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Title: Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche - Eine praktische Studie
Author: Göhre, Paul
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche - Eine praktische Studie" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1891 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und
    regional gefärbte Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
    unverändert.

    Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter der Übersichtlichkeit
    halber an den Anfang des Textes verschoben. Die Fußnote wurde an
    das Ende des betreffenden Abschnitts gesetzt.

    Das Original wurde in Frakturschrift gedruckt. Besondere
    Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit den
    folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

        Fettdruck:        =Gleichheitszeichen=
        gesperrt:         +Pluszeichen+
        Antiqua:          ~Tilden~

  ####################################################################



                      Drei Monate Fabrikarbeiter

                            [Illustration]



                      Drei Monate Fabrikarbeiter


                                  und

                           Handwerksbursche


                        Eine praktische Studie

                                  von

                              Paul Göhre

                       Kandidaten der Theologie
     Generalsekretär des evangelisch-sozialen Kongresses in Berlin


                      Erstes bis zehntes Tausend

                            [Illustration]

                                Leipzig

                           Fr. Wilh. Grunow

                                 1891



             Das Recht der Übersetzung bleibt vorbehalten



                 Seinen Arbeitsgenossen in der Fabrik

                                     Der Verfasser



Inhalt

                                                                   Seite

    Erstes Kapitel:    Mein  Weg                                       1

    Zweites Kapitel:   Die materielle Lage meiner Arbeitsgenossen     12

    Drittes Kapitel:   Die Arbeit in der Fabrik                       40

    Viertes Kapitel:   Die Agitation der Sozialdemokratie             88

    Fünftes Kapitel:   Soziale und politische Gesinnung meiner
                         Arbeitsgenossen                             108

    Sechstes Kapitel:  Bildung und Christentum                       142

    Siebentes Kapitel: Sittliche Zustände                            191

    Achtes Kapitel:    Ergebnisse und Forderungen                    212



Vorwort


Die nachstehenden Mitteilungen sind auf Grund ausführlicher Notizen,
die ich während meiner Arbeiterzeit aufgezeichnet habe, gemacht worden.
Einiges ganz Wenige davon ist aus Artikeln, die ich im vergangenen
Herbste in die „Christliche Welt“ über meine Erlebnisse geschrieben
habe, herüber genommen. Die Lückenhaftigkeit meiner Mitteilungen
gestehe ich zu. Das ist bei einem nur dreimonatlichen Studium
selbstverständlich. Was ich aber gesehen und gefunden habe, habe
ich mit der Objektivität darzustellen versucht, die nur immer einem
Menschen möglich ist, der nicht aus seiner Haut heraus kann. Ich warne
dann noch ernstlich vor einer Verallgemeinerung der von mir gefundenen
Ergebnisse. Ich gebe zu bedenken, daß alles, was ich berichte, nur von
den sächsischen Industriearbeitern Geltung hat.

Ich habe das Buch meinen ehemaligen Arbeitsgenossen in der Fabrik
gewidmet als ein Zeichen des Gedenkens, der aufrichtigen Liebe und
Zuneigung, die ich immer gegen sie hegen werde. Sie mögen darin das
Bekenntnis sehen, daß ich meine ganze Lebenskraft in den Dienst ihrer
Sache stellen will. Trotzdem bin ich auf Verdächtigungen gefaßt. Aber
ihnen allen gegenüber erhebe ich den Anspruch, daß ich, selbst aus
einfachsten Kreisen herausgewachsen, es nicht weniger ehrlich mit ihnen
meine, als es andre von sich behaupten.

Mit einem Appell an meine Alters- und Standesgenossen möchte ich diese
Worte beschließen. Ich bitte sie dringend, es mir nachzuthun, allein
oder zu zweien, aber mit offnem Visier, zu keinem andern Zwecke, als
die ärmern Mitbrüder und ihre Lage, ihre Gedanken, ihr Sorgen und ihr
Sehnen kennen zu lernen, ihnen durch solche Opfer die Liebe und Achtung
zu zeigen, auf die sie einen Anspruch haben, und im künftigen Berufe
dann vorurteilslos und ernst da für sie einzutreten, wo immer sie recht
haben.

    Berlin, Anfang Juni 1891

    =Der Verfasser=



Erstes Kapitel

Mein Weg


Anfang Juni des vorigen Jahres hängte ich meinen Kandidatenrock an den
Nagel und wurde Fabrikarbeiter. Ein abgelegter Rock, ein ebensolches
Beinkleid, Kommißstiefeln aus der Militärzeit, ein alter Hut und ein
derber Stock bildeten meinen abenteuerlichen Anzug. Eine vielgereiste
Umhängetasche fand sich dazu, die nötigste Wäsche aufzunehmen, und gab,
ein Paar Schuhe und die vorschriftsmäßige Bürste oben aufgeschnallt,
einen prächtigen „Berliner“ ab. So zog ich eines frühen Morgens in
struppigem Haar und Bart als richtiger Handwerksbursche mit klopfendem
Herzen von daheim aus und bald darauf zu Fuß in das mir unbekannte
Chemnitz ein. Hier in Chemnitz, dem Mittelpunkte der ausgedehnten
sächsischen Großindustrie, habe ich fast drei Monate +unerkannt+
als einfacher Fabrikarbeiter und beinahe ohne jeden Verkehr mit
meinesgleichen gelebt, habe in einer großen Maschinenfabrik mit
den Leuten täglich elf Stunden gearbeitet, mit ihnen gegessen und
getrunken, als einer der ihrigen unter ihnen gewohnt, die Abende mit
ihnen verbracht, mich die Sonntage mit ihnen vergnügt und so ein
reiches Material zur Beurteilung der Arbeiterverhältnisse gesammelt,
das mitzuteilen ich im Folgenden versuchen will.

Seit Jahren für das Studium der sozialen Frage vom religiösen und
kirchlichen Standpunkte aus erwärmt, war es vor allem eines, das mich
bisher einen klaren Blick, ein sicheres Urteil, einen festen Haltepunkt
zu gewinnen immer wieder verhinderte: die zu geringe Kenntnis der
Wirklichkeit, der thatsächlichen Lage derer, um derentwillen wir
eine soziale, eine Arbeiterfrage haben. Zwar giebt es eine reiche
Litteratur. Aber wer verbürgte mir die Richtigkeit der gegebenen
Darstellungen? Wo ist die Wahrheit? Bei dem Optimisten, der die Lage
der Arbeiter als durchaus nicht so erbarmungswürdig schildert, oder bei
dem Pessimisten, der alles Schwarz in Schwarz sieht und die Zukunft
nur als Revolution? In den sozialdemokratischen Schriften, die, so
scharf und bedeutungsvoll ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen
auch ist, doch für nichts weniger als unparteiisch und sachlich gelten
und, fast alle Agitationsschriften, jedenfalls wissenschaftlichen
Wert nicht beanspruchen können? In den weniger zahlreichen Äußerungen
von Arbeitgebern, die in dieser Angelegenheit ebenso Partei sind, wie
die Arbeiter selbst? Oder gar in unsrer periodischen und Tagespresse,
die beinahe durchgängig +Parteipresse+ ist und als Vertreterin
bestimmter Interessengruppen die Dinge immer nur von ihrem einseitigen,
egoistischen Interessenstandpunkte aus zu würdigen und zu Gunsten
ihrer Partei auszubeuten geneigt ist? Oder endlich in den Schriften
von Geistlichen? Gewiß wird dem Pastor durch seine seelsorgerische
Thätigkeit eine Fülle von Erfahrungen zur Verfügung stehen; ob aber
gerade besonders reichlich und der Wirklichkeit entsprechend unter
den Arbeitern, die je länger desto mehr sich von der Kirche und ihrem
Einflusse fern zu halten suchen? Und dann ist eins zu bedenken: vor dem
Träger des geistlichen Amtes pflegt sich jedermann, auch der Arbeiter,
gern in sein Sonntagsgewand, thatsächlich wie bildlich gefaßt, zu
werfen; die innersten Gedanken der Leute, ihre Gesinnung, die sie nur
äußern, wenn sie unter sich und unbelauscht sind, lernt auch er nur
sehr schwer und lückenhaft kennen. Und eben das war es, was ich vor
allem wissen wollte, um darauf mein weiteres Studium und meine spätere
Arbeit bauen zu können: +die volle Wahrheit über die Gesinnung
der arbeitenden Klassen, ihre materiellen Wünsche, ihren geistigen,
sittlichen, religiösen Charakter+.

Wie aber ergründen, was sich so gerne dem forschenden Auge entzieht?
Das beste, geradeste, wenn auch nicht eben bequemste war, wenn ich
selbst unerkannt unter die Leute ging, mit eignen Ohren hörte und mit
eignen Augen sah, wie es unter ihnen steht, ihre Nöte, ihre Sorgen,
ihre Freuden, ihr tägliches einförmiges Leben selbst miterlebte,
die Sehnsucht ihrer Seele, ihren Drang nach Freiheit, Besitz, Genuß
belauschte und selbständig nach den innersten Triebfedern ihrer
Handlungen suchte. Wie malt sich eigentlich die Welt in den Köpfen
dieser Leute, die nun schon seit Jahrzehnten vielleicht unter dem
Einflusse der sozialdemokratischen Führer stehen? Welches sind, eine
Frucht jener Agitation, ihre sozialen und politischen Vorstellungen,
welches ist ihr sittlicher Charakter, ihr innerstes religiöses
Empfinden, die Stellung der Einzelnen zur Kirche? Haben sie überhaupt
noch religiöse Bedürfnisse? Und wenn, auf welchem Wege können sie
ihnen am besten befriedigt werden? Wie ist den Verhetzten und -- zum
großen Teil mit Recht -- Verbitterten überhaupt erst wieder nahe zu
kommen? Das alles konnte ich nur an der Quelle, selbst Arbeiter unter
Arbeitern, erfahren. Also -- heran an die Quelle!

Als ich um die Mittagszeit in Chemnitz einzog, war ich, absichtlich
ohne bestimmten Plan, völlig dem Zufall überlassen. Ich fragte, um mich
zu orientieren, einen an der nächsten Ecke postierten Schutzmann, ob er
mir vielleicht sagen könnte, wo man hier Arbeit nachgewiesen erhielte.

Was sind Sie? herrschte er mich in bedeutend unfreundlicherem Tone an,
als ich es früher von Schutzleuten gewohnt war.

Expedient, Schreiber.

Da werden Sie wohl keine Arbeit in Chemnitz bekommen.

Ich mache auch jede andre Arbeit, gab ich zurück.

Dann gehen Sie einmal in die Zentralherberge, Zschopauerstraße; dort
ist noch am ehesten irgendwelche Arbeit zu erfahren.

So war mir der weitere Weg gewiesen. Ich fragte mich nach der
Zentralherberge durch. Die Herberge war zugleich Arbeitsnachweisstelle
und gehörte räumlich zum Vereinshaus des, wenn ich recht berichtet bin,
freisinnigen Chemnitzer Arbeitervereins.

Das vordere Zimmer der Herberge war mit einigen jungen Leuten in
Sonntagskleidern und mit mehrern Handwerksmeistern besetzt, die
hier auf zureisende Gesellen warteten. Auf einer großen Tafel an
der Wand las ich: Zureisenden ist der Aufenthalt im vordern Zimmer
nicht gestattet. So ging ich ins hintere. Dort sah es noch öder aus.
Mehrere große graue Tische, um sie herum vielgebrauchte, mitunter
durchgesessene Holzstühle bildeten neben einer alten Handwerkslade und
dem primitiven Schenktische die einzigen Möbel dieses Zimmers, das mit
einer dunstigen, dicken Luft gefüllt war. An den Wänden hingen viele
Plakate mit Adressen von Herbergen der verschiedensten Städte. Es waren
nur vier Mann in diesem Zimmer. Drei in blauem Kittel, die Hüte auf den
Köpfen, saßen zusammen, ein andrer für sich.

Ich setzte mich schüchtern in eine Ecke. Es wurde mir in der
neuen Umgebung doch etwas bang zu Mute, und ich dachte in diesen
Augenblicken, wohl das einzigemal, ernstlich an eine Umkehr.

Ich saß etwa eine halbe Stunde und wartete. Ich mußte, noch völlig
unerfahren in dieser Lage, zunächst die Dinge einfach an mich
herankommen lassen. Und sie kamen in der Gestalt des dürren beweglichen
Männchens, das dort einsam am Tische saß. Er trat auf mich zu:

Guten Tag, Landser [Landsmann].

Guten Tag, Landser, antwortete ich.

Auch einer von der Zunft? -- Damit hielt er mir seinen ausgestreckten
Zeigefinger vor die Augen.

Ich wußte nicht, was er damit wollte. Doch ich ahnte, wie es sich
gleich nachher herausstellte, mit Recht einen Schneider in ihm und
sagte jedenfalls Nein.

Was bist du denn? forschte er weiter.

Expedient, Schreiber.

Und warum bist du auf der Walze [Wanderschaft]? Sage mal -- damit
rückte er vertraulich an mich heran --, es ist wohl nicht ganz richtig
mit dir? Mir kannst du es schon erzählen. Du siehst noch so anständig
aus, du bist wohl durchgebrannt?

Nein, sagte ich sehr einsilbig.

Oder kommst du vom Zuchthause?...

Das war ein schöner Anfang. Doch durfte ich mein Schneiderlein nicht
fahren lassen. Ich wurde zunächst grob.

Dummer Kerl, glaubst du mir nicht, was ich dir erzähle? erwiderte
ich, das allgemein gebräuchliche Du, das mir bald ganz geläufig
war, ihm zurückgebend. Ich bin ein Expedient und habe zuletzt fast
zwei Jahre lang bei einem Pastor gearbeitet, der eine christliche
Zeitung herausgiebt. Ich wäre auch noch dort; aber ich bekam von dem
Korrekturenlesen und von nächtlicher Privatarbeit schwache Augen.
Der Doktor verbot mir, sie diesen Sommer über nur im geringsten
anzustrengen. Aber so lange zu bummeln, geht nicht; zu Hause zur
Last liegen will man auch nicht. So bin ich hierher gekommen, um mir
unterdessen in einer Fabrik etwas Verdienst zu suchen. Da brauche ich
-- setzte ich hinzu -- doch die Augen auch nicht viel mehr aufzumachen,
als wenn ich faulenze und immer spazieren gehe.

Zur Bekräftigung dessen zog ich ein Arbeitszeugnis hervor, das mir
der Herausgeber der bekannten „Christlichen Welt,“ in deren Redaktion
ich fast zwei Jahre lang als Hilfsarbeiter beschäftigt war, für alle
Notfälle ausgestellt hatte, laut dessen ich so und so lange bei ihm in
der Redaktion als Schreiber und Expedient gearbeitet hätte.

Das wirkte. Mein Schneiderlein bekam Mitleid mit mir.

Ich habe jenes Zeugnis nur noch einmal zu gebrauchen nötig gehabt.
Auch in der Fabrik glaubte man meiner bloßen Erzählung und schob
allerhand Kenntnisse, die man trotz aller Gegenbemühungen meinerseits
doch bei mir entdeckte, auf die nächtlichen Studien -- wie ich das ja
auch gewünscht hatte. Dennoch hat es mich immer eine große sittliche
Überwindung gekostet, wenn ich meinen Arbeitsgenossen schon diese
Geschichte vorlügen mußte, und ich benutze diese Gelegenheit, um ihnen
auch an dieser Stelle öffentlich dafür Abbitte zu leisten. Ich habe
vorher lange nach einem andern Wege gesucht, aber kein besseres Mittel
gefunden, um +unerkannt+ unter ihnen sein zu können. Das war aber
die erste Bedingung, wenn ich mein Ziel nur annähernd erreichen wollte.

Meine Bekanntschaft mit dem Schneider, der etwa vierzig Jahre alt sein
mochte, wurde mir sehr wertvoll. Wir waren schnell gut Freund und bei
einem Glase Bier in eifrigem Gespräch. Bald saßen auch jene andern
drei, ein Maurer, ein Steinmetz und ein Ziegelstreicher, mit an unserm
Tische.

Der Schneider führte das Wort. Er sah ein wenig gönnerhaft, mit
väterlichem Bedauern auf die arme Schreiberseele herab.

Ja, wir Schneider, rief er, wir sind doch viel besser dran als ihr
Schreiber. Wir wissen wenigstens, was wir gelernt haben. Ein Schneider,
der einen Rock machen kann, kommt immer durch.

Auch er war augenblicklich ohne Arbeit. Er hatte erst gestern bei
seinem Meister aufgehört. Ungern, wie er sagte; denn er ginge nicht
leicht von einem Meister fort, bei dem er sich einmal eingearbeitet
hätte.

Aber siehst du, Schreiber, meinte er, der Mann war ein Säufer. Und wenn
das ein Meister ist, ist er verloren, und es geht mit ihm abwärts. So
wars auch bei diesem, und das Elend in einer solchen Familie kann ich
nicht mit ansehen.

Er war ein seelensguter Mensch, aber total verworren. Er erzählte
jedem ganz ernsthaft das tollste Zeug, ohne daß man ihn dazu besonders
veranlaßte.

Wer an Gott nicht mehr glaubt, ist verloren, war sein drittes Wort.
Der alte Fritz hätte gesagt: Jesus lieb haben, wäre mehr wert denn
vieles Wissen. Und der hätte Recht gehabt. Sonst aber wüßten wir
nichts. Nur die Natur ist uns bekannt. Dann redete er zwischen seine
Handwerkserinnerungen hinein plötzlich einmal von Darwin.

Was der sagt, daß wir von den Affen abstammen, ist albern. Affe bleibt
Affe.

Nee, wir stammen von Affen, schrie nun wieder ein Betrunkener, ein
Stammgast der Herberge, der inzwischen hereingewankt war und sich auf
eine hölzerne Bank in der andern Ecke schlafen gelegt hatte.

Die drei andern hörten dem allen ruhig zu, lachten sich eins und
machten sich ihre eignen Gedanken.

Ich fragte sie, was sie wohl dächten, ob ich zu jetziger Zeit in
Chemnitz Arbeit +in einer Fabrik+ bekommen könnte. Sie hielten
das für wohl möglich, der Schneider jedoch nicht, und mit Recht,
wie es sich hernach zeigte. Er riet mir vielmehr, in das Zwickauer
Kohlenrevier zu gehen und unter der Erde Arbeit zu suchen.

Das thun viele, die keine Arbeit hier bekommen, sagte er sehr
bezeichnend. Aber freilich ist es kein Zuckerlecken. Es ist der letzte
Ausweg, aber besser als Hungern.

Er schlug mir vor, morgen mit einander ins Vogtland hinein zu wandern.
Jedoch gegen drei Uhr nachmittags ging er plötzlich weg und ward nicht
mehr gesehen.

Ich vermißte ihn nicht mehr zu sehr. Ich hatte nun schon neue Freunde,
zu denen ich mich hielt. Vor allem den Maurer und den Steinmetz, zwei
kluge, stille und anständige Menschen, ohne jede Spur von der Roheit,
die man so gern für den Arbeitertypus hält. Durch sie vor allem wurde
ich auch mit den andern schnell bekannt und rasch in der ganzen
Herberge heimisch.

Ich lernte bald drei bestimmte Klassen von Herbergsbesuchern
unterscheiden. Die erste, wohl zahlreichste sind die jungen,
siebzehn-, achtzehnjährigen Gesellen, die eben ausgelernt haben und
sich gewöhnlich auf ihrer ersten Wanderschaft befinden. Sie sind mit
Kleidung gut ausgestattet, meist auch mit Geld hinreichend versehen,
kommen erst am Spätnachmittag in kleinen Trupps an, halten sich still
und schüchtern von den übrigen zurück und bringen mit wenig Ausnahmen
immer nur einen Abend und eine Nacht auf der Herberge zu.

Die zweite Kategorie setzt sich aus den eigentlichen „Kunden,“ den
Bummlern von Profession zusammen. Sie sind im Durchschnitt nicht unter
dreißig und oft über fünfzig Jahre alt, Säufer und vielfach Stammgäste
einer oder mehrerer Chemnitzer Herbergen. Sie haben ganz bestimmte
Reviere, die sie „abkloppen“ und dabei besonders die immer wieder
freigebigen Geistlichen und Lehrer auf dem Lande mitnehmen, über deren
Gutmütigkeit sie sich dann in der Herberge lustig machen. Mitunter
arbeiten sie auch einmal halbe und ganze Tage: laden Steine ab, spülen
Flaschen, tragen Kohlen ein u. s. f. Ich arbeite höchstens zwei Tage
in der Woche, sagte einmal einer in einer andern, der verrufenen
Maurerherberge, das ist genug und langt zum Leben. Die andern Tage
lasse ich andre arbeiten. Ein Teil von ihnen stand bei dem Vorsteher
der Herberge, dem „Vater,“ sichtlich gut.

Zwischen diese beiden ausgeprägten Klassen schiebt sich die dritte. Sie
rekrutiert sich meist aus zwanzig- bis dreißigjährigen, kraftvollen
Gestalten, die schon weit in der Welt herumgekommen sind, vielfach
etwas Ordentliches gelernt haben und augenblicklich freiwillig oder
unfreiwillig arbeitslos sind. Dehnt sich diese Arbeitslosigkeit lange
aus, so stehen sie in der größten Gefahr, zu gewohnheitsmäßigen
Bummlern herabzusinken, und sind dann der Gesellschaft meist für
immer verloren. Ein besonders hervortretender Charakterzug an ihnen,
wenigstens an denen, die mir begegneten, ist eine unerschütterliche
Ruhe und Sicherheit und große Erfahrung.

Sonst sind am Orte in Arbeit stehende junge Leute, namentlich die
häufig blau machen und ihre Arbeitsstätten oft wechseln, auf Stunden
Gäste der Herberge, ohne sich jedoch mit den Wandernden besonders
abzugeben. Sie hielten sich denn auch meist im vordern, reservierten,
bessern Zimmer auf und wurden vom Herbergsvater gern gesehen.

Über acht Tage lang habe ich mich in dieser Zentralherberge
herumgetrieben, meist auch die Nächte hier zugebracht, für mich
fürchterliche Nächte in dem gemeinsamen Schlafraume mit schmutzigen,
stinkenden Betten, Stickluft und vielem Ungeziefer. Auch in der
Herberge zur Heimat übernachtete ich einmal; aber ich schlief auch
nicht besser als dort. Doch ist seitdem ein andrer Hausvater eingezogen.

In der Zentralherberge pflegte uns ein junger Mensch abteilungsweise
zu Bette zu bringen, hager, bleich, bartlos, in schäbiger modischer
Kleidung, mit ungekämmtem Haar und einem Klemmer auf der Nase. Er
redete nicht mit den Herbergsgästen, gab eine Art Hausknecht ab, putzte
das Eßgeschirr und hing morgens die Betten zum Ausdünsten an die Luft.
Man sagte, daß es ein früherer Handlungskommis wäre. Er machte einen
unsäglich traurigen Eindruck; leider war er auch mir unzugänglich.

Deutliche sozialdemokratische Regungen habe ich unter dieser
Wanderbevölkerung, wie auch erklärlich, bis auf einen Vorfall
nicht wahrgenommen. Das war, als einer ein aus der Chemnitzer
sozialdemokratischen „Presse“ früher einmal von ihm ausgeschriebenes
Gedicht über die Maurer zum Gaudium aller und unter Neckereien des
Maurers vorlas. Drei bis vier Mann schrieben es sich hernach ab.

Aber mein Herbergsaufenthalt war doch nur Mittel zum Zweck. Einen Teil
jedes Tages benutzte ich darum, um, vielfach in Gesellschaft eines
Westfalen, Arbeit in einer Fabrik zu suchen. Wir bekamen sie nirgends.
Überall fanden eher Entlassungen als Neueinstellungen von Arbeitern
statt. Die MacKinley-Bill warf schon damals ihre Schatten voraus.
Außerhalb der Fabrik war auch für den gänzlich Fremden eher Arbeit zu
finden. So konnte ich sofort bei einem Brunnenmeister antreten. Aber
das war nicht mein Wille. Ich mußte, um meine Absicht auszuführen, in
eine größere Fabrik.

So blieb nichts übrig, als mich doch einem Fabrikanten zu entdecken.
Gleich die ersten, die ich anging, die Direktoren einer großen
Maschinenfabrik, waren auf das Uneigennützigste bereit, meinen Wunsch
zu erfüllen. Ich wurde als gewöhnlicher Handarbeiter eingestellt.
Außer den beiden Herren, die mir strengste Verschwiegenheit zusicherten
und ihr Versprechen treulich gehalten haben, wußte niemand sonst in der
Fabrik, wer ich war. Auch sie behandelten mich, meiner Bitte gemäß, wie
jeden andern Arbeiter.

Es ist hier der Ort, meine ehemaligen Arbeitsgenossen über die ihnen
vielleicht auftauchende Besorgnis zu beruhigen, daß ich den Herren
meine täglichen Beobachtungen in der Fabrik etwa mitgeteilt haben und
ihr Zuträger gewesen sein könnte. Es war jedoch gleich bei meinem
Eintritt in die Fabrik zwischen uns als selbstverständlich vereinbart
worden, daß dies nicht geschehen dürfte. Zum Beweis, wie gänzlich
unmöglich dies überhaupt war, führe ich an, daß ich nach meiner
Einstellung nur noch einmal mit den Herren längere Zeit gesprochen
habe. Das war, als ich mich von ihnen verabschiedete. Auch da haben wir
uns nur über Arbeiterverhältnisse im allgemeinen unterhalten.

Ich wurde in der Abteilung für Werkzeugmaschinenbau beschäftigt und
war einer Kolonne von fünf Handarbeitern zugeteilt, die überall da
zugreifen mußten, wo Not am Manne war. Dadurch sah ich mich, was
äußerst wertvoll für mich wurde, nicht an einen bestimmten Platz
gefesselt, sondern hatte volle Bewegungsfreiheit und stets Gelegenheit,
mich fast jedem der Hundertzwanzig mehr oder weniger zu nähern.

Es war schwere, mir ungewohnte Arbeit, die wir zu verrichten hatten. Da
mußten eben aus der Gießerei gekommene Eisenteile der verschiedensten
Form und Größe und oft viele Zentner schwer abgeladen, gewogen und
zu den einzelnen Arbeitern sowie wieder zwischen diesen hin und her
transportiert werden, je nachdem sie gerade zu bearbeiten waren. Dann
hieß es ganze schwere Maschinen mittelst Krahnes und Walzen zum und
vom Probiersaale schaffen, Maschinen aus einander nehmen helfen, ihre
einzelnen beim Probieren ölig und schmierig gewordenen Teile wieder
reinigen; dann wieder Kohlen holen, Eisenspäne wegfahren, diese und
jene Bestellung machen. Mitunter wurde man auch aushilfsweise in der
Schlosserei verwendet und hatte z. B. in starke Eisenteile Löcher von
verschiedener Tiefe zu bohren. Wenn ich so in der ersten Zeit täglich
fast elf Stunden mit der Handbohrmaschine, oft in der ungemütlichsten
Haltung, liegend oder gebückt oder auf einer Leiter stehend gebohrt
hatte, vermochte ich manchmal des Abends vor Schmerzen in den Armen
kaum einzuschlafen.

Wir waren mit einem Worte die Diener für alle, auf jeden Wink,
jedes Pst gewärtig. Selbst kleine Schlosserlehrlinge beehrten den
Handarbeiter, freilich meist unter Protest der Ältern, mit Aufträgen.
Häufig ging es von einem schweren Dienst zum andern; dann kostete es
mich alle Kraft, hier auszuhalten. Heute bin ich froh, es durchgesetzt
zu haben. Ich habe damit bewiesen, daß mein ganzes Unternehmen keine
bloße Spielerei und Abenteuerei, sondern bitterer Ernst für mich war.

Aber es kamen auch bessere Zeiten: Stunden, halbe und ganze Tage,
wo es nicht viel oder nur leichte Arbeit gab. Solche Zeit wurde von
mir stets doppelt fleißig zum Verkehr mit meinen Arbeitsgenossen
ausgenutzt. Dann ging ich von dem einen zum andern, und während
dessen Maschine rasselte, lenkte ich unser Gespräch von dem zu jenem
Gegenstande, worüber ich gern sein Urteil haben wollte. Oder ich
hörte einfach zu, wo sich eine Gruppe gebildet hatte und sich eifrig
über allerhand Fragen unterhielt, sich neckte oder stritt. Wenn ich
einem oft eine Stunde lang etwa eine eiserne Welle oder einen Hebel
halten oder sonstwie zur Hand sein mußte, so war das für mich stets
erwünschte Gelegenheit, seine Gesinnung, seine Ansichten zu hören. Ja
fast jede gemeinsame Arbeit, jede Handreichung bot so günstigen Anlaß
zu interessanten Studien. Ich machte aus meiner religiösen Überzeugung
kein Hehl, und das rief den Widerspruch hervor. Ich ließ erkennen, daß
ich über manches nachgelesen und nachgedacht hatte, und das wurde für
viele die Ursache, die verschiedensten und mitunter wunderlichsten
Fragen an mich zu richten. Bald hieß ich der „Doktor,“ der „Professor.“
Einer meinte, an mir wäre ein Pastor verloren, ein andrer hielt
mich für einen heruntergekommenen Studenten, ein dritter machte mir
Aussicht, einmal Reichstagsabgeordneter zu werden. Daß irgendwem eine
richtige Ahnung von meiner Person und meinen Plänen aufgegangen ist,
glaube ich trotz alledem nicht, habe jedenfalls keinen Anhalt dafür,
es anzunehmen. Der Gedanke, daß ein Gebildeter selbst nur auf Zeit auf
allen Komfort, seinen Beruf und seine immerhin hohe Lebensstellung
freiwillig und um ihretwillen verzichten könnte, kam den Leuten nicht,
war für sie wohl einfach undenkbar.

Auch die kurze Frühstückspause, während deren man in Gruppen
zusammensaß, ließ mich viele Einblicke thun. Die Stunde des
Mittagsessens, das ich für geringen Preis in Arbeiterkneipen
einnahm, führte mich täglich in nahen Verkehr mit den jungen
unverheirateten Leuten meiner und andrer Fabriken. Auch die Abende
verbrachte ich selten allein und daheim, häufig auf den Straßen
unsers Arbeiterviertels, die um diese Zeit bei schönem Wetter von den
Anwohnenden, gleichviel ob jung oder alt, zahlreich belebt zu sein
pflegen, oder in den Sitzungen des sozialdemokratischen Wahlvereins,
in denen ich nie fehlte, oder -- und dies je länger desto mehr -- in
den Familien der Arbeiter, denen ich allmählich näher gekommen war.
Die Sonntage trafen mich entweder auf einem Ausfluge mit mehrern
jungen Schlossern oder als Teilnehmer der dort sehr beliebten
sozialdemokratischen Arbeiter- und Kinderfeste; am Sonntagsabende war
ich ständiger Besucher der öffentlichen Tanzsäle, die ich fast nie vor
Schluß, also vor Mitternacht verließ.

Nur die Nächte gehörten mir. Ich hatte gleich nach meinen
Herbergserlebnissen den Plan, mich als Schlafbursche in einer
Arbeiterfamilie einzumieten, aufgegeben. Ich sah, daß es einfach über
meine Kräfte gehen würde, nach so ungewohnter Tagesarbeit auch noch
mehr oder weniger schlaflose Nächte durchzumachen. Auch brauchte ich
die späten Abendstunden sehr notwendig, um unbeobachtet die Eindrücke
des Tages klären und meine Notizen machen zu können. So begnügte ich
mich damit, mir mitten in einer Arbeitervorstadt bei einer schlichten
Familie ein kleines Stübchen zu mieten, das vor mir erst ein Schlosser,
dann ein Kaufmann bewohnt hatte, von derselben ganz einfachen Art, wie
sie junge Arbeiter auch sonst mitunter bewohnen.

Um aber den Schlafstellenjammer doch wenigstens etwas kennen zu
lernen, verließ ich Mitte August die Fabrik und verwendete -- als
Arbeitsloser -- die nächste Zeit meist auf die Besichtigung von
freistehenden Schlafstellen. Der tägliche Wohnungsanzeiger des
„Chemnitzer Tageblattes“ wies mir die Wege. Eine Düte mit Zuckerzeug
hatte ich auch stets in der Tasche, und wo immer ich Kinder traf,
teilte ich daraus mit. Das öffnete mir Herz und Mund der Mütter und
gestattete, daß ich mitunter ziemlich lange in einzelnen Familien
zubrachte. So habe ich im ganzen doch etwa sechzig Schlafstellen
wenigstens gründlich +gesehen+. Ein Sozialdemokrat hat in
einer öffentlichen Versammlung zu Göttingen diese Methode, „das
Schlafstellenwesen durch Mietsvorspiegelungen und Erregung irriger
Hoffnungen zu rekognoszieren,“ als „unwürdig“ hingestellt. Ich erkläre
hiermit, daß es jedem frei steht, zur Vermietung angebotene Wohnungen
sich anzusehen, und daß ich keine Familie bei meinem Weggang darüber
im Unklaren gelassen habe, daß ich die betreffende Schlafstelle
+nicht+ annähme.

Schließlich packte ich abermals mein Bündel und zog, wieder
Handwerksbursche, von Chemnitz aus ins Vogtland hinein. Aber ich kam
nicht mehr weit. Ich fühlte, daß meine Elastizität zu Ende war. So
brach ich, wohl allzu plötzlich, ab und kehrte Ende August nach Hause
zurück.

Soviel zur Orientierung über meine äußern Erlebnisse, über den Weg,
den ich bei diesen Untersuchungen ging. Nunmehr diese selbst und ihre
Resultate.



Zweites Kapitel

Die materielle Lage meiner Arbeitsgenossen


Wir waren etwa fünfhundert Mann in unsrer Fabrik beschäftigt, denen
allen ich selbstverständlich nicht gleich nahe gekommen bin. In
täglicher intimer Berührung war ich eigentlich nur mit 120 bis 150
Mann, von denen die meisten mit mir +einer+ Abteilung, dem
Werkzeugmaschinenbau, angehörten. An diesen habe ich vornehmlich die
Erfahrungen gemacht, die ich mitteile.

Unter ihnen wiederum war die überwiegende Mehrzahl Sachsen, soviel
ich habe herausbekommen können, 70 bis 75 Prozent. Ich bitte, diese
Thatsache für alle folgenden Erörterungen im Auge zu behalten und meine
Erfahrungen nicht, wider meinen Willen, unbesehen auch auf andere
Stämme zu übertragen. Der Rest von 25 Prozent verteilte sich etwa auf
10 Prozent Norddeutsche, 5 Prozent Süddeutsche, 10 Prozent Österreicher
und einige Schweizer. Die hohe Ziffer der Österreicher erklärt sich
leicht aus der Nähe der sächsisch-böhmischen Grenze. Übrigens waren sie
zumeist Deutschböhmen und bereits in Sachsen naturalisiert. Unter den
Sachsen überwog wieder das eingeborene Element, geborene Chemnitzer,
oder aus der nähern und weitern Umgebung der Stadt, oder wenigstens
aus dem Erzgebirge und Vogtlande.[*] Aus den übrigen drei sächsischen
Kreisen war die Zahl der Eingewanderten verhältnismäßig gering, kaum 15
bis 20 Prozent. Dagegen war das einheimische Element in der Chemnitzer
Wirk- und Webindustrie viel stärker als bei uns, im Gegensatz wieder
zum Baugewerbe, wo die Österreicher, speziell die tschechischen
Arbeiter, ein überraschend großes Kontingent stellten.

Über das +Einkommen+ meiner Arbeitsgenossen nun kann ich nicht
ganz sichre Zahlenangaben machen. Denn ich habe sie selbstverständlich
nur von den Leuten selbst und kann darum für ihre genaue Richtigkeit
nicht bürgen. Es war ungemein schwer, hierüber die volle Wahrheit
zu erfahren. Jeder suchte seinen Verdienst vor dem andern zu
verheimlichen, der eine, der mehr verdiente, um durch seinen Lohn nicht
in den Geruch eines Schleichers und Günstlings zu kommen oder die
Mitarbeiter nicht zu einer gleichhohen Lohnforderung zu veranlassen;
der andre, der weniger verdiente, aus Scham und Furcht vor dem Spott
und der Hänselei unvernünftiger Mitarbeiter.

Die damaligen Löhne standen offenbar unter dem Drucke der verfehlten
Maifeier und der nahenden MacKinley-Bill. Dann einmal wurden neu
Eintretende mit niedrigerm Stundenlohn als der vorhergehende
eingestellt, und dann wurde jede Bitte um Lohnzuschlag zurückgewiesen.
Wer mit seinem bisherigen Verdienst nicht zufrieden war, wurde
entlassen.

Ich selbst, um damit zu beginnen, bekam als Neuling und Handarbeiter 20
Pfennige Lohn für die Stunde, den gewöhnlichen Anfangslohn, der aber
auf Bitten, namentlich Verheirateter bald um 1 bis 2 Pfennige erhöht
zu werden pflegte. Das machte bei mir täglich mit Ausnahme des Montags
und Sonnabends, wo eine Stunde weniger gearbeitet wurde, 2,13 Mark, an
den beiden genannten Tagen 1,93 Mark, in der ganzen Woche genau 12,78
Mark. Davon gingen stets fast zwei Mark ab: an Krankenkassenbeiträgen,
Strafgeldern für Verspätungen und Arbeitsversäumnisse, sodaß ich selten
mehr als 11 Mark Verdienst auf die Woche herausbekam. Die übrigen
Handarbeiter verdienten 12 bis 15 Mark, durchschnittlich wohl 14 Mark
die Woche, Schlosser 15 bis 21, ihre Monteure 22 bis 28, Bohrer, die
um Lohn arbeiteten, 15 bis 19 Mark. Dagegen kamen die Akkordarbeiter
bedeutend höher: Hobler im Durchschnitt bis auf 25, Dreher von 20 bis
30, Stoßer und Bohrer von 20 bis 30, 35, einzelne gar bis 40 Mark in
der Woche. Der Maschinist an der großen Dampfmaschine verdiente nach
seiner eignen Angabe bei vierzehnstündiger täglicher und regelmäßiger
Sonntagsvormittagsarbeit 24 Mark die Woche. Bei den Monteuren wird
ebenso wie bei einigen Meistern das Einkommen bedeutend durch
sogenannte Prozente für von ihnen fertig gestellte Maschinen erhöht.
Das Jahreseinkommen der letztern sollte nach Angaben der Leute im
Durchschnitt 1800 bis 2000 Mark betragen. Unter den starken Verdienern
sind viele junge Leute mit einem angeblichen Mindestverdienst von 100
Mark im Monat. Ein Teil dieser Angaben kann eher noch zu niedrig als
zu hoch gegriffen sein. In einigen andern Maschinenfabriken sollte der
Lohn noch höher sein, aber auch die Arbeit länger und anstrengender.
Doch vermochte ich selbstverständlich die Richtigkeit dieser Angaben
nicht zu prüfen.

Aus alledem geht hervor, daß von Not unter dieser Arbeiterklasse
nicht die Rede sein kann. Jedenfalls ist sie eine der verhältnismäßig
bestgestellten, konsumtionskräftigsten unter der gesamten sächsischen
Arbeiterschaft, auch wenn man sich immer vor Augen hält, daß die
angegebenen höchsten Zahlen nur für einen kleinen Prozentsatz der
Arbeitsgenossen gelten, daß der Durchschnittsverdienst 80 Mark im Monat
beträgt, und ein Stundenlohn von 32 Pfennigen schon als sehr günstig
angesehen wird.

Die vielen, die, wie namentlich Handarbeiter, bedeutend weniger als
diese angegebene Summe verdienten, dazu eine zahlreiche Familie, Sorgen
und Schulden hatten, die aber fleißig und strebsam waren und auf sich
und ihre Angehörigen hielten, suchten durch +Nebenverdienst+ ihr
Einkommen einigermaßen zu erhöhen. Sie suchten sich auf alle Weise in
ihren knappen Feierabendstunden sowie am Sonntage außerhalb der Fabrik
ihre bald besser bald schlechter gelohnte, bald leichte und angenehme,
bald mühsame Nebenbeschäftigung. Hier einige Beispiele. Ein Packer,
der gern und mit herzlichem Behagen von seinem Heim, seiner Frau und
seinen erwachsenen und halberwachsenen Kindern zu erzählen pflegte,
ein schlichter, treuherziger Charakter, schnitzte den Sonntagmorgen
über Kleiderbügel und machte am Nachmittag und in der Nacht auf einem
nicht allzufernen Dorfe den Tanzmeister; ein ehemaliger Schneider
trieb in seiner Freizeit sein altes Handwerk, um sich Taschengeld
zu verdienen, da er, wie er uns sagte, sein ganzes Verdienst,
allvierzehntägig 27 Mark bis auf eine Mark seiner Frau und seinen zwei
Kindern heimbrachte; ein Zimmermann tischlerte nebenbei; ein andrer,
der einst Barbierjunge gewesen, aber aus der Lehre entlaufen war, ging
des Abends von Haus zu Haus und barbierte Bekannte und Genossen aus der
Fabrik; mehrere machten des Sonntags Tanzmusik, einer, ein Dreher, in
einer „fidelen“ Kneipe Ulkmusik; wieder einer verhandelte Fässer; ein
Bohrer war Sonntags nachmittags Hilfskutscher eines in den vermehrten
Sonntagsbetrieb eingestellten Wagens der Chemnitzer Pferdeeisenbahn;
ein Schlosser, der seinen Sohn Kaufmann werden ließ und etwa vierzig
Jahre alt sein mochte, ein gutmütiger Kerl, aber ein großer, wenn
auch nicht allzu unanständiger Verehrer geistiger Getränke, kellnerte
allabendlich und allsonntäglich in einer unsrer vielbesuchten bessern
Arbeiterkneipen -- wohl ebenso aus dem Streben, etwas zu verdienen,
als ab und zu einen billigen Trunk zu thun; endlich fand ich nicht
einen nur, der unter den Fabrikgenossen einen schwunghaften Handel mit
billigen Zigarren im Preise von drei, vier, auch fünf Pfennigen trieb.
Auch sonst suchte man sich auf allerhand Weise zu verdienen: durch
Kohleneintragen bei Meistern und Direktoren, durch Grasmähen in deren
Gärten und ähnliche Dinge.

Einzelnen wenigen brachten auch Überstunden und Sonntagsarbeit in
der Fabrik etwas Nebenverdienst. Es waren das freilich meist ganz
bestimmte, vom Meister ausgesuchte Leute, denen dieser „Vorteil“
zufiel: um den Preis ihres gewöhnlichen Stundenlohnes übernahmen sie
die Werkstattreinigung an jedem Sonnabend nach Feierabend, ferner die
Reinigung der Dampfmaschinen und sonst sich nötig machende Reparaturen
am Sonntag Vormittag.

Einen weitern Zuschuß brachte die Arbeit der Frauen und manchmal, doch
nicht zu häufig, der größern Kinder. Es ist mir unmöglich, hierüber
Genaueres zu sagen, ich vermag nur anzugeben, daß diese Frauenarbeit
die allerverschiedenste war: Schneidern, Nähen für ein Geschäft,
Waschen und Scheuern, Hausieren oder Handeln mit Grünzeug und andern
Waren; wohl nicht häufig ging man in Fabriken, viel mehr wurden daheim
auf der Strickmaschine Strümpfe gestrickt.

Auch wurde das Halten von Schlafleuten und Mittagskostgängern, wobei
ebenfalls der Frau die +ganze+ Arbeit obliegt, als Quelle zur
Erhöhung des Fabriklohnes angesehen -- kaum mit vollem Rechte. Denn so
viel ich beobachten konnte, kommt in Anbetracht der dadurch den Frauen
auferlegten schweren Mühe und der Opfer an häuslicher Bequemlichkeit,
von andern tiefern, aber mehr ausnahmsweisen Schäden hier einmal ganz
abgesehen, ein pekuniärer Vorteil selten heraus.

Das alles aber gilt immer nur von den geringer gestellten Arbeitern.
Ich glaube bemerkt zu haben, daß wer nur immer dazu imstande war, auf
solche Nebenverdienste zu verzichten, es auch mit einigen Ausnahmen
that.

Aber mein Bild würde unvollständig bleiben, wenn ich ihm nicht einen
goldnen Rahmen gäbe und nicht noch erzählte, daß wir doch auch fünf
Hausbesitzer unter den Arbeitern unsrer Fabrik hatten. Wenigstens
sind mir fünf bekannt geworden: ein enorm fleißiger, auf Akkord
arbeitender Dreher, der sich das Vesperbrot am Munde absparte, und
den man scherzweise den Kommerzienrat nannte, hatte es sich durch
seiner Hände Arbeit und seinen, wie einige sagten, Sparsinn, wie andre
meinten, Geiz erworben; dasselbe galt von einem andern Arbeiter;
ebenfalls ein junger Dreher war -- wohl durch Erbschaft -- Eigentümer
des flottgehenden Gasthofes eines engbenachbarten Dorfes; und ein
Schmied und ein Schmirgler waren ebenso im Besitz eines Wohnhauses.
Dann war einer in meiner Kolonne, ein guter, bei allen beliebter Kerl,
der aus einer Bauernfamilie der Umgegend stammte und, wie man sagte,
aber wohl übertrieb, im Besitze von soviel tausend Mark sei, daß er
es nicht nötig gehabt hätte, sich bei uns herumzuplagen. Endlich
mußte ich einmal als gelernter „Schreiber“ einem andern schon älteren
Manne, dessen Vater gestorben war und den Kindern je mehrere hundert
Mark hinterlassen hatte, einen Kontrakt aufsetzen, auf Grund dessen er
seinen Anteil einem Bruder als Hypothek auf dessen Haus überließ --
wie er mir sagte, da er das Geld ja doch nicht brauchte. Doch habe ich
es kaum nötig, noch ausdrücklich zu erwähnen, daß diese glücklichen
Hausbesitzer und Kapitalisten nicht die Regel unter uns bildeten.

Nach dem allen wiederhole ich meine oben gemachte Aussage, daß von
Not in unsrer Arbeitergruppe nicht die Rede sein konnte. Freilich
auch nicht von Überfluß. +Denn der oben angegebene Betrag des
jährlichen Durchschnittseinkommens von 800 bis 900 Mark gestattet bei
den heutigen hohen Wohnungs- und Lebensmittelpreisen eben gerade, daß
ein Arbeiter mit einer nicht allzu zahlreichen Familie ohne schwere
Nahrungssorgen leben kann.+ Die Sache liegt aber sofort bedeutend
ungünstiger, wo wie bei uns Handarbeitern das Jahreseinkommen nur
zwischen 600 bis 700 Mark betrug, oder wo Krankheiten, Todes- und
andre Unglücksfälle, längere Reserve- und Landwehrübungen des Mannes
oder endlich ein häufig mit einer Arbeitspause verbundener Wechsel
der Arbeit einen beträchtlichen Teil auch des höhern Einkommens
verschlangen. Bei denen, die 1200 bis 1500 Mark Einkommen hatten, war
allerdings eine bessere höhere Lebenshaltung und einiger Luxus möglich
und zu meiner Freude vielfach auch vorhanden. Im allgemeinen muß das
Urteil aber dahin zusammengefaßt werden, daß auch bei dem angegebenen
Durchschnittsverdienste die Lebensführung für eine Arbeiterfamilie nur
in den allerbescheidensten, sagen wir in beschränkten Verhältnissen
möglich war.

Das werden schon die nicht erschöpfenden Beobachtungen zeigen, die ich
über +Wohnung+, +Kleidung+, +Nahrung+ meiner Arbeitsgenossen gemacht
habe, und die ich trotz aller Lückenhaftigkeit doch der folgenden
Mitteilung für wert halte.

Meine Arbeitsgenossen wohnten zu einem beträchtlichen Teile nicht
in dem Vorstadtdorf, in dem unsre Fabrik lag und wo auch ich
mich einquartiert hatte. Viele wohnten in der Stadt, viele in
den umliegenden nahen und fernern Dörfern. Die Fälle waren nicht
vereinzelt, in denen sie stundenweit bis nach Hause hatten. Ein
Handarbeiter unsrer Kolonne, der älteste von uns, ein hoher Fünfziger,
hatte so weit zu gehen, daß er es vorzog, die Woche über bei seinem
Schwiegersohn in unsrer Vorstadt Quartier zu nehmen und nur Sonnabends
seine Frau und sein Heim zu besuchen, das ein andrer von uns, der ihn
einmal besuchte, wegen seiner Nettigkeit, Sauberkeit und „Heimlichkeit“
nicht genug zu rühmen vermochte. Über die Wohnungsverhältnisse aller
dieser vielen Auswärtigen vermag ich fast keine Einzelheiten zu bringen
und nur zu sagen, daß die in der Stadt lebenden bedeutend schlechter,
die von den weiter entfernt und oft in reizender Natur gelegenen
Dörfern hereinkommenden, im Durchschnitt unstreitig besser wohnten, als
wir in unserm Viertel.

Unser Vorstadtdorf schloß sich so dicht an Chemnitz an, daß man beider
Grenzen nicht mehr herausfinden konnte. Beide gingen ineinander über,
und auf der andern Seite des Dorfes bildete eine ganze stundenlange
Kette von Dörfern, wie das in dem dicht bevölkerten Sachsen nicht
selten vorkommt, seine Fortsetzung. Dieser Zusammenhang bestimmte
Aussehen und Anlage unsers Ortes. Er war halb Stadt halb Dorf:
zwischen den alten charakteristischen hochgiebeligen, kleinfenstrigen,
niedrigen Landhäusern hoben sich die zum Sterben nüchternen städtischen
zwei- bis dreistöckigen Mietskasernen empor. Nur ein kleines Viertel
gab es noch, wo der alte Charakter des ehemaligen Dorfes in den
niedrigen primitiven, planlos und willkürlich nebeneinander gestellten
Tagelöhnerhäuschen und den schmalen, zickzackigen Gängen und Wegen
dazwischen ganz rein erhalten war. Aber dicht daneben wuchs mit
Riesenschnelle wieder ein rein städtischer Teil empor, zwei breite,
mächtige parallel laufende Straßen, wo in gerader Linie Kaserne an
Kaserne stand, deren kalte Front freilich kleine grüne Vorgärtchen
freundlich belebten und schmückten. So gab auch die äußere Gestalt
dieses Vorstadtdorfes ein Abbild der wirtschaftlichen Wandlung, die
seine Bewohner eben durchmachten: die Entwicklung aus Land- und
Ackerbauern in großindustrielle Fabrikarbeiter.

Meine hier ansässigen Arbeitsgenossen wohnten je nach den
Wohnungspreisen, den Ansprüchen, den Neigungen, der Gewohnheit, oft
auch nach bloßem Zufall teils in dem neuen Viertel, teils in den alten
Häusern, deren Inneres gewöhnlich nach der Weise der neuen Häuser
umgebaut und in mehrere Familienwohnungen, „Parten“ genannt, geteilt
war. Ich weiß nicht, welcher Art Wohnungen ich den Vorzug geben soll.
Die in den alten ländlichen Häusern hatten niedrige Stuben, kleine
Fenster, enge Fluren und waren mitunter äußerlich verwahrlost; aber
dafür lag fast jedes derartige Wohnhaus mitten in einem Gärtchen,
mitten im Grünen. Jene andre Sorte hatte größere und höhere Räume, mehr
Luft und mehr Licht, aber eben auch den ganzen öden Kasernencharakter,
und die Häuser waren vielfach auch recht flüchtig und mangelhaft
gebaut. Die geringsten und unfreundlichsten Wohnungen aber fanden sich
jedenfalls in den häufigen Hinterhäusern dieser neuen Straßen, die
vielfach die Schattenseiten der beiden eben genannten Gattungen in sich
vereinigten und an Armseligkeit der innern Anlage und Ausstattung sowie
ihrer Umgebung oft nichts zu wünschen übrig ließen.

Es ist schwer, das, was die Leute an Räumen inne zu haben pflegten,
noch +Familien+wohnungen zu nennen. Oder kann man wirklich
eine zweifenstrige Stube und ein einfenstriges unheizbares Gelaß
daneben noch so bezeichnen? Eben dies aber und nicht mehr bildete
das Heim eines -- wenn ich recht sah -- sehr großen Teiles unsrer
Arbeiterfamilien. Darum sprach man da unten auch immer nur von Stuben.
„Ich will mir eine neue Stube mieten“; „Was bezahlst du für deine
Stube?“ waren ganz übliche Worte.

Bedeutend besser, geräumiger, anheimelnder erschienen schon die
Wohnungen, die aus einer Stube und zwei solcher Gelasse, im Volke
dort fälschlich „Alkoven“ genannt, oder gar aus zwei heizbaren Stuben
und einem Alkoven bestanden. Doch auch ihnen fehlte sehr oft, wie
den Stuben immer, die Küche, dagegen gehörte zu allen genannten
Gattungen regelmäßig noch eine sogenannte Bodenkammer, d. h. ein enger
Bretterverschlag unter dem Dache, deren jeder mit einer kleinen Luke
versehen war.

Die meisten, namentlich modernen, nach städtischer Art gebauten Häuser
hatten von jeder der geschilderten Wohnungsparten eine Anzahl, aber in
erdrückender Gleichmäßigkeit auch nichts als solche; größere Wohnungen
fanden sich in solchen eigentlichen Arbeitermiethäusern gar nicht. Für
die wenigen Leute am Orte, die danach verlangten, gab es besonders
gebaute Häuser dazwischen und außerdem noch einige wenige Villen oder
dem ähnliche Gartengebäude.

Die Preise für diese Wohnungen waren hoch im Vergleich zu ihrem Werte
wie zu dem Einkommen der meisten Arbeiter, doch wohl niedriger als
diejenigen für gleiche in der Stadt. Ich vermag hier keine Zahlen zu
geben; die wenigen, die ich mir damals notiert habe, sind ungenügend,
ich setze sie darum gleich gar nicht erst her. Aber an Berliner Preise
reichten sie freilich nicht hinan.

Auch darüber, welche nach der Höhe des Einkommens geordnete
Arbeitergruppen je diese einzelnen Sorten von Wohnungen bewohnten,
läßt sich schwer etwas Allgemeingiltiges festsetzen. Man kann wohl
sagen, daß jene kleinsten Räume natürlich immer die schwachen Verdiener
oder Väter mit zahlreicher und darum kostspieliger Familie oder junge
Eheleute mit noch keinem oder einem einzigen kleinen Kinde bewohnten,
die größern immer die stärkern Verdiener. Aber es war nicht selten, daß
auch Leute mit weniger Lohn solche größeren Wohnungen innehatten, die
aber dann immer eine Anzahl Schlafleute hielten, die ihnen die hohe
Miete mit erbringen mußten. Es war, um dies gleich an dieser Stelle zu
sagen, in der Fabrik immer ein Ach und Weh, wenn der „Zinstermin“ kam;
an dem Lohntage, der diesem Termine zuvorging, pflegte besonders wenig
für die übrigen Bedürfnisse übrig zu bleiben.

Wie es nun innen in den Wohnungen aussah? Gut, mittelmäßig, schlecht
-- das kam auf viele verschiedene Ursachen an. Ein Sofa, ein häufig
runder Tisch, eine Kommode, ein größerer Spiegel, mehrere Rohr-
und noch mehr Holzstühle sowie einige Bilder pflegten wohl fast
immer vorhanden zu sein; nicht selten auch eine Nähmaschine, eine
Hängelampe und ein hübscher, äußerlich eleganter, wenn auch sehr
oberflächlich fabrizierter Kleiderschrank oder Vertikow. In der
Ecke oder an der Seite, wo der zum Kochen benutzte Ofen stand,
pflegte das wenige Küchengeschirr zu hängen; Töpfe, das „Geschühte“
und sonstiges Gerümpel, vielleicht auch noch irgend ein Schrank
befanden sich dann in dem anstoßenden Zimmerchen, das im übrigen fast
vollständig mit Bettgestellen besetzt war. Einem jungverheirateten
Paare fehlte häufig eins oder mehrere der oben genannten Stücke, etwa
das Sofa, der Spiegel, die Uhr: man war da eben noch nicht in der
Lage gewesen, sie sich schaffen zu können, denn da unten heiratet
man ja ohne Mitgift. Ob aber in einem solchen Haushalt Ordnung,
Reinlichkeit, verständnisvolles Arrangement und bei aller Enge und
größter Einfachheit ein freundlich einladender Geist herrschte oder
nicht, das bestimmten die Zahl der Kinder, ihr Alter, das Verdienst
und die Haltung des Mannes, die Beschäftigung und vor allem natürlich
der Charakter, die Anlage, die Vergangenheit der Frau. Ich war bei
Arbeitskollegen im Hause, die kaum ein paar Pfennige mehr für die
Arbeitsstunde hatten als ich und genug Kinder und wenig gute Möbel,
und bei denen man doch nur gerne blieb; ich war bei Stoßern und
Bohrern, die auf Akkord arbeiteten und 40 bis 50 Mark die Woche
verdienten, wo es nicht einfacher aussah als in meines Vaters Haus,
und weiße Decken den Tisch, das Sofa und die Kommode, weiße Gardinen
die blumenbestandenen Fenster, manches Bild die reinlichen Wände
schmückten, und ich sah auch das Gegenteil bei Leuten sowohl mit großem
als mit geringem Verdienste, mit vielen und wenigen Kindern, mit neuem
und altem Hausgerät.

Jedenfalls -- und ich betone das scharf und nachdrücklich -- war die
Zahl der Familien, die bei aller Beschränktheit der Lebenshaltung
und Wohnung so gut als möglich auf Adrettheit und Anstand zu halten
versuchten und auch thatsächlich hielten, unendlich größer, als
diejenigen, bei denen das aus irgend einem Grunde nicht der Fall war.

Das Traurige an dem ganzen Wohnungswesen dieser Leute war vielmehr ein
andres, schon oft beklagtes: das Mißverhältnis zwischen der Enge der
Räume und der Zahl ihrer Bewohner. Solche eben geschilderte Wohnräume
genügten wohl jungen, erst verheirateten Leuten mit ein oder zwei
Kindern zu einem halbwegs gesunden, zufriedenen Wohnen: wo sich aber
eins, zwei, drei Kinder mehr einstellten, und wo man um des bessern
Auskommens willen noch gar Fremde in Kost und Logis zu nehmen gezwungen
war, gab es dann Zustände, die sich leicht nachfühlen, aber schwer
beschreiben lassen. Das aber war selbstverständlich die Regel. Weitaus
die meisten Familien hatten eine Schar Kinder, hatten Schlafleute und
Kostgänger. Tadellose Wohnungsverhältnisse gab es darum nur da, wo
weder die einen noch die andern vorhanden waren: wenn kinderlose oder
auch ältere Ehepaare, deren Kinder bereits erwachsen und versorgt
waren, leidliches oder gar gutes Einkommen hatten, blieb man gern
für sich und machte es sich freundlich, gemütlich daheim. So bei
einem Stoßer, den ich mehrmals besuchte, dessen Jüngster eben aus der
Schule war. Hier wars einfach reizend. Auch das waren noch günstige
Verhältnisse, wo, wie in der Familie eines aus unsrer Kolonne, der
in einem solchen ehemaligen zum Miethause umgewandelten Bauernhause
wohnte, Vater, Mutter, eine erwachsene Tochter aus erster Ehe der Frau
und drei kleine Kinder aus der jetzigen Ehe eine geräumige Eckstube,
einen einfenstrigen Alkoven und eine Bodenkammer inne hatten: Da
schlief das Mädchen in der letztern allein; die übrigen im Alkoven,
und zwar das Kleinste in der umfangreichen Wiege, die zwei andern
in einem und die Eltern auch in einem Bette. Solches allnächtliches
Zusammenschlafen einmal der Eltern und dann von Geschwistern, auch
schon größern, und dann auch von Bruder und Schwester in einem Bette
war übrigens nach meinen Erfahrungen weitaus die Regel: nur bei zwei
kinderlosen Ehepaaren fand ichs auch in diesem Punkt anders und
besser; da hatten die Gatten je ein Bett für sich. Ungünstiger schon
als bei der eben geschilderten Familie lagen die Dinge bei einer
andern mir befreundet gewordenen, die aus den jungen Eltern, einem
zweijährigen und einem halbjährigen Kinde und einem erwachsenen fremden
Fabrikmädchen bestand, und die sich nur mit einem einzigen engen
Zimmer zur ebnen Erde und der Dachkammer, wo jene Fremde schlief,
begnügen mußte. In dieser einzigen Stube, die natürlich Wohnzimmer,
Schlafzimmer, Besuchszimmer und Küche zugleich war, stand ein einziges
Bett für die Eltern, ein Kinderwagen, ein Tisch, ein paar Stühle, eine
Kommode, ein Kleiderschrank und Küchenzeug eng zusammen. Aber auch so
wars noch verhältnismäßig gut. Es kommt noch schlimmer. Wieder ein
Handarbeiter meiner Kolonne, bei dem ich am häufigsten war, der eine
energische, fleißige Frau, ehemalige Köchin, zwei von ihm und ihr
herzlich geliebte und sorgsam gehütete Kinder, ein Mädchen von etwa
neun und einen Jungen von sechs Jahren hatte, bewohnte in einem mit
Menschen vollgestopften Hintergebäude mit drei jungen Schlossergesellen
aus unsrer Fabrik ebenfalls nur ein enges zweifenstriges Zimmer, einen
Alkoven und eine Bodenkammer. Auch hier schliefen Eltern und Kinder
je in einem Bette zusammen, und zwar so, daß diese zwei Betten fast
den ganzen Raum einnahmen, die +drei+ Burschen in der etwas
geräumigern Bodenkammer ebenfalls nur in +zwei+ Betten, also zwei
einander fremde zusammen in einem Bette, und nur einer allein, wofür
er natürlich entsprechend mehr zu bezahlen hatte. Wie verbreitet diese
Sitte war, beweist die geringfügige Thatsache, daß ich, wenn ich auf
meinen Wohnungssuchen meinen Wunsch zu erkennen gab, ich möchte gern
„für mich,“ wie ich meinte, in einem Zimmer allein, schlafen, wohl fast
immer dahin verstanden wurde, allein in +einem Bette+.

Das ärgste von Wohnungsnot aber, was ich erlebte, war bei einem andern
Mann aus meiner Fabrik. Das war thatsächlich nicht mehr menschenwürdig.
Der Mann war ein alter, langjähriger Arbeiter und hatte eine Maschine
zu bedienen. Er war nicht mehr jung, knapp über die fünfzig, ein
kleiner, biedrer, guter Kerl, mit dem ich mich besonders viel und
gern unterhielt. Er hatte eine kränkliche, halbgelähmte, blutflüssige
Frau, deren Lebens- und Liebesgeschichte er mir wie seine eigne in der
ganzen Massivheit, wie sie sich unter diesen Leuten abspielt, und mit
der ganzen naiven Offenheit und kameradschaftlichen Vertraulichkeit,
wie sie da unten auch zwischen ältern und jüngern schnell entsteht,
doch nicht ohne poetischen Schimmer ausführlich erzählte. Ihre Kinder
waren bereits erwachsen und verheiratet; sie hatten nur eine von ihnen
herzlich gepflegte Enkelin noch bei sich, dagegen +fünf+ fremde
Schlafleute! Dieses Mannes Wohnung nun bestand aus folgenden Gelassen:
aus einer Stube, einem wirklichen Alkoven, einer einfenstrigen Kammer
und einer Dachkammer. In der einfenstrigen Kammer standen zwei Betten,
in deren einem ein Pferdebahnkutscher, und in deren anderm +zwei+
böhmische Maurer nächtigten. Im Alkoven, in einem Bette für sich,
schlief die kränkliche Frau allein; ihr Mann seit +drei+ Jahren,
seit seine Frau niemand mehr neben sich liegen haben konnte, auf dem
Sofa derselben Wohnstube, die vom frühen Morgen bis nach zehn Uhr
abends, das heißt für diese Leute bis tief in die Nacht und in die
Schlafenszeit hinein, von sämtlichen schwatzenden, essenden, rauchenden
Haushaltungsmitgliedern frequentiert wurde. Denn die beiden Maurer
mußten schon früh ½5 Uhr weg und vorher noch ihren in eben dieser
Stube gekochten Kaffee getrunken haben, und der Pferdebahnkutscher kam
erst abends ½10 Uhr von seinem schweren Dienst zurück und wollte dann
noch Abendbrot essen. Wo war da eine wirklich erquickende Nachtruhe
für Mann und Frau möglich? Aber das Ärgste kommt noch. In der noch
übrig bleibenden Bodenkammer standen ebenfalls zwei Betten: in dem
einen schlief ein ganz junges Ehepaar, das hier zur Aftermiete wohnte,
tagsüber auf Arbeit war und wohl nichts sein Eigen nannte, und in dem
andern das zwölfjährige Mädchen, das Enkelkind. Man macht sich leicht
ein Bild von dem, was dies Kind nächtlicherweile hören und erleben
konnte, wie es überhaupt in diesem und ähnlichen Haushalten selbst bei
dem besten Willen aller Bewohner zugehen mußte.

Kamen nun obendrein noch Verwandte oder Bekannte zu Besuch, so war ihre
Beherbergung mit weitern großen, fast unglaublichen Einschränkungen
verknüpft. Jenen letztgenannten Arbeiter, bei dem so jammervolle
Wohnungszustände herrschten, besuchte einmal mit zwei ihrer Kinder
seine nach Thüringen verheiratete Tochter, „eine Schlange, die ihre
Eltern auszunutzen sucht,“ wie der Vater in einer mürrischen Stunde
einmal meinte. Da schliefen auch diese beiden Kleinen noch bei den
Großeltern, und zwar in der Dachkammer, mit der Zwölfjährigen zu dritt
in einem Bette, während die Tochter bei Verwandten in der Nachbarschaft
untergebracht war. Und alle solche Zustände herrschten unter einer
Arbeiterschaft, die vorher als eine verhältnismäßig gutgestellte
bezeichnet werden mußte!

Die meisten und größten dieser Übel kamen jedenfalls durch das
+Schlafstellen-+ und +Kostgängerunwesen+. Das ist der Ruin der
deutschen Arbeiterfamilie. Aber es ist für sie in den allermeisten
Fällen eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Der geringe materielle
Vorteil, der dabei herauskommt, ist ein ersehnter Zuschuß zum
Wirtschaftsgeld der Arbeiterfrau. Daß die Arbeiter sich nur zum Spaße
mit solchen Fremden herumplagen, braucht niemand zu glauben. Im
Gegenteil machte ich häufiger die Erfahrung, daß, wer es durchsetzen
kann, womöglich sich diese Leute vom Halse und aus dem Hause hält. Wenn
man es aber thut, nimmt man jedenfalls immer lieber junge Männer als
junge Mädchen.

Es gab ganz bestimmte, von einander verschiedene Arten von
Schlafstellen, bessere und schlechtere. Die traurigsten, moralisch
und sanitär gefährlichsten hat glücklicherweise eine verständige und
nachahmungswerte Verordnung des Chemnitzer Amtshauptmanns unmöglich
gemacht. Durch diese Verordnung wurde für jeden Schläfer ein nach
Kubikmetern bestimmter notwendiger Raum vorgeschrieben +und den
einzelnen Familien das gleichzeitige Halten von Schlafburschen und
Schlafmädchen streng untersagt+. Bei meinen Besuchen und Gängen fand
ich etwa noch folgende Arten an:

a) Schlafstellen unter dem Dache, in den obengeschilderten
Bretterverschlägen. Hier pflegte fast jede Familie ein bis drei Betten
stehen zu haben. Und keine Etage des ganzen Hauses war des Nachts oft
dichter besetzt, als diese Dachräume, deren schiefe Decke Dachsparren
und die nackten Ziegel bildeten. In alten Häusern mußten es, namentlich
im heißen Sommer, nächtliche Marterkästen sein; in solider gebauten
waren es mit die besten Schlafräume. Jedenfalls hatte diese Art von
Schlafstellen den großen Vorzug, daß sie des Nachts den Fremden von
der ihn beherbergenden Familie isolierte. Sie waren ungemein zahlreich
und je nach ihrer Güte teurer oder billiger. Die geringwertigere
Sorte bevorzugten mit Vorliebe die anspruchslosen böhmischen Maurer
und Erdarbeiter, die nur den Sommer über hier auf Arbeit waren. Der
wöchentliche Durchschnittspreis war etwa zwei Mark; dafür bekam man
noch den Morgenkaffee. Bei kleinen Meistern schlafen die Lehrjungen, ab
und zu auch einer ihrer Gesellen hier, manchmal mit einem oder mehreren
fremden Schlafburschen zusammen. In kleinen Beamten-, Kaufmanns-
oder ähnlichen Familien, wo ein Dienstmädchen nötig gebraucht wird,
und die Wohnräume knapp sind, wird auch deren Bett mitunter, dann
natürlich allein, hier aufgestellt. Außer der Bettstelle und einigen
Nägeln in der Wand giebts gewöhnlich kein Mobiliar in diesem Gelaß,
es sei denn, der Fremde brächte sich eine Kommode oder eine Kiste
mit. Jenes passiert selten, dies häufig. Die paar Kleider, die so ein
Menschenkind zu besitzen pflegt, werden dann an die eingeschlagenen
Nägel gehängt, die Wäsche und die andern Siebensachen in der Kiste und
das andre Paar Stiefel in einer Ecke der Bodenkammer untergebracht. Wer
ganz billige Unterkunft haben wollte oder mußte, mietete sich solchen
Bretterverschlag mit einem Bette mit einem Freunde zusammen.

b) Die zweite Reihe Schlafstellen befindet sich in den Wohnräumen
der Familie selbst. Die bedenklichsten darunter, die mit der Familie
in einem Raume gemeinsamen, sind nebst den durch die angeführte
Verordnung untersagten heute wenn auch noch nicht ganz beseitigt, so
doch selten. Wer in einem Alkoven (in der Stadt wird oft auch die Küche
dazu benutzt) mit mehreren andern zusammenschläft, pflegt wöchentlich
eine Mark zu zahlen; wer in einem leeren, d. h. nur mit einem Bette
ausgestatteten Alkoven allein schläft, mindestens zwei Mark. Dann
kommen die beiden besten, aber auch seltensten Kategorien: schlicht
möblierte Stübchen mit zwei und drei Betten, die namentlich unter
einander befreundete junge Schlosser aus bessern Familien für je zwei
Mark die Woche gemeinsam bewohnen, und ebensolche mit einem Bette, die
freilich wegen ihrer Kostspieligkeit (drei Mark für die Woche) weniger
verlangt werden und bereits den Übergang zu den in studentischen
Kreisen üblichen schlichten Garçonwohnungen bilden.

Die angeführten Wohnungspreise sind natürlich nur, aber ziemlich
sichere, Durchschnittsangaben. Sie verstehen sich immer mit
Morgenkaffee, häufig auch mit Abendkaffee. Sie sind nicht hoch; für
den jungen Burschen, der meist eben so viel als ein verheirateter Mann
verdient und für niemand zu sorgen hat, mit die geringste Ausgabe für
notwendige Bedürfnisse. Dennoch kommt es nicht selten vor, daß einer
mit dem Logisgeld durchbrennt. Der Chemnitzer Lokalanzeiger brachte
fast täglich eine derartige Notiz, wobei zu bedenken ist, daß nur
ein kleiner Teil der Fälle von den Betroffenen zur Anzeige gebracht
wird. Dann pflegt man gewöhnlich eine verschlossene, aber leere, mit
einigen Steinen beschwerte Kiste als Pfand zurückzulassen. Namentlich
Arbeitslose manövrieren gern so. Sie spiegeln ihren neuen Wirtsleuten
vor, daß sie Arbeit hätten, gehen des Morgens zur vorgeschriebenen
Stunde weg, vertreiben sich den Tag teils auf der Herberge, teils mit
Spaziergängen, teils mit Arbeitsuchen und kommen zur Feierabendzeit
ins Quartier zurück. Wenns paßt, fliegt dann der Vogel einmal aus --
auf Nimmerwiedersehen. Das ist dann immer eine herbe Einbuße für die
Familie.

Über die +Kleidungsverhältnisse+ meiner Arbeitsgenossen habe
ich natürlich weniger zu sagen. In der Fabrik war die Kleidung
selbstverständlich primitiv und schmutzig. Ein festes, wenn auch durch
langen Gebrauch abgeschabtes, glänzig gewordenes Beinkleid, eine Weste
und darüber ein blauer Leinwandkittel war das übliche Kostüm. Mit
Vorliebe zog man in der Fabrik die Stiefel aus und Holzpantoffeln
an. Wenn man die Stiefel anbehält, schmerzen die Füße nach dem
elfstündigen Stehen und Gehen auf dem Ziegelpflaster zu sehr. Nur
wenige arbeiteten mit unbedecktem Kopfe; die meisten trugen teils
des herumfliegenden Staubes und Schmutzes wegen, teils aus alter
Volksgewohnheit eine leichte billige Mütze oder den alten abgenutzten
Hut, den sie auch auf den Gängen von und zur Fabrik aufhatten. Außerdem
banden wir Handarbeiter und noch einige andre, die viel zu heben und
zu transportieren hatten, noch eine aus altem Sackleinen meist selbst
gefertigte Schürze vor. War es, wie an manchen Tagen des vergangenen
Sommers, besonders heiß und darum trotz allen Wassersprengens, wozu
dann drei Mann von uns kommandiert waren, erstickend dunstig in den mit
schwitzenden Menschen erfüllten Räumen, so zog man gern die Westen aus,
krempelte die Ärmel der Bluse hoch auf und schlug vorn Hemd und Bluse
weit zurück, daß die Brust weit offen lag. Unterbeinkleider trug man
selten, dagegen meist wollene Strümpfe und wollene bunte Hemden; bunte
Leinenhemden sah ich wenig, ganz vereinzelt grobe weiße nur bei einigen
Tischlern und Zimmerleuten. Wollene Kleidungsstücke wurden überhaupt,
wo es anging, mit Vorliebe sowohl von Männern wie von Frauen, auch ohne
Professor Jägers Sanktion, doch in längst erprobter Kenntnis von dem,
was richtig an seinem „System“ ist, getragen.

