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Title: Das Lyzeum in Birkholz
Author: Rose, Felicitas
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Das Lyzeum in Birkholz" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1918 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
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                Felicitas Rose · Das Lyzeum in Birkholz

                            [Illustration]



                        Das Lyzeum in Birkholz

                                 Roman

                                  von

                            Felicitas Rose

                          78. bis 85. Tausend

                            Berlin/Leipzig

                   Deutsches Verlagshaus Bong & Co.



  Alle Rechte, auch das der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten
      Copyright 1918 by Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin
       Druck der Graphia Akt.-Ges. vorm. C. Grumbach in Leipzig



Mit Gott! steht auf der ersten Seite des alten Folianten, den ich beim
Umzug in Großvaters Kasten fand.

Die wurmstichige Lade brach zusammen, als ungeschickte Packerhände sie
hoben und stießen, das Buch, dick und groß wie eine Dorfbibel, fiel
heraus und polterte vor meine Füße.

Gelbe, leere Seiten, soweit ich auch blätterte. Stockfleckig und rauh.
Aber auf der ersten Seite mein Name. Mit Gott, Erne Sörensen!

Das ist ein guter Zuruf für die neue Stadt, die neue Wohnung und das
neue Amt.

Buch und Lade müssen dem Großvater gehört haben, dem Schulmeister mit
den fünfzehn Kindern. Denn er ist der einzige Erne Sörensen in der
langen Reihe der Jens Sörensen. Und nach ihm hat man mich benannt.

Ich sollte werden wie er, ein bodenständiger Mann, kein Grübler und
Spintisierer wie Vater.

Vielleicht wollte der Ahn das Leben seiner fünfzehn Kinder auf den
leeren Seiten des Folianten buchen, aber die Müdigkeit nach all dem
heißen Ringen ums liebe Brot hat ihm die Feder aus der Hand gewunden.

Soll ich sie aufnehmen?

Es klingt so ermunternd: Mit Gott, Erne Sörensen!

Zwei Tagebücher wies meine Bücherei auf, ein altes und ein neueres. Das
neuere zeigte meine eignen Schriftzüge. Ich hab’s verbrannt. -- Und
doch wäre ich jetzt so weit, es ganz objektiv zu betrachten.

Die Zeit und die Selbstzucht haben mich über all das Schwere, das in
den Blättern eingesargt lag, hinausgehoben. --

Das alte Tagebuch von der streitbaren Großmutter Sörensen, zweimal
verwittibten Lorns und Sebus, geborenen Witt, ist aber gut zu lesen. Es
hat mir über manche garstige, vergiftete Stunde hinausgeholfen. Meinen
Dank, Großmutter Gesine!

Wenn ich darin lese, stehen alle meine Vorfahren und Verwandten fest
umrissen vor mir. Die einfache Großmutter hat Familiengeschichte
studiert, wie nochmal ein Professor. Und bei der verbürgten strengen
Wahrhaftigkeit ihres Wesens hat sie wohl alle gut gezeichnet, und so
wählte ich mir schon als junger Schwärmer und Stürmer mein Vorbild aus
diesen Blättern.

Wer mag sie dereinst in Händen haben und dann bezeugen, es sei mir
gelungen? -- --

Großmutter Gesine schreibt:

Von 1700 an weiß ich’s genau. Von vorher ist auch noch manches da. Soll
aber viel Schnackerei dazwischen sein. Und wo Kirchenbücher verbrunnen
sind, haben die Pfarrers und Küsters dazugesetzt. Sind Menschen und
kann nicht alls stimmen. Ich halte mich an die Wahrheit. Ist ein
feiner, vornehmer Herr gewesen der Ahn Jens Sörensen. Oberamtmann in
Arnis und seine Gemahlin eine Hochwohlgeborene aus Thüringen. Soll eine
gute Mischung sein Thüringer und Holsteiner. Werden aber selbst im
Himmel noch lachen der feine Herr und die Hochwohlgeborene, wenn sie
ihre Sippe betrachten, die so bei klein achter ihnen ankümmt. -- Der
Herr Urvater sind schon 40 Jahr alt gewesen, als der Adebar den Lütten
gebracht hat und die Hochwohlgeborene hat die schwere Geburt nicht
abkönnen und ist auf den Gottesacker gekommen. Danach hat sich der Herr
Oberamtmann dem Kaffeepunsch und die Melancholei ergeben, ist aber sehr
alt geworden, 95 Jahr. Denn die Sörensen können viel ab. Der Lütt-Jens
hat Pastor werden wollen, ist ein rechten Spintisier gewesen. Oll-Jens
aber, der Herr Oberamtmann, hat sich nach dem Tode der feinen Frau
mit dem Herrgott verzürnt, und Lütt-Jens mußt auf dem Gute bleiben,
wo niemalen ein Pastor sich durfte sehen lassen. -- Wo kein Herrgott
aufpaßte, ist das Gut verkommen und nirgends ein Segen. Hat Lütt-Jens
um schieres Gold ein Weib genommen, brav und reich ist sie gewesen, was
nicht immer beisammen kommt. Um 1770 wieder ein Jens geboren und alles
noch leidlich. Dann aber das Geld verspekuliert und sein armes Weib im
gachen Jähzorn Tag für Tag gemißhandelt. Bis der Tag gekommen, da die
Frau in ihrem Schoße das Kind von einem andern Manne trug, den sie in
ihrer grimmen Not und Verlassenheit allzu sehr geliebet. Mathäus 7,
Vers I: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Hat der
Mann sie und das unschuldig, ungeboren Kind verstoßen, sind beide
bald gestorben. Sein eigen Fleisch und Blut ist auf dem Gut geblieben,
bis dies vergantet wurde. Drauf ist Jens gestorben und der Sohn Jens
ins Waisenhaus und dann Schuhmacher geworden. Tüchtig und brav. Hat
ein Weib aus Husum genommen, Luise Sörrine geborene Rasmussen. Die
konnt mehr als Brot essen und hatte Gedankens wie ein Doktor. Las
zweimal die ganze Heilige Schrift durch und sah in der Schusterkugel
absunderliche Sachen, die andere Menschen nicht sehen. -- Wurde ihnen
1800 ein Sohn geboren, hat die Wehmutter selbst gesagt, es sei ein
Goliath. Aber nur von Statur. Inwendig drin ist er ein David gewesen,
hat nur statt der Harfe eine Gitarre gehabt und die auch erst später.
Und weil die Wöchnerin mehr konnte als Brot essen, litt sie nicht, daß
das Kind wieder Jens genannt wurde, sondern machte einen Erne draus,
damit mal eine neue Reihe anfing. Dieser Erne ist mein Mann geworden.
Gott sei ewig Lob und Dank! -- Habe ihn oft den Rattenfänger von Hameln
genannt, weil er einem das Herz aus der Brust singen und fläuten und
gitarrespielen kunnt. -- Und ist er neben dem Arniser Sprüchwort
her: „Groß und breit und jähzornig und langlebig wie ein Sörensen“,
auch noch ein Schulmeister von Gottes Gnaden und nach Gottes Herzen
gewesen. Wie die Heilige Bibel dartut: Die Lehrer werden leuchten wie
des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die
Sterne immer und ewiglich. Hatten mich meine Eltern als halbes Kind
zweimal verheuert vordem. Und war der selige Lorns ein Schneider und
der selige Sebus ein Schreiber. Beide klein und arg dünn, so daß ich
allzeit in Sorge war, der starke Ostenwind kunnt sie davontragen.

Dann tat’s die Influenz, die man damals Grippe hieß. Und ich war frei,
und kunnt in allen Ehren den Goliath-Schulmeister kennen lernen. In
der weiten Heide bauten wir’s Nest in aller Einsamkeit. Und der starke
Gott segnete uns und ich konnte meinem Manne fünfzehn Kinder schenken.
Jedes einzelne voller Herzensfreude und mit Jauchzen. Hatt’ ich auch
oft nur Schwarzbrot und Wacholderbeersaft und für’s Wiegenkind die
Mutterbrust, -- eine Träne hat keins von mir gesehen. Gelacht hab’ ich,
jahraus, jahrein, damit nur ja nicht die Kinder merken sollten, daß
der Gottessegen einer Mutter könnt zu viel werden. Später freilich,
da sind die Tränen wie reißende Bäche dahergekommen. Das war, wie die
Kinder groß waren... Das ist Mutterlos und Kinderart. Gott segne sie
dennoch. Für jedes Leid ein Segen! So viel Schmerz, wie einem die
Kinder zufügen, könnt ja auch kein irdischer Mensch sonst verzeihen.
Da hat unser Herrgott extra das Mutterherz erschaffen. -- Ein braver
guter Jung war uns der Jens, der Älteste. Hieß freilich wieder Jens,
und ich mein, der Name bracht ihn wieder zum Spintisieren. Wir hätten
gern einen Lehrer, oder gar etwas Höheres aus ihm gemacht, wenngleich
ich nicht meine, daß es etwas Höheres gibt, als Schulmeister sein. Aber
das Kind saß von klein auf beim Heideschuster und half mit flicken, und
schaut in die Kugel und sinnierte. Schlug also der Großvater bei ihm
durch.

Sein Pate wußte ein gutes Geschäft in der Stadt, wo der Junge hätte
einheiraten können, aber ein Sörensen und Geld, das paßt nun mal nicht
zusammen.

Nahm sich der Jens denn auch ein ganz armes Mädchen, aber gut und
brav war sie. Konnte auch alle Worte gut setzen, und hatte bei ihrer
Herrschaft durch zehn Jahre hindurch beinahe fünf dicke Bücher
ausgelesen. Es waren schöne Sachen, die sie uns immer noch recht
ausmalte. Und ich mein, sie hätte mir auch den Schluß von dem fünften
Buch mal erzählt, als ich so krank war. Trotzdem sie es doch gar nicht
zu Ende gelesen hatte. Aber als ich sie fragte, ob sie sich denn
wahrhaftig so was Schönes selbst ausdenken könnte, da lachte sie, und
stickte sich rot an und lief fort. --

Ja, die Dorette. Die ist was Besonderes, wenn sie auch nur für fremde
Leute wäscht und ihr Mann Flickschuster ist und bleibt. Nun strampelt
bei ihnen auch schon so’n lütten Sleef in der alten Holzwiege, und
letzten Sonntag hat er mit dem heiligen Taufwasser den Namen Erne
bekommen, so daß ich wieder Gott Lob und Dank sagen kann. Er ist auch
wieder ein Goliath.

Wenn er mit den kleinen Beinen angelt und strampelt, dann ruft Vater
Jens: Höger rup, höger rup! Und ich weiß wohl, was das heißen soll.
Aber wenn der Junge höger rup soll, dann muß auch Vater Jens sorgen,
daß die Holzwiege auf den öbersten Boden kommt. Hätt’ ich nicht partuh
fünfzehn Kinder haben wollen, wär mein Jens vielleicht General oder gar
Stadtsekretär. -- Aber zu tausend Malen habe ich schon meine Hände über
dem Kind gefaltet, denn der Erne ist ein klein süßen, gescheiten Jung
und soll mal......

       *       *       *       *       *

Ja, hier endet Großmutter Gesines Tagebuch und der Enkel sitzt und
grübelt, ob er wohl den heimlichen Wunsch der treuen Alten hat erfüllen
können.

Weder General noch Stadtsekretär bin ich geworden. Meine Behörde berief
mich als Direktor an das Lyzeum in Birkholz.

Mit Gott, Erne Sörensen!

       *       *       *       *       *

Nun möchte ich wohl den alten Folianten füllen.

Die Winterabende sind lang und heimelig.

Und ich darf meinen mächtigen Kamin mit Buchenscheiten heizen, und für
die hungrigen schwarzen Öfen liegt Torf in Hülle und Fülle bereit.

Meine Dienstwohnung ist einst ein Patrizierhaus gewesen, man hat die
Speicher, die sich rings in einem großen Block angliederten, abgerissen
und das Lyzeum hingebaut. Es ist durch einen überdachten Gang mit
meinem Hause verbunden.

Uralt das einstige Patrizierhaus, hochmodern der Lyzeumsbau, es paßt
gar nicht zusammen. Äußerlich.

Innerlich umfasse ich mit viel guter Liebe die jungen Menschlein, die
sich tagsüber da drüben tummeln.

Ach, die erstaunten, frohen, sonnigen, ernsten, fragenden Augen: wer
bist du, plötzlich Hereingeschneiter? Und was hast du mit uns vor???
-- -- Es ist ein reiches Glück, was mir da in den Schoß gefallen ist.
„Der rechte Mann am rechten Ort,“ sagte mir zum Abschied mein alter,
gütiger Provinzialschulrat.

Man wächst unter einem solchen Wort. --

„Nicht vergraben, Kollege,“ war sein zweites. „Wer fremde Kinder
erziehen will, muß ihre Umgebung studieren.“ Diese Mahnung werde ich
mir oft vorhalten müssen. Denn ich dürste nach Einsamkeit.

Hätte ich doch das Buch nicht verbrannt!

Es war eine kindische Tat, und ich glaubte mich gereift durch Arbeit
und Leid.

Stünde das Buch noch in dem kleinen Mahagonischrank, ich hätte die
Kraft, es verschlossen zu halten.

Jetzt blättere ich in schlaflosen Nächten in den Seiten meines
Gedächtnisses, vergesse nichts, schlage jede Seite auf, durchlebe,
durchgrüble alles aufs neue.

Und der Ärger grinst, und die Schadenfreude lacht und das Leid weint
ätzende Tränen, die jede Lebensfreude mir zerfressen.

Nichts ist tot von der Vergangenheit -- -- nichts als meine zwei
goldlockigen Buben...

Ich rufe nach ihnen, meine Hände greifen ins Leere --

       *       *       *       *       *

Der Wunsch der streitbaren Großmutter Gesine war nicht in Erfüllung
gegangen.

Die Wiege in Vaters kleiner Kate hörte nicht auf zu schaukeln. Aber ich
blieb der einzige Goliath.

Verhutzelt, braun, greisen- und zugleich zwerghaft erschienen
mir alle meine Geschwisterchen, und sie verabschiedeten sich so
grausam regelmäßig von dieser Welt, daß ich die Wehmutter bei
jedem Neugeborenen gefragt habe: Wann stirbt’s? Und bei jedem der
jämmerlichen Kindchen weinte die Mutter doch schmerzlich, wenn
sie es hergeben mußte, weinte wohl auch über mich, der ich nie
Geschwisterliebe kennen lernen sollte. --

Lebte da ein Verwandter mütterlicherseits in Erfurt, dem Herzen
Thüringens. Der kam zum Viehkauf nach dem Norden und besuchte die
Freundschaft.

„Das ewige Gesterbse baßt nich for son Jungen,“ erklärte er. Und
obgleich ich mich heftig sträubte als dickköpfiger Holsteiner, so
verpflanzte er mich trotzdem.

Damit mich das Heimweh nicht auffresse, warf ich mich auf die Bücher.
In den Ferien kam ich ein- oder zweimal nach dem Elternhaus zurück.
In der Erinnerung daran sind aber nur drei Punkte haften geblieben:
die jedesmalige Besohlung meiner Stiefel durch Vaters Hand, eine
schaukelnde Wiege und eine ganze Reihe kleiner Gräber auf dem
verfallenen Gottesacker.

Doch so wenig mein Elternhaus mir bot, es muß doch die „Größeste unter
ihnen“ darinnen gewohnt haben, denn das Haus meines Thüringer Ohms
dünkte mich liebeleer, wenn ich Vergleiche zog.

Der kleine scheue Vater daheim in seiner stillen Besinnlichkeit, die
fleißige, behende Mutter mit ihrem feinen, guten Humor...

Man hätte mich bei ihnen lassen sollen. Wer hat das Recht, Kinder von
ihren Eltern zu nehmen?

Man hat mir Steine statt Brot gereicht.

Elternliebe ist das köstlichste Brot. Nun werde ich mein Lebtag hungrig
sein.

In den Osterferien, bevor ich ins Erfurter Seminar eintrat, machte ich
eine frohe Burschenfahrt ins Tal der wilden Gera.

Gerade im gesegneten Dörrberger Hammer sangen und tranken wir, da fing
mein Herz schmerzhaft an zu zucken und zu schlagen...

Und eh ich mich’s recht versah, lag mein Felleisen in einem Abteil 4.
Klasse, und ich überzählte meine paar Pfennige, ob sie wohl auch zur
Rückreise von der nordischen Heimat nach Erfurt reichen würden.

Gerade recht kam ich.

„Immer hat der Vater nach dir gerufen,“ weinte leise die Mutter. --
Guter Vater! Du erkanntest mich noch. Mein Kommen rief ein Lächeln auf
dein liebes Gesicht, dessen ich eingedenk bleiben werde. Weil es schön
und seltsam war, und noch heute mein einsames Leben hell macht in der
Erinnerung.

Dann streicheltest du meine Hände, mein Gesicht, das sich über dich
neigte. Rührend unbehilflich tatest du es, denn du mußtest eine äußere
Zärtlichkeit gegen deinen Sohn erst in der Sterbestunde lernen.

Und während du mich liebkostest, sagtest du leise und dringlich. „Nur
fein deine Kinder das 4. Gebot lehren.“

Das war dein letztes Wort. Du schliefst hinüber und sahst auf dem
Totenbett nicht mehr klein und scheu aus, sondern wie jemand, dem eben
der Herrgott zugerufen hat: „Ei du frommer und getreuer Knecht, sei mir
willkommen!“

Die Mutter nahm ich mit mir. Jetzt erst weiß ich, was sie mir für ein
Opfer brachte. Sie aber tat, als sei das Thüringer Land ihres Herzens
Sehnsucht gewesen. Lachend mit hellen Augen entsagte sie der nordischen
Heimat und ließ ihre alten Wurzeln umpflanzen. Immer aber, wenn der
Mond aufstieg oder die Sterne funkelten, fragte sie angstvoll: Gelle,
das sind doch dieselben wie oben bei uns?

Dies „Gelle“ war das Einzige, was sie sich von den neuen Landsleuten
angenommen hatte, es klang wunderlich weich neben ihrer scharf
abgesetzten Holsteiner Sprache. --

So hielt sie der Gedanke froh und aufrecht, daß Sonne, Mond und Sterne
auch über Schleswig-Holstein leuchteten, und jeden Abend trug sie dem
Mond Grüße auf. Fast wie eine verliebte Deern. Sie galten aber den
Gräbern droben im Norden, galten auch ol Pastor Truelsen oder Mudder
Jensen, die unserer Familie früher in allen Nöten beigestanden hatten.
--

Nun müßte ich das Buch schließen. Müßte einen Riesensprung tun von
der Vergangenheit bis auf den Marktplatz von Birkholz, da das alte
Patrizierhaus steht und das neue Lyzeum.

Wie ein besorgter Vater dem zaudernden Sohne, redet mir das verwitterte
Wappen zu, das über dem einen Mauerflügel steht. Immer muß mein
Blick es treffen, sobald ich mich zur Arbeit niederlasse, sei es in
der Schule oder an meinem Schreibtisch: Nun aber lasset alles hinter
euch... Wer diesem steinernen Spruche folgen könnte!

Über mich hat er keine Macht.

Und noch kann ich den Sprung nicht wagen, der in die Ruhe führt. --

Einundzwanzig Jahre war ich alt.

Ein Seminarist mit bestandenem Examen, einem eigenen Instrument im Arm
und außerdem den Zukunftshimmel voller Geigen.

„Nun bist du ein gemachter Mann,“ sagte meine kleine, behende Mutter,
und in jedem frühen Fältchen ihres Antlitzes leuchtete der Stolz.
Sie sagte auch der Frau Rätin am Anger 67 in der Post die Wäsche
ab und schuftete dafür am nächsten Morgen von drei Uhr an. Denn
Pflichtversäumnis kannte sie nicht.

Aber heute an dem Ehrentage meines bestandenen Examens zog sie ihr
schwarzes Gottestischkleid an, während sie sonst nur in schwarzseidener
Schürze um meinen Vater trauerte.

Wie ein Bild saß sie da und schaute durch das Fenster in das
verglimmende Abendrot, die Hände unter der schmalen Brust gefaltet, und
ein Leuchten lag auf ihrem Gesicht, als sähe sie in eine strahlende
Zukunft. Als ich mich zu ihr setzen wollte, sprang sie behende auf und
wischte den Sitz meines Stuhles eifrig ab für den „Herrn“ Sohn.

Solche Mütter, wie die meine, sucht sich der Teufel aus, um sie durchs
eigene Kind in den Staub zu ziehen.

Die Mutter wußte, daß der Abend nach der Prüfung den Kameraden und dem
fröhlichen Kommers draußen auf der Milchinsel gehörte.

Rippenbraten und rohe Kartoffelklöße standen auf der Speisefolge und
Erlanger Bier hieß der süffige Stoff, der unsere jungen Köpfe verdrehen
sollte.

Die Mutter lag schon im Bett, als ich ihr um 8 Uhr gute Nacht wünschte.
Sie hatte mir nie etwas in den Weg gelegt, wenn ich abends ausging, es
kam selten genug vor. --

Damals richtete sie sich aus dem ersten Halbschlummer erschrocken hoch
und rief angstvoll: „Och bliew doch to Hus!“

Ich lachte, wie man mit einundzwanzig Jahren lacht, wenn das Leben
lockt und der erste überwundene Berg hinter einem liegt. Gab ihr noch
einen ungewohnten, unbehilflichen Kuß auf den ergrauenden Scheitel und
stürmte fort...

Um Mitternacht war mein Kopf wüst und heiß.

Verschiedene Bürger, Handwerker, die für das Seminar arbeiteten, waren
aus der Stadt gekommen und tranken mit ihren Frauen einen Schoppen,
während wir zu den Klängen eines Leierkastens, dessen Besitzer wir mit
Bratwürsten, Kartoffelsalat und etlichen Seideln verpflichtet hatten,
mit den Töchtern gefühlvolle Walzer tanzten.

Die schwarze Balianslisette war dabei.

Das Mädchen war schön, üppig und dreist.

Der verwitwete Vater, Schmied Balian, hielt sein einziges Kind
sonst jeder Freude fern. Man sagte, es seien ihm schon zwei Töchter
verdorben. Er bewachte sie mit Späheraugen, und manch einer hatte eine
harmlose Fensterpromenade schwer büßen müssen.

An jenem Tage hielten ihn Freunde fest hinter seinem Stammseidel und
die Lisette gehörte uns.

Die Luft im mäßig großen Zimmer war unerträglich, schwül, voll Staub.
Lisette saß dicht an mich geschmiegt, und ihre schwarzen Beerenaugen
trieben ein tolles Spiel mit mir. --

Wir liefen hinaus in den dunkeln Garten, haschten uns, schrien,
lachten...

Dann plötzlich war ich allein mit der Lisette in der Kegelbahn... Wir
küßten uns rasch, leidenschaftlich, wild. --

Ein Streichholz glühte auf, eine Hand lag fest auf meinem Arm, und
Schmied Balian sagte geruhig: „Ich wußte nicht, daß Sie der Lisette gut
sind, bin’s aber zufrieden. Jetzt nach Haus, morgen komme ich zu Ihrer
Mutter, ist ’ne brave Frau.“

Er zog Lisette mit sich fort und ich taumelte nach Hause, ohne Hut,
ohne Zahlung, ohne klare Gedanken.

Am andern Morgen um 10 Uhr war der Alte mit der Tochter schon da.
Meinen Kopf zersprengte der ödeste Katzenjammer. Lisette war blaß wie
der Tod.

Der Mutter konnt ich gar nicht in die Augen sehen.

„Lassen wir das Pärchen mal allein,“ rief der Schmied lustig, aber
in seiner Stimme war ein tiefer, grollender Unterton, und seine Augen
drohten. --

In der schmalen Schrankkammer umklammerte mich Lisette: „Sörensen, um
Gottes willen, er schlägt mich tot, wenn du mich nicht nimmst...“ Ich
stand zornig vor ihr.

„So ein Frevel! Wir kennen uns ja gar nicht. Es war ein verdammter
Rausch! Und wenn du weißt, wie dein Vater ist, mußt du die Leute nicht
verrückt machen.“

„Sörensen, er schlägt mich tot.“

Nicht einmal meinen Vornamen wußte das Mädel. Ich lachte laut auf, und
dabei schlugen meine Zähne im Frost zusammen.

„Es ist doch nichts geschehen,“ rief ich. „Ein Kuß oder ein paar. Nimm
doch Verstand an.“ --

„Für mich ist’s die größte Strafe,“ knirschte sie, „-- ich hab einen
andern gern...“

„Schäm dich -- o schäm dich!“

Das war unsere Verlobung! --

       *       *       *       *       *

Wenn ich in der Zeit meine Mutter nicht gehabt hätte...

Mütter sind Helden...

Kleines, versorgtes, vergrämtes Mutterchen, du warst der Heldinnen
größte.

Gabst mir Sonne und Wärme und Zuversicht.

Gabst so viel Liebe für mich her, daß sie die ganze, weite Welt hätte
füllen können, schafftest und sorgtest, als seist du eine junge Deern,
die für das eigene Glück arbeitet.

Mutter, Mutter!

Und deinen großen Jungen trugst du auf betendem Herzen. So ist er nicht
verzweifelt.

Einmal an einem regennassen Novembertag stürmt ich zum alten Balian.

Ich wollt ihm sagen, daß ich den Schritt nicht tun könne. Daß ich es
kläglich fände, zwei Menschen zusammenzusperren für Zeit und Ewigkeit,
die nichts Gemeinsames haben als die unreife Jugend. -- Niemals wollt
ich mich verheiraten. Was ich verdiene, solle die Lisette haben, bis
für sie einmal der Rechte käme...

Der alte Balian lag schwer an Lungenentzündung. Er fieberte, war in
einer andern Welt. Was wir von seinen leisen Worten aber verstehen
konnten, war Freude über die Versorgung seiner Tochter.

Dann starb er uns, und ich konnte die Verwaiste nicht verlassen. Denn
es war nichts da.

Die guten Erfurter schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, daß ein
blühendes Geschäft so hatte vor die Hunde gehen können. Die schlechten
Kinder waren der Rost gewesen, der an dem ehrlich erarbeiteten Gelde
des Vaters fraß, und heimliche Wege war Schmied Balian gegangen, damit
die Nachbarn und die Kundschaft nichts von seinem Verfalle merken
sollten. -- Was noch irgendwie ein Ansehen hatte von seinen Sachen,
war verpfändet. Ein paar wurmstichige Möbel nahmen wir mit. Ich habe
sie zu Brennholz zerhackt, und sie spendeten die einzige Wärme, die
ich dem Hause Balian zu verdanken hatte. Von Mutterchens armseligen
Ersparnissen richteten wir die neue Lehrerwohnung ein. Sie lag in
Einingen, tief in der Lüneburger Heide.

Die Heide kann nur ganz Glückliche, kann nur selige, jauchzende,
lachende Menschenkinder brauchen, oder ganz Unglückliche, von ihrem
Gott Verlassene. -- Ihre Riesenweiten muß man füllen können mit Liebe
oder Haß, mit Jauchzen und Zittern, mit einer Welt von innerem Erleben.
Gleichgültige Menschen oder solche, die nur Erdenschwere und Dumpfheit
kennen, gehören in die Großstadt. Die Heide tötet ihnen Seele und Leib.

Ein Unglücklicher war ich.

Weil ich so jung war.

Weil das Leben so ewigkeitslang vor mir lag. --

Als die Wasser der Verzweiflung über meinen Kopf zu schlagen drohten,
stand ich eines Abends vor der Studierstube von Pastor Verden. Manche
Predigt, die schön gesprochen und herzlich gemeint war, hatte ich von
ihm gehört, aber der Lehrer Erne Sörensen war unaufmerksamer als der
zerstreuteste Schuljunge und jeglich Wort fiel daneben.

Ich entsinne mich aus jener Zeit, daß in Kopf und Herz nur die Fragen
brannten: Was soll ich? Wohin? Wo ist Hilfe? Und keine Antwort fand.

Nicht am Tage und nicht des Nachts. Nicht in Kirche und Schule. Nicht
daheim, noch in weiter Heide.

Mein Mutterchen war auf dem Posten.

Damals ist ihr Gebet gewesen: „Lieber Gott, der Erne, mein großer
Jung, will uns entlaufen. Jawohl, dir und mir. Da heißt’s aufpassen.
Und fein gesund mußt du mich bleiben lassen, das siehst du wohl ein, du
lieber Herrgott. Denn der Erne hat jetzt nur mich.“ --

Vor des Pfarrers Studierstube stand ich und wollte irgendeine
Dorfangelegenheit mit ihm besprechen. --

Es war garstiger Schneesturm, und jeder andere wäre daheim geblieben.
Denn die Dorfangelegenheit war nicht wichtig. Aber mein ödes Zuhause
und darinnen die junge, faule, zänkische Frau trieben mich häufig in
die Weite der Heide oder auch in die Enge des Dörfleins.

Und noch auf der hallenden Estrichdiele des Pastorats gellten die
Fragen meines arbeitenden Hirns: Warum? Wohin? Wo ist Hilfe?

Pastor Verden las laut sein Abendlied, und die schlichten Worte
übertönten den Jammer meines Herzens:

    Der Wolken, Luft und Winden
    Gibt Wege, Lauf und Bahn,
    Der wird auch Wege finden,
    Da dein Fuß gehen kann. --

Da lehnte der lange Goliath Erne Sörensen seinen Kopf an die Tür und
weinte bitterlich.

Zum erstenmal seit der Kinderzeit und den kindischen Knabentränen. Ei,
ei, ei!

Der heraustretende Pfarrer schüttelte bedächtig den Kopf, und meine
beiden Hände hielt er fest in den seinen.

Und die Frau Pastorin mit dem gütigen Matronengesichtchen rief: „Du
lieber Gott, der junge Herr Lehrer!“ Und raunte dann: „Ob ich Essen
bringe? Ob er Hunger hat?“

Denn junge Lehrer und Hunger gehörten für sie zusammen. An diesem Abend
fanden meine Hilferufe und wirren Fragen ihre Antwort. Ein großes
Sorgenbündel ließ ich in dem altväterischen Ohrenstuhl der Studierstube
zurück, und eine Freundschaft für Lebenszeit nahm ich mit mir. --

Ich begann jetzt erst mein „Haus einzurichten“. Es ist ein tiefer
Unterschied, ob man sich sein „Nest baut“ oder sein „Haus einrichtet“.

Das erstere hatte ich verscherzt, als ich ein Mädchen ohne Liebe wählte.

Aber ich hatte viel ehrlichen Willen, dies Unrecht gutzumachen. In
meinen Freistunden bastelte ich allerhand Zierrat für unsere Stuben
zusammen, ich handhabte die Axt und ersparte den Zimmermann. Die Mutter
bekam von der Pastorin Blumenzwiebeln und -samen. An unsern Fenstern
blühten Geranien und fleißige Liesel. Der Pfarrer führte mich feierlich
bei den Dorfältesten und der Gemeinde ein, und da er sehr angesehen
war, wurde ich’s auch, weil er seine Hand über mich hielt. --

Und nichts schaffte ich an, ohne Lisette um Rat zu fragen. War ich
des Hauses Haupt, so sollte sie das Herz sein. Meinen Jähzorn, das
unselige Erbteil der Sörensen, bezwang ich und strebte danach, daß das
Versöhnlichsein uns beiden zur lieben Gewohnheit würde.

Dem toten Hause wollt’ ich unsern Atem geben. --

Aber es war kein Segen dabei.

Lisette hatte für alles ein Lachen, an dem das meine langsam starb.
Gern las ich abends den beiden Frauen vor, denn ich war stolz auf meine
Bücherei. Diesen hochtönenden Namen gab ich meinen zwanzig Bänden,
wobei ich Bibel und Gesangbuch noch mitrechnete. Mutter bekam helle
und blanke Augen, wenn ich den Hungerpastor vorhatte, sie lachte wie
ein frohes Kind über Fritz Reuter und konnte sich für Hans Krischan
Andersen begeistern. Lisette aber gähnte und schlief ein, ohne sich
doch durch Tagesarbeit den Schlaf verdient zu haben.

Wir ließen sie vor uns das Bett aufsuchen, und kam ich dann ins
Schlafzimmer, fand ich sie in kleinen schmutzigen Heften lesend... Als
ich die Sachen verbrannte, erntete ich Schimpf und lodernden Zorn.

Es kam eine Zeit, da ich die Hölle im Hause hatte.

Die Mutter wurde ganz kümmerlich und weinte des Abends an meinem Halse.

Sie hatte schlechte Tage unter Lisettens Herrschaft und tat doch allein
alle Arbeit des Hauses.

Und wieder danke ich es Pastor Verden, daß ich meinen Zorn niederrang
und mich nicht vergaß. Denn die Dorfgemeinde schaute aufmerksam auf das
Beispiel des Lehrerhauses.

Lisette fühlte sich Mutter.

Diese Zeit mag wohl in anderen Ehen etwas Köstliches bedeuten. Zwei,
die Eins sind in Hoffen, Lieben, Glauben, in Ehrfurcht vor der
Heiligkeit des Werdenden, im Stolz auf die Zukunft.

Herrgott! Und bei uns nichts, nichts, was Herz und Sinn hätte erheben
können.

Hie und da brach eine jähe Zärtlichkeit bei Lisette hervor. So wild und
ungestüm und zügellos, daß ich mich vor der Mutter schämte...

Einmal küßte sie mich mit derbem Lachen, als gerade zwei Bauern bei mir
waren, um sich Rat für ihre Kinder zu holen.

Sie sahen scheel und ohne Verständnis auf die Lehrersfrau und
entfernten sich eilends.

Der Rat blieb ungesprochen, aber das Seltsame und Häßliche meiner Ehe
trugen die Leute ins Dorf.

Dann aber ward es Licht.

Gott schenkte mir zwei Knaben. Einen großen Goliath -- Erne und einen
feinen, kleinen Jens.

Außer mir war ich vor Glück. --

Mir schien alles klein und gering, was ich früher erlebt, gegen das
unfaßlich Herrliche der Gegenwart.

Ich war Vater. Vater von zwei Söhnen. Auch die Zukunft war wieder hell,
denn ich hielt ja an jeder Hand einen Knaben und brauchte keinen Weg
mehr einsam zu wandern.

Und meine Jugend jubelte laut ihr Glück hinaus, bis Mutterchen
ängstlich mahnend rief: „Du groten Jung! Swieg still! Du büst jo ganz
ut Rand un Band. Süh de beiden Lütten! Wo se di ankiken. As ob se dien
Öllern wiern un nich du.“

Laut und fröhlich lachte ich und küßte beide Mütter. Die, die mich
geboren, und die, welche mir meine Knaben schenkte.

Und in der Nacht träumte mir, der Erne sei Kultusminister und der Jens
Volksschulmeister. Und es war ein köstlich Zusammenarbeiten der beiden
Brüder, und die ganze Welt und alle Schulen waren voll Glück. --

       *       *       *       *       *

Was nun ein schweres, grausames Geschick mir wuchtend auferlegte, das
werde ich nur ganz kurz und sachlich buchen können. Einst schrieb ich
es in das kleine Heft hinein, das nun verbrannt ist. Einst -- damals
als ich jung war.

Damals wünscht ich mir „Flügel der Morgenröte“, um dem Herrgott zu
entfliehen „und wanderte im finstersten Tal“...

Jetzt weiß ich, daß er mich nie verlassen, noch verloren hat.

Heute ist der Geburtstag meiner Knaben.

Das wären jetzt aufgeschossene schlanke Bürschchen, wie ich selbst es
war mit vierzehn Jahren.

Sie würden mir bis an die Schulter reichen und zu mir sagen: Vater, wie
sind deine Brauen und dein Bart so dunkel und deine Schläfen so weiß. --

Das kommt, weil ihr mich verlassen habt, meine Jungens...

Nun, so bekomme ich diese Seiten nie zu Ende...

Die Kinder gediehen und wuchsen wie die Bäumchen. Trotzdem Lisette
ihnen die Mutterbrust verweigerte. Im Anfang war ich zornig, dann
freute ich mich darüber. Ich bereitete fast jede Nahrung selbst für sie.

So wurden sie ganz mein Eigen. Von der Schule lief ich zu den Knaben
und von ihnen zur Schule.

Und die allerbeste Kindsmagd hatten sie außerdem an der Großmutter. Die
wurde noch einmal jung in der Kinderstube und besann sich auf Märchen,
wie sie schöner nie ein Mund erzählt.

Und der große und der kleine Erne saßen mit dem feinen, zarten Jens zu
Füßen der Scheherezade und lauschten...

Lisette aber war auch glücklich auf ihre Art. --

Sie entlief oft tagelang dem „langweiligen“ Manne, den „langweiligen“
Kindern, der „furchtbaren Öde“ der großen Heide.

Sie vergnügte sich in der nahen Stadt, fand Freundinnen und Versucher...

Ich wachte erst aus meiner Vater- und Kinderseligkeit auf, als Pastor
Verden mich gewaltig rüttelte. Er nannte die Dinge, wie das Dorf sie
besprach...

Bis ins Herz erschrak ich.

Und zwang mit eisernem Willen die junge, pflichtvergessene Mutter in
mein Haus.

Es wurde zur Hölle für uns alle.

Nur eine hielt dieser Hölle stand. Sie war die verkörperte Liebe. Sie
betreute das Haus, die Kinder, mich selbst, ja auch um die mürrische,
zänkische Schwiegertochter warb sie täglich aufs neue. Nimmermüde war
das Mutterchen. Ich selbst lief allein oder später mit meinen Buben in
die Heide.

Lieben und verstehen lehrte ich sie die unendliche Weite und Stille.
Die rote Blütenpracht im Sommer wurde ihnen zum Himmelsteppich, und
alle Blumen der Welt reichten nicht heran an Holler und Ginster.

Mit drei Jahren sprachen die Knaben ein reines gutes Hochdeutsch, und
mit dem „Grodeli“, wie sie die Großmutter nannten, „snakten sie Platt“.

Meine Buben waren mir alles und ersetzten mir alles, woran sonst ein
junger Mensch sein Herz und seine Sinne heftet. Ich lachte, tollte,
lernte und spielte mit ihnen, und wenn sie mir ihre Händchen hinhielten
und ernsthaft meine Koseworte wiederholten: „Ja, Erne, wir sind
zusammengeßmiedet“, dann dünkte ich mich der Königssohn im Märchen. --

Nun rasch weiter und zu Ende.

Es war Schützenfest in der Kreisstadt.

Lisette war in fieberhafter Aufregung. Sie erzählte sogar den beiden
Kindern von all den verlockenden Schaubuden, von Karussels und Löwen
und drolligen Affen.

Die aufgeweckten Bübchen horchten erstaunt und erfreut, die Mutter war
so selten freundlich mit ihnen.

„Laß mich doch mit den beiden hin!“ drängte Lisette. „Die Kinder werden
ja hier ganz überspönig, sie müssen einmal unter andere Kinder. Ein
großer Umzug mit brennenden Laternen soll da sein, -- ich hab’s der
Frau Diedrichsen so gut wie versprochen.“ --

Lehrer Diedrichsen war mir ein unlieber Kollege, seine Frau als
Freundin für Lisette durchaus ungeeignet. Ich schüttelte den Kopf, ein
zorniger Blick traf mich.

„Grad als ob mir die Kinder nicht +auch+ gehörten,“ schrie sie
mich an. Da fingen Erne und Jens an zu weinen, und ich trug sie hinüber
zur Großmutter, damit ihre jungen Augen nicht das entstellte Gesicht
der Mutter sehen sollten und das furchtbarste Schauspiel für Kinder:
Uneinigkeit der Eltern. Dann ging ich zurück zu Lisette und versuchte
noch einmal mit Freundlichkeit und Ruhe ihr meine und ihre Stellung
klarzulegen.

Daß ein Lehrer würdigere Freuden kennen müsse als den Jahrmarkt in der
fremden Stadt, und daß es einfach unsere Verhältnisse nicht erlaubten,
das Geld so unnütz hinzuwerfen. Und die Kinder, die jungen zarten
Knaben im Gewühle eines solchen Umzuges!

Sie tobte, aber ich blieb ruhig und fest.

Andern Tags hatten beide Bübchen starkes Fieber. Es war ein kalter,
häßlicher November.

Ich mußte mit dem Pfarrer und dem neuen Kreisschulinspektor über Land
und trennte mich schwer von den Kindern. Aber Lisette schien selbst in
Sorge um die beiden, das konnte ich wohl sehen. Sie gab sich auch Mühe,
freundlich mit mir zu sein, es war wie Reue in ihr und mir war’s der
Schimmer einer lichteren Zukunft...

So ließ ich meine Frau am Bett der Kleinen und Mutter schlummernd im
Lehnstuhl, was nicht oft vorkam. Aber sie kämpfte schon lange gegen
eine böse Erkältung.

Spät abends kam ich heim.

Ich ging zuerst in Mutters Stube, um nicht mit der ganzen Nässe und
Kälte der Novembernacht an die Bettchen der Kinder zu treten.

Mutter schrak aus Fieberschlaf empor.

„Die gute Lisette,“ lallte sie. „Warm eingepackt hat sie mich. Nicht
rühren sollt ich und konnt ich mich. Und gut zugeredet hat sie mir. Daß
ich sollt endlich einmal liegen bleiben und an mich denken. Den Bübchen
geht’s besser. Schlafen alle zwei in die Gesundheit hinein. Und die
Lisette hat sich auch hingelegt.“

Ich kühlte der Mutter die brennende Stirn und dann ging ich ins
Schlafstübchen.

Herrgott! Herrgott!

Die Betten waren leer.

In der Kreisstadt fand ich nachts um drei Uhr meine Kinder wieder im
Hause des Lehrers Diedrichsen.

Der kleine Jens kannte mich schon nicht mehr. Am andern Tag zwang ihn
die Bräune nieder. Die Fahrt über Land in schneidendem Novemberwind...

Mein Erne wehrte sich länger. Er erzählte mir noch mit heiserer Stimme
von den Löwen und Äffchen, von dem rasenden Karussel, wo man so übel
drauf werde, von den brennend roten Stocklaternen. Diese ängstigten ihn
furchtbar und verfolgten ihn. --

Den ganzen nächsten Tag erzählte er mir noch...

Dann reichte er mir das kleine heiße Händchen: Wir beide sind
zusammengeßmiedet......

       *       *       *       *       *

Das war vor zehn Jahren. Ich habe Lisette nicht wiedergesehen. Was ich
verdiene, schicke ich ihr bis auf wenige Abzüge. --

Die Mutter blieb vorerst bei mir. Gott ewig Lob und Dank. Ihr rastloser
Fleiß, ihre Liebe, ihre nimmermüde Fürsorge und ihr Vertrauen zu mir
haben mir geholfen. Sie zeigten mir den Weg zur ernsten Arbeit. So
konnte ich ein Jahr nach dem Heimgang meiner Knaben die Reifeprüfung am
Gymnasium ablegen.

In Kiel studierte ich, war dann in Lüneburg Kandidat und Oberlehrer.

Da war Mutterchens Mission zu Ende.

So meinte sie. Und sie packte ihre Sachen und zog wieder in unser
Heidedörfchen. Dort sitzt sie in ihrem alten Hause, darinnen sie mich
geboren, und wo unser guter Vater starb. In ihrem feinen Herzenstakt
glaubte sie, die ehemalige Waschfrau könnte meiner Laufbahn im Wege
sein. Und all mein beredtes Werben um sie und ihr Bleiben konnten ihren
Entschluß nicht erschüttern.

Der schwerwiegendste und letzte Beweggrund: „Mutter, ich brauche dich
und deine Gegenwart wie das liebe Brot“, habe ich nicht ausgesprochen.
Zu viel Opfer hatte mir schon die liebe Unersetzliche gebracht. Ich
sah, wie ihr Herz und ihre Hände nach der engen Heimat, nach der alten,
schwer entbehrten Arbeit verlangten. Eine tüchtige, alte Magd trat
an ihre Stelle. Mein Körper war immer gut versorgt, die Herzspeise
fand ich in Mutters kärglichen Briefen. Ich selbst schreibe zu ihr
jeden Sonntag. Komme mir beinahe wie ein Pfarrer vor, der seine
Sonntagspredigt und Sonntagsstimmung vorbereitend genießt.

Von Lisette erwähnen wir beide nichts.

Ich weiß, daß Mutter meine Not begriff...

Aber sie wurzelt auch wieder mit allen Fasern in den göttlichen
Geboten. Der alte Lutherkatechismus vom Großvater her lag immer auf
ihrem Bettischchen. Ich sah einmal, daß sie das vierte und das sechste
Gebot mit leuchtend rotem Stift angestrichen hatte. --

Daß ich ihr den Schmerz meiner unglücklichen, häßlichen Ehe zugefügt
habe, wird mich immer brennen...

Von Lüneburg aus konnte ich oft die beiden kleinen Heidegräber
aufsuchen, die Frau Pastor Verden mir betreut.

Schlaft wohl, Erne und Jens Sörensen! --

       *       *       *       *       *

Auf dem Schulhof vom Birkholzer Lyzeum wirbelt und tost es, lacht es
und schreit.

Fräulein Nissen hat die Aufsicht.

Sörensen, der an seinem Schreibtisch im Direktorzimmer sitzt, sieht
gar nicht erst nach dem Stundenplan. Er weiß es sofort, als der
ohrbetäubende Lärm auf dem Schulhof losbricht, und sagt es geruhig vor
sich hin: „Natürlich die Nissen.“

Dann erst tritt er ans Fenster und schaut kopfschüttelnd hinunter auf
das Gewühl.

Wie eine Henne, die Enten ausgebrütet, flattert die Lehrerin zwischen
den Mägdlein umher, und wo sich eine ruhige Gruppe bildet, wird sie
aufgescheucht. Dabei scheint denn einige Disziplin in die Brüche zu
gehen.

Prachtvoll jung ist sie, die Bande da unten. Eben meint Sörensen, die
Siebenjährigen stießen diese hellen Juchzer aus, es sind aber die
Backfische aus der zweiten Klasse.

Telse Lüders kräht wie ein junger Hahn.

Fauchend steht Fräulein Nissen vor ihr, das Sündenregister scheint
endlos zu sein.

„Ei, so laß sie doch krähen!“ denkt Sörensen unpädagogisch.

Denn der Schulhof ist ja eigentlich kein Hühnerhof. Aber der Direktor
weiß, daß Telse Lüders das einzige junge Kind alter Eltern ist, der die
Schule viel Freude und Jugendübermut ersetzen muß.

Jetzt lächelt er. Denn er sieht, wie sich die zweite Klasse, der Telse
Lüders angehört, zusammenrottet und augenscheinlich die Gemaßregelte
flammend gegen die Vorwürfe der Lehrerin verteidigt...

Sörensen weiß guten Korpsgeist zu schätzen.

Fräulein Nissen geht diese Schätzung völlig ab. Sie regt sich ungeheuer
auf, und der Zuschauer runzelt die Stirn ob ihrer Würdelosigkeit.
Sprecherin der zweiten Klasse ist ein braungebranntes, schlankes,
rassiges Mädel mit kurzgeschnittenem, aschblondem Lockenkopf, der von
Zeit zu Zeit eine in die Stirn fallende „Tolle“ energisch zurückwirft.
Stahlblaue Augen blitzen die Lehrerin an.

Und doch ist die Haltung der Schülerin nicht unehrerbietig. Direktor
Sörensen stellt dies sofort bei sich fest, denn Sörine von Heidekamp
ist ihm bereits von mehreren Lehrern als „schwarzes Schaf“ der zweiten
Klasse vorgemerkt worden. Sörensen aber verläßt sich gern auf seine
eigenen Augen und diese sahen jetzt auch, daß Sörine ein kleines,
schreiendes, blutendes Mädel aus der neunten Klasse aufhebt, das im
raschen Lauf auf dem scharfen Kies hingefallen ist und sich das Näschen
arg zerschunden hat. --

Der Direktor stellt ferner fest, daß Sörinens Taschentuch zwar nicht
einwandfrei ist, doch sie läuft blitzgeschwind damit zum Brunnen und
bald darauf liegt es kühlend auf dem blutenden Näschen der Kleinen.

Fräulein Nissen aber schilt ergiebig mit der Patientin, und das
veranlaßt Sörine von Heidekamp, die Lehrerin erstaunt und ungläubig
anzusehen.

„Sörine, ich werde dich einschreiben,“ ruft Fräulein Nissen nervös.
Die klaren Kinderaugen sind ihr unbequem. Dabei bebt jede Fiber
in ihr und sie fühlt sich ganz „fertig“ und „wie aus dem Wasser
gezogen“. Dem Weinen nahe, hastet sie die Treppe in die Höhe, die
zum Lehrerzimmer führt. Dabei stolpert sie und tritt sich die
Rockborte ab, die als ringelnde Schlange hinter ihr drein fegt. Im
Lehrerzimmer läuft Oberlehrer Kahl mit Riesenschritten auf und ab. Die
beiden Nervösen verstehen sich gut und laden gewohnheitsmäßig ihren
Schulärger aufeinander ab. Er bleibt denn auch stehen, als Fräulein
Nissen hereintobt und das Klassenbuch aus dem Katheder reißt. Wie ein
verkörpertes Fragezeichen steht er vor ihr. --

„Ach, Kollege,“ stöhnt sie, -- „diese Sörine Heidekamp ist noch mein
Tod.“

Kahl lacht höhnisch auf. Aber gleich darauf vermag er verbindlich zu
lächeln. „Das wäre doch schade um Sie. -- Nein, Kollega, dies Getue
allerneuesten Datums um Sörine +von+ Heidekamp, -- vergessen Sie
ja nicht dieses schmückende Beiwort, -- also dies Getue läßt mich kalt.
Das tiefe Bedauern, daß die Prügelstrafe in Mädchenschulen abgeschafft
ist, ist das einzige, zu dem ich mich aufraffen kann.“

Fräulein Nissen streckt ihm verständnisvoll die Hand hin. „Ich helfe
mir mit Einschreiben,“ sagt sie mit hoher Befriedigung. „Die Seiten im
Klassenbuch der Zweiten sind schwarz von Eintragungen. Aber meinen Sie
wirklich, daß man Kotau vor dem Adel da draußen macht???“

„Na, wenn Sie das noch nicht gemerkt haben...“ Er zuckt ungeduldig
die Achseln. „Früher nannte man die Steine, die der alte Freiherr den
Lehrern in den Weg warf: ‚Unverschämtheiten‘. Jetzt auf einmal ist
er zum ‚Original‘ avanciert und wird demgemäß hofiert. Mit seiner
unbotmäßigen Range geht man um wie mit einem rohen Ei. ’ne ordentliche
Jacke voll, dann wär’s besser. Aber unser verstorbener Direktor Klaßen
hat die Disziplin mit ins Grab genommen.“

Draußen läutet schrill die Schulglocke, und Fräulein Nissen hastet
wieder auf den Schulhof, um das Ordnen der Klassen zu überwachen. --

Als sie eben die Vierzehnjährigen in das Klassenzimmer gescheucht hat
und die Plätze eingenommen sind, verkündet sie die neuen Tadel im
Klassenbuch. Ganz gleichgültige Gesichter schauen sie an.

„Das rührt euch wohl gar nicht?“ fragt sie erbost. „Nun, es soll euch
schon noch rühren. Ich habe mir allerhand Wirksames ausgedacht.“ Sie
rast zur Wandtafel. Dabei pendelt die abgerissene Rockborte hin und her
und die Kinder krümmen sich vor Lachen.

Aber jetzt wird es ernst. Ein Blatt flattert bei dem Tumult aus
irgendeinem Buch heraus und gerade Fräulein Nissen vor die Füße. Es
ist eine schwungvolle Ballade, die Telse Lüders vor einigen Tagen
verbrochen hat. Sie bildet den Stolz der Dichterin und das Entzücken
der ganzen Klasse. Aber für das Entzücken der Lehrerin war sie nicht
berechnet. Fräulein Nissens zornige Augen haften durchbohrend auf der
ersten Strophe:

    „In schwarzer Nacht, auf roter Heid
    Steht Fräulein Nissen im grünen Kleid.
    So gelb der Mond, so grau das Land,
    Sie hält das Klassenbuch in der Hand.“

„Empörend!!! Telse Lüders, ich schreibe dich jetzt noch einmal ein,
hinterher die ganze Klasse und dann -- melde ich euch dem Herrn
Direktor.“

Fräulein Nissen kostet die Genugtuung, daß der letzte Hieb sitzt. Man
hatte ja tausend gute Vorsätze gefaßt, um den verehrten, neuen Direktor
nach und nach von der Grundlosigkeit sämtlicher Anklagen gegen die
zweite Klasse zu überzeugen und nun mußte man so hereinfallen!

Agnes Asmus fängt an zu weinen. Sie ist die Tochter des Rechenlehrers
aus der neunten Klasse und ihr Vater ein strenger Mann. Man munkelt,
daß er den Bakel daheim über Frau und Tochter schwingt... Sörine von
Heidekamp streichelt die Hand der Weinenden.

„Ich gehe nachher mit dir und sage deinen Eltern, daß du ganz
unschuldig bist,“ raunt sie ihr zu. Aber im selben Augenblick wird sie
auch wieder von Fräulein Nissen eingeschrieben. Sörine seufzt laut und
schmerzlich.

„Woher kommen diese Töne?“ fragt die Lehrerin unpädagogisch.

Sörine meldet sich: „Ich habe nur geseufzt. Weil wir heute doch noch
nichts von Friedrich dem Großen angefangen haben. Wir hatten doch alle
so fein präpariert und nun sind wir gar nicht weitergekommen.“

Fräulein Nissen erstarrt vor der Frechheit, daß ihr eine Schülerin
Vorwürfe über Nichteinhaltung des Pensums zu machen wagt. Sie nimmt
sich gar nicht die Mühe, über die ganz ehrliche Trauer der jungen
Heidekamp nachzudenken.

Sie ringt die Hände, ringt nach Worten und stolpert zweimal über die
abgetretene Rockborte, so daß einige Schülerinnen es vorziehen, unter
die Bank zu kriechen, woher dann mehrere bange Laute kommen, wie wenn
jemand am Ersticken ist.

Endlich formen Fräulein Nissens Lippen einen Satz: „Wir wollen einen
kurzen Überblick über die geistige Entwicklung unseres Volkes zur Zeit
Friedrichs des Großen...“

Da läutet die Schulglocke.

Und mit einem Radau ohnegleichen geht die zweite Klasse von der
geistigen Entwicklung zur leiblichen, zur Frühstückssemmel, über.

Fräulein Nissen rast ins Lehrerzimmer.

Hier ist vorläufig nur die wortkarge, mit trockenem Humor begabte
Oberlehrerin Fräulein ~Dr.~ Stavenhagen anwesend. Sie schlürft
eine Tasse Kakao und mustert über den Rand ihrer Tasse hinweg die Auf-
und Abrennende.

„Was fehlt Ihnen, Nissen?“ fragt sie.

Fräulein Nissen haßt Verschiedenes auf dieser Welt, darunter auch die
Eigentümlichkeit der Kollegin, sie mit dem Nachnamen anzureden.

Aber sie weiß, daß es nichts nützt, wider den Stachel zu löcken, und so
entschließt sie sich zur raschen Antwort: „Die zweite Klasse ist noch
mein Tod.“

„Das begreife ich nicht, Nissen. Ich würde der Bande gar nicht den
Gefallen tun, mich durch sie töten zu lassen. Aber abgesehen davon, --
Nissen, können Sie wohl ruhig bleiben, wenn ich Ihnen sage, daß mir
diese verlästerte Zweite die liebste von allen Klassen ist?“

Nein, bei so einer hirnverbrannten Rede konnte Fräulein Nissen nicht
ruhig bleiben. Sie schlug eine nervöse Lache auf und verdoppelte ihre
Renngeschwindigkeit.

„Ehe Sie sich aber auf den Schragen ärgern, Nissen, lassen Sie sich von
mir die Rockborte annähen, es macht sich würdiger im Sarg.“

„Fräulein Stavenhagen -- -- --!“

Diese hatte inzwischen ruhig einen Faden eingefädelt, hob die Nadel
wie einen Feldherrnstab und rief der Rastlosen ein donnerndes: „Das
Ganze haaalt!“ zu.

Und wirklich zwang ihre humorvolle Behaglichkeit der Lehrerin ein
schattenhaftes Lächeln ab.

„Sehen Sie mal, Nissen“; sie hob mit dem abgerissenen Bortenende den
Reformrock der Kollegin etwas in die Höhe und zeigte auf die dünnen
mageren Stelzchen, -- „das ist Selbstmord.“ Zugleich stellte sie
vergleichend ihre eigenen festen Pedale daneben. „‚Immer mit die Ruhe‘,
sagt der Berliner. Was haben Sie davon, wenn der Ärger Ihr Gebein
abnagt und Sie eines schönen Tages auf der Straße umfallen. Droschken
gibt es nur zwei in Birkholz, und die werden nicht für +Sie+
eingespannt.“

„Was soll ich tun?“ stöhnt Hermione Nissen.

„Menschenskind, ich wüßte wohl allerhand, was Sie tun könnten, aber Sie
vertragen ja so schwer ein offenes Wort...“

„Erlauben Sie mal.“

„Vor allen Dingen würde ich mir jeden Tag, wenn ich vor die zweite
Klasse trete, ernstlich sagen: +Du+ bist auch mal Kind gewesen,
du bist auch mal Kind gewesen! Dieser Gedanke müßte das A und
O des Lehrers sein. Zweitens,“ -- Fräulein Stavenhagen schaute
spitzbübisch-ängstlich, „zweitens würde ich die Reformkleider abtun und
drittens würde ich mich umtaufen. Jawohl, in Auguste umtaufen. Auguste
ist besser für die zweite Klasse als Hermione ....“

„Fräulein Oberlehrerin Stavenhagen -- -- --“

„Na ja, ich wußte es ja, daß Sie beleidigt sein würden. Aber nun ist
Ihr Röcklein fertig und wir wollen’s fein säuberlich über die Beinchen
breiten, denn ich höre die Männerwelt kommen und die soll durch Ihre
Reize nicht verwirrt werden.“

Sie biß den Faden mit ihren starken Zähnen ab, klopfte lachend und
begütigend der Gekränkten auf die Schulter und trank ihren Kakao
vollends aus.

Das Lehrerkollegium betrat ziemlich vollzählig das Zimmer.

Sie sprachen erregt durcheinander.

„Ne, erlauben Sie mal,“ rief Oberlehrer Kahl, setzte sich mit einem
Ruck an den Tisch, schlug auf die Platte und sprang wieder hoch, „das
is +nich+ egal. Wenn ich was seit zwanzig Jahren in meiner Klasse
eingeführt habe...“

„Dann ist es die höchste Zeit, daß es mal geändert wird.“

„Verehrteste Kollegin,“ rief Kahl spitz, -- „ich pflege meine Sätze
allein zu vollenden... Also, ich sage, wenn ich seit zwanzig Jahren was
in meiner Klasse angeordnet habe, dann lasse ich es mir nicht von einem
Neuerer einfach umstoßen.“

„Sehr richtig,“ sekundierte ihm Professor Traute.

„Ich weiß ja nicht, worum es sich handelt.“ Fräulein Stavenhagen
blitzte Herrn Kahl ziemlich drohend an. „Ich höre nur immer
+meine+ Klasse und da wollt ich gehorsamst und submissest fragen,
+welche+ Klasse Sie meinen.“

„Na, natürlich doch die Erste.“

„So! Und mit welchem Recht?“

„Mit dem Recht, mit dem ich zwanzig Jahre lang die erste Klasse geführt
habe.“

„Mit dem einundzwanzigsten Jahr fängt aber +mein+ Recht und
+meine+ Klasse an,“ trumpfte Fräulein Stavenhagen.

„Spielen wir also mal meine Klasse, deine Klasse,“ lachte der junge
Gesanglehrer Hansohm und seine Hände ahmten das Hasardspiel nach.

„Zum Ulken sind wir nicht hier,“ verwies ihn Oberlehrer Kahl.

Er kehrte mit Vorliebe den akademischen Standpunkt heraus und liebte es
überhaupt nicht, wenn „Seminaristen“ sich einmischten.

„Worum es sich handelt?“ wandte er sich an die Oberlehrerin. „Seit
zwanzig Jahren steht die erste Klasse auf, wenn ich herein komme,
seit zwanzig Jahren sagt sie langsam, laut und deutlich ‚Gu--ten --
Mor--gen, -- Herr -- Ober--lehrer -- Kahl‘ und jetzt kommt dieser -- --
dieser -- --“

„Seminarist,“ rief Lehrer Hansohm boshaft dazwischen.

„Dieser Herr Direktor,“ vollendete Kahl, „und führt Neuerungen ein.“

„Wir sitzen ja auch gottlob nicht mehr in der Arche Noah, sondern im
neuen Lyzeum.“ Fräulein Doktor sprach sehr energisch. „Und da die
erwachsenen Mädchen in der ersten Klasse Stühle und Tische bekommen
haben, so ist’s wie eine Erlösung, daß sie sich das Aufstehen endlich
abgewöhnen. Man kann auch Haltung zeigen ohne aufzustehen und
Lächerliches zu plärren.“

„Fräulein Doktor, Sie drücken sich zum mindesten eigentümlich aus.“

„Na, ist das nicht lächerlich, wenn große denkende Menschen in die Höhe
hampeln, wie von einer Strippe gezogen und unmündig stammeln: ‚Gu--ten
-- Tag‚? Als sie das erste und einzige Mal mich so empfingen, rief ich
ihnen zu: Ach, ich glaubte, Sie wollten singen: Gu--ter Mond, du gehst
so stille. Seitdem ist unsere Begrüßung würdig und schlicht.“

„Man merkt’s,“ entgegnete Kahl bissig. „Als ich vom Urlaub kam, kannte
ich meine Klasse nicht wieder.“

„Das glaub’ ich,“ lachte Fräulein Doktor, wurde aber gleich wieder
ernst. „Was waren das für frische Kinder in der fünften, vierten,
dritten Klasse, als ich sie führen durfte. Wahrhaftig, da geben sie der
jetzigen Zweiten nichts nach. Aber jetzt -- Hampelmännchen -- --“

„Ne, da hört doch aber Verschiedenes auf, Sie +bedauern+, daß
diese Mädchen nicht mehr denen der zweiten Klasse gleichen? Der
zweiten? Ausgerechnet der zweiten? Ach, Herr Hansohm, erzählen Sie doch
mal gleich jetzt, was Ihnen gestern mit der zweiten Klasse passiert
ist...“

„Ach nein,“ protestierte Hansohm mit flehend aufgehobenen Händen,
und der Schalk tat, als ob er überaus schüchtern sei. „Ich bin ja
doch nur dazu da --“ und nun leierte er die Dienstordnung ab: „Den
Grundstein für die allgemeine musikalische Bildung der Kinder zu legen.
Daraus erwachsen mir folgende Sonderaufgaben: ~a~) Erziehung zum
Musikhören, ~b~) die eigentliche Gesanglehre, ~c~) Aneignung
der im geistlichen und weltlichen Liede...“

Oberlehrer Kahl sprang auf und verließ mit Protest das Lehrerzimmer.

„Sie sind unverbesserlich,“ raunte Fräulein Nissen verweisend.

„Ach nein, ich bin ja noch so jung,“ sagte Hansohm, „und ich fühl’s,
unter Ihrer Leitung, Fräulein Kollega...“

Nun verschwand auch Fräulein Nissen und lachenden Antlitzes die
anderen. Nur Fräulein Doktor und Lehrer Hansohm blieben zurück.

