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Title: Pantherkätzchen
Author: Puttkamer, Gertrud Marie Madeleine von
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


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made available by the HathiTrust Digital Library.)



  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
    nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen sowie Schreibvarianten
    bleiben gegenüber dem Original unverändert, sofern der Sinn des
    Texts dadurch nicht beeinträchtigt wird. Passagen in Dialekt wurden
    vom Original ohne Korrektur übernommen.

    Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersichtlichkeit halber vom
    Bearbeiter erstellt. Umlaute in Großbuchstaben (Ä, Ö, Ü) werden,
    gemäß der Originalvorlage, durch deren Umschreibungen (Ae, Oe, Ue)
    dargestellt.

    Besondere Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden
    Sonderzeichen gekennzeichnet:

        Fettdruck: =Gleichheitszeichen=
        gesperrt:  +Pluszeichen+
        Antiqua:   ~Tilden~

    Das Caret-Symbol (^) geht hochgestellten Zeichen voran; mehrere
    Zeichen werden dabei durch geschweifte Klammern zusammengefasst.

  ####################################################################



                            Pantherkätzchen



                            Pantherkätzchen
                                  von
                            Marie Madeleine

                            [Illustration]

                                 1913

                      Ullstein & Co. Berlin-Wien



                          ~Copyright 1913 by
                        Ullstein & Co., Berlin~



Inhalt.


                         Seite
    Kapitel 1                7
    Kapitel 2               39
    Kapitel 3               85
    Kapitel 4              111
    Kapitel 5              145
    Kapitel 6              187
    Kapitel 7              209
    Kapitel 8              235
    Kapitel 9              259
    Kapitel 10             291
    Kapitel 11             315
    Kapitel 12             357
    Kapitel 13             383
    Kapitel 14             399
    Kapitel 15             433



1.


Das Königskleid der Wintereinsamkeit strahlte in der Sonne, weit über
das Land war es gebreitet, -- alle Unebenheiten, allen Schmutz des
Alltags deckte es zu. Und die Milliarden Schneekristalle funkelten
in der Sonne wie Gold und Brillanten; sie blitzten aus den Wegen
und Stegen und auf den Aesten und Nadeln der Bäume, deren Umrisse
phantastisch vergrößert erschienen unter der weißen Last. Die drückte
anders als im Sommer die flattrig-leichtsinnigen Blüten.

Nur wenige Bäume im Parke des Herrenhauses von Sarkow standen in
trotziger Kraft und prahlten mit ihrem weißen Feierkleide -- die
meisten sahen schier erdrückt aus, zusammenbrechend unter des Winters
harter Liebkosung -- unter diesem Himmel von einem erbarmungslosen und
kalten Blau.

Inmitten des winterlichen Parks erhebt sich das Herrenhaus in ungefügen
Umrissen. Von außen ein anmutloser Kasten, aber drinnen die Zimmer, die
waren groß und hoch und in den Kachelöfen prasselte gemütlich das Feuer.

Im Eßzimmer waren Frau von Holtz und ihre Tochter Marie beschäftigt,
Staub zu wischen. Nicht etwa, daß auch nur eine Andeutung von Staub
auf den blitzblanken Möbeln zu sehen gewesen wäre, aber das Reiben und
Polieren an den Gegenständen war eine Manie von Frau von Holtz.

Mit ihren schönen, etwas fett gewordenen Händen führte sie das
Staubtuch über eine silberne Jardiniere. Der große Brillant am
Ringfinger ihrer linken Hand flammte auf im Strahle der Wintersonne,
die durch die Doppelscheiben des Fensters leuchtete.

Während des Putzens redete Frau von Holtz auf ihre Tochter ein:

„Ich bitte Dich, Du machst ein so mißmutiges Gesicht, statt Dich zu
freuen, daß Deine Cousine kommt.“

„Warum sollte ich mich wohl darüber freuen?“ klang es scharf zurück.
Die hageren, roten Hände des neunzehnjährigen Mädchens zerrten nervös
an dem Staubtuch, „Du weißt, mir ist Monika immer unsympathisch
gewesen.“

„Aber Marie, Ihr saht Euch zuletzt, als Du sechzehn Jahre warst und sie
ein Kind von noch nicht dreizehn. Als wir damals auf der Durchreise in
Berlin waren --“

„Sie war damals unausstehlich, so eingebildet --“

„Aber --“

„Eingebildet auf alles: auf ihre Schönheit, ihren Geist, ihre
Tanzstundenerfolge --“

„Kindereien! Ich weiß nicht, wie Du das ernsthaft nehmen kannst.“

„Sie wird sich inzwischen wohl kaum zum Besseren entwickelt haben.
Tante Malis Brief wenigstens ließ nicht darauf schließen! -- Ich
verstehe überhaupt nicht, warum Du Tantes Wunsch, Monika einzuladen,
gleich erfüllt hast. Hier ist doch keine Korrektionsanstalt.“

„Du drückst Dich wieder einmal sehr lieblos aus, Marie. Aus dem Briefe
Deiner Tante ergab sich durchaus nicht, daß Monika einer ernsthaften
Korrektion bedürfe.“

„So?! Wie verstehst Du denn das, wenn Tante schreibt, daß Monika
„einfach nicht mehr zu bändigen“ ist, -- daß Tante seit Onkels Tode
jede Autorität verloren hat! -- Nun, sehr viel Autorität bei ihren
Kindern hat ja Deine liebe Schwägerin nie besessen!“

Frau von Holtz nickte traurig. „Wie habe ich Johann damals gewarnt,“
sagte sie gedankenverloren. „Man heiratet nicht solch einen
Springinsfeld, wie Mali es war --“

„Und geblieben ist,“ ergänzte Marie spöttisch.

„Dir steht kein Urteil über Deine Tante zu,“ sagte die Mutter, aber
es klang lau. Man merkte, daß auch ihr die Schwägerin keine große
Hochachtung abnötigte.

Statt jeder Antwort zog Marie ein unliebenswürdiges Gesicht. Sie trat
ans Fenster und starrte auf die weißblendende Landschaft hinaus.

Plötzlich schrie sie erstaunt auf.

Und eine derartig lebhafte Gefühlsäußerung war an Marie etwas so
Ungewohntes, daß Frau von Holtz gleichfalls ans Fenster trat.

Ein Schlitten war’s, der herannahte, in schleudernder Fahrt, von zwei
Trakehnern gezogen.

Die Innenplätze des Schlittens waren leer. Auf dem Kutschersitze saß
ein junges Mädchen, das mit einem starken Ruck an den Zügeln vor der
Freitreppe parierte und mehrere Male hintereinander einen gellenden
Pfiff ausstieß.

„Natürlich -- Monika --,“ sagte Marie achselzuckend, während Frau von
Holtz entsetzt fragte:

„Aber wo ist denn Papa? Und Friedrich? -- Mein Gott, es wird doch
nichts passiert sein -- --“

Sie war bis in die Lippen erblaßt und stützte sich schwer auf die
Fensterbrüstung.

Marie wollte hinaus, aber schon wurde die Tür von außen aufgerissen,
und herein stürmte das junge Mädchen, das auf dem Kutscherbocke
gesessen, -- stürmte geradenwegs auf Frau von Holtz zu und umarmte sie
mit allem Kraftaufwand, dessen ihre Arme fähig waren.

„O, Tantchen, wie ich mich freue!“

„Kind, Kind, wo ist Dein Onkel?“ fragte Frau von Holtz noch immer ganz
fassungslos.

„In der Bahnhofswirtschaft und hoffentlich mittlerweile beim achten
Glase Grog -- --“

„Aber was -- -- warum -- --“

Monika begrüßte eilfertig, aber ohne die glühende Herzlichkeit, die
sie ihrer Tante bewiesen, ihre Cousine und erzählte dann, indes sie in
fröhlichem Lachen ihre prachtvollen Zähne sehen ließ:

„Also, Tantchen, Onkel holte mich vom Zuge ab, und als wir in den
Schlitten wollten, kam der Drehrower Bärenstein auf Onkel zu und fragte
den Onkel was wegen des neuen Kreisdeputierten. Da gingen wir alle
drei noch in die Bahnhofswirtschaft und tranken Grog und der Drehrower
erzählte so schrecklich langweilige Sachen, von Politik und so... Da
schlich ich mich davon und auf den Schlitten. Der dicke Friedrich war
nicht da, wohl wegen des Gepäckes. Da bin ich einfach losgefahren. Es
war großartig. Bitte, bitte, nicht böse sein! Ich wollte gern schnell
zu Dir.“

Von neuem fiel Monika der Tante um den Hals.

Da lächelte die, schon fast versöhnt, und klingelte den Diener herbei,
der gleich wieder zur Station fahren sollte.

Marie verließ mit einem halblauten „Unglaublich“ das Zimmer.

„Nicht, Tante, Du bist mir nicht böse?“ bettelte Monika.

„Na, weil’s der erste Tag ist. -- Aber Du mußt wirklich vernünftiger
werden, Kind. -- -- Und nun laß Dich doch mal endlich ordentlich
ansehen.“

Mit prüfendem Blick musterte Frau von Holtz ihre Nichte.

„Wie Du gewachsen bist! -- Und hübscher geworden bist Du auch! -- --
Ordentlicher leider immer noch nicht!“ -- -- Mit bedenklichem
Kopfschütteln faßte Frau von Holtz nach einem halbabgerissenen Knopfe
an Monikas Mantel.

„Ach, für die Sachen, die ich anhabe, lohnt sich’s gar nicht,
ordentlich zu sein! -- -- So schöne Stoffe bekomme ich ja doch nicht!“
Mit liebevoller Vorsicht strich Monika über das schwarzseidene Kleid
von Frau von Holtz. „Und so schön werd’ ich auch nicht wie Du, Tante. O
das wunder-wunderschöne weiße Haar und die stahlblauen Augen! Wie eine
Marquise siehst Du aus, natürlich eine vom ~ancien régime~! Zu schade,
daß die Marie davon nichts abbekommen hat. Aber die sieht genau aus wie
Onkel. Ich ähnele Dir doch viel mehr als Deine Tochter. Nicht?“

„Ja, entschieden. -- Aber nun laß Dir Dein Zimmer zeigen, kleine
Plaudertasche.“

„Welches bekomme ich?“

„Das blaue.“

„O wie fein! Das blaue, wo ich als ganz kleines Kind geschlafen habe!
Hurra!“

Monika schwang ihre Pelzmütze und folgte seelenvergnügt ihrer Tante
die wuchtige Treppe hinauf. Das blaue Zimmer war ein großer, ziemlich
spärlich möblierter Raum, in dem der stark geheizte Kachelofen eine
angenehme Temperatur verbreitete.

Ein altmodisch schmales Sofa, ebenso wie die beiden dazu gehörigen
Sessel mit blauem Rips bezogen, nahm die eine Längswand ein. Dann noch
ein schmales Bett, ein Waschtisch und ein Tisch, auf dem in einer
bunten Porzellanvase ein Strauß von Tannenzweigen steckte.

Monika schwelgte in Begeisterung. „Das blaue! -- -- Und ganz für mich
allein! Himmlisch. Noch nie habe ich ein Zimmer für mich allein gehabt.“

„Du schläfst mit Mama zusammen?“

„Ja, leider. Und Mama liest immer die halbe Nacht. Und wenn Licht
brennt, kann ich natürlich nicht einschlafen.“

„Hier schläft Marie,“ sagte Frau von Holtz, indes sie die Tür zum
Nebenraume öffnete.

„Oh -- --“ Monika verstummte vor Bewunderung. In der Tat war der Raum
-- rosa Seide und weißer Lack -- sehr elegant ausgestattet.

„Hier geht’s in Maries Wohnzimmer.“

Ein neuer Ausruf des Entzückens aus Monikas Munde.

„Grau mit Gold. Wie distinguiert! Nein aber wie distinguiert!“

„Gefällt es Dir?“ Voll Genugtuung warf Frau von Holtz einen Blick in
die Runde.

„Fabelhaft schön. Und wie teuer das sein muß!“

„Nun, für unsere Einzige -- --“

„Hat’s die Marie gut!“

Monika strich über die spiegelnden Holzflächen, über die seidenen
Bezüge.

Dann entdeckte sie neue Schätze. „Ach, und da ist ein Malkasten! Und da
ein Brennapparat! Und da der Bücherschrank, ach, der Bücherschrank
-- --“

Schon hatte Monika die Glastür geöffnet und tastete gierig in die
Bücherreihen hinein.

Aber Frau von Holtz legte ein Veto ein. „Wirst Du wohl! -- Jetzt
wird nicht gelesen. Es ist die höchste Zeit, daß Du Dich wäschst und
sauber machst. Ist Dir denn das nicht schrecklich, nach einer langen
Eisenbahnfahrt so herum zu laufen? Und um zwei wird gegessen.“

Als Monika dann zur angegebenen Stunde das Eßzimmer betrat -- etwas
ängstlich, wie der Onkel wohl ihre Eskapade aufgenommen -- wurde sie
bald beruhigt durch das gutmütige Lachen in seinem roten Gesicht.

„Nur immer ran, Marjell,“ rief er Monika entgegen.

Sie kam zögernd näher.

Die Strafe fiel gnädig aus. Ein heftiges Zupfen an ihrem linken
Ohrläppchen und ein freundlich gebrummtes: „Na, Du Racker, sei froh,
daß Du die Trakehner heil hergebracht hast, sonst -- --“

Beim Mittagessen erregte Monikas Riesenappetit das Wohlwollen und die
Heiterkeit von Onkel und Tante.

Um Maries Mundwinkel aber zuckte unnachahmliche Verachtung jedesmal,
wenn ihrer Cousine noch ein neues „Stückchen Schmorbraten“ auf
den Teller geschoben wurde und sie noch einmal um das „wirklich
großartige“ Pfirsichkompott bat. Nach Tische zogen sich die Eltern zum
Nachmittagschlaf zurück, und Monika bat ihre Cousine um die Erlaubnis,
sie in ihre „Privatgemächer“ begleiten zu dürfen.

Die herbe Cousine war etwas günstiger gestimmt durch Monikas wortreiche
Bewunderung all ihrer Schätze.

Und wer konnte wohl so bewundern wie Monika! Sie wurde warm und rosig
dabei, -- sie glühte und strahlte, -- sie hob jede Einzelheit hervor:
-- -- „diese Goldleiste, mit der die Tapete abschließt,“ -- -- und
„diese himmlische Vase mit dem Kirschblütenzweig, der auf das blasse
Opalglas gemalt ist! Und wie das alles abgetönt ist. Du hast wohl alles
selbst angeordnet?“

„Nein, aber der beste Tapezier aus Königsberg hat’s arrangiert,“ sagte
Marie wichtig.

„Wie glücklich Du hier sein mußt!“

„Na, es geht an. Wenn Du glaubst, es ist ein Spaß, hier in der
Einsamkeit zu sitzen -- --! Ich habe ja meine Freundinnen in Neustadt,
aber der Weg dahin ist so unbequem. Und nach Hahndorf ist’s noch
weiter.“

„Nach Hahndorf -- --“

„Wir fahren ja zu den Regimentsbällen hin, aber -- --“

„Zu den Dragonern? Zu Papas Dragonern?“

„Ja.“

„Oh.“ Ein zitternder Atemzug hob die junge Brust. „Oh der Papa, der
arme Papa!“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen; sie starrte an ihrer Cousine vorbei
durchs Fenster, hinaus auf den schimmernden Schnee.

„Jetzt ist er schon vierzehn Monate tot, der arme Papa...“

Stillschweigen lastete über dem Zimmer.

„Er hätte Sarkow so gern noch mal wiedergesehen,“ sagte Monika dann.

„Mama hat ihn ja oft genug eingeladen.“

„Er wollte nicht kommen, solange er... solange er keine... sehr gute
Position hatte.“

„Ja, wenn Deine Eltern vernünftiger gewesen wären, könnten sie noch
hier sitzen, statt wir,“ sagte Marie.

Monika nickte. „Rechnen konnte Mama ja wohl nicht sehr gut,“ sagte sie
kläglich.

„Und wollt’s auch nicht lernen,“ fügte Marie scharf hinzu. „Und von
ihrem Manne hätte sie’s auch nicht lernen können. Bei Onkels Art...“

„Ja! Nobel ist der Papa gewesen,“ sagte Monika. Sie warf den Kopf ins
Genick wie ein störrisches Pony und ihre Augen leuchteten auf. „Die
Trinkgelder, die er gegeben hat!... Wenn er mich mitnahm nach Neustadt
oder nach Hahndorf, dann dienerten die Leute dort alle bis zur Erde.
Nobel war der Papa!... Er hat kein Portemonnaie getragen, sondern das
Geld lose in der Westentasche. Und der Mama hat er gekauft, was sie
haben wollte! Und uns!... So schöne Spielsachen wie wir vier hat kein
Kind gehabt in ganz Ostpreußen!... Und wie ich vier Jahre alt gewesen
bin, habe ich zweiunddreißig Kleider gehabt und ein paar davon sind aus
echten Brüsseler Spitzen gewesen.“

„Na, besser klein geflickt und groß gestickt, als umgekehrt!“ sagte
Marie und sah an Monikas schäbigem Kleide herunter.

Aber sie machte sich nichts draus.

„All die Gesellschaften!“ schwärmte sie weiter, „nur französischen Sekt
hat’s gegeben und lauter Delikatessen, und wir Kinder haben von allem
bekommen ... von allem...“

„Traurig genug, Monchen! Man hätte besser getan, an Eure Gesundheit
zu denken. Wenn Du glaubst, daß das Kindern gut tut: Sekt und
Delikatessen! ... Wenn Ihr keine gekriegt hättet, würde das geliebte
Heinzemännchen heute wohl einen besseren Magen haben!“

„Seit wie lange hast Du eigentlich Heinrich nicht gesehn?“

„O, seit drei Jahren. Er muß jetzt über vierzehn sein. Nicht wahr?“

„Ja, grad ein Jahr jünger als ich.“

„Und bringt ihm Deine Mama immer noch frühmorgens zwei Tassen
Schokolade und zwei Setzeier ans Bett?“

„O, er ißt jetzt mindestens drei Setzeier. Als Chef der Familie...“

„Nanu... Alfred?“

„Alfred hat ihm sein Erstgeburtsrecht verkauft, schon vor vier Jahren.
Heinrich hat ihm dafür seine Briefmarkensammlung gegeben und seinen
photographischen Apparat und noch fünfzehn Mark bar. Nachher wollte
zwar Alfred die Sache wieder rückgängig machen, aber Mama...“

„Tante Mali verteidigte natürlich Heinzemännchen.“

„Richtig! Und seitdem sagt sie, das geliebte Heinzemännchen sei vermöge
seiner ethischen und intellektuellen Eigenschaften weit mehr befähigt,
der Erstgeborene zu sein, als Alfred. Mama bespricht auch alles mit
Heinzemännchen -- auch alles, was mich anbetrifft. Und das hat mich
eben so wütend gemacht.“

„Was war denn los?“

„Ach, na so alles mögliche.“

Monika besah ihre Fingernägel. Sie schien nicht recht auf das Thema
eingehen zu wollen.

Aber Marie ließ nicht locker.

„Na, da wirst Du wahrscheinlich was Nettes angestellt haben?“

„Ach wo. -- Ein paarmal hab’ ich Zigaretten geraucht und... und hab’
ein paar Bücher gelesen, die ich nicht lesen sollte. Noch viele Jahre
nicht! hat Mama gesagt, und dabei habe ich alles, was drin stand, doch
schon jetzt sehr gut verstanden.“

„So, so...“

„Ja, aber Heinzemännchen sagte, es wäre himmelschreiend und die Ehre
der Familie litte darunter. -- Und dann war die Sache mit Doktor
Dörnberg...“

„Welche Sache?“

„Ach...“ Monika zögerte verlegen.

„Na, sag’s doch. Ist es denn so schlimm, daß Du es gar nicht erzählen
kannst?“

„Ach, ich kann’s schon erzählen. Also, weißt Du, Doktor Dörnberg ist
unser Geschichtslehrer. Und ich liebe ihn wahnsinnig. Erstens ist er
bildschön... aber ich sage Dir: wirklich bildschön!... Und dann spricht
er hinreißend! Also: ich hatte drei Gedichte an ihn gemacht, und die
lagen in meinem Vokabelheft. Da hat sie Mama gefunden -- Mama stöbert
immer alles durch -- und hat es mit Heinzemännchen besprochen, und
beide waren so außer sich und haben so auf mich gescholten, bis ich
vor lauter Empörung Weinkrämpfe bekommen habe. Und ich habe Mama meine
Meinung gesagt: daß es gefühlsroh ist, meine Gedichte Heinzemännchen zu
zeigen. Als ob Jungens davon was verstehen!“

„Was waren’s denn für Gedichte?“

„Na, Liebesgedichte.“

„Sag’ mal eins.“

Monika warf einen zweifelnden Blick auf ihre Cousine. Sie
kämpfte augenscheinlich mit sich. Dann aber gewann ihr offenes,
mitteilungsbedürftiges Naturell die Oberhand. Sie begann zu sprechen
mit einer andächtigen Innigkeit, die ihre frische Kinderstimme ganz
verwandelt erscheinen ließ:

  „Du Schönster mit den blauen Siegeraugen,
  Laß mich an deinen hochgeschwungenen Lippen
  Nur eine flüchtige Sekunde nippen
  Und aller Seligkeiten Fülle saugen...“

„Pfui Teufel! -- Na, höre mal, da kann ich Tante Malis Entrüstung
verstehn!“

„Warum denn?“ sagte Monika mit unschuldsvoll verwunderten Augen, „das
ist doch schön. Und außerdem wahr. Ich liebte ihn doch.“

„Na, der erste Vers war heftig! Geht’s so weiter?“

„Nein! Es wird natürlich leidenschaftlicher! Es muß doch eine
Steigerung geben, das ist doch ein ganz bekanntes poetisches Gesetz.
-- Aber wie gesagt: Mama war direkt schlecht und sagte, jetzt
wüßte sie auch, warum ich immer am Dienstag und Freitag, wenn wir
Geschichtsstunde haben, das neue, blaue Kleid anziehen wollte. Und
Heinzemännchen sagte, ich sei sittlich verwahrlost. Na, das konnte ich
mir doch nicht gefallen lassen.“

„Wie kannst Du aber auch Liebesgedichte schreiben?“

„Gott, dafür konnte ich doch nichts. Ich hatte mich doch in ihn
verliebt. Kennst Du das nicht, wenn’s einem so warm im Herzen wird, als
wollte das Herz aufblühen?“... Ein träumerisches Lächeln teilte die
roten Lippen. „Und man ist so unglücklich und in all dem Schmerz liegt
doch so eine Süßigkeit... Süßigkeit... so etwas Unnennbares -- eine
Erwartung, ach, ich weiß nicht...“

Sie brach kurz ab, erstarrend unter dem eisig spöttischen Blick, der
sie aus Maries grauen Augen traf.

„Ich finde Dich riesig überspannt, liebe Mone,“ sagte sie gemessen,
„und Deine Ansichten sind unpassend. So... und jetzt habe ich Briefe zu
schreiben.“

Ohne die Cousine noch eines Blickes zu würdigen, setzte sie sich an den
Schreibtisch und begann einen Briefbogen mit ihrer prätentiös schönen
Schrift zu füllen.

Monika ging in ihr Zimmer. Das unangenehme Gefühl, wieder einmal zu
vertrauensselig gewesen zu sein, sich bloßgestellt zu haben, bedrückte
sie.

Betrübt kauerte sie sich in einen der blauen Sessel und begann an einem
Stückchen Johannisbrot zu kauen, das sie zu ihrer Ueberraschung in
ihrer Tasche entdeckt hatte.

Gewiß hatte ihr Karl damit eine Ueberraschung bereiten wollen, Karl,
ihr zehnjähriger Lieblingsbruder.

Aber der Genuß war bald zu Ende, das Johannisbrot aufgeknabbert, und
nun saß sie da und langweilte sich jämmerlich. Die Uhr zeigte auf drei
-- noch eine ganze Stunde Zeit bis zum Nachmittagskaffee.

In plötzlichem Entschluß stülpte sie die Pelzmütze auf, zog den Mantel
an und fort ging’s durch den verschneiten Park auf wohlbekannten Wegen
ins Dorf.

Ihr Weg führte zur kleinsten Hütte, einer Bauernkate, die gar elend,
förmlich zusammengekauert unter der dichten Schneedecke dastand.

Der Zaun war baufällig, die Fensterscheiben wie erblindet. Im Hof
an der Pumpe, von der riesige Eiszapfen herabhingen, stand ein etwa
dreijähriger, hübscher Junge und bemühte sich, den Pumpenschwengel in
Gang zu setzen.

„Ist die Liese zu Haus?“ rief Monika ihn an.

Er sperrte verdutzt die blauen Augen und den roten Mund auf, ohne zu
antworten. Da öffnete Monika ohne weiteres die Tür.

Eine stickige, dumpf-heiße Luft schlug ihr entgegen. Kaum hatte sie die
Schwelle überschritten, als es drinnen aufschrie: „Monchen!“

Eine Frau stürzte auf sie zu und bedeckte ihre Hände mit Küssen. „Ach
Gottchen, Monchen, bist Du’s denn wirklich, mein trautstes Monchen?“

Monika gab ihr einen herzhaften Kuß. „Liebe alte Liese, wie freue ich
mich!“

Zärtlich betrachtete sie die vor ihr Stehende, die eine entschiedene
Vorliebe für Farbenfreudigkeit an den Tag legte. Ein flammend rotes
Umschlagetuch kreuzte sich über ihrer Brust, um sich auf dem Rücken zu
einem großen Knoten zu vereinen. Unter dem Tuch kamen die Aermel einer
unzweifelhaft unsauberen rosa Barchentjacke zum Vorschein, und eine
dunkelblaue Küchenschürze deckte einen moosgrünen Rock. Und über dem
schief zugehakten Kragen der rosa Jacke grüßte das liebe, verblühte
Gesicht. Die dunkeln Augen, die sonst so dummpfiffig in die Welt sahen,
standen voll Freudentränen.

„Monchen, daß ich Dir nochmal wiederseh’! -- Und wie scheen Du geworden
bist, eine bildscheene Marjell -- ’n bißchen anders wie Holtzens
ihre Marie!... Gottchen, das sah man ja schon gleich damals, wie
ich als Amme bei Dir kam! -- Und nachher -- wie warst Du scheen und
rund und dick -- der reine Marzipan! Wie oft hab’ ich zu Deiner Mama
gesagt: ‚Madamchen, die wird!‘ -- Gegen Dir sah die Marie keesig aus,
das kannst Du mir glauben. -- Na, nu setz’ Dich bloß mal hin, mein
trautstes Monchen. So ’ne Freude, nein, die Freude!“

„Liese, Du redst immer noch so viel wie früher. Und ausseh’n tust Du
auch noch so. Sogar der Zopp ist noch derselbe!“

Lachend wies Monika auf den armdicken, fuchsigen Haarkranz, der über
Lieses Scheitel thronte.

„Monchen, lach’ nich über meinen Zopp. Wenn er auch falsch is, scheen
is er doch. Und mir hat er immer gekleidet, schon als ich noch ein
scheenes, junges Mädchen war.“

„Liese -- fang’ nicht mit Jugenderinnerungen an! Sonst sitze ich heute
abend noch hier. Und Tante weiß gar nicht, daß ich weggerannt bin.“

„O weh, da wird’s was geben! Die gnädige Tante is ja so mächtig stolz,
die spricht nie ein Sterbenswort mit uns arme Leute. Anders wie Deine
Mamachen! Nu sage bloß, was macht denn die Mamachen, seit daß der
liebe, gute, gnädige Herr Baron tot is?“

Liese wischte sich erschüttert mit dem Schürzenzipfel die Augen.

„So’n feiner, guter Herr kommt nich mehr wieder. Das Schwarzseidene,
was er mir zur Hochzeit geschenkt hat!... Wären nich die Motten
reingekommen, wäre es heut noch wie neu!... Ach Gottchen, so’n Herr wie
der Herr Baron! Und hat so früh müssen versterben...“

„Nicht davon sprechen, Liese.“

„Und was macht denn nu die Mamachen? Gottchen, so ne junge Frau und mit
vier Kinder... vier Waisenkinder...“

Liese begann herzbrechend zu schluchzen. Und schluchzend und mit
gurgelnder Stimme fragte sie nach Monikas Brüdern:

„Ist der Karl denn immer noch so scheen mit seine schwarze Augen und
seine blonde Locken? Ach, und wie hat der Herr Baron den Karl geliebt!“

„Liese, Du alte Heultute, wenn Du jetzt nicht aufhörst mit der
Lamentiererei, dann fange ich auch an zu weinen oder ich laufe weg.“

„Ich bin ja schon stille, Monchen,“ sagte Liese und heulte
ohrenerschütternd weiter.

„Erzähl’ mir doch lieber was von Dir -- von Deinem Mann...“

Wie auf ein Zauberwort hin versiegte der Tränenquell.

„Ja, wir sind ja nu all vier Jahre verheiratet. Und er is so, wie
Männer nu eben so sind. Er tut ja seinen Dienst bei de Bahn ganz
ordentlich und hat auch das Allgemeine Ehrenzeichen gekriegt. Es is ja
auch ein sehr scheener Mann. Du weißt, Monchen, ich war immer sehr für
de Scheenheit.“

„Na also.“

„Ich wer’ Dir was sagen, Monchen: er ist zu alt. An die fuffzig is er
jetzt...“

„Na, und Du, Liese?“

„Fünfundvierzig.“

„Das paßt doch eigentlich ganz gut.“

„Ach, er hat nu schon den ganzen Kopp voll graue Haare. Und so die
richtige Forsche is auch nich mehr in ihm. Weißt Du, wenn ich dagegen
an den Hanschen denk’, den Stubenmaler aus Stallupönen ...“

„Wer ist denn das?“

„Mein erster Bräutigam, Kind. Ein forscher Kerl war das. Groß wie so
’n Baum und den ganzen Kopp voll Locken und rote Backen. Und zwanzig
Jahre war er alt... und ich achtzehn.“ Eine Sehnsucht glomm aus in den
dumm-pfiffigen Augen.

Mit ahnungsbangen Augen sah das knospende Mädchen hinüber zu der
verblühten Frau, die von erster Liebe sprach.

„Liese, es ist schrecklich spät. Ich glaube, ich muß weg.“

„Ja, das mußt Du, mein Trautstes, aber erst muß ich Dir mal die Stub’
zeigen. Nu all die ganze Zeit hier in die Küche...“

Liese öffnete die Tür zur Stube. Auch hier herrschte die gleiche
bedrückende Luft. Ein großes Bett nahm die eine Längswand ein; es war
auf allen vier Seiten von einem roten Kattunvorhang umgeben.

„’n Himmelbett muß der Mensch haben,“ behauptete Liese stolz.

„Und nu kiek mal her, Monchen...“ Triumphierend wies Liese auf die
Kommode, wo vier Photographien von Monika in verschiedenen Lebensaltern
standen.

„Hier aber is das Feinste for Dich,“ sagte die Liese geheimnisvoll
und führte sie ans Fenster. Auf dem Fensterbrett stand ein kleiner
Blumentopf, in welchem ein junges Myrtenstämmchen ein kümmerliches
Dasein führte. „Für Deinen Brautkranz, Monchen...“

Monika lachte. „Du, die Mama hat gesagt, arme Mädchen werden heutzutage
überhaupt nicht geheiratet.“

„Ach, Monchen, so scheen wie Du bist mit Deinem Gesicht wie Milch und
Blut -- Dir wird früh genug einer holen.“

„Desto besser, Liese, desto besser! Ich denke mir das Heiraten
großartig!“

Lachend wandte sich Monika zum Gehen, zuckte aber mit einem Ausruf des
Schreckens, als plötzlich aus einer Ecke des Zimmers hinter dem Ofen
hervor ein Stöhnen klang.

„Die Ollsche,“ sagte Liese erklärend.

Monika gewahrte dann, daß, in einen Stuhl gekauert, eine uralte Frau
hinter dem Ofen saß: sie hielt die Augen geschlossen. In dem von
tausend Falten durchfurchten Gesicht zuckte kein Muskel, wie aus Stein
gehauen saß sie da.

„Die Ollsche, ’ne Tante vom Grün, Monchen. Sie is nu all
siebenundachtzig und all ein bißchen lititi im Kopp. Na, da hab’ ich
sie hergenommen.“

Draußen auf dem Hof stand Fritzchen und hielt mit beiden Händen
die Vorderpfoten eines nudeldicken, weißen Spitzes, der, auf den
Hinterbeinen sitzend, genau so groß war wie der Knabe; die beiden sahen
sich stumm und liebevoll in die Augen.

„So steh’n sie manchmal ’ne halbe Stunde,“ sagte Liese.

Und dieses freundliche Bildchen war das letzte, was Monika bei diesem
Besuch erblickte.

So schnell sie konnte, eilte sie nun zurück.

Die frühe Winterdämmerung lag auf dem ebenen Lande und tauchte die
endlose Schneefläche in ein fahles Blau. Der Wind hatte sich aufgemacht
und blies durch Monikas dünnen Mantel, daß ihr ein Schauer nach dem
anderen über den Rücken lief. Aber sie rannte freudig vorwärts.

Und Worte kamen ihr -- sie wußte selbst nicht woher -- die sie laut vor
sich hinsang.

  „Das ist der Wind meiner Heimat,
  Der über das Schneefeld braust --
  Das ist der Wind meiner Heimat,
  Der heut mir die Locken zerzaust.

  O tobe und tobe nur weiter, Herr Wind,
  Und erfriert auch der See und die Zweige im Wald -- --
  Meine heiße, blühende Jugend,
  Die machst Du doch nimmermehr kalt!“

Warm und selig war ihr zumute.

Mit aller Kraft ihrer Lungen sog sie die kühle Schneeluft ein.

Wie anders das war als der Großstadt Luft. O, diese Schnee-Einsamkeit,
durch die der Wind sang statt der tobenden Straßen Berlins. Ein
Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Natur rann warm und beseligend
durch Monikas Adern. Sie mußte sich mit Gewalt zusammenreißen, um
einigermaßen gesittet das Haus zu betreten.

Allerdings war der Empfang, der ihr zuteil wurde, ganz dazu angetan,
ihre Stimmung schleunigst zu dämpfen.

Marie empfing sie mit schadenfrohem Gesicht, und die Tante, die in
ihrem Boudoir mit einer Stickerei beschäftigt war, trug in ihrem
Gesichtsausdruck hoheitsvolle Würde zur Schau -- ein böses Zeichen!

Sie sagte einstweilen gar nichts, sondern zog mit gewählt schönen
Bewegungen den Faden durch die Arbeit. Man hörte in dem hübschen,
eleganten Zimmer keinen anderen Laut, als den schweren Schlag der
großen Uhr.

Monika konnte diese gespannte Stimmung nicht lange aushalten. Und so
sagte sie, halb trotzig, halb flehend: „Tantchen, ich war bloß bei der
Liese.“

Wenn sie geglaubt hatte, daß das ein Milderungsgrund sei, so sah sie
sich getäuscht.

Tante wurde noch mehr als früher zürnende Gottheit, und dann ergoß
sich über Monika eine Standpauke, die kein Ende zu finden schien.
Erstens was die Unsitte betraf, allein auszugehen, zweitens der Mangel
an Pünktlichkeit, drittens der unhygienische Leichtsinn, in eine
Armeleutewohnung zu gehen, und so fort.

Immerhin schienen allmählich mildere Regungen in der Tante
aufzudämmern, denn sie schloß mit den Worten: „Und nun klingle, daß man
Dir den Kaffee nachserviert und den Napfkuchen. Du wirst einen schönen
Hunger haben.“

Am Abend schrieb Monika ihrer Mutter einen Brief.

    „Liebste Mama,

    jetzt bin ich also wieder in dem geliebten Sarkow. Die Verwandten
    sind sehr nett zu mir, ausgenommen Marie, die so hacksig ist wie
    immer.