Es war allgemein Sitte, daß die üblichen blauen leinenen Blusen
allwöchentlich gewechselt wurden, und es fiel geradezu auf, wenn
Montag morgens einer wieder die altwaschene mitbrachte. Nur ein
bestimmter Arbeitsanzug aus starkem blauem englischen Lederstoff, den
man bei einem einhändigen Expedienten unsers Büreaus mit Erlaubnis der
Direktoren auf Abzahlung billig und preiswert kaufen konnte, der schwer
zu waschen war und auch nicht so leicht schmutzte, wurde länger, zwei
bis drei Wochen ohne Anstoß getragen.

So alt und bleiglänzig auch die ganze Kleidung meist war und sein
mußte, so wurde doch durchschnittlich darauf gehalten, daß sie nicht
zerrissen war. Wo das der Fall war, namentlich bei Verheirateten,
wurde es gar wohl bemerkt. Man machte mich bei ein paar solchen
Leuten geradezu darauf aufmerksam mit den halb entschuldigenden, halb
bedauernden Worten: „Na, es kann ja auch nicht anders sein; seine Frau
ist eben eine Schlumpe.“

Nur wenige befolgten bei uns die Sitte, die nach Erzählungen einiger
junger Schlosser in Berlin unter den jungen Leuten mit gutem Verdienste
sehr üblich sein soll, daß man nach Schluß der Arbeitszeit gleich in
der Fabrik das Arbeitszeug aus und gutes anzog; die meisten von uns
gingen im Arbeitsanzuge nach Hause, über die blaue Bluse nur einen
alten ehemaligen Rock oder eine Jacke gezogen, den Blechkrug, in dem
man sich gewöhnlich morgens Kaffee mitbrachte, in der Hand. Ab und zu
kam es aber doch vor, daß man wenigstens die Beinkleider wechselte oder
doch während der Arbeit über die bessern leinene blaue zog.

Das gerade Gegenteil dieser eben geschilderten Werktagskleidung
pflegte der Sonntagsanzug zu sein. Dieser war fast bei allen höchst
anständig und modisch, oft so sehr, daß ich viele der Arbeitskollegen
nicht wieder erkannte, als ich sie zum erstenmale des Sonntags sah.
Namentlich die jungen, unverheirateten legten den größten Wert auf
diese Sonntagskleidung. In dem einen der besten Säle, wo Sonntag
abends junge Offiziere in Zivil, Referendare, Kaufleute, Handwerker
und Fabrikarbeiter mit eleganten Ladenmädchen und vornehm gekleideten
Dirnen zum öffentlichen Tanz zusammen zu sein pflegten, waren sie in
den meisten Fällen von ihren Tanzgenossen aus höhern Regionen kaum,
höchstens an den größern, derbern Händen und dem Mangel eines Klemmers
zu unterscheiden. Ebenso ließen es auch die Verheirateten nicht an
Schmuckheit in der Sonntagskleidung fehlen. Aber es trat dies Streben
bei diesen doch natürlich und desto mehr zurück, je besonnener,
sparsamer, schlichter einer war, je größere Familie er hatte, je mehr
er auf sie hielt und wendete; auch trug sich immer derjenige, der vom
Lande war oder wohl gar noch dort wohnte, selbstverständlich nicht
so modisch wie der Städter und Vorstädter. Gleichwohl war auch unter
ihnen auf diesem Gebiete die Nivellierung weit vorwärts geschritten.
Rote Schlipse und jene gewaltigen Turnerhüte, die einen so unsäglich
komischen Eindruck namentlich auf Köpfen mit noch ganz jugendlichen
bartlosen Gesichtern machen, waren weniger in Gebrauch, als man
annehmen sollte. Abschließend ist zu sagen, daß sich fast alle über
ihre Verhältnisse hinaus gut kleideten. Was sie dieser spezifisch
sächsischen Neigung opferten, sparten sie sich dann am Essen, am Leibe
ab.

Über die +Ernährungsverhältnisse+ der Arbeitsgenossen ist
nun manches zu sagen. Zunächst: wir hatten in der Fabrik nur zwei
Eßpausen. Früh 8 bis 8 Uhr 20 Minuten war Frühstückszeit, 12 bis 1 Uhr
Mittagszeit. Sonst wurde die beinahe elfstündige Arbeitszeit, von früh
6 bis abends 6 Uhr nicht unterbrochen. Nachmittags 4 Uhr durften allein
die Lehrlinge ein halbstündiges Vesper machen; wer von den übrigen
Bedürfnis hatte, aß mitten in der Arbeit ein paar Bissen. Die früher
allgemein übliche Vesperpause war unter Billigung der Leute beseitigt
worden, sodaß sie schon um 6 Uhr Feierabend haben konnten.

Das Frühstück wurde von beinahe allen in der Fabrik selbst eingenommen;
nur wenige, die in allernächster Nähe wohnten, gingen dazu nach Hause.
Wenige setzten sich auch in den der Fabrik benachbarten Budikerladen,
wo man guten Käse billig kaufte und in der vollgepfropften Wohnstube
des Besitzers oder in dem Laden zum mitgebrachten Butterbrot verzehrte.
Einigen andern brachten auch die Frauen das Frühstück oder schickten es
durch die Kinder, meist mit peinlicher Pünktlichkeit.

Die allermeisten aber nahmen das bereits am Morgen mitgebrachte Brot
in der Fabrik ein. Hier verteilte man sich nun dabei ganz nach freiem
Belieben. Sobald das Wetter einigermaßen schön war, setzte man sich
ins Freie, d. h. in den geräumigen Fabrikhof, an den Lattenzaun, der
ihn von einer vorüberführenden Eisenbahn trennte. Aus alten Kisten,
Brettern, Eisenteilen baute man sich da schnell seinen Sitz. Ein Teil
frühstückte auch im Speisesaale, einem großen, hellen Raum zu ebener
Erde, mit nüchternen, kahlen Wänden, langen hölzernen Tischen und
Bänken, einem Wärmeofen und dem Schanktisch des Kantinenverwalters, der
zugleich der Kutscher der Fabrik war. Junge Schlosser blieben wohl auch
gleich an ihrem Arbeitsplatze und ließen es sich da schmecken.

Das ganze Frühstück ging ohne viel Umstände vor sich; an vorheriges
Toilettemachen war natürlich nicht zu denken. Die Kürze der Zeit verbot
selbst eine gründliche Reinigung der schwarzen Hände am Waschtroge. So
begnügten wir uns damit, sie an der selbst schmutzigen Schürze, an
Putzfäden, Sägespänen oder sonst etwas flüchtig abzuwischen. Ich kann
nicht sagen, daß uns das den Appetit auch nur im geringsten verdorben
hätte, der gerade um 8 Uhr bei allen stark vorhanden war. Es schmeckte
uns allen niemals besser als bei diesem zweiten Frühstück, nach
zweistündiger Morgenarbeit.

Es wurde sehr stark gegessen: ein großes Butterbrot und stets etwas
dazu, Wurst, rohes Fleisch, Käse, ab und zu gekochte Eier, saure
Gurken. Je weiter der letzte Lohntag zurücklag, desto mehr herrschte
der Käse vor. Und die Zukost war außer bei den Handarbeitern und andern
mit besonders wenig Verdienst und vielen Kindern gesegneten reichlich
und immer gut bemessen. Stets auch wurde dazu etwas getrunken, was
infolge unsrer Beschäftigung eben so notwendig war wie gutes Essen.
Man trank gleich häufig kalten oder warmen Kaffee oder Buttermilch,
ein bei der Chemnitzer Arbeiterbevölkerung allgemein beliebtes, eben
so nahrhaftes als billiges Sommergetränk. Nur in seltenen Fällen
habe ich beobachtet, daß die Wohlhabendern sich auch bairisch Bier
leisteten, und dann auch nur in den ersten Tagen nach der Löhnung.
Dagegen war der Genuß von einfachem Bier, wovon die Flasche sieben
Pfennige kostete, in stetem Zunehmen und verdrängte immer mehr und
mehr den Schnapsgenuß. Eine Hauptursache dazu ist wohl die Erfindung
des allbekannten Patentverschlusses gewesen. Denn der Arbeiter, der
früher die Schnapsflasche in der Tasche hatte, nimmt jetzt die ebenso
transportable Bierflasche mit. So wird eine kleine technische Erfindung
von großer sozialethischer Bedeutung -- hier einmal in günstigem
Sinne -- und wirkt mehr als viele moralisierende Reden und andre
Reformversuche.

Speisen und Getränke brachte man sich entweder von daheim mit oder
kaufte sie sich in der Kantine. Jenes pflegten vor allem die ältern
verheirateten, darum sparsamen, dies die unverheirateten Leute zu thun.
In dieser Kantine war nur der Verkauf von Brot, Semmel, dreierlei
Wurst, Käse, ab und zu auch Eiern, sowie von Kaffee und einfachem Bier
gestattet. Die Preise waren nicht hoch, doch so, daß der Verkäufer
noch etwas dabei verdiente; ein Topf Kaffee mit Zucker kostete
vier Pfennige, eine Flasche Bier sieben Pfennige. Eine Einrichtung
dabei wurde besonders dankbar empfunden. Wir waren etwa vier- bis
fünfhundert Arbeiter; nimmt man an, daß nur ein Viertel von ihnen
in der Kantine kaufte, so hätten gegen hundert Mann allmorgendlich
sich um den Verkaufstisch gedrängt, und die letzten hätten glücklich
am Schlusse der Pause bedient werden können. Um diesen Übelstand zu
beseitigen, war gestattet, daß einer von uns Handarbeitern, ein dazu
fest bestimmter, eine Stunde vorher von Mann zu Mann ging, dessen
Bestellungen entgegennahm und dann kurz vor 8 Uhr dies Bestellte den
einzelnen an ihren Platz brachte: den heißen Kaffee in einer großen,
blitzblank gescheuerten blechernen Gießkanne, aus der jedem in seinen
Blechkrug geschenkt wurde.

So primitiv in vielen Punkten dies ganze Frühstück war, so wurde das
doch nicht unangenehm empfunden. Man sah ein, daß es nicht anders
anging, und ließ es sich schmecken.

Für das +Mittagessen+ war, wie gesagt, auch bei uns die übliche
Stunde von 12 bis 1 Uhr frei. Grundsatz war für alle: Wer zu Tisch
nach Hause kommen kann, geht nach Hause. Das war in unsrer Fabrik doch
einer sehr großen Zahl möglich. Und so wiederholte sich täglich in
unsrer Vorstadt ein interessantes Bild. So wie die Dampfpfeifen punkt
12 Uhr ihr Signal gaben, waren mit einem Schlage die sonst stillen
Straßen mit Hunderten von Menschen belebt, die im schnellsten Schritt
in der verschiedensten Richtung, allein oder zu zweien und dreien, an
einander vorübereilten; wer unter sie gehörte, begegnete alltäglich
immer denselben Gesichtern. Und dasselbe Bild eine Stunde später,
kurz vor 1 Uhr, bis dasselbe Signal die Straßen wieder säuberte. So
reguliert, wie früher der Klang der Glocken, heute der schrille Schrei
der Fabrikpfeifen das tägliche Leben der Bewohner unsrer Fabrikorte.
Denn wie mittags 12 und 1 Uhr gellen früh ½6 und um 6 Uhr und ebenso
zum Feierabend diese Pfeifen.

Was mittags in den einzelnen Familien gegessen wurde, vermag ich
selbstverständlich nicht zu sagen. Häufig fragte ich, was es gegeben
hätte, aber manchmal erfuhr ich nicht die Wahrheit. Dann war
anzunehmen, daß es besonders dürftig gewesen war. Fleisch gab es
bei den hohen Fleischpreisen natürlich nicht immer, doch vermochte
es eine kluge, sparsame Hausfrau öfter auf den Tisch zu bringen
als ihr Gegenteil. Denn innerhalb bestimmter, durch das Einkommen
gezogener Grenzen kommt auch hier alles auf das Talent und den Wert
der Frau an. Eine tüchtige Hausfrau macht in dieser Weise -- und sie
sind +nicht+ in der Minderzahl -- fast Unmögliches möglich.
Die Frauen von zwei meiner engern Arbeitskollegen, die wöchentlich
noch nicht fünfzehn Mark verdienten, sagten mir, es gebe bei ihnen
+immer+ Fleisch in irgend welcher Form. Die eine von ihnen hatte
ein zweijähriges und ein halbjähriges Kind, die andre ein neun- und
ein fünfjähriges, eins unter dem Herzen und zwei auf dem Friedhofe;
jene hatte außer ihrem Mann und ihren Kindern noch ein Schlafmädchen,
die andre noch zwei Schlosser am Tisch. Beide Frauen hatten früher
als Dienstmädchen gedient. Dann wieder war bei uns ein Monteur, der
verhältnismäßig viel verdiente; wer seine Frau sah, wußte, warum seine
Kleidung so vernachlässigt war, warum er, wie er mir einmal erzählte,
häufig selbst kochte und briet und sie nicht mitthun ließ. Eines
Sonntags sollte es bei ihm als besondre Delikatesse Hundebraten geben.

Anstatt der Butter wurde in manchen Familien viel Fett und viel Leinöl
gegessen. Im allgemeinen schließlich gilt der Satz, daß man am Anfang
einer Lohnperiode immer besser lebte als am Ende.

Zwei Konsumvereine am Orte wurden von den Familien viel benutzt,
namentlich am Abend des Lohntages, wo man gleich für mehrere
Tage Einkäufe machte. Der eine Verein war eine ausgesprochene
sozialdemokratische Gründung, der andre noch jung; beide florierten.

Viele Familien hatten außer ihren eignen Angehörigen, wie schon gesagt,
noch Kostgänger, häufig ihre eignen Schlafleute, oft noch andre junge
Burschen und Mädchen dazu, ab und zu auch verheiratete Männer, die
selbst zu weit nach Hause hatten, ihrer Familie die Unbequemlichkeit
des Essentragens ersparen, aber auch den noch etwas teuren Mittagstisch
in der Kneipe vermeiden und sich doch auch nicht mit einem kalten Imbiß
in der Fabrik begnügen wollten. Des Sonntags aber war es allgemeinste
Sitte, daß jeder in der Familie aß, in der er wohnte. Soviel ich
erfahren konnte, gab es, wo Fremde mit aßen, häufiger Fleisch, immer
aber bessere Speisen, und der Preis, den der Kostgänger zahlte, war
stets niedriger als der, den wir im Gasthaus zahlten.

Das war wieder eine andre, verhältnismäßig große Gruppe, die zum
Mittagstisch in eine der in der Nähe liegenden, ganz einfachen Kneipen
ging. Meist waren es junge, unverheiratete Leute mit besserm Verdienst,
und vor allem Schlosser, denen die Engigkeit einer Arbeiterwohnung,
die in der als Küche und Eßzimmer benutzten Stube und bei der Eile
aller Beteiligten gegen Mittag am fühlbarsten wurde, unbequem und
die Ordnung einer Restauration lieber war. Oder sie wohnten sehr
weit und hatten keine ihnen bekannte Familie in der Nähe, von der
sie mittags aufgenommen werden konnten. Ich that es ihnen nach, weil
es mir anfangs ebenso ging. Ich habe hinter einander in drei Kneipen
gegessen, in der einen von ihnen fast dreiviertel der Zeit, die ich
in der Fabrik verbracht habe. Es war das ein kleines, einfaches, aber
anständiges Restaurant; die hübsche Tochter des Wirtes trug auf in
genauer Reihenfolge, wie wir saßen, und um keinen zu benachteiligen,
jeden Tag bei einem andern beginnend. Das Essen war reichlich und
leidlich schmackhaft; einen Tag um den andern gab es Braten, den man
trotz seiner Wässrigkeit sehr liebte, die übrigen Tage setzte es
Kochfleisch und Gemüse, das mir lieber war. Dazu erhielt jeder außer
einer tüchtigen Portion von Kartoffeln ein großes Stück Brot, und
das Ganze kostete Tag für Tag mit einem Glas einfachen Braunbiers
vierzig Pfennige. Es herrschte gute Ordnung unter den Tischgenossen,
ein höflicher Ton und ein anständiges Gebaren. Man aß ruhig, ohne
Hast. Es wurde wenig gesprochen und viel gelesen, sodaß, wenn einer
ein Blatt zu Ende hatte, ein andrer schon immer darauf wartete, es zu
erhalten. Und genau wie hier ging es in dem zweiten Lokale zu. Das
dritte, nur von wenigen besuchte, stand tiefer. Es war die sogenannte
Kutscherstube eines großen Etablissements. Diese allgemein verbreiteten
Kutscherstuben sind sozial und moralisch ganz bedenkliche Institute:
meist unsauber, eng und unfreundlich, bilden sie den Übergang zu jenen
berüchtigten Stehbierhallen und Destillationen, die, häufig mit Kauf-
und Budikerläden verbunden, durch die Leichtigkeit, Einfachheit und
Schnelligkeit der Bedienung, durch die Möglichkeit, sofort wieder gehen
zu können, die größten Verführungsstätten zum Trunk für die untern
Schichten sind.

Die eben geschilderten Restaurationen vertrat im Innern der Stadt
teilweise die städtische Speiseanstalt, die täglich von 12 bis 1 Uhr
geöffnet war, von Hunderten von Arbeitern und auch Arbeiterinnen
besucht wurde und sich gut rentieren soll. Vier große Speisesäle zu
ebener Erde und im ersten Stock waren in dieser Stunde immer gedrängt
voll; selbst auf dem öden, weiten Hofe hatte man Tische und Bänke
aufgestellt. Es gab zwei Klassen hier. In der einen kostete der
Mittagstisch dreißig, in der andern fünfzehn Pfennige. In der ersten
gab es an gedeckten Tischen, doch ohne Bier, etwa dasselbe wie in
unsern Vorstadtrestaurants, in der zweiten in einem großen Napfe, den
man sich selbst holen mußte, Bohnen, Reis, Graupen, Linsen und ähnliche
Hülsenfrüchte, gewöhnlich mit einem Scheibchen Wurst oder Fleisch.
Während meiner Herbergszeit habe ich in beiden Klassen gegessen; in
beiden war es reichlich und verhältnismäßig gut. Einmal wurde ich dabei
aus dem Lokal hinausgeworfen. Ein Bummler in abgetragener modischer
Kleidung, mit langem, grauem Haar und dem Auftreten eines ehemaligen,
nun verkommenen Künstlers, ein häufiger Gast der Herberge, verkaufte
einmal drei Speisemarken zweiter Klasse, das Stück für fünf Pfennige.
Ich nahm natürlich auch eine und ging damit mittags in die Anstalt
zu Tische. Als ich sie vorwies und meinen Napf mit Erbsen in Empfang
nehmen wollte, fragte man mich barsch, woher ich diese Marke habe, die
ganz anders aussah als diejenigen aller übrigen. Ich erzählte es, aber
man schien mir nicht recht zu trauen, sagte, das seien Armenmarken
und wahrscheinlich gestohlen, und jagte mich schleunigst zum Tempel
hinaus. Als ich dann in die Herberge zurück kam und es erzählte,
setzte es dann noch ein zweites Donnerwetter vom Herbergsvater, das
sich dann noch mehrmals wiederholte, so oft wir, „die ihm den Tag
über, ohne etwas zu verzehren, die Stühle durchsäßen,“ mittags noch
anderswohin essen gingen. Denn ich war nicht der einzige, der sich
so in der Herberge herum drückte. Es gab noch manchen, der keinen
Pfennig mehr in der Tasche und Hunger im Leibe hatte, und der dann
auch in die Speiseanstalt ging, um dort im Gedränge die auf dem Tische
herumstehenden Näpfe mit Resten leer zu essen. Einer meiner neuen
guten Freunde empfahl mir heimlich diesen Weg als den besten und
kostenlosesten besonders angelegentlich.

Der Rest der Arbeitsgenossen brachte die Mittagsstunde ganz in der
Fabrik zu. Es waren Junge und Alte, Verheiratete und Unverheiratete,
eine immer noch große Zahl, alle diejenigen, die zu weit ab von der
Fabrik wohnten, und zu sparsam waren oder zu wenig verdienten, um bei
Fremden ein warmes Mittagbrot zu bezahlen; sie begnügten sich meist
mit einem gleichen kalten Imbiß wie zum Frühstück und mit Kaffee, oder
sie wärmten sich Tag für Tag das Gemüse, das ihnen die Mutter oder die
Frau am Abend vorher schon bereitet hatte, und das sie des Morgens
in einem Blechkännchen mit in die Fabrik brachten. Für sie war der
nüchterne Speisesaal eine wahre Wohlthat, denn da in der Mittagsstunde
alle Werkstätten geschlossen wurden, war er der einzige Raum, in dem
sie sich aufhalten konnten. Mir thaten die Leute, namentlich die ältern
unter ihnen, aufrichtig leid; die elf Stunden am Tage wahrhaftig keine
leichte Arbeit zu thun hatten, denen fehlte in dieser einzigen Stunde
des Ausruhens beinahe jede Bequemlichkeit. Man denke sich nur in die
Lage hinein, man versuche es selbst einmal, Mittag um Mittag mit
kalter Küche oder nur aufgewärmtem Zeug fürlieb zu nehmen und man wird
begreifen, daß das dauernd kein würdiges Mittagbrot für einen Menschen
ist, der tagsüber stramm seine Pflicht thut. Das empfanden die Leute
selbst auch sehr gut. Wenn ich kurz vor Beginn der Nachmittagsarbeit
in die Fabrik zurück kam und -- wie es Sitte war -- ihnen Mahlzeit,
gesegnete Mahlzeit wünschte, da kam es vor, daß einer das bitter
abwehrte. Das sei ja keine Mahlzeit, am allerwenigsten eine gesegnete.

War das Wetter schön oder der Tag sehr heiß und darum der Körper
besonders schlaff und matt, dann legte man sich, wenn man mit seinem
Butterbrot zu Ende war, im freien Hofe an einer schattigen Stelle
irgend wohin auf ein Brett oder auf die Erde, um seufzend sein
Mittagsschläfchen zu halten. Nur selten brach, wenn wir so abgespannt
und stumm neben einander saßen und lagen, dann einer das Schweigen,
und dann war es oft nur ein herbes Wort, wenns auch scherzend klingen
sollte, wie das: Hats der arme Arbeiter doch gut!

Eins fehlte bei uns jedoch fast ganz: daß sich die Zurückbleibenden
von daheim das Essen in die Fabrik bringen ließen, was wieder an den
allzu weiten Entfernungen liegen mochte. In der Stadt war das aber
ganz allgemein Sitte; Hunderte von essentragenden Arbeiterfrauen
und Kindern durcheilten da täglich kurz vor 12 Uhr die Straße, um
pünktlich bei dem harrenden hungrigen Gatten und Vater oder der Mutter
zu sein. Und auf den Bänken der städtischen Anlagen sah man dann die
ruhenden Männer mit dem rauchenden Topfe in der einen und dem Löffel
in der andern Hand sitzen, Frau oder Kind daneben und oft mit essend,
-- denn die städtische Speiseanstalt ist selbstverständlich nur für
die erreichbar, deren Werkstätte in der Nähe liegt. Diese Art des
täglichen Mittagsbrotes erkläre ich für unwürdig. Unwürdig der braven
Familien, die dazu gezwungen, unwürdig unsrer Zeit, die sich prahlend
ihrer humanen Gesinnungen rühmt, unwürdig der Männer, in deren Händen
heute das Wohl und Wehe dieser Fabrikarbeiter ruht. Wie kann solch
eine Mahlzeit auf der Straße jemals eine gesegnete sein? Wie kann man
im Ernst tadeln, daß sie ohne Gebet und Händefalten hineingeworfen
wird? Wie muß sie ganz anders, als Agitatorenworte es vermögen,
den Familiensinn des Vaters und der Mutter und damit Familienglück
und Familienleben zerstören? Denn diese Zustände und ihre Folgen
treffen ja nicht nur den, dem man das bißchen Essen im Topfe auf die
Promenadenbank bringt, sondern stets die ganze Familie. Oft wird es
infolge dessen auch daheim bei Mutter und Kindern keinen geregelten
Mittagstisch geben. Nur ein drastisches Beispiel dazu. Es war auf
der Promenade an dem großen schönen Chemnitzer Schwanenteiche. Ich
saß auf der Bank neben einem, der eine knappe Viertelstunde von da
beim Trottoirlegen geholfen hatte. Er war in sieben Minuten bis zu
unserm Platz gelaufen und wartete nun auf seinen Knaben, den er mit
dem Essen dorthin bestellt hatte. Aber es wurde ein Viertel, es wurde
halb, und der Junge kam immer noch nicht. Nun gingen wir ihm entgegen,
und endlich, kurz vor dreiviertel kam er atemlos, voll Angst vor dem
ärgerlich gewordenen Vater angerannt: die Schule, die sonst pünktlich
12 Uhr zu Ende zu sein pflegte, war 20 Minuten länger ausgedehnt
worden. In einem Atem war dann der arme Junge von der Schule nach
Hause und von da zu uns gelaufen; in fünf Minuten hatte der Vater das
Essen hinunter und lief dann an die Arbeit zurück, während sein Kind
müde, hungrig, abgespannt nach Hause trollte, um sich nun erst, wohl
allein, zum Essen zu setzen, das Mutter, Geschwister und Kostgänger ihm
übergelassen hatten. Vielleicht ist dies ein seltnerer und besonders
unerfreulicher Fall; aber die Hauptsache daran, daß Kinder, die von
8 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags auf der Schulbank müde und hungrig
geworden sind, nun erst, ohne einen Bissen gegessen zu haben, den
Vater bedienen müssen, passiert täglich und nicht einem nur, sondern
hunderten von ihnen.

Doch zurück in unsre Fabrik. Einzelne von denen, die sich des Mittags
mit kalter Küche begnügten, pflegten allerdings dafür des Abends einen
warmen Ersatz daheim vorzufinden; manchmal aß die ganze Familie erst
um diese Zeit mit ihnen das aufgeschobene Mittagsbrot. Dann lag ja die
ganze Sache nicht so schlimm, wenigstens wenn die ganze Familie nur aus
Erwachsenen oder doch schon größern Kindern bestand. Wo aber Kinder
waren, da war dann das erste Übel durch ein zweites abgelöst. Denn eine
Hauptmahlzeit des Abends ist für Kinder bekanntlich nie förderlich und
gesund.

Das Abendbrot bestand bei der übrigen Mehrzahl meiner Arbeitsgenossen
aus Kartoffeln oder Brot mit Butter, Fett oder Leinöl und auch Zukost.
Quantität und Qualität dieser Speisen richtete sich stets nach der Höhe
des Einkommens, nach der Sparsamkeit und den sonstigen augenblicklichen
Ausgaben der einzelnen Familien. Aber nie fehlte der Kaffee, wovon
immer auch die Schlafleute ohne Entgelt einige Tassen bekamen. Brot und
Butter aber hielten diese sich gewöhnlich selbst.

Das ist, was ich von Bemerkenswertem über die Wohnungs-, Kleidungs-
und Ernährungsverhältnisse meiner Arbeitsgenossen mitzuteilen
vermag. Ich meine, auch diese lückenhaften Angaben beweisen schon
die Richtigkeit meiner oben gemachten Behauptung von der notwendigen
Engigkeit und Bescheidenheit ihrer Lebensstellung. Aber sie machen
auch noch eine andre Thatsache begreiflich, die man im Zusammenleben
mit diesen Menschen täglich erfährt, und die unendlich bedeutsamer
und verhängnisvoller als jene ist, nämlich die Thatsache, +daß
infolge dieser Zustände in weiten Kreisen unsrer großstädtischen
Industriebevölkerung die überlieferte Form der Familie heute schon
nicht mehr vorhanden ist+. Der alte, auf der Blutsverwandtschaft
von Eltern und Kindern ruhende und aus allein solchen blutsverwandten
Gliedern zusammengesetzte Organismus der Familie, an den sich in
bessern Ständen bisher nur einzelne Dienstboten fester oder loser
anschlossen, hat in der That in jener Bevölkerungsschicht heute bereits
mehr oder weniger einem erweiterten, aus den rein wirtschaftlichen
Bedürfnissen gemeinschaftlichen Wohnens und Lebens aufgebauten, in
der Zusammensetzung seiner Glieder durch Zufälligkeiten gebildeten
Kreise von Blutsverwandten und Fremden Platz gemacht. Deutlich treten
hier die verwandtschaftlichen Neigungen vor den wirtschaftlichen
Verpflichtungen zurück. Aus der Mutter wird der Haushaltungsvorstand,
der von dem eignen Manne, den erwachsenen Kindern und den Fremden
eine fest bestimmte Summe erhält und dafür verpflichtet ist, die
Ausgaben für Wohnungsmiete, Nahrung, Wäsche und ähnliches zu
bestreiten, während für die Kleidung ein jeder für sich zu sorgen
pflegt. Und nicht die Sozialdemokraten und deren Agitation haben
daran die Hauptschuld, sondern eben jene Zustände, die eine Frucht
unsrer ganzen wirtschaftlichen Verhältnisse sind, und die es den
Arbeiterfamilien unmöglich machen, gemeinsam ihre Morgen- und
Mittagsmahlzeiten einzunehmen, die sie zwingen, die allerdürftigsten
Häuser und allerengsten Wohnungen zu beziehen, dazu noch wildfremde,
häufig wechselnde Schlafgäste bei sich aufzunehmen und ihnen den
vertraulichsten gemeinsamen Umgang zu gestatten, den man sonst nur
mit den eignen Familienangehörigen zu pflegen gewohnt war. Man denke
daran, wie dicht in solchen Arbeitermietskasernen und den nach
ihrem Muster umgebauten ehemals ländlichen Wohnhäusern „Stube“ an
und über „Stube,“ d. h. also Wohnung neben Wohnung liegt, ohne jede
gegenseitige Abschließung, wie dünn die Wände der Zimmer in solchen
flüchtig gebauten Häusern sind, so dünn, daß jedes laute Wort in der
Nachbarfamilie deutlich verstanden wird; und wie die drei und vier
„Stuben“ einer Etage immer nur einen Korridor zu haben pflegen, dessen
Benutzung ebenso gemeinsam sein muß wie diejenige der Wasserleitung,
des Klosets u. a. Das alles führt zu einer Gemeinsamkeit des täglichen
Verkehrs und einer Öffentlichkeit des Familienlebens, über die man
erschrickt, wenn man hinein sieht, und die notwendig der Tod jedes
Familienlebens werden muß. Es ist ja gar nicht anders möglich, als
daß die Kinder solcher Familien dauernd fast wie Geschwister unter
einander leben, wobei der Korridor der Ort des gemeinschaftlichen
Aufenthalts, ihrer Spiele und Plaudereien ist; daß die jungen Burschen
und Mädchen dieser Familien in intimste Berührung, die Männer in nahen
Gedankenaustausch, oft freilich auch in Streit und Hader geraten, und
daß die Frauen jeden Winkel, jeden Makel, jedes Kleidungsstück und
Hausgerät aus den benachbarten Familien auf das genauste kennen, ja
daß die gemeinsame Benutzung solcher Geräte z. B. für die Küche durch
Entleihen und Verleihen einen sehr kommunistischen Zug in die ganze mit
solchen Dingen oft recht dürftig ausgestattete Hauswirtschaft solcher
Familien bringt. Dazu tritt die Enge und Beschränktheit der einzelnen
Wohnungen, die die Menschen mit Macht zur Thüre hinaus und des Abends,
so oft das nur möglich ist, ins Freie, auf die Straße und den Hof,
in die bessern, geräumigern Zimmer der Nachbarn oder in die Kneipen
und Versammlungen drängen. Man bedenke weiter, wie diese Enge noch
erhöht wird durch die Anwesenheit der fremden Schlafleute, die fremde,
und oft genug nicht gerade fromme, beßre Sitten und Gewohnheiten
mitbringen, eine andre Art, andre Anschauungen und Bedürfnisse, die
sie auch ungeniert wie daheim äußern und zur Geltung bringen wollen.
Man bedenke, daß diese fremden Gäste zugleich mit dem eignen Manne
und den eignen erwachsenen Kindern das Haus verlassen, daß sie zu
derselben Zeit wie diese zurückkehren und meist bis zum Schlafengehen
am gleichen Tisch wie diese miteinander sitzen, lesen, rauchen, sich
unterhalten, Karte spielen. Es ist in der That in vielen Familien so,
daß Eltern und Kinder ungestört zusammen +allein+ nur noch während
der Nacht, im Schlafen sein können. Denn auch die letzte Gelegenheit
eines gemütlichen gemeinsamen Beisammenseins, die Morgens- und
Mittagsmahlzeit wird, wie aus meinen obigen Schilderungen hervorgeht,
vielfach vereitelt durch die Arbeitsbedingungen, die den Vater, den
Sohn und die Tochter abhalten, zu Tische nach Hause zu gehn. Wo es aber
geschieht, da genügt meines Erachtens die einstündige Pause nur gerade,
um den doppelten Weg nach und von Hause machen und das Essen einnehmen
zu können, auch dies bei nur halbwegs größern Entfernungen, die für die
Arbeiter großer Etablissements natürlich die Regel ist, ohne richtiges
behagliches Sichzeitlassen, in Hast und Eile.

Über die Wirkung dieser Zustände auf die Sittlichkeit, den Charakter,
die Gesinnung der Arbeiter habe ich an einer andern Stelle zu reden.
Hier sollte nur die Thatsache der bereits vollzogenen Wandlung in dem
Wesen der Arbeiterfamilie konstatiert, und die Ursachen dargestellt
werden, die sie hervorgerufen haben. Ich wiederhole nochmals, daß sie
in erster Linie eine Frucht unsrer heutigen wirtschaftlichen Lage
sind. Und darum ist vor allem diese, nicht aber die Sozialdemokratie
als die Hauptschuldige anzuklagen, die hier nur wie so oft die letzten
Konsequenzen aus den Wirkungen der herrschenden Zustände gezogen und
in ein System gebracht hat. Die vorhandenen traurigen Zustände sind
erst Grundlage und Anlaß zur Verbreitung des sozialdemokratischen
Familienideals der Zukunft. Über diese Thatsache sollte man sich
namentlich auch in bestimmten kirchlichen Kreisen nicht wegtäuschen
und, anstatt Klagelieder über den allerdings vorhandenen Verfall
des alten christlichen Familienideals und Anklagen gegen die
Sozialdemokratie zu erheben, in diesem Falle zuerst lieber mit daran
arbeiten, daß die verhängnisvollen wirtschaftlichen Ursachen dieser
Zustände endgiltig und dauernd beseitigt werden.

  [*] Viele dieser engern Landsleute waren mit einander verwandt. Ich
      fand bei flüchtiger Umschau allein vier Brüderpaare bei uns, fünf
      Väter, die einen Sohn, mehrere, die Schwiegersöhne, einen, der
      Sohn und Schwiegersohn mit in der Fabrik hatte.



Drittes Kapitel

Die Arbeit in der Fabrik


Unsre Fabrik war durch ihren frühern Besitzer, der noch lebte, aus
kleinen Anfängen zu einem bedeutenden Institut entwickelt, seit einiger
Zeit aber in ein Aktienunternehmen, an dem jener stark beteiligt war,
umgewandelt worden. Ein technischer und ein kaufmännischer Direktor
standen augenblicklich an ihrer Spitze. Die Fabrik lag, wie schon
erzählt, in einem der bedeutenderen Vororte von Chemnitz. Zwei mächtige
parallel laufende Gebäude bildeten den Kern ihrer ganzen Anlage. An
ihrer einen Schmalseite sausten die Eisenbahnzüge dicht vorüber,
denen wir oft sehnsüchtig nachschauten; an der andern führte die
Landstraße vorbei. Von hier nimmt sich die Fabrik fast schmuck aus.
Ein gepflegter Obstgarten der Direktoren, ein breiter, sauberer Eingang
und ein freundliches Portierhäuschen mit einem Rosengärtchen davor
verdeckten den schwarzen Staub, der dahinter, auf Haus und Hof und
allem Gerät einer jeden solchen Eisenfabrik notwendig lagert.

Unser Hof, der sich an der Eisenbahn hindehnte, war groß und geräumig.
Auf ihm erhob sich unweit des Portierhäuschens ein kleiner Gasometer,
daneben ein größeres Gebäude mit Wohnungen für den Kutscher und
Wächter, mit dem Speisesaal und der Kantine, dem Kesselhaus für die
eine der beiden Dampfmaschinen und dem Pferdestalle; dann ein Schuppen
mit rostenden, einst kostbaren Maschinenteilen nunmehr veralteter
Konstruktion, mit eisernen Särgen, die einst auch in unsrer Fabrik
gebaut wurden, und wovon noch einige verstaubte Exemplare vorhanden
waren, mit Eisenspänen, die angesammelt und wieder gut verkauft wurden,
und mit allerhand anderm Gerümpel. Weiter zurück noch eine offne
Zimmermannswerkstatt, und unter freiem Himmel reiche Brettervorräte,
ein Kistenlager und große Kohlenhaufen. Dicht an dem primitiven, aber
festen hölzernen Zaune, der den Eisenbahndamm vom Hofe schied, erhob
sich ein mächtiger hölzerner Krahn zum Verladen der versandfertigen
Warengüter; ein Schienenstrang verband ihn mit den Eisenbahngeleisen.
Und über allem lag eine dicke Decke von Kohlenschmutz und Eisenstaub.
Selten etwas dem Auge Wohlgefälliges, selten ein dürftiger Baum
oder ein schmales Stück grünen Rasens, der über die herumliegenden
Eisenteile wild und ungepflegt herauswuchs. Nur in einem stillen Winkel
ein bescheidnes Gärtchen, das der Kutscher sich angelegt hatte, und in
dem er sich einiges Gemüse zog. Hier blühten einige Blumen, duftete
Krauseminze und Pfefferkraut. Manches mal haben wir uns heimlich
während der Arbeit ein Blatt davon geholt.

Dasjenige Hausgebäude, das diesen Hof nach der einen Seite hin
abschloß, war das ältere, die ursprüngliche Fabrik, darum primitiver,
mit niedrigern Stockwerken, kleinen Fenstern, dunkeln Arbeitssälen, die
zu ebner Erde mit oft sehr abgenutzten Ziegelsteinen gepflastert waren.
Hier in diesem Bau hatte man auch das kaufmännische Kontor und die
Expeditionszimmer für die Ingenieure und Zeichner untergebracht.

Zwischen ihm und seinem Bruderbau stand ein dritter, kleinerer: die
Schmiede mit der Werkzeugschlosserei und dem Magazin.

In dem andern großen Bau war ich mit beschäftigt. Er war später
aufgeführt und darum besser, bequemer, heller, luftiger und geräumiger
angelegt. Er hatte ebenfalls die Höhe eines zwei- bis dreistöckigen
Hauses. Der Bau erinnerte mich immer an das Innere einer Kirche. Er
hatte keine Etagen. Man konnte in der Mitte des Raumes bis hinauf zum
Dache sehen, das zum großen Teil aus Glasplatten bestand, um mehr Licht
herein zu lassen. An den beiden Langseiten liefen je zwei übereinander
gebaute breite Emporen hin, zu denen von unten steile primitive
Holztreppen hinaufführten, die namentlich bei großen Transporten
beschwerlich zu passieren waren. Auf der einen Empore befand sich der
Probiersaal, wo eben vollendete Maschinen ausprobiert wurden, und wohin
der Zutritt der großen Verunglückungsgefahr wegen nur denen gestattet
war, die einen Auftrag dorthin hatten. In einem andern Teile war der
Drehersaal. Die übrigen Emporen standen augenblicklich fast leer. Denn
der eine Zweig unsrer Maschinenproduktion, der hier seinen Sitz hatte,
lag sehr danieder. Auf dem östlichen Ende und der dortigen Schmalseite
des ganzen Baues fehlten die Emporen bis auf eine einzige kleine
ganz; dadurch war ein weiter geräumiger Platz geschaffen, lichter
und freundlicher -- gleich dem Altarplatze einer Kirche. Und wo in
unsern Kirchen oft die Sakristeien zu sein pflegen, stand hier das
Maschinenhaus mit dem eisernen stöhnenden Ungeheuer, das seine riesigen
Kräfte durch den ganzen Raum ausströmte und Dutzende schwerer Maschinen
und hundert Menschen in Atem und Bewegung hielt. Daneben ragte der
große Schornstein auf, dessen rußige rauchende Spitze auch zum Himmel
wies. Zwar fehlte Glockenklang und Orgelton. Aber dafür brausten andre
gewaltige Töne unaufhörlich durch die Halle: das Gehämmer und Gefeile
der Schlosser, das Ächzen und Dröhnen der Maschinen, das Quietschen
und Schlagen der Räder. Und was die schwarzen blaukitteligen Männer da
schafften -- wars nicht auch ein Gotteswerk, ein Gottesdienst? Konnte
es nicht wenigstens einer sein?

Platz war gleichwohl nicht viel in dem großen hohen Raume. An den
Fenstern der beiden Langseiten standen die Schraubstöcke der
Schlosser; an den Säulen, die die Emporen trugen, und wo sonst immer
ein geeigneter Platz und halbwegs genügendes Licht sich fand, waren
die großen und kleinen Arbeitsmaschinen aufgestellt; die größte,
eine gewaltige Bohrmaschine, legte sich quer durch den ganzen Raum
und war bei der Passage und vor allem bei Transporten oft sehr
unbequem und hinderlich. Um die einzelnen Arbeitsplätze herum, am
ziegelsteingepflasterten und häufig sehr holprigen und beschwerlichen
Boden lagen Eisenteile, die in Arbeit kommen sollten oder eben
bearbeitet waren, in der Nähe der Schlosser halb oder ganz fertige
Maschinen großen und kleinen Kalibers. Hier standen ausrangierte
Stücke, in gerader Linie aufgereiht, dort lehnten Bretter und lange
eiserne Wellen. In einer Ecke war der Blasebalg, daneben das Terrain
für die Packer; am entgegengesetzten Ende des Raumes nahm die frühere,
jetzt ausrangierte und zu einem Gelegenheitsverkauf bereitliegende
große Dampfmaschine unsrer Fabrik, in ihre einzelne Teile zerlegt, viel
Raum ein und hinderte die Bewegungsfreiheit. Ein gewaltiger Krahn, viel
benutzt und von zwei Mann an der Kurbel in mühsamer Kraftaufwendung
fortbewegt, lief durch den ganzen Raum, zwei kleine bedienten in
dem Teile, den ich oben mit dem Altarplatz einer Kirche verglich,
die dort Arbeitenden. Unter den durch die Emporen gebildeten Decken
liefen die langen Wellen hin, die durch die Dampfmaschine in rasender
Drehung gehalten wurden und durch Riemenscheiben und die verbindenden
Treibriemen die allerhand kleinen und großen Arbeitsmaschinen mit der
Kraft nie ruhender Bewegung speisten. In den ersten Tagen nach meinem
Eintritt in die Fabrik vermochte ich mich nur schwer und unsicher
zwischen dem allen zurecht zu finden. Scheinbar wirr und planlos lag,
stand, bewegte sich in dem Raume alles durcheinander. Erst allmählich
sah das Auge die Ordnung, die doch herrschte, fand der Fuß die schmalen
Gänge zwischen den Maschinen hindurch, die die übliche Passage von dem
einen zum andern und durch den ganzen Raum hin bildeten, und die uns
den Transport größerer umfangreicher Stücke wegen ihrer Engigkeit und
Gewundenheit oft sehr erschwerten. Nur an dem schon oben geschilderten
freundlichern, hellern Ende war es auch in dieser Beziehung besser.

Das war der Arbeitsplatz der Hundertzwanzig bis Hundertfünfzig,
die hier ihr Tagewerk verrichteten, kahl, öde, schwarz, ohne eine
Bequemlichkeit, durchtost von einem nie abbrechenden nervenzerreißenden
Geräusch grell zusammenklingender Töne. Und doch lag über dem allen
auch Adel und Poesie. Nicht nur, wenn von oben das Sonnenlicht
hereinflutete und selbst den Schmutz und das Eisen verklärte, sondern
auch wenn ein grauer Himmel das Kahle, Öde, Schwarze noch kahler,
öder, schwärzer erscheinen ließ. Das war die Poesie eines grandiosen
in einander greifenden Getriebes, das hier ruhelos und doch in
gleichmäßiger Bewegung sich auswirkte, der Adel menschlicher Arbeit,
die hier an einer einzigen Stelle von mehr als hundert Menschen im
Kampfe ums Brot, um Leben und Genuß tagaus tagein gethan wird.

In unserm Bau wie in der ganzen Fabrik waren ausschließlich männliche
Personen beschäftigt, keine einzige Frau, kein Mädchen, kein Kind; im
ganzen Betriebe gab es meines Wissens noch nicht ein halbes Dutzend
Knaben zwischen dem dreizehnten und vierzehnten Lebensjahre und kaum
ein paar Dutzend Lehrlinge von vierzehn bis siebzehn Jahren. Auch
das gab unsrer Fabrik und unsrer Arbeiterschaft ein ganz bestimmtes
Gepräge; mich hinderte es vor allem, über Frauen- und Kinderarbeit
irgend welche persönlichen Erfahrungen zu sammeln.

Gleichwohl war die Zusammensetzung unsrer Arbeiterschaft noch immer
bunt genug, ein getreues Spiegelbild des Charakters unsrer gesamten
großkapitalistischen Produktionsweise; die verschiedensten Berufe
waren vertreten und in Thätigkeit, alte, von den Vätern, aus der
Zeit der Zünfte her bewährte und berühmte, und junge, die die großen
Erfindungen und die veränderten Bedürfnisse unsrer Tage neu geschaffen
haben. Ich kann über ein Dutzend Handwerke aufzählen, die bei uns
gebraucht wurden. Am zahlreichsten waren natürlich die Schlosser
vertreten; dann folgten in abnehmender Reihenfolge etwa die Dreher,
die Hobler, die Tischler, die Bohrer, die Stoßer, die Schmiede,
Zimmerleute, Anstreicher, Riemer und Klempner. Dann aber jene Reihe
neuer und Zwitterberufe: Anreißer, Aufreiber, Anhänger, Schmirgler,
Räderschneider; dazu Maschinenwärter, Heizer, Packer, Transporteure,
andre Handlanger jeder Art und Bestimmung -- denn auch unter ihnen
herrscht die Arbeitsteilung --, Kutscher und Portier, eine bunte
Kette, in der doch jedes Glied eine Notwendigkeit ist, um auch nur
die kleinste Maschine fertig zu bringen: eine Form menschlicher
Arbeitsgemeinschaft, so neu, originell, großartig, wie sie vergangene
Zeiten wohl nie gekannt haben, der sichtbare Ausdruck der geistigen
und wirtschaftlichen Umwälzung, die sich eben jetzt auf unsrer Erde
vollzieht, und von der es sich eben in unsern Tagen entscheiden soll,
ob sie der Menschheit zum Segen oder zum Fluche werden wird.

Diese Arbeiterschar war selbstverständlich im einzelnen organisiert,
voran die Schlosser. Ihre große Zahl war in Gruppen zu vier bis zehn
Mann geteilt. Je ein Vorarbeiter, der sogenannte Monteur, leitete die
gemeinsame Arbeit und dirigierte und kontrollierte den einzelnen.
Hobler, Dreher, Tischler, Packer hatten ihre Meister; über allen stand
der Schlossermeister, zugleich der Werkmeister des ganzen großen
Raumes, in den wir gehörten. Er war gleichsam der Feldwebel dieser
120 Mann starken Arbeiterkompagnie, die übrigen Meister Vizefeldwebel
und Sergeanten, die Monteure die Unteroffiziere, ihre Abteilungen,
„Montagen“ genannt, die einzelnen Korporalschaften. Der Werkführer und
die übrigen Meister waren den Direktoren, besonders dem technischen
verantwortlich. Die Leitung im einzelnen hatten sie, je für ihre
einzelnen Abteilungen, selbständig; in Fühlung mit ihnen überwachte der
Schlossermeister den gesamten Arbeitsprozeß im Detail.

Dieser +Arbeitsprozeß+ war schwer, kompliziert, langsam;
aber er war keiner von denen, die den Menschen durch seine
Einförmigkeit geistig, moralisch und physisch tot machen. Denn die
Maschinenbauindustrie ist eine der höchst entwickelten Zweige der
modernen Großindustrie und steht auch, was den sittlichen Einfluß ihres
Arbeitsprozesses auf die dabei beschäftigte Arbeiterschaft anlangt, mit
an erster Stelle. Das Folgende hat eben dies vor allem zu zeigen und zu
würdigen.

Der Arbeitsprozeß beginnt auf dem Tischlersaale. Eine große Maschine,
etwa eine Hobelmaschine nach neustem System, ist bestellt worden. Die
Konstruktions- und Berechnungsarbeiten der Techniker sind beendigt, die
Zeichnungen dafür fertig. Da ist die nächste Arbeit die Anfertigung der
Modelle für die einzelnen Teile der neuen Maschine. Dies geschah, wie
gesagt, durch Tischler. Auch dabei wurde, wo es möglich war, mit Hilfe
von Maschinen gearbeitet. Eine zwar bei der kleinsten Unvorsichtigkeit
gefährliche aber zehnmal schneller und exakter als Menschenhand
arbeitende Holzsäge-, und ebenso eine Holzhobelmaschine standen zum
fortwährenden Gebrauche. Aber auf ihnen wurden doch nur die groben
Stücke geschnitten; das übrige, bei weitem das meiste aus diesem Saale,
war notwendig Handarbeit. Denn diese großen und kleinen Modellstücke
hatten oft die wunderlichsten Formen, und ein jedes eine andre; sie
mußten genau in der vorgeschriebenen Größe auf das genauste und
dauerhaft ausgeführt werden. Wer hier arbeitete, mußte darum nicht nur
geschickt sein, sondern auch denken können. Er mußte die Konstruktion
der Maschine, deren Modellkörper er eben anfertigte, einigermaßen
kennen; er mußte die Zeichnungen verstehn, die ihm die Maße und
Formen für seine Arbeit angaben; er mußte Geschick und Gewandtheit
besitzen, um aus möglichst wenig Brettern, Pflöckchen und Brettchen
möglichst schnell, praktisch und gut die Formen zusammenzusetzen und
zu gewinnen, die die Zeichnung für das betreffende Stück vorschrieb.
Das Verhältnis zu seinem Meister beschränkte sich nicht nur auf eine
disziplinarische Kontrolle jenes über ihn, sondern bestand notwendig
auch in einem Austausch der Ansichten über die bestmögliche Herstellung
der geforderten Körper. Dabei war dem einzelnen doch eine gewisse
Selbständigkeit in der Ausführung gewahrt; und was er schaffte, war
kein Teilstück, sondern ein in sich geschlossenes und wertvolles Ganze,
das nach seinem Gebrauch in der Gießerei nicht weggeworfen, sondern
dauernd der Modellsammlung der Fabrik einverleibt wurde. Eine gedanken-
und charakterlos machende, rein mechanische Fabrikarbeit war also in
diesem Teile der Fabrik ausgeschlossen. Auch war der Raum, in dem diese
Leute nicht allzu zahlreich mit einander arbeiteten, wohl der beste in
der ganzen Fabrik: groß, hoch, licht und luftig. Staub war freilich
auch hier genug, wie immer in Tischlerwerkstätten mit ihren groben und
feinen Sägespänen, und darum die Gesichtsfarbe auch dieser wie aller
Tischler blaß.

Die fertigen, meist rotangestrichenen Modelle wurden dann der
benachbarten Gießerei zugestellt, die uns den sogenannten „Guß“
zu liefern pflegte. Wenn man ihn brachte, war es unsrer, der
Handarbeiterkolonne Aufgabe, ihn abzuladen und zu wiegen, dann kam
die sichtende Hand des Modellmeisters, dem auch die Modellsammlung
unterstand, darüber. Sein erprobtes Auge unterschied leicht Charakter
und Bestimmung der einzelnen rohen Stücke, die oft nur noch entfernte
Ähnlichkeit mit ihrem saubern Modell aufzuweisen hatten, und jedes
erhielt die besondre Chiffre, die nach der Sitte später die einzelnen
fertigen Maschinen in dem Produktionsjournal der Fabrik führten.

Dann wurden sämtliche Teile dem Monteur überwiesen, der mit dem Bau
der betreffenden Maschine beauftragt worden war. Diese Überweisung
geschieht nicht ohne Auswahl. Nicht jeder Monteur erhält jede beliebige
Maschine zu bauen. Die Verteilung richtet sich im ganzen nach dem
Dienstalter, der Erfahrung und dem Geschick des Mannes und der Größe
seiner Gruppe. Jüngere und ungeübtere Monteure mit kleineren und
weniger geschulten Abteilungen erhielten nur den Bau einfacherer und
bekannterer Maschinen. Doch will ich nicht sagen, daß nicht Ausnahmen
vorkamen. Für jede vollendete Maschine sind nämlich je nach deren Größe
und Kompliziertheit sogenannte Prozente wie für die Direktoren, so für
den Werkmeister und den Vorarbeiter in absteigender Höhe festgesetzt.
Wer von letztern beim Meister gut stand, konnte hier natürlich leicht
einmal bevorzugt werden und Maschinen zu bauen bekommen, die mehr
Prozente abwarfen als andre. Doch habe ich selbst hierüber keine
deutlichen Beobachtungen gemacht, es mir nur von Arbeitsgenossen
erzählen lassen. Auch wird die Ausgabe mit dadurch geregelt, daß
die einzelnen Vorarbeiter immer nur auf ganz bestimmte Maschinen
eingearbeitet sind: der eine auf Hobelmaschinen und Kreissägen, der
andre auf Bohrmaschinen und Drehbänke u. s. f.

Gewöhnlich ist es so, daß immer zwei und mehr verschiedne Maschinen in
derselben Abteilung im Bau begriffen sind -- was für den erziehlichen
Charakter der Arbeit dieser Leute ein unendlich wichtiges, förderndes
Moment ist. Denn dadurch wird auch in diesen Abteilungen die letzte
Möglichkeit einer schablonenhaften Fabrikarbeit beseitigt. Aber
die Veranlassung zu dieser Einrichtung liegt freilich nicht in
dieser sittlichen Rücksicht, sondern in dem Charakter des ganzen
Fabrikationsbetriebes. Diese Maßnahme ist nämlich notwendig, um die
Schlosser überhaupt dauernd beschäftigen zu können. Denn mit dem aus
der Hand des Modellmeisters überwiesenen groben Stücke, vermögen der
beauftragte Monteur und seine Leute nur zum geringsten Teile schon
etwas anzufangen. Ehe die Schlosser die letzte Hand anlegen und die
Knaupelarbeit der Zusammensetzung der Maschinen beginnen können, gehen
die meisten Stücke noch durch viele Hände.

Zunächst kamen sie auf die Platte des Anreißers, eines der wichtigsten
und angesehensten Arbeiters in unsrer Fabrik, durch seinen Beruf sowohl
als durch seine Persönlichkeit. Der Mann hatte eine verantwortungsvolle
Aufgabe. Er hatte nach den ihm vorliegenden, oft verwickelten
Zeichnungen an den großen und kleinen Gußstücken mit Reißnadel und
Grobzirkel alle Bohrungen, alle Hobelflächen, alle abzustoßenden
Kanten und Ecken genau zu berechnen und zu bezeichnen. Von ihm hing es
vor allem ab, ob schließlich die einzelnen Teile sich zusammenfügten
und auf einander paßten, ob die ganze Maschine schließlich klappte.
Macht auch hier langjährige Übung und allmähliche genaue Kenntnis der
einzelnen Maschinen, ein praktischer Blick und eine geschickte Hand
diese Thätigkeit leichter und zu einer gewohnheitsmäßigen -- das eine
steht doch fest, daß sie nie ohne die strikteste Aufmerksamkeit und
ohne Gedankenarbeit gethan werden kann. Ich habe, wohl weil ich als
der intelligenteste unter den Handarbeitern erschien, dem Anreißer
sehr oft bei seiner Arbeit behilflich sein und ihm die eisernen
Lineale, Schienen u. s. w. nachtragen, halten und stützen müssen;
aber immer sah ich den Mann inmitten des dröhnenden Lärms, mit der
Zeichnung vor sich, probierend, rechnend, schweigend seine Arbeit
thun. Man ist in vielen Kreisen so wenig imstande, sich einen rechten
Begriff von dem Charakter der Fabrikarbeit zu machen, ist so leicht
geneigt, jede Fabrikarbeit als die durchschnittlich tiefststehende,
einfachste und darum notwendig billigste Art menschlicher Thätigkeit
anzusehen, daß ich es für meine Pflicht halte, an dieser Stelle vor
diesem leichtfertigen Urteil zu warnen und auf die Arbeit dieses Mannes
hinzuweisen, die meines Erachtens viel größere geistige und physische
Kraft fordert und doch viel niedriger gelohnt ist, als z. B. die
Thätigkeit vieler Subalternbeamten, Handlungsgehilfen, Kontoristen und
andrer, die doch eine ganz andre gesellschaftliche Stellung und meist
auch ein ganz andres Einkommen haben als dieser und andre ihm gleich
zu ordnende Fabrikarbeiter. Ich stehe nicht an, es auszusprechen, daß
mir die einseitige und in dem Grade, wie es geschieht, ja ohne weiteres
falsche und lächerliche Betonung und Überschätzung der körperlichen,
der Hand-, der Fabrikarbeit seitens der Sozialdemokraten auch in unsrer
Fabrik eine ihrer begründeten Ursachen in dieser bisher sehr häufigen
Nichtachtung und Verkennung solcher und ähnlicher Fabrikarbeiter,
deren es viele giebt, zu haben scheint. Es ist der Drang nach einer
gerechteren sittlichen Würdigung und damit auch gesellschaftlichen
Anerkennung dieser Berufe durch die Allgemeinheit, der hier wie in der
ganzen modernen Arbeiterbewegung in elementarer und ungefüger Form zum
Ausdruck kommt.

Vom Anreißer hinweg brachten wir die Stücke je nach der Disposition
ihrer Meister zu den Bohrern und Hoblern, Stoßern und Drehern. Bei den
beiden ersten Kategorien finden wir das Gegenteil geistig anregender
Fabrikarbeit. In selten unterbrochener Monotonie steht der Bohrer und
der Hobler an seiner kleinen oder großen Arbeitsmaschine und läßt sie
Löcher, immer Löcher bohren, Flächen, immer Flächen hobeln. Immer
wieder sieht er den Stahlhobel die Flächen pflügen und glätten, den
Bohrer wie spielend sich in das Gußeisen graben. Immer wieder führt er
der erhitzten Stelle kühlendes Seifenwasser zu, immer wieder fegt er
die groben Späne beiseite, bläst er die feinen mit dem Munde davon. Die
einzige Thätigkeit, die dabei kurze Zeit ein wenig geistiges Nachdenken
und Aufmerksamkeit fordert, ist das richtige Aufstellen der zu
bohrenden und hobelnden Stücke. Die Löcher müssen nach der Vorschrift
des Anreißers genau senkrecht, die Flächen genau wagerecht werden.
Darum muß mit hölzernen Böcken, mit Brettern und Pflöckchen, mit Hammer
und Wasserwage, mit eines oder mehrerer Handarbeiter Unterstützung die
rechte, genaue und feste Lage für das Stück gefunden werden. Ist das
aber geschehen, so beginnt zum millionenstenmale der Bohrer und Hobel
seine Arbeit, zu der des Menschen Auge nichts weiter thun als immer nur
zusehen und sie überwachen kann. Wunderlicherweise finden sich gerade
unter diesen Leuten ebenso gut schwache wie die stärksten Verdiener.
Der eine, ein Hobler, der die größten Flächen, und der andre, ein
Bohrer, der mit der größten Maschine die gröbsten und längsten
Löcher an den stärksten und oft viele Zentner schweren Hauptteilen
zu arbeiten hatte, und die beide im Akkordlohn standen, sollten
nach übereinstimmendem Urteile vieler Arbeitsgenossen das höchste
Einkommen von allen Arbeitern unsers Baues, jedenfalls nicht unter
160-170 Mark im Monat haben, während z. B. der Anreißer die Stunde nur
29, höchstens 30 Pfennige, also in der Woche kaum 20 Mark verdienen
sollte, und ebenso die anstrengende Arbeit der Durchschnittsschlosser
und der Schmiede unvergleichlich niedriger gelohnt wurde. Bei dem
sogenannten „großen Bohrer“ war das immer noch verständlicher als bei
jenem Hobler, der mit Hilfe von uns Handarbeitern die Eisenteile auf
die tadellose Platte seiner Hobelmaschine hob, sie nur einzurichten
und festzumachen brauchte und dann den Dampf die manchmal halbe Tage
lange Arbeit thun ließ. Im ganzen war wohl die Thätigkeit der Hobler
langweiliger und bequemer als die der Bohrer. Und wieder unter diesen
hatten es diejenigen leichter aber auch noch langweiliger, die an
größern Maschinen standen. Wer dagegen eine kleine zu bedienen hatte,
dessen Aufmerksamkeit war in ganz andrer Weise an den ewig rotierenden
Stahl gefesselt. Denn auf solchen Maschinen konnten ja nur enge und
kurze Löcher, dünne Flächen und kleine Stücke gebohrt werden; diese
festzuschrauben war unmöglich; hier hatte die Hand des Mannes sicher
und stark zuzugreifen, hier hatte das Auge schärfer und schneller zu
beobachten, hier hatte die Lunge unausgesetzt feinen Eisenstaub zu
atmen. Und doch hatten gerade diese Leute von allen Bohrern -- wenn ich
recht berichtet bin -- den niedrigsten Verdienst, waren freilich auch
durchschnittlich jünger als die andern.

Wieder anders lag die Arbeit der Stoßer und Dreher. Beide Arbeitsarten,
so verschieden sie im einzelnen auch von einander sind, sind sich
darin gleich, daß sie dem Manne, der an der Drehbank oder Stoßmaschine
steht, wieder größere Selbständigkeit und Selbstthätigkeit ermöglichen.
Der Stoßer, der an meist schon glatt und blank gefeilten Stücken
Flächen, Ecken, Kanten bald geradlinig bald kurven- oder kreisförmig
abzustoßen hat, muß genau die vorgezeichnete Linie einhalten.
Das zwingt ihn, so wie er die Maschine in Bewegung setzt, mit
unausgesetzter Aufmerksamkeit in halbgebückter Stellung ihren Gang zu
überwachen und zu dirigieren. Ganz ebenso der Dreher, dessen Aufgabe
es ist, Bolzen, Wellen, Kurbeln und Hebel so zu kürzen, zu formen,
so mit Nuten, Rissen, Einschnitten und Spitzen zu versehen, daß sie
für die neue Maschine sofort verwendbar sind, jedenfalls aber nur
noch geringer Nachhilfe durch die Schlosserfeile bedürfen. Aber ein
großer Übelstand ist auch diesen Arbeiten wie denjenigen der Bohrer
und Hobler gemeinsam: alles ist nur Teilarbeit. Nie schafft der
Bohrer, der Hobler, der Stoßer, der Dreher ein zum Verkauf fertiges,
geschweige zusammengesetztes, vollkommenes Produkt; es ist kein
organisches Ganze, weder wenn er es unter die Hände bekommt, noch wenn
er es aus den Händen giebt. Es ist immer trauriges Stückwerk. Man
unterschätze dieses Faktum nicht, dessen üble Folgen, wie wir sehen
werden, nur zum Teil wieder aufgehoben werden. Es ist hierauf die
Beobachtung zurückzuführen, die ich immer machte, daß gerade unter
dieser Berufsgruppe jene Züge häufiger hervortraten, auf die man
fälschlicherweise als das bestimmende Charakteristikum des modernen
deutschen Durchschnittsfabrikarbeiters so gern mit Entrüstung hinweist:
gedankenlose Oberflächlichkeit und sittliche Unreife.

Als eine geradezu bedauernswerte Arbeit aber erschien mir immer
die der Aufreiber, zweier schon älterer Männer, die tagaus tagein
von morgens 6 bis abends 6 Uhr nichts andres zu thun hatten, als
die von den Maschinen roh gebohrten Löcher fein, sauber, glatt
nachzubohren -- alles mit der Hand, im ewigen Einerlei. Wo ist da noch
Schaffensfreudigkeit, innere Befriedigung, geistiges Streben, sittliche
Charakterbildung möglich?

Im vollen Gegensatz hierzu stand die Thätigkeit unsrer Schlosser. Wenn
alles, wie die Zeichnung es forderte, gebohrt, gehobelt, gestoßen,
geschnitten und gedreht war, wenn die Schrauben, Muttern, Bolzen und
Einsatzstücke geglüht und gehärtet, wenn die wenigen schmiedeeisernen
und messingnen Teile beisammen waren, begann ihre Arbeit, der
eigentliche Bau der Maschine. Unter der Leitung ihres Monteurs,
immer die Zeichnung vor Augen, die Feile, den Hammer, den Meißel in
der Hand, wurde ein Stück auf und in das andre gefügt, häufig nicht
ohne größte Mühe. Denn nur in den seltensten Fällen paßten die Teile
sofort zu einander; meist konnte gar nicht von jenen andern Arbeitern
mit der Akkuratesse und Genauigkeit vorgearbeitet werden, die das
allein ermöglicht hätte. Überall gab es darum nachzuhelfen, zehnmal
zu probieren, zehnmal die Sache auseinanderzunehmen, um sie auch das
elfte und zwölfte mal noch vergeblich zusammenzupassen. Die glatten
Flächen, die, nur rauh gehobelt, aufeinander zu laufen bestimmt waren,
mußten -- eine schwere Mühe -- mit Glassand, Öl und Eisenstaub so lange
eingeschmirgelt werden, bis sie dicht und fest aufeinander schlossen
und doch glatt und leicht funktionierten. Zu dieser gefürchteten Arbeit
wurden wir Handarbeiter mit Vorliebe herangezogen. Dann mußten rauhe
Stellen abgeputzt, große Scheiben auf eiserne Wellen gekeilt, mit dem
Handbohrer die der Maschine unzugänglichen Löcher gebohrt, Gewinde
geschnitten, Bolzen und andre Stücke eingesetzt werden. Alles oft in
der unmöglichsten Lage: hoch auf der Leiter, gebückt, knieend, kauernd,
liegend auf dem Rücken oder auf dem Bauche. Mitunter, wenn es gar nicht
klappte, wurde der oder jener Maschinenarbeiter, der Bohrer, Stoßer,
Dreher herangeholt und nicht gerade in der zärtlichsten Weise von der
von ihm verschuldeten fatalen Situation unterrichtet, ab und zu ihm
auch das eine oder andre Stück zur Verbesserung zurückgegeben. Aber
allmählich wurde es doch; man sah die Maschine wachsen, bis endlich
die letzte Schraube angezogen war, und das Ganze fix und fertig da
stand. Dann folgten, wenn möglich an Ort und Stelle, die ersten rohen
Versuche, die neue Maschine in Gang zu setzen, und endlich, wieder
durch uns Handarbeiter, ihr Transport auf den Probiersaal.

Auch hier waren Schlosser und Monteure stationiert, und ein andres
Stück Arbeit begann. Denn nicht sofort arbeitete die neue Maschine.
Viele male wurde versucht, der Gang genau beobachtet, die kleinsten
Störungen bemerkt, ihre Ursachen beseitigt, hie und da nachgeholfen --
bis endlich eine tadellose Funktionierung des neuen Werkes erreicht
war. Dann noch eine letzte Hauptprobe vor dem Direktor, dem Werkführer
und dem Monteur, der sie gebaut hatte, und sie wurde den Händen der
Lackierer überantwortet, die dem schwarzen Ungetüm ein freundliches,
glänzendes Gewand gaben, und von denen die Packer als die letzten sie
in Empfang nahmen.

So viel schwieriger und langwieriger diese Arbeit der Schlosser auch
war, so viel höher muß eine ethische Würdigung sie über diejenige der
Maschinenarbeiter stellen. Dort ist Schablone, hier Freiheit. Dort
ewige Teilarbeit, hier organisch fortschreitende Thätigkeit, deren
Produkt zuletzt ein geschlossenes Ganzes darstellte. Wohl kommt auch
hier mancher öde Auftrag zwischen hinein, manche Stunde langweiligen
Feilens, Meißelns, Bohrens; aber das ist nicht die Regel, und es dient
der andern gehaltvollern Arbeit und bringt, vollendet, erfreulichen
Fortschritt. Es erregte wirklich Freude und Befriedigung, wenn nach
langem, mühsamem Probieren das bearbeitete Stück endlich saß, die Welle
gleichmäßig im Lager lief, der Hebel leicht arbeitete, die Flächen
fest aufeinander schlossen. Wie oft habe ich solche Freude an jungen
und alten Schlossern beobachtet, wenn sie es mir, sobald ich davon
sprach, auch nicht immer eingestehen wollten. Daß immer in derselben
Gruppe mehrere Maschinen zu gleicher Zeit in Arbeit und in verschiednen
Stadien ihrer Vollendung begriffen sind, war, wie gesagt, nur eine neue
Ursache, das Interesse an der Arbeit zu vermehren. Denn wenn der Mann,
je nach dem Stande der Vorarbeiten, ein paar Tage an dieser Maschine,
dann einige Stunden an jener, wieder einen Nachmittag an einer dritten
zu arbeiten hatte, so zwang ihn das zu doppelter und dreifacher
Aufmerksamkeit, bei der Sache zu sein, die in Arbeit befindlichen
Teile nicht zu verwechseln und die ganzen Maschinen miteinander zu
vergleichen. Und das ist so förderlich und bedeutsam, daß dadurch
auch das sonst so nachteilige Prinzip der Arbeitsteilung, das
selbstverständlich innerhalb der Montagen ebenfalls im Schwange ist,
für den einzelnen Mann seine schlimmen Folgen fast völlig verliert.
So geht aus allem hervor, daß für den ethischen Charakter der Arbeit
unsrer Schlosser, ebenso wie der Tischler, der großkapitalistische
Fabrikbetrieb nicht nur nicht schädlich war, sondern geradezu
einen Fortschritt bedeutete. Denn er hob beide Berufe über die
handwerksmäßige, beschränktere Art des kleinmeisterlichen Betriebes zu
höhern Aufgaben empor und machte sie der eigentlichen Kunstschlosserei
und Kunsttischlerei nahe verwandt.

Auf andre, gleich alte und ehrwürdige Handwerker hatte dagegen derselbe
Betrieb die gerade entgegengesetzte Wirkung. Berufe, wie die der Maler,
Sattler, Schmiede, Klempner und Zimmerleute, waren in unsrer Fabrik zu
bloßen Hilfsberufen degradiert. In andern Fabriken werden es wieder
andre, vielleicht gerade die der Schlosser und Tischler sein -- das
wird sich je nach dem richten, was produziert wird. Jedenfalls aber
gilt nach meinen Erfahrungen für sie alle dasselbe, was oben über den
sittlichen Wert der Arbeit der Stoßer, Bohrer, Dreher und Hobler gesagt
worden ist. Auch für sie gab es im ganzen nichts als langweilige,
unbefriedigende Flick- und Teilarbeit. Die Maler hatten bei uns immer
nur die Maschinen mit derselben graugrünen Fabrikfarbe zu lackieren,
die Schmiede immer nur einzelne meist sehr einfache schmiedeeiserne
Stücke und sonst ebenso wie der Klempner nur Reparaturarbeiten zu
liefern, die Sattler immer nur Treibriemen in die gewünschte Länge
umzuflicken, und die drei Zimmerleute standen ausschließlich dem
Packmeister zur Verfügung, für den sie nichts als Kisten und Gestelle
zur Verpackung der bestellten Maschinen zu nageln hatten.