„Kollege Hansohm, ist’s ein Geheimnis, was Sie mit der zweiten Klasse
haben?“

„Aber durchaus nicht. Die zweite Klasse hat mich ~in corpore~
bestürmt, mit ihnen die Müllerlieder von Schubert einzuüben. Als ich es
ihnen abschlug, weil es nicht zum Pensum gehört (hier verdrehte Hansohm
die Augen), baten sie mich flehentlich, und Sie wissen, +wie+
die zweite Klasse fleht, daß ich ihnen die Müllerlieder wenigstens
vorsänge, -- und das habe ich getan. --“

„Die Glücklichen,“ sagte Fräulein Doktor leise, und ihr verblühtes
Gesicht sah mit einem Male jung aus. „Menschenskind, warum sind Sie
nicht Sänger geworden? Mit Ihrer herrlichen, gottbegnadeten Stimme...“

„Reden wir nicht davon,“ unterbrach er sie rauh. „Oder ja, -- wenn es
Sie interessiert, -- das Geld fehlte, Freunde fehlten, Verständnis
fehlte. Dazu kam die närrische Liebe zum Lehrerberuf, das glühende
Verlangen, Kinderstimmen auszubilden, dieses zarte, gottgegebene
Material nicht verschandeln zu lassen...“

Fräulein Doktor streckte ihm die Hand hin. „Gottlob, daß wir Sie hier
haben. Und gestern, -- da hätt’ ich dabei sein mögen...“

„Dann hätt’ ich Eintrittsgeld genommen.“ Der Ernst war schon wieder
verscheucht. „Nur die zweite Klasse hat freien Zutritt. Meine Zweite!
Das ist so ’ne Marotte von mir. Und sollt’ ich mal irgendwo singen,
öffentlich, wohltätig oder verheerend, und der Herr Oberlehrer Kahl (um
ja nicht ‚Kollege‘ zu sagen) sollte zuhören, dann knöpf’ ich ihm 25
Mark ab, jawohl, wie der Jadlowker in Berlin.“

„Aber gestern, gestern,“ drängte Fräulein Doktor und sah nach der Uhr,
„wo steckt denn nun das Verbrechen der zweiten Klasse?“

„Haben Sie ’ne Ahnung!“ Hansohm sah sie komisch verweisend an. „Das
ist doch eben meine Schmach und die dieser verdorbenen Kinder! Aus
den Müllerliedern hat der Kahl ‚Liebeslieder‘ gemacht. Na, freilich
sind’s Liebeslieder, es sind dank dem Göttersohn Schubert +die+
Liebeslieder schlechthin. -- Also des Pudels Kern ist: die zweite
Klasse hat um Liebeslieder gebeten, und der Schurke Hansohm hat sie
ihnen verzapft.“

Fräulein Doktor warf sprachlos beide Arme in die Luft.

„Gerade als Kahl am Singsaal vorbeiging, schmetterte ich: ‚Dein ist
mein Herz und soll es ewig bleiben‘, meinte aber nicht Kahl...“

„Mein herzliches Beileid,“ brummte Fräulein Doktor. „Na und nun weiter?
Was soll aus dem Quark werden?“

„’ne Konferenz. Ausgerechnet ’ne Konferenz.“

„Ich finde das auch richtig,“ fiel eine salbungsvolle Stimme ein. Die
beiden drehten sich hastig um.

Professor Traute saß ganz zusammengedrückt hinter einem großen
Schreibtisch mit hohem Aufsatz.

„Ach so!“ Fräulein Doktor lachte schneidend. „Na, da wissen wir ja Ihr
Glaubensbekenntnis schon vor der Konferenz.“

Lehrer Hansohm sah ganz unglücklich drein.

„Mir ist es ja nur so schaudervoll, höchst schaudervoll, daß dem neuen
Direktor gleich so ein Elektrizitätswerk über uns angeknipst wird,“
seufzte er. „Ich hätte dem Manne zu gern die Illusion gelassen, nicht
die Spitze einer Schöppenstädter Kleinkinderbewahranstalt zu sein.“

Die Schulglocke klingelte.

Professor Traute schob sich eilends auf den Vorsaal. Hier prallte er
unsanft mit Direktor Sörensen zusammen, welcher rasch etwas aus dem
Lehrerzimmer holen wollte. Traute entschuldigte sich wortreich unter
tiefen Verbeugungen und trat dann zu Oberlehrer Kahl, dem er zuraunte:
„Dieser Hansohm ist ein Fuchs und ein Schwätzer dazu, werde Ihnen auf
dem Nachhauseweg erzählen, Kollege... Und der neue Direktor -- hm
-- -- merkwürdig, hä hä -- wenn mich nicht alles täuscht, hat der am
Lehrerzimmer gehorcht vorhin, -- -- als ich die Tür aufriß, stießen wir
förmlich aufeinander...“

„Ist die Möglichkeit! Ei ei -- sieh, sieh...“

Die beiden Biedermänner gingen in ihre Klassen.

       *       *       *       *       *

Der Singsaal im neuen Lyzeum von Birkholz war ein prächtiger Raum.

Wenn man darinnen saß und seine Augen wandern ließ, dann dachte man
wohl, der Baumeister müsse zugleich ein rechter Jünger der heiligen
Cäcilie gewesen sein.

Und man dachte recht.

Baurat Steinbrück stammte aus Thüringen und war in dem architektonisch
reichen Städtchen Birkholz „hängengeblieben“. Er spielte alle
bekannten Instrumente und noch ein paar darüber, er sang im Chor der
Martinskirche und in der Birkholzer Singakademie und hätte es gern
gesehen, wenn die Magistratssitzungen, denen er als Stadtverordneter
beiwohnte, im Opernstil getagt hätten. Seinem unablässigen Werben und
Wirken verdankte Birkholz den akkustisch vollendeten Raum, in dem die
Kinderstimmen der Stadt von dem feinsinnigen Musiker Hansohm geschult
wurden.

Ein guter Stern leuchtete über dem Singsaal.

Denn während alle anderen Räume des Lyzeums kahl und schulmäßig
dreinschauten, bekam der Singsaal bei der Einweihung drei Paten, die
segnend die Hände über ihn hielten.

Der eine war der Inhaber des großen „Spezerei- und Gemischtwarenladens
Dingelmann und Sohn“, der, wie er von sich selbst sagte: „Längst zum
größten Delikateßgeschäft und zur bekanntesten Wurstfabrik gediehen“,
doch noch aus Pietät die wunderliche Geschäftsbezeichnung über seiner
Tür beibehielt. Der zweite war der „Kammerherr“, wie man kurzweg den
alten Sonderling Freiherrn von Heidekamp auf Heidekamp-Birkholz nannte,
und der dritte Pate war eine Patin, ein altes Fräulein Tingleff, das
seit vierzig Jahren im zweiten Stockwerk des Hauses Dingelmann und
Sohn wohnte. Seit vierzig Jahren, man sagte, seit dem Tage, da sie dem
alten, damals sehr jungen und sehr blonden Dingelmann ihre begehrte
Hand verweigerte, zankte sie sich mit ihrem Wirt und konnte sich doch
nicht von ihm fortfinden.

Und seit vierzig Jahren überboten sich die beiden „Feinde“ im Wohltun
für die Stadt Birkholz.

Da nun das wunderliche Fräulein Tingleff fand, der neue Lyzeumsingsaal
sei viel zu hell und werde all die sonnigen Kinderaugen in Grund und
Boden verderben mit seinem kalten Licht, so „stiftete“ sie ein buntes
Fenster, das die heilige Cäcilie darstellte.

Der Chef der Firma Dingelmann und Sohn konnte darüber auch nicht eine
einzige Nacht schlafen, sondern ging stracks zu Herrn Lehrer Hansohm,
um ihn um Rat zu fragen. Und so stand schon nach vierzehn Tagen ein
von Dingelmann gestifteter Bechsteinflügel im Saal. Und nach weiteren
vierzehn Tagen begann man mit der Aufstellung einer wunderschönen
Estay-Orgel, die Freiherr von Heidekamp für den Singsaal notwendig
hielt. Und Lehrer Hansohm war darüber so glückselig, daß ihm die Augen
naß wurden.

Die scharfen Blicke des Orgelstifters, welcher der Aufstellung
beiwohnte, entdeckten die verleugneten und rasch beseitigten Tränen.

Sie gefielen ihm inmitten der öden Trockenheit, mit der die große
Schule bisher geleitet wurde.

Und der Mann gefiel ihm auch.

Das sagte er ihm freilich echt heidekampisch:

„Lieber Herr Schulmeister, Lehrer müssen sein, weil sie der Herrgott
als eine der sieben Landplagen auf der Erde vergessen hat. Mir kommt
keiner über die Schwelle, aber Sie...“

Und nach einer längeren, für Hansohm halb peinlichen, halb
interessanten Pause hatte der Kammerherr ihn ohne weiteres am Rockknopf
zu sich herangezogen.

„Meine Enkelin, die Sörine, der lüttje Katheiker, hat mir viel, viel
Liebes von Ihnen erzählt, Herr Schulmeister, ich -- ich danke Ihnen.“

„Aber, Herr Baron, ich weiß nicht...“

„Sie brauchen auch gar nichts zu wissen, -- setzen Sie sich lieber hin,
und spielen Sie mir ‚Ein’ feste Burg ist unser Gott‘, den Choral der
Choräle. Ich muß doch etwas von meiner Stiftung haben.“

Und Klaus Hansohm hatte die Register der neuen Orgel gezogen, und alle
Heimchen am Herde des neuen Lyzeums waren aufgewacht und lauschten, und
die heilige Cäcilie im Buntfenster lächelte.

Und auf den Schwingen des mächtigen Liedes fanden sich ein wunderlicher
Alter aus dem Uradel des Landes und ein junger Stürmer aus dem Volke zu
einer seltsamen, guten Freundschaft zusammen. --

Das war vor Wochen gewesen.

Heute war der neue Singsaal, die heilige Cäcilie und der
Bechsteinflügel schon eine alte Sache, und man sah sich nicht mehr
danach um.

Die Kränze und Girlanden waren verwelkt und abgenommen, und die weißen
Festkleider mit den schwarz-weiß-roten und blau-weiß-roten Schärpen
hingen längst wieder in den Schränken. Aber etwas seltsam Feierliches
und Festliches war dem Singsaal doch verblieben.

Darüber hatte noch niemand gesprochen, aber die jungen Seelchen spürten
es, und es steckte sicherlich in den Pfeifen der Orgel und den Saiten
des Flügels und in dem Lächeln der heiligen Cäcilie.

„Nun wollen wir recht schön die Tonleitern singen,“ sagte Lehrer
Hansohm zur zweiten Klasse, „und wenn die so recht perlend fließen,
dann...“

„Schubertlieder! Schubertlieder!“ zwitscherte es flüsternd durch die
Reihen, und Sörine Heidekamp machte sich zum Mund der ganzen Klasse,
hob den Finger und sagte laut und selbstverständlich: „Dann singen Sie
uns wieder Schubert.“

Hansohm wehrte entsetzt ab. „Aber, meine Damen, wo denken Sie hin,“
rief er pathetisch.

Dann wurde er mit einem Male ganz ernst: „Wir wollen den schönen Tag
der Schubertlieder in lieber Erinnerung behalten, aber ihr müßt nicht
wieder quälen.“

Die Kinder sahen sich ängstlich und verstohlen an und schauten arg
verstört auf den Lehrer, der ihnen heute unverständlich schien.

Sörine Heidekamp, die am wenigsten vermochte, mit unverstandenen
Geschehnissen heimzugehen, stand wieder auf und fragte eindringlich:
„War es etwas Unrechtes?“

„Nein, Sörine, dann hätte ich es ja nicht getan.“

„Großvaterli sagt, Sie hätten uns etwas außerordentlich Wertvolles
gegeben, und wir dürften es nie vergessen.“

Dem jungen Lehrer stieg etwas in der Kehle hoch und er brauchte
ein paar Augenblicke, um die Stimme zu meistern. Dann aber rief er
fröhlich: „Ja, mein liebes Kind, wenn wir lauter Großvaterlis auf der
Welt hätten.“ Da wär’ es leicht, Singlehrer am Lyzeum zu Birkholz
zu sein. Den letzten Satz +dachte+ er aber nur. Und nun sangen
sie eine halbe Stunde Tonleitern und übten dann an einem kunstvollen
Singspiel, die Maienkönigin genannt. Sörine Heidekamp sollte
Maienkönigin sein, und es war niemand unter den vielen Mädels, das ihr
die große schöne Rolle neidete.

Eine so wunderschöne Singstunde wurde es, daß man sogar das Läuten der
Schulglocke überhörte.

Da steckte auf einmal der neue Herr Direktor ~Dr.~ Sörensen den
Kopf zur Tür herein und rief ganz lustig: „Feierabend, Herr Kollege.“

Und er trat ein und gab jedem Mädchen die Hand und ließ sich den Namen
nennen. Und er betrachtete Sörine Heidekamp, die ihm als schwarzes
Schäflein genannt worden war, sehr eindringlich mit seinen scharfen,
grauen Augen, und sie gab ihm den Blick sehr eindringlich und forschend
zurück. Zum Schlusse mußten sie ihm noch ein dreistimmiges Lied
vorsingen, ein Heidelied wünschte er sich und lauschte mit gefalteten
Händen:

    Über der braunen Heidefläche
    Brütet der Sonne brennendes Licht,
    Daß sie mein müdes Auge nicht steche,
    Duck’ ich mich unter Wacholder dicht.

    Und er breitet um mich seine Zweige
    Zärtlich raunend im Heidewind,
    Daß es mir ist, als ob sich neige
    Meine Mutter über ihr Kind.

Man fühlte, so hatte man dieses Lied noch nie gesungen, und man war
stolz, wie sich der Herr Direktor darüber freute.

Bis der Schuldiener Harks gelaufen kam.

Der war ein Original und fürchtete sich weder vorm Teufel, noch vor der
hohen Obrigkeit.

Trocken meldete er: „Es ist halb eins und gegen die Schulordnung.“

Da lachte der Direktor herzlich und klopfte dem alten, grimmigen Harks
auf die Schulter, und der machte mit eins ein ganz frohes Gesicht.

Denn es war etwas Neues, was er da hörte. Weil in all den Jahren, die
er in Birkholz wirkte, nicht gelacht worden war im Lyzeum. Deshalb lag
ja auch der Schulstaub so massig und schier unbeweglich und lastete auf
dem Gebäude wie ein Sargdeckel. --

„Gehen wir noch ein Stückchen zusammen, Kollege?“ fragte Direktor
Sörensen, „ich nehme immer gern ein paar Atemzüge frischer Luft, ehe
ich mich zum Mittagsmahl setze. Und da Sie Junggeselle sind, kommt es
Ihnen wohl nicht so auf die Verspätung an.“

Hansohm verbeugte sich. „Bin eigentlich nur ein halber Junggeselle,
Herr Direktor, denn ich habe meine Schwester bei mir. Die schwingt das
Szepter der Pünktlichkeit und erzieht ihren Bruder.“

Eine Wolke flog über sein offenes Gesicht. „Aber heute bin ich
ausnahmsweise auf das Gasthaus angewiesen. Meine Schwester ist oft
leidend. In solchen Fällen erlaube ich es nicht, daß sie am Herd steht.“

„Ei, so werden wir jetzt einen kurzen Heidespaziergang machen und dann
essen Sie bei mir. Habe ich auch weder Mutter noch Schwester zu Hause,
so ist doch Frau Dietz die Perle einer Wirtschafterin.“

Klaus Hansohm schlug ein in die dargebotene Hand.

Rasch schritten die beiden Herren aus.

Die ganze Herbheit des Vorfrühlings lag über der Heide. Licht und klar
war der Himmel, und der April schien seine Launen zu verleugnen. Über
eine alte Steinbrücke wanderten sie, darunter die klare Luhe rieselte.
Kraftstrotzende Baumäste breiteten sich darüber.

„Nun fangen die Weiden zu blühen an,“ sang Hansohm und warf seinen Hut
in die Luft wie ein Schuljunge. Er vergaß offenbar ganz, neben wem er
ging, und Erne Sörensen war nicht willens, zu kopfschütteln und den
Vorgesetzten herauszubeißen. Diese frische Jugend da neben ihm durfte
außerhalb der Schule urwüchsig sein. --

„Sie müssen mich ein wenig orientieren,“ bat Sörensen. „Wie heißt das
Gewese dort rechts, wie nennt sich weit am Horizont das Dorf mit dem
ragenden Kirchturm? Und der Hügel dort links -- ist’s ein Hünengrab
oder steht ein verfallener Wartturm darauf?“

„Beides, Herr Direktor. Die Topographie ist rasch erledigt. Alles,
was Sie sehen, möcht’ ich fast sagen, ist Heidekampisch. Bis auf den
Himmel, der immer noch dem lieben Gott gehört.“

„So, so, von Heidekamp-Birkholz. Ich wundere mich baß, daß dieser
reiche Grundherr sein Enkelkind in so demokratischer Umgebung erziehen
läßt, wie unser Birkholzer Lyzeum ist.“

„Es wird alles wohlüberlegt von ihm sein,“ meinte Lehrer Hansohm. „Die
kleine Sörine soll nicht weltfremd aufwachsen. Sie soll genau wissen,
wieviel Divisoren es in der Welt gibt, auf daß sie diese Kenntnis bei
ihrem Reichtum verwertet und nicht in den Tag hineinlebt. Und das tut
sie auch nicht, weiß Gott. Ihre Augen gehen durch Mauer und Holz.“

„Man sollte meinen, Kollege, Sie sprächen von einer reifen Frau
und nicht von einem Kinde, einem Backfischchen, einem unbotmäßigen
Rädelsführer der arg berüchtigten zweiten Klasse.“

„Das ‚Kind‘ lasse ich gelten, ein reines, liebes Kind ist die Sörine,“
sagte Hansohm warm. „Alle anderen Bezeichnungen lehne ich ab. O Herr
Direktor, wie freue ich mich, wenn Sie erst all das Neuland durch Ihre
eigene Brille sehen werden! Jetzt ist es noch die aufgezwungene von
Kahl und Genossen...“

„So scharf, Kollege? -- Aber ich freue mich, daß die geschmähte
zweite Klasse ihren Ritter ohne Furcht und Tadel gefunden hat. Ein
Idealist in der Schule oder besser im Lehrerzimmer wirkt gewöhnlich
wie Sauerteig. Übrigens habe ich jetzt auf dem kurzen Wege durch
die verschiedenen Begegnungen, sowie des öfteren in der Schule die
Beobachtung gemacht: Sie sind ein rechter, echter Kinderfreund,
Kollege?“

„Herr Direktor, ich bin +Lehrer+.“

„Und der Überzeugung, ich seh’s Ihnen an, diese Begriffe müßten sich
immer decken? Wie ist das erfrischend für mich. Wie wertvoll der
heutige Spaziergang.

Ich mache kein Hehl daraus, daß ich noch tastend und suchend in diesem
Birkholz herumwandre, ich möchte weder durch rosenrote, noch durch
geschwärzte Brillen schauen, ein möglichst wahrhaftiges Bild mit allen
Licht- und Schattenseiten wäre mir das liebste.“

„Herr Direktor, die altertümliche Stadt ist entzückend. Und die
Birkholzer Heide hat Gott in einer Feiertagsstunde geschaffen.“ Hansohm
sah mit dürstenden Augen auf seine Heimat. „Auch die herzbraven
Menschen, die unter der gleichfalls vorhandenen Minderwertigkeit
doppelt hervorleuchten, werden sich rasch in Ihr Herz und Ihre Liebe
hineinstehlen.“

„Und das Lyzeum, das Kollegium, die zweihundertfünfzig anvertrauten
Kinder? Kollege Hansohm, helfen Sie mir, den Pessimisten Sörensen
einzuschläfern...“

„Den Pessimisten? Bin ihm ja noch gar nicht begegnet ...“

„Doch, doch, er ist nicht ganz wach, -- aber Kahl und Genossen könnten
ihn rütteln...“

„Ich fürchte sie nicht mehr. -- Herr Direktor, Sie sind sehr gütig
mit mir gewesen, -- man hat mich all mein Lebtag nicht verwöhnt mit
Güte, aber erst recht nicht den Seminaristen im Lyzeum von Birkholz.
Und nun kommt mit Ihnen plötzlich etwas herein, das aussieht wie
Morgenrot und Sonne... alle Fenster in den muffigen Schulstuben will
ich aufsperren...“

Mit frohem Gesicht sah Sörensen auf seinen jungen Begleiter: „Warum
haben Sie nicht geheiratet, Kollege? Oder ist die Frage unzart? Macht
sie Ihnen Beschwer? Dann antworten Sie nicht.“

„Nein, nein, ich habe nichts zu verhehlen. Ich fürchte nur, ausgelacht
zu werden, Herr Direktor... Ich, ich mache nämlich zu hohe Ansprüche an
meine Zukünftige, deshalb fand ich noch nicht die Rechte.“

„Zu hohe Ansprüche?“ fragte Sörensen sinnend...

„Ja, Herr Direktor. Nicht auf Grund meines Einkommens von 1500 Mark,
das bewahrt mich immer erfolgreich vor Größenwahn. -- Aber -- ich hatte
kein gutes Elternhaus. Mein Vater war Volksschullehrer und hatte sich
in unreifen Jünglingsjahren, sagen wir’s hart heraus -- verplempert.
Die Mutter... ersparen Sie mir die Schilderung --. Sie trieb den Vater
in Trunk und Schande. Nun, mich hat das alles erzogen. Auf dem Seminar
stopfte ich mir Watte in die Ohren, um den Sirenen zu entgehen. Es war
damals manch eine, die hinabziehen konnte...“

Hansohm hielt erschreckt inne, denn sein Direktor sah mit einem Male
fahl und blaß aus. Dazu klang die Stimme seltsam und gepreßt: „Und
doch konnten Sie sich die sonnigen Augen erhalten? Konnten so fromm und
voll Liebe auf Ihre Heimat sehen? Wer lehrte Sie das, Kollege Hansohm?“

„Frau Musika, Herr Direktor. Sie ersetzt mir das Weib... Und,“ fügte er
mit trocknem Humor hinzu, „Kinder gebar mir ja das Lyzeum, 250 Stück.
--“

„Die Spottdrossel hat bei Ihnen ihr Nest dicht neben der Nachtigall,“
sagte Sörensen ernst, „-- aber ich höre das Duett gern. Kollege, -- Sie
werden einem Einsamen manchmal eine Stunde schenken, wollen Sie?“

„Von Herzen gern!“ Aber Hansohms Auge streifte besorgt das tief
verfinsterte Gesicht des Vorgesetzten.

Die Herren schritten durch das Steinere Tor ins Städtchen. Am
Torpfeiler hatte eine Blumenfrau ihren Stand, und Direktor Sörensen
wählte Weidenkätzchen und gelbe Osterblumen zu einem großen Strauß.

„Die bekommt Ihre Schwester. Sie zürnt mir sonst, daß ich den Bruder
jetzt erst bringe und dann gleich wieder entführe.“

„O Herr Direktor!“ Ein rasches Erröten, das den jungen Lehrer gut
kleidete, flog über sein Gesicht und stieg bis in das blonde Haar
hinauf. --

„Da sind wir schon.“ Klaus Hansohm öffnete eine Tür. Der helle
Dreiklang eines Glockenspieles tönte. Ein winziger Flur mit einer
altmodischen messingbeschlagenen Kommode und ebensolcher Uhr tat sich
ihnen auf. Eine klangvolle, junge Stimme rief: „Bist du es, mein Junge?“

Und dann öffnete sich ein Raum und auf der Schwelle stand ein junges
Mädchen, ein entzückend schöner Kopf auf armem, verwachsenem Körper.

In die durchsichtig weißen Hände legte Direktor Sörensen seine Blumen,
und die Augen der Kranken lächelten. Dann führte er sie sorgsam zu dem
altmodischen Ohrenstuhl, der am grünen Kachelofen stand.

„Sie haben hier ja ein wahres Raritätenkabinett,“ scherzte er. Und
zeigte bewundernd rings herum auf die alten Stahlstiche und schön
geschwungenen Möbel. „Das ist ja Urväterhausrat. Ich beneide Sie. --“

„Das hat mir alles der Klaus hier zusammengetragen. Alles ist ihm Bild
und Rahmen und dann macht er noch die Musik dazu.“ Sie lächelte zu dem
Bruder hinüber mit rührendem Stolz.

Die Herren hielten sich nicht lange auf.

Aber die Zeit genügte doch, um das Stübchen der Leidenden licht zu
machen. Und die ritterliche Art des fremden Mannes ließ einen Schimmer
zurück von dem, was die Welt da draußen Glück und Jugend nennt.

Lehrer Klaus Hansohm wäre wohl am liebsten daheim bei der Schwester
geblieben, hätte gern ganz still und besinnlich im großblumigen Sofa
gesessen. --

Der Tag hatte ihm so viel Reichtum gegeben.

Nun wogten allerhand Melodien in seinem Kopf und seinem Herzen, die er
noch nicht meistern konnte.

Er stieg mit seinem Direktor die breiten Steinstufen des alten
Patrizierhauses hinauf, die von der mächtigen Diele zum Eßzimmer
führten. --

Klaus Hansohm machte seine Augen weit auf, denn nun war ihm, als sähe
er seinen Vorgesetzten wieder in einer ganz anderen Gestalt. Hoch und
breit und festgefügt stand der Goliath Erne Sörensen in diesem hohen,
breiten und festgefügten Hause als Hausherr und Gastgeber. Und Lehrer
Hansohm lauschte mit dem Ohr eines Kenners seiner klangvollen Stimme,
die einer noch unsichtbaren Person Befehle erteilte.

Belustigt fing sein Ohr das Gespräch auf:

„O Herr Direktor! So spät? Alles verbratzelt und verbruzelt! Und ohne
Entschuldigung? Und dann noch ein Gast? Das geht gegen meine Ehre und
Reputation. Und ist das christlich, noch um halb drei Uhr Mittag essen
zu wollen?“

Dann das schöne sonore Lachen und die herzgute Stimme: „Aber, Frau
Dietz! Gleich machen Sie frohe Augen. Sie fahren mich ja an, als ob wir
verheiratet wären. --“

       *       *       *       *       *

Komm her, mein alter Foliant.

S’ ist Nacht, und der Birkholzer Lyzeumsdirektor sollte längst zur
Ruhe sein. Aber du lachst und lockst, liebes Buch, -- beinahe, als ob
du eifersüchtig seist. Eifersüchtig auf neue Freunde. Gönne sie dem
Einsamen.

Hellichte Freude habe ich am jungen Hansohm und seiner armen,
lieblichen Schwester. Freude habe ich am ehrlichen Senior Rasmussen,
Freude an der streitbaren Oberlehrerin ~Dr.~ Stavenhagen.

Wir beide werden noch manche Klinge miteinander kreuzen. Aber im Grunde
sind wir uns bereits sehr gut.

Zähle ich dann noch den knurrigen Schulwart Harks und die junge,
unbedachte Hilfslehrerin Fräulein Hanni Freitag dazu, so habe ich alle
aufgezählt, die mir wohl Freund sind. Und was habe ich den anderen
getan?

Sentimentale Frage. Niemand beantwortet sie.

Der Senior Professor Rasmussen und ich wußten nach dem ersten Blick,
daß wir uns gefielen.

Professor Traute ist sehr unsympathisch. Ein Frömmler, mit einem
unsichtbaren, aber trotzdem sehr unangenehm wirkenden Heiligenschein.
In seiner Gefolgschaft Fräulein Nissen. Hermione. Und so sieht sie auch
aus. --

Als dritter im Bunde Oberlehrer Kahl.

Eine Art ~homo sapiens Linné~, mir verhaßt, seit ich denken kann.
Er gehört zu jenen, denen der Mensch nur Vorgesetzter oder Kollege ist.

Es mag ja nicht genehm für die alten Knaben sein, plötzlich einen
jungen Mann als Vorgesetzten zu bekommen, -- nun ich bin wahrhaftig
ohne Vorurteil an dies Kollegium herangegangen, und das Verhalten vom
Senior zeigt mir auch, daß ich den rechten Ton traf.

Und doch dieser passive Widerstand von Traute und doch die mühsam
beherrschte Gereiztheit von Kahl.

Mein Vorgänger war wohl schon etwas überreif, viel krank und
ruhebedürftig. Er hat die Zügel locker in seinen alten Händen gehalten
und ist einfach froh gewesen, wenn andere die Karre kutschiert haben.

Nun gehöre ich ja nicht zu den Direktoren, die, kaum im neuen Amt,
alles bisher Bestehende verwerfen. Schuldiener Harks hatte allerdings
damit gerechnet, denn gestern morgen fragte er: „Der Spucknapf des
vorigen Herrn Direktors ‚haben‘ immer links von dem Schrank gestanden,
soll ich ihn jetzt rechts stellen?“

„Aber, Herr Harks! Traditionen soll man heilig halten, ich bin ein
pietätvoller Mensch.“

„Dann müssen also Herr Direktor scharf in die linke Ecke zielen,“
meinte er ernst, entfernte sich und ließ mich mit dieser Instruktion
zurück. --

Ich verweile noch bei Harks. Der Mann ist mir lieb, ich mag ihn
gern um mich haben. In seinen seltsamen Augen steht Gram zu lesen,
aber er weicht scheu aus, und ich will mich nicht in sein Vertrauen
drängen. Auch das Gesicht seiner kleinen verhutzelten Frau zeigt einen
ängstlichen Ausdruck. Und doch soll mein Vorgänger ein humaner Mann
gewesen sein, dem man vielfach sogar Schwäche gegen seine Untergebenen
vorwarf.

Mancherlei Beobachtungen habe ich schon gemacht. Harks Augen können
grimmig, ja tückisch aufblitzen, wenn Professor Kahl nach dem
„Schuldiener“ ruft.

Ich ehre in Harks den alten Feldwebel und seinen
Zivilversorgungsschein. Nenne ihn deshalb „Herr Harks“ und seine
schüchterne Frau „Frau Kastellanin“.

Denn die meisten Frauen sind glücklich unter einem Titel. --

Ich werde nicht zu befürchten haben, daß Harks über den Strang schlägt.
Er ist ein rechter Hüter der Schulzucht. Daß er nicht wünscht, den
einst so allmächtigen Feldwebel in dem Begriff „Diener“ untergehen zu
sehen, kann ich ihm nicht verübeln. Und ich meine, der unermüdliche,
alte Mann ist hier erst recht eine gute Kompagniemutter und in dem
großen Betrieb wohl am Platze.

Heute nachmittag war Klassenkonferenz.

Ich werde mit diesen Dingen sparsam umgehen. Denn ich kann ja vieles
selbst erledigen, und die schönen Nachmittage sind den Kollegen und mir
gleich wertvoll. Aber dem Vorschlag von Oberlehrer Kahl, im Anschluß
an die Schule zu tagen, konnte ich nicht beistimmen. Denn wichtige
Konferenzen sollen nicht mit knurrendem Magen und Uhr in der Hand
erledigt werden, und daß keine unwichtigen stattfinden, dafür will
ich schon sorgen. Die heutige bedeutete allerdings viel Lärm um einen
Eierkuchen. Wieder einmal die zweite Klasse!

Aber es schien mir, als sei diese nur vorgeschoben, als sollte
eigentlich Herr Klaus Hansohm gezaust werden.

Die erste Enttäuschung für mich. -- So rückständig ist Birkholz? Die
Müllerlieder von Schubert ungeeignet für die zweite Klasse eines
Lyzeums.

Himmel, zu welchen Verstiegenheiten sich die Herren hinreißen ließen.
„Minderwertige Persönchen!“ „Frühreifes Gebaren!“ „Nicht scharf genug
zu tadelndes Verlangen, das in der Schule verpönte Thema ‚Liebe‘ auf
Umwegen kennen zu lernen.“

Wackerer Kämpe Hansohm! Er fuhr mit den Herren ab, daß sie heiße Ohren
kriegten. Und ich ein warmes Herz. --

Oberlehrer Kahl focht einen unrühmlichen Strauß mit ihm.

Als er schließlich von „Unlauterkeit“ sprach, der ein Lehrer Vorschub
leiste, stellte ich mich auf Hansohms Seite, mit mir die anderen, mit
Ausnahme von Professor Traute, Fräulein Nissen und Lehrer Asmus.

Letzterer auch so ein Scharfmacher.

Er führt die neunte Klasse als Ordinarius. Vertrat neulich Hansohm
in der siebenten Klasse in Deutsch. Hansohm hat die Kyffhäusersage
behandelt, und Asmus las ihnen in jener Vertretungsstunde das Gedicht
vom Kaiser Rotbart vor. Wie er den Bart schildert, der durch den Tisch
gewachsen ist, erhebt sich Lottchen Binnebom und ruft: „Das glaub’ ich
nicht.“

Diesem „Fall“ ist Asmus nicht gewachsen gewesen. Und, Gott sei’s
geklagt, die große Mehrheit im Kollegium heute besprach die Sache mit
einer Ernsthaftigkeit und Bedenklichkeit, daß ich mich ein paarmal
versucht fühlte, sie mit den dicken Köpfen zusammenzustoßen.

Der Humor scheint keine Hüsung im Lyzeumsgebäude zu haben, ich will
nicht hoffen, daß er überhaupt außerhalb von Birkholz wohnt.

Jedenfalls aber sah ich heute Hansohm, wie er Lottchen Binnebom an der
Hand führte, und nach den vertrauensvollen Augen der kleinen Zweiflerin
zu urteilen, hat sie längst die rechte Antwort bekommen.

Morgen will ich meine Besuche in der Stadt machen... Harks erzählte,
die Frau Apotheker Dahlen habe dazu neue Gardinen aufgesteckt. Da
sich Harks augenscheinlich selbst geehrt fühlte, unterließ ich jede
Bemerkung. Diese Besuche quälen mich.

Bis jetzt durfte ich einsam sein. All die Jahre hindurch. Köstlich
einsam. Und nun bringt mir das neue Amt den herben Zwang.

Sonntag abend.

Diese Sonntage sind etwas unbeschreiblich Schönes in Birkholz.

Es sind die Sonntage der alten, guten Zeit, Sonntage der Kleinstadt, ja
fast eines einsamen Dorfes.

Von Jugend her bin ich’s gewohnt, die Sonntage hochzuhalten. Ein
Schulmeister ohne Sonntag ist wie ein Haus ohne Dach.

Um neun Uhr beginnt die Kirche.

Pastor Ohlsen ist keine große Leuchte. Vielleicht hätte mir ein
Heidespaziergang an diesem leuchtenden Frühlingsmorgen mehr gegeben.
Aber den Birkholzern wäre er ein Ärgernis gewesen. Sie waren alle in
der Thomaskirche versammelt und schauten auf meinen „Stuhl“. Denn in
Birkholz ist die Kirche so eingerichtet, wie die Frommen sich den
Himmel denken, alles hübsch nach Rang und Stand geordnet.

Wie ich die Birkholzer kenne, haben sie das feste Vertrauen, daß der
liebe Gott niemals droben einen „Adler der Inhaber“ über einen „Roten
Adler“ setzen wird.

Vor mir lag das Gesangbuch meines Vorgängers und sogar seine Lupe
daneben. Ich benützte beides nicht, denn das Gesangbuch meiner alten
Mutter begleitet mich immer als Talisman. Pastor Ohlsen ist ein rechtes
Kindergemüt, ihm scheint nicht viel verquer gegangen zu sein in seinem
langen Leben. Er erzählte mir, als ich nach der Kirche ihm als ersten
meinen Besuch machte, daß er Birkholzer Kind sei, das Birkholzer
Gymnasium „absolvieret“, in Erlangen „studieret“, sowohl auf der
Universität, als auch bei „Vater Mörsch“, wie er behaglich lächelnd
hinzusetzte. Dann seine erste und einzige Liebe, ein Birkholzer Kind,
geheiratet, und nun Gott Lob und Dank wieder seit vierzig Jahren in
Birkholz wirke. „Ja, ja, mein lieber junger Freund, ein reichgesegnetes
Dasein! Ich bin allezeit mit Gottes Hilfe wie auf Hefe gegangen,
mein Vater war ja auch der Bäckermeister Ohlsen auf der Ringstraße.“
Die rundliche, kleine Frau Pastorin belachte glucksend den Witz, der
gewiß seit vierzig Jahren ständig wiederkehrt, und ich lachte mit, und
verließ Philemon und Baucis mit dem dringend erbetenen Versprechen,
oft bei ihnen einzukehren. Dies Versprechen halte ich gern. Sie sollen
ihren Herzensfrieden mit mir, dem Friedlosen, teilen...

Die anderen Besuche mußte ich kürzer bemessen.

Mir fielen die außerordentlich vielen Töchter auf, denen ich
vorgestellt wurde, und ich mußte an den Spötter Hansohm denken, der
mich vorbereitete, daß für diesen Sonntag alle auswärts beschäftigten
Töchter mittels Telegramm herangerufen wären.

Postdirektor Hagedorns scheinen mir am weitesten über das Birkholzer
Niveau herauszuragen, -- ganz prächtige Menschen. Drei niedliche
Mädchen und drei stramme Buben tummelten sich im Garten. Die Mädelchen
wurden glühend rot, als sie mich sahen, vergaßen vor Verlegenheit das
Knixen und steckten Zopfbänder in den Mund. Aber die Buben, dank ihrer
Unbefangenheit einem „Mädelsdirektor“ gegenüber, übernahmen lärmend die
Führung zur Dienstwohnung ihres Vaters. Ich habe in eine glückselige
Ehe Einblick getan, das ist ein rechtes, gegenseitiges Heben und Tragen
bei diesen zwei Menschenkindern.

Ich möchte wohl wissen, warum dieser geistig bedeutende Mann an der
postalischen Majorsecke gescheitert ist, zumal die junge Frau die
Tochter eines Regierungsrates aus Schleswig ist.

Landrat von Thadden konnte mit einer englischen Frau und zwei
langnasigen, langzahnigen und bleichsüchtigen Töchtern von dreizehn
Jahren aufwarten. -- Der Mann ist sehr sympathisch, aber die Frau fällt
mir wie alles Englische auf die Nerven. Sie setzte mir mit der ganzen
Rücksichtslosigkeit der Engländerin auseinander, wie viel besser eine
Erziehung im Hause als in der Schule sei. Als unser Gespräch beendet
war, wußten wir beide, daß wir uns nicht ausstehen konnten.

Dafür bedachte mich die magere Miß, welche die Erziehung von „Mary“ und
„Ellen“ leitet, mit einem langen Blick, der gar nicht mager war und den
man ihren wasserblauen Augen nicht zugetraut hätte. --

Erst sehr spät, es war schon zwei Uhr, hielt mein Wagen vor dem
Herrenhaus Heidekamp-Birkholz.

Am Eingang des Parkes steht dort ein Riesenbaum. Die Thingeiche. Ein
ungefüger Steintisch darunter und abgeplattete Riesensteine rings herum.

Der Historiker in mir wurde hellwach. Ich hieß den Kutscher langsam
fahren, um das Bild recht zu genießen. Auf dem Steintisch lag eine
Schulmappe und verstreute Bücher, aber Sörine Heidekamp, die doch
augenscheinlich dazu gehörte, konnte ich nirgends entdecken. Bis ein
Löschblatt vom Himmel fiel und ich aufblickend ein paar derbe Stiefel
gewahrte, die mit den dazugehörenden Füßen hoch in den Ästen der Eiche
standen.

„Ist der Herr Großvater zu Haus?“ rief ich hinauf und: „Jawohl, Herr
Direktor!“ schallte es herunter.

Ein alter, in schlichte, braune Livree gekleideter Diener öffnete mir
die Wagentür und lud mich zum Nähertreten ein.

Die große Diele war für mich hochinteressant durch den Schmuck der
Riesengeweihe und der alten Gemälde und Kupferstiche. Ich wanderte
und schaute und vergaß schier den Zweck meines Hierseins. Die Zeit
verstrich, -- dann kam der Diener zurück und meldete mit ebenem
Gesicht, „daß Herr Baron von Heidekamp nicht zu sprechen seien“.

Als ich rasch meinen Hut vom Tisch nehmen wollte, huschte plötzlich
etwas Graues in die Diele. Fast möchte ich jetzt sagen, wie ein großes
Spinngewebe sah die alte Dame aus. --

Flehend hob sie ihre feinen, runzligen Hände.

„O Herr Direktor! Nicht ungehalten sein! Der Herr Baron -- -- hat --
eine wunderliche Abneigung gegen alle Lehrer, mein Gott...“

Sie haschte nach meinen Händen.

„Aber gnädige Frau...“

Da wehrte sie hastig ab.

„Fräulein von Schlieden,“ stellte sie sich vor. „Ich war die Erzieherin
von Sörines verstorbener Mutter und sollte auch das Kind unterrichten.
Aber ich bin alt, und Sörine soll unter Jugend groß werden. Ach, Herr
Direktor, Staub ist so etwas Schreckliches. Nicht wahr, Sie werden die
Birkholzer Kinder, und besonders unsere Sörine, vor Staub bewahren?“

Rührend bittend, hilflos sahen ihre guten Augen mich an. Eine seltsame
Situation.

„Könnt ich Sie doch öfters einmal sprechen: Möchte Ihnen so innig das
Kind ans Herz legen. Es hat mir von Ihnen erzählt...“

Ich drückte dem grauen Spinnwebchen die Hand.

„Gnädiges Fräulein und Kollegin, ich freue mich, wenn Sie Ihr Weg zu
mir führt. Vielleicht treffe ich Sie auch einmal auf einem unserer
Elternabende, da können wir...“

Ein polternder Schritt näherte sich, ein Stock stieß in regelmäßigen
Abständen auf den Boden auf, und mit eins war das Spinnwebchen
verschwunden, weggeblasen, um die Ecke geweht.

Ich schritt zu meinem Wagen, lachte aber auf der Diele ganz herzhaft
und ungeniert. Denn ich hörte eine dröhnende Stimme rufen: „Tausend
nochmal, Grauchen, das paßt Ihnen wohl auf die alten Tage, ein
Stelldichein mit einem jungen Schulmeister...“

Der alte Diener stand am geöffneten Wagenschlag, und sein Gesicht war
weniger eben als zuvor.

Es zuckte um seine Mundwinkel.

Ein wenig prallte ich auch zurück, als ich einsteigen wollte, aber die
Pferde zogen rasch an, und so ergab ich mich in mein Schicksal, in
einem Blumenkorb zu sitzen. Denn der Wagen war inzwischen heimtückisch
geschmückt worden, ein ganzes Gewächshaus schien geplündert zu sein.
Chrysanthemen und Alpenveilchen lagen zum Strauß geordnet auf dem
Rücksitz. Maiblumen waren anmutig lose in die Fensterrahmen gesteckt,
und feine grüne Gräser zogen sich als Girlande über die Lehne des
Vordersitzes.

Aus den Zweigen der Thingeiche lugte ein Schelmengesicht. Merkwürdig
standen darin die großen ernsthaften Blauaugen. Ein wunderschönes Kind!
Und ein interessantes Seelchen dazu. Man könnte die alte Eiche beneiden
um das nette Früchtchen, das sie trägt.

Ich drohte mit dem Finger aus dem Fenster heraus.

Da hört ich das Mädel silberhell lachen. Lachen, wie ganz junge Kinder
tun, denen die Welt noch ein einziger Freudenquell, die Menschen lauter
gute Mitwanderer sind. Ein Lachen recht aus dem Herzensgrund heraus.

Erne Sörensen, alle Schulweisheit gäbst du darum, so lachen zu können,
wie die junge Sörine Heidekamp.

       *       *       *       *       *

Es klopfte an die Tür des Direktorzimmers.

Erne Sörensen saß in tiefer Arbeit.

Die Feder flog über den großen Bogen, der einen Bericht an die
vorgesetzte Behörde aufnehmen sollte.

Vom Singsaal her tönten die gedämpften Laute eines Liedes, und der
Schreibende ließ für Augenblicke die Feder sinken und lauschte. Das
alte Lied, das ihm die Mutter manchmal gesungen... Wie gut, daß Lehrer
Hansohm diese Perle ausgegraben und in die Hände seiner Schülerinnen
gelegt hatte.

    „Ich weiß mir etwas Liebes
    Auf Gottes weiter Welt,
    Das stets in meinem Herzen
    Den ersten Raum behält,
    Kein Freund und auch kein Liebchen
    Verdrängen es daraus, --
    Das ist im Vaterlande das teure Vaterhaus.“

Das Klopfen wurde jetzt kurz und energisch.

„Herein!“

Lehrer Asmus trat mit linkischer Unbeholfenheit ein. Er suchte sie
durch übergroße Steifheit und Förmlichkeit zu verdecken.

Direktor Sörensen stand auf, ging in seiner liebenswürdigen Art dem
Kollegen entgegen, rettete ein Tischchen mit Wasserkaraffe und -glas
vor dem Umstürzen und stellte mit raschem Griff einen leichten Stuhl
beiseite, dem das gleiche Schicksal drohte.

Denn Lehrer Asmus dienerte viel und heftig.

„Verzeihung, Herr Direktor, ich sehe, ich störe, Sie haben zu tun...“

„Ja, mein lieber Herr Kollege, zu tun habe ich immer, also stören Sie
auch immer,“ scherzte der Direktor.

Aber Lehrer Asmus hatte keinen Sinn für Humor.

Er zog ein grämliches Gesicht.

„Dann will ich lieber gleich gehen...“

„Nun machen Sie keine Geschichten,“ sagte Sörensen ruhig. Er deutete
mit einladender Handbewegung auf einen Sessel und Asmus setzte sich
sehr steif nieder.

Sörensen kannte die Art, kannte genau die Abstufung dieses
unglücklichen Temperamentes.

Zuerst das Devote, dem das Linkische folgte, das Förmliche, das mit
leisen, streng abgemessenen Worten begann, um sich dann in große
Heftigkeit zu steigern und zuletzt in lodernden Jähzorn auszuarten.

Das letztere aber nur zu Hause. In der Schule und im Lehrerkollegium
hatte sich Asmus immer noch in den Grenzen gehalten. --

„Herr Direktor -- -- ich komme sozusagen in einer privaten
Angelegenheit...“

„Aber, Herr Kollege...“

„Bitte, Herr Direktor, ich weiß wohl, was Herr Direktor jetzt sagen
wollen, -- aber -- es ist sozusagen sowohl Schul- als Privatsache...“

Sörensen schielte nach seinem unvollendeten Bericht.

„Es ist schade, daß Herr Direktor keine Zeit zu haben scheinen...“

„Herr Kollege Asmus, ich +habe+ Zeit für Sie und bitte Sie nur,
zur Sache zu kommen.“

„Jawohl, jawohl. Also ich sagte, es sei sowohl Schul- als Privatsache“
-- -- --

Eine längere, peinliche Pause entstand, und mit einem Mal kam der
Zorn. Viel rascher als der Direktor gehofft hatte. Asmus sprang auf.
Fast hätte er auf den Tisch geschlagen. -- Der große, ruhige Blick des
Vorgesetzten bannte ihn. --

Heiser rief er:

„Ich beschwere mich über die Schülerin der zweiten Klasse Sörine von
Heidekamp, ich beschwere mich über den Herrn Professor Rasmussen, über
das Fräulein Oberlehrerin ~Dr.~ Stavenhagen und über den Lehrer
Hansohm.“

Direktor Sörensen schüttelte den Kopf. „’n bißchen viel auf einmal,“
sagte er, aber dann nahm er die eiskalten Hände des zornigen Mannes in
seine eigenen lebens- und gemütswarmen.

„Erst mal ruhig werden.“ So gütig klang die beherrschte Stimme, als sei
es der Ältere, der einen jungen Heißkopf beruhige. Sörensen schenkte
ein Glas voll Wasser, das der Erregte in einem Zuge austrank.

„So, Herr Kollege. Nun los. Die Beschwerde scheint mir aber doch
lediglich +Schulsache+ zu sein.“

„Darüber wollte ich Ihren Rat erbitten, Herr Direktor. Die eigentliche
Ursache liegt in meiner Privatwohnung ...“

„Ich verstehe nicht recht...“

„Dann habe ich mich wohl unrichtig ausgedrückt. Die Privatwohnung ist
natürlich nicht Ursache, aber...“

Sörensen warf einen Blick zur Decke seines Zimmers. „Gehören die vier
genannten Personen als gemeinsame Gruppe zu Ihrer Beschwerde?“ fragte
er sachlich.

„Jawohl, Herr Direktor.“

„Nun darf ich wohl bitten, daß Sie mir im Zusammenhang über das
Vorgefallene Aufschluß geben?“

„Jawohl, Herr Direktor. Es ist gestern in der zweiten Klasse,
als Fräulein Nissen eine Deutschstunde hielt, etwas Ungehöriges
vorgekommen.“

„Wahrhaftig! Wieder einmal?“

„Herr Direktor, Ihr Ausruf macht mich sehr glücklich. Denn ich sehe
daraus, daß Herr Direktor wissen, wie, wie -- ärgerniserregend diese
Klasse im allgemeinen ist...“

„Weiter, weiter,“ drängte Sörensen.

„Ja, -- denn gestern war leider, leider...“ Asmus trocknete sich
den Schweiß von der Stirn -- „meine Tochter Agnes Ursache dieser
betrübenden Tatsache. Sie hatte ihr Taschentuch vergessen...“

„Lappalie,“ stieß Sörensen hervor.

„Ich muß sehr bitten, das ist keine Lappalie,“ ereiferte sich Asmus,
„meine Tochter Agnes hat +alle+ erforderlichen Utensilien einer
ordentlichen Schülerin mit in die Schule zu bringen, dafür ist sie
eben die Tochter des +Lehrers+ Asmus, und wenn ich auch nur ein
seminaristisch gebildeter Lehrer bin...“

Jetzt sprang Sörensen auf. Seine Zeit war knapp, der Bericht duldete
eigentlich keinen Aufschub...

„Herr Kollege Asmus, was Sie da reden ist Un.... unrecht. Ich war auch
einmal ‚seminaristisch‘ gebildet, ohne in meinen Augen auch nur einen
Millimeter tiefer zu stehen, als jetzt. -- Bitte weiter!“

Asmus ließ seine Fingergelenke knacken, was sich außerordentlich
häßlich anhörte, aber es war ein Mittel von ihm, seinen Zorn zu
unterdrücken. --

„Meine Tochter Agnes hat nun leider verabsäumt, Fräulein Nissen von dem
betrüblichen Umstande des Vergessens Mitteilung zu machen. Da aber die
Natur... sich nicht gebieten... läßt... so... hat... meine Tochter...
so ist ihr... hm...“

Sörensens Nerven drohten aufrührerisch zu werden. Aber er meinte
nur trocken: „Also sagen wir: ihr lief die Nase und sie mußte laut
schnüffeln.“

„Aber, Herr Direktor -- -- woher wissen Sie...?“

„Weil ich auch mal klein war, Herr Asmus, wirklich --. +So’n+
kleiner Junge.“

Und er hielt die Hand so tief auf den Erdboden, daß man sich wohl
stark verwundern konnte, wie aus solchem Liliputaner der Riese Goliath
entstanden war.

Sörensen zog die Uhr: „In fünfzehn Minuten ist Pause, -- wollen Sie
vielleicht heute nachmittag oder...?“

„Ich möchte es lieber gleich jetzt rasch erzählen.“ Asmus bekam einen
roten Kopf. „Also, da hat Sörine von Heidekamp, die ja alles sieht
und alles hört, meine Agnes gefragt, was ihr fehle, und hat ihr das
eigene Taschentuch geborgt, darauf hat Fräulein Nissen gefragt, wer
eben gesprochen habe, und Sörine von Heidekamp, die ja, das muß man ja
zugeben, furchtloser, um nicht zu sagen frecher, ist als meine Tochter,
hat sich wahrheitsgemäß gemeldet. Natürlich hat Fräulein Nissen sie
eingeschrieben ...“

„Natürlich,“ schaltete Sörensen grimmig ein.

„Zu Hause ist dann aber doch noch alles herausgekommen. Denn meine Frau
denkt genau wie ich. Sie hat Agnes’ Schulmappe wie jeden Tag revidiert
und hat gesehen, daß sie auch ein Deutschheft in der Schule vergessen
hatte, dann fand sie die leere Kleidertasche, darin das Tuch fehlte...“

In Sörensen kroch der Zorn hoch.

„Ihre Gattin ist +sehr+ ordentlich,“ bemerkte er.

„Ja sehr,“ betonte Asmus, „Gott Lob und Dank. Sie war ja auch früher
Lehrerin. Agnes bekam sofort von ihr eine feste Ohrfeige für die
Bummelei und dann nahm +ich+ sie mir extra vor für die Störung in
der Schule. Dabei ging es denn heißer her als bei der Mutter...“

„Noch heißer? Herr Kollege? Ihre Agnes ist ein zartes, recht
verschüchtertes Mädchen, dazu schon fünfzehn Jahr alt, ich meine denn
doch, daß körperliche Züchtigungen ...“

Asmus stand auf.

„Herr Direktor, das ist lediglich meine eigenste Angelegenheit, ich bin
der +Vater+...“

„Herr Kollege Asmus, Sie mißbrauchen meine Geduld. -- -- -- Wollen Sie
meinen Rat in Ihrer Angelegenheit oder???“

Beide Männer standen sich jetzt gegenüber. Asmus ganz weiß vor Zorn,
eine rote Ader lag ihm quer über der Stirn.

„Ich müßte ja wohl jetzt gehen, Herr Direktor, -- aber -- -- genug, --
ich habe meine Agnes gezüchtigt, Sörine von Heidekamp ist dazugekommen,
sie aß einmal wieder in der Stadt, -- kurz, dieses Mädchen hat --
Herr Direktor, -- sie hat meinen Stock über ihrem Knie in zwei Stücke
gebrochen und mir die Stücke vor die Füße geworfen. --“

Sörensen murmelte: „Das Mädchen hat Ihre Agnes sehr lieb...“

„Billigen Herr Direktor die Handlungsweise??“ Asmus wußte
augenscheinlich nicht mehr, was er sprach.

Es klopfte scharf.

„Herein.“

Klaus Hansohm sah befremdet auf Direktor und Kollegen.

„Ich bitte um Entschuldigung, ich klopfte mehrere Male.“

„Ja, es ging etwas erregt bei uns zu. Sie wünschen?“

„Nur eine Frage, den Schulwart Harks betreffend. Aber sie ist doch
nicht so einfach in zwei Minuten zu erledigen, ich werde wiederkommen.“

„Dann bitte ich Sie zu bleiben. Herr Kollege Asmus hat Klage über Sie
geführt, so können wir gleich etwas vorarbeiten, da Professor Rasmussen
und Fräulein ~Dr.~ Stavenhagen beide beschäftigt sind.“

Lehrer Hansohm zog mit straffem Ruck seine Weste glatt.

„Ich bin bereit,“ sagte er ruhig.

„Kollege Hansohm kommt mir gelegen,“ nahm Asmus das Wort. „Ich darf
wohl fortfahren. Also ich wies nach dem unerhörten Gebaren Sörine von
Heidekamp die Tür. Auf der Straße, die völlig menschenleer war, schalt
ich noch mit ihr, da kamen Professor Rasmussen, Fräulein Doktor und
Kollege Hansohm uns entgegen...“

„Wir kamen vom Mittagessen,“ warf Hansohm ein.

„... und Herr Professor Rasmussen beleidigte mich gröblichst.“

„Das ist nicht wahr,“ rief Hansohm ungestüm.

Der Direktor hob die Hände. „Herr Kollege Hansohm, augenblicklich hat
Herr Asmus das Wort.“

„Ich überlasse es Herrn Hansohm,“ entgegnete dieser förmlich. „Ich habe
korrekt gehandelt, und der Kollege kann gern seine Ansicht äußern.“

„Danke. -- Sie gestatten, Kollege Asmus, -- Sie haben +nicht+
korrekt gehandelt. Halt! Jetzt rede +ich+. Sie haben Sörine von
Heidekamp nicht die Tür +gewiesen+, was man mit dem Finger zu tun
pflegt, sondern Sie haben sie im Jähzorn im Nacken gepackt...“

„Am Mantelkragen,“ schob Asmus ein. --

„Also gut! Am Mantelkragen, -- und haben das junge Mädchen
herausgeworfen, vor die Tür gesetzt. Sie waren so außer sich, so ohne
alle Beherrschung, daß wir einschreiten +mußten+. Im übrigen
schalten Sie so laut, daß es uns empörte, denn der Diener des Herrn von
Heidekamp, der in der Straße auf und ab ging, muß es gehört haben. Er
sah aus, als wolle er seiner jungen Herrin zu Hilfe kommen.“

„Seiner jungen +Herrin+! Seit wann machen Sie Kotau vor den Barons
da draußen? Diese Liebedienerei macht ja die Sörine so aufsässig... Im
übrigen, was geht +mich+ der +Diener+ an?“

Asmus zog die Mundwinkel verächtlich herunter.

„Na, erlauben Sie, Kollege, fragen Sie mal den Diener, ob er mit Ihnen
tauscht. Er hat seinen Herrn auf allen Reisen im In- und Ausland
begleitet, spricht drei fremde Sprachen und bezieht ein Gehalt von 4000
Mark.“

„So, Sie sind ja sehr unterrichtet, -- in Dienstbotensachen.“

„Ach, Kollege, -- Sie reizen mich +gar nicht+.“ Klaus Hansohm
konnte unausstehlich liebenswürdig werden. „Sehen Sie, ich gestehe
ein, daß +ich+ den Mann beneide. Er spricht drei fremde Sprachen,
ich nicht. Er wird in seiner Eigenschaft als Diener des Herrn von
Heidekamp hoch estimiert in Birkholz, ich in meiner Eigenschaft als
Volksschulmeister gar nicht, er hat 4000 Mark Gehalt, ich auch nicht
schattenhaft, und außerdem hat er noch ’ne Livree mit Silberknöpfen...“

Sörensen hatte ruhig abwartend zugehört. Er liebte es, wenn sich das
Kollegium „klärte“.

„Womit Sie Herr Professor Rasmussen und Fräulein Doktor beleidigten,
höre ich wohl morgen in Gegenwart der Beteiligten?“ fragte er Asmus.

Dieser verneigte sich bejahend.

Hansohm trat in seiner raschen Art auf den Direktor zu. „Darf ich
wenigstens heute noch meine Überzeugung aussprechen, daß Fräulein
Doktor nicht hat beleidigen wollen. Sie nahm das verstörte junge
Mädchen einfach an ihr Herz. Ohne ein Wort zu sagen. Kollege Asmus
faßt es eben schon als Beleidigung auf, daß wir Sörine Heidekamp
beruhigten. Ich geleitete sie zum Wagen, der auf dem Markte hielt. Der
Diener eilte uns nach, und so rief ich ihr möglichst unbefangen zu:
„Eine Empfehlung an den Herrn Großvater.“ Die einzigen Worte, welche
überhaupt auf dem Wege fielen. Professor Rasmussen aber hatte nur einen
väterlichen Rat an Herrn Asmus erteilt. --“

„Ich danke Ihnen, meine Herren.“

In Asmus’ Gesicht arbeitete der Zorn mächtig. Aber er wußte, daß er mit
seinen Anklagen warten mußte, bis er den beiden andern gegenüberstand.

Sie gingen hinaus. Sörensen blieb in seinem Zimmer.

„Väterlicher Rat?“ nahm Asmus draußen streitsüchtig das Thema wieder
auf. „Ich brauche keinen väterlichen Rat vom Senior. Es war lediglich
eine Beleidigung. ‚Gehen Sie ins Bett, Kollege,‘ hat er mir zugerufen.
Dieser... Gehen Sie ins Bett! In Gegenwart von Fräulein Doktor.“

„Na, Kollege, den Schlußsatz lassen Sie morgen lieber fort. So böse hat
es Rasmussen nicht gemeint.“

Hansohm lachte spitzbübisch, und Asmus drehte ihm beleidigt den Rücken.
--

       *       *       *       *       *

Die Sonne schien flutend in den Singsaal und Sörine sang gerade ihr
Maienköniginsolo, als sie zum Direktor gerufen wurde.

Sämtliche Kinder sahen ihr erstaunt nach, aber Lehrer Hansohm nahm
gleich eine neue, ganz besonders schöne Stelle vor, und so wendete sich
das Interesse der zweiten Klasse rasch wieder der Musik zu. --

Sörine stand vor dem Direktor.

Sie war auffallend blaß, und über ihren Augen hatte sich eine tiefe
Falte eingegraben.

„Die Sache scheint dir nahezugehen, Sörine. Du hast deine frohen Augen
nicht mehr. Nun denke einmal in deinem Trotz nicht daran, was dein
Lehrer +dir+ tat, sondern was du ihm tatest.“

Etwas wie Erstaunen zeigte sich auf dem blassen Gesicht, aber nur
vorübergehend.

„Herr Asmus ist nicht mein Lehrer,“ sagte sie dann abweisend.

„Herr Asmus ist Lehrer am Lyzeum, -- folglich...“ Sörensen brach kurz
ab. „Ihr in der zweiten Klasse habt darüber wohl besondere Ansichten?“

„Ja.“

Was ist das nun? fragte sich Sörensen. Ist das die Heidekampsche
Unverschämtheit, von der die Kollegen reden? Oder?

„Ich habe auch gar nicht über etwas nachgedacht, was Herr Asmus
+mir+ getan haben könnte.“

Der Direktor stutzte. Wie Freude stieg es in ihm hoch. Er hätte es
selbst nicht so nennen können, denn er wußte seit langem nicht mehr,
wie sich Freude kundtat. Leise sagte er zu sich: „Neuland!“ Laut aber:
„Und worüber hast du nachgedacht? Was soll die krause Stirn und das
bitterböse Gesicht?“

Sörinens Augen funkelten ihn an. „Er hat sie so geschlagen, meine
Agnes,“ stieß sie heraus.

Und nun wußte Erne Sörensen plötzlich wieder nach vielen Jahren, daß
er sich noch freuen konnte. Also so etwas gab es noch auf dieser Welt?
So ein echtes Freundschaftsseelchen. Solch einen selbstlosen, kleinen
Kameraden, -- „einen bessern findst du nit“...

Er sprang auf und ging mit großen Schritten durch das Zimmer. Dann
blieb er vor Sörine stehen. „Ich verstehe das so gut, Sörine. Wenn
ein Freund leidet, dann tut es ja viel weher, als wenn wir selbst
gezüchtigt werden, so denkst du auch, nicht wahr?“

Da war die Falte aus dem Kindergesicht verschwunden und Sörinens Augen
sahen ihn voll Vertrauen an.

„Was sagt deine Klasse dazu?“ fragte er weiter.

Ein erstaunter Aufblick. „Die Klasse? Die weiß doch nichts!“

„Die weiß nichts? Hast du gar nicht darüber gesprochen?“

„Nein. Sie würden es nicht verstehen. Und würden dann Agnes immer
daraufhin ansehen. So ein Armes! Das leid ich nicht. Das tut ihr ja
dann immer von neuem weh...“

Ganz sacht strich Erne Sörensens große Hand über die Locken...

Da warf Sörine Heidekamp beide Arme über den Tisch, legte den Kopf
darauf und weinte laut und ungestüm.

