Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Die Gotischen Zimmer
Author: Strindberg, August
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Gotischen Zimmer" ***


    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
    ~so markiert~. Eine handgeschriebene 4 ist so gekennzeichnet: $4$.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



August Strindberg

Ausgewählte Romane

[Illustration]



    August Strindberg

    Die
    Gotischen Zimmer

    Roman

    *

    1919

    Hyperionverlag / Berlin



Deutsch von Else von Hollander



Die Gotischen Zimmer



Erstes Kapitel

Die Gotischen Zimmer


Das elektrische Licht in den Gotischen Zimmern flammte auf, und Kellner
legten die letzte Hand an eine Tafel.

Zwei Herren im Frack traten im selben Moment ein und prüften mit einem
Blick die Anordnungen, die ihrer Aufsicht zu unterstehen schienen.

»Du warst nicht gerade gestern hier!« sagte der eine von den
Arrangeuren, der Architekt Kurt Borg, ein Neffe des Doktor Borg, der
der Schreckliche genannt wurde.

»Nein,« antwortete der Maler Sellén, »ich bin seit fünfzehn Jahren
nicht hier gewesen, seit ich damals im Roten Zimmer saß und mit Arvid
Falk, Olle Montanus und den andern philosophierte. Kannst du als
Architekt einen Riß von unserm alten Zimmer geben?«

Der Architekt, der schon öfter hier gewesen war, schritt auf dem
Plüschteppich ein Trapez ab und beschrieb die alte Szenerie.

»Ja, ich sage es ja,« meinte Sellén, »die Zeiten ändern sich, aber wir
bleiben uns gleich.«

Er deutete auf die ergrauenden Schläfen und fuhr fort:

»Arvid Falk, ja; er ist zusammengebrochen, wie es zu erwarten war; lebt
er noch?«

»Ja, er lebt gemordet, wie sie kürzlich unsern Syrach gemordet haben,
den Rembrandtsohn, unsern besten Mann, den Antesignani, der vor der
Linie fiel.«

»Und mit diesen Mördern sollen wir heute abend zusammen sein?«

»Ja, siehst du, das Fest wird doch dem Norweger zu Ehren veranstaltet,
und man kann seine alten Freunde aus Paris und Rom nicht ausschließen!«

»Nein, natürlich nicht; aber wenn Onkel Borg herkommt, dann gibt es
vielleicht Streit.«

»Das schlimmste ist, daß Lage Lang, unser Norweger, glaubt, es wird ein
Versöhnungsfest werden. Glaubst du an eine Versöhnung?«

»Nein,« antwortete Sellén bestimmt. »Wir haben es versucht, aber
es geht nicht. Lundell zum Beispiel hat den Ruf an die Akademie
angenommen, um von innen die Tore der Festung zu öffnen, um zu
reformieren und Frieden zu stiften; aber dann wurde er eingeschlossen,
und jetzt malt er wie die Professoren. Nein, trau ihnen nicht! Sie
sagen nur: Komm zu mir, werde wie wir; komm, dann kriegst du den
Wasaorden, wenn wir Kommandeure sind; komm und begib dich in unsere
Hut, dann sind wir über dir! -- Nein, danke, lieber draußen, lieber
unten auf der Straße und Landstreicher sein! Erinnerst du dich noch an
Lasses Lied aus der Kneipe in Paris?«

»Ja, Paris! Und jetzt sind wir wieder daheim! Wie kommt es dir vor?«

»Dumpfig! Ganz schauderhaft! Die Luft steht still und das
Jahrhundertende kommt; man erwartet etwas Neues! Aber was?«

»Wir werden ja sehen!«

Eine Bewegung an der Tür deutete an, daß die Gäste sich einzufinden
begannen.

Herein trat jetzt, fett, frischrasiert, behandschuht, der Maler,
Professor Lundell. Er trug den Wasaorden auf dem Frack.

»Nimm das Ding da weg,« sagte Kurt Borg und hakte den Stern ab.

»Nein, laß das!« protestierte Lundell gutmütig, denn er war gewohnt,
daß man mit ihm scherzte.

»Ja, aber es ist eine Beleidigung für Lang, unsern Ehrengast, der,
obwohl er verdienter ist als du, keinen Ordensstern hat. Die Kellner
könnten ihn und uns alle für bestrafte Leute halten, verstehst du?«

»Nein!«

Neue Bewegung an der Tür; Konsul Isak Levi, früher Mitglied des Roten
Zimmers, trat ein und schüttelte Sellén, Lundell und Borg die Hand.

Nun kamen die Gäste truppweise. Eine Gruppe Akademiker erschien, wie
eine Wolke ihren Schatten über eine Wiese wirft.

Polternd und geräuschvoll kam Doktor Borg, der Schreckliche, der
jugendliche Onkel des Architekten. Er warf kampflustige Blicke um sich
und grüßte mit einer Stichelei nach rechts und links.

Dann kamen Damen und Herren, aber man merkte einen bestimmten
Unterschied, weil die Akademiker ihre Frauen nicht mithatten. Die
Gesellschaft erschien ihnen nicht ~comme il faut~, und man wußte,
daß hier eine Sprache gesprochen wurde, die an reines Schwedisch
erinnerte. Hinzu kam, daß die Gesellschaft nach dem Reichsrecht einen
Norweger nicht feiern durfte und daß die Künstlerdamen Manieren hatten,
die nicht salonmäßig waren. Es wurde sogar behauptet, die Künstler
brächten ihre »Freundinnen« mit, und da man diese von den anderen nicht
unterscheiden konnte, waren leicht Irrtümer zu begehen.

Schließlich trat ein aufrechter Mann ein, einen Kopf größer als die
andern. Das war Lage Lang, der Maler der Gegenwart mit dem großen
Namen. Leutselig, reich, gastfrei, stand er außerhalb der schwedischen
Kliquen und bewegte sich deshalb ohne Schaden zwischen den Feuern,
die er nicht kannte. Den Freund, den Künstler feierte man, aber man
wollte auch dem Norweger eine kleine Demonstration darbringen; man
wollte zeigen, daß die Nation die Ansicht der Regierung nicht teile,
die Norwegen wie eine besetzte Provinz behandelte; und man wollte
nach seinen Kräften den von oben angefachten Haß gegen das Brudervolk
dämpfen, dessen Wohl nicht wahrgenommen wurde, wenn das Land von
Stockholm aus per Telephon regiert wurde, wie ein Vorwerk von einem
bequemen Verwalter geleitet werden kann.

Deshalb wurde der Ehrengast sofort auf den Balkon geführt, der sich auf
den großen, vollbesetzten Musiksaal öffnete. Als er hinaustrat, wurde
die Nummer abgeklopft und man spielte die norwegische Nationalhymne:
»Ja, wir lieben.«

Die Professoren bildeten eine geschlossene Gruppe, die im Zimmer blieb,
denn sie hatten das Gefühl, daß etwas Unerlaubtes geschah, woran sie
sich nicht beteiligen durften.

Darauf ward der Gast zu Tisch geführt! -- Es war ein französisches
Kabarett-Souper. Vor jedem Gast standen sechs Austern und eine offene
Flasche Weißwein ohne Namen, ganz wie bei Laurent in Grez, und damit
war der Ton gegeben, waren die Erinnerungen geweckt und die Stimmung
der achtziger Jahre heraufbeschworen, obwohl man jetzt in den
bedächtigen neunzigern war.

Es bedurfte nur eines ~Nomen proprium~, um die Erinnerungen auflodern
zu lassen.

»Barbison! Marlotte, Montigny, Nemours! -- O!« Oder: »Manet, Monnet,
Lepage! -- O!«

Noch wurden keine Reden gehalten, aber alle sprachen auf einmal; Friede
und Freude, Eintracht und Fröhlichkeit herrschten.

Beim Dessert stieg die Stimmung zur Ekstase. Man warf Apfelsinen über
den Tisch, Servietten flogen durch die Luft, Tabakrauch wirbelte
und Streichhölzer wurden wie Raketen hochgeworfen; eine Gitarre
hervorgezaubert; Spadas Lieder im Chor gesungen. Das war das Signal zur
Auflösung der Konvenienz; die Professoren ließen sich mitreißen und
wurden jung; sie hakten ihre Ordenssterne ab und verteilten sie mit
offnen Händen; auf Selléns Rücken hing der Wasaorden, und ein Kellner
trug das Kreuz der Ehrenlegion auf der Achselklappe.

Schließlich wurde auf den Tisch geklopft. Doktor Borg sprach:

»Wir haben auf das Wohl des Freundes Lage Lang und auf das des
Künstlers getrunken, jetzt will ich auf den Norweger trinken: Sie
dürfen nicht glauben, daß ich die Norweger mit ihrem Bauernstolz und
ihren großen Gebärden liebe; ich bin selbst mit einer Norwegerin
verheiratet, wie Sie wissen, und das ist ein verteufeltes Volk;
aber ich liebe Gerechtigkeit; ich will eine trotzige Nation nicht
dadurch gedemütigt sehen, daß sie sich unsern König sechs Wochen im
Jahr ausleihen muß, und ich will keine Intimität mit einem fremden
Volksstamm, der eine andere Entwicklung hat als wir; ich will nicht
mitansehen, daß Norweger im schwedischen Reichstag sich in unsere
Angelegenheiten mischen und zu allem nein sagen, gerade wie die
Polen und Elsässer im deutschen Reichstag; ich will Frieden mit den
Nachbarn haben, und dieser Friede kann wie in einer unglücklichen
Ehe nur durch Trennung erreicht werden. Sie schrecken mich nicht mit
dem Russen, denn freie Norweger und freie Schweden sind stark durch
eine freiwillige Allianz, aber schwach durch eine dynastische Union,
die keine Union ist; Norwegen ist nämlich ~de facto~ ein Kronland,
wie es Böhmen Österreich gegenüber ist, und als solches gefährlicher
denn ein Bundesstaat; die Politik der schwedischen Regierung ist eine
betrügerische und schreibt sich aus den Zeiten der heiligen Allianz
her, da Volksrecht und Billigkeit außer acht gelassen wurden; man hat
Haß zwischen den Brudervölkern zu erwecken versucht, aber wehe denen,
die eine solche Spaltung anstrebten, um herrschen zu können! Wehe
ihnen! -- Uns, die wir für Einigung und Versöhnung gearbeitet haben,
nennt man Vaterlandsverräter! Jeden, der uns so genannt hat, nenne ich
ein Rindvieh! Da habt ihr das Wort! -- -- -- Lage Lang, ich trinke auf
ein freies Norwegen, ohne das es kein freies Schweden geben kann, und
auf ein versöhntes!«

»Ein freies Norwegen! Lage Lang!«

Professor Lundell erbat das Wort, aber als er mit dem Russen, dem
Kieler Frieden und den Verhandlungen anfing, nahm das Geplauder so zu,
daß er übertönt wurde, bis schließlich die Gesellschaft ihn mit dem
Liede: »Heil Norwegen!« unterbrach.

Als Lage erwidert hatte, erhob man sich von der Tafel, und ganz von
selbst begann ein Karneval.

Aber es sonderten sich doch kleine Gruppen ab, die sich unterhielten,
und draußen auf dem Balkon hatten Konsul Levi, Sellén und Kurt Borg
sich niedergelassen.

»Nun, man zieht ja heute abend am gleichen Strang,« sagte Levi. »Glaubt
ihr, daß das anhalten wird?«

»Nein,« antwortete Sellén, »das ist nur Waffenstillstand.«

»Nun, was tun euch denn die Professoren zuleide?«

»Das könnt ihr Außenstehenden nicht beurteilen. Sie bilden die
allgemeine Meinung, sie hindern, sie ersticken uns; im übrigen sind
wir wie zwei feindliche Stämme, und ich glaube, es muß Kampf sein,
sonst würden alle gleich malen; und daraus würde chinesische Kunst,
die stillsteht, die mit einer Bürste über einem ausgestochenen Muster
gemacht wird. Übrigens: Kampf entwickelt Kräfte und hält die Geister
wach.«

»Jawohl,« wendete Isak Levi ein, »aber nach ausgekämpftem Streit
schließt man Frieden.«

»Wenn die Bedingungen annehmbar sind, ja!« erwiderte Kurt Borg, »aber
sie sind es nicht. Sie verlangen Unterwerfung, und das kann nicht
bewilligt werden; sie verlangen nur unsere Seele und unseren Geist ...
und alles! Wir, die wir die gleichen Bestrebungen haben, sind keine
Partei, aber wir fühlen uns zusammengehörig, sind wie eine Familie, wie
Frucht des gleichen Jahres, und die andern sind ... ich weiß nicht, was
das für Leute sind; auf mich wirken sie wie Dämonen, die ich wie das
positiv Böse hasse; wenn Götter zu alt werden, werden sie Dämonen, und
diese Leute halten sich sicher für Nachkommen von Göttern, denn sie
existieren von Gottes Gnaden, denken und sprechen von Gottes Gnaden,
und wenn sie unrecht tun, berufen sie sich auf Gottes Gnade. Ich
verstehe sie nicht, und sie verstehen uns nicht.«

»Sie sind Bremsen, die die Schnelligkeit regulieren sollen, weißt du,«
wendete Levi ein.

»Danke schön, aber dann bin ich lieber Lokomotive, das ist nützlicher
und ehrenvoller.«

Jetzt trat Lundell auf den Balkon mit der Frau eines akademischen
Künstlers, die sich in die schreckliche Gesellschaft verirrt hatte.

Auf dem Podium unten sang gerade ein italienischer Sänger eine
Glanznummer, die elektrisierte; und in dem Festrausch ließ die Dame
sich hinreißen, dem Sänger eine Rose zuzuwerfen. Aber die Entfernung
war zu groß; die Blume senkte sich wie ein Meteor und blieb an der
Weste eines Herrn an einem Marmortische hängen.

Der einsame Gast rollte gerade eine Zigarette, als ihm die Rose in die
Arme fiel; er hielt in der Bewegung inne, nahm die Rose und blickte zur
Galerie hinauf.

»Das ist Syrach!« rief Sellén, und alle auf dem Balkon nickten dem
Einsiedler zu, der einen roten Fes auf dem Kopf trug und etwas bizarr
gekleidet war.

Aber Syrach schien keinen einzigen von seinen alten Freunden
wiederzuerkennen, sondern steckte die Rose ins Knopfloch und fuhr im
Zigarettendrehen fort.

»Er erkennt uns nicht!« rief Sellén. »Soll ich hinuntergehen und ihn
holen?«

»Dann gehe ich meiner Wege,« sagte die Dame kurz, »und ich bedaure
meine Rose, die auf einen so schmutzigen Rock geraten ist.«

»Ja, geh nur, Augusta,« unterbrach Doktor Borg, der hinzugekommen war;
»dich hat übrigens ja keiner hierhergebeten.«

»Aber, Borg!« fiel Lundell ein ...

»Halt den Mund,« schnitt ihm der Doktor das Wort ab, »der da unten
als ein Erloschener sitzt, hätte heute abend hier oben der Erste sein
müssen, wenn nicht du und deinesgleichen ihm den Giftbecher gemischt
hättet; und du bist nicht einmal wert, von ihm angespuckt zu werden;
nein, denn ihr habt ihm damals Ehre, Brot und Selbstgefühl genommen, du
erinnerst dich wohl!«

Dann zu Sellén gewendet: »Laß Syrach in seiner erträumten Welt sitzen;
da hat er es besser, als wir ahnen, und im übrigen erkennt er uns gar
nicht!«

Lage Lang kam hinzu; als er seinen alten Freund erblickte, geriet
er außer sich und wollte ein Hoch und ein Hurra auf »unsern größten
Maler« ausbringen; aber das wurde glücklicherweise verhindert, denn
erstens würde die Polizei gerufen worden sein, zweitens war im Saal
niemand, der den Maler kannte, es sei denn als einen schwachsinnigen
und verkommenen Menschen, der durch seinen roten Fes und sein
absonderliches Gebaren auf der Straße Aufsehen erregte.

Sie ließen Syrach sitzen; er hatte jetzt die Blicke über die Menge
erhoben, als sähe er sie nicht und als lebe er, in ferne Höhen
schauend, mit seinen Traumbildern, die er andern nicht zeigen konnte.

In den Gotischen Zimmern griff Verstimmung um sich, und ein Gewitter
zog sich zusammen. Aber bevor es ausbrach, hatten die Professoren sich
entfernt.

Die Wolke blieb zurück; die Freude, Viktoria blasen zu können, wurde
getrübt durch den Gedanken an die Toten und Verwundeten; und Syrach war
nicht der einzige Gefallene.

Schließlich verstummte die Musik unten im Saal; es wurde Mitternacht,
und der große Raum lag öde da, in eine blaue Wolke von Tabakrauch
eingehüllt. Auf dem kleinen Marmortisch, an dem Syrach gesessen
hatte, war ein blutroter Fleck zu sehen. Das war die Rose, in der
der überempfindliche Mann schließlich den Feind gewittert und die er
deshalb hatte liegen lassen.

Nun kam der Aufbruch, und der Ehrengast wurde hinunterbegleitet. Auf
der Straße stand eine glänzende Equipage mit einem Jäger neben dem
Kutscher. Der Jäger hatte Federn am Hut und einen Hirschfänger an der
Seite.

»Wer ist so vornehm, daß er in der Glaskutsche fährt?« fragte Sellén.

Der Jäger stand am offnen Wagenschlag und ließ den großen Lang hinein.

»Das bin ich!« sagte Lage; »ich wohne bei meinem Vetter in der
norwegischen Gesandtschaft; dort seid ihr übermorgen zum Mittagessen
eingeladen, die ganze Bande.«

Die alte Boheme schrie hurra; und auf einen Wink des Norwegers füllte
sich der Wagen, der sich nach Blasieholm in Bewegung setzte. Doktor
Borg hatte den Dreimaster des Jägers und den Hirschfänger genommen und
wollte unbedingt »das Manöver kommandieren«, wie er sagte, das heißt
die Zügel in die Hand nehmen und nach dem Stallmeisterhof fahren.

»Nimm dich in acht!« rief Isak Levi.

»Ich will nicht Medizinalrat werden,« antwortete Borg. Und da er auf
seiner Segeljacht zu sein glaubte, rief er:

»Schoten! -- Klar zum Wenden! Voll!«

Da rollte das Kupee auf den Hof der Gesandtschaft.

Borg wollte Getränke auf den Hof hinunter haben; aber obwohl der
Norweger das richtig fand, wurde der Streich doch von den andern
verhindert, und so verabschiedete man sich schließlich.

Dann begann die nächtliche Wanderung, die übliche nach einem Fest, auf
der man alles sagen will, was drinnen ungesagt geblieben ist.

Also der Stammtrupp: Doktor Borg, Kurt Borg, Isak Levi und Sellén;
sie nahmen zuerst die Kaie und warfen einen Blick auf das Schloß, wie
gewöhnlich.

»Ja, da ist das Schloß,« sagte Kurt, der Architekt; »das hält sich.«

»Einstweilen freilich,« wendete der Doktor ein; »aber wenn das
Reichstagsgebäude in Granit auf den Helgeandsholm kommt, dann wird der
Ziegel dort oben erdrückt.«

»Warum nicht; das ist doch der Geist der Zeit,« fiel Levi ein. »Die
Regierung sitzt ja jetzt im Reichstag, warum, weiß niemand; die
Verfassung sagt, der König dürfe seine Ratgeber wählen, jetzt aber
wählt sie Karl Ivarsson.«

»Du bist verdreht!«

»Nein; Karl Ivarsson bestimmt die Ausschußwahlen und beschließt also,
wann die Minister abgehen sollen. Demnach ist er doch der Regent.«

»Hört einmal, hier soll die neue Oper stehen,« unterbrach Sellén, der
Politik nicht leiden konnte.

»Ja, es soll eine Oper gebaut werden; was sagt der Reichstag dazu?«

»Der will keine Majoritätsoper haben, sondern es soll eine Kommunaloper
werden, die auf Lorbeerhain und Erdgeschoß basiert.«

Dann zogen sie weiter; über die Nordbrücke, durch die Münzstraße nach
dem Markt.

»Da steht noch das Ritterhaus!« sagte Sellén.

»Ja, und ich war dabei, als es geschlossen wurde,« fiel Doktor
Borg ein. »Denkt nur, unsere großen Männer vom letzten Plenum! Der
größte von den Großen; was für ein Ende! Falk faßte er, weil er ihn
ausspionierte!«

»Und da ist die Riddarholmskirche; mit Karl dem Zwölften und all dem!«

»Du meinst Gustaf Adolf, wenn du es auch nicht zu sagen wagst.«

»Apropos Gustaf Adolf, wißt ihr, daß dieses kleine Grabchor hier das
Vasaborgsche heißt und daß da sein Sohn von Margareta Cabeljau liegt?«

»Ja, das ist freilich eine Geschmacklosigkeit; aber habt ihr nicht
den Grabstein des alten Cabeljau in der Kirche gesehen? Ich habe ihn
nicht gesehen, doch er ist in einer Beschreibung der Kirche erwähnt.
So ehrt man unsere großen Erinnerungen! Man könnte diese Cabeljaus gut
totschweigen!«

»Ich habe dieser Tage gelesen, wie man 1793 in Saint-Denis
gewirtschaftet hat, als alle Königsgräber geöffnet und entleert
wurden,« erzählte der Doktor. »Da konnte man eine Menge interessante
physiologische Studien machen. Ludwig XV. war zum Beispiel nur noch
ein schwarzes, vermodertes, stinkendes Teerpräparat ...«

»Wißt ihr, da wir nun doch gerade bei den Kirchen sind, wollt ihr nicht
auch meine Kirche einmal anschauen?« sagte Architekt Borg; »ich habe
sie freilich nicht gebaut, aber ich habe sie restauriert; die Schlüssel
habe ich in der Tasche, und Isak kann Orgel spielen, wenn er will.«

Das war im Stil des Doktors, und jetzt machte man kehrt, um sich Kurts
Kirche anzusehen, wie sie genannt wurde.

Als die vier den Tempel betreten hatten, der im Halbdunkel lag,
nur oben an den Gewölben von den Straßenlaternen draußen schwach
beleuchtet, wurden sie gegen ihren Willen von der Größe des Gebäudes
und den schönen Linien der Gewölbe überwältigt; sie nahmen die Hüte ab
und traten stumm an den Altar heran.

»Es ist zwanzig Jahre her, seit ich hier war,« begann der Doktor, »und
ich finde mich nicht mehr zurecht. Wo hast du das Altarbild?«

»Das ist weg,« antwortete Kurt. »Dafür haben wir jetzt das Tabernakel,
den Schaubrottisch und den siebenarmigen Leuchter.«

»Das ist ja das alte Testament,« sagte Isak.

»Wir kommen also wieder zusammen,« antwortete Kurt Borg.

»Und hier? Was ist das hier?«

»Das ist die Taufkapelle oder das Baptisterium.«

»Und dann hast du Figuren an die Wände gemalt ...«

»Ja, das ist der Stil der Kathedrale ...«

»Und die Kanzel ist degradiert!«

»Da der Hochaltar das Allerheiligste ist.«

»Potztausend, bist du katholisch?«

»Keine Spur, aber die Kathedrale ist katholisch; der Protestantismus
hat keinen kirchlichen Stil erfunden, weil ihm der positive Inhalt
fehlt.«

»Es ist jedenfalls köstlich, zu sehen, wie ihr Kathedralen restauriert;
ihr stellt sie in ihrer ursprünglichen Schönheit wieder her, so wie sie
vor den Verwüstungen der Reformation waren. Hütet euch, daß ihr nicht
den Katholizismus ausgrabt.«

»Ja, hier spielen sie ein wenig mit dem Katholizismus, ganz wie
zu Atterboms Zeit. Der Pfarrer selbst, übrigens ein gewaltiger
Pokerspieler, stand lange in dem Verdacht, ein Krypto-Katholik zu
sein; er hat zusammen mit einer Klique von Geistlichen den Plan
gehabt, den Kult zu ändern und etwas mehr Schönheit hineinzubringen.
-- Es begann übrigens in den siebziger Jahren mit der Entdeckung
unserer alten Missale und Breviere, die als Aktenumschläge in den
Kollegien gefunden, restauriert und stückweise herausgegeben wurden.
So kamen beispielsweise Sequenzen auf unsern Nationalheiligen, Erik
den Heiligen, den Schutzpatron Schwedens zum Vorschein. Kapellmeister
Norman hat Brigittas ›~Rosa rorans~‹ in Musik gesetzt; Wirsén stieg der
Weihrauch in der Kathedrale von Siena zu Kopf, und Professor Byström
wirkte für die Restaurierung der Kirchenmusik auf alter Basis; das
Stenmuseum sammelte die alten Altarschreine; das Kloster Vadstena wurde
wiederhergestellt, und Brigitta wurde fast eine lutherische Heilige;
die Upsalaer Domkirche wurde renoviert und gemalt, und der Erzbischof
reiste nach Rom und schüttelte dem Papst die Hand, der dem Ketzer die
Bibliothek des Vatikans öffnete. -- Nun, was ist Gefährliches daran? Es
deutet auf eine Versöhnung von Mutter und Sohn, und es ist doch schön,
wenn Verwandte sich vertragen, besonders wenn beide Christenmenschen
sind und nur das vergängliche Werk der Dogmen zwischen ihnen steht.«

»Ja,« sagte der Doktor, »das interessiert mich wenig, denn ich bin wohl
Heide; mein Großvater mütterlicherseits soll Neger gewesen sein, und
ich gehöre nicht in diesen Schafstall; er ist mir nicht feindlich, aber
er ist mir fremd.«

»Dir allerdings; doch die Lutheraner schreien im Chor mit dem Pastor
primarius an der Spitze; die Vertreter der Versöhnungslehre brüllen,
wenn sie von einer Versöhnung der Bekenntnisse reden hören. Schwache
Gefäße, die bersten, wenn sie nur neuen Wein sehen!«

»Ist es wahr, daß Falk katholisch geworden ist?«

»Das ist eine Lüge; aber die Lutheraner sind von einer solchen Panik
ergriffen, daß sie überall Katholiken zu sehen beginnen, ja, sie sehen
sogar Jesuiten, obwohl ich noch keinem einzigen begegnet bin. Die
Jesuitenorden sind von mehreren Päpsten aufgehoben worden, und doch
sieht man sie, genau wie die Jesuiten früher Freimaurer ›sahen‹. Sie
nennen mich auch Jesuit, mich!!! mich!!!«

»Es scheint mit den Kirchen dasselbe zu sein wie mit den Synagogen,«
fiel Isak jetzt ein.

»Was ist mit der Synagoge?« fragte der Doktor.

»Ja, die ist wie ein Schneckenhaus; das Tier ist herausgekrochen und
gestorben. Es ist nur ein leeres Gehäuse, in dem es ganz leise säuselt
wie Erinnerung an ein brausendes Leben.«

»Da hast du recht, Levi; aber was für neue Baßtrompeten hört man jetzt
in der Welt?«

»Du meinst die Heilsarmee?« fiel Kurt ein. »Das sind internationale
Christen, Synkretisten, die ihre Tempel allen Bekennern Christi öffnen.
Sie haben keine Theologie, keinen Katechismus, keine festgesetzten
Formen, kennen keinen Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten;
es ist lebendiges Christentum mit Glauben _und_ guten Taten. Dieses
kleine _und_ ist der Bindestrich zwischen den entzweiten Kirchen, die
um Glauben _oder_ Taten stritten.«

»Was bist du denn?« fragte Sellén schließlich.

»Das weiß ich nicht! -- Ein christlicher Freidenker vielleicht; Christ,
weil ich in christlicher Familie geboren bin, Freidenker, weil ich mich
keiner ›anerkannten‹ Kirchengemeinschaft anschließen kann.«

»Bist du Christ?«

»Ja, ebensosehr wie Isak Jude und Onkel Borg Heide ist, ebensosehr oder
ebensowenig.«

»Jetzt will ich Musik haben,« unterbrach der Doktor, »Isak soll Bach
spielen, und ich will treten.«

Zum Glück war die Orgelempore geschlossen, und Kurt hatte den
Schlüssel nicht. Das reizte den Doktor, der in der Feststimmung in
die Tage des Roten Zimmers zurückfiel, und in seinem Verlangen nach
einer außerordentlichen Kraftentfaltung verlangte er die Schlüssel
zum Turm, denn er wollte hinauf und mit der großen Glocke Sturm
läuten. Als auch dieser Plan scheiterte, ging er hinaus, und an einem
Droschkenhalteplatz trennte man sich.



Zweites Kapitel

Die Palastrevolution


Redakteur Gustav Borg, der ältere Bruder des Doktors, saß bei seiner
Morgenzigarre im Büro und besichtigte den Briefkasten. Der Briefkasten
ist ein wunderliches Ding: es ist die Post, die in einem geschlossenen
Blechkasten, zu dem der Redakteur den Schlüssel hat, abgeholt
wird. Dieser kleine Kasten enthält die Geheimnisse der Redaktion:
Erwiderungen, Eingesandtes, Bittschriften, die anonymen Briefe, die
groben Postkarten; dieser Kasten war gerade infolge der offenen
Postkarten aufgekommen, die von dem Boten und andern Untergebenen
gelesen wurden, was ihnen Mißachtung vor dem Redakteur und der Zeitung
beibrachte und ihnen ein auf Vertraulichkeit beruhendes Übergewicht
verlieh.

Der Chefredakteur hatte lange gebraucht, bis er soweit war, nicht
jedesmal, wenn er den Kasten öffnete, in Wut zu geraten. Ein Schweißbad
kostete es freilich, aber er hatte schließlich eine solche Technik
in der Kunst des Brieföffnens erlangt, daß er sofort an Handschrift,
Unterschrift und ähnlichem sah, ob er das Schriftstück lesen mußte oder
es in den Papierkorb werfen konnte.

Heute ging es jedoch etwas langsamer, denn zum erstenmal seit Bestehen
der Zeitung bekam der Redakteur offene Postkarten mit Lobesworten und
Danksagungen von Konservativen, Familienvätern und Staatserhaltern,
weil er in der gestrigen Nummer gegen den Sozialismus zu den Waffen
gegriffen hatte.

Gustav Borg war nämlich um die Mitte des Jahrhunderts geboren
und hatte bis 1890 von den liberalen Idealen der vierziger
Jahre gelebt, als da sind: konstitutionelle Monarchie (oder am
liebsten Republik), Religionsfreiheit, allgemeines Wahlrecht,
Frauenemanzipation, Volksschulen, Russenhaß und dergleichen. Er hatte
die Repräsentationsveränderung 1866 miterlebt und an das Kommen des
Tausendjährigen Reiches geglaubt. Aber es kam nicht. Was man gemeint
hatte, berechnen zu können, erwies sich als falsche Rechnung. Bei den
Neuwahlen 1867 ergab sich nämlich das folgende bizarre Resultat: der
Adel, der früher ein Viertel der Volksvertretung ausmachte, hatte
gewonnen und bildete jetzt ein Drittel, obwohl das Ritterhaus gestürzt
war. Der geistliche Stand war von einem Viertel auf ein Dreißigstel
reduziert worden. Das Papsttum Schwedens hatte also seine weltliche
Macht verloren. Die Zahl der Vertreter des Bürgerstandes war von einem
Viertel auf ein Sechstel herabgesetzt, und der Bauernstand behielt sein
Viertel, hatte aber durch das Zweikammersystem doch an Macht gewonnen.

Das Ritterhaus war freilich gestürzt, aber die Majorität der ersten
Kammer wurde dennoch von Beamten und außerdem von Rittergutsbesitzern,
meistens Edelleuten, gebildet.

Es war also im großen und ganzen ein Reichstag wie im alten Rom mit
Patriziern und Plebejern. Bei genauerem Hinsehen schienen freilich
die Plebejer das Übergewicht zu haben, und das mußte einen Liberalen
freuen; doch bei noch näherer Betrachtung stellte sich heraus, daß die
Plebejer konservativ waren.

In dieser babylonischen Verwirrung verlor Gustav Borg den Kopf. Seine
etwas abstrakten Vorstellungen von Politik verleiteten ihn zu dem
Glauben, der Reichstag werde sich mit staatsrechtlichen Theorien
beschäftigen, während er doch die Aufgabe hatte, für die momentanen
Bedürfnisse der Mitbürger zu sorgen. Er hatte den Kopf in seine eigene
Schlinge gesteckt, da er stets das Recht der Mehrheit verfochten hatte
und nun die vom Volk gewählte Mehrheit am Ruder sah. Schweden war
damals ein Ackerbauland, deshalb hatten die Landwirte die Majorität.
Das war logisch; und die Bauern waren jetzt an der Reihe: ihre
älteren Klagen wurden aufgenommen, alte Ungerechtigkeiten vor Gericht
gezogen. So weit konnte er mitgehen. Aber als diese selbe Majorität
in Kulturfragen Gesetze aufstellen, bestimmen wollte, was die Nation
glauben und denken, wie die Jugend erzogen werden solle, als sie
diejenigen, die an der Zukunft arbeiteten, ins Gefängnis zu werfen
beabsichtigte, da mußte er eingreifen und gegen seine Plebejer blank
ziehen. Damit kam er in Streit mit sich selbst und begann zu schwanken.

Die Mannigfaltigkeit der Faktoren machte die Berechnungen kompliziert;
denn wenn er sah, wie die Königsmacht durch die neue Staatsform
geschwächt wurde, konnte er nicht unterlassen, die Plebejer zu stützen,
trotz ihrem Geiz, ihrer Unduldsamkeit und Trägheit. Es gab Augenblicke,
in denen er die Zeit der Freiheit wiederkehren sah. Der Reichstag
stürzte ja die Ratgeber des Königs, die Bauern setzten Ausschüsse ein,
bevor die Wahl in der Kammer vor sich ging; häufig wurden Anträge
eingebracht, die Apanage des Königs einzuziehen, und man diskutierte
den Hofhalt der Prinzen.

»Jetzt sind wir nicht weit vom Namenstempel!« sagte der Redakteur in
einem Augenblick der Hellsichtigkeit

Alle älteren politischen Begriffe lösten sich auf, es wurde große
Wäsche gehalten, bei der Wergleinwand und feines Tuch zusammentrafen;
und es war fast unmöglich, schwarz und weiß, mein und dein zu
unterscheiden. Man stand dem großen Paradoxon gegenüber: die
konservativen Plebejer haben die Königsmacht gestürzt; und dieser
dreifache Selbstwiderspruch wirkte wie ein elektrischer Aal: man
konnte ihn nicht mit Händen greifen, teils, weil er glatt war wie ein
Aal, teils weil er geladen war. Man bekam einen Schlag, wenn man ihn
anrührte, und er schlug nach allen Richtungen aus, nach rechts und
links, nach oben und unten.

Nun kam das Neue und veranlaßte die Menschen, von etwas anderm als
von Bauern zu sprechen. Das war die sogenannte soziale Frage; die
Grundfesten der Gesellschaft wurden untersucht und vor Alter und
Feuchtigkeit baufällig befunden, so daß man auf ihnen nicht weiter zu
bauen wagte, in der Befürchtung, das Haus möchte einstürzen.

Die Panik, die jetzt entstand, ergriff zuerst die Oberen. Die
Oberen, die Leichtesten, die deshalb oben schwammen; die Oberen,
die Schwächsten, die deshalb da oben Schutz und Halt suchten, waren
natürlich die Ängstlichsten. Aber die Furcht verbreitete sich, und
eines schönen Tages wurde den Kämpfenden, den Wachsenden, den Liberalen
auch bange. Man hatte nämlich begonnen, die Familie zu diskutieren,
und hatte sie für individuell und persönlich wachsendes Leben zu eng
befunden. Da die Alten der Ansicht waren, die Gesellschaft sei auf
die Familie gegründet, so glaubten sie die Gesellschaft bedroht. Nun
basiert aber weder der Staat noch die Gesellschaft auf der Familie;
denn der Staat hat gar keine Ähnlichkeit mit der Ehe, sondern die
Staaten sind aus dem Zusammenschluß freier Männer zu gemeinsamem
Schutz entstanden. Das machte nichts, man blieb dabei, die Familie sei
das Fundament der Gesellschaft. Und es war nutzlos, einzuwenden: mag
immerhin die Familie das Fundament sein, wenn aber dies Fundament nicht
mehr hält, so müssen wir an anderer Stelle neuen Grund legen und Neues
bauen.

Bei der Untersuchung des Begriffs Familie machte man ausfindig, daß
zwei Menschen bei der jetzt so raschen Entwicklung keine dauernde
Sympathie, ohne die das Zusammenleben der Ehegatten unerträglich
ist, fürs ganze Leben schwören könnten. Das stark hervortretende
Streben nach Persönlichkeit widersprach gegenseitiger Unterwerfung;
das Hinaustreten der Frau in Arbeit und öffentliches Leben hinderte
die Entwicklung des Familienlebens und die häusliche Erziehung der
Kinder. Die Erfahrung zeigte ja, wie sich die Zahl der Ehescheidungen
erhöhte; und diese tief schmerzliche Operation wollten die Alten in
ihrer verständnislosen Art dem Leichtsinn zuschreiben, obwohl die
prozessierenden Parteien genau wußten, daß sie dem schlimmsten, was es
gab, der Sklaverei, nur entflohen, um ihre Persönlichkeit zu retten.
Als dann Kindergärten und Schulen die Erziehung der Kinder in die Hand
nahmen, fiel die Erziehung im Hause weg. Die Häuslichkeit war ja im
übrigen nur ein Zufluchtsort gewesen, wo alle Untugenden blühten; die
Erziehung fing erst in der Schule an, wurde in der Kaserne fortgesetzt
und begann von neuem ernstlich draußen im Leben.

So ungefähr wurden die Anklagen gegen die Familie formuliert. Und da
ergriff die Panik auch einen so starken Mann wie Gustav Borg.

Gestern hatte er selbst einen Leitartikel gegen die Auflöser der
Gesellschaft geschrieben; und heute nahm er zum Dank für die Hilfe die
Händedrücke der Konservativen entgegen.

Mit seinem Sohn Holger, dem Hilfsredakteur, hatte er am Tage vorher
eine stürmische Auseinandersetzung gehabt, in der dieser drohte,
abzugehen. Doktor Borg, der Bruder, hatte ihm telephonisch seinen
Besuch angekündigt; und den erwartete er jetzt, nicht ohne eine
gewisse Unruhe, die auch dadurch hervorgerufen wurde, daß zahlreiche
Abonnenten die Zeitung zurückgeschickt hatten.

       *       *       *       *       *

Der Erwartete kam; der Doktor trat unangemeldet bei seinem Bruder ein
und legte sofort los:

»Was hast du getan?«

»Ich habe nach meiner Überzeugung gegen eure Predigten der
Unsittlichkeit geschrieben.«

»Deine Überzeugung müßte sich auf bestehende Tatsachen gründen und
auf Erfahrungen beruhen, aber das ist nicht der Fall; Predigten
oder Prediger existieren gar nicht, denn alle, die über die Familie
schreiben, teilen nur ihre Entdeckungen und Erfahrungen mit; sie sagen
zum Beispiel: so und so geht die Entwicklung vorwärts, so und so ist
das Familienleben im letzten Menschenalter entartet, und das Heim ist
eine Schule des Despotismus, der Selbstsucht, der Heuchelei geworden.
Sie teilen also nur tatsächliche Verhältnisse mit und predigen keine
Theorien.«

»Und du, der du selbst Töchter hast, sympathisierst mit diesen Lehren?«

»Ich bin ebenso besorgt um meine Töchter wie du, und ich lehre sie
nichts; denn ich weiß in diesem Punkte nichts; aber ich verhalte mich
abwartend und beobachtend; ich glaube schon bemerkt zu haben, daß meine
Kinder mit andern Ideen geboren sind als ich; die Schamhaftigkeit
verbietet uns, darüber zu sprechen; deshalb ist es gut, daß es
geschrieben wird; das gedruckte Wort ist still und verletzt niemanden.
Aber das eine sage ich dir, ich bin gleich dir auf -- alles gefaßt!
Da ich einsehe, daß ich nichts dabei tun kann, denn du weißt, was
Ratschläge wert sind, so schweige ich und denke: vielleicht muß es so
sein; vielleicht verstehen sie es besser; vielleicht ist dies der Weg
zu der neuen Gesellschaftsform. Die Jungen, die für ihre neuen Ideale
kämpfen, müssen für die ersten Versuche wohl leiden; viele werden
fallen und deshalb viele abfallen; aber der Strom der Zeit fließt,
ohne uns um Rat zu fragen, und ich werde keine verzweifelten Versuche
machen, ihn aufzuhalten. -- Aber da du dich jetzt gegen uns gewendet
hast, hast du die Zeitung ruiniert. Als Aktionär und Direktor ersuche
ich dich, abzugehen und deinem Sohn Holger deinen Posten zu überlassen.«

»Ich, abgehen? -- Nie!«

»Gut! Dann gründen Holger und ich eine neue Zeitung!«

»Eine neue Zeitung geht nicht!«

»Doch, eine neue Zeitung, die bei der Farbe bleibt und die von dir
verlassenen Traditionen aufnimmt, die geht.«

»Du meinst eine einseitige Parteizeitung, die ihre Gegner als
Verbrecher behandelt.«

»Nein, als Feinde! Solange die Schlacht im Gange ist, erschießt man den
Soldaten, der Unterhandlungen beginnt. -- Hast du nie bemerkt: wenn
man dem Feinde ein Zugeständnis macht oder ihm ein gutes Wort gibt, so
jubelt er über die Unterwerfung. Gute Worte und Höflichkeiten kommen
hinterher, beim Friedensschluß. -- Betrachte dich jetzt als einen
erschossenen Deserteur und geh!«

»Nie!«

»Dann ruinieren wir dich durch Konkurrenz!«

»So spricht ein Bruder!«

»Ja, ein ehrlicher Bruder, der nicht dem Nepotismus oder der
Parteilichkeit huldigt, der die Gerechtigkeit über die Bruderliebe und
das allgemeine Wohl über das private stellt.«

»Du vergißt, daß du dein Geld verlierst, wenn du mich stürzt!«

»Das vergesse ich nicht; aber ich habe mehr Geld, als du glaubst, also
bin ich nicht zu ruinieren. Du hast bis morgen um zwölf Bedenkzeit.
Adieu! ...«

Der Doktor fuhr zur Tür hinaus, und der Redakteur blieb mit seinen
schweren Gedanken allein.

Abgesetzt, als Ausgedienter auf den Kehricht geworfen, er, der die
große materielle Neubildung nach 1850 mitgemacht hatte. Er erinnerte
sich der ersten Eisenbahnstrecke 1852; erinnerte sich der Eröffnung der
Telegraphen 1853, der ersten Gaslaterne 1854; der ersten Briefmarke
1855, und er hatte in den achtziger Jahren das Telephon und das
elektrische Licht mit erlebt. Aber von den politischen Idealen
seiner Jugend hatten sich wie gewöhnlich nur wenige realisiert, die
meisten waren zerstört und verschwunden und als Afterkorn in den
Graben gefallen; einige waren auf andere Weise, als er erträumt
hatte, verwirklicht worden, und die Folgen waren das Gegenteil von
dem gewesen, was man erwartet hatte. Unterdes waren neue Ideale
aufgetaucht, die er nicht verstand und die er fürchtete. Zum Beispiel
verstand er die große Arbeiterbewegung nicht, denn er hatte nicht
bemerkt, daß das Land in diesen vierzig Jahren aus einem Bauernlande
ganz allmählich ein Industrieland geworden war; er nannte die Führer
der Arbeiterpartei Agitatoren und Anarchisten, obwohl sie gerade für
Gesetzgebung und Ordnung in den noch ungeordneten Massen wirkten.
Er verstand das Streben der Jugend nach Freiheit und Verantwortung,
nach Selbstbetätigung und Selbstbestimmungsrecht nicht, deshalb fiel
er. Das war tragisch, denn es war unabänderlich, daß die Zeit der
Wachstumsfähigkeit des Menschengeistes eine Grenze setzte; und er fiel
nicht durch eigene Schuld, sondern infolge der Gesetze des Lebens.

Daß der Sohn sein Nachfolger werden würde, hatte er sich ja immer
gedacht; aber daß er ihn verdrängte, und auf diese Art, das war
schlimmer als alle Bitterkeit des Lebens.

       *       *       *       *       *

Er verschloß seinen Schreibtisch und ging fort, um aufs Land zu reisen
und über den Entschluß, den er fassen mußte, nachzudenken. Seit einigen
Jahren hatte er nämlich einen Landbesitz draußen auf den Schären, wo er
den größeren Teil des Jahres mit seiner Familie lebte.



Drittes Kapitel

Die Storöer


Redakteur Gustav Borg stand auf dem Vorderdeck des kleinen
Schärendampfers, der nach Storö fuhr, wo er sein Besitztum hatte; aber
in seiner erregten Gemütsstimmung hätte er sich am liebsten unsichtbar
gemacht oder im Notfall blind und taub.

Zwei fremde Herren befanden sich in seiner Nähe, und er mußte ihr
Gespräch mit anhören.

»Eine hübsche Stadt ist Stockholm auf jeden Fall; aber sie wirkt doch
wie eine Dekoration, denn sie ist zu groß und glänzend, um ein ödes
Land zu repräsentieren.«

»Ödes?«

»Ja, ich habe kürzlich eine Inspektionsreise durch
ganz Schweden gemacht, ich bin nämlich Inspektor einer
Lebensversicherungsgesellschaft; und ich bin durch ganze Provinzen
gezogen, ohne Menschen zu sehen; in dem Zug waren fünf Leute, auf
den Bahnhöfen war es totenstill. Kam ich in eine große Stadt, so war
sie von Beamten bevölkert: ein Landeshauptmann, ein Bischof, ein
Oberst, dazu ein Stab von Bürgermeistern, Ratsherren, Postmeistern,
Telegraphenkommissaren -- und ein paar Kaufleute.«

»Aber die Bevölkerungszahl ist doch auf fünf Millionen angewachsen?«

»Allerdings; doch unter diesen fünf Millionen ist nur eine Million
Männer zwischen zwanzig und fünfundfünfzig Jahren. Zweiundeinehalbe
Million sind Kinder und Frauen ohne Beruf. Aber jene Million
erwachsener, arbeitsfähiger Männer muß die zweieinhalb Millionen
Unproduktiver versorgen, muß außerdem 170000 Beamte ernähren, abgesehen
vom Militär, das 133000 ausmacht. -- Du hörst, ich weiß als rechter
Lebensversicherer über meine Leben Bescheid.«

»Haben wir 170000 Zivilbeamte?«

»Ja, wir haben 67000 Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamte, 27000
Regierungsbeamte, 28000 Geistliche mit Gehilfen, 38000 Lehrer, 17000
Kommunalbeamte.«

»Das ist ja unsinnig.«

»Ja, aber es ist so! Ich kann es nicht ändern; und es ist kein
Geheimnis, denn es steht in der offiziellen Statistik Schwedens
gedruckt. Das schlimmste aber ist die Auswanderung! Seit ich 1866 in
die Gesellschaft eingetreten bin, sind 780000 Menschen ausgewandert.«

»Siebenhunderttausend?«

»Ja; in den vier Jahren zwischen 66 und 70 wanderten hunderttausend
aus. Als die Zahl später sank, schrien die Patrioten und sagten: Seht
ihr jetzt, daß es nicht gefährlich war! Aber dann kamen die Jahre
81 bis 85, als 175000 auswanderten. Und dann 86 bis 90 mit 200000
Auswanderern.«

»Was sagten die Patrioten da?«

»Nichts! Doch, sie begannen auf der ›Schanze‹ ihre Erinnerungen zu
sammeln und bauten im Vorgefühl des nahen Endes ein Museum.«

»Warum wandert man aus; ist die Armut schuld?«

»Nein, die Armut soll es nicht sein.«

»Was ist es denn?«

»Die Volkshochschullehrer -- das sind sonderbare Leute, mußt du wissen
-- behaupten, es sei Mangel an Vaterlandsliebe; wie aber dieser
Mangel entstanden ist, sagen sie nicht. Ich habe einmal so einem
Erzieher geantwortet: wie kann man ein Land lieben, dessen Grund und
Boden dem Ausländer gehört? Du weißt doch, daß der schwedische Grund
und Boden für 226 Millionen dem Auslande verpfändet ist, daß die
Kommunalschulden sich auf 175 Millionen belaufen und daß die staatliche
Obligationsschuld 287 Millionen beträgt. Das Land verpfändet, und
wird's auch bleiben, singt man jetzt in gewissen Klubs. Nun stellt
man gewöhnlich den Hypothekenschulden die Sparkassengelder entgegen.
Aber die Sparkassengelder sind an ebensoviele Pumper ausgeliehen und
werden nach und nach von Auswanderern abgehoben, die sie für das
Schiffsbillett reserviert hatten. Die Staatsobligationen sind durch das
Eisenbahnmaterial gedeckt; das ist jedoch eine falsche Buchführung,
denn Schienen und Lokomotiven müßten im Inventarverzeichnis stehen.«

»Aber die Verkehrsmittel sind produktive Kräfte.«

»Jawohl, das sind die Landstraßen auch, und die Wasserwege ebenfalls,
doch sie sind kein Kapitalvermögen. Das Unglück ist, daß sich unter
unsern siebenundzwanzigtausend Regierungsbeamten nicht ein Buchhalter
befindet; allerdings, was sollte das in einem Staat nützen, wo dieser
selbst und die einzelnen über ihre Verhältnisse leben? Der Staat müßte
nach Vermögen und nicht nach Gutdünken Steuern ausschreiben. Jetzt aber
sagt man nur: wir müssen ein Heer haben, und dann fordert man eine
halbe Milliarde. Denke dir, eine halbe Milliarde, die in zehn Jahren
bezahlt sein soll!«

»Aber die Auswanderung? Was meinst du über die Ursachen?«

»Die Schweden fühlen sich nicht wohl; alles ist dumpfig; es ist ihnen
langweilig, allein in den einsamen Dörfern zu sitzen; sie haben kein
Zusammengehörigkeitsgefühl, weil die Nation nicht gleichartig ist.
Der ganze Adel, die oberen Klassen und der Mittelstand sind zum
größten Teil eingewanderte Ausländer, die sich unter schwedischen
Namen verbergen. Diese bilden einen Feudalstaat von Beamten, die
ihre Gehälter von den Heloten einziehen. Beamter zu werden und
Pension zu bekommen ist ja das Ideal jedes ›besseren Menschen‹. Die
Universitäten sind nur Schulen für Beamtenexamina, und eine der
Universitäten hat in einer Fakultät ebensoviele Dozenten wie Studenten.
Die Studenten sind noch ein privilegierter Stand von konservativen
Burschen, die die Nation bei Saufereien repräsentieren (von Ausnahmen
abgesehen). Aber es gibt noch anderes, was trennend wirkt. Das ist
der alte Provinzpartikularismus, und der macht sich noch in den
Landsmannschaften an der Universität geltend, wo aller alte Bodensatz
sich aufsammelt. Sie beneiden und hassen einander, und besonders die
Geistlichen sind bei Beförderungen durch das Indigenatsrecht an die
Provinz gebunden. In den Ämtern siehst du, daß sofort eine Invasion von
Smaaländern in das Amt stattfindet, wenn der Präsident zum Beispiel
ein Smaaländer ist; und in der Hauptstadt gibt es Vereine, in denen
die Provinzialen sich zusammenrotten, um ›gemeinsame Interessen zu
fördern‹; im Reichstag sitzt man nach Provinzen geordnet, und in die
Schwedische Akademie wurde man eine Zeitlang nach südschwedischem
Indigenatsrecht aufgenommen, so daß man das erhabene Institut, im
Scherz natürlich, Schonensche Akademie nannte. Ja, es ist so viel
Unrat da, der hier das Leben unleidlich macht. Keiner fühlt sich zu
Hause; jeder einzelne ist Feind in Feindesland; etwas auszurichten
wagt keiner, denn er wird gehindert; die einzige Energieäußerung spürt
man, wenn etwas verhindert werden soll. Die etwas tun wollen, müssen
sich ein anderes Land suchen, deshalb wandern die Energischen aus, die
Hinderer aber bleiben! Das ist verteufelt!«

       *       *       *       *       *

Beim Blockhauszoll begann es windig zu werden, und der Redakteur begab
sich in den Achtersalon. Da fand er einen schlafenden Herrn, der ihm
den Rücken zukehrte; an der kolossalen Breite sah er sofort, daß es der
Schwager war, der Pfarrer von Storö, den er jetzt nicht gern treffen
wollte. Deshalb folgte er dem Beispiel, warf sich auf das andere Sofa
gegenüber und drehte dem Pfarrer den Rücken zu.

       *       *       *       *       *

Während die Schwäger im Achtersalon schliefen, saßen Doktor Borg und
seine Schwägerin Brita, die Frau des Redakteurs, oben im Rauchsalon und
plauderten. Sie wußten freilich von der Anwesenheit der andern auf dem
Schiff, aber es lag ihnen nichts daran, mit ihnen zusammenzutreffen.

»Es muß zum Krach kommen,« fuhr der Doktor fort, »und du, Brita, wirst
die Bombe werfen!«

»Ja, lieber Freund,« antwortete die Frau mit höchst wohlwollendem
Entgegenkommen, »ich habe meine Bomben jetzt so viele Jahre lang
geworfen, daß ich nun wohl zum Dynamit greifen muß. Gustav mit seinen
altliberalen Ansichten ist unser schlimmster Feind; er versteht nichts
von dem Großen, das jetzt in der Welt geschieht; er hat freilich einmal
die Theorien gebilligt, aber wenn es darauf ankommt, einen einzigen
Gedanken, ein einziges von seinen Jugendidealen zu verwirklichen, dann
versagt er.«

»Vollkommen: deshalb müssen wir ihm den Schwanz hochbinden; er soll
abgehen und deinem Holger gegen eine gewisse Pachtsumme die Leitung
überlassen; will er weiter für die Zeitung schreiben, so mag er das
tun, aber unter Zensur des Chefredakteurs.«

»Wenn Holger nur nicht zu weichherzig ist! Trotz seinem Ingenieurkopf
hat er noch ererbte Schwächen ...«

»Die werde ich ihm schon austreiben, und da du absolut gefühllos bist,
kannst du dabei helfen. Wir wollen uns verbünden, du und ich, dann
wird etwas ausgerichtet.«

»Ja,« antwortete Brita mit ihrer sorglosen, menschenfreundlichen Miene,
»aber dann müssen wir ein Kompromiß schließen. Du mußt für meine
Frauensache eintreten.«

»Du weißt, das tue ich, soweit die Gerechtigkeit geht, nur bei
Ungerechtigkeiten mache ich nicht mit. Ich billige deinen Kampf für
die Menschenrechte der Dienstboten, für die Lohnbedingungen der
Arbeiterinnen, für Befreiung der Mädchen von Untätigkeit und Tand;
ebenso bin ich für freie Verbindungen mit gesetzlicher Verantwortung,
aber ich bin nicht für freie Liebe in der Ehe, denn das ist die
Sklaverei des Mannes, besonders wenn er falsche Kinder im Kirchenbuch
stehen hat; ich bin nicht für das Eigentumsrecht der verheirateten
Frau, das den Besitz der Frau vom Beitrag zum Unterhalt der Familie
befreit, das Vermögen des Mannes jedoch als gemeinsamen Besitz
beibehält.«

»Und die häusliche Arbeit der Frau? Soll die nicht bezahlt werden?«

»Was ist das für Arbeit? Hast du je im Hause gearbeitet? Du hast
Befehle gegeben, die von Dienstboten ausgeführt wurden, die Gustav
bezahlte: Er aber hat dich und deine Kinder und deine Dienstboten
ernährt und gekleidet. Du redest Unsinn!«

»Sollen denn arme Waschfrauen, die selbst verdienen, ihr Geld nicht
behalten, soll der Mann das vertrinken dürfen?«

»Wenn der Mann seinen kargen Lohn nicht behalten darf, sondern ihn
an die Familie abliefern muß, so soll auch der Lohn der Frau für die
Wirtschaft verbraucht werden. Begreifst du nicht, daß der Mann sonst
Sklave wird? Und gegen die Sklaverei hat selbst der altliberale Gustav
gepredigt! Hast du übrigens schon einmal eine Waschfrau gesehen, die
den Mann ihr Geld vertrinken läßt? Wenn du es gesehen hast, so wird sie
es gewollt haben, und wenn sie es will, so kann keine Gesetzgebung es
hindern. Du übersetzt zum Beispiel, statt die Wirtschaft zu besorgen,
und du vertrinkst deine Honorare, das heißt verjubelst sie mit Reisen
und Festen, während Gustav dir Dienstboten hält, die deine Arbeit tun.
Findest du das gerecht, oder findest du, daß die Stellung der Frau
unterdrückt ist? Ja, dann bist du ein Dickkopf, und ich kann keinen
Kompromiß mit dir schließen.«

Brita zitterte vor Wut, konnte aus ihrem Kopf aber diese Dummheiten
nicht herausbringen, die sie aus einer verflossenen Zeit mitschleppte,
in der die Ritterlichkeit verlangte, der Mann müsse alles dem Idol
opfern. Der Doktor, der sich von allen alten Vorurteilen befreit hatte,
sah den Augenblick gekommen, reinen Tisch zu machen und den fixen Ideen
der Schwägerin auf den Grund zu gehen.

»Und daß die Frau im allgemeinen schlechter bezahlt wird,« fuhr er
fort, »das beruht auf dem wichtigen Faktum, daß sie ihre Liebe nicht
zu bezahlen braucht, sondern in irgendeiner Weise dafür bezahlt wird.
Das Gesetz verurteilt nämlich nur den Mann zur Alimentenzahlung, nie
die Frau, die doch die größte Freude an der Mutterschaft hat und deren
Besitzrecht am Kinde indisputabel ist! -- Ja, und dann willst du die
Prostitution abschaffen! Weißt du, was du unter Prostitution verstehst?
Meinst du die ärztliche Aufsicht, so bist du unbarmherzig, wenn du sie
abschaffen willst! Meinst du aber die Tatsache, daß ein Haufen Weiber
aus dem Geschlechtsleben ein Gewerbe macht, so kann das Gesetz diese
Tatsache nicht abschaffen, denn in das Geheimste und Intimste kann das
Gesetz nicht eingreifen! Aber ihr wollt nie auf die Frage antworten,
sondern kriecht wie Ratten aus einem Loch ins andere. Die Polizei
versucht durch Kontrolle die Prostitution einzuschränken und von der
Ausübung des Gewerbes abzuschrecken, arbeitet also in eurem Sinne; aber
ihr arbeitet ja den Verhütungsmaßregeln entgegen. Was wollt ihr? Das
wißt ihr nicht. Deshalb ist alles Unsinn, was ihr faselt! -- Ist sonst
noch etwas übrig? Stimmrecht? Ja, erst für den Mann, dann wollen wir
später weiter sehen, wenn ihr erst Gerechtigkeit und Vernunft gelernt
habt.«

»Und du verlangst, daß ich mit dir zusammen arbeite?«

»Ja, in allen Punkten, in denen wir einig sind, und in all deinen
Bestrebungen, die Achtung verdienen und die ich, wie du weißt, an dir
schätze! Aber ich erbitte nicht deinen Beistand in einer guten Sache,
um dir dafür in einer ungerechten beizustehen. Wenn du, in deinem
Hause Herrscherin, die Sklavin spielen willst, so sehe ich in dir eine
Betrügerin, der ich ins Gesicht spucken werde. Das weißt du im voraus,
Brita!«

Frau Brita war von Natur zu gutmütig, um wegen einer solchen
Kleinigkeit böse zu werden, und ihr Glaube an ihre gemeinsame große
Sache so stark, daß sie sich genügen ließ und das Gespräch mit ihrer
gewöhnlichen Schlußerwiderung abbrach:

»Ja, siehst du, in dieser Frage werden wir uns nie verstehen.«

Aber der Doktor war mit bloßen Repliken nicht zufrieden, sondern wollte
Bescheid haben; deshalb antwortete er:

»Doch, meine Liebe, ich verstehe dich, aber du verstehst nicht, was ich
sage, und das ist dein Fehler.«

Das Gespräch würde wieder von vorn begonnen haben, wenn nicht der
Pfarrer von Storö, Frau Britas Bruder, den Rauchsalon betreten hätte;
ein schwarzer Koloß von beängstigendem Äußern, von einem alten,
heruntergekommenen Hunde begleitet.

»Da kommt Petter mit seiner Sprengmaschine,« sagte der Doktor; und wie
um den Vergleich zu illustrieren, hob Phylax das Hinterbein.

Frau Brita, die glaubte sich als Tierfreundin zeigen zu müssen, stand
immer auf Phylax' Seite und war sofort zur Verteidigung bereit.

»Du liebst deine Anverwandten nicht, Henrik,« sagte sie.

»Ach pfui, ich bin nicht mit Hunden verwandt, und ich hasse alles
Tierische, bei mir wie bei andern. Jetzt müßte Petter ein Scheuertuch
holen und das Deck abwischen, wenn es Gesetz und Recht gäbe ...«

»Du bist so streng gegen ein unschuldiges Tier,« wendete der Pfarrer
ein ...

»Nein, aber gegen dich bin ich streng, da du Tiere in menschliche
Gesellschaft einführst; du wagst selbst nicht zu bellen und zu beißen,
aber dein unnützes Tier läßt du das tun; du wagst das Hinterbein nicht
hochzuheben, aber dein unschuldiges Tier darf es. Du bist ein Aas, das
ist alles.«

»Nun, nun, nun,« mahnte der Pfarrer; »wir sollen barmherzig sein.«

»Ja, wir sollen barmherzig sein gegen unsere Mitmenschen, sollen nicht
den Kindern das Brot nehmen und es den Hunden vorwerfen; du gibst einem
Armen keine zwei Pfennige; deinen Tagelöhnern gibst du abgerahmte
Milch, aber deinem vermoderten, stinkenden Vieh gibst du die Sahne,
und wer das Tier, das unnütze Tier, über den Menschen stellt, der ist
selber ein verfaultes Tier.«

»Hast du Gustav gesehen?« unterbrach ihn Frau Brita jetzt.

»Er liegt unten im Achtersalon und schläft,« antwortete der Pfarrer.

Das war für die beiden Verschworenen eine überraschende Neuigkeit,
und sie versanken beide in ein grübelndes Schweigen, das der Pfarrer
benutzte, um durchs Fenster zu sehen, wie weit sie gekommen waren.
Sie waren in der Kanalmündung, wo sich immer die Frage erhob, ob auch
genügend Wasser da sei, daß das Schiff schwimmen konnte.

       *       *       *       *       *

Man war erst eine halbe Stunde von der Hauptstadt entfernt, und schon
begann die Wildnis.

Feldstein und Zwergkiefern, Moore und Binnenseen wechselten mit
winzigen Ackerstücken, auf denen die kleine Landwirtschaft nur des
Aussehens halber betrieben zu werden schien. Die adligen Landwirte
lebten von Zinsen oder Berufen und hatten die Landbesitzungen in
der Hauptsache der Jagd und Fischerei wegen, oder um auf dem Lande
zu wohnen. Der einzige wirkliche Landwirt war der Pfarrer, der
zweihundert Morgen offenen Boden, Viehstall und Meierei besaß, Pferde
und Schlachtvieh aufzog, Schweine züchtete und nach neuen rationellen
Methoden Eier herstellte; er hatte auch eine Wassermühle, war Aktionär
der Dampfschiffsgesellschaft und baute Sommervillen zum Vermieten.
Er war der reichste Mann auf Storö; die Seelsorge ließ er von einem
Diakonus und einem Vikar erledigen, aber die Verwaltung und die
Amtsarbeiten behielt er in der Hand, denn er liebte zu herrschen und
einzugreifen.

Seinen Freunden und Verwandten gegenüber war er ein Lamm, wirkte
wie ein gutmütiges Rindvieh, seinen Feinden gegenüber aber wie ein
brüllender Löwe; und die Gemeinde betrachtete er als Feinde, besonders
die Armen.

»Es gibt keine Armen,« sagte er. »Faule gibt es! Es gibt keine Kranken,
das sind nur Heuchler, die Unterstützung genießen wollen.«

Bei der Steuereinschätzung war er wie ein Rasiermesser, wenn er geheime
Einkünfte aufstöbern konnte. Da tatsächlich das ganze Kirchspiel
in ewiger Fehde lebte, um von einander die Steuern einzutreiben,
so wurden im Gemeindeausschuß die heftigsten Kämpfe ausgefochten,
und Pastor Alroth ließ die Zugezogenen ausspionieren. Kaufte einer
eine Villa, so wurden sofort seine Einkünfte in der Stadt mit in
Rechnung gestellt, denn wenn der Käufer im Winter einige Zeit auf der
Insel wohnte, war er dort ortsansässig. Es wurde ohne Ende geklagt
und prozessiert; und beim Ting war der Pastor immer als eine Art
öffentlicher Ankläger zugegen, jederzeit bereit, in allen möglichen
Prozessen als Zeuge zu dienen. Er war kein gewöhnlicher Geistlicher
und würde viele Feinde gehabt haben, wenn er nicht eine Ader Humor
besessen hätte, die ihm erlaubte, über eigene und fremde Schwächen
zu lächeln. Er war ein weltlicher Priester, was freilich wie ein
Widerspruch klingt, da er dem geistlichen Stande angehörte; aber die
Verweltlichung der Staatskirche, durch die die Priesterschaft gleichsam
ein Stand geworden war, der von der Erde lebt, hatte die Geistlichen
zu Landwirten und Meiereibesitzern gemacht, die mehr mit der Sorge um
Ochsen und Kühe als um Menschen zu tun hatten. Er war auch ein lustiger
Pfarrer, der an Gelagen teilnahm, und als der beste Wiraspieler der
Gegend bekannt. Aber er vergaß sich nie, trank nie zuviel, mogelte
freilich am Spieltisch, war jedoch der erste, es einzugestehen, wenn
er ertappt wurde. Er fluchte nicht und legte es nicht darauf an, den
aufgeklärten Skeptiker zu spielen; scherzte gern, aber nicht mit dem,
was für ihn nicht erlaubt war; er glaubte an die Lehren und machte
in Gesellschaft keine feigen Zugeständnisse. Um die Fragen und die
Unruhe der Zeit kümmerte er sich nicht, las nie Bücher, verfolgte
jedoch in den Zeitungen die Politik des Tages, die Zollfragen und die
Steuererhöhung.

Mit seiner Schwester Brita neckte er sich im Scherz, und mit dem
Schwager, dem Redakteur, war er ziemlich gut Freund. Doktor Borg
mochte er gern, weil er ein ganzer Kerl war, und seine Grobheiten
faßte er als Witze auf. Am meisten schätzte er den Doktor wegen seiner
entschiedenen Haltung in der idiotischen Frauenfrage und verzieh ihm
deshalb seine Wut auf die Hunde. Seine Verwandten waren Villenbesitzer,
und er betrachtete sie als gute Nachbarn, setzte ihnen aber bei der
Einschätzung Daumschrauben an. Seine Nächste, das heißt seine Gattin,
mit der er in kinderloser Ehe lebte, behandelte er als Frau, als
Kameradin und als Herrscherin des Hauses in der »Innenabteilung«;
doch wehe ihr, wenn sie die Grenzen ihres Machtbereichs überschreiten
wollte, dann verteidigte er seinen Platz. Brita war freilich gekommen
und hatte sie aufzuwiegeln versucht, aber da hatte er, ohne Rücksicht
auf den Hausfrieden, sich so aufgeführt, daß sie kapitulieren mußten.

»An meiner Seite, Frau, aber nicht über mir!« war seine Formel.

Er nannte die Männer, die die Frauen über sich herrschen lassen,
Sodomiten. Und er hatte wohl eingesehen, daß es sich nicht um
Gleichstellung handelte, sondern um Tyrannei, wenn die Frauen
vorstürmten.

»In der neuen Gesellschaft werdet ihr vielleicht Stimmrecht bekommen,«
sagte er, »wenn ihr alle arbeitet; aber in dieser Gesellschaft, wo ihr
Anhang seid, nicht!«

Das war Pastor Alroth auf Storö; ein Prälat aus dem Mittelalter, ein
geistlicher Beamter mit viel weltlicher Macht, ein reicher Mann, der
großen Landbesitz hatte und infolgedessen sein eigener Patron war, das
heißt sich selbst in eine Pfarre einsetzte, die ihm ein Gehalt von
30000 Kronen brachte, das zusammen mit seinen Privateinnahmen von 20000
Kronen seine Einkünfte auf 50000 Kronen jährlich abrundete.

       *       *       *       *       *

Bei der Einfahrt in den Kanal zeigte es sich, daß niedriges Wasser war;
deshalb begann der Steuermann das gewöhnliche Manöver zu kommandieren.

»Passagiere nach Lee!«

Das war das erste Tempo; da aber nicht alle wußten, wo Lee lag, so
gingen einige nach Luv.

Wenn dann der schiefe Steuermann -- er war immer schief und
rotäugig wie eine Plötze -- luvwärts rief, dann verstanden auch die
Uneingeweihten den Zusammenhang, daß nämlich alle auf die gleiche Seite
hinübergehen sollten. Dadurch legte sich der Dampfer schräg, als wolle
er kentern, wand sich aber doch ein Stück weiter an den Schilfbänken
entlang, wo Angelruten sich in dem rückflutenden Wasser bogen.

»Warum baggert man den Kanal nicht aus?« fragte Frau Brita unschuldig.

»Weil,« antwortete der Doktor, »wenn man baggerte, sofort ein
raschfahrender Konkurrent eingestellt würde, und das wollen die
Aktionäre dieses Kahns nicht. Oder was meinst du, Petter?«

Der Pastor wollte weder nein noch ja sagen, sondern erwiderte: »Ich
möchte wissen, ob Gustav unten im Achtersalon Schlagseite hat! Er ist
recht schwer und der Steuermann müßte hinuntergehen und ihn umstauen.«

Jetzt trat der Doktor Phylax, der sich die Angelruten besehen wollte,
auf die Zehen, und der Hund stieß ein entsetzliches Geheul aus, in das
Brita einstimmte:

»Du bist ein Barbar!« schrie sie den Doktor an.

»Das ist eine Lüge, Kindchen,« antwortete der Doktor; »ich quäle nie
ein Tier, nicht einmal einen Regenwurm, aber eure Tiere quälen mich,
weil sie mir vor den Füßen herumlaufen und heulen.«

Der Kanal war passiert, und man hatte einen Sund vor sich.
Landungsbrücke folgte auf Landungsbrücke, und bei jeder Anlegestelle
hatte man Gelegenheit, eine Bemerkung, eine Aufklärung über die
Einwohner fallen zu lassen. Es waren gewissermaßen Zufluchtsorte,
bisweilen Verstecke für Menschen, die sich dem Weltgetümmel entzogen
hatten. Keine Geschichte war der andern gleich, und in dieser Einöde,
eine halbe Stunde von Stockholm, hatten sie sich niedergelassen,
hauptsächlich vielleicht, um die Nähe des Meeres zu spüren, das einzig
Große, das Schwedens kärgliche Natur bietet. Alltägliche Trauerspiele
waren zu Ende gespielt, und man erlebte hier draußen den letzten
Akt. Durchgebrachtes Vermögen, zerbrochene Familienschicksale,
bestrafte oder unbestrafte Fehltritte, verwundeter Ehrgeiz, Kummer
und Not, alles Elend hatte sich hier in den grünen Talmulden zwischen
den Feldsteinhügeln niedergelassen. Die Eingeweihten, die diese
Wasserstraße passierten, hatten das Gefühl, an aller Bitterkeit des
Lebens vorbeizufahren, und neben der Beklemmung wurde ein Wohlbehagen
wach, außerhalb zu stehen. Der Pastor, der am meisten wußte, sprach am
wenigsten, der Doktor aber legte sich unverdrossen ins Zeug:

»Sieh, da steht der alte Päderast auf seiner Brücke und wartet auf die
Zeitung. Du studierst doch die soziale Frage, Brita, kannst du die
Päderastie erklären, und kannst du mir sagen, warum in unsern Kreisen
so viele Männer in dieser Richtung von sich reden machen?«

»Nein, das kann ich nicht, und darüber will ich nicht sprechen,«
antwortete Frau Brita ohne Prüderie, aber auch ohne Interesse.

»Man spricht nicht über solche Dinge,« unterbrach der Pastor.

»Das ist ja gerade das Unglück,« sagte der Doktor, »daß man die
wichtigsten Fragen nicht erörtern darf. Über Mord und Brandstiftung,
Diebstahl und Wechselfälschungen darf man bei jedem Gericht laut
sprechen, und mündliches Verhör ist gesetzlich angeordnet, aber über
diese Dinge darf man nicht einmal schreiben!«

»Die menschliche Schamhaftigkeit gebietet Schweigen,« wandte der Pastor
ein.

»Dann müßte der Richter sich auch schämen, von Mord und Diebstahl zu
hören! Nein, ihr seid zimperlich oder wollt besser scheinen als ihr
seid. Ich kann euch nicht begreifen! Die Vollziehung des Aktes bleibt
straflos; wenn aber ein Dichter eine hochgestimmte Schilderung der
ersten Szene des Geburtsaktes gibt, dann wollt ihr ihn ins Gefängnis
werfen! Um der Jugend willen! Um der liederlichen Jugend willen, die
nicht ihren Namen in Bäume schneidet, wohl aber das ganze Geheimnis auf
Ecken und Wände malt. Ich verstehe euch nicht, will euch aber nicht
Heuchler nennen, denn ich weiß nicht, was das ist! Du, Petter, würdest
dich nicht auf einem Trottoir exponieren, aber dein Köter darf den
Schönheitssinn einer Kinderschar beleidigen, und du stehst dabei und
siehst zu! Pfui Teufel!«

»Jetzt ist er wieder bei den Hunden,« brach Frau Brita ab, »das ist
sein stehendes Gesprächsthema.«

»Ja, wenn ihr eure unreinen Tiere in die menschliche Gesellschaft
bringt und sie an der Konversation teilnehmen laßt, dann bekommt ihr
Bescheid.«

»Unreine Tiere? Es gibt keine so sauberen Tiere, nächst den Katzen,
sieh dir ihr Fell an ...«

»Sieh dir dein Kleid an, Brita,« schrie der Doktor, »sieh dir Phylax,
die Sprengmaschine, an!«

Phylax hatte wirklich Frau Britas Staatskleid untersucht und das
Hinterbein gehoben.