    Bei der Liese war ich auch schon.

    Liebe Mama, ich wollte ja sehr gern von zu Hause weg, aber als
    der Zug sich in Bewegung setzte und ich Euch gleich darauf nur
    noch aus der Ferne sah, da wurde ich doch riesig traurig. Ich habe
    mich auf der langen Fahrt hierher gefragt, warum eigentlich alles
    so gekommen ist, und warum wir uns die letzte Zeit so schlecht
    standen, wo es doch früher so herrlich war. -- Damals, als ich noch
    klein war und Dir alles, alles sagte. --

    Du hast in der letzten Zeit manchmal gesagt: wenn Dein Vater noch
    lebte, wärst Du nie so geworden!

    Aber das ist ganz falsch. Das hat gar nichts mit Papas Tode zu tun
    -- als ob ich jetzt weniger Angst hätte! Denn Angst habe ich in
    meinem ganzen Leben noch nie gehabt!

    Aber mir sind im letzten Jahre so viele Gefühle und Empfindungen
    gekommen, ich weiß selbst nicht woher -- so vieles, was gar nicht
    zu definieren ist.

    Ich kann Dir nur sagen: wie Ihr mich zu Hause behandelt habt, das
    ist mir oft vorgekommen, als wenn man eine Pantherkatze wie einen
    Kanarienvogel erziehen will! Ach Gott, wie schön muß das sein,
    wenn man frei ist! Frei in der herrlichen Welt, sich sein Glück zu
    erkämpfen. Ich +möchte+ Glück! Ich möchte alles haben, was schön
    ist und reich! Ich möchte den Ruhm und die große Liebe und Rausch
    und Glanz!

    Jetzt wirst Du wieder sagen, ich sei zu frühreif. Ja, aber
    Frühreife ist doch auch eine Reife! Und dabei dann gequält werden
    mit tausend Verboten und Vorschriften, und mit Klavierüben und
    Anstand und Staubwischen! Gequält werden mit tausend Nichtigkeiten
    und Kinkerlitzchen! --

    Uebrigens, ich hätte Dir zuliebe sehr viel davon ausgehalten, liebe
    Mama, aber was nicht auszuhalten war, das war die Behandlung, die
    Du mir durch Alfred und Heinrich angedeihen ließest. Warum waren
    die mir zu Aufpassern und Richtern bestellt? Warum? -- Sind sie
    besser als ich oder reifer? --

    Ich würde mich schämen, wenn ich nur die Hälfte so dumme Streiche
    machte wie die.

    Sind sie klüger als ich? -- Ich möchte wissen wo!

    Da sind sie nun im Gymnasium, haben die besten Lehrer -- und sind
    so faul, daß sie die eine Hälfte ihres Pensums nicht wissen und die
    andere Hälfte abschreiben.

    Und ich mit meinem glühenden Wissensdurst und meiner
    ungewöhnlich guten Auffassungsgabe werde mit dem Bröckchen der
    Mädchenschulerziehung abgespeist und alle Werte der Menschheit
    erhalte ich ~ad usum Delphini~ zurechtgemacht -- wenn Du soviel
    Latein verstehst, Mamachen.

    Und dann in anderer Beziehung: Ich will nicht davon sprechen,
    welche Sorte „Flammen“ Alfred und Heinrich haben, aber daß meine
    Brüder die Frechheit besitzen, über meine Liebesgefühle zu Gericht
    zu sitzen, das ist nicht zu ertragen!

    Warum soll ich denn weniger empfinden als sie? Habe ich denn nicht
    auch Fleisch und Blut und Nerven und Empfindungen? -- Na, lassen
    wir das. Ich ärgere mich bloß, wenn ich daran denke.

    Und ich will mich nicht ärgern, sondern selig sein, daß ich jung
    bin, und daß das Leben schön wird. Vorläufig stehe ich ja noch
    davor wie vor einem verschlossenen Garten. Die Mauer ist hoch,
    aber drüber her hängt doch manch ein Blütenzweig. Der zeigt mir an
    seinen kleinen, rosigen Blüten, wie süß die tausend Frühlingswunder
    sein müssen, die hinter der Mauer sind -- im Garten des Lebens.

    Ich wollt’, ich dürfte schon hinein!

    Monika.“

[Illustration]



2.


Monika fügte sich besser in die Hausordnung, als man es nach dem ersten
wilden Tage erwarten durfte. Sie war von überquellender Herzlichkeit zu
ihrer Tante, die sie sehr liebte, weil sie sie so schön fand.

Mit dem Onkel stand sie auf einem lustigen Neckfuß: nur mit Marie
konnte sie zu keinem wärmeren Tone gelangen. Marie verhielt sich allem
Entgegenkommen Monikas gegenüber durchaus ablehnend. Sie hatte eine
instinktive Abneigung gegen das vollsaftige junge Geschöpf mit dem
heißen Hirn und dem heißen Herzen.

Die Cousinen sahen sich selten allein. Nur wenn Marie mal irgendein
Anliegen an Monika hatte, bat sie sie in ihr Wohnzimmer. Und Monika tat
ihr gern jeden Gefallen.

Uebrigens beneidete Marie die Cousine nicht etwa um ihre kleinen
Talente. Sie sah auf Monika herab mit der ganzen Sicherheit, die die
feste Position ihres Vaters ihr gab, und fühlte sich als einziges Kind
des sehr wohlhabenden Herrn von Holtz dazu berechtigt, Ansprüche an
ihre Zukunft zu stellen.

Sie betrachtete Monika als tief unter sich stehend, gleichsam
ausgeschieden aus den Reihen der guten Gesellschaft in ihrer
Eigenschaft als Tochter einer vermögenslosen Witwe.

„Du wirst natürlich Dein Lehrerinnen-Examen machen,“ sagte sie ihr.

„Ich denk’ nicht dran!“ trotzte Monika.

„Na, was sollst Du denn sonst tun? Deinen Lebensunterhalt mußt Du Dir
doch mal verdienen und für ein Mädchen aus unseren Kreisen gibt es doch
keine andere mögliche Erwerbsart.“

„Ich könnte doch Schriftstellerin werden; die sollen ja so ’ne Menge
Geld für Romane kriegen,“ warf Monika ein.

Marie stimmte ein Hohngelächter an:

„Ach, mach’ Dich doch nicht lächerlich. Schriftstellerin! -- Als ob
das so leicht wäre! Denkst Du, mit Deinen paar Verschen ist sowas zu
machen? Du und Schriftstellerin!“

„Will ich auch gar nicht! Hab’ ich eben bloß so gesagt. Ich bin viel zu
hübsch, um Schriftstellerin zu werden! Ich heirate einen Prinzen und
lade Dich zur Hochzeit ein, obwohl Du es nicht um mich verdient hast.“

„Rede doch kein Blech!“ Marie wurde nun im Ernst ärgerlich.

Aber Monika ließ sich nicht stören.

„Sollst mal sehen: einen Prinzen! Einen mit blauen Augen und
weißblonden Haaren und einem süßen, kleinen Schnurrbärtchen, so wie ein
Bürstchen geschoren. Riesig groß muß mein Prinz sein und ganz schlank
und wahnsinnig elegant. So hohen Stehkragen und als Krawattennadel eine
Perle für zehntausend Mark!“

Nach diesem Trumpf trat Monika einen beschleunigten Rückzug an, da
Marie in einen bedenklichen Grad von Wut geraten war.

Marie rächte sich dann auch grausam für Monikas „Größenwahn“, als an
diesem Tage die Nachmittagspost die Journalmappe brachte.

Monika fand Marie behaglich ausgestreckt auf dem Teppich liegen, die
zweiundzwanzig verschiedenen Journale malerisch um sich herumgruppiert.

Monika legte sich sofort auch bäuchlings auf den Teppich und pürschte
sich langsam und vorsichtig an ihre Cousine heran.

„Du, Mariechen...“

Ein kühler Blick ward ihr zuteil.

„Du wünschest?“

„Würdest Du mir vielleicht erlauben, daß ich auch was davon lese?“

„Nein.“

„Nur, was Du schon gelesen hast.“

„Bedaure.“

„Ach, sei doch nicht so! Ich möchte doch so sehr gern. Gib mir bloß
irgendeine ganz kleine Zeitschrift!“

„Nein.“

„Und warum nicht?“

„Weil man einem Mädchen von Deinen Anlagen keine Romane in die Hand
geben darf.“

Aufseufzend ging Monika hinaus.

„Alter Zeitungstiger!“ rief sie ihrer Cousine noch zu, die sich aber
dadurch nicht stören ließ, sondern weiter in ihren Zeitschriften
schwelgte.

Monika saß indessen mit bitteren Gefühlen in ihrem Zimmer und rauchte
eine dem Onkel „gestriezte“ Zigarette.

Die schlechte Behandlung weckte wieder alle ihre oppositionellen
Instinkte, die jetzt mehrere Tage lang geschlummert hatten.

Ein kühner Griff nach der geliebten Pelzmütze, und gleich nachher lief
Monika eilfertig ins Dorf hinunter.

Zuerst fünf Minuten hinein zur Liese, die sie mit lärmender Freude
begrüßte und tiefunglücklich war, daß Monika „nur auf so ein
Augenblickchen“ gekommen war.

„Ich will zu Doktor Rodenberg, Liese. Tante läßt mich nicht hin, obwohl
ich ihr gesagt habe, daß ich ihm Grüße von Mama bringen soll.“

„Na, denn lauf’ man hin, Monchen. Dem Doktor is die Freude zu gönnen,
daß er Dir mal sieht. Lange leben tut der nich mehr, der sauft sich ja
zu Tod!“

„Pfui, Liese, wie kannst Du sowas sagen! Der sauft gewiß nicht. So ’n
superiorer Mensch wie der Doktor!“

„So ’n was?“

„Ach, das verstehst Du doch nicht. Nun gib mir schnell noch ’n Kuß und
komm bald mal zu uns. Tante hat gesagt, wenn ich Dich sehen wollte,
müßtest +Du+ mich besuchen und nicht ich Dich. Also komm bald. Ja?“

Die Liese brummte etwas vor sich hin, was nicht gerade eine
Schmeichelei für Frau von Holtz bedeutete, und sah Monika dann nach,
die die Dorfstraße weiterstürmte.

Immer geradeaus, bis es rechts und links keine Bauernhäuser mehr gab
und endlos sich die verschneite Landstraße dehnte.

Auf freiem Felde lag Doktor Rodenbergs kleines Haus. Ein häßliches Haus
war’s aus roten Ziegeln. Auf der Haustür ein Schild, das anzeigte, wann
der ~Dr. med.~ Ernst Rodenberg seine Sprechstunden abhielt.

Monika riß heftig an der Klingel, die mit wahrhaft ohrenbetäubendem
Lärm anschlug.

Eine große, hagere Greisin öffnete die Tür.

Die sonderbar geformte weiße Haube auf ihrem Kopf gab ihr etwas
Nonnenhaftes. Ihr Gesicht sah aus, als habe es einer der primitiven
Meister des Mittelalters aus Holz geschnitzt. In ihren hellgrauen,
gleichsam verblaßten Augen war der Ausdruck eines steinernen Schmerzes.

„Den Doktor wollen Sie sprechen? Ja, mein Sohn ist hier.“

Sie öffnete eine Tür. Ein Geruch von Jodoform quoll Monika beißend
entgegen.

Der Doktor saß an seinem Schreibtisch und drehte sich nicht um, als
Monika eintrat und die Tür hinter sich ins Schloß drückte.

„Herr Doktor...“

„Ja, sofort.“

Er schrieb noch ein paar Augenblicke, dann wendete er sich um und
musterte erstaunt das junge Mädchen.

„Doktor, wer bin ich?“ fragte sie strahlend.

„Gott, die Mone!“ rief er, „die Mone...“

Mit zwei Schritten war er bei ihr und schüttelte ihr die Hände.

„Wie lieb, daß Du gekommen bist! -- Daß Du hier bist, habe ich im
Preußischen Adler schon gehört, aber ob Du herkommen würdest...“

„Na ob,“ sagte Monika und blickte ihm lachend ins Gesicht.

Sie sah jetzt erst, wie verändert dieses Gesicht war. Die früher so
schönen Züge begannen zu verfetten und ein trüber Glanz glomm in den
dunkeln Augen.

Seine Musterung dagegen fiel äußerst befriedigend aus.

„Hübsch bist Du geworden, Mone, und wirst noch hübscher sein in drei
Jahren.“

Er betrachtete sie genau in dem hellen Nachmittagslicht.

„Von der Mama hast Du gar nichts. Das ist der Vater, das ist
Birkenscher Wuchs: die breiten Schultern und die schmalen Gelenke. Und
auch das Birkensche Gesicht. Nur nicht so kalt siehst Du aus wie die
alle... Die Wärme, Mone, die Wärme hast Du doch von der Mama.“

Das war ein Fragen und Antworten, ein Plaudern und Lachen hin und her.

Die steinerne Mutter, die hereinkam, um Tee zu bringen, bekam einen
förmlichen Schreck vor Erstaunen.

Wie lange war es doch her, daß ihr Sohn nicht mehr gelacht!

Monika schwelgte in „Jugenderinnerungen“.

„Lieber Doktor, da ist gar nichts zu lachen. Ich erhalte das aufrecht:
Jugenderinnerungen! Es sind ja ganze sechs Jahre, daß ich Sie nicht
mehr gesehen habe. Ich war ein Gör von zehn Jahren, als wir von hier
wegzogen.

Lieber, lieber Doktor, wissen Sie noch, wenn Sie mich jeden Morgen zum
Spazierengehen abholten. Ach, war das schön, wenn Sie mich jede Pflanze
kennen lehrten und jeden Stein, jeden Käfer und jeden Schmetterling. --
Aber das schönste war doch, wenn Sie mir erzählten: Trojas Untergang
oder von Siddharda, dem indischen Königssohn. Oder vielleicht war
die germanische Mythologie doch noch schöner. Ach, Baldurs Tod oder
wie Schwanhild von den gotischen Rossen zerstampft wurde. Und die
Götterdämmerung. -- Ich kann Ihnen ja nie genug für das alles danken.
Das sind die stärksten Eindrücke meines Lebens gewesen. Ich glaube, so
ein nagelneues, taufrisches Kindergehirn nimmt die Eindrücke wohl am
allerschärfsten auf. Ja?“

„Ach, Du kleine Weisheit. -- Na, und wer ist inzwischen Dein
Lehrmeister gewesen?“

„Niemand,“ seufzte Monika. „Der Papa hat sich ja nie für solche Sachen
interessiert, und die letzten Jahre war er ja auch so krank, der
arme Papa. Und Mama, ach, der bin ich ja schon lange über den Kopf
gewachsen.“

„Du Gelbschnabel.“

„Doktor, es ist doch wahr! Die Mama ist eine liebe, süße Frau! Aber sie
ist so kindisch!“

„Wirst Du wohl nicht so despektierlich reden, Du Racker! Das glaube ich
schon, daß sie Dich nicht klein kriegt!“

„Nein, und in der Schule haben sie mich auch nicht klein gekriegt.
Seit Oktober mit der ~Ia~ durch, Doktor, ein Jahr jünger als alle
andern und ~prima omnium~ natürlich. Das wundert Sie doch nicht, alter
Mentor? Mama hat mir oft genug erzählt, daß Sie mich schon im zarten
Kindesalter für „geistig abnorm begabt“ erklärt haben. Inzwischen hat
sich das ja etwas ausgeglichen und es gleicht sich wohl noch weiter
aus. Wenn ich heirate, werde ich wohl einen normalen Geist aufzuweisen
haben, und wenn ich silberne Hochzeit feiere...“

Der Doktor lachte Tränen.

„Mone, Du warst immer eine Perle und das bist Du geblieben.“

Als das junge Mädchen gegangen war, verfiel Rodenberg wieder in das
stumme Brüten, das er sich in den letzten Jahren angewöhnt hatte.

Seine Gedanken flogen zurück in die Zeiten, von denen Monika gesprochen.

In der geistigen Vereinsamung, in der er hier immer gelebt, war es ihm
geradezu ein Genuß gewesen, die empfängliche Kindesseele zu bilden,
Monikas auffallend früh entwickeltem Geiste stets neue Nahrung zu
geben. Mit dem Interesse des Arztes und Forschers hatte er beobachtet,
wie gierig das Kinderhirn jeden Eindruck verarbeitete, wie jedes Wort
auf fruchtbaren Boden fiel.

Für den Doktor war es ein Schlag, daß Birkens fortzogen. Es wäre ihm
eine wahrhafte Freude gewesen, Monika auch fernerhin geistig zu formen.
Auch war das Birkensche Haus das einzige, in dem er verkehrte. In
seinem öden Leben war die strahlende Freundlichkeit der Baronin Birken
ein Lichtpunkt gewesen.

Die lebhafte, hübsche Frau mit der unnatürlich schlanken Taille und der
kunstvollen Frisur hatte eine ausgesprochene Vorliebe für den Doktor.

Sie war liebenswürdig, kokett, sehr kapriziös, dabei ohne jede Energie
-- ein schlankes, schwankes Schilfrohr.

Es hatte mal eine Zeit gegeben, wo sie dem Herzen des Doktors
gefährlich gewesen war. Ein paar unvergessene Sommerabende auf des
Herrenhauses Terrasse, während vom Park herauf der Flieder duftete.

Ja, so hatten die Fliederbüsche wohl nie wieder geblüht wie in dem
Jahre -- in so lastender Fülle -- und so betäubend hatten sie wohl nie
mehr geduftet wie damals.

Baron Birken war, wie so oft, bei „seinem“ Regiment in Hahndorf
gewesen. Und der Doktor las auf der Terrasse Frau von Birken vor: Mirza
Schaffys Gedichte.

Er hatte die heißen Worte gesprochen, wie man nur sprechen kann, wenn
man liebt!

Und ihre Augen schienen Antwort zu geben auf all seine stummen
Fragen...

Eine trunkene Hoffnung schwellte in diesen Tagen des Doktors ganzes
Sein.

Nicht lange nachher wurde er zu einem Gartenfest nach Sarkow geladen.
Da sah er, daß die hübsche Schloßherrin, wenn sie mit Kerkow
von den Hahndorfer Dragonern sprach, genau ebenso liebevoll und
verständnisinnig aussah wie an jenen Abenden, als der Flieder blühte.

Und als der schöne Schmettwitz erschien, hatte sie nur für dessen
Hünenfigur noch Augen und strahlte förmlich vor Glück, als sie mit ihm
die Polonäse schritt.

Der Doktor überwand die Enttäuschung schnell und freute sich nun
nach Ueberwindung der sentimentalen Krise, ohne Nebengedanken des
freundlichen Empfanges, dessen er auf Sarkow immer gewiß war. Der
Hausherr war ein brillanter Gesellschafter, und Frau von Birken legte
beim Erscheinen des Doktors regelmäßig eine Freude an den Tag, als ob
sie einen geliebten Freund nach langjähriger Trennung wiederfände.

Sie war dann in reizender Weise um den Doktor besorgt, besonders in
kulinarischer Beziehung leistete sie Ueberraschendes. Jedesmal gab
es eine ganze Reihe ausgezeichneter Gerichte, deren Zubereitung sie
womöglich selbst überwachte.

So oft es ihr ihr Gatte, der diese Art sehr unvornehm fand, auch
verboten, sie fand doch immer wieder „ein Momentchen“, um in die
Küche hinunterzulaufen und dort der Bertha, der in Birkens ganzem
Bekanntenkreise berühmten alten Bertha, nochmals einzuschärfen:

„Aber recht viel Schmand an die Sauce, Bertha,“ oder „daß mir die
Kaulbarsche bloß nicht zu lange kochen.“

Bertha pflegte diese Ermahnungen nur mit einem verachtungsvollen: „Weeß
ich alleene!“ zu beantworten.

Ja, als der Doktor einmal krank war und sich recht verlassen und elend
fühlte, allein in seinem Hause mit einer bäuerlichen Aufwärterin, hatte
Frau von Birken ihm täglich alle Mahlzeiten hinausgeschickt und sich,
was die Menüs anbetraf, geradezu selbst überboten.

Daß ihre Gefühle nicht nur im Materiellen wurzelten, bewies sie sowohl
durch die Blumensträuße, die sie den nahrhaften Gaben beifügte, als
auch durch die ausgewählten Büchersendungen.

Ja, sie war schon eine liebe Frau.

Und sie blieb sich gleich.

Man konnte kein Aelter-, kein Reiferwerden an ihr konstatieren.

Sie hatte ihre backfischhafte Koketterie noch, als die Kinder
heranwuchsen, als Alfred schon ein großer Quintaner war und Monika
schon den Trojanischen Krieg in unleugbar talentvollen Versen besang.

Ja, Monika! -- Die war wohl des Doktors reinste Freude gewesen. Die
anbetende Bewunderung und das grenzenlose Vertrauen, das sie ihm
entgegenbrachte, ihr glühendes Miterleben, wenn er ihr von den uralten
Märchen der Menschheit sprach, wenn sie bittere Tränen vergoß um das
Schicksal des männermordenden Peliden oder selig strahlte über eine
gelungene List des edlen Dulders Odysseus.

Mit der Freude, die ein Gärtner hat, wenn an einer von ihm gezogenen
Pflanze eine neue Knospe sprießt, war er ihrer Entwicklung gefolgt.

Aber schon als sie zehn Jahre alt war, hatte der Birkensche finanzielle
Zusammenbruch, der die Familie veranlaßte, nach Berlin zu gehen, Monika
seinem Einflusse entzogen.

So wie er sie heute wiedergesehen, versprach sie viel für die Zukunft,
versprach, körperlich und geistig ein Edelexemplar zu werden.

Wieviel sie davon halten würde?

Ein müdes Zucken hob die Schultern des Doktors.

Er hatte schon zu viele schöne Knospen gesehen, die gar vulgäre Blumen
wurden.

Und dann -- es war ja schließlich gleichgültig -- es war ja alles so
gleichgültig.

Mit müder Gebärde schenkte er sich aus der Rumflasche ein und blies in
dichten Wolken den Qualm seiner billigen Zigarre vor sich hin. --

Als Monika zu Hause ankam, ziemlich beunruhigt, wie diese neue
Durchgängerei wohl aufgenommen werden würde, kam sie zu ihrer großen
Freude völlig unangefochten in ihr Zimmer.

Sie war eben daran, mit einigen energischen Bürstenstrichen ihr
zerzaustes Haar zu ordnen, als Auguste, das sechzehnjährige
Abwaschmädchen, das eine besondere Zuneigung zu Monika entwickelte,
hereinpolterte.

Sie erzählte in dem besten Deutsch, das sie aufzubringen vermochte, daß
bei der Gnädigen Besuch aus Hahndorf sei und sie und Fräulein Marie und
die Gäste eben im Salon Kaffee tränken.

„Hat Tante schon nach mir gefragt?“ sagte Monika hastig.

Auguste bejahte, fügte aber mit verschmitztem Grinsen hinzu, sie habe
dem Diener gesagt, Fräulein Monika sei in den Ställen und werde wohl
sofort wieder hereinkommen.

„Schönen Dank, Auguste. Und jetzt hilf mir mal die Bluse zuhaken.“

Mit Blitzgeschwindigkeit hatte Monika eine andere Bluse übergeworfen.

Besuch aus Hahndorf! Also jedenfalls Dragoner! -- --

Um so enttäuschter war sie, als sie im Salon nur Damen fand.

„Ach, Monika, ich ließ Dich schon herbitten,“ sagte die Tante -- und
dann zu der neben ihr sitzenden Dame gewendet: „Meine Nichte Monika
Birken.“

„Ah, Baroneß Birken,“ sagte die hagere, ältliche Dame mit einer
offiziersmäßig scharfen Stimme, „ich habe Ihren Papa gut gekannt.“

Und ohne eine Entgegnung Monikas abzuwarten, wandte sie sich wieder zu
Frau von Holtz, die ihrer Nichte einen Wink gab.

Gehorsam ging Monika zum Erker, in dem ihre Cousine mit einer jungen
Frau saß.

Marie machte sie bekannt. Es war die Frau des Regimentsadjutanten von
Roßberg. Sie war lang, schlank und häßlich. Im übrigen seit acht Wochen
verheiratet, wie sie Monika in den ersten fünf Minuten erzählte.

„Wonnegrinsend“ erzählte, konstatierte Monika in ihrem Innern und sah
wie gebannt auf die langen Vorderzähne, welche die junge Frau beim
Lachen enthüllte.

Marie behandelte ihre Freundin mit ostentativer Verehrung, Hochachtung
und Zuneigung.

Monika war ganz erstaunt über die Gefühlstöne, welche die sonst so
bittere Cousine anschlug.

„Du weißt nicht, wie ich mich nach Dir gebangt habe, Trudchen. Es war
trostlos einsam.“

„Nun, Du hattest ja Gesellschaft an Deinem Cousinchen,“ sagte die junge
Frau höflich.

Marie zog ein Gesicht, beredter als tausend Worte.

Und Monika sagte mit der ihr eigenen fröhlichen Unbefangenheit:

„Meine Cousine kann mich nämlich nicht ausstehn, Frau von Roßberg.“

„Ach, rede doch nicht so,“ sagte Marie ohne jede Ueberzeugung, und dann
zu ihrer Freundin gewendet:

„Mone ist doch gar nicht in einem Alter mit mir, Trudchen. Noch keine
sechzehn und noch gar nicht in die Gesellschaft eingeführt -- --“

„Aber zu unserem Balle kommen Sie doch wohl mit, Fräulein von Birken?“

„Welcher Ball?“

Marie fuhr dazwischen. „Ich glaube nicht, daß Mone hier schon ausgehn
soll.“

„Ein Ball in Hahndorf?“ fragte Monika aufleuchtend.

„Ja, unser erster Regimentsball diesen Winter. Frau von Teufel zur Höll
wollte mit Ihrer Tante etwas besprechen wegen lebender Bilder, und da
bin ich mitgefahren, um Mariechen zu sehn.“

„Frau von Teufel zur Höll?“ wiederholte Monika begeistert und mit so
wenig gedämpfter Stimme, daß Marie sie ärgerlich in den Arm kniff.

„Ja, die Dame, die dort mit Ihrer Tante spricht, die Gattin unseres
Etatsmäßigen.“

„Ach, welch schöner Name, welch fabelhaft schneidiger Name,“
wiederholte Monika ganz begeistert. „Von Teufel zur Höll, -- --
so möchte ich mal heißen. Hat Ihr Etatsmäßiger nicht irgend einen
unverheirateten Bruder?“

Frau von Roßberg brach in Lachen aus, in das albern klingende,
grinsende Lachen, das ihr eigentümlich war.

Frau von Teufel zur Höll rief herüber: „Nun, die Jugend amüsiert sich
wieder mal ausgezeichnet. Da werden wohl Pläne für unsere lebenden
Bilder entworfen. Entwickeln Sie nur recht viel Erfindungsgabe, meine
Damen. Wir möchten diesmal etwas ganz Apartes bringen.“

Monika näherte sich, förmlich wie von einer magischen Gewalt gezogen,
der Sprecherin. In ihren Augen stand eine so intensive Anteilnahme, daß
Frau von Teufels eisiger Gesichtsausdruck einem halben Lächeln Platz
machte:

„Na, das Tanzfieber fängt wohl jetzt schon an?“ sagte sie.

„Darf ich denn mit?“ fragte Monika.

Ungläubig klang’s und doch lag schon ein Jubel darin.

Frau von Holtz neigte lächelnd den schönfrisierten, weißhaarigen Kopf.

Da flog Monika auf ihre Tante zu und umarmte sie in so kindlich
echtem Jubel, daß sogar Frau von Teufel zur Höll -- im Regiment
selbstverständlich „die Teufelin“ genannt -- ihr darob nicht böse sein
konnte.

Monika hatte sich noch nicht beruhigt, als die Damen gegangen waren. Im
Gegenteil: ihre Freude äußerte sich in Ausbrüchen, die ihre Cousine als
„geradezu indianerhaft“ bezeichnete. Aber urplötzlich schlug der Jubel
ins Gegenteil um. Mit tragischem Gesichtchen erinnerte sich Monika,
daß sie „nichts, aber absolut nichts“ anzuziehen habe. Frau von Holtz
beruhigte sie: selbstverständlich würde für sie ein Kleid geschneidert
werden und Marie müsse auch ein neues haben. „Morgen früh kommt Mine
Petermann,“ fügte sie verheißungsvoll hinzu.

Und am nächsten Morgen um zehn Uhr war Mine Petermann da, -- die
unförmlich dicke Gestalt in ein prallsitzendes, schwarzes Kleid
gezwängt, -- auf dem mächtigen Busen eine ganze Armee von Stecknadeln,
-- um die Taille eine grüne Schnur, an der die Schere hing, und unterm
Arm eine ganze Ladung Mode-Journale.

Auch Stoffmuster hatte Mine schon da, war in aller Herrgottsfrühe schon
nach Neustadt hin- und zurückgestiefelt und hatte sich bei Kaufmann
Kleinmichel Proben vom „Neuesten, Schönsten und Modernsten“ geben
lassen.

Ja, die Mine war eine rührige Person, -- nicht umsonst beehrte die
ganze Nachbarschaft sie seit zwanzig Jahren mit ihrer Kundschaft.

Das war ein gar wichtiges Fragen und Beraten, was nun begann.

Mine war vor dem Beginn erst im Vorzimmer mit einem Glase Portwein und
zwei Buttersemmeln mit Leberwurst gestärkt worden, was erfahrungsgemäß
ihre Inspiration sehr anzuregen pflegte.

Sie ging auch gleich mit einem wahren Feuereifer an die Arbeit,
erklärte, für das gnädige Fräulein Marie sei „Empire“ wie geschaffen.

Begeistert tippte sie mit ihrem zerstochenen Zeigefinger auf ein
Modell: ein verführerisches Dämchen zeigte dort ihre Reize in
einem überaus anschmiegenden Empirekleide aus nilgrüner Seide mit
Perlenstickerei.

Frau von Holtz wiegte bedenklich den Kopf, enthielt sich aber
einstweilen jeder Meinungsäußerung, wogegen Marie, kaum daß sie einen
Blick auf das Modebild geworfen, ihre lebhafteste Abwehr zu erkennen
gab. Sie erklärte diese Mode „für direkt schamlos“ und „hätte Fräulein
Petermann mehr Geschmack zugetraut“!

Das dicke, alte Fräulein zog ein beleidigtes Gesicht, zeigte aber doch
pflichtgemäß alle Abbildungen, die vorhanden waren. Vor Maries Augen
fand nichts Gnade. Und ihre Miene entwölkte sich auch nicht, als nun
Frau von Holtz selbständige Anregungen gab, und mit der ganzen Liebe
einer Mutter sich mühte, etwas recht Vorteilhaftes für ihr Kind zu
finden.

„Ich denke, Mariechen, als Farbe rosa. In rosa siehst Du nicht so blaß
aus. Und ums Décolleté einen Chiffon-Volant, oder lieber zwei, das
macht Dich schön breit in den Schultern.“

„Ich will aber nichts vortäuschen.“

„Aber, Kind, was für Ausdrücke.“

„Ich glaube, Marie möchte am liebsten mit ’nem Trotteurrock und ’ner
Bluse mit ’nem Stehkragen zum Ball gehn,“ rief Monika, die die Cousine
oft mit ihrer Vorliebe für die etwas nüchterne Kleidung neckte.

„Du kannst Dir Deine Naseweisheiten sparen,“ rief Marie, und auch
Frau von Holtz warf ihr einen ernst verweisenden Blick zu: ihr war
die momentane Situation zu ernst, um sie durch Witze unterbrechen zu
lassen. „Also, glaube mir, Mariechen, oben die Volants und den Rock
unten weit ausfallend, eine recht steife Balayeuse unten hinein -- --“

„Ach, mach’s nur, wie Du willst,“ sagte die Tochter übellaunig. Ihre
Miene heiterte sich auch nicht auf, als Fräulein Petermann ihr Maß
nahm. Die dicke Dame erklärte, das gnädige Fräulein habe seit letztem
Winter um zwei Zentimeter Brustumfang zugenommen. Frau von Holtz
zeigte sich über diese Neuigkeit sehr erfreut, aber Marie sah die Mine
nur verachtungsvoll an und sagte dann: „Denken Sie sich doch mal was
Neues aus, Mine -- denn das mit dem Brustumfang behaupten Sie ja doch
jedesmal!“

Mine überhörte mit parlamentarischer Gewandtheit die Bemerkung und
diskutierte eifrig mit Frau von Holtz über die Blumen, die zu der rosa
Toilette getragen werden sollten. „Heckenröschen“ fand beiderseits
Billigung, aber Marie schrie förmlich vor Empörung.

„Heckenröschen, -- warum nicht lieber Gänseblümchen?! Schrecklich! Ich
will überhaupt keine Blumen.“

Allgemeines Entsetzen folgte diesem Ausspruche.

Besonders Frau von Holtz war völlig zerschmettert.

„Marie, ein junges Mädchen ohne Blumen auf dem Ball?! Wenn Du mir das
antust -- --“

„Ich kann doch nu mal all das Grünzeug nicht leiden! Und es paßt auch
gar nicht zu mir.“

Frau von Holtz erhob sich, jeder Zoll gekränkte Königin.

„Dann gehen wir nicht auf diesen Ball. Fräulein Petermann, Sie sind
entlassen.“

Monika wurde blaß bis in die Lippen.

Und auch die herbe Marie bekam einen hörbaren Schreck. Das wurde Ernst!

Wenn Mama „Fräulein Petermann“ sagte statt „Mine“ -- --

Sie lenkte also ein, in mürrischer Weise, -- aber ihr Stolz war
gebrochen. Sie gab klein bei. Nur „Heckenröschen“ sollte die Mama ihr
nicht antun.

Man einigte sich also auf Akazienblüten.

Und dann -- endlich! -- wurde an Monika gedacht.

Das war leichtere Arbeit. Sie zeigte sich von allem entzückt; was man
ihr vorschlug, fand sie alles „großartig“ und „feenhaft“ und strahlte
vor Seligkeit, als Frau von Holtz sich dann für hellblau entschieden,
rund ausgeschnitten, als Garnierung Kirschblütenzweige.

„Und auch ins Haar? Auch ins Haar Kirschblüten?!“ fragte Monika
flehend.

„Ja.“

Sie verstummte vor Begeisterung.

Und in Frau von Holtz stieg es wie ein bitteres Gefühl auf: wenn doch
Marie etwas von Monikas warmherzigem Wesen gehabt hätte, von ihrer
glücklichen Gemütsart, ihrer Dankbarkeit.

Und am Tage des Balles war es wieder ein Vergleich, der sich der Mutter
aufdrängte, als sie die beiden in ihrem Staat sah.

Marie, deren Hagerkeit das duftige Kleid nicht milderte, mit dem
straff frisierten Haar, von dem die Akazienblüten steif abstanden, und
daneben Monika, die in ihrem Ballstaat eine ganz andere schien. Die
wenig hübschen Kleider, die sie sonst trug, hatten ihrer blühenden
Jugend Eintrag getan. Das Hellblau ihres neuen Kleides hob ihren
prächtigen Teint hervor, -- der runde Ausschnitt enthüllte vollendet
schöne Schultern und Arme und darüber lachte das selige Kindergesicht,
gutmütig strahlend, lebensdurstig, durstig nach Glück!!

Der Ball wurde für Monika ein Erfolg.

An und für sich war es für die Hahndorfer Dragoner ein Ereignis,
wenn ein „neues“ junges Mädchen auftauchte. Waren doch nur zwei
unverheiratete Damen im Regiment: die Kommandeurstöchter, und mit denen
tanzte man nun glücklich den dritten Winter, und außerdem waren sie
nichts weniger als hübsch.