Der Direktor ließ sie gewähren. Es ist Gewitter im Mai, dachte er.
Endlich hob das verstörte Mädel den Kopf und Sörensen sah, das
Vertrauen zu ihm saß fest und Sörine war willens, ihm ihr kleines
Herz restlos auszuschütten. „Mit niemand zu Hause kann ich darüber
sprechen,“ stieß sie wild hervor. „Großvaterli würde einfach außer
sich sein, wüßte er von den Geschichten. Den Tyras würde er auf Asmus
hetzen, -- ja, das würde er. Aber das nützte meiner Agnes nichts. Na
und Grauchen? Soll ich’s Grauchen sagen? Die geht immer gleich so in
Stücke. Und dann flattert und weht sie umher und redet vom 4. Gebot.
Aber dies alles hat doch gar nichts mit dem 4. Gebot zu tun...“

„Doch, kleine Sörine! Um das 4. Gebot kommst du auch hier nicht herum.
Das wollen wir uns gleich beide etwas näher ansehen.“ --

Erne Sörensen jagte die hellichte, törichte Freude in das alleräußerste
Winkelchen seines Mannesherzens zurück und setzte sich sozusagen ein
sorgsames Schulmeisterherz ein, aus dem er sich nun die bedächtige,
kluge Pädagogik hervorholte. Aber während diese durch seinen Mund ihre
Weisheit sprudeln ließ, hielt er selbst geheime köstliche Zwiesprache,
und diese umhüllte alle seine strengen Worte mit feinem Humor. „Halt
nur fein still, mein Kerlchen, kleiner, trotziger Unband. Will dir
nicht deine lachenden Augen trüben für lange Zeit. Will dich auch
nicht brechen, aber biegen muß ich den jung-jungen Baum. Auch das
Geducktwerden schadet dir nichts, kleines Liebes. Halt nur still, ich
tu dir schon nicht weh. Und die übliche Schulmeisterschere, mit der
man Taxushecken beschneidet, lasse ich nicht an dich heran.“

Laut aber sagte Sörensen: „Zunächst darfst du in meiner Gegenwart nicht
von ‚Asmus‘ reden, das ist ungehörig. Dann aber, -- Herr Lehrer Asmus
hat doch als Vater das unumstrittene Recht, sein Kind zu strafen,
-- -- nein, nein, laß mich nur ausreden. Du konntest ihn als Freundin
seiner Agnes wohl +bitten+, nicht so hart zu sein, aber die Art und
Weise, +wie+ du dich eingemischt hast,... Sörine, hast du überhaupt
einen Begriff von dem Unrecht, das du begingst?“

„Nein.“

„Sörine!“

„Immer und immer würde ich es wieder tun, Herr Direktor, genau
dasselbe. --“

„Das ist sehr schade, Sörine, denn du bist im Unrecht. Denke darüber
nach. Morgen komme dann zu mir, hoffentlich mit verändertem Sinn. Du
wirst Herrn Asmus um Verzeihung bitten, er verlangt das von dir.“

„Herr Direktor!!!“

Sörine schrie es heraus.

„Du bist unbeherrscht, Sörine. Unbeherrscht sein, heißt unvornehm sein.
Ich kann mir nicht denken, daß du das sein willst.“

„O Herr Direktor, ich will +Sie+ um Verzeihung bitten und jeden
Lehrer und die Nissen jeden Tag, die ich doch nicht ausstehen kann...“

„Pscht! Was reden wir da wieder für ungehöriges Zeug!“

„Aber den Asmus, Herr Direktor, nein, +nie+.“ Sörinens Augen
blickten ganz schwarz. Aber sie setzte auf einmal kindlich hinzu: „Ich
meine den +Herrn+ Asmus.“

„So, so! Nun für mich kommt es jetzt nur darauf an, ob du +die+
bist, wofür ich dich halte, oder ob ich mich in dir getäuscht habe.
Sieh einmal, Sörine, du hast ja noch gar nicht über dein Unrecht
nachgedacht. Aber in euerm Schloß habt ihr ja genug stille Kämmerlein,
in denen du zur inneren Einkehr kommen kannst.“

„Ja, eine Menge,“ bestätigte sie nachdenklich. Dann war sie entlassen.

Die Tür war kaum hinter ihr ins Schloß gefallen, als es schon wieder
klopfte.

„Herein!“

„Herr Direktor, kann ich auch um Verzeihung bitten, +ohne+
nachzudenken? +Ihnen+ zu Liebe, damit Sie mir wieder gut sind?“

Sörensen sah kopfschüttelnd in die freimütigen Kinderaugen.

„Nein, Sörine. Du bist groß und alt genug, um dein Unrecht einzusehen.“

„Aber das wird dann sehr lange dauern...“

„So? Weißt du das schon? Nun, das hilft dann nichts. Und nun geh, --
ich habe zu tun.“

Zögernd entfernte sich Sörine. An der Schwelle blieb sie wieder stehen.

„Nun? Noch einen Wunsch?“

Sie kämpfte mit sich. „Meine Agnes fehlt heute,“ sagte sie endlich
traurig. „Wenn ich nur wüßte, wie ich ihr einen Brief schicken
könnte. Ihr Vater und ihre Mutter öffnen ja jeden. Und dann lesen und
verbrennen sie ihn. Agnes hat +gar keine+ Freude auf der Welt. Sie
hat +nur mich+.“

„Freude genug,“ sagte Sörensen still zu sich. Und dann mit raschem
Entschluß: „Schreibe deiner Freundin nur einen rechten Trostbrief,
Sörine, -- ich -- ich will ihn heute nachmittag selbst zu ihr bringen,
na, -- ist’s so recht?“

Alter Schulmeister Erne Sörensen, du hattest geglaubt, ein recht
helles, sonniges Studierzimmer zu besitzen, aber so wahrhaft licht war
es doch erst jetzt geworden, als ein paar Kinderaugen in unsäglicher
Dankbarkeit zu dir aufleuchteten. Nachdenklich saß Sörensen an seinem
Schreibtisch. Da hatte man ihm nun alles Mögliche erzählt von seinem
neuen Amt, von der neuen Stadt und seinen Bewohnern, von den einzelnen
Klassen in seinem Lyzeum. Aber irgend etwas Eigenartiges hatte niemand
entdeckt. Wenigstens nicht das Feine, Schöne, Erquickliche daran, nur
die wilden Schößlinge und urwüchsigen Briefe, die man nach Schema F
biegen, brechen und abschneiden wollte. Taxushecken waren alle Schulen,
an denen er bisher gewirkt hatte, auch diese. Einzig Klaus Hansohm war
noch ein Unverknöcherter mit scharfen Augen und warmem Herzen. Deshalb
war er auch ein Freund von Sörine Heidekamp. Aber er sprach nie von
ihr, wenn nicht eine besondere Veranlassung vorlag. Und Fräulein Doktor
mit ihren Röntgenaugen hatte auch die zweite Klasse durchschaut und
verborgene Schätze gehoben. Zu ihrer eigenen Freude. Ihm erzählte man
nicht davon. Ihm gönnte man nicht die Mitfreude. Immer war er nur der
Direktor, der Einsame. So wollte er denn selbst seine Diogeneslaterne
anzünden und unter seinen vielen kleinen Leuten die Menschlein
heraussuchen.

Und er dachte an das Schöne, was er heute gesehen, an das verhüllte und
doch durchscheinende Licht, an die Seele im Kindesantlitz. Die würde
mit dem Körper wachsen und blühen und doch immer dieselbe bleiben. --

Sörensen war in Feiertagsstimmung. Er schob verschiedene Akten,
Berichte, Elternbriefe, Beschwerden und sonst noch Einiges an die
äußerste Kante des großen Schreibtisches und nahm dafür einen Stapel
Albumbücher vor, die ihm vor ein paar Tagen übergeben worden waren. Er
war der Sitte nicht gram, die unter den Schülerinnen freilich etwas
wütete. Denn er hatte schon manchen guten, kräftigen Spruch in den
Büchern gefunden, der, wie er hoffte, in manches Leben anspornend
hineinragen würde. Und so schrieb er unentwegt den kräftigen Cäsar
Flaischlen-Spruch nieder: „Durch!“

„Nur nicht bequem werden, nur nicht verliegen! Auf! Das Schwert um! Und
weiter! Und durch! -- Wer will, der kann! Wär’s brechen, wär’s biegen,
wer will, wird siegen! Nur nicht bequem werden, nur nicht verliegen!“ --

Plötzlich stutzte er. Ein feiner grauer Wildlederband fiel ihm auf, der
ein silbernes Wappen in der Mitte trug. Er prüfte die Zeichen. Eine
Birke auf einsamem Blachfeld. Ein Greif, der zwei gekreuzte Waffen
hält. Und die Umschrift: ~Nunquam retrorsum.~ Er blätterte in
dem Buche, es waren nicht viele Eintragungen darin, aber sie waren
charakteristisch. Offenbar hatte Sörine das ganze Personal des Hauses
mit herangezogen, denn auf der Widmungsseite stand:

    „Suse, bruse, wat weiht de Wind?
    Wiege das Kindje, denn flöppt es geswind.

    Deine treue Kinderfrau
    Gesche Wiensen.“

Dann war ein vergilbtes Blatt, vielfach zerknittert, eingeklebt:

    San Remo 1890.

    Mein süßes Kind, sei allzeit treu und wahr!
    Laß nie die Lüge deinen Mund entweihn,
    Von alters her im deutschen Volke war
    Der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein.
    Und bleibe dies Blatt, wenn die Stimme verhallt.

    Mütterchen.

Sörensens Hand strich sacht über das Blatt.

Die zweite Seite zeigte das stark verblaßte Bild eines jungen
Husarenrittmeisters mit hoher, kühner Stirn und starken Brauen. Über
dem aristokratischen Mund ein dunkler kleiner Bart. Die ernsten
Augen glichen denen der jungen Sörine. Ein Kreuz war neben das Bild
gezeichnet, und die Schrift darunter war von der gleichen Hand des
vorigen Blattes: Schleswig 1895. Dein Väterchen. --

Erne Sörensen ertappte sich, daß er ganz laut: Du armes Waislein!
sagte, denn er rechnete sich zusammen, daß Sörine nach dem Tode des
Vaters geboren war und daß Frau von Heidekamp den Gatten nur um fünf
Jahre überlebt hatte.

Die folgende Seite:

    Es gehört auch zum Leben, sich einer schweren Notwendigkeit
    unterziehen zu lernen und von der Hoffnung zu zehren.

    Heidekamp 1900 im Februar.      Grauchen.

Auf dem fünften Blatt waren Namen in unbeholfenen Schriftzügen
hingemalt: Hinnerk Boysen, Klas Martens, Hanne Witt, Dorette Maaßen,
Fite Groth.

Dann eine etwas schwungvollere Hand mit dem Vers:

    „Das Paradies der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde.

    Dieses wünscht dem gnädigen Fräulein
    Hannes Hansen.“

Offenbar der Heidekampsche Reitknecht.

Auf der sechsten Seite hatte sich jemand schon vor zwei Jahren
eingetragen:

    „Wer mit Rennen anhebt, hört mit Hinken auf.

    Klaus Hansohm,
    Lehrer.“

Dann noch eine Backfischhandschrift:

    „Ich will dir immer dankbar und treu sein.

    Deine Agnes Asmus.“

Und nun kam niemand mehr.

Welch seltsames Büchlein. Durch das feine Papier und das kostbare graue
Leder mit dem silbernen Wappen hindurch sah Erne Sörensen das junge
ernst-frohe Leben seiner Schülerin wie ein Bild auf Goldgrund gemalt.
Und er meinte bei sich, es sei wohl etwas Schönes hier unter den
Menschen zu stehen, die alle mit guten Gedanken ein Mäuerchen um die
Sörine Heidekamp bauten.

So schrieb er rasch mit seiner großen, deutlichen Schrift:

    „Gut sein und glücklich machen!

    Dein Freund Sörensen,
    Direktor am Lyzeum Birkholz.“

Dein Freund Sörensen.

Ja, das war die Wahrheit. Die junge Sörine würde sich nicht über die
Unterschrift wundern, die sah ja durch „Mauer und Holz“. Aber auch in
Birkholz würde niemand erstaunt und im Lyzeum niemand gekränkt sein,
denn dies Büchlein war mit seinem Namen abgeschlossen. Das fühlte er,
trotzdem es ihm niemand gesagt und trotz der vielen leeren Seiten, die
noch folgten. Solch ein feines, stilles, rührendes Buch mit den letzten
Liebesworten der toten Eltern, das gab man nur ganz wenigen...

Und als ob er noch eine Bestätigung seiner inneren Gewißheit haben
sollte, fand er auf der allerletzten Seite noch eine Eintragung,
die wollte dem, der etwa doch einmal unbefugt hereinschaute, sagen:
hier ist kein Platz mehr, ich habe das Buch meiner Enkelin schon
zugeschlossen.

    „Order parieren, Gott vor Augen, den König im Herzen.

    Wilhelm, Freiherr von Heidekamp-Birkholz.“

Es wurde Erne Sörensen warm ums Herz. -- Und jung fühlte er sich mit
einem Male. Nie war ihm Birkholz und sein neues Amt so lieb gewesen...

       *       *       *       *       *

Der nächste Vormittag brachte noch eine erregte Freiviertelstunde,
die sich im Direktorzimmer abspielte. Fräulein ~Dr.~ Stavenhagen
hatte in der Deutschstunde vorher in der ersten Klasse „geharnischte
Sonette“ von Rückert vorgetragen und war infolgedessen bis an die Zähne
gewappnet und wohl vorbereitet für das, was ihrer wartete. Sie fuhr
sowohl mit dem +Lehrer+, als auch mit dem +Vater+ Asmus in
einer Weise ab, daß sich der Direktor ein paarmal ernstlich ins Mittel
legen mußte.

Aber Sörensen fühlte, was dem Vater Asmus durchaus verborgen blieb, daß
durch die prasselnden Vorwürfe der Lehrerin eine tiefe, mütterliche
Besorgnis zitterte, und daneben machte sich der Korpsgeist der
ehrenhaften Frau geltend, die sich gegen eine rohe, körperliche
Züchtigung zweier junger Mitschwestern wehrte. „Sie hätten Junggeselle
bleiben und Holzhacker werden sollen.“ rief sie dem Kollegen Asmus zu.

Und von da ab sagte sie gar nichts mehr, ließ alle Anklagen schweigend
über sich ergehen, saß aber sprungbereit mit blitzenden Augen, wie eine
verwundete Löwin.

Professor Rasmussen nahm die Sache ruhig. Aber Direktor Sörensen hörte
aus jedem Satz des Sprechenden Verachtung gegen den Mann heraus, der
sein wehrloses, schüchternes Kind um einer Lappalie willen mit dem
Stock gezüchtigt.

Abschließend sagte Professor Rasmussen: „Für meinen Zuruf, der Herrn
Asmus beleidigt hat, kann ich nicht um Entschuldigung bitten, denn ich
hab’ ihn wortwörtlich gemeint. Es war die Besorgnis des älteren Mannes.
-- Wenn jemand herzkrank ist und dabei an Wutanfällen leidet, schützt
ihn nur noch einigermaßen das Bett vor dem Sensenmann. Im übrigen bin
ich Mitglied des Tierschutzvereins und schon deshalb werde ich mich
immer im Gegensatz zu Herrn Kollegen Asmus befinden.“

Die beiden Angeklagten empfahlen sich. Direktor Sörensen richtete noch
ein paar begütigende Worte an den erregten Kläger. Aber sie fielen auf
steinigen Boden, und Lehrer Asmus verließ das Zimmer sehr zugeknöpft,
sehr beleidigt, steif und förmlich. Und da Direktor Sörensen nicht
vorgesorgt hatte, so mußten diesmal doch unschuldige Gegenstände mit
leiden. Tischchen, Wasserkaraffe und Glas fegte die Abschlußverbeugung
des gekränkten Lehrers hinweg, und ihre Trümmer und Scherben sprachen
eindringlich von der Ungerechtigkeit des Schicksals. --

Am Nachmittag trug Direktor Sörensen einen umfangreichen Brief
mit großem, rotem Wappensiegel, sowie mehreren Freundschafts- und
Wohlfahrtsmarken versehen in das Haus des Lehrers Asmus. Das lag in
einer öden Gegend, darinnen man versucht hatte, Mietskasernen im
Großstadtstil zu errichten. Um nicht das ehrwürdige Gesicht der schönen
alten Stadt zu verzerren, hatte man die Häuser wenigstens in eine
weitabliegende Straße gestellt, die auf eine Höhe zu führte und den
anmutigen Namen „Galgenstraße“ trug.

Sörensen schüttelte immer wieder den Kopf.

Wie konnte sich ein gebildeter Mensch mit halbwegs anständigem
Einkommen hierher setzen! Lyzeumslehrer Asmus besaß nur das eine Kind,
und seine zweite Frau, die er als ältere Lehrerin geheiratet, konnte
sich auch manches gespart haben.

Der Direktor wäre gern vier Treppen hoch gestiegen, denn da hätte er
wenigstens Aussicht gehabt, ins Licht zu kommen, aber er wußte, daß er
sich an der finsteren Tür im dunkeln, feuchten Erdgeschoß die Klingel
suchen mußte, die ihn anmeldete. In der sich öffnenden Flurtür sah er
die Umrisse einer weiblichen Gestalt.

„Kann ich Agnes Asmus sprechen, und wie ist ihr Befinden?“ fragte
Sörensen.

„Mein Mann ist nicht zu Hause,“ lautete die barsche Antwort.

„Wenn Sie Frau Asmus sind, dann führen Sie mich wohl zu meiner
Schülerin, d. h. wenn ich sie sprechen kann. Ich bin Direktor Sörensen.“

„Ach, Herr Direktor, das hätten Sie nur gleich sagen sollen. Ja, die
Agnes ist beim Arbeiten. Ich hätte sie gern zur Schule geschickt, aber
die leidigen Kopfschmerzen, -- Agnes behauptete, sie würde nicht folgen
können...“

Sörensen sah sich im dunkeln Flur um und hing Hut und Überzieher über
einen Stuhl, den er nur entdeckte, weil er sich an ihm stieß.

Dann tappte er sich der Frau nach, die ihm voran ins Zimmer schritt.

Nein, hier konnte keine Freude wohnen. In diesem nach Norden gelegenen,
schlecht gelüfteten Raum, in den niemals die Sonne schien, an dessen
Fenstern auch die abgehärtetste Pflanze sich weigerte, ein grünes
Blättchen zu treiben. --

Dafür standen verstaubte, unechte Palmen grün angestrichen in häßlichen
Papierkübeln, und auf einem plumpen Vertikow prunkte eine Anhäufung von
häßlichen Nippes. Sofa, Teppich und zwei Sessel waren von ausgesuchtem
Ungeschmack. Häßliche Gerüche von kaltem Tabak und feuchten Tapeten
stritten um die Oberhand. Über die aus gelbem, dickem Häkelgarn
gefertigte Decke auf dem Tisch waren Zeitungen gebreitet, und hier saß
die blasse Agnes Asmus und arbeitete.

„Nebenan wird geölt, deshalb mußte ich dem Kind schon die beste Stube
anweisen,“ beeilte sich Frau Asmus zu sagen. „Agnes, pack’ die Sachen
zusammen. Achtung, daß du die Tinte nicht umwirfst. Hole deine Häkelei.
Herr Direktor Sörensen gibt uns die Ehre.“

Erne Sörensen war mit zwei Schritten neben der Leidenden. Denn krank
und elend sah das Mädchen aus, das aus tief umränderten, gramvollen
Augen ihn anschaute.

Und mit soviel Güte und Erbarmen wurde ihr Blick erwidert, daß sie in
haltloses Schluchzen ausbrach.

„Großer Gott, Agnes, was fällt dir denn ein,“ rief Frau Asmus. --
„Ja weißt du denn gar nicht, was sich schickt? Gleich nimmst du dich
zusammen!“

In diesem Augenblick schellte es an der Flurtür, und die Frau lief
hinaus, man hörte sie wortreich mit einer anderen Frauenstimme
verhandeln.

Direktor Sörensen zog Agnes die schmalen, bebenden Hände vom Gesicht.

„Ich habe eine Freude für dich, Agnes, ja, eine richtige Freude.
Du mußt es mir schon glauben. Sieh einmal!“ und er legte Sörinens
Riesenschriftstück vor sie auf den Tisch.

Ein halberstickter Jubelruf, ein scheuer Blick nach der Tür und dann
erneutes Weinen, heftiger als zuvor.

„Willst du nicht lesen, was Sörine schreibt?“ fragte Sörensen.

„Nein, ach nein, jetzt nicht,“ stieß Agnes hervor. „Aber heute nacht
will ich es tun.“

„In der Nacht sollst du schlafen, Agnes.“

Sie schüttelte trostlos den Kopf. „Ich kann gar nicht mehr schlafen.“

„Ei, das wäre ja noch besser. Ein Fünfzehnjähriges, das muß es mit
jedem Dachs aufnehmen. Versuch’s einmal.“

Sie trocknete ihre Tränen und lächelte. Aber das Lächeln hatte nichts
Kindliches und nichts Beruhigtes, es war das Lächeln eines armen,
abgehetzten Seelchens und wollte in seiner Müdigkeit nur sagen: Laß
nur, das ist nun mal nicht anders.

Frau Asmus schien draußen mit der andern Person in Streit geraten zu
sein, die hohen, scharfen Organe kreuzten sich wie Klingen.

„Es ist mir auch nicht so ums Schlafen,“ sagte Agnes etwas lebhafter,
und Sörensen fühlte, daß ein gutes Vertrauen zu ihm in ihr aufwachte.
„Es ist nur so schrecklich, daß ich in der Schule zurückkomme. Ich war
sonst immer die Erste. Von der achten Klasse an. Aber nun schaff’ ich’s
nicht mehr.“ Sie sah ihn müde an. „Es hilft auch nichts, wenn ich mich
zusammennehme, ich kann die Gedanken nicht finden in der Schule, wenn
z. B. Fräulein Nissen so rasch fragt. Früher konnt ich da gut folgen,
-- vielleicht bin ich jetzt krank...“

In Sörensen stieg heißes Erbarmen hoch.

„Ja, du bist jetzt krank, kleine Agnes, und ich werde deinen Eltern
sagen, daß sie dich einmal vier Wochen zu Hause und im Bett lassen
sollen...“

Ein jähes Erschrecken lief über das abgezehrte Gesicht. „O nein,
o Gott, nein, bitte, bitte nicht, Herr Direktor,“ flüsterte sie
angstvoll, „die Schule ist ja das Einzige -- -- ich darf ja sonst nie
mehr Sörine sehen...“ Agnes umklammerte seinen Arm. Aber dann ließ sie
die Hände sinken.

Man hörte die Flurtür schlagen, daß alle Fenster klirrten, und
Frau Asmus trat mit hochrotem Gesicht in das Zimmer. „Es war die
Stadtsekretärin Hillebrand von der ersten Etage,“ entschuldigte sie
sich, „da ist immer kein Loskommen. So eine hochmütige Person, Herr
Direktor. Und der Mann ist ebenso. Mein Mann sagt, der verlangte, daß
man eine halbe Stunde vor ihm katzbuckelte auf dem Magistrat, ehe er
sich nur rührte auf seinem Schreibbock. Nur weil er mehr Gehalt hat,
als wir Lehrer. Aber ich hab’ es der Frau vorhin ordentlich gegeben.
Wenn +ich+ reden wollte, hab’ ich ihr gesagt...“

„Ja. Danke, Frau Asmus. Meine Zeit ist sehr beschränkt.“ Sörensen war
aufgestanden. Er nahm beide Hände der Kranken. „Gott befohlen, mein
liebes Kind. Ich hoffe dich sehr bald wieder in der Schule zu sehen.
Kannst du aber morgen noch nicht kommen, dann sehe ich wieder nach dir.
Soll ich?“

„Ach ja,“ war die leise Antwort. „Aber ich werde schon kommen
können. Nur die Arbeit von Fräulein Nissen, -- --“ Agnes deutete auf
ihre Hefte, „die macht mir Schwierigkeiten, -- ich habe sie nicht
verstanden...“

„So laß sie ruhig liegen, ich werde mit Fräulein Nissen sprechen.“

„Die Arbeit wird gemacht,“ fiel Frau Asmus hart ein. „Das fehlte noch,
daß ein Lehrerkind, +unsere+ Tochter, von Fräulein Nissen einen
Faulheitstadel bekäme. Mein Mann und ich werden Agnes helfen.“

Ein großer, ernster Blick traf die Sprechende. Es wurde ihr unbehaglich
unter diesen Augen.

„Die Arbeit ist dir erlassen,“ sagte Direktor Sörensen noch einmal
gütig, und dann ging er.

Frau Asmus schlug drei Kreuze hinter ihm her.

„Natürlich gehst du nun morgen zur Schule. Das fehlte noch, daß ich mir
vom Lyzealdirektor jeden Tag in meiner Wohnung herumschnüffeln ließe.
Und die Arbeit für Fräulein Nissen machst du, das ist mir und Vater
Ehrensache. Da hat der Direktor nicht dreinzureden, der ist nicht dein
Ordinarius.“

„Ich möchte doch lieber zu Bett gehen,“ bat Agnes mit blassen Lippen.

„Ja, das ist Schulfieber, das kenn ich,“ lachte spöttisch Frau Asmus.
„Beileibe nicht von mir selbst. Ich bin in der Mittelschule immer
die Erste gewesen, auch im Seminar in Augustenburg. Aber dein Vater
hatte einen Bruder, der war auch so’n Faulpelz. Von dem aus muß es auf
dich übergekommen sein.“ Sie hätte wohl noch eine Weile fortgeredet,
aber sie sah auf einmal, daß Agnes gar nicht mehr zuhörte, sondern
ohnmächtig in der Ecke des häßlichen Sofas zusammengesunken war. Aber
noch während Frau Asmus laut jammernd nach der Küche lief, kam das
erschöpfte Kind wieder zu sich und besann sich langsam. Und sah, daß
der Brief, das Kleinod, Sörine Heidekamps Gruß auf die Erde gefallen
war. Sie war zu schwach, ihn aufzuheben. Das Zimmer kreiste mit ihr,
als sie sich bücken wollte, sie mußte es aufgeben.

Frau Asmus kam mit Wasser herein: „Na, da schaust du einen ja wieder
an, da -- trink. Ich hab’ mich ja zu Tode erschrocken. Das kommt von
dem langen Besuch. Daß so was ein Krankes aufregt, daran denkt freilich
der weise Herr Direktor nicht...“ Jetzt entdeckte sie den großen Brief
auf der Erde, das rote Wappensiegel und all die fröhlichen Wohlfahrts-
und Werbemarken leuchteten obenauf.

Frau Asmus nahm ihn und betrachtete ihn gründlich von allen Seiten. Der
rote Zorn stieg in ihr Gesicht und wollte losfahren, aber als sie das
Kind ansah, erschrak sie. Das hatte sich aufgerichtet, und sah so weiß
aus wie der Kalk an der Wand. Und nahm ihr den Brief aus der Hand und
barg ihn zitternd in den Falten ihrer Bluse. Und Agnes sagte tonlos:
„Den Brief nimmst du mir nicht, Mutter, sonst tue ich mir ganz gewiß
ein Leid an. Und dann sehen es der Doktor und andere Leute, wie Ihr
mich geschlagen habt, und wie mein Körper davon aussieht.“

Und immer hielt sie den Brief mit beiden Händen auf ihrem jungen,
wildschlagenden Herzen fest, und die anklagenden Augen hafteten auf der
Stiefmutter, der Zorn und Bestürzung die Stimme verschlugen.

Mit schweren Schritten tastete sich Agnes in ihre enge Kammer. Dort
entkleidete sie sich mit zitternden Gliedern und schmerzendem Kopf.
Als sie den Brief hervorzog, küßte sie ihn und legte ihn in ihr Bett
und deckte ihn zu, bis sie sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte.
Dann legte sie sich hin, bettete ihre Wange auf das Schriftstück,
und die Starrheit ihrer Züge löste sich, und sie lächelte rührend
scheu und schattenhaft froh, weil sie zum ersten Male mutig gewesen
war und sich etwas erkämpft hatte. Sie löste das Siegel vom Briefe
und die Schmuckmarken und las das Schreiben und freute sich der
Riesenbuchstaben ihrer Sörine, die man auch in dem Dunkel der
Galgenstraße erkennen konnte.

    Heidekamp, 1. April.

Meine geliebte Agnes! Weißt Du noch, wie wir immer in der Religion am
liebsten die Engel hatten? Und bei den Märchen die Feen? Die dann so
plötzlich dastanden und sagten: Wünsch dir was? So ein Engel kommt
heute zu Dir, meine süße Agnes, und bringt Dir diesen Brief. Ich schäme
mich halbtot, daß ich „Ihn“ noch vor fünf Wochen gehaßt habe. Du hast
mich immer beschwichtigt, das weiß ich wohl, aber Du bist eben von
Natur ein Sanftes und ich ein Alarmsignal. So nennt mich Großvaterli.
Außerdem hatten Kahl und Dein Vater uns den Direx gründlich vorweg
verekelt. Aber selbst der Haß gegen diese beiden ist ganz klein
geworden, weil ich stundenlang darüber nachgedacht hatte. Das war auch
ein Wunsch vom Herrn Direktor. Man kann und kann einfach nicht erbost
und widerhaarig sein, wenn er einen so durch und durch kuckt mit seinen
scharfen Augen. Ich möchte so gern wissen, ob es Dir auch so geht,
meine süße Agnes. Daß Du ihm auch alles sagen möchtest, was so in Dir
vorgeht und ihn immer um Rat fragen. Ich will ihm auch bei nächster
Gelegenheit anvertrauen, daß ich später einmal Vetter Gerd heiraten
soll. Es ist eine Familienbestimmung. Dazu kann und soll man immer nur
Ja und Amen sagen, und das habe ich auch getan, weil es Großvaterli
so froh machte. Aber ich kann nicht sagen, daß es mir sehr große
Freude macht wenn ich so denke, ich soll später den ganzen Tag mit
Vetter Gerd zusammen sein. Aber wiederum wenn ich denke, Herr Sörensen
könnte versetzt werden von Birkholz nach einer anderen Stadt nicht
wahr da kann man sich totweinen?! Bitte schreibe mir, ob du das genau
so fühlst. Denn du bist meine einzige Herzensfreundin, und es wäre zu
schön, wenn wir immer dieselben Gedanken hätten bis wir sterben oder
heiraten. Bitte verbrenne diesen Brief sofort. Aber wenn Du ihn nicht
verbrennst, dann setze bitte alle Kommas hinein, die ich vergessen
habe. Lebe wohl meine geliebte Agnes. Denke immer daß der liebe Gott
bei Dir ist. Und ich auch.

    Deine treue Sörine Heidekamp.

Agnes Asmus küßte den Namen viele Male und holte sich einen Bleistift
und setzte gewissenhaft die vielen vergessenen Schriftzeichen an die
rechte Stelle.

Dann legte sie das Kleinod unter das grobe, weiße Linnen und bettete
den Brief auf ihr warmes, junges Herz.

Ein glückliches Lächeln lag mit einemmal auf ihrem müden Gesicht und
mit diesem Lächeln schlief sie ein. --

       *       *       *       *       *

Frau Apotheker Dahlen hatte Geburtstag.

Und wenn sie auch annehmen mußte, daß sie diese Tatsache mit
fünfundzwanzigtausend Bewohnern von Birkholz teilte, so hielt sie aus
irgendeinem Grunde, den sie nicht verriet, doch +ihren+ Geburtstag
für eine so bemerkenswerte Tatsache, daß sie „seit +Jahrenden+“
(wie sie selbst betonte) an diesem Tage einen Riesenkaffee abhielt.
Eine wahre Völkerschlacht, bei der denn auch viele Mitbürger erledigt
wurden, und abends mancher gute Name zur Unkenntlichkeit verstückhackt
auf dem Felde der Unehre liegen blieb.

Von frühem Morgen an war alles im Apothekerhaus am Markt in Aufregung
und fliegender Hitze, und man tat gut, an diesem Tage nicht gerade
verantwortungsvolle Rezepte anfertigen zu lassen.

Doch kam die Neugier durchaus auf ihre Kosten, denn der Provisor
erzählte beim Einwickeln sehr ausführlich, wer eingeladen war, wer
abgesagt hätte und was es „gab“.

Konditor Bruhns rechnete mit diesem Tage, der seine Schatten schon
lange vorher warf und ebenso seine Nachwehen hatte.

Und wer etwa am Abend so vermessen gewesen wäre, noch ein Stück Torte
oder Schlagsahne zu verlangen, den hätten Herr und Frau Bruhns samt
den beiden Ladenfräulein von oben bis unten angeschaut, da ja nur
ein Fremder ein so törichtes Verlangen stellen konnte. Und man hätte
nicht gesagt, daß man nichts mehr im Laden habe, sondern ihm nur die
inhaltsschweren Worte zugeschmettert: „+5. April+!“

Man konnte am Nachmittage des 5. April nicht den Vergleich mit einem
Bienenschwarm heranziehen, nein, es waren Hunderte von Bienenschwärmen,
die da summten und surrten, Hunderte von Webstühlen, die da ratterten,
sausten und zausterten. Kuchenberge waren aufgetürmt und verschwanden
in bewundernswerter Raschheit, und die schneeigen Schlagsahnenhügel
wurden bis auf ein kümmerliches, flüssiges Restchen von den rastlos
grabenden Silberlöffeln abgetragen.

Wie ebenso viele Vollmonde leuchteten die heißen, roten Gesichter über
den dampfenden Tassen.

Nur nicht so freundlich.

Denn es gab natürlich neben gleichmäßigen Ansichten über das Wetter und
den Stand der Aktien und der Frühkartoffeln auch viel „Widersprüche“,
„Unglaublichkeiten“ und „Verstiegenheiten“, über die man sich gleich an
Ort und Stelle kräftig auseinandersetzte.

Die Stricknadeln flogen, die Löffel klirrten, und manche Nadel wurde
mit verbissener Wut in festes Leinen gestoßen, als sei es das Herz der
lieben Nachbarin, die eben den gleichen Stich versetzt hatte. --

Aber es waren alles noch Vorstöße und mehr oder minder heftige
Plänkeleien. Man wartete noch auf das Kommando, das die eigentliche
Redeschlacht entfesseln sollte.

Und endlich fiel es. In der Nähe des Sofas, auf dem die Frau
Bürgermeister und die Frau Postdirektor Platz genommen hatten. Die
erstere wie versteint in Würde und Verdrossenheit, die andere mit einer
heiteren Gelassenheit, die sich in Unvermeidliches schickt.

Wer hatte das Wort gerufen? Genug, es war da und man stürzte sich
darauf und zerriß es und warf sich die ergiebigen Stücke einander zu.

+Das Lyzeum und sein neuer Direktor.+

„Mir hat er +gar+ keinen Eindruck gemacht,“ rief Frau Apotheker
Dahlen und häkelte wütend. Sie besaß nur zwei strohköpfige Knaben und
hätte es deshalb nicht nötig gehabt, neue Gardinen für den Besuch des
Direktors aufstecken zu lassen, aber sie hatte eine sehr häßliche
Kusine zu Besuch, mit welcher der abscheuliche Direktor versäumt hatte,
auch nur ein Wort zu sprechen. --

„Warum so’n Mann bloß nicht heiratet?!“

Diese Bemerkung kam wieder aus einer anderen Ecke und wurde gründlich
verarbeitet.

Bis die Frau Bürgermeister mit scharfer Stimme in das Chaos hineinrief:
„Da muß man doch erst mal fragen, ob er es +kann+.“

„Ohhh!“

„Aber!“

„Ach, du großer Gott!“

„Wie meinen Sie, Frau Bürgermeister?“

„Es gehen da seltsame Gerüchte um, -- ich bekümmere mich ja so wenig um
das Treiben und Reden der anderen...“

„Hm, hm.“

Die junge niedliche Frau Amtsrichter war wirklich erkältet und hatte
nur gehustet, aber sie erntete einen giftigen Blick. --

„O, Frau Bürgermeister, Sie erzählen ja so interessant, aber bitte
spannen Sie uns nicht auf die Folter,“ schmeichelte Frau Dingelmann,
die immer Gesprächsstoff für ihre große Ladenkundschaft brauchte.

„Man sagt...“ die Bürgermeisterin legte die Arbeit in den Schoß und
beugte sich etwas vor, was ihr sämtliche Damen sofort nachmachten,...
„er sei nicht mehr frei.“

Ahhh!

Die Frau Bürgermeisterin konnte zufrieden sein, es hatte eingeschlagen.
Man sah viele enttäuschte Gesichter, wenn auch die Ursache der
Enttäuschung eine verschiedene war.

Nicht mehr frei. Nun so brauchte man auch kein Blatt vor den Mund zu
nehmen, sondern konnte einmal ergiebig über den Herrn Erne Sörensen
herfallen.

„Aus +ganz+ einfachen Verhältnissen, man weiß nicht...“

„Wie? Unehelicher Sohn?“

„Der Vater Schneider oder Schuster?“

„Das wäre ja die Höhe.“

„Und der wagt es...“

„Heimlich verheiratet?“

„Zwei Kinder.“

„Aber da muß doch eingeschritten werden!“

„Meine Damen, nichts Gewisses, strengste Verschwiegenheit.“

„Aber ganz sicher.“

„Wer von uns sollte es weiter sagen?“

„Sie wissen ja, ich bin mit Fräulein Nissen gut bekannt,“ nahm Frau
~Dr.~ Niebert das Wort. „Ich bin ja nun +ganz+ unparteiisch,
denn wenn sich auch mein Mann schwer geärgert hat, daß Direktor
Sörensen nur dem Kreisphysikus seinen Besuch machte und uns nicht,
gerade als ob wir nicht auch zur Gesellschaft gehörten, -- so ist uns
ja im Grunde der Herr ~Dr.~ Sörensen höchst gleichgültig. Aber was
Fräulein Nissen so erzählt aus der Schule, ist wirklich +sehr+
interessant.“

„Darf sie denn das?“

„Was?“

„Aus der Schule erzählen.“

Die naive Fragestellerin, Frau Diakonus Heinrich, wurde durch
wortlose, aber vielsagende Blicke in ihr nichtsdurchbohrendes Gefühl
zurückgeschleudert.

„Neuerungen führt der Sörensen ein, als sei unser alter, verehrter
Direktor Clausen ein Trottel gewesen. Das nennt er: ‚mit der Zeit
gehen‘. Dann wieder spielt er sich auf den Pietätvollen heraus und
läßt Sachen beim Alten, die dringend der Neuerung bedürften. Über den
Grobian, den Schuldiener Harks, über den doch nur +eine+ Klage
geht, hält er die Hand, und das geht immer +Herr+ Harks hin und
+Herr+ Harks her, sagt Fräulein Nissen, -- na und man weiß doch...
hm...“

Verständnisvolles Flüstern und Nicken.

„O ja... die Lisbeth Harks war ein außerordentlich hübsches Mädchen,
aber Schönheit wird ja oft zum Fallstrick der Tugend,“ sagte irgend
jemand salbungsvoll.

„+Brav+ war sie +auch+,“ fiel Fräulein Tingleff dröhnend ein,
„sie hat drei Jahre bei mir gedient.“

Die Trompetenstimme schaffte für einige Augenblicke Ruhe, und der
bekannte Engel flog durchs Zimmer. Es nützte eben so gar nichts, dem
energischen, reichen Fräulein Tingleff zu widersprechen, sie pflegte
ihre Ansicht bis übers Grab hinaus zu verfechten.

Aber die Frau Bürgermeister mußte doch noch einen Trumpf ausspielen:
„Ja, +so+ brav war die Lisbeth Harks, daß sie ins Wasser ging.“

Fräulein Tingleff bekam einen roten Kopf und die kleinen, scharfen
Augen sprühten Blitze. Deshalb legte sich die Wirtin ins Mittel und
rief: „Sie wollten doch vom Direktor erzählen...“

„Na ja,“ fing nun die Doktorin wieder an, „Fräulein Nissen sagt, das
Lehrerkollegium sei direkt in zwei Hälften geteilt, ~pro~ und ~contra~.
Fräulein ~Dr.~ Stavenhagen und Lehrer Hansohm schwören ja auf die
neue Leitung, und es habe sich infolgedessen eine einfach lächerliche
Freundschaft zwischen Herrn Hansohm und Fräulein Doktor gebildet, --
guter Gott, ich will nichts sagen, -- sie könnte ja wohl beinahe seine
Mutter sein, aber...“

„Sie ist jeden Tag in seiner Wohnung...“

„Herr Hansohm hat eine kranke Schwester,“ sagte die mitleidige Stimme
der Frau Postdirektor Hagedorn.

„Schwester hin, Schwester her,“ fiel Frau Dingelmann ein, „meine selige
Mutter pflegte immer in solchen Fällen zu sagen. ‚Beten werden sie
nicht miteinander‘.“

„Sehr richtig.“

„Direktor Sörensen ist auch ein paarmal bei diesen Sitzungen dabei
gewesen,“ ließ sich die Frau Apotheker wieder vernehmen, „irgendwo muß
er ja auch seine Abende zubringen, da er das Gegebene, den Stammtisch
in der grünen Birke, zu verschmähen scheint.“

Die Bürgermeisterin war eben im Begriff, sich den Pudding zu Gemüte
zu führen, aber da es ein unpraktischer Beberlottchen- oder nervöser
Pudding war, der immer auf dem Teller hin und her glitschte, lief
sie Gefahr, ihr Grauseidenes zu besegnen. So setzte sie den Teller
wieder auf den Tisch und sprach erst mal in sittlicher Entrüstung die
vernichtenden Worte:

„Ein unbeweibter Mädchenschuldirektor ist etwas Unmoralisches.“

„Du lieber Gott,“ rief Frau Hagedorn ganz ängstlich, „ist das nicht ein
furchtbar hartes Urteil? Ich kann das gar nicht verstehen. Und ich habe
nur Gutes, nur das +Beste+ von Herrn ~Dr.~ Sörensen gehört.
Die Kinder schwärmen alle für ihn.“

„Schwärmen! Ja, das ist so das Rechte! Mit Schwärmen fängt es an, aber
mit was hört es auf?“

Die junge Frau Amtsrichter erhob sich kriegerisch: „Gewöhnlich hört
es mit der ersten Liebe auf, die man einem andern schenkt. Im übrigen
denkt der gesunde Backfisch gar nicht daran, ob der Gegenstand seiner
Verehrung ledig oder verheiratet ist. Wir schwärmten seinerzeit unsern
Geographielehrer an, und die Liebe erstreckte sich gleichmäßig über
ihn, seine Frau und seine sieben Kinder.“

Es lachte niemand. Denn sowohl Frau Postdirektor als Frau Amtsrichter
waren „Ausländer“, Leute, die heute oder morgen wieder von ihrer
Behörde versetzt werden konnten. Und man lachte in Birkholz nur über
Witze, die von Eingeborenen verbrochen wurden.

Als die beiden freundlichen Damen, die das schon etwas gebrechliche
Fräulein Tingleff nach Hause geleitet hatten, von der Kaffeeschlacht
ihren Behausungen zuwanderten, begegnete ihnen Direktor Sörensen.

Er grüßte ehrerbietig. Ohne zu ahnen, daß die beiden frischen, jungen
Frauen als einzige in einem großen Kreise für ihn eingetreten waren.
Und als er dann noch in die Apotheke trat, um für seine gute Frau Dietz
etwas Frostsalbe zu holen, da ahnte er gleichfalls nicht, daß gerade
über seinem Kopfe in der guten Stube des Apothekers sein ehrlicher Name
auf dem Boden lag und eben von der Magd mit vielen Kuchenkrümeln, sowie
verlorenen Haar- und Stecknadeln hinweggefegt wurde. --

       *       *       *       *       *

So einen schönen, ruhigen Vormittag hatte Direktor Sörensen lange nicht
erlebt... Weder aufgeregte Mütter, noch zornige Väter störten ihn, das
Kollegium befand sich in einem geradezu idealen Zustande der Ruhe,
-- Einigkeit zu sagen, wäre wohl zuviel gewesen -- und so konnte der
eifrige Arbeiter lange Aufgestautes erledigen, ja sogar manchmal seinen
Blick dem alten Garten schenken, darinnen die heimgekehrten Stare
einen ungeheuren Lärm vollführten. Überall machte sich der Frühling
bemerkbar, vom Storchnest an, das auf dem alten Rathausgiebel thronte,
bis zu den drei Veilchen, die ihm heute Frau Dietz aus dem Garten
gepflückt und neben seine Tasse gelegt hatte. Jetzt blühten sie vor ihm
in einem winzigen Glase und dufteten wie lauter Lenzverheißung: „Nun
muß sich alles, alles wenden!“

Sörensen zwang Blicke und Gedanken wieder zu seiner Arbeit. Da war
Evchen Siemensen aus der zweiten Klasse, ein hochbegabter Fludribus,
und da war Lena Weiß, die unfähig war, selbst ein minderwertiges
Zahnpulver zu erfinden, aber fleißig und gewissenhaft, beide gleich
unwert nach ihren Leistungen in die erste Klasse versetzt zu werden. --

Und doch hätte er beide sympathische Kinder so gern mit hinübergetan.
Evchen konnte sich mit Fräulein Nissen nicht vertragen, -- wenn er sie
Ostern übernahm und mit einer kräftigen Standrede nachhalf, würde das
kluge Ding vielleicht die Leuchte der ersten Klasse. Und Lena? Ihr
Fleiß verdiente eigentlich nicht, daß man sie sitzen ließ.

Er überlegte.

„Herein!“

Denn er meinte, es könnte geklopft haben, wenn es auch nur ein
zaghafter Finger getan haben konnte.

Jemand schob sich herein, blieb an der Tür stehen und rührte sich nicht.

Sörensen schrieb seinen Satz zu Ende und trug noch ein paar Zahlen in
sein Buch: „Nur immer näher einstweilen. Wer ist’s? Eine Schülerin? Was
willst du?“

Keine Antwort.

Er löschte die Seite des Buches ab, nahm die Schreibbrille von der Nase
und mußte noch umständlich die andere scharfe, goldene Brille putzen,
denn ohne sie war er ein „armer Stackel“, wie er selbst immer lachend
versicherte.

„Nun? Bekomme ich keine Antwort?“

Er nahm die schmale Gestalt an der Tür näher aufs Korn und war dann mit
drei Schritten bei ihr: „Sörine von Heidekamp -- -- bist du krank?“

Keine Antwort.

Zwei verstörte Augen sahen an ihm vorbei, und eine eiskalte Hand lag
willenlos in der seinen.

„So sprich doch, Kind. Hat man dir etwas getan?“

Keine Antwort.

„Bist du aus dem Unterricht gelaufen?“

Sie nickte unmerklich.

„Und was willst du nun hier?“

Sörine sah ihn nicht an. Nur ihre Lippen bewegten sich. Er beugte sich
zu ihr herunter. Da hörte er sie ganz leise sprechen: „Nur hier bleiben
möchte ich, -- bis -- bis -- unser Wagen kommt...“

„Kind, ich muß sagen, ich versteh dich nicht. Es geht doch eigentlich
nicht, daß du so aus der Stunde läufst...“ Er sah nach dem Plan.
„Fräulein Nissen. Ich will sie mal fragen...“

„+Bitte, bitte nicht.+“ Sörensen hatte noch nie eine so gequälte
Stimme gehört. Er besann sich einen Augenblick, dann nahm er den Hörer
von seinem Tischapparat, und ließ sich mit Heidekamp verbinden. Als das
Gespräch beendet war, stand Sörine immer noch auf derselben Stelle.

„Das geht doch nicht, Sörine, Kind, -- ich sorge mich um dich. Bist du
nicht auch ein kleiner Dickkopf? Was fängt man nur mit dir an?“

Aber er sah es ja, es war da vorläufig nichts zu tun. Vielleicht würde
Fräulein Nissen von selbst kommen und ihm Bescheid sagen...

„Willst du dich nicht setzen?“ fragte er noch, denn sie sah aus, als
ob sie sich kaum auf den Füßen halten könne. Und da schlich sie sich
ganz sacht und gar nicht, wie Sörine Heidekamp sonst auftrat, an das
schwarze Ledersofa und versank schier in der einen Ecke.

Direktor Sörensen aber schrieb weiter und sah sich nicht ein einziges
Mal nach dem Trotzkopf um. War es wirklich ein Trotzkopf, dann sollte
er morgen erfahren, daß der neue Direktor durchaus nicht mit sich
spaßen lasse. -- Heute aber war das Mädel krank und verstört ... Und
man mußte diese jungen, unberechenbaren Geschöpfe anders anfassen, als
einen gleichaltrigen Knaben.

Nun, der alte Heidekamp würde trotz der Rücksichtnahme wettern...

Der Dreiklang eines Kraftwagenhorns riß ihn aus seinen Betrachtungen
und wahrhaftig -- da hatte sich auch schon seine Tür geöffnet und
wieder geschlossen, man hörte ein paar leichte Schritte draußen laufen,
rennen, fliegen...

Und das Mädel stieg drunten ein, ohne Mantel, ohne Hut, und das Auto
ratterte davon, -- er konnte meinen, es sei alles ein Spuk gewesen.

Er lachte kurz auf. Hab’ ich das nun klug oder dumm gemacht?

Dann ging er mit ausholenden, wuchtigen Schritten nach dem Zimmer der
zweiten Klasse, denn noch während er am Fenster gestanden, hatte schon
die Schulglocke hallend den Schluß der Stunde angezeigt.

Im Klassenzimmer stand Fräulein Nissen aufgeregt und flatternd unter
den Backfischchen. Einige schwatzten munter auf die Lehrerin ein,
andere machten sich mit ihrer Garderobe zu schaffen, um rascher
heimzukommen. Alle aber blickten scheu auf den Gestrengen, und das war
er gar nicht von dieser Rotte Korah gewohnt.

Fräulein Nissen eilte ihm mit erhobenen Händen entgegen: „Herr
Direktor, ich kann Sörine Heidekamp nicht finden, weiß Gott, wo sie
stecken mag. Das kann auch nur +dieses+ Mädchen, -- aus der Stunde
einfach fortlaufen -- -- Herr Direktor, ich beantrage Konferenz, ich,
ich -- -- --“

Sörensen stand wie ein Bronzefels in der Brandung. Über die hagere,
aufgeregte Lehrerin hinweg richtete er forschend seinen Blick auf all
die Mädchengesichter, als suche er dort eine Lösung für seine Fragen.
Und da begegnete er einem Paar traurigen Augen, die standen in einem
abgezehrten, gelblich blassen Gesicht und sahen ihn so flehend an, als
könne er ganz allein helfen. Er sagte ruhig. „Jawohl, Fräulein Nissen,
heute nachmittag auf Wiedersehen in der anberaumten Klassenkonferenz,
-- jetzt vor den Kindern, -- Sie begreifen... Agnes Asmus komm doch
einmal mit mir herüber.“

Nein, Fräulein Nissen begriff gar nichts mehr. Sie war so völlig fertig
mit ihren Nerven, daß sie Schulschluß und Ferien bereits mit Tränen,
nervösem Lachen und stammelnden Gebeten vom Himmel herunterflehte.
Vorläufig suchte sie mit Riesenschritten Herrn Professor Kahl zu
erwischen, um in sein verständnisvolles Herz ihre Nöte zu ergießen.

„So, Agnes Asmus. Du siehst gar nicht gut aus, -- ich ließe dich lieber
rasch nach Hause gehen, aber, -- habe ich recht, wolltest du mich
sprechen?“

„Ja, Herr Direktor. Ich wollte nur sagen, meine Sörine ist ganz gewiß
nach Hause gelaufen...“

„Nicht ganz, aber sie ist mit meiner Erlaubnis nach Hause gefahren. --“

„Ach? Das ist gut!“ Ein tiefer Atemzug. „Sie hat es schon einmal so
gemacht. Wenn ihr etwas sehr Häßliches begegnet, dann bekommt sie
schreckliches Heimweh nach der Heide, dann sieht und hört sie nicht,
und läuft und läuft...“ Agnes’ Gesicht bekam einen Schimmer von Farbe,
so lebhaft erzählte sie.

„Und heute ist ihr etwas sehr Häßliches begegnet?“

Ein scheues „Ja.“

„Willst du es mir erzählen?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hast du Vertrauen zu mir?“

„Ja, ja!“

„Nun also. Dann frisch drauflos.“

„Ich -- -- ich glaube, ich kann es doch nicht. Ach, nur nicht böse
sein, Herr Direktor -- -- es hat gar nichts mit dem Vertrauen zu tun.“
Agnes Asmus bebte wie ein Blättlein im Winde.

„Nein, nein, ich bestehe nicht darauf. Sehe ich denn aus wie ein
Kinderschreck, daß du so zitterst? Ist irgend jemand in der Schule, dem
du es erzählen könntest? Dein Vater vielleicht?“

„Ach nein...“ Es klang sehr erschrocken. „Aber vielleicht Fräulein
Doktor,“ setzte sie leise hinzu.

„Na, dann gehe mal zu Fräulein Doktor, die hat zufällig jetzt noch im
Lehrerzimmer zu tun, wird aber gleich fertig sein. Und wenn du ihr
erzählt hast, dann bitte sie auf kurze Zeit hierher. Ich warte. Deinen
Eltern lasse ich durch Herrn Harks sagen, daß du etwas später kommst.“

„Danke. -- Draußen hängen nun noch die Sachen von Sörine...“

„Die nimmst du mit dir nach Hause. Da hast du gleich etwas von der
Freundin, und wenn die Sachen abgeholt werden, kannst du einen
Trostbrief an die Manteltasche stecken.“

„O vielen, vielen Dank!“ Ein froher Blick aus blassem Gesicht.

Der Direktor war allein. „Oha!“ Er reckte sich.

Es vergingen kaum zehn Minuten.

Fräulein ~Dr.~ Stavenhagen kam erregt zu ihm.

Sie sah ihm ehrlich in die guten, ernsten Augen. „Eine dumme
Geschichte, Herr Direktor. Ist eigentlich kein Thema für Sie und mich.
Will’s kurz machen. Die Kollegin Nissen ist vom Aufklärungsteufel
besessen. Sie, -- wie sag’ ich -- sie ist ein Neutrum, sie hat nichts
Mütterliches, sie sieht die Dinge ohne jede Verklärung. Meint, -- daß
ein Mädel von der zweiten Klasse an mit allem Bescheid weiß. Und nun
kommt ihr so was Feines, Zartes, so ein Seelchen unter die Finger --
wie die Sörine -- Herrgott im Himmel, -- zerstört hat sie -- zerstört,
-- wo man aufbauen soll...... Guten Morgen, Herr Direktor......“

Fort war die groteske Gestalt mit dem häßlichen Gesicht und dem warmen
Herzen.

Und Direktor Sörensen ging mit geballten Händen im Zimmer auf und ab,
und sein wackres Herz war voll Zorn.

       *       *       *       *       *

Im Lehrerzimmer wurde hart gekämpft. Das scharfe Organ von Fräulein
Nissen kletterte die ganze Tonleiter in die Höhe und wieder herunter.
Oberlehrer Kahl sekundierte ihr heftig. Professor Traute warf
salbungsvolle Worte ein und zitierte die Bibel, denn er war eigentlich
Theologe, und predigte noch jetzt Jahr für Jahr in der Thomaskirche,
wenn Diakonus Heinrich seinen Heuschnupfen hatte. Professor Rasmussen
strich sich seinen Bart, wie immer, wenn er verlegen war. Er konnte
manche Themata einfach nicht leiden, und ganz besonders waren ihm die
verhaßt, die irgendwie der Frau zu nahe traten. Da konnte er sich ganz
in sich selbst zurückziehen, um schließlich, wenn man ihn aus seiner
Reserve zwang, messerscharf zu werden. Die kleine Hilfslehrerin, selig,
auch einmal ein selbständiges Urteil abgeben zu dürfen, rief unentwegt
zwischen die Streitenden: „O, ich bin sehr dafür! O, ich bin sehr
dafür!“ Sie war insgeheim verliebt in Klaus Hansohm, und hätte für ihr
Leben gern gewußt, wie er zu der zarten Sache stand, aber sie konnte
sein finsteres Gesicht nicht durchdringen, und ihr Instinkt war nicht
fein genug, zu fühlen, daß der junge Lehrer sich innerlich schüttelte
vor Unbehagen. Hätte sie außerdem geahnt, daß er nach jedem ihrer
Zurufe bei sich selbst feststellte, daß sie die größte Gans sei, die
ihm je vorgekommen, sie würde ihn nicht so strahlend angesehen haben.

Fräulein ~Dr.~ Stavenhagen hatte sich heiser gesprochen und müde
gekämpft. Sie ließ jetzt die Flut gegenteiliger Behauptungen über sich
ergehen.

„Ja, nicht wahr, unsere Logik ist auch nicht von Pappe,“ rief Kahl
gereizt, „nun äußern Sie sich, bitte.“

Fräulein Doktor sah ihn ernst an und zuckte dann die Achseln. „Wenn
ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen,“ sagte sie ruhig.

„Na ja, mit solchen Zitaten kann man den Stab über eine ganze
ehrenhafte Versammlung brechen,“ meinte Traute. „Da kommen wir aber
nicht weiter. Hier muß doch grundsätzliche Stellung genommen werden.
Und vor allen Dingen dürfen wir unsere verehrte Kollega Nissen nicht
preisgeben.“

„Doch, das tue ich,“ sagte Fräulein Doktor ernst und fest. „Ich finde
das Vorgehen der Kollegin Nissen einfach unerhört.“

Die Angegriffene lachte schrill auf und zerpflückte ihr hübsches,
spitzenbesetztes Taschentuch in seine Bestandteile. --

„Ahhh, Zeus macht Schule,“ flüsterte Kahl hämisch, „mich dünkt,
wir haben dieses Urteil in der gleichen Form schon einmal gestern
nachmittag gehört. Aber gottlob sind wir andern ja auch nicht gerade
verblödet und vermögen uns selbst eine Meinung zu bilden.“

„Das können Sie ja auch laut sagen,“ entgegnete ihm Fräulein Doktor.

„Will ich auch. -- Kollege Asmus, Sie sitzen immer so stumm da, wie
denken Sie denn über den Fall?“

„Ich bin der Meinung, jede einzelne Mutter kann Fräulein Nissen dankbar
sein, daß sie den Eltern diese heikle, undankbare Sache abgenommen
hat.“

„Heikle, undankbare Sache?“ rief Fräulein Doktor. „So nennt ihr
verheirateten Leute, ihr Väter heranwachsender Töchter das heiligste,
zarteste Gespräch, das es zwischen Mutter und Tochter geben kann?
Da kann ich angehende alte Jungfer freilich einpacken mit meinem
Idealismus.“

Kahl zeigte albern lachend nach dem Storchnest auf dem Rathausgiebel:
„Wenn Ihr Idealismus noch da oben drin steckt, dann können Sie freilich
einpacken.“

„Nein, den Gefallen tue ich Ihnen aber nicht. Gerade der Fall Sörine
Heidekamp bestärkt mich darin. Also so was gibt es doch noch auf der
Welt, und nicht nur in der einen Sörineausgabe, sondern in einer ganzen
Reihe empörter, aufgescheuchter und verstörter, junger Zweitklässler.
Aber was mich so stutzig macht, das ist, daß ich meinen Idealismus
gegen Mütter und Väter ins Feld führen muß... Darüber komme ich
vorläufig noch nicht hinweg. Bisher habe ich euch Verheiratete immer
beneidet, -- ich tu’s nicht mehr.“

„Werfen Sie nicht alle in einen Topf, Kollega.“ Das rief eine völlig
fremde Stimme. Man hatte die offene Tür nicht bemerkt, in der zwei
Herren standen. Der Direktor führte seinen Gast herein. Es war ein
lebendiger, frischer, älterer Herr mit hoher Stirn und starken Brauen
über den scharfen grauen Augen. Er nickte nur kurz über die Versammlung
hin, drückte aber Fräulein Doktor lebhaft die Hand und fuhr in seiner
Rede fort, als habe er von Anfang an der Sitzung teilgenommen. „Mir
sind zwei junge Töchter früh gestorben,“ sagte er. „Wären sie am Leben,
meine sanfte Frau wäre zur streitbaren Löwin geworden, um ihre Rechte
gegen eine Welt von -- Nissens zu verteidigen.“

Auf dem Gesicht der Lehrerin zeigten sich rote Flecken der Aufregung
und des Ärgers: „Herr Provinzialschulrat, ich habe in gutem Glauben
gehandelt...“

„Fräulein Nissen, hier kommt es nicht auf Ihren guten Glauben an. Wenn
Sie einem Schulkind ein Federmesser fortnehmen im guten Glauben, es sei
das Ihre, dann können Sie es ihm zurückgeben, wenn Sie Ihren Irrtum
bemerken. Das, was Sie der kleinen Heidekamp fortgenommen haben, können
Sie ihr nie wieder zurückgeben. Wird sich Ihr Gewissen damit abfinden?“

„Jawohl, Herr Provinzialschulrat. Denn ich habe ihr Besseres dafür
gegeben.“

„Alle Achtung vor Ihrem großartigen Selbstbewußtsein. Ich wollte, es
hätte einer schöneren Sache gedient. Und was nennen Sie ‚Besseres‘? Ist
Unschuld und Kindesgläubigkeit nicht das Beste?“

„Erkenntnis ist besser als Ammenmärchen.“

„So ungefähr sagte auch die Schlange im Paradiese.“

„Herr Provinzialschulrat!!!“

„Ammenmärchen kenne ich nicht, Fräulein Nissen, ich kenne nur
Muttermärchen. Heilig sind diese. Haben Sie mich verstanden?“
~Dr.~ Hofer ging mit raschen Schritten mehrmals durchs Zimmer,
dann blieb er wieder vor ihr stehen. „Haben Sie die verstorbene Frau
von Heidekamp gekannt?“

„Nein.“

„Nun, Sie werden mir altem Griesgram nicht viel Kenntnis in der
Engelkunde zutrauen, -- aber -- so -- geradeso wie Frau Lore von
Heidekamp müssen Engel meiner Meinung nach beschaffen sein... Ich habe
sie gekannt, die gütige, feine, reine Frau, die ihr Kreuz trug wie ein
Held... Fräulein Nissen! Geschämt habe ich mich heute. +Ihrer+ Tat
hab’ ich mich geschämt vor den Manen jener Heimgegangenen...“

„Es war ja doch nicht die Heidekamp allein in der Klasse,“ warf jetzt
Oberlehrer Kahl ein, weniger um Fräulein Nissen zu helfen, als um sich
selbst dem Vorgesetzten bemerkbar zu machen. „Die andern haben sich
alle durchaus ruhig verhalten.“

Jetzt trat auch Professor Traute auf den Plan: „Unser hochverehrter,
leider zu früh entschlafener Direktor Clausen hat immer für die
Aufklärung gewirkt,“ sagte er. „Seine Schülerinnen in der ersten Klasse
gingen unbeschwert von Märchenballast in das unerbittliche Leben
hinein. Fräulein Nissen und ich sind von ihm in diesem Sinne geschult
worden.“

„Lassen Sie den Verstorbenen aus dem Spiel,“ gebot ~Dr.~ Hofer
rauh, „ich möchte sonst den Spruch vergessen: ~De mortuis nil nisi
bene.~“

„Auch ich,“ sagte Lehrer Asmus, „stelle mich auf die Seite des Herrn
Professor Traute; meine Tochter Agnes ist gleichfalls von Fräulein
Nissen aufgeklärt worden, und meine Frau war damals froh, dieser
unangenehmen Aufgabe enthoben zu sein.“

„Was heißt ‚damals‘?“

„Es war schon vor ein paar Jahren. Fräulein Nissen führte die vierte
Klasse.“

„Die +vierte+!“ Der Provinzialschulrat ließ seine Hand schwer auf
den Tisch fallen. „Fräulein Nissen, sind Sie von allen guten Geistern
verlassen?“

Die Angeredete brach in ein hysterisches Schluchzen aus. ~Dr.~
Hofer wendete sich, um ihr Gelegenheit zur Beruhigung zu geben,
Fräulein Henny Freitag, der Hilfslehrerin, zu. „Nun, mein liebes
Fräulein, Sie brauche ich ja eigentlich nicht zu fragen. Aus Ihren
Augen leuchtet noch der ganze Idealismus Ihrer neunzehn Jahre...“

Fräulein Freitag schlug lächelnd die Augen nieder: „Ach, ich bin doch
sehr dafür...“

~Dr.~ Hofer maß sie mit eigentümlichen Blicken.

„So! Wie man sich täuscht,“ meinte er mit grimmem Humor. „Mir erzählte
Herr Schulrat Wiese, der neulich bei Ihnen zuhörte, Sie hätten so
wenig gelernt, daß Sie Ihre Klasse in +keinem+ Fache ‚aufklären‘
könnten.“

Er wendete sich von der Verblüfften ab und wieder Fräulein Nissen zu.