Freilich wurde -- und damit komme ich auf das Gesamturteil über die
Arbeit in unsrer Fabrik -- bei ihnen wie bei jenen andern niederern
Arbeitskategorien der Bohrer, Hobler, Schlosser und Dreher die schlimme
Folge dieser Teilarbeit durch den Gesamtcharakter gerade unsers
Arbeitsprozesses wesentlich gemildert und auch ihre Thätigkeit ethisch
vertieft. Denn dieser Prozeß beruhte bei uns auf dem Prinzip der
Arbeitsbeteiligung +aller+ an +demselben+ einen Arbeitsprodukte. Vom
Meister und Monteur herab bis zum Packer und Transporteur, schaffte
jeder einzelne mit an dem gleichen Objekt, an einem einzig sinnvollen
Ganzen, dem komplizierten Kunstwerke einer Werkzeugmaschine. Damit
aber blieb einmal das Bewußtsein gegenseitiger Unentbehrlichkeit
und Verantwortung unter allen rege, und zweitens das Interesse auch
des einfachsten Schablonenarbeiters und Handlangers an dem Ganzen
lebendig. Denn jede einzelne Arbeitskategorie war für den Arbeitsprozeß
notwendig, jede einzelne mit ihrem Pensum auf die prompte, akkurate
und verständige Leistung der andern angewiesen. Man wußte genau,
wieviel z. B. für die Schlosser darauf ankam, daß der Bohrer genau nach
Vorschrift bohrte; man sah, wieviel Mühe es allemal kostete, Sachen,
die einer verpfuscht hatte, wieder gut und brauchbar zu machen; und man
fürchtete die berechtigten Vorwürfe und Klagen der Arbeitsgenossen,
die einen in solchen Fällen zu unangenehmer Verantwortung zogen. So
orientierte man sich lieber in zweifelhaften Fällen über Bestimmung und
Zweck des Stückes und verrichtete auch die langweiligste Teilarbeit
nicht ganz ohne Aufmerksamkeit und Überlegung und mit verständnisvoller
Rücksicht auf die Zusammensetzung der ganzen Maschine. Und indem so
fast jeder der 120 Mann an dem Gelingen fast jeder Maschine, die
aus unsrer Werkstatt hervorging, seinen Anteil und sein Verdienst
hatte, kam es, daß auch ein jeder, selbst der schlichte Handarbeiter,
der Teile und Ganzes fünfzehn, zwanzigmal transportiert hatte, ihre
Bezeichnung und allgemeine Konstruktion mehr oder weniger genau sich
klar zu machen suchte, und daß der und jener, wenn das Kunstwerk
fertig und zum erstenmal im Gange war, mit prüfendem Auge und innerer
Befriedigung hinzutrat, um die Stücke zu suchen, die sein Hobel
geglättet, sein Bohrer durchbrochen, sein Meißel getroffen, seine
Hand mühsam hin und her geschleppt hatte. Wohl den meisten war der
heilsame Einfluß dieses ganzen gemeinsamen Arbeitsprozesses nicht
bewußt, aber er trat mir immer sofort deutlich vor die Augen, wenn
mich der Zufall, die Neugierde oder ein Auftrag einmal in die Säle
der Stickmaschinenfabrikation führte, in der ganz anders als bei uns
die Thätigkeit vieler Arbeiter in allersimpelste Schablonenarbeit
auseinanderfiel, ohne daß der Betriebsorganismus, den sie hatten,
denselben Vorteil und Ersatz hätte bieten können wie der unsre. Hier
gab es Arbeiten zu verrichten, von denen man mit Recht sagt, daß
sie aller sittlich erziehenden Momente, wie sie die evangelische
Auffassung der Arbeit fordert, bar sind, bei denen der Mann, selbst
wenn er es wollte, gar nicht die Möglichkeit hatte, Streben, Sorgfalt,
Fleiß zu beweisen, anzuwenden, was er gelernt hatte oder für gut
hielt, wo er vielmehr willenlos, gedankenlos, kraftlos nur immer
dasselbe Stahlblättchen an immer derselben Stelle durch immer dieselbe
Handbewegung in immer demselben Tempo durchlochen zu lassen oder nichts
als Maschen, immer Maschen zu zählen hatte, Tag um Tag und elf Stunden
an jedem -- Arbeiten, die für einen strebsamen, vorwärtsdrängenden Mann
in der That kein Gottesdienst mehr sind, sondern Höllenqual. Freilich
auch in jenem andern Teile der Fabrik gab es solche Arbeiten noch nicht
so massenhaft, wie wir sie in andern Industrien kennen, aber immerhin
zahlreich und ausgeprägt genug, um den Kontrast gegen den Charakter
unsers Arbeitsprozesses scharf hervortreten zu lassen, der bei allen
vorhandenen Schwächen und Nachteilen doch wenigstens den einzelnen
Mann nicht äußerlich und innerlich isolierte und ihn in eine rührige
Arbeitsgemeinschaft hineinstellte, die ihn trug, erhob und ihm auch
eine mühselige Teilarbeit erträglicher machte.

Aber vor einem großen sittlichen Schaden behütet die Leute auch
dieser so hochstehende Arbeitsprozeß nicht wie wohl überhaupt kein
großindustrieller Betrieb in der heutigen Form der Organisation:
nämlich vor einer gewissen Unselbständigkeit des Charakters, die
immer da eintritt, wo der Arbeiter nicht imstande ist, über sein
Arbeitsprodukt auf dem Markte frei zu verfügen. Es fehlt ihm, was
auch der einfache Handwerksmeister noch besitzt oder doch bis vor
Jahrzehnten besessen hat, die persönliche Verantwortlichkeit für die
Verwertung und den Vertrieb seiner Produkte. Der Arbeiter in der
Fabrik, auch in der unsern, stellt die ihm aufgetragene Arbeit her;
aber in dem Moment, wo er sie dem Monteur, dem Meister, dem Direktor
abliefert, hat er kein Verfügungsrecht und nicht den geringsten
Anspruch mehr darauf; sie existiert nicht mehr für ihn, wie er nicht
für den wirtschaftlichen Markt, auf dem sie zum Verkauf kommt. Hierin
befindet sich jeder großindustrielle Fabrikarbeiter, mag er noch
so tüchtig und alt sein, immer und ewig auf dem Niveau des frühern
Handwerks+gesellen+; darin liegt die Ursache der dauernden
schülerhaften Abhängigkeit von dem Leiter der Fabrik, der an seiner
Stelle seine Arbeit auf den Markt bringt und für ihn das Risiko des
Verkaufs übernimmt, damit zugleich aber für ihn einen der wichtigsten
Faktoren beseitigt, durch den auch die schlechteste Berufsarbeit eines
Mannes noch anregend und interessant und das Haupterziehungsmittel
eines geschlossenen Charakters, einer befriedigenden, ihres
Lebenszieles klaren Persönlichkeit wird. Es fehlen die Sorgen um
die Verwertung seiner Arbeiten, die Freude daran, wenn sie gelungen
ist, der Stachel und Ehrgeiz, die rechten und besten Wege für ihren
Absatz zu finden. Gerade das aber reift, klärt, stählt den Willen,
den Charakter, die geistige Fähigkeit des Mannes, macht ihn erst zu
eineeinem ganzen Manne. Jetzt aber ist an diese Stelle, wie gesagt,
die schülerhafte Abhängigkeit getreten, die nicht sich, sondern immer
einem Höhergestellten und immer nur diesem Einzigen verantwortlich ist;
gegenüber seiner Gunst sind Geschick und Glück, gegenüber seinem Willen
und Machtwort, seiner Anordnung und Verfügung ist der eigne gute Wille,
ist die eigne, selbst die größte Geschicklichkeit minderwertig, und
das Selbstbestimmungsrecht im Beruf und der künftigen Existenz jetzt
null und nichtig. So ist es nur natürlich, daß der Arbeiter sich mit
andern bald gleichgiltigen nebensächlichen, kindischen Dingen, bald
wieder mit zu schwierigen, seinem Fassungsvermögen fernabliegenden
Problemen zu beschäftigen oder sich ins Vergnügen oder politische
Radauleben zu stürzen sucht. Jedenfalls aber macht es ihn unnormal
und prägt seinem Charakter den Stempel innerlicher Unfertigkeit auf,
den ich auch an meinen Arbeitsgenossen zum Schaden für ihre sittliche
Lebensführung bemerkt habe. Und also beseitigt, wie sich mir dies bei
uns deutlich und täglich zeigte, der großkapitalistische Fabrikbetrieb
selbst gerade das, was heutzutage noch eine große Majorität zu
Verfechtern des individualistischen Wirtschaftssystems macht, die
Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Berufsarbeiters, seine männliche
Selbständigkeit vor der Öffentlichkeit des Wirtschaftslebens, die
Möglichkeit des persönlichen Risikos, die Freiheit der Produktion und
der Selbstgestaltung der eignen Zukunft und damit edeln Ehrgeiz und
starkes Streben.

Und diese verhängnisvolle, im technischen Großbetriebe notwendig
wurzelnde Wirkung wurde durch die +Arbeitsordnung+ noch vermehrt,
die bei uns in Geltung war. Diese im Folgenden darzustellen, ist
meine nächste Aufgabe. Sie war, nebenbei bemerkt, in einem Büchelchen
von dreizehn Oktavseiten im Druck erschienen und wurde jedem in die
Fabrik neu eintretenden Arbeiter eingehändigt unter der Bedingung der
Zurückgabe beim Austritt aus der Fabrik.

Ich beginne der Vollständigkeit wegen mit der Arbeitszeit, deren
schon früher erwähnt worden war. Sie dauerte also von früh 6 Uhr
bis mittags 12 Uhr, und von 1 bis 6 Uhr nachmittags. Montags, oder
überhaupt an jedem ersten Arbeitstage einer neuen Woche erfolgte der
Beginn morgens eine Stunde später, erst um 7 Uhr, eine von allen
dankbar empfundene Erleichterung, für viele, namentlich junge Leute,
die des Sonntags sich austollten, die Sonntagabend bis 12 Uhr auf dem
Tanzboden und den Rest der Nacht oft bei ihren Mädchen zubrachten,
die Möglichkeit, nun wenigstens ein paar Stunden noch schlafen zu
können und nicht ganz übernächtig und kraftlos die Arbeit der neuen
Woche anzutreten. Auch am Sonnabend war eine Stunde gestrichen. Da
wurde schon um 5 Uhr nachmittags Feierabend gemacht. Sonst fand
eine Unterbrechung dieser Arbeitszeit nur am Vormittag zwischen 8
und 8,20 Uhr statt, wo das Frühstück, das ich bereits schilderte,
genommen wurde; die Nachmittagsvesperpause war beseitigt, um die Leute
schon 6 Uhr nach Hause schicken zu können. Abweichungen von dieser
Arbeitszeit fanden, so lange ich der Fabrik angehörte, nicht statt.
Doch war in dieser Zeit mehrmals unter den Arbeitsgenossen von in
Aussicht stehenden Überstunden die Rede, wenn die Nachricht von neuen
umfangreichen Maschinenbestellungen, die gemacht seien, aus dem Kontor
in die Arbeitsräume drang. Solche Gerüchte wurden nie mit Befriedigung
aufgenommen und kolportiert; denn in dem Falle, daß sie sich
bewahrheiteten, traten zwei Absätze unsrer Fabrikordnung in Kraft, die
+alle+ Arbeiter ohne Widerrede zur Übernahme solcher Überstunden
bei dem gleichen Stunden- und Akkordlohne zwangen und folgendermaßen
lauteten: „Abweichungen von der gewöhnlichen Arbeitszeit werden durch
Anschlag bekannt gemacht“ und „Jeder Arbeiter ist verpflichtet, zu
vereinbartem Lohne auch nach Feierabend zu arbeiten.“

Dagegen hing es vom freien Willen des einzelnen ab, Beschäftigungen
an Feiertagen zu übernehmen. Auch sie fanden in meiner Anwesenheit
in bemerkenswertem Umfange nicht statt; übrigens erschwerte sie auch
das sächsische Gesetz über das Verbot der Sonntagsarbeit erheblich.
Die Überstunden- und Sonntagsarbeit, die in jenen Sommermonaten
vorkamen, beschränkten sich infolgedessen auf das geringe Maß der
notwendigen Reparaturarbeiten und auf Hilfsdienste der einen Hälfte
der Arbeiterschaft an einem Sonn- und Montage, an dem die jährliche
Inventur stattfand. Hierzu wurden die Leute befohlen, zu jenem die
verwendet, die sich freiwillig anboten. Nur einmal erlebte ich einen
Fall, in dem die angebliche Freiwilligkeit nackter Zwang war. Das war
an einem Sonnabende, als vier Mann von uns dem Maschinenmeister zu
einer plötzlichen, gründlichen Reinigung der einen großen Dampfmaschine
zur Verfügung gestellt wurden. Ich gehörte zu den vieren und hatte
an dem Abend gerade den Besuch einer wichtigen sozialdemokratischen
Versammlung vor. Da aber die Sache, wie der Meister schlauerweise
vorgab, nur eine Stunde dauern sollte, trat ich mit an. Doch zeigte
sich sofort, daß die Arbeit dreimal länger währen würde. Eine Stunde
machte ich mit, dann bat ich, mich zu entlassen, und nur mit der
allergrößten Mühe erreichte ich mein Ziel. An meine Stelle wurde ein
Bohrer kommandiert, der um diese Zeit mit sechs andern vom Kehren und
Aufräumen des Fabrikraums kam, das allsonnabendlich von diesen sieben
Freiwilligen besorgt wurde. Er hatte nicht die geringste Lust, mein
Nachfolger zu sein, dennoch blieb er. „Was will man machen?“ sagte er.
„Man kann es ja doch nicht mit dem Meister verderben.“ Übrigens fanden
jene schon genannten sonntäglichen Reparaturarbeiten, wenn sie sich
nötig machten, immer während des Vormittags und des Gottesdienstes
statt. Die beiden einzigen aber, die ohne Unterbrechung an jedem
Sonntagvormittage kontraktlich vorgeschriebene, vom Betrieb notwendig
geforderte Arbeit zu thun hatten, waren die beiden Maschinenwärter, die
ihre Maschinen nur in diesen Stunden putzen konnten, in denen sie außer
Gang waren.

Unsre Arbeit wurde uns teils durch Stunden- teils durch Akkordlöhne
bezahlt, deren Höhe meist beim Eintritt in die Fabrik gewöhnlich vom
Meister, selten durch den Direktor selbst bestimmt zu werden pflegte.
Der Stundenlohn überwog in unsrer Abteilung. Jenen verderblichen
Gruppenlohn aber, bei dem ein oft ganz ungeschickter und gar nicht
berufsmäßig vorgebildeter, nur äußerlich gewandter und geschmeidiger
sogenannter Akkordmeister für die Herstellung einer Maschine oder
eines andern Produktes eine bestimmte Summe erhält, von der er nun
die ihm zugewiesenen und von ihm nur beaufsichtigten, nicht einmal
bei der Arbeit unterstützten Arbeiter häufig so zu lohnen pflegt, daß
ihm der Löwenanteil der Summe zufällt, also mit nackten Worten das
englische Schwitzsystem in deutschem Gewande, gab es meines Wissens
bei uns glücklicherweise gar nicht. Und ein Widerwille gegen den
Akkordlohn war auch nicht, höchstens bei einigen sozialdemokratischen
Prinzipienreitern, vorhanden, wäre in unserm Falle auch die reinste
Thorheit gewesen. Denn die große Gefahr, die die Akkordarbeit in sich
birgt, und die sie auch, wie mir von Arbeitsgenossen erzählt wurde,
thatsächlich in einer der andern großen Chemnitzer Maschinenfabriken
haben sollte, daß die Arbeiter während der ganzen langen Arbeitszeit
durch das Akkordlohnsystem bis aufs Blut angestrengt würden, wurde
bei uns durch das glücklich gewählte nicht zu langsame und nicht zu
schnelle Arbeitstempo vermieden, das in der ganzen Fabrik herrschte und
seinerseits viel dazu beitrug, daß auch die nüchternste Teilarbeit
erträglich wurde. Ohne daß gebummelt und gefaulenzt wurde, war doch dem
Einzelnen einigermaßen so viel Freiheit und Spielraum gelassen, daß
er sich in dieser Stunde einmal nach seinen zufälligen Bedürfnissen
etwas Zeit nehmen konnte, um es in einer andern bessern Stunde
wieder nachzuholen. Und das galt noch viel mehr gerade von den in
Akkordlohn stehenden als von der andern Lohngruppe. Ich weiß, daß ein
paar Stoßer, die sehr gute Verdiener waren, in der ersten Hälfte der
vierzehntägigen Lohnperiode fast nur mit Auswahl und nach Belieben an
ihrer Maschine fleißig waren und sich erst in der zweiten Hälfte recht
ins Zeug legten. Von andern, die im Stundenlohn arbeiteten, wurden
diese Akkordlöhner fast immer beneidet; ein Bohrer hatte es zu seiner
großen Befriedigung und seinem pekuniären Vorteil noch kurz vor meinem
Eintritt in die Fabrik durchgesetzt, daß er künftig im Akkordlohn
beschäftigt wurde, was mir andre später noch mehrmals ostentativ
erzählten. Und ein gewandter, mir befreundeter Schlosser klagte mir
mehrmals über die Langweiligkeit seines Stundenlohnes und sehnte sich
herzlich nach Arbeit im Akkordlohn, da man da mehr Abwechslung im
Verdienen und auch Aussicht auf mehr Verdienst hätte.

Daß die Auszahlung der Löhne aller vierzehn Tage stattfand, sagte ich
bereits. In der Fabrikordnung war die Bestimmung so formuliert:

    Die Berechnung der Löhne erfolgt nach Arbeitsstunden oder nach
    im +Voraus+ durch schriftliche Verträge (Akkordzettel oder
    Eintragung in das Akkordbuch) vereinbarten Akkordsätzen.

    Eine +Löhnungsperiode+ erstreckt sich, so lange sich nicht
    eine andre Anordnung notwendig macht, vom Sonnabend der einen Woche
    bis zum Freitag einschließlich der übernächstfolgenden Woche.

    Die Lohnauszahlung erfolgt an dem der betreffenden Lohnperiode
    folgenden Freitage abends 6 Uhr 20 Minuten. Von den Löhnen werden
    die Beiträge zur Krankenkasse, event. Strafgelder und zu leistender
    Schadenersatz, sowie Kautionszahlungen in Abzug gebracht.

Aus dem letzten dieser drei Abschnitte geht hervor, daß von jedem
Arbeiter immer der Lohn seiner ersten Arbeitswoche, die er nach
Eintritt in den Fabrikverband zurücklegte, von der Direktion
innebehalten wurde. So zwar, daß, wenn einer an dem einem Lohntage
folgenden Sonnabend in Arbeit trat, er nach den ersten vierzehn
Tagen nur den Verdienst einer Woche ausgezahlt erhielt und erst dann
regelmäßig seinen vierzehntägigen Lohn empfing. Das hatte seinen
Grund nicht in irgend welcher schlechten, hinterlistigen Absicht
der Fabrikleitung, etwa um dadurch die Möglichkeiten von Streiks zu
verhindern; ich sagte schon, daß es bei uns keine Kündigungsfrist
gab und damit auch niemals die Gefahr eines Kontraktbruches eintrat.
Vielmehr wollte die Direktion wohl den Leuten, wenn sie die Fabrik aus
irgend einem Grunde verließen, etwas Geld in die Hand geben, sodaß sie
mit geringerer Sorge und ohne Not für die nächste Woche sich unterdes
neue Arbeit zu suchen in der Lage waren. Das wurde von allen nüchtern
denkenden Arbeitsgenossen, mit denen ich mich darüber unterhielt, auch
dankbar anerkannt, wenngleich sie in der ersten Zeit den durch jenes
gezwungene Sparsystem hervorgerufenen Ausfall an Verdienst schmerzlich
und oft mit Opfern entbehrten. Aber in diesem Falle wurde immer auch
vom Meister durch Auszahlung eines Vorschusses ausgeholfen, dessen
Betrag langsam und allmählich an den spätern Lohnterminen wieder
abgezogen wurde. Ich habe das öfter zu beobachten Gelegenheit gehabt
und bin selbst in den ersten Tagen meiner Anwesenheit in der Fabrik von
den vielen Arbeitsgenossen, die es gut mit mir Neuling meinten und mich
in der üblichen bedrängten Lage wähnen mußten, aufgefordert worden, mir
ohne Gêne auch solch einen Vorschuß beim Meister zu holen. Für andre
Fälle freilich existierte in der Arbeitsordnung über Vorschußzahlungen
folgender mit Recht ziemlich strenger Passus:

    Die Zahlung von Vorschüssen findet nur ganz ausnahmsweise und nach
    freiem Ermessen der Direktion statt.

Und für länger andauernde Akkordarbeiten galt dieser Abschnitt:

    Die Auszahlung von Akkordlöhnen erfolgt nur, wenn die Vollendung
    und ordnungsgemäße Ausführung der betreffenden Arbeit vom
    vorgesetzten Meister im Akkordbuche bez. auf dem Akkordzettel,
    welcher dazu abzugeben ist, bestätigt worden ist.

    Auf rechtzeitiges, d. h. vor Schluß der Lohnperiode gestelltes
    Verlangen werden entsprechende Akkordvorschüsse gewährt.

    Akkordarbeiten, die nicht innerhalb zwei Monaten, vom Tage des
    Akkordabschlusses an gerechnet, zur Vollendung und Verrechnung
    kommen, werden nicht bezahlt, wenn nicht vor Ablauf dieser Zeit die
    Verlängerung des Akkordvertrages von der Direktion ausdrücklich
    gebilligt worden ist.

Allgemeine Sitte war es, daß alljährlich zum Chemnitzer Jahrmarkt,
einem Montage, an dem übrigens auch nicht gearbeitet wurde, laut
Anschlages jedem auf Verlangen nach Schluß der Arbeit ein Vorschuß
in der Höhe bis zu zehn Mark gewährt wurde; früher wohl eine sehr
vernünftige Maßregel, die aber jetzt überflüssig geworden ist, seit
die Jahrmärkte sich überlebt haben, und man die Waren in den Läden
der Stadt, die man noch dazu besser kennt, ebenso billig und gut oder
gar noch billiger und besser zu kaufen imstande ist. Sehr viele der
Arbeitsgenossen wußten das auch sehr wohl und sprachen es geradezu aus;
dennoch holte sich die große Mehrzahl von ihnen seine zehn Mark, um den
dadurch entstandenen Ausfall am nächsten Lohntag, desto schmerzlicher
zu vermissen. Ich muß sagen, daß dieser kleine Zug mir kein sehr
günstiges Licht auf die wirtschaftliche Fähigkeit der Leute warf.

Die allvierzehntäglich wiederkehrende Stunde der Lohnauszahlung war für
alle ein sehnlichst erwarteter, festlicher Termin. An dem Nachmittag,
der ihr vorausging, wurde nicht allzu eifrig gearbeitet, und wenn
es sechs Uhr schlug, war im Nu unser ganzer Bau leer, und die Schar
drüben im andern Gebäude, wo in zwei der Fabriksäle die wichtige
Handlung vor sich ging, schnell und einfach genug. Ein Meister rief
in alphabetischer Reihenfolge die Namen der Leute. Auf deren „Hier“
übergab ein andrer ihm eine Blechkapsel, in der die Lohnrechnung und
das Geld in runder Summe lag. Ein Blick, und man hatte die Richtigkeit
der Rechnung geprüft, ein Griff, und die leere Büchse wanderte in einen
am Wege stehenden Korb. Wir bekamen nie die Bruchteile einer Mark
ausgezahlt. Hatte einer z. B. 29 Mark 97 Pfennige verdient, so erhielt
er immer nur die 29 Mark ausgehändigt. Die 97 Pfennige wurden ihm gut
geschrieben und in das nächste Lohnkonto mit verrechnet. Damit waren
die Leute auch wohl zufrieden.

Für mich war die ganze Szene immer besonders reizvoll. Sie bot dem Auge
ein packendes Bild. Im Halbkreis stehen die rußigen Gestalten um die
zwei Meister, im Arbeitskleide, den Hut auf dem Kopfe, den Blechkrug in
der Hand, dicht gedrängt. Alte und junge durcheinander, die einen sich
neckend, andre gleichgiltig wartend, andre mit finsterm, gespanntem
Auge den ausrufenden Meister fixierend, bis ihr Name erklingt, und
sie ihr „Hier“ antworten können, ihr Arm sich vorstrecken und das
Sauerverdiente empfangen darf. Dazu im Hintergrunde der Szene die
großen Maschinen, die wie im Schlafe stumm, unbeweglich daliegen
nach dem rastlosen Getriebe des Tages, an sie gelehnt da und dort ein
Mann, der prüfend, und bald lächelnd bald enttäuscht den Inhalt seiner
Büchse mustert. Und über allem das Abendrot der untergehenden Sonne,
deren letzte flimmernde Strahlen durch die blinden Scheiben der hohen
Fabrikfenster brechen.

Strafen, und zwar fast ausschließlich Geldstrafen, waren in unsrer
Fabrikordnung reichlich und doch -- ich kann das wohl sagen -- meist in
gerechter und praktischer Beurteilung der Verhältnisse ausgesetzt. Die
höchste betrug 2 Mark, die niedrigste 20 Pfennige. Jene trat ein, wenn
einer beim Rauchen oder Schnapstrinken innerhalb der Fabrik oder bei
mißbräuchlicher Benutzung der elektrischen Signalglocken ertappt wurde,
letztere lag auf unpünktlichem Beginn der Arbeit. Die hohe Strafe auf
das Schnapstrinken und den Mißbrauch der elektrischen Glocken, die in
beiden Fällen eventuell auch auf sofortige Entlassung erhöht werden
konnte, war durchaus gerechtfertigt, und ihre Höhe war die Ursache,
daß sie nur selten in Anwendung zu kommen brauchte. Es wurde in der
That fast kein Schnaps innerhalb der Fabrik und während der Arbeit
getrunken. Ausnahmen machten nur einige wenige notorische Säufer und
ein paar ältere treue Leute, die sich des Morgens ihr sogenanntes
„Püllchen,“ eine kleine Flasche, die kaum 3 bis 4 Schnapsgläschen
faßte, gefüllt mitbrachten und dies im Laufe des sechsstündigen
Vormittags schluckweise als Erquickung und Delikatesse zu sich nahmen,
also eine durchaus harmlose und ungefährliche Überschreitung des
Verbotes. Die Strafe, die am häufigsten in Anwendung kam, war die
wegen Zuspätkommens. Mit Schlag 6 Uhr früh, und Schlag 1 Uhr mittags
schloß der Portier, der den Ein- und Ausgang der Leute zu kontrollieren
hatte, das Thor, oft so, daß er den Heranjagenden das Gitter vor der
Nase zuschlug. So kam es, daß mitunter zehn und zwanzig auf einmal
ausgesperrt wurden. Denn bei den Entfernungen, die die Leute zur Fabrik
zurückzulegen hatten, war die Verspätung um 1 bis 2 Minuten leicht
möglich. Verspätungen von mehr als 10 Minuten wurden, eine allzuhohe
Strafe, mit 50 Pfennigen geahndet. Das war mehr als das Verdienst
einer Stunde, für manche, wie für mich, sogar das von 2 und 2½ Stunden.
In solchem Falle, der übrigens nicht sehr häufig vorkam, zog man es
vor, lieber zwei ganze Stunden später zu erscheinen und sich dann
persönlich beim Werkmeister zu entschuldigen, worauf jene Strafe
wegfiel und nur der Satz für die fehlenden Stunden am Lohne abgezogen
wurde. Eine gleich hohe Strafe von 50 Pfennigen lag auf Bummelei bei
der Arbeit oder auf unnötigem Verlassen des Arbeitsplatzes, eine an
sich ebenfalls notwendige Bestimmung, die auch nur in den seltensten
Fällen in Anwendung kam, obwohl sie wohl häufig übertreten wurde. Die
Meister waren klug genug, nicht hinzusehen. Ich habe nur einen Fall
mit erlebt, an dem ich selbst mit beteiligt war, wo sie in Kraft trat.
Hier ertappte uns der Direktor selbst bei einem höchst anregenden
Gespräch, das sich zwischen uns Arbeitern entsponnen hatte. Wir mußten
alle mit 50 Pfennigen bluten. Ich muß sagen, daß ich dies Verfahren
des Direktors nicht für ganz korrekt hielt. Denn es wurden Leute davon
betroffen, die länger als ein Dutzend Jahre in der Fabrik und noch nie
bestraft worden waren. Hier hätte die gute Führung in der Vergangenheit
einige Rücksicht und Nachsicht gefordert, anstatt der unterschiedslosen
militärisch gesetzlichen Strenge, die seitens des Direktors in
Anwendung kam. Dann gab es Strafbestimmungen für Fahrlässigkeit bei der
Arbeit, für unpünktliche Führung des Akkordtagebuches, für zweckwidrige
Benutzung der Maschinen und Werkzeuge, böswillige Beschädigung
derselben, Beschmutzung wertvoller Zeichnungen. Aber ich habe nirgends
bemerkt, daß alle diese Bestimmungen jemals in Anwendung gekommen wären.

Nur ein Umstand erregte die meines Erachtens auch gerechte Erbitterung
der Leute: das war die Art, wie die aufgesammelten Strafgelder
verwendet wurden. In der Fabrikordnung war darüber bestimmt, „daß sich
die Direktion, soweit die Gelder von der Fabrik nicht als Schadenersatz
beansprucht werden, das alleinige Dispositionsrecht darüber vorbehält.“
Kein Arbeiter wußte, wo das Geld hinkam. Man behauptete, daß die
Gratifikationen, die an dem vorhergegangenen Weihnachten an ein paar
Dutzend Leute für während der Festzeit geleistete Nebenarbeit gezahlt
worden waren und große Freude unter diesen hervorgerufen hatten, aus
jenen Geldern gewährt worden wäre: die Fabrikleitung hätte sich also
ohne die geringsten eignen Opfer, auf Kosten der während des Jahres
in Strafe genommenen Arbeiter bei einer Anzahl von Leuten populär und
beliebt gemacht. Das war die allgemeine Ansicht, die unter der Hand
kolportiert wurde und die sehr viel böses Blut machte. Man sollte in
der That solche Dinge ernstlich vermeiden. Sie sind eine Saat ewigen
Mißtrauens, Kleinigkeiten, die doch keine bleiben. Das beste ist immer,
solche Strafgelder, abzüglich der von der Fabrik als Schadenersatz mit
Recht beanspruchten, zu Gunsten aller Arbeiter und vor deren Augen,
womöglich unter ihrer Mitwirkung zu verwenden.

Die Betrachtungen, die ich über den Arbeitswechsel während meines
Aufenthalts in der Fabrik gemacht habe, sind nur relativ zu verstehen
und richtig nur unter dem Gesichtspunkte der damaligen allgemeinen
wirtschaftlichen Lage zu würdigen. Sie stand, wie schon einmal gesagt,
unter dem Eindruck hauptsächlich zweier allgemeiner Faktoren: der
hinter uns liegenden Feier des 1. Mai und der in Aussicht stehenden
MacKinley-Bill. Diese erhob sich wie ein drohendes Gespenst vor der
Chemnitzer Industrie und drückte schon damals die Produktionsstimmung;
jene war zwar in Chemnitz vollständig gescheitert, sodaß nach
Zeitungsberichten im ganzen großen Orte überhaupt nur vier Mann
gestreikt haben sollten, aber sie war doch die Ursache zur Bildung
einer mächtigen Vereinigung der dortigen Eisenindustrie geworden, die
nach jenem Rückschlag selbstverständlich jede Kampfregung niederhielt.
Bei dieser Lage der Dinge war eine nennenswerte Neueinstellung von
Arbeitskräften nicht möglich, wohl aber die Beseitigung unliebsamer
Personen. Gleichwohl stand die Sache für die Maschinenfabrikarbeiter
noch bedeutend besser als z. B. für die Weber. Bei uns fanden
wenigstens keine umfangreichen Entlassungen statt, während dort immer
mehr Menschen brotlos wurden. Als ich zuletzt im Vogtlande wanderte,
traf ich einen Spinner aus Chemnitz, einen guten stillen Menschen,
Familienvater, den ebenfalls das furchtbare Los der Arbeitslosigkeit
getroffen hatte, und der in einem Tage die ungeheure Strecke von
Chemnitz über Zwickau bis Crimmitschau nach Arbeit abgesucht hatte
und nun am andern Tage müde und verzweifelnd den Weg zurück machte.
Er zeigte mir seinen Entlassungsschein, auf dem die Bemerkung stand:
Hat am 1. Mai ordnungsmäßig gearbeitet. Er erzählte leidenschaftslos,
daß in Chemnitz bereits 1100 Familienväter brotlos seien -- damals
jedenfalls eine viel zu hoch gegriffene Zahl, aber bezeichnend für die
Stimmung und die Gerüchte, die zu der Zeit schon unter der dortigen
Arbeiterbevölkerung umgingen.

Unter all diesen Umständen war der Wechsel des Personals in
unsrer Fabrik während meines Dortseins nur gering. Ich zähle aus
der Erinnerung und den gemachten Notizen etwa sechzehn Wechsel
verschiedenster Art zusammen, die in dem Bau, dem ich zugeteilt war,
vorkamen, doch mag die Zahl nicht genau sein. Im einzelnen war es so,
daß etwa neun Stellen sogleich nach ihrem Freiwerden wieder besetzt
wurden, in zwei andern Fällen Plätze besetzt wurden, die aus irgend
einem mir nicht bekannt gewordenen Grunde (wohl aus Mangel an Arbeit)
eine Zeitlang frei gewesen waren, drei Plätze erhielten während meiner
Zeit mehrere Inhaber, die sich binnen wenigen Tagen ablösten, zwei
Stellen endlich waren, als ich ging, eben vakant geworden. Die leeren
Plätze, die während meiner ganzen Zeit leer standen, ziehe ich nicht
mit in diese Betrachtung. Krank oder verunglückt oder wegen häuslicher
Verhältnisse für längere Zeit von der Arbeit abgehalten waren in dieser
Zeit vier Mann. Ihre Plätze blieben unbesetzt; ihre nötige Arbeit
besorgten andre Arbeitsgenossen. Sowie sie sich zurück meldeten,
traten sie in die frühere Stelle ein. Unter den Wechselnden war ein
Handarbeiter, zwei Dreher und der Rest Schlosser; die größere Hälfte
von ihnen war verheiratet.

Interessanter als diese trocknen Angaben ist es, den Ursachen
nachzuforschen, die zum Austritt der Leute führten. Einige junge
unverheiratete Schlosser gingen weg, nur um sich einmal zu verändern
-- derselbe Grund, der auch einige meiner Bekannten aus der Herberge
zu langer und hinterher schmerzlich empfundener Arbeitslosigkeit
verurteilt hatte. Wieder zwei andre gingen weg, weil sie beßre Stellen
anderswo in Aussicht hatten, in die sie sofort einrücken konnten. Bei
dem einen dieser beiden war ein wenig erfreulicher Vorgang in unsrer
Fabrik der unmittelbare Anlaß, daß er sich eine andre Stelle suchte.
Ich habe ihm freilich nicht persönlich beigewohnt und schildere
ihn darum nur nach der Erzählung meiner Arbeitsgenossen. Ich weiß
nicht, ob diese den Thatsachen entsprach; jedenfalls beweist sie, wie
lebhaft alle in diesem Fall für ihren Arbeitsgenossen Partei nahmen,
der ein zielbewußter Sozialdemokrat war, und wie tiefe Verstimmung
die Geschichte unter ihnen allen hervorrief. Der Mann, um den es
sich handelt, war ein Dreher, der 22 Jahre lang in unsrer Fabrik an
derselben Maschine gestanden hatte. An einem Lohntage -- er arbeitete
in Akkord -- war ihm ein in der That auffallend niedriger Lohn
ausgezahlt worden. Er beschwerte sich, wohl in schroffer Weise, bei
seinem Meister, einem äußerlich feinen Mann, über den ich sonst nicht
habe klagen hören. Es kommt zu einem heftigen Wortwechsel, der sich auf
dem Kontor auch mit dem Direktor fortsetzt, worauf der Mann kündigt.
Als er -- immer nach der Erzählung seines jugendlichen etwa 20jährigen
Neffen, der, ein bescheidenes Kerlchen, in meiner Handarbeiterkolonne
stand -- um seinen Entlassungsschein bittet, wird ihm ein mit
+roter+ Tinte geschriebener übergeben. Darauf neuer Skandal, der
erst dann mit dem Abgang des Mannes endet, als man den Gendarmen zu
holen im Begriff ist. Den Schein hat der Mann auf dem Kontortische
liegen lassen und hat, wohl als tüchtiger Arbeiter bekannt, ohne ihn
gleich andern Tages in einer andern Fabrik lohnende Arbeit gefunden.
Von Bedeutung ist vor allem der Eindruck, den dieser Vorgang auf
die Zurückbleibenden machte. Viel und laut geredet wurde zwar nicht
darüber, desto mehr im stillen von Mann zu Mann; die überzeugten
Sozialdemokraten blickten in diesen Tagen besonders finster vor sich
hin, andre zuckten nur die Achsel, für einige war es ein willkommener
Anlaß, ihre Klatschsucht zu befriedigen, allen aber eine neue Warnung,
vorsichtig zu sein.

Ein andrer Schlosser trat aus und eine Woche darauf wieder in die
Fabrik ein. Er hatte sich mit seinem Monteur gezankt, jähzornig
sein Werkzeug hingeworfen und war davon gegangen. Da er, obgleich
Süddeutscher und unverheiratet, ich weiß nicht aus was für Gründen in
Chemnitz bleiben wollte, kam er, als er nirgendwo anders Arbeit fand,
nach einigen Tagen zurück und bat den Meister wehmütig um abermalige
Aufnahme. Der ließ ihn erst ein paar Tage zappeln, stellte ihn dann
aber wirklich bei einem andern Monteur wieder ein. Aber der Mann hatte
von diesem Moment an bei vielen unsrer Arbeitsgenossen alle Achtung
und Beliebtheit verloren. Man rechnete es ihm geradezu zur Schande,
daß er so zu Kreuze gekrochen war, und manche ignorierten ihn von
diesem Augenblick an völlig. Der Monteur, unter dem er nun, und zwar
mit Aufwendung allen Fleißes, arbeitete, war verständig genug, ihn
diese „Charakterlosigkeit“ nicht auch seinerseits entgelten zu lassen
und ihn, was unendlich leicht gewesen wäre, zu chikanieren. Aber ich
weiß auch, wie sehr er sich dieser Unparteilichkeit als eines Besondern
bewußt war.

Für drei andre wieder war ihre gewohnheitsmäßige Lüderlichkeit die
von den meisten verurteilte Ursache, daß sie schon nach den ersten
acht Tagen einfach wieder wegblieben. Unter ihnen war einer, ein
Regimentskamerad von mir, dessen Frau damals eben zum fünftenmale
niedergekommen war, und der darum gleich am ersten Tage vom Meister
Vorschuß erbat und wohl auch erhielt, uns andre, freilich ohne Erfolg,
anzupumpen versuchte und dann auf einmal fort war, um, wie man sich
nachher erzählte, kurze Zeit darauf mit drei andern fidel bei einer
sonntäglichen Droschkenfahrt gesehen zu werden. Er und die zwei andern
erregten den Abscheu und die Entrüstung aller meiner nähern Freunde,
die alle ihr Verfahren laut oder schweigend verurteilten, ein Umstand,
den ich zu beachten bitte. Jene drei gehörten zu der auch da unten
nicht geachteten Sorte von Arbeitern, die nirgends lange aushält und
das beste und jedenfalls sichere Material für die unterste Hefe unsers
arbeitenden Volkes, das Proletariat im schlimmen Sinne abgiebt.

Es ist hier der Ort, im Anschluß an das Gesagte einige allgemeinere
Angaben über die Länge der Zeit zu machen, die die Hundertzwanzig,
unter denen ich stand und ging, unsrer Fabrik angehörten, das
Dienstalter, das sie bei uns hatten. Doch gebe ich auch hier
ausdrücklich zu bedenken, daß sie auf Beobachtungen aus einer Zeit
beruhen, deren Arbeitsbedingungen ich oben bereits angeführt habe.
Trotzdem kann man wohl sagen, daß unsre Arbeiterschaft im großen und
im ganzen äußerst stabil war. Wir hatten unter uns einen zahlreichen
Stamm natürlich meist ältrer Leute, die oft schon jahrzehntelang dem
Fabrikverbande angehörten, allerdings leider wohl nicht wegen der
Aussicht auf wachsenden Verdienst, sondern wegen des alten guten
Zuges der Seßhaftigkeit und Anhänglichkeit an die heimatliche Gegend,
der noch auffallend tief, scheinbar gegen die übliche Meinung,
wenigstens der ältern Generation meiner Genossen im Herzen sitzt.
Das ihnen entgegengesetzte, das fluktuierende Element unter uns
bildeten selbstverständlich die jungen unverheirateten Gesellen,
die, je nach Lust, Laune, Lerngelegenheit oder Lerneifer, manchmal
aus recht zufälligen Ursachen längere oder kürzere Zeit in derselben
Fabrik und an demselben Orte aushielten, und die, wie ich schon in dem
einleitenden Kapitel bemerkte, vielfach ein gut Stück Welt gesehen
hatten. Zwischen diesen beiden Gruppen stand deutlich eine dritte,
wie mir schien an Zahl ebenfalls nicht geringe: diejenigen, die, fast
durchgängig verheiratet, immer etwa sechs bis zehn Jahre in einer
Fabrik, stets aber am selben Orte bleiben. Sie sind also ebenso seßhaft
wie jener alte Stamm, dessen Rekruten sie meistenteils bilden, und
wechseln die Fabrik in der angegebenen Zeit entweder, weil sie sich
anderswo materiell dauernd zu verbessern hoffen, häufig aber auch
nur, um eine heißersehnte Abwechslung in das langweilige Einerlei des
bisherigen nur zu sehr gewohnten und ausgekannten Fabrikbetriebes zu
bringen. Weiter bilden selbstverständlich die Fabriklehrlinge eine
Gruppe für sich, und schließlich die kleine Zahl jener Lüderlichen, die
ich zuletzt schilderte.

Der Arbeitswechsel vollzog sich ebenso schnell als verständig. Wir
kannten, wie schon mehrmals bemerkt, keine Kündigungsfrist. Der
Abschnitt 2 der Arbeitsordnung besagte hierüber folgendes:

    Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses kann von beiden Seiten
    jederzeit und ohne Kündigung erfolgen, sofern nicht hierüber
    besondre schriftliche Vereinbarungen getroffen sind. Doch ist
    auf Verlangen jeder Arbeiter verpflichtet, event. angefangene
    Akkordarbeiten vor seinem Abgange zu vollenden.

    Der beabsichtigte Abgang ist dem vorgesetzten Werkführer
    anzuzeigen. Vor dem Abgange hat jeder seinen Platz aufzuräumen,
    beziehentl. seine Maschine zu putzen und die ihm übergebenen
    Werkzeuge an den Werkführer abzugeben, beziehentl. deren
    Richtigkeit von letzterem sich bescheinigen zu lassen.

Damit war mit einem Schlage die ganze Frage des Kontraktbruches bei
uns aus der Welt geschafft. Und beide Teile befanden sich wohl dabei.
Die Fabrikleitung, die dadurch in der Disposition ihrer Arbeitskräfte
völlig freie Hand behielt, wovon sie aber im allgemeinen nur besonnenen
und humanen Gebrauch machte, und die Arbeiter, die dadurch immer die
Möglichkeit hatten, sofort in eine ihnen gebotene bessere Stelle
überzugehn, und denen jener zu Anfang einbehaltene und bei ihrem Abgang
auszuhändigende Lohn der ersten Woche die nun allerdings größere
Gefahr augenblicklicher Erwerbslosigkeit wenigstens einigermaßen
wieder ausglich. Es ist in dieser Zeit unendlich viel über die Frage
des Kontraktbruchs und seiner Bestrafung gestritten worden. Hier ist
ein Weg, der sie höchst einfach und auch ohne materielle Verluste für
die Etablissements löst, wie die Erfahrung in unsrer und, wie ich
höre, auch in andern Fabriken beweist, wo dieselbe Sitte herrscht.
Aber selbst wenn solche Verluste eintreten sollten, dürfte dies nicht
das ausschlaggebende Bedenken sein, wo viel höhere Güter auf dem
Spiele stehn. Auch im Wirtschaftsleben der Völker müssen sittliche
Rücksichten wieder materiellen Interessen vorausgehn, und gerade
wir, die unparteiischen Gebildeten, die mit dem Maßstabe ernster
ethischer Grundsätze und ohne materielle Voreingenommenheit an der
Lösung der sozialen Frage mitarbeiten wollen, müssen darauf dringen,
daß dieser Grundsatz wieder immer mehr Wahrheit wird. Es muß uns
gleichgiltig sein, ob einige Tausende von Mark mehr oder weniger
von den Großindustriellen verdient werden, wenn damit ein Zustand
beseitigt wird, der zwar formell Recht, thatsächlich aber durch die
wirtschaftliche Zwangslage eine Ungerechtigkeit ist, und der dem
Rechtsbewußtsein in unserm Volke einen schweren Stoß zu versetzen
im Begriffe ist. Und sollten die deutschen Industriellen wirklich
weniger imstande sein, diesen ernsten sittlichen Bedenken Rechnung
zu tragen, als die deutsche Arbeiterschaft, die durch den von der
sozialdemokratischen Partei vorgeschlagenen Zusatzparagraphen zum
Arbeiterschutzgesetz ihrerseits sich bereit erklärt hat, um den Preis
der Beseitigung aller Kündigungsfrist die dadurch geschaffene größere
Erwerbsunsicherheit auf sich zu nehmen? Ich meinerseits spreche meine
volle Sympathie mit diesem Schritte der Sozialdemokraten offen aus.

Wenn ich endlich noch einige Worte über die Erfahrungen sagen
darf, die ich bei der Arbeitssuche gemacht habe, so sind das kurz
folgende. Tüchtigen Facharbeitern, wie Schlossern und Drehern, war
es zu jener Zeit immer noch leichter möglich, Arbeit in Fabriken
und kleinern Werkstätten zu erhalten, als Handarbeitern, Webern und
Maschinenarbeitern. Auf der Arbeitssuche wurden wir meist schon von
den Portiers der Fabriken kurz zurückgewiesen. In den wenigen Fällen,
wo wir bei dem Leiter direkt anfragen konnten, wurden wir freundlich
und höflich behandelt, einmal auch mit guten Ratschlägen versehen, die
freilich in diesem Falle nichts nützten. Auch die Arbeitsnachweise, zu
denen wir unsre Zuflucht nahmen, befriedigten unser Bedürfnis nicht.
Es waren die in den Herbergen und in den Zeitungen. Jene bestanden
darin, daß der Herbergsvater der Zentralherberge auf einem großen
schwarzen Brett, das an der Wand hing, die gesuchten Berufsarten, die
Anzahl der verlangten Arbeiter, die Art der in Aussicht stehenden
Beschäftigung, manchmal auch die Höhe des Lohnes anschrieb, wonach sich
jedermann orientierte. Daß dabei, wie es namentlich in Innungsherbergen
vorkommen soll, von ihm einzelne Leute bevorzugt worden seien, denen
er vorher im geheimen Mitteilung von der bessern Arbeitsgelegenheit
gemacht hätte, habe ich nicht bemerkt, kann aber das Gegenteil auch
nicht fest verbürgen. Unter den Beschwerden dieser erfolglosen
Arbeitssuche litten selbstverständlich vor allem wir zugereisten,
in Chemnitz fremden. Wer hier bekannt war oder auch einige Routine
besaß, dem glückte es selbstverständlich eher. Es kommt nicht zu
selten vor, daß sich einer, anstatt sich abweisen zu lassen, hinter
den Portier steckt, ihm etwas zuschiebt und dafür von ihm Nachricht
erhält, wann in seiner Fabrik ein Platz frei wird. Auch von guten
Bekannten und ehemaligen Arbeitsgenossen, die zur Zeit da arbeiteten,
erhält man solche Mitteilungen und Winke, wo und wie anzuklopfen
ist, etwa bei einem Meister der Fabrik, bei dem jene dann selbst
auch ein gutes Wort einlegen. Doch ist natürlich bei dem allem viel
glücklicher Zufall im Spiel; und wer fremd am Orte ist, kann sich nicht
sonderlich darauf verlassen. Jedenfalls kann ich nach meinen eignen
Erfahrungen es aussagen, wie unsäglich deprimierend es ist, erfolglos
von Fabrik zu Fabrik, von Werkstatt zu Werkstatt wandern zu müssen,
immer von neuem seine Kraft anbietend, mit bittenden Worten, und immer
wieder erfolglos. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist, auch wenn der
Hunger noch nicht mit seiner eisernen Faust an die Thür pocht, das
furchtbarste Los, das einen gesunden, strebsamen, für seine Familie
sorgenden Manne treffen kann, um so bitterer, je ernster, tiefer,
charaktervoller er ist, und eine größere Gefahr zur physischen und
moralischen Verwahrlosung, als nur je die sozialdemokratische Agitation
es sein kann.

Zwei Seiten unsrer Arbeitsordnung enthielten schließlich gute, klare
Vorschriften zur Verhütung von Unglücksfällen. Sie wurden meist von
den Leuten verständig befolgt. Während meiner Zugehörigkeit zur Fabrik
ereignete sich nur ein größeres Unglück, das den Betroffenen auf etwa
vierzehn Tage arbeitsunfähig machte: eine eiserne Schiene von etwa
zwanzig Pfund war ihm auf den Fuß gestürzt, hatte mit der einen spitzen
Kante seinen Stiefel durchbohrt, ein tiefes Loch in das Fleisch und
dieses vom Knochen los geschlagen. Dagegen waren kleinere Unfälle um so
häufiger: Quetschungen der Finger und Zehen, schmerzhafte Verletzungen
der Fingernägel, Verwundungen der Hände durch scharfe Ecken und Kanten,
und der Augen durch abspringende Eisensplitter. Gerade das letztere kam
besonders oft vor, lief aber in den meisten Fällen gut ab. Man half
sich da gern gegenseitig und schnell und geschickt.

Die Hauptgefahr bei aller Arbeit war immer die des Fallenlassens
der großen, oft zentnerschweren eisernen Stücke. Ein Fehlgriff, ein
unzeitgemäßes Nachlassen konnte Beine und Füße kosten. Darum wurde hier
zumeist instinktiv vorsichtig, bedächtig und behutsam gearbeitet. Als
Grundsatz galt: Was man einmal in der Hand hat, muß man so lange darin
behalten, bis ein sicheres Niederlegen möglich ist, koste es an Kraft,
was es wolle. Übrigens war ein für allemal der Befehl gegeben, daß zu
jeder Arbeit immer soviel Leute antreten mußten, daß die betreffende
Arbeit ohne Schaden für die Leute und den Arbeitsgegenstand verrichtet
werden konnte. Damit war jede Überanstrengung verhindert, was von den
Arbeitern dankend anerkannt wurde. Ebenso wurde durch die drei Krahne
in unserm Bau namentlich die Transportarbeit ungemein erleichtert.
Ferner gab es, wie erwähnt, überall elektrische Leitungen, durch
die bei Unglücksfällen den Maschinenwärtern im Nu das Signal zum
Anhalten der Dampfmaschine gegeben werden konnte. Dann existierten
strenge Verbote gegen das unbefugte Betreten des Probiersaales,
das Auflegen von Treibriemen während des Ganges der Maschinen,
u. s. w. Weiter war geboten, enganliegende Kleider zu tragen, die
nicht von den in Gang befindlichen Rädern ergriffen werden konnten.
Eigentliche Schutzvorrichtungen an Maschinen aber waren über Erwarten
wenig vorhanden, jedoch immer wo nötig zur Stelle. Für vorkommende
Verunglückungen gab es eine Ecke in unserm Bau mit Matratze,
Verbandtisch und Stuhl, Verbandzeug, Waschtoilette u. s. w. Ein
Arbeiter, früher Lazarettgehilfe, war stets zur ersten Hilfeleistung
bereit, legte in schweren Fällen einen Notverband an und übernahm den
Transport des Verletzten. In der Art Verunglückte zu transportieren
war wohl erst kurz vor meinem Eintritt in die Fabrik eine große, von
den Leuten aufs dankbarste, aber doch nur als die Erfüllung einer
notwendigen Pflicht begrüßte Änderung eingetreten: anstatt wie früher
auf harten in der Fabrik benutzten Handwagen wurde der Verunglückte
jetzt in der Equipage der Direktoren nach Hause oder ins Krankenhaus
geschafft. Durchaus mangelhaft jedoch waren die Wascheinrichtungen,
die nur eine oberflächliche, mühsame Reinigung des Gesichts und der
Hände ermöglichten. In solchen rußigen Maschinenfabriken ist aber die
Errichtung von Bädern, die für alle zur Benutzung freistehen, einfach
Pflicht, namentlich wenn man die traurigen Wohnungsverhältnisse,
das enge Zusammenleben so vieler Menschen und beider Geschlechter
nebeneinander und dazu die Notwendigkeit einer täglichen gründlichen
Reinigung des ganzen schmutzigen Körpers in Betracht zieht.
Aber diese fehlten gänzlich bei uns, wie es überhaupt außer dem
bereits geschilderten Speisesaal nichts weiter von derartigen
Wohlfahrtseinrichtungen gab; man müßte denn jenen von der Direktion
gebilligten Handel eines einhändigen Expedienten mit guten, billigen
Arbeitskleidern auf Abzahlung noch darunter rechnen.

Und dabei war die Arbeit in unsrer Fabrik für alle körperlich schwer
und strapaziös. Ich sage das nicht nach den Erfahrungen, die ich an
mir machte; ich weiß, daß ich eine Ausnahme war und daß mir wenigstens
in der ersten Zeit alles doppelt schwer fiel. Ich berichte allein
nach den Aussagen der Leute und nach dem Eindruck, den sie auf mich
machten. Sie waren aber, mit Ausnahme der Jugend, alle des Abends
am Schlusse der Arbeit mehr oder weniger müde und abgespannt: ihr
Gang war nicht mehr so leicht, schnell und elastisch wie des Morgens
und Mittags, ihre Stimmung nicht mehr so heiter und lebhaft, ihre
Arbeitsleistung in der letzten Stunde deutlich geringer als in den
ersten. Es ist gar nicht zu leugnen, daß eine Fabrikarbeit von
dem Charakter der unsern, selbst bei einem so glücklichen Tempo,
bei einem so hochstehenden und verhältnismäßig geistig anregenden
Produktionsprozeß und bei der Freiheit und Selbständigkeit, wie
sie gerade bei uns noch herrschten, die tägliche Kraft eines Mannes
durchaus erschöpft. Es ist in der That keine Kleinigkeit, elf Stunden
des Tages mit 120 Mann in einem von öligem, schmierigem Dunste, von
Kohlen- und Eisenstaube geschwängerten heißen Raume auszuhalten.
Nicht eigentlich die meist schweren Handgriffe und Arbeitsleistungen,
sondern dieses Zusammenleben, Zusammenatmen, Zusammenschwitzen vieler
Menschen, diese dadurch entstehende ermüdende Druckluft, das nie
verstummende nervenabstumpfende gewaltige quietschende, dröhnende,
ratschende Geräusch, und das unausgesetzte elfstündige Stehen in ewigem
Einerlei, oft an ein und derselben Stelle -- dies alles zusammen macht
unsre Fabrikarbeit zu einer alle Kräfte anspannenden, aufreibenden
Thätigkeit, die wenn auch nicht über, so doch gleichwertig neben
jede anstrengende geistige Arbeit gestellt werden darf. Denn sie muß
geleistet werden mit Anspannung der besten Kraft eines Mannes -- und
dies, nicht aber der Erfolg, der größere oder kleinere Nutzen aus
ihr, ist der richtige sittliche Maßstab für ihre Beurteilung. Dabei
muß ich aber doch konstatieren, daß unter unsrer Arbeiterschaft eine
verhältnismäßig ganz beträchtliche Anzahl von Grauköpfen vorhanden
waren. So gab es unter den Schlossern einige, die schon als Reservisten
mit in Frankreich gewesen waren; unter den vier Packern waren, wenn
ich mich nicht irre, drei um die sechzig herum alt; zu meiner Kolonne
gehörte ein mittlerer Vierziger und ein hoher Fünfziger; unter den
Tischlern war ein freundlicher Alter mit schneeweißem Haar; an der
Langlochbohrmaschine stand ein mir besonders liebgewordener Mann, der
längst Großvater war und sehr frisch, treu und rüstig seine Pflicht
that; ein gleichaltriger Bruder von ihm, ein Schlosser, hatte nicht
allzu weit von ihm seinen Platz. Je mehr ich aufzähle, desto mehr
tauchen solche Grauköpfe in meiner Erinnerung wieder auf: sogar zwei
Siebziger, wenn ich recht berichtet worden bin, waren noch in leichtem
Dienste, der freilich leider entsprechend niedrig gelohnt wurde. Die
Mehrzahl der Arbeitsgenossen stellte aber natürlich das mittlere Alter,
starke, stramme Gestalten in den zwanziger und dreißiger Jahren.
Lange nicht so zahlreich waren Siebzehn- bis Zwanzigjährige, und an
Lehrlingen hatten wir eine noch geringere Zahl.

Ein abschließendes Urteil über den Charakter dieser eben mitgeteilten
+Arbeitsordnung+ unsrer Fabrik findet man aus den Sätzen, die am
Anfange des Büchelchens über die Aufnahme und an seinen Schlusse über
eventuelle Änderungen der Fabrikordnung Bestimmungen enthalten. An
der ersten Stelle heißt es wörtlich: „Das Recht, Arbeiter anzunehmen,
steht nur der Direktion oder deren Beauftragten zu. +Durch Annahme
der Arbeit unterwirft sich jeder Arbeiter den Bestimmungen der
Fabrikordnung+, von welcher er bei seinem Antritt ein Exemplar
ausgehändigt erhält und worüber durch eigenhändige Eintragung des
Namens in ein im Kontor ausliegendes Buch zu quittieren ist.“ Und an
der letztern Stelle heißt es, ebenfalls wörtlich: „+Änderungen sowie
Zusätze zu derselben+ werden von der Direktion +durch Anschlag
bekannt gemacht und treten jedesmal sofort in Kraft+.“

Hier prägt sich auch dem Harmlosen klipp und klar der ganze Charakter
dieser wie wohl fast aller bestehenden Fabrikordnungen aus. Sie ist
deutlich das Produkt der Fabrikleitung, zugeschnitten nach den allein
maßgebenden Gesichtspunkten ihrer einseitigen Interessen. Sie ist eine
Hausordnung, die der Eigentümer allein nach seinem Willen erläßt, und
der sich jeder zu fügen hat, so lange er als Glied dem Hause angehört.
Es giebt für die Arbeiter gegen solche Arbeitsordnung keinen andern
wirksamen Protest, als den des Austritts aus dem Verbande, dem sie
Gesetz ist. Ihr Dasein und ihre Giltigkeit bezeichnet in allen Fällen
von Bedeutung die vollkommene, schweigende Abhängigkeit aller Arbeiter;
sie ist der Ausdruck eines absolutistischen Systems, das gerade
Gegenteil von wirtschaftlicher Freiheit, die doch das heute herrschende
Gesetz im Wirtschaftsleben der Völker sein soll; sie ist eine neue und
folgenschwere Ursache der Unselbständigkeit und Unreife des Charakters
der heutigen Fabrikarbeiter.

Freilich, und das ist das zweite, was ich abschließend zu sagen habe,
wurde die Schärfe dieser ganz einseitigen Arbeitsordnung in unsrer
Fabrik stark gemindert, ja häufig geradezu unwirksam gemacht durch
die kluge taktvolle Art, wie sie bei uns zur Anwendung kam. Bei dem
Direktor traten diese geschriebnen Satzungen überhaupt durchaus hinter
seiner energischen Persönlichkeit zurück, in dessen thatkräftiger,
militärischer, aber verständiger, besonnener und vor allem gerechter
und unparteiischer Art sie eine neue lebendige Gestalt annahm, und dem
man, wie ich das weiter unten noch ausführen werde, ohne Widerstand
gehorchte. Die übrigen Vorgesetzten aber, vor allem die Meister,
handhabten die Ordnung durchschnittlich so klug, mild und nachsichtig,
daß die Arbeiter die in ihr enthaltenen rücksichtslosen Sätze leicht
hinnahmen, und daß ihre Schärfe ihnen nur in den seltensten Fällen
schmerzlich zum Bewußtsein kam.

Eingehend möchte ich am Schlusse dieses Kapitels noch von dem
+Verhalten der Leute bei der Arbeit, ihrem Verkehr unter einander und
mit ihren Vorgesetzten+ erzählen. Die gesamte Arbeiterschaft unsrer
Fabrik schied sich auch in dieser Beziehung in zwei große Gruppen,
in die des Werkzeug- und des Stickmaschinenbaues; die vollständige
Trennung des Arbeitsprozesses beider Abteilungen hatte für die darin
beschäftigten im allgemeinen auch eine solche des Verkehrs zur Folge,
und zwar so sehr, daß häufig sogar eine vollständige gegenseitige
Unbekanntschaft unter den Leuten bestand. Dann ging man meist achtlos,
grußlos, ohne ein Wort zu wechseln, beim Eintritt wie beim Austritt aus
der Fabrik an einander vorüber und kannte nicht Namen noch Gesinnung
des andern. Zwischen denen, die schon jahrelang in der Fabrik waren,
bahnte sich natürlich trotz dieser Betriebsscheidung allmählich eine
Annäherung an; doch beschränkte auch sie sich meist nur auf einen
ganz oberflächlichen, flüchtigen und seltenen Verkehr während der
Arbeitspausen. Die Handarbeiter, die selbstverständlich am meisten
in der Fabrik hin und her geschickt wurden, waren eigentlich das
einzige und hauptsächliche verbindende Element zwischen den beiden
großen Arbeitergruppen, denen man als dritte isolierte die kleinere
Tischlerkolonne an die Seite stellen kann.

Innerhalb jeder dieser drei Gruppen aber war der Verkehr bei der Arbeit
selbstverständlich sehr rege. Dazu zwang schon der obengeschilderte
Charakter des gemeinsamen Arbeitsprozesses. Es waren darum nur seltene
Ausnahmen, daß ältere Leute, die oft schon 20 Jahre in der Abteilung
arbeiteten, einmal einen jungen Schlosser nicht kannten und auch nie
ein Wort mit ihm wechselten. Solche Fälle erklärten sich dann aus
der abnehmenden geselligen Elastizität der ältern Leute, und aus dem
fortwährenden Wechsel gerade dieser jugendlichen Elemente. Sonst
aber führte, wie gesagt, die Gemeinsamkeit des Arbeitsprozesses die
Leute schnell, häufig und nahe aneinander und zwang sie zu dauerndem
gegenseitigen Verkehr.

Dieser war nun selbstverständlich besonders rege zwischen
Gleichaltrigen, Arbeitsnachbarn und den Leuten derselben Kolonne,
derselben Montage, desselben Meisters. Hier wurde er von selbst häufig
ein intimer; und jede Gelegenheit zu einem längern oder kürzern
Zwiegespräch wurde dann fleißig benutzt. Und je nachdem unterhielt man
sich bald über gleichgiltige, bald lustige, bald ernste Dinge, oder
neckte und balgte man sich herum. Vor allem wurde der Neueingetretene
ausführlich kritisiert; dann erzählte man sich andre kleinere
Neuigkeiten aus der Fabrik, z. B. daß dem Kantinenwirt und dem Portier
gekündigt worden wäre, und dann auch, daß der Kutscher seine Stellung
aufgäbe, und warum das alles geschähe; oft wurde auch ein Ereignis aus
dem gemeinsamen Wohnorte des langen und breiten erörtert oder über das
letzte Sonntagsvergnügen geredet, und was man für den nächsten Feiertag
plante; vor allem plauderte man gern auch von seinen Kindern und
erzählte und hörte ausführlichere Schilderungen an von Selbsterlebtem
aus vergangner Zeit. Aber ebenso oft unterhielt man sich auch, und
mitunter während man die Feile hin und her schob oder während die
Maschine rasselte, während man maß und verglich, mit hinzugetretenen
zweiten und dritten über ernste Dinge, religiöse, wirtschaftliche,
politische und über Bildungsfragen, natürlich in der Art und mit den
Fähigkeiten und Kenntnissen, die den Leuten eben zu Gebote standen.
Gerade hierüber sollen die nächsten Kapitel berichten; an dieser Stelle
genügt die eben gemachte Angabe.

Vor allem aber scherzte, neckte und balgte man sich herzlich gern, wo
immer es anging. Überall suchte man unter guten Bekannten, die solche
Neckereien verstanden, einander etwas auszuwischen: so warf man den
achtlos vorübergehenden aus einem Versteck mit Thon, zog ihm heimlich
die Schleife seiner Schürze auf oder in der Pause das Brett unter dem
Sitze weg, stellte sich plötzlich einander in den Weg oder „meinte
es miteinander gut.“ Dies Gutmeinen pflegte gern am Ende der Woche
von ältern Leuten zu geschehen, die einen starken Bartwuchs hatten
und sich, wie es im Volke heute noch viel verbreitete Sitte ist, nur
einmal in der Woche, des Sonnabends Abend oder des Sonntags Morgen,
rasierten. So einer mit genügend langen harten Stacheln im Gesicht nahm
dann plötzlich ein um Kinn, Backen und Lippen noch zarteres Kerlchen
beim Kopfe und rieb blitzschnell seine Wange an der jenes mehrmals hin
und her, wodurch gerade kein angenehmes Gefühl hervorgerufen werden
sollte. Wenn der so Liebkoste zur Besinnung kam, war der Übelthäter
längst davon. Noch ungemütlicher war ein andrer Spaß, den man an mir
glücklicherweise nur einmal probierte, das sogenannte „Bartwichsen.“
Da lehnt einer vielleicht achtlos an einem Pfosten, eben zufällig
ohne bestimmten Arbeitsauftrag. Zwei andre sehen den Arglosen stehen;
ein gegenseitiger Blick des Einverständnisses, und der eine tritt von
hinten an ihn heran, umschlingt ihn mit den Armen, sodaß jener sich
nicht mehr rühren kann; unterdes umfaßt der andre mit seinen zwei
schwarzen, schmutzigen Händen von vorn das Gesicht des Überfallenen
und streicht nun in aller Gemütsruhe mit den festangepreßten Daumen
den Schnurrbart des Wehrlosen auseinander, was, wie ich versichern
kann, sehr schmerzhaft ist. Bei mir wiederholte man aber die Sache
niemals wieder, weil mir beim erstenmale durch eine abwehrende Bewegung
meines Kopfes die Brille von der Nase fiel, glücklicherweise ohne zu
zerbrechen; das wollten die Leute doch nicht nochmals riskieren und
unterließen es darum. Unter intimern Bekannten blieb keiner davon
verschont, und jeder wurde ohne Unterschied des Alters heimgesucht.
So etwas geschah natürlich immer nur, wenn man sich unbeaufsichtigt
glaubte. Scherze andrer Art und viele Witze waren selbstverständlich
ebenso häufig und oft von urwüchsigster Komik, sodaß man von Herzen
darüber lachen mußte, nicht selten aber auch derb und roh. Ich habe
auch darüber an andrer Stelle noch eingehender zu reden.

Spitznamen wurden viele ausgeteilt; selbst der Direktor hatte einen,
freilich einen völlig harmlosen, seinen Vornamen. Sonst pflegte man
mit Vornamen mit Vorliebe nur die in der Fabrik besonders beliebten
Kameraden zu rufen, ferner die Komiker und Spaßmacher, die, wohin sie
traten, immer Ursache oder Gegenstand heiterster Laune wurden.

Heiterkeit, Frohsinn, ausgelassene Lustigkeit waren überhaupt der
Grundzug des Geistes, der wenigstens in unserm Baue während der
Arbeit herrschte und auch in den letzten Abendstunden des langen
Werktages, wo die Abspannung und Müdigkeit sich geltend zu machen
begann, nicht ganz verloren ging. Davon war wohl der günstige Charakter
des Arbeitsprozesses nicht weniger als die joviale, heitere Anlage
des Volkes selbst die erfreuliche Ursache. Diese lustige, frische,
scherzende Art war der gute Geist, der auch die schweren Arbeitsmühen
immer wieder leicht und erträglich machen half. Verwunderlich war, daß
man trotzdem wenig bei der Arbeit sang. Nur einzelne pflegten gern ein
Liedchen vor sich hinzuträllern, und nur eine Schlossergruppe, die
fast ausschließlich aus jungen verliebten Burschen bestand, stimmte ab
und zu ein gemeinsames Volks- oder Soldatenlied an. Jedenfalls war der
unaufhörliche große Lärm das Hindernis.

Das gegenseitige Duzen war nicht durchgängig Sitte, doch immer in
den engern Arbeitsgruppen, unter Gleichaltrigen und auch meist unter
Nachbarn. Dagegen hielt mancher Schlosser, namentlich der von ferne
und aus besserer Familie herkam, streng darauf, das Du außerhalb
seiner Gruppe nur sehr mit Auswahl anzuwenden, und schüttelte den Kopf
über seine Handwerksgenossen, die es an jeden beliebigen Handarbeiter
verschwendeten. Manchmal duzten sich auch alte, langerprobte Arbeiter,
Schlosser oder Maschinenarbeiter mit einem Meister, auch Meister
mit Vorarbeitern, häufiger Vorarbeiter mit Arbeitern jeder Art und
selbst Handarbeitern, selten aber mit Leuten ihrer Kolonne; wenn dies
aber doch geschah, dann immer nur mit ältern, langansässigen. Die
Vorarbeiter stehen unter sich fast immer auf Du und Du, nicht aber
häufig auch die Meister unter einander. Bei denen kommt doch schon
ihre höhere soziale Stellung in Betracht, während bei den andern der
angeborene Gemeinschaftssinn, die militärische Sitte der Kameradschaft
und die leicht erregbare gegenseitige Teilnahme an einander jene
Neigung in lebendige Übung bringt.

Bemerkenswert war das besondre Verhältnis zwischen uns fünf
Handarbeitern. Unter uns war es am leichtesten möglich, auf Kosten
der andern zu faulenzen. Es gab eine Reihe von Winkeln und Plätzen
in der Fabrik, die einem auf eine halbe Stunde ein friedliches, auch
vom Meister nicht bemerktes Ausruhen möglich machten. Oder ein guter
Freund unter den Schlossern und Maschinenarbeitern betraute einen nur
scheinbar mit einem Auftrag. Um dies zu verhüten, wurde ganz von selbst
eine gegenseitige geheime Kontrolle geübt. Es gab unter uns besonders
zwei, die sich gern einmal von der Arbeit drückten; auf sie hatten
die andern ein besonders wachsames und scharfes Auge. Zwar sah man
ihnen vieles nach; wenn sie es aber dann und wann einmal gar zu arg
trieben, stellte man sie offen, ernstlich und nicht zart darüber zur
Rede; das gab dann immer einen tüchtigen Streit und hatte zwischen den
beiden Wortführern ein mehrtägiges oder mehrwöchentliches Schmollen
zur Folge. Aber die Ermahnung fruchtete doch meist, und allmählich
kam auch zwischen den beiden wieder ein leidliches Verhältnis zu
stande. Die andern drei verband ein intimeres kameradschaftliches
Verhältnis, sodaß jeder von ihnen nach Kräften zugriff und nicht gern
den andern im Stiche ließ. Gegen mich, den Neuling, waren alle fünf
unsrer Kolonne besonders freundlich und entgegenkommend. Als ich in
die Fabrik eintrat, zeigte es sich gleich am ersten Tage, daß ich
unfähig war, ebenso stramm und stark zuzugreifen, wie die in solcher
Arbeit erprobten Kolonnengenossen. Sofort nahm man Rücksicht auf mich;
und anstatt den neuen, noch schüchternen Kameraden auszubeuten und
ihn an ihrer Statt arbeiten zu lassen, stellte man ihn immer an den
leichtesten Platz, ja schob ihn gar ganz beiseite, um selbst schneller
und besser die Arbeit zu thun. Und denselben kameradschaftlichen
Sinn, dieselbe freundliche Nachsicht übten die meisten Schlosser und
Maschinenarbeiter gegen mich. Später, als ich kräftiger, geschickter,
ausdauernder geworden war, hörte das freilich und mit Recht auf, und
ich wurde ebenso viel, doch nicht mehr als die andern strapaziert.

Das Verhältnis der Schlosser, Schmiede, Maschinenarbeiter zu uns
Handarbeitern war ebenfalls mehrfach interessant. Außerdienstlich
gab es zwar für die Mehrzahl von ihnen keine Rangunterschiede
zwischen uns, wohl aber während der Arbeit. Man wußte, daß wir eben
zur Dienstleistung für die andern da waren, und machte von dieser
Thatsache, jedoch mit Unterschied, ohne Scheu Gebrauch. Ältere
Leute nahmen nur ungern, wenn es gar nicht anders ging, zu unsrer
Unterstützung Zuflucht, jüngere dagegen benutzten uns häufig; selbst
Lehrlinge machten Versuche dazu. Die Handarbeiter wieder gehorchten,
sowie man sie nur anständig behandelte. Unteroffiziersmäßig anschnauzen
ließ sich keiner. Wer es versuchte, wurde stillschweigend, ohne jede
Verabredung, geboykottet; d. h. die Handarbeiter ignorierten ihn, kamen
nicht in die Nähe seines Platzes, thaten als hörten sie ihn nicht, wenn
er einen von ihnen anrief, und wenn dieser direkt an sie herantrat
und eine Dienstleistung verlangte, hatte man immer angeblich etwas zu
thun. In solchen Fällen mußte sich der Verlassene dann an den Meister
wenden und diesen um Zuteilung einer Hilfskraft bitten. Beschwerte er
sich aber dabei über einen von ihnen oder verdächtigte er ihn gar,
und es kam heraus, so ging es ihm noch schlechter, und er wurde als
„Fuchsschwanz“ erst recht beiseite liegen gelassen, hatte oft auch
bei unserm Meister gar kein Glück. Darum war es immer auch für die
Auftraggeber erwünscht, sich mit den Handarbeitern gut zu stellen, und
wenn nötig, sie freundlich zu bitten. Die am meisten übliche Form der
Aufforderung zur Hilfeleistung war die: He! Pst! Hast du Zeit?

Ja.

Da wollen wir mal das und das zusammen machen; es dauert gar
nicht lange. Oder man sagte: Wir möchten einmal diese Welle hier
fortschaffen; aber sie ist schwer; du mußt dir noch ein paar andre
suchen und mitbringen.

