Malereien, Stickereien, Brokate
und Seidenstoffe aus den fertigen Händen mit so ungemein einfachen
Mitteln hervorgehen. Tagelang wanderte ich von einem zum anderen;
überall wurde ich mit der altjapanischen, in den Hafenstädten leider
auch allzurasch schwindenden Höflichkeit aufgenommen; überall wurde
mir mit großem Zeremoniell von zarten Mädchenhänden Thee vorgesetzt,
und nach langer Unterhaltung ließen sich die Künstler vielleicht
herbei, ihre schönsten, in Kisten auf das sorgfältigste verpackten
Kunstwerke zu zeigen. Ebensogroßes Interesse gewährte es mir, in den
zahllosen Antiquitäten- und Kuriositätenläden der, Mandschudschidori
genannten, Straße umherzustöbern, wo sich neben ganz modernen, auf den
europäischen Touristenmarkt berechneten Waren doch noch eine ganze
Menge altjapanischer Kunstwerke vorfindet. Uebrigens braucht man
sich in Kioto gar nicht in die verschiedenen Läden zu bemühen. Die
Bevölkerung ist einesteils durch die geschilderten Umstände verarmt,
anderseits hat sie mit der den Japanern eigentümlichen Findigkeit und
Schlauheit den Marktwert der alten Kunstprodukte rasch herausgefunden,
und teils aus Not, teils aus hochentwickelter Gewinnsucht suchen die
Händler oder auch Private die abendländischen Besucher der Stadt selbst
auf.

[Illustration: Das alte Kaiserschloß in Kioto (Umfassungsmauer).]

Schon bei meiner Ankunft am Bahnhofe wurden mir von einer Schar von
Agenten Visitenkarten, Zirkulare, Preiskurante, Einladungen und
dergleichen überreicht oder in meine Rickshaw geworfen oder in meine
Gepäckstücke gesteckt. Auf meinem Zimmer fand ich derlei Adressen zu
Dutzenden hinter dem Spiegel steckend oder auf dem Tische ausgebreitet,
und kaum hatte ich mit meiner Toilette begonnen, so klopften der
Reihe nach ein halbes Dutzend von Kellnern, Stubenmädchen, Agenten,
ja selbst kleine zierliche Nesans an meine Thüre, um mir Adressen zu
überreichen oder gar eine Menge von Kunstgegenständen verschiedenen
Werts, in Tücher gewickelt, vorzulegen. Wollte ich ausgehen, so
erwarteten mich diese ambulanten Verkäufer an jedem Treppenabsatze,
an jeder Korridorecke; kam ich nach Hause, so stand schon wieder eine
ganze Anzahl von ihnen mit Paketen und Rollen und Bündeln da, und
ich konnte mich ihrer nicht anders entledigen, als indem ich wirklich
einige der reizenden, aber dabei recht teuren Sächelchen erstand.
Damit hatte ich aber nur Oel ins Feuer gegossen. Mit staunenswerter
Schnelligkeit mußte sich die Nachricht von meinen Einkäufen in Kioto
verbreitet haben, denn am Tage darauf wurde ich in meinem Hotel von der
doppelten Zahl dieser Verkäufer belagert. Bei aller Zudringlichkeit
waren sie von einer Höflichkeit und Ehrerbietung, als wäre ich ein
König gewesen. Um ihre Waren kennen zu lernen, ließ ich sie mir doch im
Rauchzimmer des Hotels vorlegen. Einem nach dem andern wurde Audienz
erteilt. Den ersten hoffte ich los zu werden, indem ich ihm die Hälfte
seiner Forderung anbot. Flugs nahm er mich beim Worte, und ohne es zu
wollen, war ich um ein japanisches Kunstwerk reicher, um vierzig Mark
ärmer geworden. Dem zweiten bot ich ein Viertel seines Preises, und
zu meinem Schrecken wurde auch das angenommen. Dem dritten war die
Summe, die ich ihm anbot, doch zu gering. Damit hatte ich nun mein
Mittelchen gefunden. Ich bot den anderen ein Zehntel ihres Preises,
und das schreckte sie derart ab, daß sie mich schließlich nicht weiter
belästigten.

In den Kaufläden selbst ließen sich die Händler selten etwas
herunterhandeln, besonders in den großen Seiden-, Brokat-, Samt-
und Bronzeläden, welche die wichtigsten und schönsten Produkte der
Kunstindustrie von Kioto enthalten. Ueberall die größte Höflichkeit,
überall Thee, überall warfen sich die Verkäuferinnen vor mir nieder,
aber sie blieben fest bei ihren Preisen, die in der Regel das Doppelte
von dem betrugen, was den eingeborenen Japanern abgefordert wird. Hier
ein ergötzliches Beispiel dieser Beutelschneiderei, der man in Japan
überall ausgesetzt ist: Auf meinem ersten Spaziergange nach meiner
Landung in Yokohama fand ich in einem Curio Shop (Kuriositätenladen)
ein reizendes Glockenspiel, das in ähnlichen Läden in Paris zu fünfzig
Francs feilgeboten wird, mit zwanzig Mark bezeichnet. Natürlich
erwarb ich es sofort, ohne zu handeln. In Tokio wurde mir dasselbe
Kunstwerk um fünfzehn Mark angeboten, und da es wirklich hübsch war,
kaufte ich auch dieses Exemplar. Zu meiner Ueberraschung wickelte
einer der Händler, die mich in Kioto bestürmten, einmal noch ein
solches Glockenspiel aus seinem Bündel. Ich bot ihm die Hälfte meines
letzten Kaufpreises, also siebeneinhalb Mark, und ohne ein weiteres
Wort war der Handel abgeschlossen. Als ich eine Woche später nach dem
Birmingham von Japan, nach Osaka, kam, besuchte ich auch das dortige
Gewerbemuseum, und eines der ersten Objekte, das mir auffiel, war mein
Glockenspiel. Preis zwei Mark. Nun kaufte ich dieses erst recht und
noch ein zweites dazu, denn mit solchen Geschenken, die in Paris einen
Kaufpreis von fünfzig Francs besitzen, konnte ich doch nach meiner
Rückkehr bei meinen Freunden Effekt machen. Hoffentlich liest keiner
von ihnen dieses Bekenntnis.

Eine Kaiserstadt wie Kioto, welche in ihren (Holz- und Papier-)
Mauern eine Reihe von fünfzig Kaisern beherbergt hat und beinahe ein
Jahrtausend lang die Hauptstadt von Japan gewesen ist, mußte doch
noch die Paläste dieser Kaiser und seines hohen Adels haben, wenn auch
diese selbst vor einigen Jahrzehnten fortgezogen sind. In Nagoya,
in Fukuyama, in Okayama hatte ich die großen, ungemein malerischen
Burgen der alten Landesherren bewundert, welche die modernisierten
Vandalen trotz ihrer blinden Zerstörungswut gegen alles Altjapanische
noch haben stehen lassen: pyramidenförmige, mehrstöckige Pagoden,
umgeben von gewaltigen Ringmauern und Gräben. Wie herrlich mußten also
die Paläste der Kaiser selbst sein! In Tokio wird auch viel Wesens
davon gemacht, und die Erlaubnis zum Besuche der Kaiserschlösser
von Kioto mußte ich mir durch die Gesandtschaft bei der Regierung
selbst erwirken. Mit diesen Besuchspässen in japanischer Schrift,
reich mit viereckigen roten Stempeln versehen, fuhr ich eines Tages
zunächst nach dem im Nordosten von Kioto gelegenen, Goscho genannten
Kaiserpalast. Eine hohe Mauer mit sechs Thoren schließt denselben
gegen die Außenwelt ab. Durch das Mi-Daidokoro Gamon, d. h. „das Thor
der erhabenen Küche”, tretend, befand ich mich in einem öden, weiten
Hofe, auf dem sich noch vor dreißig Jahren die Paläste der Kuge,
d. h. der mit dem Kaiserhause verwandten Fürsten, befunden haben. Sie
fielen der „Revolution von oben” zum Opfer. Ein Hofbediensteter empfing
mich unter tiefen Bücklingen und führte mich in ein Bureau, wo mein
Besuchspaß durchgesehen und mein Name in ein Buch eingetragen wurde.
Hierauf begaben wir uns durch große, mit Bäumen bepflanzte Höfe zu
einem kahlen, ebenerdigen, mit breiten Veranden umgebenen Gebäude,
in dem ich die „erhabene Küche” oder die Wohnungen der Dienerschaft
vermutete. Es war aber der Kaiserpalast selbst. Ich mußte meine
Beschuhung mit weichen Hausschuhen vertauschen, deren Sohlen aus einem
Stück Seidensamt bestanden, eine Vorsicht, die ich begreiflich fand,
als ich die wie ein Pianodeckel polierten oder mit den zartesten
Strohmatten bedeckten Fußböden der Korridore und Wohnräume betrat.
Mit einer gewissen Ehrfurcht durchschritt ich die weiten Korridore,
deren Wände aus gehobelten Holzrahmen, mit weißem Papier überzogen,
bestanden, denn ich war ja im Begriff, die Empfangs- und Thronsäle
der ältesten Kaiserdynastie der Welt zu betreten. Welche Schätze,
welch erhabene Kunstwerke mochten hier in dem vornehmsten Palaste
dieses Landes der Kunst aufgespeichert sein, wie freute ich mich auf
die mir bevorstehende Augenweide! Mein Führer schob eine Papierwand
zurück und hieß mich eintreten. Ein weiter, niedriger Raum mit einer
etwa kniehohen Estrade an einem Ende. Auf der Estrade erhob sich ein
niedriges Zelt aus vergilbter, weißer Seide, mit schwarzen Bändern
behängt. Sonst war nicht das geringste Möbel zu sehen. Mit leisen
Worten teilte mir der Führer mit, dies sei der Thronsaal und das Zelt
der Thron des Kaisers. Wieder wurde eine Papierwand beiseitegeschoben,
ein zweiter papierener Raum ohne irgend welche Einrichtung, der
Empfangssaal; ein dritter Papierraum ohne Möbel, das Speisezimmer; ein
vierter das Schlafzimmer; nichts als Papierwände, weiche, geflochtene
Fußbodenmatten und sehr schön geschnitzte, reich bemalte Holzdecken.
Voilà tout. So gab es etwa dreißig, vierzig derartige Räume, nur
zeigten manche von ihnen künstlerische Wandmalereien, Bäume und
allerhand Tiere mit viel Geschmack und Genauigkeit gemalt, sonst aber
kein Bett, keinen Tisch, keine Vase oder Bronze, keine Blume. In einem
Saale waren die Wände mit Malereien bedeckt, die Fächer darstellten,
alle von solchem Geschmack, solcher Harmonie der Farben und Formen, daß
ich mich kaum davon trennen konnte. Aehnliche Gefühle wie die, welche
mich jetzt bewegten, hatte ich empfunden, als ich in Sakkara und Biban
el Meluk in Aegypten die Königsgräber besuchte. Auch dort sind die
leeren Räume mit ähnlich frischen Wandmalereien geschmückt. Aber wie
dort, so schien es mir auch hier, als lägen Jahrtausende zwischen den
Menschen, die zur Zeit ihrer Erbauung gelebt haben, und der Gegenwart.
Und ist nicht auch dieser Papierpalast ein Königsgrab? Ist er nicht
das Grab des alten Japan, das unvergleichlich viel anziehender,
interessanter, malerischer war in seinen Menschen und ihrer Kultur als
das nach europäischer Art gestiefelte und gespornte Japan von heute?
Schöner, großartiger, individueller ist der nicht weit vom Kaiserpalast
gelegene Palast der Schogune, Nidscho genannt. Die militärische Macht
dieser einstigen Vicekönige äußert sich noch heute durch die festen
Mauern mit pagodenartigen Ecktürmen, die ihn umgeben. Das Reisehandbuch
nennt den Nidschopalast einen Traum von goldener Schönheit, womit
wahrscheinlich die reichen Vergoldungen der Decken und Tragbalken der
einzelnen Räume gemeint sind. Die Räume sind größer und höher, die
Malereien kräftiger und kühner, einzelne in der That von besonderer
Schönheit. Das Ganze zeigt größeren Reichtum, größere Vornehmheit.
Geradezu blendend ist der goldstrotzende Audienzsaal der Schogune, und
leicht konnte ich mir im Geiste das imposante Bild vergegenwärtigen,
als diese nun in Staub liegenden großen Herren die in den prächtigsten
Kostümen prangenden Feudalfürsten des Landes empfingen, ein Bild, das
in solchem Glanz und solcher Fremdartigkeit wohl nirgends erreicht
worden ist. Aber wo ist das alles heute? An einem Tage wurde es
fortdekretiert, und nichts ist davon übrig geblieben als dieser
Schogunpalast, die trotz ihrer Leere immer noch imponierende Hülle.

Viel interessanter als diese beiden Paläste sind die zahllosen
Buddha- und Shintotempel, welche Kioto beherbergt, nicht weniger
als dreitausend an der Zahl mit achttausend Priestern. In dieser
Hinsicht ist Kioto wirklich ein Rom, ja es hat sogar seinen Papst
in der Person des Großbonzen der Schinsekte, dessen Haupttempel der
prächtige Higaschi-Hongwanschi ist. Tage verbrachte ich mit dem Besuche
der verschiedenen Tempel, mit ihren Tausenden und Abertausenden
von Buddhastatuen groß und klein, mit ihren bronzenen Göttern und
Göttinnen, ihren Opferschreinen und habgierigen, recht unheiligen
Priestern. Selten traf ich in diesen Tempeln andächtige Männer; die
Hauptbesucher waren Frauen, und wie opferwillig diese den Göttern
gegenüber noch heute sind, sah ich bei dem Bau des vorerwähnten
Higaschi-Hongwanschi.

Zahlreiche Arbeiter waren noch mit der Fertigstellung dieses
Riesengebäudes, eines der größten von Japan, beschäftigt, und in
einer Ecke des Bauhofes lagen zwei mannshohe Rollen von armdicken
schwarzen Tauen. Als ich näher trat, bemerkte ich, daß sie aus Haaren
geflochten waren. Mein Führer erzählte mir nun, daß die gewöhnlichen
Taue durchwegs zu schwach waren, um die ungeheuren Dachbalken dieses
mächtigen Baues beim Emporziehen zu tragen, und ihr Reißen hatte
mehrere Unglücksfälle zur Folge. Da weissagte ein Priester, daß
nur Taue aus Frauenhaaren stark genug sein würden, die Arbeit zu
ermöglichen. Und siehe, Tausende von Frauen opferten ihren Haarwuchs,
mehr als erforderlich war. Wo gäbe es im Abendlande Frauen, die
sich zu einem solchen Opfer entschließen würden? Hat es nicht seine
Berechtigung, wenn alle Reisenden das Lob der Japanerinnen singen?

Mehr als irgendwo lernt man in den Tempeln von Kioto das innere
Leben der Japaner kennen, ihre Geistesrichtung, ihren Aberglauben.
Dabei enthalten sie aber auch ungezählte Merkwürdigkeiten, deren
bloße Anführung allein schon ein Buch füllen würde. Und wie am Tage
die Tempel, so gewähren zur Nachtzeit die zahllosen Theehäuser des
Gion einen tiefen Einblick in die Sitten der Japaner. Gion ist das
Quartier der Leichtlebigkeit, oder soll man sagen Leichtliebigkeit? Die
Theehäuser sind ihrem Aeußeren nach bei weitem nicht so groß, reich und
einladend wie die Yoshiwara von Tokio oder Yokohama, ärmliche, niedrige
Häuschen, vor deren Thüren abends große weiße Papierlaternen mit recht
verfänglichen Inschriften brennen. Aber im Innern geht es dafür desto
toller zu. Aber auch im Freien kann man dieses eigentümlich muntere,
lose Treiben kennen lernen, besonders im Sommer, wenn der Kamogawa
ausgetrocknet ist und das Völkchen von Kioto es sich in dem weiten
steinigen Flußbette bequem macht. Oder an den zahllosen Festtagen
des Jahres, wenn die ganze Bevölkerung mit buntem Festschmuck in den
Straßen ist. Dann erst sieht man, daß Kioto noch lebt und daß die
Bevölkerung ebenso sorglos, ebenso urjapanisch ist wie zur Zeit der
Schogune.



Daimondschi, das japanische Totenfest.


Japan ist das Land der Feste, wie kein zweites auf Erden. In jeder
Woche finden in diesem gesegneten Inselreiche des fernen Ostens
Festlichkeiten statt, nicht nur solche, wie wir sie haben: Neujahr,
Kaisers Geburtstag und dergleichen, sondern Blumenfeste, Kinderfeste,
Erntefeste, Fluß- und Waldfeste, vor allem aber religiöse Feste ohne
Zahl. Die ganze Bevölkerung, hoch und niedrig, beteiligt sich daran.
Die Häuser, Straßen, Gärten, Plätze und Tempel sind im Festschmuck,
ebenso wie das Volk, das mit Kind und Kegel hinauszieht ins Freie.
Landet ein Fremder an solchen Festtagen in Japan, er könnte sich auf
irgend einem anderen Planeten denken, so fremd, so eigenartig sind
die ungemein lebhaften, farbenreichen Bilder, die sich ihm überall
darbieten, heute noch gerade so wie vor Jahrhunderten, denn was von
der europäischen Kultur an Aeußerlichkeiten in Japan angenommen wurde,
beschränkt sich auf die kleinsten Kreise und spielt in dem großen,
alles beherrschenden Volksleben gar keine Rolle.

Am zahlreichsten sind im japanischen Kalender, wie schon gesagt, die
religiösen Festlichkeiten, solche der Buddha- und Shintoreligion,
ohne daß sich das niedere Volk in seiner Unwissenheit und dabei
auch Gleichgültigkeit in religiösen Dingen eine Vorstellung von der
eigentlichen Bedeutung dieser Feste macht. Genug, daß es ein Matsuri,
ein Fest ist, und Gelegenheit bietet, sich zu unterhalten, den Tag über
im Freien zuzubringen, die schönsten Kleider anzulegen, mit Verwandten
und Bekannten zu zechen.

Nur eines dieser Feste wird vom Volke im ganzen Lande verstanden, das
Fest der Toten, oder wie wir es nennen würden, Allerseelen.

Wohl ist von der modernen Staatsregierung in Japan offiziell
wieder die altangestammte Religion der Japaner, der Shintoismus,
im Lande eingeführt worden, aber das Volk steckt doch noch ganz
im buddhistischen Glauben, der viele Jahrhunderte lang bis zur
gegenwärtigen Restauration der herrschende war. Nach diesem Glauben
kommen im August jeden Jahres die Seelen der Verstorbenen für drei
Tage wieder auf die Erde, besuchen ihre Familien, Heimstätten und
Lieblingsplätze, um am Abend des dritten Tages wieder ins Jenseits
zurückzukehren.

Diese Geister müssen nach der Meinung des Volkes festlich bewirtet
werden, und deshalb wird das Totenfest im ganzen Lande wie kein zweites
gefeiert, besonders in der alten Hauptstadt Kioto.

Als ich Mitte August von einer längeren Reise wieder nach Kioto
zurückkehrte, zeigte sich mir diese sonst verhältnismäßig einförmige
Stadt in geradezu feenhafter Farbenpracht. Straßen auf, Straßen ab,
nichts als bunte Fahnen, Flaggen, Festons; an den Häuserfronten in
meilenlangen Reihen bunte Lampions in jeder Größe und Form, auf jeder
Hausterrasse Blumen, Reisig, Papierguirlanden, besonders reich an
solchen Häusern, in denen sich im abgelaufenen Jahre ein Todesfall
ereignet hatte.

Blickte ich in diese dünnen Holzhäuschen mit zurückgeschobenen
Papierwänden, dann sah ich vor den kleinen Familienaltären, welche
dem Andenken der Toten geweiht sind, glimmende Weihrauchkerzen, deren
leichter Rauch sich in dünnen Fäden emporschlängelte, und zwischen
ihnen kleine Porzellanschälchen mit Reis und Reiswein, als Speise
und Trank für die Toten. In den vornehmsten Yaschiki (Palästen) der
Großen wie in den ärmsten Hütten, im Hintergrunde der Kaufläden, in
Werkstätten, überall werden die Seelen der Verstorbenen auf diese
seltsame Weise bewirtet, ohne daß dabei von Andacht oder Trauer etwas
wahrzunehmen wäre. In den Straßen drängten sich die Menschen in ihren
malerischen langen Festkleidern: Männer in dunklen, schlafrockartigen
Kimonos, Frauen mit bunten Sonnenschirmen und Fächern, Mädchen mit
hellfarbigen Kleidern und roten Unterröcken, alle gepudert und
geschminkt, daß ihre Gesichter wie Puppenlarven aussahen; kleine
putzige Kinderchen tummelten sich in großer Zahl zwischen den
Erwachsenen herum, womöglich noch bunter gekleidet als die letzteren.

Wenn immer ich in meinem zweiräderigen Wägelchen, der Rickshaw,
sitzend um irgend eine Ecke bog und in eine neue Straße einlenkte,
dann bot dieselbe in ihrer Gesamtheit ein seltsam prächtiges Bild
dar. Die Sonnenstrahlen leuchteten auf diesen Unmassen von roten,
gelben, blauen, grünen Sonnenschirmen, auf diesen Tausenden von ebenso
bunten Schlafröcken, die sich auf- und abbewegten, spielten auf den
Blumensträußen und Fächern, die sich in unzähligen Händen befanden.
Diese farbenreiche Menschenmenge wogte zwischen den bunten Häuserreihen
einher, wie ein ungeheures Blumenbeet in Bewegung. Und fuhr ich dann
mitten durch dieses Gewühl, dann bemerkte ich nur fröhliche Gesichter;
die Alten blickten vergnügt umher, die Mädchen, diese lieben kleinen,
reizenden Musmis, kicherten, die putzigen Kinder lachten, sprangen und
tanzten, als gälte es irgend ein besonderes Freudenfest zu feiern,
nicht ein Trauerfest für die Toten.

Das Ziel der meisten waren die Friedhöfe. Dort zwischen den langen
Reihen von gleichförmigen niederen Grabsteinen standen bei jedem
einzelnen Grabe Bambusstöcke, in deren Oeffnungen frische Blumen
steckten. Die fröhliche Menge zeigte nicht die geringste Ehrfurcht oder
Scheu vor den letzten Ruhestätten ihrer Toten. Lachend und scherzend
stiegen sie über diese hinweg, erneuerten hier und dort die Blumen,
banden bunte Lampions an die Stöcke oder stellten Oellämpchen auf die
Grabsteine, denn heute Abend, dem dritten des Totenfestes, sollten die
Seelen der Verstorbenen wieder zurückgeleuchtet werden in das dunkle
Jenseits.

Kaum brach die Dämmerung an, so leuchtete es auf den Friedhöfen wie in
den Straßen und Häusern überall auf, anfänglich nur schwach, später
in grellen Farben. Hunderttausende von Papierlampions brannten längs
der Häuser, die mit ihren Papierwänden im Grunde genommen selbst wie
ungeheure Lampions erschienen. Dazu kamen die Lampions, welche die
Menschen in den Straßen umhertrugen, auf langen Stöcken über ihren
Köpfen, oder in den Händen, oder zu beiden Seiten der geräuschlos
umherrollenden zahlreichen Handwägelchen. Das ganze Gewühl hatte
etwas Seltsames, Phantastisches an sich: die Abwesenheit von Wagen
und Pferden in den Straßen, das eigentümliche Geräusch der auf dem
Straßenboden einherschlürfenden Holzpantoffeln, die von den roten
oder blauen oder gelben Lampions in dieselben Farben getauchten
Gestalten mit den fremdartigen Gesichtszügen, die weißen, bemalten
Larvengesichter der Frauen: es schien mir, als wären all diese Wesen
die Verkörperung jener Seelen, welche, aus dem Jenseits herabgekommen,
heute noch in Kioto weilten, auf der Rückwanderung begriffen nach ihrem
unbekannten Seelenheim, nach dem Nirwana, als wäre Kioto aus einer
Stadt von Lebenden heute in eine Stadt der Geister ihrer Vorfahren
verwandelt.

Ich fühlte mich beinahe unheimlich inmitten dieser Tausende und
Abertausende, unter denen ich der einzige Europäer war, und ich ließ
mich nach dem Kiotohotel zurückführen, um von den Fenstern meines im
obersten Stockwerk gelegenen Zimmers den Gesamteindruck der Stadt zu
genießen. Als ich dort eintrat, gewahrte ich auf dem schwarzen Felsen,
der sich wie ein Turm im Osten der Stadt hinter Maruyama erhebt, einen
Lichtschein. Wie die Flamme einer ungeheuren Fackel schwankte der
ferne Lichtschein den steilen Abhang des Daimondschiyama entlang; dann
erschien ein zweiter, ein dritter, dann Dutzende und Dutzende, bald
hier, bald dort, Irrlichtern gleich, gespensterhaft, hoch empor, wie
leuchtende Flammenwege, die ins Jenseits führen. All diese Flammen,
flackernd, vom Winde bewegt, bald erlöschend, bald wieder aufleuchtend,
verbanden sich allmählich zu Linien, die einander begegneten, einander
kreuzten, und schließlich stand das chinesische Schriftzeichen
Dai, einem verschlungenen ~A~ nicht unähnlich, in ungeheuren
Flammenlinien auf dem hohen Berge.

Und während sich dort diese Flammenschrift formte, erstrahlten auf
diesem und jenem Berge in der Dunkelheit andere Riesenflammen, nicht
willkürlich und formlos, sondern bestimmte Umrisse annehmend, Linien,
wie erstarrte Blitze, Dschunken, Pagoden, Schriftzeichen, Thorbogen und
dergleichen. Ganz im Westen, wahrscheinlich auf den schwarzen Flanken
des Araschiyama, erschien ein derartiger japanischer Thorbogen, ein
Torii, wie ihn die Japaner nennen, von ganz ungeheuren Dimensionen,
mit turmhohen brennenden Pfeilern und Querbalken, so lang wie Brücken.
Wohin ich mich auch wenden mochte, gigantische, gespensterhafte
Feuerzeichen überall, auf allen Höhen rings um die tief in einem weiten
Thalkessel lagernde Stadt, und in den Straßen dieser letzteren selbst
Myriaden bunter Lichter in langen Linien, mit anderen, die dazwischen
einherjagten, als wären es wirklich die Seelen der Verstorbenen, die
jenen flammenden Himmelszeichen, jenem feurigen Thorbogen zueilten.
Darüber die finstere, kohlschwarze, sternenlose Nacht.

Als sich mein Auge an dieses seltsame Meer von Flammen und Lichtern
gewöhnt hatte, bemerkte ich erst, daß ringsum auf den Hausdächern,
auf Tempeln und Pagoden dunkle, schweigsame Gestalten standen, wie
die sterblichen Hüllen jener irrlichtgleichen Seelen, die dort
unten in den Straßen weilten. Als aber erst das große Flammenthor
in seinen ganzen Umrissen brannte, als das Dai-Zeichen riesengroß
durch die Nacht leuchtete, da erhob sich von diesen Gestalten auf
den Dächern, den Bewunderern des feenhaften, höllischen Schauspiels,
lautes Jubelgeschrei, das sich in den Straßen unten fortpflanzte, der
Enthusiasmus der lebhaften, leicht beweglichen Volksmengen war entfacht
und machte sich durch donnernde Rufe Luft.

Nach einer halben Stunde begannen die vielen Feuerscheine zu
verblassen, allmählich zu erlöschen, die langen Reihen zerfielen wieder
in einzelne Flammen, aus dem hellen Leuchten wurde dunkelrote Glut,
wie die an Vulkanseiten hängende Lava, und dann erlosch auch diese,
nur hier und da kleine Flämmchen, kleine flackernde, im dichten Rauch
leuchtende Pünktchen zurücklassend, als wären die Heerscharen des
Jenseits nunmehr zurückgekehrt und hätten nur noch einzelne Verspätete
auf dem Wege zurückgelassen.

Dann ward es wieder dunkle Nacht, aber noch für lange nachher blieben
diese glühenden Zeichen in meinen Augen, wie man das Bild der
Sonnenscheibe, in die man geblickt, noch weiter sieht, selbst wenn man
das Auge schließt.

Fürwahr, die feisten, faulen, spekulativen Buddhistenpriester kennen
ihr Volk und verstehen es, das Interesse an ihrem Tempelzauber im
Volke lebendig zu erhalten. Jahrhunderte hindurch haben die Mönche
der Klöster auf den Kioto umgebenden Bergen die einfache, harmlose
Bevölkerung ihrer Dörfer zu bewegen vermocht, das ganze Jahr über Holz
zusammenzutragen und es auf den Berghängen in die bestimmten Linien
jeder Flammenfigur niederzulegen. Welche Holzmassen herbeigeschleppt
werden müssen, geht schon daraus hervor, daß jede der längeren Linien
des Schriftzeichens Dai sich über eine Strecke von zweidrittel
Kilometer hinzieht.

Ich stieg nun wieder in das Straßengewirr herab und folgte dem bewegten
Menschenstrom, der sich dem breiten Bett des Kamogawa zuwälzte. Der
Kamogawa, in der trockenen Jahreszeit nur ein wasserloses, steiniges
Flußbett mitten im Herzen von Kioto, ist der eigentliche Hauptplatz der
Stadt, der Mittelpunkt des geselligen Verkehrs und der Vergnügungen.
Diesmal zog sich in seiner Mitte noch ein ziemlich beträchtlicher
Wasserstreifen hin, so daß sich die fröhlichen Volksmassen den
Vergnügungen zu Wasser und zu Lande hingeben konnten. Als ich aus
der langen, menschenerfüllten Sandschoristraße heraus und auf die
große Kamogawabrücke kam, blieb ich, geblendet von dem Anblick des
Flußbettes, unwillkürlich stehen. Es erschien mir wie ein ungeheurer
Ballsaal, in welchem eben ein tolles Maskenfest gefeiert wurde,
lebhafter, farbenreicher, glänzender, großartiger als jene des
Abendlandes zur Zeit des Karnevals. An den beiderseitigen Flußufern
zogen sich fast ununterbrochene Reihen von Theehäusern, Restaurants,
Schaubuden, Theatern hin, alle nach der Flußseite mehr oder weniger
offen und von zahllosen farbigen Lampions erleuchtet. Derartige Buden
waren auch im Flußbett selbst errichtet, fast bedeckt mit Lampions,
und zwischen diesen Buden und jenen der Ufer spannten sich Bögen von
Lampions; Lampionketten zogen sich auf dem Wasserlauf selbst entlang,
umkränzten die offenen Bühnen der Tänzerinnen, Schauspieler und
Zauberkünstler, baumelten auf den zahlreichen Vergnügungsbooten im
Flusse, oder bewegten sich, getragen von den Spaziergängern, zwischen
der Budenstadt auf und ab, Leben, Farbe, Licht, Bewegung, Gelächter,
Gesang, Musik überall, und das einen Kilometer weit stromauf und
-abwärts. Aber das war nicht alles. Langsam schritt ich über die Brücke
und gelangte nun in die eigentliche Vergnügungsstraße der „heiligen”
Stadt der Japaner, nach der Teramadschidori, in der jedes Haus nur dem
Vergnügen gewidmet ist. Die Straße ist mit Bambusmatten, über Gerüste
ausgebreitet, eingedeckt, und von dieser Decke, ebenso wie von den
einzelnen Häusern hängen so zahlreiche Petroleumlampen, Glas- und
Papierlampions, daß die Straße gewöhnlich taghell erleuchtet ist. Große
Transparente preisen die Vorstellungen der Theater, der Geishamädchen,
Sängerinnen, Tänzerinnen an und locken schon zu gewöhnlichen Zeiten
das leichtlebige Volk von Kioto scharenweise herbei. Wie erst heute
am Bon Matsuri, am Seelenfeste! Jeder Raum, jedes Theehaus, jedes
Plätzchen im Flußbett selbst war mit fröhlichen Menschen gefüllt, die
sich gütlich thaten und dabei den Darstellungen der Künstler lauschten.
Keine Stadt Japans hat so schöne Geishamädchen, so ausgezeichnete
Tänzerinnen, so fertige Akrobaten und Zauberkünstler; und sie alle,
Tausende an der Zahl, gaben heute das Beste, das sie vermochten. Die
Japaner sind Freunde von Picknicks; einzelne Familien hatten sich
zusammengethan, um den Abend unter freiem Himmel im Flußbett drunten zu
verleben, sie hatten Geishamädchen angeworben, um für sie zu musizieren
und zu tanzen. Ueberall gab es heute derartige malerische Gruppen.
Im Kreise kauerten die Familien mit ihren festlich geschmückten
Kindern (selbst die kleinsten müssen bei solchen Gelegenheiten
dabei sein) auf dem Boden, aßen mit ihren Eßstäbchen Süßigkeiten,
Reiskuchen und eingemachte Früchte, tranken dazu Sake (Reiswein) oder
rauchten ihre winzigen Pfeifchen; zwischen ihnen hockten blutjunge,
phantastisch geputzte kleine Mädchen mit der japanischen Guitarre,
Flöte und Trommel, und während sie musizierten, tanzten die berühmten
Geishas von Kioto den Bonodori, einen religiösen, hauptsächlich in
Posen und Körperschwenkungen bestehenden Tanz, der buddhistischen
Ursprungs sein soll. Solche Bilder wiederholten sich im Flußbette
unzähligemale, hier und dort tanzten auch die Zuseher, einen Kreis
bildend, mit den Geishamädchen um die Wette. Ueberall Gesang, überall
Guitarregeklimper, Trommelschlag, Gläserklang, Gelächter, Bewegung.

Die reizenden japanischen Mädchen in ihren malerischen Festgewändern,
Schmetterlinge und Blumen im Haare, promenierten dazwischen Arm in
Arm, auf und nieder, scherzten mit den Bekannten, bewarfen die auf
dem Fluß einherziehenden Boote mit Blumen; Kinder umringten die
ambulanten Verkäufer von Süßigkeiten, bewunderten die Fertigkeit der
Taschenspieler und lachten über die mitunter recht obscönen Scherze der
Märchenerzähler. Unter all diesen Zehntausenden befand sich nicht ein
einziger Europäer, nicht einmal ein europäisch gekleideter Japaner, es
war ein urjapanisches, urheidnisches Fest, und wer Gelegenheit gehabt
hat, dieses oder irgend ein anderes Fest, selbst in den für Europäer
offenen Städten Japans mit anzusehen, der wird von der vermeintlichen
„europäischen” Kultur der Japaner einen sonderbaren Begriff bekommen.
Steckt die europäische Kultur etwa allein in Eisenbahnen und Kanonen?
Gehören nicht auch das Christentum und die Moral dazu?

Aber unter all den Japanern, die sich auf dem breiten Flußbette des
Kamogawa gütlich thaten, befand sich wohl kein einziger Christ, von
der Moral gar nicht zu sprechen. Wohl waren die losen, leichtfertigen
Geishamädchen von ihren bemalten hübschen Köpfchen an bis zu den
Fußspitzen bekleidet, aber in ihren Tänzen trieben sie mitunter die
Unmoralität auf das äußerste, vor den Augen ganzer Familien, vor den
Augen junger Mädchen, vor Kindern! Und diese blickten naiv, aufmerksam
über jede Obscönität lächelnd auf solche Darstellungen! Es steckt in
diesem merkwürdigen Volk doch noch ein gutes Stück Barbarentums, und so
schön, so malerisch und glänzend ihre Festlichkeiten auch sein mögen,
so sehr auch Europäer davon geblendet werden, es kommt doch dabei
die ungeheure Kluft zum Vorschein, die uns christliche Bewohner des
Abendlandes von diesen heidnischen Orientalen heute und noch auf lange
Zeit hinaus trennt.



[Illustration: Beim Musizieren.]



Japanische Musmis.


Lustige Weiber in der That! Lustig und dabei neckisch, kokett, hübsch
und zärtlich, reizende Wesen, wie geschaffen, dem Manne das Leben zu
versüßen. Fragt man einen Weltfahrer, welches Land ihm vor allen am
besten gefallen hat, so wird er gewiß zur Antwort geben: Japan; und
fragt man ihn, was ihm in Japan am besten gefallen hat, so ist die
gewöhnliche Auskunft: die Japanerinnen.

Das beste dabei ist, daß er in neun Fällen unter zehn die wirklichen
Japanerinnen gar nicht kennen gelernt, vielleicht gar nicht gesehen
hat. Wie die Frauen der besseren Stände bei den meisten orientalischen
Völkern, so bleiben diese auch in Japan dem öffentlichen Leben fern;
selten erscheinen sie auf der Straße, selten bei gesellschaftlichen
Anlässen, und jene, mit denen der Europäer in Japan in Berührung
kommt, sind höchstens die Frauen der Minister, des Adels und der
Hofwürdenträger; aber diese haben in den meisten Fällen dem alten Japan
Adieu gesagt und sich dem neuen europäisierten Japan angeschlossen,
prangen in Federhüten, Miedern und Stöckelschuhen, sprechen fremde
Sprachen und tanzen Walzer und Quadrille. Der Europäer, der Japan
bereist, und mag er sich auch Jahre in diesem herrlichen Lande
aufhalten, lernt gewöhnlich nur die Frauen aus dem Volke kennen,
die Verkäuferinnen und Ladenmädchen, die Wirtinnen und Kellnerinnen
in den Theehäusern, die Sängerinnen, Tänzerinnen und andere. Wird
er von irgend einem Japaner der besseren Stände zum Diner oder Thee
geladen, so geschieht dies in der Regel nicht in dem Wohnhause des
Japaners, sondern in irgend einem Theehause, und an die Stelle der
Hausfrau mit ihren Töchtern treten Mädchen, die um so und soviel die
Stunde gemietet werden, um den Gästen die Honneurs zu machen und
durch Witz, Munterkeit, Gesang und Tanz die Zeit zu vertreiben. Die
Japanerinnen sollten diesen kleinen, zierlichen Demoiselles zu Dank
verpflichtet sein, denn wer weiß, ob sich die Frauenwelt von Dai-Nipon
in Europa eines so liebenswürdigen Rufes erfreuen würde, wenn sie dem
reisenden Europäer in allen ihren Ständen und Gesellschaftsklassen
gerade so zugänglich wäre wie jene von, sagen wir, Amerika. Vielleicht
wäre dieser Ruf auch nicht so, wie er ist, wenn die Japaner es den
Europäern gleichthun und zu den Verrichtungen in Kaufläden, in
Hotels und Theehäusern Damen von gesetztem Alter, ehrbare, gesittete
Hausfrauen, ungeschlachte Dienstboten aus den Dörfern herbeiziehen
würden. Was dem europäischen Reisenden in den ihm offenstehenden
Lokalen entgegentritt, sind durchwegs niedliche, junge Mädchen im
Alter von zehn bis siebzehn, höchstens zwanzig Jahren, so zart und
hübsch und appetitlich wie Meißner Porzellanfigürchen, denen die gütige
Vorsehung Seele und Leben eingeflößt hat. Ganz Japan sieht in seinen
Provinzhotels und Theehäusern aus wie ein großes Mädchenpensionat,
und es müßte schon ein ganz verzweifelt hoffnungsloses Exemplar von
vertrocknetem Gelehrten sein, das in so reizend schäkernder, naiv
spielender Umgebung nicht außer Rand und Band geriete. Kommt man da
in irgend ein Provinzialhotel, so trippeln geschäftig drei, vier,
fünf kleine possierliche Jüngferchen herbei und werfen sich vor dem
Fremdling nieder. Mit unnachahmlicher Grazie sinken sie auf ihre Knie,
legen ihre Körperchen zurück, so daß sie auf ihren Waden sitzen,
und machen dann ihre Verbeugung so tief, daß sie mit ihrem Näschen
beinahe den Boden berühren. Welch beneidenswerte Gelenkigkeit! Dann
raffen sie sich wieder auf, nehmen dem Gaste mit reizendem Lächeln
seine Gepäckstücke und Siebensachen ab und rücken ein weiches Kissen
zurecht, auf dem er Platz nehmen muß. Flink wirft sich wieder ein
Jüngferchen vor seine Füße auf den Boden und löst ihm die Schuhe von
den Füßen. Man ist ganz beschämt. Solch zarte winzige Händchen und so
schwere, plumpe, schmutzige Stiefeln! Aber da hilft kein Sträuben.
Kichernd und schelmisch führen sie dann den Fremden auf die glänzenden,
blank geputzten Matten oder auf einem Holzfußboden, so schön wie ein
Klavierdeckel, weiter, schieben einige Holzrahmen mit weißem Papier
überspannt zu einem Viereck zusammen, so daß ein Kämmerchen daraus
entsteht, und man ist auf seinem Zimmer. Natürlich keine Thüre, keine
Nummer, kein Schloß und Riegel, keine Fenster. Die spanischen Wände
werden alle Augenblicke von den kleinen, stets lächelnden Mädchen
auseinandergeschoben. Fräulein Sonnenschein trägt einen Kimono, dieses
bequeme Universalkleidungsstück Japans, Fräulein Mohnblüte bereitet
das Nachtlager, Fräulein Frühling richtet das Bad zurecht und hilft
einem beim Auskleiden. Nein, so eine Naivität! Odysseus ist auf seiner
Insel nicht so herrlich aufgehoben gewesen wie der Reisende in Japan.
Man dünkt sich wie der einzige Mann in einem Reiche voll hübscher,
junger Frauen. Ist man nach dem Bade in seinen Kimono geschlüpft,
so wird die ehrenwerte Mahlzeit aufgetragen. Ein Fräulein trägt den
ehrenwerten Tobakomon mit dem Hibatschi herbei, d. h. ein Kästchen mit
glimmender Kohle und einem Aschenbecher, denn es wird vorausgesetzt,
daß jedermann Raucher ist. Dann wird ein winziges, niedriges
Tischchen herbeigetragen mit allerhand japanischen Leckerbissen und
dem unfehlbaren Tscha, d. h. Thee. Tische, Stühle, Fauteuils nach
unserer Art sind natürlich nicht vorhanden; dafür giebt es schwellende
Kissen auf dem Boden, und man muß lernen auf seinen Waden zu hocken.
Geräuschlos schlüpfen die kleinen Musmis aus und ein, richten die
blendend weißen Eßstäbchen zurecht, gießen aus Porzellanflaschen
warmen Reiswein in die Schalen und machen sich in jeder erdenklichen
Art nützlich. Man kann nichts thun, ohne eine Musmi an seiner Seite
zu haben, selbst in dringenden Fällen, wo man allein sein will. Sie
sind wie Peter Schlemihls Schatten fortwährend auf unseren Fersen. Ob
man ehrenwerte Musik hören will? Natürlich. Arigato, danke. Sofort
treten ein paar kleine liebliche Mädchen vor, eine hübscher, putziger
als die andere. Sie kauern sich an der Papierwand gegenüber auf die
Fersen, nehmen den Samisen, d. h. die japanische Guitarre, oder den
Koto (eine Art Zither) zur Hand und zupfen ohne Unterlaß an den Saiten
herum. Ob man einen ehrenwerten Tanz sehen will? Gewiß. Eine oder
zwei Tänzerinnen huschen herein, phantastisch aufgeputzt in reichen,
goldstrotzenden Gewändern und tanzen.