Wie von einer Wespe gestochen flog die Frau in die Höhe. Die rote Feder
auf ihrem Hut zitterte gleich einer Haferrispe im Winde, ihr Gesicht
drückte alle möglichen Gemütsbewegungen zugleich aus; Wut über die
Kränkung, Verzweiflung über den Schaden, Scham über die Demütigung,
gemischt mit einem freundlichen Lächeln, das noch im Tode die Sympathie
mit dem unschuldigen Tier ausdrücken sollte.

»Warum züchtigst du dein Tier nicht?« brüllte der Doktor, der für den
geschädigten und erniedrigten Menschen Partei zu nehmen versuchte.

»Nein, dann kommt der Tierschutzverein!« meinte der Pastor.

»Der Verein kann recht haben, wenn nämlich der Stock statt dessen über
dich käme; aber ich weiß, daß du nicht wagst, den Stock gegen Phylax zu
erheben, denn dann zeigt er die Zähne; er ist der Herr und du bist der
Hund! Du verwünschtes Vieh von einem Egoisten!«

Damit verließ er den Rauchsalon und warf die Tür hinter sich zu.

Jetzt lag der Fjord offen da, und der Doktor ging nach dem Achterdeck
hinunter, um sich abzukühlen.

Da bemerkte er den Großkaufmann Levi, der ebenfalls eine Villa auf
Storö besaß, und Britas dritten Sohn, der ein Vorwerk von Pastor Alroth
gepachtet hatte.

Der Doktor mußte erst seinem Zorn Luft machen, ehe er ein neues
Gesprächsthema aufnahm, und bei Isak fand er ein treues Herz, dem er
seinen Ärger anvertrauen konnte.

»Nein, diese Teufel! Die Frauen haben sich mit den Tieren verbündet;
ein Tier darf mich beißen, wenn ich mich aber gegen das Tier mit einem
Tritt verteidige, so komme ich ins Gefängnis. Ist das das Ende der
Welt, oder was ist es? Und diese Tierweiber werden als die Wohltäter
der Menschheit gemalt, als Riesengenies biographiert ...«

»Ja,« sagte Isak, »das sind die Konsequenzen der zoologischen
Weltanschauung, der Veterinärpsychologie, des auf das Tier ausgedehnten
demokratischen Prinzips. Alles ist gleich, alle sind gleich ...«

»Welche Schafsköpfe haben so absurde Konsequenzen ziehen können? Wenn
der Mensch auf der Tierskala am höchsten steht, so soll er doch über
das Tier herrschen, das ist Logik. -- Aber es ist ein Symptom des
Verfalls, wenn kleine oder große Tiere die Macht bekommen; Bakterien
oder Hunde, das ist einerlei; gegen den Bazillus darf ich mich
verteidigen, aber gegen den Hund nicht? Ja, wißt ihr, es ist alles
verfault!«

Isak fand den Augenblick gekommen, abzubrechen, und warf ein:

»Anders findet auch, daß es mit der Landwirtschaft faul ist!«

»Faul will ich nicht sagen, aber verkehrt ist es mit der
Landwirtschaft, das ist sicher. Ist der Boden nicht ausgesogen, wenn
wir ihn nicht düngen können, ohne Düngemittel zu importieren? Wißt ihr,
daß Schweden in einem Jahre sechzig Millionen Kilogramm künstlichen
Dünger aus dem Auslande gekauft hat? Wißt ihr das? Und glaubt ihr, daß
sich das rentiert? -- Wir können nicht einmal unser Vieh ernähren: wißt
ihr, daß wir in einem Jahre neunzig Millionen Kilo Kleie und Ölkuchen
gekauft haben? Wir können nicht säen, ohne Saatgut aus dem Auslande
zu kaufen; sechzehn Millionen Kilo Saatgut vom Ausland in einem
Jahre. Die Frauen, die früher Hühnerzucht betrieben, tun nicht mehr
mit, sondern wir kaufen zwanzig Millionen Eier jährlich; eigentlich
siebenundzwanzig, aber sieben Millionen haben wir exportiert.«

»Nun, und das Getreide?« warf Isak sein Scheit in das angezündete
Zollfeuer.

»Reden wir nicht davon! Einhundertzweiunddreißig Millionen Kilo Weizen
im Jahre, was gebt ihr mir dafür?«

»Ich halte die Ausfuhr dagegen,« sagte Isak.

»Du kannst nicht einhundertzweiunddreißig Millionen Kilo eingeführten
Weizen mit achtzehntausend Kilo ausgeführtem wettmachen, auch wenn
du siebenundzwanzig Millionen Kilo ausgeführten Hafer hinzurechnest;
außerdem werden noch zweiundneunzig Millionen Kilo Roggen und
siebenundzwanzig Millionen Kilo Mais eingeführt. Wovon lebt Schweden?«

»Von Holz und Eisen!«

»Nein, es gibt kein Bauholz, nicht einmal einen Mastbaum mehr in
Norrland, sagen manche; andere behaupten, das sei gelogen; die
Antwort hängt von den augenblicklichen Interessen der Wahlkorporation
ab; wir exportieren nur Grubenholz und ›Planchettes‹, sagt der
Sägemühlenbesitzer, wenn er zur Linken gehört; wenn er zur Rechten
gehört, wird das in Abrede gestellt.«

»Nun, und das Eisen?«

»Wir exportieren Eisen, das ist sicher, aber wir importieren auch;
einhundertzweiundsechzig Millionen Kilo Stangeneisen werden ausgeführt,
einundzwanzig Millionen aber eingeführt; einundneunzig Millionen Kilo
Gußeisen werden ausgeführt, fünfzig Millionen aber eingeführt; und wir
haben in einem Jahre fünfundfünfzig Millionen Kilo Eisenbahnschienen
vom Ausland gekauft. Wovon lebt Schweden?«

»Vom Pump,« antwortete Doktor Borg ohne Besinnen.

Isak lachte.

»Ja, vom Pump, aber so etwas pflegt mit einem Krach zu enden, wenn
die Zinsen nicht bezahlt werden können, und bisweilen endet es mit
Gefängnis, wenn man als leichtsinniger Schuldner befunden wird. Man
stelle sich vor, wenn ganz Schweden als leichtsinniger Schuldner ins
Loch müßte.«

»Ja,« erwiderte der Doktor, »das war einmal Arvid Falks Meinung, als er
noch auf der Mauer stand und tauben Ohren prophezeite.«

»Ein sonderbarer Kerl, dieser Falk, der schließlich mit sich selbst in
Streit kam ...« warf Isak ein.

»Nein, das kann ich nicht finden,« nahm der Doktor das Wort. »Er
experimentierte mit Standpunkten, und als gewissenhafter Experimentator
nahm er Kontrollexperimente vor, stellte sich versuchsweise auf die
Seite des Gegners, las Gegenkorrektur, prüfte die Zahlen von unten, und
wenn das Gegenexperiment negativ ausfiel, kehrte er zu dem erprobten
Ausgangspunkt zurück. Das begreift ihr nicht. Falk aber war sich
klar darüber, daß er Kierkegaards Methode anwandte. Dieser erdichtete
Verfasserpersönlichkeiten und gab sich jedesmal ein neues Pseudonym.
Victor Eremita ist ein anderer als Johannes Climacus; Constantin
Constantius ist nicht Johannes de Silentio, alle zusammen aber sind
Sören Kierkegaard. Falk war ein Vivisektor, der mit seiner eigenen
Seele experimentierte, hatte immer offene Wunden, bis er sein Leben
für das Wissen, ich will nicht das mißbrauchte Wort Wahrheit anwenden,
hingab. Und sollten seine gesammelten Schriften einmal herauskommen, so
dürfte nicht ein Wort geändert werden, sondern alle Widersprüche würden
sich in dem gemeinsamen Kierkegaardschen Titel lösen: Stadien auf dem
Wege des Lebens.«

Jetzt plätscherte der Dampfer in die Kirchbucht hinein, und beim Landen
mußten die Passagiere, Freunde und Feinde, zusammentreffen.



Viertes Kapitel

Der Redakteur


Redakteur Gustav Borg war in Bergslagen aus adligem Geschlecht geboren.
Der Vater war Amtmann und hielt streng auf seinen Adel; erzog seine
Söhne in einem gewissen Hochmut, der sie vom Mittelstand isolierte,
ohne ihnen Zutritt zu den höheren Schichten zu verschaffen. Die Söhne,
Gustav und Henrik, besuchten das Gymnasium in Västeraas und hatten
Sprößlinge des Hochadels zu Mitschülern; diese aber wollten sich ihnen
nicht nähern; sie taten, als wüßten sie von dem Borgschen Adel nichts.

So wuchsen die Amtmannssöhne heran; einfach im Äußern, aber mit
Siegelringen am Zeigefinger und Kronen auf dem Rasierzeug, achteten
sie auf ihr Benehmen, hielten sich oben, wie man sagt, und waren
entschlossen, den Namen durch Kenntnisse und Beförderung zu adeln.

Als die Zeit kam, da der Adel »abgeschafft« werden sollte, wurde Gustav
Student.

Er reiste nach Upsala und wollte sich beim Kurator in die
Landsmannschaft einschreiben lassen. Damals stand ein ~nob.~
(~nobilis~) hinter allen adligen Namen im Studentenverzeichnis.

Als der Kurator nun Borg in die Matrikel einschrieb, vergaß er, ~nob.~
dahinterzusetzen.

Gustav Borg flammte auf und fragte, ob der Kurator ihm sein Erb und
Eigen, seine Traditionen und Familienehre rauben wolle.

Der Kurator blieb ruhig, fragte aber:

»Sind Sie wirklich schwedischer Edelmann?«

»Wirklich? Was heißt das? Stehe ich nicht im Adelskalender?«

Der Kurator, der selbst adelig war und die Geheimnisse der Zunft
kannte, antwortete mit einem Blinzeln:

»Ja, im Adelskalender!«

»Nun?« fragte Gustav.

»Ja, sehen Sie, der Adelskalender ist ein Buch, aber die Ahnentafeln,
sehen Sie, das ist ein zweites. Kennen Sie die Ahnentafeln nicht,
Anreps Ahnentafeln?«

»Nein, ich habe sie nie gesehen, aber es soll ein Skandalbuch sein.«

»Wir wollen es einmal anschauen,« antwortete der Kurator und nahm einen
Band vom Schreibtisch. -- »Es ist ein merkwürdiges Buch; die Herausgabe
wurde vor längerer Zeit begonnen und das letzte Heft ist kürzlich
erschienen. Ganz, als wenn das Buch bestellt wäre; und dies Buch wird
vielleicht das Ritterhaus schließen, -- jetzt werden wir gleich sehen:
B; B--o; Borg: die adelige Familie Borg Nummer 1570. Dahinter steht ein
Kreuz, und das bedeutet, daß die Familie ausgestorben ist.«

Der junge Student fühlte buchstäblich, wie er starb; und er sank auf
einen Stuhl nieder. Aber als er sich erholt hatte, versuchte er nach
dem Strohhalm zu greifen:

»Dann sind wir adoptiert!«

»Adoption gibt es nicht nach schwedischem Gesetz, und Sie sehen wohl
ein, mein Herr, wenn man durch Adoption geadelt werden könnte, dann
würde sich jeder reiche Großkaufmann für eine Lappalie von einem armen,
heruntergekommenen Edelmann adoptieren lassen. Ja, Sie wissen doch, daß
man jetzt Ritterhausbestallungen oder Vollmachten verkauft.«

Gustav Borg befühlte seinen Siegelring und machte noch einen Ausfall:

»Ich kann mir das nicht erklären; mein Vater hat keine Schuld, denn er
ist absolut ehrenhaft.«

»Das habe ich nicht in Abrede gestellt, aber die Missetaten der Urväter
gehen um; und wenn Sie etwas Köstliches sehen wollen, so müssen wir
einen von den ärgsten Rednern des Ritterhauses, der für sein Erb und
Eigen ficht, aufschlagen. Sehen Sie, hier steht es: die Familie wurde
von dem englischen König Karl I. bei seinem Besuch in Dublin 1652
geadelt. Nun wurde bekanntlich Karl I. im Jahre 1649 enthauptet, so
daß man seinen Besuch in Irland 1652 als kopflos bezeichnen muß, als
noch kopfloser aber die Erhebung eines aufständischen Irländers in
den Adelsstand. Sehen Sie, solche Dinge haben unsern Adel verdächtig
gemacht, und alle diese ausländischen Geschlechtstafeln besonders sind
sehr anrüchig. Ist Ihnen bekannt, was für Ahnen unser Ritterhausheld
hat? Ich will Ihnen ein paar von den zweiundvierzig vorlesen, die
hier aufgezählt sind. ›Felimlomkdode; King; Ferghis Avrenoudh (König
der Schotten); Eochy; Collumium.‹ Was soll mir Collumium! Entweder hat
der Abschreiber einen Bock geschossen, oder einer hat sich den Namen
ausgedacht. Sie dürfen darüber nicht traurig sein, Herr Borg, denn es
ist jetzt beinahe besser, Anderson zu heißen als Gyllensparre; dann
schnüffelt keiner die Taufscheine nach und sucht unter den Betten,
wie dieser Anrep tut. Können Sie sich vorstellen: ein Galgenstrick
von einem Buchdrucker hat ausgerechnet, daß sechzig Familien im
unehelichen Bett gezeugt sind oder vom Junggesellensofa herstammen!
Und daß die größten Helden unseres Ritterhauses Ausländer sind; daß
im Reformministerium Holländer, Deutsche, alle möglichen Landsleute
sitzen; und zieht man die mütterlichen Verwandten in Betracht, so ist
auch Afrika und Asien dabei. Curry Treffenberg, der komische Patriot,
ist Zigeuner; und der Legationssekretär ...sky ist Pole. Demnach
brauchen wir nicht traurig zu sein. Ich schreibe also nicht ~nobilis~
oder ~nob.~ hin, wovon übrigens Thackeray das Wort ~snob~ abgeleitet
hat!«

Das war eine gewaltige Erschütterung für einen jungen Studenten; er
warf den Wappenring in die Ecke, fuhr nach Hause zu seinem Vater und
schimpfte auf die, die ihm eine falsche Herkunftsbezeichnung mitgegeben
hatten. Der Vater wurde für unschuldig befunden, behielt aber seinen
Wappenring. Bei einer im Ritterhaus angestellten Untersuchung wurde
er auf das Wappenbuch als sichere Quelle verwiesen; und da fand man,
daß das Wappen hundert Jahre lang gestrichen gewesen, dann aber wieder
eingeschmuggelt worden war.

»Die haben natürlich gemogelt,« sagte der Beamte, der an solche Manöver
gewöhnt war.

Aber Gustav Borg und sein Bruder Henrik gingen mehrere Jahre lang
beschämt umher und kamen sich wie Betrüger vor; doch dann rafften sie
sich auf und bekamen einen solchen Abscheu vor allem, was falsch war,
daß sie sich energisch auf die Seite derer stellten, die ausgangs der
sechziger Jahre eine Revision aller alten Pfuscherei in Staat, Kirche
und Gesellschaft verlangten.

An der Universität zu Upsala ging es mit Gustav Borg wie mit so
vielen andern in jener Zeit. Er fühlte sich in Urzeit und Unfreiheit
versunken; eine Atmosphäre, die sich von allem, was er erträumt hatte,
wesentlich unterschied, ein Druck von oben, der unerträglich war, weil
der Ursprung nicht sichtbar wurde. Die Lehrer, die sein Schicksal und
seine Zukunft in der Hand hatten, bestimmten, was er denken und fühlen
sollte, unter der Tyrannei der Lehrer aber stand die der Kameraden.
Studentenkorps hieß ein Tyrann, Landsmannschaft ein anderer. Diese
setzten Proklamationen auf, schickten kriechende Telegramme an Größen,
die er nicht schätzte, eher im Gegenteil. Die Landsmannschaft wählte
Ehrenmitglieder, denen zu unterstehen er nicht für eine Ehre ansah;
aber es geschah im Namen der Landsmannschaft, also auch in seinem,
gegen seinen Willen.

An einem 30. November sollte er die Kluft zwischen sich und den
andern spüren. Karl XII. sollte gefeiert werden, und er stand im
Studentenkorps und hörte die »sittliche Größe« des Vagabundenkönigs
preisen.

Es kochte in ihm, und als am Abend die Landsmannschaft einen Kommers
veranstaltete, trat er an den Tisch und bat, seine Vorbehalte
hinsichtlich der Rede auf Karl XII. vorbringen zu dürfen. Wie er zu
Wort kam, begriff er selbst nicht; aber er hatte einen Vollbart und
eine gewaltige Gebirglerstimme, die den meist bartlosen Jünglingen
imponierte, und er hatte das Gefühl, einem Ruf zu gehorchen, der
unwiderstehlich war und deshalb unwiderstehlich wirkte. Er sagte
ungefähr das Folgende:

»Eine Nation, die ihre großen Erinnerungen pflegt, handelt sicherlich
recht; wehe dem aber, der das Unrechte recht und das Böse gut nennt.
Ihr habt heute abend einem bösen Manne geopfert, und das ist eine
Schande. Die Toten existieren ja nicht, sind Schatten, und über das
Nichtvorhandene sollte man nicht sprechen. Man sagt freilich, daß wir
in unsern Taten weiterleben; aber ich wüßte unter Karls XII. Taten
keine, die ihm ein Scheinleben in unserer Erinnerung geben könnte.
Schwedens Zerstörer haben wir heute abend als einen Nationalheiligen
gefeiert; ja, ihr wißt so gut wie ich, daß er alle mannbaren Leute
im Reiche zugrunde gerichtet hat; ihr wißt so gut wie ich, daß er
durch gewissenlose Aushebung Gewerbe und Handel ruinierte und den
schwedischen Boden verwahrlosen ließ. Ihr wißt vielleicht nicht, was
verwahrloster Boden bedeutet und was Unland ist! Das heißt Unkraut
ernten, wo man Roggen gesät hat! -- Aber euer Held -- der nicht mein
Held ist -- war der unsittlichste Mensch, der je gelebt hat, denn wer
ohne mit der Wimper zu zucken sein Land und sein Volk dem eigenen
Ehrgeiz opfert, der ist der Unsittlichste. Wenn einem wie Karl XII.
über seine Irrtümer die Augen geöffnet werden, und man erkennt sie
nicht und macht sie nicht gut, so ist man unsittlich.

Die Schweden sind ein Königsvolk, leider! Griechen und Römer waren
es auch, solange sie wilde Völker waren. Der Sklavensinn wünscht
zu gehorchen, weil das bequemer ist, deshalb sind die Schweden ein
sklavisches Volk. Man hat uns Lakaien genannt und mit Recht!«

Hier begann ein Gemurmel im Saal der Landsmannschaft, und das reizte
unsern Mann aus den Bergen, so daß er eine Kadenz machte und die Tonart
änderte.

»Lakaien, ja, denn für einen Schweden ist es das Ideal, Beamter zu
werden und Pension zu bekommen, an einer Ecke mit dabei zu sein und zu
herrschen, indem man gehorcht, einem Vorgesetzten gehorcht.«

Da das Gemurmel in Lärm überging, wurde der Redner noch mehr
angefeuert, und da ihm zum Bewußtsein kam, in welchem Milieu er sich
befand, verfiel er in einen scherzhaften Ernst.

»Damit ihr treue Diener und später Vertrauensmänner des Königs werdet,
hat der Staat bekanntlich die Universität errichtet. Ihr wißt ja
genau so gut wie ich, daß der Kram, der hier in den vier Fakultäten
verhökert wird, nur den einen Zweck hat, uns zu Beamten zu machen,
denn ob ich Geistlicher werde, Richter, Lehrer oder Kreisarzt,
Beamter bin ich auf jeden Fall. Darüber wäre nun nichts zu sagen,
wenn nicht die Quelle der Weisheit so schwer zugänglich wäre. Warum
die Weisheit so teuer erkauft werden muß, kann ich nicht verstehen,
wenn mir nicht jemand die Erklärung geben wollte, daß Stellungen knapp
sind. Ihr wißt ja, wie schwer es ist, eine Stelle zu bekommen; man
bewirbt sich nämlich nicht um eine Stelle beim Kammergericht, wie
man sich um eine Anstellung in einem Geschäft bewirbt, sondern man
wird berufen. Auf diesen Ruf also kommt es an, und der Ruf beruht auf
einer Gnadenwahl. Dieser eigentümliche Wahlakt zeigt sich schon beim
Examen. Manche guten Köpfe bestehen das Examen nicht, während viele
schlechte Köpfe durchkommen. Das ist die Prädestination! Und glaubt
mir, alles, was hier in Vorlesungen und Kollegs gelehrt wird, kann man
in der Buchhandlung kaufen. Bei einem gut organisierten Buchhandel
und angemessenen Examenskommissionen könnte man die Universität
schließen, auf der man seine Zeit vertut und seine Nerven durch
Trinken ruiniert. Die Universität ist eine Kombination von Kloster,
Kneipe und Bordell; die Universität ist eine Schule -- eine Schule für
Hoffart, Unterdrückung, Faulheit, Neid, Kriecherei. In dieser Zeit,
wo die Stände abgeschafft werden, müßte man auch den Gelehrtenstand
streichen. Was ist Gelehrsamkeit? Heute bist du im römischen Recht
ungelehrt, morgen aber kaufst du dir in der Buchhandlung ein kleines
Buch über römisches Recht, und übermorgen weißt du, was römisches Recht
ist. Das ist Gelehrsamkeit, auf die wir so stolz sind. Heute wissen
wir nicht, daß Karl XII. den Pfarrer Boëthius ins Irrenhaus bringen
ließ, weil er darüber gepredigt hatte, wie gefährlich es sei, einen
fünfzehnjährigen Lümmel auf dem Thron zu haben, morgen aber kaufen wir
uns eine schwedische Geschichte, und dann wissen wir es. (Seht ihr,
ich komme doch wieder zum Thema zurück!) Heute wissen wir nicht, daß
Karl XII. geistesgestört war, morgen aber machen wir vom Bücherkredit
Gebrauch, und dann wissen wir es! Meine Herren, ich bitte, ein Hoch
ausbringen zu dürfen auf einen gut organisierten Buchhandel und einen
unbeschränkten Kredit, dann brauchen wir Tage wie den heutigen nicht zu
erleben, wo man aus Unkenntnis Schwedens Zerstörer, den Brandstifter,
den Großinquisitor, den Falschmünzer Karl XII. in der Eigenschaft
feiert, die ihm am meisten fehlt: nämlich in seiner sittlichen Grüße.«

Das Resultat war das erwartete. Gustav Borg wurde an der Universität
unmöglich. Deshalb besuchte er nie Vorlesungen, sondern verschaffte
sich einen Kredit auf Bücher, wählte also seine Lehrer selbst und
meistens ausländische, denn schwedische gab es nicht. Jeder Student
wußte, daß die Professoren selbst aus dem Auslande schöpften; die
größten Lehrbücher waren ja in deutscher Sprache abgefaßt, besonders
die medizinischen, theologischen und ästhetischen.

Nach dreijährigen freien Studien sah Gustav Borg seinen jüngeren Bruder
Henrik die Akademie beziehen. Zwei Brüder aus dem gleichen Hause, aber
so verschiedene hatte man selten gesehen. Der ältere blond mit blondem
Vollbart, germanischer Typ, der vom Vater herrührte; der Jüngere,
schwarz und mit sechzehn Jahren ein ausgewachsener Mann, ein weißer
Afrikaner, leitete seine Abstammung unverkennbar von Seite der Mutter
her, deren Vater irgend eine Beziehung zu den Tropen gehabt hatte, nach
dem, was die Tradition berichtete.

Diese Brüder hatten nie am gleichen Strang gezogen. Der Jüngere war von
dem Älteren unterdrückt worden; die wenigen Jahre, die sie trennten,
konnten im Empfinden des Älteren nie ausgelöscht werden. Er hatte sich
von Kindheit an daran gewöhnt, auf den Kleinen herabzublicken, alles zu
verachten, was er sagte, ihn als Dummkopf zu behandeln und ähnliches;
wie es gewöhnlich in Familien der Fall ist. Jetzt auf der Universität
zeigte sich der Unterschied noch krasser. Gustav war Schwede und
Bergbewohner, einer von den Urschweden, die auf das Vaterländische
hielten, freilich mit Vorbehalten, während Henrik, der Exotische, nicht
schwedisch zu fühlen vermochte, und dafür konnte er nichts.

Bei einer Diskussion über die Erinnerungen der Vorväter konnte
beispielsweise Henrik seinem Bruder die folgende Antwort geben:

»Ich finde es für mich ebenso falsch, eure Ahnen zu annektieren,
wie unser Adel falsch war. Mein schwarzer Urgroßvater tanzte am
Äquator um ein Zimtfeuer, und er hätte unmöglich Karl XII. feiern
können, ebensowenig wie ein Schone mit Leib und Seele an einem Gustav
Adolf-Fest teilnehmen kann, weil Schonen zur Zeit des Dreißigjährigen
Krieges dänisch war.«

Die Antwort des Bruders blieb nicht aus, und sie war die stehende:
Lützen.

»Warum feiern wir unsere Niederlage und unsere Schande?« wendete
dann Henrik ein. »Euer König (er sagte nie unser) fiel bei Lützen,
und die Katholiken feierten den Sieg; das Spiel ist doch gewonnen,
wenn der König matt ist, Wallenstein aber war nicht geschlagen. Nach
Lützen erneuerten die Schweden das Bündnis mit dem Kardinal Richelieu
und riefen französische Truppen nach Deutschland. Deshalb wurde der
schwedische Name von den Deutschen nach Lützen verflucht. Wenn man sich
vorstellt: eine französische Invasion zu veranlassen; den Erbfeind,
den Gallier, in das Land zu ziehen, das doch unser Freund sein sollte!
Deshalb empört es mich, eure Vergötterung des rohen Vagabunden Banér zu
sehen, der Sachsen verheerte und Böhmen brandschatzte, hauptsächlich
aber wegen seiner Rückzüge berühmt ist.«

Da flammte Gustav auf. Karl XII. hatte er heruntergerissen; aber an
Gustav Adolf und Johan Banér durfte man nicht rühren.

»Bist du ein Schwede?« schrie er.

»Nein, ich bin Weltbürger!« brüllte Henrik.

Gustav nahm ein Wredesches Gewehr von der Wand und Henrik zog einen
Hochland-Dragoner-Säbel blank -- und dann schämten sie sich und
schlossen Frieden bis zum nächsten Mal, das bald genug kam.

Aber es gab andere und tiefere Differenzen. Gustav arbeitete an der
Erneuerung des Alten, Henrik aber wirkte für die Zukunft.

»Das heutige Alte ist so morsch, daß man es nirgends anpacken kann.
Diese ganze Wirtschaft mit Monarchie und Zubehör ist ja nur eine
Gnadenfrist für das ~ancien régime~; es wird von selbst vermodern
und Streu bilden, in der das neue wachsen kann; es kann sich nicht
erneuern, deshalb lebt es von Korruption: Orden, Akademien, Ämter,
Beförderung. Wir, die wir die Erben der Revolution sind, haben an
anderes zu denken, und wir betrachten dies nur, wie die Ärzte die
Prostitution betrachten: als etwas, was man einstweilen nicht ändern
kann, sondern was geduldet werden muß -- eine ~Maison de tolérance,
enfin~!«

Henrik war gleichsam auf die Welt gekommen mit dieser Vorstellung, daß
die Gesellschaft neu geboren werden müsse und daß dies unmerklich unter
einer alten Staatsform geschehen könne, die schließlich, untergraben,
von selbst in Asche fallen würde.

Die Brüder rieben sich, bis sie die Akademie verließen, der ältere ohne
Examen, um Journalist zu werden, der jüngere mit dem Staatsexamen als
Arzt.

       *       *       *       *       *

Gustav Borg gründete eine Zeitung in der Hauptstadt, und sein Bruder
Henrik beteiligte sich. Sie hatten ihren Vater beerbt und das Vermögen
in einer Druckerei angelegt. Henrik aber vermehrte sein Kapital durch
Sparsamkeit und Umsicht, so daß ihm schließlich der größte Teil der
Zeitung gehörte. Die Brüder zankten sich, hielten jedoch zusammen. Sie
verheirateten sich, bekamen Kinder, neue Zankäpfel. Schließlich wurde
die Spannung im Laufe der Jahre so stark, daß ein Bruch kommen mußte.
Und jetzt war er gekommen.

       *       *       *       *       *

Die zoologische Weltanschauung oder die Veterinärphilosophie der
achtziger Jahre hatte die Gemüter nicht gerade verfeinert, aber das
konnte man auch nicht verlangen; und etwas Verwilderung dann und wann
ist nur Ruhe. Die Schlagworte waren: Kampf, Kampf um alles; nimm dir,
keiner ladet ein; sei frech, dann kommst du vorwärts! Die Alten, die
es anders gelernt hatten, nämlich, daß den Sanftmütigen das Erdreich
gehören solle, waren anfangs verzagt; dann amerikanisierten sie sich
ebenfalls und nahmen den Kampf auf, so daß die ganze Gesellschaft sich
als zwei befestigte Lager darstellte mit der gemeinsamen Losung: alle
Mittel sind erlaubt! Alle Hilfstruppen waren gut, und wenn die Männer
jetzt kämpften, waren sie unvorsichtig genug, ihre Frauen auch hinten
auf den Streitwagen zu setzen; zuerst hinten, dann vorn, denn mit
der Tiertheorie kam die abergläubische Furcht vor dem Weibchen, die
allen Tieren eigen ist. Was bei den Alten traditionelle Ritterlichkeit
war, Ehrfurcht vor Gattin und Mutter, ein freiwilliges Opfer eines
christlichen Gemüts, wurde hier menschliches Recht, das heißt
theoretischer Unsinn. Feige Männer krochen hinter ihre Frauen, schoben
ihre Weiber vor; sie benutzten die Frauen gegenseitig als Stichwaffen
und Dynamit; und mancher starke Mann, der selbst unüberwindlich war,
wurde gerade in seiner festen Burg, der Familie, in die Luft gesprengt.
Der Feind hetzte Frau und Kinder auf, und dann war die Festung
verraten. Es war kein reinlicher Kampf, aber er kehrte die alten
Begriffe von der Ehe als einer lebenslänglichen Verpflichtung um, er
gab Umsatz und Bewegung; eine heilsame Unsicherheit, die den Einzelnen
kurz hielt, immer wach, auf seiner Hut; ständige Erneuerung in einem
unaufhaltsamen Vorwärts.

       *       *       *       *       *

Doktor Henrik Borg hatte sich mit einer norwegischen Dame vom Noratyp
verheiratet; die falsche Märtyrin, die hysterische Närrin, die nie
existiert hatte, bevor sie in einem atrophischen Manneshirn erstand,
als es sich mit Frauen und Kindern auf gleichem Niveau zu fühlen
begann. Aber sie war auch aus all dem Jux zusammengesetzt, der damals
von den norwegischen Volkshochschulen in die Welt geschickt wurde;
sie glaubte zum Beispiel einer jungen Nation voll liebenswürdiger
Jugendfehler anzugehören. Darunter verstand man die norwegische Nation,
die uralt ist, älter als die schwedische, so alt, daß Schwedens
Geschichte in den norwegischen Königssagen ihren Anfang nimmt. Sie
hatte die Boheme von Kristiania durchgemacht, und das war ihre
Sache; in ihrer Torheit aber schwärmte sie zugleich für Svava, das
Handschuhweib. Jetzt wollte sie reine Jünglinge haben, und ihr erster
Vorwurf gegen den Doktor war, daß er nicht rein sei.

»Das warst du aber auch nicht,« antwortete der ungeschminkte Doktor.

Als da die Frau nur mit einer Miene antwortete, die bedeuten konnte:
Ich? das ist etwas anderes! begriff er, daß es sich hier nicht um
Gleichheit handelte, sondern um Tyrannei, und als Tyrannenhasser zog er
das Schwert.

Mit einem unlenksamen Menschen, der für Gründe, Tatsachen und Logik
unempfänglich ist, kann man nicht lange kämpfen; ein wertloses
Schlachtfeld gibt man auf, und mit einem Unbewaffneten läßt man sich
nicht ein. Aber er blieb bis auf weiteres in der Schlangengrube, um
der Kinder willen, und wartete den Augenblick ab, da er sicher sein
würde, daß die Kinder ihn nicht vermißten, wenn er ging. Es war ein
eigentümlicher Zug der Männer dieser Zeit, daß ihre Gefühle für die
Kinder stärker waren als die der Mütter, die die gesunden Instinkte
verloren zu haben schienen und das Leben außer dem Hause aufsuchten,
während die Männer noch für das häusliche Leben schwärmten.

In einem berühmten Scheidungsprozeß wurde von seiten des Mannes
gegen die Frau die ungewöhnliche Beschuldigung erhoben, er müsse
abends allein zu Hause sitzen, während die Frau mit seinen Freunden
im Wirtshaus sei. Das freche und einfältige Weib wagte einzuwenden,
der Mann lasse sie allein sitzen (im Wirtshaus), deshalb müsse er die
Folgen tragen.

Doktor Borg stand allein in seinem Kampf; und er versuchte gerade
aus der in Mode gekommenen neuen Weltanschauung seinen Freunden
zu beweisen, daß sie, wenn sie konsequent seien, gegen die
Geschlechtsverwechselung Front machen müßten. Er versuchte es mit der
durch die ganze Natur gehenden Arbeitsteilung, die zu Kraftersparnis
und Vollkommenheit führt.

»Dem Manne Kraft und Außenarbeit; der Frau Schönheit und
Innenbeschäftigung! Je größer der Unterschied des Geschlechts ist,
desto besser die Nachkommen (Differenzierungsgesetz).«

Aber es ging nicht; auch die stärksten Naturalisten konnten »im
Geschlecht keinen Unterschied sehen«. Und sie starteten eine weibliche
Größe nach der anderen; sie fanden eine Seligkeit darin, ihre
Unterlegenheit unter die Frau kundzutun.

»Das ist Päderastie oder Selbstbefleckung,« pflegte der Doktor dann
aufzubrausen. »Ihr habt ja alles Selbstgefühl als Männer verloren, wenn
ihr euch unterlegen fühlt; und wenn ihr eure Inferiorität empfindet, so
seid ihr wohl auch inferior!«

Seltsam war es, aber ein Teil von den führenden Männern war pervers;
viele wurden freilich verleumdet, aber eine Anzahl war es notorisch,
ebenso wie viele bekannte Frauen verdächtig oder überführt waren.

Nun wurde der Doktor natürlich als Frauenhasser bezeichnet. Das focht
ihn nicht an, denn er wußte, daß es Lüge war. Und er konnte antworten:

»Ich bin nicht Kinderhasser, weil ich die Unterordnung des Kindes
unter die Frau erkenne, und ich bin nicht Frauenhasser, weil mir das
rudimentäre Dasein der Frau zum Bewußtsein gekommen ist. Aber ihr könnt
nicht beobachten und nicht denken. Ihr seid Afterdenker, denen die
Hemmungszentren zwischen Großhirn und Kleinhirn fehlen ...«

Doch er hatte das Pulver im eigenen Keller und sollte jetzt in die
Luft gesprengt werden; das Attentat war von seinem eigenen Bruder, dem
Redakteur, geplant. Da Doktor Borg ein gerechter Mann war, hatte er,
wie wir wissen, die Norweger in ihren gerechten Freiheitsbestrebungen
verteidigt und war infolgedessen von der Rechten als Norwegerfreund
bezeichnet worden; da er aber mit seiner Frau, die Norwegerin war,
unglücklich lebte, wurde er gegen seinen Willen von der Linken
zum Norwegerhasser gestempelt. Er haßte seine böse, dumme Frau;
sie war Norwegerin, ergo war er Norwegerhasser. Diese einfältige
Schlußfolgerung leuchtete den weichen Hirnen der Parteimänner ein, und
sie genügte, ihn in den Verdacht zu bringen, die »Fahne verlassen zu
haben«! Daß er den Weiberwahnsinn nicht mitmachte, reichte aus, ihn zum
Konservativen zu stempeln.

»Er ist im Grunde ein konservativer T...el,« war Gustavs Ultimatum.

Aber da dem Bärenpelz nichts anzuhaben war, versuchte er es mit dem
Schürzenweg.

Am Tage nach seiner Absetzung machte er nämlich seiner Schwägerin,
Frau Dagmar, einen Besuch. Mit einem schönen Namen vereinigte
diese eine angeborene Schönheit, die sie nach Kräften verbarg und
entstellte. Das herrliche Haar hatte sie abgeschnitten, um nicht daran
erinnert zu werden, daß sie Sklavin sei (der Doktor hatte dagegen
gelernt, daß langes Haar das Zeichen des freien Mannes war und daß
alle Gefangenen geschoren wurden); einen schönen Hals versteckte sie
unter Vatermördern, um zu vergessen, daß sie Weib war; ihre kleinen
Füße verbarg sie in zu großen Schmierlederschuhen, die sich in Falten
legten, so daß sich die Füße wund rieben; alles, was häßlich war, hatte
sie für ihre Toilette zusammengesucht, alles, was schlecht aussah, in
ihrem Heim gesammelt; die Bosheit grinste von jedem Möbelstück, aus den
Farben der Gardinen und den Zieraten. Man sah den Trotz gegen den Mann,
dessen Schönheitssinn bekannt war, und man verstand, daß die ganze
Dekoration der bestimmten Absicht entsprang, den guten Geschmack des
Mannes zu verletzen. Sie wolle ihre Unabhängigkeit zeigen, sagte sie,
wenn sie ihre Abhängigkeit von ihrer Bosheit an den Tag legte.

Der Schwager Gustav wurde in einem unaufgeräumten Zimmer empfangen.
Er sah sofort an zwei kleinen Gläsern mit Resten, daß Damenbesuch
dagewesen war. Da er mit der Rolle und der Situation vollkommen
vertraut war, wußte er, daß es hier keinen Sinn hatte, mit Artigkeiten
zu beginnen, am wenigsten in Bezug auf Aussehen und Kleidung, weil das
eine »Beschimpfung ihres Geschlechts« gewesen wäre.

Die Schwägerin hatte Gustav nie gemocht, aber im selben Augenblick, als
er ihres Mannes Feind wurde, liebte sie ihn. Deshalb nahm das Gespräch
sofort einen äußerst freundschaftlichen Charakter an.

»Nun, Dagmar,« begann also der Schwager, »dein Mann läßt sich als
Reichstagskandidat der liberalen Partei aufstellen.«

»Ist er liberal?« unterbrach Frau Dagmar sofort, der die Antwort in den
Mund gelegt war, ohne daß sie es merkte.

»Ja, man kann ihn wohl immerhin so nennen,« antwortete der
durchtriebene Schwager.

»Nennen, ja! Aber er ist doch konservativ ...«

»Du meinst in gewissen Fragen?«

»Ja, das meine ich; in der Frauenfrage ist er Reaktionär und müßte
bekämpft werden. Außerdem ist er Norwegerhasser!«

»Aber nein,« reizte Gustav; »er ist doch mit dir verheiratet!«

»Ja, eben deshalb kann ich ihn ja beurteilen! Er nennt Ibsen einen
Tropf und Björnson ein altes Weib. Ist er da nicht Norwegerhasser?«

»Das kann doch nicht sein Ernst sein?«

»Hat er nicht auf Lage Langs Fest die Norweger ein verteufeltes Volk
genannt und seine Frau beschimpft? Aber ich bin schon beim Rechtsanwalt
gewesen ...«

Jetzt hellte sich Gustav Borgs Gesicht auf; denn der Zweck seines
Besuchs war, zu erfahren, wie weit die Sache gediehen sei.

»Warum wollt ihr euch scheiden lassen?« erwiderte der Schwager mit der
ganzen Teilnahme eines älteren Bruders. -- »Denke an die Kinder!«

»Für die werde ich schon sorgen!«

»Bist du überzeugt, daß er auf sie verzichtet?«

»Ich nehme sie!« antwortete die Frau mit einer Bestimmtheit, die keine
friedliche Lösung der Frage verhieß.

»Du nimmst sie nicht, denn das Gericht urteilt, nachdem es beide
Parteien gehört hat.«

»Das Gericht hat mit meinen Kindern nichts zu schaffen!« schrie Frau
Dagmar.

»Doch, meine Liebe; und was dein Mann gegen deine Qualifikation als
Mutter anführen kann, wird sehr mitsprechen; denn er ist Arzt und als
glaubwürdige Persönlichkeit bekannt.«

»Er? Der größte Lügner, den es auf der Erde gibt!«

Jetzt war die Lunte angezündet, und mehr verlangte Gustav Borg nicht.
Er wollte aber doch die Flamme noch etwas anblasen, bevor er ging.

Ȇberlege dir, was du tust, meine Liebe! Eine Scheidung in diesem
Augenblick würde seine Chancen als Reichstagskandidat zerstören, und
das willst du doch nicht; besonders würde er die Frauen gegen sich
haben, und du weißt, wie die Liberalen von ihren Frauen beherrscht
werden.«

»Das eben weiß ich, und deshalb werde ich ihn in der Frauenzeitung
bekämpfen lassen!«

Punktum! Jetzt brannte es lichterloh, und Gustav konnte gehen. Aber
ehe er ging, deutete er auf die kleinen Gläser und sagte freundlich und
vertraulich:

»Laß so etwas nicht herumstehen, Dagmar; das kann im Prozeß gegen dich
sprechen!«

»Trinkt er nicht auch?« sprühte Frau Borg.

»Doch, mein Kind! Aber nicht vormittags!«

Damit war dieses Zusammensein beendet.

       *       *       *       *       *

Unterdes aber fand zu Hause beim Redakteur eine andere Zusammenkunft
statt.

Kampf war auf allen Punkten, doch in dem damaligen Kampf um die
Macht galt es, festzusetzen, was Liberalismus sei. Da alle in
Entwickelungstheorien lebten, ging der Ehrgeiz dahin, an der
Entwickelung teilzunehmen, sie zu fördern. Infolgedessen kämpfte man
um die Chance, entscheiden zu dürfen, was Entwickelung sei. Einige
glaubten, Entwickelung sei alles, was vorwärts drängte; als man aber
alte Schäden und Krankheiten mit entsetzlicher Geschwindigkeit sich
entwickeln sah, wurde man etwas zaghaft; und schließlich entdeckte
man, daß Entwickelung nur Fortschritt an Menschlichkeit, zu Schönheit
und Glück bedeuten konnte, durch Recht und Billigkeit gefördert. In
Parteikämpfen aber gilt keine Vernunft; man hißt die Flagge und sagt:
jetzt bist du der Feind! Doktor Borg, der Vernunft annahm, sollte
um seiner Vernunft willen fallen. Als die Norweger 1885 in ihren
heiligsten Rechten gekränkt wurden, hatte der Doktor unerschrocken ihre
Partei ergriffen. Wie aber die Gefahr vorüber war und sie sich selbst
helfen konnten, und zwar in dem Maße, daß sie mit Krieg drohten,
hielt er weiteren Beistand für überflüssig; und da er schwedischer
Untertan war, fand er es unrichtig, mit dem Feind zu gehen. Obwohl er
in seiner Familie von der Frau nie etwas anderes hörte als norwegische
Bauernprahlerei vom Morgen bis zum Abend, hörte, wie dumm und unbegabt
die Schweden seien, wurde er doch nicht müde, dem recht zu geben, der
recht hatte. Aber diese schwedische Ritterlichkeit, die sich auch in
demonstrativen Huldigungen vor norwegischen Größen äußerte, wurde
nirgends verstanden, und man erlebte sogar, daß norwegische Zeitungen
die Schweden verhöhnten, weil die Künstler Lage Lang gefeiert hatten.

»Der feige Schwede«, hieß es, »der Schwede kriecht«, »Norwegen
übernimmt die Führung« und so weiter. Solange das Unwahrheit war,
wirkte es nicht auf den Doktor; als aber eines Tages die Kriecherei
Wirklichkeit wurde, als die neidischen, niedriggesinnten Schweden,
besonders die alten Weiber, systematisch alles Norwegische in den
Himmel zu heben begannen, auch das Mittelmäßige, auf Kosten ihres
Eigenen, und in der bestimmten Absicht, das Eigene herabzusetzen, da
sagte er: Halt! Doch da fiel er und wurde Norwegerhasser genannt. Mit
seinem Familienfrieden war es aus, und seine Reichstagskandidatur war
in Gefahr. Sein Bruder Gustav, von Natur Großschwede und im Herzen den
Norwegern feindlich gesinnt, ließ sich trotzdem von Politik, Interessen
und Leidenschaften bestimmen und nutzte deshalb die norwegische Frage
gegen seinen Bruder aus. Diese falsche Taktik reizte den ehrlichen
Doktor, und er begab sich mitten in die Festung des Bruders, um ihn in
die Luft zu sprengen.

Er machte Frau Brita seinen Besuch, während Gustav bei Frau Dagmar
operierte.

Frau Brita saß in ihrer Villa; sie nannte sie ihre Villa, weil sie Geld
mit in die Ehe gebracht hatte, Gustav aber nannte sie »unsere Villa«,
weil zwischen den Ehegatten nach dem Gesetz Gütergemeinschaft bestand.
Es war ein großes Holzhaus mit fünfzehn Zimmern und zwei Küchen. In der
einen Küche hatte Brita ihren Schreibraum, wo sie ihre Vorträge, ihre
Artikel, ihre Briefe schrieb, der einzige Ort, wo sie vor ihren vielen
Kindern Ruhe fand; sie hatte sieben.

Mit ihrer unglaublichen Gutmütigkeit empfing sie den Schwager Henrik
trotz seinen brutalen Reden auf der Dampferfahrt.

»Hör einmal, Altchen,« begann er, »wenn ich dir sage, daß wir Gustav
neutralisieren müssen, so bedeutet das nicht, daß ich mit dir einen
Kompromiß schließen will.«

»Was hat er denn jetzt vor?«

»Ja, erstens arbeitet er gegen die Zeitung, zweitens will er meine
Kandidatur hindern, und drittens spekuliert er mit eurem Geld an der
Börse.«

»Mit meinem Geld?«

»Nein, mit eurem; aber das ist ebenso tadelnswert!«

»Spielt er an der Börse?«

»Ja, die alten Kuckucke haben was gelernt!«

»Wie soll ich das hindern?«

»Du mußt dich scheiden lassen!«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja, das ist es. Eure Ehe hat ihre Rolle ausgespielt, und ihr sollt
nicht zusammen vermodern; die Jungen sind flügge, und das Nest sieht
nicht mehr gemütlich aus.«

»Wie du redest!«

»Ja, so rede ich! Ihr seid schon längst keine Ehegatten mehr, und jetzt
handelt es sich darum, daß die Kinder leben und atmen können. Der Vater
hat das seine getan; jetzt bedrückt er nur, unterdrückt, hindert,
erstickt! Weg mit ihm!«

»Und du bist selbst Vater!«

»Ja; eben deshalb weiß ich ...«

»Spekuliert er an der Börse?«

»In Kaffee und Zucker!«

»So? In Kaffee und Zucker? -- Wirklich?«

Hier machte Frau Brita eine Pause; und da sie schnell im Denken war,
konnte sie in dieser Pause einen Entschluß fassen. Sie stand auf und
trat an einen unbenutzten Eisschrank, in dem sie wichtige Papiere
aufbewahrte. Sie suchte, und als sie gefunden hatte, nahm sie den Faden
des Gesprächs wieder auf.

»Ich habe freilich keinen Ehekontrakt; aber ich habe etwas anderes, ich
habe Briefe.«

»Hüte dich vor Briefen, Brita; vor Gericht schwindeln sie sich von
Briefen ab; sie sagen entweder, sie hätten sie nicht geschrieben, oder
es sei nicht so gemeint, es sei nur Scherz gewesen. Nein, du mußt ein
Faktum haben, am besten ein ~Delictum flagrans~.«

»Was ist das?«

»Das ist die verbrecherische Handlung, begangen in Anwesenheit zweier
felsenfester Zeugen.«

»Nein, das will ich nicht!«

»Nicht heute, aber wenn du die Ereignisse sich entwickeln läßt, willst
du vielleicht später.«

»Ich habe ein Auge zugedrückt, ich habe verziehen; man kann sogar
sagen, ich hätte meine Zustimmung gegeben, aber wenn es sich um meine
Kinder handelt, um ihr Erbe und ihre Zukunft, dann ist nicht mit mir zu
spaßen. Übrigens, man könnte glauben, er spare zu -- einer neuen Ehe
mit ihr.«

»Da deine Gedanken diese Richtung nehmen, so halte die Augen offen und
unterschreibe vor allem keine Schriftstücke, die er dir vorlegt! Du
weißt, ich bin kein blinder Anhänger von euch Frauen; aber recht muß
recht bleiben!«

»Du hassest deinen Bruder?«

»Das ist wohl etwas zuviel gesagt, aber ich wappne mich gegen einen
furchtbaren Feind ... Übrigens: weißt du von Gustavs Kontrakt mit
Holger?«

»Ja, Holger muß eine große jährliche Pacht an Gustav für Zeitung und
Druckerei zahlen.«

»Weißt du, wie groß?«

»Nein!«

»Nun, sie ist so groß, daß er sich infolgedessen nicht über Wasser
halten kann.«

»Hat Holger denn keine Handhabe gegen ihn?«

»Doch, er hat seine amerikanische Frechheit!«

»Wie soll es denn gehen?«

»Wir werden ihm helfen,« antwortete der Doktor und reichte der
Schwägerin die Hand. »Denn jetzt gilt es Kampf auf Leben und Tod!«

»Willst du nicht zum Mittagessen bleiben?« fragte Frau Brita; »ich
weiß allerdings nicht, was es gibt, denn ich kümmere mich nicht um die
Wirtschaft.«

»Nein, danke, mein Kind, ich kann nicht mit dem Mann zu Tisch sitzen,
der eben jetzt in mein Haus eingedrungen ist, um mich zu morden.«

»Ist er bei dir?«

»Ja, er scheut keine Mittel; was für welche er jetzt angewendet hat,
werde ich erfahren, wenn ich nach Hause komme. Leb wohl, Brita.«



Fünftes Kapitel

König Lear und der Pater


Der frühere Redakteur hatte sich in sein Schicksal gefunden, lebte auf
dem Lande und schrieb hier seine Artikel. Jetzt eines Sommermorgens saß
er auf seiner Veranda und wartete auf die Zeitung, um seinen letzten
Leitartikel zu lesen. Es war ein durchtriebenes Stück, von dem er viel
Effekt erhoffte; er handelte von dem liberalen Programm, auf das die
Kandidaten bei den Wahlversammlungen schwören sollten, und der geheime
Hintergedanke war, Bruder Henrik als Konservativen hinzustellen. Das
war der Schuß in die Wasserlinie, der das Schlachtschiff zum Sinken
bringen sollte. Gustav saß da und genoß es im Geist, hörte seine
giftigen Worte im Ohr, sah vor Augen, wie der Bruder die Zeitung
öffnete, um seinen Artikel zu suchen und den des andern fand, der ihn
wie eine Rakete mitten ins Gesicht traf. Er genoß das in Gedanken so
sehr, daß er lächelte, drehte eine Fünfzehnpfennigzigarre wollüstig im
Mundwinkel, steckte viele Streichhölzer an und schnaubte.

Schließlich kam die Zeitung.

Er stand auf und nahm eine Fechterpositur an, während er die Zeitung
entfaltete und umschlug, um seinen Leckerbissen auf der zweiten Seite
zu lesen.

Da stand er nicht! Er suchte auf der dritten Seite. Da stand er auch
nicht.

Mit der zusammengeknüllten Zeitung stürzte er ans Telephon und rief die
Redaktion an. Der Sohn Holger saß am Apparat und nahm den Stoß entgegen:

»Warum steht mein Artikel nicht in der Zeitung?« fragte der Vater mit
zischender Stimme.

»Nein, wir konnten ihn nicht drucken,« antwortete der Sohn.

»Aber ich habe ihn gesetzt gesehen, habe Korrektur davon gelesen,
und ...«

»Wir können solchen Unsinn nicht drucken!« antwortete der Sohn wieder.

Da erlosch die Stimme des Vaters; er versuchte zu brüllen, blieb aber
stumm. Und stumm ging er vom Telephon weg, nahm Hut und Stock, um sich
in den Wald zu begeben.

Als er an Britas Küchenfenster vorbeiging, sah er sie mit der Zeitung
in der einen und der Feder in der andern Hand dasitzen; sie schrieb,
schrieb gegen ihn, ihren Mann, während ihm bei der Selbstverteidigung
der Sohn die Feder aus der Hand gerissen hatte.

Er schrumpfte zusammen, er war vernichtet. Ihm, der diese Zeitung
begründet, sie zu einer Machtstellung und Vermögensquelle
emporgeschrieben hatte, wurde verweigert, darin zu schreiben, von
seinem eigenen Sohn. Und er dachte an König Lear, an den Mann mit dem
Altenteil, an den Abgesetzten. Er begann zu wandern, auf die Äcker
hinaus, durch Hage und Wiesen.

Was nützte es, lange zu leben und zu lernen, wenn schließlich die
Erfahrungen doch nicht taugten? Als er jung war, bekam er stets zu
hören, die Weisheit komme erst mit den Jahren, nach den vielen Jahren
in der Schule des Lebens. Er hatte eine Schule durchgemacht; er hatte
all dies, was jetzt war, entstehen sehen, deshalb Verstand er es besser
als die andern, meinte er; und trotzdem wurde er beiseite geworfen wie
ein abgenutzter Besen, wurde behandelt wie ein alter Idiot.

Als er sich in Schweiß gelaufen hatte, ward er ruhiger, und stieg auf
einen Berg, von dem er über das Meer in der Ferne hinblicken konnte.
Das kühlte ihn ab, und das Unendliche, Bewegliche da draußen gab ihm
Kraft. Er setzte sich auf den Felsen und dachte über sein Schicksal
nach. Er konnte noch dreißig Jahre, ein ganzes Menschenalter leben;
er fühlte Kräfte, den Kampf aufzunehmen, ihn auszuhalten, im Notfall
zu warten, bis die Feinde ihre Kräfte in einer fruchtlosen Jagd nach
dem blauen Nichts erschöpft haben und früh verbraucht sein würden,
besonders da sie nicht zu sparen und sich zu erneuen verstanden. In
zehn Jahren, sagte er sich, ist eine neue Jugend herangewachsen mit
neuen Idealen, nüchterne Wirklichkeitsstreber, die ihn besser verstehen
und ihrerseits diese Utopisten absetzen würden, die jetzt mit ihren
Ideen eines sozialistischen Staates grassierten, Theorien, die er in
seiner Jugend auch erprobt und dann kassiert hatte. Diese jungen Leute
glaubten ihm voraus zu sein, und sie waren doch so weit in der Zeit
zurück wie die dreißiger und vierziger Jahre. Er hatte kürzlich die
französische Revolution gefeiert und sich in seiner Rede für einen Sohn
des Konvents erklärt, den Traditionen treu, unversöhnlich gegen die
Monarchie, Republikaner im Leben wie im Tode. Und jetzt stempelten sie
ihn zum Konservativen! Ein konservativer Revolutionär und Königsmörder!
Das war Unsinn! Aber es war ein Mischmasch, in dem man lebte, ein
Farbenkreisel, auf dem alle Farben des Regenbogens sich zu einem weißen
Ton mischten; alle Ströme und Gegenströme waren ins Meer geflossen und
hatten da Hals über Kopf ihre Wasser vermischt. Dem Sozialismus, der
eigentlich Christentum war, wurde von den Atheisten gehuldigt, und die
Christen waren kapitalistische Egoisten; die Bauern waren Royalisten,
schwächten aber die Königsmacht; die Royalisten spielten Liberale und
der Monarch war Freihändler, freikirchlich und wurde für freisinnig
gehalten. Das war eine babylonische Verwirrung, die Auflösung aller
älteren Begriffe. Die Anarchisten waren Aristokraten; die Freisinnigen
arbeiteten auf der Basis der Ungerechtigkeit für die Frauentyrannei und
für das Recht des Freihandels, die eigenen Erwerbszweige zu ersticken;
die Schutzzöllner wollten den heimischen Erwerbszweigen helfen, aber
die eigenen Landsleute zwingen, teuer und schlecht zu kaufen.

Es war ein kompliziertes Gericht, aus dem das meiste verdunsten
mußte, bis schließlich der kleine Bodensatz einer festeren Substanz
zurückblieb, der als Nährstoff tauglich war. Möglicherweise wohnte man
hier einem konstanten Moment der Entwicklung bei, das an die Diffusion
der Gase erinnerte, bei der alles sich gegenseitig durchdringt; oder
ging jetzt die Synthese der besten Stoffe aus allen Analysen vor sich?
die ungleichartigen Kräfte setzten an vielen Punkten an, und der Stein
bewegte sich schließlich?

Vielleicht war das, was geschah, richtig; vielleicht würde sich
dieser Bodensatz später wieder auflösen, und ein neues, großes
Zusammenarbeiten der Kräfte durch neue Kämpfe zustande kommen, so daß
auch der Geringste am Fortschritt teilgenommen hätte und die siegende
Meinung eine von allen zusammengeschossene Summe wäre, da sie eine
Legierung edler und unedler Metalle darstellte. Dies wäre gerecht wie
Gott selbst, und nur ehrgeizige Parteihäupter könnten sich darüber
grämen.

Während dieser Betrachtungen hatten seine Blicke auf einigen
graubraunen Schären weit draußen im Meer geruht. Er hatte trotz seiner
Kurzsichtigkeit sie etwas ungewöhnlich in der Form gefunden und sie
nicht erkannt, er, der doch alle Schären hier draußen kannte. Da --
gerade jetzt -- begannen sie sich zu bewegen, in dem unheimlichen
Farbton von Nachtfaltern -- mit der unverkennbaren Absicht, sich
unsichtbar zu machen. Zugleich stiegen drei Rauchsäulen zum Himmel auf,
und er begriff: das war das französische Geschwader, das von Kronstadt
kam und nach Stockholm steuerte. Die Trikoloren wurden gehißt, und das
Herz des alten Revolutionsmannes klopfte; denn die deutsche Politik,
die die schwedische Regierung nach Sedan eingeschlagen hatte, war
nicht erfreulich gewesen und hatte einen Beigeschmack von Unterwerfung
gehabt, hatte ausgesehen, als ließe man einen Bedrängten im Stich.
Frankreich hatte sich jetzt aus den Fesseln der Isolierung befreit
und war wieder unter die Großmächte Europas getreten, um am Ende des
Jahrhunderts zu den europäischen Mächten zu gehören, die die Erde
unter sich teilen wollten. Frankreichs Auferstehung, das bedeutete
wieder Vorwärtsbewegung, denn von dem französischen Motor wurde stets
Kraft auf die andern Nationen hinübergeleitet, sobald Leitungen
vorhanden waren. Das Dreikaiserbündnis war aufgelöst, und die stärksten
Gegensätze, das Zarenreich und die Republik Europas, sollten im fernen
Osten ausgleichen, was die Suprematie Englands in Ägypten und im
Mittelmeer zu erschüttern gedroht hatte.

Froh und aufgerichtet erhob er sich und wendete sich heimwärts, nahm
jetzt aber den Weg rechts über die Pfarräcker. Er hatte ein Bedürfnis,
einen Menschen zu treffen und die unangenehmen Eindrücke des Morgens
wegzuplaudern.

Bald tauchte das Pfarrhaus zwischen den Linden auf; ein unerhört
rotes, zweistöckiges Holzhaus; hervorgegangen aus einer schwedischen
Bauernhütte, war es von Scheune und Viehstall flankiert. Als nun
der Redakteur zuerst in den Vorbau des Wohnhauses trat und in der
Türöffnung von Phylax empfangen wurde, der zur Begrüßung seine Pfoten
an dem Anzug des Besuchers abwischte, wurde ihm von einem Dienstboten
mitgeteilt, der Herr Pastor sei im Stall und melke Probe.

Er begab sich also an Ort und Stelle, wo er seinen Schwager in voller
Tätigkeit fand. Mit Käppchen und einem sonnenverschossenen Überzieher
bekleidet, saß dieser da, führte das Milchjournal und hatte ein
geleertes Frühstückstablett hinter sich am Fenster stehen.

Gustav Borg scherzte gern über des Schwagers Seelsorge in Viehstall und
Meierei, heute aber war er nicht dazu aufgelegt, denn er wollte ihn
für sich gewinnen, und der Pastor entwaffnete ihn außerdem durch einen
Blick, der um Schonung im Beisein der Knechte bat.

»Wir haben seit vier Uhr früh gearbeitet, deshalb hab ich etwas essen
müssen!«

Damit wollte er den Ausfall gegen das Frühstückstablett parieren, das
mit Bier- und Branntweinflasche versehen war.

»Ich wollte dir nur guten Tag sagen!« antwortete der Schwager und sah
nicht nach dem Tablett hin.

»Wir sind gerade fertig. Warte einen Augenblick, dann komme ich mit
dir!«

Gustav wartete und sah sich die hundert fetten Rinder an, die kauten
und mit den Schwänzen schlugen.

Der Pastor summierte die Liter und war von dem Resultat befriedigt,
obwohl er sich wunderte, daß das Probemelken unter Aufsicht stets ein
besseres Resultat ergab als das tägliche Melken.

»Siehst du, das ist das Auge des Herrn!« sagte er. »Wenn man sich nicht
um das Seine kümmert, so weiß man, wie es geht. Und die Erde gibt
nur dem Eigentümer selbst. Würde ich dies hier verpachten, so bekäme
ich nie die Pacht zu sehen. Der Pächter klagt immer, und wenn es ans
Bezahlen geht, schickt er Frau und Kinder, die ihn von der Pachtsumme
freiweinen sollen. Nein, ›Selbst‹ ist der beste Knecht. Jetzt wollen
wir nur einmal in die Meierei hineinschauen. Hast du meine neue
Zentrifuge gesehen? Es ist eine Pracht, wie diese Turbine arbeitet!«

Er öffnete eine Tür im Hintergrunde, und sie waren in der Meierei.

»Hier wird Gold gemacht,« fuhr er mit einem Eifer fort, als wolle er
alle ungehörigen Fragen und spitzen Bemerkungen verhindern. »Sieh dir
nur die Butter an! Sieh sie dir an! Nein, du mußt sie auch probieren!
Was? Die ist erstklassig! Nun, es kann ja für dich weiter kein
Interesse haben!«

Und dann gingen sie.

Als sie auf den Flur kamen, wurde Gustav Borg wieder von Phylax
empfangen, der sich die Schnauze an seinem hellen Anzug abwischte. Da
das Tier eben gefressen hatte, wollte der eintretende Gast böse werden,
aber er mußte schweigen und leiden, denn er wollte etwas gewinnen.

Das Zimmer des Pfarrers war eines im alten Stil, mit Ledersofa,
Brettspiel, Pfeifengestell und Bücherregal mit den Kirchenvätern
in Quartformat, sowie der Amtszeitung und einer Sammlung von
Gesetzbüchern; dieser wunderlichen Mischung von weltlicher und
geistlicher Macht.

Die Möbel waren aus Mahagoni und sahen aus, als seien sie nie
neu gewesen, sondern bei Beginn der Welt auf einer Hausauktion
durch Selbstzeugung erstanden. Mahagoni sieht nicht aus wie ein
Pflanzenstoff, sondern es ähnelt gedörrtem Fleisch und kann schwitzen.
Deshalb merkt man immer Spuren von Fingern, und das ist nicht angenehm.
Die Möbel standen auf Flickenteppichen von der Farbe des Heringssalats
und bildeten ein Ensemble gemütlicher Unsauberkeit, die nach
Schnupftabak roch.

Bei näherer Betrachtung unterschied man an der Tür eine Sammlung von
Stöcken unter einem Museum von speckigen Hüten und Mützen. Daneben
ein Brett mit Glasmaßen für Milchprüfungen, den neuen Symbolen der
rationellen Landwirtschaft.

Die Schwäger ließen sich nieder, und da beide schwatzsüchtig waren,
ging die Unterhaltung wie ein geölter Blitz.

»Du bist früh auf den Beinen,« sagte der Pastor.

»Ich habe nichts anderes zu tun, seit ich zur Disposition gestellt
bin,« antwortete der Redakteur.

»Ja, die Jugend drängt vor! Das ist der Lauf der Welt!«

Hier wäre Gustav Borg fast der Versuchung erlegen, sich zu beklagen;
aber er beherrschte sich, denn er wußte, daß der Schwager ihn, der
stets das Sprachrohr der Jugend gewesen war, nur ausgelacht haben würde.

Er stoppte deshalb und bremste:

»Ja, die Jugend; du weißt, ich habe ihr immer das Wort geredet, so
lange ihre Forderungen angemessen und vernünftig waren; aber als sie
die Grenzen überschritt, mußte ich gegen sie Front machen.«

Da auch der Pastor in friedliebender Stimmung war, stellte er sich
artig auf den Standpunkt seines Antagonisten.

»Und das war recht von dir. Deshalb wirst du auch gelobt.«

Er nahm eine Zeitung vom Brettspieltisch; als aber Gustav Borg den
Titel »Vaterland« sah, war es aus mit dem Frieden, und die Maske fiel.

»Werde ich in der gelobt? In der? Dann ist es aus mit mir.«

»Du liebst dein Vaterland nicht?« fiel der Pastor ablenkend und
scherzend ein.

»Nicht sonderlich, denn es ist nicht liebenswert, und was deine Zeitung
betrifft: ja, findest du selbst, daß Christenmenschen so schreiben? Es
sind freilich Männer des Geistes, aber sie schreiben wie Teufel. Lügen,
Willkür, Gewalt, Ungerechtigkeit, Haß, falsches Zeugnis, das ist das
Programm der Zeitung!«

Jetzt fing der Pastor Feuer, und er erhob sich und begann auf dem
Teppich hin und her zu traben, daß der Staub wirbelte:

»Findest du es nicht besser, daß das Volk von den humanen, gebildeten
Priestern der Staatskirche geleitet wird als von ungebildeten,
fanatischen Laienpredigern?«

Das fand Gustav Borg für gewöhnlich gewiß, aber hier galt es, die
Antwort nicht schuldig zu bleiben, und so bekam er im Zorn ganz
plötzlich eine andere Meinung:

»Laienprediger? Was bist du anderes? Du, dessen Beruf die
Landwirtschaft ist, läßt deinen Dienst von Diakonen und Hilfspredigern
versehen. Und was tut dein Diakon? Er ißt, wenn er nicht schläft,
und dazwischen trinkt er und spielt Karten. Sechs Tage ausruhen und
am siebenten arbeiten. Und dein Hilfsprediger, der Mitarbeiter am
›Vaterland‹ ist und das Eherecht verteidigt, ist dir bekannt, was der
da draußen auf seiner Insel treibt? Du weißt, daß er wie ein Türke
lebt, daß man ihn splitternackt mit einem nackten Mädchen in einem
Boot gesehen hat, und du drückst ein Auge zu, weil du ihn zu deinem
Kartenspiel brauchst! Die Gemeinde aber verläßt die Kirche und baut
sich Bethäuser, die ihr verfolgt! Ja, das alte Schweden ist im Begriff,
eine Pfaffenrepublik zu werden wie Paraguay, und mit der Staatskirche
ist es jetzt ebenso faul wie im Jahre 1527. Die geistliche Macht habt
ihr verloren, nur die weltliche besitzt ihr noch. Eure Bischöfe essen
Visitationsdiners, sitzen in Reichstag und Landtag, in Kommissionen
und Akademien -- wir hatten kürzlich einen Bischof mit achtzigtausend
Kronen jährlich und Afterkrebs (den hatte er sich angefressen); er
übersetzte Gedichte und schrieb humoristische Lieder, die Seelsorge
überließ er dem Teufel. Ich hatte einen Vetter, den du auch gekannt
hast, der war Diakonus in einer Stadt im Norden. Der hat sich zu Tode
gefressen; denn bei jeder Amtshandlung, sei es Hochzeit, Kindtaufe
oder Begräbnis, mußte er essen und trinken; und an dem letzten Sonntag
seines Lebens erledigte er achtzehn Amtsgeschäfte, das heißt, er aß und
trank achtzehnmal am Tage; da rührte ihn der Schlag und er starb. Du
redest von eurer Humanität. Das ist nur Vorurteilslosigkeit, die sich
auf Unglauben gründet! Ihr glaubt nicht an eure Lehren, das verlangt
auch niemand, aber dann sollt ihr den Abschied nehmen, sonst seid ihr
Heuchler! Doch ihr wollt das Brot und die Macht nicht aus den Händen
geben! Geistliche und Offiziere, die zwei sind eins, und ihr stützt den
Thron, der nur ein alter Stuhl mit einem Loch darin ist ...«

Jetzt waren beide aufgestanden und trabten auf den Teppichen umher wie
Leu und Bär. Gustav Borg aber ließ sich das Wort nicht nehmen.

»Für Kühe und Schweine kannst du sorgen, kommt aber ein Mensch
in Seelennot zu dir, dann hast du keine Barmherzigkeit, keine
Hilfe, keinen Trost; denn du bist hart, geizig, unbarmherzig! Und
achtundzwanzigtausend solche Kreaturen wie du und deine Untergebenen
muß das Reich ernähren. Sieben Millionen Kronen eßt ihr auf, und die
Mittel werden im Guten und im Bösen zusammengebracht, von Bekennern und
Nichtbekennern, und in einer Weise, die an Erpressung erinnert. Woran
ihr glaubt, das weiß der Teufel, aber ihr wirkt wie Teufelsverehrer,
denn euer Organ verherrlicht Karl XII., den Zerstörer Schwedens, der
kein Mensch war, sondern ein Teufel. Und als beim letzten Jubelfest
zu Ehren dieses Untiers, das jeder, sogar der sittlichen Größe
ermangelte, eine Gruppe Studenten opponierte, da wurden sie vor den
Rektor zitiert und wären um ein Haar durch Relegation entehrt worden.
Verdient ihr Irrenhaus oder Zuchthaus? Und du mit deiner Seelsorge!
Man sagt, du schlägst mit dem Rohrstock, wenn du zu Verstand und Herz
sprechen müßtest. Und deine Kirche, was tust du darin? Dasselbe, was
der Metropolit in der Sakristei tat. Du hast neulich in einem solennen
Festrausch damit geprahlt, du gingest nie in die Kirche, du seist
seit einem Jahr nicht in der Kirche gewesen! Und du, der du so streng
auf den Abendmahlszwang hältst, wann bist du zuletzt zum Abendmahl
gegangen? Vor zwanzig Jahren, bei deiner Amtsweihe! Pfui Teufel, sage
ich, und jetzt schüttle ich auf deinem Flickenteppich den Staub von
meinen Füßen. Es ist schade um dich, denn du hast dir nie überlegt,
was du tust und wer du bist! Aber wenn du aufwachst, so geh nicht in
deinen alten Bau, dessen Altarschrein du, in Parenthese, vor kurzem an
den Antiquitätenhändler verkauft hast, sondern geh ins Bethaus, wenn
du kannst. Da triffst du wenigstens Christenmenschen; die den Versuch
machen, wenn es ihnen auch nicht gelingt, ihr Inneres zu säubern!«

Der Pastor war kein böser Mann, auch kein Heuchler, aber er hatte, wie
alle, sein Leben so gelebt, wie es sich darbot, ohne Überlegungen;
hatte die Tage nacheinander hingenommen und nie zurückgeblickt oder
dies verworrene Konto von Aus- und Eingängen, Debet und Kredit, das man
Leben nennt, aufgestellt.

Als er jetzt dies zu hören bekam und seine Rechnung vor sich sah,
konnte er keine einzige Tatsache in Abrede stellen. Er sah sich selbst,
seine Fylgia, zum erstenmal, und er meinte sterben zu müssen. Er blieb
sprachlos auf dem Sofa sitzen und war schwarz im Gesicht wie ein
geschlachteter schwarzer Stier.

Der Schwager, der durch diesen Ausbruch und diesen Sieg das am
Morgen verlorene Selbstgefühl wiedererlangt hatte, begann aus seiner
Verschrumpfung aufzuschwellen; und da er sich einen ehrenvollen Abgang
sichern wollte, bevor der Feind sich hatte sammeln können, feuerte er
die letzte Salve ab.

»Du bist ein Pater, aber kein Geistlicher; du beginnst das
Morgengebet im Stall mit Bier und Branntwein, dann hältst du deinen
Frühstücksschlaf und spielst Brett bis zum Mittag; wenn du mit drei
Gängen zu Mittag gegessen und dich zum zweitenmal berauscht hast, legst
du dich zum Mittagsschlaf ins Bett, oder wie man es in Upsala nannte:
wälzt Mittag; dann spielst du Brett bis zum Vesper, sitzt bei Grog
und Wiraspiel bis zum Abendbrot, das jeden Abend aus kalten Platten
mit einem warmen Gang besteht. Bist du einen Abend nüchtern ins Bett
gegangen? Bist du mit deinen drei Räuschen täglich in fünfundzwanzig
Jahren je nüchtern gewesen? Sprichst du je dein Abendgebet? Nein, du
bist kein Mensch, sondern du bist ein Schwein! Das bist du!«

Er hatte freilich das, was er beabsichtigt hatte, nicht erreicht, aber
er hatte etwas anderes getan; und er wünschte nur, die andern hätten
ihn gehört, dann würden sie ihn nicht konservativ genannt haben.



Sechstes Kapitel

Eine unklare Situation


Das französische Geschwader kam und sprengte für einen Augenblick die
privaten und einige allgemeine Koalitionen. Der schwedische Leichtsinn
zeigte sich von seiner liebenswürdigen Seite, vergessen zu können.
Trotz der neu aufgenommenen deutschen Politik sah man Mitglieder der
Regierung den Festen beiwohnen und Reden auf Frankreich halten.

Gustav Borg hatte einen großen Tag, als das Tivolifest veranstaltet
wurde, denn er war einer der Gastgeber; und da er außerdem perfekt
französisch konnte und ein ausgezeichneter Redner war, machte er sich
ganz vortrefflich.

