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Title: Der Einzige auf der weiten Welt - Ein Menschenleben
Author: Bienenstein, Karl
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Der Einzige auf der weiten Welt - Ein Menschenleben" ***


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                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
    nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen sowie Schreibvarianten
    bleiben gegenüber dem Original unverändert, sofern der Sinn des
    Texts dadurch nicht beeinträchtigt wird.

    Besondere Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden
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        unterstrichen: #Rautenzeichen#
        Fettdruck:     =Gleichheitszeichen=
        gesperrt:      ~Tilden~
        Antiqua:       _Unterstriche_

  ####################################################################



                           Karl Bienenstein

                    Der Einzige auf der weiten Welt

                            [Illustration]



                            Der Einzige auf
                            der weiten Welt

                           Ein Menschenleben

                                  von

                           Karl Bienenstein

                       Dritte bis fünfte Auflage

                            [Illustration]

              Verlag von Adolf Bonz & Comp. in Stuttgart

                                 1922



                Druck von A. Bonz’ Erben in Stuttgart.



Emil Sulzbach,

dem feinsinnigen Komponisten, dem tiefen Menschen und edlen Freunde

    zugeeignet.



Inhaltsverzeichnis.


    Kapitel    I.           7
       „      II.          23
       „     III.          36
       „      IV.          54
       „       V.          71
       „      VI.          86
       „     VII.         109
       „    VIII.         126
       „      IX.         157
       „       X.         171
       „      XI.         192
       „     XII.         205
       „    XIII.         233
       „     XIV.         250
       „      XV.         272
       „     XVI.         285



I.


Winterstille im weiten Wald. Der Schnee leuchtet bis in die Gründe
hinein. Reinweiß ist er und er liegt so gleichmäßig hoch, daß nirgends
ein blauer Schatten seine Oberfläche streift. Auch die Spur meines
Schlittens ist verweht und ausgeglichen, und ich fühle mich wieder
als der, der ich im Innersten meines Herzens bin: der Einzige auf der
weiten Welt. Und wie wohl das tut! Nie hätte ich gedacht, daß nach
einem Leben, das an den Menschen Schiffbruch gelitten hat, noch so
großer Friede werden kann. Ich sage Friede. Und wenn ich dies Wort
ausspreche, langsam, andächtig, dann höre ich eine Glocke anschlagen
mit tiefem, feierlichem Tone und ihr Klang geht dahin durch den
verschneiten Wald und schwebt empor zu den glitzernden Felszacken über
dem leuchtenden Firn und erfüllt die riesige blaßblaue Himmelswölbung
hinauf, hinein in unermessene Ewigkeitsfernen. Friede, Friede auf der
weiten Welt!

Mein Herz geht mit so sanftem Schlag und meine Augen sind so mild und
selig, denn was sie sehen, das gehört zu mir, das ist so selbstlose
und dabei doch so selbstherrliche Natur, wie ich es selbst bin. Da
draußen stehen die Tannen still, regungslos. Auf ihren Ästen und
Zweigen liegt es in dichten, schweren Massen. Doch sie ächzen nicht,
sie schütteln sich nicht. Sie tragen, was ihnen auferlegt ward, denn
sie wissen, es ist Notwendigkeit, Naturgesetz: tragen zu müssen, und
es ist schön, mit Würde und edler Gelassenheit zu tragen. Und dort
drüben liegt der See. Willig hat er sich die glasgrüne Eisdecke über
die blaue Brust breiten lassen und sein Atem geht so leise, daß sich
nirgends auch nur um eine Haaresbreite die Decke hebt. Auch er weiß,
daß es so sein muß, und ist stolz genug, das Notwendige aus freien
Stücken zu wollen. Und darin liegt alle Weisheit und alle Größe, darin
liegt die einzige, wahrhaftige Freiheit: sich eins zu fühlen mit dem,
was sein muß. Das schafft das Leid aus der Welt und auch die Freude,
die ja nur überwundenes Leid ist, aber eben doch Leid. Wer sich aber
dem Unabwendlichen fügt, der wird zum Herrn und seine Demut wird zum
weltgebietenden Zepter. Ihm ist der Friede Gottes!

O armes Menschentum! Wie fern bist du diesem Frieden! Ich aber, ich,
an dessen Hand Menschenblut klebt, ich bin dieses Friedens teilhaftig.
Durch Kampf und Irrtum und durch das, was ihr Menschen Schuld nennt,
bin ich gegangen und ich habe geweint wie ihr, ich habe getobt, ich
habe gejauchzt und gejubelt, ich habe verzweifelt: ich bin mit einem
Wort ein Mensch gewesen wie ihr, ein Mensch mit denselben Süchten
und demselben Hochmut, ja, ich war ein größerer Mensch als ihr oder
doch die meisten von euch, denn alles Menschliche war in mir tiefer
und stärker und darum mußte ich aus eurer Mitte, darum bin ich der
geworden, der ich bin: der Einzige auf der weiten Welt.

Die Sonne geht draußen zur Rüste. Meine Schneeeinsamkeit blüht im
roten Abendlicht wie ein Rosenhain auf der Märcheninsel Bimini. Die
Berggipfel glühen wie Freiheitsfeuer, die Tannen hängen sich purpurne
Mäntel um und über die Schneeflächen gleitet es wie ein beglücktes
Lächeln, das die Wangen rosig färbt. Und auch über die weißen Blätter
vor mir fließt es in rotem Schimmer. Was will es bedeuten? Blut meint
ihr, Blut, das ich vergossen? Nein: Morgenrot des Friedens für euch
alle, die ihr vielleicht einmal diese Blätter lesen werdet, auf denen
ich niederschreiben will, wie ich zu dem geworden, was ich bin.

       *       *       *       *       *

Ich bin durch einen Schrei zum bewußten Leben erwacht und den hat meine
Mutter ausgestoßen, als man ihr den Vater erschossen in die Stube
trug. Was vorher gewesen, davon habe ich nur einen ganz unbestimmten,
verschwommenen Eindruck, etwa so, wie von einem Bild, das in einer
dämmernden Stube hängt: ein leiser Goldglanz, hie und da ein Schimmer
einer helleren Farbe, aber sonst weiches, wolkiges Grau. Wie in einem
Traum habe ich früher dahingelebt, der aus Tag und Nacht, aus Frühling,
Sommer, Herbst und Winter die Fäden zu einem Teppich spann, in den
das Leben seine Bilder hineinwob. Da waren endlose Wälderweiten, da
waren Wiese, Bach, die Berge, das kleine Elternhaus, das Schloß, da
war unten am Bach die große Mühle und da war das Dorf und die Kirche
mit den goldenen Engeln über dem Altar. Immer dasselbe war es von der
ahnungsvollen, nebelbrütenden Adventzeit, da der Krampus mit seinen
Ketten schepperte, bis zu den Weihnachten, da in die weihrauchduftende
Stube, in der unter dem Christbaum die Krippe mit Maria und Joseph und
dem heiligen Kinde, mit Öchslein und Eselein stand, die mitternächtigen
Mettenglocken hallten, weiterhin bis zu den roten Ostereiern und
fort zu den Sonnwendfeuern, die allenthalben von den Bergen in die
sternfunkelnde Nacht hineinleuchteten. Und alle Jahre kam der Tag
wieder, da der Herr Graf mit seinen Freunden zur Jagd kam und glänzende
Herrschaftswagen die Straße hereinrollten, auf der sonst nur knarrende
Bauernwagen mit Holz und Kohlen entlang schlichen. Immer dasselbe war
es, jahraus, jahrein, und ich war sieben Jahre alt geworden und lebte
doch in Traum und Dämmer dahin. Mein Vater war Heger und was er und die
Mutter vom Leben beanspruchten, das hatten sie reichlich, und deswegen
war Ruhe und Friede im Haus und jenes wohlige Genügen, das dem Leben
seinen Runengriffel aus der Hand nimmt und die Zeit um das Maß beträgt,
daß es ist, als stünden auf der ganzen Welt die Uhren still.

Und nun auf einmal dieser Schrei, dieser furchtbare Schrei! Da lag
mein Vater auf einer aus Fichtenästen gefügten Bahre. Wachsfahl war
sein Antlitz; das eine Auge war geschlossen, das andere halb offen;
im blonden Bart unter den Lippen klebte Blut, Rock und Weste waren
geöffnet und über das weiße Hemd zogen sich von einer Stelle, wo es
verbrannt und durchlöchert war, tiefrote blutige Bänder.

Mit weit vorgequollenen Augen starrte ich den Toten an. Da wieder ein
Schrei und meine Mutter warf sich über die Bahre, wühlte mit der Hand
in dem krausen, üppigen Blondhaar des Vaters, hob seinen Kopf empor und
rief mit jedem Wort drängender, angstvoller, in wahnsinnigem Schmerze
flehend: „Franzl, mach die Augen auf! -- Ich bitt dich, Franzl, mach
die Augen auf! Nur einmal mach sie noch auf! Franzl! -- hörst nit! --
Franzl!“

Und dann war ein Schrei, so wild, so entsetzlich, wie ich in meinem
ganzen Leben keinen mehr gehört; ich sah noch, wie meine Mutter mit
den Händen nach ihrem Herzen fuhr, als wollte sie sich das Gewand von
der Brust reißen, wie die Holzknechte, die den Vater gebracht und mit
gesenktem Haupte dagestanden, auf sie zustürzten, dann faßte mich eine
so grauenvolle Angst, daß ich aus der Stube lief. Noch jetzt, nach
nahezu einem halben Jahrhundert, sehe ich mich selbst den Fahrweg
hinabstürmen zur Mühle, unfähig zu weinen, aber bis in die letzte Faser
hinein aufgewühlt vom Entsetzen, bei jedem Aufschlag des bloßen Fußes
auf dem staubigen Boden des Weges heiser aufstöhnend, nein, nicht
stöhnend: krächzend, als schnürte mir jemand die Kehle zu. Und so kam
ich in der Mühle an.

Die Müllerin war meiner Mutter beste Freundin, und in der Bohnenlaube
ganz im hintersten Winkel des schönen Mühlengartens, wo daneben der
Bach vorübertoste, haben die beiden manchen stillen Sonntagnachmittag
verplaudert. In die Mühle hatte es mich ganz von selbst getrieben und
als ich nun vor der Müllerin stand und sie mein Gesicht sah und meine
vergeblichen Bemühungen zu sprechen, da schlug sie die Hände zusammen:
„Heinerle, um Gotteswillen, was ist denn geschehen?“

Ich konnte nichts erwidern, ich konnte nicht schreien, nicht weinen,
ich schluchzte nur, aber ohne eine Träne dabei zu vergießen. Wie ein
Krampf war es. Bei jedem Versuche, etwas von dem zu sagen, was mir wie
ein entsetzliches Traumbild vor der Seele stand, verzerrte es mir die
Lippen, so daß ich keine Silbe artikulieren konnte. Furchtbares mußte
geschehen sein, das erkannte die Müllerin, das mußte sie erkennen, und
im nächsten Augenblick stand ich allein in der großen Stube.

Wie mich der so vertraute Raum heute finster und unheimlich ansah!
Die altersbraune Holzdecke hatte so etwas Drückendes, Düsteres; die
Wände waren so hoch und kahl; die große Schwarzwälderuhr neben der Tür
sprach ihr Ticktack so dumpf und drohend vor sich hin, als säße in
ihrem Kasten der leibhaftige Tod und zähle mit dumpfer Stimme: „Eins
-- zwei; eins -- zwei!“ Was aber das Furchtbarste war, das war das
Schweigen, das grenzenlose Schweigen. Wohl waren der Uhrenschlag da
und das Rauschen des Baches und das Klappern der Mühle, aber das alles
kam nicht auf gegen das Schweigen. Von oben sank es herab und drückte
und drückte, bis mir der kalte Angstschweiß aus allen Poren trat, von
den Wänden rückte es gegen mich heran und umschloß mich immer fester
und fester, daß mir schier der Atem ausging, durch das Fenster herein
glotzte es mich mit unheimlichen toten Augen an und dann bekam es auch
eine Stimme. Erst war es nur ein Wispeln und Flüstern, dann ein Raunen
wie von unsichtbaren Menschen, dann ward daraus mehr und mehr ein
Brausen, ein Rauschen, wie wenn der Sturm den Wald erfaßt, und dann ein
Schmettern und schließlich über alles ein gellender Schrei, der Schrei
meiner Mutter, aber lang, lang hingezogen in die Unendlichkeit. In mir
war jede Faser Entsetzen und da begann ich zu schreien in wahnsinniger
Angst.

Und da öffnete sich die Tür und da standest du, du Marie, du Treue, die
ich immerdar und doch zu spät geliebt habe, weil von der anderen zu
viel Glanz und Schimmer ausging und weil meine Seele ein Kind war, das
nach Glanz und Schimmer griff, sehnsüchtig und unwissend. Schon damals
als Kind hattest du jene zärtliche Mütterlichkeit, die mich in meinen
wildesten Stunden begütigte und in meinen schwersten und verlassensten
mit Stärke und neuem Vertrauen erfüllte. Schon damals trugst du
jene große, heilige Liebe in dir, der nie eine Frage über die Lippe
quillt, die nur geben, beglücken und trösten will. Und stumm, nur mit
unendlicher Güte nahmst du meine Hand und ich ließ mich willig führen.

Es gibt Fleckchen auf der weiten Welt, die für das Herz geweiht sind
für alle Zeit, weil in ihnen ein reines und darum unendliches Glück
schlummert. Ein solches ist für mich die Bohnenlaube im Garten neben
der Mühle, in die mich Marie führte.

Da zog sie mich auf die Bank nieder, legte den dünnen kühlen Kinderarm
um meinen Hals und während ich noch immer krampfhaft schluckte und
schluchzte, streichelte sie meine Wangen, mein Haar, meine fiebernden
Hände und redete mir mild und leise zu: „Heinerle, nit weinen, nit.
Geh, nit! Hast du schon vergessen, was der Herr Pfarrer in der Schul
gesagt hat? Brave Kinder sollen nit weinen, weil das den lieben
Herrgott und die Engerl kränkt, weil sie meinen, wir sind mit der Welt
nit zufrieden. Nit weinen, Heinerle, nit weinen!“

Und da stieß ich unter Schluchzen und Schlucken hervor: „Meinen Vater
haben s’ erschossen.“

Klar stand es mir vor der Seele, was geschehen war, ich war zum Leben
erwacht.

Das Marieli fragte nicht, wie es geschehen sei und ob es wirklich
wahr sei, sie hat ja immer an mich und mein Wort geglaubt, treuer und
stärker als an alles andere in der Welt, und so sagte sie auch diesmal
nichts anderes, als die stillen, ernsten Worte: „Dann müssen wir für
ihn beten, Heinerle!“

Und ohne meine Antwort abzuwarten, kniete sie nieder, zog mich neben
sich, faltete die Hände und fing an, das Vaterunser zu sprechen.
Willenlos folgte ich ihrem Beispiele und sprach die Worte des Gebetes,
erst das Vaterunser, dann das Ave Maria und wieder das Vaterunser und
so fort. Ich wußte eigentlich nicht, daß ich betete, es waren nur
Worte, die ich sprach, aber sie lösten die Spannung meiner Seele, es
kam wie ein Träumen über mich. In unser monotones Beten rauschte der
Bach hinein und die Mühle klapperte, aber so fern, so fern wie die
Sonne, die leuchtend über den Blumen des Gartens lag und den Kies des
Weges flimmern machte, daß meine Augen, die in einem fort auf ihn
hinaussahen, sich mit webenden Schleiern umzogen.

Wie lange wir so gebetet haben, ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß
auf einmal im Eingang der Bohnenlaube die Müllerin und meine Mutter
standen und die Müllerin sagte: „Siehst du, Agnes, die Kinder haben das
Rechte gefunden. Opfer’s unserm Herrgott auf, was dich betroffen hat,
er wird’s auch wieder recht machen.“

Und dann zog mich die Müllerin empor und sagte, indem sie mich leise an
sich drückte: „Und gelt, Heinerle, du wirst jetzt erst recht brav sein
und wirst deiner Mutter recht viel Freude machen.“

Ich nickte. Aber meine Mutter hatte das Haupt über die auf dem
Tisch gekreuzten Arme gesenkt und begann aufs neue herzbrechend zu
schluchzen, daß ihr Körper zitterte und bebte.

Auch in mir wallte es aufs neue heiß auf, aber das Marieli bemerkte es
und führte mich aus der Laube hinaus in den Garten. „Komm,“ meinte sie,
„wir tun für deinen Vater einen schönen Kranz machen; weißt, er schaut
jetzt sicher vom Himmel herab und wenn er uns sieht, hat er eine Freud!“

Längs des Lattenzaunes entlang dem Mühlenbache blühte es in allen
Farben. Da standen dunkelsamtene Nachtviolen, blauer Rittersporn,
rotflammende Nelken, zartrosige Levkojen, orangegelbe Feuerlilien und
Marieli griff mit achtlosen Händen in den bunten Flor und brach davon
ab, bis sie das ganze Schürzchen voll hatte. Damit setzten wir uns auf
die Hausbank neben der Gartentür und nachdem Marieli ein paar Bindfaden
geholt hatte, begann sie das Kränzlein zu winden und ich sah ihr zu,
während meine Gedanken fern, fernhin auf die Reise gingen. Wohin, das
wußte ich ja selbst nicht. Die ganze Welt war mir ja auf einmal so neu
und so fremd und meine Seele ging von Ort zu Ort und tastete wie im
Dunkel, ob sie nicht das Pförtchen zur alten, vertrauten Heimat finden
könnte, darin Friede und Ruhe wohnt.

Was das Marieli plauderte, ich habe es nur mit halbem Ohr gehört, ich
sah nur immerfort hinüber zum Wald, über dessen Wipfel allmählich ein
violetter Schimmer ging, denn im Lichte der sinkenden Sonne hatte sich
der Himmel zu purpurner Lohe entzündet, die nun auch die Felsgipfel der
Berge in Brand steckte, daß sie wie zwei Riesenfackeln in das dämmernde
Tal niederleuchteten. Ein leises Lüftchen summte das Tal herein und
nun kam auch ein weiches Klingen daher: die Abendglocken vom Dorf.
Ihrem Klange folgte ein dünner schneidender Ton: man läutete für meinen
Vater das Totenglöcklein.

Kaum hatte das Marieli ihn gehört, da legte sie den nahezu vollendeten
Kranz aus den Händen, schlug das Kreuz und sprach mit Andacht das kurze
Gebet, wie wir’s in der Schule gelernt hatten: „Herr, gib ihm die ewige
Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm. Herr lasse ihn ruhen in Frieden,
Amen.“

Die ewige Ruhe! Ich kann dies Wort noch heute nicht hören, ohne von
tiefsten Schauern erfaßt zu werden. Damals aber, obwohl ich es selbst
schon oft aber völlig gedankenlos gesprochen hatte, ergriff es mich so,
daß ich aufs neue zu weinen anhub.

Ich hatte es nicht gesehen, daß mittlerweile Marieles Bruder, der
Bartl, herangekommen war. Er war ein Jahr älter als ich und hatte mich
immer seine Überlegenheit fühlen lassen, denn er steckte immer bei den
Knechten und Mühlburschen, bildete sich auf seinen Verkehr mit den
Erwachsenen viel ein und suchte es ihnen nach Möglichkeit gleichzutun.

„O je,“ rief er jetzt, „der Heinerle heult, weil’s seinen Vater
erschossen haben! Sei nit so dumm! Ihr kriegt jetzt viel Geld vom
Grafen, sei froh, bis jetzt habt’s so nix g’habt.“

So hatte er es jedenfalls von einem Erwachsenen gehört und er sagte es
nach. In mir aber kochte augenblicklich ein solcher Zorn auf, daß ich
auf ihn zusprang und mit der Faust nach ihm schlug. Er wollte sich auf
mich werfen, aber da faßte eine starke Hand jeden von uns am Kragen und
hielt uns auseinander.

Es war der alte Sägeknecht, der Rupert, und der sagte jetzt: „Na hörst,
Heinerle, daß du so ein Wildling bist, das hätt ich nit verhofft von
dir. Dein Vater liegt auf dem Laden und du tust da raufen! Schäm dich,
das ist aber schon ganz wild und völlig aus der Weis’.“

Augenblicklich, wie die Wut in mir aufgestiegen war, war sie auch
wieder verschwunden. Ich hatte etwas in mir besudelt gefühlt, nun aber
empfand ich tiefste Scham und eine unbewußte Erkenntnis schattete
über meine Seele, daß das Natürlichste und Begreiflichste oft die
unnatürlichste und unbegreiflichste Bewertung findet.

Vielleicht hat auch der Rupert gefühlt, daß er mir Unrecht getan hatte,
denn als er in meinen Augen die neuerlich aufschießenden Tränen sah,
sagte er: „Na, sei nur still, bist halt a bißl jähzornig und für das
kann niemand dafür.“ Und zum Bartl gewendet fuhr er fort: „Und du gehst
jetzt mit mir. Der Heinerle ist heut ein armer Bub und den muß man mit
Ruhe lassen.“

Damit zog er den Bartl fort und ließ mich mit dem Marieli wieder
allein, das nun wortlos den Arm um meine Schultern legte.

Da kamen die Mutter und die Müllerin aus dem Garten. Die Mutter sah
ruhiger und gefaßter aus, aber als sie mich an der Hand faßte und sich
von der Freundin verabschiedete, da rollten ihr doch wieder aufs neue
die Tränen aus den Augen und leise schluchzend schritten wir nach
Hause, wo inzwischen im Flur der Vater, angetan mit seiner schönsten
Dienstuniform, aufgebahrt worden war und sich bereits Leute zu der
üblichen Totenwacht eingefunden hatten.

Oft und oft bin ich in den zwei Tagen, da der Tote aufgebahrt im
Flur lag, zu ihm hingeschlichen und habe ihn still betrachtet. Wie
das nur so sein kann, daß ein Mensch, der vorher sich bewegt und
gesprochen hatte, nun auf einmal so daliegt und nichts mehr hört und
sieht und kein Glied rühren kann, daß er nun tot ist. Etwas Fremdes,
Geheimnisvolles war da in unser Haus getreten, etwas Großes, Riesiges,
das man nicht sieht und nicht nennen kann und das doch alle kennen und
dem sie sich in stummer Ehrfurcht neigten. Ich sah es ja an den Leuten,
die da kamen. Munter und schwatzend waren sie sonst ins Haus getreten,
nun aber überschritten sie unsere Schwelle ernst, andachtsvoll wie
die der Kirche, wo der liebe Gott in dem goldenen Tabernakel wohnt.
Vielleicht war Gott auch in unserem Hause, nicht so wie sonst, sondern
so wie in der Kirche in all seiner Majestät, daß sich ihm willenlos die
Knie beugten.

In jenen Augenblicken an der Bahre meines Vaters hat mir zum ersten
Male die Ewigkeit ihre Pforten geöffnet und mich hineinschauen lassen
in ihre dunklen Räume, aus denen es so kühl haucht, daß die schlichten
Blumen des Daseins die Köpfchen sinken lassen, wie von Reif verbrannt.

Am dritten Tage war das Leichenbegängnis. Von allen Besitzungen des
Grafen waren Beamte, hauptsächlich Forstleute gekommen, um dem von
unbekannter Hand und aus unbekanntem Grunde meuchlings hingemordeten
Manne die letzte Ehre zu erweisen. Kurz bevor der Geistliche erschien,
kam vom Schlosse herab, das ihm zum Wohnsitz angewiesen war, der
Oberforstverwalter und neben ihm schritten seine Frau und sein
Töchterlein, die Heriberta, die etwa in meinem Alter war.

Meine Mutter, obwohl ganz in Tränen aufgelöst, begrüßte die feine
Dame, die selten das Schloß und den Park verließ, mit Ehrfurcht; diese
aber schritt auf sie zu, faßte ihre beiden Hände und wenn ich auch
nicht verstand, was sie sagte, so viel weiß ich, daß sich meine Mutter
plötzlich niederbeugte und die Hände der vornehmen Frau küßte, die aber
sanft abwehrte.

Dann beugte sich die gute Frau zu mir herab und sagte: „Du bist der
Heinerle, gelt?“

„Tu schön handküssen, Heinerle,“ sagte meine Mutter mit dem Schluchzen
kämpfend.

„Nein, nein, laß nur, Heinerle. Ich hab dich auch so lieb und weiß, daß
du ein braver Bub bist. Wenn du willst, darfst du jetzt öfter zu uns
kommen und mit der Heri da spielen. Komm, Heri, gib dem Heinerle die
Hand!“

„Mama, darf ich ihm nicht lieber einen Kuß geben?“

Und da stand das kleine Fräulein vor mir. Aus dem zartgeschnittenen
Gesichtchen leuchteten die tiefdunklen Augen, auf das weiße Gewand
flossen die schwarzen Haare, die damals schon von selten reicher Fülle
waren und auf einmal lagen zwei Arme um meinen Nacken und ein roter
Mund drückte sich auf meine zuckenden Lippen, daß ich ganz verwirrt
wurde.

„Aber Heri!“ mahnte die Frau des Oberforstverwalters. „Ach, sie ist
ein so stürmisches Kind,“ setzte sie, zu meiner Mutter gewandt, hinzu,
„aber gut ist sie und Heinerle wird sich mit ihr sicher gut vertragen.
Lassen sie ihn nur so oft kommen als er will, er soll es gut bei uns
haben!“

Heriberta aber hatte meine Hand erfaßt und wie eine Siegerin stand sie
neben mir. „Nun bist du mein!“ leuchtete ihr Blick und ihre schlanken
Finger legten sich mit starkem Druck um die meinen. So hat mich
Heriberta zu eigen genommen, so bin ich ihr verfallen.



II.


Das ungewohnte Schreiben hat mich gestern merkwürdig erregt und
doch zugleich auch müde gemacht. Man ist nicht umsonst zehn Jahre
Kohlenbrenner und Genosse der Einsamkeit. Sie will auch die
Gesellschaft der Schatten vergangener Tage nicht, denn die Einsamkeit
ist Gegenwart und nichts als Gegenwart. Die da sagen, sie wollen allein
sein, um Vergangenem nachhängen oder in die Zukunft hineinbauen zu
können, die haben die Einsamkeit nie kennen gelernt. Sie nimmt den
ganzen Menschen in ihre Arme, sie löscht alles aus, was nicht von ihr
selbst stammt, und wer ihres Friedens teilhaftig werden will, der muß
sich ihrer Liebe hingeben und ablegen, was von den Menschen und zu
ihnen führt.

Und ich hatte gestern wieder einen Schritt ins Menschenland getan.
Darum begann mein Herz zu zittern und ängstlich zu pochen und aus der
Hütte, darinnen jetzt Menschenschatten an meinem Tische saßen, trieb es
mich hinaus zur Einsamkeit des Hochwaldes.

Mondverklärte Stille. Nicht der leiseste Laut in Nähe und Ferne. In
schimmernd weißen Pelzmänteln stehen die uralten Bergtannen und ihre
Äste hängen zum Boden herab wie die Hände müder Menschen. Über ihren
Wipfeln glänzen die Sterne und es ist wie ein schöner Traum, der ernste
Häupter umschwebt. Weißes Licht bis in die dunklen Gründe hinein,
weißes Licht auf den vereisten Schroffen der Berge, die so groß und
majestätisch in die brunnenklare Nacht hineinragen, daß sie aussehen
wie Könige, die mit hocherhobenen lichten Stirnen auf das vor ihnen in
den Staub gesunkene, arme Menschentum herabblicken. Hehr ist die Nacht
und schön, göttlich schön.

Ich habe den Wald gesehen, wenn der eisige Wintersturm in seinen Kronen
wühlte. Da konnten die Raben nicht Ruhe finden und flatterten krächzend
um die knarrenden und krachenden Kronen; das Wild klagte in den
Dickichten, in die brechende Äste niederschlugen; heiser bellten die
Füchse und mit plumpem, rauschendem Flug suchte das Schneehuhn von Ort
zu Ort nach einem sicheren Platz. Bis an meine Hütte kamen die Hirsche
und Rehe heran und die Wildkatze vergaß so weit ihre Scheu, daß sie auf
mein Fenstergesimse sprang und mit grünglimmenden Lichtern in meine
Stube äugte. Und der Sturm brauste, eine riesige Weltenorgel, auf der
der Ewige, hingerissen in wilde Urweltphantasien, die Tasten schlägt.

Und doch: noch größer, erhabener ist das Schweigen der weißen
Winternacht. Im Sturme spricht die Kreatur und klagt ihr Leid, im
Schweigen spricht die Ewigkeit und die kennt kein Leid, die kennt nur
Frieden, tiefsten Gottesfrieden, vor dem alles Irdische abfällt, wie
totes Laub an grau verhangenen Herbsttagen. Und auch mir ward dieser
Friede. Lächelnd bin ich gestern zu Bette gegangen, lächelnd bin ich
heute aufgestanden und nun, da ich die Blätter, die ich gestern bei
Lampenschein geschrieben, wieder lese, weiß ich nicht, wie sie mich
erregen konnten. So will ich denn in Ruhe weiterschreiben.

Meine Mutter und ich blieben für die nächste Zeit noch in unserem
alten, lieben Heim. Freilich war es so ganz anders als früher, alles
fremd und leer und so voller Geheimnisse, die alle vorher nicht
dagewesen waren; aber wenn ich abends im Bette lag, war doch alles wie
sonst und ich schlief ruhig und befriedigt ein.

Eines Tages aber erschien der Oberforstverwalter und sagte meiner
Mutter, daß sie in vierzehn Tagen das Häuschen für den Nachfolger des
Vaters zu räumen hätte.

Die Mutter begann zu schluchzen und auch in mir stieg ein unsäglich
wehes Gefühl auf. Aber der Oberforstverwalter hatte auch den Trost zur
Hand und sagte: „Aber Frau Reinhold, so weinen Sie doch nicht gleich,
hören Sie mich doch zu Ende. Es ist ja ganz selbstverständlich, daß
Sie der Herr Graf, dem Ihr Mann ein so treuer Diener war, nicht auf die
Straße setzt. Er hat im Gegenteil in einer Weise für Sie gesorgt, die
seinem bekannten Edelsinn aufs neue ein glänzendes Zeugnis ausstellt.
Da Ihre Pension zu gering wäre, hat er bestimmt, daß Sie zu uns ins
Schloß kommen sollen. Sie sollen Beschließerin werden und dazu sollen
Ihnen die beiden Zimmer über der Meiers-Wohnung angewiesen sein. Küche
brauchen Sie keine, da Sie von uns, aus unserer eigenen Küche alles
erhalten werden. Und seien Sie versichert, meine Frau wird sich’s
angelegen sein lassen, daß Ihnen nichts fehlt.“

Meine Mutter wußte darauf nicht gleich etwas zu erwidern, denn sie
war immer darauf gefaßt gewesen, mit einer ganz, ganz kleinen Pension
abgefertigt zu werden und sie hatte auch schon mit der Müllerin eine
Verabredung getroffen, daß ihr diese in der kleinen Stube über dem
Kellergebäude der Mühle ein Zimmerchen gebe; mit Taglöhnerei wollte sie
uns beide fortbringen. Und nun war sie auf einmal aller Sorge enthoben.

„O mein Gott,“ stotterte sie nach einer Weile hervor, „das ist aber
ein Glück, ein großes, großes Glück! Das verdanke ich Ihnen, Herr
Oberforstverwalter, gewiß Ihnen und Ihrer lieben Frau! Sie war ja schon
bei der Leiche so gut zu mir!“

„Ich will’s nicht leugnen,“ entgegnete der Oberforstverwalter, „daß
meine Frau den Anstoß gegeben hat; aber mehr noch meine kleine Heri,
die Ihren Heinerle da ins Herz geschlossen hat. Der Herr Graf hat mich
zu einem Vorschlag betreffs Ihrer Versorgung aufgefordert und da hab
ich meiner Frau und dem Kinde gefolgt. Und seit gestern Abend, Frau
Reinhold, bin ich glücklich, daß ich den beiden gefolgt habe.“

Der ernste Nachdruck, mit dem er die letzten Worte sprach, ließ meine
Mutter gespannt aufhorchen.

„Ja, ja, Frau Reinhold, ich bin glücklich. Denn wissen Sie, für wen Ihr
Mann gestorben ist? Für mich! Die Kugel, die mir bestimmt war, hat ihn
getroffen.“

Meine Mutter sank mit gerungenen Händen auf den Stuhl und starrte den
Oberforstverwalter an.

Und dieser erzählte weiter: „Sie werden sich vielleicht noch an den
Philipp Holzinger, den Holzknecht, erinnern. Seine eigenen Kameraden
haben ihn den ‚versoffenen Lippl‘ genannt. Vor fünf Jahren mußte ich
ihn aus unserem Dienste entlassen. Er ist immer tiefer und tiefer
gesunken, war während der fünf Jahre wiederholt eingesperrt und
ist erst vor etwa anderthalb Monaten eben wieder aus dem Zuchthaus
gekommen.“

Meine Mutter nickte vor sich hin, denn das wußte sie schon vom Vater.

„Vor etwa vierzehn Tagen,“ fuhr der Oberforstverwalter fort, „war er
bei mir und bat mich um Wiederanstellung. Der Kerl stank aber so nach
Schnaps, daß ich ihn abwies. Auch seine Versuche, anderswo Arbeit zu
finden, schlugen fehl, denn niemand will so einen Süffling. Seine Wut
kannte keine Grenzen und so hat er auch den Holzknechten, bei denen er
sich oft einfand, um zu schmarotzen, gesagt, ich hätte ihn zugrunde
gerichtet und dafür solle ich meinen Denkzettel abbekommen. Ihr armer
Mann hat daran glauben müssen. Die Holzknechte lenkten sofort den
Verdacht auf den Lippl. Seit gestern früh ist er in sicherem Gewahrsam
und er hat seinen Mord auch gleich eingestanden. Das furchtbare
Bewußtsein, einen Unschuldigen ums Leben gebracht zu haben, hat sogar
diesen verkommenen Kerl mürbe gemacht.“

Meine Mutter weinte still vor sich hin und schüttelte dabei immer
wieder traurig den Kopf. Diese Wege des Schicksals konnte sie nicht
begreifen. Von dieser Stunde -- sie hat mir’s oft gesagt -- ist in ihr
etwas Heiliges zerbrochen: das unbedingte Vertrauen auf eine weise
Vorsehung und eine allwaltende Gerechtigkeit.

Heute verstehe ich es, was die Mutter meinte, als sie, kaum der
Oberforstverwalter draußen war, auf mich zustürzte, mich umschlang und
mir entsetzt zuraunte: „Heinerle, er hat keine Schuld gehabt! Nit die
geringste Schuld! O Gott!“

Man hatte ihr Trost und Glauben genommen.

Von dem Abschied von unserem Heim will ich nicht reden; es hieße nur
Tränen schreiben. Aber die Frau des Oberforstverwalters und Heri waren
so lieb und gut zu uns, daß wir uns auch droben in dem Schlosse bald
wohl fühlten.

Ich ging in die Dorfschule, zu Heri aber kam der Lehrer ins Haus;
doch wußte sie es bald durchzusetzen, daß ich zu ihren Lehrstunden
beigezogen wurde und da lernte ich manches, was ich in der einklassigen
Dorfschule, in der die Kinder vom sechsten bis zum dreizehnten
Lebensjahre nebeneinander saßen, nie gehört hätte.

Nur eines war, was mich mit heimlichem Kummer erfüllte: ich kam jetzt
nur äußerst selten zum Marieli in die Mühle. Meine Mutter war wohl
wie früher jeden Sonntagnachmittag bei der Müllerin und auch abends
fand sie oft Zeit, auf ein Stündchen zu der alten, treuen Freundin zu
gehen, mich aber ließ Heri nicht los und mein ganzes Zusammensein mit
dem Marieli beschränkte sich auf die paar Minuten, die wir auf dem
Schulwege zusammenkamen. Doch waren da immer auch noch ein paar andere
Kinder dabei und wir mußten das, was wir uns gerne gesagt hätten, in
die Brust zurückdämmen. Nur die Hand reichten wir uns und so schritten
wir dahin in stiller Seligkeit.

Wenn ich bei Heri war, kam ich aus der Unruhe nie heraus. Sie war so
lebhaft, wußte immer Neues, fand an keinem Spiele lange Gefallen, ihre
Sprache war so ganz anders als die meine, geschmeidiger, gewandter; ich
kam mir neben ihr immer so ungeschickt, so plump vor und doch mußte ich
ihr folgen. Sie brauchte mich nur mit ihren dunklen Augen anzustrahlen,
ihre feine, immer etwas zuckende Hand in die meine zu legen und ich war
wie in einem Bann.

Aus Marielis Wesen aber strömte eine unendlich süße Ruhe auf mich aus;
wenn ich ihre Hand in der meinen hielt, dann fühlte ich mich geborgen
und sicher. Die ganze Welt hätte um mich stürzen können und ich hätte
nur gelächelt. Was konnte mir geschehen, solange diese milden blauen
Augen neben mir schimmerten, solange ich den leisen Druck dieser zarten
treuen Hand fühlte!

Und einstmals kam es dem Marieli doch über die Lippen, was ich schon
so lange aus dem stillen, traurigen Blick ihrer Augen gelesen hatte:
„Heinerle, warum kommst denn jetzt garnit mehr zu mir?“

„Ja weißt du, sie laßt mich halt garnit aus und wenn ich von der Schul
heimkomme, da wartet sie schon auf mich und da muß ich mit ihr spielen
und lernen und die Mutter sagt auch immer, ich muß der Heri folgen,
weil wir halt arm sind und ihr Vater hat uns so viel Gutes getan.
Aber“ -- jäh erfaßte mich die Erbitterung, so geknebelt worden zu sein
-- „das sag ich dir, Marieli, jetzt tu ich’s nimmer. Ich mag sie eh
garnit, die Heri, weil sie mich so oft auslacht und weil man garnit
ordentlich spielen kann mit ihr. Alleweil will sie was anderes, als
ich. Ich hab dich viel lieber, Marieli!“

Bei diesen letzten Worten hob das Marieli seine blauen Augen zu mir auf
und ein Jubel lag darin, der mich ganz stolz machte. Hochauf flammte
mein knabenhafter Mut und ich rief: „Jawohl, Marieli, dich hab ich viel
lieber und jetzt folg ich der Heri nimmer. Wenn ich will, komm ich
jetzt alleweil zu dir, sie soll allein spielen.“

Es war auf dem Heimweg von der Schule, wo wir so sprachen. Ein
Spätsommertag war es. Der Himmel war tiefblau und wundersam klar
hoben sich die Berge zu ihm auf. Jede Runse, jede Felszacke war aufs
deutlichste zu sehen. An der Seite des Weges am Waldessaum hingen
in dem dunklen Laube der Sträucher die feuerroten Fruchttrauben der
Berberitzen und das Marieli und ich setzten uns unter einen dieser
Sträucher, brachen uns eine Traube, eines steckte dem anderen eine der
herbsauren Beeren nach der anderen in den Mund und wir suchten uns
unter fröhlichem Lachen darin zu überbieten, die dem Geschmack der
Beeren entsprechenden Gesichter zu schneiden.

Da kam rasches Pferdegetrappel die Straße vom Dorfe daher und
im nächsten Augenblicke bog um die Waldecke der Wagen des
Oberforstverwalters. Auf dem Bocke neben dem Kutscher saß Heri, die
Zügel in den Händen.

Mein erster Gedanke war, mich hinter einem Strauche zu verstecken; aber
sie hatte mich schon gesehen und ehe ich noch fliehen konnte, hielt
auch schon der Wagen, in dessen Fond die Frau Oberforstverwalter saß.

„Mama, da ist der Heinerle! Nicht wahr wir nehmen ihn gleich mit?“

„Gewiß mein Kind! Wenn er will, so kann er mit uns fahren! Aber wer
weiß, will er?“

Heri sah ihre Mutter verwundert an, dann schüttelte sie den Kopf und
rief mir zu: „Heinerle, gelt, du fährst mit uns?“ Und dabei sah sie
mich so herrisch, so siegesgewiß an, daß in mir plötzlich aller Trotz
aufschwoll und mit gesenktem Haupt -- sie anzublicken wagte ich nicht,
denn ich fürchtete die Macht ihrer dunklen Augen -- sagte ich: „Ich geh
mit dem Marieli!“

Und nun ich das entscheidende Wort gesprochen, fühlte ich auch die
Kraft, ihr in die Augen zu sehen. In diesen flackerte eine wilde Flamme
und ich fühlte, das war Schrecken und Zorn zugleich.

„Mama, er will nicht!“ Stahlscharf klang die Stimme Heris und in
dem Ton der Worte lag die Aufforderung an die Mutter, sie solle ein
Machtwort sprechen.

Doch die immer sanfte Frau entgegnete: „Aber Kind, so laß den Heinerle
doch! Schau, er und das Marieli gehen alle Tage mitsammen zur Schule
und es ist schön von ihm, daß er seine Freundin jetzt nicht im Stiche
lassen will.“

„Und er muß mitfahren!“ rief Heri und da war sie auch schon vom Bocke
heruntergesprungen und nun stand sie vor mir und blitzte mich mit ihren
schwarzen Feueraugen an. Als ich aber standhielt, kam ein großes wehes
Erstaunen in ihren Blick, ein feuchter Schimmer schattete wie ein
Schleier darüber und gab ihm eine Weichheit und Süße, davor sich mein
Knabenherz erschauernd zusammenzog wie vor einem Glück, das es nicht
fassen und halten kann. Und willenlos mit gesenktem Haupt ließ ich mich
zum Wagen führen.

Mein Schicksal hatte gesprochen. Zum ersten Male hatte die Macht der
dunklen Augen über mich gesiegt und dieser Sieg war ein entscheidender.
Von nun an wußte ich, nein das Wort „wissen“ ist da viel zu grob --
ich fühlte es, daß es etwas auf der Welt gebe, was imstande sei,
meinen Willen, meine besten Vorsätze über den Haufen zu werfen. Ein
unangenehmes Gefühl, und doch wieder so viel jubelndes Glück drinnen,
daß ich es nicht missen hätte wollen, nicht um den höchsten Preis.

Und auch Heri mußte dunkel erkannt haben, wie schwer sie in mein
Geschick eingegriffen hatte, denn als wir zu Hause waren und dann
allein durch den Garten schritten, da schlang sie plötzlich ihre Arme
um meinen Hals und zum ersten Male nannte sie mich nicht bei meinem
gewöhnlichen Namen, sondern sagte leise und mit einem innigen Flehen in
der Stimme: „Heini!“

Und als ich stumm, unfähig ein Wort zu sprechen, den Kopf senkte, da
umschlang sie mich nur noch fester, plötzlich brannten zwei Lippen auf
den meinen und heiß und drängend klang es in mein verwirrtes Herz:
„Heini, du mußt immer bei mir bleiben!“

Ich wußte nichts zu sagen, ich nickte nur. Vor meinen Augen blühte
etwas empor, eine große, leuchtende Blume, aus deren Kelch es in den
abendlich dämmernden Park floß wie Mondlicht, alles verklärend und
wundersam verschönend.

Als ich aber dann im Bette lag, da konnte ich nicht Ruhe finden. Erst
ferne, ganz, ganz ferne tauchte Marielis sanftes Gesichtchen mit
den milden blauen Augen auf, dann kam es immer näher und näher und
die Augen sahen mich so vorwurfsvoll und traurig an, daß es mir in
schneidendem Schmerz durch die Seele ging, und da brach ich plötzlich
in krampfhaftes Schluchzen aus.

„Was hast du denn, Heinerle?“ rief meine Mutter und kam besorgt an mein
Bett.

Aber ich konnte nicht antworten, ich wußte ja eigentlich selbst
nicht, warum ich weinte. Mitleid mit Marieli war wohl dabei, aber die
Hauptsache war doch etwas ganz anderes, etwas, für das mir der Name
fehlte und das mich gerade deswegen, weil es so dunkel und unfaßbar in
meinem Leben stand, ängstigte.

Die Mutter aber stand neben mir und streichelte in einemfort mein Haar
und fragte und fragte, und ich zerquälte mir den heißen Kopf nach einer
Antwort.

„Hast du vielleicht an den Vater gedacht?“ kam es ihr dann auf einmal
in den Sinn.

Das war ein Ausweg für mich und ich nickte. Da zog mich die Mutter fest
an sich, ich spürte ihren zuckenden Mund auf meinem Scheitel und dann
fielen auf meine Stirne schwere, heiße Tropfen nieder.

Lange saß die Mutter auf meinem Bette und hielt mich weinend im Arme.
Der Uhrenschlag ging durchs Zimmer, einsam und schwer, durch das offene
Fenster glänzten die Sterne aus dem dunkelsamtblauen Himmel herein
und die Nacht raunte draußen im Garten und in den Wäldern hinter dem
Schloß einmal lauter, dann wieder leiser, und leise, ganz leise klang
dazwischen das Klappern der Mühle und das Plaudern des Baches.



III.


Es ist ganz merkwürdig, mit welcher Deutlichkeit all das Vergangene
mir wieder vor die Sinne tritt. Wie mit schwerer Grabeserde schien
mir bisher der größte Teil meiner Jugend verdeckt und nun flattert es
allenthalben empor wie leichte, windwehende Schleier und vergangene
Tage treten hinter ihnen hervor mit ihren strahlenden Sonnen und
dumpfen Nächten, mit all ihrem zitternden Glück und heimlich weinenden
Leid, mit der süßschmerzlichen Unruhe einer jungen Seele, die zum
Leben, Lieben und Leiden erwacht.

Ich habe in den letzten Wochen nicht schreiben können; zu groß war die
Fülle der Erinnerungen und ich mußte erst in mir selber klar werden. So
bin ich denn im Schnee meiner Einsamkeit herumgestapft und habe all die
leisen Zeichen beachtet, die mir sagen, daß es wieder Frühling wird.

Noch steht der Wald in tiefem Schnee, aber hier und dort schnellt ein
Zweiglein, das bisher regungslos zu Boden gehangen ist, empor und wirft
die weiße Last von sich, die es so lange getragen; eifriger turnen die
Meisen im Geäst auf und ab, und ihr Zwitschern klingt von Tag zu Tag
lauter. Die Luft ist durchsichtig und auf den Bergen und Felsgipfeln
ist jede Runse, jeder Stein deutlich zu erkennen. Am schönsten
aber sind die Nächte. Sie werden gar nicht mehr dunkel. Der Mond
leuchtet mit einer Helligkeit, daß jede Linie scharf hervortritt; wie
geschmolzenes Silber liegen die blendenden Schneeflächen auf den Bergen
und ebenholzschwarz heben sich von ihnen die Wälder ab. Die Sterne
brennen hell und unruhig und ein Rauschen ist in der weiten Runde, als
gingen unter dem tiefen Schnee tausend und tausend Bäche zu Tal und in
der Welt hinter den Bergen sei ein Sturm erwacht, der Einlaß in meine
Waldeinsamkeit sucht. Gestern schrie drüben am See, der schon dort und
da die tiefschwarzen Flecken offener Stellen zeigt, ein fremder Vogel.
Ein ganz eigener Ton war das, als hätte die Nacht plötzlich eine Stimme
bekommen und schreie voll Sehnsucht nach Licht.

Ja, die Sehnsucht! Ein Kind des Lichtes ist sie und darum strebt sie
auch zum Licht. Nur daß die Kreatur zumeist das Ziel nicht klar erkennt
und wenige zum großen, ewigen Weltlicht, zum Frieden kommen, in dem
alles Vergängliche untergeht wie in einem Meere von Harmonie.

Auch mein Leben ist auf den dunklen Irrpfaden der Sehnsucht gegangen
und wenn ich auch in früheren Tagen oft bereut habe, daß ich willenlos
mich auf ihnen hintreiben ließ, heute lächle ich dazu: sie waren doch
Wege zum Frieden, wie überhaupt alles, was da ist, diese Wege geht,
mögen sie auch durch Dornen und Wüsten führen und mögen auch ganze
Lachen roten Herzblutes auf ihnen stehen.

Ich war Heri verfallen. Wenn auch immer wieder eine Stunde kam, wo sich
mein ganzes Wesen gegen die Macht aufbäumte, die von ihr ausging, wenn
ich auch dann jedesmal den Versuch machte, zu Marieli zurückzukehren,
die mir trotz aller Vernachlässigung in gleichmäßiger Innigkeit ihr
stilles reines Kinderherz entgegentrug, -- ich mußte wieder zu Heri
zurück.

Nicht wenig trug dazu bei, daß ich mich auch geistig von dem Marieli
von Tag zu Tag weiter entfernte. Der Unterricht, den Heri erhielt und
an dem ich noch immer teilnehmen durfte, ging allmählich weit über
das hinaus, was in der Dorfschule gelehrt wurde, und mir öffneten
sich Blicke in die Welt und in die Natur, die mich mit dem eifrigsten
Streben erfüllten, immer noch mehr und mehr kennen zu lernen. Hand in
Hand mit Heri wanderte ich durch fremde Länder und sah längst begrabene
Völker auferstehen. Ach Gott! wie glücklich mußte der sein, der alles
lernen konnte, was es da noch zu lernen gab!

„Du mußt studieren!“ sagte eines Tages Heri zu mir und warf damit
einen Brand in meine Seele, der nicht mehr zu löschen war. Nun fing
ich auch an, über meine Zukunft nachzudenken. Bisher war ich mit
dem Lebenswege, wie ihn mir meine Mutter wiederholt vorgezeichnet
hatte, ganz zufrieden gewesen. Ich sollte erst meine Lernzeit in
der Dorfschule beenden, mit fünfzehn Jahren dann in eine niedere
Forstschule eintreten und nach Absolvierung derselben in den Dienst des
Grafen treten. Ich konnte es da bis zum Förster bringen und das schien
meiner Mutter ein so hohes und ehrenvolles Ziel, daß sie ganz außer
sich war, als ich ihr eines Tages sagte, daß ich weiter hinaus wolle.

„Kind,“ rief sie, erschrocken die Hände ringend, aus, „wie kommst du
auf solche Gedanken! Bedenke doch, daß ich kein Geld habe, um dich
studieren zu lassen. Und sonst haben wir auch niemand, der dir dazu
verhelfen könnte. Und glaubst du, daß das Studieren allein glücklich
macht? Dein Vater war nichts als ein einfacher Heger und war doch
zeitlebens“ -- sie seufzte auf, wie immer, wenn sie an die schöne,
friedliche Zeit ihres kurzen Eheglücks dachte -- „ein zufriedener,
glücklicher Mensch. Du aber wirst mehr als er, bekommst selbständig
dein Revier, das wird doch für ein Kind armer Leute, wie du eines bist,
genug sein.“

Ich erwiderte darauf nichts, aber überzeugt war ich von den Worten der
Mutter durchaus nicht. Warum sollte es für mich genug sein, nur Förster
zu werden, warum sollte ich nicht auch hinaufgelangen können zu der
Höhe, auf der z. B. Heris Vater stand! Ich hatte durch den Verkehr
im Hause des Oberforstverwalters eine Form des Lebens kennen gelernt,
deren Schönheit tief auf meine junge, empfängliche Seele wirkte. Der
ruhige, vornehme Ton, der im Hause herrschte, das innige Verhältnis
zwischen den drei Personen mit all den hundert und hundert kleinen
Aufmerksamkeiten und Rücksichten, mit denen man sich täglich das Leben
verklärte, das waren Dinge, die mir das ganze Herz aufrührten. Wie
schön müßte das sein, einmal ein Zimmer zu haben mit weichen Teppichen,
einem schwellenden Sofa, schweren Samtvorhängen vor den großen Fenstern
und großen Bildern an den Wänden. Sollte es das für mich nicht geben
dürfen, daß mir in stiller Feierstunde ein Dichter die Welt der
Schönheit erschließt oder daß mir nach des Tages Arbeit Musik das müde
pochende Herz erquickt? Sollte ich, weil meine Eltern zufällig arme
Hegersleute waren, in die Masse derjenigen hinabgestoßen werden, die
nichts Höheres kennen, als gut Essen und Trinken. Da hätte man mich
nicht mit Besserem bekannt machen, mich nicht an tieferem Unterrichte
teilnehmen lassen sollen.

Stundenlang grübelte ich nun oft über meine Zukunft und entwarf Plan
auf Plan, denn studieren mußte ich, das fühlte ich von Tag zu Tag
stärker und klarer. Gewiß, auch das bescheidene und schlichte Leben,
wie es mein Vater geführt hatte, hatte seinen Reiz und sein Glück,
aber ich mußte höher hinauf, schon wegen Heri.

Ja, wegen Heri! Auf einmal war mir der Gedanke gekommen. Wenn ich nicht
studierte, dann mußte sich mit den Jahren eine tiefe Kluft zwischen uns
öffnen, dann stand sie hoch über mir, dem niederen Forstmanne, und ihre
Augen würden stolz und kalt auf mich herabsehen. Eine glühende Welle
lief bei diesem Gedanken durch meinen Körper, ich fühlte die Scham im
voraus, die ich dabei empfinden würde. Nein, das durfte nicht sein,
das könnte ich ja nicht ertragen und darum mußte ich es durchsetzen,
studieren zu können. Nur so konnte ich an ihrer Seite bleiben.

Wer aber sollte mir zum Studium verhelfen, wer konnte es? Einzig und
allein der Oberforstverwalter, und diesen für den Plan zu gewinnen, war
niemand besser geeignet, als sein Abgott, Heri. Nur wußte ich nicht,
wie ich das Gespräch auf mein Thema bringen sollte; denn eine direkte
Bitte wollte ich nicht tun.

Und da kam mir wieder einmal etwas zu Hilfe, was die Menschen so gerne
Zufall nennen und was doch, wie alles auf der Welt, seinen zwingenden
Grund hat, und wäre das auch kein anderer, als unser sehnlicher Wunsch,
der auf uns noch geheimnisvollen Wegen in den ehernen Ring von Ursache
und Wirkung tritt.

Unsere Lernstunde war vorüber und Heri und ich stiegen die breite
Schloßtreppe zum Garten hinab. Heri war heute so still und versonnen,
in ihren Bewegungen lag etwas so Weiches und Wehmütiges daß ich sie
endlich besorgt fragte: „Heri, was hast du denn heute?“

Da faßte sie meine Hand, sah mir tief in die Augen und erwiderte:
„Heini, kannst du dir vorstellen, daß wir zwei in einem Vierteljahre
nicht mehr beisammen sein sollen?“

Ich erschrak auf das heftigste und fühlte mein Herz für einen
Augenblick stillstehen.

„Du -- du sollst fort?“ stotterte ich dann hervor.

„Ja, in die Stadt ins Kloster zu den grauen Schwestern. Der höheren
Ausbildung wegen, meinen Papa und Mama.“

„Und du freust dich darauf?“

„Nein. Das heißt: auf das Lernen freue ich mich schon, aber auf das
andere alles nicht! Wie oft werde ich an unseren schönen Garten
da zurückdenken und wie wir zwei da so lustig waren. Bei den
Klosterschwestern, da heißt’s schön still zwei und zwei spazieren
gehen, da gibt’s kein Laufen, kein Klettern und Springen und denk dir,
lange Röcke soll ich dann auch schon tragen!“

Sie wußte noch von einer ganzen Menge von Dingen zu erzählen, die ihr
nicht paßten; aber ich hörte nur mit halbem Ohre darauf hin und als
sie endlich schloß: „Ja, Heini, so ist’s und du mußt dich an den
Gedanken gewöhnen so wie ich!“ da platzte ich plötzlich heraus: „Und
ich gehe auch mit in die Stadt!“

Sie sah mich eine Weile an, ob es mir Ernst sei, oder ob ich Scherz
mache und dann sagte sie: „Du willst mit in die Stadt? Was wolltest du
denn dort?“

„Studieren!“

„Ja, aber du, Heini, das kostet viel Geld. Papa muß auch für mich viel
zahlen! Woher wolltest du denn das Geld nehmen?“

Wie mir da augenblicklich der Gedanke kam, weiß ich heute noch nicht,
aber schlagfertig erwiderte ich: „Wenn dein Vater für mich bitten tät,
wer weiß, ob mich nicht der Herr Graf studieren ließe. Der hat doch
Geld genug!“

Heri heftete ihre dunklen Augen in die Ferne, dann fuhr sie plötzlich
mit einem Ruck herum und rief: „Du, Heini, das muß gehen. Ich will
den Papa bitten, daß er für dich bei dem Herrn Grafen ein gutes Wort
einlegt. Und weißt: der Herr Graf hält große Stücke auf den Papa und
wenn der etwas sagt, dann geschieht es auch.“

Und im nächsten Augenblicke hatte sie auch schon das Angenehme für
sich selbst herausgefunden und sie klatschte in die Hände und jubelte:
„Heini, das ist ein vorzüglicher Gedanke. Weißt du: die Eltern haben
mir versprochen, daß ich alle Sonntage zu Tante Berta kommen darf und
da kommst du dann auch hin und wir können wenigstens jeden Sonntag
beisammen sein. Tante Berta ist sehr nett und hat bei ihrem Haus
auch einen netten Garten, freilich viel kleiner als unserer da, aber
ein Garten ist’s doch. Ja, Heini, du mußt mit. Ganz gewiß, und ich,
wenn der Papa nicht gleich will, ich werde schon mit Betteln nicht
nachlassen. Ich setz’ es durch!“

Und sie setzte es durch. Über Verwendung des Oberforstverwalters
erklärte sich der Graf bereit, die Kosten für meine Unterbringung
in dem Studentenheim der Stadt zu tragen. Für die Bücher versprach
der Oberforstverwalter zu sorgen und das andere, Kleider und weitere
Notwendigkeiten, konnte schon meine Mutter bestreiten.

