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Title: Die Kinder auf dem Abendberg - Eine Weihnachtsgabe
Author: Hahn-Hahn, Ida
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Kinder auf dem Abendberg - Eine Weihnachtsgabe" ***


produced from images made available by the HathiTrust
Digital Library.



                               Die Kinder
                                  auf
                             dem Abendberg.


                                  Von
                         Ida Gräfin Hahn-Hahn.

                          Eine Weihnachtsgabe.


                                Berlin.
                     Verlag von Alexander Duncker,
                        Königl. Hofbuchhändler.
                                 1843.


                             Allen Müttern.



Nachdem ich halb Europa von Gibraltar bis Danemora durchstreift habe,
reiste ich in diesem Spätsommer nach der Schweiz, nicht sowol um das
Land, als hauptsächlich um liebe Freunde wiederzusehen. Doch kaum hatte
ich den Jura überschritten, als das Land selbst, diese großartige,
mächtige, reiche Natur, ihren alten unzerstörbaren Zauber über mich
übten, so daß mir die Schweiz schöner erschien, als irgend ein Land, das
ich je gesehen. Der Eine mag Tyrol vorziehen, der Andere die Pyrenäen;
dennoch glaube ich, daß Alle eingestehen werden: eine solche Vereinigung
aller Contraste, aller Bedingungen zu einem vielseitigen Leben findet
man dort nicht; findet nicht so viel Städte so nah beisammen und in so
eigenthümlichem Character ausgeprägt; nicht so viel Punkte auf denen man
allen Comfort der Civilisation neben allen Schönheiten der Natur
genießt. Wer sich für den Gewerbfleiß und die industrielle Thätigkeit
interessirt, gehe nach dem hellen Zürch, dem ernsthaften Basel, dem
eleganten Genf; wer für die Cultur des Bodens, nach dem Canton Bern, der
_ein_ üppiger Garten ist, oder an den Leman, dessen nördliches Ufer, der
Höhenzug des nackten, felsigen Jorat, durch unglaubliche Mühe in _ein_
Rebgelände verwandelt ist. Wen das rastlose Ringen und Treiben der
Civilisation, die keine Ruhe kennt, ermattet, der gehe in die milden
Felsenthale des Canton Uri oder zu den grünen Wiesen von Unterwalden,
oder in das stille Schwytz. Wer die Fremden, die Reisenden beobachten
und sich mit ihnen unterhalten und zerstreuen will, suche die Orte auf,
wo sie sich vorzugsweise drängen: Luzern, Thun, Interlachen, den Genfer
See. Wer die Geschichte liebt, kann durch die Schweiz wandelnd einen
lehrreichen Cursus über die Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit
menschlicher Institutionen machen, bei Realta in Graubündten beginnend,
und wenn ihm die gegenwärtigen nicht gefallen, so kann er aus jener
Betrachtung den Trost schöpfen, daß auch sie nicht dauern werden: die
Römermacht ist verschwunden, die Obergewalt des deutschen Kaisers
gebrochen, die Aristokratie gestürzt; -- die moderne Demokratie wird
auch fallen. Wer am materiellen Wohlbehagen seine Freude hat, etablire
sich in irgend einem guten Gasthof, der in der Schweiz eben so leicht,
als in Deutschland schwer zu finden ist, und er wird haben, was der Leib
nur begehrt. Er wird auch nicht durch den Anblick fremden Elends aus
seinem Behagen aufgescheucht werden, z. B. nicht in Genf, wo die
Armenanstalten so vortrefflich sind, daß es keine Bettler giebt. So
haben Sachkundige mir versichert, und allerdings bin ich dort nie, auch
bei wochenlanger Anwesenheit, einem Bettler begegnet. Genf ist eine sehr
wohlhabende Stadt, die über 80 Millionärs zählt. Basel soll deren über
noch einmal so viel haben. Herr Christoph Merian, Handelsherr zu Basel,
besitzt ein Vermögen von 37 Millionen Fl. rhein. Doch nicht auf den
Handelstand beschränkt sich diese Wohlhabenheit. Es giebt Bauern im
Simmenthal und Emmenthal (Canton Bern), deren Vermögen 100,000
Schweizerfranken übersteigt, und man sieht es diesen unglaublich netten,
tüchtigen, wohlgehaltenen Dorfschaften auch an. Solch ein Bauer -- der
könnte glücklich sein, glücklicher als jeder andere Mensch! Sein
Grundstück gehört ihm, und ist frei von jeder Abgabe, wie sie auch
heißen möge. Er kennt weder directe, noch indirecte Steuer. Ungezählt,
unüberwacht kann er seine Producte verkaufen; kein Zoll beschränkt
Handel und Wandel. Sein Haus, sein Garten, sein Vieh, sein Feld -- Alles
ist von der besten Qualität, das Erdreich wie die Race und wie die
Bestellung, so daß seine Mühe und Aufmerksamkeit durch Gedeihen belohnt
wird. Er selbst mit den Seinen betreibt die Geschäfte des Landbauern,
bestellt die Wiesen und Aecker, besorgt Haus und Heerde. In dieser
gesunden Thätigkeit, welche seine Kräfte nicht übersteigt, findet er
zweckmäßige Beschäftigung, die wohlthätige, die ihn schützt vor den
Selbstqualen der Phantasie und vor dem unbefriedigenden Streben des
Geistes. Aber unsre Zeit ist nicht die der Zufriedenheit noch der
Befriedigbarkeit; es sind allzuviel Schranken weggerissen. Völker,
Stände, Einzelne fühlen das; dumpf die Einen, die Andern klar. Es geht
ein großes Suchen durch die Welt, aber das Was, das Wo, das Wie --
darüber ist man nicht einig, wird es auch nicht werden, kaum daß die
Parteien sich untereinander darüber verständigen werden. Was in der
antiken Welt der Menschheit einen Halt und Zusammenhang gab: die
Vaterlandsliebe; -- und was in der alten: der Glaube; -- das ist in
unsrer Welt gebrochen und am Boden, und Jeder arbeitet sich ab, auf
seine eigne Hand, für seine eigne Rechnung, ohne Vaterlandsliebe, ohne
Glauben, ja, ohne Ueberzeugung, nur für seine kahle Meinung -- die
unerquicklichste Danaidenarbeit! So ist denn auch das allgemeine,
schwüle, unruhige Unbehagen bis zu den Bauern der Schweiz gedrungen, und
sie mögten gern etwas Andres sein, als sie sind, und mehr noch haben,
als sie schon besitzen. Wenn Alle -- Alles wollen, so ist es sehr
natürlich, daß Niemand zufrieden sein kann. Dennoch -- wie sie auch sein
möge, die Schweiz, so ist sie schön; denn Gott hat sie schön gemacht,
hat ihr die Herrlichkeit ihrer Natur gegeben, eine unvergängliche
Glorie. O, man sieht sich müde auf der Welt, todtmüde an all den
räthselhaften und herben Geschicken, und das Auge wird so namenlos
traurig und das Herz so namenlos schwer, wenn sie dazwischen haften
bleiben. Das ist so herrlich in der Schweiz, daß der Blick nicht
untergehen kann im Menschenwerk, daß die wundervolle Schöpfung Gottes
ihn immer und immer wieder anzieht. Von all dem bangen, schmerzlichen,
wüsten Treiben auf der Erde gleitet er empor zu den Bergen, welche die
Jahrtausende und ihre Kämpfe gesehen haben und in unvergänglichem
Frieden, schneeweiß und rosenroth, stralen; und von den Bergen steigt er
zum Himmel, und vom Himmel zu Gott. Dann wird der Blick wieder hell, und
das Herz wieder freudig; denn die ewige Zuversicht, die in der Seele
wohnt, schüttelt die Entmuthigung ab, und liebend und hoffend kehrt man
zu den Menschen zurück, weil man daran erinnert worden ist, daß Gott
über ihnen waltet.