Frankreich war nach dem Kriege 1870 etwas spröde gegen Schweden
gewesen, da dieser uralte Bundesgenosse der Republik und dem besiegten
Freunde den Rücken kehrte; aber jetzt war alles vergessen. Der
französische Botschafter in Stockholm, eine starke Intelligenz,
Republikaner und, wie behauptet wurde, vordem Communard, fraternisierte
mit den liberalen Salons Stockholms, verkehrte in Bürgerhäusern und
trat mit Vorträgen in Klubs auf, die nicht gerade ~comme il faut~
waren. Oben mußte man ihm das zugute halten, denn er war Botschafter
der großen Nation, so daß seine Person unverletzlich blieb. Seine
Wohnung und das norwegische Gesandtschaftshotel waren das Zentrum
für alles, was an Politik, Wissenschaft, Kunst und Literatur zur
Fortschrittspartei gehörte; halb aus Neugier, halb gezwungen kamen
jedoch auch viele von den Oberen dahin, die nur durch Geburt und Amt
dort oben gebunden waren. Diese versuchten wohl die Roten auszustechen
und in Mißkredit zu bringen, merkten aber bald, daß jene überall
Gesinnungsgenossen hatten. So passierte einem schwedischen Gesandten
bei seinem norwegischen Kollegen das folgende Quiproquo:

Der Gesandte (zu dem französischen Botschafter): »Was hat denn der gute
Blehr da für einen Lumpen in seinen Salon eingelassen?«

Der französische Botschafter: »Wen? Den da! Das ist mein spezieller
Freund, der Maler X.«

Der Gesandte: »Teufel auch, aber er sieht entsetzlich aus!«

Der französische Botschafter: »Was tut das, er ist Offizier der
Ehrenlegion und wir (wir beide) sind nur Ritter!«

Der Gesandte (mit steigendem Pech): »Aber die Damen sind wirklich etwas
merkwürdig. Sehen Sie die an, die wie eine Sängerin aussieht.«

Der französische Botschafter: »Meine Frau ist es allerdings nicht, aber
die ist auch Sängerin gewesen.«

Tableau!

In diesen Kreisen bewegte sich Gustav Borg, als sei er hier zu Hause,
und jetzt auf dem Tivolifest, wo er seine blendende Rede auf Frankreich
hielt, von dem aller Fortschritt ausgehe, vergaß man seine Absetzung;
und er stand wieder unverhüllt als ein alter Republikaner da, ein Sohn
der Revolution, der jeden Verdacht, konservativ zu sein, von sich
abschüttelte.

Die Mischung der Klassen und Ansichten in den neunziger Jahren
war so intensiv, daß alle alten Begriffe nicht mehr paßten. Die
beiden einfachen Rubriken: konservativ und liberal, dienten nur als
Spitznamen, wie früher einmal Hüte und Mützen. Das Leben war reicher
geworden, die Anschauungen hatten Nuancen bekommen, das borniert
Exklusive war in die Käseblätter des unteren Bürgerstandes verwiesen,
die in ihrem einfachen Spektrum nur zwei Farben sahen. So hatte der
Cato Censor des Reichstags, der unverwüstliche Wächter der Heiligkeit
der Verfassung, zu wiederholten Malen den Spitznamen Konservativer
erhalten; zuletzt, als er die Frauenfrage nicht mitmachen konnte, aber
das focht ihn nicht an. Während der aufgeblasene, für die Forderungen
der Zeit starblinde Bischof in Y. für einen Roten angesehen wurde, weil
er einmal aus reinem Versehen für das allgemeine Wahlrecht gesprochen
hatte.

Die Regierungsmacht des Landes lag in sovielen Händen, daß man nicht
sagen konnte, wer mitregierte. Der Staatsrat tat es nicht; der
Reichstag schien Gesetze zu geben, die öffentliche Meinung aber wurde
in den Zeitungen, in der Literatur, in den Familien, den Klubs, den
Cafés, den Salons, den Werkstätten vorbereitet. Schon die Macht des
gesprochenen Wortes ist groß, größer noch die des geschriebenen. Die
Macht der Presse, die damals sehr bedeutend war, wurde durch das
Entstehen vieler Zeitungen neutralisiert, so daß eine Berühmtheit
oder eine Autorität nur in ihrem Kreise galt; in dem der andern war
sie nichts. Der Gesellschaftskörper bestand aus vielen exzentrischen
Kreisen, die alle ihren Mittelpunkt hatten, aber keinen gemeinsamen.
Dadurch konnte keine Kraftquelle so stark werden, daß sie andere
niederdrückte, während aber alle einen gelinden Seitendruck verspürten,
der das Gewölbe zusammenhielt.

Das Tivolifest fand an einem sonnigen Sommerabend statt. Der Chef
des Generalstabs hielt die erste Rede und erinnerte an seine
Waffenbrüderschaft mit der französischen Armee, als er im Kriege 1870
bei Vionville und Gravelotte gekämpft hatte. Dann trat Nordenskiöld
auf. Der Republikaner, der kürzlich das Revolutionsfest gefeiert hatte,
der Reichstagsabgeordnete der Liberalen, der ausgewiesene Finne, der
erste Name Schwedens, der volkstümliche, einfache Mann ohne Hochmut
und große Gebärden, der aber zu Hause in seinem Schreibsekretär alle
Ordenssterne Europas hatte. Das mit den Ordenssternen konnten die
Liberalen nicht recht verstehen, aber das war sein Opfer. In einem
Lande, wo alles zu königlichem Recht gemacht wird, war er gezwungen, zu
wählen! Ohne Orden keine Nordostpassage! Und er nahm beide!

Unter dem alten Regime hatte ~Le roi soleil~ sein Licht allem Großem
gespendet; jetzt aber entlieh die monarchische Institution ihren Glanz
von allem Großen, indem sie ihm ihren hohen Schutz angedeihen ließ.
Nordenskiöld nahm es hin wie ein unschuldiges Spielzeug, ohne indessen
etwas von seiner Persönlichkeit dafür zu geben.

Die Altliberalen hatten freilich gemurrt; doch als sie sahen, daß der
Mann keinen Schaden nahm, verziehen sie ihm schnell, und das verdiente
er.

Nun war der offizielle Teil zu Ende, und man zerstreute sich in
Gruppen. Die »Gesellschaft« hatte den Tanzpavillon eingenommen, andere
kleine Gruppen ließen sich in Kiosken nieder oder oben auf der Terrasse
im Café, im Zelt, in den Kegelbahnen.

Gustav Borg befand sich in der »Gesellschaft«, in einem Kiosk in der
Nähe aber saßen seine Frau Brita, die Söhne Holger und Kurt, der
Architekt, sowie Doktor Borg, ohne Frau; sie konnte nicht französisch
und wollte nicht gedemütigt werden.

»Die Situation ist unklar,« sagte der Doktor, »unklar wie alles
augenblicklich. Die Liberalen haben sich auf das Geschwader gestürzt,
und Gustav blüht da unten auf der Rabatte.«

»Mit wem spricht er?« fragte Brita.

»Es ist eine Finnländerin, kannst du dir das vorstellen!«

»Die das Kronstadter Geschwader und die russische Allianz feiert?«

»Tja, die Situation ist unklar! Eins aber ist sicher: jetzt wird den
Finnen ihr grenzenloser Übermut und ihre dumme Verachtung Schwedens
heimgezahlt. Die Finnomanie der siebziger Jahre, die von schwedischen
Finnen gepflegt wurde, war nur die Fortsetzung von Anjala. Ich war
damals drüben in Helsingfors, und es war unerträglich. Dieser Forsman
verachtete die schwedische Sprache so sehr, daß er sich umtaufte und
sich Yrjö Koskinen nannte oder so ähnlich; Topelius war russischer
Staatsrat oder irgend etwas Russisches; wenn ich einen schwedischen
Finnen auf schwedisch ansprach, antwortete er nicht; sie faselten vom
›schwedischen Joch‹, worunter sie die schwedische Sprache verstanden,
und versuchten etwas auf Kalewala aufzubauen, auf diesem Jugendbuch,
das von einem Sägemühleninspektor zusammengebraut zu sein scheint.
In den achtziger Jahren wollten sie das Schwedische abschaffen und
ihre samojedische Rindenkultur mit der finnischen Sprache einführen;
die Alten spielten russische Staatsräte und die Jungen russische
Nihilisten; Walter Runeberg soll für Helsingfors eine Alexanderstatue
machen; das trojanische Pferd, was? Aber jetzt, wo es brenzlig wird
und Rußland sich Finnland einverleiben will, da kommen sie hierher
und verlangen, daß wir Rußland den Krieg erklären. Denkt euch, in dem
Salon dieser finnischen Dame verkehrt ein finnischer Senator, der
verbannt zu sein glaubte, weil der Zar ungnädig gegen ihn gewesen
war; der Zar aber wußte von keiner Ungnade und hat kürzlich nach
seinem Freunde, dem Senator, gefragt, den er vermißte. Werdet ihr
klug daraus? Und diese Finnländerin glaubt eine große Patriotin
zu sein, ja sie ist so urfinnisch, daß sie an der Errichtung einer
Elevenschule am Schwedischen Theater in Helsingfors teilgenommen
hat, in der neuangekommene Schweden die finnische Aussprache lernen
sollen, das heißt mit finnischem Akzent sprechen. Was soll man dazu
sagen? Arme Finnen, sie wissen nicht, was sie tun, aber sie haben es
so gewollt! Übrigens läuft ja alles auf Zusammenschluß hinaus und auf
das Aufsaugen der kleinen Nationen. Das ist im Anfang schmerzlich; aber
das Weltbürgertum wird nicht mit ein paar Groschen erkauft! Seht, jetzt
macht sie sich an einen russischen Attaché heran! Das müßte der Senator
sehen!«

»Die kleinen Nationen werden verschwinden,« fiel jetzt Frau Brita ein,
froh und munter, als verkünde sie eine Entdeckung.

»Ja, und wir sind schon auf dem Wege! Wißt ihr, mir macht dieses Fest
keine Freude; es bedeutet für uns, daß wir Schweden nicht mehr nötig
sind. Frankreich hat uns seit mehreren Jahrhunderten als Vorposten
gegen Rußland benutzt, und es gibt eine alte in Frankreich geschlagene
Medaille, auf der dem Schweden sein Platz als Frankreichs Söldner
angewiesen wird. Sie haben uns tatsächlich als eine Art Schweizer
betrachtet, die von Truppenvermietung lebten; und jetzt, da sie
das Bündnis mit Rußland geschlossen haben, um China zu teilen, hat
Schweden seine Rolle in der Geschichte ausgespielt. Wir werden nicht
mehr gebraucht! Ich war gestern mit einem Schiffsarzt vom Geschwader
zusammen und zeigte ihm Stockholm. Er sprach über die Allianzen und
die bevorstehende Aufteilung der Erdkugel unter die Nationen Europas.
Ich dachte an mein Land, das nicht dabei sein darf, nicht um Rat
gefragt wird, nicht mitzählt; und ich fühlte mich wie ein von der
Schule Relegierter, ein Gestrafter, der keine Heimatberechtigung hat,
ein Paria ohne Menschenrechte in der Weltgeschichte. Mir, wie euch, ist
nun einmal der Stolz darauf, Schwede zu sein, anerzogen. Was soll man
da stolz sein? Eine Taubstummensprache sprechen, die niemand versteht,
wenn man nach Europa hinein kommt; in romanischen Ländern wird man
mit den geringgeachteten Schweizern verwechselt, in Deutschland als
ein Plattdeutscher behandelt, der ihre Edda annektierte, die doch
Wagner uns nach dem Kriege gestohlen hat. Ein Serbe, Bulgare oder
Rumäne kann stolzer sein als wir, denn sie haben eine Aufgabe in der
Weltgeschichte: Puffer gegen die Türkei zu sein; wir aber haben keine!
Doch ich wollte meinen Franzosen bekehren, und da ich auf unsere
Schanze ebenso stolz bin wie ihr, führte ich ihn dort hinauf, um ihn zu
zerschmettern. Von unten sieht man ja Bredablick und die Glockentürme.
Als wir ans Tor kamen, wollte ich ihn in Stimmung bringen, deutete auf
den roten Aussichtsturm und sagte:

›Das ist unsere Akropolis; da wird Svea verwahrt, ihr Palladium und
ihre Ahnen.‹ Es war gut improvisiert, das fand ich selbst; und der
Franzose stellte sich auf eine Überraschung ein. Wir kletterten hinauf,
besahen einige Glockentürme und einige Renntiere, einen Pranger und
eine alte Kanone, aber wo wir auch gingen, stießen wir auf Tiere.
Unglücklicherweise war mein Arzt Zoologe und warf sein Interesse auf
die Tiere, so daß ich ihn nicht losreißen konnte. Als er die Eisbären
bemerkte, fragte er, ob es die in Schweden gebe, und ich mußte lügen
und ja sagen.

›Schöne Menagerie,‹ sagte er, ›sehr schön!‹

Ich führte ihn zu den Häusern, aber sie vermochten sein Interesse nicht
zu erregen.

›Hütten, Bauernhütten, sehr hübsch.‹

Wir kamen an dem Bierpavillon und dem Musikorchester vorbei.

›Varieté,‹ sagte er, ›sehr hübsch!‹

Als wir nach Bredablick kamen, mußte er sich die Aussicht anschauen,
und dann wollte er nichts mehr sehen. Und wißt ihr, liebe Freunde, da
war auch nichts mehr zu sehen!

Aber jetzt fing er an zu fragen:

›Akropolis? Jetzt wollen wir die Akropolis ansehen.‹

Ich blieb stumm.

›Svea? Was ist das? Und wo ist das Palladium?‹

Da wurde er witzig wie ein Franzose, und indem er auf die Eisbären
deutete, sagte er:

›Sind das die Ahnen? Die Vorväter?‹

Ich hätte weinen können vor Wut, doch der artige Franzose wollte mich
schonen und fügte hinzu:

›Ich bin Darwinist. Sie nicht?‹

Das hatte ich für die Ahnen!

Als wir hinausgingen, trafen wir einige Finnen, Bekanntschaften von
gestern. Die unverschämten Finnen spielten Russen, sprachen meinen
Franzosen als Alliierten an und scherzten über mich und meine Akropolis.

Ja, es ist keine Ehre, ein Schwede zu sein, das ist sicher; und etwas
Bescheidenheit würde uns gut kleiden, besonders wenn wir von der
›Schanze‹ sprechen. Aber ich kann nicht begreifen, daß da so wenig zu
zeigen war: zwei Glockentürme, neun Bauernhütten und eine Menagerie.
Ich werde rot bis an die Ohrläppchen, wenn ich an meine Rede bei
Einweihung der Schanze denke! Wenn ihr euch noch drauf besinnt, so
sprecht nicht drüber!«

Jetzt glaubte Holger in seiner Eigenschaft als der neue Redakteur etwas
Überlegenes sagen zu müssen.

»Was soll das Jammern darüber, daß die Kleinstaaten ausgetilgt werden!
Hier stirbt Schweden freilich, aber es erfüllt seine Weltmission in
Amerika, wo Schweden und andere Skandinavier im Begriff sind, einen
starken Bauernstand zu bilden, der einmal einen Präsidenten ins Weiße
Haus schicken wird. Und ihr schwatzt davon, daß Schweden nicht dabei
ist, wenn es an die Teilung der Erde geht!«

»Da hast du sehr recht,« fiel jetzt Kurt ein; »man müßte wirklich die
Auswanderung erleichtern durch Einführung der englischen Sprache in den
Volksschulunterricht.«

»Das hat vor kurzem ein Mann gesagt, und sie hätten ihn beinahe
totgeschlagen, wie im Reichstag den Bauern, der die Sachlage so
verzweifelt fand, daß er ebenso gern Steuern an Rußland bezahlen wollte
wie an die Offiziere der schwedischen Armee.«

»Apropos Rußland,« unterbrach der Doktor, »seht ihr, wie die Finnin
dahinten mit unserer russischen Professorin fraternisiert? Ich glaube,
die Professorin ist ganz einfach Finnin, denn sie sprach, als sie
herkam, fließend schwedisch mit finnischem Akzent.«

»Du redest,« unterbrach Frau Brita.

»Manche Leute behaupten auch, sie sei Polin! Ja, ihr Frauen habt
augenblicklich gute Tage; denkt an unsere Schriftstellerinnen!
Biersuppe, Dienstagssuppe, einige Variationen fremder Themen, und sie
werden vom kleinen Sakris als Riesengenie proklamiert. Seht, da geht
er übrigens. Geboren mit Schmerbauch, Brille, Tonsur und Pension;
Beschützer der Literatur, Freund der Damen; Mitesser, Schatten. Er
brütet Seidenraupen aus, nachdem er die Eier gekauft hat; er sieht aus
wie ein Gespenstertier, trägt eine Brille wie ein Detektiv, ein ~Faux
Bonhomme~, der fürchterlich ist; ein Betrüger, den man nie überführen
kann, den man aber gefühlsmäßig flieht; unerklärlich und deshalb
unheimlich; schmeichelt, um kratzen zu können; benutzt alles für seine
Zwecke, sogar Leichen; verzeiht, wo etwas zu gewinnen ist, und ist
rachgierig, wo er nichts zu verlieren hat. Er spricht im Namen der
Frauen, als sei er eine Frau; verleumdet sein eigenes Geschlecht als
ein Selbstbesudler und kriecht vor den Damen wie alle Päderasten. --
Aber seht euch den an!«

»Wir müssen jetzt fahren,« unterbrach Frau Brita, »sonst verpassen wir
den Dampfer!«

Die Gesellschaft brach auf, um zum Droschkenhalteplatz zu gehen. Aber
als sie an einem Zelt vorbeikamen, sahen sie einen Mann mit rotem Fes
auf einem Tisch stehen und französischen Matrosen eine Rede halten.

Das war Syrach, der Maler, der seinen Verstand zum Teil wiederbekommen
hatte und jetzt in Brest zu sein glaubte, wo er den letzten Sommer
verbracht hatte.

»Die Situation ist unklar,« fuhr der Doktor fort, »das Wasser ist trüb,
und die oberen Stände werden fischen können!«



Siebentes Kapitel

Der Nährstand


Am Tage vorm Neujahrsabend saß Anders Borg, der dritte Sohn des
Redakteurs, auf seinem Pachthof Langvik, schloß seine Bücher ab und
rechnete. Langvik, das zum Pfarrhof gehörte, war ein mittelgroßes Gut
und lag an einer Bucht der Ostsee nach der Meerseite, in einem Archipel
von Holmen und Schären.

Anders Borg, der an der Landwirtschaftlichen Hochschule studiert und
sich sehr früh verheiratet hatte, so daß er jetzt vier Kinder besaß,
war schon seit drei Jahren hier Pächter.

Zwei Jahre hatte der Vater die Pacht bezahlt, in diesem dritten aber
weigerte er sich. Anfangs hatte Anders, der ein leichtsinniger Bursche
war, wie ein Herr gelebt und gehofft, mit Einführung der Zölle würden
bessere Zeiten kommen. Die Zölle kamen, doch es wurde nicht besser,
denn er mußte alles teuer und schlecht kaufen. Im zweiten Jahre
versuchte er das Deputat einzuschränken; als er jedoch sah, daß das
nichts nützte, lebte er wieder drauflos und ließ fünf gerade sein.

Jetzt aber, als das Jahresende herankam und die Tage in all ihrer Kürze
endlos lang waren, vertrieb er sich die Zeit damit, zu rechnen, die
Ursachen des Verfalls der Landwirtschaft zu berechnen. Und er kam zu
höchst eigentümlichen Resultaten.

So hatte er jetzt das Milchjournal vor und sah, daß die Butter ihm auf
sieben Kronen das Kilo kam, während er sie für zwei Kronen verkaufen
mußte. Er glaubte zuerst, er habe sich verrechnet, aber als er im Buch
sah, daß die Kuh fünfzehn Pfund Heu für fünfzig Ör das Pfund fraß, bis
sie ein Kilogramm Butter gab, wurde ihm bange. Wenn auch die Magermilch
für Instleute, Kälber und Ferkel benutzt wurde, rechnete sich dieser
Vorteil doch auf gegen die Kosten für Wartung des Viehs, Streu und den
teuren Transport nach der Stadt.

Sah er nun nach, was es kostete, ein Tier aufzuziehen, so fand er, daß
das Tier seinen Verkaufspreis aufgefressen und er umsonst gearbeitet
hatte.

Das Merkwürdigste von allem aber waren seine chemischen Berechnungen
über Ein und Aus des Viehstalls. Da stand eine Kuh und verzehrte
nur trockenes Heu nebst einigen Eimern Wasser. Das Heu bestand doch
hauptsächlich aus Zellulose, die stickstofffrei war, und das Wasser
enthielt keinen Stickstoff. Woher kam dann der unerhörte Überschuß
an Stickstoff, den Milch und Dung enthielten? Antwortete er: aus den
verbrauchten Geweben des Tierkörpers, so mußte er wieder fragen, wo
der Tierkörper den Stickstoff zur Erneuerung der Gewebe hernahm; denn
wurden diese nicht erneuert, so würde das Tier nach drei Monaten
spurlos verschwinden. Aus dem Heu kamen nur ganz unbedeutende Mengen
Stickstoff und aus dem Wasser überhaupt keine; wurde er denn aus der
Luft genommen? Nein, behauptete Pettenkofer! Es war also ein Wunder,
oder die Chemie auf dem Holzweg.

Und wenn er mit Kartoffeln fütterte, die neunzig Prozent Wasser und
zwei Prozent Stickstoff enthielten, war das Resultat das gleiche.
Da mußte man ja glauben, stickstofffreie Stärke könne sich in --
stickstoffhaltiges Eiweiß verwandeln und Wasser in das Ammoniak
übergehen, das im Dunghaufen im Überfluß vorhanden war. Aber das
widersprach den geltenden wissenschaftlichen Theorien, und deshalb
stand er vor einem Rätsel, das er schließlich beiseite schob.

Handgreiflicher waren dagegen die Angaben des Hauptbuches, nach
denen er in diesem Jahre für dreitausend Kronen Thomasschlacke zur
Düngung des Bodens gekauft hatte, während die Pachtsumme sich auf
zweitausendfünfhundert Kronen belief. Das war eine nackte, schlagende
Tatsache, die ihn auf einen neuen Gedanken brachte, der seine ganze
Lage beleuchtete. Der Boden kann einen Besitzer ernähren, nicht aber
Besitzer und Pächter zusammen; der Boden kann sich selbst düngen durch
eine gut geregelte Viehhaltung, aber der Boden ist nicht imstande,
Düngemittel zu kaufen. Das hätte er vorher wissen müssen, doch das
stand weder in den landwirtschaftlichen Lehrbüchern, noch in der
Nationalökonomie.

Er hörte jemanden kommen, klappte die Bücher wieder zu und steckte sich
eine Zigarre an, um seine Unruhe zu verbergen.

Seine Frau kam herein, jung und kräftig, jetzt aber mit bekümmerter
Miene.

»Anders! Gib mir die Schlüssel zum Speicher; ich muß Mehl zum Backen
haben.«

»Mehl? Wir haben keins mehr!«

»Wir haben keins mehr?«

»Nein!«

»O mein Gott! Hast du es verkauft?«

»Ich mußte!«

»Aber die Instleute?«

»Für die muß ich nach und nach welches kaufen.«

»Können wir nicht schnell etwas mahlen?«

»Wir haben nichts zu mahlen.«

»Hast du denn das Getreide auch verkauft?«

»Ich mußte!«

»Nein, nein, nein! Was ist denn noch im Speicher?«

»Nichts! Nur die Ratten!«

»Wir werden unglücklich, wenn der Inspektor das erfährt!«

»Er weiß es.«

»Also deshalb wagt er, was er wagt. Ja, dies geht nicht, Anders, dies
geht nicht.«

»Doch, aber ich werde schließlich noch ein Schwindler werden. -- Was
tut der Inspektor denn?«

»Ja, zum Beispiel, wenn die Kätner im Tagelohn arbeiten sollen, dann
wird er mit Eiern und Butter bestochen und erläßt ihnen die Arbeit.«

»Ist es so weit gekommen?«

»Ja, und noch weiter, er steckt mit den Melkerinnen unter einer Decke!
Warum jagst du ihn nicht weg?«

»Ich kann nicht, ich wage es nicht. Er weiß zuviel über die Geschäfte
und die Lage des Hofes. Das mit dem leeren Speicher ist das schlimmste,
denn das ist beinahe ungesetzlich. Der Inhalt des Speichers war
gleichsam eine Hypothek für die Pacht wie auch für die Löhne der Leute.«

»Wenn man denkt, daß ich diesen Inspektor an meinem Tisch sehen muß,
wenn er sich einlädt, -- weißt du, daß er in der Stadt bummelt und sein
ganzes Geld vertrinkt, so daß wir seine Kinder ernähren müssen?«

»Das kann ich mir denken! Aber das Ende wird sein, daß ich selber
Inspektor werde, dann komme ich vielleicht noch zu einem eigenen Gut,
ehe ich sterbe.«

Jetzt wollte die Frau von allgemeinen Betrachtungen zu Tatsachen
übergehen.

»Kristin in der Küche verlangt ihren Lohn. Hast du das Geld für die Kuh
bekommen, die wir dem Schlächter verkauft haben?«

»Nein, aber ich erwarte ihn jeden Augenblick mit dem Geld. Wieviel
schulden wir Kristin?«

»Einen Jahreslohn, wie du weißt, und dann habe ich bar von ihr geliehen
... ja, was soll man machen?«

»Hör einmal, wir sind doch morgen eingeladen; haben die Kinder was
anzuziehen?«

»Nein, du weißt ja, daß sie nur Sommermäntel haben.«

»Dann müssen wir sie in Schals und Decken einpacken, denn zu Hause
können sie nicht bleiben.«

»Ja, Anders, das ist verkehrte Wirtschaft. Ich bin auf dem Lande
geboren und weiß, was ein Hof tragen kann, das weißt du aber nicht!
Ein so kleiner Besitz wie dieser kann nicht einen Schmied, einen
Waldhüter und einen Kutscher tragen. Und weil du ihnen ihren Lohn nicht
zahlen kannst, stehlen sie. Der Schmied stiehlt Eisen und arbeitet
für eigene Rechnung; er beschlägt für das halbe Kirchspiel die Pferde
mit deinem Eisen; der Waldhüter verkauft Holz und der Kutscher Hafer.
Weißt du, mein Freund, am liebsten liefe ich weg von all diesem, denn
es ist nicht eine Brotrinde im Hause! Ich könnte weinen, wenn es mir
nicht leid täte um dich; aber du bist so gut, und du bist an dieser
Wirtschaft nicht schuld.«

Jetzt konnte Anders seine Rührung nicht zurückhalten; denn er war ein
guter Mann, den ein gutes Wort in Tränen zerfließen ließ; doch er kam
nur bis zu einem dankbaren Händedruck, als man draußen Schellengeläut
hörte.

»Das ist der Schlächter mit dem Geld! Wir sind gerettet,« rief er und
sprang auf.

»O Gott! Welch ein Glück,« stimmte die Frau ein und stellte sich ans
Fenster. »Aber geh nicht selbst hinaus; laß Lindquist ihn empfangen!«

»Ja, das kann er tun, denn der Schlächter und ich sind keine guten
Freunde.«

Die Schlittenglocken waren verstummt, statt dessen aber schlugen
die beiden Hofhunde an und rissen an ihren Ketten; die Jagdhunde
antworteten, und alle Köter des Hofes versammelten sich hinter der
Eismiete, die die Szene verbarg, die sich jetzt zwischen dem Schlächter
und dem Inspektor abspielte.

Der Pächter und seine Frau sahen von dem Auftritt nichts, aber sie
hörten einen Wortwechsel, der so laut war, daß das Wort Betrüger durch
das Doppelfenster drang.

Nach einer Weile entfernten sich die Schlittenglocken; das Hundegekläff
artete in ein Geheul aus, das auf einen Kampf hindeutete, und dann kam
der Inspektor zum Hause hinauf gelaufen.

Der Herr ahnte Unrat, und mit sorglicher Hand wollte er seine Frau
hinausführen, um ihr einen Auftritt und sich selbst eine Demütigung zu
ersparen; aber sie blieb stehen.

Der Inspektor kam herein.

»Was ist?« fragte der Herr.

»Der Schlächter hat die Kuh zurückgebracht,« antwortete der Inspektor.
»Er sagt, sie sei an einer unbekannten Krankheit verendet und er wolle
den Herrn verklagen.«

»Was haben Sie denn mit dem Tier gemacht?«

»Er hat es auf den Misthaufen geworfen und da sind die Hunde drüberher
gefallen; ich konnte sie nicht auseinandertreiben.«

»Lassen Sie sie nur! Dabei ist nichts zu machen. Gehen Sie in den
Stall, Herr Lindquist, und lassen Sie den Schlitten anspannen. Sagen
Sie dem Waldwärter, er soll die Eishacke nehmen und mitkommen.«

Der Inspektor wollte die Audienz noch verlängern, denn mit jedem Hieb,
den der Herr kriegte, wurde seine Straflosigkeit größer; aber er mußte
gehen, denn der Gutsherr verließ mit seiner Frau das Zimmer.

Die Gatten waren allein im Schlafzimmer, in das sie sich zurückzuziehen
pflegten, um Rat zu halten und sich zu verstecken, wenn die Leute das
Haus mit ihren Forderungen belagerten.

Die Frau begann:

»Ist es wahr, daß du ein krankes Tier verkauft hast?«

»Ja, das ist wahr! Ich werde zum Betrüger, wenn dies so weitergeht!«
und sie weinten beide.

Was sollte man jetzt verkaufen? Was sollte man tun? Sie berieten und
kamen zu dem Entschluß, der Mann müsse ausfahren und Geld leihen.
Dann sollte die ganze Wirtschaft geändert werden. Ein Jahr lief die
Pacht noch, da wollte man den Boden mit Hafer bestellen; der brauchte
nicht gedüngt zu werden und wurde sofort an die Pferdebahngesellschaft
verkauft; er sog freilich den Boden aus, aber was kümmerte sie das,
wenn sie von hier weggingen?

Das ganze Land hatte sich dem Hafer zugewendet, wenn nichts anderes
lohnte; daher war der schwedische Boden ausgesogen. Der Roggen, der
doch das Getreide des armen Mannes ist, wollte nicht mehr gedeihen,
sondern mußte importiert werden; vom Weizen war man über den Roggen
zum Pferdekorn herabgesunken; das war der Verfall. Und wenn die Bauern
die letzte Haferernte genommen hatten, um ein Billett nach Amerika zu
kaufen, konnte man kaum einen Reflektanten für den wertlosen Boden
finden. Der Boden, den der Pflug bearbeitet hatte und der gedüngt
gewesen war, gab seltsamerweise nur Unkraut; er konnte aus sich selbst
keine natürliche Weide werden wie die Wildnis; er war verflucht; er
war durch die Bestellung verwöhnt und verlangte Bestellung; er konnte
freilich wieder als Kleewiese angelegt werden, aber wenn diese nicht
erneuert wurde, gab sie keine Erträge mehr.

Wenn die Pachtzeit zu Ende ging, pflegte man das Inventar zu
verauktionieren. Da die Bauern eine absonderliche Vorliebe dafür
hatten, auf Auktionen zu kaufen, weil sie alles billiger und besser
zu bekommen glaubten, pflegten die fortgehenden Pächter schon vorher
alles Brauchbare zu verkaufen und schlechtere neue Sachen anzuschaffen.
Das beste Vieh und die guten Pferde wurden unter der Hand verkauft und
schlechte dafür wiedererworben. Geräte, Wagen und Schlitten wurden in
aller Eile hergestellt und auf die Auktion gebracht. Das war ja nicht
unehrlich, aber anständig war es nicht, und das konnte man sich auch
nicht leisten.

Als sie mit ihrer Überlegung zu Ende waren, fuhr der Schlitten vor.
Der Waldhüter, ein Zigeunertyp, der Liebling des Gutsherrn, weil er
rühriger war als die Kätner, stand mit der Eishacke bereit. Seine
Aufgabe war nämlich, bei Landzungen und Meerengen, wo man Strömungen
befürchtete, vor dem Pferde herzugehen und das Eis zu prüfen.

Als der Herr den Schlitten bestieg, gewahrte er ein Schauspiel, das
ihm, trotz des Elends, das darin zum Vorschein kam, ein Lächeln
entlockte.

Vier von den größten Hunden hatten die tote Kuh einträchtig auf die
gewaltige Pyramide der Eismiete geschleppt; aber als sie diese
gemeinsame Arbeit getan hatten, jagte die größte Hofdogge die drei
Verbündeten hinunter und lag nun wie eine Sphinx allein dort oben und
schmauste. Die Hunde der Nachbarhöfe waren angelockt worden, und die
kläffende Schar am Fuß der Eismiete drängte sich bisweilen zusammen
und bildete ein Knäuel von Pelzen, Schwänzen und Pfoten. Einige
Kätnerfrauen hatten schwache Versuche gemacht, den Raub mit der Dogge
zu teilen, hatten sich aber zurückgezogen. Alles war ausgehungert auf
dem Hof, Menschen und Vieh. Die Hunde hatten in ihrer Not alles nach
Hasen und jungen Vögeln abgejagt und lernten schließlich unten auf dem
Eise Fische stehlen, indem sie die Rotaugen vom Angelhaken schnappten.
Jetzt aber hatten sie einen Schmaus bekommen.

Die Peitsche knallte, und in sausender Geschwindigkeit fuhr der
Schlitten aufs Eis hinunter und auf die Fjorde hinaus, die blank
dalagen.

Die Fahrt ging zuerst nach dem andern Ufer hinüber, wo auf einer
Landzunge zwei alte Männer sich in einem roten Hause niedergelassen
hatten, um das Ende des Lebens zu erwarten. Der eine war ein früherer
städtischer Kämmerer und Witwer, der jetzt mit siebzig Jahren von
seiner Pension lebte; der andere war ein Achtziger, weiß wie eine
Taube, der, seit er Student in Upsala gewesen war, nie etwas getan
hatte. Mit zwanzig Jahren hatte er eine Leibrente bekommen und dann
nie mehr gearbeitet. Der Fall war ungewöhnlich, aber der Alte hatte
für eine einzige Tat, ein einziges Interesse gelebt: er war Juvenal
gewesen. Er betrachtete sich jetzt auch nur noch als Gegenstand in
einem Museum, der gezeigt werden konnte. Das rote Haus war berühmt
wegen seines kostbaren Inhalts, man machte Ausflüge dorthin, um ›einen
von den Burschen‹ zu sehen, denn in den hatte die Tradition den Juvenal
umgewandelt. Er hatte mit Wennerberg gesungen, er hatte Karl XV.
gekannt; er hatte mit Jenny Lind gesprochen, er hatte Gejer gesehen.
Aber all das spielte heute keine Rolle, als Anders Borg angefahren kam,
um Geld zu leihen.

Die Freude der beiden Alten war groß, als der Schlitten vor dem Hause
vorfuhr, denn sie waren vierzehn Tage eingeschneit gewesen, hatten
seit acht Tagen keinen Fremden gesehen, keine Zeitungen und keine Post
bekommen.

Sie nahmen Anders den Pelz ab und zogen ihn in die Wärme hinein; er
bekam einen Glühwein und mußte erzählen, was in den Zeitungen gestanden
hatte. Darauf wurde das Kartenspiel hervorgeholt, und man spielte Wira,
nur eine Runde.

Über Geld zu sprechen ist ja unangenehm, denn das letzte, was der
Mensch aus den Händen gibt, ist das Gold, aus dem einfachen Grunde,
weil dieses Metall die Existenzbedingungen, Wohnung, Essen, Kleidung
und Wärme ausmacht.

Nachdem er im Verlauf von zwei Stunden alles ausgekramt hatte, was,
wie er wußte, den Alten angenehm war, rückte er schließlich mit seinem
Anliegen heraus. Da zog eine Wolke durch das helle Zimmer mit den
weißen Gardinen; der Friede des Alters war gestört, und die Greise
quälte es, einen in Not Befindlichen ohne Hilfe lassen zu müssen.
Sie konnten kein Geld entbehren, und es war ihnen peinlich, das
einzugestehen, genötigt zu sein, ihre ökonomische Lage darzulegen.
Anders seinerseits litt darunter, diese Verstimmung hervorgerufen zu
haben; es war ein Elend, Geld leihen zu müssen, und er begriff jetzt,
warum so viele Betrug und sogar Diebstahl vorzogen.

Als er sich nun wieder in den Schlitten setzte, wollte er eigentlich
nach Hause fahren, aber der Gedanke an Frau und Kinder rüttelte ihn
auf, und mit einem Knall der Peitsche setzte er das Pferd in Bewegung,
auf den großen Fjord zu. Der Waldhüter hinten auf dem Hundesitz äußerte
einige Besorgnisse, aber der Herr wollte nicht darauf hören. Das Eis
war dünn, aber zäh, durchsichtig wie Glas, so daß man an seichten
Stellen die Tangwälder sah.

Auf dem Fjord wogte das Eis, aber das Pferd beschleunigte den Lauf, in
dem Instinkt, daß es im Notfall von der geöffneten Wake wegspringen
konnte, und der Gutsherr wußte aus Erfahrung, daß das Salzwassereis
zäher war, als es aussah, und nicht so gefährlich, wie es schien. Den
Kurs nahm er nach Osten nach einer flachen Insel in der Ferne, wo der
Diakonus wohnte. Dieser, der eine kleine Kirchenkasse zu verwalten
hatte, würde ihm wohl zehn Kronen leihen können; so tief hatte er jetzt
seine Ansprüche herabgeschraubt.

Nur Luft und Wasser und der schwarzgrüne Strich in der Ferne waren zu
sehen, als das Pferd plötzlich stehen blieb.

Der Waldhüter war sofort neben seinem Kopf, warf die Eishacke wie eine
Lanze, und siehe da, das Wasser stieg aus dem Loch.

»Das geht nicht, Herr,« sagte Viktor. »Geht der Wind einen Strich
weiter nach Osten, so bricht das Eis und wir sind kaputt!«

»Ich kehre nicht um,« antwortete der Patron; »sitz auf, so sollst du
sehen, was fahren ist!«

Die Peitsche sauste um die Lenden des Pferdes, und es ging in
gestrecktem Trab ums liebe Leben. Eissplitter und Wasserspritzer
stiebten um die Gesichter.

Es handelte sich nur um zehn Kronen, aber es handelte sich auch darum,
ein Ziel zu erreichen und vor allem eine Pflicht zu erfüllen, und er
hatte das Gefühl, sein Leben den Seinen zum Opfer zu bringen und die
Schande hinter sich zu lassen.

Der dunkle Strich in der Ferne wurde immer breiter und kam näher;
Dächer wurden sichtbar, und gleich darauf zeigten sich Leute am
Strande, die winkten und riefen.

Der Waldhüter verstand die Signale zuerst, sprang vom Sitz und schrie:

»Halt, Herr, hier ist eine Wake!«

Anders Borg hielt das Pferd an, denn er sah eine offne Rinne, in der
ein Dampfer gefahren war. Er stieg aus und maß mit den Augen die Breite
der Rinne, als gedenke er hinüberzuschwimmen, denn vorwärts mußte er.

Aber nach kurzem Besinnen nahm er einen Pfahl, der die Rinne abgesteckt
hatte, stieg auf eine schwimmende Eisscholle, stieß mit dem Pfahl ab
und kam ins Treiben. Die Leute am Strande schrien, als die Scholle sich
in Bewegung setzte, doch Anders paddelte weiter. Als er sich der andern
Seite näherte, begann seine Eisscholle zu sinken, langsam, gleichmäßig
wie eine Falltür. Mit einem Satz sprang er auf die nächste Scholle
hinüber, die ebenfalls sank, und dann wieder auf die nächste, worauf er
im Galopp das Land erreichte; aber auf der letzten Strecke trat er das
Strandeis durch, das wie zerbrochene Fensterscheiben klirrte.

»Ist der Herr Pastor zu Hause?« fragte er, ohne zu grüßen.

»Ja, das ist er,« war die Antwort.

Und nun eilte Anders hinauf nach einem roten Hause, das ziemlich ebenso
aussah wie die andern.

Er betrat es in dem gleichen Tempo, das er beim Übergang über die
Eisrinne angewendet hatte, riß die Tür auf und stand in der Stube, in
der der Vikar in seinem Schaukelstuhl saß und schlief, um zwölf Uhr
mittags.

»Nein, bist du es? Ich wollte gerade ein Schläfchen machen, da hörte
ich Hilferufe auf See,« sagte er, indem er sich ermunterte.

»Ja, ich bin in der Klemme, und du mußt mir zehn Kronen leihen.«

»Zehn Kronen? Wo soll ich die hernehmen? Ich wollte gerade eine
Diskontanleihe machen, aber das ist mißlungen ...«

»Du kannst doch aus der Kasse leihen!«

Hier entstand eine Pause, und Anders Borg begriff, daß er sich abermals
hatte verleiten lassen, in die Geheimnisse anderer einzudringen und
einem Unglücklichen das demütigende Eingeständnis einer schlechten
pekuniären Lage abzuzwingen. Doch er faßte sich schnell und lenkte ab:

»Kannst du nicht einen Bauern anpumpen?«

»Ich, einen Bauern anpumpen? Nein, mein Freund, so ist meine Situation
nicht. Siehst du, im ersten Jahr hab ich mich gemein gemacht und
habe mit ihnen trinken und essen müssen; aber da ging der Respekt
verloren, besonders als ich Geld von ihnen pumpte, um meine Upsalaer
Schulden zu bezahlen. Als ich mich zurückzog, begannen sie mich zu
hassen. Ich wurde einsam; ich habe niemanden, mit dem ich sprechen
kann, habe nichts zu tun. Ich darf nicht fischen, nicht jagen, nicht
das Feld bestellen. Lesen kann ich nicht, denn dann schlafe ich ein.
Ich bin verurteilt, nichts zu tun, außer Sonntags! Ich verdorre,
ich versteinere, während ich schlafe; ich schlafe die ganze Nacht,
zwölf Stunden, von acht bis acht, und ich halte Frühstücksschlaf,
Mittagsschlaf, schlafe und schlafe. Wenn du wüßtest, was für ein Leben
das ist! Das ist Scheintod! Seelsorge wollen sie nicht haben, und alle,
die in Not und Elend geraten, gehen zu den Pietisten. Ich wünsche
manchmal, ich wäre selbst Pietist, aber dann muß man glauben, und das
kann ich nicht! -- Anders Borg, um des Himmels willen, hilf mir von
hier fort, oder ich sterbe! Ich habe seit acht Tagen nicht gesprochen,
und jetzt habe ich zu allem Elend noch einen Prozeß auf dem Halse. Ein
Bauer hat Holz aus dem Pfarrwald gestohlen; ich habe es selbst gesehen
und es dem Propst angezeigt. Jetzt bin ich wegen Beleidigung verklagt,
weil ich nicht beweisen kann, daß ich den Diebstahl gesehen habe. Der
Dieb geht frei aus, und ich kann ins Gefängnis kommen, ich, der doch
kein Holz gestohlen hat. Die Bauern sagen, ich habe geklatscht, das
sagen sie von dem Amtmann auch, wenn er sie anzeigt, und kürzlich
wollte ein Spitzbube den Richter selbst wegen Beleidigung verklagen,
weil dieser auf die Anzeige eines Polizeidieners, die voller Beweis
ist, sein Urteil gefällt hatte. Was soll ich anfangen? Wenn ich
verabschiedet werde, bekomme ich keine Anstellung als emeritierter
Geistlicher.«

Er würde nie zu reden aufgehört haben, wenn er nicht in Tränen
ausgebrochen wäre. Und Anders Borg vergaß seine Sorgen vor diesem
bodenlosen Elend. Da er aber nicht wußte, was er sagen sollte, fuhr der
Vikar fort, überglücklich, seine eigene Stimme hören und sich beklagen
zu können:

»Was wollen sie mit Pastoren? Können sie es nicht machen wie die Juden
und einen von den Ältesten der Gemeinde am Sonntag aus der Postille
vorlesen lassen -- ich schreibe ja aus den Postillen ab, wie alle
Pastoren. Können nicht verständige, redliche Männer die Grabrede halten
und taufen? -- die Baptisten taufen doch, und die Pietisten teilen das
Abendmahl aus, während sie wie die Apostel ihrem Beruf nachgehen.
Weißt du, die Religion als Beruf und Broterwerb ist verkehrt. Und auf
der Universität liegen und saufen, Spitzfindigkeiten und theologische
Haarspaltereien lernen, das vertreibt alle Religiosität! Jetzt sollen
die Geistlichen auch in der Kaserne exerzieren, sollen gezwungen
werden, unanständige Lieder zu singen, sollen nächtliche Gespräche
zwischen Soldaten mitanhören; das bedeutet mit der ganzen Kirche als
Broterwerb Schluß machen!«

Hier kam das Gespräch ins Stocken, denn Anders hatte zu wenig Interesse
für die Kirche, um ihren Untergang beklagen zu können; außerdem war
sein eigener Selbsterhaltungstrieb erwacht, so daß er während des
letzten Teils des Gesprächs sich hatte ausdenken können, wo er jetzt
seine zehn Kronen hernehmen würde. Deshalb stand er hastig auf und nahm
mit den einzigen Worten der Ermunterung, die er finden konnte, Abschied:

»Zerstreue dich, alter Junge! Komm herüber und besuche uns, dann wollen
wir dich aufrütteln.«

Der Vikar sah seinen Freund wie einen Fremden an, denn er war in seinen
Hoffnungen, Teilnahme zu finden, getäuscht worden. Er griff aber
nach seiner Pelzmütze, um ihn an den Strand hinunterzubegleiten; er
scherwenzelte wie ein Hund und sprach in einem fort, jetzt aber über
Bagatellen, über das Wetter und den Fischfang, über den Eisgang und die
Gefahren auf See, alles vor tauben Ohren.

Als Anders Borg sich über die Eisrinne gestakt hatte und im Schlitten
saß, fuhr er nordwärts; doch da ihm der am Strande stehende Pastor
einfiel, drehte er sich um, und jetzt sah er, wie der Verlassene die
Mütze zum Abschied schwenkte.

Das gab ihm einen Stich, zugleich aber empfand er den Trost des
Verzweifelten, wenn er einen Menschen zu sehen bekommt, der noch
verzweifelter ist.

Ohne Heim, ohne Freunde, Ruin und Gefängnis vor Augen! dachte er. Es
ist ein Jammer um ihn, aber wo soll ich zehn Kronen hernehmen?

Diese Frage hatte er sich in seinem Innern schon beantwortet, da
er nach Norden über den Fjord steuerte; denn da wohnte der alte
Opernsänger, der sich, der Welt überdrüssig, mit seiner Pension und
seiner Frau auf einen Hof zurückgezogen hatte, den er ohne Acker, aber
mit Jagd- und Fischereigerechtsame gepachtet hatte.

Eine Meile ist für ein Pferd lang, doch es lief sie auch noch, und
Anders Borg war wenigstens eines freundlichen Empfangs und eines guten
Tropfens sicher, wie es dann nachher mit den zehn Kronen auch ablaufen
mochte.

Im Vorbau stand der alte Sänger mit seiner Flinte und einem Jagdhund.
Er kam von einer Hasenpirsch, natürlich ohne etwas geschossen zu haben,
und war sehr erfreut, einen Menschen zu Gesicht zu bekommen; denn
er wohnte in der Einsamkeit und hatte eine halbe Meile weit keinen
Nachbarn.

Während Anders Borg mit dem Schutzleder zu tun hatte, klopfte der
Sänger dem schäumenden Pferde die Nüstern und sagte:

»Du hast einen feinen Schlittentraber, Anders.«

»Willst du ihn kaufen?« fragte Borg, nur um etwas zu sagen.

»Wenn du ihn verkaufen willst! -- denn ich habe gerade einen auf Probe
gehabt, der hatte Spat.«

»Im Ernst, willst du ein Pferd kaufen?«

»Ja gewiß!«

»Dann kannst du meins nehmen; den Schlitten kriegst du zu.«

»Was kostet es denn?«

»Du sollst es für hundertfünfzig haben, mit Schlitten.«

»Her damit!«

»Bar?«

»Bar! Komm herein, dann bezahle ich es dir aus!«

»Aber du mußt mir einen Stuhlschlitten und ein Paar Schlittschuhe
geben, damit ich nach Hause kommen kann! Viktor muß mich auf dem Eise
schieben.«

»Das sollst du haben! Also abgemacht!«

Anders war gerettet, vom Strick abgeschnitten, aus dem Wasser gezogen;
und nachdem er im Pelz ein Glas getrunken hatte, befand er sich auf
dem Heimwege, als der Tag seinem Ende zuging, auf einem Stuhlschlitten
sitzend, geschoben von dem Waldhüter, der auf Schlittschuhen
hinterdrein lief.

Als er sich im Dämmern der Heimat näherte, sah er das ganze Haus
erleuchtet, und er dachte an seine arme Frau, die sicher von Besuch
überrascht worden war und nichts vorzusetzen hatte.

Um nicht ungelegen zu kommen, ging er den Steig hinauf und an der
Eismiete vorbei, wo sein Hofhund blutend und von zwei Ulmer Doggen
vom Herrenhof zerbissen dalag, die jetzt von der toten Kuh schmausten,
während der rechtmäßige Besitzer zusehen mußte.

Anders ging durch die Küche ins Haus und suchte das Schlafzimmer auf,
um sich umzuziehen. Da saß seine Frau und weinte.

»Was ist passiert? Wer ist hier? Warum läßt du die Gäste allein?«
stürzten die Fragen über die Weinende, die in äußerster Verzweiflung
antwortete:

»Dein Vater ist hier und will bei uns bleiben ...«

»Ich kann ihn nicht ernähren!«

»Er sagt, du schuldest ihm eine größere Summe ...«

»Was hat er hier zu tun?«

»Er kann nicht länger bei sich zu Hause bleiben, denn sein
Scheidungsprozeß soll beginnen, vor dem Kirchenrat.«

»O Gott ...«

»Es ist entsetzlich! Es ist entsetzlich!«

Anders machte sich nach der abenteuerlichen Fahrt zurecht, um zum Vater
hineinzugehen und vertrauliche Mitteilungen entgegenzunehmen, nach
denen er kein Verlangen hatte. Aber er beruhigte erst seine Frau, indem
er zwei Fünfzigkronenscheine auf den Toilettentisch legte; den dritten
behielt er in der Tasche, denn die ewige Geldnot hatte ihn auch gegen
seinen besten Freund tückisch gemacht.



Achtes Kapitel

Die neunziger Jahre

(~Fin de siècle~)


Der starke Naturalismus der achtziger Jahre mußte ins Meer verströmen,
wie alle andern Ströme. Die naturwissenschaftliche Methode war
verblüht und trug keine Frucht mehr; viele nahmen die Methode für
die Wahrheit selbst und hielten eigensinnig an der morschen Planke
fest, als sie unterging. Andere, die wachsen wollten, suchten neue
Fahrzeuge, um weiter zu kommen. Sie schieden von dieser Periode
allerdings mit Bedauern, denn diese Verwilderung, dieses Indianerleben
war erfrischend gewesen wie das Räuberleben der Schuljungen in den
Sommerferien; dieses einseitige Licht, das auf Welt und Menschen
fiel, gab ein scharfes Relief, setzte die Dinge und die Ereignisse in
Rembrandtsche Beleuchtung; diese Neueinschätzung alter Gegenstände
brachte buchstäblich eine neue Weltanschauung mit sich, die nicht
auf weite Entfernung, in der Nähe aber sehr scharf sah. Das war
die mikroskopische Methode. Wer aber mit Mikroskopie gearbeitet
hat, weiß nur zu gut, daß man Zellen und Gefäße sehen kann, wo nur
Luftblasen sind, und daß das Staubkorn Gegenstand einer irreführenden
Demonstrierung eines nicht vorhandenen Organs werden kann. Damals,
1889, bekam die Welt zwei neue Denker oder Propheten, Langbehn,
den Verfasser von »Rembrandt als Erzieher«, und Nietzsche, in der
Hauptsache Verfasser von »Jenseits von Gut und Böse«. So große
Unterschiede auch zwischen diesen beiden bestanden, die als diametrale
Gegensätze erscheinen konnten, so hatten sie doch eine gemeinsame
Tangente, und das war ihre Reaktion gegen den Mikroskopismus. Langbehn
ist in erster Linie Makroskopist. Was Rembrandt mit seinem Buch zu tun
hat, hat nie ein Mensch begriffen; und obwohl man jeden einzigen Punkt
in dem ganzen Werk widerlegen zu können glaubte, eröffneten sich doch
hinter Tatsachen neue Perspektiven, und die Naturwissenschaft, die in
den Händen der Detaillisten im Sterben lag, bekam neues Leben.

Langbehn, mit dem das Jahrhundert hätte schließen müssen, ist
eigentlich ein wiedererstandener Kant, mit dem das Jahrhundert
begann; beide suchen die Rettung im Postulat und im Imperativ, da
die Urteilskraft und die reine Vernunft nicht die Fähigkeit bewiesen
hatten, die Welträtsel zu lösen oder dem Individuum den Halt zu
geben, der nötig ist, um auf offner See Kurs halten zu können. Sowohl
Darwin wie Haeckel hatten sich im voraus, wenn auch vergebens, gegen
die raschen Konsequenzen verwahrt, die man aus ihrer Herleitung der
Arten in Bezug auf die Emanzipation der Ethik gezogen hatte, und
Langbehn reagiert gegen die naturalistische Psychologie, die zur
Veterinärwissenschaft erniedrigt wird. Wenn die Naturalisten sagten:
Laßt uns Menschen sein! so meinten sie: Laßt uns Tiere sein! Sogar die
Theologie oder die Lehre von Gott wurde von der Zoologie hergeleitet.
Die Furcht des Tieres vor dem Unbekannten und die Verwechselung von
Traum und Wirklichkeit durch den Willen sollte der Ursprung der
Religion sein!

Was sollte man da von einer Welt glauben, in der die Menschen als
Märtyrer für eine Unwahrheit gestorben waren? Was sollte man von dem
Künftigen denken, wenn das Vergangene als Lüge hingestellt wurde?
Achtzehnhundert Jahre Christentum, die eines schönen Tages sich als ein
Irrtum erwiesen? Das war zu närrisch, und ein Schuß vor die Stirn war
das einzige und das letzte!

Dem Revolver stand die Menschheit jetzt gegenüber und sah keine Rettung.

Da kam der zweite Prophet, Nietzsche, und erklärte zuerst, daß das Böse
gut sei und das Gute böse, ferner, daß Gut und Böse nicht existierten.
Das war die Apologie des Verbrechens, die Verbrechermoral, die in Oscar
Wildes Perversität ihren schärfsten Ausdruck fand. Hatte Langbehn durch
seine Negativbilder unfreiwillig die Lichtseiten des Naturalismus
hervorgehoben, so trieb Nietzsche ihn durch Karikaturen aus, die seine
Fehler betonten.

In Paris war gleichzeitig ein Gefühl für die Unzulänglichkeit des
Positivismus erwacht, und es begann Zeitungsartikel zu regnen mit
Überschriften wie: »Hier wird eine Religion gesucht«; »Stellung findet
ein Prophet«; »Zu mieten gesucht eine allgemeine, zeitgemäße Kirche«.

Selbst Zola begann zu erwachen, und er, der als Zuschauer, ruhig,
gefühllos dagesessen hatte, erhebt sich, um sich nach einer Religion
umzusehen. In Lourdes findet er sie nicht, da sein Arzt das Wunder
»erklärt«, nicht als Betrug -- das wäre zu alt --, sondern als
Hypnose. Da geht er nach Rom, nicht ohne die Illusion, das Christentum
modernisieren zu können und einen zeitgemäßen Kompromiß zwischen
Wissenschaft und Religion zustande zu bringen. Aber das gelingt ihm
nicht. Später sucht er als fanatischer Gläubiger seine Religion
im Fortschreiten der Menschheit durch Wissenschaft und Arbeit zu
Gerechtigkeit und Wahrheit und endet in Cabets paradiesischem Ikarien,
wo das Lamm mit dem Löwen spielt und die Vögel des Waldes am vollen
Tisch des Phalansters speisen, und wo es keine Armen gibt.

Zola wuchs vom sterilen zoologischen Zweifel zum Glauben an Fortschritt
zu Glück und Tugend (das war ein neues Wort). Aber viele seiner Schüler
blieben im Wachstum stehen und fuhren fort, das abgenutzte Programm
herunterzuspielen, das jetzt für Leierkasten gesetzt worden war.

Zola endete also als Idealist im wahren Sinne des Worts; und obwohl er
die religiösen Formen haßte und bekämpfte, besonders die römischen, war
er auf seine Art religiös, gläubig.

Doch die französische Jugend der neunziger Jahre hatte Zola nicht
gekannt, wollte ihn nicht kennen, nichts mit ihm zu tun haben. Sie
hatten einen ganz andern Lehrer und Propheten, und das war Josephin
Peladan.

Es ist unfaßlich, daß unsere Literarhistoriker, die vom Staat dafür
bezahlt werden, die zeitgenössische Literatur zu verfolgen, nie die
merkwürdige Erscheinung Peladans erwähnen, höchstens im Vorbeigehen mit
einem Lächeln, während sie über seine deutschen Epigonen Vorlesungen
halten. Man fragt sich, ob sie von seiner Existenz nichts wissen;
oder ist es Peladans Schicksal, nie diese liederliche Popularität zu
erreichen, die gewöhnlich damit endet, daß man vulgarisiert wird,
daß der Haufe das Idol satt bekommt, daß die Größe fällt und auf den
Kehricht geworfen wird?

Schon 1884, also als Zola erst bis zum »~Bonheur des Dames~« gelangt
war, beginnt Peladans Wirksamkeit mit dem ersten Bande seines Zyklus
~La Décadence Latine~ -- betitelt ~Le Vice Suprème~.

In den zwanzig Jahren, die seitdem vergangen sind, hat er vierzehn
Romane herausgegeben, außerdem Dramen und philosophische Arbeiten,
insgesamt achtunddreißig Bände. Die vierzehn Romane laufen parallel mit
denen Zolas, aber während dieser im Rougonzyklus das zweite Kaiserreich
schildert, malt Peladan seine eigene Zeit, die dritte Republik. Finis
Latinorum ist sein Motto, und er glaubt, daß die Lateiner untergehen;
er sagt ihren Untergang voraus, schildert wie ein Juvenal alles Elend
in dem modernen Paris; mit der gleichen Unerschrockenheit wie Zola
und mit derselben naiven Schamlosigkeit. Sein Material an Erlebtem und
Gesehenem ist unerhört, sein Stil lodernd vor Eifer; er taucht in den
Schlamm unter, kommt aber immer wieder herauf, schlägt mit den Flügeln
und erhebt sich zu den Wolken.

Sein glänzendster Roman ist die »~Initiation sentimentale~«, ein Buch
über die Liebe in allen Arten, Tonarten und Abarten, in dem er von
allen möglichen Häusern die Dächer abhebt und die Eingeweide von Paris
zeigt. Es ist ein furchtbares Buch, reich, groß, und schön trotz allem
Häßlichen, das er darin darstellt.

Derselbe Mann hat eine Großtat gewagt, und sie ist ihm gelungen! Er hat
zu Äschylos' Prometheus die beiden Teile der Trilogie, die verloren
sind, hinzugedichtet; und wenn sie im Ton nicht ganz dazu passen,
so liegt das an ihrem reicheren und tieferen Inhalt, zum mindesten
erscheint es jedem so, der nicht an die Unerreichbarkeit der Antike
glaubt. Es wäre ja betrübend, wenn die Welt nicht fortschritte und
Gedankenleben und Ausdrucksmittel ebenfalls vervollkommnete.

Peladan ist kein Nationalist oder Revanchemann; er ist Weltbürger und
hat in Frankreich trotz dem Widerstand der Patrioten Wagner eingeführt;
und schwerlich hat irgend ein Deutscher seinen Wagner so gigantisch
aufgefaßt wie Peladan den seinen.

Für die moderne Kunst hat er durch seine Ausstellungen gewirkt, und
alles, was Symbolismus heißt, hat er gestartet.

Woran liegt es bei ihm, daß er nicht über seine Kreise hinausgedrungen
ist? -- Ja, er war zu gebildet, um von allen begriffen zu werden; er
war christlich wie ein Kreuzfahrer, und das war ihm bei den Heiden im
Wege; er ging mit den Chequards und Panamisten der dritten Republik
streng ins Gericht.

Peladans Einfluß ist unberechenbar groß; doch er wirkt nicht direkt
sondern durch seine Jünger. Man zitiert ihn nicht, aber man schöpft
aus seinen Trögen; seine Person wurde preisgegeben und sie fiel wegen
seiner Vatermörder wie Kierkegaard wegen des grünen Regenschirms; aber
er lebt als die Stimme eines Rufenden, der germanische Bildung in sein
Land einführte und dessen verschlossene Tore für Europa öffnete.

       *       *       *       *       *

Der Menschengeist erwachte aus seiner Isolierung und fühlte die Kräfte
aufhören, da er den Kontakt mit dem Jenseits abgebrochen hatte.
Dies Suchen nach einer Verbindung mit dem Immateriellen war ein
charakteristischer Zug der neunziger Jahre. Nachdem nämlich Haeckel in
den achtziger Jahren sein ~Systema Naturae~ oder die Stammtafel der
Schöpfung aufgestellt hatte, war es aus mit der Naturwissenschaft;
nicht eine einzige neue Erfindung von Bedeutung wurde gemacht; die
Serumtherapie machte den größten Alarm, erwies sich aber als falsch;
dann kam nur noch Kleinkram auf allen Gebieten, kleine Entwickelungen
alter Thesen und viel Hallo auf falschen Spuren. Die Naturwissenschaft
war tatsächlich bankrott. Die Kraftquelle der Zeit, die Elektrizität,
wurde durch den ungelehrten Edison in die Industrie eingeführt, der das
Licht vervollkommnete und den Phonographen herstellte; das Telephon
war Bells Erfindung aus den sechziger Jahren; so daß der herrschende
Darwinismus keinerlei epochemachende Folgen für das kulturelle
Leben der Zeit hatte, nicht einmal in der Chemie, wo Mendelejeffs
periodisches System wie ein Grabmal auf dem Totenacker der Systematik
steht.

Da entdeckte man, daß man auf falschen Spuren war, und machte kehrt,
um am Kreuzwege eine neue Straße zu suchen. Man hatte Erscheinungen
und Tatsachen gesammelt, konnte aber nichts erklären; und erklären
hieß doch, das herausfinden, was hinter dem Phänomen lag; als man nun
merkte, daß das, was dahinter lag, sich »auf der andern Seite« befand,
da suchte man ganz logischerweise das Jenseits. Das war die Mystik, die
zu jener Zeit von sich reden machte. Und damals stieg Swedenborg nach
hundertjährigem Grabesschlummer empor. Er kam auf vielen Wegen wieder.
Durch Balzac, den man in einer billigen Ausgabe wieder zu lesen begann,
während man in Swedenborgs Nichte Seraphita Spuren von Nietzsches
Übermensch und Peladans Androgyn fand. Die Pariser Okkultisten
entdeckten Swedenborg und Böhme wieder durch Forschungen in Eliphas
Levi und Saint Martin; die Theosophen witterten ihn in der Geheimlehre
Blawatskys. Aber die stärkste Stütze für den Mystizismus war das
Erscheinen von Berthelots Geschichte der Alchimie. Dieser Positivist,
der mit der Synthese der Kohlenwasserstoffe gearbeitet hatte, leistete
hier dem Mystizismus einen unbeabsichtigten Dienst. Wenn man nämlich
in wenigen Worten den Unterschied zwischen Alchimie und Chemie
angeben will, so kann man sagen, daß die Alchimie an die Fähigkeit
der Grundstoffe glaubte, in einander überzugehen (Transmutation),
die neuere Chemie aber nicht. Nun hatte Berthelot im Lauf der Arbeit
eine steigende Sympathie für die Alchimisten gezeigt, was den Mut der
Kleinmütigen, weiterzuforschen, stärkte. Gleichzeitig hatte Crookes
in seiner »Entstehung der Grundstoffe« die Ansicht ausgesprochen, die
»einfachen Stoffe« seien entstanden und hätten sich einer aus dem
anderen entwickelt. Lockyer hatte dem Französischen Institut seine
Vermutung unterbreitet, Phosphor sei ein zusammengesetzter Stoff,
weil er zwei Spektren besäße. All das stand ja im Einklang mit dem
herrschenden Monismus oder der Einheit des Alls und hätte folgerichtig
die Ansicht der Zeit sein müssen; aber inkonsequenterweise hielt man
den Glauben an die spezielle, unveränderliche Natur der Grundstoffe
aufrecht, wodurch man unfreiwillig die verworfene Lehre von besonderen
Schöpfungsakten unterstützte.

Berzelius wiederum hatte schon 1835 die wichtige Frage gestellt:
»Sind die Metalle einfache Stoffe?« und in seiner Antwort darauf die
folgenden entscheidenden Worte ausgesprochen: Ein Körper, den ich
den Metallen beigeordnet habe, ist Ammonium, das aus Stickstoff und
Wasserstoff besteht und dessen Metallisierung vermittelst Elektrizität
den Gedanken an ein zusammengesetztes Metall zuzulassen scheint ... Was
den einfachen Zustand der andern Metalle zweifelhaft macht, ist, daß
sie in der organischen Natur aus Stoffen zu entstehen scheinen, die
keine Spur von diesen Metallen enthalten.

Im selben Augenblick aber, wo die Metalle nicht einfach waren, konnten
sie ineinander übergehen, und die selbstverständliche Schlußfolgerung
daraus ergab sich mit gebieterischer Unwiderstehlichkeit: Man kann Gold
machen!

Die nächste Schlußfolgerung war: Man hat immer Gold aus Schwefelkies
»gemacht«, wenn man es auszuziehen geglaubt hat. Was Gahns Beobachtung
erklärt, daß fast aller Schwefelkies Gold enthält.

Doch die Trägheit der menschlichen Gehirne, besonders der trainierten,
ist so groß, daß sie, wenn sie das erste Corollarium gezogen haben, das
zweite nicht zu ziehen vermögen.

Deshalb löste sich das Staunen in ein dummes Grinsen auf, das
allmählich boshaft wurde und damit endete, daß man die Zähne zeigte.
Als schließlich in unserm neuen Jahrhundert Ramsay (und Kelvin)
bewiesen, daß Radium Helium werden kann, bekamen die alten Routiniers
Krämpfe, da sie einsahen, daß sie auf falschem Wege waren und es zum
Umkehren zu spät sei.

Dies war die Geschichte der Goldmacherei in den neunziger Jahren, die
so einfach war, einfacher als das Ei des Kolumbus.

Um aber zu Swedenborg zurückzukehren: Hundertköpfig stieg er aus dem
Grabe: die Astronomen in Pulkova grüßten ihn als Astronomen, als
Vorgänger Kants und Laplaces; die Zoologen entdeckten ihn und stellten
fest, daß Buffon in seiner Einleitung zum Tierreich seine Kosmogonie
geplündert habe; die Chemiker und Bergkundigen besonders huldigten
ihm; und schließlich kamen Physiologen und Anatomen in Scharen, um
dem Wiedergeborenen Weihrauch und Myrrhen darzubringen! Gekrönt aber
wurde Swedenborg von einem Literarhistoriker Max Morris, der in einer
längeren Abhandlung das liberale Idol der Zeit, Goethe selbst, als
Schüler Swedenborgs hinstellte. »Swedenborg im Faust« heißt der Aufsatz
(im Euphorion 1899, Heft 6), in dem aus den ~Arcana Coelestia~ bewiesen
wird, daß Fausts Berührungen mit der Geisterwelt von Swedenborg
vermittelt sind, über Kant und Fräulein von Klettenberg (schon 1771).

Was sagten die Goethe-Freunde dazu? Nichts, denn wenn man keine Antwort
hat, sagt man gewöhnlich nichts!

       *       *       *       *       *

Dies waren die hauptsächlichsten geistigen Bewegungen des
Jahrhundertendes, die in den letzten Jahren doch in einigen großen
Funken flammend aufglühen sollten, um dem neuen Jahrhundert zu
leuchten, das vielleicht das allergrößte werden wird, wenn auch das
neunzehnte Jahrhundert das größte war, -- nach dem fünfzehnten.



Neuntes Kapitel

Esther


Esther Borg, die Tochter des Redakteurs und Frau Britas, war ein
Mädchen ohne Schönheit, das wußte sie selbst; und deshalb erwachte sie
früh zu dem Entschluß, etwas zu werden, statt auf einen Mann zu warten.
Mit siebzehn Jahren wurde sie Studentin und ging nach Upsala, um
Medizin zu studieren, nicht aus besonderer Begabung, sondern um etwas
zu tun zu haben.

Sie kam durch ihren Namen in Kreise, in denen man mit den Fragen der
Zeit fertig war und eine neue Auffassung vom Leben bekommen hatte, eine
Antizipation des Kommenden. Es waren keine Zweifel oder Befürchtungen
mehr, es waren Axiome.

Von den männlichen Kameraden wurde sie als Kamerad behandelt, aber als
ein männlicher, vor dem man sich nicht genierte. Das hatte anfangs für
sie einen gewissen Reiz, und sie fühlte sich über ihre Stellung als
Geschlechtswesen emporgehoben; aber sobald ein weiblicher Kamerad von
einiger Schönheit in den Kreis kam, wurde es anders. Wenn dieser als
Kamerad aufgenommen wurde, geschah es in anderer Art. Die Schöne wurde
mit Ritterlichkeit behandelt, als eine überlegene inkommensurable
Größe; mit einem Wort als Frau. Der rohe Scherz verstummte, die Herren
wurden gesittet, Wärme verbreitete sich, und eine Stimmung voll dumpfer
Lyrik legte sich über die Gesellschaft, in der Esther ihren Platz nicht
wiederfand; denn sie konnte ja von weiblicher Schönheit nicht angenehm
berührt werden, noch das Entzücken ihrer Kameraden einer Angehörigen
ihres Geschlechts gegenüber teilen.

Da spürte sie das Schiefe ihrer Stellung; und sie empfand die
Gleichheit mit dem Manne als eine Beleidigung, eine Kränkung,
besonders, da sie vernachlässigt wurde. Deshalb achtete sie nicht mehr
auf ihr Äußeres, legte alle Weiblichkeit ab, ging in Kneipen, schob
Kegel und nahm eines Abends an einer Prügelei mit Handwerksburschen
teil. Beim Radeln trug sie eine Sportjacke mit Kniehosen, und dies
Kostüm nahm ganz allmählich die Form einer Männertracht an.

Die Kameraden vergaßen auch allmählich, daß sie Weib war, nannten sie
nie Esther, sondern Borg, im Anfang; abends aber hieß sie Pelle und
trug dann einen Kaisermantel mit Pelerine und die Studentenmütze, so
daß jeder sie für einen Mann halten mußte.

Eines Abends nach einer großen Kneiperei auf der »Rolle« schlug ein
Mediziner vor, zu Mädchen zu gehen; und Pelle ging mit; das fand man
ganz natürlich. Als Szene war es freilich neu, obwohl es vor dem
Studenten der Medizin Esther Borg keine Geheimnisse gab.

Die Mädchen guckten den Burschen zwar etwas erstaunt an; aber sie
hatten an anderes zu denken, und man war ja hauptsächlich da, um zu
trinken und zu schwatzen. Unter den Gästen befand sich auch ein junger
Graf, der wußte, wer Esther war, und es doch seltsam fand, ein Mädchen
aus guter Familie an einem solchen Ort zu treffen.

Einen Augenblick leerte sich der Raum, so daß der Graf und der falsche
Jüngling allein blieben.

Das Zimmer hatte eine gewisse Stimmung; da die Decke niedrig war,
konnte über dem Kopf keine Dunkelheit entstehen; die Wände waren von
geschnitzten Leisten in Felder eingeteilt mit gemalten Landschaften,
auf denen Schäfer und Schäferinnen ihre Schafe hüteten und Kirschen
aßen, unschuldig, kindlich. Die Fenstervorhänge waren aus großblumigem
Taft, und zwischen ihnen sah man das Schloß im Mondschein. Der Graf
hatte sich an das alte Klavier gesetzt und klimperte jetzt mit den
Tasten, als erwarte er, durch eine Anrede Esthers unterbrochen zu
werden. Aber als sie hartnäckig schwieg, spielte er Chopins zweites
Nocturno in ~G~-Dur.

Esther kannte es nicht, deshalb staunte sie über die schönen Töne, die
in diesem Augenblick zu entstehen schienen. Modulationen in Dur, die
wie Moll klingen, der tiefste Schmerz, der seinen eigenen Trost in sich
trägt; eine schlaflose Nacht, die die Wohltat hat, nicht von schweren
Träumen gestört zu werden, wie qualvoll das Wachen auch sein mag. Der
Ort veränderte sein Aussehen, die Umgebung vergoldete sich, und das
junge Mädchen wurde von einer Wehmut ergriffen, die ihrer indolenten
Natur fremd war. Sie war hierhergekommen wie in den Seziersaal, wo
es schrecklich war, wo aber das Häßliche vom Interesse geadelt wurde.
Plötzlich öffnete sich ihr eine andere Welt der Reinheit und Schönheit;
eine lichte Wolke isolierte die beiden von der unsauberen Umgebung,
stellte sich schützend um sie und ließ sie vergessen, wo sie waren.

Als der Graf aufhörte zu spielen, mußte er sprechen, da sie nichts
sagte.

»Wissen Sie, was ich gespielt habe?«

»Nein, ich kenne es nicht.«

»Das war Chopin! Und ich habe das Gefühl, als habe er dies Nocturno
eines Nachts gedichtet, an einem solchen Ort, wo man wehmütig wird in
dem Suchen nach einer Freude, die man nicht findet; wo man das Elend
des ganzes Daseins vor dem Unvollkommensten alles Unvollkommenen
empfindet.«

»Glauben Sie wirklich, daß Chopin solche Orte besucht hat?« fragte das
Mädchen, das noch nicht recht bei der Sache war.