„Sie hören ja, Fräulein Freitag ist auch sehr ‚dafür‘. Hätte sie die
Sache besorgt, so konnte man den ~lapsus~ ihrer Jugend und --
sonst noch einigem zugute rechnen. Aber Sie, Fräulein Nissen, mußten
sich bewußt sein, daß Sie heilige Rechte verletzten.“

„Worauf fußen denn die Anklagen gegen mich?“ fragte Fräulein Nissen
gereizt. „Nur auf Sörines Klatscherei?“

In Sörensens Stirn zog zornige Röte.

„Es ist tief bedauerlich, daß Sie Ihre Schülerinnen nicht besser
kennen. Nicht ein Wort hat Sörine von Heidekamp erzählt... Auch ist
es gleichgültig, wer aus Ihrer Klasse darüber berichtet hat, -- heute
ist ja doch die ganze Stadt voll davon, -- eine Flut von Briefen hat
sich auf meinen Tisch ergossen, bis jetzt las ich nur bittere Vorwürfe
und Ausrufe der heftigsten Entrüstung. Sie haben sich eine Suppe
eingebrockt, Fräulein Nissen, an der Sie lange essen werden. --“

Der Schulrat und Sörensen verließen die Versammlung.

„Geben Sie mir einen Löffel und gestatten Sie, daß ich die Suppe mit
Ihnen teile,“ wandte sich Oberlehrer Kahl mit verbissenem Gesicht an
die Gemaßregelte. „Wenn dabei gewisse Personen einen Klaps mit diesem
Löffel abbekommen, soll’s mir eine Wonne sein.“

„Mit dem Nachfolger des verehrten Direktor Clausen sind wir tüchtig
hereingesegelt,“ murmelte Traute verdrossen. „Diese liebenswürdigen
Köder, die der Mann auswirft! Nun hat der ~Dr.~ Hofer auch schon
wieder angebissen, der sogenannte ‚Unbestechliche‘, wie man ihn im
Ministerium nennt.“

„Glauben Sie mir, der Grund von allem liegt bei den Heidekamps. Der
Direktor hat einen Narren an der Sörine gefressen.“ Fräulein Nissen
zitterte vor Gereiztheit.

„Man sagt,“ bemerkte Asmus, „der Direktor habe von oben, von ganz oben,
einen Wink bekommen, die Abneigung des hochwohlgeborenen Herrn in der
Heide endlich in Wohlgefallen zu verwandeln.“

„Und der Grund?“

Ein viel andeutendes und gar nichts sagendes Achselzucken war die
Antwort. --

Lehrer Hansohm trat zu Fräulein ~Dr.~ Stavenhagen: „Geben Sie mir
die Ehre, einen Heidespaziergang mit mir zu machen, Fräulein Doktor?“

Sie nickte ernst.

„Denn Ihnen geht es wie mir,“ fuhr er fort, „die Luft wird einem knapp
in diesem Kollegium.“

Stumm schritten die beiden nebeneinander her. Durch das Tor des
Städtchens ging’s hinein in die weite Heide. Ein paar Vögel flogen
vor ihnen auf, über den Heidesand flohen junge Hasen. Sonst köstliche
Stille.

Die Weiden an der steinernen Brücke leuchteten rot. Hansohm schnitt
sich eine starke und doch biegsame Gerte. Dann und wann fuhr er sausend
damit durch die Luft.

„Wie köstlich die Frühlingsheide duftet,“ brach Fräulein Doktor endlich
das Schweigen. Sie blieb stehen und sog in durstigen Zügen die herbe
Luft ein. „Ach, und die Birken! Die ehrlichen, preußischen Stämme in
ihrem konservativen Schwarz-weiß. Wie ich euch liebe!“ Sie legte ihre
Wange an den Stamm. „Hansohm, ich bitte Sie, schnuppern Sie, wie das
riecht, meine Nase feiert Orgien. Über ein Weilchen -- und ich habe
vergessen, daß es ein +Lyzeum+ in Birkholz gibt. Denke nur noch an
das Birkholz. Ahhh!“

Hansohm schlug immer noch mit der Gerte auf einen unbekannten Feind ein.

„Nun, Kollege? Sie scheinen mir noch nicht so weit zu sein. Nehmen Sie
sich ein bißchen in acht, beinahe hätten Sie mir den Hut vom Kopf
geschlagen. Wo sind Ihre Gedanken?“

„Ich dachte an +meine+ zukünftige Tochter. Und wie ich abrechnen
würde, wenn +mir+ das passierte...“ Er köpfte wütend eine dürre
Distel vom vergangenen Jahr.

Fräulein Doktor lachte kurz auf. „Sie lieben schnelle Justiz, Kollege.“

„Ja. -- Und ich gäbe ein paar Jahre meines Lebens darum, wenn ich in
Wahrheit reine Bahn schaffen könnte!“

„Sie sind blutdürstig. -- Und die ‚paar Jahre‘ Ihres Lebens sollten
Ihnen wertvoll sein.“

„Sind sie auch. Aber ich möchte sie einem andern Leben ansetzen, einem
Leben, von dem kleinlicher Schulärger durch unausgesetztes Bohren
schöne Jahre abfressen wird.“ Sein Finger wies nach der Stadt zurück.
„Fräulein Doktor, in dem alten, grauen Hause wohnt ein Edelmensch. Ich
habe ihn lieb. Lachen Sie mich nicht aus. Ich habe nie einen Menschen
in meinem ganzen Leben so lieb gehabt, wie unsern Direktor Sörensen.“

Fräulein ~Dr.~ Stavenhagen war sehr blaß geworden.

„Nein, ich lache Sie nicht aus,“ sagte sie ruhig.

Und dachte, -- ob wohl der große Junge Hansohm laut lachen würde, wenn
er wüßte, daß „unser Direktor Sörensen“ ihres Herzens erste und einzige
Liebe sei.

Dora Stavenhagen hatte nicht Zeit gehabt, sich früher zu verlieben.
Immer hatte sie nur gearbeitet. Das bißchen Kapital ihrer Familie war
für die Brüder verwendet worden. Und trotzdem hatten sie immer noch die
Schwester in Anspruch genommen. Die häßliche, gescheite Schwester,
die ja ein geborener „Blaustrumpf“ war. So wenig kannte man sie und
ihren Hunger nach Liebe und eigenem Herd. Und nun, da die beiden
Offiziersbrüder längst in guten Schuhen standen und ihre verwitwete
Mutter, die Frau Major Stavenhagen, dank der guten Stellung der Tochter
noch einen behaglichen Lebensabend gehabt hatte, ehe sie schlafen ging,
nun, da sie selbst über ihr Altjungferntum fröhlich spottete, trat
dieser Mann in ihr Leben, dieser „prachtvolle Mensch“, wie sie ihn vor
sich selbst nannte.

Dora Stavenhagen hatte scharfe Augen. Und sie wußte vom ersten
Tage an, daß der ernste Sörensen einsame Wege ging. Daß er keinen
Wanderkameraden brauchte, am wenigsten eine Frau. Ja, manchmal war es
ihr schon geschienen, als wäre er ihr dankbar, daß sie so gescheit und
so häßlich sei. --

„Nun können wir wohl umkehren, Kollege,“ sagte sie. „Was wir beide
wollten, haben wir ja erreicht, nicht wahr?“

Hansohm nickte. Nicht nur Lungen und Herz hatten sie sich weiten
wollen, sondern auch den schweren Ärger ließen sie in der Heide zurück,
die eine gute Mutter ist für alle seelischen Gebresten.

Fräulein Doktor sollte heute mit bei Hansohms zu Abend essen, und
es war stillschweigende Vereinbarung, daß der leidenden Schwester
nur frohe Gesichter gezeigt wurden. Sie ahnten nicht, daß das feine
Empfinden von Lore Hansohm, durch jahrelanges Siechtum geschärft, die
liebevolle Komödie durchschaute, die man ihr vorspielte. --

Es war sehr behaglich in der kleinen Wohnung, in die sie nach kräftigem
Marsch eintraten. Der Tisch war schon gedeckt. --

Das hübsche Steingutgeschirr mit dem bunten Muster stimmte gut zu dem
blendend weißen Tischtuch, und die Vase mit dem dunkeln Wacholderbusch,
neben den gelbe Osterblumen gesteckt waren, war ein Kabinettstückchen.

„Lore versteht’s,“ lachte froh der Bruder. „Bei aller Kärglichkeit
unserer früheren Mahlzeiten habe ich nie das Feine, Anheimelnde, das
köstliche Drumrum zu vermissen brauchen. Und wenn wir auch oft nur
Kaffee und Brot oder irgendein kärgliches Breichen zu verzehren hatten,
unsere beiden silbernen Bestecke lagen doch immer auf dem Tisch, und
auf meinem kunstvoll gefalteten Mundtuch fand ich eine Blume. Anders
tat es die Lore nicht.“

Diese hantierte noch emsig in der Küche.

„Dies knappe Sichdurchwinden gibt uns allen den Stempel ‚hart‘,“ sagte
Fräulein Doktor. „Wir laufen damit herum, wie mit einem Fabrikzeichen.
Nur daß Sie die Dürftigkeit Ihrer Kinderstube frei allen Menschen
bekennen durften, während wir als Majorskinder noch vornehm tun mußten.
Wenn ich in der katholischen Kirche die Mutter Maria mit den sieben
Schwertern ansehe, denke ich an meine Heimgegangene. Die saß bis in
die Nächte auf, um uns sieben Reißteufeln die Garderobe „standesgemäß“
in Ordnung zu bringen, und darbte sich alles am Munde ab, um die
stärkenden Weine für den immer kränkelnden Vater zu beschaffen. Und
später kamen teure Arzneien und nötige Badereisen dazu.

Dazu im Winter die Gesellschaften.

Und doch riß man sich um das Kommißessen bei uns mit dem üblichen
Kalbsbraten und der verlängerten Tunke, die noch am andern Tage für
sieben hungrige Mäuler reichen mußte. -- Denn Mama verstand es, selbst
das zäheste Kalb anzudichten, womit ich jetzt wirklich den Braten
meine. Wenn auch auf jedem Gedeck ein Gedicht lag für Männlein und
Weiblein. Und immer war etwas Besonderes bei uns zu sehen oder zu
hören, Mutters unsagbar liebliches Lächeln brachte es fertig, daß
Bühnengrößen bei uns sangen, die man in Theater- oder Konzertsälen nur
um märchenhaftes Eintrittsgeld hören konnte. Und ich weiß, daß unser
verwöhnter Divisionsgeneral unsere Abende besuchte, nur um Mutters
Geige singen zu hören.“

„Und Sie sind so vermessen, Ihre Kinderstube mit der meinen zu
vergleichen? Fräulein Doktor?“ Hansohm lachte hart auf. „Geschwelgt
haben Sie, wo ich darbte. Denn Sie hatten eine gute Mutter. Lernen Sie
um, Fräulein Stavenhagen.“

Aus der Küche tönte ein Ruf. Lore Hansohm rief ihre Helfer, und nun
trug Bruder Klaus die Suppenschüssel herein und Fräulein Doktor die
gewärmten Teller. Immer wenn Konferenzen einberufen waren, richtete
Lore ein warmes Abendessen her, und danach wurde musiziert. So pflegte
die Kranke unangenehme Vorkommnisse zu verklären.

Es wurde eine sehr gemütliche, ja lustige Schwelgerei in sauren
Kartoffeln und Bratklopsen.

Und doch nahm nach dem Abräumen und Abwaschen, bei dem Fräulein Doktor
fleißig half, Schwester Lore den Bruder Klaus beim Schopf und sagte
eindringlich: „Was du heute zusammengeschwatzt hast! War das nötig?
+So+ viel Häßliches hattest du vor mir zu verbergen??“

Da strich ihr der Bruder sacht über das blonde Haar. Dann schritt er
zum Spinett, und von nun an sprachen Schubert und Brahms. Mitten in
eins der Lieder hinein schrillte der Dreiklang des Glockenspieles an
der Haustür, aber Hansohm sang das Lied zu Ende, weil er wußte, so
liebte es der Lauscher da draußen.

Erst eine ganze Weile nach dem Schluß trat Direktor Sörensen in das
behagliche Zimmer. Und wieder brachte er Blumen mit für die Leidende
und für alle drei Menschenkinder eine Fülle von Wärme und Glück.
Trotzdem er bis obenhin vollgepackt war mit Ärger und Arbeit und Grimm.
Aber alles wollte er hier vergessen. Dazu hatte er das kleine, braune
Ding mitgenommen, von dem noch niemand wußte, daß es sein ein und
alles war. Bei einer alten Trödlerin in Nürnberg hatte er es gefunden,
verstaubt, beschädigt, mit zerrissenen Saiten. Und weil die Trödlerin
einen hungrigen Magen und zwei hungrige Augen hatte, gab sie es ihm für
fünfzehn Mark.

Sörensen begrüßte herzlich die drei Freunde, dann legte er still ein
paar Notenblätter auf das Spinett, und Klaus Hansohm staunte und
präludierte leise. Dann wurde die alte Amati ausgepackt. Sörensen
spielte. Und wieder zog Feiertagsstimmung in den schlichten Raum. Als
Sörensen den Bogen sinken ließ, sah er in blanke Augen hinein. --

„So, -- nun bin ich wieder Mensch,“ lachte er glücklich. „Und werde mir
gleich einen gefüllten Pfannkuchen einverleiben, von denen Fräulein
Lore eine verschwenderische Menge hingesetzt hat.“

Er ließ den Worten die Tat folgen.

„Warum sind Sie so still?“ fragte er nach einer Weile. Er scheute sich,
die banale Frage zu tun, ob er etwa gestört habe.

Lehrer Hansohm nahm mit raschem Griff seine Hand. „Warum sagten Sie mir
nie...“ stotterte er.

„Daß ich mit Leib und Seel ein Musikant bin? Ich weiß es nicht, Kollege
Hansohm. Muß mich erst langsam zum Mitteilen und Abgeben erziehen.
Und Sie helfen mir so schön dabei. Heute war es mir wahrhaftig zu eng
daheim, deshalb eilte ich her...“

„Zu eng im großen grauen Patrizierhause am Markt,“ brummte Fräulein
Doktor mit ihrer tiefen Stimme.

„Und dann kommen Sie hierher in die Weite,“ lachte Lore Hansohm und
zeigte auf das kleine Geviert des Stübchens.

„Aber +wie+ Sie es sagen, Herr Direktor, so glaubt man’s Ihnen.“
Klaus Hansohm bot ihm eine Zigarre.

„Wo denken Sie hin?“ wehrte Sörensen ab. „Ich bin zu Schubertliedern
eingeladen, dabei wird nicht geraucht. Auch fröne ich nicht der
Zigarre, sondern stopfe mir in krausen, unmutigen, schweren Stunden
eine Pfeife, -- beileibe nie in behaglichen. Die Pfeife +bringt
mir+ erst Ruhe und Frieden. Aber jetzt und hier ist mir urbehaglich
zu Sinn.“

Lore Hansohm sah dankbar zu dem Riesen auf. Sie fühlte, daß er mit den
freundlichen Worten nur an ihr Wohl und an die Rücksicht dachte, die
man einer Vielleidenden schuldig sei. Bruder Klaus rauchte nie in ihrer
Gegenwart.

Hansohm sang, und seine köstliche Stimme trug die Zuhörer in eine
andere Welt. Dann setzte Sörensen wieder den Bogen an und spielte Bach
und Mendelssohn und kleine, feine Sachen von Grieg.

Und Fräulein Doktor meinte, wenn aller Schulärger solchen Ausgang
hätte, dann möchte sie wohl gern auf Dornen gehen. Sie wurde weidlich
von beiden Herren ausgelacht, aber Lore Hansohm nickte ihr strahlend
zu, und zu Sörensen sagte sie mit ihrem lieben, sanften Lächeln: „Ich
fange jetzt erst an zu leben.“

So rührend klang ihr Geständnis, daß der Bruder sich rasch abwandte, um
seine Bewegung zu verbergen.

Als es zehn Uhr schlug auf der kleinen Diele, sprang Fräulein Doktor
auf. „Ich bitte mir aus, daß es hier nicht immer so unverschämt
gemütlich ist, um zehn Uhr muß ich in meiner Mansarde sein, sonst kann
Fräulein Tingleff nicht einschlafen, die unter mir wohnt. Ihr zuliebe
habe ich mir wollene Schuhe gestrickt, und husche so auf leisen Sohlen
durch meine Räume.“

„Ist die Dame solche liebevollen Rücksichten wert?“ fragte Sörensen.
„Aus dem Kollegium hörte ich einige recht harte Urteile über sie...“

„Sie ist eines der wenigen Originale unserer Stadt. Unliebenswürdig im
höchsten Grade und ebenso liebenswert. Merkwürdigerweise macht man ja
einen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen.“

„Stachlig ist sie, aber herzensgut,“ sagte Hansohm. „Sie prunkt mit
ihren Stacheln und schämt sich ihrer Herzensgüte. Ich lernte sie
kennen, als der Flügel im Singsaal aufgestellt wurde. Zuerst behandelte
sie mich ganz als Schuljungen, aber jetzt nennt sie mich Herr
Oberlehrer, nur um ihre Hochachtung zu bezeugen.“

„Wenn ich noch lange hier stehe,“ drängte Fräulein Doktor, „verliert
sie aber den letzten Rest Hochachtung vor +mir+, und das wäre vom
Übel. Guten Abend und Dank!“

„Halt, -- ich gehe mit,“ rief Sörensen, „halten Sie mich für einen
Kanadier?“

Dora Stavenhagen war schon ein Stück voraus, aber seine langen Schritte
holten sie rasch ein. „Ja, dies Birkholz im Mondschein ist etwas
Bezauberndes,“ rief er ihr zu. „Ich werde Hansohm sagen, er soll seinen
Schemel auf die Straße setzen und den Hans Sachs singen ... Schade,
schade, daß Sie nicht noch viel weiter wohnen,“ setzte er harmlos
hinzu, „heute wäre recht ein Abend zum Wandern.“

„Du großes Kind,“ dachte Fräulein Doktor, „dich wird Birkholz noch
ordentlich in die Schule nehmen.“

Aus dem Rathauskeller kamen etliche Herren vom Weinschoppen. Sie
grüßten und der kurzsichtige Sörensen dankte. „Haben Sie viel Freunde
und Bekannte im Städtchen, Fräulein Doktor?“

„Könnt’ ich nicht sagen. Das Kollegium, Fräulein Tingleff und meine
Bücher. Oder richtiger: Meine Bücher, Fräulein Tingleff und das
Kollegium.“

„Das ist schade. Das Kollegium sollte zuerst kommen ...“

„Noch vor den Büchern? Bei Ihnen sicherlich nicht, Herr Direktor.“

„Das weiß ich denn doch nicht so genau. Die Bücher sollten die Menschen
nicht ersetzen. Wenigstens nicht dem Lehrer. Und ich gestehe Ihnen in
dieser verschwiegenen Mondscheinnacht, daß mir von meinen Ahnen eine
ungeheure Fülle von Menschenliebe überkommen ist. Da ‚kann ich nicht
gegen an‘, wie meine Wirtschafterin zu sagen pflegt.“

„Menschenliebe? Hm. Ja, zu den +werdenden+ Menschen. Ich bin allen
Kindern unbeschreiblich gut. Den großen Leuten nicht.“

„Sie machen sich unguter, als Sie sind. Man braucht nur zu sehen, wie
Sie mit Fräulein Lore Hansohm umgehen ...“

„Die rechnet nicht. Die Weise, ihre Krankheit zu tragen, ist schon
engelhaft. Der große Junge Hansohm wird bald einen guten Fürsprecher
beim Herrgott haben...“

„Halten Sie das Leiden für so ernst?“ fragte Sörensen.

„Für sehr ernst. Das Herz flattert nur noch mühsam in seinem Käfig...
Klaus Hansohm weiß es schon lange. Deshalb sieht er der Schwester
ja alles an den Augen ab, und -- ich habe gesehen, wie er sie einmal
abends nach einem Anfall in der Stube umhertrug.“

„Die man liebt, auf Händen tragen...“ sagte Sörensen leise, „Kollege
Hansohm ist ein sehr glücklicher Mensch.“

„Herr Direktor, wir wandern jetzt schon das zweitemal um den Marktplatz
herum, es wird Zeit, daß ich hinaufgehe.“

„Wie zerstreut ich bin. Hoffentlich finden Sie gleich die Wollschuhe.
Damit Fräulein Tingleff nicht schilt.“ Er lachte leise und drückte ihr
fest die Hand. „Gute Nacht!“

Fräulein Doktor stieg ganz sacht die breite, altertümliche Treppe
im Hause Dingelmann und Sohn empor. Aber auf dem zweiten Stockwerk
knarrte es doch bedenklich unter ihren festen Füßen, und eben wollte
sie die Mansarde erklimmen, als sich die Haustür neben dem weißen
Porzellanschild Tingleff öffnete und eine feste Hand sie packte, so daß
Fräulein Doktor einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken konnte.

„Schreien Sie nicht, Doktorsche,“ raunte Fräulein Tingleff, die in
weißer Nachtjacke und fünfundzwanzig Papierröllchen prangte, die von
ihrem grauen Haar umwickelt, „pil in Enn’“ standen. „Wecken Sie meinen
alten Verehrer drunten nicht auf. Sonst plagt ihn die Eifersucht,
weil er meint, ich hätt’ ein Stelldichein. -- Ich konnte heute nicht
einschlafen und guckte zum Fenster raus und sah Sie unten mit einem
Mannsbild techtelmechteln...“

„Verehrtes Fräulein, ich würde mich doch etwas korrekter ausdrücken!“

„+Kor+rekter??? +Dir+ekter!!! Aha! Ich habe recht! Das
Leugnen hätte Ihnen auch nichts genützt, ich nahm vorhin mein scharfes
Opernglas, trotzdem der lange Sörensen gar nicht zu verkennen ist, wir
haben nur den einen Gardisten in Birkholz.“

„Meinen Sie wirklich, ich hätte leugnen wollen?“

„Desto besser. Aber wir wollen hineingehen und noch einen Schnack im
Zimmer machen. Auf der Treppe fürchte ich Dingelmanns. Die Dingelmännin
sieht immer in den Leuten etwas anderes, als sie sind, sie könnte mich
heute in der Nachtjacke für Madame Potiphar halten.“

„Fräulein Tingleff, es ist elf Uhr.“

„Da ich nicht taub bin, hörte ich bereits die dröhnende Rathausuhr.
Und wenn Sie nicht zweimal mit Ihrem Sörensen um den Marktplatz
geschlendert wären...“

„Auch +das+ haben Sie gesehen?“

„Ich sehe alles, aber nicht mehr. Gott, Doktorsche, ich würde mich noch
krummer freuen, als ich schon bin, wenn Sie den Mann kriegten. Sie sind
das gescheiteste Mädchen in Birkholz.“

„Und das häßlichste.“

„Nein, den Ruhm nehme +ich+ in Anspruch. Es genügt auch, daß Sie
das klügste sind. Sie müssen nicht alles haben wollen. Überdies hat er
die Schönheit für Sie mit.“

„Finden Sie ihn schön?“

„Doktorsche, machen Sie um Gottes willen keine Mördergrube aus Ihrem
verlangenden Herzen. Na, wie ich über die Mannsleute im allgemeinen
denke, wissen Sie ja. Aber wenn Ihr Direktor vor vierzig Jahren zu mir
gekommen wäre mit ’ner Anfrage, ich hätte ‚ja‘ +geschrien+. Damit
er sich nur nicht verhörte.“

„Vor vierzig Jahren lebte er aber noch nicht.“

„Das weiß ich, Sie greuliches Geschöpf. Leider. Na, wann geht’s also
los? Beichten Sie mal.“

„Fräulein Tingleff, ich darf mir gestatten, Sie eine Kneifzange zu
nennen. Das ist ungehörig, ich weiß es. Aber auf das ‚greuliche
Mädchen‘ muß ich diesen groben Keil setzen.“

„So gefallen Sie mir. Nur immer von der Leber weg.“

„Schön. Aber nun auch Themawechsel, Fräulein Tingleff. Und ein für
allemal: Ich schätze Herrn Sörensen sehr... aber etwas anderes wird nie
geschehen, hören Sie? Nie.“

„Wenn Sie dies Gesicht aufsetzen, dann glaub ich Ihnen. ‚Hochschätzen‘,
hm! Na, ich wäre jedenfalls mit Hochschätzung nicht ausgekommen. Aber
Ihr neuen Frauenzimmer seid ja anders. Bei euch kommt zuerst der Beruf
und die Liebe irgendwann oder auch gar nicht.“

Dora Stavenhagen war blaß geworden. Und sie dachte still: „Ach, was du
da schwatzest. Ich will meine tiefe, große Liebe umwerten in Segen für
die Kinder an seiner Schule...“

„Wenn Sie so verträumt aussehen, Doktorsche, kann man Sie für
Vierundzwanzig halten. Wie alt sind Sie eigentlich?“

„Ich bin sechsunddreißig.“

„Also ein Kücken gegen meine Zweiundsiebzig. Sagen Sie mal, was ist
eigentlich im Lyzeum vorgefallen? Um das zu hören, habe ich Ihnen
eigentlich aufgelauert. Frau Dingelmann, die ja selbst kinderlos ist,
erzählte mir, sie habe von ihrem Dienstmädchen gehört, und das habe es
wieder vom Provisor der Ratsapotheke, eine Menge Birkholzer wollten
ihre Kinder aus dem Lyzeum nehmen, weil...“

„Nun weil?“ drängte Fräulein Doktor gespannt.

„Weil Direktor Sörensen irgendeine Schauderhaftigkeit oder
Generaldummheit begangen habe.“

„O das ist schändlich!“

„So? Na, ich dachte mir’s schon, daß das Hühnergehirn des Provisors
wieder mal Blasen getrieben habe. Wie der Herre, so’s Gescherre.“

„Die Dummheit ist von einer Lehrerin begangen worden...“

„Dann war’s die Nissen,“ frohlockte Fräulein Tingleff. „Ich habe immer
gewußt, daß unser Herrgott sie im Zorn erschaffen hat. Aber daß er auch
zuließ, daß sie Lehrerin wurde... Er muß doch ’ne Pieke aufs Birkholzer
Lyzeum haben.“

„Was Sie da zusammenreden, liebes Fräulein Tingleff,“ Fräulein Doktor
lächelte matt, „... ich glaube, ich muß Ihnen reinen Wein einschenken.“

„Erfahren tu ich’s ja doch,“ brummte Fräulein Tingleff, „der Provisor
lauert auf mich.“

„Der Provisor ist ein Esel. Also, Fräulein Nissen hat endlich nach
einem ganzen Jahr glücklich herausgebracht, daß die Mädels in der
zweiten Klasse noch harmlose, unschuldige -- ach, ich weiß ja --
kreuzbrave Geschöpfe sind. Die haben zu viel kindische Raupen im
Kopf, als daß da noch Platz wäre für irgend etwas Frühreifes. Sie
haben keine dummen Bücher gelesen, erst recht keine schlechten, --
sie hat überhaupt nichts gelesen, die Bande... Märchen haben sie sich
erzählt und selbst ausgedachte Geschichten... ach, meine liebe, zweite
Klasse...“

„Weiter, weiter...“

„Ja, sie steckten richtig drin in heiligen Muttermärchen, wie Sörensen
sagt...“

„So? Sagt Sörensen?“

„Und die Sörine Heidekamp, die ja immer Sprecher ist, hat ganz
rührend, aber voll Überzeugung ihre Storchweisheit ausgekramt und hat
schließlich auf die energisch ausgesprochenen Einwendungen der Nissen
hin mit Tränen in den Augen gerufen: ‚Aber das ist doch der Unterschied
zwischen Mensch und Tier. In Urzeiten hat Gott große, weiße Vögel
ausgeschickt, und die haben die Kindlein zur Erde getragen. Später
sandte er Engel... aber das haben die bösen Menschen nicht verdient, da
schickte er Störche, die mußten dann noch Schmerzen zufügen ... Und die
Tiere, ja die kommen aus sich selbst. Das hab ich in Heidekamp schon
manchmal gesehen...‘ Fräulein Tingleff, so hat es mir die Agnes Asmus
erzählt. Das ist ein über ihre Jahre ernstes Kind, -- es wird alles
richtig sein.“

„Und die Nissen? Die Nissen?“ stöhnte Fräulein Tingleff und packte
beide Hände ihres Gastes.

„Mit ihrem ganzen Rüstzeug hat sie dreingeschlagen. Mit Keulen des
Hohnes, mit den Schwerthieben ihres ausgesucht greulichen Lachens,
mit Lanzenstichen der Ironie ... Und dann ist sie zum Schluß in der
Pflanzenkunde recht deutlich geworden...“

„Himmelkreuzmohrenmordselement!“ fluchte das alte Fräulein Tingleff. --
„Man möchte zum Bürgermeister laufen und den alten Pranger von seinem
Oberboden holen. -- Nun und wie verhält sich der Direktor?“

„Sie fragen noch? Wie ein Ehrenmann, der für die Rechte der Mütter
eintritt. Er muß selbst eine sehr geliebte Mutter gehabt haben oder
noch haben, nur so kann ich mir die Zartheit erklären, mit der er
Frauen, ja selbst seine Schülerinnen behandelt.“

„Ich muß den Mann kennen lernen,“ sagte Fräulein Tingleff energisch.
„Er soll abends den Tee bei mir trinken und mit mir Schach spielen.“

„~Dr.~ Sörensen geht fast gar nicht aus...“

„Tatata, zu mir wird er kommen. Ich werde ihm meinen Besuch machen,
dann +muß+ er...“ Das alte Fräulein sah triumphierend aus. „Aber
nun geh’ ich ins Bett, Doktorsche, Ihre Neuigkeiten sind mir in den
Magen gefahren und schreien nach Baldriantropfen. Gute Nacht. Ziehen
Sie oben sofort Ihre Pampuschen an und husten und niesen Sie nicht.
Dingelmanns Haus ist zu leicht gebaut.“

Lachend versprach Fräulein Doktor größte Vorsicht, und dann trennten
sich die beiden Hausgenossen.

Aber beide sahen, ehe sie sich zur Ruhe begaben, noch einmal nach dem
alten Patrizierhause hinüber. Es lag ganz dunkel und Fräulein Tingleff
stieg beruhigt in ihr riesiges Himmelbett. Aber Dora Stavenhagen wußte,
daß das Studierzimmer des Direktors nach dem Garten herauslag, und daß
wohl heute die grüne Schirmlampe noch lange brennen würde. --

       *       *       *       *       *

Sörensen saß über dem Stoß von eingelaufenen Briefschaften. --

Die Birkholzer, die er durch sie kennen lernte, waren streitbare Leute,
kernfestes Holz. Und viel Gemüt und Humor wehte durch all den grimmigen
Zorn und zornigen Grimm, der in den Schreiben niedergelegt war. Überall
war das Herz mitverwundet neben dem Recht. Als der Direktor alle Briefe
durchgelesen, nahm er lächelnd einen besonders großen Bogen noch einmal
vor und las ihn zum zweiten Male:

    Geehrter Herr Direktor!

Dazu ist die +Mutter+ da. Wollen Sie dieses mit einer schönen
Empfehlung an Ihr Fräulein Lehrerin Nissen bestellen? Und wollen Sie
ihr außerdem fragen, wo sie es denn gar so genau herweiß? Geehrter Herr
Direktor, wir haben unsere Kinder Gott sei Dank so erzogen, daß sie mit
ihre Leiden und Freuden zu ihre Mutter kommen. Und unsere Älteste, die
Martha, die nun Gott sei Dank schon verheiratet ist, hat schon mit
zwölf Jahren allerhand gefragt, aber die ging auch in die Volksschule,
wo andere Kinder beieinander sind als im Lyzeum. Aber damals hatte
sich unsere Schlosserei auch noch nicht so gehoben wie jetzt, wo wir
zwei Gesellen und vier Lehrlinge haben, und was dranwenden können an
Englisch und Französisch für unsere Jüngste in der zweiten Klasse Ihrer
geehrten Schule. Ich habe meine Martha also über Verschiedenes reinen
Wein eingeschenkt, weil sie mit vierzehn Jahren dienen sollte und noch
ein ganzes Kind war. Aber über die ganz ernsten und verzwickten Sachen
habe ich erst mit ihr gesprochen, als sie sich mit unserm Altgesellen
verlobte, und die Sache brenzlich wurde. Ist aber ein braver Mensch
und glückliche Ehe, auch gutgehendes Geschäft Steingasse 4, wenn Herr
Direktor mal Bedarf haben an Reparatur. Aber die Meta ist noch nicht
verlobt, sondern ein rechtes Kind nach Gottes Herzen und unsere ganze
Freude. Es hat niemand von uns gestört, daß sie noch pickfest an den
Storch glaubte. Und außerdem hat mein lieber Mann unsern Kindern
gesagt: „Was ihr auch von andern Leuten hören mögt so über kleine
Kinder oder auch über Eheleute und über Liebessachen, denkt dran, daß
alles vom lieben Herrgott kommt und von ihm eingesetzt ist. Denkt dran,
daß alles, was aus rechter, wahrer Liebe kommt, +heilig+ ist. Denn
die Liebe ist größer als Glaube und Hoffnung hat Christus gesagt. Und
wer euch etwas Unheiliges erzählt, der ist ein schlechter Mensch, da
müßt ihr rasch fortlaufen.“ Geehrter Herr Direktor, mein Mann kann die
Worte viel besser setzen als ich und würde auch heute dies geehrte
Schreiben besorgt haben, wenn nicht das alte Kunstschloß am Rathaus
entzwei gegangen wäre und er da selbst eigenhändig bei müßte. Ich
beschließe diesen Brief und sage nochmal, was Fräulein Nissen da den
Kindern vorgeschwatzt hat, das geht sie nichts an, sondern nur meinen
Mann und mich. Und sie soll erst mal selbst Mutter werden. Nur wir
Mütter haben das Recht, unsern Kindern die Wahrheit zu erzählen. Und wo
keine Mutter ist, da ist wohl noch eine Großmutter. Eine unverheiratete
Lehrerin muß still zuwarten, bis sie dran kommt. In der zweiten Klasse
hat sie niemand drum gebeten. „Und was deines Amtes nicht ist, da laß
deinen Fürwitz.“

    Achtungsvoll

                  Frau Schlossermeister Steinicke.

Als Direktor Sörensen am Sonntag nachmittag von seinem Heidespaziergang
zurückkehrte, wartete seiner eine große Überraschung. Vor seiner Tür
hielt der Heidekampsche Kraftwagen, und in seinem Arbeitszimmer saß der
alte Freiherr.

Als Sörensen hereintrat, stand der Besucher mühsam auf, um ihn zu
begrüßen, und stützte sich schwer auf seinen Stock. Aber bis auf
sein lahmes Ischiasbein war der Hüne ein Urbild von Rüstigkeit.
Zweiundachtzig Jahre! Und dabei lag sein schneeiges Haupthaar voll und
fast üppig über der hohen, klugen Stirn, und seine scharfen, blauen
Augen schienen durch Mauer und Holz zu sehen, wie die der Enkelin. Ein
langer, weißer, sorgfältig gepflegter Patriarchenbart vervollständigte
die Ehrwürdigkeit des Greisenantlitzes, dem Adlernase und buschige
Brauen große Kühnheit gaben. --

Diesen reckenhaften Mann in Verlegenheit und als Bittenden zu sehen,
hatte etwas Rührendes. Sörensen wollte ihm rasch darüber hinweghelfen,
aber er schien die Gewohnheit zu haben, seine Suppen allein zu löffeln.

„Es geschieht mir schon recht,“ sagte er, „daß ich jetzt persönlich als
Ratheischender zu Ihnen kommen muß, Herr Direktor, da ich doch Ihren
Besuch eigentlich nur mit meiner Besuchs+karte+ erwidern wollte.
Will Ihnen gern gestehen, daß ich auch noch gestern gar nicht dran
dachte, herzugehen. Und Frauenzimmerrat mocht ich mir auch nicht holen.
Zuerst wollte ich Fräulein von Schlieden, alias Grauchen, zu Ihnen
schicken. Dann verwarf ich’s wieder. Die alte Dame hat zu himmelblaue
Ansichten, auch würde sie glatt vor Scham gestorben sein, wenn Sie,
der unbeweibte Mann, mit ihr das Aufklärungsthema angeschnitten
hätten. -- Also mußte ich selbst ’ran. Aber nun werden Sie mir böse
werden, Herr Direktor, Gott, ich kenne ja die Lehrerschaft und den
Schulmonarchendünkel und das Bestreben bei Ihnen, daß nur ja alles nach
der Ochsentour geht...“

„Herr von Heidekamp,“ fiel Sörensen ein, „ich kann doch unmöglich
annehmen, daß Sie mich hier in meinem eigenen Hause beleidigen
wollen...“

„Na, sehen Sie, Herr Direktor, da fängt’s ja schon an. Ich bin ein
schlechter Diplomat. Also ich wollte nur sagen, ich bin nicht zuerst zu
Ihnen gekommen, sondern war erst beim Lehrer Hansohm. Der Mann steht
meinem Empfinden nahe, ein prächtiger, junger Kerl. Habe ihm heute eine
Generalsekretärstelle bei mir angeboten, aber er will lieber bei 2000
Mark inmitten seiner geliebten Schulkinder verhungern, -- na, das ist
Geschmacksache. Aber er wollte mir auch durchaus keinen Rat erteilen,
sondern verwies mich sofort an Sie.“

„Das ist schade, Herr von Heidekamp. Lehrer Hansohm ist ein heller
Kopf, mit scharfem Verstand und einem warmen Herzen. Ich würde selbst
zuerst zu ihm gehen, wenn ich mir in Birkholz Rat holen wollte.“

„Herr Sörensen, ich bin erstaunt. Sie zwingen mich zum Umlernen, und
ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich da vorhin etwas grob war.
Ich muß aber sagen, es passiert mir zum erstenmal, daß ein Schulleiter
nicht ‚fünsch‘ wird, wenn man zuerst zu seinem Untergebenen läuft und
dann erst zu ihm.“

Sörensen lächelte. „Ich bin als Oberlehrer in guter Schule gewesen. Da
habe ich gelernt, mich in erster Linie als Mitglied des Kollegiums,
erst in zweiter als Direktor zu fühlen.“

Herr von Heidekamp staunte. „Merkwürdig, merkwürdig,“ sagte er
kopfschüttelnd und sah Sörensen ganz steuerlos an. Aber dann wurde mit
einemmal sein schönes, altes Gesicht freundlich und seine Stimme klang
frohmütig: „Einen Irrtum einzusehen, dazu ist man ja nie zu alt. Geben
Sie mir erst einmal Ihre Hand, Herr Direktor...“

Erne Sörensen drückte fest die dargebotene Rechte.

„Herr von Heidekamp, -- ich fühl’s, es wird Ihnen schwer, zur
eigentlichen Sache zu kommen, vielleicht doppelt schwer, weil Sie eben
wohl erst entdecken, daß ich ein Freund Ihrer Sörine bin... Sie würden
herzhafter reden, wenn Sie zu einem vielgeschmähten ‚Schulmonarchen‘
sprächen... wenn Sie -- -- verwunden könnten ...“

„Sie sind ein Menschenkenner,“ knurrte der alte Freiherr und brach dann
plötzlich los: „Herrrr! was hat man in Ihrer Schule aus meiner Sörine
gemacht???“

Sörensen drückte ihn begütigend in den bequemen Ledersessel zurück und
schob einen weichen Schemel unter das kranke Bein.

„Hoffentlich etwas Gutes,“ beantwortete er sich niedersetzend die Frage
des alten Herrn. „Die Verfehlung der Klassenlehrerin hat mich selbst
schwer verletzt. Was gäbe ich darum, sie ungeschehen zu machen. Aber
die zweite Klasse wird sie selbst verwinden, es steckt ein prächtiger
Geist in ihr...“

„Mensch, Direktor, Herr Sörensen! Was sagen Sie da? Wie kommt Saul
unter die Propheten? Hat mir nicht Sörine immer geklagt, daß ihre
Klasse verfemt sei und mußte ich nicht zuletzt selbst dran glauben?“

„Sörine sprach von Zeiten, die vergangen sind.“

„Ja, Herr Direktor, und nicht wahr, ein neues Morgenrot bricht an?
Aber -- aber, davon wollt ich ja nicht sprechen. Ich -- ich wollte ja
schimpfen, -- ich wollte ja dieses -- dieses -- Fräulein Nissen, es
fehlt mir ein parlamentarischer Ausdruck...“

„Lassen Sie es gut sein, lieber Herr von Heidekamp, ich möchte nichts
dergleichen anhören... Aber fragen möcht’ ich, wie Ihre Enkelin die
Sache trägt, ich bin unablässig in Sorge um sie...“

„Ich habe Sörine noch nicht gesehen seit jenem Tage,“ sagte der
Freiherr. „Donnerwetter, das ist hart für mich alten Kerl, der von
ihrer frischen Jugend zehrt. Grauchen enthält sie mir vor...“

„Ist Sörine krank?“

„Ich weiß es nicht. Seelisch wahrscheinlich auf dem Hund. Guter Gott,
wenn mir doch nur mal dies Fräulein Nissen begegnete...“

„Lieber nicht, Herr Baron. Aber was tut denn Sörine zu Hause?“

„Zu Hause nicht viel. Sie reitet in die Wälder und liegt in der
Heide...“

„Und versäumt die Schule.“

„Ja, Herr Direktor, Sie verlangen doch nicht etwa, daß das Mädel vor
den Osterferien sich noch zu Füßen dieses, dieses, hm, Fräulein Nissen
niederlassen soll? Der sie in der ersten Klasse dann doch Gott sei Dank
entrinnt?“

„Ja, das verlange ich allerdings. -- Herr von Heidekamp, Sie hätten ja
Ihre Sörine abmelden können, -- das würde ich sehr bedauern, aber ich
könnte es verstehen. So lange sie aber Schülerin des Lyzeums ist, so
lange muß sie sich den Bestimmungen der Schule fügen...“

„Herr Direktor, -- Lehrer Hansohm hat mir von Ihrem zarten Verstehen
der Mädchenseele gesprochen...“

„Das hat wohl nichts mit meiner Forderung zu tun. Ich erwarte
morgen Ihre Enkelin. Eine Haupttugend von Sörine ist ja ihre
Unerschrockenheit und Tapferkeit... ich möchte mich nicht darin
getäuscht haben. Aber wir sind immer noch nicht zum Kernpunkte Ihres
Besuches gekommen, Herr von Heidekamp. Sie haben noch etwas auf dem
Herzen...“

„Ja. Ich bin ein alter Mann. Und das Grauchen ist auch alt, -- meine
lüttge Sörine ist wohl deshalb weltfremd und doch recht altklug
geraten. Aber alles Jungvolk lehnte sie ja immer ab. Und lief
nach wie vor einspännig in der Welt herum. Ob das meine geliebte
Schwiegertochter Lore, die Mutter Sörines, vorgeahnt hat? In meinem
Sekretär liegt ein Heft, in einem versiegelten Umschlag verwahrt, auf
dem steht: ‚Meinem Kinde an seinem 17. Geburtstage zu geben.‘ Herr
Direktor, Sörines Mutter war etwas Besonderes. Jedem Menschen geht
etwas ab, dessen Lebensweg sie nicht gekreuzt hat. Ein Kind Gottes war
sie. In ihren letzten Lebenstagen hat sie mitten aus Fieberträumen
heraus mich an das kleine Heft gemahnt. Sie konnte nicht zur Ruhe
kommen: ‚Arme Sörine, keine Mutter, keine Mutter -- -- --‘ Das war ihr
Stammeln, ihre Sorge, die sie nicht einschlafen ließ...“

„Geben Sie Klein-Sörine dies Muttervermächtnis +jetzt+ schon,“
sagte Sörensen eindringlich und faßte beide Hände des Greises.

„Herr Sörensen, für dies Wort sollen Sie Dank haben. Es kam so
unmittelbar aus Ihrem Empfinden heraus, ehe ich um Ihren Rat bat. Es
wird das Rechte sein. --“

„Ja,“ sagte Sörensen tief aufatmend. „Grobe Hände haben den Schleier
von Sörines Kindereinfalt gerissen, -- sanfte Mutterhände werden die
Wunden verbinden. Herr Baron, ich freue mich, morgen wieder eine
tapfere Schülerin zu sehen.“

Der alte Herr erhob sich. Erne Sörensen half ihm liebevoll dabei. Die
klaren Augen des Greises sahen unverwandt in die des Goliath, der ihn
noch um Etliches überragte.

„Sie scheinen noch nicht ganz fertig mit mir zu sein?“ lächelte
Sörensen.

„Noch längst nicht,“ meinte zögernd der alte Herr, und setzte humorvoll
hinzu: „Ich hoffe, wir werden niemals miteinander fertig. Heute aber
wollt ich fragen: Wollen Sie mich nicht begleiten? Ein langer, schöner
Sommerabend liegt vor uns... nicht wahr, Sie antworten mir nicht, daß
ja Lehrer nicht über meine Schwelle kommen sollen, erinnern mich nicht
an den törichten Ausspruch...“

„Nein, nein, sicher nicht. Ich komme mit,“ rief Sörensen in raschem
Entschluß. „Die Hauptsache ist ja doch, daß ich über die Schwelle Ihres
Vorurteils gekommen bin.“

Er gab dem Freiherrn den Arm, dieser stützte sich schwer darauf. In der
Küchentür stand knixend Frau Dietz.

Der Freiherr streckte ihr die Hand hin. „Ich habe da vorhin eine
Bekanntschaft erneuert. Marianne Witt war ja viele Jahre in meinem
Hause, bis der Dietz sie uns fortschnappte.“

„Zu meinem Schaden,“ sagte Frau Dietz trocken. „Aber man soll von den
Toten nichts Übles reden.“

Sie stand dann noch am Fenster und sah, wie die beiden Herren
davonfuhren. „Es war eine schöne Zeit,“ sagte sie zu sich und wischte
sich die Augen. „Aber die bessere kommt jetzt. Ich möchte niemand mehr
für meinen Herrn Direktor eintauschen.“ --

       *       *       *       *       *

    +Sonntag abend+.

Ein reicher Tag heute. Die köstliche Frühpredigt des Diakonus Heinrich,
das Plauderstündchen mit Philemon und Baucis. Der Spaziergang in die
Heide, der geliebten Kraftspenderin. Und dann -- dies Heidekamp. Hab’
Dank, guter Herrgott, daß du diese Trostquelle, diesen köstlichen
Brunnen für mich bereit gehalten hast. Es war ein Abend, wie ich noch
keinen in Birkholz erlebte. --

Von meinen Ahnen habe ich dort erzählen dürfen, die streitbare
Großmutter Gesine wurde gleich zur Freundin des Alten. Und von meinem
Vater habe ich erzählt, von der Schusterkugel, die über dem Haupte des
Spintisierers leuchtete, von meiner guten Mutter, der Waschfrau. In
welche neue Welt da meine Schülerin Sörine hineinstaunte!

Ach, ihr großen, lieben Kinderaugen! Die seit einigen Tagen noch
ernster geworden sind... Immer wieder packt mich der Zorn, wenn ich
daran denke. daß man diese süße Reinheit so plump hat verstören wollen.
-- Kleine liebe Sörine! Du tust mir eine neue Welt auf.

Wunderlich ist die Erziehung des Großvaters gewesen. Aber das Ergebnis
ist prächtig. Grauchen und ich sind gute Freunde geworden. „Wir haben
beide die Sörine lieb,“ sagte sie zur Erklärung. Alle brachten mich
dann zum Wagen, der mich spät am Abend über die weite Heide fuhr. „Ich
komme morgen,“ rief mir Sörine leise zu, „ich will tapfer sein...“

Kleine Sörine, ich zweifle nicht daran. Und ich will versuchen, dir
eine große Freude zu bereiten. Die lieben Menschen da draußen haben
mich mit einer Mission betraut, ich will sie ausführen. Die Agnes
Asmus soll ich nach Heidekamp holen. In jenem Hause voll Liebe, Güte
und Kraft wird das scheue, gequälte Mädchen genesen... welch herrliche
Aufgabe, alter Erne Sörensen. Alt? -- Wie wir heute da draußen Pläne
schmiedeten, spitzbübisch und spitzfindig und dabei lachten und
uns an Einfällen gegenseitig überboten, Erne Sörensen, da warst du
jung... Welch wunderliches Frohgefühl, zu wissen, daß ein reiner,
gleichgestimmter Akkord zwischen mir und dem Jungvolk schwingt. --

    +Dienstag abend+.

Es ist mir nicht gelungen. Mit leeren Händen stehe ich vor dem alten
Heidekamper und mit ödem Kopfschütteln vor den fragenden Augen der
jungen Sörine. Sie glaubte felsenfest, daß ich die Eltern Asmus
bereden +müßte+. Aber es war ordentlich wie ein Triumph in jenen
beiden, daß ich wohl als Direktor dem +Lehrer+ Asmus etwas zu
befehlen hätte, aber niemals dem Vater. Ich habe zur herzlichen Bitte
gegriffen, habe ihnen das schöne, reiche Heidekamp gezeigt, die sonnige
Freundschaft zwischen Sörine und Agnes. Und wenn sie noch irgendwelche
Befürchtungen ausgesprochen hätten, die ich zerstreuen konnte, --
nichts, nichts dergleichen. „Wir wünschen es nicht,“ sagte Frau
Asmus, und der Kollege nickte wie ein Pagode. Als ich auf die Sonne
in Heidekamp hinwies und auf den Schatten der Galgenstraße, da las
ich etwas wie Mitleid in des Vaters Zügen, und an dies schattenhafte
Mitleid versuchte ich immer wieder heranzukommen. Aber es half mir
nichts. Der Einfluß des greulichen Weibes war stärker. „Ich gehe ja
täglich mit Agnes in die Heide,“ sagte sie verbissen, „und wenn sie
davon nicht wohler wird, müssen wir sie eben aus der Schule nehmen...“
Nur das nicht. Das muß ich zu allererst verhindern. Wenn ich je dem
Vater Asmus näherkommen sollte, will ich versuchen, ohne daß er’s
merkt, ihn zu bestimmen, daß Agnes das Lehrerinnenexamen macht. Ich
kann ihr durch die Schule viel Freuden geben, aber die Stiefmutter darf
nicht merken, daß ich dahinterstecke.

Wie häßlich ist das alles. Wenn die Verhandlungen wenigstens nur
zwischen den Eltern und mir stattgefunden hätten! So aber war das
arme Mädel dabei, und ich selbst war verurteilt, in ihrem Gesicht die
Erwartung, die Freude, die Enttäuschung und den Jammer zu erleben.

Nun habe ich an den Heidekamper geschrieben. Denn der Sörine in das
erwartungsvolle Gesichtchen hineinzusagen, daß die Freundin nicht
Hausgenossin werden darf, sondern in der Galgenstraße weiter nach Sonne
und Liebe hungern soll, -- Sörensen, dazu fehlte dir der Mut. --

       *       *       *       *       *

    +Ostersonntag abend.+

Heute habe ich einen rechten Osterspaziergang gemacht.

„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche...“, es war köstlich.

Und wie manche Tage grau in grau fließen, so war dieser klarblaue
Himmelstag auch innerlich voll sonniger Schöne. Im Heideforsthaus
hatte ich mir mein Mittagsmahl bestellt, denn Frau Dietz ist
beurlaubt. Und kaum dort angekommen, sah ich von der Fahrstraße her
eine vorsündflutliche Kalesche, eine wahre Kajüte, heranrollen, der
mit steifer Grandezza das Original von Birkholz, Fräulein Tingleff,
entstieg. Da die mir bis dahin unbekannte Dame lahm ist, sprang ich
zu und half ihr. Da sagte sie mir mit sehr komisch wirkendem Ernst,
daß ich ihr kein Fremder sei, da sie jede Nacht von mir träume. In der
weitbauchigen Kutsche hatte sie noch Fräulein Doktor, Lore Hansohm und
-- Agnes Asmus verstaut. Frauen sind doch geborene Verschwörer, und in
Klaus Hansohm hatten sie den dazu passenden Jesuiten gefunden. Da meine
Mission so kläglich gescheitert war, wollten die Verbündeten wenigstens
den kleinen Freundinnen ein schönes, gemeinsames Osterfest verschaffen.
Hansohm stand im Garten und redete eifrig auf die Frau Försterin ein.
Dann sah ich ihn ebenso eifrig am Fernsprecher und, -- so konnten schon
„das Grauchen“ und Sörine am Mittagsmahl teilnehmen. -- Und die Frau
Försterin kochte eine Stiege frische Eier, und du, alter Erne Sörensen,
saßest eifrig mit Klaus Hansohm beim Färben, während die Frauen der
Försterin halfen und den Kaffee kochten, den Tisch deckten und ihn
mit Tannengrün und Wacholderreis schmückten. Und du warfst kühne
Zeichnungen auf die Ostereier und schriebst Namen darauf, und Kollege
Hansohm malte winzige Noten zu kleinen Liedanfängen...

Leise kam wieder die Jugend zu dir und kränzte dich, lockte und
fragte...

Und du gabst dich ihrem Zauber hin an diesem lichten Frühlingstag, da
der liebe Gott durch den Wald ging... Wie die frohen Kinder habt ihr
dann mitsammen Ostereier gesucht. Ach, war das schön, Erne Sörensen!

Bis der fröhliche Abschied kam und die stille Besinnlichkeit. Nicht ein
Wort habt ihr beide, Klaus Hansohm und sein Direktor, auf dem langen
Heimweg gesprochen.

Ihr dachtet an zwei frohe, junge Menschenkinder. Das eine hielt in den
schlanken Mädchenhänden die Zügel des feurigen Pferdchens und fuhr
sicher das ihm anvertraute Grauchen vor das Herrenhaus zu Heidekamp.

Das andere hatte seinen müden Kopf an die Schulter des alten Fräulein
Tingleff gelehnt und schlummerte wohl in der Urväterkalesche. Aber
es durchträumte und durchlebte sicher noch einmal den strahlenden,
liebewarmen Ostertag. Den ersten in seinem sonnelosen Kinderleben.

       *       *       *       *       *

Das Lehrerkollegium hatte sich zu einem längeren Spaziergang nach
den „sieben Steingräbern“ verabredet. Es war in diesen Osterferien
niemand verreist, und so fand die Anregung lebhaften Anklang. Das in
der Nähe der Steingräber gelegene Wirtshaus „Zum Birkenpilz“ wollte
für gute Verpflegung sorgen, und Klaus Hansohm, den man als Jüngsten
zum Vergnügungsdirektor ernannt hatte, machte treulich jeden Tag den
stundenweiten Weg, um seinem Amt gerecht zu werden. Seine Schwester
Lore freilich, die ließ er heute bei einer Handarbeit und einem guten
Buch zu Hause zurück, auch mußte er „seinen Sörensen“ entbehren, der
sich der Allgemeinheit widmete. Man sah dessen hohe Gestalt neben der
kleinen, vergrämten Frau Oberlehrer Kahl wandern und hörte sein sonores
Lachen.

Klaus Hansohm hatte sich seinen Platz neben Fräulein Doktor gesichert.
Professor Traute ulkte ihn daraufhin ziemlich plump an, aber er
parierte schlagfertig: „Herr Professor, ich zeige ja damit nur,
wie sehr ich hoffe, daß das Akademische auf mich abfärbt. Und bei
einer Dame geschieht es natürlich sanfter, als wenn ich den Weg in
+Ihrer+ schätzenswerten Gesellschaft zurücklegte.“

„Dor rük an,“ lachte Fräulein Doktor. Und als Traute sich ärgerlich
entfernt hatte, meinte sie: „Sehen Sie mal, Kollege, wie die Parteien
so hübsch gesondert marschieren. Mir tut der Direktor schändlich
leid. Was gibt er sich für Mühe, die krausen Köpfe unter einen Hut zu
bringen.“

„Die krausen sind noch die besten,“ brummte Hansohm und zeigte auf
seinen eigenen vollen Scheitel, „aber die kahlen, -- Gott soll mich
bewahren. Und sehen Sie, wie unser Sörensen sich der schüchternen Frau
Kahl annimmt. Die wird den heutigen Tag mit Rotstift buchen, und ihr
Mann wird morgen doppelt greulich zu ihr sein.“

„Guter Gott,“ rief Fräulein Doktor, „können Sie sich den Kahl überhaupt
vorstellen, daß er mal verliebt war? Mal geworben hat? Mal den Ritter
spielen mußte? ‚Kahl‘! Ich finde, schon der Name paßt, wie angegossen.
-- Kahl von allen Idealen, bar jeglichen Reizes...“

Hansohm stieß einen Pfiff aus. „Der Kahl soll früher den Schwerenöter
gespielt haben...“

„Sie fabeln, Hansohm. Der Mann ist nur aus Neid, Gift und Galle
zusammengesetzt. An der Stelle des Herzens sitzt die Anciennitätsliste.“

„Und doch hätte Molière seinen Tartüff nach ihm formen können...“

„Kollege, wenn Sie so orakeln, gefallen Sie mir gar nicht. Auch machen
Sie an diesem Frühlingstag ein Gesicht, als hätte Ihnen die gute Lore
nicht genug Mittagessen gegeben.“

„Daran fehlt’s nicht,“ sagte Hansohm. „Aber ich denke an die Agnes
Asmus. Die sitzt in der Dunkelheit ihrer erbärmlichen Straße. Zu Lore
zu kommen, hat man ihr verweigert, seit die Eltern erfuhren, daß wir
neulich ein wenig Vorsehung gespielt haben.“

„Hansohm, können einem da nicht Krallen wachsen?“

„Ja wahrlich. Ich komme mir oft schon wie der Hoffmannsche
Struwwelpeter vor. Und besonders, wenn ich sehe, wie der kinderlose
Kahl den Kollegen Asmus in seiner hirnverbrannten Pädagogik
unterstützt.“

„Kahl und Pädagogik!“ rief Fräulein Doktor wegwerfend. „Wissen Sie, wie
er überhaupt dazu gekommen ist, Lehrer zu werden?“

„Nein, das ist wohl jedem schleierhaft. Ich denke mir, das Birkholzer
Lyzeum just unter dem Direktor Clausen war die einzige Stätte im
Deutschen Reich, wo er seine +Unkenntnisse+ verwerten konnte.“

„Hansohm, Sie sind das reinste Reibeisen. Und wir andern, die wir auch
schon unter Clausen segensreich wirkten?“

„Wir hatten alle unsere Gründe. Muß ich jeden einzeln nennen?“

„Nein, ich weiß Bescheid,“ nickte Fräulein Doktor ernst. „Was ist
übrigens Frau Professor Traute für ’ne Frau? Es ist ganz interessant,
sie mal alle hier im Grünen beisammen zu haben. Daß Frau Kahl
eingeschüchtert, gedrückt und jasagend ist, weiß ich noch von früher
und wundere mich nur, daß sie sich bei dem Manne nicht längst
aufgehängt hat. Es gehört ein Grad von persönlichem Mut dazu, die Frau
dieses Menschen zu sein, den ich jedenfalls nicht aufbringen könnte.“

„Vielleicht hat sie ein Gelübde getan,“ meinte Hansohm lachend.
„Übrigens fragten Sie mich nach Frau Traute. Sie ist heute
undurchdringlich. Ich habe sie nur schweigen hören. Im übrigen gehört
sie zu den Menschen, die sich nie freuen können, weder mit sich selbst,
noch mit andern. Mein Gewährsmann ist Fräulein Tingleff. Die sagt, Frau
Traute nährte sich von Unglücksfällen. Jedes glückliche Haus sei ihr
verhaßt, eine strahlende Braut, ein seliger Bräutigam bedeute einen
Pfahl in ihrem Fleisch. An dem Tage, da das Bankgeschäft von Manheimer
fallierte, habe ihr Frau Traute den ersten Besuch gemacht, um ihr die
Schreckensbotschaft zu bringen in der Annahme, daß Fräulein Tingleff
ihr Geld dort habe. Da sich dies als ein Irrtum erwies, habe sie sich
verärgert zurückgezogen.“

„Hansohm, geht auch nicht Ihre Phantasie mit Ihnen durch?“

„Ich bin nur Berichterstatter,“ verteidigte er sich. „Bis jetzt ist sie
nur stumm und mürrisch dahingeschritten, aber sehen Sie, jetzt stürzt
sie sich auf die Nissen. Die hat sich eben ein riesiges Triangel in ihr
Neustes eingerissen, -- das ist so was für Frau Professor Traute.“

„O, was hat doch der liebe Gott für Kostgänger!“ seufzte Fräulein
Doktor. „Aber wir sind auch nicht die besten Brüder. Wir hecheln hier
das Kollegium durch, anstatt uns am Direktor ein Beispiel zu nehmen.
Sehen Sie nur, er gesellt sich zur Nissen und Frau Traute.“

„Waghalsiger! Nein, ich gehe haushälterischer mit meinen Kräften um,
der Tag ist noch lang. Aber sehen Sie, der Gast wendet sich bereits
mit Grausen. Selbst der Goliath Sörensen ist dieser Doppelfirma nicht
gewachsen. Ahhh, er steuert auf uns zu. Was geben Sie mir, Fräulein
Doktor, wenn ich Sie eine halbe Stunde mit ihm allein lasse?“

„Einen Klaps!“ rief noch Dora Stavenhagen erschrocken, aber es war
zu spät. Lehrer Hansohm hatte sich schon zu Frau Professor Rasmussen
gesellt, einer feinen, älteren Frau, die ihm sofort von „ihrem Hans“
erzählte, der mit Hansohm einst zusammen das Gymnasium besuchte, bis
das Seminar trennend zwischen die Schulfreunde getreten war.

Direktor Sörensen begrüßte Fräulein Doktor fröhlich und schritt
plaudernd neben ihr. „Ich brauche Sie wohl nicht zu fragen, wie Ihnen
unser kindlicher Ostersonntag bekommen ist,“ sagte er. „Es war für mich
wie im Märchen. Eine gütige Fee hatte uns alle in Kinder verwandelt,
wenn sie auch anstatt im silbergestickten Elfengewand im braunen
Seidenkleide des alten Fräulein Tingleff erschien.“

„Ist sie nicht ein Prachtmensch?“ fragte Fräulein Doktor zerstreut
und hörte kaum auf die Antwort. Denn sie hatte mit Befremden bemerkt,
wie geflissentlich man die Schritte verschnellert hatte, um sie und
Sörensen zu isolieren. Hansohm pflückte weitab für Frau Professor
Rasmussen einen Wacholderstrauß. Dann aber schalt sie sich einfältig,
über törichte Möglichkeiten zu grübeln, anstatt das Beisammensein mit
dem wertvollen Menschen auszukosten. Sie schüttelte ihre Befangenheit
ab.

„Herr Direktor, haben Sie schon einmal Gelegenheit gehabt, unsere
zweite Klasse während der Ferien zu sehen? In ihrem ganzen Stolz,
vollzählig in die erste Klasse versetzt zu sein? Mir begegnete Telse
Lüders, bei der hatten wir uns ja alle den Kopf zerbrochen, ob es
möglich sei, sie nur ihrer schönen Augen wegen zu versetzen. Bis das
Kollegium seine sämtlichen schönen Augen zudrückte und sie mit rüber
nahm. Dafür hat sie den gesamten Lehrern eine Ballade gewidmet, die
ist nicht von Pappe. Und sie grüßte mich heute auf der Straße mit dem
Kopfneigen einer jungen Prinzessin, -- nur so eben gerade, -- weil ich
sie jetzt ‚Sie‘ nennen muß.“

„Ja, die Backfische sind ein Studium für sich,“ meinte Sörensen. „Was
sagen Sie im Gegensatz zu Ihrer Geschichte dazu, daß die Klasse mir
eine feierliche Bittschrift eingereicht hat, sie ferner ‚Du‘ zu nennen,
‚bis es nicht mehr ginge‘, wie der kühne Schlußsatz lautet.“

Fräulein Doktor strahlte. „Es ist eine absunderliche Gesellschaft. Nach
Schema F ist da keine geraten. Haben sie denn alle unterschrieben?“

„Mit einer einzigen Ausnahme, ja.“

Fräulein Doktor sah ihn scharf an. „Auf die wäre ich gespannt.“

„Sörine von Heidekamp,“ lachte er glücklich. „Und das bestätigt
schlagend unsere Ansicht über die ganze Klasse. Über den Geist, der
jede einzelne Schülerin beseelt. Ich war natürlich begierig, den
Grund zu erfahren, weshalb sich das liebe Mädel isoliert, denn ich
weiß ja, daß sie der ~Nervus rerum~ der Klasse ist, ein rechtes
Mütterchen...“

„Früher sagten Sie: ‚unbotmäßiger Rädelsführer‘...“ warf Fräulein
Doktor ein.