Es war ein herrlicher Septembertag, als ich mit meiner Mutter zur Mühle
hinabschritt, um mich von der Müllerin und dem Marieli zu verabschieden.

Die Müllerin saß in der großen Stube, von der einige Stufen
hinaufführten zur Tür in das Mühlenwerk, und hatte einen gewaltigen
Stoß Wäsche zum Ausbessern vor sich. Sogleich aber schob sie ihn zur
Seite und den Zweck unseres Kommens erratend, sagte sie: „Also jetzt
wird’s Ernst.“ Und mit diesen Worten reichte sie nicht nur der Mutter,
sondern auch mir die Hand. Letzteres hatte sie noch nie getan und
ich fühlte mich deshalb jetzt sehr gehoben. Nun galt ich schon als
Erwachsener.

Und die Müllerin wollte zur Feier des Abschieds sogar etwas Besonderes
tun, nämlich Tee kochen.

„Das Zuschaun wird dich wohl nit interessieren, Heini,“ meinte sie,
„such derweil das Marieli auf. Sie wird im Garten sein.“

So war sie nun gekommen, die Stunde, die ich schon seit Wochen so arg
gefürchtet hatte. Aber ich nahm allen Mut zusammen und ging in den
Garten hinaus.

Still lag er da im weichen, lauen Sonnenschein. Keine Glut strömte von
den sauber gepflegten weißen Kieswegen aus, nur sanfte, wohlige Wärme.
An den Seiten der dunkelgrünen Buchseinfassung leuchtete das Tiefrot
der Georginen und dazwischen schimmerten in blassen, vornehmen Farben
die Astern. Darüber lagen flimmernde, zarte Gewebe, die Sommerfäden,
und ließen in dem sanften Lufthauch ihre Enden wie silberne Wimpel
wehen.

Von dem gelben Hauch des Welkens umwittert, lag die Bohnenlaube vor
mir, und da meine Blicke das Marieli sonst nirgends fanden, schritt ich
auf die Laube zu.

Ich hatte wider Willen meine Schritte verlangsamt und war auf den
Zehenspitzen gegangen und deshalb hatte auch Marieli mein Kommen gar
nicht gehört. Sie hatte beide Arme auf den Tisch gelegt, den Kopf
darauf gesenkt und schluchzte, daß es mir das Herz zusammenzog.

Eine Weile stand ich regungslos und überlegte, ob ich mich melden
oder heimlich wieder davonschleichen sollte. Am liebsten hätte ich
eigentlich letzteres getan, aber ich schämte mich und dann dachte ich
daran, daß ich mich wohl auch vor der Müllerin und der Mutter nicht
verantworten konnte.

So nahm ich denn allen Mut zusammen und rief leise: „Marieli!“ Sie
hörte mich nicht, denn ich hatte ihren Namen nur so hervorgewürgt und
er klang zu leise und heiser.

Da tat ich einen festen Schritt auf sie zu und rief lauter: „Du,
Marieli!“

Nun hob sie jäh ihr tränenüberströmtes Gesichtchen empor und
Erschrecken und Glück zugleich malte sich auf ihren Mienen.

Ich konnte mir zwar denken, warum sie weine, ein inneres Gefühl sagte
es mir; trotzdem aber fragte ich: „Warum weinst du denn, Marieli?“

Sie sah mich groß an, als wollte sie sagen, wie ich denn so fragen
könne, dann aber senkte sie das blonde Köpfchen und erwiderte leise:
„Ich hab’ dich und deine Mutter kommen sehen.“

Ich wußte nichts zu sagen und es entstand eine lange Pause, in der
ich mich vergebens nach einem erlösenden Worte abquälte. Wie sie so
dasaß mit ihren lieben, nun so nassen und traurigen Augen, fühlte
ich plötzlich wieder, wie lieb ich sie hatte und wie schwer es mir
sein würde, sie nun auf Monate nicht mehr zu sehen. Denn wenn mich
auch Heri ganz mit Beschlag belegt hatte, dann und wann hatte ich doch
ein Stündchen mit Marieli verplaudert und gespielt und jedesmal hatte
ich die wundersame Ruhe gefühlt, die von ihrem Wesen auf das meine
überströmte.

So stand ich hilflos vor ihr und meine Seele bebte in Leid und Wehmut.

„Fahrst morgen schon fort?“ unterbrach sie endlich das Schweigen.

„Nein, übermorgen in der Frühe fahren wir fort.“

„Du und deine Mutter?“

„Nein, der Herr Oberforstverwalter und die Frau und die Heri. Und da
nehmen sie mich auch gleich mit.“

Auf diese Erklärung senkte Marieli wieder den Kopf und es entstand
wieder ein Schweigen zwischen uns. Ich sah, wie sich ihr Gesichtchen
immer tiefer und tiefer zur Brust hinabneigte und wie plötzlich ein
Zittern durch ihren Körper lief. Ich wußte, nein, ich ahnte nur, was
in ihr vorgehen mochte, und quälte mich neuerdings vergebens, ihr ein
liebes, beschwichtigendes Wort zu sagen. Aber als ich auch diesmal
keines fand, und plötzlich ihr leises Schluchzen an mein Ohr drang, da
nahm ich sie in heißer, inniger Aufwallung in die Arme, drückte ihren
Kopf an meine Wange und flüsterte: „Marieli, nicht weinen, ich bitt’
dich, nicht weinen!“

Und als sie nun ruhiger wurde und dann ihre Augen zu mir aufschlug, die
im Schimmer taufeuchter Veilchen erglänzten, da kam es plötzlich über
mich so seltsam, so fremd und stark und ich küßte sie.

Heri hatte mich schon manches Mal geküßt, wenn sie gerade in toller
Laune gewesen war oder ein Unrecht gutzumachen hatte, das ihr
stürmischer Sinn an mir begangen hatte, aber außer einem Gefühl
augenblicklicher Verwirrung hatten diese Küsse nichts in mir bewirkt.
Nun ich aber selbst und zum ersten Male Marieli geküßt hatte, war es
mir, als sei etwas Großes geschehen, etwas, das nie und nie mehr aus
meinem Leben zu schaffen sei.

Über Marielis verweintes Gesichtchen aber glitt ein unsäglich seliges
Lächeln und in ihre blauen Augen kam ein so süßes Leuchten, als sei ein
ganzer Frühlingshimmel in sie herabgesunken.

„Gelt, Heini, du schreibst mir auch einmal?“ sagte sie nach einer Weile.

„Ich werde dir alles schreiben, wie’s in der Stadt ist, und weißt,“ --
ich war in dem Augenblicke wirklich fest entschlossen dazu -- „wenn’s
mir dort nicht gefällt, dann komm’ ich zurück und bleib’ da. Und dann
werd’ ich auch nicht Förster, dann lern’ ich die Müllerei.“

In diesem Augenblicke erscholl hinter mir ein höhnisch meckerndes
Lachen. Bartl war nach seiner Gewohnheit, überall zu horchen und zu
lauern, heimlich herangeschlichen und hatte jedenfalls unser Gespräch
oder wenigstens einen Teil desselben belauscht.

Wir beide haßten uns aufs grimmigste, und hätte mich nicht ein
bittender Blick Marielis abgehalten, ich hätte mich augenblicklich auf
ihn gestürzt und mit den Fäusten Abschied von ihm genommen.

Aber auch er erkannte, daß mit mir jetzt nicht gut Kirschenessen sei,
und ein paar Schritte zurückweichend sagte er: „O je, was der jetzt für
Augen macht, so wild! Und grad hat er so gut Busserl geben können!“

Ich trat einen Schritt auf ihn zu und drohte ihn an: „Du!“

Schon war er aber wieder zurückgewichen und an der Gartentür höhnte er:
„Mit einem Studenten rauf ich nit; aber wannst heimkommst und Müller
wirst, dann ja. Bhüt dich Gott, Busserlstudent!“

Wieder ein höhnisch meckerndes Lachen und der Bursche war verschwunden.

Zornglühend wandte ich mich wieder dem Marieli zu. Sie stand da, das
liebe Gesichtchen mit flammender Röte bedeckt.

„Was hast du denn, Marieli?“ fragte ich, als sie vor meinem Blick die
Augen senkte.

Da ging ein leichter Schauer durch ihren schmächtigen Körper, und
dann sah sie mich an, so eigen, so fremd und doch so vertraut, wie
mich noch kein Mensch angesehen hatte. Es war nicht Heris fordernder
und zugleich verheißender Blick, es war etwas, wie aus einem mir
ganz unbekannten Lande. Wie ein Schauer zog es durch meine noch
eben von heißem Zorn erfüllte Seele, wie ein kühler Strom, der alle
Aufgeregtheit besänftigt und doch das Herz wieder erzittern macht. Ein
Neues war in mein Leben getreten, dessen Namen ich damals noch nicht
kannte, aber noch tief und schmerzlich kennen lernen sollte: die Liebe.

Verwirrt standen Marieli und ich voreinander und es war uns beiden eine
Erleichterung, als wir die Stimmen unserer Mütter hörten, die sich
voneinander verabschiedeten.

Die Müllerin gab mir noch herzliche und wohlgemeinte Worte und Lehren
auf den Weg mit und ließ sich’s auch nicht nehmen, mir zwei blanke
Guldenstücke in die Westentasche zu schieben, denn, meinte sie, sie
habe einmal gehört, daß Studenten immerzu Geld brauchten.

Meine Mutter und ich schritten weiter. Wir hatten noch einen
Abschiedsbesuch zu machen, den auf dem Friedhofe.

Dieser lag vor Beginn des Dorfes auf einem sanft geneigten Abhang,
der sich zum Hochwald hinanhob. Auf der Wiese zwischen der niederen
Kirchhofsmauer und dem Wald ästen in den frühen Morgenstunden die Rehe
und von den gewaltigen, moosüberzogenen Buchen jubelten die Finken,
als wüßten sie um das köstliche Geheimnis, daß alles Schlafen da unten
unter den grünen Hügeln eigentlich nichts anderes sei, als ein Ausruhen
zwischen zwei Reisen.

Jetzt, als meine Mutter und ich durch die alte, schon ganz verrostete
Pforte, die immerfort offen stand, eintraten, war es auf dem Friedhofe
wundersam still. Kein Fink sang in den Buchen, kein Lüftchen raschelte
in den dürren Kränzen, die hie und da an den schmucklosen Kreuzen
hingen; ich konnte den eigenen Atem hören, das eigene Herz, das immer
heftiger pochte, wenn ich zum Grabe meines Vaters kam.

Fester umspannte die Hand meiner Mutter meine Rechte und da standen
wir vor dem kleinen Hügel, den ebenso wie das schlichte Kreuz aus
Eichenholz ein Kranz aus Tannenreisig umwand.

„Jetzt, Heini,“ sagte meine Mutter mit zitternder Stimme, „tu noch
einmal recht andächtig drei Vaterunser beten.“

Mit diesen Worten zog sie mich neben sich auf die Knie und schlug das
Kreuz. Ich folgte ihrem Beispiel und begann zu beten. Aber ich war noch
mit dem ersten Vaterunser nicht zu Ende, als ich neben mir heftiges
Schluchzen vernahm. Da stieg es auch mir würgend in die Kehle, und all
der bange Abschiedsschmerz, den ich bisher so mutig zurückgedämmt
hatte, brach mit einem Male los und ich begann ebenfalls zu weinen.

Da zog mich meine Mutter sanft an sich und sagte: „Sei still, Heini,
sei still! Schau, mir ist nur jetzt plötzlich so schwer ums Herz
geworden, weil ich jetzt ganz allein bin. Und dann ist’s mir auch
eingefallen, was für eine Freud’ der Vater haben tät’, wenn er das
sehen könnt’, daß du jetzt studieren darfst. An so was hat er sicher
nie gedacht, gerade so wenig wie ich. Und gelt, Heini, du versprichst
es mir und dem Vater da drunten, daß du alleweil recht brav bleibst.
Gelt, du versprichst es uns?“

Ich nickte, denn sprechen konnte ich nicht vor Tränen.

Aber die Mutter drängte: „Heini, laut mußt es sagen!“

Da stammelte ich hervor: „Ja, Mutter!“

Aber auch damit war sie noch nicht zufrieden. „Auch dem Vater mußt du’s
versprechen. Denn, weißt, er hört dich ganz gut, vom Himmel schaut er
herab und sieht uns und jedes Wort hört er, ganz so wie unser Hergott!“

Und da hob ich die Augen gegen Himmel und sprach laut und fest: „Ja,
Vater, ich werd’ alleweil recht brav sein!“

„So ist’s recht, Heini! und jetzt beten wir noch miteinander einen
Vaterunser.“

Laut hub meine Mutter das Gebet an und ich sprach es mit und dann
schlugen wir das Kreuz und erhoben uns langsam.

In der Höhe des Grabhügels war an dem Kreuze ein kleiner Blechkessel
mit Weihwasser angebracht, über dem ein vollständig abgewelkter Strauß
von Kornblumen steckte. In diesen Kessel tauchte nun die Mutter die
Finger und zeichnete mir dann drei Kreuze auf die Stirne. Darauf wandte
sie sich nochmal zum Grabe und wie in einem Selbstgespräche sagte sie:
„Bhüt dich Gott, Franzl! Schau auf unser Kind, du kannst es. Laß ihn
nit unglücklich werden!“

Schweigend verließen wir den Friedhof. Als wir die rostige Gitterpforte
hinter uns hatten, sah ich nochmals zurück und da hatte sich auf die
weißlackierte Blechtafel des Grabkreuzes, die den Namen des Vaters
trug, soeben die Sonne gelegt und es war mir, als lächle mir von dort
das liebe Gesicht des Vaters zu. So stark war dieser Eindruck, daß ich
leise zurückwinkte und mit gestärktem Mute ging ich weiter.

Zu Hause gab es noch allerlei zu packen und die Mutter begleitete
jedes Stück, das sie in den großen Holzkoffer legte, mit guten Lehren,
Ermahnungen, Gebrauchsanweisungen und von all dem Aufmerken und den
Aufregungen des Tages war ich schließlich so müde geworden, daß ich wie
ein Stück Holz ins Bett fiel und auch sofort einschlief. Und kein Traum
störte diesen Schlaf.



IV.


Und nun hat er doch Einlaß gefunden, der Sturm. In einer der seltsamen
Nächte, die wir jetzt hatten, mag er das Pförtlein gefunden haben,
das in unsere Bergwelt führt. So still war’s draußen und doch so voll
heimlichen Lebens. Jedes Wesen hatte mit sich selbst zu tun, sich zu
rüsten zur Frühlingsfeier, und das war ein Geraune und Getue, ein
Gewisper und Geflüster fern und nah, als wäre die ganze Welt in Aufruhr
geraten und alles eile im schützenden Dunkel einem Verschwörungsort zu.

Und plötzlich war er da. Erst nur ein ganz kurzes Brausen, als stürze
von den Bergen ein Strom hernieder, dann kamen kurze, starke Stöße
einer feuchtwarmen Luft, auf den Bergen fing es an zu rauschen und zu
tosen und da sauste es auch schon in den Wald herein mit übermütig
gellendem Pfeifen und die Bäume bogen ihre Wipfel und schlugen mit
den Ästen krachend aneinander. Vom Dach meiner Hütte fing es an zu
tropfen und zu platschen und noch vor der Frühe mischte sich in die
wilde Auferstehungsmusik auch das Donnern ferner Lawinen und das
mächtige Rauschen und Orgeln der Gießbäche, die allenthalben in das Tal
niederbrachen, als könnten sie es nicht erwarten, auch im Flachland zu
erzählen, daß der Frühling gekommen sei.

Schon in meiner Jugendzeit hat diese Zeit des ungestümen Drängens und
Werdens immer mein ganzes Wesen erfaßt, und nie sonst ist es mir so
klar geworden, daß der Pulsschlag der Natur mitten durchs menschliche
Herz geht, als in den Tagen, da der Frühlingssturm rauscht und die
Tauwasser gehen.

Und so hat es mich auch in diesen Tagen hinausgetrieben und wie einst
habe ich die entblößte Stirn den Winden dargeboten und mir das Haar
zausen lassen. Und mit suchenden Augen bin ich durch meinen Wald
gewandert. Unter jeden Strauch habe ich gespäht, und richtig, da fand
ich, von ihren dunkelgrünen Blattarmen noch halb umfangen, die große,
schneeige Blüte der Christrose und an den Haselhecken des Hanges,
der zum See hinuntersteigt, die schüchtern geöffneten Sterne der
weißen Anemone und am Rand neben dem Bach die feinstrahlige Blume des
Huflattichs. Das sind unsere Blumen, die Blumen des Hochwalds. Sie
duften nicht; aber doch liegt es rings wie Veilchenatem, und wie auch
der Sturm tobt und durch die Wälder wütet, dazwischen schwebt es auf
leisen ruhigen Wellen von Baum zu Baum, von Strauch zu Strauch und küßt
die Knospen, mild und warm, wie eine Mutter ihr Kind küßt.

Schön, unsagbar schön ist dieses erste Werden und Blühen nach dem
weißen Schneetraum. Ein Glück, nicht mit Menschenworten auszusagen,
liegt darinnen und doch breitet sich darüber ein Schleier, in dem
heimlich alles Weh schluchzt, das mit jedem Keim geboren wird.

Und so mächtig ist dieser Frühlingshauch, daß ich gestern in meinem
alten, ruhig gewordenen Herzen beinahe etwas wie Wehmut fühlte. Ja, ich
habe den Frieden und ich habe mir ihn in so heißen blutigen Kämpfen
errungen, daß er mir das Höchste ist, was die Welt bieten kann. Und
doch, schön war’s auch damals, als die ersten Frühlingsstürme durch
meine Seele brausten und die Gießbäche der Sehnsucht durch meine Adern
schäumten. Ich schäme mich ihrer nicht, ebensowenig, als wie sich die
Blume des Keimes schämt, der sich in seinem natürlichen Drange so lange
dehnt und reckt, bis ihn die Sonne des Frühlings aufs junge Haupt küßt.

Ein Dehnen und Recken war’s auch, was meine Studienzeit ausmacht.

Ich war in einem Studentenheim untergebracht worden, das ungefähr
anderthalbhundert Schüler beherbergte. Das Gebäude lag am südlichen
Saume der Stadt und über den großen Garten hinweg konnte man schon
von den Fenstern des ersten Stockwerkes die weite Ebene überblicken,
hinter der sich, meist in silbernen Duft versteckt, die Berge erhoben.
Am Fenster stand ich anfangs denn auch am liebsten, denn das Innere
der Anstalt war kahl und von den Wänden, die kein Bild schmückte,
strömte eine Kälte in mein Herz, daß es sich fröstelnd zusammenzog.
Auch der Umgang mit meinen Kameraden war nicht angetan, mir das Dasein
leichter zu machen. Die meisten von ihnen stammten aus Städten und
wohlhabenden Familien, hatten über das Anstaltsleben genug gehört
und waren deshalb mutig genug, sich vom ersten Tage an Übertretungen
der strengen Hausordnung zu gestatten, die mir als heiliges Gesetz
erschien. Unbekannt war es mir, ja unfaßbar, daß man von Vorgesetzten
in höhnischem, verächtlichem Tone sprechen könne, und als gar einmal
einer die Bibel gegen den Boden schmetterte und wütend schrie, daß er
es nicht einsehe, wozu man jetzt noch solche blödsinnige Volksmärchen
lernen müsse, da empfand ich mit Schrecken, welch ungeheure Kluft
mich von meinen Kameraden trennte, wie einsam ich unter all den
Altersgenossen sei.

Jeden Mittwoch, Samstag und Sonntag hatten wir nach dem Mittagessen bis
vier Uhr freien Ausgang und ich benützte denselben, um mir die Stadt
genau anzusehen. Am liebsten wanderte ich durch die weiten Höfe und
Kreuzgänge des bischöflichen Palastes. Da war es so still und einsam
und man konnte träumen und phantasieren nach Herzenslust. Der alte
Springbrunnen mitten in dem Hofe machte seine leise Musik dazu und die
großen Bilder an den Wänden mit den seltsamen Darstellungen aus der
Heiligengeschichte leuchteten in ihrem düsteren Bunt so geheimnisvoll
aus dem Halbschatten der Kreuzgänge, daß ich mir oft wie in einer
fremden Welt vorkam, besonders wenn die alte, riesige Kastanie, die
den Springbrunnen beschattete, über und über im Schmucke ihrer roten
Blütenkerzen dastand und die Bienen in der Krone summten. Da war es,
als lägen vor den Bildern tausend und tausend Andächtige auf den Knieen
und raunten leise ihre Gebete.

Gerne stand ich auch vor dem Schaufenster der Buchhandlung und sah
mir die prächtigen Bucheinbände und die goldenen Schnitte der zarten
Lyrikbände an und versank in Träume, wie schön das sein müßte, wenn da
auf einem dieser Bände von goldenen Arabesken umschlungen mein Name und
darunter „Gedichte“ stehen würde.

An Sonntagen war ich jedesmal bei Heris Tante. Sie war die Witwe eines
höheren Offiziers und hatte unweit des Klosters der grauen Schwestern
ihr eigenes Haus. Sie war eine feine, vornehme Dame, die es trefflich
verstand, auf die zarteste, unauffälligste Weise Heri und mir das
Verständnis beizubringen, daß nun die Kinderzeit vorüber sei und daß
wir in anderen Formen mitsammen verkehren müßten. Unvermerkt baute sie
eine Scheidewand zwischen uns auf, so daß ich mit der Zeit, ohne selbst
recht zu wissen, warum, die Sonntagsbesuche als lästig zu empfinden
begann und mich unter allerlei Ausflüchten derselben öfter und öfter
entschlug.

Ich trieb mich nun gerne in den weiten Auen herum, die den Lauf
des Stromes, der an der Stadt vorüberzog, begleiteten und streifte
mutterseelenallein durch die grüne Wildnis. Wie ein Marder kroch ich
durch die wildverflochtenen Ranken, welche die Waldrebe in dichten
Massen über die Weiden und Erlen hing, watete durch scharfriechende
Nesselwälder und saß dann wieder in weltfernes Sinnen verloren an den
kleinen Weihern, um die das Schilf rauschte und deren schwarze Wasser
mich, je länger ich in sie hineinstarrte, immer unheimlicher ansahen,
als höbe sich aus ihnen etwas empor, das riesige, glotzende Auge eines
gespenstigen Ungeheuers, bis mich plötzlich ein banges Grauen anlief
und ich in wahnsinniger Hast davonstürzte und nicht eher Ruhe fand, als
bis ich auf dem breiten, schönen Promenadeweg stand, der am Saume der
Au entlang zur Stadt führte.

Es waren ganz wunderbare Erlebnisse, die mir diese einsamen
Streifereien brachten, Erlebnisse, die mich mit dem süßen Schauer des
Märchens durchrieselten. Ich sah hinter den grünen Laubwildnissen
schimmernde Schlösser erstehen mit marmornen Altanen und goldenen
Säulen, ich sah Feen und Prinzessinnen die Anmut ihrer schlanken, in
kostbare Gewänder gehüllten Leiber durch die Gründe tragen, dunkle
Augen strahlten mich an und ein Singen und Klingen war um mich, so
weich und süß, daß mir die Seele in unsagbarer Sehnsucht schwoll.

Aber von all dem erfuhr kein Mensch, keiner meiner Kameraden, auch
Heri nicht und ebenso nicht Marieli, mit der ich in den Ferien öfter
zusammen kam.

So verloren hatte ich mich in meine eigene Traumwelt und so glücklich
fühlte ich mich in meiner Einsamkeit, daß ich auch in den Ferien am
liebsten in den Hochwäldern meiner Heimat umherstreifte, die mir nun
alle ihre Schönheit willig zeigten.

Und eines Tages da ging ich schon in aller Frühe fort. Noch lag die
Welt im weichen Morgendämmer und auf den Wiesen lag der stumpfe
Silberschimmer des Taus. Groß stand der Morgenstern an dem Himmel,
den ein leises Gold zu färben begann. Im Hochwald erwachten die Vögel
und bald da, bald dort erklang der kurze Flötenlaut ihrer Stimmen,
ehe sie mit voller Brust zu ihrem Morgenlied einsetzten. Ich wanderte
weiter und weiter; auf ungebahnten Wegen über Felsblöcke kletterte ich
empor, bis ich endlich an den Schutthalden stand, die sich von den
weißleuchtenden Kalkmauern der Berge zum Hochwald herunterzogen.

Und wie ich dastand und an den schwindligen Zacken und Rissen
emporblickte, da faßte mich mit einem Male ein brausendes Gefühl von
Kraft und Mut und ich begann in einer der Runsen emporzuklimmen. Es war
ein hartes Stück Arbeit und erforderte die Anspannung nicht nur meiner
körperlichen, sondern auch meiner geistigen Kräfte, denn da galt es in
blitzschnellen Entschlüssen jeden Vorteil auszunützen, hier eine Zacke
zu fassen, dort den Fuß in eine Spalte zu zwängen, und, wiewohl mir der
Schweiß in brennenden Bächen über Gesicht und Leib lief, ich empfand
doch ein unendliches Lustgefühl.

So kletterte ich aufwärts und aufwärts, bis ich auf einmal auf einer
breiten Felsplatte anlangte, die zur Rast wie gemacht erschien.

Und da sah ich nun den Weg, den ich zurückgelegt hatte und wunderte
mich selbst, wie ich da, ohne zu stürzen, hatte heraufkommen können.
Schwindlig jäh ging es hinunter und die großen Blöcke am Rande der
Schutthalden sahen aus wie kleine Steine auf grünen Wiesenboden versät.
Wo aber nun aus? Hinab auf demselben Wege, das sah ich ein, konnte ich
nicht mehr, hinauf aber, das gab noch eine ärgere Kletterei als bisher,
und in mir, der ich an körperliche Anstrengung nicht gewöhnt war,
zitterte jede Muskel unter der Nachwirkung der geleisteten Arbeit.

Nun befiel mich ein Bangen, und um dasselbe nicht Herr über mich werden
zu lassen, nahm ich die Kletterei wieder auf. Steiler und steiler
türmte sich die Wand empor, glatter und glatter wurden ihre Flächen und
Fuß und Hand tasteten oft minutenlang nach einem kleinen Vorsprung oder
einer Spalte, um sich ansetzen oder einkrallen zu können.

Noch ein paar Schritte vorwärts und nun hing ich am Felsen und fand
keinen Weg, keinen Tritt mehr vorwärts und auch zurück konnte ich
nicht mehr. Kalt rieselte es mir aus allen Poren. Ein flüchtiger Blick
zur Seite zeigte mir nur nacktes, glattes Gestein und blaue, gähnende
Tiefe. In einer Entfernung von etwa anderthalb Metern ragte wohl eine
Felsnase vor, aber die war wohl für mich nicht zu erreichen.

So war ich also hier am Ende meines Lebens angelangt und blitzschnell
schoß es mir durch den Kopf, was dann, wenn man mich zerschmettert am
Felsen gefunden hatte, sein würde. Der Absturz würde in die Zeitung
kommen, meine Lehrer würden davon lesen und eine Zeitlang von mir
sprechen; meine Kameraden würden mich vielleicht gar ein bißchen um
meinen kühnen Tod beneiden, die Mutter, ja, die würde wohl wieder so
aufschreien wie damals bei des Vaters Leiche und ihr zur Seite würde
das Marieli stehen, die blauen Augen voll Wasser und voll des stillen
Vorwurfes: „Heini, warum hast du mir das getan!“ Und Heri? Plötzlich
sah ich ihr dunkelflammendes Auge vor mir und glaubte ihre in der
Erregung metallen klingende Stimme an meinem Ohr zu hören: „Du darfst
nicht stürzen, Heini! Vorwärts, es muß gehen!“ Nein, Heri würde um mich
nicht weinen; denn sie würde mich verachten, daß ich nicht die Kraft
besessen, etwas Angefangenes durchzuführen.

Fort war meine Angst, brennende Scham durchglühte mich und zugleich
kaltblütige Entschlossenheit. Ich faßte die Felsspitze scharf ins
Auge, krallte meine Hände, soviel es ging, ins Gestein, begann die
Beine zu dehnen, ein vorsichtiges Seitwärtsrutschen Zoll um Zoll und
nun hatte meine rechte Fußspitze die Felsnase erreicht. Glücklich
fand sich auch für die Rechte ein sicherer Griff, ein mutiger Schwung
und ich stand drüben und sah zu meiner unendlichen Freude, daß jetzt
überhaupt die Gefahr vorüber war. Die Felsnase war das Ende eines sich
immer mehr verbreiternden Bandes, das zu grünem Almboden hinüberführte.

In zehn Minuten lag ich wohl totmüde, aber von einem unnennbaren
Hochgefühle durchströmt auf weichen Graspolstern und trank mit
glänzenden Augen die großartige Schönheit der vor mir entrollten
Alpenwelt. Berg an Berg, Spitze an Spitze; aus der Tiefe stieg es auf
mit wunderlich geformten, weißleuchtenden Zacken und Schroffen, wie das
Fialengewirr eines gotischen Domes, der Hochwald lag drunten und schlug
seine dunklen Arme wie schützend um den blaugrünen Kristall des Sees,
und weiter hinaus in blauem Duft verschwimmend das weite, weite Land
mit blitzenden Häuserpunkten und ganz ferne mit einem Silberstreifen,
dem Strom.

Welche Schönheit! Mein Herz schwoll und schwoll zum Zerspringen, meine
Lippen fingen an Worte zu stammeln, unzusammenhängend, unbewußt, und
dann war auf einmal ein Klingen da, das meine Seele auf den Schwingen
jauchzender Harmonien zum Himmel trug, und ich sprang auf, breitete in
überquellendem Glücksgefühl die Arme aus und rief meine ersten Verse in
die sonnenschimmernde Ewigkeit hinaus:

    Der Himmel so blau und die Welt so weit!
    So weit und so schön mein Heimatland!
    Mein Herz tanzt vor lauter Seligkeit!

    Oh, wie ich euch liebe, ihr Berge, dich Tal,
    Ihr grünen Wälder in rauschender Rund,
    Dich, Gottesleuchten, Goldsonnenstrahl!

Weiter kam ich nicht; aber diese Verse schienen mir so schön, und ich
sagte sie immer vor mich hin, auch dann noch, als sich endlich auch
meine Leiblichkeit in brennendem Durst und Hunger fühlbar machte und
ich über den Almboden zu einer Sennhütte niederstieg.

Spät am Abend kehrte ich heim. Meine Mutter war schon in Sorge um mich,
denn obgleich sie es gewohnt war, mich halbe Tage nicht zu sehen, so
lange war ich noch nie ausgeblieben, und als ich ihr nun auf ihre Frage
erzählte, wo ich gewesen -- den gefährlichen Aufstieg verschwieg ich
allerdings -- und sie aus meinen Worten, die sich in schwärmerischen
Ausdrücken überstürzten, die unendliche Gehobenheit meines Wesens
erkannte, da sah sie mich so eigentümlich, fast scheu an und dann
senkte sie den Kopf und sagte leise: „Du bist ein merkwürdiger Bub,
Heini!“

Es war kein freudiger Ton in diesen Worten, vielmehr das heimliche Leid
der Mutter, die ihr Kind fremde, ihr unverständliche Wege einschlagen
sieht, auf denen sie ihm nicht folgen kann.

„Wo warst du denn gestern den ganzen Tag?“ fragte mich Heri, die
ebenfalls die Ferien zu Hause zubrachte, als wir uns am nächsten
Vormittag im Garten trafen.

„Auf dem Blassenstein!“ entgegnete ich und in den paar Worten mußte so
ein triumphierender Klang gelegen haben, daß Heri überrascht aufblickte
und dann lächelnd meinte: „Du sagst das, als ob das weiß Gott was wäre.
Der Blassenstein ist doch bei weitem nicht der höchste unter unseren
Bergen!“

Diese Herabsetzung meines Erfolges kitzelte mich und obgleich ich mir
vorgenommen hatte, zu schweigen, nun verriet ich mein Geheimnis doch:
„Das stimmt. Aber weißt du auch, wo ich den Aufstieg nahm?“

Sie sah mich fragend an.

Über dem Hochwald hob sich im Glanz der Morgensonne die weiße Mauer
leuchtend auf, an der ich gestern gehangen. Zu ihr hinauf wies ich mit
dem Finger und sagte: „Dort schau hin, das war mein Weg!“

„Was, über die Mauer bist du hinauf?“ fragte sie in ungläubigem
Staunen.

Ich nickte stolz bejahend.

„Du, das mußt du mir erzählen! Komm!“

Und sie zog mich zu einer Bank inmitten einer Fichtengruppe, wo wir vor
Lauschern sicher sein konnten, und da erzählte ich ihr nun, wie ich
eigentlich, ohne es zu wollen, die Kletterei begonnen und wie ich dann
nicht mehr zurückgekonnt hätte, sondern zum Weiterklettern gezwungen
gewesen wäre. Und dann erzählte ich ihr, wie ich hoch droben über der
grausigen Tiefe am Felsen gehangen hätte.

„Du, das ist herrlich!“ rief sie und ihre Augen flammten stolz in die
meinen. „Aber sag, was hast du dir eigentlich gedacht, als du dort oben
hingst?“

Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Nur einen Augenblick überlegte ich,
dann entschied ich mich für die Wahrheit und ich erzählte ihr von
meiner kurzen Todesangst und wie mich dann der Gedanke an sie und ihre
Verachtung zum letzten und entscheidenden Wagnis angespornt hatte.

Ich hatte ruhig erzählt und war nun ganz überrascht, welche Wirkung
meine Worte auf Heri ausgeübt hatten.

Regungslos saß sie da, das dunkelerglühte feine Antlitz zur Brust
hinabgeneigt, die sich in raschen stürmischen Atemzügen hob und senkte.

Ich wurde ganz verwirrt und dachte angestrengt nach, was ich gesagt
habe, das Heri so tief erregen konnte.

So saßen wir eine Weile schweigend nebeneinander. In den jungen Fichten
summte ein ganz leiser lauer Morgenwind, den Kiesweg entlang gaukelte
ein dunkelsamtener Trauermantel und irgendwo auf einem Baum in der Nähe
jubelte ein Fink sein sonnentrunkenes Morgenlied.

Je länger das Schweigen dauerte, desto verwirrter wurde ich, und da
konnte ich es endlich nicht mehr ertragen und fragte, indem ich leise
Heris Hand faßte: „Was hast du denn, Heri?“

Da hob sie groß und schimmernd ihre Augen zu mir auf und sagte leise:
„Ich hab’ dich also gerettet, Heini?“

„Ja, Heri, du, du ganz allein! Freust du dich nicht darüber?“

„Freuen, Heini?“ Ihre schlanken, bebenden Finger umschlossen mit festem
Druck meine Hände und wie eine schwarze, heiße Gewitternacht von
goldenen Blitzen durchflammt, umfing mich ihr Blick, als sie sagte:
„Freude ist zu wenig. Stolz bin ich, Heini! Ja und ich werde dich nicht
verlassen. Du mußt was Großes werden! Hoch hinauf mußt du, denn du hast
die Kraft dazu. Und ich will mit dir! Hand darauf!“

Nochmals preßte sich fest Hand in Hand, tauchte Blick in Blick und dann
schritten wir aus unserem Versteck gegen das Schloß zu, schweigend,
ganz erfüllt von unserem Verlöbnis, zwei Menschen, die noch vor
einer Stunde Kinder gewesen waren und über die nun der erste Stoß des
Lebenssturmes gefahren war.

Gegen Abend desselben Tages begleitete ich meine Mutter zu ihrer
Freundin, der Müllerin. Ich war lange nicht in der Mühle gewesen, und
als ich nun dem Marieli die Hand reichte, erblühte ihr blasses Gesicht
im hellen Rosenlicht der Freude.

„Warum kommst du denn so selten, Heini?“ fragte sie. „Was tust du denn
die ganzen Tage?“

„Mein Gott, was denn?“ entgegnete ich, indem ich mich neben ihr auf der
steinernen Bank vor der Haustüre niederließ, „ein bißchen lesen und
viel im Wald herumlaufen. Gestern war ich auf dem Blassenstein. Du, da
droben ist’s schön!“

Und ich schilderte ihr die Aussicht in den herrlichsten Worten, die
mir zu Gebote standen. Von dem Aufstieg sagte ich ihr aber nichts, das
sollte mein und Heris Geheimnis bleiben.

Ich erzählte noch, als Bartl vom Sägewerk her zu uns kam. Einen
Augenblick blieb er stehen und horchte, ich beachtete ihn nicht, dann
fiel er mir ins Wort: „Na ja, jetzt prahlst halt mit deiner gestrigen
Kraxlerei, gelt?“

„Was weißt du davon?“ fuhr es mir heraus.

„O, ich weiß alles. Es hat dich gestern wer gesehen, wie du das
Narrenstückl gemacht hast. Na ja, solchene Leut, die keine Arbeit
haben, die kommen auf allerhand Sachen, die einem, der sich plagen
muß, sein Lebtag nit einfallen. Hättst aber auch leicht hin sein
können.“

„Da wär’ wohl dir am wenigsten dran gelegen!“

Bartl sah mich feindselig an und sagte dann höhnisch: „Könnt’ schon
sein, daß ich nit geweint hätt. Möcht auch wissen warum? Hab’ ich einen
Nutzen von dir? Nein. Also gehst mich nix an.“

„Denkst du über alle Leute so, von denen du keinen Nutzen hast?“

„Über alle!“

„Schäm’ dich, Bartl, so was zu sagen, das ist nit christlich!“ wies ihn
nun das Marieli zurecht.

Aber Bartl lachte nur: „Ich mich schämen? Dazu hab’ ich keine Zeit. So
und jetzt geh ich. Kannst dein Narrenstückl weiter erzählen.“

Mit diesen Worten ging er ins Haus und ließ uns stehen.

„Du, Heini, was für ein Narrenstückl meint er denn? Und tot hättest du
dabei sein können?“

Ich versuchte abzulenken und erwiderte so obenhin:

„Ach, nichts ist’s. Ich bin nur ein wenig in den Felsen herumgeklettert
und da hat mich vielleicht so ein Angstmeier gesehen.“

Sie hörte aber aus meinen Worten die Unwahrheit heraus und sanft, aber
trotzdem eindringlich sagte sie: „Nein, nein, Heini, mich kannst du nit
anlügen. Das bringst du nit zusammen. Es ist schon was dran an dem,
was der Bartl gesagt hat.“ Und mit einem unwiderstehlichen Flehen in
Stimme und Augen bat sie: „Sag mir’s, Heini! Oder willst du mir nichts
mehr sagen?“

Da mußte ich denn beichten.

„Aber schau, Marieli,“ sagte ich und suchte die Sache so unverfänglich
als möglich darzustellen, „es ist wirklich nichts dran. Auf den
Blassenstein bin ich halt gestern gestiegen, und weil mir der Weg über
die Alm zuviel aus der Hand gelegen war, bin ich halt vorn hinauf. Wenn
man klettern kann und schwindelfrei ~ist~, ist wirklich nichts
dran.“

„Über die Wand bist du hinauf, Heini?“

„Aber ich sag’ dir ja: es ist nicht so arg!“

„O, das kann ich mir schon denken. Heini, versprich mir, das tust du
nimmer. Schau, wenn dir was geschehen tät’!“

„Mir geschieht nichts. Und wenn’s wär’, mein Gott, einmal muß man ja
sowieso sterben!“

„Heini, so was darfst du nicht sagen, das ist Sünde. Und was hast du
denn auch davon? Schau, herunten im Tal ist’s ja auch schön!“

„Aber bei weitem nicht so schön wie oben. O, ich werde noch höhere
Berge besteigen und ich werde mir meine Wege selber suchen!“

Ein wilder Trotz hatte mich erfaßt und obwohl ich wußte, daß jedes
meiner Worte dem stillen Mädchen, das da vor mir stand und mich mit
wehmütig fragenden Augen ansah, in die Seele schneiden mußte, ich
mußte so sprechen, wie ich es tat. Unwillkürlich verglich ich die
beiden Mädchen, Heri und Marieli! Jene war stolz gewesen auf meine
Leistung, sie hatte mich verstanden; diese wollte mich schön in ihre
beschränkte Welt einlullen, über die ich doch an allen Ecken und Enden
hinausgewachsen war. Marieli verstand mich nicht mehr.

Und als hätte sie meine Gedanken erraten und wolle sie bestätigen,
sagte sie mit traurigem Kopfschütteln: „Du bist ganz anders geworden,
Heini!“ Eine Träne glänzte in ihrem Auge auf.



V.


Das Anderswerden, ja, das geht nie ohne Schmerzen und Tränen ab. Ich
sehe es jetzt tagtäglich draußen in meinem Walde. Noch immer braust
der Tausturm durch seine Gründe und hin und hin ist der Waldboden
bedeckt mit gebrochenen Ästen und Zweigen. Auch mancher junge Trieb
ist darunter, der von Blüten geträumt haben mochte, und nun ist Welken
sein Los. Am Seeufer hat der Sturm eine mächtige Bergtanne gebrochen
und sie mitten in den Flor weißsterniger Anemonen hineingeworfen. Wie
viele der zarten Blumen da getötet worden sind! Und nun kommen auch
die ersten Blüten an den Sträuchern hervor. Wie innig und schüchtern
sie sich früher in die braune, glänzende Hülle geschmiegt haben! Nun
haben sie dieselbe abgestoßen und achtlos fallen lassen. Was früher
so wertvoll und kostbar war, gilt nichts mehr, singend und jauchzend
schreitet die Höhensehnsucht, der Lichtglaube darüber hinweg. Mag es
mit seinem armen Lose sich abfinden und sich bescheiden damit, gedient
zu haben. Jetzt gilt nur mehr die Sonne, die aufwärts führt, dem Ziele
zu.

Das ist die niederschmetternde Rücksichtslosigkeit des Frühlings. Er
nimmt alles, was ihm zum Siege verhelfen kann, in seinen Dienst; hat
es diesen aber geleistet, dann wirft er es weg, lächelnd, lachend,
hüllt sich in seinen strahlenden Königsmantel und schreitet stolz über
die Leiber der Getreuen hinweg. Doch die Gefallenen und Weggeworfenen
erheben keine Klage. Sie wissen, daß sie ihre Pflicht getan haben und
daß es auch für sie ein Wiederkommen gibt. Nur abwarten, abwarten,
demütig und geduldig sein.

Marieli verstand dies Abwarten und Geduldigsein. Ich habe mich nach
jenen Ferien nicht von ihr verabschiedet. Ich wich ihr aus, denn der
bloße Gedanke an ihre sanfte, hingebende Miene, die immer zu bitten
schien: „Vergiß mich nicht!“ bereitete mir Unbehagen. Wer auf Höhen
will, muß das Tal vergessen können, und sei es auch mit dem reinsten
Blütenschimmer geschmückt. Marieli konnte für mich ferner nichts sein,
der Frühling in mir warf sie von sich, geradeso wie die drängende Blüte
ihre Hülle von sich stößt. Jetzt war mir nur noch die Sonne gut genug,
und meine Sonne hieß: Heri.

In die Anstalt zurückgekehrt, zog ich mich noch mehr in mich selbst
zurück, als früher. Freilich, so einfach ging das nicht, denn man
forderte Anschluß und Mittun von mir. Wollte ich nicht die Hölle
jugendlichen Übermutes und heimlichen Hasses gegen mich entfesseln,
so mußte ich mittun, wenn es galt, einen Ulk gegen Vorgesetzte
oder Kameraden auszuführen oder einem der strengen Hausgesetze ein
Schnippchen zu schlagen. Wie fern mir eigentlich alles das lag, davon
wußte nur einer, mein unvergeßlicher Oskar.

Er war ein einsamer, mürrischer Kerl, der sich um uns alle nicht
einen Pfifferling kümmerte, sondern, wenn er sein Studium vollendet
hatte, sein Skizzenbuch herabnahm und zeichnete und malte. Wir
hatten vor seinem künstlerischen Talente die größte Hochachtung,
aber ein vollkommenes Abschließen sollte und durfte es nicht geben.
Auch ich hatte ja trotz meiner Streifereien doch manchen heimlichen
Wirtshausbesuch mitgemacht, nur um dann wieder frei zu sein. Er aber
verschmähte jeden Kompromiß und ging einsam, wie ein Igel die Stacheln
seines Wesens nach außen kehrend, seinem Zaun nach.

Nun wurde in einem versteckt gelegenen Wirtshaus der Stadt ein
Pfeifenklub gegründet. Jeder hatte seine Pfeife mit langem Rohr
und schwarzrotgoldenem Bande dort und auch Oskar wurde wiederholt
aufgefordert, mitzutun. Doch er schüttelte den Kopf und tat, was er
wollte.

Darob schließlich allgemeine Entrüstung und es wurde der Beschluß
gefaßt, den Sonderling zu isolieren. Keiner sollte mehr ein Wort mit
ihm reden, keiner ihm einen Dienst erweisen. Wollte er einsam sein,
gut, so sollte er es gründlich sein!

Und mit dem Fanatismus der Jugend wurde der Beschluß auch durchgeführt.
Keiner gab dem Sonderling auf seine Frage eine Antwort, keiner sprach
zu ihm, und auch als er direkt fragte, was man denn gegen ihn habe,
erhielt er keine Antwort. Wie ein Aussätziger wurde er gemieden, so daß
er schließlich ganz verzagt wurde.

Und eines Tages, ich war eben wieder von einer meiner einsamen
Steifereien in den Stromauen zurückgekommen, da trat auf dem
menschenleeren Promenadeweg am Aurande Oskar auf mich zu und bat: „Sag
mir du, was habt ihr denn alle gegen mich?“

Ich sah ihn an und er dauerte mich; aber ich war ja durch Handschlag
verpflichtet, mit ihm nichts zu reden. Deshalb zuckte ich mit den
Achseln und wollte weitergehen.

Er aber vertrat mir den Weg und seine braunen Augen, die sein sonst
unschönes Gesicht wunderbar belebten, mit unendlicher Traurigkeit auf
mich heftend, sagte er langsam: „Auch du?“ -- Und nach einer kleinen
Pause setzte er kopfschüttelnd hinzu: „Dich habe ich für besser
gehalten als die anderen!“

Da war ich besiegt und ich sagte ihm, weswegen der Boykott über ihn
verhängt worden sei.

Er hörte aufmerksam zu und dann lächelte er halb wehmütig, halb
spöttisch und meinte: „Deswegen also. Nun, wenn’s sonst nichts ist,
darüber werde ich mich zu trösten wissen. Aber sag mir, hast du denn
eine Freude an diesen Kindereien?“

„Wäre ich heute hier und hätte ich mit dir gesprochen, wenn dies der
Fall wäre?“

„Ja, du hast recht. Ich hab’s ja immer gesehen und gefühlt, daß du
ein anderer bist, daß du ein Mensch bist wie ich. Schau, ich möcht’
ja auch gern mittun; aber in meiner Brust da drinnen ist etwas, das
läßt mich nicht. Ich kann dir das nicht so sagen, aber ich glaube, daß
du’s auch so fühlst wie ich. Ich gehe dahin wie in einem Nebel. Das
Lernen und das ganze Leben wickelt sich ganz mechanisch ab, ohne daß
ich eigentlich davon weiß. Aber vor mir, weit, weit allerdings noch,
da ist etwas, das zieht mich zu sich hin, unwiderstehlich. Was es
ist, weiß ich nicht und ich habe oft eine ungeheure Angst davor. Ja,
ja, wirklich eine Angst, wenn’s dabei auch zugleich so süß durch die
Seele läuft. Etwas Großes muß es sein, etwas Heiliges, etwas unirdisch
Schönes. Wenn ich daran denke, wird mir andächtig zumute und ich möchte
am liebsten niederknien und beten. Weißt, nicht so beten, wie die Leute
in der Kirche, sondern so, als hätte man das eigene Herz in Händen und
hielte es wie eine Opfergabe zum Himmel empor: ‚Nimm’s hin, du großer
Unbekannter, und mache damit, was du willst, es ist ja mit jeder Faser
dein!‘“

Er hatte die letzten Worte mit schwärmerisch inniger Begeisterung
gesprochen und in seinen braunen Augen lag ein Glanz, der nicht von
dieser Welt war.

Ich wußte nichts zu sagen, aber ein wundersames Empfinden zog durch
mein Herz, halb Glück und halb ehrfürchtiger Schauer, und es war
mir, als stünde ich wieder droben auf dem Blassenstein, die große,
leuchtende Welt vor mir und in der Seele jenes jauchzende Klingen, das
mich damals zum Dichter machte.

Und da sah mich Oskar treuherzig an und sagte über sich selbst
lächelnd: „Gelt, ich bin ein verrückter Kerl! Aber da kannst nichts
machen, es hat einen und man kommt nicht mehr los! Aber nicht wahr, den
andern sagst du nichts davon. Ich möchte nicht spotten hören, denn da
-- da --“ sein Gesicht nahm den Ausdruck finsterer Entschlossenheit an
-- „da müßte ich einen niederschlagen. Bei dir habe ich das Gefühl, daß
du mich verstehst.“

Mit diesen Worten reichte er mir die Hand und sah mir fest und treu
in die Augen, und ich erwiderte den Druck seiner Hand und sagte: „Ja,
Oskar, ich verstehe dich, und wenn du magst, so wollen wir Freunde
sein!“

Und wie wir mitsammen nach Hause schritten, entwickelte er seinen
Lebensplan. Er wollte zuerst seine Studien vollenden, die Matura
ablegen, dann aber auf die Kunstakademie gehen. Vorerst aber galt es,
den Boykott der Kameraden zu brechen. Als ich auf ihn einredete und ihm
vorstellte, daß man sein Fernbleiben vom Pfeifenklub auch als Feigheit
betrachte, lächelte er nur, trat, als wir in die Stadt kamen, in die
nächste Tabaktrafik und kam mit einer dampfenden Zigarre heraus.

Trotz meiner Vorstellungen rauchte er sie durch die ganze Stadt, warf
sie auch vor der Anstalt nicht weg, sondern stieg gemächlich die Treppe
hinan und trat rauchend ins Studierzimmer.

Die Kameraden staunten ihn wie ein Wundertier an, der Präfekt sprang
auf und starrte ihn eine Weile sprachlos an, dann fuhr er auf ihn los:
„Ja Sie, sind Sie denn des Teufels? Was unterstehen Sie sich?“

Da warf Oskar den glimmenden Stummel in den Spucknapf und sagte
gleichmütig: „Ich habe ein Bedürfnis gehabt, zu rauchen.“

Der Präfekt kam noch mehr außer sich und schrie: „Gut, dann haben Sie
jedenfalls auch das Bedürfnis zu einem vierzehntägigen Hausarrest!“

Oskar verneigte sich stumm und begab sich auf seinen Platz. Später, als
der Präfekt einmal das Zimmer verließ, sagte er auf die bewundernden
Worte, die ihm nun allgemein gewidmet wurden: „Ja, sich heimlich wo
zusammenhocken und Pfeifen zu rauchen, braucht weniger Mut. Wenigstens
seht ihr, daß ich kein Feigling bin.“

Von nun an hatte Oskar vor allen Anfeindungen Ruhe und das war niemand
lieber als mir, denn das Verhältnis zwischen mir und ihm wurde von Tag
zu Tag inniger. Sein klares, zielbewußtes Wesen wirkte tief auf mich
ein und es wurde mir klar, daß ich Dichter werden müsse.

Auf einem unserer einsamen Spaziergänge vertraute ich ihm dies mein
Streben an und las ihm auch ein paar Verse vor, die ich in den letzten
Tagen gemacht hatte.

In seine braunen Augen kam wieder das tiefe, schöne Leuchten, das mich
so hinzog zu ihm, und dann sagte er: „Ich hab’s ja gewußt, daß auch du
der Kunst verfallen bist. Es ist ganz eigentümlich, wie man das jedem
ankennt. Wie wenn eine unsichtbare Krone über seinem Haupte schweben
würde und ihr Leuchten fließe über sein Gesicht nieder, so ist das.“

Wir waren auf einer Höhe angelangt. Gegen Osten zu lag die Stadt, gegen
Westen und Süden zu rauschten dunkle Wälder, hinter denen sich die
Alpenberge mit ihren eigenwilligen Linien aufbauten, und gegen Norden
flog der Blick über weite Felderbreiten. Ein einsamer, alter Birnbaum
stand da, zum größten Teile schon verdorrt und nur an einem einzigen
Ast flatterte noch grünes Laub.

„Siehst du,“ sagte Oskar zu mir, „so was möchte ich einmal schaffen
können: Ein Bild, in dem alles liegt, was die deutsche Erde so schön
macht: den Fleiß, der diese Felder furcht, der die Städte gebaut hat,
die Schönheit der Arbeit, das Schweigen der Weiten, die Heiterkeit der
Wälder und die Einsamkeit der fernen Alpengipfel. Meinst du nicht, daß
das etwas wäre, dem man ein ganzes Leben zum Opfer bringen könnte? --
Was ist eigentlich dein Ziel?“

Wie immer, wenn Oskar seine Ideen entwickelte, war ich wie vor den Kopf
geschlagen. Er war sich über alles klar, was er werden wollte, und
wußte das in Worten zu sagen, die mir, der ich mich doch als Dichter
fühlte, niemals eingefallen wären. So wußte ich auf seine wiederholte
Frage denn auch nichts anderes zu antworten als die armseligen Worte:
„Was ich einmal schaffen will, das kann ich heute noch nicht so klar
und bestimmt sagen wie du. Mir schwebt nur eines vor: die Menschen,
die es lesen, müßten darüber jauchzen und weinen zugleich, und keiner
von ihnen müßte jemals mehr zu einer unedlen Tat fähig sein.“

Oskar sah mich lange an und dann sagte er: „Du, das ist groß gedacht.
Laß dich nur davon nicht abbringen. Ich sage dir: die Kunst ist heilig,
und ein echter Künstler muß ein Priester sein. Heini!“ -- sein Auge
leuchtete wieder in jener schwärmerischen Glut auf, die jeden entzünden
mußte -- „hier, wo uns nur der große Unsichtbare sieht, den sie Gott
nennen, hier wollen wir uns geloben: uns selbst und dem Heiligen, das
wir in der Brust tragen, treu zu sein für immerdar.“ Und mich neben
sich auf die Knie ziehend, sprach er: „Komm, Heini, wir wollen beten!“
Und da breitete er die Arme aus, wandte das Antlitz gegen Himmel und
rief: „Herr, laß uns werden, wovon wir träumen, gib uns die Kraft zum
Schaffen, laß uns nicht im Staub versinken -- eher sterben!“

Ein Schauer lief bei dem letzten Worte über meinen Leib; es war so
furchtbar ernst gesprochen, wie eine Forderung.

Auf dem Heimweg sprachen wir wenig. Oskar war jedenfalls ganz mit
seinen Plänen beschäftigt und in mir zitterte jeder Nerv, so tief hatte
mich das Erlebnis auf der einsamen Höhe ergriffen.

Am Anstaltstor fragte mich Oskar plötzlich: „Kennst du Eichendorff?“
Ich erwiderte, der Wahrheit die Ehre gebend, daß ich wohl einzelne
Gedichte von ihm gelesen habe, im großen und ganzen sei er mir aber
noch fremd.

„Dann mußt du ihn sofort lesen. Ich werde ihn dir geben. Weißt du,
Eichendorff ist der Mensch, der den Künstler versteht, den der Künstler
braucht. Denn er ist die unendliche Sehnsucht und ohne die gibt es
keine Kunst. Er macht das Herz weit, so daß eine ganze Welt drinnen
Platz findet.“

Noch am selben Abend gab mir Oskar den alten, abgegriffenen Band der
Gedichte Eichendorffs.