Und fast immer halfen die Auftraggeber selbst mit.

Die Monteure nahmen ihren Leuten gegenüber etwa die Stellung
von Untermeistern ein. Ihr Verhältnis zu ihnen war halb das von
Vorgesetzten, halb das von Genossen. In Dingen, die die Arbeit
betrafen, wurden sie von jenen durchaus respektiert, im übrigen war der
Verkehr zwischen ihnen ein mehr kordialer. Besonders wenn gleichaltrige
oder an Jahren ältere Leute unter ihnen arbeiteten, was nicht selten
vorkam; denn wir hatten ein paar noch ziemlich junge Monteure als
Gruppenführer unter uns. Wie diese zu der Stellung gekommen waren,
erfuhr ich nicht; sie alle waren früher Durchschnittsarbeiter gewesen.
Ältere Leute ließen diese dann meist sehr selbständig und „ihren
eignen Stiefel“ arbeiten; ihnen gegenüber begnügte man sich mit den
allernötigsten Anordnungen. Übrigens sei an dieser Stelle bemerkt, daß
einige der ältesten Schlosser überhaupt den Gruppenverbänden dauernd
entnommen waren und direkt dem Werkmeister unterstanden.

Ältere Monteure prägten ihren Gruppen einigermaßen ihren technischen
Charakter auf; Gruppen mit gewandten und tüchtigen Monteuren waren
deutlich intelligenter und leistungsfähiger als andre, deren
Vorarbeiter sich häufig bei ihren erfahreneren Kollegen Rats erholten.
Auch in sittlicher Beziehung war der Vorarbeiter auf seine Gruppe hie
und da von Einfluß. Doch war dieser Einfluß ein ebenso zufälliger als
verschiedener; bei einigen ein besserer, bei der Mehrzahl aber ein
wenig guter. Das war nur zu erklärlich, wenn man bedenkt, daß die
Leute früher ja selbst Arbeiter gewesen und nie auf die Pflicht, ein
gutes Vorbild zu geben, aufmerksam gemacht worden sind. Ich hörte
darum selten, daß einer von ihnen einem seiner Leute ein unzüchtiges
Wort, einen Fluch, eine unedle Gesinnung verwies. Es war schon viel,
wenn ein Monteur sich persönlich davon frei und dazu still verhielt;
viel häufiger teilte man die Ansichten der Leute, fluchte und zotete
selbst mit. Von besondrer Bedeutung ist der einzelne Monteur für die
Lehrlinge, die den Montagen zugeteilt zu werden pflegen. Je nach
der Tüchtigkeit des Monteurs und der Gruppe, der er angehört, wird
der Junge etwas lernen. Doch habe ich nicht bemerkt, daß sich der
vorgesetzte Monteur, ebensowenig der Schlosser- und Werkmeister, in
irgend welcher Beziehung viel um seinen Lehrburschen gekümmert hätte.
In einem einzigen Falle behandelte der wohl tüchtigste Monteur, ein
polternder aber sehr gutmütiger Mann, der namentlich des Sonntags gern
einmal einen über den Durst trank, ohne gerade ein Gewohnheitstrinker
zu sein, den ihm unterstellten Lehrling mit väterlichem Wohlwollen und
Wohlgefallen. Das war aber ein besonders hübscher und kluger Junge,
dessen Vater ein Lehrer am Orte und mehrfacher Hausbesitzer war und
darum wohl auch persönliche Beziehungen zu dem betreffenden Monteur
unterhielt, die diesem gerade nicht zum materiellen Schaden gereichten.
Eine Entscheidung darüber, ob der Lehrling in der Fabrik oder bei einem
Kleinmeister besser aufgehoben ist, wage ich nach meinen geringen
Erfahrungen hierin nicht zu geben; doch glaube ich sagen zu können,
daß eine solche Fabrik von vornherein eher geeignet erscheint, bessere
Lehrlinge zu erziehen, als der in beschränkten Verhältnissen meist
um seine Existenz ringende und häufig mit Flickarbeit beschäftigte
Kleinmeister. Die sittlichen Gefahren können bei diesem aber eben so
groß sein als dort.

Außerhalb der Fabrikräume galt der Monteur dem Schlosser, dem
Maschinenarbeiter, dem Handarbeiter als durchaus gleichgeordnet;
da fielen die Unterschiede, die der Betrieb zwischen sie notwendig
aufstellte; da waren sie und fühlten sie sich alle im gemeinsamen
Umgange als Arbeiter, und kein andrer Umstand entschied für
ihren persönlichen Verkehr, als die gegenseitige Neigung, die
Gesinnungsgleichheit und die nachbarliche Wohnung.

Wieder anders als die Monteure standen in der Fabrik die Meister.
Bei ihnen trat, obgleich auch sie häufig aus ganz einfachen
Arbeiterkreisen, aber wohl nur selten aus derselben Fabrik
herausgewachsen waren, die gesellschaftliche Überordnung während und
noch mehr außerhalb der Arbeit klar und offen zu Tage. Schon durch
ihre Kleidung unterschieden sie sich in der Fabrik von allen übrigen;
sie trugen keinen eigentlichen Arbeitsanzug, sondern auch während
der Arbeit den üblichen modischen Rock, Schlips und weiße Wäsche.
Sie bildeten das Bindeglied zwischen der Arbeiterschaft und den
höhern Beamten des Etablissements bis zu den Direktoren hinauf; sie
sind, ich weiß in der That keinen bessern Vergleich, die Feldwebel
in der Fabrik. Sie sind die technischen Leiter des Betriebes im
Detail, dem Direktor hierin wie bezüglich der Persönlichkeiten der
einzelnen Arbeiter maßgebend und verantwortlich; sie kontrollierten
die Arbeiter alle und hatten -- was von besonderer Bedeutung ist --
Einfluß auf die Höhe des Stunden- wie namentlich des Akkordlohnes des
einzelnen Mannes. Sie gaben das Tempo für den Gang der Arbeit mit an
und hatten es in der Hand, daß auch bei flauerm Geschäftsgange Leute
nicht entlassen, sondern mit durchgeschleppt wurden. Traten wirklich
Betriebseinschränkungen ein, so bestimmten ebenfalls sie mit, wer von
den Leuten zu gehen habe; endlich waren sie imstande, manches mißratene
Stück unbemerkt zu beseitigen, manches Verpfuschte zu vertuschen. Das
alles machte sie für die Arbeiter ebenso wie für die Direktoren zu
den wichtigsten Persönlichkeiten in der Fabrik, und es bestimmte auch
sichtlich ihr Verhältnis und ihren Verkehr zu den Leuten und umgekehrt.

Dies Verhältnis ist eben durchaus das des Vorgesetzten zum
Untergebenen. Je nach der Persönlichkeit des Mannes ist es angenehm
oder unangenehm. Wir hatten in unsrer nächsten Nähe vier Meister. Der
eine wurde von allen meinen Arbeitsgenossen einstimmig als grob, gemein
und als Zwischenträger, dabei als unfähig, freundlich ins Gesicht,
hinterlistig im Rücken geschildert, vor dem man den Neuling warnte.
Auch ihm parierte man ohne Widerrede. Aber alle zeigten ihm gegenüber
eine gewisse stolze Reserve, wiesen jede scheinbare Annäherung von
seiner Seite zurück und hatten auf seine Anordnungen oft nur ein
heimliches überlegenes Lächeln. Zwei andre Meister thaten schlicht
und recht ihre Pflicht, ließen sich nicht allzusehr mit den Leuten
ein, wurden hie und da grob gegen sie, wofür man meist mit gleicher
Münze bezahlte. Sonst war in ihrem Verkehr nichts Sonderliches zu
beobachten; eigentliche Zuneigung besaßen sie wenig. Wohl aber der
vierte. Er erfreute sich, alles in allem genommen, bei den meisten
großer Beliebtheit. Er war ein in seinem Fache erfahrener kluger Mann,
wohlhabend, gewandt, und hatte eine große Gabe, die Leute recht zu
behandeln. Er schnauzte sie mitunter tüchtig an, aber machte auch
einmal mit jedem einen guten Witz und nahm überall seine Leute gegen
andre Meister, wohl auch gegen die Direktoren in Schutz; wenn er früh
morgens kam, wünschte er jedem einen guten Morgen, sah auch hie und
da nicht hin, wo einmal gebummelt wurde, wenn er wußte, daß es nicht
gerade eilig ging, und war gegen Petitionen um Lohnaufbesserung nicht
taub und unzugänglich. Er war so klug, ältere, lange anwesende Leute
anders, feiner, kordialer, freundschaftlicher zu behandeln als die
jungen. Er hatte, wie das psychologisch erklärlich und bei Leuten
dieser Bildungsstufe selbstverständlich ist, freilich auch seine
Schützlinge und Sündenböcke, die aber zum Glück häufig wechselten.
Alle gehorchten seinen immer im rechten Ton und in rechter Weise
gegebenen Weisungen willig und sofort, wenn auch der einzelne Mann,
je nach seiner Gesinnung, seinem Alter, seinem Charakter im stillen
manches an ihm auszusetzen haben mochte und sich anders als der
Nachbar gegen ihn benahm: bald freundlicher, bald zurückhaltender,
bald selbstbewußter, bald serviler und mit dem sichtlichen Streben,
bei ihm gut angeschrieben zu sein. So z. B. ein älterer Genosse meiner
Kolonne, der, über die Fünfzig hoch hinaus, in rührender Weise alle
seine schon abnehmenden Kräfte anspannte, so oft der Meister in die
Nähe unsrer Arbeit kam, um ihm zu zeigen, daß er noch ganz seinen Mann
zu stellen vermöchte. Wieder andre zeigten ihm gegenüber eine gewisse
Vertraulichkeit, Sicherheit, und einige wenige Verbissene heimliche
Feindseligkeit. Die jüngern und fluktuierenden Elemente gehorchten
ihm ohne Widerrede und gaben sich Mühe, ihn nicht zu erzürnen. Einen
irgendwie nennenswerten günstigern moralischen Einfluß aber übten auch
diese Meister nicht aus. Im Gegenteil, in ihrer ganzen Bildung, ihrem
Denken, Streben, Handeln ihnen innerlich durchaus verwandt, bestärkten
sie häufig nur, sowie sie zu solchen Äußerungen einmal die Gelegenheit
und das Wort fanden, durch ihre sozial autoritative Stellung die
sittlich sehr geringwertige Haltung und Gesinnung ihrer Untergebenen.

Ein intimeres Verhältnis bestand zwischen den Meistern und den meisten
Vorarbeitern, mit denen sie gern einmal plauderten, selbstverständlich
auch geschäftlich am meisten zu verkehren hatten, da sie mit ihnen
die im Bau begriffenen Maschinen eingehend besprechen mußten. Wie
die Meister unter sich standen, bekam ich nicht genau heraus. Eine
äußerliche Kollegialität war jedenfalls vorhanden, aber ebenso auch
eine gewisse Rivalität, in einem Falle wohl auch Neid, und in einem
andern spöttische Geringschätzung. Das ganze Verhältnis kann man etwa
mit dem bekannten der Subalternbeamten vergleichen. Einmal kam es in
der Fabrik zwischen zwei Meistern zu einem lauten Skandal, bei dem sich
die beiden Beteiligten zum Gaudium der Arbeiter wacker herumzankten.

Es erübrigt nun noch, einen Blick auf das Verhältnis der Arbeiterschaft
zu dem kaufmännischen Kontorpersonal und zu den Zeichnern und
Ingenieuren zu werfen. Man sah unter den Arbeitsgenossen jene sämtlich
als zu einer andern Gesellschaftsklasse gehörig und ihnen innerlich
und äußerlich fernstehend an. Das wurde befördert durch die Thatsache,
daß jenes Personal nur wenig mit den Leuten in Berührung und nur
selten in die eigentlichen Fabrikräume kam. Wenn es aber geschah,
so war mindestens in der Hälfte der Fälle die Klage der Leute über
das gleichgiltige oder hochfahrende Gebaren dieser Herren aus Kontor
und Zeichenstube nach allen meinen Beobachtungen berechtigt. Es gab
besonders einen Zeichner oder Ingenieur, ich weiß das nicht mehr genau,
der ab und zu mit dem Anreißer wegen der Zeichnungen zu verhandeln
hatte: auch nicht den kürzesten Gruß zu uns brachte dieser Herr über
die Lippen, selbst dem Anreißer gegenüber nicht, den sonst jeder zu
grüßen pflegte. Das wurde von den in solchen Dingen feinfühligen
schlichten Leuten gar bitter empfunden. Um so dankbarer und freudiger
wurde dagegen von den Arbeitsgenossen die Freundlichkeit einiger andrer
Herren und namentlich eines jungen schlanken Kaufmanns bemerkt, dessen
höflicher Gruß und schlichte Art ihm uns alle zu Freunden machte.
Einige Kontorschreiber standen selbstverständlich den Arbeitern näher.

Ein doppeltes Charakteristikum springt nun bei der übersichtlichen
Beurteilung dieses eben geschilderten Verkehrs der Leute unter sich
und vor allem mit ihren subalternen Vorgesetzten leicht in die Augen:
einmal das wunderliche halb gleich halb untergeordnete Verhältnis der
verschiedenen Arbeiterkategorien zu ihren Chargen, wenn ich so sagen
darf, und zu einander; und zweitens die bedauerliche Abwesenheit aller
nur einigermaßen erzieherisch wirkenden sittlichen Kräfte.

Jenes halb kordiale halb subordinierte Verhältnis ist darum so
wunderlich und auffallend, weil es in schroffem Gegensatz steht
zu dem sonstigen Charakter der Organisation und Disziplin unsrer
großen industriellen Betriebe, die, wie wir das auch an unsrer
Arbeitsordnung sehen, sonst vielmehr auf dem aristokratischen Prinzip
der absoluten Unterordnung der Arbeiterschaft unter ihre Vorgesetzten
und ihrer Abhängigkeit von diesen in Arbeits- und Lohnbedingungen
beruht. Aber dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich sehr wohl
aus demselben Prinzip des Laissez aller, das unser Wirtschaftsleben
überhaupt bestimmt. Während man aber diesen Satz von der freien
Bewegung aller Menschen und Kräfte in diesem Falle in die absolute
Freiheit der Verfügung der Leiter der Fabriken über die Arbeiter
und Arbeitsbedingungen umgedeutet und demgemäß ausgenutzt hat, hat
man im andern die Ordnung des Verhältnisses der Leute unter sich
diesen einfach selbst überlassen. Und die auf eignes Zurechtkommen
angewiesenen Arbeiter übertrugen da wohl anfangs das frühere, bewährte
Verhältnis zwischen Meister und dem einzelnen Gesellen im ehemaligen
Kleingewerbe auf die großen neuen Arbeitsverbände der großindustriellen
Betriebe. Hier aber, wo der ehemalige Meister selbst nicht mehr
selbständiger Herr ist, nahm die Sache sofort einen demokratischen
Charakter an, der es bewirkte, daß der Arbeiter sich ohne geschriebene
Satzungen und Paragraphen soweit den Anordnungen der nunmehr selbst
subalternen Vorgesetzten beugt, als sie der Betrieb verlangt und
seine persönliche Würde achtungsvoll anerkannt wird. Es leuchtet
ein, von wie großer Bedeutung diese demokratisch-sozialistischen
Verkehrsgewohnheiten bei der Arbeit für das wirtschaftliche Denken der
Leute sein müssen.

Über den zweiten Punkt, den Mangel sittlicher Faktoren und einer
bewußten Verwertung und Verwendung derselben durch die niedern und
höhern Vorgesetzten, braucht nicht allzuviel mehr gesagt zu werden.
Die stumme Thatsache redet schmerzlich laut genug für sich selbst. Sie
beweist an ihrem Teile das, was dies ganze Kapitel über die Arbeit
in der Fabrik bloßlegt, und was als Schlußwort an seinem Ende folgen
mag, daß sich alle unsre großartigen Fabrikbetriebe ganz einseitig
nur als Institute zur Schaffung ausschließlich materieller Werte
repräsentieren. Was von sittlichen Kräften in ihnen wirkt, ist die
Folge rein zufälliger günstiger Verhältnisse und nicht eine bewußte
Absicht dazu. Ihnen allen fehlt noch der sittliche Adel, der ihnen
zukommen würde, sobald man sie zugleich auch als Stätten einrichtete
und ausnutzte, die als die modernsten und großartigsten Bildungen
menschlicher Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zugleich auch bestimmt
wären, allen in ihnen beschäftigten, hoch und niedrig, durch ihre
Arbeitsbeteiligung und Arbeitsleistung gleich günstige Gelegenheit
zu einer freudigen Bethätigung ihrer geistigen Fähigkeiten und einer
harmonischen Ausgestaltung auch ihrer sittlichen Persönlichkeit
zu bieten. Nur erst, wenn diese Auffassung von dem Beruf eines
Fabrikorganismus zur allgemeinen Anerkennung und Herrschaft willig
oder widerwillig gebracht worden sein wird, hat das moderne Institut
der Fabrik seine sittliche Daseinsberechtigung erlangt und wird das
gepriesene Mittel werden, die Menschheit einen gewaltigen Schritt
vorwärts zu bringen, ihrer unabsehbaren Bestimmung entgegen. Und
ich wage zu meinen, daß die Verwirklichung dieses Zieles sich sehr
wohl vereinigen läßt mit der in der That durchaus gleichbedeutsamen
Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungs- und materielle
Ertragsfähigkeit solcher großen Etablissements, sofern die betreffenden
Fabrikleiter nur erst einigermaßen von dem Bewußtsein der gewaltigen
erzieherischen Aufgaben durchdrungen sind, zu deren Bewältigung
sie von Berufs wegen, um des Vaterlandes und des Volkes, um der
Sittlichkeit und der Religion willen verpflichtet sind. Dazu aber sind
sie -- mit oder wider ihren Willen -- durch den Druck einer neuen,
bessern, idealern, sittlichen, christlichen öffentlichen Meinung
einfach zu erziehen.



Viertes Kapitel

Die Agitation der Sozialdemokratie


Chemnitz ist einer der ältesten und ersten Sitze der deutschen
Sozialdemokratie. Schon im Jahre 1867 schickte es den Sozialdemokraten
und Dresdner Kupferschmiedemeister +Försterling+ in den
Norddeutschen Reichstag, der freilich bald nachher wieder aus ihm
ausschied. Dann kurz nach dem Kriege schlug der „wütende Most“ sein
Hauptquartier in Chemnitz auf und wurde daselbst 1874 sowohl wie 1877
als Reichstagsabgeordneter gewählt. 1878 bei den Neuwahlen nach den
Attentaten fiel er allerdings durch, doch eroberte die Sozialdemokratie
den Kreis im Jahre 1881 durch den Breslauer Schriftsteller Bruno Geiser
sich wieder zurück, um ihn auch 1884 zu behaupten; 1887 verlor sie ihn
jedoch abermals. Aber schon bei den letzten Wahlen 1890 wurde wieder
ein Sozialdemokrat, der bekannte Max Schippel, dessen Vater in Chemnitz
Schuldirektor ist, gewählt.

Fast 25 Jahre hindurch also wird in Chemnitz und Umgegend von der
Sozialdemokratie agitiert, und immer waren es Parteigrößen, die hier
„in Arbeit“ standen. So ist es nicht verwunderlich, daß schon 1881
über 10000 und 1887 über 15000, 1890 gar 34642 sozialdemokratische
Stimmen abgegeben wurden, und daß in dem Vororte, in dem unsre
Fabrik stand und die Mehrzahl von uns wohnte, bei der letzten Wahl
700 sozialdemokratische und nur 150 sogenannte „reichstreue“ Stimmen
gezählt worden sein sollen.

Dieser Vergangenheit würdig, war auch während des letzten Sommers
die Agitation der Partei ununterbrochen rege, auch hier wie an den
meisten Orten Deutschlands überhaupt die einzige, die zu bemerken
war. Sie war durchaus planmäßig, kraftvoll und ins einzelne gehend.
Allwöchentliche große öffentliche Versammlungen für Angehörige
irgend eines Arbeitszweigs oder auch für Männer und Frauen überhaupt
hielten die Aufmerksamkeit der gesamten arbeitenden Bevölkerung für
die Arbeiterpartei zunächst im allgemeinen lebendig. Freilich waren
diese Versammlungen, wenigstens die, die ich mitgemacht habe, meist
nur dürftig besucht; und nur wenn ein besondrer Anlaß eine Reihe
bestimmter Berufszweige zugleich beschäftigte, oder ein bekannter von
auswärts zitierter Redner, eine sozialdemokratische Größe auftrat,
schwollen sie zu imposanten Massenversammlungen an; sonst schwankte die
Durchschnittszahl der Besucher wohl immer zwischen 1-200 Mann; es waren
die in der Bewegung voranstehenden Arbeiter, die immer den Ton angaben,
wo etwas Sozialdemokratisches los war. Meist waren das gut situierte
Leute. Ich erinnere mich, daß ich in der ersten derartigen Versammlung,
zu der ich als Arbeiter in die Stadt hineinkam, der einzige war, der
im schmutzigen Arbeitszeug, ohne weißen Kragen und Schlips erschien;
die andern hatten alle bessere Kleidung an. Jedenfalls aber erregten
diese Versammlungen schon durch die ständigen großen roten Plakate,
die sie vorher an allen Ecken und Enden der Stadt und Vorstädte
ankündigten, ihren Zweck: die Aufmerksamkeit der Bevölkerung für die
Bewegung wachzuhalten. Im übrigen bildeten sie nur den Rahmen für
die intensivere besondre Agitation in den einzelnen Stadtteilen und
Vorstadtdörfern.

Denn fast jeder dieser Bezirke besaß, und zwar nicht bloß bei
herannahender Reichstagswahl, seinen +sozialdemokratischen
Wahlverein+, der das ganze Jahr hindurch eine stille aber kluge
und tiefgehende Thätigkeit entfaltete, und dessen Mitglieder sich
aus den überzeugtesten und zielbewußtesten Anhängern der Partei
zusammensetzten. Der Wahlverein hat die Agitation für die Reichstags-
und neuerdings auch Gemeinderatswahlen in der Hand; er stellt bei
großen Wahlversammlungen stets eine nie fehlende Schar, die bei allen
Gelegenheiten in blinder Treue nach bekanntem, lärmendem Rezept die
Partei ihrer Arbeiterredner ergreift; er ist eine der Sammelstellen
für die Parteigelder und -- das bedeutsamste an ihm -- die Hochschule
für die sozialdemokratischen Redner. Denn nicht nur die neugegründeten
Arbeiterbildungsvereine, nicht nur besondre Institute, wie deren in
Hamburg eines in der Stille blühen soll, dienen diesem Zwecke. Man kann
dreist behaupten, daß jeder sozialdemokratische Wahlverein eine solche
Rednerschule für Anfänger bildet. Wenigstens war das bei dem unsers
Vorortes, der etwa 120 Mitglieder zählen sollte und eine Monatssteuer
von zehn Pfennigen erhob, wirklich der Fall. Darum lag immer auch auf
den Debatten, die sich an den jedesmaligen Vortrag oder die Vorlesung
von Artikeln aus der sozialdemokratischen Volkstribüne knüpfte, der
von allen beherzigte Nachdruck. Ja der Vorsitzende unsers Vereins
sprach das zu Beginn jeder Debatte geradezu aus, wenn er zur lebhaften
Teilnahme an ihnen aufforderte und diese Aufforderung mit immer
denselben Worten etwa so begründete: „Die Sitzungen unsers Wahlvereins
sind in erster Linie der Debatten wegen da. Es wird gewünscht, daß
+jeder+ redet, +jeder+ sich ausspricht. Und wenn das auch in
der kläglichsten Form geschieht, jeder ist sicher, nicht ausgelacht
zu werden, +denn eben dazu sind wir allvierzehntägig hier zusammen,
damit wir uns schulen, um in den großen Versammlungen unsern Gegnern
mit Erfolg antworten zu können+.“ Und ich muß sagen, man kam dieser
Aufforderung getreulich nach. Bis gegen zwölf Uhr nachts, von acht
Uhr abends, zogen sich meist die Debatten der von des Tages Last und
Mühe müden Leute hin. Wer immer etwas auf dem Herzen hatte, redete es
herunter, alt und jung, ohne Unterschied. Oft in der holprigsten Form,
in Sätzen, von denen kein einziger richtig gebaut war, Gedanken, die
ein grauenhaftes Gemisch von Wissen und Unwissenheit, von praktischer
Erfahrung und Mangel an Überblick über das große Ganze, und oft eine
Verranntheit in Ansichten zeigte, über die selbst die klaren, klugen
Köpfe unter den Genossen erschraken. Daneben aber zeigte sich unter
uns auch eine Zahl so gewandter, so schlagfertiger, so scharf und
praktisch urteilender Redner, daß ich im stillen voll Bewunderung und
Scham diesen einfachen Webern, Schlossern, Handarbeitern zuhörte,
deren Beredsamkeit und Sicherheit im Denken und Auftreten nach meinen
Erfahrungen wohl nur eine kleine Zahl unsrer Durchschnittsgebildeten
gleichkommt. Und alle, die da redeten, auch wenn sie das tollste Zeug
vorbrachten, wurden mit Ruhe und Aufmerksamkeit und fast kindlichem
Ernst angehört und in dem, was sie nun eigentlich sagen wollten, zu
meinem Verwundern auch deutlich und klar verstanden. Daß man sich in
diesen Debatten mitunter tüchtig in die Haare fuhr, daß eine Reihe
verschiedener Ansichten aufeinander platzten, ist ebenfalls und zwar
darum besonders erwähnenswert, weil im Gegensatz dazu in großen
Versammlungen mit ihren Gegnern unter den Sozialdemokraten immer die
geschlossenste Einheit an den Tag gelegt zu werden pflegt. In gewissem
Sinne die Fortsetzung dieser Debatten bildete die Beantwortung der
Fragezettel, die während der Debatte von den Leuten in den Fragekasten
geworfen wurden und meist irgend eine Aufklärung über einen in der
Debatte berührten Punkt, über ein Fremdwort oder über eine in der
Zeitung gefundene und nicht verstandene Notiz heischten. Meist waren
die Antworten, die der Vorsitzende, der Redner oder ein andrer gab,
leidlich zutreffend, manchmal aber auch, wie selbstverständlich, nur
dürftig oder gar falsch. Aber sie wurden alle mit der siegesgewissen
Sicherheit gegeben, die immer dem Halbgebildeten, an seine Sache oder
sich selbst glaubenden eigen ist. Hinter diesen Debatten trat der Wert
der Vorträge selbst deutlich zurück. Sie waren meist kurz und wurden
immer von Parteigrößen am Orte, also Chemnitzern, gehalten; oft taugten
sie gar nichts und waren sichtlich aus den neuesten Zeitungsnachrichten
zusammengestoppelt. Solch ein Vortrag pflegte dann, wie das auch
anderwärts unter den Sozialdemokraten allgemeine Sitte ist, von dem
betreffenden Verfasser nicht nur in unserm, sondern noch in fünf, ja
zehn andern Brudervereinen mit dem gleichen Nachdruck und der gleichen
Emphase fast wörtlich vorgetragen zu werden, eine Erscheinung, die
sich nur aus dem geradezu fanatischen Agitationseifer und wiederum der
Halbbildung erklären läßt, durch die den Leuten die Langeweile solchen
Wiederkäuens nicht zum Bewußtsein zu kommen scheint.

Vortrag und Debatte wurden von den etwa vierzig Männern, die immer
anwesend zu sein pflegten, wie gesagt, mit größter Aufmerksamkeit
verfolgt. Man sah es diesen sinnenden, leuchtenden Augen an, wie die
Köpfe mitarbeiteten, die vorgetragenen Gedankengänge aufzufassen
und mitzudenken. Man rauchte viel Pfeife, doch auch Zigarren dazu
und trank im Durchschnitt daneben ein, höchstens zwei Glas Bier,
einfaches für 8 Pfennige oder Lagerbier für 15 Pfennige. Nur wenige
verließen die Versammlung vor dem Schlusse, wenige auch, von den Mühen
der Tagesarbeit überwältigt, schlummerten zuletzt ungestört ein.
Sonst herrschte, wie gesagt, ungeteilte Aufmerksamkeit; denn solche
Abende waren für diese Männer kein bloßes Vergnügen, sondern schwere
Arbeit und immer Stunden eifrigen Lernens, scharfen Nachdenkens, der
Auffrischung und Ermutigung in ihrem abwechslungslosen einförmigen
Fabrikleben. Sie ersetzten, das kann man wohl ohne große Übertreibung
sagen, vielen den früher gewohnten Kirchgang. Und darin liegt die große
agitatorische Bedeutung dieser sozialdemokratischen Wahlvereine mit
ihren regelmäßig wiederkehrenden Versammlungsabenden gerade in solchen
Mittelstädten wie Chemnitz. Sie sind es, die den zur Sozialdemokratie
sich neigenden Arbeiter dauernd, unaufhörlich, unauffällig bearbeiten,
bis er mit seinem Dichten und Denken in den parteisozialistischen
Gedankenkreisen aufgeht, und die den Befähigten schulen, daß er
imstande ist, das Feuer der Überzeugung, das er an jenen Stätten in
sich entfacht hat, nicht nutzlos verglühen zu lassen, sondern seine
Kraft wieder zu verwerten in Agitation unter den Arbeitsgenossen und
der eignen Familie, wie im Eintreten für die gemeinsame Sache bei
Versammlungen mit den politischen Gegnern.

Äußerlich verliefen diese Abende immer gleichmäßig, unter immer
derselben Tagesordnung: Aufnahme neuer Mitglieder, Verlesung des
Protokolls über die letzte Sitzung, Vortrag, oder -- in Fällen
der Behinderung des angekündigten Referenten -- Vorlesung einiger
Artikel aus einer sozialdemokratischen Zeitung, meist der „Berliner
Volkstribüne,“ die sich gut dazu eignet, darauf Debatte und
Fragekasten. Gleich einförmig und stereotyp waren die Worte, mit
denen der sonst begabte Vorsitzende die Versammlung leitete, und der
Schriftführer über den Verlauf der vergangnen Sitzung berichtete: man
sah hier deutlich, wie äußerlich angelernt noch die parlamentarischen
Formen an diesen einfachen Menschen waren. Gäste waren in den Sitzungen
immer willkommen, kamen aber stets nur aus Arbeiterkreisen, doch auch
nicht allzu zahlreich. Jede der Sitzungen wurde abwechselnd durch
einen königlichen Gendarm und den Gemeindediener des Ortes von einer
bescheidnen Ecke des Zimmers aus überwacht. Doch rührten diese sich
nie, und übrigens schien ihr persönliches Verhältnis zu den Arbeitern
und das dieser zu ihnen nicht allzu feindlich zu sein. Man wünschte
sich wenigstens fast immer gegenseitig einen guten Abend; auch sah ich
denselben Ortsdiener manchmal an andern Abenden der Woche in einer
gemütlichen Kneipe, die viel von uns Arbeitern besucht wurde, mit uns
gemeinsam am runden Tische in Uniform sein Glas Bier trinken.

Während meine Arbeitsgenossen mich sichtlich als Mitglied für den
Wahlverein unsers Ortes zu gewinnen suchten, fand ich nie eine
Gelegenheit, dem +Fachverein+ unsrer Chemnitzer Metallarbeiter
näher zu kommen. In der Fabrik wurde nie von ihm gesprochen, und
ich selbst mußte mich hüten, es zu thun, um nicht aufdringlich zu
erscheinen oder als Spitzel verdächtigt und dadurch überhaupt unmöglich
zu werden. Andre Fachvereine, deren Versammlungen ich aber besuchte,
namentlich derjenige der Lithographen, erörterten damals schon das
wichtige Thema, das ja heute alle Gewerkschaften aufs lebhafteste
beschäftigt, die Frage, ob Zentral- oder Lokalorganisation die unter
den heutigen beschränkten Verhältnissen beßre Form einer erfolgreichen
Arbeit sei.

Die Sitzungen unsers Wahlvereins fanden in der Restauration
unsrer Vorstadt statt, die das offizielle aber nicht alleinige
Versammlungslokal der hier wohnenden Sozialdemokraten war. Sie
war eine der besten im ganzen Orte. Wirt und Wirtin waren beide
Sozialdemokraten, wenn sie sich auch gewissenhaft hüteten, sich in
lange politische „Diskurse“ einzulassen. Die Frau zeichnete sich
durch eine besondre, bei Frauen von mir noch nie erlebte Roheit der
Gesinnung aus. Ich weiß noch genau, wie sie uns, die letzten Gäste,
eines Nachts gähnend und schlafmüde mit der Blasphemie zum Heimgehen
aufforderte: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein.“ Doch
war, wie gesagt, dies nicht das einzige sozialdemokratische Lokal. Man
kann wohl behaupten, daß die meisten, jedenfalls alle kleinen Kneipen
unsers Ortes sozialdemokratische Wirte hatten. In zwei der größten
Etablissements mit großen Konzertgärten, die auch von sogenannten
bessern Chemnitzer Familien viel besucht wurden, und in denen
allsonntäglich die verhältnismäßig nobelsten öffentlichen Tanzmusiken
stattfanden, waren nur die dazu gehörigen „Kutscherstuben“ und deren
Unterwirte sozialdemokratisch. In fast allen dieser Fälle war es
offenbar das reine Geschäftsinteresse, das die Wirte dazu gemacht hatte.

Dieselbe Thatsache trat auch in kleinern Materialwarengeschäften,
sogenannten „Büdchen,“ zu Tage. Ich habe da mehrmals erlebt, wie eifrig
und beflissen die Besitzer, aber vor allem auch die Besitzerinnen
auf die sozialistische Gesinnung ihrer Käufer eingingen. Dieser
Geschäftssozialismus ist wohl in allen solchen Industriezentren
weiter verbreitet, als man glaubt; er ist das Eigentum der
allerverschiedensten zahlreichen Geschäftsleute und der Jammer aller
ideal gerichteten Sozialdemokraten; denn er ist in den meisten
Fällen gleichbedeutend mit Gesinnungslosigkeit. Aber er ist zugleich
ein neues Zeichen dafür, welch eine +reale+ Macht auch die
sozialdemokratische Bewegung in solchen Orten bereits geworden ist.

In jeder der oben genannten Restaurationen und Kneipen lagen nun
neben den +Lokalzeitungen+ anderer oder überhaupt keiner
Parteifarbe, neben „Kladderadatsch“ und „Fliegenden Blättern“ immer
auch ein oder mehrere Exemplare sozialdemokratischer Zeitungen, vor
allem der Chemnitzer „Presse,“ und einzelner Gewerkschaftsblätter
aus. Es ist ja längst anerkannte Thatsache, welch ein Machtmittel
die sozialdemokratische Agitation in ihrem Heer von über ganz
Deutschland verbreiteten Zeitungen besitzt. Sie werden augenblicklich
die Zahl von 130 übersteigen. In unserm Vororte zeigte sich im
kleinen Kreise, im engen Rahmen ihr Einfluß und ihre Bedeutung. Es
galt wohl für selbstverständlich, daß jeder von uns Arbeitern seine
Zeitung las. Ausnahmen bestätigten auch hier nur die Regel. Man
hielt in der Hauptsache -- entweder allein oder, was noch häufiger
war, zu zweien und dreien -- eben die sozialdemokratische „Presse,“
ein durchaus besonnen und meist tüchtiger als unsre kleinstädtische
Lokalpresse redigiertes Blatt, das so frei war, auch einmal Gedichte
von Gerok und Uhland zu bringen, wie von irgend einem Windbeutel der
jüngstdeutschesten, ins sozialdemokratische Lager übergegangenen
Dichterschule. Daneben wurden auch der gut und besonnen geschriebene
„Landesanzeiger,“ sowie die noch billigern „Neuesten Nachrichten,“
ein kleines, ganz unparteiisches Blättchen, wohl ein Absenker davon,
häufig gehalten. Das ziemlich farblose reichstreue „Chemnitzer
Tageblatt“ wurde nur wegen seines inhaltreichen Wohnungs- und
Arbeitsstellenanzeigers ab und zu eingesehen, regelmäßig gelesen wohl
nur von einer ganz kleinen Schar Arbeiter, den Elitesozialdemokraten,
die es sich zu dem höchst anerkennenswerten und manchem „reichstreuen“
Philister zur Nachahmung zu empfehlenden Grundsatze gemacht hatten,
von den hauptsächlichen politischen Parteirichtungen je ein Blatt zu
halten, und das heißt für solche Leute immer auch: regelmäßig und
genau durchzustudieren. Die Berliner „Volkstribüne,“ damals noch von
Max Schippel redigiert und mehr wissenschaftlich, fachlich, vornehm
gehalten, ohne Tagesklatsch und Parteigezänk (Tugenden, die es übrigens
unter dem neuen radikalern und stark demagogisch angelegten Redakteur
Paul Ernst neuerdings leider sämtlich verloren zu haben scheint), habe
ich auch nur in diesem kleinen Kreise gefunden, häufiger das Fachorgan
des großen Metallarbeiterverbandes, das aber bei weitem nicht nur
Fachvereinsangelegenheiten zur Sprache bringt.

Für die Verbreitung sonstiger sozialdemokratischer Litteratur sorgte
in unserm Bezirke ein wegen des ersten Mai arbeitslos gewordener,
der als Kolporteur das sehr interessante sozialdemokratische
Witzblatt: „Der wahre Jakob,“ mitunter auch dessen Bruderblatt, die
in Wien erscheinenden „Glühlichter,“ vertrieb, Zeichnungen auf die
sozialdemokratischen Lieferungswerke annahm und expedierte, Berloques,
Streichholzbüchsen, Busennadeln mit den Bildern von Schippel,
Bebel, Liebknecht und Photographien von diesen Herren an den Mann
zu bringen suchte, und der immer in Versammlungen ebenso wie bei
Vergnügungsfesten anwesend, oft auch einer der Mitarrangeure davon
war. Was er sonst trieb, weiß ich nicht, jedenfalls aber habe ich ein
aufdringliches Bestreben, die Leute, namentlich Neulinge zu bearbeiten,
auch an diesem Manne nicht wahrgenommen. Er war der Agent der drei
sozialdemokratischen Buchhandlungen, die es auch in Chemnitz gab. Es
ist bekannt, daß diese Buchhandlungen, denen manchmal eine Anzahl
zweifelhafter Antiquariate sich angliedern, in unerhörter Einseitigkeit
nichts als sozialdemokratische Parteilitteratur und außerdem nur
solche führen, deren Lektüre doch meistens indirekt eine Förderung der
Parteisache bedeutet. Erst neuerdings scheinen sie soviel geistige
Freiheit und Unparteilichkeit gewonnen zu haben, daß sie auch Sachen
wie Schillers und Goethes Werke, die freilich in ihren Augen Produkte
eingefleischter Bourgeois sind, zum Verkauf stellen. Auch diese
sozialdemokratischen Buchhandlungen sind Quellpunkte der kraftvollen
Agitation, und zeigten sich auch in Chemnitz als bedeutsame Institute
der heutigen Volksbildung.

Eine eigentümliche und nicht zu unterschätzende Bedeutung für die
Agitation der Partei besaßen auch die beiden bereits genannten
sozialdemokratischen +Witzblätter+, die jener Kolporteur vertrieb.
Wer sie kennt, wird zugestehen, daß sie ganz respektable Leistungen auf
ihrem Gebiete sind. Die Bilder sind fast immer künstlerisch gewandt,
die Witze, natürlich stets politisch gefärbt und zugespitzt, aber
prägnant und schlagend, der Humor gesund und gut. Ihre Existenz ist
für mich immer eine Ursache innerer Befriedigung gewesen, denn sie
ist mir ein Beweis für den unblutigen Charakter der ganzen großen
sozialdemokratischen Geistesbewegung. Eine Bande rabiater Gesellen,
eine Partei, deren ausschließliches bewußtes Ziel der Ausbruch einer
blutigen Revolution, deren einzige und größte Freude die Vernichtung
alles dessen, was ist, sein würde, dächte nicht daran und wäre auch
nicht fähig, etwas wie diese Witzblätter zu produzieren. Wo der mit
echtem, heiterm Humor durchsetzte Witz im Gegensatz zu der bloßen von
Verbitterung und Verbissenheit erfüllten und diktierten Satire zu so
harmlosem Ausdruck gelangen kann, wie in diesen beiden Blättern, da
ist ein solcher „blutiger“ Verdacht mehr und mehr auszuschließen; da
kann man vielmehr auch aus solchen kleinen, an sich geringfügigen
Zeichen die Gewißheit nehmen, daß bei allem sittlich Bedenklichen und
geistig Unreifen, das dieser Bewegung anhaftet, bei allem ernsten
und gefährlichen Explosionsstoff, der in ihr noch unleugbar ruht,
doch auch so viel gesunde Kraft und frisches Blut in ihr pulsiert,
daß bei richtiger Behandlung und Beeinflussung auch sie noch zu
einem bedeutenden gottgewollten und gottgesegneten Faktor in der
fortschreitenden Kulturentwicklung der Menschheit erzogen werden kann.

Eine bedeutsame Agitation wurde weiter bei den im Sommer fast
allsonntäglich stattfindenden +Arbeiter- und Kinderfesten+
entfaltet. Ich weiß nicht, ob das eine besondre Spezialität der
Chemnitzer Sozialdemokraten ist; in Berlin treten ihnen zur Winterszeit
wenigstens allerhand Bälle, Theateraufführungen, Konzerte und
Maskenscherze mindestens gleichwertig an die Seite. Ich habe drei
jener Sommerfeste mit erlebt, eines in unserm Dorfe, zwei in mehrere
Stunden von Chemnitz entfernten reizend gelegenen Orten. Man hat
deutlich den Eindruck, wie sehr es bei diesen Festen gerade auf
die dem rein Politischen und Volkswirtschaftlichen fernstehenden,
namentlich auf Arbeiterfrauen, Mädchen und Kinder abgesehen ist. Wer
durch den Ernst des politischen Parteigedankens nicht gefesselt werden
kann, soll durch die Freude an heiterer Geselligkeit und allerhand
amüsanter Unterhaltung für die Partei gewonnen werden und so allmählich
auf diesem leichten und lustigen Wege sozialdemokratischen Geist
einsaugen. Indem man den Kindern Freude macht, gewinnt man die Herzen
der Mütter; indem man daneben ein Tänzchen arrangiert, bringt man die
nur auf Vergnügen gerichtete männliche und weibliche Jugend, dieser
selbst unbewußt, mit der sozialdemokratischen Bewegung in Berührung
und verknüpft ihre doch so ganz anders gearteten oberflächlichen
Interessen mit denen der Partei. In Orten, wo die Sozialdemokratie
noch nicht allzu festen Fuß gefaßt hat, wird mit besondrer Vorliebe
ein solches Fest abgehalten; denn man präsentiert sich auf ihnen
von der liebenswürdigsten, harmlosesten Seite und erscheint auch
besonnenern und zaghaftern Arbeitern acceptabel und gar nicht
fürchterlich. In solchen Fällen erfüllt solch Sommerfest im besondern
Sinne Pionier- und Agitationsarbeit, und meist mit größerm Erfolge,
als durch Abhaltung einer Anzahl öffentlicher Versammlungen erreicht
zu werden pflegt. Noch eine besondre Aufgabe haben diese Feste. Sie
sind alle zugleich ein finanzielles Geschäftsunternehmen der lokalen
Parteileitung; denn ihr stets angestrebter und meist auch erzielter
Überschuß muß die Parteikasse füllen helfen. Auch wurden durch
allerhand Dinge, die ich gleich schildern will, noch gern gezahlte
Extrasteuern erhoben. Das alles aber verhinderte nicht, daß sehr
viele der Teilnehmer gleichwohl einer durchaus harmlosen Freude sich
hingaben, und daß diese Harmlosigkeit, diese kindliche, tief im Volke
steckende Lust, ungebunden, ganz hingegeben mit einander fröhlich zu
sein, für viele Anwesende den eigentlichen Parteizweck in die zweite
Linie zurückdrängte. Unter solchen Umständen macht dann ein solches
sozialdemokratisches Kinderfest äußerlich denselben Eindruck, wie die
meisten andern sonst üblichen „unparteiischen“ Volksbelustigungen und
Volksvergnügungen auch.

Es kommt gerade bei ihnen viel auf den Ort, das Wetter und das
glückliche Arrangement an, um sie gelingen zu lassen. Zwei jener
drei Feste sind mir in durchaus freundlicher Erinnerung. Das auf
der sogenannten Jagdschenke, in der Nähe von Siegmar bei Chemnitz,
und dasjenige in Einsiedel, einem von Chemnitz in etwa zwei Stunden
erreichbaren idyllisch gelegenen Dorfe. Der Tag war schön, der
Himmel blau, die Luft klar. Bei dem ersten Feste spielten die Kinder
sichtlich die Hauptrolle; es war ein echtes, volkstümliches Jugendfest
mit Kinderwagen und Kindergeschrei, mit Blechtrompetentönen und
Ziehharmonikamusik, mit Sternschießen und Luftballon. Wie harmlos
man sich da freute, zeigt ein originelles Spiel, das mir neu war.
Ein junger Arbeiter in buntem Kostüm hatte sich ganz mit einfachen
Pfefferkuchenstückchen behängt; so trat er unter die Kinder und ließ
sich nun von ihnen jagen; wer ihn einholte, durfte sich solch ein
süßes Stückchen von seinem Leibe reißen. Das gab eine lustige, tolle
Jagd, das Bild eines modernen Rattenfängers von Hameln. Auch über
die Spiele, die mehrere Arbeiter geschickt und unermüdlich mit den
Kindern arrangierten, und denen eine große Menge Erwachsener lustig
lachend zusah, freute ich mich. Da spielte man einmal sichtlich ohne
Parteitendenz, wie das bekannte, abwechslungsreiche: Adam hatte
sieben Söhne und ähnliches. Die Tanzlustigen vergnügten sich dabei
in einem sehr primitiven Saale bei Zithermusik an Walzer und Polka,
die Mehrzahl der Verheirateten draußen im Freien unter den Bäumen des
Gartens. Das besondre Charakteristikum dieser sozialdemokratischen
Feste war auch hier vertreten: das Raritätenkabinett und die Sitte der
Arretierungen. Aber dies schildere ich besser bei der Erzählung von dem
Feste in Einsiedel, das schon wieder einen andern, nicht mehr so ganz
tendenzlosen naiv-heitern Charakter trug. Vielleicht mochte das auch
an den allzuvielen Chemnitzer Genossen liegen, die hier im Gegensatz
zu dem Feste in Siegmar das Übergewicht gegen die ortseingesessenen
Teilnehmer bildeten und den Ton angaben, der, wenn er von diesen
großstädtischen, in sozialdemokratischer Gesinnung und Gebaren
gedrillten Arbeitern ausgeht, der Liebenswürdigkeit und ungekünstelten
Natürlichkeit zu entbehren pflegte.

Einigermaßen interessant ist das Programm, das mit roten Lettern
auf gelbem Kartonpapier gedruckt, einem auf diesem zweiten Feste in
Einsiedel gegen die Zahlung von 15 Pfennigen Eintrittsgeld übergeben
wurde und folgendermaßen lautete:

    ~Ergebenste Einladung~

    ~zum~

    ~grossen Sommer-Fest~

    ~des~

    ~Wirker-Fachvereins für Einsiedel und Umgegend unter
    Belustigungen grosser und kleiner Kinder beiderlei Geschlechts
    +Sonntag, den 3. August 1890+ im Kaiserhof zu Einsiedel. Bei
    wolkenbruchartigem Regen 14 Tage später.~

    ~+Programm.+~


    ~I. Theil.~

    ~2 Uhr: Sammeln aller grossen und kleinen Kinder im Kaiserhof.~

    ~3 Uhr: Zusammentreffen mit den Besuchern, welche per Bahn von
    Chemnitz kommen, dann gemeinsamer Abmarsch nach dem Festplatz.~

    ~3 Uhr 4½ Minuten: Ankunft auf demselben.~


    ~II. Theil.~

    ~1. Grosses Freiconcert von der weltberühmten Haus-Capelle,
    genannt Achtstunden-Capelle.~

    ~2. Grosses Prämienschiessen aller kleinen Kinder beiderlei
    Geschlechts.~

    ~3. Für kleine Wirker oder sonstige Lohnnehmer wird eine mit
    Wurst und anderen Sachen behängte Kletterstange errichtet, darf
    aber Niemand höher klettern, als die Stange ist.~

    ~4. Aufstellen des weltberühmten Schnellphotographen.~

    ~5. Grosses Prämien-Knaulwickeln für grosse Kinder weiblichen
    Geschlechts.~

    ~6. Besichtigung des grossartigsten Raritätencabinetts der
    Welt.~

    ~7. Rückfahrt nach der Stadt, 7 Uhr oder ½11 Uhr Abends.~

    ~8. Alle 36 Stunden muss jeder Theilnehmer einmal nach Hause
    gehen.~

    ~9. Jeder kann theilnehmen, wenn er eingeladen ist, darf aber
    nicht unter 3 Tage und nicht über 90 Jahre alt sein.~

    ~10. Das Festcomité ist an den leeren Magen und schwieligen
    Händen zu erkennen.~

    ~11. Hunde dürfen nicht mitgebracht werden, da schon genug Spitze
    vorhanden sind.~

    ~Zum Schluss grossartiger Fackelzug und Abschied der Gäste,
    welche mit dem ½11-Uhr-Zug fahren.~

Das Konzert dauerte freilich nur von 4-5 Uhr. Währenddessen fand in
dem kleinen, engen Rasengarten der Restauration das Klettern der
großen Knaben, das Sternstechen der Mädchen, das Blindekuhspielen der
Kleinsten statt. Jeder erhielt eine Kleinigkeit, die Jungen Messer,
Mundharmonikas, Federhalter, Taschentücher, Wurst, die Mädchen
Ohrringe, Broschen, Geldtäschchen, Strumpfbänder, Taschentücher,
Würstchen, alles ganz billige Ware, wohl ein Gelegenheitskauf, da die
bedruckten Taschentücher das farbige Bild -- Kaiser Wilhelm ~I.~
zeigten. Während dann für die erwachsene Jugend gegen 5 Uhr der Tanz
begann und die Musikstücke aus den offnen Fenstern über den Festplatz
schallten, bildete sich hier unter den zahlreichen Besuchern eine
Männergruppe und sang, nachdem die Polizei inspiziert und sich wieder
etwas entfernt hatte, aus dem sozialdemokratischen Liederbuche nach
bekannten Melodien sozialdemokratische Weisen. Dicht umstanden Männer,
Frauen und Kinder die Sänger und lauschten aufmerksam den Liedern,
die vielen eine noch neue Welt kühner Gedanken in schwungvoller
begeisternder Form enthüllten. In einer Ecke des Platzes stand auch
hier das bereits genannte Raritätenkabinett und eine Nachahmung der
bekannten auf Jahrmärkten und auch sonst nie fehlenden Buden für
Schnellphotographie. Jeder mußte in eine der Buden hinein. Wer es
nicht freiwillig that, wurde von einem mit Militärmütze und altem
Uniformrock bekleideten, und mit einem Holzschwert bewaffneten
Arbeiter, dem „Polizisten“, unter Assistenz mehrerer Genossen mit
Gewalt hineintransportiert, „arretiert.“ Den Inhalt des Kabinetts
bildeten wunderliche Raritäten. Da lag ein riesiger, üblicher Knüppel:
die Keule des Kain; ein Stück rundes Glas: der Erdspiegel; ein
eingetrockneter Hering: ein Riesenwallfisch; ein alter verrosteter
Säbel und ebensolches Messer: Waffen von 1848 u. s. f. Jeder, der drin
war zahlte 10 Pfennige, die der sogenannte Erklärer der wunderlichen
Sachen kassierte und in ein Notizbuch notierte. Ich war gerade drin,
als der königliche Gendarm und der Gemeindediener das verfängliche
Lokal inspizierten. Ich muß sagen, es war eine lächerliche Szene.
Die beiden Beamten, die mit strenger finstrer Miene diese Lappalien
untersuchten, die naivdreisten Antworten der beiden auf solche Fälle
wohlstudierten durchtriebenen Kassierer und Erklärer, das schadenfrohe
Lächeln der andern, der Besucher. Als die Beamten hinausgingen, drehte
man ihnen hohnlachend eine Nase.

Unerfreulicher war das Fest in unserm Orte selbst, bei regnerischem
Wetter, im engen, kahlen Hofe der Restauration. Auch hier ein solches
Kabinett, darin ein Faß mit -- Arbeiterschweiß. Die Kinder mit Schürzen
in roten oder deutschen Farben, die Erwachsenen mit roten Schleifen
an der Brust. Die beiden Gasthofszimmer waren dicht mit Qualm und
Menschen gefüllt und blieben es bis nachts 11 Uhr. An einem großen
runden Tische war dichtes Gedränge und ein heftiger Streit zwischen der
sozialdemokratischen Mehrzahl und einem Baiern, einem Kaufmann, der
eben erst aus Amerika zurückgekommen und zufällig in dies Lokal geraten
war. Neben ihm saß schweigend der Direktor der Brauerei, die dem Wirte
das Bier lieferte und deswegen ihren Direktor aus Geschäftsrücksichten
zu diesem Besuch und Verkehr verpflichtet hatte. Der Streit war
heiß und kühlte sich nur immer wieder an der jovialen Gelassenheit
des kaltblütig aber nicht geschickt opponierenden amerikanisierten
Baiern. Daneben sang man demonstrativ sozialdemokratische Lieder,
bis sich endlich die Woge der Diskussion legte und in einer solennen
Kneiperei auf Kosten des Baiern verlief. Hierbei habe ich manches
gesehen und gehört, wovon ich an einer andern Stelle erzählen werde.
Dies „Kinderfest“ war kein Kinderfest, sondern ein durch und durch
sozialdemokratisches, ziemlich wüstes Parteifest, das in schroffem
Gegensatz stand zu dem hübschen Vergnügen des Hirsch-Dunckerschen
Gewerkvereins der Chemnitzer Metallarbeiter und Weber, dem ich am
Sonntag darauf beiwohnte. Ich traf da zwei Schlosser unsrer Fabrik
als Mitglieder, zwei unsrer ruhigsten, anständigsten Leute. Und wie
sie, so wohlanständig, gewandt und höflich benahmen sich auch die
übrigen Mitglieder und Gäste bei diesem Konzert und Tanzvergnügen. Es
herrschte ein merklich andrer Ton als auf jenem eben geschilderten
sozialdemokratischen Kinderfeste.

In der +Fabrik+ selbst, während der Arbeit war von einer
offnen und ostentativ-politischen Agitation der ausgesprochenen
Sozialdemokraten so gut wie nichts zu beobachten. Das verhinderte vor
allem wohl schon die energische Haltung unsers technischen Direktors.
Er machte es jedenfalls schlauer als der „König“ Stumm. Er war streng,
aber er überspannte den Bogen nicht, wie dieser es zu thun scheint. Er
hatte ruhig, noch nach sieben Monaten, die große Kreideinschrift über
der Eingangsthür zu unserm Bau stehn lassen: „Arbeiter, wählt alle
Schippel!“ Er ignorierte das einfach, wie das „Hoch die internationale
Sozialdemokratie!“, das in vielen Ecken zu lesen stand. Aber sonst
hatte er ihnen angekündigt: „Die Sozialdemokratie ist mir ganz egal;
draußen könnt ihr euch so rot anstreichen, wie ihr wollt, hier drin
nicht; hier kommandiere ich; wer es dennoch thut, fliegt hinaus.“ Man
wußte, daß er damit ernst machte, und hütete sich demgemäß, das Verbot
zu überschreiten. Nur zu intimen Bekannten, deren man ganz sicher war,
gab der oder jener agitatorisch angelegte zielbewußte Sozialdemokrat
gelegentlich auch seinen politischen Anschauungen offnen Ausdruck;
im übrigen beschränkte sich die kleine Schar der Getreuen darauf,
einen um so intensivern indirekten Einfluß auf Angelegenheiten des
Betriebes auszuüben. Ich merkte schon wenige Tage nach meinem Eintritt
in die Fabrik, daß in solchen Fragen die gesamte Arbeiterschaft unsrer
Abteilung unter einem gewissen undefinierbaren Drucke stand, und daß
die Fäden dieser stummen Beeinflussung in den Händen ganz bestimmter
charakteristischer Persönlichkeiten zusammenliefen. Wenn z. B. durch
die Leiter der Fabrik irgend eine Neuerung in der Produktion, im
Betriebe, in der Arbeitszeit, in der Löhnungsform eingeführt wurde,
so konnte man genau beobachten, wie die Mehrzahl der Arbeiterschaft
unschlüssig, zagend mit ihren eignen Ansichten und Urteilen
zurückhielt, bis auf einmal die Parole ausgegeben, die „öffentliche
Meinung“ gebildet erschien. Und wenn sie auch vielen der Leute nicht
paßte, ja deren augenblicklichem Interesse direkt entgegenstand und
darum deutlich von ihnen gemißbilligt wurde, so war sie doch eine
Macht, die man respektierte, und gegen die man offen nur selten
Einspruch zu erheben wagte.

Das ist, was ich an +planmäßiger organisierter+ Agitation
der sozialdemokratischen Partei an unserm Orte bemerkt habe. Ich
behaupte und glaube nicht, daß sie sich auf diese Arbeit beschränkte;
aber ich habe nur das, was ich schilderte, beobachten können. Ihre
+Leiter und Hauptträger+ war die nicht allzu zahlreiche Schar der
Elitesozialdemokraten, der überzeugten Genossen, die die Phalanx der
Partei an jedem Orte, den Halte- und Krystallisationspunkt für die
Tausende bilden, die sich um sie gruppieren. Aus dieser Schar gingen
die Kandidaten für die sozialdemokratischen Wahlen, die Unterführer
in den einzelnen Bezirken, die Vorstände der Wahl- und Fachvereine,
die Komiteemitglieder für die Agitation bei Wahlen hervor. Sie
allein waren in abstufender Reihenfolge mehr oder weniger eingeweiht
in die Pläne der gesamten allgemeinen Zentralleitung, waren deren
ausführende Organe, erhielten allein Mitteilungen und Anweisungen
von ihr. Sie leiteten die Feste, waren die Wortführer in den
öffentlichen Versammlungen und Auseinandersetzungen mit den Gegnern,
die Wanderredner in der Umgegend, die unermüdlichen Vortragenden in
den regelmäßigen Sitzungen der Wahl- und Fachvereine; sie instruierten
auch die tonangebenden Personen in den Betrieben, in denen nicht selbst
einer von ihnen beschäftigt war. Von den übrigen Arbeitern wurden sie
-- äußerlich wenigstens -- widerspruchslos als die Führer anerkannt,
und mit einem absonderlichen interessanten Gemisch kameradschaftlicher
Vertraulichkeit und achtungsvollen Respekts behandelt; sie ihrerseits
erwiderten diesen Ton wenigstens vielfach mit einer Art berechneten
Wohlwollens und selbstgewisser Zurückhaltung. Doch war nicht jeder
von ihnen bei jedem gleich gefeiert und geachtet. Einer gefiel besser
als der andre; den hatte man lieber als jenen. Darüber entschied die
Art seines Auftretens, seiner Reden, seiner ganzen Gesinnung. So gab
es z. B. zwei Brüder R., die damals mit an der Spitze der Chemnitzer
Agitation standen, und die -- namentlich einer von ihnen -- in den
Sitzungen unsers Vereins sowie bei den Sonntagsfesten besonders
das große Wort führten, heute aber, wie ich höre, der eine aus der
Partei ausgeschlossen, der andre ausgetreten sind. Diese hatte man
wegen ihres polternden, aufbrausenden, anmaßenden Wesens nicht allzu
gern, und man zog andre wegen ihrer mildern, geschloßnern, ernstern
Art vor. Es sind mir mehrmals in der Fabrik solche ganz selbständige
Urteile von ältern Arbeitsgenossen über Führer ausgesprochen worden.
Gleichwohl erkannte man sie als die leitenden Persönlichkeiten an,
lauschte ihren autoritativen Worten, respektierte die Anordnungen, die
sie von Parteiwegen zur Ausbreitung eben der von ihnen gleichmäßig
organisierten und geleiteten und in der That meist wohlüberlegten
Agitation geben zu müssen glaubten. Als ausführende Organe solcher
einzelner Befehle ließ sich aber nur eine kleine Schar der Anhänger
gebrauchen, fast ausschließlich ganz jugendliche Persönchen zwischen
18 und 22, 23 Jahren, die von blindem Parteieifer und unreifem
Thatendrange überquollen. Sie waren die allerbrauchbarsten und
gefährlichsten Werkzeuge in den Händen jener Agitatoren, das junge
grüne Holz, aus dem diese ihre ergebenen Adjutanten und ihren Nachwuchs
schnitzten. Die Menge der Anhänger aber, namentlich derjenigen, die
etwas selbständige Neigungen und gemütliche Bedürfnisse hatten, gab
sich mit dieser Art der organisierten Parteiagitation nicht ab, hatte
wohl auch nicht die Zeit, die Kraft und die Mittel dazu.

Sie huldigten vielmehr einer andern für sie bequemern Art der
Agitation, die jener planmäßigen, von einer Zentralstelle
geleiteten und gut funktionierenden nebenherging. Man kann sie im
Gegensatz zu dieser die mehr +freiwillige+, +irreguläre+,
+zufällige+, dem Ermessen, dem augenblicklichen Empfinden,
den Fähigkeiten, der Gesinnungstreue der einzelnen Anhänger
überlaßne nennen. Sie war mit einem Worte der persönliche Einfluß,
den der sozialdemokratische Arbeiter auf den noch nicht oder erst
wenig sozialdemokratischen Genossen ausübt; sie war gleichsam das
Fleisch, jene andre das Gerippe des ganzen Ungeheuers, so da heißt
sozialdemokratische Propaganda. Sie war wichtiger, bedeutsamer,
verhängnisvoller als jene, aus der sie zwar ihre Kraft, ihre Gedanken,
ihre ganze geistige Nahrung und immer neuen Antrieb empfing, der sie
aber ihrerseits auch erst Leben und Nachdruck verlieh. Sie wurde
nicht sonderlich kontrolliert, sie war an keine Zeit, keinen Ort,
keine Weisungen von oben, keine kostspieligen Unternehmungen, keine
äußern festlichen Veranstaltungen geknüpft, wenn sie auch, wie z. B.
auf jenen Sonntagsfesten, auf diesen ihre ebenfalls und da besonders
wirksame Thätigkeit entfaltete. Sie war allein an die Persönlichkeit
der Tausende von Anhängern gebunden, die die Partei am Orte zählte, an
deren Begeisterung, deren Gesinnungstreue, deren Überzeugungskraft. Sie
ließ dem so Agitierenden alle Mittel und Wege zur freien Verfügung:
nicht nur die langen theoretischen Auseinandersetzungen, die Reden
am Biertisch und im Vergnügungsverein wie im Pfeifen-, im Zither-
oder Harmonikaklub, sie war auch möglich in den Gesprächen während
der Arbeit zwischen Mann und Mann, auf gemeinsamen Spaziergängen nach
Feierabend, an schönen Sommerabenden, bei den gegenseitigen langen
Besuchen in den nachbarlichen Familien, beim Kartenspiel, kurz wo
immer zwei oder drei Menschen bei einander waren. Sie machte sich,
und hier oft gerade mit doppeltem Erfolge, schon in den unmittelbaren
Äußerungen des unbewachten Augenblicks geltend, in den Scherzen,
die von Lippe zu Lippe fliegen, in den Urteilen, die über andre,
Abwesende fallen, in einer einzigen kurzen malitiösen Bemerkung, ja
in einem überlegnen Lächeln, einem scharfen Blick, einem beredten
Schweigen, einer flüchtigen, aber bezeichnenden Handbewegung. Und das
ist vielfach ein weiteres Charakteristikum an ihr: sie, +diese+
Agitation, ist in vielen Fällen den Agitierenden selbst gar nicht
bewußt, und gerade dann, wo dies eintritt, erst recht eindringlich und
eindrucksam. Denn sie ist dann erst recht der unmittelbare Ausfluß des
innern Empfindens, der innern Gedanken, die die Seele beherrschen, als
eine Glaubensmacht und treibende Lebenskraft, der Ausdruck und die
Ausprägung der eigensten Persönlichkeit, die dabei ihr bestes einsetzt,
weil sie von ihrem besten redet. Darum wird gerade diese überall,
wo Sozialdemokraten anwesend sind, geübte Agitation so besonders
bedeutungsvoll, daß hinter ihr die ganze Person der Agitierenden steht
und den Argumenten des Wortes den wuchtenden Nachdruck verleiht.

Das ist aber auch zugleich die Ursache, warum mit dieser Form der
irregulären, persönlichen Agitation mehr als mit jener andern
organisierten, d. h. durch Überlegung kontrollierten ein Fanatismus
verbunden sein kann, der dann bei bestimmten Gelegenheiten zum
schroffen Terrorismus führt. Eben dieser Terrorismus war in der That
sehr oft im Verkehr mit den sozialdemokratisch gesinnten Arbeitern zu
bemerken, besonders häufig und drückend natürlich in der Fabrik, weil
da der persönliche Verkehr am längsten und intensivsten möglich zu sein
pflegt. Er war die Ursache, daß man sich in der oben geschilderten
Weise den von den Führern gegebenen Parolen in Betriebsfragen
wenigstens äußerlich fügte, daß man allerhand Geschichten mitmachte,
die man vielleicht sonst unterlassen hätte, daß man Äußerungen in den
Mund nahm, die nicht, wenigstens nicht ganz der Ausdruck der innersten
Wünsche und Neigungen war, daß die meisten sich in ihren Urteilen
einschüchtern und beeinflussen ließen, was sich namentlich, wie wir
sehen werden auf geistigem, sittlich-religiösem Gebiete zeigte. Aber
er führte auch geradezu zu thätlichen Vergewaltigungen. So erzählte
mir einer, der selbst dem sozialdemokratischen Konsumverein des Ortes
angehörte, natürlich auch, freilich in der üblichen Durchschnittsform,
Sozialdemokrat war, aber gern seine eignen Wege ging und seine
besondern Neigungen hatte, daß einmal die Fabrikdirektion infolge zu
zahlreicher Bestellungen Überstundenarbeit angesetzt hätte. Dagegen
Agitation der tonangebenden Sozialdemokraten in der Fabrik; die Parole,
daß keiner, trotz der Verpflichtung in der Arbeitsordnung, kommen
dürfe; einige opponieren, schon um mehr zu verdienen; da nimmt man
ihnen heimlich das Werkzeug weg um sie zur Unthätigkeit zu zwingen.
Das ist nackter Terrorismus, der noch dadurch eine eigentümliche
Beleuchtung erhält, daß eben diese terrorisierenden Agitatoren nach der
Erzählung meines Gewährsmannes dann, als die von ihnen beeinflußten
wirklich nicht an der Überstundenarbeit teilgenommen hatten und nach
Hause gegangen waren, daß sie selbst zurückgeblieben waren, um zu
arbeiten. Ich kann diese Geschichte freilich nicht im einzelnen auf
ihre Wahrheit prüfen, es ist auch nicht nötig; schon die Thatsache,
daß jener mir so etwas erzählen konnte, beweist das Vorhandensein des
Terrorismus, dessen Wirkungen auch ich persönlich oft mehr instinktiv
als in deutlichen Vorgängen wahrnehmen konnte. Aber ein solcher aus
einer Sitzung des schon genannten Konsumvereins sei noch gestreift: in
diesem Falle wurde in der Sitzung bei einer für den Verein wichtigen
Frage der innern Verwaltung ein Antrag nicht nur, sondern auch die
Meinungsäußerung der weniger energisch sozialdemokratisch gerichteten
Mitglieder darüber einfach nicht geduldet, unterdrückt -- also eine
gerade entgegengesetzte Erscheinung der gegenüber, die ich oft in den
Sitzungen unsers Wahlvereins beobachten konnte.

Ihrem +materiellen Inhalte+ nach hatte es diese ganze Agitation
nicht nur auf die Verbreitung neuer politischer Anschauungen und
ökonomischer Grundsätze abgesehen, sondern sie bezweckte und bewirkte
zugleich auch eine Umwandlung der bisherigen Bildung, der religiösen
Überzeugung und des sittlichen Charakters der deutschen Arbeiterschaft.
Das macht, weil die Sozialdemokratie von heute nicht nur eine neue
politische Partei oder ein neues wirtschaftliches System, auch nicht
nur dies beides, sondern zugleich eine neue Welt- und Lebensanschauung,
die Weltanschauung des konsequenten Materialismus, die praktische
Anwendung der Lehre von der +natürlichen+ Weltordnung im Gegensatz
zur +sittlichen, göttlichen+ ist. Ich habe dies an dieser Stelle
nicht theoretisch, aus der Geschichte, den Schriften, den Zeitungen
der Sozialdemokratie und dem Entwicklungsgange und Charakter ihrer
bisherigen Führer nachzuweisen. Das überschreitet bei weitem Rahmen und
Zweck dieser Schrift. Aber jeder, der nur einigermaßen diese Geschichte
kennt, diese Schriften studiert, diese Zeitungen aufmerksam verfolgt
und die führenden Elemente und deren Interessen einigermaßen überwacht,
wird mir ohne weiteres die heute immer mehr anerkannte Wahrheit
dieses Satzes zugestehen. Um wenigstens eins zu sagen, erinnere ich
hier allein an den frappanten Gegensatz der sozialdemokratischen
Bestrebungen zu denen der Bodenbesitzreformer unter Michael Flürscheims
Führung, der in der Grund- und Bodenfrage ebenso radikal ist wie jene,
d. h. den gesamten Grund- und Bodenbesitz verstaatlichen will, der
dies Ziel nicht nur durch litterarische Arbeiten, sondern auch -- wie
jene -- durch Bildung politisch-ökonomischer Vereine agitatorisch
zu erreichen sucht, und der meines Erachtens doch durchaus nicht
Sozialdemokrat ist, weil er dieses sein politisch-ökonomisches Ideal
nicht verquickt mit einer radikalen Opposition gegen die überkommenen
Bildungselemente, gegen Christentum und Kirche und mit dem bewußten
Versuche der Umgestaltung auch der sittlichen Grundsätze, die bisher
in unserm Volke Geltung und Nachachtung fanden. Doch das nebenbei.
Hier wird es meine Aufgabe sein, die Wahrheit jenes oben behaupteten
Satzes einmal aus den praktischen Erfahrungen zu erhärten, die ich
während meiner dreimonatlichen Arbeiterzeit gemacht habe. Ich werde
da nun zu zeigen haben, +daß die Wirkung dieser so vielseitigen
und energischen sozialdemokratischen Agitation bisher viel weniger
tiefgreifend, nachhaltig und vor allem viel weniger verhängnisvoll
für die politische Gesinnung und die wirtschaftlichen Gedanken
der Arbeiter, die mir begegneten, gewesen ist, als eben für ihre
geistige Bildung, ihre religiöse Überzeugung und ihren sittlichen
Charakter+. Man könnte vielleicht sagen, daß die offizielle,
organisierte Agitation mehr die politischen und die sozialen Grundsätze
der Partei, wie sie bisher im Eisenacher Programm formuliert
vorlagen, in allen Tonarten und Nüancen in die Köpfe der Arbeiter
zu bringen suchte, während die andre, die sogenannte freiwillige,
unorganisierte, die Gelegenheitsagitation in erster Linie eben jenen
ganzen sozialdemokratischen Geist, die materialistische Gesinnung,
die Weltanschauung der Partei weiter trug und zu immer größerer, oft
selbst nicht im ganzen Umfange erkannter Geltung brachte, -- wenn es
nicht gerade hier schwer wäre, eine solche scharfe Grenzscheidung zu
ziehen. Wie das auch in der sozialdemokratischen Tagespresse, die ja
vor allem ebenfalls der Verfechtung und Propagierung des offiziellen
Programmes dienen soll, gleichwohl aber auf jeder Zeile den Geist jener
spezifischen Weltanschauung atmet, deutlich zu sehen ist, so war es
im allgemeinen auch mit dieser Doppelagitation: sie floß stets mehr
oder weniger in einander über; die eine hob und trug die andre; und
sie trat umso zusammengeschlossener, umso harmonischer, wenn ich so
sagen darf, auf, je geschlossener, zielbewußter, sozialdemokratischer
die Persönlichkeiten waren, die sie machten, je völliger und klarer
das ganze einseitige und doch in dieser starren Einseitigkeit große
sozialdemokratische System in diesen Persönlichkeiten zum Ausdruck kam.



Fünftes Kapitel

Soziale und politische Gesinnung meiner Arbeitsgenossen


Die erste und bedeutsamste Wirkung dieser eben geschilderten Agitation
ist die Thatsache, +daß die gesamte Arbeiterschaft von Chemnitz und
Umgegend, die ich kennen lernte, mit nur geringen Ausnahmen heute mit
der sozialdemokratischen Partei irgendwie weit verknüpft ist, daß sie
mehr oder weniger in der Luft ihrer Ideen lebt, und daß sie jedenfalls
in ihr, dieser Arbeiterpartei ~par excellence~, ihre einzige
starke und berufene Repräsentantin erblickt+. Der Arbeiter, mit dem
ich Umgang gehabt habe, ist -- bewußt oder instinktiv -- durchdrungen
von dem Gefühl des bestehenden feindlichen Gegensatzes seiner und
der Unternehmer Interessen; er ist erfüllt von dem Drange nach
einer geschlossenen thatkräftigen Organisation der Massen, zu denen
er gehört, von dem Sehnen nach einem großen Fortschritt, nach einem
Aufschwung des ganzen vierten Standes, den diese Massen bilden; er
hat, auch ein Kind der neuen gedankendurchfluteten, gärenden Zeit, wie
die andern Zeitgenossen allerhand neue Interessen, höhere, leibliche
wie geistige Bedürfnisse, deren Befriedigung er verlangt; und er
weiß, sieht, fühlt, daß dieses elementare Drängen und Sehnen, dieses
Streben und Bedürfen ihm niemand anders bis heute ohne Rückhalt und
Eigennutz, energisch und weitausgreifend befriedigen will, als eben die
sozialdemokratische Partei.