Möglich, daß jede von ihnen an sich ganz nett gewirkt haben würde, aber
man sah sie immer zusammen -- und zusammen sahen sie geradezu komisch
aus. Violette -- sie hieß tatsächlich Violette -- ihre verstorbene
Mutter hatte ein ~faible~ für poetische Namen gehabt -- gab an Größe
dem längsten Leutnant des Regiments nichts nach, und an Breite übertraf
sie ihn bedeutend. Sie hatte große, runde blaue Augen, einen Helm von
goldblondem Haar und wäre als Urbild einer germanischen Heldenjungfrau
gar nicht übel gewesen, wenn man nicht beständig Erika neben ihr
gesehen hätte.

Erika war so ziemlich das Kleinste und Zierlichste, was man sich
vorstellen konnte, ein wahres Porzellanpüppchen! Dazu eine Fülle
dunkelsten Haares und zwei ausdrucksvoll dunkle Augen in einem
Spitzmausgesichtchen.

Sie ließ ihre Schwester ungeschlacht erscheinen und dabei sah sie neben
dieser Schwester „nach gar nichts“ aus, -- kurz, sie beeinträchtigten
sich gegenseitig auf das schärfste.

Die Leutnants pendelten ratlos zwischen ihnen hin und her, und das
Resultat war, daß immer noch keine von ihnen verlobt war, obwohl ihr
Vater keinen innigeren Wunsch hegte.

Außer den beiden waren an jungen Mädchen nur noch einige
Gutsbesitzerstöchter aus der Umgegend erschienen, die keine besonderen
Attraktionen boten. Und nun eine „Neue“! -- Und noch dazu die Tochter
eines alten Herrn vom Regiment, des „fidelen Birken“, von dessen Taten
man genug gehört. Und noch dazu Monika, die in den ersten fünf Minuten
mehr gute Witze gemacht als sonst ein halbes Dutzend junger Mädchen
zusammen.

Nachdem sie in möglichster Eile den Damen ihren Knix gemacht, widmete
sie sich völlig den Leutnants und entfesselte durch ihre Konversation
derartige Lachstürme, daß man im Reiche der Mütter bedenklich die Köpfe
zusammensteckte.

Die jungen Frauen fanden den „Kiekindiewelt“ empörend, die jungen
Mädchen erklärten sie für „schamlos kokett“.

Monika aber ließ sich die unverhohlene Mißbilligung, die ihr von
weiblicher Seite zuteil wurde, nicht anfechten. Sie benahm sich
übermütig froh. Ihr war zumute wie in einem Rausch; mit all ihrer
unverbrauchten Begeisterung genoß sie diese Stunden, genoß den
hohen Saal mit dem strahlenden Licht, die flirtenden Leutnants, die
Bewunderung, die aus so viel Männeraugen sprach, und den Tanz, den
Tanz, in dem sie selig dahinglitt.

Schade, daß diesem Rausch so bald eine Ernüchterung folgte!

Schon im Schlitten, der die Familie Holtz nach Hause fuhr, begann Marie
die Schale ihres Zornes über Monika auszuschütten. Sie sparte nicht mit
den schärfsten Ausdrücken, und Frau von Holtz tat ihr nicht wie sonst
Einhalt, sondern schwieg verstimmt.

Nur der Onkel, der, bevor er sich zum Whist niedergesetzt, eine Weile
dem Tanze zugesehn, wiegte gutmütig den Kopf und murmelte schlaftrunken
vor sich hin:

„Die Marjell, -- genau wie die Mali! Kokett -- kokett.“

Die anderthalb Stunden Fahrt wurden für Monika ein Martyrium.

Sie seufzte hörbar und erleichtert auf, als endlich, endlich der
Schlitten zu Hause hielt. Der Schnee knirschte scharf unter den
Schlittenkufen. Und ehe noch die Pferde ganz zum Stehen gebracht waren,
setzte Monika mit mächtigem Schwunge hinaus und rannte, ohne jemand
gute Nacht zu sagen, die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

Eine eisige Kälte empfing sie; die taperige Auguste hatte wohl wieder
mal vergessen, nachzulegen.

Aber Monika störte die Kälte nicht. Rann doch ihr Blut so brennend
heiß durch die Adern! Sie stellte sich vor den Spiegel und hielt die
Lampe hoch. Also so -- -- so hübsch war sie! Die brennenden Wangen --
die flammenden Lippen -- die dunkeln Augen, über die sich die Lider
mit den langen, schwarzen Wimpern langsam bewegten, wie wenn müde
Schmetterlinge mit den Flügeln schlagen. Und darunter die blendend
weiße Haut des Halses und der Schultern -- -- --.

Monika hätte vor Glück schreien mögen, wie neulich, als sie durch den
Schnee rannte.

So hübsch war sie -- -- Welch ein Glück! --

Maries Strafpredigten hatten ihr weiter keinen Eindruck gemacht. Nur
daß sie bedauerte, jetzt niemanden zu haben, mit dem sie von all den
Eindrücken sprechen konnte.

Nur jetzt noch nicht schlafen!

Das war doch nicht möglich, jetzt schlafen, still liegen -- --

Sie summte ein paar Walzertakte vor sich hin: -- -- ein heißes
Glücksgefühl überrieselte sie.

Noch einmal die süße, süße Melodie. -- --

Monika schlief nicht viel in dieser Nacht. Aber trotzdem war sie am
Morgen die einzige, die frisch in die Welt schaute.

Frau von Holtz hatte Migräne.

Ihr Gatte sah verkatert aus, ihm bekam das lange Aufbleiben gar nicht.

Marie machte einen überaus angegriffenen Eindruck, schlich, wie immer
nach Bällen, mit hochgezogenen Schultern in vornübergebeugter Haltung
herum und hüstelte, was ihre Eltern mit lebhafter Besorgnis erfüllte.

Frau von Holtz vergaß die eigenen Schmerzen, um Marie beständig zu
Hustenbonbons zu nötigen, und Herr von Holtz rührte unter beständigem
Schimpfen auf die „verfluchte Tanzerei“ ein Eigelb mit Zucker, das
Marie unweigerlich sofort zu essen hatte.

Am Nachmittag, als man um den Kaffeetisch versammelt war, kam Besuch:
die Leutnants von Seeburg, von Hellrich und Graf Herckenstedt kamen im
Krümperschlitten an und erlaubten sich „gehorsamst zu fragen, wie den
Damen der gestrige Ball bekommen“.

Da die Herren sonst nie solche Lendemainvisiten gemacht, war Marie in
bitterböser Laune, und mit der bei ihr üblichen Unverfrorenheit brachte
sie ihre Gefühle zum Ausdruck.

Frau von Holtz mußte mehrmals vermittelnd eingreifen, wenn ihr
unliebliches Töchterlein wieder eine gar zu scharfe Bemerkung gemacht.

Von seiten Monikas war keine Schroffheit zu fürchten. Im Gegenteil!
Da hatte man nur in der entgegengesetzten Richtung einen Dämpfer
aufzusetzen.

Wie sie jetzt den Herckenstedt wieder anstrahlte!

„Ja, getanzt haben Sie am allerbesten, Graf. Sie sind natürlich Kadiser
gewesen? Die tanzen alle gut.“

„Monika, man sagt „Kadett“. Deine Art, die Worte zu verstümmeln
-- -- -- --“

„Ach, Tantchen, das kommt doch nicht so genau darauf an unter uns
Leutnants -- --“

Frau von Holtz fand keine Entgegnung. Es widerstrebte ihr, in Gegenwart
eines Besuches unaufhörlich zu tadeln. Andererseits war ihr die
burschikos-kokette Art ihrer Nichte entsetzlich.

Sie selbst war immer sehr zurückhaltend gewesen, sehr prüde, und ihre
Tochter hatte diese Eigenschaft in verdreifachtem Maße geerbt.

Und zwischen ihnen beiden saß nun Monika und kokettierte mit einer
Unbefangenheit, die geradezu verblüffend wirkte.

Mit einer für ihr Alter durchaus unangemessenen Sicherheit dirigierte
sie die Unterhaltung, die den Leutnants zwar sehr ungewohnt, aber dafür
desto interessanter war.

Marie äußerte dazu in sehr sicherem Tone Ansichten, die sich gerade
nicht durch Geistesschärfe auszeichneten.

Frau von Holtz aber, die mit ihrem ganzen Sein und Wesen in den realen
Forderungen des Alltags wurzelte, war ehrlich ärgerlich.

Mit einem scharfen Ruck lenkte sie das leichte Gespräch in andere
Bahnen. Sie fragte, was man in Hahndorf diesen Winter noch für
Vergnügungen vorhabe.

„Ja, hoffentlich werden nun bald die lebenden Bilder kommen, deren wir
diesmal verlustig gegangen sind,“ sagte Seeburg.

Und Hellrich erklärte Monika, es sei ewig schade darum, denn in seinem
Kostüm als Griechenjüngling hätte er berauschend ausgesehen, und
dann hätte sie ihn sicher nicht so grausam behandelt wie in seiner
preußischen Dragoner-Uniform.

„Und warum ist mir nun eigentlich dieser Genuß entrissen worden?“
fragte Monika.

„Ja, Baroneß, das liegt nur an Frau von Teufel zur Höll’ -- --“

„Die Teufelin,“ schob Monika verständnisinnig ein.

„Die ist nämlich höllisch --“

„Natürlich!“

„-- anspruchsvoll, und so hat sie behauptet, unseren lebenden Bildern
fehle der Clou.“

„Und dabei war es so reizend,“ klagte Herckenstedt.

„Ich als Griechenjüngling,“ betonte Hellrich.

„Ja, mit Erika von Holl als Partnerin in einem „griechischen
Frühlingsidyll“. -- Und Fräulein Violette von Holl als Werthers Lotte
und Roßberg als Werther --“

„Das ist der hübsche Adjutant?“ fragte Monika eifrig.

„Der hübsche? Dieser Ehekrüppel?“ erwiderte Herckenstedt entrüstet.

Und Seeburg sekundierte: „So ’n alter, verheirateter Herr!“

„Acht Wochen verheiratet!“ zitierte Monika und kopierte das
Gesicht, das Frau von Roßberg immer machte, wenn sie jemandem diese
welterschütternde Tatsache mitteilte.

Die Leutnants unterdrückten nur mit Mühe einen Heiterkeitsausbruch.

Marie aber wollte eben zu einer kräftigen Entgegnung ansetzen, -- denn
wenn jemand eine ihrer Freundinnen angriff, so faßte sie das noch
schlimmer auf, als wenn es gegen sie selbst ging, -- doch der gewandte
Herckenstedt verhinderte den Ausbruch, indem er in möglichster Eile
weitererzählte, daß noch ein Bild „Tanzstunde“ geplant gewesen sei
und das seit Methusalem rühmlichst bekannte: „Der Blumen Erwachen!“
-- -- Aber alles das habe dem stolzen Sinn von Frau von Teufel nicht
genügt. Nun ja, wenn man ein ganzes Jahr bei der Garde gestanden, wie
die Etatsmäßige! Und so sei die Aufführung der lebenden Bilder auf
unbestimmte Zeit verschoben worden.

„Bis einem von uns mal was Geniales einfällt,“ sagte Seeburg betrübt.

„Und dabei hätten wir bald die schönste Gelegenheit: nächsten Monat hat
der Kommandeur Geburtstag,“ jammerte Hellrich, der es anscheinend nicht
verwinden konnte, sich nicht in seiner griechischen Schönheit zeigen zu
dürfen.

„Aber das ist doch nicht so schwer, einen guten Einfall zu haben,“ rief
Monika. „Ich werde schon was finden.“

„Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort,“ begutachtete Seeburg
zweifelnd. Aber Hellrich zeigte sich vertrauensvoller. „Ich bin
überzeugt, daß Sie was Großartiges zustande bringen, Baronesse. Sie
haben so was in den Augen, -- ich finde da nicht gleich das richtige
Wort dafür, -- wissen Sie, eben so was Besonderes.“

„Ich fürchte, Monika überschätzt ihre Fähigkeiten,“ sagte Frau von
Holtz, die es für geraten hielt, die Bäume nicht in den Himmel wachsen
zu lassen.

Aber nun protestierten alle drei Leutnants.

Und als die Herren abfuhren, war es beschlossene Sache: sie würden der
„Teufelin“ Mitteilung machen, daß Fräulein von Birken sich anheischig
mache, etwas ganz Apartes für die Aufführung zum Geburtstage des
Kommandeurs zu erfinden.

„Da hast Du Dich ja schön in die Nesseln gesetzt,“ sagte Marie
schadenfroh, als das lustige Glockengeklingel des Krümpers in der Ferne
verstummt.

„Warum?“ fragte Monika kampfbereit.

„Weil Du einen netten Kohl zusammenschreiben wirst.“

„Abwarten!“ sagte Monika lakonisch.

Nachdem sie beim Onkel Aktenbogen und Bleistift erbeutet, legte sie
sich auf den Teppich und begann eifrig zu kritzeln.

Am nächsten Morgen legte sie Frau von Holtz ihr Machwerk vor, die es
mit lebhaftem Mißtrauen in die literarischen Fähigkeiten ihrer Nichte
las.

Wider ihren Willen fand sie es sehr nett. Aber sie traute ihrem Urteil
nicht. Sie las sonst nie etwas anderes als Zeitungen, fand Poesien
überspannt und war sich ehrlich bewußt, „von all diesen Sachen nichts
zu verstehen“.

Marie lehnte ab, Monikas Erzeugnis zu lesen, obwohl sie vor Neugierde
darauf brannte. Aber Monika sollte sich ja nicht einbilden, daß sie für
ihre Dummheiten etwas übrig habe.

Mit stiller Verzweiflung sah die Dichterin, daß Tante auch nicht die
mindesten Anstalten machte, das Opus nach Hahndorf abzuschicken. Und
nachdem sie drei Tage in gräßlicher Nervenspannung verbracht, griff sie
zu einem heroischen Mittel: sie packte ihr Werk ein und adressierte es
selbst nach Hahndorf. Nicht etwa an die Teufelin. Vor der hatte sie zu
großen Respekt. „Leutnant Graf Herckenstedt“ stand auf dem Kuvert und
auf das Manuskript hatte sie gekritzelt: „Wie Sie sehen, habe ich mein
Versprechen gehalten. Hoffentlich gefällt’s!“

Sie paßte den Briefträger ab und händigte ihm selbst das umfangreiche
Kuvert ein. Als er umständlich die Adresse gelesen, grinste er
freundlich und grinste noch freundlicher, als Monika ihm ein kleines
Trinkgeld in die Hand gedrückt.

Als einige Tage später Frau von Teufel zur Höll und Frau von Roßberg
zum Besuch vorsprachen, war der jungen Autorin doch recht unbehaglich
zumute.

Aber ihre Besorgnisse hielten nicht lange vor, da die Teufelin ihr
gleich beim Eintreten förmlich freundlich zugelächelt und dann Frau von
Holtz versicherte, daß „ihre liebe Nichte wirklich eine ganz reizende
Idee gehabt“.

Frau von Holtz schwebte im Unklaren, wußte nicht recht, wie sie sich zu
der ganzen Sache stellen sollte, aber sie wurde auch gar nicht gefragt.

Frau von Teufel vertiefte sich sofort in ein detailliertes Gespräch mit
Monika, Marie zog mit ihrer Freundin in ihre Privatgemächer, und Frau
von Holtz blieb nichts weiter zu tun, als Tee zu bestellen.

Als dann dieser Tee und ein riesenhafter Napfkuchen die Parteien um den
runden Tisch versammelt hatte, bat Frau von Teufel Monika, ihr Werk nun
vorzulesen, damit man gemeinsam den Eindruck beurteilen könne.

Monika begann. Aber die Teufelin, der niemals etwas schnell genug ging,
kam von ihrer Idee zurück. „Nein, jetzt nicht vorlesen. Ich werde
einen Extrakt des Stückes geben, und dann wollen wir uns erst über die
Rollenbesetzung einig werden. Also -- --“

Eine kleine Kunstpause.

Marie bemühte sich krampfhaft, ihr Interesse zu verbergen, indem sie
mit unbeweglicher Miene aus den Fransen der Tischdecke Zöpfchen flocht.

„Also die Szene zeigt zwei Leutnants. Der eine von ihnen, seit
kurzer Zeit glücklich verheiratet, redet dem andern zu, sich endlich
auch Hymens Rosenfesseln anlegen zu lassen. Der Freund versichert,
daß er durchaus nicht abgeneigt wäre, daß ihm aber die Wahl arges
Kopfzerbrechen mache. Hierauf verabschiedet sich der Freund. Der
Junggeselle bleibt allein und schläft ein.“

Marie stieß einen höhnischen Laut aus, worauf Monika sich in Positur
setzte wie ein junger Kampfhahn. Sie fragte: „Sag’ mal, warum soll der
Leutnant nicht einschlafen?“

„Hierauf erscheint die Phantasie und sagt dem Schlafenden, sie
wolle ihm die jungen Damen zeigen, unter denen er wählen könne. Die
Phantasie hebt ihren Zauberstab, und es erscheinen, begrenzt von
einem Bilderrahmen, nacheinander die Typen der weiblichen Wesen, die
den Leutnant mit ihrer Hand beglücken möchten: Sportdame, Salondame,
Studentin. Sie alle lassen unseren Helden kalt. Aber als zum Schlusse
das ganz unmodern erzogene, altmodisch-holdselige Mädchen erscheint,
das bei Mama kochen lernt und in ihrem kleinen Herzen eine große Liebe
für diesen Leutnant trägt, da wählt er sie zu seiner Lebensgefährtin.“

Einen Augenblick Stillschweigen.

„Der Sieg der Tugend,“ sagte Monika mit bescheiden niedergeschlagenen
Augen.

Frau von Holtz, der die Tendenz des Werkes erst jetzt so recht aufging,
zog Monika liebevoll zu sich heran und bat ihr im stillen vieles ab.

Wie nett und moralisch das liebe Kind das doch gedichtet hatte.

Marie versuchte ihre verächtliche Miene beizubehalten.

Frau von Roßberg grinste und sagte: „Den Helden muß natürlich mein Mann
spielen.“

Die Etatsmäßige, die diese Aeußerung vorlaut fand, warf ihr einen
verweisenden Blick zu.

Aber im Verlaufe der Beratung ergab sich, daß tatsächlich Roßberg
den Helden spielen mußte, da er der einzige Herr war, der etwas
theatralisches Talent besaß.

„Und ich bin das junge Mädchen, mit dem er sich verlobt,“ sagte Frau
von Roßberg.

„Wir haben ja darüber noch gar nichts bestimmt,“ warf Frau von Teufel
ein.

„Aber er küßt sie doch.“

„Theaterkuß!“ entschied die Teufelin. „Also bisher hätten wir: Ehemann:
Herr von Hellrich, -- der Junggeselle: Leutnant von Roßberg. Die
Phantasie, -- ja um alles in der Welt, wen könnten wir als Phantasie
wählen?“

Monika mußte sich in die Lippen beißen, um nicht zu flehen: „Mich!!“

Sie hatte sich alles schon bis ins Detail ausgemalt: ein
dekolletiertes, pfauenblaues Chiffongewand, -- Orchideen in den Haaren,
schillernde Schmetterlingsflügel an den Schultern.

Es traf sie wie ein Schlag, als jetzt Frau von Teufel sagte: „Ich
denke, Violette Holl paßt dafür am besten. Mit ihrer stattlichen
Erscheinung und den goldblonden Haaren. Also die Phantasie: Violette
von Holl. -- Die Sportsdame: ich!“

Ein nicht ganz zu unterdrückendes Erstaunen bemächtigte sich der
Anwesenden. Niemand hatte geahnt, daß die Teufelin mitspielen wollte.

Sie selbst ging sehr schnell über diese Tatsache hinweg.

„Die Salondame: nun, vielleicht Frau von Roßberg, da das keine Rolle
für ein junges Mädchen ist. Die Studentin: Fräulein von Holtz. Ich bin
überzeugt, das liegt Ihnen, Fräulein Marie. Die Tänzerin: ich hatte
Fräulein von Birken gedacht, aber Erika Holl bat so, ob sie nicht
die Rolle haben könnte. Sie wird das ja auch sicherlich sehr graziös
machen. Und das brave, junge Mädchen, ich denke, das ist für Fräulein
von Birken.“

Monika machte ganz erstaunte Augen. Es war das erstemal in ihrem Leben,
daß man sie als „ein braves junges Mädchen“ bezeichnete. Sie war mit
der Rolle nicht sehr einverstanden. Sie hatte sich nun mal auf die
Phantasie verspitzt.

„Ich dachte: Fräulein von Birken, weil sie doch die Jüngste ist; ihr
muß das Backfischhafte doch am besten liegen.“

Monika fand -- ein seltener Fall bei ihr -- keine Entgegnung. Sie war
noch ganz in Nachdenken versunken, als die Damen schon lange weg waren,
nachdem man noch verabredet, wann die erste Probe stattfinden solle.

Zwischen den Cousinen herrschte langes Stillschweigen. Endlich rang
sich Marie zu einer Art Ehrenerklärung durch. „Im übrigen muß ich Dir
noch sagen, Mone, die Tendenz von Deinem Dingsda ist gar nicht so
überspannt, wie Du sonst bist. Daß der Leutnant das einzig häuslich
erzogene, junge Mädchen nimmt, ist riesig vernünftig.“

„Was, vernünftig?! Nur ein Beweis für seine haarsträubende Dummheit ist
es. In der Ehe langweilt er sich doch tot mit dieser kleinen Gans!“

„Was?!“

„Na, natürlich, ich wollte in dem Dings doch gerade zeigen, wie solch
dummer Mann allen anderen das Gänschen vorzieht, bloß weil ihm das
so vertraut und bequem ist: so eine Erziehung ~vieux jeu~! -- Eine
Persiflage ist’s!“

„Na so eine Falschheit von Dir! Das merkt doch kein Mensch, daß es eine
Persiflage sein soll!“

„Wenn man’s gleich merkt, dann ist ja kein Witz dabei.“

„Unerhört! Das sag’ ich Frau von Teufel.“

„Dann sag’ ich, Du hast mich mißverstanden; Du hast eben meine
künstlerischen Intentionen nicht gefaßt.“

„Mone, Du bist gemein!“

Mit diesem vernichtenden Urteil beschloß Marie die Unterredung, verließ
das Zimmer und schmetterte die Tür hinter sich ins Schloß.

[Illustration]



3.


  „Heut’ ist der große Tag erschienen,
  Auf den so lang’ wir uns gefreut -- --“

Schallend klang es durchs Haus.

„Mone, Du tobst -- --“

„Schlimmer als das, Tantchen, viel schlimmer! Ich werde schon kindisch,
ich fühle mich in meine zarteste Kindheit zurückversetzt: ich singe das
Lied, das ich im Alter von vier Jahren zu Weihnachten sang.“

Und wieder erklang es schallend:

  „Heut’ ist der große Tag erschienen,
  Auf den so lang’ wir uns gefreut -- --“

„Mone!“

„Tantchen, darüber kann man den Verstand verlieren, auch wenn man davon
mehr besitzt als ich! Heute bin ich fünfzehn Jahre elf Monate und zwei
Tage, und heute wird schon ein Stück von mir aufgeführt, -- ein Stück!
Ich bin einer der frühzeitigsten Dramatiker, die es je gegeben hat.“

„Mone, Du schnappst doch noch mal über,“ sagte Marie, die eben eintrat.

Aber sie sagte das nicht mit dem grimmigen Ernst, den sie sonst ihrer
Cousine gegenüber anwendete. Auch sie war freudiger Stimmung, in
gespannter Erwartung auf die Ereignisse des Abends.

Und dieser Abend versammelte eine fröhliche Menschenmenge im Hahndorfer
Kasino.

Wie bei allen Liebhaber-Aufführungen herrschte hinter den Kulissen ein
lebhaftes Durcheinander.

Violette behauptete, die Flügel der Phantasie würden nun und nimmer
festsitzen, Erika jammerte, das Tänzerinnenkostüm sei viel kürzer, als
sie es bestellt.

Der Griechenjüngling fluchte, weil die Bänder seiner Sandalen immer
wieder „von selbst aufgingen“, kurz, es herrschte Unruhe auf der ganzen
Linie.

Aber endlich erklangen die letzten Töne der Ouvertüre, die eine
Rittmeistersgattin mit viel gutem Willen und wenig Talent auf dem
Flügel herunterhackte.

Der Vorhang hob sich, das obligate entzückte „Ah“ der Zuschauer:

Violette von Holl als Werthers Lotte, den Brotleib an den üppigen
Busen gepreßt, umlagert von einer hungrigen Kinderschar -- es waren
sämtliche Kinder der Offiziersfamilien aufgeboten worden -- in der Tür
erscheinend Leutnant von Roßberg als Werther. Er machte ein entschieden
unglückliches Gesicht. Ihm waren zu viel Kinder auf der Bühne. Er hatte
nun mal eine unüberwindliche Abneigung gegen „Krabben“.

Zu seinem Entsetzen wurde das Bild dreimal gezeigt.

Der Oberst war ganz begeistert; er antizipierte bei dem lieblichen
Anblick Großvaterfreuden.

Dann ging es programmgemäß weiter. Die „griechische Frühlingsidylle“,
besonders freudig von den Leutnants begrüßt, welche Hellrich schon seit
Wochen mit seinem Griechenjüngling neckten.

Dann Tasso und die Leonoren, -- eine Tanzstunde im Biedermeierstil --,
in mehr oder weniger gelungener Darstellung wurden Szenen aus allen
möglichen Kultur-Epochen vorgeführt.

Endlich kam die große Pause, nach welcher Monikas Werk: „Die Brautwahl“
steigen sollte.

Die Autorin stand in der Kulisse, schon im Kostüm ihrer Rolle: ein
weißes Batistkleid, die Haare in zwei dicke Hängezöpfe geflochten, mit
großen, blauen Schleifen darin. Ihr Gesichtchen wollte trotz seiner
Jugendlichkeit nicht ganz zu dem harmlosen Backfischstaat passen. Für
einen Kenner lag schon zu viel Ausdruck in den langbewimperten, dunkeln
Augen, zu viel Bewußtsein um den vollen, roten Mund.

Monika markierte Sicherheit, sah unbeweglich zu, wie nun alles für die
Szene arrangiert wurde.

Herr von Roßberg, der neben ihr stand, ließ sich aber durch ihre äußere
Ruhe nicht täuschen.

„Die Angst, gnädiges Fräulein?! Was?!“

Monika sah dem hübschen Adjutanten voll ins Gesicht.

„Aber keine Spur! Ich bitte Sie, bei so einem Hauptakteur -- -- --“

Er verbeugte sich geschmeichelt.

Und sie lachte ihn an mit blitzenden Zähnen.

Es hatte sich aus den Proben ein kleiner Flirt zwischen den beiden
entwickelt.

Entschieden war Roßberg der amüsanteste und hübscheste der Leutnants.
Daß er verheiratet war, störte Monika nicht. Im Gegenteil! Sie fand das
„riesig pikant“. Und außerdem fand sie ihn „viel zu hübsch für seine
Frau“.

Ihr gefiel Frau von Roßberg nun mal in keiner Weise, und sie äußerte
zu ihrer Cousine, Roßberg habe dieses grinsende Trudchen gewiß ihres
Geldes wegen geheiratet.

Marie war außer sich gewesen, hatte ihrer Freundin alle nur denkbaren
Reize zugesprochen und behauptet, daß Roßberg seine Frau schon seit
Jahren glühend liebe. Sie seien Nachbarskinder gewesen, und Trudchen
sei Roßbergs erste, einzige und letzte Liebe.

Monika hatte sehr interessiert zugehört, hatte dann, ungehindert
durch irgendwelche Rücksichtnahmen, die sie als „Gefühlsduseleien“ zu
bezeichnen pflegte, weiter mit Roßberg kokettiert, der ihr in seiner
leichtsinnigen Art die Cour machte.

Dieser Flirt wurde allseitig sehr harmlos aufgefaßt, selbst Frau
Trudchen hatte nur ein amüsiertes Lächeln dafür. Die einzige, die
die Neckereien zwischen Roßberg und Monika mit ernsthaftem Interesse
verfolgte, war Marie. Mit lebhaftem Mißtrauen beobachtete sie jeden
Blick ihrer Cousine, jedes Lächeln.

So auch heute wieder, als Monika und Roßberg in den Kulissen plauderten.

Von dem Platze aus, wo sie saß, konnte sie genau hören, was die beiden
sich wieder zu erzählen hatten.

„Bloß noch zehn Minuten bis zum Anfang, gnädiges Fräulein.“

„Ja,“ ein Angstseufzer entrang sich, aller Selbstbeherrschung zum
Trotze, Monikas Brust.

„Und wir müssen doch noch üben, gnädiges Fräulein.“

„Was denn üben?“

„Na, den Kuß, den ich Ihnen zum Schlusse zu geben habe.“

Monika lachte.

„Theaterküsse brauchen nicht geübt zu werden.“

„Wenn Sie ganz lieb bitten, gebe ich Ihnen einen echten statt so einen
dummen Theaterkuß, Fräulein Monika.“

„Oho, das sag’ ich Ihrer Frau.“

„Können Sie dreist. Ich würde es doch nur tun, um Ihr Stück
naturalistischer herauszubringen. Denken Sie, vielleicht hängt der
Erfolg Ihres Werkes davon ab.“

Monika lachte, lachte so ungezwungen und laut, wie sie es trotz aller
Strafreden immer tat.

„Wie wenn ein Füllen wiehert,“ hatten ihre Brüder immer gesagt.

„Außerdem müssen Sie bedenken: solch verheirateter, alter Herr wie ich!
Sie könnten ja meine Tochter sein, Fräulein Monika.“

„Oho, ich werde nächsten Monat sechzehn.“

„Und ich werde nächstes Jahr Oberleutnant!“

„Ach, Sie Respektperson!“

„Bin ich auch. Aus dreierlei Gründen. Erstens -- --“

„Lieber Herr von Roßberg, wenn Sie jetzt nicht bald aufhören zu
erzählen, werden Sie heiser und gefährden den Erfolg meines Stückes.
Bitte, bitte, seien Sie still und essen Sie etwas Zuckerkand. Ich
glaube, ich habe welchen mit -- --“

Sie begann eifrig in ihrer Tasche zu suchen.

Indes trat Roßberg auf Marie zu und behauptete, der rote Stürmer stehe
ihr famos.

Marie antwortete dem Manne ihrer Freundin nicht mit der burschikosen
Herzlichkeit, die sie sonst ihm gegenüber anschlug.

Im Gegenteil! Sie wurde ironisch.

„Die Rolle heute paßt Ihnen wohl, Herr von Roßberg, -- -- ein Held, der
von so vielen Damen begehrt wird -- --“

Er schien gar keine Spitze zu fühlen.

„Ja, entzückend,“ sagte er. „Sie haben ganz recht, die Rolle macht mir
einen riesigen Spaß. Wenn nur das Auswendiglernen nicht wäre, -- noch
dazu Verse, gereimte Verse. Trude hat genug zu tun gehabt, mich zu
überhören. So ganz tadellos geht’s immer noch nicht.“ -- --

„Wie war das doch, Poetessa,“ -- er wandte sich zu Monika -- „wie sage
ich doch zu meinem Freunde:

  Wenn ich Dich reden höre, alter Knabe,
  So dünkt es mich wahrhaftig so, als ob
  Auch ich Talent zum Ehemanne habe,
  Denn ich bin phlegematisch, faul und grob --“

Monika schrie beinahe vor Vergnügen. „O, Herr von Roßberg, so ist es
famos, viel hübscher, als ich es gedichtet habe. Sagen Sie’s so! Ja?“

„Ich werde mich schön hüten!“ erwiderte er ausdrucksvoll und ging
seiner Gattin einen Schritt entgegen, die eben auf die Gruppe zukam.

Sie war im Ballkleid, in ihrer Rolle als Salondame, und drehte sich
beifallheischend einmal um ihre eigene Achse, -- „wie ein Fixstern“,
erläuterte ihr Gatte.

Sie hatte ein creme Seidenkleid gewählt und trug rote Rosen am
Ausschnitt.

Sie fand ein freundliches Wort für Maries Anzug, ihre Hauptbewunderung
aber spendete sie in ihrer offenen Art Monika. „Zu lieb sehen Sie aus,
Fräulein von Birken. Ein süßes Backfischchen! Daß Sie die ganze Sache
gedichtet haben, das kann man gar nicht glauben.“

Graf Herckenstedt, der Regisseur, kam ganz aufgeregt angerannt und
jammerte, daß wieder alles durcheinander laufe. Jetzt sei wieder
Fräulein von Holl nicht zu finden. Dabei sah er aufmerksam in alle
Ecken, als ob die große Violette sich in einer solchen verborgen haben
könne.

Er atmete förmlich erlöst auf, als Fräulein von Holls Walkürengestalt
endlich auftauchte, im Schmucke der nun endlich sitzenden Flügel,
„anzuschauen wie Zeppelin 3“, erklärte Roßberg.

Ein Klingelzeichen -- -- noch einige Minuten heftiges Durcheinander,
Reden, Fragen -- -- dann wieder ein Klingelzeichen, und der Vorhang
hebt sich.

Hellrich und Roßberg, beide in Litewka, beginnen ihren Dialog, und das
Publikum lauscht gebannt den hübschen Versen. Nicht endenwollender
Applaus am Schluß.

Monika strahlt. Ein unendliches Wonnegefühl weitet ihr die Brust, füllt
ihr die Adern zum Bersten.

Das ehrgeizige Köpfchen glüht im Rausche des Erfolges. O, daß das Leben
so schön sein kann... so schön...

Dann kommt der Tanz.

Monika fliegt von einem Arm in den andern. Schmeichelworte klingen ihr
in die Ohren, Männerarme umfassen sie fest.

Die welkenden Blumen an ihrem Ausschnitt duften schwül und süß, und
die Walzermelodien hüllen alles in einen schillernden Schleier von
Schönheit, von lachendem Leichtsinn.

Der Leutnant von Roßberg tanzte an diesem Abend sehr oft mit Monika;
als Hauptakteur prätendierte er besondere Rechte.

Monika behauptete, daß er sie tyrannisiere.

„Ich kann wirklich nicht mehr. Lassen Sie mir doch ein bißchen Ruhe.
Ich bin so müde,“ jammerte Monika.

„Dann werden wir diesen Tanz meinetwegen verplaudern.“

Er zog ihre Hand durch seinen Arm und führte sie in eines der kleinen
Rauchzimmer.

Hier saßen zwei Fähnriche bei einer Flasche Sekt; sie hatten sich
grollend hierher zurückgezogen, weil sie von den Damen „zurückgesetzt“
und „niederträchtig behandelt“ worden waren.

Beim Eintritt des Regimentsadjutanten sprangen sie beide empor.

Aber es kam noch schlimmer, als sie gedacht hatten.

Roßberg machte ein geradezu entsetztes Gesicht:

„Hier finde ich Sie also, meine Herren. Ist es möglich? Ist es denkbar?
Das ist Deutschlands Jugend! Anstatt im rauschenden Ballsaal, gehorsam
den Winken unserer Schönen, ergeben Sie sich hier dem stillen Suff!
Schlemmen in egoistischer Weise! -- An die Arbeit, meine Herren, an die
Arbeit!“

Er machte eine befehlende Geste, deren Autorität eines Napoleon würdig
gewesen wäre.

Die Fähnriche stoben davon.

Roßbergs ernsthafte Miene wandelte sich in strahlende Heiterkeit.

„Das haben wir fein gemacht. Was? So ist man wenigstens ungestört.“

„Inwiefern störten Sie die Fähnriche?“ fragte Monika mit
unschuldsvollen Augen.

„Ach, das wissen Sie ja allein. Ihr Hauptdarsteller hat doch noch was
nachzuholen.“

„Was?“

„Fräulein von Birken, ich bitte mir Offenheit aus. Sie wissen ganz
genau, daß ich Ihnen bloß einen elenden Theaterkuß gegeben habe.
Vorbeigeküßt habe ich. Ostentativ vorbeigeküßt! Das brauchen Sie sich
nicht gefallen zu lassen!“

Monika versuchte zu lachen.

Aber sie lachte nicht so wie sonst.

