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Title: Dhoula Bel - Ein Rosenkreuzer-Roman
Author: Randolph, Paschal Beverly
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Dhoula Bel - Ein Rosenkreuzer-Roman" ***


produced from images generously made available by The
Internet Archive)



    Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches.



    ROMANE UND BÜCHER
    DER MAGIE

    HERAUSGEBER:

    GUSTAV MEYRINK

    [Illustration]

    RIKOLA VERLAG
    WIEN · BERLIN · LEIPZIG · MÜNCHEN
    1922



    DHOULA BEL

    EIN ROSENKREUZER-ROMAN

    VON

    P. B. RANDOLPH


    AUS DEM ENGLISCHEN MANUSKRIPT
    ÜBERSETZT UND HERAUSGEGEBEN VON

    GUSTAV MEYRINK

    [Illustration]

    RIKOLA VERLAG

    WIEN · BERLIN · LEIPZIG · MÜNCHEN
    1922



Copyright 1922 by Rikola Verlag A. G., Wien

Druck der Gesellschaft für graphische Industrie, Wien VI



VORWORT


Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, das so ungewöhnlich viele in
okkulter Hinsicht bemerkenswerte Menschen hervorgebracht hat, lebte in
den Südstaaten Amerikas ein Mann, der sich P. B. Randolph nannte, in
seiner Jugend Friseur war, später alle möglichen kleinen Berufe ausübte
und in sonderbarem Stolz von sich behauptete, sieben Menschenrassen
zu verkörpern: Inder, ägyptische Fellachen, Neger, Weiße, Turkmenen,
Kreolen und Armenier.

Ich kann seinen Stammbaum natürlich nicht nachprüfen, aber Freunde,
die Randolph kannten, sagten mir, sein Typus sei derart auffallend und
fremdartig gewesen, daß sie keinen Zweifel in seine Angaben gesetzt
hätten.

Randolph schrieb mehrere Bücher, teils Abhandlungen über sogenanntes
Kristallsehen (eine Methode, Visionen durch Starren in schwarze
Spiegel zu erzeugen), teils Romane höchst merkwürdigen und verworrenen
Inhaltes, die sämtlich in Vergessenheit geraten sind; -- das Publikum
wußte nichts Rechtes damit anzufangen und wohl schon, als die Bücher
erschienen, mögen die meisten Leser den Kopf geschüttelt haben, als sie
ihnen in die Hände fielen.

Eines dieser Werke, »Dhoula Bel«, liegt hier vor als dritter Band der
Serie »Romane und Bücher der Magie«.

Ich habe es vor vielen Jahren als Manuskript durch Vermittlung einer
okkulten amerikanischen Brüderschaft, deren Gründer der Autor war, von
der Witwe Randolphs, einer Negerin in Ohio, nebst anderen Schriften und
einem der erwähnten schwarzen Spiegel -- einem sogenannten indischen
»Battah«-Spiegel -- erworben.

Es sei hier kurz bemerkt, daß ich den Roman »Dhoula Bel«, keineswegs
von der Ansicht ausgehend, es handle sich dabei um ein Buch von
besonderem literarischen Werte, herausgebe, sondern lediglich in
der Erwägung: es liegt ein starker Reiz darin, einen Blick in die
Gedankenwelt eines Menschen zu tun, der, ein Schwärmer katexochen
und ein Cagliostro im kleinen, ohne jemals auch nur die geringste
Schulbildung genossen zu haben, plötzlich zur Feder greift und
hemmungslos, ein Halbwilder und Besessener, zu uns spricht.

Eine Zeitlang war er -- wenn ich nicht irre in Boston -- berufsmäßiger
Hellseher und bestritt seinen Lebensunterhalt durch Verkauf der
erwähnten magischen Spiegel, die er unter kuriosen, exotischen
Zeremonien anfertigte.

Einige meiner Freunde, die Randolph kannten, schrieben mir
übereinstimmend, seine Gabe räumlich hellzusehen, sei geradezu
verblüffend gewesen und habe alles weit in den Schatten gestellt, was
auf diesem Gebiete jemals geleistet wurde.

Tatsache ist, daß der letzte Napoleon ihn nach Paris kommen ließ; ein
Kapitel in dem vorliegenden Roman behandelt Näheres darüber.

Wie Eliphas Lévi (siehe II. Band der »Romane und Bücher der Magie«) war
auch er ein erbitterter Gegner des Spiritismus. -- »Was immer sich in
solchen Séancen zeigt«, sagte er wörtlich, »ist das Teuflischste, was
ein menschliches Gehirn auszudenken imstande ist -- mag es sich auch
noch so engelhaft gebärden.«

Helene Petrowna Blavatsky, die bekannte Gründerin der Theosophischen
Gesellschaft, hatte ihn auf ihren Reisen in Amerika kennen gelernt;
-- sie verkehrten miteinander auf eine höchst geheimnisvolle
Weise, wie mir ein Freund, der beide kannte und oft mit ihnen
beisammen war, berichtet hat. »Sie schienen sich telepathisch (durch
Gedankenübertragung) verständigen zu können;« -- so schrieb mir mein
Freund -- »oft, wenn ich mit der ›old lady‹ (Spitzname der Blavatsky)
beim Tee saß, sprang sie plötzlich auf und rief: Was will denn der Kerl
schon wieder! -- Und dann, wenn ich sie begleitete, jedesmal trafen wir
den »Nigger« wartend auf irgendeinem Platze, dem Frau Blavatsky, als
stünde sie unter einem Befehl, in größter Eile zugesteuert war. Was sie
dann miteinander verhandelten, habe ich nie erfahren können, denn die
old lady schwieg darüber wie das Grab.«

-- -- -- »Randolph« -- so heißt es weiter in dem Brief meines Freundes
-- »ist der unheimlichste Mensch, der mir in meinem Leben vorgekommen
ist. -- Ich habe mir alle Mühe gegeben, sein Inneres zu durchschauen;
-- vergebens. -- Plötzlich, mitten im Gespräche -- auf der Straße
-- änderte sich der Ton seiner Stimme; ein Fremder schien aus ihm
zu sprechen, oft in einer Sprache -- und ich kenne deren viele! --,
die mir völlig unbekannt war. -- -- Seine Gabe, Vorgänge hellsehend
zu schauen, die an weitentfernten Orten geschahen, grenzte ans
Wunderbare. -- -- --

Da von ihm die Rede ging, er sei imstande, Frauen durch Fernsendung
eines Willensstromes sich gefügig zu machen, beschloß ich eines Tages,
ihm in dieser Hinsicht auf den Zahn zu fühlen und brachte das Gespräch
darauf. -- Wir waren gerade im Theater und es war Zwischenpause.
›Jawohl,‹ sagte Randolph, als ich ihn fragte, ›jede Frau, die ich rufe,
muß kommen. Jederzeit. Sofort.‹

›Auch jetzt, zum Beispiel?‹

›Gewiß. Auch jetzt. Bestimmen Sie selbst eine von den vielen, die da
unten sitzen.‹

Ich deutete verstohlen auf eine blonde junge Dame in einiger Entfernung
und Randolph versank sofort, die Augen schließend, in ein starres
Brüten.

Kaum zwei Minuten später erhob sich die Dame und taumelte wie eine
Mondsüchtige hinaus.

Natürlich bat ich Randolph, auf der Stelle das scheußliche Experiment
zu unterbrechen.«

       *       *       *       *       *

Das Leben P. B. Randolphs ist mir nur bruchstückweise bekannt. Seine
Lehre der Magie, soweit er sie anderen mitteilte, ist einesteils
sublim, anderseits -- negerhaft barbarisch wie nur möglich.

Näheres darüber mitzuteilen (was ich weiß, entstammt Mitteilungen
aus Kreisen der von ihm gegründeten »occult brotherhood of Eulis«)
ist mir mangels Raum hier nicht möglich; außerdem würde ich davor
zurückscheuen, es zu veröffentlichen, denn die Sache scheint mir
zu gefährlich fürs Gemeinwohl, als daß ich mich auf eine genaue
Schilderung einlassen möchte.

Es genügt zu sagen: Randolph benützte als Stimulans zu magischen
Handlungen sexuelle Mittel.

Sapienti sat!

Das Ende in derlei Fällen ist immer das gleiche: Irrsinn oder
Selbstmord.

Randolph ging an beidem zugrunde; er erschoß sich in einem Anfall
höchst sonderbarer Geistesverwirrung.

Ich zitiere wiederum meinen Freund. Er schrieb mir wörtlich:
-- -- -- »Die Ursache des quasi über Nacht entstandenen Hasses zwischen
Frau Blavatsky und Randolph ist mir vollkommen unbekannt. Vielleicht
war es Rivalität. Jedenfalls ist die old lady Siegerin geblieben.« --
-- -- -- Dann heißt es am Schlusse des Briefes:

»Es war in Adyar (Indien). Frau Blavatsky und ich saßen regungslos
und schweigend auf unseren Sesseln unter großen Schirmen, denn es war
glutheiß. Plötzlich rief Frau Blavatsky: ›Jetzt schießt er auf mich,
der Nigger! -- -- -- So, jetzt hat ihn der Teufel geholt.‹

Auf meine erstaunte Frage, was denn los sei, erzählte sie mir, Randolph
habe sie soeben auf magische Weise ermorden wollen, indem er (in
Amerika! Tausende Meilen entfernt!) eine Pistole geladen habe mit dem
Willensbefehl, die abzuschießende Kugel möge sich dematerialisieren
(entstofflichen) und sich in ihrem Herzen (Blavatskys) wieder zu Blei
zusammensetzen. Im letzten Augenblick jedoch sei Randolph wahnsinnig
geworden und habe sich selbst in die Stirn geschossen.

Ich glaubte das natürlich nicht, aber für alle Fälle notierte ich mir
Stunde, Datum und Minute.

Was ich ungefähr ein Jahr später von Kate (Randolphs Witwe) in Ohio
erfuhr, hat mich tief erschüttert: tatsächlich hat sich der Nigger
genau zur selben Zeit in die Stirn geschossen. -- Du wirst mir ja
glauben und ich erzähle es auch nur dir. Anderen gegenüber schweige
ich lieber, damit es nicht wieder heißt: ›Ach ja, theosophischer
Hofklatsch.‹«

       *       *       *       *       *

Ich hielt es für angebracht, diese »Anekdote« (so wird es wohl
die größere Anzahl der Leser nennen) über Randolphs Leben hier
wiederzugeben.

Worauf ich jedoch die Aufmerksamkeit in »Dhoula-Bel« besonders lenken
möchte, da es mir zur Erkenntnis spiritistischer Phänomene wichtig
scheint, Ist das Kapitel über den Mediator »Nibchi«.

    Starnberg, im Herbst 1921

            GUSTAV MEYRINK



DHOULA BEL

Ein Rosenkreuzer-Roman



ERSTES BUCH



1. Kapitel

DER SELTSAME MANN


Er setzte sich müde am Wegrand der Landstraße nieder, denn er war
weit gewandert an jenem Tage. Seine Füße waren wundgelaufen und seine
Körperkraft war durch die Not und das Elend, das er durchgemacht,
beinahe erschöpft. Seine Augen blickten verstört und ein Dunstkreis
schwerer Düsterkeit umgab ihn, deutlich fühlbar für alle, die in seine
Nähe kamen und ihn anblickten. Er war ein Mensch, den schwere Sorgen
drückten.

Und als er so am Wegrand saß, das Haupt auf seinen Stock gestützt,
quollen bittere Tränen zwischen seinen Fingern hervor und netzten den
Boden zu seinen Füßen. In späteren Zeiten erwuchs hier eine Zypresse,
der Baum der Sorge, und grünte in düsterer und trauervoller Schönheit,
wie um den Ort zu bezeichnen und zu behüten, wo einst der Mann seine
klagende Stimme erhoben und laut geweint hatte.

Doch das lag viele Jahre zurück und war der Anlaß zu meiner
Bekanntschaft mit dem Manne, der in diesem Buch eine so hervorragende
Rolle spielt. Damals bekannte sich der Verfasser dieses Buches
zwar noch zu allen religiösen und psychologischen Glaubenssätzen
des Christentums, mißtraute ihnen aber innerlich und hätte jemand
auf gewisse geheimnisvolle Möglichkeiten, die seitdem bestätigt und
bewiesen wurden, auch nur angespielt, so hätte er ihm ganz gewiß ins
Gesicht gelacht und ihn für einen hervorragenden Narren oder Idioten
gehalten. Seitdem hat sich manches geändert.

Der Mann am Wegrand war von mittlerer Größe, weder beleibt noch mager,
von schönem Mittelmaß. Kopf und Stirn waren breit und durch gewisse
Eigentümlichkeiten der Kopfform in Wirklichkeit viel massiger, als es
auf den ersten Blick schien. Der geistige Organismus des Mannes erhielt
sich auf Kosten des körperlichen, da sein Nervensystem, wie bei allen
derartigen Menschen, geradezu krankhaft empfindlich und reizbar war.
Nichts Rohes, Brutales, Niedriges oder Pöbelhaftes war an ihm, weder
von Natur noch durch Erziehung, und wenn je Im Kampf des Lebens eine
dieser schlechten Eigenschaften bei ihm auftrat, so war dies lediglich
widrigen Umständen zuzuschreiben, und der Behandlung, die er von der
Welt erfuhr. Von Natur war er offen, wohlwollend und großmütig bis zur
Schwachheit, und diese Züge nützten die Menschen zu seinem Unglück
aus. Mit überreichen Fähigkeiten ausgestattet, die tiefsten und
abstraktesten Fragen der Philosophie und Metaphysik zu lösen, war er
doch vollkommen unfähig, die kleinsten geschäftlichen Angelegenheiten
zu erledigen, selbst wenn sie nur ein geringes Maß von finanzieller
Geschicklichkeit erforderten.

Eine natürliche Folge davon war, daß dieser Mann mit allgemein als
gut anerkannten Eigenschaften beständig das Opfer des ersten besten
hergelaufenen Schurken wurde, von dem »Freunde« angefangen, der ihm
sein halbes Vermögen abborgte, angeblich um die Hälfte davon anzulegen
-- in Wirklichkeit, um das Ganze zu behalten, bis zu seinem Verleger,
der ihn um Geld und Zeit betrog.

Sein Gesicht war lohfarben gleich dem der Araberkinder in Beirut
und Damaskus. Form und Stellung von Kinn, Backenknochen und Lippen
verrieten mehr passive als aktive Stärke. Der Mund mit seiner leicht
vorstehenden Oberlippe und zwei kleinen Falten an den Mundwinkeln
deutete auf Geschicklichkeit, Leidenschaft, Mut, Festigkeit und
Entschlossenheit. Die Wangen waren leicht eingefallen; dies deutete
auf Kummer und Verdruß, während die ein wenig vorstehenden und breiten
Backenknochen auf seine farbigen Vorfahren hinwiesen. Die Nase war nur
durch die Beweglichkeit der Nasenflügel bemerkenswert, die ein leicht
entzündliches Temperament verriet. Es bedurfte auch tatsächlich nur
eines geringen Anlasses, um ihn aus einem passiven, geduldigen Menschen
zur Verkörperung mannhafter Kampfbereitschaft für eine gerechte Sache
zu machen oder zu einem Dämon von Haß und wahnwitziger Rachgier.

Seine Augen oder vielmehr sein Auge -- denn eines war durch einen
Unglücksfall nahezu zerstört -- war von einem tiefen, dunklen
Nußbraun, das das Volk pechschwarz zu nennen pflegt. Es strahlte einen
merkwürdigen magnetischen Glanz aus, wenn er auf der Rednerbühne
sprach. Er war seinerzeit ein Volksredner gewesen und hatte auf diesem
Gebiet keine geringe Berühmtheit erlangt. Wer ihn einmal so gesehen
oder gehört, konnte ihn nie wieder vergessen, so verschieden war er von
allen anderen Menschen, und so bezeichnend und eigenartig waren seine
Eigenschaften.

Er war ein ganz einzigartiger Mann -- dieser Rosenkreuzer --; ich
kannte ihn wohl. Manche Stunde sind wir beisammen in dem kühlen
Schatten irgendeiner alten, ehrwürdigen Ulme auf den grünen,
blumenbesäten Ufern von Connecticuts Silberstrom oder unter einer
turmhohen Palme am Ufer des alten Nils, im weißen Lande der Pharaonen,
der Magie und der Mythen gesessen, wobei er beständig in mein Ohr
seltsame, seltsame Sagen flüsterte -- Sagen aus uralter Zeit -- die
meine dürstende Seele trank, wie die von der Sonne ausgetrocknete
Erde den ersehnten Regen, oder der Sand die Tränen weinender
Wolken. Und diese Erzählungen, diese Sagen, stellten die wildesten
Phantasiegestalten Germaniens weit in den Schatten. Besonders betroffen
war ich über eine Andeutung, die einmal seinen Lippen entfloh, daß
viele Menschen auf dieser Erde und er selbst unter ihnen schon früher
auf dieser Welt gelebt hätten, und daß er sich zu gewissen Zeiten
deutlich an Orte, Personen und Ereignisse erinnere, die vor der Zeit
lagen, in der er seine gegenwärtige Gestalt angenommen, und daß demnach
sein wirkliches Alter sogar das Ahasvers, des ewigen Juden, noch
übertreffe.

Dieser Mann, mein Freund, sprach während unserer Bekanntschaft oft
von der weißen Magie und gelegentlich versteifte er sich geradezu
hartnäckig auf seine seltsame Seelenwanderungsdoktrin. Doch das war
nicht alles: er behauptete, die Seelen der Menschen verließen zuweilen
ihre Körper für ganze Wochen, während dieser Zeit würden dann die
verlassenen Leiber von anderen Seelen bewohnt, manchmal von der eines
für immer entkörperten Erdenmenschen, ein andermal von der eines
Bewohners des Luftraumes, der, so inkarniert, nach Belieben auf Erden
umherstreife. Wurde er um eine klare und bündige Erklärung gebeten,
dann sprach er seinen festen Glauben aus, daß er auf diese Weise viele
Menschenleben hindurch gelebt habe, und aus Gründen, die nur ihm
bekannt seien, verurteilt worden, weiter auf Erden zu wandern wie der
große Artefius -- jener andere Rosenkreuzer -- bis die Vollführung
einer bestimmten Tat (bei der er selbst, unfreiwillig, tätig mitwirken
sollte) ihn davon erlösen und ihm erlauben würde, das Los anderer
Sterblichen zu teilen.

Als eine Begleiterscheinung seiner Verschiedenheit von anderen Menschen
ist es wohl auch anzusehen, daß er mit gewissen übersinnlichen
Kräften ausgestattet war, darunter mit einer seltsamen Fähigkeit des
Hellsehens. Diese Fähigkeit, mochte sie auch nicht immer offenkundig
sein, setzte ihn bisweilen instand, Dinge, Personen und Ereignisse zu
sehen und zu beschreiben, sogar über das Weltmeer hinüber, und die
geheime Geschichte und die Gedanken des verschlossensten Menschen
so leicht wie in einem Buch zu lesen. Anfänglich bezweifelte ich
seine Behauptungen, führte sie auf einen abnormalen Geisteszustand
zurück oder lachte über die tolle Behauptung, daß irgendeiner mitten
im neunzehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung im Ernst so
außerordentliche Kräfte für sich in Anspruch nehmen könne. Wie bereits
gesagt, wies seine Gesichtsfarbe darauf hin, daß er ein Mischling
war -- nicht gerade ein Bastard -- aber ein Mensch, in dem das Blut
von mindestens sieben verschiedenen Rassen floß. Aus seiner Art zu
reden hätte man schließen können, daß seine Erziehung nicht ganz
vernachlässigt worden, aber sicherlich ganz anders beschaffen gewesen
war, als die in christlichen Ländern allgemein gebräuchliche. Es war,
wenn überhaupt, sehr wenig feine Sitte an ihm -- nicht etwa, daß es ihm
an Höflichkeit oder Glätte gefehlt hätte --, aber seine Art war die der
Flüsse, Wälder und Seen, nicht die der Salons und der Stätten des guten
Tons. In allem, was sein Innenleben betraf, war er rätselhaft, und zwar
meist dann, wenn er sich am offensten zu geben schien. Mir erschien
er am Ende einer zehnjährigen Bekanntschaft noch sphinxhafter als am
ersten Tage. Obwohl arm, hatte er doch ausgedehnte Reisen gemacht.
Exotisch in seiner äußeren Erscheinung und seinem Geschmack, war er es
noch mehr seiner Geistesverfassung nach und in allem, was Träumerei,
Philosophie und Gefühlsleben betraf.

Nach dieser Schilderung der Hauptperson meiner Erzählung gehe ich
nun dazu über, eine andere Seite aus dem Lebensbuch dieses Mannes
wiederzugeben.



2. Kapitel

SEINE JUGENDZEIT -- DIE SELTSAME LEGENDE


Und da saß der seltsame Mann am Wegrand -- traurig, still weinend --
als wollte sein Herz brechen. Seine Sorge hatte keine geringe Ursache.
Es war nicht augenblicklicher Mangel an Nahrung, Unterkunft oder
Kleidung, aber sein Herz war voll und seine Quellen flossen über.
Die Welt hatte ihn ein Genie genannt und ihn als solches verzärtelt,
gepriesen, bewundert und dabei hungern lassen; kein Funken Mitgefühl
die ganze lange Zeit über, keine Spur von uneigennütziger Freundschaft.
Die große Menge hatte sich um ihn gedrängt, wie die Gaffer der
Großstädte sich um die letzte Neuheit im Panoptikum drängen, um dann,
zufriedengestellt von der Besichtigung, sich abzuwenden und ihn seiner
ganzen grenzenlosen Einsamkeit und seinem Elend zu überlassen.

Im Alter von acht Jahren war er in der römisch-katholischen Kirche auf
den Namen _Beverly_ getauft worden. Von seinem Vater erbte er wenig,
außer dem hochfliegenden Geist und der ehrgeizigen rastlosen Natur
sowie einer Empfänglichkeit für leidenschaftliche Erregungen, so groß,
daß sie auf sein ganzes Leben dauernd und stark einwirkte. Nur ein Jahr
lang genoß er regelrechten Schulunterricht, alle späteren geistigen
Errungenschaften verdankte er nur seiner eigenen Anstrengung. Sein
Vater liebte ihn wenig, um so mehr aber seine Mutter. Er war mit allen
seinen Zähnen geboren worden und alte Klatschbasen weissagten ihm
daraus eine außergewöhnlich erfolgreiche Laufbahn; außerdem bestärkten
gewisse merkwürdige Geisterbesuche vor und kurz nach seiner Geburt
seine Mutter in der Einbildung, daß er zu keinem gewöhnlichen Schicksal
bestimmt sei.

Zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre vor dem Beginn dieser
Erzählung wohnte in der New York City, da, wo damals die Canal Street
lag, in dem Hause Nr. 70 eine Frau, deren Gesichtsfarbe die einer
Mississippiquarterone[1] war. Sie stammte aus Vermont und genoß den
Ruf, das schönste Weib in dem Staate und vielleicht auf der ganzen Welt
zu sein. Ihr Geist war ebenso vielseitig wie ihr Äußeres reizvoll.
Ihr Leben verlief bis zu jener Zeit sehr bewegt und im Grunde tief
unglücklich. Ihr Feinsinn, ihre Natur und Erziehung, ihr Charakter
und ihre Fähigkeiten verlangten nach einer höheren gesellschaftlichen
Stellung als die, die sie aus pekuniären Gründen einnehmen mußte. Ein
anderer Grund für ihre Unrast war eine unglückliche Ehe. Ihr Gatte war
nach langjähriger Abwesenheit zurückgekehrt, während welcher sie ihn
für tot gehalten und eine zweite Ehe mit dem Vater ihres Söhnchens
geschlossen hatte, und seit jenem Augenblick empfand sie niemals mehr
auch nur einen kleinen Teil dessen, wonach sie sich jahrelang gesehnt,
jene Liebe und Zuneigung, die als Tugend der Mütter gerühmt wird und
die allein das Leben zu einem Segen machen und den rauhen, dornigen
Pfad ebnen kann.

Flora Beverly war unmittelbar verwandt mit den rothäutigen Söhnen der
nördlichen Prärien, aber dieses Blut vermischte sich mit dem edleren
Safte aus den Adern ihres Vorfahren, des Cid. Als sie heiratete, dachte
sie sich als den Mittelpunkt eines Königreiches von ungetrübten Freuden
und Wonnen zu sehen, darin sie als unbestrittene Herrscherin regieren
wollte. Der Mann, den sie gewählt, nahm sie wegen ihrer Schönheit. Er
glaubte mit ihrem Besitz den Himmel auf Erden zu erlangen. Beide wurden
bitter enttäuscht. Ihr Gatte wußte nur die äußeren, oberflächlichen
Eigenschaften und Vorzüge seiner Frau zu würdigen, während ihr inneres,
höheres, besseres Ich -- ihre Seele -- ihm eine terra incognita war,
die zu erforschen ihm, wie es bei so vielen anderen Ehemännern der Fall
ist, nicht im entferntesten einfiel.

Und so erwachten die beiden, nachdem der erste Rausch der Sinnlichkeit
vorüber war. Der Mann kam zur Erkenntnis, daß sein Weib für ihn ein
»recht niedliches Püppchen«, die Frau, daß ihr Gatte ein Tier war,
dessen Seele fest unter seinen Sinnen schlief, und sie selbst seine
Sklavin und sein Opfer. Naturgemäß wurde sie bald ihres seichten Lebens
müde und verlor den Geschmack daran. Da sie fühlte, daß sie von den
vielen, die um sie her lebten, nicht verstanden und gewürdigt wurde,
verschmähte sie jede Berührung mit ihnen und zog sich ganz in sich
selbst zurück, um allmählich ihre Sehnsucht mit jeder Faser ihres
Herzens auf die zahllosen Millionen der Toten zu richten. Sie rief sie
zu Hilfe und glaubte mit religiöser Inbrunst, ihre Bitten seien erhört
und indem sie sich ganz ihrer geheimnisvollen Fürsorge und Leitung
überließ, führte sie fortan ein doppeltes Leben -- ein Schattenleben
in der Welt, ein wirkliches Leben im Lande der Geister. So wurde sie
eine Seherin, eine Träumerin und in der für sie wenigstens wirklichen
und tatsächlichen Verbindung mit den stolzen Geistern dahingegangener
Völker, deren Häupter ihre Vorfahren in beiden Linien gewesen waren,
suchte sie Mitgefühl für ihre Sorgen und für ihre seltsamen inneren
Freuden. Und sie fand, was sie suchte, oder was für ihre impulsive
Seele auf das gleiche heraus kam, sie glaubte es gefunden zu haben.
Zuerst hatte sie einige Schwierigkeit, das, was sie für das leise
Flüstern der ätherischen Bewohner des unsichtbaren Reiches Manitous
hielt, in die verständliche menschliche Sprache des Herzens und der
Worte zu übertragen. Sie sehnte sich glühend nach einem freieren
Verkehr mit den Toten, und sie wurde befriedigt.

Die arme Flora, dieses merkwürdige Mischgebilde von Natur und Kunst,
sollte ein Kind gebären, und dieses Kind -- der Held dieses Buches --
wurde unter den Umständen geboren, von denen hier berichtet wird.

Im Herzen dieser Frau schlummerte, wie ich schon sagte, ein Vulkan.
Ihre überströmende Seele verkörperte sich wieder in dem Sohn, den sie
geboren, und sie pflanzte dem Kinde ihre eigene brennende Sehnsucht
nach Liebe und Gegenliebe ein, alle ihre mystischen Neigungen, ihre
Vorliebe für das Geheimnisvolle, all ihr metaphysisches Streben nach
unirdischen Beziehungen, ihre ganze entschlossene und doch fast
verzweifelte, leidenschaftliche, impulsive, edle Natur, alles, alles
fand in ihm Wohnung und Namen.

So trat er in die Welt, von der Geburt an zu seltsamen und bitteren
Erfahrungen verurteilt -- verurteilt, allein und ohne Freunde dem
schneidenden Wehen der Winterstürme und der glühenden Hitze der
Sommersonne zu trotzen; sich an die Hoffnung auf einen frühen Tod
anzuklammern und dabei doch mit zehnfacher Zähigkeit am Leben zu hängen.

An dieser Stelle will ich den Inhalt eines Berichtes wiederholen, den
er selbst über seine Kindheit und seine geheimnisvollen Erfahrungen mit
den Geistern gab. Man hatte ihn einmal über gewisse ihm zugeschriebene
außergewöhnliche Kräfte befragt und er entgegnete darauf:

»Als ich noch ein kleines Kind war, wohnte meine Mutter in einem
großen, dunklen, düsteren, alten Steinhaus auf Manhattan Island. Damals
war New York fast nur ein Viertel von dem, was es jetzt ist, und jenes
Haus lag eine ziemliche Strecke außerhalb der Stadt. Es steht noch
heute an der gleichen Stelle, aber die City ist meilenweit darüber
hinaus gewachsen. Das Gebäude war in Zeiten, wo Pest, Fieber, Pocken
oder Cholera wüteten, als Pesthaus oder Lazarett benützt worden und in
ihm sind Tausende an jenen Krankheiten gestorben; von ihm aus nahm in
meinem fünften Lebensjahre die Seele meiner Mutter ihren ewig dauernden
Flug.

Viele waren bereit, einen Eid darauf zu schwören, daß das alte Haus von
Geistern heimgesucht werde, die in schrecklichem Schweigen durch die
feierlichen, stattlichen Säle des massigen Inselschlosses wandelten.
Aber im allgemeinen hatten die Zeugen solcher Geisterbesuche weder Zeit
noch Neigung, um die Bekanntschaft mit den Besuchern zu pflegen --
ausgenommen einer, ein Apotheker namens Banker, der einmal einer jener
Erscheinungen eine Verwünschung zurief, worauf diese ihm einen Schlag
auf den Kopf versetzte und ihm zur Strafe für sein Majestätsverbrechen
die Kinnlade vollständig zerschmetterte. Von dieser einen Ausnahme
abgesehen, beeilten sich alle, die einem jener Geister begegneten, die
entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, und es war erstaunlich, mit
welch überraschender Schnelligkeit selbst Gichtbrüchige die Flucht
ergriffen, wenn einer von denen, die mit einem Schafhäutchen über dem
Gesicht geboren waren, und denen daher im Volksmund die Fähigkeit
zugeschrieben wurde, Geister zu sehen, erklärte, es sei ein Gespenst
in der Nähe; und da derartig Bevorzugte Geister _sehen_ konnten,
so wünschte ich mir oft, ich möchte einem begegnen, der mit zwei
Schafhäutchen geboren war, so daß er sie nicht nur sehen, sondern auch
mit ihnen _sprechen_ könnte.

Viele glaubten nicht an Geister. Ich glaube an Geister der
verschiedensten Arten, die ich im folgenden aufzählen möchte: 1.
Es gibt Abbilder, die von den Seelen ausgesandt und irgendeinem
andern weit Entfernten sichtbar werden. 2. Die Erzeugnisse einer
erhitzten Phantasie -- die Vorspiegelung der Geister -- die Folgen
von Gehirnfieber, Trunkenheit, Opium und andere Hirngespinste. 3.
Die Geister toter Menschen. 4. Geistige Wesen von anderen Planeten.
5. Wesen von ursprünglichen Welten, die nicht gestorben, aber
nichtsdestoweniger von so feiner Struktur sind, daß die Gesetze der
Materie, denen wir unterworfen sind, für sie nicht gelten, und die,
indem sie so unter die Wirksamkeit jener Gesetze fallen, die die
entkörperten Menschen regieren, imstande sind, alles zu tun, was
jene tun. 6. Ich glaube, daß menschliche Wesen aus Verzweiflung oder
bösem Willen häufig geistige Harpyen ins Leben rufen, die furchtbare
Verkörperung ihrer bösen Gedanken. Das sind quasi Dämonen, die so lange
existieren, als ihre Schöpfer unter der Herrschaft des Bösen stehen. 7.
Ich glaube an eine ähnliche, aber von den guten Gedanken guter Menschen
ausgehende Schöpfungskraft, die lieblichen Emanationen sehnsüchtiger
Seelen. Man beachte diese sieben Klassen wohl. Sie bilden eine genaue
Darstellung der Lehre ›der Rosenkreuzer von der höheren Ordnung‹.

Als ich etwa fünf Jahre alt war, kam ich eines Tages von der Schule
nach Hause und fand die irdische Hülle, die körperliche Gestalt der
einzigen Freundin, die ich je besessen, meiner Mutter, kalt und
zusammengesunken. Welch ein Schlag für mein Kinderherz! Sie war an
jenem Morgen der Erde müde geworden, hatte heiter und vertrauensvoll
ihre liebevollen Augen geschlossen; und ich blieb allein zurück, um
gegen vier mächtige Feinde zu kämpfen: Vorurteil, Armut und meine
eigene Natur. Der vierte ist fast zu schrecklich und zu phantastisch,
als daß man ihn für möglich halten könnte, aber ich will erzählen:


DIE LEGENDE

Vor vielen, vielen Jahrhunderten lebte in dem Lande, wo in späteren
Zeiten Babylon und Ninive standen, ein mächtiger König, dessen Macht
groß und unbestritten war. Weise, wohlgebildet, aber exzentrisch, hatte
er eine Tochter, die über alle Beschreibung lieblich und klug und schön
war. Könige und Fürsten bewarben sich vergebens um ihre Hand, denn ihr
Vater hatte geschworen, er werde sie keinem anderen Mann geben als dem,
der ihm ein Rätsel lösen könnte, das er, der König selbst, ihm aufgeben
würde; wüßte er aber die Lösung nicht, so müsse er sterben. Das
Rätsel lautete: »Welches sind die drei wünschenswertesten Dinge unter
der Sonne, die nicht die Sonne sind, die aber in der Sonne wohnen?«
Tausende von heiteren und ernsten, weisen und ehrgeizigen Männern
versuchten die Lösung, fanden sie nicht, ließen ihr Leben und bestiegen
das fahle Roß des Todes.

Inzwischen war weit und breit verkündet worden, daß Purpurgewänder,
goldene Ketten, der höchste Rang im Reiche und die Hand der Prinzessin
die Belohnung des Glücklichen sein würden.

Eines Tages nun kam eine glänzende Gesandtschaft von dem König des
Südens an den Hof, die ein Bündnis schließen wollte, und neue Verträge
vorschlug. In ihrem Gefolge befand sich ein junger Dichter, der der
Gesandtschaft als Dolmetsch diente. Dieser Jüngling hörte von der
merkwürdigen Angelegenheit, erkundigte sich nach den Bedingungen und
prägte sich das Rätsel ein. Vier lange Monate hindurch brütete er
darüber und dachte nach, indem er alle möglichen Antworten in seinem
Geist erwog, aber ohne eine zu finden, die allen drei Erfordernissen
gerecht wurde.

Um ungestört nachdenken zu können, pflegte sich der junge Mann in
eine Grotte hinter dem Palast zurückzuziehen und sich dort das Rätsel
und alle möglichen Lösungen durch den Kopf gehen zu lassen. Als die
Prinzessin davon hörte, beschloß sie, ihn zu beobachten und führte
diesen Entschluß auch aus. So sah sie ihn täglich, ohne daß sie von ihm
bemerkt wurde, und bald wurde sie von Liebe zu ihm so entflammt, daß
sie ihn mehr liebte als ihr Leben.

Eines Tages nun schlief der Jüngling in der Grotte ein und sein Haupt
lag dabei gerade über einer Felsspalte, aus der ein sehr feiner,
leichter Dampf hervorströmte, der ihn bald in einen Traumzustand
versetzte, in dem er die Prinzessin selbst zu sehen glaubte,
unverschleiert und lieblicher als die Blumen, die in des Königs
Garten blühten. Er glaubte sodann eine Inschrift zu sehen, die ihn
aufforderte, nicht zu verzweifeln, und zu gleicher Zeit stand vor
seinem Geiste der Satz, der später die Losung jener mystischen
Brüderschaft wurde, die einige Jahrhunderte lang unter dem Namen der
Rosenkreuzer bekannt war: ›_Es gibt keine Schwierigkeit für den, der
ernstlich will._‹ Und mit diesem Satz kam ihm die Lösung von des Königs
Rätsel, an die er sich erinnerte, als er erwachte. Sogleich erklärte
er, er sei bereit, das zu versuchen, was so vielen Abenteurern das
Leben gekostet hatte. Es wurden umständliche Vorbereitungen getroffen,
wobei der Henker nicht vergessen wurde, der mit einem blanken Schwert
bereit stehen mußte, um den Dichter um einen Kopf kürzer zu machen,
wenn er die Lösung nicht fände. Zur bestimmten Stunde versammelte
sich der ganze Hof, darunter auch die Prinzessinnen in dem größten
Saale des Palastes. Der Dichter näherte sich den Stufen des Thrones,
kniete nieder und sprach: »O König, mögest du ewig leben! Welche drei
Dinge sind wünschenswerter als Leben, Licht und Liebe? Welche drei
sind untrennbarer? Und was kommt mehr von der Sonne und ist doch
nicht die Sonne? O König! Ist dem Rätsel gelöst?« »Ja,« sagte der
König, »du hast es gelöst, und ich werde mein Wort halten.« Und er
gab sogleich Befehl, die Hochzeit mit königlichem Pomp zu feiern,
obwohl er, durch einen hohen Hofbeamten beeinflußt, die Dichter im
allgemeinen nicht leiden konnte, und diesen einen gerade deswegen
nicht, weil er glaubte, der junge Mann habe ihn bei einem der soeben
abgeschlossenen diplomatischen Verträge übervorteilt. Nun geschah es,
daß der Großwesir gehofft hatte, irgendwie eine Lösung des Rätsels
zu finden und so den großen Preis für einen seiner eigenen Söhne zu
gewinnen; und sobald nun an jenem Tage der Diwan zu Ende war, eilte er
in das Privatkabinett des Königs und bemühte sich, seinen Herrn noch
mehr gegen den Sieger zu stimmen, indem er ihm vorspiegelte, jener habe
nur durch Zauberei gesiegt. Dies erzürnte den König so sehr, daß er
seine Einwilligung gab, den jungen Bräutigam noch in derselben Nacht
durch einen schnellen, heimlichen, grausamen Tod beiseite schaffen zu
lassen. Zu diesem Zweck wurde bei dem abendlichen Festmahl dem Dichter
ein Schlaftrunk gegeben und, als dieser seine Wirkung getan hatte,
legte man ihn auf ein Ruhebett und brachte ihn dann in den Raum, der
für widerspenstiges Gesinde des Hofes bestimmt war. Dieser Raum lag
unter der Erde und als der Jüngling dort mit roher Gewalt auf den Boden
geworfen wurde, erwachte er und sah mit Bestürzung, daß er an Händen
und Füßen gefesselt war; vor ihm stand der König, der Wesir und einige
Soldaten und -- der Tod; denn er sah an den Blicken seiner Feinde,
daß seine Tage gezählt waren. Vergebens verteidigte er sich gegen die
Anschuldigung der Zauberei. Er wurde zum Tode verurteilt und der König
gab sogleich Befehl zum Vollzug des Urteils. Gerade in dem Augenblick,
als der tödliche Streich fallen sollte, erschien eine riesige Hand,
die offenbar die erhobene Klinge aufhalten wollte. Aber zu spät, das
Schwert fiel. Als es den Nacken des Dichters berührte, stieß dieser
die schrecklichen Worte aus: »Ich verfluche euch alle, die ihr --«
der Rest des Satzes wurde im Jenseits gesprochen; aber gleichzeitig
erhob sich ein Lärm und ein Geschrei wie von tausend anklagenden
Geisterstimmen, und eine von ihnen rief unter Donnergetöse: »Dieser
Jüngling hat durch seine Willenskraft die Tore zu dieser Welt und zur
Welt des Geheimnisses entriegelt. Er war der erste seines und deines
Geschlechts, der jemals so hohen Ruhm erreichte. Und ihr habt ihn
erschlagen, und er hat dich verflucht, und darum hast du, o König, und
du, o Wesir, wie auch der Tote die menschliche Natur mit einer andern
vertauscht. Der König wird durch die Jahrhunderte hindurch von einer
Gestalt in die andere wandern. Du aber, o Wesir, wirst leben, bis dir
vergeben ist; -- Dhoula Bel soll dein Name sein und du sollst den König
versuchen durch Menschenalter hindurch und dein Streben soll zunichte
werden, so oft immer der Jüngling -- der der ›Fremde‹ genannt werden
wird -- es so will, um der Liebe willen, die er im Herzen trug. Dieses
Drama soll dauern, bis ein Sohn Adams eine Tochter Ichs heiraten wird
oder bis du, o König, in einer der Gestalten deines Daseins lieben und
wirklich und treu wieder geliebt werden wirst, und zwar nur um deiner
selbst willen. Möge eine Ewigkeit vergehen, bis dies geschieht.««

       *       *       *       *       *

»Fragt mich nicht,« sagte der junge Beverly, »warum, sondern glaubt
mir, wenn ich sage, daß ich weiß, daß ich vor unvordenklicher Zeit
jener König war; daß der Fremde meiner Mutter erschien, daß Dhoula
Bel mich noch immer wegen der alten Sünde heimsucht und quält. Ich
kenne das Schicksal, das über mich verhängt ist, und ich weiß, daß ich
in dieser gegenwärtigen Gestalt ein neutrales Wesen bin, für das es
keine Hoffnung gibt, außer der Vereinigung von mir, einem Sohne aus
Adams Geschlecht mit einer Tochter Ichs, einer, die nicht aus Adams
Geschlecht stammt ... Das also ist das tragische Geschick, dem ich so
erbarmungslos an jenem Morgen, da meine Mutter auf Manhattan Island
starb, ausgeliefert wurde -- verurteilt, für ein Verbrechen zu sühnen,
das vor Jahrtausenden begangen worden war.«



3. Kapitel

EIN GEISTERHAFTER BESUCH


Beverly fuhr folgendermaßen fort:

»Ich wußte dies alles natürlich noch nicht, als ich fünf Jahre alt war.
Das einzige, was mich vollständig beherrschte, war der Verlust meiner
Mutter -- ihr seltsames Schweigen -- der schmerzliche Blick derer,
die mein Haupt streichelten und ›armes Kind‹ sagten. Ich versuchte
mit aller Kraft, männlich zu sein, wie sie mir geboten, und nicht zu
weinen, aber ich konnte meine Tränen doch nicht zurückhalten.