Und darum, mag ihn sonst vieles von ihr trennen, vieles von ihrem
sonstigen Wesen abstoßen, gehört er ihr an, und -- ich bin dessen ganz
gewiß -- keine augenblicklich herrschende Gewalt, auch keine geistigen
Machtfaktoren werden ihn heute ohne weiteres wieder von dieser Partei
lösen, werden es vermögen, daß die Gedanken, die jene geweckt hat,
und aus denen sie doch auch wieder erst herausgeboren wird, jemals
wieder völlig verschwinden. Darum hängen ihr unterschiedslos Junge und
Alte, Gut- und Schlechtgestellte, Verheiratete und Unverheiratete,
Gelernte und Ungelernte, Sparsame und Lüderliche, Fleißige und Faule,
Kluge und Dumme, Herauf- und Heruntergekommene, Eingeborene und
Eingewanderte, alle Gruppen, Klassen und Kategorien der Fabrik bis
auf eine verschwindend kleine Gruppe irgendwiesehr an, wissen sich
als Sozialdemokraten, folgen den Führern und glauben an sie, ihre
Worte und Schriften wie an ein neues Evangelium. Man hat es mir mehr
als einmal in der Fabrik geradezu ins Gesicht gesagt: „Was bis jetzt
Jesus Christus war, wird einst Bebel und Liebknecht sein.“ Das ist
der Ausdruck des Bewußtseins, daß die Sozialdemokratie heute die
Arbeiterschaft ist, daß diese sich in ihr zusammenfindet oder doch
immer mehr zusammenfinden wird und daß, so groß und viel auch die
Unterschiede, die Gegensätze, die Widersprüche, die Trennungen unter
ihnen sind und immer sein werden, sie doch alle zusammen gehören in
ihren Leiden, Freuden und Idealen.

Zum Beweis dessen führe ich eine Reihe ganz spontaner Äußerungen aus
dem Munde der verschiedensten Arbeitsgenossen an. Sie lauten ihrem
Sinne nach einander alle gleich: „Bei uns haben alle bis auf den
letzten Mann sozialdemokratisch gestimmt“; „Die Arbeiter sind und
wählen alle Sozialdemokraten“; „Jeder Arbeiter ist Sozialdemokrat“;
„Ich wähle meinesgleichen“; und, besonders drastisch: „Hier ist alles
sozialdemokratisch, selber die Maschinen!“ Was sich da ausspricht,
ist immer dasselbe, eben die Meinung -- ganz im allgemeinen --, daß
Sozialdemokratie und Arbeiterschaft ein und dasselbe sein muß. Zwar
scheinen dem eine Reihe andrer Aussprüche andrer Arbeitskollegen
direkt zu widersprechen. Denn einige der Leute meinten auch wieder
gelegentlich, „daß nur etwa die Hälfte der 400-500 Mann unsrer Fabrik
Sozialdemokraten seien.“ Doch ist das nur ein scheinbarer Widerspruch.
Denn da meinte man immer nur solche, die mit ihrer sozialdemokratischen
Gesinnung irgendwie besonders bemerkbar hervortreten, vor allem
irgend welchem sozialdemokratischen Wahl-, Fach-, Hilfskassen-
oder Vergnügungsvereine angehörten. In +diesem+ Sinne war
allerdings noch lange nicht die Hälfte Sozialdemokraten zu nennen.
Sozialdemokratisch gerichtet, bestimmt, gesinnt aber -- im
weitesten Sinne -- war, wie gesagt, die erdrückende Mehrzahl meiner
Arbeitsgenossen.

Bewußte und erklärte Nichtsozialdemokraten habe ich nur drei in unsrer
Abteilung von 120 Mann im Laufe der Zeit ausfindig machen können.
Davon waren zwei in dem auch in Chemnitz bestehenden, wie ich hörte,
etwa siebzig Mitglieder zählenden Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine;
der dritte war eine gute, treue Seele, der religiös noch zu tief
angeregt war und auch einer zu konservativen und zu wohlhabenden
Bauernfamilie angehörte, um irgendwie sozialdemokratische Neigungen
mit gutem Gewissen und aus innerm Bedürfnis haben zu können. Man sagte
von ihm, er ginge nur zu seinem Vergnügen in die Fabrik; nötig hätte
er es nicht. Außer diesen dreien gab es nun freilich, soviel ich
beobachten konnte, auch bei uns noch einige andre, die thatsächlich
mit der Sozialdemokratie nichts gemein hatten. Aber sie behielten
das für sich und zogen es vor, die Genossen über ihre Gesinnung im
Ungewissen zu lassen. Manchmal war auch angeborene große Schüchternheit
und nicht bloße Berechnung die Ursache dazu. Obgleich ihre Zahl nicht
zu schätzen ist, glaube ich doch nicht, daß ihrer allzuviele waren.
Jedenfalls bildeten diese Neutralen auch zusammen mit jenen drei offnen
mutigen Nichtanhängern an die Sozialdemokratie nur die verschwindende
Minderheit gegenüber den Arbeitsgenossen, die sich selbstverständlich
zur Sozialdemokratie rechneten oder offen zu ihr bekannten.

Das heißt nun freilich nicht, daß jeder von diesen ein zielbewußter,
über das Prinzip und Programm der Partei klar orientierter
Sozialdemokrat gewesen wäre. +Das gilt vielmehr von kaum drei,
allerhöchstens vier Prozent der Gesamtheit, nur von der kleinen Schar
jener Leiter und Träger der Agitation und ihren nächsten Freunden und
Schülern.+ Sie allein hatten einigermaßen die Agitationsschriften
der Partei gründlich und mit Verständnis gelesen, sie allein
kannten und verstanden das gesamte offizielle Programm, seine
Interimsforderungen nicht minder als seine letzten radikalsten Ziele.
In oft glühendem Fanatismus hatten sie die eignen, widersprechenden
Erfahrungen aus der Praxis, das geistige Erbe ihrer Vergangenheit, die
Kritik ihres gesunden Menschenverstandes gewaltsam unterdrückt und
zum Schweigen gebracht, hatten sie sich, oft mit unsäglicher Mühe,
mit pekuniären Opfern aller Art in dies Programm hineingearbeitet,
bis sie endlich ganz in seinen Gedankengängen aufgingen, nur noch
in ihnen und für sie lebten, nur durch die Brille dieses Programms
Menschen und Dinge, Zustände und Ereignisse anzusehen und zu beurteilen
imstande waren. Es waren meist echte, ehrliche, deutsche Schwärmer und
Idealisten, aus denen sich dieser Kreis von Arbeitern zusammensetzte,
manche dazu noch von einem unbändigen Ehrgeiz und Thatendrang erfüllt,
aber nach allen meinen Beobachtungen nur wenige unter ihnen von
der Klasse der ausgeprägten Egoisten, die heimlich irgend welchen
persönlichen Vorteil suchten und fanden. Hier in dieser kleinen Gruppe
und in ihr allein fand man wirklich die Anschauungen und Grundsätze der
Sozialdemokratie klar und rein vertreten und ausgesprochen, Prinzip und
Ziel fest erkannt und erstrebt. Doch gab man ihnen seltner, als man
hätte vermuten und erwarten können, auch ebensolchen offnen Ausdruck.

+In der ganzen übrigen erdrückenden Mehrheit der sozialdemokratischen
Arbeiterschaft aber war von einer ebensolchen geschlossenen und
klaren politischen und sozialen Gesinnung nicht mehr die Rede. Hier
waren vielmehr die allerverschiedensten, auseinandergehendsten,
verworrensten Ansichten in buntem Gemisch, in allen Nüancen und
Färbungen vertreten.+ Hier waren die eignen praktischen Erfahrungen,
die ein jeder in seinem bisherigen Leben und Berufe gemacht, die
persönlichen Wünsche und Erwartungen, die gerade er hegte und
erstrebte, die eigentümlichen Eindrücke, die er in seiner frühern
nicht sozialdemokratischen Zeit, im Elternhause und sonstwo erhalten,
nicht so gewaltsam unterdrückt und verwischt, sondern vielmehr häufig
noch besonders rege und lebendig, und alles zusammen, eigne Erfahrung,
persönliche Wünsche, frühere Einflüsse in eine wunderliche, oft nur
sehr lose und nur sehr beschränkte Verbindung mit sozialdemokratischen
Anschauungen und Lehrsätzen gebracht. Und auch diese wieder waren bei
weitem nicht vollständig, nicht geklärt und geordnet aufgenommen.
Denn nur wenige aus diesem großen und unübersehbaren Kreise hatten
auch nur einigermaßen so hartnäckig und ernsthaft wie jene andre,
erstgeschilderte Gruppe die Parteischriften studiert. Was sie vielmehr
von politischen und wirtschaftlichen Ansichten sozialdemokratischen
Ursprungs besaßen, war ihnen meistenteils aus kurzen halbverdauten
Artikeln der unregelmäßig gelesenen sozialdemokratischen
Lokalpresse, teils aus den Vorträgen und Reden sozialdemokratischer
Versammlungen, teils endlich aus dem persönlichen Umgange mit den
klarern, zielbewußtern Kameraden hängen geblieben. Und je nachdem
nun einer oder mehrere der oben genannten vier Faktoren in dieser
Verquickung das Übergewicht und den bestimmenden Einfluß hatten und
je nach den geistigen Fähigkeiten des einzelnen Mannes und seiner
größern oder geringern Initiative, entstand so ein vollständigeres
oder unvollständigeres, geklärteres oder widerspruchsvolleres,
vernünftigeres oder unvernünftigeres, immer aber buntes Gemisch von
politischen und sozialen Gedanken, das sich in keinem Falle mehr mit
der wasch- und programmechten sozialpolitischen Anschauung des Normal-
und Elitesozialdemokraten zu decken vermochte, das überhaupt in keine
Parteischablone einzuordnen war, und das nun bald in liebenswürdigerer,
freundlicherer, ruhigerer und leidenschaftsloser, bald aber auch in
roher, abstoßender, gehässiger, radaumäßiger Art, bald in gewandteren
bald unbeholfneren Ausdrücken, bald häufiger bald seltner zu Gehör
gebracht wurde. Und obgleich so notwendigerweise fast ein jeder
dieser Leute eine besondre, von dem andern verschiedene Stellung zum
sozialdemokratischen Programm einnahm und oft das Allerverschiedenste,
ja Konservativste mit unter dasselbe subsummierte, fühlten und
wußten sie sich doch alle als Sozialdemokraten, und manch einer von
ihnen glaubte steif und fest, daß eben seine eignen lückenhaften,
brockenweisen Gedanken gerade diejenigen der Partei, sein eigen
wunderlich Ideal auch das ganze Ideal der Sozialdemokratie sei. Es
ist unter solchen Umständen geradezu unmöglich, eine erschöpfende
Darstellung dieser verworrenen, verschiedenartigsten, halb oder nie
zum klaren Ausdruck gebrachten Ansichten zu geben. Ich selbst habe sie
natürlich auch bei weitem gar nicht alle in Erfahrung bringen können
und muß mich darum darauf beschränken, mir besonders frappant gewesene
Züge davon hier wiederzugeben.

In einem sehr wichtigen Gesichtspunkte näherten sie sich zunächst
einander ziemlich alle. Das war in dem Verhältnis zu den letzten
radikalen Zielen des sozialdemokratischen Parteiprogramms.
Ich sage nicht, daß man sie offen verwarf oder ihnen auch nur
konsequent Opposition machte. +Aber bei der Mehrzahl dieser
Durchschnittssozialdemokraten und gerade auch bei den klügern,
nachdenklichen, praktischen, erfahrenen und gereiften Männern unter
ihnen war weder der offizielle demokratische Republikanismus noch
der wirtschaftliche Kommunismus eigentlich recht populär.+ Es
waren dies Größen, für die die meisten dieser Köpfe kein inneres
Verständnis und ebenso viele Herzen keine Begeisterung und Wärme zu
hegen vermochten. Aber man nahm eben auch dies wie so vieles von der
Sozialdemokratie hin als etwas, was nun wohl einmal dazu gehören und
so sein müßte, gleichgiltig es den Führern überlassend, sich mit
diesen unfaßbaren Problemen herumzuschlagen, im stillen vielfach davon
überzeugt, jedenfalls aber darauf gefaßt, daß diese Prophezeiungen
niemals in Erfüllung gehen würden. So sagte mir einmal ein ziemlich gut
gestellter, kinderloser, darum sorgenlos lebender Bohrer, ein schon
älterer, gutmütiger, höflicher Mann, aber ein begeisterter Anhänger der
Sozialdemokratie, genau wörtlich: „So wie Bebel die Sache in Zukunft
haben will, wird es doch niemals kommen. Er hat sich schon geändert
und wird sich auch weiter noch mehr ändern.“ Ein andrer, ebenfalls
sehr kluger, nachdenkender und überzeugter Sozialdemokrat erzählte mir
einmal unter anderm in einem längern Gespräche: „Weißt du, ich lese nie
ein sozialdemokratisches Buch und selten eine Zeitung. Früher habe ich
mich überhaupt nie mit Politik beschäftigt. Aber seit ich verheiratet
bin und fünf tüchtige Fresser im Hause habe, muß ichs thun. +Doch
mache ich mir meine Gedanken für mich.+ Ich bin auch nicht für rote
Schlipse, große runde Hüte und sonstige ähnliche Sachen. Das machts
alles nicht. +Wir wollen auch gar nicht den Reichen und Vornehmen
gleich werden. Reich und arm muß und wird immer sein.+ Das fällt
uns gar nicht ein. Aber wir wollen gerechtere und bessere Ordnung in
der Fabrik und im Staate, und was ich darüber denke, sage ich offen
heraus, wenns auch nicht gefällt. Etwas Ungesetzliches aber thue ich
nicht.“ Überhaupt scheuten sich Klügere und Selbstbewußtere nicht,
auch gegenüber augenblicklichen Fragen ihrer Partei ihre besondre
Stellung auszusprechen. So ein Monteur, der älteste, erfahrenste in
der ganzen Abteilung, der, wie er mir bei einer andern Gelegenheit
auseinandersetzte, ähnlich dem vorher zu Worte gekommenen Kameraden
zur Sozialdemokratie stand, und der durchaus nicht die Verwirklichung
aller ihrer Forderungen erwartete, ja kaum wünschte. Dieser war
über die Haltung der offiziellen Partei zur Frage der Frauen- und
Kinderarbeit, wie viele, nicht sehr erbaut. Bekanntlich drängte die
Parteileitung bis vor kurzen dahin, daß die gesamte sozialdemokratische
Agitation auf deren Beseitigung, und der Arbeiter möglichst auf deren
freiwillige Unterlassung bestand. „Das ist aber Unsinn. Wenn der Mann
genug verdient, läßt er schon von allein Frau und Kinder nicht in der
Fabrik arbeiten. Wird aber das Geld gebraucht, so müssen sie eben wohl
oder übel mitarbeiten; da sollte man denn doch den Verdienst nicht
noch einschränken wollen. Denn das ist falsch, daß man behauptet,
dann würden die Löhne steigen. Ein bißchen vielleicht, aber viel
nicht. Sollte wirklich ein Ersatz geschaffen werden, dann müßten sie
im Durchschnitt verdoppelt werden; dann brauchte allerdings keiner
mehr seine Frau oder sein Kind arbeiten lassen. Aber wer kann das den
Fabrikanten zumuten? Ich glaube gar nicht, daß sie das, selbst wenn sie
es wollten, leisten könnten.“ Es kommt in diesen Meinungsäußerungen
nicht darauf an, ob sie sachlich und wirtschaftlich richtig oder
falsch sind -- bei der eben angeführten z. B. müßte man doch das
letztere behaupten --, sondern darauf, zu beweisen, daß +geistig
begabte, gewandte und überlegende Arbeiter, so sehr sie sich im
allgemeinen mit der sozialdemokratischen Partei verbunden wissen,
doch eigne Ansichten nicht nur bewahren, sondern sie auch unter den
Genossen ruhig auszusprechen sich nicht schämen und jedenfalls mit
ganz andern Fragen sich innerlich auseinanderzusetzen das Bedürfnis
haben, als mit den Phrasen von einer republikanisch-kommunistischen
Gesellschaftsordnung+.

+Vielmehr beschäftigen diese große, breite Gruppe der besten Arbeiter
am stärksten die augenblicklichen+ und -- für Höherangelegte und
Weiterausschauende -- auch die ferner und prinzipieller liegenden
Fragen des eignen Wirtschaftsbetriebes, den sie kennen und verstehn,
an dem sie unmittelbar beteiligt sind, in dem sie Erfahrung und
Urteil besitzen. So ließ manchen schon die so ganz harmlose Frage der
vierzehntägigen Lohnauszahlung nicht in Ruhe. Sie wünschten dringend
eine achttägige Lohnperiode. Ich meinte da, das sei doch gleichgiltig,
aber da kam ich nicht gut an. Die Bedürfnisse für acht Tage könnte man
übersehen, das Geld so lange zusammenhalten und richtig und gleichmäßig
verteilen. Das sei bei vierzehntägiger Löhnung nicht gut möglich.
Größere Ausgaben, die notwendig dazwischen kämen, nähmen da zu viel
weg, und am Ende der vierzehn Tage ginge es dann immer knapp genug her,
oder man lebte auf Borg. Das waren nun zwar keine ausschlaggebenden
Gründe, wohl aber leider ein weiterer Beweis für die schon bemerkte
hauswirtschaftliche Unfähigkeit unsrer Arbeiterschaft. Wieder für
andre war das Problem einer gerechteren Bezahlung Kern und Stern ihrer
politischen und sozialen Anschauungen. Mit Fug und Recht. Ich habe
schon in einem frühern Kapitel diese Sache gestreift. Es ist Thatsache,
die viel beklagt wurde und mir immer wieder auffiel, daß in der Wertung
und Löhnung der einzelnen Berufskategorien und innerhalb deren wieder
der einzelnen Arbeiter kaum eine gerechte Ordnung herrscht. Es ist das
meines Erachtens ebenso wie jene totale Vernachlässigung einer Regelung
des Verhältnisses und der Kompetenzen der subalternen Vorgesetzten zu
ihren unterstellten Arbeitern auf jenes verhängnisvolle wirtschaftliche
Prinzip des Gehenlassens und der Verachtung der menschlichen
Persönlichkeit zurückzuführen, das es in seinem absolutistischen
Dünkel gar nicht der Mühe wert hält, gar nicht als eine sittliche
Pflicht auch nur ahnen und verstehn läßt, daß hier Ordnung sein muß,
widrigenfalls hier eine Quelle dauernder größter Unzufriedenheit
sprudelt. So war es Sitte, daß die Schlosser und Schmiede, also
gelernte Leute, für ihre mühsame, schwere, oft knaupliche und viel
Intelligenz erfordernde Arbeit im Durchschnitt viel geringer gelohnt
waren als eine große Anzahl an der Maschine arbeitender Bohrer, Dreher,
Hobler und Stoßer. Und wieder unter diesen hatten, wie schon gesagt,
gerade die an den großen Drehbänken, Bohr-, Hobel- und Stoßmaschinen
mühelos beschäftigten einen unverhältnismäßig höhern Lohn als die
zu unausgesetzter Aufmerksamkeit gezwungenen Arbeiter an denselben
Maschinen kleinen und kleinsten Kalibers, von den Handarbeitern gar
nicht zu reden. Diese Mißstände zu beseitigen war mancher unsrer
Sozialdemokraten dringendste Forderung. Sie verlangten hier gerechtere
Berücksichtigung und dann mit einer ganzen Reihe von Arbeitsgenossen
steigenden Lohn mit der wachsenden Anzahl der Jahre, währenddem man
in ein und demselben Betriebe beschäftigt war, wenn möglich auch eine
gewisse Avancementsfähigkeit, so vom Handarbeiter zum Arbeiter an
einer kleinen, allmählich zu solchem an einer größern und auch ganz
großen Maschine, die auch heute schon von keinen darauf gelernten
Leuten bedient wurden. Ansätze zu einer solchen Avancementsskala waren
freilich bei uns, aber auch wohl nur unbeabsichtigt vorhanden. Ich
persönlich würde nicht so leicht begreifen, warum unsre Arbeitgeber
-- ich vermute, es ist anderwärts auch so -- gerade diese Wünsche
ihrer Leute bis heute so total ignoriert haben, wenn es nicht eben
Thatsache wäre, daß sie von der Erfüllung sittlicher Pflichten keine
blasse Ahnung haben. Und doch läge das in ihrem eigensten Interesse.
Es kostete ihnen kaum eine nennenswerte Summe -- worauf für sie
doch so viel anzukommen pflegt -- und ermöglichte ihnen, einen viel
größern und viel seßhaftern, damit auch konservativern Arbeiterstamm
heranzuziehen. Noch andre unsrer Arbeitsgenossen spannen nun freilich
die Gedanken über Fragen +unsers+ Betriebes über diese hinaus bis
zu allgemeinen wirtschaftlichen Problemen der Art, wie sie allerdings
die Sozialdemokratie ihnen vorformulierte. Dabei kamen ihnen dann
jene früher geschilderten Erscheinungen zu Hilfe, die ihrer scharfen
Beobachtung nicht entgingen, z. B. daß der ganze ihnen sichtbare
Betrieb durchaus gesellschaftlich, sozialistisch gebildet war, in
der Form der gemeinsamen Produktion einzelner kunstvoller Ganzen
sowohl, wie in der Art des gegenseitigen Verkehrs unter sich und mit
ihren nächsten Vorgesetzten bei dieser Arbeit. Dazu verhalf weiter
die Thatsache, daß die eigentliche Gesamtleitung, die Thätigkeit des
kaufmännischen Zweiges eines solchen großen Etablissements sowie der
gesamten technischen Abteilung der Ingenieure und Zeichner sich fast
vollständig ihren Augen entzog, sodaß diese einfachen Menschen umso
leichter zu der irrigen Ansicht kommen konnten, daß eben +ihre+
Arbeit die eigentliche, die hauptsächliche, die Arbeit überhaupt
sei, daß eben +sie+ die Maschinen bauten, sie die eigentlichen
Schöpfer und Macher seien, sie, diese Arbeiterschaft, die Fabrik
repräsentierten. Aber auch sie, die so ihre grübelnden Gedanken und
Träume selbstbewußt und stolz oft weit hinaus in verschwimmende Ferne
spannten, thaten auch das doch ohne rechtes Versenken in die eigentlich
kommunistischen Prinzipien, ohne eigentlich klares Verständnis
ihres Wesens und ihrer Konsequenzen und fast immer auch ohne jene
erbärmliche, vaterlandslose, +politische+ Gesinnung der Führer
und Elitesozialdemokraten, deren Humanitätsduselei zum schwächlichsten
Kosmopolitismus und damit zur Verkennung und Proskribierung alles
wahrhaft Patriotischen und +patriotisch Notwendigen+ verführt.

Ich glaube es nachdrücklich wiederholen zu können, daß eben von dieser
letzten schlimmern Sorte von Sozialdemokratismus unter der Masse dieser
Durchschnittssozialdemokraten, auch der strebsamen, überzeugtern unter
ihnen, nur erst noch sehr wenig als wirklicher Bestandteil innerster
Überzeugung vorhanden, und daß vielmehr z. B. dem deutschen Vaterlande,
dem Kaiser und dem Heere gegenüber eine überraschend freundliche
Gesinnung unter ihnen lebendig war. So schwer, ja unmöglich es für mich
auch in diesem Falle war, bei der Verworrenheit und Unklarheit der
Meinungen dieser Leute ein geschlossenes Gesamtbild davon zu gewinnen,
so glaube ich doch gerade über ihre Stellung zum Militär, zum Kaiser
und zum Könige von Sachsen, zur Revolution, endlich auch zu Bismarck
ziemlich vollständige und richtige Angaben im folgenden machen zu
können, für die ich die Bürgschaft übernehme.

Über das +Militär+ habe ich mich nach meinen Notizen wohl
fast zwanzigmal in der verschiedensten Richtung hin zufällig oder
absichtlich, länger oder kürzer und mit den allerverschiedensten
Leuten unterhalten. So schon in der Herberge. Da war ein mir etwa
gleichaltriger Steinmetzgeselle mein besondrer Intimus geworden.
Auch er war natürlich Sozialdemokrat von der geschilderten üblichen
Durchschnittssorte; er hatte dabei ein seelengutes Gemüt ohne jede
Verbitterung, und hatte noch manches von früherer Zeit in seiner
Gesinnung bewahrt. Er hatte in einem thüringischen Bataillon, in der
Residenz eines der kleinen Fürsten, gestanden. Davon und von den
Paraden, die er mitgemacht, den Offizieren, die ihn befehligt hatten,
erzählte er mir auf unsrer gemeinsamen Wanderschaft mit besondrer
Vorliebe. Vor allem hatte es ihm imponiert, daß sein eigner Fürst,
dienstlich im Range geringer, dem alten Generalfeldmarschall von
Blumenthal die Honneurs gemacht hätte, als dieser einst die Garnison
inspizierte. Blumenthal war überhaupt sein Ideal. Ihn schilderte er in
besonders lichten Farben und mit großer Begeisterung. Für glänzende
Uniformen und schöne prächtige Offiziere schien er ein besonders
empfängliches Auge zu haben.

Auch in der Fabrik dachte ein jeder gern an seine Dienstzeit zurück.
Wenn wir zusammenstanden, und das Gespräch durch irgend etwas darauf
kam, fing man bald Feuer dafür. Dann erzählte man mit Genugthuung
von den Strapazen des Dienstes, den heißen Sommertagen auf den
Exerzierplätzen und den kalten Winternächten auf Posten. Und mancher
war auf sein Regiment besonders stolz. Und doch waren es allesamt
Sozialdemokraten, alte und junge, die so redeten. Von den letztern
hatten wir einen, einen kleinen, hübschen, netten, 18jährigen
strebsamen Schlosser, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, als
Vierjährig-Freiwilliger bei der reitenden Artillerie in Riesa
einzutreten. Er ging von seinem Plan auch nicht ab, so sehr sich ein
älterer, übrigens wohlmeinender Genosse unsrer Handarbeiterkolonne,
oft und meines Erachtens mit Recht bemühte, ihm ihn auszureden und
die Schattenseiten eines vierjährigen Militärlebens zu schildern.
Dann gabs auch eine Anzahl bereits ausgehobener Rekruten, die im
Herbste einzutreffen hatten. Auch ein Österreicher war darunter.
Sie alle, besonders der letztere, warteten wie Kinder mit freudiger
Ungeduld und doch natürlich mit einigem Bangen auf den Termin ihrer
Einberufung, auch von ihnen ein jeder stolz auf sein Grenadier- oder
Gardereiterregiment, zu dem er ausgehoben war. Der Österreicher
nahm sichtlich schon eine immer strammere militärische Haltung an
und grüßte gar nicht anders mehr als durch Anlegen der Hand an
die Mütze, ganz nach militärischer Art. Auch sie waren mehr oder
weniger alle „sozialsch,“ wie es einmal einer sehr geschmackvoll
und gewandt ausdrückte. Ja eben der künftige Gardereiter, ein
ziemlich leichtsinniges Bürschchen, war es gewesen, der mir das
schon oben zitierte famose Wort gesagt hatte. „Bei uns ist alles
sozialdemokratisch, selber die Maschinen.“ Dann traf ich einen
sogenannten Zehnwöchentlichen unter uns, also einen Ersatzreservisten.
Auch er sollte in weniger als vier Wochen eintreffen. Und auch er
hatte dafür -- ich sprach mehrmals mit ihm -- nichts andres als nur
Worte einer gewissen stillen und stolzen Genugthuung. Er that sich
etwas darauf zu gute, daß er jetzt sparen mußte, um während der zehn
Wochen Militärzeit etwas zum Zusetzen zu haben! Einmal stand ich mit
etwa fünf andern Sozialdemokraten zusammen. Auch da kam das Gespräch
auf das Militär und vor allem auf die Manöver in der Chemnitzer
Gegend. Und auch da war es nur der Anstoß zu einer Menge hübscher
Manövergeschichten, die einzelne von ihnen meist als Zuschauer und als
Quartierleute zu ihrer Freude mit erlebt hatten. Dann war unter den
Handarbeitern unsrer Fabrik ein früherer Schneider, der in Dresden
bei der Artillerie gestanden hatte und diese Dresdner Zeit mehrmals
als die schönste und lustigste seines Lebens bezeichnete. Als ich
ihn einmal auf dem Krankenbette abends besuchte, ließ er sich von
seiner Frau seine eigne und seiner Kameraden Photographien sowie das
ganze Batteriebild herbeiholen, um sie mir mit sichtlicher Freude und
unter genauer Schilderung des Lebensganges eines jeden abgebildeten
Vaterlandsverteidigers vorzuführen. Dann erklärten mir wieder einmal
bei der Arbeit zwei Packer, alte, wetterfeste, knorrige Leute, die viel
derbe Späße im Kopfe hatten und leidlich genießbar waren, wenn man sie
zu nehmen wußte, mit besonderm Nachdruck: „Wir sind mit Leib und Seele
Soldat und werden es bis an unsern Tod bleiben.“ Und dasselbe könnte
ich noch von einer Reihe andrer berichten, die beim Frühstück und auch
einmal eines Abends in der Kneipe ganz ähnlich von ihrer Soldatenschaft
redeten. Selbst jener ganz heruntergekommene Schlosser, der nur acht
Tage bei uns blieb, sich gleich am ersten Tage hatte Vorschuß geben
lassen und, freilich ohne Glück, uns alle anzuborgen versuchte, und
der sich als ein Regimentskamerad von mir entpuppte, unterhielt sich
mit ganzem Herzen über die uns gemeinsam bekannten Offiziere im
Regiment, über die Kaserne und allerhand andre Wichtigkeiten. Freilich
-- einzelne räsonnierten ja auch manchmal über ihre Offiziere, die sie
allzu scharf angefaßt hatten. Ein junger sozialdemokratischer Schlosser
kannte auch die bekannte Abelsche Broschüre und sagte, er stimmte ihr
zu: aber auch bei ihm und denen, die sich manchmal über ihre Offiziere
beklagten, war das mehr persönlicher Groll und galt eben -- nach dem
ganzen Eindruck, den ich davon hatte -- mehr nur diesen Personen und
einzelnen Vorfällen als der gesamten Einrichtung.

Einmal unterhielten sich auch zwei über die sozialdemokratische
Forderung der Abschaffung des stehenden Heeres. Der eine, selbst
nicht Soldat gewesen, vertrat sie, aber mäßigte sie dahin, daß das
natürlich nicht sofort und auf einmal möglich wäre. Vielmehr könnte
das nur ganz allmählich vor sich gehen. Der andre bestritt das und
erklärte die eventuelle Auflösung der Regimenter und die Entlassung
der Hunderttausende junger, frischer Arbeitskräfte für einen Ruin der
gesamten Arbeiterbevölkerung. Dann würde die industrielle Reservearmee
ins ungeheure anschwellen, die Löhne ganz gewaltig sinken, und wir
Arbeiter allesamt hungern müssen.

Eine ganz wunderliche Vorstellung traf ich bei zwei andern
Sozialdemokraten, von denen nur einer unsrer Fabrik angehörte. Es war
das bei dem Kinderfeste auf der Jagdschenke bei Siegmar. Sie redeten
von Streiks. Da sagte der mir Unbekannte plötzlich: „Ja, wenn erst die
Offiziere streiken werden. Es fängt schon an, zu gären. Nur darum hat
die Regierung auch neuerdings ihre Gehälter verbessern wollen, um sie
zufrieden zu machen. Übrigens, setzte er hinzu, geht es schon los, in
England, Spanien u. s. w.“

Eigentliche Erbitterung gegen das Militär habe ich nur einmal beim
Mittagessen in unsrer Kneipe an einem finstern wortkargen Burschen mit
einem fanatischen Jesuitengesichte angetroffen. Dieser las einem andern
einen Militärartikel aus einem Blatte vor. Darin wurde der Hauptmann
der Vater, der Feldwebel die Mutter der Kompagnie genannt. Das brachte
den Mann sehr in Aufregung, und er erging sich denn da in nicht allzu
schmeichelhaften Ausdrücken über die in der That ja manchmal höchst
problematische Vater- und Muttertreue der beiden Herren. Aber das war
eben auch einer der rabiaten „Elitesozialdemokraten,“ von dem keine
andre Meinung zu erwarten war. Sonst jedoch fand ich, wie gesagt, immer
nur freundliche Gesinnungen.

Eine besondre Vorliebe für das Militär äußerte sich natürlich bei
denen unter uns, die den Feldzug in Frankreich mitgemacht hatten. Ich
habe von ihnen drei in treuer Erinnerung, einen Ulanen, einen Jäger
und einen Infanteristen. Alle drei erzählten mit Stolz von jenem
Jahr in Frankreich mit der ganzen epischen Breite, Komik, Derbheit
und Natürlichkeit, die alle solche Schilderungen im Munde von Leuten
aus dem Volke so originell und reizvoll machen. Der eine, der Jäger,
ein Bohrer, hätte so gern der damals gerade in Aussicht stehenden
Zusammenkunft der alten Kameraden von den sächsischen Jägern und
Schützen in Meißen beigewohnt -- aber an die Ausführung dieses Wunsches
war natürlich bei seinem Verdienst von 27 oder 29 Pfennigen die Stunde
-- und dem Rudel Kinder, das er hatte, kein Gedanke. Endlich möchte
ich doch auch erwähnen, was mir nicht ganz unwichtig scheint, daß mir
die Militär- und Soldatenbilder und Bildchen oft primitivster Art, und
manchmal im allerdürftigsten Farbendrucke ausgeführt, auffielen, die
vielfach an den Arbeitskästen neben dem Arbeitsplatze der einzelnen
Leute angeklebt waren. Auch das scheint mir ein deutliches Zeugnis
für die Vorliebe zu sein, die man nach meinem Urteil auch heute noch
trotz mehr denn zwanzigjähriger sozialdemokratischer Agitation unter
der Arbeiterbevölkerung eines großen deutschen Industrieortes für das
deutsche Volksheer hegte.

Ich führe diese erfreuliche Erscheinung nun allerdings weniger auf den
idealen Gedanken zurück, daß man auch in dieser Bevölkerungsschicht
wie im Adel und einigen Bürgerkreisen stolz ist, dem Könige im
Heere dienen zu dürfen, sondern vielmehr auf die Freude des Volkes
an dem bunten Rock und dem militärischen Glanz und Gepränge, auf das
frische, freie, heitre, sorgenlose Leben, das der vollkräftigen,
lebenslustigen Arbeiterjugend in dieser Zeit wie meist niemals wieder
nachher beschieden ist, und auf die nicht minder wichtige Thatsache,
daß diese Militärzeit für den Fabrikarbeiter die längste, völligste
und glänzendste Abwechslung in dem öden Einerlei seines Fabriklebens
ist. Daraus erkläre ich mir auch die auffällige Erscheinung, daß man
sich allerseits doch auch (wenn nicht ganz armselige Verhältnisse
und allzugroße Not in der Familie herrschen) verhältnismäßig gern
und willig an den Reserveübungen beteiligt, weil man dabei die
Erinnerung an die alte schöne Zeit für kurze Wochen wieder einmal
gemeinsam auffrischt. Und diese Erscheinung gewinnt noch an moralischem
Schwergewicht, wenn man daran denkt, daß für solche Leute aus dem
Arbeiterstande die Reserveübungen bisher ja mit einem gänzlichen
Ausfall an Verdienst für die Familien und darum mit viel größern Opfern
fürs Vaterland verbunden sind, als die jährlichen achtwöchigen Übungen
für Söhne wohlhabender Eltern, die Reserveoffiziere sind oder es werden
wollen.

Auch über die Militärvereine wurde zweimal in der Fabrik von meinen
Arbeitsgenossen gesprochen, beide male in einer höchst interessanten
und mitteilenswerten Weise. Es handelte sich um die Frage, ob
Sozialdemokraten Mitglieder eines Militärvereins sein dürfen; und
es zeigte sich hierbei, daß drei ganz verschiedne Meinungen unter
den Arbeitsgenossen vorhanden waren, die sich schroff gegenüber
standen. Die einen behaupteten, man müßte unter allen Umständen
ehrlich und charakterfest sein. Es stünde fest, daß die Militärvereine
offiziell jeden sozialdemokratischen Kameraden auszuschließen
verpflichtet wären. So sollte jeder Genosse auch so stolz sein
und von selbst aus diesen Vereinen austreten, besser überhaupt
niemals in sie eintreten, um keinen Betrug zu begehen und nicht
doch schließlich hinausgeworfen zu werden. Zwei andre, die selbst
nie Soldaten gewesen waren, bestritten diese Ansicht lebhaft und
vertraten die gegenteilige: „Jeder Sozialdemokrat, der gedient hat,
hat die Pflicht, in den Verein einzutreten und es dahin zu bringen,
daß sie allmählich ganz zu sozialdemokratischen Vereinen und auch
die bisher anders gesinnten Kameraden Sozialdemokraten werden.“
Diese beiden, jüngere Männer voll Initiative, hatten dabei wohl den
Militärverein unsers Vororts im Auge, dessen Mitglieder allerdings
zur Mehrzahl aus erklärten Sozialdemokraten bestanden, der dies
bei irgend einer Gelegenheit auch offen bekannt und daraufhin die
Zugehörigkeit zum sächsischen Militärvereinsbunde und das Recht, das
königliche Wappen in seiner Fahne zu führen, verloren hatte. Zum
größten Bedauern und zur Mißbilligung der dritten Gruppe bei jenen
beiden Gesprächen, die, schon ältere Leute, eine mehr vermittelnde
Anschauung, doch auch nachdrücklich und gegensätzlich genug den
zwei andern gegenüber vertrat. Sie meinten, die Sache sei so: „Wir
sind Soldaten und Sozialdemokraten, beides mit Leib und Seele. Die
Militärvereine sind Soldaten- und zugleich Unterstützungsvereine,
vornehmlich mit das letztere; und wir haben lange Jahre auch mit in
ihre Kasse gesteuert. Wir haben also ein Anrecht an dem Genuß ihrer
Vorteile. Schon deshalb dürfen wir in den Vereinen bleiben. Aber
da deren Satzungen die politische Gesinnung der Sozialdemokratie
ausschließen, so wäre es Blödsinn und Tollkühnheit, sie in den Vereinen
zu äußern oder gar Propaganda dafür zu machen. Man behält sie dort
besser für sich und redet nicht davon.“ In beiden Gesprächen kam es
zu keiner Einigung und Annäherung dieser drei Anschauungen. Jede
Gruppe bestand auf der Richtigkeit der ihrigen und erklärte die zwei
andern für durchaus falsch. Jedenfalls zeigt auch diese Thatsache
die Verschiedenheit der treibenden innersten Prinzipien in der
politischen Gesinnung dieser Durchschnittssozialdemokraten. Bei den
ersten entscheidet der Idealismus und fordert offnes Visier und streng
reinliche Trennung; bei den zweiten drängt der Gedanke der Agitation
und Propaganda zu kühnem Wagen; bei den dritten kämpft das von der
Partei aufgezwungne vaterlandslose Empfinden des Sozialdemokraten
mit der guten vaterländischen Gesinnung des alten Soldaten, und
Nützlichkeitsrücksichten bestärken noch mehr die dadurch erzeugte
Unentschiedenheit der Stellung. Ich glaube, annehmen zu können, daß
diese drei Meinungen auch in weitern Kreisen meiner Fabriksgenossen
vorhanden waren, da sie, wie gesagt, eben damals infolge der Vorgänge
im Militärvereine unsers Ortes gezwungen waren, sich mit dieser Frage
zu beschäftigen. Welche von den Richtungen überwog, konnte ich nicht
erkennen.

Einen meines Erachtens guten Dienst leistete übrigens -- ich darf dies
an dieser Stelle gleich mit erwähnen -- der Turnverein unsers Vorortes.
Er war noch nicht alt und verhältnismäßig stark. Junge Schlosser,
Weber, Arbeiter, aber auch Kaufleute, Expedienten und Schreiber
gehörten ihm an. Auch einen jungen Zeichner, also einen höhern Beamten
aus unsrer Fabrik, traf ich unter den Turnern. Kurz, es waren wohl
fast alle Berufsarten unsers Vorortes in dem Vereine vertreten, und
ebenso die sozialdemokratischen wie die sozialistisch noch nicht oder
nur wenig durchsetzten. Und alle Glieder schienen gute Kameradschaft
zu halten. So war dieser Turnverein ein neutraler Boden, auf dem
die verschiedensten politischen Gesinnungen und Neigungen friedlich
und nach den Satzungen des Vereins unausgesprochen neben einander
hergingen. Es war damit eine Stätte der persönlichen gegenseitigen
Annäherung gebildet über die engherzige Parteigesinnung hinweg. Und
hierin sehe ich die große ethische Bedeutung aller Turnvereine, die in
einer ähnlich wie bei uns zusammengesetzten Bevölkerung nach denselben
Grundsätzen existieren und blühen. Von diesem Gesichtspunkt aus stelle
ich sie auch höher als die Militärvereine, die heute doch in der That
„reichstreue“ Parteivereine und antisozialdemokratische Kampfvereine
geworden sind.

Gleich freundlicher Art sind nun auch die Erfahrungen, die ich über
die Gesinnung dieser Leute gegen den +deutschen Kaiser+ und den
+König von Sachsen+ gemacht habe. Zwar war es hier natürlich
besonders schwierig, einen sichern Einblick zu bekommen. Jedermann
hütete sich vor einer Majestätsbeleidigung, da keiner dem andern recht
traute. Ich glaube auch, daß sich ein nicht ganz geringer Bruchteil wie
zu manchem andern so auch zu Kaiser und Reich durchaus gleichgiltig
verhielt. Sie hegten weder Haß noch Liebe; sie hatten kein Interesse
dafür, häufig auch zu viel mit sich, ihren engen Verhältnissen oder
seichten Vergnügungen zu thun, um daran denken und ihr Herz noch
daran begeistern zu können. Dann waren gewiß auch wieder andre,
die, von der parteikorrekten Gesinnung der Elitesozialdemokraten
auch in dieser Beziehung schon angekränkelt, innerlich zwischen
Zuneigung und Abneigung, Vaterlandsliebe und Vaterlandslosigkeit
noch hin und her schwankten. +Aber für die große Mehrzahl eben der
Durchschnittsanhänger war doch der Kaiser eine durchaus sympathische,
volkstümliche Gestalt.+ Nicht nur, daß man ohne Opposition, ohne
Murren und finstre Mienen billige und freundliche Urteile über ihn
mit anhörte und ihnen zustimmte -- das wäre in diesem Falle noch kein
Beweis für meine Behauptung --, sondern ich habe auch selbst aus dem
Munde der Leute nicht einmal nur das runde Urteil gehört: „Der Kaiser
ist gut und tüchtig.“ Einmal bei einem der Kinderfeste, wo die Leute
also doch ganz unter sich waren und sich nicht genierten, trat diese
Ansicht besonders deutlich zu Tage: „Kaiser Wilhelm hat die besten
Absichten; aber er kann nicht, wie er will. Den halten sie fest und
zwingen ihn nach ihren Plänen. Aber hoffentlich gelingt es ihm noch,
seine eignen Wege zu gehn.“ Dort hörte ich auch um Kaiser Friedrichs
Tod die nicht seltene Klage: „Schade um ihn! Wie ganz anders stünde
alles, wenn er nur fünf Jahre regiert hätte.“ Ein andermal sagte ein
schon ziemlich herabgekommener Fleischergeselle, mit dem ich ein Stück
wanderte: „Kaiser Friedrich hielt auf die Arbeiter mehr als auf alle
andern. Sie haben aber auch recht.“ An Kaiser Friedrich vor allem
glaubt man da unten. Der milde freundliche Hohenzoller ist noch im
Grabe ein Friedensmittler zwischen dem Thron und dem Volk und ein Segen
für beide. Hie und da findet sich auch ein Bild von ihm wie von dem
regierenden Kaiser an den Arbeitsplätzen einzelner Leute angeklebt.
Auch traf ich patriotische Lebensbeschreibungen von Friedrich dem
Dritten sowohl als Wilhelm dem Ersten, freilich in Form der bekannten,
meist so minderwertigen Kolportagegroschenhefte in mehreren Familien
verbreitet, deren Väter wiederum sonst offen mit in das Horn der
sozialdemokratischen Partei stießen. Ich werde an einer spätern Stelle
ein haarsträubendes Gespräch zweier Sozialdemokraten unsrer Fabrik
über Bismarck mitteilen. Auch diese beiden zeigten, so sehr sie
Bismarck fluchten, doch volles Vertrauen zum Kaiser. Als ich bei jener
Unterhaltung meinte, ich glaube nicht, daß der Kaiser, selbst wenn ein
neues Attentat käme, das Sozialistengesetz aufrecht erhalten würde,
stimmten mir beide nachdrücklich zu. Ein andermal verwahrte einer ganz
entschieden die Arbeiter gegen die Anklage der Reichsfeindlichkeit:
„Wir sind nicht gegen die Regierung und den Kaiser, nur gegen ihre
falschen Freunde.“ Und ein andrer Durchschnittssozialdemokrat, mit dem
ich mich besonders häufig über politische Dinge unterhielt, auf dessen
durchdachte Ansichten ich einiges hielt und der, bereits neun Jahre
in unsrer Fabrik, auch die einzelnen Genossen ziemlich genau kannte,
sagte mir einmal ganz offen und ohne dazu aufgefordert zu sein: „Ich
bin im geringsten gar nicht gegen den Kaiser oder gegen unsern König.
Ich habe zwar beide noch nicht gesehn; aber für unsern König ginge
ich durchs Feuer. +Und so wie ich, giebts ihrer unter uns noch satt
(genug).+“ Zu dieser weit verbreiteten freundlichen Gesinnung half
wohl gleichmäßig mit das feste monarchische Bewußtsein, das von alters
her tief im deutschen und sächsischen Volke sitzt, die aufrichtige
reformfreundliche, soziale Gesinnung des Kaisers, von deren Ehrlichkeit
man auch da unten oft wider Willen überzeugt scheint, und schließlich
die nur beschränkte antimonarchische Agitation der Sozialdemokratie,
der man gerade in diesem Punkte die Flügel arg beschnitten hat.
Freilich darf man nicht meinen, daß diese günstige monarchische
Gesinnung auch nur in einem wesentlichen Punkte jener frühern
Unterthänigkeit gleicht, die in tiefster Ehrfurcht, mit Zittern und
Zagen vor Seiner Allmächtigen Majestät erstarb. Willenlos, gedankenlos
geht wohl keiner mehr auch da unten mit durch Dick und Dünn. Aber dafür
ist -- nach meinem Dafürhalten eine viel gewichtigere Thatsache -- doch
in weiten Kreisen jene Achtung vor dem „ersten Diener des Staates“
vorhanden, dessen Daseinsnotwendigkeit anerkannt ist, an dessen
redliche, pflichttreue, volksfreundliche, unparteiische und gerechte
Absichten man glaubt, von dem man aber auch mehr ahnt als weiß, daß er
nicht der allmächtige Herr, sondern ein durch Zwang und Widerstreit der
entgegengesetztesten Interessen vielfach sehr gebundner Herrscher ist.
Ich bin nach alledem davon überzeugt, daß es der sozialdemokratischen
Agitation kaum gelingen dürfte, diese vernünftige Gesinnung des
Volkes zu vernichten, wenn nur der Kaiser wie bisher fortfährt, auch
den Arbeitern und ihren begründeten Forderungen nicht nur gerechte
Billigung zu teil werden zu lassen, sondern ihnen auch, so viel an ihm
ist, Geltung und Erfüllung zu verschaffen.

Im Zusammenhang damit ist es nun auch verständlich, +daß der
weitaus größte Teil meiner Chemnitzer Fabrikgenossen durchaus an
keine gewaltsame blutige Revolution dachte+. Ich habe auch für
diese Thatsache nicht nur den sichern allgemeinen Eindruck als
Beweis, sondern auch zahlreiche direkte und ehrliche Äußerungen
meiner Arbeitsgenossen, die ebenfalls deren Richtigkeit bestätigen.
An jenem aufgeregten Sonntagabend, an dem nach dem Kinderfest unsers
Wahlvereins die heiße Redeschlacht mit dem amerikanisierten Baiern und
seinem Freunde, dem Brauereidirektor, geschlagen wurde, an dem ein
sozialdemokratisches Lied auf das andre gesungen wurde, und wirklich
Herz und Mund den Leuten auf- und übergingen, erklärten mir mehrere:
„Wir Arbeiter +wollen+ keine Revolution. Wir sind viel zu gebildet
dazu. Wir wollen auf friedlichem Wege unser Ziel erreichen; jetzt schon
so viel als möglich, und unsre Nachkommen den Rest.“ Und das waren ein
paar jüngere Leute. In der Fabrik sagte mir gleich im Anfang meiner
Arbeiterlaufbahn ein andrer: „Es fällt uns gar nicht ein, Revolutionäre
zu sein; hier in Chemnitz und Umgegend denkt wenigstens niemand
daran.“ Und später einer: „Daß die Arbeiter Revolution machen wollen,
glauben die oben im Ernst doch selber nicht.“ Und einer der beiden
schon genannten strammsozialdemokratisch-rabiaten Bismarckhasser sagte
eben da, als wir von der Aufhebung des Sozialistengesetzes redeten.
„Der Kaiser hat gesehn, daß alles auch ohne das Sozialistengesetz in
Ruhe und Ordnung weitergeht. Revolution kommt schließlich nur, wenn
man unsre Sache gewaltsam unterdrückt.“ Ebenso ein sehr erfahrener,
selbständiger, schon mehrmals genannter Monteur. „Wir wären doch selbst
die größten Dummhute, wenn wir Revolution machen und die Fabriken
zerstören wollten. Das wäre albern und schadete uns selber am meisten.“
Dann einer der vordern in der Chemnitzer Weberbewegung, ein kraftvoller
Mensch und ausgezeichneter Turner: „Die Großen wünschen, daß wir
Revolution machen; aber wir werden ihnen unter keinen Umständen den
Gefallen thun.“ Und endlich sagte einmal in einer geschlossenen Sitzung
der Vorsitzende mit großem Nachdruck und unter aller schweigender
Zustimmung: „Wir im Fachverein wollen keine Umstürzler sein, sondern
vielmehr ein gutes Beispiel geben und nur die Besserung der Lage
unsers Standes anstreben.“ Nur ein einziges mal traf ich auf einen
Ausspruch, den man auch anders auslegen könnte: „Die großen Herren
sollten uns mit mehr Liebe entgegenkommen. Dann wäre all der Haß und
Streit nicht. Wenn sie das aber durchaus nicht wollen, so gehts uns
schließlich wie dem, der Hunger hat und nichts zu essen kriegt: er
maust sich, was er braucht.“

Ich meine, die Fülle dieser verschiedenen ausdrücklichen Zeugnisse,
die fast alle gerade von ziemlich selbstgewissen Sozialdemokraten
stammen, können genügen, um meine mir unerschütterlich feststehende
Behauptung zu erhärten: der Chemnitzer Fabrikarbeiter, mit dem ich
zusammen gearbeitet habe, sträubt sich heute noch mit Händen und
Füßen gegen den Gedanken einer blutigen Revolution. Zwar weiß er
genau, daß eine durchgreifende Besserung seiner Lage, die ein jeder
von ihnen erwünscht, erstrebt, erwartet, +ohne Kampf+ eine
Unmöglichkeit ist. Dazu kennt und erfährt er selbst, wie gesagt,
zu oft den heute unüberbrückbaren Interessengegensatz zwischen
ihm und dem Unternehmertum. Aber er sieht ihn heute noch als eine
Naturnotwendigkeit und nur im gegebnen Falle auch als Schuld
seines Arbeitgebers an. Er hält darum auch dessen Person und Sache
durchschnittlich auseinander und will auch seinerseits nicht einen
Kampf roher Gewalt, sondern die zwar mannhafte und unnachgiebige,
aber gesetzmäßige Auseinandersetzung zweier organisierter Parteien
in einem parlamentarisch freien Staate. Nicht die Zahl der Fäuste
soll entscheiden, sondern die Zahl der Stimmen und die Macht der
Wahrheit. Gleichwohl leugne ich die +Gefahr+ einer Revolution
keinen Augenblick. +Sie liegt aber nicht in der Absicht, in
den augenblicklichen politischen und sozialen Gesinnungen der
Leute, sondern einmal in der immerhin möglichen Unterlassung oder
Verschleppung einer grundlegenden Sozialreform, und dann vor allem
in der erbärmlichen, neuen Lebensanschauung, die, begünstigt durch
die vorhandene innere Krisis der Kirche und durch unsre verwahrlosten
wirtschaftlichen und sozialen Zustände, sich heute infolge der
sozialdemokratischen Agitation weithin im Volke verbreitet hat.+
Hier allein und nicht in einer, gegebenenfalls übrigens doch
immer nur formalen wirtschaftlichen Schulung der Arbeiter im rein
sozialistischen und kommunistischen Sinne liegt die eigentliche große
Gefahr, der eigentliche verhängnisvolle Erfolg der ganzen bisherigen
Agitation der Partei. Darüber werden die nächsten Kapitel des Weitern
und Breitern zu reden haben.

Im Zusammenhang mit dem eben erörterten Revolutionsgedanken ist nun
auch die fernere Beobachtung, die ich machte, nicht uninteressant,
daß der ihm verwandte Gedanke, die sozialdemokratische Phrase von
der Verbrüderung aller Nationen, bisher in der Praxis noch absolut
keinen fruchtbaren Boden gefunden hatte. Vielmehr gerade das Gegenteil
davon konnte man in Chemnitz täglich studieren, da hier wegen der
Nähe der sächsisch-böhmischen Grenze Hunderte von Tschechen, mit
dem Spitznamen „Seffs“ genannt, meist auf Bauten in Arbeit standen.
Zwischen ihnen und den einheimischen Deutschen herrschte durchgehends
Abneigung und Gleichgiltigkeit. Für viele Arbeiterfamilien waren sie
zwar wertvolle und nicht übelbehandelte Erwerbsobjekte; aber man sah
immer auf sie herunter. Sie hatten auch ihre eignen Tanzböden, die
unsre Leute nicht gern besuchten, weil es da zu roh zuging, und es
gab häufig Schlägereien mit ihnen. In unsrer Fabrik hatten selbst
die Deutsch-Böhmen unter dieser Abneigung gegen ihre Landsleute zu
leiden. Von einer Verbindung zwischen Tschechen und unsern Leuten war
jedenfalls nicht das geringste zu spüren.

Dagegen war es tief betrübend, wenn auch nicht gerade verwunderlich
zu sehen, wie erfolgreich die sozialdemokratische Agitation unter
der +gesamten+ Arbeiterbevölkerung, vom eingefleischtesten bis zum
harmlosesten Sozialdemokraten herab, gegen den Fürsten Bismarck hat
Stimmung machen können. Kein Mann ist mehr, bitterer, glühender gehaßt
da unten als der Gründer des deutschen Reiches. Über ihn herrschte
+eine+ Ansicht, +eine+ Stimme: „Bismarck ist der größte Arbeiterfeind“
und „Bismarck ist ein Betrüger.“ Das sind wörtliche Zitate, die ich
mehr als einmal gehört habe. Einmal standen wir etwa ein halbes
Dutzend Mann zusammen vor einer großen eisernen Wand, in die ich mit
der Handbohrmaschine Löcher zu bohren hatte. Da schrieb einer ganz
plötzlich mit Kreide Bismarcks Namen in großen Buchstaben an die Wand
und gab uns auf zu raten, was das bedeute. Er löste uns das Rätsel dann
selbst. Es bedeutete zwei Sätze; jeder Buchstabe des Bismarckschen
Namens, je von vorn und hinten gelesen, war der Anfangsbuchstabe eines
Wortes in diesen zwei Sätzen. Der eine hieß: „=B=ismarck =I=st =S=einer
=M=ajestät =A=llmächtigster =R=eichs-=K=anzler“ und der andre: „=K=ein
=R=eich =a=rbeitet =m=it =s=o =i=ntelligenten =B=eamten.“ „Ja,“ sagte
ein andrer darauf, „Bismarck hat viel Bildung“. Wieso? fragte ich.
„Bismarck hat die meisten Steuern +gebildet+,“ war die Antwort. In
beiden Fällen wenig Witz, aber viel Haß. Ein andermal stand ich wieder
mit einem andern zusammen. Wir redeten vom ersten Mai, der hinter uns
lag. Der Mann behauptete, daß in unsrer Fabrik damals kein Wort weder
+vor+ noch +nach+ dem „Ersten“ über eine Maifeier gefallen sei. „Und
doch hat man so ernstliche Maßregelungen angedroht; nicht nur von
seiten der Arbeitgeber, sondern auch der Regierung. Aber daran ist
Bismarck schuld; dieser hat das größte Unheil angerichtet. Zwar ist
er nun fort, und das ist gut, aber dafür sind nun seine Anhänger und
Getreuen noch immer sehr mächtig bei der Regierung.“ Noch bezeichnender
war das schon erwähnte Gespräch, das ich wieder zwischen zwei andern
mit anhörte.

    A: „Was wird jetzt Bismarck machen?“

    B: „„Der sitzt gemütlich in Friedrichsruh und stellt vielleicht
    neue Attentate an, wie 1878.““

    A: „Wieso denn?“

    B: „„Nun, das ist doch klar. Weder Nobiling noch Hödel waren
    Sozialdemokraten. Jener war ein Liberaler, dieser ein Stöckerscher.
    Beide waren von Bismarck angestellt, um dann das Sozialistengesetz
    erlassen zu können.““

    Ich: „Und warum sollte er denn jetzt wieder an so etwas denken?“

    B: „„Um zu verhindern, daß das Sozialistengesetz zum ersten Oktober
    endlich aufgehoben wird.““

So thöricht auch dies ganze Gespräch ist -- es ist der höchste Grad
von Mißtrauen, Haß und Verachtung, der aus ihm spricht, und der auch
nicht durch ein einziges andres freundliches Urteil über ihn gemildert
erscheint. --

Aus der breiten Masse der bisher geschilderten
Durchschnittssozialdemokraten hob sich nun meiner Beobachtung noch
eine besonders bedeutsame Gruppe ab, deren Zahl, wie ich zu vermuten
manche gute Gründe habe, heute überall in stetigem Wachsen ist. Es
waren gerade die besonders klugen, praktischen, verständigen, ernsten
und gebildeten Leute, Männer mittlern Alters, die sich auch mit den
weitergehenden sozialdemokratischen wirtschaftlichen und politischen
Problemen nicht ohne Verständnis beschäftigt hatten, und ihnen, wenn
auch mit Kritik, doch teilweise gerade besonders stark huldigten, die
aber trotzdem von der rein politischen Agitationsarbeit der Partei
nichts oder nicht viel hielten und darum, thatenlustig wie sie waren,
sich auf die näher liegende, unmittelbare, praktische Erfolge und mehr
Befriedigung versprechende Arbeit in den Fach- und Gewerkvereinen, in
den Komitees der Kranken- und Unfallversicherungskassen, der freien
Hilfskassen und vor allem auch auf die Thätigkeit innerhalb ihrer
lokalen politischen Gemeinde geworfen hatten; natürlich immer mit
der festen Absicht, diese Arbeit im Sinne der sozialdemokratischen
Grundsätze und selbstverständlich zu Nutzen und Frommen der
sozialdemokratischen, der Arbeiterinteressen zu thun. Aber indem sie
sie thaten, waren sie -- mochten sie noch so sehr sozialdemokratische
Gesinnung dabei durchdrücken wollen -- doch gezwungen, mit realen
Thatsachen zu rechnen, reale Ziele verfolgen zu lernen. Diese realen
Thatsachen und Ziele beginnen zu interessieren; sie treten vor den
problematischen und fern hinausliegenden der Gesamtpartei voran und
erziehen so diese Männer, die dabei meist immer noch überzeugte
Sozialdemokraten bleiben, zu wahrhaft praktischer politischer und
sozialer Thätigkeit. Damit ist aber ein wirksames Gegengewicht zu
den Träumereien und Utopienjagden geschaffen, denen sie früher
ausschließlich nachhingen und nachgingen, wenn sie ihren politischen
Menschen anzogen; dadurch wird hoffentlich auch mit die Gefahr
vermieden, daß die Sozialdemokratie zu einer kindlichen, nie wirkliche
Reformen erzwingenden Schattenpartei wird und sich lächerlich macht.

Diese Erfahrung, die ich da eben ausführte, und für die ich auch
besonders aus der aufmerksamen Verfolgung der jüngsten Entwicklung der
sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung ausreichende Beweise bringen
könnte, machte ich in besonders klarer und überraschender Weise z. B.
einmal in einer Sitzung unsers sozialdemokratischen Wahlvereins.
Hier trug an diesem Abend der damalige, jetzt auch abgedrückte
Redakteur der Chemnitzer sozialdemokratischen „Presse,“ wie ich glaube
eine ehrliche Seele, über die damals noch nicht in Kraft getretene
Alters- und Invaliditätsversicherung vor, zunächst hauptsächlich zur
Orientierung der Genossen. Es war eine im großen und ganzen durchaus
sachlich gehaltene Rede. Sie gipfelte in der doppelten Behauptung, daß
das neue Gesetz in der That vielfach noch mangelhaft sei, und daß es
jedenfalls nicht die durchgreifende Hilfe für die Arbeiterschaft und
die Lösung der sozialen Probleme sei, daß man sich aber dennoch nicht
abschrecken lassen dürfte, sondern nun zunächst einmal das Angebotene
annehmen, aber zugleich wacker an der allmählichen Verbesserung dieses
Gesetzes mitarbeiten sollte. Man sollte, so schloß er, endlich einmal
mit dem ganz überflüssigen Räsonnieren und Schnauzen aufhören. Trotz
allem steckte in der Arbeiterversicherung ein guter Kern, den immer
mehr herauszuschälen die Hauptaufgabe wäre. Er gab damit mutvoll
wohl einer Meinung Ausdruck, die vielfach unter den Arbeitsgenossen
verbreitet war, sich aber nur selten und schüchtern ans Tageslicht
wagte, nachdem die offizielle Sozialdemokratie ihr Verdikt über
die heutige Versicherungsgesetzgebung ausgesprochen hat. Denn man
empfindet heute schon dankbar, wenn auch als etwas Selbstverständliches
die bereits deutlich spürbaren Wohlthaten des Gesetzes. Wenn man
irgendwie über sie klagte, so betraf das nach meiner Beobachtung
immer nur einzelne Mängel, wie die dreitägige Karenzzeit zu Anfang
einer jeden Krankheit, oder Mißstände, die sich in der Verwaltung
herausstellten, und an denen oft nur die an ihrer Spitze stehenden
Personen die Schuld hatten. So erzürnte ein Fall, den ich gelegentlich
des Besuches eines meiner erkrankten Arbeitsgenossen erfuhr, ihn und
seine Familie besonders sehr. Es handelte sich da um eine Böhmin, die,
des Deutschen nicht mächtig, bei dieser Familie im vergangnen Sommer
in Schlafstelle gewesen war und auf einem Bau, wie das in Chemnitz
sehr Sitte war, in Arbeit stand. Diese wurde krank. Der herbeigerufene
Arzt aber suchte sie, anstatt sie zu behandeln, schleunigst in ihre
Heimat zu ihren wohlhabenden Eltern abzuschieben. Ihrer Wirtin, die
sie treulich pflegte, fiel das auf, sie spürte der Sache nach, und es
stellte sich heraus, daß die Böhmin sowohl wie eine ganze Reihe ihrer
Arbeitsgenossinnen überhaupt nicht bei der Krankenkasse angemeldet
waren: Bauunternehmer und Krankenkassenarzt hätten, wie meine
Gewährsmännin, die ich übrigens nicht auf die Wahrheit ihrer Erzählung
kontrollieren konnte, behauptete, in gleicher Weise Schuld und --
Profit daran. In der Fabrik gingen die Wahlen der Vertrauensmänner für
die Ausschüsse der Kassen in der ruhigsten, geräuschlosesten, in kaum
bemerkbarer Weise vor sich. Ein Anschlag machte z. B. die Notwendigkeit
einer solchen Ersatzwahl für eine bestimmte Berufskategorie eines Tages
am Thore unsers Fabrikgebäudes bekannt, und an dem dafür bestimmten
Termin ging mitten in der Arbeit ein großer hölzerner, verschlossener,
mit einem Spalt versehener ziemlich primitiver Kasten unter den
Beteiligten von Mann zu Mann; in einer halben Stunde war das ganze
Wahlgeschäft beendigt, der Kasten im Beisein von Arbeiterkommissaren
geöffnet, und am folgenden Tage das Resultat ebenfalls durch Anschlag
an derselben Stelle bekannt gemacht.

Genau dieselbe freundliche Gesinnung zu den Versicherungsgesetzen kam
nun auch in jener Sitzung unsers Wahlvereins unter den zahlreichen
Anwesenden zum erfreulichen Ausdruck. Zwar -- ich wiederhole das
nachdrücklich -- fehlten auch gegnerische Stimmen, die sich ganz in
den offiziellen Urteilen der sozialdemokratischen Fraktion über die
Gesetze ergingen, nicht. Aber die Meinung des Vortragenden war doch
auch diejenige der Majorität. Die ganze lange Debatte spitzte sich
schließlich zu einer hartnäckigen Kontroverse zwischen diesem und
seinen Gesinnungsgenossen einerseits und den wenigen Verfechtern
der Sache der sozialdemokratisch geleiteten freien Hilfskassen
andrerseits zu. Unter diesen befand sich einer, der sie besonders
deshalb so eifrig verteidigte, weil er nach seinen Erfahrungen in
einem kleinen erzgebirgischen Industrieorte meinte, daß in den
offiziellen Kassen sich die gewählten Arbeitervertreter in devoter
schweigender Abhängigkeit von den mit im Komitee sitzenden Arbeitgebern
befänden und sich von diesen als stummes Stimmvieh widerspruchslos
zu deren Gunsten und Vorteil mißbrauchen ließen. Dem widersprachen
nun besonders die in solchen gemischten Kommissionen oft schon sehr
lange, seit dem Inkrafttreten der Gesetze sitzenden Genossen mit aller
Entschiedenheit. Sie nahmen für sich die Anerkennung dafür in Anspruch,
daß sie sich thatsächlich niemals hätten in der oben angegebnen Weise
mißbrauchen lassen, vielmehr, wo immer es möglich und nötig gewesen
sei, aufs energischste und in echt sozialdemokratischer Gesinnung
und Mannhaftigkeit die Interessen ihrer Leute wahrgenommen hätten.
Und immer mit gutem Erfolge. „Wenn man in Streitfällen den mit uns
zusammensitzenden Arbeitgebern nur ordentlich mit Gründen kommt, dann
haben sie meist Einsicht und gehen +mit+ uns, +gegen+ ihre
eignen Kollegen.“ „Ja es ist,“ so führt ein besonders gewandter und,
wie es schien, hierin viel erfahrener, ungemein kluger Redner aus, „es
ist vorgekommen, daß +wir+ gegen Zubilligung von Schadenersatz bei
Unfällen, die Arbeitgeber +für+ einen solchen gestimmt haben. Aber
freilich, man muß überlegen, muß immer sachlich bleiben und gerecht und
billig urteilen. Dann aber thun es jene, wenigstens viele von ihnen
auch. Und dann sind die Gesetze eine Wohlthat, und es kann viel mit
ihnen, viel mehr als durch die freien Hilfskassen erreicht werden.
Trotzdem müssen wir freilich immer mehr an ihnen zu bessern, immer
mehr für uns herauszuschlagen suchen, auch unsre sozialdemokratische
Gesinnung bewahren. Aber das ist auch durchaus möglich. Nur die
offiziellen, nicht die freien Hilfskassen sind, wie nun einmal die
Dinge liegen, lebensfähig und haben die Zukunft; es ist Thorheit, wenn
wir das nicht ausnutzen wollten.“ Und in derselben Weise sekundierten
mehrere andre. Die Debatte wurde so lebhaft und heftig, daß sie noch
gegen zwölf Uhr nicht zu Ende gehen wollte, und daß, als die Sitzung
geschlossen wurde, sie auf dem Nachhausewege zwischen den besonders
stark in sie verwickelt gewesenen wieder aufgenommen wurde und sich an
der Straßenecke, an der ich meine Wohnung hatte, und wo die Streitenden
auseinander gehen mußten, wohl noch eine halbe Stunde lang fortspann.
Das besonders Wertvolle an diesem Erlebnis ist für mich erstens dies,
daß sich hier in der That einmal wieder in einem bestimmten Fall ein
wirkliches Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitern und Arbeitgebern
zeigte, und dann, daß hier Sozialdemokraten um wirklich praktische
Fragen stritten und dafür eintraten. Ich begreife für den letztern
Punkt auch die Verteidiger des Hilfskassenwesens mit ein. Denn indem
diese sich mit der Organisation und Verwaltung solcher Kassen, mit der
zeitweiligen Unterbringung und Sicherstellung ihrer Gelder, mit der
Sorge um das finanzielle Risiko und das Gelingen einer solchen Kasse
eingehend beschäftigen, sind auch sie, genau wie jene andern in den
offiziellen Komitees sitzenden Arbeiter, genötigt, ihr ganzes Augenmerk
von utopistischen Phantasien ab und auf wirkliche, ihre Fähigkeiten
zunächst ganz in Anspruch nehmende Aufgaben zu richten -- in meinen
Augen ein ganz eminenter, vielverheißender Fortschritt. Dasselbe gilt
in gleichem, in Zukunft vielleicht noch höherm Maße für die Thätigkeit,
die heute schon einzelne unsers Wahlvereins in der Verwaltung ihrer
Ortsgemeinde, in der sie ansässig waren, entfalteten. Auch hier
traten die sozialdemokratische Gesinnung und die sozialdemokratischen
Ziele, deren Verwirklichung sie, wenn auch je nach ihrem Alter, ihren
Fähigkeiten, ihrer Erfahrung und ihrem Charakter mehr oder weniger
gemäßigt anstrebten, deutlich hervor: aber das ist auch hier das
glückliche, daß sie die harten Thatsachen und die oft in der That,
namentlich in der Kassenverwaltung der Gemeinden vorhandnen großen
Übelstände zwingen, ihre Ideale, Wünsche und Bestrebungen immer nur
in der Arbeit von Fall zu Fall, in gründlicher Einzelthätigkeit,
schrittweise, korrigiert und abgeschliffen an den Ansichten und an
dem Willen andersgesinnter, wenn überhaupt, dann nur teilweise zu
Geltung und Wirksamkeit zu bringen. Endlich ließe sich von demselben
Gesichtspunkte aus ein Ähnliches, vielleicht heute noch nicht so
Überzeugendes, aber doch sehr Hoffnungsvolles von der Arbeit der in der
neuesten Phase der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung stehenden
Arbeiter behaupten. Doch enthalte ich mich hier weiterer Ausführungen,
die ich aus meiner eignen Fabrikarbeiterzeit mit schlagenden Beispielen
zu belegen nicht imstande wäre.

Dieser großen Masse der Durchschnittssozialdemokraten, die ich bisher
zu schildern versucht habe, steht nun schließlich eine letzte,
nicht minder große Gruppe von Arbeitsgenossen gegenüber. +Sie
umfaßt alle diejenigen, die überhaupt keine eigne politische und
soziale Überzeugung haben, sie auch nicht einmal zu gewinnen sich
bemühen, und die sich doch Sozialdemokraten nennen und noch mehr
als solche fühlen und wissen.+ Sie sehn nur sehr selten einmal
in eine sozialdemokratische Zeitung hinein, sie gehn kaum in eine
sozialdemokratische Versammlung, sie suchen nicht sozialdemokratische
Gespräche. Aber sie schwören gleichwohl auf das sozialdemokratische
Programm. Sie sind entweder zu leichtsinnig und genußsüchtig, oder
zu unfähig und gedankenlos, oder zu faul und feige, oder auch -- die
bedauernswertesten -- dauernd zu gedrückt und sorgenvoll, um sich damit
zu beschäftigen. Sie wählen sozialdemokratisch, aber kümmern sich sonst
nicht viel um die Partei, in der sie vor allem den Ausdruck ihrer
Unzufriedenheit sehn. Sie haben von nichts eine klare Vorstellung,
nur ungewisse Wünsche, verbitterte Stimmungen, Sehnsucht, daß es mit
ihrer teils selbstverschuldeten teils unverschuldeten Lage bald anders,
womöglich besser werden möchte. Es sind oft die ärgsten Schreier,
die rohsten Gesellen, die echten verlumpten Proletarier in der
ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Aber es sind ebenso oft stille,
gedrückte, hilf- und haltlose Menschen, harmlose Seelen, die niemand
den kleinen Finger krümmen, denen die hochaufzischenden Wogen der
wirtschaftlichen Stürme rettungslos über dem Kopfe zusammenschlagen. Es
sind unter ihnen Kandidaten für Korrektionshäuser wie für christliche
Arbeitervereine. Und alle Berufsklassen, alle Altersstufen sind auch
unter ihnen vertreten, besonders stark aber doch die Jugend zwischen
dem sechzehnten und zwanzigsten Jahr etwa. +Denn nach allen meinen
Erfahrungen sind die meisten jungen Leute noch ohne nur irgendwie klare
und bewußt gewollte politische und soziale Meinungen, auch ohne die
vermuteten üblichen sozialdemokratischen.+ Das hatte, wenigstens in
der von mir studierten Arbeitergruppe, seinen hauptsächlichsten Grund
in der unbegrenzten Vergnügungssucht der Burschen und in der leichten
Möglichkeit, sie zu befriedigen. Sie bringen die Sonntagnachmittage und
Nächte meist auf den Tanzböden, die Wochenabende ebenfalls so oft als
möglich mit ihren Mädchen oder auf gemeinsamen Spaziergängen, und die
besten von ihnen in Zither-, Feuerwehr- und Turnvereinen zu. Dann haben
sie bei der Arbeit und während der Arbeitspausen meist weder Zeit noch
Lust noch Kraft noch Gelegenheit, sich mit den schwierigen politischen
Dingen zu beschäftigen. Das kommt dann erst meist nach der Heirat,
durch den Ernst und Zwang des Lebens. Die -- nach meinen Beobachtungen
-- +nicht zahlreichen+ jungen unverheirateten Leute aber, die
sich im Gegensatz zu ihren Altersgenossen schon frühzeitig für die
politischen und sozialen Fragen interessieren, thun das dann immer auch
mit dem ganzen Ungestüm und Feuereifer der Jugend und sind, wie schon
gesagt, die besten Handlanger und Knappen der Agitatoren am Orte.