Nacht. Man hat sich endlich, ganz verwirrt von dem liebreizenden
Empfang, auf die harte Matratze zwischen den vier Papierwänden
hingestreckt und muß sich wahrhaftig in die Beine zwicken, um zu
sehen, ob man nicht träumt, ob dieses Schlaraffenleben Wirklichkeit
ist. Draußen auf der Veranda brennt ein Licht in einem farbigen
Lampion; aus der Ferne hört man Gesang und frohes Gelächter, dazu
überall das Gezupfe auf den Samisen; zuweilen huscht ein Schatten an
den durchscheinenden Papierwänden vorbei. Wer nur in den Nebenräumen
schlafen mag? Man braucht ja bloß die Wände auseinanderzuschieben, nur
ein klein wenig, ja nicht einmal das. Das Papier ist ja leicht mit
dem Finger zu durchstechen. Richtig, da ist es schon. Andere haben
denselben Gedanken gehabt. Ein leichtes Geräusch am zerreißenden
Papier, ein einziges Fingerchen hat sich den Weg in unser Schlafgemach
gebrochen, verschwindet, und in der Oeffnung erscheint ein schwarzes,
glänzendes, neugieriges Auge. Kracks. Noch ein zweites Loch, ein
zweites Auge. Was doch die Japanerinnen neugierig sind! Auf einer
Seite im Nebenraume ein leichtes Seufzen, ein Klopfen, wie wenn ein
Kapellmeister seinem Orchester abklopft. Leichter Tabakgeruch dringt
zwischen den Spalten in unser Gemach. Wir sind aber auch neugierig. Wer
da wohl drinnen sein mag? Mit dem Taschenmesser wird mäuschenstill ganz
unten am Boden ein Loch durchs Papier geschnitten, da hockt ein Musmi
in recht, recht leichter Kleidung vor ihrer Matratze und schmaucht noch
vor dem Schlafengehen ein winziges Pfeifchen, nicht größer als ein
Bleistift mit einem aufgesetztem Fingerhütchen. Ein, zwei tiefe Züge,
dann klopft sie das Pfeifchen an dem Hibatschi wieder aus und steckt
eine Kleinigkeit Tabak, den sie zwischen den Fingern zu einer Erbse
gedreht hat, in den Fingerhut. So raucht sie fünf, sechs Pfeifchen,
legt sich dann auf die Matratze, schiebt sich den kleinen, ziegelgroßen
Holzklotz, der ihr als Kopfkissen dient, vorsichtig unter den Nacken,
damit ja ihre sorgfältige Haarfrisur nicht in Unordnung gerät, und
zieht eine dicke, geblümte Decke über das winzige Körperchen. Gute
Nacht! Ob sie wohl ahnt, daß neben ihr ein Europäer weilt? Ob sie
seinen Seufzer gehört hat? Alle Japanerinnen sind doch nicht neugierig.
Sie schläft.

Am Morgen wieder dieselbe Geschichte. In Japan kennt man kein
Anklopfen an die Thüre, kein Hereinrufen. Man mag gerade bei den
privatesten Toilette-Angelegenheiten sein, die Papierwände werden
auseinandergeschoben, frei und mit dem freundlich warmen Sonnenlichte
dringt auch Fräulein Frühling wieder lächelnd ein. Das Bad ist
bereit, der Frühstücksthee u. s. w. Während dieser Zeit werden die
Matratzen wieder zusammengerollt und fortgetragen, die Effekten und
Toilettesachen eingepackt, die Papierwände auseinandergeschoben, der
Boden geputzt und geglättet wie ein Spiegel, nicht ein Stäubchen
ist zu sehen. Mittags gemeinschaftliche Mahlzeit mit Japanern und
Japanerinnen; der Tschau (d. h. die Speisen) werden in der Mitte des
Raumes auf kleinen Tischchen aufgetragen, alles unter fortwährenden,
tiefen, zeremoniösen Verbeugungen, als wären die Gäste lauter Könige.

Der große, niedrige Raum ist nach allen Seiten offen; vorne blickt
man auf die Straße, hinten auf ein Gärtchen mit sorgfältig besandeten
Wegen, grünem Rasen und kurios geschnittenen Bäumchen. In der Mitte,
gerade vor der japanischen Table-d’hôte-Gesellschaft, ist ein kleiner
Wassertümpel mit klarem Wasser, von künstlichen Felsen umgeben. Während
wir essen, kommt da ein Japaner durch den Garten geschritten, wirft
seinen Kimono ab und steigt splitternackt, gerade wie er erschaffen,
in die kühle Flut. Nachdem er einigemale untergetaucht, kommt er
wieder ans Land, stellt sich angesichts der Frauen und Mädchen und
der kleinen, vierzehn- bis sechzehnjährigen Musmis hin und reibt sich
mit Tüchern die Nässe vom Leibe. Welches Ach und Shoking, welcher
Anlaß zu Ohnmachtsanfällen und welcher Aufwand an Riechfläschchen,
Taschentüchern und dergleichen gäbe es doch in Europa! Hier kümmert
sich kein Mensch um ihn; man sieht ihn gerade so, wie man die Bäume und
den Himmel sieht, aber niemandes Blicke bleiben länger auf ihm haften;
kein Augenpaar wird züchtig errötend niedergeschlagen. Und als er sich
endlich zu uns setzt, um seinerseits das Tiffin (Vormittagsmahl)
einzunehmen, geschieht dies unter gegenseitigen zeremoniösen
Verbeugungen.

Wir wollen das Hotel verlassen. Vor dem erhöhten Fußboden der weiten
Halle, die das Hotel eigentlich bildet, stehen zwischen Dutzenden
von Getas, d. h. japanischen Holzpantoffeln, auch unsere Schuhe.
Diensteifrig eilen die kleinen Mägdlein wieder herbei, um uns beim
Anziehen derselben behilflich zu sein, und als wir uns zum Fortgehen
wenden, fallen sie wieder auf die Erde. Sayonara, Sayonara tönt es von
ihren ewig lächelnden Lippen.

Diese Musmis sind nur die bescheidensten weiblichen Wesen, mit denen
der Europäer in Japan in Berührung kommt. Die nächst höhere Klasse
sind die Maikos und Geishas. Während bei uns bekanntlich alle Frauen
uns das Leben versüßen und angenehm machen, giebt es in Japan dafür
professionelle Versüßerinnen in der Gestalt zahlloser Tänzerinnen und
Sängerinnen, die jede Stadt ohne Ausnahme aufzuweisen hat. Tokio und
Kioto, die neue und alte Hauptstadt von Dai-Nipon, allen voran, was
ihre Zahl anbetrifft, aber jene, welche die größte Künstlerschaft
besitzen und im Lande am berühmtesten sind, wird man in Osaka und
Nagoya finden. Sie sind nicht etwa bestimmten Theehäusern, Theatern,
Klubs oder Vergnügungslokalen zugeteilt wie unsere Volkssängerinnen,
Dämchen des Corps de Ballet, Soubretten und dergleichen, sie bilden
auch keine Gesellschaften oder Wandertruppen, die in Variététheatern,
Cafés chantants oder Tingeltangeln ihre Kunst zum besten geben, sondern
wohnen in der ganzen Stadt verteilt bei ihren Lehrmeistern oder Eltern
und lassen sich für ein, zwei Stunden zu bestimmten Festlichkeiten
oder Anlässen anwerben. Die jüngsten unter ihnen sind gewöhnlich die
Maikos (Tänzerinnen), und erst, nachdem diese einige Jahre durch
ihren Tanz die vergnügungslustige Männerwelt entzückt haben, werden
sie Gaishas (Sängerinnen). Als solche bleiben sie bis zu ihrem
zwanzigsten oder fünfundzwanzigsten Lebensjahre ~en vogue~, um
dann allmählich anderen, jüngeren Platz zu machen und zu verschwinden.
Sie sind eine Eigenart von Japan. Ich habe ähnliche, wenn auch nicht
so reizvolle, professionelle Gesellschaftsdamen nur noch in Korea und
China getroffen, sonst nirgends auf dem Erdkreis. Ohne sie kann man
sich Japan nicht gut denken. Während die Musmis in den Hotels und
Theehäusern nur für die persönliche Bequemlichkeit der Besucher Sorge
tragen, erheitern die Maikos sie durch ihren Tanz und ihre dramatischen
Darstellungen, die Geishas aber vertreiben ihnen durch ihren Witz,
ihren Gesang und ihre klassische Bildung in der angenehmsten Weise die
Zeit. Als reizende Zugabe besitzen alle drei Klassen, Musmis, Maikos
und Geishas, stets Jugend und Schönheit.



[Illustration: Sängerinnen (Trio).]



Die Geishamädchen.


Eine Geisha nach europäischen Begriffen, wie sie etwa in der Operette
dieses Namens während der letzten Jahre dem Theaterpublikum vorgeführt
wurde, ist nicht dasselbe, was eine Geisha in ihrem schönen Heimatlande
Japan ist. Ja, ich möchte sagen, sie haben miteinander nichts gemein
als den Namen. Wie wäre es auch möglich, auf einer europäischen Bühne
diese reizenden, kleinen Zierpüppchen darzustellen, die in Japan das
Leben der Männer versüßen, ihnen die Abende in der angenehmsten Weise
vertreiben, bei ihren Mahlzeiten die Gattinnen ersetzen, überhaupt als
der Inbegriff von Schönheit, Anmut, Jugend, Geist und Witz gelten!
Sollten unsere Geishas auf der Bühne wirklich ihren lieblichen
japanischen Vorbildern entsprechen, dann dürfte zunächst keine von
ihnen größer sein als die kleinste unserer Soubretten, keine älter als
zwanzig Jahre, keine schwerer wiegen als das leichteste Schneiderlein.
Die winzigen Dämchen unserer Bühnenwelt, die in Jugend und Gestalt
an die Geishas von Japan erinnern könnten, sind unsere kleinen
Ballettratten, ehe sie noch aus dem Uebungssaal heraus auf die Bühne
getreten sind. Aber auch nur in Aussehen und Gestalt; alles andere, was
die kleinen Dämchen unserer Ballettschulen erst lernen müssen, um ihren
heiteren Beruf vor und hinter den Kulissen mit Grazie zu erfüllen,
haben ihre Schwestern in Japan längst hinter sich. Wo denkt eine
Sängerin des Abendlandes daran, vor dem achtzehnten oder zwanzigsten
Jahre in die Oeffentlichkeit zu treten? In Japan denkt sie in einem
solchen Alter bereits daran, sich zurückzuziehen. Und während unsere
Geishas nur die vorgeschriebene Musik zu singen, die vorgeschriebenen
Dialoge zu deklamieren haben, muß die japanische Geisha durch
schlagfertigen Witz glänzen, tändeln, spielen, kokettieren, wie
es in keinem Codex vorgeschrieben ist und wie es nur ihr süßes,
leichtfertiges Naturell eingiebt. Ja nicht einmal in Bezug auf die
Liebe, und was drum und dran hängt, gleichen einander die beiden
Geishas. Die Sprache der Liebe ist universell und überall verständlich,
heißt es. In Europa, ja, aber nicht in Ostasien. Die europäische Geisha
ist der wirklichen wahren Liebe fähig, mit der größten Hingebung, die
japanische wohl der größten Hingebung, aber nicht der wahren Liebe. Sie
haben seltsame Herzchen, diese kleinen Geishapuppen von Japan, nicht
größer und nicht kleiner als die unserer Theaterdamen, aber es ist
nichts drin, es ist wie eine leere Börse. Werden Münzen hineingethan,
dann klingt es. Und bekommt das kleine Geishamädchen Geld, dann singt
es. So ein Geldbeutelherz kennt deshalb auch keine Leidenschaft, außer
die bezahlte, und auch diese ist anders als im Abendlande. Was liegt
bei uns nicht alles in einem verstohlenen Händedruck, in einem einzigen
Blick! Die kleine Geisha von Tokio und Kioto kann man anblicken
und anzwinkern und drücken, so kräftig man will, sie versteht kein
Deutsch. Sie versteht auch keinen Kuß, und will irgend ein europäischer
Schnurrbart mit ihren Lippen in Berührung kommen, dann glaubt sie, es
soll ihr das Rot ihrer Lippenschminke abgebürstet werden. Da giebt es
kein Geplänkel, kein Liebesgirren, sie kennt keine Halbheiten. Nichts
oder alles, gewöhnlich alles.

[Illustration: Mädchentypen.]

In der Operette wird auf diese Unkenntnis des Kusses bei den Japanern
auch in dem bekannten reizenden Duett Rücksicht genommen, aber dabei
umarmen einander doch die Geisha und ihr europäischer Liebhaber, als
wäre dies in Japan gerade so selbstverständlich wie anderswo. Die
Japaner umarmen einander aber ebensowenig, wie sie einander küssen
oder die Hände schütteln. In der ganzen japanischen Litteratur, weder
in Prosa noch in Gedichten, findet sich irgend eine Anspielung auf
dergleichen, selbst wo die heißeste Liebe der Gegenstand ist. Wenn Mann
und Frau, Eltern und Kinder, Braut und Bräutigam, nach jahrelanger
Trennung einander wiedersehen, kommt es zu keinem derartigen Erguß
ihrer Liebe und Freude.

Die Liebe kommt auch nicht durch Worte zum Ausdruck, wie es in der
Operette fortwährend geschieht. In der japanischen Sprache giebt es
keine Wörter wie Liebchen, Schätzchen, Täubchen und dergleichen, an
denen die europäischen Sprachen so reich sind. Nicht einmal der Ton der
Stimme wird weicher und zärtlicher, wenn zwei Liebende, Liebende nach
japanischer Art, beisammen sind.

Ich habe in einer berühmten japanischen Ballade, Schuntokumaru mit
Namen, die ebenso bekannt und beliebt in jeder Haushaltung ist wie
bei uns etwa die Liebesgedichte unserer größten Poeten, einen
höchst seltsamen Zärtlichkeitserguß gefunden. Es handelt sich um
zwei Liebende, die, durch ein grausames Geschick getrennt, das ganze
Reich auf der Suche nacheinander durchwandern und sich endlich
im Kiomidzutempel unerwartet wiederfinden. Welcher Dichter würde
die zwei Liebenden nicht in der Ekstase des höchsten Glückes mit
thränenüberströmtem Antlitz aufeinanderstürzen und ein paar Minuten
lang sich umarmen und küssen lassen, wenn nicht die Geliebte selbst vor
lauter Erregung ohnmächtig wird oder gar tot zu Boden stürzt? In der
japanischen Ballade gucken die Liebenden einander stumm an, dann hocken
sie sich auf ihre Waden und streicheln einander ein wenig.

Wenn aber die Liebe in Japan mit dem ganzen Zärtlichkeitskalender
so unbekannt ist, wie kommt es dann, daß alle Europäer, die nach
Japan kommen, von den kleinen Geishamädchen so entzückt sind? In der
Operette hat man diesen Mangel an Liebesergüssen durch solche nach
europäischer Art ersetzt, und sie präsentieren sich auch auf der Bühne
im japanischen Gewande recht niedlich, aber japanisch sind sie nicht.
Durch was wirkt dann die japanische Geisha?

Auf den Japaner wirkt sie durch ihren Geist, ihren Witz, ihre
litterarischen Kenntnisse, durch Musik und Gesang. Dem Europäer sind
Geist und Witz unverständlich, weil er nur in seltenen Fällen die
Sprache hinreichend beherrscht; die Musik, welche die Geisha auf der
japanischen Guitarre abzupft, ist für ihn entsetzlich langweilig und
unschön, und was ihren Gesang betrifft, so könnte man dabei weinen. Ein
solches Genäsel und Gemiaue, auch von der schönsten Geisha auf einer
europäischen Bühne zum Vortrag gebracht, würde wie die erbärmlichste
Katzenmusik wirken. Was den Europäer besticht, das sind also gewiß
nicht ihre angelernten Kenntnisse, sondern nur ihre natürlichen
Gaben, nämlich Jugend, Zartheit, Anmut. Wenn sie auch nicht hübsch
sein sollte, besitzt sie doch eine gewisse Anziehungskraft. Sie macht
einen um so tieferen Eindruck auf ihn, als er in Japan mit anderen
Frauen selbst bei längerem Aufenthalt nur sehr selten zusammenkommt.
Der Japaner hält seine Frauen, seine Töchter im Hintergrund; besucht
man ein japanisches Haus, so wird man nur von Männern empfangen, und
wird man mit diesen nach häufigerem Verkehr intimer, so kommt es wohl
vor, daß auch die Frau, vielleicht sogar die Tochter bei der Begrüßung
einmal vorgestellt wird. Aber die Frauen ziehen sich nach einigen
Worten wieder zurück und erscheinen nur bei der Verabschiedung, um sich
vor dem Besucher auf alle Viere zu werfen. Eine längere Unterhaltung
ist ganz ausgeschlossen, und wollte man einer Frau irgendwelche
Komplimente über ihre Schönheit oder über die Pracht ihrer Kleider
machen, so würde dies sehr übel aufgenommen werden.

Uebrigens würden Unterhaltungen sehr ernüchternd und enttäuschend
sein, denn die japanischen Frauen der besseren Stände waren bis vor
kurzem und sind in den Provinzen, fern von den der europäischen
Kultur eroberten Hauptstädten, auch heute noch von der Oeffentlichkeit
ausgeschlossen. Sie werden geboren, lernen in ihrer Kindheit neben den
Pflichten ihres Hauswesens höchstens noch Blumen binden, sticken, den
Zeremonienthee bereiten; sie heiraten, verblühen mit fünfundzwanzig
Jahren und sterben als treue, hingebungsvolle Hausfrauen und gute
Mütter, aber ihre Geistesgaben wurden nicht entwickelt, sie besitzen
keinerlei Kenntnisse und können deshalb weder in der Gesellschaft durch
Konversation glänzen, noch zu Hause in dieser Hinsicht die Männer
befriedigen.

Diesen Mangel ersetzen in Japan die Geishas. Sie sind Unterhalter,
Zeitvertreiber von Beruf, gegen Bezahlung von so und so viel für die
Stunde, den Tag oder Abend. Will sich ein Japaner nach vollbrachter
Tagesarbeit durch Kurzweil den Abend vertreiben, so läßt er eine
Geisha kommen; will er Freunden ein Souper geben, so nehmen daran
nicht die Frauen und Töchter seines Hauses, oder jene seiner Gäste
teil, sondern er mietet eine Anzahl Geishas mit ihren Dienerinnen und
bringt den Abend mit der ganzen Gesellschaft in einem Theehause zu.
Die kleinen, zierlichen Musmis (Kellnerinnen) des Theehauses empfangen
an der Pforte, auf alle Viere ausgestreckt, die Gäste und führen sie
in den Speisesaal; sind Europäer dabei, so lösen sie mit ihren zarten
Fingerchen die Schuhe von deren Füßen; hockt die ganze Gesellschaft
endlich in dem stuhl- und tischlosen Raume längs der kahlen Wände
auf ihren Waden, so bringen die Musmis die Speisen und Getränke
herein, setzen sie den Gästen auf winzigen Tischchen vor, tragen die
gebrauchten Tellerchen und Schüsselchen wieder fort und besorgen mit
einem Worte die gewöhnliche Bedienung. Dann aber treten die kleinen
jungen Maikos (Tänzerinnen) und endlich die Geishas auf. Sie zupfen
an ihren Guitarren und singen, sie führen fremdartige dramatische
Tänze oder Szenen aus historischen Dramen auf, für europäischen
Geschmack ebenso steif und unnatürlich, wie es ihr Gesang und ihr
Guitarrengezupfe sind. In den langen Zwischenakten aber mischen sich
diese bezahlten Vergnügungsdemoiselles unter die Gäste, setzen sich
zu ihnen, kredenzen ihnen die gefüllten Reisweinschalen und schäkern
und scherzen mit ihnen, indem sie ihren Geist, ihre übersprudelnde
Fröhlichkeit, ihren Witz und ihre Schönheit glänzen lassen. Nicht
etwa die Schönheit, wie sie bei unseren kurzgeschürzten Ballerinen
und ~Café-chantant~-Sängerinnen gewöhnlich in solcher Fülle zur
Parade kommt. Keine entblößten Arme und Nacken, keine in Seidenschuhen
steckenden Füßchen oder von Seide umspannte Gliedmaßen, nur die
bemalten, gepuderten Gesichtchen sind bei den japanischen Geishas
sichtbar. Ihre Körperchen sind ganz in die langen, goldgestickten,
schlafrockartigen Kimonos gehüllt, und kommen bei rascheren Bewegungen
auch die Glieder zum Vorschein, so üben diese dünnen Aermchen,
diese krummen nackten Beinchen, diese in plumpen, kurzen Wollsocken
steckenden Füße, die noch dazu mit den Zehen nach einwärts gedreht
sind, eher das Gegenteil von Reiz aus.

Die weiten, faltenreichen Kleider gehören zum Tanz, ja wie mit ihren
Körpern tanzen die Geishas auch mit ihren Kleidern und wissen diese
mit unglaublicher Geschicklichkeit in die schönsten Falten zu werfen,
ihnen sozusagen Leben und jenen Ausdruck einzuflößen, wie er zu der
darstellenden Situation am besten paßt.

So vergeht der Abend, ein Teil der Nacht, und bricht die
reisweinfröhliche Gesellschaft endlich auf, so wird dem Gastgeber die
Rechnung überreicht, ein Stück Papier, einen halben Fuß breit und
vielleicht zwei bis drei Fuß lang, mit allen gelieferten Genüssen
haarklein spezifiziert. Nichts wird dabei vergessen, und solche
Rechnungen sind zuweilen recht pikant, erreichen auch bei größeren
Festlichkeiten Summen bis 300 und 400 Mark. Dazu werden auch den
Geishas selbst noch beträchtliche Geschenke gemacht. Die Dämchen werfen
sich dann vor den Anwesenden ehrfurchtsvoll nieder, senken ihre Näschen
bis auf den Boden und entfernen sich, um in ihren Rickshaws nach Hause
zu fahren.

Am nächsten Abend sind sie in irgend einem anderen Theehause
für ähnliche Unterhaltungen engagiert, und so geht es bei den
professionellen Schönheiten von Japan Tag für Tag, auch Wochen und
Monde, einige Jahre lang. Dann ist wohl ihre Kunst sehr groß, aber ihre
Jugend, ihre Schönheit ist vorüber, und haben sie nicht in ihrer kurzen
Laufbahn einen Ehemann ergattert, so ziehen sie sich ins Privatleben
zurück und bilden andere kleine Mädchen in den Geishakünsten aus.
Ehemänner ergattern? Gewiß, noch dazu gar nicht selten. Die Japaner
üben in Betreff des moralischen Vorlebens dieser kleinen Dämchen viel
größere Nachsicht als die Abendländer. Orangenblüten und Myrtenkränze
werden bei japanischen Hochzeiten überhaupt nicht getragen. Die
Japaner suchen sich ihre Weiber aus, wie sie ihnen passen. Es ist
nicht viel dabei riskiert, und das bekannte orientalische Sprichwort,
von dem dreimal überlegen, ehe man sich ein Weib nimmt, ist in Japan
unverständlich. Der Gatte kann sie ja nach ein paar Monaten Probezeit
wieder zurücksenden. Eine Geisha ist unter solchen Verhältnissen
eine recht begehrenswerte Braut. Statt daß sie jeden Tag für so und
so viel die Stunde für jemand anderen singt und die Guitarre zupft,
singt und zupft sie dann nur für ihren Gatten. Sie unterhält ihn mit
den angelernten Künsten, in denen sie durch jahrelange Uebung in den
verschiedensten Theehäusern zur Meisterschaft gelangt ist, und er ist
zufrieden. Zudem ist nicht etwa jede Geisha notwendigerweise eine
Sünderin. Wohl singen die Geishamädchen in einem bekannten Liede von
sich selbst:

    „Schaukle, Weide, auf und nieder,
    Vorwärts, rückwärts, hin und wieder!
    So sind Geishaherzen auch,
    Folgen jedem Liebeshauch.”

Aber trotz dieser vielsagenden Generalbeichte giebt es doch eine ganze
Menge unter ihnen, die nicht jedem Liebeshauch folgen, und so ist es
begreiflich, daß manche, die heute noch bei einem Herrenabend im Klub
getanzt und gesungen hat, morgen Frau General oder Frau Minister ist.
Dann kommt ihre Schauspielerkunst ihr erst recht zu statten.

Ist eine Geisha nach mehrjähriger Dienstleistung so verblüht, daß
niemand mehr anbeißen will, dann zieht sie sich aus der Oeffentlichkeit
zurück und wird, wie gesagt, Lehrerin anderer kleiner Mädchen. An
solchen herrscht in dem mit Kindern reich gesegneten Japan kein Mangel.
Wo viele Töchter im Hause sind, da ist es schwer, sie alle an den Mann
zu bringen, andere Berufsarten in Aemtern oder im Geschäftsleben stehen
der jungen Japanerin nicht offen, und so bleibt den Eltern nichts
übrig, als ihre hübschesten und talentvollsten Mädchen Geishas werden
zu lassen, wenn sie dieselben nicht gar für ebenso tief stehende Zwecke
verkaufen. Gefällt die kleine, sieben- bis achtjährige Musmi einem
Unternehmer, so zahlt er ihren Eltern eine gewisse Summe Geldes und
läßt sie auf seine Kosten zur Geisha ausbilden. Damit beginnt für die
kleinen Mädchen eine recht harte Zeit, denn es dauert Jahre eifriger
Arbeit, um die traditionellen Tänze, Gesänge, Dichtungen, Mimik und
dann die beliebtesten Instrumente, Samisen und Koto, zu erlernen.
Dazu kommen noch viele andere Künste, von denen man im Abendlande gar
keine Ahnung hat. So z. B. das ungemein schwierige und umständliche
Zeremoniell des Tschano-yu, das heißt, der klassischen Theebereitung,
die Kunst des Blumenbindens, Taschenspieler- und Kartenkünste, vor
allem andern die Kunst, den Mann zu bezaubern und zu fesseln. In Kioto,
der alten Hauptstadt von Japan, die neben der jetzigen Hauptstadt
Tokio die schönsten und berühmtesten Geishas besitzt, giebt es eine
eigene große Tanzschule, aber der Besuch derselben war für mich nicht
von solchem Interesse, wie jener der kleinen Geishaschulen, an welchen
Kioto reich ist.

Es ist nicht leicht, Zutritt zu diesen Kunstetablissements zu erhalten,
und es bedurfte dazu langen Parlamentierens und beträchtlicher
Geldgeschenke für die Direktricen. Eines Morgens meldete mein Dragoman,
der die Verhandlungen geleitet hatte, daß ich nunmehr die Schule von
Madame Silbermond besuchen könne. Auf dem Wege dahin riet er mir,
auch verschiedene Leckereien und Bonbons für die kleinen Mädchen
mitzubringen, um sie freundlicher zu stimmen. So kaufte ich denn ein
paar Papiersäcke voll Süßigkeiten, die in Japan für ein Spottgeld zu
haben sind. Schwer beladen kamen wir vor das ebenerdige Lattenhäuschen,
in welchem Madame Silbermond wohnte. Monotones Samisengezupfe drang
durch die papierüberklebten Fenster. Mein Dragoman hielt es für
angemessen, meinen Besuch vorher anzukündigen. Gleich darauf kam er
wieder heraus und lud mich ein, näher zu treten. Kaum war die Thüre
hinter mir wieder geschlossen worden, so erschienen drei blutjunge
hübsche Mädchen in bunten Kimonos (sie waren wegen der großen
Sommerhitze nur lose über die sonst nackten Körperchen geworfen),
warfen sich vor mir auf den Boden, indem sie mit der Stirne fast den
Boden berührten, und machten sich dann kichernd daran, mir die Schuhe
von den Füßen zu ziehen. Dann nahmen sie mich bei den Händen und
führten mich wie einen Blinden zu dem Tanzsaal, dessen eine Papierwand
eben zurückgeschoben wurde. Der mit zarten geflochtenen Reisstrohmatten
bedeckte Fußboden befand sich etwa kniehoch über dem Thorweg. Die
kleinen Mädchen kletterten flink hinauf und versuchten, mir unter
fortwährendem Gekicher emporzuhelfen, als hätte ich, der ich mir unter
diesen winzigen Dingerchen wie Gulliver vorkam, das allein nicht
thun können. Im Hintergrunde des niedrigen, vollständig kahlen Raums
erhob sich eine fusshohe Bühne, auf welcher etwa ein Dutzend junger
Mädchen standen, vor ihnen auf den Matten des Saales Madame Silbermond.
Kaum erblickten sie mich, so warfen sich alle vor mir mit feierlich
ernsten Mienen zu Boden und verharrten, den Kopf beinahe zwischen den
Beinen, minutenlang in dieser Stellung, wie wir es etwa in der Kirche
bei irgend einer besonders heiligen Handlung thun. Natürlich mußte
ich ebenfalls auf alle Viere sinken, was bei den engen europäischen
Kleidungsstücken nicht ganz gefahrlos für dieselben ist. Endlich zog
mich mein Dragoman am Rockschoße, als Zeichen, mich zu erheben. Schon
mehrmals hatte die Direktrice, den Kopf ein wenig nach mir wendend,
herübergeschielt, um zu sehen, ob ich noch auf allen Vieren lag, und
sich dann sofort wieder zusammengeduckt. Als sie nun gewahrten, daß
ich mich auf meine Knie erhob, thaten alle das Gleiche. Ich mußte
nun auf das Geheiß des Dragomans mich nach dem Befinden der Hausfrau
erkundigen; daraufhin wieder allgemeines Aufdenbodensinken, dann nach
dem Befinden ihrer Eltern, wieder auf alle Viere, dann stellte die Dame
selbst die gewöhnlichen Höflichkeitsfragen, und jedesmal galt es für
alle Anwesenden, zusammenzuklappen wie Taschenmesserklingen. Endlich
war die Begrüßung vorüber, die Theatermama und ihre possierlichen
Jüngferchen blieben nun aufrecht auf ihren Waden hocken, und ich
mußte dasselbe thun, denn die japanische Hauseinrichtung kennt keinen
Stuhl, kein Fauteuil oder Sofa, nur brachten zwei Mädchen ein paar
dünne Kissen herbei und schoben sie unter mich. Mein Dragoman hatte
inzwischen die Papiertüten mit den Süßigkeiten den kleinen Mädchen
überreicht, und obschon sie danach schielten und wohl für ihr Leben
gerne davon genascht hätten, verbot es doch die gute Sitte, ihr
Vorhaben auszuführen.

Das älteste der Mädchen mochte sechzehn Jahre zählen; ein liebes
Kind, mit süßem Gesichtchen, kauerte sie in europäischer Weise, also
auf dem richtigen Fleck ihres Körperchens sitzend, mit aufgezogenen
Beinchen an der Wand. Die anderen standen im Alter von sieben bis
fünfzehn Jahren, ihre Gesichtchen waren mit Puder bedeckt, Wangen und
Lippen rot geschminkt, und auf der Unterlippe auch noch drei goldene
Punkte aufgemalt. Sie trugen bunte, zum Teil sehr reich gestickte, aus
kostbaren Stoffen bestehende Kimonos, und da ich mich wunderte, wie
so winzige Mädchen aus armen Familien schon zu so kostbaren Kleidern
kämen (diese pflegen sich doch erst die vollendeten Geishas schenken
zu lassen), erzählte die Theatermama, unter den Mädchen befänden
sich auch solche wohlhabender Eltern, die ihre Kinder nur für den
Tanz- und Gesangsunterricht zur Schule sendeten, damit sie zu Hause
sich produzierten. Sie hätten zu Ehren des fremden Besuchers ihre
Zeremonienkleider angethan. Die wirklichen Geishaschülerinnen seien ihr
von Unternehmern in Pension gegeben worden und zahlten ihr wöchentlich
zwei Dollars (vier Mark) dafür. Aber sie hätten außerdem der Regierung
eine Taxe von einem halben Dollar monatlich für jede Schülerin zu
entrichten. Sobald diese in die Oeffentlichkeit tritt, steigt diese
Monatstaxe auf einen Dollar.

Nun begannen die Tänze. Der Reihe nach führten die herzigen Kinder in
aller Unschuld die gewagtesten und schwierigsten Tänze auf, immer zwei
bis vier Kinder zusammen. Die japanischen Tänze sind nicht solche wie
unsere Ballett- oder Ballsaaltänze; die letzteren kennt der Japaner
überhaupt nicht, und wenige Errungenschaften der europäischen Kultur
kommen ihm lächerlicher, sinnloser und den Anstand verletzender
vor wie Walzer oder Polka. Noch toller findet er das Umherhüpfen
der Ballettmädchen in kurzen, tief ausgeschnittenen Kleidern, die
Schaustellung der Glieder, den Zehentanz. Die Maikomädchen sind bei
ihren Tänzen stets bis zu den Zehenspitzen bekleidet, und die Tänze
selbst stellen gewöhnlich irgend ein Ereignis in der Geschichte oder
eine Handlung im Leben dar, wenn von Tänzen im rechten Sinne des Wortes
überhaupt gesprochen werden kann. Es sind vielmehr Posen, Bewegungen
mit dem Oberkörper und den Händen, unterstützt und verständlich gemacht
durch die ungemein ausdrucksvolle Kunst der Fächersprache.

Ich war deshalb sehr verwundert, als zum Schluß die beiden ältesten
Mädchen, trotz ihrer Jugend schon vollständig erblüht, eine veritable
Tarantella zum besten gaben. Mit erstaunlicher Leichtigkeit trippelten
die Füßchen über den Boden, drehten sich die frischen zarten Körper
im Kreise, daß die Kimonos fast wagerecht von ihnen abstanden; dazu
schüttelten die Mädchen wie toll die Köpfe und klatschten in die
Händchen. Dann warfen sie sich plötzlich auf die Hände nieder, stellten
sich auf den Kopf und streckten die Beine in die Höhe.

„Das ist der Manzai,” sagte stolz Madame Silbermond, als die
Tänzerinnen wieder auf ihren Füßen standen. „Gefällt er Ihnen?” Als ich
meiner Bewunderung Ausdruck gab, fügte sie bei: „Das ist der einzige
europäische Tanz, den ich meine ehrenwerten Schülerinnen lehre.”

Irgend ein europäischer Spaßvogel wird sich wohl in Kioto den Jux
erlaubt haben, diese Schlußpose, als zum abendländischen Tanze gehörig,
gezeigt zu haben, und nun wird sie in den Geishaschulen von Kioto
eingeübt.

Aber nicht nur darin zeigt sich der Einfluß der Europäer. Er ist schon
so groß geworden, daß er sogar die ganze Existenz der Geishamädchen
bedroht. Durch die Einführung von Mädchenschulen, durch die
Erschließung anderer Berufsarten für das zarte Geschlecht und endlich
durch den Wandel in Bezug auf die moralischen Anschauungen der Japaner
dürften die Geishas, wie sie heute bestehen, immer seltener werden. Wer
weiß, ob dann nicht auch noch unsere ~Cafés chantants~ und unser
Ballett im Lande der aufgehenden Sonne zur Einführung gelangen.

Miß Alice Bacon, die jahrelang als Erzieherin in vornehmen Häusern
Japans geweilt und einen tiefen Einblick in das japanische
Frauenleben gewonnen hat, sagt von den Gaishas: „Die Gaisha ist nicht
notwendigerweise schlecht, aber in ihrem Leben ist sie so großen
Versuchungen ausgesetzt, daß auf eine ehrbare Gaisha viele kommen, die
auf Abwege geraten und schließlich tief unter das Niveau der Ehrbarkeit
sinken. Aber sie sind so verführerisch, glänzend und geistreich,
daß viele von ihnen von Männern in angesehenen Stellungen zu Frauen
genommen wurden und heute an der Spitze der vornehmsten Haushaltungen
stehen...” Einer der größten Bewunderer Japans, Sir Edwin Arnold, zollt
den lustigen Weibern von Dai Nipon alle Anerkennung, sagt aber in Bezug
auf ihre Moral in seinem Buche „~Japanese ways and thoughts~”
folgendes: „In Japan hat der Buddhismus die irdische Liebe in
Mißachtung gebracht, die Lehren des Confucius haben sie noch weiter
herabgesetzt, und der ideallosen Natur der Männer dient sie nur als
Zeitvertreib und Vergnügen. Die japanischen Frauen haben der Theorie
nach diese beschränkte Ansicht über die geschlechtlichen Beziehungen
angenommen und für viele Zeitalter die Treue des Gemüts höher gestellt
als die Reinheit ihres Körpers...”

„Ohne Zweifel ist es in den besseren Ständen die Regel, daß die
Töchter bis zu ihrer Verheiratung sorgfältig erzogen und bewacht
werden sollen, aber diese jungen Mädchen sprechen von den Musmis und
Gaishas und Freudenmädchen in so freier Weise, daß man sofort den
Unterschied zwischen den Anschauungen der Japaner und Europäer über die
Beziehungen der beiden Geschlechter erkennt. Japan ist ein Land, wo es
nicht nur ganz gewöhnlich ist, daß ein Mädchen sich für ihre Eltern
zu öffentlichem Gebrauch verkauft, sondern wo sie für diese That eher
bewundert und gelobt als geschmäht wird.”

Wo sie selbst eine so vielsagende Generalbeichte ablegen, braucht man
sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Douglas Sladen sagt in seinem
Buche „~The Japs at home~” folgendes über sie: „Ist eine Geisha
geschickt, scherzhaft, gutmütig, vor allem aber schön, so erwirbt sie
sich bald einen Ruf in der Stadt. Die jungen japanischen Stutzer hören
es gerne, wenn man sie mit ihr neckt; ihre Engagementsliste ist auf
Tage hinaus besetzt, man kann sie nur auf ein Stündchen zu Gesicht
bekommen. Juwelen erscheinen auf ihren Fingern, Perlen in ihrem Haar,
sie wird stolz, merkwürdige, vielsagende Blitze schießen zuweilen aus
ihren Augen, eines Tages ist sie verschwunden. Wir werden zu einem
großen Festgelage geladen, sie ist nicht da. Wir fragen bei ihren
Freunden nach, niemand hat sie gesehen. Nun wissen wir, daß sie am
Ziele ihres Strebens angelangt ist. Irgend ein reicher Herr hat sich
so sehr in sie verliebt, daß er sie für sich allein haben will, und
deshalb hat er sie aus den Händen ihres Herrn losgekauft. Sie folgt
ihrem neuen Herrn in sein Haus, auf Zeit oder für immer, und sie, die
in ihrer Jugend so zahlreichen Männern den Kopf verdreht hat, wird eine
ehrenwerte Frau Oberst so und so, oder Frau Minister X.”

[Illustration: Schlafende Mädchen.]

Wie häufig kommt es vor, daß Eltern ihre Töchter für eine kurze Zeit
an Europäer verheiraten und den klingenden Lohn dafür einstreichen!
Wer hat nicht Pierre Lotis reizendes Buch „Madame Chrysanthème”
gelesen? Und wie Pierre Loti mit seinem kleinen Frauchen, so ist es
vielen anderen Lotis in Japan ergangen, die Scheidungen sind dort so
leicht gemacht! Aber sind die Europäer, die sich auf diesem nicht mehr
ungewöhnlichen Wege zu einer zeitweiligen Lebensgefährtin verhelfen,
nicht ebenso sittenlos wie die lustigen Weiber von Dai Nipon? Wie, wenn
eines Tages als Gegenstück zu dem Buche „Madame Chrysanthème par Pierre
Loti” ein Buch erschiene: „Pierre Loti par Madame Chrysanthème”? Ob
die kleine, liebliche Japanerin nicht auch allerhand recht ergötzliche
Einzelheiten über ihren Ehemann auf Zeit erzählen könnte?

Ja, noch mehr. Wie, wenn es einem Japaner einfallen würde, ein Buch zu
schreiben über die europäischen Dames Chrysanthèmes, wie sie sich bei
den Rennen in Longchamps, im Bois de Boulogne, auf dem Seebadstrande
von Ostende und Trouville, in den Kasinos von Aix les Bains und Monte
Carlo zeigen? Derartige Parallelen kann man in Japan nicht überall
in öffentlichen Gesellschaften oder auf der Straße finden. Dort sind
sie fein sorgsam in eigenen Quartieren untergebracht. Das größte
und glänzendste ist in Tokio die vielberühmte Yoshiwara. Auf meinen
Spaziergängen durch die japanische Kaiserstadt kam ich einmal zu einer
weiten Pforte, von Polizisten bewacht. Jenseits gewahrte ich einen
breiten, mit prächtigen Blumenbeeten und Springbrunnen geschmückten
Boulevard, zu beiden Seiten mit großartigen, mehrstöckigen Palästen
besetzt, den schönsten, die ich in ganz Japan gesehen. Etwa die Paläste
des Hofes, der Regierung und des Adels, des Faubourg St. Germain von
Tokio? Ich trat ein. Ueberall vornehme Stille. Die Häuser zeigten in
den verschiedenen Stockwerken breite Veranden, mit Guirlanden und
farbigen Lampions geschmückt; die Jalousien waren zugezogen, dafür
standen die Hausthüren weit geöffnet, und im Innern gewahrte ich
schöne Höfe und zierliche Gärtchen; Diener fegten die Straßen, Gärtner
besorgten die Blumen und kurios geschnittene Bäume in den Anlagen.
Und als ich einen des Weges kommenden, europäisch gekleideten Japaner
darüber befragte, sagte er mir, ich befände mich in der Yoshiwara. Ich
müßte aber abends kommen, um das Leben hier zu sehen. Der Abend fand
mich wieder hier, aber wie verändert war das Aussehen dieser Straßen
mit ihren Dutzenden von Palästen! Tausende von Lichtern brannten in
vielfarbigen Lampions, in den Straßen wogten Menschenmengen lachend,
scherzend auf und nieder; die Paläste waren weit geöffnet, hell
erleuchtet; Samisen und Koto, Gesang und Gelächter drang aus ihnen,
und unten in den Parterreräumen der Häuser prangte die weibliche
Einwohnerschaft in ihren glänzendsten Gewändern. Statt durch Wände
und Fenster waren diese Räume nach der Straße zu durch starke Gitter
abgeschlossen, gerade wie wir sie in unseren Menagerien vor den Käfigen
der Tiger und Löwen sehen; der mit Matten und Teppichen bedeckte
Fußboden lag etwa zwei Fuß höher als die Straße, und auf ihm kauerten
die Schogi, d. h. die Mädchen, die von ihren Eltern an die Besitzer
dieser Kaschi-Saschiki genannten Häuser verkauft worden waren. In jedem
Hause etwa dreißig bis vierzig, im ganzen vielleicht zweitausend.
Manche von ihnen waren recht hübsch, nur zeigten ihre Gesichter
dicke Schichten von Puder und Schminke, und in ihren sorgfältigen
Haarfrisuren steckten Dutzende kostbarer, langer Nadeln. Der Obi,
diese breite, aus schweren Brokaten bestehende Leibbinde, die in der
japanischen Damentoilette das Mieder ersetzt, war mit der Schleife
nicht rückwärts gebunden, sondern vorn, und das allein sagte, daß
diese Dämchen Schogi waren, d. h. dem niedrigsten Stande der lustigen
Weiber von Dai Nipon angehörten. Einer Regierungsvorschrift zufolge
dürfen die Schogi nämlich ihren Obi nicht hinten binden. Es wäre ein
langes Kapitel zu schreiben über die nach unseren Begriffen unendlich
traurigen Verhältnisse, wie sie in den Yoshiwaras von Tokio, Kioto und
den anderen Städten herrschen, aber -- jeder Leser wird dieses „aber”
verstehen.



Japanische Ringkämpfer.


Im Straßenleben der japanischen Großstädte waren mir besonders zur
Zeit der Volksfeste vereinzelte Riesengestalten aufgefallen, die sich
gegenüber den sonst so kleinen, unscheinbaren, schmächtigen Japanern
nicht nur durch ihren hohen Körperwuchs, sondern auch durch ihre
Fettleibigkeit, verbunden mit staunenswerter Muskelentwickelung,
auszeichneten. Sie wurden mir als jene berühmten professionellen Ringer
bezeichnet, die im Volksleben Japans eine ähnlich hervorragende Rolle
spielen, wie etwa die Gladiatoren im alten Rom, oder die Stierkämpfer
in Spanien, oder die Faustkämpfer in England und Amerika.