„Fräulein Monika, eine Belohnung haben Sie doch verdient,“ sagte er
übermütig. Sein roter Mund mit dem kleinen, blonden Schnurrbart näherte
sich bedenklich ihren Lippen.

„Reden Sie doch nicht solchen Unsinn,“ stotterte Monika.

„Nun, dann will ich ernsthaft sein. Die Belohnung habe +ich+ verdient.“

Seine Lippen senkten sich auf die ihren.

Und ohne Ueberlegung erwiderte sie seinen Kuß.

Eine Minute später tanzten sie wieder im großen Saal.

Und für den Rest des Abends wich ihr Roßberg nicht von der Seite.
-- -- --

Als die Familie Holtz in Sarkow ankam, dämmerte schon fahlgrau der Tag
herauf.

Herr von Holtz beteuerte wie immer, daß es diesmal aber unbedingt das
letztemal sei, daß er zu so einer verfluchten Tanzerei mitkomme.

Monika war im Begriffe, sich auszuziehen, als zu ihrem Erstaunen laut
an ihre Tür gepocht wurde und Marie erschien.

Sie trug noch ihren Ballunterrock, hatte eine Nachtjacke angezogen
und sah jämmerlich elend und bleichsüchtig aus in dem dämmerigen
Tagesschein.

Monika machte erstaunte Augen: „Was gibt’s denn?“

„Das wirst Du gleich hören,“ sagte die Cousine in unheilverkündendem
Tone.

Dann schwieg sie wieder, stand da, lang und hager, und sah mit
vernichtendem Blicke auf das rosige Mädel herab, das vor Schreck
unfähig war, sich weiter auszuziehen.

Beklemmendes Stillschweigen. Nur im Ofen knisterte es leise.

„Na?“ fragte schließlich Monika halb schüchtern, halb trotzig.

„Sagt Dir Dein Gewissen nicht, warum ich komme?“

Monika sah sie erstaunt an, blickte dann im Zimmer umher und wartete.

Aber anscheinend regte sich ihr Gewissen nicht.

Und so beantwortete sie die Frage ihrer Cousine mit einem „Nein“, dem
man die Ehrlichkeit anhörte.

„So?... Na, dann werde ich Dir mal zu Hilfe kommen. Also: ich habe
alles gesehen.“

„Was denn gesehen?“ fragte Monika.

Eine heiße Röte überflammte ihr Gesicht.

„Ich bin Dir nachgegangen, als Du Herrn von Roßberg aus dem Tanzlokal
locktest.“

Das Falsche der Anschuldigung gab Monika ihren Mut zurück.

„Is ja gar nicht wahr.“

Die hagere Cousine reckte sich noch gerader auf, wuchs förmlich in
ihrer sittlichen Entrüstung.

„Und dann habe ich gesehen, daß er Dich geküßt hat.“

„Na, dann mache doch ihm Vorwürfe und nicht mir.“

„Nur Dich trifft die Schuld. Ich weiß, wie Roßberg Trudchen liebt.
Deine unpassende Koketterie ist an allem schuld, und Du solltest Dich
schämen.“

Und Monika schämte sich, ehrlich und glühend. Das süße Triumphgefühl,
das sie gehabt: „Mein erster Kuß...“, die naive Zärtlichkeit, die sie
in jenem Augenblick für den hübschen Leutnant empfunden -- das alles
wurde jetzt durch Maries grobe Worte vernichtet; es war, als ob eine
zarte Blüte mit harten, roten Fingern zerpflückt wurde.

Ein Frösteln überflog Monika. Sie verteidigte sich nicht.

Sie stand regungslos da, einen starren Ausdruck in dem erblaßten
Gesicht.

Maries Sicherheit aber stieg durch Monikas Haltung ins Ungemessene.

„Ja, ja, schäme Dich nur. Endlich machst Du das Armesündergesicht, das
für Dich paßt... Ich habe Dir jedenfalls nur eins zu sagen: Du wirst
übermorgen von hier wegfahren. Finde irgendeinen Vorwand -- was, ist
mir ganz gleichgültig. Aber weg mußt Du! Ich habe keine Lust, mich
meiner eigenen Cousine zu schämen!“

„Aber ich kann doch nicht so ohne weiteres...“

„Arrangiere das! Wenn Du übermorgen nicht fährst, benachrichtige ich
Trudchen Roßberg von Deinem Benehmen und sage Mama, was ich gesehen
habe.“

Monika unterbrach kurz. „Ich werde fahren,“ sagte sie tonlos. „Sag’s
Deiner Mama nicht. Die hab’ ich so lieb.“

„Ah, Du bist Dir also ganz genau bewußt, wie Deine Handlungsweise war!“

Da richtete sich Monika auf aus ihrer zusammengebrochenen Haltung.

„Meine Handlungsweise? -- Als ob ich überhaupt dabei eine
Handlungsweise gehabt hätte! Ich habe -- ich -- ach, das war eben so
ein Augenblick -- aber +Deine+ Handlungsweise, mir so nachzuspüren...“

„Bitte, keine Kritik,“ unterbrach Marie sie schneidend, „das wäre doch
ein bißchen gar zu einfach für die leichtsinnigen Leute, wenn die nicht
leichtsinnigen ... ihnen nicht nachspüren dürften!“

[Illustration]

Durch die dumpfe Stube der Liese klingt ein Weinen.

„Ach, daß Du schon weggehst, Monchen...“

„Na, Liese, besuchst uns mal in Berlin.“

„Wird nich gehen, mein Trautstes. Wer soll denn für den Grün sorgen,
für den Fritzchen, fürs Vieh und für die Ollsche?“

„Laß Dich doch vertreten!“

„Wird nich geh’n, Monchen. Fürs Vieh haben die andern nu schon gar kein
Herz.“

Dicke Tränen rollen ihr über das durchfurchte Gesicht.

„Und grüß mir die Mamachen recht scheen. Und wenn sie wieder ein Paket
schickt: der Kaffee war’s letztemal großartig -- der Zucker auch --
die vier Pfundchen waren ja bald weg -- aber scheen war er -- und denn
ja nich wieder Nachtjacken, ich hab’ all genug -- aber einen scheenen
Unterrock mit een Volang.“

„Wird bestellt, Liese.“

„Und wenn Du wiederkommst, Monchen, komm mit ’nen recht forschen
Bräutigam, das ist doch das scheenste auf der Welt...“

Der Abschied von Doktor Rodenberg gestaltete sich weniger tränenschwer.
Er empfing Monika sogar ein wenig sarkastisch.

„Na, lange nicht geseh’n. Die Hahndorfer Blauröcke lassen Dir wohl
keine Zeit?... Was? Abschied nehmen? Du wolltest doch bis zum März
bleiben.“

Monika lachte verlegen. „Ich stehe mich mit Marie nicht sehr besonders.“

„Kann ich mir lebhaft vorstellen, Kindchen. Also schon fort?“

„Ach, und ich habe Sie so wenig gesehen, Doktor. Wie schade! So vieles
wollte ich Sie fragen. Das ist so komisch mit mir! Ich möchte lernen,
daß mir der Kopf raucht, alle schönen und alle großen Dinge möchte
ich lernen -- graben in den herrlichen und fruchtbaren Schächten der
Weltgeschichte -- die Pflanzen belauschen in ihrem Werden und Vergehen
-- den Tieren nachspüren, allen Tieren, bis hinab zu denen, die fast
noch Pflanzen sind. Ach, lernen, immer mehr lernen! -- Und dann wieder
-- dann lass’ ich alles im Stich, wenn ich bloß ein blaues Tüllkleid
anprobieren soll und... und lass’ es gern im Stich! Und auf dem
Ball lache ich mit den Herren und finde alles gelehrte Zeug geradezu
blödsinnig. Und... und bin auch dann so rasend glücklich! Ich weiß
nicht, ich verstehe mich selbst nicht...“

Sie brach ab.

Der Doktor nahm ihr rosiges Gesicht in seine beiden Hände. Er
betrachtete lächelnd die schönen Augen, den naiv-genußsüchtigen,
hochgewölbten Mund.

„Kind, wenn Du nicht so hübsch wärst, hätte aus Dir wahrhaftig was
werden können,“ sagte er schließlich.

„Aber das Hübschsein ist doch kein Hinderungsgrund für geistige
Bedeutung?“ fragte Monika kampfbereit.

„Doch Kind. Verträgt sich nicht miteinander. Das wirst Du schon noch
sehen. Aphrodite und Pallas Athene haben sich nie leiden mögen.“

„Und welcher soll ich folgen?“ fragte Monika ihn mit dem ganzen
inbrünstigen Vertrauen ihrer Kinderjahre.

Er lachte kurz auf.

„Du hast Dir einen schlechten Ratgeber ausgesucht. Ich hab’ mir selbst
nicht raten können.“

Es war ein so bitterer Ton in seiner Stimme, daß Monika einen
Augenblick sich selbst vergaß, einen Augenblick den jugendlichen
Egoismus, der sich selbst das Interessanteste ist, beiseite ließ.

Ein heißes Mitgefühl blitzte in ihren Augen auf.

„Ja, Doktor, es ist doch eigentlich sonderbar, daß Sie Ihr Leben hier
so vertrauern. So rasend klug wie Sie sind und gebildet! Sie könnten
doch eine Rolle spielen, könnten in großem Maßstabe wirken für die
Allgemeinheit!“

Er lächelte höhnisch.

„Wenn mir die Allgemeinheit bloß nicht so verdammt gleichgültig wäre!“

„Oh!“

„Sieh mal, Kind, ich hab’ in meinen Brausejahren ja auch die Welt aus
den Angeln heben wollen. Und zum Arzt war ich gewiß nicht gemacht.
Ohnmächtig hingeschlagen bin ich, als ich das erstemal in den
Seziersaal kam. Alles in mir hat sich aufgebäumt gegen den Anblick von
Gebresten und Tod. Zu meiner Mutter bin ich hingestürzt: ‚Umsatteln!
Ich will nicht Medizin studieren. Literaturhistoriker.‘ --

Na, die Antwort hättest Du hören sollen! Arzt werden sei ein
Brotstudium, und das habe sie als Witfrau doch wohl um mich verdient,
daß ich sie in absehbarer Zeit ernähre. Na, schön, ich habe
nachgegeben. Man gewöhnt sich ja auch. Aber man sieht bei diesem Beruf
zu sehr, was für ein armseliges Ding der Mensch ist! Und um nicht
verrückt zu werden über all den gräßlichen Bildern, hab’ ich mich in
die Philosophie geflüchtet, habe mich in die seltsamen, narkotischen
Philosophien des Ostens vertieft: China und Indien.“

Er starrte träumerisch geradeaus.

Da traf Monikas Antwort sein Ohr. „Feig’ ist das!“

Wie ein Schlachtruf klang’s. „Feig’! Sein Leben zu verträumen und
verdösen in solch künstlicher Gemütsruhe. Wie ein Sumpf ist das. Ich
aber will raus, raus in die See! Und wenn ich tausend blutige Schmerzen
haben werd’, so werd’ ich auch tausend brennende Freuden haben! Und
werd’ leben, es in allen Adern fühlen, das herrliche, blutrote Leben!“

Ihre Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Eine so heiße Welle von
Kraft ging von ihr aus, daß sie zu dem müden Manne hinüberstrahlte,
seine Nerven aufzucken ließ in sekundenlangem Leben.

„Hättest früher kommen sollen, Mone. Bist zwanzig Jahre zu spät geboren
für mich. Viel früher hättest Du kommen sollen.“

Es war ein dumpfer Klang in seiner Stimme.

Und dann breitete er beide Arme aus und drückte sie fest an sich: „Leb’
wohl, Mone. Adieu, Kätzchen. Wenn Du wiederkommst, bin ich wohl nicht
mehr da.“

„Oh!“ schrie sie erschreckt auf.

„Stille. Sehr lange spielt mein Herz wohl nicht mehr mit. Der edle
Alkohol wird ihm zu viel. Stille, Kind! Eines lehren meine weisen
Freunde aus dem Osten: anständig zu sterben...“

Monika war so erschüttert über diesen letzten Besuch bei Doktor
Rodenberg, daß ihr der Abschied von Sarkow nicht so fühlbar wurde, wie
sie geglaubt. Sie wollte von hier aus zu einer Schwester ihrer Mutter,
um dort noch einige Zeit zu bleiben, ehe sie nach Hause zurückkehrte.

Herr und Frau von Holtz nahmen sehr herzlich von ihr Abschied.

Marie begleitete ihre Cousine zur Bahn. Sie hatte sich das selbst
ausbedungen. Es war, als ob sie immer noch Angst hätte, daß Monika
dableiben könne.

„Na, denn komm nur, Du Gefangenwärter,“ rief ihr Monika, die schon im
Schlitten saß, zu.

Die Pferde zogen an. Leicht glitt der Schlitten über den blendenden
Schnee, und die Glocken klingelten hell.

Die einförmige Fahrt wurde durch kein Gespräch unterbrochen. Schweigend
saßen die Cousinen nebeneinander.

Ein paar Kilometer vor Neustadt wurde die tote, weiße Landschaft
lebendig.

Eine Schwadron Dragoner kam daher.

Monikas Züge hellten sich auf. Sie lachte vergnügt den Soldaten zu, die
ihr bewundernde Blicke zuwarfen, indes sie langsam an dem Schlitten
vorbeizogen.

Die Offiziere grüßten.

Als letzter kam Roßberg, der sofort seinen Trakehner anhielt.

„Sie reisen?“ fragte er erstaunt.

„Ja,“ sagte Monika mit einer Schmollmiene, deren Koketterie Marie
innerlich rasen ließ.

„Wie schade!“

„Ja, schade. Aber ich muß fort.“

Er sah ihr mit herzlichem Bedauern in die Augen:

„Kommen Sie bald wieder. Wir werden uns alle sehr freuen.“

Ein Händedruck -- und er sprengte hinter den anderen her.

Monika streifte mit einem Seitenblick das zornrote Gesicht ihrer
Cousine. Eine plötzliche Empörung wallte in ihr auf gegen ihren
unerbittlichen „Gefangenwärter“.

Trotzig warf sie den Kopf ins Genick und pfiff laut vor sich hin:

  „Muß i denn -- muß i denn
  Zum Städtle ’naus
  Und du, mein Schatz, bleibst hier...“

Der Erfolg trat prompter ein, als sie erwartet.

Marie stieß mit geballten Händen einen unartikulierten Zorneslaut durch
die Zähne. Und durch die klare Luft kam deutlich das Echo aus dem Munde
des davongaloppierenden Reiters -- so lockend klang’s:

  „Muß i denn, muß i denn
  Zum Städtle ’naus --
  U -- und -- du -- mein Schatz...“

[Illustration]



4.


„Heinzemännchen...“

Der Angeredete, der, in ein Buch vertieft, in einem roten Plüschsessel
saß, gab ein unwilliges Grunzen von sich.

Aber Frau von Birken ließ nicht locker. „Heinzemännchen, willst Du den
Kalbsbregen mit oder ohne Sardellen gekocht?“

„Mit!“ sagte Heinzemännchen energisch und versank von neuem in sein
Gedichtbuch. Lyrik war seine Passion.

Frau von Birken, deren zierlich schlanker Erscheinung und deren
hübschem Gesicht mit den blühenden Farben man ihre siebenunddreißig
Jahre nicht anmerkte, setzte sich auf die Armlehne des Sessels und
küßte das storre, braune Haar ihres Lieblingssohnes.

„Wieder in Poesie aufgegangen, mein Heinzichen? Was hast Du denn da?
Den Eichendorff. Ach, himmlisch. Und wie Du gleich wieder so was
Schönes herausgefunden hast...“

Sich über das Buch beugend, las sie:

  „Denkst du noch jenes Abends, still vor Sehnen --
  Als wir das letztemal im Park beisammen?“...

Sie las diese Zeilen mit pathetischer Betonung, indes sie begeistert
den Kopf hin und her bewegte.

Heinzemännchen grunzte. Er war heute in trübsinniger Gemütsstimmung und
gar nicht dazu aufgelegt, seine poetischen Empfindungen mit der Mutter
zu teilen.

„Was hast Du heute eigentlich, mein Einzigstes? Wieder Aerger in der
Schule? Nein? -- Das Mittagessen hat Dir doch geschmeckt? -- Der
Schmorbraten war doch wirklich gut, und die grünen Erbsen so weich. Was
hast Du denn? -- Heinzi, sag’s doch.“

Der Knabe stöhnte tief auf; er klappte schmerzlich die Lider halb über
die braunen Augen und sagte:

„Eine schwere Jugend habe ich -- sehr, sehr schwer.“

„Aber, Liebling, warum? Ich tue Dir doch alles zuliebe.“

„Eine schwere Jugend,“ wiederholte Heinrich, „seit Papas Tode ruht
alles auf meinen Schultern.“

„Heinzchen!“

„Ja, es ist doch aber so. Alles auf meinen Schultern. Denke Dir das
Verantwortungsgefühl, das ich habe! Wie ich auf die andern aufpassen
muß! Karls Leichtsinn gibt mir viel zu denken. Und Monika -- Gott,
Monika ist meine schwerste Sorge.“

„Sie ist doch ein sehr gutes Mädchen, Heinzemännchen.“

„Ja, aber sie hat so gefährliche Anlagen. Das schreibt auch Deine
Schwester Kläre...“

Heinrich zog ein Portefeuille heraus und entnahm diesem einen Brief.

„Ach, an mich...“

„Ja, Mama, ich vergaß, es Dir zu sagen. Aber es ist nichts Eiliges; ich
habe ihn schon gelesen. Eine Charakteristik Monikas...“

Frau von Birken nahm ihrem Sprößling den Brief hastig aus der Hand und
begann zu lesen:

    „Liebe Mali,

    Deine Bitte, Dir genau mitzuteilen, wie Monika sich hier bei
    uns macht, erfülle ich gern. Nach allem, was Du mir von ihr
    geschrieben, bin ich nicht ohne Besorgnis gewesen, sie bei uns
    aufzunehmen. Leider hat unsere Tochter Bertha schon sowieso nicht
    den Ernst, welcher nötig ist, um die wissenschaftliche Laufbahn
    einzuschlagen, für welche ich sie bestimmt habe. Bertha findet
    einstweilen an kindischen Vergnügungen: Schlittschuhlaufen,
    Tanzstunde usw. viel zu viel Vergnügen. -- Sie bereitet sich jetzt
    unter Leitung meines Mannes auf das Abiturium vor. Leider weiß
    sie das Opfer, das ihr Vater ihr bringt, indem er ihr so viel von
    seiner Zeit widmet, die doch durch seinen verantwortungsvollen
    Beruf als Oberlehrer schon so sehr in Anspruch genommen ist, nicht
    genügend zu würdigen.

    Offen gestanden, ich habe sehr gefürchtet, daß Monika, wie Du sie
    mir geschildert hast, einen ungünstigen Einfluß auf Bertha ausüben
    würde -- um so mehr, als sie gerade aus Sarkow kam.

    Du weißt: Deine Schwägerin, Frau von Holtz, nötigt mir nicht gerade
    hervorragende Achtung ab. Sie ist so recht eine Frau von der alten
    Schule -- ohne jedes Verständnis für die ungeheure Bewegung, die
    sich seit Jahrzehnten in der Frauenwelt vollzieht.

    Sie erzieht auch ihre Tochter in tadelnswert unmoderner Weise, hat
    das dringende Bestreben, Marie bald zu verheiraten, lehrt ihre
    Tochter, in der Heirat das Endziel jeden Frauendaseins zu sehen.
    Ich weiß das alles von Monika, welche ja leider für ihre Tante
    Holtz sehr viel Zuneigung entfaltet.

    Entschieden hat Frau von Holtz auf Monika nur verderblich gewirkt.
    Als Deine Tochter ankam, schwärmte sie uns vor von dem blauen
    Ballkleide, das ihre Tante ihr hatte arbeiten lassen -- denke Dir:
    dekolletiert! -- meiner Meinung nach sehr ungeeignet für solch
    junges Mädchen.

    Ich möchte Dir auch nicht verhehlen, liebe Mali, daß Frau von Holtz
    Deiner Monika wie auch ihrer Tochter Marie vor den Bällen das
    Gesicht mit Reispuder gepudert hat -- eine Handlungsweise, die sich
    zu sehr charakterisiert, als daß ich sie näher bezeichnen möchte.

    Erfreulicherweise wird Monika sich nicht dauernd von diesen
    frivolen Ratschlägen beeinflussen lassen.

    Mit Dank und Verständnis nimmt sie es auf, wenn ich ihr klarmache,
    daß es nicht das Lebensziel einer modernen Frau sein darf, hübsch
    auszusehen und liebenswürdig zu sein, sondern daß es der innere
    Wert ist, der eine Frau zu dem Vollmenschen gestaltet, den unsere
    Zeit verlangt.

    In unserem Bekanntenkreise gefällt Monika ganz ausgezeichnet.
    Gestern kamen mir in unserem Damenklub sehr schmeichelhafte
    Aeußerungen über sie zu Ohren. So sagte mir z. B. die Frau Geheime
    Baurat Wegener: „Ihre Nichte ist wirklich ein äußerst interessantes
    Mädchen.“ Andererseits kann ich Dir nicht verhehlen, liebe Mali,
    daß Deine Tochter auch gefährliche Anlagen besitzt...“

„Da hörst Du’s,“ unterbrach Heinzemännchen in bedeutungsschwerem Tone.

Mit ängstlichen Augen las die Baronin weiter.

    „Erstens: Monika ist adelsstolz. So oft, wie ich ihr schon
    auseinandergesetzt habe, daß nicht ererbter Adel eine Zierde des
    Menschen ist, sondern einzig und allein nur der Adel der Bildung --
    sie scheint mir nicht überzeugt zu sein.

    Auch benutzt sie Briefpapier mit ostentativ großer Krone. Ferner
    zeigt sich bei ihr oft ein Hang zur Oberflächlichkeit, der die
    Freude an dem sonstigen Hochstand ihres geistigen Niveaus nicht
    ungetrübt erscheinen läßt.“

„Sogar sehr oberflächlich,“ bestätigte Heinzemännchen mit
mißbilligendem Kopfnicken -- „gefährliche Eigenschaften hat sie.“

Eine Sorgenfalte grub sich in seine schmale Stirn.

Er hätte sich wohl des weiteren über seine Schwester ausgelassen,
wenn nicht die Tür aufgerissen worden wäre. Karl, der jüngste Bruder,
stürmte herein.

„Mamachen, bitte, eine Stulle mit Wurst.“

„Aber Karl, das ist die elfte heute.“

„Dafür habe ich auch kein Mittag gegessen.“

„Das ist es ja eben. Du verdirbst Dir den Appetit mit dem ewigen
Butterbrotgestopfe. Du kriegst aber auch nicht eine einzige Stulle
mehr,“ schalt die Mutter und verfügte sich mit bewunderungswürdiger
Konsequenz in die Küche, um die verlangte Stulle herzustellen.

Karl zog mit seiner Beute triumphierend ab, und Heinrich versank wieder
in die grünen Waldgründe Eichendorffs.

Frau von Birken aber verblieb einstweilen in der Küche. Sie hatte
sich in ein Gespräch mit Martha, dem hübschen „Mädchen für alles“,
verwickelt.

Die Baronin hegte eine glühende Anteilnahme für das Geschick aller
Dienstboten, die sie je gehabt, sowie überhaupt für alle Angehörigen
der unteren sozialen Schichten, die sie mit dem Sammelnamen: „die armen
Leute“ zu bezeichnen pflegte.

In Sarkow war keine Tagelöhnerfamilie gewesen, in welcher die Baronin
nicht jeden einzelnen Sprößling beschenkt hätte, und hier in Berlin
widmete sie ihr Interesse den Portierfamilien sämtlicher Häuser,
in denen sie schon gewohnt; es waren ihrer eine ganze Anzahl, denn
länger als ein Jahr wohnte Frau von Birken in der Regel nicht in einer
Wohnung. Warum sie so oft wechselte, wußte sie übrigens selbst nicht:
sie war mit der jeweiligen Wohnung immer sehr zufrieden. Aber wenn der
Kündigungstermin näher rückte, wurde sie nervös -- vielleicht würde
eine neue Wohnung doch noch schöner sein?

Es war wohl besser, zu kündigen. Und so schnell würde ja die bisher
innegehabte Wohnung auch nicht vermietet werden: wenn man nichts
Besseres fand, konnte man ja immer noch bleiben. Also, sie kündigte.

Die Folge davon war, daß die jetzige Wohnung oft schon längst einen
Mieter gefunden, wenn Frau von Birken sich noch gar nicht für eine neue
entschieden hatte.

Sie tat das gewöhnlich erst einen Tag vor dem Umzug, zu welch letzterem
dann keine „Ziehleute“ mehr aufzutreiben waren. Ein -- zwei Tage
schwebte die Baronin dann in wahrer Verzweiflung, wußte nicht aus noch
ein. Aber wenn dann der Umzug endlich vor sich gegangen -- meistens
wurde dabei viel zerbrochen und beschädigt -- glätteten sich die Wogen
der Erregung bald. Die neue Wohnung wurde entzückend gefunden, bis im
nächsten Jahre dasselbe Spiel von neuem wieder begann.

Zu ihren Dienstboten verhielt sich Frau von Birken gerade wie zu ihren
Wohnungen: sie fand sie begeisternd, aber sie wechselte sehr gern.

Uebrigens verabschiedete sie sie nie aufs Ungewisse hin.

Mit geradezu rührender Sorgfalt suchte sie ihnen neue Stellungen aus,
erließ diesbezügliche Annoncen und schrieb ihnen Zeugnisse, nach denen
die Mädchen von hervorragenden Eigenschaften geradezu strotzten.

Die jetzige war natürlich auch wieder eine Perle. Und wie nett sie
zu erzählen wußte! Frau von Birken nahm lebhaften Anteil an den
Schwankungen des Liebesverhältnisses, das Martha mit einem Schutzmann
unterhielt. Die Herrin debattierte stundenlang mit dem Mädchen über die
Frage, ob Otto sich zur Heirat entschließen würde oder nicht. Er konnte
doch eine Frau ernähren bei der schönen Anstellung, die er hatte. Aber
ob ihm zu trauen war?

„Nehmen Sie sich nur in acht, Martha.“

Gestern war er also wirklich nicht zu dem verabredeten
Sonntags-Rendezvous gekommen? -- Das war doch entschieden sehr
auffallend. Nun, vielleicht dienstlich verhindert?

„Aber er hätte jedenfalls schreiben können.“

Die beiden waren so in dieses passionierende Gespräch vertieft, daß sie
das Läuten an der Korridortür überhörten.

Erst als Heinrich grämlich hereinrief, daß wohl erst die Klingel
abgerissen werden solle, ehe sich Martha zum Oeffnen entschlösse, lief
die letztere zur Tür.

Frau von Birken hörte ihren erstaunten Aufschrei. Gleich darauf wurde
die Tür aufgerissen -- zwei Arme schlangen sich um den Hals der
Baronin, ein ungestümer Mund preßte sich auf den ihren: Monika.

Die Mutter war zu überrascht, um Worte zu finden, aber Heinrich, der,
seinen Eichendorff fest unter den Arm geklemmt, sich in der Küchentür
sehen ließ, sagte ahnungsbang:

„Du wirst wohl wieder was Nettes angestellt haben, Mone.“

Monika ließ sich den brüderlichen Pessimismus nicht sehr zu Herzen
gehen; sie umarmte den jungen Melancholiker freudestrahlend:

„Heinzemännchen, Du siehst schon wieder so lebensüberdrüssig aus wie
ein asthmatischer Mops. Freust Du Dich denn nicht, daß ich wieder da
bin? Oder belastet schon wieder die Verantwortung für mein Betragen
Deine schwachen Schultern? Heinzemännchen, beruhige Dich -- ich habe
immer noch weder Wechsel gefälscht, noch einen Leutnant entführt.“

Frau von Birken fand nun endlich Worte. „Was hast Du bloß für einen
komischen Umhang um?“ fragte sie und strich erstaunt über die
kapuzinerbraune Umhüllung aus schwerem Loden, welche Monika trug.

„Das? -- Ein Geschenk von Tante Kläre -- ein ausrangiertes von ihr. Sie
sagt: ‚Frauen, die Toiletten-Luxus treiben, sind keine Vollmenschen.‘
-- Da ich aber zu einem solchen erzogen werden sollte...“

„O, Mone, Mone...“

„So bin ich ausgerückt. Hurra, hurra, hurra!“ Monika warf ihre geliebte
Pelzmütze in die Luft. „Martha, was zu essen, aber viel und gut! Ist
was in der Speisekammer? Nein? Na, natürlich -- wie gewöhnlich. Gehen
Sie bloß schnell was holen: Leberwurst und Semmeln und Butter und zwei
Zuckerkringel -- ich bin ganz verhungert.“

Martha eilte fort, und Frau von Birken sagte mißbilligend: „Mone,
wieder so materiell! Gleich in der ersten Minute des Wiedersehens ans
Essen zu denken...“

„Und Du hast in der ersten Minute nur an meinen Umhang gedacht, an
den braunen Umhang. Wir nehmen uns nichts, Mamachen. Du denkst an die
Kleidung, ich ans Essen -- fürs Epikureische sind wir alle beide, Gott
sei Dank.“

„Ach, Mone, Du bist genau wie immer,“ klagte Frau von Birken, indes sie
ihrer Tochter ins Eßzimmer folgte. „Und ich hatte gedacht, Du würdest
Dich geändert haben. Gerade von Tante Kläre habe ich Einfluß auf Dich
erwartet.“

„Ach, es ist komisch, Mamachen, es hat eigentlich niemand Einfluß auf
mich. Ich habe so andere Ansichten. Die würde ich ja gern ändern,
wenn mich irgend jemand durch Argumente überzeugen könnte. Aber was
die andern sagen, das ist nie stichhaltig: das zerfetze ich mit ein
paar Worten. -- Wenn mich irgend jemand überzeugen könnte, mir eine
Direktive geben -- ~mais je ne demande pas mieux~.“

„Nun sage lieber bloß schon gleich, was Du angestellt hast,“ sagte das
geliebte Heinzemännchen trocken.

„Was ich angestellt habe? Ach, gar nichts. Bloß daß sich der Doktor
Schelling in mich verliebt hat.“

„Aha, ein Mann,“ bemerkte Heinrich.

„Na -- sozusagen,“ erwiderte Monika gedehnt. „Er ist kleiner als ich
und schmäler als ich, und außerdem hinkt er auf dem linken Fuß...“

„Mone, Deine Art, auf Aeußerlichkeiten Gewicht zu legen, ist
schrecklich: ich kenne den Doktor Schelling -- ein sehr geistreicher,
feinsinniger Mann...“

„Aber, Mama, wie er aussieht -- direkt verboten!“

„Mone, Du wirst wieder gemütsroh. Wo Du das nur herhast? Wenn ich so
denke: das Gemüt, das +ich+ habe! Bei meinem Gemüt, Mone...“

„Gott sei Dank hab’ ich das nicht geerbt, Mama. Aber um auf den Doktor
Schelling zurückzukommen: der ist Tante Kläres Seelenfreund, Partisan
der Frauenbewegung natürlich. -- Großartig, was sich die beiden jeden
Tag zwischen fünf und sechs zu erzählen haben. Bertha und ich wurden
dann immer mitzugezogen, um zu modernen Mädchen, zu Vollmenschen
heranzureifen; ‚neue Horizonte eröffnen‘, nannte das Doktor Schelling.“

„Und Du hast Dich gewiß unpassend benommen?“

„Aber keine Spur! Reizend war ich, direkt niedlich. Ich habe sogar
Goethe zitiert, den ich doch eigentlich nicht ausstehen kann. Natürlich
Leonore -- natürlich:

  ‚Ich höre gern, wenn kluge Männer reden,
  Daß ich verstehen lerne, wie sie’s meinen...‘“

Frau von Birken atmete erleichtert auf.

„Wahrhaftig, Du warst nicht ungezogen?“

„Aber im Gegenteil! Ich war so artig, daß sich der gute Hinkepot in
mich verliebte. Er hat bei Tante um meine Hand angehalten. Ich wußte
gar nichts davon: mir hat er gar nichts gesagt -- bloß, daß ich schöne
Augen hätte und entzückende Hände und so. --

Aber Tante hat mir, als sie mir seinen Antrag übermittelte, einen
kolossalen Krach gemacht: nur durch meine Koketterie und meinen Hang
zur Frivolität hätte ich den großartigen, ernsthaften Doktor Schelling
zu solch einer Dummheit verleitet -- zu der Dummheit, einen völlig
unerzogenen Backfisch heiraten zu wollen, der überhaupt gar kein
Vollmensch wäre! --

Und als ich dann der Tante sagte, ich dächte gar nicht daran, ihn zu
heiraten, weil er so häßlich wäre und weil ich keinen Bürgerlichen
möchte, da wurde sie erst recht böse und sagte, ich wäre ohne jeglichen
Fond! Na, das wurde mir schließlich zu viel. Das brauche ich mir
nicht gefallen zu lassen. „Ohne jeglichen Fond.“ Da kommt man sich ja
schließlich zu dumm vor. -- Also, da bin ich ausgerückt. Geld hatte ich
bloß sehr wenig. Da bin ich dritter Klasse gefahren. Scheußlich! --
Unterwegs hat mir ein Pferdehändler gesagt, er möchte sich gern mit mir
verloben.“

„Mone!“

„Mamachen, keinen Verzweiflungsausbruch! Ich habe doch gar nichts
getan. Was kann ich dafür, wenn sich Leute in mich verlieben? --
Ah, da kommt Martha mit der Leberwurst. Leberwurst und zum Dessert
Zuckerkringel. Der alte ehrliche Wagner hat doch recht:

  ‚Es gibt ein Glück, das ohne Reu’!‘“

[Illustration]

Am Abend war die ganze Familie um den großen Tisch im Eßzimmer
versammelt. Sogar Alfred war erschienen, Alfred, der sonst seine Abende
außerhalb des Hauses zubrachte, vage Erklärungen für sein Fernbleiben
gab, die niemand ihm glaubte, seine Mutter am wenigsten.

Sie war von einem beständigen Mißtrauen gegen Alfred erfüllt. Für
diesen ältesten Sohn hatte sie nie viel übrig gehabt -- von seiner
Geburt an nicht.

Warum, war ihr selbst unklar.

Doch Alfreds Verhalten ließ ihren Mangel an Zuneigung oft recht
gerechtfertigt erscheinen; er war alles andere eher als ein guter
Charakter. Er war bei allen, die ihn kannten, seiner Boshaftigkeit
wegen gefürchtet; es gab kaum ein größeres Vergnügen für ihn, als
seine Bekannten gegenseitig aufeinanderzuhetzen. Er lernte ungern, war
faul und genußsüchtig -- dabei unleugbar von glänzender Begabung. Doch
diese Begabung hatte etwas merkwürdig Partielles. In vielen Fächern
leistete er absolut nichts, in anderen war er unübertrefflich. Er war
ein mißtrauischer Charakter, der bei allen anderen Böses witterte,
mitunter aber überraschte er durch einen Zug von Gutmütigkeit.

Auch seine äußere Erscheinung wies kein einheitliches Gepräge auf.
Sein kräftiger Körperbau und seine breiten Schultern ließen auf
einen hochgewachsenen Menschen schließen, aber er erreichte kaum das
Mittelmaß.

Mit seinem Gesicht konnte er dagegen zufrieden sein. In der Tat war
dieses Gesicht sehr schön -- alle Züge von vollendeter Regelmäßigkeit.
Er hatte kalte, blaue Augen und einen üppig geschwungenen, auffallend
roten Mund, dessen Inkarnat noch leuchtender erschien durch den dunkeln
Flaum auf der Oberlippe.

Mit der Mutter stand Alfred in sehr gespannten Beziehungen, mit den
Geschwistern kühl.

Ueber Monikas Kommen heute hatte er anscheinend auch keine Freude
empfunden.

Heinzemännchen dagegen war es angenehm, daß Monika da war. Nun konnte
er ihr wieder Lyrik vorlesen.