„Danke für den Hieb. Sie haben recht. Aber ich halte es mit dem
Sprichwort, wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der soll sich
aufhängen.“

„Also auf ein langes, fröhliches Leben,“ lachte Fräulein Doktor und
streckte ihm die Hand hin, in die er schallend einschlug.

„Und wissen Sie den Grund von Sörinens fehlender Unterschrift?“
forschte sie dann. --

„Freilich weiß ich ihn. Ich schaute gestern ein Stündchen in Heidekamp
ein. Sie sehen erstaunt aus. Ja, ich gestehe es gern, mir gibt das
Herrenhaus Werte. Vielleicht habe ich schon rein äußerlich immer nach
der feinen Form gehungert, in der man dort das Materielle wie das
Ethische serviert, ich der Emporkömmling. Und wie man dort doch nicht
am Äußeren hängt, sondern den Menschen wertet, -- Fräulein Doktor, ich
sitze wie ein Schuljunge zu Grauchens Füßen, während sie mir weismacht,
daß sie alle bei mir in die Lehre gehen. Und der alte Freiherr! Derb
kann er drein wettern, und Luthers Tischreden trägt er in der Tasche
und zitiert sie, wo es irgend möglich ist. Die sind ja nicht gerade für
Mädchenpensionate geeignet. Aber nie hörte ich eine obszöne Geschichte
von ihm, in denen Kahl so groß ist... Herr von Heidekamp ist recht ein
Ritter des ~ancien regime~...“

„Wie dankbar Sie sind!“ rief Fräulein Doktor warm. „Das muß ich
Fräulein Tingleff erzählen. Die sucht seit Jahren dankbare Herzen und
kann sie nicht finden, -- nicht in all ihrer großzügigen, selbstlosen
Wohltätigkeit. -- Und wie klärte sich Sörines fehlende Unterschrift
auf?“

Sörensen lachte über ihre Beharrlichkeit, mit der sie immer wieder auf
diese Frage zurückkam.

„Herzlich einfach. Ich fragte das junge Mädchen und es antwortete
freimütig. ‚Ach, ich habe mich ja jahrelang auf das Sie so gefreut.
Die Zeit konnt ich kaum erwarten. Nun sollt ich plötzlich meinen
Herzenswunsch drangeben. Das wollt ich nicht.‘ Es klang überzeugend
ehrlich. Und ich habe mich an jenem Abend im ‚Siesagen‘ geübt, und wenn
ich mich versprach, mahnte sie mich ernsthaft.“

Wie der Mann jung geworden ist in den wenigen Monaten, dachte Fräulein
Doktor. Es muß in erster Linie die Freundschaft mit dem frischen
Hansohm sein. Der hat mich ja auch auf dem Gewissen. Ich war auf dem
besten Wege, eine verschrobene, alte Jungfer zu werden... Oder sollte
wirklich die sonnige Sörine einen starken Einfluß auf den so viel
älteren Mann ausüben?... Dora Stavenhagen geriet ins Grübeln...

Das rote Dach des Gasthauses tauchte auf. Von weitem leuchteten schon
die weißgedeckten Tische unter den grünen Tannen. Das starke Aroma
eines guten Kaffees und die Streusel- und Obstkuchenberge wirkten
liebenswürdig auf jedes Gemüt. Man hieß einander lachend willkommen.

Nur Kahl raunte Fräulein Doktor zu: „Wann kann man gratulieren?“ und
empfing einen abweisenden Blick. Und Frau Professor Traute fragte den
Direktor: „Wissen Sie, daß in Ihrer Dienstwohnung der Schwamm ist? Ihre
Vorgänger sind alle am Gelenkrheuma eingegangen.“

„Welch grausame Perspektive, gnädige Frau. Ich weiß davon aber nichts,
fand lauter neue Parkettfußböden und tadellose Zentralheizung vor.
Nein, nein, so bald werden Sie mich nicht los.“ Vor seinem frohen
Lachen zog sich Frau Traute zurück.

Es wurde eine sehr gemütliche Kaffeestunde. Da sich Sörensen an das
unterste Ende setzte, konnte die Würde nicht so streng gewahrt und
durchgeführt werden, und als Hansohm seine Tasse vorzeigte, auf welcher
„dem lieben Großpapa“ stand, wachte eine gesunde Fröhlichkeit auf.
Fräulein Doktor saß zwischen Professor Rasmussen und Hansohm. Das
gab einen reinen Dreiklang. Rasmussen war in seinen jüngeren Jahren
viel krank gewesen und von seiner Gattin in aufopferungsvoller Weise
gepflegt worden. Seitdem war er ihr in einer huldigenden Dankbarkeit
zugetan, die fast an die alte Ritterzeit gemahnte. Viele lachten im
Kollegium und auch im Städtchen über den alternden Liebhaber, der seine
gleichaltrige Frau, mit der er längst die silberne Hochzeit gefeiert,
umwarb und betreute wie kaum ein Bräutigam die eben Erkorene. Für
Fräulein Doktor hatte der Anblick etwas Rührendes. Sie dachte an die
Ehe ihrer Eltern, an den immer kränkelnden Vater, der die persönlichen
Opfer seiner Frau nur als ihm gebührenden Tribut hingenommen hatte. Nun
war sie im anregenden Gespräch mit dem älteren Kollegen, dessen ganzes
Wesen abgeklärte Ruhe und volle Behaglichkeit atmete. Sah er doch, wie
Direktor Sörensen in seine Fußtapfen trat und seine, Rasmussens Frau
umhegte und umsorgte, ihr Kaffee einschenkte und die leckersten Stücke
auf den Teller legte.

„Mir ist zu Sinn, als sei unser Lyzeum aus Dornröschenschlaf erwacht,“
sagte er herzlich zu seiner Nachbarin. „Prinz Sörensen kam zu rechter
Zeit.“

„Meinen Sie wirklich, daß alle wach sind?“ fragte Fräulein Doktor
zweifelnd.

Rasmussen beugte sich humorvoll lächelnd näher und flüsterte:
„Vielleicht wartet der Küchenjunge Kahl noch auf seine Ohrfeige.“

Sie nickte lebhaft. „Die müßte ihm aber schon der Koch Herrgott geben,
an menschlichen Händen glitscht dieser Aal ab,“ gab sie zur Antwort.

Die allgemeine Unterhaltung war sehr lebendig geworden.

Nur Frau Kahl versuchte vergeblich, ihrem Partner Traute irgendein
Gesprächsthema abzulocken, er aß und trank und schaute starr auf einen
Fleck.

„Sehn Sie nur den Traute,“ raunte Hansohm. „Ich kenne diesen Blick. Er
bereitet sich auf eine Rede vor, die er dann uns meuchlings versetzt.
Sehen Sie, wie er maikäfert! Gleich wird er losburren. Burrrr! Surrrr!
Hab ich’s nicht geahnt? Ich bin unhöflich genug zu sagen: +Jetzt läßt
er sein Nachtlicht leuchten!+“

„Meine Damen und Herren! Hochverehrter Herr Direktor. Werte Kollegen!
Teure Freunde! Liebe Frau!“

„Warum er nicht noch sämtliches Getier in Wald und Flur mit
heranzieht!“ flüsterte der unverbesserliche Hansohm, so daß ihm
Sörensen mit dem Finger drohte.

Eine endlose Rede ging über die Zuhörer nieder. Voll Salbung und
innerer Unwahrheit. Dora Stavenhagen stellte bei sich fest, daß der
Direktor mit einem Male alt aussehe. Als sei es Jahre her, daß sie
ein „kindliches Osterfest“ mit ihm gefeiert. Ein paarmal zog er seine
Stirn in tiefe Falten, das war, als Traute mit schwülstigen Worten das
„tadellose Zusammenarbeiten“ von Direktor und Kollegium betonte, sowie
das „vorbildliche Einvernehmen des Kollegiums in sich“.

„Hört, hört!“ rief Hansohm unbedacht und verschärfte durch diesen
Ausruf die Feindschaft zwischen sich und Professor Traute ins
Ungemessene. --

Endlich machte der Redner Schluß, und noch in das erleichterte
Aufatmen der Zuhörer hinein erhob sich der Direktor zu einer kurzen
Entgegnung. „Was Herr Kollege Traute bereits als bestehend annimmt,
die vorbildliche Einigkeit, das ist meine +Hoffnung+. Rechnen Sie
immer auf mich, wo es gilt, sie lebendig zu machen.“

„Das war alles?“ sagte Frau Traute giftig zu Oberlehrer Kahl.

„Sie haben es ja gehört,“ war die Entgegnung. „Wo sich ein altbewährter
Oberlehrer abmüht und in glänzender Rhetorik... (Kahl verbeugte sich)
uns seine Gedanken verabfolgt, da hat Herr Sörensen nur drei Worte.
Und während der Rede versucht er noch auf Hansohms ungewaschene
Zwischenbemerkung zu achten, droht ihm schelmisch, lacht die
Stavenhagen an, -- es ist direkt kindisch ... Na, ich habe nichts
gesagt, Frau Oberlehrer. Darf ich Ihnen meinen Arm geben? Alles steht
auf. Ich glaube, Sörensen hat kindliche Spiele proklamiert. Er geht auf
Freiersfüßen und muß den Elastischen mimen.“

Man verzichtete auf die kindlichen Spiele.

Direktor Sörensen nahm Rücksicht auf die älteren Kollegen, die gern in
Ruhe ihre Zigarre rauchten, und auf die vergrämte, schüchterne Frau
Kahl, die auf dem rechten Fuße hinkte und sich überdies nicht getraute,
ohne ausdrückliche Zustimmung ihres Mannes auch nur einen Schritt zu
tun. Nun schlug er gemeinsames Kegeln vor, und bis Kollege Kahl, der
sich dazu erbot, den Kegeljungen gemietet und die Bahn vorbereitet
hatte, wollten die Turnlehrerin, Fräulein Peters, sowie Klaus Hansohm
und Fräulein Henny Freytag, die gleichfalls prächtige Turner waren, ein
paar glänzende Übungen am vorhandenen Reck vorführen. Auch im Springen
leisteten sie Hervorragendes und fesselten die Zuschauer.

Oberlehrer Kahl begab sich in den Hintergarten, um die Kegelbahn in
Augenschein zu nehmen.

Hier war es düster und ohne Sonne, weil die Umdachung der Bahn dicht in
den Tannenwald hineingebaut war. Ein paar wurmstichige Tische und Bänke
lehnten sich an die Bäume.

Auf einer dieser Bänke saß eine Frau. Sie war städtisch und beinahe
modisch gekleidet, ihre Füße steckten in Lackschuhen und durchbrochenen
Strümpfen. Aber über den Kopf hatte sie ein dunkles, mit seidenen
Fransen besetztes Tuch geschlagen, in der Art, wie Thüringer Landfrauen
zur Kirche gehen. Sie schrieb eifrig an einem Brief und hatte sich vom
Wirt ein Tintenglas hinstellen lassen, in dessen dürftiges Naß sie oft
die spitze, kratzende Feder eintauchen mußte. Dann und wann trank sie
einen Schluck Milch aus dem neben ihr stehenden Glase. Als Oberlehrer
Kahl an ihrem Tische vorbeiging, zog sie das Tuch tief ins Gesicht. --

Kahl beobachtete sie scharf, während er die Tafel in der Kegelbahn
aufrichtete und mit Kreidestrichen in Felder teilte. Er rief einen
Knecht an und gab ihm Befehle. Dieser holte einen Strauchbesen und
begann die Bahn zu säubern.

Von den Turnern und ihren begeisterten Zuschauern her scholl fröhliches
Lachen und Händeklatschen. Die einsame Frau richtete sich auf und
lauschte angestrengt hinüber. Dabei entglitt ihr das Tuch, und Kahl
sah in ein sehr hübsches, wenn auch unfeines Gesicht und in ein paar
herausfordernde Augen.

Mit wenigen Schritten war er bei ihr. „Wollen Sie sich nicht nach vorn
setzen?“ fragte er beflissen. „Die ganze Gesellschaft da kommt gleich
hierher, wir werden Sie in Ihrem gewiß wichtigen Schreiben stören.“

Sie sah in keck an. „Das kann schon sein,“ lachte sie, „aber ich bin
auch bald fertig.“ Ein böser, hohler Husten schüttelte sie, und sie
nahm wieder ein paar Schlucke von der warmen Milch.

„Wer sind die Leute da vorn,“ fragte sie, wie gelangweilt.

„Die Lehrer vom Lyzeum in Birkholz,“ antwortete er rasch, „und der
jetzt gerade ruft und lacht, ist der neue Lyzealdirektor Sörensen.“ Wie
in einer plötzlichen Eingebung war ihm der Nachsatz gekommen. Er sah
die Frau lauernd an.

„Was geht’s mich an?“ sagte sie abweisend und schrieb weiter. Kahl
entfernte sich zögernd von ihr und schritt wieder nach der Kegelbahn.
Nach einer Weile stand die Frau auf.

„Vergessen Sie nicht ’s Bezahlen,“ rief ihr der Knecht zu, und sie
diente ihm mit ein paar kräftigen Worten. Dann holte sie aus der
kleinen, abgegriffenen Geldtasche mehrere Kupfermünzen heraus und legte
sie auf den Tisch.

Den geschlossenen, mit Aufschrift versehenen Brief hielt sie
nachdenklich in der Hand.

Der Knecht schlürfte ins Haus, und in plötzlichem Entschluß kam die
Frau auf Kahl zu.

„Sie kennen den Direktor Sörensen?“ fragte sie vorsichtig.

„Erne Sörensen? Das ist mein Freund,“ log er.

Sie atmete rasch auf. „Das ist gut. Und nehmen Sie’s nicht krumm, daß
ich Sie vorhin angefahren habe. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen
Brief, ohne daß es jemand merkt, Herrn Sörensen bringen möchten.“

Kahl nahm ihr mit raschem Griff das Schreiben aus der Hand.

„Soll gern geschehen,“ raunte er hastig. Viele Fragen kreuzten sich in
seinem Hirn, aber ehe er nur eine einzige aussprechen konnte, hörte man
die Gesellschaft näherkommen und Sörensens hallende Stimme: „Kollege
Kahl, können wir kegeln?“

Die Frau nahm hastig das Tuch über Kopf und Schultern und durchschritt
den Garten. Erne Sörensen gewahrte sie, stutzte einen Augenblick und
verfärbte sich. Eine Weile sah er ihr nach und schüttelte dann langsam
den Kopf.

„Meine Herrschaften,“ rief Kahl, „dieser hintere, dunkle Teil des
Gartens ist der sogenannte Bannwald der sieben Steingräber. Es spukt
darin. Ich selbst habe eben einen Geist gesehen und wenn mich nicht
alles täuscht, auch unser verehrter Herr Direktor.“

Er lachte meckernd und scheinbar ganz unbefangen, und die Gesellschaft
rief und scherzte durcheinander und bat um Aufklärung.

Fräulein Doktor sah in das ruhige, nur seltsam blasse Antlitz des
Direktors, und etwas wie bange Sorge schlich in ihr Herz. „Was hat nur
der Kahl?“ raunte sie Hansohm zu.

„Der?“ lachte er leichtherzig. „Ein paar heimliche Seidel mit den
dazugehörenden Kognaks hat er hinter die Binde gegossen. Erst wenn
dieser Mann genügend Alkohol hat, wird er gemütlich.“

Man bildete Parteien und kegelte.

Ein scharfer Eifer wurde rege, die Damen nahmen es mit den besten
Keglern auf. Fräulein Doktor in einem unbewußten, innern Grimm zielte
scharf, und ihre Kugeln prasselten zweimal nacheinander alle Neune
herunter.

Der Kegeljunge verkündete es mit gellender Stimme.

„Ich würde nicht so triumphieren,“ flüsterte Kahl ihr im Vorbeigehen
zu, „Glück im Spiel, Sie wissen...“

„Herr Oberlehrer Kahl, +Sie+ werden mich immer unglücklich
lieben,“ gab sie schlagfertig zurück.

Als sie eine halbe Stunde gekegelt hatten, trat Hansohm wieder zu
Fräulein Doktor: „Kahl müßte sich wirklich etwas in acht nehmen. Seine
hämischen Ausfälle gegen unsern Direktor fallen schon den harmlosesten
Gemütern auf, -- ich bewundere Sörensen, mit welcher gelassenen Ruhe er
abwehrt. --“

Man spielte noch eine Weile, besuchte dann die Steingräber, über welche
Erne Sörensen einen fesselnden Vortrag hielt, nahm im Wirtshaus noch
einen einfachen Imbiß und freute sich auf den wunderschönen Heimweg
durch die mondbeschienene Heide. Wie drohende Spukgestalten standen
einige Riesenwacholder am Wege, und Klaus Hansohm erzählte schauerliche
Sagen, so daß die beiden jungen Lehrerinnen oft schreckhaft aufschrien.
Aber das fanden sie gerade entzückend.

Als sie sich vor Angst nicht mehr umzusehen wagten, verließ sie der
herzlose Kumpan und gesellte sich seinem Direktor zu. Lachend ließ
Fräulein Doktor die Furchthasen sich in ihre Arme einhängen und lotste
sie gutmütig durch die gespenstische Heide. --

„Darf ich den undisziplinierten Ausspruch tun, daß Sie mir gar
nicht gefallen, Herr Direktor?“ begann Hansohm. Er wußte, daß seine
Freundschaft mit Sörensen solch freies Wort gestattete. Machte er doch
nie ein Hehl daraus, daß er für Erne Sörensen durch Feuer und Wasser
ging. Auch jetzt sah er mit unverhohlener Besorgnis in das müde Gesicht
des so sehr Verehrten.

„Mein lieber Hansohm, ich gefalle mir selbst am wenigsten,“ entgegnete
der Direktor. „Aber vielleicht haben auch mich Ihre Spukgeschichten
geängstigt, die Sie unsern jungen Damen auftischten.“ Er lächelte
schwach. „Ich leide heute an Ahnungen wie ein altes Weib.“

„O wenn es weiter nichts ist...“ Hansohm sah ihn freimütig an. „Ich
glaubte vorhin wirklich, eine Krankheit stecke in Ihnen. Die hätte ich
ja erst abwarten müssen, aber mit ‚Ahnungen‘ schlage ich mich gern
gleich herum, wenn Sie befehlen.“

„Mein lieber, junger Freund, ich befehle gar nichts, aber ich bitte
Sie, für die Dauer des Heimweges bei mir zu bleiben.“

„Wie wunderlich der Mann ist,“ dachte Hansohm, „wie müde er aussieht.
Nun, ich bleibe neben ihm und sollte sich alles dagegen verschwören.“

Einmal versuchte Oberlehrer Kahl ihn wegzubeißen, aber Hansohm war
bis an die Grenzen der Möglichkeit dickfellig, und ein warmer Blick
Sörensens dankte ihm.

Kahl gesellte sich nun zu den jungen Lehrerinnen, und so wurde Fräulein
Doktor frei, die sich an die Seite von Frau Asmus schlängelte, um
unauffällig etwas über Agnes zu erfahren. Wie sie die Ferien verbringe,
ob sie fleißig spazieren gehe, wollte sie wissen.

„Agnes ist als Erste in die erste Klasse versetzt, Sie haben sich gewiß
sehr darüber gefreut, Frau Asmus.“

„Wir hatten gar nichts anderes erwartet, Fräulein Doktor,“ erwiderte
Frau Asmus abweisend. „Mein Mann und ich haben Tag und Nacht mit
unserer Tochter gearbeitet, um die Lücken, die ihr Kranksein gerissen
hatte, wieder auszufüllen. Das konnte nicht ohne Wirkung bleiben.“

Fräulein Doktor fühlte, wie ihr wieder „Krallen wuchsen“. Aber sie
durfte die Feindschaft zwischen sich und dieser Frau nicht verschärfen,
wollte sie Agnes helfen.

„Darf mich Ihre Tochter einmal in den Ferien besuchen,“ fragte sie
sanftmütig.

„Wenn ich sicher bin, daß sie niemand aus Heidekamp trifft...“

„Ja,“ entgegnete Fräulein Stavenhagen hart, und dachte innerlich voll
Schmerz: „Also diese Aussicht ist dem armen Geschöpf bereits verlegt,
-- wie schaffe ich eine andere Freude?“

„Darf sie also kommen?“

„Ja.“

„Ich danke Ihnen, den Tag werde ich gleich morgen bestimmen und Agnes
schreiben. Ich bin im allgemeinen dagegen, als Lehrerin die eigene
Schülerin einzuladen, ohne doch Prinzipienreiter zu sein. Und Agnes
gönnt jeder Mitschülerin eine kleine Bevorzugung, sie ist so ungeheuer
beliebt durch ihre sanfte Herzensgüte.“

„So?“ entgegnete die Stiefmutter mißtrauisch. „Ich wünsche nicht, daß
dem Mädchen Raupen in den Kopf gesetzt werden. Zu Hause merke ich
nichts von Herzensgüte ...“

Fräulein Doktor lenkte ein, trotzdem der Zorn in ihr kochte. Aber die
Zusicherung durfte auf keinen Fall rückgängig gemacht werden. Ein
froher Nachmittag für das geplagte junge Mädchen war nie zu teuer
erkauft. Sie kannte die schwache Seite der Frau Asmus. „Ich werde Agnes
eine Menge Zeitschriften und Kochrezepte mitgeben,“ lockte sie.

Frau Asmus’ grämliche Mienen hellten sich auf. „Nun also ja.“

„Wenn es Ihnen am Dienstag passen sollte, da sind mein Mann und ich
über Land bei älteren Leuten, die Agnes nicht mit eingeladen haben. Da
könnte ich zuschließen und...“

„Licht und Abendbrot sparen,“ vollendete Fräulein Doktor bei sich, denn
sie kannte den sprichwörtlichen Geiz des Ehepaares, der bei ihnen auch
wirklich die Wurzel alles Übels war.

„Aber Agnes darf natürlich in keiner Weise stören...“

„Ich wüßte nicht, wie sie das anfangen sollte, das schüchterne
Persönchen. Also Dienstag, ich weiß schon, daß ich an dem Tage nichts
anderes vorhabe. Wann wollen Sie fortgehen?“

„Wir müssen mit dem 10 Uhrzuge fahren, ich koche für Agnes das
Mittagessen vorher...“

„Wie unnütz, Frau Asmus! Agnes ißt bei mir, und Sie schließen gleich
zu.“

Nun, da stand einmal ein billiger Tag in Aussicht.

Und außerdem hatte Frau Asmus das Versprechen der Lehrerin, daß ein
Wiedersehen zwischen den beiden Freundinnen ausgeschlossen sei.

Man schritt nun durch das altertümliche Tor der Stadt. Hansohm, der
in seiner Nähe wohnte, verabschiedete sich. Einen Augenblick blieb
Fräulein Doktor noch bei ihm stehen. „Grüßen Sie mir tausendmal
Fräulein Lore. Sie hat einen stillen, friedlichen Nachmittag mit
einem guten Buche als Gesellschaft zu verzeichnen, ich war heute
friedloser...“

„Wenn Sie sich Mutter Asmus als Begleiterin wählen, ist’s Ihre eigene
Schuld,“ grollte Hansohm.

„Woran mahnen Sie mich,“ rief Fräulein Doktor. „Kollege, Sie müssen
mir durch Lore Kochrezepte verschaffen, ich versprach Frau Asmus eine
Legion und besitze nicht ein einziges.“

„O, von mir aus kann ich auch mit ein paar aufwarten. ‚Wie man böse
Weiber in Essig legt‘ und dann...“

„Danke, danke, die Überschrift genügt schon,“ wehrte Fräulein Doktor.
„Im übrigen habe ich am nächsten Dienstag die Agnes den ganzen Tag bei
mir zum Besuch... Gute Nacht, gute Nacht.“

Sie eilte lachend davon und drehte sich noch einmal um und sah den
Kollegen Hansohm mit offenem Munde und nicht sehr geistreichem Gesicht
noch auf derselben Stelle stehen.

An der Tür des alten Patrizierhauses holte sie die andern ein. Die
meisten hatten sich schon vom Direktor verabschiedet und ihm bereits
den Rücken gewandt. Nur Oberlehrer Kahl stand noch bei ihm und legte
eben mit seinem bekannten meckernden Lachen einen weißen Briefumschlag
in die Hände von Erne Sörensen. Dann zog er nachlässig den Hut. Beinahe
kränkend kurz und knapp.

Der Direktor merkte es nicht. Er sah nur den Brief. Sah auch an Dora
Stavenhagen vorbei ins Leere, grüßte nur mechanisch und ging mit
schleppenden Schritten durch das hohe Portal seiner Dienstwohnung, das
schwer hinter ihm ins Schloß fiel. --

       *       *       *       *       *

    +Sonnabend nacht.+

Das Skelett meines Hauses grinst.

Glaubtest du, Erne Sörensen, ihm zu entgehen?

Du hattest für jene Frau, die du aus deinem Leben strichest, gesorgt,
gut gesorgt, und hofftest, in diesem stillen Landstädtchen in heißer,
willkommener Arbeit ausgefüllte Jahre zu verleben.

Du wolltest nicht eigentlich etwas für dich. Wolltest anderen,
wertvollen Menschen viel geben, und sahst, daß du dazu auch imstande
warst.

Nun klopft jene Frau mit drohendem Finger an deine Tür und begehrt
Einlaß.

Und sagt dir sehr energisch, daß sie Lisette Sörensen heiße und willens
sei, die Rechte dieses Namens auszunutzen. --

Sie scheint genau zu wissen, was dies Geständnis für dich bedeutet.
Hier in Birkholz, wo jeder zu ergründen sucht, was der Nächste tut und
treibt. Wo man unter einer Glasglocke sitzt und am besten noch ein
Fensterchen vor der Brust trüge, damit den lieben Leuten auch nicht ein
Fältchen des Inneren verborgen bliebe. --

Ich will ihr nicht schreiben.

Will ganz ruhig in diesen stillen Nachtstunden mit mir zu Rate gehen.

Lebten meine Knaben noch, -- vielleicht...

Nein, das kann Gott nicht wollen. Jetzt nicht mehr... Daß ich verkommen
soll neben dieser Frau! Daß all mein heißes Ringen, all meine
Arbeitsjahre umsonst gewesen sein sollen... Daß ich vielleicht gar
diese düsteren Blätter vor zwei reinen Kinderaugen aufrollen soll...

Guter Herrgott, hilf mir!

Ich bin ganz ruhig.

Ich werde das tun, was ich für meine Pflicht halte.

Ich will Lisette sprechen. --

       *       *       *       *       *

In der Galgenstraße stand ein kleines, sauberes Wirtshaus „Zur
Erholung“. Der Name war etwas kühn gewählt, denn es hastete tagaus,
tagein durch seine Türen, und auch drinnen war allezeit ein überreges
Treiben und Lärmen von der springlebendigen Wirtin an bis zum
lautstimmigen, gewalttätigen Hausknecht hinunter. Aber Wirt und
Wirtin hatten diesen Namen nun einmal gewählt. Sie waren Anfänger und
hofften durch regen Fleiß ihr Wirtshaus in der billigen Galgenstraße
so weit in die Höhe zu bringen, daß man es getrost der „Grünen Birke“
am Markt gleichstellen sollte. Und man konnte nicht wissen, ob der
Bürgermeister in zwanzig oder dreißig Jahren nicht am Ende den üblen
Namen Galgenstraße in Erholungsstraße umtaufen würde, dem Wirtshaus und
seinen Gründern Jochen Timm und Frau Dorette, geb. Brodersen, zu Ehren.
-- Die ganze Sache ließ sich prächtig danach an.

Zahlreiche Bauern aus der Umgegend, Pferdehändler und Geschäftsreisende
stiegen bei ihm ab und ließen ein hübsches Stück Geld zurück. -- Und
er und seine rührige Frau sorgten dafür, daß es blitzsauber in Küche,
Keller und Gaststube zuging und ebenso in Sachen Moral bei den über
Nacht bleibenden Gästen. -- Hatte er doch der hübschen, kecken Frau
Sörensen beinahe den Stuhl vor die Tür gesetzt, als sie ihm gestern
ankündigte, daß sie in den nächsten Tagen Herrenbesuch erwarte. Zu
ihrem Glück war der Herr ihr eigener Mann. Nun ja, es mochte da wohl
manches in der Ehe nicht ganz stimmen, aber das war ja nicht so etwas
Seltenes. Einen richtigen Wirt durfte überdies nichts in Erstaunen
setzen bei seinen Gästen. Jedenfalls aber war Frau Sörensens Mann
ein feiner, honetter Herr, von außen schon sehr gut anzusehen. Er
hatte gleich die aufgelaufene Rechnung ohne eine Miene zu verziehen
beglichen, hatte seiner Frau die beiden besten verfügbaren Stuben
anweisen lassen, und saß nun seit einer Stunde droben mit ihr im
Wohnzimmer, wo er „nicht gestört zu sein wünschte“.

Nun, dafür wollte Jochen Timm schon sorgen.

War doch wahrhaftig gleich hinterher ein anderer Herr gekommen mit so
einem gelben, spinösen Gesicht, und hatte ihn aushorchen wollen. „Ob
da der Lyzeumsdirektor Sörensen hinaufgegangen sei, und ob etwa eine
Mutter oder Schwester oder gar Frau von ihm im Gasthof zur Erholung
wohne.“

„Mein Herr,“ hatte Jochen Timm geantwortet, „was bei mir wohnt, ist
alles polizeilich angemeldet und braucht der Herr sich nur auf der
Polizei Bescheid zu holen.“

So viel war gewiß. Wer ihn, Jochen Timm, zum Schwatzen und zum
Preisgeben seiner Geschäftsgeheimnisse veranlassen wollte, der mußte
früher aufstehen und außerdem nicht so plump mit der Tür ins Haus
fallen. --

Erne Sörensen saß in dem mit bescheidenem Prunk eingerichteten
geräumigen Zimmer seiner Frau gegenüber.

Er sah so blaß aus, daß Frau Lisette voll Scheu und beinahe furchtsam
in sein strenges Gesicht blickte. --

„Du hattest mir mit Handschlag versprochen, meinen Weg nicht mehr zu
kreuzen,“ sagte Sörensen ernst.

„Ich brauchte Geld,“ entgegnete sie finster.

„Dann hättest du darum schreiben sollen. Und ich frage mich trotzdem,
wie es möglich ist, daß du als alleinstehende Frau mit der großen Summe
nicht auskommst. Es müßte denn sein, du seist viel krank gewesen. Ist
dem so? Du siehst nicht gut aus, Lisette.“

Sie lachte kurz auf und hustete dann hohl und langanhaltend.
„Erkältungen,“ sagte sie leichthin. „Hab mich nicht drum geschert. Die
letzte ist hartnäckig und dauert nun schon bald ein Jahr. Aber das
ist’s nicht. Na ja, ich bin kein Sparer, und ich hab mein junges Leben
auch genießen wollen. Aber die Hauptsache sind meine Schwestern und
deren Männer. Die saugen mich aus. Die ersten Jahre war’s ganz lustig
mit ihnen, aber nun hab ich’s satt. Ich will nun wieder zu dir kommen,
Erne...“

Eine tiefe Röte stieg in sein Gesicht.

„Dazu ist es zu spät,“ sagte er ernst. „Ich nehme dich nicht wieder
auf. Du hast mich damals freiwillig und bis obenhin voll Schuld
verlassen, wenn du auch durch zehn Jahre hindurch allen, die es wissen
wollten, erzähltest, ich hätte dich um des Sterbens unserer Kinder
willen verstoßen. Mein Haus bleibt dir verschlossen.“

„Ich lasse mich aber nicht von dir scheiden...“ warf sie trotzig ein,
„und die Schwäger sagen auch, das sollt’ ich auf keinen Fall tun...“

„Laß jene Leute aus dem Spiel. Wir beide sind tiefer voneinander
geschieden, als das Gesetz es tun könnte. Wenn du aber dein Versprechen
fürderhin nicht hältst, Lisette, -- so zwingst du mich...“

Er war aufgestanden. „Was hast du nun vor? Willst du nach Thüringen
zurück?“

„Auf keinen Fall,“ entgegnete sie. „Dazu ist mir denn doch dein schönes
Geld zu schade, daß es immer nur in die Taschen der Schwäger wandern
soll. Ich bin dort heimlich ausgerückt und will nun nach Lüneburg.
Da hab ich noch Freunde. Du brauchst dich nicht zu schütteln, Erne,“
lachte sie leichtsinnig, „’s ist nur ’ne alte Frau. Bei der will ich
mich erst mal einmieten. Und will mich ordentlich auskurieren, so geht
das nicht länger.“

„Tu das, Lisette. Geh zu einem tüchtigen Arzt oder in eine Heilanstalt,
es soll dir an nichts fehlen. Aber heute nachmittag mit dem 3-Uhr-Zuge
wirst du reisen. Wie kamst du gestern in das Heidewirtshaus?“

„Ich war in der Apotheke, um mir ein paar Hustentropfen zu holen, da
erzählte es der Apotheker, daß die Lehrer vom Lyzeum einen Ausflug
machten dorthin. Da glaubte ich, ich könnte dich eher sprechen als
hier in der Stadt. Der Wirt hat mich auf seinem Wagen mit hingenommen,
er mußte über Land. Schon als ihr ankamt, habe ich euch beobachtet.
Die Häßliche, mit der du gingst,“ Lisette lachte, -- „die sah dich arg
verliebt an. Und wie du mit ihr schön tatest! Ist es deine Liebste?“

„Schweig!“ fuhr Sörensen auf. „O! Das ist deine Denkweise! Du weißt,
daß ich nicht frei bin...“

Sie sah ihn erstaunt aus runden Augen an. „Wie du alles schwer nimmst,“
murrte sie dann. „So war es immer. Hätten wir uns doch nie gesehen!“

Er nickte düster. „Ich gehe jetzt, Lisette. Um drei Uhr bin ich am
Bahnhof und bringe dir deine Fahrkarte. Auch das versprochene Geld
erhältst du dort. Sei unbesorgt. Leb wohl, Lisette. Laß gut sein. Ich
bin des Kämpfens müde. Laß uns ruhig, ohne Groll aneinander denken...
Werde bald gesund! Leb wohl! --“ Er reichte ihr die Hand und ging mit
schweren Schritten.

Unten bestellte er noch heißen Tee für sie und hinterlegte eine Summe
für das, was sie noch verzehren würde. Jochen Timm dienerte unablässig
und empfahl sein Hotel für alle vorkommenden Gelegenheiten.

Lisette Sörensen stand am Fenster und sah ihrem Manne nach. Und
beobachtete, daß im gegenüberliegenden Hause auch drei Menschen ihm
nachschauten und zwei davon die Hälse reckten und das dritte, ein
zartes Mädchen, weinte.

Aber sie konnte sich den Zusammenhang nicht klarmachen. Überdies
schüttelte sie wieder der entsetzliche Husten.

Sie tastete sich zum Sofa.

Und während sie sich dort von dem Krampf erholte, überdachte sie
ihr unnützes Leben. Sie konnte sich bei aller Anstrengung wirklich
keiner freundlichen Tat gegen ihren Mann besinnen. Und es sah ihm
recht ähnlich, daß er ihr auch noch den heißen Tee heraufschickte. Wie
höflich der Wirt zu ihr war.

Sie schlürfte begierig das heiße Naß und behandelte den unterwürfigen
Jochen Timm von oben herab, bis er verärgert hinausging.

Und als sie recht durchwärmt war, empfand sie, daß sie eigentlich froh
war, heute fortreisen zu können.

Und ihr Leichtsinn dachte nicht einen Augenblick daran, wieviel
häßliche Steine sie aufs neue in den Weg von Erne Sörensen geworfen
hatte.

       *       *       *       *       *

Als Fräulein Doktor am Nachmittage, der dem Ausfluge folgte, sich
recht behaglich hingesetzt hatte, um bei dem Regen da draußen ein
gutes Buch zu lesen, wurde sie durch ein hartes Stampfen oder Stoßen
aufgeschreckt. Hinter der Mansardentür, die sie sofort öffnete, stand
niemand. Aber das Stoßen hörte nicht auf.

Eine Weile versuchte sie noch zu lesen, dann legte sie das Buch
ärgerlich hin, horchte noch einmal nach allen Seiten und ging dann die
Treppe hinunter, um an der Tür von Fräulein Tingleff zu läuten.

Die alte, halbtaube Dienerin schlürfte heran und wies sie ins Zimmer.
Auf dem festgefügten Mahagonitisch stand ein Stuhl und auf diesem
das alte Fräulein mit einem Besen bewaffnet, den sie in regelmäßigen
Zwischenräumen gegen die Decke stieß. Der Kalk war schon vielfach
abgefallen und bedeckte den Tisch, das Sofa und den Teppich.

„Kommen Sie endlich, Doktorsche?“ rief Fräulein Tingleff ärgerlich.
„Soll ich mir denn die ganze Zimmerdecke ruinieren?“

„Daß ich nicht wüßte,“ lachte die Eingetretene. „Was ficht Sie denn an?
Konnten Sie nicht die alte Tine schicken?“

„Tine wird täglich tauber. Ehe ich ihr den Sachverhalt klarmache, bin
ich längst auf den Tisch geklettert. Aber nun helfen Sie mir herab. Es
war eine Leistung mit meinem lahmen Bein.“

„Den Hals konnten Sie sich brechen, Fräulein Tingleff. War’s denn so
eilig?“

„Das Halsbrechen nicht, aber die Sache wohl, die ich Ihnen erzählen
will.“

Sie saß noch immer auf dem Tisch, aber nun schob Fräulein Doktor das
Sofa heran und lotste die Waghalsige auf die weichen Polster. Dann nahm
sie ihr den Besen aus der Hand und fegte die Zimmerdecke zusammen.

„Was wird Dingelmann sagen,“ brummte Fräulein Tingleff mit
vorwurfsvollem Blick auf Fräulein Doktor. „Ja, Sie haben gut lachen,
Doktorsche. Aber wenn ich Ihnen alles erzählt haben werde, wird Ihnen
vielleicht für alle Ewigkeit das Lachen vergangen sein...“

Dora Stavenhagen wurde nun doch aufmerksam und sah, daß die alte Dame
arg verstört und bekümmert dreinschaute.

„Doktorsche, ich bin um ein paar Pfund Ideale leichter geworden.“

„Was ist denn geschehen?“

„Ich war heute um drei Uhr auf dem Bahnhof und da hab ich den Sörensen
gesehen, unsern Sörensen, +meinen+ Sörensen, wie er eine
Frauensperson hofierte, eine junge, sehr hübsche, üppige, furchtbar
gewöhnliche Frauensperson in Stöckelschuhen und durchbrochenen
Strümpfen... Sie reiste ab und heulte wie ein Schloßhund.“

„Nun und was weiter?“ fragte Fräulein Doktor ruhig und nur um einen
Schein blasser.

„Was weiter? Genügt das nicht? Sörensen gilt hier als Asket... ich sag
Ihnen, Doktorsche, von +dem+ Manne schmerzt es mich, daß er nicht
ist, was er scheint.“

„Wer sagt Ihnen das?“ rief Dora Stavenhagen mit funkelnden Augen. „Muß
denn immer gleich der Stab gebrochen werden? Aber Sie sind nicht besser
als all die andern. Für mich bleibt Sörensen -- Sörensen und wenn er
hundert junge Weiber hofiert...“

„Sie haben den Mann gar nicht lieb, nie, nie!“ sagte Fräulein Tingleff
trocken. „Sie schätzen ihn bloß...“ Und sie streichelte zart mit ihren
runzeligen Händen Doras Wange.

Da brach Fräulein Doktor in Tränen aus.

„Ich bin eine greuliche, alte Person,“ fuhr Fräulein Tingleff fort.
„Zweiundsiebzig vorbei und noch immer mit einem Maul wie ein Schwert.
Pfui Teufel. Aber Sie haben mich abgekanzelt. Dafür sind Sie ja auch
Oberlehrerin. Und recht haben Sie. Aber Sie sollen mich doch nicht so
in einen Pott mit dem ganzen Birkholzer Gemüse werfen...“

Dora Stavenhagen faßte sich.

„Es ist mir traurig zu Sinn,“ sagte sie, „wenn so ein aufrechter Mensch
wie Fräulein Tingleff, auf deren Freundschaft ich mir etwas einbilde,
gleich umfällt, sobald etwas nicht ganz leicht Begreifliches auf den
Plan tritt... Etwas, das die blöde Masse nicht kapiert...“

„Sermon Nr. 2?“ fragte die alte Dame. „Na, toben Sie sich nur aus.
Ich werde mir einbilden, daß mir das Hemdchen noch aus dem Höschen
schaut... ‚Blöde Masse‘ ist übrigens gut.“ Sie umzeichnete ihre eigene
rundliche Fülle mit dem Finger.

„O, Fräulein Tingleff, so meinte ich’s natürlich nicht...“ wehrte
Fräulein Doktor. „Aber es brennt mir noch eine Frage auf der Seele:
Haben viele Birkholzer dem Abschied auf dem Bahnhof beigewohnt?“

„Einige ja. Und wenn ich’s jetzt überdenke, muß ich mich noch
nachträglich verwundern, daß es eigentlich nur Leute aus Ihrem
Kollegium waren. Ich sah den greulichen Kahl...“

„Fräulein Tingleff!!!“

„Ja. Ist’s nicht merkwürdig? Und noch ein paar andere waren dabei,
deren ich mich von der Kaisergeburtstagfeier in der Aula her
erinnere...“

„Nun, da wird das Wespennest ja bald über ihn herfallen.“

„Warum ist der Mann auch nicht vorsichtiger!“ meinte Fräulein Tingleff
ärgerlich. „Diese Randbemerkung gestatten Sie mir doch bei dem
Herrlichsten von allen?“

„Eigentlich nicht. -- Sörensen geht nur Wege, an denen seine
unbestechliche Ehrenhaftigkeit als Weiser steht.“

Dora Stavenhagen umfaßte die alte Dame. „Nicht wahr, wir beide wollen
die bekannten ‚Freunde hinterm Rücken‘ aus dem Sprichwort sein? Der
Einsame wird uns brauchen können. --“

„Vielleicht,“ nickte Fräulein Tingleff ernst. „Aber als der Zug gestern
hinausgedampft war, ging Sörensen an mir vorbei. Und da sah ich an
seinem Gesicht, daß er +niemand+ brauchte.“

„Gestern vielleicht nicht. Aber sein Leben ist noch lang.“

„Doktorsche, nehmen Sie mich in die Lehre. In diesem Falle sind Sie
die Ältere. Ich hab mich noch nicht zur inneren Ruhe erzogen. Möchte
immerfort helfen, auch ungerufen. Möchte die Menschen zu ihrem Glücke
zwingen. Jetzt bin ich in dem Zustande der leeren Hände. Der ist
fürchterlich.“

„O, ich fülle sie gern,“ sagte Fräulein Doktor herzlich. „Da habe ich
z. B. zum Dienstag die Agnes Asmus für mich gekapert. Die Eltern sind
über Land, ein seltener Glücksfall, und das Mädel soll bei mir Mittag
essen. Dürften wir zum Nachmittag herunterkommen und an Ihrem schönen
Flügel musizieren? Sie wissen, ich habe kein Instrument, und Agnes
Asmus hat solch süße, reine Stimme. Es ist ein Genuß, sie singen zu
hören, und für das Mädel selbst das schönste Geschenk, wenn man ihr
Gelegenheit dazu gibt.“

„Wozu diese lange Erklärung? Es ist abgemacht. Aber daß Sie oben in
Ihrem Vogelkäfig Ihren Petroleumkocher abstrapazieren, leide ich nicht.
Es wird bei mir gegessen. Schlag 1 Uhr. Meine taube Tine soll uns ein
gutes Essen auftafeln. Dazu braucht sie die Ohren nicht. Und süße
Puddinge, eine schwere Menge müssen ’ran. Und Kuchen wird gebacken. War
ja auch mal Backfisch in nebelgrauer Vorzeit. Soll Sörine Heidekamp
auch mit her?“

„Diesmal leider nicht. Mutter Asmus hat’s untersagt.“

„Nennen Sie dies Weib nicht ‚Mutter‘.... Das Herz krempelt sich einem
um, wenn man solche Neutra mit diesem Namen rufen hört, den unsereins
sein Lebtag vergebens erfleht hat. -- Mit aller innewohnenden Menschen-
und Kinderliebe! Und doch umsonst erfleht.“

Wie wunderlich es klang aus dem alten Munde.

Fräulein Doktor machte ihr hilfloses Gesicht und hatte fragende Augen.

„Ja, Menschenkind, glauben Sie denn, ich wäre früher ein Kieselstein
gewesen, um meine zweiundsiebzig Lenze nun für den Sörensen aufzuheben?
Nein, Doktorsche, ich bin ein einsames Geschöpf geblieben, um meine
Liebe zu behalten. ’s gibt halt so närrische Herzen, die geben ihren
ganzen inneren Reichtum dem einen, und nimmt er nicht auch den Menschen
dazu, ist’s bös. Denn der andere kann nicht teilen, kann sich nicht
zersplittern. So ist’s mir ergangen. Namen nenne ich natürlich nicht.
Täte ich’s, Sie lachten sich von Sinn und Verstand. Dazu ist mir meine
Liebe zu schade. Und nun wollen wir von etwas anderem reden. Vom
Dienstag, auf den ich mich freue.“

„Ich auch, ich auch!“ frohlockte Dora Stavenhagen, nahm das alte
Fräulein in den Arm und reigte sanft wiegend mit ihr durch das Zimmer.
Und sie dachte dabei, wie närrisch es doch im Leben zugehe, daß sie
just an dem Tage, da sie mit seltsamer Gewißheit spürte, daß Erne
Sörensen mit starken Fesseln an eine andere geschmiedet sei, ein frohes
Tänzchen anhebe.

„Doktorsche,“ rief Fräulein Tingleff mit tiefem Knix, „wir sind eine
feine Kumpanei. Das macht uns so leicht niemand nach. Was meinen Sie,
wenn wir diesen Menuettwalzer als Probe betrachteten? Soll ich zum
Dienstag die Hansohms und den Sörensen mit einladen und den Abend in
einen Ball ausarten lassen? Ich kann technisch einwandfrei auf dem Kamm
blasen...“

„Bitten Sie Herrn Sörensen lieber nicht... ich glaube, -- ganz
sicher -- -- es ist besser so. Aber Hansohms -- o, das ist herrlich!
Hoffentlich ist Lore wohl genug.“

„Und der Hansohm hat mir gesagt, daß er zu jedem Kalbsbraten in
freund-brüderlicher Beziehung stünde. So soll er eine Kalbskeule haben.“

Die beiden berieten noch eifrig miteinander.

Und dann trennten sie sich und hatten, als sie jedes für sich allein
waren, mit eins den kommenden fröhlichen Dienstag vergessen und
dachten nur noch an Erne Sörensen und wer wohl die auffallende
Persönlichkeit sein möchte, mit welcher der sonst so korrekte Sörensen
sich so sorglos vor ganz Birkholz bloßstelle.

    +Sonntag abend.+

Gott sei Dank, die Ferien sind vorbei.

Gewiß nicht ein ganz gewöhnlicher Ausspruch für einen Schulmann. Aber
für einen Direktor doch wohl berechtigt.

Ruhe und Muße haben mir die Ferien nicht gebracht und dazu hatte ich
rechtschaffenes Heimweh nach meinen zweihundertundfünfzig Kindern.
Morgen sehe ich mein Völkchen wieder und wie es werden wird, wenn...

Erne Sörensen, so denke nicht dran, und pflücke den Tag. --

So pflückte ich mir am Dienstag ein paar gemütliche Stunden von dem
Strauch Behaglichkeit, der nirgends so gut gedeiht wie in dem alten
Hause von Dingelmann und Sohn gegenüber meiner eigenen Behausung.
Es trieb mich zu dem bejahrten Fräulein Tingleff, die es aber an
Jugendfrische mit uns allen aufnimmt. Uneingeladen kam ich, aber nicht
unerwartet. Gottlob, daß es noch so warme Häuser im lieben Vaterlande
gibt, wo man immer willkommen und immer zu Hause ist.

Drei Leute fand ich, die alte Dame, Fräulein Doktor und Klaus Hansohm,
alle drei bemüht, der blassen Agnes Asmus einen frohen Abend zu
schaffen, nachdem ihr wohl schon ein so köstlicher Tag beschert worden
war, daß das junge Herz die Glücksfülle kaum fassen konnte. Kollege
Hansohm mühte sich fast väterlich um sie und ihre süße, zarte Stimme,
die uns kleine Volkslieder mit rührendem Reiz sang. Er plant eine
Ausbildung der Stimme, wenn Agnes die Schule verlassen hat. Natürlich
wäre bei dem bekannten Geiz der beiden Eltern nicht daran zu denken,
aber Fräulein Tingleff ist jede schöne Gelegenheit recht, ihr Geld
nutzbringend anzulegen. Am Abend kam auch der alte Dingelmann auf ein
halbes Stündchen zu seiner „alten Flamme“ herauf. Aber ich schien ihn
zu stören. Der Mann war befangen und fast möchte ich sagen, die beiden
Damen waren es auch, ja selbst die junge Agnes, die doch sonst immer so
lieblich strahlt, wenn sie mich sieht. Jeder wollte es mir verbergen,
aber meine Sinne sind alle so leidgeschärft.

Irgend etwas liegt in der Luft. Wann ich es zuerst spürte, vermag ich
nicht genau zu sagen.

Aber es ist da.

Wie gern bin ich immer im Herbst gegen den Sturm angelaufen. Dies
Überwinden der anstemmenden Luft hat etwas unendlich Reizvolles,
Gesundes für mich. -- Jetzt stemmt sich auch etwas gegen mich an, aber
es ist kein brausendes Sturmlied, es ist nur ein Raunen und Flüstern
und doch schwer und schwül und unbehaglich. Ich wehre mich und zerteile
das fremdartige Unbekannte, aber es ist überall wieder da. Beinahe
körperlich.

Ich habe es ja gefühlt, daß ich von Anfang an hier wider einen Stachel
löcken mußte, der gewillt war, unentwegt sondierend in mein geheimstes
Innere zu dringen. Habe auch gespürt, daß es Schwierigkeiten und
Vorurteile zu überwinden galt, von denen ich nicht weiß, wo sie ihren
Ursprung haben. Bei vielen Leuten rannte ich wie gegen eine Mauer. Aber
ebenso viele nahmen mich doch in Haus und Herz auf. Wenn ich allein an
Heidekamp denke... Aber vielleicht denk ich schon zu viel daran...

Baurat Steinbrink, der Erbauer des Lyzeums, zog mich einmal am
Stammtisch beiseite. Es war bis jetzt das erste und einzige Mal, daß
ich dort war.

„Mein lieber Herr Direktor,“ sagte er, „fliehen Sie! Solange es noch
Zeit ist. Sie sind nicht auf Birkholz geeicht. Wollen Sie aber durchaus
hierbleiben und trotzdem nicht an der Mauer des spießbürgerlichen
Vorurteils eingescharrt werden, dann heiraten Sie die außergewöhnlich
häßliche Kusine des Apothekers und kommen Sie jeden Abend in die ‚Grüne
Birke‘. Auch müssen Sie Ihre prächtige Frau Dietz entlassen und sich
alle halbe Jahr von der Bürgermeisterin völlig ungeeignete Hausmädchen
und Köchinnen von auswärts verschreiben lassen. Und was noch so
Kleinigkeiten sind...“

Ich glaube, dieser Mann ist ein Eingeweihter. --

Aber auch ihm kann ich nicht helfen.

Und ich muß weiter der „Unbegreifliche“ von Birkholz bleiben oder zum
„schwarzen Schaf“ befördert werden ...

Vielleicht hängt das auch von Kahl ab.

Von ihm und dem Ehepaar Asmus, -- ob sie schweigen oder es vorziehen,
zu schwatzen.

Eine ungeheure Gleichgültigkeit lähmt mich. Oder ist der Ausdruck zu
niedrig gewählt?

An stillen Abenden überkommt mich wiederum eine heiße Sehnsucht. Sie
hat sich ihr Ziel nicht hoch und doch unerreichbar gesteckt. Ich möchte
wieder der Knabe Erne sein, von der Schusterkugel umglänzt, und meine
herzliebe Mutter müßte mir mit ihren weichen, verwaschenen Runzelhänden
über das Haar streichen. Dann würd’ ich ihr sagen, -- würde beichten,
würde fragen... Mutter! Mutter...

       *       *       *       *       *

Professor Kahl stand vor der Tür des Direktorzimmers.

Er schien sich erst noch zu besinnen, ob er seine freie Stunde zu einer
Unterredung mit dem Schulleiter benutzen solle, klopfte dann aber mit
raschem Entschluß.

Direktor Sörensen fuhr vor diesem harten Klopfen zusammen.

Dann ging er dem Eintretenden langsam entgegen.

„Was bringen Sie mir?“ fragte er freundlich-ernst.

„Nichts Gutes.“

Die beiden Herren sahen einander an. Sörensen dachte: Wann hätte ich je
etwas Gutes von dir bekommen? Und Kahl sagte zu sich: „Nein, -- das,
was du meinst, ist es nicht. Das ist noch nicht ganz reif und ich muß
dich noch etwas länger in der Schwebe halten.“

Laut fuhr er fort: „Eine mißliche, ärgerliche Angelegenheit. Es wird in
meiner dritten Klasse gestohlen.“

„Das wäre! Da höre ich ja heute das erste Wort.“

„Ich mußte schweigen und verpflichtete auch die Kinder dazu, damit wir
den Dieb in Sicherheit einwiegten. --“

„Hm. Diese Weise ist mir sehr unsympathisch, Herr Oberlehrer. Wir sind
kein Detektivbureau. Wie lange spielt die häßliche Sache?“

„Seit vierzehn Tagen.“

„Das ist sehr lange. Die Kinder müssen ja fortgesetzt in großer
Gewissenspein gewesen sein. Ich stehe da zu Ihrer Auffassung in
schroffstem Gegensatze.“

„Wie immer,“ bemerkte Kahl gereizt.

Sörensen hob abwehrend die Hand. „Herr Kollege, wir wollen beide
objektiv bleiben. Und ich muß noch ein paar Fragen stellen. Welchen
Prozentsatz der dritten Klasse haben Sie verpflichtet? Da muß doch ein
Verdacht gegen mehrere Kinder bestehen? Und sind Sie sicher, daß nicht
doch untereinander geschwatzt und gemutmaßt wird?“

„Meiner Klasse bin ich ganz sicher. Es sind erstaunlich aufgeweckte,
frühreife Kinder darunter. Ich konnte sie richtig organisieren.“

„Herr Oberlehrer, ich betone noch einmal, das ist mir sehr, sehr
unsympathisch. Organisation! Worin besteht sie? Im Spionendienst?“

„Herr Direktor, ich weiß, Sie wollen mich damit beleidigen, aber es
gleitet an mir ab. Und Sie haben ganz recht geraten. Ja, ich leite die
Kinder an, mir zu helfen, einen Spitzbuben zu entlarven.“

„Was wird gestohlen?“

„Zuerst war es gesammeltes Geld, dann kamen neu gekaufte Hefte
an die Reihe, Schreibmaterial, neue Federkasten. Ein Wintermantel
verschwand...“

„Herr Oberlehrer, es ist unverantwortlich, daß mir davon nicht
Mitteilung gemacht wurde. Und beruhigen sich denn die Eltern bei
solchen Vorkommnissen?“

„Ich bin persönlich bei den Eltern gewesen, um alles gütlich
beizulegen...“

„Aber zu welchem Zweck? Hier ist doch das rücksichtsloseste Verfolgen
das einzig Gegebene...“

„Dafür bin ich früher auch gewesen. Aber ich fürchtete
Durchstechereien.“

„Sie erschrecken mich, Herr Kollege Kahl. Ich habe mich doch auch mit
der dritten Klasse hie und da beschäftigt, und wenn sie mir auch nicht
sympathisch ist, so halte ich sie doch moralisch für einwandfrei.“

„Herr Direktor,“ -- Kahl trat näher heran und lächelte hämisch. „Es
handelt sich wahrscheinlich gar nicht um die dritte Klasse, -- mein
Verdacht und der der Kinder richtet sich vielmehr auf -- ich spreche
streng vertraulich -- auf den Schuldiener Harks.“

„Herr Oberlehrer Kahl! Wissen Sie, was Sie da sagen?“

„Jawohl, ich weiß es. Und ich möchte auch den Vorwurf der verzögerten
Anzeige von mir abwehren. Ich hätte eher gesprochen, wenn Sie nicht
immer mit Betonung den Beschützer des allgemein unbeliebten Harks
gespielt hätten.“

„Beschützer? Den Mann beschützt sein langes, ehrenhaftes Vorleben.“

„Hm.“

„Herr Oberlehrer, ich erhebe Einspruch gegen dies ‚vorbehaltliche‘ Hm.
-- Mir ist der Schulwart Harks sowohl von der Behörde als auch von
verschiedenen Kollegen als ein durchaus einwandfreier Mann empfohlen
worden. Er verwaltet sein Amt tadellos...“

„Und ist ein Grobian ohne Manieren. Die Kinder scheuen sich, zu ihm zu
gehen.“

„Nur die unordentlichen. Denen pflegt er die Leviten zu lesen. Ich
weiß, daß ihm herumgeworfenes Frühstückspapier eine persönliche
Beleidigung bedeutet und ich habe zu viel gegenteilige Schuldiener
erlebt, um nicht Harks Eigenart zu schätzen.“

„Wenn er nicht zu eigenartig wird.“ lächelte Kahl...

„Haben Sie irgendwelche Beweise, Herr Oberlehrer? So leicht gebe
ich diesen alten Mann nicht preis. Jedenfalls nicht auf uferlose
Anschuldigungen.“

Kahl zögerte einen Augenblick. „Ich könnte Ihnen bestimmte Tatsachen
an die Hand geben, Herr Direktor... Noch von früher her,... würde dann
freilich um strengste Verschwiegenheit bitten müssen...“

„Tatsachen? Herr Oberlehrer? Wie käme ich dann dazu, zu schweigen? Wenn
Harks nicht der ist, der er scheint?“

„Hm! Es ist mancher nicht der, der er scheint...“ bemerkte Kahl, und
nach einer längeren Pause: „Ich kann warten. Vielleicht brauche ich
alte Geschichten nicht auszukramen, die neuen werden hoffentlich bald
Klarheit schaffen.“

Der Direktor sah ihn forschend an. „Sie sind ein persönlicher Feind des
Harks?“ fragte er schroff.

„+Persönlicher+ Feind? Was geht mich der Schuldiener an? Ich finde
nur, er regiert ein bißchen zu selbstherrlich hier, -- seit einiger
Zeit. Schaden kann’s nicht, wenn ihm der Kamm etwas abschwillt. Aber
wie gesagt, aus dem Amte möchte ich ihn nicht bringen... ich würde da
noch einmal vorstellig werden...“

„Herr Kollege, ich gestehe, daß ich aus dem Ganzen nicht klug werde...“

„Noch eins, Herr Direktor. Es ist Ihnen doch sicher bekannt, daß Bertha
Ehlen aus der dritten Klasse die Nichte von Harks ist? Sie stand schon
einmal im Verdacht, lange Finger gemacht zu haben, da verwandte sich
der ‚Onkel Harks‘ für sie...“

„Es konnte dem Kinde durchaus nichts bewiesen werden,“ fiel Sörensen
heftig ein. „Harks bat mich nur, seine Nichte vor Anpöbelungen einiger
Mitschülerinnen zu schützen, er selbst war überzeugt von der Unschuld
seiner Schwestertochter.“

„Dann kann ich wohl gehen, Herr Direktor?“ fragte Kahl ärgerlich.

„Herr Oberlehrer, -- ich werde jetzt selbst für Aufklärung des Falles
sorgen.“

„Darf ich Haussuchung bei Harks halten lassen?...“

„So sicher sind Sie Ihrer Sache???“

„Ziemlich, Herr Direktor.“

Sörensen wollte eben sagen: „Tun Sie, was Ihnen die Pflicht gebietet.“
Aber da las er in den Augen des Kollegen so viel Befriedigung... und
fühlte zugleich, daß er -- gehaßt wurde...

„Herr Oberlehrer Kahl, ich komme gleich selbst in Ihre Klasse. Von
einer Haussuchung möchte ich vorläufig absehen. Ich will erst noch die
Bertha Ehlen vernehmen ...“

„Guten Morgen, Herr Direktor.“

Als die Tür hinter Kahl ins Schloß gefallen war, bemächtigte sich
Sörensen neben einem ehrlichen Zorn eine große Traurigkeit. Er ging ein
paarmal in seinem Zimmer auf und ab, um ruhig zu werden.

Auf die kleine, freundliche Welt seines Lyzeums, das ihm bereits ein
Stückchen Heimat bedeutete, war häßlicher Mehltau gefallen. --

Wie eine aufgeregte Schar junger Vögel saß die dritte Klasse auf ihren
Bänken. Die Köpfe neigten sich zueinander. Die Schnäbel zwitscherten
und wisperten. Am Katheder stand Professor Kahl mit zwei besonders
hell und aufgeweckt aussehenden Mädchen. Als der Direktor hereintrat,
wurde alles still. Nur auf der vorletzten Bank hörte man eine eintönige
Stimme: „Und ich habe es nicht getan, und wenn ich es doch nicht getan
habe!“

„Wenn du es nicht getan hast, Bertha Ehlen, dann wird dir kein Mensch
etwas anhaben,“ sagte Sörensen ruhig. „Aber es befremdet mich, daß
immer zuerst der Verdacht auf dich fällt und daß du überhaupt keine
Freundin hast.“

„Und ich habe es nicht getan und wenn ich es doch nicht getan habe!“

„Sie hat immer Schokolade mit und Zuckersteine,“ rief Lotte Krebs im
rechten, echten Angeberton.

Die Beschuldigte warf ihr einen giftigen Blick zu: „Du hast es mir ja
immer fortgegessen,“ schrie sie. --

Sörensen erhob seine Stimme: „Ihr habt nur zu reden, wenn ihr gefragt
werdet, das bitte ich mir aus. Bertha Ehlen, an welchem Tage wurde der
Wintermantel gestohlen?“

Bertha Ehlen murmelte statt der Antwort: „Und ich habe es nicht getan
und wenn ich es nicht getan habe?“

Ein Finger wurde mit großer Dringlichkeit in die Höhe gebohrt.

„Was willst du, Lise Steffens?“

„Der Mantel gehörte mir. Aber ich habe gleich einen neuen bekommen.
Mutter sagte, es käme uns nicht drauf an. Es war an dem Tage, wo
draußen auf dem Flur die Reparaturen gemacht wurden. Der Schuldiener
Harks und seine Frau waren den ganzen Vormittag draußen und dann war
doch mein Mantel weg und von Hedwig Dierks der Muff.“

„Setz dich.“

Ein zweites Kind meldete sich. „Meine Gummischuhe waren auch fort. Sie
waren ganz neu, und da habe ich furchtbar geweint und wollte nicht nach
Hause gehen. Da hat sie mir der Schuldiener dann wiedergegeben.“

„Der Schuldiener?“

„Ja, der hatte sie gefunden. Aber am andern Tage waren sie dann doch
wieder weg, und ich habe sie nicht wiedergekriegt.“

Bertha Ehlen jaulte laut wie ein junger Hund: „Und ich habe es nicht
getan, und wenn ich es doch nicht getan habe.“ Aber diesmal kam
noch ein kühner Schlußsatz: „Die Erde soll mich gleich klaftertief
verschlingen, wenn es nicht wahr ist.“

Der Direktor sah sie finster an. Sein Gesicht war undurchdringlich.