In der großen Feudalzeit Japans im fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhundert war jedes Mitglied der damaligen vornehmen Kriegerkaste,
der Samurai, ein Meister in allerlei athletischem Sport, vornehmlich
im Fechten und Ringen. Aber ähnlich wie im Abendlande sind diese die
Muskelkraft hebenden, den Körper stählenden Uebungen der modernen
Zeit zum Opfer gefallen, und selbst das Ringen wird nur mehr von den
genannten professionellen Ringkämpfern oder Sumotori ausgeübt, die eine
eigene Gilde mit strengen Gesetzen und Vorschriften ihrer Kunst bilden.

Würde sie nicht ihre äußere Erscheinung sofort kenntlich machen, so
würde ein Blick auf ihre Haartracht genügen, um sie als Mitglieder der
Ringkämpfergilde zu stempeln. Aehnlich wie die Stierkämpfer in Spanien
ihr Haar zu einem über den Nacken fallenden kurzen Zopf flechten, so
fassen die Sumotori ihr langes Scheitelhaar zu einer dicken Strähne
zusammen, die sie mittels papierenen Schnüren nach vorn auf den
Scheitel leiten. Diese Haartracht war früher auch im japanischen Volke
allgemein, und noch während meiner Reise im Inneren Japans fand ich
viele ältere Männer mit solchen Zöpfen, jedoch mit dem Unterschiede,
daß sie ihr Haupthaar bis zum Scheitel abrasiert hatten.

Wird in Japan irgendwo ein größeres Volksfest gefeiert, so müssen auch
Ringkämpfer dabei sein, und weder die Theater noch die Akrobaten,
Zauberkünstler u. dergl. ziehen durch ihre Vorführungen eine so große
Menge von Zusehern an wie die Sumotori. Je größer das Fest, desto
zahlreicher sind die Ringkämpfer, und in Tokio, Kioto oder Osaka kommt
es zuweilen vor, daß zwanzig bis dreißig Paare von Sumotori miteinander
kämpfen, so daß die Vorstellungen einen ganzen Tag über währen. Aber
es giebt kein geduldigeres Theaterpublikum als die Japaner. Je länger
eine Vorstellung dauert, desto lieber ist es ihnen. Mit Kind und Kegel
ziehen sie des Morgens ins Theater, nehmen ihre Lebensmittel für
den Tag mit, machen es sich auf den Strohmatten des Zuschauerraumes
bequem, trinken, essen, schlafen mitunter, die Mütter stillen ihre
Kinder und rauchen gerade so wie die Männer oder jungen Mädchen ihr
Tabakspfeifchen.

Die Ringkämpfer veranstalten nur selten ihre Vorstellungen selbst.
Gewöhnlich sind es eigene Unternehmer, welche sie für bestimmte Summen
anwerben, das Theater bauen und dafür die Eintrittsgelder der stets
massenhaft zuströmenden Besucher einstecken. Je größer die Erfolge
eines Sumotori sind, desto mehr wird er begehrt, desto besser bezahlt.
Sie leben deshalb von ihrer ersten Jugend an ausschließlich für
ihren Beruf. Zeichnet sich in irgend einer Familie ein Knabe durch
außergewöhnliche Kraft und hohen Körperwuchs aus, so bestimmt ihn sein
Vater vielleicht zum Sumotori und giebt ihn bei einem solchen in die
Lehre. Hat er sich in allen Fertigkeiten seines Berufes ausgebildet,
so tritt er in die Gilde ein, indem er sich verpflichtet, genau nach
deren Vorschriften zu leben. Dazu gehören neben dem Gelübde der
Keuschheit zunächst solche bezüglich seiner Kunst, dann aber auch
unzählige andere, die sogar seine Nahrung betreffen. Wie mir einer der
Sumotori, dessen Bekanntschaft ich in Kioto machte, erzählte, besteht
seine tägliche Hauptnahrung aus sehr weichgekochtem Reis, und nur
ausnahmsweise aus Fleischspeisen, ein Beweis, daß die Fleischnahrung
für Muskelkraft keineswegs erforderlich ist. Mit vierzig Jahren ist die
Laufbahn der Ringer zu Ende; sie erhalten dann aus der Kasse der Gilde
eine Pension, müssen aber dafür ihre Nachfolger in den Fertigkeiten
ihres Berufes ausbilden.

Eigene Theater oder Arenen für die Ringkämpfer giebt es in Japan nicht.
Soll ein Ringkampf stattfinden, so werden an geeigneten Orten, in
Kioto z. B. in dem weiten trockenen Flußbett des Kamogawaflusses, oder
in Tokio nahe dem berüchtigten Ekointempel in der Vorstadt jenseits
des Sumidaflusses eigene Schaubuden nach Art unserer Cirkuszelte
errichtet, nur daß an Stelle der Leinwand geflochtene Strohmatten
verwendet werden. Ein derartiges Zelt, Sumo genannt, ist schon aus
der Ferne durch seine eigentümliche Zufahrt zu erkennen. Zu beiden
Seiten derselben stehen Reihen gegeneinander geneigter haushoher
Bambusstangen, und von diesen hängen sechs bis acht Meter lange,
meterbreite Streifen roten, blauen oder gelben Zeuges, die mit großen
Schriftzeichen bedeckt sind, herab. Vor dem Eingange selbst erhebt sich
ein hohes Bambusgerüst, auf welchem ein Paukenschläger möglichst großen
Lärm macht. In der Nähe sind die Ehrengaben des Publikums für die
Sieger zur Schau gestellt. Der wohlhabende Japaner spielt sich gern auf
den Kunstmäcen heraus, und wie im Abendlande den Künstlern Blumen und
Kränze gespendet werden, so giebt es hier Ehrenflaggen, Kleiderstoffe,
vor allem aber Fäßchen Reiswein. Gewöhnlich werden auch die Namen der
Ringkämpfer durch große Anschläge bekannt gemacht. Je berühmter der
Sumotori, in desto größeren Schriftzeichen prangt sein Name, ganz wie
bei uns.

Am Eingang erhält man gegen Erlag eines viertel oder halben Dollars
die Eintrittskarte in Gestalt eines mit Schriftzeichen bedeckten
Holztäfelchens, das von den Aufwärtern im Innern wieder abgenommen
wird. Japaner müssen am Eingang auch ihre Holzschuhe ablegen, ähnlich
wie wir die Hüte und Schirme ablegen, denn im Innern ist der Boden
mit feinen Filzmatten bedeckt, und diese Matten mit den schweren
Holzschuhen zu betreten, wie sie selbst die vornehmsten Damen in
Japan tragen, wäre ebenso undenkbar, als wenn wir beim Besuch eines
Privathauses auf den Möbeln des Empfangszimmers umhertrampeln würden.
Auf eigenen Gestellen stehen hier Hunderte und Aberhunderte von
Holzschuhen in langen Reihen, und man kann sich das Gedränge wohl
vorstellen, wenn nach beendeter Vorstellung die ganze bestrumpfte
Gesellschaft ihre Schuhe sucht.

Im Innern des Zeltes befindet sich zur Rechten des kleinen Vorraumes
die Künstlergarderobe. Hier kauern oder liegen auf Matten ausgestreckt
die Sumotori, feste, fleischige Gestalten mit riesenhaften Gliedmassen,
gewöhnlich vollständig unbekleidet; flinke Aufwärter kämmen ihre Haare,
binden die Zöpfe fest, reiben ihre Glieder oder legen das einzige
Gewand der Sumotori beim Kampfe, eine seidene Schärpe um deren Leib.
Diese breite, ausnehmend feste Schärpe ist gewöhnlich von blauer Farbe
und mit langen Fransen besetzt. Sie wird mehreremale um die Hüften
gewunden und dann zwischen den nackten Beinen durchgezogen.

Um den inneren, gewöhnlich viereckigen Zuschauerraum zieht sich eine
etwa brusthohe Galerie, welche die teuersten Sitzplätze enthält.
Als ich mich in Osaka gelegentlich eines derartigen Ringkampfes auf
diese Galerie begeben wollte, fand ich nirgends einen Aufgang, und
ich war schon im Begriffe, mit Zuhilfenahme von Händen und Füßen
hinaufzuturnen, als ein Aufwärter mit einer kurzen Leiter herbeieilte.
Nachdem er mir meine hölzerne Eintrittskarte abgenommen, lehnte er die
Leiter an die Galerie, und als ich oben war, nahm er sie wieder mit
sich fort. Ich konnte mich des Gedankens an die furchtbaren Schrecken
nicht enthalten, wenn hier bei dem fortwährenden Tabakrauchen und
Ausklopfen der noch glühenden Asche aus den Pfeifen Feuerlärm entstehen
sollte, aber daran wird wohl von den Japanern nicht gedacht. Die
Hauptsache ist, daß durch das Fortnehmen der Leiter die Einschmuggelei
billetloser Leute verhindert wird. Will jemand während der Vorstellung
herunter, so ruft er durch Händeklatschen den Aufwärter herbei.

Wie auf der Galerie, so ist auch in dem Zuschauerraum unten gewöhnlich
jedes Plätzchen von Neugierigen besetzt. In der Mitte dieses Raumes,
rings umgeben vom Publikum, erhebt sich eine Bühne von vielleicht drei
Meter Durchmesser, und diese bildet die eigentliche Kampfarena. An den
Ecken erheben sich hohe Bambuspfosten, ein Leinwanddach tragend. Der
Boden der Arena ist mit Erde bedeckt und ringsum mit Reisstrohbündeln
eingefaßt.

Die Leitung des Kampfes obliegt einem Giozi, d. h. einem mit allen
Regeln des Ringkampfes vertrauten Richter, der in seinen jungen Jahren
selbst ein Sumotori war. In altjapanische bunte Gewänder gehüllt, das
Abzeichen seiner Würde, ein fächerartiges mit Schnüren und Quasten
behängtes Tutschiwa in der Hand, betritt er feierlichen Schrittes
die Bühne, klappert mit zwei Holzstücken, um die Aufmerksamkeit des
Publikums zu erwecken, und verkündet nun mit schreiender Fistelstimme
die Namen der zunächst auftretenden Kämpfer. Gewöhnlich sind es die
jüngeren, minder erfahrenen Ringer, welche den Anfang machen. Der
Anblick der beiden fetten, mit Ausnahme der Hüften vollständig nackten
Gestalten gewährt keinen besonderen Liebreiz. Sie schlürfen zunächst
aus den bereitstehenden Gefäßen etwas Wasser und gießen es über ihren
Körper; dann nehmen sie eine Prise Salz in den Mund, reißen von den
aufgehängten Papierpäckchen einige Blatt herunter, um sich die Hände
abzuwischen, und stellen sich dann einander gegenüber, den Kampfrichter
zur Seite, in Positur. Dazu müssen die Beine so weit wie möglich
gespreizt werden, dann hocken sie auf ihre Waden nieder, indem sie mit
den flachen Händen ein paarmal auf ihre Schenkel klatschen, und stemmen
schließlich die ausgestreckten Arme mit dem Handrücken nach unten auf
den Boden. Kaum sind sie in dieser keineswegs malerischen Stellung, so
stoßen sie fast gleichzeitig einen Schrei aus, springen, wie von einer
unsichtbaren Feder emporgeschnellt, empor und werfen sich mit vollster
Wucht gegeneinander.

Bei diesen Kämpfen handelt es sich darum, den Gegner nach den genau
vorgeschriebenen Regeln des Ringens zum Fall zu bringen. Stoßen,
Schlagen, Boxen, dann gewisse Finten, wie das Unterstellen eines
Beines u. dergl., sind auf das strengste verboten und kommen auch
niemals oder doch nur höchst selten, vielleicht seitens eines
aufgeregten jungen Kämpfers vor, mit dem Ergebnis, daß der Kampf
sofort unterbrochen und er von der Arena ausgeschlossen wird.
Die Mitglieder der Sumotorigilde aber sind in der traditionellen
Kampfweise so eingeübt, daß sie nur diese zur Anwendung bringen. Als
ich dieselbe bei verschiedenen Ringkämpfen kennen lernte, fiel mir
ihre große Aehnlichkeit mit den bekannten Schwingfesten auf, welche
jeden Sommer in den Hochthälern der Schweiz dutzendweise abgehalten
werden. Hier sind es nicht professionelle Ringer oder, wie sie von
den Schweizern genannt werden, Schwinger, sondern zumeist die Hirten
von den Almen, dann Turner und Schwingamateure aus den Städten. Auch
hier gilt es als vornehmste Aufgabe, den Gegner hoch zu heben und über
den eigenen Kopf nach rückwärts zu werfen, daß er auf den Rücken zu
liegen kommt. Die Schweizer Schwinger tragen an Stelle der Gürtelbänder
aus festen Stoffen angefertigte Schwinghosen, bei welchen sie sich
gegenseitig fassen. Die japanischen Ringer dagegen suchen das Erfassen
ihres Gürtels seitens des Gegners nach Thunlichkeit zu verhindern.
Ihre Gesetze sind bei der Gleichheit der Aufgaben viel strenger als
bei den Schweizer Schwingern. Der Boden darf nur mit den Fußsohlen
berührt werden. Niederknieen, Aufstützen mit Händen oder Ellbogen
gelten als Niederlage, ebenso das Austreten aus dem nur acht oder
zehn Quadratmeter großen Kampfplatze. Die Kampfrichter verfolgen den
Verlauf des Kampfes auf das genaueste, ermuntern die Ringer durch
Zurufe, warnen sie, wenn sie gegen die Regeln verstoßen oder sich den
Strohbündeln nähern, welche den Kampfplatz umgeben. Wenn auch nur
die Zehenspitzen eines Ringers die Grenze überschreiten, gilt er als
besiegt.

Bei der Vorstellung, die ich in Osaka, dem japanischen Birmingham,
anzusehen Gelegenheit hatte, traf ich gerade ein, als die besten und
berühmtesten Ringer die Arena betraten, und die Aufmerksamkeit der
Kopf an Kopf gedrängten Zuseher war derart, daß man den Eintritt eines
Europäers gar nicht beachtete. Tausende von Augen waren ausschließlich
auf die beiden feisten Riesengestalten gerichtet; die Frauen vergaßen
das Essen, die Männer das Rauchen, selbst die Kinder blieben stumm
und blickten neugierig nach der Arena. In dem ganzen weiten Raume
nicht der geringste Laut, nicht die geringste Bewegung, als wäre die
ganze fremdartige Versammlung erstarrt. Aber ein kurzer, mir ganz
unverständlich gebliebener Handgriff einer der Ringer war das Signal
zu donnerndem Applaus, in welchen alle wie auf Kommando gleichzeitig
einstimmten. Von da an nahm die Erregung der Massen sichtlich zu;
die Ringer hielten einander fest umschlungen, der Schweiß lief von
ihren feisten Gliedern, die Adern waren zum Bersten geschwollen, ihr
kurzer stoßweißer Atem war bis zu mir herüber hörbar, und doch rührten
sie sich minutenlang nicht; eine kurze, kaum sichtbare Bewegung von
vielleicht Handbreite hatte abermals enthusiastische Beifallssalven zur
Folge, die eben so plötzlich, wie sie losbrachen, wieder verstummten.
Jeder Versuch des einen Ringers, über den andern den geringsten Vorteil
zu erringen, wurde von diesem sofort pariert; schließlich schien der
eine plötzlich nachzugeben, der andere fiel durch das plötzliche
Aufhören des Widerstandes nach vorne, und sein Gegner benützte diese
Blöße blitzschnell, um mit Kopf und Schultern unter den Leib seines
Widersachers zu fahren und diesen mit einem stierartigen Aufschnellen
über sich hinüberzuschleudern, daß er auf allen Vieren auf der Arena
landete.

Das Tosen und Schreien und Johlen der nun ganz außer Rand und Band
geratenen Volksmenge war unbeschreiblich. Die sonst so ruhigen,
höflichen Japaner sind bei solchen Veranlassungen ungemein leicht
erregbar; Hüte, Tücher, Fächer, Pfeifen, Tabaksbeutel flogen in einem
wahren Regen auf die Arena dem sich nach allen Seiten tief verbeugenden
Sieger zu. Sie wurden von den Aufwärtern sorgfältig eingesammelt; denn
diese handgreiflichen Beweise der Anerkennung werden nach beendeter
Vorstellung von ihren Eigentümern wieder gegen eine mehr oder minder
hohe Geldsumme oder andere Geschenke eingelöst. Alles das kommt dem
siegreichen Ringkämpfer zu gute.

In neuester Zeit ist die körperliche Ausbildung der japanischen Jugend
wieder aufgenommen worden, und in den Schulen wird überall fleißig nach
abendländischem Muster geturnt.



Wie die Japaner in ihrem Lande reisen.


Eine der ersten abendländischen Einrichtungen, die das moderne Japan
unmittelbar nach der großen Revolution zur Einführung brachte, waren
die Eisenbahnen. Heute ist die Mehrzahl der japanischen Städte durch
Schienenwege miteinander verbunden, und die Hauptmasse des Verkehrs in
diesem dichtbevölkerten Lande hat sich ihnen zugewendet. Der Reisende
in Japan ist überrascht, mit welcher Schnelligkeit die Japaner sich mit
diesem abendländischen Verkehrsmittel vertraut gemacht haben. Der ganze
Eisenbahnbau, die Verwaltung und Verkehrsleitung ruhen ausschließlich
in japanischen Händen, Japaner verfertigen die Waggons, zum Teil auch
die Schienen und das andere Material, Japaner entwerfen und bauen neue
Linien, dienen als Schaffner und Lokomotivführer, und unter den ganzen,
viele Tausende umspannenden Personal wird man nicht einen einzigen
Europäer finden.

Wie in allen anderen abendländischen Dingen, so gingen die schlauen
Bewohner des Mikadoreiches auch hier zu Werke: sie ließen sich von
europäischen Ingenieuren zunächst eine die Hauptstadt des Landes,
Tokio, mit dem Haupthafen, Yokohama, verbindende Eisenbahn bauen.
Im Jahre 1870 begonnen, wurde diese 27 Kilometer lange Bahn 1872
dem Verkehr übergeben, und sie diente seither als Muster für die
Herstellung jenes ziemlich ausgedehnten Eisenbahnnetzes, das sich
über die Hauptinsel Nipon ausbreitet. Die europäischen Ingenieure
hatten ihre Schuldigkeit gethan, indem sie den Japanern zeigten, wie
man es macht, und wurden entlassen. Alle anderen Bahnen wurden von
den japanischen Ingenieuren der ersten Musterbahn nachgebaut, und sie
unterscheiden sich deshalb nur wenig von den europäischen Bahnen.
Stationshäuser, Oberbau, Rollmaterial, Signaleinrichtungen sind im
wesentlichen dieselben wie bei uns.

Immerhin ist man auf Reisen in Japan überrascht, die Eisenbahnen so
vorzüglich funktionieren zu sehen, als wären sie schon seit vielen
Jahrzehnten im Betriebe, nur nehmen sie es mit den Fahrzeiten nicht
sehr genau. Rufen sie „tadeima” oder „suguni”, etwa „höchste Zeit”,
so dauert es gewöhnlich noch eine geraume Weile, bis abgefahren wird,
Zugverspätungen sind also natürlich. Dabei haben sich die Japaner
keineswegs in ihrem Thun und Lassen den Bahnen angepaßt, sondern
umgekehrt, sie haben sich dieselben dienstbar gemacht, ohne auch nur
das Geringste von ihrer nationalen Eigenart, von ihrem Leben und
ihren Sitten aufzugeben. Auf meiner ersten Bahnfahrt im Reiche des
Mikado, von Yokohama nach Tokio, brachte mich ein japanischer Kuli
in einer Kuruma, diesem bequemen Fauteuil auf Rädern, nach einer
Eisenbahnstation, die ebensogut in Halle oder Weimar hätte stehen
können, nur daß hier, wie überhaupt auf den japanischen Stationen,
die Restaurationslokale fehlen. An den Schaltern der drei Klassen
standen Japaner, um ihre Fahrkarten zu lösen, und die Beamten sprechen
auch hinreichend englisch, um sich mit europäischen Reisenden zu
verständigen. Nur mußte ich, bevor ich meine Karte erhielt, einem
Polizeiagenten in Uniform meinen japanischen Reisepaß vorweisen. Wäre
in meinem Paß die Stadt Tokio nicht angeführt gewesen, so wäre mir auch
keine Fahrkarte verkauft worden.

Bis zur Abfahrt des Zuges verteilten sich die Passagiere in den
Wartesälen der drei Klassen, die ähnlich eingerichtet sind wie bei uns,
mit Tischen, Stühlen und Bänken längs den Wänden. Im Wartesaale zweiter
Klasse lagen sogar die wichtigsten Tagesblätter der Hauptstadt zur
Lektüre auf. Männer, Frauen und Kinder, alle in ihren ursprünglichen
Nationaltrachten, machten es sich auf den ihnen ungewohnten Sitzen so
bequem, wie sie nur konnten; statt mit herabhängenden Beinen dazusitzen
wie Europäer, streiften viele ihre plumpen Holzsandalen von den
Füßen, zogen die Beine herauf und setzten sich in gewohnter Weise auf
ihre Fersen. Die mehr als große Ungezwungenheit der Japaner in Bezug
auf ihre Sitten konnte ich selbst hier, in dieser von zahlreichen
Europäern bewohnten und von ihnen am meisten beeinflußten Stadt an
einem ergötzlichen Beispiele wahrnehmen. Mitten zwischen den Frauen
und Mädchen im Wartesaal zweiter Klasse saß ein älterer Japaner,
der von der unangenehmen Landplage Japans, den kleinen hüpfenden
Menschenjägern, ein wenig gepeinigt zu werden schien. Ohne sich um die
Anwesenden im geringsten zu kümmern, entledigte er sich seines Kimono,
dann seines Unterkleides und stand nun in nicht viel umfassenderer
Bekleidung da als der, in der er erschaffen wurde. Nach aufmerksamer
Betrachtung seiner Gliedmaßen schüttelte er seine Kleidungsstücke
(Heiliger Florian, schütz’ mein Haus und zünd’ die anderen an!)
sorgfältig aus, zog sie wieder an und nahm ruhig Platz.

Auf dem Gepäckbureau werden Gepäckstücke in ähnlicher Weise angenommen
und eingeschrieben wie bei uns, nur daß die Empfangsscheine den
Bestimmungsort und die Nummer in japanischer Schrift tragen. Als die
Abfahrtszeit des Zuges gekommen war, wurden die Fahrsteige geöffnet,
und die ganze Menge von Passagieren, mehrere Hunderte an der Zahl,
begab sich in den bereitstehenden Zug. Nur wenige Passagiere trugen
europäische Kleidung und ebensolche Schuhe; von ihnen wurde die erste
Wagenklasse bevorzugt; zahlreicher waren jene, die zu ihrem dunklen,
schlafrockartigen Kimono einen europäischen Hut oder weißen Sonnenhelm,
dann Schuhe und Regenschirme europäischer Mache trugen; die Halbjapaner
benutzten größtenteils die zweite Wagenklasse, während die große Masse
der durchwegs japanisch gekleideten Passagiere in der dritten Klasse
Platz nahmen. Diese Unterscheidung habe ich später auf meinen Reisen
durch das ganze Land gefunden. Nur in den seltensten Fällen traf ich in
der ersten Klasse einen Japaner in Nationaltracht; auch dann war er in
europäischer Kleidung in den Wagen gestiegen und hatte erst hier den
abendländischen Rock mit dem bequemen Kimono vertauscht, ohne Rücksicht
auf die anderen Passagiere.

Auf derlei, gelinde gesagt, Ungeniertheiten muß man sich bei
Eisenbahnreisen in Japan ebenso gefaßt machen wie in den Städten und
Dörfern, nur sind sie reisenden Europäerinnen auf den Eisenbahnen
peinlicher, weil sie sich, in Waggons eingeschlossen, dem nicht durch
schleunige Flucht entziehen können. Von den Waggons erster Klasse sind
wohl manche in verschiedene Abteilungen geteilt, viele andere aber,
ebenso wie die Waggons zweiter Klasse, bilden nur einen einzigen Raum
mit an den Wänden entlanglaufenden Sitzbänken und einem freien Platz
in der Mitte, wo sich gewöhnlich ein Tischchen mit Eiswasser befindet.
Die Waggons dritter Klasse haben wohl Abteilungen, aber die Teilwände
reichen nur etwa zum halben Rücken der sitzenden Passagiere. Manche
Abteilungen in den besseren Wagenklassen zeigen in japanischer und
englischer Sprache die Bezeichnung „Nichtraucher”, doch bleibt sie in
diesem Lande, wo Männer und Frauen ohne Ausnahme Raucher sind und stets
ihre kleinen Pfeifchen bei sich führen, unbeachtet. An Reinlichkeit
und Bequemlichkeit läßt nur die erste Wagenklasse nichts zu wünschen
übrig, aber in dieser bekommt der Reisende wieder nichts von dem
eigentümlichen und hochinteressanten Volksleben zu sehen, das sich
in der zweiten und dritten Klasse abspielt. Auf meinen Reisen wählte
ich deshalb gewöhnlich die zweite Klasse, und bei Tag und Nacht blieb
meine Aufmerksamkeit zwischen den herrlichen Landschaftsbildern, an
denen wir vorbeiflogen, und dem Leben und Treiben meiner japanischen
Mitreisenden geteilt. Schlafwagen und Restaurations- oder Büffettwagen
sind, nebenbei bemerkt, in Japan noch unbekannt.

Die Japaner pflegen für größere Reisen ihre Hauskleider, Reisedecken,
Lebensmittel und dergleichen mitzubringen, und sobald sie den Waggon
mit höflichen Verneigungen gegen die Mitreisenden betreten haben,
machen sie es sich auf den langen schmalen Sitzen so bequem als
möglich. Die Straßenkimonos werden mit dem leichten, aus hellem Stoff
angefertigten Hauskleide vertauscht, was bei dem Umstande, daß die
Japaner keine Unterwäsche tragen, zu ähnlichen Schaustellungen führt,
als wollten wir in unseren gefüllten Waggons das Unterhemd wechseln;
fortschrittliche Japaner, bei denen die europäische Kultur, von unten
beginnend, sich bereits durch moderne Schuhe oder Stiefel äußert,
streifen diese gewöhnlich ab und bleiben während der ganzen Fahrt in
Socken; bei besonders heißem Wetter schlagen die Reisenden beiderlei
Geschlechts ihre Kimonos zurück und fächeln mit den stets in ihren
Händen befindlichen Papierfächern ihren nackten Beinen Kühlung zu.
Ueberfällt die reisenden Kinderchen etwa ein natürliches Bedürfnis,
so befriedigen sie dasselbe mitunter, besonders in der dritten
Wagenklasse, auf dem Fußboden des Waggons. Reisetaschen und Koffer
nach unserer Art haben im Reiche des Mikado erst spärlich Eingang
gefunden; der Japaner der unteren Stände packt seine Siebensachen
gewöhnlich in ein buntes Taschentuch, das er vorläufig nur zu diesem
Zwecke gebraucht; für jenen, zu dem wir es verwenden, bedient er sich
kleiner Papierchen. Hat eine Japanerin in irgend einem der europäischen
Kaufläden von Tokio oder Yokohama wirklich eine lederne Reisetasche
erstanden, so wickelt sie auch diese sorgfältig in ein buntes
Taschentuch und trägt sie wie ein Bündel. Ohne Bündel keine Reisende.
Kleidungsstücke und dergleichen bringen die Japaner gewöhnlich in
Yanagigori, kurzweg Kori genannt, unter. Diese Kori bestehen aus zwei
länglichen Körben, die mit der Oeffnung gegeneinander zusammengeschoben
und mit Stricken gebunden werden. Sie haben gegenüber unseren
Reisekoffern den Vorteil, daß sie sich dem Inhalt anschmiegen und desto
weiter auseinandergezogen werden können, je umfangreicher ihr Inhalt
ist. Auch die in Japan wohnenden Europäer benutzen auf ihren Reisen
gewöhnlich diese praktischen Kori, und aus Leder hergestellt, sowie
mit Schlössern versehen, würde sich ihre Einführung in Europa sehr
empfehlen.

Für diejenigen Reisenden, die sich ihren Mundbedarf nicht von Hause
mitgebracht haben, werden auf den einzelnen größeren Stationen
überall Lebensmittel, Kuchen, Eier, Früchte, ja ganze Mahlzeiten
feilgeboten. Dazu dienen Schachteln in der Größe und Form unserer
Cigarrenschachteln aus neuem weißen Holz, sogenannte Bento, die wenige
Sen kosten. Beim Oeffnen der Umhüllung findet man zunächst eine kleine
Papierserviette, dann einen Holzspan, der als Löffel dient, und zwei
Eßstäbchen, zusammen von der Stärke und Länge eines Bleistiftes, die
zum Zeichen ihrer Jungfräulichkeit nur zu zwei Dritteilen ihrer Länge
auseinandergespalten sind. Unter ihnen zeigen sich die Leckerbissen
der japanischen Mahlzeit: auf der einen Seite der Schachtel allerhand
gekochte Wurzeln, eingemachte Früchte, rohe oder gesalzene Fischchen,
aber niemals Fleisch, auf der anderen Seite köstlicher, blendend weißer
Reis. Die Eßstäbchen dienen als Messer und Gabel, die Schachtel als
Teller; dazu werden auf den Stationen Flaschen mit gutem japanischen
Bier, Limonade und zur Kühlung dieser Getränke Eisstücke feilgeboten.
Das gebräuchlichste Getränk ist aber doch Thee geblieben. Kleine
Jungen verkaufen ganz reizende Theetöpfe mit heißem Theeaufguß und
kleinen Schälchen dazu für drei bis vier Sen, alles inbegriffen,
und kommt der Eisenbahnzug nach mehrstündiger Fahrt an eine größere
Station, so ist es gewöhnlich die erste Aufgabe der mit der Reinigung
der Waggons beauftragten Stationsdiener, die Dutzende von Theetöpfen
und Schälchen zu entfernen, die sich während der Reise angesammelt
haben. Die Töpfe finden aber zuweilen auch eine andere Verwendung,
wie ich auf einer Reise von Tokio nach Osaka in Gesellschaft mehrerer
europäischer Damen und einer Anzahl Japaner wahrzunehmen Gelegenheit
hatte. Einer der letzteren hatte eben zwei Täßchen Thee geschlürft und
den Theetopf unter den Sitz gestellt, als er Gelegenheit bekam, ein
im Waggon vorhandenes Seitenlokal zu benutzen. Statt sich dorthin zu
bemühen, holte er gemächlich den Theetopf wieder hervor und warf ihn
nach vollbrachter That im kühnen Schwunge zum Waggonfenster hinaus.
Derselbe Mann aber entfernte sich, an seinem Ziele angelangt, unter den
ehrerbietigsten Verbeugungen vor uns aus dem Waggon, ein Beweis, daß er
von der Unziemlichkeit seines früheren Betragens keine Ahnung hatte.

Europäer durften sich in Japan bis 1898 auch auf den Eisenbahnen
keineswegs frei bewegen, für jede Reise bedurften sie eines von der
Regierung ausgestellten Reisepasses in japanischer Sprache, in dem
die einzelnen Orte, wo die Reisenden Aufenthalt nehmen wollten,
genau angegeben waren. An jeder Eisenbahnstation, ja in jedem noch
so kleinen Orte wachte die luchsäugige japanische Polizei mit der
größten Strenge über die Reisenden, und wie eingangs erwähnt, kein
Europäer durfte sich ein Eisenbahnbillet lösen, ohne daß sein Reisepaß
vorher von einem Polizisten geprüft worden wäre. Wurde er in einem
Orte angetroffen, der in seinem Passe nicht erwähnt war, so konnte er
sich empfindlichen Unannehmlichkeiten aussetzen. Wie in dem gestrengen
Rußland konnte er ohne Paß in keinem Hotel Aufnahme finden. Durch
diese Paßschwierigkeiten wäre im Sommer 1894 meine Reise von Japan
nach Korea bald zu Wasser geworden. Der letzte Passagierdampfer, der
vor dem chinesisch-japanischen Kriege überhaupt nach dem „Lande der
Morgenruhe” abgelassen wurde, sollte an einem bestimmten Tage den
Hafen von Kobe verlassen, und mein Reisepaß war in Myanoshita, wo ich
mich gerade befand, noch nicht eingetroffen. Um den Dampfer nicht zu
versäumen, nahm ich zu einer List meine Zuflucht. Eine Kuruma, gezogen
von zwei flinken Burschen, brachte mich und mein Reisegepäck, in dem
sich unter anderem ein vollständiger japanischer Anzug befand, am Abend
des letzten Tages aus dem Gebirge nach der Eisenbahnstation Kodzu. In
dem Theehause der Station gegenüber nahm ich einen Imbiß ein, den ich
mit einem reichlichen Dschadai (Trinkgeld) bezahlte, und ersuchte dabei
eins der kleinen, mich bedienenden Nesanmädchen, mir eine Fahrkarte
nach Kobe zu lösen. Durch einen glücklichen Zufall war der Polizist
am Schalter gerade nicht anwesend, und sie brachte mir das ersehnte
Stückchen Pappendeckel. In der Dunkelheit stahl ich mich nun in ein
Bambusgestrüpp nahebei, streifte rasch meine Oberkleider ab, warf mich
in einen Kimono, band ein rotes Kopftuch um, setzte eine große dunkle
Brille auf und verbarg meine europäischen Kleider in dem Reisesack.
So wartete ich das Herannahen des Zuges ab, und als er in die Station
eingefahren war, sprang ich, so schnell es die schweren Holzpantoffeln
erlaubten, mit einem Tuche vor dem Munde, als hätte ich Zahnschmerzen,
zwischen Polizisten und Bahnbeamten hindurch in den Zug. Während der
nächtlichen Fahrt erschien glücklicherweise nur ein Jünger der heiligen
Hermandad in meinem Waggon, wo ich mich auf eine Bank ausgestreckt
schlafend stellte. Meine Vermummung und die Dunkelheit halfen mir über
diese Gefahr hinweg, und glücklich kam ich in Kobe, einem den Europäern
geöffneten Hafen an, wo man sich über meine japanische Tracht nicht
wenig ergötzte. Das Schiff war erreicht, der Reisepaß aber kam, wie ich
nachträglich erfuhr, erst zwei Tage nach meiner Abreise in Myanoshita
an.

Mit ihren Eisenbahnen machen die Japaner vortreffliche Geschäfte. Nach
den offiziellen Mitteilungen vom Jahre 1896 hat das Eisenbahnnetz eine
Länge von etwa 3000 Kilometern erreicht. Das ist vorderhand nicht
viel, denn Japan hat dieselbe Größe wie ganz Norddeutschland mit
Ausschluß der thüringischen Staaten und dabei eine Einwohnerzahl von 42
Millionen, also um 9 Millionen mehr als Norddeutschland. Während dieses
nun ein Bahnnetz von über 30000 Kilometern Länge besitzt, hat dasselbe
in Japan nicht viel mehr als ein Zehntel dieser Länge im Betrieb. Dafür
sind augenblicklich noch weitere 1500 Kilometer im Bau begriffen.
Während des Jahres 1895 hat die Regierung 26 temporäre Baubewilligungen
im Gesamtumfange von 1350 Kilometern mit einem Kapital von 40 Millionen
Yen erteilt, dazu 5 permanente mit 390 Kilometern und 10½ Millionen
Kapital. Die Spurweite der japanischen Bahnen ist geringer als jene
der europäischen und beträgt nur, die Schienen einbegriffen, 1 Meter
15 Centimeter, weshalb die Geschwindigkeit der Schnellzüge zu wünschen
übrig läßt. Dafür sind auch die Fahrpreise geringer, denn sie betragen
für den Kilometer nur etwa 6 Pfennig in der ersten, 4 Pfennig in der
zweiten und 2 Pfennig in der dritten Klasse. Mit Ausnahme der kurzen
Strecken zwischen Kobe und Osaka, sowie zwischen Tokio und Yokohama
sind alle japanischen Bahnen eingleisig.

Unter staatlicher Verwaltung standen 1895 880 Kilometer mit 127
Stationen und 3000 Waggons, die Einnahmen beliefen sich auf 7¼
Millionen Yen, die Ausgaben auf 4 Millionen, so daß bei einem
Anlagekapital von 40 Millionen Yen die Verzinsung etwa 8 Prozent
beträgt; im Jahre 1891 belief sie sich nur auf 6 Prozent.

80 Millionen Yen sind in den Eisenbahnlinien der Privatgesellschaften
angelegt, die Ende 1895 eine Gesamtlänge von 2300 Kilometern mit 273
Lokomotiven und 5000 Waggons besaßen. Ihre Einnahmen beliefen sich auf
8¾ Millionen, die Ausgaben auf 4 Millionen, und da von dem Kapital nur
60 Millionen eingezahlt sind, so ergiebt sich bei einem Reingewinn von
5¾ Millionen eine recht ansehnliche Dividende.

Die Zahl der Passagiere belief sich 1895 auf nahezu 22 Millionen, von
denen 20½ Millionen die dritte Fahrklasse benutzten und 750000 die
zweite; nur 50000 fuhren in der ersten Klasse, der Rest entfällt auf
Dienstreisende.

Durch Unfälle wurden 135 Passagiere getötet und 38 verwundet.

Im Jahre 1898 war die Länge der Staatsbahnlinien 1065 Kilometer, der
Privatbahnen 3682 Kilometer, zusammen also 4747 Kilometer.

Ebenso wie Dampfeisenbahnen sind in den letzten Jahren auch zahlreiche
Pferdebahnen in Japan gebaut worden, in Städten sowohl wie auf dem
Lande, ja die Japaner sind sogar noch einen Schritt weiter gegangen und
können sich einer Eisenbahn rühmen, wie sie auf dem weiten Erdenkreis
wohl kaum ihresgleichen hat. Als ich im Sommer 1894 auf meinen Fahrten
längs der herrlichen Bucht von Odawara, südlich von Yokohama, das Bad
von Atami mit seinem berühmten intermittierenden Geiser besuchte, legte
ich den Weg dahin noch in der Rickshaw zurück. Seither sind spekulative
Köpfe auf den Gedanken gekommen, eine Rickshaw-Eisenbahn anzulegen
mit menschlichen Lokomotoren. Statt der von einem Kuli gezogenen
Handwägelchen laufen auf dieser Bahn viersitzige Wagen, von zwei Kulis
gezogen. Ich glaube, es besteht in Japan bereits ein Tierschutzverein.
Ob es nicht zweckmäßig wäre, auch einen Menschenschutzverein zu
gründen? Die Steigungen auf dieser Kulibahn sind derart bedeutend, daß
sie von den armen Zugmenschen kaum bewältigt werden können, besonders
wenn statt vier sogar sechs Passagiere in dem Wägelchen Platz nehmen;
ebensowenig können die Kulis beim Herabfahren den ins rasche Rollen
gekommenen Wagen zurückhalten, und es ist in der kurzen Zeit des
Bestehens dieser Kulibahn schon häufig zu Unglücksfällen gekommen.

Die Aufhäufung des Verkehrs durch die Eisenbahnen hat natürlicherweise
die alten Verkehrsstraßen Japans vereinsamt, aber wer Land und Leute
kennen lernen will, muß dieselben doch noch benutzen. Die älteste
dieser Straßen, die berühmte Nakasendostraße, läuft von Kioto mitten
durch die Insel Nipon in östlicher Richtung; eine zweite führt von
der alten Reichshauptstadt nach Norden, eine dritte in nordöstlicher
Richtung nach der heiligen Tempelstadt Nikko, aber während der letzten
Jahrzehnte vor der Einführung der Eisenbahnen war die belebteste
Verkehrsstraße der Tokaido, zwischen Kioto und Yeddo, die Hauptroute
der alten Feudalfürsten mit ihrem zahlreichen, oft nach Tausenden
zählenden Gefolge auf ihrem jährlichen Huldigungszuge an den Hof des
Schoguns. Der Verkehr auf dieser wichtigsten Route Japans wurde an
Lebhaftigkeit von keiner Straße in den Großstädten übertroffen, und
selbst heute noch wird der Tokaido täglich von Tausenden benutzt, die
zu Fuß, zu Wagen, in der Rickshaw oder in der japanischen Sänfte,
dem Kago, längere Reisen unternehmen. Leider verwendet die unter
dem Zeichen des Dampfverkehrs stehende japanische Regierung auf die
Straßen nur wenig Sorgfalt. Häufige Ueberschwemmungen und Erdbeben
richten in jedem Jahre immer größere Verheerungen an, und stellenweise
sind diese Verkehrswege kaum passierbar. Noch vor zwei Jahrzehnten
waren sie durch die herrlichsten uralten Kryptomerien beschattet,
und auf manchen Strecken, wie bei Nikko und an dem See von Hakone,
hatte ich noch Gelegenheit, in meiner Rickshaw zwischen langen Reihen
dieser wunderbaren Bäume einherzufahren, die mich in ihrer stolzen
Höhe und Eigenart lebhaft an die berühmten Sequojas im Distrikt von
Yosemite in Kalifornien erinnerten. In ihrem Streben nach vermeintlich
europäischer Kultur begannen die Japaner auch hier mit rücksichtsloser
Hand diese majestätischen Ueberreste des alten Japan zu vernichten;
auf Meilen wurden die Bäume niedergeschlagen, um Platz zu machen für
die Telegraphenstangen, und erst der Einspruch der Diplomaten und das
Geschrei der ausländischen Zeitungen brachte die offiziellen Vandalen
zur Besinnung. Die meisten Straßen Japans sind so schlecht unterhalten,
vom Wasser so zerrissen und bei Regenwetter so bodenlos wie die
chinesischen; nur stellenweise ist der Verkehr mittels Rickshaws
möglich, und deshalb hat sich auch noch so lange der entsetzliche
Marterkasten der Japanreisenden früherer Zeit, der Kago, erhalten. Der
Kago wird hauptsächlich noch von Frauen benutzt, und es nahm mich beim
Anblick derselben stets wunder, wie so zarte Wesen tagelang in diesem
elendesten aller Tragstühle verweilen konnten: ein Sitzbrett, nicht
viel größer als das unserer Armstühle, vorn und hinten mit Stricken an
einer von Kulis getragenen Bambusstange aufgehängt, bildet den Kago.
Auf diesem Sitze hockt der Reisende auf seinen Waden, denn der Kago ist
zu niedrig, um auf der zum Sitzen bestimmten Partie des menschlichen
Körpers zu ruhen und die Beine herabfallen zu lassen, auch zu kurz, um
die Beine ausstrecken zu können.

Dabei ist infolge der kleinen Statur der Japaner der Raum zwischen
Sitzbrett und Tragstange so niedrig, daß nur kleine Frauchen ihren
Kopf hochtragen können; ich selbst konnte ihn nicht heben, ohne an
die Tragstange anzustoßen. Zur Linderung der Marter wird freilich ein
Kissen auf den Sitz gebreitet und an der Bambusstange ein horizontales
Schutzdach aus Stoff gegen Sonne und Regen befestigt, aber eine Marter
bleibt es dennoch, im Kago zu reisen. Deshalb wurden in den letzten
Jahren hauptsächlich für die europäischen Reisenden die Tragstühle
eingeführt, wie sie in China, meistens in Hongkong, gebräuchlich sind.
Sie bestehen aus einem bequemen Armstuhl aus Strohgeflecht mit einer an
Seilen hängenden Fußbank; statt von einer Bambusstange herabzuhängen
wie der Kago, ist an jeder Seite des Tragstuhls etwa in der Höhe des
Sitzes eine mehrere Meter lange elastische Bambusstange angebracht,
deren Enden auf den Schultern von zwei bis vier Kulis ruhen.

