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Title: Reife Früchte vom Bierbaum
Author: Bierbaum, Otto Julius
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
    ~so markiert~.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.

[Illustration:

            Phot. Hugo Erfurth, Dresden.
]



    Reife Früchte

    vom

    Bierbaum.

    Aus den letzten Ernten ausgewählt und mit einem
    Vorspruch dargebracht

    von

    Fritz Droop.

    Mit einem Bildnis Otto Julius Bierbaums.

    Leipzig

    Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.



Einleitung.


Von Zeit zu Zeit tut uns das Lachen not, das Lachen, das über den
Alltag erhebt, die Freude, die uns stärkt und befreit; es gibt keinen
besseren Arzt auf der Welt als den Humor, keinen besseren Führer durchs
Leben als die Lebensfreude!

In der Erkenntnis dieses Grundsatzes ruht die Bedeutung Otto Julius
Bierbaums, und wenn irgend etwas die Hoffnung stärken kann, daß wir
wieder einer gesunderen künstlerischen Zeit entgegengehen, so ist es
der Umschwung der öffentlichen Meinung zugunsten eines Liliencron,
Bierbaum und Hartleben. Denn nicht immer war man so »tolerant«, und
noch trennen uns keine zwei Jahrzehnte von der Zeit, da man weder von
dem einen noch dem andern etwas wußte oder wissen wollte. Aber ein
ungebärdiger Überschwang und eine brausende Zuversicht zu sich selbst
gab diesen Dichtern die Kraft, sich durchzusetzen. Sie schlugen, wie
Bierbaum in einem Aufsatz über Liliencron sich einmal ausdrückt, wie
die Fohlen auf der Weide aus und vermieden es, artiger zu scheinen,
als ihnen zumute war. Auf bürgerliche Reputation kam es ihnen durchaus
nicht an, und sie empfanden es als eine große Genugtuung, wenn man mit
dem Finger der Entrüstung auf sie hinwies als auf zügellose Frevler
gegen alle Ordnung und Sitte. »Der allerorten gegen uns erhobene
Schulmeisterbakel machte uns nur noch verwegener und vergnügter,
und der Umstand, daß alle Argumente gegen uns schließlich darauf
hinausliefen, uns unsere grüne Jugend vorzuwerfen, ließ uns eben diese,
die wir als unseren Vorzug empfanden, erst recht auftrumpfen.« Sie
nannten sich Realisten, waren aber weltfremde Feinde der Realität,
Idealisten vom reinsten Wasser, mit so großer Vorliebe sie auch die
Kunstmittel des Naturalismus anwandten, um als Gegensatz zum Bilde
ihrer Sehnsucht, das rechtschaffen verschwommen war, ein Bild der
»Wirklichkeit« zu machen, von der sie in Wirklichkeit noch bitter
wenig Ahnung hatten. Es waren jene übermütig lebensfrohen Gesellen,
wie Bierbaum sie in dem jüngst erschienenen Versbuch »Maultrommel
und Flöte« so trefflich zeichnet, indem er sie als »junge Götter in
Hemdsärmeln« singen läßt:

    »Setzt euch, Brüder! Trinkt und schlemmt!
    Winken auch bloß billige Pullen,
    Schinken-, Wurst- und Käsestullen,
    Und das Tischtuch ist ein Hemd:
    Setzt euch, Brüder! Trinkt und schlemmt!

    Denn wir sind die Herren: Wir
    Garnichtshaber, Garnichtswoller,
    Garnichtssucher, Garnichtssoller.
    König, -- heb dich weg von mir!
    Denn wir sind die Herren: Wir!

    Sind die Herren Götter! Frei,
    Wie sonst niemand ist auf Erden.
    Sollen wir erst selig _werden_?
    Nein, wir _sind's_! Hör's, Menschenbrei:
    Sind die Herren Götter: frei!«

Heute wissen wir, daß Bierbaum kein geringerer Lebenskünstler ist
als Liliencron und erkennen es deshalb als einen Zug wohltuender
Dankbarkeit, daß er zum Lobe des Dichters der »Adjutantenritte«
die ehernen Worte fand: »Da kam Liliencron, und wir vernahmen aus
seinem Munde in Versen von ganz der Art, um die wir rangen, Worte der
Bejahung des Lebens ohne Sehnsucht nach Utopien, wohl aber verklärt
durch Gesichte einer zweiten tieferen Realität: der des seherischen
Künstlers. Zum ersten Male, und das entzückte uns besonders, sahen
wir unter uns einen Dichter von ganz ursprünglicher und unverbildeter
dichterischer Veranlagung, der kein Literat war, ja das Gegenteil
eines Literaten, und der in seinen Gedichten, so voll sie der
reinsten, echtesten, kräftigsten Poesie waren, auch nicht den Dichter
hervorkehrte, dieses abstrakte X., das alles individuell Menschliche
verbirgt, sondern eine ganz deutliche Persönlichkeit bekannte. Auch
wir taten uns ja etwas darauf zugute, daß wir, nicht selten mit mehr
Selbstbewußtsein als Geschmack unserem dichterischen Ich deutliche
Persönlichkeitszüge mitgaben, wenn wir es zum Mittelpunkte einer
lyrischen Konfession machten, aber es sah dennoch fast immer recht
sehr allgemein aus, denn, so heftig wir nach dem höchsten Gute: der
Persönlichkeit trachteten, so wenig konnten wir es im allgemeinen
erreicht haben, da wir zu jung dazu waren und zu wenig wirklich erlebt
hatten. Auch waren wir zu ausschließlich Dichter und betonten diesen
Umstand sogar als etwas, das uns auszeichnete, -- eigentlich ganz wie
die von uns so sehr geschmähten ›Alten‹, die es nur in anderer Manier
und aus anderen Gründen taten.«

Bereits vor zwanzig Jahren durfte er seine ersten Lorbeeren pflücken,
als er mit seinen warmherzigen und geistvollen Abhandlungen über
Arnold Böcklin, Detlev von Liliencron, Fritz von Uhde und Franz
Stuck die Kreise der Künstler und Literaten entzückte. Außerhalb
dieser Kreise war sein Name zunächst noch wenig bekannt, und erst
die »Studentenbeichten« trugen seinen Ruhm hinaus auf den Markt, bis
ihn der »Irrgarten der Liebe« und die vornehme Auswahl des »Seidenen
Buches« geradezu volkstümlich machten. Jedenfalls gehört Bierbaum
heute zu den meist- und bestkomponierten unter den lebenden Lyrikern;
es sei nur an die Kompositionen von Richard Strauß und Max Reger oder
an das vielgesungene Lied »Sommernacht« in der genialen Vertonung des
Königsberger Kapellmeisters Paul Scheinpflug erinnert:

      Laue Sommernacht; am Himmel
    Stand kein Stern; im weiten Walde
    Suchten wir uns tief im Dunkel,
    Und wir fanden uns.

      Fanden uns im tiefen Walde
    In der Nacht, der sternenlosen,
    Hielten staunend uns im Arme
    In der dunklen Nacht.

      War nicht unser ganzes Leben
    So ein Tappen, so ein Suchen?
    Da: in seine Finsternisse,
    Liebe, fiel dein Licht.

Bierbaums Gedichte, Lieder und Sprüche haben fast durchweg etwas
Schlichtes, Natürliches, etwas Einschmeichelndes und Herzgewinnendes,
wie es unser Volk liebt; und wenn seine Versbücher auch eine Menge
leichter Tändeleien mit sich führen, so enthalten sie doch alle eine
stattliche Anzahl Gedichte, über denen ein wirklich echter, zarter Duft
von Grazie und Anmut liegt.

Mit dem Schauspiel »Stella und Antonie« betrat der Dichter zum ersten
Male den dornenreichen Pfad des Dramatikers. Das Stück, das an den
vornehmsten deutschen Bühnen wiederholt mit glänzendem Erfolge
aufgeführt worden ist, behandelt die Tragödie eines Mannes, der
zwischen zwei leidenschaftliche Weiber gerät, von denen sich das eine
an seine Sinne, das andere an sein Herz und seine Seele wendet; es
ist der Konflikt zwischen der wildbegehrenden Natur und der edlen
Sitte, ein heißer Kampf, in dem die Sitte siegt. Im Elberfelder
Stadttheater erzielten außerdem vor einigen Jahren zwei mit allerlei
Spitzen und Bosheiten gegen Pastor und Staatsanwalt gespickte
»Stilpe-Komödien« einen allgemeinen Heiterkeitserfolg. Weiter schrieb
er das graziös-tiefsinnige Märchenspiel »Lobetanz«, zu der Ludwig
Thuille zarte lyrische Weisen fand. Er gab Kortums »Jobsiade« mit einer
launigen Vorrede in Knittelversen neu heraus, schrieb eine willkommene
Studie und Verteidigungsschrift über Meister Hans Thoma, dichtete
als alter Korpsstudent aus Anlaß des Leipziger Universitätsjubiläums
die Studentenkomödie »Der Musenkrieg« und ist Herausgeber des seit
einigen Jahren im Verlage von Theodor Weicher (der auch die mit
handschriftlichen Selbstbiographien der Dichter und ihren Porträts
ausgestattete Sammlung »Deutsche Lyrik der Neuzeit« herausgebracht
hat) in Leipzig erscheinenden Goethe-Kalenders. Er gründete die
Monatsschrift »Insel«, gab den »Modernen Musenalmanach« heraus und rief
mit Meier-Gräfe zusammen die kostbar ausgestattete Kunstzeitschrift
»Pan« ins Leben. Was er aber auch begann, geschah in einer glücklichen
Stunde, unter einem glücklichen Stern.

Daß seine Muse auch dem Zuge der Zeit zu folgen wußte, bewies er durch
die »Empfindsame Reise im Automobil«. Mit offenen, wachen, allen
Erscheinungen des Lebens und der Natur zugewandten Sinnen reisen,
nennt er empfindsam reisen, und dieses Reisen allein erscheint ihm
als das wirkliche Reisen, wert und dazu angetan, zur Kunst erhoben
zu werden. In unserer Zeit hat man das Reisen ja verlernt; man läßt
sich transportieren. Bierbaums Ziel war, mit dem modernsten aller
Fahrzeuge auf recht altmodische Weise zu reisen; sein Leitspruch
hieß: »Lerne reisen ohne zu rasen«, und die achtzehn Briefe, in denen
der Dichter seinen Freunden Detlev von Liliencron, Hans Thoma, Franz
Stuck, Max Schillings, Fritz von Uhde, Oskar von Chelius, Ludwig
Thuille und anderen berichtet, beweisen, daß er seinen Spruch zu
beherzigen verstand. Bierbaum hat sehen und genießen gelernt; das
ist's, was ihn ebensosehr zum geistvollen Plauderer und Humoristen wie
zum Sittenschilderer und Kunstkritiker stempelt. In der soeben bei
Georg Müller in München erschienenen »Yankeedoodle-Fahrt« hat er diese
Fähigkeit von neuem im schönsten Lichte entwickelt.

Eine besondere Betrachtung gebührt Otto Julius Bierbaum als Romancier.
Was Schönheit und Weiberklugheit vermag, das erzählt Bibaomo,
Baccalaureus der schönen Künste, in seinem Roman »Das schöne Mädchen
von Pao«, in der »Schlangendame« geschieht nichts weniger, als daß
die Serpentincancanöse Fräulein Paula Hollunder einen verbummelten
Studenten, Herrn Ewald Brock, erzieht, bemuttert und nicht eher ruht,
bis sie aus ihm einen wirklichen Doktor und ein braves und nützliches
Mitglied der menschlichen Gesellschaft gemacht hat. Die landläufige
Moral bekommt hier also einen argen Stoß; für die Überzarten,
Zimperlichen, Prüden ist die »Schlangendame« nichts, ebensowenig wie
der »Pankratius Graunzer«.

Dasselbe gilt von »Stilpe«, dem Roman des verkommenen Genies, sowie
von der dreibändigen Geschichte »Prinz Kuckuck, Leben, Taten,
Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings«; beides Werke von ebenso
groteskem Farbenspiel wie bitterem Ernst, aus denen nicht zuletzt
der Berufserzieher eine Fülle von Anregungen und heilsamen Lehren
ziehen kann. Was Bierbaum selbst über das Wesen des Romans denkt, hat
er in seinem Widmungsbriefe an Holger Drachmann ausgedrückt, über
seine besonderen Absichten mit dem Zeitroman »Prinz Kuckuck« sagt
er in den von Professor Litzmann herausgegebenen Mitteilungen der
Literarhistorischen Gesellschaft in Bonn:

»Die Grundabsicht meiner Arbeit ist satirischer Natur, aber die Satire
wendet sich nicht gegen bestimmte Personen, sondern gegen allgemeinere
Zeiterscheinungen. Es lassen sich herausheben: Erziehungswesen,
Übermenschentümlichkeit, Macht des Geldes (über den Besitzer wie über
seine Umgebung), Rassenphrasen, künstlerische Galoppentwickelung,
Erotomanieen aller Art, Snobismen auf verschiedenen Gebieten (selbst
der Religion), Neigung zur Allüre und allem Äußerlichen. Dies alles
wie in einem kochenden Nudeltopfe: ein ewiges Auf- und Nieder- und
Durcheinanderwallen: eine Zeit ohne Helden und ohne Stil, aber mit
heftig bewegter Tendenz danach.

Insofern erscheint eine Hauptfigur mit Zügen ausgestattet, die nicht
bloß individuell gedacht sind: Der Erbe, der nicht zu erwerben weiß, um
zu besitzen. Indessen ist er doch nicht wesentlich als Typus angelegt,
wenngleich gewisse Besonderheiten an ihm (so sein ›antisemitisches‹
Halbjudentum, das Zufallhafte seines Reichtums und damit sein Mangel
an Tradition) nicht ohne eine Art symbolisch allgemeiner Bedeutung
sind. Denn neben der satirischen Absicht leitete mich das Interesse
an gewissen psychologischen Problemen und, natürlich, die Lust am
fabulierenden Gestalten.

Darüber aber ist nun wohl vom Verfasser nichts zu sagen. Erscheint
das psychologische Problem, erscheinen die einzelnen Gestalten nicht
mit aller Deutlichkeit, und entbehrt die (_übrigens erfundene, nur in
einzelnen Voraussetzungen der Anlage modifiziert dem Leben entnommene_)
Fabel der Geschichte des Reizes überzeugender Anziehungskraft, so hilft
kein Kommentar und Wegweiser des Autors über den Umstand weg, daß sein
Werk verfehlt ist. --

Im ersten Hefte des dritten Bandes ›Aus Kunst und Altertum‹ finden sich
hintereinander zwei Axiome Goethes, die auf meinen Roman im allgemeinen
wie im besonderen passen:

›Der Roman ist eine subjektive Epopöe, in welcher der Verfasser sich
die Erlaubnis ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln. Es
fragt sich also nur, ob er eine Weise habe; das andere wird sich schon
finden.‹ Und:

›Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in
der sie sich befinden, und denen keine genug tut. Daraus entsteht der
ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt.‹

Auf die Frage, ob ich eine Weise habe, kann nur der Roman selbst
antworten; auf die, ob sie den anderen gefällt, nur die anderen;
und schließlich auf die, ob sie künstlerisch wertvoll zum Ausdruck
gebracht worden ist, mag die Kritik ihre Antwort geben. Ich glaube, daß
Aufbau und Gliederung meiner subjektiven Epopöe für den ästhetischen
Beurteiler literarischer Kunstwerke einiges Interesse haben werden.
Bei aller Freiheit im einzelnen bin ich konstruktiv sehr streng zu
Werke gegangen, -- auch in Fällen, wo man mir am Ende nachsagen wird,
daß ich mich aus reiner Lust am Fabulieren habe gehen lassen (z. B.
in dem Zwischenstück aus dem XVIII. Jahrhundert im dritten Bande,
das eine Art Rück- und Wiederspiegelung des Problems sein will). Die
Vielfältigkeit des Stiles läßt sich, denk ich, durch die Anlage des
Ganzen rechtfertigen, das ich mit einem weitläufigen Gebäudekomplex
nach Art des bayrischen Nationalmuseums vergleichen möchte, das, als
Ganzes eine ästhetische Einheit, im einzelnen die verschiedensten Stile
aufweist (in der Architektur wie in der Inneneinrichtung). Wenn es mir
wie Meister Gabriel von Seidl gelungen ist, mit verschiedenartigen
Mitteln ein Gebäude aufzurichten, das dennoch als organisches Gebilde
wirkt gleich alten Bauwerken, denen die Entwickelung der Zeit eine
Vielfältigkeit des Stiles gegeben hat, ohne ihre konstruktive Einart
zu verwischen, so glaube ich, daß der Wechsel des Duktus kein Fehler
meines Romanes ist. Es geschah nicht aus Lust an stilistischer
Spielerei, sondern stellte sich wie von selbst mit dem Wechsel der
Szenerie, der Handlung, der Zeit innerhalb meiner Geschichte ein. Wäre
sie (vergleichsweise) ein Dom, ein Palast, ein idyllisches Landhaus,
so möchte das Nebeneinander von Stilen schwerer zu verteidigen sein.
Sie ist aber eine Art Museum von allerhand, höflich ausgedrückt,
Kuriositäten der Generation, zu der ich gehöre, und so durfte ich
meiner Empfindung nach, die Geschichte der schönen Sara im Stile der
Krinolinenzeit, die Erlebnisse des ›Helden‹ in der Ulrikusstraße zu
Hamburg aber im Stile des Naturalismus vom Anfang der achtziger Jahre
erzählen usw.

Das zweite Zitat aus Goethe, das, wenn ich nicht irre, bei dem
bekannten Spielhagenschen Romane Pate gestanden hat, umschreibt das
dominierende Problem im Leben meines sehr problematischen Wollüstlings
aufs treffendste. Wie es mir nach Beendigung der ersten beiden Bände
vor Augen kam, erschrak ich beinahe, als hätte ich mich selbst auf
einem Plagiat ertappt. Bei dieser Gelegenheit ist zu bemerken, daß das
›Wollüstling‹ im Titel eine ironische Nuance hat ...

Nur wer des Sinnes für Nuance und Ironie entbehrt, dürfte überhaupt
gut tun, sich eine weniger problematische Lektüre zu wählen, als den
›Prinzen Kuckuck‹. Damit ist gesagt, daß das Buch sich insbesondere
nicht für junge Mädchen eignet, als welche fast ausnahmslos so
glücklich sind, diesen gefährlichen Sinn nicht zu besitzen.

Es soll ja überdies auch unmoralisch sein und ist bereits als
pornographisch denunziert worden. Demnach gibt es Leute, die Bücher
mit der ausgesprochenen _Absicht_ lesen, Anstoß zu nehmen. Es muß dies
eine Art Perversität sein; geistiger Masochismus etwa. Denn, wenn ein
Buch auf seinem Titel ausdrücklich bekennt, daß es vom Leben, den
Taten, den Meinungen und der Höllenfahrt eines Wollüstlings handelt, so
sollte ein (sozusagen) normal prüder Mensch sich hinlänglich gewarnt
und abgestoßen fühlen, und er sollte sich den Stein des Anstoßes nicht
geradezu ins Haus tragen. Tut er's dennoch, so wird man annehmen
dürfen, daß ihm entweder das Ärgernisnehmen oder das Denunzieren
vergnüglich ist. Jeder Staatsanwalt aber sollte mit Entschiedenheit
erklären, daß die Organe des Staates nicht dazu da sind, derlei
perversen Trieben zu dienen. Ich für mein Teil darf sagen, daß mir
ebenso unerwünscht wie diese Art Leser die sind, denen das Wort
Wollüstling etwa als Einladung erschienen ist. -- Im übrigen glaube
ich, daß mein Roman eine sehr schöne Moral hat. Sie steht bei Immanuel
Kant mit diesen schönen Worten zu lesen: ›Durch die Einschränkung der
Selbstliebe und Niederschlagung des Eigendünkels entsteht in uns jenes
Gefühl, welches das Moralgesetz in uns bewirkt.‹«

Es kam Bierbaum bei der Niederschrift des »Prinzen Kuckuck« nicht
allein darauf an, das Leben eines Menschen zu schildern; sein
ungleich größeres Thema war die Zeit, in der sich der Held bewegt.
Seltsame Gestalten tauchen vor uns auf, seltsam und doch so lebenswahr
und psychologisch echt, und alles das ergänzt sich zu einem treuen
Spiegelbild des unruhigen Getriebes unserer gegenwärtigen Epoche, deren
Pulsschlag hastig und unsicher, voll Leidenschaft und Erregung ist.
Wer die wahren Schäden unserer Zeit kennt und sich nicht fürchtet,
dieses zu bekennen, der wird den »Prinzen Kuckuck« mit noch größerer
Freude begrüßen, wie einst den »Stilpe«. Denn es geht, wie Felix
Salten in der »Zeit« so treffend ausgeführt hat, von der Erzählung ein
solcher Sturm des Geschehens, des Erfindens aus, daß es ist, als hätte
man die Begebenheiten, die Menschen und die Schicksale eines ganzen
Zeitalters zusammengeschüttelt, die Stoffe von zwanzig Romanen, von
dreißig Komödien und von hundertfünfzig Novellen. Der Sohn der schönen
Sara schreitet durch diesen Tumult von Gestalten und Ereignissen,
durch dieses Zeitalter, welches das unserige ist. Er wächst auf,
wandelt sich, genießt die Welt, taumelt durch die Brandung der Epoche,
überall dort, wo sie am wildesten schäumt, ist der Liebling und der
Narr des Glücks, und stirbt wie eine Flamme oder wie ein Gleichnis.
Im »Prinzen Kuckuck« ist so ziemlich alles aufgefangen, was heute die
germanisch-slawisch-gallisch-jüdische Menschheit des modernen Europa
erlebt; ginge diese Welt jetzt durch eine Sintflut spurlos unter, sie
fände sich mit all ihrem sonderbaren Getier in diesem Buch aufbewahrt,
wie in Noahs Arche.

Dem Roman ließ Bierbaum sehr schnell das Essaybuch »Liliencron«, die
»Sonderbaren Geschichten« und die »Yankeedoodle-Fahrt« folgen. In
seinem Liliencron-Buch hat Bierbaum -- neben Michael Georg Conrad
ohne Frage der Berufenste unter allen »Biographen« Liliencrons --
die bedeutendsten seiner zahlreichen Bekenntnisschriften über den
Unvergeßlichen vereinigt. Nur wenigen hat sich der Dichter des
»Poggfred« und der »Adjutantenritte« so unverhohlen mitgeteilt wie ihm;
zudem war Bierbaum nächst dem großen Anreger und Vorkämpfer Michael
Georg Conrad der erste, der die Bedeutung Liliencrons erkannte und mit
glühender Begeisterung und offenem Freimut für ihn in die Schranken
trat. Man versteht es und freut sich dessen, daß die Dankbarkeit den
Verfasser veranlaßte, das Buch dem älteren Kameraden zuzueignen, und
man braucht nur den Widmungsbrief an Michael Georg Conrad zu lesen,
um den Grundakkord zu vernehmen, auf dem die Sinfonie des herrlichen
Buches sich aufbaut: die Sinfonie der Schönheit und der Kraft.

Die »Sonderbaren Geschichten« erinnern uns in der Kunst der Prosa an
den großen Roman, ja sie übertreffen ihn darin vielleicht insofern, als
der Reichtum der Ausdrucksmittel hier in schärferer Zucht gehalten,
klarer disponiert ist. Ein Stück wie »Samalio Pardulus« darf als
Wortkunstwerk einen Rang beanspruchen, der oberhalb des meisten steht,
was die künstlerische deutsche Belletristik hervorgebracht hat. Diese
Sprache hat nicht bloß Anschaulichkeit und Wärme, sie hat auch Rhythmus
und zwar, daß ich nicht mißverstanden werde: ohne sogenannte poetische
Prosa zu sein. In ihr waltet die Ökonomie der Novelle, wie im »Prinzen
Kuckuck« der mächtige Atem des künstlerischen Romans der Sprache das
Gesetz: die künstlerische Struktur gibt. Man muß in Deutschland immer
wieder auf derlei hinweisen, denn der Genuß von Kunstwerken des Wortes
hängt nicht bloß vom Verständnis des Inhaltes, sondern fast noch
mehr davon ab, daß der Leser seinen Sinn für die Form bilde und des
Wohlgefühls teilhaftig werde, das in der Erkenntnis von Schönheiten
liegt, die sich nur dem offenbaren, der das innere Ohr hat. Wir
haben das erst durch Nietzsche wieder erlangt, von dem Bierbaum als
Künstler viel mehr beeinflußt worden ist, als von irgendeinem Lebenden;
wie denn überhaupt seine künstlerischen Nährväter hauptsächlich in
der Vergangenheit zu suchen sind. So steht seine Lyrik keineswegs
wesentlich unter Liliencronschem Einflusse, sondern unter dem von
Goethe, Claudius, Bürger. Von den Modernen hat nur der große Nietzsche
stark auf ihn eingewirkt.

Das Hauptmerkmal der »Sonderbaren Geschichten« ist ihr grotesker Zug.
Wenn »Die Stimme des Blutes« wie »Samalio Pardulus« eine tragische,
»Der mutige Revierförster« eine satirische Groteske ist, so findet sich
für jedes andere Stück -- die vorliegende Auswahl bringt außer den
beiden letzten Geschichten noch aus der Sammlung das launige Epos »Der
heilige Mine« und die von echter Raubritterromantik getragene Erzählung
»Annemargret und die drei Junggesellen« -- gleichfalls als Hauptzug der
der Groteske im Sinne der Alten und der Renaissance. Es sind eigentlich
alles Maskenspiele; aber unter der Maske, durch die Maske leuchtet
das Leben. Alle diese »Sonderbaren Geschichten«, die sich so leicht
lesen, sind im Grunde gar keine so leichte Ware; nur nachdenkliche
Lektüre wird ihr gerecht. Und das ist überhaupt das unterscheidende
Merkmal des Bierbaum der letzten Zeit, daß er zwar seine Leichtigkeit
nicht verloren hat, auf seinen Flügeln aber mehr zur Höhe trägt, als
früher. Auch die Gedichte von »Maultrommel und Flöte« zeigen das. Der
Wein dieser Lyrik ist schwerer geworden, ohne an Bouquet verloren
zu haben. Und wenn Bierbaum auch hier noch gerne tändelt, so ist es
der frohmütige Spaß eines reifen Mannes, nicht mehr jugendliches
Amüsement. So stehen auch die Stücke der »Yankeedoodle-Fahrt« über der
»Empfindsamen Reise im Automobil«, weil diesmal das Gepäck reicher
an den Reiseeffekten ist, die zur großen _Lebens_reise gehören, soll
sie zu der höchsten Station: _Weltanschauung_ führen. Trotzdem, nein:
eben deswegen überglänzt alle drei Bücher echter Bierbaumscher Humor.
Nur muß man das Wort wohl etwas tiefer zu nehmen beginnen, als man es
bisher tat oder tun dürfte. So ist der Humor der »Yankeedoodle-Fahrt«
wenn auch nicht bitter, so doch bittersüß. Aber sauer sind die
Früchte von diesem Baume nie; Sonne und Leben hat sie gereift, es sind
Sonnenfrüchte.

       *       *       *       *       *

Im Frühjahr 1910 sollte außer dem Romanfresko »Die Päpstin« eine
Novellensammlung »Die Schatulle des Grafen Trümmel« erscheinen,
für den Herbst hatte Bierbaum die Veröffentlichung einer großen
Selbstbiographie geplant. Er hat die Drucklegung dieser Werke
ebensowenig erleben sollen wie das Erscheinen seiner »Reifen Früchte«,
auf die er sich so gefreut hatte. Sein letztes abgeschlossenes Werk
ist eine Dichtung für die Bühne; das mit Königsbrun-Schaup zusammen
gearbeitete Stück führt den Titel »Fortuna. Abenteuer in 5 Akten« und
wird noch in diesem Jahre zur Aufführung gelangen.

»Aus den _letzten Ernten_ ...«, so sollte es im Titel der »Reifen
Früchte« heißen, dessen originelle Fassung des Dichters eigene Idee
war; so war es -- schon im Herbst 1909! -- überlegt. Wer hätte
gedacht, daß es wirklich _letzte_ Früchte sein würden? Im Dezember
vorigen Jahres warf ein chronisches Nierenleiden den Dichter auf das
Krankenlager, von dem er sich, allem Sträuben zum Trotz, nicht wieder
erheben sollte, obgleich sein Zustand sich vorübergehend gebessert
hatte. Ein Brief, den ich am 2. Februar frühmorgens von seinen
Angehörigen aus Dresden erhielt, klang sehr besorgt. Doch fielen mir
allerlei Sätze aus seinen eigenen letzten Briefen ein, kraftstrotzende,
von reifem Lebenssinn und unverwüstlicher Daseinsfreude getragene
Gedanken. Und wie ich alle Bedenken und alle Sorge um den kranken
Freund mit dem gleichen Optimismus zu verscheuchen suche, bringt der
Telegraph die Trauerkunde: Otto Julius Bierbaum ist gestern abend im
Alter von 44 Jahren an Herzlähmung gestorben ...

Nun ist der Mund, der so lustig plaudern und so herzhaft lachen konnte,
für immer verstummt, wir werden seine Stimme nie mehr hören. Und wir
hadern mit dem Geschick und können es nicht fassen, daß es gerade
diesem Manne die Feder aus der Hand winden mußte, dem unermüdlichen
Apostel der Schönheit, Freiheit und Freude. So steht sein Bild
kraftvoll und edel neben dem seines Freundes Detlev, für den er immer
so tapfer in die Bresche gesprungen war, getreu dem schönen Spruche,
mit dem er mir, drei Tage vor seiner Erkrankung, sein herrliches
Liliencron-Buch sandte:

    Wer sich für andre nicht erhitzen kann,
    Der ist vielleicht ein kluger Mann:
    Er wahrt sein Feuer
    Und wärmt sich _seine_ Hände dran.
    Mir war bei solcher Klugheit nie geheuer.
    Ein rechtes Herz brennt unklug lichterloh.
    Und seine Flamme sieht sich schöner an,
    Als der Bedachtheit glimmend nasses Stroh.

Ja, lichterloh brannte sein Herz, wenn es galt, für etwas Hohes, Edles
einzutreten, und seine Waffen waren blank und scharf. Das ist Bierbaums
-- wie auch Liliencrons -- bleibendes Verdienst: daß er die Freude
an gesunder Sinnlichkeit und Schönheit in unser graues Alltagsleben
trägt, ohne Sinnlichkeit mit Plumpheit, Schönheit mit Ästheterei zu
verwechseln. Die Freude, die er verkündet, macht stark und befreit und
erhebt. Wie sagt doch der Seher in der »Vernarrten Prinzeß«?

    »Wagt's immer, zu springen,
    Es muß euch gelingen,
    Was _fröhlich_ ihr schafft.
    Das grämliche Hocken
    Bringt alles ins Stocken;
    Frei wehn eure Locken,
    _Die Freude macht Kraft_!«

_Danzig_, im Februar 1910.

            Fritz Droop.



Reife Früchte vom Bierbaum.



Skizze zum Porträt eines guten Bekannten von mir.


_Otto Julius Bierbaum_

erblickte das Licht dieser Welt am 28. Juni 1865 zu Grüneberg in
Niederschlesien als der Sohn eines eingeborenen Konditors und einer
sächsischen Bergmannstochter. In der väterlichen Familie waren zwei
Berufszweige erblich: Ein süßer: die Zuckerbäckerei, und ein saurer:
die protestantische Theologie. Otto Julius hatte aber wohl einen
besonders starken Gemütseinschlag von der mütterlichen Familie her
(in der einmal, zur Zeit Napoleons ein französischer Tambour eine
Gastrolle gegeben haben soll), und so fand in ihm weder die süße
noch die saure Familientradition ihre Fortsetzung. Doch blieb ihm
Zeit seines Lebens von Abstammung wegen ein ausgesprochener Sinn für
bessere Kuchen und Edelmetalle im Blute, ohne daß er ihn indessen
immer befriedigen könnte. Dieses Unvermögen kommt aber eben daher,
weil er, statt das Süße oder das Saure oder sonst was Ordentliches zu
lernen, sich von Jugend auf dem Laster des Versemachens und Fabulierens
hingegeben hat. Was hat er davon? --: Ein immer zweifelhaftes Budget
und die Ungnade des Literaturaufsehers Bartels in Sulza bei Weimar.
Dieses hindert ihn aber nicht daran, mit trotziger Hartnäckigkeit
weiter zu schreiben und zwar ohne alle weise Beschränkung auf ein
bestimmtes Fach der Dichtkunst. Nicht allein, daß er Gedichte jeder
Art und Unart sowie Novellen, Romane, Operntexte, Dramen, Balletts,
Reisebeschreibungen, Märchen von sich gibt; er schreibt auch noch
allerhand Aufsätze über allerhand Menschen, Dinge und Ideen. Dies
ist ein so grober Verstoß gegen das moderne Gesetz von der Teilung
der Arbeit, daß man nicht energisch genug dagegen Front machen kann.
Warum, so fragen wir mit Nachdruck, hat sich O. J. B. nicht damit
begnügt, den »Lustigen Ehemann« zu verfassen? Wie klar und hold
umrissen stünde dann sein Bild im Herzen der dankbaren Mitwelt. Daß
er auch noch Zeitschriften gründete, mag ihm verziehen werden, weil
sie (Pan und Insel) eingegangen sind, und weil es sich schließlich,
Gott sei Lob und Dank, doch herausgestellt hat, daß die aufregenden
Nachrichten über seine schmachvoll hohen Redaktionsgehälter nur die
Phantasiegebilde einiger erfindungsreichen Köpfe waren. Auch seine
längere Reise im Automobil hat ihren Stachel verloren, seitdem man
weiß, daß sie nicht auf eigene Kosten unternommen worden ist. Über
seine Mitschuld am Überbrettl gehen die Meinungen auseinander. Einige
Passagen im »Stilpe« belasten ihn zwar schwer, aber das Programm
seines Trianon-Theaters wird immer als besinnungslos rein lyrisches
Entlastungsdokument angeführt werden können. Ob O. J. B. harmlos
ist, muß dahin gestellt bleiben; da er es sich nicht abgewöhnen zu
können scheint, über gewisse Charaktereigentümlichkeiten erbost zu
werden, als da sind: Neid, Lügenhaftigkeit, Undankbarkeit, Tratsch-
und Verleumdungssucht und aufgeblasener Dummstolz, so muß er doch wohl
einige Bosheit im Leibe haben, und die christliche Demut, die, nicht
zufrieden, links geohrfeigt zu werden, auch die rechte Wange hinhält,
fehlt ihm ganz und gar. Da er lieben kann, kann er auch hassen, und wie
die platonische Liebe, so ist auch der platonische Haß nicht seiner
Art gemäß. Es scheint, daß er einige Laster hat. Der Trunk gehört
nicht dazu. Auch nicht der Geiz und die Faulheit. Aber es könnte sein,
daß man Momente von Stolz, Wollüstigkeit, Rachsucht in seinem Leben
fände. Item: vom Heiligen ist er entfernt. Hunde, Katzen, Blumen;
Horaz, Shakespeare, Goethe; Glück, das »wohltemperierte Klavier«,
Mozart, archaische Skulpturen, alte italienische Maler, moderne
Impressionisten; Büttenpapier, Seide und Ceylontee liebt er sehr.
Für die größten unter den modernen Dichtern gelten ihm Dostojewski
und Nietzsche. -- Th. Th. Heine ist ihm lieber als Max Klinger. --
Alte Stile sind ihm erfreulicher als moderne. Und er ist überhaupt
revidiert unmodern. Daher ist er ein Renegat des »Buchschmucks« und
bereut seine Sünden auf diesem Gebiete herzlich. Was die moderne Musik
angeht, so scheint es, daß sein Nervensystem ihr nicht gewachsen ist.
Seine Unfähigkeit, »Farben« zu hören, ist schlechthin pathologisch und
man muß es wohl pervers nennen, daß er die schönsten musikalischen
Kapitel aus der ~psychopathia sexualis~ einfach nicht kapiert. Kurz:
er ist unmusikalisch. Aber er besitzt eine Phonola und er freut sich
dieses Automusikels täglich. Moderne Bücher liest er nicht gar viele,
aber es gibt ein paar Autoren, von denen er keines ausläßt. Darunter
steht in erster Linie Wedekind. Wenn er das Glück hat, einen Neuen
für sich zu entdecken, so ist sein Vergnügen groß. Mit dem gleichen
Vergnügen hat er entdeckt, daß er sich früher in seiner Begeisterung
einmal bös geirrt hat. Es ist ihm, als wäre seitdem die Luft in
seinem Leben besser geworden. In alten Briefwechseln, Tagebüchern
und Memoiren zu lesen ist ihm die spannendste Lektüre. Den größten
Genuß auf diesem Gebiete bereiten ihm die Tagebücher Friedrichs von
Gentz, den er überdies für einen der besten Prosaisten in deutscher
Sprache hält. Dieses Interesse für einen Mann, der als charakterloser
Sybarit bei allen deutschen Männern von Überzeugungstreue und Tugend
hinlänglich verrufen, sicherlich jedoch so gut wie unbekannt ist,
beweist natürlich, daß O. J. B. gleichfalls ein charakterloser Sybarit
ist. Und er hat in der Tat einiges mit Friedrich v. Gentz gemeinsam.
So die Passion für gutes Deutsch, die gleichzeitig auch als eine Art
Sybaritismus bezeichnet werden kann. Ferner die Neigung, über seine
Verhältnisse hinaus zu leben (was in mancherlei Sinne zu verstehen
ist). Dann den Tic fürs Vornehme (gleichfalls in mehr als einem
Betracht). Dann das Bedürfnis nach lebendiger Schönheit und lebendigem
Geist, aber doch auch nach Bequemlichkeit. Weiter aber auch die
Fähigkeit, stark zu arbeiten und in der Anerkennung weniger sich dafür
belohnt zu fühlen.

Was ihn jedoch von Gentz unterscheidet, ist dies: Er ist durchaus kein
Mensch und zieht die Einsamkeit der besten Gesellschaft bei weitem
vor. Übrigens verehrt er Napoleon in demselben Grade, wie Gentz ihn
verabscheut hat.

Sollte sich hier die Frage nach seinen politischen Meinungen
aufrichten, so wäre die Antwort: Er würde vielleicht welche haben,
wenn für ihn die Möglichkeit bestünde, sie zu betätigen. Eine
Stimmzettelabgabe alle fünf Jahre hält er für keine Betätigung,
und zum politischen Schriftsteller fehlt ihm der Glaube an ein in
Deutschland realisierbares Programm. Die Mächte, die im deutschen
Reiche Politik machen, sind, oben und unten, für freie Geister
unzugänglich. Nur politische Temperamente von der Vehemenz und
Aufopferungsfähigkeit Maximilian Hardens können, wenn sie wie dieser
sehr klug und im höchsten Sinne diplomatisch begabt sind, bei uns
wirklich wirken, ohne ein Amt oder Massen für sich zu haben.

Religiös ist O. J. B. Eklektiker. Vom Judentum hat er die Psalmen,
vom Protestantismus eine ziemliche Anzahl Gesangbuchslieder, vom
Katholizismus die Instrumentalmusik und verschiedene Bestandteile
der sakralen Garderobe, vom Buddhismus die schöne Pose des Sitzens
auf einer Lotosblüte, vom Konfuzianismus das Prinzip der großen
Wurstigkeit, vom Taoismus die höchstangesehene Mystik ahnungsvoller
Wortverknüpfungen in seine Privatkirche übernommen, deren Hauptlehre
übrigens lautet: »Halte Dir alles Gesindel vom Leibe, denn es hindert
Dich, in _Deinen_ Himmel zu kommen!«

Da ein moderner Mensch einen Sport treiben muß, so hat O. J. B.
das Radfahren und Bilderknipsen erlernt. Da er aber ein unmodern
moderner Mensch ist, radelt er in einem Tempo, das jeden Kinderwagen
zum Vorfahren herausfordert, und er geht beim Photographieren allen
poetischen Stimmungseffekten entschlossen aus dem Wege. Übrigens hat
es bisher nur seine Frau zu bestreiten gewagt, daß er ein brillanter
Radfahrer und absolut sicherer Photograph ist. Natürlich _sammelt_ O.
J. B. auch. Aber es ist nicht weit her mit seinen Sammlungen, denn
es machen ihm nur die Dinge wirklich Spaß, die er billig erworben
zu haben glaubt, und dabei hat er sich fast ausschließlich auf
Sammelgebiete kapriziert, wo billig schon etwas zu haben ist. Weder
alte Bücher, noch alte Buntpapiere, noch alte Bilder, Kupferstiche,
Möbel, Gläser, Fayencen, Porzellane sind in diesen abscheulichen
Zeiten, wo jeder Antiquar ein Gelehrter ist, billig zu erstehen, -- von
alten China- und Japansachen, sowie alten Stoffen ganz zu schweigen.
Nur mit alten Büttenpapieren ist ihm hier und da ein Coup gelungen.
Aber da er roh genug ist, die edelsten alten Erzeugnisse längst
vermachter Bütten zu Manuskripten zu benutzen, kann auch von einer
ordentlichen Büttenpapiersammlung nicht die Rede sein.

O. J. B. war merkwürdig lange jung. Ein Kindskopf ist er bis in die
Mitte seiner dreißiger Jahre geblieben. Da kam der Ernst, -- und er
wurde frech, obwohl er erst noch eine etwas düstere, dumpfe Zeit
durchzumachen hatte. Augenblicklich ist er damit beschäftigt, den
letzten Rest von Widerspruch, der ihm aus jener Zeit in der Seele
geblieben ist, auszutreiben. Da er einen Menschen zur Seite hat, der
sorglich gewillt und stark ist, ihm dabei zu helfen, wird es wohl
gelingen. Schon jetzt fühlt er sich stärker denn je.

In einer Anwandlung von literarhistorischer Systematik hat er seine
bisherige Entwickelung einmal schematisiert und drei Perioden
festgestellt. Die erste nannte er »Stilpe im Irrgarten der Liebe« und
datierte sie von 1885--1900. Er hätte sie auch »Kindskopf« nennen
können. Sie ist im Grunde rein lyrisch, aber neben ein paar Gedichten
ragt aus ihr der »Stilpe« auf. Die zweite nannte er »Stella und
Antonie« und setzte sie von 1900--1905 an. Es ist seine dumpfe Zeit.
Mit dem »Prinzen Kuckuck« ließ er eine dritte beginnen und er nannte
sie »Grotesken«; sie nimmt sich bis jetzt etwas bunt aus. Aber es
scheint, daß er ihr keine lange Dauer zutraut. »Wo wollen Sie denn
eigentlich hin?« sagte der Storch zum Schmetterling, der von Blume
zu Blume flog. »Fragen Sie die Blumen, Herr Professor!« antwortete
der Falter; »aber eines kann ich Ihnen schon sagen: nicht in _Ihren_
Schnabel, gefährlicher Philister, der Sie sind.«

[Illustration: Otto Julius Bierbaum]



Yankeedoodle-Fahrt.[1]

    [1] Kapitel 1 und 2 des gleichnamigen Abschnittes aus
        »Yankeedoodle-Fahrt und andere Reisegeschichten«.


I.

    Vom Nervenseiltanzen und Tunnelfahren, vom schwimmenden Hotel
    und dem Geflügelhofe, von Lyrik, Meer und Himmel.

Als ich so außer mir geraten war, daß ich mich selbst mit fatalster
Deutlichkeit betrachten konnte, fühlte ich das Bedürfnis, wieder zu mir
selber zu kommen. Aber es ist schwer, in sein Ich zurückzukriechen,
wenn man es einmal verlassen und dann allzuscharf von außen angesehen
hat. Ich fuhr um mich herum wie eine vergiftete Maus, die ihr Loch
nicht findet und dennoch immerzu dies Loch umkreist. Ein schauderhaftes
Heimweh und ein Grauen vor der Rückkehr zugleich. Selbst meinen
verehrtesten Feinden wünsche ich diese Sensation nicht, obwohl es mir
nicht zweifelhaft ist, daß sie, deren Oberflächlichkeit mir in der
Tat manchmal Übelkeit verursacht hat, ein bißchen Seelenqual zu ihrer
Vertiefung wohl brauchen könnten.

Da sprach ein weiser Arzt und Seelenkenner also auf mich ein: Sie
gehören zu jenen Akrobaten, die auf ihren eigenen Nerven seiltanzen
und dadurch gezwungen sind, immerfort einen Punkt im Auge zu behalten,
der in ihnen selber liegt: nämlich im eigenen Gehirne. Das tut weder
den Nerven noch dem Gehirne gut und ist überdies eine brotlose und
lebensgefährliche Kunst. Wenn Sie nicht binnen kurzem augenscheinlich
verrückt werden wollen (denn eine heimliche Verrücktheit ist Ihr
Zustand bereits), so ist es nötig, daß Sie unverzüglich eine breitere
Basis zu gewinnen suchen, um von ihr aus Ihre Blicke in einem
möglichst weiten Gesichtskreis umherschweifen zu lassen. Sie sind
außer sich, weil Sie so sehr in sich sind. Das vertragen nur Heilige
und Sie würden sich einem verhängnisvollen Irrtum hingeben, wenn Sie
meinen wollten, daß Sie zur Heiligkeit angelegt wären. Dazu sind Sie
zu korpulent und libidinos, -- wohl auch nicht unbescheiden genug.
Leute Ihrer Konstitution sind darauf angewiesen, die Welt auf sich
wirken zu lassen. Ihre Empfindlichkeit sträubt sich dagegen, und es
ist gewiß, daß Sie unter den nicht immer zarten Fingern der Welt
leiden, aber dieses Leiden ist immer noch heilsamer für Sie, als die
selbst bereiteten Schmerzen der Heautontimorumenie. Ich rate Ihnen:
Kaufen Sie sich einen Schiffskoffer und stellen Sie Amphitriten auf
die Probe. Ihre Zukunft liegt auf dem Wasser, das Salzgehalt und im
Salze Brom hat. Speien Sie sich einmal kräftig aus und trinken Sie
so viel Sonnenlicht als möglich. Aber, ich beschwöre Sie, lassen Sie
alles Schreibgeräte zu Hause, denn, unter uns gesagt, der Federhalter
ist die gefährliche Balancierstange, mit der Sie sich bisher auf dem
Nervenseile im Gleichgewicht erhalten haben.