Der Graf lächelte schwermütig:

»Ja, sicher hat er das getan; ist das so sonderbar? Sie und ich sitzen
ja auch hier.«

Dies Sie und ich hob sie empor, schloß sie zu einem wir zusammen.

»Das stimmt,« antwortete Esther naiver als sie wollte, da sie damit ja
die Artigkeit akzeptierte.

Der Graf lächelte über den weiblichen Zug, eine Schmeichelei nicht
zu verschmähen; und in diesem Augenblick fühlte das Mädchen, daß sie
von jemand vom andern Ufer angesprochen wurde, und sie suchte einen
Kontakt mit diesem besseren.

»Was tun wir hier eigentlich? Warum sind Sie hier?« fragte sie
unwillkürlich fast vorwurfsvoll.

»Ja, mein Fräulein, das ist nicht leicht zu sagen. Ich gehe mit; ich
lasse den Schatten eines Verdachtes auf mich fallen, daß ich den
andern gleich bin, um einem andern ungerechten Verdacht zu entgehen.
Im übrigen haben dieser Ort und seine Bewohner eine Anziehungskraft.
Sie erinnern an einen Naturzustand, den wir überwunden haben, deshalb
scheint mir Ihr Benehmen naiv wie das des Landmädchens. Ich sehe nie
etwas Unkeusches, nie irgendwelche Reue, die das Bewußtsein eines
Unrechts andeuten würde; ich verstehe es nicht, aber ich kann es nicht
verurteilen, ich billige es freilich auch nicht. Letzte Weihnachten,
am Weihnachtsabend, ging ich an der Frauenabteilung des Krankenhauses
vorbei. Das Haus sieht aus, als litte es an allen Krankheiten, die es
gibt, und der Putz ist stellenweise abgefallen wie Wundschorf. Also,
ich ging in Weihnachtsgedanken da vorbei, und durch das Fenster zu
ebener Erde mit dem Eisengitter drang Gesang auf die Straße hinaus; ich
empfand einen Augenblick unendlichen Schmerz, als ich mich in die Lage
dieser Unglücklichen versetzte -- denken Sie, ein Weihnachtsabend da
drinnen! -- Aber was geschah? Der Gesang drang lauter zu mir heraus,
und ich hörte: ›O wonnevolle Studienzeit ...‹«

Esther unterbrach ihn und fuhr fort:

»Ich hatte gerade an dem Abend drinnen die Ronde, und ich sah
sie um den Weihnachtsbaum tanzen, an dem ein Kruzifix hing, das
sie von den Elisabethschwestern bekommen hatten. Sie zeigten die
gleiche ungeheuchelte Freude über den Gekreuzigten wie über die
Pfefferkuchenmänner. Sie nannten den Gekreuzigten Erlöser, nicht
Christus, und den Namen Jesus sprechen sie nie aus. Sie glauben an
den Erlöser und sprechen von ihm wie kleine Kinder; hören sie einen
Freidenker lästern, so schaudern sie und drücken ihren Abscheu aus.
Können Sie diese Menschen erklären?«

»Nein, das kann ich nicht!« antwortete der Graf; »und deshalb behandle
ich sie stets mit einer indifferenten Achtung als Mitmenschen.
Ist Ihnen übrigens aufgefallen, daß man an ihren Wänden nie ein
unanständiges Bild sieht, fast nie aus ihrem Munde ein plumpes Wort
hört ...«

»Ja, ich als Arzt und (hier stockte Esther vor dem Wort, sprach es aber
aus) -- und Frau höre ja nicht ...«

»Ich auch nicht,« antwortete der Graf.

Nun lachte Esther:

»Das hängt vielleicht davon ab, mit wem sie sprechen.«

Der Graf errötete wie ein Mann, dem von einer Frau eine Schmeichelei
gesagt wird, und um seine Verlegenheit zu verbergen, fuhr er mit großem
Eifer fort:

»Aber das Charakteristischste an diesen Mädchen ist ihre Freude am
Lachen; es soll lustig sein, alles soll lustig sein, nicht, wie wir
früher glaubten, weil sie vergessen oder das Gewissen betäuben wollen;
man nennt sie ja Freudenmädchen, und das ist das rechte Wort. Was ist
dies eigentlich für eine natürliche Auslese von Menschen? Was sagt Ihre
Wissenschaft über die Sache?«

»Sie kann nichts sagen, denn sie weiß nichts. Möglich ist, daß sie nahe
Nachkommen von Wilden sind, da sie ein anderes Gewissen haben als --
wir, denn es ist fast unmöglich, ihr Schamgefühl zu wecken; sie wollen
nichts davon hören, verstehen es nicht, schlagen es in den Wind, und
die größte Furcht haben sie vor ernsten Männern.«

»Ja, das weiß ich,« antwortete der Graf; »mich hassen sie, weil ich so
langweilig bin, und ich habe doch nie versucht, vernünftig mit ihnen zu
reden; aber ich kann nicht lachen ...«

»Nicht? Es ist doch so gesund!«

»Wenn ich einmal etwas zu lächeln habe, werde ich lächeln, das ist
menschlich; aber lachen ist immer boshaft und wird vom Barocken,
Verzerrten, vom Bösen hervorgerufen; deshalb löst es sich gewöhnlich in
tränende Augen auf und hat oft ein Gefühl der Leere zur Folge, das in
wirklichem Weinen, Weinen ohne Ursache endet.«

Jetzt erst bemerkte Esther, daß der junge Graf im Frack war. Das sah er
und fuhr fort:

»Sie sehen meinen Frack an! Ja, ich war bei Professor X. zum
Abendessen.«

»Nun?«

»Es ist schauderhaft, aber vielleicht nützlich. Die Jungen üben sich im
Schweigen und die Älteren im Verschweigen; alle gehen wie mit Halftern
umher, um nicht zu beißen; und heute abend war die Gesellschaft so,
daß keiner ein vernünftiges Wort zu äußern wagte; alle schwiegen.
Das nennt man Meinungen austauschen. Wissen Sie, nach einer solchen
Maskerade sehnt man sich förmlich danach, hierherzugehen. Sonst pflegen
alle Gäste ins Café zu eilen, um dort aussprechen zu können, was in der
Gesellschaft nicht gesagt wurde.«

»Finden Sie es amüsant zu leben?« fragte Esther ganz schnell.

»Zu leben? Ist das: leben? Hier ist doch nur die Rede von töten, alle
gesunden, starken Triebe zu töten, die das Leben erhalten sollten;
und tötet man sie nicht durch Entsagung, sondern macht ihnen Luft, so
stirbt man im Krankenhause oder verendet später im heiligen Ehestande
am kalten Brand. Die Sache mit der Lebensfreude in den achtziger Jahren
war ein furchtbarer Schwindel; die Propheten nahmen ein trauriges Ende,
und alles ging wieder in die alten Gleise zurück. Wissen Sie, daß
ich einen Freund habe, der im Krankenhause liegt und ganz sacht und
allmählich stirbt?«

»Ich kenne ihn; Sie meinen den Dichter?«

»Ja, wollen wir hingehen, im Mondschein? Er nimmt die Sache ganz ruhig.«

»Gern,« antwortete Esther, und sie brachen auf.

Die Herbstnacht war mondhell und lau; sie gingen stille kleine Gassen,
breite, grüne Straßen und kamen in den Park des Krankenhauses. Unter
den riesigen Bäumen waren Zelte aufgeschlagen für die Kranken, die dort
schliefen oder wachten, je nachdem. Unter einem Ahorn aber saß der
Unterarzt mit einem Kandidaten und trank Whisky. Esther und der Graf,
die beide kannten, traten heran und fragten nach dem Dichter.

»Ja,« antwortete der Unterarzt, »er liegt hier ganz in der Nähe und ist
wach; aber er macht es wohl nicht mehr lange, da er zu Professor X.
geschickt hat.«

»Was? Zu dem Theologen?« fragte Esther erstaunt.

»Ja, der Alte und Axel verkehrten ja in aller Freundlichkeit, um sich
zu streiten, in aller Freundlichkeit, und der Dichter hat uns gebeten,
ihrer letzten Schlacht beizuwohnen, um falsche Berichte über deren
Verlauf unmöglich zu machen.«

»Können wir denn inzwischen zu ihm gehen?«

»Bitte; er liegt und liest Andersens Märchen.«

Esther und der Graf gingen ins nächste Zelt; da lag Axel E. und las
beim Schein einer Laterne.

Es war eine kleine, abgezehrte Gestalt mit schwarzem Vollbart,
von exotischem, französischem oder italienischem, Aussehen; seine
Augen waren groß, glänzend, und er forschte eine Weile, bis er die
Eintretenden erkannte, denn seine Augen begannen zu versagen wie sein
Gehör. Dann lächelte er, reichte jedem eine Hand und bat sie mit
flüsternder Stimme, Platz zu nehmen. Er wußte wohl, daß er sterben
würde, aber er verschwieg es sich selbst und wollte nicht, daß ein
anderer es sagte. Bisweilen aber fuhr der Hochmut in ihn, und dann
pflegte er mit seiner Furchtlosigkeit zu prahlen.

»Ja, Kinder,« flüsterte er, »jetzt erlösche ich; das Auge verliert
sein Licht, das Ohr sein Gehör und die Stimme ihren Klang.«

Jetzt hustete er, unheimlich, denn er hatte Kehlkopfschwindsucht.

»Aber seht ihr, noch ist keine Gefahr, denn der Puls geht in den
Nächten auf achtunddreißig Grad herunter; und die Nächte sind das
schlimmste. Freilich wäre es schade, wenn ich jetzt wegmüßte, wo ich
von Tabak, Alkohol und all dem andern gereinigt bin. Ich fühle mich
wie innerlich gewaschen. Ja, es ist häßlich zu leben. Hört einmal,
dieser Ephraim ist ein komischer Kerl. Er hat mir aus Norrbotten einen
Brief geschrieben und fängt so an: Wenn dieser Brief dich noch am Leben
trifft. -- So schreibt man nicht an einen kranken Menschen. Ja, das
Leben! Wißt ihr, was das schlimmste ist, was ich erlebt habe? Setzt
euch, dann sollt ihr es hören! ... Esther, du besinnst dich auf das
Mädchen mit dem roten Haar, nicht wahr! mit dem ich mich verheiraten
wollte. Ja, wir reisten nach Petersburg, und nach dem ersten Glück kam
die Langeweile. Wißt ihr, was Langeweile zu Zweien ist? Allein kann
sie schlimm sein, ist aber ganz erbaulich; zu zweien jedoch ist sie
grauenvoll; ist sie der Tod; man ist aneinander gebunden, aber man
haßt sich, grenzenlos, weil man einander bindet. Nun, sie hatte in
aller Heimlichkeit Papiere beschafft, die auch mich durch die Trauung
binden sollten. Als ich entdeckte, wer sie war, machte ich meine Armut
gegen die Eheschließung geltend, doch da antwortete sie: ich habe Geld.
Wir bewohnten in einem einfachen Hotel ein Zimmer. Aber eines Tages
-- sie war halbe Tage fort -- führte sie mich in ein Restaurant, das
erste in Petersburg. Dort stellte sie mich einem Freunde vor, der uns
zu einem Hundertfrankendiner einlud. Ich brauchte ja nur die Augen
aufzumachen, um zu begreifen; und als sie beim Champagner einen Blick
wechselten, faßte ich einen Entschluß. Also gut, nachdem wir in der
Nacht nach Hause gekommen waren, stellte ich mich schlafend. Als ich
merkte, daß sie schlief, stand ich auf, nahm ihr Portemonnaie, denn
mein Geld war zu Ende, ergriff meine Kleider und Schuhe und schlich
auf den Flur hinaus; und im eiskalten Winter kleidete ich mich auf dem
steinernen Hausflur an. Daran lief ich zum Bahnhof. Doch es fuhr erst
sechs Stunden später ein Zug ab. Kinder! Ich lief sechs Stunden auf dem
Bahnhof umher! Und in der Angst, als Dieb festgenommen zu werden! --
Aber es gelang mir zu fliehen! -- -- Als Dieb! Was sagt ihr dazu? --
Und wie würdet ihr gehandelt haben?«

»Ebenso,« antwortete der Graf, sei es, um einen Sterbenden zu trösten,
sei es, weil er sich der Tat fähig glaubte.

»Dieb!« wiederholte Axel E.

»Nun, hast du es dir später zum Vorwurf gemacht?« fragte Esther.

»Nein,« antwortete der Dichter, »könnt ihr euch das vorstellen? Ich
habe mir keine Vorwürfe gemacht; aber ich bin wütend gewesen, weil ich
mich in eine so schmutzige Situation hatte hineinziehen lassen. Ich
handelte in gutem Glauben, in Begeisterung, und in ... aber auf wen ich
böse sein soll, weiß ich nicht. Zufall, Schicksal, Umstände sind für
mich Personen, die ich nicht definieren kann, die ich aber als lebende
Wesen anerkenne.«

»Warum hast du den Professor rufen lassen?« schnitt jetzt Esther ab,
die mehr für Wirklichkeiten war.

»Den Professor? Ach so, das hatte ich vergessen! Ja, ich war allein und
wollte mit ihm streiten.«

»Willst du nicht lieber Morphium haben und schlafen?«

»Morphium wirkt nicht bei mir; nein, ich will wach sein und reden; ich
will meine Stimme hören, so lange sie zu hören ist!«

Jetzt zeigte sich in der Tür des Zeltes ein weißer Greisenkopf, der
nicht vom gewöhnlichen Schlage war. Es war kein Pauluskopf, auch kein
Petrus, aber etwas von beiden. ~En face~ leuchtete Wohlwollen, Ergebung
in das Schicksal, christliche Demut daraus; im Profil aber zeigte sich
ein Druide, ein Odinspriester, der nach dem Flintmesser sucht, um
den Gefangenen das Herz auszuschneiden. Man dachte an die Galgen von
Upsala, an die Äste des Odinshaines, wo die Geschlachteten als Opfer
für den unversöhnlichen Versöhner aufgehängt wurden.

Axel E. aber, der die kolossale Silhouette des Alten sah, die der
Laternenschein auf die Zeltleinwand warf, fand in dieser Zeichnung
einen Wolkengreis, wie man ihn nach dem Gewitter sieht, etwas von Zeus
oder Moses, und er wurde unwillkürlich eingeschüchtert, wie alle, die
in die Nähe dieses Beichtvaters der Jugend kamen.

»Nun, mein lieber Axel,« begann der Alte, »wie geht es dir jetzt?«

»Recht schlecht, Onkel,« antwortete Axel E., der schon bereute, in
seiner Schwäche diesen robusten Kämpen herausgefordert zu haben.

»Wie steht es denn mit deiner Seele?«

»Ja, siehst du, Onkel, an die habe ich in diesen neunzig Tagen gedacht,
aber ich komme nicht zur Klarheit.«

»Nicht? Nicht? Bist du dir deiner Schuld nicht bewußt geworden?«

»Nein, das bin ich nicht. Daß ich ein Sünder bin, weiß ich, denn
wir sind in Sünde geboren; da wir aber alle Sünder sind, so bin ich
keine Ausnahme und brauche meine Sünden nicht einem andern Sünder zu
bekennen, der ebensogut mir beichten müßte, da wir ja Geschwister
sind ...«

»Du bist noch weit entfernt, mein Junge ...«

»Warte ein wenig, dann will ich alles im Zusammenhang sagen, und meine
Freunde hier sollen meine Zeugen sein ...«

Hier hustete er, und seine flüsternde Stimme bekam ihren Klang wieder,
als er sich in sitzende Stellung aufrichtete.

»Ich war zwölf Jahre alt, als meine Mannbarkeit sich zeigte. Aus reinem
Unverstand, im Spiel, wurde ich von einem älteren Kameraden verlockt,
den ich später als den Verführer meiner Jugend verflucht habe, viel
später, als ich ihn wiedersah und er seinen Verführer namhaft machte.
Ich wurde von einem Buch eingeschüchtert, das mich fast ins Irrenhaus
gebracht hätte, weil es mir Furcht vor den ewigen Strafen einflößte.
Ich wurde Pietist und glaubte, jetzt würde ich Frieden finden; aber den
Gemütszustand, den die Religion mit sich bringt, möchte ich Unseligkeit
nennen; alles wurde schwarz um mich her, Welt und Menschen, und das
schlimmste waren die Askese und die Quälerei. -- Ich lag auf dem bloßen
Bettboden, die Gurten schnitten in meinen Körper, und ich fror unter
dem dünnen Laken; ich sprach mein Abendgebet auf den Fliesen vor dem
Kachelofen; ich hungerte; ich demütigte mich vor den Menschen, so daß
ich in den Rinnstein hinunterging und jedem auswich, weil ich mich für
schlechter hielt als alle andern und nicht würdig, auf dem Trottoir zu
gehen. Als ich mich nun selbst überwunden hatte, wurde ich im Schlaf
von Träumen überfallen; und das neue Unerklärliche erschreckte mich so,
daß ich nicht zu schlafen wagte; der heilige Schlaf war mir zum Fluch
geworden; aber meine Seele war rein, denn ich dichtete nur Schönes,
das wißt ihr alle, die ihr meine Jugendgedichte gelesen habt. Als ich
nun sah, daß der gute Wille, daß alle Anstrengungen vergeblich seien,
als ich dachte, mein Leben werde entschwinden, als ich erkannte, daß
meine Gebete zu Gott nur mit Hohn beantwortet wurden, da glaubte ich in
der Hölle zu sein, glaubte, Gott habe mir den Rücken gekehrt. Da las
ich Stagnelius und erhielt von ihm eine Art Erklärung des Elends. Die
Seele sei in das Gefängnis des Körpers eingesperrt und könne sich nur
dadurch frei erhalten, daß sie dann und wann dem Tiere in Form eines
Opfers ein Stück Fleisch hinschleudere. Ich tat das -- und immer, wenn
ich es getan habe, hat meine Seele den Anker gelichtet, und ich bin
über den Sumpf weggeflogen. Sobald ich aber wieder in Askese verfiel,
beschäftigten sich meine Gedanken nur mit sensuellen Dingen, so wie der
Hungrige stets an Essen denkt. Dann bekam ich diese Krankheit! -- Da
fragt man sich, warum nicht alle sie bekommen, und warum nicht zuerst
die davon ergriffen werden, die Unzucht als einen Sport betreiben,
was ich nicht getan habe. Antwortet darauf! Die Ärzte sagen, einige
Individuen seien immun, weil ihre Eltern verseucht gewesen sind ...«

Jetzt erhob sich der Alte zornig und warf das Druidenhaupt herum:

»Hast du mich rufen lassen, damit ich hier sitzen soll und so eine
Schweinerei anhöre?«

»Ja, Alter, du sollst mich anhören,« schrie der kleine Mann im Bett und
faßte dem andern in das weiße Barthaar, als wolle er einen falschen
Bart herunterreißen. »Du sollst mich anhören, du sollst wissen, bevor
du richtest. Du sollst wissen, daß meine Gefühle drauf und dran
waren, auf Abwege zu geraten, als ich mich durch Enthaltsamkeit von
dem Höllenbrand zu befreien suchte; du sollst wissen, daß mir von dem
Hausarzt meines Vaters befohlen wurde, Weiber aufzusuchen und daß es
mit Willen und Wissen meines Vaters geschah.«

»Das lügst du,« antwortete der Menschenopferer.

»O schäme dich! Schäme dich! Du Alter, der du im Ehebett mit einer Frau
geschlafen hast, die du liebst, ein Glück, das einem jungen Manne nie
beschert wird, weil er kein Brot hat: du solltest bedauern, du solltest
trösten, aber du hast nur Steine und Schlangen, wo du Brot und Fisch
geben solltest.«

Der Alte griff nach dem Buch auf dem Nachttisch, und als er Andersens
Märchen sah, legte er es mit einer nachsichtigen Miene der Enttäuschung
zurück.

»Ja, wettere über die Märchen, aber lies das von den bösen Träumen des
Priesters, wenn er über die ewigen Strafen gepredigt hat. Kennst du
das?«

»Hier ist meine Rolle ausgespielt,« verhaspelte sich der Druide.

»Du sagst es selbst: deine Rolle,« fuhr der Sterbende fort. »Besinne
dich auf die Regungen der Weltlust in dir selbst, der du der Jugend
predigst, denke an die ganze ›Freiheit des inneren Sinns von den
Verlockungen dieser Welt‹, wenn die Welt dich das nächste Mal verlocken
will, du Hofprediger! ›Wehe dem, der in diesem Kampf unterliegt und die
Waffen streckt,‹ ~Principiis obsta!~ Du kennst die Versuchungen der
Jugend, Alter, aber du kennst nicht die des Alters, wenn weltliche Ehre
und Auszeichnung dich zum Abfall locken; dein Tag wird kommen, da du
deinen Heiland dreimal verleugnen wirst, Petrus, da du dich verleiten
läßt, den Antichrist zu rühmen, der mit seinen Schleichlehren die
Sünde entschuldigt, da Gott dich mit Blindheit schlägt, so daß du dich
bemühen wirst, den Thron dessen einzunehmen, der unsern Heiland in die
Ferse gestochen hat! Gib acht, wenn dieser Tag kommt, und denke dann
an mich, der nicht mehr ist ...«

Hier erlosch die Stimme des Kranken, und er sank zum Schlummer auf das
Kissen zurück.

Der Hofprediger -- denn in diese Haut war er jetzt geschlüpft, und er
hatte viele zur Verfügung -- wurde groß, bei dem Gedanken, vor der
studierenden Jugend, die die erhaltene Lektion angehört hatte, seine
Würde wahren zu müssen; und als wolle er den Fall dem zuständigen Arzt
überlassen, grüßte er zum Abschied mit der Hand und warf eine Phrase
hin:

»Sie sorgen wohl dafür, daß er schlafen kann, Herr Doktor.«

Jetzt entwickelte sich der Wolkengreis an der Zeltdecke und wurde
erschreckend groß, der Kopf eines Riesen, des Urmenschen, der nach
Kirchen mit Steinen warf, Glocken nicht vertragen konnte und vor dem
Geruch von Christenblut schauderte. Dann schrumpfte der Riese zusammen
und kroch durch die Zeltöffnung hinaus.

Der Nachtwind von der Ebene schüttelte die großen Ahorne, die wie
ein Bach zwischen Kieseln rauschten und rieselten; die Zeltleinwand
wellte, und die vier Eckpfosten der Laterne warfen ihr Schattenbild
wie einen Käfig, in dem der Kranke lag mit dem weißen Gesicht, das den
unendlichen Schmerz eines Menschen ausdrückte, der unverdient zu leiden
glaubt.

»Er schläft ohne Morphium,« sagte der Unterarzt, nachdem er den Puls
gefühlt hatte.

Die drei jungen Menschen gingen hinaus und setzten sich unter den
Ahorn an den Whiskytisch. Der Mond hatte sich gesenkt und leuchtete
weiß auf die Zelte; ein Zeltlager, das für Verwundete und Sterbende
aufgeschlagen war.

»Ja, Kinder,« begann der Unterarzt, »werdet ihr klug aus dem
Professor? Ich als Theosoph und Martinist neige zu der Annahme, daß
irgend eine fremde Seele sich früh als Pfropfreis an diesem wilden
Stamm festgesetzt hat und parasitisch auf ihm weiter lebt. Dieser
Großinquisitor ist im Grunde ein anderer, als er scheint; wenn ich
ihn rasieren und scheren könnte, würdet ihr wahrscheinlich einen
Typ aus Lombrosos Album vor euch haben: ich meine, er ist ein böser
Mensch, der zum Bewußtsein seiner Bosheit gekommen ist und deshalb
diesen Pfahl im Fleisch hat, den man Religion nennt; oder er hat
sich selbst die Kandare angelegt, um nicht zu beißen. Habt ihr nicht
bemerkt, daß gute Menschen nie Pietisten sind? Und daß Pietisten auf
uns gewöhnliche Sünder immer einen boshaften Eindruck machen? Ich war
Pietist, als ich jung war, und ich nahm die Religion hin wie bissige
Hunde das Nagelhalsband. Ohne die strenge Religion meiner Jugend wäre
ich ein Unmensch gewesen, denn ich war von Natur nicht gut. Pietismus
ist ein Gemütszustand, der sich einstellt oder ausbleibt; es ist also
idiotisch, einen Menschen wegen seiner Gemütsverfassung zu hassen oder
ihm einen Vorwurf daraus zu machen; Pietismus ist ein Pönitenzzustand,
ein Streben nach der Erziehung zum Übermenschen; es mißlingt freilich
oft, deshalb erscheinen die Pietisten als Heuchler, sind es aber
nicht; ein religiöser Mensch ist immer ein wenig schlechter als
andere, weil er die Geißel braucht, und ein wenig besser als andere,
weil er sie anwendet. Denkt euch einen Oftedal ohne Religion! Das wäre
wahrscheinlich ein Caligula gewesen; jetzt wurde er nur ein kleiner
Ludwig XV.; das ist immerhin ein Gewinn. Was Axels Bekenntnis betrifft,
so weiß ich, daß es wahr ist; und es war schrecklich, mit anzuhören,
daß der Alte ihn zum Lügner machte; aber er versteht es am Ende nicht
besser, denn er hat das Leben wohl nie gelebt. Und das ist die große
Frage, seht ihr, ob man durch den Sumpf hindurch oder um ihn herumgehen
soll. Ich weiß es nicht; manche tauchen einmal unter und schwimmen
weiter; andere bleiben auf dem Grunde. Das scheint jedem einzelnen
vorausbestimmt zu sein, und der Gnostizismus, den Axel von Stagnelius
bekam, scheint ihm das Bedürfnis eingegeben zu haben, die materielle
Basis zu vernichten, um das Geistige zu befreien. Wenn die Religion im
Großen genommen Anknüpfung an das Oben ist, so war Axel religiös, denn
er befand sich ständig auf dem Fluge, suchte stets hinter dem Phänomen,
faßte das Leben auf als etwas Provisorisches, Vorübergehendes, ein
Gastspiel auf der Durchreise, litt unter dem Dasein und sehnte sich
heim. Er war kein böser Mensch, eher das Gegenteil ...«

Hier wurde der Sprecher von Esther unterbrochen, die erregt war:

»Warum sagst du, er war?«

Der Arzt schien sich verbessern zu wollen, aber es war zu spät:

»Ich sage _war_, weil er nicht mehr ist. Das habe ich schon eine ganze
Weile gewußt.«

»Ist er tot?«

»Ja!«

Es wurde still, und die drei Gesichter wurden weiß. Keiner wollte
angesichts des großen Rätsels etwas Banales sagen. Aber sie standen auf
und gingen ins Zelt, um Abschied zu nehmen.

Der Morgen dämmerte und die Laterne war erloschen.

Die Zeltleinwand war von außen schwach rosenfarben, und der Tote lag
mit nach hinten geworfenem Kopf da, den Mund wie in Ekstase geöffnet
und die Augen nach oben gerichtet; das ganze Gesicht strahlte in
Verzückung, als habe er etwas übermäßig Schönes gesehen, vielleicht das
Land seiner Träume.

       *       *       *       *       *

Nach einem langen Winter in Upsala wurde es wieder Frühling, und
Esther kam zu den Eltern nach Hause. Storö hatte sich zum Badeort
entwickelt und ein Kurhaus bekommen; dahin kamen mancherlei Leute,
Segler, Sommergäste. Und Esther mußte als Dame gekleidet gehen, was ihr
höchst kurios vorkam; besonders erschien ihr das Weiß, als ginge sie
in ihren Bettüchern umher; es erinnere an Laken und Kopfkissenbezug,
meinte sie. Alles saß ihr schlecht, machte sich nicht, und da sie das
wußte, hielt sie sich fern. Doch Frau Brita zwang sie, ins Kurhaus
zu gehen, denn sie dürfe nicht vergessen, daß sie Frau sei. Diese
Stunden, wenn getanzt wurde, waren ihre bittersten. Dann mußte sie an
der Wand sitzen und stundenlang warten, aufgefordert zu werden; aber
es kam kein Herr; und erschien wirklich einer, so sah sie das Mitleid
mit dem häßlichen Mädchen, und das kränkte sie im Innersten. Dann
blieb sie weg und ging in den Wald, fuhr auf die See hinaus, wurde
aber bei der nächsten Gelegenheit wieder in den Tanzsaal geschickt.
Diese Zurschaustellung ihrer Weiblichkeit, dieser Wettbewerb in
einem ungleichen, unwürdigen Kampf zerriß sie, und sie verwünschte
das grausame Vergnügen, bei dem die von der Natur Vernachlässigten
öffentlich gezeichnet wurden.

Es war an einem solchen Tanzabend im Vorsommer. Die Eltern gehörten
zur Direktion, und Esther war aus Rücksicht auf sie und auch in dem
Gedanken an den wohltätigen Zweck mitgegangen. Aber sie war nicht in
den Saal getreten, sondern hatte auf der Veranda Platz genommen, wo sie
die Paare vorübergleiten sah, vorüber. Die schlimmste Qual für sie war,
den Ausdruck von Enttäuschung und Kummer in ihrem Gesicht zu verbergen,
und diese gewaltsame Beherrschung verlieh ihren Mienen Wildheit und
Trotz.

Wie sie da saß, kam ein Mediziner aus Upsala, etwas angeheitert, von
einer Segeljacht.

»Ach, Pelle,« entfuhr es ihm. »Ist Saul auch unter den Propheten? Du
gehst doch wohl nicht auf solche Ausstellungen von Reproduktionstieren?«

Esther blieb die Antwort schuldig, und der Kamerad ging in den Saal,
ohne sie aufzufordern. Daß er gar nicht fragte, ob sie tanzen wolle,
kränkte sie besonders, trotz der Schmeichelei in den zweideutigen
Worten des Mannes, nach denen er sie für diesen Aufzug zu gut fand.

Nach einer Weile erschien der junge Graf aus Upsala mit der
Ballkönigin, der Schönheit des Ortes, die an seinem Arm hing und seine
Blicke trank. Esther sah sie den Saal betreten, tanzen und darauf sich
unterhalten. Alle Badegäste verfolgten die beiden mit bedeutungsvollen
Blicken, und eine ältere Dame, die aus dem Saal kam, äußerte:

»Die wird Gräfin werden! Viel Glück! ein Graf, dessen Vater Kassierer
und der selber Sozialist ist, das ist eine feine Partie.«

»Aber er sieht gut aus!« antwortete die andere Dame.

Esther hatte hingehört; und als sie nun diesen neuen Ausdruck im
Gesicht des Grafen sah, der den der jungen Schönheit widerstrahlte, da
wurde es düster in ihr, und sie begriff, warum sein Gesicht in ihrer
Gegenwart nie diesen Glanz bekommen hatte.

Sie ging direkt nach Hause und setzte sich in ihr Zimmer. Es war Nacht,
aber hell, und vereinzelte Töne der Kurhausmusik drangen bis zu ihr.
Da fiel ihr das Chopinsche Nocturno ein, das er ihr in der seltsamen
Gesellschaft dort in Upsala vorgespielt hatte. Mit ihrem kalten
nüchternen Temperament hatte sie geglaubt über so kindliche Gefühle
wie Erotik erhaben zu sein; doch jetzt war sie gefangen, da war kein
Zweifel. Und da saß sie und weinte, vor Schmerz, verschmäht zu sein.

Da sie nicht einschlafen konnte, ging sie hinaus; kam an den Strand
hinunter und nahm sich ein Boot; setzte sich an die Riemen und
steuerte über den Fjord auf eine kleine Schäre zu, die ihr Ziel zu sein
pflegte.

Sie mußte an dem Kurhaus vorbei, und da ertönte noch die Musik; die
erblassenden Lichter leuchteten durch die Fenster. Sie wollte fliehen,
wurde aber dahin gezogen, als triebe sie die Strömung. Da holte sie mit
den Rudern aus und wendete, direkt auf die hinterste Landzunge zu, so
daß sie das Land im Rücken hatte, und dann steuerte sie hinaus.

Doch die Klaviermusik folgte ihr mit dem schwachen Landwind. Und sie
wurde gezwungen, die Ruder im Takt des Walzers zu bewegen, eins, zwei,
drei, und das war, als würde sie von drinnen kommandiert, von da
hinten, wo die beiden Körper sich im gleichen Rhythmus bewegten. Da
wendete sie wieder; aber sie kam nicht los davon, kam nicht aus diesem
Zauberkreis heraus. Plötzlich verstummte der Walzer und es entstand
eine Stille, die nur von Möwen und Wellengeplätscher gestört wurde.
Dann begann die Stille vernehmlich zu werden, und in ihrer Erinnerung
hörte sie das Nocturno, vernahm es vielmehr, wie man innerlich sich an,
Musik erinnern kann. Doch, dies waren ja wirkliche Töne, ~G~-dur, wie
moll klingend; es war sein Anschlag, seine Art zu spielen! Welch ein
Verrat! Er spielte ihren Chopin der andern vor, zog sie unter diese
Decke, unter der sie beide sich einmal verborgen hatten.

Jetzt floh sie im Ernst aufs Meer hinaus und versuchte durch das
Geräusch der Ruder die Musik zu übertönen; das Rauschen des Wassers
am Kiel half mit, und sie war schließlich außer Hörweite, als sie an
einer kleinen Schäre mit einer Kiefer vorbeifuhr. Da aber, als sie
das Tempo verlangsamte und die Ruder einzog, hörte sie ein leises
Knarren von Riemen in den Dollen von der andern Seite der Schäre. Im
nächsten Augenblick schoß der scharfe Kiel eines weißen Kahnes über
den niedrigen Felsen, ein Kopf wurde sichtbar und der an den Rudern
sitzende Graf tauchte auf.

»Bist du es, Esther?« fragte er ganz ruhig.

Das Mädchen antwortete ohne ein Zeichen des Erstaunens.

»Ja, und bist du hier?«

Was sie hinter sich zu haben geglaubt hatte, war vor ihr; der
Stromwechsel vollzog sich so plötzlich, daß sie sofort normal
funktionierte.

»Das war ja eine schreckliche Sitzung!« fuhr der Graf fort.

Jetzt erst kam Esther in die qualvolle Stimmung zurück, die sie hinter
sich hatte:

»Ich dachte, du seist noch da und tanztest mit der Schönen!«

»Nein, danke vielmals! das ist so eine, die einen Schweif hinter sich
haben muß; eine kokette Kokotte! Sie bandelte mit mir an, um den
Seeoffizier zu bekommen; und dann nahm sie den Seeoffizier, um den
Postmeister zu ärgern; und daß sie bei dem Apotheker enden würde, war
vorauszusehen.«

»Soo?« wendete Esther ein, »sie wurde schon Gräfin genannt!«

»Ach, sie hat mich ausgenutzt? So sah sie aus, und sie wird wohl mit
einer Hundehochzeit enden.«

»Was ist das?«

»Wollen wir an Land gehen und uns den Sonnenaufgang ansehen?«

Sie gingen an Land, und da die Ursache zu Esthers Kummer beseitigt war,
verfiel sie in ihren alten gewöhnlichen Humor voll stiller, indolenter
Skepsis und ohne eine Spur von Erotik.

Und dann fuhren sie im Sonnenaufgang nach Hause.

       *       *       *       *       *

Graf Max blieb acht Tage im Hotel auf Storö, und in der ganzen
Zeit verkehrte er vertraulich mit Esther. Sie segelten und machten
Spaziergänge, gingen aber nie ins Kurhaus; ihr Verhältnis war
unverändert, mit dem kleinen Unterschied, daß Esther ihr Äußeres zu
pflegen begann, mit der weiblichen Kleidung weibliche Manieren annahm
und gewisse Züge einer wilden, gesunden Schönheit verriet. Die Eltern
sagten nichts, denn sie wußten, daß hier nichts half. Aber eines Abends
-- eines Abends waren die jungen Leute weit in den Wald gegangen, um
das Meer anzuschauen. Sie hatte sich auf einen Stein gesetzt und er
hatte sich neben ihr ausgestreckt. Es sah intimer aus, als es war,
besonders da er gerade ihre Hand gefaßt hatte und fragte, woher sie den
Ring habe, den sie trug.

Da trat plötzlich Vater Borg, der Redakteur, vor, und zitternd brachte
er nur die gewöhnlichen Worte heraus:

»Sind die Herrschaften verlobt?«

Die Situation war peinlich, und der Graf mußte zuerst sprechen:

»Daran haben wir nie gedacht,« antwortete er und erhob sich langsam;
dabei betrachtete er Esthers Gesicht, das einen neuen Ausdruck
angenommen hatte, einen Ausdruck von Schüchternheit, Scham und
kindlicher Furcht vor dem Vater, und entdeckte mit einem Schlage die
Art ihrer Intimität. Deshalb fuhr er, jedoch in verändertem Ton, fort:

»Das hängt übrigens von Esther ab.«

Das Mädchen wechselte bei diesem Zugeständnis wieder die Farbe, und der
Vater hatte unfreiwillig den Funken entzündet, der noch kurz vorher
nicht geboren war.

»Wenn Max das für möglich hält und ...«

Hier brach sie in Tränen aus und warf sich dem Vater in die Arme, als
wolle sie da die Gefühle verbergen, deren sie sich selbst schämte.

Es war lange her, seit Gustav Borg so etwas miterlebt hatte; und als
er Esther in seinen Armen hielt, war es ihm, als sei sie wieder Kind,
und seine väterlichen Gefühle strömten auf den jungen Mann über, dessen
Hand er faßte.

»Viel Glück denn!« sagte er und raffte seine Männlichkeit zusammen.
»Jetzt verlasse ich euch; aber ich erwarte die Herrschaften zum
Abendessen in meinem Hause.«

Und dann ging er.

Die Verwandlung hatte sich vollzogen, die Transfiguration; und die
beiden jungen Menschen standen da nicht als Kameraden und Freunde,
sondern als Mann und Weib; sie gewahrten gewissermaßen ihre Nacktheit,
wurden schüchtern und sprachen mit neuen Stimmen neue Worte, sie
wanderten Hand in Hand wie kleine Kinder unter zitternden Bäumen; und
als sie Menschen trafen, schämten sie sich nicht, sondern waren stolz
wie junge Götter und meinten, alle beugten sich und grüßten sie mit
Ehrfurcht.

       *       *       *       *       *

Das war der Sommer 1890. Das folgende Jahr verging auf die gleiche
Weise mit Lernen zum Examen und Zukunftsplänen. Die Eltern wollten gern
das Gespräch auf die Heirat bringen, aber die Jungen antworteten nicht.
Manchmal erregte dies Schweigen Beunruhigung. Aufgehobene Verlobungen
waren sehr häufig, aber unangenehm; man hatte sich als Verwandte
gefühlt, hatte die Interessen vereinigt, Vorschuß auf Gefühle genommen
und vielleicht materielle Werte vermengt.

Frau Brita war ruhiger als Gustav.

»Laß sie; wir dürfen uns nicht einmischen.«

Dann kamen die Weihnachtsferien 1892. Da hatte Frau Brita, ohne ihren
Mann zu hören, den Bräutigam eingeladen, bei ihnen auf Storö zu wohnen.
Gustav war in Wut geraten, doch vor der vollendeten Tatsache mußte er
sich beugen.

Weihnachten war vergangen, und es war an einem der letzten Tage des
Jahres.

Es war grau und trüb, und Gustav Borg wollte eine Partie Brett
spielen. Zu dem Zweck ging er ins Turmzimmer hinauf, um seinen
Schwiegersohn zu suchen. Als er sah, daß der Schlüssel abgezogen war,
klopfte er. Niemand öffnete, und er hörte zwei Stimmen, die flüsternd
das Wort »still« aussprachen.

Da verstand er und ging hinunter, um seine Frau aufzusuchen. Da er
wußte, wie schnell sie mit Antworten bei der Hand war, legte er sich in
Gedanken eine Auswahl von Fragen zurecht, mehr in behauptender Form;
denn es war schwerer, einer Beschuldigung auszuweichen, als eine Frage
mit nein oder ja abzufertigen. Er schlug also wie ein Blitz in Frau
Britas Schreibküche ein und rief:

»Seit wann weißt du, daß die jungen Leute sich auf seinem Zimmer
einschließen?«

»Seit wann? Seit sie hier sind!« antwortete Frau Brita, die gerade
einen Aufsatz über die neuen Formen der Ehe schrieb.

»Es geschieht also mit deinem Wissen und deiner stillschweigenden
Zustimmung!«

»Mit meiner offenen Zustimmung.«

»Kupplerin!« schrie der gereizte Vater und ließ einen Stuhl um vier
Axen rotieren.

»Schäme dich!« antwortete die Frau.

»Du hast unser Haus zu einem Bordell gemacht!«

»Das ist es wohl immer gewesen!«

Damit war ja alles gesagt, aber der Vater sprach in diesem Augenblick
von seinem Standpunkt als Vater und nicht als Gatte, deshalb ging er
seinen Weg weiter:

»Jetzt gehe ich hinauf und schlage die Tür ein, dann jage ich die
beiden mit dem Stock hinaus und beantrage die Scheidung ...«

»Mit welcher Begründung?«

»Mit der Begründung, daß die Frau als Kupplerin ihrer Tochter auftritt.«

»Und die minderjährigen Kinder?«

»Die nehme ich, da du als Mutter unwürdig befunden wirst.«

»Du willst mich fortjagen?«

»Ja!«

»Hör einmal, Gustav, um der Kinder willen, willst du dies nicht im
Guten abmachen?«

»Nein!«

»Dann verlange ich Aufschub!« antwortete Frau Brita; »ich muß die
Angelegenheiten des Hauses ordnen, verstehst du, und dann verlasse ich
dies Haus in Frieden.«

Das klang aufrichtig und war es auch teilweise als Ausdruck des
Schmerzes, der immer den Gedanken an Scheidung begleitet. Der Mann,
der dasselbe empfand, ließ sich täuschen und versprach, drei Tage lang
nichts zu unternehmen, gegen die Zusicherung, daß der Graf das Haus
verlassen werde.

Darauf zog er sich in seine Zimmer im ersten Stock zurück und bat, bei
Tisch nicht auf sein Erscheinen zu rechnen.

       *       *       *       *       *

Am Abend nach diesem Auftritt hörte Gustav Borg ein eifriges
Telephonieren, ein Vorfahren und Abfahren von Schlitten, ein Tappen
auf Treppen und Korridoren; aber da das Haus sehr groß war und er
keine Neugier zu zeigen wagte, blieb er im Unklaren über das, was
vorging. Diese Ungewißheit wirkte jedoch beunruhigend, besonders da
sein Entschluß ja von den Angriffsplänen der andern abhing. Seine
Vermutungen begannen ihr Spiel, und er stellte eine Kombination nach
der andern auf, verwarf sie aber immer wieder, wenn der lose Sand
seiner Vermutungen nicht stand hielt.

Die Einsamkeit in dieser Lage wurde ihm unerträglich; doch er wagte
seine Zimmer nicht zu verlassen. Er wollte seiner Gewohnheit getreu ins
Kinderzimmer hinuntergehen und den kleinsten Kindern gute Nacht sagen,
einem Knaben von sechs und einem Mädchen von vier Jahren; aber sie
schliefen nicht allein, sondern das Kinderfräulein war bei ihnen, und
heute war der Augenblick nicht gut gewählt, sich bei ihr zu zeigen, aus
den Gründen, die Frau Brita bei einem früheren Anlaß angedeutet hatte.
Da war sein schwacher Punkt, den er bisher verborgen gehalten hatte und
der jetzt drohend hervortrat.

Er war langsam hineingeglitten in dies Verhältnis, das nicht auffiel
und geheim gehalten wurde, das man beargwöhnte, aber doch duldete,
das auf die Physiognomie des Hauses keinen Einfluß hatte, das fast
respektiert wurde, weil die Frau des Hauses sich nicht darum kümmerte.
Nach fünfundzwanzigjähriger Ehe hatte Frau Brita vor vier Jahren bei
der Geburt des letzten Kindes erklärt: mehr Kinder wolle sie nicht
haben, und den Rest ihres Lebens wolle sie dem Dienst der Allgemeinheit
und der Menschheit widmen. Das war nichts Neues, denn sie hatte schon
bei der Ankunft des ersten Kindes erklärt, mehr wolle sie nicht haben.
Und dann kamen sie doch, kamen infolge eines unglücklichen Zufalls,
wie ja die meisten Menschenkinder zur Welt kommen. Doch jetzt war ihr
Entschluß so unerschütterlich, daß sie ihren Mann von dem Versprechen
der Treue entband, als er erklärte, als verheirateter Zölibatär nicht
leben zu können. Sie wollte nur »in Frieden gelassen werden« und
»nichts davon erfahren«. Es ist ja nicht so leicht für einen Mann,
seine Neigung zu ändern; man hat nicht gleich eine neue bei der Hand,
wenn der Zufall nicht günstig ist. Der Zufall bot sich in Gestalt des
Kinderfräuleins. Als Frau Brita ihr Haus dem siebenundzwanzigjährigen
Fräulein überließ, tat sie das ohne Bedauern. Das Fräulein war
verständig und unterwürfig, suchte nicht die Macht, nahm aber die
Arbeit auf sich. Sie und der Mann besorgten Kinder und Haushalt; und
da die Frau meistens fort war, wenn sie nicht schrieb, so entstand in
der Einsamkeit ein natürliches Freundschaftsverhältnis zwischen dem
Mann und der Pflegerin seiner Kinder; und bald nahm ihre Verbindung den
angedeuteten intimen Charakter an, ohne jedoch eine merkliche Änderung
im Zusammenleben der Ehegatten herbeizuführen, das im Gegenteil
achtungsvoller und weniger stürmisch als früher wurde.

Die Maschinerie des Hauses ging lautlos und würde auch weiter so
gegangen sein, wenn nicht die Frau ihre Stellung bedroht gefühlt
und vor allem gefürchtet hätte, von den Kindern getrennt zu werden,
die vielleicht, nachdem sie selbst aufs Trockene gesetzt war, eine
Stiefmutter bekommen würden.

In dem Gefühl des Bevorstehenden hatte sie in aller Eile Anhänger und
Waffen gesammelt, entschlossen, den Kampf aufzunehmen und den Feind zu
töten, lieber als getötet zu werden.

       *       *       *       *       *

Nach einer schlaflosen Nacht voller Zweifel und Ungewißheit erwachte
Gustav Borg und kleidete sich an. Darauf ging er ganz einfach hinunter
an den Kaffeetisch, wo er Frau und Kinder traf. Alles war wie sonst,
aber doch etwas verändert. Esther war kalt und verschlossen, und als
der Vater mit einem Blick nach Graf Max suchte, hatte die Mutter sofort
eine Erklärung bereit:

»Max läßt vielmals grüßen; er wollte dich nicht stören.«

Diese einzige Antwort machte das ganze Geheimnis des Familiengebäudes
aus: Hingehen lassen, abfließen lassen, Kompromisse schließen,
stillschweigen und weiter gehen. Das wirkte befreiend, so daß Gustav
Borg sich wiederfand und dachte, alles sei vergessen; er gab sich der
Freude hin, unter den Seinen zu sein, und fühlte sich stark, da er von
seiner natürlichen Leibwache umgeben war.

Er ließ jeden Gedanken an Anfall und Verteidigung fallen, der Friede
war geschlossen, und das Geschehene war nie geschehen; er ging
hinaus in den Wald mit den beiden Kleinsten, deren Gesellschaft ihn
verjüngte. Sie kamen auf eine Waldwiese, wo Eichhörnchen im Schnee
sprangen, um sich nach dem langen Schlaf Bewegung zu machen. Beim
Anblick der Spaziergänger eilten die flinken Tiere eine Eiche hinauf,
um sich in einem Loch zu verstecken. Der jüngste Knabe, der Liebling,
verlangte sofort, der Vater solle auf den Baum steigen und ein
Eichhörnchen fangen. Alle Vorstellungen halfen nichts, und wenn der
Knirps mit den Augen bat, war er unwiderstehlich. Der Vater warf den
Rock ab und enterte die Eiche, aber ohne ein anderes Resultat, als daß
er schwitzend und mit zerschrammten Händen wieder herunterkam.

Das erinnerte an eine Szene im vorigen Sommer, als der Vater sehr
früh an den Strand gegangen war, um allein zu baden. Er hatte seine
Schwimmtour gemacht, war wieder angezogen und freute sich innerlich
auf den wartenden Kaffee, als das Bürschchen an den Strand kam, um dem
Schwimmen zuzusehen. Die Enttäuschung des Kleinen, als er zu spät kam,
war groß, und er begann zu weinen. Um schnell seine Tränen zu trocknen,
zog der Vater sich wieder aus, sprang ins Wasser und schwamm hinaus,
was nicht nach seinem Geschmack war; doch er fühlte sein Opfer belohnt
in der unermeßlichen Freude, die seine Mühe und Selbstüberwindung
hervorriefen.

Nun besuchten sie zusammen alle alten Spielplätze, Grotten und
Fuchslöcher, seltsame Strandsteine, Ameisenhaufen, umgewehte Bäume;
und der Vater sah das alles wieder, als sei es verloren gewesen und
wiedergefunden. Sie suchten Hasenspuren auf, und er lehrte die Kinder
sie von Fuchsspuren unterscheiden; sie studierten Vogeltritte und die
langen Linien der Ratten; sie sahen Birkhühner in Birkenwipfeln und
Dompfaffen in Fichten ...

In dieser stillen, unschuldigen Freude wurde er plötzlich von einem
Gefühl überfallen, wie es einen bei einem Abschiedsbesuch überkommt.
Und er ging wieder nach Hause, unruhig, beklommen, ahnungsvoll.

Darauf hielt er sich in seinen Zimmern auf und horchte auf jeden Laut.
Aber es war meistens still, und diese dumpfe Stille quälte ihn.

Gegen Abend war er so von Unruhe erfüllt, daß er mit jemandem sprechen
mußte, wenn er nicht zerspringen wollte. Mit seiner Familie konnte er
nicht sprechen, denn sie mußten ja schweigen, sonst zerbrach die spröde
Kette.

Er wußte wohl, wo er Auskunft bekommen würde, aber zur Freundin wagte
er nicht zu gehen. Da klopfte es an die Tür, und als er öffnete,
stand das Kinderfräulein draußen, glitt schnell ins Zimmer hinein und
verschloß die Tür.

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Gustav!« rief sie. »Hier geschieht so
vieles im Hause, was ich nicht verstehe ...«

»Setzen Sie sich, liebe Freundin, und sagen Sie mir, was Sie wissen.«

»Ja, ich weiß nichts Bestimmtes; aber oben auf dem Boden wohnt jemand,
der sich nicht zeigt. Es wird ihm Essen hinaufgetragen, und die gnädige
Frau geht dorthin ...«

»Was sagen Sie?«

»Und unten im Flügel sind auch Gäste; die Mädchen antworten mir nicht
und behandeln mich wie eine Feindin ...«

»Was hat man vor? Was glauben Sie?«

Da begann das Fräulein zu weinen, und Gustav Borg, der den ganzen
Zusammenhang ahnte, ging an den Schreibtisch, um zu telephonieren,
was, wußte er selbst nicht; es war wohl ein Ausdruck der Sehnsucht,
hinauszukommen.

Da wurde zweimal an die Tür geklopft, und auf dem Korridor erklangen
Schritte.

Im nächsten Augenblick hatte Gustav Borg das Fenster geöffnet, um die
Tiefe zu messen; aber im Schneelicht sah er zwei Männer, die er nicht
kannte.

Das Klopfen an der Tür wurde wiederholt, und jetzt hörte man eine
Stimme:

»Bitte aufmachen. Der Amtmann ist hier!«

Die beiden Eingeschlossenen erstarrten, als plötzlich das Telephon zu
läuten begann. Von der Macht der Gewohnheit getrieben, ging Gustav Borg
an den Apparat und rief hallo!

Da hörte man, wie ein Instrument ins Türschloß geschoben wurde; der
Schlüssel auf der Innenseite wurde umgedreht, ins Zimmer gestoßen und
die Tür geöffnet.

Draußen standen in einer Gruppe der Amtmann, Frau Brita, Doktor Henrik
Borg und alle Dienstboten.

Als habe er diese Lösung erwartet, ging der auf frischer Tat ertappte
Mann geradeswegs hinaus, die Treppen hinunter. Auf dem Flur zog er sich
an, lief nach dem Stall, wo er sich Pferde und Schlitten geben ließ;
befahl dann: nach Langvik! und fuhr davon, um ein Obdach zu suchen bei
dem Sohn, der ihm immer ergeben gewesen war und für den er bedeutende
Opfer gebracht hatte.



Zehntes Kapitel

Vorm Rat


Als Gustav Borg in Langvik ankam und den Sohn abwesend fand, war er
zuerst verzagt, denn er liebte die Frau des Sohnes nicht und sah an
ihrer Verlegenheit, daß er unwillkommen war, weil er Forderungen hatte
und weil er der Schwiegervater war. Deshalb war ihr Gespräch sehr kurz,
und er schloß sich im Fremdenzimmer ein.

Warum er hierhergekommen war? Ja, er konnte sich doch nicht seinem Sohn
gegenüber beklagen, denn der stand natürlich auf Seite der Mutter; und
im übrigen hatte er sich ja durch seine Unvorsichtigkeit im Hause Hände
und Zunge gebunden. Er mußte irgendwo in dem Bezirk bleiben, wo die
Scheidung verhandelt werden würde, und hier war doch eine Art Heim, wo
er mit einigem Recht sich aufhalten konnte.

Als nun Anders gekommen war und seine erste Verzweiflung sich gelegt
hatte, ging er zum Vater hinein; und da er ein einfaches Gemüt hatte
und verzweifelt war, konnte er weder Freude über das Wiedersehen an
den Tag legen, noch ihn willkommen heißen, besonders da er von der
bevorstehenden Scheidung wußte.

»Guten Tag, mein Junge,« sagte der Vater, der sofort in den
leichtverständlichen Mienen des Sohnes las. »Du brauchst keine Angst
vor mir zu haben, denn ich werde weder lange bleiben, noch die Pacht
von dir verlangen.«

Anders kaute auf dem Schnurrbart und zwinkerte mit den Augen, denn die
bloße Erinnerung an die Schuld war ihm eine Qual. Dieses Schweigen
machte den Vater nervös, und er mußte selber sprechen.

»Du weißt vielleicht, welche Veränderungen in meinem Hause bevorstehen
-- hm! -- aber es wird bald entschieden sein.«

Anders' Gedanken waren so fern. Er hatte auf einen angenehmen Abend mit
seiner Frau gehofft, an dem er unter dem sichern Schutz des erworbenen
Geldes seine Reiseabenteuer erzählen wollte, und nun saß er hier und
zitterte vor unangenehmen Fragen hinsichtlich des leeren Speichers und
ähnlichem. Der Vater merkte wohl an seinen nach innen gekehrten Augen,
daß er abwesend war; doch er verstand die Situation nicht recht.

Daß er ungelegen gekommen war, begriff er; aber er mußte aus der
Verlegenheit heraus, und als er keine Antwort erhielt, wurde er selbst
vernagelt und begann mit den Augen zu blinzeln wie einer, der nach
einem neuen Gesprächsthema sucht. Ebenso unglücklich war die Wahl
des Stoffes, den er in geheimem Gedankenlesen aus dem Bewußtsein des
Sohnes schöpfte. Die Furcht, daß der wunde Punkt berührt werden könne,
machte gerade diesen Stoff frei. Er mochte in den leeren Augen des
Sohnes den leeren Speicher gesehen haben und wurde gegen seinen Willen
dahin getrieben.

»Nun, du hast die Bücher abgeschlossen, und du bist mit deinem Jahr
zufrieden? Volle Scheunen und Speicher?«

Anders wurde von der Wut übermannt, sich bloßgestellt zu sehen, wurde
vor Zorn noch stummer, wollte aufstehen, um den unsichtbaren Faden
abzuschneiden, suchte einen Vorwand, hätte gern von draußen gehört,
daß die Frau polterte oder die Kinder sich prügelten; er war in kalten
Schweiß gebadet, saß aber fest auf dem Stuhl.

»Bist du taub oder bist du betrunken?« schrie der Vater, der nicht ein
Wort aus dem Angeredeten herausbekam.

Dadurch wurde Anders aus seinem wachen Schlaf aufgeweckt; wollte
in einen Strom von Worten ausbrechen, erfror aber wieder vor der
unüberwindlichen Kraft der väterlichen Macht. Er war nur vernichtet,
fühlte sich beschämt, so daß der Vater seinen Ausfall bereute und die
Szenerie zu ändern beschloß, um eine andere Stimmung zu schaffen. Er
stand auf und warf eine einfache Alltagsfrage hin:

»Wann eßt ihr zu Abend? Ich bin um mein Mittagessen gekommen und habe
Appetit auf etwas Warmes.«

»Wir essen nie zu Abend,« antwortete Anders. »Wir haben uns das seit
einem Jahre abgewöhnt.«

»So setzt mir Butter und Brot vor,« erwiderte der Vater, »ich bin auch
mit wenigem zufrieden.«

»Ja, ich weiß nicht, ob wir etwas im Hause haben.«

»So schicke doch zum Kaufmann,« half der Vater nach, da er Unrat zu
ahnen begann.

»Wir haben kein Pferd im Stall.«

»Wo ist es denn?«

»Fort, nach der Stadt.«

Der Vater sah an den flackernden Blicken, daß der Sohn log, und begriff
den ganzen Zusammenhang; aber jetzt vom eigenen Elend in das anderer
untertauchen wollte er nicht.

»So laß uns einen Grog trinken und den Abend verplaudern,« schlug er
vor.

»Wenn ich etwas im Hause hätte,« lautete die tonlose Antwort, die zur
Beendigung der Unterhaltung aufforderte.

Der Vater verließ das Zimmer, mehr erstaunt über die Entdeckungen,
die er gemacht hatte, als traurig; er war keine gefühlvolle Natur,
hatte früh seine Ansprüche an die Menschen herabgeschraubt und liebte
Abrechnungen und Erklärungen nicht. Als er in das Fremdenzimmer kam,
das man zu heizen vergessen hatte, wurde er von einem solchen Frösteln
befallen, daß er in Kleidern zu Bett ging; denn er wollte keinen Lärm
im Hause machen. In der Karaffe war kein Wasser, ein Lichtstumpf
verhieß nur für eine Stunde Licht, und das leere Fenster ohne Rouleau
fraß das meiste von dem Lichtschein auf; die grauen Speisekammertapeten
sahen wie die ewige Langeweile und Eintönigkeit aus, die spärlichen
Möbel sprachen von Armut und Ruin.

Er war so überwältigt von den aufregenden Erlebnissen des Tages, daß er
sofort in einen todesähnlichen Schlaf fiel.

Als er aufwachte, dachte er, es sei Morgen; doch im selben Augenblick
schlug die Eßzimmeruhr, und er zählte elf Schläge. Elf! Er hatte sich
um neun Uhr hingelegt, und nun sah er die lange schlaflose Nacht vor
sich, denn er war vollkommen munter.

Und jetzt auf einmal stand seine ganze Lage klar vor ihm. Ein Mann
in seiner Stellung, in seinem Alter, aus seinem Heim vertrieben,
von seinem Posten abgesetzt; ohne Mittag gegessen zu haben, wie ein
Landstreicher, hungrig und frierend, ein unwillkommenes Anhängsel,
das man weit weg wünschte ... Die ganze Erniedrigung des Auftritts zu
Hause, da er vor seinen Kindern bloßgestellt wurde, das Grauen vor dem,
was seiner wartete ... vor Prozessen und Skandalen.

Er lag da und blickte auf den Lichtstumpf, wußte, wenn er zu Ende war,
würde die Dunkelheit kommen. Da er nicht zu den Leuten gehörte, die
den Menschen Mühe machen mögen, fiel es ihm nicht einen Augenblick
ein, einen Dienstboten zu wecken, um sich Licht, Feuer und Wasser zu
verschaffen. Gelähmt von dem Schicksalsschlage wagte er sich nicht
einmal zu rühren, sondern lag da wie festgenagelt, frierend, als seien
alle Säfte des Körpers tatsächlich erstarrt.

Immerfort betrachtete er das Abnehmen des Lichts und hatte jetzt das
Gefühl, als hinge sein Leben davon ab, werde erlöschen, wenn das Licht
erlosch. Er wurde durstig vor Hunger und fror vor Hunger, aber Kummer
und Sehnsucht, Scham und Zorn mischten sich hinein und klangen zu einem
Akkord von Qual zusammen. Alle Bitterkeit des Lebens zugleich erstand
in ihm, ohne die Möglichkeit, Trost in Klagen zu finden, denn er war
zu aufgeklärt, um über undankbare Kinder oder eine treulose Gattin zu
jammern. Er hatte das Leben mit harten Handschuhen angegriffen und war
nicht an Verzärtelung gewöhnt, dies aber überstieg seine Kräfte; und
als der Lichtrest zischend in die Tülle sank, sprang er auf, um sich
gegen die Finsternis zu schützen. Er ging leise in den Eßsaal hinüber
und nahm sich Streichhölzer mit; und als er anzündete, sah er, daß die
Uhr erst fünf Minuten über elf war. Er zog die Hängelampe herunter
und steckte sie an; ging an das Büfett und fand etwas abgestandenes
Wasser in einer gelb gewordenen Karaffe; auf dem Büfett lagen die
Fahrhandschuhe des Sohnes aus grauer Kastorwolle; der eine Handschuh
lag mit geballten Fingern da wie eine harte, drohende Faust, der andere
lag auf dem Rücken, die Handfläche ausgestreckt, als bitte ein Bettler
um ein Almosen; beide grob, mit Anschwellungen an den Gelenken, wie
abgehauen, liegen geblieben, innen noch mit Menschenfett getränkt.

Er öffnete die Büfettür; als er sich bückte, schien sein großer,
schwarzer Schatten mit hineinzukriechen. Ein hartes Stück Brot war
das einzige, was er fand; aus der Menage nahm er gelben Senf und
strich ihn aufs Brot, dazu etwas Salz; aber als er es zum Munde
führte, roch es nach Petroleum, weil er die Lampe angefaßt hatte,
und er legte das Brot auf ein Brett, dessen gemustertes Papier an die
Streifen erinnerte, die kleine Kinder um den Hals tragen. Da dachte
er: wenn man das Brot mit dem Senf darauf findet, könnte eins von
den Kindern morgen Schläge bekommen, weil es unschuldig dieser Untat
beschuldigt wird. Er nahm das Brot in die eine Hand und die Lampe in
die andere, blieb aber unentschlossen mitten im Zimmer stehen, da er
nicht wußte, wo er den lästigen Zeugen seiner seltsamen nächtlichen
Expedition verstecken sollte. Wenn ich es in den Ofen lege, wird es
morgen früh vom Mädchen gefunden werden; sie bringt es sofort zur
Hausfrau und beschuldigt natürlich die Kinder oder das Kind, das sie am
wenigsten mag, und dann gibt es Prügel, zunächst wegen des Vergehens,
dann wegen des Leugnens. Das habe ich selbst erlebt. Es mußte aber
entfernt werden, und er machte schließlich ausfindig, daß die einzige
Möglichkeit sei, es in Papier zu wickeln, in die Tasche zu stecken und
den morgigen Tag abzuwarten. Er ging nun an den Zeitungsständer, um
sich das nötige Papier zu holen, und sein Riesenschatten erhob sich
vom Fußboden, kroch die Wand hinauf und nahm die runde Wanduhr auf die
Schultern, wo sie wie ein Kopf sitzen blieb, in dem die beiden Löcher
zum Aufziehen die Augen bildeten und der Name des Uhrmachers den Mund.
Als er vor dem Zeitungsständer stand, besann er sich, denn, dachte er,
wenn eine Zeitungsnummer vermißt wird, können die Mädchen unschuldig
Schelte bekommen. Es war ein schwieriger Fall. »Ich nehme die
Annoncenbeilage,« sagte er, zögerte aber wieder, denn »auf dem Lande
liest man die Annoncen, und habe ich Pech ... und das habe ich seit
einiger Zeit, ohne zu wissen, warum ...« Er hatte aber doch ein Blatt
ergriffen, und als er es entfaltete, knisterte es und machte solchen
Lärm, daß er Angst bekam. Auf der ersten Seite des Blattes stand eine
Riesenannonce: Frische Austern. Austern, gerade jetzt, im Metropol,
um halb zwölf, bevor zugemacht wurde, das wäre etwas! Er näherte sich
dem Fenster und wollte das Stück Brot durch die Lüftungsklappe werfen,
aber kein Tier würde den Senf fressen, und es wäre wieder dieselbe
Geschichte.

Jetzt stand er am Fenster; und als er in die Nacht hinausblickte,
sah er in dem rechten, vorspringenden Flügel Licht; er stieg auf
einen Stuhl, nachdem er die Lampe unter dem Klavier versteckt hatte,
und jetzt konnte er sehen ... In der guten Stube saß das Ehepaar
am Kaminfeuer; der Mann bei einem Grog und einer Zigarre, munter
plaudernd. Ein kleiner Tisch stand hinter ihnen, gedeckt und mit den
Resten eines netten Soupers; die leuchtend rote Schale eines Hummers
stach in die Augen, daß es weh tat ...

Gustav Borg hatte nie Mitleid mit König Lear gehabt; hatte gefunden,
er liege, wie er sich gebettet habe, da er als Schwiegervater sich bei
Neuvermählten niederließ und eine Garnison von hundert Mann mitbrachte.
Er hatte auch Vater Goriot gut bezahlt gefunden durch die Zärtlichkeit,
die er seinen Kindern schenken durfte, denn nicht alle Kinder nehmen
Zärtlichkeit an. Trotz all dem fühlte er einen Stich im Herzen, stieg
vom Stuhl herunter und ging mit seiner Lampe in das anstoßende Zimmer,
das das Kontor war. Da stand eine Rasiertoilette, und als wisse er, was
er suche, zog er die Schublade auf, nahm das Rasiermesser heraus und
den Streichriemen und begann es abzuziehen.

»Das beste ist, Schluß zu machen! das beste ist, Schluß zu machen!«

Aber dann besann er sich; erst mußte das Brot weg, zuerst; unbedingt.
Er warf es oben auf den Ofen, und im gleichen Augenblick fühlte er sich
befreit, erlöst von etwas.

Und dann nahm er das Fell, das unter dem Schreibtisch lag, und legte es
über sich, als er auf das Ledersofa niedersank.

Seine letzten beiden Gedanken, ehe er einschlief, waren diese:

»Hier ist es jedenfalls warm und schön. Und: sie mögen ja Abendbrot und
Kognak haben holen lassen, als ich mich schon zu Bett gelegt hatte.
Vielleicht sind sie auch bei mir gewesen, um mich einzuladen, haben
mich aber schlafend gefunden. Man verurteilt ja so oft Menschen zu
Unrecht.«

       *       *       *       *       *

Als Gustav Borg am nächsten Morgen aufwachte, hatte sein Körper durch
die Ruhe die Kraft zu leiden wiedergewonnen; denn ein Geschwächter hat
nur die Fähigkeit, sich stumpfer Gleichgültigkeit hinzugeben. Er sprang
völlig wach vom Sofa auf und übersah die ganze Situation. Hier konnte
er nicht bleiben, das war das erste; in der Stadt wollte er nicht
wohnen, von Hause war er vertrieben, aber in diesem Kirchspiel mußte
er sich des Prozesses wegen aufhalten. Ihm fiel ein Bauer ein, der ein
Zimmer an Sommergäste zu vermieten pflegte. Zu diesem wollte er jetzt
fahren; und da er am liebsten ohne Abschied abreiste, ging er in den
Stall hinunter, um sich Pferd und Schlitten geben zu lassen.

Der Stallknecht, der seinen Lohn nicht erhalten und am Abend vorher vom
Herrn Schelte bekommen hatte, war heute besonders mitteilsam. Und als
der Redakteur den Pferdestand leer sah, erzählte der Knecht sofort,
das Pferd sei verkauft, ebenso der Schlitten; er war auch nicht faul,
zu erzählen, daß der Speicher leer, der Hof verfallen und der Boden
ausgesogen sei.

Das war ein neuer Schlag für ihn, da er für die Pacht Bürgschaft
geleistet hatte; und er war eben im Begriff, nach dem Hause
zurückzugehen, als eine kleine, windige Figur an ihn herantrat und
fragte, ob er Redakteur Borg sei. Nachdem er sich zu erkennen gegeben
hatte, wurden ihm zwei gestempelte Schriftstücke eingehändigt, die er
durchflog und in die Tasche steckte.

Statt zusammenzuschrumpfen, schien er zu wachsen, denn er hatte nun
etwas, gegen das er reagieren konnte, etwas, was zu fassen war.

Er wendete sich zu dem Polizeidiener und fragte: »Glauben Sie, daß man
bei dem nächsten Nachbarn Fuhrwerk bekommt? Ich muß nämlich um elf auf
dem Pfarrhof sein.«

»Der Nachbar pflegt immer Fuhrwerk zu haben,« antwortete der
Polizeidiener und damit ging er.

Gustav Borg sah nach seiner Uhr und konstatierte, daß er mit Pferd und
Schlitten rechtzeitig zu der Sitzung des Kirchenrats kommen werde, zu
der er zwecks Entgegennahme der Verwarnung geladen war. Er knöpfte den
Rock wieder zu, begann zu marschieren und fühlte sich wie ein Soldat,
der zu einem Feldzug aufbricht.

Aber der Schnee war tief, der Weg ungebahnt, und das Gehen wurde bald
beschwerlich.

Er hatte gute Zeit, über seine Lage nachzudenken.

Von den beiden barbarischen Arten, ein vieljähriges Zusammenleben zu
lösen, hatte man also die demütigende und schamlose gewählt, die Gatten
dem Gerichtshof, der Kirchenrat hieß, auszusetzen. Da würden sie sitzen
und einander bloßstellen, sich gegenseitig anklagen und wie Unmündige
Ermahnungen entgegennehmen. Ein ganzes langes Zusammenleben würde
aufgerollt werden, obwohl mein und dein ihre Wurzeln so verflochten
hatten, daß das eine nicht abgetrennt werden konnte, ohne daß das
andere zerriß; wo Schuld und Nichtschuld unmöglich abzuwägen war, wo
Ursache mit Wirkung verwechselt wurde und umgekehrt, wo alles Alte, das
vergeben und vergessen war, ausgegraben und in neue Beleuchtung gesetzt
werden sollte; was in Liebe vergeben war, sollte jetzt in Haß angeklagt
werden.

Diese Art hatte man gewählt, um die entehrende, obligatorische Flucht
zu vermeiden, wo der Zurückbleibende die Schande des Verlassenseins
trägt und der Weglaufende die Schande der Untreue auf sich lädt; und
trotzdem stimmte die Flucht mehr mit menschlichen Begriffen von Scham
überein, da man den Schauplatz verließ und sein Elend vor neugierigen
Blicken versteckte.

Die Verwarnung des Kirchenrats war aber nur eine Formalität, die
den Gerichtsverhandlungen voranging, und er war vor den ersten
Frühjahrsting bestellt worden, angeklagt nach Paragraph so und so des
Gesetzes, das seine Verurteilung wegen Ehebruchs unter Verlust aller
ehelichen Rechte forderte.

Als er die schweren Schritte gegangen war und das Haus des Nachbars
sah, war er fast entschlossen, sich vor dem Rat nicht einzufinden,
teils um die entsetzliche Szene zu vermeiden, bei der er seiner Gattin
begegnen würde, teils weil er alle Verteidigung für nutzlos hielt.

Als er zu dem Bauern kam, erfuhr er, daß alle Pferde fort seien. Das
war ihm wie eine Befreiung, und er setzte sich zum Ausruhen auf eine
Bank. Aber der Bauer war zufällig Schöffe und interessierte sich für
die Angelegenheiten des Kirchspiels.

»Wollen Sie zum Kirchenrat?« fragte er.

»Ja, da Sie es ja wissen!« antwortete der Redakteur.

»Den darf man nicht versäumen,« fing der Bauer wieder an; »denn der
Ting urteilt nach dessen Protokoll, und hat einer etwas zu seiner
Verteidigung anzuführen, so muß es jetzt gleich geschehen.«

Diese einfache Mitteilung setzte den Unentschlossenen in Flammen; er
sprang von der Bank auf, sah auf seine Uhr und fragte:

»Kann ich zu Fuß gehen?«

»Ja, aber dann müssen Sie rasch gehen und noch dazu über die
Kirchbucht.«

»Hält die Kirchbucht denn?«

»Ja, gestern hat sie gehalten, heißt es.«

»Also dann leben Sie wohl, Schöffe. Aber richtig: kann ich hier für den
Winter das Sommerzimmer mieten?«

»Ja, das wird wohl gehen!«

»Ich komme zurück, dann sprechen wir darüber.«

Und nun begann der Marsch wieder. Jetzt wußte er, daß er hin mußte,
hin mußte, um sich zu verteidigen, falls die Angabe von Motiven
wenigstens als mildernder Umstand gelten konnte, da das Gesetz private
Abmachungen, die zu der geltenden Verfassung im Widerspruch standen,
nicht anerkannte.

Als er eine halbe Stunde gegangen war, kam die Sonne hervor, und da sie
tief stand, brannte sie. Er machte den Rock auf und nahm den Hut in die
Hand. Der Schnee schmolz halb, wurde feucht und ballte sich unter den
Stiefeln. Die Schritte wurden immer schwerer, die Atemnot wuchs und die
schweißigen Unterkleider brannten wie Nesseln.

Aber er mußte vorwärts. Wie er sich nach einer neuen halben Stunde
umdrehte, sah er seine Fußspuren eine krumme Linie von Vertiefungen
bilden.

Nach abermals einer halben Stunde kam er an die Landstraße; mit
wiedergewonnenen Kräften marschierte er, wie befreit von Fußfesseln,
und als er auf eine Höhe gelangte, sah er in der Ferne die Kirche. Doch
die Bucht trennte, und die sah man nicht von seinem Beobachtungspunkt.
Dann ging es abwärts, und er lief zu den Fischerhäusern hinunter. Da
blieb er stehen und sah -- die Bucht offen liegen, blau, satirisch
lächelnd, zwischen sich und dem Walplatz, wo die Schlacht stattfinden
sollte; als er auf die Uhr blickte, sah er, daß zehn Minuten an elf
fehlten. Er stürzte zum Fischer hinein und fragte nach einem Boot.