Kein Buch hat auf mich so gewirkt. Ich fand darinnen die irren, dunklen
Stimmen meiner eigenen Sehnsucht nach Schönheit, Glück und Liebe, und
über die ganze Welt senkte sich, je mehr ich mich in ihn vertiefte,
ein Zauberschleier, der sie wundersam verklärte und ihr alle Ecken und
Härten nahm. Ich sah die wirkliche Welt nicht mehr, nur die Ferne, und
meine dunkle Sehnsucht, die vergebens in die Lüfte nach einem festen
Gegenstand griff, schwoll so an, daß mir oftmals die Augen feucht
wurden, ohne daß ich hätte sagen können, aus welchem Grunde.

Bei aller Freundschaft gingen Oskar und ich doch noch immer unsere
eigenen Wege.

„Wir dürfen uns aneinander nicht abreiben!“ sagte er, „wir müssen die
Eigenen, die Einsamen bleiben, die wir im Grunde sind.“

Heri war in diesem Jahre nicht mehr im Kloster, sondern zu Hause. Wenn
ich auch immer seltener und seltener sie bei Tante Berta aufgesucht
hatte, so ging sie mir nun doch sehr ab und an manchen Sonntagen, wenn
auch Oskar seine eigenen Wege ging, befiel mich eine Sehnsucht nach
ihr, die stark und schmerzend wie Heimweh war. Da ging ich am liebsten
an das Bahngeleise und jeder der gegen Süden brausenden Züge nahm mein
Herz mit. Mit jedem Male ging ich weiter und weiter am Bahngeleise
entlang und so kam ich auch dorthin, wo der Schienenstrang durch einen
tiefen Geländeeinschnitt führte. Auf der Höhe der Böschung bin ich nun
oft und oft gestanden. Unter mir jagten die Züge dahin und stießen
mir ihren silbergrauen Wolkenatem ins Gesicht, die Telegraphendrähte
summten geheimnisvoll vor sich hin, in den Weißdornhecken, die den Rand
der Böschung säumten, säuselte der Wind und von ferne her klang es wie
ein Singen, unsagbar süß und unsagbar weh. Und das Singen kam von dort
her, wo über den blauverschleierten Wäldern die Berge aufstiegen, in
silbernen Duft gehüllt, oft kaum mehr zu erkennen.

Da stand ich und sah den Zügen nach, bis das letzte Rauchwölkchen in
der Weite verschwamm, und da ist es auch geschehen, daß ich einmal
ganz laut einem Zuge den sehnsuchterpreßten Namen: „Heri!“ nachrief.
Allerdings erschrak ich selbst ganz gewaltig, und obwohl ich sicher
sein konnte, daß mich hier niemand gehört haben konnte, sah ich doch
nach allen Seiten herum und fühlte dabei die glühende Röte, die in
meine Wangen geschossen war. In zitternder Scham vor mir selbst gestand
ich mir: ich liebe Heri!

Auf dem Heimweg überlegte ich, ob ich es Oskar sagen sollte; aber eine
ganz eigentümliche Scheu hielt mich davor zurück. Und so trug ich mein
süßes Geheimnis mit mir, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Es war
ja zum wirklichen Glück geworden.

Zu Ostern war ich nach Hause gefahren. Es war Mitte April und ein
außergewöhnlich früher Frühling hatte selbst in unserem Gebirgskessel
schon die ersten Blüten an den Zweigen hervorgelockt. Die Haselstauden
hingen voll goldgelber Kätzchen, auf den schlanken Weidenruten saßen
in schmucken Reihen die silberweißen Blütenpelze und der Hartriegel
hatte ebenso seine gelben, wie der Schlehenstrauch seine weißen
Sterne ausgebreitet. Tiefblaue Leberblumen und das bunte, rauhhaarige
Lungenkraut schmückten die Hänge bis in den Hochwald hinein, und auf
den Wiesen hob zwischen Schneeglöckchen und Frühlingsknotenblumen die
Anemone ihren schimmernden Stern aus dem zartgefiederten Dreiblatt.
Frühling war’s in der Heimat und Frühling in meinem Herzen. Meine
Mutter war krank gewesen und ein Brief, den mir Marieli im Auftrag
ihrer Mutter geschrieben hatte, hatte mich sehr besorgt gemacht. Als
ich aber nach Hause kam und meine Mutter wieder gesund und rüstig vor
mir sah, da kannte meine Freude keine Grenzen. Auch in der Familie des
Oberforstverwalters hatte man schon ernstliche Befürchtungen gehegt,
und als ich am Nachmittag des Ostersonntags -- ich war mittags im
Schlosse zu Tische geladen gewesen -- mit Heri durch den Park schritt,
sagte sie mit einer mir ungewohnten Weichheit in der Stimme: „Wie bin
ich heute so froh. Ich hatte schon gefürchtet, die Ostern könnten heuer
traurig werden und nun sind sie so schön!“

Ich sagte darauf nichts, meine Augen hingen nur immerzu an der
schlanken, graziösen Gestalt neben mir, an dem zarten, feinen
Gesicht mit den tiefroten Lippen und den dunklen Augen und an dem
kastanienbraunen Haar, über das die milde Frühlingssonne ein Netz von
goldenem Flimmer wob.

„Freust du dich nicht?“ fragte sie nach einer Weile.

„O, ich freue mich immer, wenn ich auf Ferien gehen kann,“ sagte ich
und fühlte dabei, wie ich errötete.

„Ich auch!“ sagte sie leise und auch ihr Gesicht überflog eine
flammende Röte.

Mein Herz hämmerte stürmisch und um meine Verlegenheit zu verbergen,
brach ich ein über und über blühendes Reis von einem Schlehenstrauch an
unserem Wege, entfernte sorgfältig die Stacheln und bot es ihr.

Sie nahm es mit einem leuchtenden Blick an und versuchte, es vor dem
Busen zu befestigen. Aber es gelang ihr nicht. Nun wollte sie es in das
Haar stecken, aber auch da hielt es nicht.

„Komm, laß mich!“ sagte ich und schlang behutsam und mit
glückzitternder Hand die Blüten in ihr duftendes Haar. Und sie hielt
das liebe Köpfchen gesenkt, bis ich fertig war und dann sah sie mich
strahlend mit ihren süßen, meertiefen Augen an.

Und da wagte ich es, schlang den Arm um ihren Nacken und fragte
stotternd: „Heri, hast mich lieb?“

Da lehnte sie ihr Köpfchen an meine Schulter, sah zu mir auf,
glücklich, unsäglich glücklich und dann nickte sie ein paarmal rasch.

Und ich neigte meine Lippen auf die ihren, die sehnsüchtig zu mir
aufdürsteten.

Eine Weile standen wir so ganz in Seligkeit versunken, dann fragte ich
leise: „Und wirst du mir treu bleiben?“

„Ewig, Heini!“ entgegnete sie ebenso leise.

In diesem Augenblick begannen im Dorfe die Glocken zur nachmittägigen
Vesper zu läuten, und auf den frommen, frohen Klängen schwang sich die
Andacht der ersten Liebe jubelnd zum Himmel empor.



VI.


Ewig! Wie leicht sich das spricht, wenn der Frühling das Blut durch
die Adern treibt. Als ob es auf Erden außer dem Leben im allgemeinen
überhaupt etwas Ewiges gäbe! Aber das Herz glaubt in kindlicher
Ergriffenheit das Märchen, und der Frühling ist der größte und beste
Märchenerzähler. Heute hat er mich an der Hand genommen und hat mich
durch sein buntes Reich geführt. Die Sonne lag so warm auf dem Wald
und streichelte mit ihren goldenen Strahlenfingern die ernsten Tannen
und Fichten, daß es wie lächelnde Verklärung über ihre dunklen Häupter
ging. Der Waldgrund bis zum See hinunter ist ein einziges Blühen. Gelb,
Blau, Weiß und da und dort ein Tupfen Rot bedecken in kühnen Flächen
den Boden und darüber summte es von unzähligen flügelblitzenden Wesen,
die sich aus den Kelchen auf ihre Weise ihren Frühlingsrausch trinken.
Und auch die Schmetterlinge sind schon da: der goldbraune Fuchs und
der hellgelbe Zitronenfalter. Von Blüte zu Blüte taumeln sie und dann
steigen ihrer zwei in kreisenden Wirbeln empor, hoch, hoch hinauf
in das strahlende Ätherblau. Und ein leiser Wind ist da und trägt
aus all den blühenden Weiten und Winkeln den Duft herbei und mit dem
Duft zugleich den Gesang der Vögel, die auf allen Zweigen jubeln und
schmettern, als sollte es ihnen die kleine, glückgeschwellte Brust
zersprengen. Frühling! Und die junge Seele, die sich zum ersten Male
seiner bewußt wird, die von der Sonne der Liebe zum ersten Blühen
aufgeküßt wird, sie sieht Nähen und Weiten von seinem Walten erfüllt
und meint, das könne nun nie mehr anders werden. Und wie sollte sie
es auch wissen, daß der Frühling nur dazu da ist, das Vergängliche
mit Ewigkeitsträumen zu erfüllen, auf daß es willig werde, den ewigen
Lebenszwecken zu dienen. Ewigkeitstraum, Ewigkeitsrausch, das ist
der Frühling. Aber aus Traum und Rausch gibt es ein Erwachen, und
dann kommt die Reue und der Haß, und dieselben Lippen, über welche
begeisterte Loblieder auf den Frühling geflossen sind, pressen Fluch
auf Fluch hervor. Auch ich habe dem Frühling geflucht, der mir Heri in
den Arm legte. Aber heute weiß ich, daß es so sein mußte, und ich wäre
nicht der glückliche Mensch, der ich heute bin, wenn jener Frühling
nicht gewesen wäre. Glücklich! Bin ich’s denn? Nein. Ich bin weder
glücklich noch unglücklich, das sind Ausdrücke aus der Dumpfheit des
Menschentums. Ich bin, schlechthin „ich bin.“ Ich bin der Frühling und
der Winter, ich bin die Sonne und die Blume, ich bin ein Stück Natur,
unvergänglich im Wesen, vergänglich in der Gestalt: ich bin der Friede,
ich, der Einzige auf der weiten Welt!

Doch ich muß erzählen.

Als ich nach den Ferien wieder in die Anstalt kam, war in meinem
Wesen eine so große Veränderung vor sich gegangen, daß auch Oskar
aufmerksam wurde. Ich stürzte mich mit einem Eifer auf mein Studium,
als gälte es, in einem Monat alles zu bewältigen, wozu mir noch zwei
Jahre bevorstanden. Ich mied die Kameraden mehr als jemals, und auch
mit Oskar kam ich weniger zusammen als je. Ich wollte allein sein,
denn Lied auf Lied sproßte aus meinem Herzen empor, und wenn ich mir
heute auch sagen muß, daß das meiste nicht einmal für einen der übel
beleumundeten Goldschnittbände von Liebeslyrik getaugt hätte, damals
fühlte ich doch über jeden Vers und jeden Reim ein Glück, das mich
wie auf Engelsschwingen zum Himmel trug, in dem Heri als Gottheit auf
leuchtendem Throne saß.

Ich blieb jetzt auch öfter, wenn allgemeiner Ausgang war, zu Hause,
um meine Gedichte in ein Heftchen zu schreiben, dessen Blätter ich
sorgfältig mit roter Tinte umrandet hatte und das ich dann binden
lassen und Heri überreichen wollte.

Und bei dieser Arbeit überraschte mich an einem Nachmittage Oskar.

„Was schreibst du da?“ fragte er und griff nach dem Heft.

Ich wollte es ihm wegnehmen, aber da sah er mich so groß und fragend
an, daß ich die Hand sinken ließ. Und nach einer Weile sagte er: „Sind
wir nicht Freunde, Freunde“ -- er betonte das stark und eindringlich
-- „Heini?“

Ich senkte beschämt den Kopf und er fuhr fort: „Wenn du nicht willst,
daß ich lese, was du da geschrieben hast, so will ich gerne darauf
verzichten. Aber ich müßte mir sagen, daß du nicht das rechte Vertrauen
zu mir hättest und das, Heini, das täte mir wohl recht, recht weh!“

Nun fand auch ich wieder die Sprache: „Nein, nein, Oskar, lesen kannst
du das schon. Aber weißt du, es ist halt nichts Besonderes, und ich
hätte dir gerne etwas Besseres gezeigt.“

„Kein Meister ist vom Himmel gefallen und wir, die aus Eigenem lernen
und werden müssen, wir werden noch lange brauchen, bis daß wir mit uns
selbst zufrieden sein können. Darf ich also lesen?“

Ich nickte, und während ich mit klopfendem Herzen seine Mienen
beobachtete, las er langsam Seite um Seite.

Dann legte er das Heft auf den Tisch, strich sich nach seiner
Gewohnheit ein paarmal über die Stirne und fragte dann: „Lebt diese
Frau, von der diese Lieder singen, oder ist sie nur ein Gebilde deiner
Phantasie?“

„Sie lebt.“

„Hier?“

„Nein, zu Hause. Du kennst sie ja. Es ist das Mädchen, mit dem du
mich wohl in Begleitung einer älteren Dame, ihrer Tante, einige Male
spazieren gehen gesehen hast.“

„O, ich weiß schon, die Oberforstverwalterstochter aus euren Bergen,
das Mädchen mit den wundervollen dunklen Augen!“

„Sind dir auch ihre Augen aufgefallen?“

„Ich sehe mir jeden Menschen nur auf seine Augen an. In diesen
liegt sein Charakter und sein Wesen und die Entscheidung, ob er ein
Herdentier oder ein Höhenmensch ist.“

„Und was hast du aus den Augen meiner Heri gelesen?“

„Ich sah sie nur flüchtig, aber wie gesagt, ihre Augen sind mir
aufgefallen, es war ein so unergründliches Leuchten drinnen. Aber
erzähl mir von ihr!“

Und ich erzählte und schwärmte.

Er hörte mir, das Haupt gedankenvoll gesenkt, zu, dann, als ich endlich
schwieg, sagte er und seine Worte fielen langsam, wie kühle Tropfen,
von seinen blassen, schmalen Lippen: „Schön muß es wohl sein, zu lieben
und geliebt zu werden. Aber uns, Heini, darf die Liebe nicht in Gewalt
bekommen. Uns darf sie nur Sehnsucht, nicht Erfüllung sein. Wir sind
nicht geboren zum Glück im gewöhnlich menschlichen Sinne, sondern zum
Schöpferglück. Lieben, irdisch lieben heißt für uns: sterben.“

Wie immer, wenn er so hohe Worte sprach, wußte ich auch auf diese Rede
nichts zu sagen. Da war ein Geist, der mir fremd war, der mir Scheu
einflößte, vor dem sich meine Seele in sich zusammenkauerte wie ein
Kind, dem sich im Dämmerlicht etwas Großes, Angsterregendes nähert. In
solchen Augenblicken fühlte ich Oskars unendliche Überlegenheit und
wußte nicht, daß diese Frühreife das Todeszeichen war, das ihm sein
Schicksal auf die gedankenvolle Stirne gezeichnet hatte.

„Irdisch lieben heißt für uns: sterben!“

Tagelang grübelte ich über diese Worte nach; sie wühlten schroffen
Widerspruch in mir auf und dann war’s doch wieder, als müßte ich mich
ihnen beugen. Meine Lieder bekamen von diesen Grübeleien den dunklen
Ton des Schmerzes und der Entsagung, und als ich zu Weihnachten Heri
heimlich das Heftchen einhändigte, da fragte sie mich am nächsten Tage:
„Warum schreibst du so traurige Lieder?“

„Heri, sieh, es kommt oft so über mich; ich muß dann denken, du
gehörtest einem anderen und das -- Heri -- das stimmt mich so, daß ich
am liebsten sterben möchte.“

„Was du für sonderbare Gedanken hast!“ sagte sie erstaunt und setzte
nach einer kleinen Pause lächelnd hinzu: „Denkst du jetzt auch ans
Sterben?“

Sanft schmiegte sie sich an mich und ihre Augen leuchteten so süß
und ihre Lippen blühten so sehnsüchtig zu mir auf, daß ich alle
Todesgedanken vergaß, sie in die Arme schloß und meine ganze Seele in
einem langen, langen Kuß ausströmen ließ.

Während ich im Glück meiner jungen Liebe versank, hatte sich in
der Anstalt Oskars Schicksal erfüllt. Da er keine Eltern hatte,
war er in der Anstalt verblieben und benutzte die Ferientage zu
fleißigem Zeichnen und Malen. An einem Tage war er nachmittags mit
seinem Skizzenbuch fort, um eine Winterlandschaft nach der Natur zu
zeichnen. Dabei hatte er sich erkältet und nun kam die Krankheit
zum Ausbruch, der auch sein Vater in jungen Jahren erlegen war: die
Lungenschwindsucht.

Am Sylvestertage war er ins Spital transportiert worden und als ich
am Abende des Neujahrstages wieder in der Anstalt eintraf, war es das
erste, was ich erfuhr, daß Oskar rettungslos verloren sei. Das Leiden
war mit solcher Heftigkeit aufgetreten, daß ihm nur mehr einige Wochen
zum Leben vergönnt sein konnten.

Diese Nachricht traf mich wie ein Keulenschlag, und als ich an dem
ersten Tage, an dem wir freien Ausgang hatten, zu ihm eilte und an sein
Bett trat, da mußte ich all meine Kraft zusammennehmen, um mich nicht
aufschluchzend über ihn zu werfen.

Zum Glück hatte er selbst keine Ahnung, wie es um ihn stand, und
schimpfte nur über den Doktor, der ihn wegen einer Bronchitis da
hierher ins Spital habe bringen lassen. Es sei ja gar nicht übel
hier, die Krankenschwester sei sehr lieb zu ihm, aber wenn er im
Krankenzimmer der Anstalt hätte bleiben können, wäre es ihm doch lieber
gewesen, weil dann ich jeden Tag ein paarmal zu ihm hätte kommen
können. Und er hätte mir so viel zu sagen, nun aber falle es ihm nicht
ein und -- er begann zu husten, trocken und heiser, minutenlang, ohne
aufzuhören -- jetzt könne er es auch nicht wegen der blödsinnigen
Husterei.

Er konnte die letzten Worte, vollständig erschöpft, nur flüstern, und
dann sank er in die Kissen zurück. Müde schloß er die Augen und wären
die hektischen Rosen auf seinen Wangen nicht gewesen, man hätte ihn für
tot halten können.

Eine geraume Zeit lag er so und dann erzählte ich ihm von meinen
Ferien, aber ich erzählte sozusagen mit gedämpften Lichtern, es schien
mir roh, vor dem dem Tode Verfallenen von meinem Glück zu reden. Und
ihm schien merkwürdigerweise gar nicht einzufallen, daß ich auch bei
Heri gewesen sei. Er fragte nur, ob und was ich geschaffen, und als
ich ihm vorlog, daß ich eine größere Dichtung angefangen habe, war er
sehr befriedigt. Ehe ich fortging, bat er mich noch, ihm das nächste
Mal seine Zeichenutensilien, und zwar Skizzenbuch, Bleistifte und
Pastellstifte mitzubringen, denn er wolle sich nicht zu Tode langweilen.

Ich vollführte seinen Auftrag und als ich dann wieder das dritte Mal zu
ihm kam, hatte er auch schon etwas gezeichnet. Aus Mangel an passenden
Objekten, hatte er sich den Christuskopf von dem riesigen Kruzifixe,
das die Wand schmücken sollte, sie aber nur noch trostloser machte, zur
Vorlage gewählt.

„Da schau, was ich gemacht habe,“ flüsterte er.

Ich war überrascht. Oskar, der sonst so peinlich genau war und
nicht früher Ruhe gab, ehe nicht seine Zeichnung ihrem Vorbilde
entsprach, hier hatte er dieses ganz wesentlich anders wiedergegeben.
Der Christuskopf des Kruzifixes zeigte ein im Tode zur Brust
niedergesunkenes Haupt mit geschlossenen Augen. Ein müder, dumpfer
Friede lag auf dem hageren Antlitz. Auf Oskars Zeichnung aber hatte der
Kopf eine nach vor- und aufwärts gerichtete Haltung; die Augen waren
geöffnet und namenlose Qual, tödliches Entsetzen schrien aus ihnen; der
Mund war verzerrt und jeder Muskel des Gesichts schien vor unsäglichem
Schmerz gespannt. Die ganze, ungeheure Angst vor dem Tode lag im
Ausdruck dieses Gesichtes.

Ich starrte bald die Zeichnung, bald das Kruzifix an, unfähig, ein Wort
zu sagen, denn ich war im Innersten erschüttert: hier hatte nicht seine
Hand, sondern sein Herz den Stift geführt.

„Nun, was sagst du dazu?“ fragte er mich mit seiner heiserleisen Stimme.

Um meine Erschütterung zu verbergen, tat ich ganz kühl kritisch und
erwiderte: „Hier hast du dir aber sehr starke künstlerische Freiheiten
erlaubt.“

„Hab’ ich auch. Und zwar, weil der Mensch, der diesen Christus dort
geschnitzt hat, ein ganz oberflächlicher Mensch ist. Weißt du, so
still und ergeben, so stumpf wie der dort, stirbt keiner, der einer
ganzen Welt das Glück bringen wollte. Wie muß der die Erde geliebt
haben, die große, weite, schöne Erde! Ich weiß das, und ich habe mich
in ihn hineingedacht. Wissen, daß man all die Schönheit zum letzten
Male schaut, daß dann ewige, ewige Nacht ist, daß all das, was man noch
wirken wollte, mit einem begraben wird, Heini, das muß ein Schmerz
sein, gegen den nicht einmal der physische der Kreuzigung selbst
aufkommen kann. Siehst du und das wollte ich zeichnen. Es ist mir
ohnedies nicht recht gelungen, mir stand es noch ganz anders vor der
Seele.“

Er wollte noch weitersprechen, aber ein furchtbarer Hustenanfall machte
es ihm unmöglich. Nach demselben aber war er so matt, daß er neben mir
einschlummerte.

Die Krankenschwester war hereingekommen, während er noch hustete. Sie
rückte ihm die Kissen zurecht, und als sie sah, daß er schlummerte,
sagte sie leise zu mir: „Das Leiden macht bei ihm rapide Fortschritte.
Sie müssen sich auf den Gedanken gefaßt machen, Ihren Freund schon
sehr bald zu verlieren.“ Und ihm behutsam den Schweiß von der Stirne
wischend, flüsterte sie voll inniger Teilnahme: „Armer, armer Mensch!“

„Was sagt der Doktor?“ fragte ich.

Sie zuckte mit den Achseln und erwiderte: „Bei normalem Verlauf, sagt
er, kann es noch einen Monat mit ihm dauern, aber es kann auch schon in
vierzehn Tagen, ja sogar noch früher die Katastrophe eintreten. Hoffen
wir das erstere.“

Wie ein Trunkener verließ ich das Spital. Ich hatte meinen Vater
verloren, auf entsetzliche Weise verloren und war darüber zum bewußten
Leben erwacht; aber in seiner Allmacht und Größe war mir erst jetzt
der Tod zum Bewußtsein gekommen. In einem Monat also sollte ich meinen
Oskar nicht mehr haben; da lag er schon drunten in der dunklen Erde,
die ernsten treuen Augen für immer geschlossen und nie, nie mehr sollte
ich ein Wort mit ihm sprechen können, nie mehr seinen hohen und für
mich oft so dunklen Worten lauschen können. Wie konnte, wie durfte es
das geben! Sollte ich da nichts, gar nichts machen können? Es mußte,
es mußte doch etwas geben! Und wem sollte es einfallen als mir, mir,
seinem einzigen Freunde!

Mir brannten die Augen, das Herz schlug mir, mein ganzes Wesen war in
Aufruhr. Ich durfte Oskar nicht sterben lassen, es war meine Pflicht,
meine heiligste Pflicht. Aber was sollte ich tun?

Ich lief wie irrsinnig nach Hause.

Da, im Vestibül trat der Portier, der auch die Post in Empfang nahm,
auf mich zu und überreichte mir einen Brief. Die schlanken, zierlichen
Buchstaben kannte ich: es war Heris Schrift. Um die in meine Wangen
aufschießende glühende Röte zu verbergen, eilte ich in weiten Sprüngen
die Treppe empor, und erst oben im zweiten Stocke auf dem noch leeren
Korridor riß ich den Umschlag auf. Es war das erste Mal, daß mir Heri
schrieb, und es mußte gewiß etwas Wichtiges sein.

Es waren nur ein paar Zeilen und sie lauteten:

    Mein lieber Heini!

    Nächsten Sonntag komme ich zu Tante Berta und zwar auf längere
    Zeit. Sie war bei uns und man fand, daß es für mich Zeit sei, in
    die Welt eingeführt zu werden. Richte es so ein, daß ich Dich an
    einem Deiner nächsten Ausgangstage von Tantes Fenster aus sehen
    kann. Ich werde sie dann veranlassen, Dich einzuladen. Ich schreibe
    das in aller Eile, verzeih also die Kürze.

    Deine

    Heri.

In diesem Augenblick war all mein Schmerz um Oskar vergessen und
mein ganzes Wesen beherrschte nur ein Gedanke: Heri kommt! Ich würde
mit ihr dieselbe Luft atmen, sie ein paarmal in jeder Woche sehen,
sprechen und küssen können. Und im Geiste malte ich mir das Glück aus,
ihr lockendunkles Köpfchen an meiner Schulter fühlen, ihre meertiefen
Augen in feuchtem Glanze leuchten sehen zu können.

Aber plötzlich fiel es wie Mehltau auf die Blüten meiner Freude. Sie
war gekommen, um in die Welt eingeführt zu werden. Das hieß also,
sie sollte in Gesellschaften mitgenommen werden, und daß sie bei
ihrer Schönheit die jungen Männer fesseln mußte, das war mir klar.
Wie würden sie sich huldigend um sie drängen, all die geschniegelten
jungen Herren und die weltgewandten Offiziere. Wie würden sie Heri mit
Schmeicheleien und galanten Worten überschütten! Und wie mußte ich dann
daneben stehen, ich, der arme, unfertige Student! Was war ich gegen die
anderen! Ein Nichts, nein, noch weniger: eine Lächerlichkeit!

Und da fiel mir wieder Oskar ein. Ja, wenn ich so sein könnte wie der!
Der würde die ganze Gesellschaft mit all ihrem Prunk nur so von oben
herab behandeln, mit seinem halb geringschätzigen, halb mitleidigen
Lächeln! Ja, Oskar, der wäre der Mensch, einen solchen Kampf
aufzunehmen, aber ich, das mußte ich mir sagen, ich konnte es nicht.
Und da befiel mich ein grauenvolles Verlassenheitsgefühl und ich warf
mich im Schlafsaale auf mein Bett und ließ meinen Jammer in sinn- und
fassungslosen Tränenströmen ausfließen.

Am Samstag sollte ich wieder zu Oskar gehen; ich wußte, daß er mich
sehnsüchtig erwartete, und doch trieb es mich, den Zug abzuwarten, der
Heri bringen sollte. Er mußte ungefähr um zwei Uhr ankommen und dann
hatte ich immerhin noch Zeit, Oskar zu besuchen. Erst hatte ich die
Absicht, Heri auf dem Perron zu erwarten; aber diesen Gedanken gab ich
auf. Sie wurde ja sicher von ihrer Tante abgeholt, und wenn mich diese
auf dem Bahnhofe traf, mußte sie sofort unser heimliches Einverständnis
entdecken. Und das durfte, solange ich noch Schüler war, unter keinen
Umständen geschehen.

Ich stellte mich also hinter einer der alten Riesenkastanien auf, die
vom Bahnhof bis zur Stadt eine Allee bildeten, und wartete dort. Im
geeigneten Momente wollte ich hervortreten; Heri sollte mich sehen, die
Tante nicht.

Qualvoll langsam schlichen die Minuten dahin, während ich, den
Rockkragen hochgeschlagen und die Mütze tief in die Stirne gezogen,
auf dem Promenadeweg vor dem Bahnhof auf und ab spazierte. Durch die
Winterlandschaft klangen die Glockensignale, im frischen Wind summten
die Telegraphendrähte; dann und wann pfiff eine Lokomotive und dumpf
dröhnte das Aneinanderstoßen verschiebender Wagen.

Sonst wenn ich auf den Bahnhof kam oder wenn ich vom Bahndamm aus
den Zügen zusah, wie sie in die ferne Heimat eilten, hatten mich alle
diese mit dem Verkehre zusammenhängenden Töne und Geräusche mit froher
Reisesehnsucht erfüllt, heute auf einmal fühlte ich so etwas Fremdes,
Kaltes von ihnen ausgehen, und eine tiefe Melancholie preßte mein Herz
wie mit eisernen Händen zusammen.

Endlich schlug es drei Viertel zwei und ich begab mich auf meinen
Posten. Der Wagen der Tante Berta war bereits vorgefahren und der
Kutscher stand bei den Pferden und tätschelte ihnen den Hals.

Nun ein langgezogenes Pfeifen, dann dröhnte der Zug in die Station
herein, das Brausen der Dampfbremse erscholl, nun mußte der Zug stehen.

Mir klopfte das Herz bis zum Halse herauf. Jeden Augenblick mußte Heri,
meine schöne Heri erscheinen.

Der Kutscher stand am Wagenschlag und spähte in die Halle des
Vestibüls, nun zog er seinen Hut und neben der Tante erschien Heri.
Sie war in einem grauen Reisekleid und zum ersten Male sah ich, daß
sie eine junge Dame war. Bisher war sie mir nur ein Mädchen gewesen,
und trotz der Liebe und der Küsse war sie für mich noch immer der
alte, eigensinnige Wildfang aus unserer Kinderzeit. Nun aber war sie
eine wirkliche Dame und ich -- mein Blick glitt unwillkürlich an
meinem vernachlässigten äußeren Menschen hinab -- ich war ein armes
Studentlein, sonst nichts.

Die beiden Damen waren inzwischen in den Wagen gestiegen, in den ein
Gepäckträger Koffer und Schachteln in allen Größen verstaute, so daß
der nun seinen Sitz erkletternde Kutscher kaum mehr Platz fand. Ein
leichter Ruck an den Zügeln und der Wagen rollte gegen mich heran. Als
er an der Kastanie eben vorüberfuhr, hinter der ich mich verborgen
hatte, neigte ich mich mit halbem Leibe vor, aber die beiden im Wagen
waren so in ihr Gespräch vertieft, daß sie mich nicht sahen.

Ich hatte heimlich gehofft, Heris Blicke würden mich suchen, aber
nichts davon war der Fall gewesen. Das setzte meine ohnehin schon ganz
gedrückte Stimmung noch um vieles herunter und aufs neue befiel mich
jenes furchtbare Verlassenheitsgefühl, das mich nach ihrem Briefe
überkommen hatte.

Ich trat vollends aus meinem Versteck hervor und schritt dem rasch sich
entfernenden Wagen nach. In meinem Herzen war es so öd und leer und ich
kam mir vor wie ein Mensch, dem man sein letztes bißchen Hab und Gut
genommen und den man dann in graue Nebelnacht hinausgestoßen hat.

Und dieses Gefühl wurde verstärkt durch das Gespräch zweier Offiziere,
die hinter mir her ebenfalls vom Bahnhof zur Stadt schritten.

„Hast du die junge Dame gekannt, die mit der Frau Oberstin fuhr?“
fragte der eine.

„Gekannt habe ich sie nicht; aber jedenfalls dürfte das die Nichte
sein, von der sie unlängst im Kasino erzählte, daß sie sie hier in die
Gesellschaft einführen wolle.“

„Ein ganz verdammt und apart hübsches Mädel! Unsere Damen hier werden
über die importierte Konkurrenz nicht besonders entzückt sein. Ist sie
auch reich?“

„Interessiert dich das?“

„Na, weißt du, du mußt nicht gleich wieder anzüglich werden. Übrigens:
geheiratet muß es doch einmal sein, und, na, wenn ich mich einmal
verkaufe, dann will ich auch was haben davon und mehr als bloß einen
Haufen Geld. So viel Idealismus habe ich mir immer noch bewahrt. Weg
werfe ich mich nicht!“

Während der letzten Worte hatten mich die beiden Offiziere, die sich
offensichtlich wegen eines so jungen nebensächlichen Menschen, wie ich
einen vorstellte, keinerlei Reserve in ihrem Gespräch auferlegten,
überholt und ich sah mir den einen, den mit den Heiratsgedanken,
genauer an. Er war ein junger, hübscher Mensch mit fröhlichen Augen im
offenen, ehrlichen Gesicht, und wenn ich ihn damals auch bei mir selbst
einen Gecken und Laffen nannte, das empfand ich doch, und all mein
gewaltsam aufgepeitschtes Selbstgefühl konnte es nicht ändern, daß er
mir gesellschaftlich unvergleichlich überlegen sei, daß ich neben ihm
überhaupt nicht in Betracht kommen könnte. Wozu solche Menschen wie
ich auf der Welt herumlaufen? Am besten wäre es: eine Kugel durch den
Kopf, und Schluß. Sterben, ja sterben, das wäre jetzt gut, oh, so gut!

Und da fiel mir Oskar ein. Sein abgezehrtes, bleiches Antlitz tauchte
vor mir auf; leibhaftig sah ich es vor mir mit den fieberisch
glänzenden Augen, die in ängstlicher Frage auf die Türe gerichtet
waren, durch die ich eintreten mußte: warum kommst du nicht? Warum
kommst du nicht, Heini?

Ja, dort war ein Mensch, der sich nach mir sehnte, dem ich, der arme,
unscheinbare Student, alles war, und wenn jetzt dieser schmucke
Offizier dort vor mir vor ihn hingetreten wäre und gesagt hätte: „Ich
will dein Freund sein!“ er hätte ihn stehen lassen und die Hand nach
mir ausgestreckt.

Oskar und ich, wir gehörten zusammen, und wie ich nun auf das Spital
zuschritt, wurde es mir immer klarer und klarer: wenn er gestorben war,
dann wollte ich ihm nachfolgen.

Auf dem langen Korridor des Spitals, der zu dem Zimmer führte, in dem
Oskar lag, traf ich die Krankenschwester.

„Gott sei Dank!“ sagte sie, „daß Sie endlich kommen! Ihr Freund ist
entsetzlich aufgeregt. Schon seit zwei Stunden wartet er auf Sie. Alle
paar Minuten fragt er nach Ihnen und erst vor zehn Minuten sagte er,
ich müsse Sie holen lassen, wenn Sie nicht bald kämen. Er ist ganz
verändert, gar nicht mehr so ruhig wie bisher. Seien Sie ja recht
vorsichtig und lassen Sie um Gottes willen ja nichts merken. Ich
fürchte nämlich, er hat irgendwie, wie, das weiß ich nicht, erfahren,
wie es um ihn steht.“

Leise klinkte ich die Türe auf und trat ein.

Zwei große und brennende Augen empfingen mich, aber kein Schimmer
von Freude erhellte sie. Starr, eindringlich forschend waren sie auf
mich gerichtet, und so folgten sie mir auch, während ich auf das Bett
zuschritt, ihm die Hand reichte und mich dann auf den Sessel niederließ.

Er sah mich noch eine ganze Weile an, als wollte er von meiner Stirne
die Gedanken lesen, die ich bei seinem Anblick dachte, und auch als
ich ihn, um meine unbehagliche Verlegenheit zu verbergen, fragte, wie
es ihm gehe, antwortete er nicht sofort, hielt den Blick nach wie vor
fest auf mich geheftet und dann sagte er endlich, jedes Wort hinter den
Zähnen hervorpressend: „Ich muß sterben!“

„Aber Oskar, wie kommst du auf solche Gedanken!“ Ich wunderte mich
selbst, wie gut mir der Ton vorwurfsvoller Ungläubigkeit gelang.

Er aber umklammerte mit seinen feuchtkühlen, mageren Fingern meine Hand
und flüsterte heiser und aufgeregt: „Ja, ich muß sterben. Ich habe es
gehört, wie es der Doktor gesagt hat!“

„Na, hörst du, Oskar, das hast du aber doch bloß geträumt. Bedenke,
selbst wenn es wahr wäre, so würde es doch der Doktor vor dir nicht
sagen.“

Er schüttelte den Kopf und erwiderte: „Er hat geglaubt, ich höre es
nicht. Es war gestern. Ich hatte eben wieder einen Hustenanfall gehabt
und lag totmüde da. Obwohl ich den Doktor mit der Schwester kommen
hörte, war ich doch zu müde, die Augen aufzumachen. Ich fürchtete das
Fragen, wollte Ruhe haben und stellte mich deswegen schlafend. Und da
hat er’s gesagt: ‚Es geht rapid mit ihm abwärts, wir werden ihn auf den
Empfang der Sterbesakramente vorbereiten müssen.‘“

„Geh,“ versuchte ich, ihm in die Rede fallend, diesen Gedanken aus
seinem Kopfe zu bannen, „du hast doch nur geträumt. Du wirst eben schon
ungeduldig, hast zu viel Zeit zum Grübeln und diese ganze Umgebung
da -- na, es ist eben ein Spital! -- ist auch nicht danach angetan,
heitere Gedanken aufkommen zu lassen. Aber vom Sterben ist doch ganz
und gar keine Rede! Ich bitte dich, Oskar, schlag dir doch solch
selbstquälerische Gedanken aus dem Kopf!“

Ich staunte neuerdings über meine eigene Beredsamkeit und war der
festen Überzeugung, sie würde auch Oskar besiegen.

Aber er schüttelte nur wieder den Kopf und seine Züge verzerrten sich
wie die auf dem Christusbilde, das er gezeichnet hatte.

„Nein, nein,“ keuchte er, „ich muß sterben! Es gibt keine Hilfe mehr!
Da drinnen“ -- er krampfte die linke Hand über der Brust zusammen --
„ist alles hin, ich spür’s. Das hab ich von meinen Eltern. Und dafür
sollen wir ihnen dankbar sein! Dankbar, daß ich jetzt fortgehen soll,
verfaulen in jungen Jahren, Heini, verfaulen!“

Wie ein weidwundgeschossenes Tier stöhnte er und dann faßte ihn
plötzlich die Angst; seine Wangen erglühten in hektischer Röte,
der kalte Schweiß trat in großen Perlen auf seine Stirn, keuchend
und röchelnd suchte er sich zu erheben und als ich ihm dabei half,
umkrallten mich seine Hände und stoßweise, in grauenvoller Angst, kam
es über seine krampfhaft gegen die Mundwinkel zuckenden Lippen: „Hilf
mir -- Heini -- ich mag nicht sterben -- hilf mir -- ich -- ich --“

Er rang nach Luft, konnte aber kein Wort mehr herausbringen, ein
Knattern und Prasseln scholl aus seiner Brust, er begann zu husten und
da quoll auch schon über seine Lippe ein dünner Streifen schaumigen
Blutes. Leise aufächzend, mit verglasenden Augen sank er in sich
zusammen.

Auf den gellenden Hilferuf, den ich in meinem wahnsinnigen Entsetzen
unwillkürlich ausgestoßen hatte, stürzte aus dem Nebenzimmer die
Schwester herbei. Nur einen Blick auf den Kranken, dessen Gesicht
aschfahl geworden war, und sie sprang zur elektrischen Klingel.

In der nächsten Minute war schon der Arzt da. Er beugte sich über den
Kranken, dessen Brust sich röchelnd in immer länger aussetzenden Stößen
hob.

„Soll ich den hochwürdigen Herrn Kaplan rufen?“ fragte die Schwester.

„Es ist zu spät!“ entgegnete der Arzt leise und legte sein Ohr an die
Brust des Sterbenden, während seine Finger sanft nach der Pulsader
fühlten.

Die Schwester kniete nieder und begann mit leiser Stimme das
apostolische Glaubensbekenntnis zu sprechen. Ich aber stand da, am
ganzen Körper zitternd, und starrte nur in einem fort auf Oskars
liebes, nun ganz still gewordenes Antlitz, über das sich allmählich
bläuliche Schatten breiteten.

Und eben, als die Schwester die Worte sprach, mit denen sie ihr Gebet
schloß: „Herr, gib ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte
ihm!“ da richtete sich der Arzt empor und über Oskars gebrochene Augen
streichend, sprach er leise: „Es ist vorbei!“

In meiner Brust knäulte sich etwas zusammen, ich spürte an der Kehle
einen ehernen Ring, der sie zusammenpreßte, daß ich nicht mehr atmen
konnte, ich wollte schreien, konnte es aber nicht, vor meinen Augen
begannen schwarze und feurige Ringe in wildem Wirbel zu kreisen und da
brach ich neben dem Bette zusammen.

Nach einer Stunde führte mich der Arzt wie einen Trunkenen in die
Anstalt.

Am zweiten Tage darauf fand das Leichenbegängnis statt.

Es war ein stürmischer Tag. Über Nacht war der Föhn gekommen und nun
trommelten in den Dachrinnen die Schmelzwasser und in den kahlen
Linden der Allee, die zum Friedhof führte, sauste und brauste es
und die gewaltigen Stimmen der Natur übertönten den kläglichen
Leichenchor, der, von den Stößen des Sturms zerfetzt, in einzelnen
Akkorden in die Weite verflatterte. Nur die dünne, schrille Stimme des
Friedhofglöckleins hielt ihm stand, das nun, da sich der Leichenzug der
Friedhofspforte näherte, seinen Jammer erhob. Wie ein Vogel, der sein
Nest nicht findet und nun schreit und schreit, so folgte der Ton des
Glöckleins dem Zuge, stieß sich an Mauern und Leichensteinen, wand sich
durch die sausenden Zypressen und kam erst zur Ruhe, als der Sarg auf
den zwei Pfosten über dem gähnenden Grabe stand.

Und nun erklang von jungen Kehlen das alte Heimwehlied, das so schwer
ist von Tränen, von unsäglichem Herzeleid, und das doch so weich wie
eine Mutterhand über den Scheitel des schluchzenden Kindes, über die
schmerzbebende Seele streicht und sie auf den zärtlichen Armen seiner
schlichten innigen Melodie wiegend zur Ruhe singt.

    „Es ist bestimmt in Gottes Rat,
    Daß man vom Liebsten, was man hat,
    Muß scheiden!“

Bei diesen Worten löste sich in mir der dumpfe Schmerz, der mich bisher
in Bann geschlagen hatte. Was ich, seit ich Oskar sterben gesehen,
nicht gekonnt hatte: nämlich weinen, das konnte ich jetzt und wie
eine Erlösung empfand ich den Segen der unaufhaltsam und in Strömen
rinnenden Tränen.

„Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn!“ klang das Lied leise aus und in
diesem Augenblicke senkte sich der Sarg langsam in die Tiefe hinab. Mit
verschwimmenden Augen sah ich ihn verschwinden, und da konnte ich mich
nicht mehr zurückhalten, ich drängte mich bis an den Rand des Grabes
vor und sank dort, wild und fassungslos aufschluchzend, in die Knie.

Ein Professor hob mich auf. „Kommen Sie,“ sagte er gütig, „gönnen Sie
Ihrem Freunde seine Ruhe. Es war das beste für ihn. Kommen Sie, seien
Sie ein Mann!“

Und mit mildem Zwange führte er mich von dem Grabe meines einzigen
wahren Freundes fort. Was ich hier begraben, sollte in meinem Leben nie
wieder auferstehen: die Freundschaft.



VII.


Mein Oskar! Sie haben mich nicht Abschied von dir nehmen lassen, wie
ich es gewollt habe. Sie ließen mich nicht noch einmal dein blasses,
ernstes Antlitz schauen und doch weiß ich, daß es ein Antlitz des
Friedens war. Schon als du starbst, glättete sich die tiefe Falte,
die der Schmerz um deine Mundwinkel gezogen, und ich glaube es jenen
gerne, die dich auf der Bahre gesehen, daß es fast wie Lächeln auf
deinen Zügen lag. Es war ja nur die Angst vor dem Unbekannten, die
dein Sterben so furchtbar machte. Du liebtest diese Erde und ihre
Schönheit mit allen Fasern deines tiefen, frühgereiften Herzens und
sahst jenseits nur Nacht und Tod und gräßliche Verwesung. Aber im
Augenblicke, da du dich ohnmächtig aufbäumtest mit letzter, brechender
Erdenkraft, da tat sich auch die Pforte auf und du blicktest hinein
ins heilige Reich des Friedens. Und da war nicht Nacht und nicht
Tod und nicht Verwesung. Da sahst du stille Palmen in ewig heiterem
Licht, da ging das Leben auf schimmernden Pfaden und da hoben sich
allerwärts junge Keime aus der Erde, süßen Sehnsuchtsduft nach
Erfüllung verhauchend. Und da wußtest du, daß all dein Leid nur ein
spukhafter Mitternachtstraum war, daß ein neuer Morgen seine Tore
geöffnet habe, daß auch du nicht verfaulen würdest in den feuchten
Tiefen schwarzer Erde, sondern in deinem besten und tiefsten Wesen
fortwandern würdest durch Ewigkeiten und Äonen, wandern ohne zu
ermüden, in ewiger Jugend blühendem Leben. Und keine Liebe, keine
Freundschaft würden deinen Weg kreuzen mit ihrem Leide. Denn Liebe
und Freundschaft sind Leid, echtes Menschen- und Erdenleid. Jede
Begegnung ist ja ein Scheiden und jede Vereinigung ein Abschiednehmen.
Und je länger du mit einem andern wanderst und je inniger sich Hand
in Hand findet, desto härter und qualvoller das Lösen voneinander.
Glücklich der, der allein ist; glücklich nicht nach der Menschen Sinn
und Begriff, glücklich im Sinne Gottes. Es ist nur ein Gott und der ist
allmächtig, allgütig, allwissend, er ist die Schönheit und die Größe,
die Kraft und die Milde. Wäre er’s, wenn er nicht allein wäre? So hat
der götterschaffende Menschengeist schon selbst ahnungsvoll die Krone
erschaut, die ihm am Ende der Zeiten winkt. Der Tod gibt uns wieder
uns selbst zurück, er löst uns aus dem Schmerze aller Bindungen und
Gemeinsamkeiten und setzt uns wieder die Krone der Einsamkeit aufs
Haupt.

Ich trage diese Krone schon in diesem Leben, denn ich bin für die
Menschen abgestorben. All ihr Handel und Wandel, ihr Tun und Trachten
ist für mich nicht mehr als der Hauch der Frühlingsluft, der jetzt
leise in den Blättern, auf denen ich meine Lebensgeschichte geschrieben
habe, raschelt. Auch der Schmerz um dich, mein Oskar, rührt heute
nicht mehr an meine Seele und wie ein schauriges Märchen aus längst
versunkenen Tagen klingt mir heute, was mir die Erinnerung von deinem
Sterben und deinem letzten Erdengang zuflüsterte. Ich kann nicht
trauern um dich, denn du bist ja im Frieden des ewigen Seins und
weißt, daß alles Gestaltete nur der huschende Künstlertraum desjenigen
ist, den unser Mund nicht nennen kann, weil kein Menschenwort, kein
Menschengeist sein Wesen faßt.

Vielleicht ist es dein schönheitsfrohes Auge, Oskar, was mich dort aus
dem tiefgoldenen Kelch der Primel so holdvertraut grüßt; vielleicht
ist es deine Stimme, die so treu und seelenvoll klang, was nun aus der
Brust der Drossel in den lauen Frühlingsabend hineinklingt, süß und
erdenfrei, ganz in den jubelnden Frieden sorglosen Daseins aufgelöst.
Und vielleicht ist es deine Hand, die gerade über das Wort „Sterben“
auf diesem Blatte den rosiggoldenen Sonnenfleck malt und seinem dunklen
Sinn ein Lächeln abnötigt.

Ja, ich will lächeln, und wie auch meine Erinnerung aus den
Folterkammern meines Werdens all die Marterwerkzeuge herbeischleppt,
sie vor mir ausbreitet und auf die dunklen Blutspuren weist, die an
ihnen haften und die mein Blut sind, ich will und ich kann nur lächeln.

Zu oft habe ich ja schon gesehen, wie jeder Frühling wieder
dahinschwindet. Wenn ich jetzt die Augen von diesem meinem Blatte
erhebe, sehe ich ja rings um mich sein Abschiednehmen. Und wie ist
der Übermütige, der mit Sturmesjauchzen ins Land gefahren kam, dem zu
Ehren die Lawinen donnerten und die Bäume splitterten, wie ist er sanft
und mild und demütig geworden. Die Kränze, die er in alle Bäume und
Sträucher hing, sind entblättert, der bunte Teppich, auf dem sein Fuß
schritt, ist verblichen, all die tausend und tausend Schalmeien und
Flöten, die sein Geheiß zum Klingen gebracht hat, sind stiller geworden
und zum Teil ganz verstummt, und nun schreitet er wehmütig versonnen
durchs Abendlicht von dannen und nur die einsame Drossel weiß von
seinem Scheiden und singt ihm ein schönes Abschiedslied nach.

Und so wie heute hat auch damals eine Drossel gesungen, als mein
Liebesfrühling von mir ging.

Ich wollte das eigentlich gar nicht niederschreiben, aber ich muß es,
schon um mein eigenes Herz Lügen zu strafen, das mir vorraunt, ich
getraue mich nicht, an diese Dinge zu rühren, weil sie meinen Frieden
stören könnten. Nein, ich habe keine Angst.

Oskar war begraben und ich fühlte mich schmerzlich vereinsamt. Nun
erst wußte ich, was ich an ihm gehabt, wie ich mich an sein festes
und zielbewußtes Wesen angelehnt hatte, welche Stütze er mir in den
Gärungen und Unklarheiten meiner Seele gewesen war. Um so heißer
drängte es mich zu Heri. Sie war ja mein alles. Ihr zuliebe studierte
ich, ihr schrieb ich meine Lieder und alles, was in mir gut und edel
war, was über den Alltag hinausstrebte, das war im Gedanken an sie in
mir herangewachsen. Große Ziele schwebten mir vor, Erhabenes wollte ich
leisten und schaffen, sie aber, sie sollte die Krone sein, die mir
nach heißen Mühen ward. Und wenn sich einst dem armen Waldhegerssohn
die Welt beugte, wenn sein Name wie Feierklang durch die Lande tönte,
dann sollte auch die Stunde gekommen sein und da wollte ich demütig vor
ihr niederknien und sagen: „Das, Heri, hast du aus mir gemacht. Was ich
geschaffen, ist dein Werk. Nimm uns hin, mich und all das Meine, wir
sind ja dein!“

Solche Gedanken standen auch in meiner Seele, als ich am nächsten
meiner Ausgangstage langsam gegenüber der Fenster Tante Bertas das
Trottoir entlang schritt. Dreimal mußte ich vorübergehen, ehe sich der
geliebte Lockenkopf zeigte. Ich grüßte und sie nickte mir fröhlich zu.
Dann sah ich, wie sie etwas ins Zimmer zurücksprach, und gleich darauf
winkte sie mir.

Schon auf dem Treppenabsatz kam sie mir entgegen; aber wenn ich auf
einen Kuß gehofft hatte, so sah ich mich enttäuscht, denn oben stand
die Tante und winkte mir freundlich zu.

Und die alte Dame mußte über die Zufälligkeit, daß Heri und ich uns
gesehen hatten, ihre eigenen Gedanken haben, denn unvermittelt fragte
sie mich jetzt: „Haben Sie gewußt, daß Heri wieder hier ist?“

Ich war augenblicklich nach einer Antwort verlegen, aber Heri kam mir
sofort zu Hilfe und sagte: „Aber woher denn, Tante! Oder doch“ -- und
sie blinzelte mir ermunternd zu -- „deine Mutter hat gesagt, sie werde
es dir schreiben.“

Dadurch hatte auch ich meine Fassung gewonnen und bestätigte nun Heris
schlaue Worte: „Ja, meine Mutter hat mir geschrieben, daß du kommen
wirst, aber wann, wußte sie jedenfalls selbst nicht. Ich dachte, es
würde nach Ostern sein!“

So gelang es uns wirklich, die Tante zu täuschen, und als sie einmal
das Zimmer verließ, erhielt ich auch meinen Kuß und durfte für ein
Weilchen meine zitternden Hände um die liebe, schlanke, biegsame
Gestalt schlingen.

Als die Tante wieder zurückkam, saßen wir aber ganz ruhig plaudernd
gegenüber und dann sprachen wir alle drei noch von den verschiedensten
Dingen, wobei ich auch erfuhr, daß sich bei meiner Mutter ein
Herzleiden eingestellt habe.

„Davon hat sie mir aber noch nie etwas gesagt!“ versicherte ich
erschrocken.

„Es ist ja auch gar nicht so arg, sie wird dich eben nicht aufregen
wollen!“ tröstete mich Heri und auch die Tante meinte, daß kleine
Herzfehler ein allgemeines Übel seien, dem man nicht viel Bedeutung
beilegen dürfe.

Sehr erstaunt war ich, daß mich die Tante einlud, ich möge, wenn ich
Zeit und Lust habe, an jedem meiner Ausgangstage bei ihr vorsprechen.
Ich war ganz entzückt über diese ihre Liebenswürdigkeit und hatte
keine Ahnung von dem feinen Plan, den sie damit verfolgte.

Als ich das nächstemal kam, hatte Heri schon ihren ersten Ball hinter
sich und schwärmte mir nun von demselben in begeisterten Worten vor.
Daß mir dabei unsäglich weh ums Herz wurde und daß eine namenlose
Eifersucht in mir aufstieg, das bemerkte sie nicht. Wären wir allein
gewesen, so hätte ich sie gebeten, bestürmt, diese Welt zu meiden, denn
ich könne es nicht ertragen, zu hören, wie sie gefeiert und bewundert
werde, wie man ihr Schmeicheleien sagte, wie andere den Arm um sie
schlingen durften; so aber war die Tante hier und es machte ihr ein
sichtliches Vergnügen, Heris Berichte dort zu ergänzen, wo dieser ein
feines Empfinden sagte, das müsse sie mir verschweigen.

„Ja, denken Sie, Heri hat sogar schon eine Eroberung gemacht: einer der
schmucksten Offiziere der hiesigen Garnison, Oberleutnant von Steindl,
interessiert sich sehr für sie.“

„Aber Tante,“ warf Heri ein, deren Antlitz sich in tiefen Purpur
gehüllt hatte.

„Aber Kind, das ist doch nichts Schlechtes! Darüber brauchst du doch
nicht zu erröten!“

Nun warf Heri energisch nach ihrer Weise den Kopf empor und sagte: „Mir
ist aber der Herr Oberleutnant ganz gleichgültig. Er imponiert mir
durchaus nicht so, wie er sich vielleicht einbildet.“

„Aber Kind,“ wehrte die Tante ab, „wer sagt dir denn, daß sich der Herr
Oberleutnant was einbildet! Der ist der letzte dazu. Er ist so ein
lieber, gemütlicher und dabei immer heiterer Mann, daß man nur froh
sein könnte, wenn alle so wären. Du gefällst ihm und das hat er mir
gesagt. Wie du weißt, verkehrt er in meinem Hause und es würde mich
wirklich wundern, wenn er nicht noch heute vorspräche.“

Und richtig: es dauerte keine fünf Minuten, so meldete das
Dienstmädchen den Herrn Oberleutnant von Steindl.

Der junge Offizier war sichtlich überrascht, noch ein anderes
männliches Wesen bei den Damen zu finden, und ich beobachtete, wie
er, während er diese mit vollendeter Artigkeit begrüßte, nach mir
herüberschielte.

Tante Berta übernahm die Vorstellung: „Herr Heinrich Binder,
Gymnasialschüler, ein Jugendgespiele meiner Heri -- Herr Oberleutnant
von Steindl.“

Der junge Offizier reichte mir jovial die Hand: „Sehr erfreut. Darf man
wohl fragen, in welcher Klasse?“

„In der sechsten,“ entgegnete ich und aufs neue befiel mich jene
trostlose Stimmung, wie damals nach Empfang von Heris Brief. Ein
Gymnasialschüler der sechsten Klasse, ein Mensch, der nichts ist und
noch lange nichts sein wird, und da ein Mann in angesehener Stellung,
dem glänzendsten, umworbensten Stande angehörend.