Ich honorierte diese Invektionen mit zwanzig Franken und einem müden
Lächeln, nahm den breitbeinigen Gang eines alten Seekapitäns an und
versetzte meine ahnungslose Frau in das äußerste Erstaunen durch
Intonierung des Liedes:

    Auf, Matrosen, die Anker gelichtet,
    Den Kompaß gespannt und die Segel gerichtet!

Ihre Bemerkung, daß der Kompaß keine Flinte sei, die man spannen
könnte, wies ich mit der Entgegnung zurück, daß nautische Details uns
bald mehr als genug beschäftigen würden, einstweilen aber Wichtigeres
zu erledigen sei: nämlich die Frage, ob man auf eine moderne Seereise
einen Frack oder bloß einen Smoking mitnehmen müsse.

Klug und vorsorglich, wie sie ist, entschied sie sich für beides, ja
sie wollte sogar, daß ich auch einen Zylinderhut mitnähme. »Wahnwitzige
Idee!« grollte ich; »dir fehlt jedes Stilgefühl. Eine schottische Mütze
oder ein Dreimaster, -- ja; niemals eine Tube!«

Am entsprechenden Orte wird es sich zeigen, wer von uns beiden auf der
Höhe der Situation gewesen ist.

Da es uns vollkommen gleichgültig war, wohin wir reisen würden (denn
ich hatte ja lediglich das Gebot erhalten, eine Seereise »an sich« zu
machen), überließen wir es einem Freunde, Schiff und Ziel zu bestimmen.
Er sandte uns eine Kabinenkarte für den Doppelschraubendampfer
Yankeedoodle, den die berühmte Onkel Sam-Michel-Linie eben zu einer
Orientreise in Genua bereithielt. Ein beigeschlossenes Druckheft
schilderte die ganze Reise in äußerst lebendigen Farben, so daß mir
sofort ganz orientalisch zumute wurde, als ich las, was alles uns
bevorstand.

»Kein Zweifel,« sagte ich zu meiner Frau, »es wird äußerst lehrreich
werden. Schade nur, daß wir uns nicht länger auf die Reise freuen
dürfen, denn das ist doch das Schönste am Reisen: sich vorher darauf
zu freuen.«

Aber es half nun nichts: kaum, daß die Koffer gepackt waren, mußten wir
uns in den Dampfwagen setzen, der uns nach Genua transportierte. Meine
Idiosynkrasie gegen das Eisenbahnreisen gestaltete diese Fahrt zu einer
~via crucis~, an die ich nur mit Grauen denken kann. Kein Zweifel:
ich bin ein arger Sünder, aber so viele Todsünden habe ich denn doch
nicht begangen, daß ich die Höllenqualen verdient hätte, die mir in den
endlosen Tunnels an der Riviera zuteil wurden, wo rechts und links des
Gleises offenbar teuflische Dämonen aufgestellt waren, die, während ich
in stinkendem Qualm fast erstickte, mit eisernen Hämmern gegen eiserne
Wände zu schlagen schienen. Nun: wir sind nicht zum Vergnügen auf der
Welt, und es ist gewiß in der Ordnung, daß Nerven, die für angenehme
Sensationen besonders empfindlich sind, dafür um so heftiger unter
unangenehmen leiden. Sela.

Das Gedröhne einer Kesselschmiede in den Ohren, die Lungen voller
Ruß und im Schädel ein Gefühl, als seien sämtliche Gehirnwindungen
mit flüssigem Blei angefüllt, begab ich mich mit meiner Frau in
das berühmte Theater Carlo Felice, aber beileibe nicht, um uns
Tristano e Isotta italienisch vorspielen zu lassen, sondern von
wegen der exzellenten Küche seines Restaurants. Doch wurde uns auch
hier ein außerordentliches Schauspiel zuteil: wir sahen einen jener
italienischen Eßkünstler, die den illustren Fressern der Antike nichts
nachgeben. Was dieser überlebensgroße Bauch sich alles servieren ließ,
und mit welch andächtigem Kennerentzücken er seine Füllung zu einer Art
gottesdienstlichen Handlung erhob, läßt sich in Kürze und auf Deutsch
nicht schildern. Es muß genügen, zu sagen, daß es ein klassisches
Schauspiel war, würdig, von einem Petronius der Nachwelt überantwortet
zu werden. Denn es läßt sich von derart großen Gegenständen wohl nur in
monumentaler Latinität handeln.

Als ich am nächsten Morgen den Yankeedoodle vor mir liegen sah, wie er
unabsehbare Massen von Koffern und Menschen in sich aufnahm, mußte ich
an den gewaltigen Speisevertilger denken, und so erübrigt es sich, zu
bemerken, daß Yankeedoodle ein imposantes Schiff ist.

Wir wurden tief unten in seinem Innern verstaut und fühlten uns sehr
winzig. Dafür erfüllte uns aber sogleich eine sehr gewisse Zuversicht
zu dem massigen Zweischlöter. »Ich glaube kaum, daß wir mit dem
Yankeedoodle untergehen werden,« sagte ich zu meiner Frau; »ja selbst
meine Hoffnung auf ausgiebige Seekrankheit ist bereits ins Wanken
geraten.«

»Und mir ist schon übel,« entgegnete sie.

Dabei stand das Schiff fest wie ein Turm.

Weshalb ich sagte: »Autosuggestion gilt nicht, und wenn du mit Gewalt
seekrank wirst, um später damit zu renommieren, so kannst du sicher
sein, daß ich deine Finten aufdecken werde.«

In diesem Augenblicke brüllte Yankeedoodle auf eine Weise, daß mir
Hören und Sehen verging. Dreimal. Wie nie ein Mastodont gebrüllt hat.
Homer hätte das hören sollen, und er hätte kein solches Wesen vom
Gebrüll seiner verwundeten Helden gemacht.

»Was _hat_ er denn?« fragte ich entsetzt.

»Er sagt Adieu,« erklärte meine Frau ruhig, die von nun an überhaupt
gerne so tat, als wüßte sie alles.

Und es war wirklich so. Immer, wenn Yankeedoodle sich anschickte, in
See zu stechen (ein Ausdruck, der aber für solche Kolosse gar nicht
paßt; ebensogut könnte man sagen, ein Dampfhammer sticht ins Erz),
brüllte er so unmanierlich. Es gehört das zum guten Ton bei diesen
Dampfgiganten. Ob es einen Zweck hat, weiß ich nicht. Vielleicht heißt
es nicht bloß: adieu, sondern auch: Platz da! Hühneraugen weg!

Und richtig: wir fuhren. Doch muß ich wohl besser sagen: wir glitten
dahin. So leise, sanft, unmerklich, daß ich fürs erste jede Hoffnung
auf das große Speien aufgab, während meine Frau mit weiblicher
Beharrlichkeit beteuerte, nun werde ihr aber schon _sehr_ übel.

Da sie offenbar nur höchst ungern von diesem Wahne lassen wollte,
bestärkte ich sie in der Überzeugung, seekrank zu sein, indem ich ihr
erklärte, sie sähe grasgrün aus und tue mir furchtbar leid.

Worauf es ihr sehr bald besser wurde.

Eine kleine Weile noch, und sie teilte meine Empfindung, daß
Yankeedoodle, weit davon entfernt, ein Schiff zu sein, wie wir es uns
gedacht hatten, einfach ein Hotel war, das sich auf Salzwasser bewegte.
Statt Matrosen zu sehen, die an Tauen herumklettern, und Kommandorufe
zu vernehmen von Offizieren, die Sprachrohre am Munde und Fernrohre
vor den Augen hatten, erblickten wir Kellner, die da höflich leise
säuselten: Bouillon gefällig? Doch lernten wir bald, sie Stewards zu
nennen, was immerhin eine gewisse Seestimmung erzeugte.

Dennoch blieb eine deutliche Enttäuschung in uns zurück. Unser
romantisches Bedürfnis wollte nicht auf seine Rechnung kommen. Wir
hatten uns das alles viel abenteuerlicher vorgestellt. Wenn wenigstens
ein Mastkorb dagewesen wäre, in dem sich ein Matrose befunden hätte,
der Ahoi! rief ...

Statt dessen sagte ein Herr, der zwar eine Art Seemannsmütze aufhatte,
aber den Gymnasialprofessor durchaus nicht verleugnen konnte, laut und
vernehmlich: ~Thalatta! Thalatta!~

Mein Magen drehte sich um und ich mich mit ihm.

O Ägir, Herr der Fluten, stöhnte ich in meinem lieben Herzen, sorge
dafür, daß ich diesem Humanisten nirgendwo benachbart werde in diesem
schwimmenden Hotel!

Und ich fühlte, daß es jetzt vor allem nötig war, einen Platz auf
dem Yankeedoodle ausfindig zu machen, wohin wir uns vor den übrigen
Hotelgästen flüchten könnten, falls diese irgendwie nicht nach unserem
Geschmack sein sollten.

Alle diese Herrschaften, sagten wir uns, sind gewiß durch Qualitäten
ausgezeichnet, die uns fehlen, und wir wollen ohne weiteres annehmen,
daß sie nicht bloß einer höheren Steuerklasse angehören als wir,
sondern auch in jeder anderen bürgerlichen Hinsicht den Vorzug vor uns
verdienen. Aber wir sind nun mal Uhunaturen, die in den Geflügelhof
nicht passen. Zärtlich girrende Tauben, gluckende Hennen, majestätische
Hähne sind kein Umgang für uns, geschweige denn diese stolzen Pfauen
und Perlhühner aus Amerika, die sich, das merkten wir bald, als die
Elite des Yankeedoodle betrachteten und von den Funktionären der O.
S.-M.-L. auch als solche ästimiert wurden, da sie die besten Käfige
innehatten. Alles das, gaben wir gerne zu, ist ganz in der Ordnung,
aber diese Ordnung ist nicht die unsere. Suchen wir also einen Winkel
aus, wo wir das prächtige Gesamtbild am wenigsten stören.

Wir fanden es auf dem Hinterdeck, das von allen besseren Passagieren
streng gemieden wurde, weil es bei den gewöhnlichen Fahrten des
Yankeedoodle, die nicht dem Vergnügen, sondern der Überfahrt nach
Amerika dienen, als das Deck der zweiten Kajüte gilt. Für uns besaß
es außer dem Vorzug, wenig besucht zu sein, auch noch den, zwei
Etagen zu haben. Die obere war die schönste, denn auf ihr befand man
sich wirklich ~en plein air~. Hier verbarg uns kein vorgespanntes
Segeltuch Meer und Himmel, wie sonst überall auf diesem Schiffe,
dessen Einrichtungen mehr darauf berechnet zu sein schienen, das Meer
vergessen, als sehen zu lassen. Die begehrtesten Plätze des Hauptdecks
(zumeist von Amerikanern besetzt), nämlich die an den Innenseiten,
gewährten den dort in ihren Klappstühlen Ausgestreckten die Aussicht
auf den Streifen Himmel, der zwischen dem Dach und der Segeltuchwand
des Decks sichtbar bleibt. Weder Meer noch Küste war von dort aus zu
sehen. Die Außenseiten des Hauptdecks sahen aber nicht einmal diesen
Streifen Himmel, sondern nur die Kajütenwand, garniert mit horizontal
gelagerten Amerikanern.

Es wollte uns anfangs nicht in den Sinn, wie gerade diese Plätze so
sehr begehrt sein konnten, die eigentlich nichts anderes waren als
Einzelglieder im Spalier einer Promenade; denn zwischen ihnen war
der allgemeine Wandelgang. Wir mußten erst begreifen lernen, was wir
Uhus nicht ohne weiteres wissen: daß das Publikum auch auf Reisen
sich vor allem anderen für das Publikum interessiert. Die Menschen
lieben einander zwar nur in einem sehr gemäßigten Grade, aber sie
sind sich gegenseitig äußerst interessant, und so leben sie gerne
in Gesellschaft, sei es auch nur, um sich innerhalb deren wieder in
Extragesellschaften abzuspalten. Je länger wir das Wesen auf unserem
Schiffe betrachteten, um so mehr spürten wir, daß viele geradezu
deshalb den Yankeedoodle bestiegen hatten, um nach der vielleicht
monoton gewordenen Gesellschaft zu Hause hier eine neue zu finden.
Und wir merkten schließlich, obwohl wir immer nur aus der Ferne in
dieses lebendige Netz von Gesellschaftsfäden blickten, daß nicht bloß
die Spinne Sympathie dabei am Werke war, sondern auch mancherlei
Berechnung, -- nicht zu vergessen die mehr oder weniger schönen Damen
Eitelkeit und Medisance.

Ich kann nicht leugnen, daß, von der Ferne angesehen, dieses große
Gesellschaftsspiel einen gewissen Reiz für mich hatte, da ich nur
selten dazu komme, derlei zu beobachten. Einen reineren Genuß
bereitete mir aber doch der Anblick des hohen Himmels und der weiten
Wasserfläche, obgleich ich gestehen muß, daß eigentlich poetische
Stimmungen ausblieben. Der Anblick war schön, -- aber nur Genuß, nicht
Erregung. Mein Auge ließ sich's wohl sein, und mein »Herz« quittierte
mit Dank darüber, -- aber kühl, eigentlich unbeteiligt. Ich habe es ein
paarmal gescholten deswegen und bin mir selber sehr gram gewesen darum.
Bist _du_ das noch, habe ich mir gesagt, der vor Zeiten sich bis zur
wonnigsten Verrücktheit entzücken konnte vor einem Tümpel, auf dem ein
paar Spritzer Sonnenuntergang kringelten? Dem ein schüchternes, dummes
kleines Ding wie eine junge Birke Seligkeiten ins Herz schüttete, der
vor einem Quellchen in die Knie sinken konnte, Verse zu stammeln,
dessen Blicke verzückt an Wolken hingen und mit ihnen hinüberschwammen
zu den goldberänderten Himmelsküsten einer nicht bloß äußerlich
gesehenen, sondern innig umfaßten Schönheit, -- das ist derselbe,
der sich hier, in einem Stuhle der Ocean-Comfort-Company liegend,
Lichteffekte servieren läßt, wie kurz vorher Tee mit Streuselkuchen? Ei
du satter, fauler, leerer Halunke du, mach daß du hinunterkommst auf
das Promenadendeck und sieh, wenn die Sonne untergeht, nach der Uhr, ob
es auch pünktlich geschehen ist! Laß dich von dem Gymnasiallehrer auf
Ägypten, Kleinasien, Griechenland vorbereiten; du hast es nötig, denn
wer nicht mehr fühlen kann, soll wenigstens wissen. Und wenn du auch
dazu zu faul bist, so zeige den jungen Töchtern Germanias, die, halb
Misses, halb Gretchen, die moderne Weiblichkeit des zahlungsfähigen
Deutschland mit mehr Selbstbewußtsein als Geschmack vertreten, daß auch
du tennis-englisch und über »Frühlings Erwachen« reden kannst. Da du
nüchtern geworden bist, ist dein Platz bei den Nüchternen. Vielleicht
sagen _sie_ dir etwas, da die großen Dinge dir stumm geworden sind. So
schimpfte ich mich. Aber mit Unrecht. Denn es war nicht so, wie ich mir
sagte. Meer und Himmel waren mir nicht stumm. Ich verstand ihre Sprache
nicht so schnell, wie früher die von Busch, Baum, Quelle, Wolken. Und
dies ist nicht verwunderlich. Jene Dinge, die den jungen lyrischen
Menschen so schnell ins Gespräch zogen, sprachen _seine_ Sprache, die
Sprache der schnellen Gefühle, naiver Lust, einfältiger Triebe. Er
hörte und sah in allem nur sich. Wenn er niederkniete und ins Plappern
der Quelle Verse rief, so kniete er vor sich selber und überschrie
das murmelnde Element. Er war (Heil ihm, daß er's gewesen) frech beim
Frohsinn, und so hatte er's wohl leicht, zu schwärmen. (Lyrik! Eine
selbstverständliche Sache für junge Menschen, denn es ist ihr Aus- und
Einatmen. -- In dieser Parenthese wäre noch allerhand zu bemerken.
So dies, daß die große Seltenheit wirklicher Lyriker damit nicht im
Widerspruche steht. Es gibt nämlich nur sehr wenige junge Menschen in
dem Alter, wo zum Gefühle künstlerisches Vermögen tritt. Was Goethe das
Närrische am Lyrischen nennt, ist das Kindliche. Die beiden reinsten
Lyriker unter den heutigen Deutschen: Martin Greif und Max Dauthendey,
sind Kindsköpfe. Auch Ludwig Finckh hat Anlage dazu. Rilke dagegen,
dieses unheimliche Genietalent, ist ein Wunderkind. Übrigens liegt beim
reinen Lyriker die Gefahr nahe, aus dem Kindlichen ins Kindische zu
verfallen, sich auszuleiern. Aber wo komme ich hin!) Das schlechthin
Große dagegen, Meer und Himmel, monoton erhaben (mit Worten aus der
Terminologie menschlicher Kunst zu reden: Monumentalnatur) -- das
duckt die Frechheit. Seine Sprache ist Gedröhn und Brausen: Vokabeln
fehlen in dieser Musik voll rhythmischer Symbole. Das Herz, das hier
nur stummen Dank hat, verdient keine Schmähung, und der Mann, der vor
diesem Schauspiel Auge wird, ganz Auge: und klares, nicht trunkenes,
mag sich der Zuversicht getrösten, daß dieser ruhige Genuß ruhig des
Reichsten, das dem Menschen an äußeren Eindrücken zuteil werden kann,
nicht bloß der Netzhaut zugute kommt, sondern zu einem inneren Schatze
wird, auch wenn er sich nicht gerade kleinweis in lyrische Silberstücke
ausmünzen läßt.


II.

    Von meinem schlechten Charakter und der Absicht, ihn zu
    bewähren; von meinem Lordshut und Madames Patriotismus; vom
    Mauldeutschtum und dem deklassierten Ölbaum; von der Tugend
    und ihrer mangelhaften Belohnung; vom Genie der Pariser
    Putzmamsells und der bedauerlichen Unfähigkeit deutscher
    Dichter sie zu fördern; von grünen Tischen, Théodore und der
    Rache auf Ansichtspostkarten.

Wer auch nur oberflächlich mit der modernen deutschen
Literaturgeschichte bekannt ist, weiß, daß ich von schmutzigster
Geldgier besessen bin. Im übrigen schwankt mein Charakterbild ja
bedenklich: denn, während die einen sagen, daß ich zwar ein ganz
passabler Lyriker sei, aber leider auch Romane schreibe, so finden
andere, daß ich zwar im Romane gewisse Qualitäten an den Tag gelegt,
bedauerlicherweise aber den üblen Ehrgeiz hätte, auch Verse machen
zu wollen; und so durch alle übrigen Gattungen der ~belles lettres~
durch, mit denen ich mich, immer einigen zum Vergnügen, anderen aber
zur Mißlust, abgegeben habe und immerzu weiter noch abgebe. Das
einzige, was feststeht, ist, wie ich mich nun hinlänglich überzeugt
habe, die felsenfeste Gewißheit, daß ich ein hervorragendes Talent
besitze, Schätze zu sammeln. So werde ich als ein zweiter Midas in
die holzpapierene Unsterblichkeit eingehen und bin schon jetzt, wie
mein phrygisches Urbild, durch Eselsohren entstellt -- wobei es
dahingestellt bleibt, ob es lauter Apollos sind, die mir zu diesem
Schmucke verholfen haben.

Kein Wunder, daß ich manchmal Lust habe, diesem Zustande ein Ende
zu machen, der immerhin etwas Peinliches hat. Nichts trägt sich
so lästig, wie der Ruf von Talenten und Reichtümern, die man nicht
besitzt. Und dann: man kommt sich, auch wenn man ihn nicht verbreitet
hat, wie ein Schwindler vor.

Also möchte ich ihn furchtbar gerne wahrmachen.

Und so beschloß ich, in Monte Carlo hundert Franken zu setzen, um
zehntausend zu gewinnen.

»Nimm deinen großen Pompadour mit,« sagte ich zu meiner Frau, als der
Yankeedoodle sich Villafranca näherte; »wir werden ihn nötig haben.«

»Du willst also wirklich spielen!?« rief sie voller Entsetzen aus.

»Ja!!« sagte ich mit zwei Ausrufezeichen.

Und ich tat mein schönes Gewand an und setzte den großen grauen
Lordshut auf, den ich in Deutschland nicht zu tragen wage, weil er
eine Art Nabel hat, nämlich einen Filzknopf zur Kaschierung der
Ventilöffnung. Denn es ist ein Hut, den die englischen Lords in Indien
tragen, wo es sehr heiß ist.

Auch meine Frau putzte sich so stattlich heraus, wie es dem Umstande
angemessen erscheinen mußte, daß wir uns in den wabernden Dunstkreis
rollenden Reichtums begeben wollten.

Da hier das »Reisebureau« noch keine Macht über uns hatte (denn den Weg
zum Spieltische würden wir, so meinte es nicht ohne psychologischen
Scharfsinn, schon selber finden), durften wir, o Glück und Wonne, o
Seligkeit, allein gehen. Die Prozedur der Ausbootung, vor der meine
Frau auf recht anmutige Art Angst an den Tag legte, während ich nicht
ganz so graziös den erfahrenen Gangwaykletterer spielte, vollzog sich
ohne jede Fährlichkeit, obwohl ich, zu meinem nur mühsam verhehlten
Mißvergnügen, gezwungen war, mit der Linken den zwar schönen,
aber nicht ganz festsitzenden Lordshut zu halten, da ich doch die
entschiedene Tendenz hatte, mit ihr Halt am Treppengeländer zu suchen.
Aber es ging auch so, und ehe wir's uns versahen, befanden wir uns
alle drei: die Frau, der Hut und ich, im Boot. Nervige Arme ruderten
uns an die französische Küste. (Das muß ich einmal in einem Romane
gelesen haben.) Da diese von Rechts wegen eine italienische Küste sein
sollte, regte sich in meiner Frau die Patriotin, und sie hätte gar zu
gerne gehört, daß sich der Mann mit den nervigen Armen zur ~Italia
irredenta~ bekannt und Verwünschungen gegen die Franzmänner ausgestoßen
hätte. Aber es fiel ihm gar nicht ein, Gefühle dieser Art grün-weiß-rot
aufleuchten zu lassen, vielmehr sagte er, und noch dazu in einem
stark französisch unterwachsenen Italienisch, sie in Villefranche (!)
seien allzumal höchlich zufrieden mit der Pariser Republik, denn der
gallische Hahn füttere die Seinen besser als der savoyische Adler.

»~Vergogna!~« meinte die Toskanerin, gab ihm aber doch eine gute
Mancia, wenn auch demonstrativerweise in italienischer Münze. Worauf
der Nervige dann endlich ~Evviva Italia!~ rief.

Nach den mächtigen Befestigungen zu urteilen, mit denen die Franzosen
den Hafen von Villafranca (das aber nur die Bücher so nennen; die
Leute sagen alle Villefranche) umgürtet haben, gedenken sie, dieses
schöne Stück Land gewiß nicht freiwillig wieder herzugeben. Auch
liegt eine Menge Kriegsvolk dort in Garnison; Alpenjäger, sehr gut
aussehende und malerisch uniformierte Leute. Indessen fand die etwas
kordial demokratische Art, mit der sie ihre Vorgesetzten grüßen,
durchaus nicht den Beifall zweier unserer Reisegenossen, die, wohl in
der Meinung, daß kein Mensch in Frankreich deutsch versteht, recht
laut und ungeniert Kritik daran übten, wobei der Ausdruck »schlappe
Bande« noch der mildeste war. Mir kam das weder sehr klug vor, noch
fand ich es hübsch, habe aber auch im weiteren Verlaufe unserer Reise
noch recht oft die Beobachtung machen müssen, daß unsere Landsleute
sich gerne darin gefallen, fremde Sitten, Gewohnheiten, Einrichtungen
unter dem Gesichtswinkel des in Deutschland Üblichen zu beurteilen,
zuweilen direkt mit dem Schlußtrumpf: hier sollten _wir_ Ordnung
schaffen dürfen! Ob Geibel das gemeint hat, als er ausrief »Und es
mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen«, scheint mir
fraglich, während ich der sehr bestimmten Überzeugung bin, daß dieses
Wesensmachen vom deutschen Wesen sehr dazu angetan ist, das deutsche
Wesen in Mißkredit zu bringen.

Schade nur, daß der schöne Weltverstand, der bisher die Deutschen
auszeichnete, verloren gehen muß, wenn dieses Mauldeutschtum, das
nachgerade zum Großmauldeutschtum zu werden droht, um sich greift. Ich
habe auf dieser Reise nicht viele Deutsche getroffen, auf die das Wort
Goethes hätte angewendet werden dürfen, das sonst vom deutschen Geiste
gelten durfte: »Der ist nicht fremd, der teilzunehmen weiß.« Und so
habe ich mich manchmal gefragt: Warum reisen diese Leute eigentlich?
Nur um sich einzuprägen, daß es eigentlich ein Unsinn, zu reisen, da
es ja doch in Deutschland am schönsten ist? Insofern, als der Deutsche
sich auf die Dauer am wohlsten in Deutschland befinden mag, wie jeder
andere Mensch in seinem Vaterlande, ist das gewiß richtig. Aber,
zu reisen, bloß um das bestätigt zu sehen: welch eine sonderbare
Sinnesverkehrung ist das doch! Man geht freilich nicht in die Fremde,
um sich der Heimat zu entfremden, aber einen vernünftigen Sinn hat
das Reisen doch nur insofern, als es von der Sehnsucht eingegeben
ist, zu dem heimisch Schönen sich etwas fremd Schönes einzuverleiben,
innerlich reicher zu werden aus den Schäden der Fremde, indem man an
ihnen teilnimmt. Dies scheint aber vielen direkt unmöglich zu sein.
Sie sehen z. B. (ich konstruiere hier nicht, sondern gebe wieder,
was ich mit eigenen Ohren gehört habe) einen Ölbaum. »Gott, was für
ein häßliches Ding ist das!« sagen sie, »da ist doch eine richtige
deutsche Eiche was anderes!« Man müßte närrisch sein, wenn man das
bestreiten oder sich durch einen Ölbaum den Geschmack an einer Eiche
verderben lassen wollte, aber nicht weniger närrisch ist es auch (von
dem damit bewiesenen Mangel an Schönheitsempfinden gar nicht zu reden),
im fernen Syrierlande die deutsche Eiche heraufzubeschwören, um den
Eindruck eines Ölbaumes zu deklassieren. Es wäre davon, als von etwas
schlechthin Törichtem gar nicht der Rede wert, wenn sich nicht eben
eine Art von perversem Nationalismus darin äußerte, ein häßlicher Geist
der Selbstzufriedenheit und Ablehnung alles Fremden, das nur noch
als kurios, nicht aber als schön anerkannt wird. Diese Art Negation
hat etwas Freches, das ganz unleidlich gerade für den ist, der sein
deutsches Wesen als Bejahung jeder Schönheit empfindet. Auch ist es
gottsträflich dumm, mit also verkleisterten Sinnen auf Reisen zu gehen.

Ein Rosselenker rief uns an, fragend, ob er uns für zwanzig Franken
zweispännig nach Monaco befördern dürfte. Mein Lordshut und Madames
Spitzenmantel hatten es ihm angetan. Aber es lag uns wahrhaftig ferne,
unserm Spielfonds zwanzig Franken zu entziehen. Wir blieben, wie hold
er auch lächelte, fest und warteten auf die elektrische Trambahn.

Diese Charakterstärke hätte einen besseren Lohn verdient als den, der
uns zuteil wurde. Wir mußten fast eine Stunde harren, bis ein Wagen
kam, in dem es noch zwei freie Plätze gab, und zwar Stehplätze. Ich
erwähne dies als Beitrag zur Morallehre. Nein, o ihr gutgläubigen
Schwärmer, es ist nicht wahr, daß Tugend belohnt wird. Das lüsterne
Fleisch fährt zweispännig, und der stoische Wille muß sich von
knoblauchduftigen Nizzarden auf den Hühneraugen herumtreten lassen.
Aber das ist richtig: hinterher ist die Genugtuung der Tugend groß, die
achtzehn Franken für den Spieltisch gespart hat.

Von der Pracht und Herrlichkeit des Kasinoplatzes auf Monte Carlo möge
ein anderer handeln. Ich für meinen Teil finde ihn allzu prächtig und
allzu herrlich. Mir fehlt der Sinn für Pompositäten ohne lebendigen
Geschmack. Dagegen habe ich mit Signora recht andächtig und entzückt
die Auslagen einiger Pariser Putzmachergeschäfte bewundert. Beim
Andenken der verliebten kleinen Müsette! -- meine Frau hat recht: diese
Pariser »Schurkerinnen« (so heißt in toscano-tedesco das Femininum von
Schurke) haben mehr als Talent, haben Genie. Aus ein bißchen Sammet
oder Seide, Spitzen oder Tüll, Stroh oder Pelz, mit ein paar Blumen,
Schleifen, Rüschen, Federn wirken sie ästhetische Wunder. Diese Hüte
haben den Reiz von Improvisationen geistreich geschmackvoller Menschen.
Es haftet ihnen nichts vom Geiste der Schwere an, keine Steifheit,
keine Absichtlichkeit. Es ist Grazie mit Witz; Esprit, der Phantasie
hat; Geschmack, der es bis zur Poesie bringt. Ein fabelhaft sicherer
Sinn für Form und Farbe unternimmt die frechsten Wagnisse bis hart an
die Grenze des Möglichen, ohne jedoch etwas hervorzubringen, das nicht
als Kunstwerk von Distinktion wirkte. Selbst das Höchste in der Kunst
bringt er zuwege: reine Einfalt ohne Banalität. Wir sahen einen Hut,
der eigentlich nichts war als ein umgestülpter Topf aus rotem, weißem
und schwarzem Sammet. Es ist ganz unmöglich, zu sagen, warum dieses
Ding nicht etwa plump oder komisch, sondern schlechterdings hinreißend
schön aussah. Das Geheimnis seiner Schönheit lag wohl darin, daß die
Linien seines Umrisses sowohl wie jede Falte des Stoffes von Fingern
gebildet waren, die genialer Eingebung des Momentes folgten, nachdem
das Ganze zuvor innerlich von der Künstlerin gesehen worden war.

Es begreift sich leicht, daß meine Frau den lebhaften Wunsch hegte,
einen solchen Hut zu besitzen, und ich noch den lebhafteren, sie in
einem solchen Hute zu sehen. Daß aber ein deutscher Dichter, und er
sei gleich, wie ich, noch mehr Geschäftsmann als Dichter, nicht in der
Lage ist, seiner Frau ein derartiges Kunstwerk, die Verkörperung des
ästhetischen Genies einer traditionell ästhetischen Rasse, zu kaufen,
leuchtet ohne weiteres ein.

Unsere Begierde, die Bank von Monte Carlo zu sprengen, wurde zur wilden
Leidenschaft. Kaum, daß ich noch Blicke für die eleganten Ambassadricen
der Venus von Paris hatte; kaum, daß meine Frau noch Andachtskraft für
die Auslagen der großen Schneider aufzubringen vermochte: das Gold
läutete uns in seinen Tempel; wir folgten der großen Glocke. (Ich rühre
die Pauke des Pathos. Wenn sie ledern klingt -- ist es meine Schuld?)

Das Leben in den Spielsälen der Monaco-Aktien-Gesellschaft, deren
Dividenden so gewaltig sind, wie es unsere Hoffnung war, sie durch
einen phänomenalen Gewinn zu schmälern, ist zum Glück schon so
oft und mit so glühenden Farben geschildert worden, daß ich mir
die Mühe ersparen kann, ein Gemälde davon zu entwerfen. Ich lasse
es um so lieber bleiben, als ich weder die flackernden Augen der
verzweiflungsvoll ihr Letztes auf eine Karte setzenden Spieler, noch
das müde Lächeln der Verspieler von Riesenvermögen, noch die grausame
Verkniffenheit in den erbarmungslosen Augen des Croupiers bemerkt habe.
Ich sah nicht, weil ich lediglich auf die dicken Fünffrankenstücke
guckte, die ich, gänzlich unbekannt mit den Regeln des Spieles,
irgendwohin setzte, wo gerade Platz war. Ich hörte »~Faites votre jeu,
messieurs~« und »~rien ne va plus~«; und die Kugeln tanzten; und es
roch wie in einem Parfümerieladen. Und das ging eine Weile so hin, bis
ich fünfzig Franken verloren hatte und die Stimme meiner Frau vernahm,
die da lautete: »Du hast gar keine Ahnung von der Sache. Laß mich
machen!«

Sie hatte nämlich, während ich im Interesse unserer Finanzen rastlos
tätig gewesen war, versucht, den Sinn der Figuren und Nummern zu
ergründen, die auf dem grünen Tuche zu sehen waren. Und nun fing sie
an, mit Überlegung zu tun, was ich unüberlegt getan hatte. Mit anderen
Worten: ich hatte gespielt -- sie: berechnete.

Wenn Fortuna nicht ein ganz albernes Frauenzimmer wäre, das keine
Idee davon hat, worin ihr Wesen eigentlich beruht: nämlich im
Unberechenbaren, das ich mit dem Instinkte des Schicksalskundigen
kühn und groß herausgefordert hatte, so hätte sie meine Frau sofort
durch andauerndes Einziehen ihrer Fünffrankenstücke bestrafen müssen.
Statt dessen bereitete sie ihr den Triumph, sie die fünfzig Franken
wiedergewinnen zu lassen, die ich verloren hatte.

Ich wußte nicht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern sollte. Denn,
wenn es zwar erfreulich war, den Spielfonds wieder beisammen zu haben,
so war es doch auch ärgerlich, dies mit einer Einbuße an Autorität zu
bezahlen.

Indessen: würdelos, wie man nun einmal wird, wenn man, wie ich, den
Sinn auf das Materielle zu richten gewöhnt ist, freute ich mich
schließlich doch, indem ich im geheimen hoffte, die verlorene Autorität
auf anderem Wege wieder zu gewinnen.

Meine Frau aber setzte mit Überlegung weiter. Einmal sogar zehn
Franken. Und gewann immerzu. Es kam der Augenblick, wo unser Spielfonds
verdoppelt war.

»Siehst du?« sagte sie und lächelte so infam, wie ich es ihr niemals
zugetraut hätte.

»Was denn?« entgegnete ich kühl.

»~Duecento lire!~« erwiderte sie, -- der Moment war zu erhaben, als daß
sie ihn nicht toskanisch hätte verklären müssen.

»Wenn's weiter nichts ist!?« warf ich verächtlich hin.

Da setzte sie, gereizt und kühn, fünfzig Franken auf einmal.

Ich dachte nicht anders, als sie sei im Glückstaumel übergeschnappt,
und ergriff eines der unheimlichen Schiebestäbchen, den Wahnwitz
aufzuhalten, die fünfzig Franken zurückzuscharren. Da krähte der
glatzköpfige Croupier aber auch schon los: ~Rien ne va plus~, und die
schicksalträchtige Kugel hopste wie besessen in der Roulette.

»Du bist verrückt,« stöhnte ich, von dem Rechte des Ehemanns, grob zu
sein, skrupellos Gebrauch machend.

Die Kugel stand still.

Mein Herz auch.

Der Croupier scharrte geschickt und gelassen die Unglückshäufchen
von Fünf- und Zehnfrankenstücken zu sich heran, denen die Kugel Pech
gehopst hatte.

Gleich wird _ihr_ Häufchen auch beim Teufel sein, dachte ich mir und
verfluchte den weiblichen Leichtsinn.

Da: ping, ping, ping, ping ließ er Goldstücke auf das Häufchen regnen;
lauter Napoleondors; eine unglaubliche Menge.

In diesem Momente bewies meine Frau wahre Seelengröße.

Sie machte, ruhig, als sei es ihr ein gemeiner Anblick, Goldstücke
dutzendweise um sich zu versammeln, ihren Pompadour auf, kramte darin
herum, als suchte sie etwas, entnahm ihm ihr Taschentuch, wischte sich
am Näschen, legte das Tuch hinein, placierte den geöffneten Silberbügel
des Pompadours am Rande der Tafel und ließ mit unglaublich gut
gespielter Gleichgültigkeit den Goldstrom hineinplätschern.

Dies getan, stand sie nicht ohne Majestät auf und sagte zu mir: »Ich
glaube, unsere letzte Trambahn muß gleich abgehn.«

Es ist unglaublich, aber nichts als die reine Wahrheit: sie wollte sich
mit ihrem Raube auf den Yankeedoodle zurückziehen.

»Wir haben genug,« erklärte sie. »Ich weiß nicht wieviel ich gewonnen
habe, aber: es ist genug. Wenn ich jetzt weiter spiele, verliere ich.«

Ich hatte die dunkle Empfindung, daß sie recht hatte; daß sie wirklich
die Stimme des Schicksals in sich vernahm: daß es also vernünftig war,
was sie sagte. Und ich wollte sie schon am Ärmel nehmen und mit ihr
fortgehen -- direkt zu dem himmlischen Hute drüben.

Da ging ein Rauschen durch den Saal, ein Flüstern, das zu einem Surren
von Stimmen wurde, und ein Rascheln von vielen, vielen seidenen
Frauenkleidern.

»~C'est Théodore!~« hörten wir rufen. »~Théodore! Théodore; Cinquanto
mille! Soixante! Théodore!~«

Wir sahen uns um und genossen den Anblick von gut drei Dutzend
aufgeregter Damen verschiedenen Alters, aber gleichen Metiers, die,
Eisenfeilspänen gleich, wenn der Magnet sie in seine Sphäre gezogen
hat, allesamt auf einen Punkt zuschossen: in den Nebensaal zu einem
anderen grünen Tische, wo ein unangenehm schöner junger Herr stand,
durchaus und ausschließlich damit beschäftigt, Tausendfrankennoten in
ein enormes Portefeuille zu stopfen.

»Redner wird beglückwünscht,« sagte ich zu meiner Frau.

»Glaubst du wirklich, daß er fünfzig-, sechzigtausend Lire gewonnen
hat?« sagte sie.

»Nach der Ovation zu urteilen, die ihm Fortunas Cousine, die
eifersüchtige Venus, bringt, gewiß. Du kannst dich darauf verlassen,
daß er diesen Tag nicht als Einsiedler beschließen wird,« sagte ich.

»Diese Unanständigkeiten interessieren mich gar nicht,« sagte sie.

»Ich finde es gar nicht unanständig, sechzigtausend Franken zu
gewinnen, und bin jeden Augenblick zu der gleichen Unanständigkeit
bereit,« sagte ich.

»Ich auch,« sagte sie, und ging in den Nebensaal zu dem anderen grünen
Tische.

Sie hatte es sehr bald heraus, daß es dort in Einsatz, Gewinn und
Verlust erheblich anders kleckte, als bei unserer zahmen Roulette.

»Ich glaube,« sagte sie, »wir versuchen es einmal hier.«

»Aber,« sagte ich, »ich denke, du hast kein Glück mehr?«

»Dort!« sagte sie; »hier ist es etwas anderes. Wie du siehst, muß man
hier mindestens zwanzig Lire setzen.«

Ich sah ein, daß das in der Tat etwas ganz anderes war, und erhob
keinen eheherrlichen Einspruch. Nur machte ich zur Bedingung, daß auch
ich in Théodores Spuren wandeln durfte.

»Doppelt genäht hält besser, weißt du ...«

»Ja, wenn du nur eine Ahnung vom Nähen hättest.«

»Ich? Bitte: Im ~Trente et quarante~ habe ich vor zehn Jahren einmal
zweihundert Franken gewonnen.«

»Und sie wieder verloren, weil du nicht zur rechten Zeit aufhörtest.«

»Aber heute habe ich zwei große Beispiele vor mir: dich und Théodore.«

»Wenn du mir versprichst, aufzuhören, sobald du fünftausend, -- nein:
viertausend, -- nein: wenn du dreitausend Franken gewonnen hast ...«

»Selbstredend.«

Sie ließ mich einen Griff in den Pompadour tun, und ich begab mich mit
einer Faust voller Goldstücke zur anderen Seite des Tisches.

Ich war wirklich vom Glück begünstigt: eben, als ich erschien, stand
eine dicke Dame auf und fluchte etwas Polnisches.

Hast du verloren, mein Täubchen, dacht' ich mir, so ist die
Wahrscheinlichkeit um so größer, daß ich auf diesem Platz gewinnen
werde.

Ach, -- ich bin immer ein schlechter Mathematiker gewesen: auch diese
Wahrscheinlichkeitsrechnung stimmte nicht.

Andere Leute gewinnen wenigstens anfangs und verlieren das Gewonnene
nur infolge ihrer Willensschwäche, weil sie nicht aufzuhören wissen und
blind und blöde die Schwelle überschreiten, die aus dem Gewinnen ins
Verlieren führt: ich aber verlor von Anfang an, unaufhörlich, immerzu,
ohne Unterlaß und Unterbrechung.

Da ich von Mal zu Mal die Einsätze verdoppelte, ging es sehr schnell;
ich darf wohl sagen: rapid. Die Sache hatte nicht den mindesten
psychologischen Witz. Es war eine ganz blödsinnige Wiederholung von
Niederträchtigkeiten.

Angeekelt von einem Schicksal, das keine Nuancen kennt, schob ich den
Stuhl zurück, aufzustehen. Es blieb mir auch nichts anderes übrig, denn
nicht der Schatten eines Napoleondors war mehr in meinem Besitze.

Ich hörte im zermarterten Geiste bereits die Reprimanden von Madame
und trug Bedenken, mich der großen Gewinnerin zu nähern, als ich,
aufstehend und mich umwendend, sie mir gegenübersah.

Ich senkte den Blick.

Als ich ihn erhob, sah ich, daß der ihrige noch nicht den Mut
aufgebracht hatte, sich zu erheben.

Ich wußte genug.

»Hast du noch Geld zur Trambahn?« fragte ich.

»Wir können sogar noch Abendbrot essen,« sagte sie, »und ein paar
Ansichtspostkarten wegschicken.«

»Es gibt welche mit Schmähungen auf Albert I., Honoré Charles, Fürsten
von Monaco,« sagte ich.

»Die nehmen wir,« sagte sie.



Die Liaisons der schönen Sara.[2]

    [2] Anfangskapitel des »Prinzen Kuckuck«, unter diesem Titel als
        Erzählung für sich zuerst in der »Neuen Rundschau« erschienen.

            F. D.


Es war um die Zeit der unumschränkten Herrschaft der Kaiserin Eugenie
über die Modemagazine der alten und der neuen Welt, als Madame
Sara Asher, die junge Witwe des alten Mister Leon Asher (Felle und
Pelzwarenkonfektion, Neuyork) zum ersten Male seit ihrer Kindheit ihre
kleinen Füße wieder auf europäischen Boden setzte.

Europa war damals kleine, auf hohen Stöckeln balancierende Füße
gewöhnt, und auch die hohen bis zur Mitte der Waden reichenden
Juchtenstiefelchen mit goldenen Schnürenquasten, die Madame Sara
trug und geschickt in ihrer ganzen Pracht zu zeigen keineswegs
ermangelte, waren keine Sensation für den alten Erdteil, der damals
auf üppige Eleganz gestimmt war und noch nicht den kategorischen
Imperativ der bismarckschen Kürassierstiefel erfahren hatte. Selbst
Madame Ashers lilafarbenes Krinolinkleid, diese prachtvolle Glocke
mit dem prachtvolleren Schwengelpaar der beiden in weißseidenen
Strümpfen steckenden Beine war nicht imstande, besonderen Eindruck
auf einen Kontinent zu machen, der mit jedem neuerscheinenden Pariser
Modejournale neue Glockenwunder erlebte und neben einer Kaiserin der
Mode ein paar hundert Modeköniginnen besaß, deren jede den raffinierten
Sinn dieser Verheimlichung der weiblichen Beine wohl begriffen hatte.
Trotzdem drehte sich schon auf dem Jungfernstieg zu Hamburg mancher
elegante Kommerz interessiert nach der schönen Jüdin um, und wer sich
des damals noch seltenen Vorzugs rühmen durfte, mit einem Monokel
begabt zu sein (dessen rand- und bandlose Vollkommenheit freilich noch
nicht erreicht war), ließ hinter dessen Fensterglase Blicke blitzen,
die rückhaltlose Anerkennung sowohl wie den Wunsch verrieten, dieser
nach jeder Richtung hin wohlgebauten Dame einmal an einem Orte zu
begegnen, wo sich Beziehungen leicht und mühelos anknüpfen lassen.