Für mich giebt es einen goldnen Faden, der lichtend durch das Wirrsal
der Gegenwart läuft: es ist das große Erbarmen mit fremdem Leid. Den
Armen, den Kranken, den Gefangenen, den Verbrechern, Allen auf denen
sonst außer ihrem jammervollen Loos noch der Druck der allgemeinen
Vernachlässigung, gar Verachtung lag, Allen wendet man einen Blick der
Theilnahme zu. Man denkt daran, daß sie Menschen sind, und trotz
Versunkenheit oder Strafwürdigkeit doch Menschen bleiben; in diesem Sinn
behandelt man sie, gönnt den Armen Unterstützung, den Kranken Zuflucht,
den Gefangenen menschliche Behandlung; sammelt man die Verlornen,
bewacht man die Kinder. Es könnte in dieser Richtung wol noch Manches
geschehen, und vor Allem: es könnte _besser_ geschehen, anspruchloser,
schlichter. Jetzt nehmen sich Einige der Sache an, weil etwa ein König
sich dafür interessirt; Andere machen eine Modesache daraus, und haben
ihren Wohlthätigkeitsverein so gut wie ihre Loge im Theater oder ihre
Soiree; noch Andere, besonders Frauen mit einem gewissen unruhigen
Geschäftigkeitstrieb, füllen damit ihre Zeit aus. Es ist also gar nicht
so beschaffen, daß wir uns damit trösten dürften. Wir fühlen uns nur so
elend, daß wir bereit sind, fremdem Elend abzuhelfen; das ist's! weiter
nichts! aber ihnen, den Elenden, den Unglücklichen, den Verabsäumten,
wird etwas dadurch geholfen. Bei der Menge werden sich immer
verschiedene kleinliche Triebfedern finden, welche sie dem Impuls folgen
lassen, den Einer gegeben, Einer, der keine andere hatte, als Liebe zu
den Menschen um Gottes Willen. So war im 17ten Jahrhundert Vincent de
Paule in Frankreich, der die Findelhäuser gründete, und alle Hospitäler
und Gefängnisse zu verbessern strebte. So war im vorigen Jahrhundert der
Abbé de l'Epée, der zuerst die geistige und moralische Erziehung der
Taubstummen unternahm. Was sie thaten, scheint uns jetzt ein Kleines,
weil die Sache so großen und glücklichen Erfolg gehabt, und die ganze
civilisirte Welt zur Nachfolge angeeifert hat. Welche Kämpfe jene Männer
zu bestehen, welche Ausdauer sie zu beweisen, welche Vorurtheile sie zu
überwinden, welche tausend bittere und niederschlagende Erfahrungen sie
zu machen hatten: das ist in ihren starken und muthigen Herzen begraben
worden, so daß wir nichts von ihnen sehen, als ihre heilbringende,
segenvolle, lichte Erscheinung. Die Reihe solcher Menschen ist nicht
geschlossen, kann es nicht sein. So lange es Leid giebt, wird es
Helfende geben, und es giebt noch viel, sehr viel hartes, heißes Leid
auf der Welt, und in der schönen Schweiz vorzugsweise eins der herbsten
-- den Cretinismus, diese traurig geheimnißvolle Krankheit, die sich
freilich überall, und in verschiedenen Abstufungen und Graden zeigt,
aber doch grade dort wuchert. Wer in der Schweiz gewesen ist, im Berner
Oberland wie in Chamouny, im Canton Uri wie im Wallis, überall wo es
hohe Berge und tiefe schattige Thäler giebt, wird einen Blick des
Erbarmens oder des Entsetzens für die Jammerbilder gehabt haben, die er
dort gewahrt -- für die durch den Cretinismus zum Stumpfsinn, ja zur
Thierheit herabgesunkenen Menschen.