Als ich an dem Bett stand, in dem sie so still lag, fragte ich die
anwesenden Trauergäste, wohin meine Mutter gegangen sei, ob sie niemals
mehr zu mir reden, mich küssen und liebkosen werde. Und sie sagten ›nie
mehr‹, und wiederholten diesen schrecklichen und doch unwahren Kehrreim
immer wieder, bis mein armes Herz bis zum Zerspringen voll war von
Kummer und Trübsal. Und dann warf ich mich über den teuren Leichnam
und weinte, bis die Tränen nicht mehr fließen wollten.

Als ich an der kalten Brust meiner lieben Mutter lag, sagte eine Frau
zu mir: ›Weine nicht, armes Kind, sie ist jetzt glücklich. Sie hat den
Weg zum Himmel beschritten.‹ Und ich glaubte, was die Frau sagte, und
sah hinaus durch das dichte Laubwerk der dicht vor dem Hause stehenden
Bäume; ich blickte sehnsüchtig zum Himmel hinauf in der Erwartung, die
emporsteigende Seele wahrzunehmen, und als mein Blick auf eine silberne
Wolke fiel, da glaubte ich, es sei meiner Mutter geheiligte Seele. Fast
glaube ich es jetzt noch, denn, als die Wolke sich in der Bläue des
Himmels in Nichts auflöste, hörte ich deutlich eine Stimme, leise, zart
und ein wenig traurig, gleich den sterbenden Tönen einer Äolsharfe,
die sanft vom Hauch des Zephirs berührt wird, die Worte in mein Ohr
flüstern -- ich damals noch nicht ganz verstand --: ›Einsamer! möge dir
das Leben, das du jetzt beginnst, Ruhe bringen! Laß deinen Wahlspruch
sein: ›Versuch's!‹ Verzage nicht, sondern erinnere dich immer daran,
daß wir dennoch glücklich sein können, trotz alledem! Lebe in Frieden,
armes Kind! Du wirst von deiner Mutter bewacht und behütet!‹ ›Und von
dem Fremden‹, fügte eine andere noch hellere Stimme aus der tiefen
Stille des nachmittägigen Himmels hinzu. Ich erkannte diese mystische
Stimme -- die erste -- und fühlte, daß sie von jenseits der Schwelle
der Zeit kam.

Von dieser Stunde an begann für mich und in mir ein seltsames
Doppelleben. Zwei in jeder Hinsicht vollkommen wahre Vorfälle will ich
erzählen, von denen der eine es mir für immer zur Gewißheit machte,
daß es menschliche Wesen gibt, die die Feuerprobe des Todes überleben.
Nicht lange nach meinem unersetzlichen Verlust ging ich mit einigen
anderen Kindern in dem Dachzimmer jenes dunklen alten Hauses zu Bett.
Irgendein lustiges Geschehnis war vorhergegangen, und wir waren alle
von Freude und Heiterkeit erfüllt, und unser Frohsinn war so laut, als
er sein durfte bei der Furcht vor den Ogern unter uns, die die üble
Angewohnheit hatten, mit Hilfe von Riemen und Birkenruten sich Ruhe zu
erzwingen. Mitten im ärgsten Lärm wurden uns plötzlich ganz langsam von
einer völlig unsichtbaren Macht die Bettdecken weggezogen. Wir zogen
sie wieder zurück, aber immer und immer wieder wurden sie fortgezogen,
und dies war von einem Getöse und Gerassel begleitet, wie wenn fünfzig
Kanonenkugeln auf dem Boden umherrollten; und das führte sogleich die
Oger von unten zu uns herauf, die sehen wollten, was vorging. Soweit
es uns unser Schrecken erlaubte, erklärten wir es ihnen, worauf sie
schrecklich weise dreinsahen, die Bettdecken wieder in Ordnung brachten
und sich zurückzogen. Kaum waren sie fort, als die Kanonenkugeln wieder
über dem Boden zu rollen begannen. Und als ich den Mut aufbrachte,
mich aufzurichten, um nach der Bettdecke zu haschen, die schon wieder
weggezogen worden war, sah ich klar und deutlich eine weibliche Gestalt
zu Füßen meines Bettes stehen, aber nicht auf dem Boden, denn sie
schwebte wie eine Dunstwolke in der Luft. Es war, wenn überhaupt, nur
wenig Licht in dem Raume, außer dem, welches die Erscheinung umfloß
und von ihr auszugehen schien. Sie stand inmitten eines silbernen
oder phosphoreszierenden Nebels, war aber in ihrem Äußern keineswegs
phantastisch, sondern so klar und scharf umrissen, daß ich mich an
alle einzelnen Bestandteile ihrer Kleidung erinnere, eine Tatsache,
die ein Geheimnis enthält, das kein Psychologe bis jetzt zu ergründen
vermochte. Die anderen Kinder, die es ebenfalls bemerkten, erschraken,
ich nicht, denn ich fühlte, daß die Gestalt mir nichts tun würde, weil
ja eine Mutter ihre Kinder liebt. Und diese Erscheinung war meine
Mutter!

Nach diesem Vorfall verfloß eine ziemlich lange Zeit. Ich war zu
einem kräftigen, lebhaften Knaben herangewachsen und hatte mich schon
einige Jahre lang in der Welt umhergetrieben, als ich mich eines Tages
als Schiffsjunge auf der Brigg ›Phöbe‹ aus New Bedford befand, deren
Kapitän ein gewisser Alonzo Baker war, der aber nicht aus New Bedford
stammte.

Auf diesem Schiff diente ich mehrere Monate, zu niemandes
Zufriedenheit, auch nicht zu meiner eigenen, da ich zu klein, zu
schwach und zu zart war, um die schweren Pflichten erfüllen zu können,
die mir auferlegt waren, und ich mußte daher auch die üblichen Strafen
dafür erleiden.

Seeleute sind stets abergläubisch, wenn auch jetzt vielleicht weniger
als in der Zeit, von der ich spreche. Aber auch heute ist es trotz
allen Fortschritts nicht schwer, Matrosen zu finden, die einem zwischen
der Hundewache und acht Glas unter der Wetterreling ein Garn spinnen,
daß sich einem die Haare sträuben wie einer zornigen Katze. -- An
Bord der ›Phöbe‹ befanden sich einige alte Seebären, die eine Menge
Geschichten von den Geistern ermordeter Matrosen zu erzählen wußten,
die mitten in fürchterlichen Stürmen erschienen, um die Maaten vor
dem Mast zu ermuntern und die Seelen schuldbeladener Steuerleute
und Kapitäne zu erschrecken. Dies trug natürlich dazu bei, meine
abergläubischen und mystischen Neigungen zu verstärken. Oft habe ich
die Nähe und die Macht des Todes oder jener, die niemals sterben,
gefühlt, und oft bin ich auf geheimnisvolle Weise gerettet worden,
wenn ich versucht war, an den gefährlichen Vergnügungen meiner älteren
Kameraden teilzunehmen.

Seeleute lieben die Macht und freuen sich, sie über den auszuüben, den
ihnen ein glücklicher oder unglücklicher Zufall in die Hände liefert;
und auf jedem Schiff gibt es sicherlich einen, der die Zielscheibe
kleinlicher Tyrannei und Mißhandlung ist. An Bord der ›Phöbe‹ war ich
dieser eine, und da mir ein kräftiger Widerstand nicht möglich war,
beschloß ich, mich zu rächen. Ich verwahrte in meiner Kiste ungefähr
eine Gallone Rum, in die ich vorher etwa eine halbe Unze Krebsblumenöl
aus der Medizinkiste gegossen hatte. Ich versah den Krug mit einem
Zettel ›Gift‹. Krebsblumenöl ist das wirksamste gegenwärtig bekannte
Abführmittel. Die Matrosen fanden den Krug, lasen den Zettel, glaubten
der Aufschrift nicht, tranken die Flüssigkeit und waren folgerichtig
danach für mehrere Stunden stark beschäftigt. Eine ganze Reihe von
ernsten, gewandten Männern war nicht mehr zu sehen. An jenem Abend
konnten sie dem Essen keinen Geschmack abgewinnen. Sie prügelten mich
dafür unbarmherzig durch, aber ich war gerächt. Sie mißhandelten mich
noch weiter, bis mich eines Tages ein Matrose in der Kambuse in die
Nase kniff und für seine Quälerei eine halbe Gallone heißen Schmalzes
auf den Unterleib bekam, die ihn sehr belästigte ... Zuletzt dachte ich
an Selbstmord als die einzige Erlösung, und in einem Anfall von Wut und
Verzweiflung, wie sie nur einen Knaben zu überkommen pflegen, rannte
ich wirklich aufs Hinterdeck, um den Gedanken auszuführen, durch einen
Sprung über den Heckbord in die wogende See. Da wurde ich durch einen
leisen Hauch von warmer, beinahe heißer Luft gebannt. Ich war bis in
mein Innerstes durchschauert, blieb stehen und in meiner Seele wurde
ein beredter und entrüsteter Widerspruch gegen meine Tollheit laut. Ich
erlauschte deutlich die Worte: ›Sei geduldig! Versuch's!‹

Es ist unmöglich, all dies einer Selbsttäuschung zuzuschreiben.

Eines Abends, lange Zeit nach dem eben berichteten Ereignis, unterhielt
sich eine Gesellschaft von Damen und Herren in Portland im Staate Maine
in einem Hause in der Nähe des Observatoriums über das allgemeine
Thema ›Geister‹ und über Lohn und Strafe nach dem Tode. Als wir uns
in jenem Zimmer niedersetzten, waren wir gerade dreizehn Personen.
Wir waren von der Diskussion sehr in Anspruch genommen, so sehr, daß
der Gastgeber den Dienern strengen Befehl gab, uns nicht zu stören
und niemand einzulassen, wer es auch sei. Und so plauderten wir
darauf los; die Diener saßen in der Vorhalle an der Türe und niemand
wurde vorgelassen. Mitten im Austausch der Meinungen nahm einer der
Anwesenden durch seine Beredsamkeit und seine ehrwürdige Erscheinung
unsere ganze Aufmerksamkeit gefangen. Er sprach genau eine Stunde lang,
und der Inhalt seiner Ausführungen erschütterte uns tief.

Als er geendet, schwand er uns aus den Augen und wir bemerkten nun
erst, daß er der vierzehnte Gast gewesen war. Auf gegenseitiges
Befragen stellte sich heraus, daß ihn keiner kannte oder früher je
gesehen oder sein Fortgehen wahrgenommen hatte -- nicht einmal die
Dienerschaft, die erklärte, daß seit zwei Stunden niemand weggegangen
sei. Man sagte ›sehr seltsam‹ und wir beschlossen, um unseres eigenen
Ansehens willen die Sache zu verschweigen, doch wir kamen überein, in
acht Tagen am selben Ort wieder zusammenzukommen, um die Angelegenheit
näher zu besprechen und die Meinungen zu vergleichen, zu denen die
einzelnen Mitglieder der Gesellschaft inzwischen kommen würden.«



4. Kapitel

EINE HÖCHST SELTSAME GESCHICHTE ETTELAVAR


»An dem verabredeten Abend kam ein ausgewählter Teil unserer
Gesellschaft wieder zusammen, aber keiner hatte eine Lösung des Rätsels
gefunden. Unsere Unterhaltung wurde womöglich noch interessanter und
spannender als beim erstenmal, und zwar wegen der ungewöhnlichen Dinge,
die ich dabei erlebte. Ich war an jenem Abend so vollständig der
Sache hingegeben, daß ich zwei- oder dreimal in eine Art mesmerischen
Halbschlafs verfiel, der in dem Grade tiefer wurde, als die Diskussion
sich steigerte, bis meine unteren Gliedmaßen kalt wurden und mich eine
eisige Erstarrung befiel, worüber ich derart erschrak, daß ich, selbst
auf die Gefahr hin, das Gespräch zu unterbrechen, den anderen die
Verfassung, in der ich mich befand, kundtun wollte.

Wollte -- denn ich versuchte es und bemerkte zu meiner Bestürzung,
daß ich keine Silbe mehr sprechen konnte -- daß ich nicht mehr der
geringsten Bewegung fähig war. Ich war entsetzt. Die Gesellschaft war
von dem Gesprächsgegenstand so sehr in Anspruch genommen, daß niemand
von der an mir vorgegangenen Veränderung Notiz nahm, auch argwöhnte
niemand, daß ich nicht mit größter Aufmerksamkeit bei der Sache sei.

Mit unbeschreiblichem Schrecken fühlte ich, daß mir das Leben rasch
entfloh und daß der Tod langsam, aber sicher mit eisigem Griff meine
Seele packte. Ich war am Sterben. Es schien mir, als sei eine lange
Zeit zwischen den letzten bewußten Momenten und dem augenblicklichen
deutlich bewußten Todeskampf verlaufen. Da plötzlich schoß ein scharfes
quälendes Schmerzgefühl wie ein Nadelstich durch mein Gehirn. Daraufhin
nahm mein Empfindungsvermögen ab, wie wenn der Körper in untätiger
Passivität der Auflösung keinen Widerstand mehr leisten wollte, und
es kamen, mit der Schnelligkeit des Blitzes, die fürchterlichsten
Agonien, die je ein sterblicher Mensch erduldet haben mag. Als sie
zu Ende waren, schwand mein Bewußtsein und ich fiel auf den Boden,
wie ein plötzlich vom Tode Überraschter, zum größten Schrecken der
Gesellschaft, wie man mir später sagte.

Wie lange diese physische Leere dauerte, kann ich jetzt nicht sagen,
aber, während mein Körper in diesem apathischen Zustand war, wurde
meine Seele zu zehnfacher Kraft aufgepeitscht; denn sie sah die Dinge
in neuem, geheimnisvollem Licht und weit deutlicher, als sie es je
durch die körperlichen Augen vermocht hätte. Diese Zunahme des Gesichts
war von einer ebenso starken Zunahme des Gehörs begleitet, und ich
hörte eine Stimme, die ganz der ähnlich war, die ich beim Tode meiner
Mutter und damals, als ich mich in die See stürzen wollte, gehört, und
sie sagte: »Erwache! Eine Aufgabe erwartet dich!« Gleichzeitig ließ
meine Lethargie nach und ich wurde nach oben geführt und legte mich
mechanisch auf ein Sofa, wobei ich meine Augen unwillkürlich auf das
fahle weiße Zifferblatt einer seltsamen alten vlämischen Uhr richtete,
die die ganze südliche Ecke des Zimmers einnahm. Dann ließen mich meine
Freunde allein, um im Gesellschaftszimmer unten ihre Unterhaltung
wieder aufzunehmen.

Das alte Zifferblatt wurde vor meinen Augen heller und heller und
dehnte sich immer mehr aus, bis ich, von seiner Körperlichkeit
nicht mehr behindert, in ein Meer von märchenhaftem Lichte blickte,
dergleichen ich noch nie gesehen. Ich glaubte mich nicht mehr an
meinen Leib gefesselt, sondern frei von Raum und Zeit, ein freier
Bürger der Ewigkeit. Und ich fühlte mich auf einer Dunstwolke in die
Luft emporgehoben, von dem mächtigen Arme eines seltsam blickenden
alten Mannes -- dem genauen Ebenbild desjenigen, der uns einige Tage
vorher durch seine Erzählungen und sein geheimnisvolles Verschwinden
in so große Bestürzung versetzt hatte. Er sagte, ich solle mich nicht
fürchten, sondern auf mich und ihn vertrauen; nicht Böses, sondern
Gutes wolle er mir tun: sein Name sei Ettelavar, seine Jahre zählten
nach Menschenaltern und er sei der Gefährte derer, die sterben und
wieder leben -- und jener, die niemals den Tod erleiden. All dies
und noch mehr sagte er mir; und er fügte hinzu, er wolle sich und
mir helfen. Er kenne geheimnisvolle Mächte, die durch Jahrhunderte
hindurch die Weisen und Gelehrten der Erde zu besitzen behaupten --
die Narek el Gebel, die Hermetisten, die Pythagoräer, die drei Tempel
des Rosenkreuzes, die mittelalterlichen und die modernen Rosenkreuzer
und die zu allen Zeiten und an allen Orten lebenden Erforscher von
Geheimnissen.

Während ich diesem seltsamen Wesen Ettelavar zuhörte, war mir,
als ob ich im Luftraum schwebte; ich verspürte ein so intensives
Lebensgefühl wie nie zuvor, und wußte zum erstenmal, was es heißt,
ein lebendes, menschliches Wesen zu sein. Durch eine mir unbekannte
Kraft tat Ettelavar unserer Bewegung Einhalt und die Wolke, auf der wir
dahinzusegeln schienen, stand mitten im Weltraum still und er sagte zu
mir: ›Sieh und lerne!‹

Wie geschäftige Insekten in der Sommersonne sah ich in weiter Ferne
zahllose menschliche Wesen, die mühsam auf einer steilen Anhöhe
arbeiteten, über deren Gipfel schwerfällig dichte, dunkle, düstere
Wolken hingen. An ihren Rändern waren sie blutrot, wie wenn sie
mit Donner gekrönt und ihr Inneres übervoll von Blitzen wäre; ihre
finsteren Schatten legten sich schwer und bleich auf die Ebene unten,
wie Sterbekleider auf die Glieder einer schönen Frau. ›Es ist nur
eine Masse‹, sagte ich; und das Wesen an meiner Seite wiederholte in
erstauntem Tone: »Nichts als eine Masse? Knabe, die Schicksale der
Völker beruhen auf der Masse. Sieh weiter!« Ich gehorchte mechanisch
und bald bemerkte ich eine seltsame Bewegung unter der Menge, ein
Klagegeheul drang empor -- ein Schrei höchster Angst -- ein Schall,
schwerbeladen mit Weh und Seelenleiden. Ich schauderte.

Auf der äußersten Spitze des Berges stand ein gewaltiges Monument, kein
Obelisk, aber eine Art Tempel, vollkommen in allen seinen Linien und
prächtig anzuschauen. Auf diesem Gebäude stand eine kleine Pyramide aus
glänzendem Gold und auf jeder ihrer Seiten war das lateinische Wort
›felicitas‹ eingegraben. Ich fragte meinen Führer nach einer Erklärung,
aber anstatt sie zu geben, legte er seine ätherische Hand auf meine
Hand und indem er leicht über meine Augen fuhr, sagte er: ›Sieh!‹

Hatte seine Berührung Zauberkraft? Es schien so, denn sie vergrößerte
meine Sehkraft wohl um das Fünfzigfache und als ich mich wieder der
Erde zuwandte, wurde mein Interesse durch ein wirkliches Drama erregt,
das sich da und dort abspielte. Offensichtlich war die große Mehrheit
der Leute teilweise, wenn nicht völlig blind, und ich beobachtete, daß
eine Gruppe in der Mitte der Ebene am Fuße des Berges sich in größerer
Erregung zu befinden schien als die anderen. Ihre Unruhe schien aus dem
Wunsch hervorzugehen, der hier jeden beherrschte, nämlich eine Kugel
und einen Stab aus Gold zu bekommen, die auf einem roten Samtkissen in
dem prächtigen Gebäude auf dem Berge lagen. Inmitten dieser letzteren
Gruppe, die sich heftig bemühte, den Weg zu dem Monument hinauf zu
erreichen, befand sich ein Mann, der mit weit mehr Willenskraft und
Entschlossenheit ausgestattet zu sein schien als alle anderen. Mutig
strebte er auf dem Wege zum Gipfel vorwärts und nach unglaublichen
Anstrengungen hatte er auch Erfolg. Frohlockend nahte er sich dem
Tempel. An seiner Seite waren noch Hunderte. Er überholte sie, trat ein
und streckte die Hände nach der Kugel und dem Zepter aus -- ich glaubte
schon, er würde gewiß sein Ziel erreichen -- seine Finger berührten
schon den Preis, ein Lächeln des Triumphes erhellte sein Antlitz,
aber da nahm es plötzlich die Farbe des Todes an -- er fiel zur Erde,
von einem tödlichen Schlag getroffen, den eine verräterische Hand von
hinten geführt hatte, und schon packten ihn andere und warfen ihn in
den gähnenden Abgrund, an den der Tempel hart angrenzte. Wohl war er
der erste, aber der erste, der in Stücke gerissen und von den eisernen
Fersen der Neuankommenden zu Tode getreten wurde -- von Menschen, die
kein Mitleid fühlten, sondern sich vielmehr freuten, daß die Zahl ihrer
Rivalen sich um einen vermindert hatte.

›Ist es möglich,‹ rief ich innerlich aus, ›daß ein so infernalischer
Neid in menschlichen Seelen kocht?‹

›Leider, wie du siehst‹, antwortete Ettelavar an meiner Seite. ›Laß
dir zur Lehre dienen, was du gesehen hast. Ruhm ist ein Wahnsinn,
nicht wert, ihn zu besitzen, wenn man ihn erlangt hat. ›Felicitas‹
schwebt dem Menschen immer vor und wird nie erreicht, darum sollte man
gar nicht danach streben. Freundschaft ist ein leerer Name oder ein
bequemes Kleid, das die Menschen anlegen, um einander mit größerer
Leichtigkeit berauben zu können. Kein Mensch freut sich, wenn er den
anderen emporkommen sieht, außer, wenn dieses Emporkommen seiner
eigenen Erhöhung nützt. Und der Hintenstehende wird den Vornstehenden
erdolchen, wenn er ihm im Wege steht. Ich beginne mein Amt als dein
Schützer, indem ich dich vor der Welt warne -- und damit dich gegen
sie bewaffne -- und vor allen, die zu ihr gehören. Wenn du wirklich
emporsteigen willst, dann mußt du erst lernen, die Welt und alles, was
sie enthält, auf seinen richtigen Wert einzuschätzen. Denke daran; ich,
der ich zu dir spreche, bin Ettelavar. Erwache!‹

Wie die plötzliche schwarze Wolke in östlichen Meeren, so kam eine
Finsternis über mich; meine Augen öffneten sich und erblickten das
alte Zifferblatt. Seine Zeiger sagten mir, daß genau dreizehn Minuten
verflossen waren, seit ich zum erstenmal auf jener Uhr nach der Zeit
gesehen hatte. Seit jener Stunde habe ich manches Ähnliche erlebt und
das ist auch der Grund für die in gewisser Hinsicht außergewöhnlichen
Kräfte, die ich mir nicht anmaße, sondern die mir zugeschrieben werden.«

Dies war der Inhalt der Erzählung des jungen Mannes, die er zur Antwort
auf die Fragen gab, die ihm, lange bevor er hier dem Leser vorgeführt
wurde, vorgelegt worden waren.



5. Kapitel

LIEBE -- EULAMPIA[2] -- DAS SCHÖNE


Die goldene Sonne ging unter, der Tag sank unter seine purpurnen Decken
im glühenden Westen. Arbeitsmüde Bauern wanderten langsam ihren Weg
nach Hause zum Abendessen. Noch saß der Wanderer an der Landstraße;
noch fielen seine Tränen und wenn die Heimkehrenden an ihm vorbeikamen,
machten sie wohl Bemerkungen über ihn, ohne sich darum zu kümmern, ob
er sie hörte oder nicht. Zuletzt kamen drei Personen des Wegs, von
denen zwei unzweifelhaft Indianer waren, während es bei der dritten,
einem Mädchen von einzigartiger Gestalt, Grazie und Gesichtsfarbe und
ungewöhnlicher Schönheit sehr schwer war, ihre Rassenzugehörigkeit zu
bestimmen. Sie war etwa vierzehn Jahre alt. Der Knabe, der sie und
den alten grauhaarigen Indianer begleitete, mochte gegen zwölf Jahre
zählen. Dieser Junge nun bemerkte den Fremden zuerst.

»O, Eulampia,« sagte er, »sieh doch! Da sitzt ein Mann und weint,
ich will ihm helfen!« Er redete in seiner Muttersprache. Er war ein
Vollblutindianer, furchtlos, lebhaft und edelmütig. Er war vom Stamme
der Oneida, die zu den Mohawks gehören. Unglück sehen und zu Hilfe
eilen war für ihn ein und dasselbe, wie es auch bei seinem Volke
gebräuchlich war, bis es durch schlechte Sitten und durch eine noch
schlechtere Schutzherrschaft »kultiviert« und »zivilisiert« wurde. Der
Indianer hieß Ki-ah-wah-nah (der Lindernde und Tapfere) und war der
Häuptling des Stockbridge-Zweiges der Mohawks. Das Mädchen, Eulampia,
war dem Namen nach sein Enkelkind, in Wirklichkeit aber hatte sie
außer Kleidung, Sprache und Erziehung nichts Indianisches an sich,
obgleich man sie wohl für einen Mischling hätte halten können. Ihr Name
war neugriechisch, aber ihre Züge und ihre Gesichtsfarbe erinnerten
nicht mehr an die der schönen Bewohner der Gestade des Bosporus als
an die der Indianer oder Angelsachsen. Vor vielen Jahren war das
Mädchen von einer Frau, die zu einer Bande wandernder Zigeuner gehört,
dem Häuptling gebracht und für eine Woche seiner Obhut übergeben
worden. Diese Frau hatte, durch den Ruf der Neuen Welt angelockt, ihre
europäische Heimat verlassen und die See durchquert, um eine goldene
Ernte zu sammeln. Die Zigeunerbande hatte sich fast ein Jahr lang in
Cornhill in Utica aufgehalten und dann von dort das Land in weitem
Kreise durchzogen. Die Frau war niemals zurückgekommen, um ihr Kind
wieder zu holen, denn die übrigen Mitglieder der Gesellschaft brachen
plötzlich auf. Der alte Häuptling, der Eulampia als Kind übernommen
hatte, gewann sie, als sie heranwuchs und größer wurde, ebenso lieb
wie wenn sie eine Frau seines eigenen Stammes gewesen wäre. Dies
war keineswegs verwunderlich, denn ihr überlegener Geist erzwang
sich bald Achtung und Bewunderung. Keine einzige der ethnologischen,
körperlichen oder seelischen Eigenheiten der Zigeunervölker war an
ihr wahrzunehmen und kluge Leute vermuteten deshalb, sie sei irgendwo
von jenem Weibe gestohlen worden, das sie aus Furcht oder Berechnung
ihrem Schicksal und der Fürsorge des guten alten Indianers überlassen
hatte. Sie galt weit und breit nicht nur als die Schönste, sondern
auch als die Gescheiteste unter all ihren Altersgenossinnen und war
die unbestrittene Königin jener Indianerreservation, nicht von Rechts
wegen, sondern durch ihre geistige Überlegenheit.

Dies war also die »hellstrahlende« Jungfrau, die sich jetzt, durch die
Rufe des Knaben aufmerksam gemacht, dem jungen Beverly näherte. Als sie
sein Äußeres gewahrte, das von Not und Kummer Zeugnis ablegte, legte
sie ihre zarte Hand sanft auf sein Haupt und sagte mit einer ungemein
herzlichen und sympathischen Stimme: »Mann mit dem schweren Herzen,
warum weinst du da? Ist deine Mutter vor kurzem gestorben?«

Der junge Mann hob den Kopf, sah das Mädchen in seiner blendenden
Schönheit vor sich und entgegnete, nachdem er einen Augenblick gezögert
hatte, wobei ihn ein Schaudern wie von einer schmerzlichen Erinnerung
überlief, mit leiser Stimme: »Nein; es kann nicht sein! -- es kann
nicht sein! -- Und gar in diesem Teil der Welt! Nein!« Dann fügte er
hinzu: »Mädchen, ich bin allein und das ist's, warum ich weine. Ich
bin noch jung, aber das Gewicht von Jahren des Kummers lastet schwer
auf mir und drückt mich nieder. Heute ist der Jahrestag des Todes
meiner Mutter und ich begehe ihn immer in Tränen und Gebet. Seit sie
zum Himmel heimging, habe ich keinen wahren Freund gehabt, und mein
Los und Leben ist Elend. Die Menschen nennen sich meine Freunde und
beweisen es, indem sie mich berauben. Vor kurzem kam einer zu mir --
er war sehr reich -- und sagte: ›Man sagt mir, daß Ihr sehr geschickt
in der Behandlung von Kranken seid. Kommt; ich habe eine Schwester,
die die Ärzte bereits aufgegeben haben. Ich liebe sie, Ihr seid arm,
ich bin reich. Rettet sie; Gold wird Euer Lohn sein.‹ Ich ging, die
Ärzte hatten sie aufgegeben und nur zwei Möglichkeiten gab es noch, ihr
Leben zu verlängern -- entweder die Übertragung von Blut aus meinen
Adern in die ihrigen, oder eine Übertragung des Lebens selbst. Ich war
jung und kräftig und wir beschlossen, den letzteren Weg einzuschlagen.
Und Monate lang saß ich nun -- während der Zeit von drei Jahren -- bei
der armen Kranken und ließ ihren zerstörten Körper auf magnetischem
Wege wieder Leben gewinnen, ohne darauf zu achten, daß ich dabei meine
eigene Gesundheit untergrub. Schließlich brach ich vor Erschöpfung und
Krankheit zusammen und war, nur um mein Leben zu retten, genötigt, das
magnetische Band zwischen uns zu lösen und nach Europa zu gehen. Kaum
war die Verbindung unterbrochen, so sank sie ins Grab. Falsche Freunde
haben mich betrogen und mich an den Bettelstab gebracht. Du weißt
jetzt, warum ich traurig bin, Mädchen mit dem guten Herzen! Ich bin
schwach heute abend; der Morgen wird mir wieder Kraft bringen. Sieh,
die goldene Sonne geht im Westen unter. Ich fürchte, meine Sonne geht
auch unter und die lange, lange Nacht des Elends wird folgen.«

»Du sprichst gut, Mann mit der wunden Seele,« entgegnete sie, »du
sprichst gut, wenn du sagst, daß die Sonne untergeht; aber du scheinst
zu vergessen, daß sie wieder aufgehen und so hell wie heute scheinen
wird! Alte Leute sagen, daß die finsterste Stunde die vor dem Anbruch
des Tages ist. Ich bitte dich, fasse Mut. Du kannst trotzdem glücklich
sein!«

»Genau der Wahlspruch der geheimnisvollen Brüderschaft! -- Genau die
Worte meiner toten Mutter! Wie ist dieses Mädchen dazugekommen? Wann?
Wo? Durch wen?«

Beverly stutzte und blickte in die dunkle Tiefe ihres Auges. Er wollte
schon die Fragen an sie stellen, die sich ihm soeben aufgedrängt
hatten, tat es dann aber doch nicht.

»Wir können alle trotzdem glücklich sein,« wiederholte sie, »denn
der große Geist hat es mir gesagt«, und sie faltete ihre Hände
über ihrer jungfräulichen Brust -- glühend von unsterblicher Glut
und Begeisterung. Und sie warf mit einem Ruck ihres Hauptes ihr
langwallendes schwarzes Haar zurück und stand da als die vollkommene
Verkörperung von Treue und Hoffnung, wie wenn ihre emporgewandten
Augen ein Gottesblick vom Himmel herab träfe. Der alte Häuptling
und der Knabe an ihrer Seite sagten nichts, aber jeder faltete
instinktiv seine Hände zum Ausdruck des Vertrauens und des Gebets. Die
Gesamtwirkung dieses Eindrucks auf den jungen Mann war eine ungeheuere.
Der seltsame Vorfall erschütterte ihn so mächtig, daß er aufstand und
dem Mädchen seine Hände auf das Haupt legte. Dann erhob er seine Augen
und seine Stimme gen Himmel und antwortete aus der Tiefe seiner Seele:
»Amen und nochmals Amen.«

In diesem kritischen Moment kam ich, der Verfasser dieses Buches,
zufällig dahin, wo jene Szene stattfand. Einige wenige Worte genügten
zur Einführung, und an derselben Stelle begann eine Freundschaft
zwischen uns, die selbst der Tod nicht zu trennen vermochte.

Zwei Stunden später saß der Häuptling mit seinem Sohne, das Mädchen,
der Jüngling und ich bei einem freundschaftlichen Mahle in dem
Hause des Alten. Nach beendeter Mahlzeit nahm das Gespräch eine
philosophische Wendung, wobei der Häuptling, der wirklich ein
glänzendes Beispiel eines gebildeten Indianers war, sich lebhaft und
mit Interesse an der Unterhaltung beteiligte.

Endlich griffen die Älteren zu ihren Pfeifen, die Jüngeren legten sich
schlafen, und Beverly und Levambea, wie sie allgemein genannt wurde,
gingen hinaus und setzten sich unter einer alten Sykomore nieder,
die ihre gigantischen Glieder wie ein Schutzgeist über das Häuschen
streckte. Dort plauderten sie, zuerst heiter, dann aber in einem
zarteren und ernsteren Ton und es war klar, daß zwischen diesen beiden
Menschenkindern schon etwas Wärmeres als Freundschaft aufgeblüht war.
Als sie sich erhoben, um ins Haus zu gehen, waren die letzten Worte,
die das Mädchen sprach -- und zwar mit demselben begeisterten Ton, wie
bei ihren ersten Worten --: »Ja, ich werde dich lieben, aber nicht
hier, nicht jetzt, vielleicht nicht einmal auf dieser Erde. Doch ich
will deine Stütze und dein Stab sein, mögen auch weite Meere zwischen
uns liegen. Höre zu: Wenn ich in Gefahr bin, wirst du es wissen, wo
immer du auch sein magst. Wenn du in Gefahr bist, wirst du mich sehen.
Vergiß nicht, was ich sage, und stelle keine Fragen. Dein Schicksal
ist ein einzigartiges, aber nicht einzigartiger als das meine. Gute
Nacht! Lebe wohl! Wir werden uns jetzt nicht mehr sehen -- es ist
nicht erlaubt!« Und ohne noch ein Wort zu sprechen, verließ sie ihn
plötzlich, eilte ins Haus, stieg die Treppe hinauf und war verschwunden
wie ein Geist.

Am nächsten Tage willigte der junge Beverly auf das Zureden des
Häuptlings und anderer, die Interesse an ihm nahmen, ein, mit mir nach
meinem Heim zu gehen, das viele Meilen von jenem Orte entfernt war. Wir
kamen nach Verlauf der gewöhnlichen Zeit an und er blieb mehrere Monate
lang mein Hausgenosse. Und während er sich noch unter der Einwirkung
seiner geschwächten Gesundheit und des daraus folgenden mitteilsamen
Zustandes befand, wurde ich mit vielen der erhabenen und tiefen
Geheimnisse der berühmten Brüderschaft der Rosenkreuzer vertraut,
über die er genau Bescheid wußte und die er mir in bestimmten Grenzen
zu veröffentlichen erlaubte, unter der einen Bedingung freilich, daß
ich den Sitz der Logen, des Domes und die Namen der obersten Führer
nicht angeben dürfe, während er mir für die unteren Tempel des Ordens
-- die in diesem Lande die drei ersten Grade umfassen -- keine solche
Beschränkung auferlegte, da den Dienern dieser letzteren die höheren
Logen vollständig unbekannt sind.

Wie oft, ach, wie oft, saß ich neben ihm an den grünen Ufern des
Flusses, der mein kleines Besitztum durchströmte, und lauschte
hingerissen der tiefen Weisheit, und den Schilderungen des Wesens und
des Ursprungs, der Macht und der Bestimmung der Rosenkreuzer -- und
all dies hörte ich von den Lippen eines Mannes, der völlig unfähig
war, sich mit der habsüchtigen Welt des Handelns und Feilschens auch
nur mit dem geringsten Erfolg herumzustreiten. Es war der seltsamste
Widerspruch, der mir je an einem Menschen begegnete. Dieser Mann,
der in geistigen Wollüsten schwelgte, wie sie für Engel geschaffen
sein mochten, hatte nicht so viel Schlauheit, um die Pläne eines
gewöhnlichen Betrügers zu vereiteln; -- dieser Mann setzte blindlings
für lange Jahre sein ganzes Vertrauen auf einen anderen, dessen
einziges Ziel es war, ihm nicht nur sein kleines Vermögen, sondern
auch seinen guten Ruf zu rauben -- dieser Mann mußte zusehen, wie ein
ihm teures Kind verhungerte, buchstäblich verhungerte, und begraben
wurde, während jener mit den Seinigen im gleichen Augenblick das Geld
verpraßte, für das er seine Gesundheit, ja sein Leben in Tausch gegeben
hatte. Welch seltsame Widersprüche! Ich habe mich oft gewundert, wie
solche Dinge geschehen konnten und besonders dann, wenn er mir die
höheren Geheimnisse des Ordens enthüllte, wenn er von Apollonius von
Tyana, von den Platonikern, den alten Pythagoräern, von den Sylphen,
Salamandern und Glendovers, von Cardan, von Yung-tse-Soh und dem
kabbalistischen Licht, von Hermes Trismegistos und den smaragdenen
Tafeln, von Hexerei und weißer und schwarzer Magie, vom Labyrinth,
von göttlicher Weisheit, von Gott und dem Reiche der Götter, von
den Wahrheiten und Irrtümern der goldsuchenden Hermetisten und
Pseudorosenkreuzer, von Justinus dem Märtyrer, von Tertullian, Cyprian,
Lactantius und Clemens Alexandrinus, von Origines und Macrobius,
Josephus und Philo, von Enoch und den präadamitischen Geschlechtern,
von Dambuk und Cekus, Psellus, Jamblichus, Plotin und Porphyrius und
Paracelsus und über tausend andere mystische Bekenner sprach.

So sagte er eines Tages zu mir: »Denken Sie noch daran, wie Sie mich
auslachten, als ich zum erstenmal von den Rosenkreuzern zu sprechen
begann und Sie behaupteten, daß eine solche Brüderschaft, wenn sie
überhaupt existiere, aus Schurken oder Narren bestehen müßte? Wie
Sie herzlich lachten, als ich Sie darüber aufklärte, daß der Orden
auf beiden Seiten des Grabes sich in die kleinsten Verzweigungen
gliedere, daß er am anderen Ufer derzeit in seinen unteren Graden als
der ›Königliche Orden von Gann‹ bekannt sei und in seinen höheren als
der ›Große Orden der Neridien‹, daß, wer immer sich aus irgendwelchen
Gründen der Brüderschaft diesseits des Grabes anschließe, nicht nur
jedes Schutzes sicher sei und ihm auch eine große Menge wichtiger
Kenntnisse vermittelt würden, sondern daß ihm auch ein Anteil an dem
jenseitigen Ufer des Lebens zuteil würde, im Vergleich zu der jedes
andere Schicksal unbedeutend und nutzlos ist. Ich wiederhole diese
Behauptung jetzt.«



6. Kapitel

NAPOLEON III. UND DIE ROSENKREUZER EIN UNGEWÖHNLICHER MANN UND EINE
UNGEWÖHNLICHE THEORIE


Beverly fuhr in seiner Erzählung fort: »Ich habe schon von dem Fluch
erzählt, der über mich verhängt ist; -- daß ich zu ewigen Verwandlungen
verdammt bin, wenn ich nicht durch die Ehe mit einer Frau erlöst werde,
in deren Adern kein Tropfen vom Blute Adams kreist -- und auch das nur,
wenn eine vollkommene gegenseitige Liebe besteht. Dieser Fluch hat
mich mit gewissen Wesen, Mächten und Einflüssen in Berührung gebracht,
wie schon andere vor mir, und schließlich wurde ich ein freiwilliger
Adept der Geheimnisse der Brüderschaft der Rosenkreuzer. Wie, wann
und wo ich würdig befunden wurde, aufgenommen zu werden, darf ich
natürlich nicht sagen; es mag genügen, daß ich zu dem Orden gehöre,
daß ich -- nachdem ich auf gewisse Dinge hatte verzichten müssen --
zu der Genossenschaft der Lebenden, der Toten und derer, die niemals
sterben, sowie zu den berühmten Derishavi-Laneh zugelassen wurde und
daß ich mit den letzten Geheimnissen der Fakie-Deeva-Register vertraut
bin. Im Leben habe ich immer drei große Möglichkeiten vor mir gehabt:
Eine davon ist die, daß ich -- da ich eine neutrale Seele bin -- nach
meinem Tode der Führer eines hohen Ordens, das ›Licht‹ genannt, werden
würde. Die zweite wäre die Berufung zur Führerschaft des ›Schattens‹,
eines entgegengesetzten Ordens, gewesen. Die dritte, die ich am meisten
fürchte, ist die, daß der vor vielen Menschenaltern ausgesprochene
Fluch eines Sterbenden, ich müsse in verschiedenen Körpern auf der Erde
umherwandern, ewige Dauer erlangen könnte, wie ich schon erzählt habe,
wenn ich nicht durch die treue Liebe eines Weibes losgekauft werde,
in deren Adern nicht ein Tropfen von Adamsblut fließt. Es ist mein
sehnsüchtiger Wunsch, alle diese drei Möglichkeiten zu vermeiden und
des Loses anderer Menschen teilhaftig zu werden.