Bei Rickshaw, Kago und Tragstuhl ist es erstaunlich, welche Kraft
und Ausdauer die sehnigen Kulis entwickeln; noch erstaunlicher
die Geringfügigkeit des Lohnes, mit dem sie sich zufrieden geben.
Allerdings sind ihre Bedürfnisse mehr als bescheiden; sie schlafen in
den ärmlichsten Hütten oder unter den längs des Tokaido und Nakasendo
stellenweise errichteten Flugdächern; sie nähren sich von Reis und
Gemüsen, und was ihre Kleidung betrifft, so besteht sie im Inlande,
entfernt von der polizeilichen Ueberwachung der Städte, im Sommer immer
noch aus der weißen Kravatte, die sie sich um die Lenden binden. Nur
auf den belebtesten Verkehrswegen tragen sie dazu noch eine blaue,
vorn offene Jacke und gestatten sich zuweilen auch den Luxus von
enganliegenden Kniehosen. Derartiger Kulis dürfte es im Reiche des
Sonnenaufgangs gegen zwei Millionen geben.



[Illustration: Rahmenstickerei.]



Ein Birmingham des fernen Ostens.


Der große Krieg zwischen China und Japan hat die Aufmerksamkeit Europas
in höherem Maße als bisher auf Ostasien gelenkt, und vielfach sind
die großen Gefahren besprochen, die der europäischen Industrie durch
den Wettbewerb der Länder Ostasiens, vor allem Japans, drohen. Japan
ist in den letzten Jahrzehnten in vielen Industriezweigen selbständig
geworden, ja es tritt auf den ostasiatischen Märkten, sogar auch in
Europa, mit seinen Industrieerzeugnissen erfolgreich auf.

Wo ist nun in dem fernen Inselreiche der Sitz der so jungen und
doch so gewaltigen Industrie? Sind es einzelne Gebiete oder Städte,
oder entwickelt sich das ganze Japan allmählich zu einem kleinen
ostasiatischen Westfalen? Der Reisende in Japan erlangt darüber
bald Klarheit. Während sich auf Reisen in Europa die Nähe größerer
Städte gewöhnlich durch die mit Rauch geschwängerte Atmosphäre, durch
Kirchtürme, hohe Schornsteine und große Fabrikgebäude kundgiebt,
sieht man in Japan die Städte erst, wenn man sich beinahe in ihnen
befindet. Ein Kranz von Gärten und hohen Bäumen entzieht die niedrigen,
einstöckigen Gebäude dem Anblick, und die Atmosphäre der Städte ist
ebenso klar und durchsichtig, der Himmel ebenso blau wie auf dem Lande.
Die Japaner verwenden eben zur Feuerung hauptsächlich nur Holzkohlen.
Schornsteine sind dazu nicht nötig, ja den Städten des südlichen
Japan sind solche bisher glücklicherweise noch unbekannte Dinge
geblieben.

[Illustration: Reisende Japanerinnen auf der Tokaidostraße.]

Das Erstaunen des Japanreisenden ist deshalb groß, wenn er auf seiner
Fahrt längs der Ostküste von Yokohama nach Kobe, etwa eine Stunde
vor dieser Hafenstadt, im Osten die Atmosphäre mit dichtem Rauch
geschwängert sieht, als ob dort gerade irgend eine Ortschaft vom Feuer
verzehrt würde. Beim Näherkommen gewahrt er in der weiten Ebene eine
große Zahl von umfangreichen Fabrikanlagen mit roten, mehrstöckigen,
vielfensterigen Gebäuden und Dutzenden hoch über sie emporragenden
Schornsteinen, ein Anblick, an den er wohl in den Industriebezirken
von Sachsen oder Westfalen gewöhnt ist, der hier aber sein Befremden
erweckt. Bald darauf fährt er in eine rauchige, finstere, belebte
Eisenbahnstation ein, und der japanische Schaffner ruft Osaka.

Osaka, das japanische Birmingham, das neugeschaffene Emporium
der ebenso neuen japanischen Industrie, die größte Fabrikstadt
von Ostasien. Gleichzeitig ist dieses Osaka (sprich Ohsakka) die
zweitgrößte Stadt des Landes, an Einwohnerzahl, Bedeutung und Reichtum
nur von Tokio übertroffen. Vor dem Stationsgebäude drängen sich
zwischen Tausenden von geschäftigen Menschen Hunderte von Kurumas,
diese kleinen, zweiräderigen, von flinken, strammen Burschen gezogenen
Handwagen. Ich springe in eine dieser Kurumas, rufe dem Kuli die
Worte „Yadya Dschiyutai” zu und befinde mich nach einer raschen Fahrt
von zehn Minuten durch die ungemein belebten Straßen Osakas in dem
einzigen, halbwegs europäisch eingerichteten Hotel dieser japanischen
Großstadt.

Das Dschiyutaihotel steht im Verein mit einigen anderen Gebäuden auf
einer langen, schmalen, mit hübschen Parkanlagen bedeckten Insel
inmitten des Yodogawaflusses, der hier etwa die Breite des Rheins bei
Köln besitzt. Diese, Nakanoshima genannte Insel ist mit den Stadtteilen
an beiden Ufern durch eine breite, stets dicht mit Menschen besetzte
Brücke verbunden; auf dem Strom fahren zahllose Dampfer, Frachtboote
und Sampans auf und nieder; die Ufer sind dicht mit malerischen,
mehrstöckigen Holzhäusern eingefaßt, die mit ihren Fronten auf Piloten
im Wasser stehen und in jedem Stockwerk eine mit Blumen, Lampions und
Flaggen geschmückte, weit in den Fluß ragende, offene Veranda zeigen.
Ueberall, in den Häusern, auf den Veranden, auf der Brücke und im
Flusse herrscht das regste Leben. Menschen, wohin das Auge blickt,
durchweg Japaner, anscheinend ganz unbeeinflußt durch die europäische
Kultur. Während meines mehrtägigen Aufenthaltes in Osaka begegnete ich
keinem einzigen Europäer. Es gab wohl in früheren Jahren viele hier,
als die Japaner zur Anlage und Einrichtung ihrer Fabriken europäischer
Fachleute bedurften. Sobald diese jedoch ihre Schuldigkeit gethan
und die Japaner in die Geheimnisse ihrer Kunst eingeweiht hatten,
wurden sie von den letzteren wieder entlassen. Heute werden all die
großen Fabriken, die im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte auf diesem
urjapanischen Boden entstanden sind, fast ausschließlich von Japanern
geleitet; sie sind mit japanischem Gelde errichtet worden, die
europäischen oder asiatischen Rohprodukte, die sie benötigen, werden
mit europäischen Maschinen ausschließlich von Japanern verarbeitet,
kommen durch japanische Handelshäuser auf den Markt, werden bei
japanischen Gesellschaften gegen Schäden versichert und endlich auf
japanischen Dampfern nach den verschiedenen Häfen, aber auch nach
China, Indien, Australien, ja selbst nach Europa verschifft. Kürzlich
hat eine große japanische Dampfergesellschaft, die Nipon Yusen Kaisha,
eine regelmäßige Dampferlinie über den Stillen Ozean nach Amerika und
eine zweite durch den Suezkanal nach Europa eingerichtet, und die
massenhaften Fabrikprodukte von Osaka gelangen in Europa auf den Markt,
ohne daß der Europäer irgend etwas daran verdient.

Doch, wo sind die Fabriken des so rasch berühmt gewordenen Birmingham
von Ostasien? Rings um den breiten Fluß und selbst im Innern der Stadt
giebt es keine, und wer ähnliche Frachtwagen und andere Fuhrwerke,
Maschinen, Schienengeleise, Quais mit schwarzen Drehkränen, gehandhabt
von rußigen Arbeitern, erwartet, wie sie sich in den Fabrikstädten
Europas zeigen, der wird hier angenehm enttäuscht. Auf dem Flusse, in
den zahlreichen Kanälen, in den Straßen der inneren Stadt bis hinauf
zur altjapanischen Frohnfeste ist das Bild von Osaka urjapanisch, und
weder Tokio noch Kioto, noch irgend eine andere von Fremden besuchte
Großstadt ist von der europäischen Kultur so unbeeinflußt geblieben
wie Osaka. Tokio läßt sich von der Regierung, figürlich gesprochen,
allmählich ins Europäische übersetzen, ebenso Yokohama, Kobe, Hiogo,
teilweise sogar Kioto und Nagasaki. Osaka dagegen hat die europäische
Kultur ins Japanische übersetzt; es hat sich von derselben alles
angeeignet, dessen es bedarf, hat es aber dem japanischen Wesen
angepaßt und ist in dem Aussehen seiner Straßen und Häuser und der
Menschen, die in ihnen wohnen und verkehren, anscheinend mit zäher
Absichtlichkeit urjapanisch geblieben. Ich habe auf meinen Reisen durch
Japan keine Stadt gesehen, in der sich das japanische Leben und Treiben
unverfälschter und dabei lebhafter zeigte, auch in dieser Hinsicht
keine interessantere und sehenswertere Stadt gefunden als eben Osaka.
Man sollte glauben, daß die großartigen europäischen Industrien, die
sich hier in so kurzer Zeit entwickelt haben, auch auf das Leben,
die Kleidung und das ganze Wesen der Einwohner nicht ohne Einfluß
geblieben sein könnten. Keine Spur davon. Im Gegenteil. Nirgends ist
von altjapanischer Eigenart mehr wahrzunehmen als gerade hier. Nirgends
ist der alte Aberglaube, der Götzendienst, das Prozessionswesen
ausgeprägter; nirgends werden die vielen Matsuri (Volksfeste)
ursprünglicher gefeiert; nirgends giebt es bewegteres Leben in den
Theehäusern und Theatern; die Geishamädchen von Osaka sind in ganz
Japan als die hübschesten und fähigsten anerkannt, und in Osaka wird am
besten nach altjapanischer Weise getanzt, gesungen und musiziert.

Die Stadt liegt auf beiden Ufern des breiten, vom Biwasee kommenden
Yodogawaflusses und ist von alters her der Hafen der früheren
Landeshauptstadt Kioto, mit der sie durch eine Eisenbahn und mehrere
Dampferlinien auf dem Yodogawa verbunden ist. Aber Osaka kann heute
nicht mehr als Hafen gelten, denn es ist etwa zwei bis drei Kilometer
von der schlammigen Mündung dieses Flusses in die seichte Osakabucht
entfernt, und Seedampfer können hier gar nicht herankommen. Osaka
gegenüber, auf der Westseite der etwa fünfzehn Kilometer breiten
Bucht, liegen die Zwillingsstädte Hiogo und Kobe, und diese bilden
ihrerseits den Hafen von Osaka; von dort gelangen all die Erzeugnisse
der letzteren Stadt zur Verschiffung, und wie in der Zeit vor der
Revolution die Stadt Kioto den Hafen Osaka geschaffen hat, so hat
nach der Revolution die Stadt Osaka den Hafen Kobe geschaffen und
zu großer Blüte gebracht. Dieses Kobe ist eine europäische Stadt
mit abendländischen Straßen und Häusern, mit Konsulaten, Theatern,
Konzerthallen, Klubs nach europäischer Art, noch mehr als Yokohama,
und vielleicht auch bestimmt, in nicht zu ferner Zeit dieses zu
überflügeln; Osaka aber ist, wie gesagt, japanisch geblieben.

Das merkt man sofort, wenn man in einer Kuruma durch die Straßen dieser
reizenden Stadt fährt. Sie ist ganz nach amerikanischer Schachbrettart
angelegt; die breiten, geradlinigen Straßen schneiden sich in rechten
Winkeln und werden von einer großen Zahl von ebenso geradlinigen
Kanälen gekreuzt, über die gewölbte, hölzerne Brücken führen. Es sind
also sozusagen zwei Städte übereinander; eine Stadt von Kanälen,
zwischen denen sich nicht weniger als dreieinhalbtausend Brücken
befinden.

Welche von diesen beiden Städten interessanter ist?

Bei Tag wohl die Stadt auf dem Lande mit ihrem ungemein regen Leben
und Treiben und ihren unzähligen Kaufläden, die sich in den meisten
Straßen auf Kilometer dicht aneinanderreihen, als ob jede einzelne der
162000 Familien der Stadt einen Kaufladen besäße. Durch die im Juli
1896 erfolgte Einverleibung von 28 umliegenden Städten und Dörfern in
Osaka hat sie an Bevölkerungszahl um 125000 zugenommen und ist heute
eine Stadt von 752000 Einwohnern, übertrifft also Birmingham um 300000
Seelen, und überall, Straßen auf, Straßen ab sind weitgeöffnete Läden,
so daß man beim Spazierengehen nicht nur die vor den Läden an der
Straße aufgestapelten Waren, sondern auch die in denselben herrschende
Thätigkeit wahrnehmen kann. Osaka ist ja nicht nur Markt-, sondern
auch Fabrikstadt; dabei nicht nur von europäischen Waren, sondern auch
die größte Fabrikstadt nach japanischer Art. Draußen an der Straße
der Handel, drinnen in den Läden die Industrie. Diese ist, was die
spezifisch japanischen Produkte anbelangt, Kleinindustrie geblieben.
Jede Familie arbeitet in den kleinen, niedrigen, aber nach vorne und
hinten offenen und deshalb luftigen Läden für sich oder höchstens mit
Zuhilfenahme von einem oder mehreren Arbeitern. Hier sieht man die
fleißigen, kleinen Japaner, im warmen Sommer mit entblößtem Oberkörper,
mit ihren Händen und häufig auch mit den Füßen arbeiten. Hier sieht
man, wie die kleinen, zierlichen Fächer gemalt, wie ihre Bambusrippen
gespalten und zusammengefügt werden, ein kleiner Artikel, der aber
nach Hunderten von Millionen in alle Welt gerade von Osaka ausgeführt
wird und Millionen in die Taschen der Einwohner bringt. Hier sieht
man das Flechten der zarten, hübschen Strohmatten, die Herstellung
des Indigo zum Färben der in den Fabriken angefertigten Stoffe, das
Weben der herrlichen Seidenstoffe und golddurchwirkten Brokate, das
Zusammensetzen der bekannten Sonnenschirme aus Bambus und Papier, das
Verfertigen der kleinen, hölzernen Nippsachen, Kästchen und Schachteln,
die von verschiedenen Größen, aber derselben Form, so genau ineinander
passen; die Fabrikation der Millionen von Puppen, Kinderspielzeugen
aller Art, der Bronzefigürchen, Schälchen und hunderterlei anderer
wohlfeiler Artikel, die in den europäischen Bazars sich so
wunderhübsch ausnehmen, unsere Bewunderung erregen, unsere Kauflust
reizen. Stundenlang mußte ich in diesen interessanten Quartieren der
japanischen Kleinindustrie verweilen, bald hier, bald dort, und staunen
über die unglaubliche Geschicklichkeit, ebenso wie über die einfachen
Mittel der japanischen Handwerker. In der Zartheit und Genauigkeit
ihrer Arbeit stehen sie unter allen Nationen unübertroffen da oder
können es wenigstens, wenn sie wollen. Infolge des ungeheuren Absatzes,
den diese japanischen Nippes in Europa und Amerika gefunden haben, ist
die Nachfrage nach diesen, größtenteils aus Osaka stammenden Artikeln
so lebhaft geworden, daß die Kleinindustrie mit Arbeit überhäuft ist,
und da der Nachwuchs an Arbeitern nicht genügt, ihre Arbeitskraft aber
bei vierzehn- bis sechzehnstündiger Arbeitszeit nicht höher angespannt
werden kann, so ist in den letzten Jahren ein bedauerlicher Schlendrian
in der Herstellung eingetreten. Osaka ist eine Art japanisches Chicago,
mit seiner Jagd nach dem Gelde. Verdiene Geld, verdiene es ehrlich, und
kannst du es nicht, so verdiene es doch.

Nur eine beschränkte Zahl von Kunstgewerben hat sich noch zum Teil
von dieser Leichtfertigkeit freigehalten, darunter die Herstellung
feiner Bronzewaren und feiner Porzellansachen. In den Kuriositätenläden
von Yokohama und Kobe wurden mir häufig reizende Artikel dieser Art
vorgelegt. Bronzen mit eingesetzten oder aufgehämmerten Figuren,
Ornamenten, eingelegtem, ungemein zartem Email, in den herrlichsten
Formen, in der zartesten Ausführung. Oder entzückende kleine Vasen,
Schalen, Tassen, Aschebehälter aus feinstem Porzellan, bedeckt mit
Malereien von einer Feinheit, Kleinheit und Farbenpracht, die in Europa
unerreicht ist. Man nannte mir als Erzeuger dieser Waren Firmen aus
Osaka mit weitberühmten Namen. Als ich diese Firmen aufsuchte, um
die Erzeugungsart dieser kleinen Kunstwerke kennen zu lernen, fand
ich sie auch nur in bescheidenen kleinen Holzhäuschen, aber sie
hatten keine offenen Kaufläden wie ihre minderwertigen Kollegen. An
den verschlossenen Häusern, die man ebensogut für Privathäuser hätte
halten können, waren keine Schilder oder Firmentafeln, ja selbst als
ich Einlaß gefunden hatte, sah ich auch im Innern keine Schaustücke
ausgestellt. Erst nach längerer Unterhaltung und nachdem ich den
von zarten Mädchenhänden dargereichten Thee geschlürft, wurden die
Kästen geöffnet, aus Baumwolle und Papier die kleinen Kunstgegenstände
ausgewickelt und mir mit großem Zeremoniell, etwa wie der kostbarste
Brillantschmuck, dargereicht. Und als ich die Frage stellte, wo das
Atelier sich befände, wies man mich eine steile, enge Holztreppe
hinauf in das erste Stockwerk, wo ein paar junge Arbeiter auf dem
Fußboden saßen und an den kleinen Porzellanvasen und -schalen
herumpinselten. Das war die ganze weitberühmte Fabrik. In Europa
wäre ein Porzellanmaler von solcher Kunst und Fähigkeit mindestens
ein Professor, in einem schönen Atelier sitzend und mit ansehnlichem
Gehalt. Hier sind die Künstler junge bescheidene Burschen, die sechzehn
Stunden den Tag arbeiten, halbnackt auf ihren Fersen hocken und als
Tagelohn einen Yen, etwa zwei Mark, erhalten. Wenige werden besser
bezahlt, während die weitaus größte Mehrzahl von Arbeitern, die in
dem Kleingewerbe von Osaka Verwendung finden, nicht mehr als vierzig
bis fünfzig Pfennig den Tag verdienen. Und derartiger Arbeiter giebt
es in Osaka über sechzigtausend. Die besten Mechaniker erhalten einen
Tagelohn von etwa zwei Mark, Sticker, Aufseher, Maler, Holzschnitzer
eine Mark, Fabrikarbeiter durchschnittlich vierzig bis fünfzig Pfennig,
Tagelöhner siebzig Pfennig. Noch viel geringere Arbeitslöhne erhalten
die Arbeiterinnen. Am höchsten werden die Stickerinnen und Malerinnen
bezahlt. Sie erhalten etwa vierzig Pfennig täglich; ihnen zunächst
kommen Aufseherinnen und die ausgezeichnetsten Arbeiterinnen in den
verschiedenen Industriezweigen mit etwa dreißig Pfennig, gewöhnliche
Arbeiterinnen in den Fabriken mit zwanzig Pfennig und schließlich die
Lehrmädchen mit zehn bis dreizehn Pfennig täglichem Arbeitslohn. Wie
man sieht, betragen also die Arbeitslöhne in Japan im großen und ganzen
nur ein Viertel bis ein Fünftel der europäischen Löhne, und wenn man
berücksichtigt, daß Japan in Bezug auf Asien etwa ähnlich gelegen ist
wie England in Bezug auf Europa, daß es mit den verschiedenen Ländern
und Häfen der asiatischen Welt durch eigene japanische Dampferlinien in
Verbindung steht und daß die Entfernung dieser Länder von Japan nur ein
Drittel bis ein Fünftel ihrer Entfernung von Europa beträgt, an Fracht
und Versicherungskosten demnach ungemein viel erspart wird, so hat man
die Erklärung für den Aufschwung von Japan als Industriestaat und die
Bedrohung der asiatischen Märkte durch die japanische Industrie.

Am auffälligsten wird sich das dem Japanreisenden in Osaka zeigen. Die
einheimische Bevölkerung hat für die Bewältigung der industriellen
Aufgaben hier längst nicht mehr hingereicht, und aus allen Provinzen
strömt die Landbevölkerung hier zusammen, um Arbeit zu finden,
die in der Stadt immer noch besser bezahlt wird wie auf dem Lande,
gerade so wie es in den europäischen Industrieländern der Fall ist.
In den letzten Jahren sind ganz neue Stadtteile entstanden, und die
leichten, ärmlichen Häuschen sind schon vermietet, ehe sie fertig
dastehen. Die Baugründe sind in diesem industriellen Emporium im
Preise auf nahezu das Dreifache jener der Landeshauptstadt Tokio
gestiegen, dementsprechend sind auch die Mieten und der Schischikin
höher. Jeder, der ein Haus mieten will, muß dem Besitzer, bevor er
das Haus bezieht, eine bestimmte Summe als eine Art Garantie zahlen,
und diese wird Schischikin genannt. Brennt das Haus nieder, so fällt
der Schischikin dem Hausbesitzer ganz zu, jedenfalls erhält er aber
beim Ablauf der Miete zwanzig Prozent dieses Garantiebetrages, und bei
den ärmlichen Verhältnissen der Japaner muß es Verwunderung erwecken,
daß sie überhaupt im stande sind, den Schischikin zu erlegen. Der
größte Zuzug nach Osaka kommt aus der westlich davon gelegenen Provinz
Hiroschima, hauptsächlich Nachkommen der von den japanischen Eroberern
unterworfenen Ureinwohner des Landes, der Ainos, ein friedfertiges,
fleißiges, anspruchsloses Völkchen, das auch das Hauptkontingent
für die japanischen Arbeiterkolonien in Australien, Neukaledonien,
Hawai u. s. w. geliefert hat. Tausende von armen jungen Mädchen im
zarten Alter von acht bis zwölf Jahren finden in den Fabriken von
Osaka Beschäftigung, und viele Fabrikbesitzer haben für diese jungen,
unselbständigen Arbeiterinnen eigene Kasernen angelegt, in welchen sie
essen, schlafen, ja mitunter sogar im Lesen und Schreiben unterrichtet
werden. Von ihrem kärglichen Tagelohn von durchschnittlich zwölf
Pfennig müssen sie etwa neun Pfennig für Kost und Wohnung abgeben. Bei
ihrem Anwerben erhalten sie einige Mark für Kleidung und überdies die
Reisekosten nach Osaka, dafür müssen sie sich auf die Dauer von drei
Jahren an die Fabrik verpflichten; der Ueberschuß von ihren Löhnen wird
in eigenen Sparkassen angelegt und ihnen nach Ablauf ihrer Arbeitszeit
bar ausbezahlt. Die erste Fabrik, die diese Einrichtung traf, war die
große Kanegafudschi-Spinnerei in Tokio, welche über zweitausend solcher
kleiner Mädchen beschäftigt.

Aber wo sind diese großen Fabriken von Osaka? In dem Straßengewirre
dieser großen Stadt sind sie nicht zu sehen. Sie liegen größtenteils
außerhalb, an den schmutzigen, übelriechenden Kanälen, gewaltige, ganz
europäische Bauten, nach den modernsten Mustern angelegt und mit den
besten europäischen Maschinen eingerichtet, von denen viele auch von
Deutschland bezogen worden sind. Die beiden größten Etablissements
stehen unter dem Betriebe der Regierung: das Arsenal und die Münze.
Nach dem Urteil hervorragender Fachleute können sich beide mit den
besten Etablissements dieser Art in Europa messen. Der österreichische
Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, sagt in seinem ausgezeichneten
Weltreise-Tagebuche folgendes über das Arsenal: „Die Kürze der Zeit, in
welcher Japan vermocht hat, sich mit allen einschlägigen europäischen
Einrichtungen vertraut zu machen, nimmt geradezu wunder. Das Arsenal
ist mit Maschinen modernster Konstruktion ausgerüstet, so daß die
Geschützrohre, welche in rohem Zustande aus der Gießerei kommen, binnen
kürzester Zeit fertiggestellt werden. In mehreren umfangreichen Hallen
wird die Geschoßerzeugung in großem Stile betrieben; selbstverständlich
fehlt es auch nicht an den erforderlichen Nebeneinrichtungen,
Reparaturwerkstätten, Tischlereien, Wagenbauereien und Sattlereien. Das
Arsenal übernimmt gegenwärtig auch schon Lieferungen für das Ausland;
so wurden gerade jetzt einige Gebirgsgeschütze für die portugiesische
Regierung hergestellt.”

Ebenso wie das Arsenal wird auch die kaiserliche Münze, eine der
größten und vollkommensten der Erde, durchaus von Japanern geleitet.
Mit erstaunlichem Nachahmungstalent haben die kleinen, freundlichen,
zuvorkommenden Japaner auf ihren europäischen Studienreisen die
Geheimnisse unserer Erzeugungsmethoden auf geraden oder krummen
Wegen kennen und nachahmen gelernt, und nach Hause zurückgekehrt war
es ihr erstes, dieselben Anlagen herzustellen und einzurichten, um
sich von den europäischen Märkten zu befreien. Dasselbe gilt von den
großen Baumwollspinnereien, in denen Hunderttausende von Spindeln
schwirren und aus australischer, indischer, ja selbst ägyptischer
Baumwolle Garne herstellen, die in ganz Ostasien, sogar in Indien,
allmählich die europäischen Produkte verdrängen. Aehnliches gilt von
Webereien, Bierbrauereien, Lederfabriken, Glasbrennereien. Auf meinen
Spaziergängen durch Osaka stieß ich sogar auf Fabriken von europäischen
Regenschirmen, für welche die Stahlrippen aus Deutschland kommen, von
Seifen, Zahnbürsten, Schuhen, ja sogar von Taschenuhren. Allerdings
arbeitet die Uhrenfabrik heute noch, nach mehrjährigem Bestande, mit
Verlust, aber es wird nicht lange dauern, bis sie ebensolche Erfolge
aufzuweisen haben wird wie die Fabriken schwedischer Streichhölzchen,
die heute schon die ganze, früher sehr bedeutende Einfuhr dieser
Artikel aus Europa in Ostasien verdrängt haben.

Die Regierung unterstützt diese Entwickelung der einheimischen
Industrie mit allen Kräften und lehnt sich dabei vollständig an die
den Europäern haarklein abgelauschten Methoden an. So fand ich mitten
in der Stadt ein großartiges Handelsmuseum, wie es leider selbst in
vielen europäischen Großstädten noch fehlt. Jede japanische Stadt
hat ein derartiges, Hakurankwei genanntes Museum, aber von allen,
die ich gesehen habe, ist jenes von Osaka das vollständigste. Gegen
Erlag eines Eintrittsgeldes von wenigen Pfennigen trat ich in einen
großen, mit Baumanlagen und Blumenbeeten geschmückten Ausstellungspark
mit einer Anzahl von Gebäuden, ganz wie irgend eine europäische
Industrieausstellung, nur daß jene von Osaka permanent ist. In den
Gebäuden sind all die hunderterlei Industrien der Stadt systematisch
geordnet; die Produkte sind mit vielem Geschick übersichtlich
aufgestellt; jeder einzelne Artikel, selbst der kleinste, zeigt
auf einem kleinen Zettelchen den Preis und kann gleich an Ort und
Stelle erworben und mitgenommen werden. Am Abend ist der Park mit
elektrischem Licht hell erleuchtet, eine Militärmusik konzertiert, und
Tausende von Japanern besuchen diese Ausstellung, als ob Ausstellung,
elektrisches Licht, Wiener Walzer und dergleichen hier etwas ganz
Selbstverständliches, Altbekanntes und nicht durchaus fremde, erst vor
wenigen Jahren hier aufgepfropfte Kulturblüten wären.

Ebenso wie der Industrie haben sich die Japaner auch der europäischen
Militärkunst bemächtigt und sie in Osaka nach dem alten dräuenden
Fort verlegt, das auf einer Anhöhe im Osten der Stadt, hoch über dem
wasserreichen, reißenden Yodogawastrom, thront. Der große japanische
Feldherr Hideyoschi ließ es im Jahre 1583 erbauen, und sein Palast im
Innern dieser starken Feste war der großartigste und kostbarste, den
Japan je besessen hat. Der erste Schogun aus der Familie Tokugawa, der
berühmte Iyeyasu, nahm es 1615, und seither blieb es im Besitz der
mächtigen Schogune bis zum Jahre 1858. Hier wurde der letzte Schogun
mit dem Reste seines Heeres von den Truppen des Mikado bedrängt,
und am 22. Februar des genannten Jahres fiel auch dieses japanische
Gaeta. Der Schogun flüchtete sich auf ein amerikanisches Kriegsschiff,
seine Anhänger steckten den kostbaren Palast, den größten Stolz der
japanischen Kunst, in Brand, und die Flammen, die ihn verzehrten,
wurden zum Grabe des altjapanischen Feudalsystems, gleichzeitig aber
zur Wiege der neuen Kaiserherrschaft und der modernen Aera.

Heute enthält die Festung die Kasernen und Offiziersquartiere einer
japanischen Division. Zwischen den Wachen durch die Eingangsthore
schreitend betrachtete ich mit Staunen die gewaltigen Mauern,
welche Hideyoschi vor dreihundert Jahren hier hat aufführen lassen.
Steinblöcke von sechs bis sieben Metern Länge, in einem Gewichte von
weit über hundert Tonnen, an Massenhaftigkeit mit den Steinkolossen
von Baalbeck und Karnack wetteifernd, liegen hier zu ungeheuren Mauern
aufgetürmt, und wie dort, so mußte ich mich auch hier wundern, wie es
den alten Japanern mit ihren ursprünglichen Mitteln, ohne Kenntnis
unserer Mechanik, möglich war, diese Blöcke hierherzubringen und
aufeinanderzulegen. Dieselben sind übrigens auch bei den Japanern
Gegenstände der Bewunderung, und jeder einzelne hat seinen eigenen
Namen. An den Ecken erheben sich heute noch auf diesen Mauern die
eigentümlichen altjapanischen Wachthäuser mit mehreren Dächern
übereinander, sonst aber ist alles dem modernen Militärwesen
entsprechend eingerichtet worden. Wo immer möglich, scheint es das
Streben der japanischen Regierung zu sein, Altjapan zu zerstören und
die Kultur gewaltsam der abendländischen anzupassen. Aber im Volke mit
seinen Sitten, seiner Religion und seinen Trachten ist alles beim alten
geblieben.

[Illustration: Yebiso, Vorstadt von Osaka.]



Auf dem Gipfel des Fudschiyama.


Als wir zwei, Herr Josef Schittenhelm aus Wien und ich, die Höhen
des steilen Otometogepasses erklommen hatten, zeigte sich unser
Reiseziel, der gewaltige Fujiyama (sprich Fudschiyama) in seiner ganzen
Majestät. Scharf heben sich seine chokoladebraunen Flanken und seine
schneebedeckte Spitze von dem klaren, blauen japanischen Himmel ab,
ganz so wie er auf Millionen von Abbildungen zu sehen ist, aber wie er
sich den Sommer über in Wirklichkeit nur selten zeigt. Gewöhnlich ist
sein Haupt in dichte Wolken gehüllt, und viele Reisende haben während
ihres wochenlangen Aufenthaltes im Mikadoreiche den heiligen Berg
der Japaner überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Als kleiner Junge
hatte ich den spitzen Vulkankegel auf einem japanischen Papierfächer
abgebildet gesehen; später auf Porzellanvasen, auf Tellern, in
drolligen japanischen Bilderbüchern, in Gold auf Bronze- und
Silbergefäßen getrieben, kurz auf all den unzähligen Sächelchen, mit
welchen die Japaner unseren Markt überschwemmen. Ist doch der Fudschi
das Wahrzeichen der Japaner, eine Art Gottheit, die Verkörperung der
Konohamasaku ya hime, d. h. der Prinzessin, welche die Knospen der
Bäume zu Blüten entwickelt. Wo hätte ich jemals gedacht, daß ich diesen
herrlichsten aller Berge in Wirklichkeit sehen würde! Und nun sollte
ich morgen auf seiner Spitze stehen!

Eigentlich ein unsinniges Unternehmen, eine zwecklose, mühsame,
aufreibende Spielerei. Die Besteigung des Fudschi gilt den Japanern als
Sühne für ihre Sünden, viele Tausende von Pilgern strömen im Sommer
aus allen Teilen des Reiches herbei, und es bestehen, besonders unter
der Landbevölkerung, zahlreiche Pilgervereine, deren Mitglieder einen
kleinen Jahresbeitrag leisten, um in jedem Jahre abwechselnd einer
Anzahl von Pilgern die Wallfahrt zum Fudschisan zu ermöglichen. Aber
unsere christliche Religion kennt keine Bergbesteigungen als Buße für
unsere Sünden. Indessen, zehn Jahre vorher hatte ich auf der Spitze des
Popocatepetl, des höchsten Berges von Nordamerika gestanden, und es
reizte mich, nun auch auf dem höchsten Berge von Ostasien zu stehen.

Unsere Kulis trugen uns im raschen Lauf durch eine wahrhaft
paradiesische Landschaft herab nach Gotemba, an den Fuß des
Fudschi. Wir saßen in Tragstühlen, die ganz bequem sind, solange
man sich in Ruhe befindet. Werden aber die langen Tragstangen aus
elastischem Bambusrohr auf die Schultern der Kulis gehoben und
schlagen dieselben eine raschere Gangart an, dann wird man in
grausamer Weise durchgeschüttelt. Bei jedem Schritte wird man aus dem
Stuhl emporgeschnellt und fällt so unsanft auf den harten Rohrsitz
zurück, daß wir ganz zerschlagen in Gotemba, einem an der großen
Tokaidobahn gelegenen Dörfchen, eintrafen. In einem Theehause,
bedient von zierlichen Nesanmädchen, nahmen wir unseren Mittagsimbiß,
verabschiedeten unsere Kulis und machten uns nach kurzer Rast wieder
auf den Weg nach Subashiri. Mein Reisegefährte wollte um keinen Preis
mehr einen Tragstuhl besteigen. Den ungefähr sechs Kilometer auf
harter Lava aufwärts führenden Weg zu Fuß zurückzulegen wollte uns in
Anbetracht der uns bevorstehenden ermüdenden Bergbesteigung auch nicht
zusagen, und so mieteten wir den einzigen Wagen, der in Gotemba zu
haben war, ein elender Kasten, bespannt mit einem müden Klepper. Wir
waren damit aus dem Regen in die Traufe gekommen, denn die Fahrstraße
zwischen Gotemba und Subashiri erwies sich als eine der elendesten,
die ich jemals befahren habe, voll tiefer Schlammlöcher, Steintrümmer
und Lavablöcke, so daß wir während dieser denkwürdigen Fahrt noch
schlimmer durchgeschüttelt wurden als vorher in den Tragstühlen.
Subashiri ist eines der interessantesten Dörfchen von Japan. Die große
Pilgerzeit hatte begonnen, und gewiß mochten an zweitausend Pilger
in den zahlreichen Hotels und Theehäusern weilen, aus denen der Ort
besteht. Während wir auf der Terrasse des Yone-yama-Theehauses ruhten,
kamen und gingen ununterbrochen Pilgerzüge von sechs, acht, zwanzig,
dreißig Personen, alt und jung, reich und arm, aber ausschließlich
nur Männer, keine Frauen, denn das Betreten des heiligen Berges ist
den Frauen verboten. Alle die Pilger, die an uns vorbeizogen, waren
gleich gekleidet: weiße Jacken, weiße, enganliegende Beinkleider,
weiße Socken, Strohsandalen an den Füßen, ungeheure Strohhüte auf
den Köpfen; um die Schultern hatte jeder eine etwa quadratmetergroße
Strohmatte geschlungen, die als Schutz gegen Regen, Sonne und Kälte,
zur Nachtzeit auch noch als Lagerstätte dient. In seiner Rechten trug
jeder Pilger einen langen Stab wie unsere Bergstöcke, in der Linken
aber eine Glocke, mit welcher fortwährend gebimmelt wurde. Auf den
Veranden, in den nach allen Seiten offenen Häusern waren Pilger, die
einen ruhten, die anderen spielten oder rauchten oder machten in
höchst rücksichtsloser Weise ihre Toilette. Auf dem mattenbedeckten
Fußboden unseres Theehauses wurde eben von der Hotelgesellschaft die
Abendmahlzeit eingenommen. Japanische Herren und Damen, darunter
ganz junge Mädchen, hockten im Kreise auf ihren Waden und handhabten
geschickt ihre Eßstäbchen, indem sie Reis in ihren Mund schaufelten
und ab und zu aus einer in der Mitte stehenden großen Schüssel ein
Stückchen Fisch oder Wurzel abgabelten.

Der schlaue Hotelwirt wollte wahrscheinlich von uns das Geld für ein
Nachtquartier verdienen, denn er riet uns sehr ab, noch heute abend
den Aufstieg auf den Fudschi zu wagen. Das Wetter würde schlecht
werden, es wären auch keine Pferde mehr da, um uns durch die Lava-
und Schuttfelder nach Umagaishi, der letzten für Reiter zugänglichen
Station des heiligen Berges zu bringen und dergleichen mehr. Als
wir aber dennoch darauf bestanden und es mir gelungen war, ein paar
Reitpferde aufzutreiben, hetzte er uns die Polizei auf den Hals.
Mit wichtiger Miene wurden uns die Pässe abverlangt, da sie aber
von der Regierung in Tokio ausgestellt und vollständig in Ordnung
waren, belästigten uns die uniformierten Gesetzeshüter nicht weiter,
vertrieben sogar noch die zahllosen Kinder, die uns in einem großen
Kreise stehend begafften.

Gegen sieben Uhr abends saßen wir auf unseren schlecht gesattelten
Kleppern und galoppierten durch die malerische Hauptstraße des Dorfes
der gewaltigen, dunkeln Masse des Vulkans zu, der sich gerade vor uns
in unsagbarer Majestät erhob. Das ganze Dorf zeigte das lebhafteste
Jahrmarktsleben; in langen Reihen waren vor den Häusern Verkaufsstände
von Süßigkeiten, Erfrischungen, kleinen Andenken an den Fudschi
und dergleichen aufgeschlagen, von jedem einzelnen Hause wehten
bunte Flaggen und Handtücher, welche die Pilger mitführen und an
verschiedenen Orten zur Erinnerung an ihre Wallfahrt abstempeln lassen.
In der Mitte der breiten Hauptstraße floß rauschend ein wasserreicher
Bach dem Sakagagawa zu, und an seinen Ufern waren unzählige winzige
Wasserräder und mechanische Spielzeuge aufgestellt, teils zum
Ergötzen der Kinder, teils um die kleinen Apparate anzutreiben, die
zur Verscheuchung der Fliegen über den Verkaufsständen von Obst und
Süßigkeiten angebracht waren.

Blutrot war die Sonne untergegangen, und das bleiche Mondlicht
leuchtete uns nun auf dem Wege, der durch öde Schutthaufen und
dunkelbraune Lavafelder emporführt. Nach etwa zweistündigem Ritt
betraten wir einen finsteren, hochstämmigen Wald und mußten unsere
Pferde stramm am Zügel halten und uns von den Kulis den Weg mit
Fackeln erleuchten lassen, um nicht durch die aus dem Boden ragenden
Baumstümpfe und Wurzeln selbst zum Fall zu kommen. Mein Reisegefährte
ärgerte sich weidlich über mein verrücktes Beginnen, den Fudschi,
statt wie die anderen Menschen am helllichten Tage, zur Nachtzeit zu
besteigen, wo man sich in der Finsternis Hals und Beine brechen kann.
Aber ich wußte, wir würden bald wieder aus dem dunkeln Walde in den
hellen Mondschein kommen, und dann war die Kraxelei doch entschieden
angenehmer als bei der im Sommer furchtbar drückenden Sonnenhitze.
Ich beabsichtigte so hoch als möglich emporzuklettern, den Rest der
Nacht in einer der Schutzhütten zuzubringen und am nächsten Morgen
die Besteigung zu vollenden. Bei dem ewig wechselnden Wetter konnte
man ja nicht wissen, ob der ganze Berg nicht schon in einigen Stunden
in dichten Nebel gehüllt sein würde, und dann wäre unsere ganze Reise
vergeblich gewesen.

Mitten im finsteren Walde erblickten wir bald Lichter und hörten
das Geklingel von Pilgerglocken. Wir hatten Umagaishi erreicht, ein
ärmliches Theehaus mit anstoßendem Flugdach, unter dem auf langen
Holzpritschen wohl ein halbes Hundert Pilger, die eben vom Fudschi
herabgekommen waren, ausruhten. Die zahlreichen, weißgekleideten
Gestalten, die hier in allen möglichen Stellungen umherlagen, nahmen
sich in dieser Waldeinsamkeit beim flackernden Scheine brennender
Kieferspäne gespensterhaft genug aus. Sie beachteten uns kaum, als wir
angeritten kamen und nach einem Schluck Thee den Weg wieder fortsetzten.

Dagegen protestierten aber unsere Kulis. „Umagaishi” heißt wörtlich
„Pferd zurücksenden”, d. h. es war der Ort, wo die Pilger gewöhnlich
vom Pferde steigen, um die Bergtour zu Fuß fortzusetzen. Ich hatte
aber gehört, daß der Weg noch zwei Kilometer weiter für Pferde gut
passierbar wäre, und um unsere Kräfte zu schonen, nahm ich meinem
Kuli die Fackel aus der Hand und drückte mein Pferd vorwärts. Mein
Begleiter folgte, und obschon wir manche halsbrecherischen Stellen
zu passieren hatten, kamen wir doch, vielleicht als die ersten, die
es je unternommen, zu Pferd in der Station Tschudschikiba an. Hier
ließen wir die Pferde mit der Weisung zurück, am nächsten Abend nach
Sonnenuntergang wieder zur Stelle zu sein. Nachdem wir das Gitter
eines Tempelhofes passiert hatten, erwarben wir hier von einem alten
Priester Alpenstöcke, und unsere Kulis legten einen ganzen Vorrat von
Strohsandalen an, es dürften wohl zwanzig Paare gewesen sein. Ich
glaubte, sie kauften dieselben auf die Bestellung irgend eines Wächters
der Schutzhütten weiter oben, und ließ sie gewähren.

Anfänglich ging es ganz bequem vorwärts; der Wald wechselte mit
Moorland und Grasflächen ab, und erst als wir auf etwa zweitausend
Meter Höhe angekommen waren, wurde der Baumwuchs dünner, die Fichten
wurden kleiner, verkrüppelter, und schließlich sahen wir nur noch
stellenweise knorrige Zwerglärchen und stacheliges Gestrüpp, an dem
wir unsere Kleider zerrissen. Der Mond leuchtete uns aber getreulich
aufwärts. Trotz der vielen Tausende von Pilgern, die seit Jahrhunderten
alljährlich die Bußpromenade auf den Fudschi unternehmen, hört der Weg
oberhalb des zweiten Tausend Meter gänzlich auf, und wir kletterten
teils auf harten Lava- und Basaltfelsen aufwärts, teils wateten wir
durch vulkanische Asche und Sand, die bei jedem Schritte nachgaben. Wie
die Japaner glauben, wird der von den Pilgern auf diese Art thalabwärts
geschobene Sand zur Nachtzeit von überirdischen Mächten wieder auf den
Berg hinaufgetragen. Wir bekamen aber nichts davon zu sehen.