Es mögen jetzt ungefähr zehn Jahr sein, daß ein junger Mensch aus Zürch
bei einer Wanderung durch den Canton Uri einen alten Cretin zu einem
Muttergottesbilde wanken sah vor dem er ein halbvergessenes Gebet
stammelte. Der Anblick ging dem Jüngling durch die Seele, und er dachte:
wenn diese Jammervollen nur dahin zu bringen wären, daß der Gedanke an
Gott in ihrem Bewußtsein aufdämmere, so sei keine Mühe die man an sie
wende verloren. Der Gedanke verließ ihn nicht mehr, und gab seinem Leben
die Richtung. Er studirte die Arzneiwissenschaften, und besonders Alles
was den Cretinismus betraf, mit dem sich theoretisch schon manche
gelehrte Männer beschäftigt, und der Praxis durch Beobachtung und
Studium vorgearbeitet hatten. Er durchwanderte die Schweiz um
Forschungen an Ort und Stelle über den Einfluß der Erd- und
Luftbeschaffenheit auf die Krankheit zu machen. Er widmete all seine
Zeit, seine Gedanken, seine Bestrebungen dem Zweck, den er sich
vorgesetzt. Darauf ward er practischer Arzt. Er war ein einsamer Mensch,
ohne Eltern, ohne Geschwister, ohne die Bande, welche unsere äußern
Verhältnisse zu bestimmen pflegen, indem sie uns an und in einen
gewissen Kreis weisen. Er war ganz unabhängig. Da nahm er sein kleines
Vermögen, und kaufte auf dem Abendberg im Berner Oberland, einige
tausend Fuß über dem Meeresspiegel, ein Stück Land, das groß genug war
um ihm Wiesen zum Weideplatz für eine kleine Heerde, Wald zum
Holzbedarf, und Raum für einen Garten und für ein Paar hölzerne Häuser
zu geben, die er bauen ließ. Als seine kleinen Anstalten fertig waren,
zog er hinauf mit einigen kranken Kindern. Jetzt hat er ihnen nichts
weiter zu geben -- als sein ganzes Leben. Seit zwei Jahren sind sie auf
dem Abendberg.