Ich habe noch andere geheimnisvolle Dinge zu erzählen. Ohne Zweifel
erinnern Sie sich, daß jener Fluch von dem jungen Dichter ausgestoßen
wurde und daß die geheimnisvolle Stimme in dem Gefängnis, wo er
erschlagen wurde, erklärte, daß jener Jüngling fortan, bis der Fluch
erfüllt sei, durch alle Zeiten als der ›Fremde‹ bekannt sein solle.
Nun gut, im Verlauf der Jahrhunderte wurde dieser Fremde Mitglied
einer erhabenen Brüderschaft des Jenseits mit dem Namen ›das Licht‹.
Sie wissen auch, daß ich, der König, verurteilt wurde, bis zu meiner
Erlösung rastlos umherzuwandern, und Sie wissen auch, daß dem
Wesir, der den Namen ›Dhoula Bel‹ erhielt, ein seltsames Geschick
auferlegt wurde. Auch er wurde ein tätiges Mitglied einer ausgedehnten
Vereinigung im Weltraum, des ›Schattens‹. Das ist jedoch nur die eine
Hälfte des Geheimnisses, denn Dhoula Bel und der Fremde hatten es sich
zur Aufgabe gemacht, aus mir ein in jeder Beziehung neutrales Wesen zu
machen, eines, das keine Neigungen zum Guten oder zum Bösen, sondern
nur zu rastlosem Streben haben sollte.

Bei einem meiner zahlreichen Aufenthalte in Paris wurde ich mit einigen
hervorragenden Rosenkreuzern bekannt und als ich ihre seelische Tiefe
maß, fand ich das Wasser sehr seicht und sehr schmutzig -- wie dies
ja auch bei denen gewesen war, die ich in London getroffen hatte.
Schließlich bekam ich eine Einladung von dem Baron D...t, an einer
mesmeristischen Sitzung teilzunehmen. Ich ging hin und der Ruf, den ich
dabei erlangte, bewirkte, daß ich schon nach einigen Tagen auf Befehl
Kaiser Napoleons III.[3], der 34 Jahre lang ein treuer Rosenkreuzer
gewesen war, in die Tuilerien entboten wurde. Ich war schon vorher
mit ihm am gleichen Orte, aber in einer anderen Angelegenheit
zusammengetroffen. Was damals, soweit ich als tätiger Teilnehmer in
Betracht kam, geschah, das zu sagen steht mir nicht zu, außer daß
gewisse Experimente in ›Hellseherei‹ als sehr gut gelungen bezeichnet
wurden.

Bei dieser Gelegenheit spielte ich Schach und Karten mit verbundenen
Augen und gewann, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Dabei fanden
die Spiele gleichzeitig statt und die Spieler saßen in drei
getrennten Zimmern. Es war auch ein italienischer Edelmann mit einem
unaussprechlichen Namen da, ferner ein russischer Graf Tsowinski und
eine Frau Dablin, eine Mesmeristin und Opernsängerin. Nach einer Weile
fragte der Kaiser die Kaiserin und den General Pellissier, den späteren
Herzog von Malakoff, ob sie sich einem magnetischen Versuch durch
einen der drei genannten Lehrer dieser Kunst unterziehen wollten. Sie
stimmten zu, worauf der Kaiser mit lauter Stimme fragte, ob jemand aus
der Gesellschaft geneigt sei, in eigener Person die magnetischen Kräfte
seiner Exzellenz des italienischen Grafen zu bestätigen, dessen Methode
beim Magnetisieren sich völlig von der damals allgemein üblichen
unterschied. Er pflegte nämlich, wie der Schauspieler Boucicault in
seinem berühmten Spiel ›Das Gespenst‹, nicht herumzugehen, auch blickte
er die Versuchsperson überhaupt nicht an.

›Mit dem größten Vergnügen,‹ erwiderte der Graf auf die Aufforderung,
seine seltsamen Kräfte vorzuführen, ›mit dem größten Vergnügen,
Majestät‹. Und sogleich wandte er sich um und blickte starr in einen
großen Spiegel, der den ganzen Raum zwischen den Fenstern des Salons
einnahm. Als er sprach, kam es mir plötzlich zum Bewußtsein, daß ich
diesen italienischen Rosenkreuzer schon einmal getroffen hatte, aber
ich hätte um den Preis meines Lebens nicht sagen können, wo. Doch war
ich völlig sicher, seine Stimme schon gehört und noch sicherer, sein
seltsames, süßliches Lächeln schon gesehen zu haben.

Der Graf stand so vor dem Spiegel, daß, wenn sein Auge eine leuchtende
Flamme gewesen wäre, die von dem Spiegel zurückgeworfenen Strahlen
mitten auf die Stirne eines aus unserer Gesellschaft getroffen hätten;
dieser jedoch argwöhnte nicht das Geringste. Er merkte es erst, als es
zu spät war und als der Experimentator ihn in den Brennpunkt seiner
Sehstrahlen brachte, die Fäuste ballte, mit zehnfacher Konzentration
in den Spiegel blickte und einige unverständliche Worte vor sich hin
murmelte; -- und schon fiel der andere zu Boden, wie wenn ihn eine
Kugel ins Herz getroffen hätte, oder wie wenn er mit einer Keule
niedergeschlagen worden wäre. Alles fuhr auf und jeder glaubte, es
handle sich um einen Schlaganfall -- ausgenommen der Kaiser, der
Experimentator, ich und der Russe.

Einige eilten herbei, um ihn aufzurichten, aber bevor sie dazu kamen,
sprang er auf die Füße und begann zu tanzen und zu singen (im gleichen
Moment begriff die Gesellschaft, daß es sich um ein mesmeristisches
Phänomen handelte), um gleich darauf für sein Leben zu flehen, wie wenn
er mit der Aussicht auf Gefängnis oder Hinrichtung vor seinen Richtern
stände. Alles war von dem Vorfall im höchsten Grade hingerissen.

Plötzlich verwandelte sich diese Gerichtsszene in eine musikalische,
ohne daß der Graf ein Wort gesprochen hätte, und obgleich der
Betreffende sonst durchaus nicht singen oder musizieren konnte, spielte
er jetzt mehrere schwierige Stücke auf der Harfe und dem Klavier, sang
selbst den Text dazu und das in so hervorragender Weise, daß alle
Anwesenden unwillkürlich applaudierten.

Plötzlich unterbrach er sein Spiel und trat genau an die gleiche
Stelle, an der der Italiener vorher gestanden hatte und starrte wie er
in den Spiegel. Zwanzig Sekunden später stürzte ein anderer Herr, der
im Brechungswinkel der reflektierten Strahlen stand, zu Boden und als
eine Dame ihm zu Hilfe eilen wollte, und dabei zufällig in den Bereich
der Sehstrahlen geriet, hob sie ihn so leicht auf, als wäre er eine
Puppe gewesen und begann mit ihm einen geradezu unbeschreiblich wilden
Tanz. Dies wirkte ansteckend, denn in weniger als einer halben Minute
wirbelten, sprangen und flogen wohl siebzehn Personen, würdige Lords
und vornehme Damen, wilder als Bacchanten durch den Saal. Sie hatten
sich alle der Reihe nach gegenseitig hypnotisiert. Über alle Maßen
erstaunt, zog ich mich, um die weitere Entwicklung der Szene besser
zu beobachten, nach der entgegengesetzten Seite des Salons zurück und
lehnte mich an eines der beiden dort stehenden kolossalen japanischen
Götterbilder. Niemand war in meiner Nähe. Und in meiner Überraschung
murmelte ich leise: ›Welch erstaunliche Kraft!‹ Ich bin fest überzeugt,
daß selbst ein ganz nahe bei mir Stehender nicht hätte verstehen
können, was ich sprach, und doch hatte ich diese Worte kaum geäußert,
als sich der Graf auf dem Absatz umdrehte, auf mich zukam und mit einem
seltsamen süßlichen Lächeln sagte: ›Diese ganze Kraft ist die Ihre,
wenn Sie nur ein einziges Wort sprechen.‹

›Was für ein Wort?‹ fragte ich, verblüfft, daß jemand so schnell meine
Gedanken hatte lesen können, denn er konnte meinen Ausruf unmöglich
gehört haben.

›Daß Sie sich freiwillig der erhabensten Brüderschaft anschließen
wollen, die es je auf der Erde gegeben hat. Überlegen Sie sich's. Wir
sprechen uns später!‹

›Wann? Wo?‹ fragte ich hastig, denn die erlauchte Gesellschaft und
insbesondere der Kaiser, der uns unter seinen buschigen Brauen hervor
ebensoviel Aufmerksamkeit schenkte, wie den wunderbaren Vorgängen im
Saale, beobachteten uns fortwährend.

Er antwortete nicht ohne weiteres, sagte aber schließlich: ›Durch
die Ausübung der Macht, die ich besitze und Ihnen übertragen will --
bedingungsweise natürlich. Sie werden fähig sein, jeden Menschen der
Sprache zu berauben und Mann, Weib oder Kind vollkommen Ihrem stummen
Befehl dienstbar zu machen, wie die Leute dort meinem Willen dienstbar
sind. Da lebt hier z. B. in Paris ein gewisser Jean Boyard, der durch
einen bloßen Blick jeden beliebigen Gegenstand auf sich zutanzen lassen
kann. Sie werden ihn um das fünfzigfache übertreffen! Auf dem Boulevard
du Temple läßt ein gewisser Hektor eine Rose aus einer grünen Knospe in
sieben Minuten voll erblühen. Sie werden es in einer Minute tun können.

In der Rue du Jour lebt eine weise Frau, die alle Übel heilt, die
überhaupt heilbar sind, und zwar durch bloße Berührung und durch Gebet:
Sie werden mehr leisten, als sie je zu hoffen wagen darf. Sie brauchen
nur zu sagen: ›Ich will diese Kräfte haben.‹ Und sie werden Ihnen zu
Gebote stehen, und sie sind wahrhaftig des Besitzes wert. Ich habe
meine Geheimnisse unter den Magiern des Ostens erlernt -- Männern, die
nicht halb so zivilisiert sind, wie wir im Westen, die aber trotzdem
ein gut Teil mehr wissen als die Weisen der Christenheit -- nicht von
Technik, Politik und Finanzwesen, sondern von der menschlichen Seele,
ihrer Natur, ihren Kräften und den Methoden ihrer Entwicklung. Anstatt
der modernen wissenschaftlichen Entdeckungen auf diesem Gebiet froh zu
sein, schämen wir uns des ›Wahren Tempels‹ ... ›Was für ein Tempel?‹
unterbrach ich ihn. Der ›Hohe Dom des Rosenkreuzes‹‹, sagte er.

Der Kaiser mußte diese Frage und die Antwort gehört haben, denn er
ging gerades Wegs zu uns herüber, um an unserer seltsamen Unterhaltung
teilzunehmen. Der Graf verneigte sich und schien durch die Gegenwart
des großen Gründers des zweiten Kaiserreiches nicht im geringsten in
Verlegenheit gebracht.

›Was ich sagen wollte‹, nahm er den Faden wieder auf, ›anstatt über
das, was die Wissenschaft geleistet hat, in Ekstase zu geraten, schämen
wir uns vielmehr über den zögernden Gang des ›Fortschritts‹ -- ja:
›Fortschritts!‹ Wo sehen Sie denn einen Fortschritt, außer im Elend,
in der Armut, im Verbrechen, in der Unterwürfigkeit? Fortschritt
ist mehr Phantasie als Wirklichkeit. Zivilisation ist ein Irrtum,
Utilitarismus eine Entweihung der Menschenseele, Philosophie ist Betrug
und Gelehrsamkeit Lüge.‹

Ich war froh, daß der Kaiser gerade in diesem Augenblick zu uns
getreten war, und zwar aus zwei Gründen: einmal, weil ich hören wollte,
was er darauf zu sagen hatte, und dann, weil ich sehen wollte, ob die
Hypnotisierten unter dem Einfluß des Grafen bleiben würden, wenn seine
Aufmerksamkeit von ihnen abgelenkt und auf andere Dinge gerichtet war.

›Kehren Sie sich nicht an das, was er da erzählt‹, sagte der Kaiser zu
mir, ›diese Mesmeristen sind alle ein wenig verrückt.‹ Und er lächelte,
während der Italiener die Achseln zuckte und ausrief:

        ›Doch mit Methode!‹

Dann wandte der Italiener seine Aufmerksamkeit wieder der Gesellschaft
zu, tat durch irgendeine unerklärliche Macht ihrem Tanze Einhalt und
brachte sie wieder in ihren normalen Zustand zurück, nahm dann gleich
darauf Mme. Dablin aufs Korn, die stracks mit geschlossenen Augen
auf ein großes Piano zuging, mit unvergleichlicher Geschicklichkeit
wie zum Vorspiel über die Tasten fuhr und dann eine der seltsamsten,
glänzendsten und dabei wildesten und zauberischsten Phantasien, die
je ein Genie erträumt, zum Besten gab. Mein ganzes Wesen aber war in
diesem Augenblick von weit wichtigeren Dingen erfüllt, als von diesem
Experiment, so interessant es auch sein mochte. Denn im besten Falle
konnten seine Wirkungen und die Erinnerung daran nur vorübergehend
und ephemer sein, sagte ich mir, während die Dinge, die ich von dem
Italiener lernen konnte, im Gegenteil so lange dauern würden, als meine
Seele ihr Bewußtsein behielt. Der Kern der Antworten, die er auf meine
und des Kaisers Fragen gab, war folgender:

›Die Seele und ihre Eigenschaften, ihre Leidenschaften und ihr Ausmaß
drückt sich im körperlichen Wesen deutlich aus und ist für alle ohne
weiteres klar, die den Schlüssel dazu besitzen. Für alle anderen ist
es schwierig, diese Zeichen richtig zu deuten und noch schwieriger,
die gegenwärtige, die mögliche und die relative Stärke und den Wert
jeder Eigenschaft zu erkennen. Jede Handlung eines Menschen wirkt
sowohl auf seinen Körper wie auf seine Seele ein, und die Spuren dieser
Einwirkungen sind für immer in seinen Gesichtszügen wahrzunehmen. Daher
kann der Adept leicht seine Vergangenheit -- sogar seine geheimsten
Taten oder Gedanken -- erkennen, und zwar so leicht, wie wenn sein
Gesicht eine bedruckte Seite mit großen, schönen, klaren Lettern
wäre. Jeder Mensch kann auf mesmerischem Wege von einem anderen
ausgeforscht werden, weil kein Mensch im ganzen genommen stärker ist
als seine schwächste Eigenschaft: eine Kette ist nicht stärker als ihr
schwächstes Glied. So hypnotisiere ich jetzt die Menschen, weil ich
auf den ersten Blick die verwundbarste Seite ihres Wesens erkenne.
Selbstliebe, Eifersucht und Wille ist die einige Dreiheit, um die
sich das Seelenleben dreht. Eins von diesen ist immer verwundbar;
unterwerfen Sie sich dieses und Sie haben den ganzen Menschen
unterworfen. Wenn ich hier solche Experimente vollführe, wie Sie sie
soeben gesehen, dann mesmerisiere ich zunächst nicht das ganze Gehirn,
sondern eine einzelne Eigenschaft desselben, die bald auch die übrigen
nach sich zieht. Der Geist des Menschen ist ein Spiegel! Das werden Sie
zugeben. Nun gut, ich schalte dann meinen eigenen Geist vollständig
aus: ich denke nämlich an gar nichts anderes, als an ein in Umdrehung
begriffenes Rad. Die Versuchsperson spiegelt diese Tätigkeit wider;
dann singe, tanze, spiele ich in meiner Phantasie und der Magnetisierte
spiegelt meine Gedanken durch die entsprechenden Handlungen wider.‹

›Aber angenommen, Ihre Versuchsperson besitzt die Fähigkeiten dazu
nicht, wie dann?‹

›Alle Seelen haben diese Fähigkeiten. Die Körper freilich nicht, aber
ich bringe ja die Seele unter meine Gewalt, nicht nur den Körper.‹

›Das ist eine gefährliche Macht‹, meinte der Kaiser, ›und nur ein guter
Mensch sollte sie besitzen.‹

›Ein schlechter Mensch kann kein wahrer Rosenkreuzer werden, obgleich
die Menschen ihre Waffen gegen die Mitglieder der Brüderschaft
gekehrt haben, und ihre Geheimnisse wie ja auch sonst alles, was dazu
gehört, zu unlauteren Zwecken mißbraucht worden sind. Es kann ein
Kundiger einen Kranken durch diese Kraft heilen, aber er kann auch
einen Gesunden damit töten; tatsächlich ist dies schon oft geschehen,
besonders bei den Eingeborenen Afrikas.

Ich stelle mir z. B. vor, daß Sie krank und am Sterben sind, und
wenn ich diesen Wunsch und Willen aufrecht erhalte, so ist nichts
sicherer, als daß er in Erfüllung gehen wird. Manche Leute besitzen
von Natur eine ungeheure Willenskraft und sind sogar fähig, sichtbare
Bilder hervorzubringen. Bilder von allem, was sie sich gerade
vorstellen -- etwa von einer Blume, einer Hand, einem Arm, einer
menschlichen Gestalt -- und diese Erscheinungen werden dann von Scharen
verblüffter Zuschauer gesehen, die in ihrer vollständigen Unwissenheit
und Unkenntnis des menschlichen Geistes und Körpers und ihrer
gegenseitigen Kräfte sie für die Geister toter Menschen halten.‹

Der Kaiser bat nun den Grafen, aus eigener Kraft Geisterphänomene
vorzuführen, was dieser sofort versprach. Er eilte mehrmals rasch im
Saale hin und her, gab Befehl, das Licht zu verringern; dies geschah;
dann trat er wieder wie vorher vor den Spiegel, wo er eine oder zwei
Minuten lang stehen blieb. Endlich wiederholte er kurz und scharf
dreimal das Wort: ›Seht her!‹ Wir taten es und wirklich: die Flammen
tausend leuchtender Blitze zuckten über die Oberfläche des Spiegels,
den Boden, die Decke und die Wände; bald in Gestalt von Gabeln, bald
wie Ketten eines elektrischen Fluidums, bald verwandelten sie sich
in feurige Eicheln, die sich allmählich zu einer flammenden Krone
vereinigten; einen Augenblick schwebte sie über der Gesellschaft und
schließlich blieb sie etwa fünf Zoll über dem Haupte Napoleons stehen
-- eine Krone von Feuer.

Nachdem er einen so glänzenden Beweis seiner fast unglaublichen Macht
gegeben hatte, wandte er sich an mich, wiederholte seine Einladung,
ich möchte ein Akolyt des ›Tempels‹ werden und sagte noch einmal, wir
würden uns später noch begegnen. Bald darauf war die Sitzung zu Ende
und ich verließ den Palast um ein bedeutendes klüger als bei meinem
Eintritt fünf Stunden vorher.

       *       *       *       *       *

Eines Nachts kam ich nach Monte Carlo, um mir den ›Barbier von Sevilla‹
anzuhören und dem herrlichen Gesang eines Mario, Grisi oder einer
Gassier zu lauschen. Ich war über all meinen Kummer hinausgehoben
durch die ›Musiklektion‹ dieser berühmten Sängerin und summte auf dem
Heimweg die gehörten Melodien vor mich hin, und als ich schon im tiefen
Schlafe lag, klangen sie noch lange in meinem Ohr nach. Ich war zu Bett
gegangen. Mit all der Vorsicht, die die Amerikaner im allgemeinen und
die Kalifornier ganz besonders an sich haben, -- deren Gewohnheiten
ich angenommen -- hatte ich vor dem Schlafengehen das ganze Zimmer
untersucht, um zu sehen, daß alles sicher und in richtiger Ordnung
war. Nachdem ich dann noch Türen und Fenster gewissenhaft geschlossen,
schlief ich bald ein. Unter meinem Kopfkissen lag meine Geldkatze mit
etwa 2000 Golddollars und ein scharf geladener Revolver, der einmal
einem meiner Bekannten in Kalifornien gehört hatte.

Am Morgen war das Zimmer noch genau so wie am Abend vorher, aber der
Revolver war entladen und das Gold lag auf dem Tisch, und zwar in Form
eines Dreiecks angeordnet, an dessen Spitze der Buchstabe ›R‹ thronte.
An der Brust meines Schlafanzuges aber war mit einigen Nadeln ein Brief
in englischer Sprache in einer kühnen, klaren Handschrift, in roter
Tinte, angeheftet. Am Abend war dieser Brief noch nicht dagewesen --
menschliche Hände konnten ihn nicht hieher gebracht haben. Ich las:
›Vergiß den Zweck nicht, um dessentwillen Du den Ozean überquert hast,
denn Dein Unternehmen betrifft die kommenden Jahrhunderte der Welt! Es
ist noch nicht vollendet. Vollende es! Ich will Dir dienen und Dich
retten. -- E.‹

Ich war wie vom Blitz getroffen. Wieder kreuzte ein geheimnisvolles
Wesen meinen Weg, ein Wesen, dessen Reich das Hier und Drüben war
und dessen Willen mich in einen feurigen Ring einschloß, aus dem es
kein Entkommen gab. Ich war in Verzweiflung, denn schon hatten sich
graue Haare auf meinem Haupte gezeigt; ich fühlte, daß ich vorzeitig
alt wurde und immer weniger durfte ich mit der Möglichkeit rechnen,
daß ich, ein Sohn Adams, mich jemals mit einer Tochter Ichs vermählen
würde.«



ZWEITES BUCH



1. Kapitel

ÜBER DIE ROSENKREUZER


Es ist nicht meine Absicht, alle Abenteuer Beverlys zu erzählen,
noch seine Spuren in Ägypten, Syrien, der Türkei oder in Europa
zu verfolgen. Mehr als eine lange Reise unternahm ich mit ihm und
gelegentlich verlor ich ihn wohl auf Monate aus den Augen, aber durch
die seltsamsten Zufälle trafen wir uns immer wieder, bald auf der
Spitze der großen Pyramide von Giseh, bald in den Wüsten von Dongola
und Nubien, dann in einem französischen Café oder in den Säulenwäldern
von Karnak oder Theben. An der Existenz der Brüderschaft vom Rosenkreuz
zweifelte ich ebenso wie an allem, was Beverly über ihre Macht
erzählte, obwohl ich über die berühmte Brüderschaft schon viel gehört
und noch mehr gelesen hatte.

Auf meinen zahlreichen Reisen begegnete ich immer wieder Pseudoadepten
des Rosenkreuzordens, die eine klägliche Unwissenheit hinsichtlich der
elementarsten Dinge der wirklichen Brüderschaft an den Tag legten.

Unter dem Buchstaben ›R‹ findet man in der ›American Encyclopedia‹
für das Wort ›Rosicrucians‹ folgende Erläuterung: ›Mitglieder einer
Gesellschaft, deren Existenz zu Anfang des 17. Jahrhunderts bekannt
wurde. Ihr Zweck war offenbar die Reform der Kirche, des Staates und
der Menschen überhaupt. Eine nähere Untersuchung ergab aber, daß ihr
wirkliches Ziel die Entdeckung des Steins der Weisen war. Ein gewisser
Christian Rosenkreutz, der angeblich lange Zeit unter den Brahminen
lebte, soll den Orden im 14. Jahrhundert gegründet haben, doch glaubt
man, der wirkliche Gründer sei ein gewisser Andreä, ein deutscher
Gelehrter zu Beginn des 16. Jahrhunderts, gewesen. Ihm wird die Absicht
zugeschrieben, die durch die scholastische Philosophie entweihte
Religion zu reinigen. Andere vermuten, daß er lediglich einer schon
vor ihm von Cornelius Agrippa von Nettesheim gegründeten Gesellschaft
einen neuen Charakter verlieh. Der Schriftsteller Krause sagt, daß
Andreä von frühester Jugend an sich mit dem Plan einer geheimen
Gesellschaft zur Hebung des Menschengeschlechts getragen habe. Im Jahre
1614 veröffentlichte er seine berühmte ›Reformation der ganzen Welt‹
und seine ›Fama Fraternitas‹. Christliche Enthusiasten und Alchimisten
glaubten die in diesen Büchern geschilderte poetische Vereinigung und
so wurde Andreä der Vater der späteren Rosenkreuzer-Brüderschaften, die
sich über Europa verbreiteten. Nachdem noch eine Reihe von Büchern über
das Rosenkreuzertum erschienen war, geriet die Sache in Vergessenheit,
bis das allgemeine Interesse in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts
wieder erwachte, und zwar infolge der Auflösung des Jesuitenordens
und des Bekanntwerdens seiner Machinationen sowie der Betrügereien
Cagliostros und anderer berühmter Schwindler.‹

Soviel von dem Naseweis, der diesen Artikel der ›American Encyclopedia‹
schrieb. Demgegenüber zitiere ich wörtlich Seite 132 bis 135 aus
der Autobiographie Heinrich Jung-Stillings, späteren Hofrats des
Großherzogs von Baden (London 1858), folgendes:

›Eines Morgens im Frühjahr 1796 kam ein hübscher junger Mann in einem
grünseidenen Plüschrock, der auch sonst gut gekleidet war, in Stillings
Haus in Ockershausen. Er stellte sich in einer Weise vor, die eine
gebildete und adelige Erziehung verriet. Stilling fragte ihn nach
seinem Namen und erfuhr, daß es der bekannte ... sei. Stilling war über
den Besuch erstaunt und sein Erstaunen wuchs in der Erwartung dessen,
was dieser rätselhafte junge Mann ihm mitzuteilen haben möchte.
Nachdem sie sich beide gesetzt, begann der Fremde seine Erklärungen,
indem er den Wunsch aussprach, Stilling wegen einer Augenkranken namens
P. zu konsultieren. Der wirkliche Zweck seines Besuches bedrückte ihn
jedoch so sehr, daß er plötzlich zu weinen begann, erst Stillings
Hand, dann seinen Arm küßte und sagte: ›Mein Herr, sind Sie nicht der
Verfasser der ›Nostalgia‹?‹ ›Gewiß.‹ ›Dann sind Sie also einer meiner
geheimen Vorgesetzten?‹ (In der Großen Loge vom Rosenkreuz.) Hier
küßte er wieder Stillings Hand und Arm und weinte fast laut. Stilling
antwortete: ›Nein, mein lieber Herr, ich bin weder Ihr noch sonst
jemands geheimer Vorgesetzter. Ich bin in keiner wie immer gearteten
geheimen Verbindung.‹ Der Fremde sah ihn starren Auges und mit innerer
Erregung an und entgegnete: ›Teuerster Freund, hören Sie auf, sich zu
verstellen! Ich bin lange und streng genug geprüft worden. Ich dachte,
Sie kennen mich schon!‹

›Nein, Herr, ... ich versichere Ihnen feierlich, daß ich keiner
geheimen Gesellschaft angehöre und tatsächlich von all dem, was Sie da
sagen, nicht das Geringste verstehe.‹

Diese Worte waren zu ernst und streng gesprochen, als daß sie den
Fremden noch länger in Ungewißheit hätten lassen können. Die Reihe,
erstaunt und bestürzt zu sein, war jetzt an ihm. Er fuhr fort:
›Aber dann sagen Sie mir doch, wie es kommt, daß Sie die große und
verehrungswürdige Verbindung im Osten so genau kennen und sie in der
›Nostalgia‹ so umständlich beschrieben haben, wobei Sie sogar Ihre
Versammlungsorte in Ägypten, auf dem Sinai, im Kloster von Canobia und
unter dem Tempel in Jerusalem erwähnten?‹ ›Ich weiß nichts von all
dem‹, erwiderte Stilling, ›diese Ideen stellten sich meinem Geiste
in sehr lebendiger Form dar. Das Ganze ist also nichts als Fabel und
Erfindung.‹

›Verzeihen Sie, aber die Dinge, die Sie schildern, entsprechen
der Wahrheit und Wirklichkeit. Es ist erstaunlich, daß Sie dies
entdeckt haben -- das kann doch nicht durch Zufall geschehen sein!‹
Der Fremde erzählte nun Einzelheiten von der Vereinigung im Osten.
Stilling war über alle Maßen erstaunt, denn er hörte da merkwürdige
und außerordentliche Dinge, die jedoch derart sind, daß sie nicht
veröffentlicht werden können. Ich stelle lediglich fest, daß das, was
Stilling von dem Fremden erfuhr, durchaus keinen Bezug auf politische
Angelegenheiten hatte.‹

Um dieselbe Zeit schrieb ein bekannter mächtiger Fürst an Stilling und
fragte ihn, ›wie es komme, daß er so genau über die Gesellschaft im
Osten Bescheid wisse, denn diese sei tatsächlich genau so beschaffen,
wie er sie in seiner ›Nostalgia‹ beschrieben habe.‹ Die Antwort
war natürlich dieselbe wie die, die er dem eben erwähnten Fremden
mündlich gegeben hatte. Stilling hat noch mehr Erfahrungen dieser
Art gemacht, die ihm bestätigten, daß seine Einbildungskraft genau
mit den wirklichen Tatsachen übereinstimmte, ohne daß er vorher die
geringste Kenntnis oder auch nur Ahnung davon gehabt hätte. Stilling
stellt keine Betrachtungen über die Sache an, sondern läßt sie auf
sich beruhen und betrachtet sie als eine Fügung der Vorsehung, deren
Absichten ihn in ganz bestimmter Richtung führten. Die Entdeckung
des Rosenkreuzer-Geheimnisses im Orient ist jedoch für ihn von
großer Wichtigkeit, weil sie Beziehung hat zu dem Reiche Gottes.
Vieles bleibt freilich im dunkeln, denn Stilling hörte später von
einer angesehenen Persönlichkeit Verschiedenes über eine asiatische
Gesellschaft ganz anderer Art. Es bleibt noch zu erklären, ob es sich
um zwei verschiedene Vereinigungen handelte oder ob beide identisch
sind. So weit Jung-Stilling. Erst kürzlich erfuhr ich von der Existenz
von Rosenkreuzer-Logen in unserem Lande und erhielt verschiedene
Nachrichten über die Brüderschaft, von denen ich die folgenden sieben
Paragraphen betreffend die exoterische oder äußere Tätigkeit des
Tempels zu veröffentlichen ermächtigt wurde.


        DIE ROSENKREUZER
        =Wer und was sie sind=
        EHRE, MANNHEIT, GÜTE
        =VERSUCH'S!=

I. Wir Rosenkreuzer sind eine Körperschaft gutgesinnter Männer, die
unter einer großen Logenverfassung wirken. Sie leiten ihre Macht und
Autorität von dem ›Königlichen Dom‹ des ›Dritten Hohen Tempels‹ des
Ordens ab. Die große Loge und der Große Tempel erteilen die Bewilligung
zur Gründung von Hilfslogen, und zwar an jedem beliebigen Ort innerhalb
der Grenzen ihrer Rechtsprechung.

II. Alle Rosenkreuzer sind praktisch tätige Menschen, die an
Fortschritt, Gesetz, Ordnung und Selbsterziehung glauben. Sie glauben
fest, daß Gott denen hilft, die sich selbst helfen; daher ist ihr
Wahlspruch das Wort: Versuch's! Sie glauben, daß dieses kleine Wort
eine gewaltige Brücke werden wird, über die der Mensch vom Schlechten
zum Guten und vom Guten zum Besseren wandelt, von der Unwissenheit zur
Erkenntnis, von der Armut zum Wohlstand, von der Schwäche zur Macht.

III. Unsere Gesellschaft ist über die ganze Welt verbreitet und die
Zahl unserer Niederlassungen ist in ständigem Wachstum begriffen.
Wir wollen Menschen hohen Geistes den Verkehr mit Gleichgesinnten
ermöglichen. Da außer der unseren keine andere derartige Organisation
besteht, gibt es unter denen, die uns noch nicht kennen, viele,
die durch ihre Vereinsamung leiden. In unseren Logen finden solche
Männer alles, was sie suchen und noch mehr. In unseren wöchentlichen
Zusammenkünften wird eine edle Geselligkeit gepflegt. Die besten
Gedanken werden vorgebracht und die echteste menschliche Freude wird
ausgekostet.

IV. Jeder Rosenkreuzer ist jedem anderen Rosenkreuzer auf der
weiten Welt bekannt und sein geschworener Bruder, und als solcher
verpflichtet, ihm jede mögliche erlaubte Hilfe zu gewähren. Jeder
kann zu einem, zwei oder drei Graden gewählt werden; wenn er einmal
ein wahrer Rosenkreuzer geworden ist, ist es nahezu unmöglich, daß er
späterhin einmal in Not gerät, denn in allem, was gerecht ist, wird ihm
Schutz gewährt, solange er ein würdiger Bewohner des Tempels bleibt. Es
herrschen die Wahlsprüche: ›Versuch's!‹ und ›Exzelsior!‹

V. Die Ordensmitglieder zahlen eine Eintrittsgebühr und einen
monatlichen Beitrag von einem Dollar. Dafür genießt jedes Mitglied die
Vorteile guter Lektüre und wissenschaftlicher Bildungsmittel und eines
namhaften Krankengeldes. Ebenso wird für ein standesgemäßes Begräbnis
gesorgt, Witwen und Waisen werden vom Orden unterstützt.

VI. Der Orden ist eine Schule der höchsten und besten Kenntnisse,
die die Erde überhaupt gewährt. Er überragt alle anderen wohltätigen
Gesellschaften, denn er ist nicht nur eine wechselseitige
Schutzgesellschaft, sondern er strebt noch nach weit höheren und
edleren Zielen -- von denen nur einige wenige, sehr wenige, in diesem
Büchlein angedeutet sind. Eines der vornehmsten Ziele der Brüderschaft
ist es, eine Schule für Menschen zu sein, die Menschen einander
nützlicher zu machen, indem man sie stärker, wissender und daher
weiser und auch glücklicher macht. Als Rosenkreuzer erkennen wir den
ungeheuren Wert von Sympathie, Mut, Ehrgeiz und Ausdauer an.

Nil mortalibus arduum est.

Es gibt keine Schwierigkeit für den, der ernstlich will!

Was immer Gutes und Großes von einem Menschen getan wurde, kann auch
durch dich und durch mich ausgeführt werden, mein Bruder, wenn wir
so denken und mit wahrem, tiefem Ernst darangehen. Versuch's! Wir
proklamieren die Allmacht des Willens! Und wir erklären, daß der Wille
des Menschen wie unsere eigenen Taten beweisen, eine erhabene und
allerobernde Kraft ist, daß diese gewaltige Macht jedoch nur negativer
Art ist, wenn sie ausschließlich zu selbstsüchtigen und eigennützigen
Zwecken benützt wird; wird sie aber in die rechten Bahnen geleitet, so
wird sie unwiderstehlich. Güte ist Macht. Daher verwenden wir unsere
größte Sorge darauf, den normalen Willen zu bilden und ihn so zu einem
kraftvollen, mächtigen Werkzeug für das positiv Gute zu machen.

Ein wahrer Rosenkreuzer lernt die Menschen so völlig durchschauen,
als wären sie durchsichtig. Und diese Fähigkeit erlangt er nur durch
die Tatsache, daß er Rosenkreuzer ist, und kein anderer kann sie je
besitzen, er mag tun, was er will. Der Tempel lehrt seine Akolyten,
wie diese königliche Kunst der menschlichen Seele, des Willens, zu
erwerben, wie sie zu steigern, zu klären und auszudehnen ist.

VII. Die Tore unserer Logen sind ehrlichen und strebenden Menschen
niemals verschlossen, noch kann irgendein irdischer Herrscher _nur_
vermöge seines Ranges Zutritt erlangen; denn, mag er auch ein König
sein, so braucht er deswegen kein Mann zu sein; dieser Titel steht
weit über allen anderen auf der Erde. Wir Rosenkreuzer sind stolz auf
unseren Rang, und zwar gerade deswegen, weil wir eine Brüderschaft von
Männern sind, und Mannheit als wahres Königtum betrachten. Der Orden
hat nichts mit Politik und Religion zu tun, und es ist gleichgültig,
zu welchem Glauben sich einer bekennt, wenn er nur ein _Mensch_ ist.
Religiöse und politische Dinge dürfen bei uns nicht besprochen, ja
nicht einmal erwähnt werden.

Man wird bemerkt haben, daß an diesen Bestimmungen nichts Magisches
ist und doch zweifle ich nicht, daß die Mitglieder des Ordens seltsame
Geschichten erzählen könnten, wenn sie wollten.

Viele, aber keineswegs alle Alchimisten und hermetistischen
Philosophen waren Diener dieser großen geheimen Brüderschaft, die
seit den ältesten Zeiten geblüht und unter verschiedenen Namen in
verschiedenen Ländern ihre Mission vollendet hat und noch vollendet.
Mitglieder dieser mystischen Vereinigung waren die alten Magier in
Chaldäa in Mesopotamien. Mitglieder waren auch die ersten Sabäer, die
lange vor den Weisen von Chaldäa lebten, ferner die Begründer der
semitischen Kultur. Aus dieser großen Brüderschaft gingen Buddha,
Lao-tse, Zoroaster, Platon, die Gnostiker, die Essäer und Christus
selbst hervor -- der ein Essäer war und die heiligen Lehren vom Berge
des Lichtes predigte. Mitglieder waren ferner die großen Träumer und
Dichter aller Jahrhunderte. Was immer an überirdischem Licht jetzt
die Welt erleuchtet, kommt von den Fackeln, die sie an der Quelle
alles Lichts entzündeten, auf jenem mystischen Berge, den zu erklimmen
sie allein Mut und Ausdauer hatten; und sie erklommen ihn auf einer
Leiter, deren Sprossen Jahrhunderte voneinander entfernt waren. Hermes
Trismegistos, Ägyptens mächtiger König, war ein Adept und der andere
Hermes (Asklepius IX.) ein Bruder. Ein Priester -- wie Malki Zadek vor
ihm -- war jener berühmte präadamitische Monarch, jener Melchisedek,
von dem man erzählte, er sei aus einem Gedanken geboren worden und habe
unzählbare Jahrhunderte gelebt. Ebenso war es mit dem griechischen
Mercurius. Ihrer war jene erstaunliche Gelehrsamkeit, in der Moses
so bewandert war, und aus ihrem Brunnen trank der hebräische Josef.
Nichts Ursprüngliches ist an der Thaumaturgie, Theologie, Philosophie,
Psychologie, Entologie und Ontologie, was sie nicht der Welt gegeben
hätten; und wenn je Philosophen glaubten, sie hätten neue Erkenntnisse
und Wahrheiten gewonnen, so beweisen die Dokumente des Ordens, daß sie
schon Menschenalter vor der adamitischen Zeitrechnung bekannt und das
geistige Eigentum der Adepten waren.

Ich habe mich auf diese Bemerkungen und Erläuterungen eingelassen,
einmal, um endgültig und autoritativ die schwierige Frage nach dem
Wesen des Rosenkreuzertums zu lösen und dann, um auf das Folgende
helleres Licht zu werfen.



2. Kapitel

WER WAR ES? -- WAS WAR ES?


»Ich machte meine geplante Reise«, sagte Beverly eines Tages zu mir,
»und kehrte weiser zurück, als ich ausgegangen war, aber der Erfüllung
meiner hauptsächlichsten Hoffnung war ich nicht näher gekommen.« Ich
hatte in der Stadt Boston eine medizinische Praxis auszuüben begonnen
und bewohnte ein Bureau, das im Rufe stand, von den aufgestörten
Geistern verschiedener Personen heimgesucht zu werden, die durch einen
seltsamen Einfluß dorthin gezogen wurden. Ich lachte darüber und machte
mich über die Behauptungen ganzer Scharen sogenannter Somnambuler
lustig, die diese leichtbeschwingte Gesellschaft gesehen zu haben
versicherten.