Diese dritte Gruppe hat ein sehr bezeichnendes besonders scharf
und rücksichtslos ausgeprägtes Charakteristikum an sich: +die
stetige Rücksicht auf den persönlichen Vorteil+. Sie pfiffen --
wie es gar nicht anders zu erwarten war --, auch wenn man es ihnen
noch so dringend einpaukte und auf sie moralisch drückte, auf alle
Sozialdemokratie, +wenn sie keinen Nutzen von ihr hatten+.
Gerade bei ihnen versagte immer am ersten die Autorität der
sozialdemokratischen Führer in der Fabrik ihre Wirkung.

Sie teilten nun freilich diese Eigenschaften auch mit einem großen
Teile der Angehörigen der vorhergeschilderten zweiten, ja selbst
der ersten Gruppe der Elitesozialdemokraten. Nur waren bei diesen
Gesinnungstüchtigern die Beweggründe für solche Gesinnungsuntreue
vielleicht etwas gewichtigere, jedenfalls niemals so skrupellos
und niedrig, sondern überlegter, manchmal erst nach langem innern
Kampfe zugestanden. Aber so und so -- in all den kleinen Fragen des
täglichen Betriebes, die während meiner Anwesenheit in der Fabrik
auftauchten, gab doch immer nicht die Rücksicht auf die freilich
diktatorisch starren und rücksichtslosen Grundsätze und Prinzipien der
Partei, nicht die so oft in stürmischen Versammlungen, wo die Wogen
der sozialdemokratischen Begeisterung hochgingen, gelobte Treue die
Entscheidung und den Ausschlag, sondern -- zum Jammer der führenden
sozialdemokratischen Heißsporne -- +die von jedem selbsterprobte
praktische Erfahrung und nüchterne und besonnen abwägende Überlegung,
die nur zu gewisse Kenntnis von den Grenzen ihrer Macht, der Gedanke an
Weib und Kind, ja, auch bei den idealer angelegten und ernstern unter
ihnen, die Rücksicht auf das Wohl und Wehe, das platte, augenblickliche
Interesse+.

Diese Thatsache trat bei einem Falle besonders frappant zu Tage,
bei dem Versuche der Bildung einer ständigen Arbeitervertretung
in unsrer Fabrik. Die Sache ist auch nach andern Seiten hin so
interessant und bei der augenblicklich schwebenden Streitfrage über
die Arbeiterausschüsse so lehrreich, daß ich die ganze Geschichte der
Einführung dieser sogenannten Arbeitervertretung hier ausführlich
darlegen will. Sie scheint freilich kein allzu günstiges Licht auf
unsre Fabrikleiter zu werfen; doch glaube ich trotzdem, daß sie in
diesem Falle ~bona fide~, in aufrichtiger Gesinnung, mit bestem Wissen
und Willen gehandelt haben können.

Eines Tages, ich war noch nicht lange in der Fabrik, erschien plötzlich
ein Anschlag an den Fabrikthoren mit folgendem Inhalt:

„Um bei Fabrikseinrichtungen und sonstigen Anordnungen u. s. w. auch
die Wünsche und Ansichten unsrer Arbeiter kennen zu lernen, wollen wir
eine Arbeitervertretung, aus 6 Personen bestehend, wählen lassen.

Wahlberechtigt sind alle diejenigen, welche das 21. Lebensjahr
überschritten haben.

Die zu wählenden Vertreter müssen mindestens 30 Jahre alt und
mindestens seit 3 Jahren in unsrer Fabrik ununterbrochen beschäftigt
sein.

Die Wahl erfolgt in der Weise, daß jeder Wahlberechtigte die 6 Namen
der zu erwählenden Vertreter auf die 1. Seite des Einrechnungsbogens
bis nächsten Freitag abend schreibt; diejenigen 6 Personen, welche die
meisten Stimmen auf sich vereinigen, gelten als gewählt, und wird das
Resultat durch Anschlag bekannt gegeben.

Die Ablehnung derjenigen gewählten Arbeiter, welche uns für diese
Vertrauensstellung nicht geeignet erscheinen, behalten wir uns vor,
und würden vorkommenden Falls Arbeiter, welche die nächst höhere
Stimmenzahl auf sich vereinigen, einzutreten haben.

Bei der Stimmenauszählung haben sich

    Dreher H. und Schmied N.

zu beteiligen.“

Das heißt also kurz: Die geplante Arbeitervertretung hat den Zweck,
bei neuen Fabrikeinrichtungen aller Art die Ansichten der Arbeiter
kund zu geben. Sie besteht aus sechs Mann, die ohne Rücksicht auf die
einzelnen Berufskategorien gewählt werden können. Wahlberechtigt ist
jeder einundzwanzigjährige Arbeiter, wahlfähig jeder dreißigjährige
und ältere, der drei Jahre der Fabrik angehört. +Die Wahl ist eine
offne und bedingte. Wer von den Gewählten der Direktion zu dem Amte
ungeeignet erscheint, wird zurückgewiesen.+ An seine Stelle tritt
der mit der nächst höchsten Stimmenzahl.

Die Bekanntmachung wurde an jenem Tage, da sie angeschlagen war, oft
und genau, von vielen vielmals gelesen. Ich drückte mich absichtlich,
so oft ich es ohne aufzufallen riskieren konnte, vor dem Anschlage
herum. Ich fand, wie eine sehr große Anzahl der Arbeitsgenossen ihn
still für sich studierte und bald nachdenklich bald auch gleichgiltig,
wie sie gekommen waren, wieder an ihre Arbeit gingen. Eine ebenfalls
nicht geringe Zahl machte ihre Späße dazu, die teils ganz harmloser Art
teils aber beißende Satire über die ganze neue Einrichtung waren. Wenn
ein besondrer Dummkopf oder harmloser Geselle zufällig dabei stand, mit
dem man auch sonst gern seine Allotria trieb, versicherte man diesem
ganz ernsthaft, daß man gerade ihn auf jeden Fall wählen und zu diesem
Ehrenposten verhelfen würde. Wenige murrten. Ein einziger jüngerer
Mann, etwa ein dreißiger, sprach sofort scharf seine Mißbilligung
über den Anschlag offen aus. Die Sache taugte in der Form, wie sie
hier geplant wäre, absolut nichts, sondern wäre ein totgebornes Kind.
Einige, die dabei standen, wagten schüchterne Einwände. Sie gaben die
Fehlerhaftigkeit des Planes zu; doch müßte man erst abwarten. Wen ich
sonst von den Arbeitern an diesem und dem folgenden Tage über die Sache
um seine Meinung befragte, zuckte die Achseln und sagte gar nichts.
Nach ein paar Tagen aber war man -- so war wenigstens die allgemein
sich äußernde öffentliche Meinung -- darüber einig, daß die ganze
Sache mindestens falsch angefangen, wahrscheinlich aber wieder ein
schlauer Coup der Fabrikleitung gegen die Arbeiter wäre. Das bewiese
schon der Wahlmodus. Die offne Wahl wäre angeordnet, um die Gesinnung
jedes einzelnen Mannes kennen zu lernen. Wählte er energische, klar
denkende, ihn wirklich ehrlich und offen vertretende Genossen, so wüßte
man sofort, daß er ebenfalls Sozialdemokrat wäre, wie die gewählten.
Denn nur diese hätten den Mut einer freien Meinung. Wählte er zahme
und untaugliche, so hätte die ganze Einrichtung eben keinen Zweck,
denn die würden zu allem, was die Herren wünschten, ja sagen und bei
wirklichen Mißständen von selbst niemals den Mund aufmachen. Aber
solche Arbeiter wollten die Herrn auch nur, das zeigte deutlich der
fünfte Abschnitt des Anschlags. Wenn jene erste Absicht erreicht wäre,
und man erst die Gesinnung der einzelnen ehrlichen Wähler erkannt
haben würde, würde man sich einfach ohne Rücksicht auf die Höhe der
Stimmenzahl die zahmen und genehmen Kandidaten aussuchen und aus
ihnen eine Arbeitervertretung bilden, „die für die Herren ebenso Luft
wäre, wie überhaupt keine.“ Auch wollte man wahrscheinlich mit der
Einrichtung dieser Scheinvertretung andern größern Verpflichtungen
für später aus dem Wege gehn. Denn es wäre ja nur noch eine Frage
der Zeit, daß mit dem Inkrafttreten des neuen Arbeiterschutzgesetzes
wirksame Arbeitervertretungen gesetzlich eingeführt würden. Da hoffte
man denn, diesen Zwangseinrichtungen zuvorzukommen, sich vielleicht
um sie herumdrücken zu können und sich zugleich den Schein von
Arbeiterfreundlichkeit zu geben. So hoffte man, drei Fliegen mit einem
Schlag zu treffen, und die Arbeiter wären, wenn sie darauf eingingen,
wieder einmal die Dummen.

Diese Ansichten blieben die maßgebenden; die Folge war, daß, wenn
ich recht beobachtet habe und recht unterrichtet worden bin, an
dem aufgegebnen Wahltermine kaum die Hälfte der Leute überhaupt
Namen auf ihr Lohnberechnungsblatt eingetragen hatten. Die übrigen
hatten sich standhaft der Wahl enthalten. Darauf erschien ein neuer
Anschlag, erklärte diese erste unvollständige Wahl wegen zu geringer
Beteiligung für ungiltig, setzte einen neuen Wahltermin an und
forderte +alle+ Arbeiter energisch zur Wahl auf. +Das wirkte.
Die allergrößte Mehrzahl wählte nunmehr und wählte Kandidaten, die
durchweg die Bestätigung der Fabrikleitung erhielten.+ Ihre Namen
wurden bekannt gemacht, und die neue Arbeitervertretung damit für
konstituiert erklärt. Aber ich habe in den mehr als zwei Monaten, die
diesem Vorgange folgten, und während deren ich noch in der Fabrik
war, niemals wieder auch nur das geringste Lebenszeichen von dieser
Arbeitervertretung gespürt. So oft ich auch die Kollegen danach
fragte -- niemand wußte etwas von ihr. Für die denkenden und scharf
sozialdemokratisch gerichteten war das nur ein neuer Beweis für die
Richtigkeit ihres vorhin mitgeteilten Verdachtes.

Noch eine Geschichte andrer Art, die aber dasselbe beweist. Sie
betrifft einen sehr überzeugten Sozialdemokraten unsrer Fabrik,
einen überaus tüchtigen Mann, dessen bedeutsame Arbeit schon früher
gewürdigt worden ist. Sie wurde damals im ganzen Bau von ihm allein
verrichtet. Früher hatten sie zwei Mann gethan. Aber unser Mann
arbeitete gleich nach seinem Eintritt in die Fabrik so auffällig
eifrig und intensiv (obgleich er nicht in Akkordlohn stand), daß man
den andern schwächern bald entbehren konnte, ihn entließ und dafür den
allein Zurückgebliebenen wohl etwas besser lohnte. Das war nun zwar
für ihn vorteilhaft und wohl auch verdient, aber durchaus gegen das
sozialdemokratische Solidaritätsprinzip, das doch, so viel ich weiß,
den mittelalterlich-zünftlerischen Satz wieder wahr machen will: Was
zwei ernährt, soll nicht einer thun. Aber es zeigte sich eben auch
in diesem Falle, wie in dem vorher Geschilderten und wie sonst oft:
Das eigne, augenblickliche Interesse siegt auch über eine sehr viel
versprechende sozialpolitische Prinzipienreiterei und eine sonst reine
und klare sozialdemokratische Gesinnung.

So bewährt sich an all dem Berichteten mit vollster Deutlichkeit,
daß die rein politische und soziale Agitation der Sozialdemokratie
bei dem phantastischen, unaussprechlichen, unfaßbaren Charakter
ihrer Lehrsätze, sowie bei dem nüchternen praktischen Charakter, der
trotz aller Schwärmerei und Träumerei auch dem deutschen Arbeiter
noch innewohnt, und im Verhältnis zu der Fülle von Zeit und Kraft,
die nunmehr seit Jahrzehnten in Chemnitz auf +diese+ Agitation
verwendet worden ist, bisher eigentlich nicht allzu große Erfolge
erzielt hat und daß es ihr jedenfalls noch nicht gelungen ist, der
Mehrzahl der Arbeiterschaft dieselben ganz gleichen politischen
Ansichten und Wünsche einzuprägen. Ich glaube, daß es auch in
Zukunft niemals viel anders damit werden wird; jedenfalls behaupte
ich mit vollster Entschiedenheit, daß die ganze sozialdemokratische
Propaganda auf diesem Gebiete überhaupt nicht ihre wirkungsvollste und
tiefstgreifendste Arbeit thut. Diese liegt auf einem andern wichtigern
Felde, von dem das nächste Kapitel reden wird. Aber das eine Große hat
sie doch auch sozialpolitisch unter den Arbeitern erreicht, daß diese
sich trotz aller Unterschiede, Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten
als eine große politische und soziale Schicht empfinden gelernt haben
und sich nun dauernd mit einander solidarisch verbunden und durch die
Sozialdemokratie, ganz einerlei wie sie im einzelnen zu ihr stehn,
vertreten wissen. Und so sehr einerseits die Recht hatten, die es mir
in der Fabrik bitter klagten, daß die Arbeiter nur in Versammlungen
zusammen hielten, sonst aber nicht zusammenstünden, so sehr ist es doch
auch Thatsache, daß sie sich andern politischen Parteien und sozialen
Gesellschaftsschichten, gerade in Stunden, da die Begeisterung erwacht,
bei Wahlen und eben auch in solchen Versammlungen unwillkürlich und
selbstverständlich als +eine+ große Masse entgegenstellen.

Nach alledem darf man sich die Arbeiterschaft, unter der ich lebte, in
Hinsicht auf ihre politischen und sozialen Gesinnungen nicht als eine
uniforme, gleichmäßige und gleichwertige Masse vorstellen, sondern
vielmehr -- in einem Bilde -- +als einen gewaltigen pyramidalen Bau,
zu dem sie durch den Mörtel der sozialdemokratischen Agitation fest
und wuchtig genug zusammengefügt ist. Ihre Spitze bilden die oben
vielgenannten Elitesozialdemokraten. Aber von diesen, den Führern, und
der kleinen Schar ihrer Getreusten geht es allmählich in immer breitern
Absätzen bis zu der chaotischen Masse aller derer hinab, die nur
deshalb Sozialdemokraten sind, weil sie, was ihnen heutzutage durchaus
nicht zu verdenken ist, bei den Wahlen einem von „ihresgleichen,“ einem
Arbeiterkandidaten, einem Sozialdemokraten ihre Stimme geben.+



Sechstes Kapitel

Bildung und Christentum


Die Arbeiter unsrer Fabrik setzten sich deutlich aus drei
Bevölkerungsgruppen zusammen: aus ehemaligen ländlichen Arbeitern,
Knechten, Tagelöhnern und Häuslern, die teils aus ihrem heimatlichen
Dorfe verzogen waren, teils von ihm aus täglich zur Fabrik kamen;
aus eigentlichen großstädtischen Industriearbeitern, die ganz
selbstverständlich schon von Kindesbeinen an für die Fabrikarbeit
bestimmt gewesen waren, und deren Großeltern, wenigstens aber
Eltern ebenfalls schon ihr Brod und ihren Lebensberuf in der Fabrik
gefunden hatten, und endlich aus Angehörigen kleiner Handwerker-
und Beamtenfamilien, die meist aus kleinen oder mittelgroßen
Provinzialstädten, seltner aus einer Großstadt zu uns herein gekommen
waren. Die mittelste Gruppe war selbstverständlich die an Köpfen
zahlreichste; jedoch kam ihnen die Schar der ehemaligen Landbewohner
auch sehr nahe; die kleinste Gruppe bildeten die zuletzt genannten
Klein- und Mittelstädter. Diese waren übrigens fast durchweg
gelernte Leute, meist Schlosser, und standen noch in jugendlichem
Alter, zwischen 18 und 23 Jahren; die Leute vom Lande thaten dagegen
Handarbeit oder waren an Bohr-, Hobel- und Stoßmaschinen beschäftigt;
die eigentlichen, wenn man so sagen darf, zunftmäßigen Fabrikarbeiter
verteilten sich endlich auf alle drei Kategorien der Handarbeit, der
Maschinenarbeit und auch -- freilich zu einem geringen Teile -- der
gelernten Berufe der Schlosser, Schmiede, Tischler, Zimmerleute.

Es ist selbstverständlich, daß die Angehörigen dieser drei Gruppen
auch den Geist, die Gesinnung, den sozialen Charakter, die
Lebensanschauungen und Lebensgewohnheiten mit in die Fabrik und das
Zusammenleben unsrer Arbeiterschaft hineinbrachten, die in den drei
sonst getrennten Bevölkerungsschichten ganz verschiedenartig vorhanden
sind. Natürlich blieben dieselben hier nun nicht scharf von einander
getrennt und dauernd rein erhalten. Vielmehr rieben sie sich stark
aneinander, schliffen sich gegenseitig ab und wurden, namentlich unter
dem Drucke der sozialdemokratischen Agitation und des eigentümlichen
neuen Fabriklebens, mehr oder weniger nivelliert. Und das geschah
bei den einzelnen Leuten desto schneller und intensiver, je länger
sie bereits diesem Fabrikleben angehörten und je rückhaltloser sie
die Verbindung mit der Vergangenheit gelöst hatten. Dennoch flutete
immer von frischem, in immer neuer Reinheit derselbe dreifache
Strom der Gesinnung und Gesittung, der politischen und sozialen
Anschauungen und Wünsche in unsre Fabrik herein, da immer von neuem
frische Kräfte vom Lande und aus den kleinen und Mittelstädten in sie
eintraten, die einen, vor allem die ländlichen, um dauernd in ihr zu
bleiben, jene andern, um nur eine längere oder kürzere Zeit durch sie
hindurchzugehen, zu lernen, was hier zu lernen war, und dann in den
Kleinbetrieb der väterlichen Werkstatt zurückzukehren oder in kommunale
und staatliche Anstalten technischer Art, wie Eisenbahnwerkstätten,
Feuerwehrdepots, Gas- und Wasserleitungsanstalten als subalterne
technische Beamte einzutreten oder auch, falls sie in der Fabrik
blieben, doch hier oft Meister oder Monteure und damit ebenfalls der
eigentlichen Arbeiterklasse entnommen zu werden.

Entsprechend dieser scharf unterscheidbaren und in ihrer Wirksamkeit
nach allen Seiten und Beziehungen hin bedeutsamen dreifachen sozialen
Schicht war nun auch, man kann ruhig sagen, eine dreifache Art der
+geistigen Bildung+ deutlich unter ihnen zu erkennen. Diese ist
freilich nicht allein durch jenen Einfluß entstanden; aber ebensowenig
würde der andre gleichwichtige Faktor, der zur andern Hälfte daran
Ursache war, der Unterricht in den verschiedenen Schulen, die die
Leute besucht hatten, und zwar der Dorfschule für die ehemals
ländlichen Arbeiter, der sogenannten Bürgerschule, für die aus
sozial besser situierten Kreisen stammenden Mittelstädter und der
einfachen großstädtischen Gemeinde-, Bezirks- oder Volksschule für
die eigentlich großindustriellen Fabrikarbeiter, diese dreifache Art
von Bildung allein haben zeitigen können. Dazu sind die Unterschiede
dort der Erwerbsart, des Einkommens, der Lebensgewohnheiten, hier
des Lehrpersonals, der Lehrform, des Lehrinhalts an sich nicht groß
genug. Erst der gemeinsame Einfluß beider Faktoren hat sie nach allen
meinen Beobachtungen hervorgebracht. Denn indem je eine dieser drei
Schularten sich überwiegend benutzt zeigt von allemal je einer der drei
Bevölkerungsgruppen, und indem so die geistige Eigenart der Schule mit
der ganzen sozialen Eigenart der betreffenden Bevölkerungsschicht,
deren Kinder eben diese Schulen hauptsächlich besuchen, zusammentrifft
und sich unwillkürlich in den einzelnen kleinen Persönlichkeiten der
Kinder verbindet, entsteht in der That eine immer von den beiden andern
deutlich unterscheidbare Qualität des Wissens, des Denkens, des ganzen
geistigen Niveaus, von denen man jede nunmehr mit Recht als eine
eigentümliche Kategorie der Bildung bezeichnen darf, und von denen eine
jede in den Personen zahlreicher Arbeiter bald reiner bald unbestimmter
verkörpert war.

Ich beginne mit der Schilderung der Dorfschulbildung, wie sie an
meinen ehemals ländlichen Arbeitsgenossen zu Tage trat. Sie zeigte
sich, das ist ihr oberstes Charakteristikum, als durchaus religiös und
konfessionell dogmatisch bestimmt, als eine, man kann wohl kurz sagen,
biblische Bildung. Und das war ebenso natürlich als erklärlich. Der
Religionsunterricht der Dorfschule nimmt anerkanntermaßen qualitativ
und quantitativ den breitesten Raum in ihrem Lehrgebäude ein. Aber
nicht nur das, er ist auch das starke Rückgrat des gesamten übrigen
Unterrichts. Der Geist und der Ton, der in jenen herrscht, wird weniger
in ausdrücklichen Worten und mit bewußter Lehrtendenz als durch die
Persönlichkeit und die Haltung des Lehrers und durch die ganze Art
seines Unterrichtens auch in die übrigen Lehrstunden hineingetragen und
gilt jedenfalls vor allem in den Augen der Kinder als derselbe hier
wie dort. In den Singstunden werden geradezu außer Vaterlands- und
Volksliedern, die aber ebenfalls vielfach religiösen Charakter tragen,
besonders Choräle und Gesangbuchslieder geübt; das Lesebuch, das in der
Lesestunde benutzt wird, enthält zahlreiche religiös-moralisierende
Erzählungen, und der Geschichtsunterricht ist zu einem großen Teile
Unterricht in der jüdischen und biblischen Geschichte; so wird auch
ganz unwillkürlich in der Schreib- und Rechenstunde, in der Geographie
und Naturkunde der höhere letzte Gesichtspunkt, der sie beherrscht, der
religiöse sein. Dazu kommt, daß das Familienleben im Elternhause, die
gesamte Lebensanschauung der Dorfgenossen, die ganze Sitte, die in der
+Gemeinde+ herrscht, kirchlich, religiös beeinflußt und bestimmt
ist, daß also auch hier, außerhalb der Schule, der heranwachsende Knabe
immer und überall auf Gedankenkreise, Ansichten, Worte, Handlungen und
Gewohnheiten trifft, die durch dieselben geistigen Faktoren bedingt
sind, die den gesamten Unterricht in der Schule erfüllen und treiben.
Und diese Einflüsse ändern sich auch nicht, wenn er die Schule verläßt
und als Knecht, als Tagearbeiter oder Eigenhäusler seinen Lebensberuf
in der Heimat gefunden hat. Zeigt er außerdem, was nicht häufig ist,
auch nach der Schulzeit einiges Bedürfnis nach geistiger Fortbildung,
so ist wieder der Pfarrer der einzige gebildete Mann, mit dem er ab
und an zusammentrifft und sich auszusprechen vermag. Dieser aber hat
seinerseits, so oft er mit ihm verkehrt, zunächst seelsorgerische
Absichten und Pflichten gegen ihn und vermittelt ihm darum neue
Gedanken auch wieder nur in vorwiegend religiöser Form und Hülle; und
endlich bleibt die Kanzel die einzige Stätte, sind Bibel, Gesangbuch
und vielleicht noch ein von den Vätern ererbtes uraltes Gebetbuch meist
die einzigen Bücher, woher er sich seine geistige Nahrung und seine
Anregungen holt.

So wird es geradezu zu einer Notwendigkeit, daß der Vorstellungskreis,
den der schlichte, handarbeitende Mann auf dem Lande sich allmählich
aneignet, durchaus auf der religiösen Seite liegt, daß der kleine
Schatz von Wissen, den er besitzt, auf das Gebiet des profanen
Wissens der Schrift beschränkt und von dem Stand ihrer geistigen
Bildung durchaus abhängig ist, und daß er die Gedanken, die er
allmählich selbständig denken lernt, in den Bahnen, in den Formen, den
Kategorien und Begriffen denkt, in denen die Menschen der heiligen
Schrift gedacht haben. Seine Geschichtsauffassung ist unlösbar
verknüpft mit dem Wunderglauben, ohne den die Jahrhunderte des
Altertums, des Mittelalters und des nachreformatorischen Zeitraums
bis zur Aufklärungszeit die Vergangenheit nicht auszufüllen und
sich vorzustellen vermochten. Die Natur ist ihm ein unerforschtes,
undurchdringbares Rätsel, eine schweigende Sphinx, über die ein
dichter Schleier gebreitet ist; er kennt noch nichts von den
Entwicklungsgesetzen, die die moderne Wissenschaft lehrt, von Urschleim
und Stoffwechsel; und der biblische Schöpfungsbericht ist ihm nach
wie vor die eigentliche Quelle seiner Naturauffassung, der einzige
maßgebende Ausgangspunkt seiner Gedanken über die Welt. Endlich das
gesellschaftliche Leben der Menschheit erscheint ihm, wenn überhaupt,
so wie in Israel vornehmlich von religiösen und sittlichen Beweggründen
bestimmt und durch das in die erstarrte Sitte gebannte kirchliche
Gemeindeleben geregelt.

Und diese so gestaltete biblische Anschauungsform erwies sich mir um so
fester in Kopf und Herz der Leute eingeprägt, als sie deutlich in ihren
Augen getragen und gestützt, verbrieft und versiegelt erschien durch
die überlieferte und unfehlbare Autorität der Schrift, aus der sie
stammt. Diese Autorität gilt ihnen gemäß der alten Auffassung von der
Inspiration nicht bloß, soweit diese Schrift „Jesum Christum treibet,“
sondern sie gilt gleichwertig und gleich einschränkungslos von allem
andern, was sie an profanem Wissen mitteilt, bis auf den Punkt über
dem i. Ich sah, daß sie in ihr nicht nur auf die Frage befriedigende
Antwort suchten, wie der Mensch den Frieden des Herzens gewinnen kann,
sondern auch auf alle möglichen Zweifel des Verstandes und Fragen des
Wissens. Ja ich darf sagen, zu diesem letzten Zwecke waren sie ganz
besonders gewöhnt, die Schrift zu benutzen, während ihnen ihr Wert für
die Lösung der andern Frage meist völlig unklar geblieben war.

Dazu trat als eine dritte ebenso wichtige und von allen ernsten
gedankenvollen Männern längst anerkannte, in meinem Verkehr mit den
Leuten ebenfalls täglich bestätigte Erscheinung der Umstand hinzu, daß
heutzutage in der Schule die Heilsthatsachen des Evangeliums nicht
als persönliche Lebenswahrheiten unmittelbar, sondern als Lern- und
Memorierstoff lehr- und schulmäßig, wie sie im Katechismus formuliert
sind, nicht den Herzen, sondern den Köpfen der Kinder übermittelt
zu werden pflegen. Der Religionsunterricht ist hier also vorwiegend
Verstandesunterricht anstatt Erziehung des Charakters; die christliche
Heilswahrheit kalter Lernstoff anstatt warme, alles durchdringende
Lebenskraft; Jesus Christus -- nach dem Vorgang des Dogmas -- mehr ein
metaphysisches Rätsel als eine historische gottvolle Persönlichkeit.
Und darf ich nach meinen Erfahrungen weiter schließen, so ist auch
der übliche Konfirmandenunterricht kein Ersatz für den Mangel des
Schulunterrichts. Seine Hauptaufgabe, eine feste Grundlage für
die Auseinandersetzung der ewigen Wahrheiten der Religion mit den
mannigfachen Thatsachen der Erfahrung zu bieten, leistet auch er heute
-- nach seiner Wirkung auf die Leute zu schließen -- nicht. Vielmehr
ist es meine durchgehende Beobachtung, daß der vielleicht feierliche
Eindruck der Konfirmation in kurzer Zeit schon in der Jugend spurlos
verwischt ist.

Diese drei Züge, die Abhängigkeit der geistigen Bildung von den
Gedankenkreisen und der Bildungsweise der Schrift, die falsche
Auffassung von ihrer Autorität und die vorwiegend verstandesmäßige
Aneignung der Wahrheiten des Christentums gaben ausschließlich der
Bildung die Signatur, die jene ehemaligen Landbewohner, mehr oder
weniger scharf geprägt, immer von neuem mit in die Stadt und unsre
Fabrik hineinbrachten, und die hier für sie bis auf den letzten
Mann unter ihnen auch immer von neuem die Ursache einer schweren
intellektuellen und religiösen Krisis wurde, in der diese Bildung dann
fast immer Bankerott und einer andern Platz machen mußte.

Einen andern Charakter zeigte die Bildung der jungen Leute, die aus
meist besser situierten Handwerker- und kleinen Beamtenfamilien eben
erst zu uns hereingekommen waren. In den Bürgerschulen, die sie besucht
hatten, sind die Schulstunden zahlreicher, der Lehrplan reichhaltiger,
der Lehrinhalt größer und gehaltvoller als in jenen Dorfschulen.
Was hier an Lehrstoff geboten wird, sind nicht nur, wie dort
vielfach, bloße Anfangsgründe, sondern mehr, meist ein abgerundetes,
geschlossenes, systematisches Ganze, das den Versuch macht, zwar nicht
den gesamten Inhalt eines Wissensgebietes den Kindern nahe zu bringen,
wohl aber ihnen doch einen klaren Überblick über diese gesamte Materie,
z. B. der Geographie, Naturgeschichte u. s. w., und jedenfalls die
praktisch wertvollen Hauptsachen und das ganze Gerippe der Disziplin zu
geben. Weiter ist der Unterricht in diesen einzelnen Fächern offenbar
ganz anders als in der Dorfschule Selbstzweck. Er vollzieht sich lange
nicht so wie dort in einer religiös-moralisierenden Atmosphäre; der
in ihnen gelehrte Wissensstoff fußt vielmehr auf den Ergebnissen der
neuen, modernen Wissenschaft und ist unabhängiger als dort von dem
Wissensstoffe der Bibel und der Gedankenwelt des überlieferten Dogmas.
Der Unterricht ist also moderner und profaner zugleich; nicht jede
Schulstunde ist so wie dort eine religiös bestimmte Stunde.

Der Religionsunterricht selbst aber ist nur ein allerdings bedeutsamer
Bestandteil des Unterrichts, aber eben nur wieder ein Bestandteil
des Unterrichts, nicht der Erziehung, der im allgemeinen den andern
Fächern gleichartig betrieben wird. Denn der Religionsunterricht ist
auch hier genau wie in der Dorfschule vorwiegend Katechismusunterricht.
Sein Gegenstand ist das logisch mit den Mitteln einer antiken
längstveralteten Wissenschaft aufgebaute Lehrgebäude des kirchlichen
Dogmas, seine Aneignungsform das verstandesmäßige Begreifen und
Auswendiglernen dieser Glaubenssätze, Bibelsprüche und Gesangbuchverse
ohne ebenso starke und innerliche Aneignung ihrer religiösen und
sittlichen Lebenskräfte in der Person Jesu Christi -- und all das
immer auch hier unter selbstverständlicher Anerkennung der wörtlichen
Inspiration der Schrift und der Richtigkeit auch aller ihrer profanen
Bestandteile. Aber man erlaubt sich hinsichtlich des letztern in der
Praxis eine starke, wenn auch stillschweigende Korrektur, indem man
in den übrigen Unterrichtsstunden eben diese nach innerer logischer
Notwendigkeit allgemeingiltige Autorität eliminiert und die modernen
Erkenntnisse hier als Autorität anerkennt und benutzt, ohne jedoch in
eine klare Auseinandersetzung dieses innern Widerspruchs einzutreten.
So wird der Religionsunterricht einerseits zwar ebenfalls wie der
andre Unterricht ein rein verstandsmäßiges Lehrgebiet, aber er wird
andrerseits auch von allen übrigen als etwas besonders Heikles mit
Peinlichkeit isoliert.

Das pflegt nun freilich zunächst der naiven Schülerseele fast nie zum
Bewußtsein zu kommen, umsoweniger, da die in den elterlichen Kreisen
noch einigermaßen als wohlanständig erhaltene kirchliche Sitte und der
rationalistisch-ethische Sinn solange einen gewissen Halt zu bieten
vermag, als der herangewachsene junge Mann, sozial leidlich geschützt,
in dieser Schicht bleibt. Sowie er aber aus ihr heraus und, wie bei
uns in einen großen Fabrikbetrieb und damit auch in eine andre soziale
Gruppe, hier diejenigen der großstädtischen sozialdemokratischen
Industriearbeiter eintritt, wird ihm dieser innere Widerspruch, dieser
große Schaden an seiner geistigen und religiösen Bildung fühlbar,
und auch er ist gezwungen, gleich dem Genossen vom Lande eine Krisis
durchzumachen, die zwar nicht eine so radikale Wirkung, nicht eine
so völlige Hilf- und Haltlosigkeit auch seines profanen Wissens zur
Folge hat wie bei diesem, aus der er aber ebenfalls meist für immer
als ein andrer hervorgeht, und die er vor allem, wie sich zeigen wird,
mit der Darangabe des ganzen ihm gelehrten und bisher autoritativen
Christentums zu bezahlen pflegt.

Endlich die großstädtische Gemeindeschulbildung, die
Durchschnittsbildung der letzten und größten Gruppe unsrer
Arbeiterschaft. Sie ähnelte wohl, nach dem Eindrucke, den ich
hatte, in manchem derjenigen der Bürgerschule, aber sie steht, nach
Bildungsziel und Lehrcharakter der Schule, im Grunde doch nur auf
etwa demselben Niveau wie die Bildung einer großen völlig ausgebauten
achtklassigen Dorfschule. Auch hier die übertriebene Abhängigkeit
der profanen Wissensbestandteile von denjenigen der Bibel, auch
hier die falsche Auffassung von deren Autorität, auch hier dieselbe
überwiegend verstandesmäßige Mitteilung und Aneignung der christlichen
Heilsthatsachen ähnlich wie bei jedem andern Lehrstoff.

Aber hier tritt nun die schlimme Wirkung dieses Zustandes viel
schneller und unmittelbarer an den Tag. Denn bei den Schülern dieser
Schulgattung pflegt im Durchschnitt die erhaltende, überbrückende,
verbessernde Kraft der häuslichen und gesellschaftlichen Sitte
zu fehlen, die sich noch in den beiden andern sozialen Gruppen
lebendig zeigte. Denn unter dem Drucke der neuen alles verändernden
Gebilde des großindustriellen Fabrikbetriebes wurde diese jüngste
Bevölkerungsschicht der berufsmäßigen großstädtischen Fabrikarbeiter
von allen überlieferten, festen Lebensformen befreit, die aus dem Boden
früherer Gesellschaftsgruppierungen herausgewachsen waren; an ihrer
Stelle sind neue noch nicht geschaffen, kaum erst in Ansätzen, und dann
häufig nur in unreifen und lebensunfähigen, vorhanden. Der Gegensatz
aller Stätigkeit, ein fortwährendes unruhiges Hin- und Herfluten, der
das Leben dieser Menschen zu keinem gleichmäßigen Gange kommen läßt,
ist das maßgebende Gesetz, dem sie unterworfen sind; die Macht des
Augenblicks ist an die Stelle der alten kraftvollen Sitte getreten.

Diese Unruhe des neuen sozialen Lebens übt auch auf den geistigen
und religiösen Bildungscharakter der meisten einen folgenschweren
Einfluß aus. Sie läßt es zu keiner Erhaltung und Festigung der in
der Schule angeeigneten Bildungselemente kommen, schwemmt vielmehr
eine Menge davon schnell wieder hinweg, macht bedenklich gegen die
Zuverlässigkeit der bewahrten und weckt damit zugleich das Bedürfnis
und die Sehnsucht nach einer bessern und umfassendern Bildung, die
frei von Widersprüchen ist, die vor der modernsten Kritik besteht,
die ihnen wieder imponiert, ihnen zugleich einen Ersatz und eine
Befriedigung bietet für die teilweise oder gänzliche Leere und Fadheit
der eintönigen uninteressanten Berufsarbeit, und für die sie bereit
sind, die ganze alte, niemals geliebte, weil niemals recht fruchtbar
gewordene schulmäßige Jugendbildung zu opfern. So tritt bei den meisten
und gerade den Begabten, Strebsamen, Gedankenvollen dieser dritten
Gruppe jene oben bereits erwähnte Krisis plötzlicher, heftiger und
gründlicher ein als bei den Angehörigen der zwei andern Gruppen; und
bei ihnen kommt sie im Gegensatz zu jenen meist ohne maßgebenden Zwang
und Einfluß von andern aus dem Drucke der Verhältnisse, in die sie
hineingeboren sind, aus dem eignen Empfinden der Gegensätze und Lücken
heraus, aus dem selbständigen Nachdenken über die Menschen und Dinge
rings umher.

Dieser Bildungstrieb nun sitzt tief als eine elementare Macht in vielen
Köpfen und Herzen dieser dritten Gruppe von Arbeitern unsrer Fabrik. Er
trat täglich und überall dem Beobachter entgegen und kam in immer neuen
kleinen Einzelzügen, in Worten und Wünschen, in Fragen und Seufzern zu
bald klarerem, bald unklarerem, bald ernsthaftem und schmerzlichem,
bald komischem und heiterm Ausdruck; in besonders kraftvollen
Naturen äußerte er sich geradezu als eine Art von Bildungshunger,
der urteilslos und unterschiedslos verschlingt, wessen er habhaft
werden kann; aber seinen unmittelbarsten und grandiosesten Ausdruck
erhält er doch in der internationalen Bewegung für den Achtstundentag.
Das ist nicht nur eine bloße Manifestation der Faulheit und der
Genußsucht, des Übermuts und der Oppositionslust, auch nicht nur der
sozialdemokratischen Gesinnung und wirtschaftlicher Forderungen,
sondern nach meiner Beobachtung und Überzeugung zugleich ein Beweis der
Sehnsucht des Fabrikvolkes nach mehr Licht, Wahrheit und Wissen. Man
will Zeit gewinnen, um auch dem geistigen Menschen die Pflege zu teil
werden zu lassen, auf die er selbst in einem schlichten Fabrikarbeiter
Recht und Anspruch hat. Das ist aber heute, ich habe das an mir selbst
zur Genüge erprobt, der Mehrzahl noch durchaus nicht möglich, die von
früh sechs Uhr bis abends sechs Uhr und länger an ihre Plätze in der
tosenden dunstigen Fabrik gefesselt ist, die außerdem oft einen langen,
nicht selten einstündigen Weg zur und von der Fabrik hat und des Abends
schmutzig, hungrig und müde heimkommt. Unter diesem Gesichtspunkte,
und jene Achtstundenbewegung ernsthaft so verstanden, wie sie ein Teil
des Volkes nicht minder ernsthaft thatsächlich versteht, nämlich als
den einzig gangbaren Weg zu einer wirklich ausreichenden Befriedigung
dieses Bildungsinteresses, scheue ich mich nicht, sie nicht nur
vorurteilslos zu würdigen und anzuerkennen, sondern auch für ihre
allmähliche, schrittweise Erfüllung einzutreten, unbeeinflußt und
unbeirrt auch davon, daß sie von rüden Elementen als Anlaß zu ebenso
unsittlichen als nutzlosen und dummejungenhaften Demonstrationen
benutzt wird.

Aber freilich, so stark die Sehnsucht nach Bildung in den Köpfen
steckt, so viele sind der Hemmnisse, die sich ihrer Befriedigung in
den Weg stellen. Das eine hauptsächliche, die allzulange Arbeitszeit,
verbunden mit weiten Fabrikwegen, nannte ich schon; weitere wichtige
sind die kleinen engen Wohnungen mit den vielen Personen in dem
einen Zimmer, dann die Sorgen hier, die Gelegenheiten zum Genuß und
Vergnügen da. Das alles macht, daß bei vielen weniger willensstarken
und idealgerichteten Naturen dieser Drang nach Bildung immer nur
Wunsch und Drang bleibt und selten über gute Absichten und Ansätze
hinauskommt; das bewirkt vor allem auch, daß der größte Teil der Jugend
dieses Bildungsinteresses im Grunde entbehrte. Auch die ehemaligen
Landarbeiter, sahen wir, besaßen es selten aus eigner unmittelbarer
Initiative, und die Angehörigen aus bessern Kreisen nur mehr als
Streben nach Fachbildung. Die Strebemutigen, die Lernbegierigen, die
Vorwärtsringenden waren zumeist Männer der ausgehenden zwanziger und
der dreißiger Jahre aus der letzten, dritten sozialen Schicht.

Die drei Arten von Bildung, die ich bisher schilderte, machen nun in
der Fabrik eine völlige Wandlung durch. Sie werden unter dem Einflusse
der Sozialdemokratie unaufhörlich zerstört und gehen in einer neuen,
der +sozialdemokratischen Bildung+ unter.

Denn die Sozialdemokratie hat sich auch dieser Volksbildungsfrage
bemächtigt. Sie hat den Drang nach Wissen da unten wie niemand
belauscht und hat sich seit zwanzig Jahren daran gemacht, ihn durch
systematische Arbeit im großen zu befriedigen. So hat sie allmählich
eine Volkslitteratur geschaffen, von deren Umfange heute die Kataloge
der sozialdemokratischen Buchhandlungen zeugen, von einem Gehalte,
wie ihn Volksbücher bisher nie zu bieten wagten, oberflächlicher und
leichtfertiger zwar als die bisherigen religiösen und vaterländischen,
aber nicht weniger populär wie diese und neu, modern, zeitgemäß wie
keine von beiden. Sie hat darin unternommen, was jene unterlassen: sie
hat mit kühnem Griffe die moderne Wissenschaft popularisiert. Sie hat
sich dabei nicht gescheut, dem Volke auch trockne Zahlen, langwierige,
nüchterne Demonstrationen, ernste, schwere Kost, Dinge, die es noch
lange nicht verstehen wird, zu bieten. Aber eben das will heute das
Volk; es will in mühsamer Gedankenarbeit mitringen um die Probleme,
die auch ihm heute nahe treten und Kopf und Stirn heiß machen; es will
dasselbe Neue haben wie die andern, die Gebildeten, zu denen es bisher
wunschlos aufgeschaut hat; es will mit ihnen selbständig, souverän
sein auch im Reiche der Gedanken.

Doch die Sozialdemokratie hat nicht edel und ehrlich dabei gehandelt,
als sie diese neue Volkslitteratur schuf. Sie mißbrauchte das
Vertrauen, das das Volk ihr hierin entgegenbrachte. Sie gab ihm nicht
die wahre moderne Wissenschaft, sondern ein Extrakt aus ihr, das ein
Erzeugnis agitatorischer Berechnung war. Sie fälschte und strich von
der neuen Wahrheit, was ihr gutdünkte, sie tauchte alles in die Farbe
der Partei und stellte den so gewonnenen Inhalt ausschließlich in den
Dienst ihrer Interessen. Ist es erklärtermaßen ihr oberstes höchstes
Ziel, die Arbeiter in ihrem Denken, Empfinden und Handeln aus ihren
bisherigen natürlichen Verbindungen mit der übrigen Gesellschaft
herauszulösen, sie in unüberbrückbaren Gegensatz zu dieser, „der
gesamten übrigen, reaktionären Masse“ zu setzen, und ihnen nicht nur
die neuen politischen und sozialen Ansichten der Partei beizubringen,
sondern sie immer fester und fester auch zu einer ganz besondern,
eigenartigen Gesinnung und Lebensanschauung zusammen zu schweißen, so
giebt es in der That kein beßres Mittel, dies zu erreichen, als eine
klug dazu zurechtgemachte und ausgenutzte neue Volkslitteratur. Diese
vermag beides zugleich: den Durst der Leute nach der neuen Bildung
zu stillen und den Rest der alten Bildung schnell und gründlich und
für immer aus ihren Köpfen und Herzen zu reißen. Und da diese alte
Bildung, wie wir wissen, völlig eingetaucht ist in den Geist des
Christentums, wurzelt in dem Boden der Bibel, getränkt ist mit der
Lebens- und Weltanschauung, die diese atmen, in ihr ihren letzten
Halt, ihren Kern, ihre zusammenfassende, verbindende, stützende Kraft
hat, mit einem Wort, da diese christliche Weltanschauung im Grunde die
überlieferte Bildung und Gesinnung selbst ist, und da man wohl sah,
daß alles gewonnen war, wenn sie fiel, so schnitt man die ganze neue
Volkslitteratur, die man schuf, auf den Kampf mit dieser christlichen
Weltanschauung zu, wählte man aus den Resultaten der modernen
Wissenschaft aus, was zu ihr im Gegensatze stand oder doch bequem in
Gegensatz dazu gebracht werden konnte. Der Lehre und dem Glauben von
einer göttlichen Weltordnung, die die Bildung der Leute bisher bestimmt
hatte, setzte man so in dieser neuen Litteratur in hundert großen
und kleinen, guten und schlechten Abhandlungen aus der Religions-
wie Naturkunde, aus der Geschichte und Philosophie, aus der Kunst und
Litteratur die Lehre und den Glauben einer bloß natürlichen Weltordnung
entgegen. Man verarbeitete die Werke eines Darwin, eines Häckel, eines
Büchner; man schlachtete Spinoza und Feuerbach, Schopenhauer und
Hartmann aus; die neuen Forschungen der Astronomie und Geologie, diese
objektiver als andres, wurden verwertet, Strauß und Renan, Bruno Bauer
und moderne katholisch-französische Encyklopädisten wurden benutzt; und
endlich fälschte man -- im Zeitalter der Blüte der Geschichtsforschung!
-- die ganze Weltgeschichte und verkündete sie dem armen Volke
ausschließlich unter dem Gesichtspunkte der materialistischen
Philosophie, der ökonomischen Entwicklungen. +So entstand die jüngste
Volkslitteratur, ein einziger, in seiner Art kühner und großartiger
Versuch, in Verbindung mit der Verbreitung der neuen radikalen
ökonomischen und politischen Lehren der Partei die ganze alte Bildung
und Kultur, Christentum und Bibel aus Herz und Köpfen der Massen und
aus der ganzen Welt hinauszufegen.+ In ihr findet sich kein Platz
mehr für den Glauben an einen lebendigen, persönlichen Gott, der unser
Vater ist, und an ein unsterbliches Leben. Sie erzählt nichts von
Sünde und Schuld, von Gnade, Erlösung und Heiligung; an die Stelle
des ewigen, heiligen Sittengesetzes stellt sie das kalte, starre
Naturgesetz, an Stelle der Liebe das Solidaritätsgefühl, an Stelle des
Ideals der Sittlichkeit die Macht der bloßen Sitte, die da wechselt mit
den ökonomischen Verhältnissen des Volkes.

Und mit Gier stürzte sich nun die Schar der Bildungshungrigen da unten
auf die neue Speise, die man ihnen bot. Das war ja, wie sie wähnten,
das, was sie so lange gesucht und ersehnt, worum sie die „hohen Herrn“
oben so lange und so bitter beneidet hatten, die Wahrheit, das Wissen,
die Bildung. Diese wollten sie wenigstens haben, da sie heute noch
ihr Geld, ihr Wohlsein, ihren Besitz nicht haben konnten; wenigstens
geistig wollten sie ihnen ebenbürtig, nein, ihnen über sein. Und dann
hatten sie ja auch die Verheißung der sozialdemokratischen Führer:
daß unter dem Zeichen dieser neuen Wahrheit und Wissenschaft die Welt
eine andre werden, unter ihrem Leuchten der neue, herrliche, der
sozialistische Zukunftsstaat heraufziehen, und daß die Träger der neuen
Wahrheit auch die Herren der neuen Zeit sein würden. So hing Gegenwart
und Zukunft gerade der ringenden, vorwärtsdrängenden Arbeitergeister an
diesem neuen Schatze; so kannten sie kein Halten mehr; so warfen sie um
den Preis, jene zu besitzen, und diese zu erleben, freiwillig vom alten
Wissen weg nicht nur das Überlebte, Überholte, den hindernden Ballast,
sondern auch die edeln Güter und die wahrhaftigen Lebenskräfte,
alles, alles, wie es die neuen Bücher und Lehren wohlweislich
heischten; so lebten sie sich in die neuen Gedanken hinein, die diese
ihnen mit demselben Anspruch unfehlbarer Richtigkeit und Autorität
entgegenbrachten, wie einst die alten Lehren, die alte Bibel: +so
wurde die neue sozialdemokratische Bildung im Volke geboren, die eine
Halbbildung ist, wie keine zuvor+.

Sie trat sofort ihren Siegeszug unter den Hunderttausenden der
deutschen Arbeiter an. Jene ersten, die ihr gewonnen waren und
anhingen, wurden nach einem Gesetze, das alles Geistesleben
durchdringt, ihre neuen Propheten, ihre begeistertsten Verkündiger.
Sie waren meist kluge, begabte Köpfe, die tüchtigsten von allen
und ehrliche Naturen dazu. Ihre ganze Kraft, alle ihre Fähigkeiten
stellten sie aus innerm Drange in ihren Dienst. Nicht nur in den
Versammlungen der Partei, sondern auch bei der Arbeit und während
der Pausen in der Fabrik, beim Mittagsmahl und Abendbrot daheim,
auf Spaziergängen und wo immer sie zu zweit und dritt versammelt
waren, diskutierten und gaben sie die Gedanken wieder, die sie aus
einem, zwei, fünf, zehn Büchern jener neuen Litteratur gesogen und
bald leidlich verstanden, bald nur halbverdaut und schon halb wieder
vergessen hatten, aber die sie immer wieder aufgefrischt erhielten
durch die Artikel ihrer sozialdemokratischen Blätter. Ich brauche das
alles nicht weiter zu schildern: das ist eben jene ganze freiwillige,
unorganisierte Agitation der neuen sozialdemokratischen Gesinnung,
von der ich am Schlusse des vierten Kapitels geredet habe, die
gewaltigste, schneidigste, überwältigendste Waffe der Partei, die kein
Fabrikherr, keine Polizei verbietet, hinter der die Macht überzeugter
Persönlichkeiten steht.

Die Wirkung dieser Agitation war die gewünschte. Unter ihrem Eindruck
brach die gesamte alte Bildung der Arbeiter aus ihrer Jugendzeit
zusammen, bricht sie noch heute in jedem einzelnen immer wieder
zusammen, der noch mit ihr in eine unter sozialdemokratischem Einfluß
stehende Fabrik eintritt. Da rächen sich mit einemmale die drei großen
Fehler, an denen, wie wir sahen, unsre ganze heutige Volksschulbildung
krankt, jene Abhängigkeit der einzelnen profanen Bildungselemente von
den Gedankenkreisen und dem Bildungsniveau der Schrift, jene falsche
Auffassung von ihrer Autorität, jene vorwiegend verstandesmäßige
Aneignung der Heilswahrheiten des Christentums. Vor den neuen
Bildungsfaktoren können die antiken der Schrift, vor der Autorität der
exakten Wissenschaften, die jene stützt, kann die Autorität der Bibel,
die diese bisher trug und fälschlicherweise gleich ebenso maßgeblich
und unanfechtbar erklärte wie die religiösen Wahrheiten in ihr, nicht
bestehen; vor der Kritik des modernen realistisch geschulten Menschen
fallen die metaphysischen Spekulationen des überlieferten Dogmas, in
das man die Wahrheit des Christentums bisher hauptsächlich setzte,
über den Haufen. Zwar fühlen manche ehrlichen Gesellen instinktiv,
daß an dieser neuen Bildung auch nicht alles Gold ist, was glänzt
und gleißt; daß sie ebenso freudelos und unbefriedigt und unklar
läßt wie das Alte; daß trotz alledem in diesem Alten die letzte
ewige unwandelbare Wahrheit noch ruhen konnte; aber sie vermögen den
entscheidenden Punkt nicht zu finden, an dem dies der Fall ist. Es
fehlen die Menschen, die ihnen dazu verhelfen, ihnen den Weg zeigen,
das Überlebte, Überholte, Vergängliche, das Verstandeswerk, den Irrtum
von dem ewig wahren Kern zu scheiden; niemand kümmert sich um sie in
den Massengemeinden, in denen sie zumeist leben; niemand schmiedet
ihnen die modernen Waffen, gießt ihnen die neuen Gewehre, vermittelt
ihnen die wahren, echten, vollen, widerspruchslosen, ungefälschten
Ergebnisse der jüngsten Wissenschaft, deren Besitz sie allein befähigen
würde, den mächtig anstürmenden Vorkämpfern jener sozialdemokratischen
Halbbildung entgegenzutreten, ihnen den Beweis des Geistes und der
Kraft zu führen, ihnen ihre Thorheit aufzudecken. Dazu teilen alle ohne
Unterschied das tiefe Sehnen nach ökonomischer Besserung, dessen sich
ebenfalls die Sozialdemokratie bemächtigt hat, und dessen glänzendste
Befriedigung sie ja auch wiederum erst mit dem Siege der neuen
Wissenschaft verheißt. Auch das zwingt den noch zögernden vor dieser
„Wissenschaft“ auf die Kniee nieder. Und so fällt, mögen sie wollen
oder nicht, Mann für Mann rettungslos der neuen Gesinnung, der neuen
sozialdemokratischen Weltanschauung anheim, wirft mit dem alten Wissen
den alten Glauben weg, ohne in dem neuen den Ersatz zu finden, den man
ihnen versprochen hat, und den seine begeisterten Propheten zu haben
behaupten, immer wieder suchend, tastend, sehnsüchtig zurückschauend,
ob das Alte sich nicht doch noch verjüngen und als Wahrheit offenbaren
will, und doch immer wieder verzweifelnd unter den vernichtenden
Beweisgründen der klugen, gebildeten Genossen, denen sie nicht stand
halten können. So lebt eine große Mehrzahl ihr armes leeres Leben
hin, ohne Freude, ohne Hoffnung, ohne Hilfe. „Wenn es nur erst wieder
heute um sechs, wenn es nur erst wieder Sonntag wäre!“ -- das war der
ewige, täglich wie oft zu hörende Seufzer. Und wie manchmal fügte
man ähnliches wie das folgende hinzu: „Es ist doch merkwürdig bei
den Arbeitern; die wünschen sich immer weiter hinaus, das Alter auf
den Hals. Das ist doch eigentlich Unsinn. Es bleibt ja immer einen
Tag wie den andern. Morgen früh geht es doch wieder ebenso los. Und
wir müssen noch froh sein, etwas zu verdienen.“ Das ist der Ton der
vollendeten Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung an einem Wert, einem
Inhalt, einem Zweck des Daseins. Einen Schritt weiter -- und er kann
in den Schrei der Wut, der Empörung umschlagen, die alles zerstört,
weil sie nichts für lebenswert findet, die an allem verzweifelt, weil
sie an sich selbst verzweifeln mußte. Dann ist die Entfesselung aller
Leidenschaften, die Revolution des Volkes da. Es ist kein Zweifel:
heute ist dieser letzte eine Schritt noch nicht gethan; heute denkt
das Volk, wir sahen es, noch an keine Empörung und Revolution. Aber
es ist abermals kein Zweifel, daß ihre Gefahr näher ist als das Volk
wohl selbst wähnt. +Und sie wird in dem Augenblick da sein, wo zu
der religiösen Verwahrlosung der Industriearbeitermassen, die heute
im ganzen vollendet ist, die sittliche hinzutritt; wo aus jener die
letzte Konsequenz für diese gezogen wird. Hier also, und nicht in der
politischen und wirtschaftlichen Organisierung der Massen, liegt der
verhängnisvollste Einfluß der sozialdemokratischen Agitation; und hier
in der Vernichtung des überlieferten Christentums hat sie ihren bisher
größten Erfolg gehabt.+ Es ist auch das freilich nicht ihr Verdienst
oder ihre Schuld allein: sie ist auch hier nur die Schnitterin, die
mit raschem, scharfem Schnitt triumphierend die Früchte erntet, die
andre Hände gesät haben. Aber das ändert an dem Jammer nichts, der nun
herrscht, und nichts an der Größe der Gefahr, die nun droht.

Im Folgenden habe ich nunmehr die Wahrheit des bisher Ausgeführten
aus meinen Erlebnissen in der Fabrik zu erhärten. Ich werde in loser
Ordnung Gespräch an Gespräch, Zitat an Zitat, Bild an Bild reihen und
nicht viele Worte dazu machen. Und Gespräche, Zitate und Bilder werden
für sich selber reden.

Eines Tages erhielten zwei Mann unsrer Kolonne den Auftrag,
Riemenscheiben, große fünfzehn bis zwanzig Centimeter breite eiserne
Räder, auf denen die Treibriemen der einzelnen Maschinen laufen, aus
dem Parterre auf die zweite Empore hinaufzuschaffen. Wir luden jeder
ein paar davon auf die Schultern und kletterten hinauf. Da, wo wir sie
aufreihen sollten, saß einsam am Fenster ein Arbeiter in den besten
Jahren. Er hatte unaufhörlich hunderte kleiner stählerner Federn mit
immer demselben Loche zu versehen. Neben ihm lag, unter einer Platte
halb verborgen, die neueste Nummer der „Presse.“ Von seinem hohen
Fenster aus übersah er die ganze Stadt mit ihren hundert rauchenden
Schloten.

Mein Arbeitsgenosse, der stark schnupfte, trat zu ihm und bot ihm eine
Prise. Aus der respektvollen Art, wie er es that, merkte ich, daß der
neue Bekannte einer der geistig bedeutendern Arbeiter in der Fabrik und
ausgesprochener Sozialdemokrat sein mußte. Ich nahm auch ein Prise, und
bald waren wir im Gespräch.

Er fragte, warum ich eigentlich hierher in die Fabrik gekommen wäre.
Ich log ihm schweren Herzens mein Märlein vom arbeitslosen Expedienten
vor.

Was war das für eine theologische Zeitung, die Ihr Pastor da herausgab,
forschte er dann weiter. Etwa wie das Sonntagsblatt „Der Nachbar“?

Nein, gab ich zurück. Das Blatt schreibt für die Gebildeten, die
Studierten, besonders die Nichttheologen unter ihnen. Sein Ziel ist,
in seinen Artikeln den Beweis zu führen, daß zwischen Christentum und
Kultur, zwischen Religion und Wissenschaft durchaus keine Kluft besteht.

Das ist nicht wahr; da kann Ihr Pastor lange machen; so ein Beweis ist
unmöglich.

Das bestreite ich denn doch noch, erwiderte ich.

Die moderne Wissenschaft....

Die moderne Wissenschaft, die auf der Naturforschung ruht, hat sich nur
mit der sichtbaren Welt, mit der weiten sinnlich wahrnehmbaren Natur um
uns her zu befassen; sie kann nur das studieren, was wir hören, sehen,
fühlen, schmecken, riechen, und nur darüber kann sie ein Urteil haben.

Ja, das ist ganz schön und gut und richtig. Aber die Schlüsse daraus.

Nun gut, ziehen wir die Schlüsse daraus!

Und ich versuchte, wie manchmal, ein Experiment zu machen. Man
behauptet noch immer vielfach, Gott lasse sich wissenschaftlich,
verstandesmäßig beweisen. Hier war offenbar einer, der ihn
verstandesmäßig leugnete. Ist jener Satz Wahrheit, so konnte ich mit
dem üblichen Beweise meinen Gegner vielleicht überzeugen. Ich suchte
nun möglichst populär darzulegen, was ich dem Sinne nach im Folgenden
wiedergebe.

Mein Mann kannte Darwin; so knüpfte ich am besten daran an.

Darwin lehrt doch, daß die ganze Welt sich von unten herauf entwickelt
habe?

Ja.

Er sagte, das Erste, was war, war der Urschleim?

Ja.

Aber jede Wirkung muß eine Ursache haben. Der Urschleim also auch?

Ja.

Es muß also eine Kraft vorhanden gewesen sein, die ihn erzeugt
hat und aus ihm wieder das ganze Universum sich hat entwickeln
lassen? Nennen wir diese Kraft einmal Gott. Wir sehen, daß in dem
Entwicklungsprozesse und der dadurch entstandenen Welt bestimmte
Gesetze herrschen. Sie müssen aus dieser Kraft stammen. Wo aber
Gesetzmäßigkeit und Ordnung ist, muß Vernunft, Geist vorhanden sein. In
dieser Welt haben sich nun nicht nur Steine und Pflanzen, sondern auch
Tiere und Menschen entwickelt -- natürlich unter dem Einflusse dieser
Kraft. Menschen sind vernunft- und geistbegabte Persönlichkeiten. Die
vernunftbegabte Kraft, die sie erzeugt, muß Herrin ihrer Erzeugnisse,
mehr als diese, mindestens also aber auch eine vernunftbegabte,
geistige Persönlichkeit sein. Ferner das Höchste nun, was der Mensch
kennt, die Vollkommenheit, nach der er ringt, liegt in der Liebe. Die
schöpferische, zielbewußte, vernunftbegabte, persönliche Kraft muß aber
das haben und sein, wonach die streben, die sie geschaffen hat. Daraus
folgt: es giebt einen persönlichen Gott, und dieser ist die Liebe, der
Vater seiner Geschöpfe.

Aber mein Gegner schüttelte den Kopf und erwiderte nur:

+Mein Glaube+ ist: Die Natur ist Gott, aber kein vernünftiges
Wesen, sondern einfach Kraft.

Es war die folgerichtige Antwort, die ich erwartet hatte. Denn solche
Beweise haben nur für den Wert, der schon Christ ist.

So haben Sie also doch auch einen +Glauben+, fuhr ich fort, als er
wieder schwieg.

Ja; aber das +Christentum+ ist ein +Wahnglaube+. Es ist erst
im vierten Jahrhundert entstanden, wo es durch Majoritätsbeschluß zu
stande kam... Die Bibel ist ein Buch wie jedes andre. Sie ist auch erst
fünfhundert Jahre nach Christo nach Belieben zusammengesetzt. Es ist
ein Ausbeutungsbuch für die Großen. In der Bibel steht alles drin; man
kann alles herauslesen. Und die einzelnen Bücher sind erfunden.

Ich erwiderte, daß sei doch wohl etwas zu viel behauptet:

So viel ich von dem Pastor weiß, bei dem ich war, haben
Universitätsprofessoren, das genau untersucht und festgestellt, welche
Bücher auf keinen Fall bloß erfunden sind. So weiß man, glaub ich,
bestimmt, daß die Briefe an die Römer, Korinther und Galater vom
Apostel Paulus herrühren.

Aber er fährt fort:

Es existiert kein einziges gerichtliches (!) Dokument von Christus,
wie doch von Sokrates und solchen Leuten. Wie kommt es, daß über das
zwölfte bis dreißigste Lebensjahr von Christus nichts bekannt ist? Das
zeigt doch, daß auch das übrige von ihm sagenhaft ist.

Hierauf wird mir eine Entgegnung leicht. Und so lenkt er ein wenig ein:

Wahr ist von Christus nur, daß er ein Mensch wie wir gewesen ist. Er
wollte seinen Mitmenschen helfen, und er bildete seine Lehrsätze so,
wie es die damalige Zeit brauchte, er kleidete sie in ein religiöses
Gewand. Heute ist die Religion nur noch zur Einschüchterung, zur
Niederhaltung des großen Lümmels „Volk“ da...... Warum befolgen denn
die Großen nicht die Lehren des Christus? Warum helfen sie nicht,
stellen die Nöte nicht ab, bringen nicht Opfer? Wenn sie Religion
haben, und Religion Wahrheit ist, so müssen sie es doch durch die That
beweisen, erst einmal praktisches Christentum treiben; dann könnten wir
eher glauben......

Er forderte den Beweis der glaubensstarken, lebendigen christlichen
Persönlichkeit, eben das, was allein von der Wahrheit unsers Glaubens
wirklich überzeugt.

Gewiß, gab ich zurück, Sie haben in manchem, wenn auch nicht in
allem Recht. Ich hasse die Brut auch, die so heuchelt, das Heiligste
ausbeutet und dadurch in den Schmutz zieht. Aber fällt durch solche
Lumpen die +Wahrheit+ des Christenglaubens gleich mit dahin? Ist
es mit der Schlosserei nichts, weil manche Schlosser nur Pfuscher in
ihrem Handwerke sind? Und ich habe die letzten Jahre mit guten und
edeln Christen zusammengelebt, die sich Mühe gaben, ihrem Glauben auch
im Leben Ehre zu machen. Die sind mir ein Beweis für die Wahrheit des
Christentums.

Von denen sind Sie eben hypnotisiert. Lebt man lange mit einem Menschen
zusammen, so hypnotisiert der einen.

Dann sind Sie von Männern der entgegengesetzten Ansicht hypnotisiert.
Dann giebt es überhaupt keine eigne, männliche, selbsterrungene
Ansicht. Dann ist alles Lug und Trug. Dann beruht erst recht alles auf
Glauben.

Dazu schweigt er. So fahre ich fort:

Und es ist auch so, im letzten Grunde beruht wirklich alles auf
Glauben. Dort der Baum. Woher wissen Sie, daß das ein Baum ist? Man hat
es Ihnen von Kindheit an gelehrt, und Sie haben es geglaubt und meinen
nun, es zu wissen.

Das mag wohl sein, gesteht er zu, giebt jedoch zugleich der Sache
geschickt eine andre Wendung: Aber von der Existenz dieses Baumes kann
ich mich doch überzeugen, von der Existenz eines Gottes nicht.

Doch. Nur nicht auf die gleiche Weise, nicht mit dem Verstande. Daß
der Baum dort wirklich existiert, das sehe und fühle ich, höre es
auch, wenn der Wind hineinfährt. Aber es giebt noch ein andres Gebiet,
das man nicht mit den Sinnen wahrnehmen und dem Verstande erfassen,
durchdenken kann. Das ist das Gebiet des moralischen, sittlichen
Lebens, wo der Verstand bankerott wird, wo das Gewissen und der
Glaube entscheidet und seine Notwendigkeit und Wahrheit erweist.
Die Wissenschaft, der Verstand freilich kann weder beweisen, daß es
einen Gott giebt, noch daß es keinen giebt. Der Beweis aber, der
unumstößliche, wird geführt durch die geschichtliche, menschliche
Person Jesus Christus. Aus seinem Lehren, Leben und Sterben erkennen
wir, daß es einen Gott giebt. Denn in ihm war eine Kraft, die sonst
niemand besitzt, und die, sagt er selbst, hatte er von Gott. Wir
erkennen aber darin auch, wer dieser Gott ist: die Liebe. Und daß dem
so ist, daß es diesen von Christus verkündigten lebendigen Gott giebt,
erfährt jeder, der die Sehnsucht und den Mut hat, sein Leben nach
diesem Christus einzurichten, der sich entschließt, sich von ganzem
Herzen diesem Gotte anzuvertrauen, mit andern Worten: der glaubt.

Aber er schüttelte abermals den Kopf:

Wer den Wahnglauben einmal hat, für den ist es selbstverständlich, daß
er nun alles dreht und wendet, um seine Sache plausibel zu machen. Aber
Thatsachen hat er nicht.

Er meinte massive, augenfällige und greifbare Thatsachen, wie sie der
Materialismus verlangt und hat. Für historische, sittliche, geistige
Thatsachen hatte er kein Verständnis und nach dem Frieden keine
Sehnsucht. Ohne das aber ist Christentum unmöglich.

So brach ich ab, und wir kamen auf andre Dinge zu reden. Nicht lange.
Dann jagte uns ein Werkmeister, der uns wohl schon länger beobachtet
hatte, mit grobem Gepolter auseinander.

Etwa vierzehn Tage später hatten wir einmal nicht viel zu thun. So
stand ich müßig bei einem an der Drehbank, einem stillen Manne, der mir
sympathisch war. Vor einer halben Stunde erst hatte man einen meiner
nähern Kollegen, jenen Handarbeiter nach Hause geschafft, von dem ich
schon an einer früheren Stelle ausführlich erzählte, daß ihm eine
eiserne Schiene von etwa zwanzig Pfund auf den Fuß gestürzt war. Der
Dreher und ich sprachen von dem Falle. Ich sagte ihm, daß der Verletzte
mir noch heute morgen freudestrahlend erzählt hätte, welches Glück
er gestern gehabt hätte. Eine große, viele Zentner schwere und etwa
sechs Centimeter starke Eisenplatte für eine Parketthobelmaschine, die
schon einem unsrer Transporteure eine Zehe gekostet hatte, wäre beim
Aufheben wieder zurückgefallen und hätte ihm bei einem Haar beide Beine
zerquetscht.

Nun hat es ihn heute doch noch getroffen, wenn auch viel gelinder, fuhr
ich fort. Ist das nun Zufall oder Fügung?

Das sind Dinge, hinter die man nicht sehen kann, erwiderte mein Dreher.

Für einen Christen giebts aber keinen Zufall.

Was ist Christentum? -- Nichts. Was der liebe Gott? -- Den hat noch
niemand gesehen. Und Gottes Sohn? -- Dann sind wir alle Gottes Kinder.

Gewiß, sagte ich, sind wir das, wenn wir Jesus nachleben, Gottes Willen
thun, an ihn von ganzem Herzen glauben und täglich darum bitten. Aufs
Beten kommt besonders viel an.

Aber er lächelte nur und sagte:

Dann die Bibel. Freilich steht viel Wahres drin. Aber auch viel
Falsches. Sie ist auch nicht für uns gemacht, sondern für die Großen...

Also wieder diese furchtbare Anklage!... Dann redeten wir von den
Pastoren.

Ach ja, sagte er, es giebt ja ganz gute und tüchtige Menschen unter den
Geistlichen -- im übrigen aber leben sie vom Christentum und befinden
sich wohl dabei. Wo ist heute einer, der so handelte wie Christus? der
so viele Entbehrungen und Verfolgungen ertrüge?

Und wenn nun ein Geistlicher, wie Christus, zu uns Fabrikarbeitern
käme, würde er etwas ausrichten? fragte ich.

Nicht viel. Es ist zu spät. Nachdem Christus selbst die Not nicht hat
aus der Welt schaffen können, vermag es das Christentum heute erst
recht nicht mehr.

Die Not wegschaffen will es gar nicht, wollte auch Christus nicht,
sondern nur den Menschen innern Frieden und heilige Kraft geben, diese
äußere Not zu tragen und zu überwinden.

Kraft, Frieden? Das geben andre Dinge viel mehr.

Nein, wenn das Christentum dies nicht geben könnte, dann kann es uns
nichts geben.

Dazu schweigt er still, und auch dies Gespräch hat ein Ende.

Einmal gegen Ausgang meines Aufenthalts in der Fabrik fragte ich einen
direkt, was er von Religion und Christentum hielte. Ich wußte, er war
eifriger Sozialdemokrat, aber die Gutmütigkeit und Höflichkeit selbst,
ein richtiger Sachse. Er hatte früher im Hause eines Rechtsanwalts
gewohnt und dort manches geflickt und ausgebessert. Zum Dank dafür
hatte ihm dieser außer seinem pflichtmäßigen Lohn manche Bücher zu
lesen gegeben, geographische, naturwissenschaftliche, geschichtliche.
Ihre Titel konnte er mir nicht mehr genau angeben. Auf meine offne
Frage antwortete der Mann nun gleich offen, ehrlich und kurz: Ich rede
wenig von den Sachen und streite mich nie darum. Ich lasse jedem seine
Ansicht. Aber ich habe auch meine eigne, und ich denke: Wo man nichts
erkennen kann, da ist auch nichts. Damit basta.