»Das Boot ist versenkt, weil es gedichtet werden soll.«

»Kommen Sie mit und schöpfen Sie es aus!«

»Nee, was hätte das für einen Zweck?«

»Helft mir, Leute, ich muß um elf in der Kirche sein.«

Nein, man hatte gar keine Lust dazu.

Da lief er nach dem Boot hinunter und sah es unter Wasser liegen. Es
war ein alter Kahn ohne Ruder und Schöpfkellen. Er lief umher, um die
Ruder zu suchen, fand aber keine; er suchte einen Eimer zum Schöpfen
und fand keinen; an einer Wand aber stand eine etwas gewölbte Schaufel.
Die nahm er, kehrte nach dem Boot zurück und warf den Rock ab; und
während er in Hemdsärmeln breitbeinig auf den Bootsrändern stand,
schöpfte er das Boot mit der Schaufel halb leer. Darauf stieß er ab,
und wie ein Kanuführer paddelnd, rettete er sich über die Bucht,
während der Kahn Wasser schöpfte. Als er das andere Ufer erreichte,
sank das Boot. Er ließ es liegen, warf die Schaufel hinein und lief
nach dem Pfarrhause hinauf.

Er hatte nicht Zeit gehabt, sich die Szene, die ihn erwartete,
auszumalen; er hatte nur das bestimmte Gefühl, daß der Pastor ihm nach
dem letzten Auftritt feindlich gesinnt sei, und daß der Kirchenrat, der
aus Pietisten bestand, ihm hart zusetzen werde. Als er den Saal betrat,
fand er seinen Schwager als Wortführer dasitzen, ruhig, würdig, mit
fast freundlichem Ausdruck.

Frau Borg saß kalt, abwartend auf einem Sofa.

Als der Redakteur gegrüßt hatte und aufgefordert worden war, Platz zu
nehmen, eröffnete der Geistliche die Verhandlung mit einem Hammerschlag
und fragte den Rat, ob man ihn als Schwager des Ehegatten und als
Bruder der Gattin für befangen erklären wolle.

Niemand wollte Einspruch erheben, und so begann der Vorsitzende.

»Meiner Pflicht gemäß und nach den Instruktionen des Kirchenrats
frage ich hiermit meine Schwester, ob sie die Ehe mit Gustav Borg
fortzusetzen gedenkt?«

»Nein!« antwortete Frau Brita, kurz, überlegt.

»Dann will ich Gustav fragen, ob er die Absicht hat, die Ehe
fortzusetzen?«

»Nein,« antwortete der Gefragte ebenso bestimmt.

»Nun muß ich meine Schwester fragen, welchen Grund sie für Auflösung
der Ehe anführt?«

Frau Brita antwortete:

»Den Ehebruch des Mannes.«

Die Sache war ja bekannt, aber trotzdem wirkte das ausgesprochene
Wort wie ein Schuß; die Greise am Tisch schüttelten sich, und der
Vorsitzende, der es anständig und nett haben wollte, war vor den Kopf
gestoßen. Er wendete sich deshalb mit einer gewissen Teilnahme an
seinen alten Gegner, und da er die ganze Sachlage im voraus kannte,
suchte er sofort auf die mildernden Umstände zu kommen:

»Kannst du den dir zur Last gelegten Fehltritt ungeteilt auf dich
nehmen, Gustav Borg?«

»Ein Verbrechen habe ich nicht begangen, denn ich habe mein Ehegelübde
nicht gebrochen, da ich von ihm entbunden worden war, und zwar von
dem einzigen Menschen, der das Recht hatte, mich davon zu entbinden,
nämlich von meiner Frau.«

Neues Schaudern am Ratstisch; und gleich darauf die Stimme des
Wortführers:

»Ist das wahr, muß ich meine Schwester fragen?«

»Das ist Lüge!« antwortete Frau Brita.

»Da haben wir es,« fiel Gustav Borg ein. »Mit einem Menschen, der nicht
die Wahrheit sagen _kann_, will ich nicht verhandeln und bitte mir
deshalb die formelle Verwarnung zu erteilen, die nach dem Gesetz der
gerichtlichen Verhandlung des Falles vorangehen muß.«

»Meine Herren,« nahm der Pfarrer das Wort, »die Ursache des ehelichen
Unglücks liegt gewöhnlich so weit zurück, daß (hier warf er einen
Blick nach der Tür zu seinem Innendepartement) man sie nicht genau
feststellen kann. Ich bin daher der Meinung, daß wir, da man nicht
wissen kann, wer angefangen hat oder wer schuld an dem ist, was später
geschah, zu der gesetzlichen Verwarnung übergehen. Hat einer von den
Mitgliedern eine Einwendung zu machen?«

Hier bat der freikirchliche Hofbesitzer Lundström ums Wort.

»Gegen die Erteilung der Verwarnung habe ich nichts einzuwenden, aber
gegen die Auffassung des Herrn Redakteurs, als sei die Ehe nur eine
private Abmachung, möchte ich opponieren. Staat und Kirche treten doch
als Autoritäten auf, um Garantien zu erhalten, was daraus hervorgeht,
daß der Scheidungsprozeß vorm weltlichen Gerichtshof verhandelt und
die Scheidungsurkunde vom geistlichen Gericht oder Konsistorium
ausgefertigt wird. Die Ehefrau kann also den Gatten nicht von seinem
Treuschwur entbinden, noch ihn von dem Vergehen freisprechen.«

Redakteur Borg bat antworten zu dürfen:

»Die Ehe gründet sich zunächst auf eine private Abmachung, die in
der Verlobung mündet. Und das Gesetz erkennt private Abmachungen
hinsichtlich der Treue an, auch wenn die Ehe geschlossen ist. Zum
Beispiel: die Frau ist untreu und gebiert in der Ehe das Kind eines
andern Mannes. Hier liegt doch ein Ehebruch vor, aber er darf nicht vom
öffentlichen Ankläger verfolgt werden. Wenn der Mann verzeiht, schweigt
das Gesetz und erkennt damit die private Abmachung an; das Gesetz
drückt ein Auge zu, und das Vergehen scheint damit einer objektiven
Basis zu entbehren. Ist aber der Mann unvorsichtig genug gewesen,
zu verzeihen, bereut dies später, nach der Geburt des unehelichen
Kindes und beantragt Scheidung auf Grund des Ehebruches der Frau, so
wird er abgewiesen, weil er verziehen hat. Und was schlimmer ist: das
Kind des Fremden steht auf dem Kirchenschein des Mannes, trägt seinen
Namen, beerbt ihn, nur weil er verziehen hat. Da sehen wir also, daß
die private Abmachung Staats- und Naturgesetze bricht. Ich erhalte
deshalb mein Verlangen aufrecht, die Anklage meiner Frau für ungültig
zu erklären, da sie vier Jahre lang den Prozeß nicht anhängig gemacht
hat. Nun möchte ich hinzufügen; daß ein wesentlicher Unterschied
zwischen dem Ehebruch des Mannes und dem der Frau besteht, ein
Unterschied, den die Natur selbst angeordnet hat; denn die Untreue des
Mannes kann nie die Einführung falscher Kinder in die Familie oder auf
den Kirchenschein der Frau zur Folge haben (wenn sie Witwe wird und
ihre eigenen Dokumente bekommt); deshalb ist das Gesetz mangelhaft,
da es summarisch urteilt, als seien Mann und Frau gleich, und es ist
ungerecht gegen den Mann; ja, ich kenne einen Richter, der einem Manne
ein Kind zugesprochen hat, das nicht seins war, obwohl er rechtzeitig
die Scheidung beantragt hatte. Dies Kind, dessen Vater offen genannt
wird, steht in den Kirchenakten des Mannes, trägt seinen Namen, wird
von ihm unterhalten und soll ihn beerben. Das ist doch ungeheuerlich;
aber der Richter sagt, kein Mann habe das Recht, ein Kind zu
verleugnen, das in seiner Ehe geboren ist.«

Frau Britas Hutfeder zitterte vor Wut, denn sie war aus dem Holz, daß
sie glaubte, ihre »Ansichten« in der Frauenfrage ständen über allen
Tatsachen. Was sie »finde«, sei das richtige; Gesetze hätten keine
Gültigkeit mehr, wenn sie etwas »meine«, und sie konnte nie eines
Irrtums überführt werden, weil sie Beweise nicht verstand und Gründen
nicht zugänglich war.

Sie explodierte deshalb und plapperte über die Gleichheit von Frau und
Mann, daß die Natur sie gleich gemacht habe (das weiß der Teufel), wenn
auch der Mann die Frau als Sklavin behandle (als Herrin des Hauses)
und diesen ganzen Unsinn, den auch die dekadenten Männer der Zeit
wiederkäuten.

Schließlich schlug der Vorsitzende mit dem Hammer auf den Tisch und
erklärte, das Gericht sei das rechte Forum für den Scheidungsprozeß,
der Frauenklub aber das Forum für Weibergezänk.

Darauf verwarnte er die Gatten und erklärte die Sitzung für aufgehoben.

Dies war der gewöhnliche Ausgang der Gespräche zwischen Mann und Frau
am Ende des Jahrhunderts: die Sitzung wurde aufgehoben.

Die Frauenfrage, das größte und schwierigste Problem der damaligen
Zeit, war wohl sozusagen die letzte Deduktion der Demokratie ~in
absurdum~. Alle Menschen seien gleich (obwohl sie so ungleich sind);
das war die falsche These. Die Demokraten mußten sie beibehalten oder
ihre Grundsätze verleugnen. Die Aristokraten machten mit, teils um
Stimmen zu bekommen und die Taschen der Demokratie zu bestehlen, teils
weil sie in der Frau nach ihrer veralteten Weltanschauung ein höheres
Wesen sahen.

Da war so viel Scheinbares und so viel Wirkliches. Die Frau, die ein
Mann liebt, ist ihm anscheinend überlegen, so lange er sie liebt, aber
nur ihm, und sie erscheint nur ihm so, denn es gehört zur Liebe des
Mannes, daß er sie über sich stellt und auch über andere. Nun aber
wurde dies in ein System gebracht und der Mann dankte ab. Nie hat man
den Mann so auf dem Bauch kriechen und den Boden unter den Füßen der
Frau fressen sehen wie damals. Männer, von denen man Besseres geglaubt
hatte, ergötzten sich daran, auf Salonteppichen zu den ungewaschenen
Füßen der häßlichsten Frauen zu liegen. Statt daß wie früher auf der
Straße der Mann der Frau den Arm bot, was schön wirkte, weil es richtig
war, sah man jetzt die dekadenten Männer von ihren Frauen geführt
werden.

Die Frauen kleideten sich wie Männer und die Männer wie Frauen; das
Armband ging auf den Mann über. Das war Perversität, und man begann
unangenehme Verwechselungen der Geschlechter wahrzunehmen; während aber
die perversen Männer ausgesprochene Frauenfreunde waren, sei es, weil
sie ihr Gebrechen vertuschen wollten, sei es, daß sie etwas Weibliches
in ihrer eigenen Natur sich regen fühlten, wurden dagegen die perversen
Frauen ausgesprochene Hasser des männlichen Geschlechts, woraus sie
kein Hehl machten; und ihre Lebensaufgabe war, die Ehe zu sprengen, --
natürlich um die Frau zu befreien.

Das Problem, das von Kreti und Pleti durcheinandergewirrt worden war,
konnte jedoch auf die eine Formel reduziert werden: Die Befreiung der
Frau sollte Befreiung von Kindergebären und Kindererziehen sein. Glaubt
ein vernünftiger Mensch an ein solches abnormes Verhalten der Natur?
Und wer soll Kinder gebären, wenn nicht die Frau? Das war ja alles
Unsinn! Aber auch im Staat der Zukunft, in dem die Frau arbeitete,
mußte die Frau doch in der Regel Kinder haben, so daß eine Emanzipation
im eigentlichen Sinne wohl nie zustande kommen konnte. Warum also um
einiger hysterischer Frauen willen die Gesellschaft um und um kehren?

Indem sie den Männern die Stellen wegnahmen, wurde ja für jeden
brotlosen Mann eine Ehe unmöglich; dadurch wurden die Ehen vermindert
und die Prostitution erhöht! Und dafür arbeiteten Staatserhalter und
Sittlichkeitsfreunde.

Es war die reine Verrücktheit!

Pfarrer Alroth auf Storö hatte aber ein Auge auf diese Bewegung
gehabt; seine Schwester, Frau Brita, hatte versucht, seine eigene
Frau aufzuhetzen und sie mit Sitzungen und ähnlichem aus dem Hause
zu locken; deshalb konnte er von seinen brüderlichen Gefühlen
nicht geblendet werden, sondern sah die peinliche Stellung seines
Schwagers im Hause sehr wohl ein. Auch gefiel es ihm, daß der
Schwager nicht Vergehen gegen Vergehen quittieren wollte, indem er
die letzte Geschichte mit den Kindern und was mit Zustimmung der
Frau im Hause geschehen war, Dinge, die er von seinem Standpunkt aus
verabscheuungswürdig fand, vorbrachte.

Als nun der Rat gegangen und Frau Brita nach Hause geeilt war, blieben
die Schwäger allein zurück.

Der Pfarrer gehörte zu der Art von Menschen, die ihren Vorteil darin
sehen, durchzustreichen und weiterzugehen. Er hatte vom Leben gelernt,
daß der Schimpf, den man nicht beachtet, nicht existiert, und daß
die Rache Zeit kostet und Revanche hervorruft. Er hatte deshalb die
letzten schimpflichen Schmähungen des Schwagers aus seinem Gedächtnis
gestrichen, wenn auch der Eindruck noch in ihm haftete. Noch etwas
anderes machte ihn sanft; eine gewisse natürliche und unerklärliche
Sympathie für Gustav Borg bewirkte, daß er ihm nicht richtig böse sein
konnte; ein sehr gewöhnlicher Fall, der erklärt, warum man gewissen
Menschen gegenüber so schwer recht bekommt, auch wenn sie überführt und
auf frischer Tat ertappt sind.

Man beklagt sich einem Freunde gegenüber über das häßliche Benehmen
eines Abwesenden.

»Das kann ich nicht von ihm glauben! Das ist ihm so unähnlich!«
antwortet der Freund.

Man kommt nicht vom Fleck, sondern sitzt wie ein armer Sünder da, der
mit einem mißtrauischen Gemüt behaftet ist; die deutlichsten Beweise,
die glaubwürdigsten Zeugen helfen nichts.

Also die Schwäger waren allein.

»Das ist eine leidige Geschichte,« begann der Pastor. »Und du hast
vor Gericht keine Aussichten; der Richter ist besessen und gibt jeder
Frau recht gegen einen Mann, trotz klaren Beweisen. Das ist der Geist
der Zeit, siehst du! Hast du nicht neulich von der englischen Dame
gelesen, die ihren Mann vergiftet hat? Zweiundfünfzig Ärzte schwuren,
sie sei unschuldig; sie aber saß im Gefängnis und legte mittlerweile
ein Geständnis ab! Tableau! Jetzt war es aus, sollte man denken! Nein,
jetzt kamen Massenpetitionen, die den Giftmord verteidigten, unter dem
Vorgeben, der Mann sei ein Schwein gewesen. Von meinem Standpunkt,
wohlgemerkt, würde ich es so erklären, daß die Vorsehung die Männer
wegen ihrer Unmännlichkeit und Charakterschwäche straft, indem sie
die Frauen losläßt. Diese Kreaturen, die nicht die Wahrheit sagen
können und deshalb nicht zeugen dürfen, sollen Advokaten und Richter
werden. Gott bewahre uns davor! Neulich hat das Postfräulein in großer
Gesellschaft erzählt, sie öffne und lese alle Briefe auf der Post.
Was soll man dazu sagen? Ich sprach darüber mit einem modernen Herrn,
und der sagte, das sei Lüge! Ich wollte ihn zuerst schlagen, aber er
erschien mir so interessant, daß ich über ihn nachzudenken anfing.
Er wurde böse über meine Geschichte, als sei er eine Frau und fühle
sich getroffen. Oder er hatte sich der Frauenfrage verschworen und
war böse auf sich selbst, weil er unrecht gehabt hatte. Dies ist das
wahrscheinlichste. Deine Aussichten, lieber Schwager, bei Gericht
sind klein: denn wenn eine Frau heutzutage einem Mann unrecht tut, so
hat sie die Sympathien der ganzen Welt für sich. Und Brita hat dir
unrecht getan, das weiß ich, das wissen wir alle! Was kann man dabei
tun? Nichts! Aber höre auf meinen Rat! Nimm einen Winkeladvokaten,
einen Schuft, der eine große Schnauze hat, und geh nicht selbst hin.
Das ist etwas besser als selber da stehen und sich zanken; freilich,
sicher bist du trotzdem nicht, denn wenn ein Mann einen Weiberrock
sieht, wird er feig. Ich hatte neulich einen Prozeß gegen die Lehrerin
hier. Und ich wählte aus dem Haufen eigens einen Advokaten, der
unglücklich verheiratet war. Jetzt, dachte ich, kriegt sie es! Jawohl!
Kannst du dir denken, dies bezahlte Vieh steht da und verteidigt meine
Gegenpartei!«

Gustav Borg hatte nicht ungern diesen tröstenden und teilnehmenden
Worten gelauscht, aber er konnte es nicht über sich bringen,
zuzugeben, daß der Pfarrer recht habe, denn das hieße einen Irrtum
wiedergutmachen. Er fühlte sich im Gegenteil einen Augenblick
herausgefordert, zu widersprechen, die Frauen in Schutz zu nehmen, wie
er sie stets in seiner Zeitung verteidigt hatte.

Als er nun ging und auf die Landstraße kam, erwachte in ihm ein
Nachgefühl des Geschehenen, und er fand, daß die letzten tröstlichen
Worte eine Demütigung gewesen seien. Das setzte ihn in Trab, und
während er weiterschritt, in die Welt hinaus, faßte er den Entschluß,
in die Stadt zu fahren, da seine Anwesenheit hier draußen überflüssig
war. Er lenkte deshalb die Schritte nach der Dampferanlegebrücke.

Wie er nach der Uhr sah, fand er, daß bis zur Ankunft des Dampfers noch
drei Stunden blieben.

Das war lange, aber er hatte ein neues Leben vor sich und ein altes
hinter sich.

Anlegebrücken sind außerordentlich geeignet, um darauf Betrachtungen
anzustellen; da ist ebener Boden unter den Füßen, so daß man auf und
ab gehen und denken kann; da hört das Land auf und das große, einsame
Wasser beginnt; da ist es regungslos still, und man geht und wartet auf
etwas, das neue Bewegung in einen bringen, einen an einen andern Ort
versetzen, die Anschauungen ändern und das Schicksal umgestalten soll.

Gustav Borg ging auf und ab und dachte. Er war jetzt an dem Punkt im
Leben angekommen, den man die Zeit des »Ausessens« nennt. »Das mußt du
einmal ausessen,« hatte er so oft sagen hören, ohne es zu verstehen,
ohne es zu glauben, in dem rastlosen Vorwärtsschreiten des Lebens.
Jetzt verstand er es, aber gleich so vielen andern zog er die falsche
Schlußfolgerung, er müsse bereuen und die Lehren zurücknehmen, die
durch ihn verbreitet worden waren und nicht ganz zu dem beabsichtigten
Ergebnis geführt hatten. Er glaubte seine Arbeit an Irrtümer
verschwendet zu haben, die jetzt bekämpft werden mußten, erkannte aber
nicht, daß in seinem sogenannten Irrtum ein Teil der Wahrheit lag, die
nur unter dem Zusammenwirken der feindlichen Plus- und Minusposten ans
Tageslicht kommen konnte. Die Verbesserungen hatten schon die Gegner
gemacht, er brauchte sie also nicht von neuem zu machen. Nun grämte er
sich über vergeudete Mühe, ärgerte sich, daß er wie ein Narr reaktionär
gewirkt hatte, während er Vorspann zu sein glaubte. Und die Leiden, die
er jetzt durchmachte, sah er als eine Strafe für das Böse an, das er
getan hatte, obwohl sie auch Prüfungen sein konnten.

Diese Abrechnung, die jeder Mensch in einem gewissen Alter durchmacht,
ist jedoch nur ein Bücherabschluß der Persönlichkeit, bei dem eine
genauere Untersuchung zeigt, daß das relative Böse, das man zwecks
Durchführung einer guten Sache andern zufügen mußte, ein notwendiges
Böses war. Andererseits aber scheint eine immanente ewige Gerechtigkeit
zu fordern, daß auch unschuldig zugefügte Leiden in der Weltordnung
neutralisiert werden durch entsprechende Schmerzen bei dem, der sie
hervorgerufen hat. Wenn ein in der höheren Buchführung Erfahrener in
diesem Augenblick der Abrechnung neben einem Menschen stände, würde er
alle Siegel lösen und zu dem vom Stachel der Reue Verwundeten sagen:
»Sei getrost! Sieh hier das Gute, das du ausgerichtet hast, und hier
das Böse! Jetzt wollen wir Posten gegen Posten quittieren, dann bleibt
doch noch ein Saldo zu deinen Gunsten; denn schon daß du dein Leben so
gut du vermochtest gelebt hast, ist eine Heldentat; und jeder Mensch,
der sich zu einem natürlichen Tode durchgearbeitet hat, ist ein Held;
jeder Gestorbene verdiente ein Denkmal, so schwer und mühselig ist es,
das Leben zu leben. Und der Elendeste ist nicht weniger bewundernswert,
denn seine Last war schwerer als die anderer, sein Kampf größer,
sein Leiden tiefer; und warum er ein Elender war, das weiß kein
Sterblicher, kann kein Mensch erklären, weder mit Statistik, noch mit
Nationalökonomie.«

Gustav Borg konnte die Synthese seines Lebens noch nicht vollenden,
sondern befand sich in voller Krisis, da er in das Reich eintrat,
das Swedenborg die Vernichtung nennt. Und das schlimmste von allem
war: er hatte die Hand gegen sich selbst erhoben; denn er, der Gegner
der freien Sittengesetze, war wegen eines Unsittlichkeitsverbrechens
angeklagt. Diese Disharmonie war nicht leicht zu lösen.

Von der Brücke sah er die Schornsteine seines Hauses. Gerade jetzt
stiegen zwei blaue Rauchwolken empor. Es brannte im Herde, da
verbrannte alles und das beste: Gattin und Kinder.



Elftes Kapitel

Der neue Redakteur


Holger Borg war ein Kind seiner Zeit; Ingenieur und Elektrotechniker,
lebte er das Leben einfach, ohne Reflexionen, praktisch. Verheiratete
sich früh mit einem kleinen Mädchen vom Theater, dem er nach
der Sitte der Zeit die Rolle des Kameraden einstudierte. Die
Ingenieurwissenschaft sich in der Eile anzueignen, war ja für sie etwas
schwierig, aber einige Ausdrücke wie Kontakt und Kurzschluß mußten
genügen; sie posierte als Ingenieur und entwickelte sich zu einer
Tendenzfrau, die der Welt zeigen wollte, daß die Frau in allen Dingen
dem Manne gleich sei. Diese Gleichheit sollte sich auch im Verkehr
äußern; der Mann durfte nicht allein ins Café gehen, sondern sie mußte
mit; vormittags freilich ging sie allein in die Konditorei; und als
der Mann im Anfang die mathematische Ungerechtigkeit konstatieren
wollte, wurde er mit der Frage zum Schweigen gebracht, ob sie ein
freier Mensch, oder ob sie eine Sklavin sei. Um des Hausfriedens und
der Gemütlichkeit willen ließ er die Frage unbeantwortet, gab nach,
ordnete sich unter, anfangs mehr im Scherz, immer aber mit Rücksicht
darauf, daß es sich gut machen sollte. Er mußte ja die modernste
Frau haben, und er wollte nach seinen Lehren leben. Auf diese Art
bekam er ganz allmählich eine Gouvernante über sich, eine, die ihn
in Gesellschaft korrigierte und ihn schließlich alles lehren wollte,
alles, was er besser wußte als sie. Doch er klagte nicht und merkte
nicht, daß sich unter ihrer Mütterlichkeit Verachtung verbarg. Ihm ging
aber eine Ahnung davon auf, als er sah, daß seine Freunde seine Frau
wie ein höheres Wesen, ihn selbst aber wie einen Tropf behandelten.
Andererseits schmeichelte es ihm, daß er die stilvollste Frau gefunden
hatte; und wenn sie den Mittelpunkt des Kreises bildete, war sein Platz
anscheinend darüber.

Zu Beginn der Ehe hatten die Neuvermählten es recht knapp; sie lebten
außer dem Hause, weil es billiger war, und manchmal war zu Hause ein
Bohêmeleben. Dann kam das Kind. Da bekamen sie es zu spüren. Die
Einkünfte des Mannes, die bisher von zwei Personen geteilt worden
waren, mußten jetzt von vier geteilt werden. Das war Entsagen, und das
liebte man nicht, sondern pumpte und setzte das alte Leben fort. Aber
als das Kind drei Jahre alt war, wurde das Kindermädchen verabschiedet,
und die Gatten besorgten das Kind selbst. Die Frau, die nichts anderes
zu tun hatte, verlangte trotzdem, daß der Mann, der seine Arbeit in der
Fabrik und in den Zeitungen hatte, bei der Pflege des Kindes helfe. Es
sollte gleich sein, natürlich. Er, der Esel, wagte nicht nein zu sagen,
wollte es auch nicht, weil er ihre Arbeit zu adeln wünschte, merkte
aber nicht, welche Ungerechtigkeit er unterstützte, und wie er an
seinem Untergang arbeitete. Um sich schadlos zu halten, machte er es
wie andere Ehemänner: er erfand das geheime Frühstück außer dem Hause;
er schützte Sitzungen am Abend vor und kam schließlich in einen Kreis
gesetzter Ehemänner, die ihren Punsch zwischen sechs und sieben Uhr
abends tranken, um dann zum Abendbrot zu Hause zu sein. Kam er hierauf
nach Hause und roch nach Punsch, so wurde die Frau böse; und bei
solchen Gelegenheiten hatte das Kind immer keine Strümpfe. Dann half
er sich gewöhnlich damit, »er sei eingeladen gewesen«, und nun hätte
die Strumpffrage erledigt sein müssen, aber das war nicht der Fall; sie
blieb eine stehende.

Er war zum Abendbrot immer zu Hause und war langweilig. Bei Tisch, wenn
er das trockene Essen kaute, erinnerte er sich wohl des wollüstigen
Frühstücks im Opernkeller; und dann flog bisweilen ein schwaches
Leuchten über sein Gesicht, der letzte Wiederschein eines inneren
Lächelns, den die Erinnerung an eine lustige Geschichte aus dem
Zwischenregister hervorrief. Dann wurde seine Frau finster und merkte,
daß er sich ohne sie amüsiert hatte, und sie ärgerte sich, daß er ein
Vergnügen haben könne, ohne daß sie dabei sei. Und dann mußte er die
lustige Geschichte erzählen. Das war ihr eheliches Recht.

Eines Abends saßen die Gatten wie gewöhnlich zu Hause. Die Frau war
angegriffen vom Kindergeschrei, vom Abwaschen, vom Aufdecken.

Auf dem Tisch stand das harte Brot, Margarine und eine geöffnete
Konservendose, deren Boden von drei elenden Fischen kaum bedeckt
war, die seit mehreren Tagen niemand hatte anrühren mögen und die
deshalb trocken waren wie Juchtenleder. Eine Rinde von einem falschen
Schweizerkäse und einige Scheiben roher Speck, der geräucherten
vorstellen sollte, bildeten die Basen einer Triangulation.
Ungemütlichkeit, Nachlässigkeit, Unlust lag in allem, und es wich sehr
von dem ab, was man sich unter Heim und heimischem Behagen vorstellte.
Dazu dies heimliche Lauern auf die Schwächen des andern, dies
Spionieren nach den unausgereiften Gedanken des andern. Sie waren wie
zwei Gefangene, die sich heimlich gegenseitig bewachten.

Der Mann sah mit düsteren Blicken die Gerichte an, und beim Betrachten
der Anchovis spürte er den schrecklichen Zinngeschmack, das ranzige Öl
... Plötzlich kam ihm ein Gedanke.

»Wenn wir ausgingen und kneipten! Wir sind so lange nicht mehr
ausgewesen!«

»Ja, aber Ragnar? Das Kind?«

»Ja, das ist wahr!«

Die Frau grübelte:

»Es ist jedenfalls entsetzlich, daß ein Kind die Eltern kommandieren
soll! Umgekehrt müßte es doch sein!«

»Natürlich müßte es das! Wir haben unsere ganze Jugend hindurch
entbehrt, und jetzt, wo wir anfangen müßten, das Leben zu genießen,
sind wir Sklaven!«

»Und jetzt, wenn er schläft, braucht er uns ja nicht.«

»Er schläft doch immer, wenn er erst eingeschlafen ist?«

»Wir haben ihn verwöhnt, das ist alles! Denke an all die armen Kinder,
die morgens eingeschlossen werden und bis Mittag allein bleiben ...
Weißt du was, Holger; wir sagen der Portierfrau, sie soll achtgeben, ob
er schreit ...«

»Ja, das finde ich akzeptabel,« antwortete Holger.

Gesagt, getan! Eine Weile später waren die Herrschaften auf dem Wege
nach der Stadt. An der Neuen Brücke trennten sie sich; der Mann mußte
in die Redaktion, und die Frau sollte im Grand Hotel auf ihn warten,
dem klassischen Grand Hotel, das die Männer der siebziger Jahre
gegründet, die der achtziger als Erbe übernommen und die der neunziger
später dem reformierten Hotel Rydberg zu Liebe verlassen hatten.

Als die Frau ins Hotel kam, ging sie hinein und setzte sich an ihren
gewöhnlichen Tisch, nahm eine Zeitung und wartete.

Gleich darauf trat der Schauspieler ein, ein intimer Freund, und suchte
Gesellschaft.

»Ach sieh da, Marta,« grüßte er, »wo hast du Holger?«

»Er kommt gleich,« antwortete Marta, die sofort in strahlender Stimmung
war.

»Darf ich hier Platz nehmen?«

»Ja, das denke ich,« antwortete die Frau, ohne zu zögern.

Sie kamen schnell ins Gespräch, und in einem Augenblick stand ein
Punschtablett nebst Zigaretten auf dem Tisch.

Die Bestellung hatte der Schauspieler so schnell gemacht, daß die Frau
es nicht bemerkt hatte, und nun saßen die beiden da und wollten nicht
anfangen, ehe der Mann kam. Sie plauderten von allen möglichen Dingen,
und die Zeit verging.

Ohne weiter zu überlegen, was er tat, füllte der Freund, da er das
Warten lang fand, zwei Gläser, sagte Prosit und sie tranken.

Die Zeit verging wieder, und sie zündeten sich Zigaretten an.

»Es ist ja schrecklich, wie lange Holger ausbleibt,« sagte die Frau,
»wir hätten nicht anfangen sollen.«

»Jetzt ist es zu spät,« antwortete der Freund.

Da trat eine Gesellschaft ein, die wußte, wer sie waren, ohne sie zu
kennen. Diese Leute warfen natürlich verwunderte Blicke auf die beiden,
und ihre Blicke wurden spöttisch, als sie sich ihnen gerade gegenüber
niedergelassen hatten.

Im selben Moment kam Holger herein, übersah mit einem Blick die
Situation, die er sich erklären konnte, und war vorurteilsfrei genug,
sie nicht zu mißbilligen; dann aber gewahrte er die spöttischen Blicke,
und das verletzte ihn, so daß er finster wurde.

Als er an dem Tisch angelangt war, grüßte er so ungezwungen er
vermochte:

»Das ist recht, daß ihr angefangen habt. Ich bekam ein Telegramm und
mußte ein paar Zeilen schreiben.«

Da er in die frisch aufgebaute Stimmung der andern hineinplatzte und
sie Vorsprung hatten, fiel es ihm schwer, sofort mit ihnen auf das
gleiche Niveau zu kommen. Und er, der etwas von dem lastenden Ernst der
Arbeit aus der Redaktion mitbrachte, wirkte niederdrückend auf sie. Es
entstand eine Reibung, und die Verlegenheit der Langeweile legte sich
über die Gesellschaft.

Die Frau, die sich amüsieren wollte, kam auf den unglücklichen
Gedanken, den Mann aufheitern zu wollen; aber da verstummte er ganz.

Ihr nächster Versuch lief noch unglücklicher ab, als sie, um die Sache
in Ordnung zu bringen, die plumpe Frage hinwarf:

»Was ist mit dir?«

Das wirkte, als wühle sie in seinem Innern, und er zuckte zusammen,
wurde böse auf sich selbst, weil er sich nicht beherrschen konnte,
wurde wütend auf die Gesellschaft mit den Blicken, wütend auf die ganze
Situation.

Sein gequältes Aussehen verriet ja Eifersucht; aber er war nicht
eifersüchtig, ihm ekelte nur vor dem Gedanken, dessen verdächtigt zu
werden, und er sah sich lächerlich gemacht. Sie hatte ihn durch ihre
Frage lächerlich gemacht, diese Frage, die er nicht beantworten konnte.
Da entstand dies Schweigen, das niemand zu brechen wagt, weil alle
wissen, daß der, der zuerst spricht, eine Dummheit sagen, das Geheimnis
verraten muß, an das alle denken.

Es war eine Minute von der Länge einer Ewigkeit. Aber dann kam die
Rettung: Zwei Künstler ihres Kreises stürzten herein, stellten den
Strom um und leiteten die konträren Ströme ab. Und dann verlief der
Abend in munterem Geplauder.

Nach Theaterschluß vergrößerte sich die Gesellschaft. Alle diese
Menschen, die Kinder des gleichen Geistes waren, fühlten eine
Zusammengehörigkeit, als seien sie eine Familie. Und sie hatten einen
Instinkt, einen Freund zu ahnen; es waren keine Erklärungen nötig,
und obwohl sie Verfolgungen ausgesetzt waren, waren sie sorglos,
hoffnungsvoll, überzeugt, sich auf dem rechten Wege zu befinden.

Es hatte halb zwölf geschlagen, und die Freude war auf ihrem Höhepunkt,
als plötzlich eine schwarzgekleidete Frau an den Tisch trat und Frau
Marta sprechen wollte.

Die fremde Unbekannte wirkte wie eine schwarze Fahne, und der Jubel
verstummte.

»Frau Borg,« begann sie; »ich wohne in Ihrem Hause und ging
zufällig an ihrem Kinderzimmerfenster vorbei, als ich ein einsames,
eingeschlossenes Kind schreien hörte. Nein, glauben Sie nicht, daß ich
Ihnen Vorwürfe machen will! Aber da das Geschrei verzweifelt klang,
ging ich zum Portier, um mir den Schlüssel geben zu lassen und zu
dem Kinde hineinzugehen. Bei dem Portier war niemand zu Hause. Ich
schickte einen barmherzigen Menschen zum Schlosser, während ich dem
eingesperrten Kinde durch das verschlossene Fenster gut zuredete ...
beruhigen Sie sich nur, kleine Frau, Sie haben Pech gehabt und haben
sich auf eine unzuverlässige Portierfrau verlassen. Als ich hineinkam,
beruhigte ich das arme Kind und habe drei Stunden bei ihm gesessen;
jetzt schläft es unter Aufsicht der wiedergefundenen Portierfrau.
Ja ...«

Herr und Frau Borg stürzten hinaus ...

So war es, wenn man Kinder hatte! Jajaja, und sie machten sich
Vorwürfe, versprachen sich, nie wieder auszugehen. Sie dachten daran,
was für tendenziöse Geschichten jetzt verbreitet werden würden; sie
liefen nach Hause, da sie keine Droschke fanden.

In der Neuen Brückenstraße, als sie eben keuchend die Steigung
überwunden hatten, stießen sie auf einen riesenhaften Herrn, der sie in
seine gewaltigen Arme nahm und rief:

»Hallo, da habe ich euch endlich!«

Es war Doktor Henrik Borg.

»Du, Holger, bist Redakteur der Zeitung mit sechstausend Kronen Gehalt;
und trittst morgen ein. Einverstanden?«

Frau Marta weinte an der Brust des Riesen. Und dann liefen sie dem
Onkel weg, lachten und weinten.

»Wir werden zwei Mädchen haben,« rief die Frau.

»Und eine Wohnung am Strandweg!«

Auf dem Markt tanzten sie um einen Laternenpfahl und liefen dann wie
bei »eins, zwei, drei, das letzte Paar herbei« jeder an einer Seite der
Verkaufsstände herum.

So wurde Holger Borg Redakteur, und so endete ein qualvoller Tag in
Freude.



Zwölftes Kapitel

Doktor Borg


Doktor Borg war zweimal verheiratet gewesen; das erste Mal mit
einer einheimischen Närrin, die er wegen ihrer Schönheit und Jugend
liebgewonnen hatte. Aber sie war sich dieser Schönheit so bewußt, daß
sie ihr einen wahren Kult widmete. Sie konnte stundenlang halbangezogen
vorm Spiegel sitzen und sich bewundern; ihre runden Arme küssen, ihren
Busen modellieren, sich selbst die Zähne zeigen, ihre Nase kneten, um
die schönste Wölbung an der richtigen Stelle hervorzubringen. Als der
Doktor sie einmal unbemerkt bei dieser Beschäftigung sah, erschrak er,
denn der Ausdruck ihres Gesichts war nicht der eines Menschen, sondern
eines albernen Tieres, eines Vogels, der sich in einer Quelle spiegelt
und seine Federn zupft. Es kam ihm so unheimlich vor, nicht mit einem
Menschen zusammenzuleben, daß er bei all seinem Freimut die Sache in
den Sack stopfte und den zuknotete.

Trotz ihrer Schönheit verstand sie sich nicht anzuziehen, und wenn er
eine Bemerkung machte, wurde das als Majestätsbeleidigung angesehen.
Sie zog sich dann geknickt zurück, verhöhnte ihn, daß er sie nicht
zu schätzen vermöge, zählte in ihrer Einfalt alle ihre Bewunderer
auf, zitierte deren Urteil. Der Doktor setzte nach der Heirat seine
Rauchopfer in Form von Blumen und Sekt fort; aber die Blumen paßten nie.

»Ich habe von Leutnant X. Orchideen zu sieben Kronen das Stück
bekommen. Und richtiger Champagner muß elf Kronen kosten.«

Sie liebte sich selbst und ihre Schönheit so objektiv, daß sie auf den
Doktor eifersüchtig war, weil er sie gekriegt hatte.

»Du hast Glück gehabt! Du weißt nicht, wie gut du es hast. Denke, wie
viele dich beneiden.«

Aber diese Selbstliebe ging so weit, daß sie sich dem Mann nicht
hingeben konnte; sie gönnte ihm ihre Liebe nicht, sondern war noch
in den Momenten der Zärtlichkeit so neidisch kühl, daß sie nichts
empfangen konnte. Und dann klagte sie.

Anfangs kümmerte sich der Doktor nicht darum, denn er wußte, wer er
war. Aber bald ging sie zu ihrer Mutter, beklagte sich und sagte, sie
betrachte sich nicht als verheiratet. Die Mutter verstand nichts und
wollte nichts wissen.

Der Doktor, der ein junger Arzt war, verstand auch nicht, was die
Frau meinte, wurde aber unruhig und fragte einen älteren befreundeten
Kollegen um Rat.

»Ja, mein Junge,« sagte der Alte, »jetzt stehst du vor einem Problem,
an dem ich noch heute buchstabiere. Aber ich habe kürzlich eine
bestimmte Äußerung unseres größten Gynäkologen über diese Frage
gelesen. Er sagt, das Freudenmädchen suche die Freude, die Gattin
aber suche das Kind; und er erklärt entschieden, das Kind müsse
keusch in einer liebevollen Umarmung erzeugt werden, nicht in einer
wollüstigen. Das ehrbare Mutterweib wird keusch in der Ehe, gegen
ihren Willen, und was sie sucht, findet sie nicht; deshalb klagt sie.
Aber, lieber Freund, ich bin so weit gekommen, daß ich finde, auch des
Mannes Begierde wird in der Ehe geadelt, gewissermaßen neutralisiert
oder vergeistigt; deshalb habe ich ebensoviele Klagen von männlicher
Seite gehört. Du siehst ja an Neuvermählten, wieviel Enttäuschung ...
übrigens, ist deine Frau schwanger?«

»Ja, nach zweimonatiger Ehe!«

»Da kannst du ja ruhig sein!«

Der Doktor wurde ruhig, zu sehr, so daß es die Frau reizte. Sie wurde
noch eifersüchtiger auf ihren Mann, weil ihm die Ehre zuteil geworden
war, ein Kind mit ihr zu haben, und sie haßte ihre Schwangerschaft,
die ihre Schönheit angriff. Und was ihr nicht gefiel, das existierte
nicht für sie. Gedankenlos und einfältig ging sie noch immer umher und
spielte Jungfrau.

Da wurde ihre Mutter wütend:

»Bist du verrückt, Kind? Du bist doch in gesegneten Umständen.«

»Nicht, daß ich wüßte ...«

»Du weißt das nicht? Hör einmal, wenn du solchen Unsinn redest, wird
dein Mann dich totschlagen. Begreifst du nicht, daß die Welt sich
fragen wird, woher du das Kind hast, wenn du Unschuld markierst?«

Als sie aber die Vaterfreude und den Stolz des Mannes sah, wurde sie
gehässig. Eine vollständig tierische Bosheit wuchs auf, und sie wollte
ihm nicht gönnen, Vater ihres, _ihres_ Kindes zu sein.

War es nun Einfalt oder nur Bosheit, jedenfalls sagte sie eines
Morgens, als sie wie gewöhnlich schwatzte:

»Ich weiß nicht, aber ich finde, du hast an diesem Kinde keinen
Teil ...«

Da kam des Doktors afrikanisches Temperament zum Ausbruch, das er so
lange unterdrückt hatte:

»Was zum T...l sagst du? Es ist nicht mein Kind? Dann bist du eine ...,
und das kannst du doch nicht meinen.«

Die Frau erhob sich, kleidete sich an, und als sie gehen wollte,
äußerte sie:

»Jetzt gehe ich, für immer!«

»Ja, geh zur H...,« antwortete der Doktor. »Du kannst ja einen Menschen
morden mit deiner bestialischen Dummheit und deiner satanischen
Bosheit. Geh schnell, sonst schmeiße ich dich raus!«

Damit war diese Ehe zu Ende. Auf den Doktor aber war ein Schatten
gefallen, denn er konnte sich ja nicht verteidigen, auch wenn er
physiologische Beweise erbrachte, die niemand verlangte. So lief er ein
paar Monate wütend umher, und in der Wut verheiratete er sich wieder,
und zwar mit einer Norwegerin, nachdem er sie gleich geschwängert
hatte. Sie war im siebenten Monat, als sie getraut wurden, und die Frau
wollte eine stille Hochzeit haben, der Mann aber veranstaltete eine
pomphafte kirchliche Trauung mitten am hellen Tage.

»Es ist so schön,« sagte er, »ein gesegnetes Weib zu sehen.«

Der Pfarrer war nicht derselben Meinung, mußte sich aber zufrieden
geben. Und als der Doktor als sein eigener Brautführer seine
hochgewölbte Braut den breiten Gang entlang durch die Kirche führte,
fiel der Schatten fort, und er stand im Licht, klar und gesund wie er
war ...

Bei Tisch hielt er vor hundert Gästen eine Rede und trank auf das Wohl
seiner Gattin und seines ungeborenen Kindes.

»Das ist Stil!« sagten einige. Andere aber fanden es zynisch.

Diese Ehe Nummer zwei ging eine Zeitlang so lala. Dann kam natürlich
das Puppenheim und der ganze Kram. Ligafrauen und Kanonfrauen,
Bundesfrauen und Handschuhfrauen. Das Leben war für einen Ehemann eine
Hölle.

Die ganze uralte Idolatrie wurde Gynolatrie oder Frauenanbetung. Man
hörte einen atheistischen Dichter erklären, seine Religion sei die
Frau. Alle Literatur, die nicht die Frau verherrlichte, wurde für
wertlos gehalten, so daß man wirklich mit Spencer glauben konnte, Kunst
und Poesie hätten ihren Ursprung in der Kriecherei des Männchens vor
dem Weibchen. Es hätte noch angehen können mit dieser Frauenlobpoesie,
wenn sie nicht von Selbsterniedrigung des Mannes begleitet gewesen
wäre. Männer fanden Genuß darin, sich zu erniedrigen und den Beweis zu
erbringen, daß der Mann ein niedrigeres Tier sei, und als die alten
Narren Ibsen und Björnson rund heraus erklärten, die Gesellschaft könne
nur dadurch gerettet werden, daß die Frau ein-, der Mann aber abgesetzt
werde, war die Narrheit auf ihrem Gipfel angelangt.

Kam die norwegische Frage hinzu, so hatte der Doktor ein gemütliches
Heim. Zwei Kinder waren freilich aufgewachsen, im Alter von dreizehn
und fünfzehn Jahren, aber jetzt wurden auch sie zu Zankäpfeln. Alles
war Zankapfel, und mit einer unlenksamen Frau war nichts zu machen.

Warum sie sich nicht scheiden ließen? Die Kinder hielten das Elend
zusammen, die Erinnerungen, und dieses Unerforschliche, das Gatten
bindet, auch wenn sie sich hassen. Die Okkultisten sagen, daß sie
halbgeistige Substrate ineinander erzeugen, die eine Art wesenhaftes
Dasein führen; andere meinen, die Seelen des Mannes und der Frau
wachsen mit Saugwurzeln ineinander fest und leben im Grunde in einer
beständigen Umarmung; sie fühlen miteinander und durcheinander, wie
Zwillinge tun sollen; deshalb leidet auch der Teil, der dem andern weh
tut; er leidet unter diesem Leiden, das er selbst verschuldet hat;
infolgedessen ist man wehrlos gegen die, die man liebt, und lieben
ist leiden. Daher ist auch Trennung das schmerzlichste von allem; es
heißt das Dasein zerreißen und auflösen, und die Erinnerungen sind
die Kinder der Seele; man kann sie nicht verlassen, wann man will. Es
gibt Ehepaare, die dreißig Jahre lang mit dem Gedanken umgehen, sich
zu trennen, ohne daß es ihnen gelingt; sie trennten sich als Verlobte,
als Neuvermählte, als Eheleute; sie trennten sich acht Tage vor der
silbernen Hochzeit; und als sie so weit gekommen waren, glaubten sie,
jetzt werde es bis ans Lebensende dauern. Aber drei Wochen später ging
der Mann von Hause fort und blieb eine Nacht weg, die erste in den
fünfundzwanzig Jahren. Am Tage darauf war er wieder daheim, und um die
Versöhnung zu versinnbildlichen, richtete er eine neue Wohnung ein; und
dann ging es weiter.

Der Doktor hatte durch seine erste Scheidung so gründlich gelitten,
daß er beschlossen hatte, in der zweiten Ehe auszuhalten, alles zu
leiden, nur keine Erniedrigung. Aber es gibt so vieles, was unmerklich
erniedrigt. In Gegenwart der Dienstboten abgekanzelt zu werden ist
erniedrigend für einen Mann, und in Gegenwart der Kinder als Idiot
behandelt zu werden, ist noch erniedrigender, besonders, wenn man der
Klügere ist.

Dies tägliche und stündliche Unterdrücken seiner Neigungen kann
schließlich den Stärksten jedes Selbstgefühls berauben, und als der
Doktor merkte, daß er in Gefahr war, beschloß er zu fliehen, die einzig
mögliche Kampfweise bösen Frauen gegenüber; denn wer sich mit der
Bosheit einläßt, gerät selber hinein. Und ihre Bosheit wirkte wie ein
Nervengift, das ihn anzustecken drohte.

Der äußere Anlaß zu dem Ausbruch war wie gewöhnlich der Besuch einiger
Freundinnen im Hause. Eine von ihnen liebte Frau Dagmar, inwieweit
unschuldig, ist schwer zu entscheiden, aber die Damen halten alles für
unschuldig, was sie treiben, auch wenn die Grenze überschritten wird.

Diese Freundin begann sich in die Erziehung der Kinder zu mischen. Das
Mädchen wurde geschoren, und das Haar des Jungen ließ man wachsen,
alles, um die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu verwischen.
Doch als der Junge in der Schule wegen dieses seines weiblichen Äußern
gehöhnt wurde und der Vater zugleich merkte, daß die Instinkte des
Sohnes sich zu verweiblichen begannen, bekam er Angst; nahm eine Schere
und schnitt das Haar ab. Als die Mutter das sah, geriet sie in Wut:

»Darf eine Mutter nicht ihre Kinder erziehen?« schrie sie.

»Zum Teufel, dann soll sie aber auch keine Sodomiten erziehen. Zwei
gehören dazu, und ich bin der eine.«

Die Mutter drohte zum Rechtsanwalt zu gehen. Das sagte sie immer.

Aber es gab noch einen andern Faktor, der störend auf die Ehe
einwirkte, und das war der damals von einem berühmten Arzt erfundene
Kognak. Den benutzte die Frau als Universalmittel gegen alle
Krämpfe und meistens vormittags gegen Nervosität und abends gegen
Schlaflosigkeit. Die anscheinend unschuldigen kleinen Gläser verdarben
Stimmung und Appetit, brachten zu unrechten Zeiten Schlaf und
verscheuchten die Nachtruhe. Obwohl es mit dem Erfinder selbst, dem
Professor, der Autorität, ein schlimmes Ende nahm und er ein Opfer
seiner Kognakhypothese wurde, setzten die Damen das Trinken fort.

Wenn der Doktor seine Frau warnte, berief sie sich immer auf den
Professor.

»Der Professor muß es wohl besser verstehen als du, der du nicht einmal
Dozent bist.«

Mit einem Wort, die Ehe war reif, so überreif, daß, als der Bruderzwist
aufflammte, ein leichter Windstoß sie zum Bersten brachte.

Frau Dagmar schrieb in der Frauenzeitung gegen die Theorien ihres
Mannes, die sie anführte, ohne jedoch seinen Namen zu nennen,
verdächtigte ihn als Reaktionär und warnte die liberalen Wähler vor
einem solchen Kandidaten. Damit war offen der Krieg erklärt, und die
Gatten hausten jeder in einem Teil der Wohnung.

Aber die Katastrophe selbst wurde durch ein kleines Ereignis
beschleunigt, das wie bestellt eintrat.

Eines Morgens zur Zeit der Sprechstunde kam eine sehr gut gekleidete
Dame zu dem Doktor. Dieser war erstaunt, denn die Damen hatten ihn
in den Bann getan, weil er »unfein« war; er wollte nämlich ihre
Andeutungen nicht verstehen, sondern sprach ihre Hintergedanken
ungeschminkt aus; deckte ihre Geheimnisse auf, ohne sie fragen zu
müssen.

Er bat die Dame aber, Platz zu nehmen, und als er sie fixierte, sah er
sofort, zu welcher Sorte sie gehörte. Der Ausdruck der Augen stimmte
nicht zu dem des Mundes. Es waren Kinn, Wangen und Lippen eines Kindes,
die Augen jedoch sagten etwas anderes, denn sie hatte vergessen, ihre
Augen zu erziehen. Als er nun fragte, was ihr fehle, erklärte sie, es
sei Blutarmut und Nervosität.

Er hatte eine wohlbekannte Spur gefunden und fragte vorsichtig weiter:

»Sind Sie verheiratet?«

»Ja!«

»Haben Sie Kinder, und wie viele?«

»Ein Kind.«

»Wann ist es geboren?« (Jetzt ging es wie nach einem Formular, denn er
wußte die Geschichte auswendig.)

»Vor drei Jahren!«

»Nun, und dann?«

Hier entstand eine Pause, denn in dem Worte »dann« lag das ganze
Bekenntnis, das er ihr indirekt in den Mund legte; doch sie war nicht
gekommen, um etwas zu bekennen, im Gegenteil. Er nahm deshalb den Faden
wieder auf und fuhr selbst fort:

»Will Ihr Mann nicht mehr Kinder haben?«

»Nein!«

»Wollen Sie mehr Kinder haben?«

»Nein!«

»Ja, daher sind Sie nervös und blutarm: ist Ihr Mann auch nervös?«

»Er? Er macht mich ja nervös, und darüber wollte ich sprechen.«

»Hören Sie, gnädige Frau, Sie machen sich wohl gegenseitig nervös mit
diesem Schwindel ...«

»Können Sie mir nicht sagen, Herr Doktor, was ich tun soll; ich kann
als Frau nicht unverheiratet leben ...«

»Tut Ihr Mann das nicht auch, da Sie keine Kinder haben wollen?«

(Sie wollte nicht von ihrem Mann sprechen, nicht an ihn denken.)

»Können Sie mir nicht etwas verordnen, Herr Doktor, etwas, was ...«

»Meinen Sie, ich soll Ihnen einen Liebhaber verordnen? Dann macht er
das Kind, und Sie sind der gefürchteten Schwangerschaft ebenso nahe.«

Das war das ganze Geheimnis, und jetzt erlebte er eine Verwandlung
bei offenem Vorhang; das kleine Gesicht wurde gegen ein anderes
ausgewechselt, gegen ein so fürchterliches, daß er glaubte, ein ganz
anderer Mensch säße auf dem Stuhl. Aber er fuhr unerschrocken fort:

»Daß Ihr Mann es müde wird, Ihre Laster auszuüben, wundert mich
nicht ...«

Weiter kam er nicht, denn die Dame war in einem Augenblick zur Tür
hinaus.

Das war ja ein regulärer Fall und kam ebenso oft vor wie unglückliche
Ehe.

Aber als er in das Wartezimmer zu dem Diener hinauskam, fand er den
Namen der Dame. Es war die Frau des Redakteurs von der Zeitung des
Liberalen Vereins. Jetzt hatte er die Karre in den Dreck geschoben.

       *       *       *       *       *

Aber damit war es noch nicht zu Ende, denn nach einer Viertelstunde
trat Frau Dagmar ein, und da sie ein längeres Gespräch wünschte, war
sie sanft, denn sie wußte sehr wohl, daß, wenn sie dreist war, nur die
Tür verschlossen werden würde.

»Was war mit der kleinen Frau X., die bei dir war?«

»Sie wollte, ich solle ihr einen Liebhaber verschreiben. Ja, sie kommen
her und verlangen Rezepte für Fruchtabtreibung und Präventivmittel ...«

»Jetzt wirst du aber bei der Ärztekammer wegen verletzenden Benehmens
gegen eine Patientin verklagt.«

»Findest du, daß sie mit ihrer Beschwerde recht hätte?«

»Ja!«

»Dann bist du auch ein ...«

Er suchte nach der Feuerzange, und die Frau verschwand. Da wußte er,
daß es aus war.

Dies war der damalige höllische Kampf der Geschlechter auf Leben und
Tod. Und wenn man so viele Männer zugrunde gehen und vor der Zeit
sterben sah, so wurde die Ursache nie aufgedeckt, denn man durfte nicht
darüber schreiben.

Die Natur hatte dem Mann das Recht der Initiative gegeben, weil er
die wirkende Ursache war; jetzt aber sollte er dieses Rechts beraubt
werden; die Frau, die nichts gibt, nur empfängt, eignete sich die
Initiative an, und da ihre Rezeptivität unbegrenzt ist, mußte jeder
Mann in einem ungleichen Kampf unterliegen, da die Ausgaben ihre
natürliche Grenze haben. Und alles Umgehen der Naturgesetze bestrafte
sich. Die Männer gaben sich, statt Väter zu werden, dazu her, die
Zuhälter ihrer Frauen zu sein; die modernen Schlafzimmer mit ihren
beiden eisernen Betten glichen mediko-mechanischen Instituten,
Samenkletteranstalten oder den Privaträumen der Krankenturnanstalt.
Was die Gatten suchten, fanden sie nicht, denn das findet man nur in
Mutterschaft und Vaterschaft. Deshalb trat Tod an Stelle der Geburt.

Das neunzehnte Jahrhundert war nicht das Jahrhundert des Kindes, das
ist eine Lüge. Das achtzehnte Jahrhundert mit Rousseaus Emile, als die
Mütter ihre Kinder wieder säugen lernten und der Mutterschaft ihre
verlorene Ehre wiederschenkten, das war das goldene Zeitalter des
Kindes. Das neunzehnte Jahrhundert aber, besonders dessen Ausgang,
wurde die Hölle des Kindes. Die Kinder, die geboren wurden, verdankten
ihr Leben einem unglücklichen Zufall, einer mißlungenen Hemmung
des Willensaktes, deshalb wurden sie willenlos, geschlechtslos,
charakterlos geboren. Die Mutterschaft wurde verachtet; Kindergebärerin
wollte keine sein, und die Muttermilch selbst zu geben, wurde für
schimpflich angesehen. Die Kinder wurden mit der Flasche aufgezogen und
waren immer pimpelig, schlaflos und krank. Chemikalien, kohlensaures
Natron, Milchzucker, sterilisierte Kuhmilch, das war die Nahrung.
Eine sterile Flüssigkeit, deren Lebenskraft getötet war, sollte die
lebendige Muttermilch ersetzen! Sie ergab auch sterile Menschen, die
keinen neuen Gedanken zum Wachsen bringen konnten; Epigonen, Automaten,
die auf die Fragen der Menschheit gedruckte Antworten von sich gaben,
gedruckt auf kleine Papierfetzen gegen Erlegung der Volksschulgebühren.
Es war die Epoche der Automaten und der Automatenkinder, der
Flaschenkinder, der Schnullerkinder, die nie an der warmen Brust einer
Mutter gelegen hatten, sondern gedrillt wurden, in einem wackelnden
Wagen still zu liegen und an Körper und Seele zu frieren, unter
Aufsicht eines fremden Mädchens und ihres Bräutigams, oft genug einer
Prostituierten, die den Schnuller mit unsterilisierten Lippen aufsog.

Es war das goldene Zeitalter der sterilen Frauen; und sie predigten
Sterilität, bildeten eine Gemeinde und fanden Prophetinnen, bis sie
schließlich eine staatlich anerkannte Kirchengemeinschaft waren.

Im Kampf gegen diese Dekadenz unterlag der gesunde Mann Doktor Borg, um
sich nie wieder zu erheben.

Acht Tage später saß er allein in seinem geplünderten Heim, und
vierzehn Tage später wurde er von allen Wahllisten gestrichen, als
Reaktionär in der Frauenfrage und als Norwegerhasser.

Zu einer Anzeige bei der Ärztekammer kam es nicht, aber seine Praxis
war geschädigt.



Dreizehntes Kapitel

Frau Brita auf Storö


Frau Brita Borg war durchaus nicht so merkwürdig, wie sie glaubte, und
ihre Gutmütigkeit lag mehr im Fleisch. Als die Frauenfrage aufkam, war
sie sofort mit dabei, die Menschheit zu retten, deren Grundmauern jetzt
auf den Stützen der Gesellschaft, den Frauen, aufgebaut werden sollten.
Folglich mußte der Mann gestürzt werden, und sie beteiligte sich an der
Jagd. Diese Törinnen veranstalteten eine besondere Treibjagd auf große
Männer. Karl XII. sogar wurde ausgegraben und für ein Weib erklärt;
Napoleon war nichts aus sich selbst, sondern seine Mutter war alles;
Goethe hatte alles von seiner Mutter gelernt (die nichts wußte).
Andererseits: alle geheimen Krankheiten der Frau kamen vom Manne (die
Männer hatten sie jedoch von den Frauen bekommen); alle Männer waren
von Frauen geboren (daß aber alle Frauen von Männern gezeugt waren,
darüber wurde nicht gesprochen!).

Dieses ganze Lügengewebe und diese Ungerechtigkeit verteidigte man
damit, daß die Frau jetzt die eingebildeten Ungerechtigkeiten rächen
wolle. Was für Ungerechtigkeiten? fragte man. Ja, die ungleiche, aber
schöne Teilung der Geschlechter durch die Natur, die nach dem goldenen
Schnitt gemacht zu sein schien, bei dem der kleinere Teil sich zum
größeren verhält wie der größere zum ganzen. Wo die Frau Schönheit und
Reiz bekam, der Mann aber Kraft und Verstand. Wo der Frau die Pflicht
zufiel, das Kind zu gebären und aufzuziehen, dem Manne aber, es zu
zeugen und Kind und Mutter zu versorgen.

Zu allen Zeiten, wenn ein Mann eine ehrbare Frau liebte, hatte sie
alle Garantien gehabt, gut behandelt zu werden, solange sie treu war.
Deshalb hatte die Frau immer unrecht, wenn sie sich über ihren Mann
beklagte, denn von ihrem Benehmen hing das seine ab. Als ein Amerikaner
seiner Frau eine brennende Lampe ins Gesicht geworfen hatte, ließ sich
der Friedensrichter folgendermaßen aus: »Was für ein entsetzliches
Weib!« -- Ja, ein Mann, der eine Frau geliebt hat, muß das Urböse
gesehen haben, ehe er sich so weit vergessen kann. Die Frau hat immer
unrecht dem Mann gegenüber, weil er der Mann ist und sie die Ergänzung
des Mannes.

Der Mann ist der Mensch, der allein die ganze Kultur geschaffen hat:
Ackerbau, Industrie, Wissenschaft, Künste, Literatur, deren Früchte er
seinem Weibe darbringt (daß ein paar Frauen an einer Ecke mit dabei
waren und Kleinarbeit gemacht haben, bedeutet nichts).

Frau Brita und ihresgleichen antworteten: Aber die Frau hat alle
Menschen geboren. Darauf muß man erwidern: Der Mann jedoch hat alle
Menschen gezeugt und seine Kinder vom Weibe gebären lassen! (Amen!)

Gustav Borg hatte sich aus ererbter Galanterie, die vom Anfang des
Jahrhunderts herrührte, als die Ideen des Mittelalters in der Romantik
wieder auftauchten, sofort auf die Seite der Damen gestellt; und in
der Galanterie oder Ritterlichkeit gegen die Damen liegt ja eine
Parteilichkeit und Ungerechtigkeit. Es ist kein Eingeständnis seiner
absoluten Inferiorität, wenn ein Mann aufsteht und einer Dame seinen
Platz überläßt; es ist das freiwillige Opfer des Stärkeren für den
Schwächeren. Aber so wollten die Damen jetzt die Sache nicht mehr
ansehen, sondern sie verlangten Unterwerfung vor dem Überlegenen.

Als nun Frau Brita ihre Kraft zeigen wollte, wurde sie roh und
gefühllos; und etwas Widerlicheres als ein rohes Frauenzimmer gibt
es nicht. Daß sie die Kinder vom Vater trennte, war eine Bagatelle,
und daß die Kinder vor Sehnsucht nach dem Vater jammerten, genierte
durchaus nicht. Zärtlichkeit, Mitleid, Barmherzigkeit gegen die
unschuldigen Kleinen kam nie in Frage, wenn sie nur dem gehaßten Manne
ihre Roheit zeigen konnte.

In ihrer Klageschrift führte sie zwanzig Belastungspunkte an, von denen
die meisten falsch oder leicht zu beantworten waren. Er sei brutal
gewesen (wenn sie ihm gerade ins Gesicht log!), er habe sie in der Ehe
vernachlässigt (weil sie sich ihm entzog oder ihre Gunst verkaufen
wollte); er sei geizig gewesen (weil sie selbst mit Übersetzungen
verdiente und das Geld auf die Bank trug oder es verjubelte); und so
weiter.

Vor Gericht zu stehen und seine Frau bloßzustellen, auch als Kupplerin
der Tochter, das verbot ihm seine »Ritterlichkeit«. Deshalb gab er
einem Advokaten Vollmacht, er solle auf alle Fragen, ob er etwas
einzuwenden habe, nur antworten: »Nichts!«

Um die Kinder sich zanken wollte er nicht, denn sie brauchten ihre
Mutter nötiger als ihn.

Hätte er sich zu einer Verteidigung mit Gegenanklagen verstehen können,
so wären ihm vielleicht Kinder und Besitz zugesprochen worden. Jetzt
mußte er alles verlieren; das wußte er, denn der Richter war ein
Frauenrechtler.

Inzwischen saß nun Frau Brita auf Storö und regierte. Das
Kinderfräulein war natürlich verabschiedet, und die Minderjährigen
wurden vernachlässigt. Sich selbst und dem fremden Fräulein überlassen,
gingen sie traurig umher und fragten nach dem Vater. Die Barmherzigen
antworteten, er sei verreist, die Unbarmherzigen, er sei fortgejagt.
Tatsächlich war der Vater beständig unterwegs. Aus der Stadt war er
nach Storö zurückgekehrt und hatte sich bei dem Schöffen eingemietet.
Von dort machte er Streifzüge über die Insel, bestieg Berge und
kletterte auf hohe Bäume, nur um den Dachfirst zu sehen, unter dem
seine Kinder lebten.

Nun hatten Esther und Max sich nach Gefallen eingerichtet und machten
kein Geheimnis aus ihrem Verhältnis. Ja, sie führten sogar kleine
häusliche Szenen auf, die an die allerhäßlichsten der Ehe erinnerten.
Die Mutter beobachtete sie, schwieg aber lange. Schließlich eines
Nachmittags ging sie zu den jungen Leuten hinein und richtete ohne
Umschweife ihre Frage an den Grafen:

»Nun, Max, wann gedenkst du zu heiraten?«

Nach einer Pause der Überraschung antwortete Esther:

»Heiraten? Nie.«

»Hat Max dir nicht die Ehe versprochen?«

»Nein, im Gegenteil,« antwortete Esther; »wir haben uns versprochen,
uns nie zu heiraten. Haben wir bei euch und den andern nicht genug
Elend gesehen, um von dem Schwur vor Gott, uns unser ganzes Leben lang
zu lieben, abgeschreckt zu werden? Wer ist Herr seiner Gefühle und
seiner Neigungen? Wer wagt im Frühling zu geloben, daß es nicht Herbst
werden wird?«

»Ach so, Graf Max ist so ein Bräutigam, der in den Speisekammern
herumsitzt? Wir nannten sie in meiner Jugend Schmarotzer.«

Der Graf erhob sich und erkannte in einem Augenblick das Falsche in
seiner Stellung, so daß er verstummte. Aber das Mädchen nahm wieder das
Wort.

»Wann bist du zu diesen Ansichten gekommen, Mutter? Du, die ...«

»Jetzt,« antwortete die Mutter. »Jetzt, da ich das freie Verhältnis an
euch studiert habe. Nachdem ich eure Stürme und euer Zanken mitangehört
habe, sehe ich ein, daß das freie ebenso falsch ist wie das gebundene.
Es ist also Unsinn, dem Gesetz die Schuld zu geben; ich habe es
eigentlich schon vorher gewußt, da ich gesehen habe, daß ausgehaltene
Damen und ihre Aushälter ebenso unglücklich sind wie Eheleute und,
wohlgemerkt, sich ebenso schwer trennen können, obwohl sie frei sind.
Das ist nicht die Schuld der Ehe, sondern es liegt in der Natur der
Sache; die Liebe ist Kampf auf Leben und Tod, und aus widerstreitenden
Kräften soll ein neues kräftiges Leben geboren werden, mit Rechten an
das Leben; diese Rechte werden vorläufig von Staat und Kirche bewacht,
die die Vormünder aller ihrer Kinder sind. Jetzt geht ihr hin und
bestellt das Aufgebot; Essen und Wohnung bekommt ihr von mir, aber kein
Geld.«

»Und der Eid, der falsche Eid?«

»Den nimmt der Staat auf sich; übrigens gibt es die Scheidung, die
einen von dem Eid entbindet.«

Das Gespräch war zu Ende, und man trennte sich, um sich erst beim
Abendbrot wiederzutreffen.

Die jungen Leute saßen in Esthers Zimmer und waren ernst geworden.

»Wir müssen uns trauen lassen,« sagte der Graf, »denn sonst ist mein
Ansehen verloren, und ich kann mich selbst nicht achten.«

»Also meinetwegen Trauung,« antwortete Esther, »doch wir ziehen
nie zusammen, denn dann werden wir Feinde, das fühle ich an mir.
Gesetzliche Freiheit! Damit bin ich einverstanden. Nicht gesetzlicher
Zwang.«

»Gut! Aber Treue, solange das Band besteht,« fügte der Graf hinzu.

»Treue? Das heißt ja sich binden ...«

»Wir binden doch uns selbst und einander durch eine Abmachung, und
Abmachungen müssen gehalten werden, sonst stürzt die Welt ein.«

Das verstand Esther nicht.

»Das widerstrebt meiner Natur,« antwortete sie.

»Denn deine Natur ist Treulosigkeit,« entfuhr es dem Grafen.

Und im selben Augenblick zerbrach etwas; und eine Flamme loderte auf.
Zum erstenmal in ihrem Leben tauchte der Kampf der Geschlechter auf.
Die Frage existiere nicht für sie, hatten sie gedacht, hatten ohne
einen Gedanken an den natürlichen Unterschied der Geschlechter gelebt.
Jetzt saßen sie da als Mann und Weib, nackt nach dem Sündenfall,
nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten.

Nach einer entsetzlichen Pause nahm Max das Gespräch wieder auf:

»Merkst du, daß wir uns jetzt hassen?«

»Als Mann und Weib, ja.«

»Also müssen die Geschlechter Feinde sein?«

»Gewiß, wie Nord- und Südpol am Magnet.«

»Dann ist die Liebe Haß, und die Gattung besteht durch Haß fort, nicht
durch Liebe.«

Merkwürdig war, daß immer, wenn sie haßerfüllte Worte sprachen, die
Anziehungskraft sich erhöhte, als habe die Stromstärke durch die
Umschaltung zugenommen; und sie wurden mächtig zueinandergezogen in
etwas, das der Liebe glich, sich aber als ein rasender Haß offenbarte.
Jetzt suchte er sie mit brennenden Blicken und näherte sich ihr, als
wolle er ihr weh tun, sie versengen, vernichten. Nicht um etwas zu
bekommen, sondern um zu geben, etwas Furchtbares zu geben, vom Wesen
des Urfeuers, sie antezipierte Geburtswehen leiden zu sehen.

Sie aber, die durch das vorhergehende Gespräch aufgeweckt worden war,
wollte nicht empfangen; sie erinnerte sich jetzt ihrer Stellung als
Frau, ihrer demütigenden Stellung, die nichts zu geben hatte und das
unter der Redensart verbarg, »sie habe ihm alles gegeben, sie habe sich
gegeben«; sie sprang auf wie eine wilde Katze, nahm das Papiermesser
vom Tisch und schrie:

»Ich hasse dich!«

Das konnte bedeuten: »Ich fürchte dich in diesem Augenblick, denn wenn
du jetzt meinen Willen unterjochtest, würde ich neun Monate wie ein
Vogelnest für dein Junges, für deins, umhergehen! Das will ich nicht!
Ich will nicht dein Ei ausbrüten! Ich will nicht dein Acker sein, in
den du säst ...«

Er folgte ihren unausgesprochenen Gedanken und antwortete ihr
innerlich: »Du erntest, wo ich gesät habe; du gehst mit meinem Kinde
fort, wenn ich es von dir gebären lasse; du Diebin, die du mich und
mein Werk ausstreichen willst, wenn du mein Kind geboren hast (denn
mein ist es, weil ich ihm Leben und Bewegung gebe). Ich lese in deinen
Augen, daß du imstande wärst, meine Vaterschaft zu verleugnen und dich
selbst zur Dirne zu machen, nur um mein Eigentum an dich reißen zu
können, voll Mutterstolz mein Kind auf den Straßen spazieren zu führen
und mit deinem Werk zu prahlen. Einen Mann erniedrigen zu können, ist
das letzte Ziel für den Ehrgeiz eines Weibes!«

Nun schämten sie sich; sie saßen jeder in einer Sofaecke und haßten.

Dann fing es wieder an. Der Graf begann:

»Ja, jetzt schlägst du meine Bitte ab, und ich darf nicht böse
sein; wenn ich aber deinem Befehl trotze, so glaubst du ein Recht
zu haben, böse zu werden, ja ... Wenn man denkt, daß vernünftige
Menschen sich wie Katzen balgen! Brunst und Haß! Siehst du, das ist
die Liebe, das höchste, was es geben sollte, und doch gehört sie den
niedrigsten Regionen an. Du bist ja Ärztin, was ist die Liebe in ihrem
tatsächlichen Ausdruck?«

»Eine Sekretion!«

»Bravo! Und so etwas soll unsere meiste Zeit und unsere besten Gedanken
in Anspruch nehmen! Weißt du, Esther, Idealist war ich nie, aber doch
ist die Wirklichkeit eine Karikatur unserer Ideen von den Dingen. Alles
ist herabgezogen und auf den Kopf gestellt; es gibt Augenblicke, wo
ich eine Wahrheit in den Worten der alten Sage höre: Verflucht sei
die Erde um deinetwillen! Es gibt Augenblicke, in denen ich glaube,
daß der verrückte Stagnelius recht hatte, als er darüber klagte, daß
unsere Menschenseelen in Tierkörper gekrochen seien. Wir benehmen uns
ja wie Tiere, wir küssen uns mit demselben Munde, der die Speisen
einnimmt, und wir lieben mit den Abführungsorganen! Ist es da ein
Stolz, ein Mensch zu sein? Nein, demütigend ist es, und wir müßten uns
alle schämen. Die Darwinisten haben schon recht, daß der menschliche
Körper sich aus dem Tierkörper entwickelt hat, aber sie vergessen,
daß die Seele ein selbständiges Dasein führt mit Ahnen von oben, mit
Erinnerungen an die Sterne, und daß das Fleisch nur ein Futteral ist,
das stremmt. Die Seelenwanderung der Ägypter ist schon richtig, aber
ich glaube, wir sind in dieser affenähnlichen Hülle bereits auf der
Wanderung begriffen. Weißt du, ich habe einmal in der Schwimmschule
die weißgelbroten Menschenkörper gesehen und war frappiert von der
Ähnlichkeit mit -- nicht mit Affen, sondern mit jungen Schweinen,
die auch rosenrot und haarlos sind. Weißt du, ich habe Augenblicke,
in denen ich buchstäblich nicht Platz in meiner Haut habe, wo ich
meine Hülle abwerfen und meines Weges fliegen möchte. Ich beginne an
alte Märchen zu glauben; ich glaube an den Sündenfall, denn seit wir
gefallen sind, du und ich, haben wir uns nur verachtet. In der ersten
Zeit, als ich dich liebte, sah ich deinen Körper nicht; ich sah nur
deine Seele, und die war schön und gut. Dann kam der Teufel und das
Tier. Neulich sah ich das Tier in dir, in deinen Augen. Es war auf
einmal wie totes bemaltes Porzellan, sah aus wie ein Emailauge auf
dem Schild eines Optikers. Da bekam ich Angst. Und trotzdem müssen
wir uns aufbieten lassen! müssen hinunter in den Morast der Küche
und des Kinderzimmers; du und ich wie alle andern. Der heilige
Ehestand, an dem die Liebe keinen Teil hat, in dem auf den schönen
Augenblick der Empfängnis immer Scheltworte folgen, in dem alle Laster
blühen und die Tugend, wenn sie sich als guter Geschmack offenbart,
ein Fehler ist, der ein Scheidungsgrund werden kann. Ich habe einen
verheirateten Freund, der der Kälte gegen seine Frau beschuldigt
wurde. Vor dem Richter äußerte er sich vorsichtig ungefähr so: Meine
Frau klagt mich der Kälte an. Wir haben nach einjähriger Ehe nur ein
Kind, aber wenn wir in Konstantinopel verheiratet gewesen wären, hätte
ich jetzt zweihundert Kinder haben können; und trotzdem klagt sie!
Zweihundert! Doch du weißt, die Menschen lieben es nicht, daß man sich
verteidigt ...«

Jetzt klingelte es zum Abendbrot, und sie mußten hinuntergehen.
Es ging kalt und steif bei Tisch zu. Die Kleinen waren auch da.
Irrtümlicherweise hatte der Knabe des Vaters Serviettenring bekommen.
Er spielte damit und las den Namenszug; seine Lippen bewegten sich,
aber man hörte nicht einen Laut. Doch Frau Brita hörte und verstand;
und mit einem Ruck nahm sie ihm den Ring weg.