Der Oberleutnant mußte meine gedrückte Stimmung bemerkt haben und um
mir aus derselben zu helfen, sagte er: „Donnerwetter in der sechsten!
Wenn das mein Papa an mir erlebt hätte!“ Und lachend setzte er
hinzu: „Ich war aber nicht für die große Gelehrsamkeit. Latein? Brr!
Griechisch? Brr mit verstärkten Registern.“ Wieder lachte er auf und
dann fragte er treuherzig die Tante: „Verehrteste Gnädige! Können Sie
sich mich als Gelehrten vorstellen?“

Sie lachte auf: „Nein, Herr Oberleutnant, das kann ich wirklich nicht.
Dazu sind Sie ein viel zu guter Tänzer!“

„Gnädige Frau, ich bin eigens gekommen, um mich nach dem Befinden der
Damen zu erkundigen. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich nicht sofort
danach fragte.“

„Habe ich Ihnen einen Vorwurf gemacht?“

„Meine Gnädigste, Vorwürfe braucht man mir überhaupt nicht zu machen.
Ich kapiere immer schon früher.“

Und bei dem letzten Wort setzte er wieder mit dem fröhlichen,
sorglosen Lachen ein, das mich damals, je öfter ich es hörte, mit
unbeschreiblichem Haß erfüllte, von dem ich mir aber heute sagen muß,
daß es der Spiegel dieser ehrlichen, tüchtigen, wenn auch nicht tiefen
Mannesnatur war.

Dann wandte er sich an Heri und fragte sie, wie ihr der gestrige Abend
bekommen sei.

Ich sah, daß Heri verlegen war; aber er wußte sich so zu geben, daß
sie bald alle Scheu verlor und nun munter mit ihm plauderte. Und der
Oberleutnant verstand es, dann und wann auch mir einen Brocken des
Gespräches zuzuwerfen, aber eh ich noch eine passende Antwort gefunden
hatte, hatte er sich schon wieder zu den Damen gewandt und ließ mir
Zeit, mich selbst über meine Schwerfälligkeit aus Herzensgrunde zu
ärgern und zu grämen.

Da meine Ausgangsstunden sich ihrem Ende näherten, sah ich mich bald
genötigt, mich zu empfehlen. Und ich tat es gerne. Der Boden brannte
mir unter den Füßen; hier war ich ja doch nur der Überflüssige.

Mit stürmendem Herzen, den Kopf voll Glut, schritt ich nach Hause. O,
hätte ich jetzt Oskar haben können! Ihm hätte ich mich anvertraut, und
er hätte mir gewiß einen guten Rat gewußt; er stand ja so hoch über
all diesen rein menschlichen Dingen! So aber war ich auf mich selbst
angewiesen und dieses Selbst war außer Rand und Band geraten. Haß, Hohn
und Verzagtheit, ja Verzweiflung führten in meiner Seele einen wilden
Hexentanz auf. Ich war abwechselnd auf die Tante, auf den Oberleutnant,
auf Heri und auf mich selbst wütend; ich klagte mein Schicksal an,
und wenn sich der Sturm an seinem eigenen Wüten verzehrt hatte, dann
schlich sich eine tiefgraue Melancholie in meine Seele, die mir das
ganze Leben gleichgültig machte.

Bisher war ich ein guter Schüler gewesen; nun aber gab’s bald dort,
bald da einen Krach, so daß ich schließlich selbst bald einsah, so
könne es nicht weitergehen. Die Stunden, die ich bei Heri im Hause der
Tante verbrachte, gestalteten sich für mich immer bitterer. Immer kam
der Oberleutnant oder er war schon da, und ich mußte sehen, wie Heri
ihm gegenüber eine Ungezwungenheit zur Schau trug, die aufs deutlichste
bewies, wie sehr sein Wesen sie ansprach. Und er war Meister in der
Unterhaltung. Hundert und hundert Dinge wußte er zu erzählen, über
die verschiedensten Dinge verstand er zu plaudern; wenn ich aber
glaubte, mich in das Gespräch mischen zu können, was besonders bei
wissenschaftlichen oder künstlerischen Themen der Fall war, dann gab er
dem Gespräch unvermerkt eine andere Wendung und ich mußte die Tore der
Schatzhäuser meines Wissens schließen, ehe ich noch Gelegenheit gehabt
hatte, den Reichtum derselben zu zeigen.

So saß ich oft viertelstundenlang, ohne ein Wort zu sprechen, ohne
angesprochen zu werden, und während um mich fröhliches Geplauder
scholl, versank ich in mich selbst, in meine melancholischen
Grübeleien und fühlte mit Pein und Ingrimm, wie wenig ich in diese
Gesellschaft taugte, wie ich nach und nach direkt als unbequem und
störend erscheinen mußte. So konnte es nicht fortgehen. Ich errötete
vor mir selbst, wenn ich daran dachte, wie plump und unbeholfen ich
mich bewegte, und so entschloß ich mich, die Gesellschaft fürderhin
zu meiden. Nur noch einmal wollte ich hingehen, um Heri den Brief
überreichen zu können, in dem ich ihr meinen Entschluß mitteilte; denn
sprechen konnte ich nicht so viel mit ihr, da uns die Tante nie längere
Zeit allein ließ. Auch war Heri selbst so sonderbar, daß ich auch dann
oft, wenn wir allein waren, kein Wort zu sagen wußte.

So setzte ich mich denn nieder und schrieb ihr einen langen Brief.
Ich erinnerte sie an unsere gemeinsame Jugend, an das, was sie mir
versprochen, daß sie mich aufwärts führen wolle, daß sie bei mir
bleiben werde immerdar, auf ewig. Ich beschwor sie, mich nicht zu
verlassen, da ich sonst zugrunde gehen müßte. Zur Tante aber könne
ich nicht mehr kommen. Ich sei ein ernster Mensch mit großen Plänen
und das Schmetterlinghafte des Oberleutnants sei mir, Gott sei Dank!
nicht gegeben. In mir sei alles Kraft und Leidenschaft und darum tauge
ich nicht in eine Gesellschaft, in der Oberflächlichkeit und Tändelei
herrsche.

Es war ein Brief, jugendlich überschwenglich, kindisch, unreif, voll
großer, tönender Worte, aber doch auch voll echtesten Gefühls. Meine
Angst lag darinnen, um eines Mannes willen weggeworfen zu werden,
dem ich mich wohl in allen äußeren Dingen nicht vergleichen konnte,
an innerem Gehalt und Wert aber hoch überlegen fühlte. Wenn Heri mir
an ihn verloren ging, dann war das für mich ein Zusammenbruch meines
ganzen Daseins, dann war ich verloren.

Das Herz schlug mir bis zum Halse hinauf, als ich Heri den Brief in die
Hand drückte. Sie wurde blutrot und so verlegen, daß sie das Zimmer
verließ, und erst wieder hereinkam, als die Tante schon da war.

Dieser hatte ich mittlerweile erklärt, daß ich in Zukunft nicht mehr
regelmäßig erscheinen werde, denn ich hätte nun ungemein viel zu lernen
und wolle die angebrochene schöne Zeit dazu benützen, mit meinen
Büchern in die Au zu gehen; dort sei es so still und angenehm und ich
brächte dort mehr vor mich als zu Hause.

Die Tante lobte meinen Eifer, doch entging mir das feine Lächeln
durchaus nicht, das um ihre Mundwinkel zog. Gewiß, sie wußte, daß es
nur eine Ausrede sei, was ich da vorgebracht hatte, aber warum ich
ausbleiben wollte, das wußte sie doch nicht.

Als Heri wieder eintrat, rief sie ihr entgegen: „Denk dir, Heri, Herr
Heini will seine Besuche bei uns einstellen. Er hat so viel zu lernen,
der Arme.“ Sie sah mich bei diesen Worten mit einem Blicke an, der
Teilnahme hätte ausdrücken sollen; aber ein triumphierendes Leuchten
strafte diesen Versuch zur Heuchelei Lügen.

Heri hatte meinen Brief gelesen, ich sah es ihr an, aber ich wurde
mir über seine Wirkung nicht klar. Ihr Gesicht zeigte weder Staunen,
noch Trauer, noch Zorn, es war unbewegt, wie ich es nie an ihr gesehen
hatte. Und ihrem Gesichtsausdruck entsprach auch die Antwort, die sie
der Tante gab: „Ich weiß, Heini hat mir schon davon gesagt. Übrigens
immer wird er ja auch nicht studieren. Dann und wann kommst du schon
wieder, nicht?“

Auf diese letzten, direkt an mich gerichteten Worte erwiderte ich
gepreßt: „Das weiß ich wohl noch nicht. Das hängt ganz von den
Umständen ab.“

Ich ließ mich auch nicht bewegen, heute noch zu bleiben, denn um keinen
Preis wollte ich mit dem Oberleutnant zusammentreffen, ich hätte es
nicht ertragen können. Ich verabschiedete mich und als ich die Haustüre
hinter mir zugemacht hatte, war mir, ich hätte mit meinem bisherigen
Leben abgeschlossen. Nun mußte ein neues Kapitel kommen.

Ich weiß heute noch nicht, wie es mir plötzlich einfiel, den Friedhof
aufzusuchen. Aber ich fand diesen Gedanken groß und bedeutend. Am Grabe
der Freundschaft wollte ich mein neues Leben beginnen, ein Leben der
Entsagung, um nachher ein desto größeres Glück zu gewinnen. In meinem
Kopfe wälzten sich ja große Pläne. Eine Dichtung wollte ich schreiben,
in welcher aller Jammer und alle Sehnsucht der Menschen klagen sollte,
in mein eigenes blutendes Herz wollte ich die Feder tauchen und wenn
mir dann Erfolg beschieden war, dann wollte ich vor Heri treten und
dann, das wußte ich, sank dieser Mann im bunten Rock in seine eigene
Bedeutungslosigkeit zurück.

Ein frischer Frühlingswind ging über den stillen Gottesacker, dort
und da raschelten die dürren Blätter eines vergilbten Kranzes; die
langen, schon grünen Locken der Trauerweiden wehten auf und nieder
und mit leisem Rauschen bogen sich die Zypressen hin und her, und
es war anzuhören wie ein tiefes, schweres Atmen. Aber dort und da
sproßten auf den Gräbern schon Schneeglöcklein und Leberblumen, und von
der alten Friedhofmauer her dufteten die Veilchen und die Sonne lag
schimmernd auf den weißen Marmordenkmalen und dem verblassenden Gold
der Inschriften, daß doch auch hier an der Stätte des Todes ein Hauch
des Frühlings zu fühlen war, der außerhalb der Mauern siegreich durchs
Land der Lebenden ging.

Und nun stand ich vor Oskars Grab. Der Hügel war noch nicht ordentlich
aufgeschichtet. An den Rändern war die Erde in das Grab gesunken und
darauf lagen teils dürr, teils faulend die letzten Reste des Kranzes,
den wir Kameraden dem Toten geweiht hatten. Auf den von Schnee und
Regen ganz ausgewaschenen Bandschleifen waren noch einzelne der
aufgeklebten Buchstaben aus gepreßtem Goldpapier zu sehen.

In meinem Kopfe hatte es gestürmt. Verstiegene Pläne, prahlerische
Zukunftsbilder hatten mich wie ein Fieberwahn überfallen gehabt. Vor
diesem Grabe aber fiel alles plötzlich von mir ab wie Reif von einem
Zaune, auf den die Sonne scheint. Das war ja alles Unsinn, Phantastik,
mußte ich mir sagen, und da befiel mich so eine tiefe Verzagtheit, ein
so wundwehes, sterbensschweres Gefühl, daß ich unwillkürlich in die
Knie sank und bitterlich zu weinen begann.

Da tippte mir plötzlich wer auf die Schultern, und als ich aufspringend
mich umwandte, stand ein Mann mit mächtigem Vollbart, der früher rot
gewesen war, nun aber ein fahles Gelbgrau zeigte, vor mir und sagte
etwas spöttisch: „Fassen Sie sich, junger Mann, es geht alles vorüber!“

Ich sah ihn halb erstaunt, halb erschreckt an. Konnte der in meiner
Seele lesen?

„Hier liegt mein liebster Freund,“ sagte ich.

„Glaub ich Ihnen sehr gerne. Aber wegen ihm weinen Sie nicht. Merken
Sie sich das eine: Hunde nimmt man am Genick, Mädel um den Hals. Wenn
Sie diesen Rat befolgen, werden Sie auch dem seine Ruhe lassen, der da
unten liegt! Nichts für ungut. Adje!“

Er zog den Hut und ließ mich stehen. Ich sah ihm nach. Der Wind wehte
seinen mißfarbenen Bart über die Schultern zurück, sein offener
Überrock flatterte, den Kopf hatte er eingezogen, wie wenn er sich
damit gegen den Sturm anstemmen wollte. Ein Bild fiel mir ein: der
Mann sah ihm gleich, dem ewigen Wanderer, Ahasver, der auf Erden nicht
Frieden finden kann, weil er die Liebe nicht kannte.



VIII.


Ich mußte gestern mein Schreiben unterbrechen. Ein Brandgeruch ließ
mich zu meinem Meiler eilen und es war höchste Zeit: noch eine
Viertelstunde und alles wäre in Flammen aufgegangen. Weiß der Himmel,
wie die Rasenbedeckung an der einen Seite zu dem Loch gekommen war.
Ich habe gewiß mit aller Umsicht gearbeitet, wie immer den Meiler
aufgeführt und meiner Wächterpflicht zu keiner Zeit vergessen. Und doch
wäre auf ein Haar der ganze herrliche Stoß von Bergfichtenholz statt zu
Kohle zu Asche geworden.

Und übrigens war es ganz gut, daß ich in meiner Schreiberei
unterbrochen wurde. Ich merke, es tut mir nicht gut, mich in diese
alte, Gott sei Dank, versunkene Zeit und ihre Schmerzen hineinzuwühlen.
In dem Bestreben, wahr zu sein und so zu schildern, wie ich damals
empfand, errege ich mich manchmal doch wieder und bedarf dann einiger
Zeit, mein pochendes Herz zur gewohnten, süßen Ruhe zu zwingen.

Freilich ist keinem das besänftigende Mittel in so reichem Maße gegeben
wie mir. Ich brauche ja nur die Augen zu erheben und von allen Seiten
strömt es mir zu, in Licht und Farben; meine Augen trinken und trinken
und meine Seele wird gesund und still.

Wie hehr und feierlich erschien mir im Winter meine schweigende
Schneeeinsamkeit! Wie schön war es, den Frühling in seinem Werden und
Wachsen und Gehen zu belauschen! Und nun ist der Sommer da, nicht der
brütende, gewitterschwüle Hochsommer, nein, vorerst nur der Vorsommer,
der mit behutsamer Hand die letzten Blüten von den Bäumen löst und
langsam die ersten Früchte reift. Aber auch jetzt ist meine Einsamkeit
schön, schön zum Jauchzen.

Die Bergtannen haben ihre rosaroten Blütenkerzen aufgesteckt
und wie ein feiner Rauch schwebt um sie summend der Schwarm der
mannigfaltigsten Insekten. Die Buchen haben nun auch endlich ihr Laub
entfaltet und das junge Hellgrün lodert wie Flammen der Hoffnung
durch das ernste Dunkel der Tannen und Fichten. Um die Berggipfel
ziehen duftige blaue Schleier, die gemeine Deutlichkeit der Konturen
verhüllend, und die ganze Natur hat den Ausdruck banger Sehnsucht,
zager Erwartung der Erfüllung, die kommen muß.

Denn nichts kommt von ungefähr, alles muß kommen. Es ist nur
merkwürdig, daß diese Binsenweisheit, die nun bald jeder Schuljunge im
Munde haben wird, noch so wenig Gegenstand wahrer innerer Erkenntnis,
so wenig Glaubenssache geworden ist. Wie könnten sonst die Menschen
solche Don Quijote-Kämpfe gegen die Windmühlen der Notwendigkeit
unternehmen! Wie könnten sie von Zufall sprechen und Dingen eine
Bedeutung beimessen, die sie gar nicht besitzen? Es gibt keinen Zufall,
es gibt nichts Äußerliches, was auf das Leben eines vollendeten
Menschen bestimmend einwirken könnte. Wo der Zufall ein Leben in andere
Bahnen gelenkt hat, war es, weil er eine unentwickelte Seele, unreifes
Menschentum getroffen hat. Der reife Mensch ist Herr, nur darf man eben
Reife nicht von einer gewissen Anzahl von Jahren abhängig machen.

Ich war damals, als mich der fremde Mann auf dem Friedhofe in so
merkwürdiger Weise ansprach, nicht reif. Ich war es auch viel später
nicht. Und weil ich damals nicht reif war, konnte mich dieser Zufall in
seine Gewalt bekommen.

„Hunde nimmt man am Genick, Mädel um den Hals!“ Dieses zynische Wort
ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich grübelte darüber Tag und Nacht,
ich wehrte mich dagegen, gegen seine Brutalität, und doch, ich brachte
es nicht los; es klang mir in den Ohren, es starrte mich plötzlich
aus meinen Büchern an und es fiel mir auch ein, von meinen Kameraden
ähnliches gehört zu haben, wenn sie von ihren Ferieneroberungen
sprachen.

Die Ostern waren gekommen und ich blieb zum ersten Male in der Anstalt.
Meine Mutter hatte mir endlich auch von ihrem Herzleiden geschrieben
und mir angedeutet, daß es ihr für diesmal lieber sei, wenn ich nicht
nach Hause kommen würde. Sie fürchtete die Aufregung, die sie jedesmal
befiel, wenn ich wieder fortging. Auch hatte sie erfahren, daß meine
Lernerfolge nicht so waren, wie es sein sollte und deshalb meinte sie,
ich solle die Feiertage nur recht fleißig zum Lernen benützen. Daß ich
zu Hause nur wieder planlos umherstreifen würde, wußte sie ja. Überdies
stellte sie mir, allerdings nicht ganz sicher, in Aussicht, daß sie in
der Karwoche in die Stadt kommen würde.

Sie kam aber nicht. Desto größer war meine Überraschung, als sie
vierzehn Tage später, ohne daß sie mich vorher verständigt hatte,
plötzlich vor mir stand. Sie hätte Heri allerlei von zu Hause
bringen müssen, sagte sie, und außerdem wäre ihr auch der Auftrag
zuteil geworden, Leinwand zu neuer Bettwäsche für das Dienstpersonal
einzukaufen.

Es war ein warmer, goldener Apriltag und wir gingen mitsammen die
Promenadewege durch die Au.

Wir sprachen wenig. Nachdem mich meine Mutter über meine Lernerfolge
ausgefragt hatte und ich sie, allerdings nicht ganz der Wahrheit gemäß,
getröstet hatte, daß ich am Schlusse des Schuljahres wieder ein ganz
gutes Zeugnis haben werde, ging sie stillschweigend neben mir her.

Bei einer Bank unter einem schon über und über blühenden
Waldkirschenbaum blieb sie stehen und sagte: „Setzen wir uns hier ein
wenig nieder. Ich bin so müde.“

Eine Weile saßen wir so und sahen in die junge Frühlingspracht hinein.
Das erste grüne Gras, licht und frisch, leuchtete auf den Wiesen und
über dasselbe erhoben sich gleich wahllos dort und da in die Erde
gesteckten Blütensträußen die blühenden Kirschen- und Weichselbäume.
In der sonnenflimmernden Luft jauchzten überall die Lerchen und gerade
über uns sang ein Buchfink sein ganzes Glück in die Welt hinein. Und
die Sonne war so warm, fast heiß, und in ihren Strahlen glitzerten und
gleißten die fernen Kuppeln und Dächer der Stadt.

„Ich weiß nicht, Heini, was das ist,“ fing meine Mutter endlich zu
sprechen an, „daß ich jetzt immer so rasch müde werde.“

Ich versuchte sie zu beruhigen: „Ach, das ist nur die ungewohnte Wärme.
Daheim ist’s wohl noch lange nicht so!“

„Freilich nicht, aber warm ist’s bei uns auch schon, ganz ausnahmsweise
heuer. Aber das hat mit meiner Müdigkeit nichts zu tun. Die liegt mir
jetzt immer so in den Gliedern. Und weißt, das Herzklopfen, das ewige
Herzklopfen, das ängstigt mich halt so. Heini, ich mein, du hast deine
Mutter nicht mehr gar zu lang.“

Ich sprang auf diese Worte nicht auf, ich war nicht niedergeschmettert;
mir war es nur, als ginge da draußen einer, ein dunkler, unbekannter
Allmächtiger über die Felder und löschte auf ihnen die hellen
Frühlingsfarben und -lichter aus, zöge ein graues Gespinst um die
blühenden Bäume und schnüre den Lerchen und Finken die Kehle zu.

Erst nach einer geraumen Weile konnte ich ein paar Worte hervorbringen
und sie kamen mir aus tiefstem Herzen.

„Mutter,“ bat ich, „das mußt du nicht sagen. Schau, wen hab ich denn
dann noch? Ich werde ja so von Tag zu Tag immer einsamer!“

„Du, Heini, du, in deinen Jahren?“

Nicht nur Befremden, schmerzlichste Besorgnis klang aus den paar
Worten und plötzlich faßte sie meine Hände, zog mich an sich und sagte
zärtlich: „Heini, sag mir, was dich drückt, sag mir’s, deiner Mutter.
Ich bin wohl ein einfaches Weib und hab nit viel gelernt, aber deine
Mutter bin ich und du, du --“ ihre Stimme zitterte -- „du bist ja mein
einziges Kind!“

Ich liebte meine Mutter aus ganzem Herzen und sie mich; trotzdem
beschränkte sich das Maß unserer äußeren Liebesbezeugungen auf das im
Volke meiner Heimat übliche Maß. Wir küßten uns nie; das stille innige
Aufleuchten der Augen beim Kommen oder Abschiednehmen mußte genügen.
Von den Vertraulichkeiten und Zärtlichkeiten, die in den Häusern der
Vornehmen die Liebe zwischen Eltern und Kindern bekunden, war bei uns
nichts zu bemerken. In keuscher Scheu hielt jedes den Reichtum seiner
Liebe in sich zurück und nur in Gedanken umarmten und küßten wir uns
und sagten uns gegenseitig alles, was uns das Herz erfüllte.

Jetzt aber, da mir aus der Stimme der Mutter aus dem Zittern derselben
der ganze Strom der Liebe entgegenquoll, da brachen alle Fesseln und
Bande, die bisher mein Herz umschnürt hatten, und aufschluchzend preßte
ich mein Gesicht in ihren Schoß und schrie es heraus mit ein paar
Worten, was mich seit Oskars Tod zerquält und zermürbt hatte, schrie es
heraus mit ein paar Worten: „Mutter, ich bin so unglücklich.“

Und wie als Kind fühlte ich ihre Hand mit sanftem Streicheln auf meinem
Haar, immerzu, immerzu, und dann hob sie mir endlich den Kopf empor,
küßte mich mit andächtiger Innigkeit und sagte leise: „Sei ruhig,
Heini! Ich verlaß dich nicht. Schau, sag mir alles, vielleicht wird dir
dann leichter.“

Und da stieß es mir alles heraus, was mich drückte: daß ich mich
unter meinen Kameraden vereinsamt fühle, daß ich keinen hätte, der
mich verstände, keiner mein Streben, denn ich wollte ja doch kein
gewöhnlicher Mensch bleiben, sondern etwas Besonderes werden.

„Aber siehst du, Mutter,“ fuhr ich fort, „das gilt ja bei all den
Leuten nichts. Da gilt nur der Reichtum und das schöne Gewand und
wenn man den Leuten schön tun kann. Und das kann ich nicht, das werd
ich nie können! Für mich wäre es am besten gewesen, ich wäre zu Hause
geblieben, da wäre ich ein einfacher und glücklicher Mensch geworden.
Nun aber ist’s zu spät. Nun kann ich nur mehr vorwärts und vor mir
liegt doch nur das Elend. Mit den andern kann ich nicht gehen und
allein sein, ganz allein sein, keinen Menschen haben -- Mutter, laß
mich wenigstens du nicht allein!“

Sie zog mich aufs neue an sich, und mit einem tiefen Aufseufzen sagte
sie leise und strich mir wieder lind und tröstend übers Haar: „Mein
armer Bub!“

Mittlerweile war die Zeit gekommen, wo sich die Promenadewege belebten.
Wären wir noch eine Zeitlang allein gewesen, vielleicht hätte ich ihr
doch noch den Grund all meines Jammers geklagt, meine Liebesnot. Nun
aber fand sich keine Gelegenheit mehr.

Auf dem Wege zum Bahnhof sagte sie mir noch manches gute und tröstende
Wort und als sie in den Eisenbahnwagen stieg, reichte sie mir nochmals
die Hand, -- einen Kuß vor all den vielen und meist vornehmen Leuten
wagte sie nicht und auch mich hielt die alte Scheu davor zurück,
obwohl es in mir stürmte und drängte, mich ihr an die Brust zu werfen.

„Leb wohl, Heini,“ sagte sie, „tu brav lernen und alles andere überlaß
unserem Herrgott, der wird schon alles wieder recht machen. Ich werd
schon fleißig für dich beten.“

Die Lokomotive pfiff, meine Mutter winkte noch mit der Hand und dann
mit dem Taschentuch, und das letzte, was ich von ihr sah, war, daß sie
das Tüchlein an die Augen drückte.

Mir war, ich müßte dem Zuge nachstürzen und rufen: „Mutter, nimm mich
mit!“ -- aber ich mußte ja hier bleiben und mit einem unbeschreiblichen
Weh im Herzen trat ich den Heimweg an.

Nach ein paar Tagen erhielt ich einen Brief. Er war aus der Heimat, von
Marieli. Sie schrieb:

    Lieber Heini!

    Gestern ist Deine Mutter bei uns gewesen und die hat uns gesagt,
    daß Dir alleweil so hart ums Herz ist. Das darf nicht sein, Heini,
    denn Du mußt studieren und da mußt Du lustig sein. Wann Du auch
    glaubst, Du bist allein, das ist doch nicht wahr, wir haben Dich ja
    alle so gern. Ich denk alle Tag an Dich und bete auch jeden Abend
    für Dich. Du wirst schon wieder recht glücklich werden. Ich schick
    Dir da ein kleines Blümel. Ich hab es alleweil in meinem Gebetbuch
    gehabt. Es ist vom Grab von Deinem Vater, wo ich im vorigen Jahr
    selber die Vergißmeinnichtstöckerl gesetzt hab. Heb Dir’s auf und
    denk dabei, wann Du’s anschaust, an mich, ich denk ja auch alleweil
    an Dich. Gelt?

    Einen schönen Gruß von meiner und Deiner Mutter.

    Deine

    Marie.

Lieb und heimattraut wie die schlichten Zeilen sahen mich die
trockenen, blaßblauen Blütensternlein an. Marielis Bild stieg in seiner
ganzen reinen Lieblichkeit vor meinen Augen auf und durch mein Herz zog
in süßwehem Schauer das Heimweh nach dem stillen Waldtale, nach der
Bohnenlaube und nach meiner treuesten Jugendfreundin.

Die folgenden Tage waren Tage heißester Seelenkämpfe. Der Eindruck, den
der Besuch meiner Mutter und der Brief Marielis hinterlassen hatten,
rangen machtvoll gegen meine unselige Liebe zu Heri. Ich sah den Weg,
der mich aus all meiner Pein hinausführen konnte; aber wenn in meiner
Erinnerung die Stunde auftauchte, da Heri ihr Köpfchen an meine Brust
gelehnt und mir mit süßschimmernden Augen ihre Lippen geboten hatte,
dann versank all mein herber Stolz, mein besseres Wollen in einem Strom
wahnsinniger Sehnsucht.

So war der erste Mai gekommen, an welchem Tage immer das erste
Parkkonzert stattfand.

An diesem Tage erhielten auch wir Anstaltszöglinge immer die Erlaubnis,
bis zum Abendessen ausgehen zu dürfen, und so konnten wir auch das
Konzert anhören, das um fünf Uhr begann.

Es war ein herrlicher Abend. Die Bäume blühten über und über. An all
den verschiedenen fremdländischen Sträuchern hingen Lasten von Blüten
in allen Farben und in der weichen Luft lag ein wundersamer Duft.

Die ganze vornehme Welt der Stadt wogte auf den glitzernden Kieswegen
auf und ab, die Damen alle in neuen, duftigen Toiletten, Frühling auf
den Hüten, Frühling in den Augen.

Und da kam auch Heri daher. Ein weißes, spitzenbesetztes Kleid
umschloß ihre schlanke, biegsame Gestalt, ein meergrünes Band, das in
breiter Schleife an der Seite herabfiel, war der einzige Schmuck des
Kleides. Unter dem rosenumwundenen Hut fielen ihre dunklen Locken in
freien Wellen hernieder und ihre unergründlichen Augen schimmerten
und blitzten in die tiefsten Tiefen hinein. Wie eine Nixe so schön
war sie. An ihrer Seite schritt der Oberleutnant, heiter auf sie
einsprechend, und ich sah es ihm an, wie sehr er von dem Liebreiz der
holden Mädchengestalt an seiner Seite begeistert war. Hinter den beiden
schritt die Tante in eifrigem Gespräch mit einer etwa gleichaltrigen
Dame, wahrscheinlich der Mutter des Oberleutnants.

Ich schlich von der Ferne hinter den vieren drein, und mein Herz schlug
zum Zerspringen. Eifersucht, Haß, wildester Schmerz, das alles tobte in
wilden Wirbeln durch meine Seele. Mir war’s, als müßte ich hinspringen
und Heri von der Seite des Oberleutnants reißen und im nächsten
Augenblicke hätte ich wieder am liebsten aufgeweint in namenlosem
Schmerz. Und da hielt ich es endlich nicht mehr länger aus und ich
eilte aus dem menschenwimmelnden Parke fort und hinaus in die Au, wo
ich mich schluchzend wie ein Kind niederwarf. Und während von ferneher
leise die wiegenden Klänge der Musik an mein Ohr drangen, weinte ich
meinen Jammer in die junggrüne Frühlingserde hinein.

Dann setzte ich mich auf und begann zu grübeln. So konnte es nicht
fortgehen, etwas mußte geschehen. Aber was? Ich sann und sann. Aber
weder jetzt noch in den nächsten Tagen konnte ich zu einem Entschluß
kommen. Ich zermarterte mir das Gehirn und hatte ich schon bisher mein
Studium arg vernachlässigt, so wurde ich nun ganz unfähig, auch nur
eine Seite zu lernen, einen Vortrag im Gedächtnisse zu behalten.

Und da ließ mich eines Tages mein Klassenvorstand, ein gemütlicher,
mir wohlwollender Herr, rufen und sprach: „Sie Binder, ich muß Sie
aufmerksam machen, daß es mit Ihnen sehr, aber schon sehr schlecht
steht. Wenn Sie jetzt nicht allen Fleiß aufbieten und alle ihre Kräfte
-- und diese sind nicht unbedeutend -- dem Studium zuwenden, so erleben
Sie eine Katastrophe. Ich habe Ihnen bisher immer die Stange gehalten;
in Zukunft könnte ich es aber nicht mehr tun. Was, zum Teufel, ist denn
in Sie gefahren? Reden Sie doch!“

Ich schwieg.

„Na ja,“ polterte er, „das ist die alte Geschichte; wenn man fragt,
dann erfährt man nichts. Wahrscheinlich, weil eben nichts dahinter ist
als ein bißchen allzuviel Bequemlichkeit und ein Kopf voll Flausen. Sie
wollen Dichter werden. Habe davon was läuten gehört. Merken Sie sich
aber das: wer Dichter werden will, muß einen vollen Kopf haben. Geist
und Herz müssen etwas zu verarbeiten haben, sonst bleibt einer ewig ein
Stümper, ein Handwerker. Und übrigens: dazu haben Sie noch lange, lange
Zeit. Jetzt ist das Studium Hauptsache. Vergessen Sie nicht, daß Sie
ein Stipendiat sind. Fallen Sie durch, so ist’s damit aus. Dann können
Sie Schuster werden! Also seien Sie vernünftig, Binder!“

Damit reichte er mir die Hand und ich war entlassen.

Diese Unterredung war entscheidend. Ich sah ein, daß es so nicht mehr
weitergehen könne. Ich mußte so oder so zur Ruhe gelangen und das war
nur möglich, wenn ich mit Heri selbst sprach. Ich mußte wissen, wie es
zwischen uns stehe.

Ein paar Tage überlegte ich noch, dann aber, -- ich hatte inzwischen
Heri nochmal in Gesellschaft des Oberleutnants mit der Tante
spazierengehen gesehen -- stand mein Entschluß fest.

Da ich mit Bestimmtheit wußte, daß ich nicht soviel Zeit haben würde,
mich gelegentlich eines Besuches mit Heri aussprechen zu können,
schrieb ich ihr ein paar Zeilen:

    Meine liebste Heri!

    Ich muß mit Dir dringend sprechen. Mein ganzes Lebensglück hängt
    davon ab. Du brauchst aber nichts zu fürchten. Ich möchte nur aus
    Deinem eigenen Munde hören, daß ich gehen soll. So ohne ein Wort
    wie ein davongejagter Hund kann und mag ich nicht von Dir gehen.
    Auch ich habe meinen Stolz. Und soviel muß ich Dir noch wert sein,
    daß du mir ehrlich und offen den Abschied gibst. Ich hoffe, daß
    Dich die vornehme Gesellschaft nicht schon soweit verdorben hat.
    Ich kann Dir entsagen, aber ich möchte Dich auch fernerhin achten
    können. Gib mir ehestens Bescheid.

    Dein

    Heini.

Mit diesem Brief, den ich mit den zwiespältigsten Gefühlen hingeworfen
hatte, ging ich am nächsten meiner Ausgangstage zu Heri und ich freute
mich schon beim Eintritt doppelt: in erster Linie glaubte ich bei Heri
wirklich eine freudige Überraschung bemerken zu können, denn sie stand
sofort auf und reichte mir mit festem Drucke die Hand; in zweiter Linie
aber konnte ich bei der Tante ebenso sicher einen leichten Verdruß
feststellen, den offen zu äußern sie aber viel zu sehr Dame war.

Und dann fand sich auch die Gelegenheit, Heri den Brief zuzustecken.
Sie entfernte sich unauffällig mit demselben und kam erst nach geraumer
Zeit wieder in das Zimmer. Ein Blick sagte mir, daß sie den Brief
gelesen. Und dieser Blick machte mich im innersten Herzen jubeln, denn
es lagen Trauer und Vorwurf in ihm, nicht Stolz oder Zorn, wie ich
befürchtet hatte.

Als ich mich bald darauf unter dem Vorwande empfahl, ich hätte nur
wieder einmal mich erkundigen wollen, wie es den Damen gehe, wußte
es Heri so anzustellen, daß sie mir unbemerkt ihre Antwort auf mein
Brieflein in die Hand drücken konnte.

Es war ein vielmals zusammengefalteter Zettel und darauf stand nur:

    Lieber Heini! Während des Tages kann ich unmöglich abkommen. Wenn
    es Dir aber möglich wäre, einmal abends fortzukommen, so komme
    übermorgen nach neun Uhr in unseren Garten. Die Tante ist an diesem
    Tage bei der Generalin und kommt vor zehn Uhr nicht heim.

    Heri.

Nun, möglich war’s schon, daß ich mich nach neun Uhr aus der Anstalt
fortstehlen konnte, aber es war auch mit Gefahr verbunden, denn man
konnte entdeckt werden. Aber immerhin hatten es schon zwei meiner
Kameraden gewagt und sie waren glücklich wieder ins Haus gekommen.
Einmal konnte ich’s doch auch versuchen.

Wir waren unser zwanzig in einem Schlafsaal und der Älteste unter uns
war Ordner. Um neun Uhr hieß es zu Bette gehen. Dann kam der Präfekt
und sah nach, ob jeder da sei und ging dann in den nächsten Schlafsaal.
Dieser Zeitpunkt mußte geschickt ausgenützt werden und war auch von den
anderen benützt worden.

Getreu nach ihrem Muster legte ich auf den Sessel neben dem Bett meine
Kleidung, während ich im Sonntagsanzug, nur ohne Rock und Kragen im
Bette lag. Der Präfekt kam und fand alles in Ordnung. Kaum hatte er
aber den Saal verlassen, so sprang ich auf, nahm Rock, Kragen und Hut
und lief, so schnell und so leise mich die Füße trugen, vom zweiten
Stock, wo unsere Schlafsäle lagen, ins Parterre hinab, öffnete dort
leise ein Korridorfenster und schwang mich in den Anstaltsgarten
hinaus. Da hier in der warmen Jahreszeit die Fenster öfter auch während
der Nacht offen blieben, konnte das weiter nicht auffallen. Dann lief
ich durch den Anstaltsgarten, und an der den Feldern zugekehrten Seite
desselben kletterte ich über den Zaun.

Die einsamsten und dunkelsten Gassen benützend, kam ich zum Hause der
Oberstin, fand die Haustüre offen, auch die gegenüberliegende und
in den Garten führende, und im nächsten Augenblicke stand ich mit
hochklopfendem Herzen vor Heri.

Und sie war schöner denn je. Über das weiche, lose Hausgewand, das
sie umfloß, fiel ihr dunkles Gelock in duftigen Wellen, im matten
Dämmerlicht schimmerten mir ihre Augen entgegen, als läge drinnen die
ganze süßschwere Sehnsucht der lauen Maiennacht.

Mir schlug das Herz bis an den Hals herauf und ich konnte kein Wort
hervorbringen. Ich sah sie nur in einemfort an und mein ganzes Inneres
erbebte in namenlosem Glück.

Da faßte sie mich an der Hand und sagte leise: „Komm hierher, Heini, da
ist eine Bank.“

Und da saß ich nun neben ihr und wußte kein Wort zu finden, bis sie
endlich fragte: „Du wolltest mir etwas sagen, Heini!“

Ich fühlte: nun ist die Stunde da und wirr begann ich zu reden: „Ja,
Heri, ich mußte mit dir reden. Ich kann’s gar nicht länger ertragen.
Ich hab dir’s nicht sagen wollen, aber ich muß. Sei mir nicht böse.
Heri, ich bitte dich, sag mir’s aufrichtig, hast du mich noch lieb?“

Sie senkte den Kopf und atmete schwer, und dann antwortete sie leise:
„Ich hab dich doch immer lieb gehabt, Heini.“

„Ob du mich jetzt noch lieb hast, weißt so, wie du damals gesagt hast,
Heri, damals zu Hause im Park.“

Sie schwieg.

Da bat ich wieder und mit aufgehobenen Händen: „Heri, ich bitte dich,
ich bitte dich um alles in der Welt, sag mir’s, aufrichtig und ehrlich:
so wie damals?“

Und da kam es leise, leise von ihren Lippen: „Damals waren wir noch
Kinder!“

Auf diese Worte war es mir, als drehe es mir das Herz zu einem Knäuel
zusammen, eine Faust schloß sich würgend um meine Kehle und nur
stöhnend konnte ich endlich hervorbringen: „Ich danke dir, Heri, -- ich
-- ich gehe.“

Die Knie schlotterten mir, als ich aufstand, vor meinen Augen zuckten
Flammen, ein Brausen war um mich, ein wildes Rauschen, und da wußte ich
nicht mehr, was ich tat: ich schloß das erbebende Mädchen in meine Arme
und meine glühenden und zuckenden Lippen suchten ihren Mund.

„Laß mich los, Heini, laß mich los!“ flehte sie flüsternd und suchte
sich mir zu entwinden.

Aber ich ließ sie nicht; außer mir stammelte ich zwischen meinen
Küssen: „Heri, dies eine Mal, -- dies eine Mal -- will ich noch
glücklich sein, Heri -- ich hab dich so lieb -- so lieb, Heri -- so
lieb -- --“

Ihr Widerstand erstarb in meinen Armen, schlaff lag sie an meiner Brust
und auf einmal fühlte ich heiße Tropfen auf meiner Wange.

Das brachte mich zur Besinnung.

„Heri,“ flüsterte ich, „weine nicht. Ich hab dich nur nochmal küssen
wollen, ehe ich für immer von dir gehe: Bist du mir böse?“

Sie schüttelte weinend den Kopf, reichte mir die Hand und sagte mit
tränenzitternder Stimme: „Geh jetzt, Heini!“

„Ja, ich gehe!“

Mit einem Blick umfing ich nochmals die geliebte Gestalt, dann stürmte
ich hinaus in die nächtliche Straße.

Frei hatte ich meine Seele machen wollen und nun lag sie hilfloser denn
je am Boden. Meine junge, erste, heilige Liebe hatte ich auslöschen
wollen und nun flammte sie in mir in dem himmelhohen Lodern eines
vernichtenden Weltbrandes. Wie in vulkanischen Essen tobte es in meiner
Brust und warf Glück und Schmerz in wilden, unbewußten Worten über
meine Lippen. Ich fühlte noch ihren schlanken Leib in meinen Armen,
ihren heißen Lippen auf meinem Munde, und während ich durch die dunklen
Gassen ziellos dahinstürmte, sprach ich vor mich in qualdurchschauerter
Seligkeit: „Ich habe dich geküßt, Heri, zum letztenmal, und du kannst
diese Küsse nicht vergessen, nie und nimmer!“

Ein Mann ging an mir vorüber. Ich achtete es nicht, daß er mich ansah
und dann stehen bleibend mein Fortstürmen beobachtete. Ich war im
Rausch und merkte es nicht einmal, daß warme Windstöße durch die
Straßen fuhren und den Staub aufwirbelten und daß in der Ferne ein
Frühgewitter zu murren begann.

Ich war in den Park gekommen und da kam endlich die Müdigkeit über
mich. Auf einer Bank warf ich mich nieder. Schwüler, drückender
Blumenduft. Wie heiße Hände strich mir der Gewitterwind über das
Gesicht und nun fielen die ersten Tropfen, groß und schwer und kalt.
Wie das auf meiner glühenden Stirn, auf meinen brennenden Augen
wohltat! Und plötzlich eine jagende Flamme über den ganzen Himmel hin
und darauf ein langgezogenes Rollen.

Das brachte mich zur Besinnung. Wenn ich nicht bis auf die Haut naß
werden wollte, so mußte ich so schnell als möglich nach Hause. Und
auch aus einem anderen Grund. Dem Hausdiener der Anstalt konnte es
einfallen, nachzusehen, ob alle Fenster geschlossen seien. Und wenn er
dann das zumachte, durch das ich entwichen war, so konnte ich nicht
mehr in die Anstalt hinein und ich war entdeckt. Die Folge davon aber
konnte bei der strengen Hausordnung nur eine sein: der Ausschluß aus
der Anstalt.

Auf den nächsten Wegen stürmte ich der Anstalt zu. Mein einziger
Gedanke war: nur jetzt das Fenster noch offen treffen! Aber ehe ich
noch die Anstalt erreichte, brach das Gewitter los und im gießenden
Regen kletterte ich über den Zaun und jagte durch den Garten. Gott sei
Dank! das Fenster stand noch offen.

Ein Schwung und ich saß auf dem Fensterbrett. Vorsichtig ließ ich mich
auf die Fliesen des Korridors niedergleiten.

In diesem Augenblicke aber fühlte ich mich gepackt und während der
volle Schein einer Blendlaterne auf mich fiel, hörte ich eine mir nur
zu wohlbekannte Stimme mit ingrimmiger Befriedigung sagen: „Also, da
haben wir ihn nun! Lassen Sie ihn nicht los, Herr Präfekt, der Bursche
ist zu allem fähig.“

Es war der Direktor der Anstalt, der mich auf solche Weise empfing, und
da wußte ich, daß ich verloren sei. Der Mann war mir nie grün gewesen!
Er liebte nur die in Hundedemut vor ihm Ersterbenden unter seinen
Zöglingen und so wenig er Oskars Freund gewesen war, so wenig war er
auch der meinige.

„Woher kommen Sie!“ fuhr er mich nun an.

Ich gab keine Antwort.

„Haben Sie meine Frage gehört oder nicht?“

Ich gab abermals keine Antwort.

Nun stürzte er auf mich zu, packte mich an der Brust und ich glaube
heute noch, er hätte nach mir geschlagen, wenn ihn nicht der Präfekt
abgewehrt hätte.

Der aber sagte: „Herr Direktor, ich möchte vorschlagen, ihn für
heute nacht im Karzer zu internieren. Ich glaube nämlich, daß er so
erschrocken ist, daß er jetzt tatsächlich nicht antworten kann.“

Der Präfekt hatte eine so bestimmte Art zu sprechen, daß der Direktor
immer beigeben mußte. So stimmte er denn auch jetzt zu: „Gut. Und da
mag der junge Herr über seine nächtlichen Vergnügen und deren Folgen
nachdenken. Aber Sie haften mir für ihn, Herr Präfekt!“

„Gewiß, Herr Direktor!“

„Gute Nacht!“

„Gute Nacht, Herr Direktor!“

Dann wandte sich der Präfekt an mich, nickte einige Male bedeutungsvoll
und sagte dann ernst: „Das hätte ich gerade von Ihnen, Binder, nicht
erwartet. Aber jetzt kommen Sie und holen Sie sich trockene Kleider und
Wäsche.“

Nun saß ich also im Karzer und hatte Zeit nachzudenken, was nun werden
solle. Aber ich konnte nicht denken. Ich starrte nur in einemfort zu
dem kleinen Gitterfenster empor, durch welches in kurzen Zwischenräumen
die Blitze ihre blendenden Brände warfen, ich horchte dem Schmettern
der Donner und dem Rauschen des Regens. Eine unendliche Müdigkeit
machte mir das Blut in den Adern träge, die Augenlieder schwer und
während draußen noch das Maigewitter forttobte, schlief ich ein. Und
ich schlief so fest, daß ich am nächsten Morgen zum Frühstück erst
geweckt werden mußte.

Bald darauf kam auch der Präfekt und teilte mir mit, daß um zehn
Uhr die Konferenz zusammentreten werde. Ich solle der Wahrheit die
Ehre geben, denn nur ein ganz offenes Geständnis könne mir, wenn das
überhaupt möglich sei, noch etwas helfen.

Nun begann in meinem Kopfe wieder der Hexentanz. Auf der einen Seite
stand Heri in all dem berückenden Schimmer, mit dem meine Liebe sie
verklärte, seit dem gestrigen Abend mehr denn je; auf der anderen Seite
stand meine Mutter, die müde, stille Frau, deren einziges Glück ich
war. Zwischen den beiden hatte ich zu wählen. Sagte ich offen, daß
ich im Hause der Oberstin gewesen sei, dann konnte ich noch gerettet
werden; denn die Oberstin genoß in der Stadt ein hohes Ansehen und ich
wußte, daß man es sich gründlich überlegen würde, sie bloßzustellen.
Und was hatte ich auch getan? Ich hatte ein Mädchen geküßt, hatte
von ihm Abschied genommen, um mich selbst und meine Pflicht als
Studierender zu retten. Aber andererseits stellte gerade ich wieder
nicht nur Heri, sondern auch die Oberstin bloß, denn die mußte doch
wissen, daß ich um neun Uhr abends keinen Ausgang hatte. Wenn es aber
bekannt wurde, daß mich Heri in den Garten bestellt hatte, dann war
diese in der Stadt unmöglich gemacht, und wenn ihr Vater und der Graf
davon erfuhren, dann war es mit meinem Studium auch so aus, dann hatte
ich auf keinen Kreuzer Unterstützung mehr zu hoffen.

Ich sah ein, daß es aus dem Netze von Schicksalsfäden, in das ich
geraten war, kein Entrinnen mehr gebe und da tauchte zum ersten Male
jener große Gedanke in mir auf, dem ich heute meinen Frieden danke: das
alles ist ja nur Spiel, Traum! Dein innerstes Wesen berührt das ja gar
nicht, du kannst ruhig zusehen, zusehen und lächeln.

Und da stand es auch in mir fest: ich wollte allem Schweigen
entgegensetzen. Kein Wort sollten sie aus mir herauspressen können.
Mochte kommen, was da wolle.

Um zehn Uhr trat die Konferenz zusammen. Sie bestand aus dem Direktor
des Internates, dem Präfekten, dem Direktor des Gymnasiums und meinem
Klassenvorstand.

Und der Internatsdirektor begann mit dem ihm eigenen Pathos: „Es
ist ein sehr trauriger Fall moralischer Verwahrlosung, zu dessen
Untersuchung ich die Herren habe entbieten müssen. Es wird sich darum
handeln, Mittel und Wege zu finden, wie die übrigen Schüler vor
Ansteckung durch diesen moralischen Giftstoff bewahrt werden können.
Sie aber“ -- damit wandte er sich an mich -- „fordere ich auf, die
Wahrheit, die volle Wahrheit zu sagen. Glauben Sie ja nicht, durch
Lügen sich retten zu können. Und nun sprechen Sie: wo waren Sie gestern
Abend?“

Ich schwieg.

„Wollen Sie auch heute nicht antworten?“

Keine Antwort.

„Aber so reden Sie doch!“ mahnte der Gymnasialdirektor.

Ich schwieg.

„Nun, so werde ich es selbst sagen. Als ich gestern abend vor Ausbruch
des Gewitters nach Hause ging, stürzte mir aus der Spittelgasse ein
junger Mann entgegen. Obwohl er den Hut tief in die Stirne gedrückt
hatte, erkannte ich doch in ihm den Zögling Binder und überrascht blieb
ich stehen und sah ihm nach. Er lief die Parkstraße entlang. Meine
Herren, Sie wissen, welche Art von Menschen leider die Spittelgasse
bevölkert, und ich frage Sie: wie tief muß ein junger Mensch gesunken
sein, der sich wie ein Dieb aus der Anstalt schleicht, seine
Vorgesetzten in raffinierter Weise täuscht, um jene Lasterstätten
aufsuchen zu können!“

Allgemeines entsetztes Kopfschütteln und der Gymnasialdirektor meinte:
„Nun begreife ich freilich die schlechten Lernerfolge des jungen
Mannes!“

Mein Klassenvorstand aber sprang auf, faßte mich an der Schulter und
rief: „Mensch, so reden Sie doch! Das kann ja gar nicht wahr sein! So
kann ich mich doch an Ihnen nicht getäuscht haben!“

Der ehrliche Schmerz des schon alten Mannes schnitt mir ins Herz
und da vergaß ich meinen Vorsatz und sagte: „Ich war nicht in der
Spittelgasse, ich bin nur hindurchgelaufen.“

„Wo waren Sie dann?“

Sollte ich vor diesen Leuten da mein Herz entblößen, sie mit ihren
brutalen Händen in dem Heiligtum meiner Seele wühlen lassen?

Mein Klassenvorstand las mir die Qual aus den Augen und sagte: „Ich
möchte die Herren bitten, mich eine kurze Zeit mit dem jungen Manne
allein zu lassen. Ich glaube garantieren zu dürfen, daß er mir die
volle Wahrheit bekennen wird!“

„Wie meinen Sie, Herr Direktor?“ fragte der Direktor unserer Anstalt.

Der Gymnasialdirektor zuckte mit den Achseln und erwiderte: „Wenn der
Herr Kollege glaubt, soviel Macht zu besitzen, den Burschen zum Reden
zu bringen, so meine ich, liegt kein Anstand vor, ihm seinen Wunsch zu
bewilligen. Ich schlage also vor, wir ziehen uns für eine Viertelstunde
zurück.“

Damit erhob er sich und schritt der Türe zu. Mit einem giftigen
Seitenblick auf mich folgte ihm der Anstaltsdirektor und diesem der
Präfekt.

Und der alte Professor nahm das Wort: „Also, lieber junger Freund,
wir sind allein. Ich halte Sie nicht für schlecht, denn ich sah die
Scham in ihren Augen. Nun sagen Sie mir alles. Denken Sie, ich sei
Ihr Beichtvater oder noch mehr, ich wäre Ihr Vater, zu dem Sie in
Ihres Herzens Not kommen. Seien Sie offen und wahr, wie es sich für
einen braven und mutigen Menschen geziemt. Was es auch sei, seien Sie
versichert, ich werde es mir angelegen sein lassen, den Urteilsspruch
nach Kräften zu mildern. Setzen Sie sich hier neben mich und reden Sie.“

Ich setzte mich und dann erzählte ich ihm alles, wie es gewesen war.

Er hörte aufmerksam zu, die grauen guten Augen fest auf mich heftend,
und wenn ich stockte, sagte er nur: „Erzählen Sie ruhig weiter.“

Als ich geendet hatte, sah er mich lange an und dann sagte er, indem
ein mildes Lächeln um seine Lippen spielte: „Sie sind ein großer
Kindskopf, Binder. Eine solche Dummheit machen! Nun, ich hoffe, daß
alles zu einem glücklichen Ende führen wird. Gehen Sie hinaus, sagen
Sie den Herren, ich lasse bitten, zu kommen, und warten Sie selbst
draußen, bis Sie gerufen werden.“

Ich ging und tat, wie mir geheißen. Eine Bergeslast war mir von der
Seele gewälzt. Ich lauschte nicht den Stimmen im Nebenzimmer, ich
stand an dem Fenster und sah mit hoffnungsfreudigen Augen in den
Garten hinaus, der nun nach dem nächtlichen Gewitter in frischen
Frühlingsfarben und Tau leuchtete und blitzte und über dem die Sonne in
einer Strahlenglorie stand, in jeden Winkel den Segen ihrer goldenen
Lichtflut sendend.

Und ich dachte an meine Mutter. Alles, alles, was ich ihr an Leid
bereitet hatte, wollte ich nun gutmachen. Nun wollte ich zeigen, was
ich zu leisten imstande sei. Und der Mann da drinnen, der mich zum
moralisch Verwahrlosten gestempelt hatte, er sollte noch erfahren, wie
sehr er sich getäuscht habe. Ihn selbst zur Anerkennung meines Wertes
zu zwingen, das sollte meine beste Rache sein.

In diese frohe Zuversicht und maiengrüne Hoffnungsstimmung fiel aber
bald ein Schatten. Statt zu einem Abschluß zu kommen, wurde die
Konferenz auf den Nachmittag vertagt und ich kam vorläufig wieder
in den Karzer zurück. Daß der Präfekt, der die Tür abschloß, mich
noch angelächelt hatte, gab mir aber neue Hoffnung, daß sich meine
Angelegenheit in günstigem Fahrwasser befinde.

Langsam, nur allzu langsam rannen die Stunden dahin. Endlich aber, es
hatte eben von den Türmen die dritte Nachmittagsstunde geschlagen,
holte mich der Präfekt neuerdings ab.

„Kommen Sie,“ sagte er kurz.

Mir schlug das Herz und auf der Treppe wagte ich die Frage an ihn:
„Herr Präfekt, wie steht es mit mir?“

„Das werden Sie sofort erfahren. Ich habe Ihnen nichts zu sagen.“ Der
kalte, beinahe feindselige Ton machte mich stutzig und eine bange
Ahnung stieg in mir auf.

Vor die Konferenz gestellt, sah ich auf den Gesichtern der vier Männer
feierlichen, finsteren Ernst.

Und der Anstaltsdirektor fragte mich: „Bleiben Sie bei der Aussage, die
Sie heute vormittag Ihrem Klassenvorstand gegenüber machten?“

Ich war verblüfft. Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet gewesen.
Und was sollte sie? Fest gab ich zur Antwort: „Ja.“

„Nun“ -- der Direktor zog eine höhnische Miene -- „ich habe die Frau
Oberstin von Tattenbach schriftlich von Ihrer Aussage verständigt
und sie war selbst hier und hat mir beteuert, daß alles erlogen sei.
Sie war allerdings bis zehn Uhr in ihrer gewöhnlichen Gesellschaft
bei der Frau Generalin von Hohenstein, doch hat der Hausmeister wie
sonst um neun Uhr die Türe gesperrt, und als sie nach Hause kam, fand
sie diese Angabe bestätigt. Auch ihre Nichte beteuerte, daß sie den
Zögling Binder nicht gesehen habe. Er hält sich überhaupt seit Monaten
von dem Hause, wo man ihn in liebenswürdigster Weise aufgenommen
hatte, vollständig fern. Sehr erklärlich allerdings. Wir haben keinen
Anlaß, in die Angaben der Frau Oberstin sowie die ihrer Nichte nur den
geringsten Zweifel zu setzen und“ -- er erhob seine Stimme -- „stehen
vor der Tatsache, daß ein Mensch, der dieser hochangesehenen Frau,
wie deren Bruder, dem Herrn Oberforstverwalter, die größten Wohltaten
dankt, sich nicht scheut, Schande auf sie zu häufen, um seine eigene
Schande zu bemänteln.“

Mit triumphierenden Blicken sah der Anstaltsdirektor hauptsächlich den
Klassenvorstand an, dann wandte er sich an mich: „Haben Sie darauf
etwas zu erwidern?“

Nein, ich hatte nichts zu erwidern. In mir stürzte aber eine Welt
zusammen, in der ich bisher mit dem Gefühl gewandelt war, daß es
außer ihr keine geben könne: die Welt der Wahrheit. Und nun war ich
hinausgeschleudert ins Haltlose und nichts mehr gab es für mich als
rettungsloses Versinken. Erde, Himmel, Gott, Menschen, alles sah ich
um mich wanken und stürzen; ich fühlte, wie alles Blut aus meinen
Wangen wich, ein Schwindel überkam mich und ich mußte mich stützen,
um nicht zu fallen. Heri, Heri hatte mich verleugnet, mich dem Elend
ausgeliefert, sie, die mir geschworen hatte, mich hinanzuführen zu den
Höhen des Glückes, die ich liebte, so unsäglich liebte! Mir fiel nicht
ein, daß ich in dem Brieflein, in dem sie mich zum Stelldichein geladen
hatte, ein Beweismittel gegen sie und ihre Tante in den Händen hielt,
ich konnte nur immer das eine denken, daß sie mich verleugnet hatte,
und ein Schmerz ohne Ende zerwühlte mir das Herz.