Gott hat gewollt, daß ich an diesen umdämmerten und verschleierten
Seelen einen Antheil nehme -- für den es keine Worte giebt. Als ich
diesen Sommer nach meiner Rückkehr aus Schweden in einer Zeitung einen
kurzen Bericht über die Anstalt des Doktor Guggenbühl las, beschloß ich
gleich sie sobald wie möglich zu besuchen, und am 12ten September that
ich es von Interlachen aus. Es war ein trüber Tag, und kaum auf der
Hälfte des Weges fing es an zu regnen, und regnete bis ich wieder am
Nachmittage herabkam, so daß ich nicht die wundervolle Aussicht auf die
Schneeberge, nicht die kleine Kapelle, nicht die ganze Umgebung des
Hauses gesehen habe -- was auch freilich nur Nebensachen sind. Ich fand
den Doktor Guggenbühl mit seinen eilf Kindern in einem großen Zimmer
versammelt, wo die meisten an einem Tisch saßen und theils Lectionen
nahmen, theils spielten. Die Lectionen bestehen darin, daß sie sehr
große Buchstaben kennen und nachsprechen lernen, nachsprechen, indem man
ihren Mund in die Stellung bringt, die er beim Aussprechen jedes
Buchstaben annimmt, und indem man diesen sehr laut und unablässig
wiederholt. Das Spiel besteht in einer Zusammenfügung kleiner Holzstücke
zu allerlei willkürlichen Figuren, oder im Bilderbesehen. Aber man muß
Beides mit ihnen treiben, sonst verfallen sie in ein stupides
unbewegliches Anstarren der Bilder, oder sie machen nur einen wüsten
Lärm, indem sie mit dem Holz auf den Tisch schlagen. Eins saß in einer
kleinen Schaukel, ein andres auf einem Wiegenpferd. Ein drittes, drei
Jahr alt und vor Kurzem herausgekommen, lag da, ohne Bewegung, ohne
Willen, ohne Kraft. Man hob es auf: Kopf und Glieder hingen schlaff
herab. Ob es bequem liegt oder unbequem, gleichviel! es verändert nicht
selbst seine Lage. Es fordert keine Speise; es ißt auch nicht allein; es
würde umkommen, wenn man ihm nicht Nahrung einflößte. Das schauerliche
Zeichen des Cretinismus: die Stirn, welche über den Augenbraunen
eingedrückt ist, hatte es in einem so hohen Grade, daß man den Finger in
die Grube legen konnte. Doctor Guggenbühl hat die Ueberzeugung, daß wenn
man diese Kinder in den allerersten Jahren, oder noch besser Monaten
ihres Lebens in die frische, klare, reine Bergluft bringt, ihnen
angemessene leichte Nahrung giebt, die Glieder stärkt durch Bäder und
Frictionen, die höchste Reinlichkeit und auch innere Mittel anwendet,
und sich unablässig bemüht ihre Sinne zu wecken, Auge, Ohr, Tastsinn,
welche immer geneigt sind einzuschlafen: so dürfe man hoffen sie zum
Bewußtsein zu bringen. Sehr kluge und gelehrte Leute dürften sie wol
nimmer werden; aber doch geschickt genug zu einem Handwerk, oder zu
häuslichen und mechanischen Geschäften; und auf jeden Fall: Herr ihrer
Körper würden sie werden, und nicht ein menschlich geformtes Stück
Fleisch bleiben, dem alle und jede Fähigkeit zur Aeußerung einer
bewußten Lebensthätigkeit fehlt. Beginnt man aber diese Behandlung bei
einem solchen Kinde erst _nach_ dem siebenten Jahr, so hält er dafür,
daß sie wol den körperlichen Zustand verbessern, Krämpfe, Convulsionen
lindern und heben könne, welche sich mit den Jahren einstellen und oft
eine fürchterliche Höhe erreichen; doch für die geistige Entwickelung
hofft er deshalb wenig mehr, weil das Gehirn bis zum siebenten Jahr die
Größe und Consistenz und Beschaffenheit erlangt hat, welche es für die
ganze Lebenszeit des Menschen beibehalten wird. Der ganze Organismus
leidet durch das Leiden oder die Krankhaftigkeit des Gehirns, weil dies
im engsten Zusammenhange mit dem Rückenmark und dessen Nerven steht, und
es war mir sehr interessant, daß ich dadurch an die Ansichten über
Schädelbildung des Doctor Carus erinnert wurde, von denen Doktor
Guggenbühl mit lebhafter Beistimmung sprach. Doch hat er mehre Kinder,
über sieben Jahr alt, aufgenommen, eben um ihren elenden körperlichen
Zustand zu verbessern. Er machte eine Aeußerung, die mir hohes Vertrauen