Noch größer aber war ihr Erfolg in Leipzig, wohin sie sich auf mehrere
Wochen begeben mußte, weil mit der Verwandtschaft des seligen Leon noch
einige Erbschaftsangelegenheiten zu ordnen waren. Der Brühl, wo diese
Verwandtschaft in einer zwar nicht wohlriechenden, dafür aber um so
lukrativeren Sphäre von »Rauchwaren« hauste, geriet in beträchtliche
Aufregung, und es gab wahrhaftig mehr als einen unbeweibten
Rauchwarenhändler, der stürmisch bereit war, der schönen und reichen
Sara nicht bloß seine kostbarsten Eisbärenfelle, sondern auch sein
liebefühlendes Herz nebst allen Geschäftsbüchern zu Füßen zu legen.

Indessen, Madame Sara hatte offenbar wenig Sinn für die
hingebungsvollen Gefühle verwandter und befreundeter Firmen. Sie
war keineswegs in der Absicht nach Leipzig gereist, weiterhin auf
ehelicher Grundlage in Pelz und Pelzkonfektion zu machen. Sie hatte an
ihrem einen Rauch- und Pelzwarenhändler schon völlig genug gehabt und
war im Grunde froh, daß ihre Ehefirma durch den Tod gelöscht worden
war. Denn der alte dürre Leon, diese zweibeinige Rechenmaschine, der
man sie in sehr jungen Jahren beigegeben hatte, war ganz und gar nicht
ihr Geschmack gewesen. Für seine löblichen Qualitäten als Kaufmann
und Familienvater hatte sie kein Organ besessen, aber ein um so
schärferes Auge für das, was ihm als Menschen im allgemeinen und als
Mann im besonderen an den Eigenschaften fehlte, für die es ihr an Organ
keineswegs gebrach.

Mochte er ein Charakter gewesen sein: _sie_ war vor allem ein
Temperament. Er war einer der aus dem Osten Europas gekommenen Juden
gewesen, von denen sie zu sagen pflegte, selbst ihr Schatten färbe noch
ab, und der Geist des Ghettos stöhne in ihren schönsten Reden (und
das und nichts anderes sei das Mauscheln), während sie die Tochter
eines sehr westlichen, nämlich spanischen Juden war (eines jüdischen
Granden, wie sie sagte) und einer Kreolin. Freilich war auch der Vater
dieser Kreolin bestimmt ein Jude gewesen, und das indianische Blut
in ihrer Herkunft mütterlicherseits begegnete in der Verwandtschaft
auf dem Brühl unverhohlenem Zweifel, aber es lag ihr auch ganz fern,
ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Stamme zu leugnen. Sie war vielmehr
stolz darauf und sprach es bei jeder Gelegenheit recht hochmütig
aus, daß sie sich als Aristokratin fühle, eben weil sie Jüdin sei,
und noch dazu spanische Jüdin. Es war das, wie ihre Schönheit, ihr
Geist und ihr Temperament, ein Erbteil ihres Vaters, der zwei
Haupteigenschaften besessen hatte: Stolz und Phantasie. Aus einem
reichen Hause stammend, hatte er sich, von der Lust nach Unabhängigkeit
und Abenteuern getrieben, von seiner orthodoxen und streng in sich
abgeschlossenen Familie gelöst und war in die Welt hinausgezogen.
Lange hatte er in Italien gelebt, mit der inbrünstigen Andacht eines
Psalmoden die früheste, halb byzantinische Kunst verehrend und immer
den stolzen Plan hegend, der Verkündiger dieser Kunst zu sein. Dann
hatte ihn die deutsche Kunstgelehrsamkeit, wenn nicht abgekühlt, so
ernüchtert, und er war in das Getriebe der revolutionären Bewegung,
gleichzeitig aber in den Aufruhr der Liebe zu seiner »Kreolin«
geraten, die er als Tänzerin in Dresden kennen gelernt hatte. So kam
es, daß die »spanische Sara« (wie man sie nicht ohne Respekt auf
dem Brühl nannte) zu ihrem Leidwesen in Deutschland geboren worden
war. Indessen konnte sie keine Erinnerung daran haben, da ihr Vater
schon vor dem tollen Jahre Deutschland verlassen und mit Frankreich
vertauscht hatte. Aber auch dieses Land genügte seinem revolutionären
Sinne nicht, und er wanderte mit Weib und Kind nach Amerika aus, wo es
ihm indessen erst recht nicht gelang, zur Harmonie zu kommen. Immer
die größten Pläne, bald wissenschaftlicher, bald poetischer, bald
politischer Natur wälzend und sich aus einem Lager der Meinungen immer
wieder in ein anderes begebend, immer wieder abgestoßen durch das,
was er Philistertum nannte, und überall abstoßend durch seinen Stolz
und sein Weiterhinausbegehren, endete er als vollkommener Einsiedler
der Gedanken, als geborener ~précurseur~, wie er sich selbst nannte.
Seine Frau war ihm weggestorben, als Sara noch nicht zehn Jahre
alt war. Diese war nun sein einziger Umgang, und in ihrer Erziehung
ging er völlig auf. Er brachte ihr, einem höchst aufgeweckten Kinde,
früher, als ihr gut sein konnte, nicht nur seine reichen Kenntnisse
in Sprachen, Kunst und Literaturgeschichte, sondern auch seine ganze
Weltauffassung bei, die schließlich immer mehr Nihilismus geworden war.
Eine rasche Krankheit raffte ihn weg, kurz bevor sie das fünfzehnte
Jahr erreicht hatte. Da er ihr fast nichts hinterließ, mußte sie
es als ein großes Glück betrachten, daß der alte reiche Leon Asher
sich ihrer annahm. Das Wohlleben in seinem Hause gefiel ihr, und so
sagte sie nicht nein, als der Fünfzigjährige die Sechzehnjährige zur
Frau begehrte. Sie gebar ihm in drei Ehejahren zwei Söhne. Als er
starb, hatte sie das Gefühl: jetzt beginne ich zu leben. Kaum, daß
das Trauerjahr vorüber war, übergab sie ihre zwei Kinder, zu denen
sie auch nicht die geringste mütterliche Zuneigung empfand, einer
Schwester des Verstorbenen und unternahm die Reise nach Europa, zwar
unter dem Vorwande, nur Erbschaftsangelegenheiten betreiben zu wollen,
aber mit der bestimmten Absicht, in Europa zu bleiben und dort ihr
Leben in aller Freiheit einer reichen jungen Witwe zu genießen. Die
aufs Geistige gewandten revolutionären Lehren ihres Vaters hatten bei
ihr eine sehr deutliche Wendung aufs Sinnliche genommen, doch besaß
sie einen gewissen sehr günstigen Dämpfer in ihrer wohlfundierten
ästhetischen Bildung.

Aber der Brühl zu Leipzig konnte freilich keine Landschaft nach ihrem
Sinne sein. Sie nahm nur schnell ein kleines Verhältnis mit einem
hübschen, aber allzuwenig interessanten Korpsstudenten mit; dann
reiste sie nach Dresden. Der Galerie wegen, meinte sie, doch dachte sie
wohl auch an anderes.

Ihr Vater, kein Freund des deutschen Wesens, hatte ihr von Dresden
berichtet als der einzigen deutschen Stadt mit galanter Kultur. Er
hatte dies freilich nicht ganz in dem Sinne gemeint, in dem es sich
bei ihr festgesetzt hatte. Aber es war in diesem Falle gewesen, wie
auch sonst: sie hatte, indem sie eine allgemein gefaßte Meinung ihres
Vaters in ihre Auffassungssphäre übernahm, sie zwar allzu wörtlich
aus dem Allgemeinen einer männlichen Erfahrung in das Besondere ihrer
weiblichen Gefühls- und Anschauungswelt übersetzt, aber im wesentlichen
deckten sich Original und Übersetzung doch.

Der Vater Saras hatte Dresden mit den Augen des Kunstgelehrten und
Kunsthistorikers angesehen. Er war italienischen und französischen
Einflüssen in der Kunst und Kultur der sächsischen Residenzstadt
nachgegangen und dabei auch italienischem und französischem Blute
begegnet. Dies mußte ihn, den unter Romanen geborenen, wie etwas
Heimatliches berühren. Und seine Phantasie half nach. In jedem
schwarzen oder braunen Auge einer Dresdnerin erblickte er ein
lebendiges Denkmal längst verwehter Schäferstunden französischer
Soldaten und italienischer Künstler, wenn es auch vielleicht in
Wahrheit slawisches Braun und Schwarz war. Und dann kam hinzu, daß
er seine eigene Liebe in dieser Stadt erlebt hatte. Hier hatte das
Wochenbett seiner Frau, hier die Wiege Saras gestanden; und beide
Betten, das große und das kleine, hatte er mit alten Meißner Figürchen
umgeben, kleinen Kunstwerken, auf die das Wort einer galanten Kultur
wirklich zutraf. Alles dies lebte in Sara nach, unbewußt, halb bewußt,
ganz bewußt.

Als sie der hübsche, aber leider von Korpsinteressen völlig absorbierte
Kurt von Kantern, die stahlblaue Lausitzer-Mütze tief, wie es damals
Mode war, in die Stirn gezogen, einmal gefragt hatte: »Aber warum denn
gerade nach Dresden, Madame? Auf Ehre -- Dresden ist ein langstieliges
Kaffeedorf!« hatte sie geantwortet: »Für Korpsstudenten -- mag sein.
Korpsstudenten interessieren sich nicht für Meißner Porzellan.
Korpsstudenten sind tapfere Ritter, aber keine Kavaliere im Sinne der
galanten Zeit. Sie müssen zu viel Bier trinken und zu oft pauken. Das
ist gewiß reizend -- für Korpsstudenten. Ich aber habe schon genug
von steilen Terzen und Hakenquarten. Ich möchte nicht gerne Anlaß
zur Eifersucht haben, und am wenigsten Anlaß zur Eifersucht auf die
Kneipe. Ich möchte mich in Jünglinge verlieben, die auf der ganzen Welt
nichts kennen und wollen als mich, oder in Männer, die sich in meiner
Gesellschaft von großen Dingen ausruhen.«

Davon begriff der hübsche Lausitzer-Senior nicht gar viel; die schöne
Sara aber hatte damit immerhin etwas von der Oberfläche ihrer Instinkte
verraten.

       *       *       *       *       *

In Dresden logierte sie sich nahe dem Zwinger in einem höchst soliden
und von der besten Gesellschaft frequentierten Hotel ein, wo sie schon
bei der Ankunft nicht geringen Eindruck machte; einmal durch die
große Anzahl der von ihr mitgeführten sehr umfangreichen und schweren
Lederkoffer und dann durch ihre Jungfer, eine äußerst häßliche und, wie
es schien, taube Negerin, die von ihr Lala genannt wurde und ihrer
Herrin sklavisch anhänglich war.

Dieses Verhältnis führte sich in erster Linie darauf zurück, daß Lala
mit ihrer Herrin zusammen aufgewachsen war, am Äußeren der Erziehung
mit anteilnehmend, so daß sie gleich dieser Deutsch, Englisch,
Französisch und Italienisch verstand, aber vom Vater Saras doch immer
auf dem Stand einer durchaus willenlosen und sklavisch abhängigen
Dienerin niedergehalten. Sie hatte nie einen Pfennig Lohn erhalten und
nie daran gedacht, dergleichen als etwas ihr Zukommendes zu betrachten.
»Du bist Saras dunkle Schwester,« hatte ihr der Alte gesagt, »und
gehörst zu ihr, wie ihr Schatten. Und wie ihr Schatten sollst du sein:
stumm, taub -- für die anderen. Aber Sara wird keine Geheimnisse vor
ihrer dunklen Schwester haben, und Saras Schatten wird Saras Schicksal
teilen. Sara wird für ihn denken und Sara wird für ihn sorgen. So ist
es die Bestimmung und so das Glück der dunklen Schwester.« Der Alte
hatte wohl gewußt, warum er in Bildern zu der kleinen, verprügelt und
halb verhungert in sein Haus gekommenen Negerin gesprochen hatte. Ihre
wie aus einer Schicht braunen Öls stumpf leuchtenden schwarzen Augen
hatten ihm die unklar träumende Seele dieses Wesens offenbart, das
treu wie ein Hund und zu allem Guten und Bösen abzurichten war. Der
Alte sorgte dafür, daß nichts in ihr helle wurde, als das Gefühl für
die Erhabenheit Saras über ihr. Und dieses Gefühl wurde immer mehr zu
einer demütigen Anbetung, je reifer die Schönheit Saras wurde. Wie Sara
selbst, ohne Religion aufgewachsen, hatte sie, aus einem mystischen
Bedürfnisse ihres dunklen Wesens heraus, Sara zu einem Idol nach
der Art derer gemacht, die ihre schwarzen Vorfahren angebetet haben
mochten. Das war keine gute Göttin, kein lieber Gott, das war nur eben
das höhere Wesen, die Macht, die Lenkung. Und es war die Schönheit, die
Helle.

Lala wurde zur Dichterin, wenn sie ihre Gefühle für Sara aussprach.

Wie Sara zum Führen eines Tagebuches angehalten worden war, so auch
sie, aber sie schrieb nur Dinge hinein, die Sara betrafen, und jede
Seite begann mit der Überschrift: »Heute sprach die helle Schwester
dies.« Dann folgte etwa: »Hole das grüne Kleid, Lala. Tat es die dunkle
Schwester. Sprach später die helle Schwester: Ich liebe noch immer den
jungen Mann. Bring ihm den Brief. Tat es die dunkle Schwester. Und der
junge Mann lächelte, denn die helle Schwester liebt ihn. Und kam zur
Nacht nicht heim. Sanft sei ihr Glück wie der Mond, und heiß wie die
Sonne. Die dunkle Schwester kennt die Liebe nicht, aber sie hat alles
mit von der hellen Schwester. Und es ist gut für sie. Alles ist gut, so
dunkel und gut.«

In diesem seltsamen Tagebuche bediente sich Lala derselben
Geheimschrift, die sie mit Sara von Saras Vater erlernt hatte. Doch
hatte sie sich noch einige Sigel dazu erfunden. So für die Worte:
»Heute sprach die helle Schwester« einen Kreis, durch den ein Pfeil
wagrecht ging und für die Worte: »Tat es die dunkle Schwester« einen
Halbmond, durch den ein Pfeil senkrecht ging.

Ihre Taubheit war Verstellung zu dem Zwecke, die Äußerungen fremder
Leute über ihre Herrin vernehmen zu können, ohne daß diese sich
dessen versahen. So hatte sie schon während der Ehe Saras der hellen
Schwester wertvolle Spionendienste unter der Verwandtschaft des
ahnungslosen Mister Leon Asher geleistet. Sara selbst pflegte ihre
Dienerin auch ihren nächsten Bekannten und Vertrauten gegenüber als
harmlose Idiotin hinzustellen, was um so weniger auf Mißtrauen stieß,
als die primitiven Umgangsformen zwischen Herrin und Dienerin, wie das
gegenseitig angewandte Du, ohnehin den Eindruck machten, als seien sie
auf kindliche Zurückgebliebenheit des Verstandes der seltsamen braunen
»Jungfer« zurückzuführen.

       *       *       *       *       *

Nachdem Madame Sara in den besten Geschäften der Pragerstraße nach
den besten Pariser Modellen ihre zwar ohnehin reiche, aber doch noch
nicht ganz auf der Höhe des europäischen Geschmackes befindliche
Garderobe ergänzt hatte und es nun an türkischen Schals, spanischen
Mantillen, kleinen koketten Federhütchen, knisternden Reifröcken
und durchbrochenen Halbhandschuhen mit den elegantesten Dresdener
Madams mehr als aufnehmen konnte, fand sie es für angezeigt, ihre
Antrittsvisite bei der berühmtesten, ob auch ganz altmodisch
gekleideten Dresdnerin zu machen, deren erlauchte italienische Herkunft
zweifellos ist: bei der Sixtinischen Madonna.

Gleich den meisten anderen Fremden durchschritt auch sie (doch war es
mehr ein Durchwogen) alle übrigen Säle der Galerie, ohne den an ihren
Wänden prangenden Kostbarkeiten mehr als einen vorüberstreifenden Blick
zu gönnen, mit dem Ausdruck der von Sehnsucht beflügelten Wisserin der
höchsten Gnade, bis sie zu dem gebenedeiten Raume gelangte, wo die
himmlischen Augen der Mutter und des Kindes leuchten, vor denen Papst
und Heilige knien.

Die schöne Jüdin, froh, dort niemand zu treffen, ließ sich mit einem
knisternden Aufbauschen ihres dunkelgrün seidenen Reifrockes in
einem Fauteuil dem Bilde gegenüber nieder, erhob ihren schönen, mit
vollgerundeten, schwermütig schwankenden Schmachtlocken frisierten Kopf
zu dem Gemälde und führte das goldene Lorgnon an die dunklen und durch
unterlegtes Beinschwarz noch mehr gehobenen Augen.

Ein wunderlicher Gegensatz, wie von Gavarni mit verruchter
Raffiniertheit erfunden, diese beiden Frauenbilder einander
~vis-à-vis~: das lebendige, als ob es ein zwar amüsantes, aber freches
Gespenst des Lebens wäre, und das aus der Kunst geborene, das fast
noch mehr wie Leben strahlte: als Lebensleuchten selber aus tiefster,
innigster Einfalt.

Madame Sara empfand selbst so etwas und zog ein Spiegelchen aus ihrem
perlengestickten Ridikül, sich darin zu betrachten.

Warum schminken wir uns eigentlich so absurd, dachte sie für sich.
Warum diese Masse Rot auf so viel Creme-Weiß. -- Nun ja, wir sind keine
Göttinnen ... Und doch ... es wird einem wunderlich zumute.

Und sie sah wieder die Madonna an.

Und dachte weiter: -- Wer hat mehr Ursache, stolz zu sein, als wir
Jüdinnen? -- Die schönste Römerin war dem größten Künstler Italiens
gerade gut genug, eine Jüdin darzustellen ... -- Religion?

Sie lächelte.

Wer hier die Liebe nicht sieht, hat keine Augen. -- Freilich: der
Papst, die Heiligen, die Engel ... ~Enfin!~ Künstler können sich was
herausnehmen ... Künstler! Ah! ... Zweierlei gibt's: Künstler und
Helden -- oder, ohne Romantik gesprochen, Soldaten -- d. h. Offiziere.

In diesem Augenblicke wurden ihre Gedanken durch das bestimmte Gefühl
unterbrochen, daß hinter ihr ein Mann stehen müsse. Eine kleine Wendung
ihres Kopfes, ein Blick nach hinten, ~colla coda dell' occhio~,
genügte, ihr zu zeigen, daß ihr Gefühl sich nicht getäuscht hatte.

Eine Weile später würde sie ihn auch mit der Nase haben wahrnehmen
können, denn der Herr, der jetzt schräg hinter Madame stand und
keinen Blick von ihr wandte, wie wenn er nicht der Sixtinerin wegen
gekommen wäre, sondern wegen der Amerikanerin, dieser Herr, ein
straff aufrechter Vierziger mit blonden Koteletten in der Mode der
Zeit, einem rosigen Teint, sehr hellbraunen Augen und einem Anzuge,
dessen sich der Empereur in Paris nicht hätte zu schämen brauchen,
liebte offenbar die starken Gerüche. Damals war unter den vornehmen
Mitgliedern der Herrenwelt ein Parfüm bevorzugt, das heute zu den
Lehrlingen im Kellnergewerbe herabgesunken ist: Jockey-Klub. Doch
war dieses Odeur damals noch nicht so degeneriert wie heute, wo es
aus den zusammengegossenen Neigen anderer Extrakte hergestellt zu
werden scheint. Es war vielmehr in der Blüte seiner Kraft und duftete
restlos die große Seele dessen aus, der seine Erfindung inspiriert
hatte: des Prinzen von Wales, dem bei seiner Inspiration nichts
Geringeres vorgeschwebt hatte, als eine Erhebung des Stallgeruchs zum
Odeur, -- Rennpferd-Stallgeruchs, versteht sich. Frisches Heu und
Juchtenleder als Dominante. Ein wirkliches ~Odeur de chevalier~, viel
sagend und viel versprechend für geistreiche Nasen von Damen mit
Temperamentsphantasie.

Der schönen Sara, die allzulange Ledergerüche hatte erdulden müssen,
die nicht raffiniert und nicht nobilisiert waren, fehlte es an
dieser Phantasie keineswegs, und so kam es, daß ihre Geruchsnerven
in der bestimmten Ahnung vibrierten, der Herr hinter ihr könne eine
Bedeutung für sie haben. Und so ließ sie mit scheinbarer Nachlässigkeit
ihr winziges Spitzentaschentuch fallen, dessen Parfüm etwa als
Komplementär-Geruch zu jenem ~Odeur de chevalier~ hätte bezeichnet
werden dürfen. Sofort machte der Herr mit den Koteletten ein paar
schnelle federnde Schritte nach vorn, bückte sich zu dem winzigen
weißen Häufchen aus Seide, Spitzen und Duft nieder, ergriff das zarte
Gewebe und überreichte es Madame mit einer Verbeugung, die zugleich
ritterlich und galant, die beste Welt verriet.

Ah, machte Sara mit vollendet gespielter Überraschung, das heißt
mit einem Tone der Überraschung, dem man es anhören konnte, daß die
Überraschung gespielt war. Der Herr mit den hellbraunen Augen verstand
sich auf Tonnuancen aus Frauenmunde und wußte auch die richtigen
Folgerungen daraus zu ziehen und sich den Folgerungen entsprechend
mit Delikatesse zu benehmen. Aber hier hätte es der Erfahrung und
Sicherheit eines Meisters in der Kunst der Anknüpfung mit Damen nicht
einmal bedurft, denn angesichts ganz großer Gegenstände der Kunst
oder Natur ist es selbst für Anfänger leicht, den Faden zu einem
Gespräch anzuspinnen und fest zu drehen. Was so hoch über der gemeinen
Konvenienz steht, wie die Sixtinische Madonna, verleiht mit der Macht
von Souveränen auch das Recht, sich in seiner Gegenwart zeitweilig über
konventionelle Schranken wegzusetzen.

So waren Weltdame und Weltmann bald in einem angenehm bewegten
Gespräch, das bei Raffael begonnen hatte, über die Kunst im allgemeinen
anmutig weggeschaukelt war und sich schließlich behaglich über Fragen
des gesellschaftlichen Lebens in Dresden ausbreitete.

Der Umstand, daß auch der Herr als Fremder in Dresden weilte, ergab
eine willkommene Erleichterung der gegenseitigen Aussprache. Eine
Reisebekanntschaft, sogleich als Reisebekanntschaft determiniert, wird
von Leuten von Welt, die sonst zumeist gezwungen sind, sich in festen
Zirkeln zu bewegen, immer als eine angenehme Bescherung des Zufalls
gerne begrüßt. Man lernt sich schnell kennen, kommt einander, wenn
Sympathie im Spiele ist, sehr schnell nahe, bleibt aber doch immer
Passagier, und es genügt, eines Tages zu sagen: Morgen mit dem Frühzuge
reise ich weg. Nicht einmal das Stammbuchblatt früherer Zeiten ist
auszufüllen:

    Fällt Dein Blick auf diese Seite,
    Wenn Du jene umgewandt,
    Denk an mich mit Gunst und sage:
    Diesen hab ich auch gekannt.

Fürst Wladimir Golkow, russischer Kavallerie-General außer Dienst,
Kommandeur des Sankt-Georgsordens für besondere Bravour im Krimkriege,
besaß viel Neigung zu derlei Bekanntschaften, zumal wenn es sich um
schöne Partnerinnen handelte, und er lebte recht eigentlich solcher
Reisebekanntschaften wegen immer auf Reisen. Doch war Dresden, das zu
jener Zeit von Russen überhaupt bevorzugt wurde, der Ort, zu dem er
von Zeit zu Zeit immer wieder zurückkehrte. Daher er hier eine feste
Wohnung unterhielt, eine kleine Villa in einem großen Garten der
Neustadt.

Heute knattert auch durch dieses damals noch ganz ländlich stille
Viertel der elektrische Trambahnwagen; die großen Gärten sind
parzelliert, und in jedem der neuen kleinen Gärten steht, die
dumm-moderne Front zur Straße gewendet, ein kleiner Steinkäfig mit
Stuckornamenten, in dem ein Dresdner Partikulier wohnt, dem es gerade
recht ist, daß er seinem Nachbar in die Fenster gucken und riechen
kann, was der Herr Rechnungsrat nebenan heute zu Mittage hat. Damals
aber war das eine vornehme Gegend. Wenige, aber große, mit alten Bäumen
bestandene Gärten, und tief im Grün des Gartens, von der Straße kaum
sichtbar, ein altes Herrenhaus mit französischem Doppeldach, ohne
viel Schmuck, und ganz gewiß ohne angeklebten Schmuck, aber von guten
architektonischen Verhältnissen, behaglich geschmackvoll.

Ein solches Haus in solchem Garten hatte sich »der Russe«, wie er in
der Gegend kurz genannt wurde, erworben und ganz nach seinem Sinne mit
Möbeln aus der Zeit des ersten Kaiserreichs ausgestattet, die damals
bloß als altmodisch, aber noch nicht für »antik« galten. Sie sagten ihm
in ihrer strengen und etwas steifen Pracht viel mehr zu, als die mit
Rokoko-Verzierungen recht oberflächlich spielenden Möbel des zweiten
Kaiserreichs, die ihm den Eindruck von Unsolidität und Weichlichkeit
machten. Er aber liebte die gerade Linie, sparsamen, zurückhaltenden
Schmuck aus echtem Material und eine gewisse Massigkeit. Das grazilere
»Damen-Empire«, die feinbeinigen Tischchen und wie aus Gitterwerk
zierlich konstruierten Sofachen fand man bei ihm nicht, wohl aber
gewaltige, wenn auch durch die Kunst der Verhältnisse nicht plump
erscheinenden Tische und wahrhaft überlebensgroße Prachtkanapees.
Die östliche Herkunft und den früheren Beruf des Besitzers verrieten
kostbare persische Teppiche, turkestanische Vorhangstoffe und wertvolle
Waffen der verschiedensten Art: Säbel, Degen, Pistolen, Gewehre, die,
weit zahlreicher als Bilder, an den Wänden hingen. Doch fehlte es auch
an Bildern nicht völlig, und diese ließen gleichfalls gewisse Schlüsse
auf die Neigungen ihres Besitzers zu. Da waren bunte, edelsteinbeladene
russische Heiligenbilder, byzantinische Madonnen neben tibetanischen
Malereien auf Seide, die schauderhafte Götzen, überladen mit Attributen
der Grausamkeit und Wollust, darstellten, aber es gebrach auch nicht
an allerhand nackten Damen antikmythologischer und ganz und gar
moderner Herkunft. Diese letzteren aber waren nicht so sehr durch
klassische Schönheit wie durch Fülle ausgezeichnet. Auch plastische
Kunstwerke waren vorhanden, doch gewahrte man weniger echte Bronzen,
als Erzeugnisse des berühmten russischen Phosphor-Eisenwerkes bei
Jekaterinburg, die nichts so gerne darstellen, wie reitende Kosaken.

Auch von diesen Dingen war bereits in Gegenwart der Sixtinischen
Madonna die Rede, und es war nicht bloß höfliche Vorheuchelung, wenn
Madame Sara erklärte, daß alles Russische sie besonders interessiere.

»Rußland, verzeihen Sie, Fürst, hat für uns Amerikaner den Reiz
kostbarer Barbarei. Gilt uns Europa als die alte, schon etwas
lahmgewordene Kultur, so Rußland als der große Rachen, der diese Kultur
einmal verschlingen und, wenn er imstande ist, sie zu verdauen, aus
ihr ein neues Gebilde von halb asiatischem Charakter erstehen lassen
wird.«

»Ich verstehe, Madame. Wir Russen sind für Sie die Europäer ~à la
tartare~. Ein bißchen Politur über dicker Roheit. Nun ja, gottlob,
es ist etwas Wahres daran. Unsere Kraft liegt in Asien, im Urgebiet
des Menschen, das schon mehr Kulturen sterben sah, als je in Europa
entstanden sind. Dort ist viel verfault und daher, dank der Düngung
durch Jahrtausende der beste Humus für eine neue, für unsere Kultur.
-- Was Sie in Amerika verflucht schnell und, entschuldigen Sie, etwas
oberflächlich gemacht haben, machen wir verflucht langsam, daher
aber um so gründlicher. Sie haben auf ein neues Land den äußerst
schnell alt gewordenen europäischen Liberalismus gepfropft, aber
dieses Wunderkind wird wie alle Wunderkinder früher sterben, als es
Nachkommen hervorbringen konnte. Wir aber gehen auf das echte Urwesen
des Menschen zurück, das sich, wenn Sie wollen, barbarisch geworden,
im Osten erhalten hat und zu alt ist, als daß es die Kinderei des
Liberalismus hätte mitmachen können. Panslavismus heißt Asiatismus,
heißt Mystizismus. Revanche für Marathon und Salamis ist das letzte
Ziel der russischen Politik.«

»Oh! Oh! Sie springen weit und überspringen viel, Fürst!«

»Das kommt, weil wir Russen an große Ausdehnungen gewöhnt sind.«

»Wie wir Amerikaner.«

»Aber Sie springen an der Longe Europas in der Manege des Liberalismus.
Zirkuskünste! Bei uns aber ist Freiheit und Größe! Nur bei uns!«

»Freiheit? Existiert das Wort im Russischen?«

»Nicht im Sinne der kümmerlichen ~Liberté~, aus der die ruchlos
idiotische ~Égalité~ hervorgegangen ist, aber im großen Ursinne der
Brüderlichkeit eines ganzen Volkes, das sich als Familie fühlt und mit
tiefem Instinkte den fürchterlichen Unsinn des Individualismus erkannt
hat, den wir den griechischen Windbeuteln und den einzigen entarteten
Orientalen verdanken: den Juden.«

Bei diesem Worte fühlte die kluge Sara, der dieses Gespräch ein seltsam
aus Ärger und Respekt gemischtes Vergnügen bereitet hatte, daß jetzt
der Moment gekommen war, wo es sich entscheiden mußte, ob sich mehr und
Besseres aus ihm entwickeln sollte, als Gespräche.

Und sie sagte mit einem Lächeln, das schlechterdings bezaubernd war in
seiner Mischung aus ein bißchen Demut mit viel Stolz: »Sehen Sie mir es
nicht an, daß ich Jüdin bin, Fürst?«

Auch der Kommandeur des Sankt-Georgsordens empfand sehr schnell die
Bedeutung dieses Momentes. Er, der in der Tat längst und keineswegs
mit Mißfallen die jüdische Herkunft seiner schönen Partnerin bemerkt
hatte, ergriff ihre linke Hand und zog sie an die Lippen, indem er
sprach: »Ich verstehe mich auf Frauenschönheit, Madame, und ich müßte
nicht tatarisches Blut in mir haben, wenn ich sie nicht zu schätzen
und -- abzuschätzen wüßte. Meine Liebe für den Orient ist nicht bloß
platonisch-politischer Natur. Mag ich auch die Juden für entartete
Orientalen mit dem denkbar schlechtesten Einfluß auf die menschliche
Kultur halten -- die Jüdinnen sind mir immer besonders verehrungswürdig
erschienen, und ich möchte mich ihrem Einflusse keineswegs entziehen,
-- zumal, wenn er über ein Lächeln verfügt, wie Sie.«

Madame Sara hörte den Unterton von paschahafter Überlegenheit aus
diesen Worten wohl heraus, aber er mißfiel ihr durchaus nicht. Im
Gegenteil: Sie ahnte aus ihm etwas, das sie innerlich höchst angenehm
aufschauern ließ.

Und sie wiederholte ihr Lächeln, indem sie die Demut darin zur Balance
mit dem Stolze steigerte. Und sagte: »Auch die Ironie in Ihren Worten
entzückt mich, Fürst, -- nicht bloß die Schmeichelei. Sie haben eine
mir sehr zusagende Manier der galanten Huldigung, und ich würde es
vielleicht auf einen Versuch ankommen lassen wollen, zu erfahren, ob
Sie jetzt bloß -- höflich gewesen sind.«

Der Versuch wurde gemacht, wurde wiederholt, und es war bald kein
Zweifel mehr daran erlaubt, daß Fürst Golkow eine mehr als platonische
Neigung für schöne Jüdinnen hatte.

Schon nach wenigen Wochen war Madame Sara im ~buen retiro~ des Fürsten
wie zu Hause, und sie lernte den Zusammenhang begreifen, der zwischen
den byzantinischen Madonnen, den tibetanischen Verzückungsgreueln und
den Kosaken aus russischem Weicheisen bestand. -- --

Wie ihr das neu war nach ihren Erfahrungen mit dem seligen Asher und
dem Intermezzo mit dem hübschen Leipziger Korpsburschen!

Sie lernte mit großem Interesse das erotische Gruseln kennen und
entbrannte in heftigster Leidenschaft zu ihrem Tataren, wie sie nun den
Fürsten gerne nannte. Indessen: den Kopf verlor sie dabei doch nicht.
Wie gerne sie auch ihrem erotischen Mystagogen auf den dämmerigen
Wegen in das mystische Paradies folgte, und wie gelehrig sie sich auch
aus angeborenem Talente benahm, -- sie verfiel ihm nicht so ganz, wie
es den Anschein hatte, und wie er es nach dem Anschein gerne glaubte.
Sie exaltierte sich nicht aus Berechnung; das hatte ihr Temperament
nicht nötig. Sie spielte auch nicht aus Berechnung die Liebessklavin;
diese Rolle war ihr im gegebenen Momente Natur. Aber beides, die
Exaltation und die demütige Unterwerfung unter den Herrn der Liebe,
nahm sie nicht dauernd ein; -- sie blieb über der Sache, die für sie
nicht Liebe, sondern Sensation war, aber sie wußte sich klüglich den
Anschein zu geben, als sei sie nicht bloß in seinen Armen sein.

Auch beim Fürsten war es nicht Liebe im wahren mystischen Sinne des
Wortes, nicht die ganze innere Verknüpfung seines Wesens mit dem
ihren. Er entzückte sich an ihr zu Schwelgereien seiner wunderlich
verstiegenen und alle Abgründe aufsuchenden Erotik. Er genoß in ihr --
Asien und meinte in ihr -- das Judentum zu unterwerfen. Aber es ging
ihm wie manchen großen Herrn, die, gerade wenn sie am unumschränktesten
zu herrschen glauben, um ihr eigentliches Herrschertum betrogen werden.
Die schöne Jüdin wurde ihm zum Bedürfnis, und sie zwang ihm leise eine
Monogamie auf, die ganz und gar nicht in seinem Wesen lag.

Ein solcher Zustand aus wirklicher Liebe ist Glück. Beim Fürsten
war es eine Folge von Rauschzuständen, denen es am Intermezzo des
Katzenjammers nicht fehlte. Trotzdem dachten beide nicht daran, die so
intim gewordene Reisebekanntschaft durch eine Abreise zu lösen.

Madame Sara fühlte sich in Dresden durchaus und in jeder Richtung
wohl. Sie war durch den Fürsten, soweit er selbst gesellschaftliche
Beziehungen pflegte, in die Gesellschaft gekommen, -- nicht so sehr in
die der ansässigen Kreise, als in die der Fremden von Distinktion. Und,
wo sie erschien, machte sie Aufsehen, gefiel sie. Das tat ihr wohl und
machte ihr Vergnügen, zumal, da sie an Schönheit, Geist und Eleganz
keine Rivalin fand.

Es dauerte nicht lange, und sie war umworben. Ein Attaché der
französischen Gesandtschaft gefiel ihr, aber seine Gespräche waren
zu pariserisch glatt. Sie war tiefere Paradoxe gewöhnt als die, die
Monsieur le Comte de Brottignolles aus dem Figaro schöpfte, den sie
selber las. Auch ein junger sehr reicher Engländer, der immer vorgab,
sich zum Studium der deutschen Sprache in Dresden aufzuhalten, aber nie
ein deutsches Wort über seine wunderbar rasierten britischen Lippen
brachte, machte in seiner blonden Gesundheit einen gewissen Eindruck
auf sie. Er war nicht parfümiert und roch doch gut. Alles war gut
ausgearbeitet und doch strotzend an ihm. Kurz: ein Triumph der Hygiene.
Aber er war gar zu englisch, zu insular, und man konnte mit ihm
schlechterdings nur über Dinge reden, die augenscheinlich vernünftig
waren. Und, um Leitartikel miteinander auszutauschen, dazu, meinte
Madame Sara, unterhält sich eine junge Frau nicht mit einem jungen
Manne. Überdies hatte sie die Empfindung, daß er grausam tugendhaft sei
und sich darauf noch etwas einbilde.

Der Fürst, dem es nicht entgehen konnte, daß seine Sulamitin auch
anderen gefiel, beobachtete mit großem Vergnügen das Vergebliche aller
Versuche der anderen, ihr nahe zu kommen, und legte das wohlgefällig
als Beweis seiner festen Alleinherrschaft aus. Irgendwie erstaunlich
fand er es nicht, denn es gehörte zu seiner Überzeugung von den
Vorzügen der östlichen Menschen, daß dort die Männer zwar polygam, die
Weiber aber monogam veranlagt seien. »Sogar die Jüdinnen,« hatte er
einmal zu Sara gesagt, »die überhaupt noch echte Orientalinnen sind,
weshalb sie sich in ihren schönen Exemplaren auch überall gleichen,
während der amerikanische Jude ganz wie ein Amerikaner aussieht, der
französische Jude ganz wie ein Franzose.« Auch gegenüber solchen Reden
hatte Sara das unterwürfige Lächeln der Favoritin, aber in ihrem Innern
sah es dabei gar nicht unterwürfig aus, und im Tagebuche Lalas gab es
eine Stelle, die lautete so: »Sprach die helle Schwester: Je gescheiter
ein Mann ist, um so leichter kann ihn eine Frau betrügen.«

       *       *       *       *       *

Eines Morgens wurde Madame Sara, die erst sehr spät von einem Besuche
bei ihrem Tataren nach Hause gekommen war und unerquicklich geträumt
hatte, durch rasendes Klavierspielen und eine fürchterliche Art von
Gesang geweckt. Beides wurde offenbar direkt über ihr verübt. Sie
schellte Lala herbei und rief ihr entgegen: »Was ist denn das! Wer
wohnt denn über uns?«

»Oh!« antwortete Lala mit großem Ernste, »du wirst ihn lieben. Er ist
so häßlich wie ich, aber du wirst ihn lieben. Er ist anders. Er ist gut
und verrückt. Er hat zu mir gesagt: ›Ei du Scheusälchen‹!«

Madame Sara, eben noch recht ärgerlich, mußte lachen, und sie sagte:
»Mir scheint, Lala: du liebst ihn. Dann muß ich zurücktreten.«

Aber Lala verstand solche Scherze nicht. Sie sagte: »Oh, es ist wahr.
Er ist ganz für dich. Er ist ganz anders und ganz für dich, und er wird
dich lieben.«

»Dann soll er vor allem mit diesem schrecklichen Klavierpauken aufhören
und mit dem noch schrecklicheren Gesingse!«

»Lala geht zu ihm.«

Und Lala ging hinauf, und augenblicklich wurde es ruhig.

Nach einer Weile kam die dunkle Schwester mit einem Billett zurück, auf
dem folgende Worte standen:

    »Wenn Orpheus sang, schwieg selbst das Federvieh,
    Doch Orpheus selber, lehrt Mythologie,
    Orpheus schwieg nie.

Aber Orpheus hat auch nicht das Glück gehabt, Madame Sara Asher Neuyork
(siehe Fremdenbuch) zu sehen, wie der ganz ergebenst endesunterfertigte
Musikante und Poet, der zwar nicht leben kann, wenn er nicht den Flügel
bearbeitet und seine unsterblichen Melodien den Morgenwinden mitteilen
darf, aber lieber aufs Leben zu verzichten gewillt ist, als daß er
der schönsten aller Damen ärgerlich sein möchte. -- Es liegt also bei
Madame, zu entscheiden, ob ich leben oder sterben soll. -- Ich werde
mir erlauben, selbst um die Entscheidung anzufragen, wenn Madame die
Gnade haben will, mir dafür eine Stunde zu bestimmen.

Der ich bin der schönsten Dame alleruntertänigster Diener und Knecht
~Sturmius de Musis~.«

»Du scheinst recht zu haben, Lala, er ist entschieden verrückt,« sagte
Sara, als sie unter Lächeln das Billett gelesen hatte. »Aber er ist ein
amüsanter Narr. Du kannst ihm also sagen, daß ich um ein Uhr für ihn
zu sprechen bin.«

Punkt ein Uhr überbrachte Lala ihrer Herrin eine Visitenkarte, die
den wirklichen Namen des ~Maestro Sturmius de Musis~ aufwies, einen
alten deutschen Adelsnamen, der eben an allen Plakattafeln der Stadt
über einer Konzertanzeige zu lesen war. »Ich lasse bitten!« sagte sehr
freundlich Madame Sara, musterte schnell noch einmal ihre raffiniert
halb auf Empfang, halb auf Negligé gestimmte Toilette und ließ sich,
gelb auf rosa, in einen üppig gepolsterten Armstuhl sinken.

Kaum, daß sie noch einen Wurf alter Brabanter Spitzen über türkischen
Pantöffelchen zur Geltung hatte kommen lassen können, stand der
Flügelgewaltige auch schon in der Türe.

Er sah, oberflächlich angesehen, recht unscheinbar aus. Klein und
mager, wie er war, verschwand er fast in dem überlangen, schwarzen,
noch etwas biedermeierisch geschnittenen Bratenrocke, den er zu
breit karierten hellen Nankinghosen trug. Ein nicht recht eleganter
Umlegekragen gestattete einem hellroten seidenen Schlips, weiter
hervorzuzipfeln, als es die Mode erlaubte, und ließ einen keineswegs
schönen, allzulangen und sehr sehnigen Hals frei, der zu allem Überfluß
noch von einem überlebensgroßen Adamsapfel belebt wurde. Dieser
fleißig auf- und niedersteigende Knollen hätte bei jedem anderen die
Aufmerksamkeit des Betrachters konkurrenzlos in Anspruch genommen. Bei
Madame Saras Besucher vergaß man ihn bald, wenn man einmal den Kopf
angesehen hatte. Vor allem: er war zu groß. Er paßte nicht zum Körper.
Er wirkte als Kopf an sich. Und dann: er war grausam häßlich, weil
er auch in sich keine anständigen Verhältnisse hatte. Ein Hohn auf
das Gesetz vom goldenen Schnitt. Die Stirn, über zwei dicken blonden
Raupen, den Augenbrauen, ansetzend, hörte scheinbar überhaupt nicht
auf. Dafür war die Nase zu kurz geraten, und sie erschien außerdem
noch kürzer, als sie schon war, weil sie sich in optischer Verkürzung
präsentierte, nämlich mehr nach aufwärts als nach abwärts tendierend.
Dafür war wieder der Raum zwischen Nase und Mund viel zu ausgedehnt.
Zwar war er mit einem hellblonden, in Spitzen gedrehten starken
Schnurrbart bestanden, aber es wäre für zwei solcher Schnurrbärte Platz
gewesen. Der Mund, obwohl zu breit und schmallippig, war geistreich.
Nur entblößte er leider wahre Nagetierzähne, breite, gelbliche Schaber.
Und dann war kein Kinn da, sondern nur ein Zwickelbart, ein gesteifter
pharaonischer Zwickelbart, der im Verein mit dem breiten Mund und der
gewaltigen Malmfläche sofort die Idee wachrief: Nußknacker. Die stark
hervortretenden oberen Backenknochen unterstützten die Idee wirksam,
während die ungeheuren Ohren die Gedanken mehr ins Gebiet der Zoologie
riefen. Zornig trompetende Elefanten, wenn sie die Ohren abstehen
lassen, erfreuen sich ähnlicher Seitenornamente. Sein Haupthaar litt
unter dem Größenwahn seiner Stirn. Man konnte eigentlich nur vom
Hinterhaupthaar reden. Doch ersetzte es an Länge, was ihm an Terrain
versagt war. Es fiel beträchtlich über den Rand des Rockkragens herab,
war aber säuberlich gerade geschnitten.

Ein solcher Kopf hätte wohl Entsetzen erregen müssen, wenn in ihm nicht
zwei Augen gewesen wären, so voll Geist, Güte, Glut und Leben, daß
man in ihrem Anblicke alles übrige vergaß und sofort die Empfindung
gewann: dieser Mann hat es nicht nötig, äußerlich schön zu sein; er hat
alle Schönheit innerlich, das heißt: er ist ein wunderbar guter und
wunderbar geistvoller Mensch, ein geniales Herz und ein genialer Kopf.
Seine Häßlichkeit, statt zu verstimmen oder gar Mitleid hervorzurufen,
machte heiter, steckte mit Heiterkeit an, von den Augen her, um die
herum ein lebhaftes und doch nicht zuckendes Muskelspiel fröhlicher
Laune war, witzig und dionysisch zugleich, kindlich und faunisch,
gemütlich und enthusiastisch.