„Komm gleich einmal mit mir in mein Zimmer,“ gebot er.

Er öffnete die Tür und da stieß er auf zwei Kinder, die ein sehr
umfangreiches Paket schleppten. Atemlos ließen sie es fallen. „Wir
haben es,“ riefen sie Oberlehrer Kahl zu. „Es lag in der kleinen
dunkeln Schrankkammer in Harks Wohnung.“

Eine tiefe Stille entstand, und in diese Stille hinein klang nur die
öde Entschuldigung der Bertha Ehlen.

Oberlehrer Kahl hatte sein Taschenmesser hervorgezogen und schnitt
Packpapier und Stricke des Paketes mit einem Schnitt durch. In einen
hübschen Tuchmantel waren die mannigfachsten Gegenstände gewickelt,
Muff und Gummischuhe lagen obenauf.

„Ich habe es aber nicht getan, und...“

Mit festem Griff packte der Direktor die Plärrende an den Schultern und
schob sie zur Türe hinaus.

„Nimm deine Sachen und geh nach Hause,“ gebot er kurz. „Du brauchst
nicht wiederzukommen.“

Bertha heulte auf. „Ich habe doch die Sachen gar nicht bei mir gehabt,
sie haben sie ja beim Onkel gefunden ...“

„Geh! Und komm mir nicht wieder vor die Augen.“

Der Direktor klopfte noch an die Tür der ersten Klasse. Fräulein Doktor
öffnete ihm.

„Ich erbitte mir von Ihnen für eine halbe Stunde die Agnes Asmus. Sie
soll sich sofort anziehen und Bertha Ehlen aus der dritten Klasse zu
deren Eltern bringen. Ohne sich mit dem Kind in irgendein Gespräch
einzulassen.“

Es war alles rasch erledigt.

Als der Direktor sein Zimmer betrat, fiel sein Blick auf den Schulwart
Harks. Der stand mitten in der Stube und hatte die Hände vor das
Gesicht geschlagen und dann und wann tönte ein Stöhnen und Ächzen aus
seiner Brust.

„Herr Harks, Sie hier?“ fragte Sörensen und klopfte ihm auf die
Schulter. „Armer Kerl! Beruhigen Sie sich doch...“

„Mein guter Name!“ ächzte Harks.

„Ihr guter Name? Der ist bei allen verständigen Leuten ebenso rein wie
vorher. Ich habe Ihre Nichte nach Hause geschickt. Arme Eltern. -- sie
tun mir leid.“

„Herr Direktor, o Herr Direktor,“ stammelte Harks. „Sie, Sie -- glauben
nicht? Wie Herr Oberlehrer Kahl? Sie, Sie halten mich nicht... o Herr
Direktor...“

Der Mann war außer sich. Die Tränen liefen ihm in den Bart, er haschte
nach Sörensens Hand und küßte sie unbehilflich.

„Nicht doch, Harks. Was tun Sie da?“ wehrte der Direktor, „ich habe
nicht einen Augenblick an Ihnen gezweifelt.“

„Herr Direktor! Ach, Herr Direktor! Darf ich gleich zu meiner Frau
gehen? Die ist mir nur so zusammengebrochen, als die Kinder die
gestohlenen Sachen aus unserer Kammer holten...“

„Ja, -- gehen Sie, Harks.“

„Herr Direktor, darf ich heute nachmittag noch einmal in Ihre
Privatwohnung kommen?“ Der alte Mann hatte sich aufgerichtet und strich
verlegen und mit müder Handbewegung über sein graues Haar. Seine sonst
so rauhe, polternde Stimme klang wie erstickt. „Es muß sein, Herr
Direktor, -- ich möchte Sie um Gottes willen drum bitten, daß ich ein
Stündchen mit Ihnen sprechen könnte.“

Der Direktor reichte ihm die Hand. „Ich erwarte Sie um drei Uhr,
Harks,“ sagte er einfach.

„Herr Direktor -- wenn Sie mal einen Menschen suchen, der -- für
Sie...“ Dem alten Mann brach die Stimme.

„Gehen Sie, lieber Harks. Ich tat nur Selbstverständliches. --“

Nachdem er wieder allein, blieb Sörensen eine Weile nachdenklich
stehen. Dann ging er mit seinen ausholenden Schritten nach der dritten
Klasse zurück.

„Bertha Ehlen wird nicht wiederkommen,“ sagte er ernst zu den Kindern.
„Damit ist die Sache erledigt. Es ist natürlich ein sehr trauriges
Vorkommnis gewesen, das sich hoffentlich nicht wiederholt.“

„Und Harks?“ fragte Oberlehrer Kahl lauernd. „Der Hehler ist doch
wohl...“

„Ja, liebe Kinder, das wollt’ ich euch noch sagen,“ fuhr der Direktor
fort, „Herr Harks ist tief betrübt über das Vergehen seiner Nichte. Ich
hoffe, ihr seid alle recht freundlich zu ihm und seiner braven Frau.
Ja? Ihr wißt, die beiden richten trotz ihrer Kränklichkeit euch alles
immer so sauber und behaglich her. Ich habe also euer Versprechen und
verlasse mich darauf. Guten Morgen, Herr Kollege.“ --

       *       *       *       *       *

An diesem Mittag war Frau Dietz gar nicht zufrieden mit ihrem Herrn.
Er gab ja, Gott sei’s geklagt, überhaupt viel zu wenig aufs Essen und
Trinken und seinetwegen konnte man jeden Tag dasselbe kochen. Aber so
zerstreut wie heute hatte er doch lange nicht gegessen, und Frau Dietz
beschloß, das Zungenragout und die Bananenspeise nur noch in den Ferien
auf den Tisch zu bringen, wenn das nötige Interesse für das, was dem
Menschen Leib und Seele zusammenhält, vorhanden war. Heute rannte ihr
Herr gleich nach dem Mittagessen wie gejagt in die Heide hinein und kam
nicht einmal erfrischt von dort wieder. Das sah man seinen traurigen
Augen an. Und nun begann gleich die Arbeit wieder, Schulwart Harks
hatte Punkt 3 Uhr den Herrn um eine Unterredung gebeten. --

„Nun, Harks, was wünschen Sie denn?“ fragte Sörensen freundlich und
harmlos. Und gleich darauf: „Aber, lieber Herr Harks, -- ich bitte
Sie, Sie machen sich ja krank. Schließlich ist doch Bertha Ehlen nicht
Ihr eigen Fleisch und Blut...“

„Herr Direktor,“ -- ein gramdurchfurchtes Gesicht sah zu Sörensen auf,
-- „ich möchte mich heute ganz in Ihre Hand geben, -- -- in die Hand
eines Ehrenmannes,“ setzte er hinzu.

„Und wenn mich Herr Direktor verwerfen, dann will ich mein Kreuz auf
mich nehmen und es willig tragen. Aber so...“

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Erleichtern Sie Ihr Herz, lieber Harks, und was das Verwerfen
anbetrifft, so bin ich nicht der Mann danach. Wir mangeln allzumal des
Ruhmes. Und nun setzen Sie sich, -- ich höre zu.“

„Herr Direktor, mit dem Bibelspruch von den Sündern, da denken nicht
viele so. Es macht mir rechten Mut, daß Sie so sprechen.“

Trotz dieses rechten Mutes saß aber der alte Schulwart arg
zusammengedrückt in dem Lehnstuhl, und seine Hände zitterten.

„Herr Direktor, -- der Herr Oberlehrer Kahl will mich verderben!“

„Harks, -- was sprechen Sie da?“ rief Sörensen erschrocken. Aber sein
Herz setzte hinzu: Du armer Mensch, du magst wohl recht haben. --

„Ja, er will mich verderben und -- er kann mich verderben. Aber ich
will nicht so stückweise vor die Hunde gehen, und meine arme Frau soll
nicht diese angstvollen Augen behalten durch meine Schuld. Sie sollen
mein Richter sein, Herr Direktor.“

„Harks, braver, alter Harks...“

„Ja, Herr Direktor, brav. Mein alter Oberst, Gott hab ihn selig,
der hat mich auch immer seinen braven Harks genannt. Meine ganze
Militärzeit liegt so wie ein freundlicher Garten da. Was da an Unkraut
drin ist, das kommt nicht auf meine Rechnung. Aber dann. Erst wurde
mein Frau krank, sie hatte ein paar Fehlgeburten durchgemacht, und
konnte sich bis auf den heutigen Tag nicht erholen. Kinder starben uns,
blühende, schöne Kinder, -- was das heißt, können nur Elternherzen
recht verstehen -- dann kriegt ich den Typhus, -- Herr Direktor, ich
will nur sagen, wir haben jahrelang den Doktor nicht aus dem Haus
bekommen, und da kamen Schulden, Sorgen und Not. -- Die einzige Freude
in dem vielen Kummer, das war unsere Lisbeth, -- wie ein Bäumchen, Herr
Direktor, wie ein Bäumchen. Wenn ich die Sörine von Heidekamp ansehe,
-- das schöne, feine Mädchen, -- da muß ich mich immer abwenden. Grad
so fröhlich und schön und fein war meine Lisbeth, und gerade so kluge,
ernsthafte Augen hatte unser Kind. Und überhaupt, wenn ich so was
Schönes, Unschuldiges sehe, dann werde ich rauh und garstig und grob,
und dann lachen die Menschen und sagen ‚Original‘ zu mir, und ist doch
nur, daß ich nicht wie ein Waschlappen werden will und zum Himmel
hinaufbrüllen: ‚Aus tiefster Not schrei ich zu dir‘...“

Sörensen legte ihm die Hand auf den Arm. „Es greift Sie zu sehr an,
Harks.“

„Es muß herunter, Herr Direktor. Mir wurde damals diese Stelle hier
als Schulwart angeboten. Ohne daß ich mich groß drum beworben hatte.
Der frühere Bürgermeister war ein Verwandter von meinem Herrn Oberst.
Und Herr Direktor wissen ja, es ist eine besondere Stelle wegen der
Barsumme, die aus der alten Ratsstiftung noch dran hängt, und außerdem
noch das schöne Land draußen vorm Birktor. Meine Frau und ich waren wie
die Kinder so glücklich, als ich die Stelle kriegte. Herr Direktor, so
viele Bewerber waren da, und es hing an einem Faden. Denn wir sollten
unterschreiben, daß wir keine Schulden hätten. Das hab ich denn auch
getan, und, -- es war eine Lüge, und ich weiß jetzt, daß kein Segen
auf dem ruht, was mit einer Lüge beginnt. Damals aber dacht ich --
die paar hundert Mark würde ich bald erspart haben, wenn Gott uns
von Krankheit verschonte. Hätte es ja auch nur meinem Herrn Oberst
zu schreiben brauchen, aber der starb gleich drauf. Um mich noch zu
bestärken, und uns recht zuversichtlich zu machen, bekamen wir die
Nachricht, daß eine Tante von meiner Frau uns etwas vermacht hätte, und
es würde am 5. April ausgezahlt werden. 300 Mark! Nun fehlte gar nichts
mehr zu unserm Glück, und ich dachte überhaupt nicht dran, daß ich mit
einer Lüge in das neue Amt gegangen war. -- Aber wie wir hier so am
Einrichten waren, schickte der Doktor aus W., wo wir früher wohnten,
eine Rechnung, die wieder schrecklich aufgelaufen war, und fragte, ob
ich vergessen hätte, sie beim Wegzug zu begleichen, denn er hatte sie
schon zweimal geschickt. Und der Apotheker fragte an, ob er sich an
die Behörde wenden sollte. Und dann war noch ein teurer Dampfapparat
zu bezahlen, damit meine Frau im Hause alle die Verordnungen vom Arzt
machen konnte. Graue Haare kriegten wir in jenen Tagen, aber wir
dachten an den 5. April, und daß dann 300 Mark kämen und wir alles
abschicken konnten. Aber das Geld kam nicht. Großer Gott, wenn ich noch
an unser Warten und an unsere Angst denke. Und -- -- da lag nun -- --,
Herr Direktor, da hatte ich, -- da hatte mir der Herr Oberlehrer Kahl
eine Summe übergeben, ehe er in die Ferien fuhr. 320 Mark. Die sollt
ich fortschicken. Und die Anweisung hatte er auch schon geschrieben,
aber er hatte keine Zeit mehr, zur Post zu gehen. Und -- ich will’s
nur gleich sagen, Herr Direktor, ich nahm das Geld und meinte, ich sei
nun erst mal die quälenden Sorgen los, schickte an den Doktor in W.
und beglich meine Schulden. Und bis das alles herauskam, hätte ich ja
längst das Geld von der Tante. --

Aber die Ferien gingen vorbei, und das Geld kam nicht, und Herr
Oberlehrer kam wieder, fragte aber nicht weiter. Denn er war damals
noch ein sorgloser Junggeselle. Aber dann -- dann wurde auf einmal dem
Geld nachgefragt von der Stelle aus, an die ich’s hätte abschicken
sollen. -- Da kam alles heraus. Und Herr Oberlehrer tobte wie ein
Verrückter und wollte mich gleich anzeigen. Am liebsten hätte ich mich
zum Sterben hingelegt. Dann stürzte meine Frau und meine Lisbeth herein
und baten und flehten....

Ja, die Lisbeth, die konnte so wunderschön bitten....

Da wurde der Herr Oberlehrer ruhiger, und dann hat er das Geld aus
seiner Tasche bezahlt, und ich sollt es ihm abzahlen, wann ich wollte.
Herr Direktor, -- wenn ich sage, am nächsten Tage kam das Geld, gerade
als hätte der Teufel sein Spiel dabei gehabt, und es waren bare 700
Mark und ich konnte dem Herrn Oberlehrer alles wiedergeben. Aber es kam
doch zu spät....

Ich war schuldig geworden, und die Lisbeth -- die Lisbeth, Herr
Direktor, die hatte ihr junges Herz dem -- -- geschenkt.“

Der alte Mann weinte schwer.

„Herr Direktor, meine Frau und ich haben kein Arg gehabt. Die Lisbeth
war immer so ein bißchen schwärmerisch gewesen, -- aber doch auch
wieder so verständig. Sie muß eigentlich gewußt haben, daß der Herr sie
sein Lebtag nicht heiraten würde. Aber sie war wohl blind und taub vor
Liebe: Hinter unserm Rücken haben sie sich getroffen, -- sie diente
erst bei dem alten Fräulein Tingleff, aber dann hat er ihr eine Stelle
bei seiner Wirtin verschafft. Gegen uns war sie immer ein gutes Kind
und besonders so sanft und zutunlich zur kranken Mutter......

Dann fing sie aber selbst an zu kränkeln..... Und die Frau kündigte ihr
ganz plötzlich.... Ja, und dann hatte sich wohl der Herr Oberlehrer mit
ihr verzürnt, er heiratete ja auch bald darauf...

Herr Direktor,.... da hat man sie aus der Luhe gezogen.

So ein schönes, gutes, frommes Kind. Unsere Lisbeth .......“

       *       *       *       *       *

Es war ganz still im Zimmer. Nur die alte Standuhr tickte, und das
schwere Atmen des unglücklichen Vaters war zu hören.

Direktor Sörensen war aufgestanden und durchwanderte das Zimmer. Mit
seinem warmen, gütigen Herzen durchlebte er das Schicksal des alten
Mannes. Und zugleich fühlte er, daß er nicht weiter an einer Schule mit
Oberlehrer Kahl zusammenwirken könne. Er blieb vor Harks stehen. Dieser
stand mit schlaff herabhängenden Armen und erwartete sein Urteil.

Sörensen reichte ihm die Hand. „Sie haben gebüßt“, sagte er ernst und
gütig. „Und ich will Ihnen helfen, daß Ihr Lebensabend ein freundlicher
werde.....“

„Herr Direktor, -- ach Herr Direktor!“.....

Auf der Schwelle des Zimmers blieb der alte Mann noch stehen. „Darf
ich noch sagen,“ fragte er leise und demütig, „daß meine Frau und ich
wochenlang nicht in die kleine Rumpelkammer kommen, wohin meine Nichte
das gestohlene Gut gelegt hat?......“

„Quälen Sie sich doch nicht mehr mit dieser Angelegenheit, Harks.
Und wenn Ihre arme Schwester da irgend einen Rat braucht -- wegen
Unterbringung der Bertha, so soll sie sich an mich wenden. In festen
und freundlichen Händen kann aus dem bösen Mädel noch eine Freude
der Eltern werden...... ich bin der Letzte, der ein verirrtes Kind
aufgibt. Nur in meiner Schule konnte ich sie nicht behalten. --“

    +Sonntag abend.+

Es ist gut, daß die Wochen und Tage so fliegen. --

Die ganze Sache hatte mich doch sehr mitgenommen.

Stundenlang lief ich in der Heide umher. Zu wissen, in den Händen eines
Kahl zu sein oder von „Kahl und Genossen“, wie Hansohm schon früher
immer sagte, -- das war lähmend.

Und dabei stillhalten zu müssen.

Ich tappte ja auch im Dunkeln. Wußte und weiß nicht, ob Lisette außer
dem Brief noch Aufklärungen an Kahl gegeben hatte. --

Schließlich ist es ja ganz gleich, ob sie es tat, oder nicht.

Mein stilles Geheimnis ist ans Licht gezerrt, wie wird es in unreinen
Händen zur Unkenntlichkeit verstümmelt werden......

Aber ich habe mich nicht lange vergrübelt....

Ein Schulleiter, auf den täglich so viel fragende und vertrauende Augen
sehen, der muß „rein Schiff, klar Kimming“ haben.

Zu meinem verehrten Provinzialschulrat bin ich gereist.

Es kam mir, dem stillen Heidjer hart an, von dem zu reden, was mir
allein zutiefst gehört.

Aber Doktor Hofer ist ein seltener Mensch. Schon sein Blick schließt
die Herzen auf. Wie gerecht und gütig urteilte er über Harks. Wie
verstand er mich in Sachen Kahl und Genossen! --

Als ich von ihm ging, wußte ich, meine Sache lag in verläßlichen
Händen. Und wo die Verleumdung ihre garstigen, geifernden Zungen
bewegt, wird dieser gerechte, großherzige Mann seine Stimme gewaltig
und überzeugend erheben, so daß sie schweigen müssen. -- Meine drei
Getreuen in der Schule, Senior Rasmussen, Fräulein Doktor und Klaus
Hansohm sind ein paar Tage recht ernst herumgegangen, aber nicht in
Zweifeln an mich. Das las ich in ihren guten, vertrauenden Blicken.
Fräulein Doktor freilich war befangen, das fällt auf bei ihrem
sonstigen fröhlichen Draufgängertum. Was mag man ihr erzählt haben?

Feines, weibliches Empfinden ist leicht verletzt.

       *       *       *       *       *

Wunden, wie die meinen, heilt nur Wald und Heide.

„Das ist des deutschen Waldes Kraft, daß er kein Siechtum leidet.“ Und
meine Heide ist vollends ein Jungbrunnen ....

Ich beschloß einen Ausflug mit meiner ersten Klasse, und die Getreuen
waren freudig bereit, uns zu begleiten.

Klaus Hansohm entwickelte gleich einen regen Eifer. Er ist eine echte
Künstlernatur, die über die einfachsten Ereignisse einen Schimmer
gebreitet sehen will. --

Er sang mit der ersten Klasse. Liebliche Lenzweisen grüßten den Wald
und die kraftstrotzende Heide, deren braune Dolden prall und voll dem
Hochsommer entgegenharrten. Eine grenzenlose Fülle leuchtend roter
Blüten will sie ihm zur Welt bringen. Und ich möchte beten wie der alte
Heidekamper: „Herr, laß mich wieder die Heideblüte erleben!“

Auch meine Geige hatte ich mitgenommen.

Es hob ein Jubeln an, als ich sie auspackte.

Dann wurde es mäuschenstill, und ich sah in lauter andächtige Augen,
während Johann Sebastian Bach in seiner Giaconne durch mich zu ihnen
sprach. -- Die Stille hielt auch noch nachdem an, und ich spürte ein
rechtes Frohgefühl darüber, daß wir so prächtig miteinander schweigen
können. Mit einem Male ein tiefes, hörbares Aufatmen und eine junge
Stimme: „Großvaterli sagt, wer so spielt, der betet“.

Ich lächelte: „Das Großvaterli hat recht, wie immer.“

„Wie immer?“ fragte Sörine sinnend. Und dann kam der Schelm:
„Großvaterli sagt aber auch, wir sollten das Abendbrot heute in
Heidekamp essen.“

Da lachtest du, Erne Sörensen und sprachst zum zweitenmal: „Großvaterli
hat recht, wie immer.“

Die Stille war vorbei und ein jauchzender Jubel brach los.

Klaus Hansohm machte ein betrübtes Gesicht.

„Schreien Sie doch nicht so unmusikalisch“, rief er kläglich. „Da,
sehen Sie, dort -- Johann Sebastian Bach ist entsetzt ausgerissen, eben
biegt er um die Waldecke.“

Unser Ziel war wieder das Forsthaus. Die ganze Stätte atmet Behagen.
Frau Försterin hatte Kuchen gebacken, als ob anstatt zwölf junger
Mädels eine Kompagnie Soldaten erwartet werde. --

Sörine Heidekamp schritt neben mir her. Wir sprachen von Agnes Asmus.

„Ich hätte Ihnen so gern die Freundin verschafft,“ sagte ich, „ich
wollte unsern Ausflug verschieben, bis Agnes wieder gesund sei, aber
Herr Lehrer Asmus meinte, das könne lange dauern.“

„Agnes wird immer krank sein, wenn wir etwas Frohes für sie haben,“
sagte Sörine hart, und ihr sonniges Gesichtchen verfinsterte sich.
„Vielleicht wäre es besser, wenn sie mich nicht lieb hätte“, setzte sie
weise hinzu.

„Kind, was reden Sie da“, warf ich hin. „Sie bedeuten ja alles für die
arme Agnes. Und wenn sie in einem Gefängnis säße, würde eure schöne
Freundschaft ihr Licht und Trost geben.“

„Sie sitzt ja in einem Gefängnis“, murrte Sörine. „Und das hat noch
eine hohe Mauer, das ist die schreckliche Galgenstraße.“

Da gab ich ihr zu bedenken: „Keine Sorg um den Weg, wenn zwei sich nur
gut sind, sie treffen sich doch.“

„Ja, Liebesleute,“ sagte sie harmlos und eifrig, „aber nicht so zwei
arme Schächer, wie Agnes und ich.“

„Arme Schächer! Wie das klingt! Sie sehen mir auch gar nicht so aus,
Sörine Heidekamp.“

Da traf mich ein jammervoller Blick aus ihren Augen.

„Es ist nicht leicht zu leben,“ sagte sie mit wenig fester Stimme.
„Ich soll dem Großvaterli viel Sonne geben, und alle die Armen und
Bresthaften in unserm Dorf wollen auch mein Lachen. Wo soll ich’s
immer hernehmen? Wenn ich doch soviel Heimweh nach meiner Agnes habe?
Und die Heide schläft auch noch. Wenn sie erst blüht, dann kann ich ihr
viel klagen.“

„Du liebes Kind“, dachte ich. „Du liebes Kind, sprich weiter. Neben dir
schreitet auch einer, der das Herz voll Heimweh hat, und weiß nicht
einmal, wonach. Oder weiß ich es doch.... und darf’s dir nur nicht
sagen, du junges, liebliches Kind?“

Ganz still gingen wir nebeneinander her.

Der unbeschreibliche Friede, den Wald und Heide ausatmeten, senkte sich
auf uns herab.

Als das Forsthaus wieder nahe kam, stahl sich eine warme, junge Hand
in die meine: „Ich danke Ihnen so sehr, Herr Direktor. Sie haben mir
eben eine ganz lange Geschichte erzählt. So wandre ich auch immer mit
Großvaterli.“

Klein Sörine, ich verstehe jetzt, warum du solch Einsiedler bist und
alles Jungvolk ablehnst. Wer so zu wandern versteht.... Lebenskünstler
seid ihr beide, du und das Großvaterli. --

Der helle Frohsinn, der dann seine Herrschaft beim Kaffeetrinken und
Kuchenschmausen ausübte, war herzerquickend. --

Welch prächtige Pädagogen sind meine drei Mitarbeiter!

Senior Rasmussen erwies sich als ein vorbildlicher Märchenerzähler.

Eine kleine köstliche Perle von Andersen trug er uns in der Ursprache
vor, und wir gerieten in vergleichende Sprachwissenschaft hinein. Wie
lebendig die erste Klasse daran Teil nahm!

Fräulein Doktor hat etwas sehr Mütterliches im Umgang mit den
jungen Mädchen. Sie ist doch selbst noch jung. Und was bei vielen
Lehrerinnen in diesem Alter in gewollte Jugendlichkeit umgesetzt wird
oder in verfrühtes, schrulliges Altjungferntum, das ist bei Fräulein
Stavenhagen Mütterlichkeit.

Dadurch wird sie vor dem öden Begriff Neutrum geschützt. Dem großen
Jungen Hansohm bedeutet sie eine Art Beichtvater. Er nimmt sehr
unverfroren ihre Freizeit in Anspruch, und ich habe nie gehört, daß sie
nein sagte, wenn er sie zum Spaziergang aufforderte oder sie zu seiner
Schwester einlud.

Dafür tritt er auch als ihr rechter Beschützer auf, wo immer sich
Gelegenheit findet. Kahl und Genossen fürchten seinen beißenden Witz,
wenn sie sich auf Gefechte mit ihm einlassen. --

Mit den Schülerinnen macht er überhaupt keine Witze. Ein feiner Humor
scheint in seinen Unterrichtstunden zu walten, ich konnte mich recht
freuen an seiner Art, mit diesen unberechenbaren Geschöpfen umzugehen.

Vom Forsthaus aus wanderten wir dann noch ziemlich zwei Stunden nach
Heidekamp. Wie eine große Familie waren wir, aber von ganz seltener
Einigkeit. Ein prächtiger Korpsgeist lebt in der ersten Klasse.
Auch scheint sie es mir nicht vergessen zu wollen, daß ich mir ein
gerechteres Urteil über sie gebildet habe, ohne auf böswillige
Einflüsterungen Wert zu legen. So lernte ich jedes der zwölf
Menschenkinder in seiner Eigenart kennen und genoß köstliches Vertrauen.

Ihre Zukunftshoffnungen und -pläne legten sie mir dar...

Charaktere sind darunter, die ganz genau wissen, was sie wollen.

Edith Gerstenberg will Malerin werden. Da schlummert wohl ein ernstes,
großes Talent. Meisterhände sollen es wecken. -- Sie hatte ihr
Skizzenbuch mit, und die Frische und Lebendigkeit, mit der sie Lehrer
und Mitschülerinnen darin charakteristisch festgehalten hat, ist
köstlich.

Besonders Hansohm war taktstockschwingend in den verschiedensten
Stellungen vertreten. Professor Traute verblüffend getreu, wie er,
kurzsichtig in sein Buch schauend, doziert...

Mich selbst fand ich Arme unterm Kopf in der Heide liegend. Die ganze
Gesellschaft lachte aber nur tobsüchtig, als ich über die Entstehung
dieses Bildes etwas wissen wollte, und verweigerte jegliche Auskunft.

Telse Lüders erbat meine Fürsprache bei ihrer Patentante Fräulein
Tingleff. Von dieser ist Telse in Sachen ~Pecunia~ abhängig. Sie
möchte weiterlernen und dichten und schriftstellern. „Aber Tante will
mir keinen Beruf eröffnen.“

„Was meint sie denn?“

„Um Gottes willen sieh zu, daß du’n Mann kriegst.“ Telse wurde sehr
niedlich rot, und die ganze Klasse lachte schallend.

„Das hat sie auch zu mir gesagt“, riefen verschiedene durcheinander.

„Und wenn meinem Mann eine Ballade lieber wäre, als ein
Kalbsnierenbraten, dann hätte ich das große Los gezogen.“

Nun plauderte das Jungvolk ein Weilchen über „rückständige Tanten und
Mütter, über Selbständigkeit“, ja sogar ein paar Schlagworte fielen wie
„Recht auf Persönlichkeit“ und „eigenes Leben leben“.

„Du lieber Himmel, Selbständigkeit!“ rief Lotte Harsen, die, wie
ich weiß, über alles sehr gründlich nachdenkt und den Spitznamen
„Bohrwurm“ führt, -- „Selbständigkeit ist ja vorläufig Blech für
uns. Ihr betet alles nur so nach. Wenn wir jetzt ’ne große Dummheit
„selbständig“ machen, sind ja doch unsere Eltern am letzten Ende dafür
verantwortlich. Kapiert ihr das?“

„Zweifle doch nicht immer an unserm gesunden Grips, Lotte“, sagte Edith
Gerstenberg vorwurfsvoll, und dann erhob sich Sörinens Stimme: „Wer
bewußt dient, ist am selbständigsten, sagt Großvaterli.“

„Ich wollte, ich hätte auch solch ‚Großvaterli‘ als Evangelium in
meiner Jugend gehabt“, warf Hansohm etwas bitter ein.

„Es ist nicht immer gleich Evangelium für mich“, bekannte Sörine
ehrlich, -- „aber -- Großvaterli sagt nichts, über das man nicht
fortwährend stark nachdenken muß. Er läßt mir auch immer Zeit dazu, das
ist so schön. Hab ich etwas Rechtes eingesehen, gegen das ich mich
vorher sträubte, dann ist’s immer wie ein hoher Festtag. Und die Zeit,
die dazwischen liegt, nennt Großvaterli ‚Sörinens Kalvarienberg‘.“

„Was werden Sie denn studieren, wenn die Schulzeit beendet ist?“ fragte
Professor Rasmussen und zog Sörine zu sich heran.

„Den Luther-Katechismus“, sagte Sörine ernst. Und als sie die
verblüfften Gesichter ihrer Mitschülerinnen gewahrte, setzte sie hinzu:
„Großvaterli meint, das sei das beste Studium für jemand, der für so
viele Menschen zu sorgen hat,.... wie ich später.“

„Ihr Großvaterli ist ein rechter Gesundbrunnen“, meinte Rasmussen
herzlich und klopfte Sörine auf die Schulter.

Der „Gesundbrunnen“ stand am Wege. Herr von Heidekamp war uns, auf den
Arm des Dieners gestützt, ein Stückchen entgegengewandert. Nun begrüßte
er uns sehr herzlich und hatte hundert Scherzworte für das Jungvolk.
„Wer nicht mit einem Bärenhunger ankommt, muß sofort wieder umkehren“,
rief er dröhnend. „Ich habe meiner Wirtschaftsmamsell angekündigt:
Einen General, einen Oberst, einen Hauptmann, einen Leutnant und zwölf
Mann. Das muß also heute Abend geleistet werden.“

„Hurra“, riefen die „zwölf Mann“, der Hauptmann setzte sich an die
Spitze der Kompagnie, der Leutnant schulterte seinen Stock, und so zog
die Einquartierung in das gastliche Herrenhaus.

Ein schöner Abend wurde es. Und wie Ehrengäste hat uns der Ehrenmann
aufgenommen. Die Mädels wurden alle gut Freund mit dem sonderlichen
Polterer. Gruselgeschichten hat er ihnen erzählt, daß sich nachher
keines auf die Diele und in den langen Gang getraute, der das Schloß
mit der Kapelle verbindet.

Auch die „weiße Frau“ der Heidekamper zeigte er uns im Bilde. Das hing
meisterhaft gemalt in einer Nische des langen Kreuzganges.

„Die einzige Sörine Heidekamp unter der langen Reihe außer meiner
lüttgen Sörine. Leider bleibt die Ahnfrau nicht in diesem schönen
Goldrahmen,“ meinte der alte Herr augenzwinkernd zu den Backfischen.
„Nachts steigt sie heraus und legt sich in den Steinsarg, der ganz
einsam unten in der Gruft steht. Schlag 1 Uhr setzt sie sich aber
wieder in den Rahmen zurecht. Wenn Ihr da Genaues drüber hören wollt,
müßt ihr euch an Frau Dietz wenden, die dem Herrn Direktor Haus hält,
-- die weiß Bescheid.“

Als wir Männer uns noch bei einer langen Pfeife zusammenfanden, -- ein
rechtes Tabakskollegium nach dem Herzen des Heidekampers, wurde das
Beste dieses Ausfluges zutage gefördert. Herr von Heidekamp hat eine
Stelle für unsern Harks. Morgen soll ich es ihm verkünden. Welch eine
Befreiung für den alten Mann und seine leidende Gattin. So habe ich
nicht zu viel versprochen: sein Lebensabend soll heiter sein.

Wir besichtigten noch das sonnige Altenteil, Harks künftige Wohnung,
und in Sörinens Augen brannte ein ganzes Feuerwerk der Freude.

„Nun soll die alte Frau in dem sonnigen Hause recht gesund werden“,
sagte sie strahlend. „Der Schulwart war immer so gut mit mir.“

„Ja“, fiel Herr von Heidekamp ein: „Zopfbänder hat er früher gekauft
und der Sörine ins Haar geflochten, nur um sie vor Schelte zu bewahren.
-- Sie verlor ja alles, was nicht niet- und nagelfest an ihr saß. --“

„Aber die letzten habe ich mir alle aufgehoben“, meinte Sörine, „die
werde ich schon anbringen, wenn ich sein Häuschen schmücke, -- ach ich
freue mich ja so schrecklich!“

Ja, Erne Sörensen, das ist das Wunderbare, das nicht zu Schildernde an
dem Herrenhause da draußen, -- dies große Freuen. --

Alle dort sind sie Meister in dieser Kunst.

Vom Heidekamper an bis zu seinem Schäfer herunter, der am Knick mit
seinem Strumpf sitzt und mir sagte: „Aha, wat freu ik mi. Nu sin schon
de lüttgen Käwer all wedder dor, un denn kommen de Immen ok all bald --
ick freu mi bannig.“

Und das Grauchen! Sie hat die seltene Gabe des Mitfreuens im
ausgeprägtesten Sinne. +Mitleid+ scheint sie sogar ein wenig zu
verachten. Wenigstens erzählte mir Sörine, daß Fräulein von Schlieden,
„diese Seele von einem Menschlein“, wie das Mädel sich ausdrückte,
immer sehr kurz angebunden sei, sobald ihr ein großes Leid gegenüber
trete. Sie ruhe dann nicht, bis es wieder gegangen und sie Gelegenheit
habe, sich mit dem Getrösteten zu freuen.

Über diese wunderliche Sache habe ich lange nachgedacht.

Ich möchte mir wohl Kollegin Grauchen zum Vorbild nehmen, die das
Mitleid für gar zu billig achtet. -- Mitfreude wächst nur auf dem
Acker der Selbstlosigkeit... Hast du genügend Saatland, Erne Sörensen?
-- Überaus kurz und fast rauh sprach das Grauchen über Agnes Asmus
und daraus merkte ich, daß ihr gütiges Herz sich windet unter dem
Unvermögen, hier Freude zu geben.

Auch mir gehen die traurigen Augen der jungen Sörine nach.

Sie fragen unablässig: „Kannst du denn gar nichts tun? Und bist doch
Schulleiter.“ -- Nein, ich kann nichts tun. Meine Hände, die der jungen
Sörine so stark dünken, sind mir gebunden.

Sie können nicht die Eltern der Agnes Asmus auf die Schulbank zwingen
und ihnen das Gebot lehren: „Ihr Eltern, seid barmherzig. Geht fleißig
um mit euern Kindern, habet sie Tag und Nacht um euch und liebet sie,
und laßt euch lieben einzig schöne Jahre.“

Noch als ich von Heidekamp Abschied nahm, sagte Sörine:

„Wüßt ich nur eine Heimat für meine Agnes!“

Viel hätte ich darauf antworten können, aber mein Mund blieb stumm.

So jungen Geschöpfen gibt nur die rasche, gute Tat einen Trost.

Jugend verläßt sich noch auf Menschen und erwartet alles Heil vom
Willen eines starken Einzelnen.

Aber damit hat sie nur bedingt recht.

Mit meinem starken, guten Willen will ich mich wohl wieder und wieder
an die Eltern Asmus wenden, aber dann muß der das Beste tun, der die
Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche. --

Eine Nachschrift füge ich an, wie es Schulbuben und Backfische tun:

Ich möchte mit vollen Händen und jungem Herzen meiner Schülerin Sörine
alles das geben, was sie sich wünscht. -- -- -- -- --

Hansohm und Fräulein Doktor hatten sich am Birktor von allen
Teilnehmern verabschiedet. Aus zwei großen Wagen entlud sich die erste
Klasse und ihre Begleiter. Die Augen des Jungvolks glänzten, und über
die Gesichter der Erwachsenen hatte sich jene Behaglichkeit gebreitet,
die der lange Aufenthalt in Heideluft und Sonne zeitigt. Dazu kam die
wunderbar geruhliche Heimfahrt in den bequemen Wagen mit den prächtigen
Pferden, die noch etliche Stücken Zucker von dankbaren Händen in
Empfang nehmen mußten.

Dann wurden den Kutschern noch ungezählte Grüße für ihre Herrschaft
aufgetragen, und der alte Friedrich und der junge Johann schmunzelten
und salutierten mit den Peitschen. --

Und der alte Friedrich dachte noch beim Heimfahren, wie gut es doch
sei, daß der große, blonde Goliath nach Birkholz gekommen, und nun all
das junge Leben auch nach Heidekamp bringe. Was hatte er doch für Sorge
gehabt, das Freifräulein Sörine, die Enkelin seines vergötterten alten
Herrn, könne „pütcherich“ unter dem vielen Altertum daheim werden.
Gottlob, die Gefahr war vorüber. Wer so lachen konnte und so frei von
der Leber weg sprechen, wie der Herr Schuldirektor, der war ein rechter
Jugendleiter nach Gottes Herzen. -- Der alte Friedrich kutschierte
in sehr gehobener Stimmung nach Heidekamp und teilte, wie es seine
Gewohnheit war, seine Befriedigung brummend in längerem Gespräch dem
Handpferd Isabelle mit. --

„Kollege Hansohm“, sagte Fräulein Doktor, „wenn Sie beabsichtigen, mir
hier gute Nacht zu sagen und mich nach diesem wunderlich-lieben Tag
allein zu lassen, so finde ich das roh.....“

„Im Gegenteil, Fräulein Stavenhagen, ich hatte Sie gerade heute bitten
wollen, meiner Schwester noch ein Stündchen zu schenken, -- ich war
eben zerstreut, hätte auch Sörensen gern darum gebeten....“

„Was ficht Sie an, Hansohm! Der Mann hat heute sein Erdenkliches
geleistet, -- er war ja überall und nirgends. Seine ‚Höflichkeit des
Herzens, die der Liebe verwandt ist‘, hat etwas Überwältigendes. Der
braucht jetzt wohl Ruhe.“

„Ja, Menschenliebe! Sörensen könnte uns alle damit versehen. Aber sie
ist nicht übertragbar“, sagte Hansohm ernst. „Immer war’s mir heute,
als müßte ich zu ihm sagen: Bleib bei mir, du, -- ich brauche dich!
Haben Sie je etwas so Sentimentales gehört? Und noch dazu von mir, der
in der Schule und auf dem Seminar der „Schlagetot“ hieß. Es muß die
Heide und ihre Abendstimmung gewesen sein...“

Hansohm schloß die Haustür auf.

Kling, klang, kling schrillte der fröhliche Dreiklang.

„Kein Licht auf der Diele. Warten Sie einen Augenblick, Fräulein
Doktor, -- so da brennt das Lämpchen. Freut euch des Lebens, weil es
noch glüht. Halloh, Lore, -- gut Freund!“

Er öffnete die Wohnstube.

Da saß Lore im Sessel und schlief. Sorglich stand der Tisch für
ihn gedeckt. Seine Pfeife war gestopft und lehnte am Stuhl, seine
Hausschuhe standen bereit.

Alles atmete liebevolle Fürsorge.

Aber Lore, seine gute, treue Lore schlief.

Schlief so fest und so friedlich, der blasse Mund lächelte, und die
lieben Augen standen ein ganz klein wenig offen.

Klaus Hansohm, den Liebesdienst kannst du der guten Schwester noch
erweisen, kannst ihr die Augen zudrücken, die so müde waren in der
letzten Zeit......

„Herr Gott, Herr Gott!“ Nur diese vier Worte stammelte immer wieder der
erschütterte Mann. „Herr Gott, Herr Gott.“

Und er sah Dora Stavenhagen aus leidtiefen Augen an. „So rasch mußtest
du gehen?“ fragte diese die stumme Schläferin.

Klaus Hansohm war niedergekniet und hatte seinen Kopf auf Lores Hände
gelegt.

Fräulein Doktor ging rasch und leise hinaus und holte aus dem oberen
Stockwerk eine alte Frau und deren Tochter herunter, die schon manchmal
dem Geschwisterpaar Handreichungen getan hatten. „Kein Rufen haben wir
gehört“, berichteten sie. „Aber um sieben Uhr hat sie noch ein schönes
schönes Lied am Spinett gesungen, und ich meinte noch zur Tochter:
Horch, das Fräulein Lore singt uns den Abendsegen....“ So die alte
Frau. --

Vorsichtige Hände trugen die Tote auf ihr Lager.

Fräulein Doktor deckte sie mit weißen Linnen zu. Dann nahm sie die Hand
des jungen Kollegen und führte ihn sacht hinaus, schloß auch sorglich
die Tür ab. Draußen reichte sie ihm Mantel und Hut, und er tat ganz
mechanisch, was sie wollte. Mitsammen schritten sie aus dem Hause und
nach dem Markte hin, wo Fräulein Doktor wohnte.

Aber sie blieb schon vor dem alten Patrizierhause stehen. „Dort ist
jetzt Ihr Platz, Hansohm“, sagte sie in schwesterlicher Güte, als
sei sie nun ganz an die Stelle der Heimgegangenen getreten. Und sie
zeigte auf das Licht, das noch in Sörensens Wohnzimmer brannte. „Dies
Lichtchen ist das einzige, das Ihr Dunkel wieder durchleuchten kann.
Gott befohlen, Klaus Hansohm.“

Sie ging mit großen Schritten davon, und Hansohm zog den Hut und sah
ihr barhäuptig eine ganze Weile nach. Dann besann er sich, zog die
Glocke am alten Hause und bedeutete Frau Dietz, die sich oben am
Fenster zeigte, ja, er wolle noch heute abend für eine Weile den Herrn
Direktor sprechen.

Sörensen arbeitete. Er sah versonnen auf, als Klaus Hansohm mit
schweren, müden Schritten zu ihm trat.

„Meine Loreschwester ist heimgegangen“, sagte er schlicht. Da legte
Sörensen mit viel guter Liebe seine Arme um den jungen Kollegen, und
dieser schämte sich seiner hervorstürzenden Tränen nicht.

„Weine dich aus, mein armer Junge“, sagte Sörensen brüderlich, -- und
Klaus Hansohm faßte seine Hand fest und wußte, daß er nicht einsam sei.
--

       *       *       *       *       *

Mein alter Foliant, -- auch dies blieb mir nicht erspart, daß sich
zarte Fäden vom Gymnasium nach dem Lyzeum spinnen.

Das wäre ja nun nicht so verwunderlich und würde mich recht kühl
lassen. Oder vielmehr, ich finde diese allererste Liebe mit ihrem
himmelhochjauchzend -- zum Tode betrübt ganz köstlich und durch nichts
zu ersetzen. -- Aber ich bin doch dafür, daß sie über Fensterpromenaden
und gelegentliche Schokoladen- und Blumenspenden nicht hinausgehen
darf. --

Stelldicheins zu nachtschlafender Zeit sind mir besonders
unsympathisch. +Wenn+ man aber denn durchaus als Obersekundaner
diese Jugendeselei begehen will, dann muß man schon sorgen, daß
man nicht gerade den Garten des Gymnasialdirektors dazu aussucht,
besonders, wenn dieser der Vater der Angebetenen ist. --

Also: „Telse Lüders und Arnold Dierks empfehlen sich als Verlobte.“
Diese überraschende Anzeige fand Fräulein Nissen auf ihrem Pult und
verfehlte nicht, mir umgehend Mitteilung davon zu machen. -- Hätte
sie es lieber nicht getan, sondern den Strolch, der sich die Flegelei
erlaubte, allein herausgefunden und ihm ordentlich den Kopf gewaschen.
-- Ich selbst überlasse solch zarte Familienangelegenheiten, wie die
Verlobung einer Schülerin mit einem Obersekundaner sehr gern den
pp. Eltern und Vormündern. -- Aber Fräulein Nissen hatte nicht das
geringste Verständnis für das Glück ihrer jungen Mitschwester und
verlangte die Ausrottung jeglicher „Gefühle“ in der ersten Klasse.

Und da kam noch ein erschwerender Umstand hinzu. -- Eine weitere
Schülerin der 1. Klasse hatte sich als Schutzengel aufgespielt und
„Wache gehalten“. Als nun Gymnasialdirektor Lüders zufällig noch einen
Erholungsspaziergang in seinem Garten unternehmen wollte, stieß er
auf ein jungfrisches fremdes Ding, das ihm auf seine Vorhaltungen
entgegnete, daß es „Veilchen suche“. Direktor Lüders fand, daß es
eine ungewöhnliche Beschäftigung für die zehnte Abendstunde sei und
machte das Mädel ganz humorvoll darauf aufmerksam, daß noch nie ein
„Veilchen auf seiner Wiese gestanden habe“. -- Dann erst hat er Hanne
Voß energisch bei der Hand genommen und ihr gezeigt, wo die Gartentür
des Städtischen Gymnasiums zu Birkholz mündet. Weinend und sich
fortwährend umschauend hat Hanne den ungastlichen Garten verlassen. Und
dies Umschauen verriet Direktor Lüders den Ort des Stelldichein. In der
Laube fand er seine Tochter Telse und Konrad Dierks. So weit hätte ich
nun ganz unbeteiligt bleiben können. Habe mich auch nicht erkundigt,
was des weiteren sich in der Laube begeben, denn die Sache meiner
Schülerin Telse lag ja in den besten Händen.

Aber ein Gedicht, das sich in einem Schulatlas vorfand, nahm ich an
mich und wurde deshalb von Konrad Dierks -- gestellt. Das Bürschchen
kam am Tage des Stelldichein in einer Stimmung bei mir an, die wohl
in „weißglühender Wut“ ihren Ursprung hatte und erst allmählich
in gänzliche Menschenverachtung umschlug. Konrad Dierks war einen
Marterweg durch so viele Rüffel geschritten, daß es ihm wohl auf einige
mehr oder weniger nicht ankam, und so stellte er sich vor mich hin und
meinte schier nachlässig: „Wollte mir mein Gedicht holen, das Sie sich
widerrechtlich angeeignet haben.“

Ich blieb ganz ruhig. „Augenblicklich bin ich noch für eine
Viertelstunde stark beschäftigt,“ sagte ich, „Sie setzen sich wohl
inzwischen und ich versehe Sie mit Lesestoff.“

Ich bot ihm einen Stuhl, entnahm meiner Bücherei ein rotes Buch und
überreichte es ihm.

Als ich nach einer Viertelstunde wieder zu ihm trat, lag „der gute
Ton in allen Lebenslagen“ zwar hingeschleudert auf dem großen Tisch,
aber Konrad Dierks war doch viel zahmer geworden. -- „Also Ihr Gedicht
wollen Sie wieder haben“, meinte ich, und setzte mich gemütlich hin.
„Behalten hätte ich es ohnehin nicht, es gehört nicht zum Pensum der
ersten Klasse.“

Er sah mich mißtrauisch an, aber ich tat nicht dergleichen, sondern
suchte nach dem verlegten Gedicht. Endlich hatte ich’s:

    „Brünstig brandet mein brausendes Blut
    Wider die Wogen wildwallenden Herzens.“

Es war aber noch erklecklich länger. -- Glauben Sie, daß Telse Lüders
reif genug für diesen Dithyrambos ist? fragte ich teilnahmvoll.

„Nein!“ entgegnete er düster. „Ach, überhaupt die Frauen! ich habe mit
ihnen abgeschlossen.“

„Wie alt sind Sie, Herr Dierks?“

„17 Jahre.“

„Haben Sie schon einen Beruf im Auge?“

„Dichter und Dramaturg“, sagte er großartig. Und da ich ihm freundlich
zunickte, schien sein Vertrauen ins Ungemessene zu wachsen.

„Herr Direktor,“ begann er zutunlich, „ich will es gern gestehen,
daß ich in „wahnsinniger Depression“ zu Ihnen kam. Mein Herz war ein
Abgrund.“ Er seufzte. „Aber nachdem ich den Gymnasialdirektor kennen
gelernt, dünken +Sie+ mich eine großangelegte Natur zu sein.“

Ich verbeugte mich geziemend.

„Herr Direktor, ich bin auf das Schnödeste von +meinem+ Direktor
behandelt worden,.... ich -- ich weiß mir keinen anderen Ausweg, als
ihn... zu fordern.“

„Dierks! Mensch! Was ficht Sie an?“

„Jawohl, Herr Direktor. -- Hätte Telse Lüders zu mir gehalten, --
meinen Schwiegervater würde ich ja niemals fordern, -- aber sie hat
mich unerhört im Stich gelassen. -- Es bleibt mir keine Wahl. Wollen --
wollen Sie mein Kartellträger sein???“

Ich schluckte und hielt den Atem an, daß ich gewiß blaurot im Gesicht
wurde. Aber es half nichts. Als ich ihn so dastehen sah, den blonden
unbedarften Jungen mit seinem von Finnen und Pickeln gesprenkelten
Gesicht, jeder Zoll ein Held, in der Stellung eines Marquis Posa:
„Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“, -- da lachte ich schließlich so
erschütternd und befreiend, daß mir die Tränen übers Gesicht liefen.

Erst sah mich der Junge durchbohrend an, und dann -- fing er an
zu weinen. Und nun nahm ich ihn mir ganz väterlich-brüderlich --
freundschaftlich vor und er beichtete: Daß er immer „Vieren haue“,
daß er am Reifezeugnis verzweifle, daß Telse versprochen habe, ihm zu
folgen, sobald sein Drama „Zerschlissene Weltschmerzen“ den verdienten
Bombenerfolg errungen, daß aber die rohe Gewalt ihres Erzeugers den
Sieg über ihr schwaches Herz davon getragen.....

Als er mich nach einigen Stunden verließ, lagen seine Sorgen auf meinem
Sessel und ich hatte mich verpflichtet, täglich mit ihm etwas zu
arbeiten.

Seine Liebe und sein Drama sargte er vorläufig ein. Aber ehe er sie
begrub, steckte er sich strahlend eine gute Zigarre von mir an. --

       *       *       *       *       *

Als Sörensen am nächsten Tage in der Abenddämmerung von dem Besuche
heimkehrte, den er seinem Freunde Hansohm abgestattet, nahm ihn Frau
Dietz geheimnisvoll beiseite.

„Es ist eine Dame drinnen“, sagte sie mit allen Zeichen der
Unzufriedenheit.

„Zu dieser Zeit?“ fragte Sörensen erstaunt.

„Ja, das sagte ich auch, aber sie ließ sich nicht abweisen. Sie hat
einen dichten Schleier um und spricht nicht viel.“

„Es wird eine ‚Mutter‘ sein“, meinte Sörensen lächelnd.

„Nein“, erklärte Frau Dietz bestimmt. „Als ob ich nicht Mütter von
Damens unterscheiden könnte! Die Mütter tun immer, als wenn sie hier zu
Hause wären, und Harks sagt, in der Schule wär’s noch viel schlimmer.
Und sie reden und reden so, als wäre der Herr Sörensen nur als
Extradirektor für die eine Tochter da, um derentwillen sie kommen.....
Aber die Dame drinnen redet nicht, sie sitzt noch so auf demselben
Fleck, wie sie vor ’ner halben Stunde saß. Ich hab durchs Schlüsselloch
geguckt .....“

Sie verstummte verlegen vor seinem Blick und öffnete ihm die Tür. Die
zusammengesunkene Gestalt blieb noch in dem Sessel hocken, bis Sörensen
ganz nahe vor ihr stand. Da schlug sie zögernd den Schleier zurück, und
als der Direktor sie erkannte, drängte er sie erschrocken wieder auf
den Sitz: „Frau Oberlehrer Kahl! Gnädige Frau! Ist etwas geschehen?“

Sie sah ihn aus tränenlosen Augen an.

Ihr vergrämtes Gesicht war erbarmungswürdig: „Ich kann nur um
Verzeihung bitten, daß ich hier so eindringe“, sagte sie leise.
„Aber ich weiß mir keinen Rat mehr. Und Sie sind gut und klug und
ritterlich“.... Sörensen erhob abwehrend die Hand. „Es bedarf keiner
Entschuldigung. Sagen Sie mir nur, ob Ihr Herr Gemahl von diesem
Besuche weiß.....“

„O Gott, nein!“ Sie erschrak. „Er darf es auch niemals erfahren!“

„Gnädige Frau, das ist mir sehr, sehr gegen mein Empfinden....“ sagte
Sörensen zögernd, aber sie unterbrach ihn ungestüm.

„Herr Direktor, sagen Sie jetzt nichts von Sitte, von Kollegialität,
von irgend etwas dergleichen.... ich bitte Sie um Gottes willen, helfen
Sie mir! Ich komme als Mensch zu Ihnen im tiefsten Vertrauen auf Ihr
Menschentum ....“

Er zog sich einen zweiten Sessel heran und ließ sich ihr gegenüber
nieder. „Befehlen Sie über mich“, sagte er ruhig.

Sie sah ihn dankbar an, dann fuhr sie leise und eindringlich fort:
„Mein Mann hintergeht mich. Ach, ich weiß es ja schon seit Jahren,
daß ich ihm gar nichts bedeute, gar nichts mehr.....“ Sie schauerte
zusammen. „Aber das ist mir nicht verwunderlich. Er ist ein kluger
Mensch, -- ich -- ich war immer nur hübsch, hatte gar nichts anderes
gelernt, als hübsch zu sein.

Durch die vielen Krankheiten, die ich durchmachte, ist’s damit
vorbei......

Und nun hat mein Mann sich schon lange, lange von mir abgewendet.“

„Gnädige Frau, das sind intime Privatsachen.....“

Sie sah ihn herzzerreißend an. „Ich muß Ihnen das alles sagen, Herr
Direktor, bitte, hören Sie mich zu Ende. Ich habe mir vieles gefallen
lassen, ich machte keine großen Ansprüche an sein äußeres Benehmen zu
mir, -- ich hatte ihn ganz altmodisch lieb ohne jeden Vorbehalt.... Und
es genügte mir, daß ich seinen Namen trug, daß er mir gehörte und daß
ich für ihn sorgen konnte. Ich stamme aus einem strengen Pfarrhaus,
Herr Direktor, und es war mir ein guter Gedanke, daß in unsern
Lehrerkreisen so viel gesunde Moral steckt, -- so viel Sauberkeit
in jeder einzelnen Familie..... Als ich dann -- gleichviel woher --
erfuhr, daß gerade im Vorleben +meines+ Mannes ein häßlicher Punkt
sei, da war ich wie erschlagen. Aber ich hab mich wieder erhoben,
habe mich daran geklammert, daß dies ja alles vor meiner Zeit gewesen
sei und -- mein Vater sagte immer: ‚Kein Opfer ist zu groß, um eine
eheliche Liebe zu retten.‘ Aber nun -- Herr Direktor, nun wohnt da
draußen vorm Birktor dicht an den Stiftungsgärten eine Person -- man
sagt mir, mein Mann müsse sie von früher her gekannt haben, denn er
hätte sie hierher kommen lassen. Ach, Herr Direktor, das ist alles
so niedrig, -- ich weiß, daß mein Mann ihr Geld schickt. Er hat sie
bei den Eltern meines Dienstmädchens eingemietet, bei Schneider
Bertels.....“

Frau Kahl schluchzte schwer auf.

„Arme Frau!“ sagte Sörensen erschüttert.

„Ja, und gestern -- -- gestern war sie sogar in unserer Wohnung....
Sie lachte mich dreist an und streckte mir sogar die Hand hin, mein
Dienstmädchen stand dabei und grinste....

Meinem Mann selbst schien ihr Besuch nicht recht zu sein, -- er schalt
mit ihr. Vielleicht hatte sie Geld holen wollen....“

Sörensen packte der Ekel. „Sagen Sie mir, wie Sie sich meine Hilfe
vorstellen“, bat er drängend. --

„Ich bitte Sie inständig, in Erfahrung zu bringen, woher jene Person
kommt. Und weshalb mein Mann sie unterstützt. Und -- -- Sie sollen der
Behörde Mitteilung von dem machen, was ich Ihnen sagte, -- Sie werden
Wege finden, daß trotzdem nicht die ganze Stadt mit Fingern auf uns
zeigt. Aber wenn sie es auch tut. Sie sollen die Versetzung meines
Mannes beantragen. Mir ist jedes Mittel recht, wenn ich ihn hier nur
loslöse. Er wird sich nicht versetzen lassen, aber er wird abgehen,
denn wir sind wohlhabend. Dann ziehen wir auf unser kleines Gütchen im
Sächsischen, und ich habe ihn wieder wie früher....“

Sörensen stutzte. „Und Sie meinen, er wird Birkholz und -- -- alles so
widerstandslos aufgeben?“

„Er haßt Birkholz -- und Sie!“ sagte Frau Kahl.

„Mich?“ fragte Sörensen befremdet. „Wir sind uns sehr unsympathisch, --
aber Haß???“

„Ja, er haßt Sie wie das Böse das Gute haßt, der Niedrige den
Aufrechten....“

„Und trotzdem Sie so denken, wollen Sie.....“ Sörensen brach ab. Es
ging ihn nichts an, ob diese arme Seele den von ihr selbst geschmähten
Gatten wieder, auch ohne seine Reue, aufnehmen konnte und wollte.
„Frauenliebe“, dachte er. „Tausendmal getreten, verschmäht und
beleidigt und doch immer dieselbe....“

„Ich werde alles tun, damit man Ihnen Ihren Wunsch erfüllt“, sagte er
jetzt.

Sie streckte ihm wortlos die Hand hin. Krank und erschöpft sah sie aus,
und er geleitete sie sorglich durch das Zimmer und über den Flur an der
mißtrauisch dreinschauenden Frau Dietz vorbei nach der Treppe. --

Als seine Haushälterin ihm das Abendbrot auftrug, fragte er sie nach
den Schneider Bertelschen Eheleuten. „Ich meine doch, den Namen auf
irgend einer Rechnung gesehen zu haben.“ --

„Ja freilich“, bestätigte Frau Dietz. „Der Bertels ist ein Heidekamper
Kind, deshalb brachte ich ihm auch die Sachen vom Herrn Direktor zum
Ausbessern. War ja gut mit ihm befreundet und mit seiner Frau.“

„Sind Sie es denn nicht mehr?“ fragte Sörensen unbehaglich.

„Nein, Herr Direktor. Der Bertels hat sich da eine Aftermieterin
aufschnacken lassen, und die sitzt nun mit an seinem Tisch und führt
das große Wort und will mich jawohl ausfragen.....

Das paßt mir nicht. Und sie hat mich sogar besuchen wollen, aber ich
habe ihr ganz kurz gesagt, daß Herr Direktor das nicht wünschen.“

„Wenn sie keine einwandfreie Person ist, wünsche ich es allerdings
nicht.“

„Ob sie das ist, weiß ich nicht. Ich mag sie nur nicht. Aber wundern
sollte es mich, wenn Frau Bertels etwas Unanständiges bei sich litte.
Die ist sehr heikel in solchen Dingen.“

Von nun an sagte Frau Dietz gar nichts mehr, sondern verzog sich
in ihre Küche und die daranstoßende eigene Wohnstube, und Direktor
Sörensen schritt die halbe Nacht in schweren Gedanken in seinem Zimmer
auf und nieder.

Der nächste Tag war ein Sonntag.

Diakonus Heinrich sollte in der Stadtkirche predigen, aber sein
Heuschnupfen setzte so unüberwindlich ein, daß man den alten Pastor,
der gerade einen Ausflug mit seiner rundlichen Frau unternehmen wollte,
vom Bahnhof zurückholte. Und weil dieser gar nicht vorbereitet war,
wählte er schnell die Predigt „vom Wolf in Schafkleidern“, die aus
früherer Zeit noch in seinem Gedächtnis haftete. Und predigte so
herzhaft und eindringlich, daß seine Worte wie befruchtender Regen
auf die Herzen der Birkholzer niederträufte und -- das Pharisäertum
geradezu üppige Blüten trieb. Jeder glaubte den lieben Nachbarn in
den Gleichnissen zu erblicken, welche der Geistliche vor den Hörern
aufrollte. Und niemand ging dem Wölfischen in der eigenen Brust zu
Leibe und niemand wickelte sich aus dem eigenen Schafpelz heraus. Aber
als Direktor Sörensen nach dem Amen aufstand und in tiefen Gedanken,
ohne irgend jemanden im Gotteshause zu grüßen, die Kirche verließ,
da war man sich einig, daß die ganze Rede nur auf den Herrn Sörensen
gemünzt war. --

Erne Sörensen wanderte in die Heide hinaus.

Aber nicht allzuweit.

Ihre eigenartige, herbe Schönheit gab ihm heute nicht das, was sie ihm
sonst gegeben: besinnliche Stille.

Er befand sich in seltsamer Aufregung -- und Verlegenheit. Und die
Verlegenheit kleidete seinen aufrechten, ehrlichen Körper schlecht,
wie ein geborgter Rock. Er bereute sein Versprechen, das er der
gebeugten Gattin seines Kollegen Kahl gegeben, und zog doch nach
einem kurzen Marsch an der Glocke des kleinen gelben Hauses neben den
„Stiftungsgärten“. Verschiedene Modekupfer, die an die Blumentöpfe
des niedrigen Fensters gelehnt waren, zeigten dem Beschauer, daß hier
Schneidermeister Bertels wohnte.

Niemand öffnete ihm, und da drückte er auf die Türklinke und trat in
den engen Windfang und wieder vor zwei geschlossene Türen. An der einen
prangte ein großes Blechschild: Bertels, Schneidermeister. An der
andern Tür hing ein Papprahmen, darin ein Blatt steckte, auf welches
mit ungeübten Buchstaben ein Name gemalt war.

Und ob Sörensen seine Brille noch so heftig rieb, er konnte doch nichts
anderes lesen als: Lisette Balian.

Zuerst war er erstaunt, dann erblaßte er jäh, und hundert Gedanken
kreuzten sich in seinem Hirn. Mit raschem Entschluß klopfte er an diese
Tür. Sie öffnete sich, und die beiden Gatten standen sich wie finstere
Todfeinde gegenüber.

„So hast du mich doch aufgespürt?“ fragte Lisette mit verbissenem Trotz.

„Da sei Gott vor, daß ich dir nachspüre“, stöhnte er dumpf auf. Und
packte in jähem Zorn ihr Handgelenk. „Wo kommst du her?“

Sie entwand sich ihm. „Du tust mir weh“, greinte sie.

Er trat zurück. Seine Augen sprühten sie an. „Wie du +mir+
wehtust seit Jahren und immer wieder aufs neue, das fragst du nicht.
Herrgott! Herrgott!“ Völlig außer sich, hob er beide Arme empor und
schüttelte die Fäuste.