Da kam an einem stürmischen Tag bei stürmischem Schneetreiben eine
Dame zu mir, um mich wegen einer skrophulösen Erkrankung ihres
Kindes zu konsultieren. Damals genoß ich einen bedeutenden Ruf auf
diesem Spezialgebiet, denn ich hatte wenige Monate vorher für diese
Art von Leiden eine besondere Behandlungsweise eingeführt. Nachdem
ich meiner ärztlichen Pflicht genügt, erhob ich mich und dachte, die
Dame würde das Zimmer verlassen. Sie traf jedoch keine Anstalt, sich
zu verabschieden, sondern wünschte mit mir über spiritistische oder
ähnliche Themen zu debattieren, was ich aus angeborener Abneigung gegen
Blaustrümpfe respektvollst ablehnte. Doch besaß sie alle Eigenschaften
eines guten Klebepflasters, und ich konnte mich unmöglich von ihrer
Gesellschaft befreien. Dabei erklärte sie, sie sehe beständig die
Toten und unterhalte sich mit ihnen und wolle auch gerne Proben ihrer
Befähigung in dieser Richtung liefern. Nach diesen Worten wurde
sie sofort von einem äußerst heftigen Zittern befallen, das von
krampfartigen Zuckungen und Konvulsionen begleitet war. Ich hatte so
etwas geahnt und war daher über ihren Zustand nicht sehr bestürzt,
ging aber doch in das Hinterzimmer, holte mir einen Stuhl und setzte
mich nieder, um weitere Vorführungen abzuwarten. Diese ließen nicht
lange auf sich warten, aber was da von einem Etwas, das meine Mutter
zu sein behauptete, an Ratschlägen und Ermahnungen an mich gerichtet
wurde, war nichts als Wortgeflunker und Gemeinplätze. Diese meine
angebliche Mutter schien z. B. ihren Namen vergessen zu haben, ebenso
wie meinen eigenen, und wann und wo sie aus dem Leben geschieden war.
Ich war vollkommen sicher, daß es nicht meine Mutter sein könne, war
aber anderseits ebenso überzeugt, daß Mrs. Graham nicht bewußt die
Rolle einer Betrügerin spielte. Ich erklärte mir das Phänomen mit der
Rosenkreuzerischen Theorie -- die mir damals noch ganz neu war --, daß
sie von einer anderen Individualität, die ihrer eigenen durchaus fremd
war, besessen sei. Für mich war es sehr bald klar, daß sie wie tausend
andere unter dem Einfluß und der Herrschaft eines Willens stand, der
tausendfach stärker war als der irgendeines menschlichen Wesens, das je
auf dieser Land- und Wasserkugel einen Körper bewohnte, eines höchst
intelligenten, mächtigen, unsichtbaren und vollkommen gewissenlosen
Wesens, das nichts Menschliches mehr an sich hatte.

Die Dame kam nach einigen Minuten wieder zu sich und ich setzte ihr
freimütig meine Meinung auseinander. Sie war ihr neu und sie war
sichtlich erstaunt. »Keine menschlichen Wesen, aber intelligent? Ein
intelligentes Ding und arglistig? Es ist entsetzlich! Fürchterlich! Was
ist denn dann dieses Ding? Ein Engel? Nein! Ein Teufel? Wenn ja, woher
kommt es? Warum? Zu welchem Zweck?«

Wir plauderten mehr als drei Stunden lang. Die Stimmung meiner
Besucherin wurde zuletzt wirklich erregt, denn ich holte noch einmal
meine Rosenkreuzerlehre hervor. Schließlich sagte sie: »Gibt es
wirklich im Universum intelligente, aber unsichtbare Wesen, anders
geartet wie die Menschen -- das ist die Frage?«

»Natürlich gibt es solche Wesen! Myriaden!« rief eine klare, männliche
Stimme in den Raum hinein. Die Dame konnte es nicht sein, die etwa
so auf ihre eigene Frage geantwortet hätte und ich war es erst recht
nicht. Nach sekundenlangem Zögern wandte ich mich dem Sprecher zu, der
mir als ein magerer, seltsam blickender, runzliger, alter Mann in der
Erinnerung haftet, mit merkwürdigen kleinen, scharfen, grauen Augen. Er
sah halberfroren aus und benahm sich auch so, denn er begann gemächlich
seine Hände über meinem Laboratoriumsofen zwischen der Tür und der Wand
zu wärmen. Die Dame schien von der unerklärlichen Gegenwart dieses
eigentümlichen Eindringlings nicht überraschter zu sein als ich.

»Ich bin nicht ganz sicher,« erwiderte ich auf die Worte des Alten, »ob
es wirklich solche Wesen gibt.«

»Dann sind Sie ein größerer Narr als ich je einen gesehen habe. Guten
Abend!«

Und er bewegte sich langsam gegen die Tür zu, an der mein Stuhl stand.

»Gehen Sie noch nicht, ich wünsche noch Aufklärung von Ihnen«,
sagte die Dame. »Meinen Sie nicht auch?« wandte sie sich dann an
mich, während sich auf ihrem Gesicht, besonders in ihren Augen, ein
auffallender Ernst ausdrückte. »Ich glaube, er sollte seine Behauptung
beweisen und uns nicht in diesem Zustand der Ungewißheit lassen. Das
ist grausam!« Und wie sie so sprach, traf ihr Auge das meine und blieb
daran haften, wie wenn die sich treffenden Blicke aneinander gefesselt
wären.

Es muß einen magischen Einfluß in der Seele geben, der nur bei sehr
seltenen Anlässen in Wirksamkeit tritt; warum hätte sonst ihr Auge
meinen Blick für zehn Minuten so gebannt, daß ich mich nicht bewegen
konnte? Endlich war dieser faszinierende Zauber vorüber, ich wandte
meine Augen ab und antwortete:

»Gewiß; er sollte es uns erklären; und natürlich werden Sie«, so
suchte ich den Mann zu überreden, »es gerne erklären ...« Aber: Es
war niemand mehr da! Keine Spur, daß er jemals dagewesen war. Er war
fort -- vollständig verschwunden -- nicht durch das Fenster, denn von
dort waren siebzig Fuß bis zur Straße -- außerdem war es vor etwa vier
Monaten unten zugenagelt worden -- auch nicht durch die Tür, denn mein
Stuhl und mein Rücken versperrten sie!

Mein Besuch fiel in Ohnmacht und stürzte vornüber zu Boden.

       *       *       *       *       *

Ich wohnte damals in Charlestown und an jenem Abend erreichte ich mein
Heim ziemlich früh. Nicht, daß ich Furcht empfunden hätte, o nein,
aber weil mir meine Wohnung gemütlicher erschien als das Bureau; denn
das Wetter war bitter kalt und windig. Immer fort traf den fröstelnden
Wanderer, der seinen Weg dahintrabte, der Wind gerade ins Gesicht,
gleichgültig, welche Richtung er gerade einschlug, denn ein Bostoner
Schneesturm bläst immer von allen Seiten zugleich.

Es war ein schweres Stück Arbeit, des Abends die vier Meilen zu meiner
Wohnung zu gehen, denn jeder Schritt mußte erst mühsam erkämpft werden.

Endlich erreichte ich mein Heim und setzte mich fröhlich zu einem
üppigen Abendessen, bestehend aus Tee und geröstetem Brot, in meinem
engen kleinen Wohnzimmer nieder.

Wie es draußen stürmte! Und wie warm und behaglich es in dem kleinen
Hafen war, in dem ich eben Anker geworfen hatte!

Ich genoß gerade die zweite Tasse Tee und die zweite Brotschnitte
zusammen mit meiner Zeitung, als plötzlich ein lautes, zweimaliges
Klopfen an der Türe ertönte, ähnlich dem der englischen Briefträger,
wenn sie Eile haben. Der Diener öffnete und mochte wohl denken,
es sei jemand plötzlich krank geworden und ich solle ärztlichen
Beistand leisten. Aber wie groß war mein Erstaunen als kein anderer
als der kleine alte Mann von vorhin so gemütlich und nonchalant
hereinspazierte, wie wenn er hier zu Hause wäre. Ich war wie vom Blitz
getroffen. Er ging auf das Feuer zu und rief dabei aus:

»Welch einen Schrecken habe ich Ihnen und Ihrem Gaste heute nachmittag
verursacht! Haha! Das war doch großartig, nicht?«

Ich antwortete ziemlich kurz und bündig: »Sehr!« -- nichts weiter,
denn ich fand keinen Geschmack an seinem Scherz. Überhaupt gefiel
mir der ganze Mensch nicht. Nicht daß er mir verabscheuenswert oder
verächtlich erschienen wäre, sondern einfach aus dem Grunde, weil ein
gewisses Etwas an ihm war, vor dem mir graute.

Es ist allgemein bekannt, daß es eine der Hauptlehren der Rosenkreuzer
ist, das leibliche Leben könne auf zwei verschiedene Arten durch
Menschenalter hindurch verlängert werden, einmal mit Hilfe des
Lebenselixiers und dann durch den bloßen Willen. Im ersten Falle ist
das Alter von Schönheit und Jugendkraft begleitet, im zweiten aber ist
es ein Jahrhunderte währendes Greisentum.

Jetzt, in dieser stürmischen Nacht, fiel mir ein, als ich das
verwitterte Wrack da vor mir ansah, dieser Mann könne einer jener
Unglücklichen sein, die durch die zweite Methode eine unendliche Zahl
von Jahren erlangt und infolgedessen alles Jugendfeuer, alles Gefühl,
alle Liebe und alles Gewissen verloren haben. Ich schauderte bei dem
Gedanken, daß dieses Schicksal vielleicht auch mir bevorstehen könne.
Er bemerkte die Bewegung und ein Lächeln voll unaussprechlichen Hohns
kräuselte dabei seine Lippen. Ich dachte schnell an etwas anderes.

Es ist Tatsache, daß nahendes Unheil seinen Schatten vorauswirft und
von feinnervigen Menschen wahrgenommen werden kann. Und ein solches
Vorgefühl, ein solcher Schrecken schien mich jetzt zu umschweben,
schien in meiner Nähe irgendwo in einem Winkel zu kauern, um auf mich
zuzukriechen und meine Seele zu packen, während der seltsame kleine
Mann an meiner Seite stand. Es war ein aus Furcht und Schuldbewußtsein
gemischtes Gefühl und doch hatte ich keine Schuld auf mich geladen.

Nachdem ich das Wort »sehr« ausgesprochen hatte, schwieg ich in dem
Bestreben, den Schrecken, der mich befallen, zurückzudrängen, und
versuchte, so unwillig wie möglich dareinzublicken, was der andere aber
sogleich bemerkte, denn er trat näher, klopfte mir vertraulich auf den
Rücken, goß sich eine Tasse Tee ein, trank sie aus und aß ein Brötchen
dazu -- womit übrigens das Problem, ob er ein Geist sei oder nicht, für
mich gelöst war. Dann ließ er sich gemächlich in meinem Sorgenstuhl
nieder, rieb seine kleine aufgebogene Nase mit seinen dünnen,
bläulich-blassen Fingern und indem er sich plötzlich mit einem Ruck
verbeugte, so daß er mir gerade ins Gesicht sah, lachte er herzlich und
heulte dann mehr als er sang in den höchsten Fisteltönen, deren seine
Stimme fähig war:

    »Ach, wie heult der Sturm so traurig!
    Komm, wir wollen lustig leben,
    Und wir werden Dinge kennen, Dinge, nie gekannt zuvor!
    Ich komme weit vom fernen Westen
    Den Mann zu sehen, den ich am meisten liebe.
    Glaub nicht, ich sei nur Laster und Verderben --
    Ich will den Mittelpunkt der Schwere suchen --
    Du aber wirst den Stein der Weisen finden.«

Und dann brach er wieder in ein so wildes und exaltiertes Gelächter
aus, wie es kaum je ein Mensch gehört hat.

Ich kannte die paar Verse nicht, die er soeben gekrächzt, noch weniger
wußte ich von dem Sänger und nicht im entferntesten dachte ich, daß
diese Zeilen für mich die wichtigsten waren, die ich je vernommen
hatte. Ganz allmählich und unmerklich begannen meine Vorurteile zu
schwinden; ich plauderte mit ihm über verschiedene Gegenstände, und
zwar fast vier Stunden lang. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht,
war es beinahe elf Uhr, als er aufstand, mir herzlich die Hand
schüttelte und sagte, er werde jetzt gehen, wobei er aber versprach,
wieder zu kommen, »wenn er mir zu dienen wünsche«; dann öffnete er die
Tür und ging in einen der fürchterlichsten Stürme hinaus, die je die
Küste der Bostonbay heimgesucht hatten. Es war seltsam: im tiefsten
Winter war dieser Mann in einen ganz dünnen Anzug gekleidet, der
nicht einmal für den Juni der nördlichen Gegenden ausgereicht hätte,
geschweige denn für das schreckliche Wetter in der Nacht jenes 4.
Februar, bei einer Kälte von 20 Grad unter Null.

»Allem Anschein nach ist er ein Mensch und der Mesmerismus gibt uns
einen Schlüssel zur Lösung des scheinbaren Rätsels«, dachte ich; und
mit dieser tröstlichen Überzeugung ging ich zu Bett und überlegte mir
alles noch einmal, was er gesagt und getan hatte. Obwohl über seine
eigene Person nur wenig gesprochen worden war, hatte ich doch soviel
erfahren, daß er von Geburt ein Armenier namens Miakus war, was im
Altchaldäischen »Priester des Feuers« bedeutet. Er sagte mir dies,
als er sich niederbeugte, um die süße kleine Cora, mein Töchterchen,
zu küssen, und als er dabei erwähnte, daß er Kinder sehr gern habe.
Nachdem das Kind zu Bett gegangen war, hatte Miakus ein kleines,
flaches, viereckiges Kästchen aus der Brusttasche gezogen, das
offenbar aus Rosen- oder Olivenholz bestand und ungefähr sieben Zoll
in der Länge und zweieinhalb in der Breite maß. Es war verschlossen
und der silberne Schlüssel hing mittels einer goldenen Spange an
einer gewöhnlichen stählernen Uhrkette um seinen Hals. Er stellte
das Kästchen auf den Schreibtisch, wo es ungestört stehen blieb.
Mir wurde später klar, daß der Grund seines Kommens irgendwie mit
diesem Kästchen und mit mir in Zusammenhang stehen müsse. Ebenso
klar war mir, daß sein Gesichtsausdruck zur Hälfte verstellt war
und daß unter seiner oberflächlichen Nonchalance und Derbheit eine
große Sorge ihn beherrschte; denn gelegentlich klang aus seiner Rede
ein melancholischer Ton, der kundigen Ohren, wenn nicht von einem
gebrochenen Herzen, so doch von einem tief gekränkten und beraubten
erzählte. Dieser Umstand berührte mich tief, denn mein ganzes Leben
lang war ich betrübt mit den Betrübten, und froh mit den Frohen. Nach
einer kleinen Weile sagte er dann, eine seiner Absichten gehe dahin,
mich in gewisse Geheimnisse der weißen Magie einzuführen, mich zu
lehren, wie ein magischer Spiegel zu verfertigen sei, mittels dessen
fast jeder Mensch durch unermeßliche Räume zu blicken und die Toten zu
sehen und mit ihnen zu sprechen vermöge. »Es gibt nichts Wertvolles
außer der Magie! Sie sind ein Narr gewesen, wenn Sie danach gestrebt
haben, weise zu sein, und Sie glauben zu wissen, was Sie sich bisher
nur eingebildet haben.«

Er stand auf, nahm das Kästchen, stellte es auf den Tisch zwischen uns
und fuhr dann fort: »Es ist eine merkwürdige Fügung des Schicksals,
daß der Besitzer eines magischen Spiegels in ihm alle Schicksale
erblicken kann, nur das seinige nicht; wenn er es wissen will, muß er
andere Seher befragen. Nun gibt es gewisse Wesen, deren Zukunft in
diesem Spiegel nur von ganz bestimmten, besonders gearteten Menschen
geschaut werden kann. Sie scheinen mir einer von diesen letzteren zu
sein, und ich bin eine der ersteren; ein solches Zusammentreffen wie
das von uns beiden findet nur am Anfang und am Ende großer Zeitepochen
statt. Wir leben jetzt in einem solchen Zeitpunkt. Ich will Ihnen den
Spiegel schenken, ich will Sie auch die Kunst lehren, solche Spiegel zu
verfertigen.«

Zwei Stunden vorher hatte ich, als ich ihn essen und trinken sah, meine
Geisterhypothese über den seltsamen Alten schleunigst aufgegeben.
Jetzt aber, als er so merkwürdig daherredete und so großsprecherisch
ankündigte, er werde das Tor alles Wissens öffnen, veränderte das
Geheimnisvolle, das ihn umgab, seinen Charakter und hüllte ihn in
zehnfaches Düster. Es lag etwas Unirdisches in seiner Stimme und
in seiner ganzen Art und Weise; z. B. einmal, als er seinen Stuhl
herumdrehte, kam sein rechter Oberschenkel unmittelbar in Berührung
mit dem bis zur Rotglut erhitzten Ofen; ich beobachtete, daß der
Stuhl von der Wärme angegriffen wurde und der Rauch seines Firnisses
allmählich den Raum erfüllte. Und doch war der Mann nicht verbrannt,
sondern stand kühl auf und öffnete die Tür, um den Rauch abziehen zu
lassen; dann ließ er sich wieder auf seinen Sitz nieder, wie wenn
nichts geschehen wäre. Zwei- oder dreimal des Abends fühlte ich, daß
ein kalter Hauch von ihm ausging und ich sah auch deutlich sein Gerippe
sich unter seiner dünnen, pergamentartigen Haut abzeichnen, wie wenn
eine durchsichtige Decke leicht über ihn geworfen wäre, um die nackte
Formlosigkeit eines Grabentstiegenen zu verbergen.



3. Kapitel

CHEMIE UND LEBENSELIXIER


Von Staunen erfüllt über die seltsamen Ereignisse jenes Tages und
jener Nacht, die ich eben erzählt habe, zog ich mich in mein Zimmer
zurück, aber nicht, um zu Bette zu gehen, denn noch vor Tagesanbruch
ereignete sich etwas, was den Verlauf und den Charakter meines Lebens
vollständig veränderte.

An dem Morgen, der dieser ereignisreichen Nacht folgte, begab ich mich
zu einem Zahnarzt, der im Rufe stand, ein Philosoph zu sein und dessen
Gehirn ein weit interessanteres Museum war als das wirkliche Museum in
der Nähe seiner Wohnung. Ich plauderte eine Weile mit ihm und lernte
durch ihn einen bedeutenden Denker kennen, dessen Name, glaube ich,
Blood war. Nachdem wir in seinem Laboratorium eine Zigarre geraucht
hatten, ging ich zu dem Apotheker Nichol, wo ich einige kleine Einkäufe
machte, und dann in mein Sprechzimmer.

Ich hatte einige Zeit vorher einen chemischen Apparat gekauft, mit dem
ich im Geheimen experimentierte -- hauptsächlich nach 12 Uhr nachts --,
und zwar mit der Absicht, La Brières großen Versuch zur Entfernung der
feurigen und giftigen Bestandteile des Protozoons auszuführen, ohne daß
dabei seine belebenden medizinischen Eigenschaften gleichfalls zerstört
würden. Ich hatte schon fünf Monate lang unermüdlich und mit größten,
meine Verhältnisse weit übersteigenden Kräften experimentiert, aber ich
hielt noch immer an der unerschütterlichen Überzeugung fest, daß ich
Erfolg haben müßte.

Der Versuch war mir sehr wichtig. Churchill hatte seine Hypophosphate
hergestellt und sie hatten kläglich versagt; daher vermied ich bei
meinen Arbeiten seine und andere Formeln. Der Erfolg, das fühlte ich,
würde nicht nur meiner eigenen privaten Praxis zugute kommen, sondern
auch der großen Menge der Nervenkranken und damit der gesamten Medizin
nützen. Ich wußte, daß diese Entdeckung den Ärzten ein wirksames und
gleichzeitig doch völlig harmloses nervenstärkendes Reizmittel in
die Hand geben würde. Der Versuch war daher die Zeit, die Mühe und
die Ausgaben, die ich ihm widmete, wohl wert. Tatsächlich war es La
Brière gelungen, Erfolge zu erzielen, aber sein Geheimnis war verloren
gegangen. Ich beschloß, es wieder zu erwecken. Und nach hunderten von
Fehlschlägen gelang es mir endlich, das herzustellen, was er Protozoon
genannt hatte.

Ich versuchte seine Wirkung an mir selbst, verschiedene andere Ärzte
taten desgleichen; schließlich wurde es an Patienten auf deren eigenen
Wunsch ausprobiert und das Ergebnis ließ keinen Zweifel darüber, daß
ich vollauf berechtigt war, »Heureka« zu rufen. Diese Vorrede ist
zum Verständnis des Folgenden notwendig. Einige Tage vorher nämlich,
ehe ich Mrs. Graham gesehen, war es geschehen, daß ich etwa vier
Pfund Protozoon zusammen mit dem fünffachen Gewicht anderer Stoffe
in einem starken Glasgefäß in ein Sandbad getan hatte, so daß alles
für die Bereitung von etwa einem Viertelliter des kostbaren Trankes
bereit war. Als ich vom Zahnarzt heimkam und mein Zimmer betrat, war
es natürlich mein erstes, das Gas anzuzünden. Einige Minuten lang
beobachtete ich, wie der schöne scharlach- und purpurfarbene Dampf
aufstieg und sich durch den Hals der Retorte und die langen gläsernen
Röhren zum Kondensator wand. Mitten in dieser interessanten Tätigkeit
wurde ich plötzlich durch den Ruf: »Sorgloser Narr! Gib acht! Lauf
hinaus!« erschreckt. Ich gehorchte mechanisch und sprang in das äußere
Zimmer, als auch schon eine heftige Explosion erfolgte, die Retorte
war in Millionen Stücke zersprengt, der Apparat und die Fenster in
kleine Trümmer geschlagen und einige Pfund glühend heißer Chemikalien
auf den Boden verspritzt worden. Ein wüstes Durcheinander herrschte
-- aber nicht für den Sprecher, denn mit Gedankenschnelle packte er
den Teppich auf dem Boden mit samt den darauf geschütteten Chemikalien
und warf alles auf den Schneehaufen unten im Hofe hinaus, der unter
der Einwirkung der intensiven Glut dieses fast unlöschbaren Feuers
alsbald zu schmelzen begann. Endlich fiel es in sich zusammen und nur
ein weißer Rauch erzählte noch von der Gefahr, in der ich und das
Haus sich befunden hatten. Als das Feuer erloschen und mein Schrecken
einigermaßen geschwunden war, sah ich mich endlich um, wer mich
eigentlich so gerade im rechten Augenblick noch gerettet hatte und sah
den kleinen Alten lächelnd vor mir stehen.

»Wie! Sie sind es?« fragte ich, ihm herzlich meine Hand
entgegenstreckend.

»Ich glaube beinahe,« sagte er, »und es war ein Glück für Sie, daß
ich zufällig schon so früh am Morgen hier war. Sie sind kein allzu
geschickter Chemiker, mein lieber Doktor, sonst würden Sie niemals
damit gerechnet haben, daß Ihr Protozoongas den Kondensator erreicht,
wenn der Hahn geschlossen ist, oder daß eine gesprungene Glasretorte
dem ungeheuren Druck des überhitzten Dampfes widerstehen kann. Ich
sehe, daß Sie Alchimist und Hermetist geworden sind -- wie ja so viele
Rosenkreuzer! Und daß Sie dazu bestimmt sind, sich selbst in die Luft
zu sprengen, oder

    Das große Elixier zu finden
    Und über den Stein der Weisen zu stolpern.«

Dabei schlug der kleine Alte seine Hände zusammen und tanzte in
ausgelassener Freude im Zimmer umher.

»Aber, mein Freund,« sagte er dann, »da ausdauernde Versuche ein Mittel
zum möglichen Erfolg sind, habe ich nicht den geringsten Zweifel, daß
Sie eines Tages ein reicher Mann sein und ein hohes Alter erreichen
werden; denn um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Sie sind heute früh der
Zusammensetzung des Lebenselixiers -- dieses wahren Elixiers, um das
sich die Weisen aller Jahrhunderte vergebens abgemüht haben -- näher
gekommen als irgendein Mensch, der je gelebt. Hätten Sie nur eine
geringere Menge von Elementen in die Retorte getan, von dem ersten und
dritten Ingrediens mehr und vom zweiten, vierten und fünften weniger,
dabei etwas weniger Hitze entwickelt, und zwei Unzen ... und ... eine
Unze ... (er nannte dabei die betreffenden Stoffe), so hätten Sie das
Wasser der ewigen Jugend und Gesundheit gefunden -- das wunderbare
Mittel, das die Säfte reinigt, Verkalkung der Adern beseitigt und
den Menschen gegen Miasmen und Krankheiten und überhaupt gegen alle
lebenzerstörenden Einflüsse -- außer natürlich gegen Körperverletzung
-- wappnet. Was meinen Sie dazu? Haha!« Und wieder brach er in ein
heulendes Kreischen aus:

    »Den Mittelpunkt der Schwere will ich suchen,
    Du aber sollst den Stein der Weisen finden.«

Wie groß war mein Erstaunen, als mir der ausgemergelte Alte ins Ohr
flüsterte, daß ich vor der größten überhaupt denkbaren Entdeckung
stehe, daß der Schlüssel zum Geheimnis aller Geheimnisse in meiner Hand
läge!

Eine große Erregung bemächtigte sich meiner. Bald aber wurde ich
ruhiger und fragte mich: Wieso kannte er die Stoffe, die ich für
das Elixier verwendet hatte? Vielleicht hatte er den Rauch gesehen
und daraus Schlüsse gezogen. Aber wie konnte er den Inhalt des
Kondensators kennen, durch den der Dampf hindurch mußte, um seine
schädlichen Eigenschaften zu verlieren? Kein Mensch hatte mir bei
den Vorbereitungen zugesehen. Woher wußte er, zu welchem Zweck ich
die Flüssigkeit zusammengebraut hatte? Wie konnte er den Traum, die
Hoffnung, das einzige Ziel meiner Seele während langer mühseliger Jahre
kennen?

All dies diente nur dazu, ihn selbst noch tiefer in den Schleier des
Geheimnisses zu hüllen, und während ich so von Zweifeln hin und her
geworfen wurde, stand er an meiner Seite und blickte neugierig durch
die zerbrochenen Fenster auf den aufsteigenden Rauch, der sich in die
Luft emporkräuselte.

Bald darauf hatten wir die Trümmer beiseite geräumt, der Alte verließ
mich mit dem Versprechen, am selben Tag noch einmal herzukommen, und
ich ging fort, um einen neuen Apparat, neue Fensterscheiben und einen
neuen Teppich zu bestellen und einige Patienten zu besuchen. Dann
kehrte ich wieder zurück. Es schlug drei Uhr und ich war noch nicht
lange zu Hause, als Miakus, seinem Versprechen getreu, ebenfalls
erschien.



4. Kapitel

DER MAGISCHE SPIEGEL


»Ich will Ihnen einen Rat geben«, sagte er, »denn Sie brauchen ihn.
Zunächst: vertrauen Sie niemals einem Freunde irgendein Geheimnis an,
das Unglück oder Sorge bringen kann, wenn es verraten wird. Mischen
Sie sich nie in einen Streit ein, ganz gleichgültig, auf wessen Seite
Recht oder Unrecht ist, sondern lassen Sie die Welt ihren Kampf allein
austragen, während Sie abseits stehen und sorgfältig auf jeden Vorteil
achten, den Ihnen der Zufall verschafft. Und zuletzt: behalten Sie für
sich, was Sie wissen, bis die Zeit dazu gekommen ist. So, und jetzt
wollen wir unsere magnetischen Spiegel befragen.«

Sogleich gingen wir in das Hinterzimmer, das inzwischen wieder instand
gesetzt worden war, wenigstens was Fenster und Teppich betraf. Der
Alte hielt das Rosenholzkästchen eine Weile in der Hand und stellte
es sodann auf den Tisch. Dann schloß er die Fenster und spannte einen
seidenen Vorhang rings um das ganze Zimmer auf, um so jedem Lichtstrahl
den Zutritt zu wehren.

»Das ist ein magischer Vorhang«, erklärte er. »Sie haben jedenfalls
schon eine Laterna magica-Vorführung gesehen. Nun, ich werde Ihnen hier
etwas ganz Ähnliches zeigen, aber ohne Laterne. Ich öffne jetzt dieses
Kästchen, wie Sie sehen, und nehme den Spiegel heraus. Er besteht aus
zwei französischen Glasplatten, die durch eine Holzumrahmung etwa einen
halben Zoll voneinander entfernt gehalten werden, so daß ein gewisses
Fluidum zwischen ihnen nicht entweichen kann. Das Kästchen, der Vorhang
und die beiden Gläser sind durchaus unwichtig; alles hängt lediglich
von dem Fluidum ab, das von dunkelbrauner Farbe ist, aus der Entfernung
aber tintenschwarz erscheint.

Ich hänge jetzt den Spiegel mit seinem Haken an den in den Vorhang
eingenähten Ring. Dann verriegle ich die beiden Türen und stelle
zwei Stühle für Sie und mich davor. Dann nehme ich diesen Reflektor
hier und stelle ihn so, daß er einen starken Lichtkegel wirft, damit
in der Mitte des Spiegels eine kreisrunde, glänzende Lichtfläche
erscheint.« Wir setzten uns vor dem Vorhang nieder und ich bemerkte,
daß die Flüssigkeit zwischen den Gläsern in einer opalisierenden Farbe
schillerte.

»Bevor wir die Richtigkeit von Hamlets Bemerkung gegenüber Horatio
beweisen,« fuhr der Experimentator an meiner Seite fort, »will ich
Ihnen einige Erklärungen geben. Zwischen dem menschlichen Körper
und allen Dingen der Außenwelt desselben besteht nicht nur eine
geheimnisvolle mächtige Sympathie, sondern eine noch größere zwischen
diesen Dingen der Außenwelt und der Seele, was durch die erstaunliche
Macht bewiesen wird, die verschiedene Substanzen auf sie ausüben,
von denen die meisten für immer von der Erde verbannt und verflucht
werden sollten, -- so z. B. Belladonna, Cantharidin, Bang, Opium,
Haschisch, Dewammeskh, Hyndee, Tartooroh, Hab-zafereen, Mah-rubah,
Gunjah und viele andere Pflanzengifte, von denen jedes nicht nur den
Körper, sondern auch die Seele beeinflußt. Steigen wir jetzt von den
greifbaren Körpern zu den flüchtigen Erscheinungen herab, z. B. zum
Licht. Mit konkaven Spiegeln können wir Bilder in den Raum senden,
die von Tausenden gesehen werden können. Wir fesseln sozusagen einen
Schatten, und wer immer eine photographische Kamera besitzt, hat einen
solchen Gefangenen. Wir machen damit ein paar magnetische Striche über
ein Glas Wasser, sättigen es so mit irgend einer bestimmten, von uns
gewünschten, angenehmen oder unangenehmen Eigenschaft, und es bringt
sofort bei dem Patienten, der es zu sich nimmt, die entsprechende
Wirkung hervor. Da haben Sie Geist und Außenwelt in einem einfachen
Willensakt vereinigt. Aber wir gehen noch weiter: Wir nehmen gewisse
Stoffe und machen damit das Wasser noch viel empfindlicher. Wir
übertragen unsere Seele darauf, und zwar in einem solchen Grade, daß
es den Körper eines Menschen völlig einschläfert und seine Seele zum
höchsten Grade des Hellsehens erhebt. Noch mehr: es ist möglich,
eine Flüssigkeit herzustellen, die jedes auf sie geworfene geistige
Bild erfaßt und für eine gewisse Zeit festhält. Noch mehr: es gibt
unmittelbare Beziehungen zwischen jedem Ding und jeder Person auf
dieser Erde und über ihr. Durch gewisse Kenntnisse vermögen manche
Personen jene Substanzen zu finden, die zu den Bewohnern der oberen
Welten und des Weltraumes eine innere Verwandtschaft haben. Die
Glasscheibe vor Ihnen nun enthält eine solche Flüssigkeit, die
folgendermaßen zusammengesetzt ist ...«

Hier gab er mir eine genaue Erklärung des Verfahrens zur Herstellung
solcher Spiegel und der Art der Einbringung der Flüssigkeit, die, wie
ich bemerkte, gleichzeitig eine elektrische, magnetische und ätherische
sein mußte. Dann erklärte er mir, wie der Spiegel für die verschiedenen
Gebrauchsarten zu präparieren sei -- als Spielzeug, als ein Mittel für
ärztliche Diagnose, zum Zwecke der Traumdeutung, dann um irdische Dinge
zu sehen, verlorene Schätze zu entdecken, Vergangenheit und Zukunft zu
erfahren und vieles andere --, da kein Spiegel zur gleichen Zeit zu
mehr als einem dieser Zwecke dienen kann, wenn er nicht besonders für
allgemeinen Gebrauch eingerichtet ist, was aber seine Herstellung zu
teuer machen dürfte.

»Richtig behandelt«, fuhr er dann fort, »wird Ihr Spiegel so ungeheuer
empfindlich, daß er nicht nur Dinge festhält, die für das Sonnenlicht
zu subtil sind, sondern sie sogar reproduziert und sichtbar macht. Das
ist aber noch nicht alles. Es gibt Licht im Lichte, Luft in der Luft
und intelligente Wesen, die darin wohnen und mit den Menschen nur durch
solche Spiegel verkehren können, in dem sie durch darin nachgebildete
Vorgänge und darauf projizierte Worte die Nachricht hervorbringen,
die sie zu übermitteln wünschen. Jetzt geben Sie gut acht! Gedanken
sind Stoff, sind körperhafte Wirklichkeiten. Sie werfen Schatten,
haben Gestalt, Umrisse, Masse, manche sind flach, andere scharfkantig,
schneidend, spitz und bohren sich ihren Weg durch die Welt von
Jahrhundert zu Jahrhundert. Wieder andere sind fest, rund, massig und
wanken, wenn sie an Ihnen vorbeistreichen und gegen die Dinge der Welt
stoßen. Gedanken leben, sterben und wachsen. Hören Sie zu! Blicken
Sie fest und starr! Wünschen Sie sich irgend etwas zu sehen, ganz
gleichgültig, was!«

Ich lächelte ungläubig und meinte, man könne sein Gesicht auch in jedem
andern Glase sehen.

»Gewiß,« erwiderte er, »aber Sie haben noch niemals Ihre Seele gesehen
und diese Kleinigkeit will ich Ihnen heute zeigen.

Ich will jetzt noch verborgene Ereignisse enthüllen, die bald oder auch
in späterer Zukunft auf der Erde oder über ihr geschehen werden.«

Ich erklärte ihm, daß ich der Sache sehr skeptisch gegenüberstünde und
mein Glauben erst erzwungen werden müßte.

Ich lachte geradezu, worauf Miakus bemerkte: »Lachen Sie nur zu, lachen
Sie immerhin; aber geben Sie acht, daß das Lachen sich nicht gegen
Sie wende. Die Wahrheit ist eine recht eifersüchtige Dame und findet
niemals Geschmack an Scherzen, die man auf ihre Kosten macht. Aber
sehen Sie zu! Der Spiegel beginnt zu wirken.« Und sogleich beugte er
sich nieder, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, blieb ungefähr
eine Minute lang in dieser Stellung und fragte dann:

»Was sehen Sie in dem Glas?«

»Nichts,« erwiderte ich, »als unsere eigenen Bilder.«

»Geduld! Sehen Sie noch einmal hin! Versuch's!«

Ein kurzes Schweigen folgte.

»Sehen Sie jetzt etwas?«

»Ja, aber nichts Außergewöhnliches. Nur eine helle Stelle, eine Öffnung
in der Mitte des Glases. Ja! Jetzt ändert sich etwas -- schwache,
nebelhafte, dämmerige Schatten huschen darüber, aber nichts Deutliches
und Unterscheidbares.«

»Ist das alles?«

»Ja.«

»Sehen Sie weiter!«

»Jetzt sehe ich klar und deutlich den Vorderteil eines großen,
grauweißen Hundes. Er wird größer! Jetzt ist er ganz sichtbar! Das Bild
steht voll und scharf außerhalb des Spiegels!«

Während ich nun in den Spiegel blickte, wunderte ich mich im stillen
darüber, wie es möglich sein sollte, mit Hilfe dieses Glases das große
Geheimnis aller Menschenalter zu lösen. Aber gleich darauf fühlte ich
einen gewissen Unwillen darüber, ein solches Bild zu sehen, während er
mir doch versprochen hatte, ich würde meine eigene Seele erblicken.
Ich sagte es ihm. »Nehmen Sie daran keinen Anstoß«, sagte er, »dieses
Bild ist nicht wirklich, sondern nur ein Symbol. Ist der Hund nicht
ein Muster ausdauernder Freundschaft, vollkommenen Vertrauens und
unbegrenzter Liebe? Dies sind die Eigenschaften Ihrer Seele.«

Jetzt erschien auf dem Glas ein breiter, leerer Raum und das Ganze
wurde klar und durchsichtig wie der feinste Kristall und gerade in der
Mitte zeigte sich ein kleiner, strahlender Lichtfleck, dessen Glanz
sich immer mehr steigerte, bis mein Auge vom Hinsehen geblendet wurde.
Allmählich breitete er sich aus und wiederum in der Mitte erstrahlte
ein Lichtpunkt heller als der hellste Mittag, in den ich mit Entzücken
hineinblickte, denn das intensive Licht hatte sich in eine Art von
nebligem Dampf verwandelt.

»In diesem Dampf und durch diesen will ich Sie vor mir sehen. Aber
nicht jetzt. Die Zeit ist nicht günstig. Was Sie erblicken, ist
die Linse eines mystischen Teleskops, mit dem ich die Regionen
durchforschen kann, wo Myriaden von Welten gleich der unserigen rollen,
die der Mensch noch nicht kennt. Mit ihm können Sie nicht nur diese
Welten, sondern auch ihre Bewohner und alles, was sie tun, beobachten.«

»Wie! Wollen Sie damit sagen, daß ein lebender Mensch mit diesem
Teleskop, wie Sie es nennen, alles, was auf dem Mars oder Jupiter
geschieht, wahrnehmen kann?«

»Gewiß! Und noch eine Million anderer Planeten, Sonnen und
Sonnensysteme. Es wird Ihnen das Schicksal jedes Lebenden und Toten
enthüllen. Schreiten wir gleich zum Beweis.«

Bei seinen Worten schien sich ein röhrenförmiges Lichtgebilde meinem
Auge zu nähern, und ich erblickte dadurch wie in einem Diorama all
die schrecklichen und schmerzlichen Szenen dessen, was ich für mein
jüngstes Leben auf der Erde halte. Ich sah meine wenigen Freuden und
Erfolge und die unzählbaren Schmerzen des Leibes und der Seele, von
denen sie umrahmt waren. Und Menschen begegneten dem Phantom meines
Ichs mit lächelndem Antlitz, die honigsüße Worte zu sprechen schienen,
damit man ihnen vertraue; und dann erdolchten diese Wesen den Zuhörer.
Er fiel wohl, aber er schien nicht zu sterben, denn ein scheußliches
Gespenst schwebte beständig über ihm, zögerte aber aus Mitleid oder
Bosheit, ihm den tödlichen Streich zu versetzen.

Die Szene änderte sich. Ein Landstädtchen erschien -- das Datum stand
in feurigen Ziffern in der Ecke: 1852. In einem Barbierladen übte ein
fröhlicher, leichtherziger Jüngling seinen Beruf aus.

Dann zeigte der Spiegel denselben Mann im öffentlichen Leben; man
nützte ihn aus, schmeichelte seiner Eitelkeit und er beging so manchen
Fehler. In dem Augenblick jedoch, wo sein Irrtum entdeckt wurde und
er ihn eingestand, erhoben sich tausend Dolche gegen ihn, zehntausend
Zungen schmähten ihn -- und warum? Weil er seiner Vernunft, seinem
Gewissen und seinem Gott treu geblieben war. Ich sehe ihn jetzt mit
gequältem Herzen.

Wieder eine Veränderung: sieh da, derselbe Mann erscheint wieder. Von
der Glut des Hasses, des Neides und des Undanks und der Bosheit seiner
früheren Freunde niedergeschmettert, hatte er sich allmählich wieder
aufgerichtet. »Ich erstehe neu aus meiner Asche« war der Wahlspruch
auf dem Banner, das er im Winde flattern ließ. Er änderte seine
Lebensweise. Einer von denen, die ihn zuerst von seiner Arbeit weg in
die Welt geführt hatten, klammerte sich noch immer an ihn und erklärte,
nicht einmal der Tod könne sie trennen. Die Pantomime war so klar
verständlich wie gesprochene Rede und jener glaubte dem Lügner.

Wieder änderte sich das Bild. Der Barbier und Redner war zu Ansehen
gelangt, hatte viel Geld verdient, er hatte für ein Weib, das aber
seine Liebe nicht erwiderte, zu sorgen, dem sein Herz zugeneigt war.
Sein »Freund« eignete sich durch Betrug alles an, was jener besaß
und verleumdete dann die Frau bei seinem Opfer, das er zum Bettler
gemacht hatte. Dies brachte den ehemaligen Barbier fast um seinen
Verstand, während der andere ihn auslachte und in Freuden lebte. Wieder
entflog das Bild; Jahre waren vergangen: der Böse hatte den Boden
unter den Füßen verloren, sein Opfer, der Barbier, war in der Welt der
Wissenschaft emporgestiegen, die Menschen ehrten ihn und verachteten
den anderen.