Wenn er aber gar den Mund auftat und in seiner, Konsonanten und
Vokale wunderlich zusammenquetschenden Sprache zu reden begann, war
es, als ob alle guten Geister des Lebens mobil gemacht worden wären
gegen Langeweile, Dumpfheit und Verdrossenheit. Er brauchte gar
nichts Besonderes zu sagen: alles klang originell, denn ein jeder
fühlte unbedingt: dieser Mensch spricht sich unverstellt aus, jedes
Wort ist getragen von einem Impuls, keines schielt nach verborgenen
Absichten, und wäre es auch nur die Absicht, originell zu wirken.
Anderseits mochte manches anfangs närrisch klingen, aber bald merkte
man, daß es nur närrisch geklungen hatte, weil es gar tief natürlich
gewesen war, kindliche Weisheit, die sich nicht gut in konventionellen
Schablonen ausdrücken kann, und die sich ganz naiv primitiver Mittel
bedient. Dabei war Meister Sturmius alles andere eher als ein rohes
Naturprodukt. Er war nicht nur sehr gebildet, äußerst belesen, ja im
Umkreise seiner künstlerischen Interessen beinahe gelehrt; er hatte
auch als Erbgabe seines alten Geschlechtes einen sehr sicheren Fond
überkommener Kultur. Wenn er sich zuweilen recht ungeniert betrug,
die Mode nach seinem Geschmacke modelte, die Konvention nach seinem
Sinne bog, so war es kein wüstes Durchbrechen von Schranken, sondern
immer ein elegantes Drüberwegsetzen mit dem leisesten Takte für das Wo,
Wie, Wann und Wieweit. Nur in seiner Kunst war er ein rücksichtsloser
Draufgänger, und er pflegte das so zu entschuldigen: Alles, was
in meiner Familie früher Ritterliches, Räuberisches, Mörderisches
passiert ist mit Schild und Schwert und Spieß, üb' ich aufs neue aus im
Kampfe für die Kunst gegen die Philister. Alle meine raubritterlichen
Vorfahren haben nicht so viel Eisen zerhauen, wie ich Flügel, und ich
will doch sehen, ob ich nicht mehr Kunstphilister zur Strecke bringe,
als sie Krämer. Sturmius, mein erlauchter Ahne, hat seinen Bruder
Arbogast mit einem alten Streitkolben erschlagen, weil er nicht Martin
Luthern anhangen wollte; -- so würde auch ich meinen Bruder umbringen,
wenn er nicht an Richard Wagner und die Musik der Zukunft glaubte. Es
ist ein großes Glück für meinen Bruder, daß ich keinen habe.

Madame Sara, die keinen schlechten Blick für Menschen hatte, erkannte
schon an der Art des Eintretens, daß ihr Gast trotz seines allzu
subjektiven Bratenrockes ein Mann von Welt war, denn er kam ohne jede
Spur von Befangenheit auf sie zu und küßte ihr die Hand wie einer, der
gewöhnt ist, mit Schönheiten des Salons umzugehen. Dabei überstrahlte
sie sein Blick ebenso verehrungsvoll wie munter, und sie fand, daß
dieser Musikus, ästhetisch genommen, zwar ein Scheusal sei, aber ein
höchst interessantes, ja -- reizendes Scheusal. Naiv treulos, wie sie
war, dachte sie sofort vergleichend an ihren Tataren, und diesmal
schien es ihr, als sei der »andere«, das heißt der neuauftauchende,
vielleicht ... nun: weiter dachte sie nicht. Und sie sprach: »Sie haben
wirklich meine Entscheidung über Leben und Tod, Herr von ...«

Aber Meister Sturmius fiel ihr ins Wort, ehe sie seinen Namen hatte
aussprechen können: »Haben Sie die Gnade, mich nicht bei meinem in
die Register des Staates eingetragenen Namen zu nennen, Madame! Auf
die Gefahr hin, daß Sie mich sogleich ersuchen werden, Ihr Zimmer zu
verlassen, bitte ich Sie, mich mit dem Vornamen anzureden, den in den
Zeiten, da meine Familie noch katholisch war, die Erstgeborenen unseres
Hauses trugen, und den ich mir selbst für den Verkehr mit Göttinnen
beigelegt habe: Sturmius!«

Madame Sara lachte belustigt auf: »Sturmius? Steht der Name wirklich
im Kalender? Ist er nicht von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann erfunden
worden?«

»Es hat so viel Sturmiusse meines Namens gegeben, daß wir sie numeriert
haben, Madame. Der letzte war der vierzehnte und trug den Namen
Judenschreck, nicht, weil er das Volk Gottes haßte, sondern weil er
sehr kreditbedürftig war.«

»Das Volk Gottes? Wie meinen Sie das?«

»Wie es in der Bibel steht. Denn die Juden sind wirklich die
Auserwählten ihres Gottes, den sie bei uns importiert haben. Es war ihr
erster großer Importartikel und ist ihr bestes Geschäft geblieben bis
auf den heutigen Tag. Wir haben ihn teuer bezahlt.«

»Sie sprechen nicht sehr respektvoll vom lieben Gott.«

»Der Gott der Juden heißt Jehova.«

Madame Sara war ärgerlich. Was sollte das alles? Wußte er nicht, daß
ihr Name jüdisch war? Sah er nicht, daß er eine Jüdin vor sich hatte?

Sie sprach: »Es ist nicht gescheit, daß Sie Ihre Richterin über Tod und
Leben beleidigen, Herr von ...«

»Bitte: Sturmius!« -- »Wenn ich nun eine _fromme_ Jüdin wäre ...?« --
»Sie sind überhaupt keine Jüdin.« -- »Doch, und ich bin stolz darauf.«
-- »Sie sind ebensowenig eine Jüdin, wie Christus ein Jude war.« --
»Was war Christus denn?« -- »Christus.« -- »Das verstehe ich nicht.«

»Christus war die Liebe, war nichts als Liebe, war ganz und gar Liebe.
Daher war er weder Jude noch sonst etwas, und darum gehört er allen,
nicht bloß uns Christen, sondern auch den Juden und Heiden. Und so ist
es mit jedem Menschen, der etwas ganz Seltenes ist. So ist mein Freund
Richard Wagner ganz Genie, und darum ist er kein Deutscher, sondern
Richard Wagner, darum gehört er nicht bloß uns, die wir seine Jünger
sind, sondern auch den Juden und Heiden der Musik.«

»Und ich?«

»Madame! Dinge, die ich nur auf fünfzeiligem Papier oder nur aus
dem Flügel ausdrücken kann, erdreiste ich mich nicht, in Worte zu
fassen. -- Haben Sie die Gnade und erlauben Sie mir, weiterzuleben,
weiterzumusizieren, -- und ich will Ihnen Gelegenheit geben, zu hören,
was Sie sind.«

»Sie sind ein wunderlicher Heiliger.«

»Weder heilig noch wunderlich. Nur Musikant und ein Stück Poet. Doch
bin ich leider nicht groß genug, um nicht nebenbei ein deutscher
Querkopf und als solcher zum Beispiel ein hitziger Judenfresser zu
sein.«

»Das ist amüsant.« -- »Für mich sehr.« -- »Also ist es Ihnen nicht
ernst damit?« -- »Ich brauche meinen Ernst für meine Kunst. Juden
fresse ich zur Erholung.« -- »Haben Sie Mendelssohn schon gefressen?«
-- »Der ist mir zu musikalisch.« -- »Und Meyerbeer?« -- »Den habe ich
gefressen.«

Und Meister Sturmius lachte über den Doppelsinn seiner Antwort selber
so herzlich auf, daß sein Gelächter ansteckend wirkte und auch Madame
Sara schallend lachen mußte.

»Aber Sie stehen ja noch immer, Sturmius,« nahm, durch das gemeinsame
Gelächter in eine übermütige Laune geraten, Madame Sara das Wort,
»setzen Sie sich, Meister!«

»Nicht ›Meister‹,« erwiderte der, indem er sich setzte. »Es gibt nur
einen Meister, und der sitzt jetzt in der Schweiz über Partituren
zu Werken, die die Pforten der Ewigkeit aufreißen werden. Ich bin
nur Sturmius der Jünger: Ihr Sturmius, Madame, wie seiner, denn die
Schönheit ist der Nachfolge so würdig, wie das Genie. -- Gestatten Sie
mir, daß ich Ihnen die Schleppe trage, als Ihr musikalischer Page.«

»Das würde wohl unschicklich sein bei der Krinolinenmode,« meinte
Madame Sara, und Sturmius schüttelte sich aufs neue vor Lachen, und
wiederum mußte Madame Sara einfallen, und es dauerte eine ganze Weile,
bis sie sich beruhigt hatte, um sagen zu können: »Mein Gott, was für
Kinder wir sind, wir schreien miteinander vor Lachen, als kennten wir
uns von Jugend auf. Das ganze Hotel werden wir skandalisieren.«

»Wenn es auf mich ankäme,« antwortete Sturmius, »ich hätte nichts
dagegen, wenn es die ganze Stadt wäre.«

Da dachte Madame Sara zum zweitenmal an ihren Tataren und sagte: »Das
wollen wir bleiben lassen, Sturmius. Ich bin mehr für Ausschluß der
Öffentlichkeit bei Privatvergnügen.«

Und sie lachte wieder, -- aber schon etwas leiser.

       *       *       *       *       *

Der von Sara beliebte Modus wurde beibehalten. Selbst im Hotel wurde,
dank des virtuosen Aufpassens von Lala, die ~entente intime~ zwischen
erstem und zweitem Stock nicht bemerkt, die sich aus der ~entente
cordiale~ sehr bald entwickelte und den asiatischen Beziehungen Madame
Saras an Intensität nichts nachgab.

Die schöne Jüdin war sehr glücklich mit ihren beiden verliebten
Antisemiten, deren Rassenhaß sie auf so angenehme Weise ~ad absurdum~
führte, und die ihr dafür so viel Glut und Verehrung entgegenbrachten,
daß in der Tat für die ganze übrige Judenheit nur recht wenig Liebe
mehr übrig bleiben konnte. Der kleine Gott hatte wirklich gut für ihr
großes Herz gesorgt. Es waren nicht bloß zwei Männer, die sie umfingen,
-- es waren zwei Rassen, zwei Weltanschauungen, die ihr huldigten.
Und das ergab auch in ~puncto puncti~ zwei angenehm verschiedene
Gebarungen. Alles Mystische, Auto- und Theokratische lag dem Jünger
der Zukunftsmusik aus altem germanischen Adelsstamme gänzlich fern. Er
zündete keine Lampe in Rubingläsern an vor byzantinischen Madonnen,
um Dämmerstimmungen auf dem Grenzgebiete zwischen Religion und Erotik
zu Explosionen heftigster Liebesherrschsucht und wollüstigster
Liebesuntertänigkeit zu steigern. Den Tribut, den er der schönen Frau
mit allen Sinnen leidenschaftlich darbrachte, war völlig frei von
asiatischen Ingredienzien. Seine Leidenschaft war klarer, frischer,
heiterer. Er liebte nicht _zum_ ersten Male, aber er liebte wie
_beim_ ersten Male: jungenhaft mit der bald drolligen, bald rührenden
Überschwenglichkeit eines jungen Studenten, -- nur kam, wenn es ans
Sprechen ging, ein reicher erfahrener Geist hinzu und, wenn er seine
Entzückung musikalisch äußerte, eine meisterhafte Kunst.

Für eine Virtuosin der Liebe, als welche sich Madame Sara bald fühlen
durfte, war diese Nuance ein wunderbarer Genuß, der durch die äußere
Häßlichkeit nur noch erhöht wurde.

»Welches Glück,« sagte sie einmal zu ihm, als er in seinem
gelbseidenen, blau und grün geblümten Schlafrock vor ihr herumsprang
und aus allen Winkeln der Welt- und Naturgeschichte Epitheta zum Preise
ihrer Schönheit zusammensuchte, -- »welches Glück, mein Sturmius, daß
du kein schöner Tenor bist, sondern ein häßlicher, der häßlichste aller
Musikanten. Wie schrecklich, wenn du eine Adlernase hättest.«

»Schweig! Es ist nicht zum Ausdenken!« rief Sturmius und schüttelte die
Fäuste.

»Stell dir das groteske Elend vor, wenn du Locken hättest, Sturmius!«

»Absurditäten stelle ich mir nicht vor, Madonna! Es wäre aber mehr als
absurd, es wäre in der Tat verhängnisvoll. Denn, hätte ich Locken und
eine Adlernase, was wäre die Folge? Ich würde Lala lieben und nicht
dich, denn Künstler lieben immer den Gegensatz. Was deine Schönheit
liebt, o Perle von Juda, ist meine Scheusäligkeit. Ich bin ein
verhuzelter, verkrumpelter Germane, ein stark Shakespearescher Witz
des einäugigen Wotan, der übrigens auch kein Apollo ist. -- Darum
liebe ich dich, die strahlende, gliederherrliche Jüdin, Jehovas seliges
Meisterstück.«

»Denke dir: Wenn ich ein Kind von dir bekäme,« sagte nach einer
nachdenklichen Pause Madame Sara.

»Dann lerne ich,« antwortete Sturmius, »auf meine alten Tage beten, daß
es ein Sohn sei und keine Tochter. Denn er wird trotz deiner Schönheit
ein häßliches Kind sein.«

Madame Sara dachte wieder eine Weile nach, dann sprach sie: »Auch ich
will, daß es ein Sohn sei. Es ist nicht gut, wenn zwei so verliebte
Gegensätze ein Mädchen in die Welt setzen.«

»Du redest so mütterlich, meine Halskette, -- hast du einen _Grund_, so
mütterlich zu reden?«

»Ich fürchte: Ja.«

»Du -- fürchtest?«

»Ja ich fürchte. Ich will kein Kind. Schon der Gedanke irritiert mich.
Ich käme mir degradiert vor. Eine Liebe, die -- Folgen ... das ist doch
-- gemein.«

»Ja gnädige Frau, es ist gemein.«

»Laß mich mit Schillerschen Doppelsinnigkeiten zufrieden, Sturmius; du
weißt, für Schiller habe ich kein Organ.«

»Ich weiß, er ist für dich der Dichter der deutschen Turnvereine
und Liedertafeln, und meine braune Venus von Jerusalem ahnt mit
gutem Instinkte, daß vor dem Erze seiner Jamben einmal das Reich der
Krinoline in den Staub sinken wird.«

»Wenn du von Bismarck reden willst, Sturmius, geh' ich.«

»So will ich von Bismarck spielen.«

Und Sturmius setzte sich an den Flügel und phantasierte über Beethovens
Eroica.

Die Gleichgültigkeit, mit der Sturmius die Andeutung Saras aufgenommen
hatte, beleidigte diese gar nicht. Sie fühlte dabei nur, daß der
Maestro sie ebensowenig »liebte«, wie sie ihn, das heißt, daß ihr
Verhältnis beiderseitig frei von aller Sentimentalität war -- dies Wort
ohne jede Abschätzigkeit gebraucht. Und das war ihr im höchsten Grade
sympathisch.

Sie empfand es ganz deutlich: der häßliche Komponist huldigte ihrer
Schönheit mit höchster Leidenschaft, ohne auch nur im geringsten im
Gemüte beteiligt zu sein. Und nicht anders stand es um ihre Neigung
zu ihm, nur daß sie seiner genialen Männlichkeit huldigte. Sein
künstlerisches Temperament und sein scharfer Geist flößten ihr tiefsten
Respekt ein, und sie empfand es als wollüstige Auszeichnung, daß er sie
einer in glühende Erotik verdichteten Verehrung für würdig erachtete,
die seiner Hingabe an die Kunst kaum etwas nachgab. Daß dieser Zustand
nicht andauern würde, wußte sie wohl, und auch das war ihr recht. Sie
hatte durch den gleichzeitigen Umgang mit den beiden Männern die feste
Überzeugung gewonnen, daß sie sich nur in der Abwechslung ganz wohl
fühlte.

Wie sehr sie sich dadurch von der ungeheuren Mehrzahl der Frauen
unterschied, war ihr keineswegs unklar, und sie hatte auch Verstand
genug, einzusehen, wie weit sie damit von der herrschenden Moral
abrückte. Mit Sturmius konnte sie darüber von der Leber wegreden, und
das erschien ihr als großer Vorzug des deutschen Künstlers vor dem
russischen General, dessen Qualitäten auf einem ganz entgegengesetzten
Gebiete lagen. Sie waren ihr nicht weniger gemäß, ja sie lagen
ihrem eigenen Wesen als Frau näher. Aber sie war doch nicht so
ganz Orientalin, wie der Verehrer Asiens glaubte, sie war viel
differenzierter, westlicher, als er ahnte, dem gegenüber sie sich
von vornherein viel weniger enthüllt hatte, als dem Deutschen. Er
kannte in ihr nur die Sulamitin, wie er sie sich ins alte Testament
hineinkonstruiert hatte, aber sie war, ihm unbewußt, gleichzeitig gar
sehr modern, im Sinne der Emanzipation des Fleisches durch das Gehirn,
wie sie Heinrich Heine gepredigt hatte, den Fürst Golkow nicht anders
zu nennen pflegte, als das »Genie der jüdischen Entartung.«

»Dieser Auswurf des Orients, dieser Teufel in Judengestalt, ist von
der Vorsehung dazu bestimmt gewesen, das ganze Talent seiner Rasse
zu keinem anderen Zwecke zu verkörpern als zu dem: Die Deutschen zu
demoralisieren und dadurch reif zum Untergange durch das Slaventum zu
machen. Goethe, auch ein gefallener Engel, ist ihm darin vorangegangen,
aber längst nicht mit so diabolischem Erfolg, denn Goethe war ein
ästhetischer Hellene. Heine, indessen, war Juden-Grieche. Goethe
konnte, bei allem Hellenentum, noch ein Gretchen fabulieren. Heine
hat dieses Gretchen vergiftet, indem er es emanzipierte. -- Und
dieses Volk, diese Deutschen, erst durch Rom verdorben, dann durch
Luther um jedes Gefühl der Religion gebracht, dann durch Kant bis
zur Gasflüssigkeit in reine Vernunft aufgelöst, dann durch Goethe
in griechische Formen vereist, durch Schiller aber wieder durch
heiße Phrasen aufgetaut, daß sie wie Brei auseinander flossen, und
schließlich von Heine mit allen Gärungsstoffen aus dem Sumpfe jüdischer
Entartung durchsetzt, -- dieses Volk von lauter Individuen will --
einig, will ein ganzes werden. Es hat niemals ein lächerlicheres
politisches Phänomen gegeben, und auch Herr von Bismarck wird beim
besten Willen nicht imstande sein, aus dieser Fata Morgana ein Gebilde
von Realität zu machen.«

Auf solchen Umwegen pflegte der Verehrer Asiens auf die heilige Allianz
zu kommen, die für ihn der letzte Gipfel europäischer, -- nämlich
asiatischer Politik war.

Zuweilen machte sich Madame Sara das Vergnügen, diese Gedankengänge,
die sie nur mäßig interessierten, vor Sturmius auszubreiten, der sich
darüber schief lachen wollte.

»O du güldne Posaune von Jericho,« rief er dann wohl aus, »o du lustig
schmetternde! Nie bist du reizender, als wenn dein schöner Mund so
greulichen Unsinn tönt!«

Dagegen nahm er ihre eigenen Ergüsse über ihre Ansichten von Liebe ohne
Sentimentalität ernst.

»Solche Ansichten stehen dir zu Gesicht, und bei schönen Frauen kommt
alles darauf an, wie es ihnen steht. Es wäre schlimm, wenn unsere
deutschen Hausmütter so dächten; es wäre entsetzlich. Aber diese Gefahr
ist nicht vorhanden. Fest steht und treu die Wacht am Ehebett. Du aber
darfst und sollst verruchte Maximen haben. Eine Schönheit wie die deine
würde gegen den Stil sündigen, wollte sie moralisch sein. Auch die
große Dame von Babylon hat ihre Existenzberechtigung, und wir Künstler
verdanken ihr unsere besten Informationen. Ach, es sind in eurem
herrlichen alten Buche wundervolle Stellen darüber! Heute darf man so
etwas nur in Musik sagen, -- und das wird jetzt in Triebschen von dem
größten aller Propheten besorgt.«

Und nun sollte Madame Sara ein Kind bekommen, von dem sie nicht wußte:
ist es von dem, dessen Seele in Asien wohnt, oder von dem, der das Heil
der Zukunft von Bismarck und Richard Wagner erwartet.

Im Brennpunkte der Leidenschaft zweier Gegenpole stehend und sich
jedem, dem einen wie dem anderen, mit gleicher Leidenschaft zuwendend,
hatte sie zuweilen das Gefühl eines Verhängnisses über sich, das ihr
manchmal grell, manchmal düster, kaum je einmal in einem ruhigen Lichte
erschien.

Doch kam das nicht häufig über sie.

Klar war ihr das eine: das Kind durfte ihr nicht unbequem werden, und
von ihrer Mutterschaft durfte niemand erfahren, schon wegen der Gesetze
ihres Staates nicht, das für eine Witwe, welche außerehelich gebiert,
sehr fatale vermögensrechtliche Folgen festsetzte.

In Lalas Tagebuch stand, als der Dresdner Aufenthalt zu sieben Monaten
gediehen war, dieses: »Sprach die helle Schwester: Laß uns das Kind in
einen Binsenkorb tun, wie Mose, und den Wellen eines Flusses übergeben.
Und Geld dazu und von den Vätern Geschenke. Hat es Glück, so wird die
Tochter Pharaos es finden und zu Ehren aufziehen. Wir aber wollen es
nur von weitem verfolgen und ihm beistehen, wenn es nottut.«

So alttestamentlich ging es indessen nicht zu.

Als die Zeit herangekommen war, daß es für Sara nötig schien, sich
zurückzuziehen, nahm sie freundlich und gelassen von ihren beiden
Dresdner Freunden Abschied.

Rührendes ereignete sich dabei nicht.

»Da du nicht wünschst, daß ich für unser Kind sorge, so darf ich dich
nur bitten, ihm ein kleines Andenken stiften zu dürfen,« sagte Fürst
Golkow, -- »diese Bronze eines mit vorgelegter Lanze dahinstürmenden
Kosaken. Es möge ein Symbol für sein Leben sein -- zumal wenn es ein
Junge ist.«

Maestro Sturmius aber bat sie, dem Kinde zum Andenken an seinen
»ausgezeichneten aber leider mehr musikalischen als moralischen Papa«
seinen schönsten seidenen Schlafrock mit auf den Lebensweg zu geben.
»Denn,« so fügte er hinzu, »es gibt in jedem Menschenleben Augenblicke,
wo ein seidener Schlafrock einem härenen Gewande vorzuziehen ist.

    Denn Seide kühlt und Seide wärmt,
    Und hat sich jemand abgehärmt,
    Dieweil das Leben Härten hat:
    Das seidne Lotterkleid ist glatt.«

Sollte man finden, daß diese Erzählung eigentlich keinen rechten Schluß
hat, so würde man mir damit nicht zu nahe treten, denn ich habe diese
Empfindung selber gehabt. So sehr, daß ich einen ganzen Roman dazu als
Schluß geschrieben habe: den Roman des Sohnes der schönen Sara, der
zwar einen seidenen Schlafrock und einen reitenden Kosaken, aber keinen
genau bestimmbaren Vater hatte, und der »Prinz Kuckuck« genannt wurde,
weil er zeitlebens in fremden Nestern hauste.



Samalio Pardulus.


Johannes Pauli, der ein Jude war, ehe er ein Barfüßermönch wurde,
erzählt in seinem Buche »Schimpf und Ernst« die sonderbar düstre
Geschichte eines Malers, der ein Monstrum war: halb Mensch, halb Roß,
hausend im wilden Walde, aber mit hoher Kunst gar wunderbar begabt.
Doch, wie seine Farben auch leuchteten, und wie meisterlich immer seine
Zeichnung ging: was er gestaltete, hatte die scheusälige Grimasse
seines Urhebers. Nicht einmal den Heiland vermochte er anders als
mißgestalt zu schaffen, dermaßen, daß man ihn eher für einen Teufel
als den Sohn Gottes habe ansehen müssen. Daher denn Christus selber
ergrimmte und dem malenden Ungetüm erschien, ihm seine Schönheit zu
zeigen und ihm ins Gemüt zu reden.

Daß er dabei gesprochen hat, wie es der Barfüßer berichtet: nämlich
nicht anders als wie ein junger Herr, der, von seiner Schönheit
eingenommen, die Leistungen seines Photographen nicht vorteilhaft genug
findet, ist schwer zu glauben. Eher hat noch die Antwort des schlimmen
Malers glaubliche Haltung: daß er nichts als Vergeltung übe an dem,
der zuerst ihn als Scheusal geschaffen habe. »Wahrlich, wäre ich es
mächtig, dir Härteres anzutun, als böse Bilder -- ich tät's mit Lust.«

Da ergrimmte der Herr, nach des Mönchs Bericht, in großem Zorne und
stieß mit seinen Händen das Malgerüst um, auf dem Samalio Pardulus
stand, daß es ihn unter sich erschlug, und sprach: ~Talem perpetrat
verdictam, qui per ipsam perdit vitam.~

       *       *       *       *       *

Hat dieser Johannes seinen Jesus recht gekannt? Hat er um den Maler
Bescheid gewußt? Nein: er wußte weder von Gott noch von der Kunst.

Die Geschichte von Samalio Pardulus nach den Quellen und nach dem
Geiste ist so:

Ja: Er war ein wildhäßlicher Mensch: über die Maßen lang und dürr, dazu
schiefschulterig und lahm; und hatte einen lächerlich spitzen Kopf
voll krausborstiger schwarzer Haare, die bis tief in die faltige Stirn
hineingewachsen waren; aber keinen Bart um die schmalen, gleichsam
verwelkten Lippen, und auch die gelben, schlotterigen Wangen waren ganz
bloß, wie bei einem Kinde. Dafür lagen wie zwei dicke Raupen, die sich
ineinander verbissen haben, dichte, stachelige Brauen über den kugelig
hervorstehenden braungrünen Augen, und seine knochigen, langen Hände
waren dicht behaart. Auch aus den viel zu großen und abstehenden, dabei
pergamentfarbenen Ohren wuchsen Haarbüschel heraus, und nicht minder
aus den abscheulich weiten Öffnungen der Nase, die im übrigen übermäßig
lang und an der Spitze schnabelartig überhangend war. Ein Roßmensch
war er aber nun doch nicht und lebte auch nicht eigentlich im Walde,
sondern in einer der Burg an Burg, Turm an Turm wie aus Zyklopenquadern
zusammengehäuften Städte des Albanergebirgs: zu jener Zeit, da es
niemals Frieden gab, sondern immer der Krieg den Rachen offen hatte,
sei es, daß unter den Geschlechtern Streit war, oder zwischen diesen
und den Bürgerlichen.

Indessen lebte man darum keineswegs traurig, sondern, ob auch in steter
Unsicherheit, mutig, ja lustig dahin, immer darauf gefaßt, dem Leben
schnell Lebewohl sagen zu müssen, aber entschlossen, bis zum Ende des
großen Abenteuers frisch und derb zuzulangen nach allem, was Gott oder
Teufel auftafelte. Zwischen Laster und Tugend, Tod und Wollust, Kampf
und Schmaus aber gingen in Kapuzen und Sutanen Mönche und Priester
dunkel umher und hatten für alles ihre lauten und leisen Worte, und in
den Kirchen knieten Freund und Feind nebeneinander, mit den Nüstern
schwülen süßen Weihrauch atmend, mit den Ohren Geheimnisse vernehmend
aus herrischen, aber wie auf Wolken göttlicher Verheißung schwebenden
Tönen, und mit den Augen umfangend die königlich strenge, jedoch auch
mütterliche, jedoch auch bräutliche Schönheit der goldumloderten
Madonna.

Samalio Pardulus, seinem eigentlichen Namen nach der Sproß des ältesten
und mächtigsten Geschlechtes der Stadt, das sich auf altrömischen
Ursprung zurückführte, war weder bei den Rittern noch bei den
Geistlichen, weder bei den Kämpfen noch bei den Schmäusen: war auch in
der Kirche nicht zu sehen. Er nahm nicht teil am Leben seiner Tage, war
im Gefühle tot für alles, was jenen Menschen Glück oder Unglück hieß.
Und hatte auch nicht Freude an sich selbst.

Kannte nur _eine_ Lust: allein zu sein und um sich herum eine neue Welt
zu bilden aus Gestalten seiner Einbildung, der eine starke Kraft zu
Gebote stand, sich in Bildern darzustellen.

Das Handwerk hatte er von einem Manne aus Florenz gelernt, der, aus
der Heimat um Parteifeindschaft willen vertrieben, der Geheimschreiber
seines Vaters geworden war: ein schweigsamer Mensch, dessen Augen
voller Klage und Heimsucht waren. Was dieser mit Pinsel und Farbe
vermochte, hatte er auch bald vermocht. Aber er wollte mehr. Denn
jener, der das Malen nur erlernt hatte, um sich, da er noch reich und
ein großer Herr gewesen war, müßige Stunden zu vertreiben, malte nur,
was die Meister seiner Vaterstadt schon einmal gemalt hatten, und er
gedachte gar nicht, es ihnen gleich zu tun, oder gar mehr als sie.
Indem er malte, dachte er an Florenz und schuf sich ein blasses Abbild
des Schönen, daraus er vertrieben worden war. Samalio Pardulus aber
(wir wissen nicht, welche Bewandtnis es mit diesem Namen hat) hatte
keine Kunst fremder Meister gesehen (denn die schlechten Bilder in
den Kirchen und Häusern seiner Stadt waren nicht meisterlich), und so
gedachte er an nichts Fremdes: nur an das, was in ihm selber war und
das er innerlich sah als etwas ganz ihm Eigenes, nicht zugespiegelt
aus fremder Kunst, am wenigsten der seines Lehrers. Seine innerlichen
Gesichte aus sich herauszustellen, die schwankenden fest, die
verwehenden dauerhaft zu machen, war sein Begehren.

»Daß ich Genossen hätte, male ich,« sagte er einmal zu seinem Lehrer,
»ich male, daß ich nicht ganz allein sei. Könnte ich nicht malen, so
würde ich mit Huren Kinder machen: aber mit den schamlosesten und
wüstesten. Ja mit Tieren, wenn es die Natur zuließe. Nur, daß ein
anderes Volk um mich herum wäre als dieses, das mir greulich fremd
ist.«

Messer Giacomo, der weder solche Worte vernommen, noch Bilder
gesehen hatte, wie die seines wüsten Schülers, und dem es eine Art
schreckhaften Ergötzens war, in der Langenweile seiner Verbannung
sich mit dem »~mostro~« zu beschäftigen, schrieb in seinem (übrigens
langweiligen, weil gar zu eintönigen) ~diario~, das man später im
Archive des Schlosses Certaldo alto aufgefunden hat, als das alte
Gemäuer in den Besitz des Staates überging, getreulich alles auf, was
er »~nella selva~«: im Walde draußen beim »~centauro~«, wie er seinen
Schüler nannte, sah und hörte. Es scheint, daß er später in seine
Heimat zurückgekehrt ist und in jenem Schlosse zwischen Florenz und
Siena seine Tage beschlossen hat. Unter den über dem Schloßportale
heute noch sichtbaren Wappen der verschiedenen Geschlechter, die
einander im Besitze von Certaldo alto folgten, befindet sich auch das
seine. Weiter wissen wir nichts von ihm. Wenn aus dem übrigen seines
Tagebuches nicht hervorginge, daß er ein grundnüchterner Mann gewesen
ist, der sich nicht mit Phantasiebeschäftigungen abgab, sondern, seine
kleine Pinselliebhaberei abgerechnet, ganz in den realen Interessen
aufging, die ihn zum tätigen Parteimann machten, so könnte man
glauben, er habe sich diesen Samalio Pardulus erfunden, gewissermaßen,
um sich auch als Poeten zu versuchen. Aber die Art, wie er den
Äußerungen des seltsamen Menschen (gemalten wie gesprochenen) immer
den Kommentar eines unerschütterlich mittelmäßigen Besserwissertums
und biederer Philistrosität anhängt, läßt diesen Verdacht nicht
aufkommen. Wir dürfen, wie wunderlich auch das meiste erscheinen mag,
was er berichtet, mit Sicherheit annehmen, daß der Herr von Certaldo
alto den »Zentauren« wirklich und leibhaftig gekannt, jene wilden
Bilder gesessen und alle die Worte vernommen hat, die er, stets mit
Äußerungen des Entsetzens, mitteilte.

Wir folgen seinen Aufzeichnungen in allem wesentlich getreu und nehmen
nur da das Recht in Anspruch, aus seinen tadelnden Kommentaren das Bild
des »Scheusals« in einem Sinne zu ergänzen, der mit Messer Giacomos
Meinungen nichts gemein hat.

Einiges sei in wörtlicher Übertragung hergestellt. So, was der Toskaner
über Samalios Kunst und Wesen im allgemeinen sagt: »Es ist ein
sonderbares Ding um die Kunst dieses ungebärdigen Menschen. Sie ist
voller Lästerung des Lebens, das in ihr nicht von Gott zu sein scheint,
sondern vom Teufel. Malt er den Wald (wie er insonders gerne und nicht
ohne Geschick tut), so ist es, als ob die Bäume ein jeder dämonisch
besessen wären; kein Pflanzenwesen, sondern ein Tier, und alle zusammen
sind wie eine Versammlung von Gespenstern, daß man sich fürchtet, in
das Dunkel hineinzusehen, das wie aus ihnen innerst herauskommt: aber
nicht schwarz, sondern bräunlich. Er hat, genau wie sie um sein Kastell
im Felsgebirg stehen, Pinien gemalt, als welche doch freundliche
Bäume sind, von edler Liniatur und eigentlich wohltätig, da sie von
oben Schatten geben, aber, des fehlenden Unterästichts halber, der
Luft den Weg nicht sperren. Bei ihm aber sind sie Ungetüme, die mit
borstigen Schädeln widereinander rennen. Nicht so, als ob er ihnen
Gesichter malte. Das wäre am Ende lustig. Sondern es sind Schädel
von Riesen, die noch niemand sah, von Riesenwesen aus Baumart und
doch tierisch. Sie sind bös und alle untereinander feind. Es ist, als
ob sie sich gegeneinander stemmten mit diesen wilden Köpfen, daß
sie so, ihre Kräfte vereinigend, mächtig würden, ihre Stämme aus
dem Erdreich zu reißen. -- Nicht anders macht er es mit Tieren und
Menschen. Gott schuf sie, wie wir alle sie sehen. Dieser Ungestalte
bildet sie ungestalt. Seine Pferde sind langhaarig wie Ziegen, und man
möchte zugleich glauben, daß sie auch von Ebern stammten. Nie malt
er sie anders als rot und schwarz gefleckt. Doch eine Schimmelstute
hat er gemalt, das schamloseste, das je erdacht worden ist: ein Pferd
mit Menschenhaut, ganz ohne Haar, bis auf eine Stelle, die er zum
Mittelpunkte des Bildes gemacht hat. Das Tier, das Menschentier, biegt
den Hals in einer schmerzhaft-unmöglichen Linie um und wendet so dem
erschreckten Betrachter seinen Kopf zu, der zwar der Kopf eines Pferdes
ist, aber so mit den Zügen eines Weibes vergattet, daß man die Augen
niederschlagen muß. Denn es lacht auf eine schändliche, buhlerische und
doch höchst klägliche Art. Es hat entzündete blaue Augen. Dafür hat er
ein Weib gemalt mit dem Fell einer blau und schwarz gestreiften Katze.
Dieses Weib reitet auf einem Manne, der das Zottelhaar eines weißen
Schäferhundes hat und vorstehende Raffzähne gleich dieser Hundeart. Es
reitet verkehrt auf ihm, sich mit beiden Händen an die buschige Rute
ankrallend. Und der Hund-Mann hebt den Kopf nach Art eines heulenden
Rüden, der die Matz wittert.

Fragte ich ihn, was alles dies bedeute.

Antwortete er: »Nicht weniger und nicht mehr als das, was eure Welt
ist: meine.«

Sagte ich ihm: »Das heißt Gott höhnen.«

Antwortete er: »Niemand höhnt Gott mehr, als Gott sich selber
verhöhnte, wie er den Menschen nach seinem Ebenbilde erschuf. Schaut
mich an und sprecht: Sieht so Gott aus?«

Schwieg ich aus höflicher Rücksicht.

Lachte er (was nun bei ihm Lachen heißt: ein Zucken um die Mundwinkel)
und sprach: »Oder, wenn _ihr_ ins Glas seht: seht ihr _Gott_
gespiegelt?«

Entgegnete ich (mit gerechtem Fuge streng): »Nicht also ist jenes
Wort der Schrift gemeint. Gott ist das vollkommen Schöne: wir nur
unvollkommene Abbilder, verzerrt obendrein durch die Erbsünde und den
Fluch darauf.«

Lachte er nochmals (und ganz abscheulich), also sprechend: »So wäre
Gott ein Stümper oder hätte getan, was ich tue.«

Ging im Gemach herum und rieb sich die Hände, daß es knackte, wie
Holzscheite. Blieb plötzlich stehen und sah mich mit verkniffenen Augen
an. Und schrie: »Der Fluch! Die Sünde! Was heißen diese Worte? Daß er
Fratzen braucht, sich zu vergnügen: Euer schöner Gott! Denn (und das
sprach er leise, gar ernsthaft) als Stümper ist er nicht zu denken.«

Warf sich ins Gestühl und starrte ins Deckengebälk, dorthin, wo der
greuliche Leuchter hängt, den er in der Grabhöhle der Heiden gefunden
hat: ist als eine große Sonnenblume gebildet, aber jedes Blatt hat die
Form der weiblichen Scham, daß jede Kerze, darein gesteckt, zum Phallus
wird.

Saß lange schweigend, bis er sprach: »Nein, kein Stümper. Sondern
wahrlich Gott: wahrlich Künstler. Und wir bloß Affen seiner Kunst. Aber
(und dies rief er wieder laut, hell, wütig, indem er aufsprang): Alles
dürfen wir, was er darf: alles. Und sind ihm um so ähnlicher, je mehr
wir die göttliche Freude an der Fratze haben: diese Freude des großen
Zorns, aus dem allein die Lust des Schaffens kommt. Denn die Liebe ist
das Ekelhafte, ist das Sichbegnügen mit dem, was da: was langweilig,
immer das gleiche, verflucht und noch einmal und in alle Ewigkeit
verflucht das gleiche ist. Vulva und Phallus. Das ist für die Herde:
im Schweinekoben und im Fürstenbette dasselbe. Aber einigen ist es
gegeben, sich wie Gott selber zu vergnügen, weil sich Gott in ihnen am
meisten vergnügt, da sie die vollkommensten Fratzen seiner selbst sind.
Das sind die Künstler. Sie wissen, daß Gott die Welt nicht aus Liebe
erschaffen hat, sondern aus Not ... Gott! Was ist Gott? Was ... wäre
Gott? Gott wäre die Einsamkeit.«

Trat ganz nahe an mich heran, und seine Augen waren fürchterlich, als
er sprach: »Vernehmet, Mann aus Toskana, und bewahrt es wohl, denn es
ist die Wahrheit: Gott war tot, als er die Welt schuf. Als er lebte,
war nichts um ihn: Er war das All, die unbewegte Leere, das vollkommene
Nichts, das ist: das einzig mögliche vollkommene. Doch wäre er nicht
Gott: nicht Geist gewesen, wenn ihm diese Ewigkeit, diese scheußlich
vollkommene Ewigkeit genügt hätte. Es kam die Not des Wollens über ihn,
und er beschloß, zu sterben, daß aus seinem Tode die Welt, aus seiner
Einsamkeit die Vielheit des Lebens würde: nicht anders, als wie aus
einem Leichnam Würmer werden.«

Ich entsetzte mich über diesen Unflat schändlicher Einbildung, schlug
dreimal das Kreuz und erhob mich, zu gehen. Er aber legte seine beiden
harten Hände auf meine Schultern, daß mir nicht anders war, als wenn
Satanas mich verderben wollte, und drückte mich ins Gestühl.

Und sprach: »Höret nur weiter! Es ist nicht gut, die Wahrheit halbet
zu vernehmen. Auch ist nicht gottlos, was ich Euch sage. Denn seht: ob
Gott auch tot ist: die Welt ist dennoch göttlich, da sie von ihm ist.
Zwar sind die Kreaturen nur Würmer, die von seinem Tode leben, aber es
ist doch göttliche Nahrung, die sie erhält.«

Ich raffte mich auf und verwies ihm sein Gerede, indem ich ihn einen
heidnischen Sophisten hieß.

Er schüttelte den Kopf: »Was mich von Eurer Art Christen unterscheidet
ist nur, daß ich von Gott einen zu göttlichen Begriff habe, um
vermeinen zu können, daß diese langweilige Welt des ewig Gleichen sein
Leben umfassen oder ausdrücken könnte. Ich denke von Gott so hoch, daß
mir sein Totes noch göttlich genug deucht für unsereins, ja als das
einzig Göttliche, das wir vertragen können. Gott und Welt: Einsamkeit
und Leben verträgt sich unmöglich. Und seht doch: Ist das nicht
christlich gedacht, daß er für uns starb? Und was sage ich mit den
Würmern anders als dies: daß er uns die Erbsünde vermacht hat?«

»Ihr spottet,« rief ich laut, »und spottet Euch um die ewige Seligkeit!«

»Damit ist es freilich nichts,« sagte er ernsthaft, »denn Gott hat sie
selber aufgegeben: auch er vermochte es nicht, sie zu ertragen. Das war
ja seine Not, die ihn zu sterben, als Gott zu sterben und im Gewürme
weiterzuleben zwang. Die große Not der Langenweile war es. Jetzt ist er
ihrer ledig. Der tote Gott vergnügt sich in der Vielheit von Fratzen,
in denen er lebt: und wenn es auch gewiß ein zorniges Vergnügen ist,
so ist es ebendarum göttlich. -- Hier, bei mir (er wies um sich), hier
in mir (er schlug sich auf die Brust) ist ihm am wohlsten. Denn meine
Welt ist nach seinem Rezept gemacht, und ich sterbe gleich ihm einen
Tod der zornigsten Not.«

Indem er dieses sagte, war mir, als ob in seinen Augen etwas glömme:
ich weiß nicht, war es Wahnsinn oder Begeisterung.

Die Madonna sei ihm gnädig! Er spricht nie von ihr, und, ob er sich mit
seinem Malgeräte auch an allem vergreift, was uns heilig, ihm aber nur
ein Anlaß zu schändlicher Fratzerei ist: sie malt er nie.«

       *       *       *       *       *

Das Kastell, in dem Samalio die meisten seiner Tage und Nächte
verbrachte, lag abseits der Stadt auf gewachsenem Fels, in den
Terrassen eingehauen waren. Aber bis nahe dorthin, wo der Stein sich
nackt emporhob aus dem Erdreich, stand starker Wald: Steineichen,
Pinien; auch Zypressen und Kastanien. Es waren mächtige, herrische
Bäume, die es nicht duldeten, daß Kleines neben ihnen aufkam. Nur der
Blitz durfte die Riesen fällen oder das Alter. Dann wuchs aus ihrer
Fäulnis das Neue. Es gab allerlei wildes Getier dort: vornehmlich
Wildkatzen und Luchse, am allermeisten aber Geier und Eulen. Nachts,
so berichtet der Toskaner, war es lauter um das Schloß, als bei Tage.
Denn, so sagt er: »Da es dunkelte, wachten die Räuber auf, denen
tagsüber selbst der finstere Wald zu helle war, und riefen einander
oder kreischten auf beim Mord: der Luchs, heulend wie ein Wolf, der
rote Wildkilling, tückisch jaulend; aber am fürchterlichsten die große
Ohreule mit ihrem tiefen u-hu, das wie Klage tut, aber Blutgier ist.«

Doch behagte gerade dieses Nachtkonzert der Unholde dem Mißgestalteten,
der von sich behauptete, gleich Luchsen, Katzen, Eulen nachts besser zu
sehen als bei Tage, weshalb er sich erst bei Tagesgrauen zur Ruhe begab
und bis zum hohen Mittag schlief.

»Die braune Nacht,« so sagte er, »hat tiefere Farben, als der milchige
Tag. Sie schillert nicht, sie glüht. Ihr Braun ist eigentlich altes
Gold, gemischt mit dem Rot geronnenen Blutes. Auch ist ein tiefes
Veilchenblau dabei. Zuweilen haben alle Konturen tief purpurne,
zuweilen tief orangenfarbene Lichtabgrenzungen. Auch Schatten gibt es
noch in der dunkelsten Nacht: sie sind das Wunderbarste an Farbe; aber
auf der Palette gibt es dieses Braun der tiefsten: ganz schon geistigen
Tiefe nicht. Es ist, als ob die Nacht dieses Braun träumte.«

Er malte nur in diesen, nur von ihm gesehenen Nachtfarben, und so darf
man es dem Toskaner glauben, daß Samalios Bilder waren »wie aus einer
anderen Welt, die das Licht nicht von unserer Sonne hat: man mußte
glauben, sie hatten es aus den Augen dieses Nachtmenschen, der, obzwar
bei Tage (doch nur in der Dämmerung) malend, immer nur nächtige Bilder
schuf, als ob es keinen Tag gäbe. Indessen waren unter seinen Tafeln
solche, in denen eine unbeschreibliche dunkle Glut bebte, vergleichbar
dem Lichte, das in manche Edelsteine eingeschlossen zu sein scheint,
die noch im Finstern leuchten.«

Danach könnte man meinen, daß Messer Giacomo die Bilder Samalios in den
Farben schön gefunden habe. Doch weit gefehlt. Er nennt ihre Farben
bald »höllisch«, bald »grausam«, dann einmal »blutrünstig«, wieder
einmal »schändlich geil«, einmal sogar »himmelschreiend bäuerisch und
barbarisch, ohne jedes Gefühl für Feinheit und Würde«. Sie »tun dem
gebildeten Auge weh und rufen Angst und Schrecken hervor, anstatt daß
sie erheitern«.