Der Knabe errötete, schlug die Augen nieder und äußerte nach einer
Weile:

»Kann der eine Mensch dem andern verbieten zu denken?«

Keine Antwort erfolgte; denn in diesem »der eine Mensch und der andere«
lag ein starkes persönliches Selbstgefühl, das andeutete, daß das Kind
sich mit der Mutter auf gleichem Niveau fühle; diese war ergriffen,
vor allem deshalb, weil sie die Stimme des Vaters aus dem Kinde hörte.
Dieser Mann, den sie aus der Welt ausgerottet zu haben glaubte,
stand wieder auf und saß am Tisch, redend, vorwurfsvoll. Sollte er
sich durch die Kinder rächen, sollte seine Seele noch in diesem
Hause weilen, von dem er ausgeschlossen war? Sie fühlte in diesem
Augenblick einen grenzenlosen Haß gegen das Kind, und als der Knabe
aus Gedankenlosigkeit oder in unbewußtem Willen den Serviettenring
wiedernahm, stand die Mutter rasend auf und packte das Kind am Ohr.
Ruhig, kalt, beherrscht und mit der Überzeugung eines erwachsenen
Menschen sagte der Knabe die folgenden Worte, die er nicht zu Ende
gedacht hatte:

»Rühr mich nicht an, Mama, denn dann stirbst du!«

Was meinte er? Meinte er etwas? Wer weiß? Alle Kinder sind Wunderkinder
insofern, als ihr intuitiver Verstand in dem kleinen unvollendeten
Körper fertig dazuliegen scheint. Aber auch der Kinderkörper scheint
fertig zu sein; er erscheint nur in verkleinertem Maßstab, und man hat
oft den Eindruck, einen Miniaturmenschen zu sehen, wenn man ein Kind
sieht. Die naiven Ausbrüche, die man von einem Kinde hört, sind nicht
naiv, sie sind ebenso tief gedacht wie bei einem Älteren. Wir haben ja
kürzlich in den Bekenntnissen eines großen Staatsmannes gelesen, er
erinnere sich, in seinen Knabenjahren ebenso klug gewesen zu sein wie
im Alter. Wenn das so ist, was für einen Zweck hat dann die Erziehung?
Soll sie unterdrücken?

Als der Knabe schwieg, sollte er in ein dunkles Zimmer gesperrt
werden, weil er bei Tisch gesprochen hatte. Die Mutter hatte ihn am Arm
gefaßt, die Verstimmung war allgemein, und Graf Max stand bereit, zu
vermitteln, als plötzlich alle aufhorchten.

Vom Garten her hörte man einen heulenden Laut, vielleicht das Brüllen
eines Haustiers ...

»Das Vieh ist doch im Winter nicht draußen!« unterbrach der Graf das
unheimliche Schweigen.

Keine Antwort erfolgte, die Mutter aber stand bleich da und hielt in
ihrer Bewegung inne, während das Gesicht des Knaben ein inneres Licht
und einen Frieden wie bei einem Sterbenden ausstrahlte. Die Mutter und
er allein hatten den Laut verstanden. Es war der Vater! Ein Mann, der
keine Tränen weinen kann, brüllt vor Schmerz. Er hatte also an dem
dunklen Winterabend vorm Hause gestanden, um einen Schimmer von den
Kindern zu sehen!

Frau Brita machte mit der Hand eine Bewegung nach der Brust und verließ
das Zimmer, ohne ein Wort zu sagen.

Als die Kinder später nach ihr fragten, sagte das Mädchen, die gnädige
Frau sei zu Bett gegangen und sei krank.

       *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen war die Frau noch krank; aber sie wollte keinen
Arzt haben und wollte niemanden sehen. Sie schrieb ihre Anordnungen
auf Zettel. Die jungen Leute bekamen den folgenden Befehl: »Ihr fahrt
sofort in die Stadt und bestellt das Aufgebot.«

Und sie fuhren.

Als sie nach einer Hetzjagd beim Standesbeamten die Papiere in Ordnung
hatten, wie sie glaubten, fanden sie sich im Amtszimmer eines Pastors
ein, um das Aufgebot zu bestellen.

Sie kamen durch ein Vorzimmer, das wie ein kleinerer Flur aussah,
und traten in das Kontor, das einem größeren Flur glich. Schnee und
Schmutz auf dem Fußboden, die Fenster ohne Gardinen, Holzbänke längs
der Wände, Pulte, Ungemütlichkeit, schwere Luft, unfreundlich, unschön.
Hier standen und saßen Sünder, die das Leben beginnen wollten, Männer
und Frauen zum Beisammenleben für die ganze Zeit der Wanderung; hier
standen und saßen Eltern, die das Neugeborene für den Kampf weihen und
ihm einen Namen geben wollten; hier standen und saßen Menschen, die
einen Anverwandten zu begraben hatten, was auch nicht so leicht ist.
Nichts ist leicht, weder der Eingang, noch der Ausgang. Und das spürten
sie, als sie hier saßen und warteten.

Sie sahen düstere Männer in großen Büchern schreiben, schreiben und
ausstreichen, offen die indiskretesten Fragen stellen. Der Name des
Vaters? Unbekannt? Schon einmal verheiratet gewesen? Etwa geschieden?
Die Scheidungsurkunde vorzeigen! Ist nicht vorhanden! Ist das Kind
getauft? Ja, aber nicht hier. Wo? Ganz weit in Amerika! Müssen
hinschreiben!

Schreiben, schreiben, schreiben!

»Dieser Teil der Seelsorge ist etwas sonderbar,« begann der Graf
flüsternd. »Kontorarbeiten, Buchführung, Kladde. Das sind ja
Standesbeamte! Onkel Henrik nennt es ein Pfarramt, aber es ist ja ein
öffentlicher Beichtstuhl. Sind Sie zum Abendmahl gewesen? Was geht das
euch an! Und sie sind nicht freundlich. Es klingt so hart, wenn die
Diener des Herrn sprechen.«

Der Saal leerte sich für einen Augenblick, und einer, der der Bürochef
zu sein schien, schnaufte und wischte sich die Brille ab. Es war ein
weltlicher Priester, schien es, denn er erzählte laut eine Anekdote von
einer Frau, die am vorigen Sonntag von der Kanzel mit einem Verrückten
aufgeboten worden war. Als er sich im Zimmer umsah und die Tochter der
bekannten Frau Brita bemerkte, diese Tochter, die in Upsala ebenfalls
von sich reden gemacht hatte, wurde er rot bis an die Haarwurzeln;
und als der Kirchendiener im selben Augenblick vorbeiging, um das
Kaminfeuer zu schüren konnte er den Mund nicht halten.

»Nachheizen, Söderström, daß der Kamin rot wird; rot muß er sein, rot
für die Roten!«

»Schilt er uns aus?« flüsterte der Graf.

Aber das Büropersonal belohnte den Chef mit einem erstickten Kichern,
und dieser, dem der Erfolg zu Kopf stieg, trachtete nach neuen
Lorbeeren.

»War nicht vorhin ein Lümmel hier, der die Einzelheiten der letzten
Scheidung wissen wollte?« fragte er den Küster.

Dieser murmelte etwas, was nur dazu dienen sollte, den derben Witz
hervorzurufen, der jetzt abgefeuert wurde.

»Das ist ja wie im Volkstheater,« flüsterte der Graf. »Und ich habe es
so ernst genommen! Wollen wir unserer Wege gehen? Esther?«

»Nein! Denke an Mutter!«

»Aber dies ist ja Schwindel! Ich gehe!«

Der Kirchendiener kam wieder herein, in der Hand einen Wacholderbusch,
den er im Kamin anzündete und im Saal umherschwenkte. Es herrschte
nämlich eine Epidemie, und alle öffentlichen Lokale mußten
ausgeräuchert werden.

Das war Wasser auf die Mühle des Geistlichen.

»Recht so, Söderström, räuchern Sie die Nihilisten aus!«

»Das ist unglaublich,« flüsterte der Graf. »Das sind ja Landstreicher!
Landstreicher! Wenn man sich vorstellt, solche versoffenen Studenten;
wenn sie die Landwirtschaftliche Hochschule nicht absolvieren können,
werden sie Seelsorger, und dann haben sie das Recht, ihren Mitmenschen
die Leviten zu lesen; man nimmt den Zehnten, und dann kann man die
Seelen lösen und binden. Nein, weißt du, dies ist faul, und ich sorge
für meine Seele selbst besser.«

Nun kam der Pfarrer. Er war ein gebildeter, würdiger Mann, jedoch
ein höherer Beamter, kein Hirt und kein Hoherpriester. Er las in den
Papieren und sagte mit freundlicher Miene, durchaus nicht herablassend:

»Hier steht Herr Adelstorm, da muß doch Graf stehen.«

»Ja, das müßte es, aber mein Vater, der Bankkassierer ist, hat einen
Titel abgelegt, der nur falsche Prätentionen mit sich bringt ...«

Der Geistliche machte ein anerkennendes und fast bewunderndes Gesicht.

»Und ich,« fuhr der Graf fort, »bin dem Beispiel meines Vaters gefolgt,
besonders weil das ganze Titelwesen veraltet ist.«

Der Geistliche wurde finster, denn er witterte einen dieser modernen
Angriffe auf die Gesellschaft, die doch ihre Mitglieder nicht nach dem
eigentlichen Gewicht ordnete. Aber er war ein humaner Mann und ging
weiter.

»Sind Sie, Herr Graf, Verzeihung, ich kann nämlich Ihre Ansicht über
die Wertlosigkeit der Titel nicht teilen, da der Staat selbst durch
sie bürgerliche Verdienste einschätzt ... Sind Sie nicht getauft, Herr
Graf? Ich sehe keinen Taufschein.«

»Getauft? Nein, das glaube ich nicht.«

»Glauben Sie nicht? Dann kann ich nicht aufbieten.«

»Dann stehen wir da! Esther! Aber seltsam ist es jedenfalls, Herr
Pastor; wenn man nicht heiraten und sich nicht trauen lassen will,
dann wird man in Acht und Bann getan; und will man heiraten und sich
trauen lassen, dann werden Hindernisse aufgerichtet, über die alle
Verheirateten sich beschweren. Warum wollen Sie eine so einfache Sache
hindern? Sie verlangen ja unter anderm den Beweis, daß man für die Ehe
frei ist! Wie soll man das beweisen können!«

»Meine Instruktion ist das einzige, worauf ich Rücksicht nehme ...«

»Aber das ist mir nicht möglich, und deshalb ... deshalb gehen wir
jetzt unserer Wege, _unserer_ Wege.«

»Warten Sie einen Augenblick,« fing der Pastor wieder an. »Wir wollen
uns die Papiere des Fräuleins ansehen! Hier steht -- unkonfirmiert! Ja,
dann geht es nicht. Ich bedaure, aber ich kann nichts dazu tun.«

Jetzt war an Esther die Reihe zu reden, denn sie hatte ihrer Mutter das
Versprechen gegeben, und in ihr erwachte auch eine Erinnerung an den
Vater, wie er sie draußen am Strande bei der Verlobung, die doch die
Einweihung einer neuen Familiengründung war, in die Arme geschlossen
hatte. Damit war das Bündnis doch gewissermaßen etwas anderes geworden
als eine Bekanntschaft.

»Können Sie uns nicht helfen, Herr Pastor?« sagte sie in halber
Verzweiflung, die sie anziehend machte.

»Nein, meine Freunde, das kann ich nicht. Denn ich setze voraus, daß
Sie, Herr Graf, sich nicht taufen und Sie, mein Fräulein sich nicht
konfirmieren lassen wollen.«

»Nein,« antwortete Esther und wurde zu einem ganz kleinen Mädchen,
»denn wir glauben nicht an die Lehre. Aber sollen wir deshalb
ausgestoßen und von Eltern und Geschwistern verachtet werden? Das ist
doch zu streng!«

Der Pastor war gegen seinen Willen gerührt, als er sah, daß sie bei
dem wichtigen Schritt doch gleichsam einen höheren Schutz in den
schlimmsten, verhängnisvollsten Kämpfen des Lebens suchten. Er fand
auch in ihrer Opferwilligkeit den Wünschen der Eltern gegenüber etwas
Schönes, obwohl sie streng genommen ihr Gewissen opferten.

»Ich gebe zu,« begann er ...

Jetzt hustete der Bürochef, und das bedeutete: »Gib nichts zu!«

»Ich gebe allerdings zu ...«

»Herr Pastor,« unterbrach der Buchhalter ... Und diesmal wurde nichts
aus dem Zugeben.

Als die jungen Leute das Haus der Sünder verließen, konnte der Graf
nicht mehr an sich halten:

»Pfui!« sagte er, »dies ist ja alles verrückt.«

Im selben Augenblick stand der Pastor an ihrer Seite; und mit einer
freundlichen, menschlichen Miene faßte er Esthers Boa, als wolle er sie
am Schwanz festhalten oder sie schelmisch zausen:

»Mein Fräulein,« sagte er, »lassen Sie sich konfirmieren; es ist ja nur
eine Formalität; und Sie, Herr Graf, lassen Sie sich taufen, es ist ja
nicht gefährlich; nur etwas Wasser!«

»Sind es nur Formalitäten,« antwortete Graf Max, »und nur etwas Wasser?
Ja, dann ... danke für die Aufklärung, Herr Pastor ... Aber denken Sie,
wir Dummköpfe dachten, es sei etwas anderes! Komm, Esther!«

Sie gingen.

»Glaubst du, es ist seine Überzeugung, daß es nur Formalitäten sind?«
fragte Max.

»Nein,« antwortete Esther, dem Weinen nahe; »er ist ein netter Mann,
der uns trösten und helfen wollte. Deshalb hat er das gesagt.«

»Jetzt küsse ich dich in Gedanken, Esther, hier mitten auf der Straße,
weil du gut von den Menschen denkst!«

»Es kann doch auch um einen Pfaffen schade sein!«

»Sogar um einen Pfaffen! Ja, jetzt sehen wir aber, daß die Kirche
schuld ist, wenn die Ehen ab- und die freien Verbindungen zunehmen.
Geschehe ihnen nach ihrem Willen.«

»Was machen wir jetzt?«

»Wir gehen zu Holger in die Redaktion und reden uns dies von der Seele.«

»Ja, das tun wir.«

       *       *       *       *       *

Die Zeitung hatte einen gewaltigen Aufschwung genommen, seit sie
in ihrem jungen Redakteur einen neuen Motor bekommen hatte. Kühn,
vorurteilsfrei hatte er in seinem Akkumulator alle Ströme gesammelt.
Liberalismus, etwas Sozialismus, die ganze Frauenfrage, etwas
Theosophie, Tierschutz, Sport, ein wenig Verteidigungsfreundlichkeit
neben sukzessiver Abrüstung, Weltbürgerschaft auf patriotischer
Basis, prinzipieller Freihandel mit Schutzzoll, wenn die Gefahr es
verlangte. Dieser Eklektizismus konnte so aussehen, als sei er durch
den Wunsch nach Erhöhung des Abonnentenkreises geboten, aber er
hatte wohl andere Gründe. Als die schwedische Landwirtschaft sich
Ausgangs der achtziger Jahre in wirklicher Gefahr befand, wurde die
Zollfrage in den Kammern aufs Tapet gebracht und versetzte das Land
in vollständigen Aufruhr. Wie gewöhnlich wurde die Proposition falsch
gestellt: Schutzzoll oder Freihandel; und die ganze Nation teilte
sich in zwei Lager: Bauch und Glieder, obwohl keiner recht wußte, wer
Bauch war. Die Schutzzöllner siegten, und die Bauern hielten sich für
gerettet. Aber im Jahr darauf war eine Mißernte in Rußland, und die
schwedischen Bauern, die auch Saatgetreide kaufen mußten, fürchteten
Hungersnot. Da wurde der Schutzzoll auf Getreide wieder aufgehoben,
der ganze schreckliche Zollkrieg erwies sich als eine Zeit- und
Kraftverschwendung, und die Siegenden waren die Verlierer. Wir, die wir
im neuen Jahrhundert gesehen haben, wie die alten Freihandelstheorien
Englands aufgegeben wurden, haben wohl unsere Begriffe korrigiert
und erkennen, daß das ökonomische Leben sich nicht so mathematisch
abwickelt, wie man geglaubt hat. Freihandel bedeutet, daß mehrere
Staaten frei ihre Produkte austauschen. Man verliert dann vielleicht an
einem Posten, gewinnt aber an einem andern, und allmählich findet zum
Vorteil aller ein Ausgleich statt. Daß aber ein Staat sagt: Jetzt bin
ich Freihändler, während die andern Schutzzöllner sind, das heißt ja
sich selbst plündern und ist im übrigen etwas Unsinniges, da das ganze
einen Vertrag zwischen mehreren voraussetzt. Das ist, als wolle man in
Kriegszeiten abrüsten.

Alle aber, die den Zollkrieg erlebt und gesehen hatten, daß Recht
und Unrecht nicht auf einer bestimmten Seite lag, wurden etwas
vorsichtiger; und das ist das Charakteristische in der Physiognomie
des Jahrhundertendes: Vorsicht, Bedachtsamkeit. Das hätte man früher
Kompromiß genannt im boshaften Sinne oder Krämertum, Skeptizismus
in der Bedeutung von Schlappheit des Charakters und der Ansichten.
Jetzt trat dieser Ausgleich ein, bei dem der eine tatsächlich von dem
andern empfing; man lernte voneinander; der eine tauschte einen Vorteil
gegen einen andern ein; die Gesellschaftsklassen vermischten sich, man
brauchte nur im Adelsalmanach nachzusehen, wie viele bürgerliche Namen
sich mit hochadeligen verbunden hatten und wie viele geringe Posten
mit Trägern der größten Namen besetzt waren; der Staat unterstützte
den Sozialismus, und die Sozialisten bekämpften den Anarchismus. Die
Zeit der Zersplitterung begann in die der Konzentrierung überzugehen,
und die Menschen gaben sich Mühe, einander zu verstehen. Manches von
dem Neuen hatte sich als ein mißglücktes Experiment erwiesen, doch
auch Experimente mit negativem Resultat sind nützlich und erzielen
Nebenprodukte; die Alchimisten fanden freilich das Gold nicht, dafür
aber entdeckten sie die Schwefelsäure, die viel nützlicher ist.

Als Ingenieur Borg zur Macht gekommen war, hatte er sofort entdeckt,
daß es nicht lohne, danach zu streben, eine Meinung zu beherrschen und
die andern zu verfolgen, denn dann zeigte sich sofort beim Quartalsende
ein Rückgang. Der Kassierer war das Barometer; er sah in seinen
Büchern, wie der Wind wehte. Und wenn auch der Redakteur den Mut gehabt
hätte, dem wirtschaftlichen Verlust zu trotzen, so sah er doch durch
die abgehenden Abonnenten den Einfluß der Zeitung sich verringern. Er
verlor also schnell seinen frohen Glauben an die Allmacht der Presse
und fand sich allmählich darein, Diener zu sein statt Herr; daher
blühte das Geschäft.

Das junge Paar hatte jetzt eine große Wohnung mit drei Dienstboten,
und die Redaktion hatte ihr Lokal erweitert. In ihren Räumen gingen
Minister, Bauern, Arbeiter, Generale, Schauspieler und Künstler aus und
ein. Einfluß hatte man, aber die Macht stand im umgekehrten Verhältnis
zu der Abhängigkeit, der man sich unterwerfen mußte. Gehorchen und
herrschen!

Heute war Sturm auf der Redaktion. Es gab nämlich Mitarbeiter, die
in der verflossenen Zeit lebten und die Zeitung für ihre privaten
Interessen benutzten. Jede Notiz, auch die unschuldigste, hatte
einen geheimen Sinn: einen Vorteil, einen Nutzen zu erringen, einen
Groll zu befriedigen. Besonders hatte der Theaterkritiker sich eine
Machtstellung angemaßt, die er mißbrauchte, um zu herrschen und
sich als jemand zu fühlen, obwohl er nichts war. In Verbindung mit
weiblichen Favoriten bestimmte er über die Schicksale der Menschen,
stürzte und lancierte ganz nach Belieben. Besonders hatte er sich
des Theaters angenommen, das aus leicht erratbaren Gründen den Namen
»Hoflieferant« führte. Es bot schlechtere Dinge als das zweite Theater,
genoß aber Protektion und Staatsunterstützung, während das Personal
sich zu den höheren Hofbeamten zählte.

Ingenieur Borg kannte die Verhältnisse an den Theatern nicht, aber es
hatte ihn gereizt, daß das schlechtere sich einer Protektion erfreute,
die das bessere hinderte, emporzukommen. Daß da manche häßliche Dinge
vorgekommen waren, wußte er, aber darum kümmerte er sich nicht, und
von der intimen Rolle, die sein Kritiker in dem königlichen Lustgarten
spielte, ahnte er nichts. Deshalb schlug er los mit einem Artikel gegen
»ungesetzliche Protektion« und trat damit in den Kohlgarten seines
Rezensenten. Darauf folgte die Entlarvung, bei der herauskam, daß
gerade seine Zeitung die Misere unterstützt hatte. Das war ärgerlich,
und Ingenieur Holger war weitergegangen, als er wollte, hatte an ein
faules Ei gerührt und sich einer Majestätsbeleidigung schuldig gemacht.

Die Klage war noch nicht erhoben, aber man sprach in den höheren
Kreisen darüber, und auf der Redaktion rüstete man sich zum Kampf.

Während dieser allgemeinen Aufregung kamen Max und Esther in die
Redaktion, um Holger aufzusuchen.

Dieser war in sprühender Stimmung und freute sich über das Ereignis,
das Anlaß geben würde, allerlei alten Kram zu ordnen. Er begrüßte
die Schwester und Max, den er schon Schwager nannte und als solchen
betrachtete, denn in den Vorstellungen der Jüngeren stand fest, daß
eine Verlobung die Veröffentlichung einer erlaubten Verbindung sei.

»Also ihr wart auf dem Pfarramt und habt Schelte bekommen! Was wolltet
ihr da auch? Die eigenen Kinder der Kirche sind die Stiefkinder;
Israeliten, Freikirchler und Mormonen werden aufgeboten, wir aber, die
zu dem rechten Schafstall gehören, werden es nicht. Hört einmal, wenn
ihr Lust habt, so will ich selbst Hochzeit halten und euch in der
Zeitung aufbieten, zum ersten, zweiten und dritten Mal.«

»Wir hätten alle Formalitäten übergangen,« antwortete Esther, »wenn
Mutter uns nicht gezwungen hätte.«

»Mutter, ja? Wie geht es ihr?«

»Sie sagt, sie sei krank, und hat sich nach einem Auftritt zu Bett
gelegt ...«

»Ja, das mit dem Alten war ja furchtbar, aber in diesen Zeiten muß man
um seine persönliche Existenz kämpfen, und wer fällt, bleibt ungerächt
liegen.«

Jetzt klingelte im Zimmer nebenan das Telephon.

»Entschuldigt!« Und Holger verließ die jungen Leute. Durch die
halbgeöffnete Tür hörte man einige abgerissene Ausrufe.

»Was sagt ihr? Herr du meine Güte! -- Das ist unglaublich. -- Ja, sie
sitzen hier in meinem Zimmer, und ich werde sie sofort hinausschicken!
-- Das ist zu gemein! -- Vater, Vater sollte ...? Ach, Unsinn! -- Und
der Pastor glaubt es? -- Herr des Himmels! -- Wißt ihr ... Wißt ihr ...
Hallo! ... Ist der Arzt draußen gewesen? ... Was hat er denn gesagt?
... Keine äußere Beschädigung! ... Ja, adieu einstweilen; sie kommen
mit dem nächsten Dampfer!«

Holger kam heraus, weiß um die Nase, die schmal war wie ein Messer.

»Herr des Himmels, ist das eine Geschichte! ... Mutter ist tot! in
ihrem Bett gestorben!«

»Mutter ist tot?«

»Ja, und das schlimmste ist: die Leute sagen ... Vater stehe im
Verdacht ... weil sein Prozeß ... nur auf diese Weise beigelegt werden
konnte!«

»Das ist entsetzlich!« rief Esther, die in diesem Augenblick nicht
recht wußte, welche Richtung ihre Sympathien nehmen sollten. »Und was
sagt der Arzt?«

»Er kann keine andere Todesursache finden als Herzschlag.«

»Dann müssen wir sofort hinausfahren!«

Keine Träne wurde vergossen, keine andere Gemütsbewegung äußerte sich
als ernstes Erstaunen. Man kannte das Leben und seine brutale Art; man
war von Anfang an auf alles gefaßt, und in dem Kampf, dem ewigen Kampf
um alles, mußte ja einer unterliegen.

       *       *       *       *       *

Als Esther und Max in der Villa auf Storö anlangten, sahen sie weiße
Laken vor den Fenstern hängen. Auf dem Flur kamen ihnen die kleinen
Kinder entgegen, die schwarz gekleidet waren. Sie hatten keine
Vorstellung vom Tode und schienen sich in dem Frieden und der Stille,
die nach den Stürmen herrschten, wohl zu fühlen.

»Mama ist tot!« sagte der Knabe, als berichte er irgend etwas
Beliebiges, und mit einem kleinen Anflug von Stolz, als erster eine
Neuigkeit überbringen zu können.

Als Esther mit der Wirtschafterin in das Zimmer der Mutter trat,
erinnerte sie sich sofort daran, daß sie Ärztin war, und untersuchte
den toten Körper, der wirklich als tot befunden wurde. Der
Gesichtsausdruck war genau der gleiche, den sie bei ihrem letzten
Zusammensein bemerkt hatte, als das Brüllen des Vaters aus dem Garten
ertönt war, und das veranlaßte sie, an eine psychische Todesursache zu
denken. Es gab also etwas, was Seele hieß, es existierten Gefühle und
ähnliche Dinge, die nicht aus Zellen und Geweben hergeleitet werden
konnten.

Als sie das, was sie wollte, konstatiert hatte, fragte sie die
Wirtschafterin:

»Hat der Herr, hat mein Vater sich hier im Hause sehen lassen, nachdem
er es verlassen hat?«

»Nein, das hat er nicht; aber ... aber er ist wohl gemütskrank, denn
man hat ihn gehört ... die ganze Nacht und den Tag über hier draußen im
Walde.«

»Gehört?«

»Ja, er hat geschrien, so daß die Frau nicht schlafen konnte. Aber als
die Frau tot war, wurde er still.«

»Wie seltsam! Wo ist er denn jetzt?«

»Es heißt, daß er in der Pfarre wohnt.«

Esther ging zu Max hinunter, der am Klavier saß und tat, als spiele er,
ohne aber die Tasten niederzudrücken.

»Glaubst du,« fragte sie, »daß Mutters Gewissen erwacht ist?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Was glaubst du denn?«

»Ja, wenn ich Theosoph wäre, würde ich vermuten, sie sei an seinem
Kummer gestorben. Seine Seele, die auf ihre gepfropft war, wurde ja
weggerissen, und es fehlte die Zeit für eine sanfte Loslösung; daher
wurde ihr Herz zerstückelt. Es ist nicht so leicht, sich zu trennen,
wie die Leute glauben, und es ist nicht ungefährlich. Wenn eine Frau
ihrem Mann untreu ist, auch wenn er nichts davon weiß, fühlt er es
telepathisch und wird von Selbstmordzwang ergriffen. Merkwürdig ist,
daß die Mordlust des betrogenen Mannes meistens im Aufhängen ihren
Ausbruch sucht. Daß er sterben will, hängt damit zusammen, daß seine
Seele durch die Frau in unerlaubte Verbindung mit den niedrigeren
Sphären eines Mannes gebracht wird; und der Selbsterhaltungstrieb der
Seele ist so stark, daß sie lieber stirbt, als sich verunreinigen
läßt. Wenn die Männer wüßten, wie gefährlich es ist, anderer Frauen zu
berühren, lebensgefährlich; und wenn sie wüßten, wie geringe Lust ihnen
zuteil wird, wenn sie die Frau eines andern besitzen! Sie suchen _sie_
und finden ihn, denn er ist in ihr und versperrt den Weg. Vor kurzem
ist ein junger Millionär mit der Frau eines andern durchgebrannt. Sie
sind genügend weit gereist, bis in den Orient. Als sie sich nun hatten,
konnten sie sich doch nicht kriegen. Deshalb hat er erst sie und dann
sich selbst erschossen.«

»Konnten nicht?«

»Nein! So stand es in seinem letzten Brief an -- den Mann, der sein
Freund gewesen war und es jetzt in der Todesstunde wieder wurde! --
Ein anderer Fall! Ein Mann verließ seine Frau, weil nicht mit ihr
auszukommen war. Nach einem Jahr verheiratete er sich mit einem jungen
Mädchen. Als er in das Brautgemach trat, fand er seine erste Frau
im Brautbett. Sie war es natürlich nicht, aber die Ähnlichkeit war
so täuschend, daß er von Entsetzen gepackt wurde und vor dem Spuk
davonlief. Da hast du die Lösung der rätselhaften Geschichte. Nach ein
paar Jahren verheiratete er sich wieder, bekam Kinder und lebt noch
jetzt.«

»Das sind unheimliche Geschichten!«

»Aus dem Alltagsleben. Beobachte jetzt deinen Vater, wenn er wieder
heimkommt, denn das tut er, aber erst, wenn Mutter in der Erde ist.
Er ist gesund. Er vermißt sie nicht, im Gegenteil; er trauert nicht,
im Gegenteil; aber er hat Leichenfarbe und leidet besonders an Frost;
er friert so entsetzlich, und weinen tut er auch, ohne traurig zu
sein. Er magert zugleich ab, und seine körperliche Abnahme steigert
sich ungeheuer. Das ist die Loslösung von ihr. Das pflegt ein Jahr zu
dauern.«

»Wo hast du das gelesen?«

»Ich habe es nicht gelesen, ich habe es beobachtet, an Alltagsmenschen.
-- Und wenn ein Mann von Liebe erfaßt wird, von großer Liebe zu einer
Frau, so hast du wohl seine Transformation gesehen. Das erste ist, daß
er abmagert, aber in schöner Art. Alle Gewebe werden subtiler während
der Verlobung, er ändert, ohne sich dessen bewußt zu sein, seine Diät.
Bevorzugt Obst, Milch und Wein; verträgt nichts Scharfes oder schlecht
Riechendes. Der Körper bereitet sich auf die neue Geburt vor, um die
Emanationen ihrer Seele aufzunehmen; er bewacht seine Handlungen und
Gedanken, denn er weiß, daß jetzt alles von ihm abhängt. Er will sie
nicht von weitem besudeln, und er weiß, daß sie leidet, wenn er böses
denkt. Ist dir aufgefallen, wie sein Äußeres sich vergeistigt, wie ein
Leuchten von ihm ausgeht, wie er phosphoresziert; wie der Einfältige
scharfsinnig, der Dumme geistreich, der Häßliche schön wird? Das ist
die Vermählung der Seelen!«

»Das verstehe ich nicht!« unterbrach Esther.

»Nein, das weiß ich,« antwortete Max, »und deshalb ist unser Verhältnis
zu Ende!«

»Zu Ende!«

»Ja, zu Ende! Denn ich bin schon von dir gelöst!«

Jetzt sprang Esther zornig auf:

»Ich habe dich nie besessen!«

»Nein, du konntest mich nicht bekommen! Du gehörtest nicht meinen
Regionen an.«

»Und das sagst du so kalt!«

»Es ist nicht kalt, aber du empfindest es so! -- Frierst du jetzt
nicht?«

»Ja, ganz furchtbar!«

»Siehst du, es gibt andere Wärmequellen als mechanische Arbeit und
chemische Verwandtschaft. -- Findest du nicht, es zieht hier im Zimmer?«

»O, es weht.«

»Das bin ich, ich nehme meine Aura zurück; weißt du, was Aura ist?
Nein, das steht nicht in deinen Veterinärbüchern. -- Hast du mich
wirklich nie besessen?«

Esther wurde rot und flüsterte, als schäme sie sich:

»Doch, einmal ... im Traum!«

»Das wußte ich,« antwortete der Graf; »und ich weiß wann! Siehst du,
mein Kind, ich glaube, daß unsere Körper sich hassen, und das ist so
oft der Fall in der Ehe ... Jetzt aber hast du den Beweis für die
Ausdehnungsfähigkeit der Seele oder ihre anscheinende Kraft, aus sich
selbst herauszugehen. -- Weißt du, was der nächtliche Alp ist? Das ist
die Seele deines Feindes, die dich besucht. Deshalb, siehst du, soll
man sich mit Menschen nicht allzu intim einlassen, denn dann kommen sie
in Kontakt mit einem und gewinnen dadurch Einfluß oder die Fähigkeit,
mit dir in Rapport zu treten. Ich kenne zwei Neuvermählte, die mitten
in der Nacht von Herzklopfen und Angst geweckt wurden. Sie konnten es
nicht erklären. Aber dann wurde festgestellt, daß das Phänomen mit
einem Traum im Zusammenhang stand, den sie gemeinsam gehabt hatten,
wenn auch sehr dunkel, so dunkel, daß er nur den Eindruck einer
bestimmten Person hinterlassen hatte. Er, der Mann, wollte nicht
gern den Namen nennen, denn es war ein Kurmacher seiner Frau vor der
Verlobung. Aber als die Frau diesen Namen aussprach, fühlte sich der
Mann auch nicht mehr behindert, und siehe da, ihre Gedanken und Träume
waren von dem nächtlichen Besuch des Verschmähten gestört worden. Denke
dir, wie sorglich man seine Gedanken hüten muß, um nicht ein Verbrechen
zu begehen ... Jünglinge und Jungfrauen, die im Schlaf gestört werden,
werden meistens nicht von _ihren_ Phantasien beunruhigt, wie man
glaubt, sondern von den Phantasien anderer, Schlafender oder Wachender.
Ich kann mich nicht erinnern, als Jüngling von wollüstigen Träumen
gestört worden zu sein, wohl aber von Empfindungen, die von außen
heranzudrängen schienen und mir handgreiflich vorkamen. -- Um nun aber
wieder von deinem Vater zu reden, so ist meine Überzeugung, daß er
deine Mutter getötet hat, ohne es zu wissen. Sie ist an ihm erfroren,
und wenn du nachsiehst, so ist sie den Tod des Erfrierens gestorben.«

Esther begann im Zimmer auf und ab zu gehen und nahm einen Schal vom
Riegel:

»Ich fürchte mich vor dir,« sagte sie. »Ich friere an dir auch zu Tode!«

»Leg den Schal deiner Mutter fort,« sagte der Graf ruhig. »In ihm
steckt soviel von ihrer Aura; und das kann dich beunruhigen! Du kannst
in krankhafte Stimmungen kommen ...«

Esther warf den Schal weg und sagte:

»Es brennt wie Nesseln auf dem Körper!«

»Das Nessusgewand! da hast du es! -- Siehst du, wie empfindlich das
Seelenleben ist. Du siehst es im Mikroskop nicht, aber mit deinem
wachen inneren Auge siehst du es!«

»Warum hast du mir so etwas früher nie gesagt?«

»Wenn ich es gesagt hätte, wäre unser Verhältnis zu Ende gewesen;
denn es beruhte ja darauf, daß ich dich in dem Glauben ließ, ich sei
dupiert. -- Aber mein Kind, du hast nie Geheimnisse für mich gehabt.
-- Als du das letzte Mal ohne mich auf den Ball gingst, warst du böse
auf mich und hattest beschlossen, dich zu rächen. Ich saß zu Hause
und begleitete dich in meinen Gedanken. Als du mich verrietest,
als du meinen Kopf und meine Ehre einem Kavalier ausliefertest,
dessen Persönlichkeit ich errate, da weinte meine Seele wie über ein
Verbrechen gegen die Gesetze des Himmels. Und als du dich hinter einer
Tür von ihm küssen ließest ...«

Esther stand stumm vor Entsetzen da, und ihr Gesicht fragte: »Wie
kannst du das wissen?« Max aber, der nur auf diese Bestätigung gewartet
hatte, fuhr fort:

»Da hatte ich ein Gefühl von Schmutz auf meiner ganzen Haut, so
intensiv, daß ich alle meine Kleider abwerfen und mich in meiner
Badewanne abspülen mußte. Du siehst also, daß wir nicht zusammen leben
können, da du kein Geheimnis vor mir haben kannst! Nachdem ich also die
Gesetze der Ehre erfüllt und dir die Trauung angeboten habe, sage ich
dir lebewohl. -- Lebwohl! Jetzt nehme ich das meine zurück!«

Er ging, und Esther blieb mitten im Zimmer stehen, starr wie eine
Bildsäule.



Vierzehntes Kapitel

Majestätsbeleidigung


Die Anklage war erhoben und hatte viel Aufsehen erregt. Man fragte
sich, ob es ein Ausdruck des Übermuts oder der Furcht sei. Die
Königsmacht war ja so geschwächt, daß ihr Inhaber die großen Rechte,
die die Verfassung bewilligte, zum Beispiel seine Ratgeber frei zu
wählen, nicht zu benutzen wagte. Und in Norwegen wurde tatsächlich mit
dem Namensstempel regiert. Der Monarch war nur eine Art Repräsentant
des Reiches in der Heimat, wie die Gesandten das Reich im Auslande
repräsentierten. Regieren tat der Reichstag, und der Monarch war nicht
mehr Regent. Beim Empfang einer Deputation, die seine Unterstützung
in einer wichtigen Gesetzgebungsfrage erbat, hatte Seine Majestät
bedauert, nichts in der Sache tun zu können, da seine Macht nicht so
groß sei, wie sie glaubten. Aber je schwächer die Stütze dort oben
wurde, desto ängstlicher wurden all diese Hilflosen, die bei ihr Schutz
suchten; sie rotteten sich zusammen wie zornige Schafe und gingen
Richtpfade, um früher anzukommen, Wege, die nie gerade waren und
deshalb oft für die von unten sich Verteidigenden recht schwierig zu
verfolgen waren.

Zu den unschuldigeren Verteidigungsmitteln der Monarchie gehörte der
Besitz der Hegemonie in der Theaterwelt. Im Theater traf das Volk
seinen Monarchen, nur da; und dort hielt er seinen Empfang ab, wurde
von seinen Getreuen begrüßt, gab durch Zusammenschlagen der Hände einen
Wink, was beifällig aufgenommen und was totgeschwiegen werden sollte.
Es war ein »Maifeld« und ein Volksthing, deshalb war diese Position
nicht unwichtig. Nun hob der Reichstag die Subvention auf, in einem
Anfall von Sparsamkeit oder in der Erkenntnis, daß die Theater, in
denen zuweilen bestellte Stücke in leichtsinniger Weise die Gesetzgeber
im Reichstag karikierten, als eine außerordentliche Reichsversammlung
eine Bedeutung hätten. Da entstand Unruhe im oberen Lager.

Das Privattheater, das mit der Zeit gegangen war und die große Kunst
pflegte, hatte eine schwere Konkurrenz mit dem staatlichen Theater zu
bestehen gehabt, und die Mittel, das freie Theater zu hindern, waren
nicht immer gewählt gewesen. So hatten die Königlichen, die selbst in
einem absolut feuergefährlichen Haus saßen, die Behörden veranlaßt,
dem Privattheater gegen dessen geringere Feuersgefahr so kostspielige
Schutzmaßregeln vorzuschreiben, daß es in drückende Schulden geriet.

Jetzt, als das Königliche Theater geschlossen werden sollte, entstand
die Befürchtung, das Privattheater könne die tonangebende Nummer eins
werden, und das mußte man verhindern. Da rotteten sich Adel und Bürger
zusammen und bildeten ein Theaterkonsortium, das unter der Maske
vaterländischer Aufopferung ein Lotterietheater startete, das später
der Nation als Königliches Nationaltheater oktroyiert werden sollte,
alles unter der Voraussetzung, daß der Reichstag dies trojanische
Geschenk annehmen werde. Das heißt, man wollte ein Hoftheater haben,
das der Reichstag unterhielt, trotz dessen bestimmter Weigerung,
Theater- und Kneipenwirtschaft zu betreiben.

Dies betrügerische und etwas einfältige Vorgehen hatte die Demokraten
gereizt und den Ausgangspunkt für Holger Borgs Artikel gebildet, die
schließlich in Majestätsbeleidigung ausliefen.

Der Artikel hatte im Auszug folgenden Inhalt:

    Über den Fürsten

    von

    Anti-Macchiavelli.

    Solange die Völker noch einen Herrn wünschen, soll dieser sich
    stets erinnern, daß er auf Wunsch des Volkes seinen Platz
    innehat; aber auch wenn er durch Gottes Gnade da zu sitzen
    glaubt, muß er bedenken, daß es eine Gnade Gottes ist, daß er
    da sitzt, und darf sich nicht dem Irrtum überlassen, daß er als
    Gottes Vorsehung regieren darf.

    Der Fürst soll zum Staatsmann erzogen werden, nicht zum
    Offizier, denn der Staat ist kein Heer, sondern der Staat ist
    ein Staat.

    Der Fürst ist auch der ~Summus Episcopus~ der Kirche, deshalb
    braucht er aber im Staatsrat nicht mit Mitra und Krummstab
    aufzutreten, was ebenso unschicklich ist, als wenn er fremde
    Botschafter in Admiralsuniform empfinge.

    Der Fürst soll sich von allen mitbürgerlichen und
    kleinbürgerlichen Interessen fernhalten, denn seine Person
    gehört dem Staat; er soll in seiner Person das Ansehen des
    Staates, das er repräsentiert, würdig aufrecht erhalten.

    Der Fürst soll keine Geschäfte treiben, nicht in Kunst,
    Wissenschaft und Literatur konkurrieren, denn seine ganze
    Zeit gehört dem Staat. Der Mann, der die Arbeit von acht
    Staatsministerien und zwei Repräsentantenkammern überwachen
    soll, darf zu etwas anderm keine Zeit haben. Hat er Zeit zu
    anderm, so füllt er seinen Posten nicht aus.

    Der Fürst muß gerecht sein wie die Allmacht, an die er glaubt;
    fest, aber nicht grausam; nachsichtig, aber nicht schlapp;
    untadelig, aber nicht scheinheilig; er soll den Mut haben,
    auf die Gunst des wankelmütigen Haufens zu verzichten und im
    Bewußtsein der Erfüllung höherer Pflichten allein zu stehen
    wagen, wenn es darauf ankommt.

    Auf seinem erhöhten Platz, befreit von der Berührung mit den
    Lappalien des Lebens, der Sorge um sein Auskommen enthoben,
    soll er in Schönheit leben und mit weisen und guten Männern
    verkehren, nicht mit Gecken und Spielern; dann kann er mit
    größerem Blick über die Dinge als andere Sterbliche das Reich
    überschauen; dann wird sein Rat ins Gewicht fallen und sein
    Wort Geltung haben.

    Der Fürst darf kein Standesbewußtsein besitzen. Er soll
    nicht das Oberhaupt des Adels, nicht des Hofes, nicht des
    Fürstenhauses sein, sondern soll sich als Vorsehung des Staates
    fühlen, als Schutz der Nation und als Vater des Landes.

    Der Fürst soll nicht auf Kleinigkeiten achten, über so etwas
    muß er erhaben sein; seine Gnade soll die Würdigen treffen,
    nicht die Unwürdigen; denn Gnade wird leicht Unrecht.

    Der Fürst soll die Schwachen schützen, nicht weil sie schwach
    sind, sondern wenn sie unterdrückt werden, sonst nicht.

Allgemeine Worte, die auf besondere Fälle angewendet werden konnten,
bildeten den Inhalt des Artikels. Das Urteil war aber gefällt worden
und lautete auf drei Monate Gefängnis. Man fragte sich, wie das möglich
sei.

Es war in den letzten Jahren viel geschehen: durch die Schutzzölle
hatte das Reich sich isoliert; durch die Annäherung der Regierung an
das Deutsche Reich hatte sich in den oberen Schichten ein gewisser
Junker- und Militärgeist der Gemüter bemächtigt; und jetzt nach dem
außerordentlichen Reichstag, als die Armee in die Erziehung der Nation
eingriff, wurde die Luft dick. Die Kriegsdrohungen und Rüstungen
der Norweger erschreckten die Stillen im Lande; das Vorrücken der
Sozialdemokratie bedrohte die Grundfesten der Gesellschaft; deshalb
sammelte sich alle Hilflosigkeit, alles, was müde und faul war, unter
dem höchsten Schirm, und in dieser hochbürgerlichen Majorität wurde
Anklage und Urteil mit einstimmiger Befriedigung begrüßt.

Holger Borgs Heim hatte mit dem wachsenden Einfluß der Zeitung den
Charakter geändert und war eine Zuflucht für mancherlei Leute geworden.
Die Frau des Hauses aber, die die Einladungslisten aufstellte,
merkte bald, daß sich die Zahl der Absagen erhöhte, so daß man die
Einladungen nach Klassen oder Klubs ergehen lassen mußte. So wurden
besondere Gesellschaften für höhere Offiziere, ehemalige Staatsräte
und Ausschußmitglieder veranstaltet; das war das Aufgebot erster
Klasse. Viele kamen, weil sie nicht wegzubleiben wagten, und alle, die
gezwungen worden waren, zeigten unverhohlen, daß sie nicht freiwillig
gekommen seien. Sie beobachteten nicht die gewöhnliche Höflichkeit,
sie unterhielten die Wirtin nicht, sie schwiegen und aßen, ließen aber
wohl ein paar Gerichte unberührt vorbeigehen, weil sie schon vorher
satt waren. All dies demütigte den strammen Ingenieur, aber seine Frau
wollte es, und da er die Rechte der Frau vertrat, durfte sie bestimmen.

Gerade so ein Diner fand statt, als man die Anklage erwartete. Die
höheren Offiziere waren weggeblieben, und es war nur ein Hauptmann
anwesend. Er war da, teils weil er Wechselschulden hatte, teils weil er
kleine Notizen aus dem Generalstab in die Zeitung brachte, anscheinend
unschuldige Notizen, die aber einen recht gediegenen Inhalt hatten.
Heute saß er auf hohem Pferd, weil seine Vorgesetzten abwesend waren
und er die Ungnade witterte. Er stocherte mit dem Dessertmesser in
den Zähnen, schenkte sich selbst ein und steckte sich Zigaretten an.
Die Frau des Hauses war nervös, und da sie die häßliche Gewohnheit
angenommen hatte, ihren Mann zu korrigieren, tadelte sie alles, was er
tat, mehr aus Gedankenlosigkeit und mangelnder Beherrschung als aus
Bosheit. Der Mann, der einerseits durch die Frau, andererseits durch
das ungehobelte Benehmen des Hauptmanns gereizt war, verstummte völlig,
und sein Schweigen wirkte auf die Gesellschaft. Man beugte die Köpfe
über die Teller und wagte sich nicht anzusehen.

Die gemütliche Verzauberung, die bei einem festlichen Mahl zu herrschen
pflegt, wo man aus den funkelnden Gläsern Vergessenheit getrunken
zu haben scheint, wo man einige halbe Stunden miteinander verlebt
in der vollständigen Illusion, befreundet zu sein und keinen Streit
miteinander zu haben, war gebrochen. Alle waren erwacht und bewußt und
saßen wie entkleidet einander gegenüber; sie hörten die verschwiegenen
Gedanken des andern, sie sprachen mit den Mienen die Geheimnisse aller
aus; alle Interessen und Passionen, die sie hier zusammengeführt
hatten, schienen bloßgelegt zu sein, und sie schämten sich voreinander
und vor sich selbst. Die Wirtin, die für diese Gelegenheit die
Bohêmemanieren abgelegt hatte und steif und feierlich gewesen war,
schlug jetzt um und nahm einen andern Ton an, da sie sah, daß das Feld
aufgegeben war; in reiner Verzweiflung leerte sie ein volles Glas,
um sich Mut zu machen, und dedizierte dann das Glas dem Hauptmann,
der sofort die Situation erfaßte und beschloß, die Gesellschaft
aufzuheitern. Eine Erinnerung daran, daß die Zeitung die »unanständige
Literatur«, die er nie las, in Schutz und Schirm nahm und gewisse
Gerüchte über die Feste dritter Klasse für die Künstlerbohême, auf
denen es so lustig zugehen sollte, tauchten vom Grunde des letzten
Glases auf; er vergaß die grauen Köpfe der weisen Männer und legte sich
ins Zeug.

»Nun, es soll auf Ihren Künstlerfesten ja so lustig hergehen,« sagte
er, »ich habe saftige Sachen erzählen hören, und ich möchte gern
nächstes Mal mit dabei sein.«

»Was haben Sie denn gehört?« fragte die Frau unvorsichtigerweise; aber
jetzt sollte es lustig werden, einerlei um welchen Preis.

»Nun, also ...«

Hier suchte der Herr des Hauses abzulenken, aber es war zu spät.

»Ja, ich hörte, der Dichter Grönlund sei eine halbe Stunde zu spät zum
Diner gekommen, und als er kam, sei er so betrunken gewesen, daß er den
Fleischkloß vor sich aufs Tischtuch legte!«

»Es war freilich kein Fleischkloß!« rief die Frau.

»Nun, so war es ein Lungenragout ... und als man zu den Omeletten kam,
hat er die gnädige Frau auf den Schoß genommen, mit dem Erfolg, daß er
hinausgeworfen wurde. Stimmt das, Holger?«

»Daß er hinausgeworfen wurde, ist wahr!« antwortete der Herr des
Hauses, »und daß das jedem passieren kann, der sich schlecht benimmt,
das steht fest.«

Die letzte Spur von Verstellung war verschwunden; man saß da als das,
was man war, als geborene Feinde, erzogene Feinde, und nun brach es
los. Der Offizier zog blank:

»Meinst du, ich, der ich dein Haus mit meiner Gegenwart beehre, würde
aufs Hinauswerfen warten? ich würde beim ersten Wink diesen Staub von
meinen Füßen schütteln und einer Gesellschaft den Rücken kehren, in die
ich nie meinen Hintern hätte setzen dürfen ...«

Die Frau lief weinend hinaus, ihr Mann folgte ihr. Die Gäste standen
auf und gingen in den Korridor hinaus. Der letzte Kämpe, der Hauptmann,
schenkte sich ein Glas Madeira ein, trank es ruhig aus, und deutete
damit an, daß er nicht floh, sondern auf den Kampf gefaßt war. Aber als
niemand kam, steckte er sich eine Zigarre an und ging in den leeren
Korridor hinaus, wo das Dienstmädchen ihm in den Überrock half. Nachdem
er sie unters Kinn gefaßt und gefragt hatte, wie sie heiße, rasselte er
hinaus.

Unterdes hatte die Frau sich rasend auf ihr Bett geworfen.

»Ja, warum lädst du solche Vagabunden in Uniform ein?« tröstete der
Mann.

»Ach, das sind keine Vagabunden, aber du schreibst wie ein Vagabund
in der Zeitung, und deshalb will kein ehrenhafter Mensch mehr zu uns
kommen.«

Das war die ganze Ansicht der Frau über seine Tätigkeit. Er hatte das
schon lange gefühlt, aber die Frau hatte sich so oft als sein guter
Genius feiern hören, daß sie der Rolle zuliebe gern seine Artikel
inspiriert haben wollte, wenn sie mit Beifall begrüßt wurden. Das
offene Eingeständnis, daß sie seine Anschauungen verachte, traf ihn
gerade jetzt, wo er Anerkennung brauchte, wie ein Schlag ins Gesicht,
aber er konnte nicht böse auf sie werden, obwohl sie ihn in diese
Kreise hineingebracht hatte, in die er nicht gehörte.

Er ging in das Eßzimmer, das er mit der geplünderten Tafel leer fand;
die Diener standen wartend da, und er schämte sich vor ihnen. Die Gäste
waren ohne Abschied gegangen. Das Heim war beschmutzt, und er selbst
beschimpft, gedemütigt. Aber in diesem Augenblick beschloß er, das Haus
zu reinigen und nicht mehr der Eitelkeit seiner Frau zu erliegen. Es
würde ihn sein zerbrechliches Glück kosten, das nur eingebildet war,
aber es mußte geschehen.

Er zog sich an, um in die Redaktion zu gehen. Da bekam er die
Nachricht, daß die Klage erhoben sei, und das klärte plötzlich seine
Stellung. Es war die Kriegserklärung, und in den Abendzeitungen wurde
bereits der Aufmarsch vollzogen. Kein Kompromiß mehr, keine Illusionen
hinsichtlich der Versöhnung zwischen den Klassen; die oberen hatten das
Obergewicht, und nachdem sie vom außerordentlichen Reichstag die Armee
bekommen hatten, eröffneten sie den Kampf.

       *       *       *       *       *

Am Tage bevor er ins Gefängnis mußte, hatte er eine Szene mit seiner
Frau, die sie entzweite. Sie verlangte, er solle um ihretwillen ein
Gnadengesuch einreichen. Als er sich weigerte, erklärte sie, er sei
kein Mann, denn ein Mann müsse sich für seine Frau opfern.

Er war so verstrickt in seine Theorien, daß er keine Erwiderung fand;
aber in diesem Gefühl der Wehrlosigkeit wurde jetzt zum erstenmal der
Widerstand geboren, der die Befreiung werden sollte.

Warum konnte er nicht antworten? Weil ihr Verlangen so dumm war, daß es
keine passende Antwort darauf gab.

Er ging am Abend aus, entschlossen, nicht zurückzukommen. Um halb elf
hatten seine Freunde ein Abschiedsfest für ihn in den Gotischen Zimmern
veranstaltet. Vorher ging er mit seinem Onkel Doktor Borg in die Oper.
Sie saßen im Parkett und warteten auf die Ouvertüre. Das Publikum war
festlich gekleidet, aber die königliche Loge war leer, so daß ihm die
Situation nicht klar wurde.

Das Orchester versammelte sich und begann zu stimmen. Der Kapellmeister
stand auf; klopfte ... aber im selben Augenblick wendete er sich mit
einer Verbeugung zu der königlichen Loge; und jetzt wurde gespielt »Aus
dem schwedischen Herzen«.

Das Publikum stand auf; alle erhoben sich, außer Holger und dem Doktor.

»Verbeugt man sich vor Geßlers Hut?« fragte er den Onkel.

»Es muß Namenstag oder Geburtstag sein ...«

»Ja, aber vor der leeren Loge? Das ist doch Unsinn!«

Plötzlich hörten sie eine befehlende Stimme: »Aufstehen!«

Holger drehte sich um, doch da wurde er am Kragen gepackt und von
seinem Platz hochgezogen. Da er nie andere Waffen gebraucht hatte als
Wort und Feder, ging er, und der Doktor folgte.

»Was bedeutet dies?« fragte er, als sie auf der Straße waren.

»Das ist der schwedische Lakai! Seinen Monarchen grüßen, gewiß, aber
Stühle und Tische grüßen! Jetzt weißt du, was die Neue Oper bedeutet!«

»Ich hatte also recht, dreinzuschlagen! Wir haben jetzt wohl ein
schönes Dezennium vor uns!«

»Ich will dir etwas erzählen, was ich heute gehört habe, aber du mußt
mir das Versprechen geben, darüber zu schweigen. Ein Landarzt, ein
Freund, der nie lügt, hat mir erzählt, er sei von der Militärbehörde
gefragt worden, ob er im Falle eines Krieges gegen Norwegen als Chirurg
mitgehen wolle!«

»Das habe ich schon von anderer Seite gehört, aber es wird von oben
offiziell in Abrede gestellt.«

»Die lügen natürlich.«

»Das glaube ich nicht, aber es könnte ja sein, daß sie sich orientieren
wollen.«

»Die da oben lügen nicht? Dann kennst du die Diplomaten nicht. Es ist
ja übrigens die alte Staatskunst, aufrichtig zu erscheinen, aber falsch
zu sein. Der ehrliche Makler hatte doch die Emser Depesche redigiert.
Ja, Norwegen, das Schweden zwanzig Jahre Denkarbeit gekostet, das uns
zerrissen und unsere Gedanken von unseren eigenen Interessen abgelenkt
hat. Verdient das kleine Land soviel Aufmerksamkeit? Ein Volk von
Fischern, Schiffern und Hirten, das für den Tag lebt und verschuldet
ist wie wir. Ein Touristenland mit Hotelwirten; berühmter wegen seiner
Fernsichten, als wegen seines Ackerbodens; exportiert gedörrte Fische
und gefrorenes Wasser. Was haben wir mit ihnen zu schaffen? Hochmütiges
Gesindel, die ein Weiberregiment wollen! Pfui Teufel!«

»Du Weiberhasser!«

»Dummkopf! Ich bin gerade im Begriff, mich zum drittenmal zu
verheiraten.«

»Es gibt keine Frauenfrage für mich! Ich sehe nur Menschen.«

»Wenn du den Unterschied zwischen Mann und Frau nicht sehen kannst,
bist du pervers wie all die andern. Aber da du morgen ins Gefängnis
mußt, so wollen wir von etwas anderm sprechen! -- Hast du gehört, daß
die gelbe Brigade degradiert worden ist?«

»Ja, man sagt es, aber sie sollen auch die Kirche verspielt haben.«

»Das Monument der Niederlage bei Lützen. Die Leute sind köstlich bei
uns zu Lande, sie feiern ihre Niederlagen; sie werden nächstens auch
noch Pultawa feiern.«

Ȇbrigens die Gelben, da sollen auch falsche Ahnen sein, denn die gelbe
Brigade bei Lützen wurde von Deutschen gebildet und stand im Zentrum;
im übrigen bestand eine Brigade aus mehreren Regimentern, und _diese_
gelbe Brigade stammt erst aus der Freiheitszeit.«

»Ja gewiß, aber kommen diese Kassenverwalter ins Gefängnis?«

»Nein, sie werden befördert; wer jedoch darüber zu sprechen wagt,
kommt sicher ins Gefängnis! Ich hatte diese Geschichte in meinen
Artikel einflechten wollen, besann mich aber; jetzt bereue ich es.«

Sie gingen an dem Kleinen Theater vorbei, das zur Galavorstellung hell
erleuchtet war.

»Das Repertoire des Volkstheaters und die Prätentionen eines
Nationaltheaters, Königliches Theater, begründet von dem
Majestätsbeleidiger Anders Lindeberg; beginnt und endet mit einer
Majestätsbeleidigung! Welch ein Paradoxon!«

»Ein Nationaltheater, das von einer Bordellwirtin vom Strandweg
geleitet wird und sich rekrutiert aus ... nun ja; aber die Großen
werden ausgeschlossen; Antigone und Julia sind geflüchtet, Hamlet
und Horatio gehen müßig auf dem Markt spazieren und warten auf das
Ende. Der Geschmack ist auf den Höhen nicht auf der Höhe. ›Lustig und
schmutzig!‹ das ist ihr Ideal. Vor dem Ernst haben sie Angst.«

»Es ist köstlich mit den alten Idealisten; die Zeitung ›Allerlei‹
proklamiert Paul de Kock als unschuldig, und die Postzeitung beschützt
den ›liederlichen und gottlosen‹ Anatole France! Was bedeutet das?«

»Das ist Barrabas! Jeder Beliebige wird freigegeben, selbst Barrabas,
nur nicht der große Zola! Sie haben ein Grauen vor allem Großen und
Starken, weil sie klein und schwach sind. -- Weißt du, vorhin in der
Oper, als sich die Hand von hinten schwer auf mich legte, da fragte
ich mich, was der Unbekannte eigentlich wolle. -- Ein armer Tropf ohne
Selbst, der keine Gewalt über mich hat, erweitert seine unbedeutende
Person, indem er sich zu einem Teil des Hofes macht. Er will, ich
soll seinen Gott anbeten, weil es sein Gott ist, dann fühlt er sich
einen Augenblick mir überlegen. Es ist eine Art Kolonietier, Korallen,
die in Klumpen leben und wachsen. Sie haben keine Gedanken, sondern
nur Erinnerungen an das, was sie in Zeitungen, Büchern gelesen, was
sie haben erzählen hören; wenn sie lesen, assimilieren sie alles
ungereinigt, Korn und Steine, Blutklöße und Dreckklumpen; und wenn sie
reden, öffnen sie den Sphinkter und lassen alles zum Munde hinaus,
der ihr Anus ist. Das ist die Majorität, das treue Volk, der gesunde
Verstand, der nur Unverstand ist; das sind die Rechtdenkenden,
die Stillen im Lande, der Kern der Bevölkerung. Und sie alle sind
herrschgierig, können aber nur durch den Herrscher herrschen, der ihr
Werkzeug wird, während er durch sie herrscht. -- Weißt du, ich werde
Anarchist gegen meinen Willen!«

»Wer wird das nicht! -- Nachdem Leben und Entwicklung das
Tempo gesteigert haben, so daß man jetzt in zehn Jahren eine
weltgeschichtliche Epoche durchläuft, wird es für die Wachsenden immer
qualvoller, von einer veralteten Regierungsform niedergedrückt zu
werden, die von ihrer Zeit nichts versteht. Die Sitten verändern sich,
aber die alten Sittengesetze bleiben; die Rechtsbegriffe erneuern
sich, aber das Gesetzbuch steht noch bei 1734 und 1866. Wenn wir nach
Metern und Kronen rechnen, messen die Alten mit Ellen und Talern. Diese
Mißverhältnisse im Gesellschaftsbau machen das Leben zu einer Hölle
oder einem Irrenhaus. Weißt du was: ein Land, das seine Revolution
nicht gehabt hat, kann nicht wachsen. Sieh, im Adelsalmanach wirst
du finden, ob wir ein Stockholmer, ein Linköpinger Blutbad und eine
Reduktion Karls XI. nötig haben. Bist du in Lund gewesen und hast den
Park von Lund gesehen? Da kann nicht ein junger Baum wachsen, denn die
alten stehen im Wege und schatten; hohl und morsch sind sie, und Eulen
nisten in ihnen. Fällen darf man sie aber nicht! Warum zum Teufel darf
man es nicht? ... An dem Tage, da sie von selber stürzen, ist der ganze
Park eine Sandwüste, und man muß Menschenalter warten, bis Neuwuchs da
ist. Nein, man muß lichten und verjüngen!«

»Möchtest du am Schafott stehen?«

»Ich? Wie gern! Ich bin an die Leiden Unschuldiger bei Operationen
gewohnt; und ich würde neben ihnen stehen und ihnen im letzten
Augenblick ein gutes Wort geben, nachdem ich sie chloroformiert hätte.
Ich bin ein Wilder, obwohl ich in Schweden heimatberechtigt bin;
und ich glaube, daß den Wilden die Zukunft gehört. Du weißt ja, daß
alle gebildeten Nationen sterben, an Bildung, an Verweichlichung, an
Tierschutz und ethnographischen Museen. Wer sich umdreht, um seinen
Dreck anzusehen, wird des Todes sterben. Und das tut die Nation
jetzt, wenn sie zurückblickt, auf Lützen und Narwa, auf Gustav III.
und die Schwedische Akademie, auf Wanzenhäuser und Glockentürme, auf
Kummethölzer und Trinkschalen, sie drehen sich nur um, deuten auf den
Dreckhaufen und sagen: Seht, das haben wir gemacht! -- Ja, und wenn
sie nicht bald fertig sind, dann kommt für uns nie die Gelegenheit,
_unsere_ Notdurft zu verrichten!«

»Stehst du noch auf deinem früheren Standpunkt, daß alles Unsinn ist?«

»Ja, wenn ich müde bin, dann finde ich, daß alles Unsinn ist; aber
wenn ich ausgeschlafen habe, dann bin ich bereit, wieder dem großen
Unbekannten entgegenzutanzen.«

       *       *       *       *       *

Sie wanderten straßauf, straßab.

»Siehst du,« fing der Doktor wieder an; »der Zustand jetzt ist umso
unleidlicher für mich und meine Altersgenossen, als wir in den
sechziger Jahren in der Vorstellung erzogen wurden, die Monarchie
sei etwas Ungesetzliches, Usurpiertes; der Fürst sei der natürliche
Feind des Volkes, und der Mann, der Brutus sein wolle, verdiene
großen Triumph. Wir hörten ja Freiheitssänger wie Talis Qualis und
Snoilsky die Republik als das höchste Gut besingen. So kam es, daß wir
Republikaner auf das neue Jerusalem warteten, und 1866 glaubten wir es
gekommen. Aber es kam nicht. Jetzt mit deiner Verurteilung sind wir
in die vierziger Jahre hinuntergestürzt. Ich finde, es riecht heute
nach Karl Johann, nach Crusenstolpe und Anders Lindeberg, am meisten
aber nach Karl Johann. Der ist für mich der Inbegriff alles Modrigen:
Rekrutierungsgewalt und Stadthaus, Festung Vaxholm und Feldlager; mit
einem Wort: was vor mir war, war tot, war Erdboden, in dem wir schon
wuchsen; der wird jetzt aufgegraben und stinkt. Nun, aber hast du
Angst vor dem Gefängnis?«

»Nein! Im Gegenteil! Es wird für mich eine Rekreation sein, und ich
will meine Erziehung von vorn anfangen.«

»Ja, damit ist nicht zu spaßen; ich habe als Militärarzt sechs Tage
gesessen, und es drohte im Gehirn eine Überproduktion zu entstehen.«

»Was hattest du denn getan?«

»Ich hatte mich gegen die ungesetzliche Behandlung der Wehrpflichtigen
aufgelehnt. Die Ärzte benutzten die Mannschaften zu idiotischen
Experimenten, zum Beispiel maßen sie den Inhalt des Magensacks,
den jedes Lehrbuch auf drei Liter angibt. Sie mußten den Schlauch
hinunterschlucken, und wenn sie es nicht konnten oder wollten, wurden
sie wegen Insubordination bestraft. Was sagst du dazu? Nun, ich
verteidigte sie, weil ihnen Unrecht geschah, und bekam sechs Tage
Gefängnis. Das ist Schweden, das Land, das in meiner Jugend durch
Gesetz aufgebaut werden sollte! -- Diese neue Armee bedeutet den
kleinen Belagerungszustand! Eine konstitutionelle Monarchie mit einer
prätorianischen Garde, die den höchsten Willen bestimmt. Willkür,
Parteilichkeit, Gesetzlosigkeit, da hast du es ...«

Sie gingen noch eine halbe Stunde, schweigend, und warteten auf den
Glockenschlag, mit dem das Abschiedsfest beginnen sollte.

Da tauchte plötzlich ein Koloß hinter ihnen auf, und sie hörten Pastor
Alroth mit milder, teilnehmender Stimme sagen:

»Was geht ihr hier so betrübt umher?«

Der Pastor war nämlich in die Stadt gekommen, um seinen Neffen Holger
zu begrüßen und ihm seine Teilnahme auszudrücken. Er war freilich ein
loyaler Untertan, konnte aber gleich den Geistlichen im allgemeinen
nicht leiden, daß das Oberhaupt der lutherischen Kirche ein Admiral
war. Diese Sachlage, daß der Landesvater der ~Summus episcopus~ der
Kirche war, hatte die Reformation mit sich gebracht; und ein weltlicher
Papst über dem Erzbischof erinnerte etwas an die Hierarchie des
Garderegiments, wo der Oberst doch stets nur der zweite Chef ist. Daß
Holger auf diese alte Unsitte hinwies, hatte dem Pastor gefallen, und
er war deshalb eitel Freundlichkeit, als sie in die Gotischen Zimmer
hinaufzogen.

Die alte Garde war da; Konsul Levi, der Architekt Kurt, der sonst
seine eigenen Wege ging und nicht von sich reden machte; Sellén, der
unsichtbar und viel auf Reisen war.

Die Stimmung war gedrückt. Der Ernst war schließlich gekommen, und die
Flegeljahre waren vorbei. Jetzt mußte man seine Lehren durch Leiden
besiegeln und ohne Klagen die Folgen auf sich nehmen.

»Wo ist Professor Lundell?« fragte der Doktor, der einen Sündenbock
haben wollte.

»Er kommt nicht,« antwortete Sellén. »Er ist Ritter hoher Orden und
liebt keine Majestätsbeleidigungen!«

»Da habt ihr den Orden! Das Zeichen, das beweist, daß man seinen
äußeren Menschen abgelegt, seine Haut verkauft hat! Er ist nicht so
unschuldig, wie man sagt!« rief der Doktor.

Der Pastor nahm Holger beiseite in eine Fensternische.

»Ich soll von deinem Vater grüßen!«

»Was macht er? Wie lebt er?«

»Er sitzt wieder zu Hause bei den Kindern, ist aber nicht mehr der
Alte. Der unverdiente schlechte Ruf, in den er gekommen ist, und der
entsetzliche Verdacht, der beim Tode deiner Mutter entstand, scheinen
so in ihn eingedrungen zu sein, daß er sich einbildet, schuldig zu
sein.«

»Ein nicht unerwarteter Fall,« antwortete Holger. »Damals als ich
die Beschimpfungen meiner Person in den Zeitungen las, begann ich
schließlich allmählich zu glauben, ich sei wirklich der Schuft, den man
schilderte. Nun, wie geht es Bruder Anders auf Langvik?«

»Weißt du das nicht? Er will nach Amerika, sobald die Pacht abgelaufen
ist.«

»Nach Amerika? Nach Neuschweden? Nun, dort werden wir uns wohl alle
einmal treffen.«

Die Bowle war aufgetragen, und der Doktor rief:

»Ja, liebe Freunde,« begann er, »in diesem Raum feierten wir Ende der
achtziger Jahre die französische Revolution. Bruder Alroth war freilich
damals nicht dabei, denn er ist nicht Revolutionär, und daß er heute
hier ist, hat seine intimen Gründe, die wir respektieren wollen.
Die Türen zum Musiksaal sind auch seinetwegen geschlossen, aber er
gestattet wohl, daß wir sie einen Augenblick aufmachen, da ich zu Ehren
des Tages die Marseillaise spielen lasse.«

Der Pastor nickte zustimmend, wenn auch nicht ohne eine gewisse Furcht.

»Was wir Holger heute abend sagen möchten,« fuhr der Doktor fort,
»weiß er im voraus; wir rühmen weder seine Tat, noch beklagen wir sein
Schicksal, denn der Krieger tut seine Pflicht, ohne Lohn oder Lob zu
verlangen.«

»Nur keine Politik!« flüsterte Holger mit einem Blick auf den Pastor,
mit dessen Gefühlen er trotz allem Mitleid hatte.

»Nein, keine Politik, nur etwas Musik, um uns aufzumuntern!«

Er gab dem Kellner einen Wink, die Türen im Hintergrunde, die zum Saal
führten, zu öffnen, und trat auf den Balkon, wo er mit der Serviette
nach dem Musikpodium winkte. Es entstand eine Pause. Und dann spielte
das Orchester: »Aus dem schwedischen Herzen.«

Scharren von Tischen und Stühlen war von unten zu hören, wo das
Publikum aufstand und in das Lied einstimmte.

»Auch eine Antwort, Kinder,« resignierte der Doktor.

Der Pastor verstand die Situation nicht, sondern glaubte, das ganze
sei ein Scherz gewesen, so daß er von dem Gegenhieb unberührt blieb,
der die andern verstimmte. Und er begann über alle möglichen Dinge zu
sprechen, über gleichgültige Kleinigkeiten, denen die andern zuhörten,
während sie ihre unausgesprochenen Gedanken dachten.

Das Souper ging schnell vorbei, und man brach bald auf, denn man
fühlte das vielköpfige Wesen unten im Saal als etwas Drohendes,
Erstickendes.

Doktor und Neffe gingen allein in ein Hotel, denn Holger wollte sein
Heim nicht mehr sehen, bis er aus dem Gefängnis kam.