»Der Weg der Welt!« rief Miakus, »aber erinnern Sie sich, daß stets
das Recht den Sieg erringt und immer die Gerechtigkeit das letzte
Wort behält. Was konnten Sie anders von einem so schwachen Menschen
erwarten? Vertrauen Sie niemand! Das war Schicksal und dem Schicksal
kann man nicht entgehen. Unterwerfen Sie sich ihm! Es wird für die
Folge gut sein. Wir können doch glücklich sein!«

Schon wieder diese Worte! Und noch dazu aus Miakus' Munde!

Mein Geist begehrte etwas von der Zukunft zu sehen, was ebenso klar
sein würde wie die Bilder der Vergangenheit, und wollte wissen, ob
es kein Mittel gebe, um die Schläge des Schicksals zu mildern, und
als mein Auge wieder durch die magische Röhre blickte, glitt der Kopf
und die Büste eines jungen Mädchens über das Sehfeld. So schnell floh
es dahin, daß nur ein elektrischer Strahl seiner Schönheit in mir
zurückblieb. Doch eine unbestimmte Ahnung sagte mir, daß ich das Haupt
Eulampias gesehen hatte, daß mir vom Weibe allein die Erlösung kommen
könnte. Aber in jenem Fluch hieß es doch: »eine Tochter Ichs« und sie
war ein Kind Japhets!

Kaum war dieses Bild entschwunden, als das Glas wolkig und dunkel zu
werden begann, bis es schließlich wieder genau das Aussehen hatte wie
vorher, als es aus dem Kästchen genommen worden war.

»Heute können wir nichts mehr sehen«, sagte Miakus, »aber ich habe
Ihnen schon jetzt unbezahlbare Gaben verliehen. Sie können in die Welt
hinausgehen und die Kranken heilen, die Wahnsinnigen wieder zu Verstand
bringen, Sie können Spiegel machen und das Elixier bereiten, Sie können
Vergangenheit und Zukunft lesen. Und doch ist das alles nichts gegen
das, was Sie erwartet, wenn Sie feierlich geschworen haben, den Schlaf
Sialam für mich zu schlafen.«

Ich erkannte bereitwillig alles an, was er sagte, und die Dankbarkeit
drängte mich, zuzustimmen. Die Worte schwebten mir schon auf den
Lippen, als plötzlich dasselbe Haupt und dieselbe Büste wie vorhin
langsam vor mir, etwa einen Fuß von meinem Gesicht entfernt, vorbeizog.
Es war unzweifelhaft Eulampia und ihr Gesicht war traurig und
tränenfeucht, als sie wieder verschwand. Während dies geschah, sprach
eine leise, sanfte, wohlklingende Stimme: »Wenn ich in Gefahr bin,
wirst du es wissen, wo immer du auch sein magst. Wenn du in Gefahr
bist, wirst du mich sehen, und wenn Meere zwischen unseren Körpern
lägen.« Genau die Worte, die das Mädchen an der Tür der Hütte des alten
Häuptlings gesprochen hatte, als wir so traurigen Abschied nahmen.

So auf geheimnisvolle Weise gewarnt, hielt ich mit meiner Zustimmung
zurück. Miakus warf mir einen kläglichen und enttäuschten Blick zu.
Er sagte jedoch nichts, sondern packte schweigend seine Instrumente
wieder zusammen, wünschte mir ferneres Wohlergehen und dann ging ich
mit ihm bis auf die Straße hinab, wo wir uns die Hände schüttelten und
Abschied nahmen.

Ich konnte nicht umhin, dem rätselhaften Alten für die Gunst, die er
mir erwiesen hatte, dankbar zu sein und doch war ich fest überzeugt,
daß ich durch Geisterhilfe aus einer großen Versuchung siegreich
hervorgegangen war, wenn auch Miakus mich nach allem für undankbar
halten würde. Unwillkürlich klammerte ich mich an die Erinnerung an das
Mädchen im Tale, segnete sie von ganzem Herzen und sandte ein Gebet
empor, sie möchte, wenn es möglich wäre, der rettende Engel sein, nach
dem meine einsame Seele so heiß verlangte und seufzte.



DRITTES BUCH



1. Kapitel

RAVALETTE


Jahre waren vergangen. Ich befand mich auf meiner zweiten Orientreise
und hatte unterwegs London und Paris besucht. Meine Absicht war eine
dreifache: zunächst wollte ich den »Hohen Dom des Rosenkreuzer-Tempels«
sowie seinen Großmeister besuchen, die höheren Lehren des Ordens
studieren und mit den Brüdern sprechen; zweitens wollte ich mir
in Jerusalem die Substanzen holen, die ich zur Bereitung des
Lebenselixiers brauchte, nicht etwa, um es herzustellen, sondern,
weil ich eben diese Substanzen in meiner ärztlichen Praxis, die
ich nach meiner Rückkehr nach Amerika wieder aufnehmen wollte, zu
verwenden gedachte. Und drittens brauchte ich Ruhe, Entspannung und
Ortsveränderung, denn ich fühlte, daß ich, wenn ich nicht ginge, an
dem, was ich seit jenem Betrug erlebt hatte, sterben würde; und wenn
ich starb, was dann? -- Und so ging ich.

In Paris brachte ich den größten Teil meiner Zeit damit zu, die Schätze
der assyrischen und ägyptischen Galerie zu betrachten.

Bei einem solchen Besuche nun stand ich in Bewunderung versunken vor
den Keilinschriften auf einer Reihe von Tafeln, die die Archäologie
bis jetzt noch nicht entziffert hat. Während der letzten fünf oder
sechs Besuche in dem Museum hatte ich in meiner Nähe einen alten Herrn
bemerkt, der offenbar Franzose war und zu dem kleinen Überrest des
alten Adels gehörte, der noch auf dem Boden der Grande Nation lebte.
Man konnte das aus der ganzen Art seines Auftretens und Benehmens
schließen, das sehr höflich und vornehm, aber durchaus einfach war; aus
der Güte, die sein Gesicht ausstrahlte, konnte man leicht ersehen, daß
Glück und Frieden in seiner Brust wohnten, und daß er ein Wohltäter und
gleichzeitig ein eifriger Förderer der Menschheit war. Im Museum schien
er offensichtlich mit derselben Aufgabe wie ich beschäftigt, nämlich
der Entzifferung der erwähnten Inschriften.

Früher waren zwischen uns, wenn wir uns begegneten, nur Begrüßungen
und jene allgemeinen Höflichkeiten, wie sie zwischen wohlerzogenen
Leuten üblich sind, ausgetauscht worden. Diesmal jedoch war unser Gruß
wie durch gegenseitige Anziehung wärmer und länger; wir rückten zwei
Stühle vor die Tafeln und begannen über die Inschriften zu disputieren.
Der alte Edelmann, dessen Name Ravalette war, sagte: »Wie kommt es,
daß Sie täglich hier die Inschriften kopieren und die Buchstaben
zu entziffern suchen, über die sich die hervorragendsten Gelehrten
Europas noch immer verzweifelt und hoffnungslos die Köpfe zerbrechen?
Sie sind doch noch so jung und hoffen da auf Erfolg, wo alte Gelehrte
scheiterten?« »Verzweifle wer will«, sagte ich. »Ich glaube, daß ich
diese Rätsel noch ganz richtig lösen werde.«

»Nun gut«, sagte Ravalette, »Sie wünschen also zu lernen und sind doch
schon ein halber Gelehrter; und wenn Sie willens sind, zu lernen, so
bin ich willens, zu lehren. Auf jeden Fall kann aus der Erörterung von
Ideen kein Leid entstehen, vielleicht sogar viel Gutes.«

Ich war entzückt, Ravalette so sprechen zu hören, denn ich fühlte, daß
er, trotz des großen Altersunterschiedes, in vielen Beziehungen ein mir
kongenialer Geist war, und ich wartete mit Spannung, bis er die reichen
Schätze seiner Gedanken und Erfahrungen vor mir ausbreiten würde.

»Ich bin mit Ihnen der Ansicht«, fuhr Ravalette fort, »daß die Sätze
auf den Tafeln da vor uns beweisen würden, daß sich die menschliche
Geschichte in Wirklichkeit noch viel weiter in die Nacht der Zeit
erstreckt, als bis zu der Periode, deren Beginn durch Moses bezeichnet
wird. Es gibt Denkmäler, die unzweifelhaft beweisen, daß die Menschheit
viel älter ist, als man gewöhnlich annimmt, und daß die Kulturen
schon in längst vergangenen Jahrhunderten der Erde ihre Segnungen
mitgeteilt haben und dann hinweggefegt worden sind und nur vereinzelte
Spuren zurückgelassen haben, um die Nachwelt wissen zu lassen, daß sie
existiert haben.

Noch mehr! Inmitten der Überreste jener verflossenen Zeiten finden
wir solche, die sichtlich auf noch viel weiter entfernte Zeiten und
Kulturen zurückgehen -- die Trümmer einer Welt, an die sich nur noch
die Seraphim erinnern! Einen Beweis für diese Behauptung bieten die
Pyramiden, über deren Erbauungszeit und Zweck wir nur Vermutungen
anstellen können. Die authentische Geschichte Ägyptens kann auf über
6000 Jahre zurückverfolgt werden, aber schon für jene ferne Epoche
waren die Pyramiden ebenso wie heute ein Rätsel.«

Nachdem wir noch eine Weile geplaudert hatten, lud er mich ein, ihn
in seine Wohnung zu begleiten und mit ihm zu speisen. »Es ist nur ein
kleines Stück Weges«, sagte er, »mein Haus liegt in der Rue Michel
le Compte, ganz nahe der großen Rue du Temple, einige Minuten von
hier.« Ich nahm seine Einladung an, schob meinen Arm in den seinigen
und dann gingen wir zusammen fort. Seine Wohnung war eines jener
alten, stattlichen Herrenhäuser, wie sie der Adel in der Zeit Ludwigs
des Vierzehnten zu bauen pflegte. Wir traten ein und setzten uns
alsbald zu einer reichen, üppigen und gemütlichen Mahlzeit nieder. Die
seltensten Weine, die kostbarsten Gerichte schmückten seine Tafel,
die aufmerksamsten Diener warteten auf und zum Schluß folgte der
beste Kaffee, den ich je getrunken, und der feinste Tabak, den ich je
geraucht hatte. Nach dem Essen schlug er vor, einen kleinen Spaziergang
zu machen, und bald schlenderten wir Arm in Arm nach der Rue du Temple,
von wo wir immer in der gleichen Richtung weitergingen, bis wir die
Grenzen der Altstadt erreichten und in eine Vorstadt, Belleville, kamen.

Bevor wir die Straße verließen, hatte ich mir die Lage des Hauses
eingeprägt und mir die Nummer auf mein Elfenbeintäfelchen notiert, das
ich stets bei mir zu tragen pflege.

Schließlich betraten wir ein Café, wo wir etwas Eiskaffee zu uns
nahmen. Dann schlug er mir vor, uns eine Guinguette, d. h. ein Teehaus
anzusehen, wie es kürzlich für das gewöhnliche Volk errichtet worden
war und wo der Besucher für 10 Sous den vornehmen Mann spielen und
seinen Kaffee aus silbernen Tassen schlürfen konnte. Wir sprachen mit
dem Besitzer über die Neuheit seines Unternehmens und fragten ihn, ob
nicht seine Gäste -- die alle den unteren Volksschichten angehörten
-- eine scharfe Überwachung nötig machten und ob nicht ab und zu
einmal einer mit ein paar silbernen Löffeln oder Bechern oder einer
vergoldeten Fruchtschale durchginge.

»Nein«, erwiderte der Mann darauf, »ich habe genug vom Leben und von
der Menschheit gesehen, um mein scheinbar närrisches, auf jeden Fall
aber neues Unternehmen wagen zu können. Mein Lokal wird von Tausenden
besucht, mein Betriebskapital ist groß und doch habe ich bei dem
kostspieligen Versuch, dem Unbemittelten den Komfort des Reichen
zugänglich zu machen, noch nicht 10 Franken verloren.«

Wir konnten die Menschenkenntnis Herrn Popinardes nur bewundern, denn
wir fühlten, daß seine Philosophie des Vertrauens, wie er sie nannte,
einen reichen Schatz an Wahrheit barg. Dann nahmen wir, immer noch
Arm in Arm, unseren Weg in die Umgebung von Belleville, und dort,
inmitten der freien Natur, begannen wir über ein Thema von besonderem
Interesse zu sprechen. Dieses Thema war »die menschliche Seele und ihre
Hilfsmittel«. Ich erinnere mich nur noch an den letzten Teil unseres
Disputs. Der alte Edelmann sagte nämlich:

»Dann glauben Sie also wirklich, daß es eine Art natürlicher Magie
gibt, die in ihren Ergebnissen viel wunderbarer ist, als Aladins Lampe
oder Salomons Glücksring?«

»Ganz gewiß glaube ich das.«

»Wie haben Sie von ihrer Existenz erfahren, und wie stellen Sie es sich
vor, Novize zu werden, und sich gewisser beabsichtigter Verbindungen zu
bedienen? Vielleicht glauben Sie an Elfen, Feen, Genien und Magier?«
fragte er mit unterdrücktem Lachen.

»Ich weiß nicht sicher,« erwiderte ich, »ob es solche Magie gibt, aber
ich glaube es. Durch ernstes Streben kann sie gefunden werden. Es
gibt Stufen, die zu ihr führen, und wenn wir die erste davon entdeckt
haben (die wir, glaube ich, schon im Mesmerismus besitzen), können wir
ihr folgen, bis wir den großen Thron erreichen. Ich glaube nicht, daß
Elfen, Feen, Genien und Magier nur mythische Wesen sind. Es muß, wie
mir scheint, ein Funken Wahrheit in den sagenhaften Erzählungen von
ihnen stecken, die das Staunen des Hörers und Lesers wachrufen.«

»Sehr gut. Aber sagen Sie mir, ob solche Wesen dieser Welt oder der
Welt der Toten angehören.«

In diesem Augenblick schien es mir, als verlöre ich meine geistige
Selbständigkeit und als bemächtige sich eine fremde Macht meiner Seele,
die für mich antwortete:

»Sie gehören keiner von beiden an, sondern einer ganz anderen Welt!«

Ravalette sah bei diesen Worten erstaunt drein und, nachdem er mich
fast eine Minute lang aufmerksam angeblickt hatte, murmelte er kaum
verständlich die Worte: »Es wird so sein! Sie sprechen vom Mesmerismus
als der ersten Stufe zur wahren Magie, an die Sie glauben und von der
ich weiß, daß sie existiert, und Sie dachten, es könnte davon mit
Erfolg Gebrauch gemacht werden, um Kenntnisse zu erwerben, die durch
die gewöhnlichen Mittel und Methoden nicht erreichbar sind. Sagen Sie
mir, wie? Sicherlich doch nicht durch gewöhnliches Hellsehen, das immer
nur vergangene Tatsachen enthüllt und nichts anderes, und daher dem
Forscher nur wenig nützen kann? Sie glauben mit mir, daß die gesamte
alte Geschichte, wie sie uns überliefert wird, im besten Falle eine
bloße Fabel oder ein Gemisch von Mythen darstellt, obwohl vielleicht
gewisse Teile einer tatsächlichen Grundlage nicht ganz entbehren, wobei
das Wahre tausendfach von Erdichtetem überwuchert wird. Wie wollen Sie
da mit Hilfe mesmerischer Kräfte wahr und falsch unterscheiden? Können
Sie mir darauf antworten?«

»Glauben Sie mir, mein kluger junger Freund, daß der Mesmerismus
-- wie man ihn nun einmal nicht ganz richtig nennt -- recht gut
ist zu dem verschiedenartigsten medizinischen Gebrauch. Er mag
auch ein bewundernswertes Mittel für die Kontrolle der geistigen
Fähigkeiten eines anderen sein, auch recht gut zum Hervorbringen der
Grenzerscheinungen des zweiten Gesichts benützt werden, so daß er
schließlich zu einer Leiter wird, auf der man mit Geschick und Ausdauer
die geringeren Höhen wahren Hellsehens zu erklimmen befähigt wird,
aber trotzdem ist der Mesmerismus das niederste der vielen Mittel,
um Einsicht und Überblick über die weiten Meere der Geheimnisse
zu gewinnen, die das menschliche Leben und das Bewußtsein überall
eingrenzen. Ich gebe zu, daß der Mesmerismus in einigen wenigen Fällen
den Beweis erbracht hat, daß er ein königlicher Weg zu mancherlei
Kenntnissen ist; wissen Sie aber, daß er sich noch öfter als Irrweg
erwiesen hat, der zu Skeptizismus und Zweifel führt? Und daher rate ich
Ihnen, allen diesen Wegen zu mißtrauen, und dies umsomehr, als jedes
menschliche Wesen, das seine Tierheit überwunden hat, in sich selbst
Kräfte und Fähigkeiten besitzt, die, wenn nur für ihre Ausbildung
genügend Sorge getragen wird, schließlich für alle Mühe reichlich
belohnen. Der aber ist ein Narr, der sich selbst verläßt, mesmerische
Behandlung oder Arzneien oder dergleichen anwendet und dadurch unter
den Boden der Außenwelt sinkt, ohne die wahre Feuerseele erreichen zu
können.«

Ich biß mich auf die Lippe vor Verstimmung und Ärger über solche
Tiraden gegen etwas, was meine innerste Seele bis jetzt als
lichtbringend verehrt hatte. Und obwohl ich nicht zweifeln konnte,
daß Ravalette im vollsten Ernst sprach, konnte ich nicht umhin, auf
seinen Lippen ein triumphierendes Lächeln zu bemerken. Dieser Mann ist
älter als ich, sagte ich mir, und weiß, wovon er spricht, sonst wäre
er nicht so voll sicheren Vertrauens. Er kennt etwas Höheres als den
Mesmerismus. Was mochte es wohl sein? Immer strebte ich, ein Problem
zu lösen, an dessen Ende das »Warum?« und das »Warum nicht?« alles
menschlichen Sehnens liegt -- die Frage der bewußten, persönlichen
Unsterblichkeit. War vielleicht alles, was ich an mesmeristischen
Erscheinungen selbst gesehen und anderen in eigener Person vorgeführt
hatte, nichts weiter als ein Produkt von Phantasie und Vermutung? Ich
konnte es nicht glauben und doch hatte mein sarkastischer Begleiter
dies, wenn nicht behauptet, so doch logisch gefolgert, und offenbar
wußte er ebenso viel von den Vorgängen in meinem Geiste, wie ich
selbst, und vielleicht sogar noch bedeutend mehr. Ich befand mich in
vollständiger Verwirrung.



2. Kapitel

EIN SELTSAMES GESCHEHNIS


Ravalette fuhr fort: »Man kann heute nicht mehr dieselben Wirkungen
damit hervorbringen wie vor wenigen Jahren, denn der Mesmerismus ist
entartet und stößt alle feinfühligen Menschen ab. Seine Anhänger
verlieren unausbleiblich den Verstand -- wenn sie überhaupt einen
hatten. Die Philosophie, die sie zu finden glauben, ist reiner
Anachronismus. Mesmeristen sind Betrüger oder Betrogene, oder beides.
Die Sentimentalitäten eines stöhnenden, hysterischen Mädchens, das
zur einen Hälfte in Verzückung, zur anderen Hälfte liebeskrank ist
-- wie das die meisten modernen Hellseherinnen sind -- zählen in der
Reihe bewiesener Wahrheiten nicht mit und die Rasereien verrückter
Somnambulen haben überhaupt nichts zu bedeuten; jene tragen wenigstens
noch ein wenig Poesie in sich, diese aber überhaupt nichts. Nein,
nein, mein Freund, setzen Sie kein allzu großes Vertrauen darauf, daß
der Magnetismus Sie bei Ihren Forschungen unterstützen könnte; Sie
werden sonst sicherlich eine Enttäuschung erleben und es dann, wenn es
zu spät ist, bedauern, daß Sie aus dem Stall der Natur das schlechteste
Tier gewählt haben. Folgen Sie meinem Rate und nehmen Sie ein besseres!«

Als der alte Kavalier seine Philippika gegen den animalischen
Magnetismus beendet hatte, der mir so viel bedeutete, schwieg ich etwa
eine Minute lang und ließ dabei alle meine Erfahrungen und Kenntnisse
auf diesem Gebiete Revue passieren. Das Resultat überraschte mich
nicht im geringsten, denn bei ruhigem, leidenschaftslosem Zusehen fand
ich, daß seine Behauptungen und Anschauungen unmöglich zu bestreiten
und zu entkräften seien. Einst hatte ich diese Wissenschaft für den
großen Boten des Lichtes gehalten, durch dessen Hilfe wir mühelos
die Vorgänge einer so entfernten Vergangenheit erfahren können, daß
die Kohlenlager der Erde im Vergleich dazu Schöpfungen von gestern
sind. Und da warf Ravalette mit einem einzigen grausamen Schlag das
ganze Gebäude unbarmherzig über den Haufen. Verstimmt schwieg ich
eine Weile, während wir auf einer Art natürlicher Esplanade auf den
Hängen der Hügel bei Paris auf und ab gingen. Mechanisch trat ich
beim Hin- und Hergehen in die vorher gemachten Fußstapfen und ebenso
mechanisch bemerkte ich, daß Ravalette das Gleiche tat. Dabei fiel mir,
obwohl mein Geist angestrengt auf der Suche nach Argumenten zu seiner
Widerlegung war, ein seltsamer Umstand auf: Die Schuhe Ravalettes waren
von ganz eigenartigem Schnitt, wie ich dergleichen vorher noch nie
gesehen hatte. Im oberen Teile waren sie fast dreieckig. Vorher war
dies meiner Aufmerksamkeit entgangen, jetzt erschien es mir plötzlich
sehr merkwürdig. Ebenso überraschend aber war der Umstand, daß seine
Schuhe statt des gewöhnlichen Absatzes und der Sohle vier kreisförmige
Ringe aus Messing hatten, die mit Lappen bedeckt waren; die Spur,
die er auf dem weichen nachgiebigen Boden hinterließ, war in der Tat
höchst ungewöhnlich. Diese Spur und die Schuhe unterbrachen fast meinen
Gedankengang. Ich bemerkte nun auch, daß die Sohle seines Schuhs mit
einem Kreuz, zwei Halbmonden, zwei Dreiecken und einer massiven Stange,
die einen Teil des Kreuzes bildete, geschmückt war. Ich sah auf --
Ravalette lächelte über meine Überraschung.

»Das ist nur eine Laune von mir«, erklärte er. »Ich habe eine besondere
Verehrung für diese Figuren, wie Sie leicht sehen können.« Dabei
lenkte er meine Aufmerksamkeit auf eine große Spange oder Vorstecknadel
an seiner Brust.

Dieses seltene Kleinod, das ich früher zwar gesehen, aber nicht
besonders beachtet hatte, bestand aus einem Dreieck, einem Halbmond
oder Viertelkreis und einem Zirkel. In der Mitte befand sich ein
kleines Kreuz aus winzigen Sternen und am Schnittpunkt der beiden
Kreuzbalken war eine blühende Rose, in natürlichen Farben in Email
ausgeführt, angebracht. Als ich diese Busennadel mit einem starken
Vergrößerungsglas untersuchte, entdeckte ich auf dem Halbmond eine
Inschrift in winzig kleinen fremdartigen Buchstaben. Auf der linken
Seite des Mondes war ein Pelikan, der seine Jungen mit seinem eigenen
Herzblut nährt, in der Mitte eine kleine schwarze Rose und rechts eine
dunkelrote.

Die Arbeit war außerordentlich fein, denn das Ganze war nicht größer
als ein Golddollar. Er zeigte mir auch ein großes Siegel, das an seiner
Uhr hing und auf seiner Oberfläche eine Leiter von zwölf Sprossen
zeigte, von denen die erste und die fünfte zerbrochen waren. Der Fuß
dieser Leiter stand auf einer zertrümmerten Säule, neben der eine
Maurerkelle lag, und ihr oberes Ende lehnte sich gegen den Schaft und
den Ring eines Ankers, der auf dem Kopf stand und dessen unterer Teil
in einer Wolke verschwand. Nachdem ich das Siegel zur Genüge betrachtet
hatte, zog er seine Uhr heraus, die an einer schönen goldenen Taukette
befestigt war, und sagte mit einem halben Lächeln: »Ich habe noch mehr
von der Art.«

Es war eine gewöhnliche glatte goldene Uhr mit einem Schutzgehäuse, die
vielleicht 50 oder 60 Pfund Sterling wert sein mochte. Einen besonderen
Wert aber erhielt sie dadurch, daß auf der Innenseite ein stilisierter
Anker in Diamanten dargestellt war. Die entgegengesetzte Seite zeigte,
in hervorragender Emailarbeit ausgeführt, eine Windrose: drei Sterne
glänzten im Westen, ein Grabgewölbe mit halbgeöffnetem Tor stand im
Osten, gebrochene Säulen zierten den Süden, und im Norden war ein von
kleinen Dreiecken gebildeter Kreis, in dessen Mitte eine Rose auf den
Armen eines durch Punkte angedeuteten Kreuzes schwebte. Das Ganze war
in derselben Feinarbeit ausgeführt wie das Siegel und die Nadel.

Als ich fragte, was dies bedeute, gab er eine ausweichende Antwort. Er
wiederholte seine vorherige Bemerkung und sagte schließlich: »Suchen
Sie jetzt nicht zu erfahren, was diese Dinge bedeuten; Sie werden es in
den nächsten Tagen wissen. Reden wir von etwas anderem. Sie bemerkten
vorhin, daß der Mesmerismus eine spirituelle Kraft sei, aber ich bin
nicht ganz überzeugt, daß Sie recht haben. Nach meiner Ansicht ist er
eine physische Kraft -- er mag ultraphysisch oder ultramateriell sein,
aber er ist eben doch physisch.«

»Wie!« rief ich erstaunt, »menschlicher Magnetismus, dieses mächtige
Agens, das so gewaltige Wirkungen hervorruft, sollte physischer Natur
sein? Unmöglich! Schon der Gedanke ist, verzeihen Sie, absurd; die
Behauptung ist geradezu lächerlich!«

»Das dachte auch ich einmal«, sagte Ravalette. »Ich glaube es nicht
mehr; und seien Sie überzeugt, die Zeit ist nicht mehr fern, da auch
Sie in dieser Frage auf meiner Seite stehen werden. Ich will versuchen,
Ihnen die Sache zu erläutern. Nehmen wir zum Beispiel die Schlangen.
Wir wissen, daß diese Reptilien auf Vögel und andere Tiere einen
Einfluß ausüben, der ganz dem eines Magnetiseurs ähnlich ist, nur
mit dem Unterschied, daß die menschlichen Versuchsobjekte nicht den
eigenartigen Schrecken zeigen, wie er bei den niedrigeren Arten von
Lebewesen in diesem Falle auftritt. Denn das Tier hat einen sicheren
Instinkt dafür, daß jene Macht zu seiner Vernichtung ausgeübt wird,
wovon die menschliche Versuchsperson natürlich völlig frei ist.

Wir sehen die Schlange dieselbe Kraft ausüben wie den Magnetiseur und
wir bemerken bei beiden die gleichen Resultate; und doch wird es keinem
Menschen einfallen, auch nur einen Augenblick lang anzunehmen, daß die
Schlange ein spirituelles Wesen ist.«

»Ich will nicht sagen«, fuhr er fort, »daß die Seele des Menschen
physische Natur ist, aber sein Geist ist es gewiß; -- ich habe das vor
über 60 Jahren völlig zufriedenstellend bewiesen. Halten Sie mich,
ich bitte Sie, nicht etwa für einen Materialisten und behaupten Sie
nicht, daß ich die Existenz des Geistes bestreite; das sei fern von
mir! Ich glaube nicht nur an einen Geist, sondern sogar an ein großes
spirituelles Reich, das viel ausgedehnter, mannigfaltiger und schöner
ist als dieses unser materielles Reich; und glauben Sie mir, mein
Freund, wenn ich Ihnen versichere, daß unter Zehntausenden nicht einer
eine richtige Vorstellung von dem hat, was er meint, wenn er das Wort
›Geist‹ ausspricht, und daß unter der dreifachen Zahl noch nicht einer
ihn genau definieren kann. Sodann gestatten Sie mir als ein Vorspiel
zu dem, was Ihnen noch zustoßen wird, zu sagen, daß ich, entsprechend
der modernen Philosophie und in geradem Gegensatz zur populären
Anschauung, der Ansicht bin, daß der Geist im Geiste nicht die
Wirkungen hervorrufen kann, wie sie beim mesmerischen und den analogen
Phänomenen auftreten, aber ich bezweifle keineswegs, daß die Materie
diese Fähigkeit hat. Ja, mein Freund, ich bin der Überzeugung, daß
die Materie allein ohne jede äußere Hilfe zur Erzeugung magnetischer
Wunder und hundert anderer noch viel wunderbarerer Vorgänge fähig
ist. Ich glaube zum Beispiel nicht, daß irgend eine bloß mesmerische
Kraft und noch weniger die Träume des gewöhnlichen Schlafes Sie
unter irgendwelchen Umständen befähigen können, die Inschriften auf
den Tafeln im Louvre zu entziffern oder die Geheimnisse von Karnak,
Baalbek, Niniveh oder Ampyloe zu erforschen, aber ich kann Ihnen rein
materielle Kräfte nennen, die für die Ausführung dieser Aufgaben und
noch viel größerer völlig ausreichen. Ich kenne ein materielles Mittel,
das die Seele befähigt, vor ihrem Blick die Geheimnisse des fernsten
Altertums bloßzulegen, die Vergangenheit ihrer Hülle zu entkleiden und
triumphierend den Schleier zu lüften, der die Zukunft vor unserem Auge
verbirgt -- oder vielmehr vor Ihrem Auge.«

Der seltsame Alte hielt inne und mein Geist verharrte eine Weile bei
seinen letzten Worten. Es war ganz klar, so dachte ich, daß er auf
gewisse Medikamente anspielte, die lange Zeit zur Erzeugung einer Art
ekstatischen Traumzustandes gebraucht worden sind, und so erwiderte ich:

»Sie haben zweifellos recht und können durch physische Kräfte
eigenartige seelische Phänomene und merkwürdige Äußerungen geistiger
Tätigkeit erregen, aber ohne allen Zweifel überschätzen Sie ihre
Wichtigkeit, denn nicht eine einzige von ihnen ist imstande, einem
klaren, starken Geist die Möglichkeit zu gewähren, sich in der Sphäre
des Verborgenen aber Wirklichen zu bewegen.«

»Sie haben etwas Besonderes im Auge, mein Freund?«

»Ich habe verschiedene chemische und pflanzliche Verbindungen im
Auge, so zum Beispiel jene Pflanzen, die einen großen Prozentsatz
Narkotika enthalten, wie Opium, Beng und Hanf, dann die Präparate des
wonnebringenden, aber gefährlichen ..., die bezaubernden Abkochungen
des ..., nicht zu vergessen: das Haschisch, dieses verfluchte Mittel,
unter dessen Einfluß im Orient Millionen in ein vorzeitiges, aber
regenbogenfarbenes Grab sinken, und das in den westlichen Ländern
Hunderte zu heulenden Wahnsinnigen gemacht und starke Männer in
geifernde Idioten verwandelt hat.«

Wir verfielen in Stillschweigen, bis Ravalette mit Eifer meine Hand
ergriff und sagte:

»Mein lieber junger Freund, es gibt hier in Paris eine hohe und edle
Gesellschaft, deren Haupt ich bin. Sie zählt viele Rosenkreuzer zu
ihren Mitgliedern. Wie die Vereinigung, zu der Sie gehören, hat auch
die unserige ihr Hauptquartier im Orient. Seit ich Sie gesehen habe,
hatte ich den sehnlichen Wunsch, Sie als Bruder in unserem Orden zu
wissen. Soll ich Ihre Aufnahme ins Werk setzen? Sind Sie erst einmal
bei uns, so ist Ihnen kein Zweig des Wissens, des Mystischen und irgend
eines anderen mehr verschlossen, und im Vergleich dazu nehmen sich
selbst die Geheimnisse des dritten Tempels des Rosenkreuzes wie das
Alphabet einer Enzyklopädie aus.«

Er redete mir noch weiter zu, aber ich hatte keine Sehnsucht, in seine
Brüderschaft einzutreten, und erklärte ihm dies auch höflich, aber
bestimmt. Daraufhin brach er unsere Unterredung ab, indem er sich
erhob, wobei er noch bemerkte:

»Sie werden es bereuen, ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Die
Gesellschaft existiert; wenn Sie sie brauchen, dann finden Sie sie; sie
kann gefunden werden. Aber sehen Sie: Mein Reitknecht wartet schon
lange mit dem Pferd; ich muß Sie jetzt verlassen. Nehmen Sie dieses
Papier, öffnen Sie es, wenn es nötig ist. Sie werden Paris morgen oder
in den nächsten Tagen oder wann immer Sie wollen, verlassen. Wenden
Sie Ihr Antlitz nach Süden, nicht nach Norden, wie Sie vor hatten.
Suchen Sie mich nicht, außer in der Stunde der höchsten Not. Inzwischen
rate ich Ihnen, gehorchen Sie Ihrer höchsten Einsicht bis auf den
Buchstaben! Leben Sie wohl!«

Und so trennten wir uns. Ich schätzte Ravalette hoch, aber nicht seine
Brüderschaft. Die Unterhaltung, wie überhaupt das ganze Zusammensein
mit ihm, war von einer eigentümlichen, zauberhaften Atmosphäre umgeben.
Es war ersichtlich, daß alle seine Worte und Anspielungen einen
tieferen Sinn hatten, als es zunächst schien. Seine Ausführungen hatten
meine Seele mit neuen seltsamen Ideen und Erregungen erfüllt, und ich
fühlte, daß er mich an dem inneren Tor eines großen Gebäudes hatte
stehen lassen, nachdem er mich geschickt durch den Vorhof geführt.
Was für Welten der Geheimnisse, welch tiefe und dunkle Vermutungen
lagen noch dahinter verborgen? Ich empfand und wußte, daß er kein
gewöhnlicher Mensch sei, und dies wurde mir später auf merkwürdige
Weise bewiesen.

Da ich meine geplante Reise durch die Pikardie und die Normandie
verschoben hatte, hatte ich mich mit der Hoffnung getröstet, ich
könnte engere Bande der Sympathie zwischen uns knüpfen, und durch
die Berührung mit einem so bedeutenden Intellekt wie dem seinigen an
Weisheit zunehmen. Wie gewaltsam und plötzlich war diese Hoffnung jetzt
zunichte gemacht!

Als er mich Knall und Fall verließ, nachdem er meine Seele mit einem
so prächtigen Köder angelockt hatte, war ich erstaunt und bekümmert.
Ein Tag in seiner Gesellschaft wäre mir ein Vermögen wert gewesen, aber
leider konnte diese Gunst des Schicksals nicht einmal mit Tausenden
erkauft werden.

Seine letzten Worte waren das Grabgeläute meiner Hoffnungen. Jetzt
wurde ich auch einer Tatsache gewahr, die mir bisher entgangen war,
nämlich, daß ein berittener Stallknecht mit einem Handpferd unter einem
großen Baum am südöstlichen Ende unserer Promenade geduldig gewartet
hatte. Als mir der Alte das versiegelte Papier in die Hand drückte,
näherte sich der Knecht und half seinem Herrn beim Aufsteigen. Sobald
die beiden im Sattel saßen, gaben sie den Tieren die Sporen und jagten
in gestrecktem Galopp davon, und bevor ich mich von meiner Bestürzung
erholt hatte, waren sie außer Sehweite.



3. Kapitel

DAS GEHEIMNIS -- EIN HERR STEIGT IN EINE DROSCHKE, UM SEINEN EIGENEN
GEIST ZU SUCHEN


Es mochten wohl drei Minuten verflossen sein, als ich wieder völlig
zu mir kam. Ich faßte den Entschluß, mich nicht in dieser, wenn auch
ritterlichen Weise äffen zu lassen, sondern noch eine Zusammenkunft zu
erzwingen, komme was da wolle. Mit dieser Absicht rannte ich den Hang
des Hügels entlang und dann durch die Hauptstraße von Belleville, bis
ich den Schlagbaum an der Straße erreichte, die in die Rue Faubourg du
Temple führt. Dort rief ich eine Droschke an und befahl dem Kutscher,
mich so schnell wie möglich nach der Rue Michel de Compte zu fahren, wo
ich vor wenigen Stunden mit Ravalette gespeist hatte.

Während ich mit dem Kutscher sprach, ereignete sich etwas Seltsames. An
jenem Schlagbaum stand eine Schar von Müßiggängern herum und in ihrer
Mitte bemerkte ich eine Bonne, die drei hübsche Kinder beaufsichtigte,
von denen eines, ein Knabe von sieben Jahren, ein ungewöhnliches
Interesse für mich an den Tag legte. Dieses Kind nun lief, als es mich
sah, zu der Bonne und sagte: »Fanchette, was hat der Mann da? Ist er
krank? Warum schaut er so seltsam drein?«

»Still, Kind,« sagte die Bonne darauf, »dieser Herr sucht etwas, was er
nicht finden kann.«

»Was sucht er denn, Fanchette?«

»Er sucht seinen eigenen Geist, mein Kind!« erwiderte sie laut, da sich
die Kinder um sie drängten, um ihre Antwort zu hören.

»Ma foi!« echoten die Gaffer, als sie ihre Worte vernahmen -- ob sie
im Ernst oder im Scherz gesprochen waren, kann ich nicht sagen --, »ma
foi! der Herr nimmt eine Droschke, um auf die Suche nach seinem eigenen
Geist zu gehen!«

Gerade als diese Worte von hundert Zungen wiederholt wurden, setzte
sich mein Wagen in Bewegung.

»Was zum Teufel bedeutet das?« fragte ich mich, »was bedeutet das? Wie
kommt die Bonne zu diesem seltsamen Gedanken?« Während ich noch darüber
nachgrübelte, hielt die Droschke vor dem verlangten Hause. Ich stieg
sogleich aus, bezahlte den Kutscher und läutete hastig. Der Concierge
erschien alsbald und um so schneller, als ich etwas ungestüm geläutet
hatte.

»Ist Ihr Herr zu Hause, mein Freund?«

»Gewiß, er ist heute noch nicht fort gewesen.«

»Wie! Nicht fortgewesen, wo er mich doch erst vor dreißig Minuten
verlassen hat? Unmöglich! Monsieur Ravalette muß fortgewesen sein!«

»Wer ist Monsieur Ravalette? Ich kenne niemand dieses Namens. Mein Herr
ist Monsieur Jacques d'Emprat.«

Hier war ein neues Geheimnis.

»Melden Sie mich, bitte, Ihrem Herrn!«

»Sofort, mein Herr. Jeanette, geh hinauf und sage dem gnädigen Herrn,
daß ihn jemand zu sprechen wünscht.«

Jeanette, ein kleines Mädchen von zwölf Jahren, eilte, den Befehl
auszuführen, nach wenigen Minuten erschien der Herr des Hauses selbst,
und ich stellte mit Überraschung fest, daß der schürzengeschmückte
Kellermeister, der uns bei unserem Diner bedient hatte, und der
Hausherr ein und dieselbe Person waren. Ich erfuhr, daß Ravalette, der
dem Wirt im übrigen vollkommen unbekannt war, vor zwei Tagen zu ihm
gekommen sei, um ein opulentes Diner für zwei Personen zu bestellen
-- der Hausbesitzer war nämlich von Beruf Gastwirt. Ravalette hatte
die Rechnung im voraus beglichen und ihm eine seltsam gearbeitete
kleine Silbermünze als Andenken verehrt. Er zeigte mir die Medaille und
ich sah mit Erstaunen, daß es eine getreue, etwas vergrößerte Kopie
derjenigen war, die ich am selben Tage in Belleville an seinem Halstuch
bemerkt hatte. Auf die Frage, wann er Ravalette zuletzt gesehen habe,
antwortete er: »Ich weiß nicht, wo er ist, auch nicht, wann ich ihn
wiedersehen werde -- ich weiß überhaupt gar nichts. Er ist mit Ihnen
fortgegangen und seitdem nicht zurückgekehrt. Er ist ein rätselhafter
Mensch und hätte ich nicht diese Medaille hier und 310 Goldfranken in
der Tasche, so wäre ich fast geneigt zu glauben, daß er der Teufel in
eigener Person war. Aber der Teufel zahlt niemals mit Gold, wie die
sagen, die es wissen müssen, und Ravalette hat mich unzweifelhaft in
funkelnagelneuer Münze bezahlt, die ich, weil sie so schön aussah, in
meine lange Lederbörse einband, um sie meiner Tochter, die auf der
Schule in Dijon ist, zum Geburtstag zu schenken. Sehen Sie her!«

Dabei zog er eine abscheuliche Lederbörse hervor, die an einem Ende mit
Bindfaden sorgfältig verschnürt und mit rotem Siegellack versiegelt war.