Ich hörte nicht, was man mich noch fragte, ich gab keine Antwort, ich
stand wie betäubt und meine Augen starrten zu Boden, als öffne sich da
vor ihnen der Abgrund, in dem alles versunken war, was mir bisher als
heilig und unverbrüchlich gegolten hatte.

Was kümmerte es mich jetzt, daß der Anstaltsdirektor meine
Ausschließung beantragte, daß der Gymnasialdirektor erklärte, er wolle
sofort eine Konferenz seines Lehrkörpers einberufen und denselben
Antrag stellen, denn er habe tatsächlich einsehen gelernt, daß ich eine
Gefahr für die Moralität der ganzen Klasse, ja der ganzen Anstalt sei.
Mochten sie reden, mochten sie tun, was sie wollten; in dieser Welt,
in die mich diese Stunde geworfen hatte, war alles möglich. Gegen die
Mächte, die in ihr das Szepter führten, war ich machtlos.

Mein Klassenvorstand trat auf mich zu und fragte mich: „Haben Sie denn
gar nichts zu Ihrer Verteidigung anzuführen?“

Ich wußte nichts, mir fiel nichts ein und achselzuckend wandte sich der
alte Mann ab und ich hörte nur noch, wie er sagte: „Das ist die größte
Enttäuschung in meinem vierzigjährigen Lehrerleben.“

Dann trat der Präfekt auf mich zu und führte mich schweigend in den
Karzer zurück.



IX.


Gestern sind die ersten Touristen in meine Einsamkeit gekommen. Auf
den Wildenstein wollten sie hinauf und waren sehr enttäuscht, als
ich ihnen sagte, daß der Weg von hier aus nicht gangbar sei, da ihn
die Frühlingswasser zerstört haben. Sie schimpften gewaltig über die
bodenlose Nachlässigkeit, daß der Weg jetzt noch nicht hergestellt sei,
und zogen dann grollend ab.

Arme Menschen! Von einem fußbreiten Pfad hängt ihr Glück ab, und weil
sie den nicht finden, versinkt eine Welt von Schönheit vor ihnen.
Keiner von den drei Männern fühlte mehr die heilige Ruhe des Hochwaldes
in weichen Wellen sein Herz umschmeicheln, keiner mehr trank den
balsamischen Harzduft, und keinem mehr lächelte das tiefblaue Auge des
Sees, in dem alle Seligkeiten des Himmels und alle Märchen der Tiefe
sich spiegeln.

Freilich, ich hätte den Männern sagen können, daß das, was sie sehen
wollten, die Sonnenwendfeuer, auch hier in der Nähe zu sehen wäre und
ebenso schön als auf dem Wildenstein. Aber was kümmern mich andere
Menschen? Mögen sie ihre Wege gehen, ich gehe die meinen. Und meine
sind die Wege der Einsamkeit, also Wege zu Festen der Seele, die eben
nur der findet, der einsam sein will. Die Einsamkeit macht Könige, die
Menge Bettler. Je größer der Haufe, desto armseliger der einzelne.

Und es kam die Nacht. Weich war sie wie zärtliche Mutterhand und
dunkel wie das Auge der Sehnsucht. Warm war sie wie ein in treuer
Liebe brennendes Herz und so voll süßer Geheimnisse wie eine junge
Seele. Kein Mond stand am Himmel, nur die Sterne standen in blitzendem
Flor in der violenblauen Unendlichkeit und wie von einem verglühenden
Rauchopfer stieg von meinem Meiler ein dünner, blaßblauer Faden
senkrecht zu ihr empor.

Da stieg ich auf einsamem Jägersteig empor und das Schweigen ging an
meiner Seite. Nachtschwarz die Gründe um mich und neben mir. Dort und
da glimmt ein vermodernder Baumstumpf in fahlem Licht und zuweilen ist
es, als tauchten in der Finsternis glühende Ringe auf. Die gaukeln aber
nur die eigenen Augen vor, die sich angestrengt in das Dunkel bohren,
um in der Nacht der Haselbüsche und Hainbuchen, die sich laubenartig
über den Pfad wölben, die Richtung nicht zu verfehlen.

Nun weichen die niederen Büsche zur Seite und zwischen den zackigen
Mauern der Bergfichten leuchtet wieder Sternenlicht auf meinen Weg.

Noch eine kleine Viertelstunde. Dort und da knackt ein Zweig von
vorsichtig ziehendem Wild, Büsche rauschen auf und schweigen wieder
und nun sehe ich wieder, aus den letzten Stämmen des Hochwaldes
hervortretend, die ganze lichte Sternenflur über mir hingebreitet, und
wie ich nun zwischen den Baumstrünken des Windbruches emporsteige,
da leuchtet es mir schon allenthalben entgegen, als sei ein zweiter
Sternenhimmel in großen, flackernden Flammen auf die Erde gesunken.
Von den Berggipfeln leuchten die Feuer, an den Hängen und in den
Tiefen brennen sie, bis weit hinaus ins flache Land, zu Hunderten und
Hunderten flimmern und schimmern sie. Licht, Licht, überall!

Aus grauen Vorväterzeiten stammt der Brauch, aus Heidentagen, wie sie
sagen. Als ob es jemals Heiden gegeben hätte! Als ob es nicht auch
damals schon die sehnsüchtige Menschenseele gewesen wäre, die ihr
Heimweh nach den ewigen Lichtgärten der Götter mit Flammenarmen sich
emporrecken ließ. Nach Balder, dem Gott mit den sonnigen Friedensaugen,
verzehrten sich die Sehnsuchtsbrände.

Und nach ihm verzehren sie sich noch heute. Balder ist für die Menschen
gestorben; die Nacht des Hasses hat ihn getötet. Doch ist er auch für
die Menschen tot, der Menschheit ist er auferstanden, den wenigen, die
den Frieden gefunden haben, die da wissen, daß es keinen Tod, sondern
nur ewiges Leben gibt.

Und einer von denen bin ich. Und stolz trete ich an den Holzstoß, den
ich in den letzten Wochen gehäuft, und größer, fester und heiliger
als die der anderen Menschen, in stolzer Ruhe schlägt meine Flamme
auf, die Flamme des Einzigen auf der weiten Welt, der keinen Menschen
braucht, um glücklich zu sein, weil sein Herz im All schlägt.

Eine Feierstunde war es gestern droben auf meiner einsamen Bergesweite
und sie hat mir wieder das Herz gestählt, um ruhig weitererzählen zu
können.

Ich war also zurück in den Karzer gebracht worden. Ich erinnere mich
noch, daß ich immerfort zu dem kleinen vergitterten Fenster emporsah,
unfähig, irgend etwas zu denken. Ein Ausgestoßener war ich und die
Eisenstäbe des Fenstergitters wurden mir zum Kreuz, an das man mich
geheftet hatte. Ich war Christus, und in übermenschlichen Martern
mußte ich die Welt von der Erbsünde der Selbstsucht erlösen. Vor dem
Kreuz aber, an das ich geheftet war, auf dem blumenbunten Grund von
Golgatha tanzte Heri auf und nieder. Einen Kranz von Rosen trug sie in
das dunkle Haar geflochten und ihre Augen schimmerten, als hätten sie
das ganze Glück der Erde in sich getrunken. Dann aber warf sie sich
plötzlich an meine Brust und biß mich mit giftigen Zähnen in das Herz.

Dann kam mein Vater mit der noch blutenden Schußwunde in seiner Brust
und an seiner Seite ging meine Mutter, müde und langsam, aber mit
entsetzlich verzerrtem Gesicht und dies Gesicht kam mir immer näher und
näher, qualvoll starrten mich seine Augen an, die todesbangen Augen
des Christus, den Oskar in sein Skizzenbuch gezeichnet hatte. Und dann
wurde es Nacht, glühende, rauschende Nacht um mich. Ein einziges Mal
war es, als ginge mildes Mondlicht durch diese Nacht und ich sah für
einen Augenblick Marielis süßes Gesichtchen vor mir, dann aber tanzte
schon wieder Heri einher und die Jagd der Gestalten ging von neuem los,
bis endlich dunkle, müde Nacht kam und alles, alles begrub.

Als ich erwachte, beugte sich ein mildes, aber mir fremdes Antlitz über
mich, das von den breiten weißen Flügeln der Haube der barmherzigen
Schwestern umrahmt war.

Ich wollte mich aufrichten, fragen, doch sie drückte mich sanft in die
Kissen zurück, indem sie sagte: „Bleiben Sie nur recht ruhig.“

„Wo bin ich denn?“ mußte ich doch fragen.

„Sie sind im Spital, denn sie waren sehr krank. Nun aber werden Sie
bald gesund sein. Bleiben Sie nur schön liegen und regen Sie sich nicht
auf.“

Dann führte sie mir einen Löffel mit einer kühlen, süßlichen
Flüssigkeit zum Munde und ich versank in wohliges Hindämmern.

Dann stand einmal ein bärtiger Mann an meinem Bett und als ich ihn
genauer ansah, erinnerte ich mich, daß ich ihn schon irgendwo und
irgendeinmal gesehen haben mußte. Richtig: das war ja der Doktor, der
am Sterbelager Oskars gestanden hatte. Und da fiel mir’s wieder ein,
daß man mir ja gesagt habe, ich sei im Spital.

Wenn ich aber fragen wollte, bedeutete man mir, mich ja ganz ruhig zu
verhalten, und da mußte ich auch folgen, ich mochte wollen oder nicht.

So kehrte ich langsam zum Leben zurück und dann kam auch der Tag, wo
ich auf meine Fragen endlich Antwort erhielt. Ich war dem Tode nahe
gewesen. Zu einem schweren Nervenleiden hatte sich auch noch eine
Lungenentzündung gesellt und ich war von den Ärzten schon aufgegeben
gewesen. Unerwartet sei dann aber eine Wendung zum Besseren eingetreten
und da hatten auch die Ärzte wieder mit dem ganzen Aufgebot ihrer Kunst
eingesetzt, und nun war ich gerettet.

Was es nun mit der Anstalt sei. Ob ich wieder weiterstudieren dürfe,
fragte ich.

Doch der Arzt sagte nur: „Daran denken Sie vorläufig am gescheitesten
gar nicht. Jetzt ist es Ihre erste Aufgabe, einmal ganz gesund zu
werden.“

Ob meine Mutter von meiner Krankheit wisse, fragte ich weiter. Ja, sie
wisse alles und hätte auch nur den einen Wunsch, ich solle nur hübsch
allen Anordnungen folgen, damit ich bald gesund werde.

Das beruhigte mich, und als mir gar der Doktor sagte, daß ich für heuer
selbstverständlich nicht mehr in die Anstalt zurückkehren brauche, da
ich nach Hause zur Erholung müsse und dafür bereits gesorgt sei, daß
es mir recht gut ginge, da kehrte eine stille Freude in mein Herz ein,
die warm und wohlig durch den ganzen Körper strömte und ihn täglich
kräftiger und kräftiger machte.

Und dann sagte der Doktor endlich zu mir: „Also morgen dürfen Sie nach
Hause. Es wird übrigens jemand kommen, Sie abzuholen.“

„Meine Mutter?“

„Das weiß ich nicht, das wurde uns nicht mitgeteilt. Aber das eine sage
ich Ihnen: hübsch vernünftig bleiben und keine Geschichten machen, wenn
--“

Er unterbrach sich und ich fragte: „Warum soll ich denn Geschichten
machen?“

„Na, Sie scheinen ein sehr empfindlicher Mensch zu sein, und auf der
Welt findet man’s nie so, wie man es sich ausmalt und wie man’s gerne
haben möchte. Da heißt’s eben fügen und sich abfinden mit dem, wie es
ist. Das meine ich.“

Ich glaubte darin eine Anspielung auf Heri zu hören, und wenn mich
auch eine leise Wehmut durchzuckte, das eine wußte ich, daß ich nun
vor ihr gefeit sei. Wie ein böser, toller Traum erschien mir alles,
was hinter mir lag und selbst für den Fall, daß ich am Ende nicht mehr
weiterstudieren sollte können, fühlte ich doch noch die Kraft, ein
glücklicher und froher Mensch zu werden.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, fand ich auf dem Stuhl neben
meinem Bette meine Sonntagskleider, in denen man mich ins Spital
gebracht hatte. Meine übrigen Habseligkeiten, war mir gesagt worden,
seien schon in der Heimat.

Noch einmal kam der Arzt und als er ging, reichte er mir die Hand,
sah mich eine Weile an, als wolle er mir noch etwas sagen, sagte aber
nichts als: „Also, lieber, junger Freund, vernünftig sein.“

Auch die Schwester, die mich so aufopfernd gepflegt hatte und die
mich jetzt bis zur Türe des Besuchszimmers geleitete, sah mich so
eigentümlich an und als ich ihre Hand faßte und ihr aus ganzem Herzen
für all die Mühe dankte, die sie sich um mich gegeben, da war es mir,
als stiege in ihren Augen ein feuchter Schimmer auf. Leise sagte sie:
„Leben Sie wohl, ich will für Sie beten.“

Ich sah ihr nach und als sie an der Biegung des langen Ganges
verschwunden war, drückte ich auf die Klinke und trat in das
Besuchszimmer ein.

Zwei liebe, vertraute Gestalten erhoben sich von den Stühlen, die
Müllerin und die Marieli. Erstere kam mir ein paar Schritte entgegen
und reichte mir mit innigem Druck die Hand: „Grüß dich Gott, Heini.
Also du bist halt doch wieder gesund worden.“

Und nun kam auch Marieli auf mich zu, schüchtern, das blasse, feine
Gesichtchen von Purpur überströmt, vom Purpur der Freude und der Liebe.
Wortlos reichte sie mir die Hand, aber der selige Glanz auf ihrem
Antlitz jubelte einen Willkommgruß, der mich tief glücklich machte.

„Ist meine Mutter nicht da?“ fragte ich, denn mir fiel plötzlich auf,
warum denn die zwei Frauen allein hier seien.

„Ist sie krank?“

„Nein, Heini.“

Marieli senkte das Haupt und auch die Müllerin gab nicht sofort
Antwort, als ich aber die Frage nochmals und drängend wiederholte,
sagte sie, indem sie mir die Hand auf die Schulter legte: „Krank ist
sie eigentlich nicht mehr. Du weißt ja, sie hat dir’s ja selbst gesagt,
daß sie herzleidend ist, und da haben wir uns halt gedacht, es sei das
beste, wenn wir zwei dich abholen. Meinst du nicht auch?“

Ich mußte der Müllerin recht geben. Nachdem die
Entlassungsförmlichkeiten abgetan waren, verließ ich mit den beiden
Frauen das Spital.

Es war ein wunderschöner Junitag. Die Straßen lachten im Sonnenlicht,
und da es noch zu früh zum Mittagessen war, schlug ich vor, durch den
Park und in die Au zu gehen. Ich war so froh und glücklich, daß mir gar
nicht auffiel, wie schweigsam die beiden Frauen waren.

Als wir eben in die Hauptallee des Parkes einbogen, kam uns ein
Offizier mit einer jungen Dame am Arme entgegen.

Ich erkannte sie und wenn auch mein Herz erbebte, ich richtete mich
stolz auf und grüßte kalt und gemessen. Der Offizier griff salutierend
an die Mütze, Heri aber senkte das Antlitz und es war mir eine
Genugtuung, sie erblassen zu sehen. Die Müllerin aber tat, als hätte sie
Heri gar nicht erkannt, während Marieli erbleichend zu Boden sah.

Bald lag der Park hinter uns und wir schritten auf dem Promenadeweg
durch die Au. Als wir bei der Bank angelangt waren, auf der ich vor
Wochen mit der Mutter gesessen hatte, sagte ich dies den beiden Frauen.

„Nun dann setzen wir uns auch ein wenig hier nieder,“ meinte die
Müllerin. „Ich bin beinahe ein bißchen müde.“

Wir ließen uns nieder und jetzt, nachdem wir wieder eine Weile gesessen
hatten, ohne ein Wort zu reden, fiel mir die Schweigsamkeit der beiden
Frauen auf. Das mußte seinen Grund haben. Und da fiel mir ein, daß man
jedenfalls den wahren Grund meiner Erkrankung erfahren haben könne.

„Weiß die Mutter, was mir gefehlt hat?“ fragte ich, „und warum ich so
krank geworden bin?“

„Ja, das Warum weiß sie. Das ist ja in dem Brief gestanden, den der
Direktor an sie geschrieben hat.“

„Was hat er denn geschrieben?“

Die Müllerin faßte meine Hand und sagte: „Mein lieber Heini, wozu
willst du das wissen! Wir da und auch deine Mutter, wir haben es ja so
nit geglaubt. Wir glauben dir und wir wissen auch, daß nur die die
Schuld hat, die uns zuvor begegnet ist. Wenn wir dir nit glauben täten,
Heini, so wären ich und die Marieli nit da.“

In mir krampfte sich das Herz zusammen. „So haben sie mich also sogar
bei meiner Mutter verleumdet!“

„Sie hat’s nit geglaubt. Heini, sie hat’s nit geglaubt.“

„Was hat sie denn gesagt?“ bat ich.

„Sie hat nit viel gesagt, Heini, ‚Mein Heini ist unschuldig‘, -- sonst
hat sie nichts gesagt.“

„Gar nichts sonst?“

„Nein, Heini, gar nichts sonst,“ erwiderte die Müllerin leise und dabei
rollten ihr große Tränen aus den Augen.

Was hatten diese Tränen zu bedeuten? Warum sah mich Marieli so seltsam
an? Ein Gedanke stieg in mir auf und wuchs augenblicklich zur Gewißheit
an. Ich sprang auf und rief angstvoll, heimlich aber doch ein tröstende
Antwort erwartend: „Die Mutter ist -- --“

Flehend hob ich die Hände, als könnte ich mir eine gute Nachricht
erbitten, nicht die, die ich befürchtete.

Doch die Müllerin nickte nur und während sie mich neben sich auf die
Bank niederzog, sagte sie: „Ja, Heini, es ist so. Deine Mutter ist
heimgegangen zu deinem Vater.“

Ich schrie nicht auf, ich tobte nicht; mir war nur zumute, als sei nun
auch das Letzte, was mir noch auf Erden verblieben war, versunken und
ich stünde nun ganz, ganz mutterseelenallein auf einer Erde, die mir
fremd und feindlich ist. Grenzenlose Verlassenheit und Einsamkeit um
mich und so schwer, so traurig, daß ich nicht einmal weinen konnte. Ich
starrte nur vor mich hin und unwillkürlich sprach ich vor mich hin:
„Keine Mutter mehr. Keine Mutter mehr.“

Dann aber dachte ich plötzlich daran, was wohl meine Mutter gelitten
haben müsse, als sie erfahren hatte, daß man ihren Sohn mit Schanden
davongejagt habe und dieser Gedanke erst brachte meinen Schmerz zum
Ausbruch. Meine arme Mutter!

„Wein dich nur aus, Heini,“ sagte die Müllerin und legte ihren Arm
mütterlich um meine Schultern, „wein dich nur aus. Es ist besser, als
wenn du dich vergrübelst.“

Und während ich immer nur vor mich hinschluchzte, sagte und erzählte
sie: „Schau, Heini, deine Mutter war schon sehr krank, nur hat sie’s
nicht so zeigen wollen. Daß sie aber gewußt hat, wie’s mit ihr steht,
davon ist das ein Beweis, daß sie dich nach Ostern heimgesucht hat.
Bevor sie fortgefahren ist, hat sie zu mir gesagt: ‚Ich weiß nit, ich
halt’s nimmer länger aus: ich muß den Heini sehen. Mir ist alleweil
so, als müßte was geschehen, daß ich ihn dann am Ende nit mehr sehen
kann.‘ Ich hab ihr das natürlich auszureden gesucht, aber es hat nichts
genützt. Und wie sie dann von da heimgekommen ist, da ist sie zuerst
zu mir gekommen und da hat sie wohl eine Stund nichts und nichts als
geweint. Ich hab’ nit gewußt, was sie hat, und hab sie gefragt und ihr
zugeredet und da ist sie wirklich endlich auch still geworden. Und da
hat sie mir dann auch gesagt: Du, Lois, mein Heini ist nit glücklich
und ich fürcht, er wird noch unglücklicher werden. Ich werd ihm wohl
nimmer viel helfen können. Aber gelt, Lois, du versprichst mir’s:
wann ich einmal nimmer sein soll, du nimmst dich um ihn an. Versprich
mir’s. -- Und ich hab ihr’s versprochen, Heini, ich hab ihr’s gern
versprochen. -- Und wie dann der Brief vom Direktor kommen ist, da
ist sie grad bei mir gewest. Weil sie zu viel gezittert hat, hab’ ich
ihr den Brief aufmachen müssen. Wie sie aber gelesen hat, da ist sie
aufgesprungen und hat geschrien: ‚Das alles ist nit wahr! Mein Heini
ist unschuldig!‘ Und wie sie das sagt, greift sie ans Herz, ich habe
sie aufgefangen, und in meine Arm hat sie die Augen zugemacht. Sie hat
eine recht schöne Leich gehabt, deine Mutter. So still und friedlich
ist sie im Sarg gelegen und bevor er zugemacht ist worden, ist die
Frau Oberforstverwalter mit einem schönen Kranz kommen und geweint hat
sie am Sarg, als wär deine Mutter ihr Schwester gewesen. Und jetzt
liegt deine Mutter neben deinem Vater und jetzt sind sie halt wieder
beieinander, die so bald und so auf unverhoffte Weise haben seinerzeit
auseinander müssen. Gott geb ihnen die ewige Ruhe!“

Das stille, schlichte Erzählen übte eine tiefe Wirkung auf mein Gemüt.
Wie ein begütigendes Streicheln fühlte ich die aus innigem Mitempfinden
quellenden Worte und wie ein traumhaft weiches Dämmern, allen Schmerz
lösend und lindernd, kam es über mich.

Und da nahm die Müllerin meine beiden Hände in die ihren und sagte:
„Und jetzt, Heini, jetzt will ich das Versprechen halten, das ich
deiner Mutter gegeben hab. Von jetzt an will ich deine Mutter sein und
ich werd mir schon recht Mühe geben, daß alles wieder recht wird und
auf eben und gleich kommt. Mußt halt auch ein bißchen Vertrauen zu mir
haben und mich ein bißl gern haben, dann wird’s schon gehen.“

Auf diese Worte konnte ich nicht anders, ich beugte mich hinab und
küßte die Hände, die so treu die meinen umschlossen hielten und von
denen es in warmen Wellen in mich überströmte wie der letzte Segen
meiner Mutter.

„Aber, Heini, was tust du denn!“ wehrte jedoch die Müllerin ab, „mir
die Hand küssen. Ich bin ja nur eine Bäuerin!“

„Aber meine Mutter jetzt,“ drängte es sich über meine Lippen, und da
ging über das liebe, gütige Antlitz der einfachen Frau ein glücklicher
Schimmer und sie sagte: „Ich mein, wir werden alle miteinander doch
noch recht glücklich werden. Gelt, Marie, du hilfst auch dazu?“

Ja, das wußte ich und hätte ich’s nicht gewußt, so hätte es mir der
seelenvolle Strahl aus Marielis Augen gesagt, als sie mir nun ebenfalls
die Hand reichte.

Es war inzwischen die Mittagsstunde gekommen und wir kehrten in die
Stadt zurück. Nach dem Mittagessen gingen wir zum Bahnhof und dann trug
uns der ratternde Zug der Heimat zu.

Bald hatten wir die weiten Felderbreiten des Flachlandes durchflogen,
die Berge traten näher, der Sommerwald schickte durch die offenen
Fenster aufrauschend seinen duftigen Gruß herein, nun stiegen hinter
seinen tiefgrünen Wipfeln auch schon die leuchtenden Felszacken der
Heimatberge auf und ein wunderbares Friedlichwerden zog in mein
verstürmtes Herz ein.



X.


Ich wünsche durchaus nicht, daß es anders hätte kommen sollen, als
es in meinem Leben tatsächlich kam. Solche Wünsche habe ich in
früheren Zeiten einmal in meiner Brust getragen, aber mein Herz hat
sie abgestoßen, wie der frühlingschwellende Baum die welken Blätter
abstößt. Trotzdem aber lege ich mir noch manchmal die Frage vor, wie
wohl alles geworden wäre, wenn Heri den Mut zur Wahrheit besessen
und bestätigt hätte, daß ich bei ihr gewesen sei. Dann wäre ich heute
wohl Doktor oder Professor, säße in Amt und Würden und wäre ein Mensch
wie tausend andere, mit denselben Rücksichten und Vorsichten, mit der
ewigen Frage im Herzen, ob ich denn dies und das tun dürfe, ohne bei
Gevatter Hinz und Kunz anzustoßen, ich wäre einer von jenen Halben
geworden, die sich kein aufrichtiges „Ja“ oder „Nein“ mehr zu sprechen
getrauen, die sogar, wenn sie hierher in meine Einsamkeit kommen,
nur mit „könnte“ und „dürfte“ ihre Gedanken ausdrücken können; ich
wäre einer von jenen geworden, die ich früher haßte aus meinem ganzen
Herzen, die ich verachtete und die mir heute nur mehr ein Lächeln
entlocken.

Jedenfalls aber wäre ich nicht zu dem süßen, heiligen Frieden gelangt,
den ich gerade jetzt, wo ich die Geschichte meines Lebens in ihren
herzblutroten Kapiteln niederschreibe, tiefer und beseligender empfinde
als je. Wie eine Wanderung durch ein Land zähnefletschender Bestien
kommt mir mein früheres Leben vor und wenn ich dann meinen Blick von
den weißen Blättern erhebe, die Bilder meiner Erinnerung verwehen und
versinken, und ich sehe meinen Wald vor mir und sein tausendfaches
Leben, dann fühle ich ein tiefinniges Beglücktsein, ein so jauchzendes
Daheimsein, daß ich mich ins Gras werfe, meinen Körper an den Boden
andrücke, und daß es mir oft für Augenblicke ist, als spüre ich
durch die warme Erde einen treuen Herzschlag, als umfange mich das
ewige Leben selbst und löse mein Ich in göttlicher, erdenvergessender
Umarmung.

Da zerbrechen sich die Philosophen die Köpfe darüber, warum das Leid
auf Erden sei. Es ist da, um überwunden zu werden, um glücklich werden
zu können. Denn nur eine Seele, die durch die Höllen geschritten
ist, hat die Kraft, in die Himmel emporzusteigen. Das Leid ist der
große Hammer, welcher die ehernen Schwingen schmiedet, auf denen man
sich mit Gotteskraft über die Erde erheben kann. Wen dieser Hammer
zerschlägt, der war nie mehr wert. Das Leid ist die Leiter, auf der das
Menschliche zum Göttlichen hinansteigen soll, denn alles Göttliche ist
überwundenes, ohnmächtiges Leid.

Kein wahrer Frieden, zu dem nicht das Leid den Grund gelegt hätte.
Welch ein Bild tiefsten Friedens bietet nur auch jetzt wieder mein
geliebter Wald in seinem sommerlichen Schweigen.

Traumstille weit und breit. Über den regungslosen Wipfeln das tiefe,
unendliche Blau des Himmels, in das keiner Wolke silbernes Segel
Leben und Bewegung bringt. Uferlose Ewigkeit, die kein anderes Gefühl
aufkommen läßt, als das des Verströmens des eigenen Wesens, des
Zusammenrinnens mit den Lebenswellen, die aus den Ewigkeitsgründen des
Daseins fluten. Zeit und Raum versinken in diesem Gefühle und der
Hochwald macht die passende Musik dazu.

Das ist ein leises Raunen und Summen, Singen und Sirren, Millionen
und Millionen Stimmen sind es und doch wieder nur eine einzige. In
einschläfernder Monotonie schwellt sie dahin, groß und feierlich und
doch wieder so traut und heimlich, als sänge eine glückliche Mutter zum
Wiegenschaukeln ihr: „Eia, popeia, schlaf, Kindlein, schlaf!“

Und doch geht auch zu dieser Stunde das Leid in mannigfachster Gestalt
durch den Wald, in der Gestalt all der Tiere, die mit Zahn und Tatze,
mit Klaue und Gift gegeneinander wüten. Furchtbar mag dieser Gedanke
erscheinen, aber er ist es nicht. Dieser Wald könnte nicht seinen
Frieden haben, risse eines der Wesen die Herrschaft an sich. Darum
müssen sie sich gegenseitig verfolgen und morden, ganz so, wie es auch
die Menschen tun, die auf Schlachtfeldern Hekatomben hinopfern, um zum
Frieden zu gelangen.

Solange die Menschen nicht von der Notwendigkeit des Leides überzeugt
sind, solange kein dauerndes Glück für sie, solange nicht der Friede.

Mein eigenes Leben ist das Beispiel dazu.

Ich war also in die Mühle eingezogen und hatte gleich am ersten Tage
eine große Überraschung erlebt. Bartel, der immer mein Feind gewesen,
war mir entgegengekommen und hatte mir die Hand gereicht: „Grüß dich
Gott, Heini. Jetzt bist halt doch wieder bei uns. Mach dir nix draus,
hast halt grad so wenig in die Stadt paßt, wie ich passen tät. Liegt
nix dran, muß auch andere Leute geben, nit nur lauter studierte.“

Wohl war ein Zug um seinen schmalen Mund, über dem der erste Bartflaum
stand, ein Schielen in seinen grauen Augen, die mir nicht gefielen,
aber die Worte klangen so treuherzig, daß ich die dargebotene Hand mit
aufrichtigem Drucke faßte und sagte: „Ich danke dir, Bartl, und wir
wollen halt gute Freunde sein, nicht wahr?“

„Wann wir schon beieinander sind, wird’s wohl nit anders möglich sein.“

Die Müllerin hatte mir in dem weitläufigen Mühlengebäude eine eigene
kleine Stube eingerichtet, in der ich auch meine Bücher vorfand.
Später, nach der Verlassenschaftsabhandlung kamen auch noch einige
Möbelstücke aus dem Nachlaß der Mutter hinzu und ich fühlte mich in
dem kleinen Raum, zu dessen Fenster der Hochwald und die ragenden
Felszinnen hereinsahen, recht behaglich.

Am nächsten Morgen gingen ich und Marieli auf den Friedhof zum Grabe
meiner Mutter. Man sah der aufgeworfenen Erde an, daß das Grab noch
frisch war; trotzdem aber war der kleine Hügel geordnet und mit Blumen
geschmückt, ebenso wie der Grabhügel unter dem mein Vater schlief.

„Das ist wohl dein Werk, Marie, gelt?“ fragte ich.

„Ja, ich tu’s aber gern.“

Ich reichte ihr die Hand und sagte: „Ich danke dir, Marie!“ Was ich
aber noch hinzusetzen wollte, daß ich ihr ihre Liebe vergelten wolle,
das brachte ich nicht über die Lippen. Es war mir, als dürfe ich jetzt
ein derartiges Versprechen noch nicht geben. Erst mußte ich ja doch
wissen, wie sich mein ganzes zukünftiges Leben gestalten werde.

Merkwürdigerweise machte mir aber dies keine besondere Sorge. Das
stetig zunehmende Gefühl der Kraft und Gesundheit und ein ganz
eigentümliches, nicht jubelndes, aber doch wohltuendes Gefühl der
Freiheit erfüllten mich so, daß ich immer wieder nach ein paar Minuten
schon aus meinen Grübeleien gerissen wurde.

Einmal fing ich auch der Müllerin gegenüber von meiner Zukunft zu
sprechen an, aber sie wehrte sofort ab und sagte nur: „Davon, Heini,
reden wir später. Wird schon eine Zeit kommen. Jetzt ist’s noch zu
früh. Noch bist du nit ganz gesund. Jetzt tu nur viel essen, gut
schlafen und fleißig spazierengehen. Das ist vorläufig die Hauptsach.
Ich vergiß deswegen auf das andere nit.“

Mitunter suchte ich mich auch in der Mühle zu betätigen, in der Bartl
als gelernter Gehilfe hantierte. Aber er drängte mich jederzeit wieder
fort, indem er sagte: „Das is nix für dich. Machst dich ganz staubig.
Und wenn die Mutter das sieht, brummt sie mit mir.“

So war ich also ganz wieder auf mich allein gestellt, mit meinem
eigenen Herzen allein, und wie sonst in den Ferien begann ich ein
planloses Streifen durch die Wälder und versank wieder in die Welt
meiner Träume. Stundenlang las ich und dann lag ich irgendwo auf einer
Waldwiese, die Arme unter dem Kopfe verschränkt, und sah zum Himmel
auf, bis es vor meinen Augen in silbernen Ringeln zu flimmern begann.

Was ich dachte, wohin meine Gedanken zogen, das weiß ich heute
nicht mehr. Ich hätte es auch damals nicht bestimmt sagen können.
Schimmernde Gestalten tauchten plötzlich aus dem Blau der strahlenden
Ewigkeitsweite auf, traumhaft verschleiert, und wenn sie mein
Bewußtsein greifen wollte, zerrannen sie wieder, lösten sich spurlos
auf. Ich weiß, daß ich manchmal Verse vor mich hinsprach, aber wenn ich
sie niederschreiben wollte, fiel mir auch nicht ein einziges Wort ein.
Nur eines weiß ich genau, daß in jenen Tagen eine unendliche Liebe zum
Walde und seinem Wesen in mir aufwuchs. Jeder Vogel, jeder Käfer, jede
Ameise, jede Mücke und jeder Wurm, Blume und Baum, ja jeder Grashalm
wurde mir zum Gegenstand liebevollster Betrachtung und stundenlanger
Beobachtung und daraus ward ein brüderliches Mitempfinden, das mich
unsäglich glücklich machte. Wie oft bahnte ich einer Ameise, die sich
mit einem großen Holzsplitter abmühte, den Weg, und wenn ich dabei eine
Kräutlein zur Seite bringen mußte, entschuldigte ich mich bei ihm.
Hätten mich Menschen bei diesen Spielereien beobachtet, sie hätten mich
jedenfalls ausgelacht oder mich gar für einen Irrsinnigen gehalten,
wie sie ja alles für unvernünftig und lächerlich halten, was nicht
aus dem Grunde der Selbstsucht emporwächst und in ziffernmäßige Werte
umzusetzen ist.

Kam ich aber von solchen Streifereien nach Hause, dann umgab mich
dort die schlichte Zärtlichkeit der Müllerin, die ihr Versprechen,
mir Mutter zu sein, in heiliger Treue hielt, dann breitete die Liebe
Maries weiche Teppiche unter meine Füße. Mein Stübchen war immer so
sauber aufgeräumt und jeden Tag stand auf dem Tisch ein Strauß frischer
Blumen. Wie ein junger Vogel im warmen Nestlein fühlte ich mich, und
selbst die leise Wehmut, die vom Grabe meiner Eltern herüber ihre
Waisenfäden spann, war nur wie ein dunkler melancholischer Akkord in
einem süßen, weichen Liede.

Ich hatte das Grübeln und Sorgen verlernt und was mir noch vor ein paar
Monaten die entsetzlichste Pein bereitet hätte, das glitt nun machtlos
an meiner Seele ab. Bartel erzählte mir eines Tages, daß sich Heri
mit einem Oberleutnant verlobt hätte und daß der Oberforstverwalter
demnächst als Güterdirektor des Grafen auf dessen große Besitzung in
Böhmen versetzt werden solle.

Was war mir Heri noch! Ich fühlte keinen Haß gegen sie, aber auch keine
Liebe. Sie war für mich gestorben und die Welt voll Glanz, die mir aus
ihren dunklen Augen entgegengeleuchtet hatte, war versunken. Meine
Seele war in einer anderen Welt heimisch geworden, über welche eine
wundersame Stille und Genügsamkeit ihren Friedensbogen spannte.

So gingen die Sommertage dahin mit leise tönendem Schritt, ein Reigen
holder Gestalten, um die das sanfte Licht der Wunschlosigkeit floß.

Nun aber kam der Herbst von den Bergen hernieder. Purpurrote Fahnen
schwang er und wenn die blauen Nebelschleier, die morgens Nähe und
Weiten verhängten, gegen Mittag an den Felsenstirnen der Berge
zerflattert waren, dann standen diese in so klarem Leuchten da, daß man
glaubte, die Gemsen sehen zu müssen, die oben auf den schmalen Bändern
des Gewändes ihre Heimat hatten.

Und an diesen Tagen trat auch meine mütterliche Freundin, die Müllerin,
einmal auf mich zu und sagte: „Heini, wenn dir’s recht ist, so könnten
wir heute einmal davon reden, was du jetzt anfangen sollst.“

Ich folgte ihr in die große Wohnstube, wo auch Marie bei einer
Näharbeit saß, und wir beratschlagten nun.

Ich war in aller Form aus der Anstalt, wie auch aus dem Gymnasium
hinausgeworfen worden und damit hatte ich auch die Unterstützung des
Grafen verloren. Aus dem Verkauf der paar Einrichtungsstücke meiner
Mutter hatte ich etwa zweihundert Gulden und die hätten immerhin
gereicht, um mir für ein weiteres Jahr das Studium an irgend einem
anderen Gymnasium zu ermöglichen. Für das Schlußjahr wäre die Müllerin
aufgekommen. Aber was war’s dann mit mir? Für die Universität war
kein Geld da und auf irgend ein Stipendium durfte ich nicht hoffen.
Konnte ich aber nicht an die Universität gehen, so hatte auch das
Weiterstudieren am Gymnasium keinen Zweck, und so wurde dieser Plan
endgültig von uns verworfen.

Was aber sonst? Ich konnte in ein Handlungshaus eintreten, ich konnte
als Schreiber mir einen Posten in einer Kanzlei suchen, zum Militär
konnte ich gehen und auch die Laufbahn eines Forstmanns stand mir
offen, da man dazumal noch von Pike auf es wenigstens bis zum Förster
bringen konnte.

Ich entschied mich also für das Forstwesen. Als aber die Müllerin
zum Oberforstverwalter ging, um ihn zu bitten, mir zu einer
Forstgehilfenstelle zu verhelfen, da lehnte er rundweg ab und meinte,
der Graf sei so erzürnt über mich, daß er sich ihm mit einer solchen
Bitte gar nicht zu nahen getraue. Ein direktes Gesuch an den Grafen
blieb ohne Antwort.

Ich wandte mich nun an andere mir bekannte Herrschaften, bekam aber
jedesmal ablehnende Antworten, und ich sah bald ein, daß es meine
Vergangenheit war, die mir überall die Riegel vor die Türen schob.
Einen wegen unmoralischen Lebenswandels aus dem Gymnasium geworfenen
Menschen nimmt man nicht auf.

Ich muß aber der Wahrheit die Ehre geben und gestehen, daß ich mich
über all diese Ablehnungen nicht sonderlich aufregte. Ich fühlte mich
in der Mühle zu wohl und wenn auch oft Stunden schweren, traurigen
Sinnes über mich kamen und meine Sehnsucht laut nach der toten Mutter
rief, wenn mir die Zweck- und Nutzlosigkeit meines Daseins wie ein
eiserner Ring die Seele umschnürte, und ich mir den ätzenden Stachel
des Vorwurfs, unter lauter arbeitsamen Leuten der einzige Schmarotzer
zu sein, selbst ins Herz drückte, die mütterliche Zärtlichkeit der
Müllerin und Maries liebende Sorge, die mich auf Schritt und Tritt
umgaben, sie trugen mich über all die dunklen Stunden hinweg und ließen
mein Inneres nicht für längere Dauer aus seinem Gleichgewicht kommen.

Und als ich eines Tages wieder eine Ablehnung in der Hand hielt, da war
mein Entschluß gefaßt; ich wollte Müller werden. Der neben Bartel in
der Mühle arbeitende Gehilfe mußte im Oktober zum Militär einrücken und
ich konnte also an seine Stelle treten. Wenn ich auch noch zu lernen
hatte, viele von den Hantierungen kannte ich doch schon und Kraft
und guten Willen hatte ich auch. Ich war ganz glücklich über diesen
Entschluß.

Die Müllerin hatte zwar noch Bedenken, indem sie meinte, daß ich mich
als studierter Mensch am Ende doch nicht dauernd in diesem Berufe
glücklich fühlen würde, aber ich wußte ihre Bedenken zu zerstreuen und
so willigte sie ein.

Am wenigsten schien mit meinem Entschlusse Bartel zufrieden zu sein.
War er mir bisher freundlich begegnet, so wurde er jetzt verschlossen
und mürrisch und zeigte mir die einzelnen Hantierungen nur mit
sichtlichem Widerwillen.

Erst später, viel später lernte ich die Gründe seines Verhaltens kennen.

Bevor ich in die Mühle kam, hatte es zwischen Mutter und Sohn
schon manchen bösen Auftritt gegeben. Der Verkehr mit Knechten und
besonders der mit einem leichtfertigen Bauernsohne der Nachbarschaft
hatte ihn auf Wege gebracht, welche der braven, tüchtigen Mutter
umsomehr Entsetzen eingeflößt, als sie da etwas auferstehen sah, was
sie mit ihrem im Säuferwahnsinn gestorbenen Manne für ewig begraben
wähnte. Bartel war wohl weniger ein Säufer, dafür aber ein desto
leidenschaftlicherer Spieler, der es in seiner Habsucht mit der
Ehrlichkeit nicht allzu genau nahm. Dieserhalb war es schon oft zu
Raufereien gekommen, bei denen sogar die Messer gezückt worden waren.
Einzelne Bauern, mit deren Söhnen Bartel Streit gehabt hatte und die
bisher Mahlkunden der Müllerin gewesen waren, hatten andere Müller
aufgesucht, und die Müllerin, die nicht gesonnen war, sich durch
ihren Sohn ihr Geschäft zugrunde richten zu lassen, hatte diesem
sogar gedroht, ihn davonzujagen. Und Bartel wußte, daß seine Mutter
gegebenenfalls auch ihre Drohung ausführen würde. Darum verbarg er
seinen heimlichen Groll gegen meine Aufnahme im Hause und trug eine
gewisse bärbeißige Gutmütigkeit zur Schau. Nun aber, da ich selbst
die Müllerei lernte, kam aufs neue seine Angst, ich könnte mich am
Ende soweit in die Gunst der Mutter eindrängen, daß sie mir die Mühle
übergeben würde. Ein Rechtstitel konnte ja leicht gefunden werden, wenn
ich Marie heiratete, deren Liebe zu mir ihm nicht verborgen bleiben
konnte.

Wie gesagt, das erfuhr ich alles erst später. Damals aber konnte ich
mir den jähen Umschlag in Bartels Verhalten zu mir nicht erklären und
ich fragte ihn eines Tages, was er denn gegen mich habe.

Darauf gab er mir keine gerade Antwort, sondern meinte nur, man könne
nicht immer lustig sein und jeder Mensch habe etwas, was ihn ärgere,
wenn er das auch anderen nicht so klipp und klar sagen könne.

Und allmählich wurde seine Laune auch wieder eine bessere. Nur trat
jetzt der schleichende Zug in seinem Wesen, den er von Jugend auf
besessen hatte, wieder stärker und mit jedem Tag stärker hervor. Ins
Gasthaus ging er fast gar nicht mehr. Das Spiel hatte er ebenfalls
eingestellt und von einem Tanzen oder Singen war bei ihm überhaupt
nie die Rede gewesen. Er sprach so wenig als möglich, und wenn
die Mühlgänge mit frischem Malter versorgt waren und ich aus der
staubigen Mühlstube hinausging, um in Stube, Küche oder Garten ein
wenig mit Marie zu plaudern, dann tauchte plötzlich irgendwo sein
sommersprossiges Gesicht mit den fuchsigen Haaren auf, spähend,
verschwand aber sogleich, wenn es sich bemerkt sah. Bald erschien er
da, bald dort und ich hatte das Gefühl, immer von ihm belauscht zu
werden.

Und auch seine Habsucht wuchs. Nicht nur, daß er die Bauern beim Wiegen
des Getreides und Mehles übervorteilte, nein, wenn die Mehlsäcke
schon zugebunden der Reihe nach zum Abholen bereit standen, er mußte
sie nocheinmal aufmachen und aus jedem, wenn auch nur eine Handvoll
herausnehmen. War’s auch wenig, mit der Zeit mußte es doch etwas
ausmachen. Die Müllerin war aber über diese Wandlung ihres Sohnes
sehr erfreut und schrieb dieselbe mir zu. Bartel hätte sich vor mir
geschämt, meinte sie, und wenn er jetzt so einsilbig sei, so sei das
eben ein Ausdruck seines Schamgefühls.

Und Marie und ich glaubten ihr das, obwohl in mir dann und wann ein
Gedanke aufschnellte, als müßte Bartels Verschlossenheit und Lauerei
einen Grund haben.

So verging das erste Jahr meiner Lehrzeit. Noch vor Ablauf desselben
erfuhr ich von einem Ereignis, das mich mit meinem neuen Beruf
vollständig aussöhnte. Denn obwohl ich mich sehr wohl fühlte, so kamen
doch ab und zu Stunden, wo ich, der frühere Gymnasialschüler, die
Müllerei als eine Herabsetzung meines Ichs empfand. Nun aber las ich in
dem Wochenblatt, das wir uns hielten, daß sich einer meiner Kameraden,
er war einer der besten Schüler gewesen, erschossen hatte, weil er bei
der Matura durchgefallen war. Das Blatt knüpfte noch die Mitteilung
daran, daß die diesjährige Matura überhaupt eine der schlechtesten
seit Jahren sei, da nahezu die Hälfte der Studierenden durchgefallen
sei. Ich wußte, daß unter den Durchgefallenen jedenfalls auch einige
arme Stipendisten sein würden, deren Eltern nicht das Geld hatten,
sie ein Jahr wiederholen zu lassen, und die standen nun also dort, wo
ich gestanden hatte. Arme Teufel! Knapp am Ziele zurückgestoßen zu
werden in das Nichts, das mußte entsetzlich sein. Vielleicht hatte
es das Schicksal gut mit mir gemeint, daß es mich vor einem solchen
vernichtenden Schlage bewahrt hatte.

Genau acht Tage darauf las ich von der Vermählung Heris mit dem
Oberleutnant Hans von Steindl. Es mußte der Beschreibung nach ein
glänzendes Hochzeitsfest gewesen sein und der Zeitungsmann, der
den Bericht geliefert hatte, schwärmte in den Ausdrücken höchsten
Entzückens von dem Liebreiz der Braut, die seit Jahren zu den
Zierden der Stadt gezählt werde und von deren Liebenswürdigkeit,
Bescheidenheit, Gutherzigkeit und von deren feinem Geiste man
ebensoviel Rühmliches wisse, wie von der Ritterlichkeit und Tüchtigkeit
ihres Gemahls, der eine der beliebtesten Erscheinungen im ganzen
Offizierskorps sei.

Wäre vielleicht nur eine kurze Vermählungsanzeige zu lesen gewesen,
so hätte sie mich doch berührt; der lange Schwall abgegriffener
Phrasen aber ließ mich kühl. Mir war’s, als schlüge mir die Eiswelle
der Heuchelei jener Gesellschaftskreise entgegen, in denen man mit
bezauberndem Lächeln dem andern Dinge sagt, von denen das eigene Herz
nichts weiß, oder noch schlechter, an die es selbst nicht glaubt.

Und daß ich so leicht überwand, dazu half auch noch etwas anderes,
etwas, was ich mir selbst noch nicht einzugestehen getraute: eine neu
aufkeimende Liebe, die zu Marie. Das zarte Samenkorn, das seit den
Tagen meiner Kindheit in meiner Seele lag und dessen erste schüchterne
Triebe, von den üppigen Schößlingen meiner Liebesleidenschaft
zurückgedrängt, verwelkt waren, regte nun wieder seine unsterblichen
Lebenskräfte und unter der sanften Sonne der blauen Augen Maries, unter
dem weichen Lenzhauch ihres ganz aus Güte und selbstvergessender Liebe
zusammengesetzten Wesens wuchs es in mir empor, zart und keusch, und
streckte sehnsüchtige Knospen mit wonnigem Zagen in das aufdämmernde
Licht eines neuen Liebesfrühlings.

Da waren leise Worte, voll von süßen Geheimnissen, die gingen zwischen
unseren Seelen hin und her wie der laue Wisperwind warmer Märztage
von Blüte zu Blüte eilt und so lange kost und schmeichelt, bis mit
seligscheuem Augenaufschlag eine Blüte das Köpfchen hervorstreckt und
in süßer Demut die Sonne grüßt, die segnend ihre Strahlenhand auf alles
legt, was hoffend und gläubig zu ihr aufsieht.

Und noch näher brachte uns beide ein trauriges Ereignis. Meine
mütterliche Freundin, die Müllerin, erkrankte plötzlich. Nach ein paar
Tagen eines leichten Unwohlseins brach eine Krankheit aus, die sie nahe
an den Rand des Grabes brachte. Sie erholte sich zwar wieder, aber ihre
frühere Kraft und Willensstärke, ihr heiteres Wesen gewann sie nicht
wieder zurück. Es war etwas in ihr zurückgeblieben, was ihr ihre Kraft
und damit auch ihre frühere Daseinslust zu auf ewig verlorenen Gütern
machte und mit wehem Herzen sahen wir die Gute und Liebreiche einem
unaufhaltsam dem Ende entgegentreibenden Siechtum ausgeliefert.

Sie selbst sprach zwar immerfort vom Gesundwerden; aber ihren Worten
fehlte der überzeugende Ton des Überzeugten; es war mehr wie das
eigensinnige Beharren eines kranken Kindes auf einem unerfüllbaren
Wunsche, wie die weinerliche Ungeduld eines Menschen, der unbewußt
selbst an dem verzweifelt, wonach er verlangend die Arme streckt.

Oft und oft trafen uns Marie und ich, zuerst am Bette der Mutter, dann
am Rollstuhl, und die gleiche Liebe, die gleiche Sorge zogen die Fäden,
die sich von Herz zu Herz gesponnen hatten, immer enger zusammen.

Und der Winter kam und legte der Erde den demantglitzernden
Königsmantel um und wenn sich das große Mühlrad nach kurzer Rast
wieder in Bewegung setzte, dann klang es fast wie ein Glockenspiel
von dem Brechen der Eiszapfen, die sich daran gehängt hatten. In dem
großen Kachelofen der Mühlenstube krachten die Fichtenscheite, der
Pendelschlag der großen Schwarzwälderuhr ging langsam und schwer durch
den Raum und dazwischen hinein wispelte die Müllerin in einem fort ihre
Gebete, in denen sie Trost in ihrem Leide und wohl auch einen Ersatz
für die ihr liebgewordene Arbeit im Hause suchte, die sie nun nicht
mehr verrichten konnte.

Wir aber, Marie und ich, saßen an dem kleinen Tischchen in der
Fensternische, und meine Blicke folgten dem Spiel ihrer Finger, welche
flink und geschickt die Stricknadeln oder die Häkelnadeln führten, oder
sie streiften wohl auch die zarte Beugung des Nackens, die anmutig
schwellende Linie der Büste, und wenn meinem Blick dann zufällig der
Maries begegnete, dann zog es wie ein leiser Rosenschimmer über ihr
Gesicht und machte dieses so schön, daß ich darüber ganz verwirrt wurde.

Um unsere gegenseitige Verlegenheit zu verbergen, fingen wir dann immer
von gleichgültigen Dingen zu reden an.

So saßen wir Tag für Tag beisammen und so verging der Winter,
der Frühling kam und der Mühlbach rauschte wieder stärker mit
lenzgeschwellten Wassern unter seinem Rade dahin. Dann kamen die
Schneeglöcklein und die Himmelschlüssel und die Welt wurde mit jedem
Tag lichter und wärmer.

Im Befinden der Müllerin aber stellte sich nicht, wie sie und wir
gehofft hatten, eine Besserung ein, sondern im Gegenteil, der Verfall
schritt sichtlich vor.

Ich war mittlerweile zwanzig Jahre alt geworden und erhielt die
Vorladung zur Assentierung.

Als ich von derselben nach Hause kehrte, trug ich ein buntes Sträußlein
von künstlichen Blumen mit großen Glaskugeln geschmückt auf dem Hut,
denn man hatte mich für den Militärdienst für tauglich befunden. Der
mir das Sträußlein gekauft hatte, war aber Bartel gewesen, der zum
dritten Male, und also endgültig für untauglich erklärt worden war und
der darüber, wie er sagte, eine Freude hatte, als hätte man ihm einen
blanken Tausender geschenkt.

Er wollte mich auf dem Heimwege in freigebigster Weise in jedem
Wirtshause mit Wein bewirten aber mir stand der Sinn nicht darnach. Ich
fürchtete das Militärleben durchaus nicht, denn ich sagte mir, daß ich
bei meiner Vorbildung wohl sehr rasch die Stelle eines Unteroffiziers
erreichen würde, aber ich dachte an mein friedsames Leben in der Mühle
und ich dachte an Marie. So ließ ich denn Bartel seinen Jubel allein in
den vollen Krug hineinjauchzen und tat ihm nur scheinbar Bescheid. Und
als wir endlich nach Hause kamen, da torkelte er in seine Kammer und
kam an diesem Tage nicht mehr zum Vorschein.

Als Marie das Sträußlein auf meinem Hute sah, erblaßte sie, und ihre
Augen füllten sich mit Tränen.

Wir standen in dem kleinen Vorgarten vor dem Hause, in dem gelber und
blauer Krokus blühte.

„Ja,“ sagte ich, „jetzt haben sie mich und im Herbst heißt es fort von
da.“

Darauf sagte Marie kein Wort, sondern schritt den Kiesweg entlang und
auf die Bohnenlaube zu, um deren graue Latten sich noch das dürre
Gewinde vom Vorjahre schlang.

Ich folgte ihr und sie ließ sich auf der Bank in der Laube nieder und
blickte, ohne mich anzusehen, vor sich hin.

Mir preßte es das Herz zusammen, aber ich bot all meine
Selbstüberwindungskraft auf und sagte in leichtem Tone: „Mein Gott,
eigentlich liegt gar nichts dran. Die drei Jahre werden auf ja und
nein wieder vorbei sein!“

Da, im nächsten Augenblick schlug Marie die Schürze vor das Gesicht,
ihr Kopf sank auf die Tischplatte nieder und sie begann zu schluchzen,
daß ihr ganzer Körper bebte.

„Aber Marie, Marie, was hast denn?“ versuchte ich sie zu trösten,
und zum ersten Male wagte ich es, über ihr blondes, weiches Haar zu
streichen. Aber ihr Schluchzen wurde nur noch heftiger.

„Marie,“ bat ich wieder und fühlte dabei, wie es mir die Kehle
zuschnürte, „Marie, sei doch ruhig. -- -- Marieli!“

Ganz von selbst war mir der alte Kinderkosename über die Lippen
gegangen und da hob sie das tränenüberströmte Gesicht und sah mich mit
einem Blick an, in dem all ihre Liebe und all ihr Schmerz lagen.

Und da ließ ich mich neben ihr auf die Bank nieder, legte scheu den Arm
um ihre Schultern und fragte mit vor Glück bei jedem Wort stockender
Stimme: „Marieli, hast du mich denn wirklich so gern?“

Statt jeder Antwort schlang sie beide Hände um meinen Nacken, preßte
ihr glühendes, nasses Gesicht an meine Brust und begann aufs neue zu
schluchzen.