»Heute Minorität, morgen Majorität!« sagte der Doktor. »Im übrigen
lehrt die Erfahrung, daß einer, der im Wald wandert und sich verirrt zu
haben glaubt, oft plötzlich am Ziel ist. Die französische Revolution
konnte nur nach der Regierung eines Ludwig XV. kommen. Je schlimmer,
desto besser! Übrigens ist dies hier nur eine Essenspause; man schnallt
den Riemen weiter, und der Appetit ist wieder da ... Das Segel schlägt
um, wenn man wendet, und du sollst sehen, daß wir bald über Stag sind.
Es kommt mir vor, als ginge man umher und nähme Abschied von allem
Alten, von dem man sich bald trennen muß; dann wird einem alles so
teuer, auch das, was man weniger geschätzt hat. Das neue Jahrhundert
kommt mit einem neuen Geschlecht und neuen Gedanken, und dann ist dies
alles von selbst verwelkt. Kriech jetzt hinein, Holger, und verpuppe
dich. Komm wieder heraus mit Flügeln, dann fliegen wir! -- Und jetzt!
Laß dich umarmen und gute Nacht!«

Sie trennten sich, ohne Schmerz, ohne große Worte, aber mit einem
Ernst, den sie früher nicht gekannt hatten.



Fünfzehntes Kapitel

Im Opernkeller


Ein paar Jahre waren wieder vergangen. Doktor Borg und Redakteur
Holger saßen eines Nachmittags im neuen Opernkeller. Holger Borg
war nicht mehr der Alte; die drei Monate im Gefängnis hatten einen
merkwürdigen Einfluß auf ihn ausgeübt. Etwas war geschehen, worüber er
nicht sprechen wollte; und sein Gesicht war erstarrt, so daß er nicht
lächeln konnte; innerlich war etwas erfroren, und ein Nerv schien
zerrissen zu sein. Aber er hielt an seinem Vorwärtsstreben fest; doch
war ein Unterschied in seiner Behandlung der Religiösen zu bemerken. Er
höhnte nicht mehr, lästerte auch nicht mehr, sein freudiger Glaube an
den Weltmechanismus ohne Mechaniker war verflogen, und er konnte das
Schicksal der Menschen nicht mehr mit der Zoologie erklären.

Im selben Jahre begann es in der Welt zu spuken. Zeichen und Wunder
geschahen, geheimnisvolle Todesfälle, Ferngesichte, Prophezeiungen. Und
Frontveränderungen traten ein; die Gläubigen wurden ungläubig, und die
Männer der Aufklärung wurden gläubig. Die Wissenschaften selbst machten
Fiasko; Kochs Millionenlymphe versagte; keine Erfindungen, keine
Fortschritte, nur Kleinarbeit; aber da hörte man aus Amerika, daß man
aus Silber und Kupfer Gold mache und unter dem Schutz der großen Namen
Edison und Tesla eine Gesellschaft gegründet habe. Damit war ja die
Chemie bankrott und die Alchimie kam auf.

In Paris sollten Hexenprozesse bevorstehen; man hörte von Bekehrungen
zum Katholizismus; die schönen Künste hatten den Naturalismus
aufgegeben und gingen wie die Literatur zum Mystizismus über. Es war
ein Wallen, eine Bewegung in der Welt, die Neues verkündete.

Die Freunde saßen gerade und diskutierten die Zukunftsaussichten, als
Holger zufällig seinen Blick auf die berühmten Deckengemälde richtete:

»Etwas Unsittliches kann ich nicht darin sehen; solche Bilder haben sie
in Mengen im Museum und im Stockholmer Schloß auch.«

»Ja, aber das Kostbare an der Sache ist, daß der große Faustübersetzer,
der im Jahre 84 Sittlichkeitsfreund und Antinaturalist war, jetzt zur
Verteidigung der Nacktheit aufgetreten ist, mit einer Energie, die man
an rechter Stelle vergebens von ihm erwartet hatte.«

»Er ist jetzt tot und wird morgen begraben. Das wird interessant
werden.«

Da kam die Abendzeitung. Holger mußte einen Blick hineinwerfen.

Der Doktor hörte ein Schnaufen und Knistern und merkte, daß Holger
schmal um die Nase wurde.

»Hast du etwas verloren?« fragte er.

Die Zeitung raschelte in der Hand des Lesenden, und er ließ sie auf den
Tisch fallen.

»Was ist passiert?«

»Lies!«

Der Doktor las, las und blähte sich, las und strahlte.

Er las, die Oberpriesterin der schwedischen Frauenemanzipation habe den
ganzen Kitt hingeworfen, da sie entdeckt habe, daß es Torheit sei. Und
sie forderte ihr Geschlecht und die Mütter auf, an der Entwicklung des
Weibes zur Frau, zur Mutter und Gattin zu arbeiten.

»Endlich!« rief der Doktor aus. »Pfannkuchen war es und blieb es, weil
es von einer falschen Voraussetzung ausging. Wenn man sich vorstellt,
wieviel Arbeit, wieviel Haß, wieviel Sch... aufgerührt ist. Sie wollten
Falk ja ermorden, weil er die Finessen der Verrücktheit nicht begreifen
konnte. Wenn ich gläubig wäre, würde ich den Göttern eine Hekatombe
opfern.«

Holger konnte nicht teilnehmen, denn ihm war, als habe er seine
Religion, den Glauben an die Frau, verloren! Und einen Irrtum
einzugestehen, hatte er nicht die Kraft. Er wurde böse, wie es üblich
ist, und nachdem er sich erholt hatte, sträubte er die Haare.

»Weil sie erlahmt ist ...«

»So? Sprechen wir von etwas anderm! Wie geht es Esther und Max?«

»Sie sind sicher gute Freunde, aber die Heirat ist aufgeschoben, weil
die Pfarrer sie nicht aufbieten wollten.«

»Und warum soll aufgeboten werden, daß zwei Menschen lieben wollen!
Das Geheimste, das zu verbergen einem ein natürliches Gefühl gebietet,
soll zur Schau gestellt werden! Ich finde das zynisch! Aber man hat
Angst vor Doppelehen! Das hat man, doch diese bekannten Bigamien und
Polygamien innerhalb der bekannten Ehe sind straflos und sind Sitte
geworden. Die Frau nimmt jetzt nur einen Mann, um einen Deckmantel und
einen gesetzlichen Schutz zu haben -- da mag der Teufel Lockvogel für
liederliche Weiber sein. Als ihr die Frau von der Weiblichkeit und der
Keuschheit losmachtet, wurde sie eine Kokotte. Ihr habt das Geschlecht
und die Ehe vernichtet; diese männlichen Frauen haben die Instinkte
des Mannes so verdorben, daß er pervers geworden ist. So endete
Griechenland! Mit Aspasien, Freundinnen und Sodomiten. Ich glaube,
wir sind dem Ende nahe! Ich habe, wie du weißt, mehrmals eine Gattin
gesucht, eine Hausfrau und Mutter, habe aber nur eine Kokotte gefunden.
Brunst und Haß, das habe ich gefunden. Für meine Liebe -- verzeih den
Ausdruck -- suchte ich Gegenliebe, fand aber nur Haß; Haß gegen den
Mann, Haß, der die sogenannte Liebe der Frau auszumachen scheint. Einen
Mann erniedrigen zu können, ist ihr Ideal. Du kennst das! -- Du gibst
ihr deine Manneskraft, und mit dieser Kraft, deiner Kraft, beherrscht
sie dich. Sie wirkt wie der Induktionsapparat; sie vervielfacht deine
Stromstärke und stellt den Strom um gegen dich. Aber das hast du nie
verstanden! Sieh dein Juwel an, wie sie zusammenfällt, so oft du den
Strom unterbrichst! Vor dir selbst beugst du dich, wenn du dich vor
ihr beugst! Sieh dir an, wie die ›großen Frauen‹, die du bewunderst,
entstehen. Zunächst suchen sie starke Männer auf, berühmte, suggestive;
wenn sie Kraft aus ihren Akkumulatoren geholt haben, beginnen sie
selber Batterie zu spielen und Ströme auszusenden, die aber nur
sekundär sind. Wenn alles fertig ist, dann kommen sie und nehmen; wenn
das Schlachtfeld mit Toten und Verwundeten besät ist, dann kommen die
Knochenleserinnen; und immer findet sich eine Schar von schwachen
Männern, die den Lumpensammlerinnen wie Königinnen huldigen; du kennst
diese Art Männer, die Männern Fußtritte versetzen ...«

»Ja, aber du bist Weiberhasser!«

»Wenn ich es mir recht überlege, muß ich vielleicht ja sagen. Ich
hasse alles Feindliche, und da ich sie hasse, ist sie der Feind.
Und ist sie der Feind, so haßt sie den Mann. Die Geschlechter
hassen einander, das ist wohl die Wahrheit, und dieser Haß ist
vielleicht die Repulsion zwischen Entgegengesetztem, die in der Liebe
zu Attraktion umpolarisiert wird. Du kannst also ebensogut alle
Frauen Männerhasserinnen nennen, wie du mich Weiberhasser nennst.
Intermittierende Ströme! Das ist die Liebe! -- Aber die Frau hat immer
eine gesunde Anziehungskraft auf mich ausgeübt, deshalb kann ich mit
gutem Gewissen einen speziellen Frauenhaß nicht zugeben, mit dem ich
allein dastände! Im Gegenteil, ich habe stets die Öde des Lebens
empfunden, wenn die Wärme des Mutterschoßes fern war; aber seit ihr
die Frauen zugrunde gerichtet habt, ist es nicht zu ertragen. Ihr sagt,
ich hätte sie nicht festhalten können; ich antworte, ich wollte kein
verfaultes Fleisch im Hause haben. Aber da kommt ja Kurt! Kennst du
denn seine Ehe? Die war lecker, kann ich dir sagen!«

Der Architekt kam herein mit einem bebrillten Manne von unbestimmtem
Aussehen. Der Bruder nickte und ging mit seinem Begleiter in eine Ecke
des Saales.

»Ja, wie ist es mit seiner Ehe?« fragte Holger. »Es war alles so
heimlich; ist es aus?«

»Aus? Ich hoffe es! Hör zu, wie es ihm ging. Er wurde in eine
kinderlose Familie hineingezogen, und zwar in dem Augenblick, als die
Ehegatten sich gegenseitig langweilig geworden waren. Er befreundete
sich mit beiden; sie drängten sich ihm auf und schleiften ihn mit, um
sich die Langeweile zu vertreiben. Die Folge war, daß er und sie sich
ineinander verliebten; der Mann kuppelte, ohne es zu wissen, und eines
schönen Tages unterrichteten sie, um loyal zu sein, den Mann von ihrer
Neigung, worauf die Frau nach Paris reiste, um geschieden zu werden.
Kurt wartete, und nach geraumer Zeit sollte sie nach Hause kommen.
Da er ungeduldig war, fuhr er ihr bis Södertelje entgegen. Der Zug
hielt; Kurt ging durch die Wagen, um die nichtsahnende Braut zu suchen.
Schließlich kam er an ein Rauchkupee. Da lag seine Geliebte, den Kopf
auf dem Schoß eines fremden Herrn, und rauchte eine Zigarette. Kurt
geriet nicht aus der Fassung; er lüftete den Hut, bat um Entschuldigung
und tat, als erkenne er sie nicht. Aber als er ins Nebenkupee ging,
kam die Dame ihm nach und fiel ihm um den Hals; sie weinte und schwur,
es sei nichts dabei; ein Freund, der ihr für die Reise seinen Schutz
angeboten habe. Da Kurt selbst ehrenhaft und treu war, glaubte er, sie
sei es auch. Deshalb hält die Frau den Mann für dumm! Jetzt weißt du
es! Also gut, der Freund wurde vorgestellt und war diskret genug, am
ersten Abend zu verschwinden. Am nächsten Abend aber soupierten sie mit
Verwandten zusammen, und der Freund war dabei. Da wurden vertrauliche
Worte und Blicke zwischen Freund und Braut gewechselt, so intime, daß
Kurt schließlich die Fassung verlor, eine Szene machte und seinen
Teller auf den Boden warf. Ganz plötzlich fand er sich in der Rolle
des lächerlichen Ehemanns, heiratete aber schnell, auf jeden Fall. Nun
saßen sie da und langweilten sich, ganz wie früher sie und ihr Gatte.
Wie köstlich! Sie konnte nämlich nur in Saus und Braus leben. Er mußte
mit ihr ausgehen. Dann lebte sie auf, wenn sie im Restaurant die Blicke
der Herren auf sich zog, und es war ihr ein Genuß, den Mann leiden zu
sehen. Ihr ganzes Dasein hing davon ab, daß der Mann gequält wurde.
Und er mußte den glücklich Verheirateten spielen, wie alle, die mit
geschiedenen Frauen verheiratet sind. Er sollte ja ein lebender Beweis
sein, daß der erste Mann ›sie nicht hatte glücklich machen können‹. Und
um den ersten zu zerschmettern, wollten sie jetzt Kinder haben. Kurt
hält sich nämlich für einen furchtbaren Matador in dieser Beziehung.
Aber siehe da, sie bekamen kein Kind. Also: er auch nicht! Jetzt
begann die Hölle für ihn in ihren ständigen Vorwürfen. ›Es gibt keine
Männer mehr,‹ sagte sie. Daß es ihre Schuld sei, kam nicht in Frage.

Was tat Kurt? Ja, was sollte er machen? Er schaffte sich ein Verhältnis
an und ein Kind. Er mußte doch seine männliche Ehre retten. Die Frau
verließ ihn. Aber Kurt hatte doch die ganze Schande. ›Er hat die
Frau eines andern verführt, und dann hat er sie sitzen lassen.‹ Aber
er hatte sie nicht verführt. Das war egal! ›Er hatte die Frau eines
andern verführt!‹ Daß die Frau ihn sitzen ließ, darum kümmerte sich
niemand. Gut, jetzt ist er frei, aber kannst du glauben: seine Gedanken
beschäftigen sich noch heutigentags mit dem Freund im Kupee. Er hat
wohl sämtliche Bekannte gefragt, ob sie glaubten, daß es etwas gewesen
sei. -- Ja es ist heutzutage verwickelt!«

Jetzt betraten den Saal ein großer fetter Herr, eine Dame und drei
Kinder.

Die Dame sah sehr gut genährt aus und hatte einen zu kleinen Kopf auf
den Schultern.

Der Doktor blickte einen Augenblick auf die Gesellschaft, zuckte
zusammen, wendete sich zum Fenster und hielt die Hand vor die Augen,
mit einem Ausdruck zwischen Lachen und Weinen. Als die Gesellschaft ein
Stück entfernt war, sagte er mit komischer Salbung:

»Da geht meine erste Frau mit ihrem zweiten Mann (oder dritten, wer
weiß). Diese Närrin, die als Neuvermählte sagte, sie lebe wie eine
Nonne, und als das Kind kam, tat sie, als begreife sie nicht, wo es
her kam. Dieser Kaltwasserfisch zwang mich durch sein idiotisches
Geschwätz, mich scheiden zu lassen und mich wieder zu verheiraten. Sieh
dir ihren Mund an, Holger, und hüte dich vor Kindermündern. -- Und das
war meine erste Liebe! -- Ich glaube bisweilen, es war nicht Dummheit,
sondern Bosheit. Sie war eifersüchtig auf mich, weil ich sie gekriegt
hatte. Die Ehre war zu groß, deshalb mußte ich ihrer beraubt werden!
Sie war das größte Vieh, das ich gekannt habe, und deshalb machten alle
meine Gegner sie zu dem höchsten Wesen; sie sagten, ich hätte alles von
ihr bekommen, sogar mein medizinisches Wissen. Alles, was der kleine
Mund sprach, war so boshaft, daß ich ihr einmal einen Nagel durch die
Zunge schlagen wollte. Ich hoffe, ihr Dickus dahinten wird es ihr
besorgt haben. -- Ja, Holger, so ist das Leben, und ich habe es nicht
gemacht.«



Sechzehntes Kapitel

Bei den Toten


Esther Borg ging an der Kirche vorbei und sah, daß sie offen war. Es
war schön drinnen, und der Altar war mit Grün bekleidet. Draußen waren
Tannenzweige gestreut und also ein Begräbnis zu erwarten. Es kamen
Leute, und unter ihnen sah sie Graf Max, mit dem sie seit sechs Monaten
nicht zusammengewesen war. Sie sah ihn, aber es war nicht er selbst,
sondern einer, der ihm ähnelte. Dies nannte sie »sehen«, und nun wußte
sie, daß er bald kommen werde.

Sie ging hinein, um zu warten.

Sie und der Graf waren damals auseinandergegangen, entschlossen, sich
zu trennen; aber sie hatten so unter dem Bruch gelitten, daß sie
wiederanknüpften. Dann hatten sie am Zusammensein gelitten und hatten
wieder gebrochen, und dabei waren sie dies Jahr geblieben.

Esther ging auf die rechte Empore hinauf, warum wußte sie nicht, aber
sie fühlte, daß dies der Platz sei, wo er sich wohl fühlen werde. Es
sah so aus; er war nahe der Decke, hoch über der Menge, und man fühlte
sich geborgen.

Nach einer Weile kam der Graf wirklich und ging ruhig auf Esther zu,
als habe er sie zu einem Stelldichein bestellt.

»Hast du lange gewartet?« fragte er mit seiner gedämpften Stimme.

»Sechs Monate, wie du weißt,« antwortete Esther, »aber hast du mich
heute gesehen?«

»Ja, vorhin in einer Straßenbahn; und ich sah dir in die Augen, so daß
ich mit dir zu sprechen meinte.«

»Es ist seit damals viel geschehen.«

»Ja, und ich dachte, es sei aus zwischen uns.«

»Wieso?«

»Alle Kleinigkeiten, die ich von dir bekommen habe, sind zerbrochen und
auf eine okkulte Art. Aber das ist eine alte Beobachtung.«

»Was du sagst! Jetzt besinne ich mich auf eine ganze Menge solcher
Ereignisse, aber ich habe das für Zufälle gehalten. Ich bekam einmal
einen Kneifer von meiner Großmutter, als wir gute Freunde waren. Er
war aus geschliffenem Bergkristall und ausgezeichnet bei Obduktionen,
ein wahres Wunderwerk, das ich sorglich hütete. Eines Tages entzweite
ich mich mit der Alten, und sie wurde böse auf mich. Bei der nächsten
Obduktion fiel das Glas ohne jede Ursache heraus. Ich dachte, es sei
ganz einfach zerbrochen, und schickte es zum Reparieren. Nein, es
verweigerte beharrlich den Dienst, wurde in eine Schublade gelegt und
ist weggekommen.«

»Ach nein! Wie seltsam, daß alles, was die Augen betrifft, am
empfindlichsten ist. Ich bekam von einem Freunde ein Opernglas; es
paßte so gut für meine Augen, daß die Benutzung ein Genuß war; der
Freund und ich entzweiten uns. Du weißt, so etwas kommt vor, ohne
ersichtliche Ursache; es ist, als dürfe man nicht harmonisch sein. Nun,
als ich das nächste Mal das Glas benutzen wollte, konnte ich nicht klar
sehen. Der Schenkel war zu kurz, und ich sah zwei Bilder. Ich brauche
dir nicht zu sagen, daß weder der Schenkel kürzer noch der Augenabstand
größer geworden war! Es war ein Wunder, das alle Tage vorkommt und das
schlechte Beobachter nicht bemerken. Die Erklärung? Die psychische
Kraft des Hasses ist wohl größer, als wir glauben. Übrigens, der Ring,
den ich von dir bekommen habe, hat den Stein verloren und läßt sich
nicht reparieren, läßt sich nicht. Ebenso ist es mit dem Petschaft.
Willst du dich jetzt von mir trennen?«

»Ja, du weißt, wir wollen beide, aber wir können nicht. Ich lebe den
ganzen Tag so intim mit dir, daß ich deine Gegenwart kaum vermisse, und
ich finde es so besser, denn wenn wir zusammenkommen, ist Unfrieden. Es
ist, als wenn unsere Körper sich nicht ertragen können.«

»Ja, so scheint es. Doch deine Aura folgt mir, und ich spüre aus
der Ferne deine Gemütsstimmung mir gegenüber wie drei verschiedene
Düfte, von denen zwei mir äußerst angenehm sind. Der erste ist wie
Weihrauch, und er kann so dicht werden, daß er wie Hexerei und Wahnsinn
wirkt, der letzte ist wie frisches Obst. Der zweite in der Reihe ist
schwül wie Seifenparfüm und wirkt sinnlich unfreundlich. Aber in
deiner Nähe spüre ich diese Düfte oder andere nie; also sind es keine
Geruchswahrnehmungen im materiellen Sinne, sondern etwas wie eine
Version. Und ich fühle mich nie uneins mit dir in deiner Abwesenheit;
trennen wir uns nach einem Sturm, wo mein Haß so grenzenlos ist, daß
mir die Worte fehlen, so legt sich, sobald du nur fort bist, der Haß,
und eine stille, liebliche Ruhe tritt ein, in der ich mit dir so intim
lebe, wie ich will. Alles, was ich spreche, denke oder schreibe, widme
ich dir; Und wenn du mir zustimmst, habe ich deinen Geschmack im Munde,
und dein Weihrauch wird Balsam. Um von dir loszukommen, suche ich
bisweilen Gesellschaft, aber ich fürchte mich vor den Menschen, sie
verletzen mich mit ihrer Gegenwart, sie verwirren unsere Fäden, und
ich meine dir untreu zu sein -- ja, liebe Freundin, das Universum hat
Rätsel; aber die Menschen gehen umher -- nicht wie Blinde, denn sie
sehen wohl -- verstehen aber nicht. -- Wer du bist, wer ich bin, das
wissen wir nicht. Aber als wir uns vereinigten, glaubte ich eine Leiche
zu umarmen, die nicht deine war, sondern die einer andern ... ich will
nicht sagen, wessen.«

»Und mir war es, als seist du mein Vater, so daß ich Scham und
Abscheu empfand! Was ist dies Furchtbare, Geheimnisvolle, in das wir
hineingeraten sind?«

»Jetzt erst wird vielleicht die Menschheit die unlösbaren Rätsel
erfahren! Sie zum mindesten ahnen. Du hast wohl oft gemerkt, wenn ich
zu dir kam, daß ich finster wurde und verstummte. Du nanntest das
schlechte Laune. Nein, liebe Freundin, ich kam in strahlender Stimmung
und bereit, dich stundenlang zu unterhalten. Aber du sahst mich mit
einem fremden Blick an, dein Zimmer war giftig, so daß ich am Ersticken
war; ich mußte hinaus, das war alles, was ich wußte. -- Und wenn du
dann böse auf mich warst, konnte ich nicht antworten und mich nicht
verteidigen. Ich glaube übrigens nicht, daß es zwei Menschen gibt,
die sich verstehen. Der eine mißt dem Wort einen andern Wert bei als
der andere, und außerdem, wenn man sich selbst nicht versteht, wie
soll ein anderer einen verstehen können? Ich verstehe dich am besten
im Schweigen und in der Ferne; dann bist du mir am nächsten, ohne
Mißverständnis.«

»Ich brauche dir von meinem Leben seit damals nichts zu erzählen; denn
du kennst es ...«

»Ja, ich kenne es; du sehnst dich heraus aus dieser Unfreiheit,
denn das ist es, für dich wie für mich; jedes Liebesverhältnis ist
Unfreiheit und deshalb qualvoll ...«

Jetzt legten sich zwei schwere Hände freundlich auf ihre Schultern, und
Doktor Borg ließ sich hinter ihnen nieder.

»Guten Tag, Kinder, seid ihr auch hergekommen, um euch den Aufzug
anzusehen? Der Antichrist soll von Christi Nachfolger bestattet werden.
Schweden soll einen großen Dichter bekommen, der nie Dichter war,
weil er nie gelebt hat; er beklagte selbst, daß er nichts erlebt und
daher nichts zu erzählen habe. -- Er hat den ersten Teil übersetzt,
zu dem zweiten langte es nicht! Das war ein Schwede! Alles, was er
angespien hatte, las er schließlich auf und hängte es an die Brust,
alle Ideale seiner Jugend tauschte er gegen Titel und Würden ein, und
diese charakterlose, knochenlose Gestalt wird schon jetzt als der
charakterfeste Mann mit Rückgrat gepriesen! Wir leben ja in der Epoche
des Humbugs!«

»Sprich nicht schlecht von den Toten,« flüsterte Graf Max; »sie können
sich rächen!«

Jetzt kam die Prozession herein, und Max wendete sich zu Esther, mit
gedämpfter Stimme, um vom Doktor nicht gehört zu werden.

»Siehst du, da gehen die Toten! Die jetzt Lebenden atmen ihre
Gegenwart, nähren sich von dem Heutigen; die da unten leben um 1850,
wie der Tote; sie haben Asche und Knochen gefressen, deshalb sehen sie
wie Asche aus; alles, was schon konsumiert und assimiliert war, die
Reste, das ~Caput mortuum~, ist ihre Nahrung; sie gehören dem Reich
der Schatten an, und ohne Glauben an die lebendige, wachsende Allmacht
machen sie sich ein tönernes Götzenbild und legen es in einen Sarg mit
silbernen Füßen; aber der Tote gehörte nicht ihnen; einerlei, denn
ihnen ist alles einerlei; er entstammte ihrer furchtsamen, blutlosen
Nachhallzeit, und sie kennen die Ihren; sie haben seinerzeit gegen ihn
gekämpft, sie haben ihn besiegt, und nun tragen sie seine Leiche im
Triumph daher; der Kampf um die Leiche des Patroklus, des Patroklus,
der Jahrhunderte lang tatenlos dalag, schließlich aufwachte, von Apollo
selbst mit Blindheit geschlagen und von Hektor getötet wurde.«

Hier unterbrach Doktor Borg ihn: »Hört jetzt zu! Jetzt spricht ihr
Riesengenie, der Mann, der nie etwas getan hat, dafür aber mit
siebenunddreißig Jahren Staatsrat wurde, nie etwas vollendete, außer
ein paar unvollendeten Broschüren. Die Broschüre, der Essay, das
war die Form der Zeit. Er fürchtet die Kritik der Nachwelt an dem
Werk des Toten, deshalb versichert er ihn gegen diesen Unglücksfall.
Hört! Er, der Tote, hatte so mächtige Gedanken, daß erst in kommenden
Jahrhunderten Generationen geboren werden, die imstande sind, sie zu
begreifen! Ist das ein Hund! -- Jetzt kommt Christi Nachfolger, der
sich nicht entblödet, sich auf den Thron des Antichrist zu setzen.
Versöhnlichkeit ist schön; wird sie aber mit weltlicher Ehre und
irdischer Auszeichnung erkauft, dann ist sie Unsinn! -- Hört, wie er
die Glaubenslehre anpaßt, an den Statuten rüttelt ... und jetzt! Jetzt
wird das Schwarze weiß! Charakter! Charakterfest! Charakterstärke! und
jetzt: Freimütig, freisinnig, warum nicht Freidenker? Nein, ich danke!«

Graf Max wendete sich zu Esther:

»Er war einer von denen, die Holger wegen der Majestätsbeleidigung
verurteilten. Dies ist ein seltsames Schauspiel! Diese Aschemenschen
gleichen den Lemuren und Larven, die Fausts Leiche stehlen wollen!
Erinnerst du dich? Und es ist, als stände Mephistopheles hinter dem
Altar und blende ihnen den Blick! Sie sehen alle Eigenschaften, die dem
Toten fehlten. Ganz wie im Auerbachkeller:

    Falsch Gebild und Wort
    Verändern Sinn und Ort.«

»Sprichst du von den Sinnbildern des Opernkellers?« unterbrach der
Doktor, der nicht recht gehört hatte.

»Sie sehen Weinberge und Trauben,« flüsterte Max Esther zu.

    »Betrug war alles, Lug und Schein!

Aber ich finde den Oberpriester am schlimmsten; er ist unheimlich in
seiner Verblendung; er scheint in einem kräftigen Irrwahn befangen zu
sein, da er glaubt, daß Lüge Wahrheit ist. Erinnerst du dich, daß er
Axel auf dem Totenbett der Lüge beschuldigte, als dieser die Wahrheit
sagte?«

»Ja, jetzt hat Schweden einen Heiligen mehr!« schloß Doktor Borg.
»Schwede in Seele und Herz nach ihrem Bilde; ein Dilettant, der nichts
vollendete; ein Dürrdenker, der Leere philosophierte; ein Sänger
ohne Stimme; ein vom ersten Baß künstlich in die Höhe getriebener
Tenor, begann in der Opposition, endete in der Schwedischen Akademie;
erst spanische Fliege, nachher weißes Pflaster. Da im Sarg liegt ja
Barrabas und lächelt, der Pastor glaubt aber, es sei der Gekreuzigte!
-- Hört, wie er die Glaubensartikel dreht und wendet, hört, wie es
im sechzehnten Stuhl knarrt; hohle Worte wie Zuckerwasser im Schein
der Stearinkerze. Sie weinen, ganz wie Voltaires Kartenspieler, die
Homers Tod beweinen! Wißt ihr, daß so ein Überlebter neulich den Toten
als zweiten Homer bezeichnet hat, obwohl er weder eine Ilias, noch
eine Odyssee geschrieben hat? Sein Leben war freilich eine Odyssee
insofern, als er so lange fort war; und als er heim kam, waren die
Freier in sein Haus eingezogen. Lassen wir seine Asche in Frieden
ruhen und beglückwünschen wir uns, daß eine Epoche mit ihm ihre
drei Schaufeln Erde bekommt; eine Epoche, die der großen Revolution
feindlich war, die die negative und wenig ehrenvolle Aufgabe hatte, zu
hemmen.«

Der Doktor ging, als die Orgel zu spielen begann, denn er konnte dies
Instrument nicht vertragen.

Esther und Max blieben sitzen.

»Ja,« sagte Max, »unser guter Doktor hat die Anschauungen der achtziger
Jahre; aber er vergißt, daß wir in den neunzigern sind. Er versteht die
neue Zeit nicht, die hereinbricht; er versteht uns Junge nicht; denn
hätte er unser Gespräch vorhin gehört, so bezeichnete er es als -- ja
wie heißt die schöne Umschreibung?«

»Neurasthenie!«

»Ja, so hätte er es genannt! In den achtziger Jahren hatte man
Magenkatarrh, der keiner war; jetzt hat man Neurasthenie. Jede Zeit
hat ihre Krankheiten, die auf Veränderungen in der Seele zu beruhen
scheinen, ganz wie die unerklärlichen Krankheiten der Kinder in den
Wachstumsjahren. ›Erwächst‹, sagt man. Ja, wir sind gewachsen, und
deshalb sind wir krank. Was ist Blinddarmentzündung? Das ist doch wohl
eine Krankheit eines tierischen Organs, das überflüssig geworden ist
und deshalb weggeschnitten wird. Ich wünschte, alles Tierische könnte
weggeschnitten werden, und deshalb, siehst du, will ich nicht leugnen,
daß meine Sympathien oft dem Toten gehörten, der bei geringer Kraft
guten Willen und hohes Streben besaß. Unser Doktor dagegen -- ja, er
war ein Kind seiner Zeit, aber diese Zeit ist vorbei, mir ist er fremd,
für mich gehört er schon zu den Toten. Die Ideale seiner Jugend sind
zum Teil keine Ideale mehr, weil sie verwirklicht sind, und Ideale
müssen vor uns liegen. Das Gefährliche an dem Doktor ist aber, daß er
schon ein Hinderer geworden ist. Er fürchtet die Jugend und will von
dem Neuen nichts hören. Er hat seine Grenzlinie gezogen: bis hierher,
aber nicht weiter. Statt den Versuch zu machen, das unerklärliche
Alltägliche zu erklären, verwirft er es. Er, der an Gesetzmäßigkeit
und Ordnung glaubt, glaubt trotzdem an Zufälle; es ist aber eine
Denkschwäche, im gleichen Atemzuge seine These zu verleugnen. Er,
der an Entwickelung und Wachstum glaubt, will unserm Seelenleben die
Möglichkeit, sich zu höheren Fähigkeiten zu entwickeln, abstreiten. Er
glaubt an die drahtlose Telegraphie, leugnet aber die Fähigkeit der
Seele, sich aus der Ferne mitzuteilen. Unser guter Doktor ist etwas
primitiv! Holger dagegen kann wachsen; er scheint im Gefängnis einige
Entdeckungen gemacht zu haben, schämt sich aber, darüber zu sprechen
und hat Furcht, als Mystiker belächelt zu werden; er weiß auch, daß
seine Zeitung an demselben Tage tot sein würde, an dem er diese Saite
berührte ...

›Du weißt selbst, ich kann das, was ich schreibe, nicht drucken lassen,
denn man nennt es Verrücktheit; und ich muß warten, vielleicht dabei
untergehen ...‹«

Jetzt verließ die Prozession die Kirche.

»Es ist ein seltsamer Anblick,« sagte Esther, »wie so verschiedene
Parteien sich in der Verehrung des Toten zusammenfinden.«

»Ja, liebe Freundin, das kann bedeuten, daß in aller Herzen eine
Erinnerung an ein Jenseits lebt und daß das Erhöhte zu sich
hinaufzieht. Ich kann die Widersprüche in seinem Leben lösen und aus
den schroffen Widersprüchen die Synthese gewinnen, aber dazu gehört
Erziehung und Selbstüberwindung.

    Gerettet ist das edle Glied
    Der Geisterwelt vom Bösen;
    Wer immer strebend sich bemüht,
    Den können wir erlösen.
    Und hat an ihm die Liebe gar
    Von oben teilgenommen,
    Begegnet ihm die selige Schar
    Mit herzlichem Willkommen.

Aber ich verstehe auch die Rolle, die berechtigte Rolle des
Mephistopheles. ›Der Herr‹ legt sie so aus:

    Ich habe deines Gleichen nie gehaßt.
    Von allen Geistern, die verneinen,
    Ist mir der Schall am wenigsten zur Last.

Höre jetzt genau zu!

    Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,
    Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
    Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
    Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen!

Das ist die Aufgabe des Verneiners, die Berechtigung des Bösen in der
Ökonomie des Lebens. Da hast du die Gleichung unseres Doktors; der
Widersacher, der Fehlersucher, der seine Aufgabe wie ein Mann versieht,
und der sehr nützlich ist in diesen Zeiten, da die Versöhnten einander
in Schmeicheleien und gegenseitigem Lob überbieten. -- Jetzt müssen wir
gehen; die Kirche soll geschlossen werden!«

Sie gingen, und wie in schweigendem Einverständnis lenkten sie die
Schritte nach den Inseln. Das waren ihre besten Stunden, wenn sie
zusammen wanderten. Wenn sie sich im gleichen Takt vorwärtsbewegten,
waren sie ja gezwungen, gleichen Schritt zu halten und sich einander
anzupassen; dadurch entstand eine Harmonie, die sich auf gegenseitiges
Nachgeben gründete; die Blicke der Menschen bewahrten sie vor
zudringlicher Annäherung, und dadurch, daß fortwährend neue Gegenstände
defilierten, wechselten die Stimmungen und damit die Unterhaltung.

Als sie sich müde gelaufen hatten, wollte Esther auf der neuen
Opernterrasse sitzen. Nach einigem Zögern ging Max mit. Und nun saßen
sie sich an einem Tisch gegenüber; es wurde intimer, und sie blickten
sich in die Augen.

»Wie sollen wir aus dieser Sache herauskommen, Esther?« fragte Max.

»Ich weiß es nicht! Ich wünsche es, und wünsche es nicht.«

Ein plötzliches Verlangen, von etwas anderm zu sprechen, überfiel
beide; sie sehnten sich wahrscheinlich nach einem Aufschub der
schmerzhaften Operation. Esther sah sich um unter den vielen Menschen,
um einen zu finden, der Stoff liefern, eine Vorstellung von etwas
Entlegenem wecken konnte. Da saß ein Hauptmann in Artillerieuniform,
und sofort hatte sie einen Anhalt, um sie beide der Verstimmung zu
entreißen:

»Erinnerst du dich,« begann sie, »im vorigen Jahr des französischen
Artilleriehauptmanns, der als überführter Spion deportiert wurde?«

»Ja,« antwortete Max zerstreut.

»Es beginnt jetzt das Gerücht zu gehen, daß er unschuldig war; was
glaubst du von der Sache?«

Max liebte solche Sprünge in der Unterhaltung nicht; es erschien ihm
wie ein Versuch, ihn zu betrügen, seine Gedanken in Bahnen zu locken,
in die er nicht wollte. Er antwortete aber, um nicht unhöflich zu sein.

»Ich war damals gerade in Paris und hatte den Eindruck, daß er schuldig
sei, was ich sehr natürlich fand, da er als deutschsprechender Elsässer
geboren ist und seine Heimat 1871 annektiert wurde.«

»Warum glaubst du denn, er sei schuldig gewesen?«

Der Graf suchte im Gedächtnis nach einer ihm gleichgültigen Sache und
entgegnete:

»Der Hauptmann blieb Franzose, seine Verwandten in Mülhausen aber
wurden Deutsche; und wenn Dreyfus, so hieß er ja wohl, sie jeden
Sommer besuchte, so war es ja klar, daß er manches ausplauderte. Ich
hörte auch, er habe in Fontainebleau oder irgendwo anders den Besuch
eines deutschen Bruders bekommen und ihm eine Reihe neuer Erfindungen
gezeigt, sofern daran überhaupt etwas zu zeigen war.«

»Nun, woraufhin wurde er denn aber verurteilt?«

»Auf Grund von Indizien; übereinstimmende Zeugenaussagen und
belastende Umstände; die moderne Beweisführung nimmt auf diese Dinge
mehr Rücksicht als auf materielle; und Zeugenaussagen sind ja immer
falsch infolge der Unvollkommenheit des menschlichen Gedächtnisses,
infolge der Abhängigkeit des vulgären Urteils von Interessen und
Leidenschaften.«

»Ja, aber ich glaube mich zu erinnern, daß er auf Grund eines
zweifelhaften Dokuments verurteilt wurde.«

»Du meinst den sogenannten Bordereau. Den habe ich autographiert
gesehen neben einem Brief von Dreyfus, dazu das Schreiben, das der
Oberst -- wie hieß er doch noch -- Dreyfus nach Diktat schreiben
ließ. Aus diesen Schriftproben kann man nichts beweisen, denn Dreyfus
hatte zwei Handschriften, eine deutsche, aus der Kindheit, und eine
französische, die er in Frankreich gelernt hatte. Der Bordereau weist
französische Handschrift auf, das sieht man besonders an den Ziffern,
an der 4, die so, $4$, geschrieben ist, wie nur ein Franzose sie
schreibt; ebenso an der 5.«

Er zeichnete mit seinem Bleistift auf der Marmorplatte.

»Aber in der Probeschrift nach dem Diktat des Obersten hat Dreyfus
deutsche Ziffern und deutsche Datumsbezeichnung angewendet. Zum
Beispiel beginnt die Schrift: Paris, 15. Octobre 1894.«

Esther machte große Augen:

»Du scheinst diesen Prozeß gründlich studiert zu haben.«

»Ja, genauer, als ich dir gegenüber zugeben darf; und ... Also hier
sind die Ziffern deutsch; doch er hat das Datum geändert, die 15 aus
einer 13 gemacht. Warum hat er zuerst 13 geschrieben, da er doch beim
Diktat leicht den Unterschied zwischen fünfzehn und dreizehn hören
konnte? Ja, weil am dreizehnten etwas geschehen ist, was du nicht
weißt! Die Schrift des Bordereaus ist also als Beweis wertlos, da der
Mann zwei Handschriften hatte, von denen die Kindheitsschrift bei
gewissen Gelegenheiten hervortrat.«

»Glaubst du denn nicht, daß er den Bordereau geschrieben hat?«

»Das weiß ich nicht! Aber da er nicht auf Grund dieses Schriftstücks
verurteilt ist, sondern auf Grund einer Menge Indizien, ist es
gleichgültig. Sonderbar ist, daß man eine Abschrift des Bordereaus in
Dreyfus' Weste gefunden hat, als er nach der ~Ile de Rez~ gebracht
werden sollte. Wo hatte er die her, da er im Gefängnis keinen Zugang
zum Original hatte; und was wollte er mit ihr, da sie ihn zu Fall
brachte? Weiß man, ob die Kopie das Original war oder nicht?«

»Woher weißt du das?«

»Das steht doch in den Prozeßberichten, und er hat die Existenz der
Kopie in der Weste nie abgeleugnet, da sie einmal gefunden worden war.
Warum interessierst du dich so sehr für diesen Prozeß?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Jetzt sitzt er jedenfalls auf der Insel, die von manchen ~du Diable~,
von andern ~du Salut~ genannt wird. Es ist kurios. Und man spricht von
vorbeifahrenden Jachten, die ihn befreien wollen.«

»War er Jude?«

»Ja gewiß; aber das sprach nicht gegen ihn in dem aufgeklärten
Frankreich, wo das Heer schon sechsunddreißig jüdische Offiziere hatte
und wo Dreyfus, trotz seiner deutschen Herkunft, in den Generalstab
aufgenommen wurde, eben weil er Jude war. Man wollte nämlich aufgeklärt
und vorurteilsfrei erscheinen. -- Daß aus diesem Ei etwas herauskommt,
glaube ich zu wissen. Es ist wohl ein Basiliskenei!«

»Glaubst du denn, daß er schuldig ist?«

Max betrachtete Esther, und er fühlte in ihrer Frage einen Stachel des
Hasses, eine Herausforderung, eine Schlinge. Er antwortete deshalb kalt:

»Ich glaube, daß er geklatscht hat, und das finde ich verzeihlich; ob
er den Bordereau geschrieben hat, weiß ich nicht; ich halte es für
unwahrscheinlich, daß man ein Verzeichnis seiner Verbrechen mit sich
herumträgt. Wahrscheinlich ist er schuldig, aber nicht der Dinge,
derentwegen er angeklagt ist. Und das ist seine Stärke. Deshalb konnte
er auf dem Marsfelde bei der Degradierung freimütig ausrufen: ›Ich bin
unschuldig!‹ (Im Sinne eurer dummen Anklage!)«

Es entstand eine Verstimmung, und Esther begann zu frösteln. Graf Max
wurde nervös und fand die Gesellschaft am Nebentisch zu lärmend; ein
unerzogener Hund ging umher und fegte die Tische mit seinem Schwanz ab;
der Kellner puffte jedesmal, wenn er vorbeiging, Esther in den Rücken.

»Ich glaube, die Séance ist zu Ende,« sagte Max. »Hier ist Unlust, und
das ist immer so, wenn gewisse Gespräche über niedrige Dinge zu wirken
beginnen. Es ist etwas Böses in der Luft; die Toten hier in der Nähe
berühren mich unangenehm, und ich sehne mich fort, hinaus; ich wünschte
nur, ich könnte aus dem Körper herauskriechen und mit den Möwen ans
Meer fliegen, mich in einer großen, grünen Woge baden, auf dem Rücken
liegen und nur den Himmel sehen, ein Riesenwalfisch sein und mich
draußen im Ozean abspülen, mit Fregatten um die Wette schwimmen und in
Tangwälder hinuntertauchen.«

Jetzt begann es vom Kirchturm zu läuten.

»Und dann diese Glocken! Diese Kirche ist mir immer vorgekommen wie
eine Nebenkapelle zum Opernkeller, das Portal ist in der Oststraße,
der Turm über dem Salon auf den ~Champs de Mars~. Wenn sie da oben
läuten, dann klappern alle Groglöffel auf der Terrasse, und die
Punschgläser klirren gegen die Tablette, die Lorbeerbäume rascheln und
riechen, wie Quecksilber schmeckt; diese Terrasse erinnert übrigens an
einen französischen Kirchhof, mit seinen bepflanzten Gräbern und den
gestutzten Bäumen. Hu, wie mich friert; wollen wir gehen?«

Esther wußte, daß es bedeutete, sie wollten voneinander gehen; denn
jetzt begann die Repulsion, der Haß, ohne bestimmte Ursache, und
wenn sie darauf bestand, bei ihm zu bleiben, so würde das mordende
Schweigen eintreten, oder das unvernünftige Gezänk ausbrechen.

Sie gingen ohne Abschied auseinander, nach stillschweigendem
gegenseitigem Übereinkommen, aber in der Überzeugung, sich früher oder
später wiederzutreffen.



Siebzehntes Kapitel

Das Versöhnungsfest


Esther und Max gingen den Strandweg entlang, um die Ausstellung zu
besuchen, die sie noch nicht gesehen hatten. Da sie beide in Stockholm
geboren waren, hatten sie die Umrisse ihres alten Tiergartens so sicher
im Auge, daß sie sie im Dunkeln hätten zeichnen können. Jetzt, da sie
in ihr Gespräch versunken, mit in sich gekehrten Blicken dahingingen,
blieben sie plötzlich stehen und blickten auf. Vor ihnen lag eine
weiße, schimmernde Stadt, wie zum Fest gekleidet.

Max blieb stehen und blickte vorwärts, aufwärts, wie in einer Ekstase:

»Das Licht ist wiedergekommen!«

Und sie gingen weiter, während er sprach:

»Die Furcht vor dem Weißen ist verschwunden. Die Augen konnten keine
weißen Häuser ertragen, deshalb verbot die Hygiene Kalkputz, und
die Fassaden unserer Jugend waren mit Ruß und Rost gestrichen; die
Behörden schrieben Kienruß oder Eisenocker in der Tünche vor. Und das
Grün, das Grün der Hoffnung, das die Ästhetik in den Bann getan hatte,
darum und darum ... das Grün hat seine Wiederkehr gefeiert; das Weiße
grünt und das Grün vergoldet sich. Selbst die Nationalflagge ist von
dem stumpfen Indigo zu dem milden Kobalt übergegangen, vom schweren
Eigelb zum blassen Gold. -- Wir sind im Dunkel gewandert, aber es war
nur eine Sonnenfinsternis, die ihre Zeit dauern mußte. Ich erinnere
mich meiner Kindheit, als die kleinen Schwestern weiße Strümpfe trugen
wie ihre Mütter, und wie dann ihre Beine schwarz wurden; ich fand,
sie sahen aus wie Dämonen, die aus Schornsteinen herunter kommen; das
Weiße wurde schwarz, und es gab gewisse Frauen, die mit Trauerkleidern
kokettierten, obwohl sie keine Trauer hatten. Jetzt tagt es wieder;
die Strümpfe haben wieder Farbe bekommen, und der Stiefel hat seine
Schwärze verloren, die Frau hat ihr langes Haar wieder, hat Hals und
Brust befreit -- jetzt bekommen wir wieder Mütter, -- mit Kindern als
Halsband.«

Sie hatten den Brückenkopf erreicht und wanderten in die weiße Stadt
hinein. Sie sahen die Menschen nicht; sie waren von ihrer eigenen
schützenden Aura umgeben, die sie gewissermaßen unsichtbar machte. Die
Gebäude und Gegenstände betrachteten sie nicht, sondern behandelten
sie als Dekorationen zu ihren Gedankenbildern. Sie tändelten an
Maschinen, Mineralien, Waffen, Möbeln und Handelsgegenständen vorbei.
Sie stürzten sich in Alt-Stockholm hinein, ließen sich's eine Weile
in der vergessenen Vergangenheit wohl sein, spürten aber bald eine
Beklommenheit und rissen sich wieder zur Gegenwart empor! Jetzt leben,
nicht damals! Nicht einen Tag früher, lieber später, sich selbst und
seiner Zeit voraus.

Schließlich setzten sie sich in die blaue Grotte. Max sprach
unaufhörlich.

»Jetzt denke ich blau, jetzt sehe ich blau; ich weiß, wo ich bin, aber
ich habe es vergessen, und ich bin nicht hier. Ich weiß, wie du heißt,
aber ich will deinen Namen nicht nennen, denn du bist nicht die, die
du bist. Weißt du, was die Gevatterschaft war? Das war eine geistige
Verwandtschaft, die zwischen den Paten des gleichen Kindes vorhanden
sein sollte. Ich glaube an so etwas, an die selbständige Existenz der
Seelen außerhalb der Körper; und an geistige Blutschande. Wir müssen
auf irgendeine unbekannte Art Geschwister sein, deshalb bekommen wir
kein Kind; deshalb tragen wir an einer Schuld und an einem Schamgefühl,
das wir nicht erklären können. Du bist nicht die, die du bist, denn
wenn du abwesend bist und ich dich mir vorzustellen versuche, wirst du
eine andere.«

»Wer bin ich dann?«

»Bisweilen meine Mutter, bisweilen meine Schwester, bisweilen ... Weißt
du, ich glaube, die Seelen leben so unabhängig von den Körpern, daß
sie in fremde Rinde einen Schößling senken und saprophytisch darauf
leben können. Die Flechte, die auf Bäumen und Steinen wächst, ist eine
Vereinigung von Alge und Pilz, eine Gemeinschaft, die man Symbiose
nennt. Das ist die Ehe, die geistige meine ich, und die Ähnlichkeit
von Ehegatten ist die noch unerklärte Bildkraft der Seele, die Materie
umzukneten. Ich hatte deinen Vater gesehen, aber nie deine Mutter,
als ich einmal im Theater einige Reihen vor mir den Nacken einer Dame
sah, der meine Aufmerksamkeit erregte. Ich wendete mich zu meiner
Gesellschaft und sagte unwillkürlich: ›Der Nacken dieser Dame erinnert
mich an Gustav Borg!‹ ›Ja, das ist seine Frau,‹ sagte man mir! Wenn
es das Gesicht gewesen wäre, hätte man die Wirkung der Anpassung im
Verkehr begreifen können, aber ein Nacken! Das klingt ja wie eine
Fabel.«

»Es werden allerdings Zwillinge geboren,« begann Esther, »aber man
kann auch dazu werden. Meine Mutter hatte eine Zwillingsschwester, und
als die sich einmal in die Hand schnitt, fühlte meine Mutter, die weit
entfernt war, den Schmerz. Du und ich, wir sind Zwillinge geworden,
aber wir müssen aufhören, es zu sein.«

»Ich glaube, wir sterben im selben Augenblick, da das Band zerschnitten
wird. Der Trennungsschmerz ist das größte aller Leiden, aber wir müssen
dahin!«

»Kannst du dir ein Ende denken?«

»Nein! Und das, was man sich nicht denken kann ... das existiert nicht.«

Sie gingen wieder weiter, um den Platz zu wechseln, und kamen auf die
Schanze.

Kläffende Hunde begrüßten sie, und Max schrumpfte vor Schmerz zusammen.

»Diese Tiere hier? Gibt es denn keine Menschen in Schweden?«

»Du bist kein Tierfreund?«

»Nein, ich hasse alles Tierische, wie du weißt, besonders an mir
selbst. Und diese Tierfreunde -- ja, du weißt, die Vorsitzende selbst
hätte ihre Kinder mit Rosinen und Mandeln beinahe umgebracht (sie war
Vegetarianerin), aber sie konnte nicht hören, daß man einen Hammel
schlachtete. Alle, die auf der Tierskala so tief stehen, daß sie mit
Tieren, aber nicht mit Menschenkindern Mitgefühl haben, sollte man
ohne weiteres zum Tierarzt schicken und Zyankali riechen lassen. Die
Abgründe, die eine solche menschenähnliche Seele birgt, sollte sie
lieber zu verbergen suchen. Ich habe gehört, daß Kavalleristen und
Hirten ... Nein, jetzt wollen wir hier weggehen! Hier ist es böse, und
es ist überall böse, wo man Tiere eingesperrt hält! Wir wollen nach dem
Swedenborgpavillon gehen.«

»Hast du Swedenborg gelesen?«

»Man liest Swedenborg nicht, man empfängt ihn oder man empfängt ihn
nicht. Man kann ihn nur verstehen, wenn man dasselbe erlebt hat wie
er. Deshalb ist es nicht gefährlich, ihn zu lesen, denn für die
Uneingeweihten ist er ein verschlossenes Buch.«

Sie gingen und gingen.

       *       *       *       *       *

Vor dem Zentralrestaurant saß Konsul Levi mit Doktor Borg.

»Nun, du Nörgler, was sagst du zu all diesem?«

»Ich möchte am liebsten schweigen und meinen schönen Eindruck vom Fest
behalten.«

»Nein, du sollst bewundern, schwedische Industrie und Erfindungen
bewundern.«

»Was für Erfindungen?«

»Aha!«

»Kleine Anwendungen älterer Ideen, die Themen anderer, eigene
Variationen!«

»Nun, aber der Separator? Schwedens Ehre und Reichtum.«

»Ja, der! Erz, Zucker und Melasse abzusondern, ist immer die Aufgabe
der Zentrifuge gewesen; jetzt sondert sie Sahne ab, das ist alles!«

»Du redest! Gerade die Anwendung bei Milch ist neu.«

»Nein, die Milchzentrifuge ist 1864 von Prandtl in Bayern erfunden, ist
aber in Schweden vervollkommnet.«

»Potztausend! Aber die Dampfturbine? Ist die was wert?«

»Ja, doch sie ist alt! Dampf einzulassen statt Wasser, siehst du, das
ist das ganze! Die Axe ist neu! Nein, wer in die Dampfmaschine eine
andere Flüssigkeit als Wasser hineinbringt, eine Flüssigkeit mit einem
niedrigeren Siedepunkt, zum Beispiel Äther mit fünfundvierzig Grad
Siedepunkt, der hat Kraft gespart; der ist ein Erfinder. Wenn man eine
Lokomotive mit einer Spirituslampe heizen kann, dann will ich dabei
sein und Preise austeilen. Oder wenn man einen Ballon steigen läßt, mit
Stickstoffgas gefüllt, das von einem Petroleumofen erwärmt wird.«

»Stickstoffgas?«

»Ja, Stickstoff, der das gleiche spezifische Gewicht wie Leuchtgas hat,
nämlich 0,9, muß natürlich einen Ballon heben können. Da Stickstoff
sich weder entzündet noch explodiert, kann er erwärmt werden, entweder
durch Benzinlampe, Petroleumofen oder Acetylen. Dann sitze ich in der
Wärme und bediene eine Schraube, steige oder falle nach Bedarf und kann
aussteigen, ohne meinen Ballon zu leeren, kann höher und tiefer gehen
und neue, passende Winde aufsuchen.«

»Aber die Feuersgefahr?«

»Stickstoff ist nicht feuergefährlich und imprägnierte Leinwand fängt
nicht Feuer. Das kannst du bei einem Ingenieur bestellen, ebenso wie
den Regulator zu meiner Äther- oder Benzin-Dampfmaschine!«

»Hast du noch mehr Erfindungen?«

»Ja, wir müssen Wasser verbrennen. Du weißt, daß Koks mit Wasser besser
brennt als ohne! Mache dir also ein poröses Koksstück aus feuerfestem
Lehm oder Gußeisen und feuchte es unaufhörlich mit überhitztem Dampf
an, nachdem du mit gewöhnlichem Koks ein Initialfeuer gemacht hast, das
den Dampf liefert.«

»Das klingt gut; hast du auf deiner Ausstellung noch mehr auszustellen?«

»Doch, wir haben ein Teleskop. Diese alten großen Ungeheuer sind
ganz unnötig. Ich sah neulich durch das Fernrohr eines magnetischen
Theodolits, bei dem das Rohr nicht länger war als einen halben Fuß und
das Glas nicht größer als ein Zweipfennigstück. Das war ein Fernrohr,
das was taugte. Nun ist das Köstliche, daß man für die Planeten
nicht zu starke Vergrößerungen nehmen darf. Mars verträgt nur eine
fünfzigfache Vergrößerung. An den Sternen ist nichts zu sehen, denn
sie werden kleiner, je stärker die Vergrößerung ist, also kuriose
Lichtquellen. Bleiben Sonne und Mond, und die sieht man ebensogut mit
einem Opernglas. Dann müßten wir ... Da kommt Kurt!«

Kurt Borg trat heran. Er sah feierlich aus, aber auch zerstreut:

»Wo kommst du her?« grüßte der Doktor.

»Ich komme von etwas Großem und Schönem; ich war im Ritterhaus auf
dem Religionskongreß und habe gehört, wie ein Bischof einem Rabbiner
Schmeicheleien sagte.«

Isak Levi schien weniger begeistert, als der Architekt erwartet hatte,
denn Isak zählte die religiösen Dinge zu dem, worüber man nicht spricht.

Der Doktor dagegen nahm das Thema auf:

»Ja, auch das ist Nachklang! Das Religionsparlament in Chikago 1893 war
viel größer. Da waren alle Völker und Religionen der Erde vertreten,
und die Versammlung nahm jeden Morgen den Segen des jeweiligen
Präsidenten entgegen, mochte er nun Mohammedaner, Buddhist, Katholik
oder Protestant sein, und der Papst selbst sandte seinen Glückwunsch
... In unserm Kongreß fehlt etwas Wesentliches, und zwar ein Katholik.«

»So, bist du auch Katholik geworden?« erwiderte Kurt.

Der Doktor antwortete auf die dumme Frage nicht.

»Es liegt etwas so exklusiv, lutherisch Alleinseligmachendes in
dieser Versammlung; deshalb ist sie borniert wie alles Lutherische.
Im übrigen erinnert ihr euch wohl nicht, daß Pius IX. 1868 ebenfalls
Griechen, Protestanten und andere Nichtkatholiken zu dem vatikanischen
Konzil zusammenberief, um zunächst einmal einen Kompromiß zwischen den
Christen zustandezubringen. Die eingeladenen Ketzer kamen nicht, und so
wurde es, wie es wurde!«

»Ja, das kann sein,« entgegnete Kurt, »aber hier ist Großes im Werden,
und im neuen Jahrhundert werden wir etwas Neues sehen.«

»Die französische Aufklärung bei der Revolution war viel weiter
vorgeschritten als wir jetzt sind; sie rissen alles nieder, und was der
Kongreß jetzt langsam abträgt, ist nur das, was ihr eigener Widerstand
aufgebaut hat.«

Es hatte sich bewölkt und der Himmel war mit sepiafarbenen Wollkämmen
gestreift, die auf dem Kopf standen. Es dunkelte oben, aber die weiße
Stadt stand nur noch weißer da und lächelte den schwarzen Himmel an.

»Das sieht nach einem Zyklon aus,« sagte der Doktor.

»Apropos Zyklon, erinnert ihr euch des Zyklons in Paris?« fiel Kurt
ein. »Es war am 10. September im vorigen Jahr, ich war da und habe
ihn miterlebt. Es war schauerlich anzusehen, so daß viele vor Schreck
den Verstand verloren haben. Er verheerte den Platz Saint Sulpice vor
dem Jesuitenseminar ... ging nach der Seine und zerschmetterte ein
Kohlenschiff, das La Revanche hieß ...«

»Das war ein symbolistischer Zyklon,« fiel Isak ein.

»Dann fuhr er nach der Sainte Chapelle Ludwigs des Heiligen und riß
die Gerüste herunter, darauf brauste er in den Justizpalast hinein.
Da saß ein Richter und führte eine Verhandlung, als plötzlich die
Fenster aufsprangen und ein großer Baum mit Wurzeln und allem in den
Gerichtssaal geschleudert wurde; ein Posten draußen wurde mit dem
Schilderhaus hochgehoben und durch einen langen Korridor geschleift.
Der Justizpalast schien am schlimmsten heimgesucht zu sein. Dann aber
fuhr der Wirbel nach dem Saint-Louis Hospital und riß fünfzig Meter des
eisernen Stakets nieder, das einen Mitarbeiter des Courrier de Paris um
ein Haar erschlagen hätte.«

»Denkst du dir das aus? Freund Max würde eine Wahrzeichengeschichte
daraus machen, aber glücklicherweise ist es seit einem Jahr in Paris
ruhig; und Wahrzeichen pflegen doch nicht erst nach Jahr und Tag zu
versagen?«

»Ausdenken? Du kannst einen Ausschnitt aus der Vossischen Zeitung
lesen, den ich bei mir habe!«

»Nein, danke schön! ich erinnere mich noch; Jesuitenseminar, Saint
Louis zweimal, La Revanche und der Justizpalast ...«

»Behalte das also im Gedächtnis,« sagte Kurt mit einem scharfen, fast
fanatischen Ton; »und wenn in Paris etwas passiert, in diesem Jahr oder
im nächsten, so ...«

»Bist du auch Okkultist geworden?« parierte der Doktor.

»Okkultist oder nicht, aber es liegt etwas in der Luft! Ich habe in
Paris einen Traum gehabt ...«

»Den mußt du mit dem Traumbuch deuten!«

»Scherze nur, doch nimm diesen Zeitungsausschnitt und hebe ihn auf,
versuchsweise, auf jeden Fall. Du bist ja für Experimente. Es ist die
Vossische Zeitung vom 15. September 1896. Jetzt haben wir 1897!«

»Gut,« sagte der Doktor. »Wollen wir wetten, daß diese Legende nichts
zu bedeuten hat?«

»Wir halten die Wette! Hundert Kronen!« sagte Kurt. »Isak ist Zeuge!«

Isak hatte mit großer Aufmerksamkeit die Geschichte angehört, und als
er die Wette bezeugt hatte, holte er sein Notizbuch heraus, suchte ein
Zeitungsblatt hervor und legte es auf den Tisch.

»Hier ist wirklich eine französische Schilderung des Zyklons, und sie
stimmt mit der Kurts überein. Ob er etwas zu bedeuten hat? Ja, wir
müssen abwarten!«

»Was zum Teufel soll er bedeuten? Man kann doch nicht Zyklone machen,
nicht einmal wenn man Jesuit oder Okkultist ist, und an übernatürliche
Zyklone glaubt kein Mensch.«

»Wir werden ja sehen! Wir werden ja sehen!«

       *       *       *       *       *

Esther und Max gingen vor der Kunsthalle auf und ab. Max redete:

»Mir kommt es vor, als wenn die Menschen hier einander nicht lieben,
sondern mehr zusammengescheucht werden, von der Furcht vor einer
unbekannten Zukunft; es ist wie das Bedürfnis des Kranken, sich mit dem
Feind zu versöhnen; wird er aber gesund, so ist die Feindschaft wieder
da.«

Sie blieben stehen und betrachteten zuerst die Zyklonwolke am Himmel,
dann warfen sie ihre Blicke auf die Loggia der Kunsthalle, als wollten
sie dort Schutz suchen.

»Siehst du,« begann der Graf wieder, »siehst du die Büste da drinnen?«

»Das ist Arvid Falk! Lebt er noch?«

»Ja, er lebt!«

»Komm, wir wollen ihn uns ansehen!«

Sie gingen in die Veranda hinein, und Graf Max begann wieder:

»Das hatte ich nicht erwartet, ihn hier zu sehen, aber er wird ja als
tot und ungefährlich betrachtet.«

»Wer hat die Büste gemacht?«

»Eine Frau, das ist aber seltsam.«

»Nein, wieso? er hat doch immer Beziehungen zu Frauen und Kindern
gehabt,« antwortete Esther. -- »Aber was ist das auf dem Sockel?«

»Das sieht aus wie Feuersflammen. Soll das den Schwefel vorstellen, den
er analysiert haben will, oder das Inferno, das er jetzt durchmacht?«

»Er sieht nicht bange aus, eher strahlt er von dem göttlichen Übermut,
den die Götter hassen.«

»Meinst du, daß einer diesen Mann verstanden hat? Er behauptet, keiner
habe das getan, weil er sich selbst nicht verstand; aber er scheint
bisweilen sein Lebensrätsel zu ahnen und faßt sich als eine Aufgabe
auf. Er ist für mich so etwas wie Balzacs Louis Lambert, einer, der
hier nicht zu Hause ist. Sein Mißvergnügen mit allem hienieden will er
seinen latenten Erinnerungen an ein Besseres zuschreiben; er sieht in
allem schlechte Kopien des Originals, auf das er sich dunkel besinnt.
Und sein Schwanken zwischen asketischer Frömmigkeit und sinnlicher
Gottlosigkeit deutet an, daß er das irdische Leben als eine Strafe
betrachtet und inzwischen einmal ein Schlammbad als Pönitenz nehmen
muß.«

»Hast du ihn gekannt?«

»Nein, ich glaube, kein Mensch hat ihn gekannt. Er hat die Fähigkeit,
sich im Verkehr zu kaschieren, indem er sich dem Sprechenden anpaßt,
so daß sein Zuhörer nur den Eindruck gewinnt, sich gespiegelt oder mit
sich selbst gesprochen zu haben. Deshalb gibt es so viele sonderbare
Charakteristiken von ihm, bei denen man das Gefühl hat, daß die
Porträtisten ihr eigenes Bild, nicht seins, wiedergegeben haben!
Kürzlich hat eine Frau in einem Essay ihn zu erläutern versucht, gibt
aber zu, gescheitert und nahe daran gewesen zu sein, den Verstand zu
verlieren.«

»Warum wird er denn so gehaßt?«

»Wenn Ihr nicht von dieser Welt seid, haßt die Welt Euch!«

Im selben Augenblick fühlte Graf Max etwas wie eine warme Stelle auf
seinem Rücken; und als er sich umdrehte, sah er einen Mann unbestimmten
Alters vor der Büste stehen und sie mit einem ironischen, fast
verächtlichen Lächeln betrachten.

Der Graf hätte fast einen Ruf ausgestoßen, wendete sich aber statt
dessen zu Esther und sagte ihr etwas mit den Augen.

Der Unbekannte ging in die Halle hinein.

»War er das?«

»Ich glaube.«

»Hast du sein Gesicht gesehen? Er blickte auf sich selbst herab und
sagte mit den Mienen: Damit sind wir fertig!«

»Was sollte das bedeuten?«

»Er hat ja immer über sich selbst gestanden, und mit dem stärksten
Selbstgefühl vereinigte er die aufrichtigste Selbstverachtung.
Vielleicht ist er auf neuen Bahnen und blickt jetzt auf seine alte
Reinkarnation herab!«

»Glaubst du, daß er es war? Er ist doch in Paris!«

»An Doppelgänger im Sinne des Pöbels glaube ich nicht; aber es könnte
ja unsere Projektion der Büste gewesen sein. Wir, du und ich, ›sehen‹
uns doch bisweilen, und das sind doch nur Projektionen plus etwas,
was ich noch nicht kenne. Die Theosophen haben das Faktum beobachtet,
können es jedoch nicht erklären; sie nennen es ›gelegentliche
Materialisierungen der Halbmaterie des Gedankens‹.«

»Aber seine Schritte waren so schwer?«

»Ja, er soll so schwer auftreten, als hielte er sich am Boden fest, um
nicht hochgehoben zu werden. -- Weißt du, was Levitation ist?«

»Ja! Aber willst du nicht die Kunstwerke ansehen?«

»Ich bin blind auf den Augen, ich kann äußere Dinge nicht sehen; ich
will nur an deiner Seite gehen, denn dann ist es hell in mir, -- kannst
du das erklären? Obwohl ich oft, wenn ich über dich nachdenke, meine,
daß du aus dem Dunkel bist. Dann hasse ich dich wie das Böse; aber
sofort wird es dunkel. Was ist das? -- Nun, jetzt, da die Zeit der
Versöhnung da ist, glaubst du, daß auch Mann und Weib sich versöhnen
werden und daß der Kampf der Geschlechter sich beilegt?«

»Nein,« antwortete Esther, »das glaube ich nicht, denn würden sie nicht
durch Differenzen aufrechterhalten, würde die ganze Welt pervers. Du
weißt ja, daß alle Frauenfreunde sonderbar sind. Sie haben Damenseelen,
deshalb ehren sie sich selbst in der Frau. Jünglinge, die noch sexuell
unbestimmt sind, beten doch die Frau an. Aber hast du bemerkt, daß
unsere Herren aufgehört haben, von ihren Verhältnissen zu sprechen ...«

»Ich hörte nicht, was du sagtest.«

»Nein, du hast ein Talent, dich gegen fremde Einflüsse immun zu machen.«

»Wenn sie herabziehen! -- Jetzt wirst du wieder dunkel!«

Sie gingen weiter, hielten sich aber ein Stück voneinander entfernt,
und Max sah aus, als wolle er in die nächste Tür hineinlaufen und sich
verstecken.

»Wir wollen uns für eine Weile trennen,« sagte Esther, »dann treffen
wir uns in einer Stunde am Ausgang wieder.«

»Danke, daß du so intelligent bist!« antwortete Max; »aber wir trennen
uns als Freunde, sonst laufen wir sofort hintereinander her.«

»Als Freunde!«

Die weiße Stadt der Ausstellung lag unter dem drohenden Zyklonhimmel,
der sich gar nicht auftun wollte.

Es war eine improvisierte Architektur, die nicht an Schweden, eher
an den Orient erinnerte. Wo nahmen die Baumeister diese Inspiration
her? Von den Ländern des Sonnenaufgangs, wohin jetzt die Blicke der
Welt sich mit Erwartung und Zittern wenden, nachdem Japan einen Stoß
gegeben hat, der die Bewegung nach Westen weiterpflanzt und vielleicht
eine neue Epoche in der Weltgeschichte einleiten wird, so neu, daß
die Geschichtsschreiber sie die neuere Zeit nennen werden und alles
Vorangegangene, unsere Zeit einbegriffen, die ältere. Man hat in
das große Wespennest dahinten im Osten hineingestochen, und nun
sind die Gelben und Schwarzen ausgeschwärmt. Aber der ferne Westen
im Sonnenuntergang hatte sich auch gerührt. Alle Völker der Erde
waren dahinten zusammengemaischt und hatten eine neue Brut erzeugt,
die schließlich ihre Weltbürgerschaft empfand, die die Markscheide
des Atlantischen Ozeans nicht anerkannte, sondern bei der Teilung
der Welt dabei sein, zu den europäischen Großmächten gerechnet sein
wollte. Das alte Spanien, der Hidalgo, der erste Eroberer Amerikas,
war hinausgeworfen worden, und Columbus hatte aus seinem ersten Grabe
auf Haiti die erlittene Unbill gerächt. In dieser gespenstischen
Umarmung von Osten und Westen fühlte Europa sein Dasein bedroht, und
verschüchtert wie Vögelchen scharten die Völker sich in erzwungener
Freundschaft zusammen, die ihren ersten Ausdruck in dem Erlaß des
Zaren fand, diesem Erlaß, der später der Anlaß zu dem Friedenskongreß
im Haag wurde, der wohl zunächst bedeutete: Zusammenschluß der
europäischen Mächte zu gemeinsamer Verteidigung gegen gemeinsame
Feinde, also nicht Weltfrieden. Die gepanzerte Faust hatte die Tore
der chinesischen Mauer eingeschlagen, und die Revanchemänner von
Sedan gaben die Revanche auf, um mit den Preußen zusammen zu fechten.
Die Europäer hatten aufgehört, Provinzpatrioten zu sein, und ihre
Nationen waren Erinnerungen geworden, ähnlich den Landsmannschaften
der Studenten, die bei festlichen Gelegenheiten eigene Fahnen trugen,
für gewöhnlich aber Mitglieder der Studentenschaft waren. Im Vorgefühl
seines Untergangs als Korporation hatte Schweden sich auch aufgerafft,
hatte sich zurückgewandt, um seine Erinnerungen zu sehen, hatte die
Büroschränke aufgeräumt und das sortiert, was aufbewahrt, und das, was
verbrannt werden sollte. Kirchen, Schlösser und Hütten waren durchsucht
worden und alle Erinnerungen auf dem heiligen Berge, der Schanze,
gesammelt.

Über der weißen Kosmopolis der Ausstellung erhob sich der Schanzenberg
mit seinem schwarzen Kiefernwald und seinen ländlichen, altmodischen
Glockentürmen. Sie läuteten eine Vergangenheit zu Grabe, die nach
dem Glauben vieler jetzt eine Zeit der Auferstehung werden würde.
Und die Dichter riefen die Schatten auf, beschworen Karl XII. und
seinesgleichen. Wege und Pfade auf dem heiligen Berge trugen alle
große Namen, um das Selbstgefühl der Nation zu wecken und den
Zusammenhang zwischen den gespaltenen Parteien zu stärken, die sich
jetzt in dem Vergangenen einen sollten.

Im Pressepavillon saßen Doktor Borg und Redakteur Holger in einem
Privatzimmer und tobten fürchterlich. Der Doktor war rasend.