Monika ärgerte ihn nicht wie die Mama dadurch, daß sie seine
Deklamationen unterbrach, selbst die Verse vollendete, und noch dazu
mit falschen Versfüßen.

Heute abend kam er zu Monika mit Eichendorff, den er eben „entdeckt“
hatte.

Mit tiefem Gefühl und übertriebener Betonung las er ihr vor, jenes
schönste:

  „Denkst du noch jenes Abends, still vor Sehnen,
  Als wir das letztemal im Park beisammen?
  Wild standen rings des Abendrotes Flammen,
  Ich scherzte wild -- du lächeltest durch Tränen.
  Ob du die Mutter auch belogst, betrübtest --
  Was andre Leute drüber deuten, sagen --
  Sonst scheu -- heut’ magst du nicht nach allem fragen,
  Mir einzig zeigen nur, wie du mich liebtest...“

„Da siehst Du’s, Heinzemännchen,“ jubelte Monika: „‚Ob du die Mutter
auch belogst, betrübtest -- was andre Leute drüber deuten, sagen‘...
Da siehst Du’s! Das ist alles schnuppe, wenn man liebt. So beim Lesen
findest Du’s sehr schön, und wenn ich in Wirklichkeit so wäre...“

„Laß Dir das nicht einfallen,“ grunzte Heinzemännchen, plötzlich aus
seinen poetischen Himmeln gerissen.

Alfred warf seiner Schwester einen Blick zu. Er sprach kein Wort. Aber
dieser eiskalte Blick war eine schärfere Drohung als seines Bruders
Worte.

Karl kaute unbekümmert weiter an seiner Stulle. Frau von Birken
aber sagte ganz erregt: „Mone, ich bitte Dich, nicht immer solch
exzentrische Redensarten. Laß doch das endlich -- mir zuliebe...“

„Dir zuliebe?“ fragte Monika gedehnt. Sie warf den Kopf ins Genick:
„Ich lebe doch für mich -- nicht bloß Dir zuliebe, Mama. Man ist doch
nicht bloß dazu da, um so zu sein, wie es zufällig gerade der Geschmack
der betreffenden Eltern ist.“

„Nettes Früchtchen,“ sagte Alfred spöttisch zur Mutter.

Und Heinrich sagte strafend:

„Wenn man Dich so anhört, man sollte es rein nicht für möglich halten.“

„Ach, Ihr heuchelt bloß wieder, Jungens. Lebt Ihr denn der
Mama zuliebe? Wenn Alfred für achtzig Mark Schulden macht im
Zigarrengeschäft und Heinrich sich verbotene Bücher kauft und Karl den
ganzen Zucker stibitzt -- na, ich will ja gar nichts gegen Euch reden.
Mir ist das alles egal. Ich bin froh, wenn Ihr mich zufrieden laßt.
Aber das ist nicht zu leugnen, daß Ihr Euch selbst zuliebe lebt! Und
das tun überhaupt alle Menschen!“

„Mone, wie Du das sagen kannst, mir sagen kannst, bei meinem Gemüt!“
entrüstete sich Frau von Birken. „Meine ganze Jugend habe ich Euch
hingeopfert. Immer bin ich im Kinderzimmer gewesen, auch als Ihr zwei
Gouvernanten gleichzeitig hattet: Miß Smith, die liebe Person, und
Mademoiselle Marguerite, das entzückende Mädchen.... Ich -- habe ich
je mir selbst zuliebe gelebt? Habe ich je an mich selbst gedacht? --
Wo gibt es noch eine Mutter, die ihre Kinder so verwöhnt hätte wie
ich, sie so gestopft -- ja geradezu gestopft mit Leckerbissen -- und
mit Euch gespielt hab’ ich und mit Euch gelernt. -- Und das habt Ihr
auch gewußt. Ja, als Ihr klein wart, wart Ihr noch dankbar. Gebrüllt
habt Ihr, wenn ich auf Bälle ging -- Euch an mein Kleid geklammert,
damit ich dableiben solle... Das cremeseidene mit der griechischen
Stickerei hast Du mir direkt entzweigerissen, Mone, als Du fünf Jahre
alt warst, an dem Abend, als ich zum Regimentsball nach Hahndorf
wollte... Und Heinzemännchen wollte sich direkt aus dem Fenster
stürzen, aus der ersten Etage in Sarkow, als wir in großer Gesellschaft
einen Schlittenausflug unternahmen ... Gott, wie heute weiß ich es
noch! Ich war gerade im Begriff, in den Schlitten zu steigen -- einen
grauen Samtmantel hatte ich an mit Chinchillabesatz, und ein kleines
Barett, wie es damals neueste Mode war -- außer mir trug es noch
niemand im ganzen Kreise. -- Und Herr von Schmettwitz bietet mir die
Hand zum Einsteigen -- und plötzlich wird in der ersten Etage ein
Fenster aufgerissen, und auf dem Fensterbrett steht Heinzemännchen und
schreit... schreit, daß mir die Ohren gellen: er spränge runter, wenn
ich ihm nicht verspräche, dazubleiben. -- Ach Gott, den Augenblick
vergesse ich nicht, und wenn ich hundert Jahre alt werde! Ich rufe und
schreie: ja, ja, ich bleibe! -- Aber Heinzchen beugt sich noch weiter
vor. -- Und Euer Papa wie ein Sturmwind die Treppe hinauf und reißt den
Jungen in seine Arme. Hauen wollte er ihn! Aber das habe ich natürlich
nicht erlaubt! Und weil ich doch natürlich den Ausflug nicht versäumen
wollte, habe ich Heinzchen mitgenommen. Ach, wie süß er aussah in
seinem blauen Mäntelchen mit dem echten Persianerkragen... Ja, so
geliebt habt Ihr mich! -- Und jetzt ist das der Dank. Daß Mone solche
Sachen sagt und mich des Egoismus bezichtigt...“

„Aber, Mama, ich habe doch nichts von Dir gesagt, sondern daß die
Menschen im allgemeinen...“

„Dann hättest Du mich wenigstens davon ausnehmen sollen. Wenn Du Euch
so charakterisiert hast, dagegen kann ich ja gar nichts einwenden. Ihr
seid auch alle egoistisch! Nicht einer, der mein Gemüt geerbt hätte!“

Aufseufzend warf die zierliche Frau einen Blick in die Runde,
betrachtete die vier Gestalten mit den breiten Schultern, dem
trotzigen, kurzen Genick -- sah auf die üppigen Münder, hinter denen
die blanken Zähne lauerten, sah in die vier jungen Augenpaare, in
denen der trotzige Spruch geschrieben stand:

„Mir selbst zuliebe!“

Wildpflanzen waren sie alle vier! -- Schon in ihrer zarten Jugend waren
die Birkenschen Kinder bekannt gewesen für ihre Ungezogenheit.

Der Baron hatte die Erziehung seiner Sprößlinge völlig seiner Frau
überlassen: er selbst war vollauf damit beschäftigt gewesen, das
Grandseigneur-Leben zu führen, das er liebte.

Er war seinerzeit als wenig begüterter Junker bei den Hahndorfer
Dragonern eingetreten; trotz seiner geringen Zulage hatte er von allen
Herren des Regiments am elegantesten gelebt.

Er hatte Glück. Gerade als seine Schulden anfingen, bedenklich zu
werden, starb sein Onkel, der kinderlose Besitzer von Sarkow, der einst
ihm, dem Verwaisten, Vormund gewesen und ihm nun Sarkow vererbte.

Er hatte sich sofort zur Reserve überführen lassen. Der Dienst hatte
ihm, der einen starken Hang zur Bequemlichkeit hatte, nie viel
Freude gemacht. Es war mehr die Tradition seiner Familie als innere
Notwendigkeit gewesen, die ihn zum Soldaten gemacht.

So hatte er denn ganz gern den bunten Rock mit dem Frack vertauscht,
den er an lustigen Abenden in Monte Carlo, Spa, Trouville und Biarritz
trug.

Johann Birken war fast zwei Jahre auf Reisen gewesen, ehe er sich
persönlich der Verwaltung seines Gutes widmete.

Er fand Sarkow sehr langweilig -- so langweilig, daß er auf die Idee
verfiel, sich zu verheiraten.

Er verliebte sich bei einem Aufenthalt in der Landeshauptstadt in die
Tochter eines dortigen Universitätsprofessors: die schöne Mali.

„Die schöne Mali“ hieß hauptsächlich darum so, weil ihre Schwestern gar
so häßlich waren.

Vier Schwestern hatte sie, die waren unsinnig gebildet, und es ging
die Sage von ihnen, daß sie ihrem Vater bei den schwierigsten Arbeiten
halfen, daß sie Latein und Griechisch redeten wie ihre Muttersprache.

Von diesem klassisch gebildeten Hintergrund hob sich die schöne Mali
doppelt wirkungsvoll ab.

Statt der philosophischen Gelehrsamkeit besaß sie schöne, dunkle Augen
und einen leichten Sinn.

Neben dem blassen Teint der Schwestern wirkten ihre blühenden Farben
desto schöner; neben der Schwestern knochiger Größe nahm sich ihre
zierliche, geschmeidige Figur doppelt graziös aus -- kurz, man konnte
sich keine vorteilhaftere Folie denken für die schöne Mali.

Baron Birken, der seinen stark ausgeprägten Adelsstolz auf seinen
Reisen, inmitten der internationalen Milieus, zum großen Teile
abgestreift hatte, hielt kurz entschlossen um des Professors schöne
Tochter an.

Achtzehn Jahre war sie alt, hübsch, temperamentvoll, nicht unbemittelt
-- kurz, diese Liebesheirat schien ihm außerdem nicht unvernünftig.

Die Ehe war alles in allem weder glücklich noch unglücklich zu nennen
gewesen.

Der Baron ärgerte sich oft über den Hang zur Unordnung, den seine
Frau hatte; sie besaß ein geradezu hervorragendes Talent, ihre Sachen
durcheinander zu werfen und zu verlegen.

Mitunter fand er Mali auch reichlich kokett und äußerte dann seine
Mißbilligung in harten Worten. Aber ihr jugendlicher Charme, ihre
liebenswürdige Gemütsart versöhnten ihn immer bald wieder.

Mali hatte sich in ihrer Ehe oft „unverstanden“ gefühlt.

Ihr Mann besaß so sehr wenig geistige Bedürfnisse, besaß auch
nicht „so viel Gemüt“, wie sie es gewünscht hätte. In ihren ganzen
Lebensanschauungen gingen die Eheleute sehr auseinander.

Die liberalen Ansichten, die Mali aus ihrem Vaterhause mitgebracht,
stimmten schlecht zu den Meinungen des Gatten, der -- wenn auch nicht
in extremer Weise -- durchaus konservativen Anschauungen huldigte.

Doch gab es Punkte, in welchen die beiden in ihren Gesinnungen durchaus
zusammentrafen: sie hatten beide einen sehr ausgeprägten Sinn für
Gastfreundschaft, liebten Gesellschaften und rauschende Vergnügungen --
Luxus jeder Art.

Da bei ihnen diese Anlagen durch keinerlei Selbstdisziplin gezähmt
wurden, so hatte es nicht lange gedauert, bis ihre wirtschaftlichen
Verhältnisse sich verschlechterten.

Die Jeu-Leidenschaft des Barons beschleunigte den pekuniären Abstieg,
und schließlich hatte Birken froh sein müssen, als ihm sein Schwager,
Herr von Holtz, das total überschuldete Sarkow für einen anständigen
Preis abkaufte.

Mit dem kleinen Kapital, das sich als Ueberschuß ergeben, ging’s
nun der Großstadt zu, dem Schlachtfelde, auf dem die schwankenden
Existenzen siegen oder verderben.

Der Baron Birken war keine Siegernatur gewesen, wenn es arbeiten hieß.
Er gehörte zu den Leuten, denen man alle guten Eigenschaften zubilligt,
solange sie im Besitz von Stellung und Vermögen sind.

Wenn sie auf den Höhen des Lebens stehen, scheinen diese Leute in eine
Waffenrüstung gekleidet, geschützt und umpanzert, bewehrt und bewaffnet
mit gutem Stahl, aber das sind Turnierwaffen, glänzende Nichtigkeiten,
machtlos wie Pappschwerter, wenn es kein Turnier mehr gilt, sondern
eine Schlacht, die Schlacht des hartgrinsenden Lebens.

Was half es Birken, daß er ein ausgezeichneter Reiter war, wenn er sich
um eine Stellung als Versicherungsinspektor bewarb? --

Was halfen ihm seine tadellosen Manieren, als er dem Chef, der den
Posten eines Disponenten zu vergeben hatte, gestehen mußte, daß er von
Buchführung keine Ahnung hatte? --

Was half ihm seine Gentleman-Gesinnung, als er nach „Branchekenntnis“
gefragt wurde bei dem Schuhwarenfabrikanten, der einen gut bezahlten
Vertrauensposten zu vergeben hatte? --

Die blanken Waffen des Barons Birken waren Kinderspielzeug, als die Not
ihn rief. Und er ergab sich, war besiegt, ohne sich gewehrt zu haben,
-- ein gebrochener Mann!

Seine schönen Hände mit den rosigen, manikürten Fingerspitzen waren
nicht von jenen, die zupacken mit tödlich sicherem Griff, waren
nicht von jenen, die sich zu trotzig willensstarken Fäusten ballen.
Schöne Hände waren es, schöne, nutzlose Hände, nur gemacht, um einen
Pferdezügel zwischen den Fingern zu fühlen, ein paar Kartenblätter zu
halten, Goldstücke zu verstreuen.

Und diese schönen Hände lernten es, sich zusammenzukrampfen in Not, in
tatenloser Verzweiflung.

Es stand schlecht um die Familie.

Mali jammerte von früh bis spät. Was sie aber nicht verhinderte, oft
recht glücklich zu sein. Oft trug sie ihr Leichtsinn über Abgründe
hinweg, in denen andere schaudernd versinken.

Wohl strengte sie oft ihre Lungen in geradezu übermäßiger Weise an, um
ihren Mann an seine Pflicht zu erinnern: „Du mußt aufstehn, Johann.
Glaubst Du, Du bekommst eine Stellung, wenn Du jeden Tag bis ein
Uhr im Bett liegst?! Du mußt doch für uns sorgen!! Ich laufe immer
noch mit dem Kleid vom Frühjahr herum, und Alfred und Heinzemännchen
klagen, der Lehrer hätte sie schon zum zweiten Male nach dem Schulgeld
gefragt...... O Gott, wie soll das alles noch enden?“

Eine Antwort war ihr auf diese Frage nicht zuteil geworden. Herr von
Birken war weniger expansiv als seine Frau. Was er gelitten haben
mochte in der ihn demütigenden Rolle des Bittstellers, das wußte
niemand. Das Leben, das er führte, hatte ihn bald mürbe gemacht:
sein willensschwacher Charakter hielt nicht stand, -- sein Charakter
verkümmerte wie ein Baum, den man der Heimatserde entrissen.

Dann kam eine Lebensperiode, die Frau Mali als Aufschwung bezeichnete:
der Baron Johann von Birken-Sarkow hatte eine Stellung als
Sektreisender gefunden. Er war blaß wie Kalk, als er seiner Frau diese
Neuigkeit mitteilte. Seine Zähne waren so fest zusammengekrampft, daß
sich die Worte nur mit Mühe zwischen ihnen Bahn brachen.

Aber das hatte Frau Mali nicht bemerkt. Sie war ganz begeistert, --
eine so berühmte Firma -- -- ein so reichliches Gehalt! --

Gott sei Dank, nun würden die bösen Tage vorüber sein. Mit der kleinen
Rente, die man aus dem Schiffbruch gerettet, ließ es sich doch auch gar
zu schlecht leben.

Aber Mali war, wie so oft, zu hoffnungsfreudig gewesen. Ihr Mann, der
früher immer ärgerlich jeden solchen „Sektfritzen“ abgewiesen, ohne ihn
zu Worte kommen zu lassen, war nicht die geeignete Persönlichkeit, um
nun selber die andern zum Kaufen anzuregen.

Die Firma hielt ihn einige Zeit wegen seines klingenden Namens, seiner
vornehmen Erscheinung, aber schließlich kam der Tag, an welchem sein
Chef ihn darauf aufmerksam machte, daß seine Gesundheit vielleicht
diesem Reiseleben nicht gewachsen sei. Herr von Birken bat darauf um
seine Entlassung.

Und dann ging es schnell abwärts. Eine schwere Nierenkrankheit
ruinierte diesen mächtigen Körper.

Mali entfaltete in der Leidenszeit ihre besten Eigenschaften, mit
aufopfernder Sorgfalt und unermüdlicher Hingabe pflegte sie den
Schwerkranken.

Wieder trat ihre seltsame Charaktereigenschaft zutage: hauptsächlich
die Leute gut zu behandeln, denen es recht schlecht ging.

Ueber den Ernst der Krankheit war sie sich nie ganz klar; sie jammerte
zwar über ihr schweres Los, aber an eine Lebensgefahr dachte sie nicht.

Die Kinder wurden in dieser Zeit etwas vernachlässigt; es blieb
wirklich keine Zeit, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Alfred wurde
aus dem Kadettenkorps, in dem er nur wenige Monate zuvor aufgenommen
worden war, zurückgeschickt. Sein störrischer Charakter, sein Mangel an
Autoritätsglauben hatten es den Erziehern ratsam erscheinen lassen,
ihn aus dem Korps zu entfernen.

Zu Hause zeigte er sich verschlossen und seltsam wie immer, dazu
unbotmäßig gegen die Mutter, die ihm ja nie weder Liebe noch Respekt
eingeflößt hatte.

Monika, die bis dahin ein sehr herzliches Verhältnis zur Mutter
gehabt, in regstem Gedankenaustausch mit ihr gestanden, begann nun
geistig eigene Wege zu gehen, schwelgte in Gedankengängen, deren heiße
Phantastik ihrer Entwicklung Gefahren bot.

Heinrich wurde noch verschlossener, als er es schon gewesen, und
Karl bildete seine hervorragende Begabung fürs Lügen noch weiter
aus. Er „schwänzte“ oft mehrmals wöchentlich die Schule, fand immer
neue Entschuldigungsgründe dem Lehrer sowie der Mutter gegenüber,
und blickte bei seinen haarsträubendsten Lügen mit so taubenhaft
unschuldigen Augen und so gleichmäßig rosigen Wangen in die Welt, daß
man ihm immer wieder glaubte.

In dieser Atmosphäre von Krankenstubenluft und wirtschaftlichem
Rückgang begann eine böse Saat aufzukeimen in den vier jungen Seelen.
Zwischen diesem langsam sterbenden Vater, dessen tiefe Apathie mitunter
durch aufflackernde Wutanfälle unterbrochen wurde, und der fahrigen
Mutter mit den ewig mädchenhaften Bewegungen und dem Mangel an
Selbstdisziplin wuchsen diese vier Kinder empor, schossen in Blüte wie
Unkraut.

Es war keine Faust über ihnen, die mit sicherem Griff ihr Leben in
gebahnte Gleise gelenkt hätte. Sie gingen ihre eigenen Wege. Ihre
Wünsche durchsetzend um jeden Preis, begannen sie ihr Leben zu leben
einfach und brutal, jung und genußsüchtig...

[Illustration]



5.


Die ersten Tage nach Monikas Rückkehr konnte sich Frau von Birken nicht
dem großen Einfluß entziehen, den ihre Tochter auf sie ausübte. Keines
ihrer anderen Kinder war von so strahlender Lebenslust erfüllt wie
Monika, keines der anderen hatte eine so amüsante Art.

Trotzdem stand in den Gefühlen der Mutter Heinrich unbedingt obenan.

Monika erhielt den zweiten Platz, in weitem Abstande folgte Karl und in
unmeßbarer Distanz Alfred.

Die Lieblingskinder hatten Vorrechte, die den anderen nie zuteil
wurden. Frau von Birken machte da die merkwürdigsten Unterschiede:
Heinzemännchen bekam ein gutes Frühstück ans Bett, Monika ein
weniger reichhaltiges auch ans Bett, Karl mußte aufstehen, bevor er
frühstückte, und für Alfred wurden überhaupt keine Umstände gemacht.

Seitdem jetzt Monika zurückgekehrt, hatte die Mutter viel Zeit für sie.
Wenn die Jungen vormittags im Gymnasium waren, setzte sich Frau von
Birken oft zu ihrer Tochter ans Bett. Monika war im Gegensatze zu ihrer
Mutter, die sich schon um sieben Uhr früh im Haushalt beschäftigte, nur
schwer zum Aufstehen zu bewegen. Arbeit im Haushalt war ihr vollends
verhaßt.

Frau von Birken hielt ihr diese beiden Punkte ihres Betragens täglich
in tadelnder Weise vor, aber sie erreichte nicht das mindeste damit;
sie wußte auch eigentlich ganz genau, daß das alles in den Wind
gesprochen war. Aber das hielt sie nicht davon ab, Monika jeden Morgen
dieselben Vorwürfe zu machen.

„Was soll bloß aus Dir werden?! Wenn ich ein so großes Mädchen wäre,
ich würde mich schämen, faul im Bette zu liegen, wenn meine Mutter
arbeitet. Ich kann mir überhaupt gar nicht vorstellen, was aus Dir
werden soll. Mit der Schule bist Du jetzt fertig, -- heiraten wirst Du
nicht, -- heutzutage heiratet man kein armes Mädchen. Mehr als eine
ganz kleine Rente das Jahr kann ich Dir nicht mitgeben. Der Papa hat
so wenig hinterlassen; wenn er nicht so hoch versichert gewesen wäre,
könnten wir jetzt Hunger leiden. Und mit dem winzigen Zuschuß, den
ich Dir geben kann, findest Du keinen Mann. Hübsch bist Du auch nicht
besonders -- --“

„Ohh -- -- --,“ flehte Monika, „ohh --“

„Nein, wenn ich denke, wie ich aussah, als ich in Deinem Alter war, --
Du bist gar nicht schlank genug für ein junges Mädchen, -- ich habe
heute noch zehn Zentimeter Taillenweite weniger als Du, und Du bist
auch nicht bescheiden genug für ein junges Mädchen. Nein, ein wirklich
hübsches junges Mädchen muß ganz anders aussehen: große, fragende
Kinderaugen muß es haben.“

„Na, groß sind doch meine Augen genug!“

„Ja, aber keine fragenden Kinderaugen! -- Und ein kleines, kleines
Mündchen muß ein schönes junges Mädchen haben und eine schlanke Taille
und einen bescheidenen Gesichtsausdruck.“

„Nur die Lumpe sind bescheiden!“

„Mone, wende den Goethe bloß nicht immer so entsetzlich falsch an.
Also: hübsch bist Du nicht. Klug, -- ja, das will ich nicht leugnen.
Du bist sehr begabt, Du mußt das Hauptgewicht auf Deine geistige
Ausbildung legen, -- zur Hausfrau hast Du auch kein Talent.“

„Ich möchte Schriftstellerin werden.“

„Kind, Du hast doch einen förmlichen Größenwahn. Sieh mich an: ich bin
doch Deine Mutter, -- na, und bin zwanzig Jahre älter als Du, und mir
ist es nicht einmal gelungen, gedruckt zu werden. Vierzehnmal habe ich
Manuskripte abgeschickt -- und alle, alle habe ich sie zurückbekommen.
Das einzige, was je von mir gedruckt worden ist, ist ein Küchenrezept,
-- -- und da willst Du Schriftstellerin werden?! Wo ich so viel mehr
Gemüt habe als Du --“

„Gemüt ist literarisch gar nicht mehr modern,“ versicherte Monika.

„Ach, man weiß wirklich nicht, was man mit Dir anfangen soll,“ klagte
die Mutter weiter, „um die Jungen ist mir ja nicht angst, das hat der
Papa auch schon immer gesagt: „um meine Söhne ist es mir nicht angst,
aber um Monika.“ -- Ja, mit Mädchen hat man seine liebe Not. Am besten
wäre es vielleicht, Du würdest studieren.“

„Aha, Tante Kläres Prinzipien,“ bemerkte die Tochter.

„Ich will gar nicht leugnen, daß Kläre Einfluß auf mich hat. Sie ist
riesig klug, die klügste von uns Schwestern. Sie weiß ganz genau, was
sie tut, wenn sie ihre eigene Tochter studieren läßt. Und so begabt
wie Bertha bist Du noch lange. Ich bin sogar überzeugt, daß Du noch
leichter lernst.“

„Liebe Mama, soll ich studieren, um zu beweisen, daß ich leichter lerne
als Bertha? Oder hast Du noch einen anderen Grund, um mir zum Studieren
zu raten?“

„Aber, Kind, ich habe Dir doch eben alles lang und breit
auseinandergesetzt: Du hast mehr geistige als körperliche Vorzüge, Du
hast wenig Chance, Dich zu verheiraten. Das Studium sichert Dir eine
geachtete gesellschaftliche Position. ‚Fräulein Doktor‘ ist doch ganz
was anderes, als wenn Du womöglich simple Gouvernante wirst. Irgend was
wirst Du doch tun müssen. Der Papa hätte es ja natürlich nicht gewollt,
-- er hätte es „unstandesgemäß“ gefunden, -- aber ich habe solche
Vorurteile nicht. Ich bin eine moderne Frau! Ich gehe mit der Zeit
mit.“

„Und mit Tante Kläre -- --,“ sagte Monika ironisch.

Die Anregung der Mutter ging ihr lebhaft im Kopf herum.

Zunächst einmal war sie tief gekränkt, daß die Mutter ihr Aeußeres
so ungünstig beurteilt; die anderen Leute fanden sie doch hübsch,
sagten ihr das in unverblümter Weise. Was das Studieren anbetraf, so
war sie nicht etwa abgeneigt, die Wünsche ihrer Mutter zu erfüllen.
Bei ihrem lebhaften Wissensdurst, ihrer Freude am Lernen wäre ihr das
Studienprojekt geradezu ideal erschienen, wenn sie nicht eine lebhafte
Abneigung gegen den Begriff der „Studentin“ gehabt hätte. Sie selbst
kannte gar keine studierende Frau, sondern hatte sich aus Witzblättern
und aus Redensarten, die sie gehört, eine Art Zerrbild der Studentin
geschaffen, die sie sich mit kurz geschnittenen Haaren, männlichen
Allüren und in uneleganter Kleidung vorstellte. Immerhin hatte sie
keine Einrede, als sie eines Tages von ihrer Mutter ersucht wurde, mit
ihr zu Fräulein Doktor Stark zu kommen.

Fräulein Doktor Stark war die Begründerin und Leiterin der
Mädchen-Gymnasial-Kurse, in denen Damen zum Abiturienten-Examen
vorbereitet wurden.

Monika war unsympathisch berührt von dem scharfen Blick der grauen
Augen. Dazu kam der schneidende Tonfall, in welchem das Fräulein Doktor
ihre knappen Fragen stellte.

„Ihr Name?“

„Freiin Monika von Birken.“

„Alter?“

„Sechzehn.“

„Bisheriger Bildungsgang?“

„Ich habe die Töchterschule von Fräulein von Zieritz absolviert.“

„Als ~prima omnium~,“ fiel Frau von Birken ein, mit liebenswürdig
verlegenem Lächeln; sie hatte vor dem gestrengen Fräulein Doktor viel
mehr Angst als Monika.

Fräulein Doktor Stark würdigte die Baronin nicht einmal eines
Seitenblicks.

„Wie denken Sie über die Stellung der Frau im gegenwärtigen Leben?“
inquirierte sie Monika weiter.

Die Angeredete war etwas verblüfft; ihre sonstige Schlagfertigkeit
schien sie im Stiche lassen zu wollen.

„Hm, wir haben es doch schließlich eigentlich in den meisten Sachen
bequemer als die Männer,“ sagte sie.

Fräulein Doktor zuckte empört die Achseln und sagte:

„Eine bedauerliche Unreife! Aber sonst spricht nichts gegen Ihre
Aufnahme in meine Gymnasial-Kurse. Ihre Ansichten werden Sie bei uns
schon ändern.“

[Illustration]

Diese Ueberzeugung der Gestrengen erwies sich als nicht stichhaltig.

Nachdem Monika eine Zeitlang an den Kursen teilgenommen, war ihre
Lebensauffassung immer noch die gleiche.

Infolge ihrer eminent leichten Auffassungsgabe gehörte sie nach kurzer
Zeit zu den besten Schülerinnen, ausgenommen in Mathematik, einer
Wissenschaft, von der sie nie auch nur das geringste verstand.

Alles in allem machten ihr diese Kurse sehr viel weniger Eindruck,
als sie erwartet. Es war eigentlich wie in der Schule von Fräulein
von Zieritz, nur daß man hier mit dem Vatersnamen aufgerufen wurde,
statt wie dort mit dem Vornamen, und daß die Schülerinnen hier
nicht einheitlichen Alters waren, sondern in den verschiedensten
„Jahrgängen“. Und die Damen stammten aus den verschiedensten Milieus.

Neben Fräulein von Roch, der Tochter eines aktiven Generals, mit den
korrekten Manieren der preußischen Offizierstochter, saß Olga Iwanowna
Safiro, eine Russin von vager Herkunft und recht asiatischem Benehmen.

Neben Frau Kramer, einer Frau mit ergrauenden Schläfenhaaren, die zu
Hause zwei halbwüchsige Kinder hatte, saß ein kaum sechzehnjähriges
Mädel, das vor wenigen Wochen noch die Schule besucht.

Neben dem abgerissen gekleideten Mädchen, das sich nicht satt aß, um
Geld für die Kurse aufzubringen, saß die Tochter eines Kommerzienrats,
die einen wahren Juwelierladen zur Schau trug.

Uebrigens waren so ziemlich alle in dieser aus allen Windrichtungen
zusammengewehten Schar von ehrlichem Lerneifer erfüllt. Und fast alle
waren sie durchdrungen von der Idee, daß nun eine neue Zeit für die
Frau hereinbreche.

Vielleicht war Monika die einzige, die das ganze Studieren als eine Art
Spiel auffaßte, die die „Mission“ nicht sehr ernst nahm.

Bei vielen der ernst strebenden Mitschülerinnen erregte ihre Art direkt
Unwillen, um so mehr, als sie hier, wie auch früher in der Schule,
einen ganzen Troß von Verehrerinnen und Anhängerinnen hatte, die jeden
ihrer Witze dankbarst belachten.

Ihre erbittertste Feindin war Magda Kirchstett, ein schlankes,
brünettes Mädchen von sechsundzwanzig Jahren. Von allen in der Klasse
war sie wohl am meisten von der Wichtigkeit dessen, was man hier tat,
durchdrungen. Oft hielt sie flammende Agitationsreden.

„Pioniere sind wir einer neuen Kultur, Schrittmacher für die Tausende
von anderen, die nach uns kommen werden. Wir alle müssen durchdrungen
sein von dem stolzen Gefühl: mit zu den Ersten zu gehören, die sich
frei machen von jahrtausendelanger, alter Schmach. Der Mann hat uns
schlimmer behandelt, als man Tiere behandelt. Er hat uns körperlich und
geistig gemißhandelt und hat uns ausgebeutet in jeder Beziehung, er hat
uns rechtlos gemacht, uns tausendfach gekreuzigt!

Aber der neue Morgen bricht an für unser Geschlecht. Noch sind wir
wenige, aber mit brennendem Eifer schmieden wir die Waffen, mit denen
wir uns befreien werden. Und diese Waffen sind: Fleiß, unermüdliche
Arbeitskraft! Lernen müssen wir -- Wissen erlangen, um unserem
mächtigen Feinde entgegentreten zu können. Waffen brauchen wir! Und die
mächtigste Waffe im Kampfe gegen den Mann ist...“

„Das Küssen!“ schrie Monika.

Magda Kirchstett tat den Mund auf, schnappte nach Atem, aber ehe sie
diese Lähmung der Entrüstung überwunden, war Monika auf die Bank
gestiegen.

„Meine Damen!“ rief sie mit ihrer hellen Kinderstimme, „die besten
Waffen im Kampfe gegen den Mann sind die ältesten Waffen -- dieselben,
die schon unsere verehrten, gänzlich unmodernen und stupiden
Großmütter gebraucht haben: ein bißchen schmeicheln -- nein! -- sehr
viel schmeicheln und lieb sein und küssen! Sie sind ja auch nicht so
schlimm, die Männer, wie Fräulein Kirchstett glaubt. Es gibt doch viele
riesig nette, und es wäre doch gar zu langweilig, wenn es nur Damen auf
der Welt gäbe! Jede von Ihnen, die mal einen Damenkaffee mitgemacht
hat, wird mir beipflichten. Darum schlage ich Ihnen einen Toast auf die
Männer vor. Wir wollen sie leben lassen. Was? Leben lassen -- dreimal
hoch! Hoch! und zum zweitenmale...“

Die Tür öffnete sich.

Herein schnaufte Professor Hermann, der dicke Mathematiklehrer.

„Was ist denn hier los?“

Monika warf ihm einen koketten Blick zu und sagte
kindlich-liebenswürdig:

„Es ist meine Schuld, Herr Professor, ich hatte vor den Damen einige
Theorien erörtert, die allgemeinen Anklang fanden.“

Magda Kirchstett stieß einen Zorneslaut aus; auch viele andere schienen
lebhaft indigniert.

Andere lachten, und der Professor sagte wohlwollend: „Na, wenn es so
allgemein gefallen hat, wird es wohl was sehr Nettes gewesen sein,
Fräulein von Birken.“

Monika setzte sich strahlend, denn so freundlich war der
Mathematiklehrer zu seiner schlechtesten Schülerin selten.

„Es war eben mein steinerweichender Blick, der ihn so liebenswürdig
machte,“ triumphierte Monika nach der Stunde.

Aber sie sollte nicht so billigen Kaufes davonkommen.

Fräulein Kirchstett war nun wieder im Vollbesitz ihres Sprechorgans
und ihrer geistigen Fähigkeiten, und so ergoß sich nun ein Niagara von
Vorwürfen über Monikas schuldiges Haupt.

„Birken, die von Ihnen geäußerten Ansichten decken eine sittliche
Unreife auf, wie man sie bei einer Hörerin unserer Kurse nicht für
möglich halten sollte! Leider bin ich genötigt, Fräulein Doktor Stark
mitzuteilen, daß wir alle Sie für ungeeignet halten, mit uns zu kämpfen
und zu streben. Ja, wir alle...“

Protestierende Zurufe wurden laut.

„Von mir aus kann sie ruhig mitkämpfen,“ sagte die
Kommerzienratstochter friedlich.

„Birken ist überhaupt ein riesig netter Kerl,“ rief eine andere.

Frau Kramer sagte melancholisch: „Ihr Loblied auf die Männer war
wirklich von keiner Sachkenntnis getrübt, Birken.“

Und im Hintergrunde schrie eine: „Birken ist ein ganz naseweiser Fratz.“

Monika packte ihre Mappe zusammen und sagte: „Kinder, tobt Euch allein
aus. Ich gehe mich ein bißchen erholen, in den Tiergarten. Kommt jemand
mit? Entschuldigt mich, bitte, bei Professor Mellenthin. Es tut mir
sehr leid, die griechische Stunde zu versäumen, aber das Wetter ist zu
schön, und im Tiergarten fängt der Flieder schon an zu blühen.“

Kaltblütig ging sie hinaus, während die drinnen wie ein aufgescheuchter
Spatzenschwarm durcheinander lärmten.

Monika schlenderte durch den Tiergarten, ließ den Zauber der
erblühenden Büsche auf sich wirken, musterte Pferde und Reiter, die
vorüberkamen, und dachte über sich selbst nach.

Sie fühlte sich sehr allein. „Ich bin doch eigentlich ein unglückliches
Zwittergeschöpf,“ philosophierte sie und pfiff betrübt einen
Schmachtwalzer vor sich hin. „Bin ich nun eigentlich ein Kind meiner
Zeit? Dieser Zeit, in der die Frau die engumhegten Bahnen verläßt, in
denen sie jahrtausendelang gewandelt, in der sie kühn hinausstürmt in
die Weite, den Kopf noch ein bißchen benommen von dem grellen Licht,
das so plötzlich auf sie einströmt.