»Ich kann Ihnen das Geld nicht zeigen, weil ich das Siegel nicht
verletzen möchte, aber Hören ist ja ebenso gut wie Sehen und Sie
sollen es gleich klirren hören.«

Dabei schlug er mit der Börse ein paarmal an die Wand, aber statt
des fröhlichen Goldgeklimpers vernahmen wir nur den dumpfen Klang
unedlen Metalls. Der Wirt wechselte die Farbe, zog hastig sein Messer,
durchschnitt die Schnur und schüttete den Inhalt des Beutels in seine
hohle Hand.

Wir waren starr: statt des Goldes hielt er einen Haufen bleierner
Scheiben in der Hand! Auf jedem stand eine Nummer und ein Buchstabe
und eines trug auf der Rückseite die Inschrift: »Ordnet die Münzen
nach der Reihenfolge der Nummern.« Wir taten es und sahen nun, daß die
Buchstaben Wörter und diese einen Satz bildeten, der lautete: »Es ist
nicht alles Gold, was glänzt.«

Mir gerann das Blut in den Adern. Ich konnte kaum ein Wort sprechen
oder mich bewegen, so groß war meine Bestürzung; unbeschreiblich
war das Entsetzen des Hausherrn, der mit offenem Munde und mit
herausquellenden Augen auf die Münzen starrte. Und während wir beide
noch hinsahen, ging mit den Münzen eine neue Schrecken erregende
Veränderung vor: die Buchstaben nahmen zunächst eine hellblaue Färbung
an, die dann in ein dunkles Karmesin und schließlich in Blutrot
überging. Gleichzeitig aber hatten sich auch die Buchstaben selbst
verwandelt und wir lasen jetzt:

»Denken Sie an Ravalette! Fürchten Sie nichts!«

Mit einem Entsetzensschrei schleuderte der Wirt die verhexten Münzen
auf den Boden und fiel sogleich in eine todesähnliche Ohnmacht.
Allgemeine Verwirrung entstand, der Portier, Jeanette und ein halbes
Dutzend anderer Dienstboten stürzten herbei, um ihrem Herrn zu helfen.

Wir trugen ihn sorgsam und vorsichtig hinauf, begannen sofort
Wiederbelebungsversuche anzustellen, und nach einer halben Stunde
erwachte er wieder zum Leben. Diesen Moment benützte ich, um ihm
Lebewohl zu sagen und mit dem Versprechen, am andern Morgen wieder zu
kommen -- wenn ich nicht überhaupt Paris verließe --, ging ich fort.

Vorher jedoch wollte ich noch die wunderbaren Münzen an mich nehmen und
ich ging daher mit dem Hausmeister, der gesehen hatte, wie sein Herr
sie weggeworfen, in den Hof hinunter. Wir suchten lange und fanden wohl
die Eindrücke, die sie auf dem Boden zurückgelassen hatten, aber von
den Münzen selbst keine Spur. Niemand im Hause konnte sie aufgehoben
haben, denn alle waren um den Wirt beschäftigt gewesen; niemand hatte
in der Zwischenzeit hereinkommen können, denn das Tor war verriegelt
und seit ich eingetreten, nicht mehr geöffnet worden.

Schließlich gaben wir die Hoffnung auf, noch etwas zu finden. Ich
sah den Portier an und schüttelte den Kopf, und er sah mich an und
schüttelte den Kopf. In diesem Augenblick hörten wir eine Stimme, weiß
Gott woher (sie schien weder von oben, noch von unten zu kommen),
eine hohle, halb pathetische und halb sarkastische Stimme, die unsere
eigenen Gedanken aussprach: »Es ist eine sehr seltsame Sache!«
Der erschrockene Hausmeister bekreuzte sich, während ich das Tor
entriegelte und auf die Straße hinausstürzte.

Die Sache war von so zauberhafter Art, daß ich meinen Sinnen nicht
mehr traute, aber wenn ich mir alle Umstände von Anfang bis zum Ende
überlegte, konnte ich an der Wahrheit des Erlebten schlechterdings
nicht zweifeln.

Doch während ich, die Rue Michel de Compte verlassend, in die Rue du
Temple einbog und langsam dahinschritt, kam mir plötzlich ein anderer
Gedanke: Vielleicht hatten Ravalette und die Leute in jenem Hause mir
nur eine ganz raffiniert angelegte und sehr geschickt durchgeführte
Komödie vorgespielt? Aber wie ließen sich dann die kaleidoskopischen
Veränderungen der Münzen erklären? Hier lag doch noch ein Widerspruch.

»Ich hab's!« rief ich schließlich. »Das Problem ist gelöst und ich
habe es gefunden!« Ganz spontan war mir eine Lösung eingefallen, die
vielleicht sogar das Münzenrätsel befriedigend erklärte, und was mir
vor zehn Minuten noch als ein tiefes und schreckliches Mysterium
erschienen, lag jetzt anscheinend so klar wie die Mittagssonne. Meine
Gedankengänge waren diese: Ravalette war ein reicher, exzentrischer
Kavalier, der meine natürliche Neigung für die Antike und das Okkulte
bemerkt und daraufhin beschlossen hatte, sich und seine Freunde auf
meine Kosten zu amüsieren; oder aber er bemitleidete mich wegen meiner
gefährlichen Verblendung und hatte dieses ziemlich kostspielige
Experiment angestellt, um mich dadurch von ihr zu befreien. Die Leute
im Hause, ebenso wie die am Schlagbaum, bildeten die Statisten in
dem Schauspiel. Er war ein gescheiter Mann und wußte, daß er mich
nicht so einfach würde hinters Licht führen können, und darum rief
er die Wunder der Chemie und Bauchrednerei zu Hilfe -- mit dieser
letzteren erklärte ich mir nämlich jene überirdische Stimme, mit
der ersteren die Verwandlung der Münzen: sie waren wohl mit einer
Substanz überzogen gewesen, die sich bei der Berührung mit der freien
Luft veränderte. Das Erscheinen der letzten Worte war für den Wirt das
Zeichen sie wegzuwerfen und eine Ohnmacht zu heucheln. Die entstandene
Verwirrung konnte dann dazu benutzt werden, die Münzen zu beseitigen.
Der Satz endlich: »Es ist eine sehr seltsame Geschichte« war unter
diesen Umständen ganz natürlich und mußte so notwendigerweise genau
meinen Gedanken wiedergeben und der ganzen Szene noch einen besonders
geheimnisvollen Reiz verleihen.

Ich war stolz auf meine Erklärung und sie hätte alle Fragen dieses
Problems wunderbar gelöst, wenn nicht ein einziger kleiner Einwand
gewesen wäre, und der war -- daß sie eben nicht stimmte -- was
vielleicht recht trivial erscheint, aber wir werden gleich genaueres
vernehmen.

Ich war von meinen Schlußfolgerungen schon halb zufriedengestellt
und nachdem der erste Freudenausbruch über meine Entdeckung vorüber
war, überlegte ich weiter. Mochte meine Lösung richtig oder falsch
sein, auf jeden Fall wollte ich nach Belleville zurückkehren und dort
Nachforschungen anstellen. Ein Omnibus brachte mich an den Schlagbaum,
wo ich zu meiner großen Freude genau dieselben Leute fand, die beim
ersten Male dort gewesen waren. Die Bonne und die Kinder sahen soeben
den Vorführungen eines Marionettentheaters zu. Glücklicherweise
waren alle -- im ganzen etwa dreihundert Personen -- von den Späßen
Polichinells und seines keifenden Weibes so gefangen, daß keiner mich
bemerkte. Ich ging daher in ein Café in der Nähe, verlangte eine Tasse
Kaffee und schickte einen der Kellner fort, um das Mädchen mit den
drei Kindern zu holen. Ich bestellte für sie und die Kinder Kaffee und
Kuchen und fragte sie, was sie zu so merkwürdigen Redensarten über mich
veranlaßt habe.

»Ach mein Herr,« sagte sie, »ich habe nur die Worte wiederholt, die
ein alter Mann gesprochen hatte, der an der entgegengesetzten Seite
des Wagens stand, wo Sie ihn nicht sehen konnten. Ich ging gerade von
dort nach der anderen Seite herüber, als Sie mich sahen und hörten.
Als Sie die Straße herunterliefen, sah jeder, daß Sie in Eile waren,
und mehrere Leute stellten Vermutungen über den Grund Ihrer Hast an.
Einer sagte: ›Der Mann ist verrückt‹, ein anderer: ›Seine Frau ist mit
einem Liebhaber durchgegangen‹; und der Alte neben mir sagte: ›Er sucht
etwas, was er sobald nicht finden wird.‹ ›Und was ist das, mein Herr?‹
fragte ich ihn. ›Er ist auf der Suche nach -- ähem, er sucht -- seinen
eigenen Geist, meine Liebe!‹ sagte er und ging fort. Die Bemerkung war
so seltsam, daß ich die ganze Zeit, während ich über die Straße ging,
daran dachte -- und das ist für uns Kindermädchen eine sehr lange Zeit,
mein lieber Herr -- und als Auburt -- das war eines der Kinder -- mich
fragte, was Ihnen fehle, wiederholte ich unwillkürlich die Worte des
Alten -- so und -- noch eine Tasse Kaffee, bitte -- und das war alles!«

Ich atmete auf. »Aber sagen Sie mir, meine Liebe, was für eine Art
Mensch war dieser alte Kerl? Beschreiben Sie ihn mir einmal!« »Mit
Vergnügen -- Kellner: noch einen Kuchen, der Herr wird ihn bezahlen
-- mit Vergnügen«, und sie beschrieb ihn mir; es war zweifellos --
Ravalette. Ich wußte jetzt genug, gab es auf, noch weitere Fragen zu
stellen, zahlte und eilte so schnell wie möglich nach den Blumengärten,
die Ravalette und ich zusammen besucht hatten. Ich betrat den
betreffenden Garten und fragte den Gärtner, ob er den alten Mann
gesehen habe, der in meiner Begleitung erst vor kurzem hier gewesen sei.

»Ein alter Mann? Sonderbar, wie können Sie so etwas sagen. Ich erinnere
mich ganz deutlich, Sie waren da in Begleitung eines etwa 17 jährigen
Knaben -- den hab ich seither nicht mehr gesehen.«

»Oho, mein Freund,« rief ich, »ich weiß genau, daß mein Gefährte kein
Jüngling, sondern ein Mann von gut 70 Jahren war.«

»Sacre bleu! Glauben Sie, daß ich lüge! Sagen Sie was Sie wollen,
aber ich will verflucht sein, wenn er sein zweites Jahrzehnt schon
überschritten hatte. Doch ich will Ihnen einen Vorschlag machen: Ich
wette eine Flasche Chateau Lafitte, 42 Jahre alt, daß Ihr Begleiter ein
kleiner, magerer, blasser Knabe von nicht mehr als fünfzehn Jahren war!
Halten Sie die Wette?«

»Ja, und noch vierzig andere von der gleichen Art. Aber wer wird unser
Schiedsrichter sein und die Wette entscheiden?«

»Lassen Sie die Zeugen, meine Gehilfen, meine Frau und meine Töchter
entscheiden. Ich stehe Ihnen gut dafür, daß sie wegen einer Flasche
Wein nicht lügen werden. Sind Sie einverstanden?«

»Ja, rufen Sie sie her, ich will ihnen vertrauen.«

»Das können Sie auch, es sind lauter anständige Leute. Meine Frau
hat Sie eingelassen, ich habe Ihnen einen Strauß verkauft, einer
meiner Leute ging mit Ihnen durch den Garten und der andere holte das
Wechselgeld, um Ihnen auf das Fünf-Francs-Stück heraus zu geben, mit
dem Sie mich bezahlt haben.« Hier erhob er seine Stimme und rief:
»Kommt alle her! Ich habe mit dem Herrn gewettet und ihr sollt die
Wette entscheiden.«

Die drei kamen sofort und der Gärtner sagte zu mir: »Jetzt, Herr,
wollen wir beide an das andere Ende des Gartens gehen und dort will
ich Ihnen den Mann genau beschreiben, der heute nachmittag mit Ihnen
hier war. Dann wollen wir die Zeugen einzeln rufen, so daß keiner hört,
was der andere sagt, und genau das berichtet, was er selbst gesehen zu
haben glaubt.«

Dieser Vorschlag war durchaus unparteiisch und ich stimmte zu. Die
beiden Männer wurden dann an zwei entgegengesetzte Seiten des Gartens
geschickt, die Frau mußte sich zwischen ihnen an der dritten Seite
aufstellen, während wir beide uns nach der vierten und freien Seite
begaben. Hier begann der Gärtner zu sprechen:

»Ihr Freund sah genau so aus wie ich ihn beschrieben habe, und ich
füge hinzu, daß er polnische Lederschuhe trug und einen Panama-
oder Livornohut auf dem Kopf. Außerdem trug er einen leichten
Rohrstock, helle Baumwollhosen, einen weiten Überrock und eine weiße
Kaschmirweste. Merken Sie sich das, bitte. Und nun komm her, Josef«,
rief er etwas lauter. Josef kam. »Sei so gut und beschreibe die
Person, die heute mit diesem Herrn hier war.«

»Mit Vergnügen, Meister. Der Neger, der mit diesem Herrn kam, war sehr
fett und schwer, hatte große, auswärts gebogene Füße, ungeheure Hände,
ein breites flaches Gesicht, eine Nase, die wohl ein Pfund schwer war,
und Lippen von mindestens dem doppelten Gewicht. Sein Haar war wollig
und die Zähne glänzend weiß und regelmäßig. Er trug niedrige Schuhe,
eine grüne Mütze, Kniehosen, eine rote Weste und eine purpurfarbene
Jacke.«

Wir beide, der Gärtner und ich, sahen uns mit grenzenloser Verblüffung
an. Josef war es gewesen, der uns im Garten herumgeführt hatte. Wir
waren die einzigen Besucher an dem Tage gewesen!

»Zum Teufel, Josef, du bist wohl verrückt! Der Mann war doch --«

»Halt ein,« unterbrach ich ihn, »denken Sie an die Bedingungen unserer
Wette und sprechen Sie kein Wort, bis sie alle ihre Aussagen gemacht
haben.« Dann wandte ich mich an den Burschen: »Geh wieder in deine
Ecke«, und rief sodann Peter, der sogleich kam. Wir forderten ihn auf,
eine genaue Beschreibung meines Begleiters zu geben und er sagte:

»Ach, Sie meinen die alte Dame. Meiner Seel'! Ich muß jetzt noch
darüber lachen -- verzeihen Sie, aber ich kann mir nicht helfen -- ich
muß lachen, wenn ich bloß an sie denke. Was das für eine verrückte
alte Schachtel war! Dieses zusammengequetschte Gesicht, und die Nase
erst und das Kinn! Sie hatte eine täuschende Ähnlichkeit mit einem
Nußknacker. Ich hielt sie für die Großmutter Methusalems, oder für eine
Schwester von Adams erster Frau.« Dabei brach er in ein herzliches
Lachen aus und fuhr dann fort: »Und ihre Kleidung! Keine Spur von
Tuch daran, alles aus grünem und blauem Maroquinleder! Und dann ihre
zierlichen Schuhe, wie aus Schmetterlingsflügeln gemacht sahen sie aus;
und ihr Kopfputz -- verwelkte Blumen und zwei Büschel von verschossenen
Bändern!« Und bei diesen Worten kehrte er wieder an seinen Platz zurück
und lachte, als wollte er zerspringen.

Der Gärtner sah noch um einige Grade verblüffter drein; was für ein
Gesicht ich machte, kann ich nicht sagen, aber was ich fühlte, kann
kein Sterblicher beschreiben. Wir schwiegen jedoch beide und gingen zu
der Frau des Gärtners, die geduldig gewartet hatte und sich wunderte,
warum Peter so laut lachte.

»Meine liebe Frau,« sagte ihr Gatte, »willst du uns vielleicht
die Person beschreiben, die du selbst heute mit diesem Herrn hier
eingelassen hast? Ich glaube fast, daß der Teufel selbst hier die
Hand im Spiele hat, denn bis jetzt hat jeder eine andere Beschreibung
gegeben. Du aber, meine Liebe, du wirst uns sicher die Person richtig
beschreiben können, nicht wahr?«

»Ja, mein Lieber, das süße Kind, das heute mit diesem Herrn hierher
kam und das mit mir in mein Privatgemach ging, damit ich ihr Haar in
Ordnung bringen und an ihren Unterröcken etwas richten sollte, war
eine so schöne, junge Blondine von etwa 18 Jahren, wie sie nur je das
Herz eines Mannes stärker schlagen ließ. Diese Fesseln, diese Füßchen,
dieser rosige Hauch auf ihren Lippen und Wangen! Oh! Und die Figur, die
Hüften, die Taille! Herrgott! Ein Glück nur, daß ich kein Mann bin,
sonst wäre ich meiner Treu verrückt geworden und durchgegangen und
hätte den Herrn seinen Verlust betrauern lassen, während ich mit seiner
Braut die Freuden der Liebe genossen hätte. Außerdem --«

»Halt, halt, um Gottes willen, halt, Ninette! Ich habe eine Flasche
Jean Lafitte -- über 40 Jahre alt! -- verloren und meinen Verstand
dazu!«

Wir waren bei den letzten Worten alle zusammengetreten und ich erklärte
den anderen die ganze Sache, was dem Peter die Heiterkeit und der
Gärtnerin alle Poesie gründlich vertrieb.

Ich hatte Wette und Wein vergessen, verließ die Gesellschaft in
unbeschreiblichem Schrecken und eilte in größter Hast nach der
Guinguette, wo wir uns beide, Ravalette und ich, wie ich erzählt habe,
mit dem Besitzer über sein neuartiges Unternehmen unterhalten hatten.

Als ich angekommen war, stellte ich ihm die nämliche Frage wie dem
Gärtner. Seine Antwort machte mich sprachlos, denn er behauptete
hartnäckig, ich sei ganz allein bei ihm gewesen; allerdings hätte ich
mit ihm in zwei ganz verschiedenen Stimmen gesprochen und er habe daher
geglaubt, ich übte mich in der Bauchrednerei, was er dann geschickt
dazu benützt habe, mir einige Schmeicheleien über meine Fähigkeiten auf
diesem Gebiet zu sagen; denn er hätte natürlich geglaubt, ich sei nur
deswegen zurückgekehrt, um mich nach dem Erfolg meines Experiments zu
erkundigen.

Ich war zu entsetzt, als daß ich ein Wort hätte sprechen können,
verabschiedete mich stammelnd und ging in einer unbeschreiblichen
Stimmung fort.

Noch nicht zufrieden damit, erkundigte ich mich, ob jemand zwei Reiter
nach meiner besonderen Beschreibung durch die Straßen von Belleville
habe reiten sehen.

Niemand hatte sie bemerkt, überhaupt war an jenem Nachmittag dort kein
Reiter gesehen worden.

»Ich will seine Spur verfolgen,« rief ich, »denn der Ort, an dem wir
spazieren gingen, und wo der Groom mit den Pferden wartete, war ein
weicher Rasen. Da muß es sich ja zeigen, ob ich mit einem Lebenden oder
einem Toten gesprochen habe.«

Ich rannte hin. Keine Spur von einem Pferdehuf! Keine Spur von
Ravalettes seltsamen Schuhen! Meine eigenen Fußstapfen waren deutlich
zu sehen, aber von denen Ravalettes -- nichts. Das Geheimnis wurde
immer dunkler, und ich sah auch nicht den geringsten Schimmer einer
Erklärung.

Langsam und in Verzweiflung wandte ich meine Schritte wieder nach Paris
und fragte dabei unterwegs noch verschiedene Leute, ob sie zwei Männer
in der Richtung nach Charonne Vilette oder Mesnilmontant hätten reiten
oder einen Schlagbaum passieren sehen. Ich hätte gar nicht erst zu
fragen brauchen!

Aber noch war dieses Kapitel teuflischer Zauberei nicht abgeschlossen;
denn die nunmehr folgenden Ereignisse stellten alles Vorhergehende weit
in den Schatten.



4. Kapitel

EIN MORD


Sie werden sich erinnern, daß ich mich nach meinen fruchtlosen
Nachforschungen nach den beiden Reitern und nach den ebenso fruchtlosen
Versuchen, die Fußspuren Ravalettes zu finden, wieder auf den Weg nach
Paris machte. Ich ging langsam und war in tiefes Sinnen versunken.
Als ich die Rue Faubourg du Temple hinunterschritt, verkündete eine
entfernte Glocke die vierte Stunde. Mir fiel ein, daß mich einer
meiner Pariser Freunde, Baron de Marc, vor acht Tagen schon für heute
halb sieben Uhr abends zu einer spiritistischen Séance geladen hatte.
Aber da ich noch mehr als zwei Stunden Zeit hatte, beschloß ich, bei
d'Emprat vorzusprechen, um zu hören, was während meiner Abwesenheit
vorgefallen war.

Ich hatte die Rue Michel le Compte bald erreicht und sah zu meiner
Überraschung, daß sich vor dem Haustor eine große Menge staute.

Mit klopfendem Herzen und einem vagen Gefühl von Unruhe und Furcht
näherte ich mich einem intelligent aussehenden Mann und fragte
ihn mit erheuchelter Gleichgültigkeit nach der Ursache dieser
Menschenansammlung.

»Denken Sie sich, mein Herr,« sagte er, »der Teufel und fünf seiner
Kobolde sind soeben in diesem Hause gewesen und haben drei oder vier
von den Inwohnern in einer bläulichen Flamme durch das Dach entführt.
Das ist wahr, meiner Seel'!«

Mir schien diese Antwort nur eine Ausgeburt des Aberglaubens und ich
dachte mir, daß seine Dummheit sein Aussehen Lügen strafe. Ich zog nun
ein Blatt Papier und einen Bleistift aus der Tasche und zeigte sie
recht auffällig vor den Augen der Menge, um so die Aufmerksamkeit auf
mich zu lenken.

Meine List hatte Erfolg: die Leute hielten mich für einen Reporter
und machten mir den Weg frei, so daß ich bald ohne besondere
Schwierigkeiten in das Innere des Gebäudes gelangte. Dort erfuhr
ich, daß der arme D'Emprat nach jener ersten Ohnmacht in eine zweite
gefallen sei, die von den fürchterlichsten Krämpfen begleitet gewesen,
wobei er, Schaum auf den blutleeren Lippen, in einemfort geschrien
habe: »O, der Teufel! der Teufel ist gekommen, um meine Seele zu holen,
weil ich Baptiste Lemoine vor 37 Jahren getötet habe! Mein Gott! Mein
Gott! Er will mich zur Hölle schleppen!«

Seine Frau versuchte alles mögliche, um diese gefährlichen Ausrufe
zu ersticken, aber vergebens. Sein Geschrei ging in Geheul über, bis
schließlich die Polizei aufmerksam wurde und in das Haus eindrang.

Die Nachricht breitete sich wie ein Lauffeuer aus und die Fragen der
Polizisten sowie die Bemühungen des Hausmeisters, der schleunigst
überall die Ereignisse des Nachmittags erzählte, trugen noch dazu
bei, die Aufregung zu erhöhen. Der Hausmeister nahm schließlich zwei
Polizeioffiziere beiseite und sagte ihnen leise etwas, worauf sie,
von heftigem Schrecken ergriffen, zurückfuhren und sich bekreuzigten.
Sie befahlen ihm, keinem Menschen ein Wort von der Sache zu sagen.
Dann gingen sie wieder in das Zimmer, wo D'Emprat im wildesten
Delirium lag und sich noch immer eines vor langer Zeit begangenen
Mordes bezichtigte. Er schrie, der Teufel stehe neben ihm und hielte
einen Dreizack in der Hand. Während dieser schrecklichen Szene tat
Frau D'Emprat was sie nur konnte, um ihren Gatten zu beruhigen, doch
umsonst. Die Geister böser Taten waren erwacht und rächende Engel
peitschten seine Seele zum Wahnsinn auf.

»Sei still,« schrie sie, »um Jesus willen, sei still! Du wirst unter
der Guillotine sterben! O, sei still! Oder wenn du schon sprechen mußt,
dann sage etwas anderes!«

Einer der Offiziere schrieb jedes Wort, daß der Mann oder die Frau
äußerte, unbeobachtet nieder. Er benützte dabei mein Papier und meinen
Bleistift und schrieb auf dem Rücken eines Kameraden.

Gottes Wege sind wunderbar; und ich dankte ihm innerlich, als es mir
offenbar wurde, daß die Leute im Hause nicht, wie ich vermutet, mit
Ravalette im Einverständnis gewesen waren, und daß der geheimnisvolle
Vollstrecker der göttlichen Vergeltung nicht von höllischer Herkunft
war, mochte er sonst sein, was er wollte. Ein Stein fiel mir vom Herzen
-- doch die Erleichterung hielt nicht vor -- bald sollte es von neuem
in Ratlosigkeit und Zweifel gestürzt werden.

»Du hast ihn nicht getötet, D'Emprat. So sage auch nicht, daß du es
getan hast« rief das Weib in höchster Verzweiflung.

»Das ist eine Lüge! Ich habe es getan!« schrie der Unglückliche. »Ich
habe ihn im Keller mit dem Beil erschlagen und ihn im Stall unter dem
Stand des Grauschimmels verscharrt.«

»Barmherziger Gott! Wir sind verloren!« jammerte die Frau, die jetzt
selbst schon halb wahnsinnig war, »schon immer habe ich mir gedacht,
daß du meinen Bruder ermordet hast, aber ich habe es bis jetzt nicht
geglaubt. Und ich glaube es auch jetzt noch nicht.«

Der Hausmeister trat vor:

»Ich kann es beweisen,« sagte er, »ich erinnere mich wohl des blutigen
Beils, auch hat mich der Herr nie den Grauschimmelstand reinigen lassen
und ich habe ihn beobachtet, wie er in dem Boden nach Gold grub und
sich im Schlafe selbst anklagte.«

»Dann verhafte ich Sie, D'Emprat, und Sie, Madame, im Namen des
Gesetzes; Sie, Hausmeister, gehen als Zeuge mit. Leute, tut eure
Pflicht, nehmt die Arrestanten mit und säubert das Haus!« sagte der
Sergeant.

Fünf Minuten später waren die Unglücklichen bereits unterwegs nach dem
Gefängnisse, während ich in mein Hotel ging, um mich -- sogar unter
solchen Umständen -- für die Soiree bei dem Baron umzukleiden, freilich
in einer Geistesverfassung, die mich wenig befähigte, Zuschauer bei
psychologischen Experimenten zu sein. Doch ich hatte nun einmal mein
Wort gegeben und mußte hingehen. Und ich ging hin. -- Schlag 6 Uhr
stand ich im Empfangszimmer des Barons.



5. Kapitel

DIE SITZUNG BEIM BARON -- EINE GANZ SCHEUSSLICHE TEUFELEI


Als ich ankam, war die erwähnte Gesellschaft im Salon versammelt und
wartete mit fast ängstlicher Spannung auf das Erscheinen des Mannes,
der uns heute unterhalten und belehren sollte. Zunächst schien es, als
stehe uns eine Enttäuschung bevor. Er hatte versprochen, vor halb 8 Uhr
zu kommen, diese Zeit war vorbei und er noch nicht da. Als es aber auf
der Uhr der Eustachiuskirche Halb schlug, verkündete die Hausglocke
seine Ankunft.

Er war von großer, anmutiger Figur und sichtlich von Geburt ein Ire,
hatte aber sonst nichts Auffälliges an sich. Er weigerte sich zunächst,
uns seinen Namen zu nennen: »Wenn ich unbekannt bleibe, werde ich
nicht als Wundertier angestaunt, das heißt mit anderen Worten, nicht
von Leuten, die ihre krankhaft zudringliche Neugier befriedigen
wollen, belästigt werden -- von Leuten, die auf der Jagd nach Mirakeln
sind, anstatt Künste und Wissenschaften zu studieren und durch eine
eingehende Beschäftigung mit philosophischen Wahrheiten und den
verborgenen Geheimnissen der Natur ihre Kenntnisse zu bereichern.«

Er war sehr höflich und gebildet, begann sofort unbefangen ein Gespräch
und schien selbst von dem Cercle, den er hielt, so befriedigt, daß
er bald alle Zurückhaltung aufgab, lachte und scherzte. Schließlich
teilte er uns auch seinen Namen mit -- allerdings unter dem Siegel
der strengsten Verschwiegenheit: Nibchi Vatterale -- ein merkwürdiger
Name! Dann schlug er vor, in das Nebenzimmer zu gehen. Dort stellte
er je sechs Stühle in einer Reihe auf, im ganzen achtzehn, also drei
Reihen, die zusammen ein Dreieck bildeten. Darauf bedeutete er dem
Baron, daß seine Vorbereitungen erledigt seien, worauf der Baron
sagte: »Herr Vatterale hat mir mitgeteilt, daß vor solch einer Sitzung
alle Anwesenden unbedingt ihren leiblichen Organismus stärken müssen.
Ich lade Sie daher ein, vor dem Beginn unserer Vorführungen an einem
kleinen Souper teilzunehmen und --«

»Gestatten Sie einen Augenblick«, fiel Mr. Vatterale höflich ein, »es
ist das nämlich eine Gewohnheit von mir und geschieht zu dem Zweck, um
alle üblen Folgen zu vermeiden, die aus einer zu starken Erregung des
Nervensystems hervorgehen könnten.«

»Dann, meine Damen und Herren, bitte ich Sie mir zu folgen«, rief
der Baron, reichte seiner Gemahlin den Arm und führte uns in sein
prächtiges Speisezimmer.

Nach dem Souper kehrten wir wieder in das Nebenzimmer zurück und ließen
uns auf den im Dreieck aufgestellten Stühlen nieder, wobei die Damen,
sechs an der Zahl, die westliche Seite einnahmen. Nun stellte Vatterale
in den freien Raum zwischen uns zwei Stühle einander gegenüber und zwei
mit Damastsamt bedeckte Fußschemel nebeneinander in den einen Winkel
des Dreiecks. Dann verschloß er alle Türen des Zimmers und band die
Schlüssel mit einem scharlachfarbenen Band zusammen, dessen Ende er
an einem der Glasprismen befestigte, die von dem großen Gasluster in
der Mitte des Zimmers gerade über unseren Sitzen herunterhingen. Die
sieben Flammen dieses Lusters brannten sämtlich und das Zimmer war in
allen seinen Teilen so hell erleuchtet wie bei Sonnenschein. Die beiden
Fenster in der nördlichen Wand waren verhängt und fest geschlossen.
Ich wiederhole noch einmal, daß die sieben Gasflammen während des
ganzen Abends brannten -- außer wenn sie ohne Hilfe menschlicher Hände
ausgelöscht wurden. Sie wurden übrigens jedesmal, wenn sie auf solche
Weise erloschen, sofort wieder angezündet.

Nachdem Vatterale die Schlüssel auf die erwähnte Art gesichert
hatte, untersuchte er die beiden Fenster auf das genaueste, machte
sie unten fest -- das heißt die unteren Scheiben (es waren nämlich
sogenannte Guillotine- oder Schiebefenster), während er eine der
oberen herunterließ, dann die Fensterläden öffnete und befestigte. Ich
bemerke noch, daß er selbst natürlich niemals vorher in diesem Raum
und überhaupt nicht in dieser Wohnung gewesen war und daher über deren
Anlage und Einrichtung nicht orientiert sein konnte. Trotzdem bat er
jetzt den Baron, einem Diener zu läuten, und befahl diesem durch die
geschlossene Tür, ein Sofa aus dem unmittelbar über uns befindlichen
Zimmer in das dunkle Schlafzimmer im dritten Stock zu bringen, da
es an seinem gegenwärtigen Standort die vorzunehmenden Experimente
beeinflussen könnte.

Dies überraschte uns natürlich alle, besonders den Baron, der Vatterale
anstarrte, wie wenn er von den Toten auferstanden sei, denn dies wäre
kaum erstaunlicher gewesen. Er bestätigte, daß die beiden genannten
Zimmer tatsächlich existierten; wie jedoch Vatterale zu solcher
Kenntnis gekommen war, erschien durchaus rätselhaft, denn er hatte uns
keinen Augenblick verlassen und mit der Dienerschaft kein Wort über die
Wohnung gesprochen.

Wir hatten uns von unserer Überraschung noch nicht erholt, als wir
schon wieder merkten, daß wir es mit einem außergewöhnlichen Menschen
zu tun hatten, denn er wandte sich an mich und bat mich, ihm eine
kleine Metallmünze zu leihen, die ich etwa zehn Minuten bevor er --
Vatterale -- das Haus betreten, von einem Freunde erhalten hatte. Ich
gab Vatterale die Münze, er steckte sie in die Tasche, nahm eine Reihe
elfenbeinerner Täfelchen, schrieb etwas darauf und überreichte sie dann
einer älteren Dame, der Marquise de Fronde, einer Milchschwester des
Barons. Das Geschriebene enthielt eine Frage, die so seltsam war, daß
die alte Dame sie sogleich laut vorlas: »Will die Frau Marquise die
Güte haben, sich in den Alkoven zurückzuziehen und die Metallplatten
an den Sohlen und Absätzen ihrer Schuhe zu entfernen, sodann die
Kupfer- und Zinkplatten zu trennen, die Platten des gleichen Metalls
zusammenzulegen und sie wieder an ihren Schuhen anzubringen?« Die
Marquise fiel vor Verwunderung fast in Ohnmacht, denn kein Mensch
wußte, wie sie behauptete, daß sie tatsächlich solche Platten trug,
und zwar schon seit etwa zehn Jahren, weil sie elektrische Ströme
erzeugten und diese wohltätigen Einfluß auf ihre Nerven übten. Sie
zog sich zurück und zeigte uns dann nach einer Minute die Platten,
die genau so waren, wie sie Vatterale beschrieben hatte. Nachdem sie
sich abermals für eine Weile entfernt hatte und die Platten wiederum
in der gewünschten Weise befestigt waren, kehrte sie auf ihren Platz
zurück. Nun brachte Vatterale einen kleinen Mantelsack, den er schon
beim Betreten des Hauses in der Hand getragen hatte, herbei und entnahm
ihm drei kleine Rollen Draht, ferner eine große Saucière aus sehr
dickem Porzellan, eine Phiole mit einer farblosen Flüssigkeit, eine
Schachtel mit Kleister und endlich zwei große völlig leere Flaschen
mit so dünnen Wänden, daß man hindurchsehen konnte. Sie waren offenbar
aus dem feinsten Kristallglas hergestellt. Schließlich entnahm er
dem Sack noch etwas, was wie drei Papierrollen aussah, von denen die
eine sehr umfangreich, die beiden anderen ziemlich klein zu sein
schienen. Er entrollte die größere und breitete sie am Boden aus.
Sie hatte etwa drei Fuß im Durchmesser und war mit allen möglichen
Farben und seltsamen Figuren bemalt. Der Mittelpunkt dieses Blattes
lag jetzt genau im Mittelpunkt des Dreiecks und somit genau unter dem
Kronleuchter. »Das symbolische Bild des Universums«, erklärte er.
Darauf stellte er die Saucière in die Mitte der symbolischen Karte,
wenn man es so nennen will. Dann spannte er den Draht hinter den
Köpfen der Herren der einen Reihe aus und befestigte ihn an den beiden
anderen Drähten, die er vor den zwei anderen Seiten des menschlichen
Dreiecks gezogen hatte. Der Draht, den wir mit der einen Hand hielten,
während wir mit der andern die des Nachbars faßten, war auf der Seite
der Damen aus gewöhnlichem versilberten Eisen, auf der unserigen aus
vergoldetem Stahl und auf der dritten noch übrigen aus massivem Golde,
das mit Seide umsponnen war. Die Damen hielten den Draht mit der linken
Hand, die Herren dagegen mit der rechten. Nun schüttete Nibchi die
Hälfte des Kleisters und die farblose Flüssigkeit in die Saucière und
zündete das Ganze an. Es brannte mit heller, bläulicher Flamme, wobei
sich ein eigentümlicher, jedoch nicht unangenehmer Geruch im ganzen
Zimmer verbreitete.

Während dieses Verbrennungsprozesses saß der Experimentator auf seinem
Stuhle und starrte angestrengt nach dem offenen Fenster, während wir
übrigen fröhlich plauderten und uns verwundert fragten, was wohl alle
diese seltsamen Vorbereitungen bedeuten sollten.

Ich sagte, wir plauderten fröhlich, muß aber dabei eine Person
ausnehmen und das war -- ich selbst, denn es war mir unmöglich,
mich mit der Unbefangenheit der anderen an der Unterhaltung zu
beteiligen. Ich hatte die schrecklichen Ereignisse dieses Tages noch
nicht vergessen und auf meinem Gemüt lastete ein Alp. Der »Geist
Ravalettes« schien unsichtbar über mir zu schweben und ich glaubte,
seine Gegenwart deutlich zu fühlen. Die Vorfälle in Belleville drängten
sich immer wieder vor mein geistiges Auge: die Wette mit dem Gärtner,
das Weib am Schlagbaum und dann die grauenvolle Szene in der Rue
Michel le Compte, die unzweifelhaft auf der Guillotine mit dem Tode
D'Emprats ihr Ende finden sollte, endlich die überirdischen Mittel,
durch die sein Verbrechen -- der schreckliche Mord vor 37 Jahren --
ans Licht gebracht wurde; dies alles bedrückte mich so, daß ich für
die augenblicklichen Vorgänge wenig Interesse übrig hatte. Tatsächlich
achtete ich auch wenig auf Nibchi und seine Tricks, die ich, als ich
seine Vorbereitungen sah, nicht nur verachtete, sondern ohne weiteres
in das Gebiet der Gaukelei verwies, wenn auch manches daran merkwürdig
und überraschend sein mochte.

Man wird gleich sehen, auf wie schreckliche Weise ich gewahr werden
sollte, daß ich den Mann vor uns so falsch eingeschätzt hatte.

Seine Geschicklichkeit in der Entdeckung der Münze, des Sofas und der
Platten konnte mich nicht überraschen, denn ich erinnerte mich an
Kaspar Hauser und andere dieser Art, die durch einen »magnetischen
Sinn« die Gegenwart von Metallen feststellen konnten. Auch seine
Beschreibung des Schlafzimmers im dritten Stock war sehr einfach zu
erklären, da fast alle alten Häuser solche Zimmer im dritten Stock
haben und sein Scharfsinn ihn leicht die nötigen Schlüsse ziehen ließ.
So konnte ich, dem die Taten des mystischen Ravalette noch frisch im
Gedächtnis hafteten, kein sonderliches Interesse für die Spielereien
aus der niederen Magie haben, die der Hexenmeister vor uns, wie ich
überzeugt war, gleich vorführen würde.

Plötzlich stand der Mann, an dem ich soeben innerlich eine so
vernichtende Kritik geübt hatte, von seinem Stuhle auf, warf das Haupt
zurück, so daß seine langen, wallenden Locken auf die Schultern fielen
und murmelte zwischen den Zähnen, wie wenn ihm das Hervorbringen der
Worte den größten Schmerz bereitete: »Er kommt!« Dabei sahen wir,
daß sein Gesicht, das für gewöhnlich von einem schmutzigen Gelb war,
plötzlich eine aschgraue Färbung annahm, während seine Augen Funken
sprühten. Gleichzeitig legte er seine rechte Hand auf die linke
Brustseite. Es schien, als wollte er eine plötzlich aufsteigende
Angst unterdrücken, dann rief er zu uns gewandt: »Sehen Sie scharf
hin! Seien Sie stark! Seien Sie furchtlos! Geben Sie acht! Wenn Sie
eine gräßliche Gefahr vermeiden wollen, so rühren Sie sich nicht
von Ihren Sitzen! Halten Sie die Schnur und fassen Sie sich an den
Händen, sprechen Sie, was Sie wollen, aber bewegen Sie sich keinen
Zoll von Ihren Plätzen, geschehe, was da wolle! Es wird sich etwas
Überraschendes ereignen!«

Wir erklärten unsere Zustimmung und einige aus der Gesellschaft
begannen sogar über seine Zauberei zu scherzen, als wir plötzlich
alle von unseren Sitzen aufsprangen, aber sofort durch einen zornigen
Blick und eine herrisch befehlende Geste seiner Rechten zurückgewiesen
wurden. Unser gleichzeitiges Aufstehen war durch einen gellenden Schrei
verursacht worden, der nicht, wie man vermuten könnte, von einer Frau,
sondern von einem Herrn namens Theodor Dwight, einem Amerikaner aus
Philadelphia, der zurzeit in Paris wohnte, ausgestoßen worden war.

Er ist, wie alle, die ihn kennen, bestätigen werden, durchaus kein
schwacher, hysterischer, nervöser Mensch, und man dürfte auf der ganzen
Welt kaum einen Mann finden, dem diese Eigenschaften weniger zu eigen
sind als ihm.