Zur Erleichterung des Aufstiegs sind auf verschiedenen Seiten des
ungeheuren Berges Reihen von Schutzhütten angelegt worden. Auf der
Seite von Subashiri befinden sich deren zehn, in Entfernungen von
etwa je einem Kilometer und Höhenunterschieden von je dreihundert
Meter. Bald nachdem wir auf unserem schweigsamen nächtlichen Marsche
die erste Hütte passiert hatten, wurde es empfindlich kälter, Wolken
zogen gespensterhaft die Bergflanken über uns entlang und verhüllten
den Mond, der Wind wurde heftiger und artete schließlich in einen so
furchtbaren Orkan aus, daß wir mit Mühe und Not die zweite Schutzhütte
erreichten. Wir wären ohne unsere Kulis wohl an ihr vorbeigeschritten,
denn sie besteht nur aus einem in die Lavamassen gegrabenen kleinen
Absatz, der durch niedrige Mauern, aus Lavablöcken aufgeführt,
geschützt ist. Rohe Baumstämme, mit Felstrümmern beschwert, bildeten
das Dach, und die einzige, gleichzeitig als Thür und Fenster dienende
Oeffnung war durch Balken und Pfosten verrammelt. Auf unser Klopfen
wurde geöffnet, und wir befanden uns in einem niedrigen, mit Dielen
belegten Raum, in dessen Mitte auf dem nackten Felsboden ein Holzfeuer
eben verglühte. Bei dem Schein einer rauchenden Petroleumlampe sahen
wir, daß über dem Herde ein großer Kessel hing; Dutzende von Pilgern
lagen auf ihren Strohmatten schlafend umher, während andere bei der
heißen Asche des Herdes kauerten, um sich zu wärmen. Als wir eintraten,
erhob sich der Wirt dieses „Hotels zu den vier Winden”, um uns
stillschweigend in einem Winkel ein Nachtlager zu bereiten, denn bei
dem furchtbaren Sturm, der selbst durch die Ritzen und Löcher unseres
Schutzhauses pfiff, war ein Weiterklettern lebensgefährlich.

Er holte einige dünne, gefütterte Wolldecken hervor, breitete sie auf
dem Boden aus und reichte uns noch vor dem Schlafengehen einen Kessel
mit heißem Thee. Wir wickelten uns in unsere Mäntel, und todmüde, wie
wir waren, hätten wir sofort in tiefen Schlaf versinken sollen, wenn --
ja wenn!

Japan ist das Paradies der Flöhe, und selbst in vornehmen Hotels, wie
in jenen am Miyanoshita, quälen sie den müden Wanderer in grausamer
Weise. In den japanischen Hotels und Theehäusern aber sind sie
eine entsetzliche Plage. Deshalb wollte ich auch das Nachtlager in
Subashiri vermeiden, fiel aber desto trauriger hier herein. Kein Klima
scheint ihnen zu kalt, kein Berg zu hoch, keine Entfernung zu groß,
keine Person zu heilig. Mit wahrhaft republikanischer Gleichheit
und Brüderlichkeit machen sie sich an alles, was lebt und eine Haut
zu durchbeißen, rotes Blut zum Anzapfen hat. Ob diese verteufelten
Miniaturgemsen durch Extrakuriere von unserem Kommen unterrichtet
wurden, ob sie unsere Ankunft gerochen hatten, ich weiß es nicht; fünf
Minuten, nachdem wir unsere müden Glieder ausgestreckt hatten, ging
der Teufel los: ein Beißen und Jucken und Krabbeln, daß es nicht mehr
auszuhalten war. Auf diese Legion von Quälgeistern Jagd zu machen,
wäre wohl vergebliche Mühe gewesen; wenn sie nur immer ruhig sitzen
geblieben wären! Aber nachdem wir zwanzig Stunden lang in der Eisenbahn
und in Karren gefahren, geritten und gegangen und in Tragstühlen und
Rickshaws durchgerüttelt worden waren, außerdem von der scheußlichen
Kälte durchfrorene Finger hatten, war unsere Treffsicherheit auch
dahin. Indessen, wir wollten unser Blut so teuer wie möglich verkaufen.
Daß der ungleiche Kampf gegen diese blutdürstige Brut uns bevorstand,
wußte ich und hatte mich mit Penny Royal-Oel versehen. Das bißchen
Einreiben des Körpers, das wir vorher schon unternommen hatten, war
nutzlos gewesen; so wurden denn die ganzen Flaschen in die Unterwäsche
ausgegossen. Nun gab es eine Stunde Ruhe, und müde, wie wir waren,
schliefen wir doch ein. Als wir aber um vier Uhr aufwachten, um
unseren Weg fortzusetzen, waren unsere Körper doch mit roten Punkten
wie besäet. Die Biester hatten während unserer Nachtruhe diese
Tättowierung vorgenommen.

Es regnete und stürmte draußen noch immer so fürchterlich, daß wir
beschlossen, noch zwei Stunden länger im Schutze dieses Flohstalles
zu bleiben. Aber um sechs Uhr war das Wetter gerade so, auch um acht
Uhr, zehn Uhr. Es wurde Mittag, und schon fürchteten wir, es würde
uns ebenso ergehen wie vielen anderen, die zwei bis drei Tage bei
schlechtem Thee und gekochtem Reis da oben in der Lavawüste zubringen
mußten, da hellte sich das Wetter auf. Der Wind blies noch so kräftig,
daß wir uns draußen kaum aufrecht halten konnten und mein Gefährte
schon die Absicht aussprach, unverrichteter Dinge kehrt zu machen.
Aber nein. Wir waren so weit gekommen, nun mußten wir hinauf. Also
vorwärts! Es ging langsam, beschwerlich, aber es ging. Wir erreichten
die dritte, vierte, fünfte Schutzhütte, dann die sechste, siebente und
achte. Mein Reisegefährte war aber am Ende seiner Kräfte. Ich trat ihm
meine Kulis ab, sie schlangen einen Gurt um seinen Leib und zogen, drei
andere schoben von rückwärts, und so kam er mir allmählich nach, nicht
ohne sich in jeder der Schutzhütten durch den mitgebrachten Cognac zu
erfrischen.

In diesen Höhlen fanden wir überall müde Pilger, viele Flöhe,
teure Rechnungen, aber nur wenig Trank und Speise, höchstens Reis,
getrocknete Fische und Maccaroni, die in langen Schnüren an den Wänden
mitten zwischen den blauen und roten Handtüchern hingen, die fromme
Pilger zur Erinnerung zurückgelassen hatten. Jedes Tuch trug den
Namen eines Pilgers. Die Wände, Stützbalken, selbst die Decken waren
mit diesen seltsamen Visitenkarten austapeziert, viele hatten nur
Papierstreifen mit ihren Namen zurückgelassen, und unter den letzteren
las ich auch manchen englischen und amerikanischen Namen.

Je höher wir emporkamen, desto häufiger und größer wurden die
Schneefelder in den Furchen, die in den obersten Kegel des Berges
eingerissen sind, und dieser Schnee verschwindet das ganze Jahr
über nicht. Zwischen den Furchen ziehen sich steile Grate aus
harter, nackter Lava herab, und einen solchen benutzten wir zu
unserem Aufstieg. Der scharfe Wechsel der Temperaturen hat diese
Lavamassen vielfach gespalten, und dadurch fanden unsere Füße beim
Aufwärtsklettern einigen Halt.

Bei der sechsten Schutzhütte schon hatten wir die kalte, dichte
Wolkenschicht durchschritten, die den Berg wie mit Baumwolle umwickelt
hielt, und der mächtige Gipfel lag klar vor uns, so nahe, daß wir
hofften, ihn binnen einer halben Stunde zu erreichen. Aber wir waren
nun schon drei Stunden geklettert, und je höher wir stiegen, desto
höher schien auch der Berg zu werden. Zu unserer Linken, also mehr
gegen die Südseite des Berges, befand sich zwischen zwei Lavagraten
eine ungeheure Halde von Schutt und loser Asche, wie ich sie in solcher
Ausdehnung nirgends gesehen habe. Vom Gipfel des Berges zieht sie sich
viele Kilometer weit abwärts bis zu dem Waldkranz, der den Fudschi
dort auf etwa anderthalbtausend Meter Höhe besäumt, und über diese
Halde sahen wir Dutzende von Pilgern, auf ihre Bergstöcke gestützt, den
Abstieg unternehmen, in raschem Laufe, bei jedem Schritt um vielleicht
ebensoviel durch den hohen Schutt abwärts sinkend.

Endlich, gegen fünf Uhr abends, standen wir am Fuße einer ungeheuren
Treppe, deren Stufen in die ungemein steile, glatte Lavawand gehauen
sind, um den Aufstieg zum Gipfel überhaupt möglich zu machen. Mühsam,
als wären unsere Beine von Blei, zogen wir dieselben von Stufe zu Stufe
aufwärts, und recht erschöpft betraten wir gegen sechs Uhr abends den
Rand des Kraters.

Auf dem schmalen Plateau zwischen dem äußeren Bergumfange und dem
Krater selbst, der etwa einen größten Durchmesser von einem Kilometer
haben mag, stehen einige aus Lavablöcken erbaute Häuschen, bewohnt
von Priestern und Schenkwirten, die allerhand Erfrischungen und
Erinnerungen an den heiligen Berg feilbieten. Eines der Häuschen ist
zu einem kleinen Tempel eingerichtet, und an seinem Eingang setzten
wir uns nieder, um ein halbes Stündchen zu ruhen und den Rest unserer
Flasche Kokawein zu trinken. In den Cordilleren Südamerikas hatte ich
zuerst die erfrischende Wirkung der Kokablätter kennen gelernt, und
seither begleitet mich der Kokawein bei allen Bergbesteigungen.

Meinen Begleiter konnte ich zu einer Promenade um den Krater herum
oder gar auf die etwa hundert Meter tiefe Sohle desselben nicht
bewegen. Wollten wir die Nacht nicht oben zubringen, so mußten wir
den Rückmarsch sofort wieder antreten. Ich eilte deshalb allein auf
der schmäler werdenden Kante aufwärts zu dem kleinen Pavillon, der an
der höchsten Spitze des Kraterrandes steht, und blickte von dort in
den dampfenden, nebelerfüllten Kessel, dessen Wände aus zerklüfteten,
phantastisch aufeinandergetürmten Lavablöcken bestehen. Aus manchen
Ritzen und Oeffnungen schießt pfeifend heißer Dampf hervor, ein
Zeichen, daß der höchste Vulkan Ostasiens nur schlummert. Wie, wenn er
gerade jetzt aus seinem zweihundertjährigen Schlafe erwachen würde?
Der Anblick wäre gewiß großartig, aber ich hätte mich dafür doch sehr
bedankt. Der Gedanke an diese Möglichkeit machte mich grausen.

Mein Führer hielt mich davon ab, in den Krater hinabzusteigen, denn es
wäre die höchste Zeit, den Rückmarsch anzutreten. Von den Priestern
des Tempelchens ließen wir uns noch den Stempel des Fudschigipfels auf
unsere Bergstöcke einbrennen, warfen noch einen Blick um uns und den
Berg hinab zu der Wolkenschicht, die uns die Aussicht auf das Land und
Meer zu unseren Füßen entzog, und machten uns wieder auf den Weg. Als
wir den Fuß der steilen Felsentreppe erreicht hatten, bestanden die
Führer darauf, uns Strohsandalen über die Schuhe zu binden und mir
noch drei andere Paare mitzugeben, da ich gewöhnlich unserer Karawane
voraneilte. Statt dann den glatten Lavagrat abwärts zu gleiten,
auf dem wir emporgestiegen waren, schwenkten wir rechts ab auf die
unabsehbare Schutthalde, unsere Füße versanken bis über die Knöchel
in den losen, scharfen Sand, den der Krater in früheren Zeiten in so
unglaublichen Mengen ausgeworfen hatte, und unsere Schuhe wären gewiß
schon in der ersten halben Stunde zerschnitten gewesen, würden wir sie
nicht durch die Strohsandalen geschützt haben. Das also war der Grund,
warum die Führer sich gleich mit zwei Dutzend Exemplaren davon versehen
hatten. Während des Abstiegs mußten wir sie wiederholt wechseln, denn
nach je einer halben Stunde hingen sie wie Fetzen um unsere Füße. Die
ganze Halde war besäet mit diesen Sandalenresten, und man hätte aus
ihnen allein einen kleinen Fudschiyama aufbauen können. Man denke nur:
in jedem Jahre wird der heilige Berg von vielleicht dreißigtausend
Pilgern bestiegen, die mindestens an hundertfünfzigtausend
Sandalenpaare verbrauchen, und das geht nun schon seit Jahrhunderten
vor sich!

Wir flogen nur so die Halde hinab. Zehn Stunden hatten wir gebraucht,
um auf den Gipfel zu kommen, und in weniger als drei Stunden waren
wir, halb springend, halb in dem losen Sand abwärts gleitend, wieder
unten am Waldessaume. Mittlerweile war es stockfinster geworden, und
beim Scheine von Fackeln mußten wir uns den Weg durch den Wald abwärts
bahnen nach unserem Ausgangspunkte Umagaishi, das wir etwa um zehn Uhr
nachts erreichten. Die Pferde standen bereit, aber wir blieben doch
ein Stündchen zwischen todmüden japanischen Pilgern auf den Bänken
ausgestreckt, um ein wenig neue Kräfte zu sammeln. Waren wir doch
seit vierzig Stunden unterwegs! Wir wären gerne die ganze Nacht hier
geblieben, aber die Furcht vor der entsetzlichen Flohplage trieb uns
bald weiter. Lieber die Nacht zu Pferde zubringen, als sich noch einmal
diesen blutdürstigen kleinen Raubtieren aussetzen. Mein Begleiter
wurde halbtot in den Sattel gehoben, als er aber zu Pferde saß, kam er
wieder zu sich, und wir trabten lustig Subashiri zu. Dort wagte ich
nicht, abzusteigen und Rast zu halten, denn mein armer Reisegefährte
wäre diesmal kaum wieder in den Sattel gekommen. So ritten wir denn
durch die stillen, toten Straßen des Dorfes und kamen glücklich um
vier Uhr morgens in Gotemba wieder an, rechtzeitig, um den Frühzug
nach Kozu zu besteigen. Von dort waren wir um neun Uhr morgens wieder
in dem entzückenden Badeorte Miyanoshita bei unseren Lieben. Sie waren
hocherfreut, uns wiederzusehen, denn während wir auf dem Fudschiyama
waren, hatte unten ein furchtbarer Taifun gewütet, der eine Menge
Schiffe vernichtet, eine Anzahl Dörfer arg mitgenommen und auch sonst
im Lande großen Schaden angerichtet hatte. Diesem Taifun waren wir oben
auf der Spitze des höchsten Berges Ostasiens wohl entgangen, aber doch
würde ich lieber einen Taifun durchmachen, als nochmals den Fudschiyama
besteigen.

[Illustration: Der heilige Berg Fujiyama.]



[Illustration: Samisen.]



Ikao, ein japanisches Karlsbad.


Kein Land des Erdballes ist so vulkanisch wie das aus
dreitausendachthundertundfünfzig Inseln und Inselchen bestehende
japanische Kaiserreich. Eine ganze Reihe von Vulkanen sind dort
noch heute thätig, und alle paar Jahre dringen Berichte von den
schrecklichen Verheerungen zu uns, welche die Ausbrüche dieser Vulkane
oder die Erdbeben dort anzurichten pflegen. Aber, bringen die Vulkane
Zerstörung mit sich, so gewähren die Mineralquellen, die brühend
heiß ihren Hexenkesseln entspringen, dafür wieder Heilung für viele
körperliche Leiden. Japan ist ungemein reich an derartigen Quellen,
die Eisen, Schwefel, Arsenik, Salz und Soda enthalten, und rings um
diese Quellen sind zahlreiche Badeorte entstanden, die seit vielen
Jahrhunderten von den Japanern aufgesucht werden: Unzen in der Nähe
von Nagasaki, Kusatsu und Yumoto bei der altberühmten japanischen
Tempelstadt Nikko, Miyanoshita, das fashionabelste und den Europäern
bekannteste Bad in dem Distrikt des heiligen Berges Fudschiyama, und
endlich Ikao mitten in den Gebirgen der Insel Nipon.

Ikao liegt nicht auf der großen Heerstraße der Globetrotter und ist
noch nicht so besucht und verdorben von vergnügungssüchtigen Engländern
und Amerikanern; noch keine Fahrstraße oder Eisenbahn führt hinauf zu
den segenspendenden, heißen Quellen, und wer einen unverfälschten,
stark besuchten, dabei interessanten und an Vergnügungen reichen
Badeort der Japaner kennen lernen will, der reise nach Ikao, dem
Karlsbad von Japan.

Nach meinen Erlebnissen in dem Lande der Morgenruhe, Korea, aus dem ich
eben kam, durfte ich mir eine kleine Erholungsreise wohl gestatten.
Schon die Fahrt nach der Ikao nächstgelegenen Eisenbahnstation, der
Stadt Takasaki, gehört zu den schönsten, die man unternehmen kann.
Das nördlich der Reichshauptstadt gelegene Land, das man im bequemen
Eisenbahnwaggon während dreier Stunden durcheilt, gleicht einem
herrlichen Garten. Jede Erdscholle ist von den fleißigen Japanern
der Kultur unterworfen worden; die kleinen Felder und Obstgärten,
die schattigen Haine, hohen Bambushecken, die Wege und Stege sind
mit solcher Sorgfalt gepflegt, als ob ihre Besitzer lauter reiche
Herren wären, die sich dem Ackerbau und der Gärtnerei nur aus nobler
Passion hingeben. Dabei paßt in dieser geradezu idealen Landschaft
alles zusammen, wie wenn ein geschickter Landschaftsgärtner, irgend
ein japanischer Pückler-Muskau, die Hügel hätte künstlich aufführen
und mit mächtigen Bäumen bepflanzen lassen; als ob er auf die
verschiedenen Nuancen des Grün Rücksicht genommen und hier die hellen
Bambusstauden, dort die dunkleren Kampferbäume, noch weiter die hohen
dunklen Kryptomerien und kurios geformten Fichten nur wegen der
Farbenzusammenstellung und des malerischen landschaftlichen Aufbaues,
nicht aus Nützlichkeitsgründen gepflanzt hätte. Die höchsten Bäume
sieht man auf den kleinen Hügeln, die sich hier und dort aus der
weiten, mit rauschenden Bächen und Flüssen reich bewässerten Ebene
erheben, und aus ihrem dunklen Grün leuchtet irgend ein Tempelchen oder
eine Pagode hervor, zu denen lange Avenuen emporführen, gebildet von
lauter Torii. Zwei, drei Dutzend dieser eigentümlich geschwungenen,
hellrot angestrichenen Thorbogen stehen hier bei manchem Tempelchen
hintereinander. Dieser weiten, schönen Landschaft dienen bewaldete
Bergketten als Hintergrund, drei, vier, fünf hinter- und übereinander,
wie Theaterkulissen, hier und da noch überhöht von steilen
Vulkankegeln, die zwei- bis dreitausend Meter hoch in den blauen
japanischen Himmel ragen.

Takasaki, ein liebliches, belebtes Städtchen, harmoniert heute
vortrefflich mit seiner Umgebung und bildete bei der Annäherung meines
Zuges den farbenreichen Mittelpunkt dieser olympischen Landschaft. Es
war gerade Festtag, und Straßen auf, Straßen ab sah ich nichts als
Triumphbögen aus Reisig und Blumen gebaut, Blumenguirlanden von Haus zu
Haus, dazu unzählige, vielfarbige Lampions, und auf den Dächern wehte
ein Wald von rot-weißen japanischen Flaggen. Jeder Lastwagen, jede
Rickshaw, sogar die Waggons der Pferdebahn, die Takasaki durchzieht,
waren mit Lampions behangen. In den Straßen aber wogte das buntgeputzte
Volk wie Schmetterlinge in einem ungeheuren Blumenbeet. So fröhlich
und zerstreut sie auch waren, die Anwesenheit eines Europäers mitten
unter ihnen fesselte doch ihre Aufmerksamkeit, und bald war ich von
neugierigen Knaben und Mädchen umringt. Sie sahen mich verwundert,
aber dabei ganz zutraulich an, betupften meine Kleider und Handschuhe
und brachen in schallendes Gelächter aus, als ich in japanischer
Sprache versuchte, meine Weiterfahrt auf der Pferdebahn zu arrangieren.
Eine solche führt nämlich von Takasaki noch nun etwa fünfundzwanzig
Kilometer weiter in die Berge hinein, bis nach Shibukawa, ganz so
eingerichtet wie unsere europäischen Pferdebahnen. Dieselben Wagen,
dieselben europäisch uniformierten Kutscher und Schaffner; nur gehen
sie mit ihren Pferden menschlicher um als ihre abendländischen
Kollegen, lassen keine Ueberfüllung der Wagen zu und jede halbe Stunde
wird angehalten, um den Pferden mit kaltem Wasser Maul und Bauch zu
begießen.

Ich weiß nicht, ob während der Fahrt die Verwunderung der Japaner über
mich oder meine Verwunderung über die Japaner größer war. Die Pferdchen
krochen mit einer Langsamkeit einher, die uns gegenseitig hinreichend
Muße zu Beobachtungen gab. Die meinigen waren gewiß interessanter. Es
war Abend, und die große Sommerhitze ließ die keineswegs schüchternen
japanischen Männlein und Weiblein in ihren nach allen Seiten offenen
Häuschen in buchstäblich adamitischem Kostüm verweilen. In manchen
Höfen nahmen die Familien gerade in engen Holzbottichen ihre Bäder
oder promenierten nach dem Bade ohne irgendwelche Bekleidung auf und
nieder, um sich an der Luft abzutrocknen. Je weiter auf unserer Fahrt
der Abend fortschritt, um so deutlicher konnte ich die einzelnen
häuslichen Verrichtungen in den Häusern, an denen wir vorbeifuhren,
wahrnehmen. Auf die badenden Familien folgten solche, die gerade ihr
Abendbrot, den unfehlbaren Reis, mit hölzernen Stäbchen in den Mund
schaufelten, dann andere, die auf dem erhöhten Fußboden ihrer Häuser
Strohmatten oder dünne Matratzen für ihr Nachtlager zurechtmachten,
und schließlich schlafende Familien, Männer, Weiber, Kinder, alle
beisammen, splitternackt, nur durch ein weites, an der Decke hängendes
Mückennetz von der bösen Außenwelt geschieden.

Gegen zehn Uhr abends kam der Pferdebahnwagen, den ich für mich und
meine europäischen Begleiter gemietet hatte, in Shibukawa, einem
kleinen ärmlichen Dorfe, an. Große Aufregung unter den Einwohnern.
Sie sprangen in ihrer mehr als leichten Nachttoilette von ihren
Lagern, um zu sehen, was es gäbe, denn der Besitzer des der Station
gegenüberliegenden Theehauses wollte durchaus, wir sollten bei ihm
übernachten. Der Weg nach Ikao wäre zu schlecht für eine Weiterfahrt
in der Dunkelheit, und er besäße vortreffliche Nachtlager und dazu
hübsche junge Nesan, um uns den Schlaf zu versüßen. Aber ich bestand
darauf, weiter zu fahren, es schien ja der Mond, und die Nesanmädchen
übten keine Anziehungskraft auf uns aus. Nach langem Hin- und Herreden
war der ziemlich hohe Preis für die Rickshaws vereinbart. Wir setzten
uns in die kleinen leichten Wägelchen, vor jedes traten vier japanische
Kulis mit muskulösen Beinen, und fort ging’s in die Berge hinauf nach
Ikao. Ein paar Papierlaternen, von den Kulis getragen, erleuchteten
spärlich den wirklich erbärmlichen, holperigen Weg.

Nach zweistündiger Fahrt krochen unsere Kulis unter Aechzen und Stöhnen
den letzten Abhang empor nach unserem Ziele, von dem ich vorläufig
nichts gewahrte als eine Menge von mattscheinenden Lampions gerade
vor uns, mitten auf dem Wege. Als wir dieselben erreicht hatten, sah
ich, daß sie von etwa zwei Dutzend Menschen getragen wurden, die sich
vor uns ehrfurchtsvollst, wie es wohlerzogenen Japanern geziemt, auf
alle Vier warfen: der Hotelbesitzer, die Kulis, die kleinen lieblichen
Stubenmädchen, mit einem Worte, das ganze Personal des Murumatsuhotels.
In diesem hatten wir Zimmer bestellt, da es in dem vortrefflichen
Murrayschen Handbuch für Japanreisende (einen Baedeker giebt es
wunderbarerweise noch nicht) als „europäisches Hotel” bezeichnet steht.

Dieses europäische Hotel befand sich ganz in der Nähe, das erste
Haus des berühmten Badeortes. In der Dunkelheit konnten wir nur
sehen, daß es ein Stockwerk hoch war und im Erdgeschoß etwas wie
einen Speisesaal und ein Billardzimmer besaß. Als wir aber von den
hübschen Nesan die steile Treppe in das obere Geschoß emporgeführt
wurden, entpuppte sich das europäische Hotel als ein echt japanisches,
denn an Stelle von Schlafzimmern bestand das Geschoß aus einem
großen, mit feinen Matten bedeckten Raume, der durch verschiebbare
Papierwände in kleine Schlafabteilungen eingeteilt war. Zwei von
diesen, mit dünnem, durchsichtigem Papier überzogenen Holzrahmen wurden
auseinandergeschoben, und ich befand mich in meinem Schlafzimmer.
Europäisch war nur die Bettstelle, der Waschtisch und ein Stuhl, die
einzigen Einrichtungsstücke, die sich innerhalb der vier Papierwände
befanden. Die kleine Nesan, ein allerliebstes Mädchen, machte sich um
meine Person zu schaffen und schien nur unwillig den Versuch, mich
in mehr oder minder angenehmer Weise in den Schlummer zu wiegen,
aufzugeben. Ich schob meine Wände hinter ihr zusammen und war allein.
Auf einer Seite trennte mich ein derartiger weißer Papierbogen von
einer Schläferin, wie ich aus dem leichten Atemholen vermutete, auf
der anderen ein zweiter Papierbogen unzweifelhaft von einem Manne.
Sein sägeartiges Schnarchen verriet es. Das in Europa allerprobte
Mittel, die Stiefel an die Wand zu werfen, ging nicht gut an, denn
sie wären möglicherweise durch das Papier dem Schnarcher an den Kopf
geflogen. Ich versuchte es also mit dem jedenfalls zarteren Mittel,
dem Pfeifen, und das hatte den gewünschten Erfolg. Aber noch eine
Stunde lang war es unmöglich, zur Ruhe zu kommen, denn die kleinsten
Toilettengeräusche meiner Reisegefährten waren selbst aus den
entfernteren Schlafabteilungen vernehmbar. Am nächsten Morgen wurde ich
durch die kleinen Stubenmädchen geweckt, die einfach die Papierwände
auseinanderschoben und sich in meinem Zimmer unter fortwährendem
Lächeln und steten Verbeugungen allerhand zu thun machten, mich sogar
hinabbegleiteten in den Badepavillon, der ziemlich offen dicht an der
Straße lag. Schlösser, Riegel, Vorhänge, Badeanzüge und Schwimmhosen
sind in den japanischen Badelokalen unbekannt, und wer baden will, muß
eben fremde Gesellschaft mit in den Kauf nehmen.

Im Speisesaal gab es wenigstens Teller und Gläser, Messer und Gabeln,
Tische für die Speisen, Stühle zum Sitzen und deshalb wohl der Name
„europäisches Hotel”. Sogar ein Fremdenbuch war vorhanden, dem ich
entnahm, daß das Hotel in den letzten drei Jahren auch von drei
Deutschen besucht worden war.

Die Aussicht von der Veranda unserer etwa neunhundert Meter über dem
Meere auf einem Bergvorsprung gelegenen Wohnung war entzückend; wahre
Schweizerlandschaften entrollten sich vor meinen Augen, und nur die
Schneeberge fehlten, um die Erinnerung an die Alpenländer vollständig
zu machen. Zur Linken zieht eine dicht bewaldete Schlucht die Berge
hinab bis in die Ebene, und auf dem jenseitigen Plateau gewahrte
ich ein prachtvolles japanisches Schloß, ähnlich den Schlössern
des Kaiserhauses oder der Schogune in Nikko oder Kioto, umgeben von
wunderbaren Gartenanlagen. Das moderne Japan hat eben in den letzten
zwei Jahrzehnten Leute mit noch größeren Mitteln geschaffen, und das
Feenschloß von Ikao gehört dem Präsidenten der größten japanischen
Dampfergesellschaft, der Nipon Yusen Keisha. Ikao selbst zieht sich von
dem Murumatsuhotel, dem sich noch einige Dutzende japanischer Hotels
auf dem Plateau anschließen, an der diesseitigen Schluchtwand steil
den Berg hinab, und die Hauptstraße des Ortes besteht dementsprechend
aus einer breiten, steilen, etwa einen Kilometer langen Treppe, zu
deren Seiten sich die mehrstöckigen Holzhäuser erheben. Jedes Haus
ein Hotel, jedes Hotel mit einem Bad oder Theehaus. Um das zu sehen,
brauchte ich meine Veranda gar nicht zu verlassen, denn um mich herum
in allen Gebäuden, allen Stockwerken waren die Papierwände, Thüren,
Veranden weit geöffnet, so daß ich mitten durch bis in die jenseitigen
Gebäude blicken konnte. Die Insassen betrachteten wohl mit neugierigen
Augen den fremden Europäer, ließen sich aber nicht im mindesten in
ihren Verrichtungen stören. Angekleidet oder ausgekleidet, beim
Samisenspielen, Essen, Trinken, Arbeiten, Lesen, bei der Haartoilette
oder bei noch viel intimeren Angelegenheiten zeigten sie auch nicht
eine Spur von Scheu, als ob ich etwa ein Schoßhündchen oder ein
Kanarienvogel gewesen wäre. Ich hätte gern irgend eine zimperliche alte
Jungfer aus Deutschland unversehens im Fluge hierher zaubern mögen,
um in einem dieser japanischen Hotels zu wohnen und mit den Japanern
eine Badekur durchzumachen. Sie wäre wohl aus ihrer ersten Ohnmacht
kaum wieder erwacht. Das wäre indessen auch unseren Badekommissären
und der löblichen Sittenpolizei passiert, wenn sie mich auf meinem
ersten Spaziergang durch Ikao hinab und wieder hinauf begleitet hätten.
Die uralten, mehrstöckigen Häuser mit ihren vielen Veranden, Erkern,
Treppen, Vorsprüngen, ihren hübschen Blumen, Lampions und Fähnchen an
den Fronten und den bunten Bazars mit allerlei nichtigen Kleinigkeiten
unten an der Straße nehmen sich ungemein malerisch aus, erinnern sogar
entfernt an die vom Wetter schwarzbraun gefärbten Schweizer Chalets
im Berner Oberland. Aber welch seltsames Leben und Treiben auf der
Straße und in den Gärtchen und Bädern hinter ihnen! Unsere bildlichen
Darstellungen des ersten Menschenpaares zeigen bei diesem entschieden
umfassendere Bekleidung, als die verschiedenen Männlein und Weiblein
hier in und außer dem Bade trugen. Nicht ein Läppchen in der Größe
einer Briefmarke war an ihnen zu sehen.

[Illustration: Japanische Spielkarten. (In Originalgröße.)]

Das stark schwefel- und eisenhaltige Wasser sprudelt in einer Wärme von
45 Grad Celsius aus einer Quelle hervor und wird dampfend und rauchend
durch ein Netz von Bambusrohren den Abhang hinab in die einzelnen
Bassins geleitet, die hinter und unter den Häusern liegen. Von der
großen, die Straße bildenden Steintreppe führt bei jedem Hause ein
Gang nach dem zugehörigen Bad, und in diesen nach allen Seiten offenen
Bassins ergötzt sich die Badegesellschaft, Greise und junge Männer,
alte Mütterchen und ehrbare Jüngferchen, alle durcheinander, den
ganzen Tag über. Nach japanischen Baderegeln werden von den Kurgästen
gewöhnlich mehrere dieser heißen Bäder täglich genommen, und viele
geben sich gar nicht die Mühe, zwischen den einzelnen Bädern Toilette
zu machen. Haben sie ein Bad genommen, so setzen sie sich auf die
vor den Häusern an der Straßenseite befindlichen Bänke oder kauern
splitternackt, wie sie sind, in der Sonne auf dem Boden, rauchen ihr
Pfeifchen, mustern die Passanten, spielen Karten oder Domino. Dann
geht es schwupps! wieder ins Bad, und nach ein paar Wochen ist die Kur
vorüber. Im Bade selbst empfangen die Damen Besucher, begrüßen einander
in ehrfurchtsvollster Weise mit tiefen Verbeugungen, schäkern und
lachen in der ungezwungensten Weise der Welt, wie etwa beim Karlsbader
Schloßbrunnen. Trat ich in irgend einen dieser Baderäume, so warf
mir die ganze fröhliche Gesellschaft wohl neugierige Blicke zu, ließ
sich aber sonst gar nicht stören; die jungen Damen blieben in recht
verfänglichen Stellungen auf den Holzstufen hocken, rieben sich ihre
Glieder, schwammen munter in den Bassins herum, oder lagen im Wasser
auf dem Rücken; einzelne, die wohl aus den geöffneten Häfen stammen
und die Abneigung der Europäer gegen derartige Schaustellungen kennen
mochten, hielten allerdings ihre Hände ähnlich wie die reizvolle Venus
im Kapitol, das war aber auch alles.

Die Japaner besuchen Ikao gewöhnlich in der Sommersaison, ganz wie wir
unsere Bäder, und bringen nicht nur ihre Familien mit Kind und Kegel,
sondern auch ihr Bettzeug, Wäsche, Geschirre und dergleichen, dazu
auch zu ihrer Erheiterung Gaishamädchen mit, je nach ihren Mitteln und
Neigungen. Die Hotels sind in drei Klassen eingeteilt; die Preise in
den Hotels erster Klasse für Zimmer und Nahrung betragen pro Person und
Tag etwas über eine Mark. Freilich kennt die japanische Küche keine
Fleischspeisen, und die Hotelgäste erhalten morgens nur Reis und etwa
Bohnensuppe, mittags wieder Reis mit frischem oder gesalzenem Fisch,
dazu Gemüse, Wurzeln, Mehlspeise und Früchte, abends natürlich wieder
Reis, Fischsuppe und dergleichen. Dazwischen Thee à discrétion. Die
Preise in den Hotels zweiter Klasse belaufen sich auf etwa achtzig
Pfennige, in jenen dritter Klasse auf etwa fünfzig bis sechzig
Pfennige, alles inbegriffen. Die Bäder sind dazu in allen Hotels frei,
und nur wer in den Hotels erster Klasse ein Einzelbad nehmen will, muß
dafür eine kleine Vergütung entrichten.

Die Umgebung von Ikao ist reich an herrlichen Spaziergängen; vor allen
zu erwähnen ist jener den rauschenden, mit heißem ockergelben Wasser
gefüllten Yusawabach entlang, stromaufwärts nach dem Badeorte Yumoto,
oder der nach dem idyllischen Harunasee oder auf den steilen, aber
aussichtsreichen Vulkankegel des Somayama. Noch besuchter sind die
für skrophulöse Personen besonders heilkräftigen Bäder von Kusatsu,
eine Tagereise von Ikao mitten in der herrlichen Gebirgsregion des
zentralen Japan gelegen, mit nahezu siedeheißen Eisen-, Arsenik-
und Schwefelquellen. Selbst die Japaner, die sich so gern im Wasser
krebsrot brühen lassen, verläßt der Mut, wenn sie vor den dampfenden
Bassins des Hauptbades von Kusatsu, Netsu-no-yu, stehen, und es bedarf
einer von der Regierung angeordneten, halb militärischen Disziplin,
um sie zum Bade zu bewegen. Der Murray von Japan sagt darüber: „Ein
Hornsignal ruft bald nach Tagesanbruch so viele Kurgäste, als das
Bad fassen kann, zusammen. Jeder Kurgast ist mit einem hölzernen
Schöpflöffel bewaffnet, und auf Befehl des Bademeisters begießt sich
zunächst jeder mit hundert Schöpflöffeln voll Wasser, um Kongestionen
zu verhindern. Wärter passen dabei wachsam auf, denn zuweilen kommen
Ohnmachtsanfälle vor. Während des folgenden, dreieinhalb bis vier
Minuten dauernden Bades singen Bademeister und Kurgäste einen höchst
merkwürdigen Chorgesang, um sich gegenseitig Mut einzuflößen. Nach
Ablauf von etwa einer Minute schreit der Bademeister laut: ‚Noch zwei
Minuten‘, und die Badenden, denen die kurze Zeit bei der brennenden
Hitze des Wassers wie eine Ewigkeit vorkommt, antworten im Chor: ‚Noch
zwei Minuten‘. Ebenso wird nach Ablauf der zweiten Minute ‚noch eine
Minute‘, dann ‚noch eine halbe Minute‘ gerufen und jedesmal und immer
freudiger von den Badenden beantwortet. Endlich ruft der Bademeister
‚fertig‘, worauf die ganze Menge nackter, brennrot gebrühter Körper
über dem Wasser erscheinen und das Bad mit einer Schnelligkeit
verlassen, die jeden, der ihrem langsamen, zögernden Eintritt
beigewohnt hat, in Erstaunen versetzt. Bald darauf wird das Hornsignal
neuerdings geblasen, und eine andere Reihe von Badenden unterzieht
sich derselben Prozedur.” Die gewöhnliche Badekur in Kusatsu erfordert
hundertzwanzig Bäder, die auf den kurzen Zeitraum von vier Wochen
verteilt sind, und man kann sich also vorstellen, daß dieselbe nicht
dasselbe Vergnügen gewährt wie jene in Ikao.

Ueber das exponierte, gemeinschaftliche Baden der beiden Geschlechter
braucht man in Europa nicht erschreckt die Hände zu falten. War es doch
in den europäischen Bädern vor gar nicht vielen Generationen allgemein
gebräuchlich. Als ich in den öffentlichen Bädern der japanischen
Hauptstädte und Badeorte das seltsame, ungenierte Treiben beobachtete,
kam mir zuweilen ein großes Oelgemälde in den Sinn, das im historischen
Museum zu Basel hängt und ein Bad in dem altberühmten Baden in der
Schweiz darstellt. Gerade so splitternackt wie die Japaner von heute
tummeln sich auch hier Männer, Frauen und Mädchen ganz toll in dem
gemeinschaftlichen Bassin umher, lachen, schäkern recht verfänglich mit
den Männern, ja noch mehr: mitten im Bassin stehen auf einem großen
Tische gefüllte Weingläser, und eine fröhliche Gesellschaft giebt sich
während des Badens einem Trinkgelage hin. Freilich stammt das Bild aus
dem Anfange des siebzehnten Jahrhunderts.

[Illustration: Hauptstraße der Badestadt Ikao.]



[Illustration: Das innere Thor des Iyemitsutempels in Nikko.]



Nikko, eine japanische Tempelstadt.


~Nikko wo minai utschi wa, Kekko to yu na!~ „Hast du Nikko
nicht gesehen, so darfst du nicht von „prächtig” sprechen!” Mit
diesem Sprichwort, das im fernen Reiche des Mikado in aller Mund
ist, bezeichnen die Japaner die Herrlichkeiten ihres berühmtesten
und besuchtesten Wallfahrtsortes. Was die Beurteilung der Natur
anbelangt, muß man den Japanern aufs Wort glauben, denn es dürfte auch
in der abendländischen Welt kaum ein Volk geben, das eine so große
Empfänglichkeit, ein so tiefes Verständnis für die Natur, in der sie
leben, besitzen dürfte. Ich möchte diesen Charakterzug der Japaner als
ihren schönsten bezeichnen. Man wird ihn im ganzen Lande wahrnehmen.
Bei der Mehrzahl der kleineren Städte und Dörfer, die so entzückend
am Fuße bewaldeter Anhöhen, an rauschenden Bächen und Flüssen, oder
inmitten der reizvollsten Gegenden liegen, hat es den Anschein, als
wären sie nicht mit Rücksicht auf praktische Zwecke gerade wo sie sind
angelegt worden, sondern nur wegen der Schönheit der Lage, ähnlich
wie wir unsere Sommersitze wählen. Ihre Gärten, ihre Plantagen und
Felder zeigen die liebevolle, ja peinliche Sorgfalt, welche die
Japaner ihnen zuwenden, und die man in solchem Maße vielleicht nur
in Holland wiederfindet. Der ferne japanische Archipel wird so von
Gebirgen durchzogen, daß nur etwa ein Zwölftel des ganzen Reiches
kulturfähig ist, aber dieses Zwölftel gleicht einem Garten. Selbst
in den reichbewaldeten Gebirgen der Hauptinsel von Japan ist überall
diese Liebe zur Natur wahrnehmbar, vor allem in jenem romantischen
Bergdistrikte, der sich etwa hundert Kilometer nördlich von der
Hauptstadt Tokio gleichweit von den beiden Meeresküsten entfernt
ausdehnt und den Namen Nikko führt. Schon seit undenklichen Zeiten
befanden sich dort in den ungeheuren Wäldern, zwischen rauschenden
Strömen und plätschernden Wasserfällen, zwischen einsamen, tiefblauen
Seen und hoch emporragenden Vulkanen Götzentempel, zu denen die
Japaner wallfahrten. Die wildromantische Gegend übte auf dieses
empfindsame Volk einen eigentümlichen Zauber aus. Die größte Zahl
der japanischen Volksmärchen und Sagen beginnt mit den Worten: „Es
war einmal in den Nikkobergen ...” und als ich selbst diese einzig
schönen, einsamen Gebirgslandschaften durchwanderte, schien es mir,
als wären sie von allerhand zauberhaften Wesen bevölkert. Mit diesen
Märchen im Kopfe erschienen mir die spärlichen fremdartigen Wanderer
wie Gnomen, die zierlichen kleinen Mädchen, die in den Wäldern Beeren
pflückten oder Holz sammelten, wie Feen aus einer anderen Welt, ganz
die Gestalten, wie sie Hänsel und Gretel auf ihrer abenteuerlichen
Wanderung begegneten. Dazu trug wohl auch die Fremdartigkeit der
ganzen Natur bei. Vergeblich forschte ich in meinen Erinnerungen nach
Gegenden, welche sich mit diesen vergleichen ließen. Ich dachte an den
Schwarzwald, an das seenreiche Salzkammergut, aber Nikko und damit auch
das ganze Japan ist doch anders, und ich kam mir vor, als wanderte
ich auf einem fremden Planeten. Nirgends fühlte ich mich entfernter
von unserer abendländischen Kultur und bei aller Zufriedenheit
einsamer als in den lauschigen, stillen Wäldern mit ihren ungeheuren
phantastischen Fichten, ihren himmelanstrebenden Kryptomerien und
seltsamen Laubbäumen, und doch befand ich mich nur einige Minuten weit
von europäischen Hotels. Ein eigentümlicher, nicht zu beschreibender
Zauber ist über dieses herrliche Stück Erde ausgebreitet, den wohl
jeder empfunden hat, der mit einem bißchen Herz und Gemüt in seinem
Reisesack nach Nikko gekommen ist.

Dieser Zauber mußte wohl auch den großen Schogun aus der Familie
Tokugawa, den Taiko Iyeyasu, umfangen haben, denn als dieser größte
Mann der japanischen Geschichte, der Cäsar des Mikadoreiches, anfangs
des siebzehnten Jahrhunderts starb, nannte er den Bergdistrikt von
Nikko als den Ort, wo er begraben sein wollte.

[Illustration: Tempellaterne des Schogun Iyeyasu.]