Oder wäre ich auch in jedem anderen Zeitalter möglich?

Diese zwei Naturen in mir, die sich gegenseitig bekämpfen... wie sagt
doch Doktor Rodenberg? Aphrodite und Pallas vertragen sich schlecht
miteinander ...

Die süße Aphrodite lächelt so spöttisch, wenn ich mich zu der
eulentragenden, gelehrten Göttin flüchte, und die stolze Pallas
grinst geradezu, wenn mich all mein Sein zur schönsten Göttin zieht.
Schrecklich, schrecklich!“

So sann Monika vor sich hin, ging aus dem gepfiffenen Walzer in eine
Polka über und hopste nach dem Takt derselben den sonnenbeschienenen
Fußpfad entlang, von den wohlwollenden Blicken zweier alter Herren
gefolgt.

Am nächsten Tage hatte Fräulein Doktor Stark eine private Unterhaltung
mit Monika.

„Mir haben Damen Ihrer Klasse mitgeteilt, daß Sie Ihrer ganzen
Auffassung nach vielleicht nicht geeignet sind...“

Monika unterbrach.

„Fräulein Doktor, ich habe mir einen harmlosen Scherz gemacht.“

„So? -- Nun, jedenfalls interessiert es mich, zu erfahren, welchen
Standpunkt Sie mit Bezug auf Ihre Studien einnehmen. Wie denken Sie
sich Ihren Lebensgang überhaupt?“

„Zunächst will ich hier das Abiturientenexamen machen und dann...“

Monika stockte.

„Welchem Studium wollen Sie sich widmen? Medizin?“

„O pfui!“ schrie Monika los, „Leichen zerschneiden!“

Ihr Gesicht zeigte den Ausdruck höchsten Entsetzens.

„O pfui!“

„Beherrschen Sie sich. Das ist kindisch. Also Philologie?“

„Nein.“

„Jura?“

„Nein.“

Monika besah ihre Fingernägel, und plötzlich kam ihr eine Eingebung.

„Nationalökonomie,“ sagte sie entschlossen.

„So, so,“ die Gestrenge schien besänftigt, „und in welcher Weise
gedenken Sie diese Studien zum Wohle der Frauenwelt anzuwenden?“

„Nationalökonomie,“ sagte Monika noch einmal bedeutungsschwer; sie ließ
diese rettende Planke nicht mehr los.

Daß sie etwas unklare Begriffe über die Bedeutung dieses Wortes hegte,
brauchte Fräulein Doktor ja nicht zu erfahren.

So endete die Unterredung weniger schlimm, als Monika es sich
vorgestellt.

[Illustration]

Wochen und Monate gingen dahin.

Die Baronin Birken erzählte stolz allen ihren Bekannten, daß Monika
studieren solle; sie schrieb es ihren sämtlichen Verwandten.

Frau von Holtz äußerte sich recht mißbilligend über das Studienprojekt.
Sie erwähnte, daß ihre Tochter Marie sie auch schon um die Erlaubnis
zum Studieren gebeten. Dieser „moderne Unsinn“ schien förmlich eine
ansteckende Krankheit zu sein. Sie habe natürlich empört die Erlaubnis
verweigert. Die Ungebundenheit der Studienjahre sei mit der Würde und
dem Anstand eines jungen Mädchens unvereinbar. --

Marie maulte jetzt die ganze Zeit, daß sie ihren Willen nicht
durchsetzen dürfe; sie aber würde unbeirrt ihrer Mutterpflicht genügen
und hoffe, den Verwandten schon in nächster Zeit die Verlobung
Mariechens mitteilen zu können.

„Ach, eine Verlobung!“ Frau von Birken war Feuer und Flamme. „Wer es
wohl sein mag? Und ob es eine gute Partie ist? Nun, wahrscheinlich
doch. Marie als Erbtochter von Sarkow kann Ansprüche machen.“

Die Baronin sprach in den nächsten Tagen nur von dieser Verlobung und
erging sich in den verschiedensten Vermutungen.

Ihr Interesse wurde erst abgelenkt, als sie einen Brief ihrer Schwester
Kläre empfing. Auch dieser Brief war eine Antwort auf Malis Mitteilung,
daß ihre Tochter studieren solle.

Kläre schrieb, sie freue sich, daß nun doch Monikas bessere Instinkte
zum Durchbruch kämen. Das Studium würde ein unübertreffliches Mittel
sein, um Monikas Hang zum Leichtsinn entgegenzuarbeiten.

Was ihre eigene Tochter Bertha anbeträfe, so sei es für die nun auch
höchste Zeit, sich auf das Abiturienten-Examen vorzubereiten, und zwar
in ernsthafterer Weise als bisher. Der Unterricht durch den Vater
zeitigte leider nicht die Früchte, die man berechtigt gewesen wäre,
zu erwarten. Und so sähe sie sich denn genötigt, Bertha nach Berlin
zu schicken, wo dieselbe auch den Gymnasialkursen von Fräulein Doktor
Stark eingereiht werden solle. Sie hoffe dringend, daß sich Berthas
Charakter dort von Grund auf ändere. Leider sei sie einstweilen ein
durchaus unmodernes Mädchen, interessiere sich mehr für den Haushalt
als für die Wissenschaft. Natürlich aber werde sie -- Kläre -- ihren
Mutterpflichten getreulich nachkommen und es zu verhindern wissen, daß
Bertha ein Schablonendasein führe.

„Ach, Berthchen kommt zu uns,“ rief Frau von Birken, indem sie
plötzlich die Lektüre des Briefes unterbrach. „Wie nett! Bertha ist
ein reizendes Mädchen. Ich muß doch gleich mal sehen, ob das gelbe
Fremdenbettstell in Ordnung ist. Martha, schnell den Schlüssel zum
Boden.“

„Rege Dich gar nicht erst auf, Mamachen,“ sagte Monika, die den von
ihrer Mutter achtlos weggeschleuderten Brief inzwischen zu Ende
gelesen. „Bertha kommt nicht zu uns.“

„Ach, warum denn nicht?“

„Hier steht es: sie kommt zum Bruder ihres Vaters, dem Professor
Reckling.“

Frau von Birken war empört.

„Komische Idee von Kläre. Ich als Schwester wäre wohl doch die nächste
dazu, ihre Tochter aufzunehmen. Bertha ist ein nettes Mädchen, ich
hätte sie so verwöhnt...“

„Mehr als mich,“ brummte Monika. „Fremde Kinder behandelst Du immer
besser als uns, Mama.“

„Die ärgern mich auch weniger als Ihr! Nicht ein einziger von Euch ist
gehorsam.“

„Das hat Tante Kläre wohl auch gedacht und unseren Einfluß auf Bertha
gefürchtet,“ sagte Monika. „Mir wird doch immer gesagt, daß ich so
demoralisierend wirke -- de -- mo -- ra -- li -- sie -- rend...,“ sang
sie im Walzertakt und schwang die Mutter in die Runde.

Nach Berthas erstem Besuch bei Birkens war Mali von ihrer Nichte
entzückt. Das machte aber niemandem einen großen Eindruck, da sie sich
für unendlich viele Leute begeisterte.

In diesem Falle hatte sie wirklich keine genügende Ursache, entzückt zu
sein. Bertha besaß nichts irgendwie Hervorragendes.

Sie war ein schlankes, blondes Mädchen mit schmalen Schultern und
ziemlich ausdruckslosen Augen. Ihre geistige Befähigung war knappes
Mittelmaß, ihr Charakter war harmlos freundlich, nur momentan war ihre
Stimmung verbittert durch den Zwang, den die Mutter auf sie ausübte.
Bertha wäre so froh gewesen, wenn man sie das Leben hätte führen
lassen, wie es alle ihre Freundinnen führten: in der Wirtschaft helfen,
ein bißchen Klavier spielen, ein bißchen malen, hübsche Handarbeiten
machen, Bälle besuchen, die Eisbahn, den Tennisklub.

Und dann sich verloben -- ach, himmlisch! -- heiraten, hübsche Kinder
haben mit schön frisierten Haaren und weißen Spitzenkleidern.

Und da kam Mama nun mit der unglücklichen Idee des Studiums.

So oft sie ihrer Tochter auch vorhielt, in welch begnadeter Zeit
sie lebe, daß es ihr gestattet sei, all ihre Geisteskräfte voll
zu entfalten, indes ihre Mutter seinerzeit durch die herrschenden
Anschauungen gezwungen gewesen, dem herrlichen Plane: ganz im Dienste
der Wissenschaft aufzugehen, zu entsagen -- Bertha ließ sich nicht
überzeugen.

Sie gehorchte zwar dem Gebot der Mutter, aber ohne jede innere
Freudigkeit.

In den Kursen -- sie war in denselben Zötus eingereiht worden wie
Monika -- fiel sie durch nichts auf. Eine knappe Mittelmäßigkeit war
die Signatur ihres äußeren und inneren Menschen. Für keines der Fächer,
in denen man Unterricht empfing, hegte sie besonderes Interesse.

Im Gegenteil! Sie mokierte sich geradezu über Monika, die, als man im
Latein und Griechischen die langweiligen Anfangsgründe überwunden, sich
für das klassische Altertum zu begeistern begann. Die Glut, die sie in
Kindertagen entfaltet, wenn Doktor Rodenberg ihr Sagen erzählt, lebte
wieder auf; schattenhafte Träume erwachten zu neuem Leben.

Und nicht nur wie einst sah sie nur die männermordenden Helden, die
erzgeschienten Völkerfürsten, nicht nur wie früher verfolgte sie mit
heißer Freude am Kampfe das Auf- und Niederwogen der Feldschlacht
-- jetzt wurde ihr auch die schöne Sklavin lebendig, die blühende
Briseïs, die sich zitternd willig dem Peliden gibt. Jetzt schwirrten
ihre Gedanken auch um die Götterschönheit der Helena, um die so viel
Tausende starben.

Die toten, heidnischen Sprachen, die Monika anfangs so langweilig
gedünkt, waren ihr nun Zauberschlüssel -- Zauberschlüssel, welche die
Pforten zu märchenschönen Gärten öffneten.

Mit einer wahren Gier stürzte sie sich jetzt aufs Lernen.

Und wie immer bei ihr: wenn sie erst angefangen, sich einer Sache zu
widmen, so tat sie das ungeteilt; sie richtete all ihre Kräfte, all ihr
Sinnen darauf.

Ihre Geisteskräfte schienen zu wachsen in dem scharfen Training, das
sie ihnen zumutete, und sie spornte sich selbst immer mehr an.

Weltgeschichte, Chemie, Physik -- je mehr, je besser! Mit einem wahren
Heißhunger nahm sie alles Gebotene in sich auf und tat weit mehr, als
das Pensum erforderte. Ihre Neigung zu Vergnügungen, zum Flirt, trat
nun völlig zurück.

Sie wollte nichts weiter, als möglichst ungestört über ihren Büchern
brüten. Allein an der Art, wie sie ein Buch aufschlug, wie sie den
Einband mit liebkosenden Fingerspitzen umspannte, als sei es eine
kostbare Frucht, sah man die Wonne, die es ihr bereitete, sich in den
Inhalt zu versenken.

Die Brüder, denen besonders die alten Sprachen unangenehmer Zwang
waren, spotteten, wenn sie Monika über den Homer gebeugt sahen.

„Du wirst noch ’ne richtige verdrehte alte Schachtel werden,“ sagte ihr
Alfred.

Heinrich erklärte ihr Lernen für „im höchsten Grade unweiblich“.

Karl enthielt sich jeder gesprochenen Meinungsäußerung, aber oft
sah er, Butterbrote kauend, seiner Schwester mit entgeistertem
Kopfschütteln zu. Wie es Menschen geben konnte, die gern lernten, war
ihm ein unheimliches Rätsel.

Frau von Birken zeigte sich von Monikas Lerneifer sehr befriedigt, aber
bald trat ein Ereignis ein, das sie verhinderte, auch nur noch einen
Gedanken für Monika zu haben: das geliebte Heinzemännchen wurde krank.

Er litt an sehr schmerzhaften Magenkrämpfen. Was es eigentlich war, war
nicht mit voller Sicherheit zu ermitteln.

Monika behauptete, daß Heinrichs Mostrichkur wahrscheinlich eine
gewisse Rolle spiele. Er hatte nämlich vor einigen Wochen erklärt, daß
als Hauptnahrungsmittel für ihn nur Mostrich in Betracht käme.

Die Baronin, der es völlig unmöglich war, ihrem Lieblingssohne irgend
etwas abzuschlagen, hatte ihn gewähren lassen, und so hatte Heinrich
viele Wochen lang unglaubliche Quantitäten Mostrich vertilgt.

Möglich, daß ihm diese selbsterfundene „Stärkungskur“ schlecht bekommen.

Jedenfalls waren die von Zeit zu Zeit bei ihm auftretenden Magenkrisen
so unsäglich schmerzhaft, daß der Arzt Morphiuminjektionen verordnete.

Frau von Birken überließ sich lauten Verzweiflungsausbrüchen.

Ihr Mann hatte in den letzten Monaten seines Lebens Morphium bekommen,
und diese Tatsache genügte ihr, um Heinzemännchen einem nahen Tode
verfallen zu sehen.

„Aber das sage ich Euch, wenn Heinzemännchen stirbt, dann lege ich mich
gleich mit dazu!“

Sie ließ ihn völlig von der Schule dispensieren und verbrachte ihr
Leben damit, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie leistete
gastronomisch geradezu Wunderbares. Die einfache, reizlose Diät, die
der Doktor ihrem Sohne verordnet, leuchtete ihr nicht ein.

„Das ist doch gar nichts Kräftiges! Das sind alles so übermoderne
Anschauungen: Gemüse und Obstsaft! -- Früher hat jeder Doktor
Ungarwein und Beefsteak verordnet -- da kann man sich doch denken, daß
das Kraft gibt. Man muß den Appetit reizen -- das ist die Hauptsache!
-- Heinzemännchen, Du bekommst heute ein Rumsteak mit geschabtem
Meerrettich und Kräuterbutter und einen Sherry -- na, Du wirst ja
sehen.“

Heinrich war mit seiner Krankheit ganz zufrieden.

Er brauchte nicht in die Schule, lebte wie ein Pascha.

Es wurde aufopfernd für ihn gesorgt. Die ganze Zeit gab es Festmenüs.

Seiner geistigen Unterhaltung diente das Leihbibliotheks-Abonnement,
das seine Mutter ihm genommen.

Er las täglich zwei bis drei Bände. Und wenn er zum Lesen keine Lust
hatte, mußten seine Mutter und Alfred Skat mit ihm spielen.

Wenn er wirklich mal Schmerzen hatte, beruhigte ihn das Morphium bald,
und er verfiel dann in einen traumhaften Dusel, der viel Angenehmes
hatte.

Der Hausarzt hatte Frau von Birken eine kleine Quantität Morphium
und eine Pravazspritze dagelassen, um Heinrich, dessen Anfälle sehr
plötzlich eintraten, nicht unnötig lange Schmerzen leiden zu lassen.

Es war jedesmal ein Ereignis, wenn Frau von Birken sich dazu entschloß,
die spitze Nadel in Heinrichs Fleisch zu versenken.

„Heinzemännchen, ich kann es nicht. Es bricht mir das Herz, diese
ganze, lange Nadel hineinzubohren -- das muß Dir ja zu weh tun!“

„Aber mach’ doch endlich,“ stöhnte dann der von Schmerzen gefolterte
Kranke unruhig, „schnell! Ich halte es nicht mehr aus!“

Dann hob ein zitternder Seufzer Frau von Birkens Brust; sie schloß die
Augen, indes ihre wenig geschickten Finger die blanke Spitze in ihres
Sohnes Fleisch bohrten.

An einem Frühherbsttage bekam Heinrich wieder einen sehr heftigen
Anfall.

„Gewiß kommt das von dem Witterungsumschlag!“ tröstete Frau von Birken.

„Ach, Unsinn -- Unsinn,“ murrte der Kranke.

„Vielleicht doch, Liebling. Die ganze Zeit hatten wir so schönes
Wetter, und jetzt auf einmal die Kälte.“

Sie sah durchs Fenster hinaus auf die die Straße flankierenden Bäume,
die der Wind zauste.

Die Blätter wirbelten durch die Luft.

Frau von Birken fröstelte, teils infolge des suggestiven Anblicks,
teils, weil sie, um ihre Schlankheit ins rechte Licht zu setzen, immer
zu dünne Kleidung trug.

Aber auch Monika, die eben aus ihrem Kursus gekommen, protestierte:

„Mama, Du verstehst die Heilkunde wie so’n alter Schäfer! Das kommt
doch nicht von der Witterung! Heinz wird sich eben wieder den Magen
verdorben haben!“

„Geh’, Du bist herzlos! Heinzemännchen ißt wie ein Vögelchen.“

„Wird’s denn nun endlich mit meinem Morphium?“ rief der Kranke
ungeduldig.

„Ja, mein Geliebtes, ja, so schwer wie es mir wird,“ jammerte die
Mutter.

Sie entnahm dem kleinen Etui die auf blauem Samt gebettete Spritze.

Monika verließ das Zimmer. Sie hörte von nebenan, wie ihre Mutter das
Schicksal anklagte, das sie verurteilte, ihrem geliebten Herzenskind
weh zu tun.

Frau von Birken war ganz blaß, als sie einige Augenblicke später aus
dem Zimmer kam.

„Ach, es ist zu schrecklich, der arme, liebe, süße Junge. Gewiß so ein
unglückseliges Erbteil vom Papa. O, mein Heinzemännchen, mein süßes!
Na, jetzt hat er Gott sei Dank wieder vierundzwanzig Stunden Ruhe.“

Aber Frau von Birken irrte sich.

Als sie nach einer Weile Heinrichs Zimmer von neuem betrat, waren seine
Schmerzen kaum gelindert.

„Schnell, Mama, noch mehr Morphium.“

„Ausgeschlossen, mein Liebling. Du weißt doch, daß es ein gefährliches
Gift ist. Eine einzige Spritze, hat der Doktor gesagt.“

Heinrich wendete sich stöhnend auf die Seite und schwieg.

Aber nach einer halben Stunde forderte er energisch noch eine Spritze.

„Gewiß hast Du bei der ersten alles vorbeigeplempert, Mama. Es tut so
rasend weh. Das Morphium hat heute gar nicht gewirkt.“

„Liebling, das geht doch nicht.“

Frau von Birken stockte das Wort auf der Zunge. Ein unartikulierter
Schrei brach von ihres Sohnes Lippen. Sein junger Körper wand sich in
Qualen. Eine neue Krise schien einzusetzen.

„Mama...,“ würgte er hervor. Eine flehende Gebärde... Seine tastende
Hand wies auf die Marmorplatte des Nachttisches, auf dem die kleine
Flasche stand mit der farblos hellen Flüssigkeit.

Da hielt der Mutter Bedenken nicht stand. In fliegender Hast griff sie
von neuem nach dem kleinen Etui.

Noch eine kurze Zeitspanne -- dann schien die gewünschte Wirkung
einzutreten. Die schmerzhafte Spannung aller Glieder ließ nach, die
qualdurchfurchten Gesichtszüge glätteten sich.

Dankbar nickte Heinrich seiner Mutter zu. Zum Sprechen war er zu müde.

Auf Zehenspitzen schlich Frau von Birken ins Nebenzimmer.

„Gott sei Dank, Mone, endlich hat’s gewirkt, das Morphium. Ich habe ihm
noch eine Spritze gegeben, dem armen Liebling. Jetzt hat er wenigstens
Ruhe.“ Dann ging die Baronin in die Küche und unterhielt sich mit
Martha, die, seitdem der junge Herr leidend war, in der Erzählung von
merkwürdigen Krankheitsfällen schwelgte.

Monika, die über einer Mathematik-Aufgabe brütete, wurde aus ihrer
Arbeit gestört durch einen sonderbar röchelnden Ton, der aus dem
Nebenzimmer drang.

Sie ging zu Heinrich hinein. „Laß doch bloß dieses gräßliche
Schnarchen, man kann überhaupt nicht arbeiten dabei.“

Ihr Bruder antwortete nicht.

Und wieder der röchelnde Ton, der sich aus seinem halboffenen Munde
rang.

Monika rüttelte ihn am Arm: „Heinrich!“

Und plötzlich durchzuckte sie ein fassungsloser Schreck. Eiskalt
rieselte ihr das Entsetzen den Rücken hinunter. Dieses regungslos
starre Gesicht, in welchem kein Muskel gezuckt, als sie „Heinrich“
gerufen, diese nur halbgeschlossenen Augenlider, die das Weiß der nach
oben gedrehten Augäpfel erkennen ließen, das war kein Schlaf, das war
Bewußtlosigkeit!

Sie rannte in die Küche, stammelte ein angstbebendes: „Mama, komm
schnell!“ und zog die Mutter mit sich fort.

Frau von Birken stürzte auf ihren Sohn zu.

„Heinrich!“

Aber trotz der heftigen Berührung gab er kein Lebenszeichen von sich.
Die weißen Augäpfel stierten gespenstisch unter den Lidern hervor.

Die Mutter schrie auf, ein herzzerreißend gellender Schrei:

„Heinrich!“

„Aber er lebt ja noch,“ beruhigte Martha, die neugierig aus der Küche
herzugelaufen war, „er ist noch ganz warm.“

„Martha, pfui, um Gottes willen, reden Sie nicht so!“ schrie die
Baronin.

Und Monika sagte:

„Halten Sie den Mund, und bleiben Sie hier im Zimmer -- ich gehe den
Arzt holen.“

Sie eilte die Treppe hinunter.

Die Adern schlugen ihr wie Hämmer, eine wahnsinnige Angst um den Bruder
hatte sie erfaßt. Sie eilte, als hinge Heinrichs Leben an Sekunden.
Keuchend langte sie bei ihrem Hausarzt an; das öffnende Mädchen sagte,
daß er nicht zu Hause sei, erst spät abends zurückerwartet werde.

Ohne ein Wort der Erwiderung machte Monika Kehrt, eilte die Treppen
hinunter und die Straße entlang. Fieberhaft forschte sie nach dem
Schilde eines Arztes.

Bei noch zweien klingelte sie umsonst. Der dritte, ein jugendlicher,
elend aussehender junger Mann war auf ihr inständiges Bitten bereit,
gleich mit ihr zu gehen.

Frau von Birken empfing den Arzt wie einen Heilsbringer.

„Schnell, Doktor, erwecken Sie meinen Sohn, schnell, um Gottes willen,“
flehte sie.

„Ja, nun lassen Sie mich doch erst mal sehen,“ wehrte der Arzt ab,
indem er seinen Ueberzieher auszog.

Dann trat er zu Heinrichs Bett, hob die Augenlider des Bewußtlosen
empor.

Die Pupillen waren zu winzigen Pünktchen verengert, reagierten
überhaupt nicht auf das Einfallen des Lichts.

Das erstaunte Gesicht des Arztes ließ Monika zu einer Erklärung
schreiten:

„Mein Bruder hat zu viel Morphium bekommen, Herr Doktor.“

„Ah, also eine Vergiftung.“

„Was? Eine Vergiftung? Herr Doktor, wie können Sie sowas sagen,“
jammerte in den höchsten Tönen des Entsetzens die Baronin, „wie sollte
denn Heinrich zu einer Vergiftung gekommen sein?“

Der Arzt wandte sich ohne weiteres zu Monika, die so kurz wie möglich
von Heinrichs Leiden sprach, von dem Morphium, das der Arzt verordnet.

„Und das hat er in Ihren Händen gelassen?“ verwunderte sich der kleine
Arzt.

Er ließ sich die Flasche zeigen, betrachtete sie kopfschüttelnd.

„Aber, Herr Doktor, eilen Sie sich, mein Kind stirbt!“ schrie die
Mutter.

„Ich muß mich doch erst informieren,“ sagte der junge Mann mürrisch,
immer noch über die Flasche gebeugt.

Dann zog er seinen Notizblock hervor und schrieb mit einer Langsamkeit,
welche Frau von Birken dem Wahnsinn nahe brachte, mehrere Medikamente
auf, die Martha sofort aus der Apotheke holen sollte.

Das Mädchen eilte weg, und Karl, der eben aus der Nachmittagsschule
gekommen war, begleitete sie; ihm war es zu unheimlich, im Hause zu
bleiben.

Die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten.

Ein atemraubendes Schweigen herrschte in dem Zimmer, nur von Zeit zu
Zeit unterbrochen durch das furchtbare Röcheln, das sich aus Heinrichs
Munde rang.

Frau von Birken hatte den Kopf des Bewußtlosen an ihre Brust gebetet
und bedeckte seine bläulichen Lippen, seine fühllosen Hände mit heißen
Küssen.

„Mein Glück, mein geliebtes Kind, sprich doch nur ein Wort, ein
einziges, einziges Wort. Liebling ... Heinrich...“

In ihren sonst so heiter liebenswürdigen Augen flammte ein tragisches
Feuer.

Dann versank sie in verzweifeltes Schweigen.

Monikas Nerven hielten das nicht mehr aus. Jede Faser in ihr war zum
Zerreißen gespannt; eine Jagd von Gedanken stürzte durch ihren Kopf,
wirr, zusammenhanglos.

Sie schritt taumelnd hinaus, öffnete die Korridortür, um die Treppe
hinabzuspähen.

Kam denn Martha immer noch nicht?

Es war, als ob die Zeit stille stände, als ob Bleigewichte an den
Minuten hingen.

Monika verlor vollkommen den Begriff der Zeit.

Als das Dienstmädchen kam, Karl ängstlich dicht neben ihr, wußte sie
nicht, ob Minuten oder Stunden verflossen waren.

Sie nahm Martha die Sachen aus der Hand und eilte mit diesen ins
Krankenzimmer.

„Herr Doktor, tun Sie ihm nicht weh,“ jammerte die Mutter, als der Arzt
Heinrich eine Koffein-Einspritzung machte.

Der Angeredete zuckte ungeduldig die Achseln und setzte sich dann
wieder in seinen Sessel.

„Aber er wacht ja immer noch nicht auf!“ rief die Mutter.

„Warten Sie’s doch ab.“

„Aber tun Sie doch was, Herr Doktor, tun Sie doch etwas,“ rief Frau von
Birken.

„Wir können jetzt die Senfpflaster auflegen,“ wandte sich der Arzt an
Monika. Diese griff nach einem Paket, das man aus der Apotheke geholt.
Der Doktor legte Heinrich vier Senfpflaster auf.

„O Gott, das muß ihn ja brennen. Heinz verträgt Senfpflaster überhaupt
nicht,“ klagte Frau von Birken. „Heinrich..!“ brach sie dann plötzlich
wieder los. In ihrer sonst so unbedeutenden, kleinen Stimme war ein
tiefer Unterton, ein tierischer Schmerzensschrei, der Wehlaut der
Mutter um ihr sterbendes Junges.

„Herr Doktor, er will sprechen. Er will sprechen! Ich sehe es... es
läuft wie ein Zucken über sein Gesicht... Er will sprechen, will
klagen... und er kann es nicht... oh.. wie er leidet... er hört und
fühlt alles... er will sprechen und kann es nicht...“

Sie brüllte laut auf.

Monika, die blaß bis in die Lippen geworden war, trat auf den Arzt zu.

„Können Sie der Mama nicht ein Mittel geben, um...“

„Ach, Unsinn, das ist alles ganz nebensächlich. Erst müssen wir den
jungen Mann da mal aufkriegen.“

Er trat von neuem zu dem Kranken, nahm ihm die Senfpflaster ab.

„Merkwürdig, keine Spur von Rötung.“

Die Mutter schrie auf.

„Frau Baronin, er ist noch ganz warm,“ tröstete Martha, die
unaufgefordert wieder ins Zimmer gekommen war.

„Geben Sie jetzt mal den Kampferspiritus.“

Und wieder begann der Arzt die Brust des Regungslosen zu reiben.

Aber immer noch kein Lebenszeichen.

Der Doktor machte nun ein bedenkliches Gesicht.

„Wir werden nochmal Koffein nehmen,“ sagte er kopfschüttelnd.

Und wieder bohrte er die scharfe Nadel in das blasse Fleisch.

Atemraubende Minuten der Erwartung.

Sie alle waren so nervös geworden, daß sie zusammenschreckten, als die
Zimmertür sich öffnete.

Alfred trat ins Zimmer. Er richtete ein paar Fragen an den Doktor, die
dieser kaum beantwortete. Dann nahm er Monika am Arm und ging mit ihr
ins Nebenzimmer.

„Karl hat mir alles erzählt,“ sagte er seiner Schwester, „nun paß
gut auf: wenn mit Heinrich irgend etwas passiert, dann weißt Du
nichts davon, daß Mama noch ein zweitesmal Morphium gegeben hat. Das
Dienstmädchen muß auch instruiert werden.“

Monika starrte den Bruder ganz verständnislos an. „Was?“

„Na, ganz einfach, weil Mama dann wegen fahrlässiger Tötung rankommt...“

Monika schrie auf: „Alfred, wie kannst Du!“

„Na, das ist doch ganz klar. Im Falle Heinrich stirbt...“

Monika stieß den Bruder heftig vor die Brust und rannte ins
Nebenzimmer; sie klammerte sich mit beiden Händen an das Fußende des
Gitterbettes, betrachtete mit irren Augen den Bewußtlosen und die Frau,
die da am Bette kniete, die Mutter, die vielleicht sein Leben auf dem
Gewissen hatte... aus Liebe... aus Liebe...

Und plötzlich strömte es Monika siedendheiß durch die Adern: ein wilder
Trotz packte sie gegen diese dunkle und furchtbare Macht, die über dem
blassen Jünglingshaupt schwebte, ein wütendes Sichauflehnen gegen das
Schicksal, das blind und täppisch und erbarmungslos ein Uebermaß von
Mutterliebe so entsetzlich ahnden zu wollen schien.

Ihre Hände krampften sich um des Bettes schmale Stäbe; mit weit
aufgerissenen Augen starrte sie in den Tod... Es war ein sonderbares
Klingen in ihren Ohren. Wohl hörte sie, daß die Mutter auf den Arzt
einsprach, aber sie verstand nicht mehr, was sie sagte.

Der kleine Arzt wehrte die Baronin ab.

„Nein, noch eine Koffein-Einspritzung ist unmöglich.“

Dann setzte er zögernd hinzu:

„Vielleicht lassen Sie jetzt nochmal fragen, ob Ihr Hausarzt zu Hause
ist?“

Von neuem eilte Martha davon.

Und von neuem ging Frau von Birken durch alle Phasen der Hoffnung, der
Verzweiflung, der Enttäuschung, neuer Hoffnung...

„Er bewegt die Lippen, er will sprechen -- ich sehe es... Heinrich, ein
Wort, ein einziges...“

Sie war so fassungslos in die martervollen Abgründe ihres Schmerzes
versenkt, daß sie nichts von dem sah, was sich nun begab.

Der Doktor verkündete mit seiner mürrischen Stimme: „Er schlägt die
Augen auf.“

Sie faßte es nicht, begriff es nicht, als Heinrich nun zu sprechen
versuchte; als er sprach mit deutlicher, ein wenig traumschwerer Stimme:

„Was... ist... denn...“

Bis endlich das gemarterte Mutterhirn die selige Wirklichkeit erfaßte.
Mit einem erschütternden Freudenschrei warf sich die Mutter über den
Geretteten:

„Mein Glück... mein einziges...“

[Illustration]



6.


Dieses Ereignis klang in Monika nach mit einer bedeutungsvollen
Schwere, die es für keinen der anderen gehabt.

Schon der Tod ihres Vaters hatte ihr einen erschütternden Eindruck
gemacht.

Aber jener Tod war nichts Ueberraschendes, war nur die Folge einer
langen Kette gewesen, geschmiedet aus leidensvollen Tagen und
schlaflosen Nächten.

Des Vaters mächtiger Körper war nicht zusammengebrochen wie ein Baum,
den der Blitzstrahl trifft, nein! Die Krankheit hatte langsam ihr Werk
getan; alle die vielen Tage und Nächte waren wie Ameisen gewesen, die
fleißig und hastig Stück um Stück Gesundheit und Leben davontrugen.

Monikas Vater war ein alter Mann gewesen, als seine Augen brachen; alt,
trotzdem er kaum fünfundvierzig erreicht.

Seine Haare waren wie Schnee.

Seine Augen waren wie verblaßt -- ganz stumpf. Man hatte den Tod kommen
sehen, wochenlang -- viele Monate lang. --

Jetzt aber war es anders gewesen.

Jetzt war der Tod heruntergestürzt -- wie ein Habicht aus blauer Höhe
niederstößt auf sein Opfer. Wohl hatte man ihm seine Beute im letzten
Moment noch abgejagt, aber allzunahe hatte man das Schwirren seiner
starken Flügel gehört. --

Monika sah jetzt im Wachen und im Traum ihres Bruders regungsloses
Gesicht, das starre Weiß der Augäpfel unter halbgeschlossenen Lidern.

Wie oft hatte sie gehört von Leuten, die jung gestorben waren. Aber das
hatte ihr nie Eindruck gemacht. Was sie von anderen hörte, blieb ihr
immer ganz gleichgültig. Sie erfaßte eine Sache erst dann, wenn sie sie
erlebte.

Und nun hatte sie gesehen, schaudernd mitgefühlt: das Ende! --

Das brennende Mitleid, das sie für den Bruder gefühlt, verschwand,
sobald sie sah, daß Heinrich mit einem Tage Kopfschmerzen davonkam.

Aber der Eindruck blieb. Es blieb die wahnsinnige Angst: nicht sterben,
ehe ich gelebt, ehe ich alles Süße gekostet, was das Leben zu schenken
hat.

Und es kam der Zweifel, der nagende Zweifel: tue ich recht, wenn ich
mich vergrabe in tote Gelehrsamkeit -- wenn ich mein Leben verstreichen
lasse mit dem Erlernen von Systemen, von Theorien?

Mein Gehirn arbeitet -- meine Geisteskräfte werden stärker durch Uebung
und Erziehung, aber abstrakte Wissenschaft ist nicht das Leben.

Manchmal war es ihr, als ob sie ihr Gehirn haßte, das alle anderen
Regungen zu verschlingen drohte.

Sie bemühte sich nun, nicht mehr an all die Themata zu denken, die sie
in den letzten Monaten so sehr absorbiert hatten.

Mit kindischem Trotze suchte sie alle streng geistigen Regungen in sich
zu ertöten.

Dafür ließ sie jetzt ihrer Phantasie die Zügel schießen. Und es war,
als ob diese Phantasie, die während der Lernperiode geschlummert, nun
mit doppelten Kräften aufwachte; lächelnd nahm die Phantasie Monika
bei der Hand und führte sie vielgestaltige Irrwege, auf denen viele
schöne Giftblüten wucherten, wildflammende Blüten, die berauschend und
betäubend dufteten.

Und Monika spann sich in ihre Phantasien wie die fleißige Seidenraupe,
die sich mit ihrem Köpfchen in ein silberschimmerndes, dichtes Gewebe
einspinnt.

Der Tadel der Lehrer -- die Ermahnungen der Mutter blieben umsonst.

Monika nahm am täglichen Leben wenig Anteil, war zerstreut und faul.

Niemand konnte ergründen, was für Gedanken hinter der niedrigen, weißen
Stirn rege waren. Mit der gleichen, fast unheimlichen Konzentration,
mit der sie sich erst auf das Lernen gestürzt, widmete sie sich jetzt
ihren uferlosen Phantasien. Kein fremder Einfluß vermochte sie dieser
Manie zu entreißen -- nur sie sich selbst.

Und diese Stunde kam.

Ein Gedanke -- sie wußte nicht woher -- eine schaudernde
Selbsterkenntnis: auch das ist nicht Leben! Nicht nur die Wissenschaft
stahl mir die Wirklichkeit, auch meine Träumereien haben nichts mit
Wirklichkeit zu tun. Diese Träumereien, die sich alle darum drehen,
wie das wohl sein könnte, nicht, wie es wirklich ist!