Der Schrei, der von seinen Lippen kam, schien von Entsetzen und
Todesangst eingegeben, wie ihn wohl ein Verdammter in der Hölle
ausstoßen mag. Es war in der Tat ein Anfall von schrecklicher,
tödlicher Furcht. Alle Augen wandten sich nach ihm. Er war leichenblaß
-- ein Bild des Todes, seine Augen quollen aus den Höhlen und er
zitterte am ganzen Körper. Er war durchaus unfähig, den Grund
seines Schreckens anzugeben, aber sein Blick hing mit dem Ausdruck
unaussprechlichen Entsetzens an der Saucière am Boden. Instinktiv sahen
auch wir hin, ausgenommen Vatterale, der noch immer auf das offene
Fenster starrte. Welch ein Anblick bot sich uns! Die Saucière war noch
da, die zwei kleinen Papierrollen aber waren verschwunden! Sie waren
weg und statt ihrer sahen wir deutlich -- denn erinnern Sie sich wohl,
gerade über unseren Köpfen erstrahlten sieben Gasflammen im hellsten
Lichte! -- sahen mit eigenen Augen, ich wiederhole: mit unseren
physischen, körperlichen Augen, drei schreckliche Wesen, die etwa wie
ungeheure Skorpione aussahen, nur daß sie statt der Klauen Arme und
Hände hatten! Und zwar genau die Arme und Hände eines neugeborenen
Negerkindes. Diese scheußlichen Dinger, denn ich wage nicht, Gott damit
zu lästern, daß ich sie Kreaturen nenne, waren am Rücken etwa fünf
Zoll breit bei achtzehn Zoll Länge und von dunkelroter Farbe, die mit
purpurnen, grünen und gelben Streifen und Flecken durchsetzt war.
Außerdem waren sie vollständig mit Schuppen bedeckt, ähnlich wie ein
Gürteltier. Stellen Sie sich, wenn Sie können, zwei Taranteln oder eine
Spinne von dieser Größe vor, die sich auf zwölf Beinen von je 16--18
Zoll Länge fortbewegten und dabei mit ihren zwei je 18 Zoll langen
Armen und Händen herumtasten, die drei Viertel der gesamten Körpergröße
ausmachten, dann haben Sie ein einigermaßen richtiges Bild dieser
grausigen, häßlichen Ungeheuer, die da um die Saucière auf dem Boden
herumkrochen oder vielmehr stelzten.

Das eine der ekelhaften Wesen hatte vier große hervorquellende Augen,
ähnlich denen eines indischen Riesenfrosches; sie funkelten -- und
und ich glaube, kein Feuerfunke hätte heller leuchten können -- sie
funkelten, sage ich, in einer geradezu infernalischen Röte, denn mit
jedem Blick schienen sie das gesammelte Gift einer Meduse zu entsenden.
Unter ihrem schrecklichen Bann saßen wir alle unbeweglich vor Furcht.

Wie groß unser Entsetzen gewesen wäre, wenn die Ungeheuer es sich
hätten einfallen lassen, auf uns loszugehen, wage ich mir nicht
vorzustellen, sie bewegten sich jedoch immer nur auf der gleichen Spur
rund um die Saucière auf dem Boden. Wir fühlten und wußten, daß es
wirkliche lebende Wesen waren, nicht nur eine optische Täuschung oder
irgend eine auf mesmerische oder andere Weise erzeugte Vorspiegelung.
Diese Ansicht wurde noch auf handgreifliche Weise dadurch bestätigt,
daß sie, als sie so dämonisch-feierlich auf dem Mittelpunkt der
symbolischen Karte umherwandelten, auf dieser einen Streifen von Ichor
oder Eiter -- grünlichem, geronnenem Eiter -- hinterließen. Tropfen
davon fielen auf den Teppich, auf dem die Karte lag. Einige Monate
später unterhielten wir uns brieflich über die Ereignisse dieser Nacht
und der Baron schrieb mir, daß kein einziges chemisches Mittel die
Flecken auf dem Teppich zu entfernen vermöchte, obwohl hunderte der
verschiedensten Chemikalien verwendet worden waren. Das war aber noch
nicht alles, denn bei einem ihrer Rundgänge verließ eines der beiden
Scheusale die Karte ein wenig und streifte den Fuß des Barons, worauf
es eine stinkende Flüssigkeit ausspritzte, von der etwas auf seinen
Schuh fiel; und an der betreffenden Stelle wurde das Leder geschwärzt,
wie wenn es mit einem glühenden Eisen berührt worden wäre.

»Redet mir daher nicht mehr von Gaukelei! Redet mir nicht von optischer
Täuschung oder betrügerischen Vorspiegelungen angesichts solcher
Tatsachen!« schrieb mir der Baron, »das sind greifbare Beweise,
die jeden Widerspruch verstummen machen. Sie wurden in jener Nacht
verursacht, und sie sind noch jetzt da. Und wenn ich auch rufe: »Fort,
verfluchte Flecken!« so bleiben sie trotzdem als Zeugen lebender,
seltsamer, unwiderleglicher Tatsachen!«

»Aber warum sprangt Ihr unter solchen Umständen nicht einfach alle auf
und verließt das Zimmer?« das ist eine ganz natürliche und vielleicht
nicht einmal unvernünftige Frage, die man mir hier nicht mit Unrecht
entgegenhalten könnte. Ich erwidere darauf: aus mehreren Gründen,
von denen ich einige nennen will. Zunächst waren alle Türen fest
verschlossen und obwohl wir gesehen hatten, daß Nibchi auf einen Stuhl
stieg und die Schlüssel mit dem erwähnten Bande an dem Kronleuchter
befestigte, sahen wir, als wir nachher hinblickten, daß sie ebenso wie
die Papierrollen verschwunden waren. Zweitens waren die Fenster unten
geschlossen und außerdem lagen sie in ziemlicher Höhe -- mindestens 15
Fuß -- über dem Boden; durch sie zu flüchten kam gar nicht in Frage;
im übrigen dachten wir auch nicht an diese Möglichkeit. Drittens stand
vor unserem Gedächtnis die ernste und feierliche Ermahnung Vatterales,
daß uns, wenn wir uns nicht bewegten, nichts Schlimmes zustoßen werde,
wenn wir auch erschrecken würden.

Außerdem hätten wir das Zimmer nicht verlassen können, auch wenn
alle Türen offen gewesen wären. Haben Sie nie von der faszinierenden
Macht der Gefahr gehört? Nun, wir befanden uns damals in ihrem Bann.
Wir waren an jenen Platz gebunden, gefesselt, festgenagelt von einer
Gewalt, die man nie verachten sollte, denn wenn sie einmal ihr Opfer
festhält, ist sie erbarmungslos, grausam und unnachgiebig. Wir fühlten,
daß jede Bewegung die Möglichkeit einer unbekannten, unerwarteten
Gefahr heraufbeschwören würde. Alle waren von Schrecken gelähmt. Eine
Bewegung hätte unser Entsetzen noch um das Zehnfache gesteigert! Wir
hatten bei dem ganzen Vorgang ein Gefühl, wie das des Inders, der aus
seinem Mittagsschlummer aufgeschreckt die feuchten Windungen der Kobra
langsam unter seinem Gewand auf dem nackten Körper kriechen fühlt, und
weiß, daß, während sein Herzschlag stockt, sein Blut zu Eis erstarrt
und große Tropfen kalten Schweißes aus jeder Pore hervorbrechen, jede
Bewegung, jeder Atemzug, ja ein bloßes Zittern den unbedingten sicheren
Tod bedeutet.

So war also das Gefühl, das die achtzehn Personen damals durchdrang,
als die drei Scheusale langsam um die Saucière am Boden herumkrochen
und uns mit ihren großen, hornigen, vorstehenden Augen ansahen, die
fortwährend funkelten und blitzten und einen Ausdruck von geradezu
teuflischer Bosheit hatten. Ich fürchte, daß die weiblichen Mitglieder
der Gesellschaft sich nie mehr von dem Schrecken jener Nacht erholt
haben. Sie fielen nicht in Ohnmacht und schrien nicht, wie man
vielleicht vermuten könnte, und zwar einfach aus dem Grunde nicht,
weil die Spannung der Seele und der Nerven zu stark war, als daß auch
nur für einen Augenblick jene Reaktion hätte eintreten können, die ein
unbedingtes Erfordernis für die erwähnten Wirkungen ist.

Wahrscheinlich betrug die Zeit, die von dem Schrei unseres Freundes bis
zum Verschwinden der drei Monstren verstrich, noch nicht einmal drei
Minuten, aber wir erlebten in dieser kurzen Spanne Jahre des Entsetzens.

Tatsächlich wird ja die Zeit nicht nach den Schlägen der Uhr gemessen,
sondern nach den Erregungen der Seele und dem Pochen des Herzens.
Nach Verlauf der angegebenen kurzen Zeit erhob sich Nibchi, nahm
ein kleines Körbchen aus seinem Mantelsack, ergriff dann furchtlos
eines der drei Wesen nach dem andern, schlug ihnen sorgfältig die
Beine übereinander und legte sie schließlich so in den Korb. Dann
nahm er die zwei Kristallflaschen, legte sie der Länge nach mit den
Öffnungen gegeneinander auf die Karte und ließ sich wieder auf seinen
Stuhl nieder, ohne ein Wort über den Zweck dieser Manipulationen
zu verlieren. -- Und da begann es auf einmal dunkel zu werden. Die
Gasflammen schienen weniger hell zu brennen. Binnen kurzem war der
Raum finster, allerdings nicht vollständig, denn es war noch ein
unbestimmtes Zwielicht da, eine Art bläulicher, halb mattrötlicher,
nebliger Ausstrahlung, die gerade hinreichte, uns die einzelnen Dinge
vag und undeutlich unterscheiden zu lassen.

»Rühren Sie sich nicht! Fürchten Sie sich nicht!« sprach da wieder die
fette Stimme Vatterales, und bevor wir antworten konnten, trat ein
Ereignis ein, das nur selten ein Mensch gesehen:

Kaum waren nämlich die Worte verklungen, als das Zimmer plötzlich
hell beleuchtet schien, wie wenn die Luft selbst mit glänzendem Licht
erfüllt wäre, und wir erkannten die beiden Flaschen ganz deutlich. Aus
der einen kroch jetzt eine riesige Schlange und streckte sich, bis ihr
Körper das dreifache des Volumens der beiden Flaschen hatte. Dann kam
eine zweite, eine dritte und so fort, so daß schließlich nicht weniger
als zwölf Schlangen dalagen. Als die letzte jedoch aus der einen
Flasche hervorgekrochen war, zog sich die erste sogleich in die andere
Flasche zurück und so verschwanden sie alle wieder der Reihe nach, wie
sie gekommen waren.

»Ich will Ihnen jetzt beweisen, daß Sie nicht immer Ihren Sinnen trauen
können,« sagte Vatterale, »und nicht immer für das bürgen können, was
Sie gesehen haben,« und dabei stülpte er den Korb um und zerschlug die
Flaschen. Sie waren sämtlich leer! Keine Spur von einer Schlange oder
einem Skorpion war mehr vorhanden!

»Nun will ich Ihnen noch etwas Merkwürdiges zeigen. Rufen Sie, bitte,
eine Magd und lassen Sie sie auf einem dieser Stühle Platz nehmen.
Lassen Sie sie dann unter irgend einem Vorwand einen Strang Seide zum
Abwickeln halten -- nur, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln --, das ist
alles. Aber,« setzte er mit großem Ernst hinzu, »was Sie auch sehen und
hören werden, sprechen Sie kein einziges Wort!«

Wir stimmten zu und ein Strähn Seide wurde gebracht.

»Es wird genau 17 Minuten dauern, bis das Mädchen fertig ist«, sagte
Nibchi, »und ich will Ihnen in der Zwischenzeit einen kleinen Betrug
demonstrieren. Die Kreaturen, die Sie vorhin gesehen haben, sind
wirklich, aber nicht von Dauer -- es sind Schöpfungen des Willens, die
untergehen, wenn die Macht zu wirken aufhört, die sie ins Leben gerufen
hat. Zum Beweis dessen, sehen Sie dort hin!«

In der östlichen Ecke des Zimmers begann aus dem Boden ein heller Nebel
aufzusteigen, der sich immer mehr verdichtete, bis schließlich eine
Dampfwolke von etwa 3 Fuß Durchmesser in der Luft schwebte. Sie blieb
etwa eine Minute lang so stehen, dann veränderte sie allmählich ihre
Form und nach Verlauf von weiteren vier Minuten hatte sie die Gestalt
eines Menschen angenommen -- oder richtiger, der Karikatur eines
Menschen!

Zuerst hatte die Gestalt nur nebelhafte Umrisse, die aber schnell
klarer und bestimmter wurden, bis ein halbnacktes krummbeiniges,
sperrfüßiges Ungeheuer vor uns stand. Es war nicht größer als drei Fuß,
die Breite der Brust und des Bauches betrug nahezu ebenso viel, während
die Beine nicht über acht Zoll maßen; die Arme dagegen waren so lang
wie der ganze Körper. Der Kopf, der ohne Übergang eines Halses auf dem
Rumpfe saß, war geradezu gigantisch und an ihm hing eine wirre Masse
fadenförmiger Würmer bis auf den Boden herunter. Sein Mund war ein
fürchterlicher roter Abgrund, der bis dahin reichte, wo sonst die Ohren
zu sitzen pflegen, die ihm völlig fehlten. Ebenso war von Augen, Nase,
Wangen, Kinn, Lippen und Stirne nichts zu sehen. Glauben Sie ja nicht,
daß dies nur eine Erscheinung war, denn, obwohl aus Dampf entstanden,
wurde es in fünf Minuten so fest wie Eisen, was es dadurch bewies, daß
es schwer und gewichtig durch das Zimmer stampfte bis in die Mitte des
freien Raumes zwischen unseren Stühlen, um dort stehen zu bleiben,
leise hin und her schwankend, wie wenn sein Herz zu schwer wäre.

»Zeige, was du kannst,« befahl Vatterale. »Sogleich«, zischte es und
ging auf einen Tisch zu, an dem es einige Minuten stehen blieb, worauf
dieser sich zu drehen begann, sich nach allen Seiten neigte, sich
schließlich in die Luft erhob und schwebte, genau wie man dergleichen
in spiritistischen Sitzungen zu sehen pflegt.

»Nun, meine Damen und Herren, bitte ich genau so zu tun, als ob dies
hier ein menschlicher Geist wäre, der darauf brennt, Nachrichten aus
dem Jenseits zu bringen. Sie werden von den Ergebnissen überrascht
sein. Sie haben schon gesehen, daß er ein ausgezeichneter Tischrücker
ist, nun bitte ich Sie, auch seine geistigen und körperlichen Kräfte
ebenso zu erproben; jetzt, wo ich Ihnen erlaube, das Schweigen, das
für den ersten Teil dieses Versuches sehr wichtig war, zu brechen,
haben Sie nichts mehr zu fürchten.«

Daraufhin baten mehrere von uns das Wesen um eine Äußerung und sogleich
machte es Bewegungen, wie wenn es schreiben wollte. Wir legten ihm
Bleistift und Papier vor, es ergriff den Stift mit seinen langen,
klauenartigen Fingern und seine Hände flogen wie der Blitz über das
Blatt. In zehn Sekunden war es fertig und bekundete dies, indem es
dreimal mit der Faust schwer auf den Tisch schlug. Herr D... nahm das
Papier an sich und las; es war eine der zärtlichsten Botschaften,
die wohl je eine tote Mutter an ihren lebenden Sohn gerichtet hat,
sogar die Handschrift war die seiner Mutter, auch der Name -- Lucy
-- stimmte, auch verschiedene Eigentümlichkeiten im Ausdruck waren
genau wiedergegeben. Herr D... erbleichte. »Ist es möglich, daß ich
so schändlich betrogen wurde?« rief er erschüttert, denn er war ein
überzeugter Anhänger des modernen Spiritualismus.

Das geisterartige Ding gab sodann noch mehrere gleich gut gelungene und
überzeugende Proben seines Könnens, sowohl durch Schreiben, Tischrücken
und -klopfen, wie auch durch Erscheinenlassen von Geisterhänden,
-gesichtern, -blumen und anderen Gegenständen, von denen sich viele
nicht nur durch ihre Seltenheit, sondern auch durch ihre hohe Schönheit
auszeichneten. In weniger als fünf Minuten hatte das augenlose Monstrum
dreizehn solcher Bilder ausgeführt, die man als glänzende Muster
»magischer Kunst« betrachten konnte.

»Jetzt zu etwas anderem«, sagte Vatterale, und wandte sich an die
Gestalt: »Du wirst dich jetzt unsichtbar machen und uns zeigen, was
für ein Musiker du bist!« Dann bemerkte er zu uns: »Wirkliche Geister
lieben das Licht, solche aber wie dieser da, arbeiten im Dunkeln ebenso
gut, denn sie haben den Vorteil, daß sie in direkte Berührung mit
materiellen Substanzen kommen können, was für wirkliche Geister sehr
schwierig ist.«

Während seiner Worte war unsere Aufmerksamkeit von seinem Geschöpf
abgelenkt -- ich sage: »seinem« Geschöpf --, denn man darf nicht
vergessen, daß die ganze Erscheinung lediglich eine Inkarnation seines
bewußten Willens und nur durch einen Gedanken ins Leben gerufen worden
war und wieder zum Verschwinden gebracht werden konnte. Freilich gibt
es auch andere, die solche schöpferische Fähigkeit besitzen, aber
diese Leute üben ihre Kraft entweder unfreiwillig durch mechanische
Willensvorgänge aus, oder sie sind als Medien nur die Werkzeuge der
»Larven«. Als Vatterale zu Ende gesprochen hatte, war der Geist
verschwunden, d. h. für unseren Gesichtssinn, nicht aber für das Gehör,
denn als er seine Hand leicht bewegte, ertönte sofort die zarteste
süßeste und ergreifendste Musik, die je ein Mensch gehört hat. Sie
schien überall zu ertönen, über uns, unter uns, um uns, bald hier, bald
da, bald ganz nahe, bald in weiter Ferne; ich könnte sie nur mit einem
feierlichen Requiem vergleichen, das von Engeln über der zerstörten
körperlichen Form eines Gottes gesungen wurde. Die Töne klangen so
erhaben und majestätisch und dabei so wehdurchzittert, daß sie lebhaft
an das klagende

    »Huhm, meleagar, malooshe,
    Huhm, meleagar, ma-looshe«

erinnerten, nur daß sie zehnmal tiefer waren und an Abgründe rührten,
die jenes Lied nie hätte erreichen können.

Diese seltsame Musik konnte als Beweis für die Theorie des
italienischen Grafen dienen, die er, wie erinnerlich, in der Séance
vor Napoleon aufgestellt hatte, denn, wenn man einerseits zugäbe,
daß sie von einem wirklich existierenden, selbständigen Lebewesen
hervorgebracht wurde, konnte man anderseits nicht bestreiten, daß
sie nur von einer hochentwickelten Seele erzeugt werden konnte,
während jenes Wesen aber doch in der Skala der Organismen sehr niedrig
stand. War dieses Wesen aber nun eine Schöpfung von Nibchis Willen,
so erhellte daraus, daß es nur seine eigenen Gedanken ausdrückte,
während es selbst für die Musik und ihre Bedeutung nicht das geringste
Verständnis hatte.

Das Lied hörte auf und Vatterale bat den Grafen von M., das eine Ende
eines Akkordions zu halten, während der Geist unsichtbar das andere
halten und so spielen sollte. Der Graf tat es und hielt das Instrument
mit dem Boden nach oben in Armeslänge von sich ab, und zwar gerade
unter dem Luster. Und tatsächlich begann es in dieser Stellung zu
spielen. Niemand war zu sehen und niemand war in der Nähe. Ebenso ging
es dann mit anderen Instrumenten, wie Gitarre, Harfe und Klavier.
Sodann wurde die ganze Vorstellung auf das Gebot Vatterales von dem
Geist in sichtbarer Gestalt wiederholt.

Da verkündete uns ein Klopfen an der Tür, daß das gewünschte
Dienstmädchen da sei. Sie wurde eingelassen; der Geist war wieder
verschwunden.

»Marie«, sagte der Baron, »wir haben gewettet, daß keiner dieser Herren
einen Strähn Seide aufwickeln kann, wenn sowohl ihm als auch Ihnen die
Augen verbunden sind. Ich habe gewettet, daß es dennoch möglich ist.
Wenn ich gewinne, dürfen Sie auf drei Tage Ihre Angehörigen zu Hause
besuchen und ihnen etwas mitbringen. Sie dürfen aber nicht lachen oder
sprechen, solange die Seide aufgewickelt wird, sonst habe ich verloren.
Wollen Sie es versuchen?«

»Gewiß«, erwiderte das Mädchen, »und Sie sollen sehen, daß ich nicht
lachen werde.« Dann nahm sie ihren Platz ein und ließ sich von der
Baronin die Augen verbinden und die Seide um die Handgelenke legen.

Darauf ergriff Herr D... auf ein Zeichen Vatterales das andere Ende des
Fadens und begann ihn langsam aufzuwickeln.

»Beginne!« sagte Vatterale, nach der Stelle gewandt, wo der Geist
verschwunden war. Er erschien sofort wieder und berührte die Hand
des Mädchens, das auf der Stelle gleich in einen tiefen magnetischen
Schlaf fiel, aus dem sie eine zweite Berührung wieder, jedoch nicht zum
vollen Bewußtsein, erweckte. Sie stand auf, warf die Seide beiseite
und trat der Reihe nach an die sämtlichen Instrumente heran, um uns
einige Stücke zum Besten zu geben. Der Geist berührte ihren Kopf und
sogleich flüsterte sie drei Herren aus der Gesellschaft nacheinander
die glühendsten Liebesworte ins Ohr.

Wieder berührte sie der Geist und sie begann in pathetischem Ton zu
deklamieren. Bald war sie Charlotte Corday, dann Maximilian von Mexiko,
bald die Jungfrau von Orleans, dann ein einfaches Indianermädchen,
jetzt war sie die Malibran und sang wundervoll, dann wieder eine ernste
Frau und sprach über das göttlich-schöpferische Werk des Weibes, über
die Liebe und über vieles andere. Es gab kaum ein Thema, das sie
nicht angeschlagen hätte. All dies mochte etwa zwei Stunden gedauert
haben, dann tat Vatterale dem Wirken des Geistes Einhalt und weckte
das Mädchen wieder auf, das von den gesamten Vorgängen keinerlei
Erinnerungen hatte. Die Anwesenden schenkten ihr einige Goldstücke und
sie verließ das Zimmer, zweifellos mit dem Wunsche, noch öfter Seide
auf diese Weise aufzuwickeln.

»Nun will ich Ihnen etwas zeigen,« sagte Vatterale, »was vielleicht
interessanter ist als alles, was Sie je gesehen haben. Schauen Sie her!«

Im gleichen Augenblick erschienen auf allen Seiten des Zimmers
unzählige kleine Feuerkügelchen in den verschiedensten Farben -- rot,
grün, blau, purpur- und scharlachfarben, gold, silber, karmin, weiß
und violett -- und blitzten und tanzten umher wie wenn sie eine
sehnsüchtige Freude verspürten. Es waren wohl Tausende von ihnen
vorhanden, die durcheinander in der Luft umherwirbelten, bald die
Bilder an den Wänden beleuchteten, bald sich in größeren Massen vor
den Spiegeln ansammelten oder auf dem Boden unter den Stühlen zwischen
unseren Füßen und über den Teppich rollten wie im Übermut des Spiels.
Jede ihrer Bewegungen war von einem zischenden Laut begleitet, ähnlich
dem einer steigenden Rakete, wenn auch nicht so stark. Schließlich
bildeten sie eine Krone, genau so, wie ich sie vor einigen Jahren hier
in Paris über dem Haupte Napoleons hatte schweben sehen. Ich hielt
diese beiden Umstände nebeneinander und wandte mich schon an Vatterale,
um etwas zu sagen, als er, wie wenn er meine Absicht geahnt hätte, mir
mit der Bemerkung zuvorkam:

»Ich habe Ihnen einmal gesagt, wir würden uns bald wieder begegnen!
Geduld -- diese Nacht muß vorübergehen. Nehmen Sie das Geschenk an,
das ich für Sie in Ihrem Hotel zurückgelassen habe, und vergessen Sie
nicht, daß wir uns wieder begegnen werden.« Dann schwieg er wieder wie
zuvor, und die Gesellschaft wußte mit seiner abgerissenen und scheinbar
sinnlosen Äußerung nichts anzufangen.

Ich aber wußte jetzt: Vatterale und der Graf waren ein und dieselbe
Person, wer aber waren die beiden anderen: Miakus und Ravalette?

Die feurige Krone bildete übrigens den Schluß der Vorführungen; die
Gesellschaft trennte sich in ziemlich vorgerückter Stunde und jeder
ging nach Hause.



6. Kapitel

ANKUNFT DES VERFASSERS


Zu erregt, um zu schlafen, warf ich mich auf mein Sofa und überdachte
noch einmal die seltsamen Ereignisse der Nacht. Zwei Dinge, nein, drei,
waren absolut sicher: Erstens, daß weder Ravalette noch Vatterale,
noch der italienische Graf Menschen waren wie andere; zweitens, daß
keiner aus der Gesellschaft dies ahnte, und drittens, daß ich einzig
und allein der Gegenstand dieser außergewöhnlichen Besuche war. Darüber
hinaus wurde mir klar, daß sein Schicksal sich schnell und unaufhaltsam
einer Krisis näherte, und daß der Fremde (der in der Legende erwähnt
wurde), ebenso wie Dhoula Bel mich noch beeinflußten, aus welchen
Gründen und zu welchem Zweck, konnte ich nicht verstehen. Ich war
bereits Rosenkreuzer geworden, war bis zum fünften Grad vorgerückt,
hatte den Orient besucht und stand im Begriff, ihn abermals zu
besuchen, hatte manche düstere Geheimnisse kennen gelernt und war
in den verschiedenen Arten der Magie unterrichtet worden; ich wußte
alles Wissenswerte über das Lebenselixier, die Kräfte des Willens,
die Kunst, das Schicksal anderer vorauszusagen, die Kunst, magische
Spiegel zu verfertigen und Gold- und Silberminen zu entdecken und
hatte tief bedauert, daß der furchtbare Eid, durch den sich der wahre
Rosenkreuzer verpflichtet, niemals Reichtümer für sich selbst zu suchen
oder als Belohnung für seine Tätigkeit anzunehmen, mich hinderte, mich
der Vorteile des Geldes zu bedienen. Ich wußte, daß ich alle äußeren
Interessen meiner Persönlichkeit auf dem Altar des Wissens geopfert
hatte. Ich wußte, daß mein Herz nach Weibesliebe schmachtete und
daß dieses Gefühl zu Zeiten einen Teil meiner Seele gefangen hielt,
aber sie niemals ganz erfüllte, und ich wußte, daß darin die einzige
Möglichkeit lag, dem, was ich fürchtete, zu entgehen, wenn es mir
nämlich gelang, mich mit einer Frau zu vereinigen, in deren Körper
kein Tropfen von Adams Blut floß; ich gab fast alle Hoffnung auf, je
zu vollenden, was meine Versucher in Belleville, in den Tuilerien
und in Boston von mir verlangt hatten, als ich mich plötzlich des
Papiers, das mir Ravalette in die Hand gedrückt und des Geschenkes,
das Vatterale für mich zurückgelassen hatte, erinnerte. Doch beschloß
ich, alle Sorge darum bis zum Morgen aufzuschieben und fiel schließlich
in einen unruhigen Schlaf, aus dem ich erst spät am folgenden Vormittag
erwachte, um sogleich die Nachricht zu erhalten, daß mein teurer
Freund (der Verfasser) aus Alexandrien angekommen sei und bei mir
vorgesprochen habe.



7. Kapitel

DAS GROSSE GEHEIMNIS?


Dem Verfasser dieser Blätter fällt nun die Aufgabe zu, die Erzählung
Beverlys, seines Freundes, zu vervollständigen.

Ich war soeben in Paris über Marseille angekommen, nachdem ich
dort einige Tage früher von Alexandria über Malta angelangt war.
Ursprünglich hatte ich die Absicht, hier zu übernachten, um dann über
Rouen und Dieppe nach England und von dort nach Amerika zu reisen. Wie
alle anderen Reisenden, gedachte ich eigentlich, eine Woche in Paris
zuzubringen, aber leider hielten mich Geschäfte ab und ich hatte mich
daher darauf eingerichtet, die Hauptstadt am Tage nach meiner Ankunft
wieder zu verlassen. Außerdem sprach noch der Umstand mit, daß ich
gern noch länger die Gesellschaft eines Herrn genießen wollte, mit dem
ich von Kairo bis Paris zusammen gewesen war, und der sich in Paris
nicht lange aufhalten wollte, um so bald wie möglich seine Tochter zu
treffen, die seit etwa drei Jahren in Paris erzogen wurde und die er in
sein neuerworbenes Haus in New York führen wollte.

Die Geschichte des Herrn Im Hokeis und seiner Tochter, die er mir auf
der Reise erzählte, ist wohl wert, wiedergegeben zu werden, und so
will ich, selbst auf die Gefahr hin, dieses Kapitel ungebührlich zu
erweitern, einen kurzen Abriß davon geben:

»Ich bin an den Ufern des Kaspischen Meeres geboren«, hatte Hokeis
mir erzählt, »und entstamme der Familie der Hokeis, einer heiligen
Familie, die den höchsten Priesterstand bekleidete und der die Sorge
für das heilige Feuer oblag, denn wir waren Parsen, und das Feuer
durfte nie erlöschen und ist auch seit vielen Tausenden von Jahren
nicht erloschen, wie unsere Überlieferungen erzählen, denn Religion
ist bei uns etwas ganz anderes als bei den Männern des Islams oder den
Bewohnern Indiens oder Roms oder des Westens. Wir sind stolz auf die
Reinheit unseres Glaubens und auf seine Überlegenheit über alles,
was von den Kindern Adams bekannt geworden ist, ebenso wie auf unsere
Abstammung von Ich, dem großen Begründer unseres Stamms und mächtigen
präadamitischen König und Eroberer.«

Es mangelt mir hier Raum und Zeit, die Gründe anzuführen, mit denen
Im Hokeis seine Behauptung bewies, es gebe auf der Erde noch andere
Menschen als solche, die von Adam abstammten. Er sagte, er sei von
Geburt an zum ersten Priester seines Glaubens bestimmt gewesen, und
habe im Alter von 17 Jahren ein Weib seines Stammes geheiratet. Um
die Zeit, als er eingekleidet werden sollte, war zwischen den Parsen
und ihren persischen Tyrannen ein Krieg ausgebrochen. Er und sein
Weib wurden gefangen genommen, nach Herat gebracht und verurteilt,
geblendet zu werden, doch wurden sie von einem Mitglied der englischen
Gesandtschaft vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrt. Sie blieben
dann fast drei Jahre lang bei ihrem Retter und lernten während
dieser Zeit die englische Sprache. Hokeis hatte später das Glück,
seinem Wohltäter das Leben retten zu können, und die Folge war, daß
zwischen ihnen eine so herzliche Freundschaft entstand, daß die beiden
mitgehen durften, als die Gesandtschaft nach England zurückkehrte.
In London nahm Hokeis eine Stellung als Dolmetscher an und war bald
so wohlhabend geworden, daß er Handelsgeschäfte mit Persien anfangen
konnte. Während der neun Jahre, die er so verlebte, schenkte ihm der
Himmel kein einziges Kind, wohl aber ungeheuren Reichtum.

Im dreizehnten Jahre ihrer Ehe wurden endlich die Gebete des Ehepaares
erhört, denn es wurde ihm ein hübsches Mädchen geboren. In dem
Augenblick jedoch, als es das Licht der Welt erblickte, schlossen sich
die Augen seiner Mutter für immer.

Eines Tages fuhr die Amme, die eine Verwandte der Frau war, das
Kind in den Straßen von Hampstead spazieren. Sie geriet dabei in
ein Zigeunerlager und ließ sich überreden, sich ihre und des Kindes
Zukunft weissagen zu lassen. Aus den Gesichtszügen und der Hautfarbe
der beiden ließ sich leicht auf ihre Nationalität schließen und das
Zigeunerweib überzeugte sich durch geschicktes Fragen, daß sie Parsen
vor sich hatte. Als der Schwindel vorüber war und die Amme bezahlt
hatte, kehrte sie mit ihrem Schützling wieder nach Hause zurück. Die
Zigeuner aber schlichen ihr nach und in derselben Nacht wurde das Kind
entführt, während die Amme schlief. Man stellte Nachforschungen nach
den Zigeunern an -- aber vergebens -- die ganze Gesellschaft war am
folgenden Tage auf einem Paketboot nach Amerika unter Segel gegangen.

Viele Jahre waren verflossen und eines Tages ging der trostlose Vater
in dem Garten des Hauses spazieren, aus dem das Kind geraubt worden
war, als er von einer alten Frau angesprochen wurde, die ihn fragte,
wieviel er für eine Nachricht über sein Kind zahlen würde. Das Folgende
mag übergangen werden, es genügt, wenn ich berichte, daß der Vater und
die Zigeunerin innerhalb 24 Stunden bereits an Bord eines Schiffes
waren, das sie nach der neuen Welt führen sollte. Das Kind, das sich
inzwischen zu einer Jungfrau von wunderbarer Schönheit entwickelt
hatte, wurde gefunden und Vater und Tochter wohnten eine Zeitlang in
New York, wo er sich einen schönen Landsitz gekauft hatte. Der alte
Herr liebte Amerika so sehr, daß er beschloß, sich dort für den Rest
seines Lebens niederzulassen, nachdem seine Tochter in Europa eine
sorgfältige Erziehung genossen hätte. Er brachte sein Vermögen nach
Amerika und machte dann noch eine Abschiedsreise nach Persien zu seinen
Freunden und Glaubensgenossen im Osten. Auf seiner Rückkehr hatte
ich ihn, wie schon erzählt, getroffen und ihn von Ägypten bis nach
Frankreich begleitet.

Das bringt mich wieder auf die Nacht meiner Ankunft in Paris zurück.
Da es nicht mehr möglich war, sogleich die Tochter aufzusuchen,
begaben wir uns in ein Hotel beim Palais Royal. Wir hatten dort soeben
unser Souper beendet, als ein Mann, der uns beiden gänzlich unbekannt
war, den Speisesaal betrat, eine tiefe Verbeugung machte und sagte:
»Heil! Ich komme um dir, Im Hokeis, zu sagen, daß du morgen Paris
nicht verlassen wirst. Um die vierte Stunde wirst du deine Tochter
nach dem Hause bringen, das das vorletzte ist, wenn du den Boulevard
de Luxembourg hinaufgehst. Du wirst keine Fragen stellen, sondern
gehorchen. Daß ich das Recht habe, dir zu gebieten, will ich sogleich
beweisen«, und er flüsterte Hokeis drei Worte ins Ohr, die diesen
aufspringen machten, wie wenn er von einer Kugel getroffen worden wäre.
_Er hatte ihm das geheime Losungswort der Priester des Feuers gesagt!_
Dann wandte er sich an mich und sagte: »Und du wirst morgen in aller
Frühe in das Hotel Fleury gehen. Dort wirst du deinen Freund Beverly
finden. Gehe, wohin er geht, und verlaß ihn während der nächsten zwei
Tage nicht einen Augenblick -- seine Rettung hängt davon ab! Ich gehe
jetzt. Vergiß die Worte des Fremden nicht!«

Ich war grenzenlos verblüfft und man kann sich leicht denken, wovon wir
beide diese Nacht sprachen, bevor wir schlafen gingen.

Das führt mich auf meine nächste Zusammenkunft mit Beverly, dessen
Geschicken wir jetzt folgen wollen.

Man wird sich erinnern, daß Ravalette ihm ein Papier gegeben hatte,
bevor sie Belleville verließen, und daß Vatterale ebenfalls etwas für
ihn im Hotel zurückgelassen hatte.

Die Worte auf dem Zettel Ravalettes waren in einer kühnen, kräftigen
Handschrift geschrieben und lauteten: »Wenn Sie mich brauchen, wenn Sie
bereit sind, einer der unsrigen zu werden -- wenn Sie alle Hoffnung
aufgegeben haben, je das Geheimnis meiner und Ihrer Existenz zu
ergründen -- dann suchen Sie mich in dem Hause, das das vorletzte ist,
wenn Sie den Boulevard de Luxembourg hinaufgehen -- Ravalette.«

Also dieselbe Anweisung -- und fast in den gleichen Worten -- wie die,
die jener geheimnisvolle Fremde Hokeis in der vorhergehenden Nacht
erteilt hatte. Dieser Umstand machte auf mich einen starken Eindruck,
aber die Klugheit verbot, ihn Beverly gegenüber zu erwähnen. Er schien
sehr glücklich über diese Aussicht auf eine Lösung des seltsamen
Rätsels zu sein und bat mich zu meiner großen Freude, den Tag mit ihm
zu verbringen; am Abend wollten wir dann gemeinsam der Sache nachgehen.
Mehrere Gründe veranlaßten mich, das regste Interesse an diesen
Vorgängen zu nehmen -- Freundschaft, Neugier und eine unbestimmte
Hoffnung, das, was Beverly als seinen Fluch bezeichnete, unwirksam zu
machen. Man wird sich erinnern, daß Beverly mich einst hatte überzeugen
wollen, es sei an der seltsamen Legende von dem König, der Prinzessin,
dem Rätsel, dem Mord und dem Fluch und seiner Erfüllung mehr, als die
meisten Leute wohl zugeben würden. Ich war wohl geneigt, an Dhoula Bel
und die anderen Verdammten zu glauben, aber ich hatte kein rechtes
Vertrauen zu Miakus, Ravalette, dem italienischen Grafen und Vatterale.
Noch glaubte ich nicht, daß irgend etwas Übernatürliches in die Sache
hereinspiele, und da ich das ganze nur geschickten Tricks zuschrieb,
beschloß ich, den Zauberkünstlern eine Falle zu stellen, um sie während
der Vorführung zu fangen. »Hoho! Herr Vatterale, Sie sollen einmal
etwas erleben!« rief ich, als ich Beverlys Hand schüttelte. Als ich ihn
dann verließ -- da er ein Bad zu nehmen wünschte --, tat ich, als ginge
ich zur Post, in Wirklichkeit aber eilte ich zur Polizeidirektion, wo
ich kurz und bündig erklärte, daß ein Freund von mir einem ungeheuren
Betrug zum Opfer fallen solle. Der diensttuende Beamte hörte mir
aufmerksam zu, instruierte mich, wie ich es einzurichten hätte, um die
Verdächtigen nicht vorzeitig zu warnen, und versprach mir, er werde zur
genannten Stunde mit einer Abteilung Polizisten in der Nähe des Hauses
auf dem Boulevard de Luxembourg sein. Auf meinem Rückweg zum Hotel
Fleury sprach ich noch bei Hokeis vor, traf ihn aber nicht und erhielt
die Auskunft, er sei nach Versailles zu seiner Tochter gegangen. So
suchte ich Beverly wieder auf.



8. Kapitel

DER BOULEVARD DU LUXEMBOURG


Beverly erwartete die Ereignisse der nächsten Stunden, in denen alle
Zweifel für immer geklärt werden sollten, fast noch ungeduldiger als
ich.

Schlag drei Uhr waren wir noch etwa eine Steinwurfsweite von dem Hause
unseres Stelldicheins entfernt und die drei oder vier kleinen Schilder
mit den Aufschriften »Zimmer zu vermieten«, »Möblierte Zimmer« usw.
deuteten an, daß es sich um eines jener Bürgerhäuser handelte, wo man
ein Leben lang ungestört leben kann, vorausgesetzt, daß die Miete
pünktlich bezahlt wird.

Bald betraten wir den quadratischen, gepflasterten Hof des Gebäudes und
bevor wir irgend eine Frage stellen konnten, kam der Hausmeister schon
aus seiner Loge, grüßte uns respektvoll und sagte: »Die Herren gehören
wohl zu denen, die der Mieter im zweiten Stock für heute erwartet?
Bitte, hinaufzugehen. Er wohnt im ersten Zimmer links.« Damit hinkte
der Alte in sein Zimmer zurück und begann wiederum auf einen Schuh
loszuhämmern, den er in Arbeit gehabt hatte, als wir eintraten.