„Ich weiß nicht, was du willst“, murrte sie. „Ich habe dich nicht
gerufen.“

„Aber wie kommst +du+ hierher, Lisette? Ich wähnte dich in einer
Heilanstalt....“

„Da war ich auch. Bin aber ausgerissen. Wie die Sklaven wurden wir
gehalten, das war mir das bißchen Heiserkeit nicht wert.“ Er sah ernst
auf ihr abgezehrtes Gesicht. „Ich hatte gehofft, du würdest dich
ordentlich pflegen und auskurieren....“

„Hattest du?“ spottete sie. „Es sieht dir ähnlich. Aber meine
Gesundheit geht nur mich etwas an. Sie ist übrigens nicht schlecht. Ich
habe eine zähe Natur.“

„Lisette, warum konntest du nicht ein neues Leben anfangen? Die Mittel
gab ich dir reichlich....“

„Ja. -- Alle Achtung vor deinem Portemonnaie. Aber für mich bedeutet
neues Leben alles das, was nicht langweilig ist. Das kostet aber Geld.
Dabei ist der Schwindel mir hier auch schon wieder langweilig.“

„Du nennst das Schwindel“, stieß Sörensen in bittrem Grimm heraus, „und
dieser Schwindel bricht einer ehrenhaften Frau das Herz.“

„Welcher Frau?“ fragte sie erstaunt. Dann dachte sie einen Augenblick
nach und lachte heiser. „Du meinst doch nicht etwa die Frau von dem
Nußknacker, der mich herrief? Der tue ich doch nichts zu leide....“

„Und warum rief dich dieser Mann her“, fragte Sörensen scharf.

„O, ich denke mir, um ein bißchen Spaß in diesem langweiligen Nest zu
haben. Und weil’s dich ärgert, Erne, er ist dir gar nicht grün.“

„Woher wußte er deine Anschrift?“

„Die gab ich ihm selbst. Ich schrieb durch den Wirt von den Sieben
Steingräbern an ihn, da kommt er öfters zum Kegeln hin. Mein Geld war
alle, und -- alle Achtung, er hat mir ordentlich geschickt.... Aus
Kollegialität, schrieb er. Und dann redete er mir dringend zu, nach
Birkholz zu ziehen, um mich dir ein bißchen in Erinnerung zu bringen.
Das hatten mir auch schon die Schwäger geraten. Die fanden mich schön
dumm, daß ich mich so von dir wegschicken ließ.“

„Lisette, denkst du denn nicht einen Augenblick daran, daß du meine
ganze Stellung hier untergräbst? Daß du den rechtschaffenen Namen
schändest, den ich dir gab. Was tat ich dir???“

Die letzte Frage klang wie ein Aufschrei, und er bereute sie sofort und
biß sich auf die Lippen.

„Ja, das ist ein Teufel, der mich plagt“, meinte sie sorglos. „Es
ist wahr, du bist immer furchtbar gut zu mir gewesen. Aber es machte
wirklich Spaß, euch alle an der Nase rumzuführen.“

„Erkläre dich näher....“

„Nun, der Herr Kahl meint doch, -- es besteht irgend etwas Unsauberes
zwischen uns beiden, mein lieber Erne. Meinst du denn, ich hätte ihm
gesagt, daß ich deine Frau bin?“ Sie lachte schlau.

„O nein, das war ja gerade der Spaß. Der Nußknacker denkt, ich heiße
Lisette Balian und -- -- -- na ja, er hatte sich eine ganze lustige
Komödie ausgedacht. Wenn der Lehrertag kommt und alle die Vorgesetzten
da wären, da sollte ich eine Rolle spielen. O, der ist so schlau.

Aber ich kann ihn nicht ausstehen. Ich ging auf alles ein, was
er sagte, weil’s so lustig war. Aber zuletzt sollte +er+
hereinfallen. Das war für mich das Lustigste. Denn dann wollte ich
allen sagen, daß ich gar nichts Schlechtes, sondern +deine Frau+
wäre...“

„Lisette!!!“

„Ja, gelle, das hätte eingeschlagen, und ich freute mich so auf eure
dummen Gesichter. Aber nun hast du mich gefunden, und nun ist die ganze
Geschichte verkreckt.“

Sie lachte laut und ärgerlich auf und dann kam ein furchtbarer
Hustenanfall, bei dem sie zu ersticken drohte. Sörensen sah mit
Bestürzung, daß sich Blutstropfen in ihren Mundwinkeln sammelten. Er
geleitete sie nach dem Sofa. „Lege dich nieder, Lisette, und ruhe dich
aus. Heute nachmittag komme ich wieder und -- bringe dich selbst in ein
Sanatorium. Hier kannst du nicht bleiben, aber ich will auch nicht, daß
du krank und allein in die Weite fährst....“

Sie sah scheu in sein fahles Gesicht, in dem die Augen wie zwei Kohlen
brannten.

„Gott, Erne, wie du dir das zu Herzen nimmst. Und wir zwei hätten doch
dem Nußknacker so schön ein Schnippchen schlagen können. Ich versteh
dich gar nicht.....“

„Nein, Lisette. Wie solltest du auch.... Also ruhe dich jetzt. Und dann
schreibe mir auf, welche Summe dir jener Mann -- -- -- geliehen hat, --
packe auch deine Sachen.“ Er legte ihr einen Schein auf den Tisch. „Mit
diesem Geld löse hier deine Verpflichtungen.“ Dann verließ er das Haus.
Draußen begegneten ihm die heimkehrenden Eheleute Bertels. Die sahen
ihn erstaunt und mißbilligend an. Das war ja der Herr Lyzealdirektor
Sörensen, und er kam aus der Stube von „Fräulein Balian“, und gab
nicht einmal ihnen, den Wirtsleuten, Aufklärung darüber, sondern ging,
zerstreut grüßend, davon. Als Sörensen am Nachmittag zurückkehrte,
bedeutete ihm die Frau Schneidermeisterin sehr steif, daß „Fräulein
Balian“ abgereist sei. Sie habe alles bezahlt und soweit sei alles in
Ordnung. Aber es sei nicht schön, daß man sich nicht mal auf die Herrn
Lehrer verlassen könne, die doch für Ordnung und Moral angestellt
wären, und das wollte sie auch Herrn Oberlehrer Kahl sagen, der habe
ihr die Person empfohlen. Ja, und ihre Tochter sollte noch heute bei
Kahls kündigen.....

Die gute Frau Bertels war sittlich sehr entrüstet, aber Direktor
Sörensen hatte augenscheinlich nur die Hälfte von dem gehört, was sie
hervorsprudelte. Er war eilends davongegangen.

Zorn und Scham brannten in seiner Seele. -- --

       *       *       *       *       *

Die neunte Klasse mit den sieben- und achtjährigen Mädchen saß
erwartungsvoll und horchte nach der Tür.

Herr Lehrer Hansohm hatte ihnen verkündet, daß der Herr Direktor heute
zuhören wollte in der Religionsstunde. „Der +liebe+ Herr Direktor“
hatte er gesagt.

Nun, wenn er lieb war, brauchte man sich auch gar nicht zu fürchten,
wenn er kam. Vor Herrn Professor Traute fürchtete man sich. Der hatte
auch einmal zugehört, und da hatte es viel, viel Tränen gegeben. Keine
Antwort hatte ihm gefallen. -- Klaus Hansohm dachte selbst mit Grauen
an diesen Tag zurück, der seine liebe Neunte ganz verstört hatte und
ihnen ordentlich die Religionsstunde etwas verekeln konnte.....

Und Professor Traute hatte ihm, dem Lehrer, unentwegt zugerufen: „ich
begreife Sie nicht, Kollege!“ Im Beisein der Klasse! Als ob sieben-
bis neunjährige Mädchen nicht hellsichtig und hellohrig genug seien,
um Unstimmigkeiten zwischen den Lehrern aufzufangen und mit reger
Neugierde zu verfolgen --

Großer Pädagoge Traute!

Eine heiße Auseinandersetzung im Lehrerzimmer war jenem Besuch gefolgt,
und nun wollte Direktor Sörensen einmal aus eigener Anschauung
urteilen, wie Freund Hansohm den Stoff den jungen Herzen nahe brachte.

Ein Viertel nach 9 Uhr betrat er das Klassenzimmer.

Und fand Klaus Hansohm auf der Schulbank sitzend und das ganze Völkchen
der neunten Klasse um ihn herum in dichtgedrängtem Knäuel.

In die erstaunten Augen des Schulleiters hinein lächelte Lehrer
Hansohm. „Wir haben uns schon in der letzten Stunde etwas gefürchtet“,
sagte er aufstehend. „Deshalb sind wir alle nahe zusammengerückt.“

Gretchen Bley nahm plötzlich mit festem Griff des Direktors Hand. „Nun
fürchte ich mich aber gar nicht mehr“, sagte sie beherzt.

„Was ist denn hier so zum Fürchten?“ fragte Sörensen teilnehmend.

„Ach, -- Sodom und Gomorrha“, berichtete Käte Wedekind. „Wahrscheinlich
wird der liebe Gott es ganz und ganz und ganz und gar vertilgen.“

„Vertilgen heißt aufessen“, sagte Trinchen Löms.

„Kann er ja gar nicht“, ließ sich eine ungläubige Thomasine vernehmen.
„Sone ganze Stadt mit allen drin.“

„Phh! Wo er doch der liebe Gott ist? Der kann alles.“

„Vertilgen heißt hier nicht aufessen, sondern zerstören, einreißen, vom
Erdboden wegfegen“, sagte der Direktor freundlich zu den Streitenden
und strich liebkosend über die Blondköpfe.

„Herr Hansohm, ist das wahr?“ fragte daraufhin die kleine Ungläubige,
und Hansohm bestätigte lachend.

Und dann saßen sie wieder eng aneinandergeschmiegt und Hansohm
erzählte, und die Kinder berichteten aus den vorhergegangenen Stunden
und fragten ihn um Unverstandenes.

Und immer wieder sah Direktor Sörensen, daß der liebe Herrgott der
neunten Klasse ein guter, ja der beste Freund war, zu dem sie recht
mit bewußtem Vertrauen aufsahen.

Und durch die kindlichen Bemerkungen hindurch lernte er auch das
Elternhaus der Kinder kennen und erkannte die Wechselwirkung zwischen
Schule und Haus. -- Sah auch, wie den aufgeweckten Persönchen nichts
verborgen blieb und sie sich nachhaltig mit sorglos von den Eltern
hingeworfenen Bemerkungen beschäftigten.

„Ja, und als mein Brüderchen Differitis hatte, da sagte mein Papa zur
Mutti, wie sie +so+ weinte: ‚Gott kann uns das Kind erhalten, auch
wenn alle Ärzte nein sagen‘“, berichtete ernsthaft Lenchen Verden. Und
setzte hinzu: „Aber heute, als mein prachtvoller Federkasten nicht
aufging und wir uns alle so damit quälten, da sagte mein Papa: „Da kann
kein Gott helfen, da muß Schlosser Fuhls ran.“ -- Der hat ihn dann auch
aufgekriegt.“

„Na, der hat’s auch leicht mit -- die vielen Werkzeuge,“ bestätigte
Meta Fuhls, die Tochter des so ehrenvoll Erwähnten.

Direktor Sörensen war wie in einer neuen Welt. Er wurde ganz
mitgerissen von den zutunlichen, kleinen Lebewesen und saß andächtig
mit ihnen da, und hörte den Kollegen Hansohm so fesselnd und
wunderschön erzählen von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, vom
Gehorsam gegen Gott und gegen die göttlichen Gebote.

Ilse Wessels war sonst immer etwas flusig und zerstreut und horchte nie
recht hin, was vorgetragen wurde. Heute aber seufzte sie ganz tief auf,
so schön hatte sie alles begriffen und auf ihren eigenen gelegentlichen
Ungehorsam angewendet. Und als Herr Lehrer Hansohm in ihr gescheites
Gesichtchen blickte und meinte: „Erzähl doch noch einmal den Schluß,
Ilse,“ da berichtete sie strahlend: „Wir sollen immer gehorsam sein,
-- aber ‚Frau Lotte‘ war es nicht, die drehte sich rum nach der Stadt
Sodom und wurde -- zur ‚Salzgurke‘.“

       *       *       *       *       *

Am Tage nach dieser genußreichen Religionsstunde hatten Kahl und
Genossen wieder eine erregte Unterredung. Freilich, wenn der Direktor
selbst „begeistert“ war von Klaus Hansohms Art zu lehren, dann war
wohl keine Besserung von diesem zu erhoffen, und „Gott der Herr würde
immer gezwungen werden, auf die Schulbänke mitten in das Unheilige
hinabzusteigen, anstatt in unerreichbarer Höhe zu thronen“, wie
Professor Traute sich salbungsvoll und schön ausdrückte. --

Man hatte die ganze Angelegenheit sowohl in der „grünen Birke“ als
auch in Privatkreisen genügend bearbeitet, der Hauptbeteiligte erfuhr
sie natürlich zuletzt. Und hatte dazu gelacht. „Beleidigend“ gelacht,
betonte Oberlehrer Kahl. „Herrschaften“, hatte Klaus Hansohm gesagt,
„ich kann doch meiner neunten Klasse den lieben Herrgott nicht anders
bringen, als ich Ihn in mir selbst trage. Und er ist für mich eben der
große, einzige Jugendfreund, der gesagt hat: „Lasset die Kindlein zu
mir kommen und wehret ihnen nicht.“ So nehme ich denn meine Kinder fest
an die Hand und bringe sie auf den Weg. Denn suchen tun sie ihn +alle+,
-- wohlgemerkt den +Kinderfreund+, der ihnen entgegenkommt, nicht den,
den Ihr als ‚unerreichbar‘ droben in der Unendlichkeit wissen wollt...“

„Na“, meinte Professor Traute im Hinausgehen zu Kahl: „da hat es immer
vom verstorbenen Direktor Claßen geheißen: „Der Mann wird kindisch“,
aber kindischer als der junge Hansohm ist der Greis Claßen nie
gewesen....“

„Das Kindischste und Dümmste an der Geschichte ist nur,“ bemerkte Kahl
bissig, „daß wir alten Akademiker uns dies bombastische Gewäsch einer
Seminaristin ernsthaft anhören müssen.....“

„Wer verlangt’s denn?“ fragte Fräulein Doktor trocken. „Weder der
Direktor, noch Kollege Hansohm. Die beiden lassen doch wahrhaftig jeden
nach seiner Fasson selig werden, sehr im Gegensatz zu weiland Direktor
Claßen.“

Oberlehrer Kahl verbeugte sich spöttisch. „Nun, ich würde auch der
letzte sein, der Herrn Sörensen um die ‚Fasson‘ ersuchen würde....
+Sie+ natürlich sind seiner Seligkeit wohl bombensicher?“ Und Kahl
meckerte hämisch. --

Aber all diese Streitigkeiten im Kollegium, am Biertisch und beim
Weinschoppen im Ratskeller, sowie im Vorraum der Apotheke, darin der
Provisor sein Urteil abgab, hinderten doch nicht, daß es in Birkholz
viele beglückte Elternherzen gab. Und manch eine Mutter, deren Kind
immer so freudestrahlend aus der Religionsstunde nach Hause kam und
klug, und doch kindlich-treuherzig die alten, schönen, biblischen
Geschichten wiedererzählte, so daß sie nun erst recht lebendig wurden,
-- grübelte darüber nach, wie man wohl dem jungen Lehrer eine
Herzensfreude bereiten könne.

So kam es, daß das Grab der jungen Dulderin Lore Hansohm immer mit den
schönsten Blumen geschmückt war. Und war gar nicht traurig anzuschaun,
sondern so fröhlich, siegesfreudig und zukunftsgewiß wie die lieblichen
Geschichten ihres Bruders Klaus. Der ging jeden Abend auf den stillen
Heidefriedhof. Und mußte immer für seinen schlichten Strauß einen Platz
erst frei machen, so viel Kinderhändchen waren vor ihm bei dem stillen
Hügel tätig gewesen, um ihm ihre dankbare Liebe zu beweisen.

       *       *       *       *       *

    +Sonntag abend.+

Die Heide blüht. --

In diesen drei Worten liegt ein Erleben.

Die Heide blüht.

Kann der von „leben“ sprechen, der dieses Gotteswunder nie ersah?

Mir war heute zumute wie im Wonnemonat Mai, da alle Knospen sprangen.
Die abertausend Blütendolden läuteten meinen Frühling ein. Ich pflückte
mir voll inneren Jubels einen Riesenstrauß. Heid und Wacholder und
goldgelben Ginster und große tiefblaue Vergißmeinnicht .... Wie Sterne
waren sie anzuschauen.... Wie zwei bekannte Kinderaugen....

Und ist doch Spätsommer. Närrischer alter Sörensen mit dem ergrauenden
Haar an den Schläfen. --

Mit dem Skelett im Hause, das auf allen Wegen auftaucht und grinst.
Mit der nie versiegenden Sorge: „Was kommt nun? Welche Häßlichkeit wird
den Boden unter den Füßen dir vollends lockern?....“

Und doch. Und doch... Die Heide blüht. Und dies göttliche Geschehen
bringt auch mir den Frieden in mein gequältes, ruheloses Innere.

Von Lisette weiß ich, daß sie in einem Sanatorium Aufnahme fand.

Heute mittag lag ich in der Heide und las meinen Jean Paul.

Das Urgesunde in seinen Werken ist wesensverwandt mit meiner Heide.

Als ich tief untertauchte in das rote Blühen, war mir Wunsiedel und das
ferne Fichtelgebirge fast persönlich nahe. Und damals in der Luisenburg
dachte ich an die Steingräber der Lüneburger Heide und an den Urwald
von Unterlüß. --

Heute war ich abgespannt von einer langen Konferenz. Desgleichen müde
vom Umherlaufen in der Stadt.

Für ein tüchtiges, arbeitsames Mädchen, das einmal eine prächtige
Lehrerin abgeben wird, möchte ich ein Stipendium haben. Aber ich
arbeite mit zu viel Widerständen im Kollegium.

Ebenso schlug man mir’s von Stadt wegen ab.

Es blieb mir ein ekler Nachgeschmack auf der Zunge.

So, -- als hätte das Mädel und die brave Witwe, ihre Mutter, wohl das
Stipendium erhalten, wenn nicht Erne Sörensen der Fürsprecher gewesen
wäre....

Dann hatte ich plötzlich den Mammon binnen fünf Minuten beisammen.
Schulgeld und Seminarkosten. Und Fräulein Tingleff sagte: „Nur nicht
danken. Es geschieht mir selbst der größte Gefallen. Wo irgend ich die
Stadtväter ärgern kann, da tue ich’s.“ So soll sie nun morgen früh für
ihr ungutes, ränkevolles Herz den schönsten Strauß haben, den die Heide
mir bot.

Du meine rote Heide! Grenzenlos ist deine Schönheit, die leuchtende,
grenzenlos deine Macht, die siegende, grenzenlos deine Stille, die
träumende, grenzenlos wie meine Liebe, die sehnende, zu dir, du meine
rote Heide.....

Dann sprang ich auf und besann mich.....

Und wanderte, wanderte, -- bis ich mich in Heidekamp wiederfand.

Dort kam ich recht in einen großen Kreis hinein, wollte am liebsten
gleich wieder umkehren.

Das war nicht mein stilles Heidekamp, das ich suchte. Wenngleich die
Menschen dort mit ihren großen, guten Herzen immer dieselben bleiben.
-- Man ließ mich auch nicht fort.

Aber ich war doch mit einmal der „Herr Direktor Sörensen“, der
mit Grauchen und dem alten Heidekamper und noch etlichen älteren
Gutsnachbarn zusammen saß und der Jugend zuschaute, die allerhand
Spiele unternahm.

Dann und wann drang das klingende Lachen der jungen Sörine zu uns
herauf. Im weißen Kleide, einen Heidestrauß im Gürtel, gaukelte sie
umher recht wie ein Sommerfalter.

Einmal kam sie vorsichtig auftretend mit gespreizten Armen und Händen
zu uns auf die Terrasse.

Ihre Blauaugen leuchteten förmlich im Entzücken.

„O seht nur, seht nur!“ rief sie leise, scheu, beglückt. Und da
saß ein wirklicher Falter, ein prächtiges Pfauenauge auf ihrem
Gürtelsträußchen....

„Oh -- nun ist er fort!!!“ Mit tiefem Seufzer sah sie dem Fliehenden
nach. „Kurt, du hast ihn verjagt, -- wie täppisch du immer bist!“

„Wenn du jedem Schmetterling nachtrauern willst, Bäschen.....“

Der Gescholtene wurde mir dann vorgestellt. Er ist auch ein
Heidekamper, der eigentliche Erbe des Majorats.

Wohl einundzwanzigjährig. Schmal und rassig. --

Ganz wunderlich ward mir zu Sinn, als ich spürte, daß diesem jungen
Menschen die kleine Sörine kein Kind mehr bedeutet.... Wunderlich? Es
war wie ein herber Schmerz.....

Meine Schülerin. -- Junger Heidekamper, laß ihr doch noch das
unbefangene Blühen! Zwinge sie nicht zu frühe mit deinen Blicken in den
Garten deines Hauses. Das wird noch viele Jahre in der Stadt stehen
nach Wunsch deines Vaters....

Aber ein rechtes Heidekind ist die Sörine und die rote Weite ihr
Mutterboden,.... reiße die feinen Wurzeln nicht heraus, -- löse sie
fein langsam....

Denn lösen willst und wirst du sie wohl. -- Der alte Herr gab mir sein
gutes Vertrauen.

„Dort wandert die Zukunft von Heidekamp“, sagte er zu mir und zeigte
auf das junge Paar, das sich zum Bocciaspiel zusammengetan hatte.
„Neffe Kurt ist mir der Liebste aus der ganzen Verwandtschaft. Ein
heller Kopf, ein warmes Herz. Liebe zur Scholle. Bodenständig bis ins
Mark. Daran hat auch die Juristerei nichts geändert, in die sein Vater
ihn gezwängt hat. Nun, die wird sich auch schon wieder verwachsen, wenn
er erst Herr hier ist.....“

„Und Sörine?“ fragte ich. Meine Stimme muß heiser geklungen haben.....

„Ja, mein lieber Herr Direktor, das ist eben das Schöne, -- sie hat
ihn lieb. Ist mit ihm aufgewachsen, und ich habe sie nicht im Unklaren
gelassen, daß sie an ihrem achtzehnten Geburtstage seine Braut werden
soll...“

In diesem Augenblick kamen die beiden, von denen wir sprachen,
herangelaufen, und Sörine rief lachend: „Das Negativ will schon fort,
Großvaterli, halte es ja nicht auf, es ist heute unbeschreiblich
langweilig.“

„Das Negativ? Was sind das für Schnurren?“ fragte der Alte.

„Sieh ihn dir doch an, Großvaterli, und dann finde einen besseren
Namen.“

Wir lachten alle, auch der Geneckte selbst, der mit seinem dunklen,
rostbraun verbrannten Gesicht und ebensolchen Händen, dazu dem
schneeweißen Anzug und weißen Schuhen wirklich den Ausdruck verdiente.

„Teufelsmädel“, sagte der Alte, und von dem Jungen fing ich wieder
einen strahlenden Blick auf, der die junge Mädchenblüte zärtlich
umfaßte. Dann brachte sie den Vetter noch zu seinem Wagen, und ich
sah ihr weißes Tuch noch lange grüßend ihm nachwehen. -- Als sie
zurückkam, sah ich in ein ernstes Gesicht. „Darf ich ein Stückchen weit
mit Ihnen durch die Heide gehen, Herr Direktor?“

„Na höre mal“, fiel der Großvater dröhnend ein, „du kannst doch nicht
so ohne weiteres deine jugendlichen Gäste da unten verlassen, du bist
doch stellvertretende Hausfrau und sozusagen Gastgeberin...“

„Ach, sie vermissen mich nicht“, meinte Sörine achselzuckend, „sehen
mich auch gar nicht für voll an.... und Kurt ist ja auch nicht mehr da.“

Ein befriedigter Blick des alten Heidekampers flog bei ihren letzten
Worten zu mir herüber.

„Und dann,“ -- Sörine spielte ihren letzten Trumpf aus, -- „Herr
Direktor ist doch auch unser Gast, und ich weiß, dem ist ein Gang durch
die blühende Heide mehr wert als dies Herumsitzen im Garten.“

Ihre Augen sahen mich bittend an. Wahrhaftig, ich mußte bestätigend
nicken. Da lachte der Alte und reichte mir abschiednehmend die Hand.

„Wirft man so verblümt die Gäste hinaus“, fragte ich scherzend Sörine,
aber sie lächelte nur schattenhaft.

„Ich nehme den Tyras mit“, sagte sie zum Großvater, und während ich
mich noch von Grauchen und den farblosen anderen Gästen verabschiedete,
pfiff sie dem Hunde, der in großen Sätzen herangaloppierte und dann
ernsthaft neben uns herschritt. Eine geraume Weile waren wir ganz
schweigsam. Ich streifte von Zeit zu Zeit ihr leicht erblaßtes Gesicht
mit der Falte zwischen den dunklen Augenbrauen.

„Du kleines Mädchen,“ dachte ich... „Du solltest auch lieber noch
über dem Pensum grübeln, das ich der ersten Klasse für morgen aufgab,
anstatt dich und dein junges Herz schon mit Heiratsgedanken zu
beschäftigen...“

„Nun?“ fragte ich endlich. „Ist es denn so schwer, seinem alten Lehrer
etwas anzuvertrauen....?“

„Eine Bitte habe ich, -- -- eine große, große Bitte“, sagte sie ruhig
mit tiefem Ernst. „Es +muß+ etwas für Agnes geschehen...“

„Für Agnes Asmus?“ fragte ich verblüfft. „Ich hatte gemeint, Sie
wollten mir ganz etwas anderes erzählen...“

„Ich denke an +nichts+ anderes“, rief sie erregt. „Aber alle
lassen mich im Stich. Selbst Kurt Heidekamp, der sonst so verläßlich
ist. Nun hab ich niemand als Sie, Herr Direktor, Sie werden mir helfen.“

„Wenn ich es kann.....“ Wie leicht war mir auf einmal zumut..... fast
könnt ich drüber erschrecken.

„O, Sie können es! Sie können Agnes zu sich bestellen und mich dann
dazu holen, und wir können dann in einem Ihrer vielen Zimmer sitzen,
und Sie können fortgehen oder bei uns bleiben, wie Sie nur wollen...“

„Sörine...“

„Ach,“ fuhr sie erregt fort, „ich hatte ja auch schon vorhin den Kurt
darum gebeten. Der hat ja so ’ne schöne Wohnung in Birkholz und nicht
mal einen Menschen drin, der uns was verbieten könnte, aber er wurde ja
direkt wütend über meinen Vorschlag....“

„Sörine! Kindskopf!“

Sie sah mich böse an. „Ja, so sagte auch Kurt. Aber warum bin ich ein
Kindskopf? Ich denke wahrhaftig schon lange nicht mehr an kindische
Sachen, sondern .....“

„Sondern?“

„Ich möchte mich gleich nach der Konfirmation mit Kurt trauen lassen“,
vollendete sie ernsthaft. „Dann kann ich meine Agnes zu mir nehmen.“

Mir kam bei diesen Worten etwas in die Kehle, und ich hatte meine
Stimme nicht in der Gewalt.

„Und Ihr Vetter“, fragte ich endlich.

„Der will nicht“, sagte sie trotzig, und da konnte ich lachen.

„Hat er Ihnen den Grund seiner Weigerung angegeben?“

„Natürlich!“

„Darf ich ihn wissen?“

„Ja. -- Er will nicht wegen Agnes Asmus von mir geheiratet sein, hat er
gesagt.“

„So! Aber ich sah doch, daß Sie dem Vetter nachwinkten und als gute
Freundin von ihm schieden....“

„Ja, natürlich. Weil er zuletzt meinte, er wolle es sich nochmal recht
überlegen. Aber warten kann ich natürlich darauf nicht....“

„Kleine gute Sörine“, sagte ich. „Auch ich muß um eine Bedenkzeit
nachkommen. -- Denn Ihre Vorschläge sind alle ein wenig +zu+
sörinenhaft. Ist denn etwas Besonderes geschehen, daß Sie wirklich
Sorge um Ihre Freundin tragen müssen?“

„Ja, Herr Direktor. Ich spür’ das ganz genau, daß man meiner Agnes
zu Hause Leid antut. Da ist irgend jemand in der Schule außer ihrem
Vater, der paßt auf, wenn er uns zusammen sieht, und hinterbringt es
den Eltern. Dann bekommt sie Schläge. Lieber, lieber Gott, richtige
Schläge. Von der Stiefmutter.“ Sörine schluchzte wild und weh auf. „Ich
kann den Gedanken nun gar nicht mehr ertragen....“

„Und in den Michaelisferien soll sie aufs Land zu einer Tante, die ist
eine Schwester von Frau Asmus und noch schrecklicher als sie. Agnes
hatte ganz starre Augen, als sie mir’s in der Stunde zuraunte....
Helfen Sie uns doch, lieber, lieber, lieber Herr Direktor!“

Wie Sörine bitten kann! Spürt gar nicht, daß mein Herz selbst zornig
und bang schlägt in seiner Ohnmacht. Ich löste ihre umklammernden
Hände von meinem Arm und nahm sie dann fest in die meinen. Fand
zuversichtliche Worte, trotzdem ich einsah, daß ich in einem „Wald von
Schwierigkeiten Bäume fällen mußte.“

„Oh, so ist es recht“, nickte sie endlich befriedigt. „Ich verlasse
mich nun auch fest darauf. -- Die Agnes freilich, die hat schon jede
Hoffnung aufgegeben, so ein Armes, so ein Liebes....“

An der Waldecke schaute ich mich noch einmal um. Da stand die weiße
Gestalt und sah mir nach.

Und wandte sich blitzschnell und floh davon.

    +Um Mitternacht.+

Neben mir steht die große Handtasche gepackt, morgen in aller
Herrgottsfrühe will ich nach Einingen fahren.

Dort liegt der Brief meiner alten Mutter, -- ich will ihn meinem
Tagebuch einfügen. Um zehn Uhr kam ein Bote vom Postdirektor. Der
freundliche Mann schrieb mir: „Finde eben bei besonderer Kontrolle in
der Briefträger-Abfertigung einen Brief an Sie, -- vielleicht ist er
wichtiger Art.“ --

Ob er wichtig ist?

Die liebe Mutter schreibt: Mein Sohn Erne! Ist eine lange Zeit
vergangen, daß ich dir letztmalig schrieb. Aber heute kann ich dir
danken für all dein vieles Guttun an mir. War bislang keine Zeit dazu.
Denn vor drei Wochen schlug der Hund an in der Nacht, und ich stand auf
und leuchtete vor die Tür, da lag eine Frau, die war schwer krank. Und
lachte doch und meinte, so späten Besuch hätte ich gewiß lange nicht
gehabt. Und war’s die Lisette. Und wie ich jeden Christen, Heiden und
Juden aufgenommen hätt’, der bittend auf der Schwelle liegt, so doch
erst recht dies kranke Geschöpf, das deinen und deines Vaters ehrlichen
Namen trägt. -- Drei Wochen hab ich sie gepflegt, mein Erne. Es war
die Schwindsucht. Hab dabei in ein grundleichtsinnig und sündig Herz
geschaut, mein Erne, -- ist aber auch viel an ihr selbst gesündigt
worden. Und du weißt ja, ich möcht jedem immer fleißig raten zu Mathäus
7, Vers I. -- Und ist mir eigentlich recht leicht zu Sinn. Weil Gott
in seiner Gnade diesem verirrten Menschenkind die rechte Tür wies,
daß es in den Armen einer Mutter sterben durfte. Und außerdem noch,
weil eure beiden Kinderchen tot sind, und braucht so die Lisette keine
Waislein zurückzulassen. Und item brauchen die Waislein nicht gesagt
zu bekommen, daß sie eine schlechte Mutter hatten. Ist alles gütig und
weise vom Herrgott angeordnet worden. Nur immer hübsch nachdenken, und
die Hände falten mit Dank. -- Und haben wir uns noch auf eine Weise
ganz liebgewonnen, die Lisette und ich. „Du hast mich’s Lachen wieder
gelehrt, Mutter“, sagte sie oft. „Guter Gott“, meinte ich, „was gibt’s
wohl bei mir zu lachen?“ „Weil du so brav bist, Mutter, du und der
Erne, -- so kreuzbrav. -- Wir paßten ja nimmer zueinander. Und brav
sein heißt langweilig sein. Oh, was hab ich gegähnt, wenn ich partuh
brav sein sollte. Aber so, wie ihr beide das seid, so ist’s recht zum
Lachen....“

Ja, Erne, so närrisch hat sie immer gesprochen und, verhoffe ich nur,
der Heiland wird ihr droben sagen, daß das Bravsein nicht bloß fürs
Lachen gut ist.

Aber wie es zum Sterben ging, hab ich lieber selber mit ihr gelacht, um
der armen Seele den letzten Gefallen zu tun. Und wird mir der da droben
auch dies verzeihen, weil er ins Herz sieht.

Hab der Lisette Sörensen geb. Balian die Augen zugedrückt und sie
gewaschen und das Totenhemd angezogen, und Pastor Verden weiß auch,
daß es meine Sohnsfrau ist, und kein verlaufen Straßenweib. Bin gesund
und verhoff das gleiche von dir. Will dich nur fragen, ob du nach
Christengebot feurige Kohlen willst sammeln, und der die letzte Ehre
antun, die deinem eigenen Leben so wenig Ehre angetan.

Würde dich mit großer Freude erwarten als deine treue Mutter. Gesine
Sörensen.

Mutter, ich empfange aus deiner Hand ein neues Leben....

Deiner würdig will ich’s leben. --

Mutter! Als ich heute Morgen das Blatt vom Kalender ablöse, fand ich
den Spruch darauf: „Ein gutes Mutterherz ist ein Kleinodienschrein
Gottes.“

Wahrlich, alle Schätze liegen vor mir ausgebreitet, du liebe Mutter, du
gute Mutter...

       *       *       *       *       *

„Also plötzlich verreist! Hm“, wiederholte Professor Traute die Worte
des Professors Rasmussen. „Und in dringenden Familienangelegenheiten!
Hat denn der Mann überhaupt Familie? Es ist merkwürdig, wie wenig man
von ihm weiß.“

„Genügt aber, wenn das Wenige +gut+ ist“, entgegnete der Kollege.

„Gut??? Na, das kann man wohl nicht so schroff behaupten.... Hm.

Und gestern mittag sprach ich ihn noch, und da schien er noch von
nichts zu wissen -- -- und heute schon fort.....

Vermutlich ein Telegramm???“

„Vermutlich.“

Traute sah, es war aus Rasmussen nichts heraus zu holen. Ärgerlich
ging er aus dem Direktorzimmer, worin sich Rasmussen als Vertreter
niedergelassen hatte. Auf dem Flur begegnete ihm Kahl in großer Eile:
„Komme vom Bahnhof“, raunte er dem Überraschten zu. „Hörte vom Friseur,
daß ‚Er, der Herrlichste von allen‘, schon vor Tau und Tag aus Birkholz
abgedampft sei, ordentlich +gelaufen+ sei er, um noch den Frühzug
5^{54} zu erreichen. Na, ich habe mir dann noch auf dem Bahnhof etliche
Kilo Material gesammelt. ‚Er‘ ist genau nach demselben Ort gefahren, --
na, Sie wissen ja Bescheid.

Unsauber, -- im höchsten Grade unsauber, Kollege Traute, es +muß+
ihm nächstens den Hals brechen....“

„Unglaublich“, staunte Traute und schoß in das Klassenzimmer, denn er
hatte den Vertreter des Direktors „husten“ hören. --

Am Sonnabend derselben Woche kehrte Sörensen aus Einingen zurück. Klaus
Hansohm holte ihn am Nachmittag vom Bahnhof ab.

Sörensen entstieg sehr elastisch dem Abteil und sah den jungen Freund
aus ernsten, aber hellen Augen an. „Wie jemand, der erholt aus einem
frohen Urlaub kommt“, dachte Hansohm etwas befremdet, und dann biß er
sich auf die Lippen, denn er hatte gesehen, wie Oberlehrer Kahl auf dem
Bahnsteig auf und ab ging und nur gerade eben den Hut lüftete, als er
an dem Direktor vorbeischritt.

Der kurzsichtige Sörensen hatte offenbar die unehrerbietige Art des
Grußes gar nicht bemerkt.

Aber unten auf der Straße begegneten ihnen mehrere Honoratioren mit
ihren Frauen, und es war wirklich befremdlich, wie langsam jede
Hand nach dem Hute griff und wie geflissentlich die Frauen zur Seite
schauten...

Klaus Hansohm beobachtete seinen Direktor, aber dieser war ganz
unbefangen: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, lieber
Hansohm, daß Sie mich heute abholten. Wie ein lieber Heimatgruß
war mir Ihr Gesicht, obgleich -- -- -- ich eben aus meiner Heimat
+komme+“, sagte er dankbar. „Haben Sie Zeit, um aus der Hand von
Frau Dietz eine gute Tasse Kaffee entgegen zu nehmen?“

„Für Sie habe ich immer Zeit, Herr Direktor“, entgegnete Hansohm warm.

Oben im Wohnzimmer war es sehr behaglich. Frau Dietz stellte rasch noch
eine zweite Tasse neben die silberne Kaffeekanne und holte Pfeifen und
Fidibusse, wie ihr Herr das liebte. In der Mitte des runden Tisches
prangte der wohlgeratene Napfkuchen, den die Umsichtige zur Feier der
Heimkehr gebacken hatte. --

„Trotzdem gefallen Sie mir gar nicht, Frau Dietz“, scherzte Sörensen
freundlich ernst, nachdem er der treuen Dienerin ins Gesicht geschaut
hatte. „Sie sehen aus, wie die selige Kassandra.“

„Das soll hoffentlich keine Beleidigung sein“, gab Frau Dietz gekränkt
zur Antwort.

„Nein, Frau Dietz, Kassandra war eine durchaus anständige Frau“, sagte
Sörensen möglichst ernsthaft. „Aber ich möchte wissen, welches Unheil
Sie mir prophezeien wollen....“

Frau Dietz erschrak, und sie sah ratheischend auf Lehrer Hansohm.

Aber der machte ein ebenes Gesicht, als ob ihn das ganze Gespräch gar
nichts anginge, und da verließ Frau Dietz hastig das Zimmer.

„Launen???“ sagte Sörensen mehr zu sich selbst und schüttelte den Kopf.
„Das kenne ich gar nicht an ihr. Schade, -- es verdirbt mir beinahe ein
wenig den Tag...“

„Sie haben Frohes erlebt, Herr Direktor?“ fragte Hansohm bescheiden
forschend.

„Frohes? Sehe ich so aus?“ lautete die Gegenfrage. --

„Ja. -- Oder wie jemand, der einer Last ledig wurde.....“

Sörensen schaute sinnend geradeaus, schwieg aber.

Und nach einer Weile: „Hansohm, Sie selbst aber verbergen mir etwas.
Sind nicht der alte Klaus Hansohm. Sie sind unfrei. Habe ich nicht Ihr
Vertrauen?“

„Das haben Sie, Herr Direktor.“

„Also? -- -- Sie zögern? Ist etwas geschehen? Betrifft es mich? Dann
wissen Sie wohl auch Bescheid, was Frau Dietz plagt?“

„Ja, Herr Direktor.“

Und nun kam langsam, schwer und gewuchtig die letzte Frage:

„Hängt es -- -- mit meiner Reise zusammen?“

„Ja.“

Sörensen stand auf. „Also Klatscherei“, sagte er ruhig, „dagegen
kann ich mich nicht schützen.“ Er sah dem jungen Kollegen in das
verdüsterte Gesicht. Dann nahm er dessen beide Hände in raschem
Entschluß. „Sie sagten, Sie wollen heute abend noch zu Fräulein Doktor
gehen? Sagen sie ihr, -- ich -- ich hätte vor wenig Tagen meine Frau
begraben.... ja. Ihr beide sollt’s wissen.....“

Er stellte sich ans Fenster mit dem Rücken nach dem Zimmer gewendet und
schaute in den schweigenden, alten Garten hinaus. Klaus Hansohm trat zu
ihm. „Ich -- danke Ihnen Herr Direktor.“

Die Dämmerung kam. Dann verließ Klaus Hansohm still und ehrfürchtig das
Zimmer und schritt die alte Treppe hinunter und quer über den alten
Marktplatz. Er trug das schwere Geständnis des verehrten Mannes in die
Stube von Fräulein Doktor Stavenhagen, und dort wurde es gleich in ein
treues Frauenherz aufgenommen.

Dann sagte Hansohm traurig. „Aber Sörensen ehrt uns beide nur allein.
Es soll Geheimnis bleiben, und deshalb werden die Lästerzungen sich
weiter spalten und wir dürfen sie nicht herausreißen...“

Fräulein Doktor nickte schwer. „So oder so“, sagte sie. „Birkholz
ist noch nicht reif für einen Erne Sörensen. Wir wollen seine Gründe
ehren.“ -- -- --

       *       *       *       *       *

Direktor Sörensen und sein Freund wanderten durch die Heide. Es
war ihnen zur lieben Gewohnheit geworden, und Frau Dietz stand
allsonntäglich eine Viertelstunde vor dem Fenster, um ihrem Herrn
Schlag 6 Uhr in der Frühe zurufen zu können: „Jetzt biegt er um die
Ecke.“

Die frühe Stunde bot beiden Männern ungeahnte Herrlichkeiten.

Die Sonntagsstille in Wald, Flur und Stadt, die reine unverbrauchte
Luft taten wohl. -- Nach einer lärm- und unruhevollen Woche in heißen
Schulzimmern, deren Luft noch reichlich mit frischem Kalk und Terpentin
durchsetzt war.

„Atmen, atmen!“ kommandierte Hansohm draußen auf tauigem Heideweg,
und ließ den Worten gleich die Tat folgen. Dann nahm er ein paar
rote Heideblüten in die hohle Hand, legte einige braune, abgeblühte
dazu, zerrieb ein winziges Zweiglein Wacholder, pflückte drei
Wacholderbeeren, sowie zwei Ginsterblättchen und fuhr sich mit diesem
Sammelsurium lachend über sein frisches Gesicht. In den Heidedörfern
sagen sie, dies Rezept mache „die Deerns schön und die Junggesellen
gescheit“, sagte er lachend zu Sörensen.

„Geben Sie her, geben Sie her“, mahnte dieser in komischer Hast, „das
muß ich versuchen...“

Hansohm bückte sich sofort, um das „Rezept“ aufs neue
zusammenzustellen. „Es darf nur von +einem+ gebraucht werden,
sonst hat es keine Wirkung“, meinte er, und tat sehr wichtig. Als er
dem Freunde dann Blätter und Blüten reichte, sah er ihn liebevoll
forschend an. „Lieber Herr Direktor, dies schlichte Gemengsel ist
auch sonst als heilkräftig bekannt. In meinem uralten Buche von den
Heidekräutern steht: ‚Ein Tee, solcherweysen zubereytet und mit Sorge
gebrauet, löset zäh und schwer Geblüte und säubert das Herz von der
Melancholeya.‘“

Sörensen antwortete nicht, gab nur den forschenden, liebevollen Blick
ernsthaft zurück.

Nach einer Weile des Wanderns stieß Hansohm ärgerlich heraus: „Sie
haben es mir erlaubt, aus meinem Herzen niemals eine Mördergrube zu
machen und deshalb rufe ich’s hier in die braune Heidestille hinaus,
wie ich’s Ihnen vor Monaten schon einmal unbotmäßig zu sagen wagte:
‚Sie gefallen mir nicht, lieber Herr Direktor, nein, Sie gefallen mir
gar nicht.‘“

„Die Kräuter sollen ja auch nur die +Deerns+ schön machen“,
scherzte Sörensen, ohne daß sein Gesicht sich aufhellte.

„Damit werden Sie mich nicht los“, rief Hansohm eindringlich, und er
warf sich längelang unter einen Wacholderbusch. Denn so hatten sie’s
verabredet. Wo irgend ein besonders schönes Fleckchen entdeckt wurde,
da hatte jeder einzelne sofort das Recht, „Halt“ zu gebieten.

Sörensen folgte also seinem Beispiel, aber schweigend.

„Als neulich Oberlehrer Kahl so plötzlich auf Urlaub ging,“ sagte
Hansohm erregt, „und wir begründete Hoffnung hegten, daß er Birkholz
nicht wiedersieht, da hofften wir auch, Sie würden mit uns allen
aufleben, -- -- Herrgott, lieber Herr Direktor, sagen Sie mir, was man
tun kann, damit Sie wieder der Alte sind. Daß man Ihnen fortgesetzt
abrät, nicht so wahnsinnig zu arbeiten, nützt ja nichts....“

„Sie meinen’s gut, Klaus Hansohm. Zugegeben, daß ich etwas überarbeitet
bin.... Aber es gibt ja Zeiten, wo man die Arbeit als einzige Helferin
hat. Und mir kommt es vor, als sollte das bei mir ein Dauerzustand
werden. Hand aufs Herz, Hansohm, glauben Sie überhaupt, daß ich je in
Birkholz festen Fuß fassen werde?“

„Sie denken doch nicht daran, sich fortzumelden, Herr Direktor?“ fragte
Hansohm erschrocken. „Es wurde mir schon von vielen Seiten erzählt,
aber ich habe immer dagegen gestritten.“

„Hat man’s Ihnen erzählt?“ Sörensen nickte nachdenklich. „Sehen Sie,
Hansohm, bei allen diesen Erzählern war der Wunsch der Vater des
Gedankens. Ich fühl’s ja tagtäglich, wie die Wühlerei im Gange ist.“

„Die paar elenden Maulwürfe“, warf Hansohm verächtlich ein.

„Sie sind sehr fruchtbar“, sagt Sörensen ernst. „Sie vermehren sich
unheimlich. Und meine Sorge geht dahin, daß sie mein Wirken an der
Schule ernstlich gefährden.“

Hansohm richtete sich rasch auf und sah seinen Direktor freimütig an.
„Die Kinder haben Sie lieb“, sagte er warm. „Und zwar die Kleinen wie
die Großen ganz ohne Unterschied. Ist das nicht Glücks genug?“

„Wenn ich nur an mein Glück dächte“, entgegnete Sörensen sinnend,
„so ginge ich nie von hier fort, denn wahrlich, ich finde es täglich
unter den mir anvertrauten Kindern. Aber wenn die Maulwürfe weiter
arbeiten.... +Ich+ habe es nicht gemerkt, Hansohm, daß mich die
Eltern meiner Schülerinnen weniger tief grüßen als früher, das hat mir
erst ein Anonymus verraten.“

„Anonymus+???+ Bekommen Sie +auch+ anonyme Briefe+???+“

„+Auch???+ Aha, ich dachte mir’s. Also in Birkholz laufen solche
herum?“

„Ja.“

„Und die Birkholzer Gemüter und Papierkörbe sind nicht reif genug,
solche Dinge gebührend zu empfangen?“

„Ich fürchte nein. Aber Sie sagten eben selbst ‚nicht reif genug‘, Herr
Direktor, und trafen das Rechte damit. Es ist Unreife, nicht Bosheit.
Birkholz hat viel Kindisches an sich. Zu allererst die Neugierde.
Deshalb beschäftigt es sich mit so etwas wunderlich Neuem und sucht
es zu ergründen. Dann aber möchte es auch an den Beschuldigten
herankommen. Aber Sie lassen niemand heran, und da wird das kleine,
gute Birkholz hart und ungerecht. Den Birkholzern wird es nicht leicht,
einen Fremden lieb zu haben. Aber sind sie einmal überwunden, dann
wollen sie nicht vor verschlossener Pforte stehn.“ --

„Welch scharfe, prächtige Erklärung Sie mir geben, Hansohm, und wieviel
lichte Farben Sie aus Ihrer Palette herausholen für das Bildchen
Birkholz.“

„Es ist meine Heimat. Meine armselige, gute Heideheimat. -- Und schon
als Knabe galt all mein Wünschen dieser Heimat. Ich habe den lieben
Gott nie viel belästigt in meinem Leben. Denn meine Mutter hatte
vergessen, mich das Beten zu lehren. Dann tat’s die grimme Not. -- Aber
Gott schenkte nicht einem einzigen Gebet äußerliche Erfüllung. Er
gab mir Besseres, ließ mich meine Heimat +lieben+. Das war schon
Glück. Dann kam das +Erkennen+ meiner Heimat, all der reichen
Schätze, die in Kopf und Herzen dieser kindereinfältigen Menschen
verborgen liegen. Aber ich konnte den Reichtum nicht schürfen und
heben, dazu mußte ein Größerer kommen.“

Er streckte Sörensen die Hand hin, und seine begeisterten Augen
flammten. --

„Schwärmer! Lieber, junger Schwärmer“, sagte Sörensen ergriffen.

„Oh, nicht doch! Es ist kein Schwärmen, es ist Erleben. +Sie+ sind
mir die Erfüllung meiner Bitte: „Herrgott schick meiner Heimat Birkholz
einen Lehrer von +Gottes Gnaden+!“ Denn nur durch die Kinder
kann man an diese stillen, schweigsamen, in uralte, schier verweste
Anschauungen verrannten Heidjer heran. Und es lohnt sich wahrhaftig,
das Innerste bei ihnen herauszuholen.“

„Es ist mir nicht gelungen“, sagte Sörensen düster.

„Nicht gelungen?“ rief Hansohm leidenschaftlich. „Gehen Sie denn mit
geschlossenen Augen umher? Anders finde ich keine Erklärung. Denn ein
Erne Sörensen ist nicht ‚bescheiden‘ im landläufigen Sinne....“

„Vielleicht war ich bewußt blind“, gab Sörensen zögernd zu, und ein
zages Glücksgefühl zog durch seine Seele in der Vorahnung, der junge
Kollege könne recht haben. „Vieler Jahre Leid wuchteten schwer..... Ich
sah zuviel nach innen und suchte Schuld in mir.“

„Sie ehren mich“, murmelte Hansohm. Und nach einer Weile: „Kann dies
Leid niemals sterben? Ist es fressendes Gift?“

Nun sprang Sörensen auf und stand vor dem Jüngeren und nahm ihn bei den
Schultern: „Freund Hansohm, was fragen Sie da? Eine gute, verständige
Frage ist’s. Und sie rüttelt mich wach. Ja, mein Leid +darf+
sterben. Und Sie sollen mir helfen, es einzusargen und in der gütigen
Muttererde der Heide zu begraben.“ --

„Das will ich, das will ich“, rief Hansohm eifrig. „Und mit solchen
Augen, wie sie jetzt auf einmal in Ihnen leuchten, werden Sie ihr Werk
erkennen. Werden sehen, was Ihnen in unglaublich kurzer Zeit gelungen
ist. All das Verschüttete, das ganze Pompeji und Herkulanum des seligen
Claußen, -- Sie, Erne Sörensen haben es herausgegraben! Was sind die
paar Maulwürfe? Was können Kahl und Genossen ausrichten, wenn Sie
+wollen+, Herr Direktor? Ein aufklärendes Wort von Ihnen genügt...“

Sörensen stutzte und blieb stehen.

„Ich soll.... Kollege Hansohm, -- Sie meinen -- ich soll Farbe
bekennen? Soll mich gegen -- -- anonyme Beschuldigungen verteidigen?“

„Nicht ganz so schroff -- -- Herr Direktor -- o nun habe ich wohl alles
verfahren -- -- wie leid mir das ist -- --“

„Wir wollen nicht wieder darauf zurückkommen, lieber Hansohm“, sagte
Sörensen ruhig ernst. „Das Kind Birkholz ist nicht reif genug, wie Sie
selbst sagen, um sich zum Richter über mich aufwerfen zu dürfen. Es
ist aber auch nicht jung genug, um zu meinen Füßen zu sitzen und sich
belehren zu lassen. So muß es denn nach eigener Fasson selig werden.“

Klaus Hansohm sah tief bekümmert aus.

„Meine beiden Liebsten!“ sagte er traurig. „Meine Heimat und Sie! Und
wollen nicht zueinanderkommen .... Da geht viel Segen verloren.....“

Sörensen schwieg. So wanderten sie eine geraume Weile nebeneinander
her. Mit einmal blieb der Direktor stehen: „Hansohm, haben Sie etwas
von Agnes Asmus gehört?“

Klaus Hansohm sah ihn fast erschrocken an. „Können Sie Gedanken lesen,
Herr Direktor? In dem gleichen Augenblicke wollte ich von Agnes Asmus
sprechen.“

„Ich habe da ein Versprechen gegeben, an Sörine von Heidekamp“, sprach
Sörensen nachdenklich. „Und habe es nicht eingelöst. Das ist mir sehr,
sehr leid. Meine Reise und -- quälende Begleitumstände hinderten mich
völlig. -- -- Ich will noch heute nachmittag zu den Eltern Asmus gehen
und möglichst alles Versäumte nachholen.“

„Sie werden sie nicht treffen. Asmussens wollten heute vormittag nach
Luhenmoor fahren, um einer Tante, zu der Agnes nach ihrer Konfirmation
übersiedeln soll, das Mädelchen zu zeigen.“

„Das gerade wollte ich verhindern“, Sörensen war erschrocken und
peinlich berührt. Dann stampfte er ungeduldig mit dem Fuße auf.
„Kollege Hansohm, Sie sehen mich ärgerlich und verlegen. Denn ich habe
mein Prinzip durchbrochen, Kindern vor allen andern Menschen ein
gegebenes Versprechen zu halten. Nun verfolgen mich die vorwurfsvollen
Augen der jungen Sörine.....“

„Ich möchte Ihnen eine Frage vorlegen, lieber Herr Direktor“, sagte
Hansohm zögernd, „und ein Geständnis machen. Ich -- ich bin der Agnes
Asmus gut. Das tiefe, erbarmende Mitleid mit ihrer Lage hat Wärmeres
bei mir ausgelöst. Und ihre köstliche, junge Stimme habe ich lieb.
Glauben Sie, daß es Unrecht ist, dem so jungen Kinde davon zu sprechen,
sobald es die Schule verlassen hat?“

„Nein, nein, Hansohm, wie sollte das Unrecht sein?“ Sörensen sah ihn
froh bewegt an. „Welch liebe Lösung wäre das! Ungewöhnlich, ich gebe
das zu. Aber Ungewöhnliches kann wunderschön sein.“

„Warum soll das große Los immer in die Lotterie der Besitzenden fallen?
Sie sind das große Los, guter, treuer Hansohm!“ Sörensen war ganz
Aufgeregtheit und Freude. Eine Zentnerlast schien von seiner Seele
gefallen. „Und wie wird sich die Sörine freuen!“

Hansohm sah erstaunt auf seinen Direktor.

„Diese Wirkung meiner Mitteilung hätte ich gar nicht zu hoffen
gewagt“, meinte er. „Ich danke Ihnen von Herzen. Denn nun steht mein
Entschluß fest. Und ich habe gegründete Hoffnung, daß die Eltern Asmus,
wenigstens die Stiefmutter, -- es begrüßen werden, ihr Kind bald los
zu sein. Ohne Kosten“, setzte er bitter hinzu. „Denn ich habe meinen
jungen Hausstand bereits in tadelloser Verfassung. --“

Sörensen drückte ihm die Hand. „Gott schütz Euch beide“, sagte er
brüderlich herzlich.

„Meine kleine Agnes ahnt natürlich nichts.“ Klaus Hansohm schoß
das rote Blut in das junge ernste Gesicht. „Aber ich weiß, daß sie
mir rückhaltlos vertraut und innig dankbar ist. Und warum soll ein
Verlöbnis nicht Glück bringen, das auf Vertrauen und Dankbarkeit
aufgebaut ist?“

„Zwei seltene Kräutlein heutzutage, lieber Hansohm, ich halte sie für
ein schönes, festes Fundament.“

Und bei sich dachte Sörensen: „Du lieber, frischer, fröhlicher Gesell!
Du wirst nicht lange auf die ‚Liebe, welche die größeste ist‘ warten
müssen, sie wird sich noch mit in Eures jungen Nestes Grundstein
einmauern lassen. --“

       *       *       *       *       *

Am Montag, der diesem hellen Sonntag folgte, trat Direktor Sörensen um
8 Uhr zur Andacht in die erste Klasse. Und er sah mit rasch umfassendem
Blick durch seine scharfe Brille, daß zwei Plätze leer waren. Sörine
Heidekamp und Agnes Asmus fehlten.

Mit großem Befremden hörte er, daß keines von den Mädchen eine
Entschuldigung oder Mutmaßung für dies Fehlen hatte und begann den
Unterricht. Der war fesselnd genug. Den eingehenden Fragen folgten
rasche erschöpfende Antworten, -- mit freundlichen Augen schaute der
Lehrer auf die angeregten jungen Gesichter.

Dann klopfte es plötzlich an die Tür und herein schob sich unter
vielen Bücklingen der Lehrer Asmus. Er war verlegen und erregt, und als
er einen raschen Blick nach dem leeren, ersten Klassenplatz geworfen,
wurde er kreideweiß. Und fand keine Worte, so sehr er sich auch mühte,
und wand sich wieder zur Tür hinaus, die er in überstürzender Eile laut
zuschlug. Sörensen sah ihm verblüfft nach und schüttelte den Kopf, und
die jungen Mädchen schauten sich an mit verstörten Augen. Nach der
Stunde, die nicht mehr viel Frucht trug, ging Sörensen in sein Zimmer.

Dort fand er Klaus Hansohm. Und so aus den Fugen war der junge Lehrer,
daß Sörensen ihm erst einmal wie einem kranken Kinde zuredete.

„Agnes ist fort“, stieß er endlich hervor. „Fort, -- nicht zu finden.
Die Eltern haben das Bett leer gefunden heut morgen. Der Vater hat noch
gehofft, sie wäre in die Heide gelaufen, wie sie das in letzter Zeit
öfters getan hätte, und er würde sie zur rechten Zeit in der Schule
wiederfinden... Nun das nicht eintrifft, ist er wie von Sinnen, krank,
-- er sitzt drüben im Lehrerzimmer...“

„Was sind das für Sachen?“ Sörensen überlegte einige Sekunden, dann
ging er mit raschen Schritten nach dem Fernsprecher und ließ sich mit
Heidekamp verbinden.

„Agnes Asmus nicht dort? Und Sörine?“ hörte Hansohm ihn bald darauf
fragen. Und dann sah der junge Lehrer, wie sein Direktor mit tief
gefurchter Stirn einen Bericht entgegennahm.

„Sörine ist zu Hause“, rief der Direktor Hansohm zu, und hing hastig
den Hörer an. „Herr von Heidekamp meint, sie sei krank. Aber die
Freundin sei nicht bei ihr, davon habe er sich selbst überzeugt. --
Hansohm, lieber Freund, was ist da geschehen? Kopf hoch. Es läutet
schon. Ich bitte Sie, gehen Sie in Ihre Klasse. Ich werde mit Asmus
sprechen und alles Nötige in die Wege leiten. Verlassen Sie sich auf
mich, Klaus Hansohm.“

„Verzeihung, -- es hat mich umgerissen“, murmelte dieser, und Sörensen
klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und begleitete ihn bis vor das
Klassenzimmer. --

Im Lehrerzimmer saß Asmus. Ja, der Mann war krank, das sah Sörensen
auf den ersten Blick. Er wollte vor dem Direktor aufstehen, aber seine
Glieder versagten den Dienst.

„Meine Tochter!“ stöhnte er: „+Meine+ Tochter läuft vor Tau und
Tag aus dem Hause und kommt nicht zur Schule, und wir wissen nicht, wo
sie ist.....“

„Aber die Gründe?“ forschte Sörensen heftig. „Agnes ist ein ruhiges
Mädchen, was ficht sie plötzlich an? Ist sie wieder gequält worden?“

„Wir quälen unsere Tochter nicht“, murmelte Asmus. „Aber sie hatte sehr
ihren eigenen Kopf. Und die Tante, der wir sie gestern erst einmal
vorstellen wollten, ist etwas hart geraten.... Und als Agnes sich
widersetzte -- -- sie wollte durchaus nicht das Versprechen geben,
Michaelis zu ihr zu ziehen, -- da hat es wohl allerlei gegeben.....“

„Allerlei,“ wiederholte Sörensen in tiefer Bitterkeit und fühlte, daß
er nicht das allergeringste Mitleid mit diesem Vater hatte, mit dem
Gott jetzt ins Gericht ging.

„Agnes hatte den ganzen Abend und auch auf dem Rückweg kein Wort
gesprochen.“ Mühsam quälte Asmus die Worte heraus. „Ich fand sie selbst
furchtbar verstockt und strafwürdig. Aber es ist nichts mit ihr getan
worden. Sie ging dann bald zu Bett. Und heute morgen.....“ Die Stimme
brach ihm.

„Gehen Sie jetzt nach Hause, Herr Kollege Asmus“, gebot Direktor
Sörensen. „Ich beurlaube Sie. Nur so viel möchte ich Ihnen sagen, in
Heidekamp befindet sich Ihre Tochter nicht. Dort habe ich mich schon
erkundigt.“

Lehrer Asmus starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Nicht in
Heidekamp?“ stöhnte er und faßte des Direktors Hand. „+Nicht+ in
Heidekamp???“

Und nun fand es sich, daß Lehrer Asmus nicht allein nach Haus gehen
konnte und Direktor Sörensen rief den Schulwart Harks, der sich mitten
im Umzug nach seinem sonnigen Häuschen in Heidekamp befand. Aber er
ließ den Möbelwagen und alle Unruhe hinter sich und kam sofort und
stützte sorglich den kranken Mann, der einst mit so viel gehässigen
Worten beigetragen hatte, daß Harks seine Stelle am Lyzeum verlor. --

An diesem Mittage stand Frau Dietz händeringend am Herde und mußte
zusehen, wie ihr schmackhaftes Essen „verbratzelte und verbrutzelte“.

Ein sehr feiner, junger Herr saß drinnen beim Direktor und redete und
fand kein Ende. Und immer, wenn sie ihr Auge an das Schlüsselloch
legte, redete er noch, und schlug dabei die Hände zusammen, und ihr
Herr lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab, so daß das Schlüsselloch
zeitweise hell und dann wieder verdunkelt war. --

Direktor Sörensen hatte seinen unvermuteten Besucher zuerst nicht
wiedererkannt. Denn das auffallend feine, rassige Gesicht des jungen
Referendar von Heidekamp war gerötet von innerer Aufregung und die
Augen schauten ratlos und verzweifelt drein. --

„Ich war wie vom Donner gerührt, Herr Direktor, als ich heute morgen
in mein abgelegenes Gartenhaus kam und die Bescherung fand. Zwei
junge Mädchen! Davon eins meine Base Sörine und das andere ihre
junge Freundin, die augenscheinlich ganz den Kopf verloren hatte. --
Herr Direktor, was sind das für ausgefallene Geschichten! Sörine hat
keine Ahnung, was sie mir und ihrer Freundin da eingebrockt hat. Das
Haus liegt an der Landstraße, meine Bauern und Insten karren dran
vorbei, sie haben ja ein Recht sich zu verwundern, daß ihr junger Herr
plötzlich -- -- --.“ Er verstummte in peinlichster Verlegenheit.

Sörensen rannte auf und nieder, und in seinem Kopfe sausten die
Gedanken. „Du bist dran Schuld, Erne Sörensen“, sagte er sich. „Du hast
dein Versprechen nicht eingelöst, nun hat sich das tapfere Kind selbst
helfen wollen, sich und der Agnes. Und begeht die größte Dummheit.
Natürlich, weil sie jeden Kerl für so ehrenhaft hält, wie sie selbst
einer ist. Liebe prächtige, kleine Sörine, du großer Unverstand!
Gottlob, daß du wenigstens an deinen ehrenhaften Vetter geraten bist.“

Der junge Heidekamper nahm erregt wieder das Wort.