Der Toskaner hatte von sich aus zweifellos recht, aber ebenso
zweifellos ist, daß Samalio nicht gemalt hat, um Messer Giacomo zu
erheitern. Es lag ihm nicht einmal daran, daß der Herr von Certaldo
alto sie ansah. Wir wissen es von diesem selbst, daß er stets ungeladen
das Kastell besuchte. »Ritt wieder einmal zur Zentaurenburg, um mir
die Grillen zu vertreiben. Wurde übel empfangen, sah aber doch Neues.
Wie immer: Greuel über Greuel. Die große Tafel aber will er noch immer
nicht zeigen.«

Von dieser wird noch zu handeln sein.

Vorerst möge aus des Toskaners Aufzeichnungen zusammengestellt werden,
was etwa weiter dazu dienen kann, uns einen Begriff vom Wesen und Leben
dieses wunderbaren Menschen zu vermitteln.

Aus diesen Notizen fügt sich das Bild eines Précurseurs des
Rinascimento, jedoch ohne die bewußte Tendenz zur Antike.

Alle geistigen Strömungen bereiten sich vor: versuchen sich
gewissermaßen in unzeitgemäßen einzelnen. Ehe sie zum Schicksale einer
Zeit: ehe sie Epoche werden, treten sie gewissermassen als Ferment in
den Schicksalen einzelner auf, die damit zur Einsamkeit verurteilt
sind und, meist ohne jede sichtliche positive Wirkung, eine Bestimmung
erfüllen, deren Sinn wir nicht begreifen.

Er hat dies selbst gefühlt. Eines Abends sagte er zu seinem Lehrer,
der ihm berichtet hatte, daß das Volk ihn für einen Zauberer hielte:
»Bin ich etwa keiner? Lebe ich nicht das Kommende voraus? Ist es nicht
Zauberei, daß ich bin, als wäre ich mein Urenkel?«

»Wie das?« fragte der Toskaner.

Und Samalio antwortet: »Jeder von Euch hat den Glauben des anderen;
jeder von Euch ist Nachbar: Stütze und gestützt; keiner von Euch ist
frei: eine Kraft für sich. Ihr seid alle durcheinander bestimmt und
findet das füglich. Selbst die gewalttätigen, die sich Herren heißen,
handeln mit Rücksicht auf andere, sei es auch nur, daß sie über andere
herrschen wollen. Für mich gibt es keine anderen. Ich kenne Euch nicht.
Ich kenne nur mich. Ich bin so weit von Euch entfernt, wie von den
Menschen, die den Turm von Babel bauten. Ich habe einmal davon gehört
(als ich ein Kind war), daß es Menschen gibt außer mir, aber ich habe
einsehen gelernt, daß das ein Irrtum ist. Dieses Märchen ist nur wahr
für die, die keine Wirklichkeit in sich haben. Wer sich begriffen hat,
weiß, daß er allein ist.«

»Als ich dies hörte,« fügt hier der Toskaner bei, »war mir einen
Augenblick wahrlich zumute, als sei dieser Wahnsinn Wahrheit. Daran
waren die (Gott verzeih' mir die Sünde) verfluchten Augen des Scheusals
schuld, deren Blicke mich wie glitzernde Fäden umspannen. Ganz
sicherlich: er ist mit dem Bösen im Bunde. -- Aber ich machte mich frei
und rief: Wie? Denkt doch an Euren Vater, an Eure Mutter!«

Darauf hat Samalio erwidert: »Vater und Mutter sind nicht außer mir,
sondern in mir, und nicht nur sie, sondern alle, von denen sie gekommen
sind. Und nicht nur die, sondern alle Menschen, die je waren. Dies
eben ist es, Mann: wer wirklich Einer ist, ist Alle, -- und braucht
darum Keinen.«

Trotzdem berichtet Messer Giacomo, daß Samalio »von einer entsetzlichen
Liebe« geplagt worden sei.

»Alle wissen es,« schreibt er, »und alle verabscheuen ihn darum noch
mehr als um seiner Scheußlichkeit willen: daß er in unziemlicher Liebe
entbrannt ist gegen seine leibliche Schwester Bianca Maria, die so
schön, wie er häßlich ist. Sie wäre wert, daß man nach ihrem Antlitz
die Madonna malte, denn auf ihm ist alle Holdseligkeit und Schöne
vereinigt. Zweierlei nimmt mich wunder: daß diese beiden Geschwister
sind, und daß er, das Ungetüm, es wagt, seine Blicke zu ihr zu erheben,
deren Schönheit ihn, meine ich, doch eher mit Haß und Neid erfüllen
müßte. Gepriesen sei Gott, daß das engelhafte Mädchen ihn verabscheut.
Man sagt (und ich erachte es nicht für unmöglich, obwohl es nur ein
Gerede ohne sichern Anhalt ist), daß er sie nachts in ihrer Kammer
überfallen habe: doch ohne seinen nichtswürdigen Zweck zu erreichen,
denn sie habe ihm mit dem großen Kruzifix, das über ihrem Bette hängt,
einen Streich quer über die Stirne versetzt, wovon er (was ich selber
wohl gesehen habe) eine tiefe Wunde davontrug. Und folgenden Tages
(was wiederum zutrifft) sei er aus der Stadt gewichen, und seither
rührt sein dauernder Aufenthalt draußen im Walde. Sie aber ist seitdem
verzagt und seltsam schüchtern, derart, daß sie aller Männer Antlitz
flieht; und hat sich ohne Widerrede auf Geheiß ihres Vaters einem
Edelherrn aus der Nachbarschaft verlobt, dessen Antrag sie vorher
zurückgewiesen.«

Es findet sich (begreiflicherweise; denn darüber hat Samalio sicherlich
nie gesprochen) in dem Tagebuche des Toskaners keine Äußerung des
Malers über seine Schwester. Doch ergeben sich bei genauerem Zusehen
Zusammenhänge, die dem Berichterstatter offenbar nicht zum Bewußtsein
gekommen sind.

Wir finden folgendes: »Fragte ich den Zentauren, warum er nicht die
Madonna malte.«

Antwort: »Weil es unmöglich ist.«

Wiederfrage: »Haben es doch schon Tausende getan?«

Antwort: »Weil sie sie nie gesehen haben.«

Ich: »So hättet am Ende Ihr sie gesehen?«

Er: »Wohl.«

Tat ich erstaunt und fragte: »Ei: im Traume?«

Antwortete er: »Es ist kein Unterschied zwischen dem, was ihr in Traum
und Wirklichkeit spaltet.«

Sagte ich: »Nun: man träumt im Schlafe und sieht wach.«

Betrachtete er mich erstaunt: »Und der Unterschied?«

Ich konnte es ihm nicht erklären, oder, wie ich besser sage: er stellte
sich an, als begriffe er nicht, was doch auf der Hand liegt (wie es
denn immer seine Art ist, Selbstverständliches unverständlich zu
nennen). Also blieb mir verhohlen, wie das mit der Madonna gemeint.«

Ein andermal: »Fand ihn vor einem gar schändlichen Bilde. War der
Christ am Kreuze zwischen den beiden Schächern. Es graute mir, als
ich sah, daß er sich selbst als den Gekreuzigten gemalt hat, aber, so
dies möglich, noch scheusäliger, als er wahrlich ist. Und war über und
über voll Blutrunst. Hing ihm aus der Wunde vom Spieße des Lanzknechts
geronnenes Blut traubendick und von der Schulterwunde wie rote
Maiskolben. Saß im Brusthaar wie Grind. Hatte sich im Schamtuch ekel
gesackt. War wie der geschundene Marsyas.«

»Dies ist nicht Jesus,« schrie ich auf, »dies ist der Teufel Oberster,
den Ihr vor dem Spiegel gemalt!«

Denn ich war sehr zornig. Er aber schien keineswegs beleidigt, sondern
lächelte und sprach: »Wisset Ihr nicht, da Ihr ja doch auch mit Farb
und Pinsel hantiert: daß jeglicher nichts malen kann, als sich selbst?
Wenn ich spreche, so bin _ich_ der Ton; wenn ich sehe, ist's _mein_
Gesicht; mal ich, so kommt nichts auf die Tafel als immer _ich_. Da
ich nur ich sein kann, was könnte anderes von mir kommen als ich? --
Christus! Wer ist das? Immer der, der ihn fühlt, von ihm redet, ihn
malt. Was schüttelt Ihr Euch und tut entsetzt? Kennt Ihr die Schrift
nicht? Wisset Ihr nicht, daß er sich allen gegeben hat? Nun: so auch
mir. Und dieser da (er wies zur Tafel) ist wahrlich der meine, so ganz
und gar, daß wir beide ein und derselbe sind.«

Daß ich es gestehe: ich bebte vor großem Zorn, und ich rief: »Von
Sinnen seid Ihr, und ich müßte Euch vors geistliche Gericht bringen,
wüßte ich nicht, daß Wahnsinn aus Euch phantasiert.« Er fuhr sich durch
sein stachelig Haar und murmelte etwas, wovon ich nichts verstand als:
Noch nicht, noch nicht!

Dann sagte er, ganz ruhig: »Mensch! Mensch! Weißt du nicht, daß alles
Große Wahnsinn ist? Als die Liebe Wahnsinn wurde, schlug man sie ans
Kreuz. Holla! Seitdem ist sie tot. Nun ist Raum für den Zorn ...
Doch das versteht Ihr nicht. Sonst würdet Ihr's aus meinem Bilde
lesen, darauf es deutlicher steht als auf allen anderen Tafeln des
~crucifixus~. Doch steht es auf allen: selbst den ganz lästerlichen:
die da lächeln.«

Mit einem Male schien es, als wollte er mir zu Leibe. Er schritt auf
mich zu, die kleinen Augen so verkniffen, daß die Blicke aus einem
Schlitze schossen, stieß mir die Faust auf die Brust und schrie: »Tolle
Hunde haben mehr Gefühl für das Opfer auf Golgatha als Ihr, die Ihr
aus einem Löwen ein Lamm gemacht habt. Es tut Euch wohl, sein blutiges
Vließ zu krauen. Es tut Euch wohl, Wasser aus den Augen zu lassen über
den, der Blut aus seinem Leibe ließ für Euch. Es tut Euch wohl, aus dem
Größten eine Puppe gemacht zu haben, damit Ihr spielen könnt!«

Ich wollte gehen. Aber er hielt mich fest. Und schleppte mich zu dem
großen verhangenen Bilde. Dort ließ er mich los und stieß mich in einen
Stuhl.

Und sprach: »Hast du vernommen, daß nachts Geister kommen, mich zu
besuchen?«

Ich hatte es vernommen und antwortete so, fügte aber hinzu, daß ich es
nicht glaubte.

»Es ist!« rief er.

Ich schlug das Kreuz.

»Laßt den Gestus!« sagte er ruhig. »Der Geist, der zu mir kommt, ist
nicht höllisch. Christus selber ist hier jede Nacht und mit ihm die
Madonna.«

Gott verzeihe es mir und alle seine Heiligen, daß ich dem Scheusal
nicht in seine Lästerfratze spie, sondern bloß, aber unerschrocken,
sagte: Das lügt Ihr!

Da sah er mich groß an und ergriff den Zipfel des Vorhanges und sprach:
»Knie nieder!«

Ich glaubte nicht anders, als er wollte mich heißen, den Teufel anbeten
und weigerte mich des.

»Knie!« knurrte er und griff nach dem Dolche.

»Die Sünde kommt auf Euch,« stöhnte ich und ließ mich auf die Knie
nieder, Gottes Hilfe herbeirufend durch fleißiges Kreuzschlagen.

Als ich die Ringe des Vorhanges kreischen hörte, senkte ich den
Kopf und schloß die Augen feste, ja nichts zu sehen. Und war des
Bestimmtesten entschlossen, nicht freiwillig Kopf und Blick zu erheben.

Mir ist, als hätte ich lange so auf den Knien gelegen, die Augen also
feste zugedrückt, daß vor den geschlossenen goldene Sterne und Scheiben
tanzten. Auch rann mir Schweiß von der Stirne über die Lider, und es
war, als wollte er mir die aufbeizen, da er in die Augen drang mit
seiner Schärfe.

Dies weiß ich jetzt. Da ich aber voller Ängste lag, glaubte ich, es
fräße höllisches Feuer an ihnen. Und ich wimmerte sehr.

Erst als ich seine Schritte von mir gehen hörte, wurde mir etwas
mutiger. Ich hob den Kopf, jedoch nach rückwärts gewandt, dorthin,
wo der Schreckliche nun in einem Stuhle saß und über mich weg zu dem
Bilde blickte: die rechte Hand über die Augen schirmend, wie Maler ihre
Tafeln aus der Ferne anzusehen pflegen.

Und er murmelte, als sei ich gar nicht da:

»Es will nicht glühen, wie in der Nacht. Die Purpurspitzen ihrer Brüste
sind noch tot. Das Fleisch ist viel zu hell. Im Haar zu wenig Brand
noch. Als meine Hand darüber fuhr, hat es geknistert. Das dort ist
Werg, nicht Leben. Sonst ... ist ... sie ... schön.«

Er atmete schwer und laut und ließ die Hand sinken. Und merkte nun
mich, stand auf und schritt schnell her, griff über mich weg und riß
den Vorhang wieder vor das Bild.

»Steh auf!« herrschte er mich an. »Danke deinem Gotte, daß er dich
davor bewahrt hat, das zu sehen, was meine schamlose Raserei dir
enthüllt hat. Denn wisse: auf dieser Tafel ist die Madonna in Wahrheit,
vom nackten Leben leibhaft, geisthaft hergerissen mit der Brunst meines
Auges. Würdest du sie gesehen haben, hätten dich diese meine Hände
erwürgt. Und nun geh und schrei es auf den Gassen aus, daß Samalio
Pardulus die Madonna nackt gemalt hat, reitend auf einem Zentauren mit
den Zügen ihres Sohnes, der ihr Bruder ist. Und daß er mit ihr wegsetzt
vom steinigen Felsen Golgatha über einen Abgrund voller Blut, aus dem
die Spitzen von Domen ragen zu einem Schlosse von veilchenfarbenem
Amethystquarz, bewacht von den Tieren der Apokalypse, und daß dieses
Schloß der Sarg Gottes ist, in dem Samalius wohnt und wacht, daß keine
Würmer zu ihm kommen.«

Man darf es dem Florentiner glauben, daß er nach diesen »Worten das
Weite gesucht hat, wie einer, dem der Böse auf den Fersen ist.«
Trotzdem hat er nicht den Angeber gespielt und seine Erlebnisse
niemandem vertraut, als den Blättern seines Buches.

Aber auch ohne seine Mithilfe wurde es ruchbar, daß nächtlicherweile
Unheimliches sich begab auf dem Schlosse im Walde.

Da Samalio nachts niemand bei sich hatte als einen alten halbblinden
und ganz stummen Diener, so konnten die Gerüchte nicht aus dem Schlosse
kommen. Sie entstanden in der Stadt selbst, im Hause der Eltern des
Malers.

Seit diese wegen der bevorstehenden Hochzeit der Tochter zu mächtigen
Verwandten des Bräutigams nach Rom gereist waren, ging es im
Palazzo Nacht für Nacht um. Unnötig, all das zu erzählen, was die
erschrockene Dienerschaft allnächtlich gesehen und gehört haben wollte.
Übereinstimmend wurde dies berichtet:

Allabendlich, sobald es ganz finster geworden war (man befand sich
im Dezember, und es war ein nebliges Wetter ohne Mondschein), kam
den steilsten Steg zur Stadt heran, den sonst nur die Ziegenhirten
nahmen, ein riesiges schwarzes Pferd, auf dem ein hagerer Mann saß,
gehüllt in einen schwarzen Mantel, auf dem schwarzbärtigen Kopfe einen
breitkrempigen Kegelhut. Man hätte, wäre nicht der Bart gewesen (und
das andere, das nur Gespenstern eigen ist), meinen können, es sei
Samalio. Doch war es sicherlich ein Gespenst, denn aus dem Mantel,
daher, dorther, und von seinen Schultern leuchteten gelbe Lichter, und
grüne Lichter liefen neben dem Pferde. Der Wachtturm des Hauses, das
wie alle Häuser der adeligen Geschlechter mehr eine Burg als ein Palast
war, stand auf der Stadtmauer, und auf seinem Umgang befand sich, wie
auf den eigentlichen Mauertürmen, die ganze Nacht hindurch ein Wächter.
Nur er konnte die Erscheinung verfolgen, sobald sie der Mauer nahe
gekommen war. Denn die übrigen Fenster des Palastes, der von der Mauer
etwas abstand, gewährten keinen Blick dorthin. Auch hätten wohl weder
Männer noch Frauen den Fürwitz gewagt, das Gespenst nahe zu betrachten,
da es schon entsetzlich genug anzusehen war, wie sich, sobald Pferd
und Mann in das Schattenbereich der Mauer gekommen waren, die gelben
Lichter aus dem Mantel und von den Schultern des Mannes in die Lüfte
erhoben und das Haus zu umschwirren begannen, während die grünen
Lichter in weiten Bogen den Raum vor dem Turm umkreisten. Aus dem
Wächter war nichts herauszubringen als das eine: Der Mann im schwarzen
Mantel schritt durch das geschlossene Turmtor, ohne daß sich dessen
Angeln drehten. Als er aber das erste Mal gekommen sei, habe er ihm
folgendes gesagt: Mein Anblick tötet dich. Ich schone dich, solange du
allein wachst. Erblicke ich dich mit Kameraden, so bist du wie sie des
Todes. Daher sich niemand herbeidrängte, dem Wächter Gesellschaft zu
leisten. Auch hütete sich im Hause ein jeder wohl, die Augen aufzutun,
solange »der Schwarze« darin war. Der Wachthund, ein riesiges Tier, war
am Morgen nach dem ersten Erscheinen mit durchbissener Kehle gefunden
worden. Das Gespenst blieb stets nur ganz kurze Zeit im Palast. Seine
Anwesenheit machte sich lediglich durch ein sonderbar tappendes
Geräusch von vielen Schritten, wie von Kindern, die ein Mann begleitet,
merkbar. Kaum, daß dieses Geräusch vorüber war, konnten die Mutigeren
von ihren Fenstern aus Pferd, Reiter und Lichter im Walde verschwinden
sehen: in der Richtung zum Waldschlosse Samalios.

Messer Giacomo, der nicht im Palast wohnte, sondern ein kleineres Haus
in der Mitte der Stadt angewiesen erhalten hatte, berichtet alles
dies vom Hörensagen nach Erzählungen der Dienerschaft. Da er es für
angebracht hielt, einen reitenden Boten nach Rom zu senden, um die
Herrschaft von dem unheimlichen Wesen zu unterrichten, aber nicht ohne
die Meinung der Tochter des Hauses handeln wollte, der er überdies
Schutz und Beistand bei so schreckhaften Umständen anzutragen sich
verpflichtet glaubte (denn alle oberen Hausbediensteten waren mit auf
der Reise), so begab er sich zu Maria Bianca:

»Ich fand das edle Fräulein,« so schreibt er, »gegen alle Erwartung
heitern Sinnes, obgleich sehr blaß und trotz des Lächelns in den
schönen Augen, gleichsam wie eine Kranke, welche die Tröster trösten
will. Sie scherzte über das Gerede des Gesindes und sprach: Ich habe
wahrlich keine Furcht vor dem Gespenste: so wenig, daß ich meine
Kammerfrau, die früher bei mir schlief, aus meinem Schlafzimmer getan
habe. Das alles sind nur Torheiten, und es ist nicht wert, darüber zu
sprechen, geschweige denn einen Boten aufs Pferd zu setzen. -- Auf
so bestimmte Meinung des gnädigen Fräuleins hin unterließ ich die
Botschaft.«

Nach seinem letzten, schreckhaften Besuche bei Samalio indessen
überkam ihn doch aufs neue Angst, zumal von Bauern aus der Umgebung
des Waldschlosses schon früher aufgetauchte Gerüchte bestätigt worden
waren, es ginge auch dort Absonderliches vor: mit seltsam singenden
Stimmen und einer sonst nie wahrgenommenen bunten Helligkeit hinter
den Fenstern. Und er ging nochmals zu Maria Bianca. Er schreibt
(mit zitternden Händen, wie er vorausschickt): »Was habe ich sehen
müssen! Schlimmeres als eine Kranke. Ihre Augen leuchteten wie im
Fieber und sie entsetzten mich, da ich sah, daß sie jetzt denen des
Ungeheuers gleichen. Sie ist ganz verändert und dennoch so schön wie
je. Aber anders. Gott verzeihe mir den Frevel, daß ich so denke und
es hinschreibe: Ihre Schönheit ist schamlos worden. Wie das? Wie darf
ich so Unmögliches denken? Jedoch: ich sah es. Mit diesen Augen sah
ich den gleißenden Wurm in ihren Augen. Und wenn alle Heiligen um
mich her stünden, und alle ihre Martern mich bedrohten, und alle ihre
Seligkeiten mich zurückschreckten vor jedem unbedachten Wort, -- ich
muß es sagen (und schrecke doch zusammen, wie ich es nun schreibe),
sie hat den verruchten Stolz der großen Huren im Blick. So brennen
die Lippen keiner Keuschen. Keine reine Jungfrau liegt so im Gestühl.
Selbst in ihrer Stimme ist nicht Unschuld mehr. Es ist eine bebende,
wollustnachzitternde Reife in ihr, die wie eine schamlose Offenbarung
des Geheimsten ist. Da ist Sättigung und Begierde, aber etwas Drohendes
und doch Verzweifeltes ist dabei. Ich suche vergeblich, es in Worte zu
fassen. Die toskanische Sprache, reich genug wie wir wissen, Himmel und
Hölle zu malen, scheint unvermögend, diesen Triumph voller Qual, dieses
Beben aus erfülltem Stolz auszunennen. -- O, ich konnte wohl alle meine
Fragen und Berichte, derentwegen ich gekommen war, für mich behalten,
denn ich wußte auf einmal alles: Nicht törichtes Geschwätz der
Gesindestuben ist dieser Spuk, der sich hier begibt und dort erzeugt
wird: ist Wahrheit, furchtbare, schändliche, höllische Wahrheit. Das
Ungeheuer drüben, unvermögend, diesen Engel blutschänderisch selbst zu
gewinnen, hat sich mit der Hölle verbündet, ihr den Inkubus zu senden,
und dem ganzen Teufel gelang, was dem halben mißlingen mußte. Der Engel
ist gefallen: eine Teufelshure richtet sich auf im verfluchten Stolze
der Wollust. In diesem Hause wohnt die geile Pest der Hölle, gesandt
von jenem Scheusal, das durch den Anblick einer reinen Schönheit zum
Wahnsinn und vom Wahnsinn zum Frevel aller Frevel getrieben wurde:
zur Zauberei. -- Wie groß ist doch die Macht des Bösen! Als sie
mich anlächelte und mit einem seltsam vollen Tone von scheinbarer
Sorglosigkeit sagte: »Nicht doch, Messer Giacomo, bei meinem Bruder
sind so wenig höllische Geister wie hier, und es tut wahrlich nicht
not, die Eltern zu erschrecken,« da war ich einen Augenblick selber im
Netze des Teufels und gedachte wiederum, die Botschaft sein zu lassen.
Aber siehe, der Böse verrät sich schließlich doch: Denn es kamen noch
die Worte (gewiß aus widerwilligem Mund, denn ich sah, daß er bebte):
Das Schicksal ist weder aufzuhalten noch zu beschleunigen. Es erfüllt
sich, wenn es zeitig ist. -- Ich verbeugte mich, nahm Urlaub und ging.
-- Der Bote ist auf dem Wege. Wär' ich bei besseren Kräften, ritte
ich selbst. Denn es ist wahrlich besser, im Sattel zu sitzen und auf
unsicheren Straßen Tag und Nacht zu reiten, als hier zu sein, wo sich
so Schreckliches begibt und noch Entsetzlicheres vorbereitet.«

Folgt ein Gebet zu allen Heiligen und ein Spruch zur Abwehr der Dämonen.

Aus den weiteren Aufzeichnungen des Florentiners ergibt sich dies:

Die Eltern schickten den reitenden Boten sofort mit der Anzeige zurück,
daß sie sich unverweilt auf die Rückreise begeben würden. Diese
Botschaft, mündlich gefaßt, erging an die Tochter und kam zu später
Abendstunde an. Das Gesinde, sehr erfreut darüber, benachrichtigte
sogleich Messer Giacomo, der sich auf der Stelle in den Palast begab,
am Morgen des folgenden Tages gleich zur Stelle zu sein. Maria Bianca,
statt ihn vorzulassen, ließ ihm sagen, er habe sich übel um ihre
Eltern verdient gemacht. Wenn ihm sein Leben lieb sei, möge er sich
stille halten und seinen Fürwitz nicht weiter treiben. Er schloß sich
erschreckt in sein Zimmer ein. Kaum eine Stunde später begab sich das
Übliche. Nur, wie die Dienerschaft erklärte, heftiger, lauter als
sonst. Man hörte das Fräulein stöhnen und eine heisere Mannesstimme.
Türen fielen ins Schloß, ein gräßlicher tierischer Laut fauchte heulend
auf und ging in ein wütendes Wimmern über, das lange anhielt. Es schien
aus dem Schlafzimmer des Fräuleins zu kommen.

Der ›Inkubus!‹ dachte sich Giacomo und schlug, solange es erklang, das
Kreuz. Endlich ward es still, aber niemand wagte sich aus seinem Zimmer.

Am frühen Morgen schon kam die Herrschaft an. Die Nebel hatten sich
noch nicht gehoben. In den Korridoren des Palastes lag dämmeriger
Halbschein. Der Vater befahl eine Laterne und begab sich, wie er ging
und stand, im Reisepelze zum Zimmer Maria Biancas, denn er hatte der
ungewiß enthaltenen Botschaft entnommen, daß sie krank sei von dem
Spuke. Messer Giacomo, in dessen Ohren noch immer das gräßliche Wimmern
klang, führte die ganz erschöpfte und geängstigte alte Dame. Die
Dienerschaft drängte hinterdrein.

Ein paar Schritte vor der Tür machte der Graf halt und wandte sich an
Giacomo: »Ihr habt mir nicht alles gemeldet. Es steht schlimmer. Warum
kommt sie uns nicht entgegen?«

»O mein Gott,« seufzte die Gräfin und schritt am Grafen vorbei zur Tür.

»Nicht doch, nicht doch!« bat Messer Giacomo. »Nicht hinein!«

»Sagt alles,« befahl der Graf.

Der Florentiner trat nahe an ihn heran und flüsterte: »Es ist unmöglich
zu sagen. Ich kann nur bitten, schlagt das Kreuz und laßt mich
vorangehen.«

Der Graf sah ihn groß an. »Ins Schlafzimmer meiner Tochter? Seid Ihr
von Sinnen?«

Messer Giacomo rang die Hände und flüsterte noch leiser: »Sie ...
schämt sich nicht mehr.«

Der Graf hob die rechte Faust -- und ließ sie schlaff sinken. Dann
winkte er der Dienerschaft zurückzubleiben und stöhnte: »Wenn Ihr die
Wahrheit gesagt habt, töte ich sie, habt Ihr gelogen, töte ich Euch.«

Er griff nach seinem Dolche und tat einen Schritt voran.

Die Gräfin hatte indessen ihr Ohr an die Türe gelegt und gebot mit der
Hand Schweigen. »Mir ist, ich höre sie röcheln.«

Sie klopfte leise an die Türe.

Ein sonderbares Knurren wurde vernehmbar.

»Der Inkubus,« schrie Messer Giacomo auf und wandte sich wie zur Flucht
um. Der Graf packte ihn beim Handgelenk und zwang ihn zur Tür. »Öffnet!
Und sei's mit Gewalt!« Giacomo drückte auf die Klinke. Die Türe tat
sich auf.

Das Zimmer war ganz dunkel. Nur am Fenster glomm etwas Leuchtendes,
wie wenn das Licht des Morgens aus zwei Löchern durch die vorgezogene
schwere Samtgardine bräche.

»Da ... da ... dort sitzt er!« stöhnte Giacomo und bekreuzte sich.

In diesem Augenblicke flogen die zwei hellen Punkte in einem großen
Bogen durch das Zimmer über die Köpfe der Eingetretenen hinweg --
hinaus. Gleich darauf erhob sich, während die drei, von Entsetzen
gepackt, am Türpfosten Halt suchten, im Korridor Geschrei und Gekreisch
der Dienerschaft, überschrillt von einem langgezogenen wütenden Geheul,
das dann in Fauchen überging und schließlich knurrend zu verröcheln
schien. Dann hörte man das Gesinde die Treppe hinabpoltern und die
Treppentüre zuschlagen.

Der Graf kam zuerst zu sich. Er ging zum Fenster und riß die Gardinen
auseinander. Das Zimmer war leer. Das Bett hinter den geschlossenen
Vorhängen unberührt.

»Wo ist sie?« stöhnte die Gräfin auf und sank vor dem Bett zusammen.

Der Graf sah Messer Giacomo fragend an.

Der flüsterte, mit dem Kopf zur Türe: »Das war sie ... die Hexe.«

»Licht!« schrie der Graf den Korridor hinaus.

Niemand kam.

»Sie fürchten sich. Wer fürchtete sich hier nicht?« murmelte der
Florentiner.

»Was könnte ich noch zu fürchten haben,« murmelte tonlos der Graf und
schritt zur Türe.

Links neben der Tür stand am Boden die Laterne. Er hob sie hoch. Ihre
Verrahmung und die ausgeschnittene Ornamentierung der Haube warfen
ein Rankennetz von Schatten an Decke und Wand. Da die Hand des Grafen
zitterte und die Laterne sich in der Handhabe drehte, war es ein
huschender Tanz von Schatten und Licht. Da fiel aus der größten Scheibe
ein gelber Schein auf etwas Geducktes, Schwarzes in einer Ecke.

Der Graf ging unsicheren Schrittes darauf los, machte das Zeichen des
Kreuzes und murmelte: »Bist du es?«

Das Wesen, nun wieder verschattet, duckte sich noch mehr zusammen und
knurrte tückisch.

Da ergriff den Greis eine wahnsinnige Wut. Er riß den Dolch aus der
Scheide und warf sich mit dem ganzen Gewichte seines Körpers vornüber
auf das Dunkle, den Dolch voran. Er fühlte einen heißen Hauch in
seinem Gesicht und heißes Blut über der Faust. Wild packte er mit
beiden Händen zu, und zwischen seinen eingekrallten Fingern verreckte
eine riesige Wildkatze. Er trug sie, die Hände weit vor sich gestreckt,
keuchend zum Zimmer und warf den noch zuckenden Leib auf das Bett Maria
Biancas. Dann kniete er nieder, schlug die blutigen Hände vors Gesicht
und betete -- für die Seele seiner Tochter.

Die Gräfin lag ohnmächtig vor dem Bett. Auf ihre Stirn tropfte das Blut
des Tieres.

Messer Giacomo schreibt: »Auch ich hatte schier die Besinnung verloren.
Das Herz saß mir im Halse. Ich fühlte sein Pulsen im Hirn. Vor meinen
Augen war ein roter Dampf. Ich weiß nicht: war das das Blut, das mir
so heftig zusetzte, oder höllische Vortäuschung. Durch das rote Dunkel
hindurch sah ich die Augen des Teufeltieres verlöschen: und es waren
genau die Augen Maria Biancas. Ihr letzter Blick, voller Wut, galt mir.
Ich wehrte dem Bösen mit dem Kreuze und kniete gleichfalls nieder, für
die arme Seele zu beten. Dann trugen wir, der Graf und ich, die edle
Dame in ihr Gemach, beide im Herzen dankbar, daß sie nicht zu sich kam.
Darauf erzählte ich dem unglücklichen Vater alles, was ich wußte. Wer
etwa Zweifel daran gehegt hätte, daß der aus altrömischem Heldenblute
stammte, der würde sich jeglichen Zweifels daran wohl begeben haben
angesichts der Größe und Festigkeit, mit der der Graf nach Anhörung
meines Berichtes nichts weiter sagte als: »So bleibt mir nur noch
übrig, auch ihn auszutilgen.«

Er ließ für sich, Giacomo und zehn Knechte satteln, setzte, für den
Fall, daß er im Kampfe mit dem Zauberer zu Tode kommen sollte, sein
Testament auf, sein ganzes Vermögen der Kirche vermachend, tauchte
Schwert und Dolch in geweihtes Wasser und ritt langsam mit seinen
Begleitern zum Walde. Rechts von ihm ritt Messer Giacomo, links der
Turmwächter. Dieser, sonst der Mutigste unter allen Dienern des Grafen,
wankte schier im Sattel und war entstellt von Angst und Grauen. Sein
Gebieter sprach ihm Mut zu, aber je näher sie dem Schlosse kamen, um so
unsteter wurde sein Blick, um so blasser sein Gesicht.

Wie sie des Schlosses ansichtig wurden, das im fahlen Lichte eines
sonnenlosen Tages dastand, wie aus glanzlosem Blei, graubläulich,
gleichsam tückisch, hieß der Graf alle von den Pferden steigen und
niederknien zu beten. Dann, als sie wieder im Sattel saßen, mußten
sie die Schwerter ziehen, sie steil gerade vor sich halten als
Kreuzeszeichen und die Hymne singen:

    Wir ziehen aus, zu streiten
    Für Jesu Christ,
    Der unserm tapfern Reiten
    Unsichtbar Führer ist,
    Seine Fahne, schneeweiß,
    Kyrieeleis,
    Wird uns zum Sieg geleiten.

»Es war uns allen,« schreibt der Toskaner, »ausgenommen den alten
Herrn, wie ich anbetrachtlich des Funkelns in seinem Aug', glaube,
nicht gar mutig zu Sinne. Aber das Lied, wie es aus uns drang, umgab
uns gleichsam mit dem Atem tapferer Erzengel. Als wir vor dem Tore
hielten, sah ich, daß alle Knechte wacker rote Wangen hatten, bis auf
den Wächter.«

Da das Tor verschlossen war (wie auch alle Fenster, die Läden
vorhatten), schlug der Graf mit dem Knaufe seines Schwertes daran und
rief: Im Namen des Dreieinigen, öffne!

Statt der Antwort erfolgte ein harsches, gaumiges Röcheln. Dann
klirrten Schlüssel, die Türflügel kreischten in den Angeln, und aus
der Öffnung trat der alte Diener, sogleich in die Knie sinkend und
beide Arme ausbreitend. In seinem qualvoll aufgerissenen Munde sah man
die schwere Zunge wie im Krampfe zucken, während im Gaumen wieder die
entsetzlichen nach Ausdruck ringenden Laute röchelten. In den blinden
Augen lag leer, grau der Widerschein des dunstigen Himmels.

Der Florentiner berichtet: »Obgleich der Erbarmungswürdige weder mit
dem Munde noch mit den Augen zu sprechen vermochte, verstanden wir ihn
doch alle gleich und wußten, daß das Scheusal tot war.«

Der Graf winkte den Knechten, zurückzubleiben und gebot dem Stummen,
ihn und Giacomo zur Leiche zu führen. Der aber warf sich lang auf die
Erde bin, als ob er sich mit den Händen in sie einkrallen wollte.

»Da wußten wir,« schreibt Giacomo, »daß uns noch Schlimmeres
bevorstand, etwas, das selbst den entsetzte, den Blindheit davor
bewahrt hatte, es sehen zu müssen.«

»Ich möchte es Euch, Messer Giacomo,« sagte der Graf, »gerne ersparen,
mich zu begleiten. Aber, seht, mich wandelt jetzt Furcht an, da ich
mich doch nicht davor gefürchtet habe, den zu töten, der das Leben von
mir hatte. O mein Gott, warum begnadigst du mich nicht mit Blindheit!
Furchtbares zu tun, hat für den Edlen keinen Schrecken, wenn Not und
Pflicht gebietet. Aber es gibt Dinge von einem Antlitz, dessen Ahnung
schon auch den Tapfersten zur Flucht scheucht. Doch es muß geschehen.
Ich muß mit diesen Augen sehen, was mein Herz schon weiß. Messer
Giacomo, die Sünde braucht den Teufel nicht. Wenn Ihr Euch jetzt noch
vor höllischen Geistern fürchtet, so sage ich Euch: Ihr könnt ruhig mit
mir gehen. Wenn Ihr aber dem Grauen nicht gewachsen seid, das von der
verfluchten Natur ausgeht, aus der wir alle sind, so sage ich Euch:
Laßt es mich allein ertragen, der ich es muß, weil ich mit meinem Blute
daran schuldig bin.«

Der Florentiner, der diese Worte so berichtet, fügt hinzu: »Auch
jetzt, da ich dies mit Besonnenheit aufzeichne, verstehe ich es
nicht, geschweige denn, daß ich es verstand, als ich es vernahm. Der
Böse, dessen augenscheinliches Werk mein armer edler Herr von jenem
Augenblick an leugnete, hat ihn verwirrt. Gelobt sei Gott dafür, daß er
wenigstens meinen Geist vor Verdunklung schützte.«

Die beiden gingen durch dunkle Korridore, dunkle Treppen hinauf zu dem
großen Turmgemache, das Giacomo als Werkstatt des Malers kannte, und wo
er mit Recht vermutete, daß sie seine Leiche finden würden.

Lassen wir ihn berichten: »Ich schritt voraus und hob den ledernen
Vorhang auseinander, daß der Graf eintreten konnte. Er ging aber
nicht mit mir ins Zimmer, sondern hielt sich rechts und links mit der
Hand am Türvorhang fest. Ich hörte, wie sein Atem ging, und war froh,
dies Leben zu hören, denn es kam nun das schwerste Grauen von allem
über mich, so, daß ich nicht mit Schritten zu gehen wagte, sondern,
keinen Fuß hebend, mich gleichsam füßlings über den Teppich vorwärts
tastete. Da stieß ich mit den Knien gegen etwas Weiches an und bog mich
behutsam darüber, die suchenden Hände vorstreckend. Nie vordem habe
ich gewußt, daß das furchtbarste Grauen, das der Mensch empfinden kann,
in den Fingerspitzen wohnt. Alle Qual der Furcht, des Entsetzens, das
sich gleichsam zurücksträubt und doch wie eine willenlose Last langsam,
fürchterlich langsam und dennoch unabwendbar, vorwärts wuchtet, saß
knäuelhaft, wie geduckt zusammengerollt unter meinen Fingernägeln,
die mir (doch war das sicherlich Blendwerk) zu leuchten schienen.
Dies alles währte kaum die Dauer eines Atemzuges und war dem Gefühle
nach eine Ewigkeit -- bis der Augenblick kam, da die Qual gleichsam
in die Wut umschlug, sich selber ein Ende machen zu wollen, und sei
es durch noch Schlimmeres. Ich warf mich vornüber und flog mit einem
grauenhaften Schrei zurück. Meine Hände hatten zwei nackte, schauerlich
kalte Frauenbrüste gefühlt, mein warmer Mund einen kalten berührt.

Ich taumelte bis zum Vorhang zurück und keuchte: »Die Hexe! Dort!«

Der Graf drängte mich beiseite und murmelte: »Ich wußte es.« Dann,
ein paar Schritte vorwärts tuend, lauter: »Ich bitte Euch, laßt Licht
herein. Ich fühle die beiden, und es verlangt mich nun sie zu sehen.«
Er schien ganz ruhig. Ich hörte seinen Atem nicht mehr. Ein Knarren
verriet mir, daß er auf einen Stuhl getroffen war, in den er sich
niedergelassen hatte.

Ich tastete mich die Wand entlang zum Fenster, um ja nicht beim
Durchschreiten des Zimmers nochmals in Berührung mit einem der beiden
verfluchten Leiber zu kommen. Denn noch immer rann ein schaudervolles,
eisiges Entsetzen durch meine Adern. So voller Grausen war ich und
gleichsam angstbeflissen, daß, als des Grafen Hand an der Seite der
Stuhlwange herabglitt, ich beim Hören des leisen, schürfenden Tones
zusammenknickte, für einen Augenblick nicht anders vermeinend, als es
sei ein Seufzer aus toten Lippen.

Endlich war ich beim Fenster angelangt und fühlte die Quaste der
Vorhangschnur in meiner Hand. Ich brauchte meine ganze Kraft zu der
geringen Arbeit, die Gardine sich teilen zu lassen: so völlig erschöpft
war ich. Um aber das Fenster und den einen Laden zu öffnen, bedurfte
ich der Hilfe des Gebets. Ich rief laut die Madonna an, mir beizustehen.

Da hörte ich einen greulichen Fluch. War da mein alter, edler, frommer
Herr, der über die Reinste der Reinen das schmutzigste Wort spie?

Wollte Gott, ich dürfte noch glauben, daß er der Satan selber war, wie
ich es damals glaubte. --

Ich riß Fenster und Läden auf, indem ich, ohne mich umzuwenden, schrie:
»Fleuch hinaus, Geist der Finsternis! Weiche, weiche, weiche von uns,
Fürst der Hölle!« Und legte meine Stirn aufs Fensterbrett, nochmals
zu beten. Der feuchte, kalte Wind aus dem Walde strich mir übers Haar
und weckte mich gleichsam aus dem wohltätigen Schlummer der Andacht,
die mich aber doch so weit gestärkt hatte, daß ich spürte, es sei
geraten, mich diesem Luftstrome nicht länger auszusetzen. Ich wandte
mich um, vermied es aber wohl, dorthin zu blicken, wo ich die beiden
Leichen vermutete. Doch sah ich den Grafen. Er saß in dem flammrot
seidenen hochlehnigen Stuhle des Malers, den ich wohl kannte mit seinen
goldeingewirkten Zeichen einer fremden heidnischen Schrift. Steif
angelehnt saß er, ganz regungslos; auch die Arme und Hände, gerade
hingelegt auf die Armlehnen, rührten sich nicht im mindesten. Man hätte
meinen können, er sei tot.

Nur die Augen lebten. Lebten gierig.

Und es waren die Augen des Scheusals.

Mir war, als starrten diese selben Augen überall her: kalt glühend
durch das kalt graue Morgenlicht. Sie glotzten kugelig von den Buckeln
der kupfernen Wandleuchter, blinzelten verkniffen aus allen Facetten
der Gläser und Flaschen auf dem Kredenzbord, schossen blitzende Blicke
von den Spitzen der Degen, Dolche, Hellebarden an der Wand, lauerten
tückisch in allen Falten der Vorhänge.

Ich sah wohl, daß der Böse sich nicht hatte bannen lassen durch meine
Gebete, und bald mußte ich es auch hören.

Denn er sprach aus dem Grafen wie folgt: »Ihr mußtet sterben, um mich
fühlen zu lassen, wie verwandt ich euch bin. Mit meinem Blute habt ihr:
mein Blut hat in euch gesündigt. Wie dürfte ich verdammen, da ich, ob
auch mit Grauen, verstehe? Der Tod ist ein mächtiger Lehrer. Ich habe
die Hölle verlernt vor seinem Grauen. Sie ist nicht hinter dem Tode,
ist vor ihm: in diesem Leben, das kraft heiliger Gesetze verbietet,
wozu der unheilige Geist treibt, der in unseren Adern glüht. Ich habe
ihn stets gebändigt. Und durfte wohl stolz darauf sein: denn mein
ganzes Leben hat sich dem Gesetze geopfert. Aber siehe, mein Blut hat
sich gerächt: mein Opfer war unnütz und ein frommer Frevel. Ich durfte
rein bleiben, weil diese da alle meine Unreine in sich nahmen. Wo ist
da Gott? Wo ist da Teufel? Ich sehe, daß ihr sehr elend und von aller
Heiligkeit ausgeschlossen wart: Verworfene vor allen Menschen; und
doch überkommt mich der Glaube, daß euer Leben völliger war als das
meine, und euer Tod freier und stolzer als der der Frommen, doch noch
im letzten Augenblicke um Vorteil handeln. Ihr seid in einer großen
Gewißheit dahingegangen nach großen Sünden; ich aber, der Fromme,
bleibe voller Zweifel hier und fürchte, daß ich weder selig noch
unselig sterben kann.«

Selbst die Stimme, in der dies sprach, war nicht des Grafen Stimme. Sie
hatte einen vollen, zuversichtlichen, tapferen Ton gehabt. Was hier
klang, war wie der Ton einer gesprungenen Glocke. Es war, als schwebte
er nicht durch die Luft, sondern er glitte von den Lippen, rönne über
Kinn und Brust, tropfte den Stuhl hinab zum Teppich, kröche über diesen
weg zu den beiden.

Mir aber gruben sich die Worte, wie matt sie auch klangen, mit einer
magischen Gewalt ein, so daß ich sie zu jeder Stunde wiederholen
könnte, wie ich sie jetzt gleichsam unter dem Diktate des Satans
niedergeschrieben habe. (Ich wage es, die Wahrheit zu sagen, in diesem
Augenblick nicht, hinter mich zu blicken, denn ich weiß: in dem Bilde
des heidnischen Ahnherrn dieser nun erloschenen Familie, das ich selber
nach einer alten Tafel im Palaste hier auf die Wand übertragen habe,
stehen jene beiden Augen. Ich weiß es, denn ich fühle ihren Blick als
einen dumpfen Druck am Nacken.)