Wir folgten seiner Anweisung und stiegen eine breite Treppe hinauf bis
zum ersten Stiegenabsatz, von dem eine Treppe weiter nach oben führte,
während eine zweite in den Hof hinunterging. An dem entfernteren
Ende war eine Tür, ebenso an dem näherliegenden. Wir durchschritten
die erste Tür und gelangten in ein hübsch ausgestattetes großes,
viereckiges Zimmer. Da niemand in dem Zimmer war, gingen wir in das
zweite, fanden aber auch hier nicht das geringste Anzeichen, daß der
Bewohner in der Nähe sei. So hatten wir Gelegenheit, uns vorher zu
erkundigen. Ich rief den Hausmeister und fragte ihn nach Namen und
Beschäftigung des Inwohners sowie nach der Dauer seiner Anwesenheit im
Hause und erfuhr, daß er ein fremder Gelehrter namens Elatterav sei,
daß er offenbar beträchtliches Vermögen besitze und seit fünf Jahren
hier wohne, ferner, daß er wenig in Gesellschaft verkehre, niemals zu
Hause speise und ein sehr vornehmer Mann sei (er bezahlte dem Portier
zwei Louis im Monat). Als der Hausmeister wieder gegangen war, sah
ich mir die Räumlichkeiten näher an und bemerkte, daß der Boden und
die Decke wie in allen französischen Häusern aus Stein bestanden. Der
Kredenztisch war niedrig und schmal und dicht mit Weinflaschen und
Gläsern besetzt, so daß man hätte meinen können, man befinde sich in
der Wohnung eines Studenten, statt in der eines ernsten Philosophen
wie Ravalette, wenn anders er überhaupt mit dem von dem Portier
beschriebenen Elatterav identisch war. Der Alkoven war klein und
einfach und enthielt nur ein Feldbett mit dem nötigen Zubehör. Von
irgendeiner Einrichtung für magische Zwecke war nichts zu sehen. Gerade
bei dieser Inaugenscheinnahme schlug die Glocke Vier und wir hörten
Schritte in dem andern Zimmer, trotzdem wir von einem Öffnen der Tür
nichts bemerkt hatten. Wir gingen hinüber und Beverly rief: »Ravalette,
so wahr ich lebe!« Und richtig, da stand, ruhig lächelnd, ein alter
Herr, genau der Beschreibung entsprechend, die mir mein Freund von ihm
gegeben hatte.

»Sie haben mich gesucht und gefunden! Ich hoffe, es wird Ihnen zum
Heile dienen«, sagte er zu Beverly; »und Sie, mein Herr, haben gut
daran getan, Ihren Freund zu begleiten«, meinte er dann zu mir gewandt,
in einem geradezu beleidigenden Tone. Es war offensichtlich, daß ihn
meine Gegenwart höchst unangenehm berührte. Was mich betrifft, so
hatte ich kaum den ersten Blick auf ihn geworfen, als ich überzeugt
war, daß ich vor einem der gescheitesten Köpfe der Erde stand -- vor
einem Mann, der alles dessen fähig war, was man ihm zuschrieb, und der
sein Ziel erreichen würde und wenn er dazu durch Menschenblut waten
müßte. Ich beschloß, seine Pläne auf jeden Fall zu durchkreuzen, selbst
wenn ich dabei zu meiner Pistole oder meinem Revolver greifen müßte,
die ich vorsichtshalber mitgenommen hatte, bevor wir uns in das Haus
wagten, das vielleicht eine Verbrecherhöhle war. Ravalette mochte meine
Gedanken erraten haben, denn sein Gesicht bekam einen verärgerten
Ausdruck, doch sagte er nichts, denn im gleichen Augenblick öffnete
der Portier die Tür, meldete »Monsieur Hokeis und Tochter« und mein
Reisegefährte und seine Tochter -- das üppigste und herrlichste Weib,
das ich je in irgend einem Lande gesehen, die glühenden Schönheiten
von Beirut und Stambul nicht ausgenommen -- traten ein.

Ravalette hatte sie offenbar erwartet; denn er schien über ihr Kommen
nicht im geringsten überrascht zu sein. Die Wirkung aber, die sein
Anblick auf Hokeis und seine Tochter ausübte, war eine geradezu
elektrische. Hokeis warf sich vor ihm auf die Knie nieder, neigte sein
Haupt, faltete die Hände mit einer halb flehenden, halb anbetenden
Gebärde und sagte:

»O schrecklicher Geist des Feuers und der Flamme! Sehe ich dich hier?
Ach! Ich bin ein Elender, du aber bist mächtig und wirst verzeihen!
Mein Abfall geschah nicht aus freier Wahl, sondern war das Werk eines
Zufalls und ich habe in der Religion Isauvis mehr Frieden gefunden, als
in deinen oder Astartes Tempeln!«

In meinem Gehirn wirbelte es unter einem Sturm von Erregungen, während
Beverlys Gesicht aschgrau wurde und seine Glieder wie Espenlaub
zitterten.

Im nächsten Augenblick bereits änderte sich die Szene vollständig, denn
das junge Weib, das seines Vaters Tun und Sprechen gar nicht bemerkt
zu haben schien, trat auf Ravalette zu, legte die juwelengeschmückte
Hand auf seine Schulter, blickte ihm gerade ins Auge, wie wenn ihr
Blick ihn vernichten wollte, und sagte mit leiser, aber klarer, tiefer
Stimme: »So also, Feind, sehen wir uns wieder! Willst du noch mehr
von deinen Kniffen und Zaubereien versuchen? Willst du der Tochter Im
Hokeis' noch mehr Schlingen legen? Was hast du dabei zu gewinnen? Du
antwortest nicht. Gut, ich werde für dich antworten:

Erinnerst du dich des Tages -- vor vielen, vielen Jahren, als ich
noch ein Kind war -- da du an eines alten Mannes Tür klopftest und um
ein Nachtlager batest? Wohl, ich erinnere mich. Du wurdest von dem
edelmütigen Indianer aufgenommen. Du aßest an seinem Tisch, rauchtest
seine Pfeife und trankst seinen Wein, dann, als du am Feuer saßest,
bemerktest du mich und wolltest mir mein Schicksal weissagen. Du
sagtest, ich würde in einem Monat einen traurigen, müden, weinenden,
unglücklichen, einsamen Jüngling treffen, der mein Herz entflammen
würde; ich würde ihn lieben und ihn heiraten wollen; wenn ich dies
aber täte, würden dunkle Wolken über uns heraufziehen und der Morgen
der Liebe würde einen Tag des Widerwillens und einen Abend der Sorge
und eine Nacht des Verbrechens, der Schande und des Todes bringen. Du
sagtest, eine Verbindung mit einem anderen Mann jedoch werde mir alles
das geben, was das Leben lebenswert machen kann. Ich glaubte dir, denn
vieles von dem, was du weissagtest, ging in Erfüllung. Drei Wochen des
Monats verflossen und eines Tages hatte ich einen Traum, und ich sah
dich und den Jüngling, den ich im Leben noch nie gesehen hatte. In
diesem Traum wiederholtest du alles, was du vorher gesagt hattest, und
dann verschwandest du. Aber deine verhaßte Gegenwart hörte nicht eher
auf, als bis eine erhabene Gestalt erschien, in Schönheit und Majestät
gehüllt, die mir gebot, nicht auf dich zu achten, sondern jenen armen
Menschen zu lieben, dessen Schatten vor mir stand -- ihn zu lieben,
aber es nicht zu gestehen, bis die Stunde gekommen sei; denn wenn ich
einen anderen wählte, so würde ich glücklich sein, wenn ich aber ihn
wählte, dann würde ich eine Seele vor einem schrecklichen Schicksal
bewahren. Sie gebot mir, dir zu widerstehen, den Jüngling zu ermutigen,
sein Herz zu trösten und ihn zu ermahnen, er solle nicht verzweifeln,
denn er würde trotzdem glücklich sein. Er --«

Aber sie konnte nicht mehr weiter sprechen, Beverly stürzte auf sie zu,
stieß Ravalette zur Seite, ergriff ihre Hand, küßte sie und rief:

»Eulampia!«

»Beverly!«

Und sie sanken einander in die Arme.

Ich merkte, daß dieses Drama mit jeder Minute ernster wurde, aber
mir blieb keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn in diesem
Moment wurde die Tür aufgerissen, und zwar von niemand anderem als
dem Polizeikommissär, dem zwei Mann der Garde de Ville folgten;
gleichzeitig sah ich durch die offene Tür, daß Treppe und Vorplatz
dicht mit Gendarmen besetzt waren.

Die Sache wurde ernsthaft.

Ravalette stand unbeweglich und sagte lächelnd:

»Ihre Mühe ist umsonst, Monsieur! Sie werden nicht benötigt und werden
unverzüglich dorthin zurückkehren, woher Sie gekommen sind; der Herr
hier, der Sie kommen ließ, kann hier bleiben.«

Diese kühle Bemerkung verwirrte den Kommissär ein wenig, doch erwiderte
er: »Es ist meine Pflicht, alle zu schützen, die meinen Schutz für sich
oder für andere verlangen.«

»Richtig; aber in diesem Falle ist nichts geschehen, oder auch nur
beabsichtigt, was irgend einen Grund für eine solche Maßnahme geben
könnte. Aber da Sie nun einmal hier sind, so mögen Sie bleiben, bis Sie
sich von der Wahrheit meiner Worte überzeugt haben. Nehmen Sie Platz!«

Wenn ich sagen würde, daß die Situation »hochdramatisch« war, so
gäbe das nur einen sehr annähernden Begriff von diesen seltsamen
Ereignissen. Der einzige, der vollkommen ruhig zu sein schien, war
Ravalette. Was Hokeis betrifft, so hätten Michelangelo und Raffael
zusammen das Bild seines Antlitzes oder nur den hundertsten Teil
der ungeheuren grenzenlosen Bestürzung und des Schreckens unmöglich
wiedergeben können, der sich auf seinem Gesicht ausdrückte. Nicht zwei
Personen sahen die Sache in demselben Licht, oder verstanden einander,
aber alle wurden völlig durchschaut von dem großen Meister vor ihnen.

Für eine Weile herrschte beklemmendes Schweigen, das schließlich --
sehr zu meinem Erstaunen -- von meinem Rosenkreuzerfreunde Beverly
gebrochen wurde, der, Ravalette gerade ins Auge blickend, sagte:

»Wer immer du auch sein magst, ich verzeihe dir, daß du versucht hast,
mich, einen Sohn Adams, an der Vermählung mit diesem Weibe, Eulampia,
der hellstrahlenden Tochter Ichs zu hindern. Ich verzeihe dir, daß
du sie zu einer Heirat mit einem andern treiben wolltest, was mich
zu einem Schicksal verdammt hätte, vor dem ich seit Jahrhunderten
zurückbebte. Ich verzeihe dir alles Weh, das du mir zugefügt hast, aus
Dankbarkeit für das, was du für mich getan hast, und weil ich glaube,
daß dein Helfershelfer mich damals in Boston vor der platzenden Retorte
rettete, als ich La Brières Versuch mit dem weißen Feuer wiederholen
wollte. Durch dich oder deinesgleichen habe ich unbezahlbare
Geheimnisse erfahren. Ich bin dir dankbar dafür, daß du mich das
Geheimnis des magischen Spiegels gelehrt hast. Ich bin dir dankbar
für das Geheimnis aller Jahrhunderte -- die Kunst, das Lebenselixier
zu verfertigen, nach dessen Genuß niemand mehr altern kann; wer aber
ein Jahr lang davon trinkt, der erfreut sich ewiger Jugend. Ich werde
dieses Elixier niemals zu seinem eigentlichen Zweck verwenden, aber
fünf von seinen sieben Bestandteilen bilden ein Mittel, das die Chemie
seit langem vergebens gesucht hat. Dadurch, daß ich die Formel dafür
meinem Freunde und damit der medizinischen Welt hinterlasse, werde ich
meine Sünden büßen, indem ich Tausenden das Leben gebe.

Freiwillig, ohne Zwang, verspreche ich feierlich, den Schlaf Sialam
zu schlafen, bevor ich dieses Haus verlasse. Und ich will dir alles
beantworten, was ich kann, doch unter der Bedingung, daß du vorher das
Geheimnis aufhellst, das dich selbst umgibt. Und da ich dir freiwillig
das gewähre, was du durch ein Menschenalter voll Betrug nicht erlangt
hättest, so sollst du zuerst feierlich bei dem, durch dessen Willen du
existierst, du magst nun Mensch oder Teufel sein, versprechen, mich
weder jetzt, noch nachher, wenn ich schlafe, irgendwie zu beeinflussen.«

Ein Schimmer plötzlicher Freude flammte in den Augen des seltsamen
Wesens vor uns auf. Er blickte wie ein Bräutigam in der Überfülle
seiner Freude und indem er seine Hände -- bleiche, magere, blauweiße
Hände -- auf die Brust legte, sah er auf und sagte:

»So sei es! Ich verspreche dir, mit dem fürchterlichsten Eide, den man
sich denken kann, daß ich alle deine Bedingungen annehme.«

Hierauf ging er nach dem Alkoven und brachte einen halbkreisförmigen,
etwas weniger als mannshohen Bettschirm, der etwa vier Fuß Durchmesser
hatte. Er bat den Kommissär, ihn zu untersuchen, was dieser auch tat
und dann erklärte, es sei ein ganz gewöhnlicher Bettschirm.

»Sie haben Recht; es ist nichts anderes als ein Bettschirm, ich bitte
Sie aber jetzt, irgendeinen Platz in diesen Zimmern zu bestimmen, wo
wir ihn aufstellen können; damit Sie aber nicht glauben, ich hätte die
Absicht zu entfliehen, fordere ich Sie auf, Ihre Leute hereinzurufen
und ihnen den Befehl zu geben, auf mich zu schießen, wenn ich versuche,
das Zimmer zu verlassen!«

»Ganz, wie Sie wünschen, Monsieur! Peter, rufe die Leute!«

Die Polizisten kamen sogleich -- 27 Mann hoch -- herein und als alle
vollzählig waren, sagte der Kommissär, auf Ravalette deutend: »Dieser
Herr ist fluchtverdächtig, habt acht, daß er eure Reihen nicht lebend
passiert. Seht zu, daß mein Befehl pünktlich befolgt wird. Ist es Ihnen
so recht, Mr. Ravalette?«

»Vollkommen -- vollkommen! Es könnte nicht besser sein.«

»Ihr werdet vierzehn Mann rings um das Haus aufstellen, um die Fenster
zu bewachen und die übrigen dreizehn verteilt Ihr auf die Treppe und
die Treppenabsätze«, sagte der Kommissär zu dem Sergeanten.

»Soll geschehen«, erwiderte dieser und führte seine Leute wieder aus
dem Zimmer -- aber nicht bevor ich ihm eine doppelläufige Pistole
und einen Revolver, beide frisch geladen und mit neuen Zündhütchen
versehen, gegeben hatte -- denn ich haßte Ravalette, mochte er ein
Mensch oder ein Teufel sein, ich haßte ihn mit einem religiösen Haß --
und dies ist wohl der glühendste Haß, den es gibt --; ich hatte den
lebhaften Wunsch, zu erproben, ob er kugelfest sei oder nicht.

Während dieser ganzen Zeit hatten der Vater, die Tochter, Beverly, ich
und die beiden Gefährten des Kommissärs nichts gesagt; auf ein Zeichen
Ravalettes jedoch setzten wir uns nieder, und zwar so, daß wir die
Tür zwischen den beiden Zimmern, den Alkoven, den Kredenztisch und
die Fenster an beiden Seiten übersehen konnten. Der Kommissär stellte
nun den Bettschirm mit der konvexen Seite gegen uns in der Mitte des
Zimmers auf, nahm dann neben mir Platz und sagte, daß er nunmehr das
seinige getan hätte. Die Blässe seiner Lippen, der Ton, in dem er
sprach und die Häufigkeit, mit der er sich bekreuzte und Gebete in
schlechtem Französisch und noch schlechterem Latein murmelte, zeigten
deutlich, daß er wünschte, es möchte alles vorüber sein.

»Ich bin fertig,« sagte Ravalette, »ich, der ich nichts mehr zu
verbergen habe, erkläre, daß ich derjenige bin, den jener Mann -- Im
Hokeis und sein Parsenstamm -- jahrhundertelang für den Gott des Feuers
und der Flamme gehalten hat. Das Geheimnis meines Seins kann noch
nicht entschleiert werden. Ich bin nicht allein! Die Herrschaft über
die Magie und die Materie ist eine Erbschaft von Menschenaltern. Wir,
die wir einst wie die anderen waren, wurden verdammt durch den Fluch
eines Sterbenden wie Isaak Ahasverus, der Jude von Jerusalem, der den
Herrn verspottete und anspie, als er sein Kreuz auf dem Schmerzenswege
trug, und den er, der Sanftmütige, verfluchte, auf der Erde zu weilen,
bis er wieder komme. So mächtig wir in allem anderen sind, kann doch
keiner von uns seine eigene Zukunft erforschen: nur besonders Begabte
können es, wie dieser Beverly hier. Solche aber werden selten geboren;
wenn sie aber geboren werden, so gibt es nur eine Möglichkeit, sie
uns dienstbar zu machen; sie müssen im Geiste unvermählt bleiben,
sonst können sie nicht den Schlaf Sialam schlafen und auf keine andere
Weise können wir das Buch unseres Schicksals enträtseln. Daher die
Hindernisse, die wir ihm und jenem Mädchen in den Weg gelegt haben ...
Es ist möglich, unser Schicksal auf ein neutrales Wesen abzuwälzen,
wer immer es auch sein mag. In diesem Falle aber bestand ein starker
Beweggrund, jenem Manne die Jahrhunderte aufzubürden, der mein
Zeitgenosse gewesen ist, seit Epochen, die weit vor der Erbauung von
Babylon und Ninive liegen.

Noch einer dieser Art ist am Leben -- und bei ihm ist mir mein Plan
mißlungen -- es ist der Fremde -- und noch jemand gibt es: die Mutter
dieses Beverly. Ich hoffte, ihn durch Magie zu gewinnen: es ist nicht
gelungen. Er hat mich so gesehen, wie ich jetzt bin --« und bei diesen
Worten ging er um den Bettschirm herum bis zur andern Ecke und sagte:
»Und so.« Wir waren über alle Maßen erstaunt über die Veränderung, die
in weniger als zwölf Sekunden vor sich gegangen war:

Ravalette war verschwunden und an seiner Stelle sahen wir einen
mageren, dürren, runzligen kleinen Mann, in jeder Beziehung das
gerade Gegenteil Ravalettes. »Miakus! so wahr ich lebe -- der
Mann von Portland und Boston -- er ist es!« rief Beverly, als die
Gestalt bereits abermals um den Bettschirm herumging, sich von neuem
veränderte, »und so!« sagte. »Beim Himmel!« schrie Beverly, »das ist
Ettelavar, mein mysteriöser Führer und Lehrer im Reiche des Traums!«

Und schon war eine neue Veränderung erfolgt und mit den Worten: »Und
so!« erschienen nacheinander der italienische Graf und Vatterale. In
dieser letzten Gestalt sagte er: »Nibchi ist nur eine Umstellung von
»Ich bin«, Miakus heißt: »Ich selbst«, Vatterale ist ein Anagramm aus
Ravalette und jeder Schuljunge hätte euch sagen können, daß Ettelavar
die Umkehrung dieses Namens ist -- dieses Namens, der bedeutet: »der
Geheimnisvolle«. Für dich, Beverly, bin ich all dies gewesen. Sieh mich
jetzt als das, was ich wirklich bin!« Damit ging er abermals um den
Schirm herum und erschien als ein kleiner alter Mann, der vom Kopf bis
zum Fuß in flammendes Rot gekleidet war.

»Der Vampir: Dhoula Bel!« schrien Beverly und Im Hokeis zugleich.

       *       *       *       *       *

Was während der nächsten halben Stunde vorging, läßt sich hier nicht
schildern; ich bemerke nur, daß Beverly nach Verlauf dieser Zeit in
einen tiefen Schlaf gefallen war, und zwar offenbar aus freiem Willen.
Das Folgende wird in dem nächsten und letzten Kapitel dieses Werkes zu
lesen sein.



9. Kapitel

DER SCHLAF SIALAM


Tief war das Schweigen, selbst unser Atem hatte aufgehört. Rasch
schlugen unsere Herzen und unsere Augen waren voll Tränen; denn Großes
ging vor.

Die Glieder steif und kalt von den Dämpfen der Auflösung, das Gesicht
bleicher als der Tod, Herz und Puls vollkommen unhörbar, die Augen
weit geöffnet und so weit nach oben gedreht, daß nur noch das Weiße zu
sehen war, so saß mein Freund Beverly in einem großen Lehnsessel.

Was wir hier sahen, war kein mesmerischer Schlaf. Innerhalb fünf
Minuten machte sich auf dem Gesicht des Schläfers eine Veränderung
bemerkbar; er wurde erleuchtet, wie wenn seine Seele in diesem
Augenblick die unaussprechliche Glorie des Jenseits sähe.

Er sagte: »Jetzt!«

Bei diesem Worte wurde die Tür des Zimmers leise geöffnet und zwei
Männer traten herein und wollten sich eben niedersetzen, als der
Kommissär rasch aufstand, militärisch grüßte und rief: »Der Kai...«

»Still!« sagte der Angeredete, »hier sind alle Fremde!« dann wandte
er sich an Dhoula Bel, mit dem er sehr vertraut zu sein schien, und
fragte: »Endlich?«

»Endlich!« antwortete dieser, worauf die Neuangekommenen sich auf zwei
Stühlen niederließen.

Das Ganze war so völlig aller Berechnung entgegengesetzt verlaufen,
die Ereignisse hatten eine so absolut unerwartete und plötzliche
Wendung genommen, daß ich mich über diesen neuen Zwischenfall nicht
mehr wunderte, sondern nur beschloß, sorgsam das Resultat abzuwarten,
was es auch sein möchte. Natürlich glaubte ich, daß der Neuangekommene
nunmehr die Leitung des Vorganges in die Hand nehmen werde. Dies
geschah aber nicht, denn Dhoula Bel, wie ich ihn von nun an nennen
will, wandte sich an den kleineren der beiden und sagte:

»Warum sucht Ihr mich zu besiegen? Vor vielen Jahren fand ich Euch als
Lehrling der Magie in Eurem einsamen Gefängnis, wohin Ihr gesteckt
worden wart, weil Ihr in zwei Fällen Mißerfolg gehabt hattet. Ich half
Euch, gab Euch Freiheit, Macht und Ansehen und setzte Euch auf den
stolzesten Thron der Erde, ich machte Euch berühmt und gefürchtet.
Für Euch habe ich Britannien erniedrigt, für Euch habe ich eine
Jahrhunderte alte Macht gebrochen -- das Papsttum -- für Euch habe ich
Österreich zerrissen und ein neues Reich auf der Erde errichtet, für
Euch habe ich den fürchterlichsten Krieg entfacht, den die Welt je
gesehen hat, für Euch habe ich ein Volk von Brüdern in zwei feindliche
Lager geteilt, von denen jedes nach dem Blute des andern dürstete. Und
während Ihr das schweigende Werkzeug wart, habe ich Euch die Worte
eingegeben und die Drähte regiert, mit denen die Welt beherrscht wird,
und habe nichts dafür verlangt und doch seid Ihr nun hier, um meinen
Plan zu durchkreuzen, obwohl ich doch immer Euer Freund gewesen bin.
Warum tut Ihr dies?«

»Ich gebe zu -- ich weiß keinen Grund dafür. Ich bin ein Mann des
Schicksals!«

»Soll ich es enthüllen?«

»Ich habe keine Lust dazu.«

»Gut, ich gedulde mich; aber laßt diesen Schläfer es sagen!«

»Ich bin einverstanden. Befragt ihn. Dies ist die Stunde, auf die ich
seit langem gewartet habe. Laßt das Orakel sprechen.«

»Hört mir zu«, sagte da der größere der beiden Eindringlinge. »Ihr
seid beide nur Werkzeuge einer höheren Macht gewesen und obwohl sogar
ich, der Fremde, jeden von euch getäuscht habe, wurde doch mein Tun
beschlossen. Das Drama von Jahrhunderten wird heute zu Ende gehen.
Keiner von uns kann seine eigene Zukunft lesen: Nur einen gibt es
auf der Erde, der es kann und nur eine Stunde gibt es, in der es
geschehen kann. Der Mann ist da, die Stunde ist gekommen. Nicht mit
dem magnetischen Hauch hysterischer stammelnder Somnambulen, nicht mit
dem prahlerischen Vertrauen selbstgefälliger Erforscher apokrypher
Regionen, die nicht existieren, sondern in einer einfachen reinen
Vision wird dieser Schläfer den Horizont der Zukunft rein fegen und
unserem Blick enthüllen. Daher seid ruhig und haltet Frieden, bis das
mystische Buch gelesen ist.«

Dann wandte er sich an Beverly und sagte: »Was siehst du, o Seele? Sieh
zu! Was siehst du von Frankreich und seinem Herrscher?«

»Frankreich wird noch eine Revolution durchzumachen haben. Sie wird
in Wasser beginnen und in Blut und Feuer endigen! Aber das Ende wird
aufgeschoben werden. Krone, Zepter, Dynastie -- alles wird von der
unwiderstehlichen Flut der politischen Umwälzung hinweggespült werden
und die letzten Adeligen und Priester werden das Schicksal der letzten
gekrönten Häupter teilen -- Verbannung und Tod.«

»Was siehst du von den anderen Nationen?«

»Preußen wird unter einer neuen Regierung ein Vaterland für sein Volk
werden; Belgien, Holland und andere germanische Länder werden mit jetzt
schon bestehenden Reichen vereinigt werden. Spaniens Nacht zieht näher
-- seine Kolonien werden sich in schwarze Republiken verwandeln und
es im Stiche lassen, bis es wie Rom ein Teil des großen italienischen
Reiches wird. Österreich wird geteilt werden, Ungarn und Polen werden
sich verbünden und eine neue Großmacht bilden. Die Türkei wird in die
Hände der Griechen übergehen und Syrien in die der Russen. England wird
Kanada, Indien, Oregon und Irland verlieren und dieses letztere wird
eine Republik werden. Die Vereinigten Staaten werden Kanada, Mexiko und
das ganze britische Amerika in sich aufnehmen -- seine schwarzen Rassen
werden ein Reich gründen, das sich unter der Herrschaft einer Reihe von
Präsidenten von seinen südlichen Grenzen bis nach Brasilien erstrecken
wird. Das von den Taipings christianisierte China wird die erste Macht
im Osten werden und Japan und viele andere kleinere Staaten verdunkeln.
Indien wird ein Kaiserreich, Australien eine Republik werden. Und all
dies wird geschehen, innerhalb 63 Jahren von dem siebenten Jahrzehnt
dieses Jahrhunderts an gerechnet.«

»Jetzt, Prophet, was siehst du für dich selbst?«

»Raschen Tod, Befreiung von Sorge, das Schicksal aller Menschen, und
ein verhältnismäßiges Glück -- auf der andern Seite der Zeit.«

»Was siehst du fürs Rosenkreuzertum?«

»Nach vielen Jahren wird ein großer Mann sich erheben -- ein Deutscher,
ein Preuße -- der den Weg bereiten wird für einen Größeren von
derselben Nation und dieser wird dann diese Lehre der Welt erklären
und er wird für Europa der Mann des Jahrhunderts sein und er wird
eine ungeheure Macht ausüben. Denn er wird Könige und Kaiser stürzen
und die Freiheit des Volkes erkämpfen. Um diese Zeit wird in der
westlichen Welt ein größerer Mann aufstehen, als die Welt ihn je seit
Beginn der Zivilisation gesehen hat. Er wird in gewissem Sinne für die
intellektuelle und philosophische Welt das sein, was Gautama Buddha --
der Gesegnete! -- für Indien war, Platon für Griechenland, Thutmosis
III. für Ägypten, Moses für die Juden, Mohammed für Arabien, Luther
für Europa und Columbus für die Neue Welt, aber er wird größer sein,
als sie alle und mächtiger im Guten als irgendeiner. Er wird rasch ans
Werk gehen und sein Erscheinen wird das Zeichen für eine religiöse,
politische, soziale, moralische und philosophische Erhebung sein, wie
sie die moderne Welt noch nie erlebt hat. Er wird kühn die großen
Lehren des dritten und höchsten Tempels des Rosenkreuzes verkünden;
und seine Jünger werden sein wie der Sand am Meere und ihre Lehren
werden so unwiderstehlich sein wie seine Wogen. Er wird sein Werk
selbst beginnen, bevor dieser ganze Aufstand der menschlichen Sklaverei
beendet sein wird. Beachtet dies wohl!«

Bei diesen Worten des Schläfers schien der kleinere der beiden Fremden
verwirrt zu werden, denn er rief aufspringend:

»Dann wird also die Laufbahn dieses Mannes meiner eigenen ähnlich sein?«

»So wie das Feuer dem Eise gleicht. Seine Laufbahn wird friedlich sein.
Sein Pfad wird von keinem einzigen Tropfen Blut befleckt sein, kein
Verstümmelter wird ihn verfluchen, keine Witwe, keine Waise wird nach
Rache schreien, noch auch wird die Unwissenheit des Volkes den Hebel
seiner Macht bilden oder das Instrument, mit dessen Hilfe er sich auf
den Thron schwingen wird.«

»Aber ich bin stark! -- Mexiko! -- Kaiserreich! -- Die lateinische
Rasse! -- Die Kirche! -- Maximilian! -- Was kann diese Kette brechen,
wenn ich ihr noch das letzte Glied hinzufüge?«

»Das Schicksal! Der Hauch der Vereinigten Staaten wird sich bald wie
eine Wolke auf Frankreich und das neue Reich legen, wenn aber diese
Wolke sich erhebt, werden zwei Dynastien für immer verschwunden sein!«

»Zum Teufel --«, rief der Fragesteller und stampfte mit dem Fuße,
während er mit den Zähnen in dämonischer Wut knirschte.

»Es wird zwei verfluchte Nationen geben, wenn dieser Vorsatz ausgeführt
wird«, sagte der Schlafende mit melodischer Stimme und so ruhig, daß
es eher schien, als spreche er vom Gewinn und Verlust eines Spiels als
von dem Schicksal von Königreichen.

Für einen Augenblick herrschte Schweigen; dann sagte Dhoula Bel:

»Und nun mein Los? Was, o Schläfer, siehst du über mir?«

Der Seher lächelte mild und streckte seine Hand gegen ihn und den
großen Mann aus. Sie traten näher und ergriffen sie.

»Die Feindschaft von Jahrhunderten ist zu Ende!«

»Sie ist zu Ende!« wiederholte der Große.

»Sie ist zu Ende! Dein Werk ist getan -- und das meine -- und das
deine --«, sagte der Seher, bei den letzten Worten auf Ravalette
deutend. »Von nun an ist Ruhe für die Müden -- ist Ruhe für dich!
Wir drei sind nicht länger verurteilt, auf Erden zu wandeln -- wir
verlassen sie! Unsere Pfade gehen jetzt auseinander. Über unseren
Häuptern stehen die Worte:

Ihr könnt dennoch glücklich sein!«

»Dem Himmel sei Dank!« sagte Dhoula Bel.

»Dem Himmel sei Dank!« wiederholte der Fremde.

»Es ist zu Ende!« sagte Beverly. Während er noch sprach, trat Dhoula
Bel hinter den Schirm und gleich darauf ertönte der scharfe Knall
einer Schußwaffe, begleitet von einigen in nicht sehr gewähltem
Französisch ausgestoßenen Flüchen.

Ich stürzte mit dem Kommissär an die Tür und fragte, was vorgefallen
sei.

»Bei den heiligen Evangelisten! Ich habe gerade auf seinen Kopf gezielt
und habe um keinen Zoll gefehlt!« schrie der Sergeant.

»Und ich habe ihn mitten in den Kopf getroffen, aber es hat ihm nicht
das geringste gemacht!« sagte ein anderer.

»Und ich habe ihm zwei Kugeln in die Brust gejagt, auf zehn Zoll
Entfernung, und der Teufel soll mich holen, wenn nicht alle beide auf
mich zurückgeflogen sind,« rief ein dritter.

»Und ich will schwören, daß er nicht durch die offene Tür kam, denn sie
war fest verschlossen und ich habe meine Hand keine Sekunde von dem
Riegel genommen!« beteuerte ein vierter.

»Es war der Teufel!« ächzte ein fünfter.

»Oder einer seiner Kobolde!« der sechste.

»Ich will tausend Eide schwören, daß er bei mir hier an der unteren
Treppe nicht vorbeigekommen ist!« bemerkte der siebente Mann.

»Kommt alle hier in das Zimmer und berichtet, was geschehen ist!« Mit
diesen Worten machte der Kommissär den Ausrufen ein Ende.

»Erinnern Sie sich noch, daß Sie mir sagten, ich sollte einen gewissen
Herrn nicht hinausgehen lassen, selbst wenn ich auf ihn schießen
müßte?« fragte der Sergeant, als er eingetreten war.

»Gewiß. Erzählen Sie weiter!«

»Nun, das erste, was ich weiß, ist, daß dieser Herr plötzlich außerhalb
der Tür stand und mir Gesichter schnitt und die Zunge herausstreckte
und höhnte: ›Ich gehe hinaus, Monsieur!‹ ›Wirklich?‹ ›Natürlich: Sie
sehen es ja!‹ Und damit schritt er gerade auf die Treppe zu und vier
von uns packten ihn, auch ich war dabei. Haben Sie je eine heiße
Kartoffel aufgehoben? Gerade so war es. Wir vier haben diesen Mann so
schnell wieder losgelassen, als wäre er wirklich eine. Wir hatten genau
das Gefühl, das man hat, wenn man eines jener verfluchten elektrischen
Dinger mit den Drähten daran anfaßt, die einem den Blitz in die Glieder
jagen, ehe man drei zählen kann. Wir ließen also den Herrn sehr schnell
wieder los und er lief zwei oder drei Stufen hinab und lachte uns
aus, was mich wütend machte, so daß ich auf ihn feuerte. Auch die
anderen taten es, aber wir hätten ebenso gut versuchen können, einen
Schatten zu töten. Meine Herren, der Mann ist im Rauch unserer Schüsse
verschwunden! In sichtbarer Gestalt ist er nicht hinausgegangen!«

Während dieses Berichtes hatte ich beschlossen, nachzusehen, ob Dhoula
Bel tatsächlich das Zimmer verlassen hätte, und ging daher an das
Fenster und sah hinter den Schirm. Niemand war dahinter oder in der
Nähe. Ich kehrte zurück, sagte aber nichts und ließ mich wieder auf
meinen Stuhl nieder.

»Seid Ihr dessen sicher, was Ihr uns berichtet habt, daß Ihr völlig
wach seid und nicht träumt?« fragte der Kommissär.

»Ebenso sicher, wie er nicht in diesem Zimmer ist!«

»Das zeigt wieder einmal, wie leicht die Leute zu täuschen sind«, sagte
da eine Stimme hinter dem Bettschirm und gleich darauf trat Dhoula Bel
selbst hervor in die Mitte des Zimmers und nachdem er spöttisch mit dem
Finger auf den Sergeanten und seine Leute gedeutet hatte, kehrte er
wieder hinter den Schirm zurück.

Mein Haar sträubte sich vor Entsetzen. Die sieben wackeren Franzosen
aber stürzten vor und riefen: »Aber jetzt haben wir dich, Mensch oder
Teufel!« Damit warfen sie den Schirm um, aber --

Niemand war dahinter.

Der Sergeant stürzte, wie von einer Kugel getroffen, zu Boden.

Entschlossen, mich selbst vor jeder Überraschung zu schützen, blieb ich
sitzen und beobachtete den Fremden und seinen Gefährten. Der letztere
stand auf, ging auf Hokeis und seine Tochter zu, die während dieser
ganzen Szene schweigend und wie gebannt dagesessen hatten, und sprach
leise einige Worte mit ihnen.

Während dessen ging der große Fremde in das andere Zimmer und als
ich nach etwa 12 Sekunden mich erhob und ihm folgte, war auch er
verschwunden!

       *       *       *       *       *

Am nächsten Tage wurde in Paris eine Hochzeit gefeiert. Ein Sohn Adams
hatte sich mit einer Tochter Ichs vermählt.

Zwei Wochen später brachten wir einen Kranken nach den Bädern der
Schweiz. Wir blieben drei Monate dort und brachten ihn, da sein
Befinden sich verschlimmert hatte, nach Paris zurück.

       *       *       *       *       *

Drei Monate vergingen. Ein Leichenzug wand sich durch die Wege des
Père-la-Chaise. Ein Sarg wurde in ein neues Grab gesenkt. An seinem
Rande aber stand ein alter grauhaariger Mann, der ein schönes,
gramzerrissenes Weib stützte. -- Sie war erst vor kurzem Frau geworden.

       *       *       *       *       *

Vier Monate: Es war am Vorabend meiner Abreise von Frankreich. Ich ging
nach dem Friedhof und saß eine Stunde lang bei einem Grabstein, auf dem
die Worte standen:

        BEVERLY
        Der Rosenkreuzer
        »Ich erstehe neu aus meiner Asche«

       *       *       *       *       *

Über dem Ozean. Ich betrat mein Vaterland wieder. Ich habe mich den
Kenntnissen gewidmet, die mir mein Freund übermittelt hat.

       *       *       *       *       *

Als ich gestern abends von der Rosenkreuzerloge, der ich angehöre,
heimkehrte, sprach ich bei einer befreundeten Dame in der x-ten Avenue
vor. Sie hielt ein reizendes kleines Kind in den Armen -- »ein Knabe«,
sagte sie, »ist er nicht schön? Gleicht er nicht seinem Vater?«

»Er gleicht ihm wundervoll«, erwiderte ich, »wie heißt er denn?«

»Osiris Budh! Ein seltsamer Name, nicht?«

»Sehr seltsam!« antwortete ich, als ich ging, »sehr seltsam!«

       *       *       *       *       *

Consummatum est.



Fußnoten:


    [1] Eine Oktorone ist das Kind eines Quarterons und einer
        Weißen, ein Quarteron das Kind eines Weißen und einer
        Terzerone (d. h. des Kindes eines Weißen und einer
        Mulattin). Anm. d. Übers.

    [2] Neugriechisch εὺλαμπία, lat. Eulampia »hellscheinend,
        lieblich, geheimnisvoll schön«.

    [3] Dies ist historische Tatsache, wie auch der ganze folgende
        Bericht jener merkwürdigen Sitzung. Der dem Leser
        vielleicht auffallende Anachronismus ist absichtlich in die
        Erzählung verwoben worden.



ROMANE UND BÜCHER DER MAGIE

_Herausgeber_

GUSTAV MEYRINK


Unter diesem Sammelnamen bringt der Autor des bekannten Romans »Der
Golem« eine Serie von Werken in- und ausländischer Verfasser, die auf
dem so überaus interessanten Gebiete der Mystik und Magie wirklich
etwas zu sagen haben und nicht bloß, wie Tausende Scharlatane aller
Zeiten und Völker, vorgeben, Wissende zu sein. Lebensläufe und seltsame
Erlebnisse in das

        _GEWAND SPANNENDER ROMANE_

gekleidet, werden abwechselnd mit Schilderungen nackter, überaus
fesselnder Tatsachen aus einem Wissensgebiete gebracht werden, das seit
Menschengedenken zu dem Geheimnisvollsten gehört. Die drei ersten von
Gustav Meyrink bearbeiteten, voneinander unabhängigen Bände werden sein:


SRI RAMAKRISCHNA

der letzte Indische Prophet

Von

_Dr. Carl Vogl_

Vorwort von _Gustav Meyrink_


DHOULA BEL

Ein Rosenkreuzer-Roman

Von

_P. B. Randolph_

Übersetzt von _Gustav Meyrink_


ELIPHAS LÉVI

(Abbé Constant) Der große Kabbalist

Von

_R. H. Laarss_

Vorwort von _Gustav Meyrink_


    WIEN    RIKOLA VERLAG  LEIPZIG
    BERLIN                 MÜNCHEN



GUSTAV MEYRINK

DER WEISSE DOMINIKANER

Aus dem Tagebuche eines Unsichtbaren

Roman

Nach mehrjährigem Schweigen hat Gustav Meyrink das Werk geschaffen,
zu dem seine bisherigen Romane den verheißungsvollen Auftakt gegeben
haben. Hier spricht in der mitreißenden Handlung nicht nur der
souveräne Meister phantastischer Gestaltung, sondern auch der Adept
aller Geheimlehren der okkulten Welt. In einem atemraubenden Roman
von beispielloser Färbung und betäubender Atmosphäre gibt der Dichter
die Verheißung jener großen Zukunftskirche, in die dereinst alle
Bekenntnisse, Riten und Sekten einmünden werden, und deren Zeitpunkt
dann gekommen sein wird, wenn der weiße Dominikaner erscheint, der
zweiundfünfzigste Papst unseres Zeitalters. Durchtränkt von den
enthüllten Geheimnissen der Kabbala, den Glaubenssätzen der geheimen
Orden aller Länder, zieht dieser Roman den Leser in den rasenden Wirbel
seiner gespenstischen Begebnisse, um ihn völlig verändert, berauscht
und betäubt zurückzulassen. Ein Buch, dessen Wirkung auf Gläubige und
Ungläubige des europäischen Kulturkreises nicht abzusehen ist.

    Geh. ca. M 25·-- (K 450·--), geb. ca. M 30·-- (K 530·--)
    In Leinenband                         M 45·-- (K 700·--)

Signierte Halblederausgabe in Vorbereitung


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    ist _so ausgezeichnet_. Im Original fetter Text ist =so markiert=.

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