In meiner Seele aber stieg es jubelnd empor wie ein Frühlingslied aus
tausend sonnberauschten Lerchenkehlen, ich drückte meinen Mund auf
Maries Haar immer wieder und wieder und dazwischen stammelte ich in
abgebrochenen Worten mein Glück hervor: „Marieli, ist’s denn wirklich
wahr! Du hast mich gern?“

Und als sie keine Antwort gab preßte ich sie inniger an mich und bat
und flehte: „Marieli, du mußt mirs sagen, daß du mich gern hast. Ich
muß es von dir hören, sonst kann ich’s nicht glauben! Marieli!“

Da hob sich ihr Kopf an meiner Brust empor, und wie nach einem
verregneten Tage ein großes, schönes Sonnenleuchten die Erde mit Glück
und Glanz übergießt und alles Leid des ganzen Tages vergessen läßt, so
glänzte mir nun aus Maries feuchten Augen eine Welt von Liebe entgegen
und leise sagte sie: „Ich hab’ dich ja immer gern gehabt, Heini!“

„Und kannst du mir auch verzeihen --“ flüsterte ich, „du kannst mir das
--“

„Sei still, Heini!“

Sie preßte ihre Wange an die meine und sachte drehte ich ihr Köpfchen
herum, bis Lippe auf Lippe lag.



XI.


Ich weiß nicht, was das mit mir ist: es drängt mich in fiebernder
Hast zu diesen Blättern. Langsam und gemütlich wollte ich mein Leben
niederschreiben, so wie man in müßigen Stunden ein Bilderbuch zur Hand
nimmt und drinnen blättert, bei dem einen Bilde etwas länger verweilt
und lächelnd dann das nächste Blatt aufschlägt. Nun aber ist eine
Unruhe über mich gekommen, die ich mir selbst nicht erklären kann.
Nicht daß sich in meinen Anschauungen etwas geändert hätte, nicht daß
mein innerer Friede von mir gegangen wäre, nein, doch die Sehnsucht
ist da, diese Blätter so bald als möglich zum Abschluß zu bringen.
Ich wollte sie schon beiseite werfen, aber ich kann’s nicht, wie ich
es nie gekonnt habe, etwas Angefangenes nicht zu Ende zu führen. Ich
habe die Vergangenheit zum Leben auferweckt und jedes Leben strebt
nach Vollendung. So muß ich denn weiter und ich will es rasch machen.
Das Blut, das ich vergossen, soll mich nicht abhalten, auch noch die
letzten paar Stationen meiner Lebenswanderung nochmals im Geiste vor
mich hinzustellen. Dahinter winkt ja der Friede. Dann will ich wieder
ganz mit dir allein sein, du meine Einsamkeit, dann soll sich keines
Menschen Schatten mehr zwischen dich und mich drängen, dann will ich in
dir aufgehen, ganz aufgehen, zeitlos werden wie du!

Zeitlos! Ein vermessenes Wort in dem Munde eines Menschen, eines
Wesens, das Anfang und Ende hat, also ganz und gar Zeit ist. Und doch!

Da stieg ich gestern, nachdem ich meinen Meiler noch besorgt, wieder
zu der Höhe empor, zur Sonnwendhöhe, wie ich sie für mich getauft habe.
Millionen und Millionen Sterne weithin durch die dunkelblaue Nacht. Ich
setzte mich nieder und sah hinauf in die funkelnde Ewigkeit und meine
Seele wanderte von Stern zu Stern. Immer weiter und weiter wanderte
sie, Sonnen ließ sie hinter sich und ganze Sonnensysteme und immer noch
kein Ende. Und meine Seele verlor sich in dem Gewimmel der aber und
abertausend Welten, und als sie sich endlich zurückfand, da trug sie
einen Glanz an sich, sonnenhaft blendend: Gotteshand hatte sie berührt.

Und als sie nun müde des Fluges durch die Äonen sich zur schlafenden
Erdenheimat wandte, die, in weichen, warmen Sommerduft gehüllt, in
den Armen des Traumes lag, als sie durch die Wälder ging, die so
leise, leise atmeten, daß nicht einmal der Schmetterling erwachte, der
honigtrunken an der Brombeerblüte hing, und als sie wieder aus den
Wäldern hinausschritt in die reifenden Fluren und fort über Bach und
Fluß, an Dörfern und Städten vorbei, weit, weit über die Lande bis zu
fernen, fernen dämmernden Berggeländen und über diese hinweg wieder in
die schimmernde Welt der Sterne hinein, da wußte ich: auch du, meine
Seele, bist ein Kind der Ewigkeit und nur der Leib, an den du gekettet
bist, hindert dich, dich deiner Mutter zu vermählen. Wohl dir, daß du
wenigstens ihre Stimme noch hörst, die dich ruft und dir den Weg weist
an ihr Herz, in dem der Friede wohnt!

O Sommernacht, stille ewigkeitsdurchklungene Sommernacht! Dichter haben
dich besungen, Königsharfen haben dir getönt; aber kein Lied und keine
Harfe, würden sie auch Engelshände rühren, könnte den Zauber aussagen,
der deinem Frieden entströmt. Du bist die Reife, die Vollendung, in dir
erlöst sich das Endliche, um im Unendlichen aufzuerstehen. Du bist der
Friede!

Und das soll aus meinem Leben noch werden: eine dämmernde Erdenwelt
mit ewigen Sternen darüber, und darum will ich dieses Buch so bald als
möglich zum Abschluß bringen. Es soll meine Erlösung vom Endlichen, die
Pforte ins Unendliche sein.

Was soll ich überhaupt von meinem ferneren Leben in der Mühle noch
weiter erzählen? Marie und ich, wir liebten uns, und täglich, ja fast
stündlich kam es mir beglückender zum Bewußtsein, wie unsagbar groß die
Liebe war, mit der Marie an mir hing, aber auch, wie tief ihr Schmerz
gewesen sein muß, als sie mich in den Banden der anderen hatte sehen
müssen.

Ich wollte ein paarmal von Heri zu sprechen anfangen, denn ich meinte,
ich sei es Marie schuldig, ihr eine Beichte abzulegen, aber sie ließ es
nicht zu.

„Red nicht davon, Heini,“ bat sie dann jedesmal, „die Sache ist vorbei
und soll für immer vorbei sein. Jetzt hab’ ich dich und sonst will ich
ja nichts vom Leben.“

Maries Liebe kannte keine Frage nach Vergangenheit oder Zukunft; sie
war ganz und gar nur Gegenwart, sie gab und gab ohne auch nur einen
Augenblick zu überlegen, ob und wie lange ihre Schätze ausreichen
würden.

So ging der Frühling dahin und der Sommer kam, ein prachtvoller
Sommer. Selten nur, daß ein Gewitter mit Krachen und Schmettern durch
unsere Berge fuhr, selten nur graue, regenverhangene Tage, fast immer
strahlende Sonne über den weiten, liederklingenden Wäldern.

Noch funkelte der Tau auf den scharlachroten Bohnenblüten der Laube,
da schoben schon Marie und ich den Lehnsessel, in dem die Mutter saß,
hinaus in den Garten und dort in dem Gartenwinkel unter dem Hollerbaum,
der seine weißen duftenden Trauben dem Lichte entgegenstreckte, als
wolle er all den warmen Sonnensegen allein für sich nehmen, dort saß
die Kranke und murmelte in das Bachrauschen und Mühlengeklapper ihre
stillen Gebete hinein.

Marie aber saß, so oft ihr die hauswirtschaftliche Arbeit dazu Zeit
ließ, nebenan in der Bohnenlaube bei ihrer Näharbeit und so oft ich
Zeit hatte, war ich bei ihr draußen.

Bartel hatte sein Spionieren scheinbar ganz eingestellt und war
überhaupt seit meiner Assentierung so heiter, wie ich ihn nie gesehen
hatte. Ich sagte ihm das auch einmal und er antwortete: „Ja, weißt du,
ich hab mich vor dem Militär ganz damisch gefürchtet; nicht vor dem
Exerzieren, sondern vor dem Fortgehen von zu Hause. Was wär’ denn aus
der Mühl geworden! Auf fremde Leut ist kein Verlaß!“

Mir schien dieser Grund für Bartels Heiterkeit sehr einleuchtend und
vollkommen ausreichend, und es fiel mir nicht ein zu denken, daß es die
Aussicht auf mein Wegmüssen sei, was ihn so heiter stimmte.

Auch Marie war über die Veränderung ihres Bruders hocherfreut und
meinte: „Siehst, Heini, das ist dein Werk. Die Mutter sagt’s auch. Vor
dir hat sich der Bartl geschämt und darum ist er jetzt so nett worden.
Es ist halt doch ein gutes Herz in ihm, wann er’s auch nicht so zeigen
kann.“

So ging das Leben in der Mühle im tiefsten Frieden dahin, und als wir
einmal wieder in der Bohnenlaube beisammen saßen und Wange an Wange
geschmiegt auf die im sonnendurchspielten Schatten schlafende Mutter
hinausblickten, sagte Marie träumerisch: „Siehst, Heini, jetzt weiß
ich, warum die Mutter krank sein muß. Wir wären sonst gar zuviel
glücklich.“

„Und du glaubst, das darf nicht sein?“ fragte ich.

„Nein, Heini, das wird wohl nicht sein dürfen, denn da täten wir ja auf
unsern Herrgott vergessen, dann könnt’s ja im Himmel auch nit schöner
sein.“

Wie schön Marie war, wenn sie so versonnen vor sich hinblickte. Da
gewann der Glanz ihrer blauen Augen eine Tiefe wie der unendliche
Sommerhimmel, ihr flechtenschweres Haupt neigte sich, als könne sie die
Last von Glück, die das Schicksal darauf gehäuft, gar nicht mehr tragen
und ihr ganzes Wesen umgab sich mit einer träumerischen Süße, die ganz
Hingebung, ganz Aufgelöstsein in wortlose Seligkeit war.

In solchen Stunden konnte ich mich nicht sattsehen an ihr und
wenn sie dann meine trunkenen Blicke bemerkte und ein leises,
schelmisch-glückliches Lächeln um ihre zartgeschwungenen Lippen
huschte, dann konnte ich mich nicht mehr halten, dann riß ich sie in
meine Arme und küßte mir an ihren Lippen mein brausendes Herz zur Ruhe.

Und in einer solchen Stunde ist dann auch einmal geschehen, was so viel
Leid über Marie und mich brachte.

Ein heißer Augustabend war es. In fahlem Dunst war die Sonne hinter
die Berge gesunken und schwüles Dunkel breitete sich über den
Gebirgskessel. Die Mutter hatten wir ins Bett gebracht und nun saßen
wir wieder in der Bohnenlaube und sahen, wie durch den allmählich
schwärzer und schwärzer sich färbenden Himmel die Blitze geisterten.
Ganz in der Ferne murrte es dumpf. Sonst war es still, ganz still.
Die Mühle stand seit Nachmittag, da wir bei der langen Trockenheit
die ganze Nacht den Bach schwellen mußten, um wenigstens ein paar
Vormittagsstunden mahlen zu können. Ein betäubender Duft lag in
der heißen, unbewegten Luft; keine Blume wollte heute ihren Kelch
schließen, jede atmete, als müsse sie noch diesen Abend ihre Seele
verhauchen. Und nicht nur die Blumen des Gartens waren es, die so
scharf und schwer dufteten, auch vom Wald herüber quoll in dicken
Wellen der Harzgeruch und von den Wiesen schickte der Thymian ganze
Wolken seines herbwürzigen Atems.

Marie saß an meiner Seite, von meinem Arm umschlungen, das blonde Haupt
an meine Schulter gelehnt. Hand ruhte in Hand. Wir sprachen nicht; wir
brauchten keine Worte, um glücklich zu sein. Eins neben dem andern zu
fühlen, genügte uns vollkommen.

Endlich aber sagte Marie doch und die Worte fielen langsam, verträumt
von ihren Lippen: „Ein Monat noch.“

„Red’ nicht davon,“ bat ich und zog sie inniger an mich.

„Ich will ja nicht davon reden, aber es fällt mir halt immer wieder
ein. Und Heini, ich kann mir’s halt nit denken, daß ich dich nicht mehr
haben soll. Und mir ist auch --“

Sie unterbrach sich selbst und als ich meinen Mund auf ihre Augen
drückte, fühlte ich auf meinen Lippen warmes Naß.

„Geh, Marieli,“ suchte ich sie zu begütigen, „geh tu nicht weinen. Sag
mir’s, du hast was sagen wollen!“

Sie wollte eine Zeitlang nicht mit der Farbe heraus, dann aber sagte
sie es doch, was ihr das Herz so schwer machte: „Mußt nit bös sein,
Heini, mir ist halt, als könnten wir zwei, wenn du in einem Monat
fortgehst, nicht mehr zusammenkommen.“

Es lag so etwas Ahnungsvolles in diesen Worten, daß sie mich
tatsächlich in tiefster Seele trafen.

„Wie kommst du auf solche Gedanken, Marieli,“ sagte ich, „weißt du, wie
schwer du mir damit das Fortgehen machst?“

Und ehe sie noch antworten konnte, hatte es mich gepackt; wie eine
Feuersäule flammte das Bewußtsein meiner Verlassenheit in mir auf und
da riß ich sie an mich und flüsterte: „Nein, Marieli, dich darf ich
nicht verlieren! Ich hab’ ja sonst nichts auf der Welt, nichts, gar
nichts.“ Und unter Küssen und Küssen wiederholte ich immer wieder: „Gar
nichts, Marieli, gar nichts.“

Das weiß ich noch; wie alles andere gekommen ist, weiß ich nicht mehr.
Wir waren jung, unsere Herzen waren seit Wochen zum Überfließen voll
und die Nacht war still, heiß und schwer.

Einmal geht jede Sehnsucht auf den Wegen der Erde.

Die folgenden fünf Wochen gingen wie im Fluge dahin. In jener Nacht
noch entlud sich ein furchtbares Gewitter und dem folgte tagelanger
Regen. Nun rauschte der Bach wieder mit vollen Kräften und die Mühle
ging Tag und Nacht, denn wir hatten viel einzuholen.

Mir war in diesen Tagen die Arbeit ein wahres Labsal. In ihr fand
ich Beruhigung für mein Blut, das mir wie lenzgeschwellte Gießbäche
durch die Adern rauschte. Ich fühlte eine Kraft in mir, als könnte ich
Bergeslasten wie einen Spielball in die Lüfte wirbeln, als könnte ich
in meinen Armen ganze Felsen zerdrücken.

Wenn ich an Marie, mein Marieli dachte, dann jauchzte in mir jeder
Tropfen Blut; aber merkwürdig: wenn ich dann vor ihr stand, dann wurde
ich still und demütig, dann hätte ich mich am liebsten ihr zu Füßen
geworfen und gesprochen: „Vergib, Marieli, ich kann ja nichts dafür,
ich hab dich ja nur so lieb, so unendlich lieb!“

Ich habe von Marie nie ein Wort des Vorwurfs, der Klage gehört. Was
geschehen war, war ihr ein Liebesopfer. Keine Trauer stand in ihren
Augen, nur weicher, inniger noch war ihr ganzes Wesen, aber trotzdem
auch bestimmter. Sie wußte sich meiner ungestümen Sehnsucht auf eine
Art zu entziehen, die mich wehrlos machte, ohne mich zu beschämen, weil
ich dabei doch deutlich empfand, daß sich ihre Liebe nur verdoppelt
habe. Damals habe ich erkennen gelernt, daß eine Frau alles geben, und
dabei doch so keusch und rein bleiben kann wie eine Heilige.

Als der Regen aufhörte, war auch der Herbst da. Bis Mittag brauten
die Nebel in unserem Tal und wenn sie sich dann in wehende Schleier
auflösten, konnte man von Tag zu Tag in tiefer leuchtendes Buchengold
hineinsehen. Aus dem Schloßgarten heraus, aus dem das lustige Geschrei
der Kinder des neuen Forstverwalters scholl, glühte das grelle Rot
der Ebereschenbeertrauben und auf den Wiesen hob allenthalben die
Herbstzeitlose ihr blaßviolettes Haupt empor.

Von Tag zu Tag rückte die Stunde meines Abschiedes von der Mühle, von
Marie und allem, was in dieser Welt noch Wert für mich hatte, näher,
und wenn ich mich auch vor dem Militärleben selbst nicht fürchtete, der
Gedanke ans Abschiednehmen allein brachte mein Herz zu beklemmendem
Pochen und selbst die Sonne heiterer Herbsttage, die zukunftssicher
über unsere Berge und Wälder ging, konnte die Schleier nicht
durchdringen, die sich vor meine Seele spannten.

Und endlich war der Tag da.

In einem kleinen Koffer hatte ich meine Habseligkeiten: meine Wäsche,
ein paar Bücher, von denen ich mich nicht trennen hatte können:
Eichendorffs Gedichte und den Werther. Auch eine kleine, verschließbare
Kassette war drinnen, die einige Banknoten barg. Es waren diejenigen,
die mir aus dem Erlös der elterlichen Erbschaft geblieben waren.

Von Marie hatte ich schon am Abend Abschied genommen. In der
Bohnenlaube, an der die welken Blätter raschelten, hatte sie lange,
lange an meinem Hals gehangen und still vor sich hingeweint. Kein Wort
kam über ihre Lippen, das mir das Herz hätte schwer machen können.
Was ihr an Bangigkeit und Sorge das Herz schwer machte, das ließ sie
in Tränen dahinfließen und als sie merkte, daß auch mir die Brust
zu arbeiten begann, da sah sie mich mit feuchtschimmernden und doch
lächelnden Augen an und sagte: „Gelt, Heini, ich bin recht ungeschickt.
Wenn ich dich sehen will, in die Stadt hinein ist’s ja nit weit und du
kriegst gewiß auch bald wieder Urlaub.“

Mir einen Schwur der Treue abzuverlangen, fiel ihr nicht ein; ihr
felsenfestes Vertrauen auf mich ließ einen Gedanken der Untreue gar
nicht aufkommen.

Ihre letzten Abschiedsworte an mich waren: „Und jetzt schlaf noch
einmal recht gut unter unserem Dach, Heini, schlaf recht gut!“

Und ehe ich sie nochmal an mich hatte ziehen können, war sie davon.

Schwer gestaltete sich der Abschied von der Müllerin. Wie ich mir auch
Mühe gab, ihr die bösen Ahnungen auszureden, sie blieb dabei: „Nein,
nein, Heini, wir sehn uns nimmer. Aber,“ setzte sie hinzu, „die Mühl’
da steht dir immer offen. Das muß mir der Bartl versprechen.“

Als ich mich endlich auf ihre Hand niederbeugte, um sie zu küssen, ließ
sie es willig geschehen, dann aber zeichnete sie mir drei Kreuze auf
Stirn, Mund und Brust und sagte: „So jetzt b’hüt dich Gott, Heini, und
wenn ich bald zu deiner Mutter und deinem Vater komm, werd ich ihnen
sagen, daß du ein braver Mensch worden bist.“

Kurz war der Abschied von Bartel. Wir drückten uns kräftig die Hand und
er meinte scherzend: „Na und schau halt, daß kein Krieg ausbricht. Ist
eine fade G’schicht das, hab ich mir sagen lassen. Die Feinde sollen
beim Herschießen schon gar nit aufpassen und da ist leicht ein Unglück
gescheh’n.“

Als mir aber an der Haustüre Marie nochmal die Hand reichte, da sagte
er: „Verstellt’s euch nit, gebt’s euch ein Bußl, ich weiß’s ja so!“

Und diskret trat er in die Stube zurück und ließ uns noch einmal
kurzen, heißen Abschied nehmen.

Mir gab dieses Benehmen Bartels frohe Zuversicht und mit dem
trostreichen Gedanken, daß Marie in ihrem Bruder einen treuen Freund
habe, schritt ich durch den Nebel des ersten Oktobertages von dannen.



XII.


Dieses vorige Kapitel aus meinem Leben habe ich gestern vormittag
geschrieben. Wie ich dann noch an meinem Tische saß und nachdachte,
da hörte ich auf einmal ein Pfeifen und Schnalzen und als ich über
die Schwelle meiner Hütte trat, sah ich gerade vor mir auf der alten
Wettertanne eine wilde Jagd. Ein Edelmarder verfolgte ein Eichhörnchen.
In Spiralen lief das gehetzte Tier den Stamm empor, daß der buschige
Schwanz wie ein rotes Fähnchen hinter ihm dreinwehte. Und der
Edelmarder war dumm genug, diese Spiralen nachzulaufen. Schon glaubte
ich die Eichkatz gerettet, da mußte der Marder auf sein Ungeschick
gekommen sein. Er ließ sein Opfer um den Stamm laufen, schoß aber
selber senkrecht empor, und da lief es ihm geradeaus in den Rachen. Ein
Biß ins Genick und er sprang mit seiner Beute davon.

Das ist Natur, rauhe, „rohe“ Natur, wie die Menschen draußen
in der Welt sagen würden. Und doch steht sie höher, tausendmal
höher als ihre Kultur. Das Tier kennt den Mord, den brutalen Mord
aus Selbsterhaltungstrieb; aber es kennt nicht das Quälen, das
langsame Hinmorden. Die Natur arbeitet mit augenblicklich wirkenden
Dolchstichen, die Kultur mit Nadelstichen. Je weiter der Mensch von
der Natur sich entfernt, desto grausamer wird er. Der Naturmensch,
der Wilde, tötet, er tötet den Leib; der Kulturmensch tötet zuerst
in langsamen Worten die Seele und überläßt es dann der geistigen
Verwesung, auch den Körper zu zerstören.

Zu Millionen wandern sie auf Erden herum, die Menschen, denen in
teuflischen Seelenqualen der Wille gebrochen, das redliche Denken,
das ehrliche Fühlen geraubt wurde; mit toten Seelen, oder was noch
schlechter ist, mit vergifteten, gehen sie ihren Lebensweg, wie Sklaven
schleppen sie die Ketten ihrer erzwungenen Verdorbenheit mit sich, bis
sie endlich im Ekel vor sich selbst zusammenbrechen, das brechende Auge
noch in stummer Frage emporrichtend: warum?

Ich stand noch und sah dem Marder nach, wie er von Ast zu Ast springend
in den Tiefen des Waldes verschwand, als mich Tritte aus meiner
Betrachtung aufschreckten.

Wieder einmal einer aus der sogenannten Kulturwelt da draußen. Ich
weiche diesen Leuten sonst am liebsten aus, denn sie bringen mir den
ganzen Zank und Stank ihrer Armseligkeit in meine schöne Einsamkeit.
Dieser Mann jedoch gefiel mir. Er bat mich um einen Trunk Milch und
wenn ich es hätte, auch um ein Stück Brot dazu, und dann warf er sich
auf der Wiese am See ins Gras hin, verschränkte die Arme unter dem Kopf
und sah in den Himmel hinein.

Ich kümmerte mich nicht um ihn, sondern ging meiner Arbeit am Meiler
nach.

Nach einer Stunde kam er wieder zu mir zurück und fragte mich, ob er
eine Nacht bei mir bleiben könne.

Ich war von dieser Frage so überrascht, daß ich mich augenblicklich
nicht entscheiden konnte, und um Zeit zu gewinnen, stellte ich die
Gegenfrage, was er denn eigentlich da heroben wolle.

„Eigentlich wollte ich da ein wenig botanisieren,“ entgegnete er, „aber
ich will auch das lassen und einmal einen ganzen Tag selbst nichts
anderes sein als Pflanze, die Licht und reine Luft trinkt. Sie werden
das freilich nicht verstehen und begreifen,“ setzte er noch hinzu,
„denn Ihr Landleute meint ja, daß es nichts Schöneres gäbe, als das
Leben in einer Stadt. Ihr wißt ja selbst nicht, wie schön, wie gut Ihr
es habt. Dieser Friede hier, diese Ruhe und diese kostbare Luft! Ah!
Wenn man das so ein Jahr haben könnte.“

„Nun so siedeln Sie sich einmal ein Jahr da irgendwo im Hochwald an!“
entgegnete ich lächelnd.

Da seufzte der Mann auf: „Ja, wer das könnte. Aber da hat man Weib und
Kind und es heißt arbeiten, arbeiten von früh bis Abend. Aber nun sagen
Sie mir, kann ich bei Ihnen da übernachten oder nicht. Ich brauche ja
kein Bett, nur ein bißchen ein Dach möchte ich über meinem Kopfe haben.“

Meine Hütte beherbergte außer dem Raum, der mir zur Wohnung diente,
noch einen zweiten, der meinem Vorgänger als Ziegenstall gedient hatte.

Diesen zeigte ich dem Professor, denn als solchen mußte ich ihn bald
erkennen, und er war ganz zufrieden damit. Aus dürrem Buchenlaub machte
er sich selbst eine Liegestatt zurecht und ich gab ihm eine meiner
groben Decken.

Wir saßen noch eine Weile beieinander und ich lernte in ihm einen
tiefen Menschen, einen echten Friedenssucher kennen, so daß ich
unwillkürlich auch ein wenig aus meiner Verschlossenheit heraustrat.

Als er sich endlich erhob und mir die Hand reichte, sagte er: „Sie sind
auch nicht immer Kohlenbrenner gewesen.“

„Ich will es aber bleiben,“ entgegnete ich.

„Ich verstehe Sie,“ sagte er einfach, „und ich will Sie nicht stören.
Jeder Mensch muß mit sich selber fertig werden und glücklich der, dem’s
gelingt; der hat dann den Frieden. Gute Nacht!“

Der Professor ist auch heute noch geblieben und wir haben viel
miteinander gesprochen und haben uns gut verstanden. Als er dann
aufbrach, sagte er: „Leben Sie wohl, lieber Freund! Ich weiß heute,
was ich mir schon gestern dachte, daß Sie einmal andere Zeiten gesehen
haben. Aber ich frage nicht und glauben Sie meiner Versicherung, daß
ich auch drunten im Tale Ihrer Lebensgeschichte nicht nachfragen werde.
Ich freue mich, einen Menschen gefunden zu haben, dem der Friede ward,
und ich nehme einen Teil davon mit in meine Arbeitsstube. Das nächste
Jahr aber will ich wieder kommen und dann wollen wir es wieder genau so
halten wie gestern und heute. Nicht wahr?“

Ich drückte dem Manne, dessen Auge hell und aufrichtig leuchtete, die
Hand und dann schritt er davon. Wo der Weg zum See niedersteigend im
Unterholz verschwindet, drehte er sich noch einmal um und winkte mit
dem Hute zurück.

Also auch einer, der auf den Wegen der Einsamkeit geht trotz Weib und
Kind. Er gibt Liebe, empfängt Liebe und ist doch einsam. Merkwürdig,
sehr merkwürdig das!

Doch ich will zu meiner Geschichte zurückkehren.

Ich war also jetzt Soldat. Daß mir der Kasernenton behagt hätte, kann
ich wohl nicht sagen, aber ich war es ja von der Anstalt her gewohnt,
mich einem größeren Haufen einzufügen und die da üblichen Späße nicht
gerade feiner Art wenigstens insoweit mitzumachen und mir gefallen zu
lassen, um nicht allein zur Zielscheibe derselben zu werden.

Bei der Abrichtung war ich bald der erste und schon nach einem
Vierteljahr wurde ich zum Kanzleidienst kommandiert. Da man mich hier
sehr gut brauchen konnte und auch meine Vorstudien bekannt wurden,
war ich nach einem halben Jahre schon Korporal und genoß eine Art
Ausnahmestellung.

Niemand war froher als ich, als mir meine Übersetzung zum Kanzleidienst
bekannt gegeben wurde. Hier unterstand ich in erster Linie dem
Hauptmann und hatte mit den übrigen Offizieren, den Leutnants und
Oberleutnants, nichts zu tun.

Unter Letzteren befand sich auch Oberleutnant von Steindl. Der war
nach der Aussage aller älteren Unteroffiziere früher ein sehr lustiger
und gutmütiger Mann gewesen; aber bald nach seiner Verheiratung
hätte sich sein Charakter gänzlich geändert und nun sei er einer der
ärgsten Soldatenschinder, dem eine Kleinigkeit genüge, um einen Mann
schließlich sogar auf die „Latten“ zu bringen.

Ich hatte mich allerdings über ihn nicht zu beklagen gehabt. Er ließ
zwar mit keiner Miene merken, daß er mich kannte, aber er dankte mir
jedesmal auf meinen Gruß, was er meinen Kameraden gegenüber nur selten
tat. Auch hatte ich von ihm nie ein böses Wort erhalten. Was mich aber
an ihm so unangenehm berührte, das war, daß ich so oft einen mich
belauernden Blick an ihm wahrzunehmen glaubte. Wie eine Katze kam er
mir dann vor, die eine Beute im Auge hat und sich langsam zum Sprunge
anschickt.

Durch die Übersetzung in die Kanzlei war ich ihm nun aber aus dem Auge
gerückt und ich empfand das als eine große Erleichterung. In dieser
Zeit erfuhr ich auch, daß er ein unglückliches Familienleben führen
solle. Warum, das wußte mir niemand zu sagen, daß es aber so sei, das
schien stadtbekannt zu sein.

Ich empfand darüber keine Genugtuung; ich hatte ja mit mir selbst
so viel zu tun, denn von Marie kamen immer öfter und öfter Briefe,
aus denen mich eine unsägliche Sehnsucht anrief. Ich tröstete sie,
so gut ich konnte, und stellte ihr im Sommer einen Urlaubsbesuch in
Aussicht; aber das schien nicht zu wirken. Und eines Tages hielt
ich wieder eines der schlichten Blättlein in den Händen und mit
unbeschreiblichem Gefühle las ich daraus, daß der Rausch jener stillen
Gewitternachtsstunde in der Bohnenlaube nicht spurlos an Marie
vorübergegangen sei.

Wie eine glühende Nadel fuhr es mir durchs Herz. Sorge um Marie, Scham
und dabei doch wieder ein hohes, ernstes Gefühl wechselten beständig
in mir ab und der Brief, den ich an Marie schrieb, muß trotz der hohen
Worte, an die ich mich dunkel erinnern kann, recht verworren gewesen
sein.

Was sollte nun werden? Der Gedanke verfolgte mich Tag und Nacht und ich
gebe zu, daß darunter meine Kanzleiarbeit an manchem Tage zu leiden
hatte.

Und da wollte es das Schicksal, daß unser Hauptmann erkrankte und
der älteste Oberleutnant einstweilen an seiner statt die Leitung der
Kanzlei zu übernehmen hatte. Dieser Oberleutnant war von Steindl.

Es war gerade die Zeit, wo sich die politischen Ereignisse zu dem
großen Kriege zwischen Rußland und der Türkei zuspitzten. Wir Soldaten
hatten keine Ahnung, daß es dazu kommen könnte, daß auch wir in die
Geschichten an der unteren Donau verwickelt werden könnten, doch
konnte uns nicht verborgen bleiben, daß sich auch in unserem Heer eine
wohl geheim gehaltene aber sehr rege Tätigkeit entwickelte. In allen
Magazinen wurden die Vorräte teils ergänzt, teils erneuert, und wir
Kanzleimenschen hatten jetzt alle Hände voll Arbeit.

Mir war die Arbeit eine willkommene Ablenkung von meinen schweren
Gedanken und von meinen bitteren Sorgen um Marie. Wenn aber wieder ein
Brief von ihr in meinen Händen lag und ich aus ihren so mutig sein
wollenden Worten ihre ganze Verzagtheit herauslas, dann ließ ich doch
unwillkürlich meine Feder sinken, und gab mich meinen schmerzlich
sehnsüchtigen Gedanken hin.

Dabei traf mich eines Tages Oberleutnant von Steindl. „Sie glauben
wohl, hier privatisieren zu können!“ fuhr er mich an. „Was haben Sie
da?“

Mit diesen Worten wollte er nach meinem Briefe greifen.

Rasch zog ich aber denselben an mich und sagte fest und bestimmt: „Zu
Befehl, Herr Oberleutnant, das ist ein Privatbrief.“

„Hier in einer k. k. Militärkanzlei gibt es keine Privatbriefe!“
donnerte er mich an. „Her mit dem Wisch!“

In mir begann es zu kochen, aber noch bezwang ich mich und entgegnete
nochmals: „Es ist ein Privatbrief, Herr Oberleutnant.“

„Her damit, ich befehle!“ brüllte er und griff nach dem Papier, das ich
in meiner Faust zusammenknitterte.

Ich aber trat einen Schritt zurück und sagte: „Und ich verweigere. Dazu
haben Sie kein Recht!“

Hätte ich geahnt, was in der Seele des Mannes vorging, ich hätte ihm
den Brief gegeben, so aber glaubte ich nur an boshafte Quälerei und
als er nun auf mich zustürzte und mir den Brief aus der Hand zu reißen
versuchte, da war es um meine Selbstbeherrschung getan. Ich sah nicht
mehr den Vorgesetzten vor mir, sondern nur die Bestie, die mich quälen
und verhöhnen wollte. Denn jedenfalls wollte er dies und nur dies.
Verhöhnen wollte er mich, daß ich, der ich einst seine Frau geliebt,
nun mit meiner Liebe bei einem Bauernmädel angelangt sei. Schneller
als die Blitze durch die heiße Sommernacht irren, schossen mir diese
Gedanken durch den Kopf; wie eine jähe Flamme, die in fessellosem
Emporlodern alles um sich her ergreift, so brauste in mir die Wut
empor, und da hatte ich auch schon einen Schlag gegen den Oberleutnant
geführt, der ihn zurücktaumeln machte. Er stieß einen unartikulierten
Schrei aus und riß den Säbel aus der Scheide. In demselben Augenblick
aber hatten sich schon zwei ältere Unteroffiziere auf ihn geworfen
und hielten ihm den Arm fest. Zwei andere hatten mich gepackt und
verhinderten mich, mich nochmal auf ihn zu stürzen.

Ich kann mir’s heute noch nicht anders erklären, als daß damals alles
plötzlich in mir aufwachte, was ich an Groll und Grimm, zum großen Teil
unbewußt und noch aus den Tagen stammend, da ich ihn als Nebenbuhler
erkennen mußte, in mir trug. Ich meine, ich hätte ihn damals trotz
seines Säbels umgebracht.

Eine halbe Stunde später saß ich schon im Garnisonsarrest und nach
einer Woche wanderte ich für ein halbes Jahr ins Stockhaus. Mein
tadelloses Vorleben, mein bisher bewiesener Pflichteifer und auch meine
höhere Bildung waren als mildernde Umstände sehr bedeutend in Rechnung
gezogen worden.

Graue Tage kamen nun. Wie lahme Bettler auf ächzenden Krücken schlichen
die Stunden dahin und ich habe fühlen gelernt, daß es für den Menschen
nichts Entsetzlicheres, nichts Unbarmherzigeres gibt, als nicht
arbeiten zu dürfen, zur Untätigkeit verurteilt zu sein, wenn jeder
Muskel nach Betätigung schreit.

Und das allerfurchtbarste war: ich konnte meiner Marie nicht schreiben.
In ihre Briefe kam ein banger Ton, wie er mir an ihr ganz unbekannt
war. Wie die Tränen eines verzagten Kindes, so quoll es mir aus den
Zeilen entgegen. Und ich konnte ihr nicht antworten. Ich beschwor
den Kameraden, der mir täglich das Essen brachte, mir Bleistift und
Briefpapier zu bringen; aber die Überwachung war so streng, daß er sich
nicht getraute.

So saß ich Tag für Tag in meinem Gefängnisse und mußte zusehen, wie
sich an Marie das Schicksal erfüllte.

Kein Teufel hätte eine ärgere Qual für mich erfinden können, als sie
mir damals der natürliche Lauf der Dinge bereitete. Marie schrieb mir,
daß sie ihrer schweren Stunde entgegengehe und daß sie ihr Bruder
unermüdlich bestürme, einem der Bauern der Nachbarschaft die Hand zur
Ehe zu reichen. Auch die Mutter sei jetzt ganz auf der Seite Bartls und
verlange von ihr, daß sie des Bruders Willen erfülle. Marie bat und
beschwor mich, ihr doch um Gotteswillen eine Antwort zu geben. Nur ein
paar Worte wolle sie zum Zeichen, daß ich an sie denke; dann würde sie
neuen Mut und frische Kraft finden, gegen Mutter und Bruder zu kämpfen.
Alles, alles wolle sie tun, nur schreiben solle ich ihr, ihr sagen, daß
ich sie noch immer lieb habe. Sonst wisse sie nicht, was noch geschehe.

Wieder bat und flehte ich, man möge mich einen Brief schreiben lassen
und als mir dies nicht bewilligt wurde, meldete ich mich direkt zum
Gefängnisrapport und trug dem kommandierenden Offizier meine Bitte
vor. Die Angst um Marie trieb mich sogar dazu, ihm wahrheitsgetreu den
ganzen Sachverhalt zu erzählen.

Und der Mann dachte menschlich.

„Es ist zwar nicht gestattet,“ meinte er, „daß Militärsträflinge
Briefe schreiben, aber in diesem Falle will ich eine Ausnahme machen,
vorausgesetzt, daß ich den Brief zu lesen bekomme.“

Der Brief ging fort, aber er hat Marie nie erreicht. Später habe ich
erfahren, daß Bartl den Briefträger bestochen hatte, ihm alle an
Marie gerichteten Briefe auszuliefern. Nun, der Mann hatte nicht oft
Gelegenheit, seinen Diensteid zu brechen; ganze zwei Male.

Eine ganze Woche verlief, ohne daß ein Brief von Marie kam, und ich
fühlte mich schon beruhigter. Da kam auf einmal wieder ein kleines
Schreiben, mit Bleistift hingekritzelt, und ich sah auf dem Papiere die
Spur der Tränen, die darauf gefallen waren. Es lautete:

    Lieber Heini!

    Ich kann Dir nicht viel schreiben, denn ich liege im Bett. Neben
    mir liegt unser Kind, ein Bub mit blaue Augerl. Hanserl heißt er,
    sie haben es nicht gelten lassen, daß er Heini heißen soll. Heini,
    schreib mir, ich bitte Dich um alles in der Welt, schreib mir, daß
    Du uns alle zwei gern hast. Ich kann’s sonst nimmer aushalten.
    Heini, Heini, verlaß mich nicht, verlaß uns nicht.

    Deine Marie.

Ich sandte den Brief an den Kommandanten und bat ihn abermals, mir ein
paar Zeilen zu erlauben, doch diesmal glaubte er, mir die Erlaubnis
verweigern zu müssen, denn einen sozusagen ständigen Briefwechsel könne
er nicht verantworten. Übrigens dauere meine Strafe ohnehin nur mehr
ein paar Wochen.

Träge, entsetzlich träge schlichen die Stunden und die Tage dahin. Von
dem sehnsüchtig erwarteten Augenblick, da ein blasses Grau durch die
vergitterten Fenster kam und sich leise in dem kahlen Raum ausbreitete,
bis der letzte Schimmer auf den schmutzigen Wänden erlosch, schien
es mir eine Ewigkeit zu sein, und wenn mir in jener Zeit ein Glück
beschieden war, so war es das, daß ich wenigstens einige Stunden in der
Nacht schlafen konnte. Wäre ich damals so schlaflos geblieben, wie es
mir später geschah, ich hätte mir im Wahnsinn den Schädel an den Mauern
einrennen müssen.

Eines Tages aber kam mein Kamerad mit dem Essen ganz aufgeregt herein.

„Weißt das neueste?“ rief er mir zu.

Ich mußte in all meinem Jammer lächeln. Wie sollte ich etwas wissen
können!

„Krieg ist,“ sagte er aufgeregt, „mit die Türken geht’s los!“

Da ich in meinem Gefängnisse selbstverständlich nicht das geringste von
den Wirren im Orient gelesen, legte ich der Sache keine Bedeutung bei
und glaubte, der Mann habe irgend eine Nachricht falsch aufgefaßt. Aber
bald wurde ich eines besseren belehrt.

Auch unser Regiment wurde mobilisiert, und da mir nur mehr einige Tage
zur völligen Abbüßung meiner Strafe fehlten, wurde ich vorzeitig aus
dem Gefängnisse entlassen und als Gemeiner ins Regiment eingestellt.
Ich gehörte zum ersten Bataillon, Oberleutnant von Steindl war zu
meiner größten Freude dem zweiten zugeteilt worden.

Und nun ging’s nach Süden. Durch Weingärten flog der Zug, an schmucken
Sommerfrischen und reizenden Villen vorüber, dann rollte er in das
steinige Feld hinein, das sich vom Wienerwald bis zur ungarischen
Grenze hinzieht. Sonnverbrannt lag es da und von dem mißfarbenen Rauch
überdacht, der dort aus hunderten von Schloten unaufhörlich und in
dichten Massen quillt. Bald aber tat sich die grüne Wunderwelt des
Gebirges auf. Raxalpe und Schneeberg grüßten mit klaren Felsenstirnen
nieder ins Land, ein schneller Gebirgsfluß kam uns mit seinen
spiegelhellen, blitzenden Wellen entgegen und dann kletterte der Zug
über die grünen Matten des Semmering hinan, donnerte über Viadukte und
rasselte durch Tunnels, und in sausendem Fluge ging es dann abwärts
durch die lieblichen Täler der Obersteiermark, an der schäumenden Mur
entlang, bis sich die Rebenhügel der alten windischen Mark an sie
herandrängten und ihren Lauf nach Osten lenkten. Nun leuchteten uns
rechts und links von den sonnüberflimmerten Weinbergen die schmucken,
weißen Winzerhäuschen entgegen, bis sich beim Überschreiten der
stolz einherflutenden Drau wieder weites Flachland, von graugrünen
Föhrenwäldern durchträumt, vor uns auftat. Und nochmals Weinhügel, ein
romantisches Tal mit kühnen Felsenbildungen und dann ging es der Save
entlang ins Kroatische und zur bosnischen Grenze.

Da, jenseits des träge mit grünbraunen Wassern flutenden Stromes lag
also das Land, das uns Ruhm oder Tod bringen sollte. Mit fahlen Wolken
lag der Abend über ihm, als wir es das erste Mal sahen und als wir nach
bleiernem Schlafe durch die schmetternden Trompeten geweckt wurden,
da breitete sich um uns ein dichtes graues Nebelmeer, aus dem nur
allgemach die dunklen Laubmassen der weiten Auen auftauchten.

Auf einer von unseren Pionieren erbauten Schiffbrücke zogen wir
hinüber ins feindliche Land. Mehr oder minder gute Witze begrüßten
es, dann aber nahm alle der eigentümliche Charakter der Landschaft
gefangen. Da waren ungeheure Maisfelder und in wahren Wildnissen
von Zwetschkenbäumen standen die armseligen Dörfer, über deren
herabhängende Strohdächer sich da und dort ein Minarett erhob. Aber
das war nicht der zierliche Bau, den ich aus manchen Abbildungen
orientalischer Städte kannte, sondern eher ein plumper, mit einem
primitiven Dache gedeckter Rauchfang.

Und wie schmutzig und verwahrlost sah es da überall aus. Die Straßen
tiefdurchfurchte Kothaufen, Dächer, Zäune, Mauern, alles ruinenhaft,
die Schweine wühlten rings um die Häuser, die wie verlassen dastanden.
Nur da und dort, daß sich ein Mensch zeigte; meistens waren es Kinder
in bauschigen Gewändern von nicht mehr zu bestimmender Farbe, die, den
Finger im Mund, die blanken Geschwader anstarrten, die lachend und
plaudernd an ihnen vorüberzogen. Wenn wir sie aber anriefen, dann waren
sie im Nu hinter den zerlemperten Zäunen verschwunden und wir sahen nur
mehr ihre dunklen Augen hinter den Latten hervorlugen. Nur einer der
kleinen Kerle kam auf unsern Ruf heran, hielt uns aber sofort bettelnd
den mit Schmutzkrusten bedeckten Handteller entgegen.

Und tiefer und tiefer ging es in das unbekannte Land hinein. Auf
kaum erkennbaren Wegen marschierten wir weiter und um uns breiteten
riesige Urwälder ihre düsteren Schatten. Wo sie sich etwas
lichteten sahen wir zu kahlen, trümmerbedeckten und oft wunderlich
ausgezackten Bergesgipfeln empor. Neben unserem Wege aber rauschte in
wildzerrissenem Bette ein Fluß, sich ab und zu donnernd und brüllend
über mächtige Felsklötze stürzend.

Am dritten Tage kam uns ein Transport mit Verwundeten entgegen.
Unter starker Bedeckung zog er einher und von ihnen hörten wir
bestätigt, was wir bisher nicht glauben konnten, daß unsere Toten und
Schwerverwundeten oft in entsetzlichster Weise verstümmelt würden.

Aus war’s mit den fröhlichen Witzen und den lustigen Marschliedern;
ein wilder Grimm hatte alle erfaßt und man nahm sich vor, diesen
Menschenbestien gegenüber keine Schonung walten zu lassen.

Und bald sollten auch wir den Feind kennen lernen. Die ständigen
Überfälle erheischten ein ungemein vorsichtiges Vorgehen, und um
die Hauptmacht vor Überraschungen zu bewahren, wurden wir seitwärts
dirigiert, um jener die Flanken zu decken.

Der völlig ungebahnte Weg, den wir zu nehmen hatten, ließ kein
Marschieren in größeren Verbänden zu. Zugweise schlugen wir uns durch
Wald und Gestrüpp hindurch, durchwateten Bäche und kletterten an
Felshalden empor; doch nirgends war die Spur eines Feindes zu entdecken.

Am Abende des zweiten Tages, dieser uns wahnsinnig und auch unsinnig
dünkenden Streiferei, schlugen wir auf einer mit hohem Grase
bewachsenen Blöße das Lager auf. In weitem Bogen, unheimlich still,
stand der Hochwald um den Lagerplatz; gegen Osten aber stieg das
Gelände zu einem mit riesigen Steintrümmern besäten Gipfel auf, der
aber wie ich mich später überzeugte, nur der Absturz einer ausgedehnten
Hochfläche war, zwischen deren weißen Steinwellen dürres Gestrüpp und
hartes, sonnverbranntes Gras in fahlen Büscheln stand.

Ein Kamerad und ich erhielten den Vorpostendienst und hatten die
einsame Kuppe zu beziehen.

Über den fernen Karstgipfeln ging die Sonne zur Ruhe. In dem Goldstrom,
der von ihr floß, färbten sich die kahlen Felshöhen erst mit flammendem
Gelb, dann aber ging dieses in glühenden Purpur über, und der rann in
breiten Strömen hinab in die waldigen Schluchten und Täler und hing
in die dunklen Kronen der riesigen Fichten und Tannen ganze Lasten
von Rosen, die aber immer blässer und blässer wurden. Wie zu Hause in
meinen Bergen war das, und jetzt war mir, als müsse der leise Klang der
Abendglocke ertönen. Und ein geliebtes Antlitz tauchte vor mir auf,
ein schmales, süßes Gesicht mit blauen Augen. Ich sah die Augen mit
stummer, aber inbrünstiger Bitte gegen Himmel gerichtet: gewiß, jetzt
betete Marie für mich, denn nun war’s ja auch zu Hause Avezeit.

Ich hatte Marie vor unserem Abmarsch schnell noch ein paar Zeilen
schreiben können und wähnte sie getröstet, soweit ein Frauenherz
getröstet sein kann, das den Geliebten in fernem, feindlichem Lande
weiß.

Und auf einmal durchrieselte mich ein eigenartiger Schauer: mir fiel
ein, daß nun Marie nicht mehr allein sei; dort im Norden, wo die Nacht
ihre dunklen Schleier an den Himmel hängte, dort lag mein Kind, und die
Heimatwälder rauschten ihm ein Schlummerlied, weil der Mutter selbst
die Lippen von Weh und Sorge verschlossen waren.

Aus meinen Träumen riß mich die Stimme meines Kameraden, der meinte:
„Saudumm, daß wir da heroben stehn müssen. Ist eh weit und breit nit
einmal eine Katz, viel weniger ein Bosniak. Da schau, wie sich’s die da
drunten gut g’schehn lassen.“

Und er wies mit dem Finger auf die Halde hinab, auf der die Lagerfeuer
flammten und von wo ab und zu dumpfes Stimmengewirr zu uns empordrang.

„Na tröst’ dich,“ erwiderte ich „morgen trifft’s dafür andere, dann
können wir’s uns gemütlich machen.“

Arm in Arm gelegt, das Gewehr bei Fuß sahen wir hinab.

Plötzlich ein Knall, ein klirrender Ton in unmittelbarer Nähe, und
mein Kamerad riß seinen Arm aus dem meinen. Ein Schuß hatte die
Menageschale auf seinem Tornister getroffen und wie wir uns nun
umdrehten, pfiff eine zweite Kugel hart an meinem Ohre vorbei.

Hinter einem großen Felsblock wurden zwei Gestalten flüchtig, eine
höhere, dunklere, augenscheinlich ein Mann, und eine kleinere in
lichter Kleidung, eine Frau.

Wir rissen unsere Flinten an die Wangen und fast gleichzeitig krachten
unsere Schüsse den wie Katzen gebückt Davonspringenden nach. Und wir
hatten getroffen. Die kleinere Gestalt warf die Arme empor und sank zu
Boden. Der Mann wollte sie fortziehen, aber schon hatten wir wieder
geladen und wieder krachten unsere Schüsse über die steinige Hochfläche
hin. Zugleich schmetterten vom Lager herauf die Alarmsignale und
Kommandorufe ertönten.

Da eilte der Mann fort und wir stürmten ihm nach. Bald waren wir bei
der Getroffenen. Es war eine junge, bildschöne Frau. Rabenschwarzes
Haar quoll unter einer kleinen roten Mütze hervor, in krampfhaften
Stößen hob sich die jugendstrotzende Brust unter dem weißen Hemd, über
das sich noch ein rotes, goldgesticktes Leibchen spannte, und als die
Sterbende nochmal das Auge aufschlug, das schöne, tiefdunkle Auge, da
war mir’s mit einem Male, als wäre es Heri, die da vor mir läge.

„Wie eine Wildkatz,“ meinte mein Kamerad.

Aber wir hatten nicht Zeit uns Betrachtungen hinzugeben, denn eben
pfiff wieder eine Kugel an unserem Ohre vorbei: im nächsten Augenblick
lagen wir hinter einem Felsblock in Deckung und begannen das Feuer zu
erwidern, das uns hinter einem von Gestrüpp umwucherten Felswall hervor
entgegenschlug.

Schon kam aber auch unsere Hilfe. Jede Deckung verschmähend, sprangen
die Kameraden, unser Oberleutnant voran, durch die Felsblöcke daher und
rollende Salven schlugen in das Gebüsch, die das dortige Feuer rasch
verstummen machten.

Als wir dann das Gebüsch absuchten, fanden wir zwar Blutspuren, aber
weder Tote noch Verwundete. Die hatten die Insurgenten mitgenommen,
wie sie das auch immer taten, wenn ihnen nur halbwegs die Möglichkeit
geboten war.

Das war unser erster Zusammenstoß mit dem Feinde.

Nachdem die ganze Umgegend abgesucht worden war und die Posten
verstärkt waren, kehrte die Truppe ins Lager zurück. Mein Kamerad und
ich blieben auf unserem alten Posten.

Schimmernd im Lichte unzähliger Sterne war die Nacht gekommen.
Weithin wundersame Stille, nur ein ganz, ganz leises Rauschen der
Wälder zu unseren Füßen und ein geisterhaftes Flüstern in dem dürren
Gras zwischen den Felsblöcken. Und dort drüben lag ein junges,
schönes, totes Weib. Noch vor ein paar Stunden hatte sie nichts von
uns, wir nichts von ihr gewußt, und nun lag sie von unseren Kugeln
dahingestreckt, und ihre gebrochenen dunklen Augen fragten die
friedlich ziehenden Sterne dort droben: warum?

Damals in der einsamen Nachtwache droben auf dem Felskamm des
bosnischen Gebirges, da habe auch ich mich im Herzen gefragt: wozu all
dieses erbitterte Kämpfen von Menschen gegen Menschen, wozu all das
Blut- und Tränenvergießen? Ändert das alles auch nur das Geringste an
dem Gang der Welt? Nicht das kleinste Sternchen rollt deswegen aus
seinem Geleise, Tag und Nacht kommen und gehen wie immer, der Frühling
treibt seine Blüten und der Herbst nimmt die Blätter von den Bäumen,
immerdar, immerdar. Und wenn sich ganze Völker hinmorden, an diesem
ewigen Pendelschlag des Lebens ändert das nichts. Wozu also?

Ein philosophierender Vorposten. Daß ein solcher nichts taugt, sahen
wir am nächsten Tag, denn die Leiche des jungen Weibes war verschwunden
und uns hatte wahrscheinlich nur das Dunkel vor einem rächenden Schuß
bewahrt.

Von nun an gab es fast tagtäglich kleine Zusammenstöße, Scharmützel
und Gefechte. Unvermutet tauchten bald da bald dort die hohen
sehnigen Gestalten der Insurgenten in ihrer bunten Tracht auf, und
es kam auch der Tag, wo wir uns entsetzt über die verstümmelten
Leichname von Kameraden beugten, die auf Vorposten von dem katzenartig
anschleichenden Feind überfallen und ermordet worden waren.

Eines Tages hatte eine ganz kleine Abteilung von uns, im ganzen acht
Mann, den Auftrag erhalten, gegen eine dicht bewaldete Schlucht hin
aufzuklären. Mit all der Vorsicht, an die wir uns schon gewöhnt hatten,
führten wir unter der Führung eines Leutnants den Befehl aus.

Da stieß aber unvermutet zu uns eine Abteilung des zweiten Bataillons,
und der Führer der etwa dreißig Mann war Oberleutnant von Steindl. Er
hatte dieselbe Aufgabe wie wir, nur nach einer anderen Richtung sollte
er, und von dieser war er im Gewirr des Urwaldes abgekommen.

Nun standen die beiden Offiziere beisammen, studierten eingehend
die Karte und tauschten ihre Vermutungen aus. Aber sich in diesen
Wildnissen zu orientieren, war keine so leichte Aufgabe, und so
beschlossen die beiden Offiziere, ein Stück mitsammen zu marschieren.
Da der Weg aufwärts führte, war Hoffnung, auf eine Waldblöße zu kommen,
die einen Ausblick auf die Umgegend gestatte.

Etwa eine Viertelstunde ging es durch den Hochwald über gestürzte
Stämme, riesige Äste und durch wildverwachsenes Strauchwerk empor, dann
tat sich plötzlich der Wald in weitem Kreise auf und ließ Platz für
eine Wiese, in deren Mitte einsam eine alte, riesige Eiche stand.

Auf diesen Baum marschierten wir nun zu und ein Mann sollte
emporklettern, um Ausschau zu halten.

Wir waren aber noch nicht dort angelangt, als es rings um uns lebendig
wurde. Von vornher und von den Seiten blitzten Schüsse auf und im
nächsten Augenblick lagen drei unserer Kameraden zuckend auf dem Boden.

„Nieder!“ scholl das Kommando, das wir aber gar nicht gebraucht
hätten, denn schon lagen wir alle in dem ziemlich hohen Grase, das uns
wenigstens einige Deckung bot, und begannen nun das Feuer zu erwidern,
das uns nun auch von der Richtung, aus der wir selbst gekommen waren,
entgegensprühte.

Die Insurgenten mußten uns heimlich gefolgt sein, hatten es aber
nicht gewagt, uns im Walde anzugreifen. Dort in der guten Deckung der
ungeheuren Stämme wäre es uns mit unseren ausgezeichneten Gewehren
ein leichtes gewesen, selbst mit einer bedeutenden Übermacht den
Kampf aufzunehmen. Hier aber, auf freier Wiese konnten uns selbst
unsere guten Waffen nicht viel helfen. Immerhin aber verloren wir
den Mut nicht und nahmen uns die roten und blauen Gewänder, die
hinter Sträuchern und Bäumen sichtbar wurden, gründlich aufs Korn und
mancher der hageren, braunen Gesellen mußte an die Treffsicherheit
österreichischer Alpensöhne glauben.

Aber auch in unseren Reihen wurde es lichter. Die Kugeln aus den langen
Flinten der Insurgenten ließen manches Gewehr in den Händen unserer
Kameraden verstummen. Schon wagte es da und dort einer der verwegenen
Kerle, aus seiner Deckung vorzubrechen, um mit dem blanken Handschar
an dem Leibe eines unserer Gefallenen sein Mütchen zu kühlen; aber
vorläufig war das noch zu früh, jeder dieser Versuche mußte mit dem
Tode bezahlt werden.

Doch die Lücken, die in unseren Reihen entstanden, konnten uns
gefährlich werden und nach Krebsenart rückwärts kriechend, dabei aber
immer gegen die Angreifer feuernd, zogen wir uns auf die Eiche zurück.

Da lagen und knieten und standen wir nun im Kreise um diese herum,
ununterbrochen Kugel auf Kugel den Angreifern entgegensendend.

Oberleutnant von Steindl hatte sich in halb hockender Stellung an den
Stamm der Eiche gelehnt und mit beiden Händen seinen Revolver haltend,
suchte er sich das Ziel für seine Schüsse.