Immer noch starr geradeaus schauend, wandte sich der Graf nun in seinem
alten, nur etwas müderen Tone mit diesen Worten an mich: »Seht Ihr, wie
schön sie ist, Messer Giacomo?«

Antwortete ich: »Nein, Herr. Gott verhüte, daß ich meine Blicke zu
diesem Greuel wende. Die Hexe ist nackt.«

Sprach er, nicht zornig, aber gestrenge: »Laßt dieses Torenwort und
sprecht mit Achtung von meiner Tochter. Nackt ist sie, aber so schön,
daß nichts Schamloses an ihrer Nacktheit ist. Auch ist sie tot, und nur
im Lebendigen ist Sünde und der Schatten der Sünde: Scham oder Unscham.
Ich sehe sie an wie ein Werk des Meißels, den der Tod geführt hat, und
ich denke zurück an meine jungen Tage, da ich mich nächtens mit einer
Fackel in den Keller schlich, wo in einer Ecke die Madonna der Heiden
stand, zu der meine Ahnen einst gebetet haben: Frau Venus. Doch diese
hier ist schöner. Ich denke mir: Sie wurde so schön, weil meine Jugend
unter jenem Venusstern stand. Die Göttin, deren Bild ich mit eigener
Hand zerschlug, als der Geist des Gesetzes von mir Besitz ergriffen
hatte, hat sich gerächt, indem sie aus meinem Blute ihr schöneres Bild
gestaltete. Glaubt nur, Messer Giacomo, die Götter der Heiden sind
nicht tot. Sie leben in unserem Blute, und aus unserem Blute leben sie
immer aufs neue auf in sichtbarlicher Nachgestalt. Der Schatten des
Kreuzes ist doch nur ein Schatten, der sich nach der alten Sonne drehen
muß. Ihr blickt noch immer nicht hin?«

»Da sei Gott vor!« antwortete ich bestimmt.

Er aber sprach: »Ihr tut mir leid. Dieser Anblick, vor dem auch ich
mich gefürchtet habe vor wenigen Minuten noch, und es ist seitdem
doch eine Fülle von Zeit verstrichen, reicher als mein ganzes armes
Leben in heiliger Finsternis -- dieser Anblick ist kein Schrecken:
ist klare, ruhige, wohl feierliche, aber nicht gestrenge Offenbarung.
Mein schönes Kind liegt auf dem Ruhebette, wie es von Venus erschaffen
ward. Der rechte Arm ruht unter dem Haupte, die linke Hand im Haar des
Bruders, meines häßlichen Kindes, das, vor dem schönen niederkniend,
den selbstgerufenen Tod erwartet hat. Er trägt einen Mantel aus dunkel
veilchenblauem Sammet und auf dem Haupte einen Dornenkranz. Ihr wendet
Euch ab und seid empört. Mir selber tat der Anblick weh, denn es
dünkte mich unwürdig, gleich einem Schauspieler in den Tod zu gehen,
Großes nachäffend. Doch weiß ich es besser, seitdem mich das Bild,
vor dem sie gestorben sind, belehrt hat, daß er nicht als Mime starb,
sondern als Maler. Auf diesem Bilde sind die Farben noch feucht an
dem Kopfe mit der Dornenkrone, und es ist, als ob die Blutstropfen
lebendig herunterrönnen aus dem krausen Haar über die gelben Wangen.
Er hat sich die Dornen ins Haupt gestoßen, dieses Blut fließen zu
sehen, aber mehr noch zur Aufgeißelung der Kraft, die auch äußerlich
fühlen wollte, was sie innerlich ergriffen hatte. -- Ihr wißt, daß
es mir immer zuwider war, ihn die Kunst des Malens wie etwas treiben
zu sehen, das mehr ist als vornehmer Zeitvertreib. Daß ich es Euch
gestehe: Ich verachtete ihn darum, und er war mir seiner Kunst wegen
noch abscheulicher als wegen seiner Häßlichkeit und düsteren Art. Nun
lehrt mich dieser Morgen, mit dem eine helle Nacht für mich anbricht,
auch dies: daß Kunst, mit diesem Stolze heroischer Hingabe ausgeübt, zu
den größten Menschendingen gehört, zu denen, die über alle Tiefen und
Nebel hinwegtragen, wie dieser zentaurische Christus die nackte Madonna
hinwegträgt vom Felsen des Todes über qualmige Städte zur Festung
Einsamkeit. -- Ich will, hört mich wohl: Ich will in diesem Hause meine
Tage beschließen und auf diesem Lager sterben vor diesem Bild, das dann
wie alles andere von der Hand meines Sohnes mit meinem Leichnam zu
den Leibern meiner Kinder eingegraben werden soll in den Fels dieses
Berges. Immer und immer will ich es sehen, wie ihre linke Hand in
das blutige Haar des Christus-Zentauren greift, dessen blutrünstiges
Antlitz sich ihr in schmerzlichster: seligster Liebe zuwendet. Ihre
holden, gütigen, mutigen, aller Liebe vollen Augen sollen auch mir
hinüberleuchten zu jener Ruhe, die Gott selber bewacht.«

Kaum daß der Graf geendet hatte, drang Gemurmel und Schrittgestampf vom
Gange her in den Saal, und die Stimme eines Knechtes bat um Einlaß.

Der alte Herr erhob sich ruhig, löste seinen Pelzmantel von den
Schultern und legte ihn über die Toten. Dann zog er den Vorhang vor das
Bild und rief mit seiner alten Stimme des Befehlensgewohnten gebietend:
»Tretet still herein!«

Sogleich verstummte Gemurmel und Gestampf. Die Knechte traten gebückt
ins Gemach, vor sich her den Wächter schiebend, der gefesselt war und
vor dem Grafen in die Knie sank.

»Geht,« befahl der Herr den übrigen, und dem Knienden: »Steh auf und
sprich!«

Der erhob sich und murmelte: »Ich wollte fliehen, Herr, weil ich
mitschuldig war an dem Schrecklichen, und will nun alles eingestehen.«

Der Graf legte ihm eine Hand auf die Schulter und ergriff mit der
anderen die gefesselten Hände des Wächters. Und sprach: »Ich weiß. Doch
niemand außer dir und mir soll wissen, denn dieser (und er wies auf
mich) sieht nicht mit sehenden Augen und wird auch die anderen heilsam
blind machen. Du aber sollst zu keinem Menschen mehr reden, sondern mit
mir eingeschlossen bleiben in diesem Hause. Die Leichen meiner Kinder
im Felsen zu begraben, soll deine erste Arbeit sein; deine letzte: mit
meinem Leichnam dasselbe zu tun. Dann sollst du dieses Schloß besitzen
mit allem, was darin ist.«

Der Wächter, diesen Spruch so wenig begreifend wie ich, der ich aber
längst die Besessenheit des Grafen erkannt hatte, beugte sich stumm
über die Hand seines Gebieters und küßte sie.

Mir blieb nichts mehr zu tun übrig, als um Urlaub zu bitten für immer
und zu fragen, welche Botschaft ich der Gräfin bringen solle.

Die Antwort war: »Sag meiner Gattin, daß sie mir willkommen ist, wenn
sie sich stark genug fühlt, mit mir bei den Dämonen zu hausen. Niemand
weiß ja über diese so gut Bescheid, wie Ihr. Wie ich sie kenne, wird
sie es vorziehen, sich in den Schutz der anderen Madonna zu begeben.
Und sagt ihr, wenn sie Euch dies kundgibt, von mir, daß sie recht
daran tut und daß es mich beruhigen wird, sie in dem besten Schutze zu
wissen, darin sich ein Mutterherz ausruhen kann. Ich weiß, sie wird für
mich beten. Sagt Ihr auch das. Und fügt von mir noch dies hinzu: daß
ich ihr ehrerbietig und mit dem ganzen Reste von Liebe dafür danke, den
ich für Lebendiges noch fühlen kann.« Obwohl ich dank der Klarheit, die
sich immer mehr in mir ausbreitete, sehr wohl begriff, daß das Gütige
und Wahre in diesen Worten keineswegs ein Zeichen etwa aufdämmernder
Vernunft, sondern nichts als spöttische Verstellung des Teufels war,
der diesen Geist völlig verwirrt hatte, mußte ich mich doch, mehr
unbewußt als mit Fleiße, gleichfalls auf die Hand des Unglückseligen
beugen. Meine Lippen fühlten, daß sie ganz kalt war.

Ich ritt mit den Knechten im schnellsten Galopp zur Stadt. Der Nebel
hatte sich gehoben. Als ich mich, wir mochten etwa zwei Bogenschüsse
weit geritten sein, umwandte, sah ich das Schloß im hellsten
Sonnenlichte über dem schwarzen Walde gleichsam höhnisch leuchten.

Morgen geleite ich die Gräfin nach Rom ins Kloster. Dort will ich auf
bessere Zeiten warten, daß ich nach Toskana zurückkehren kann.

Zum Danke für meine Rettung aus der grausamen Gefahr, gleich meinem
edlen alten Herrn in die Verstrickung des Teufels zu fallen, habe ich
heute gelobt, nie wieder einen Pinsel zur Hand nehmen. Die Kunst ist
die schlimmste Schlinge des Bösen.«



Annemargret und die drei Junggesellen.

Nebst einem Vorwort von den Raubrittern und dem Segen der Aufklärung.


Eine äußerst dunkle Zeit das Mittelalter!

Eine äußerst unmoralische Gesellschaft die Raubritter!

Es ist ja wahr: unsere Gardekavallerieoffiziere stammen meistens von
ihnen ab. Aber auch sie müssen heutzutage so viele Examina machen,
daß wir mit Genugtuung konstatieren können: die Wurzelbürste der
allgemeinen Bildung hat sie bürgerlich moralisiert, und kein ehrsamer
Zivilist braucht sich mehr vor ihnen zu fürchten. Ja: sie selber weinen
nun viel Druckerschwärze über die schlechten Sitten ihrer Vorfahren
und sind gar sehr betrübt darüber, daß in ihren Familien solche Sachen
passiert sind.

Was für Sachen! Ah: was für Sachen! Man möchte wirklich manchmal daran
zweifeln, daß unsere heutigen lieben glatten Herren von, auf und zu die
richtigen Nachkommen dieser unmoralischen Rauhbeine sind, die solche
Sachen gemacht haben.

Denn, um das gelindeste Wort zu brauchen: _saftige_ Kumpane sind sie
gewesen, diese Herren von Eisenbeiß auf Eisensteiß, und rund um sie
herum war nicht der Exerzierplatz, nicht das Bureau, sondern der dicke,
dunkle Wald.

Der gehörte ihnen; den hatten sie lieb. Aber die Städte und die Städter
konnten sie nicht leiden.

Was da in engen Gassen herumkroch, war ihnen ein übel tugendhaft
Gesindel: einzeln feig, in Masse frech; geschäftig und geschwätzig;
krummbucklig und scheelsüchtig; krittlich und profitlich; in allen
Dingen nach der Elle gerichtet und abgemessen; eingepackt in
Sippschaften und Zünfte; klettentreu zusammengefilzt und miteinander
verbacken in Schmutz und Schweiß und schmieriger Biederkeit.

Sie dagegen, die edlen Herren vom spitzen Sporn und Stegreif, die
Junker Schlagdrauf, Greifzu, Haltfest, fühlten sich als Einzelne,
Eigene, Freie, und es schien ihnen ihr gutes Recht zu sein, die Säcke
der Krämer in ihre Kammern zu leeren, obwohl es die Obrigkeit nicht
guthieß.

Denn die Obrigkeit konnten sie auch nicht leiden, außer wenn sie selber
Obrigkeit waren.

Man ersieht aus alledem, wie ungebildet die Raubritter gewesen sind.

Hätten sie Schulbildung genossen gehabt, so würden sie sich ohne
weiteres haben sagen müssen, daß das so auf die Dauer nicht fortgehen
konnte, und daß sie sich mit einem solchen Betragen für alle Zeit in
der Weltgeschichte ein miserables Renommee schaffen mußten. So ist es
auch gekommen. Die Tugend hat gesiegt; überall herrscht Ordnung und
Gesetz; jede Körperverletzung wird unnachsichtig bestraft; wer seinen
Mitbürger an seinem Eigentum schädigt, kommt, mit oder ohne Wappen,
hinter Schloß und Riegel: und die ganze gebildete Menschheit hat alle
Ursache, jene abscheulichen Zeiten höchst verächtlich zu finden, mit
sich aber sehr zufrieden zu sein.

Nur Degenerierte und Dichter (was auf eins hinausläuft) sind imstande,
an diesem Chorus der Freude nicht mit teilzunehmen. Sie allein vermögen
es auch, dem Raubrittertume noch einigen Geschmack abzugewinnen.

Es muß da irgendeine Verwandtschaft bestehen. Vielleicht war das
Raubrittertum eine Art angewandter Lyrik? Vielleicht ist Lyrik eine Art
verhindertes Raubrittertum? Wie es auch sei: dem tüchtigen Bürger sind
beide gleich unsympathisch, und dieser Umstand beweist allein schon,
daß sie irgendwie zusammengehören.

Da mir an meiner Reputation gelegen ist, und da ich nicht wünsche, daß
die Geheimrätin X. und der Schuhmachermeister Y. sich darauf einigen,
mich für einen verspäteten Raubritter zu halten, darf ich nicht
unterlassen, hier zu erklären, daß ich nicht zu jenen Raubritterpoeten
gehöre, daß ich, wie sehr auch der Anschein gegen mich sprechen mag, im
Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte bin, und daß ich mit der kleinen
Geschichte von Annemargret und den drei Junggesellen keineswegs das
abscheuliche Ziel verfolge, zum Mädchenraub aufzufordern.

Diese Geschichte ist vielmehr durchaus moralischer Natur und beweist
aufs klarste, daß das Mittelalter wirklich finster war.

Stellen Sie sich vor, sie spielte nicht damals, sondern heute. Würde
sie mit Mord und Totschlag endigen? O nein! Es gäbe ein niedliches
kleines viereckiges Verhältnis; nichts weiter: wie es sich für
anständige junge Leute aus guter Familie ziemt, schickt und paßt.

In Wahrheit hat sie sich auch so begeben, und Annemargret fährt heute
auf Gummirädern. Ich habe sie erst gestern Unter den Linden gesehn.

Seien wir stolz! Seien wir heiter! Es lebe die Aufklärung.


Und nun die Geschichte.

Es waren einmal drei junge Junggesellen, recht adelige Burschen:
nämlich Söhne eines alten Raubritters.

Der war aber tot und lag mit seiner Frau, der weiland Raubritterin, in
seinem Erbbegräbnisse tief im Walde. Sein Wappen, ein behelmter Wolf,
der eine dreigespaltene Zunge sehr rot und im zierlichsten heraldischen
Schnörkelschwunge aus dem raffzähnigen Rachen bleckte, lag in Stein
gehauen über ihm; und das war gut, denn damit war die Sicherheit
gegeben, daß der alte Raubritter den Landfrieden, den er dem Tode hatte
schwören müssen, auch wirklich hielt. Es wäre ihm schon zuzutrauen
gewesen, daß er auch noch als Gerippe auf Krämer ausgeritten wäre.

Seine drei Söhne: Welf, Ralph und Rolf, besorgten das ja auch, aber
doch nicht mit der ganzen väterlichen Leidenschaft. Sie taten es
nur berufshalber und wenn die Münze ausging, nicht aus Sport und
innerlichem Bedürfnis. Die Jagd war ihnen vergnüglicher, und sie
hetzten den Bären lieber als den Juden.

So lebten sie recht angenehm bewegt in ihrem alten Schlosse am Walde,
tranken sowohl roten als auch weißen Wein in beträchtlichen Mengen und
aßen vielen saftigen Braten dazu, den ihnen ihre alte Haushälterin,
die ehr- und tugendgeachtete Jungfrau Barbara, genannt das Reibeisen,
gar vorzüglich am Spieße zu braten verstand.

Aber eines Tages, gerade, als sie einen Rehrücken am Spieße hatte und
emsig drehte, sagte sie plötzlich ohne ersichtliche Ursache: Mein
Jesus, Barmherzigkeit! fiel hin und war tot. Der Rehrücken verbrannte,
der Brandgeruch, erst ganz angenehm, dann schon mehr unlieblich, stieg
bis ins Turmgemach, wo Welf, Ralph und Rolf sich eben die Würfelknochen
unter erklecklichen Flüchen ins Gesicht schmissen, und lockte die
Brüder zur Küche.

Da wurden sie sehr traurig, als sie das Reibeisen tot auf dem
Steinboden liegen sahen, schlugen hastige Kreuze und fluchten
mörderlich.

»Wer soll uns nun kochen und braten!« rief Welf.

»Sie konnte es so schön knusperich!« klagte Ralph.

»Und dennoch blieb er innen saftig!« bemerkte Rolf.

»Du mußt jetzt den Spieß drehen!« entschieden Welf und Ralph, die
beiden ältesten, indem sie sich zu Rolf, dem jüngsten, wandten.

»Ich werde euch den Spieß in den Bauch rennen!« bemerkte dieser
gelassen.

Darauf prügelten sie sich eine Weile mit Hingebung.

Aber damit war die Dienstbotenfrage nicht erledigt.

Da kam Welf'n ein guter Gedanke: »Laßt uns eine Köchin aufheben!«

»Ha!« riefen die anderen und umarmten ihn, »_das_ ist eine _Idee_!«

»Legen wir uns an den Kreuzweg am Unkenteich, wenn die Dorfdirnen zur
heiligen Urschel paternostern gehen!« schrie Welf, der entschieden der
Taktiker unter den dreien war.

»Ha!« riefen die anderen, »das ist _wieder_ eine Idee!«

»Machen wir aber schnell, denn ich bin hungrig!« brüllte Welf mit
ritterlichem Ungestüm.

»Los!« brüllten die anderen.

Und sie stiegen in die Rüstkammer, schnallten sich die Harnische um,
ergriffen die gewaltigen Schlachtschwerter, vergaßen auch nicht die
dicken Streitkolben, setzten sich die Helme mit den Wolfsrachen aufs
lockige Haupt und schwangen sich auf die ebenso mutigen wie dicken
Rosse.

Hei, wie wieherten die, als es im Donnersaus über die Zugbrücke ging
und dann am Walde entlang zum Unkenteiche!

Der alte Christoph, der einzige Knecht, der den dreien nicht
davongelaufen war (weil er Rheumatismus hatte und nicht laufen konnte)
und der nun alle männlichen Ämter bekleidete, die es auf einer
rechtschaffenen Ritterburg gibt, zog die Zugbrücke wieder hoch und
knurrte in seinen grauen Bart: Wenn sich wenigstens einer von den
dreien den Hals brechen wollte!

Dann ging er hin und wunderte sich, daß das alte Reibeisen tot war.

Unterdessen lagen die drei Junker hinter den Kreuzwegbuchen am
Unkenteiche und ließen die Weiblichkeit des Dorfes Sankt Ursula Revue
passieren, die in die Kapelle zum Rosenkranz ging.

Es waren aber meistens alte Weiblein, die da mit dem Rosenkranz
vorbeihumpelten, und die drei hatten auf dem Hinritt beschlossen, keine
Alte zu fangen. Denn, wie Rolf sehr richtig bemerkt hatte: Eine Alte
stirbt bald, und dann haben wir gleich wieder Wechsel. Und sich ewig an
neue Köchinnen gewöhnen müssen, ist lästig.

Eine Junge also! Den Spieß drehen und Betten machen kann schließlich
jede, und die richtige Reibeisentradition wollen wir ihr schon
beibringen.

Aber, wie nun auch Junge vorüberkamen, setzten sie doch ihren Gäulen
nicht sogleich die Zinken ein und fuhren drauflos, sondern es gab über
jede ein kritisches Gewispere und mancherlei Aussetzungen hinter den
Buchen;

Zu dick!

Zu dürr!

Läuft über die große Zeh!

Zu braun!

Zu blaß!

Hat scheelen Blick!

Hat keine Brust!

Watschelt!

Zu lang!

Zu kurz!

Krummbein!

Schiefmaul!

Knollnase!

Satthals!

Pinkel im Gesicht!

Leberfleckig!

Warzenacker!

Und so, streng kritisch, immerfort, daß man hätte meinen sollen, es
handele sich hier gar nicht darum, eine Köchin zu rauben, sondern eine
künftige Burgherrin für Wolfsturm.

Da kam aber eine, in einem kurzen, roten Rock mit schwarzem Mieder, aus
dem, um einen vollen, weißen Arm, die weißen Hemdärmel sauber blitzten:
und die gefiel allen dreien offenbar ganz über die Maßen wohl. Sie
hatte ein frisches, rundes Gesicht, mit ein Paar allerliebsten,
lachenden Augen darin, die schwarz und funkelnd waren wie reife
Brombeeren. Schwarz und glänzend war auch das volle Haar, das in einem
dichten Kranze doppelt ums Hinterhaupt ging. Dazu wohlbeschlagen im
Mieder, kräftig im Gehwerk, kurz: nett ganz und gar und etwa achtzehn
Jahre alt.

»Die!« stieß Welf hastig hervor.

»Ha!« stieß Ralph nach.

»Los!« kommandierte Rolf.

Und, heissa, heidi, klapp, klapp, klapp! brachen die Gäule aus dem
Unterholz und sperrten den Weg.

»Jesusmariaundjos...!« schrie die Kleine auf und guckte erstaunt die
Geharnischten an.

»Halt!« donnerten die drei Junker.

»I steh ja schon!« antwortete das Mädchen und zog trotzig die Lippen
hoch. »Was soll i denn noch?!«

Viel Furcht hatte der Balg nicht.

»Aufs Pferd zu mir!« schrien die grimmigen Brüder.

»Auf alle drei Pferd?« antwortete das Mädchen und lächelte dazu.

»Auf _mein_ Pferd!« brüllte jeder einzelne und preschte vor.

Das Mädchen ließ den Rosenkranz fallen und flüchtete hinter einen Baum.
So, einstweilen sicher, drehte sie den drei Gaulgebietern himmlisch
vergnügt eine Nase.

»Kommst vor!?« drohte Welf.

»Kommst her!?« drohte Ralph.

»Wart Balg!« rief Rolf, sprang vom Pferde, packte das Ding, hob's in
den Sattel, sprang nach und sauste davon, gerade wie die beiden anderen
abgesprungen waren.

Die kletterten, unsäglich fluchend, wieder aufs Schlachtroß und
galoppierten, Pferdenase an Pferdenase, hinter dem Flüchtigen drein,
der in einer Weise lachte, daß sich die ältesten Eichen nicht
erinnerten, je ein solches Lachen gehört zu haben.

An der Zugbrücke, die der alte Christoph natürlich wieder nicht
rechtzeitig hochgezogen hatte, trafen sich die drei.

Das mindeste, was Welf und Ralph vorhatten, war, den schnöden Rolf
ans Brückentor zu nageln. Die Schwerter hatten sie schon heraus und
fluchen taten sie auch, wie es der Situation angemessen war. Aber Rolf
war nicht geneigt, sich annageln zu lassen. Er zog gleichfalls blank,
warf den Gaul herum und legte aus. Dazu brüllte er gewaltig, und, da
die beiden anderen nicht weniger brüllten, so gab es einen richtigen
Raubritterspektakel.

Das paßte der Kleinen aber gar nicht. Sie hielt sich beide Ohren zu
und schrie in das Getöse: »Ob ihr gleich stille seid?! Wenn ihr euch
erstechen wollt, so laßt mich wenigstens vorher in die Burg!«

Da sanken den dreien die Schwerter.

Richtig! Darauf kam's ja am Ende bloß an: daß die Kleine in die Burg
kam.

Schlump! fuhren die Klingen in die Scheiden, und Hahaha! und Hohoho!
lachten die Reisigen, daß den Rossen ganz übel im Bauch wurde von der
Erschütterung.

Die Kleine aber sprang vom Pferde, schüttelte die zerknillten Röcke,
rieb sich ein bißchen in der Gegend, die den Sattel gefühlt hatte, und
rief: »Also gut, ihr unverschämten Junker, jetzt geh' ich in eure Burg.
Da mag's nett aussehen! Na, ich bin bloß gespannt, was ich da drinnen
soll, in dem alten Wolfszwinger.«

»Braten, Jungfer, hahaha!«

»Betten machen, hohoho!«

»Strümpfe stopfen! Wämser flicken!«

»Weiter nichts? Das kann ich gut und noch viel mehr.«

Mit diesen Worten schritt die kecke, kleine Bestie über die Zugbrücke,
als hätte sie zeitlebens keine andere Schwelle gekannt, zupfte den
alten Christoph, der völlig Glasaugen gekriegt hatte vor blödem
Staunen, am Bart, ging, während die zwölf Hufe über die Brücke
donnerten, geradeswegs zum inneren Burghofe, guckte sich gelassen um
und rief: »Ja so! Wieviel Lohn krieg ich denn?«

»Einen Dukaten für den Braten!« lachte Welf.

»Zwölf Batzen fürs Schüsselauskratzen!« lachte Ralph.

»Zehn Groschen für die süße Goschen!« lachte Rolf.

Mit der zufriedenen Heiterkeit, die sich nach wohlgetanen Werken bei
allen Menschen von frisch zugreifender Sinnesart einzustellen pflegt,
sprangen die drei jungen Junggesellen von ihren Pferden, griffen,
hübsch einer nach dem andern, dem Mädchen unters Kinn und fragten:
»Jetzt aber: wie heißt die Jungfer!«

»Annemargret, wie sie geht und steht, die die Betten macht und den
Bratspieß dreht.«

»Ich weiß noch einen Reim drauf!« erklärte Rolf.

»Na?«

»Die mit dem Junker ins Be...«

Aber da hatte er auch schon einen derartigen Klapps auf dem Munde, daß
er einstweilen das Reimen sein ließ.

Klappse, die der eine kriegt, stimmen die andern heiter. Das war auch
schon in den alten Raubritterzeiten so. Und deshalb ist es kein Wunder,
daß Welf und Ralph sich jenes Mal vor Lachen so weit bogen, als ihre
Harnische zuließen, während sich Rolf unterm Schnurrbarte rieb und
etwas unwirsch bemerkte: »Racker verdammter!«

Indessen war Annemargret aber schon in der Küche verschwunden, und aus
allerlei Geräuschen konnten die drei Brüder entnehmen, daß das resolute
kleine Mädchen bereits dabei war, die so jäh unterbrochene Tätigkeit
der seligen Barbara aufzunehmen.

       *       *       *       *       *

Die drei Junker auf, zu und von Wolfsturm waren im allgemeinen selten
einer Meinung, aber darin stimmten sie bald völlig überein, daß es im
Grunde eine Gnade des Himmels gewesen sei, das ehr- und tugendgeachtete
Reibeisen zu sich und in die Schar seiner Seligen aufzunehmen. Denn
Annemargret war der verblichenen Barbara wirklich in jeder Hinsicht
überlegen. Vielleicht _machte_ sie den Braten nicht gerade besser als
die am Bratspieß selig Entschlafene, aber, daß er besser _schmeckte_,
daran war kein Zweifel erlaubt. Selbst ein Bärenschinken bekommt
ein Ansehen von Fröhlichkeit, wenn die Zinnplatte, auf der er in
Burgundersauce zwischen gerösteten Kastanien dampft, von zwei netten,
kleinen Händen auf den Tisch gesetzt wird. Und dann schon das Geträller
von der Küche her, während der Bratenwender den Grundton schnurrt. Man
sieht dem Kommenden mit größerer Heiterkeit entgegen, und selbst ein
versalzenes Mus hat von vornherein mildernde Umstände in sich, wenn es
von so gerne gesehenen Fingern versalzen worden ist.

Vielleicht war Barbara das bessere Gemüt, die frommere Seele gewesen:
aber so aufbetten wie Annemargret hatte sie nicht gekonnt. Viel Wert
hatten die drei rauhen Junggesellen ja auch nicht darauf gelegt, daß
der Strohsack immer aufgeschüttelt, das Kissen frisch überzogen,
das Leintuch glattgebreitet wurde -- wenn nur immer der Schlaftrunk
handbereit stand. Aber nun war es doch angenehm, sich auch in diesen
Dingen wohlbesorgt zu fühlen. Die kleine Unbequemlichkeit, daß man
auch selber, schandenhalber, sich etwas ordentlicher zu führen hatte
und nicht, nach längeren Schlaftrünken oder so, mit den Stiefeln ins
Bett steigen durfte, ließ sich mitnehmen. Man ließ sich überhaupt ganz
gerne ein bißchen glatt lecken, da es ja nicht bis auf die ritterliche
Seele und den rauhen Kern des deutschen Mannes ging, wenn man es sich
gefallen ließ, daß die Lederwämse Nähte in den Wolfsturmschen Farben,
blaurot, kriegten, die Stiefel auch an Wochentagen geputzt, die
geknickten Helmfedern durch neue ersetzt und überhaupt allerlei Dinge
getrieben wurden, die eigentlich gegen die Tradition der Wolfsturms
waren. Annemargret hatte sogar ein Heer von alten Weibern aufgeboten
und die Dielen scheuern, die Vertäfelung putzen und die Küche weißen
lassen -- lauter Dinge, die seit dem Tod der ehedem gebietenden
Frau Mutter nicht geschehen waren und den Brüdern als krämerhafte
Albernheiten gegolten hatten. Es war sogar Geld dafür ausgegeben
worden, und Welf hatte sich bei Erwerbung dieses Geldes einen kleinen
Leibesschaden zugezogen, da er die schwere Kassette dem renitenten
früheren Inhaber eigenhändig entrissen hatte.

Doch das wurde alles gerne ertragen, da man sich unter dem neuen Regime
wirklich behaglich fühlte.

Ja, die drei Brüder brachten noch weitere Opfer für das kleine, aber
unentbehrliche Mädchen.

Da Annemargret die Tochter des Bürgermeisters von St. Ursula war,
eines gewichtigen Mannes unter den Bauern, und da dieser Mann und
Bürgermeister die Hartnäckigkeit besaß, Herausgabe der Tochter zu
fordern, andernfalls er mit Klagen bei irgendeinem Herzoge drohte,
der sich Landesfürst nannte, und da überdies Annemargret selber recht
schön bat, man möge alles in Frieden ordnen, so ließen sich die drei
Brüder, die eigentlich prinzipiell gegen jede friedliche Ordnung einen
angeborenen Widerwillen hatten und es schlechterdings würdelos fanden,
sich mit jemandem zu »vertragen«, herbei, dem in St. Ursula hausenden
Volke für ewige Zeiten Freiheit von jeder Brandschatzung durch das
Wolfssturmsche Haus schriftlich mit beigesiegeltem Wolfsrachen zu
versprechen, zu verheißen und zuzusagen.

Welf und Ralph hatten sich gegen dieses Ansinnen als echte Wölfe
von Wolfsturm lange und mannhaft gewehrt, aber Rolf war schließlich
damit durchgedrungen, daß er nicht weniger als zwanzig Möglichkeiten
nachwies, den Vertrag beiseitezuschieben; schlimmsten Falles dadurch,
daß man sich mit den Vettern auf Zinkenberg, Festenburg, Geyerstein,
Rabenhorst verbände und das Nest unten überhaupt beseitige -- womit
denn der Kontrakt auch beseitigt wäre, da eben der eine Kontrahent
nicht mehr existierte.

Schließlich wirkte aber doch am gründlichsten das Mädchen selber.

Den Welf brauchte sie nur im Nacken zu krauen, so ward er milde wie
Mandelöl.

Beim Ralph genügte schon ein kleiner Patscher auf die Backen.

Und den Rolf hatte sie überhaupt schon und ohne jede besondere
Hantierung.

Das ging nun also alles vorzüglich, und auf Wolfsturm herrschte ein
vorzüglicher Humor. Ralph blies sogar die Klappentrompete, und Welf,
der weniger musikalisch war, rührte zuweilen vor lauter Wohlgefühl die
große Kesselpauke, die in der Waffenkammer stand. Rolf aber -- sang.

Zu den eigentlichen Minnesängern, die nun in der Literaturgeschichte
stehen und von den höheren Töchtern auswendig gelernt werden müssen,
gehörte er ja nicht. Er dichtete und sang etwas kunstlos, aber Reime
auf et fand er immerhin eine erkleckliche Menge, obwohl es des
Peregrinus Syntax Reimlexikon damals noch nicht gab.

Oft, während die beiden Älteren draußen im wilden Walde den
Jagdspieß sausen ließen, saß er, gleich Herrn Walter von der
Vogelweide, auf einem Steine und deckte Bein mit Bein. Doch gehörte
das eine Beinpaar der Annemargret. Auch dichtete und sang er in
dieser Stellung keineswegs unablässig, trieb vielmehr andere zum
poetischen Hausgebrauch notwendige Dinge. Als da sind: Ausmessung
des Parallelismus der Glieder beim Strophenbau, Rhythmenabklopfung
auf rundlichen, rhythmisch wohlgebauten und daher als Maßeinheit
dienlichen Stellen, Gleichklangsstudien unter Zugrundelegung des
Geräusches, das zwei Lippen hervorbringen, die, soeben noch fest
aufeinandergepreßt, sich plötzlich voneinander lösen.

Die weniger dichterisch veranlagten Brüder bemerkten diese Übungen in
praktischer Poetik mit Unbehagen und ermangelten nicht, dem Benjamin
von Wolfsturm klarzumachen, daß sie ihm die Knochen im Leibe zerbrechen
würden, wenn er fürderhin zu Hause wilderte, während sie draußen mit
Wölfen und Bären Stelldicheins hatten.

Aber Rolf rümpfte nur die Nase dazu und zog die Lippen hoch, schlug
auch wohl aufs Schwert, daß es nur so klirrte, und meinte: der Busch,
in dem er jetzt jagte, dünkte ihm lieblicher als der wilde Wald, und
wenn ihm da einer ins Gehege käme, so wäre es wohl möglich, daß er
mit ihm verführe, wie mit einem frechen Bauern, den's nach Edelmanns
Hirschen lüstete.

Derlei Reden, hin und her geschleudert wie Jagdspieße, trübten den
Humor auf Wolfsturm zuweilen etwas, und wenn nicht Jungfer Annemargret
so unbändig klug gewesen wäre, wie sie wirklich war, so hätte der Humor
wohl bald ein Ende gehabt und es wäre nicht bei geredeten Jagdspießen
geblieben.

Aber, ei, wie war Margretlein klug! Hatte sie's mit Junker Rolf, wenn
die anderen draußen mit Bruder Petz tanzten, so hatte sie's doch auch
mit diesen, wenn die Gelegenheit gut war.

Der grimme Welf war sicher, sie nicht gar selten oben im Treppenwinkel
zu treffen, wenn er, Ausguck zu halten, zum Turme stieg. Und da schwand
sein Unmut schleunig, hatte er im Dunkel das runde, gefüge Ding im Arm,
das er noch lieber an sich preßte, als den Urhumpen der Wölfe von
Wolfsturm. Wie wundersüß ging's ihm ins Ohr, wie sie so an ihm hing und
flüsterte: »Lieb's Welfle du, was bist du stark!«

Ralph aber kriegte sein Teil wohl zugemessen unten im Weinkeller. Dort,
wo's so kühl und heimlich war, zwischen den großen, werten Tonnen,
saßen sie eng beieinander auf dem Tonnenschragen, rechts den braven
Malvasier und links den lieblichen Traminer, und hielten einander so
nahe und enge, daß es ihnen bei aller Kellerkühle gar freundlich warm
wurde. Ach, wie wunderhold's ihm im rundwölbigen Keller widerklang,
wenn sie lispelte: »Lieb's Ralphle lieb's, was bist du g'schmeidi!«

So glaubte sich denn im Grunde jeder Hahn im Margretenkorbe und lachte
heimlich die anderen aus, die nach demselben Bissen leckten, und keiner
wußte, daß _ein_ Korb drei Hähne beherbergen kann, wenn die Körblerin
es nur einzuteilen weiß.

Ein bißchen dumm waren die drei jungen Junggesellen schon, wie man
sieht. Aber was will man bei so ungenügenden Volksschulverhältnissen,
wie sie in den Raubritterzeiten herrschten, anders verlangen? Es war
halt das finstre Mittelalter.

Also: gut ging's im allgemeinen. Es kriegte jeder sein Annemargretisch
Teil, und, ein paar Verdachtswolken abgerechnet, die sich hier und da
über dem Haupte Rolfs gleich schwarzen Kutteln himmlischer Riesenkühe
zusammenzogen, trübte nichts die verliebte Selbstsicherheit jedes
einzelnen.

Ralph blies bereits schelmische Triller auf der Klappentrompete, Welf
verübte ganz virtuos leidenschaftliche Donnerwetter der Liebe auf
der Kesselpauke, und Rolf hatte ungefähr sämtliche Reime beisammen,
die die deutsche Sprache auf et hergibt. Es wurde fast idyllisch auf
Wolfsturm und sämtliche Bewohner dieses adeligen Sitzes, Christoph und
die gewaltigen Streitrosse nicht ausgenommen, setzten einigermaßen Fett
an.

Da kam das Schicksal in Ritterstiefeln und trat alles entzwei.

Es war ein schöner, klarer Herbsttag und die Weinlese eben vorüber.

Welf saß oben auf dem Geländer des Turmumgangs und guckte aus.
Plötzlich rief er in den Hof hinab, wo Margaret eben die drei Paar
Ritterstiefel im Brunnentrog spülte: »Ralph und Rolf: wo stecken die
Junker!?«

»Im Keller und klopfen die Tonnen ab, wieviel noch Wein drinnen.«

»Ha, das ist gut, bei meiner Seel'! Ruf sie herauf!«

Annemargret schickte ein gutes Blickchen empor, das mit
eisengepanzerter Kußfaust sehr ritterlich erwidert ward, beugte sich
zu einer allerliebsten Rundung zusammen, daß Welf beim Anblick der
kühn ausgebogenen Hinterfülle vor Entzücken stöhnte und rief mit süßer
Stimme ins dunkle Kellerloch: »Junkerchen, herauf! Der Welf hat was!«

Ralph und Rolf traten gebückt aus der niederen Kellertür und schrien
zum Turm: »Hallo, was ist?«

»Gewimmt[3] ist! Die Bauern fahren das Praschlett[4] zur Stadt.«

    [3] Tirolisch für Weinlesen.

    [4] Die Maische.

»Alle Teufel und Satansbrut!« rief Ralph -- »schon?«

»Ei freilich! Es ist die Zeit! Ihr ließt wohl alles den Krämern in die
Löcher fahren, säß ich nicht hier und guckte aus. Wie steht's in den
Tonnen?«

»Nieder!« antwortete Rolf. »Die Traminerin klingt hohl wie deine Pauke.«

»Und den Malvasier kann eine junge Katze auslecken,« fügte Ralph hinzu.

»So denn mit Eilen in Stiefel und Sattel und hurtig Ersatz geschafft!«

Welf schwang sich vom Gelände und polterte die Treppe herab.

    »Her die Stiefel, Annemargret,
    Her die Stiefel, eh es zu spät!«

sang anmutigen Eifers voll der nie um Reime verlegene Rolf.

»Sind alle noch naß!« gab die zurück.

»Was schiert mich das!?« reimte Rolf entgegen und fuhr in die
patschnassen Lederhöhlen.

Indessen brüllte Ralph nach den Pferden, rumorte Welf im Waffengelasse,
klirrte Christoph mit den Zaumketten, klapperten die Gäule aus dem
Stalle, lachte und kicherte Margret. Kurz: Wolfsturm machte mobil.

Wie die drei glücklich im Sattel saßen und den Schlußtrunk genommen
hatten, den Annemargret jedem erst annippen mußte, ehe sie ihn dem vom
Gaul Gebeugten in die Eisenpfote gab, wurde der Kriegsplan gemacht.

»Ich reit auf die Traminer!« erklärte Welf.

»Ich hol' den süßen von Margreid!« entschied sich Ralph.

»Ich will mich hinter Urschel nach Schilcher[5] umtun!« gab Rolf kund.

    [5] Schillerwein, halb weiß, halb rot.

Aber Annemargret protestierte: »Nix hinter Urschl! Urschl hat's
schriftlich! Ihr seid mir die Nettern!«

»Ho, die Urschl-Margret, hohohoho!« lachten die drei.

»Also reit ich anderswohin auf den Schilcher, daß uns Annemargretlein
nit sauer wird, die Urschlerin!« erklärte Rolf. »Bleibt sie uns dann
süß?«

»Süß allen dreien!« lachte das Mädchen und stemmte die Arme in die
Seiten, fest und keck wie eine flinke Bäuerin.

»Fallt's mir fei' mit ins Praschletschaff«[6], fügte sie hinzu, wie die
Junker abritten.

    [6] Maischbottich.

Dann stand sie noch lange und blickte den nach drei Richtungen
auseinandersprengenden von der Mauer aus nach und ließ jedem ihr
Tüchlein zuwehen, wenn er sich umwandte und ihr mit der gepanzerten
Faust winkte.

Sind doch alle drei recht liebe Junker, dachte sie sich. Jeder hat was
besonders Liebes. Der Welf ist wie ein Bär so kräftig und grimmig. Huh,
wie er zupackt! Schier blaue Flecke gibt's und ist doch gar lieb. Der
Ralph ist nicht so ganz stark, aber hitzig. Küßt er, ist's wie ein Biß,
und der Atem geht einem aus vor lauter Schönsein. Aber der Rolf hat
was gar Zart's und Fein's und kann reden, daß man die Augen zumachen
muß, -- so lieblich schwatzt er. Wenn er so leise um die Hüften greift,
geht's kitzlich überallhin, als wenn jed's Blutströpfel im Leibe lachen
sollt'. Lacht auch jed's. -- So ist's mit allen dreien, wundergut in
Heimlichkeit. Möcht' keinen missen. Muß aber immer fein schlau und
achtsam sein. Hu, wenn der eine mich mit dem anderen säh. Das gäb böses
Getu.

So sinnierte sie aufs angenehmste vor sich hin. Dann ging sie aufbetten.

Wie sie mit den Junkerbetten fertig war, dachte sie sich: Will doch
heut die dreie mit dem Wein im Putz überraschen! Und ging in ihre
Kammer, den Sonntagsstaat anzulegen.

Schon damals, in den wilden Raubritterzeiten, zogen sich hübsche
Mädchen gerne aus und an, und, wenn die Spiegel auch gar klein und
trübe waren, sie sahen sich doch gern darin. Es war also das Anziehen
eine liebliche Beschäftigung für die Kleine, und als sie ihre Röcke von
sich hatte und im kurzärmeligen Leinenhemdchen dastand, da drehte sie
sich wohl viele Male vor dem Spiegel hin und her und betrachtete sich
selber mit viel Aufmerksamkeit, Ernst und Genugtuung.

Da, plötzlich ging die Kammertür auf, und Junker Rolf stand auf der
Schwelle.

Aber nicht lange. Denn kaum hatte er das Mädchen in dieser auch für
Junker besonders lieblichen Verfassung gesehen, da war er mit einem
Satze bei ihr und umfing sie mit den geharnischten Armen.

»Hu, bist du kalt!« rief sie erschrocken aus, die über der Kälte dieser
eisernen Umarmung ganz vergessen hatte, daß sie sich erst schämen mußte.

Aber auch ihm war das Eisen jetzt unbequem. Hastig entschiente er
sich, und krach, bumm, knirr flogen die Harnischteile von ihm, und er
stand im Lederwamse. Es ging viel schneller als sonst mit dem alten
Christoph.

Nun war es gar nicht mehr kalt, wie er sie umfing.

Eine Weile hatten die Lippen mehr zu tun, als zu reden.

Dann aber fragte Margret: »Ja, aber, daß ich das Pferd nicht auf der
Brücke gehört hab'! Und wo ist denn das Praschlet?«

»Draußen angebunden das Pferd! Praschlet mögen die anderen bringen!
Du bist mir lieber, als aller Wein! Du, mein rotweißer Schilcher und
süßer Malvasier! Lieb's Ding im Rock, viel lieber noch im Hemd! Du! Du!
Du! Oh, was du weiß und weich bist! Dräng dich, drück dich, leg dich
mir nah! O du mein Wein von Ursula! Du heiße, weiße, voll und rund!
Gib deinen Mund! Gib deinen Mund! Und wieder, wieder! Gretlein, mein
Mädlein!«

Sie aber sagte nichts und küßte bloß.

Da: Treppengepolter. Da: Rasseln vor der Tür. Da: krach eine Faust
wider das Türgetäfel.

Rolf sprang auf und sprang zur Tür, -- g'rad vor die Brust Welfs, der
sie eben aufgerissen hatte.

Ein Heulen wie aus Wolfsrachen, ein Stoß mit der geschienten Faust vor
Rolfs Brust. Der taumelt zurück, bückt sich, sucht sein Schwert.

Aber schon wirft sich, mit beiden Fäusten sein Schwert nach unten
stoßend, Welf über ihn und rennt dem Gebückten den Stahl durch den
Rücken.

Starr saß Annemargret im Hemd auf dem Bett und hielt kindängstlich die
Finger an den Mund.

Jetzt ... kommt ... das Schwert ... zu mir ...