Ich aber möchte das Leben, wie es ist!

Aber was sehe ich denn vom Leben, was weiß ich denn davon? Wir Töchter
aus guter Familie werden gehalten wie die Kanarienvögel im Käfig. --
Ach... Leben...

Oft wünschte sie sich jemand, der ihr hätte raten, ihr hätte helfen
können in dem brausenden Zwiespalt von Gefühlen.

Aber es war niemand da. Sie blieb ganz allein. Allein in der frühen
Reife des Körpers und des Geistes.

Und ihr Trotz erstarkte in dieser Einsamkeit, ihr Trotz: allein
dazustehen und allein zu bleiben. --

In den Unterrichtsstunden verschlechterte sie sich sehr. Und das
wurde noch schlimmer, als der Winter begann und sich ihr hier und da
Gelegenheit bot, Tanzfestlichkeiten mitzumachen.

Die Baronin jammerte zwar gottsjämmerlich, wie schrecklich das sei,
daß sie in ihrem jugendlichen Alter schon als Ballmutter figurieren
müsse -- außerdem seien die Kosten für diese Vergnügungen gar nicht zu
erschwingen -- aber im Grunde genommen ging sie gern hin.

Der Verlauf war jedesmal derselbe: wenn so eine Einladung ins Haus kam,
erklärte Frau von Birken feierlich, daß man sie unter keinen Umständen
annehmen würde.

Monika begann sich dann zu entrüsten:

„Du gehst ja doch.“

„Ich denke nicht daran! Wir können das gar nicht bei unseren Mitteln.
Außerdem müßte ich ein neues Kleid haben.“

„Ach, es geht ja noch mit dem alten, Mamachen, bitte, bitte, wir wollen
doch hingehen.“

„Unter keinen Umständen!“ sagte Frau von Birken streng. Sie genoß
dann förmlich die Situation. Sie erschien sich in diesen Augenblicken
bedeutender als sonst, in dem Bewußtsein, daß Monika von ihr abhängig
war, daß sie bitten mußte mit kleinen, schmeichelnden Worten.

„Nein, Du hast so eine Freude gar nicht verdient.“

„Mama!“ -- Die weißen Zähne gruben sich tief in die schwellende
Unterlippe. Heiß flammte der Trotz in den dunkeln Augen auf. Nein, sie
würde kein Wort mehr sagen, nicht mehr bitten -- nicht mehr bitten!

Und dann schwirrte vor ihren Augen des Ballsaals blendendes Gewoge,
dann klang in ihren Ohren die Tanzmusik, unwiderstehlich süß,
unerträglich lockend...

Und langsam quoll es ihr von den widerstrebenden Lippen: „Bitte...
bitte...“

„+Ich+ denke ja gar nicht daran -- ich bin Mutter, ich habe zu
bestimmen -- wir gehen nicht hin!“

Dann kam es wohl vor, daß Monika sich in einem maßlosen Wutausbruch auf
der Erde wand und sich die Haare raufte; lange ließ Frau von Birken
ihre Tochter nicht in dieser Verfassung; sie besänftigte sie in den
zärtlichsten Schmeicheltönen:

„Monchen, ich bitte Dich, das war ja nicht so ernst gemeint
-- natürlich gehen wir hin! Und ich schenke Dir mein blaues
Emaille-Medaillon mit den kleinen Brillanten. Beruhige Dich doch bloß,
Liebling. Wir gehen ja zu dem Balle. Ja, gewiß...“

Und Monika, noch Tränen in den Augen, lächelte matt und glücklich wie
eine Rekonvaleszentin.

So trieb Monikas ungezähmter Wille weiter seine wuchernden Triebe, von
keines verständigen Gärtners Hand gepflegt, bald gezaust und bald
gestreichelt von Mutterhänden, die unverständiger waren, als es manche
Kinderhände sind.

[Illustration]

Und man ging zum Balle...

Und wenn man nach Hause kam, lag Monika mit schlagenden Pulsen
schlaflos im Bett mit wirrem Hirn und irritierten Nerven.

Wohl hatte ihr der Ball all die Freude gebracht, die sie von ihm
erwartet. Aber es war ein Augenblicksrausch gewesen; beim Nachdenken
hielt er nicht stand. Was war’s denn auch schließlich: ein bißchen
Musik und Licht und gute Tänzer...

In diesem unbefriedigten Dasein, das ihr weder Ziel noch Zweck zu haben
schien, glaubte sie dann plötzlich einen Leitstern zu entdecken: die
Kunst! Mit glühender Begeisterung dichtete sie. Die Worte, die Verse
strömten ihr zu mit einer Leichtigkeit, über die sie selbst verwundert
war. Oft war ihr, als sei es gar nicht sie selbst, die das alles
dächte, sondern als schwebe über ihr ein Unsichtbarer, der ihr ins Ohr
sprach, was sie schreiben sollte. Alles war dann wie verändert: die
Teppiche, auf denen sie ging, waren weicher als sonst, die Bäume auf
der Straße waren riesenhaft gewachsen -- die eine Rose, die in einem
Glase vor ihr stand, war ein Rosenfeld von Millionen Blüten.

Sie war dann selig. Selig bis in die Fingerspitzen hinein. So lange,
bis sie begeisterungsbebend ihrer Mutter und Heinzemännchen die Verse
vorlas.

Frau von Birken fand die Gedichte teilweise sehr schön, aber furchtbar
unpassend -- ein junges Mädchen dürfe überhaupt keine Liebesgedichte
machen.

Und Heinzemännchen rang die Hände und beschwor Monika, über den
Frühling zu dichten und über den Sommer, oder über den Herbst, oder
über den Winter -- andere Themata seien für Lyrik unmöglich.

Monika aber faßte eines Tages einen kühnen Entschluß: sie wollte der
Welt die Proben ihres Talentes nicht länger vorenthalten.

Und -- die Kunstgeschichtsstunde schwänzend -- begab sie sich eines
Tages mit ängstlichem Herzklopfen in die Redaktion des „Leuchtturms“,
einer neu erscheinenden Zeitschrift, in der sich junge Lyriker
verschiedener Schattierungen tummelten.

Der „Leuchtturm“ war kein phantastisch prunkender Bau, wie Monika
ihn sich vorgestellt. Drei Zimmer im Parterre eines Berliner
Hinterhauses bildeten den Leuchtturm. Der Kontorist, der im Vorraum
zum Allerheiligsten auf einem Drehschemel saß und trübsinnig vor sich
hinstarrte, wurde durch Monikas Eintritt angenehm gestört. Eine so
junge Dame hatte er in diesen Räumen noch nicht gesehen.

„Ist der Herr Redakteur zu sprechen?“

„Doktor Waldmann kommt erst in einer Stunde.“

„Ach, so lange kann ich nicht warten: wollen Sie ihm, bitte, dieses
geben...“

Monika legte hastig ein Kuvert auf den Tisch.

„Steht Ihr Name und Ihre Adresse auch drin?“ fragte der Kontorist.

„Nein -- ich komme wieder.“

Monika rannte davon wie gejagt.

Sie konnte sich viele Tage lang nicht entschließen, nach dem Schicksal
ihrer Geisteskinder zu fragen. Aber endlich faßte sie Mut.

Es war ein gar unangenehmes Gefühl, so vor den prüfenden,
pincenezbewehrten Augen des Doktor Waldmann dazustehen.

„Mit wem habe ich die Ehre?“ fragte er.

„Ach, der Name tut ja nichts zur Sache,“ sagte Monika heiß errötend.
„Ich wollte nur wissen, ob mein Gedichtzyklus ‚Libellen‘ zu brauchen
ist?“

„Sehr talentvoll, mein gnädiges Fräulein,“ sagte der Redakteur
wohlwollend, „wir wollen in der nächsten Nummer mit der
Veröffentlichung anfangen.“

„O...“ Monika schrie beinahe vor Freude.

„Und wohin soll ich das Honorar senden lassen?“

„Auch Honorar?“ Ihre Begeisterung erreichte jetzt den höchstmöglichen
Grad.

„Bitte, schicken Sie mir gar nichts,“ sagte sie stotternd. „Ich komme
es mir gelegentlich selbst abholen.“

„Soll mich freuen. Zwischen vier und sechs Uhr finden Sie mich meistens
hier.“

Ein Händedruck, und sie eilte fort.

Kaum war sie zu Hause angelangt, als sie ihr sorgsam gehütetes
Geheimnis verkündete.

Ihre Mutter war eine Beute der widerstrebendsten Empfindungen.
Einerseits fand sie es maßlos unpassend, daß Monika allein auf eine
Redaktion gegangen, andererseits imponierte ihr die Tatsache, daß ihre
Tochter wirklich „gedruckt werden sollte“, kolossal. Hatte doch Frau
von Birken mit vierzehn Manuskripten vergebens darum gekämpft.

Monikas Brüder erklärten die Neuigkeit für Schwindel: „Monika will bloß
bemänteln, daß sie über eine Stunde zu spät aus dem Kursus kommt.“

Aber der nächste Leuchtturm brachte tatsächlich die „Libellen“, und
Monika stürzte daraufhin in die Redaktion, allwo sie fünfzehn Mark
Honorar empfing. Sie benutzte sie schleunigst dazu, sich lauter Sachen
anzuschaffen, die ihr verboten waren: eine Schachtel Zigaretten, den
neuen Roman eines naturalistischen Schriftstellers und eine Flasche
Chypre-Parfum.

Sie hatte auf der Redaktion wieder ihren Namen nicht genannt und tat
es auch weiterhin nicht. Sie versäumte jetzt manchmal ein oder zwei
Stunden in den Gymnasialkursen, war während dieser Zeit heimlich auf
der Redaktion des Leuchtturms; da war immer der eine oder andere
Zeichner, Schriftsteller oder Redakteur, mit dem sie aufs angeregteste
plauderte.

Der ihr bisher unbekannte freie Ton der Unterhaltung begeisterte sie.
Sie lauschte gespannt, wenn die Herren sich gegenseitig neckten oder
ihre Abenteuer zum besten gaben; sie genierten sich nicht in Gegenwart
dieses netten, „anonymen“ Mädchens.

Die Komplimente, die sie Monika machten, waren anderer Art als die, die
sie bisher von den Leutnants gehört. Aber es waren doch Komplimente!
Das genügte ihr.

Frau von Birken ahnte nichts von den kleinen Eskapaden ihrer Tochter.
Sie gebärdete sich oft trostlos, wenn wieder ein neues Gedicht von
Monika im Leuchtturm erschien.

„Ich würde die Verse entzückend finden, wenn sie nicht von meiner
eigenen Tochter wären,“ sagte sie. „O Gott, daß ich so etwas
Unpassendes an Dir erleben muß!“

Aber alles in allem war Monika doch in ihrer Achtung gestiegen, seitdem
sie sich zur „Schriftstellerin“ entfaltete.

Das hinderte aber nicht, daß eine Verlobung doch Frau von Birken
bedeutend mehr impressionierte. Sie sprach tagelang von nichts anderem
als von der goldumränderten Karte, die ins Haus gekommen:

    „Die Verlobung ihrer einzigen Tochter Marie mit dem Leutnant der
    Reserve im Dragoner-Regiment Kronprinz, Gutsbesitzer Wilhelm von
    Hammerhof auf Hammerhof beehren sich ergebenst anzuzeigen

    von Holtz-Sarkow und Frau,
    geborene Freiin von Birken.“

„Nein, was die Marie für ein Glück macht!“ rief Frau von Birken ein
über das anderemal.

„Du weißt doch noch gar nicht, ob das ein Glück wird.“

„Aber, Mone -- das wird es schon! Ein so reizendes Mädchen wie Marie!
Und er ist doch ein vornehmer, tadelloser Mann.“

„Kennst Du ihn?“

„Nein, aber ich bin sicher, daß er eine glänzende Partie ist. Du kannst
nicht darüber urteilen, Mone, denn Du wirst sicher nie heiraten. Für
ein Mädchen, das studiert und außerdem schriftstellert, paßt das ja
auch gar nicht.“

Monika zog ein Gesicht: sie schien nicht sehr damit einverstanden zu
sein.

Einige Wochen nachher kam Frau von Holtz mit dem Brautpaare nach
Berlin, um Einkäufe zu machen.

Der Bräutigam war ein gut aussehender Mensch, höflich und freundlich,
Geist und Bildung gesunder Durchschnitt.

„Eine so passende Partie!“ Die zukünftige Schwiegermutter strahlte,
war viel entzückter als Marie selbst. Sie erzählte ihrer Schwägerin:
„Denke Dir, Marie wollte eigentlich noch gar nicht heiraten, kam auf
ihr verrücktes Studierprojekt zurück, erklärte mir, vorläufig triebe
sie nichts gebieterisch zu einer Heirat, und so wolle sie einstweilen
warten, wolle ihre Freiheit nicht verlieren. -- Na, ich habe ihr
den neumodischen Unsinn schon ausgetrieben! -- Es wäre doch auch
zu unsinnig gewesen, Hammerhof auszuschlagen. Unsere Güter grenzen
aneinander, Marie ist zwanzig Jahre alt, gerade das richtige Alter
zum Heiraten! Wenn die Mädchen nicht früh heiraten, bekommen sie alle
so sonderbare Ideen bei den überspannten Zeitströmungen, die jetzt
herrschen.“

„Ja, aber wenn sie ihren Bräutigam nicht glühend liebt?“ sagte die
Baronin Birken bedenklich.

„Mein Gott, Mali, Du wirst schon wieder romantisch. Was soll das
vorstellen: ‚glühend liebt‘? Ich habe meinen Mann, als wir verlobt
waren, auch nicht glühend geliebt, und wir führen die harmonischste
Ehe, die man sich vorstellen kann. Ich finde: ein Mädchen aus unseren
Kreisen hat überhaupt nicht glühend zu lieben! Wirst Du Dir denn Deine
Romantik nie abgewöhnen, Mali?“

„Ich hoffe, nein!“ sagte die Baronin stolz. „Ich bin froh, daß ich
meine jugendliche Begeisterung habe, und ein echtes Gemüt bleibt ewig
jung!“ --

Was Begeisterung anbetraf, so entfaltete Frau von Birken ein
vollgemessenes Quantum in den nächsten Tagen; sie fand alles
begeisternd: die Theatervorstellungen, die Einkäufe und Bestellungen,
alles...

Die Einkäufe waren übrigens ein Zankapfel zwischen Marie und ihrer
Mutter. Frau von Holtz versuchte -- autoritativ wie immer -- ihren ganz
persönlichen Geschmack zur Geltung zu bringen, und Marie fand mitunter
ein scharfes Wort: „Schließlich, ich soll doch die Sachen haben und
nicht Du, Mama. Da ist doch mein Geschmack eigentlich wichtiger.“

Frau von Holtz klagte dann über die schreckliche, neue Zeit, in der
die Töchter gar nicht mehr den richtigen Respekt entfalteten und sich
anmaßten, eigene Meinungen zu haben. Hatte sie selbst einst ihrer
Mutter Vorschriften zu machen gewagt, als diese ihr die Aussteuer
gekauft? Mit ehrfurchtsvollem Danke hatte sie alles entgegengenommen --
und dabei sei der gelbe Salon mehr als unpraktisch ausgesucht gewesen!

Auch Monika fand Maries Benehmen als Braut zu tadeln.

„Ich würde mich anders benehmen, wenn ich verlobt wäre,“ sagte sie zu
ihrer Mutter. „Der Marie merkt man gar nicht an, daß sie glücklich ist.
Ich glaube, die paßt gar nicht für die Ehe!“

„Was, die Marie soll nicht für die Ehe passen?“ entrüstete sich Frau
von Birken, „so ein reizendes Mädchen! Und die schönen Handarbeiten,
die sie macht, und kocht tadellos; sogar Früchte einkochen kann sie
ganz allein.“

Am tiefsten berührt von der ganzen Verlobung war unstreitig Bertha,
die das Brautpaar bei Birkens kennen gelernt hatte: sie fand Monika
gegenüber nicht Worte genug, um Maries Glück zu rühmen.

„Denke doch, verlobt sein mit solch nettem Menschen, lauter schöne
Sachen bekommen und sich küssen dürfen... und dann nachher die Trauung,
so im weißen Schleppkleide, schleierumwogt vor Gottes Altar -- ach,
entzückend! Und dann nachher junge Frau! Es gibt doch wohl nichts
Schöneres als jung verheiratet zu sein. Und süße Kinder haben... Und
nun zu denken, daß mir das alles nicht blühen wird -- nein, sprich
nicht dagegen! Wer soll denn eine Frau heiraten, die studiert? Ich sage
Dir: wenn ich die Person wüßte, die das Frauenstudium erfunden hat, die
brauchte sich nicht zu gratulieren!“

Monika lachte. „Ach, die studierten Frauen können doch gerade so gut
heiraten wie die anderen!“

Aber Bertha war nicht zu überzeugen.

Nach zehntägigem Aufenthalt reiste Frau von Holtz mit dem Brautpaar
zurück.

Die Hochzeit sollte in wenigen Monaten stattfinden, und die angehende
Schwiegermutter fühlte sich ganz in ihrem Element bei all den
Vorbereitungen, die nun Platz griffen. Mine Petermann verließ
Sarkow überhaupt nicht mehr; die schwarze Taille über dem mächtigen
Busen dick mit Stecknadeln gespickt, brütete sie unermüdlich über
den Modeblättern, probierte und verwarf, probierte von neuem und
begeisterte sich -- und begeisterte Frau von Holtz mit den glühenden
Schilderungen der Meisterstücke von Toiletten, die sie im Begriff war,
anzufertigen.

Zwischen Mutter und Tochter entbrannten dieselben
Meinungsverschiedenheiten wie bei der Auswahl der Möbel; jede suchte
ihren eigenen Geschmack durchzusetzen. Die Mutter siegte auf der ganzen
Linie, aber die Folge davon war, daß Marie nun ohne Freude die Anproben
über sich ergehen ließ.

Es war überhaupt nichts von strahlendem Glück an ihr zu merken. Zu
ihren Freundinnen aus Neustadt und Hahndorf sagte sie zwar mit einer
gewissen Wichtigkeit: „Mein Bräutigam...“, aber wenn dieser kam, so
empfing ihn kein übermäßig freundliches Gesicht.

Er machte sich übrigens nicht viel Gedanken darüber, zumal er selbst
keine leidenschaftliche Verliebtheit für seine Braut entfaltete.

Sie war eben eine „so passende Partie“, paßte, was Familie, Alter,
Vermögen anbetraf, vortrefflich zu ihm; ihre äußere Erscheinung
genügte den Ansprüchen, die er an seine zukünftige Gattin stellte. Die
Reserviertheit, die sie zur Schau trug, störte ihn nicht. Marie war mit
Gefühlsäußerungen immer so zurückhaltend gewesen, daß Frau von Holtz
ganz entsetzt war, als sie sie eines Tages in heißen Tränen fand.

Sie war in ihrer Tochter Wohnzimmer gekommen, um ihr eine eben
eingetroffene Auswahlsendung von weißen Seidenstoffen zu zeigen.

Da fand sie Marie mit dem Oberkörper auf der Tischplatte liegend, die
Hände vor die Augen gepreßt. Ein krampfhaftes Weinen ließ die schmalen
Schultern erzittern.

„Marie!“

Das tränenüberströmte Gesicht hob sich empor:

„Mama, laß mich Dir sagen, ich will Wilhelm nicht heiraten, ich will
nicht.“

„Was? -- Was ist denn? -- Warum...“

„Ich liebe ihn nicht.“

„Liebstes Kind, das kommt in der Ehe. Vernunftheiraten werden immer die
glücklichsten Ehen.“

„Mama, ich will nicht heiraten, noch nicht! Es ist langweilig hier so
allein mit Euch, aber ich will gern hierbleiben, tausendmal lieber
hierbleiben, als mit einem fremden Manne fortgehen. Er ist mir ja
so fremd! In meinem Innern spricht nichts für ihn. Und nun soll ich
Tag und Nacht mit einem Fremden sein, soll ihm mein ganzes Leben
schenken...“

Frau von Holtz war erblaßt vor Erregung.

„Ich erkenne Dich nicht mehr wieder, Marie. Du wirst hysterisch. Was
ist das nur auf einmal? Dich hat niemand zu der Verlobung gezwungen!“

„Nein, gezwungen nicht. Nur zugeredet habt Ihr mir. Und ich war zuerst
ja ganz einverstanden. Aber jetzt, wo der Hochzeitstag näher und näher
rückt, habe ich mich zu der Ueberzeugung durchgerungen: Ich kann ihn
nicht heiraten!“

„Marie, besinne Dich auf Dich selbst! Du kannst doch jetzt Deinen
Entschluß nicht ändern. Du hast Wilhelm Dein Wort gegeben -- Du kannst
ihm das nicht antun, Dein Wort zu brechen, so ohne jede Ursache, ohne
jeden Grund! -- Und wie stehst Du nachher da? Ein Mädchen, dessen
Verlobung zurückgeht, wird immer scheel angesehen. Nein, was würden
die Leute nur sagen, jetzt, wo schon die ganze Aussteuer fast fertig
ist!“

„Ich will nicht,“ schluchzte Marie, „ich will nicht.“

Und die Mutter redete weiter, abwechselnd drohend und bittend; sie
wendete ihre ganze Kraft auf, um das, was sie als eine nervöse Laune
ihrer Tochter empfand, zu besiegen; sie bat und beschwor, drohte und
befahl.

Dann schwieg sie erschöpft und starrte angstvoll auf Marie, die immer
noch das Gesicht in den Händen verbarg.

Und endlich hob die Tochter das Haupt.

Und mit einem Zucken ihrer schmalen Schultern, dieser Bewegung, die sie
immer machte, wenn der Mutter Willen den ihren besiegte, sagte sie müde:

„Also ja -- ich werde mein Wort halten. Aber vergiß diese Stunde hier
nicht... vergiß sie nie, Mama...“

[Illustration]



7.


„Monika..!“ -- Monika hörte nicht. Sie hatte ihren „Katalogtag“. Sie
behauptete, daß Kataloge studieren so ziemlich einer der größten
Genüsse sei, dem man sich hingeben könne.

Oft sagte ihr solch ein Preisverzeichnis mehr als ein Roman. Sie
schwelgte geradezu in Katalogen, durchlief eine ganze Skala von
Empfindungen von wunschlos anbetender Bewunderung bis zum heißgierigen
Habenwollen.

Das Preisverzeichnis einer Delikatessenwarenhandlung versetzte sie in
Entzückungszustände. Die angepriesenen Sachen waren wie eines Baumes
Aeste und Aestchen, auf denen sich ihre Phantasie, blankäugig und
behend wie ein Eichhörnchen, hin und her schwang.

Sie las: „Hummern, lebende Helgoländer und norwegische...“ Da sah sie
die sonderbaren Schaltiere vor sich, mit ihren komischen, gestielten
Augen, mit dem harten Panzer über dem weichen Fleisch, dessen saftige
Frische sie förmlich auf der Zunge fühlte.

Und sie fühlte die scharfe, salzige Luft der Nordmeere, der grauen,
kalten Meere, die um starre Felsen und Klippen rauschen. Das war
dasselbe ewige Meer, das einst die Drachenschiffe getragen --
dasselbe, das jetzt Panzerkreuzer und Torpedos trug, und das heute
die komplizierten Wunderschöpfungen der Technik in böser Laune gerade
so zerschlug und zerbrach, wie es einst die ungefügen Holzplanken
zerschlagen.

Und sie las weiter: „~India green turtle meat, sundried~.“ -- Da fing
ihr Herz an, ganz laut zu schlagen.

Und sie las weiter: „~India green turtle meat~,“ so heiß, daß sie
nicht mehr wohltat, sondern zerstörte, dort war sie ein vernichtend
flammender Feuerball in einem unerhört blauen Himmel, schüttete
Strahlengarben über das Land voll Prunk und Schmutz -- über die
schmalgliedrigen dunkeln Hindus mit den schmachtenden, sanften Augen --
über die stolzen, blonden Engländer, die hier die Herren waren. Und
das geknechtete und mißhandelte Land war doch so oft stärker als sie,
gab ihnen heimlich und böse lächelnd die Keime von Fieber, von Pest und
Tod. --

Und weiter: „Truffes de Périgord“. Monikas Näschen schnupperte, als
fühle sie den unvergleichlichen Duft der schwarzen Erdfrucht.

„Trüffeln“ bedeutete ihr förmlich ein Programm. Pikante Würze mit einem
lockenden Dufthauch darüber. --

Und „Périgord“, Frankreichs lachende Gefilde. Graue Edelschlösser auf
sanften Hügelabhängen, umwogt von einem Meer von Blütenbäumen. -- Und
drinnen im Schloß ein Liebeshof -- schöne Ritter und schöne Damen in
Gold und Seide, zur feierlichen Beratung versammelt über der Liebe
wichtige Fragen.

Ueber alle herrschend die schöne Frau des Hauses, deren Urteil sich
alle beugen, Edeldamen und Troubadours! Und der Troubadours Bester kam
ihr in den Sinn, Bertrand de Born, „der mit einem Lied entflammte --
Périgord und Ventadorn ...“

Der hochmütige Troubadour, der, ein Siegerlächeln um die blutroten,
üppigen Lippen, sich gerühmt, „daß ihm nie mehr als die Hälfte --
seines Geistes nötig sei!“

O dieser Mann, der Sieger, strotzend von Kräften des Körpers und
des Geistes wie ein Blütenbaum im Mai, ein Meister des Liedes, ein
Gewaltiger der Sprache, der Männergehirne und Mädchenherzen mit süßen
und bitteren Worten lockte und bezwang...

Dieser Gedanke fand in Monika eine so starke Resonanz, daß sie ziemlich
abwesend über einige Seiten hinweglas, die sie sonst mit Entzücken
erfüllt haben würden.

Die Preisverzeichnisse von Konfektionsgeschäften, von Wäschefirmen
waren kaum weniger dazu angetan, ihr ein schwelgerisches Genießen zu
verschaffen.

Bei den Hemdeinsätzen aus Brüsseler und Brügger Spitzen dachte sie an
die belgische Spitzenfabrikation, sah kleine flandrische Städtchen,
saubere Häuschen mit blitzblanken Spiegelscheiben, den „Spion“ am
Fenster -- das Glockenspiel klingt vom Beffroi.

Im Beginenkloster des toten Brügge klöppelten blasse Nonnenhände
die zarten Gebilde aus dünnen Fäden. -- Und es gab Spitzen, die
wurden in Kellern gearbeitet, die Luft mußte feucht sein, damit beim
tausendfältigen, kunstvollen Durcheinanderwirren der Faden nicht brach,
der -- dünn wie Spinnengewebe -- durch die Hände der bleichsüchtig
armseligen Mädchen lief, welche Stunde um Stunde klöppelten, ohne
aufzusehen. Die Mädchen hatten gewiß so kraftlos ausgesehen wie
Kellerblumen; mit blutlosen Fingern hatten sie die Spitzen gearbeitet,
die dazu bestimmt waren, die Wäsche und die Kleider leichtsinniger
Schönen zu zieren, die bunt und glänzend wie Paradiesvögel oder Pfauen
durchs Leben geschritten.

Und dann die Verzeichnisse der Parfumfabriken. Die waren vielleicht
doch das Schönste von allen. Ach, das Duften, das berauschende Duften,
das aus des Büchelchens Seiten stieg.

„White rose“ -- herb und süß. Kaum erschlossene Rosenkelche,
mondlichtüberflutet in einem Park von Englands Schlössern. -- Eine
blonde Herzogin, die sich aus dem Festgewühl hinabschleicht in den
Park, der feucht ist vom Tau der Nacht. -- Und nach einer kleinen
Weile verschwindet droben aus dem lichter- und gästeerfüllten Saale ein
schlanker Kavalier. Die weißen Rosen duften so süß. --

Und dann „Chypre“. Aufreizend und schwül, der Duft für eine Frau, die
launisch ist und süß und grausam wie die Göttin der Insel Cypern selbst.

„Ambra“! Der Orient wird lebendig, das Gewühl der Märkte und Basare,
die wollüstigen und blutdürstigen Geschichten der tausend Nächte
und der einen Nacht. Ueppige Prinzessinnen, die schönen Gesichter
schleierverhüllt, schlanke Wüstensöhne, die starben aus Liebe.

„Goldregen“ und „Flieder“, „Ylang-Ylang“ und „Coeur de Jeannette“,
„Cuire de Russie“ und „Tuberosen“ -- alles wurde eine Geschichte. --

Ganz geistesabwesend sah Monika dann aus, wenn man zu ihr sprach, wenn
ihre Mutter wieder einmal sagte:

„Nimm Dir doch endlich was Vernünftiges vor! Wie kann man sich nur in
solch langweilige Kataloge vertiefen?“

Und wenn Alfred behauptete:

„Ich habe ja schon viel von Stumpfsinn gesehen, aber etwas derartiges,
wie sich hinsetzen und solche Verzeichnisse lesen, das hab’ ich noch
nicht gesehen!“

Die Brüder waren überhaupt Monikas größtes Kreuz; sogar auf
gesellschaftlichen Veranstaltungen war sie vor ihnen nicht sicher. War
es etwa nötig, daß sie mit zu dem Wohltätigkeitsbasar „Am Posilipp“
kamen?

Zuerst war die Mutter geneigt gewesen, Monikas Protest: „Gymnasiasten
gehörten überhaupt noch nicht auf solche Feste!“, anzuerkennen.
Aber Alfred hatte die Worte seiner Schwester mit einem Höllenlachen
aufgenommen.

„Das könnte Dir wohl so passen, mein Kind, dort ohne unsere Aufsicht
rumzukokettieren?“

Und Heinzemännchen hatte erklärt, daß, da doch nun mal seit Papas Tode
die ganze Verantwortung auf seinen Schultern läge, er nicht gestatten
könne, daß Monika ohne ihn diesen Basar mitmache. Außerdem wünsche er
sich von „dem italienischen Stimmungszauber dort lyrisch anregen zu
lassen“.

So war denn, Karl ausgenommen, die ganze Familie „Am Posilipp“. So
hatte der „Frauenverein zum Wohle von Lungenkranken“ sein diesjähriges
Fest getauft. Von allen möglichen und unmöglichen Standorten herunter
wehten die weiß-rot-grünen Flaggen Italiens mit dem Wappen des Hauses
Savoyen.

An den Wänden roh hingeworfene Dekorationen und Bemalungen, die jetzt
das elektrische Licht verklärend und verschönend übergoß.

Ein buntes, wirres Durcheinander von gut und schlecht angezogenen
Leuten, von Gesellschaftstoiletten und italienschen Kostümen und auch
von anderen Volkstrachten.

Mit der Nationalität schien man es nicht so genau zu nehmen.

Die Damen in den Verkaufsbuden waren in jedem Alter und in jedem
Typ vorhanden. Die einzelnen Buden waren hübsch arrangiert. Die
feilgebotenen Gegenstände, wie immer bei solchen Gelegenheiten,
geschmacklose Ware.

Jede ~dame patronesse~ hatte außer den Gehilfinnen in ihrer Bude noch
eine Anzahl „fliegender Verkäuferinnen“, junge Mädchen, die wie Bienen
emsig und unerschrocken den Saal durchschwirrten, ihren Vorrat an
Blumen, Lotterielosen, Zigaretten den Herren anboten und dann von Zeit
zu Zeit an ihre Verkaufsstände zurückkehrten, zwar nicht wie die Bienen
mit Blütenstaub, sondern mit Mammon beschwert.

Monika gehörte zu den „Fliegenden“ von Frau von Wetterhelms Blumenstand.

Frau von Wetterhelm war auf allen Wohltätigkeitsveranstaltungen
bekannt wie ein bunter Hund. Sie kam, sie war da und unterzeichnete im
„Festausschuß des Ehrenkomitees“: „Frau Oberst von Wetterhelm“. Das
„geborene Krause“ ließ sie weg.

Das „Frau Oberst“ war eigentlich eigenes Patent.

Sie war von Wetterhelm geschieden worden, als dieser noch Leutnant
war. Der hatte dann bald darauf zum zweitenmal geheiratet, hatte aus
dieser zweiten Ehe fünf Kinder und bekümmerte sich nicht im mindesten
um das Schicksal seiner ersten Gattin, an der er -- wie der bekannte
Villenkäufer -- nur zwei Freuden erlebt hatte: den Tag, an dem er sie
bekam, und den Tag, an dem er sie losward!

Auch sie hatte nie mehr versucht, seinen Lebensweg zu kreuzen, aber sie
avancierte mit! Sobald sie erfuhr, daß ihrem Gatten eine höhere Charge
zuteil geworden, ließ sie sich neue Visitenkarten drucken. So war
der „Frau Oberleutnant von Wetterhelm“ im Laufe der Jahre eine „Frau
Hauptmann“ gefolgt; jetzt war sie bei „Frau Oberst“ angelangt.

Da sie eine auskömmliche Rente hatte und sich um ihren Lebensunterhalt
nicht zu sorgen brauchte, so verbrachte sie ihre Zeit mit Besuchemachen
und Teilnahme an Wohltätigkeitsfesten. Bei diesen war sie, wie gesagt,
gar nicht zu vermeiden, und ebensowenig war es möglich, ihr die
Blumenbude zu entreißen. „Blumen sind das Poetischste!“ sagte sie, „und
gerade ich mit den so unendlich schweren Lebensschicksalen, -- ich
müßte ja verzweifeln, wenn ich mich nicht in die Poesie flüchten würde!
-- -- Das verstehen Sie? Nicht wahr, das müssen Sie verstehn?! -- --“

So behielt sie die Poesie und die Blumenbude und machte gewöhnlich
recht gute Geschäfte, da sie es verstand, reizvolle, hübsche Mädchen
und Frauen als Gehilfinnen zu werben.

Als sie vor wenigen Wochen in einer befreundeten Familie Monika kennen
gelernt, hatte sie dieselbe sofort für den Posilipp dingfest gemacht.

Und Monika war begeistert. Konnte es denn überhaupt etwas Schöneres
geben, als so losgelöst zu sein vom Zwange des Alltags? Ganz ungetrübt
war ja ihr Glück nicht wegen der Anwesenheit der Brüder.

Alfred hatte sein brüderliches Ueberwachungsamt zwar gleich im Stich
gelassen, als eine blonde Neapolitanerin ihm zugelächelt.

Heinzemännchen aber nahm seine Verpflichtung ernster.

Mit unermüdlicher Ausdauer lief er hinter seiner leichtfüßigen
Schwester her und holte Mama zur Verstärkung, wenn Monika wieder einmal
allzulange Dialoge mit einem blumenkaufenden Leutnant führte.

Natürlich stachelte diese Ueberwachung Monikas Trotz erst recht; sie
ärgerte sich in eine förmliche Empörung hinein! Also nicht mal hier
konnte man ihr Ruhe lassen! War sie denn wirklich so viel schlimmer als
alle die anderen jungen Mädchen, die sich hier ungestört ihres Lebens
freuten?!

Was hatte sie denn schließlich begangen? Die paar Flirts, die paarmal,
wo sie verliebt gewesen war, was sich hauptsächlich auf das Dichten
guter Verse beschränkt hatte -- --

Eine heiße Zornwelle flutete in ihr empor. Nun erst recht! Wollen doch
mal sehn, ob wir nicht Heinzemännchen, dem Tugendbold, ein Schnippchen
schlagen können?!

Mit Blitzesschnelle hatte sie sich in das Leinwandzelt von Fräulein von
Toring, die als Wahrsagerin fungierte, geflüchtet. Durch einen Spalt
beobachtete sie Heinrichs ratloses Gesicht; er hatte nicht bemerkt,
wohin sie so plötzlich entschwunden. Sein bestürzter Ausdruck war so
komisch, daß Monika sich nur mit Mühe enthielt, laut aufzulachen.

Dann sah sie ihre Mutter zu Heinrich herantreten, der er dann
anscheinend einen Kriegsplan entwickelte; gleich darauf schwenkte er
nach links ab, während Frau von Birken das Terrain nach rechts absuchte.