Plötzlich aber rief er aus: „Hol’s der Teufel, das Zeug taugt nichts!“

Und damit warf er seinen Revolver weg und sprang vor, um sich von einem
der Gefallenen Gewehr und Patronen zu holen.

Es war das eines jener kühnen, todesverachtenden Stücklein seitens
unserer Offiziere, an denen gerade die Geschichte des bosnischen
Feldzuges so außerordentlich reich ist.

Tatsächlich erreichte der Oberleutnant auch ein Gewehr und nun richtete
er sich frei empor, zielte und schoß und traf. Aber fast zugleich mit
dem baumlangen Bosniaken, den er sich aufs Korn genommen hatte, sank
auch er von einer Feindeskugel getroffen zu Boden.

In diesem Augenblicke hatte ich vollständig vergessen, daß der
Gefallene der Oberleutnant von Steindl, Heris Gatte und mein
persönlicher Feind war. Ein tapferer Offizier war’s, ein Kamerad, und
ich mußte mich seiner annehmen.

Ich hatte an der Eiche gekniet; nun warf ich mich nieder und kroch auf
dem Bauche zum Oberleutnant.

„Herr Oberleutnant, sind Sie schwer verwundet?“

Er hatte die Hand im Tuche der blauen Bluse auf der Brust festgekrallt
und ächzte: „Mit mir ist’s aus!“

Er hatte die Augen geschlossen gehabt, nun öffnete er sie und drehte
den Kopf nach mir. Für einen Augenblick sah ich eine staunende Frage in
seinen Augen, dann aber glitt es wie ein tiefes, tiefes Weh über seine
Züge.

„Sie, Binder?“ sagte er leise.

„Kann ich etwas für Sie tun, Herr Oberleutnant?“ fragte ich.

Er reichte mir die Hand: „Dank schön, Kamerad! -- Ich bin fertig!
Sagen Sie meiner Frau, ich, der Lump, bin als ehrlicher Soldat
gestorben.“

Nur stockend und stöhnend hatte er diese Worte herausgebracht, und in
den paar Worten lag so eine Bitternis, daß mir mit einem Schlage der
ganze Jammer der Ehe bewußt wurde, die ihn und Heri verbunden hatte.

Und merkwürdig: jetzt dachte ich nicht an die Frau, sondern nur an
den Mann und ein allgewaltiges Mitleid, das alles auslöschte, was mir
dieser Mann getan, nahm mein ganzes Herz ein und ich sagte: „Herr
Oberleutnant, Sie müssen leben, für Ihre Kinder müssen Sie leben!“

Da quoll ein feuchter Schimmer in seine Augen, fester umschloß seine
Hand die meine, und mit brechender Stimme flüsterte er: „Heri soll
meinen Kindern nichts sagen, wie wir gelebt. Sagen Sie’s ihr, Ihren
Wunsch erfüllt sie, sie hat Sie ja noch immer lieb -- lieber als mich.“

Die letzten Worte erstarben in seinem Munde; nur wie ein Hauch kamen
sie noch an mein Ohr.

Noch einmal öffneten sich groß und starr die Augen, dann ein jäher
Ruck, ein Guß Blut aus dem Munde, Heris Gatte war tot.

Ich rüttelte ihn, ich schrie: „Herr Oberleutnant!“ -- vergeblich, er
war heimgegangen.

In meinem Kopfe brauste es: „Lieber als mich!“ Diese Worte des
Sterbenden brachten mich außer mir. Gedankenabwesend sprang ich auf
und begann wieder zu feuern.

Da, ein Schlag in die rechte Schulter, und das Gewehr sank mir aus dem
Arm. Ich wollte darnach greifen, taumelte und stürzte nach vorne.

Was nachher war, deß weiß ich mich nicht mehr genau zu entsinnen. Nur
so viel ist mir dunkel in der Erinnerung geblieben, daß ein lautes
„Hurra!“ über mich wegbrauste. Rechtzeitig, durch das Gewehrknattern
aufmerksam gemacht, waren die Unseren noch auf dem Gefechtsplatz
eingetroffen, hatten den Feind von rückwärts gepackt und das kleine
Häuflein der Überlebenden, etwa zwanzig von vierzig, gerettet.

Als ich aus meiner Betäubung erwachte, stand der Regimentsarzt vor mir.

„Na, also,“ meinte er, „das geht schon noch. Die Lungenspitze hat’s
erwischt und das Schlüsselbein ist auch kaputt, aber das flickt man
schon noch zusammen.“

Damit war der bosnische Feldzug für mich zu Ende. Mit einem der
nächsten Verwundetentransporte wurde ich nach Kroatien zurückgebracht,
und während die Kameraden Sarajewo mit stürmender Faust nahmen und die
schnellen Wasser der Miljatzka mit Blut färbten, lag ich im Lazarett
und hatte Zeit und Muße, meinen Gedanken Audienz zu geben.



XIII.


Wir haben heuer einen herrlichen Sommer; für die Bauern drunten im Tal
und draußen im Flachland sogar viel zu herrlich. Die möchten Regen
haben; aber Tag für Tag liegt derselbe tiefblaue Himmel über der Welt
und eine Glut strahlt aus seinen Tiefen nieder, die selbst hier im
Schatten des Hochwaldes schon unangenehm fühlbar wird. Die schönen
saftigen Waldkräuter lassen müde und schlaff die Blätter hängen, das
Gras auf allen sonnigen Lehnen ist verbrannt, und selbst von den Tannen
und Fichten reisen die Nadeln in solchen Mengen nieder, wie ich das
noch nie beobachtet habe. In den Wildbachbetten, die zum See abstürzen,
ist auch nicht ein Tröpflein Wasser und die Kalksteinblöcke drinnen
sind so heiß, daß man sich an ihnen die Hand verbrennt.

Und alles ist so müde und still geworden. Man hört oft den ganzen Tag
keinen Vogel singen, und wenn abends ein kühleres Lüftchen von den
Gipfeln herabweht, dann wachen wohl die Drosseln und Amseln für eine
Viertelstunde aus ihrer Betäubung auf, aber ihr Lied klingt nicht so
süß und sehnsüchtig wie sonst, es ist mehr ein Klagen darin, etwas
Gequältes, wie von einem, der singen muß, während er am liebsten weinen
möchte.

Tag für Tag erhoffe ich, erhofft der ganze Wald ein Gewitter. Schon
um die Mittagsstunde zieht es wie ein feiner grauer Schleier über den
Himmel. Wie lichtgraue Seide ist er dann, die man vor eine blendend
grelle Flamme spannt. Und mit jeder Stunde wird das Grau tiefer; in der
nächsten Viertelstunde, meint man, müßten sich schwarze Gewitterwolken
zusammenballen. Aber die Stunde verrinnt und das Grau ist unverändert
dasselbe geblieben, eine weitere Stunde und es hat sich gelichtet und
abends, da strahlt wieder der ganze Himmel in seinem wundersamsten
Blau, das sich nach und nach durch alle Abtönungen von Gold und Rot und
zartem Grün zum Violensamt der Nacht wandelt, in dem die Sterne so groß
und rein brennen, wie Lichter auf geweihten Altären.

So geht es nun schon seit ein paar Wochen fort in bangem Verlechzen
alles dessen, was an die Scholle gefesselt ist und nicht hinab kann
zur kühlen, klaren Flut des Sees, die in stillen Zügen das Licht des
Himmels trinkt und sich mit ihm durchleuchtet bis in ihre tiefsten
Tiefen hinab.

Und der See ist auch das einzige, was in diesen Tagen ausdörrender Glut
unverändert geblieben ist. Nicht um einen Fingerbreit ist sein Spiegel
gesunken, denn er nährt sich nicht von den Wässerlein, die ihm die
stolzen Berge wie eine mitleidige Gabe in den Schoß werfen; was ihm
seine Daseinskraft, sein ewiges Sein gibt, das sind die Quellen, die
aus seinen eigenen Gründen emporwallen.

Alles, was Bestand haben will, muß aus den Tiefen des eigenen Selbst
quellen; was von außen kommt, ist vergänglich und kann nur die stille
Heiterkeit des Wesens trüben.

Mein See hat mich das gelehrt, wenn die Gießbäche seine grünblaue
Kristallflut trübten, und ich war sein gelehriger Schüler. Einsam wie
er bin ich geworden und was jetzt mein ist, habe ich von mir selbst.
Mein, ganz mein ist mein Friede, mein die Sonne, die in meinem Herzen
leuchtet, für das es keinen Tag und keine Nacht, nur schreitende
Ewigkeit gibt, mein die Demut, die zu dem armseligsten Wesen spricht:
„Ich liebe dich, mein Bruder!“ mein aber auch der titanische Stolz, der
in die Welt hinausjauchzt: „Ich bin der Einzige, denn alles, was da
ist, ist mein!“

Mitunter kommt es jetzt über mich, als sollte ich noch einmal in
die Welt der Menschen hinaustreten und versuchen, ihnen von meinem
Frieden zu reden. Aus den Blättern, die ich da niederschreibe und auf
denen so viel von Schuld steht, von Schuld, die aus irregeleiteter
Menschensehnsucht entsprungen ist, klingt es mir manchmal wie
Johannesruf entgegen und will mir sagen: „Jeder, der den Frieden in
sich trägt, ist zum Messias berufen!“

Aber dann höre ich wieder eine andere Stimme warnen und die meint, es
sei nur der Versucher, der mich aus dem Paradies hinauslocken will in
die steinigen Öden, auf denen die Disteln wahnbefangenen Menschentums
wuchern und wo unter den Rosen der Eitelkeit und Selbstsucht die Dornen
lauern, um den Königsmantel des Friedens in Fetzen zu zerreißen.

Nein, ich gehe nicht hinaus! Die Welt hat Propheten genug, die ihr mit
tönenden Worten ihr Glück verkünden. Ich will meine Religion, meine
Philosophie leben, nicht lehren. Wer in mein Himmelreich eingehen will,
der nehme, wie ich, das Kreuz der Notwendigkeit auf sich und folge mir
nach!

Ich habe es auf mich genommen. Heute trage ich es mit Heiterkeit und
es drückt mich nicht mehr als ein Rosenkranz die Stirne apollinischer
Zecher drückte. Früher, allerdings, da lastete es mit Zentnerwucht
auf meinen Schultern, unter seinen Kanten rann mein Blut in Strömen;
aber wenn ich auf dem Wege zu meinem Golgatha müde und verzagt auf
der Bank stumpfsinniger Selbstvernichtung ausruhen wollte, dann trieb
mich Ahasver, der Lebenswille, weiter, und nach qualvollem Verröcheln
kam auch für mich der Tag der Auferstehung, tagten die heiligen
Himmelsostern des Friedens.

Nein, ich gehe nicht mehr hinaus in die Welt der Menschen! Diese
Blätter will ich nur noch abschließen, dann will ich ganz nur mehr ich
selber sein: Bruder von allen, König über alle, der Einzige auf der
weiten Welt!

Ich glaube, daß meine Wandlung eigentlich schon damals angefangen hat,
als ich im Lazarett lag. Ich ertappte mich nämlich auf Gedankenfolgen,
die mir damals ganz sonderbar, fast wahnwitzig vorkamen. Ich fragte
mich nämlich allen Ernstes nach den Ursachen des Krieges in Bosnien
und da kam ich in meinen Selbstbeantwortungen der Frage so weit,
daß die politischen Gründe wie wesenlose Schemen vor meinem Denken
zerflatterten und ewige Menschheitsfragen vor mir ihre geheimnisvollen
Augen auftaten. Und vor denen mußte ich meinen Blick senken, ihnen
konnte ich nicht ins Auge sehen.

Das war aber noch zu einer Zeit, als die Heilung meiner Wunde ihren
naturgesetzmäßigen Fortgang nahm.

Aber bald brachte mich eine Verschlimmerung auf ganz andere Gedanken.
Aus mir bis heute noch ganz unerklärlichen Gründen, vielleicht mag ein
Versehen des Arztes mit Schuld tragen, entstand an meinem noch nicht
verheilten Schlüsselbein eine Eiterung, die rasch auch das Armgelenk
ergriff, so daß hier ein operativer Eingriff erforderlich wurde. Und
es stand nun die Frage vor mir, ob ich den rechten Arm je noch einmal
würde gebrauchen können.

Was sollte in diesem Falle aus Marie und mir werden? Darüber
nachzudenken, hatte ich nun reiche Gelegenheit. Ich hatte mir die Sache
früher sehr einfach vorgestellt. Wenn meine Militärzeit vorüber war,
wollte ich Marie heiraten. War Bartel damit einverstanden, dann wollte
ich gerne auf der Mühle bleiben und mit ihm das Geschäft gemeinsam
führen; sollte er jedoch sein eigener Herr sein wollen, dann konnten
wir uns von dem Erbteil Maries irgendwo eine kleine Mühle oder ein
kleines bäuerliches Anwesen kaufen und ich traute es uns beiden zu, daß
wir zu etwas kommen würden. Marie war eine tüchtige Wirtschafterin, das
hatte ich schon während der Krankheit ihrer Mutter erkannt, und ich
fühlte trotz meiner Verwundung die Kraft in mir, Leben und Schicksal
durch wackere Arbeit zu meistern.

Nun aber, als ich dalag und den rechten Arm nicht rühren konnte, nun
stieg eine nagende Bangigkeit in mir auf. Was sollte nun aus uns
werden? Ich zergrübelte und zersorgte mir den Kopf. Wenn ich in der
Frühe aufwachte, stand diese Frage vor mir, und sie überfiel mich auch,
wenn ich nachts erwachte, und ließ mich dann nicht mehr einschlafen.

Hätte ich Marie nur schreiben können, es hätte mir das Herz
erleichtert. Aber mein Arm war unbeweglich in Binden festgelegt und ich
hatte auch niemand, der für mich hätte schreiben können. Marie wußte
nichts von mir und ich nichts von ihr. Wohin hätte sie auch schreiben
sollen? Von der Art der Funktion der Feldpost wußte sie in ihrem
stillen Gebirgsgraben nichts.

Unsäglich traurig und langsam schlichen die Stunden, Tage und Wochen
dahin. Der Arzt konnte mir zwar die tröstliche Mitteilung machen, daß
mein Arm auf dem besten Wege zur Heilung sei, aber er verschwieg auch
nicht, daß er nie mehr zu starker Arbeit tauglich werden würde. Und als
der freundliche Mann erfahren hatte, daß ich Müller sei, warnte er mich
besonders, Säcke auf der rechten Schulter zu tragen. Das Armgelenk,
wie auch das Schlüsselbein seien derartigen Anstrengungen nicht mehr
gewachsen.

Und endlich war der Tag da, wo ich aus dem Lazarett entlassen werden
konnte. Mit einem Trupp anderer von aus mehr oder minder schweren
Verwundungen Genesener ging es auf dem Wege, den wir gekommen, der
Heimat zu.

Durch dicken Novembernebel jagte unser Zug dahin.

Die Weingehänge der Südsteiermark, über deren grünen Reben bei
unserer Herfahrt einst die Sonne träumte, lagen nun zerzaust und
ihrer Goldfrucht beraubt in stumpfem Erdfahl da, von den Bäumen riß
der feuchtkalte Novemberwind die letzten moderbraunen Blätter, und
als wir endlich in die Bergwelt des Semmerings kamen, da zogen über
vergilbte Alpenmatten graue Schleier, umhüllten die sonst so herrlich
leuchtenden Felshäupter der Raxalpe und des Schneebergs, und wo sich
die Nebelfransen etwas erhoben, schimmerte das Weiß des ersten Schnees
hernieder.

Als wir gegen Wien kamen, begann ein leises Regenrieseln, und als ich
mit noch zwei Kameraden am nächsten Tage unserer Garnisonstadt zufuhr,
wandelte sich der Regen in tanzendes Flockengestiebe.

Zwei Tage darauf konnte ich in die Heimat zurückkehren. Meine beiden
Kameraden blieben noch in der Stadt, wo sich in den Wirtshäusern sofort
eine Gesellschaft um sie sammelte, die mit angehaltenem Atem der
Schilderung ihrer Erlebnisse lauschte und für den Genuß mit Wein und
Bier und Braten und Zigarren dankte.

Mich aber litt es nicht länger, ich mußte in die Heimat, zu meiner
Marie, zu meinem Kinde.

Ein unbeschreibliches Gefühl durchrieselte mich, als ich die
Wälder und Berge der Heimat immer näher und näher kommen sah. Wie
Freude, himmelhochjauchzende Freude war es und daneben doch auch
wieder wie ein Bangen, wie eine Scheu vor etwas Großem, Heiligem.
Ein liebendes Mädchen hatte ich verlassen und eine Mutter würde
mir nun entgegentreten und das Kind, das sie mir auf ihren Armen
entgegenreichen würde, war mein Kind und mahnte mich an heilige
Pflichten.

Von Wien aus hatte ich an Marie eine Karte geschrieben, eine zweite von
meiner Garnisonstadt und in dieser hatte ich ihr mitgeteilt, daß und
wann ich zu Hause ankommen würde. Ich gab mich der heimlichen Hoffnung
hin, daß sie mich auf dem Bahnhof erwarten würde. Aber kein Mensch aus
meinem Gebirgstal war da, und ich begab mich in das Gasthaus neben dem
Stationsgebäude, um mich durch eine kleine Jause für den Marsch zur
Heimat zu stärken.

Einige Bauern waren da und einer davon erkannte mich und setzte sich
nun gleich zu mir.

Ob ich wollte oder nicht, ich mußte von meinen Erlebnissen erzählen,
und wenn ich meinerseits eine Frage stellte, die mir auf der Seele
brannte, erhielt ich gar keine Antwort, sondern mußte nur immer
weiter und weiter erzählen, bis ich endlich mit aller Entschiedenheit
erklärte, nun hätte ich nicht mehr Zeit, denn ich wolle noch vor Abend
nach Hause kommen.

„Also gehst wieder in die Mühl’ zurück?“ fragte der Bauer, endlich in
seiner Neugierde gesättigt.

„Wohin soll ich denn gehen?“

„Na ja, ist ja eh ganz recht,“ erwiderte er, „ich hab nur gemeint,
weil halt die Müllerin gestorben ist und die Mariel den Oberleitner
geheiratet hat und der Bartel eh ein so viel zuwiderer Kerl ist, daß du
dir am End um was anderes umschauen tätst.“

Vor mir versank die Welt. Ich wollte aufspringen, doch die Füße
versagten mir den Dienst, ich wollte etwas sagen, doch eine kalte Faust
drückte mir die Kehle zusammen. Vor wenig mehr als einem Vierteljahr
hatte ich den Tod aus langen Bosniakenflinten auf mich zielen gesehen
und ich hatte nicht gezittert, war nicht erbleicht. Nun aber ging ein
Krampf durch meinen ganzen Körper und das Weinglas zitterte so heftig
in meiner Hand, daß ich einen Teil des Getränkes verschüttete.

„Ja, weißt du am End von diesen Sachen gar nichts?“ fragte der Bauer
erstaunt, „du bist ja ganz außer dir!“

„Nichts habe ich gewußt,“ preßte ich hervor.

„Na, da hört sich doch alles auf!“ entrüstete sich der andere wieder,
„du warst ja wie’s Kind vom Haus, da hätten sie schon was schreiben
können. Übrigens, vielleicht haben sie’s eh getan und du hast halt den
Brief nit kriegt. Mein Gott, im Krieg und in einem solchen Land wie das
Bosnien, da kann leicht was verloren gehn.“

Und ohne daß ich ihn ersuchte, erzählte er, daß Marie einem Knaben
das Leben geschenkt habe, daß sie dann eine Zeitlang krank gewesen
sein soll, dann aber habe es plötzlich geheißen, sie heirate den
Oberleitner. Und das sei auch geschehen. Acht Tage darauf sei die
Müllerin gestorben und der Bartel sei nun Eigentümer der Mühle und,
wie es scheine, wolle er hoch hinaus. Er rede immer von einem großen
Sägewerk und habe auch tatsächlich schon angefangen, Waldland in der
Nähe anzukaufen. Die Mahlmühle treibe er jetzt schon eigentlich nur
mehr so nebenher. Er scheine überhaupt nur auf den Tod der Mutter
gewartet zu haben, um die ganze frühere Wirtschaft von Grund auf
umzuändern. Man habe das in diesem Duckmauser gar nicht vermutet.

Ich weiß nicht, was der Mann noch alles erzählte. Seine Worte klangen
nur wie ein fernes, fernes Klappern an mein Ohr. Ich weiß auch nicht,
wie er sich von mir verabschiedete. Um mich war Finsternis und Leere
und ich starrte hinein. Mein Leben war in dieser Finsternis und dieser
Leere versunken, von dorther mußte es noch einmal auftauchen und ich
wollte es sehen. Es mußte ja nochmal kommen!

Ich glaube heute noch, daß ich damals dem Wahnsinn ganz nahe wahr.
Ich empfand keinen Schmerz, keine Eifersucht, keinen Zorn, ich war
nur fremd in mir selber, in der ganzen Welt geworden. Die Wirtsstube
war ein weiter Saal und fremde Menschen, die eine fremde Sprache
redeten, wandelten darinnen, aber wie in meilenweiter Entfernung. Und
ich selbst war nicht mehr ich; ein fremder Mensch war ich, der nun in
später Nacht, da ihm der Wirt sagte, er müsse zusperren, die Stube
verließ und draußen in der stockschwarzen, flockenwirbelnden Nacht
von etwas Abschied nahm, das heimlich weinend auf dunklem Wege in die
alte Heimat heimtastete. Ich aber, ich, der fremde Mensch, fuhr in die
Stadt zurück. Und erst als dieser Mensch im Morgengrauen durch die
Straßen der Stadt schritt, da kam ihm wieder zum Bewußtsein, daß er der
Heinrich Binder sei.

Was nun anfangen? In immer schmerzlicher mein Herz zerwühlenden
Gedanken schritt ich dahin. Ohne es zu wissen, hatte ich altvertraute
Wege eingeschlagen. Ich ging durch den Stadtpark, ich kam auf den
Promenadenweg längs der Au und dann saß ich auf der Bank, auf der ich
seinerzeit mit meiner Mutter und dann später mit der Müllerin und mit
Marie gesessen war.

Und hier erst packte mich das Bewußtsein, was mir verloren gegangen
war. Ich hatte nicht nur die Heimat verloren, sondern den Glauben
an die Menschheit. Was ich geliebt, alles hatte mich verlassen und
verraten und mich allein gelassen, mutterseelenallein auf der weiten
Welt.

Was konnte es da für mich, für den halben Krüppel noch geben? Ein
Gedanke schoß in mir auf: ein Ende machen.

Ich zählte meine Barschaft. Mehr als genug zu einem Revolver. Ein Druck
-- und alles ist nicht mehr.

Und da kam eine merkwürdige Ruhe über mich. Wenn’s so leicht ist, dem
Leben zu entgehen, dann ist ja auch das Leben nichts, was man tragisch
zu nehmen hat. Man schaut sich’s an wie eine Komödie und gefällt’s
einem nicht mehr, gut, dann geht man. Wozu die Aufregung?

Etwas wie höhnische Neugierde kam über mich, noch eine Weile zuzusehen,
was das Leben mit mir noch alles vorhabe. Himmelhoch, wähnte ich
damals, über meinem Schicksal zu stehen, und bemerkte es gar nicht,
wie es der Lebenswille selbst war, der nach dem Zusammenbruch all
meines Glaubens, Hoffens und Liebens leise wieder von meinem Herzen
Besitz nahm.

Ich ging in die Stadt zurück und in einem Gasthause suchte ich im
Anzeigenteil einer Zeitung nach einer für mich passenden Stelle.

Bei einem Advokaten war die Stelle eines Schreibers offen. Die würde
ich ja mit meinem kranken Arm zur Notdurft versehen können.

Ich meldete mich und erhielt auch den Posten. Aber schon nach vierzehn
Tagen mußte ich ihn wieder verlassen, denn es ging mit dem Schreiben
nur sehr langsam vorwärts und mein Chef brauchte einen flinken Arbeiter.

Ich war nun eine Weile Zeitungsausträger, dann Diener in einer
Buchhandlung, dann wieder Schreiber, ohne mich jedoch in einer dieser
Stellungen halten zu können. Ich spürte jeden Witterungswechsel im Arme
so heftig, daß ich diesen selbst zu den leichtesten Arbeiten nicht
gebrauchen konnte, und so saß ich eines Tages mit meinen letzten paar
Kreuzern wieder im Gasthaus, stellenlos, und überlegte, ob es nun nicht
doch an der Zeit sei, der öden Lebenskomödie ein Ende zu machen. Je
mehr ich nachdachte, desto fester wurde in mir die Überzeugung, daß es
für mich keinen anderen Weg mehr gebe, wollte ich nicht als Bettler der
Heimatgemeinde zur Last fallen. Und diesen letzten Akt in der Tragödie
meines Lebens wollte ich mir doch ersparen. Ein fünfundzwanzigjähriger
Bettler, nein, diesen schlechten Witz wollte ich mit mir nicht machen
lassen.

Einen Augenblick dachte ich daran, in die Heimat zu gehen und dort zu
enden. Dann verwarf ich den Gedanken. Wo Vater und Mutter ruhig und in
Ehren in den Reihen der ehrbar aus der Welt Gegangenen schlummerten, da
sollte nicht ihr unglückliches Kind im ungeweihten Winkel an der Seite
Verworfener liegen.

Ein Schneider lag dort, der seine Familie zuerst an den Bettelstab
gebracht und sich dann aufgehängt hatte, ein Maurer, der im
Schnapsrausch sein Weib erschlagen und darauf aus Furcht vor Strafe
sich die Kehle durchschnitten hatte.

Zu diesen Verkommenen gehörte ich nicht. Ich war nur ein Unglücklicher.

Noch eine Weile saß ich so, -- ließ mein Leben an mir vorüberziehen und
stellte fest, daß ich für jede Minute Glück mit Stunden von Herzeleid
hatte zahlen müssen. Mehr hatte ich bezahlt als mein ganzes Leben wert
war und darum hatte ich bankrott werden müssen. Also Schluß!

Eben wollte ich bezahlen, als ein Mann in die Gaststube trat. Ich sah
ihn an, er mich und da ging er auch schon auf mich zu, reichte mir die
Hand, sagte: „Jetzt weiß i nit, bist du’s, oder bist du’s nit!“

Es war Bartel, der mich forschend ansah. Der Bart, den ich mir aus
Ersparnisrücksichten hatte wachsen lassen müssen, ließ ihn doch ein
Weilchen bezweifeln, ob er den Rechten vor sich habe.

Ich legte zögernd meine Hand in die seine und gab mich zu erkennen:
„Ja, ja, schau mich nur an, ich bin’s!“

„Also doch! Gehört hab’ i schon, daß du vom Militär zurück bist. Aber
sag’ mir, warum bist denn nit heimgangen?“

Er sagte das so unbekümmert heraus, daß ich stutzig wurde. Doch
erwiderte ich: „Da fragst du? Was hätt’ ich denn bei euch gemacht? Wär’
euch ja doch nur im Weg umgangen, dir und der Marie! Und zum Arbeiten
bin ich mit meinem blessierten Arm doch auch nichts mehr.“

Bartel kniff die Augen zusammen, ein eigentümliches, widerliches
Lächeln spielte um seine schmalen Lippen und dann sagte er: „Weilst
schon selber anfangst davon, na ja, eine recht große Freud könnt meine
Schwester, die Oberleitnerin, freilich über dich nit haben. Zuerst
bringst du’s in die Unehr und dann laßt du von dir nix mehr hören! Das
ist wohl nit grad in der Ordnung gewesen.“

„Das ist nit wahr,“ fuhr ich auf, „ich habe ihr ein paarmal
geschrieben, dann freilich, dann hab ich’s nicht mehr können!“

„Geschrieben hast du?“ erwiderte Bartel und schüttelte ungläubig den
Kopf, „das versteh’ i dann nit. Wir haben keine Zeile von dir kriegt!“

„Das ist nit möglich!“

„Keine Zeile sag i dir. Na und da haben wir uns halt denkt, du willst
von der Mariel und uns nix mehr wissen, und weil gerade der Oberleitner
um sie angehalten und zeigt hat, daß er sich auch aus dem Kind nix
draus macht, da hat halt die Mutter, besonders die Mutter, freilich ich
auch, denn es hat mich geärgert von dir, da haben wir halt der Mariel
zugeredet, na und sie hat ihn halt genommen, und so hat wenigstens ihr
Kind gleich einen Vater gehabt.“

„Und hat sie ihn gern geheiratet, den Oberleitner?“ fragte ich zagend.

„Na, wenn ich schon ganz aufrichtig sein will,“ meinte Bartel, „ein
bißl geweint hat sie schon. Aber jetzt ist sie ganz zufrieden.
Mein Gott, bei die Weiberleut ist nix besonders tief. Wie mir der
Oberleitner verraten hat, ist sogar schon wieder etwas Kleines im
Anzug. Aber sag mir jetzt, wie geht’s denn dir und was bist denn du
jetzt?“

„Ich, ein Bettler,“ entgegnete ich. Es stand mir nicht mehr dafür,
jemanden meine Lage zu verbergen. Meine Schuld war’s nicht, daß es
soweit mit mir gekommen war.

Bartel riß die Augen auf und drängte solange, bis ich ihm alles
erzählte, wie es mir seit meinem Einrücken zum Militär gegangen war.

Als ich geschlossen hatte, saß er eine Weile schweigend da, dann
sah er mich für ein paar Sekunden mit halb zugekniffenen Augen an
und sagte dann langsam, als sei er mit sich selbst noch nicht recht
einig: „Du, wie wärs’ denn; i möcht’ unsere Mühl zu Hause auf ein
großes Sägewerk einrichten. Da bin ich jetzt oft fort und könnt’ einen
verläßlichen Menschen brauchen, der mir auf das Geschäft schaut. Wannst
du auch selber nix mehr arbeiten kannst, das Dahintersein könnst doch
noch richten. Freilich, geben könnt ich dir nit viel: Quartier und
Verpflegung halt und monatlich fünf Gulden. Bis du dir was Besseres
gefunden hast, könntest es ja probieren!“

Noch vor ein paar Wochen hätte ich jedes Ansinnen, in die Heimat
zurückzukehren, wo mich jeder Winkel an versunkenes Glück erinnern
mußte, rundweg abgelehnt; nun aber, da ich verzweifelt vor den
dunklen Toren des Todes stand, nun stieg bei dem Gedanken, wieder
den Heimatwald rauschen, den Mühlbach plaudern zu hören, eine liebe,
liebe Sonne in mir auf. Was mir auch das Schicksal geraubt hatte,
ich wollte entsagen, entsagen um das eine Glück, wieder in stiller
Sonntagnachmittagsstunde mich an der Berghalde ins wehende Sommergras
strecken zu können, die Finken schmettern, die Vesperglocken läuten zu
hören und zu fühlen: du bist daheim.

Mit beiden Händen schlug ich ein, und als mich Bartel kurz darauf
verließ, da er noch Geschäftsgänge hatte, und mich auf den Bahnhof
bestellte, da duldete es mich nicht länger im Gasthaus. Ich mußte
hinaus, hinaus aus der Stadt, und droben auf der windumstobenen Höhe,
wo mein Oskar und ich einst gestanden und ein heißes Gebet zu Gott
emporgesandt hatten, daß er uns Künstler werden lasse, dort stand ich
auch diesmal wieder still und in stummem Jubel dankte mein Herz für das
Glück, wieder in der Heimat leben zu dürfen. So bescheiden hatte mich
das Leben gemacht.



XIV.


Bescheiden werden, das ist der erste Schritt auf dem Wege zum Frieden.
Man muß wissen, daß nicht jede Blüte Frucht, nicht jeder Traum
Wirklichkeit werden kann. Immer enger und enger muß das Herz den Kreis
ziehen, innerhalb dessen es sein Glück sucht und wenn es auf dem
engsten angekommen ist, dann ist auch die Stunde da, wo kein Sturm mehr
zu schaden vermag, wo in den stillen Gärten des Genügens die Blume der
Weltfreude das Auge aufschlägt.

Und ein solcher engster Kreis ist die Heimat.

Heimat! Wem dieser Name ein leeres Wort, der weiß nicht, was
irdische Seligkeit ist! Nur die ganz Großen, die Menschen mit dem
Ewigkeitszeichen auf den göttlichen Stirnen vermögen darüber hinaus
und die ganz Kleinen, denen die Tierheit von den schmatzenden Lippen
trieft, die sich wohl fühlen, wo ihnen der Wanst gefüllt wird.

Heimat! Das Wort ist wie ein Lied, in dem alles klingt, was die Seele
in Wonnen erbeben macht. Du warst fremd, und auf einmal umschlingen
dich warme Mutterarme; du warst einsam und nun fühlst du ein Herz an
dem deinen pochen, das Liebe, reinste, zärtlichste Liebe ist; du warst
verbittert und da nähert es sich dir treuherzig und lächelt dich an
und erzählt dir alte, längst vergessene Märchen, bis deine Augen zu
schimmern beginnen im Abglanz der wundersamen Feenreiche; du warst
verzweifelt, und da tritt es an deine Seite, schmiegt seine Wange an
die deine, drückt seinen Mund in innigem Kusse auf deinen und flüstert
dir mit lieber Stimme zu: „Siehe, ich bin ja bei dir und ich verlasse
dich nicht. Wenn alle untreu werden, ich bleibe dir treu, ich bin dein,
so lange du mich liebst.“

Die Heimat vermag das große Wunder zu vollbringen, den Menschen einsam
zu lassen und ihm doch das Gefühl zu geben, wie sich allenthalben treue
Hände ihm entgegenstrecken. Wer eine Heimat hat, kann der Menschen
entbehren. Sie ist die große Freundin, mit der die Seele Zwiesprache
pflegt, ihr ist der Mund der Ewigkeit gegeben, denn über allem Wandel
und Wechsel der Menschen, die auf ihren Wegen schreiten, ist sie das
Bleibende, niemand weiß so gut wie sie und spricht es so deutlich aus,
daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist.

Welcher Segen mir die Heimat war, das kam mir zum Bewußtsein, als ich
wieder in die Mühle eingezogen war. Ich bekam wieder das Stübchen,
das ich vor meiner Militärzeit innegehabt hatte und richtete mich da
in altgewohnter Weise ein. Wenn ich in den kleinen Raum trat, war ich
zu Hause, kam ich aber in die große Mühlenstube, wo die Mahlzeiten
stattfanden, dann wußte ich, wieviel sich hier verändert hatte.

Der große Lehnstuhl hinter dem Ofen war leer und an dem kleinen
Nähtischchen am Fenster saß kein Mädchen mit blauen, treuen Augen. Wie
ein Stich ging mir das immer durchs Herz und eine unendliche Bitterkeit
überkam mich, daß dies alles nur ein schöner Wahn einiger Jugendjahre
gewesen sein sollte. Gerade hier in der Heimat begriff ich die
Schwachmütigkeit meiner Marie gar nicht. Hier, wo ihr jeder Winkel mit
seinen süßen Erinnerungen eine Stütze war, hier hätte sie doch stark
bleiben können und müssen.

Wenn ich dann aber für ein Stündchen hinauskam, oder wenn mir der
Sonntag seinen Feierfrieden mit tönenden Glocken verkündete und der
Wald seine grünen Pforten vor mir auftat, dann wurde ich wieder ruhig
und eine stille Heiterkeit ließ mich alles Weh vergessen.

Da lag ich dann hoch oben auf der Berghalde, träumte hinauf in die
segelnden, weißen Wolken oder hinunter in das Tal, wo hinter den
Häusern gegen den Wald hin der Friedhof lag. Und wenn mein Blick die
Gräber der Eltern und der Müllerin gefunden hatte, dann nickte ich
ihnen zu: was ihr erhofft, das bin ich allerdings nicht geworden, aber
glücklich bin ich jetzt doch und mehr kann ein Mensch auf Erden ja
überhaupt nicht erreichen. Sei es nun so oder so.

Selbst zum Oberleitnerhof konnte ich in solchen Stunden ohne Groll
hinüberblicken und glaubte jedesmal, verwunden zu haben. Daß dies nur
eine Täuschung, ward mir freilich dann wieder klar, wenn ich Marie ab
und zu auf dem Wege zur Kirche sah. Da begann es immer sofort in mir zu
rieseln, als sei eine Wunde aufgebrochen und ergieße ihr Blut in heißen
Strömen durch meinen ganzen Körper. Eine solche Begegnung warf mich oft
für Tage aus dem Geleise, auf dem ich meine Seele zur Ruhe einlullen
wollte.

Zum Glück gab es für mich in der Mühle ziemlich viel zu tun. Bartel war
meistens auswärts und ich staunte selbst, mit welcher Energie dieser
ganz ungebildete Mensch seine Pläne betrieb, mit welcher Voraussicht
und List er zu Werke ging. Er war ganz und gar Rechner, kalter
Zahlenmensch. Er interessierte sich nur für seine eigenen Sachen und
er tat nichts, was nicht in irgend einer Weise für ihn einen Gewinn
abwarf. Ich hatte auch bald heraus, daß meine Anstellung durchaus nicht
einer edlen Aufwallung seiner Seele zuzuschreiben war, sondern einem
ganz einfachen und nüchternen Rechenexempel.

Da er soviel auswärts war, brauchte er einen, der ihm auf sein Geschäft
sah. Da war nun ich ihm gerade zurecht gekommen. Mich kannte er und
wußte, daß ich nicht nur meine Pflicht gewissenhaft erfüllen würde,
sondern daß ich bei meinem Unvermögen, mir auf andere Weise einen
Verdienst zu schaffen, auch gezwungen sei, mir nichts zuschulden kommen
zu lassen. Dabei konnte er mich so billig haben, wie sonst keinen und
hatte obendrein den Vorteil, daß ich auch die nötigen schriftlichen
Arbeiten selbst besorgen konnte.

Diese Erwägungen stumpften mein ursprüngliches Dankgefühl sehr
bedeutend ab, und es machte sich mit der Zeit auch wieder die alte
Antipathie geltend, die ich von jeher gegen Bartel empfunden, eine Zeit
wohl unterdrückt, aber doch nicht aus meinem Herzen hatte ausrotten
können.

Und diese Antipathie wurde verstärkt, wenn ich die Leute betrachtete,
die in der Mühle aus und ein gingen.

Zu dem intimsten Verkehr Bartels zählten ein Pferdehändler, dem man
in der ganzen Gegend kein gutes Wort nachsagte; ein Güterschlächter,
einer der abgefeimtesten Halunken, der kalten Blutes ganze Familien
ins Unglück jagte; ein Hausierer, der für das ehrenwerte Trifolium
die Kundschafterdienste versah, und schließlich auch der Schwager
Oberleitner, ein Säufer und Spieler wie kein zweiter in der Gegend.
Schon vor seiner Verheiratung war er als leichtsinniger Bruder
allgemein bekannt gewesen; jetzt aber trieb er es noch weit ärger und
strafte jene Leute Lügen, die da immer gesagt hatten, er tobe sich halt
aus und wenn er einmal ein braves Weib habe, werde er schon anders
werden. Das merkwürdige war nur das, daß Bartel mit dem Treiben seines
Schwagers ganz einverstanden zu sein schien.

Ab und zu hörte ich auch von wenig ehrenhaften Machenschaften munkeln,
die das edle Kleeblatt ausgeführt hatte, und dann stieg es jedesmal
siedend in mir auf, wenn ich bedachte, daß ich auf Gnade und Ungnade
in die Hand Bartels gegeben war. Er war mein Brotherr und ich war
unfähig, mir einen anderen Verdienst zu suchen. Was nützte es mir,
wenn ich daran dachte, daß mich Bartel, wenn er mich einmal nicht mehr
brauchte, ganz gewiß kaltblütig dem Armenhause überantworten werde?
Vorläufig konnte ich mich über ihn noch nicht beklagen, und so gab
ich mir Mühe, nichts zu sehen und vor allem, wenn ich schon etwas sah
und hörte, darüber weiter nicht nachzudenken. Mein wrackes Schifflein
lag im Heimatshafen und das war schließlich für mich schiffbrüchigen
Menschen genug. Ich konnte leben, und das ist für einen, der auch
diese Möglichkeit schon schwinden hatte sehen, ein Geschenk, das er in
Demut aufzunehmen hat.

Aber diese erzwungene Demut und dieses erkünstelte Gehenlassen sollten
einen gewaltigen Stoß erfahren.

Es war meiner Mutter Sterbetag und ich ging auf den Friedhof.

In Gedanken versunken schritt ich durch die Pforte und erst als ich
schon in der Nähe des Grabes war, sah ich auf, und da sah ich Marie vor
mir, der ich bislang ausgewichen war, als sei sie mit der Pestilenz
behaftet.

Auch jetzt wäre ich am liebsten davongelaufen, aber da wandte sie mir
ihr Gesicht zu, ein so furchtbar verhärmtes Gesicht, daß alles, was
an Groll und Verachtung in mir lebte, dahinschwand wie Reif vor der
Maiensonne. Was ich mir selbst immer wieder abgestritten hatte, daß
Marie ein Opfer gewesen sei, das bestätigte mir dieses blasse Antlitz
bei dem ersten Blick, den ich darauf warf, und als sich mir Marie nun
näherte und die Augen traurig, fast angstvoll zu mir aufschlagend, mir
die Hand reichte und leise sprach: „Grüß dich Gott!“, da mußte ich ihr
doch auch meine Rechte geben. Aber ich spürte, wie ich dabei zitterte
und wie mir ein brennendes Rot in die Wangen schoß.

Eine Weile blieb es zwischen uns still. Ich hatte den Blick gesenkt,
fühlte aber, daß mich Marie ansah.

Da sah ich unter meinen gesenkten Lidern den frischen Reisigkranz mit
einigen Bauernblumen, den sie auf das Grab meiner Mutter gelegt hatte,
und da mußte ich ihr doch danken.

„Der Kranz ist von dir, gelt?“ sagte ich, „ich dank’ dir schön, daß du
noch an meine arme Mutter denkst.“

„Ich hab sie ja gern gehabt,“ war die leise Antwort.

Darauf wußte ich nichts zu sagen. Ein unendlich wehes Gefühl schnürte
mir die Brust zusammen. Der Ton, in dem diese Worte gesagt waren, war
Sehnsucht nach etwas, was verloren und versunken war, und er sagte mir,
daß da ein tief unglückliches Weib neben mir stehe. Und hätte mir’s der
Ton nicht gesagt, so das stille Schluchzen, das ich nun an meiner Seite
hörte.

Und da fand mein bebendes Herz die Worte: „Geh wein nit, Marie, schau,
es war uns halt anders bestimmt. Jetzt müssen wir’s halt tragen, wie’s
gekommen ist.“

Da wandte sie mir ihre feuchten Augen zu, aus denen große Tränen über
die Wangen kollerten, und sagte: „Ja, jetzt heißt’s tragen, hoffentlich
dauert’s nimmer zu lang.“

„Du bist Mutter, Marie,“ entgegnete ich, „da sollst du nit so reden!“

Auf diese Worte senkte sie das Haupt und tonlos kam es von ihren
Lippen: „Ja, ich bin Mutter, aber nur von unserem Kind, Heini, das
--“ ihr Blick glitt an ihrem gesegneten Leibe hinab, „das wird seine
Mutter wohl nie kennen lernen.“

Und in einer Leidenschaft, wie ich sie an Marie nie gesehen und nie für
möglich gehalten hätte, brach sie aus: „Heini, ich bitt’ dich, hör’
mich an! Ich weiß, daß du mich verachtest. Aber ich kann nichts dafür,
daß alles so gekommen ist. Bei unserem Herrgott schwör ich dir’s, ich
kann nichts dafür. Schwach bin ich gewesen, ja, aber schlecht nit, das
nit.“

Ich wollte abwehren, aber sie bat und flehte: „Ich bitt dich, Heini,
laß mich’s erzählen, wie alles so gekommen ist. Ich muß dir’s sagen,
denn dann wird mir leichter werden. Du mußt mir verzeih’n, nur das eine
will ich noch auf der Welt, sonst nichts mehr.“

An die Friedhofmauer gegenüber dem Eingang war eine kleine Kapelle
hingebaut, von Hollerbüschen und jungen Fichten umgrünt, und zu
beiden Seiten derselben standen rohe Holzbänke. Am Allerseelenabende,
wenn auf jedem Grabe das kleine Lichtlein flackerte, saßen hier in
der nebeldurchrieselten Dämmerung die Dorfleute und beteten für die
Dahingegangenen einen Rosenkranz.

Auf einer dieser Bänke setzten uns Marie und ich nieder und hier im
Angesichte der Toten erzählte sie mir von dem, was in ihr gestorben
war: der Freude am Leben, dem Glauben, daß es noch einmal für sie ein
Glück geben könne.

„Ich bin zu schwach,“ sagte sie mit tonloser Stimme, „ich kann mich
nicht wehren bis zum äußersten. Das ist schon früher mein Fehler
gewesen und darum muß ich jetzt so büßen!“

Und nun erzählte sie mir, wie alles gekommen war. Man hatte ganz
einfach ihren Zustand ausgenützt, um sie den Wünschen Bartels gefügig
zu machen. Er erkannte, daß es mit der Mutter nicht mehr lange dauern
würde und wollte dann unumschränkter Herr auf der Mühle sein. Da war
ihm aber die Schwester im Wege und deshalb ging sein ganzes Sinnen und
Trachten dahin, sie loszubringen. Daß dies am besten durch eine Heirat
möglich sei, lag ja auf der Hand; daß sich Bartel aber auch durch diese
Heirat allmählich in Besitz von Maries Erbteil bringen wollte, das
wußte sie damals noch nicht und auch mir ging das Licht zu spät auf.

Bartel hatte die Mutter infolge seines ganz geänderten Wesens
vollständig in Händen, und sie war es nun, welche Marie bestürmte, dem
Oberleitner die Hand zu reichen. Tag für Tag, jede Stunde, die sie an
der Seite der Kranken zubringen mußte, lag ihr diese mit Jammern und
Klagen in den Ohren. In ihrer Verzweiflung hatte sich Marie in ihren
Briefen zu mir geflüchtet, hier suchte sie Schutz; aber keine Antwort
kam, und Bartel und die Mutter benützten diese Gelegenheit, um ihr zu
beweisen, daß ich sie vergessen habe. Stets eindringlicher, flehender
wurden die Bitten der Mutter und an einem Nachmittage, als die Kranke
schon sehr elend war, da rief sie Marie zu sich und mit leiser,
ächzender Stimme, jedes Wort sich mühsam abquälend, sprach sie: „Marie,
i kann nit leben und i kann nit sterben. Leben will mich unser Hergott
nimmer lassen und sterben laßt mich du nit. Und so muß i leiden, in
einem fort leiden, wo i doch jede Stund um Erlösung bitt. Marie“ -- der
Erzählenden traten die Tränen in die Augen, als sie nun schilderte,
wie die Mutter die abgemagerten, gelben Hände zu ihr emporgehoben und
sie mit der ganzen Inbrunst ihrer Erlösungssehnsucht gebeten hatte --
„Marie, du bist mein Kind und ich hab dich allweil gern gehabt, lieber,
viel lieber als deinen Bruder, Marie, ich bitt dich, um Gotteswillen,
hilf mir, laß mich sterben. Heirat den Oberleitner, er ist ein Bauer
und paßt zu dir, der Heinrich ist halt doch ein Studierter und der
kommt vom Militär nimmer zurück, gewiß nit. Wann i dich versorgt weiß,
Marie, dann kann i sterben. Hilf mir, Marie, laß mich nit so leiden, i
will dir’s danken und im Himmel deine Fürsprecherin sein. Marie, sei
mein braves Kind, verlaß deine Mutter nit!“

In diesem Augenblick kam auch Bartel aus der Stadt zurück und teilte
mit, daß er dort erfahren habe, daß der Oberleutnant von Steindl
gefallen sei, auch der Heinrich Binder soll gefallen sein.

„Da,“ fuhr Marie fort, „da war mein letztes bißchen Kraft dahin. Es war
mir, als habe unser Herrgott selbst gesprochen und am Abende desselben
Tages habe ich der Mutter gesagt, daß ich tun wolle, was ihr Wunsch
sei. Vierzehn Tage darauf war die Hochzeit und acht Tage nach dieser
ist die Mutter gestorben. Ihr letztes Wort war ein Segen für mich. Bis
heute hab ich aber von dem Segen noch nichts verspürt.“

Sie schwieg eine Weile, trocknete sich die Tränen von dem verhärmten
Gesicht und sich erhebend sagte sie: „So Heinrich, jetzt weißt du
alles, wie’s gekommen ist, und jetzt, wann du willst, kannst mich
verdammen. Notwendig ist’s freilich nit, denn mein Leben ist eh nur
eine einzige Verdammnis neben diesem Mann!“

In mir zuckte das Herz von unsagbarem Mitleid. Was war in den nicht
ganz zwei Jahren aus Marie geworden! Ein verkümmertes, gebrochenes
Weib, gebrochen an Leib und Seele.

„Marie,“ sagte ich und reichte ihr die Hand, „schau, wir zwei sind
halt nicht zum Glück bestimmt. Du wärst es vielleicht gewesen, aber da
bin ich in dein Leben gekommen und an mir hängt das Unglück. Nicht ich
habe dir was zu verzeihen, sondern du mir. Du wärst nit so verzagt und
schwach gewesen, wenn nicht das Kind gewesen wär.“

Da schüttelte sie den Kopf und sagte leise: „Das ist noch das Einzige,
was mich hält, sonst läge ich schon dort drüben.“

Sie wies mit einer leichten Wendung des Kopfes hinüber zu dem
Armensünderwinkel.

„Marie,“ bat ich und faßte ihre Hand, „so darfst du nit reden. Auch für
dich wird noch eine andere Zeit kommen. Sie muß sogar kommen, wenn’s
sonst noch eine ewige Gerechtigkeit geben soll. Siehst, Marie, mich hat
das Leben nit weniger hergenommen.“

Und ich erzählte ihr meine Erlebnisse seit meinem Scheiden. Aufs neue
flossen ihre Tränen, aber diesmal nicht wegen ihres eigenen dunklen
Schicksales, sondern wegen des meinen. Und als ich geendet hatte, da
brach aus den tränenumschleierten Augen ein Leuchten voll Zuversicht,
beinahe voll Glück, und mit festem Druck meine Hand umfassend, die noch
immer die ihre hielt, sagte sie: „Es ist merkwürdig, Heini, wie dich
und mich das Schicksal geführt hat. Besonders dich. Und daß es dich
wieder daher in die Heimat und grad zu meinem Bruder getragen hat,
das, Heini, das kommt mir fast vor, als hätte das eine ganz besondere
Bedeutung. Vielleicht braucht es dich gerade an der Stelle da.
Vielleicht mußt du noch einmal mir helfen. Ich kann mir’s nit denken,
daß alles in der Welt so sinnlos sein soll, wie’s für den ersten Blick
ausschaut. Und drum, Heini, lassen wir uns das Leben nit über den Kopf
wachsen. Ich hab’ jetzt wieder so viel Mut und Vertrauen, daß ich alles
ertragen kann. Tu auch du nit verzweifeln, Heini, unser Herrgott wird
schon wissen, was er mit uns will.“

Ich begleitete Marie bis zur Friedhofpforte und dort verabschiedete
ich mich von ihr. Während sie nach Hause ging, stieg ich zum Wald
empor. Dort auf einsamen Wegen dachte ich über das Gehörte nach. Mein
Herz war in wildem Aufruhr. Immer deutlicher erkannte ich, daß mein
und Maries Glück nur der kalten Rechenkunst Bartels zum Opfer gefallen
war. Nur er war es gewesen, der die sieche, dahinsterbende Mutter so
weit gebracht hatte, daß sie ihre Tochter zur Ehe mit dem liederlichen
Oberleitner gezwungen hatte. Ein namenloser Haß stieg gegen den
trockenen Schleicher in mir auf; aber ich mußte mir auch sagen, daß es
ein ohnmächtiger Haß sei. Ich mußte froh sein, die Stelle in der Mühle
zu haben, und schließlich tröstete ich mich damit, daß es zutreffen
könne, was Marie gesagt hatte: ich könnte vom Schicksal bestimmt sein,
noch einmal eine wichtige Rolle in ihrem Leben zu spielen. Wunderbar
genug war ja eigentlich alles, was ich bisher erlebt hatte, und es
wunderte mich nicht, wenn auch die Zukunft noch etwas bringen sollte,
woran ich jetzt nicht im Entferntesten dachte.

Selbst um vieles ruhiger kehrte ich in die Mühle zurück. Das Leben
ging seinen Gang wie bisher; ich hatte meine leichte Arbeit und meine
Feierstunden, und Bartel empfing nach wie vor seine verdächtigen
Besuche. Auch der Oberleitner erschien einmal ums anderemal bei ihm und
ging jedesmal sichtlich befriedigt wieder vom Schwager fort.

Marie sah ich jetzt nie mehr. Später erfuhr ich, daß unsere unverhoffte
Zusammenkunft auf dem Friedhofe bemerkt und dem Oberleitner
hinterbracht worden sei. Der habe damals sein Weib schlagen wollen; sie
sei ihm aber so energisch entgegengetreten, daß er die Hand habe sinken
lassen.

Seit der Zeit aber trieb es der Oberleitner noch ärger wie zuvor, saß
ganze Tage im Wirtshaus, hatte dort sogar ein Verhältnis mit einer
Kellnerin angeknüpft und schloß im Rausche oft die unsinnigsten Wetten
und Händel ab.

So kam der Winter. Nach Neujahr trat ein so starker Schneefall ein,
daß in den Jungmaisen die Fichten- und Tannenstämmchen der Reihe nach
geknickt wurden. Dann folgte ein Frost, daß die Bäume wie Glas klangen,
wenn ein Windstoß ihre Äste aneinander schlug. Das Wild kam bis zur
Mühle und wir hatten jeden Tag schwere Arbeit, das große Triebrad aus
dem Eise herauszuhauen.

Am zweiten Morgen nach dem Dreikönigstage kam eine Dienstmagd vom
Oberleitnerhof und fragte an, ob der Bauer nicht dagewesen sei. Er war
am Dreikönigstage früh fortgegangen und seither nicht heimgekommen. Vom
Wirtshaus sei er, so habe man ihr gesagt, gestern gegen zehn Uhr abends
fortgegangen. Seither hatte ihn kein Mensch gesehen und es lag die
Vermutung nahe, daß ihm, dem Schwertrunkenen, ein Unglück zugestoßen
sei.

Nun ging’s ans Suchen. Die Leute vom Oberleitnerhofe und das ganze
Mühlenpersonal -- Bartel ordnete das selbst an und zeigte die größte
Teilnahme an dem Verschwinden seines Schwagers -- wurden aufgeboten.
Man suchte die Gegend zu beiden Seiten des Weges vom Dorfe zum
Oberleitnerhofe ab und als sich eben die ersten Abendschatten auf
die Erde senkten, fand man ihn auch. Er war in seinem Rausche vom
Wege abgekommen, einen steilen Hang hinuntergetappt und dann über
eine niedere Felsenstufe zum Bache abgestürzt. In dem tiefen Schnee
hatte er sich nicht mehr erheben können und so war er erfroren. Keine
Verwundung, nicht die leiseste Abschürfung war an seinem Körper zu
entdecken. Im Rausch und Taumel war er in das Jenseits hinübergegangen.
Er hatte einen seines Lebens würdigen Tod gefunden.

Kein Mensch trauerte um ihn, auch seine eigene Frau nicht, die
einige Tage zuvor seinem Kinde das Leben geschenkt hatte und nun im
Wochenbette lag. Dieser Umstand kam ihr zustatten, indem sie wenigstens
nicht am Leichenbegängnis teilzunehmen und die trauernde Witwe zu
heucheln brauchte.

Mir aber war’s, als blühe mitten aus Eis und Schnee ein wonniger Lenz
empor. Die Zusammenkunft auf dem Friedhofe hatte mir bewiesen, daß ich
Marie noch immer liebte, und nun war sie frei und ihre eigene Herrin.
Nun konnte sich bewahrheiten, was sie ahnend vorausgesagt hatte, daß
mich das Schicksal zu einem ganz bestimmten Zwecke in die Heimat
zurückgeführt habe.

An dem Abend, da sie den Oberleitner tot gefunden hatten, sah ich
wieder einmal zu den Sternen auf mit tiefer, händefaltender Andacht.
Der diese schimmernden Welten in ihren harmonischen Bahnen lenkte, er
hatte doch auch mein armes Menschenlichtlein nicht vergessen.