Seine Nachfolger ließen ihm dort eine der herrlichsten Grabstätten
bauen, und das kaiserliche Haus, dem Iyeyasu so unvergängliche Dienste
geleistet hat, konnte ihn nicht besser ehren, als indem es den
verstorbenen Staatsmann und Helden, den Einiger des Reiches, unter die
Zahl der Götter versetzte und ihm den Titel „Hoheit des ersten Ranges,
Licht des Ostens, erhabene Verkörperung Buddhas” verlieh. Dies geschah
im Jahre 1617, und seither ist Nikko der berühmteste und heiligste
Wallfahrtsort der Japaner geworden. Die Tempel aber, die dort zu Ehren
Iyeyasus gebaut worden sind und zu denen Kaiser, Fürsten und das Volk
selbst während Generationen beigetragen haben, sind die herrlichsten
Werke der japanischen Kunst, die ja gerade zur Zeit Iyeyasus ihre
höchste Blüte erreicht hat. So hat der Cäsar Japans in der That auch
noch nach seinem Tode Wunder gewirkt; er hat den Künstlern des alten
Japan zu ihren erhabensten Leistungen Anlaß gegeben, und ihm ist es zu
danken, daß wir heute noch so viel von dieser größten Glanzperiode der
japanischen Kultur bewundern können. Die Künstler haben diese Tempel
nicht nur Iyeyasu, sie haben dieselben auch sich selbst errichtet.

Mit Bedauern bestieg ich in Utsunomiya, am Fuße des Nikkodistriktes
gelegen, den prosaischen Eisenbahnzug, der mich und eine ganze Menge
von europäischen Touristen an einem heißen Augusttage hinaufführen
sollte in die Berge; mit Bedauern deshalb, weil der bisherige Weg
unendlich viel reizvoller und großartiger war als diese in der Sonne
glänzenden und blitzenden Schienenstränge, die, wo immer sie auch
liegen mögen, dem europäischen Reisenden den Gedanken einflößen,
sie führten nach Europa. Sie sind die gewaltigsten Zerstörer alles
Ursprünglichen, Eigenartigen; wie ungeheure Lanzetten stechen sie
in die fremden Kulturen, und in die so entstandenen Wunden dringt
die abendländische Alltagswelt. Neben unserer Bahn, bald näher, bald
ferner, führte der altjapanische Weg hinauf zum Grabe Iyeyasus,
seiner ganzen, über fünfundzwanzig Kilometer betragenden Länge nach
von den großartigsten Kryptomerien beschattet. Wie gewaltige Türme
ragen diese stolzen Nadelbäume aus der Ebene; ein einziger allein würde
Aufsehen erregen, und es sind deren viele Tausende, vor Jahrhunderten
gepflanzt von einem Pilger, der zu arm war, um für das Grabmal des
Nationalheiligen eine steinerne Opferlaterne zu kaufen. Seine Gabe
ist schöner als alle Opferlaternen zusammengenommen. Zum Glück fährt
die Eisenbahn nicht ganz hinauf nach dem etwa 700 Meter über dem
Meere gelegenen Nikko, sondern der Rest des Weges muß in den bequemen
Fauteuils auf Rädern, den Rickshaws, zurückgelegt werden. Auf dieser
Rickshawfahrt rollt man zwischen den Riesenbäumen einher, die den
Weg nach Nikko zu beiden Seiten einfassen und mit ihren ineinander
verschlungenen Aesten wie mit dem Dach eines gotischen Domes überwölben.

Von Nikko als einem Ort zu sprechen, ist unrichtig. Nikko wird der
ganze Bergdistrikt bis zu dem gewaltigen ausgestorbenen Vulkan
Nantai-San genannt, dem höchsten Berge dieses Teiles von Japan. An
seinem Fuße liegt der romantische, waldbekränzte See von Tschuzendschi,
und diesem entströmt, auf seinem Laufe zahlreiche Kaskaden bildend,
der rauschende Dayagawa. Dort, wo sich sein wildromantisches Thal
erweitert, liegen zwei Dörfer, Hadschi-idschi und Irimadschi, und
zwischen beiden, verborgen zwischen ungeheuren Kryptomerien, liegen
die Prachtgräber der Schogune. Hadschi-idschi besteht nur aus
einer einzigen, etwa zwei Kilometer langen Straße, und auf meiner
raschen Fahrt schien es mir, als wäre jedes Haus ein Hotel, ein
Kuriositätenladen oder ein Theehaus. Kommen doch in jedem Jahre
Zehntausende von Pilgern hierher, um den Manen Iyeyasus ihre Verehrung
zu bezeugen und dann weiterzuwandern nach Tschuzendschi, um dort den
Nantai-San zu besteigen.

Am oberen Ende des langgestreckten, durch seine vielen Kaufläden
und sein bewegtes Leben recht malerischen Dorfes liegt das große
Kanayahotel, in dessen ganz europäisch eingerichteten Räumen ich
gegen hundert Europäer fand. Am Abend zeigte der Speisesaal mit
seinen elegant gekleideten Damen und Herren in steifer Abendtoilette
ein Bild, wie man es in einem europäischen Badeorte erwarten könnte,
aber nicht hier, im Herzen des alten Japan. Die hohe Lage in den
Bergen, die prachtvollen Wälder, die Kühle und die Frische, die hier
auch im Sommer herrscht (oder herrschen soll, denn ich vermißte sie
während eines fünftägigen Aufenthalts schwer), haben Nikko zu einer
Art ostasiatischer Schweiz gemacht. Wie die Japaner zu ihrem Iyeyasu
pilgern, so pilgern die in Ostasien ansässigen Europäer hierher, um
der unerträglichen Hitze von Tokio, Kobe, Shanghai, Hongkong, ja
selbst von Singapore und Bangkok zu entgehen. Auch die fremdländischen
Diplomaten von Tokio flüchten hierher, und auf den freien Plätzen
zwischen den größten Heiligtümern des alten Japan wird die Andacht
der eingebornen Pilger durch lärmende, rücksichtslose Cricket- und
Lawntennis-Spieler gestört. Diesem ewigen Lawntennis kann man sogar
hier nicht mehr entgehen.

[Illustration: Priesterhäuser und Thorbogen in Nikko.]

Eine Plage in Nikko sind die unzähligen Mücken und großen schwarzen
Käfer, die durch das elektrische Licht (oh heiliger Iyeyasu!)
angezogen, die Zimmer und Säle des Hotels erfüllen. Um sie zu
verscheuchen, zündet man auf der Windseite des Hotels am Abend große
Holzfeuer an und wirft feuchtes Laub darüber, so daß die Atmosphäre
zuweilen mit erstickendem Rauch geschwängert ist. Mücken und Käfer
kommen deshalb durch die Hinterthüren ins Hotel.

Am nächsten Morgen war mein erster Gang hinüber zu dem von ungeheuren
Kryptomerien gebildeten Hain, in welchem sich die Grabtempel Iyeyasus
befinden. Zwei Brücken überspannen den wasserreichen, rauschenden
Dayagawa. Die eine aus rotlackierten Balken ist gesperrt und wird
nur geöffnet, wenn der Mikado in eigener Person zu den Grabtempeln
pilgert, die andere ist für gewöhnliche Sterbliche bestimmt. Eine
Kryptomerienallee führt jenseits des Dayagawa zu dem Tempelplateau
empor. Einen schöneren Ort hätte sich Iyeyasu für seine ewige Ruhe
nicht aussuchen können; eine wahre Schweizerlandschaft breitet
sich hier auf beiden Ufern des Dayagawa aus, mit mächtigen, kühn
emporstrebenden Bergen, ausgedehnten buschigen Wäldern, grünen Matten
und rieselnden Bächen; zwischen den ungeheuren Baumstämmen der
Kryptomerien hindurch gewahrte ich den oberen Teil des Thales mit dem
idyllischen Dörfchen Irimatschi und ein paar europäischen Neubauten,
unter denen das Nikkohotel der größte ist; näher der Tempelstraße
erhebt sich inmitten eines großen Gartens ein kaiserliches Schloß,
das im Sommer vom japanischen Kronprinzen bewohnt zu sein pflegt, und
nicht weit davon prangt eine fünfstöckige Pagode aus rotlackiertem
Holz zwischen dem Grün der Bäume. Weiter aufwärts liegen ein paar
anspruchslose Gebäude für die Priester, und jenseits derselben breitet
sich die mit Mauern umgebene Tempelanlage aus.

Die Gebäude, Thore, Tempelhallen, Opferpagoden und Heiligenschreine,
die hier in mehreren Höfen vor dem eigentlichen Grabtempel liegen,
sind keineswegs durch besondere Größe oder Höhe ausgezeichnet, und man
würde fehlgehen, in Nikko, wie in Japan überhaupt, irgend etwas zu
erwarten, das sich mit unseren Kirchen oder mit den Tempeln der Araber,
Perser, Indier vergleichen ließe. Weder in Bezug auf Architektur, noch
nach Masse, Schönheit der Formen, Größe oder Baumaterial haben sie
auch nur die entfernteste Aehnlichkeit mit diesen, ja sie sind eher
das gerade Gegenteil. Klein, gedrückt, niedrig, durchweg aus Holz
gebaut, sind sie im Verhältnis ebenso unschön wie die japanischen
Wohnhäuser, so daß sie, von außen besehen, jeden fremdländischen
Besucher enttäuschen. In Nikko ist diese Enttäuschung um so größer, als
die Japaner hier recht eigentümliche Mittel anwenden, um die Tempel
gegen Feuersgefahr und den Einfluß der Witterung zu schützen. Rings um
die einzelnen Bauten sind ungeheure Drahtnetze gezogen, ähnlich wie
unsere Hausfrauen Drahtglocken über die Butter stülpen, um sie vor
den Fliegen zu bewahren. Manche Tempel sind mit einer verwitterten
Bretterhülle umgeben, so daß sie, von außen betrachtet, sich ganz wie
unsere Dorfscheunen zeigen. Man hat also gar keine Gelegenheit, den Bau
und seine Architektur als Ganzes zu sehen; erst wenn man die wenigen
Treppen zu den die Tempel rings umgebenden Veranden emporgestiegen ist
und zwischen der Bretterhülle und den Außenwänden der Tempelbauten
selbst näher schreitet, gewahrt man etwas davon, und dann wirkt nur die
sorgfältige Zusammenfügung des Holzrahmens, der schöne rote, weiße oder
Goldlack, mit dem er überzogen ist, nicht aber der Tempel als solcher.

Die hauptsächlichste Sorgfalt, die größte Kunst und den
verschwenderischsten Reichtum der Ausschmückung verwenden die
Japaner auf die gedrückten, inneren Räumlichkeiten, und wären sie
nicht so finster, so hätte man Gelegenheit, seine Herrlichkeiten
zu bewundern, die mit den größten Kunstschätzen des Abendlandes
den Vergleich aushalten. Sie mit Worten zu schildern, vermag wohl
kaum eine Feder, und ebensowenig kann es dem Pinsel des Malers
gelingen. Wenn an irgend etwas, so erinnern die inneren Tempelräume
mit ihren entzückenden Vergoldungen, Schnitzereien und Malereien
an unsere byzantinischen Bauten, an die Kapellen im Markusdom von
Venedig, oder die königliche Kapelle in Palermo, und fast möchte
man der japanischen Ausschmückung den Vorzug geben. Vor der großen
Revolution war diese in den Grabtempeln des Iyeyasu noch reicher;
als aber der einfache Shintokultus an Stelle des prunkvollen
Buddhismus wieder zur Staatsreligion erhoben wurde, entfernte man
all die kostbaren Kleinigkeiten, Weihegeschenke, Götzenbilder und
den malerischen Ausstellungsapparat der Buddhisten, so daß in diesen
Tempeln nur mehr die Ausschmückung der Wände und Decken, sowie die
entzückenden Thore bewundert werden können, welche die Tempelhöfe
miteinander verbinden. Das köstlichste dieser Thore ist wohl das
in weißem Lack und Goldzieraten prangende Jo-mei-mon mit seinen
wunderbaren Deckenschnitzereien. Hier, wie auch in zahlreichen anderen
Figuren zeigen die Japaner, welch hohe Kunst sie auch als Bildhauer
erreicht haben. Hinter dem Tempel, welcher den stets verschlossenen
Heiligenschrein Iyeyasus birgt, erhebt sich im Freien, mitten im
Grün, das Grabdenkmal des Helden, eine auf einem festen Steinsockel
ruhende Bronzeurne, die seine sterblichen Ueberreste enthält. Dem
europäischen Besucher gewährt das in einem Nebengebäude befindliche
Museum mit den Tempelschätzen größeres Interesse, denn hier sind
die kostbarsten Meisterwerke der japanischen Kunst zur Besichtigung
aufgelegt, dazu auch die Kleider, Waffen, Rüstungen des Iyeyasu und
allerhand Gegenstände, deren er sich bedient hat, alle mit dem aus
drei gegeneinander gerichteten Blättern bestehenden Tokugawawappen
geschmückt. Einige Wochen vorher war ich über den einsamen Bergpaß
auf dem Wege nach Hakone an der Stelle vorbeigekommen, wo Iyeyasu
von Feinden angefallen worden und ihnen nur wie durch ein Wunder
entgangen war. Jetzt sah ich hier die Sänfte, in der er sich bei dieser
Gelegenheit befunden hatte, mit dem Loch, das der Pfeil in die Wand
gebohrt; wäre er einen Zoll tiefer geflogen, diese Nikkotempel wären
niemals erbaut worden. Die Oeffnung des Museums für das allgemeine
Publikum ist übrigens dem Besuch des Erzherzogs Franz Ferdinand
von Oesterreich-Este zu danken. Bis dahin waren die Tempelschätze
unzugänglich; sie wurden nur ihm zu Ehren ausgestellt, und seither
bilden sie das Hauptziel der europäischen Touristen.

Wie in allen größeren Shintotempeln, so befindet sich auch hier in
einem Hofe eine offene Tanzbühne, auf welcher eine Priesterin die
heiligen Tänze ausführt. In einen weißen Talar und roten Unterrock
(das Zeichen der Jungfräulichkeit) gekleidet, in der einen Hand einen
Fächer, in der anderen einen Schellenstab haltend, macht sie mit ihren
nackten Füßen einige Schritte nach der einen, einige Schritte nach der
anderen Seite, bewegt die Arme und Hände, fächelt sich, macht einige
Verbeugungen und kauert sich dann wieder auf ihre Fersen nieder. Das
ist der ganze Tanz, aber trotz seiner Einfachheit ist er nicht ohne
Wirkung, wozu die Erscheinung der Tänzerin, ihre Kleidung und ihr
schneeweiß gepudertes Gesicht mit abrasierten Augenbrauen das Ihrige
beitragen.

In der Nähe der Iyeyasutempel befinden sich auch die sehr sehenswerten
Grabtempel des Enkels und zweiten Nachfolgers Iyeyasus im Schogunat,
des Schoguns Iyemitsu, der noch die ganze Pracht der buddhistischen
Tempeleinrichtungen zeigt. Auch hierher wallfahrten die Japaner und
bringen den Priestern ihre Gaben dar, indem sie vor jedem Gebet
einige kleine Münzen auf den Boden des Tempels werfen. In ganz Japan
bekommt man die kleinste Münze, den Rin, von dem etwa fünf auf einen
deutschen Pfennig gehen, im Handel und Verkehr fast nirgends zu sehen;
dafür bestehen die Tempelgaben der Mehrzahl nach aus solchen Rin, die
augenscheinlich für diese Zwecke eigens aufbewahrt werden.

Weiter aufwärts im Flußthale des Dayagawa giebt es keine Tempel und
keine Ortschaften mehr bis zu dem etwa sechs Wegstunden inmitten
der zentralen Bergketten gelegenen See von Tschuzendschi. Ein an
wildromantischen Reizen reicher Weg führt den rauschenden Dayagawa
entlang zu diesem etwa vierzehnhundert Meter über dem Meere gelegenen
Bergsee, über den sich der kahle, mächtige Scheitel des Nantai-San
erhebt. Auf dem schmalen Landstreifen zwischen Berg und Seeufer liegt
das urjapanische Dörfchen Tschuzendschi, fast ausnahmslos aus Hotels
und Theehäusern bestehend, die halb in den See hineingebaut sind und
auf Pfählen offene Veranden tragen. Kleine, ewig lächelnde Nesans
sorgen hier für die Wünsche der Reisenden; der prächtige Lachs wird für
die Mahlzeiten frisch aus dem See gefangen, der Reis ist von blendender
Weiße, und wer sich an die leichten japanischen Papierhotels gewöhnt
hat, kann hier ein paar reizvolle Wochen verleben; nur darf er nicht
in den ersten Augusttagen kommen wie wir, denn dann drängen sich in
das kleine Oertchen Zehntausende von Pilgern; dem Seeufer entlang,
auf heiligem Boden, der durch ein mächtiges Steintorii bezeichnet
wird, liegen langgestreckte, einstöckige Pilgerkasernen, und in diesen
war jedes Plätzchen von den weißgekleideten Pilgern belegt, die am
nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang die Besteigung des heiligen
Berges Nantai-San unternehmen wollten. Ein Gitterthor versperrt den
breiten Treppenweg, der zu dem nahezu dreitausend Meter hohen Gipfel
führt, und wer die Besteigung ausführen will, muß den Priestern, die
um den nahe dem Thore gelegenen Shintotempel hausen, einen Viertel
Yen bezahlen. Aber ich hatte kurz zuvor die Besteigung des höchsten
Berges von Ostasien, des Fudschiyama, ausgeführt, und der Nantai-San,
ein Zwerg gegenüber diesem Bergriesen, reizte mich nicht weiter. Dafür
wanderte ich den stillen, romantischen See entlang, an den einsamen
Sommerhäusern des deutschen und des englischen Gesandten vorüber,
nach dem kleinen Badeorte Yumoto, wo unter Flugdächern an der Straße
Scharen von Männern und Frauen jeden Alters zusammen badeten. Woran
man sich in dem Bergdistrikt von Nikko nicht sattsehen kann, ist die
wunderbare Natur, die in solcher Großartigkeit in ganz Ostasien nicht
wiederzufinden ist. Nur gehört gutes Wetter dazu, und das ist leider
den Sommer über in Nikko selten. Es regnet hier gerade so häufig und so
viel wie in Salzburg.

[Illustration: Das Innere des Grabtempels des Shoguns Iyemitsu in
Nikko.]



Japanische Blumenfeste.


Im Reiche der aufgehenden Sonne hat sich in den letzten Jahren sehr
viel geändert, manche Sitten und Gebräuche sind der modernen Kultur,
der sich die Japaner ergeben haben, leider zum Opfer gefallen, aber
viele nationale Züge und Eigenarten haben sich dennoch bis auf den
heutigen Tag erhalten und werden auch noch für lange Jahre hinaus
erhalten bleiben.

Dem Reisenden in dem herrlichen Inselreiche des Stillen Ozeans wird
es nicht schwer, diese Züge herauszufinden, denn sie bieten sich
ihm sozusagen auf Schritt und Tritt dar. In erster Linie möchte ich
die Liebe der Japaner zur Natur und zu deren schönstem Schmuck, den
Blumen, nennen. Nirgends wird dem Blumenkultus größere Liebe, größeres
Verständnis, größere Kunst entgegengebracht. Vom Kaiserpaare herab
bis zum letzten Bettler huldigt alles den Blumen, Männer wie Frauen,
Greise wie Kinder hegen und pflegen sie mit der größten Zärtlichkeit.
Wohin ich auf meinen Reisen auch gelangte, überall fand ich die
Wohnungen mit Blumen geschmückt. Im kaiserlichen Palast von Tokio fand
ich sie in kostbaren Vasen prangen, in den Holz- und Papierhütten der
Feldarbeiter in Bambusgefäßen als einzigen Schmuck der ärmlichen Räume;
blieb ich in einem japanischen Hotel länger als einen Tag, dann wurden
jeden Morgen von zarten Mädchenhänden die Blumen in meinem papierenen
Zimmer gewechselt; die halbnackten Kuli, welche mich in ihren leichten
Handwägelchen, den Rickshaws, durch das Land zogen, steckten sich eine
Blume hinters Ohr; in den Straßen der Städte wandern Blumenverkäufer,
die schöne Last in Körben auf eine Bambusstange gehängt, umher, und
kein Bettler ist zu arm, um nicht für einige Rin (Zehntelpfennigstücke)
eine Blume zu erwerben.

Aber noch mehr: der Kalender der Japaner setzt sich auch heute noch aus
Blumenfesten zusammen; statt die Monate und Jahreszeiten mit unseren
Namen zu bezeichnen, geben die Japaner ihnen den Namen ihrer Blumen.
Mit Blumennamen nennen sie auch ihre Töchter, und diese, wie alle Damen
Japans überhaupt, kleiden sich je nach der Blume, welche zu gewissen
Jahreszeiten in ihren Gärten vorherrscht. Zur Zeit der Kirschblüte
tragen sie Kimonos (schlafrockartige Oberkleider), auf welche
Kirschblüten eingestickt sind; sind diese verblüht, dann kommen in der
Natur, wie auf den Toiletten Azaleen an die Reihe, und so fort, bis
der November die herrlichste Blume Japans, die Chrysanthemum, bringt.
Ja sogar der Wandschmuck der Wohnräume richtet sich nach den Blumen.
Die Japaner pflegen auf die kahlen nackten Papierwände ihrer Wohnungen
Kakemonos zu hängen, lange mit Blumen und anderen Sujets bemalte
Papierstreifen; blühen die Glycinen oder Päonien oder der Lotos, dann
werden auch in den Häusern Kakemonos mit solchen Blumen aufgehängt und
vor diese Vasen mit frischen Blüten gestellt.

Wir Europäer sind gewiß ebenfalls den Blumen hold, und viele von uns
pflanzen und pflegen sie mit derselben Liebe wie die Japaner; aber in
Bezug auf ihre Zusammenstellung sind wir im Vergleich zu ihnen noch
weit zurück, und nur die deutschen Blumenzüchter befleißigen sich
ähnlicher Sorgfalt. Wie plump und sinnlos sind die Sträuße, welche auf
dem allwöchentlichen Blumenmarkte rings um die Madeleinekirche in Paris
feilgeboten werden! Dutzende von Rosen derselben Farbe werden dort
eng aneinander gequetscht, und das Ganze wird in einer großen weißen
Papiertüte steckend feilgeboten. Ein derartiges Unding würde in Japan
Entsetzen erregen. Dort wird auch die geschnittene Blume einzeln und
für sich behandelt, als säße sie noch auf der Pflanze im Garten. Der
Japaner legt nicht so viel Wert auf den Geruch und die Farbe der Blume
selbst, wie auf die Form, das künstlerische Zusammenwirken von Blume,
Stengel und Blättern. Sind die letzteren auch wenig schön, so heben
sie doch durch ihre Zusammenstellung die Schönheit der ersteren. Die
zarte Kunst der Behandlung von Blumen, ob lebender oder geschnittener,
gehört in Japan mit zu den schönsten Künsten, und die Erziehung einer
Japanerin wird als unvollständig betrachtet, wenn sie nicht einen Kurs
in der Blumenkunst durchgemacht hat.

Bei dieser Vorliebe, ja ich möchte sagen Leidenschaft der Japaner
für ihre herrliche Flora ist es nicht zu verwundern, daß die Blumen
die wichtigsten Sujets sind, welche in den japanischen Malereien und
Skulpturen, bei der Ausschmückung von Bronzen und Porzellanen zur
Verwendung kommen, ja daß sie vom japanischen Adel als Wappenbilder
gewählt werden.

Und wie bei jedem einzelnen Japaner, so äußert sich die Liebe zu
den Blumen im ganzen Lande durch zahlreiche, allgemein gefeierte
Blumenfeste. Wie es bei uns ein Weihnachts-, Oster- und Pfingstfest
giebt, so giebt es in Japan ein Kirschblüten-, Azaleen- und
Chrysanthemumfest. Selbst zur Neujahrszeit werden die Häuser in
Ermangelung von Blumen mit Immergrün, Tannen und Bambus geschmückt.
Kommt aber der Frühling, dann bringen die wärmeren Sonnenstrahlen die
zarten Knöspchen der Kirschbäume zur Blüte, und das ganze Inselreich
ist bald in das herrlichste Rosenrot gehüllt, als wären Massen kleiner,
von der Sonne durchleuchteter Wölkchen vom Himmel herabgeflogen, um
für einige Wochen zwischen den Baumkronen der Gärten zu verweilen. Wer
jemals das Glück gehabt hat, den unbeschreiblich üppigen Blütenschmuck
der Kirschbäume in Japan zu sehen, der wird die Begeisterung der
Japaner gerade für diese Blüte wohl begreifen und es natürlich finden,
daß sie die Kirschbäume nur ihrer Blüten wegen pflanzen, denn die
japanische Kirsche ist ungenießbar. Nach der unwirtlichen kalten
Jahreszeit wirkt der rosenrote Schnee, in den sich die Bäume hüllen, um
so stärker. Die Kirschblüte, und nicht, wie es im Abendlande allgemein
geglaubt wird, die Chrysanthemumblüte ist die Lieblingsblume der
Japaner.

Schon vor der vollen Entfaltung der Blüten wird in den Tagesblättern
Japans über das Fortschreiten derselben berichtet. Depeschen aus allen
Teilen des Landes verkünden die Freudenbotschaften, daß hier oder dort
die Bäume bereits in Blüte stehen, und unter den Stadtneuigkeiten kann
man lesen, daß Prinz Sandscho oder der Premierminister Graf Ito sich
für drei Tage nach Nara oder Kioto begeben haben, um die blühenden
Kirschbäume zu bewundern.

Endlich prangen auch die Kirschbäume in der Hauptstadt selbst in ihrem
unglaublich reichen Blütenschmuck. Wer in der ersten Aprilhälfte die
Kirschhaine des Uyénoparks oder von Mukodschima an den Ufern des
Sumidagawa durchwandert, der sieht dort die riesigen Bäume, hoch wie
alte Eichen, mit Blüten vollständig bedeckt, ohne daß noch ein einziges
grünes Blatt erschienen wäre; nicht kleine leichte Blütchen, sondern
rosenrote, blattreiche, doppelte Blumen, so groß wie Centifolien. Auf
jedem Ast, jedem Zweiglein sitzen sie dicht aneinander gedrängt, kaum
daß die größeren Aeste sichtbar sind; und dahinter erheben sich die
dunkelgrünen mächtigen Kryptomerien, diese schönsten Nadelholzbäume des
Orients. Die Blüten hauchen einen zarten Duft aus, fremdartige Vögel
singen und trillern in den dichten rosenroten Kronen, die sich in den
stillen Lotosteichen wiederspiegeln.

Dann kommt der Kirschblütensonntag, ein Nationalfest der Japaner,
dieses Phäakenvölkchens. Ueber Nacht sind in den weiten Avenuen, ebenso
wie in den Seitenwegen und entlang den schmalen lauschigen Waldpfaden
Hunderte und Aberhunderte von leichten Buden entstanden, in denen
kleine putzige Japaner und Japanerinnen allen möglichen Flittertand
verkaufen. Jede dritte Bude ist ein Theehaus, in welchem Reiswein
feilgeboten wird, und Tausende von Familien mit Kind und Kegel, alle
in seidene Festgewänder gehüllt, lustwandeln in dem rosenroten Wald,
bleiben hier und dort vor irgend einem besonders prächtigen Baume
stehen, um ihn mit Kennerblick zu bewundern oder möglicherweise
Gedichte, seine Pracht verherrlichend, an den Stamm zu heften. Jeder
Besitzer eines Gartens hat um diese Zeit sein Kirschblütenfest und
versendet große mit Kirschblüten gezierte Einladungskarten an seine
Freunde; sogar der Hof ladet die Gesellschaft und das diplomatische
Korps zu einer Gardenparty ein, welche in den weiten in üppiger Pracht
stehenden Palastgründen des Hama Rikiu abgehalten wird.

Wer aber das japanische Volksleben in seiner ganzen Eigenart kennen
lernen will, der muß nach Mukodschima im Südosten von Tokio gehen.
Dort wurden, als noch das Schogunat (Vizekaisertum) der mächtigen
Tokugawafamilie in voller Blüte war, Kirschbäume gepflanzt, die heute
ungeheure Dimensionen erreicht haben, so daß in den weiten Alleen
ihre Zweige sich verschlingen und einen rosenroten Dom bilden. Dort
vor allem ist der Schauplatz der Hanami, d. h. Familienpicknicks,
auf welche sich die Kinder das ganze Jahr über freuen. Schon lange
vorher werden von verschiedenen Familien gemeinschaftliche Ausflüge
vereinbart. Zu Fuß, in Booten oder in langen Reihen von Rickshaws
treffen sie ein, jede Gruppe durch ein gemeinschaftliches Zeichen
erkenntlich; die einen tragen buntfarbige Tücher um den Kopf gewunden,
die anderen gleiche Halstücher, die dritten irgend einen bunten Fleck
auf ihren Kimonos. Männer, Frauen, Mädchen, Kinder, alle in ihren
buntesten Schlafröcken, durch ebenso bunte Papierschirme gegen die
Sonne geschützt, ebenso bunte Fächer schwenkend; auf jedem Boote
ausgelassene Fröhlichkeit, Gesang, Gelächter, Trommelschlag und
Samisengezupfe; ein Karneval im blühenden Frühling!

Die Mädchen spielen heitere Gesellschaftsspiele, Männer tanzen wie
Satyre, Poeten sagen ihre den Bäumen gewidmeten Oden her, Seiltänzer,
Akrobaten, Märchenerzähler, Wettringer unterhalten das Volk. Dazu
die eigentümlichen langen Gewänder, die fremdartige Landschaft, so
daß man sich ein paar tausend Jahre zurück versetzt denken könnte,
mitten in irgend eine Saturnalie des Petronius. Mit dem Einbruch
der Dämmerung erscheinen Tausende und Abertausende von buntfarbigen
Papierlampions in den Bäumen, auf den Booten im Flusse, rings um die
zahlreichen Sakeläden und Theehäuser. Damit ist die Zeit für das
Abendbrot gekommen. Im Kreise sitzen die Familien und Gesellschaften
beisammen, handhaben lachend, scherzend ihre Eßstäbchen, trinken
dazu aus winzig kleinen Porzellanschalen Sake und lassen sich mit
Samisen und Gesang unterhalten. Schöne Maiko- und Gaishamädchen in den
herrlichsten Gewändern, die Gesichtchen bemalt, das rabenschwarze Haar
unter einem Wald von Schmetterlingsnadeln verborgen, tanzen und führen
kleine Szenen auf. Am fröhlichsten wird das Treiben, wenn irgend ein
plötzlicher Windstoß durch die Bäume fährt, die Blüten entblättert und
sie wie rosenroten Schnee auf die ganze Gesellschaft herabfallen läßt.

Nur zu bald geht es mit der Kirschblütenherrlichkeit zu Ende, aber
an ihre Stelle treten, noch während sie auf den Bäumen prangt, die
Azaleen und nur wenige Tage später die Päonien, nicht wie wir sie
kennen, sondern wie sie in solcher Größe, Menge und Pracht nur Ostasien
besitzt. Ich habe in Japan mannshohe Azaleen- und Päonienbäume
gesehen mit Tausenden von Blüten, ja in dem Klostergarten von Hia
Hungtien an der Ostgrenze von Deutsch-China bewunderte ich einen
Azaleenbaum, dessen Stamm einen halben Meter Durchmesser besaß und
dessen haushohe Krone an zwanzigtausend Blüten beherbergen mochte. Die
Päonien, in Japan Botan genannt, zeigen sich Anfang Mai in wunderbarer
Farbenpracht. Auf sie folgen im Juni die herrlichen, die Teiche und
Wassergräben mit einem lila Teppich bedeckenden Iris; wie die Tulpen in
Holland, so prangen die Iris hier auf weiten Feldern, mehrere Morgen
einnehmend; kommen einige Tage später die Glycinen, auf Japanisch
Fudschi genannt, zur Blüte, dann ist in manchen Gebieten lila die
hervorragende Farbe in der Landschaft. Den Wänden der Landhäuser
entlang, an Palästen und Hütten, auf Theehäusern und künstlich
errichteten Lauben und Gängen winden sie sich in unglaublicher
Ueppigkeit empor und über die Dächer hinweg; dazu wird bei vielen
Häusern des ärmeren Volkes der Dachfirst mit Iris bepflanzt, so daß sie
im Juni vollständig mit lila Blüten bedeckt sind. Am berühmtesten ist
die dreihundertjährige Glycine (~Wistaria chinensis~) im Garten
des Kameidoklosters, das Ziel unzähliger Wanderer, welche im Frühsommer
hierher pilgern, um diese mehrere hundert Meter langen blütengespickten
Ranken zu bewundern. Schattige Laubgänge bildend, Theehäuser mit einem
Blütendach bedeckend, reichen sie bis weit in den kleinen See hinaus,
in dessen stillem Wasser sich diese lila Blütenpracht wiederspiegelt.
Ebenso besucht wie der Glycinengarten von Kameido ist die fünfhundert
Jahre alte Glycine in Kasukabe, nordöstlich von Tokio, eine wunderbare
Pflanze, deren Ranken rebenartig eine Laube von vierhundert
Quadratmetern bedecken.

Für das nächste Blumenfest des Jahres bieten die schönen weißen
Lotos den Anlaß, die neben den Kirschblüten und Chrysanthemen die
beliebtesten Blumen Japans sind und als Symbole der Reinheit, Tugend
und Nützlichkeit bewundert werden: der Reinheit, weil ihre zarten
weißen Blüten sich aus dem Schlamm der Pfützen und Moräste erheben, der
Tugend wegen ihres leichten balsamischen Geruches, der Nützlichkeit,
weil die Samenkörner, die sie enthalten, genießbar sind. Ueberall in
Japan, in den Wassergräben der alten Daimioschlösser, in Teichen und
Seen, an Kanälen und Flüssen entlang sind während des Monats August
diese schönen großen Blumen zu sehen. In Tokio ist der Schinobadzusee
des Uyenoparkes mit ihnen buchstäblich gefüllt, und dann pilgert
die ganze Stadt hinaus, um an den kleinen Inselchen und Brücken und
Theehäusern diese Blütenpracht zu bewundern. Noch schöner als der
Lotossee des Uyenoparkes erschien mir der kleine Teich hinter der
Pagode des Schibaparkes; umgeben von mächtigen Kryptomerien schlummert
er in deren tiefem Schatten; ein Inselchen mit einem winzigen Tempel
erhebt sich aus seiner Mitte, und die Wasserfläche ist so dicht mit
Lotosblüten bedeckt, daß man sie für einen großen Teppich halten könnte.

Aber der größte Kultus wird in Japan getrieben mit der letzten Blume
des Jahres, der Wappenblume des Kaiserhauses, dem Chrysanthemum. Seit
Jahrhunderten ist die Gilde der japanischen Gärtner, von Vater auf
Sohn, damit beschäftigt, diese Blume zu veredeln und durch allerhand
nur ihnen bekannte Mittel so vielfarbig und vielgestaltig wie nur
möglich zu ziehen. Große Vermögen werden in Chrysanthemum angelegt,
große Vermögen damit gewonnen. Die Gärtnergilde in Yokohama besitzt
an fünfhundert Gärten, zweihundert Morgen Landes umfassend, in denen
sechs- bis achthundert verschiedene Arten von Chrysanthemen gezogen
werden. Die Gilde in Tokio besitzt wohl eine noch größere Zahl von
Gärten in der Vorstadt Dangozaka, und die schönsten Blumen, die sie das
Jahr über zieht, werden gelegentlich des Chrysanthemumfestes in den
kaiserlichen Gärten vom Akasaka zur Schau gestellt. Schon diese Gärten
allein mit ihren ungeheuren Cedern und Kryptomerien, ihren lauschigen
Alleen, grünen Rasen, mit von Tempeln und Kiosken gekrönten Hügeln,
ihren Wasserflächen mit Inselchen und kurios geschwungenen Brücken
sind Wunderwerke der Japaner, die leider nur wenigen Auserlesenen
zu schauen beschieden sind. Staunend durchwanderte ich dieses Buen
Retiro der Kaiserin, das als passendsten und bezeichnendsten Namen
den Namen „Kaiserin Frühling” führt. Dem großen Park wird im November
durch die Kunst der japanischen Gärtner wahre Frühlingspracht gegeben,
und wem die Auszeichnung zu teil geworden, von der Kaiserin zu
dieser Gardenparty befohlen zu werden, der wird die schwärmerische
Leidenschaft der Japaner für die Kaiserblume, Kiku, begreiflich finden.

Nach Zehntausenden müssen die Chrysanthemen zählen, welche hier in der
wunderbarsten Farbenpracht erblühen; den besandeten Wegen entlang sind
leichte Flugdächer aus Bambusstangen errichtet, verhüllt durch violette
Gazevorhänge, auf welchen die weiße kaiserliche Chrysanthemumblüte
eingestickt ist. Unter jedem Flugdach sind verschiedene Arten von
Chrysanthemen ausgestellt, verschieden in Farbe, Größe, Form und
Gestaltung der Pflanze selbst. Manche Blüten sind größer als unsere
Teller, je eine auf einer Pflanze mit einem einzigen Stiel, andere mit
den zartesten ineinander gerollten Blättern haben das Aussehen großer
Schneeballen; wieder andere mit Hunderten von Blättern, die wie lange
Haare von den Blüten herabhängen, oder solche, die steif wie bei einer
Sonnenrose ringsum stehen. Besonders merkwürdig sind Pflanzen mit einem
ganzen Strauß von Blüten bedeckt, jede von einer anderen Farbe; das
größte Wunder der Gärtnerkunst aber sind einzelne Pflanzen, welche
auf demselben Stiel ein Dutzend Blüten jede von verschiedener Größe
und dabei verschiedener Farbe zeigen. Weiter im Innern des Gartens
sind große Flächen buchstäblich mit einem Teppich von Chrysanthemen
bedeckt, hier ein weißer, dort ein roter oder violetter Teppich, in
welchem jede einzelne Blume genau dieselbe Farbe zeigt, jede genau
so geöffnet ist wie die andere, so daß sie gleichzeitig welken und
vielleicht an demselben Tage verblühen. Mitten in diesen Beeten erheben
sich Riesenpflanzen, die auf ihren zwei Meter und noch längeren Stielen
bis zu sechshundert Blüten zeigen. An jeder Pflanze hängen kleine
Papierzettelchen mit dem Namen der betreffenden Art in japanischen
Lettern, Namen wie „der weiße Drache”, „goldener Tau”, „Fischers
Laterne”, „das Federnkleid”, oder auch „zehntausendmal mit Gold
bestreut” und dergleichen.

Um dieselbe Zeit, wie die kaiserliche Chrysanthemumparty finden
auch im ganzen weiten Reiche, hauptsächlich aber in Tokio selbst,
Festlichkeiten statt, für welche die Chrysanthemen die Veranlassung
sind. Die ganze Bevölkerung, hoch und niedrig, wandert dann hinaus
nach Dango Zaka, dem Quartier der Gärtner, dem Schauplatz der
fröhlichsten Hanami. Jeder einzelne Gärtner hat dort seine eigene
aus Bambusstäben errichtete Schaubude, in welcher er die schönsten
Produkte seiner Kunst gegen ein Eintrittsgeld von wenigen Pfennigen
zur Schau stellt. Aber hier sind es nicht so sehr die Blüten selbst,
als ihre eigentümliche Zusammenstellung zu Figuren und Landschaften,
welche die festlich gestimmten Japaner in hellen Scharen herbeilocken.
Die Buden sind dementsprechend in einen Zuschauerraum und eine Bühne
mit Kulissen eingeteilt, und auf den Bühnen stehen die seltsamsten
Chrysanthemumfiguren. Alle möglichen Sujets, aus der Geschichte des
Landes, der Mythologie und der Gegenwart, Landschaften, volkstümliche
Helden, berühmte Schauspieler in ihren Lieblingsrollen, Scenen
aus populären Theaterstücken, alles das wird für die Darstellung
gewählt, ein ungeheures Panoptikum, wie jenes von Madame Tussaud
in London oder Castan in Berlin, nur mit dem Unterschiede, daß
die Kleidungsstücke und Trachten ganz aus Chrysanthemumblüten
bestehen. Die Gesichter, Hände und Füße werden mit großer Treue und
Lebenswahrheit aus Wachs geformt, die Kleider aber, ebenso wie die
einzelnen Landschaftsbilder, ob sie nun Felsen, Berge, Wasserfälle,
Tempel darstellen, bestehen ausschließlich aus Chrysanthemumblüten
und -blättern, so kunstvoll aneinander gebunden, daß sie sogar die
glatte Oberfläche der Stoffe nachbilden, und dabei sind diese Blüten
nicht etwa von ihren Stielen abgeschnitten, sondern lebende Blumen,
mit ihren Stielen und Wurzeln. Wer beispielsweise die mit Stickereien
bedeckten Kimonos oder die Rüstung eines altjapanischen Kriegers
betrachtet, hält das für unmöglich. Besucht man aber Dango Zaka am
Morgen, so hat man zuweilen in dieser oder jener Bude Gelegenheit,
das Erneuern welker Blumen zu beobachten. Dazu müssen kleine Partien
von Blumen losgebunden werden, und dann sieht man, daß diese Figuren
aus einem Bambusgestell bestehen, hinter welchem die Pflanzen selbst
verborgen sind, die Wurzel sorgfältig in feuchte Erde verpackt, mit
den für die Darstellung erforderlichen Blüten oder Blättern zwischen
den Bambusplatten hervorgezogen und kunstvoll mit- und ineinander
verflochten. Des Morgens und Abends werden die Pflanzen mit Wasser
besprengt und erhalten sich, durch das Mattendach der Schaubude gegen
die Sonnenstrahlen geschützt, einen ganzen Monat lang, als ständen sie
in einem Garten.

Dem leichtlebigen japanischen Völkchen gilt das Chrysanthemumfest wie
ein Abschied von der schönen warmen Jahreszeit, es ist das letzte der
Blumenfeste, und schon deshalb nimmt jede Familie, jeder Einzelne bis
zum geringsten Bettler daran teil. Sind die Chrysanthemen verblüht,
dann erhält die Landschaft nur noch durch die vom Spätherbst rot und
gelb gefärbten Ahornblätter Abwechselung, und während die Japaner diese
bewundern, zählen sie auch schon die Wochen, die sie von dem nächsten
Kirschblütenfest trennen.



[Illustration: Postläufer.]



Formosa.


[Illustration: Schiffbrücke über den Handafluß.]

Mit der Insel Formosa haben die Japaner eine selbständige chinesische
Provinz von über vierunddreißigtausend Quatratkilometern Größe und etwa
dreieinhalb Millionen Einwohnern gewonnen, ein Gebiet, auf das sie
zur Erfüllung ihrer handelspolitischen Pläne längst ein Auge geworfen
hatten und dessen Besitz sie in Zukunft noch unabhängiger von dem
europäischen Handel und noch gefährlicher für den letzteren machen
wird als bisher. Den Chinesen dagegen war das Opfer, das sie brachten,
kein besonders großes, denn der Wert Formosas war für sie bisher
recht problematisch, und früher oder später hätten sie diese kleinste
ihrer Provinzen doch an die eine oder die andere Macht verloren.
Bei einem Länderbesitz von mehr als elf Millionen Quadratkilometern
bildete Formosa nur den dreihundertsten Teil des chinesischen Reiches,
und selbst davon war nur eine Hälfte im Laufe der letzten Jahrhunderte
unterworfen worden. Die östliche Hälfte Formosas wird heute noch
von den der Hauptsache nach malayischen Urbewohnern eingenommen,
welche die Chinesen trotz fortwährender Kämpfe doch noch nicht zu
bezwingen im stande waren und wohl nie mit Waffen hätten bezwingen
können. Dies wird den Japanern überlassen bleiben. Auch diese werden
sich die Zähne an den wilden, tapferen Stämmen ausbeißen, die in den
Gebirgen und Urwäldern des östlichen Formosa hausen. Die Insel kam
überhaupt erst vor etwa zweieinhalb Jahrhunderten in den Besitz der
Chinesen. Die ersten Besitzer waren die Portugiesen, die hier eine
Handelsniederlassung gründeten und der Insel ihren wohlverdienten
Namen, Formosa, die Schöne, gaben. Wie die meisten Besitzungen der
Portugiesen, fiel auch diese bald in andere Hände. 1643 setzten sich
die Holländer hier fest und erbauten, nahe der Nordspitze, bei Tamsui,
ein Fort, das zum Teil noch heute steht und eine Zeitlang in seinen
Mauern die Residenz des englischen Konsuls beherbergte. 1661 ließen
die Chinesen die Fremdlinge durch ihren berüchtigten Piratenchef
Koksuiga vertreiben, gewiß zum Nachteil dieses herrlichen Eilandes,
das im Besitz einer europäischen Macht sich längst zu einer blühenden
Kolonie entwickelt haben würde. Bis zum französisch-chinesischen
Kriege von 1884 bildete Formosa einen Teil der benachbarten Provinz
Fokien; damals wurde der Chinesengeneral Liu-Ming-Chuan mit einer
Armee von vierzigtausend Mann nach Formosa gesandt, um die Franzosen
daraus zu vertreiben, und wahrscheinlich zur Belohnung für die vielen
Niederlagen, die er bis zum Friedensschlusse dort erlitt, wurde er zum
ersten Generalgouverneur der neugeschaffenen Inselprovinz ernannt und
konnte die Summen, die bis dahin von dem Gouverneur von Fokien vom
Volke erpreßt wurden, nunmehr selbst einstreichen. Vor 1885 war nämlich
der Gouverneur von Fokien gleichzeitig Fu, d. h. Präfekt, von Formosa,
mit der Verpflichtung, die Insel alle drei Jahre zu besuchen. Dem Laufe
der Dinge gemäß mußten bei diesen Besuchen die Unterbeamten der Insel
dem Präfekten Geschenke in Geld und Waren machen, und die Mandarine
kehrten von ihren Ausflügen nach Formosa gewöhnlich mit wohlgefüllten
Geldsäcken zurück.