Er war liebenswürdiger als ein andrer Gesinnungsgenosse von ihm aus
unserm Vorort, übrigens seines Zeichens ein Fabrikwirker, aber mit
leidlichem Verdienst. Ich hatte ihn eines Abends im schon erwähnten
Turnverein unsers Ortes getroffen. Der Mann war, was man ein
„Turngenie“ zu nennen pflegt, mit tadellosem Körperbau und gleicher
Muskelbildung, ein schöner, kraftvoller Mann. Ich ging mit ihm am
Schlusse der Turnstunde in eine nahe einfache, von uns gern besuchte
Kneipe und trank ein Glas Bier mit ihm. Er war auch ein kluger Mensch,
fanatischer Anhänger der Kaltwasserheilmethode und der Sozialdemokratie
und ein Führer unter der zahlreichen Weberbevölkerung von Chemnitz,
die unter wirklichen Notständen seufzte, ohne anscheinend allzuviel
Rücksicht bei den Unternehmern zu finden. Er erzählte mir manches
aus den Lohnkämpfen, die sie geführt, und in denen er mit in den
vordersten Reihen gestanden hätte, ernst, objektiv, mit der epischen
Ruhe, die so vielen Leuten im Volke eigen ist. Dann lenkte ich ihn
auch auf die religiöse Frage und drängte ihn zu einem Urteil. Es war
kurz, bündig und konsequent sozialdemokratisch: Die Kirche ist bloße
Verdummungsanstalt und wohlberechnetes Staatsinstitut; aber man soll
sie trotzdem nicht beseitigen, sondern nur umwandeln, aber durch und
durch. Man soll es dahin bringen, daß sie die Naturwissenschaften dem
Volke lehrt und predigt.

Alle bisher Geschilderten gehörten jener zielbewußten, begeisterten,
gedankenkräftigen, edeldenkenden, wirklich wahrheitsdurstigen Gruppe
meiner sozialdemokratischen Arbeitsgenossen an. Bei aller Ablehnung
gegen die Religion, bei aller Geringschätzung der Kirche waren sie
gemäßigt in ihrem Urteil, anständig in ihren Äußerungen und mehr oder
weniger bemüht, die Stellung derer, die noch glaubten, mehr oder
weniger zu würdigen, zu verstehen, zu erklären. Aber es gab eine viel
größere Gruppe gleich stark geprägter Sozialdemokraten, die, roher
als jene, in der That nur noch Hohn und Spott und Blasphemie für die
Heiligtümer unsers Glaubens hatten. Auch bei ihnen war das Stichwort:
„Natur ist Gott, Gott ist die Natur.“ Aber sie variierten es gern,
manchmal in der unzüchtigsten Form. So saßen solche Kumpane einmal in
einer Kneipe zusammen; man kam auch auf solche Dinge zu sprechen und
erklärte sie kurzer Hand für Blödsinn, und einer rief aus: „Ach was,
unser Gott ist ein strammes Weib.“ Ein lautes Gelächter über den Witz
schnitt dann die ganze flüchtige Debatte schnell ab. Andre ähnliche
schlimme Dinge, die ich bei andern Gelegenheiten hörte, mag ich nicht
hierher setzen.

Vorzüglich war es die Jugend, die vielfach solche Gesinnungen hatte.
Hier war von Ernst, von einem Bemühen, auch nur einmal objektiv zu
prüfen, am allerwenigsten die Rede. Man war selbstverständlich meist
längst über solche Dinge hinweg. Dem einen, einem Thüringer, galt
Christentum gleich Antisemitismus, den er als ebenso unnobel wie
unberechtigt haßte, und den er, übrigens mit einigem Recht, für das
Gegenteil vom Christentum erklärte. Man ginge in die Kirche, machte
fromme Gesichter, und im übrigen lebte man doch draußen keinen Deut
besser als die andern, Gleichgiltigen, die viel ehrlicher als jene
handelten. Ich konnte ihm nur erwidern, was ich dem ersten gesagt
hatte. Er war auch still davon aber von jener Gleichung: Christentum
= Antisemitismus ließ er sich partout nicht abbringen. Übrigens war
es schwer, mit ihm darüber überhaupt länger zu reden. Er hielt das
offenbar, wie viele, die mir das geradezu ins Gesicht sagten, nicht
mehr der Rede wert. Denn „Religion -- det wohnt nich mehr unter den
Arbeitern,“ sagte in gleicher Haltung und Meinung einmal ein andrer
junger Bursche, aus Berlins Umgebung gebürtig. Er war mir zu Anfang
meines Fabriklebens besonders hochmütig gekommen, als ich ihn meine
christliche Gesinnung merken ließ; später verkehrte ich viel und gern
mit ihm; er war trotz mancher Berliner Manieren ein kleiner kluger,
schneidiger, strebsamer Kerl, der es eben nicht besser wußte und
allmählich, der einzige von allen, wirklich durch meinen übrigens von
allem Bekehrungsstreben freien Verkehr zu andrer, tieferer, ernsterer
Gesinnung über Religion und Christentum, aber wohl kaum zu wirklicher
Frömmigkeit gelangte. Ich traf ihn gleich an einem meiner ersten
Sonntage nachmittags und ging dann mit ihm spazieren. Unterwegs fragte
er mich gelegentlich, was ich am Vormittag gemacht hätte. „Ich war in
der Kirche,“ antwortete ich. „Dummer Mensch,“ war seine Entgegnung.
Ich fragte ihn freundlich, wie er dazu käme, so zu reden, und sagte
ihm einiges von der Vernünftigkeit meiner religiösen Überzeugungen,
und kurz bevor ich für immer von Chemnitz fortging, sagte er mir eines
Sonnabends ganz freiwillig, er wollte mit mir morgen in die Kirche
gehn, wo es ihm dann auch ganz gut gefiel. Schließlich machte er mir
noch eine Liebeserklärung: er wünschte, er könnte immer in solcher
Gesellschaft wie der meinen sein, da würde man ein ganz andrer Mensch.

Er war übrigens schon in der besten Gesellschaft von allen. Er bewohnte
mit einem Gleichaltrigen, Zwanzigjährigen eine hübsche Stube. Diesen,
einen Pommern, hatte er, wenn ich mich recht erinnere, in Berlin kennen
gelernt und war mit ihm zusammen nach Chemnitz gewandert. Das war ein
stiller, harmloser Mensch aus einer allerdings armen Handwerkerfamilie,
einer von den wenigen, die noch Christentum im Leibe hatten, an
dem sie nicht rütteln ließen, und von dem alle Gegeneinflüsse wie
selbstverständlich wirkungslos abglitten. Der übte einen stummen, aber
guten Einfluß auf den Stubengenossen aus.

Eben dieser stille Junge, ebenfalls Schlosser, stand in der Fabrik
zwischen zwei gleichaltrigen Handwerkskollegen. Von des einen
religiöser Gesinnung weiß ich nicht viel. Er war aus der Gegend von
Wurzen bei Leipzig, wo sein Vater in einem ganz kleinen Landstädtchen
eine große, gut gehende Schlosserei hatte, und wohin er zurückkehren
sollte, wenn er sich in der Welt und den Fabriken umgesehen und sich
-- ausgetobt hätte. Er zeigte mir einmal eine Flasche mit hellem
Trinkwasser lächelnd mit der witzig sein sollenden Bemerkung: „Reines
Gotteswort.“ Der andre Nachbar war Typus für den durchschnittlichen
jungen Fabrikschlosser und machte tüchtig lebenschön. Ich traf ihn
+immer+ des Sonntags auf den Tanzböden mit seinem Mädchen; er
wußte, daß er leidlich situierte Eltern hatte. An ihm besonders
hatte die glaubenslose Agitation der Sozialdemokratie ihre normale,
oben geschilderte Wirkung gethan. Er war nämlich Gevatter eines
verheirateten jungen Freundes. Eines Tages war sein Patenkind
gestorben, drei Tage nachher, nachmittags 3 Uhr, das Begräbnis. Am
andern Tage war er müde und übernächtig. Auf meine Frage darnach
erzählte er mir in einem Zuge, daß der Pastor am Grabe schön gesprochen
hätte, und daß sie danach den Nachmittag und die Nacht bis morgens
4 Uhr gekneipt und gezecht hätten. Man hätte ja doch einmal freien
Nachmittag gehabt. Der Vater des toten Kindes wäre allerdings schon um
10 Uhr aus der Kneipe nach Hause gegangen.

Ein andrer war sein getreues Ebenbild an Alter, Beruf und Gesinnung.
Er glaubte an ein „höheres Wesen,“ von dem er sich aber nicht die
geringste Vorstellung machte, und das ihn völlig gleichgiltig ließ. Er
„glaubte“ bloß noch daran, weil das so zum Menschen gehöre. Etwas müßte
ihn doch vom Tiere unterscheiden.

Das sind einige Schlaglichter auf die Gesinnung und religiöse
Verfassung unsrer jungen erwachsenen Leute; auch sie bewähren schon das
frühere Urteil über sie. Ich kehre nun zur Charakteristik der reifern,
zielbewußten sozialdemokratischen Männer zurück.

Es war eines Vormittags; ich bohrte seit einigen Tagen krampfhaft
mit der Handbohrmaschine in eine hohe starke eiserne Wand eines
Rundsägegatters Löcher, die ich mir mit Kreide vorgezeichnet hatte.
Da trat ein Monteur, der in der Nähe arbeitete, der älteste von allen
neun Monteuren, an mich heran; ein zweiter, von dem ich noch manches
erzählen werde, ein Handarbeiter kam dazu; dann noch ein dritter,
den ich ebenfalls schon mehrmals erwähnt habe. Der letztere war ein
konsequenter Sozialdemokrat, konsequenter und von der Partei in seinem
Denken bewußter abhängig als jene zwei andern. Wir kamen mit einander
in ein langes Gespräch.

Man löschte mir, während ich einmal wegsah, im Scherze die Kreidekreise
weg, die ich mir auf meine Eisenwand aufgezeichnet hatte. Als ich es
bemerkte, nahm ich den Scherz auf und sagte: „Zerstört mir meine Zirkel
nicht!“ Was meinst du damit? sagte da der eine. Ich fragte, ob sie die
Geschichte von Archimedes und der Zerstörung von Syrakus kennten. Sie
verneinten, und ich erzählte sie ihnen und erklärte ihnen mein obiges
Zitat.

Darauf fragte einer, ob das auch um die Zeit des trojanischen Krieges
herum passiert wäre. Den trojanischen Krieg kennte er genau, hätte
ihn gelesen. Und er schilderte ganz richtig und gut den Verlauf der
homerischen Geschichte. Ich glaube, er hatte das Reklamheft, das Homers
Ilias enthält, in der Hand gehabt.

Dann sprang das Gespräch auf Ägypten über, auf die Pharaonen, von denen
ebenfalls alle wußten. Wir redeten von den Pyramiden, die sie vor allem
um der Menschen willen lebhaft beschäftigten, die einst mühsam, mit
unsäglichen Strapazen ihre Steine aufeinander getürmt hatten.

H: Das waren die Lasttiere, die Sklaven vor 4000 Jahren; wir
Fabrikarbeiter von heute sind die Sklaven und Lasttiere der Gegenwart.

Das ist zu viel behauptet, erwiderte ich und wies z. B. auf die viel
bessere allgemeine Bildung hin, die heute alle besitzen.

Das bestritt H:

Die Leute waren damals nicht ungebildeter und unklüger, als sie heute
im Durchschnitt sind.

Nein, früher waren sie noch viel klüger als jetzt, mischte sich halb
ironisch halb ernsthaft der andre, S. mit Namen, ein. Früher konnte man
sogar Wasser in Wein verwandeln. Er sagte das unsicher, und ich konnte
nicht erkennen, wie er selbst darüber dachte.

Mein Monteur lachte laut auf, als er das hörte, und H. lächelte auch
überlegen dazu.

So fuhr S. fort: Ja freilich, das ist Glauben, aber....

Aber der Monteur schnitt ihm kurzer Hand das Wort ab: Ach was, unser
Glaube ist, daß zehn Pfund Rindfleisch eine gute Brühe geben.

Und jener wagte keine Entgegnung mehr. Dann redeten wir weiter und
kamen wieder auf wirtschaftliche Dinge, wobei ich einmal das Schlagwort
„Soziale Frage“ in den Mund nahm. Sofort stach das H. auf und meinte
überlegen, ich wüßte doch nicht, was die soziale Frage sei.

Das kommt noch darauf an, antwortete ich. Das ist in der That auch
nicht so leicht zu sagen. Darüber kann man Stunden, Tage, Wochen lang
reden. Aber jedenfalls ist sie ein Ungeheuer von vielen Fragen und mit
zwei Seiten, der materiellen und der geistigen Seite, genau wie der
Mensch aus Körper und Geist besteht.

Aber der Monteur und H. lachten laut auf:

Geist? Geist giebts nicht. Es giebt nur ein Gehirn, ein Nervensystem,
das funktioniert, wie die Maschine. Diese Funktion, das, was dabei
herauskommt, nennt man heutzutage Geist.

Wer hat euch das bewiesen? fragte ich. Das ist doch höchstens nur eine
Annahme, eine Behauptung, also nichts andres als meine freilich andre
Meinung auch. Übrigens habe ich auch Gründe für die meine. Nehmt z. B.
eine Trompete und blast hinein, dann giebt sie einen Ton. Aber der
Ton ist etwas durchaus andres als die Trompete; so ists, so kann es
wenigstens mit dem Gehirn und Geist auch sein. Jenes ist das Organ,
dieser sein Inhalt.

Darauf stutzte H. eine kurze Zeit. Aber dann lächelte er abermals
überlegen und sagte -- wie unendlich bezeichnend für die Richtigkeit
meiner Darlegungen an der Spitze dieses Kapitels! --:

Ich sehe schon, Sie hängen noch ganz an Orthodoxie und Bibel. Die ganze
heutige Wissenschaft ist dagegen.

Ja und nein, gebe ich zurück. Übrigens ist das weder eine Schande noch
ein Unglück, sondern das Gegenteil von beiden, wenn einem die Bibel
noch was wert ist.

Man lacht Sie bloß aus damit. Wenn Sie zu einem Gebildeten dasselbe
sagen wie zu mir, so wird er Sie bloß fragen, was Sie sind; und wenn
er hört: bloß Arbeiter, so wird er Sie einfach auslachen und sich Ihre
Dummheit erklären.

Hier mischt sich ein vierter ins Gespräch, der inzwischen mit einem
Bohrer zusammen ebenfalls hinzugekommen war, ein Handarbeiter, von
dessen innerer religiöser Verfassung ich noch weiter unten viel
erzählen muß. Er war ebenso voll von Hoffnungslosigkeit und Mißtrauen
gegen den Glauben, wie von Sehnsucht nach ihm. Er erzählte:

Gestern packten wir einen von den eisernen Särgen ein, den die Fabrik
von dem kleinen noch vorhandenen Lager einmal wieder nach langer Pause
verkauft hatte. Wir waren drei Mann beim Einpacken und gerieten dabei
in Streit, ob es ein ewiges Leben gäbe. Die beiden andern meinten
entschieden nein; auch der Meister, der hinzu kam und sich hinein
mischte, sagte, daß sie recht hätten: der Mensch wäre einfach wie eine
brennende Cigarre; sie verglüht, und der Rest ist Asche. Haben die nun
recht oder nicht? Giebts ein Wiedersehen oder nicht?

Ja wohl, in Buxtehude, lachte abermals der Monteur.

Aber warum lehren das dann die Geistlichen?

Damit die Menschen hübsch arm und dumm und hübsch zufrieden bleiben,
belehrt ihn der, der vorhin das Jesuswunder zu Kana erwähnt hatte; und
der Monteur fügte bestätigend hinzu:

Der Mensch ist ein Raubtier, ja schlimmer als das. Das Raubtier will
nur satt werden, der Mensch will mehr. Gäbs nicht das bißchen Religion
in der Welt, so müßten wir jeden Morgen so und so viele Leichen
beiseite schaffen.

Das war die weitverbreitete Meinung in der Fabrik: +die längst
überholte, innerlich unwahre, in ihrem Leben tote Kirche ist heute
nichts als ein sehr erwünschtes und kräftiges Polizeiinstitut des
bestehenden Staates, der es eifrig und künstlich aufrecht erhält+.

Endlich kamen wir am Schlusse unsers langen Gesprächs auch auf Darwin
und die Lehre von der Abstammung des Menschen von den Affen. Der
Handarbeiter und Monteur sind für sie, S. dagegen, H. sagt gar nichts
dazu. S. meinte, das wäre unmöglich; denn wir hätten den Verstand, der
uns durchaus von den Tieren, auch den Affen schiede.

Das ist ja richtig, entgegnete der Handarbeiter; aber trotzdem glaube
ich daran. Was bleibt auch andres übrig? Denn das kann ich auf keinen
Fall glauben, wie es in der Bibel steht, daß der Mensch aus Lehm
gemacht ist.

Als wir dann auseinander gingen, blieb der Handarbeiter an meiner Seite
und kam wieder auf das Sterben und das ewige Leben zurück, wie noch
viele male, wenn wir beisammen waren. Er hatte vor einiger Zeit ein
halberwachsenes Mädchen verloren. Nun quälte ihn die Sehnsucht nach
ihr, sie wieder zu sehen. Er wollte immer wieder hören, was ich darüber
dächte und glaubte. Und immer wieder, so oft ich ihm mein Innerstes
ausgeschüttet, mein Bestes gegeben hatte, schüttelte er den Kopf und
seufzte:

Ach wenn wir nur glauben könnten. Aber Gewißheit müßten wir haben, ganz
feste Gewißheit.

Auch dieser Ärmste hatte kein Verständnis mehr für eine Gewißheit, die
nicht auf Augenschein und Tastgefühl, Gehör und Geschmack beruht.

Ein andermal hatte mich ein Schlosser zu einem ältern Dreher geschickt,
von ihm etwas zu holen.

Die Arbeit ist noch nicht fertig, wird es morgen erst, wenn mich nicht
derweile der Teufel holt -- war die barsche Antwort auf meine Anfrage.

Teufel giebts nicht, meinte sein Nachbar dazwischen.

Aber Sünde, setzte ich dazu.

Unsinn; das widerspricht sich, fuhr mich der erstere an. Wenn es keinen
Teufel giebt, giebts auch keine Sünde. Übrigens, glauben Sie denn auch
noch an das Zeug, das einem in der Schule weis gemacht wird?

Man hat eben, das ist ein neues scharfes Charakteristikum, durchgängig
nicht das geringste Bewußtsein mehr von Schuld und Sünde. Auch
diejenigen nicht, die religiös noch schwanken und ringen und eben
mitten in jener Bildungskrisis stehn. Ein andrer kleiner Zug aus einem
Gespräche mit einem ältlichen, ernst gesinnten Manne beweist das noch.
Dieser hatte mir erzählt, daß er irgend einen kleinen Gegenstand,
Schrauben oder sonst, ich weiß nicht mehr, was mit aus der Fabrik nach
Hause genommen hätte.

Das ist ja aber verboten, also Sünde, warf ich ein, um das Gespräch
darauf zu bringen.

Nein, das ist keine Sünde. Sünde thut man in so einem großen Geschäft
wie hier nie. Die Besitzer versündigen sich auch an uns. Ach, wir armen
Leute!

Sonst habe ich eigentlich nur selten bemerkt, daß die Leute heimlich
kleine Utensilien aus der Fabrik mit nach Hause in die Wirtschaft
nahmen. Öfter beobachtete ich, daß sie sich in der Fabrik selbst ein
Thürband, ein Schloß oder sonst was bauten.

Ganz gleiche Äußerungen, wie die zuletzt angeführte, fand ich
auch schon in der Herberge. So bei einem, der mir eben seine
Lebensgeschichte erzählt hatte. Er war früher einmal gut situiert
gewesen, jetzt war er stellenlos, wohnungslos, Tagearbeiter. Seine Frau
hatte er verlassen; seine drei Kinder waren erwachsen und kümmerten
sich nicht um ihn, wie er sich nicht um sie. Der Branntwein war auch
sein Unglück; noch kurz vorher hatte er in der Betrunkenheit in Dresden
seinen ganzen Berliner „mit einem guten Anzuge und guter Wäsche“
verloren.

Ich bin zu ehrlich gewesen, deswegen bin ich heruntergekommen,
beteuerte er. Ich habe keinen Betrug machen wollen wie die Reichen,
deren Schliche ich gar gut kenne, die betrügen und in Ansehen stehn.

Das ist aber doch nicht immer so. Und wenn es der Fall ist, so ist es
eben eine Sünde und Schande, beschwichtigte ich.

Schande? fragte er da. Was ist Sünde und Schande? Frage mal die fetten
Herren, ob die sie auch kennen.

Nun eine neue, interessantere Szene, wieder aus der Fabrik. Ich
arbeitete mit einem Bohrer und demselben S. zusammen, der auch bei
jenem langen Gespräche, das ich vorhin berichtete, dabei gewesen war.
Ich weiß nicht mehr wie, jedenfalls aber ohne mein Zuthun, kam das
Gespräch auf Gott. Der Bohrer, einer der stärksten Verdiener in der
Fabrik, ein breiter, untersetzter, ruhiger Mann von 40 bis 45 Jahren,
meinte, der liebe Gott müßte erst erfunden werden.

Oder vielmehr nein, fuhr er fort, es giebt ihn doch schon; ich habe
einen Bekannten in X., den nennen sie „Lieber Gott.“

S. ist diesmal offner und geht mit der Sprache heraus. Er widerspricht
dem Bohrer:

An ein höheres Wesen glaube ich. Ich habe auch viele Erbauungsbücher
und die ganze Bibel mit meinen Eltern gelesen. Jetzt thue ich es nicht
mehr; denn die Bibel paßt nicht mehr für unsre Zeit zum Lesen. Aber
beten thue ich noch täglich das Vaterunser, früh und abends, und wenn
ich die Arbeit antrete. Aber ich thue das nur so aus Gewohnheit, seit
meiner Kindheit her, wo es die Eltern mir eingelernt haben. Ich weiß,
daß es nichts nützt.

Dann sind wir auf einmal bei Luther.

Der hat viel Unheil angerichtet, sagt S., und die Geistlichkeit erst so
mächtig gemacht, wie sie heute ist.

Wie ich nun Luther gegen diese Angriffe verteidige, gehen zwei andre,
wieder ein etwa dreißigjähriger Monteur und ein Dreher, beide stramme
Sozialdemokraten, vorüber, hören zufällig, was ich rede, und bleiben
stehn. Der Monteur unterbricht mich bald:

Luther hat ja viele gute Seiten gehabt, aber auch viele schlechte. Ich
weiß das ganz genau; ich habe ein Buch über ihn gelesen.

Welches?

Das Pfaffentum seit dem zwölften Jahrhundert.

Na, da weiß ich schon genug. Das ist ein schönes Schund- und Lügenbuch.

Das kann nicht sein, ist die aufrichtig ernste Antwort. Es muß
alles wahr sein, was drin steht. +Sonst hätten sie es ja längst
verboten.+

Der Mann dachte offenbar an das Sozialistengesetz, das alle
sozialdemokratischen Schriften, die auf Entstellung beruhten,
unterdrückte. Man sieht, das Sozialistengesetz zeitigt die
vielseitigsten Früchte.

Der Monteur kommt dann auf Luther zurück und sein Verhalten in den
Bauernkriegen:

Erst hetzte er die Bauern auf, nachher schnauzte er über sie. Und
wie hat er den Fürsten geholfen, wie sie unterstützt, wie ihnen
geschmeichelt und sich vor ihnen gedemütigt! +Und das ist auch sein
Werk, daß er erst die Kirche so fest und stark gemacht hat, daß wir sie
nun nie wieder los werden.+

Auch der Dreher giebt seine Meinung ab:

Ja, das muß man Luther lassen, ein gescheiter Mensch war er. Aber das
fiel nur deshalb so auf, weil damals das ganze Volk so verdummt war.
Jetzt wäre Luther nichts besondres mehr. Jetzt machen wirs +alle+
so wie er mit der Kirche und dem religiösen Humbug. Ich wenigstens
kümmere mich nicht mehr um das Zeug und gehe um jede Kirche weit herum.

Auch von Christus ist im weitern Verlaufe die Rede.

Er war der erste Sozialist und ist für seine Ansichten gestorben, ist
die einstimmige Ansicht.

Aber Jesus hat sich doch ausdrücklich nicht um die privaten
Verhältnisse, um das Vermögen der Leute und die Welthändel gekümmert,
wagte ich einzuwenden. Er hat zunächst die Menschen nur fromm und gut
machen wollen.

Nein, meinte der Monteur, das ist nicht wahr. Das hat Christus nicht
bloß gewollt. Das ist erst eine Verdrehung der Geistlichkeit. Aber das
mag sein; die Religion ist ja für frühere Zeiten, wo die Menschen noch
nicht so weit waren, ganz gut und dienlich, ja nötig gewesen. Aber
jetzt ist sie das nicht mehr. Jetzt haben wir Gesetze. Wer nach denen
lebt, ist ein achtbarer Mensch, wer nicht, ein Lump.

Man sieht, das klingt ganz wie in sozialdemokratischen Schriften.

Mit jenem Bohrer und diesem Monteur hatte ich später noch ein paar mal
ähnliche Gespräche.

Jenen traf ich bald darauf eines Morgens während der Frühstückspause in
dem unsrer Fabrik benachbarten Käseladen, den ich im zweiten Kapitel
bereits erwähnte. Der ganze Laden und die Wohnstube der Besitzerin
waren gestopft voll von unsern Leuten. Einer, ein Stammgast, verlangte
für zehn Pfennige Limburger Käse und eine Flasche Bier. Als er es
erhalten hatte, sagte er:

Danke, der liebe Gott wirds bezahlen.

Da könnt ich lange warten, war die Antwort der Verkäuferin. So hats
zwar immer geheißen; aber der bezahlt nichts.

Es wird wohl gar keinen lieben Gott geben, warf da der Bohrer ein, der
daneben stand.

Glaubs selber, lachte die Frau. Beten ist altmodisch. Es hilft ja auch
nichts. Wer nicht arbeitet, hat nichts.

An demselben Tage rief mich einmal der Monteur zu sich.

Was giebts?

Ich will ihnen einmal den Herrgott zeigen: tragen Sie hier die Welle
zum Langlochbohrer. Das werden Sie schon spüren.

Sie können +mir+ den Herrgott noch lange nicht zeigen, aber ich
Ihnen. Wollen Sies?

Nein, lieber nicht.

Und er ging lachend davon.

Dann traf ich ihn auf jenem sonntäglichen Kinderfest unsers
sozialdemokratischen Vorortswahlvereins wieder. Wieder kamen wir unter
anderm auf religiöse Dinge zu sprechen. Er fragte mich da geradezu:

Warum geben Sie sich nur so mit dem Kram ab? Sie können ihn ja doch
nicht beweisen.

Ich versuchte es an der Person Christi. Aber er ließ mich nicht lange
dabei:

Genau so reden die Pfaffen auch. Die Religion ist nur für die Wilden.
Mein Wahlspruch ist:

    Macht euch das Leben gut und schön,
    Kein Jenseits giebts, kein Wiedersehn.

Ein schöner Wahlspruch! Meiner ist es nicht.

Aber meiner. Übrigens sind die Pfaffen selbst an der ganzen Feindschaft
des Volkes gegen die Kirche schuld. Denn sie haben Partei für die
„großen Herren“ genommen. Nur wenige machen davon eine Ausnahme. Zum
Beispiel einer in unsrer Nähe, in Langenberg.

Diese Geringschätzung gegen die „Pfaffen,“ die hier wieder und ganz
offen zum Ausdruck kam, war so allgemein wie dieser Name, der überall
im Munde der Leute, auch halbwegs wohlgesinnter, war. Ganz natürlich.
Wem die Kirche nur noch als ein äußerliches, öffentliches Institut,
ein politisches und wirtschaftliches Machtmittel in der Hand des
Interessenstaates und der selbst ungläubigen Bourgeoisie erscheint,
hat natürlich auch keine Achtung und Ehrerbietung vor ihren amtlichen
Trägern und Dienern, die ihm folgerichtig nur als Heuchler gelten
müssen, weil sie ihre Überzeugung opfern, um eine bequeme Versorgung
und Existenz zu haben. So war es häufig, daß man die „Schwarzkittel“
gar nicht etwa mehr haßte, sondern nur noch verachtete. Man sah sie
auch geradezu als Tagediebe und Faulenzer an, weil man keine Schätzung
mehr für geistige Arbeiten besaß, die nicht augenblickliche, sichtbare
materielle Werke schaffen, und weil man auch keine Einsicht in den
Umfang und die Art der Thätigkeit hatte, die einem gewissenhaften und
gewandten Pfarrer obliegt. Das alles kam oft zu drastischem, für mich
besonders schmerzlichem Ausdruck. So gleich in derselben Stunde, in
der ich das letzterzählte Gespräch hatte, bei demselben Kinderfeste im
Munde noch eines Anwesenden, der aber nicht unsrer Fabrik zugehörte,
und den ich sonst nicht kannte.

Er unterhielt sich mit einem anscheinend zufällig hereingekommenen
Lehrer, während ich als unbeteiligter dritter daneben stehend unbemerkt
zuhörte. Der Lehrer versuchte ihn sachlich und leidenschaftslos, aber
mit viel Geschick und ohne große Worte eines bessern zu belehren. Aber
jener ließ sich nicht belehren.

Ach was; über die Kirche sind wir lange hinaus. +Was der Pfaffe
quasselt, kann ich auch, wenn ich wie er die ganze Woche dazu Zeit
hätte. Der lernts doch bloß aus Büchern auswendig.+

Sein Gegner sagte ihm, wie falsch das wäre; man müßte doch auch erst
auf Gymnasium und Universität etwas Ordentliches gelernt und gearbeitet
haben; man müßte manche gewichtige Examina bestehn -- aber darauf
hatte der aufgeblasene Schreihals, denn das war er, immer nur ein
geringschätziges, abweisendes Ach was, sodaß der andre bald darauf
verzichtete, sich weiter mit ihm einzulassen.

Dieselbe Meinung hörte ich auch schon, fast bis aufs Wort
übereinstimmend, während der ersten Tage meines Herbergsaufenthaltes.
Da war ein Barbier, von dem ich noch im folgenden Kapitel etwas zu
erzählen haben werde, ein halber Pennbruder, der in Chemnitz von
Herberge zu Herberge ging und Zureisende für fünf Pfennige rasierte
und für zehn Pfennige ihnen die Haare schnitt. Eben bei der Ausübung
seines Handwerks, natürlich mitten im Gastraum der Herberge, redete er
mit seinem Opfer, das er gerade unter den Händen hatte, auch einmal vom
Pastor:

Auch der hat nichts als eine Profession, von der er lebt; er muß das
eben machen, dafür ist es sein Handwerk. Natürlich kann er nicht
beweisen, was er da vorquasselt; das ist bloßer....

Dreck und Quatsch, ergänzte der andre.

Ich komme ooch in keene Kärche, lallte dann einer unsrer stets halb
angetrunkenen Stammgäste dazu. Ich war emal drinne. Das ist aber lange
her. Ich wollte ooch bloß drin schlafen; von Andacht keene Spur.
Albernheit -- Andacht!

Dann hörte ich einmal fünf junge, in der Mehrzahl verheiratete Männer,
die alle aus demselben etwa eine Stunde von Chemnitz gelegenen Dorfe
zu uns auf Arbeit kamen, sich bei dem Frühstück ebenfalls über ihren
Pastor und ebenfalls wenig schmeichelhaft unterhalten. Einer hatte
ganz sachlich von den Einnahmen des Kaisers geredet, und sie hatten
ausgerechnet, wie viel er an einem Tage zu verzehren hätte. Dazu fügte
nun sein Nachbar hinzu:

’S ist wie bei unserm Pastor, dem Spitzbuben. Der hat 27½ Thaler die
Woche und ist trotzdem nicht damit zufrieden. Die Pfarre war früher ein
großes Bauerngut. Als er nun herkam und sie sah, that er wunder wie
erfreut. Sie hätte ja so viel Stuben, daß er gar nicht wüßte, wo er
die Möbel alle hernehmen sollte, hätte er gesagt. Und kaum ist er ein
halbes Jahr bei uns, verlangt er auf einmal eine neue Pfarre, weil die
alte ihm über dem Kopfe zusammenbrechen könnte.

Ja, ergänzte ein andrer, und dazu predigt der Kerl stets genau nur 25
Minuten; aller fünf Minuten sieht er während der Predigt einmal nach
der Uhr.... Dann sagt er immer, daß er keinen Unterschied zwischen
reich und arm mache, und macht ihn immer, besonders bei Trauungen und
Taufen.... Aber ich habs dem Schwarzkittel neulich einmal gründlich
gesteckt, im Gasthof wars, und er hat mir kein Wort geantwortet,
sondern ging weg.

Dann erzählte der erste wieder:

Einmal hat er gesagt, mit neun Mark könnte eine Familie in der Woche
gut auskommen, und er selber hat 83 Mark! Und kommt doch nicht damit
aus! Denn als er ein Kind bekam, verlangte er aus diesem Grunde 200
Mark jährlich mehr! Geht mir nur mit dem ganzen Pastorenkram.

Damit meinte er auch das Christentum, dessen Träger der Pastor ja vor
allen sein soll.

Mitten in dies Gespräch hatte der vierte eine andre Episode erzählt,
seine Erlebnisse bei den Kirchgängen während seiner Militärzeit,
haarsträubende Dinge, die aber nur meine eignen Erfahrungen bestätigten.

Da sei während der Predigt unter der Kirchbank Skat gespielt worden,
daß es eine Lust gewesen wäre. Ja einer hätte aus der Schnapsflasche
Nordhäuser getrunken, indem er das Taschentuch über sie gehalten und
gethan hätte, als schnaubte er sich die Nase.

Man lachte herzlich darüber und schimpfte dann wieder auf den Pastor
weiter. Ich konnte nun freilich nicht kontrollieren, mit wieviel Recht.
Darauf kommt es aber auch hier nicht an. Die Hauptsache ist, daß man
daran sieht, wie unendlich rücksichtsvoll und taktvoll ein Pfarrer sein
muß, wie sehr er auf sich zu achten hat, um keinen begründeten oder
unbegründeten Anstoß zu geben.

Das beweist auch folgende andre Geschichte eines unsrer Packer. Ich und
alle hatten den Mann besonders gern; er war bereits Großvater, hatte
aber auch noch unerwachsene Kinder, die er sehr liebte, plagte sich
auch mit seiner Frau ehrlich für sie und war immer nüchtern, schlicht
und heiter. Er erzählte mir:

Ich komme nie mehr zu einem Geistlichen in die Kirche. Meine Jüngste
-- sie ist acht Jahre alt -- bettelt mich zwar immer darum. Aber ich
gehe nicht. Ich glaube ja an einen Gott, der für uns sorgt; ich fluche
auch nicht und dulde nicht, daß andre es thun; ich halte auch Frau und
Kinder zur Kirche an, aber ich gehe nicht. Ich mag mich von den Kerlen
nicht veralbern lassen.

Wieso veralbern lassen?

Ja, ich ging früher vor vielen Jahren auch in die Kirche. Aber da sah
ich einmal eines Sonntags früh -- er stammte auch aus einem Dorf in
der Nähe von Chemnitz -- unsern alten Pastor von der Jagd heimkommen,
Sonntags früh, eine halbe Stunde vor dem Gottesdienste! Da wars aus
bei mir. Ich kehrte auf der Stelle um und war niemals wieder in einer
Kirche. Veralbern lasse ich mich noch lange nicht.

Und noch eine derartige muß ich erzählen. Sie ist die traurigste von
allen, in Wirklichkeit glücklicherweise eine Seltenheit. Ein etwa
dreißigjähriger Schlosser, einer der Lustigmacher unter uns, der sich
sonst nichts um politische und soziale Dinge kümmerte, erzählte sie mir:

In unserm Dorfe -- ich bin aus dem „Gebärg“ (d. h. aus dem armen
Erzgebirge) -- trieb es der Pastor mit den Frauen im Dorfe und war
obendrein ein Säufer, der sogar das mühsam zusammengebrachte Geld für
ein neues Leichentuch der Gemeinde versoff. Er wurde allerdings dann
seines Amtes entsetzt, aber seitdem bin ich auf alle die schwarzen
Halunken wütend. Ich gebe ja zu, ein höheres Wesen mag existieren, und
Religion mag auch immer gelehrt werden. Und wenn einem Pastor nichts
nachgesagt werden kann, so lange muß man ja ruhig sein, so lange ist
er eben ein angesehner Mann. Im übrigen aber glauben die +Kerle doch
selbst nicht, was sie reden+. Das ist nun einmal so ihr Beruf, wovon
sie leben. Da kann man es ihnen auch nicht verdenken, wenn sie einfach
reden, was im Buche steht.

Ein andrer, schon ein alter Knabe, nur ein sehr unklarer Kopf, total
abhängiger Sozialdemokrat und sehr unbeholfen, schimpfte einmal:

Die Pastoren sind wie die Advokaten; sie fressen alles auf, wo sie es
herkriegen können. Aber jetzt sind die Leute nicht mehr so dumm wie
früher und geben alles her.

Der Mann dachte wohl ebenfalls an das gute, bequeme, arbeitslose Leben,
das nach ihrem Eindruck ein Pfarrer führt, und an die Geschenke, die
früher vor allem die Landleute ihm zu machen pflegten, dann aber, wie
ich aus Andeutungen merkte, ebenso sehr auch an die Stolgebühren,
die dem Pfarrer ehemals auch in Sachsen als ein Hauptteil seines
Einkommens direkt zuflossen, die aber hier glücklicherweise fast seit
zwei Jahrzehnten abgelöst sind. Trotzdem ist das ganze Urteil dieses
Mannes ein Zeichen dafür, wie tief das Bewußtsein von der sozialen
Ungehörigkeit dieser Einrichtung noch in den ältern Bestandteilen
dieses Volkes lebt. Ja, dies geht heute noch weiter: es empfindet
überhaupt die Verschiedenheit der Taxen für kirchliche Gebühren
und dementsprechend der kirchlichen Leistungen durch den Pfarrer
als eine soziale Ungerechtigkeit. So klagte einmal einer, ein noch
jung Verheirateter, dessen politische und religiöse Gesinnung ich
sonst nicht näher kennen lernen konnte, direkt, daß die Geistlichen
den Reichen, die es bezahlen könnten, viel schönere Taufen,
Trauungen, vor allem aber Begräbnisfeierlichkeiten hielten, als den
unvermögenden Arbeitern. Der Mann war obendrein verständiger als
jener eben Geschilderte. Er machte wenigstens den Pastor nicht dafür
verantwortlich. Vielmehr traf ich bei ihm eine überaus günstige Meinung
über den Diakonus, der unser Vorstadtdorf pastorierte, an. Er wäre
sehr gut und mitleidig und käme fleißig zu ihnen armen Leuten. Dies
Urteil über den Diakonus fand ich noch öfter -- aber immer galt er als
Ausnahme, galt diese gute Meinung nicht dem Pastor, geschweige dem
geistlichen Amte, sondern allein seiner Person, ein neues gewichtiges
Zeichen dafür, welchen Weg allein der Seelsorger zu gehn hat, um diesen
Leuten etwas zu zeigen von dem Adel, der Schönheit und dem Werte unsers
Christenglaubens: den der aufrichtigen, herzlichen, opferfreudigen,
durch und durch wahren Hingabe einer ganzen offenen, ehrlichen,
volkstümlichen Persönlichkeit in einem anspruchslosen, unaufdringlichen
Verkehr.

Eine neue Bestätigung dafür ist die gleich freundliche Haltung eines
andern stark und zudem selbstbewußt sozialdemokratisch beeinflußten
Mannes in den besten Jahren über denselben Diakonus. Er fluchte
zwar mitunter wie selten einer, beteuerte aber auch ernsthaft und
nachdrücklich, daß er fest glaubte, „daß es etwas Göttliches auf Erden
gäbe,“ und hatte eine unsäglich niedrige Meinung vom Katholizismus.
Sehr erklärlich, da er ein in Deutschland naturalisierter Deutschböhme
war, also den Katholizismus in dessen Heimat kennen gelernt hatte.
Er würde darum niemals eine Frau heiraten, die katholisch wäre;
denn diese stünden alle unter dem Willen und Machtgebot des Pfaffen.
Dagegen war es ebenso bezeichnend, daß ich bei Einheimischen nicht
die geringste Spur eines Verständnisses auch nur für den Unterschied
zwischen den Konfessionen, geschweige für einen Vorzug der eignen vor
der fremden fand.

Noch ein halbwegs freundliches Urteil über die Pfaffen möchte ich an
dieser Stelle registrieren, um alle die wenigen freundlichen kleinen
Bilder zu sammeln, die doch zwischen den vielen großen düstern
und ernsten sich ab und an fanden. Da war ein Bohrer aus einem
Nachbardorfe, der wie berichtet als Freiberger Jäger schon den Feldzug
von 1870/71 mitgemacht hatte und mir viel und stolz und anregend davon
erzählte. Er meinte einmal:

Man soll den Pastoren ihren Glauben lassen. Sie haben einmal darauf
studiert; und das kann nicht jeder.

Man versteht auch diese so unendlich bezeichnende Bemerkung. Für
den Mann, der ebenfalls vom Dorfe stammte, war die Religion wieder
nur ein logisch aufgebautes Gedankengebäude, dessen man sich durch
Verstandesarbeit, durch wissenschaftliches Studium bemächtigen müßte,
und das für ihn selbst zu hoch, zu schwierig, zu unfaßbar war, -- die
alte rein katholisch-mittelalterliche Stellung zu den Mysterien der
aus der Verbindung mit dem Neuplatonismus erwachsenen dogmatischen
Spekulationen. Die Folge war, daß der aufrichtig gute Kerl,
ursprünglich deutlich religiös angelegt und gestimmt, nun innerlich
verwaist und vereinsamt war, zumal da er obendrein noch sichtlich unter
dem Drucke des sozialdemokratischen Terrorismus stand. Denn es war
weiter bezeichnend, was er sofort jener obigen Bemerkung hinzufügte:

Aber wir wollen davon nicht weiter reden; denn so etwas darf man in der
Fabrik nicht laut sagen!

Ich bin hier an der Stelle, um nun die innere Verfassung auch der
Gruppe meiner Arbeitsgenossen noch genauer zu schildern, die eben
unter dem dämonischen Einfluß jener sozialdemokratischen Fanatiker
noch mitten in der verhängnisvollen Krisis des Übergangs von der
alten Bildung und den antiquierten Glaubensformen in die neue, für
sie gleich lückenhafte, modern sozialdemokratische Halbbildung
und Glaubenslosigkeit mit allen Zweifeln und ihrer Haltlosigkeit
standen. Das kam, wie gesagt, namentlich bei wirklich mit religiösen
Bedürfnissen ausgestatteten Naturen oft zu ergreifendem Ausdruck.
Ich erinnere an den Handarbeiter, den ich schon mehrmals erwähnte.
Er stand, von Anlage eine ziemlich kritische Natur, seit dem Tode
seines zärtlich geliebten Kindes in ewigem innern Ringen, Suchen und
Sehnen, aber trotzdem so sehr unter dem Banne der für ihn einfach
schlagenden Argumente der glaubenslosen sozialdemokratischen Agitation,
daß er nach jedem Ansatz in hoffnungsloses Verzweifeln zurückfiel. Es
war nicht damals nur am Schlusse jenes langen Gesprächs vor meinem
Rundsägegatter, daß er bei mir Gewißheit, aber ganz feste Gewißheit
suchte. So traf ich ihn einmal sonntags auf dem Friedhof unsers Ortes
am Grabe seines Kindes zusammen mit seiner Frau, die seine Zweifel
und seine Hoffnungslosigkeit teilte. Da mußte ich ihnen abermals von
meinem Glauben, meiner Auferstehungsgewißheit reden, auch hier wieder
vergebens. Denn einige Tage nachher sagte er mir einmal ganz plötzlich
und unvermittelt -- es war beim gemeinsamen, mühsamen Einschmirgeln
zweier großer Platten --:

Du, mit deinem Glauben ist es doch nichts. Gestern abend war ich wieder
auf dem Gottesacker und traf zwei Frauen. Die hatten auch nicht viel
Hoffnung wegen des Wiedersehens. Sie meinten auch, wo denn die vielen
Millionen Toten hin sollten, wenn sie alle ewiges Leben hätten.

Ich versuchte abermals, diesen im Volke weit verbreiteten Gedanken, der
auch so eine Frucht des alten falschen, verstandesmäßigen Glaubens ist,
zu widerlegen. Ich machte ihn auf den Glauben an die Allmacht unsers
Gottes aufmerksam, und daß wir darüber gar nicht grübeln könnten, und
grübeln sollten, weil wir doch auf diesem Wege zu keinem Ziele und
niemals zum Glauben kämen; daß wir uns nur an Gottes Liebe zu halten
brauchten, deren wir aus Jesu Christi ganzer Person unerschütterlich
gewiß würden.

Aber er auch da wieder:

Ja, es muß schön sein, wers glauben, ganz gewiß glauben kann, für Leben
und Sterben schön. Aber wers nicht glaubt, ist doch auch nicht gerade
ein Sünder. Es ist ja alles gleich, ebenso wie im Grunde auch die
Katholiken, die Juden und Türken nichts andres glauben. Und davon ließ
er sich nicht abbringen.

Ein andermal, eines Abends in einer ganz kleinen aber gemütlichen
Kneipe, erzählte er mir folgende für seine innere Verfassung unendlich
bezeichnende Geschichte mit vollstem, bitterstem Ernste:

Weißt du, wie unser Kind gestorben war, kam gleich der Diakonus zu uns
und wollte uns trösten. Wir sollten vor allem Gott um Kraft und Trost
bitten, meinte er. „Das haben wir auch während der ganzen Krankheit
gethan, und es hat doch nichts geholfen; sie ist doch gestorben,“
antwortete meine Frau. Und weißt du, was er darauf sagte? „Sie
haben aber doch gebetet: Vater +dein+, nicht +mein+ Wille
geschehe!“ +Siehst du, die Leute haben doch immer eine Ausrede!+

Dann traf ich ihn, es war gleich in den ersten Tagen meiner Fabrikzeit,
und wir machten eben eine schmierig gewordene große Hobelmaschine rein,
wieder einmal in eifrigem Gespräch mit vier andern, alle von seiner
Natur, wie er im Zweifeln und Kämpfen. Ich hatte erst nicht auf ihr
Gerede geachtet und kniete am Boden, um Hobelspäne zusammenzulesen. Da
sagte plötzlich ganz laut und ganz energisch der eine:

Nein, nein, ich lasse es mir nicht nehmen, ein höheres Wesen giebt es.

Es war jener einzige in der ganzen Fabrik, der ein überzeugtes
Christentum noch offen und ehrlich bekannte, der mir dann, ein moderner
Märtyrer, sagte, daß er darum von allen in den ersten Jahren seiner
Anwesenheit in der Fabrik viel verspottet worden wäre und viel zu
leiden gehabt hätte, den man aber jetzt als unverbesserlich aufgegeben
hatte und ruhig, ohne unfreundlich gegen ihn zu sein, seine Wege gehn
und seines Glaubens leben ließ.

Als ich ihn jenes Nein, nein sagen hörte, sah ich natürlich überrascht
vom Boden auf. Und sofort bemerkten sie mein Erstaunen, und nun
erklärte ein dritter:

Die beiden haben oft solchen Diskur (d. i. Gespräch) mit einander. Und
ich höre auch ganz gern zu. Ich habe auch ein Kind verloren und mache
mir so meine Gedanken. Ist der Glaube wirklich bloß eine Einbildung,
wie die meisten andern sagen? Oder ist das nicht bloß Profession von
den Geistlichen, wenn sie so predigen und reden? Warum thut Gott heute
keine Wunder mehr? Warum läßt er so viel Unglück in der Welt zu? Warum
geht es so vielen Guten schlecht?...

Ja, und wenn es mir schlecht geht -- nun, da haue ich eben alles hin,
fügte wieder einer hinzu. Der fünfte aber rief dazwischen hinein:

Wollt ihr noch nicht bald mit dem Zeuge aufhören!

Aber der „Bekenner,“ der den andern so gut und so schlecht, als
seinem selbst unklaren und natürlich ganz nach der alten Schablone
zugeschnittenen Glauben möglich war, Antwort zu geben versuchte und in
diesem Falle die andern auf seiner Seite und sich also einmal als der
stärkere, überlegenere wußte, brachte ihn schnell zum Schweigen:

Sei du nur stille. Du bist freilich ein halber Teufel, gerade wie ein
Stück Vieh, das sein bißchen Fressen hineinschüttet und schläft und
damit zufrieden ist.

Aber so schlimm war es nun wirklich nicht. Auch er war vielmehr ein
Typus, für eine andre freilich kleine Gruppe ehemaliger Landarbeiter,
die auch jetzt noch in den nahen Dörfern ihren Wohnsitz hatten. Er
erklärte mir später, zwar was die Pastoren redeten, wäre meistenteils
Quatsch, aber er ginge doch auch in die Kirche, ja sogar ein „hübsch
paarmal.“ Bloß die letzte Zeit hätte er lange ausgesetzt, weil
er keinen ordentlichen Anzug hätte. Hier zeigt sich ein andrer
katholischer Zug des bisherigen kirchlichen Lebens, der sich namentlich
auf dem Lande findet: daß man in die Kirche geht, ohne eine innere
Anteilnahme dazu für nötig zu finden. Der bloße Gang, diese schuldige
Visite bei dem lieben Gott, ist ein gutes Werk und genügt. Das übrige
besorgt schon dieser liebe Gott und diese Kirche durch den Pastor, der
dazu angestellt und bezahlt ist, heilig und fromm zu sein.

Sonst war natürlich der Kirchenbesuch von Leuten aus der Fabrik
minimal. Der echte Sozialdemokrat, das heißt, der es wirklich war oder
doch als solcher gelten wollte, ging selbstverständlich niemals in eine
Kirche; aber formell aus ihr ausgetreten waren doch auch wieder nur
wenige. Jener Monteur, der über Luther so absprechend geurteilt hatte,
war wohl der einzige, wenn ich mich recht entsinne. Er machte sich mir
gegenüber wenigstens über die Schwächlichkeit und die Kraftlosigkeit
der Kirchgemeinden lustig. Die wären so ohne Leben, daß der Pfaffe
dem, der öffentlich austräte, noch wegen seiner Überzeugungstreue ein
Kompliment machte. Die andern, die drin blieben, hätten überhaupt gar
keine Überzeugung mehr und wären die Gleichgiltigkeit selbst. Hatte er
da wirklich so unrecht? Zeugt nicht das wieder für das, was uns fehlt,
was wir haben müssen: lebendige kraftvolle christliche Gemeinden?

Aber auch von jenen armen Zweiflern, Abhängigen, Halben, die noch
haltlos und hilflos, zweifelnd und seufzend, willenlos zwischen den
beiden Weltanschauungen hin und her geworfen wurden, bei denen also
noch am meisten Sehnsucht nach religiöser Aufklärung und Befriedigung
vorhanden war, gingen nur wenige und ganz selten einmal in die Kirche,
dagegen um so öfter auf den Kirchhof, an ihre Gräber, um hier zu
trauern und zu zagen. Jener vielerwähnte Handarbeiter zum Beispiel
hatte, wie er mir sagte, die Kirche seit fünf Jahren nur einmal
betreten, während er früher in seiner Heimat Sonntag für Sonntag
hineingegangen sei. Aber das war nun alles vergessen, und nun besann
man sich des Sonntags gar nicht mehr auf sie. Das ganze heutige
sonntägliche soziale Leben der Bewohner einer Fabrikarbeitervorstadt
ist eben gar nicht mehr darauf zugeschnitten, auch wenn man, wie in
Sachsen schon lange fast durchgängig, wirkliche Ruhe von der Arbeit,
sogenannte Sonntagsruhe hatte. Das trat aus eines andern Äußerung
besonders deutlich hervor.

Er war ebenfalls vom Lande, oder besser aus dem „Gebärg,“ in eine der
Vorstädte und unsre Fabrik hereingekommen. Er war ebenfalls einer der
wenigen, die über ihren Pastor nicht direkt schnauzten, wenn er ihn
auch nicht gerade als einen besondern Liebling verehrte. Er sagte in
aller Ruhe:

Früher, in unserm Dorfe, gingen wir immer in die Kirche. Da war es eine
Schande, wer es nicht that. Aber seit ich hierher gezogen bin, komme
ich fast nie mehr hinein. +Hier ist es nicht Mode, und da spielen wir
sonntags vormittags lieber einen tüchtigen Skat.+

Würde das -- es ist das ein Bild aus einer Gesamterscheinung -- möglich
sein, wenn das kirchliche Leben auf dem Lande wirklich rege, die
Predigt wirklich modern und kraftvoll wäre? Dann müßte die Sehnsucht
nach der Kirche und nach Gottes Wort solche Herzen auch in ihren neuen
weniger günstigen Wohnorten unwiderstehlich in die Kirche ziehen.
Aber über die Kirche ist man eben längst hinaus, auch die, die noch
Bruchstücke von ihren Lehren sich bewahrt haben, weil man in ihr meist
nur die gleichartige Schwester der Schule, aber nicht das Heiligtum
gefunden hat, aus dem der Mensch, auch der Fabrikarbeiter, immer wieder
seinen Frieden, sein Glück, seine Kraft für das harte Leben der Woche
holt.

So äußerte sich ein Dreher, ein heitrer, freilich etwas kalter, aber
sonst selbständig und verständig urteilender Mann:

+Ich gehe fast nie mehr in die Kirche, das haben wir ja alles schon
in der Schule genug gehabt.+ Aber sie muß sein; sonst wäre der
Teufel vollends los. Das gefällt mir auch an der Sozialdemokratie
nicht, daß sie gegen die Kirche so räsonniert. Auch meinem
Schwiegervater nicht. Die meisten Pfaffen sagen es doch den Großen
ebensogut wie uns. Er kann es doch nicht ändern, wenn niemand auf ihn
hört.

Ein Stückchen Wahrheit liegt auch darin. Ebenso ein andrer, ein echter
Sohn des Dorfes:

Ich glaube nur an ein höheres Wesen und eine Fügung. Ich bete auch
immer noch, wie ich es als Kind gelernt habe, und könnte abends, ohne
das Vaterunser gebetet zu haben, gar nicht einschlafen, wenn ich
auch weiß, daß es nichts hilft. Sonst glaube ich nichts mehr, an ein
ewiges Leben nun gar nicht; und Christus war ebenso einer wie die
„Sozialschen.“ +Aber zum Pastor gehe ich schon lange nicht mehr in
die Kirche. Denn was der mir sagt, weiß ich längst aus der Schule und
Konfirmation.+

Diese zwei zuletzt erwähnten gehören nun wieder einer besonders
gefärbten Gruppe an. Nicht allzu zahlreich, sind sie mit die
gesundesten und thatkräftigsten Naturen von allen. Auch sie, die sich
fast alle aus ländlichen Kreisen rekrutieren, sind ebensowenig wie
alle andern von jener Krisis verschont geblieben, die alle in ihre
Strudel reißt. Aber da sie weder die alte noch die neue Bildung, weder
der alte noch der neue Glaube zu befriedigen vermochte, sie aber doch
etwas derartiges haben mußten, so haben sie sich ihre eigne Bildung,
ihr eignes bißchen Philosophie zurecht gemacht, die nun freilich oft
wunderlichster Art ist, ein Gemisch von Altem und Neuem, mit viel
persönlich bestimmter Kritik und Beweisführung durchsetzt, aber auch
noch mit manchen Resten aus der Vergangenheit ausgestattet. Natürlich
standen und stehen auch sie unter dem Einfluß der sozialdemokratischen
Genossen, vor denen ihre Überzeugungen und Gründe meist nicht Stich
genug zu halten pflegen. Darum bekennen sie auch nicht gleich Farbe,
verhalten sich durchschnittlich zurückhaltend und stoßen ab und an mit
der Sozialdemokratie in ein Horn, um sich nicht deren Spott und Hohn
auszusetzen, gegenüber dem auch sie waffen- und wehrlos sind. Darum
gehen sie auch gewöhnlich nur vor demjenigen aus sich heraus, zu dem
sie als einem gleich oder doch ähnlich gesinnten Vertrauen gefaßt
haben. Und auch dann sprechen sie sich am liebsten nur unter vier Augen
aus. Aber auch ihnen fehlt jedes Leben und alle Wärme des Glaubens,
das Bewußtsein davon, daß das Christentum eine Kraft, ein innerer
Frieden, eine wahrhaftige unirdische und überirdische Seligkeit ist.
Auch ihnen ist, was sie davon noch gerettet haben, ein Stück bloßer
Verstandesbildung, nur ein Stück Wissen und alter Sitte.

Ach, die verfluchten Pfaffen, sagte einmal so einer plötzlich zu mir,
als ich ihn fragte, ob sie eine Kirche in ihrer Vorstadt hätten.

Wie so?

Das sind ja alles große Heuchler, größere wie wir alle. Von denen lasse
ich mir nichts mehr sagen.

Das erstere können Sie wohl kaum beweisen, und was das letztere
betrifft, so haben die Leute doch mehr gelernt als alle in der Fabrik.
Das wäre also auch nicht so schlimm. Lernen kann und soll man doch von
jedem.

Da sah mich der Mann rasch, überrascht an. Und als er sah, wes Geistes
Kind ich war, lenkte er ein. Zwar auf die Pfaffen im allgemeinen blieb
er wütend. Nur von einem redete er dann lange freundlich und gut, von
dem bekannten Achtundvierziger, Pastor Würkert in Zschopau, der ihn
dort konfirmiert hatte.

Jetzt ist es mir freilich viel lieber, sonntags ein gutes Buch zu
lesen, als in die Kirche zu gehn. Da habe ich mehr davon. Aber auch
wenn ichs wollte, käme ich kaum dazu. Ich habe gar nicht einmal die
Zeit. Denn da muß ich meiner Frau das Mittagsessen für unsre vielen
Schlafleuten mit machen helfen. Übrigens war ich voriges Jahr zu unsrer
silbernen Hochzeit zum heiligen Abendmahl mit meiner Frau.

Das klingt ja ganz anders als vorhin, warf ich dazwischen.

Ja wie die richtigen Sozialisten mache ich es auch nicht, die beim
Begräbnis den Sarg in das Grab herunterlassen und dann stracks davon
rennen. Ich höre mir die Rede vom Geistlichen ruhig mit an und mache
mir eine Lehre daraus. Auch das ist nicht recht, wenn die Sozialisten
zum Austritt aus der Kirche drängen. Ich bin getauft, dabei bleibe ich.

Ja, man muß auf seinen Glauben etwas halten, bestätigte ich.

Meinen Glauben habe ich für mich, verbesserte er. Was im ganzen Alten
Testament steht, daran glaube ich nicht. Auch nicht an die Geschichte
von der Schöpfung der Welt. Und im Neuen glaube ich auch nicht alles.
Nur was von Gott und dem Heiland drin steht, mag ja etwa wahr sein.

Auch zwei Katholiken waren unter dieser Kategorie. Der eine war ein
Deutschösterreicher, hatte in Böhmen sein Geschäft verloren und war
seit anderthalb Jahren in Chemnitz und in unsrer Fabrik, erst als
Handarbeiter, nun als Bohrer. Da er keine Geschäftssorgen mehr und
auch keine Kinder hatte, auch seine Frau noch mitverdiente, war er
immer guter Laune. Auch der Mann hatte unser langes Gespräch am
Rundsägegatter meist schweigend mit angehört. Nur einmal hatte er
ausdrücklich einer spöttischen Bemerkung des einen meiner damaligen
Widerparts zugestimmt. Kurz vor meinem Fortgang aus der Fabrik kam ich
nochmals mit ihm allein auf religiöse Dinge zu sprechen. Da redete er
nun ganz anders. Da hörte ich, daß er mit seiner Frau nicht zu selten
in die Kirche ging. Das letzte Jahr war er viermal drin gewesen --
natürlich in einer evangelischen, wie er mir stolz versicherte. Das
war in der That schon viel für die dortigen Verhältnisse. Er lobte die
evangelische Predigt sehr, namentlich die Trauungen, wo eine so schöne
„Lehre“ dabei sei. Er glaube nicht mehr an die Heiligen, die Mutter
Maria u. s. w., aber noch an Gott und Christus.

Zweifelhafter an Charakter und religiöser Gesinnung war sein
Glaubensgenosse. Er war schon in die Fünfzig und kinderloser Witwer,
ging aber wieder auf Freiersfüßen, was ihn jedoch nicht abhielt, sich,
wo es ihm geboten ward, mit andern Mädchen aufs intimste abzugeben. Er
war lange Zeit Bote des Vereins für innere und äußere Mission eines
sächsischen Superintendenten gewesen und ging, wie er sagte, aller drei
bis vier Wochen einmal zur Kirche. Aber niemandem sagen! fügte er dazu.
Sonst geht es mir schlecht hier.

Ebenso wars noch mit einem jungen, etwa dreißigjährigen Hamburger. Auch
er hatte mir früher -- freilich beiläufig -- wenig Schmeichelhaftes
über Kirche und Christentum gesagt. Und auch er redete in der letzten
Zeit meiner Fabrikzeit, wo er mich kannte, ganz anders:

+Sieh, ich bin draußen ein andrer als in der Fabrik+, sagte er
einmal ganz unaufgefordert. Ich glaube an Vater, Sohn und heiligen
Geist und auch an Wunder; denn ich habe selbst welche erlebt. Wenn ich
Sonntags nichts zu thun habe, gehe ich mit meiner Frau in die Kirche.
Hier drin in der Fabrik darf man aber davon nichts merken lassen.

Ich weiß nicht, ob das seine innerste Überzeugung war. Er nahm das
Leben sehr leicht und oberflächlich, war übrigens ein hübscher Kerl und
stand sehr unter dem Regiment seiner gleichaltrigen, ebenso tüchtigen
und energischen als eifersüchtigen Frau. Ich traute ihm nicht. Er hatte
mir geradezu einmal gesagt, daß er es darauf anlegte, daß die Leute
nicht aus ihm klug würden. Das wäre das allerbeste. Einmal beteuerte
er, daß er nicht Sozialdemokrat wäre, und dann wieder einmal, daß er
aus unserm sozialdemokratischen Wahlverein austreten wollte.

Als ich ihm auf sein obiges Bekenntnis bedeutete, wenn das wirklich
seine Überzeugung und sein Christentum wäre, so dürfte er es auch nicht
verleugnen, sondern müßte es frei und offen bekennen, sah er mich ganz
erstaunt und verständnislos an.

Aber nun genug dieser trüben Bilder, die ich wohl leicht noch durch
manche andre vermehren könnte. Doch ich glaube, mein Beweis ist
auch durch diese schon schlagend geführt. +Und es ist in der That
kein Ausweg übrig, wir müssen nach alledem anerkennen, daß der
materialistisch-sozialdemokratische Einfluß nirgends so gründlich
mit den überkommenen Anschauungen und Empfindungen der Arbeiter
aufgeräumt hat, als auf dem religiösen Gebiete.+ Die alten Gebilde
und Denkformen, in die der Glaube des Christentums bisher gefaßt und
geprägt war, sind in der Masse der großindustriellen Fabrikarbeiter
für immer zerstört. Und mit den Gefäßen ist für viele von ihnen heute
auch der Geist zerbrochen, der sie erfüllte, und der allein das
Wesentliche, das Wertvolle, die Wahrheit ist. Nun wächst eine Welt ohne
Gott da unten herauf, zieht ihre immer größern Kreise, zwingt die noch
Ringenden, Zagenden, Schwankenden, die im Grunde nichts wissen wollen
von den öden Glaubenslehren der materialistischen Weltanschauung, immer
von neuem in ihren eisigen Bann. Von der eignen Kirche ohne Hilfe, ohne
Aufklärung, ohne Führung und Stärkung gelassen und von der Atmosphäre
sozialistischer Ideen unentrinnbar umgeben, sterben sie alle einen
langsamen, oft qualvollen geistigen Tod.

Ein einziges nur ist allen geblieben: die Achtung und Ehrfurcht
vor Jesus Christus. Auch der ausgesprochenste Sozialdemokrat
und Glaubenshasser hat sie, ja gerade er mehr als mancher
sozialdemokratisch Nichtverpfändete. Wohl macht man sich ein ganz
andres Bild von diesem Jesus von Nazareth als bisher; es fehlt ihm in
ihren Augen der Glorienschein, den die Kirche ihm um die hohe Stirne
gewoben hat; man lächelt über seine von den Theologen ihm „zugemutete“
Göttlichkeit; für sie ist er meist nur noch der große soziale
Reformator, der mit religiösen Mitteln, aber vergeblich das goldne
Weltalter heraufführen wollte, das auch sie erstreben und, glücklicher
als jener, schaffen werden. Aber sie alle halten doch sinnend still vor
seiner großen Persönlichkeit.



Siebentes Kapitel

Sittliche Zustände


Die sittlichen Zustände unter meinen Arbeitsgenossen waren noch viel
deutlicher als ihre sozialen, politischen und religiösen Gesinnungen
das gemeinsame Produkt der alten christlichen Sittlichkeit, neuer,
durch diese noch nicht geadelter Lebensordnungen, sozialdemokratischer
Lehren und menschlicher Leidenschaften, die nur halbgebändigt natürlich
auch in diesen Menschen gären und glühen.

Über den ersten der vier Punkte bedarf es kaum noch eines Wortes
näherer Ausführung. Das Sittengesetz des Christentums, das in der
geschichtlichen Person Jesu von Nazareth als erfülltes Ideal uns von
Gott offenbart ist, seitdem das starke Rückgrat aller christlichen
Jugenderziehung, sitzt noch als das beste Stück ihres sittlichen
Charakters und ihnen selbst oft unbewußt auch in den Herzen der mir
nahegekommenen Arbeiter fest. Es gilt auch ihnen noch als Maßstab und
Wertmesser für alle Handlungen und Gedanken, als die unsichtbare letzte
Instanz, die Macht des Gewissens, die zwar oft beiseite geschoben,
umgangen und zum Schweigen gebracht wird, die aber trotzdem auch
in ihren Augen eine unantastbare Autorität und selbstverständliche
und natürliche Ordnung ist. Zwar auch diese christlich-sittlichen
Begriffe sind ihnen ebenso wie die religiösen Heilswahrheiten unsers
Glaubens mehr nur anerzogen, als in ihrer Notwendigkeit und Schönheit
erkannt und innerlich angeeignet. Aber hier ist diese Methode viel
mehr Notwendigkeit und darum weniger schädlich; sie bleiben daher
auch viel mehr als jene den Seelen eingeprägt, als ein niemals wieder
ganz verlierbares Eigentum des einzelnen, in der That ein Teil seiner
Persönlichkeit; und sie sitzen auch irgendwieweit noch im Herzen,
wenn bereits die letzte religiöse Empfindung verflogen ist; aber sie
verlieren dann freilich mit dieser ihren stärksten Halt, den immer
erneuten Beweis ihrer Notwendigkeit und Wahrheit, ihren mächtigsten
Impuls, ihren unmittelbarsten Schwung. Sie erstarren dann oft zu einer
nur äußern Schale, hinter der nur wenig und verborgen noch Feuer des
sittlichen Lebens glimmt. Aber sie sind doch, auch erstarrt, noch da;
sie sind, gewollt oder widerwillig, stärker oder schwächer doch noch
maßgebend für die ganze Haltung auch der Fabrikarbeiter und für die
sittlichen Zustände, die unter ihnen herrschen, noch der Boden, aus
denen diese herauswachsen.

Freilich wie überall nicht ungehindert, in Reinheit und Lauterkeit.
Gerade die neuen, ungeordneten, nur durch das Interesse des Stärkern
bestimmten sozialen Beziehungen, in die dieser neue Stand der
großindustriellen Fabrikarbeiter hineingestellt ist, üben hier einen
besonders verhängnisvollen, wenn auch nicht, wie die „Wissenschaft“ der
Sozialdemokratie behauptet, den alleinigen Einfluß aus. Man denke nur
einen Moment an die Einkommens- und Wohnungsverhältnisse, wie sie im
zweiten Kapitel angedeutet sind: sie machen es in den meisten Fällen
den Durchschnittsmenschen auch beim besten Willen unmöglich, das alte
schöne sogenannte christliche Familienideal zu verwirklichen, von dem
man auf den Kanzeln so gern predigt. Man denke weiter an die elf- bis
zwölfstündige Arbeit in der tosenden, schwülen Fabrik; wie schwer
läßt sich darauf der evangelische Gedanke vom Berufe, den wir so oft
verkündigen, anwenden! Wie soll sie dem Menschen innere Befriedigung
und Freude gewähren und das Mittel werden, durch das sich seine
Persönlichkeit zu entfalten und als ein geschlossenes, harmonisches,
zweckbewußtes, lebens- und strebensvolles Ganze auszugestalten vermag?
Man denke daran, wie die durch die Sorge um das Brot notwendige
alltägliche lange Abwesenheit oft beider Eltern von daheim und dafür
die Anwesenheit fremder selbst ungezogener und ungehobelter junger
Menschen eine auch nur einigermaßen geregelte Erziehung der Kinder
vereitelt. Man denke weiter auch daran, daß die unverhältnismäßig
günstigen Löhnungsverhältnisse der unbeaufsichtigten Jugend notwendig
zu dem Leichtsinn, der Roheit und der Verschwendungssucht führen
müssen, die man unter ihnen in erstaunlichem Umfange verbreitet findet.
Aber es ist nicht nötig, an dieser Stelle weitere Beispiele zum Beweise
anzuführen. All das ist schon oft und objektiv genug von andern
aufgezählt worden. Hier gilt es nur nochmals zu betonen, daß sie alle
zu einem bedeutenden Teile die Folgen der anarchischen wirtschaftlichen
Zustände sind, die der großindustrielle Fabrikbetrieb in seiner
Verachtung sittlicher Rücksichten und Werte unter den Arbeitern
gezeitigt hat.

Und diese Folgen mußten für den sittlichen Charakter der Leute um so
verhängnisvoller sein, als in dem Maße, wie sie sich zeigten, zugleich
auch die religiösen Fähigkeiten unter ihnen schwanden, die seine
beste Stütze sind, und dafür die Lehrsätze der Sozialdemokratie in
Wirksamkeit traten, die seinen Verfall beschleunigen.

Wir wissen, daß die Sozialdemokratie eine neue widerchristliche
Weltanschauung hat. Sie hat dementsprechend auch eine andre,
widerchristliche, wenn überhaupt eine Sittlichkeit. Nach ihr ist,
wie schon oben angedeutet wurde, der Begriff der Sittlichkeit nur
ein andrer Ausdruck für denjenigen der herrschenden Sitte. Diese
aber wird wieder ausschließlich geschaffen durch die jeweiligen
wirtschaftlichen Zustände, innerhalb deren sich eine Volksschicht
befindet. Jede Schicht hat ihre eigne Sittlichkeit, die mit dem
wirtschaftlichen Niveau wechselt. Es giebt also keine ewig giltigen,
in den Menschen von oben eingepflanzten Sittengesetze. Man kennt
darum auch keine Sittlichkeit um Gottes und des innern Gewissens,
sondern nur um dieser materiellen Zustände, also um des irdischen
Vorteils willen. Die Sozialdemokratie fordert freilich theoretisch
für und von jedem einzelnen die Verwirklichung dieser „Sittlichkeit“
mit Rücksicht auf das Befinden des andern, aber auch dies nur wieder
um des eignen Vorteils willen, der verloren ginge, wenn der Bogen zu
straff gespannt und das Behagen des einen mit dem des andern bezahlt
würde. Dann würde dieser gereizt auch dem des andern ein schnelles
Ende machen. So soll das Nützliche, nicht das Gute nach der Lehre der
Sozialdemokratie das treibende Motiv aller sittlichen Handlungen sein.
Der Egoismus ist, ganz parallel zu dem Geiste der Wirtschaftslehre
des Manchestertums, auch von der Sozialdemokratie, nur in andrer
Gestalt und andrer Begründung, als der Gott proklamiert, der alles
regiert. Daß diese Grundsätze auf den durch ein mangelhaftes religiöses
Bewußtsein und durch die soziale Unordnung an sich schon geschwächten
sittlichen Charakter der Arbeiter neue schlimme Wirkungen üben müssen,
ist selbstverständlich. Diese Wirkungen werden auch nicht verringert
durch die Thatsache, daß diese philosophisch-ethischen Lehrsätze der
„wissenschaftlichen“ Sozialdemokratie nur von wenigen Arbeitern klar
erkannt sind. Wenn sie sie auch nicht als Lehrsätze deutlich verstehen,
umweht sie doch ihr Geist als die neue Atmosphäre, die sie seit den
Erfolgen der sozialdemokratischen Agitation umgiebt, und der sie nicht
entgehn können, wie sie der natürlichen Luft nicht entgehn können, die
sie atmen müssen. Und eben in dieser Agitation selbst ist ihnen das
beste Beispiel der Verwertung dieses neuen Geistes gegeben. Es ist der
Geist der absoluten Gewissenslosigkeit, der ihr entströmt, und dem alle
Mittel und Wege genehm sind, wenn sie der Parteisache nicht schädlich
werden können; es ist der Geist der ungebändigten Leidenschaftlichkeit,
der auch bei andern diese selben elementaren Leidenschaften des
Hasses, der Verbitterung, der Verleumdung, der Vergewaltigung weckt,
wenn nur ein Vorteil für die Partei erreicht wird; es ist direkt auch
der Geist der bewußten, überlegten Fälschung, der mit klarem Blick
und kaltem Blute herrschende Mißstände, also Ausnahmezustände, aus
parteiagitatorischem Interesse als ideale Ansätze neuer sozialer
Bildungen erklärt, sie theoretisch vervollständigt und ausbaut und
wieder als neue treibende Prinzipien mit verstärkter Wirkung in das
öffentliche Leben hineinwirft, und es so erreicht, daß jene Übelstände
immer größer, daß die Ausnahmezustände chronisch, und dadurch die
christlich-sittliche Gesinnung der beteiligten Arbeitermassen immer
schwächer und widerstandsunkräftiger wird. Ich erinnere hier nur an
ihre Lehre von der Ehe und ihr Schlagwort gegen das Sparen.