zu ihm gegeben, weil sie mir gezeigt hat, daß er das Wohl Anderer, aber
nicht eine sogenannte Berühmtheit für sich selbst bezwecke. Er sagte:
»Große Erfolge habe ich nicht aufzuweisen und ich strebe nicht danach.«
In Bern hatte ich ihn gleichgültig und kurzabfertigend Charlatan nennen
hören. _Ich_ nenne denjenigen Arzt Charlatan, der seine Mittel und
Behandlungsweise als unfehlbar darzustellen sucht und für jede Kur den
glänzendsten Erfolg gleichsam auf der Hand trägt. Wer sich aus der
Wissenschaft eine Glorie zu machen strebt, kann sehr leicht ein
Charlatan werden; wer die Menschheit liebt, und ihr mit seinen besten
Kräften bis zur größten Selbstaufopferung zu dienen und zu nützen sucht
-- unmöglich! Ebensowenig gehört der Doctor Guggenbühl zu jenen
unerfreulichen Sectirern, die leider überall heftig grassiren, und am
heftigsten vielleicht in der Schweiz, und die statt Religion --
Pietismus haben. Ohne einen tiefen Glauben an göttliche Führung, ohne
demüthige Bereitwilligkeit sich der Hand unterzuordnen, welche sie
lenkt, ohne die herzstärkende Zuversicht ein Werkzeug dieser Hand zu
sein -- kann Niemand der Menschheit Heil und Segen bringen. Er mag ohne
sie wohl die Kraft haben, die Alles unternimmt, doch die Ausdauer, die
Alles durchführt und die Liebe, die Alles überwindet, hat er nicht;
diese Blüten gedeihen nur auf dem Grund und Boden der Religion, und wie
wäre es möglich ein solches Werk der Barmherzigkeit zu beginnen ohne sie
zu pflegen? Dies nenne ich fromm sein, und so halte ich den Doctor
Guggenbühl für einen sehr frommen Mann. Wie er es ist, wie hoch und frei
und weit die Religion ihm das Herz gemacht, geht daraus hervor, daß er
in der Verschiedenheit der Confession kein Hinderniß zu einem
gemeinsamen wohlthätigen Wirken sieht. Er nahm als Pflegerinnen für
seine Kinder zwei barmherzige Schwestern aus dem katholischen Canton
Freiburg. Die _liberalen_ Herrn von Bern, die ihm für seine Anstalt eine
kleine Beihülfe von 600 Schweizerfranken gegeben, nahmen ihm nach dem
Beschluß einer Synode die frommen Frauen, aus Furcht vor deren
Proselytenmacherei. Voll so heiligen Eifers ist die reformirte Kirche zu
Bern! die unsäglich wohlthätige Wirksamkeit der _Soeur Rose_ ist nicht
ersetzt, obgleich er zwei Frauenzimmer gefunden hat, die sich mit Geduld
und Liebe ihrer schweren Pflicht bei den Kindern widmen. Er glaubt wie
ich: daß ein solcher Beruf besser durch Frauen ausgeführt werde, die
sich ganz von allen irdischen Banden abgelöst haben, und bei ihrem
Wirken nur an die himmlische Zukunft denken. Darum will er es mit den
reformirten _Soeurs grises_ versuchen, welche jetzt ein methodistischer
Pfarrer zu Lausanne heranbildet, sobald sie ihre öffentliche Thätigkeit
beginnen. Die Katholikinnen sind ihm so willkommen wie die
Methodistinnen, sobald derselbe, der alleinige göttliche Geist -- die
Liebe! sie beseelt. Außer jenen Frauenzimmern hat er in einem jungen
Menschen, den er dazu herangebildet, einen geduldigen und treuen Helfer
gefunden, der mit unglaublicher Sanftmuth den Lectionen und Spielen der
Kinder vorsteht. Zwei Mägde, welche die Küche und das Haus, -- zwei
Knechte, welche Garten und Heerde besorgen, gehören mit in diesen Kreis.
Die Heerde besteht aus einem Dutzend Ziegen, vier Kühen, zwei Eseln, als
Lastthieren, und einem Pferd. Wiesen und Garten sind ergiebig und die
Kirschbäume gedeihen vortrefflich. Die Einrichtung des Hauses ist
einfach bis zur Aermlichkeit; hölzerne Wände, Bänke, Stühle; arme kleine
Betten. Die beiden engen Zimmerlein des Doctor Guggenbühl sind wahre
Zellen! ein Schreibtisch, ein Bücher- und ein Apothekerschrank in dem
einen -- in dem andern sein Bett, und ein großer Tisch vor einem Sopha,
der für Fremde bestimmt ist -- das füllt sie; und an so wenig
Bedürfnisse kann man sich gewöhnen, wenn man die eigene Person einer
höheren Idee unterordnet.