Liu-Ming-Chuan war übrigens ein vortrefflicher Gouverneur, ein kleiner
Li-Hung-Tschang des Südens, und die Japaner, welche die Insel nun
übernahmen, haben ihm sehr viel zu danken, sogar eine Eisenbahn, die
zweite, die innerhalb des Bereiches des Drachenbanners überhaupt
gebaut wurde. Unter seiner Regierung machten auch die wilden Stämme
lange nicht so viel zu schaffen wie früher. Liu wußte sehr wohl, daß
es den Chinesen nicht gegeben sei, Völkerschaften mit den Waffen in
der Hand zu unterdrücken; deshalb setzte er sich mit den feindlichen
Häuptlingen ins Einvernehmen, und nach dem alten Lehrsatz, daß kleine
Geschenke die Freundschaft erhalten, ließ er den Häuptlingen Tücher,
Decken, Pfeifen, Messer, Waffen u. dergl. verabfolgen, Dinge, welche
die Häuptlinge gewissermaßen als Tribut betrachteten. Jedenfalls
verhinderten sie aus Dankbarkeit dafür die bisherigen Raubzüge ihrer
Stämme nach der von den Chinesen besiedelten Westhälfte der Insel,
bei denen sie stets ganze Dörfer und Städte zu plündern pflegten.
Aber das altherkömmliche Vergnügen, das die Formosaner darin finden,
den Chinesen die Köpfe abzuschlagen, konnten die Häuptlinge nicht
unterdrücken. Wie die berüchtigten Dajaken von Borneo, so sind auch die
Formosaner auf Menschenköpfe passioniert. Bei manchen Stämmen darf kein
junger Mann heiraten, ohne vorher mindestens den Kopf eines Chinesen
dem Häuptling überbracht zu haben. Das Köpfen erfolgt aber nicht etwa
in offenem Kampfe. Die jungen Leute lauern reisenden Chinesen auf,
überfallen sie von rückwärts, und sobald sie die Köpfe vom Rumpfe
getrennt haben, laufen sie mit diesen blutigen Trophäen ihren Lagern
zu. Dort wird zunächst ein Kriegstanz ausgeführt, währenddessen der
glückliche Bräutigam seine Braut in Empfang nimmt, um sie nach seiner
aus Baumrinde gebauten Hütte zu führen. Dort wird die Braut von allen
Squaws des Stammes besucht. Ob die Formosaner auf die Köpfe der
Japaner ebensolchen Appetit haben werden wie auf jene der Chinesen,
wird die Folge zeigen. Jedenfalls werden sie auf ihre eigenen Köpfe
etwas mehr achten müssen als bisher. Zwischen Japanern und Formosanern
herrscht entschieden größere Rassenverwandtschaft als zwischen den
letzteren und den Chinesen. Wie die Japaner, so bedecken auch die
wilden Formosaner ihre Körper mit Tättowierungen, eine Verrichtung,
die den Weibern obliegt. Manche Krieger zeigen auf ihrer Haut ihre
ganze Lebensgeschichte. Auch die Weiber werden vor ihrer Vermählung
tättowiert, und am Vermählungstage müssen sie sich außerdem ihre
Augenzähne ausziehen lassen. Ein eigentümlicher Gebrauch der Formosaner
ist der, ihre Toten an derselben Stelle zu beerdigen, auf der sie
gestorben sind, und ist dies in ihrem eigenen Hause geschehen, so
werden sie unter dem Fußboden desselben eingescharrt. Kriegern werden
außer Lebensmitteln auch ihre Waffen mit ins Grab gelegt.

Die Bedürfnisse der wilden, der Mehrzahl nach großen und kräftigen
Formosaner sind sehr gering; ihre Bekleidung ist ebenso spärlich
wie die der Malayen, und ihre Nahrung gewinnen sie durch Jagd und
Fischfang. Sie sind also keine nennenswerten Abnehmer für europäische
oder japanische Waren, aber dafür birgt ihre Heimat so große
Naturschätze, daß die Japaner dennoch sehr bald in Beziehungen zu ihnen
werden treten müssen. Ohne blutige Kämpfe wird dies nicht abgehen, denn
die leichtfüßigen Formosaner leben nur in den schwer durchdringlichen
Urwäldern und dem zerklüfteten Hochgebirge, dessen Gipfel die Höhe
von dreitausend Metern erreichen. Dort liegen große Kohlen-, Eisen-,
Kupfer- und Goldlager, die bei regelrechter Ausbeutung reichen Ertrag
liefern würden, und die Urwälder bestehen hauptsächlich aus großen
Kampferbäumen, auf die es die Japaner hauptsächlich abgesehen haben.

Von Wichtigkeit für den russischen und amerikanischen Markt ist auch
das Vorhandensein von Petroleum in Formosa. Rußland besaß bisher eine
Petroleumeinfuhr in China im Umfange von jährlich zehn Millionen
Gallonen, Amerika eine solche von vierzig Millionen Gallonen; Japan
dagegen bezahlte bisher jährlich zwischen drei und vier Millionen
Yen für Petroleum an die genannten beiden Länder. Sollten sich die
Petroleumlager auf Formosa in der That als so ergiebig erweisen,
wie man glaubt, so dürfte dies der Einfuhr vom Auslande her einen
empfindlichen Schlag versetzen.

Während die mineralischen Schätze Formosas noch größtenteils brach
liegen, haben die von den benachbarten Provinzen des chinesischen
Festlandes eingewanderten Chinesen mit gewohntem Fleiß die ungemein
fruchtbaren Ebenen des westlichen Formosa in ausgedehnte Thee-, Reis-
und Zuckerpflanzungen verwandelt. 1887 gelang es dem Vizekönig Liu,
einige Stämme der wilden Formosaner zur Unterwerfung zu bringen.
Wenigstens fand ich in der Pekinger Zeitung vom 26. Juni 1887 einen
langen Bericht, in dem Liu die Vollendung einer Straße in westöstlicher
Richtung quer durch Formosa von Chang-hua nach Shui-wei meldete.
Dadurch konnten chinesische Truppen bis an die Ostküste vordringen und
neunundachtzig Ortschaften mit einundzwanzigtausend Einwohnern der
chinesischen Verwaltung einverleiben. In einem späteren Bericht meldet
Liu die Unterwerfung von weiteren Distrikten an der Ostküste mit gegen
sechzigtausend Einwohnern. Dieselben nahmen chinesische Ortsvorsteher
und Präfekten sowie den chinesischen Kalender an, ja heute tragen sie
chinesische Kleidung und Haartracht mit langen Zöpfen; sie haben Jagd
und Fischfang aufgegeben und sind friedliche Ackerbauer geworden.
Dadurch wurden Hunderttausende von Morgen des fruchtbarsten Landes der
Kultur gewonnen. Die zahlreichen Mischlinge zwischen den Eingeborenen
und Chinesen, Pepos genannt, nähern sich im Charakter mehr den Chinesen
und sind ebenfalls fleißige, intelligente Pflanzer. In ihrer langsamen
Weise und trotz aller Unehrlichkeit der Beamten haben die Chinesen im
ganzen genommen während der zweihundert Jahre, die sie wirklich auf
Formosa waren, jedenfalls mehr zuwege gebracht als die Spanier auf den
Philippinen in dreihundert Jahren.

Früher bildete Reis den wichtigsten Exportartikel von Formosa; allein
durch die Unterwerfung so großer Massen von Eingeborenen, die früher
von Jagd und Fischfang lebten, durch die große Zuwanderung und die
starken aus China nach Formosa gesandten Truppenkörper stieg der
Reisbedarf der Insel derart, daß der Export vollständig aufgehört
hat. An seine Stelle tritt als wichtiger Ausfuhrartikel im Norden
Thee, im Süden Zucker. Der Formosathee (Oolang) wird hauptsächlich
nach Amerika ausgeführt und kommt nach Europa nur in ganz geringen
Mengen, vermischt mit chinesischem Thee. Zucker wurde früher nach
Europa und Australien ausgeführt. Durch das Fallen der Zuckerpreise
hier lohnte sich der Export nicht mehr, und der größte Teil des
Formosazuckers geht jetzt nach Japan und dem chinesischen Festlande.
Man sieht also, welche Wichtigkeit die Landesprodukte Formosas für
Japan besitzen, das dafür wieder mit den europäischen Staaten in Bezug
auf die Einfuhr wetteifert. Dieselben Artikel, die es mit so vielem
Erfolg auf den chinesischen Markt wirft, führt es auch in Formosa ein,
und da die Insel nunmehr ganz in den Besitz Japans übergegangen ist,
wird es mit der Einfuhr europäischer Waren in Formosa, die in den
letzten Jahren durchschnittlich einen Wert von fünfzehn bis zwanzig
Millionen Mark erreichte, nun ganz zu Ende sein. Ein großer Teil des
Warenverkehrs zwischen Formosa, China und Japan erfolgte bisher auf
deutschen Schiffen; auch diese dürften in Zukunft durch japanische
ersetzt werden. Bisher hatte die japanische Nipon Yusen Kaisha, eine
der größten Dampfergesellschaften der Welt, wohl regelmäßige Linien
nach den benachbarten Lutschuinseln und den chinesischen Häfen Amoy
und Futschau, die Formosa gegenüberliegen, aber nicht nach dieser
Insel selbst. Einen Monat nach dem Friedensschluß schon wurde von
der Yusen Kaisha beschlossen, nunmehr auch regelmäßig Dampfer nach
Formosa laufen zu lassen. Geht diese Ausbreitung des japanischen
Dampferverkehrs so weiter fort, so werden noch eine Anzahl anderer
deutscher Dampfer, hauptsächlich die sogenannten Tramp Steamers, in
Ostasien ihren Verkehr einstellen müssen. Die Japaner unterhalten
heute schon regelmäßige Dampferverbindung unter japanischer Flagge
mit Korea, China, den Philippinen, Indien, Java, Australien und sogar
der Südsee. Eine der ersten Thaten der Japaner auf Formosa wird es
auch sein, die Seidenzucht einzuführen, was den Chinesen bisher trotz
mehrfacher Versuche nicht glückte. Heute schon ist Japan neben China
das wichtigste Seidenland und erreicht bei einer Seidenausfuhr im Werte
von jährlich sechzig Millionen Yen beinahe die Ausfuhr von Frankreich
und Italien. Formosa wird die Produktion der Rohseide noch weiter
vermehren, japanische Fabriken werden sie verarbeiten; und bei den
alle Konkurrenz unmöglich machenden billigen Löhnen wird die Ausfuhr
der Seidenstoffe aus Japan, die heute etwa siebzehn Millionen Yen
erreicht, sehr bald zu ungeahnter Höhe steigen. Deutschland ist daran
mit Frankreich und Italien lebhaft interessiert, denn wir besitzen
eine jährliche Ausfuhr von Seidenwaren im Werte von hundertundsechzig
Millionen Mark. Diese ostasiatische Konkurrenz wird in den kommenden
Jahrzehnten eine Existenzfrage für Millionen werden.

Durch die Abtretung der Insel Formosa an Japan ist auch die
Kampfererzeugung sozusagen ein Monopol der Japaner geworden, denn
dieser in der Arzneikunde sowohl wie in manchen Industrien so ungemein
wichtige Artikel wird nur auf den südlichen Inseln des Mikadoreiches
und auf der Insel Formosa gewonnen. Wohl habe ich auch auf den
Sundainseln, in Siam, Malakka, Andalusien und Westindien Kampferbäume
angetroffen, aber Wälder und Pflanzungen dieser höchst wertvollen Bäume
haben nur die japanischen Inselgruppen bis zum fünfunddreißigsten
Breitengrad aufzuweisen, und die zivilisierte Welt wurde von diesen
mit dem Bedarf an Kampfer versorgt. Bisher wurde die größte Menge des
rohen Kampfers nach Europa (hauptsächlich nach London und Hamburg)
sowie Nordamerika verschifft und dort in eigenen Raffinerien für
den Gebrauch zubereitet. Von Formosa kamen sehr bedeutende Mengen
zunächst in Hongkong auf den Markt, und durch diese wurde der Preis
des japanischen rohen Kampfers innerhalb gewisser niedriger Grenzen
gehalten. Dadurch aber, daß Formosa nunmehr an Japan gefallen ist,
beherrschen die Japaner nicht nur den ganzen Markt, sondern sie dürften
auch die Ausfuhr des Rohkampfers mit hohen Zöllen belegen, um dadurch
die einheimischen Kampferraffinerien zu heben.

Die Japaner werden auch gewiß die beiden bisherigen Haupthäfen
Formosas, Tamsui und Tainan, aufgeben und einen dritten Hafen, Kelung,
an ihrer Stelle wählen. Tamsui und Tainan sind dem europäischen Handel
seit 1858 geöffnet gewesen, es sind dort eine Anzahl europäischer,
darunter auch deutsche, Firmen etabliert; dieselben haben Godowns und
Hongs (Geschäfts- und Warenhäuser) mit großen Kosten aufgeführt und
mit vieljähriger Mühe endlich den Handel auf eine gewinnbringende
Grundlage gebracht. Damit dürfte es bald ein Ende haben; die Europäer
werden ausziehen und den Japanern Platz machen müssen. Nicht etwa, daß
sie durch Gewalt vertrieben würden, die Japaner werden sie einfach,
figürlich gesprochen, aushungern. Die beiden Häfen Tamsui und Tainan
sind nämlich den Dampfern nicht zugänglich; diese müssen weit außerhalb
auf offener Reede liegen bleiben, und während des Südwestmonsuns, der
hier sehr stark bläst, von den hier sehr häufigen Taifuns gar nicht
zu sprechen, kommt es oft genug vor, daß die Schiffe, ohne Ladung
zu löschen, nach den Pescadores oder gar nach Amoy oder Futschau
weiterdampfen müssen. In Kelung, das nur etwa dreißig Kilometer östlich
von Tamsui an der Nordostspitze von Formosa liegt, ist die Wassertiefe
bis dicht an die Werften selbst für große Kriegsdampfer hinreichend,
und überdies ist der Hafen durch eine vorliegende Insel gegen Stürme
geschützt. Außerdem liegen dicht bei Kelung die großen Kohlenlager, die
bisher Südchina, vor allem Futschau, mit Kohlen versahen. Kelung ist
also unzweifelhaft der zukünftige Haupthafen Formosas, während Tamsui
und Tainan nur den chinesischen Dschunkenverkehr, wenigstens zum Teil,
behalten dürften.

Tamsui sowohl wie Tainan sind nicht etwa kompakte Ortschaften wie
andere chinesische Hafenstädte. Beide sind nur Sammelnamen für
mehrere Ortschaften. Etwa fünfzehn Kilometer südlich des mit Tamsui
bezeichneten Küstenplatzes an der Nordspitze Formosas liegt nämlich an
dem Taipeifluß die gleichnamige Hauptstadt der Insel. Tamsui besitzt
nur das Zollamt, einige Warenhäuser und ein altes holländisches
Fort mit einigen offiziellen Gebäuden. Die europäischen Kaufleute
wohnen größtenteils in Tuatutiah, einige Kilometer stromaufwärts in
der Nähe von Taipei gelegen; und noch weiter stromaufwärts liegt
die Chinesenstadt Banka, an der Grenze des großen Reisdistrikts von
Formosa. Taipei ist eine Schöpfung des Generalgouverneurs Liu; er ließ
die Stadt ganz nach amerikanischem Muster, schachbrettförmig, mit
breiten Straßen anlegen, eine Straße nach Tuatutiah bauen, die Stadt
elektrisch beleuchten und baute sich aus dem Erlös der Bauplätze seiner
Städtegründung einen herrlichen Yamen (offiziellen Palast); selbst
japanische Jinrikshaws führte er in Taipei ein.

Ebenso wie Tamsui besteht Tainan, der südliche Hafen, aus drei
Ortschaften. Tainan oder Taiwan-fu ist eine von Cantonesen gegründete
Chinesenstadt, etwa sechs Kilometer von der Küste entfernt gelegen
und durch einen für Dschunken passierbaren Kanal mit dem eigentlichen
Hafen von Tainan, Anping, verbunden. Wenn auf den Landkarten Takao,
etwa fünfundvierzig Kilometer weiter südlich gelegen, als europäischer
Haupthafen angegeben steht, so ist dies unrichtig. In früheren Jahren
war allerdings Takao der Hauptlandungsplatz der Schiffe, allein er
ist, wie gesagt, fünfundvierzig Kilometer von der Stadt Taiwan-fu
entfernt und nur durch einen elenden Karrenweg mit ihr verbunden.
Außerdem war das Klima den europäischen Kaufleuten nicht zuträglich,
trotz der herrlichen Vegetation Takaos und des hinter ihr gelegenen
Ape-hill (Affenberg). Die Kaufleute und mit ihnen der Handels- und
Schiffahrtsverkehr haben sich deshalb nach Anping gezogen, das auch der
Sitz der Konsulate, darunter des kaiserlich deutschen Vizekonsulats,
geworden ist. Statt Takao sollte deshalb auf den Landkarten Anping
als Haupthafen verzeichnet werden. Ebenso müßte statt Taiwan auf
den Landkarten Tainan oder Taiwan-fu stehen, denn Taiwan ist eine
ganz andere Ortschaft, im Herzen der Insel gelegen und von Liu zur
Hauptstadt derselben bestimmt. Daß die Schiffe in den Häfen nicht
anlaufen können, sondern kilometerweit außerhalb der Schlamm- und
Sandbänke im Meere ankern müssen, kommt ja nicht nur in Formosa,
sondern in anderen Häfen Ostasiens vor. Aber nirgends ist die
Brandung, besonders bei Südmonsun, so heftig wie hier, wo die Wellen
der chinesischen Südsee mit voller Gewalt anprallen. Deshalb ist bei
Monsun die Ladung nicht einmal in kleinen Booten möglich und kann nur
mittels Catamarans erfolgen. Diese sind Flöße, bestehend aus zwölf etwa
sieben Meter langen Bambusrohren, in deren Mitte eine Art Badewanne
festgebunden ist. In diese müssen sich die Passagiere setzen, und
so werden sie von den Wellen ans Land getragen, nicht ohne jedesmal
gehörig durchnäßt zu werden. Aehnlich geht die Landung der Waren vor
sich, und es ist deshalb begreiflich, daß die Japaner Kelung als
Haupthafen vorziehen werden.

Die Japaner werden auch binnen kurzer Zeit die von den Chinesen längst
projektierte Eisenbahn vollenden, welche die Insel von Nord nach Süd
durchziehend, Kelung und Tamsui mit Anping verbinden soll und von der
bisher nur etwa dreißig englische Meilen in Betrieb standen.

Der unternehmende Liu betraute 1887 europäische Ingenieure mit der
Ausarbeitung der Linie, übertrug aber die Ausführung chinesischen
Truppen. Der zwischen Tamsui und Kelung gelegene Höhenzug sollte
mittels eines Tunnels durchbrochen werden, dem chinesischen General
wollte indessen das schwarze Loch nicht recht einleuchten, und so gab
er den Befehl, die Bergkette mitten durchzuschneiden. Nach jahrelanger,
unsinniger Arbeit wurde dieses Projekt als unausführbar aufgegeben und
der Tunnel doch ausgeführt. Aber die Chinesen scheuten sich, durch
diese dunkle Höhle zu fahren, und monatelang nach der Eröffnung der
Eisenbahn zwischen Tamsui und Kelung blieben die Züge diesseits des
Tunnels stehen, und die Passagiere überkletterten mühsam den Höhenzug,
während die Züge leer durch den Tunnel rasselten. Erst allmählich
gewöhnten sich die Chinesen an die Durchfahrt.

Die Briefpost wird durchweg von Läufern besorgt, und die Gebühren für
einen fünfzehn Gramm schweren Brief betragen beispielsweise zwischen
Anping und Tamsui zweihundertfünfzig Cash, etwa fünfzig Pfennige. Diese
in Formosa zur Verwendung gelangenden Cash sind die schlechtesten
von ganz China, vielfach durchlöchert und großenteils aus Eisen
hergestellt. Banken giebt es auf Formosa nicht, und da es sich bei der
großen Ein- und Ausfuhr doch häufig um beträchtliche Summen handelt,
werden von den chinesischen Hongs (Geschäftshäusern) gewöhnlich fünfzig
mexikanische Silberdollars oder japanische Yen in eine Rolle gethan,
und die Papierhülle wird mit dem Hongstempel versehen. Sind diese
Hongs achtbar und angesehen, so wandern die Silberrollen ungeöffnet
von Hand zu Hand, bis sie auseinanderfallen. Dann kommt gewöhnlich
die sonderbarste Münzensammlung zum Vorschein. Falsche Münzen werden
von den Hongs, welche die Rollen ausgegeben haben, sofort gegen echte
umgewechselt.

Die japanische Verwaltung hat natürlich versucht, Ordnung in diese
Verhältnisse zu bringen, zum Segen des Landes und seiner Einwohner;
allein bisher ist dies den Japanern nicht gelungen. Die Eingeborenen
setzen den neuen Herren den heftigsten Widerstand entgegen, und es ist
gar keine Aussicht vorhanden, die Insel in absehbarer Zeit dem Frieden
zuzuführen.



Japan als Industriestaat.


Von beachtenswerter Seite ist vor kurzem die Ansicht ausgesprochen
worden, Japan werde sich kaum jemals zu einem Industriestaate
entwickeln, sondern für immer vorzugsweise ein Ackerbaustaat und
deshalb auch ein bedeutender Abnehmer fremder Industrieerzeugnisse
bleiben. Auf welcher Grundlage diese Bemerkungen fußen, ist schwer zu
erkennen, es sei denn, daß man die Verhältnisse in dem alten Japan,
wie es vor 1870 war, als Maßstab angenommen hat. Damals war Japan
allerdings ein Ackerbaustaat; aber man braucht nur die verschiedenen
Zweige der nationalen Thätigkeit durchzusehen, um zu erkennen, daß sich
in den letzten drei Jahrzehnten eine ganz entschiedene Umwandelung
des ostasiatischen Inselreiches aus einem Ackerbaustaat in einen
Industriestaat vollzogen hat. Mit jedem Jahre tritt diese Umwandelung
kräftiger hervor, und setzt man einige Haupterzeugnisse Japans, wie
Thee, Seide und Reis, beiseite, so wird man in Zukunft mit Japan als
mit einem geradezu ausschließlichen Industriestaate zu rechnen haben,
dessen mächtiger Einfluß auf die Ausfuhr Europas nach Ostasien und die
Küstenländer des Stillen Ozeans sich von Jahr zu Jahr mehr fühlbar
machen wird.

Dank der Anregung und Unterstützung durch die japanische Regierung,
dank der Vermehrung der Bevölkerung in Japan um 25 Prozent innerhalb
zweier Jahrzehnte, dank dem allgemeinen Erwachen und Anspannen der
nationalen Thätigkeit, hat natürlicherweise auch der Ackerbau sehr
bedeutende Fortschritte aufzuweisen, die hauptsächlich der Verbesserung
der Bodenbewirtschaftung und der größeren Sorgfalt zuzuschreiben sind;
denn die bebaute Bodenfläche hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht
in dem gleichen Verhältnis vergrößert. Während beispielsweise die
Reisländereien seit fünfzehn Jahren nur um 8½ Prozent zugenommen
haben, beträgt die Zunahme der Reiserzeugung das Dreifache, nämlich
25½ Prozent. Die Getreideländereien haben um 20 Prozent, die
Getreideerzeugung aber um 58 Prozent zugenommen. Die Zunahme von Thee
und Seide ist noch beträchtlicher, denn sie betrug innerhalb der
letzten fünfzehn Jahre bei Thee etwa 240 Prozent, bei der Seide sogar
300 Prozent. Zu diesen Stapelartikeln des japanischen Ackerbaues ist
durch die Einverleibung Formosas in das japanische Reich auch noch
Kampfer und vor allem Zucker gekommen. Bisher war Japan in Bezug auf
Zucker hauptsächlich auf die Einfuhr vom Auslande angewiesen, und sein
Bedarf an diesem für die deutsche Ausfuhr bekanntlich äußerst wichtigen
Artikel steigerte sich von 28 Millionen Kilogramm im Jahre 1872 auf das
Fünffache, nämlich gegen 150 Millionen Kilogramm im Jahre 1898, für die
es an das Ausland etwa 58 Millionen Mark bezahlte. Die eigene Erzeugung
war 1894 schon auf nahezu 50 Millionen Kilogramm gestiegen, und die
Verhältnisse für die weitere Vermehrung der Zuckerplantagen im
japanischen Reiche liegen so günstig, daß es mit der Einfuhr von Zucker
vom Auslande her voraussichtlich bald ein Ende haben wird.

[Illustration: Das Einsetzen der jungen Reispflanzen.]

Die genannten Agrikulturzweige waren in Japan schon bei der Eröffnung
des Landes für den ausländischen Handel vorhanden und haben nur eine
Steigerung erfahren. Die heutige Industrie von Japan ist aber seither
in weitaus den meisten Zweigen vollständig neu geschaffen worden, und
der Wohlstand, die Zukunft und Stellung Japans in Bezug auf Ostasien
liegt nunmehr hauptsächlich in seiner industriellen Weiterentwickelung.
Alle Bedingungen sind dafür vorhanden: Kohle, Eisen, Kupfer, Gold,
Silber, Wasserkraft, Transportmittel zu Lande und zu Wasser und endlich
große Absatzgebiete in unmittelbarer Nähe. Dazu kommen die Förderung
und Unterstützung der Regierung, die äußerst wohlfeilen Arbeitskräfte,
die ein Drittel bis ein Fünftel der europäischen Löhne beziehen, und
endlich die Gewißheit, daß seit der Einführung der neuen Verträge mit
den europäischen Mächten die heimischen Industrien durch Erhöhung der
Einfuhrzölle noch weiter beschützt und entwickelt werden können.

Die industrielle Entwickelung Japans steht in der Geschichte geradezu
beispiellos da und wird in ihrem Umfange und in ihren Gefahren für den
europäischen Markt in Ostasien immer noch nicht hinreichend gewürdigt.
In den ersten Industriestaaten der Welt stellt sich das Verhältnis der
Ausfuhr an Industrieerzeugnissen in Bezug auf die Gesamtausfuhr wie
folgt:

Von der gesamten Ausfuhr sind Fabrikate in England 82 Prozent, in der
Schweiz 75 Prozent, in Deutschland 65,9 Prozent, in Frankreich 55,6
Prozent, in Belgien 37,4 Prozent, in Oesterreich-Ungarn 27,2 Prozent,
in Schweden 16,4 Prozent, in Amerika 9 Prozent.

In Japan, wo es vor dreißig Jahren überhaupt keine nennenswerte Ausfuhr
an Fabrikaten gab, beträgt diese heute schon 38 Prozent, und Japan
steht somit in der obigen Liste an der fünften Stelle und übertrifft
sogar bereits Belgien. In den letzten fünf Jahren ist die Ausfuhr von
Fabrikaten aus Japan um nahezu das Dreifache gestiegen, während die
Ausfuhr von Rohmaterial ziemlich stationär geblieben ist. 1872 belief
sich der Wert der japanischen Warenausfuhr auf kaum einige Millionen
Mark, 1899 auf etwa 180 Millionen Mark. Die hauptsächlichsten Abnehmer
der japanischen Fabrikate sind naturgemäß die asiatischen Länder, wohin
die Ausfuhr innerhalb zweier Jahrzehnte um 650 Prozent gestiegen ist
und heute einen Wert von 150 Millionen Mark besitzt. Australien hat
bis 1880 von Japan beinahe gar keine Fabrikate bezogen, heute besitzen
diese einen Wert von über 5 Millionen Mark jährlich.

Es ist von großem Interesse, die Entwickelung der einzelnen
Industriezweige in Japan näher zu betrachten. Diese Entwickelung steht
naturgemäß mit der Beschaffung billigen Brennmaterials, d. h. mit der
Ausbeutung der reichen Steinkohlengruben in innigem Zusammenhang, die
Japan zunächst auf der Insel Kiushiu besitzt. Im Jahre 1886 wurden
schon 2 Millionen Tonnen Steinkohlen gewonnen, 1897 6 Millionen,
die Produktion hat sich somit in einem Jahrzehnt verdreifacht. Der
Preis der Kohle hat sich inzwischen mehr als verdoppelt. Jetzt macht
japanische Kohle der englischen bereits in Vorderindien, in Bombay,
Konkurrenz. 1898 hat der Wert der Steinkohlenausfuhr 39 Millionen Mark
betragen. Im Inlande selbst hat sich der Bedarf der Fabriken an Kohle
in demselben Zeitraum verzehnfacht.

Der zweitwichtigste Rohstoff, nämlich Roheisen, wurde 1862 noch in ganz
unbedeutenden Mengen eingeführt, nämlich 33000 Kilogramm; im Jahre 1880
betrug diese Einfuhr 6 Millionen Kilogramm, 1891 14 Millionen, 1894
sogar 40 Millionen Kilogramm, die Zunahme seit 1872 ist demnach 12000
Prozent. Der Bedarf Japans an europäischem Roheisen im Werte von 16
Millionen Mark (1894) war natürlich für die europäischen Ausfuhrländer
nutzbringend. Nun giebt es aber in Japan große Eisenlager, und binnen
kurzem wird dieses Rohmaterial an Ort und Stelle gewonnen werden.
Der Preis des in Japan eingeführten Roheisens stellt sich auf etwa
62 Yen pro Tonne, im Lande selbst kann es aber nach einer genauen
Schätzung für 15 bis 20 Yen pro Tonne erzeugt werden. Im Marinearsenal
von Yokosuka bei Yokohama wird schon seit mehreren Jahren mittels
ganz neuer Methoden vorzüglicher Stahl gewonnen, und das Aufhören der
Einfuhr von Roheisen in Japan ist fortan nur eine Frage der Zeit. 1898
wurde Roheisen nur mehr im Wert von 10 Millionen Mark eingeführt,
darunter zum Nachteile der europäischen Produzenten auch schon
chinesisches Roheisen.

Die japanischen Erzlager werden auf 70 Millionen Tonnen geschätzt. In
neuester Zeit baute die Regierung in Bamstamura mit einem Kostenaufwand
von 18 Millionen Mark ein großartiges Eisen- und Stahlwerk mit 2
Hochöfen und 200 Koksöfen und einer jährlichen Leistungsfähigkeit von
90000 Tonnen fertiger Ware.

In Bezug auf die Fabriken veröffentlicht der Ostasiatische Lloyd
folgende bemerkenswerte Statistik:

Im Jahre 1883 gab es in Japan deren überhaupt nur 84 mit im ganzen
etwa 1700 Pferdestärken. Im Jahre 1893 gab es bereits 1163 Fabriken
mit etwa 35000 Pferdestärken, wovon 31165 durch Dampf- und 4142
durch Wasserkraft erzeugt werden. In einem Jahrzehnt hat demnach die
Dampfkraft um 2226 Prozent, die Wasserkraft 2134 Prozent zugenommen.
Dabei ist die letztere noch in ihrer Kindheit. Hunderte von
Wasserläufen können in Japan der Industrie nutzbar gemacht werden, so
daß die Erzeugungskosten noch weitere Verminderungen erfahren werden,
gewiß in größerem Verhältnis, als die Arbeitslöhne steigen. In den
Baumwollspinnereien haben die Löhne seit 1899 eine Steigerung von 37
Prozent erfahren und betrugen 1898 für männliche Arbeiter 47 Pfennig,
für die weiblichen 28 Pfennig den Tag. In anderen Gewerben betragen die
Löhne heute wie folgt:

Tagelöhner erhalten für den Tag 75 Pfennig, Träger 1 Mark 40 Pfennig
bis 1 Mark 50 Pfennig, Tischler 1 Mark 10 Pfennig bis 1 Mark 20
Pfennig, Dachdecker 1 Mark 20 Pfennig, Tapezierer 1 Mark 10 Pfennig bis
1 Mark 20 Pfennig, Mattenweber 1 Mark 10 Pfennig bis 1 Mark 20 Pfennig.

Auch Elektrizität wird seit etwa fünf Jahren immer mehr als Triebkraft
angewendet, und seit 1890 wurden in Japan Elektromotoren im Werte
von 5 Millionen Mark eingeführt. Mit der Zeit werden jedoch auch
diese im Lande selbst fertiggestellt werden, ebenso wie heute schon
die Telegraphen- und Telephonapparate. In Osaka wird eben an einer
elektrischen Anlage gearbeitet, für die Wasserkräfte von 15000
Pferdestärken zur Verfügung stehen. Die ganze Triebkraft in den
Fabriken Osakas beläuft sich nach dem letzten Konsularbericht über die
dortigen Industrien auf 25000 Pferdestärken, und die Eigentümer der
elektrischen Anlagen berechnen die Ersparnis, die durch die Anwendung
von Elektrizität an Stelle der Dampfkraft erzielt würde, auf eine
Million Yen jährlich.

Osaka ist auch der hauptsächlichste Sitz der japanischen
Baumwollspinnerei, also jener Industrie, die von allen wohl die größten
Fortschritte gemacht hat. Die ersten Anfänge datieren aus dem Jahre
1871, als der Fürst von Satsuma, Schimadzu, einige Spinnmaschinen
einführte. Die Revolution unterbrach die Entwickelung, und erst 1880
griff die Regierung die Sache wieder auf, indem sie fünf Spinnereien
errichtete. Das Beispiel fand im Volke bald Nachahmung, denn schon
im Jahre 1886 gab es in Japan 65000 Spindeln, 1891 war deren Zahl
auf 354000, 1894 auf 664000 angewachsen, 1896 betrug sie über 800000
und 1899 eine und eine viertel Million. Die Produktion von Geweben
verschiedener Art betrug 1883 etwa 2⅓ Millionen Meter, 1891 schon
etwa 45 Millionen Meter und 1895 etwa 65 Millionen Meter. Der
Bedarf an roher Baumwolle hat sich innerhalb eines Jahrzehntes
verfünfundzwanzigfacht. 1885 wurde in Japan Rohbaumwolle im Werte von
über 3 Millionen Mark eingeführt, im Jahre 1898 war diese Einfuhr
auf 93 Millionen Mark gestiegen. Die Einfuhr von Baumwollgarnen
von Europa erreichte ihren Höhepunkt im Jahre 1888, nämlich mit 31
Millionen Kilogramm, fast ausschließlich aus England. 1894, also sechs
Jahre später, war diese Einfuhr auf 10 Millionen Kilogramm gesunken,
und seinerseits exportierte Japan schon im vergangenen Jahre etwa
2½ Millionen Kilogramm nach China. Japan hat sich also in Bezug auf
Baumwollgarne und Stoffe von Europa bereits unabhängig gemacht. Die
Folgen davon sind deutlich zu spüren; in Lancashire arbeiteten 1895
gegen 100 Spinnereien mit Verlust, während jene von Japan 16 bis 25
Prozent Dividende abwarfen. Am empfindlichsten war die Entwickelung
der japanischen Spinnereien für Indien. Im Jahre 1880 wurden von dort
4500 Ballen Baumwollgarne nach Japan eingeführt, 1897 nur mehr 750, und
seither ist die Ausfuhr noch weiter gefallen.

Einen ähnlichen Aufschwung hat die Seidenfabrikation und die
Seidenindustrie genommen, obschon die japanische Rohseide an Güte
sich nicht entfernt mit der chinesischen Seide messen kann. Im Jahre
1889 betrug die Produktion 3½ Millionen Kilogramm, wovon 2¾ Millionen
Kilogramm im Werte von über 100 Millionen Mark ausgeführt wurden; 1894
betrug die Erzeugung über 10 Millionen Kilogramm, die Ausfuhr aber
6¼ Millionen Kilogramm im Werte von 170 Millionen Mark. Das betrifft
nur die Rohseide. Aber auch Seidenstoffe werden in ungeheuren Mengen
ausgeführt, namentlich aus der Provinz Fukui, wo es im Jahre 1890 nur
2200 Webstühle mit 3000 Arbeitern gab. Im Jahre 1894 gab es schon
12500 Webstühle mit 12000 Arbeitern, hauptsächlich Mädchen, die als
Arbeitslohn für das Stück Seide 50 Yen erhalten und den Monat 5 bis 10
Stück weben können. Die Ausfuhr von Seidenstoffen besaß 1885 einen Wert
von 216000 Mark, im Jahre 1898 jedoch 35 Millionen Mark.

Die Teppichindustrie in Sakai, einer kleinen Stadt in der Nähe
von Osaka, beschäftigt über 16000 Arbeiter. Im Jahre 1890 wurden
aus Japan 27000 Teppiche ausgeführt, 1898 bereits 800000, und
heute haben die japanischen Teppiche sogar in England einen ganz
bedeutenden Markt, weniger wegen ihrer Qualität, als wegen ihrer
hübschen, den orientalischen Teppichen nachgemachten Muster und ihrer
großen Wohlfeilheit, ein Drittel bis ein Viertel des Preises der
orientalischen Teppiche.

Eine interessante Statistik betrifft den Aufschwung einer ganzen Anzahl
anderer Industrien, von denen die meisten vor einem Jahrzehnt überhaupt
gar nicht bestanden haben. So z. B. betrug der Wert der Gesamtausfuhr
in Mark im Jahre 1889 140 Millionen, im Jahre 1899 428 Millionen. In
Bezug auf die Waren gestaltete sich die Ausfuhr folgendermaßen:

                           1897      1898      1899
                               in Millionen Yen
    Seide                  55,6      42,0      62,6
    Rohseide in Stücken     9,5      12,0      15,8
    Seidengewebe            9,4       3,5       3,5
    Baumwollengespinst     13,5      20,1      28,5
    Baumwollenerzeugnisse    --       2,6       3,9
    Reis                    6,1       6,0      10,3
    Thee                    7,9       8,6       8,5
    Kohle                  11,6      15,2      15,1
    Kupfer                  5,6       7,3      11,4
    Kamfer                   --       1,2       1,8
    Streichhölzchen         5,6       6,3       5,9
    Matten                  3,3       3,9       3,7
    Porzellan                --       2,0       2,2

Zu den großgewerblichen Erzeugnissen, durch deren Herstellung die
emsigen Japaner den Absatz der europäischen gleichartigen Erzeugnisse
immer mehr beeinträchtigen, ist nunmehr auch noch das Bier getreten.
Die bedeutendste Bierbrauerei in Tokio, die der Nihon-Bakuscha-Kaischa
(zu deutsch: Japanische Biergesellschaft) stand vor etwa sechs Jahren
am Rande des Zusammenbruchs; im Jahre 1895 aber verkaufte sie bereits
7515 Koku (etwa 13500 Hektoliter) Bier, und ihre Aktien stiegen
daraufhin von 40 auf 80 Yen, beziehungsweise von 12½ auf 34 Yen. Nicht
viel schlechter entwickeln sich die andern Bierbrauereien Japans,
woraus der Rückgang der Ausfuhr deutscher Biere nach Englisch- und
Holländisch-Indien, nach Japan, China, den Philippinen, kurz nach
Ostasien, in der Zeit von 1891 bis 1895 von 96000 Hektoliter auf 81000
Hektoliter sich leicht erklärt.

Das Merkwürdigste in dem Aufschwung der japanischen Industrie ist
die Mannigfaltigkeit der Produkte. Mit Ausnahme einer beschränkten
Anzahl ganz spezieller Artikel, vornehmlich was die Chemie betrifft,
wird heute in Japan alles erdenkliche hergestellt, und wenn auch
die Qualität sehr viel zu wünschen übrig läßt, so werfen doch alle
Industriezweige ansehnlichen Verdienst ab. Bedeutende Ausfuhrartikel
sind z. B. Streichhölzer, Papiertapeten (Imitation von gepreßtem
Leder), künstliche Blumen, Laternen, Vorhänge aus Glasperlen,
Schildkrotartikel geworden. Japan hat heute drei große Flanellfabriken,
für welche die Wolle aus Australien importiert wird. Die Fabrik in
Osaka besitzt 250 Webemaschinen und 2000 Spindeln, aus Deutschland und
England bezogen; in Osaka befinden sich ferner Fabriken von Wand- und
Taschenuhren, Zahnbürsten, Unterwäsche aus Papier, Zuckerraffinerien,
Papiermühlen, Druckereien und Schriftgießereien, im ganzen 2600
industrielle Etablissements mit 16000 männlichen und 20000 weiblichen
Arbeitern. Im Maschinenbau sind ebenfalls großartige Fortschritte zu
verzeichnen: die Japaner bauen bereits Lokomotiven, Eisenbahnwaggons,
ja sogar ihre großen Panzerschiffe. Von 19 in den letzten 5 Jahren
angeschafften Kriegsschiffen wurden nicht weniger als 12 auf
japanischen Werften erbaut.

Mit dieser großartigen Entwickelung der Industrie hält auch jene des
Transportwesens gleichen Schritt; die eine läßt sich ohne die andere
nicht denken. Die Eisenbahnen haben innerhalb 27 Jahren um 12250
Prozent zugenommen, der Tonnengehalt der japanischen Dampfer hat in 24
Jahren um 1380 Prozent zugenommen. 1898 besaß Japan bereits 970 Dampfer
mit 273000 Tonnengehalt, dazu 714 Segelschiffe mit 45000 Tonnengehalt.
Schiffe japanischer Bauart besaß es 17000.

Diese ungeahnte und beispiellose industrielle Entwickelung Japans
ist naturgemäß auch auf die Inlandsverhältnisse nicht ohne Einfluß
geblieben. In jeder Hinsicht ist eine Steigerung der Preise
eingetreten; Luxusartikel, wie z. B. Seide, sind im Preise um 30 bis 40
Prozent gestiegen, und ein japanisches Blatt veröffentlichte kürzlich
eine Liste von 22 Artikeln, deren Kaufpreis in den zwei letzten Jahren
um 24 Prozent gestiegen ist. Darunter befinden sich gerade die zum
Lebensunterhalt wichtigsten Artikel, wie z. B. Reis, Gerste, Salz,
Zucker, Brennmaterial, Metallartikel, Baumwollwaren.

Für eine weitere Reihe von Jahren wird sich die japanische Industrie
in demselben Maße wie bisher wohl noch weiter entwickeln, aber mit der
Zeit wird auf dem ostasiatischen Markte selbst Japan ein wichtiger und
gefährlicher Konkurrent entstehen, nämlich China.