»Dies ist ja eine Maskerade, und du darfst der Eitelkeit deiner
Landsleute nicht schmeicheln, so daß sie die Besinnung verlieren und
alle Karl XII. zu sein glauben. Wir können uns in der Jetztzeit nur
aufrichtig für die Zukunft sammeln. Die Dynastie stammt ja erst von
1809 und kann ihre Ahnen nicht von Lützen und Narwa her rechnen; der
halbe Adel ist exotisch, und ganz Schonen ist ja erst nach der Schlacht
bei Lund schwedisch geworden; du kannst von den Bewohnern Schonens
nicht verlangen, daß sie für Breitenfeld, wo sie nicht dabei waren,
hurra schreien; der Kommissar der Ausstellung, unser Freund Isak, ist
ein Fremdling aus dem Orient und kann wohl weder Luther, noch Karl
XI. feiern; ihr seid taktlos, und ihr verletzt, ohne es zu wissen!
Der Schanzenmann selbst ist ein Exot, darauf schwöre ich, und ich
als Negerknabe kann ebensowenig wie Syrach und Isak den Enthusiasmus
Grönlunds für schwedische Bauernmädchen und Volkstänze teilen. Dies
hier ist nicht aufrichtig, und du müßtest vor allem kommandieren:
Vorwärts sehen! -- Du hast die berechtigten Angriffe des Rabbiners
auf unsere Anbetung der schäbigen Vergangenheit nicht beachtet, als
er gestern auf dem Kongreß gegen unsere auf Hellas und Rom fußende
Bildung loszog. Er machte einen dicken Kreidestrich durch Platos
Idealstaat, den er -- mitten im Ritterhause -- einen Päderastenstaat
nannte! Wäre ich dagewesen, hätte ich ihn auf die Schultern gehoben. --
Was Satan haben wir mit Griechenland und Rom und Karl XII. zu tun? Ihr
lebt unten in den Gräbern mit Leichen, während Gegenwart und Zukunft
an euch vorbeirauschen. Aber das ist diese schauerliche Erziehung, die
wir in den Schulen und auf der Universität bekommen, und das ist das
Abiturientenexamen, das jetzt einem Magisterexamen der dreißiger Jahre
entspricht.«

»Was soll man denn aber tun?«

»Fachschulen und Ausbildung für den Beruf! Laßt die Juristen mit
vierzehn Jahren als Schreiber und Laufjungen bei den Advokaten
anfangen; schickt die Mediziner im selben Alter als Wärter in das
Krankenhaus; laßt die Ingenieure als Feiler in der Werkstatt, die
Pfarrer, wenn es welche geben muß, als Küster beginnen, laßt sie die
Gesangbuchnummern aufstellen und bei einem Standesbeamten Büroarbeiten
lernen. Schließt die vier Fakultäten und konfirmiert die Kinder
von der Volksschule aus mit Lesen, Schreiben und den vier Spezies:
dann hinaus mit ihnen, damit sie sich in ihrem Fach ausbilden.
Heutzutage muß man sein Handwerk verstehen, sonst geht man in der
Konkurrenz unter; und wir können nichts, nur konversieren in Salons,
Wirtshäusern und Versammlungen. Wir sollen versiert sein und mit den
Damen über alles sprechen können, aber wir sind auf allen Gebieten
nur Dilettanten. Wo sollen wir Staatsmänner herbekommen, wenn keine
Staatswissenschaft gelehrt wird? Unsere Regierung ist doch auch ein
Theater. Im Sommer sieht man einen Marineminister Kirche und Schule
verwalten, ein Gardeoffizier leitet die Landwirtschaft, und ein
früherer Assessor dirigiert Heer und Flotte. Ist das Staatskunst? Und
der Minister kommt nicht dazu, von seinem Ressortchef die Elemente
zu lernen, bevor er pensioniert wird. Deshalb ist das ganze Land von
diesen Staatsräten überlaufen, und wenn man einen Schuljungen fragt,
was er werden will, so antwortet er: Ich will Staatsrat außer Diensten
werden! Um Landrichter zu werden, muß man die Gesetze kennen, aber um
Departementschef und Minister zu werden, braucht man überhaupt nichts
zu können. Ich will nicht von den votierenden Reichstagsabgeordneten
sprechen, die haben so viel Schamgefühl, daß sie sich meistens die
Verfassung kaufen, aber die Ausschußmitglieder, die tatsächlich die
Gesetze geben, müßten alle Gesetze des Landes kennen und ausgebildete
Staatsmänner sein. Bestände der Ausschuß aus Staatsmännern, so würden
sie in Permanenz tagen und mit den Ministerien zusammenarbeiten,
nicht wie jetzt einige Monate lang störend auftreten, auf gut Glück
und stets als Feinde der Regierung eingreifen. Warum müssen Regierung
und Reichstag stets als Feinde auftreten, stets einander zu ducken
suchen? Einen Antrag durchbringen heißt doch einen Rekord schlagen,
und wenn ein Minister die Majorität hat, so hat er einen Preis
gewonnen -- den Preis, nicht weggejagt zu werden, im Amt bleiben zu
dürfen. -- Und worüber wird im Reichstag gesprochen? Über Sch...; über
Varietés und Opernkeller, über Pensionen und Brückenbauten; sogar über
polizeiliche Angelegenheiten, über Soldatenexzesse, Pferdefütterung,
Dünnbierbehandlung und Besichtigungsabenteuer, über die Toiletten der
Damen und das Rauchen der Schuljungen. Ist das Staatskunst? -- Der
Reichstag hat ja seine Inkompetenz bewiesen, da er alle wichtigen
Angelegenheiten an Kommissionen von Sachverständigen verweist; der
Reichstag selbst aber sollte doch aus Sachverständigen bestehen! -- Ist
das Regierung, sind das Gesetzgeber?«

»Was kann man da tun?«

»Nichts! Doch, schleifen, schleifen! Unterm Schnee kann nichts wachsen;
man kann nichts bauen, ohne das alte Haus niedergerissen zu haben.
Geht nur negativ zu Werk; kommt nie mit einem positiven Vorschlag, der
ist nur lächerlich; hebt alte Gesetze auf, gebt Freiheit und laßt die
Kräfte wirken! Du sollst ein Wecker sein, nicht ein Einschläferer! Und
jetzt adieu, die Uhr hat sieben geschlagen!«

       *       *       *       *       *

Am Fuße des Schanzenberges, ganz als gehöre es dahin, erhob sich
ein schwarzes Haus, das in der Hauptsache aus einem drückenden Dach
bestand; altes morsches Holz, das besonders präpariert war, damit es
morsch aussehen sollte; eine Reihe kleiner Fenster dicht über dem
Erdboden deutete Abneigung gegen Licht an. Es sah wie eine Scheune aus,
konnte aber eine Kirche sein.

Doktor Borg und Isak Levi standen davor und betrachteten es, und der
Doktor sprach selbst wie gewöhnlich:

»Da hast du Norwegen, schwarz und morsch wirft es seinen Schatten über
unsere helle Stadt. Das hohe Dach ist nur Prahlerei, es ist nichts
darunter; keine Kammern und kein Boden, es hat gar keinen Zweck, bloß
Bauernprotzerei!«

»Bist du jetzt Norwegerhasser?«

»Ja, ganz verd...! -- Warum sollte ich meinen Feind nicht hassen?
Warum sollte ich die Norweger nicht hassen, wenn sie mit ihrem
Schwedenhaß prahlen? Ich kann mir wohl meine Antipathien und Sympathien
selbst aussuchen wie andere Sterbliche auch. Hast du etwas dagegen
einzuwenden?«

»Aber du arbeitest für ein freies Norwegen!«

»Jawohl, ich erkenne seine berechtigte Forderung an, aber ich will
auch frei werden von diesem schwarzen Unfug, der über uns gekommen ist
wie eine Geisteskrankheit. Sollen wir den Dovrealten und seine alberne
Nora anbeten? Weißt du, wie Zola ihn nennt? ›Die letzte Frucht aus
den verdorrten Lenden unserer guten George Sand.‹ Sardou nennt ihn
›einen Narren‹ und Tolstoi, sagt ›er sei gestört‹. Der wird in Schweden
angebetet! Nun, er ist noch der Pfarrer! Aber der Küster ist noch
schlimmer! Wie alte Gorillas wirken die beiden, und findest du nicht,
Isak, daß der Pfarrer aussieht wie einer von unsere Leut?«

»Ja, da kannst du recht haben,« antwortete Isak. »Er ist wohl nicht
nur Germane. In den Fliegenden wurde er Froschmaul genannt.«

»Und die ganze norwegische Befreiungspolitik ist unter Karolines grober
Hand zu einem Kampf um die norwegische Gesandtschaft ausgeartet,
von wo Norwegen die schwedische Gesellschaft zu beherrschen glaubt.
Ich gehe nie mehr in die Gesandtschaft; ich habe es satt, auf die
Dovrealten und die Boheme von Kristiania anzustoßen, und ich will
nichts von ihrem Gehechel über Andrés Ballonfahrt hören. Weißt du,
was für ein Unterschied zwischen Schweden und Norwegen ist? Derselbe
Unterschied wie zwischen Nordenskjöld und Nansen. Nordenskjöld fand die
versprochene nordöstliche Durchfahrt, wurde aber nicht Nationalheld;
Nansen fand den verheißenen Nordpol nicht, wurde aber Nationalheld.
Schweden ist ein Stiefmutterland, deshalb macht es gewöhnlich seine
Größen aus Nichts, es stöbert Nullen auf und erhöht sie zu Potenzen ...«

»Ja, aber du hast an der Heiligsprechung des Dovrealten mitgewirkt!«

»Du weißt ja, wie das zugeht: man wird nicht in Ruhe gelassen, bis
man dem Haufen einen Knochen hinwirft. Auf die Weise bin ich auch
Wagnerianer geworden, obwohl ich finde, daß er nur unmusikalische
und häßliche Musik geschrieben hat; ›geschrieben‹ ist das richtige
Wort, denn sie ist weder gehört noch komponiert; sie ist geschrieben.
Aber wir leben in einer perversen Zeit, und in einer demokratischen.
Ich frage mich auch bisweilen, ob diese Demokratie, für die wir uns
abmühen, nicht etwas Falsches ist: wo der Unwissende Kenntnisse
mitteilen, der Ratlose raten, der Schwache herrschen, der Unterdrückte
unterdrücken und die Masse es machen soll. In einem Staat aber wie
dem unsern, wo die eine Hälfte der Nation aufschreibt, was die andere
tut, wo der Staatskalender so groß ist wie die Kirchenbibel, wo die
Beamtengehälter ein Nationalvermögen ausmachen, die Ämter feudal und
die Beamten Vasallen geworden sind, da ist vielleicht eine ständige
Demagogie als Gegengewicht erforderlich. Aber das Kuriose ist nun, daß
der Demos royalistisch, akademisch, aristokratisch, sportsnobistisch,
Karl der Zwölftisch, schanzpatriotisch, der Hof hingegen demokratisch,
demagogisch, demütig ist. Der Demos hat es übernommen, an die
prätorianische Garde zwölf Jahre lang eine halbe Milliarde zu zahlen;
wenn sie sich jedoch außerstande sehen, zu bezahlen, reißen sie aus
nach Amerika. Aber die Schuldenlast des Reiches besteht nicht nur aus
Hypotheken und den Zehnten der Gemeinden, sie besteht auch aus Wechseln
der Banken. Aller Handel vollzieht sich auf Kredit und Wechsel; das
ist Vorschuß; und Vorschuß ist ungeleistete Arbeit. Die ganze Nation
lebt von sechsmonatigem Vorschuß; man stellt für die Miete einen
Wechsel aus, einen Wechsel für die Steuer, einen Wechsel für den
Haushalt. Aber man löst den Wechsel nach sechs Monaten nicht ein,
sondern erneuert ihn und bezahlt die Zinsen mit einem neuen Wechsel.
Man lebt also -- von ungeleisteter Arbeit. Und die ganze Berechnung
des Nationalvermögens ist falsch. Ausgesogener Boden ist nichts wert;
verfallene Schlösser kosten nur Unterhalt; rostige Eisenbahnschienen
und benutzte Lokomotiven können nur als altes Eisen verkauft werden,
stehen aber trotzdem noch im Hauptbuch des Reiches als Vermögen;
Wasserfälle haben keinen Wert, bevor nicht die Fabrik daneben steht,
die Fabrik hat keinen Wert, bevor nicht die Arbeiter da sind, und der
Arbeiter ist nichts wert, wenn er nicht tüchtig ist; aber das Fabrikat
ist auch nichts wert, bevor es nicht Absatz gefunden hat. Das Eisen in
Norrland sollte uns retten, aber Rückschrittler haben das verhindert.
Wohin treiben wir? Die Entwickelung geht sprungweise vorwärts und mit
Überraschungen. Es ist ja möglich, daß die norrländischen Goldgerüchte
sich eines schönen Tages bestätigen! Stelle dir dann ein Schweden als
Sammelplatz aller Nationen der Welt vor. Die Volksmenge vermehrt sich,
Norrland wird dicht mit Städten besiedelt, der Acker wird im Stich
gelassen, und die Ureinwohner saufen sich zu Tode wie die Rothäute.
Nach einem Menschenalter ist eine neue kosmopolitische Rasse Besitzer
des alten Schwedens und der Reichstag ist mit Farbigen bevölkert ...«

»Glaubst du daran?«

»Nein, das tue ich freilich nicht, aber möglich ist alles. Es kann ja
auch anders kommen, -- auf diese Art geht es jedenfalls nicht länger!
Und es ist deine Pflicht, das tagaus, tagein zu sagen, zu schreiben,
herauszuschreien! Auch vor tauben Ohren.«

Er verließ den Pavillon und ging in das Menschengewimmel hinaus, in dem
die Gesichter der Fremden ihn erfreuten, wie weitgereiste Gäste den
Einsiedler in der Wildnis erfreuen, und wo der Klang der ausländischen
lebenden Sprachen ihn daran erinnerte, daß seine eigene zu den toten
Sprachen gehörte, da sie außerhalb seiner Landesgrenzen niemand
verstand.



Achtzehntes Kapitel

Die Neujahrsnacht


Jahre waren vergangen; das Jahrhundert war wirklich zu Ende; nur
noch wenige Stunden waren übrig. Die Familie Borg wollte sich in
den Gotischen Zimmern versammeln und gegen Mitternacht nach der
Schanze hinausziehen. Das Leben läuft schnell, und dies Lokal war
nicht mehr in Mode, sondern das literarische Hotel Rydberg hatte die
Oberhand; und wenn einer vom Roten Zimmer sprechen wollte, so klang
es wie Vergangenheit, und wurde mit der »Grünen Raute« und ähnlichem
verwechselt.

Die Gesellschaft hatte sich eingefunden, und der alte Redakteur Borg,
der jetzt über sechzig war, war auch da. Eine improvisierte Versöhnung
war, zu Ehren des Tages, zustande gekommen. Esther, die im Begriff
stand, ihr Examen zu beenden, war die einzige Dame; alle andern waren
ins Versteck gekrochen und wieder ins Haus verwiesen, nachdem das
kameradschaftliche Leben in den Kneipen sich als unhaltbar erwiesen
hatte. -- »Sie liefen mit ihren gegenseitigen Frauen herum, so daß man
nicht wußte, mit wem sie verheiratet waren.« Die Sachlage war so, daß
sie sich scheiden ließen und sich unmittelbar wiederverheirateten,
unmittelbar, so daß man schließlich dahin kam, daß die Damen ihren
Mädchennamen behielten. Die Biographen erwähnten nicht mehr, mit wem
die berühmten Leute verheiratet waren, und der Adelsalmanach erfand als
Euphemismus für Geschiedene, die sich wieder verheiratet hatten, die
Bezeichnung: »Zum zweitenmal verheiratet.« Schließlich wurde in einem
Nachbarlande vorgeschlagen, daß auch die Mädchen Frauen genannt werden
sollten, da sie meistens nicht mehr Mädchen seien, sondern auf den
Promenaden mit ihren Kindern spazieren gingen.

Auf einem Tisch in den Gotischen Zimmern lag eine Liste zum
Unterzeichnen. Alle hatten ihre Namen unterschrieben, außer Doktor
Borg, der doch selbst diese Adresse an Zola aufgesetzt hatte, in der
die Bewunderung für seinen Mut im Dreyfusprozeß ausgedrückt wurde und
die Hoffnung, daß das neue Jahrhundert die völlige Rehabilitierung
seines Schützlings erleben werde. »Gerechtigkeit, aber nicht Gnade!«

»Nun, Doktor,« sagte Isak Levi, »willst du nicht unterschreiben?
Vielleicht glaubst du, daß er schuldig ist?«

Das Thema war noch so explosiv, daß man Dreyfus' Namen nicht gern
nannte, diesen Namen, der in den letzten Jahren die Menschheit in zwei
Hälften gespalten hatte.

Der Doktor nahm die Feder und unterschrieb seine eigene Adresse mit
einigen raschen Strichen.

»Wenn ich mich nur nicht um Ehre und Gewissen geschrieben habe,« sagte
er.

»Aha!« rief es im Chor.

»Ja, Kinder,« sagte der Doktor, »ich habe viermal während des Prozesses
meine Ansicht ändern müssen, und ich weiß noch heute nicht, ob ich
nicht Dreyfusard geworden bin, wie ich Wagnerianer wurde.«

Alle schlugen die Augen nieder, einige um zu verbergen, andere um zu
demonstrieren, und in der Stille, die entstand, hörte der Doktor eine
Anklage, die er beantworten mußte.

»Seht einmal, in einem Spionageprozeß die Wahrheit an den Tag zu
bringen, ist erstens fast unmöglich, weil alle Parteien Spione gewesen
und also mit Lügen, Betrug und falschen Papieren immer umgegangen
sind. Zweitens ist es ganz abnorm, nach drei Jahren einen Prozeß zu
revidieren, da das menschliche Gedächtnis so gebrechlich ist, da die
Jahre die Standpunkte verändern, neue Interessen neue Leidenschaften
geweckt haben; nachdem die Zeugen verschwunden, Papiere gestohlen oder
abhanden gekommen sind ...«

»Ja, aber es war ein geheimes Gericht,« wendete der alte Gustav Borg
ein.

»Jaa, warum nicht? Unsere freisinnige Jury ist doch auch geheim ...«

»Ich glaube, du stehst auf Seite der Generale?« brauste Gustav auf.

»Da haben wir es!« antwortete der Doktor. »Es ist doch des Teufels, daß
die Menschen den Verstand verlieren müssen, sobald man nur von diesem
verdammten Prozeß spricht.«

Isak tat es leid um den Doktor, der sich unschuldigerweise in einer
falschen Lage befand, und mit einem menschlichen Zug der Teilnahme
suchte er ihm zu helfen, falls es dies Motiv war:

»Der Fall ist nicht klar, das gebe ich zu,« nahm er das Wort. »Für
mich sind drei dunkle Punkte da, die mir absolut unerklärlich sind.
-- Der erste ist: Warum verlangte Dreyfus Zyankali, als er von der
Revision erfuhr? Warum freute er sich nicht? Der zweite: Er glaubte
damals sofort, die Generale hätten seine Partei genommen, und bat
seine Frau, zu Boisdeffre zu gehen und um Hilfe zu bitten. Wie konnte
er von Boisdeffre, den er kannte, so gut denken? Das ist doch eine
infernalische Situation. Drittens: Als ich die Anklage der Generale
in Rennes las, ja, meine Herren, da war ich überzeugt von Dreyfus'
Schuld; was gebt ihr mir dafür? Besonders als die Generale erklärten,
der Bordereau sei nicht entscheidend, da war ich durch all ihre
Indizien, vor allem aber durch ihre klaren Worte und ihren noblen Ton
in solchem Maß überzeugt, daß ich zu mir selbst sagte: Erschieße dich,
Labori! Als dann Labori angeschossen wurde und sich weigerte, seinen
eigenen Pariser Arzt zu Hilfe zu rufen, als keine Nachforschungen nach
dem Mörder angestellt wurden, als man die Kugel aus der Wunde nicht
untersuchte, da dachte ich: hier ist etwas faul! Die Sache ist unklar.«

Jetzt geschah das, was so oft geschieht, wenn ein Mensch andern Edelmut
zeigt: die andern beginnen vor Edelmut überzufließen. Holger schnappte
sofort zu, und das Rad des Edelmuts begann sich zu drehen.

»Was Isak sagt, habe ich auch gedacht; Meister Demanges Verteidigung,
die eintrocknete, beruhte auf dem Entsetzen, das ihn überfiel, als er
seinen Klienten in Rennes sah. Labori und Picquart sollen ihn jetzt im
Stich gelassen haben ...«

Die Auktion hatte begonnen, und die Eitelkeit, neue Gesichtspunkte zu
einer alten Sache zu zeigen, griff um sich:

»Ja,« unterbrach Kurt, »ich habe auch einige dunkle Punkte gefunden.
Besonders finde ich die Logik, die man anwendet, höchst betrüblich.
Der Kanzler des Deutschen Reiches hat im Reichstage erklärt, er
wisse von Dreyfus' Spionage nichts. Ja, Teufel auch, wie sollte er,
wenn er in Berlin sitzt, wissen, was in Paris geschieht? Daß aber
Bülows einfältige Äußerung, die völlig nichtssagend ist, als ein
Beweis genommen wird, das ist sublim! Ferner, wenn Sergeant Depert im
Gefängnis Dreyfus erklären hörte: ›Ich bin schuldig, aber ich nicht
allein,‹ so wird diese Aussage verworfen, weil der Gefängnisdirektor
sie nicht gehört hat. Ist nur das wahr, was ein Gefängnisdirektor hört?
Wer eine solche Verwerfung anerkennt, muß im Kopf nicht ganz richtig
sein. Denkt euch: weil der Direktor es nicht gehört hat, darum ist
es falsch. Ferner sagt man und beansprucht bindende Kraft für diese
Äußerung: ›Dreyfus war nicht erfreut über die Revision! Aus Stolz
nicht!‹ -- Könnt ihr diesen Stolz begreifen? -- Wenn er sich geweigert
hätte, um Gnade zu bitten, dann wäre er stolz gewesen! Aber sich zu
weigern, Gerechtigkeit zu empfangen?«

Die Feuerung wurde verstärkt und die Hitze steigerte sich. Sellén
wollte auch ein Scheit hineinwerfen:

»Jawohl, Logik, jawohl! Weil Henry als Berufsspion ein Dokument
gefälscht hat, schließt man, daß auch die nachweislich echten gefälscht
sind. Ist das Logik? Im übrigen muß ich gestehen, daß ...«

»Na, hört einmal, wenn wir so fortfahren,« unterbrach der Doktor, »so
erklären wir Dreyfus für schuldig, und das war doch nicht die Absicht.
Oder was meint Max?«

»Ich kann nicht leugnen,« antwortete der Graf nachdenklich, »daß
die Sache dunkel ist. Es wurde doch ein Dreyfusministerium mit
Waldeck-Rousseau eingesetzt zu dem Zweck, Dreyfus zu befreien; dieses
Ministerium ernennt einen Regierungskommissar namens Carrière, der
nicht General war und der Dreyfus befreien wollte, weil er fest an
seine Unschuld glaubte. Nachdem er die Generale und Zeugen in Rennes
gehört hat, trotz Esterhazys Bordereau und Henrys Fälschung, bekehrt
er sich im Laufe des Prozesses. Das ist sonderbar! Weiter hat man
auf den Bordereau hingewiesen, ganz wie der Zauberkünstler nach der
Decke deutet, während er etwas unter dem Tischtuch hervorholt. Der
Bordereau ist als Beweis wertlos, ebenso wie Esterhazys Zeugenaussage;
obwohl Sachverständige jetzt geschworen haben, der Bordereau weise
keine Spur von Dreyfus' Handschrift auf, hat Dreyfus selbst die
Ähnlichkeit zugegeben, indem er ausrief: ›Sie haben mir meine
Handschrift gestohlen!‹ Wir sehen so viele Widersprüche, daß wir
kaum das Recht haben, uns eine Ansicht zu bilden. Daß Dreyfus, der
zu einem Engel gemacht wurde, keiner war, da er ein Mensch ist, das
hat nichts zu sagen, aber Zola und Björnson hätten nicht auf seine
Ehre schwören sollen. Dreyfus hat zehn Unwahrheiten ausgesprochen,
auf denen er ertappt ist. Er leugnete zunächst, die Organisation der
Ostbahn zu kennen! Er kannte sie! Er leugnete, den Konzentrationsplan
zu kennen! Er kannte ihn! Er leugnete, auf General Ransons Konferenz
anwesend gewesen zu sein! Er war anwesend! Er behauptete, Picquart
nie gekannt zu haben! Er kannte ihn! Er sagte früher, er sei nie in
Mülhausen gewesen! Jetzt gibt er zu, daß er jeden Sommer dort gewesen
ist! Er behauptet, das Schießhandbuch nie gesehen zu haben! Er hat
es gesehen! Er beteuerte, das Artilleriegewehr 120 nicht gekannt
zu haben! Er hat es gekannt. Er bestritt, bei Bodsons ausländische
Militärattachés getroffen zu haben. Er hatte sie getroffen! Björnson,
dieser, dieser ... schwor auf Dreyfus' Sittlichkeit. Dreyfus gibt
zu, als verheirateter Mann Geliebte gehabt zu haben, das gehe aber
niemanden etwas an, da er die Mittel dazu besitze. Das mag sein, und
das kümmert niemanden! Aber Björnsons Aussage! ~La vérité!~ Zola
beschuldigte die Generale der Schurkerei! Dreyfus aber läßt den
Generalen, da er besser von ihnen denkt, seinen Dank aussprechen!
~La vérité~, Zola! Aber es kommen noch andere unheimliche Details im
Prozeß vor. Dreyfus ruft Major Curé zu Hilfe. Dieser kommt und sagt
gegen ihn aus. Dreyfus vertraut auf Oberst Cordiers Dazwischentreten!
Dieser hat nichts zu sagen. Doch weiter: Oberst Munier, der wichtige
Telegramme zu überbringen hatte, starb im Zuge. Chaulain-Sauviniere
starb im Zuge, Major d'Attel starb im Zuge. Und diese geheimnisvollen
Todesfälle: Lemercier-Picard, Guenée, Reßmann und andere! Und jetzt ist
Schneider in Wien gestorben, Scheurer-Kestner ist gestorben, der Chef
des Generalstabs ist gestorben! Das geht nicht mit rechten Dingen zu,
und dieser Lügnerkrieg weckt in einem fast die Sehnsucht nach Pulver
und Blei. Aber in all dem scheint mir die göttliche Gerechtigkeit
gesprochen und das Urteil gefällt zu haben. Dreyfus wurde in Rennes
zu zehn Jahren verurteilt, weil er nicht verschwiegen gewesen war und
dadurch sein neues Vaterland verraten hatte; aber er wurde mit Recht
begnadigt auf Grund mildernder Umstände: seine berechtigten Gefühle
für sein altes Vaterland, das Land seiner Kindheit. Henry mußte Hand
an sich legen als Fälscher der Gerechtigkeit, Esterhazy wurde ehrlos
und geächtet als Lügner; Felix Faure bekam eine Verwarnung, eine Sache
zu drehen und zu wenden, die Generale eine Ermahnung, sich nicht aus
Ungeduld und Kleinmütigkeit auf Fürsten und ihresgleichen zu verlassen.
Und die Nation erfuhr, daß sie bereits so viele fremde Elemente in
sich habe, daß sie nicht an Revanche denken dürfe, die ein Bruderkrieg
werden könne; und als die Armee ihr Prestige verlor, hat sie mit einer
neueren Aufgabe ein neues bekommen. Sie dient in diesem Augenblick
im fernen Osten Schulter an Schulter mit den Deutschen, was sie nicht
getan haben würde, wenn der ›Prozeß‹ nicht gewesen wäre! Frankreich
ist geöffnet! ebenso wie China! Doch mit dem ›Prozeß‹ wurde auch die
religiöse Frage aktuell, obwohl ich nicht begreife, was sie damit
zu tun hat; aber sie tauchte auf, weil Dreyfus Jude war. Und jetzt
sind Protestanten und Juden dabei, die Klöster zu öffnen und ein paar
hunderttausend lebenslänglich Gefangene herauszuholen. Das ist ja ganz
wie bei Krönungen oder bei dem Regierungsantritt eines neuen Königs;
aber es ist auch ein Gegenstück zur Bartholomäusnacht, wenn auch ein
sehr gesittetes; es sind ja nur Wohltaten als Lohn für Untaten; es ist
reine christliche Liebe, obwohl der Wille wohl nicht gut ist; doch wir
sehen ja oft, wie das Böse zum Guten dienen muß; und Dreyfus war kein
untadeliger Mann, aber er hat gedient, wie wir alle!«

»Ja,« nahm Doktor Borg wieder das Wort, »nach all unsern
Zugeständnissen, die wohl zunächst der Oppositionslust entsprangen
oder der Neugier, die Kehrseite der Sache zu sehen, finde ich es
leichtsinnig, dies Schreiben an Zola abzuschicken, der allein glaubt,
die Wahrheit gefunden zu haben. Einige Körner hat er gefunden, aber
noch mehr Spreu, und etwas beschmutzt hat er sich den Rücken dabei.
Wenn wir statt dessen ihm gratulierten als dem wiedergeborenen
Gläubigen, dem an die Zukunft glaubenden Verfasser von ›Arbeit‹ und
›Paris‹; dem Sozialisten Emile Zola? Wollen wir das tun?«

Alle außer dem alten Borg sagten ja; und dabei blieb es.

Esther, die im Irrenhause Dienst hatte, entfernte sich, von Max
begleitet.

Sie gingen lange schweigend durch die Straßen, schließlich sagte Max:

»Ist dir aufgefallen, daß er der antiken Statue ›Der Schleifer‹ ähnlich
ist?«

»Ja, da hast du recht; vor allem das Kinn, das bei den Ohren anfängt.«

»Erinnerst du dich jetzt des Zyklons in Paris im Jahre 1896, der bei
Saint Sulpice einsetzte, La Revanche ertränkte, den Justizpalast
verwüstete und am Hospital Saint Louis endete, nachdem er zuvor die
Sainte Chapelle Saint Louis erschüttert hatte? Glaubst du jetzt an
symbolistische Zyklone?«

»Was in Gottes Namen soll man glauben? Ich bekomme Angst!«

»Aber ein anderer okkulter, das heißt noch unerklärlicher Umstand ist
dieser: Bei der großen Revolution, am Tage vor der Erstürmung der
Bastille, wurde der Tuileriengarten vom Royal Allemand gereinigt. Unter
den Offizieren befanden sich ein Reinach und ein Esterhazy. Glaubst du
an Zufälle?«

»Nein! Aber der Zusammenhang?«

»Weiß ich nicht! Der Zusammenhang wäre ja die Erklärung, und die
finden wir nicht. Deshalb wird jede Erklärung lächerlich. Weiter aber:
Baedeker, der doch kein okkultes Buch ist, berichtet ganz unschuldig:
Als man 1869 die Königsgräber in Speyer plünderte, wurde das Manöver
von einem angeführt, der Hinz hieß. Als die Königsgräber in Saint Denis
1789 geplündert wurden, hieß der Anführer auch Hinz.«

»Was könnte das bedeuten?«

»Weiß nicht!«

»Sag einmal, hast du Dreyfus gekannt?«

Da blieb Graf Max stehen und betrachtete Esther, als wolle er sehen, ob
sie scherze:

»Nein, ich habe ihn nicht gekannt ... aber wenn wir uns in vielen
Jahren einmal unter vier Augen treffen und du dann noch ebenso
interessiert bist wie jetzt, dann will ich dir eine Geschichte erzählen
... Ja, er war ein Mann der Vorsehung, aber ein leidender Christus war
er nicht.«

»Bist du Christ?«

»Ja, ich bin ein christlicher Freidenker ... Und seltsam ist: als wir
das Christentum geschleift haben, da ist soviel Weisheit und soviel
Humanität mit verlorengegangen. Wir sind roher und dümmer geworden ...
Will man jetzt einen feinen Menschen finden, muß man ihn unter den
Pietisten suchen, wenn sie nur nicht von Jesus reden und nach deiner
Seele fragen. Willst du einen Menschen sehen, der sich beherrscht,
der Sprache und Gedanken pflegt, der human im Urteil, resigniert im
Leid ist, stets die Blicke emporrichtet, alles vergeistigt, was er
anrührt, der es vermeidet, anzustoßen und zu verletzen, der seinen
Körper diszipliniert, dann sieh dir einen Pietisten an! Er strebt zum
Übermenschen, allerdings mißlingt ihm das oft. Doch das Streben ist es,
siehst du ... Wenn er nur nicht darüber reden möchte. Religion für den
eigenen Gebrauch, innerlich, doch nicht ...«

»Aber die Freude am Leben?«

»Was ist das für eine Freude?«

»Siehst du, da trennen sich unsere Wege.«

»Wieso? Ich habe meine stille Freude auf meine Art, aber ... Du
erinnerst mich an Chopins zweites Nocturno und unsere erste Begegnung
bei den Mädchen, die in Freude lebten ... das war ihr Surrogat für ...«

»Was ist deine größte Freude?«

»Einen neuen Gedanken zu gebären! Dann bin ich Vater und Mutter
zugleich und brauche die Ehre nicht mit einer Frau zu teilen, die mit
meinem Kinde ihrer Wege geht und sagt, es sei ihrs ...«

»Max, ist es dir ein Genuß, daß ich leide?«

»Nein, ich leide unter dem Leid, das ich zufüge, aber ich höre an
deiner Frage, daß es bei dir umgekehrt ist ...«

»Wenn ich dich leiden sehe, liebe ich dich; es steht dir. Aber wenn du
froh bist, hasse ich dich; du wirst banal, übermütig, laut. Im übrigen
ist mir immer bange vor einem frohen Menschen; wer lacht, zeigt die
Zähne und ist nicht weit vom Beißen ...«

Sie verstummten beide, Esther, weil sie merkte, daß sie sich ins eigene
Fleisch geschnitten hatte, Max, weil er sie nicht durch eine Enthüllung
ihres Fehlhiebs verletzen wollte.

       *       *       *       *       *

In den Gotischen Zimmern war man in lebhaftere Stimmung gekommen.
Gustav Borg hatte einen Brief von seinem Sohn Anders aus Amerika, aus
dem er Stücke vorlas:

»Das Charakteristischste in dem neuen Leben hier in Amerika ist die
allgemeine Beweglichkeit, Unstetigkeit. Man hat keine Ruhe; alles
verändert sich so schnell; Wohlstand und Armut wechseln, so daß keine
Klassen und Geschlechter sich bilden können; der Reiche ist arm gewesen
und kann es wieder werden, das weiß er; der Arme ist reich gewesen und
kann es auch wieder werden. Deshalb verstehen sie sich; sind vorsichtig
und handeln mit Vorbedacht. -- -- Der Tag ist zu kurz, und man eilt zur
Ruhe der Nacht als dem einzigen großen Genuß, der nichts kostet; und
man erwacht zum Ernst der heiligen Arbeit, von deren gewissenhafter
Ausführung die Existenz abhängt. Hier ist es eine Gnade, Arbeit zu
bekommen, und man wird stündlich daran erinnert, daß man kein Recht an
das Leben hat, sondern daß alles Gnade ist. -- -- Diese harte Schule
zieht eine Generation groß, die furchtbar sein mag, wenn sie dereinst
Schwärme aussenden wird. Ich blicke bereits auf Europa wie auf ein
verblühtes Hellas: viel Schönes, aber geschwächt und wahrscheinlich
erschöpft; philosophiert über das Leben, lebt es aber nicht ...«

»Ja, der Junge hat recht,« unterbrach der Doktor, der seiner Gewohnheit
getreu das Wort führen wollte. »Ihr wißt, daß die letzte Statistik seit
1890 250000 Auswanderer aus Schweden anführt; und die meisten zwischen
15 und 35 Jahren. Das Land wird schließlich von Kindern und alten
Leuten bevölkert sein ...«

»Ist es da ein Wunder, daß die Frauen heran mußten und arbeiten?« fiel
Gustav Borg ein, der gern die Gelegenheit abpaßte.

»Da hast du ein wahres Wort gesagt. Ja, in einem Staat von Kindern
und Pensionierten müssen sie heran und arbeiten, da keine Männer da
sind, von denen sie leben könnten ... Das ist ein neuer Gesichtspunkt!
Wenn sie aber auch herrschen sollen, dann möge doch Asien über uns
hereinbrechen und wir lieber von barbarischen Männern als von Damen der
Gesellschaft, von Aspasien und Emanzipierten beherrscht werden.« -- --

»Jetzt brechen wir nach der Schanze auf,« kommandierte Gustav Borg.

»Ja, gehen wir aufs Kapitol und danken wir den Göttern für das
vergangene Jahrhundert, das mit Dreyfus endete und mit Napoleon begann,
dessen Brüder zum mindesten zu den Kindern Israel zu gehören scheinen.«

       *       *       *       *       *

Esther und Max waren zum Zoll hinausgekommen, wo im Halbdunkel das
einsame Schloß, hinter dessen hohen Fenstern Licht brannte, sich weiß
erhob.

Max sprach wie für sich selbst:

»Es gibt ein Wort, das unter Gebildeten außer Gebrauch gekommen ist,
und man schämt sich, es auszusprechen; das ist das Wort Sünde. Man hat
den Begriff Schuld wegphilosophiert, aber das Schuldgefühl ist noch
vorhanden. Ich bin mit einem bösen Gewissen geboren und hatte als Kind
Angst davor, entdeckt zu werden. Das kann man nur damit erklären, daß
etwas Unbekanntes vorangegangen ist.«

»Das sind krankhafte Empfindungen, und wir haben viele solche Fälle
hier in der Anstalt,« erklärte Esther. »Wir haben zum Beispiel einen,
der glaubt, den Bordereau geschrieben zu haben.«

»Ja, was weißt du davon?«

»Nein, höre, jetzt kann ich dir nicht länger folgen.«

»Das weiß ich, und ich verlange es auch nicht. Du bist immer im Ton mit
mir, aber mindestens eine Oktave tiefer. -- Aus nichts wird nichts, und
alles hat einen hinreichenden Grund; wenn er also glaubt, der Schuldige
zu sein, ist ein logischer Grund dafür da. Die Einbildungen haben eine
höhere Wirklichkeit, deren Zusammenhang mit dem Wirklichen ich nicht
verstehe, aber nicht zu leugnen wage. Die Wirklichkeit kann ja nicht
in mein Inneres eindringen und wieder zum Ausdruck kommen, ohne es
als Vorstellung oder Einbildung passiert zu haben. Die Wirklichkeit
kennen wir also nur durch unsere Vorstellungen von ihr; deshalb
variieren unsere Vorstellungen von einer aufgefaßten Wirklichkeit
so unendlich. Übrigens kann eine Seele ohne das Zusammenwirken mit
andern Seelen nicht existieren. Nun habe ich Anlaß zu glauben, daß
alle Seelen miteinander in Beziehung stehen; und es gibt Menschen mit
so empfindlichen Empfangsapparaten, daß sie mit der ganzen Menschheit
fühlen und folglich mit ihr leiden. Aber es gibt auch Menschen, die aus
der Ferne Einfluß auf andere ausüben, sogar auf Unbekannte; das weißt
du.«

»Ja, das stelle ich nicht in Abrede!«

»Nun gut, woher weißt du, daß nicht ...«

Graf Max hatte die Gewohnheit angenommen, Meinungen nicht ganz
auszusprechen, weil er wußte, daß Esther sie vollendete oder seine
Gedanken hörte, und er brach immer ab, wenn der unausgesprochene
Gedanke etwas Unausgereiftes besser ausdrückte, als das banalisierende
Wort es tun würde.

»Ich wagte das Wort Sünde auszusprechen; ich glaube, alle Krankheiten
sind die Folgen von Sünden. Die körperlichen Krankheiten werden ja auch
analog den geistigen geheilt. Zunächst ist man zu den demütigenden
Bekenntnissen vor dem Arzt genötigt (die Beichte). Dann wird man von
ihm zur Buße verurteilt; bittere Kräuter, Fasten, strenge Disziplin,
Entsagung; und oft wird einem vorgeschrieben, Gewohnheiten, Laster
abzulegen, Gemütserregungen zu vermeiden, an freundliche Dinge zu
denken. Wenn man dann geheilt ist, muß man zum Priester (zum Arzt)
gehen, um zu danken und zu opfern. Und dann bekommt man den Rat: ›Hüten
Sie sich jetzt vor Rückfällen; das heißt in der Übersetzung: Geh,
aber sündige hinfort nicht mehr!‹ -- Ist das nicht dasselbe? -- Aber
wie behandelt ihr die Gemütskranken hier drinnen, die Seelenkranken,
denen Seelsorge not tut? Ja, ihr gebt ihren Körpern kaltes Wasser und
Morphium! -- Erinnerst du dich, wie Hanne Joel in ihrem merkwürdigen
Buche ›Jenseits‹ ihre Genesung schildert? Nachdem sie lange auf die
Ärzte und ihre Umgebung geschimpft hatte, kam schließlich an einem
Weihnachtsabend die Krisis: Sie brach in Tränen aus und rief: Ich
bin dumm und hochmütig gewesen! Und damit war sie geheilt. Frau
Schram war härter, aber sie beugte sich schließlich und wurde durch
die Freundlichkeit einer Pflegerin gesund. So wenig kann bisweilen
helfen -- ein gutes Wort! das man so selten hört! -- Dies Schloß ist
kein Krankenhaus, es ist wohl ein Inferno oder eine Strafanstalt, und
das schlimmste an der Strafe ist vielleicht, daß der Arzt den Kranken
›nicht versteht‹; unverstanden oder mißverstanden zu sein, das ist ja
die Hölle.«

»Wir haben doch auch Priester oder Seelsorger.«

»Kann man nicht sagen, daß die meisten hier einen Widerwillen gegen
Priester und Religion hegen? Sie sollen ja lästern und schmähen.«

»Das ist verschieden, denn einige kommen gerade infolge religiöser
Grübeleien hierher.«

»Ja, sie wollen den Vorhang durchdringen, und dann sehen sie das
Theater mit den umgekehrten Kulissen ... das ist die Strafe. Ihr habt
doch den Dichter X. hier?«

»Ja, der ist hier!«

»Nun, der forderte den Herrn heraus und zitierte ihn auf den Walplatz
in Hinnoms Tal! Wer hat gesiegt?«

»Meinst du, das war es?«

»Ja, was sollte es anders sein? Tabak- und Alkoholvergiftung ist doch
leicht geheilt. Deliranten gehen selbst ins Krankenhaus und kommen
in acht Tagen wieder heraus. Daß du einen Kausalzusammenhang, der so
schlagend ist, nicht sehen kannst!«

»Zwangsvorstellungen ...«

»Ein neues Wort im Wörterbuch; aber die Sache und die Ursache? Wer ist
der Zwingende? Wer zwingt den Mörder, an sein Verbrechen zu denken?
Das Gewissen! Und hinter dem Gewissen? -- Der Dichter endete in einer
religiösen Krisis ...«

»Da siehst du, was Religion ist!«

»Hüte dich! Hüte dich! Aber ich glaube nicht, daß man ein Recht hat,
hier über die ärztliche Behandlung zu klagen. Der Kranke soll wohl
durch die Verständnislosigkeit der Umgebenden vollständig isoliert
werden; er soll allein mit seinem Gewissen seine Angelegenheiten
abmachen; keine Möglichkeit haben, sich zu beklagen und ein falscher
Märtyrer zu werden. Hast du nie Angst, wenn du hier bist?«

»Nein, ich nicht, denn ich beobachte mich. Aber es gibt Kandidaten, die
sich durch liederliches Leben in einen Schwächezustand versetzen, und
die graulen sich, obwohl sie an nichts glauben als an die Physiologie.
Man hat ja hier Professoren gesehen, die befallen wurden; und Wärter
hatten wir mehrere ...«

Sie betraten das Schloß. Abstrakt, streng, trübselig wie das
Selbstmordzimmer im Hotel, das Zimmer, das man stets dem Gast gibt,
der am unglücklichsten aussieht, das Zimmer mit drei Türen und einem
Fenster; in dem das Bett vor der einen verschlossenen Tür steht, deren
Schlüsselloch sich neben dem Kopfkissen befindet, und das Sofa, das
extra so gemacht ist, daß man weder darauf sitzen noch liegen kann, vor
der andern Tür; dies Zimmer mit Aussicht auf den Hof und unaufgeräumte
Zimmer gerade gegenüber, dieses Zimmer, das für den Selbstmörder
reserviert zu sein scheint.

Graf Max fühlte sich beklommen; Esther aber, die zu spät kam, mußte
sofort ihre Ronde machen, und der Freund ging mit ihr. Ein langer
Korridor und eine Treppe hinunter; Feuerlöschapparate mit Schläuchen,
die sich wie lange schwarze Schlangen an den weißen Wänden entlang
schlängelten, Gasflammen gleich Schmetterlingen aus Feuer; schließlich
ein vergittertes Fenster, vor dem sie stehenblieben.

Mitten in einem Raume, der wie ein Stall aussah, stand ein alter Mann,
völlig nackt auf dem Steinfußboden, und streckte die Arme empor wie ein
antiker Adorant oder ein Säulenheiliger.

»Warum ist er nackt?« fragte Max.

»Weil er sich die Kleider auszieht und vierzig Grad Fieber hat; das hat
er drei Jahre lang gehabt, und so steht er seit drei Jahren. Er glaubt
in einer Schlangengrube zu sein.«

»Dann ahne ich, wer es ist. Es ist der Mann, der Witwen und Waisen
betrügerisch um ihren Besitz gebracht, sie ausgezogen hat, aber mit
gesetzlichen Mitteln! Siehst du, daß es andere Gesetze gibt als die des
Gerichts? Aber, Esther, warum glaubt er in der Schlangengrube zu sein?
Er hat doch nicht den vierundzwanzigsten Gesang von Dantes Inferno
gelesen, wo Diebe von Schlangen geplagt werden.«

»Was du sagst! Dante hat er sicher nicht gelesen!«

»Nun, wie meinst du, ist Dante darauf gekommen? Hat er es erfunden oder
hat er einen Grund dafür gehabt? Gibt es in diesen Strafformen, die
ihr Krankheiten nennt, etwas Objektives, Festes, das als Anhalt dienen
kann? Ich sage ja, und mit gutem Grund ... Ich glaube auch, daß sich
in den Religionen Andeutungen darüber finden ... Hättest du Swedenborg
gelesen, so würdest du erkennen, daß seine Beschreibung der Höllen, die
Gemütszustände, keine Orte sind, mit den Einbildungen zusammenfallen,
mit denen du es hier zu tun hast. Es gibt also eine Konstante: suche
sie, und du wirst die Lösung vieler Rätsel haben ... wenn du willst
oder kannst!«

Sie gingen weiter. Esther flatterte voran mit ihrem großen
Pelerinenmantel und ihrem wirbelnden Haar, das in dem durchfallenden
Licht der Gasflammen wie Gold leuchtete. Der Graf, schlank, dunkel,
blaß, folgte.

Wieder blieben sie vor einem Gitter stehen. Da drinnen saß ein junges
Mädchen auf einem Stuhl und tat nichts.

»Sprich mit ihr!« sagte der Graf.

»Was machen Sie denn, Fräulein?« fragte Esther, nur um Max den Willen
zu tun.

»Ich leide,« antwortete das Mädchen, das von einer Schönheit war, bei
der die Seele bis in die äußerste Haut drang.

»Warum leiden Sie denn?«

»Ich leide für die Missetaten meines Vaters; er hat keine Zeit, seine
Strafe zu leiden, denn er muß für die Familie arbeiten. Und ich habe
zu Gott gebetet, mich für ihn leiden zu lassen. Da ich unschuldig bin,
sind meine Qualen größer, als die seinen wären, deshalb ist die Zeit
verkürzt. Aber wehe ihm, wenn er undankbar ist oder sich nicht bessert,
dann kommt es über ihn selbst! Das weiß er, und deshalb nimmt er sich
in acht. Er weiß auch, daß ich ihm überall folge und ihn überwache. --
O es ist schwer, aber es nimmt ein Ende. -- In drei Jahren werde ich zu
Weihnachten nach Hause kommen!«

Sie gingen weiter.

»Meinst du,« fragte Max, »daß dieser Engel nicht weiß, was er tut?
Glaubst du, sie ist nicht bei Verstand? Mache dir die Mühe, in aller
Heimlichkeit ihren Vater auszuforschen und zu erkunden, ob sie die
Wahrheit spricht!«

»Dazu haben wir keine Zeit!«

»Du hast recht! -- Aber ist dir aufgefallen, wem sie ähnlich sieht?«

»Ja, jetzt weiß ich, wen du meinst ...«

»Nun? Wenn es seine Schwester ist, dann kennst du den Vater! -- Aber
wohin führt diese Treppe?«

»Zu den Allerschlimmsten! Da wohnen ...«

»Ich weiß; das ist Swedenborgs Dreckhölle für die Wollüstigen ...«

»Sagt Swedenborg das ...?«

»Ja, stimmt es?«

»Es stimmt! Jetzt fange ich an, mich zu fürchten!«

»Höre zu! In Dantes Inferno ist von Dieben gesagt, daß sie in
Ermangelung anderer Dinge einander das Aussehen stehlen. Erinnerst
du dich des nie entschiedenen Prozesses des norrländischen Diebes,
des kombinierten Mordes und des Traums der Frau von etwas in
einem Eisenbahnkupee ... daran denke! Denke auch an die beiden
geheimnisvollen Prozesse in Norrland und Östergotland, wo kein
Verbrechen begangen zu sein schien, kein materielles wenigstens ... und
doch soviel gelitten werden mußte ... außergerichtlich; ›schuldig und
nicht schuldig‹ scheint das einzige Urteil zu sein ... Ja, wenn wir
alle unsere Gedanken aussprechen sollten ... Rousseau war so unklug,
das zu tun ... wie wir innen aussehen! Und unser inneres Leben tritt
bisweilen ans Licht, verwirrt die Begriffe, macht klare Aussagen
unglaubhaft, dann wird der Ankläger der Schuldige. Deshalb sollten wir
erst das Trinkgefäß inwendig rein machen ... Was für eine schauerliche
Maskerade ist das Leben! Ich kann nie in Gesellschaft gehen, denn ich
höre Gedanken, lese Gesichter und bin so streng gegen mich selbst, daß
ich meine heimlichen Gedanken strafe, die bisweilen ganz furchtbar
sind, so daß ich mich nicht zu ihnen bekennen will ... In schlechter
Gesellschaft kann ich bisweilen immun sein, gewissermaßen geschützt,
bisweilen aber kommt ihre Bosheit über mich, und sie sprechen durch
meinen Mund ... Dann haben sie den Eindruck, ich sei ein roher
Mensch ...«

Sie wanderten weiter und kamen schließlich an den großen Sitzungssaal,
wo ein kleines Fest veranstaltet war.

Max wollte nicht hineingehen, sondern blieb an der Tür stehen.

»Dies erinnert mich an das Grauenvollste, was ich je gesehen habe. Es
war ein sogenannter Wiener Ball für perverse Männer und Weiber in
Berlin. Ich war mit dem Polizeikommissar und einem Arzt zusammen da.
Stelle dir nur vor: ein junger Mann ist verliebt in einen Kerl von
vierzig Jahren, mit rotem, grobem, häßlichem Gesicht, Schnurrbart und
Kneifer, und macht ihm den Hof. Der sollte die Geliebte vorstellen. Wer
hatte sein Gesicht geblendet? Was liegt dahinter? Es muß einen Grund
geben! -- Nein, ich will nicht hineingehen! Ich habe Angst vor Irren;
sie wirken wie Dämonen, denn sie sprechen sofort all meine Geheimnisse
aus, sogar all meine ungeborenen Gedanken. Und da hast du die Gleichung
des Irren: er lebt in einem stummen Unterbewußtsein, nimmt einen auf
Vorschuß, ist so scharfsichtig, daß er boshaft erscheint. Er hört an
unglaublichen Orten alles, was noch nicht lautbar geworden ist; er
sieht Gedanken und Gefühle; seine seelischen Kräfte stehen in gewisser
Weise über unsern gewöhnlichen, deshalb paßt er nicht in die Maskerade
des Lebens hinein ... Ach, da ist ja der Dichter!«

»Ja, er predigt jetzt Sittlichkeit gegen sich selbst!«

»Und weiß nicht, daß die Schöne Helena mit seinen banalen Liedern die
Runde macht?«

»Nein, das weiß er nicht!«

»Wenn er es erfährt, was wird dann geschehen? Seine Person scheint
freilich bereits gespalten zu sein, aber wenn er mit seinem früheren
Ich in Disharmonie kommen sollte, wird er die Dissonanz durch
Kompromiß oder Kampf gegen sich selbst lösen? ... Weißt du ... diese
Sittlichkeit, richtig aufgefaßt, hat mehr für als gegen sich. Mit der
gewaltigen Schöpferkraft zu spielen ist ein Greuel, und er wird am
schlimmsten und häufigsten in der Ehe betrieben, wo er ein Zeitvertreib
geworden ist. Deshalb will ich aus sittlichen Gründen die Auflösung der
Ehe. Im zweischläfrigen Bett verliert man seine Persönlichkeit, seine
Selbstachtung, seinen Menschenwert. Da verkauft man seine Seele, lernt
das Verschweigen, sich versöhnen nennt man das. Es ist das Grab, in das
das Ebenbild Gottes gelegt wird, und aus dem das Tier aufersteht! Da
wird die grenzenlose Verachtung seiner selbst, der Liebe, der Gattin
und des Heims geboren! Ich hörte kürzlich, wie ein Mann, in dessen
Küche sich die Bräutigams ablösten, nach dreijähriger Ehe endlich
aufwachte und ausrief: ›Ich halte es nicht mehr aus, Bordellwirt zu
sein.‹ Nein, jetzt gehen wir auf die Schanze. In einer Stunde ist
Mitternacht!«

       *       *       *       *       *

Die Gäste aus den Gotischen Zimmern gingen in kleinen Trupps durch die
Nacht und plauderten; Alte und Junge, Väter und Söhne, Onkel und Neffen
als gleichaltrige Kameraden; das war die Losung der Zeit: »Der Tod ist
keine Entschuldigung, und das Alter hat keinen Rang. Die Vaterschaft
läßt sich nicht beweisen, deshalb sind wir alle Brüder.«

Der alte Gustav ging mit Isak an der Spitze:

»Kannst du dir vorstellen, Anders schrieb auch einen Sermon über
amerikanische Familienverhältnisse, aber das wollte ich den Jungen
nicht vorlesen. Er sagt, das Heim löse sich auf und die Familien
wohnten im Boardinghouse. Ich gebe zu, es ist eine Verschwendung mit
unseren Familienhaushalten, und der Altar des Hauses ist eigentlich der
Küchenherd. Essenkochen und Aufwaschen ist ja vom Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang im Gange. -- Und dann sagt er, Scheidungen seien ebenso
üblich wie Hochzeiten, und es habe den Anschein, als sei das Leben
durch diese Erneuerung der Persönlichkeit reicher geworden.«

Isak, der solche Fragen nicht gern behandelte, lenkte ab und nahm ein
anderes Thema auf:

»Nobel ist ja jetzt gestorben und hat einiges hinterlassen; dreißig
Millionen oder so.«

»Dann bekommt ja die Akademie etwas Geld zur Verfügung; wenn es nur
nicht ein Reptilfond wird, mit dem politische Gegner gekauft werden.«

»Etwas Amtliches wird es sicher ...«

Kurt und der Doktor im zweiten Gliede hatten eine Weibergeschichte vor.
Kurt führte das Wort.

»Da ist sie mit dem Kind ihrer Wege gegangen, um mir den Todesstreich
zu versetzen; aber ich lief ihr nicht nach, sondern ließ sie sitzen,
und das hatte sie nicht in Rechnung gezogen. Da sagte sie, ich sei
kein Gentleman; und dann lief sie zum Rechtsanwalt und beantragte die
Scheidung, weil ich ›sie nicht glücklich gemacht hätte‹. Weißt du, was
das heißt, eine Frau glücklich machen?«

»Ja, gewiß weiß ich das: wenn sie dich ruinieren, dich entehren, dich
erniedrigen darf, dann hast du sie glücklich gemacht; und gelingt ihr
das, ohne daß du klagst, dann bist du ein Gentleman!«

Holger und Sellén im dritten Glied sprachen über die Zeitung: Sellén
war mit den Rezensionen und den Persönlichkeiten nicht einverstanden.

»Aber das Leben ist öffentlich geworden, ganz wie im alten Athen:
Ephoren und Zensoren durchforschen das Privatleben des einzelnen;
darein muß man sich finden, muß es zu seiner Erziehung nutzen; im
übrigen, wenn alle das Persönlichkeitsprinzip predigen, sind die
Persönlichkeiten einer Kritik ausgesetzt, die persönlich werden muß.
Aber als Korrektiv hat sich das Interview eingestellt. Früher konnte
man auf eine unwahre Anschuldigung nicht antworten; das Urteil der
Zeitung war drakonisch. Jetzt darf der Geringste antworten und sich
erklären. Das ist ein großer Fortschritt.«

»Ja, aber wenn sie ungerecht sind ...«

»Es gibt nichts Dümmeres, als ungerecht zu sein. Der Betroffene wird
zum Märtyrer und erringt oft unverdiente Sympathien ... Hier im Lande
ist es schwer für ein Talent, hochzukommen, denn man nimmt lieber eine
Unfähigkeit, die Bein vom eigenen Bein ist, und kreiert sie; aber es
geschieht oft, daß man durch den Neid anderer auf einen Konkurrenten
vorwärts kommt, und das ist der gewöhnliche Weg ... Wollen sie einen
Beneideten stürzen, müssen sie einen andern emporheben ... Doch Reklame
ist das Schlimmste, worauf man bauen kann, und ich begreife nicht,
warum die Leute annoncieren! Wenn ich eine große Annonce sehe, bekomme
ich Angst und denke, es ist Schwindel! Nein, die mündliche Propaganda
durch einen Käufer, der eine gute Ware bekommen hat, das ist der
einzige Weg! -- Unser Freund Lundell, der Maler, hat sein ganzes Leben
hindurch Reklame gemacht, ist aber nie etwas geworden, ist namenlos
gestorben und jetzt nach einem Jahr vergessen!«

Isak war in edelmütiger Stimmung und spielte aus Trümpfe und Stiche
nacheinander.

»Man mag sagen, was man will, aber ohne die Heilsarmee und die
Guttempler wäre Schweden in Trunksucht verfallen. Angenehm sind sie ja
nicht, indessen ...«

»Als Vorschule für Amerika haben sie allerdings ihre Rolle gespielt,
und für das Publikum ... Jedenfalls sind die größten Reformen in
unserm sozialen Leben auf privatem Wege durchgeführt worden, ohne den
Reichstag; die Regierung hat ja nie etwas anderes getan als gehemmt.
Das Ritterhaus stürzen war keine Kunst, und der Adelsalmanach ist noch
vorhanden, aber die Fräuleinreform des Abendblattes, die hat dem Adel
den Todesstoß gegeben. Das war eine Guillotine. Auf dieselbe Weise
haben die Guttempler die Nüchternheit geschaffen und die Pietisten die
Staatskirche vernichtet, hat die Literatur die Sitten umgebildet, haben
die Privatbanken das ökonomische Leben reformiert.«

»Apropos Ökonomie! Weißt du, daß das beste Geschäft in Schweden die
Lebensversicherung ist? Nicht weil die Leute an den Tod denken, sondern
weil die Versicherungspolicen als Hypotheken für Darlehen benutzt
werden, und da alle pumpen ... Aber der größte Gewinn resultiert
aus den verfallenen Versicherungen; wie schwedisch das ist! Um zu
zweihundert Kronen zu kommen, bezahlen sie sechshundert an Prämien, und
dann lassen sie die Versicherung verfallen!«

Der Doktor im zweiten Gliede war bei seinem Thema:

»Eines Nachts kam sie aus dem Theater und wollte ein Butterbrot mit
Kalbsbraten und Gurken haben. Der Braten fand sich, nachdem sie mich
schimpfend geweckt hatte, aber als die Gurken fehlten, wurde sie böse
und drehte die ganze elektrische Beleuchtung an, die bis zum Morgen
mit voller Kraft brannte. Als ich ihr dann die Leviten las, sagte sie,
ich sei kein Gentleman, und als ich ihr schließlich wenigstens bewies,
daß ich ein Mann bin, lief sie zum Advokaten und sagte, ich machte sie
nicht glücklich, ganz wie deine. Kann man als gesunder Mann mit einem
wahnwitzigen Kinde zusammenleben? Kann man seinen Namen und seine Ehre
seinem schlimmsten Feinde geben? Den Mann, den sie liebt, haßt sie!
-- Brunst und Haß, das ist die Liebe der Frau! -- Der Mann liebt und
sie haßt! -- Alles Schöne, das wir in ihr sehen, sind nur Projektionen
auf ihr weißes Tuch, auf dem sich nichts befindet. -- Die Welt wird
in Haß vergehen! Die Kinder werden in Haß geboren, in Haß erzogen! Es
ist widerlich, in einer perversen Zeit zu leben, in der alles auf den
Kopf gestellt ist. Sehen sie einen Mann mit einem männlichen Willen,
so sagen sie, er ist ein Weib; sehen sie einen Alphons, der im Namen
der Frau spricht und seinen Willen einer Frau unterstellt, so heißt es:
Seht, das ist ein Mann! So muß ein Mann sein! Der Dichter Grönlund,
der sich gegen Bezahlung prostituiert und ein Entretenu ist, das ist
der Dichter der Frauen! Er schreibt gegen sein eigenes Geschlecht und
verleumdet es ... Gynolatrie!«

Sie hatten die Insel passiert und waren an die Floßbrücke gekommen.
Jetzt tauchte plötzlich der Schanzenberg im Licht der Feuerzeichen auf,
und der Feuerkranz von Bredablick hing in der Dunkelheit ...

Sie blieben einen Augenblick schweigend stehen, dann wurde der Marsch
fortgesetzt, und die sechsstimmige Fuge kam wieder in Gang.

»Sellén und das Rote Zimmer haben 1870 die Schanze erfunden; das ist ja
köstlich; bevor der Aussichtsturm da war; damals diente der Hügel als
Motiv für Maler, auch als eine Art Luginsland ...«

»Ich vergesse nie den Franzosen vom Geschwader, der mich zwei Tage
lang mit seinem ›Es lebe die Akropolis‹ verfolgte, sogar bis in den
Opernkeller.«

       *       *       *       *       *

»Die Ursachen der Auswanderung? Sieh dir den Staatskalender und die
Landsturmrolle an.«

       *       *       *       *       *

»Jetzt ist alles in so raschem Fluß, und man kann eine Erklärung, die
zehn Jahre alt ist, nicht benutzen, weil sie nicht mehr stimmt. Wo ist
Panslawismus? Pangermanismus? Borussianismus? -- Nirgends! Wo ist der
amerikanische Weizen geblieben, der Europa in Angst versetzte? Und die
Reblaus? Tot, und Frankreich weiß nicht, wo es seinen Überfluß an neuem
Wein absetzen soll.«

»Alles scheint sich schließlich zurechtzuziehen, aber man kann das
Eingreifen einer gewissen Vorsehung nicht leugnen. Damit Dreyfus
frei werden konnte, mußte Bismarck sterben. Als er gestorben war,
kam der Erlaß des Zaren, und damit war der Revanchegedanke erledigt,
damit konnte China geöffnet und Dreyfus begnadigt werden, wodurch die
Kampflust der französischen Armee beschnitten wurde ...«

       *       *       *       *       *

»Man mag sagen, was man will, aber der deutsche Kaiser (der in Berlin)
ist ein Mann; er ist der einzige Monarch, der seine gesetzlichen Rechte
und seinen persönlichen Einfluß zu benutzen wagt. Sein Telegramm an die
Transvaaler erforderte Mut!«

»Konstitutionelle Monarchen, das ist doch nichts. Konnte nicht der
Reichsmarschall den Reichstag eröffnen und die Bahnen einweihen? Die
Orden könnte man ja streichen, dann brauchten sie nicht ausgeteilt zu
werden.«

       *       *       *       *       *

»Wenn man Mark Twains Gleichung geben wollte, wäre es die: Die
Umwertung aller alten verfallenen Werte durch den Menschen der
Gegenwart! Das Verflossene in elektrischer Beleuchtung gesehen; alte
Kultur auf der Auktion, wo kein Respekt, keine Liebhaberwerte mehr
mitsprechen, außer dem Zwangswert, den sie jetzt hat; sie muß zu
jedem Preise realisiert werden ... zum ersten-, zum zweiten- und zum
drittenmal! Bibliotheken müßten dann und wann verbrannt werden, sonst
wird das Gepäck, das man mitzuschleppen hat, zu groß. Chinesen und
Araber haben das durchgeführt, und Japan hat eine ganze Kultur auf
einmal beiseite geworfen ... Japan, ja!«

       *       *       *       *       *

»Man sagt, Holger habe im Gefängnis Dinge erlebt, über die er nicht
sprechen will ... daß er aber seinen alten Glauben an den Affen und an
den Mechanismus ohne Mechanikus verloren hat, ist sicher. So weit wie
Max ist er noch nicht gekommen ...«

»Ja, Max und Esther! Da darf man sich nicht einmischen; das muß geheim
bleiben und respektiert werden. In das Seelenleben zweier Menschen darf
und kann niemand mit rauhen Händen eingreifen ...«

       *       *       *       *       *

»Warum wächst Stockholm nicht aufs Meer hinaus, sondern nach
den Tümpeln zu? Wie kann man mit Bauplätzen auf dem Leibgedinge
spekulieren, die nur auf Lebenszeit, die unbestimmt ist,
Dispositionsrecht gewähren? Nein, ein Strandweg, eine lange Linie wie
in Kopenhagen von der allgemeinen Gasse bis zum Blockhauszoll; die
Industrie auf der Insel Sickla, die Flotte auf Vaxholm und für die
Stadt Stockholm die Insel Liding ... hinaus ins Meer!«

       *       *       *       *       *

»Pastor Alroth liegt im Krankenhaus, um aufgeschnitten zu werden. -- Es
ist ein schauerlicher Tempel, in dem die Menschen von einer unbekannten
Göttin geschlachtet werden, die den Blinddarm sehen will. Sie werden
dahingebracht, um getötet zu werden, wie die Hunde zum Tierarzt!«

»Apropos Hunde! Es ist doch schändlich, daß sechstausend Hunde in
Stockholm den Kindern Brot und Milch wegnehmen ... Und die Hauswirte,
die ihre feinen Wohnungen an Tiere und ähnliches vermieten ... ist das
gesetzlich? Es steht doch im Kontrakt, man soll ein stilles und ruhiges
Leben führen ... Die Tiere haben jetzt größere Rechte als der Mensch,
dann ist der Mensch reif! -- Streikten die Dienstboten und weigerten
sie sich, frierend auf der Straße zu stehen, wenn die Hunde sich und
andere soulagieren, dann würden wir bald eine zivilisierte Gesellschaft
haben. -- Wenn man sich vorstellt: man läßt einen Dienstboten vor
der Haustür stehen und sich schämen! Pfui, was für Menschen ...
Barmherzigkeit gegen das Tier! Aber zunächst gegen den Menschen!«

       *       *       *       *       *

Die Fuge fugierte sich den Schanzenberg hinauf.

»Akropolis, der Heilige Berg, das Kapitol!«

»Weltbürger bedeutet nicht, daß der Norweger von Blasieholm aus
Schweden regieren soll; nein, nationale und kommunale Selbstverwaltung
bei allen Föderativstaaten!«

»Selbst Talmud verflucht den Mann, der seinen Willen seiner Frau
unterwirft.«

»So, da fangen die Hunde an zu kläffen, weil sie den Gesang vom Turm
hören; nichts kann ohne Hunde vor sich gehen. Da lobe ich mir die
Türken ... und die Japaner! Bei ihnen ist das unreine Tier unrein ...
aber bei uns ... jeder Hundebesitzer ist ein ~cynêde~ ... schlagt das
Wort bei Lombroso nach ...«

»Seht, da in dem Hause steht Grönlund, der Anführer der Teufelsanbeter
... jawohl alle, die Karl XII. anbeten, sind Teufelsanbeter, und alle,
die Gustav Adolf anbeten, müßten auch Swedenborgs ~Diarium Spirituale~
lesen ...«

       *       *       *       *       *

»Die Mitternacht kommt von Osten her,« sagte Max; »in diesem Augenblick
steht sie über der Ostsee und hat das neue Jahrhundert in ihrem Arm.«

Sie standen vor dem Swedenborgpavillon, und Esther glaubte etwas über
den großen Schweden sagen zu müssen, der jetzt aus hundertjähriger
Vergessenheit und unverdienter Geringschätzung emporgestiegen war.

»Du glaubst doch nicht, daß Swedenborg mit andern Welten in Verbindung
stand; man kann nicht in Verbindung mit andern Welten stehen, die es
nicht gibt.«

»Gibt es sie nicht? Blicke zum Himmel auf und zu den Sternen! Siehst du
jetzt nicht andere Welten?«

»Doch, aber ...«

»Siehst du da nicht Capella, den großen, weißen Stern?«

»Nun?«

»Da du ihn siehst, so ist dein Auge durch das von ihm ausstrahlende
Licht getroffen, und du stehst in einer Art Verbindung mit ihm, da du
etwas von ihm bekommen hast.«

»Ja, einen Lichtstrahl ...«

»Jawohl, einen Lichtstrahl, den du aufnimmst. Nun weißt du doch, daß
man auf einem Lichtstrahl eine Tonwelle senden kann?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Kennst du Bells Photophon nicht, durch das man mittels eines
Lichtstrahls fernsprechen kann? Nun, das gibt es, wenn du es auch nicht
kennst. Jedenfalls kannst du auf dem Lichtstrahl der Capella eine
Tonwelle aussenden. Nun weißt du, daß eine Tonwelle einen Gedanken
fortzupflanzen vermag; du schickst mir ja jeden Tag einen Gedanken
durchs Telephon. Stimmt meine Beweisführung?«

»Ja ...«

»Also der Schlußsatz: Andere Welten existieren, weil du sie siehst, und
du könntest auf einer Lichtwelle durch eine Tonwelle einen Gedanken
aussenden und umgekehrt auf dem gleichen Wege von dem gleichen Ort
einen Gedanken empfangen.«

»Die Beweisführung ist richtig ...«

»Dann sind wir einig, und Swedenborg kann mit andern Welten in
Verbindung gestanden haben.«

»Das fasse ich nicht ...«

»Soll ich die Beweise noch einmal wiederholen? Nein, das willst du
nicht! -- Jedenfalls hat Holger im Gefängnis eine Menge Erlebnisse
gehabt, die er nicht erklären konnte, die ihn aber beunruhigt haben.
Solange wir etwas nicht erklären können, nennen wir es Mystik. Nun
hatte er Swedenborg nie gelesen; als er aber wieder herauskam, geschah
ihm das Folgende, das du kontrollieren kannst, wenn du willst. Nach
seiner Befreiung lebte er in Grübeleien und glaubte natürlich auf dem
Wege zum Wahnsinn zu sein. Da kommt eines Tages auf die Redaktion
ein armer Jugendfreund und will Swedenborgs Arcana Coelestia, die
schwedische Ausgabe verkaufen, besaß aber nur Teil 6, 7 und 8. Um ihm
zu helfen, kaufte Holger sie, ohne die Absicht, sie zu lesen. Als er
jedoch, nachdem er allein geblieben war, darin blätterte, fand er in
dem Buche -- seine Erlebnisse im Gefängnis, und die Erklärungen dafür
stimmten. Da wurde er nachdenklich, versuchte Geister zu beschwören
mit den Formeln Hypnotismus, Suggestion, Zwangsvorstellungen und
andern. Jedenfalls war auf seine Vergangenheit und seine Gegenwart
ein neues Licht gefallen. Vierzehn Tage später war er in Upsala und
ging zum Antiquar, um das Gesetzbuch von 1734 zu kaufen. Er muß selbst
in den Regalen suchen und findet nun Teil 1, 2 und 3 der Arcana;
aber natürlich nicht die gleiche Ausgabe wie die seine. Als er nach
Stockholm zurückkam, wollte er sofort das ganze Werk kaufen, doch
es war nirgends zu haben. Er wollte eben von dem letzten Antiquar
fortgehen, da fällt ihm ein, zu fragen: Aber Sie haben vielleicht
einzelne Bände? -- Ja, die hatte er; und gerade Teil 4 und 5, die
fehlten; und wieder eine andere Ausgabe als die seine. Wenn du das
als Zufall hinstellen willst, so kannst du auch Lotterie spielen und
voraussagen, ob du gewinnen wirst oder nicht. Dennoch ist er nicht
Spiritist und hat keine Visionen -- aber er nimmt wahr, er bekommt
Eindrücke, Warnungen, ganz wie der nüchterne Sokrates von seinem
Daimon. Seine Person scheint mir unter der höchsten Temperatur des
Leidens in einer Retorte sublimiert zu sein; er hat sich gespalten
in einen Alltagsmenschen, der unten in der Materie lebt, und einen
Feiertagsmenschen, den er nach gut verrichteter Pflicht ausschlüpfen
läßt.«

»Hast du Swedenborg gelesen?« fragte Esther, die sich bei diesem
Gespräch nicht wohl fühlte.

»Ja, ich habe ihn gelesen, und ich glaube, kein Mensch hat so viele
Geheimnisse ergründet wie er ... Es ist kein Zufall, daß sein Haus
hier auf dem Berge steht, gerade jetzt, wo er gebraucht wird ... Höre
an dem Namen Sweden borg, was er für unser Schweden bedeutet. Ich
möchte ihn da in der Türöffnung sitzen sehen wie Abraham, als er im
Haine Mamre Besuch von dem Herrn bekam ... Er kehrt wieder, aber um zu
erlösen und Gericht zu halten; um zu befreien, nämlich den Geist; um
zu binden, nämlich das Tier! Ich habe nicht recht begriffen, warum all
diese Tiere mit ihrer Unreinlichkeit hier auf dem Berge eingesperrt
gehalten werden, aber das hat vielleicht den Grund, daß wir den
Unterschied zwischen ihnen und uns sehen, daß wir durch Vergleich den
Menschen entdecken sollen! Jetzt ist die Mitternacht da, und ich höre
das Jahrhundert kommen, von Osten her; jetzt steht es über Värtan, es
läutet in Vaxholm ... Birgt es Frieden unter seinen Schwingen, Frieden
durch Kampf? Die Menschen wollen keinen Frieden! Heute werden im Haag
von sechsundzwanzig Staaten die Verhandlungen des Friedenskongresses
unterzeichnet! Aber niemand glaubt an den Frieden; alle rüsten! ...
Wenn du gut von den Menschen sprichst, lachen sie dich aus; sie kennen
sich, wir kennen uns; sprichst du aber schlecht von ihnen, von uns,
dann werden sie böse. Etwas schlechter als ihr Ruf und etwas besser
sind die Menschenkinder!«

       *       *       *       *       *

Jetzt läutete es von den beiden Glockentürmen, und von der Stadt erhob
es sich wie eine Wolkensäule von hallendem Geläut, so daß der Berg
bebte. Es ging ein Erschauern durch die Volksmassen, die verstummten
und den Kopf entblößten, ohne daran zu denken, wem sie huldigten. Die
Tiere in Käfigen und Grotten krochen hinein und versteckten sich,
erschrocken wie Heiden beim Klang der geweihten Glocken; es ging ein
Rauschen durch die Kiefern, das das Rauschen des Nachtwindes sein
konnte, aber auch das Rauschen des durch die Bronze erschütterten
Luftmeeres.

Das große Te Deum von der Stadt stieg und stieg, und man sah die
spitzen Kirchtürme sich wie Blitzableiter erheben, um die Blitze des
Zorns abzuleiten. Der Sternenhimmel aber lächelte sanft, freundlich,
nachsichtig.

Und dann verstummten die Glocken der Türme auf dem Berge, auch die der
Stadt, eine nach der andern.

»Glaubst du, daß man dies droben gehört hat?« fragte Esther.

»Ja, so wahr meine Seele lebt, das hat man gehört!« antwortete Max.

Nach kurzem Schweigen nahm er wieder das Wort:

»Nun, was hältst du von dem neuen Jahrhundert, das angefangen hat?«

»Es ist dem alten gleich!«

»Ziemlich gleich! Aber doch ein anderes!«

»Wandern wir? Zusammen?«

»Eine Strecke!«

»Aufwärts?«

»Vorwärts!«

»Aber nicht mehr abwärts!«



        _Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig._



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die Gotischen Zimmer" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home