Die meisten Kinder haben blutarme Eltern, die nichts zahlen können.
Hauptsächlich lebt und zehrt die kleine Anstalt von ihrem Eigenthum,
ihrem Grund und Boden; Gemüse, Milch, Brennholz giebt es da oben. Ferner
ist der Doctor Guggenbühl practischer Arzt, freilich nur in den Dörfern
des Thals von Interlachen; das mag ihm einiges Einkommen verschaffen.
Milde Seelen giebt es denn doch auch in der Nähe und Ferne, die sich für
ein so menschenfreundliches Unternehmen durch Unterstützung theilnehmend
erweisen, und ein Gotteskasten steht in dem großen Zimmer, wo der Fremde
die Kinder beisammen findet. So existirt die kleine Anstalt. Gott segne
und behüte sie! Hat einst die heilige Theresie gesagt als sie die
Reformation des Carmeliterordens unternahm: »Theresie und 9 Dukaten, das
ist sehr wenig, aber Gott, Theresie und 9 Dukaten ist genug;« hat einst
der Abbé de l'Epée mit seinem geringen Einkommen von 2000 Franken zehn
Jahr lang seine geliebten taubstummen Zöglinge erhalten: so wird Gott
denn auch wol sorgen für die Kinder auf dem Abendberg. Ich aber habe mir
das Wort gegeben die Herzen für sie zu erwärmen und zu gewinnen so sehr
ich kann; denn dies ist eine große und heilige Angelegenheit der ganzen
Menschheit! denn diese Armen, diese Elenden, diese Versunkenen sind
unsers Geschlechts! Ja, ja! sind ebensogut unsers Geschlechts als die
hohen und großen Geister, mit denen die Verwandtschaft unserm stolzen
Geiste so wohl thut, sind auch mit Schmerzen von ihren Müttern geboren,
sind auch mit Freuden von ihren Vätern begrüßt, sind auch bestimmt der
Segnungen theilhaft zu werden, die Gott den Menschen während ihres
irdischen Lebensabschnittes ertheilt, sind auch begnadet mit einer
unsterblichen Seele, welche nur nicht der krankhaft irdischen Stoffe
Herr werden kann, die sich um sie ballen, und für welche der Tod, mehr
noch als für uns Alle, eine selige Befreiung sein wird. Keines dieser
Kinder war boshaft oder hämisch; das werden sie nur da draußen, wenn man
sie neckt und plagt. Im Gegentheil! die, welchen das Bewußtsein
aufdämmerte waren freundlichen Gemüths, reichten ihren Pflegern die
Hand, suchten sich an sie zu schmiegen, suchten sie anzulächeln, was
freilich auf den armen mißbildeten Gesichtern sehr unlieblich aussah.
Ein kleines Mädchen wurde gar nicht müde uns, den Fremden, die Hand zu
geben, und ein siebenjähriger Knabe, kaum ellenhoch, kam mühselig an
seinem Stock daher gewankt, und sah mich an so freundlich er nur konnte.
Ach, sie haben ja kein andres Mittel um ihr Wohlwollen auszudrücken;
denn sprechen konnte Keines. Die Buchstaben und den eignen Namen nennen
konnten Einige, und das hatten sie erst da oben gelernt. Aber weil sie
doch wenigstens _das_ gelernt haben, so giebt das Muth um an die
Möglichkeit der Erweiterung ihrer Begriffe und Vorstellungen zu glauben.
Die ersten Jahre sind für die Entwickelung des Cretinismus die
gefährlichsten, die entscheidenden. Sind die Kinder in gesunder Luft und
Pflege erwachsen oder auch nur herangewachsen, so dürfen sie in ihre
Thäler zurückkehren ohne Furcht der Krankheit zu verfallen, doch
freilich nicht mit der Gewißheit dereinst ihren Kindern ihre Gesundheit
zu übertragen, denn es ist nichts Seltenes, daß die Kinder ganz starker,
gesunder Eltern mit dem räthselhaften Uebel geboren werden. Fährt man
aber fort sich nicht blos theoretisch, sondern auch practisch mit dessen
Bekämpfung zu beschäftigen, so ist nicht vorauszusehen wie weit man in
der Erkenntniß und Beherrschung des Cretinismus noch kommen, und zu
welchen trostreichen Resultaten man gelangen könne.