Freilich dürften darüber noch viele Jahrzehnte vergehen, und in
diesen wird Japan aus dem chinesischen Handel von allen beteiligten
Staaten den allergrößten Nutzen ziehen, denn es liegt an der Pforte zu
dem chinesischen Reiche und kennt die Verhältnisse, Eigenheiten und
Bedürfnisse des chinesischen Volkes wie kein anderes Industrieland.
Die europäischen Mächte holen den Japanern während jeder Expedition,
an denen sie beteiligt sind, einfach die Kastanien aus dem Feuer. Aber
daran ist nichts zu ändern.

[Illustration: Eisenbahn-Gepäckzettel für Yokohama.]



Dschiudschutsu.


Dschiudschutsu ist ein japanisches Wort, das gewiß nur den
allerwenigsten bekannt sein dürfte. Selbst Leuten, die jahrelang
in Japan gelebt haben, wird es kaum jemals zu Ohren gekommen sein.
Es steht in keinem mir bekannten Buche über Japan, und die einzige
Abhandlung, die ich darüber gesehen habe, befindet sich in den
Transactions of the Asiatic Society. Sie hat Kano Dschigoro, einen der
größten Lehrer des Dschiudschutsu, zum Verfasser.

Aber das fremdartige unbekannte Wort wird gewiß mit der Zeit auch in
Europa immer geläufiger werden, denn Dschiudschutsu ist der Schlüssel
zum japanischen Volkscharakter in seinen Beziehungen zum Ausland, es
ist das Geheimnis der Erfolge des fernen Inselreiches.

Dschiudschutsu heißt etwa: +durch Nachgeben siegen+.

Während die vielen Gebäude der kaiserlichen Hochschule in Tokio
den modernen europäischen Baustil zeigen, steht mitten unter ihnen
auch ein Haus in rein japanischem Stil mit dem Unterschied, daß es
an Stelle der horizontal verschiebbaren Papierfenster Glasscheiben
besitzt. Ueber der Thür dieses langen, niedrigen Gebäudes stehen in
chinesischen Schriftzeichen die Worte Zui-ho-kwan, d. h. „Die Halle
unseres heiligen Landes”. Tritt man in das Innere, so befindet man sich
in einer geräumigen Halle ohne irgendwelche Einrichtungsstücke, nur daß
der erhöhte Fußboden mit dicken, weichen Matten bedeckt ist. Zeitweilig
ist diese Halle mit Studenten gefüllt. In der Mitte des Raumes, auf
den weichen Matten, befinden sich dann vielleicht zehn bis zwölf junge
Leute, nur mit einem dünnen Leibchen bekleidet, die anscheinend, immer
zwei und zwei, im Ringkampf miteinander begriffen sind. Rings um sie
stehen Gruppen von Studenten, welche mit der größten Aufmerksamkeit den
verschiedenen Bewegungen der Ringer folgen. Aber ihr Gesichtsausdruck
ist wie in Stein gegraben. Niemals zeigt sich irgend eine Freude, eine
Teilnahme, niemals wird ein Wort des Beifalls hörbar. Ist ein Zweikampf
zu Ende, dann treten zwei andere junge Leute vor, und so geht es oft
stundenlang bei Grabesstille weiter.

In dieser Halle wird Dschiudschutsu gelehrt. Die vermeintlichen
Ringkämpfe sind nicht solche, wie wir sie üben, und wie sie in England,
Amerika, in der Schweiz und von den professionellen Ringkämpfern auch
in Japan zur Vorführung kommen, sondern die uralte Kunst der Samurai,
der japanischen Kriegerkaste, ohne Waffen zu kämpfen. Häufig wurden sie
auf ihren Reisen, vielleicht im Lager oder zur Nachtzeit, überrascht
und hatten keine Waffen bei der Hand, um ihre Angreifer mit solchen
zu besiegen. Dann brachten sie Dschiudschutsu zur Anwendung, und
gewöhnlich gelang es ihnen, selbst die stärksten Gegner kampfunfähig zu
machen, ja lebensgefährlich zu verwunden, wenn nicht gar zu töten.

Für Dschiudschutsu ist keine besondere Körperkraft erforderlich,
sondern langjährige Uebung, Kaltblütigkeit, Ruhe und die Kenntnis der
menschlichen Anatomie. Schon als Knaben begannen die Samurai sich in
dieser Kunst zu üben, und selbst für den Stärksten, Kräftigsten unter
ihnen war eine siebenjährige fortdauernde Uebung erforderlich, um in
Dschiudschutsu Meister zu werden. Die Geheimnisse dieser Kunst müssen
bei den Samurai auf das strengste gewahrt werden, und auch heute
scheinen ihre Nachfolger unter Eid verpflichtet zu sein, alle Finten
als Geheimnis zu bewahren, weshalb darüber auch nichts oder doch nur
sehr wenig in die Oeffentlichkeit gedrungen ist.

Der Meister des Dschiudschutsu bringt nicht seine eigene Körperstärke
bis zur Ermüdung in den Kampf, sondern er verwendet die Stärke seines
Gegners, um ihn zu besiegen. Er veranlaßt den Gegner zu einem heftigen
Angriffe und weicht diesem geschickt aus, er verleitet den Gegner
vielleicht zu dem Versuche, mit aller Kraft seinen Arm auszurenken,
aber während wir gewöhnlich mit Aufwendung unserer Kraft einem solchen
Versuche entgegenarbeiten, giebt der Meister des Dschiudschutsu
plötzlich geschickt nach, der Widerstand hört auf, und durch die
unwillkürliche Weiterbewegung renkt sich der Gegner seinen eigenen Arm
aus. Für jede Stellung, jeden Angriff giebt es eine derartige Finte,
die nicht auf Stärke, sondern auf Geschicklichkeit und genauester
Kenntnis des menschlichen Körperbaues beruht und die, wenn erfolgreich,
ein ausgerenktes Gelenk oder ein gebrochenes Bein oder ein gebrochenes
Genick zur Folge hat. Der Kenner des Dschiudschutsu siegt nicht durch
den Angriff, sondern, wie das Wort selbst besagt, durch Nachgeben, ja
er thut mehr als das, er unterstützt das Nachgeben durch einen schlau
berechneten Kunstgriff, gegen welchen Stärke allein nicht gewachsen ist.

Es ist schwer, ein für unsere Verhältnisse verständliches Beispiel
davon zu geben. Auch der spanische Stierkämpfer verwendet
Dschiudschutsu und besiegt dadurch den Stier desto leichter, je
stärker und massiger dieser ist. Soll er den Todesstoß ausführen, so
verleitet er das wütende Tier, auf das entfaltete rote Tuch in seiner
ausgestreckten Linken loszustürzen; dann springt er geschickt zur
Seite, ohne daß der massige Stier dieser raschen Bewegung folgen kann,
und stößt ihm den Degen in den Nacken. Das ist auch Dschiudschutsu,
aber lange nicht so fein, so geschickt und kunstvoll wie das
Dschiudschutsu der Japaner, von welchem das, wie es im Zweikampf zum
Ausdruck kommt, nur eine der vielen Verwendungen ist. Dschiudschutsu
ist nämlich nicht allein auf die Abwehr eines persönlichen Angriffes
berechnet, es ist eine ganze Wissenschaft für den Schwachen gegenüber
dem Starken, ein, wie Lafcadio Hearn in einem seiner Bücher sagt,
philosophisches, ein ökonomisches und ethisches System. Es lehrt,
wie man der Kraft nicht Kraft gegenüberzustellen braucht, sondern,
wie man den Angriff leitet und zu eigenen Gunsten verwendet, es
lehrt im Gegensatz zu den geraden Wegen des Abendländers die krummen
Wege des Orientalen, und es ist demnach beinahe der Ausdruck
eines Rassengeistes, der von den in Ostasien interessierten Mächten
verstanden werden muß, wenn sie dem Japaner erfolgreich gegenübertreten
wollen.

[Illustration: Großes Eingangsthor zum Honganitempel in Nagoya.]

Wie der einzelne Samurai Dschiudschutsu benutzt, so war das ganze
Auftreten der Japaner gegenüber dem Auslande bisher nichts weiter
als Dschiudschutsu. Man wird es in der ganzen Geschichte des letzten
Jahrzehntes als den Grundton der japanischen Politik vorfinden, und ist
Japan aus seinen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Krisen
bisher erfolgreich hervorgegangen, so hat es dies hauptsächlich gerade
diesem, den japanischen Staatsmännern so geläufigen Dschiudschutsu zu
danken.

Welcher Japanschwärmer (und Europa hat deren so viele!) hätte nicht
vor zwei Jahrzehnten mit Bestimmtheit darauf gerechnet, Japan würde
die abendländische Kultur in Bausch und Bogen annehmen, nicht nur die
Industrie, Verkehrsmittel und Wissenschaften, sondern auch die Moral,
und vor allem das Christentum? Wer hätte nicht darauf gerechnet, die
Japaner würden mit der europäischen Kleidung auch europäische Sitten
annehmen, ihr Land den Europäern öffnen, europäisches Kapital durch
Gewährung günstiger Bedingungen heranziehen, um seine natürlichen
Hilfsquellen zu entwickeln? Man hielt die Japaner für so aufgeweckt,
so intelligent, so ehrlich und gerade, daß man auf das Entstehen eines
europäischen Kulturstaates in Ostasien hoffte, man half ihnen ~bona
fide~ in jeder Hinsicht, man hielt ihnen sozusagen die Leiter, damit
sie leicht und bequem emporklettern konnten. Es war aber alles im
Grunde genommen nur Dschiudschutsu, ein Spielen der Schwachen mit den
Kräften der Stärkeren, ein rücksichtsloses Ausbeuten dieser Stärkeren
zur Förderung ihrer eigenen nationalen Bestrebungen, ein Kampf zwischen
den Orientalen und den Europäern, bei welchem die letzteren einfach an
der Nase herumgeführt wurden. Es wäre gut, das in allen Einzelheiten
aufzudecken, als Warnung für die Zukunft. Besonders für das Deutsche
Reich ist es von Wichtigkeit, jetzt, nachdem dasselbe in Ostasien
festen Fuß gefaßt hat und nicht nur in China, sondern auch im Stillen
Ozean der Nachbar von Japan geworden ist.

Man halte sich doch ein wenig das Werden des modernen Japan vor Augen:
überallhin hat es seine äußerlich so bescheidenen, liebenswürdigen und
zutraulichen Sendboten ausgesandt, um Industrieen, Wissenschaften,
Armeen zu studieren, ohne daß man dabei etwas anderes vermutete als den
guten Willen, sich ganz auf die europäische Kulturstufe emporzuheben.
Ja, einer der besten Kenner des fernen Ostens, der frühere englische
Gesandte Sir Harry Parkes, berichtete an seine Regierung, Japan thäte
dies alles nur aus Nachahmungsgeist, ohne ernste Ziele, und es würde
sich aus Japan eine Art südamerikanische Republik entwickeln!

Was geschah in Wirklichkeit? Japan holte sich alle unsere modernen
Erfindungen und Entdeckungen, es prüfte alle Systeme, die es
vorfand, und nahm sie im eigenen Lande nicht etwa gerade so auf,
nein, es verwendete sie nur so weit, als sie zur Förderung seiner
Starke nötig waren. Es benutzte Europa, wie gesagt, als eine
Stufenleiter, über welche es hinwegschritt, um an die Spitze des
fernen Orients emporzugelangen. So ist das heutige Japan als Nachbar
der deutschen Kolonien in Ostasien nicht etwa, wie man gehofft
hatte, ein europäisches Kulturreich, sondern trotz seiner modernen
Armee, trotz seinen Eisenbahnen, Telegraphen und Maschinen ebenso
orientalisch, ebenso japanisch, wie vor Jahrhunderten. In dem Kampfe,
der sich zwischen den europäischen Großmächten und außereuropäischen
selbständigen Reichen seit geraumer Zeit abspielt, sind die meisten
der letzteren unterlegen, Japan allein ist es geglückt, die Kräfte des
Stärkeren auszunützen, um selbst stark aus dem Kampfe hervorzugehen. Es
hat einfach das wunderbare, ihm eigene System der Selbstverteidigung
angewendet, das nationale Dschiudschutsu.

Ich habe im Laufe der letzten Jahre unzählige Male Gelegenheit
genommen, in Zeitungen und Vorträgen auf diese eigentümliche Wandlung
Japans, also stets innerhalb des Rahmens seiner nationalen Eigenart,
hinzuweisen. Japan ist ganz Japan geblieben und wird auch Japan
bleiben. Man entgegnete mir, beispielsweise in Bezug auf die Kleidung,
die Regierung hätte doch die europäischen Trachten eingeführt, der
Kaiser sei mit gutem Beispiel vorangegangen, und er besitze eine solche
Machtfülle und Autorität, daß die Japaner gewiß binnen kurzem seinem
Beispiel folgen würden. Man rechnete auf einen ungeheuren Markt von
Kleidern, Stiefeln, Hüten, Wäsche und dergleichen in Japan, und ich
erhielt selbst zahlreiche Anfragen von Kaufleuten und Industriellen
in Bezug auf diese kommenden „großen Geschäfte”. Es war alles nur
Dschiudschutsu, alles Schein. Die abendländischen Trachten sind für
Japan geradezu unmöglich und undenkbar. Der Japaner hätte nicht nur
seine eigenen Füße in die engen Lederstiefel zu zwängen, sondern ich
möchte sagen auch seine ganze Lebensweise, er müßte sein Hauswesen,
die Einrichtung seiner Wohnung von unterst zu oberst stürzen. Seine
schlafrockartige Nationalkleidung, der Kimono, gestattet ihm, direkt
auf dem Boden niederzuhocken; er bedarf deshalb auch keiner Stühle,
keiner Tische; seine nationale Kleidung ist auch im Winter warm genug,
um ihm den Ofen entbehrlich zu machen. Die so leicht abzustreifenden
Holzsandalen gestatten ihm, in seinem Hause in Socken einherzugehen
und demnach den Fußboden mit feinen weißen Matten zu bekleiden. Die
Einführung der Stiefel würde Dielen oder Parkettböden zur Folge
haben, die Einführung von europäischen Kleidern Oefen zum heizen der
Wohnungen, die Oefen würden wieder die feuergefährlichen Holz- und
Papierwände unmöglich machen.

Die europäischen Hosen gestatten kein Niederkauern auf die Waden;
es müßten nun in allen Haushaltungen Stühle und damit auch Tische
eingeführt werden. All das wäre gleichbedeutend mit dem Umbau oder
vielmehr Niederreißen der bisherigen Wohnhäuser und dem Aufbau, der
Einrichtung neuer Häuser. Wo aber sollten die fünfundvierzig Millionen
Japaner, im ganzen großen ein armes Volk, das Geld hernehmen, um nicht
nur neue Kleider zu kaufen, sondern auch neue Wohnhäuser zu bauen?
Wer sich das vor Augen hält, der sieht, wie unsinnig die Hoffnung der
Japanenthusiasten in dieser Hinsicht war.

Aber selbst in den Hofkreisen und in den Regierungsämtern ist die
europäische Tracht nur im öffentlichen Dienste eingeführt. Als ich die
Ehre hatte, vom Kaiser in Privataudienz empfangen zu werden, hörte
ich, daß er zu diesem Zwecke die europäische Militäruniform erst
anlegte, vor und nach der Audienz trug er, wie in seinen Privaträumen
überhaupt, den Kimono. Der Minister des Aeußern empfing mich in
seinem Bureau im Ueberrock nach abendländischen Schnitt; als ich ihn
einige Stunden später im Klub traf, trug er den Kimono. Als ich nach
Korea reiste, stiegen mit mir eine Anzahl gestiefelter und gespornter
Kavallerieoffiziere, den Säbel zur Seite, den Revolver im Gürtel, auf
das Schiff, um sich zu ihren Truppenkörpern an die Front zu begeben.
Eine halbe Stunde später kamen sie, ihre sonst nackten Körper nur mit
einem Kimono bekleidet, die nackten Füße in Sandalen steckend, aufs
Verdeck. In der Reichshauptstadt tragen die Beamten nur in ihren modern
europäisch eingerichteten Aemtern europäische Kleidung; zu Hause und
im Privatleben kleiden sich nicht nur sie, sondern auch alle Generale
und Admirale und Polizeikommissare gut japanisch. Sonst haben nur
noch die Aerzte, Studenten und eine kleine Klasse von eingefleischten
Reformfreunden unsere Kleidung. Die großen Massen der Japaner aber,
von tausend neunhundertneunundneunzig, sind urjapanisch geblieben. Als
ich mich erkundigte, warum in den Aemtern überhaupt unsere Kleidung
getragen würde, antwortete man mir: des guten Eindruckes wegen, im
Verkehr mit Diplomaten, Ausländern und dergleichen. Also wieder
Dschiudschutsu.

Es geschieht aber nicht nur aus ökonomischen und
Bequemlichkeitsgründen, wenn die Japaner an ihrer altjapanischen
Kleidung festhalten, es geschieht aus Nationalstolz und gleichzeitig
aus Mißachtung der Ausländer, um nicht zu sagen Haß gegen dieselben.
Sonst würde man doch in den geöffneten Häfen, in Yokohama, Nagasaki,
Kobe, wenigstens vereinzelt europäisch gekleidete Japaner und
japanische Häuser im europäischen Baustil antreffen. Aber auch dort
sind ausschließlich die Fabriken, Arsenale, Brauereien, Post- und
Zollämter notwendigerweise im europäischen Baustil, alles andere
ist trotz dem innigen Verkehr und Beisammenleben mit den Europäern
urjapanisch: Baustil, Kleidung, Religion, Festlichkeiten, Sitten und
Gebräuche.

Aehnlich ist es mit der Moral gegangen. Wir betrachten die Monogamie
als unzertrennlich von der europäischen Kultur. Die Japaner nahmen sich
aber von dieser nur, was sie davon brauchen konnten. Die Monogamie
paßte nicht zu ihren Sitten, und so sind sie Polygamisten geblieben,
vom Kaiser abwärts. Die Geishamädchen, die leichtfertigen Yoshiwaras,
der Verkauf der Töchter durch die Eltern, alles ist noch beim alten.
Was den Japanern paßte, war die Unterstellung der Yoshiwaras unter
die Sitten- und Sanitätspolizei, und deshalb wurde sie eingeführt.
Wie elastisch die berühmte „europäische Kultur” der Japaner in Bezug
auf die Moral ist, dafür genügt die folgende Notiz, welche noch 1897
die Runde durch die europäischen Blätter machte: „Die japanische
Regierung erteilt jetzt in Menge armen Eltern die Erlaubnis, ihre
Töchter zu verkaufen, damit die Familien Brot in das Haus bekommen.
Die zur Zeit in Japan herrschende Hungersnot ist so furchtbar, daß die
Regierung diesen schmachvollen Handel sogar ermutigt. Für die Eltern
jedes Opfer zu bringen, um sie vor Entbehrungen zu bewahren, ist in
Japan etwas Selbstverständliches. Das Mädchen verkauft sich als zweite
Frau an einen reichen Japaner. Ihr Alter muß mindestens zwölf Jahre
betragen. Der Kaufpreis beträgt jetzt nur fünfundzwanzig Frank, unter
gewöhnlichen Verhältnissen aber tausend Frank. Der Kaufkontrakt wird
gerichtlich abgeschlossen. Nach drei Jahren muß der Käufer das Mädchen
freilassen, sobald das Geld, welches er für dasselbe verwendet hat,
ihm zurückgezahlt ist, und nach sechs Jahren ist das Mädchen überhaupt
wieder frei ohne irgend welche Zurückzahlung.”

Ebensowenig, wie ohne Moral, können wir uns die europäische Kultur ohne
Christentum denken. Aber die Japaner stehen diesem nicht nur feindlich
oder doch vollkommen gleichgültig gegenüber, sie sind überhaupt trotz
Buddhismus und Shintoismus kein religiös angelegtes Volk. Als im Jahre
1549 einer der größten Apostel der katholischen Religion, der heilige
Franziskus Xaverius in Kagoschima auf der Insel Kiushiu landete, war
allerdings Aussicht vorhanden, die Japaner zum Christentum zu bekehren,
denn vor allem war der heilige Eifer und die Ueberzeugungskraft dieses
erfolgreichsten aller Missionare des Christentums unwiderstehlich;
überdies benutzten die Heerführer der zwei großen damaligen
Daimioparteien, der Minamoto und Taira, das Christentum für ihre
politischen Zwecke, und der gelehrte Japanforscher Ernest Satow führt
als weiteren Grund ein historisches Dokument des Daimio von Yamagutschi
an, in welchem dieser den katholischen Missionaren Konzessionen
erteilt, damit „sie die Religion des Buddha predigten”, denn in ihrer
Unwissenheit betrachteten die Japaner damals die christliche Lehre als
eine höhere Form des Buddhismus.

Die schreckliche Niedermetzelung der Christen im siebzehnten
Jahrhundert ist bekannt, und seither ist das Christentum in Japan
nicht mehr wiedererstanden. Wohl gestattete Japan später wieder die
Religionsfreiheit, aber doch nur aus Gründen des Dschiudschutsu. Die
Regierung konnte den europäischen Mächten gegenüber in dieser Hinsicht
keinen Widerstand entgegensetzen, wollte sie als Regierung eines
Kulturstaates gelten, und sie konnte um so leichter die Missionare ins
Land lassen, als sie wußte, daß, um nur ein Beispiel hervorzuheben,
die christliche Lehre, welche es dem Gatten gebietet, Vater und Mutter
zu verlassen, um dem Weibe zu folgen, mit den Grundgesetzen der
japanischen Kultur in allerdirektestem Widerspruch steht und auf großen
Erfolg der Missionare also nicht zu rechnen war. Wieder Dschiudschutsu,
durch Nachgeben siegen. Die Regierung hatte richtig gerechnet. Nur
die katholische Religion mit ihren 92 Missionaren hat verhältnismäßig
Erfolg, denn trotz der geringen Mittel, die den letzteren zu Gebote
stehen, haben sie doch eine Gesamtzahl von etwa 50000 Katholiken im
Lande. Hätte die Regierung wirklich die Absicht gehabt, aus Japan einen
europäischen Kulturstaat zu machen, sie hätte das Christentum als
Staatsreligion einführen können, aber statt den europäischen Glauben
führte sie im Gegenteil den altjapanischen heidnischen Glauben, Shinto,
als Staatsreligion ein und läßt nicht nur dem Kaiser, sondern auch den
Bildnissen des Kaisers dieselbe Verehrung vom Volke zu teil werden, wie
einem Gott. Wie die Japaner in dieser Hinsicht den europäischen Mächten
und deren Gesandten in Tokio scheinbar nachgaben und dabei doch ihre
eigene Stellung stärkten, so geschah es auch mit der Eröffnung ihres
Landes für europäischen Handel und Industrie. Alles nur Dschiudschutsu,
bei welchem nicht nur politische Schachzüge, sondern auch vornehmlich
Rasseninstinkt mitwirkten.

Japanenthusiasten frohlocken über den vermeintlichen Einzug der
europäischen Kultur in Japan. Herrscht diese irgendwo in einem
Staate, so gilt es wohl als selbstverständlich, daß dieser Staat
den fremden Touristen, Kaufleuten und Industriellen und dazu auch
ihren Unternehmungen geöffnet ist. Könnte man sich etwa England oder
Frankreich denken, mit verschlossenem Inland und nur fünf oder sechs
Häfen, in welchem Ausländer wohnen und Handel treiben dürfen? Genau
dasselbe that aber Japan, und doch verstand es, überall den Glauben
an seine europäische Kultur zu erwecken. Seine Emissäre, Studenten,
Beamten durchzogen frei und ungehindert die ganze Welt, das eigene
Inland aber blieb dieser Außenwelt verschlossen. Der Grund war, wie
gesagt, Rasseninstinkt, der sich zuweilen auch bei uns, aber nur
untergeordneten Rassen gegenüber, geltend macht. So verschlossen
sich Amerika und Australien der chinesischen Einwanderung, weil die
Chinesen den Kaukasier in den Lebensbedingungen unterbieten und bei
ungehinderter Einwanderung den Kaukasiern von unten herauf Konkurrenz
machen könnten. Die Japaner haben den Spieß umgedreht. Der Kaukasier
überbietet in seinen Lebensbedingungen den Orientalen, er bringt ihm
von oben herab Konkurrenz, gelangt durch seinen Reichtum, sein Wissen,
seine Energie, seine positiven Eigenschaften zur Herrschaft, wie
der Chinese etwa gewissermaßen durch seine negativen Eigenschaften.
Das erkannten die Japaner, oder fürchteten es wenigstens, und bei
ihrem ausgesprochenen Nationalstolz traten demgegenüber alle anderen
Rücksichten, die Erschließung der natürlichen Hilfsquellen Japans
durch Europäer, die Hebung des nationalen Reichtums, die Erhöhung
der Einnahmen und dergleichen, in den Hintergrund. Die Japaner haben
gesehen, daß, wo immer Europäer in einem außereuropäischen Lande freie
Hand bekamen, dieses Land früher oder später seine Selbständigkeit
verlor, und deshalb hielten sie ihr Land verschlossen, bis ihre eigenen
Einwohner in politischer, kommerzieller und industrieller Hinsicht
selbständig geworden waren und das Heft demnach in Händen hielten.
Europäische Lehrmeister halfen ihnen dazu auf jedem einzelnen Gebiete,
und wußten die Japaner, was sie wissen wollten, dann wurden die
europäischen Lehrer entlassen und aus dem Lande geschickt.

Nun konnte dem Druck der Mächte in Bezug auf die Aufschließung des
Landes nachgegeben werden, aber auch nur mit Dschiudschutsu, welches
dieses Nachgeben in einen glänzenden Sieg für Japan verwandelte. Das
Land wurde geöffnet, Ausländer dürfen im Inlande wohnen und Handel
treiben, sie mußten aber dazu ihre eigene Gerichtsbarkeit aufgeben und
sich der japanischen Gerichtsbarkeit unterwerfen. Ihre bisher ihnen
gehörigen Landkonzessionen in den offenen Häfen fallen an Japan zurück;
sie dürfen in Japan keinen Grundbesitz käuflich erwerben, sondern nur
auf eine gewisse Zeit mieten, und nach dem Tode des Mieters fallen
die Grundstücke auch vor Ablauf der Mietzeit an Japan zurück. Der
Küstenhandel ist ihnen nicht gestattet, selbst nicht mit einigen der
bisher offenen Häfen, und aller Handel der Ausländer wird empfindlich
besteuert.

Auf diese Art wird den Europäern in Japan kein besonders verlockender
Aufenthalt geboten, ja der Vertrag ist eher geeignet, die dort seit
Jahren und Jahrzehnten ansässigen Europäer aus Japan zu vertreiben.
Ihr Handel mit den Japanern war nur durch ihre gesicherte Stellung und
im Schutze ihrer eigenen europäischen Gerichte halbwegs einträglich.
Nun sollen sie sich den japanischen Richtern unterwerfen? Wohl nur
ein Bruchteil dürfte sich dazu entschließen. Japan hat sein Land
den Europäern erschlossen, aber so, daß es von diesen in Zukunft
voraussichtlich mehr verschont bleiben wird als bisher. Wieder
Dschiudschutsu, durch Nachgeben siegen.

England war es diesmal, das sich zuerst übertölpeln ließ; die
anderen Mächte folgten, obschon die Notwendigkeit dafür keineswegs
selbstverständlich erscheint.

Sechzehn Mächte mit sechzehn Gesandten standen den Japanern gegenüber,
aber das japanische Dschiudschutsu half diesen über alle Argumente
hinweg und gab ihnen die vollständige Unabhängigkeit und Gleichstellung
mit den ersten Mächten der Erde, ohne daß sie dafür irgend etwas
geopfert hätten, ja im Gegenteil, sie eroberten sogar alle Verluste und
Nachteile ihrer früheren Verträge zurück.

Diese politischen Siege wurden durch den erfolgreichen Krieg mit
China erheblich gestärkt, er hat den Japanern Zuversicht in ihre
militärische, den Europäern abgelauschte Organisation gegeben, er
hat das Nationalgefühl gehoben, die Parteien dem Auslande gegenüber
geeinigt, so daß Japan schon heute auf weitere Erwerbungen in Asien,
auf festeres Auftreten gegenüber den europäischen Mächten spekuliert.
Nichts bringt dies klarer zum Ausdruck als eine damalige Rede des
früheren Ministers des Auswärtigen, Graf Okuma, in der es heißt:

„Die europäischen Mächte zeigen bereits Anzeichen des Verfalles,
und das kommende Jahrhundert wird Zeuge sein von der Zertrümmerung
ihrer Verfassung und dem Auflösen ihrer Reiche. Selbst wenn das nicht
eintreten sollte, werden ihre Hilfsquellen durch die erfolglosen
Versuche zur Kolonisation aufgebraucht sein. Wer soll dann ihr
Nachfolger werden, wenn nicht wir? Welcher Staat, ausgenommen
Deutschland, Rußland, Frankreich, Oesterreich und Italien, kann binnen
einem Monat 200000 Mann ins Feld stellen? In Bezug auf intellektuelle
Kraft ist der Japaner den Europäern in jeder Hinsicht gewachsen, ja,
noch mehr. Haben die Japaner nicht die Vervollkommnung einer Erfindung
zuwege gebracht, welche den Europäern trotz jahrelanger Arbeit nicht
gelang? Unser Volk setzt durch die Vorzüge seiner Arbeit sogar das
erste Arbeitsvolk, die Franzosen, in Erstaunen. Wahr ist es, unser
Volk ist klein von Statur, aber die Ueberlegenheit des Körpers beruht
nicht auf der Größe, sondern auf der Konstitution. Ist die Revision
der Verträge vollzogen, und hat Japan China besiegt, dann sollten wir
eine der ersten Großmächte der Welt werden, und keine andere Macht
könnte sich in irgend eine Unternehmung einlassen, ohne zuerst uns zu
befragen. Japan könnte dann mit Europa in Wettbewerb treten als der
Vertreter der orientalischen Rassen.”

Diese Sätze geben viel zu denken, zumal die für Europa so ungünstigen
Vertragsbestimmungen zur Einführung gekommen sind, und der Krieg mit
China in der That den Japanern die leitende Stellung in Ostasien
gegeben hat. Schon denkt es an das von Okuma angedeutete, wenn nicht
klar ausgesprochene Zusammengehen der orientalischen Rassen, denn
erst kürzlich drang die Nachricht zu uns nach Europa, daß Japan sich
um den Abschluß eines Bündnisses mit China bemüht. Dieses ist durch
das Einschreiten Rußlands vorläufig verhindert worden, aber schon
der Versuch allein sollte dem Europäer zu denken geben. Schon haben
beachtenswerte Gelehrte wiederholt die Ansicht ausgesprochen, daß
unser Erdball niemals ganz durch das Abendland beherrscht werden wird
und daß die Zukunft den orientalischen Rassen gehört, und wer diese
letzteren, vor allem die Japaner und die Chinesen, kennen gelernt hat,
der wird solche Ansichten leider nicht ohne weiteres von der Hand
weisen können. Darüber, daß die europäischen Völker den orientalischen
weitaus überlegen sind, herrscht wohl nirgends ein Zweifel, ebenso
wahr ist es aber auch, daß die orientalischen Völker die fähigsten
zum Ueberleben sind. Schon in der gewöhnlichen Lebenskraft stehen die
abendländischen Völker weit hinter den Orientalen zurück. Die letzteren
haben sich unsere so teuer erkauften Erfindungen und Errungenschaften
ohne irgend welche Gegenleistung angeeignet und verwenden sie, ohne
auch nur entfernt unsere Bedürfnisse zu haben. Der Lebensunterhalt
eines Abendländers genügt für mindestens ein Dutzend Orientalen. Unser
Lebens- und Ernährungsprozeß ist viel zu kostspielig, als daß wir
in einem künftigen Wettlaufe mit den jetzt schon viel zahlreicheren
Orientalen dort ganz sicher als Sieger hervorgehen sollen. Gerade in
den künstlichen und kostspieligen Verhältnissen, welche mit unserer
Ueberlegenheit verbunden sind, liegt unsere Schwäche. Wohl wird
demgegenüber entgegnet, daß, je mehr die Orientalen sich unserer Kultur
ergeben, auch ihre Bedürfnisse sich in demselben Maße steigern werden,
wie es thatsächlich schon in Japan der Fall ist. Aber bleiben wir denn
in dieser Hinsicht stehen? Steigern sich nicht auch vielleicht in noch
größerem Verhältnis unsere Bedürfnisse? Man braucht nur an die Zeit
unserer eigenen Väter zu denken, um zu sehen, wie sich unsere ganzen
Lebensbedingungen verbessert, aber auch entsprechend verteuert haben,
und wird das, wie bisher, nicht auch in Zukunft der Fall sein?

Die durch die Verträge mit Japan anerkannte Gleichstellung der
Europäer mit den Japanern, die Unterstellung der ersteren unter die
Gesetze der letzteren, die vermehrten Handelsbeziehungen mit Ostasien,
die immer steigende industrielle Thätigkeit des Abendlandes und
dementsprechend auch das Bedürfnis immer größerer Absatzgebiete, die
Erwerbung von Kolonien in China und im Stillen Ozean und damit auch die
gefährliche Nachbarschaft eines Reiches wie Japan bringt die vorhin
ausgesprochenen Fragen der Gegenwart immer nachdrücklicher vor Augen.
Nicht nur Ostasien ist in den Vordergrund gerückt, auch die Ostasiaten
sind es, und es ist deshalb keineswegs zwecklos, noch einmal in die
Warnungstrompete zu stoßen. Ein bißchen weniger Vertrauensseligkeit
in Bezug auf die Orientalen wäre gewiß von größtem Nutzen. Man hat
bisher wohl sehr viel mit den ostasiatischen Reichen sich beschäftigt,
aber wenig mit dem eigenartigen, verschlossenen, schwer zu erfassenden
Charakter ihrer Völker.



Verzeichnis der vom Verfasser benutzten Werke.


    ~S. Wells Williams „The Middle Kingdom”.
    C. F. Gordon Cumming „Wanderings in China”.
    Archdeacon Moule „New China and old”.
    Chester Holcombe „The real Chinaman”.
    Dyer Ball „Things chinese”.
    W. Spencer Percival „The Land of the Dragon”.
    Knollys „English Life in China”.
    Leon Rousset „A travers la Chine”.
    Eugen Simon „La Cité chinoise”.
    Griffis „The Mikado’s Empire”.
    Douglas Sladen „The Japs at home”.
    W. T. Finck „Lotostime in Japan”.
    Henry Normann „The Real Japan”.
    Chamberlain „Things Japanese”.
    Alice Bacon „Japanese girls and woman”.
    Alice Bacon „A Japanese Interior”.
    de Riseis „Giappone moderno”.
    Morse „Japanese Homes”.
    Knollys „Sketches of Life in Japan”.
    Scydmore „Jinrikishaw days in Japan”.
    Ch. Loonen „Le Japon moderne”.
    Comte Dalmas „Les Japonais”.
    „Ostasiatischer Lloyd”.
    „Pekinger Staatszeitung”.
    „North China Daily News”.
    „North China Herald”.
    „Eastern World” „Japan Daily Mail”.
    Ernst v. Hesse-Wartegg „Schantung und Deutsch-China” (Leipzig,
        J. J. Weber).
    „Journal of the China Branch of the Royal Asiatic Society”.~


Die chinesischen Illustrationen wurden großenteils nach
photographischen Aufnahmen des Verfassers, ferner nach Photographien
von D. K. Griffith in Hongkong, Kae Hing in Hongkong und Sze Yuen
Ming & Co., 42 Nanking Road, Shanghai hergestellt. Besonders das
letztgenannte Haus besitzt eine sehr große Auswahl chinesischer
Photographien zu billigen Preisen und kann besonders empfohlen werden.
-- Die Photographien für die japanischen Illustrationen wurden
teilweise von Kelly & Walsh, Buchhändler, Yokohama bezogen.



Verzeichnis geographischer Werke des Verfassers.


+Siam+, das Reich des weißen Elefanten. Leipzig, J. J. Weber,
1899. Preis 15 Mark.

+Schantung und Deutsch-China.+ Leipzig, J. J. Weber, 1899. Preis
14 Mark.

+Korea+, eine Sommerreise in das Land der Morgenruhe. Leipzig,
Carl Reißner. Preis 7 Mark.

+Tausend und ein Tag im Occident.+ Leipzig, Carl Reißner. 2 Bände.
2. Auflage. Preis 6 Mark.

+Kuriosa aus der Neuen Welt.+ Leipzig, Carl Reißner. Preis 5 Mark.

+Andalusien+ und ein Ausflug nach Marokko. Leipzig, Carl Reißner.
Preis 8 Mark.

+Mississippifahrten.+ Reisebilder aus dem amerikanischen Süden.
Leipzig, Carl Reißner. Preis 8 Mark.

+Prairiefahrten.+ Leipzig, Gustav Weigel. Preis 3 Mark.

+Nordamerika+, seine Städte und Naturwunder, Land und Leute. 2.
Auflage. 4 Bände. Leipzig, Gustav Weigel. Preis 20 Mark.

+Canada und Neufundland.+ Freiburg i. B., Herders Verlag. Preis 8
Mark.

+Mexiko+, Land und Leute. Wien, C. Hölzels Verlag. Preis 10 Mark.

+Tunis.+ Wien, Hartlebens Verlag. Preis 8 Mark.

+Chicago+, eine Weltstadt im amerikanischen Westen. Stuttgart,
Union, Deutsche Verlagsanstalt. Preis 4 Mark.


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.


Druck von J. J. Weber in Leipzig.



Verlag von J. J. Weber in Leipzig


Schantung und Deutsch-China

Von Kiautschou ins heilige Land von China und vom Jangtsekiang nach
Peking. Von =E. v. Hesse-Wartegg=.

Mit 145 in den Text gedruckten und 17 Tafeln Abbildungen, 6
Beilagen und 3 Karten. Preis kartoniert 14 Mark. In Originaleinband
(mandarinblaues Leder mit aufgepresstem Mandarinbrustschild in Gold,
Silber und vier Farben) 18 Mark.


Ernst v. Hesse-Wartegg konnte dem deutschen Leser keine willkommenere
Gabe bringen als das Ergebnis seiner neuesten Reise nach China. Kein
Land des Erdballes steht heute so sehr im Vordergrunde der allgemeinen
Aufmerksamkeit wie das Reich der Mitte. Kein Land ist für den deutschen
Leser, aber ebenso auch für den deutschen Kaufmann, den Industriellen,
den Soldaten und Seemann von so grosser Wichtigkeit. Die Erschliessung
Chinas, die Ernst v. Hesse-Wartegg seit Jahren in Zeitungsartikeln und
zahlreichen Vorträgen befürwortet hat, ist erfolgt. Das Deutsche Reich
hat sich in thatkräftiger Weise seinen Anteil daran gesichert und mit
Kiautschou eine Eingangspforte, einen Stützpunkt gewonnen, der für
die Entwickelung der deutschen Beziehungen in Ostasien von grösster
Wichtigkeit ist.



Norddeutscher Lloyd, Bremen

Dampfschiffahrts-Gesellschaft.


Der Norddeutsche Lloyd unterhält ausser regelmässigen Schnell- und
Postdampferverbindungen nach Nord- und Südamerika folgende


Reichspostdampferlinien:

  a) ~Bremen -- Ostasien.~ Reiseweg: Bremen bezw. Hamburg, Rotterdam,
    Antwerpen, Southampton, Genua, Neapel, Port-Said, Suez, Aden,
    Colombo, Penang, Singapore, Hongkong, Shanghai, Nagasaki, Hiogo,
    Yokohama (direkt). Abfahrten alle 14 Tage Dienstags oder Mittwochs.

  b) ~Bremen -- Australien.~ Reiseweg: Bremen, Antwerpen, Southampton,
    Genua, Neapel, Port-Said, Suez, Aden, Colombo, Freemantle,
    Adelaide, Melbourne, Sydney. Abfahrten alle 4 Wochen, abwechselnd
    mit der ostasiatischen Linie.


Zweiglinien:

  a) ~Singapore, Batavia, Macassar, Neu-Guinea, Sydney.~ Alle 12 Wochen
    anschliessend an die entsprechenden Dampfer der ostasiatischen
    Hauptlinie.

  b) ~Hongkong -- Sydney.~ Reiseweg: Hongkong, Saipan (Marianneninseln),
    Ponape (Karolineninseln), Neu-Guinea, Rockhampton, Brisbane,
    Sydney. Alle 12 Wochen anschliessend an die entsprechenden Dampfer
    der Hauptlinien.


Anschlussverbindungen:

    Penang -- Deli
    Penang -- Rangoon
    Singapore -- Deli
    Singapore -- Bangkok
    Singapore -- Borneo
    Singapore -- Batavia
    Hongkong -- Swatow
    Hongkong -- Bangkok
    Shanghai -- Hankow
    Shanghai -- Kiautschou
    Shanghai -- Tschifu
    Shanghai -- Tsientsin.

  ~Bremen -- Ostasien~, Frachtdampferlinie. Abfahrten laut besonderem
    Fahrplan.

Nähere Auskunft erteilt der =Norddeutsche Lloyd, Bremen=.



[Illustration]

Verlag von J. J. Weber in Leipzig

Siam

das Reich des weissen Elefanten von =E. v. Hesse-Wartegg=.

Mit 120 in den Text gedruckten und 18 Tafeln Abbildungen, sowie einer
Karte von Siam. Preis geheftet 12 Mk., in Originaleinband 15 Mk.

Das ganze Wunderland des weissen Elefanten, die feenhafte Pracht
seines Königshofes, die fremdartigen an die Märchen aus „Tausend und
eine Nacht” erinnernden Festlichkeiten, das Leben und Treiben der
Siamesen, der seltsame Buddhistenkultus mit seinen Hunderttausenden von
Priestern, die grauenhaften Totengebräuche, Aberglaube, Geisterfurcht
und Gottesgerichte, daneben Jagden, Theater und Vergnügungen, alles
das wird von Hesse-Wartegg mit Meisterhand in fesselndster Weise
dargestellt; dann folgen Schilderungen der Landesprodukte, des Handels
und Verkehrs und hochwichtige Bemerkungen für die Sicherung und
Ausbreitung des deutschen Handels.

[Illustration]



    HAMBURG-AMERIKA-LINIE

    Direkter deutscher Post- und Schnelldampferdienst.

    [Illustration]

        Hamburg-Neuyork         Hamburg-Mexiko
        Hamburg-Frankreich      Hamburg-Canada
        Hamburg-Belgien         Hamburg-Ostasien
        Hamburg-England         Hamburg-Nordbrasilien
        Hamburg-Portland        Genua-La Plata
        Hamburg-Baltimore       Stettin-Neuyork
        Hamburg-Boston          Neuyork-Mittelmeer
        Hamburg-Philadelphia    Neuyork-Ostasien
        Hamburg-Galveston       Neuyork-Westindien
        Hamburg-New-Orleans     Orientfahrten
        Hamburg-Venezuela       Nordlandfahrten
        Hamburg-Westindien

    ferner mit den Dampfern der Deutschen Ostafrika-Linie:
      =Hamburg-Ostafrika=

    und mit den Dampfern der Hamburg-Südamerikanischen D.-G.:
      =Hamburg-Brasilien, Hamburg-Argentinien, Hamburg-Uruguay.=

    Hamburg-Neuyork via Southampton und Cherbourg
      Schnelldampferdienst.

    Nähere Auskunft erteilt die

    HAMBURG-AMERIKA-LINIE, Abteilung Personenverkehr
    Hamburg, Dovenfleth 18-21

    sowie deren Vertreter.



[Illustration: OST-ASIEN.]





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