Welf zog das Schwert aus dem verröchelnden Leibe, warf es nieder und
stellte sich vor der Starrenden schnaufend auf.

»Dich ... drossl' ich ... so ...«

Er streckte die auseinandergekrallten Eisenfinger nach ihrem Hals.

Sie sank vom Bett und kniete vor ihm bettelnd nieder.

»Lieb's Welfle, stark's, sei gut ...!«

Und nimmt die beiden eisernen Hände und legt sie sich auf die
hochgehende Brust und lächelt.

»Du! ... Du! ...«

Er hebt sie hoch auf und wirft sie aufs Bett, und nimmt sie wieder hoch
und preßt sie wütend, klammernd an sich, und nimmt sie wie ein Kind auf
den Arm und trägt sie in der Kammer herum und schluchzt und brummt und
küßt sie und erdrosselt sie halb vor Grimm und Liebe.

»Heioh! Heioh! Der Süße von Margreid! Zehn Yrn[7] und gutgemessen!
Heioh Margret, für dich der Süße von Margreid!«

    [7] Altes Tiroler Weinmaß.

Ralph hielt im Burghofe neben einem Parschletfuder, das zwei geknebelte
Knechte eben eingeführt hatten.

»Für dich der Süße von Margreid! Da, schau Margret!« schrie Welf und
trat mit dem Mädchen auf dem Arm ans Fenster.

»Was tust du da!« brüllte Ralph, bebend vor Zorn, als er das sah.

»_Meine_ Margret! _Meine_ Margret!« brüllte Welf. »Willst du sie auch
noch? So komm und hol sie.«

Mit einem Satze sprang Ralph vom Pferde und die Treppe hinauf.

Welf setzte Margret aufs Bett, hob sein Schwert auf und stürzte hinaus.

Draußen auf der Treppe rasselten sie aneinander. Brüllen. Fluchen.
Schnaufen. Gepolter. Ein Schrei.

Ralph rollte, erschlagen, die Treppe hinunter.

»Hahahaha! Hahahaha; Annemargret, jetzt sind wir allein! Geh in den
Keller und hol, was noch im Fasse ist! Ei, geh immer im Hemd! Sollst
mir fürder im Hemde gehn! Denn so hab ich dich doppelt lieb, du mollig
Ding!«

Annemargretlein -- lächelte und ging. Mit beiden Händen den Humpen
tragend kam sie wieder.

»Trink an, mein Schätzel!«

Sie nippte und bot ihm den Humpen. Er nahm einen langen Zug.

»Nun lös mir die Riemen und nimm mir die Schienen ab ... So, mein liebs
Ding ... Und küsse mich auch! ... So, mein liebs Ding! ... Und setz
dich mir auf den Schoß! ... So, mein liebs Ding! ... Ei, ist es nicht
besser zu zweit? ... Sag's, mein liebs Ding!«

»Ja ...«

       *       *       *       *       *

Nun lagen Ralph und Rolf draußen im wilden Walde bei ihrem Vater, dem
alten Raubritter, im Erbbegräbnis, und die ehrsame Steinmetzzunft der
Nachbarschaft hatte Arbeit, ihnen das Wappen auf ihren Grabplatten
auszuhauen. Das Blut auf der Treppe und in Margrets Kammer war zwar
nicht so leicht abzuscheuern, aber man sah es bei der Dunkelheit, wie
sie in Raubritterburgen gewöhnlich herrschte, auch nicht eben sehr, und
überdies war Margret ausquartiert.

Somit wäre also alles gut gewesen, und es blieb eigentlich nur noch
die Fahrt zum Heiligen Grabe übrig, die Welf, um nicht unliebsames
Aufsehen zu erregen, doch wohl unternehmen mußte. Denn, wenn auch
die Polizei damals zu wünschen übrigließ, wenn es sich um ritterliche
Familienangelegenheiten handelte, so hatte der Beichtstuhl doch seine
Prinzipien, und _alles_ ließ sich am Ende nicht mit ein paar Messen
oder auch Stiftungen abmachen. Aber es hatte ja Zeit.

Indessen kam es böser.

Zuerst kam Welf bloß unter den Pantoffel.

Das war nicht angenehm, ließ sich aber doch ertragen, denn Welf
war sehr verliebt, und Annemargret ließ es an nichts fehlen, diese
Verliebtheit immer warm zu erhalten.

Aber eine Weile hin, und sie kriegte Launen.

Und das war schlimmer. Denn Unfriede in der Liebe geht auf die Nerven
-- sogar bei raubritterlichen Junkern, denen selbst ein paar eilige
Brudermorde noch lange keine Nervenzustände zuziehen. Das Schmollen
bald und bald Zanken, das Kammertürverriegeln und Beichtevorschützen
und dann wieder das Gebettel: »Geh, ein Ringlein ins Ohr, ein Kettlein
um'n Hals, ein seiden Fürtüchel, ein Paar rote Schuh! ...« Hol's der
Teufel und sein schwänzig Gesinde!

Indessen: man ritt halt öfter auf die Krämer; man wetterte mal und
brüllte sich aus; tat dann auch wieder recht fein und lieblich um den
Balg, und schließlich war der am guten Ende auch wieder fein, und es
schmeckte die Liebe um so süßer, wenn vorher der Zank recht sauer
geschmeckt hatte.

Aber eines Tages, just, als es anfing kalt zu werden und Welf die
Fenster mit Moos ausfütterte, kam Annemargret, ein Bündel in der Hand,
auf ihn zu und sagte ganz kurz: »Junker, i geh!«

»_Was_ tust du!! ...?«

»Aufkünden tu i. Heim mag i.«

»Wa ... as?? ...!«

»Ja, sell.[8] Is mir zu öd hierheroben jetzt.«

    [8] Das.

»Wa ... as??? ...!«

»Früher, wo ihr dreie ward, is ja gangen. Hättst halt nit den Ralph
derschlagen und den Rolf. Die Langweil hab i.«

Dem Junker schwollen die Schläfenadern.

»Also, ich allein bin dir nicht genug. -- Du ... du ... ha!« --

»So is.«

»Also die andern fehlen dir!!?«

»Freili!«

Sie ließ die Schürzenbänder wirbeln und legte den Kopf auf die Seite.
Das war ihre Trotzpose.

Da ging dem Junker Welf der Ritterzorn durch, und er gab ihr eine
Ohrfeige, daß die Trotzpose auf die andere Seite verlegt wurde. Ein
Glück, daß er die Eisenhandschuhe nicht anhatte. Es langte auch so.

»Jetzt geh i erscht recht!« sagte sie, heulte gar nicht mal erst lange,
nahm ihr Bündel auf, drehte sich um, daß die Röcke flogen, und ging.

Welf war ganz starr. Dann überlegte er sich, ob es nicht das beste
wäre, sie auch totzuschlagen. Aber da er zum Überlegen immer sehr viel
Zeit brauchte, war sie schon zum Tore hinaus, als er damit fertig
war. Übrigens hatte er sich auch anders entschieden. Er war keines
heroischen Entschlusses fähig. Wie vor den Kopf geschlagen saß er da
und riß das Moos in Flocken. Dann sprang er plötzlich auf, stieß ein
Fenster ein und brüllte hinaus: »Luder! Luder!«

Einen eisernen Topf, der gerade neben ihm stand, schmiß er in
gewaltigem Bogen hinter ihr drein.

Sie aber stand jenseits der Zugbrücke und drehte ihm eine lange Nase.

»Bhütigod, grimms Welfle, verkühl di nit!«

Welf tat einen grausamen Fluch, reckte die Arme, haute aufs
Fensterbrett, brüllte, daß die Scheiben klirrten, riß sich am Bart und
rannte in die Waffenkammer. Rasend rührte er dort das Instrument seiner
Leidenschaft und paukte in Donnerwirbeln seinen Ingrimm aus.

Wie er nicht mehr konnte, sank er auf die Rüstbank nieder und fühlte
sich leichter.

Und siehe: es ward ihm weich zu Sinne, und in seinem Gemüt war eine
welke Empfänglichkeit für christliche Gedanken.

»Christoph!« rief er, und in seiner Stimme klang seltsame Milde.

»Ja, Herr!« antwortete der.

»Haben wir noch einen Pilgermantel mit Muscheln?«

»Ja, aber recht schäbig sieht er aus, sind die Motten drin, und ein
paar Muscheln gehen ab.«

»Macht nichts! Bürste ihn aus und nähe die Muscheln fest. Ich walle
nach Jerusalem!«

»Wo ... hin!?«

»Frage nicht -- bürste!«

Christoph sperrte den Mund auf und wunderte sich. Dann bürstete er den
Pilgermantel derer von Wolfsturm und freute sich, daß er nun auf eine
Weile keine Stiefeln mehr zu putzen haben würde.

Erst drei Paar, dann ein Paar, dann kein Paar!

So steht Gott seinen treuen Knechten bei und verhilft ihnen zu einem
ruhigen Alter.



Der mutige Revierförster.


König Leberecht, der schon in vorgerückten Jahren befindliche, aber
immer noch recht rüstige Beherrscher eines angenehm im Gebiete der
mittleren Zone gelegenen Landes, liebte es, die Büchse im Arm, auf hohe
Berge zu steigen und dort all das Wild zu erlegen, das man mit viel
Mühe und Kunst in die unmittelbare Nähe seines Feuerrohres brachte.

Auf diesen Jagdzügen begleitete ihn, der gerne Menschen um sich hatte,
weil er wohl wußte, daß es für Fürsten nicht gut ist, allein zu sein,
nicht nur eine Schar bevorzugter Männer des Hof- und Staatsdienstes,
sondern auch eine wohlausgewählte Mustergarnitur solcher Leute, die
sich durch sachgemäße Überdeckung größerer Leinwandflächen mit Farbe
oder durch andere Hantierungen von gewissermaßen künstlerischem
Charakter in der Leute Mund gebracht und überdies durch die Annahme
des Titels von Professoren bewiesen hatten, daß sie, obwohl keiner
ernsthaften Beschäftigung obliegend, doch Sinn für das bürgerlich
Reputierliche besaßen.

Es war, und dessen war sich ein jeder in des Königs Jagdgefolge wohl
bewußt, eine große Ehre, mit Seiner Majestät durch die Felder und die
Auen zu streifen, sowie auf schmalen Pfaden die erhabenen Gipfel der
Bergwelt zu erklimmen, die wie wenig anderes dazu angetan erscheint,
dem Menschen einen Begriff davon zu geben, wie großartig die Welt ist.
Indessen, wie die meisten Ehren, so war auch diese mit Anstrengungen
und Unbequemlichkeiten verbunden. Schon das Klettern allein erschien
den älteren Ministern, vortragenden Räten, Kammerherren und
Kunstprofessoren als eine im Grunde nicht ganz erfreuliche Muskelübung.

Denn, abgesehen davon, daß der königliche Bergsteiger schon an und für
sich in seiner Eigenschaft als Fürst jenen elastischen und lebhaften
Gang hatte, von dem wir immer in den Zeitungen lesen, wenn von einem
in Bewegung befindlichen Landesvater die Rede ist, war König Leberecht
auch noch besonders auf diesen Sport trainiert, da er Zeit seines
Lebens die meisten freien Stunden, die ihm die Regierungsgeschäfte
ließen, hauptsächlich dazu verwandt hatte, sich in der ebenso gesunden
wie vornehmen Kunst des Kletterns auszubilden. Er wäre, wenn ihm die
Schicksalsgöttinnen statt einer Krone einen Gamsbarthut und statt des
Zepters einen Bergstock in die Wiege gelegt hätten, zweifellos ein
ebenso vortrefflicher Bergführer geworden, wie er nun in Wirklichkeit
ein scharmanter König geworden war.

Aber die böse Notwendigkeit, mit den untrainierten Beinen des
Untertanen den trainierten Beinen des Souveräns in gleichem Schritt und
Tritt zu folgen, war noch nicht einmal die fatalste Begleiterscheinung
jener ehrenvollen Jagdpartien. Das Unangenehmste waren die kalten
Bäder, die die höchst badelustige Majestät auf luftigster Höhe im
schneekühlen Gewässer munterer Gebirgsbäche zu nehmen liebte, und von
denen sich keiner ihrer Begleiter ausschließen konnte, da sich der
Wasserscheue sonst dem Verdachte ausgesetzt hätte, daß er nicht unter
allen Umständen gesonnen sei, seinem höchsten Herrn überallhin zu
folgen.

Wie viele ministerielle, geheimrätliche, kammerherrliche,
kunstprofessorale Schnupfen die Erfüllung dieser harten
Untertanenpflicht im Laufe der Jahre zur Folge hatte, darüber besteht
keine Statistik, doch darf ruhig angenommen werden, daß ihrer viele und
die meisten davon hartnäckiger Natur waren. Denn nicht jeder verträgt
zehn Grad Reaumur im Wasser. Die Loyalität ist willig, aber das Fleisch
ist schwach.

Nach einem solchen Bade in der Höhe von 1500 Metern bei entsprechender
Wassertemperatur begab es sich nun einmal, daß der König, dem von der
genossenen Wasserkühle selber die Finger etwas klamm geworden waren,
seine Toilette (mit gebotener Delikatesse zu sprechen) nicht ganz zu
Ende führte. Anfangs bemerkte niemand diesen Umstand, da ein jeder
nur von dem einen Wunsche beseelt war, die eigene gesunkene Blutwärme
durch allseitig luftdichten Verschluß der Kleider wieder in die Höhe zu
bringen. Als sich aber später die königliche Jagdgesellschaft auf einem
angenehmen Wiesenplane zur Rast niedergelassen hatte, nahm man den
kleinen, aber durch seine Örtlichkeit fatal auffälligen Mangel wahr.

Nun ist eine solche Wahrnehmung selbst unter gewöhnlichen Menschen,
wenn der eine nicht gerade die Frau des anderen ist, mit einer gewissen
Peinlichkeit verbunden. Denn es handelt sich hier, wenn man der Sache
auf den Grund geht, um einen Umstand, der geeignet ist, das sittliche
Gefühl zu verletzen, um einen ~dolus eventualis~ auf dem besonders
heiklen Gebiete der Erbsünde sozusagen. Indessen, schließlich gibt
sich doch immer einer den gewissen Ruck, nimmt den betreffenden (in
den meisten Fällen ist es ein alter Professor oder Dichter) beiseite
und flüstert (wenn er das Wort »geradezu« im Wappen führt): »Sie, Ihr
Hosentürl ist offen,« oder (wenn er delikater ist) mit einem schnellen
orientierenden Blicke: »Es ist etwas bei Ihnen nicht in Ordnung.« Ja,
es gibt sogar Leute, die selbst bei so peinlichen Gelegenheiten zu
frivolen Scherzen aufgelegt sind und etwa die Bemerkung machen: »Sie,
verlier'n S' fei' nix!«

Kann man aber so etwas einem Fürsten, einem Könige sagen? Nein: Man
kann nicht! Der höfische Stil versagt hier vollkommen. Es gibt durchaus
keine Redewendung in der Phraseologie des Umganges mit Majestäten, die
es ermöglichte, derlei vor ein allerhöchstes Ohr zu bringen, als über
welchem bei feierlichen Anlässen nur durch ein paar Zentimeter getrennt
eine Krone zu sitzen kommt. Nicht einmal der mit allen Essenzen
höfischer Eleganz und Wortbiegungskunst gewaschene Zeremonienmeister
Baron von Bemsl, der doch eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet
höfischer Linguistik ist, und von dem man hoffte, er werde die
schwierige Mission übernehmen und so seinem dichten Lorbeerkranze als
königlicher Hausdiplomat ein neues leuchtendes Blatt einverleiben,
erklärte, dies überschreite seine Fähigkeiten: dieser Fall sei von
einer Heikligkeit, daß man seine Lösung nicht einer Menschenzunge,
sondern der Vorsehung selber überlassen müsse, die übrigens, so fügte
er mit anmutiger Zuversicht hinzu, noch immer bewiesen habe, daß sie
über das königliche Haus mit besonderer Aufmerksamkeit wache. Sohin
(er liebte dieses kuriale Wort) werde ihr auch dieser Umstand nicht
entgehen, und sie werde zweifellos Mittel und Wege finden, ihn zu
beheben, ohne daß sich ein schwacher Mensch den Mund zu verbrennen
brauche.

»Das ist alles sehr schön und sehr gut, und ich bin schon von Ressorts
wegen der letzte, der an der Vorsehung zu zweifeln wagt,« bemerkte der
Kultusminister, dem es trotz eines kaum überstandenen Schüttelfrostes
jetzt sehr heiß zumute wurde, »aber sie müßte _äußerst_ schnell
eingreifen. Bedenken Sie, lieber Baron, daß uns am Fuße dieses Berges
eine Deputation der ländlichen Bevölkerung erwartet, darunter vier
weißgekleidete Jungfrauen, von denen die jüngste ein Huldigungsgedicht
auswendig gelernt hat. Ich wette meinen Kopf, daß die Jungfrau aus
dem Konzept kommt, wenn ihr Blick zufällig auf die derangierte Gegend
fällt, und diese infamen Bauernlackel werden dem höchsten Herrn
sämtlich, ich sage Ihnen: _sämtlich_ nicht ins _Gesicht_ sehen,
sondern -- ebendorthin. Mein Gott, mein Gott: Die Situation ist von
einer märchenhaften Scheußlichkeit. Wir können uns, so gern wir sonst
dazu bereit sind, hier nicht auf höhere Mächte verlassen; wir müssen
_selber_ handeln. Wozu sind Sie denn Zeremonienmeister, wenn Sie sofort
versagen, wo es einmal gilt, die durch einen tückischen Zufall bedrohte
Würde des Königstums zu retten! ~Hic Rhodus! Hic salta!~ Walten Sie
Ihres Amtes!«

Der Zeremonienmeister, der es bisher immer zu vermeiden gewußt hatte,
in Anwesenheit des Königs Schweiß abzusondern, war nicht imstande, die
plebejische Feuchtigkeit zurückzudrängen, die ihm angesichts dieser
grauenerregenden Perspektive auf die Stirne trat. Er fühlte die
ganze furchtbare Verantwortung, die ihm diese entsetzliche Situation
aufbürdete. Er sah das Ansehen des Hofes in Gefahr, die Regierung
wanken, den Staat konvulsivischen Zuckungen preisgegeben. Vor seinem
inneren Auge jagten sich Feuer, Pulverdampf und blutigrote Wogen der
Rebellion. Vor allem aber bebte sein ganzes Gemüt und schoß molkig
zusammen wie Milch, wenn's wittert, bei dem Gedanken, daß seine
Stellung auf dem Spiele stand. Denn in der Tat, dieser Toilettenmangel
gehörte in _sein_ Ressort, da kein Kammerdiener zugegen war.

Sollte er vielleicht doch? ... Sollte er nicht doch vielleicht mit dem
Anstand, den er hatte, diskret sich in den Hüften wiegend, an den König
herantreten und mit delikatem Augenniederschlag lispeln: »Majestät
haben allerhöchst geruht, zu vergessen, sich die ...«

Aber bei allen Heiligen und Nothelfern, das _geht_ ja doch
nicht! Niemals noch, solange es Zeremonienmeister gibt, haben
Zeremonienmeisterlippen derartiges zu einem König zu sagen sich erkühnt.

In seiner fassungslosen Verwirrung überfiel ihn die phantastische Idee,
zu den Mitteln der Mimik zu greifen und, sich dicht vor seiner Majestät
postierend, an sich selbst, gewissermaßen wie an einem Lehrphantom,
_scheinbar_ die Handlung vorzunehmen, die der König an seiner Kleidung
tatsächlich unterlassen hatte.

Aber das war ja grotesk, skurril, Wahnsinn! Ebenso hätte er direkt
hingehen und, an das respektive Kleidungsstück der allerhöchsten Person
Hand anlegend, den Mangel ~brevi manu~ reparieren können -- eine
Vorstellung, bei der er fast in Tränen der Verzweiflung ausgebrochen
wäre.

Aber Verzweiflung ist ein zu gelindes Wort, um auszudrücken, in welchem
Zustande sich das zeremonienmeisterliche Gemüt befand. Er war der
Auflösung nahe. Schon konnte er kaum mehr seine Augen regieren, die
immer nur den einen, sich zu einem ungeheuren Schlund und Abgrund
klaffend erweiternden Punkt suchten, der die schauderhafte Quelle
dieser unsäglich grausamen Prüfung für ihn war. Gewaltsam mußte er
seine Blicke von dort wegwenden, um sie ziellos im Kreise herumirren zu
lassen. --

Ob denn nicht doch irgendeiner der Anwesenden es wagen würde?

An die Staats- und Hoffunktionäre sich zu wenden, war ganz
aussichtslos; das fühlte er mit der Gewißheit des Erfahrenen. Aber
vielleicht einer dieser Kunstprofessoren?! Unter ihnen, die ja auch
sonst zu seinem Entsetzen oft genug gegen den höfischen Ton verstießen,
mußte doch einer zu finden sein, der, wenn man ihm einen Orden oder
einen Auftrag oder schließlich den persönlichen Adel versprach, das
unerhörte, kaum auszudenkende Wagstück unternahm.

Er zog jeden einzelnen beiseite, bat, flehte, rang die Hände, versprach
schließlich den gebührenfreien Freiherrntitel und die Erblichkeit der
Professur in der Familie, eingeschlossen die weibliche Nachkommenschaft
-- nichts half. Alle erklärten, lieber täglich eine Literflasche
Mastixfirnis auf das Wohl des erhabenen Landesherrn leeren zu wollen.

Der Zeremonienmeister hatte das absolut sichere Gefühl, daß der jüngste
Tag herangebrochen sei; in seinen Ohren dröhnten deutlich die Posaunen.
Da fiel sein Blick auf den Revierförster Meier, der hinter einem Baum
saß und mit Mißmut konstatierte, daß sein Enzianschnaps zu Ende war.

Ein letzter Hoffnungsstrahl flackerte, aber nur ganz schwach, im
Ingenium des halbtoten Hofmanns auf. Der Meister des höfischen Parketts
trat zum Meister des gebirgigen Forstes und entwickelte ihm, indem
er sich bemühte, durch leise Dialektfärbung seiner Sprechweise etwas
Volkstümliches zu verleihen, den ganzen Komplex der verhängnisvollen
Verlegenheit, hinzufügend, daß er, der biedere Mann aus dem Volke,
allein befähigt und berufen sei, den Hof, die Regierung, den Staat zu
retten, indem er den König auf jenen Punkt aufmerksam machte, auf jenen
Punkt ...

»Das Hosentürl? Wenn's weiter nix is?!« meinte Meier.

»Aber Sie dürfen natürlich nicht so geradezu, lieber Meier,« flüsterte
der Zeremonienmeister, dem doch etwas bange wurde bei dieser schnellen
Entschlossenheit des offenbar ganz ungeleckten Bären ... »Sie müssen
durch die Blume gewissermaßen ... von hinten herum sozusagen ...
abstrakt ...« Er fand durchaus nicht die populären Akzente. Das lag zu
weit weg von seinem Ressort.

»Versteh' schon! Natürlich! Ich kenn' mich aus. Von der Schleichseitn
zuweripürschen muß ich mich. Nicht gleich mit dem Hosentürl ins Haus
fallen. Beileib! Beileib! Fein andrehn muß man so was. So, in _der_
Art, daß der König meinen könnt', es wär' einem andern sein Hosentürl!
... Schwer is schon. Aber ich hab' schon andere Füchse gefangen.«

Nach diesen Worten überzeugte sich der Revierförster nochmals, daß
seine Flasche vollkommen leer war, schob sie resigniert in seinen
Rucksack und stand mit der Miene eines Mannes auf, der heftig
nachdenkt und zu allem entschlossen ist.

Der Zeremonienmeister sah ein, daß dieser Mann, wenn nicht vorher der
Himmel einfiel, binnen zwei Minuten das Unglaubliche zum Ereignis
machen werde. Ihm ward zumute, als ob plötzlich der feste Boden unter
ihm zu wanken begänne; eine grauslich hohe Woge hob ihn, senkte ihn und
führte ihn aufs hohe Meer hinaus, einem ungewissen Schicksal entgegen,
das irgendwo den Rachen aufsperrte, ihn zu verschlingen. Wie er
bemerkte, daß der Revierförster sich in Bewegung setzte, fühlte er alle
Schrecken der Seekrankheit in seinen Eingeweiden. Nur wie durch einen
Schleier, einen gelbgrauen Nebel sah und hörte er, was sich nun begab.

Der Revierförster Meier ging gerade auf den König zu, sah ihn aus
seinen katzengrauen Augen zutraulich von unten an, nahm seinen bis ins
Zeiserlfarbene verschossenen, vor sehr langer Zeit einmal dunkelgrün
gewesenen Hut ab und -- machte eine Verbeugung. Sodann aber setzte er
seinen Hut wieder auf und stand stramm.

Mit dem scharfen Blicke, der ihn stets auszeichnete, bemerkte König
Leberecht, daß dieses durchaus reglementswidrige Gebaren seinen Grund
in etwas besonderem haben müsse, und fragte mit dem huldvollen Tone,
der das erste ist, was ein jeder richtige König sich anzueignen keine
Mühe und Übung scheut: »Na, Meier, was gibt's?«

(In diesem Augenblicke gab es dem Zeremonienmeister einen schmerzlichen
Ruck, und er sah sich direkt ~vis-à-vis~ dem Rachen des Ungeheuers,
das ihn verschlingen wollte. Sein Herzschlag setzte aus. Ein
überlebensgroßer Knödel kroch in seiner Speiseröhre mit einer
unangenehm schlickernden Abart des Rollens empor und versetzte ihm auch
den Atem. Sein letzter Gedanke war der Orden vom heiligen Kajetan, von
dem er schon lange träumte. Dann: Nacht und Vernichtung.)

Meier aber trat einen Schritt vor und sprach mit der markig festen
Stimme des deutschen Mannes, der keine Menschenfurcht kennt:« »Ich
möchte bloß die hohen Herrschaften was fragen.«

Alles war starr. Keiner begriff. Auch König Leberecht nicht. Aber sein
Ton war doch noch immer huldvollst, als er sagte: »Fragen Sie nur zu,
Meier.«

Und Meier ließ seine Stimme fröhlich erschallen und sprach: »Wie wär's
denn, meine Herrschaften, wenn wir alle miteinander unsere Hosentürln
zumachten?«

Eine Reflexbewegung seiner Hände belehrte den König über den Sinn
dieser rhetorischen Frage. Er richtete, was zu richten war, und lachte
dann so herzlich laut auf, daß seine Umgebung überzeugt sein konnte,
es sei durchaus im Sinne der Etikette gehandelt, wenn sie mitlachte.
Und da es zugleich ein Lachen der Befreiung war, war es ein brausendes,
dröhnendes, herzerfreuendes Lachen.

Selbst die Spechte, die die hohen Stämme der Fichten bepochten, hielten
mit Hämmern inne und lachten mit.

Der Zeremonienmeister aber erwachte unter diesem Ensemblesatz des
Vergnügens zu neuem Leben und fand sogleich, daß es unschicklich sei,
in der allerhöchsten Nähe zu wiehern, wie unerzogene Rösser. Wäre
ihm nicht gleichzeitig jener fatale Knödel gottlob zergangen und
verschwunden, so daß er wieder frei atmen und sich im Vollbesitze
seiner Kontenanz fühlen konnte, hätte er noch einen schlimmeren
Vergleich gewählt.

König Leberecht aber sprach, indem er dem Revierförster eine Zigarre
anbot (die dieser jetzt noch und mit der ausgesprochenen Absicht, daß
sie bis ans Ende der Tage dort bleiben soll, in seinem Glaskasten
aufbewahrt): »Meier, Sie sind ein ganzer Kerl. Schade, daß ich Sie
nicht in der Regierung verwenden kann. -- Ja, meine Herren,« und damit
wandte er sich zu den übrigen: »das Volk, das Volk! ... Es ist eine
schöne Sache um das Volk! ...«

Dann stieg er, langsamer, als es sonst seine Art war, in tiefes Sinnen
versunken, den Berg hinab, an dessen Fuße ihn ein junges Mädchen in
weißen, gestärkten Kleidern mit den Worten begrüßte:

    Wir jauchzen laut mit Herz und Mund
    In dieser gnadenvollen Stund',
    Wo uns das Glück geschieht,
    Das seinen König Leberecht
    Das biedre Landvolk, treu und echt,
    In seiner Nähe sieht.

    Es steht sein hochberühmter Thron
    Seit mehr als tausend Jahren schon
    In unserer Mitte fest.
    Drum lieben wir ihn auch so sehr,
    Wie wenn er unser Vater wär',
    Der keinen je verläßt.

    Er weiß, daß in der Landwirtschaft
    Beruht des Staates stärkste Kraft,
    Drum liebt ihn für und für
    Der schwergeprüfte Bauersmann
    Und hält als treuer Untertan
    Ihm _offen jede Tür_.

Bei diesen Worten stellte sich bei Seiner Majestät eine
Ideenassoziation ein, die ein Lächeln des königlichen Mundes zur
Folge hatte, woraus alle anwesenden Gemeindevorstände aufs neue die
Überzeugung gewannen, daß der hohe Herr nach wie vor den Interessen des
Nährstandes seine besondere Huld zuwendete.



Der heilige Mime.


    Gelasimus ein Mime war,
    Wie alle anderen Mimen waren:
    Des Ernstes und der Tugend völlig bar,
    Jedoch in allen Lastern schauderhaft erfahren.
    Nicht auf der Bühne nur: alltags sogar
    Tät er mit Schminke, Lippenrot nicht sparen
    Und kräuselte sein lichtgefärbtes Haar.
    Kurz: allen Frommen war Gelasimi Gebaren
    Ein Ärgernis, und jeglichem war klar,
    Er werde als ein feister Höllenbraten
    Dereinst dem Teufel in die Faust geraten.

    Jedoch, was tat das dem Gelasimo?
    Er war ein Heide, und als Heide so
    Von Grund verstockt, daß es ihm doppelt freute,
    Ein Lasterknecht und Wollüstling zu sein,
    Weil er dadurch des Anstoßes ein Stein
    War auf dem Wege aller frommen Leute.

    Auch waren die in jener bösen Zeit
    (Als Diokletian, der Schändliche, regierte)
    In so verachtet schwacher Minderheit,
    Daß ihr Gemurmel niemanden genierte.
    Zeus saß als Sonnengott im Tempel breit
    Zu Baalbek, den noch nicht das Kreuzbild zierte:
    Zu Baalbek in der alten Götzenstadt,
    Da dies Mirakel sich begeben hat.

    Heut ist der Ort ein jämmerlicher Flecken,
    Wo niedre Beduinenhütten sich
    Im Schatten riesigen Mauerwerks verstecken,
    Aus dem sich, schön und ungeheuerlich,
    Gewaltige Säulen quadermächtig recken:
    Des Tempels Reste, der versank, verblich.
    Doch damals stand er noch und um ihn her
    Die große Stadt des großen Jupiter.

    Man ging auf Straßen, die gepflastert waren,
    (Wo mag das Pflaster hingekommen sein?)
    Vorbei an Goldschmiedläden, an Basaren,
    Hotels, Bordells (und mancher trat auch ein).
    Man schob sich, drängte sich mit Legionaren
    Aus Rom und Syrien; Griechen, frech und fein,
    Flanierten zwischen Juden und Phönikern
    Und andern Volksgenossen: _noch_ antikern.

    Man amüsierte sich: beim Zeus! Und wie!
    Man tanzte; schlug den Ball; man jeute; sah
    Entzückt vom sichern Sitze Mensch und Vieh
    In wilden Kämpfen sich verbluten; ja,
    Man hatte den Genuß, am Kreuze die
    Gepfählt zu sehn, die »~Christo gloria~«
    Voreilig sangen, statt Jovi dem Vater.
    Und außerdem gab's mehr denn zehn Theater.

    Davon im feinsten war Gelasimus
    (Als erster Held versteht sich) engagiert.
    Auch war er Regisseur (Präpositus),
    In allen Bombenwirkungen versiert.
    Bei jeder Premiere hat am Schluß
    Man ihn hervorgerufen: applaudiert,
    Bis er erschien und sich mit edler Neigung
    Rechts, links verbeugte als zur Dankbezeigung.

    Kein Wunder: wenn man solche Beine hat,
    Wie Gelasim, und Augen so voll Feuer,
    Daß jede Dame in der großen Stadt,
    Als wär' ihr Herz ein Strohsack, eine Scheuer
    Voll dürren Heu's, in Flammen stand, schachmatt
    Vor Liebe zu dem süßen Ungeheuer.
    Alltäglich brachte ihm der Stadtpostbote
    Dreihundert Briefe, meistens rosarote.

    Die kleinen Mädchen in der süßen Zeit
    Der ersten Schwellung gruben um die Wette
    In Wachs den Namen, trugen unterm Kleid
    Auf bloßer Brust ihn; seine Statuette
    Aus Alabaster lag, gebenedeit
    Durch manchen Kuß, in manchem Backfischbette,
    Indes die mehr schon vorgeschrittenen Damen
    Anstatt des Bilds den Mimen selber nahmen.

    Und auch die Rezensenten wagten's, ihm
    Nicht zu kredenzen ihren Wermutbecher.
    Der blutige Schmul selbst hieß ihn Seraphim
    (Er, dem sonst alle Mimen schäbige Schächer).
    So kam's wie's mußte: unser Gelasim
    Wurde von Tag zu Tage eitler, frecher.
    Man durfte wirklich bald schon denen glauben,
    Die zweifelten an seines Hirnes Schrauben.

    Er sprach nur noch per »Wir«, er ließ sich nur
    Noch von Äthiopiern in Sänften tragen,
    Und, wenn er wirklich einmal Wagen fuhr,
    So war's vierspännig und im Muschelwagen;
    Die Frau des Gouverneurs sogar beim Jour
    Ließ er vergeblich warten und ihr sagen:
    Er habe heute Besseres zu tun,
    Doch morgen werd' er dazusein geruhn.

    Natürlich wählte er die Stücke aus,
    In denen er dem Publikum sich zeigte,
    Und strich und änderte: es war ein Graus,
    Daß mancher Autor jähen Tods verbleichte.
    Dann schrieb er selbst ein Drama. Das hieß »~Laus
    Imperatori~«. Das Gehirn erweichte
    Jedwedem, der es sah. Ihm ist der Orden
    Für Kunst und Wissenschaft dafür geworden.

    Doch, wie's nun beim Theater ging (und geht):
    Manch Stück gefällt zwar, weil der Herr Verfasser
    Beim Publikum in großer Liebe steht;
    Jedoch gefällt es -- durch. Wie Wind und Wasser
    Ist Gunst des Publikums: verfließt, verweht,
    Wenn's darauf ankommt. Fragte an der Kass' er:
    »Wie ist das Haus heut?« ward zur Antwort ihm:
    »~Laus~ zieht nicht -- leer!« Das kränkte Gelasim.

    ~Laus~ zieht nicht! dachte düster er bei sich:
    Das Edelste, das ich zu geben habe,
    Gilt ihnen nichts. Was zieht denn eigentlich?
    Lock' ich vielleicht mit meiner Mimengabe?
    Ach nein, ich fühl's: sie woll'n ganz einfach mich:
    Ich bin nichts weiter, als ihr Freudenknabe.
    Im Grunde werd' ich schauderhaft verkannt.
    O Volk, o Welt, wie seid ihr degoutant!

    Gelasimus, beleidigt im Genie,
    Verfiel in ungewohnte böse Laune.
    Erst war sie grau, dann schwarz: Melancholie
    Saß faltig über jeder Augenbraune.
    Schon floh der Mime zur Philosophie,
    Und bald erhob sich ringsum das Geraune:
    Gelasimus der Schöne hat den Spleen:
    Er abonniert das Weisheitsmagazin.

    Man lächelte, und hinter den Kulissen
    (Wenn ich so sagen darf, da, wie bekannt,
    Es keine gab) ward mancher Witz gerissen;
    Denn Mimen waren immer medisant,
    Perfid, gemein und kalauerbeflissen:
    Schon wurde Heraklit der Dunkle er genannt.
    Bald wird er, dachten froh die Konkurrenten,
    In einem Nervensanatorium enden.

    Der Herr Direktor machte _keine_ Witze.
    Ihm war's zu ernst dazu. Das leere Haus
    Erzeugte im Gemüt ihm Siedehitze,
    Und all sein Zorn galt dem Autor der »~Laus~«.
    »Du hast den Orden, ich die leeren Sitze.
    Das paßt mir nicht!« so rief er wütend aus.
    »Beschränke dich auf deine schönen Waden
    Und laß das Dichten! Denn es bringt mir Schaden.«

    So lernte Gelasim die Wahrheit kosten,
    Daß jeder hohe Sessel wacklig ist,
    Und daß auch goldne Lorbeerblätter rosten,
    Bewirft sie Mißerfolg mit feuchtem Mist.
    Am liebsten hätt' er den verlornen Posten
    Sogleich verlassen ohne Kündigungsfrist,
    Hätt' ihn nicht Schuldenlast gefesselt ehern
    Wohl an ein Schock von grimmen Manichäern.

    Und er ging in sich und begann zu grübeln:
    Was hab' ich nun von meiner Eitelkeit?
    Verworfen bin ich, machtlos allen Übeln,
    Gebundnem Opfertiere gleich, geweiht;
    Das Unglück übergießt mich wie aus Kübeln.
    Wo ist der Gott, der gnädig mich befreit?
    Erleuchtung! Kann mich Frömmigkeit noch retten,
    So frequentier' ich gern die heiligen Stätten.

    Er tat's. Fort von den Philosophen ging er
    Stracks zu den Priestern: und mit offner Hand,
    Als Tempelspender und als Opferbringer;
    Bei allen Göttern ward er Supplikant.
    Kaum hatte Raum der riesige Opferzwinger
    Für all das Vieh, von Gelasim gesandt.
    Die Priester lächelten: Kein Menschenmagen
    Kann eines Mimen Frömmigkeit ertragen.

    Jedoch gewährten sie ihm alle Gnaden
    Der Götter, die er flehentlich erbat.
    Er durfte sich im Venustempel baden;
    Des Zeus Orakel gab ihm dunklen Rat;
    Er aß, zuviel beinah, geweihte Fladen;
    Trug Amulette im Sakralformat.
    Half alles nichts. Es blieb die alte Leier:
    In seinem Herzen brauten Nebelschleier.

    Da, eines Tags, nach endlos langer Probe
    Zu einem neuen Stücke, kam zu ihm,
    Bescheiden wartend vor der Garderobe,
    Ein junges Mädchen, flüsternd: »Gelasim!
    Lies dieses Buch, zu Jesu Christi Lobe
    Verfaßt vom Patriarchen Joachim!«
    Der Mime dachte: Sonderbares Mädchen!
    Bringt keinen Liebesbrief -- bringt ein Traktätchen!

    Da war sie auch schon weg. Im Korridore
    Sah Gelasim nur einen Schleier wehn
    Aus dunkelgrauem, schwarzgesäumtem Flore.
    Er blieb betroffen eine Weile stehn.
    »Die ist doch sicher nicht aus unserem Chore ...
    So einen Flor hat man hier nie gesehn,«
    Sprach er für sich; »mir wird nicht ganz geheuer
    Bei diesem dunkelgrauen Abenteuer.«

    Und warf das Buch hin zu den Schminkedosen,
    Als klebe Zauber dran und dunkler Fluch
    Von unheimlichen Mächten: namenlosen.
    Und warf darüber noch ein schwarzes Tuch.
    Und ging nach Haus mit fliehenden Schritten, großen,
    Als flög, ein Schatten, hinter ihm das Buch.
    Und war bedrückt, verwirrt: umhergerissen
    Von Ahnungen, Mahnungen, wie in Finsternissen.

    Er warf sich hin aufs üppige Ruhebette
    (Von Baalbeks Bosheit wurde es genannt:
    ~Palaestra Gelasimusarum~); hätte
    Im Schlafe gern das Buch, den Flor gebannt.
    Doch heute war es eine Unruhstätte,
    Um die herum ein Heer Dämonen stand,
    Die bald das Buch und bald den Schleier schwangen
    Und in der Fistel: »Lies! Lies! Lies doch!« sangen.

    Der Mime sprang empor, und in die Tolle
    Fuhr wild die Hand, vernichtend die Frisur.
    »Ich will nicht!« schrie er auf in Grimm und Grolle,
    »Ich lese keine Pöbelliteratur!
    Kann ich nicht schlafen, lern' ich! Meine Rolle,
    Erlöse mich von dieser Sekatur!
    Der Geist der Katakomben sei vertrieben
    Vom Geist des Zeus mit scharfen Jambenhieben!«

    Und er versenkte sich mit heftigem Fleiße
    Ins Studium. Er lebte, was er las:
    Denn es begab sich wunderlicherweise,
    Daß seine Rolle wie ein Spiegelglas
    Den Trubel wiedergab, der ihn im Kreise
    Jetzund herumtrieb. Jede Phrase saß,
    Als hätt' er selbst sie aus sich hochgehoben,
    Christum zu lästern, Jupitern zu loben.

    Er hatte einen Feldherrn zu tragieren,
    Dem's, wie nicht wenigen, ergangen war,
    Daß ihn der Gattin zartes Persuadieren
    Zum Christen machte. Doch nicht ganz und gar:
    Denn, wie's im Drama kam zum Peripetieren,
    Erhob er mächtig sich wie Jovis Aar
    Und fand in höchst dramatischen Donnerwettern
    Den Weg zurück zu seinen alten Göttern.

    Das schmeckte! Und der Mime deklamierte
    Sich alle Wirrung aus der bangen Brust;
    Das Heer Dämonen, das ihn so torquierte,
    Hat vor den Versen auf die Flucht gemußt.
    Gelasimus der Heide triumphierte
    Zum letztenmal und glaubte selbstbewußt,
    Er selber habe wie sein Held gefunden
    Den Weg zum Heil und endlichen Gesunden.

    Am nächsten Morgen salbte er und schminkte
    Sich ganz wie einst. Ein strahlender Apoll
    Ging er zur Probe. Auf der Straße winkte
    Er allen Mädchen, heitrer Laune voll,
    In Blick, Bewegung, Haltung das distinkte
    Erobererair, das jeder haben soll,
    Der Frauen gefallen will und Massen lenken,
    Daß sie im Zug nach seinem Willen schwenken.

    Auch auf der Probe war er ganz der alte:
    Die Verse strömten wie ein Wasserfall;
    Im Volksgetümmel seine Stimme schallte
    Wie Donnerton im rauschenden Regenschwall;
    Und wie zum Kreuze er die Fäuste ballte,
    Und, wie er rief: »Zurück in deinen Stall,
    Aus dem du kamst, verzerrter Gott der Sklaven!«
    Da war's als wenn das Kreuz Blitzschläge trafen.

    Der Herr Direktor schloß ihn an den Busen:
    »Du hast dich wieder, o Gelasime!
    Mein teurer Freund! Ich schwör's bei allen Musen:
    So schlechthin göttlich sah ich keinen je.
    Es ist sonst gar nicht meine Art, zu schmusen,
    Doch hier erklär' ich's: gleich der Aloe
    Blüht deine Kunst jetzt, deine geniale.
    Wir spiel'n das Stück gewiß an hundert Male.«

    Bestürmt von Händedrücken, und von Phrasen
    Gesalbt, geölt mit allen Parfümrien
    Der Schmeichelei (den werten Mimennasen
    Das lieblichste Odeur), umsurrt, umschrien,
    Umtanzt beinah von Huldigungsekstasen,
    Vermochte unser Held sich kaum zurückzuziehn
    Zur Garderobe, wo er sich die Schminke
    Vom Antlitz wusch. -- Da drückt es auf die Klinke.

    Der leise Laut erschreckte ihn. Betroffen
    Sah er sich um. Doch niemand war zu sehn.
    Indes stand angelweit die Türe offen,
    Und draußen hörte einen Schritt er gehn.
    Er sprang zur Schwelle, auf der Zunge schroffen
    Verwünschungsruf. Da blieb das Herz ihm stehn:
    Drei Spannen weit vor ihm im Korridore
    Stand regungslos das Mädchen mit dem Flore.

    Welch Angesicht! Die stygische Proserpine,
    Rückwärts den Blick gewandt zum Vaterhaus,
    Erschütterte nicht so durch Blick und Miene,
    Sah nicht so schmerzensvoll anmutig aus.
    »Wer bist du?« rief Gelasimus. »Ich diene
    Dir namenlos,« sprach sie, und, einen Strauß
    Aus Wüstendisteln vor ihm niederlegend,
    Verschwand sie, leis im Gehn den Flor bewegend.

    Der Mime bückte tief sich zu den grauen
    Staubvioletten Blüten. Kniend nahm
    Er das Geschenk, wie keines je von Frauen,
    So viel sie schon ihm schenkten, zu ihm kam.
    Und es erfüllte ihn mit Lust ein Grauen,
    Mit Wollust eine wundersame Scham.
    Er schämte sich der Freude am Applause,
    Nahm Strauß und Buch und ging bewegt nach Hause.