„Ich sage Ihnen, Herr Direktor, -- wie der kategorische Imperativ
in Person stand mein Bäschen vor mir, nachdem sie mich durch meinen
Reitknecht hatte wecken lassen und ich in fliegender Eile mich
angezogen und nach dem Gartenhause geeilt war. Dieses wird von einem
früheren alten Diener bewohnt. Der hat die jungen Damen eingelassen
und zwar heute morgen 6 Uhr in der Frühe. ‚Du beschützest mir meine
Agnes‘, befahl mir Sörine, ‚ich muß nach Heidekamp, damit Großvaterli
nichts merkt. Dann komme ich in jeder freien Minute zu dir und Agnes.
Vielleicht müssen wir uns schon bald trauen lassen, damit Agnes eine
Heimat hat.‘“

Damit fuhr sie davon, und ich saß vor dieser Agnes, die ich nicht
kenne und die eine wahnsinnige Angst vor mir zu haben scheint. Denn
sie sprach kein Wort und war totenblaß und zitterte wie ein Hälmchen.
Mag der Teufel draus klug werden. Es ist eine regelrechte Entführung.
Da fielen +Sie+ mir ein, Herr Direktor, und ich habe dem jungen
Mädchen gesagt, daß ich Sie benachrichtigen wolle, habe ihr ein gutes
Frühstück in die alte Klause gebracht und mich verpflichtet, um 2 Uhr
spätestens mit Ihnen wieder bei ihr zu sein. -- „Sie werden mich nicht
im Stich lassen, Herr Direktor“, setzte der junge Mann bittend hinzu.

Sörensen nickte stumm, schrieb in fliegender Eile einen Brief an Lehrer
Asmus, bat ihn, um Agnes willen ruhig zu sein und -- der Not gehorchend
seine Tochter nach Heidekamp zu beurlauben, damit Birkholz keinen
Anlaß zum Mutmaßen und Klatschen fände, er selbst würde ihm Bericht
über Agnes bringen.

Im Wagen erzählte ihm dann der junge Heidekamper, daß er Sonnabend
und Sonntag immer auf Luhmühlen, seinem Gute sei, von dem man zu Fuß
Heidekamp in einer halben Stunde erreichen könne.

Sörensen hörte nur zerstreut zu. Aber er dankte mit herzlichen Worten,
daß der junge Baron ihn gerufen habe, und er hoffe, daß sich Sörinens
Staatsstreich noch zum Segen für die beiden Freundinnen wandeln würde.

Der junge Heidekamper lächelte: „Ja, das ist merkwürdig, der
unberechenbaren kleinen Base schlägt alles zum Guten aus. Wie hat sie
uns immer alle geängstigt! Was für verrückte Einfälle hat sie schon
gehabt und in die Tat umgesetzt! Niemand in Heidekamp, Birkholz,
Luhmühlen und den angrenzenden Ländern ist sicher vor ihren ‚Ideen‘.
Alle Leute im Dorf, den Großonkel Heidekamp, Grauchen und mich mit
einbegriffen, fürchten sich vor diesen ‚Ideen‘, -- und +alle+
vergöttern trotzdem die junge Herrin.“ -- Und er setzte sehr
herzlich hinzu: „Auch wieder Großonkel, Grauchen und mich selbst mit
einbegriffen. --“

„Weil dieses junge Kind die Liebe ist, die verkörperte Liebe“, sagte
Sörensen ernst. „Jede Handlung Sörinens wird von Liebe zu irgend
einem Lebewesen oder einer Sache diktiert, und wo rechte Liebe ganz
schlackenfrei der Urgrund ist, da +kann+ ja nichts zum Bösen
gereichen.“

Der junge Heidekamper nickte. Aber er meinte doch bei sich, dieser
Herr Direktor Sörensen sei recht „pastörlich“ angehaucht, und im
übrigen würde es besser sein, wenn die süße, kleine Sörine sich ihre
Ideen anstatt nur von „schlackenfreier Liebe“ von etwas „juristischem
Nachdenken“ diktieren ließe.

An der Wegscheide von Heidekamp und Luhmühlen stand ein alter Mann. Er
trug die Heidekamper Livree und winkte dem Kutscher, daß er anhalten
solle. Dann trat er an den Schlag und berichtete mit unsicherer Stimme,
daß er vom alten Herrn Baron zum Aufpassen herbestellt sei und daß die
beiden Herrn gleich ins Schloß kommen möchten.

Der Wagen wendete, und in zehn Minuten erreichten sie das Herrenhaus
und standen vor dem alten Heidekamper.

Der sah heute nicht reckenhaft, sondern alt und verfallen aus. Grauchen
stand neben seinem Sessel und weinte. Des alten Herrn Stimme klang
müde: „Warum müssen wir alten Stackels auf dieser Jammererde bleiben,
und solch Jungvolk, dem das Leben lacht, das siebzig Jahr noch auf ein
Besserwerden hoffen kann, das läuft davon.... Droben liegt sie -- die
lüttje Asmus. In unsern Waldsee ist sie gelaufen. Und meine Sörine,
-- wie ein gefälltes Bäumchen hockt sie daneben. Hat noch kein Wort
gesprochen, sieht mit erstarrten Augen umher, -- sie hat mich gar nicht
erkannt. Herrgott, womit hab ich das verdient, daß du so gar nicht
aufgepaßt hast! --“ Der junge Baron sah blaß und ratlos auf seinem
Großoheim nieder, dann ging er zögernd aus dem Zimmer, und nach einer
Weile hörte man seinen Wagen davon rollen.

„Kann ich -- die Tote sehen?“ fragte Sörensen mit heiserer Stimme.
Grauchen streckte ihm die Hand hin. „Darum hatten wir Sie bitten
wollen“, sagte sie leise. „Auch müssen die Eltern benachrichtigt
werden..... Herr Direktor, der Wagen steht ganz zu Ihrer Verfügung.....“

Sörensen hob abwehrend die Hand. „Sorgen Sie sich um nichts. Ich werde
alles erledigen.“

Dann beugte er sich zum alten Heidekamper hinunter und reichte ihm die
Hand. Dieser faßte sie, und streichelte sie hilflos. „Kümmern Sie sich
nicht um mich“, bat der Freiherr. „Helfen Sie der Sörine, -- vielleicht
gehorcht sie +Ihnen+, läßt sich fortbringen von der Leiche...
Armer Sörinenkerl! Er hat eben nicht aufgepaßt, der Herrgott....“

Grauchen wies dem Direktor draußen eine Tür und ließ ihn allein
eintreten. --

In Sörinens Mädchenstübchen lag die tote Freundin. Man hatte sie mit
einem weißen Tuche zugedeckt, aber Erne Sörensen zog es zurück und
schaute still in das bleiche Antlitz. „Schlaf wohl“, sagte er nur,
und dachte: Es stirbt jung, wen die Götter lieben. Dann hüllte er sie
wieder ein und legte nun seine große Hand auf Sörinens Schulter. Sie
rührte sich nicht, und er rüttelte sie sacht.

Da sah sie auf. War dies in Jammer versteinte Gesichtchen das seiner
jungen Schülerin?

„Sörine!“ rief er erschüttert.

Da wachte Sörine Heidekamp auf und erhob sich. Aber sie schien nicht
mehr zu wissen, daß sie dem einst so verehrten, älteren Lehrer
gegenüberstand: „Gehen Sie fort“, gebot schneidend der junge, blasse
Mund. „Wir haben Tage und Tage auf Sie gewartet, die Agnes und ich.
Weil Sie es mir +versprochen+ hatten. Nun ist es zu spät.... Und
nun ist mein Vertrauen tot, wie meine Agnes. -- Gehen Sie aus meinem
Stübchen fort.....“

Direktor Sörensen straffte sich zu seiner ganzen Goliathhöhe auf.

Jeder Blutstropfen war aus seinem Gesicht gewichen.

„Du vergißt dich, Sörine von Heidekamp“, sagte er laut und hart.

Dann ging er mit schweren Schritten hinaus. --

       *       *       *       *       *

Weit draußen in der stillen Heide wurde ein erbitterter Kampf gekämpft.
Aber niemand sah ihn als das Hünengrab, überwuchert von Ginster und
Zinnkraut. Im rotbraunen Heidekraut lag Erne Sörensen und dünkte sich
weidwund.....

Einen Traum begrub er, -- von einem Schemen nahm er Abschied...
Und doch verdichteten sich Traum und Schemen immer wieder zu einem
trotzigen, schönen, ach so lieben Mädchengesicht.

Voll tiefer Bitterkeit überdachte er sein liebeleeres Leben. Dachte
an seine zweiundvierzig Jahre, die er schier vergessen hatte. Dachte,
wie herb es schmerzt, wenn Jugend zur Jugend strebt -- -- über ein
reifes Mannesherz und dessen zages Hoffen hinweg. Dachte an einen
jungen Raben, den er sich einst zum Lebenskameraden hatte zähmen
wollen und der ihm dafür den Finger zerhackt hatte und dann undankbar
davongeflogen war...

Ein ungewohntes, heißes Naß stahl sich aus seinen Augen und rollte
ihm über die Wange. Hastig und zornig verwischte sein Handrücken die
verräterischen Spuren.

Und hastig und zornig nahm er Abschied von dem Stein aus grauer
Vorzeit, von Holler, Ginster und Wucherkraut und der Heide, die alle
Zeugen gewesen waren, daß er um ein jung-junges dummes Mädel geweint.
-- --

       *       *       *       *       *

Alter Foliant, ist es nicht beinahe lächerlich, daß ich dich heute nach
vier Jahren aus den Tiefen meines tannenen Sekretärs hervorhole?

Daß ich plötzlich an dich denken muß und mich bis zur Erde bücke, um
deiner im untersten Fache habhaft zu werden?

Da, wo du lagst, standen früher die neuen fertigen, festen
Bauernschuhe, die Vater seinen Kunden gebaut hatte. „Schick mir den
Schrank, Mutter,“ schrieb ich vor vier Jahren, „er steht unbenutzt und
verstaubt bei dir auf dem Oberboden, und ich brauche einen Sarg für
vieles, was deines Sohnes Leben beschwert.“ -- Da wurde der Schrank
aus meinem Heidedorf abgeschickt, und ich packte in seine schier
unergründlichen Tiefen eine ganze Welt hinein. Dazu gehörtest auch du,
mein alter Foliant. „Dann knüpfen ans fröhliche Ende den fröhlichen
Anfang wir an“, heißt es im Liede. Wenn es früher meine Kommilitonen
sangen, mußt ich mich immer zusammenreißen, denn es gab bei mir in
der Erinnerung nirgends ein fröhliches Ende und weit und breit keinen
fröhlichen Anfang. Und nun habe ich plötzlich aus meinem inneren
Heimweh heraus wieder einen Anfang gefunden und schon eine ganze Seite
geschrieben. Die Schwatzhaftigkeit des Einsamen.

Was schrieb ich vor vier Jahren +zuletzt+ in dich hinein?

Laß sehen:

„Ein gutes Mutterherz ist ein wahrer Kleinodienschrein Gottes. Und
wahrlich: alle Schätze liegen vor mir ausgebreitet, du liebe Mutter! Du
gute Mutter!“

Das ist doch ein fröhliches Ende meiner Einzeichnungen, alter Foliant.

Aber du mußt dich ohne den „+fröhlichen+“ Anfang begnügen. Ich bin
ungeheuer einsam geworden. Aber nur außerhalb meiner Schule.

Das Lyzeum ist ja meine große, liebe Kinderstube, und sie kommen alle
zu ihrem „Vater“, -- diese wohltuende Überzeugung ist in mir fest
geworden.

Aber die Eltern! Sie sind von Jahr zu Jahr störrischer geworden,
mißtrauischer....

Nicht alle, gewiß nicht. Aber die meisten. Sie sind so überzeugt
davon, daß es in meinem Leben einen Punkt gibt, den ihr
kleinstädtisch-philisterhaftes Empfinden zu scheuen hat, daß sie mein
einsames, strenges Leben eher stutzig macht, als zum guten Glauben
bekehrt. Und Hansohm kannte sie nicht, wenn er damals meinte, ich
könnte durch die Kinder an die Elternherzen herankommen. Wenigstens
zeigt man es mir nicht.

So werden es auch viele töricht finden, daß ich nicht Schulrat werden
wollte. -- Weil wohl alle wissen, daß die Kinder an +mir+ hängen,
aber nicht, daß ich mit „güldenen Ketten“ an die 250 Kinderherzen
angeschmiedet bin. --

Die „Großen“ haben mich fast alle allein gelassen.

Zuerst tat’s der Klaus Hansohm.

Der konnte das Grab nicht verwinden, das sich über seiner jungen Liebe
schloß.

Ich ging zum alten, wunderlichen Fräulein Tingleff, wir hatten ein paar
Beratungen, und dann rüttelte ich meinen jungen Freund zum Leben wach.
Jetzt studiert er bei einem Meister des Gesanges in Berlin, aber wir
hören nichts voneinander, weil er Birkholz vergessen mußte, um wieder
singen zu können. --

Dann verließ mich Fräulein Doktor Stavenhagen, nachdem sie draußen in
Heidekamp die Tochter vom Herrenhause bis zur Einsegnung unterrichtet
hatte. --

Sie ging mit ihrer Schülerin zuerst ins Ausland und durfte in den
darauffolgenden Jahren den jungen, dürstenden Augen unser Deutschland
zeigen in all seiner Pracht. -- Jetzt weilt sie allein auf einer
Studienreise in der Schweiz -- ~Dr.~ Hofer und ich haben sie ihr
verschafft. --

Während jener Reisen hat oft der alte Freiherr bei mir gesessen, und
das Grauchen war Stammgast in meinem Heim, bis sie die guten Augen
schloß.

Aber ich selbst habe das Herrenhaus nicht wieder betreten, seit mir ein
böses, unreifes Kind weh tat....

Nun habe ich dem alten Freiherrn wieder meine Frau Dietz geliehen,
damit er wahrhaft betreut wird. Und ich selbst behelfe mich mit zwei
unzulänglichen Lebewesen, die mir die Frau Bürgermeisterin verschrieb,
genau wie einst Baurat Steinbrück mir es riet.

Nun fehlt nur noch die Heirat mit der „überaus häßlichen Kusine des
Apothekers“, aber dazu bin ich noch nicht gut birkholzisch genug.

Freilich bin auch ich in Netze gefallen, -- in die des alten Fräulein
Tingleff. Ich konnte ihrem Werben nicht widerstehn und spiele
allabendlich eine Partie Schach mit ihr. Sie vermißt ihre Hausgenossin
sehr, und der alte Dingelmann hat die Mansarde nicht wieder vermieten
dürfen. Fräulein Doktor soll sie unverändert wieder vorfinden, obgleich
sie annimmt, daß ihre Möbel im Speicher modern. Das ist das rührende
„Geheimnis der alten Mamsell“.

Auch Professor Rasmussen hat meine Schule verlassen, mir fehlt sein
treuer Rat und sein gutes Gesicht.

Er ist in die Nähe von Lüneburg gezogen, wo er ein Haus besitzt. Dann
und wann fliegt eine Karte hinüber und herüber mit warmen Grüßen. An
Stelle von Klaus Hansohm ist Lehrer Hans Visser getreten, ein guter
Christ, aber schlechter Musikant. -- Klaus Hansohm, ich vermisse dich
sehr, und dem Singsaal fehlt die Sonne. --

Fräulein Doktor wird von einer sehr tüchtigen Oberlehrerin jüngeren
Schlages vertreten. -- Die Abneigung gegen Fräulein Nissen hat
sie mit übernommen und vertritt dieses Recht der Abwesenden am
eifrigsten. -- Mit Kahl ging der größte Hetzer dahin. Die Nachwehen
seines bösen Wirkens spüre ich bis auf den heutigen Tag. Aber beugen
wird er das Recht nie. Und ich gehe aufrecht durch den Schmutz,
den er aufwühlte auf meinem Wege und trete auf die Steine, die er
planlos hinterher warf. -- Wie sagte mir ~Dr.~ Hofer? „Die guten
Gedanken Ihrer Schulkinder werden eine Mauer um Sie bauen....“ Das
ist ein rechtes Wort. Und ein rechter Mann hat’s gesprochen. Ein
+Lehrerfreund.+ -- Seltsam fremd und unbekannt mutet dieses Wort an.
Kinder- und Menschenfreunde, gottlob, sie sind nicht karg gesäet, aber
+Lehrerfreunde+? Das Schicksal vergaß diesen Acker zu bestellen, und
als die Erntezeit kam, lag er brach....

       *       *       *       *       *

Agnes Asmus ruht unter Ginster und Heide auf dem Dorffriedhof in
Heidekamp. Auch nicht der Toten vermochte ich es anzutun, sie noch
einmal in das Dunkel der Galgenstraße tragen zu lassen und von dort auf
den neuen, baum- und reizlosen Gottesacker von Birkholz.

Von den Eltern Asmus wurde nichts in den Weg gelegt. Die Stiefmutter
wich mir scheu aus. Und Lehrer Asmus hat einen Schlaganfall erlitten.
-- Da sehe ich nun seit einiger Zeit ein seltsam Bild. Ich hatte
Blumen auf den Hügel meiner einstigen Schülerin gelegt und wollte
durch die Heide heimwandern. Da fuhr der Heidekamper Kraftwagen vor die
Friedhofspforte, und ich verbarg mich hinter der alten Kirche. Und sah,
wie Lehrer Asmus, auf den Arm der jungen Sörine gestützt, langsam und
kümmerlich den schmalen Steig entlang humpelte. Wie schwer der Kranke
ihr am Arme hing! Wie sorglich das große, schlanke, schöne Mädchen
den Hilflosen betreute! Wie gütig die trotzigen Blauaugen leuchteten!
Und ihre Stimme, die der Wind zu mir trug, klang weich und mitleidig
tröstend.

Und war doch der Lehrer Asmus, der sein Kind, ihre Freundin, in den Tod
getrieben....

Aber er hatte nie der jungen Sörine sein Wort gegeben und es dann nicht
gehalten....

       *       *       *       *       *

Von meiner Mutter habe ich selten, aber immer gute Nachricht. Habe sie
auch im letzten Hochsommer besucht und mit ihr in der Heideschönheit
meiner Heimat gesessen. Das waren Tage voll unerhörter Pracht und
blendenden Glanzes für mein unverwöhntes Altchen. Und sie merkte es gar
nicht, daß sie die Gebende war.

Köstlich war’s, in der Heide zu ihren Füßen zu liegen und den alten
Märchen zu lauschen. Mich spann ihr Zauber so völlig ein, daß ich Essen
und Trinken vergaß.

„Du groten Jung! Du büs doch ock keen büschen anners, as din Vadder
selig.“

Das mußt ich oft von ihr hören.

Sie hatte es am liebsten, die alte Mutter, wenn ich längelang in der
Heide lag, ganz versteckt in den dichten, roten Blüten, daß nur mein
Haarschopf hervorsah, durch den sie dann und wann liebkosend mit
den weichen Runzelhänden fuhr. Wenn ich aufsprang, oder nach meiner
Gewohnheit hin und her lief, dann war ich ihr zu groß, zu sehr der
Riese Goliath, der daheim im Stübchen ihr sämtliches winziges Gewese
mit Umwerfen bedrohte. Und wenn ich ihr etwas erzählte, dann bestaunte
sie mein fremdartiges Sprechen und meine Ausdrücke, ich war, ohne daß
ich’s wollte, mit einem Male der „Herr“ Sohn. So schwieg ich lieber und
war wieder ihr „Jung“ und lernte von ihr. Kann man der Weisheit müde
werden, die aus einem einfältigen Mutterherzen quillt?

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder......“

Nun, ich war wahrlich wie im Himmelreich bei ihr, der Trauten, der
Treusten.

In der Dämmerstunde, da wurde sie immer etwas unruhig.

Gerade wo sie früher am beschaulichsten geschafft, und still auf der
Ofenbank gesessen hatte, oder in der Werkstatt neben dem Vater. Jetzt
merkte ich’s: sie will dir etwas sagen. Die Dämmerstunde ist dazu gut,
denn ihr Schleier verdeckt die unbequemen, scharfen Augen des „groten
Jung“, die Einhalt gebieten könnten. Und doch hattest du nicht den Mut,
kleine, furchtsame Mutter. Das machte dich unruhig und trieb dich umher.

Ei, ich weiß wohl, was du fragen wolltest: „Erne, mein Jung, willst
du immer einsam bleiben? Erne, mein Jung, ich möchte eine Tochter
liebhaben, und weiche Kinderköpfchen in meine Großmutterhände fassen.“

Das wolltest du sagen, Mutter.

Aber dein Empfinden war so zart und fein. -- Du wolltest nicht an
Unausgesprochenes rühren. Lieber schwatztest du fernab liegendes Zeug
bunt durcheinander, und krüseltest umher wie ein Brummkreisel, nur
um nicht an eine wunde Stelle zu tasten.... Mutter, du ganz einzige
Mutter. -- Dann kam der Abschiedstag, da dein Jung wieder hinein sollte
in Arbeit und Pflicht. -- Dein Mund war herb geschlossen, als wolle
er weiche Worte unterdrücken, die dich um deine Fassung brächten.
Deine Hände griffen alle Sachen hart und fest an, weil sie das Zittern
meistern wollten. Und je näher die Stunde der Trennung kam, desto
unwirscher wurdest du. -- Kenne ich dich gut, Mutterherz?

Am Nachmittag, als du das Geschirr abgewaschen und ich dir trotz
deines Sträubens beim Abtrocknen geholfen hatte, um noch einmal recht
in Jugenderinnerung unterzutauchen, nahmst du meine Hand. Und wir
schritten selbander wie zwei Kinder in den leuchtenden Sommertag
hinaus, zum letztenmal zum Heidegrab des alten „Parsifalus“, wie ich
den weiland Heidekönig nannte.

So still war es um uns. In der Ferne pfiff ein Zug. Der mahnte dich
wohl an die Abendstunde, die mich hinwegführen sollte. Und mit einem
Male weintest du bitterlich. Muttertränen, heilige Tränen! Ich küßte
sie dir vom Gesicht und schlang meinen Arm um dich. Und du lehntest
den müden Kopf mit dem dünnen, weißen Scheitel an deines starken Sohnes
Brust.

Weißt du noch, Mutter?

Ein Fink saß über uns in der Birke und sang sein Lied. Dann flog er
fort, und fast greifbar ward die Heidestille. Da sagte ich leise
zu dir -- und du schmiegtest dich fester an mich und faßtest meine
Hände -- -- -- -- „Mutter, gute Mutter, ich hab ein Mädchen lieb.
Ein zwanzigjähriges Kind. Ungut paßt sie zu meinen ernsten, schweren
zweiundvierzig Jahren. Und es ist eines reichen, vornehmen Grundherrn
Enkelin.

Aber ich liebe dieses Kind unsäglich. Und diese Liebe ist so wundergut,
daß ich sie nur in dein Herz niederlegen darf. Und so stark und ewig
und groß ist sie, daß sie nur ein +Mutterherz+ mit dem Sohne tragen
kann. Und so süß und traurig und hoffnungslos ist sie, daß nur eine
+Mutter+ sie in ihrem Herzen begraben, und nur eine Mutter darüber
beten und weinen kann. -- Da sahst du mich an, und wolltest sprechen.
Aber es kam kein Laut über deine Lippen. Nur deine treuen Augen fragten
-- fragten....

Da antwortete ich ihnen still: Nein, du Gute, sie denkt nicht an mich.
Sie wird bald einem anderen gehören .... und du sollst mir tragen
helfen, Mutter...“ --

Heute hatte ich wunderlichen Besuch, und die Vergangenheit griff wieder
in mein Leben ein. Aber diesmal mit linderer Hand.

Der alte Schneidermeister Bertels war es. „Darf ich Sie beehren, Herr
Direktor?“ fragte er. Und machte es umgekehrt wie die gebildeten
Besucher, die störend zu mir kommen und mich fragen: „Darf ich Sie
belästigen?“ Aber innerlich voll Hochmut meinen, daß sie mir eine Ehre
antun. Schneider Bertels fühlte, daß er mich belästige, und als er von
mir ging, hatte er mich hochgeehrt.

Er saß unbeholfen und verlegen vor mir. Umständlich holte er aus
seiner Westentasche etwas hervor, wickelte es aus einem Stückchen
Zeitungspapier heraus und legte es vor mich hin. „Das haben wir
‚damals‘ gefunden“, sagte er scheu. „Ich mochte es Ihnen nicht bringen,
Herr Direktor, weil ich damals dachte, es müßte Sie beleidigen.
Aber“, -- und nun hob sich seine Stimme und er sah mich freimütig an,
„nun glaube ich das nicht mehr. Mit dem Geschäftlichen hängt das gar
nicht zusammen, Herr Direktor, denn Sie haben mir ja nie Ihre werte
Kundschaft entzogen, obgleich Sie wußten, daß ich mich erdreistet
hatte, über Sie den Kopf zu schütteln. Da habe ich mich ganz von
alleine drüber geschämt. Und ich habe zu meiner Frau gesagt: ‚ich
glaub’s nicht. Sieh doch den Mann an, wie er lebt und was er Gutes tut.
Und recht wie ein Vater ist er zu den Kindern. Und früh um vier Uhr
sieht man ihn sommertags in der Heide, und wintertags, da löscht das
Arbeitslicht bei ihm kaum aus. So eine Arbeitsbiene hat keine Zeit zu
Dummheiten. Red mir nicht dagegen, Alte, habe ich gesagt, sonst werd
ich fünsch. +Eine+ Dummheit wird der Herr Direktor gemacht haben, denn
die machen die meisten jungen Lehrer, -- er wird zu früh geheiratet
haben. Und paß auf, Alte, die Fräulein Lisette ist seine +Frau+. Was
da sonst drum und dran hängt, geht uns nichts an.‘ Meine Alte wollte
noch ein paar Gegenreden machen, da sagt ich ihr aber: ‚Denk dran, wie
oft ich +dich+ hab wegschicken wollen....‘ Und da war sie still. Und
jetzt denkt sie wie ich. Denn sie ist keine böse Sieben, nur halt ein
Frauenzimmer.“ --

Er sah mich beschämt und treuherzig an. „Wenn mir Herr Direktor ein
einziges Mal die Hand geben möchten“, bat er zögernd, und da drückte
ich seine Rechte ganz herzhaft.

„Da Sie ganz allein aus sich heraus auf die Wahrheit gekommen sind,
Meister, so will ich sie Ihnen auch bestätigen. Lisette Balian war
meine Frau.“

„Das ist gut, das ist gut“, rief er fröhlich, „und, Herr Direktor, sie
hat in meinem Hause nichts getan, dessen Sie sich zu schämen hätten.“

„Ich weiß es, Meister Bertels. Und meine Mutter sagte mir, Frau Lisette
habe freundlich an die Meister Bertelsschen Eheleute gedacht, -- ehe
sie starb.“ --

„Tot?“ fragte der Alte? „Ich hab mir auch das gedacht. Denn sie hustete
ja zum Gotterbarmen. Aber immer lustig war sie, wir wurden ganz jung,
solang sie bei uns war. Der Herrgott wird wissen, warum er sie rauf
holte. Vielleicht, damit es nicht gar so ernst und heilig im Himmel
zugehe. Guten Morgen, Herr Direktor, und verzeihen Sie, daß ich Sie
solange beehrt habe. --“

Lange saß ich noch in tiefem Sinnen vor der kleinen, altmodischen,
goldenen Brosche, die Meister Bertels mir gebracht. Sie hatte
meiner Großmutter Gesine gehört, und ich schenkte sie Lisette an
unserm Hochzeitstage. -- Dachte auch an die Kleinstadt und ihre
Besonderheiten. Und daß man sich in ihr mühselig die Achtung jedes
einzelnen Bürgers erkämpfen müsse. Und daß ich dafür heute schon, zu
meinen Lebzeiten einen guten Nachruf gehört habe. Das gab mir Freude.

Dann nahm ich das kleine Schmuckstück und habe es in der Heide begraben.

       *       *       *       *       *

Heute las ich im „Birkholzer Stadt- und Landboten“, daß der junge Herr
von Heidekamp aus dem Ausland, wo er bei einer Botschaft beschäftigt
war, zurückgekehrt sei, um seine Güter zu übernehmen.

       *       *       *       *       *

Manchmal begegne ich dem großen, schönen Mädchen. Birkholz ist ja so
eng. Sie grüßt mich immer zuerst. Ganz ernsthaft und laut „guten Tag,
Herr Direktor“, als sei sie noch meine Schülerin. Aber gesprochen haben
wir nie miteinander.

Sie soll gefeiert in den Gesellschaften sein, die der Landadel gibt,
aber sie gilt als verschlossen und hochmütig. Das wäre schade. --

Als ich sie zum ersten Male seit dem Tode der jungen Agnes Asmus
wiedersah, da meinte ich an der Bitternis zu ersticken. --

Sie war vom Lyzeum abgemeldet worden, und Fräulein Doktor unterrichtete
sie in Heidekamp weiter.

Da sah ich sie auf der Straße.

Wie ein Schuljunge kam ich mir vor. Tölpelhaft und kleinlich. Aber der
Hut wollte nicht herunter von meinem Kopfe.

Da hörte ich ihren lauten trotzigen Gruß und sah in ein weißes,
erschrockenes Gesicht, in dem ein paar zornig-traurige Augen standen.

Seitdem ist dies seltsame Grüßen zwischen uns. Ich muß den Hut vor ihr
ziehen, um sie nicht vor denen bloßzustellen, die ihren hellen Gruß
hören.

Sie ist der gute Engel von Heidekamp und Birkholz. Von allen, die da in
Gebresten und Trauer, in Not, Elend und Krankheit leben. Der gute Engel
von Mensch und Tier, nur nicht der meine....

       *       *       *       *       *

Und daß diese kleine Kinderhand mir die Tür gewiesen hat.....!

Rufe mich immer +zuerst+ an, Sörine Heidekamp, sonst gehe ich an dir
vorüber.

       *       *       *       *       *

Gestern sprachen sie beim Landrat davon, daß gleich nach der Heimkehr
des jungen Majoratserben wohl die Hochzeit sein soll. Ich will dann
meine große Studienreise antreten. Man hat mir den Urlaub gewährt....
Wenn ich zurück bin, beginne ich mein Buch, die Geschichte von
Birkholz. Und die Mutter will zu mir ziehen auf ihre alten Tage. Ganz
von selbst hat sie mich darum gebeten.

Du feine, gute, weitsichtige Mutter.... Wir wollen dann beide ein ganz
neues Leben anfangen. Mit Gott, Erne Sörensen!

Aber das hat noch lange Wege. --

       *       *       *       *       *

Ein unerträglich heißer Sommer lastete auf Birkholz und seiner
Umgebung. Durch sieben Wochen hindurch brannte die Sonne mit
ungebrochener Kraft, und Mensch und Tier lechzte nach Erquickung.

Erne Sörensen fand sie allein noch in seinem Spaziergang, der mit
großer Regelmäßigkeit in der Herrgottsfrühe um 4 Uhr angetreten wurde.
Um sechs Uhr begann schon die lähmende Hitze, und um neun Uhr wurde
gewöhnlich die Schule wieder geschlossen. Das war dem Jungvolk beinahe
nicht recht. Denn die hohen, neuen Lyzeumsräume waren kühler, als die
engen Wohnstuben daheim. Auch war mannigfache Ablenkung vorhanden,
die alle Geister rege hielt. Zu Hause durfte man sich kaum rühren, so
nervös und übermüdet waren die Eltern von der lastenden Hitze. In der
Schule nahmen die Lehrer jede Rücksicht, und nur Fräulein Nissen fand
es „albern und anmaßend“, daß an jedem Morgen an der Wandtafel der
Spruch prangte:

    Der Himmel ist blau, das Wetter ist schön,
    Fräulein Nissen, wir wollen spazieren gehn.

„Wenn es geregnet hat“, beschied sie die Bittenden.

Und das war doch nicht recht. Wenn es geregnet hatte, dann mußte man
sich so arg mit Schuhen und Kleidern in acht nehmen. Dann hing der
Heidesand sich an die weißen Röckchen, und man durfte und konnte sich
nicht in die glitzernden, nassen Büsche hineinschmiegen. Konnte sich
nicht „hinhauen“, wie man es so gern tat, in heißen Heidesand. Nein,
gerade so wie jetzt mußte die Sonne brennen, und früh um sechs Uhr
mußte man aufbrechen, wie es der „Direx“ tat, damit man den Tag so
recht ergiebig ausnutzte. Und abends mußte man wie die Mohren braun
gebrannt heimkommen.

In Kinderköpfen und -herzen malt sich die Seligkeit anders als in denen
der Großen. Und so zog man von dem mürrischen Fräulein Nissen fort und
belagerte das Zimmer des „Direx“ unter Kichern und Seufzen und leisen
Beratungen. Bis die Nemesis in Gestalt des Singlehrers Visser kam, der
die Aufsicht hatte, aber zu müde war, um sie mit Schelten auszuüben. Er
war überhaupt immer müde, ganz anders, als der „herrliche“ Hansohm, der
so gern fröhlich mit den Fröhlichen gewesen war. Herr Visser war +nur+
„korrekt“. Und er riet ihnen ganz sachlich, sie sollten eine Abordnung
zum Herrn Direktor schicken. Das geschah dann auch, und Erne Sörensen
hatte die Freude, neun Sprecher zu empfangen, von jeder Klasse einen.
Und während die ~prima omnium~ Grete Vahl in wohlgesetzten Worten den
in des Worts verwegenster Bedeutung „heißen“ Wunsch der ersten Klasse
vortrug, am Sedantage einen „Riesenspaziergang“ zu unternehmen, klappte
die kleine lebendige Lise Bransen aus der Neunten nur immer ihre
Händchen zusammen, tat unentwegt einen kleinen Luftsprung und rief:
„Ach ja bitte! Ach ja bitte!“

Da konnte Erne Sörensen nicht widerstehen, und er hob die kleine Lise
hoch in die Luft, was sie nie in ihrem Leben vergaß. --

Und er sagte „+ja+“.

Da brach gleich drauf im ganzen Lyzeum ein solcher Jubel los, daß
Fräulein Nissen von einem „Sonnenstich“ sprach. --

Aber trotzdem wollte sie die Festrede im „Waldhaus“ übernehmen.

So brauchte sie sich nicht an den vielen Vorbereitungen für das
Schulfest zu beteiligen, sondern konnte sich zurückziehen und
nachdenken, was bei der Hitze entschieden das bessere Teil war.

Das „Waldhaus“ lag einsam mitten in der Heide und lehnte sich an
einen Tannenwald, der sich meilenweit ins Land zog. So war es recht
geeignet, eine große Schule aufzunehmen, und die Eltern versprachen,
vorher verschiedene Erfrischungen hinauszuschaffen. Denn es war kein
eigentliches Wirtshaus, sondern eine riesengroße, strohgedeckte Kate,
die von einem freundlichen Waldwärter und seiner gutmütigen Frau
bewohnt und sehr sauber gehalten wurde.

Als Sörensen und sein Kollegium mit der jungen Schaar um sechs Uhr
früh in die Weite zog, die Kinder festlich geschmückt mit weißen
Kleidern und schwarzweiß-roten Schärpen und Fahnen, begegnete ihnen der
Heidekamper Wagen.

Der alte Freiherr zog den Hut und schwenkte ihn freundlich, und die
Kinder lachten ihn lustig an, winkten und grüßten mit Fahnen und weißen
Tüchern, und machten fast die stattlichen Pferde scheu.

In all dem fröhlichen Tumult grüßten sich ernst zwei Augenpaare. Und
es schien Sörensen, als ob die junge, vornehme Dame wohl ganz gern
ausgestiegen wäre, um wieder mit der lieben Schule wie einst durch die
rote, blühende Heide zu wandern. Aber er verwarf gleich diese törichte
Annahme. -- Auf dem Kutschbock stand ein größerer Koffer, und auf
dem Rücksitz thronten ein paar elegante Handtaschen. -- Man fuhr dem
Bräutigam entgegen. Und von der Vorahnung kommenden Glückes war das
junge, trotzige Gesicht, das er eigentlich nur mit einer Falte zwischen
den Brauen kannte, erhellt gewesen...

Der Wagen fuhr vorbei, dem Bahnhof zu.

Und Direktor Sörensen ging zu den Kleinen der untersten Klasse, die ihn
jubelnd umringten. Er nahm Lisel Bansen bei der Hand und setzte sich an
die Spitze des Zuges. Wie lustig das war!

Ganz, ganz fest drückte der Herr Direktor das kleine Händchen der Lise.
Beinahe mußte sie ein wenig weinen, so weh tat es.....

       *       *       *       *       *

Im dichten Tannenwald hinter der Waldkate war es drückend heiß. Man
stürzte sich auf die Erfrischungen, die von dem umsichtigen Waldhüter
sorgfältig in dem tiefen, kühlen Keller verstaut worden waren. Und
nachdem man in Wald und Heide gründlich durchgeschmort war, nahm man
die Aufforderung, nun zur Feier und Festrede in die kühle Diele der
Kate einzutreten, mit Genugtuung auf.

Die vier jüngsten Klassen blieben unter Aufsicht von Fräulein Henny
Freytag, sowie des Lehrers Visser und der Turnlehrerin draußen
zurück. Und das ewig neue und geistreiche Spiel: ich sehe was, was
du nicht siehst, was hat’s denn für ’ne Farbe? verfehlte nicht seine
Anziehungskraft auszuüben. Der unendlich bequeme Visser hatte es
vorgeschlagen. --

Die Diele sah sehr festlich aus durch die Lampions, die angezündet
den sonst halbdunklen Raum in einen magischen Festsaal verwandelten.
Freilich saß und stand man in drangvoll fürchterlicher Enge, und immer
mehr Kinder und Eltern drängten herein.

„Vielleicht war diese Dielenfrage doch eine verfehlte Idee“, raunte
Sörensen seinem neuen Kollegen Oberlehrer Jensen zu, „ich fürchte, die
Luft wird uns hier knapp.“

Und als endlich Ruhe eingetreten war, aber auch niemand mehr ein Glied
rühren konnte vor Fülle der angestauten Menschheit, rief er mit seiner
vollen Stimme in den Raum: „Wir haben zu Ehren unseres Sedantages hier
festlich illuminiert und den schönen Anblick ausgiebig genossen. Nun
lassen Sie jeden von uns, der neben einem Laternchen steht, dieses
vorsichtig löschen und uns mit Mutter Sonne begnügen, die immer noch
die herrlichste Leuchtkraft der Welt bedeutet.“

Ein allgemeines „Oh“ des Bedauerns löste diese Aufforderung aus, man
zögerte und rief dagegen, aber Sörensen machte rasch und sicher mit
zwei Lichtern in seiner Nähe den Anfang, und so mußten die andern
nachfolgen. Zugleich stieß er mit starken Armen eine Luke auf, die man
vorher nicht entdeckt, und goldenes Sonnenlicht erfüllte nun einen Teil
des Raumes.

„Wie genial!“ sagte noch Oberlehrer Jensen lachend zu Sörensen, „Herr
Sörensen, Sie hätten Branddirektor werden sollen.....“

Nur ein kleines, eigenwilliges Mädchen wollte ihre Laterne nicht
hergeben und rang buchstäblich mit ihrer unvernünftigen Mutter, die
das noch nicht schulpflichtige Kind verbotener Weise mit auf die
Diele geschmuggelt hatte. Wie es dann kam, es konnte niemand recht
beschreiben. Aber alle wollten beschwören, daß sie sämtliche Lampions
gelöscht hätten....

Und doch, nachdem Fräulein Nissen eben ihre Festrede begonnen, dies
gellende Geschrei: „Feuer! Feuer!“

Niemand vergaß es je, der es gehört.

„Feuer! Feuer!“

Ein größeres Kind, das neben der kleinen Unbotmäßigen stand, brannte
lichterloh. Die anderen schrien jammervoll. Sörensen zog seinen Rock
aus, hatte das Kind mit festem Griff an sich gerissen und wickelte
es fest ein. Dann schwang er sich mit seiner Last durch das niedere
Lukenfenster, unter dem ein Brunnen stand. Oberlehrer Jensen sprang ihm
nach und half, die Flammen zu ersticken. --

Gottlob, das Kind war mit wenigen leichten Brandwunden davongekommen.
Still blieb es auf Weisung des Direktors in seinem Rock am Brunnen
sitzen und kühlte die wehen Hände.

Sörensen schwang sich mit völlig versengtem Bart durch das Fenster
zurück. Dichter Qualm schlug ihm entgegen, Heu und Stroh auf dem
Oberboden brannten, und durch die offenen Luken fiel es in leuchtenden,
verzehrenden Garben auf die schreienden Kinder nieder.

Draußen arbeitete der Waldwärter und Oberlehrer Jensen mit Axt und
Säge, und die Tür flog auf, und die Fensterrahmen stürzten ein.

Ruhe! Ruhe! Unermüdlich schrie es Sörensen durch Rauch und Qualm, und
als der große Strom sich längst hinausergossen, stürzte er sich innen
wieder in die brennende Diele zurück, um die ohnmächtig gewordenen
Kinder auf seinem Arm hinauszutragen.

Sein erschütternder Frageruf: Ist noch jemand hier? Ist noch jemand
hier? gellte durch Mark und Bein. Mit beiden Händen tastete er am Boden
und dann in den Ecken, umher, er taumelte vor Schmerz und Atemnot.

Fieberhaft arbeiteten draußen die Lehrer und Lehrerinnen, um allen
Hilfe zu bringen. Sie ordneten und zählten.

„Es fehlt niemand, niemand, niemand!“ schrien sie in die qualmende
Diele.

Da sprang Sörensen vom Boden auf und sog an seinen blutenden und
verbrannten Fingern.

Und tappte an den Wänden hin, den Stimmen nach, die ihn riefen.

Entsetzt sahen sie ihn an, als er aus der Tür taumelte mit völlig
geschwärztem Gesicht, versengtem Haar und Bart und roten entzündeten
Augen. Seine furchtbar zugerichteten Hände wickelte man in nasse Tücher.

Dann schlug er hin wie ein gefällter Baum. --

Prasselnd brannte die Waldkate nieder.

Weithin leuchtete der rote Feuerschein.

Und sie kamen aus den Heidedörfern gefahren und gelaufen und konnten
nichts weiter helfen, als die verstörten Kinder auf Leiterwagen zur
Stadt zurückzufahren. Sie waren alle gerettet und fast unversehrt.

Sörensen lag auf weichem Waldboden. Vier Menschen kauerten neben ihm.
Der ehemalige Schulwart Harks war mit dem Heidekampschen Auto zur
Brandstelle gejagt, und nun ratterte dieses nach Birkholz, um den
neuen Krankenwagen des Branddirektors Kofahl zu holen. Der Kopf von
Erne Sörensen ruhte im Schoß des alten, treuen Dieners, dessen Tränen
unaufhaltsam rannen. Die kleine, zuerst gerettete Schülerin, die noch
immer in Sörensens Rock steckte, hockte neben ihm und wollte ihren
Retter nicht verlassen. Und die Mutter des kleinen Mädchens, ganz
Mitleid, Dank und grenzenlose Freude, hatte die Hände gefaltet und
schickte aus Mutterherzens tiefem Grunde ihre Gebete aus.

Oberlehrer Jensen sah auf seinen Direktor nieder und dachte, daß sein
höchster Lebenswunsch erfüllt sei, wenn dieser versehrte, sieche Mann
genesen könnte, und sein Freund würde.

Nach qualvoller Wartezeit fuhr der Krankenwagen vor. Vorsichtig
bettete man Erne Sörensen hinein. Und langsam fuhr der Wagen den Wunden
durch die dämmernde Heide. --

       *       *       *       *       *

+Mein alter Foliant, grüß dich Gott!+

Und Gott sei’s gedankt, daß ich dich wiedersehe!

Zwar mit dem Wieder+sehen+, da hat es so seinen Vorbehalt und
Haken. Noch trage ich den grünen Schirm und die schwarze Brille und
das Zimmer ist leicht verdunkelt, aber gegen die schwarze Nacht voll
Bangnis der letzten zehn Wochen ist dieser Zustand lichte Helle. --
Und es schadet nichts, mein Alter, wenn Krakelfüße auf deinen gelben
Blättern stehen. Denn meine Schrift kann ich noch nicht erkennen.

Von dem Feuer draußen im Waldhause will ich dir nicht erzählen......

Einst nahm mir Gott zwei holde Kinder.

Die Stimme dieser beiden Lieblinge gellten mir in den Ohren, als
hundert Kinder um Hilfe schrien.

Und hundertfach wär mir mein eigen Fleisch und Blut noch einmal
gestorben, wenn Gott nicht gnädig war. --

Aber Er war’s. Und selbst für die furchtbaren Schmerzen, die Er mir
auferlegte, weiß ich Ihm Dank. --

Jetzt ist mir Birkholz wahrhaft ins Herz +eingebrannt+.

In meinen Fieberträumen rang ich mit jedem Bewohner von Birkholz.

Jeder machte mich verantwortlich für sein Kind, und zeigte mir ein
armes, verbranntes, entstelltes Gesichtchen, das man draußen auf roter
Heide gebettet hatte.

Und ich fühlte, daß keine Strafe groß genug sei für den Lehrer und
Schulleiter Sörensen, und daß Siechtum und Blindheit kaum eine Sühne
bedeuteten.

Und währenddem brachte mir Birkholz Blumen.

Die Väter der Kinder sind an mein Bett draußen im Krankenhause getreten
und haben meine wunden Hände gestreichelt. Namen und unbehilfliche
Worte hörte ich, denn ich konnte niemand sehen unter der schwarzen
Binde, die meine versehrten Augen barg.

Mütter hörte ich schluchzen, -- sie weinten wohl über mich. Aber ich
lachte, und wandelte alles in Freudentränen über die geretteten Kinder.
--

Gestern haben mich die Ärzte entlassen.

Fräulein Tingleff holte mich selbst in ihrer Urväterkalesche ab.
Ihre Bewegung verbarg sie unter lauter groben Worten: „Schöner sind
Sie wahrhaftig nicht geworden, lieber Freund, mit Ihrem geschorenen
Haupt und den tausend Narben, mit dem glattrasierten Gesicht und der
schwarzen Brille. Wo ist mein Stolz, Ihr schöner Vollbart?“

Und dabei stieß sie der Bock, und sie schluckte und stöhnte, denn sie
hatte seit fünfzig Jahren das Weinen verlernt.

Einen Trost habe ich, man muß mich doch für recht gesund halten, denn
all die Überraschungen hätten mir eigentlich den Garaus machen müssen.
--

Hier im Hause empfing mich wieder Frau Dietz.

Sie brachte mir warme Grüße vom alten Heidekamper, der hart von Ischias
geplagt und an seinen Sessel gebunden ist. Trotzdem schickte er „die
Dietzen“, weil ich pflegebedürftiger sei als er, und er „genügend
Jungvolk um sich habe“.....

Es ist wunderlich, wenn man nicht sehen kann und die, so einem
gegenüberstehen, sprechen nicht, sondern weinen. --

Vier Hände legten sich in die meinen.

Sie gehörten Klaus Hansohm und Dora Stavenhagen. Halb erstickt schlugen
die Namen an mein Ohr.

„Seid +ihr’s+, Kinder?“ fragte ich scherzend, und gab ihnen in
meiner großen Herzensfreude das brüderliche du. Das wollen wir nun auch
beibehalten. Und immer noch sprachen sie nicht. Wie erschreckend mag
ich aussehen! „Ja, ihr beiden,“ sagte ich, „das ist aus mir geworden.
Ihr hättet mich nicht so lange allein und ohne Aufsicht lassen müssen.“

Dann haben wir lange beieinander gesessen.

Klaus Hansohm ist nun schon wieder fort zu seiner Kunst. Ein einziges
Schubertlied sang er uns, weil ich so sehr bat: „Was vermeid ich denn
die Wege, wo die andern Wandrer gehn....?“

Edel und herrlich hat sich seine Stimme entwickelt.

Fräulein Doktor ist ganz „Studium“. Sie kam mir wunderlich abstrakt
vor. Dem alten Fräulein Tingleff ging es ebenso. Aber während
ich darüber schwieg, äußerte sie sich drastisch: „Du liebe Zeit,
Doktorsche, ich hatte gehofft, Sie würden einen abkriegen auf Ihren
vielen Reisen, und ich könnt nochmal Gevatter stehn.“

Aber Dora Stavenhagen lachte herb als Antwort...

Schade. --

Aber daß sie beide zu mir kamen, -- der Klaus und die Kollegin aus
bitterschwerer Zeit, -- das vergesse ich ihnen nicht. --

Und nun, mein alter Foliant, muß ich dir wohl erst einmal für lange
Lebewohl sagen.....

Noch beruhigen mich deine Blätter nicht, dazu bin ich doch wohl noch zu
jung.

Zu viel Heideduft steigt auf aus deinen Seiten, zu viel Erinnerung....
Dann komme ich ins Träumen. Und die Jahre fallen von mir ab und ich
bin mit einemmal ein junger Bursche. Und halte mein feines Mägdlein im
starken Arm und zwinge es mit meinen heißen Küssen. Bis der trotzige
Mund mir demütig Abbitte tut. --

Nein, -- nichts soll mich weich machen. --

Gesund will ich werden, damit ich die zwei Leben weiterleben kann, das
eine, des von lebendig-frischer Jugend umringten Schulleiters, und das
des einsamen Mannes Erne Sörensen. -- --

       *       *       *       *       *

Ganz still war es im Studierzimmer.

Die Dämmerung war hereingebrochen, sorglich hatte Frau Dietz die
Vorhänge zugezogen und die grüne Studierlampe angezündet.

Denn der Genesende sollte immer Licht um sich haben, hatte der Leiter
der Augenklinik ihr eingeschärft. Freilich nur gedämpftes, aber doch
+Licht+.

Und lachen dürfe er vorläufig nicht arg laut, und weinen erst recht
nicht, und schwere Aufregungen müßten ihm ferngehalten werden....

„Herr Geheimrat“, hatte die Frau Dietz geantwortet, „es wird Punkto
alles so gemacht. Zu lachen gibt es nichts in Birkholz, und erst recht
nicht für meinen Herrn. Und geweint hat der Herr Goliath wohl in seinem
ganzen Leben noch nicht, und die Aufregungen schluckt er unter und denn
sind sie weg. Auf die Schultern von meinem Herrn Sörensen kann man die
ganze Welt packen, das ist ein wahrer Christophorus.“

Das war eine lange Rede gewesen und die Herrn Doktors hatten alle
geschmunzelt....

Aber für außergewöhnliche Fälle, die gar nicht mit Lachen oder Weinen
oder Aufregung zusammenhingen, hatte der Herr Geheimrat ihr keine
Verhaltungsmaßregeln gegeben, und so war sie ganz und gar unschlüssig,
ob sie die alte, weißhaarige Frau mit dem schwarzen Umschlagetuch und
der wunderlichen Haube einlassen sollte.

Aber das schlanke, junge Mädchen, das daneben stand, schob das
Mütterchen einfach durch die Tür und schaute Frau Dietz sehr energisch
an. Du lieber Gott, die trotzigen Blauaugen kannte ganz Birkholz.....

Draußen auf der Diele mußte sich das Mütterchen in einen Sessel setzen,
und die junge Dame klopfte ganz sacht an das Studierzimmer und ging
gleich hinein.

Frau Dietz wusch ihre Hände in Unschuld....

„Wer ist da?“ fragte Erne Sörensens ruhige Stimme.

„Ich bin es!“

Er bog sich weit vor, und seine Hand griff nach dem grünen Schirm, der
noch über der dunklen Brille befestigt war. Aber er ließ sie wieder
sinken. --

In peinlicher Unbeholfenheit fragte er rauh: „Ich muß bitten, es mir zu
sagen -- -- wer ist da?“

„Ich bin’s, -- Sörine Heidekamp.“

Er warf die Decke fort, die über seinen Knien lag, und sprang auf.

„Was soll das“, sagte er hart.

Seine Hand tastete nach einem Halt.

Sörine nahm sie mit festem Druck: „Ich bitte Sie von ganzem Herzen,
Herr Direktor, setzen Sie sich still hin, -- meine Verantwortung ist ja
so groß. Ganz eigenmächtig bin ich hereingegangen.....“

Er gehorchte ihr aus dem einfachen Grunde, weil die Füße ihn nicht mehr
trugen. Und sie zog für sich einen niederen Schemel heran und setzte
sich an seine Seite. --

„Wenn ich doch noch einmal so ganz ruhig zu Ihnen sprechen könnte, wie
als Kind“, bat Sörine... „würden Sie mich wohl anhören?“

„Sie durften nicht herkommen“, stieß er heraus.

„Doch, das mußte ich sicher. Denn ich hatte ja -- -- in meinem heißen,
kindischen Zorn vor vier Jahren....“

„Mir die Tür gewiesen. Erinnern Sie mich nicht daran...“

„Doch, deshalb komme ich ja. Wie soll ich’s denn sonst gut machen? Es
waren so einsame vier Jahre für mich....“

Sörensen trank die weiche Stimme in sich hinein, aber er wappnete sich.

„Sie durften nicht herkommen, Sörine von Heidekamp. Sie sind noch
derselbe unberechenbare Kindskopf von ehedem.“

„O ich wußte, daß Sie schelten würden“, sagte sie traurig. „Vier Jahre
lang habe ich diese Schelte gefürchtet .... Aber heute dürfen Sie nicht
schelten, ich habe ja die Mutter mitgebracht, da darf doch Birkholz
nichts sagen.....“

„Die Mutter? -- Welche Mutter?“

„Die Mutter Gesine aus Einingen, -- ich hab sie geholt ....“

„Sörine,“ rief er gequält, „warum tun Sie das alles???“

„Weil -- weil....“ Sie beugte sich nieder und legte ihren Kopf auf
seine verbundene rechte Hand. Weh schluchzte sie auf.

„Weil Sie Mitleid mit dem Totwunden hatten, -- nicht wahr, Sörine? Sie
waren immer so ein impulsives kleines Geschöpf.... Aber ich möchte kein
Mitleid von Ihnen annehmen. --“

„Ach nein“, sagte sie kindlich. „Mitleid habe ich gar nicht mit Ihnen.
Dazu sind Sie ja viel zu groß. Eher ein bißchen Angst....“

Da lächelte er schattenhaft.

Und dies Lächeln gab ihr Mut: „Wiegt denn kindisches Vergehn so
schwer?“ fragte sie dringend. „Haben Sie denn nie und nie etwas
Unüberlegtes getan, als Sie jung waren....?“

Er atmete schwer. Aber er sprach kein Sterbenswort. Nur seine Gedanken
jagten sich und raunten: „Sprich weiter, kleine Deern. Ich habe dir in
dem Augenblick schon verziehen, als du so töricht und unüberlegt vor
mir standest. Was für ein seelengutes Herz du hast, Sörine, meine junge
Schülerin von einst. Sprich weiter, aber laß mich schweigend neben dir
sitzen. Denn sonst begehe ich die größte Torheit meines Lebens und
nehme dich in meine Arme und drücke dich tot.“

Aber sein strenges Gesicht verriet mit keinem Zug die Qual seines
Herzens.

„Wie hart und unversöhnlich Sie sind“, stieß Sörine hervor. „Und ich
weiß, Sie finden es entsetzlich, daß ich hier bin. Aber ich war so
einsam. -- Ich habe ja nie eine Mutter gehabt. Deshalb holte ich mir
die Mutter aus Einingen. Die sollte mir den rechten Weg zeigen....
Beinahe gestorben bin ich +vor Heimweh nach Ihnen+. Und Sie müssen
mir verzeihen, -- müssen -- müssen -- ich gehe nicht fort....“

Er fuhr sie ungestüm an: „Sörine, Sie dürfen so etwas nicht sagen...
Herrgott, wie quälen Sie mich....“

Da sprang sie auf. „Ich will die Mutter holen“, sagte sie tonlos. „Die
Mutter ist dran Schuld, -- die +liebe+ Mutter....“ Ihre Worte
überstürzten sich: „Ich hatte es der Mutter gesagt, -- -- daß -- ich
so einsam geworden bin, -- und daß ich Sie am liebsten habe von allen
Menschen auf Gottes weiter Welt, und daß ich so gern bei Ihnen bleiben
möchte..... Und da hat mir die Mutter so viel Liebes erzählt“.....

Sie schlug die Hände vor das Gesicht in bitterer Scham: „Und nun ist
alles nicht wahr....“

Da riß er sie an sich. „Sörine!“ stammelte er, -- „Kind, Kind,
geliebtes süßes Kind. Weißt du denn, was du sprichst? Ich darf dich ja
nicht nehmen. Du bist so jung -- -- sieh doch mein graues Haar. Und
sieh doch wie häßlich ich bin, -- voll Narben -- halbblind.....“

Aber er hielt sie fest. Und sie schmiegte sich an ihn, und ihr feines
Köpfchen lag an seiner breiten Schulter. „Meine Heimat“, sagte Sörine,
„meine liebe Heimat!“

Er zwang die Sehnsucht, sie zu küssen. „Und Herr von Heidekamp?“ fragte
er, „was wird Großvaterli sagen? O Kind, wie viel Unausgesprochenes
liegt zwischen uns! Durch welche Tiefen bin ich gegangen! Wird mein
kleines Mädchen mich da verstehen? Und du??? Ich wähnte dich als
Eigentum von deinem Vetter.... Müssen wir unser Glück auf dem Leid
eines anderen aufbauen?“

Sörine sah ihn ernst an.

„Dies Leid liegt schon drei Jahre zurück, -- wenn es wirklich eins war.
Ich habe Kurt wie einen guten Bruder lieb gehabt.... Und Großvaterli
hat mir längst verziehen, daß ich seinen Wunsch nicht erfüllen konnte.
Er ist ja so himmlisch gut. Er weiß auch.... daß ich hier bin. Ich tue
nichts mehr hinter seinem Rücken. Er will einzig nur mein Glück. So
wenig glückliche Heidekamperinnen hat es gegeben“.....

„Du süße Deern, mein Kleinod, vergib, wenn ich dich quäle. Aber du bist
in allem andern mir so fern. Du bist reich, -- verwöhnt, -- ich hab dir
nichts zu bieten als meine Liebe. Und ich würde auch der Herrin von
Heidekamp gegenüber der +Herr+ sein wollen. Hat das wohl auch dein
Großvaterli bedacht?“

Sörinens Stimme bebte. „Ja, Sie quälen mich sehr. Großvaterli war
gütiger. Ich kam in meiner Herzensnot zu ihm und fragte um alles. Da
sagte er: Wenn du diesen Sörensen mehr liebst, als dich selbst, dann
sollst du handeln wie eine echte, aufrechte Heidekamperin. Die haben
alle zu ihren Gatten gesprochen: „Wo du hingehst, da will ich auch
hingehn -- dein Gott ist mein Gott.“ So hat das Großvaterli gesagt.“

Da stieß Sörensen einen urwüchsigen, gewaltigen Juhuuschrei aus. Als
sei er nicht der gestrenge und nebenbei arg verwundete Lyzeumsdirektor,
sondern ein junger übermütiger Bursch, der in der roten Heide liegt,
die seine Heimat ist. --

Und Erne Sörensen küßte inbrünstig sein feines, schönes Mädchen.

       *       *       *       *       *

„Ich glaube, mein Sohn Erne ist gesund geworden“, sagte draußen auf der
Wohndiele Mutter Gesine zu Frau Dietz. „Aber +mich+ haben sie,
scheint’s, vergessen...“

Und sie klinkte leise die Tür auf, hinter der das Glück wohnte. --

Ein Weniges erschrocken war sie über ihres Erne verändertes Aussehen,
denn man hatte ihr das Ärgste verschwiegen von dem furchtbaren Brande
da draußen. Aber er tröstete und beruhigte das kleine, weinende
Mutterchen. „In acht Tagen darf ich die Brille abnehmen, -- denk,
Mutter, dann bin ich gesund....“

„Und dann können Sie mich auch sehen“, sagte Sörine ernsthaft.

Er lachte sein altes, schönes, sonores Lachen. „Sörine, du hast mich
einst feierlichst gebeten, dich ‚Sie‘ zu nennen, aber nun muß ich dich
ebenso feierlich bitten, ‚Du‘ zu sagen, kleine, närrische Deern.“

Da küßte sie seine Hand, die er ihr erschrocken entzog. „Ich will
alles tun, was du willst, Erne Sörensen.“ Und hinterher kam ihr
frohes Kinderlachen, um das er sie einst beneidet. Das sollte nun
sein einsames Haus durchwärmen und durchleuchten, es war schier nicht
auszudenken. „Ich habe ja ein halbes Jahr Schule nachzuholen“, rief
sie glücklich. „Das sagte ich auch dem Großvaterli, als er mich in
einer frohen Stunde neckte, und immer rief: Sörine! Ausgerechnet ein
+Schulmeister+! Dann meinte er: So muß ich wohl schon wegen
Schulgeldersparnis zufrieden sein. -- Ach Erne, wenn Ihr erst ganz
zusammen seid, Großvaterli und du! Er sagte, du wärst ein Dickkopf, und
würdest mich gar nicht wollen....“

So plauderte der junge Mund und Sörensen dachte, daß diese Stunden
alles auslöschten, was er Herbes durchlebt.

Und die Mutter sah auf die junge, feine Tochter und nahm ihre Hand und
streichelte sie scheu. Gottes Segen über dich, kleines Mädchen, du
willst meinen Sohn gesund machen an Leib und Seel. --

       *       *       *       *       *

Mutter Gesine und Sörine fuhren nach Heidekamp.

Nur für eine Nacht. Morgen wollte die Mutter die Pflege des Sohnes
übernehmen.

Sörine hielt fest einen großen Brief auf ihrem Schoß.

Der barg in kurzen, markigen Zügen das Bild von Erne Sörensens harter
Vergangenheit. Und er enthielt die ehrerbietige Bitte des gereiften
Mannes an den alten Herrn von Heidekamp, ihm sein Kleinod Sörine zum
Weib zu geben, das er, Erne Sörensen, hüten und hegen wolle, so wahr
ihm Gott helfe. --

Und oben im alten Patrizierhause saß Sörensen am Fenster, und wenn
er auch die Sonne nicht sah, die in wonnevoller Schönheit hinter den
Föhren unterging, so leuchteten dafür drei Glückssonnen in seinem
ehrlichen Herzen: Sohnesliebe, Mannesliebe und Heimatliebe.

Und er streckte seine in heißem Dank gefalteten Hände der braunen Heide
draußen entgegen.


+Ende.+



Romane von

Felicitas Rose

    Jeder Band in Ganzleinen gebunden 6.50 M.,
    die mit * bezeichneten Bände auch in Halbleder je 10 M.


*Die Wengelohs. Geschichte einer Postfamilie.

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Kinderschule werden ausgebreitet, seltsame Gestalten und eigenartige
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anheimelnde Geschlossenheit einer kleinen Stadt, der schwerblütige
Charakter des Heideschulmeisters stehen scharf umrissen, oft von
satirischen Lichtern umspielt, in den meisterlich miteinander
verwobenen Schicksalen.

    (Düsseldorfer Tageblatt.)


Berlin · Deutsches Verlagshaus Bong & Co. · Leipzig



Romane von

Felicitas Rose

    Jeder Band in Ganzleinen gebunden 6.50 M.,
    die mit * bezeichneten Bände auch in Halbleder je 10 M.


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Leben der alten Hansastadt, und wie aus Gemälden alter deutscher
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Bongs Goldene Klassiker-Bibliothek


    +Arndt+, 4 Bde.

    +Arnim+, 2 Bde.

    +Arnim und Brentano+, Des Knaben Wunderhorn, 2 Bde.

    +Bürger+, 2 Bde.

    +Chamisso+, 2 Bde. (3 Teile).

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    *+Fouqué+, 1 Bd.

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    +Goethe+ (Auswahl), 6 Bde.

    +Goethe+ (Erweiterte Ausgabe), 11 Bde.

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    +Grillparzer+ (Auswahl), 5 Bde.

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    +Gutzkow+, 4 Bde.

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    +Hebbel+ (Werke und Tagebücher), 7 Bde.

    +Hebbel+ (Tagebücher), 2 Bde.

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Die „Lebensbilder“ enthalten eine Schilderung des Lebens und Wirkens
unserer Klassiker sowie die Inhaltsangaben der in „Bongs Goldener
Klassiker-Bibliothek“ erschienenen Werke, ferner: 58 Porträte und einen
Anhang: „Grundlinien der Kultur- und Literaturgeschichte von 1740 bis
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