Aber wieder sollte mir eine Enttäuschung werden und eine um so
furchtbarere, als ich nicht im entferntesten an ihre Möglichkeit
gedacht hatte.

Als nämlich nach etwa fünf Wochen die Verlassenschaftsabhandlung
stattfand, stellte es sich heraus, daß Marie, welche ihr Erbteil in
die Wirtschaft gesteckt hatte, eine Bettlerin war. Nicht ein Nagel
vom ganzen Haus, nicht eine Schindel auf dem Dache gehörte ihr; Herr
auf dem Oberleitnerhofe war ihr Bruder Bartel, der kaltlächelnd seine
Forderungen präsentierte.

Nun ging mir erst ein Licht auf, warum Bartel die Heirat gerade mit
dem leichtsinnigen Oberleitner eingefädelt hatte. Er hatte auf Maries
Vermögen spekuliert, und nur auf diesem Wege war es ihm möglich
gewesen, seinen Plan auszuführen. Sein ganzes Verhalten mir und Marie
gegenüber, als wir noch Liebesleute waren, war mir nun mit einem Male
klar. Alle hatte er uns übertölpelt, die kranke Mutter, Marie und mich.

Dazu hatte mich also das Schicksal hergeführt, um hilflos einer
Niederträchtigkeit zusehen zu müssen, die mich mit unbändigem Hasse
gegen den erfüllte, der sie verübte? Dazu also hatte mich das Schicksal
hergeführt, um zähneknirschend dienen zu lernen, die ganze Qual der
Hilflosigkeit gegenüber der Gemeinheit fühlen zu müssen?

Nein, es hatte mich zu anderem hergeführt.

Es war am Faschingmontag. Draußen herrschte Tauwetter und durch die
noch mit tiefem Schnee bedeckte Natur ging es wie erstes Frühlingsahnen.

Ich klopfte eben mit dem zweikantigen Hammer an einem Mühlensteine
umher, als ich in der großen Mühlenstube nebenan, von der eine kleine
Stiege ins Werk hinunterführte, Stimmen vernahm, die immer lauter
wurden. Die eine schien mir die Stimme Mariens zu sein und das machte
mich neugierig, so daß ich zur Tür emporschlich und horchte.

Es war wirklich die Stimme der Oberleitnerin und ich hörte, wie sie
eben rief: „Bartel, das kann nit dein Ernst sein, daß du mich und
meine Kinder wie ein Bettelvolk von Haus zu Haus in die Einlag gehen
laßt. Als Dienstmagd nimmt mich mit zwei Kindern ja auch niemand auf,
schon gar nit jetzt, wo ich ja selber nit gesund bin. Ich kann mich
seit dem letzten Kind noch immer nicht erholen. Du brauchst ja eh wen,
der dir die Wirtschaft führt, und es wird doch gescheiter sein, wenn
deine Schwester Wirtschafterin ist, statt eine fremde Person. Bartel,
überleg dir’s!“

„Da gibt’s kein Überlegen,“ sagte er kalt. „Ich werd mir nit ein paar
Leut ins Haus nehmen, die keine Kraft zur Arbeit, aber allweil hungrige
Mägen haben.“

„Kann ich dafür, daß ich so heruntergekommen bin?“ entgegnete Marie.
„Du selbst hast mich ja an den Lumpen verkuppelt. Ich hätt schon auf
den Heinrich gewartet. Aber du hast keine Ruh gegeben und hast die
Mutter so lange beredet und hast auch mir selber so lange zugeredet,
bis ich in meiner Verzagtheit nachgegeben hab.“

„Laß mich aus mit die alten Geschichten und halt mich nit länger auf.
Es bleibt bei dem, was ich gesagt hab und damit basta!“

Und wieder die Stimme Maries in angstvollem Flehen: „Ich bitt dich,
Bartel, sei barmherzig. Denk an unsere Mutter. Ich arbeite ja, was in
meinen Kräften steht, und ich begehre keinen Kreuzer Lohn dafür. Nur
dableiben können! Schau doch das arme Kind da an! Könntest du’s übers
Herz bringen, daß es mit mir betteln gehen sollte? Ich bitt dich,
Bartel, so viel Mitleid mußt du ja doch haben.“

Ich hörte, wie die Stimme Maries in Schluchzen erstickte. Aber da
klang auch schon wieder Bartels Stimme hart und kalt wie Metall: „Ich
hab geredt. Und die Winslerei mag ich schon gar nit. Schau, daß du
weiterkommst mit deinem Bankert.“

Das Wort traf mich wie ein Peitschenhieb und schon wollte ich in die
Stube hineinstürmen, da hörte ich’s drinnen scharf und schrill: „Du,
einen Bankert nennst du mein Kind nicht! Braver sind wir alle zwei als
du. Ich weiß schon, warum du uns nit dabehalten willst! Weil du, so oft
du uns anschaust, an deine Schlechtigkeit denken müßtest. Ja, ja, schau
mich so wild an, wie du willst, jetzt ist alles gleich. Noch einmal
sag ich’s: an deine Schlechtigkeit. Ums Geld hast du mich gebracht und
darum hab ich den Oberleitner heiraten müssen, der, wenn er auch ein
miserabler Lump war, gegen dich noch alleweil ein Ehrenmann gewesen
ist. Du, Bartel, du bist der schlechteste Kerl auf dieser Welt.“

Auf diese in sinnlosem Zorn hervorgestoßenen Worte hörte ich einen
dumpfen Schlag und dann fing das Kind zu schreien an.

In mir zitterte jeder Nerv, aber noch hielt ich an mich. Wie ich es
zustande brachte, weiß ich heute noch nicht.

Gleich darauf aber vernahm ich wieder Maries Stimme: „Schlag zu, schlag
zu, erschlag mich, wär’ nicht dein schlechtestes Stück!“ und fast
gleichzeitig einen gellenden Aufschrei des Kindes.

Nun war’s mit meiner Selbstbeherrschung zu Ende. Ich riß die Türe auf
und da sah ich Bartl auf seiner Schwester knien und sie schäumend vor
Wut mit den Fäusten bearbeiten. Daneben aber an der Tischkante lag das
Kind regungslos und aus einer Kopfwunde rann Blut.

Mein Kind war das! Mein Kind erschlagen!

Vor meinen Augen tanzten rote Feuer, und in der nächsten Sekunde sauste
mein scharfkantiger Werkhammer mit aller Wucht, deren ich fähig war,
auf Bartels Kopf hernieder, die Schädeldecke durchschmetternd.

So bin ich zum Mörder geworden.

Aber ich war merkwürdig still. Kein Entsetzen über meine eigene Tat
stieg in mir auf, ja, es war mir, als sei ich von etwas erlöst, was
immer und immer meine Brust gepreßt hatte. Ich glaube, ich habe
wirklich aufgeatmet, als ich den Hammer nach einiger Zeit fallen ließ.

Vor mir lag ein toter Mann und neben ihm kniete Marie und sah mich
mit entsetzensstarren Augen an, unfähig, ein Wort über die Lippen zu
bringen und des eigenen Kindes vergessend, das noch immer bewußtlos am
Tischfuße lag.

In mir aber war’s klar. Das hatte kommen müssen, dazu war ich also
bestimmt gewesen. So sollte also auch das folgende seinen gesetzmäßigen
Lauf nehmen. Ich nickte Marie zu und verließ die Stube.

In aller Ruhe kleidete ich mich um und verließ die Mühle, als eben
die Dienstleute zusammenzulaufen begannen und in dem ersten Schrecken
nicht einmal daran dachten, den Mörder festzuhalten. Unangefochten
erreichte ich die Eisenbahnstation und noch am selben Abend stand ich
vor dem Untersuchungsrichter und erzählte ihm wahrheitsgetreu, was ich
getan.

Der Prozeß nahm einen raschen Verlauf. Meine Angaben bestätigten
sich als vollkommen der Wahrheit entsprechend, und obwohl sich der
Staatsanwalt pflichtgemäß alle Mühe gab, mich als schwärzesten
Verbrecher, als Menschen voll des schnödesten Undanks hinzustellen,
fiel meine Strafe doch wider mein eigenes Erwarten äußerst gelinde
aus: ich wurde nur wegen Totschlages zu zwei Jahren Kerker verurteilt.
Die vielen bösen Dinge, die jetzt von Bartel bekannt wurden, vor
allem aber die unsauberen Machenschaften, durch die er neben vielen
anderen Menschen seinen Schwager und damit seine eigene Schwester um
ihr Vermögen gebracht hatte, fielen bei den Geschworenen so schwer
ins Gewicht, daß sie mir alle ihre Sympathie zuwandten. Wäre meine
militärische Vorstrafe nicht gewesen, ich wäre sogar noch glimpflicher
darausgekommen.

Ich nahm das Urteil mit aller Ruhe hin, ja, es erfüllte mich sogar eine
gewisse Genugtuung. Da Bartel nicht verheiratet war und auch sonst
keine Menschen mit näheren Ansprüchen vorhanden waren, mußte also Marie
die Erbin der Mühle und seines Vermögens sein und ich hatte sie also,
ohne dies zu wollen, vor dem traurigen Lose bewahrt, ihr Brot vor
fremden Türen suchen zu müssen. Ich hatte sie und mein Kind gerettet.



XV.


Noch immer liegt die Sommerglut über der Landschaft. Alles Gras ist
vergilbt und selbst auf den Bäumen rollt sich schon das Laub ein und
färbt sich gelb. Meine Quelle, die noch in keinem der Jahre, da ich
hier in der Einsamkeit lebe, ausgetrocknet ist, nun gibt auch sie
keinen Tropfen mehr und ich muß mir mein Wasser vom See holen. An den
Fichten- und Tannenstämmen rinnt das Harz in hellen Bächlein herab und
ein Duft steht in der Luft, drückend und schwül, daß man kaum atmen
kann. Wie Schleier von stumpfem Bleigrau zieht es sich um die Berge
und selbst in den Nächten ist nicht mehr das klare, dunkle Blau zu
sehen, sondern ein trübes Dunkel, aus dem die Sterne nur ganz matt
hervorleuchten. Ab und zu jagen Blitze durch den Nachthimmel und in
weiter Ferne grollt ein dumpfes Murren auf; aber das erlösende Gewitter
will nicht kommen.

Die Vögel singen nicht mehr, sondern ab und zu wird nur ein leises
Piepsen laut, die Rehe und Hirsche ziehen langsam zum See und scheinen
wie in der futterarmen Winterszeit alle Scheu abgelegt zu haben, denn
wenn ich mit meinem Kruge an das Ufer komme, da heben sie wohl spähend
die Häupter, sehen mich aber ganz ruhig, fast traurig an und ziehen
langsam, den Boden nach einem grünen Kräutlein abschnuppernd, in den
Hochwald zurück.

Ein tiefes, banges Müdesein hat von der ganzen Natur Besitz ergriffen,
ein Gleichgültigsein und stumpfes Fügen ins Unvermeidliche. Vielleicht
ist’s auch nur ein Träumen, ein ahnendes Erwarten. Denn mitunter seh
ich’s, da geht durch einen Baum plötzlich ein leises Zittern, da ist’s,
als hätte ihn der Gedanke an ein nahes Glück erfaßt, das ihn süß
durchbebt.

Denn nichts kommt von ungefähr, alles muß kommen und meldet sich in
geheimnisvollen Schauern an. Die natürlichen Wesen empfinden diese
Schauer; der Mensch ist ihnen fremd geworden, weil er sich der Natur
entfremdet hat.

Auch in mir zittert nun manchmal solch ein geheimnisvolles Schauern
auf und mir ist dann, als müßte etwas kommen, was meinem Frieden eine
göttliche Krone auf das leuchtende Seraphshaupt drückt, als müßte
sich mir noch eine Tiefe erschließen, voll der heiligsten Wunder, und
als müßte eines derselben aufsteigen und meinem so still und schön
gewordenen Leben die letzte Weihe geben, das letzte unverstandene
Sehnen stillen, das mir dann und wann wie ein fernes Wetterleuchten
durch die traumstille Seele huscht.

Vielleicht kommt’s, wenn sich in diesen Blättern der Ring meines Lebens
geschlossen hat. Darum will ich eilen und von der letzten Station auf
meinem Pfade zum Frieden der Einsamkeit erzählen.

Ich war also Sträfling. In einem weiten, grauen Saale wurde ich mit
anderen damit beschäftigt, Papiersäcke zu kleben. Stunde um Stunde
stand ich dort und verrichtete mechanisch diese Arbeit. Meine Gedanken
aber, die gingen weit, weit ab von dieser grauen, eintönigen Welt ihre
Wege und besonders nachts, wenn ich in der dunklen Zelle wach auf
meiner Pritsche lag, da wichen die Mauern um mich und ich fand mich in
einem fremden Lande und da gab es kein Verbrechen, da war nur harte,
unerbittliche Notwendigkeit.

Und als ich wieder einmal durch dieses fremde Land schritt, da kam
meiner müden, zermarterten Seele eine andere entgegen und die fragte
die meine: „Warum bist so müde und warum blutest du?“

Und da sprach meine Seele leise: „Ich habe geliebt.“

Da brach ein hartes, herrisches Leuchten aus der anderen Seele
hervor und sie sagte: „Dann mußt du allerdings leiden. Denn wer
liebt, muß auch hassen und der Haß schlägt seinem eigenen Herrn die
schmerzlichsten Wunden. Tue ab deine Liebe und du wirst stolz, stark
und gesund werden. Nichts so lieben, daß es weh tut, wenn man’s
verliert, nichts so hassen, daß man ihm nicht doch die Hand reichen
möchte, das ist das Vernünftige. Nur so kommst du zur Ruhe und Ruhe ist
Kraft.“

Tagelang sann ich über diese Worte nach, die die dunkle Nacht zu mir
gesprochen, und immer wieder und wieder ließ ich mein Leben an mir
vorüberziehen. Und es war wirklich so: die Liebe hatte mich in dieses
graue Haus gebracht, die Liebe, die den Haß an der Hand führte. Von ihr
mußte ich mein Herz lösen und ich tat es.

Wie ein eisiger Hauch ging es durch meine Seele, alles ertötend, was
noch an menschlicher Liebessehnsucht darinnen lebte und webte, und dann
war ich einsam, so einsam, daß mir vor mir selber graute.

Und wieder gingen meine Gedanken auf Wanderschaft und die Frage stieg
vor mir auf: was wird das werden, wenn du wieder unter die Menschen
zurückkommst? Du wirst dich abfinden müssen, denn wenn du leben willst,
so bist du auf sie angewiesen. Das Königtum meiner eben erworbenen
Einsamkeit bäumte sich dagegen auf und ich beneidete das Tier, das das
Glück genießt, auf sich selbst gestellt zu sein.

Aber bald sagte mir mein Denken, daß auch das Tier von seinesgleichen
abhängt, wieder vom Tiere, und damit tröstete ich mich. Aber eines
stand fest in mir: ich wollte den Menschen dienen, mir von ihnen mein
Brot verdienen, aber mit meinem Herzen sollten sie nichts mehr zu tun
haben. Niemand lieben und niemand hassen: das sollte in Zukunft mein
Leitstern sein.

Der Gefangenhausdirektor, ein guter Mensch, der, wie ich heute weiß,
die lebhafteste Sympathie für mich hegte, hatte schon einen Posten für
mich in Aussicht. Ich sollte bei einem reichen Holzhändler, welcher
Mitglied des Vereins zur Unterstützung für entlassene Sträflinge war,
Aufseher über den Holzplatz werden.

Aber ehe er noch dazukam, mir von dem günstigen Abschluß seiner
Verhandlungen zu erzählen, fand ich meinen ferneren Lebensweg.

Eines Tages wurde ich gerufen: eine Frau wünsche mich zu sprechen.

Meine Ahnung bestätigte sich: es war Marie. Die Sorge um mich hatte sie
hierher getrieben. Sie wußte, daß meine Strafzeit zu Ende ging und war
gekommen, mir ihren rettenden Arm zu bieten.

Als ich eintrat, zuckte sie zusammen, dann aber reichte sie mir beide
Hände und sagte: „Grüß dich Gott, Heini!“

Kein Wort kam sonst über ihre Lippen, aber in ihren Augen lag Liebe,
Glück und Leid. Noch heute fühle ich diesen Blick in all seiner
Innigkeit; dazumal aber wandte ich mich ab.

Es herrschte eine Weile Stille.

Da nahm Marie das Wort und fragte: „Nit wahr, Heini, in einem Monat
bist du frei?“

Ich nickte und sah sie fragend an.

Wieder mußte sie sprechen und stockend kam es über ihre Lippen: „Heini,
ich möchte dich bitten, zu mir auf die Mühle zu kommen!“

Diese Bitte kam mir unerwartet, aber auch unerwünscht. Ich wollte nicht
mehr unter Menschen und darum erwiderte ich: „Nein, das geschieht
nicht. Ich bin mein Leben genug unter Menschen gewesen und diesem
Aufenthalt verdank ich dieses Gewand hier. Ich möcht’s jetzt einmal
allein probieren. Zu dir kommen, ginge aber überhaupt nicht. Über kurz
oder lang müßte ich da ja doch einen niederschlagen, der sagen täte,
ich hätte deinen Bruder nur deswegen umgebracht, damit du Geld kriegst
und ich mich bei dir ins warme Nest setzen kann. Und dann: was würden
die Leute sagen, wenn du einen Zuchthäusler, den Mörder deines Bruders,
bei dir hättest! Nein, nein, ich bleib allein.“

Marie hatte das Haupt gesenkt. Nun hob sie es stolz empor und sagte:
„Was die Leute sagen, ist mir gleich, was mir mein Herz sagt, das ist
für mich das Wichtigste.“

„Und für mich das, was mein Kopf sagt,“ warf ich ein, „mein Herz hat
schlafen gehn müssen. Ich will nicht, daß es am Ende in der Mühle noch
einmal aufgeweckt würde.“

Aber Marie gab ihren Plan nicht so leicht auf: „Heini, ich glaube, uns
hat das Schicksal so arg in die Hand genommen, daß wir nichts mehr zu
fürchten haben. Ich will dich nur bei mir haben, um dich vor Not sicher
zu wissen. Ich hätte ja auch eine Arbeit für dich: die Oberaufsicht
über die Kohlenbrennerei im Seeforst. Das könntest du ja doch leicht
besorgen. Schau, Heini, es hat halt nit sein sollen, daß wir zwei
einmal zusammenkommen. Warum, das wissen wir nit. Aber es ist so und
wir müssen uns fügen. Aber um das eine bitt ich dich, Heini, laß mir
wenigstens den Trost, daß ich dich sicher vor Not und Elend weiß. Für
mich hast du gelitten, meine Pflicht ist’s, dafür zu sorgen, daß du in
Zukunft in Ruh und Frieden leben kannst.“

Ihre Stimme zitterte und ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.

In mir war für einen Augenblick ein heißer Strom aufgewallt; aber er
verrieselte im Wüstensande meines Herzens und kalt entgegnete ich:
„Ich hab nicht für dich gelitten, sondern nur für mich selber. Als
ich deinen Bruder niedergeschlagen habe, da hab ich nicht an dich
gedacht, da hab ich nur meine eigene Wut befriedigt. Du bist mir nichts
schuldig.“

Marie sah mich starr und entsetzt an, dann rief sie: „Nein, Heini, das
glaubst du selber nit. Weil sie dich schlecht gemacht haben, liegt dir
nichts mehr dran, und du willst dich selbst auch schlecht machen.
Heini, das darfst du nimmer sagen!“

Ich zuckte die Achseln, und es war mir wirklich vollkommener Ernst,
als ich sagte: „Ob sie mich schlecht gemacht haben oder nicht, das ist
mir gleichgültig. Was mein Verteidiger gesagt hat, ist mir geradeso
gleichgültig, wie das, was der Staatsanwalt gesagt hat. Für mich gilt
nur das mehr, was ich selber über mich denke. Andere Leute gelten mir
nichts mehr.“

Marie sah mich groß und traurig an und fragte leise: „Auch ich nit?“

„Auch du nicht.“

Da senkte sie den Kopf und ein Schluchzen erschütterte ihren Körper.

In mir ward kein Mitleid wach, sondern nur ein Gefühl unendlicher
Erhabenheit über dies kleine Menschentum. Ich legte dem weinenden Weibe
die Hand auf die Schulter und sagte: „Wein nicht, Marie, es steht
nicht dafür. Ich habe zuviel denken gelernt, als daß wir zwei uns noch
verstehen könnten. Aber wenn dir’s irgend einen Trost gewähren kann, so
verspreche ich dir, daß ich mir deinen Antrag überlegen will. Irgend
etwas muß ich anfangen und vielleicht paßt mir die Kohlenbrennerei im
Seeforst am besten. Für mich ist die Hauptsache, daß ich allein sein
kann.“

Da schlug Marie ihre tränenfeuchten Augen zu mir auf, und wie ein
zarter Sonnenstrahl leuchtete es in denselben auf, als sie sprach:
„Ja, Heini, versprich mir’s, daß du wenigstens kommst. Wie du dir’s
einrichten willst, das sei dir überlassen. Wenn du glaubst, daß du nur
mehr allein sein kannst und darfst, ich will dir nicht dreinreden. Also
gib mir die Hand darauf.“

Ich reichte ihr die Hand, und so bin ich nach Ablauf meiner Strafzeit
der geworden, der ich heute bin, der Kohlenbrenner im Seeforst.

Marie hat mir die Hütte etwas wohnlicher herrichten lassen und Woche
für Woche bringt mir ein Knecht aus der Mühle die nötigen Lebensmittel.

Im Anfange habe ich mich scheu von allen Menschen fern gehalten und
vermied es selbst mit dem zu sprechen, der mir die Nahrungsmittel
brachte oder die Kohlen holte. Aber diese Art Einsamkeit war mir kein
Segen. Meine Gedanken waren noch immer bei den Menschen, und fühlte ich
auch keine Liebe, keinen Haß, ein Groll war doch da, ich machte die
Menschen für mein verpfuschtes Leben verantwortlich.

Allmählich aber begann der Wald zu mir zu sprechen. Öfter und öfter
geschah es, daß ich der Menschen ganz vergaß und nur mehr den Stimmen
lauschte, die da um mich tönten: dem Windgesang in den Wipfeln, dem
Läuten der Hummeln über den blühenden Kräutern, den raunenden Stimmen
der Nacht und dem lauten Jubel der lichtfreudigen Sänger. Und da
wachten auch meine Augen auf, und mit stummem Entzücken tranken sie die
Schönheit von Licht und Farbe im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten.
Zum ersten Male glaubte ich nun das leuchtende Silber der Mondnacht zu
sehen, das samtene Dunkel des sterngestickten Himmels, den Rosenflor
der Morgenfrühe und den Goldstrom des Abends. Neu war mir die weiße
Wunderwelt des Winters und das große, zitternde Schweigen glühender
Sommertage.

Und je mehr ich mich diesem Schauen und Lauschen hingab, desto tieferes
Glück zog in meine Seele ein und dieses Glück führte einen scheuen Gast
an seiner Hand: die Liebe. Jede Schönheit weckt Liebe. Und da wurden
mir alle die Wesen, Tier und Pflanze, um mich vertraut und sie in ihrem
lauten und leisen Leben zu beobachten, war nun das Licht meines Tages.
Wie tief hat es mich geschmerzt, wenn ich eines der geliebten Wesen
sterben sehen mußte! Da ist es mir wohl mitunter gewesen, als sei all
die Schönheit trügerischer Schein und die Freude daran Verruchtheit.
Aber als ich eines Tages an der Stelle, wo ich ein verendetes Reh
begraben hatte, einen so üppigen Flor von Waldblumen fand, wie nirgends
sonst, da wußte ich, daß auch aus dem Tode neues Leben erblüht. Und
kann tot sein, was neues Leben schafft?

Mir war, als hätte bisher ein Vorhang vor meiner Seele geschattet und
eine starke Faust hätte ihn nun plötzlich weggerissen. Eine Segensflut
heiligen Lichtes durchströmte meine tiefsten Tiefen und jauchzend
ward ich mir bewußt: es gibt keinen Tod, es gibt nur ewiges Leben.
Was vergeht, ist nur Form, das Wesen bleibt von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Diese Welt aber ist die Welt der Form. Wenn sie ihren Zweck erfüllt
hat, fällt sie. So verwittert der Stein, so verwelkt die Pflanze,
so verendet das Tier, so stirbt der Mensch, so wird einst dieser
riesige Erdenball, in Atome zersplittert, ans Herz der Urmutter Sonne
zurücksinken. Aus Mutterarmen kommen wir, in Mutterarme gehen wir und
einsam sind wir nur, solange wir an die vergängliche Form gebunden
sind. Sie aber ist notwendig, notwendig wie für den Schmetterling die
Puppe, aus der er zum Lichtdasein erwacht.

So habe ich mich mit der Einsamkeit abgefunden und so ist sie mir
Freundin, ja noch mehr, sie ist mir mein Lebenslicht geworden.

Millionen und Millionen leben neben mir auf dieser Erde. Aber ich muß
einsam sein, denn ich muß den Zweck meiner Form erfüllen und dazu
kann mir kein Mensch etwas geben, davon kann mir keiner etwas nehmen.
Niemand kann für einen andern leben oder sterben; er tut es nur immer
für sich selbst.

Seitdem ich dieses Gesetz begriffen, ist in mir Friede, und kein Mensch
ist imstande, denselben zu stören. Ich weiche deswegen auch keinem
Menschen mehr aus, denn ich weiß, er kann meine Kreise nicht stören.
Ich bin der Einzige auf der weiten Welt!

Der einsame Einzige! Und doch fühle ich, wie ich mit allem ringsumher
aufs innigste verkettet bin. Ein Ring schließt mich mit all dem
zusammen, was ist. Und in diesen Ring gehören auch die Menschen, die
Menschheit. Ich diene ihr gerne, insofern jedes Glied in dem Ringe ein
dienendes ist. Aber ich bleibe einsam, weil ich mich fernhalte von der
Sünde der Menschen, die darin besteht, sich hochmütig aus dem Ringe
zu lösen, mehr und Besseres sein zu wollen als die anderen, sich der
Notwendigkeit zu entziehen.

Wie sie rennen und jagen und Geld und Gut und Ehre und Glück suchen!
Wie sie bluten und verbluten an ihrer irren Sehnsucht! Und das Glück
liegt doch so nahe!

Wie ruhig und wie heiter man wird, wenn man die Menschen aus der
Ewigkeitsperspektive betrachtet! Lächelnd sieht man ihr Lieben und
Hassen, ihr Siegen und Verzweifeln. Es ist ja alles nur Traum.

Wie ruhig ich nun mit Marie reden kann, wenn sie manches Mal zu mir in
meine Einsamkeit heraufkommt, wie ruhig ich an alle denken kann, die
jemals in mein Leben getreten sind!

Marie ist glücklich, mich so glücklich zu sehen, und sie ist die
Wohltäterin der Armen der ganzen Umgegend geworden.

Durch mein Haar ziehen sich die ersten silbernen Fäden, und wenn ich
Marie ansehe, dann ist mir auch, als läge ein ganz leiser Reif über
ihrem Scheitel. Unser Bub aber ist ein starker froher Mann, der auf
seine Art das Leben meistert. Er ist Herr der Mühle, hat Weib und Kind
und tut doch nichts, ohne seine Mutter zu fragen.

Er weiß, daß ich sein Vater bin und ist auch als Kind oft bei mir
gewesen. Jetzt kommt er nur mehr sehr selten. Er weiß mit seinem Vater
nichts zu reden. Noch hängt er ja mit allen Fasern seines Herzens
an der Welt der Erscheinungen und es dünkt ihm jedenfalls verrückte
Grübelei, hinter diesen nach dem Glück zu suchen.

Ich war ja nicht anders. Wenn ich das Bilderbuch meines Lebens
aufschlage, sehe ich überall bunte Szenen aus einem an die Erde
gebundenen Leben. Da sind Frauen, die ich liebte, ein Freund, und da
sind auch Männer, die ich haßte! Ein Dichter hatte ich werden wollen
und der Lorbeer schien mir höher als eine Königskrone.

Ich bin kein Dichter geworden; und doch fühle ich es um meine Schläfen
wie einen Kranz. Aber es ist kein Lorbeerkranz und er ist auch nicht
aus duftenden Veilchen oder glühenden Rosen geflochten, sondern aus
großen, kühlen Blumen, die in einem fernen, fernen Lande weit von
dieser Erde gewachsen sind. Ihr Duft macht fiebernde Stimmen heiter
und heiße Herzen kühl und friedsam; er löst die Seelen aus irdischen
Gefängnissen und läßt sie in seligem Tanz zurückkehren in den Reigen
kreisender Welten, weit, weit, jenseits aller gemessenen Sonnensysteme
und Milchstraßenunendlichkeiten. Wer diesen Duft in sich gesogen, der
tritt aus den Reihen der um die irdische Form sorgenden Menschheit, und
im Königsmantel der Einsamkeit schreitet er durch die hohen Pforten der
Ewigkeit ins Land des Friedens.

So will auch ich meinen Pfad weiter wandern, und wenn einst die Stunde
kommt, wo diese Form zerfällt, dann wird kein Abschiedsweh meine Seele
durchzittern, in stillem Jubel wird sie hineingleiten in den Strom, der
ohne Anfang und Ende durch die Äonen flutet.



XVI.


Eben war ich gestern daran, unter diese Blätter der Erinnerung das
Schlußwort zu setzen, da wurde ich unterbrochen: Heri ist zu mir
gekommen und Marie hat sie zu mir geführt.

Ins Schreiben vertieft, sah ich nicht, wie sie beide herankamen; erst
als sie schon unter der Türe standen, machte mich der Schatten aufsehen.

„Heinrich,“ sagte Marie, „ich habe da jemand gebracht, der mit dir
reden will! Kennst du diese Frau?“

Und ob ich sie erkannte! Sie sah wohl älter aus, als sie war und
jedenfalls viel älter als Marie, ihr Haar war grau und Kummer hatte mit
scharfem Meißel in ihrem Gesicht seine Spuren eingegraben, aber das
Auge, das dunkle, das hatte sein wundersames Leuchten nicht verloren,
wenn auch jetzt eine bange Frage darinnen lag.

Ich verstand diese Frage und ruhig beantwortete ich sie damit, daß ich
Heri die Hand bot und sagte: „Grüß Gott, gnädige Frau. Es freut mich,
Sie wieder einmal zu sehen.“

„Ich hatte gehört, daß Sie hier sind,“ sagte sie noch immer scheu und
unsicher, „und da ich im Schloß drunten eine Sommerwohnung bezogen
habe, konnte ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, Sie einmal
zu sprechen. Ich habe ja noch etwas abzubitten!“

Ich machte eine abwehrende Handbewegung, aber sie fuhr fort: „Ja ganz
gewiß; vor Marie da habe ich schon mein Herz ausgeschüttet, ich muß es
auch noch vor Ihnen, Heinrich, und wenn ich weiß, daß Sie mir verziehen
haben, dann erst wird mein Herz Ruhe haben. Und es sehnt sich nach
Ruhe.“

Der Ton der letzten Worte bestätigte mir, was mir die Runenschrift in
ihrem Antlitz schon gesagt hatte: diese Frau hatte schwer gelitten.
Wozu alte Schmerzen aufwecken wollen?

„Lassen Sie’s, gnädige Frau,“ sagte ich, „ich habe Ihnen nichts zu
verzeihen. Wir sind beide einmal jung gewesen, jung und töricht. Das
Leben hat uns andere Wege geführt, als wir glaubten, und wir mußten
sie gehen. Nun sind wir wohl beide über den Sturm und Drang von damals
draußen und wenigstens ich, ich bin demütig geworden und weiß, daß ich
nicht mehr Recht habe, mich gegen mein Schicksal, wie es genannt wird,
aufzulehnen, als es die Blüte hat, die der Sturm vom Zweige reißt. Was
geschah, das geschah, weil es geschehen mußte.“

Heri sah mich tief an, dann sagte sie: „Marie hat mir schon gesagt, daß
Sie sich eine ganz eigene Religion zurecht gelegt haben. Und sie mag
vielleicht auch die richtige sein. Aber ich trage das Schuldgefühl, und
von dem kann ich mich nur befreien, wenn Sie mir gestatten, Ihnen alles
zu erklären. Ich bitte Sie, Heinrich, lassen Sie mich reden!“

Dieser flehentlichen Bitte nickte ich nach kurzer Überlegung Gewährung.
Was konnte mir diese Frau viel anders sagen, als ich ohnehin wußte und
ahnte.

Und sie erzählte mir nun, wie es damals ihre Tante allein gewesen sei,
die mich durch die Ableugnung meines nächtlichen Besuches im Garten um
die Möglichkeit gebracht hatte, weiter zu studieren. In der Sorge um
den Ruf der Nichte und ihres eigenen Hauses hatte sie ihr angesehenes
Wort gegen das des mittellosen Studenten in die Wagschale geworfen und
sie war es auch gewesen, die dann auf die Heirat mit dem Oberleutnant
von Steindl gedrängt hatte.

„Sie hat mein Herz so verwirrt,“ fuhr Heri fort, „daß ich schließlich
für Liebe hielt, was nur bloßes Gefallen war, und so bin ich nach
kurzem Rausch als unglückliche Frau erwacht. Mein Mann hatte mehr
Schulden, als mein Vater zu decken imstande war, und als dann auch die
Tante nicht so helfend einsprang, wie mein Mann erwartete, gingen die
häuslichen Szenen an. Ich hatte dann auch erfahren, was mit Ihnen,
Heinrich, geschehen war, und das verstörte mich so, daß ich alle
Lebenslust verlor. Als ich einmal in seiner Gegenwart der Tante über
ihre meineidige Handlungsweise Vorwürfe machte, glaubte er das Recht
zu haben, mich mit gemeinen Anwürfen zu quälen, und so haben wir dann
nebeneinander gelebt in gegenseitigem Haß. Es hat Stunden gegeben, wo
ich sogar das Kind haßte, den Knaben, den ich ihm geboren hatte. Es
ist vielleicht kein Offizier so gerne in den Krieg gegangen wie mein
Mann, und ich sage es aufrichtig, ich fühlte es als Erlösung, als er
einrückte. Und er ist nicht mehr gekommen!“

„Er ist als Held gestorben!“ warf ich ein.

„Es wurde mir auch so gesagt und ich danke ihm noch heute dafür, daß
er mir wenigstens den Trost ließ, seinem Kinde etwas Gutes von seinem
Vater sagen zu können.

Ich habe meinen Sohn mit aller Sorgfalt erzogen, und als er als
schmucker Leutnant vor mir stand, da war ich tatsächlich so stolz
auf ihn, wie es nur eine Mutter sein kann. Aber bald machte sich das
Erbteil meines Mannes, der Leichtsinn, bei ihm bemerkbar und ich
mußte öfter in die Tasche greifen, um seine Schulden zu decken. Als
er erkannte, daß auch mir dies nicht mehr möglich sei, griff er zum
Aushilfsmittel seines Vaters, er heiratete. Zwei Kinder gab ihm seine
Frau, mit dem dritten wurde sie in den Sarg gelegt. Ein Jahr darauf
fiel mein Sohn in einem Duell, das in einem Spielstreite seine Ursache
hatte. Nun habe ich die beiden Kinder bei mir, das einzige, was mir in
diesem Leben geblieben ist. Ja, Heinrich, ich habe gelitten, furchtbar
gelitten, und nie mehr, als ich in den Zeitungen Ihre begreifliche Tat
an Mariens Bruder las. Da schrie es in mir auf: das hast du verbrochen.
Du hast ihn aus seiner ursprünglichen Bahn geworfen, auf deinem
Gewissen liegt die Last zweier verlorener Leben. Ich habe aufgeatmet,
als ich vor ein paar Monaten erfuhr, daß Sie nicht Ihrem Schicksale
erlegen sind. Und nun bin ich da und nochmal bitte ich Sie: sagen Sie
mir das Wort, daß Sie mich nicht verachten, daß Sie mir verzeihen!“

Sie hatte die letzten Worte so flehend, so drängend gesprochen, daß
ich nicht anders konnte, als ihr die Hand zu reichen und ihr aus
aufrichtigem Herzen zu sagen: „Nein, gnädige Frau, ich verachte Sie
nicht und wenn ich Ihnen einmal gegrollt habe, so ist das längst,
längst vorbei. Ich bin ein zufriedener und wahrhaft glücklicher Mensch
geworden und mehr hätte ich auch nicht werden können, wenn meine
Jugendträume in Erfüllung gegangen wären. Für die Wege, auf denen ich
zu diesem Glücke geführt wurde, kann ich nicht Sie, kann ich keinen
Menschen verantwortlich machen.“

Auf diese Worte sah Heri eine Weile träumend vor sich hin, dann
nickte sie, und plötzlich ihre in Tränen schwimmenden Augen zu mir
aufschlagend, faßte sie zugleich meine Hand und ehe ich noch abwehren
konnte, hatte sie einen Kuß darauf gedrückt.

Ich sprang auf, im tiefsten erschüttert und unwillkürlich entfuhr es
mir: „Aber Heri!“

Aber kaum war das Wort über meine Lippen, erkannte ich meinen Fehler
und ich wollte mich verbessern: „Gnädige Frau!“

Doch mit unendlich glücklichem Schimmer in den noch immer schönen
Augen sagte sie: „Nicht, Heini, ich danke dir, daß du das Wort aus
unserer schönen, schönen Jugend gefunden hast. Nun weiß ich, daß du mir
wirklich verziehen hast, wie mir auch meine liebe Marie hier verziehen
hat.“

Und zugleich wieder meine und Maries Hand fassend, fuhr sie fort: „Wir
drei. So hat uns das Schicksal wieder zusammengeführt. Eine späte Sonne
über unserem Leben, aber doch eine Sonne. Und wir wollen sie genießen,
solange noch unser Tag währt. Du, Marie, hast deinen Sohn und deine
Enkel und deine Armen, ich habe meines Sohnes Kinder, da können wir
noch viel Liebe geben. Und wenn uns das Leben noch einmal schwer werden
sollte, Heini wird uns zeigen, wie man’s überwindet.“

Ich soll diesen Frauen sagen, wie man überwindet! O Heri, weißt du
nicht, daß du einen neuen Brand in mein Leben geschleudert hast.
In Taten der Liebe werdet ihr, du und Marie, eurem Leben die Weihe
geben. In eurer Liebe dient ihr dem Ewigen. Doch was habe ich getan?
Ist es wirklich so hoch und erhaben, über Menschenleid und -lust zu
stehen, der Einzige auf der weiten Welt zu sein? Ist es nicht größer,
sich durch eine Tat heiliger Liebe aus der Einsamkeit zu lösen? Von
irdischen Schlacken hast du dein Herz befreit, Heinrich Binder, du bist
demütig und rein geworden im Gedanken der Notwendigkeit, nun aber lasse
dein Herz noch einmal aufflammen im Feuer selbstloser Liebe. Schenke
dir Gott eine große Liebestat, dann magst du gekrönt, wie es dein Traum
ist, in das Friedensland der Ewigkeit eingehen!

       *       *       *       *       *

Damit schließt die Geschichte seines Lebens, wie sie der einsame
Kohlenbrenner Heinrich Binder im Seeforst selbst niedergeschrieben hat.
Er hat nicht geahnt, daß die große Liebestat, nach der er rief, die
seines Lebens letzte Sehnsucht war, schon vor der Türe seiner harrte.

Frau Heriberta von Steindl, die mir diese Blätter gab, hat mir auch den
Schluß dieses seltsamen Menschenlebens erzählt.

Zwei Tage nach ihrer Begegnung mit dem Jugendgeliebten stieg sie wieder
mit Marie und ihren beiden Enkeln zur einsamen Köhlerhütte empor.

Es war der letzte Augusttag, glutzitternd, wie die vorausgegangenen.

Während die Frauen mit dem Freunde im Schatten der Hütte saßen und von
vergangenen Tagen sprachen, trieben sich die Kinder im Hochwald umher.

In ihr Geplauder vertieft, hatten es die drei Menschen nicht acht, daß
über dem Gamsstein ein tellergroßes Wölklein aufgezogen war, das rasch
anwuchs, die Sonne erst in dunstige Schleier hüllte und dann immer
dunkler sich färbend, sich mehr und mehr über die Berggipfel senkte.
Erst als der erste bange Windstoß durch den Wald fuhr, da schreckten
die ganz in ihre Erinnerungen vertieften Menschen auf.

Ein Blick zeigte dem des Wetters kundigen Manne, daß in der nächsten
Viertelstunde schon das Gewitter losbrechen mußte.

Da eilten alle drei, nach den Kindern rufend, in den Wald. Endlich ward
ihren angstvollen Rufen Antwort. In dem Wildgraben, der vom See zum
Gamsstein emporzieht, waren die beiden über Felsblöcke und Trümmerwerk
emporgeklettert und nun schwenkten sie hoch herab ihre weißen Strohhüte
und jubelten ihr stolzes: „Hurra!“

Da erhob Frau von Steindl ihre Stimme: „Kommt augenblicklich herab,
in der nächsten Minute ist das Gewitter da!“ Und als wollte die Natur
selbst ihre Warnung bestätigen, brach aus dem dunklen Wolkentuch ein
fahler Blitz und langhin durch die Felsen rollte der erste Donner.

Nun begannen die Knaben abwärts zu klettern. Aber das ging noch
langsamer als das Aufwärtssteigen, und als sie etwa ein Viertel ihres
Weges zurückgelegt hatten, da flammte plötzlich ringsum blendender
Schein, als schlage der ganze Wald in einer einzigen Lohe empor, der
Boden bebte unter betäubendem Krachen und im nächsten Augenblick
barsten die Wolken und mit dem mächtigen Rauschen eines Stromes
schütteten sie ihr Wasser auf die ausgedorrte Erde.

Und nun war ein Brausen und Rollen und Schmettern und Flammen und
Lodern ringsum, als sei der Tag der allgemeinen Vernichtung gekommen.

In den dichten Regenschleiern verschwanden die Knaben für einen
Augenblick und die beiden Frauen schrien auf. Aber da erschienen sie
auch schon wieder. Die Angst gab ihnen Kraft und Gewandtheit, daß sie
schier wie Gemsen von Stein zu Stein sprangen.

Heinrich Binder aber war bis an den Rand des Wildbachbettes
vorgesprungen und warf einen Blick in dieses hinab. Richtig, was er
befürchtet, war eingetroffen, schon wälzte sich ein brauner Bach durch
das Bett, das mit jedem Augenblick stieg und immer mehr und mehr
Schlammassen herabwälzte. Keine fünf Minuten mehr und er war so stark,
daß er die Knaben mit sich reißen mußte, hinunter in die grausige Tiefe
des Sees.

Auch die Knaben hatten die Gefahr erkannt und begannen zu schreien.

„Habt keine Angst,“ rief ihnen der Kohlenbrenner zu, „springt da herab!
Schaut, daß ihr auf den Stein dort kommt!“

Damit wies er auf einen Felsblock in der Mitte des Wildbettes, um den
die braunen Schlammwasser zischten und schäumten.

Glücklich erreichte ihn der größere der Knaben und da sprang auch schon
der Kohlenbrenner in die unheimlich rasch steigende Flut, watete die
paar Schritte hinüber, faßte ihn und trug ihn ans rettende Ufer.

Der Kleinere aber, der nicht so rasch hatte folgen können, hatte sich
ein kleines Stück weiter oben an einen Felsen angeklammert und schrie
in seiner Todesangst wie ein Wahnsinniger.

Aber schon stand Heinrich Binder wieder im Wasser und obwohl er den
Grund unter sich fortrieseln fühlte und Steine dahergesaust kamen, er
arbeitete sich keuchend bis zu dem Knaben empor, der sich ihm an den
Hals warf und diesen umklammerte, daß der Retter kaum atmen konnte.

Aber nun zurück. Binder hielt sich an der felsigen Uferseite, denn in
der Mitte des Bettes war kein fester Grund mehr zu fassen. In jede
Ritze der Felsen krallte er seine Finger, jede Zacke umklammerte er,
mit dem Fuß zugleich immer nach dem nächsten sicheren Tritt tastend.
Schon war er in nächster Nähe der Stelle, wo die zurückweichenden
Felsen einen Sprung ans Ufer gestatteten, da schoß ein mächtiger
Wasserschwall daher, er verlor den Grund, taumelte und wäre unfehlbar
samt dem Knaben in die Tiefe gerissen worden, wenn nicht Frau von
Steindl, ohne sich zu besinnen und das eigene Leben in die Schanze
schlagend, in die quirlende Flut gesprungen wäre und mit der Kraft, die
die Verzweiflung gibt, nach dem Köhler gefaßt hätte, während sie mit
der Linken zugleich einen Fichtenschößling umkrallte, der am Ufer stand.

Und wirklich gelang es, daß sich der Köhler mit ihrer Hilfe wieder
auf die Beine brachte. Während seine Hand ebenfalls nach dem
Fichtenschößling griff, keuchte er ihr zu: „Schau, daß du hinauskommst
und nimm das Kind, ich komm schon nach!“

Aber fast im selben Augenblick schoß, von den Fluten dahergesprengt,
ein kopfgroßer Stein gegen seine Brust und mit ächzendem Aufschrei
wollte Binder eben den Fichtenschößling loslassen, als auch Marie
herbeisprang, den neuerdings Taumelnden erfaßte und mit Aufwendung
aller Kraft ans Ufer zog.

Heinrich Binder war gerettet und ebenso die beiden Knaben. Während aber
die Kinder mit dem bloßen Schrecken und vollständiger Durchnässung
davongekommen waren, sah es mit jenem schlecht aus.

Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen und aus seinem Munde
sickerte Blut. Heinrich Binder war ohnmächtig und er kam auch nicht zum
Bewußtsein, während ihn die beiden Frauen durch den Wettersturm in die
Hütte schleppten.

„Da muß ein Doktor her!“ keuchte Marie. „Bleib du bei ihm, ich laufe in
die Mühle hinab.“

Und durch den Regenguß und das Brüllen und Flammen um sie, eilte sie in
die Mühle, und während ihr Sohn mit seinem leichten Wägelchen nach dem
Doktor jagte, stieg sie mit stürmendem Herzen wieder empor zum Seeforst.

Heriberta von Steindl hatte einstweilen die beiden Knaben des
triefenden Gewandes entkleidet und in Decken gewickelt auf der weichen
trockenen Streu des Nebenraumes gebettet. Dabei ließ sie aber den
Bewußtlosen nicht außer acht, aus dessen blutleeren, halbgeöffneten
Lippen fortwährend ein Röcheln kam, das mitunter zu einem leisen
Stöhnen anschwoll.

Frau Heriberta war ratlos. Sie hatte dem leblosen Manne die Kleider
über der Brust geöffnet, aber es zeigte sich keinerlei äußere
Verwundung und sie wußte nicht, was sie tun sollte.

So saß sie an dem Bettrande und starrte in einemfort in das bleiche
Gesicht und ihre ganze selige Jugend zog an ihrem Auge vorüber. Wie
sehr hatte sie dieser Mann da geliebt, wie schweres Leid hatte sie
ihm zugefügt, und nun hatte er noch in aufopfernder Liebe das Letzte
gerettet, was ihrem verlorenen Leben geblieben war: ihre Enkel.

Und da konnte Frau Heriberta nicht anders, sie mußte sich niederbeugen
und die schlaff auf der Bettdecke liegende Hand küssen, die das
Rettungswerk vollbracht hatte.

Und als hätte er die zarte Berührung der bebenden Lippen und die heiße
Träne, die auf die Hand fiel, gespürt, schlug der Kranke die Augen auf
und sah starr in die angstvoll fragenden Augen Frau Heribertas. Er
mußte sich erst besinnen, was geschehen war.

„Wie geht’s dir, Heini?“ fragte Frau Heriberta und strich ihm eine
feuchte Haarsträhne aus der Stirne.

Er tastete nach seiner Brust und hauchte: „Sterben!“

„Nein, Heini, du wirst nicht sterben! Wir werden leben und glücklich
sein. Heini, die Sonne muß kommen!“

Er hörte diese Worte nicht mehr, eine neue Ohnmacht umfing ihn.

Und die Sonne kam wirklich. So rasch und furchtbar das Gewitter
dahergekommen war, so schnell war es auch wieder verrauscht.

Als Marie den See entlang zur Hütte eilte, zeigte sich schon wieder
blauer Himmel und die sinkende Sonne hüllte Wald und Felsen in
blendendes Gold.

Und ein breiter Strahl dieser leuchtenden Pracht fiel auch durch das
kleine Fenster auf das Lager, auf dem Heinrich Binder sich zum Sterben
streckte. Noch einmal war er erwacht und wie ein glückliches Lächeln
glitt es über sein blasses Antlitz, als er die beiden Frauen, die er
so sehr geliebt, an seinem Lager sah. Jede von ihnen hatte eine seiner
Hände gefaßt und das letzte, was Heinrich Binder sah, war wie ein süßes
Bild aus der Jugend. Vom Abendglanz verklärt, leuchtete das Antlitz
der beiden Frauen wie im Schimmer blühender Jugend, ein Strom reinster
Liebe flutete aus ihren Augen und auf diesem Strom schwamm Heinrichs
Seele hinüber ins Friedensland der Ewigkeit, neuem Frühlinge, neuem
Werden nach den ewigen Gesetzen der Liebe entgegen.

Und während an dem Lager des Entschlafenen die Frauen schluchzten,
begannen draußen im Hochwald die Amseln, die seit Wochen geschwiegen
hatten, zu singen, die Berge zündeten ihre purpurnen Riesenfackeln
an und als sie verglommen, das Schluchzen der Frauen und die süßen
Flöten der Amseln verstummt waren, da kam die Nacht und breitete
ihren sterngestickten Königsmantel über den Einzigen auf der weiten
Welt, der in heiliger Liebestat die Einsamkeit überwand, welche die
Notwendigkeit allen großen Seelen auferlegt.

In deiner Liebe, Heinrich Binder, bist du unsterblich, denn das Ewige
ist Liebe, sich selbst zum Opfer bringende Liebe!

[Illustration]



Im Romanverlag des Bibliographischen Instituts in Leipzig

ist von =Karl Bienenstein= erschienen:


Die Worte der Erlösung

Ein Roman der Sehnsucht

In geschmackvollem Geschenkeinband

Dieses neueste Werk des bekannten österreichischen Dichters ist
ein Künstlerroman, der durch Liebe und Haß den Lebensweg zweier
entgegengesetzten Charaktere zu erschütternder Katastrophe und zu
befreiender Höhe führt; eine Dichtung von reichstem Lebensgehalt, ein
packendes Werk hochstrebender, tiefinnerlicher, überwindender Kunst.


Im Verlag von Ad. Bonz & Comp. in Stuttgart:

Deutsches Sehnen und Kämpfen

Ein Wachauroman

#Urteile der Presse#:

=Staatsanzeiger für Württemberg=: Aus dem Buche spricht soviel
Gesundheit, Warmherzigkeit und Natürlichkeit des Empfindens, daß man es
mit höchstem Genuß liest.

=Saale-Zeitung=: Der großen Erzählerkunst Bienensteins haben wir
ein Buch zu danken, das hauptsächlich durch die Sicherheit der
Linienführung imponiert.

=Deutsche Arbeit=: Ein schönes, ergreifendes Buch, das im ganzen
Rhythmus seines Stils und der innig gedanklich vertieften Darstellung
die belebende Kraft des Dichters zeigt.

=Münchener Neueste Nachrichten=: Mit dankbarer Freude legt man
dieses Buch aus der Hand, dessen Titel ein Kampfprogramm und damit
einen Tendenzroman vermuten läßt. Aber alles, nur nicht dies, kann
Bienensteins vortrefflicher Roman genannt werden, denn die Tendenz
ist so eingewirkt in den Efeu deutscher Poesie und echten Empfindens,
daß sie nie störend erscheint, sondern als wertvolles, überzeugendes
Dokument durch die Entwicklung der Geschehnisse sich herausschält.

=Österreichische Landzeitung=: Welch außerordentlich feine Beobachtung
der Wirklichkeit, und welch reinste Poesie des reifen, sprachlich und
künstlerisch geschulten Genius! Schon die Einleitung ist ein Hymnus von
klassischer Schönheit! (Prof. P. Wichner.)

=Die Südmark=: Fürwahr ein seltsames Buch voll glühender Farbenpracht
und künstlerischen Geistes!

=Deutsche Wacht=: Das Buch ist eine völkische Tat!

=Berliner Lokal-Anzeiger=: Die politische Intrige des Romans ist mit
meisterhafter Sicherheit durchgeführt; ihre Darstellung zeichnet sich
durch künstlerische Ruhe und Sachlichkeit aus.

=Kunstwart=: Bienenstein hat die seltene Gabe, alles ohne romanhafte
Absicht und Ziererei zu sagen. Diese Ruhe des Erzählers ist in
Deutschland überhaupt kaum mehr zu finden.



Adolf Bonz & Comp., Stuttgart


Fritz Stüber-Gunther

Der Schönheitspreis

Roman

Geheftet M. 5.25, gebunden M. 9.--

Fritz Stüber Gunther, der Wiener Schriftsteller, veröffentlicht mit
diesem Roman sein schönstes und zugleich reichstes Werk. Es ist einer
der besten und prächtigsten Wiener Romane, die in der letzten Zeit auf
den Büchermarkt gekommen sind. Meisterhaft sind die einzelnen Typen
herausgearbeitet, die Sprache ist von edlem Wohllaut, manche Szenen
sind geradezu von einer mitreißenden Kraft und Schönheit. Da der Verlag
dem Werke eine schöne Ausstattung zuteil werden ließ, eignet es sich
ganz besonders für den Weihnachtstisch.

    Mödlinger Zeitung.


_C. i._

Roman

Geheftet M. 4.80, gebunden M. 7.50

Peter Rosegger schrieb an den Verfasser:

In der Sommerfrische habe ich nun Ihren Roman „_C. i._“ gelesen. Ich
danke Ihnen und freue mich von Herzen des großen Talents, das Ihnen
eine schöne Zukunft bringen wird.

Ich bin müde und habe das Bücherbesprechen aufgegeben. Doch über Ihren
Roman, in dem sich Realismus und Idealismus (um mich abgebrauchter aber
bezeichnender Ausdrücke zu bedienen) in klassischer Weise vereint, will
ich gelegentlich doch ein paar Worte sagen. Ich fühle mich gehoben und
sehr erfreut von Ihrem Buch.

    Mit herzlichem Gruß

    =Peter Rosegger.=



Adolf Bonz & Comp., Stuttgart


Schwiegersöhne

Roman

Geheftet M. 6.--, gebunden M. 9.--

Eine wirkliche Daseinsfreude offenbart sich hier, die herzlichste
innere Teilnahme an den Geschöpfen der eigenen Phantasie, die sich
erwärmend auch dem Leser mitteilt, Gesundheit und Frische, die auf dem
Urgrunde volksmäßigen bodenbeständigen Empfindens gedeihen. Das nun so
viel bespöttelte Wort „Heimatkunst“ charakterisiert doch am besten das
Werk, das eine Fülle von Typen aus dem Wiener Leben in Ernst und Humor
zu einem prächtigen Lebensausschnitte vereint. Wenn ein früheres Buch
dieses Erzählers bei Peter Rosegger jubelnde Freude erweckte, so wird
auch dieser Roman bei jedem ähnliche Empfindungen auslösen.

    Rhein. Kurier.


Gottsmann der Egoist

Roman

Geheftet M. 5.25, gebunden M. 10.50

In vielen Beziehungen geistesverwandt mit dem Altmeister Eduard Pötzl,
ist er es auch in dem einen Punkte, die Liebe zum Österreichertum,
zum Deutschtum in Österreich besonders, letzten Endes aber die
Liebe zu Wien, zu jenem alten Wien, das nicht mehr ist, zum Wien
Guschelbauers und des guten alten Wiener Liedes. Was Stüber-Gunther da
über das österreichische Staatsbeamtentum sagt, wie er den Offizier
sieht, die Gedanken, die er über die Lebensauffassung der in Wien
ansäßigen Tschechen im Gegensatz zu den Deutschen andeutet, geben
einem aufmerksamen Leser sehr zu denken. Die Gestalten des Romans
sind glänzend und wahr gezeichnet. Es gibt Episoden darin, die zu den
schönsten gehören, was man zu lesen bekommt. Der Gesamteindruck: Ein
selten schönes Buch, das zu jenen Büchern gehört, die man sich aufhebt,
und das sind alljährlich wohl sehr wenige.

    A. Wohlfahrt in Fricks Rundschau.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Der Einzige auf der weiten Welt - Ein Menschenleben" ***

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