    Ich laß es hingestellt sein, ob die Worte
    Des großen Patriarchen Joachim
    Es waren, die mit Geisteskraft die Pforte
    Zum Evangeljum öffneten vor ihm.
    Genug: zu des Direktors Grimm und Torte
    Schrieb tags drauf einen Brief ihm Gelasim,
    Mit dem die Rolle ihm zurück er sandte:
    »Derlei zu spielen bin ich außerstande.«

    Empörung; Wüten; Rechtsanwalt; Gerichte;
    Replik; Duplik; Baalbeks »Diarium«
    Hatte nicht Raum mehr für die Weltgeschichte,
    Denn schnuppe war durchaus dem Publikum,
    Was sonst geschah. Es wünschte bloß Berichte
    Zur großen ~Lis contra Gelasimum~.
    Das Urteil kam: Der Mime ist verhalten,
    Zu spielen -- eventuell mit Brachialgewalten.

    Der große Tag erschien. Von zwölf Gendarmen
    Ward Gelasim zum Schauplatz eskordiert.
    Man schminkte (welche Prozedur!) den Armen
    Gewaltsam, und pervim ward dito er frisiert,
    In sein Kostüm gesteckt und ohn' Erbarmen
    Hieß es: »~Avanti!~ Und: Stichwort pariert!«
    Er dachte sich: Das alles läßt sich zwingen;
    Wer aber zwingt die Nachtigall, zu singen?

    Man stieß ihn auf die Bühne. Solch ein Toben
    Ward nie vernommen, wie es da erscholl.
    Die Riesenmenge hatte sich erhoben
    Und schrie ihm Willkomm. Von Verehrung schwoll
    Ein ganzes Meer ins Herz ihm. Gottes Proben
    Sind fürchterlich: Der arme Mime, toll
    Fast vom Applaus, doch innerlich in Banden
    Des Unbegreiflichen, hat furchtbar ausgestanden.

    Die Lippen bebten. Wie, um eine Wunde
    Zu pressen, lag auf der bewegten Brust
    Das Händepaar. Es irrten in der Runde
    Die Blicke ratlos, keines Ziels bewußt.
    Schon schwieg der Willkomm. Aus dem stummen Munde
    Der Menge drohte mitleidlos: Du mußt!
    Und dabei brodelten in seinem armen Kopfe
    Der Rolle Worte wie in einem Nudeltopfe.

    Wohl hätte er sie jetzt entlassen _wollen_:
    Er _konnte_ nicht. Die Zunge war ihm schwer.
    Schon hob im Publikum sich Murmeln, Grollen,
    Gewittrisch wälzte sich ein Wolkenetwas her.
    Noch ein Moment, und alle Donner rollen,
    Denn von Verehrung weiß das Volk nichts mehr,
    Wenn der Verehrte trotzt. Gleich wird es blitzen!
    Den Herrn Direktor sah man deutlich schwitzen.

    Da -- welche Wandlung! Wie von innren Sonnen
    Erleuchtet, öffnet Gelasim den Mund:
    Er spricht. In seinen Worten rinnen Wonnen:
    Der Feldherr tut die Seligkeiten kund
    Von Christi Lehre. Balsamüberronnen
    Fühlt sich das Publikum, bis auf den Grund
    Entzückt, erschüttert, völlig hingerissen
    Von dieser Sprache süßen Dämmernissen.

    Was war geschehn? Was öffnete die Tore
    Der Rede unsrem Mimen? Weiter nichts,
    Als daß er auf der mittleren Empore
    Das stille Leuchten sah des Angesichts
    Von jenem Mädchen mit dem grauen Flore.
    Doch darin war die Fülle allen Lichts
    Für seiner Seele bange Dunkelheiten:
    Geh deinen Weg! Die Gnade wird dich leiten!

    Und so geschah's. Er spielte nicht: er lebte
    Was in der Rolle des Bekehrten stand.
    Als ob der Heiland in ihm selber webte
    Der Dichterworte leuchtendes Gewand,
    Umfloß es ihn wie Licht, das ihn umschwebte
    Und hob und trug: In der Verheißung Land.
    Doch als die Rolle abwich von den Pfaden
    Des Kreuzes, kam die Fülle erst der Gnaden.

    Es war nicht einer, der die ~scène à faire~
    Des Stücks nicht aus der Zeitung schon gewußt:
    Die große Szene zu der Götter Ehre,
    In der der dumpfe Katakombenwust
    Vertrieben ward von Jovis heiligem Speere.
    Man freute sich darauf mit um so größerer Lust,
    Als man bereits die allzu süße, matte
    Kreuzlimonade etwas über hatte.

    Es waren ja Heiden: Heiden im Theater!
    O armer Gelasim, wie wird es dir ergehn!
    Die Gnade leuchtet dir. Jedoch an einem Krater.
    Sie mache blind dich, nicht hinabzusehn! --
    Getrost! Ein Herz war bei ihm, das zum Vater
    Der Liebe betete, ihm beizustehn.
    Wie stärkender Tau fiel in das glutverdorrte
    Herz himmelher ihm jedes ihrer Worte.

    Ein klarer Held, aufrecht, mit starken Schritten,
    Betrat Gelasimus den Schauplatz. Groß
    Schritt er zum schwarzen Kreuze, das inmitten
    Von unterirdischen Gräbern stand. Getos
    Heidnischen Volks bestürmte ihn mit Bitten,
    Zurückzukehren in der Götter Schoß. --
    Dies war der Auftakt. -- Stille nun. -- Dann wollte
    Die Rolle, daß dem Kreuz er fluchen sollte.

    Er aber kniete nieder. Und er legte
    Auf Christi Fuß die Stirne: ganz entrückt,
    Indes die Lippen im Gebet er regte.
    Dann hob das Haupt er, lächelte verzückt,
    Stand ruhig auf, schritt ruhig vor, bewegte
    Nicht eine Miene, bis er tief gebückt,
    Das Kreuz des Schwertgriffs küßte, lippenbebend,
    Die ganze Seele in den Kuß hingebend.

    Das Publikum, durch diese Pantomime
    Vor Staunen fast um den Verstand gebracht,
    Schwieg noch. Nur einer rief: »O Gelasime,[9]
    Was hast du mir aus meinem Stück gemacht!«
    Der Dichter war's. Doch nun, ~ottave rime~,
    Zieht euch zurück, denn das Gewitter kracht.
    Bis hierher ging es mit den steifen Stanzen,
    Jetzt aber müssen freie Rhythmen tanzen.

    [9] Man muß es dem Dichter zugute halten, daß er falsch betont.
        Er stammte nicht aus Rom, sondern aus Jerusalem.

    Wie wenn vorm ersten Stoß des nahenden Sturms die Blätter
    Von Pappelbäumen zu zittern beginnen und rascheln,
    Lief durch die Massen
    Die steinernen Gassen
    Der Sitze entlang, von den Senatoren-
    Subsellien bis zu den höchsten Emporen,
    Ein Surren und Summen,
    Ein Schurren und Brummen,
    Ein flirrendes Flüstern,
    Ein Schnauben aus Nüstern,
    Ein heißes Hauchen,
    Ein pfeifendes Pfauchen,
    Ein Schnarren und Schnarchen,
    Ein Knarren und Knarchen,
    Ein Stimmengewirre, Geschwirre, Geklirre:
    Von allerhand widrigen Tönen kurzum
    Ein höllisches Pandämonium.

    So stimmen im Orchester disharmonisch
    Die Instrumente Bläser, Streicher, Schläger,
    Des Mannes harrend, der als Luftdurchsäger
    Mit seinem Taktstock kommt, auf daß symphonisch
    Das Ganze werde. Doch, man weiß es ja:
    Zuweilen zeigt sich reichlich kakophonisch
    Frau Musika.

    Als Hofkapellmeister Seiner Majestät
    Des Publikums in diesem Fall fungierte
    Ein hagerer Priester, der den Vorsitz zierte
    In Baalbeks Sittlichkeitssozietät,
    Die nicht Moral allein in ihrem Wappen führte,
    Sondern auch Schutz der Religiosität.
    »Silentium!« krähte der Dürre schrill.
    Und gleich war's still.

    Sodann hub an
    Der magere Mann:
    »Verruchter Bube, was ficht dich an,
    Unsere heiligsten Güter zu verhöhnen?
    Bestellt zum Dienste der Kamönen,
    Hast das Theater du entweiht
    Zum Schauplatz scheußlichster Verkommenheit.

    Du hast's gewagt, dich zu bekennen
    Zu einer Lehre, die so niedrig ist,
    Daß, grauser Aberwitz, nicht auszunennen,
    Sie einen Juden namens Christ
    Als Gott verehrt, den römische Justiz
    Verurteilt hat zum Malefiz-
    Kreuzgalgen, und verehrst, was jeden Braven
    Mit Schauder packt: das Marterholz der Sklaven.

    Beim Zeus! Die Frechheit kann nicht weitergehn!
    Im Niedrigen das Göttliche zu sehn,
    Die ewigen, großen
    Götter vom Thron
    Herabzustoßen
    Und, Blasphemie, als Gottes Sohn
    An ihre Stelle einen Schwerverbrecher,
    Bestraft nach heiligem römischen Recht,
    Zu setzen: Was bisher auch frecher
    Anarchischer Pöbelwahn sich erfrecht:
    Dies ist der Gipfel! Seit die Welt besteht,
    Ward so der heiligen Wahrheit Majestät
    Nicht ins Gesicht gespien!

    (Hier machte eine Pause,
    Begierig nach Applause,
    Der orthodoxe Mann.
    Der setzte prompt und pünktlich ein
    Mit Bravorufen, Toben, Schrein.
    Doch als das Publikum genug geschrien,
    Fing er aufs neue an:)

    »Du liegst noch immer auf den Knien?
    Steh auf, ich sage dir, steh auf!
    Dem Trotzigen wird nicht verziehn,
    Und die Gerechtigkeit nimmt reißend schnellen Lauf,
    Stößt sie auf Störrischkeit:
    Nur wenn zur rechten Zeit
    Der Sünder in sich gehet,
    Geschied's vielleicht,
    Daß sie, erweicht,
    Wenn er recht innig flehet,
    Ihm gnädiglich verzeiht.«
    (Dies sagte er in jenem Ton,
    Der, salbenseimig, allen Pfaffen,
    Als sei ihr Mund zum Salbennapf geschaffen,
    Wie Schmalz entschwappt seit Olims Zeiten schon.)

    Und es ward totenstill. Das Publikum
    Zwang seine Gier zurück: aus _Spannung_ stumm,
    Nicht aus Verzicht auf das geliebte Toben.
    Die Bestie hatte schon das Prankenpaar erhoben,
    Zum Sprung gefedert lag der Rücken krumm.
    Die Tausende waren eins: _ein Vieh_ geworden.
    Und dieses Vieh, geeint aus Wut,
    War geil auf Blut
    Und leckte
    Die Lippen schon und bleckte
    Die Zähne zum ersehnten Morden.

    Doch dieses Ungetüm, wie wild es sah,
    Und wie sein Atem keuchte:
    Für unsern Knieer war es gar nicht da.
    Er sah nur Licht und Leuchte:
    _Ihr_ Herz: wie aus Rubinenglas
    Ein Kelch es ihm bedeuchte,
    Voll von dem Blute Golgathas.

    Und horch, es hob ein Zwiegesang
    Aus seinem Mund und ihrem sich,
    Geschwisterlich,
    Als wie aus einem Munde;
    Der klang nicht klagend, klang nicht bang,
    Klang selig, selig, selig, klang
    Wie zehrende Liebeskunde:
    »Mein Herzverlangen!
    Mein Armumfangen!
    Auf der Weide meiner Liebe holdseliges Lamm!
    Ich atme dich aus, ich atme dich ein,
    Du mein Morgenwind, Abendwind, Sonnenschein!
    (Er) Süße Braut, (Sie) Süßer Bräutigam,
    Von Jesus mir gegeben
    Zum bittern Tod,
    Vielsüßerm Leben!
    Halleluja!
    Der Hochzeit entgegen
    Auf blutigen Wegen
    Leidselig zu gehn,
    Gib, gib deine Hände!
    Wir werden ihn sehn:
    An Weges Ende
    Wird Jesus stehn!
    Halleluja!
    Wird Jesus stehn
    Mit seinem Hochzeitssegen.
    Jesus! Liebe!
    Jesus! Liebe!
    ~Soli Christo gloria!~«

    Kaum, daß der beiden Gloria verklungen,
    Hat sich ein ungeheurer Unheilston
    Dem Tausendmäulerungetüm entrungen:
    Der schwoll vom Libanon zum Antilibanon.
    Und: Die von Christus eben noch gesungen,
    War'n auch bei ihm im Paradiese schon:
    Das wilde Tier hat heulend sie erschlagen.
    Genaures wußte niemand auszusagen.

    Zerrissen lagen sie auf blutigem Steine:
    Ein Haufen unkenntlichen Fleischs, zerfetzt;
    _Zwei_ lebende Körper einst: als Leiche _eine_,
    Wie auf dem Hackebrett brutal zermetzt.
    Der Präsident vom Sittlichkeitsvereine
    Beklagte es tief, daß das Gesetz verletzt
    Durch Volkeseigenmächtigkeit geworden.
    Er war prinzipiell für offizielles Morden.

    Die Menge selber, wie sie sich gespalten
    In Individuen: keine Bestie nun,
    Nein, lauter Biederleute: ungehalten
    War sie nicht minder ob so wüstem Tun.
    Man rief entrüstet, daß die Gassen schallten:
    »Wo blieb denn unser Polizeitribun?«
    Dann lief mit roten Köpfen man nach Hause,
    Und sehr bewegt verlief die Vesperjause.

    Indessen senkte sich violenfarben
    Die Dämmrung nieder auf die Stadt von Stein;
    Dann kam die Nacht mit ihren Sternengarben
    Und lud zur Ruhe und zur Wollust ein;
    Die bunten Lupanarlaternen warben
    Wie jede Nacht zur Liebe und zum Wein,
    Und mancher starke Geist, in Liebeshitze,
    Verübte auf die toten Christenschweine Witze.

    So ist das Leben. Bis im Grab wir liegen,
    Beschreiten eine Erde wir aus Dreck.
    Nur die Gedanken und Gefühle fliegen.
    Hermann Conradi proklamierte keck:
    »Nur wer das Leben überstinkt, wird siegen!«
    Doch, frag' ich: hat dies Siegen einen Zweck?
    Ist, recht besehn, die blutige Martyrkrone,
    Gleichviel um was, am Ende doch nicht ohne?

    Wie wird das Leben heute überstunken!
    So siegreich, daß uns Übelkeit erfaßt.
    Gestank, du siegst! Die Welt ist jauchetrunken.
    Ihr Gott heißt Bauch, ihr Gottesdienst heißt Mast.
    Geheimnisvoll bedienen uns die Funken
    Der Ätherkraft. Jedoch es scheint verpaßt
    Der Anschluß an die höchste Hochspannleitung.
    Sogar Begeisterung stinkt: stinkt nach der Zeitung.

    Genug davon! Mich als Savonarola
    Hier aufzuspielen, liegt mir völlig fern.
    Ich hasse ihn. Auch zieh' ich Emil Zola
    Dem großen Frenssen doch noch vor. Die Herrn,
    Die zum Erbrechen auf der Pianola
    Choräle treten, schlecht und subaltern,
    Beleidigen mein Geruchsorgan nicht minder,
    Als jene Bauchlakain im Glanzzylinder.

    Sie preisen Christum hunderttausendzeilig;
    Ihr Tintenfinger weist auf ihn verzückt;
    Und, weil sie quabblig weich wie Laich und langeweilig,
    Hat sie der deutsche Ernst mit Ruhmsalat geschmückt.
    Erschien ihr Herr und Heiland heute: eilig
    Erklärte dies Geschlecht ihn für verrückt.
    Er aber nähme an den weißen Bäffchen
    Unsänftlich diese Wonnewinseläffchen.

    Er war die Liebe. Ja. Doch nicht die laue,
    Die spülichtduldsam in den Pfaffentrog
    Jedweden Quark befördert; nicht die schlaue,
    Die bald als Zepter schlug, bald sich wie Binse bog:
    Die zornige Liebe war er, Schwert und Klaue
    Der Waffenlosen; kurz: kein Theolog.
    Doch, weil er wirklich himmelgroß gewesen,
    Läßt sich aus seiner Lehre alles lesen.

    Auch unser liebes Christentum. Wer immer
    Sich Christ nennt, tut's mit Recht. Es ruht auf ihm,
    Wie könnt' es anders sein, ein kleiner Schimmer
    Aus Jesu Herzen. Völlig legitim
    Ist dieser Titel. Wird er Herzensstimmer
    Zu Rausch und Aufschwung, wie bei Gelasim,
    So ist er mehr: Ist Geist von Christi Geiste,
    Und sei auch Wahn dabei das allermeiste.

    Wahn!? Was ist Wahn! Was so im Menschen zündet,
    Daß er zur Flamme wird, die sich verzehrt;
    Zum Glutstrom, der aus seliger Freiheit mündet
    Ins All, ins Nichts; von keiner Angst beschwert,
    Durch Tat das Wort: Wo ist dein Stachel, Tod? verkündet --
    Ist mehr als alle faule Wahrheit wert.
    Schwer ist das Sterben. Wer's als Meister leistet:
    Den Tod zur Kunst macht, der ist gottdurchgeistet.

    So ward ein Mime heilig, weil am Ende
    Von vieler Eitelkeit und Narretei
    Sein Leben er wie eine Opferspende
    An Gott gab. Ganz egal, ob der der rechte sei,
    Ob ein Idol gewesen. Seine Hände
    Wusch Herr Pilatus, dem das Volksgeschrei
    Wie aufgewirbelter Schmutz vorkam, und fragte,
    Worauf kein Gott: jedoch die Zeit bald Antwort sagte.

    _Wahr ist, was wirkt._ Der große Baal war Wahrheit;
    Der große Zeus desgleichen; Jahve auch;
    Und Christus, kommend aus der großen Klarheit,
    Das jene tot, hat mit der Liebe Hauch,
    Der problematischen, in Offenbarheit
    Ins Nichts vertrieben ihrer Opfer Rauch.
    _Wahr ist der Geist, der wirkend souveräne._
    Dogma ist Aas. Wer liebt das? Die Hyäne.

    Gelasimus, den heiligen Mimen, haben
    Die Christen Baalbeks noch in gleicher Nacht
    In Mariamna feierlich begraben.
    Auch jene haben sie dorthin gebracht,
    Die ihn erfüllte mit des Glaubens Gaben.
    Doch ihres Namens wurde nicht gedacht.
    Vergessen ist sie: eine Namenlose.
    Denn Gelasim besaß die größere Pose.

    So schließt denn leider diese Novellette
    Moralisch zwar, doch etwas angeeckt:
    Selbst in Legenden geht's wie beim Ballette
    Nicht nach Verdienst bloß zu, nein, nach Effekt:
    Wer vorne tanzt, der nur wird vom Parkette
    Beopernguckt und mit Applaus bedeckt.
    Ob Heiligen-, ob braune Kassenscheine:
    Die Hintergrundtalente kriegen keine.

    Gleichviel: Jungfrauen mit der Gloriole
    Gibt's ohnehin schon eine große Schar,
    Indes ein Mime mit der Tänzersohle
    Als Heiliger ein großes Novum war:
    Die Kirche brauchte ihn zum Seelenwohle
    Der Mimenschaft, die, wäre sie heiligenbar,
    Am Ende in Verlegenheiten käme,
    Wen sie beim Herrgott sich zum Fürsprech nähme.

    Zwar sagt man, daß sie nicht sehr häufig beten,
    Die untenher das Licht der Rampe trifft,
    Daß sie, gottloser fast noch als Poeten,
    Voll sind von aller Skeptizismen Gift.
    Das ist Verleumdung: Fehlen die Moneten,
    Ist man viel frömmer als im Damenstift,
    Im Reich der Schminke. Und sie fehlen häufig:
    Drum ist den Mimen Beten sehr geläufig.

    Wenn sich der Monat neigt zum kahlen Ende,
    Hat Gelasim unendlich viel zu tun,
    Am Anfang weniger. Dann läßt die Hände
    Gemütlich er im heiligen Schoße ruhn
    Und überdenkt die eigene Legende:
    Es ist, wie's war, war ehedem, wie nun:
    Der Mensch hat's mit dem Beten nicht sehr eilig --
    Ich wurde selbst auch Ultimo erst heilig.



Gedichte.


Flußfahrt im Frühling

    Welch ein Ziehen! Welch ein Gleiten!
    Zwischen Schilf und alten Weiden,
    Die sich beugen, die sich neigen,
    Fahren wir -- wohin? ... wohin?
    Laßt das Fragen! Laßt uns schweigen!
    Welle mag den Weg uns zeigen,
    Führerin und Trägerin.

    Wie im Leben hingetrieben,
    Schwankend, schwebend, fortgezogen,
    Wollen wir des Flusses Bogen
    Träumend folgen und ihn lieben,
    Der uns so ins Weite trägt.

    -- Wird es helle sein am Ziele?
    Dunkel? -- Wehe dem, der frägt!
    Fragen gibt es allzuviele,
    Antwort eine nur. -- Es regt
    Hohl sich unter unserm Kiele.

    Laßt um unsere heißen Hände
    Diese kühlen Fluten streichen.
    Nixenseelchen, nehmt's als Zeichen
    Unserer stillen Liebe an!
    -- Ach, wen eure Liebe fände:
    Tiefstes wüßte wohl der Mann ...
    Doch er schwiege bis ans Ende.

    Aber wir ... nein! --: Laßt uns sagen,
    Was durch unsre Seele geht!
    Wind und Wasser sollen's tragen,
    Daß es durch den Frühling weht:
    Frisches, fröhliches Behagen,
    Lust am Nachten und am Tagen
    Leben, das in Blüten steht.


Der stille alte Goethe.

    Auf meinem grünen Kachelofen in meinem grünen Schlafkabinette,
    Schräg gegenüber meinem gelben Messingbette,
    Steht Christian Rauchs kleine Goethestatuette.
    Von der grünen Tapete bekommt sie einen grünen Schein.
    Sie ist bloß aus Gips, und Frau Lisette
    Findet, daß sie kein Verhältnis zum Ofen hätte:
    Sie sei zu klein.
    Aber, seh ich sie an, fällt mir allerhand ein,
    Was ich (nicht im Schlafzimmer) zu tun noch hätte:
    Der stille alte Goethe mahnt, tätig zu sein.


Des Helden Not.

    Feinde ringsum!
    Hör, wie sie toben!
    Unten und oben
    Fall'n sie dich an.
    Recke dich, Mann!
    Steh nicht so stumm!
    Ach, laß sie rasen,
    Trommeln und blasen!
    Dieses Gedräue
    Bringt mich nicht um:
    Aber die Reue,
    Die macht mich stumm.


Erde, liebe Erde ...

    Wie eine Blüte im Mai
    Blättert sich auf der Tag,
    Zeigt seine nackende Schönheit der Sonne.
    Sehen, o zaubrisches Glück! Gottselige Wonne,
    Dies Atmen! Der Herzensschlag!
    Schmerzen und Lüste herbei!

    Ich will euch ans Herz nehmen, ans Herz drücken;
    Dornen und Dolche sollen mich entzücken:
    Alles was ist, ist schön und recht.
    Erde, liebe Erde, ich bin dein Knecht.


Südtiroler Herbst.

    Gelbleuchtend steht (wie Kapuzinerkresse)
    Der Latemar. Ein buntes Pantherfell
    Liegt rot-gelb-braun der Mendel um die Flanken.
    Die Rebenbogen sind von Trauben leer.
    Aus Riesenbottichen trieft rote Maische,
    Von feisten Rindern langsam heimgeführt
    Zum kühlen Keller auf staubweißen Straßen,
    Vorbei an Kruzifixen wunderlich geschmückt:
    Dort wo die Nägel durch die Heilandshände
    Kalt in das schwarze Marterholz sich bohren,
    Hängt, rechts und links dem vorgesenkten Haupte,
    Prall, Beer' an Beere innig so gedrängt,
    Als sei es _eine_ ungeheure Frucht:
    Je eine schwere Traube. Durch die Krone
    Von Dornen windet sich, Korallen gleich,
    Aus Vogelbeeren eine rote Kette,
    Und dunkelgelbe Kolben Türkenkorns
    Umrahmen samengolden diesen Gott
    Des liebehingegebenen Schmerzenglücks.
    Es ist, als wär' es ein verstellter Pan.


Erzählung.

    Ein Mädchen besaß ich, fein wie ein Figürchen
    Auf Rokokotischen galanter Marquisen;
    Es war wohl auch wirklich verwandt mit diesen:
    Halb war es ein Nobelchen, halb ein Hürchen.

    Ich fand sie entzückend mit ihrem Geschwänzel,
    Getrippel, Geäugel, Gelächel, Geplapper.
    Ich war so ein junger mutwilliger Tapper,
    Mein Gehen war auch noch Gehüpf und Getänzel.

    Auch war ich ein Träumer und Wolkenbeschauer;
    Ich sah um die Dinge noch goldene Ränder.
    Der Mond war mein Krongut; in meinem Kalender
    Hatte der Frühling zwölf Monate Dauer.

    So waren wir also ein passendes Pärchen.
    Sie tanzte, ich dichtete, Gott blies die Flöte
    Und freute sich selber der purpurnen Röte
    Des Himmels, in dem wir das munterste Märchen

    Und aller Romane verliebtesten lebten:
    Von Träumen getragen, von Liedern belogen,
    In goldener Nußschale schwimmend auf Wogen
    Und Wolken, die rosig ins Nichts verschwebten.

    ... Ins Nichts verschwebten; verrannen; vergingen;
    Zerflossen, zerrissen -- ins Nichts, in die Leere ...
    Uns aber erfaßte die irdische Schwere
    Und zerrte uns nieder mit würgenden Schlingen.

    Da half uns kein Gott. Es verstummte die Flöte
    Des Märchenpapas und Idyllenrhapsoden.
    Wir fielen auf dornigen, steinigen Boden,
    Und zwischen uns saß eine zankende Kröte:

    Die kahle Enttäuschung. Es lehrte ihr Zanken
    Unlieblich uns beide einander erkennen.
    Es war wie ein Aneinanderverbrennen
    Bis tief auf den grundallerletzten Gedanken.

    An jenes Schmarotzen im Märchengelände. --
    Wir haben die Hand uns zum Abschied gegeben
    Wie Fremde. Nie sah ich sie wieder im Leben.
    Und kännte sie nicht, auch wenn ich sie fände.


Der Verliebte.

    Was mir Busch und Bäume sagen
    Und die Blumen bunt und licht,
    Ach, ich muß es in mir tragen,
    Weitersagen darf ich's nicht.

    Denn ich müßte tief verzagen,
    Fänd' es gute Stätte nicht,
    Was mir Busch und Bäume sagen
    Und die Blumen bunt und licht.


Seele!

    Singe, solange du Atem hast!
    Singe, solange du Seele bist!
    Einst, es naht sich der Würger schon,
    Ringst du ein letztes Mal nach Luft,
    Und deine Seele gehört
    Dir nicht mehr. Wer weiß
    Wem.


Grabschrift für meinen Vater.

    Ein Herz, das viel gelitten,
    Ein Mund, der gern gelacht,
    Ein Kämpfer, der gestritten
    Mit böser Übermacht,
    Ein Mann mit regen Händen,
    Ein guter, treuer Mann:
    Wohl Dem, der wie Er enden
    Mit reiner Seele kann.


Lyrikerasten.

    Sahst du, o Freund, die holden Knaben,
    Die an der Kranzler-Ecke stehn,
    Aus Seide rote Schlipse haben
    Und lächelnd auf und nieder gehn?

    Sie spitzen die gefärbten Lippen
    Und äugeln sonderbar lasziv,
    Und, kommst du ihnen nah, so tippen
    Sie dich wohl an und legen schief

    Das Köpfchen mit gebrannten Haaren,
    Und ihre Blicke himmeln dich
    Sehnsüchtig an. Kurz, ihr Gebaren
    Ist immerhin absonderlich.

    _Abscheulich_, meinst du? Laß das Zanken!
    Es ist nicht schön; ich geb' es zu;
    Wir wollen unserm Schöpfer danken,
    Daß wir nicht so sind, ich und du;

    Doch nicht uns besser dünken, meinen,
    Es müßten alle sein wie wir.
    Hat nun die Liebe mehr als _einen_
    Ausweg -- jenun: so gönn' ihn ihr.

    Selbst das muß man mit Gleichmut tragen,
    Daß derlei Knaben (es ist bös)
    Auf ihre Art die Leier schlagen,
    So scheußlich süß, so sirupös,

    Und daß es Mode wird, zu schminken
    Die Lippen selbst der Poesie.
    Auch diese Mode wird versinken,
    Absurditäten dauern nie.

    Das Zeug schmeckt bald auch denen fade,
    Die jetzt dran schlecken: Zuckerkant,
    Lakritzensaft und Limonade
    Wird auf die Dauer degoutant.


Schwein und Pfau (Eine fatale Fabel).

    Es war einmal ein
    -- Hastunichgesehn! --
    Es war einmal ein Schwein.
    Das war gewöhnlich
    -- Hastunichgesehn! --
    Gewöhnlich nicht sehr rein.

    Im gleichen Hofe
    -- Herrgottnocheinmal! --
    Da schlug sein Rad ein Pfau;
    Der war so schön wie
    -- Herrgottnocheinmal! --
    Nicht einmal seine Frau.

    Das Schwein das grunzte
    -- Hastunichgesehn! --
    Und wälzte sich im Dreck.
    Der Pfau der kreischte
    -- Herrgottnocheinmal! --
    Und sah beleidigt weg.

    Da kam ein Fleischer
    -- Hastunichgesehn! --
    Und schlachtete das Schwein.
    Das kommt davon, sprach
    -- Herrgottnocheinmal! --
    Der Pfau, wenn man nicht rein.

    Mir kann so etwas
    -- Herrgottnocheinmal! --
    Mein Lebtag nicht geschehn,
    Weil ich so rein und
    -- Herrgottnocheinmal! --
    So schön bin anzusehn.

    Da kam ein Bauer
    -- Hastunichgesehn! --
    Und riß dem armen Vieh
    Die Federn aus, daß
    -- Herrgottnocheinmal! --
    Es wie am Spieße schrie.

    Die Fabel lehrt uns,
    -- Leider ist es wahr! --
    Das Leben ist nicht fein.
    Der Dreck macht fett, doch
    -- Leider ist es wahr! --
    Schlachtet man drum das Schwein.

    Doch Schönheit leidet
    -- Leider ist es wahr! --
    Viel mehr als Todespein.
    Sie wird lebendig
    -- Leider ist es wahr! --
    Gerupft, weil sie zu rein.


Wegweiser.

    Folg dir in dich!
    Und wenn du auch erschrickst
    Vor den Gestalten, die du dort erblickst:
    Folg dir in dich!

    Hast du nur dich
    Und hältst du dich recht fest,
    So bist du stark, ob alles dich verläßt:
    Hast du nur dich!


Gott sei Dank!

    Viele Feinde hab' ich,
    Gott sei Dank!
    Manche Maulschell' gab ich,
    Gott sei Dank!

    Manchen Puff bekam ich,
    Gott sei Dank!
    Manchen Graben nahm ich,
    Gott sei Dank!

    Selten nur mal fiel ich,
    Gott sei Dank!
    Will ich treffen, ziel' ich,
    Gott sei Dank!

    Schönes, o, das seh' ich,
    Gott sei Dank!
    Stinkt es wo, da geh' ich,
    Gott sei Dank!

    Wie ich lebe, leb' ich,
    Gott sei Dank!
    Will ich nehmen, geb' ich,
    Gott sei Dank!

    Irrtum den beklag' ich,
    Gott sei Dank!
    Meine Fehler trag' ich,
    Gott sei Dank!

    Größe respektier' ich,
    Gott sei Dank!
    Dünkel ignorier' ich,
    Gott sei Dank!

    Witzigen Tadel leid' ich,
    Gott sei Dank!
    Plumpes Lob vermeid' ich,
    Gott sei Dank!

    Was mich fördert, lern' ich,
    Gott sei Dank!
    Leeres Stroh entfern' ich,
    Gott sei Dank!

    Wer mich kränkt, den kränk' ich,
    Gott sei Dank!
    Wer mir schenkt, dem schenk' ich,
    Gott sei Dank!

    Schwächliches bereu' ich,
    Gott sei Dank!
    Starkem halte Treu' ich,
    Gott sei Dank!

    Meine Frau verehr' ich,
    Gott sei Dank!
    Von ihrer Liebe zehr' ich,
    Gott sei Dank!

    Meine Gaben pfleg' ich,
    Gott sei Dank!
    Auch die Triebe heg' ich,
    Gott sei Dank!

    Viele Lüste büßt' ich,
    Gott sei Dank!
    Laster die versüßt' ich,
    Gott sei Dank!

    Meine Kunst, die kann ich,
    Gott sei Dank!
    Halbem Glück entrann ich,
    Gott sei Dank!

    Dumpfes Sehnen haß ich,
    Gott sei Dank!
    Den Moment erfaß ich,
    Gott sei Dank!

    Fiel ich mal: bald stand ich,
    Gott sei Dank!
    Stets mich wieder fand ich,
    Gott sei Dank!

    Manchen Unsinn trieb ich,
    Gott sei Dank!
    Manchen Lufthieb hieb ich,
    Gott sei Dank!

    Meinen Sinnen trau' ich,
    Gott sei Dank!
    Auf meinen Glauben bau' ich,
    Gott sei Dank!

    Meinem Freund gehör' ich,
    Gott sei Dank!
    Auf die Freundschaft schwör' ich,
    Gott sei Dank!

    Meine Feinde haß ich,
    Gott sei Dank!
    Falsche Freunde laß ich,
    Gott sei Dank!

    Echte Hoheit krön' ich,
    Gott sei Dank!
    Gerngroßtum verhöhn' ich,
    Gott sei Dank!

    Ruhe, Klarheit such' ich,
    Gott sei Dank!
    Aller Trübe fluch' ich,
    Gott sei Dank!

    Viele Verse mach' ich,
    Gott sei Dank!
    Schimpft man drüber, lach' ich,
    Gott sei Dank!


Unser Schloß.

    Ich träumte mich in einen tiefen Wald ...
    Ich wanderte dem Lied der Vögel nach;
    Auf schmalen Wegen über Wurzeln weg
    Schritt ich und strauchelte doch nie: es war
    Im Gehn ein Schweben. -- Eine Stimme sang
    Ganz leise in mir: Siehe, heute noch
    Bist du zu Hause ... Immer grüner ward
    Es rings um mich, und alles fiel von mir,
    Das mich bebürdet. Und der Welt Geräusch
    Verhallte hinter mir. Die Vögel selbst
    Verstummten. Nur das leise Wipfelwehn
    Umrauschte mich: dies süße Schlummerlied
    Der großen Stille, das die Träume ruft,
    Die samtenen Nachtfalter: braun und schwarz
    Mit goldenen Fühlern, die wie Palmen sind
    Aus seidenen Rispen, und mit blinden Augen,
    Die mehr erblicken, als jemals der Tag
    In seiner harten Grelle zeigt ... Da stand
    Ein kleines Schloß an einem Teich vor mir.
    Drei große schwarze Schwäne glitten sanft
    Auf seinem Spiegel, drauf der Abendschein
    Gelb lag gleich einem welken Rosenblatt.
    Das Schloß war ganz aus amethystnem Quarz,
    Violenblau, goldäderig, gebaut;
    Die Türen bronzen, grünlich-schwarz: als Schild
    Das Bild der Sonne drauf: _Ihr_ Bild, die mich
    (Ich fühlt' es nun) in diesen Zauber rief.
    --: Wo bist du? sagt' ich leise vor mich hin.
    --: Lädst du mich ein in unser Glück, das wir,
    In unsrer Herzen Gleichklang wortelos
    Uns ganz verstehend, Tag für Tag
    Aufrecht im Glauben suchen: niemals ganz
    Verzagend, ob auch manches Mal
    Im Düster irrend: -- hast du mir erbaut
    Dies Schloß aus hellem Gold und Veilchenblau?
    -- Da taten sich die Bronzeflügel auf,
    Den Sonnenschild zerteilend, und sie stand:
    Minerva mit dem Speere, im Geviert
    Des hohen Eingangs, aber lächelnd wie
    Die Liebesgöttin und die Mutter Gottes da:
    Und ihre Blicke überstrahlten mich
    Wie aller Menschenliebe Inbegriff.


Die Reise ohne Fahrplan.

    In diese rätselhafte Welt
    Sind wir alle als Rätsel gestellt;
    Bilden Scharaden.
    Wer sucht den Sinn, wer findet Verstand
    In diesem wimmelnden Allerhand?
    Wer kann uns erraten?

    Wir selber? Kaum. Wir tauschen nichts als Zeichen,
    Andeutungen geheimnisvoller Art;
    Ziehn uns Signale auf und stellen Weichen,
    Daß keiner stören mag des andern Fahrt,
    Die ach auf sträflich unsoliden Speichen
    Uns an ein Loch führt, keinem noch erspart:
    An den bekannten Tunneleingang, der,
    Wenn wir es könnten, längst vermauert wär'.

    Vielleicht studiert ein Gott das wirre Wesen,
    Wie ein Professor dies und das studiert:
    Bakterien, unters Mikroskop gelesen;
    Zahlenkolumnen, mächtig aufmarschiert;
    Vokabeln eines Dichters; welche Spesen
    Im Haushalt der Natur die Kraft summiert.
    Wer weiß, was einen Gott dran interessiert, --
    Bis er, gelangweilt, mit dem Sturmesbesen
    Das rätselhafte Zeug beiseite wischt:
    Daß Laus wie Elefant zugleich verschwinden,
    Die ganze Weltgeschichte Kehricht ist,
    Napoleon nicht und Goethe mehr zu finden
    Im großen schwarzen Weltentintengischt,
    Durch das die Zeit sich ruhig weiterfrißt.

    Doch kann's auch sein: Es kennt die Hieroglyphen
    Der Irgendwer, der diese Rätsel schrieb,
    Die nebenbei auch uns ins Leben riefen.
    Wer weiß, vielleicht sind wir ihm wirklich lieb,
    Und, was uns weh tut, jeder Schicksalshieb,
    Will uns, prost Mahlzeit, will uns bloß vertiefen.
    Es kann ja sein. Was kann nicht sein auf Erden?
    Wir können in der Tat noch alle Engel werden.

    Weiß Gott: Gott weiß es! Unser ist allein
    Die Pflicht, ihm ein gefüger Stoff zu sein,
    Auf daß uns selbst die wunderliche Erde
    Kein Nadelkissen oder Kantenstein,
    Sondern ein Garten voller Früchte werde.
    Und geht es dann ins Tunnelloch hinein,
    Soll wenigstens die Lebewohlgebärde
    Den weiter Rätselnden kein schlechter Anblick sein.


            Ende.



Reife Früchte vom Bierbaum.

Inhalt.


                                                        Seite

    Einleitung                                              3

    Skizze zum Porträt eines guten Bekannten von mir       19

    Yankeedoodle-Fahrt                                     27

    Die Liaisons der schönen Sara                          52

    Samalio Pardulus                                       90

    Annemargret und die drei Junggesellen                 131

    Der mutige Revierförster                              157

    Der heilige Mime                                      169

    Gedichte:

      Flußfahrt im Frühling                               191

      Der stille alte Goethe                              192

      Des Helden Not                                      192

      Erde, liebe Erde                                    193

      Südtiroler Herbst                                   193

      Erzählung                                           194

      Der Verliebte                                       195

      Seele!                                              196

      Grabschrift für meinen Vater                        196

      Lyrikerasten                                        196

      Schwein und Pfau (Eine fatale Fabel)                197

      Wegweiser                                           199

      Gott sei Dank!                                      199

      Unser Schloß                                        203

      Die Reise ohne Fahrplan                             204



Von Otto Julius Bierbaum erschienen folgende Werke:


Lyrik:

    Erlebte Gedichte. Gustav Schuhr Verlag, Berlin, 1892. Jetzt im
      Inselverlag Leipzig.

    Nehmt, Frouwe, diesen Kranz. Gustav Schuhr, Berlin, 1894. Jetzt
      Inselverlag.

    Irrgarten der Liebe (34. Tausend). Inselverlag, 1901.

    Dann als »Neubestellter Irrgarten der Liebe«. (Neu angeordnet
      und vermehrt). Ders. Verlag, 1906. (35. bis 40. Tausend.)

    Das seidene Buch. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 1903.

    Maultrommel und Flöte. Georg Müller, München 1907.


Erzählendes:

    Studentenbeichten. Novellen. Schuster u. Loeffler, Berlin, 1.
      Reihe 1891, 2. Reihe 1897. (1. Reihe 8. Aufl., 2. Reihe 6.
      Aufl.)

    Die Schlangendame. Novelle. Derselbe Verlag, 1893. (6. Aufl.)

    Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen
      Herrn Pankrazius Graunzer. Ders. Verlag, 1895. (6. Aufl.)

    Stilpe. Roman aus der Froschperspektive. Derselbe Verlag, 1897.
      (8. Aufl.)

    Das schöne Mädchen von Pao. Chinesischer Roman. Derselbe
      Verlag, 1899. (3. Aufl.) (Große Künstlerausgabe mit
      Illustrationen von B. Lyers, 1909, im Verlage von Georg
      Müller.)

    Kaktus. Künstlergeschichten. (3. Aufl.) Derselbe Verlag, 1899.

    Annemargret und die drei Junggesellen. Novellen. Inselverlag,
      Leipzig, 1902. (Vergriffen; zum Teil übernommen in die
      »Sonderbaren Geschichten«.)

    Die Haare der heiligen Fringilla und andere Geschichten. Albert
      Langen, München, 1903. (Verschiedentlich neu aufgelegt.)

    Das höllische Automobil. Novellen. Wiener Verlag, Wien,
      1904. (Vergriffen; zum Teil übernommen in die »Sonderbaren
      Geschichten«.)

    Zäpfel Kerns Abenteuer. Kinderbuch. Georg Müller, München,
      1906. Jetzt bei Schaffstein & Co., Köln. (Neue Aufl. 1910.)

    Prinz Kuckuck. Zeitroman in 3 Bdn. Georg Müller, München,
      1906/07. 12. Aufl.

    Sonderbare Geschichten. 3 Bde. Derselbe Verlag, 1908.


Dramatisches:

    Lobetanz. Bühnenspiel für Musik (komp. von L. Thuille).
      Genossenschaft »Pan«, Berlin, dann Schuster & Loeffler,
      Berlin, 1895, jetzt Georg Müller, München.

    Gugeline. Bühnenspiel für Musik (komp. von L. Thuille).
      Inselverlag, Leipzig, 1899.

    Pan im Busch. Tanzspiel (komp. v. Felix Mottl). Inselverlag,
      1899.

    Stella und Antonie. Schauspiel. Albert Langen München, 1903.

    Die vernarrte Prinzeß (komp. von O. von Chelius). Derselbe
      Verlag, 1904.

    Zwei Stilpekomödien. (Das Cénacle der Maulesel und die
      Schlangendame.) Georg Müller, München, 1905.

    Zwei Münchener Faschingsspiele (Fastnachts-Festspiele.) Albert
      Langen, München, 1905.

    Der Bräutigam wider Willen. (Komödie nach Dostojewski.) Wiener
      Verlag, Wien, 1906.

    Der Musenkrieg. Studentenkomödie für Musik. Karl Curtius,
      Berlin, 1907.


Kritisches:

    Die zweite Münchener Jahresausstellung Arnold Böcklin. ~Dr.~ E.
      Albert & Co., München, 1890/91, vergriffen.

    Detlev von Liliencron. Wilh. Friedrich, Leipzig, 1892,
      vergriffen.

    Fritz von Uhde. ~Dr.~ E. Albert & Co., München, 1893,
      vergriffen.

    Franz Stuck (Prachtwerk). Derselbe Verlag, 1893, vergriffen.

    Aus beiden Lagern. Über das erste Ausstellungsjahr in München.
      Karl Schüler, München, 1893, vergriffen.

    Franz Stuck. In der Monographienreihe von Velhagen & Klasing,
      Bielefeld, 1899. (Neue Auflage 1909.)

    Hans Thoma. In der »Kunst« von Marquardt & Co., Berlin, 1903.
      (3. Aufl. 1909.)

    Fritz v. Uhde. In der »Kunst unserer Zeit«. Hanfstängl,
      München, 1905, als Buch gänzlich umgearbeitet bei Georg
      Müller, 1908.

    Liliencron. Ein Essaybuch. Verlag von Georg Müller, München.


Verschiedenes:

    Der bunte Vogel von 1897. Kalenderbuch, Gedichte und allerhand
      Prosa. Schuster & Loeffler, Berlin, 1896, jetzt Georg Müller,
      München.

    Der bunte Vogel von 1899. Derselbe Verlag, 1898, jetzt Georg
      Müller, München.

    Eine empfindsame Reise im Automobil. Reiseberichte. Marquardt &
      Co., Berlin, 1903.

    Dasselbe, erweitert unter dem Titel »Mit der Kraft«. Derselbe
      Verlag, 1906.

    Die Yankeedoodle-Fahrt und andere Reisegeschichten. Georg
      Müller, München, 1910.


Demnächst erscheint:

    Fortuna. Ein Abenteuer in 5 Akten (mit Königsbrun-Schaup).
      Verlag von Georg Müller, München.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

    Korrekturen:

    S. 21: achaische → archaische
      Mozart, {archaische} Skulpturen

    S. 101: Mißgestalten → Mißgestalteten
      dieses Nachtkonzert der Unholde dem {Mißgestalteten}

    S. 185: sehrende → zehrende
      Wie {zehrende} Liebeskunde





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