Freilich, auch eine Reihe idealer Kräfte weckt diese Agitation in der
Seele des Volkes: die Begeisterung für ein neues, weites Bildungsziel,
das Streben nach der Erhebung aus einer ewig stagnierenden
wirtschaftlichen Lage, den Glauben an eine hohe, wirtschaftliche und
politische Mission des vierten Standes und das allerdings überspannte
Bewußtsein von dem Berufe einer internationalen Verbrüderung aller
Völker über die Grenzen des eignen Landes hinaus. Aber auch diese
idealen Kräfte verlieren durch den Charakter, mit dem sie zur Geltung
gebracht werden, zum großen Teil den guten erziehlichen Einfluß,
den sie in der That haben könnten, weil auch sie in den Dienst jener
Nützlichkeitsmoral gestellt und von jener Agitation mißbraucht und
entwürdigt werden, die nichts kennt, als das Interesse der Klasse und
der Partei.

Und nun füge man zu dem allen noch die tausend verschiedenen
Charaktere, die von Natur auch in der Arbeiterschaft, ja hier
ursprünglicher als in andern Bevölkerungsschichten, weil hier
weniger durch gesellschaftliche Schranken gehemmt, ausgeprägt sind,
die Dutzende guter und schlechter Eigenschaften, die ihren Trägern
angeboren sind, die mancherlei Neigungen und Hoffnungen, die dem
einzelnen sein Lebensgang geweckt hat, die Leidenschaften, die auch
in ihm gären und aus seinem Herzen oft mit rücksichtsloser Gewalt
hervorbrechen, kurz, man nehme die Menschen, wie sie von Natur sind,
mit ihren Sünden und Sorgen, ihren Wünschen und Vorsätzen, alle
verschieden, jeder ein Unikum, und mische das alles mit den Wirkungen
jenes höhern christlichen Sittengesetzes, das in ihrer Jugend in
ihre Seelen gesenkt ward, jener oft erbärmlichen sozialen Zustände,
unter deren Druck sie seufzen, jener wundersamen sozialdemokratischen
Lehren, die wie die Luft sie umgeben, so wird das Produkt von dem allen
ein ungefähres Bild der sittlichen Zustände geben, die in Wahrheit
in der von mir beobachteten Arbeiterschaft herrschen. Sie sind wie
überall ein Durcheinander von Gutem und Schlechtem, eine tragische
Vereinigung von fremder und eigner Schuld. Und stets spiegeln sie
sich in den Tausenden von Einzelpersönlichkeiten in tausend immer
verschiedenen Schattierungen wieder. Es ist darum thöricht, wie es
manchmal geschieht, zu meinen, eine Darstellung dieses sittlichen
Charakters der Arbeiter durch Anführung einzelner besonders
hervorstechender Züge geben zu können. Es gehört ein langes Studium,
ein feines psychologisches Urteil und ein mit den Arbeitersorgen
zusammenschlagendes Herz dazu, um die Tiefe ihrer Seelen, ihren ganzen
sittlichen Charakter recht verstehn und schildern zu können. Auch ich
maße mir nicht an, auf Grund meiner nur dreimonatlichen Beobachtungen
dies leisten zu können. Ich vermag nur einige Gesichtspunkte zu geben,
die mir besonders deutlich an ihnen geworden sind, und die zu einem
ganzen Bilde zu vervollständigen ich spätern Arbeiten überlasse.

Eine Bemerkung, die sich an das eben Erörterte von selbst anschließt,
muß ich der Wahrheit halber als die erste dieser beobachteten
Thatsachen an die Spitze stellen. Man soll nicht meinen, daß unter
den Arbeitern die enragiertesten Sozialdemokraten die sittlich
anrüchigsten, die am wenigsten mit der Sozialdemokratie verknüpften die
lautersten Naturen sind. Es ist ebenso oft das Gegenteil von beidem
der Fall. Wo ein Mann schon von Natur edler und tiefer angelegt, in
seiner Jugend durch guter Eltern und ehrenhafter Lehrer Erziehung
hindurchgegangen ist und sich zu einem ernsten, strebsamen Charakter
entwickelt hat, können ihn auch die drückenden sozialen Verhältnisse
und die Sozialdemokratie nicht verderben, vielmehr werden jene nur noch
seine Widerstandskraft und Energie stählen und diese ihn mit einem
Enthusiasmus erfüllen, an dem das Schlechte wirkungslos abprallt. Es
giebt schon in solch einem kleinen Kreise, wie ich ihn vor mir hatte,
eine ganze Anzahl von Naturen, deren Typus August Bebel ist, ehrliche
Menschen mit einem guten Kern, hochbegabt, aber trunken von den
Resultaten der modernen „Wissenschaft“, deren rechte Konsequenzen nach
rückwärts und vorwärts sie in ihrer leider nur halben Bildung nicht zu
ziehn und zu werten vermögen, erfüllt von schwärmerischem Idealismus,
der auch vom Materialismus wie von jedem geschlossenen Prinzip
ausstrahlt, und doch nur zum teil angesteckt von dem Gifthauch, der mit
ihm zugleich ausgeht und die sittlichen Kräfte der andern knickt. Ich
erinnere des zum Beweise an jene vierzig freilich besser gestellten
Chemnitzer Arbeiter, deren ich schon einmal Erwähnung that, von denen
mir ein Weinreisender erzählte, daß jeder von ihnen ihm jährlich ein
Fäßchen Wein abnähme und prompt bezahlte, ja, was sonst niemand thäte,
ihm das Geld dafür noch ins Hotel brächte. Sie alle hielt er für die
ordentlichsten Menschen der Welt, für sparsame, strebsame Leute,
gute Familienväter, tüchtige, ruhige Arbeiter, aber auch zielbewußte
Sozialdemokraten. Vielleicht ist diese Schilderung etwas übertrieben;
aber in ihren Grundzügen ist sie wahr; dafür kann ich selbst, wie
gesagt, aus dem mir bekannt gewordenen Kreise ähnliche Menschen als
Belege beibringen. Sie wachten mit peinlicher Gewissenhaftigkeit
über ihren guten Ruf und setzten ihre Ehre darein, sittlich
unanfechtbare Persönlichkeiten und gute Staatsbürger zu sein, und
waren dennoch Sozialdemokraten, die auch das überlieferte Christentum
von sich abgeschüttelt hatten. Anderseits gab es eine große Anzahl
von Arbeitsgenossen, die -- ich verweise hier auf den betreffenden
Abschnitt meines fünften Kapitels -- sich nur wenig oder gar nicht mit
Sozialdemokratie abgaben und nicht das geringste taugten, die ärgsten
Schreier und zweifelhaftesten Persönlichkeiten waren, ihre Familien,
wenn sie welche hatten, arg vernachlässigten, ihre Arbeitsstellen
immer nach kurzen Zwischenräumen wechselten, und so weiter. Und wieder
zwischen diesen zwei Gruppen die wenigen, die sich tüchtige Menschen
zu sein bestrebten und sich zugleich vor allen sozialdemokratischen
Einflüssen ängstlich zu hüten suchten, und die vielen Sozialdemokraten,
die auf dem sittlich nicht hohen Durchschnittsniveau der breiten Masse
standen -- alle zusammen ein Beweis für die Richtigkeit meiner Warnung,
die heutigen sittlichen Mängel an unsrer Arbeiterschaft ausschließlich
der Wirkung sozialdemokratischer Degenerierung zuzuschieben. Der
sozialdemokratische Geist ist wie dicke schwere Fabrikluft, die
gesunden Lungen nichts schadet, schwache aber nur schwächer und
schwindsüchtiger macht. Und das ist das eigentliche Verhängnis, daß
die sittlichen Dispositionen der Mehrzahl eben bereits nur gering und
schwach sind, sodaß auch hier die Sozialdemokratie nur die letzte
Arbeit zu thun braucht.

Hiernach möchte ich ein weniges über die Art sagen, wie die Leute nach
meiner Beobachtung Ausgaben zu machen pflegen. Ich kann freilich keine
Arbeiterhaushaltpläne mitteilen, die allein für ein erschöpfendes
Urteil über diesen Punkt maßgebend wären. Im allgemeinen habe ich
beobachtet, daß ein niedriger Verdienst bis zu 25 Pfennigen die Stunde,
also bis zu etwa 750 Mark das Jahr, bei einer ausgedehnten Familie
ebenso zu peinlichster, geradezu heroischer Sparsamkeit erzieht,
wie zu hoffnungsloser Liederlichkeit verführt, jedenfalls häufig
wirtschaftlich unnormal macht, je nach dem Charakter des Mannes und
der Frau. Dagegen glaube ich bemerkt zu haben, daß bei einigermaßen
größerem Jahresverdienste bei weitem die Mehrzahl die Neigung zu
einem geordnetern, verständigern, von höhern und edlern Bedürfnissen
getragenen, sozusagen anständigern Leben hat und diese Neigung in
vielen Fällen in mehr oder weniger glückende That umsetzt. Unter
solchen, auch wenn sie Sozialdemokraten sind, finden sich dann auch
einmal Äußerungen einer gewissen Zufriedenheit und einer Art von
glücklichem Behagen, das sie nun auch ihren weniger günstig gestellten
Genossen zu verschaffen und zu erkämpfen wünschen. Von der Jugend, das
heißt von den Heranwachsenden und den unverheirateten Erwachsenen, ist
weniger günstiges zu sagen. Sie lebten meist einfach in den Tag hinein.
Was da ist, muß eben verbraucht werden und wird zumeist zum Vergnügen
verbraucht. Für einen verheirateten, mit Kindern gesegneten Mann ist es
auch schon bei höherem Einkommen über 1200 Mark selbstverständlich sehr
schwer, zu sparen; dem vielfach gleich gut gelohnten unverheirateten
jungen Manne wäre das aber eine Leichtigkeit. Aber gerade er thut es
-- ich kann hier ohne viele Worte zu machen die allgemeinen Klagen
nur bestätigen -- nur selten. Wenigstens der eigentliche, geborene
Fabrikarbeiter, der Abkömmling von Fabrikarbeitern. Er gleicht in
seinem lustigen, leichten Leben überraschend dem Bruder Studio,
der sich ebenfalls austollen will, bevor er sich für immer in das
lebenslängliche Philisterium des verheirateten Fabrikarbeiters begiebt.
Etwas anders geartet ist ein Teil der direkt vom Lande und aus gut
kleinbürgerlichen Kreisen in die Fabrik eintretenden jungen Leute.
Unter beiden Gruppen habe ich doch manche ernstere, strebsame, an
die Zukunft denkende, auch sparsame Menschen gefunden. Jene waren
es wohl vor allem deswegen, weil sie im Verhältnis zu dem gewohnten
Verdienst auf dem Lande sich wesentlich verbessert hatten und bei
ihren bescheidneren Bedürfnissen ganz selbstverständlich manches
übrig behielten, das ihnen ein Ansporn zu weiterer Sparsamkeit wurde;
diese wurden häufig von daheim dazu angehalten und angespornt zum
Streben nach bessrer Fachbildung, nach einstiger Selbständigkeit
und größerm Behagen, wie sie es daheim gesehen und kennen gelernt
hatten. Wie weit -- um darauf noch einmal zurückzukommen -- bei vielen
Familienvätern die freilich oft durch andre wirtschaftliche Untugenden
und Unfähigkeiten wettgemachte minutiöse Sparsamkeit geht, beweist
die Thatsache, daß mancher unter ihnen die alte Sitte jugendlicher
Völker wieder auffrischte und in seinem kleinen Haushalte, so gut er
konnte, oft mit vieler praktischer Geschicklichkeit alle möglichen
Arbeiten selbst verrichtete, deren Besorgung man sonst Handwerkern
überträgt. So war es vielverbreitete Gewohnheit, daß man sich allerhand
Lederabfälle und altes Schuhzeug sammelte, um sein und seiner Familie
Schuhwerk eigenhändig zu flicken und seinen Bedarf an Holzpantoffeln
selbst zu befriedigen; daß man allerhand Zimmer-, Tischler- und
Schlosserarbeiten, die sich daheim nötig machten, verrichtete, den
Kindern höchsteigenhändig die Haare schor u. s. w. Und dementsprechend
war es nicht selten, daß der einzelne, der einst ein Handwerk gelernt,
es aber aus den verschiedensten Gründen in der Fabrik dauernd mit
andrer lohnenderer Arbeit vertauscht hatte, es doch in seinen
Feierabendstunden und des Sonntags noch betrieb und dies und das für
gute Freunde um ein billigeres Geld, als es sonst jemand zu liefern
vermocht hätte, anfertigte. So tauchen hier -- ob als alte Reste oder
neue Anfänge, überlasse ich dem berufeneren Urteile Sachverständiger
zur Entscheidung -- unter der Decke des großindustriellen
Fabrikbetriebes, also unter neuen, bisher nicht vorhanden gewesenen
Umständen wieder kleinhandwerkliche Erscheinungen auf.

Was das Schuldenmachen meiner Arbeitsgenossen anlangt, so vermag ich
kaum eine maßgebliche Meinung zu äußern. Man sagte mir zwar manchmal:
„Jeder Arbeiter hat Schulden,“ aber ich habe, offen gestanden, nie
recht erfahren können, wie das gemeint war. Ich glaube wohl so, daß
jede Arbeiterfamilie gegen Ende der vierzehntägigen Lohnperiode
häufiger oder seltner in die Lage kam, beim Kaufmann und sonstwo auf
Borg einzuholen. Doch glaube ich auch, daß man diese Schuld meist
wieder am nächsten Lohntage beglich. Größere und empfindlichere
Schulden, die auch dem energischen Manne und der sparsamen Frau nur
erst langsam wieder los zu werden möglich wurde, entstanden bei
längern und schwerern Krankheiten in der Familie, bei Todesfällen,
bei Arbeitslosigkeit und etwa während größerer Reserveübungen des
Mannes. Ein +gegenseitiges+ Borgen aber habe ich wenigstens
unter meinen Arbeitsgenossen nicht, kaum einmal einen schwachen und
dann vergeblichen Versuch dazu bemerkt. Einen Gesichtspunkt möchte
ich schließlich noch unter diesem Abschnitte erwähnen: die Neigung
aller meiner Arbeitsgenossen, sich am Lohntage, am Sonntage und
am jedesmaligen Chemnitzer Jahrmarkte etwas Besondres zu leisten.
Das waren in aller Augen Festtage, und an Festtagen läßt das Volk
ganz selbstverständlich „etwas aufgehn.“ Jeder freilich in seiner
Weise. Gerade hierbei zeigte sich die Höhe der sittlichen Bildung,
auf der jeder einzelne stand. Es gab ernste, oder gering gelohnte,
oder mit Sorgen oder viel Familie beladene Leute, die begnügten sich
des Lohntags Abends, nach Aushändigung des Verdienstes mit einer
Cigarre und einem auf dem Nachhausewege im Vorübergehn getrunkenen
Glase bairischem oder auch nur Lagerbier; es gab dann ihrer, die an
diesem ganzen Abend bald allein bald mit der Frau „aus-,“ d. h. zu
Biere gingen und hier bald größere, bald kleinere Zeche machten und
von da bald nüchterner bald weniger nüchtern nach Hause kehrten; und
es gab ihrer, die an diesem Abend bald im Sonntagskleid bald noch
im Arbeitsrock von Stehbierhalle zu Stehbierhalle, von „Destille“
(Destillation) zu „Destille,“ von Kneipe zu Kneipe zogen, bis sie
schwer trunken nach Hause kamen. Unter die letztern gehörte namentlich
ein gut Teil der gut verdienenden gelernten Jugend. Ich habe es
erlebt, daß einige, die etwa 35 bis 40 Mark Löhnung aus vierzehn Tage
erhielten, an einem solchen Abend 8 bis 10 Mark verfraßen, vertranken,
verrauchten, verspielten und sonstwie verschleuderten. Aber ich habe
es auch erlebt, daß einer nur 15 Pfennige ausgab, was freilich eine
größere Seltenheit als das Gegenteil war. Im allgemeinen verthat man
wohl 1½ bis 2 Mark an solchem Abend, durchschnittlich aber fast immer
mehr, als man eigentlich im Verhältnis zur Löhnung gedurft hätte.
Ebenso war es am Chemnitzer Jahrmarktstage, wo wir frei hatten, und
ein jeder 10 Mark Vorschuß von der Fabrik zu Familieneinkäufen nehmen
durfte. Und sehr viele nahmen ihn, um hiervon zwar in der That manches
Nützliche einzukaufen, doch aber sich auch ein Gütchen zu thun, obwohl
man genau wußte, wie schmerzlich der Ausfall des Zehnmarkstückes am
nächsten Lohntage empfunden werden würde. Und dieselbe Erscheinung
zeigte sich, wenn auch nicht so durchgängig und regelmäßig, an den
Ausgaben, die man sich für Sonntagsvergnügungen leistete.

Auch über den Alkoholgenuß möchte ich einiges sagen. Am meisten und
widerlichsten ist er mir in den Herbergen entgegengetreten. Die Klasse
der eigentlichen Pennbrüder, die ich im ersten Kapitel kurz schilderte,
besteht fast durchweg aus Säufern; von ihnen waren in den Chemnitzer
Herbergen täglich einige stark betrunkene Exemplare zu finden. Aber
auch unter den übrigen Herbergsgästen, mit Ausnahme der jungen eben aus
der Lehre getretenen Wanderburschen, schnapste man tüchtig, wo immer
man Gelegenheit dazu hatte, und immer ließ man dann Bier vor Branntwein
stehen. Dort in einer der Herbergen traf ich auch einen schon erwähnten
Barbier, der mir erzählte, daß er früher ein permanenter Schnapssäufer
gewesen wäre, so sehr, daß er nichts als immer nur Branntwein hätte
haben wollen und vor allzu starkem Zittern der Hände nicht mehr
imstande gewesen wäre, zu rasieren. Seit einiger Zeit tränke er
keinen Tropfen mehr, und zwar hätte er es sich selbst ganz allmählich
abgewöhnt. Ich vermochte auch in diesem Falle nicht zu kontrollieren,
wie weit diese Angaben der Wahrheit entsprachen; ich glaubte es aber
doch hier mitteilen zu sollen angesichts der allgemein für unanfechtbar
gehaltenen Behauptung, daß die Selbstrettung eines Branntweinsäufers
unmöglich sei. Auch in der Fabrik hatte ich einen Kollegen, der früher
Schnaps getrunken und ihn jetzt niemals mehr über die Lippen brachte,
man mochte ihn ihm anbieten, so sehr man wollte.

Unter der seßhaften Fabrikbevölkerung herrschten bei weitem nicht so
krasse Zustände. Es gab zwar auch in unsrer Fabrik einige ständige
und periodische Säufer mit roten Nasen. Aber sie waren gegenüber
der großen Menge eine verschwindend kleine Zahl und waren deutlich
in vieler Arbeitsgenossen Augen mit einem Makel behaftet. Als einer
einmal während der Arbeit in einem Anfalle von Delirium hinstürzte und
hinausgebracht wurde, habe ich auch nicht ein Wort des Bedauerns und
Mitleids, dagegen manches harte des Gegenteils vernommen. Hier hat das
wohl schon jahrzehntealte, in den meisten Fabriken freilich sicher nur
um der Arbeitsleistung und des Betriebes willen gegebene Schnapsverbot
wirklich gute Dienste geleistet; in unsrer Fabrik wurde infolgedes
in der That mit jenen wenigen Ausnahmen fast nie mehr Schnaps,
dagegen, wie schon gesagt, viel unschädliches, doch gehaltvolles und
den Durst löschendes einfaches Bier getrunken. Auch außerhalb der
Fabrik trank man nicht täglich, wie das in den Mittelständen in Form
der öden Stammtischkneipereien ausgebreitetste Sitte ist, Bier. Der
Durchschnittsarbeiter von Chemnitz ging, außer am Lohntage und an
den Sitzungen seines Wahlvereins, des Wochentagsabends selten aus. Er
machte, wenn es schön war, seinen Abendspaziergang in die nahen Felder
hinaus, aber ohne ihn in einer Kneipe zu beenden; denn dazu fehlte den
meisten schon einfach das nötige Geld. Aber wenn dann einmal etwas
los war, eben wie der Jahrmarkt oder ein Sonntagsvergnügen, wurde
wacker gezecht. Ein jeder trank mit, und alle konnten erstaunlich
viel vertragen. Und fast immer mußte ein Glas Schnaps dabei sein.
Aber Schnaps allein trank man bei solchen Gelegenheiten doch nur noch
selten. Sehr viele kannten dann keine Grenzen, nach echter Kinder-
und Volksart, die weder in Leid noch Lust sich zu beherrschen vermag.
Viele hörten darum nicht eher auf, als bis sie betrunken waren. Ja für
manche war das der eigentliche Hochgenuß und von vornherein die letzte
Absicht. Und selten sah man das als eine Schande, geschweige Sünde an.
Ich sprach hierüber öfter mit den Leuten und fand fast immer dasselbe
gleichlautende Urteil: einmal sich besaufen ist keine Schande; das
thun die Großen auch, die nur heimlich, wir offen. In einem solchen
Gespräch kam ich, wohl das einzige mal, beinahe in einen wirklichen
Streit mit zwei sonst guten, gediegneren Leuten. Sie wurden ernstlich
böse darüber, daß ich auf der gegenteiligen Ansicht stehen blieb.
Ein zusammenfassendes Urteil kann man wohl so formulieren: unter der
erwachsenen Wanderbevölkerung ist der Schnapsgenuß geradezu eine Pest;
die seßhaften Arbeiter am Orte aber, soweit ich sie kennen lernte,
trinken viel mehr Bier als Schnaps, trinken viel Bier, aber sind selten
eigentliche Säufer.

Nun ein Wort über die Tanzböden. Ich habe fast jeden Sonntag einen
oder mehrere, im ganzen acht bis zehn besucht. Es giebt feinere
und gewöhnliche. Der schlimmste, den ich kennen lernte, war die
„Kaiserkrone“ in Chemnitz, vom Volke sehr bezeichnend der „blutige
Knochen“ genannt. Denn hier gehörte Keilerei und Tanzvergnügen wie
in jenem Gassenhauer wirklich zusammen. Hier verkehrte das ärgste
Gesindel, Huren und Fabrikdirnen niedrigster Sorte und ihre Zuhälter
mit jungen Fabrikarbeitern und vielen Soldaten der Chemnitzer
Garnison. Ich mache hierauf nachdrücklich aufmerksam, und mache es den
Militärbehörden hiermit zur ernsten Pflicht, darauf zu achten, daß
künftig nicht bloß sozialdemokratisch-anrüchige, sondern vor allem
auch solche sittlich verwahrlosende Lokale den Soldaten verboten
werden. Ein Mensch in anständiger Kleidung, allein, bleibt hier selten
ganz unbehelligt. Ich war mit einem Arbeitskollegen etwa eine knappe
Stunde dort. Und wie viele male sind wir in dieser kurzen Zeit trotz
unsers unauffälligen Sonntagsgewandes namentlich von den Weibern mit
ihren frechen Gesichtern in der unflätigsten Weise und mit allen ihren
Körperteilen angerempelt worden! Da muß man denn schließlich entweder
so wie sie selbst mittollen und mit gemein sein, oder man bekommt
Händel und darauf Schläge. Wir gingen beiden Möglichkeiten zeitig genug
aus dem Wege, indem wir uns wieder entfernten. Beim Ausgang traf uns
der junge Wirt und fragte uns, warum wir schon wieder gehen wollten,
ob es uns nicht gefallen habe. Wir murmelten einige Worte der Antwort,
und darauf sagte der Mann ganz stolz: Ja unter meinem Vater war der
Saal tüchtig herunter; aber Gott sei Dank, jetzt habe ich ihn wieder in
Schwung und in die Höhe gebracht.

Das Gegenteil von diesem Saale war das „Kolosseum“ in Kappel. Es war
der vornehmste von allen, die ich gesehen habe, durch die Ausstattung
und den Umfang des Saales, die Musik, die da aufspielte, das Publikum,
das ihn besuchte. Hier fanden sich nicht nur die gutgelohnten jungen
Schlosser und Dreher unsrer Fabrik, sondern viele junge Kaufleute und
auch -- wie man mir versicherte -- Referendare und Offiziere in Zivil
zusammen. Und vom weiblichen Geschlecht traf man allerhand Ladenmädchen
und Verkäuferinnen, aber auch „feinere“ Huren, dagegen wenig Dienst-
und Fabrikmädchen. Es ging wirklich beinahe wie auf einem Balle zu.
Die Damen in modernster, oft kostbarer, fast immer geschmackvoller
Toilette, und viele schöne Menschenkinder unter ihnen; die Herren meist
in ebenso eleganten Anzügen, wenn auch nicht in Schwarz und Frack;
alle zusammen in ihren Haltungen, Bewegungen und Verbeugungen gewandt
und voll jugendlicher Elastizität. Die Fabrikarbeiter unterschieden
sich kaum von den andern, nur durch den Mangel eines Klemmers auf der
Nase und durch ihre größern, härtern, rauhern Hände. Denn niemand trug
Handschuhe, was manche der Damen veranlaßte, ihren Herren beim Tanz
mit stummer, aber verständnisvoller Gebärde ihr Taschentuch zu bieten,
damit die schwitzende Hand des Tänzers, die die Taille umfaßt, das
Kleid nicht beschmutzte.

Die übrigen Säle, die ich sonst sah, standen nach dem äußern Eindruck,
den sie machten, etwa in der Mitte zwischen beiden. Meist waren es
Vorortssäle mit halb städtischem und halb ländlichem Charakter und
ebensolchem halb städtischen halb ländlichen Publikum. Hier mischten
sich unter die modischen Toiletten der zur Stadt hereinkommenden
Fabrikarbeiter und Arbeiterinnen noch die unschönen Kostüme unsrer
Dorfbewohner; hier waren die Mädchen mitunter noch im Kopftuch und mit
vorgebundener schöner bunter Schürze. Auch die Musik war primitiver,
der Eintrittspreis niedriger, nur 25 Pfennige etwa, während er in dem
Kappeler Saale, wenn ich mich recht entsinne, 50 Pfennige betrug.
Natürlich kostete hier wie dort noch jeder Tanz, den man tanzte, seine
Extrasteuer, immer 10 Pfennige. So gab einer leicht am Abend 3 bis 4
Mark nur für das bloße Tanzvergnügen aus. Auch der Ton, der auf diesen
Sälen herrschte, war freier als auf jenem. Man sang laut Lieder zu den
Weisen, die die Musikanten aufspielten, man juchzte und rief laut über
die Köpfe und den Saal hinweg. Manchmal war ein dichtes Gedränge und
eine unausstehliche Hitze, daß der Schweiß nur so von der Stirne rann,
und Glas auf Glas getrunken wurde. Aber dann wars am schönsten und die
Freude am größten.

In den bessern Sälen ging es auch in diesem, aber auch nur in diesem
Sinne anständiger zu. Da scherzte und lachte und tollte man sich denn
an den einzelnen Tischen, im kleinern Kreise der Bekannten, in den
Ecken und Nischen des Saales und auf den Galerien umso mehr aus. Da
koste und umschlang und drückte man sich. Und hier wie dort, lachende,
glühende, oft schöne Gesichter, leuchtende, lebensprühende Augen,
kräftige Gestalten, volle, frische Formen. Hier wie dort ungebändigte
Lust, steigende Erregung, sinnlicher Taumel, der seinen Abschluß und
seinen Höhepunkt erreicht, wenn Schlag 12 Uhr die Musik verstummt,
der Saal geräumt, die Lichter verlöscht werden. Dann zieht Paar nach
Paar einsam von dannen, zu einem Nachtspaziergang ins freie Feld,
wo nur die Sterne die Sünde sehn, die man hier begeht, oder bis in
Liebchens Hausflur oder gar in Liebchens Wohnung und Bett. Denn das
ist nach allen meinen Beobachtungen wenn auch nicht die durchgängige
Regel, so doch in den weitaus überwiegenden Fällen der Abschluß jedes
sonntäglichen Tanzvergnügens. Auf den Tanzböden, in den Nächten vom
Sonntag zum Montag verliert heutzutage unsre Arbeiterjugend nicht nur
ihren meist sauer verdienten Lohn, sondern auch ihre beste Kraft,
ihre Ideale, ihre Tugend und ihre Keuschheit. Es ist ja auch kein
Wunder; es wäre ein Wunder, wenn es anders wäre. Man überlege nur
einmal. Während der Woche, Tag um Tag in regelmäßiger Einförmigkeit
in der häßlichen Fabrik, bei oft langweiliger Arbeit, in Schmutz und
Schweiß; des Mittags ohne behagliche Ruhe; die Abende der Werktage auf
der Straße vor der Thür oder im Hofe des Arbeiterhauses oder in der
kleinen engen, oft dürftigen Stube des Logiswirts mit Kindergeschrei
und Küchendunst; die Nächte in armseligen Schlafstätten; dabei ein
leidlicher Verdienst, ohne Kontrolle, ohne Aufsicht, ohne elterliche
Fürsorge und Liebe, kurz ohne den segensvollen Einfluß eines starken
Familienverbandes, Jugendkraft in den Gliedern, Jugendlust in Kopf und
Herzen -- und nun kommt der Sonntag mit seinem Ausschlafen, seinem
Ausruhn, seiner Freiheit, die ihnen niemand kürzt, deren rechten
Gebrauch sie keiner lehrt: da locken die Töne der Musik; da lachen
junge frische Mädchengesichter; da strahlt lichter Glanz; da wölben
sich die hohen weiten Hallen des schön gemalten Saales; ja hier ist
Ersatz für das häßliche Einerlei der Woche, an einem Abend, in einer
Nacht hundertfacher Ersatz für die hundert häßlichen Eindrücke der
ganzen Woche! Ist es da wirklich noch verwunderlich, wenn sich die
Ungebundenen da hineinstürzen in den herrlichen, entzückenden Strudel,
ihre Seelen an ihm berauschen, ihr Bestes in ihm verlieren? Ich klage
nicht an, ich entschuldige auch nicht, ich schildre nur, wie es in
Wahrheit ist, und erkläre, wie es mit Notwendigkeit so kommen muß.

Ich behaupte, daß infolgedes kaum ein junger Mann oder ein junges
Mädchen aus der Chemnitzer Arbeiterbevölkerung, das über 17 Jahre alt
ist, noch keusch und jungfräulich ist. Der geschlechtliche Umgang, auf
den Tanzböden vor allem groß gezogen, ist unter dieser Jugend heute
im weitesten Umfange verbreitet. Er gilt einfach als das Natürliche
und ganz Selbstverständliche; von dem Bewußtsein, daß man damit eine
Sünde begeht, ist selten eine Spur vorhanden. Das sechste Gebot
existiert in diesem Sinne da unten nicht. Zwar mit Huren, die sich
bezahlen lassen, giebt man sich fast nie ab. Das gilt als Schande,
und diese selbst werden verachtet. Aber fast jeder hat seine Liebste
und jede ihren Liebsten, die sich mit wenigen Ausnahmen diesen ganz
selbstverständlichen Dienst thun. Daneben sucht der junge Mann, wo
immer es gerade einmal geht, auch andre Mädchen zu benutzen, die sich
ihm dazu hergeben, was wiederum nicht schwer und selten ist. Gleichwohl
hat auch die schon einen kleinen Makel in vieler Augen an sich, die
sich gleich bei der ersten Bekanntschaft gebrauchen läßt. Mit dieser
„geht man“ dauernd wenigstens nicht. Wird eine dann schwanger, so
heiratet man sich in der Regel auch, ganz gleich, ob man schon lange
oder nur erst wenige Wochen beisammen ist, ob man sich kennt oder
nicht, ob man etwas taugt oder nicht, zusammenpaßt oder nicht. So
treiben der Zufall, der Geschlechtsgenuß und seine etwaigen Folgen,
selten echte Liebe, inneres Bedürfnis und vernünftige Überlegung die
jungen Leute in die Ehe zusammen.

Und daraus vor allem erklärt sich mit der Jammer der Arbeiterehen,
die Klagen aller, auch der Sozialdemokraten, die es mit den Leuten
wirklich gut meinen, darüber, die Sehnsucht nach einer Erhebung,
einer Emanzipation des Weibes und das neue sozialdemokratische Ideal
von der Ehe. Ich verweise hier auf die Bemerkungen am Schlusse des
zweiten Kapitels. Die Frau ist in der That in vieler Männer Augen
nichts als das Mittel zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, ein
Hindernis für das Fortkommen, höchstens, wenn es gut geht, der tüchtige
Haushaltungsvorstand, der energisch auch den Mann im Zaume hat. Die Ehe
ist nach der Äußerung mehrerer meiner Arbeitskollegen die „letzte und
größte Dummheit, die einer machen kann.“ In manchen Familien ist es
ja besser, und zwischen manchen Gatten tritt allmählich sogar einige
gegenseitige Achtung und Zuneigung ein. Ja ich fand trotz alledem auch
mehrere wirklich schöne, durch ernste Liebe vertiefte Ehen: aber im
allgemeinen gilt doch die Thatsache, daß die Frau dort unten von den
Männern unendlich viel niedriger geschätzt, viel weniger geachtet,
viel schlechter behandelt wird als in den andern Ständen. Sie wird hart
gehalten und sehr häufig geschlagen. Dabei fordert der Mann von ihr
ehrliche Treue, ohne sich selbst ihr zu einem Gleichen verpflichtet zu
fühlen. Auch sonst zeigt sich überall ein großer Mangel des Bewußtseins
der gegenseitigen sittlichen Pflichten, die die Ehe vorschreibt.

Ein Lichtpunkt in diesem trüben, bestenfalls gleichgiltigen und
einförmigen Eheleben sind für Vater und Mutter zugleich die gemeinsamen
Kinder. Was sie selbst an gegenseitiger Zärtlichkeit fehlen lassen,
übertragen sie vielfach auf diese, so sehr, daß auch sie manchmal mit
eine Ursache der mangelhaften Erziehung, der Verziehung derselben wird.
Ihnen thun sie an, was sie können; für sie sorgen sie, so gut sie es
vermögen; mit ihnen geben sie sich ab, machen sie des Abends und des
Sonntags ihre üblichen Spaziergänge. Und viele setzen ihre ganze Kraft
und ihren höchsten Ehrgeiz darein, die Jungen, wenn es nur halbwegs
die Verhältnisse erlauben, etwas „Ordentliches,“ d. h. jedenfalls
etwas mehr lernen und werden zu lassen, als der Vater ist. Der
Handarbeiter sieht seinen Sohn gern als Dreher, Schlosser, Tischler,
kurz als gelernten Arbeiter, dieser wieder den seinigen am liebsten als
Kaufmann, Subalternbeamten oder etwas dem ähnliches. Überbeschäftigt
wurden die Kinder in den Familien meiner Arbeitskollegen jedenfalls
nicht. Wenn sie gelegentlich einmal etwas mit verdienen konnten, dann
gut; regelmäßig angestrengt und zum Verdienen ausgenutzt waren sie
meinen Beobachtungen nach nur wenig. So lange es ihm möglich war,
gönnte jeder seinem Kinde Freiheit und Ruhe. Und wenn eines krank
wurde, war immer die Sorge groß, ward alles gethan, um es am Leben zu
erhalten. Da gab denn auch der strenge Sozialdemokrat, der natürlich
auch ein Feind der zunftmäßigen Medizin war und manchmal gar selbst
dokterte, seinen verrannten Standpunkt auf, ließ sich von den Bitten
seiner Frau erweichen und holte den teuern Arzt. Die Liebe zum Kinde
war doch noch größer als der Dünkel einer alles besser wissenden
Halbbildung.

Eine andre Bemerkung darf ich an dieser Stelle unvermittelt
einschieben, eine Klage über das unerhörte Fluchen der Leute. Fast
jedermann that es: der Arbeiter in der Fabrik, die jungen Burschen
unter sich, die Mädchen des Abends auf den Straßen und daheim. Man
fluchte in allen Tonarten, bei jeder harmlosen Gelegenheit; oft wußte
mans selbst nicht mehr, wenn man es that. Alle Empfindungen drückten
sich in diesen Flüchen aus: Jähzorn, Haß, Verbitterung, drolliger
Witz, Affektiertheit und Großthuerei. Ich habe einmal die Flüche
zusammengezählt, die ich an einem Tage so zufällig hörte: wenn ich mich
recht entsinne, zählte ich fast hundert. Ich glaube bestimmt, daß das
eine Frucht und ein Geschenk unsers Militärwesens ist. Hier zeigt es
sich als nichts weniger denn als ein sittlich erziehendes Institut.

Dagegen habe ich in der Fabrik unter meinen Arbeitsgenossen nie eine
Spur von Diebstahl gespürt, wohl aber desto mehr in den Herbergen.
Da mußte man in der That immer sehr auf seiner Hut sein. Ein Messer,
das man unbemerkt auf dem Tische oder Stuhle liegen ließ, ein Stock,
den man achtlos in die Ecke gestellt hatte, war leicht verschwunden
und wanderte schleunigst zum Trödler, worauf der geringe Erlös daraus
sofort wieder in Branntwein umgesetzt wurde. Ich will damit nicht
sagen, daß jeder, der in der Herberge verkehrte, mauste. Aber von jenen
alten echten Kunden verschmähte fast keiner diesen bequemen Weg der
Selbstbereicherung. Man gab darum immer gleich bei seiner Ankunft in
der Herberge Stock und Berliner dem Herbergsvater zur Aufbewahrung, und
lieferte des Nachts auch seine sonstigen Wertsachen ab. Wenn einer Geld
aus der Tasche in die Stube verlor, durfte sich keiner rühren, nur der
Betroffene bückte sich und suchte selbst und ganz allein seine paar
Pfennige zusammen.

Mehrmals habe ich bereits die innere Stellung meiner Arbeitsgenossen zu
einander erwähnt, ausführlich ihren Verkehr bei der Arbeit geschildert.
Ich möchte hier noch einige ergänzende Bemerkungen dazufügen. Bei aller
Kameradschaft, die unter ihnen herrschte, und die sich namentlich in
jenem schon durch den Betrieb geforderten In-die-Hände-arbeiten während
der Arbeitsstunden äußerte, traten doch in dem einförmigen Einerlei
des kleinen Alltagslebens die Züge der Solidarität, der Gemeinsamkeit,
der innerlichen Übereinstimmung mehr und mehr zurück und dafür die
besondern Eigentümlichkeiten der einzelnen Charaktere, ihre guten
und schlechten Seiten hervor, machten sich kleinliche Interessen
untereinander geltend, kamen Eifersucht und Neid, Hochmut und
Geringschätzung, Klatschsucht und Kriecherei, Streitsucht und Jähzorn,
Selbstsucht und Niederträchtigkeit, Gleichgiltigkeit, Bitterkeit
und Mißtrauen wie überall in einer durch den Zwang der Verhältnisse
geschaffenen Gemeinschaft zu oft abstoßendem Ausdruck und riefen wie
überall dieselben Spaltungen, Gruppierungen und Vorgänge hervor,
deren Druck dann oft stärker ist als das Gemeinsame, das diese Leute
verbindet. Es ist eine Kleinigkeit, die aber viel Wahres enthält, was
mir mehrmals einige klagten: Die Arbeiter sind nie unter einen Hut zu
bringen; sie halten nur in Versammlungen zusammen. Oder: Wenn einer
nur fünfzig Pfennige mehr Lohn hat als die andern, so sieht er sie
gleich über die Achseln an und dünkt sich wunder was. Ein andrer sagte
mir einmal, als er mir einen guten Dienst thun wollte: Du darfst den
andern nicht soviel von deiner Vergangenheit erzählen; viele machen
sich dann hinter deinem Rücken nur darüber lustig. Derselbe Mann warnte
mich auch vor einer allzu intimen Aussprache gegen einen andern mit
den Worten: Der alte X ist ein Zwischenträger! Und doch stand auch
von diesem meinem getreuen Eckehardt an den Holzwänden der Abtritte
mehrmals die wutschnaubende Bleistiftnotiz: N. ist ein Fuchsschwanz!
Wieder einer, freilich ein etwas griesgrämiger, verbitterter Geselle,
meinte einmal: Es giebt viele Halunken hier in der Bude. Und dieselben
Erscheinungen zeigten sich fast noch deutlicher selbstverständlich in
den Arbeitermietskasernen, namentlich unter den Frauen.

Über die Arbeit herrschte eine doppelte Auffassung unter den
Arbeitsgenossen, die sich innerlich kaum berührte. Den einen galt
die Arbeit nur als Last. Niemand arbeitet zum Vergnügen, warf einer
einmal gelegentlich hin. Dann ein andermal entspann sich während der
Frühstückspause ein Gespräch mit ähnlichem Resultat in Anknüpfung an
eine Wurstschale. Die suchte und wickelte ein Schlosser sorgfältig
zusammen: Ich will sie meinem Hunde mit zuhause bringen, fügte er hinzu.

Wozu brauchst du denn einen Hund? fragte sein Nachbar; der kostet ja
doch nur Steuern.

Nur zum Vergnügen. Man will doch auch seine Freude haben, entschuldigte
sich jener.

Das ist überflüssig. Du sollst Freude genug an deiner Arbeit haben,
erwiderte ihm ebenso ironisch als bezeichnend der andre.

Arbeit und Nichtsthun waren dieser zahlreichen Gruppe die ganz
parallelen Begriffe zu Last und Lust, Langerweile und Abwechslung.
Die „Reichen,“ die „großen Herren,“ die nichts zu arbeiten brauchen,
hatten in ihren Augen nie Langeweile. Die „fressen, saufen, reisen,
lesen, sehen sich schöne Bilder und Gegenden an und haben schöne
Weiber.“ Einmal wagte ich dagegen energischen Widerspruch und
wollte meinem Gegenüber zeigen, daß wenigstens für tiefer angelegte
Menschen, die ja freilich die „Reichen“ nicht immer sind, gerade in
dieser Beschäftigungslosigkeit und Ungebundenheit, dieser Ziel- und
Zwecklosigkeit des Daseins die größere Qual, die ärgste Langeweile,
die schlimmste Last liege. Aber damit stieß ich auf absolute
Verständnislosigkeit. Unsinn, war die kurze scharfe Antwort, mit der
er mich abfertigte, die Reichen können gar nicht Langeweile haben!
Die Arbeiter wissen gar nicht mehr, daß es auch heute noch eine
Bevölkerungsschicht giebt, die fleißig arbeitet, dabei noch echten
Idealismus hat, die diesen idealen Sinn mit bescheidenen äußern
Ansprüchen verbindet und in einem edeln geistigen Genuß wahrhaft
glücklich ist.

Mit dieser Auffassung verband sich dann immer ein eisiges Gefühl
der Kälte, der Entfremdung, des Mißtrauens gegen diese „vornehmen“
Klassen, ein ausgeprägtes Bewußtsein von der unendlichen Kluft zwischen
ihnen und jenen, das zwar selten eine persönliche Spitze hatte, aber
gerade deswegen für die allgemeine Betrachtung einen um so trüberen
Eindruck gewinnt. Einer meiner Freunde nannte das einmal treffend
einen +objektiven+ Haß. Häufig kommt er, veredelt, mit einem
gewissen Stolz, den man seinerseits ebenfalls jenen obern Klassen
entgegensetzt, zum Ausdruck. Eine Episode, die auch nach andern
Seiten hin interessante Schlaglichter zu werfen geeignet ist, zeigt
dies besonders gut. Es war in einer Sitzung unsers Wahlvereins. Ein
Redner verlas einen langen Artikel irgend eines auswärtigen Blattes,
das eine Erklärung des Vorstandes für die Chemnitzer Ferienkolonien
enthielt mit, wenn ich mich recht entsinne etwa dem Inhalte,
daß man sich wegen des zunehmenden agitatorischen Charakters der
Chemnitzer Arbeiterbewegung genötigt sähe, künftig Kindern erklärter
Sozialdemokraten nicht mehr die Wohlthat der Ferienkolonien zukommen zu
lassen. Da stand einer in ernster Erbitterung auf und redete etwa also:
Genossen! Ihr habt gehört, wie man ein sogenanntes Liebeswerk zu einem
parteipolitischen Kampfmittel mißbraucht. Aber das ist Bourgeoisart.
Wir wollen still sein und dem nur ein doppeltes entgegen setzen: Wir
wollen mit ganzer Kraft danach streben, daß unsre Kinder gar nicht
mehr diese „Wohlthat“ zu beanspruchen brauchen und dann -- nicht
gleiches mit gleichem vergelten! Wir wollen es uns auch heute wieder
versprechen, daß es nach wie vor dabei bleibt: Wenn ein Arbeiter eines
Reichen Kind in Not und Gefahr sieht, so wollen wir auch künftig unser
Leben daran setzen, es dieser Gefahr zu entreißen!

Die zweite Ansicht über die Arbeit, die jener eben geschilderten
nebenher lief, steht höher und ist doch gerade für die künftige
Arbeit des Theologen verhängnisvoller. Die Leute, die ihr anhingen,
waren nicht der Meinung, daß jedes Arbeiten ein Unglück für die
Menschen wäre. Aber sie hatten nur Achtung vor der Arbeit, die
unmittelbar materiellen Gewinn bringt. Unter diesem Gesichtspunkte
stand ihnen die körperliche, die Hand-, die Fabrikarbeit der geistigen
völlig gleich, die wie die des Kaufmanns und des Technikers sich
unmittelbar mit Geld bezahlt macht. Für die geistige Arbeit des
Wissenschaftlers, des Theologen, die man um ihrer selbst oder wieder
nur um geistiger Interessen willen thut, hatten sie nur wenig oder gar
kein Verständnis. Daher der Dünkel über die unfruchtbare „kindische“
Arbeit des Geistlichen, daher vor allem auch beim besten Willen die
Unempfänglichkeit für die geistig-sittlichen Beweise der Wahrheit des
Christentums, wie sie uns im vorigen Kapitel mehrfach entgegengetreten
ist.

Dieser materialistische Zug ist überhaupt die Signatur für die ganze
sittliche Entwicklung, in der sich die Gruppe meiner Arbeitsgenossen
eben befindet. Sie alle haben ja neben vielen schlechten viele gute,
liebenswürdige Eigenschaften an sich und stehen überhaupt nach meiner
festen Überzeugung verhältnismäßig sittlich nicht tiefer als die
übrigen Schichten unsers Volkes. Aber diese guten Seiten, die sie
haben, sind zusehends immer weniger ethisch-religiös, immer mehr
wirtschaftlich und ständisch bestimmt; der Idealismus, der sie erfüllt,
ist der Idealismus nicht um des Guten, sondern um des Nützlichen
willen. In notwendiger Folge davon zeigt sich der so sich gestaltende
sittliche Charakter immer weniger fest und widerstandsfähig, verliert
also zusehends gerade die Tugenden, die bisher seine Kraft und
sein Bestes ausmachten. Ich glaube nach allem Ausgeführten nichts
Unrichtiges und Unrechtes zu sagen, wenn ich auch diese bedauernswerte
Entwicklung nicht nur den wirtschaftlichen Zuständen, sondern zu einem
großen Teile mit der Agitation der Sozialdemokratie in die Schuhe
schiebe. +Es zeigte sich mir überall deutlich, daß hier die andre
Stelle ist, wo jene ihre verderblichste Wirkung geübt, ihren größten
Erfolg bisher errungen und die eigentliche Gefahr für die Zukunft
heraufbeschworen hat.+ Ich vermag auch nach allen meinen Erfahrungen
nicht zu hoffen, daß es in nächster Zeit damit besser wird.



Achtes Kapitel

Ergebnisse und Forderungen


Ich fasse nunmehr das Ergebnis meiner Untersuchungen zusammen.

Ich glaube, eins vor allem bewiesen zu haben: daß die Arbeiterfrage
keine bloße Magen- und Lohnfrage, sondern auch eine Bildungs-
und religiöse Frage ersten Ranges ist. Auch wenn die weitesten
Arbeiterkreise die höchsten Löhne und das beste Auskommen hätten,
würde sie, vielleicht in andrer Gestalt, aber doch existieren.
Die Lohnfrage ist nach allen meinen Erfahrungen nur einer, nicht
einmal der bedeutendste, gewöhnlich nur der anstoß-, keinesfalls der
ausschlaggebende Faktor der Bewegung. Es ist natürlich richtig, daß die
Agitation unter den Arbeitern immer bei ihren materiellen Nöten und
Sorgen einsetzt und, wo keine herrschen, sie ihnen doch einzureden
versucht; aber das, was die großen Scharen nun schon seit Jahrzehnten
zu diesem „Massenkampfe“ begeistert, was gerade auch die bestgestellten
und nachdenklichsten Kreise an die Spitze dieser Bewegung stellt, ist,
ich wiederhole es, nach allen meinen Beobachtungen diese Lohnfrage
nicht, wenigstens nicht allein. Das ist vor allem die heiße Sehnsucht
des ganzen Fabrikvolkes nach größerer Achtung und Anerkennung
und, im Gegensatz zu der politisch-formellen, auch nach größerer
sozialpraktischer Gleichberechtigung, das ist der Glaube an eine
trotz allem mögliche bessere Ordnung der wirtschaftlichen Produktion
und die dunkle Ahnung, daß gerade der jetzt zur Selbständigkeit
erwachende Arbeiterstand am ersten berufen sei, diese durch den
demokratischen Druck der parlamentarisch heute schon hoffähigen Masse
heraufzuführen. Es ist der heiße Wunsch, in dieser nahenden neuen
wirtschaftlichen Ordnung nicht bloß mehr die stummen ausführenden
gedankenlosen Werkzeuge eines höhern Willens, nicht nur gehorsame
Maschinen, sondern kraftvoll und originell mitwirkende Menschen, nicht
nur Hände, sondern auch Köpfe zu sein. Es ist der unaufhaltsame Drang
nach größerer geistiger Freiheit, das Verlangen nach den Gütern der
Bildung und des Wissens und nach voller Klarheit auch über die höchsten
und tiefsten Probleme der Menschenseele, die heute wieder trotz aller
Jagd nach Gold und Glanz als neue Rätsel in neuen Gestalten vor der
Menschheit emportauchen. Das alles prägt sich, roh noch und ungefüge,
unklar und gärend, aber dem beobachtenden Auge deutlich und scharf
genug in dieser elementaren deutschen Arbeiterbewegung aus. Und darum
unterscheidet sich die deutsche von der aller andern Länder, auch
von der Chartistenbewegung Englands in den vierziger Jahren dieses
Jahrhunderts: dort waren es, wie auch sonst überall heute noch, in der
That die jammervolle materielle Lage, die grausigen wirtschaftlichen
Nöte, denen diese Bewegung ihren Ausdruck gab; dort wollte man in
erster Linie Brot, höhere Löhne, bessere Kleidung, ein menschenwürdiges
Dasein. Was sonst von andern Zügen in ihr war, hatte nur sekundäre
Bedeutung. Bei uns ist das ganz anders, ist es so, wie ich es oben
geschildert habe, und eben das macht diese deutsche Arbeiterbewegung
so furchtbar ernst, zu einem so vielköpfigen Ungeheuer; aber das
giebt auch die Gewähr, daß, wenn sie in ruhige Bahnen eingelenkt
sein wird, eine ganz andre, größere, bleibende Frucht aus ihr für
spätere Zeiten und Geschlechter zurückbleiben wird, als es schon die
Gewerkschaftsorganisation der englischen Arbeiter ist.

Das zweite, was wir rundweg aussprechen müssen, ist die Thatsache, daß
die so geschilderte deutsche Arbeiterbewegung ihren Ausdruck und ihre
Repräsentation in der Sozialdemokratie hat. Die beiden sind heute und
für die absehbare Zukunft aufs engste miteinander verknüpft, ja die
Sozialdemokratie ist heute diese Bewegung selbst. Es ist darum ein
Wahn, dem sich immer noch viele hingeben, zu meinen, daß es möglich
sein könnte, sie zu vernichten, auszuroden, aus der Welt zu schaffen.
Auf dieser Meinung fußte der Schöpfer des Sozialistengesetzes ebenso
wie der Führer der christlich-sozialen Bewegung, die beide ihre Taktik
und Thätigkeit nur nach der Qualität der Führer, und nicht auch der
Hunderttausende einrichteten, die hinter den Führern stehen und ganz
anders als diese geartet sind. In beiden Fällen hat sich gezeigt, daß
es eine irrtümliche Meinung war. Die deutsche Sozialdemokratie ist
heute so wenig mehr zu beseitigen, als es die moderne Arbeiterbewegung
überhaupt ist. Im Gegenteil, es ist meine wohlüberlegte Ansicht,
daß sie auch in Zukunft noch wachsen, daß sie vor allem sich auch
in vielen Teilen des platten Landes ausbreiten wird. Sicher da, wo
der Großgrundbesitz überwiegt und in Verbindung mit industriellem
Großbetriebe, mit Zuckerfabrikation und Schnapsbrennerei auftritt,
also eine der städtischen durchaus gleiche Arbeiterklasse geschaffen
hat. Auch keine freisinnigen Gewerkvereine, keine christlichen
Jünglings- und Männervereine, keine evangelischen Arbeitervereine
werden diese Entwicklung aufhalten. Denn sie ist, wie mir scheint,
zu einer geschichtlichen Notwendigkeit geworden. Zwar auch jene eben
genannten Organisationen haben ihre Bedeutung und ihren Beruf. Vor
allem die Arbeitervereine sollen alle die noch immer nach Tausenden
zählenden Arbeiter, denen die Wogen der sozialen Stürme über den Köpfen
zusammenschlagen, sollen die ruhigen sinnenden Seelen unter ihnen,
denen die Kämpfe zuwider sind, und alle die in sich sammeln und stark
machen, die ihren überkommenen christlichen Glauben nicht einzutauschen
gewillt sind um den Preis friedlosen Suchens und Ringens nach dem
Neuen. Aber darüber hinaus haben sie sicherlich keine Mission; und
so schmerzlich es mir ist, es auszusprechen, muß ich es doch sagen:
es ist eine Täuschung, in ihnen die kraftvollen Ansätze einer neuen
sieghaften Gegenorganisation gegen die Sozialdemokratie zu sehen. Hier
liegt derselbe Gedanke zu Grunde, der sich uns schon vorhin als falsch
erwiesen hat, daß die Sozialdemokratie aus der Welt zu schaffen sei.
Das ist, wie gesagt, nicht möglich, nicht einmal wünschenswert. Aber
möglich, wünschenswert und notwendig ist, daß sie erzogen, geadelt und
geheiligt wird.

Dies geschieht sicherlich zunächst durch eine kraftvolle tiefgreifende
Reformarbeit, durch die bedingungslose Erfüllung aller berechtigten
Wünsche der millionenköpfigen Arbeitermasse, durch ihre Organisation zu
einem besondern Stande und durch dessen Einpflanzung in den Rechtsboden
des modernen Staates. Das aber ist die Aufgabe der Regierung und
der gesamten im Parlament vertretenen Gesellschaft. Hier habe ich
als Theologe kein Urteil und keinen Rat. Nur das eine bitte ich zu
bedenken, die Erfahrung, die ich gemacht habe: daß alles, was für die
Arbeiter geschieht, heutzutage durch sie, mit ihrer Hilfe und ihrem
Willen geschehen muß. Wir sind über die Zeit des Patriarchentums
hinaus: auch der Einzelne aus der großen Menge ist zur Selbständigkeit
erwacht und will mitraten und mitthaten, wo es um sein eigen Wohl und
Wehe geht. Darum, nur durch eine dauernde ernsthafte Mitbeteiligung an
den sozialen Neuformationen der Zukunft wird auch die Arbeiterschaft
wieder zu einer nüchternen, besonnenen, praktischen Haltung erzogen.

Aber die zweite, nicht geringere Hälfte jener Erziehungsaufgabe hat die
Kirche zu lösen. Ich setze hier mit dem ein, was sich uns als drittes
allgemeines Resultat meiner Studien ergeben hat, mit der Thatsache, daß
die heutige deutsche Sozialdemokratie nicht nur eine politische Partei,
auch nicht nur die Trägerin eines neuen wirtschaftlichen Systems,
oder dies beides zusammen, sondern ihrem innersten Wesen nach die
Verkörperung einer Weltanschauung, der Weltanschauung des konsequenten,
widerchristlichen Materialismus ist. Aus diesem materialistischen
Prinzip heraus wächst erst ihr ökonomisches und politisches System;
dieses Prinzip, das Zerrbild einer sogenannten, von ihren Anhängern
angebeteten „Wissenschaft,“ bildet ihre feste Grundlage, giebt
der Partei ihre Autorität und ihren Idealismus; und ebenso hat
dieses Prinzip bewirkt, daß sie bis heute ihren verhängnisvollsten,
nachhaltigsten Einfluß nicht sowohl auf die soziale und politische
Gesinnung der Leute, sondern auf den geistigen und religiös-sittlichen
Charakter der gesamten deutschen Arbeiterschaft ausgeübt hat. So
ist der Arbeit der Kirche der Weg gewiesen: für sie gilt es allein
die Auseinandersetzung mit dieser widerchristlichen Weltanschauung
des sozialdemokratischen Materialismus. Die politischen Ziele, die
sozialen Träume und Wünsche jener Partei sollten sie ebenso wenig
beunruhigen, wie die Sorge um die Erhaltung der heutigen Zustände,
um den Bestand der herrschenden Staatsform. Diese, ihre Träger und
Interessenten, mögen und müssen sie und sich selber schützen. Die
Kirche hat kein Interesse daran; sie kann sie ruhigen Herzens selbst
untergehen sehen, wenn sich im Ringen der Geister ihre Kraftlosigkeit
und Lebensunfähigkeit herausgestellt hat. Der Kirche und ihren Dienern
ist es gleichgiltig, ob sie in einem Feudal-, Manchester- oder
Sozialstaate wirken. Sie sind nicht um dieses, sondern um der Menschen
willen da, die in ihnen leben. Und darum, wenn in ferner oder naher
Zukunft selbst der radikalste sozialistische Staat heraufziehen, wenn
die Mobilisierung aller Staatsbürger in Arbeiterbataillone Wirklichkeit
und Wahrheit werden würde -- was thut das uns? So treten auch wir
„evangelische Pfaffen“ in ihre Reihen, so arbeiten auch wir unsre vier
oder sechs Stunden in der Fabrik, im Bergwerk, auf dem Acker: und die
übrigen zwanzig Stunden des Tages verkündigen wir, den Aposteln gleich,
frei und stark vor allen, die es hören wollen, das Evangelium unsers
Herrn. Aber noch sind wir lange nicht so weit. Noch gilt es ein näheres
großes Ziel zu erreichen, zu verhindern, daß die Sozialdemokratie das
vollendete Antichristentum wird. +Es muß der Grundsatz durch uns zur
Thatsache gemacht werden, daß auch ein Sozialdemokrat Christ und ein
Christ Sozialdemokrat sein kann.+

Dazu aber müssen wir der sozialdemokratischen Weltanschauung ihr
materialistisches Rückgrat ausbrechen. Wir müssen die Autorität jener
gefälschten Wissenschaft vernichten, die durch ihren Glanz heute
die Augen der ehrlich ringenden Arbeiter blendet und deren Geister
willenlos in ihre Ketten schlägt. Wir müssen dieser Pseudowissenschaft
der sozialdemokratischen Volkslitteratur die Heuchlermaske vom
Gesicht reißen, müssen der falschen die wahre, der parteiischen die
unparteiische, der mißbrauchten die reine, keusche Wissenschaft
gegenüberstellen. Das ist der soziale Beruf der wahrhaft Gebildeten
unsrer Tage, der Männer der Schulen und Studierstuben, daß sie heute
von ihren Lehrstühlen zum Volke hinabsteigen und ihm rückhaltlos
mitteilen von den Schätzen ihres Wissens und ihrer Gedanken. Da unten
ringt sich eine neue breite Volksschicht aus der sozialen Unsicherheit,
aus der geistigen Verworrenheit machtvoll herauf. Kommen wir ihr
entgegen, geben wir ihr das Licht, das volle Licht und die volle
Wahrheit, nach der sie verlangt; lassen wir es nicht weiter zu, daß
man sie mit vergiftetem Wissen nährt, schenken wir ihr alles, alles,
was wir nach bestem Wissen und Gewissen selber haben. Gehen wir in
die Fachvereine der Arbeiter, in ihre Wahlvereine, und wo immer sie
sich zusammen finden; bieten wir uns ihnen zum Dienste an, freundlich,
bittend, aber ohne Hintergedanken, ohne Agitationszwecke, ohne
eigennützige Absichten, nur mit dem einen Ziele, ihnen die Schätze der
wahren Wissenschaft zu erschließen, ihre Folgerungen nach rückwärts
und vorwärts zu ziehen, aber ihnen besonnen und ernst die Schranken
zu zeigen, die auch ihnen aufgerichtet sind, und vor ihrem Mißbrauche
und vor Irrwegen zu warnen. Wir protestantischen Theologen fürchten
diese Arbeit nicht, wir freuen uns darüber, wir bitten um sie. Denn
wir wissen, daß die wahre, vorurteilslose, forschende Wissenschaft
der Wahrheit unsers Glaubens nie schadet, nur nützt. Auch auf unsern
menschlichen Augen liegen noch Schleier über Schleier. Der ist uns
willkommen, der sie uns herabziehen hilft. Nur immer tiefer, klarer,
kraftvoller werden wir dann die ewige, unversiegliche herrliche
Wahrheit unsers Glaubens ergreifen und den Frieden suchenden Menschen
bringen, nur um so besser, schneller, gründlicher wird die evangelische
Kirche ihre oberste soziale Aufgabe in dieser Zeit erfüllen können: den
modernen Arbeitern ein modernes Christentum zu bieten.

Denn darüber ist mir nach allen meinen Studien kein Zweifel mehr
übrig, daß wenigstens der sächsische Industriearbeiter, der infolge
der sozialdemokratischen Agitation durch moderne Gedanken- und
Wissenskreise hindurchgegangen ist, in seinem Empfinden, Denken und
Auffassen ebenso wenig mehr wie der sogenannte Gebildete unsrer Zeit
auf die geistige Verfassung vergangner Zeiten zurückzuschrauben ist.
Auch nicht auf die der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt, der
Zeiten des Neuplatonismus und der Schöpfung unsers überkommenen
Glaubensgebäudes. Es geht den modernen „aufgeklärten“ Arbeitern wie den
Angehörigen unsrer Mittelstände, unter denen die Egidysche Bewegung
unendlich viel Staub, leider wohl nur Staub aufgewirbelt hat, --
sie, die sich wie alle tiefer empfindenden Menschen nach wahrhaftem
Frieden sehnen, können ihn im Christentum nicht mehr finden, weil
ihnen seine ewig unveränderlichen Heilsgüter in einer Form und Fassung
dargeboten werden, die für sie heute unannehmbar ist. Und da sie, wie
die Kaufmanns- und Beamtenkreise des Mittelstandes, weder die Zeit
noch die Bildung und den geistigen Überblick haben, selbst diese Form
und Fassung zu zerbrechen, um den Kern und Edelstein zu behalten,
so werfen sie, obendrein ergriffen von dem Strudel des Genusses und
Glanzes der Zeit, das ganze kostbare Kleinod hin und verlieren mit
der Hülle den Inhalt. Nun wohl, so müssen wir, die Diener der Kirche,
dies weggeworfene Gut wieder aufheben, müssen die Arbeit, die jene
heute nicht thun können, oft schon nicht mehr thun wollen, für sie
thun, die alten Formen zerbrechen und den trotz alledem sich danach
sehnenden die ganze Herrlichkeit und Wahrheit unsers Glaubens in neuen
Gedankenkreisen, in neuen Ausprägungen, in Auffassungen, wie sie dem
modernen Menschen allein kongenial sein können, übermitteln. Und der
ganze Apparat der modernen echten Wissenschaft soll und kann uns dabei
Helferdienste leisten. Wir brauchen dabei kein Fünkchen von der Kraft
und dem Wesen, das nach unsrer Erkenntnis das Christentum ausmacht,
beiseite stellen und verlieren. Der Inhalt ist ewig, die Form ist
vergänglich. Ich habe freilich an dieser Stelle diese Arbeit nicht
zu thun. Kein einzelner vermag sie überhaupt zu thun, die von vielen
hohen Geistern seit langem schon vorbereitet ist. Nur im gemeinsamen
Ringen, allmählich, Schritt für Schritt, in Eintracht, mit Ernst und
Besonnenheit, aber auch mit Mut und Kraft haben wir alle, die berufenen
und die künftigen Diener der Kirche, sie zu leisten und dabei immer
anzuknüpfen an die geschichtliche Person Jesu von Nazareth, vor deren
stiller Hoheit auch der Arbeiter sich heute allein noch beugt. Aber
geleistet muß diese Arbeit werden -- sonst, das ist meine feste, aus
bitterster Erfahrung geschöpfte Überzeugung, geht es da unten und
wohl auch anderswo auf lange hinaus zu Ende mit dem Christentum.
Die Sozialdemokratie ist, vom religiös-kirchlichen Standpunkte aus
betrachtet, die erste große geistige Bewegung seit den Tagen der
Reformation, die auch den einzelnen kleinen Mann aus dem Volke vor
die Frage stellt, sich zu entschließen, ob er für oder wider Christum
sein will. Sie faßt mit diesem Zwange der Entscheidung jedes Einzelnen
innerste Persönlichkeit, all seine seelischen und geistigen Fähigkeiten
an: nutzen wir diese wunderbare geschichtliche Gelegenheit aus, bringen
wir es dahin, daß diese Entscheidung ein: Ja Herr, ich glaube! wird, so
wird die sozialdemokratische Bewegung dereinst zwar als eine schwere
Krisis bedauert, aber als ein unendlicher Segen und als das Mittel
eines neuen großen auch religiös-kirchlichen Fortschrittes gepriesen
werden. Die wir aber nicht gewinnen werden, denen werden wir dann
wenigstens durch die Kraft der wissenschaftlichen Überlegenheit, die
von neuem in unserm Dienste steht, imponieren. Und auch das thut nicht
weniger not.

Aber der künftige Sieg unsers Glaubens, die Wiedereroberung
des arbeitenden Volkes für ihn, ruht nicht in dieser
apologetisch-wissenschaftlichen Arbeit, in dieser Vermählung der
alten Heilswahrheiten mit den neuen Erkenntnisformen allein, sondern
ebenso sehr in der Kraft frommer Persönlichkeiten, die den zweiten,
den Thatbeweis für die Wahrheit des Christentums führen, den vor allem
die Arbeiter -- ich erinnere an einige im sechsten Kapitel mitgeteilte
Gespräche -- erst fordern, ehe sie wieder glauben zu können vorgeben.
Christliche Persönlichkeiten aber wachsen allein auf dem Boden der
kleinen lebendigen Gemeinde. Sie zu schaffen ist darum heute eine
soziale Notwendigkeit. Daß sie in jenem Vororte, wo ich Arbeiter war,
seit Jahren gefehlt hatte und nur erst wieder in den leisesten Anfängen
vorhanden war, daß die Arbeitsgenossen dort wie verlassen in der
Mitte einer fast toten kirchlichen Gemeinschaft dahin lebten, daß sie
keinen moralischen Halt, keine Stütze, keine Hilfe in ihr fanden, ja
daß sie sie überhaupt nicht mehr fanden und suchten, das machte sie
noch viel weniger widerstandsfähig gegen die Angriffe der Gegner, als
sie es ohnehin schon waren, das vor allem ließ ihnen den Glauben an
irgend welchen +praktischen+ Wert des Christentums für ihr leeres Leben
gänzlich verlieren. Aber ich brauche für den Gemeindegedanken nicht
noch mehr Worte zu machen: er steckt heute schon in allen Köpfen, und
seine Verwirklichung ist allenthalben auf den besten Wegen. Was wird
das einst in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren für eine Freude sein,
wenn auch die Großstädte nur kleine Gemeinden von 5-8000 Seelen haben,
wenn überall in ihnen frisches Leben pulsiert, wenn die Predigt und die
Seelsorge wieder bis in jedes Haus sorgsam hineingetragen, wenn sie
getragen und mitgeübt wird von einer zahlreichen Schar begeisterter
frommer Laien aller Stände, aber gleicher, edler, heiliger Gesinnung,
und wenn in ihr alle Werke der Liebe und Barmherzigkeit an den Armen,
Kranken und Schwachen werden gethan werden. Dies ist keine Utopie, wie
Bebels freilich wohl ehrlich geträumter Zukunftsstaat: das ist nur eine
Frage der Organisation, an die heute bereits Hand angelegt ist, und
die Schritt für Schritt ihrer Vollendung entgegen geführt wird. Und
wenn dann die Verhetzten, die Verschüchterten, die Gleichgiltigen, die
Spötter verwundert aufsehn und uns fragen werden: Aus was für Kraft
thut ihr das? so werden wir antworten wie die ersten Christen: In der
Kraft Jesu von Nazareth! und werden auch die neuen Heiden überwinden.

Eines aber wird auch diese Zukunftsgemeinde nicht vermögen: die
Nöte beiseite zu schaffen, die aus den großen, jetzt kranken
wirtschaftlichen Zusammenhängen stammen. Die innere Mission, in
jenes Gemeindeleben zum größten Teile organisch eingefügt, kann nur
die Wunden waschen, die Schmerzen lindern, die die Anzeichen einer
schweren Krankheit des ganzen Volkskörpers sind. Diese Krankheit selbst
aber kann sie nicht verhindern, hat sie bisher kaum in ihrem Wesen
erkannt. Diese Arbeit hat für die evangelische Kirche ein andres, das
junge Unternehmen des Evangelisch-sozialen Kongresses zu thun. Ich
schreibe an dieser Stelle von ihm nicht in offizieller Eigenschaft,
als sein Generalsekretär. Ich schreibe hier, wie ich mir persönlich
am liebsten und ausführbarsten seine Zukunft denke. Ich glaube, der
Evangelisch-soziale Kongreß hat eine doppelte Aufgabe. Seine Waffe
ist die Ethik des Evangeliums. Mit ihr soll er rücksichtslos, offen
und ehrlich, ohne Ansehen der Partei oder Person Kritik üben an den
Zuständen unsrer Tage; er soll darüber wachen, daß diese sittlichen
Grundsätze des Evangeliums in den sozialen Neugestaltungen unsrer
Zeit nicht abermals unberücksichtigt bleiben, und nicht abermals nur
materielle Interessen ausschlaggebend werden; er soll die führenden und
gebildeten, auch die leitenden industriellen Kreise, wenn nicht anders
so durch den Druck der öffentlichen Meinung zwingen, daß das gesamte
Wirtschaftsleben künftig auch als um der Menschen willen vorhanden
angesehen wird, die, wie vor allem die Arbeiter, von ihm abhängig sind;
und er soll dafür sorgen, daß auch die industriellen Werke allmählich
Stätten werden, an denen alle, die in ihnen beschäftigt sind, nicht
nur ihren ausreichenden Unterhalt, sondern auch innere Befriedigung
und einen zweckvollen, sittlich fördernden Lebensberuf finden. So wird
er in der That eine evangelisch-soziale, eine sozial-ethische Instanz
werden, deren Gewicht der Staat und die gesetzgebenden Körperschaften
künftig werden ebenso berücksichtigen müssen, wie beispielsweise den
Zentralverein deutscher Industrieller und die sozialdemokratische
Reichstagsfraktion. Aber der Kongreß hat meines Erachtens, indem er
jener eben geschilderten Verpflichtung gerecht wird, noch eine zweite
Aufgabe zu erfüllen: er hat der Kirche, ihren Organen und Dienern
die wahren Quellen der materiellen Not, d. i. die wirtschaftlichen
Zusammenhänge aufzudecken, hat ihnen das Auge für diese
wirtschaftlichen Probleme zu öffnen und ihnen zu zeigen, daß auch diese
Probleme bei aller kirchenregimentlichen, kirchlich organisatorischen
und seelsorgerlichen Thätigkeit künftig zu berücksichtigen sind. Der
einzelne Geistliche vor allem soll sich auf den jährlichen Kongressen
die Kraft und die Fähigkeit holen, seine Gemeinde und die Verhältnisse
ihrer einzelnen Glieder auch einmal unter diesen wirtschaftlichen
Gesichtspunkten anzusehn, ihre Notstände zu untersuchen, deren
Einflüsse auf den sittlichen und religiösen Charakter seiner
Pfarrkinder zu verstehen, diese mit ihren angesehenen Gliedern in dem
seelsorgerischen Umgang, den er mit ihnen hat, zu besprechen und auch
ihnen den Blick für diese Zustände zu erschließen und das Bewußtsein
der Verantwortung zu wecken, damit auch sie an ihrem Teile, in ihrem
öffentlichen wie Privatleben eine ernste soziale Gesinnung bethätigen.
Erfüllt der Evangelisch-soziale Kongreß diesen doppelten Beruf, so
hat er eine hohe Mission, so ist auch er ein Machtmittel, um das
der evangelischen Kirche gesteckte Ziel endlich doch zu erreichen:
+die Erziehung, die Veredlung, die Christianisierung der heute
noch wilden, heidnischen Sozialdemokratie, und die Vernichtung ihrer
widerchristlichen materialistischen Weltanschauung+.


Druck von Carl Marquart, Leipzig.





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