Mir war es eine unsägliche Erquickung inmitten unserer Zeit einen
Menschen zu finden, der sich in Ruhe und Stille der Wohlfahrt seiner
Mitmenschen annimmt, keine Verse und Phrasen über ihr Heil macht, weder
eine prunkende Wissenschaft noch eine starre Religiosität zum blendenden
Aushängeschild für die Menge braucht, und nicht philanthropisch, sondern
barmherzig ist, d. h. nicht menschenfreundlich mit einem Rückblick auf
das eitle Ich, sondern menschenfreundlich mit dem Aufblick zu Gott.

Als wir nach ein Paar Stunden fortgehen wollten hing ein dichter Nebel,
der als feiner Regen herabfiel, um den Berg, und verhüllte den schmalen
steilen Fußpfad, indem er ihn zugleich sehr schlüpfrig machte. Der
Doctor Guggenbühl gab mir zur Stütze einen Knecht mit, an dessen Arm ich
wohlbehalten herabkam. Dieser Mann -- ebenfalls ein Zürcher, wie auch
der junge Lehrer der Kinder -- hatte ohne im geringsten ein Geßnerscher
Schäfer zu sein, ein so gutes verständiges treuherziges Wesen, daß es
mir sehr angenehm war ihn sprechen zu hören von dem Leben und den
Einrichtungen da oben. Jedes Wort drückte herzliche Verehrung für seinen
Herrn, und herzliche Theilnahme für die Kinder ganz unbefangen aus, und
dazwischen lobte er das Gedeihen seiner Heerde und seiner Gartenfrüchte
eben so herzlich. »Der Berg giebts gern« -- antwortete er auf meine
Frage ob der Boden fruchtbar sei. Als wir durch das große Dorf Matten am
Fuß des Abendbergs gingen, riefen ihn die Leute unter ihren Hausthüren
an: »Wie gehts auf dem Berg? was machen die Kinder?« und er mußte ihnen
Rede stehen. Wie diese Theilnahme mich freute! Und wer von uns könnte
sie versagen? Lob, Ehrenzeichen, Beifall, Auszeichnungen, sind
tausendmal durch Mißbrauch entweiht, und können Keinen freuen, der für
eine Idee lebt. Aber ein Wort des Danks, ein Händedruck, ein Zeichen der
Theilnahme an seinem Werk: _das_ freut ihn, weil es ihm zeigt, daß es
eine Gemeinschaft der Guten auf Erden giebt.

_Dresden_, im November 1842.


              Gedruckt bei _A. W. Schade_, Grünstraße 18.


                                Berlin.
                     Verlag von Alexander Duncker,
                        Königl. Hofbuchhändler.
                                 1843.


                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert.





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