Diesen Augenblick benutzte Monika, um aus dem Zelt zu rasen, die Treppe
hinauf, die in den ersten Rang führte, wo all die Logen waren; dort
würde man sich gut verstecken können.

Wie ein Pfeil schoß sie hinauf, bog um die Ecke und prallte so heftig
an einen Herrn an, daß nur dessen schnelles Zufassen sie vor einem
Falle bewahrte.

„Na, wohin so eilig?“ fragte er lächelnd.

Monika war zu atemlos, um zu antworten; sie blickte stumm den Fragenden
an.

Er war ein Kavalier in der Mitte der dreißiger Jahre, ein vollendeter
Typus des norddeutschen Aristokraten. Er war groß, auf breiten
Schultern saß ein stolz getragener Hals, ein schmaler Kopf. Er hatte
die hochsattelige Nase der vornehmen Rassen, kühle graue Augen, einen
bürstenförmig kurzgeschnittenen Schnurrbart über dem harten Mund. Er
betrachtete mit Interesse das glühende, schöne Mädchen. „Vor wem sind
Sie denn auf der Flucht? Vor welchem Argus?“

„Argus stimmt auffallend,“ lachte Monika.

„Hier finden Sie ein tadelloses Versteck.“ Er öffnete die Tür einer der
Logen, die leer war.

Monika ließ sich auf einen der Stühle nieder.

„Erst mal atmen!“ sagte sie.

Ihr schlug das Herz zum Zerspringen, von dem schnellen Laufen sowohl
als auch wegen der ungewohnten Situation: allein mit diesem schönen
Unbekannten, auf drei Seiten von schirmenden Logenwänden umschlossen
und vor sich den Blick auf des Ballsaals tobendes Gewühl da unten.

Ihre anfängliche Befangenheit schwand schnell bei der überlegen
sicheren Art, mit der ihr Begleiter das Gespräch führte. Bald vergaß in
angeregtester Konversation Monika ihre Verkäuferinnenpflichten.

Mit hellem Lachen nahm sie die scharfen Urteile auf, die ihr Begleiter
über die Leute da unten im Ballsaal fällte.

Er kannte eine Menge Menschen; er nannte die Herren, die sich beflissen
um die Sektbude der Frau Geheimen Kommerzienrat von Dresdener
drängten und nannte ihr auch die Summen, mit denen diese Herren den
adelsfreundlichen Kommerzienrat angepumpt.

Das rosa Mullkleid der Gräfin Himmlingen-Wolfsfeld war wahrhaftig
jugendlicher als das ihrer jüngsten Enkelin, die im Nebensaale
verkaufte.

Die jungen Mädchen, welche eben in einer Rotte von etwa einem Dutzend
auf den Prinzen Balduin losstürzten, den seine riesenhafte Gestalt und
der Hausorden des Hauses Hohenzollern weithin kenntlich machten, glich
einer Horde von Haifischen, „ja, den Haifischen bei Saint-Thomé“.

„Haben Sie die selbst gesehn?“ fragte Monika interessiert.

„Ja, bei Saint-Thomé am Aequator. Das Wasser ist dort so sonderbar
durchsichtig wie Glas. Bei fünfzehn Meter Tiefe sieht man noch den
Grund, sieht all das Tierzeug, besonders viel Haifische. Und wenn
einer von uns an Bord unserer Jacht bei den Schießübungen, die wir
aus Langerweile anstellten -- wir schossen auf die Haie in der Tiefe
-- dann so eine Bestie traf, dann stürzten die anderen Haie mit
unnennbarer Gier über ihn her. Grad’ wie dort unsere jungen Damen über
den Prinzen Balduin.“

Monika lachte diesmal nicht.

„So klar ist das Wasser dort?“ fragte sie.

Ihre Stimme hatte plötzlich etwas Träumerisches bekommen.

„O Gott, so tief kann man da hinuntersehn -- --? Wie durch Glas? Wie
durch Kristall? -- Und all die Geheimnisse der Tiefe sind plötzlich
aufgetan? Man sieht die grünen Algen und die Korallenbäume, rosa und
weiß, tausendfach verästelt. Und die Quallen, jene sonderbaren Wesen,
die halb Blumen sind und halb Tiere, treiben dahin und leuchten wie
Opale und Amethysten -- --“ Ihre Augen schauten sehnsüchtig vor sich
hin.

„Sie dichten ja,“ sagte er erstaunt, lebhaft interessiert von dem
Geist, der in diesem jungen Gesichte war und den Ausdruck dieser Züge
so oft wechseln ließ.

„Sind Sie zu Jagdausflügen in die Tropen gegangen?“

Monikas Phantasie ließ sie in ihrem Begleiter einen Nabob vermuten,
einen Globetrotter, der nur der Haifische wegen nach Saint-Thomé fuhr.

Er lächelte ein wenig sarkastisch. „Nein, mein gnädiges Fräulein, ich
war dienstlich drüben, als Vize-Konsul.“

„Ach wie interessant! Und wie schön gefährlich es drüben sein muß. Sind
Sie oft krank gewesen? -- Malaria?“

Er lachte. „Nein, ich muß Sie enttäuschen. Es war nicht der Rede wert.
Ueber achtunddreißig Grad hat es mein Thermometer nicht gebracht! Wir
alle in der Familie sind so widerstandsfähig!“

Unwillkürlich reckte er seinen schönen, kräftigen Körper noch höher
empor.

Sie warf ihm einen bewundernden Blick zu, sagte aber trotzdem: „Ich
denke es mir eigentlich nett, hohes Fieber zu haben und schöne
Fieberphantasien!“

„Ihre Anschauung ist ebenso originell wie unzutreffend. Fieber ist
natürlich häßlich wie jede Krankheit, häßlich wie alles, was den
Menschen aus dem seelischen oder körperlichen Gleichgewicht bringt.“

„O, Gleichgewicht ist so langweilig!“ sagte Monika. Ihre Augen und
Zähne blitzten; sie fühlte ein starkes Bewußtsein von Kraft sie
überfluten, wie immer, wenn sie sich gegen die Norm auflehnte. Und
wie immer verbiß sie sich in den einmal gefaßten Gedanken, drehte
und wendete ihn, zeigte ihn in verschiedenen Beleuchtungen wie einen
Edelstein, auf dessen Schleiffläche man das Licht fallen läßt.

Sie sagte: „Das Gleichgewicht? Schrecklich ist das! Das schließt ja
von vornherein alles aus, um das es sich lohnt zu leben: jeden Rausch
schließt es aus, jedes Wunder schließt es aus.“

Der sarkastische Zug um seine Mundwinkel vertiefte sich.

„Glauben Sie an Wunder?“

„Ja.“

Sie war hinreißend schön in diesem Augenblick; ihre Züge waren wie
verklärt vom heißen Glauben der Jugend, dem nichts unmöglich scheint,
nichts unerreichbar. Der sich Wunder schafft mitten im grauen Alltag.

„Möglich, daß Sie beneidenswert sind,“ sagte er. „Ich habe nie an
Wunder geglaubt, ich bin ein nüchterner Mensch, an allzuviel Phantasie
leidet meine ganze Familie nicht.“

Dann ging das Gespräch weiter. Monikas elektrische Art ließ den Mann
mehr aus seiner norddeutschen Reserve heraustreten, als er sonst wohl
tat. Er fühlte sich angeregt wie selten, im Banne dieser dunkeln Augen,
dieses lachenden, roten Mundes, der frühreif geistreiche und kindisch
dumme Sachen durcheinanderplauderte.

Er hätte gern gewußt, welchen sozialen Kreisen Monika angehörte; ihr
Wesen und ihre Bildung ließen auf beste Herkunft schließen, aber
zwischendurch äußerte sie mal plötzlich eine Frivolität oder eine recht
naturalistische Auffassung, die nicht zu dieser Vermutung passen wollte.

Jedenfalls war sein Ton dadurch freier zu ihr, als er es gewesen wäre,
wenn er ihr in einer Privatgesellschaft vorgestellt worden.

Er überlegte gerade, ob er sie um ein Rendezvous bitten solle, als die
Logentür heftig aufgerissen wurde.

Monika fuhr mit einem halblauten Schreckensschrei zusammen; sie
vermutete einen Racheengel in der Gestalt von Heinzemännchen, der
sie zwar nicht mit flammendem Schwerte, aber mit der Drohung von der
„verletzten Familienehre“ aus diesem Paradiese vertreiben würde. Aber
es war nur ein Artillerieleutnant mit liebebedürftigem Gemüt, der sich,
eine üppige, schwarzgelockte Pseudo-Italienerin am Arme, in diese
Logen-Einsamkeit zu flüchten suchte. Enttäuscht klappte er die Tür
gleich wieder zu.

Man blieb von neuem allein, aber in Monika regte sich nun doch das
Gewissen; sie raffte den Korb mit den Rosen auf, der die ganze Zeit
ihr zu Füßen gestanden, und bezichtigte sich selbst einer schreienden
Herzlosigkeit gegenüber den unglücklichen Lungenkranken. Da sitze sie
nun seit einer guten halben Stunde hier, statt ihre Blumen zu verkaufen.

„Bitte, bitte, bleiben Sie doch,“ bat er, „ist es denn wirklich ein
größeres Vergnügen, sich da drunten abzuhetzen und allen möglichen
Leuten Rosen anzubieten?“

„O, sicher ist es hübscher hier,“ sagte Monika mit naiver
Offenherzigkeit, „aber meine Rosen -- --“

„Ich kaufe sie Ihnen alle ab, dann bekommen die Lungenkranken auch ihr
Scherflein, und Sie brauchen sich nicht anzustrengen, sondern bleiben
noch ein bißchen hier und erzählen mir von den Wundern, an die Sie
glauben!“

Monika war unschlüssig. Sie wußte nicht, ob der vorgeschlagene Handel
korrekt war. Aber sie ließ es geschehen, daß der Unbekannte ihr die
Rosen aus dem Körbchen nahm und eine Banknote dafür hineinschob.

Und sie blieb mit schlechtem Gewissen, in Angst vor Strafe, -- aber sie
blieb. Und fühlte sich selig wie noch nie im Leben! Es war ihr förmlich
ein körperliches Wohlgefühl, in diese kalten, grauen Augen zu sehn,
diese scharfe, ans Befehlen gewöhnte Stimme zu hören.

Noch eine Viertelstunde..... und noch eine.... Aber endlich rang sie
sich es doch ab, wieder hinunterzuwollen an die Stätte der Pflicht, den
Verkaufsstand ihrer ~dame patronesse~.

„Wirklich, -- wirklich, ich muß jetzt weg.“

Sie stand vor ihm, in so offenbarer Betrübnis, diesem Beieinandersein
ein Ende machen zu müssen, daß ihm ganz warm ums Herz wurde.

„Wie schade,“ sagte er, „wie sehr schade. Wollen Sie mir nicht
wenigstens noch etwas verkaufen zum Wohl der Armen?“

„Aber ich habe Ihnen ja alle meine Blumen gegeben,“ sagte sie erstaunt.

„Nein, nein, da ist noch eine Rose, die ich gern pflücken möchte, die
schönste Blume von allen...“

Er sah so verlangend auf ihren Mund, -- und eine heiße Glutwelle der
Scham und des Entzückens überflutete Monikas Gesicht, tauchte es in
Glut bis in die kleinen Ohren hinein.

In holdester Verlegenheit stand sie vor ihm. Kein Laut kam über ihre
Lippen. Und auf diese Lippen legte sich mit warmem Druck sein Mund.
-- -- -- --

Eine Sekunde später stürmte Monika davon, die Treppe hinunter; wie
gehetzt kam sie in Frau von Wetterhelms Bude an, die sie im Verlaufe
des Festes nicht mehr verließ. Sie sei zu müde, um noch einmal die Säle
zu durchkreuzen.

Am liebsten wäre sie überhaupt fortgelaufen, hätte sich irgendwo in
die Einsamkeit vergraben, um all die geheimnisvolle Seligkeit in sich
nachbeben zu lassen, die sie bei dem Kusse des Unbekannten empfunden.

O, fort von hier aus diesem Lärm und Gewoge. Allein sein.. die Augen
zumachen.... und in Gedanken die kühlen, grauen Augen noch einmal vor
sich sehen.

Aber natürlich mußte sie dableiben. Frau von Wetterhelm hätte ihrer
neuesten Akquisition einen so frühzeitigen Abschied nie erlaubt.
Außerdem war weder Mama noch einer ihrer Brüder zu erblicken. Wer weiß,
wo die sie jetzt suchten!

So stand denn Monika da in der Blumenbude, umgeben von all dem bunten,
üppigen Blumenflor. Wie traumverloren sah sie in das Gewühl der Gäste.
Aber trotz dieser Teilnahmslosigkeit wirkte sie entschieden anziehend;
immer neue Besucher traten an ihren Tisch. Und Frau von Wetterhelm
bedachte jeden der Kaufenden mit ihrem wohlwollenden Lächeln. -- --

Dann fing die Feststimmung langsam an abzuflauen. Die verkaufenden
Damen wurden müde, ganze Scharen von Besuchern drängten schon nach dem
Ausgang.

Die Musikkapellen, die noch vor wenigen Stunden so überzeugt schmelzend
das „~Bella Napoli~“ gebracht, ließen in ihrem Spiele eine gewisse
Ermüdung merken. Auf die Feststimmung begann sich die beginnende
Abspannung zu legen, das lähmende Bewußtsein des überschrittenen
Höhepunktes.

Monikas reizbare Nerven empfanden diese Stimmung; wie ein Aschenflor
legte es sich über ihr eben noch so heißes Empfinden. Mit nervösen
Händen wühlte sie in den halbwelken Blumen, die vor ihr lagen, atmete
den ersterbenden Duft ein, der all diesen kühlen Blütenkelchen entstieg.

Plötzlich zuckte sie zusammen. Unter den Leuten, die dem Ausgang
zustrebten, hatte sie die hohe Gestalt ihres Freundes aus der Loge
erkannt.

Spontan wich sie bis ganz in den Hintergrund des Verkaufsstandes
zurück, eine Beute der widerstrebendsten Empfindungen. Sie wollte
nicht, daß er sie bemerke -- und trotzdem war eine herzklopfende Angst
in ihr: „wenn er jetzt fortgeht, ohne mich zu sehen, dann seh’ ich ihn
nie mehr wieder.“

Da schlug die scharfe Stimme von Frau von Wetterhelm an ihr Ohr.

„Vetter Georg, -- Vetter Georg!“ rief sie mit einer so lauten
Ungeniertheit, daß sich ein halbes Dutzend Köpfe nach ihr umdrehten.

Und dann -- war es Wirklichkeit? Der Unbekannte trat heran und beugte
sich über die Hand von Frau von Wetterhelm. Sie begrüßte ihn mit einem
wahren Wortschwall.

„Welche Freude, Sie endlich mal wiederzusehen, Vetter Georg. Ich hörte
schon, daß Sie jetzt hier in der Wilhelmstraße arbeiten. Aber zu mir
haben Sie den Weg natürlich noch nicht gefunden.“

„Aber gnädigste Cousine,“ wehrte er ab, „ich bin erst seit so kurzer
Zeit hier -- --“

Plötzlich fiel sein Blick auf Monika, die sich ganz in einer Ecke
versteckt hatte.

„Darf ich bitten, mich vorzustellen?“

„Aber mit dem größten Vergnügen. Fräulein von Birken, darf ich Ihnen
den Konsul von Wetterhelm präsentieren -- --“

Monika erwiderte die tiefe Verbeugung des Konsuls mit einem sehr
verlegenen Kopfnicken. Ihre sonstige Schlagfertigkeit war wie weggeweht.

Die ~dame patronesse~ wunderte sich innerlich nicht wenig, mit welcher
Einsilbigkeit das sonst so sprühende Mädchen auf die Unterhaltung des
Konsuls einging. Kein Wunder, daß sich der so bald verabschiedete.

„Er ist ein so interessanter Mensch,“ sagte sie nachher zu Monika,
„ich höre ihn gar zu gern, obwohl er leider ein bißchen spöttisch ist.
Ob ich nahe verwandt mit ihm bin? -- Oh nein, er ist im vierten oder
fünften Grade mit meinem gewesenen Mann verwandt. -- -- Er ist ein ganz
hervorragender Mensch; ich glaube, er hat eine glänzende Karriere vor
sich. Ich muß doch mal sehen, ob ich nicht eine passende Frau für ihn
finde.“

Frau von Wetterhelm versank in Nachdenken und musterte innerlich ihren
Bekanntenkreis. Es war die größte Leidenschaft ihres Lebens, Heiraten
zu stiften.

„Vielleicht die Komtesse Lerk-Eichenbruch,“ sagte sie nach einer Weile
gedankenverloren. „Gott, natürlich wird sie sehr diffizil in ihrer
Wahl sein. Sie ist die einzige Tochter vom Gesandten und eine geradezu
blendende Schönheit, -- aber Vetter Georg kann auch was verlangen! Bei
den Aussichten, die er hat -- und ein selbständiges Vermögen von seinem
verstorbenen Vater hat er auch. -- Uralter Name und solch auffallend
gut aussehender Mensch wie er ist. Nicht?“

Monika antwortete nicht. Ihre kleinen, weißen Hände zerrissen nervös
die welken, roten Rosen.

[Illustration]



8.


Die Folge dieses Wohltätigkeitsabends war für Monika erstens mal, daß
sie ein Gedicht verfaßte, in welchem sehr viel von kalten Augen und
heißen Lippen die Rede war.

Sie brachte das Gedicht selbst in die Redaktion des Leuchtturms und
Doktor Waldmanns Kritik war verblüffend:

„Sie haben bisher mit Tinte geschrieben, gnädiges Fräulein, aber dieses
Gedicht ist mit Herzblut geschrieben!“ -- ein Urteil, das Monika zwar
schmeichelte, sie aber doch zu einem lauten Gelächter veranlaßte.

Uebrigens wurden von jetzt ab ihre Besuche auf dem Leuchtturm
seltener; unwillkürlich verglich sie immer wieder das ungezwungene und
ungezügelte Wesen der dortigen Kunstjünger mit dem strafferen Wesen
des Herrn von Wetterhelm. Der leuchtete von jetzt ab in ihren Gedanken
als Stern. Aber dem „Die Sterne, die begehrt man nicht“ hatte sie nie
gehuldigt. Im Gegenteil! -- sie begehrte gerade die Sterne, -- waren
nicht jene fernen Himmelsblumen tausendmal lockender als die Blumen am
Wegrand? -- Wenn sie nur gewußt hätte, wie sie ihren Stern wiedersehen
könne!

Bei den zwei Bällen, die Monika bald nach dem Basar mitmachte,
behandelte sie ihre Tänzer schlecht. Sogar zu den Leutnants, denen
sie sonst einen entschiedenen Vorzug vor dem Zivil einräumte, war sie
ungnädig, -- alles zu höheren Ehren ihres Sterns!

Wie unendlich freudig überrascht war sie, als sie ein paar Tage darauf
diesen unerreichbaren Stern in höchsteigener Person ihr entgegenkommen
sah, als sie aus dem Kursus kam.

Sie ging mit ihrer Cousine Bertha, die, als Herr von Wetterhelm grüßend
vorbeigeschritten, aufs höchste interessiert fragte: „Was ist denn das
für ein schneidiger Mensch?“

„Was Du immer für Ausdrücke hast,“ sagte Monika unwirsch. Sie war
ärgerlich, daß sie mit Bertha zusammen ging. Vielleicht hätte ihr Stern
mit ihr gesprochen, wenn sie allein gewesen wäre.

Und diese Hoffnung veranlaßte sie, sich in den nächsten Tagen beim
Nachhausewege streng zu isolieren. Nach dem Schlusse des Unterrichts
trödelte sie herum, brauchte unglaubliche Zeit, um ihre Mappe zu
packen, und legte es darauf an, als letzte das Schulgebäude zu
verlassen.

Vier, fünf Tage ging das so. Eine nervöse Erwartung spannte während der
ganzen Zeit ihre Nerven an, machte sie unzufrieden und melancholisch
wie nie zuvor. Aber dann kam doch ein Tag, an dem ihr wieder ihr Glück
lächelte und ihr Stern.

Herr von Wetterhelm kam langsam daher, begrüßte sie gemessen. Es lag
nicht in seiner Art, Empfindungen zu zeigen, und seine Beherrschtheit
wirkte abkühlend auf Monika, deren ganzes Wesen aufgeflammt war, als
sie den Ersehnten erblickt.

„Nun, wohl nicht sehr lange mehr bis zum Doktorexamen?“ neckte er
lächelnd.

„Woher wissen Sie überhaupt, daß ich studieren will?“

„Von meiner Cousine Wetterhelm.“

„Haben Sie die denn nun endlich mit dem Besuch beglückt, um den sie
bat?“

„Ja, ich mußte schon.“

„Sie scheinen alte Damen nicht zu lieben?“

„Das können Sie nicht verlangen! Alte Damen müssen schon sehr
geistreich oder sehr liebenswürdig sein, um sich ihr Alter verzeihen zu
lassen.“

„O je, sind Sie scharf!“

„Desto besser! Wir Deutschen sind überhaupt viel zu wenig scharf. Der
Michel hat nun mal eine Anlage zur Träumerei, zum Philosophieren.“

„Und ist’s denn nicht etwas wunderbar Schönes ums Philosophieren?“

„O, wenn man es mit Maß tut... Aber es artet leicht aus. Alles mit Maß!“

„Da sind Sie schon wieder bei Ihrer Theorie von der weisen Mäßigung.
‚Die goldene Mittelstraße‘ nennt man’s, nicht wahr? Aber die ist
doch unnatürlich! Die will doch die Natur selber nicht! Mäßigt sich
denn etwa die Natur? -- Die hat doch den Blitz und Sturm und Toben,
zerschellende Weltkörper und ein Uebermaß von Blüten...“

„Wir dürfen aber nicht nur die Natur sprechen lassen. Wir müssen uns an
ihre jüngere und gesittetere Schwester halten: an die Kultur!... Was
sollte denn sonst aus unseren Institutionen werden, aus unserem Volke,
aus unserem Staat?“

„Unser Volk... unser Staat! Als ob das wichtig wäre!... Was spielt denn
das für eine Rolle in der Entwicklungsgeschichte? Ein Menschengeist
kann sich doch nicht an politische Grenzen halten, kann es doch nicht
wichtig finden, was aus dem Staat wird! Der floriert eben... oder geht
zugrunde.. wie andere Staaten auch.“

„Feuerköpfchen, Sie sind doch noch sehr jung,“ lächelte der Konsul.

Aber lächelnde Ironie vertrug Monika nicht. Sie machte eine ihrer
Lieblingsgesten: warf den Kopf ins Genick: „Diese Kritik ist keine
Widerlegung meiner Ansichten; daß diese keine Berechtigung haben,
werden Sie doch wohl nicht zu behaupten wagen.“

„Ich lasse jedem seine Ansichten,“ sagte er sehr kühl. „Was mich
anbetrifft, so bin +ich+ jedenfalls von der Notwendigkeit eines
nationalen Bewußtseins für den Menschen vollkommen überzeugt. Ich fühle
mich als Deutscher, wie meine Vorfahren es taten. Ich diene mit allen
Kräften meinem Vaterlande, denn das ist meine Pflicht -- und meine gern
erfüllte Pflicht!“

„Pflicht!“ sagte Monika und legte die ganze bodenlose Verachtung, die
sie für diesen Begriff empfand, in ihre kindliche Stimme.

„Ja, Pflicht, das Herbste und Köstlichste, was es gibt!“ sagte er. Sein
schmales, rassiges Gesicht versteinerte förmlich, seine harten Züge
schienen wie aus Erz gegossen.

„Ich finde: man sollte seinen Neigungen folgen, nicht seiner Pflicht.
Die weite Bahn, die sich dann vor einem auftut, ist...“

„Eine schiefe Ebene.“

Sie suchte krampfhaft nach einer ebenbürtigen Entgegnung, die
sie diesen drei Worten, die wie drei Dolchstiche waren, hätte
entgegensetzen können. Aber ehe sie etwas gefunden, hatte sich der
Ernst ihres Begleiters gemildert, ein liebenswürdiges Lächeln teilte
seine schmalen Lippen.

„Aber sagen Sie, gnädiges Fräulein, ist es nicht wirklich zu
unvernünftig, daß wir mit abstrakten Erörterungen dieses Wiedersehen
feiern, über das ich mich so freue.“

„Ich mich ja auch...,“ sagte sie, plötzlich ganz weich und lieb. Und
wie ein Hauch kam es in verräterisch scheuem Tone von ihren Lippen:
„So sehr freue ich mich...“

Dann gingen sie langsam weiter. Monika machte einen großen Umweg, um
nach Hause zurückzukehren.

Ob sich die Mutter inzwischen beunruhigte, war ihr ja so gleichgültig!

Die Schelte, die sie heute wegen der großen Verspätung bekam, machte
ihr keinen besondern Eindruck. Wohl war es ihr unangenehm, aber
schließlich: es war unwichtig, kam nicht auf gegen das Glücksgefühl,
das sie durchflutete! Sie hatte ihn wiedergesehen!

Ob er wohl ihretwegen vors Gymnasium gekommen war?... Oder war es sein
Weg?... War es nur ein Zufall?... Ein Gefühl von Enttäuschung wollte
bei diesem Gedanken in ihr aufsteigen, aber das kämpfte sie nieder.

„Nein, nein, er kam meinetwegen! Und wenn er nicht meinetwegen kam,
dann will ich’s wenigstens glauben -- dann ist es gerade so süß!“...

In den Unterrichtsstunden zeichnete sie sich von jetzt ab durch völlige
Geistesabwesenheit aus. Ihre Liebe verschlang jedes andere Gefühl,
jeden anderen Gedanken. Wie lächerlich winzig erschienen ihr die
Neigungen, die sie früher gehabt, gegenüber dem übermächtigen Gefühl,
das sie jetzt durchflutete.

Uebrigens wußte sie gar nicht, was sie eigentlich an Wetterhelm
so liebte. Gewiß: er war ein schöner, vornehmer Mann, aber seinen
Anschauungen vermochte sie so gar keinen Geschmack abzugewinnen. Und
seine ewige Gemessenheit störte sie geradezu.

Weit entfernt, sie mit Komplimenten zu überschütten, wie es andere so
oft getan, blieb er gleichmäßig kühl. Auch das nächstemal, als sie ihn
traf -- sieben lange Tage hatte sie umsonst darauf gehofft -- und er
wieder neben ihr herschritt.

„Lange nicht gesehen,“ sagte Monika mit erkünsteltem Gleichmut.

„Ich hatte dienstlich viel zu tun.“

„Bleiben Sie noch lange in Berlin?“

„O nein, ich hoffe bald einen vernünftigen überseeischen Posten zu
bekommen, recht bald.“

„So...?“

„Recht bald“ hatte er gesagt... also: ihn hielt nichts in Berlin... gar
nichts!

Aufsteigende Tränen verdunkelten Monikas Blick. Sie sprach kein Wort.

Also, er „hoffte“ recht bald wegzugehen -- dann war ihr überhaupt alles
gleichgültig!

Alles... und wenn die Welt einstürzte...

Und sogar das war ihr gleichgültig, daß plötzlich, kaum auf fünfzehn
Schritt Entfernung, Heinzemännchen daherkam!

Der zuckte überrascht zusammen, als er des Paares ansichtig wurde, dann
drehte er, ohne gegrüßt zu haben, um und rannte spornstreichs den Weg
nach Hause zurück, den er eben gekommen...

Natürlich würde er nun „petzen“.

Aber mochte er nur -- es war ja alles, alles gleichgültig, wenn Georg
von Wetterhelm jetzt fortging und sie ihn nicht mehr wiedersah!

Es war, als ob jeder Tropfen Blut in ihr erstarrte.

„Was Sie für kalte Hände haben,“ sagte beim Abschiedshändedruck der
Konsul. In seiner Stimme klang dabei eine heimliche Zärtlichkeit.

Aber das merkte sie gar nicht mehr in der eisigen Hoffnungslosigkeit,
die über sie gekommen.

[Illustration]

Der Empfang zu Hause war noch schlimmer, als Monika ihn sich gedacht.
Die Baronin rang die Hände. Hatte sie das um Monika verdient? Daß
Monika sich von einem Herrn begleiten ließ, von einem ihr gänzlich
unbekannten Herrn, von dem Heinzemännchen überhaupt nicht wußte, wer er
sei!

„Es war mein Mathematiklehrer, Professor Herrmann war’s,“ sagte Monika
kalt.

Aber wie ein Racheengel richtete sich Heinzemännchen in seiner ganzen,
schlaksigen Höhe auf. „Das war kein Mathematiklehrer -- das war ein
Gentleman!“ sprach er mit Donnerstimme. „Und soll ich Dir sagen, was
das Ganze war? Das war ein Rendezvous!“

Er ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.

„Monika,“ sagte er, und seine Stimme kickste über, „hast Du denn gar
nicht an mich gedacht?“

„O nein,“ sagte Monika höflich.

„Hast Du nicht daran gedacht, daß seit Papas Tode die ganze
Verantwortung auf meinen Schultern ruht? Daß Du mir das antun kannst,
Monika...“

„O, mein Geliebtes,“ rief Frau von Birken, indes sie ihren Sohn an sich
zog, „rege Dich nicht auf, mein Geliebtes! Es kann Dir schaden!...
Aber recht hast Du, das kann ich nicht anders sagen!... Monika, es ist
unerhört von Dir! Dies Betragen geht über alle Grenzen hinaus... Du
bist ein verlorenes Geschöpf, Monika!... Von einem Herrn läßt Du Dich
begleiten auf dem Nachhausewege, statt von Deiner Cousine Bertha!...
Die würde ihrer Mutter so etwas nicht antun!... Warum habe ich von
allen Müttern gerade das Unglück? Aufgeopfert habe ich mich für Euch,
mein ganzes Leben hindurch, und das ist nun der Dank!... Monika, wie
kannst Du Dich so benehmen? Wo hast Du je ein solches Beispiel vor
Augen gehabt? Habe ich je so etwas getan?“

Monika zuckte mit den Achseln.

„Was? Du zuckst mit den Schultern? Willst Du damit sagen, daß ich je so
etwas getan hätte?... Monika, nie hättest Du mir das antun können, wenn
Du auch nur einen Funken von meinem Gemüt geerbt hättest...“

Sie unterbrach sich, denn ihre Tochter war aufgestanden, ging wortlos
aus dem Zimmer; gleich darauf hörte man, wie sie sich im Schlafzimmer
einschloß.

Ein fassungsloser Schmerz schüttelte ihren jungen Körper: sie hatte
selbst nicht gewußt, mit welch elementarer Leidenschaft sie jenen
schönen, kühlen Mann liebte. Immer wieder rang sich ihre Vernunft
dazu durch, ihr zu sagen: Du kennst ihn ja kaum... Was kann er dir
sein?... Was geht es dich an, ob er abreist?... Aber wenn sie an sein
Fortgehen dachte, krampfte sich ihr Herz immer von neuem in rasendem
Schmerz zusammen; immer von neuem zuckte sie in gewaltsam unterdrücktem
Schluchzen.

Und nichts tun zu können, um das Glück zu erzwingen! -- Nichts tun zu
dürfen, um das Glück festzuhalten -- nichts!

Uralte Satzung und auch ihr eigenes weibliches Gefühl verdammten sie zu
stummem Warten.

Warten!... Nichts weiter!... Hoffend und fürchtend warten, ob das Glück
kommt in seiner Sonnenpracht -- oder ob es am Horizont ihres Lebens nur
ferne vorüberleuchten würde, wie ein fallender Stern.

Sie litt so sehr unter diesem nagenden Zweifel, daß ihr sonstiger
Uebermut wie weggeweht erschien.

Herr von Wetterhelm, der sie nach einigen Tagen wieder in der Nähe des
Gymnasiums erwartete, fand sie verändert, blasser als sonst, einen
schmerzlichen Zug um den schönen Mund, ihr ganzes Wesen von einem Hauch
von Nervosität durchtränkt, den es sonst nicht gehabt.

Auf seine Fragen antwortete sie ausweichend. Er gab sich wärmer als
sonst. Dieses tragische Gesichtchen erweckte Beschützergefühle in ihm.

„Soll ich morgen um dieselbe Zeit wieder hier sein?“ fragte er.

Sie zögerte mit der Antwort. Dann endlich:

„Mein Bruder hat mich neulich mit Ihnen gesehen, und ich habe Schelte
bekommen.“

Eine Blutwelle stieg ihm ins Gesicht. „Das ist auch ganz richtig.
Es ist auch nicht korrekt von mir. Ich wollte Sie schon sowieso um
die Erlaubnis bitten, bei Ihrer Mutter Besuch machen zu dürfen. Wann
empfängt sie?“

„O, Mama hat gar keinen ~jour~,“ sagte Monika verlegen. Sie fand
die Aussicht, ihren Freund bei sich zu Hause begrüßen zu können,
durchaus nicht beglückend... Da war Mama und die Jungen, die so auf
sie aufpaßten. Und man würde nie über ein vernünftiges Thema sprechen
können... Und jeder Blick würde beobachtet werden... Und dann: zu
Hause war es gar nicht mehr elegant. Man war sehr zurückgegangen seit
den Sarkower Tagen. Nicht mal einen Diener hatte man, bloß so ein
dummes „Mädchen für alles“... Gewiß würde der Haushalt den Konsul sehr
enttäuschen. Wer weiß, wie verwöhnt er war!...

So schwieg sie, statt eine Antwort zu geben.

Und schauderte doch zusammen vor Glück, als er sagte:

„Ich komme übermorgen um eins.“

[Illustration]

Zu Hause gelang es ihr, den bevorstehenden Besuch als ganz
gleichgültige, gesellschaftliche Förmlichkeit hinzustellen. Sie sagte,
daß Frau von Wetterhelm ihr diesen Vetter auf dem Basar vorgestellt,
sie habe ihn neulich zufällig auf der Straße getroffen, und er habe
gesagt, daß er diesen Sonntag Besuch machen wolle.

Die Baronin war von dem Besucher nicht sehr entzückt. Er war ihr zu
förmlich gewesen. Eine knappe Viertelstunde hatte er im Salon gesessen,
und während dieser Viertelstunde hatte Frau von Birken das unangenehme
Gefühl, daß er auf die abgestoßene Ecke des schwarzen Tisches sah, und
wenn er mal die Augen wo anders hinwendete, so blickte er entschieden
suchend auf den fehlenden Henkel der blauen Sèvresvase.

Monika hatte still wie eine Puppe auf ihrem Stuhl gesessen und kaum die
Augen aufgeschlagen. Sie war im Banne der brüderlichen Ueberwachung.
Alfred, der sonst an Sonntagen spurlos verschwand, war zu Hause
geblieben, und Heinzemännchen, der einen endlos langen schwarzen
Gehrock trug, den er sich angeschafft hatte, um würdiger und älter zu
erscheinen, bewachte sie wie ein Höllendrache. Kurz: Monika war ehrlich
unglücklich, als Wetterhelm sich verabschiedet.

Sie spähte hinter den heruntergelassenen Stores hindurch, um ihn noch
einmal zu sehen. War’s Einbildung -- oder ging er wirklich nicht ganz
so straff wie sonst -- den Kopf wie gedankenverloren ein wenig gesenkt?

In der Tat war es ein intensives Nachdenken, das Georg Wetterhelm
erfüllte, ein Zwiespalt von Gedanken und Gefühlen.

Sein Leben war bisher in so glatten Bahnen verlaufen, er hatte nach
dem Programm gelebt, das er sich selbst von seinem Leben entworfen.
Er hatte seine Examina gut bestanden, war Rittmeister der Reserve
bei den Garde-Ulanen; seine Gesundheit war ausgezeichnet, seine
Vermögensverhältnisse rangiert. Er hatte gute Zukunftsaussichten,
hoffte, später in die Diplomatie übernommen zu werden. Er hatte die
Absicht, seine Konnexionen durch eine passende Heirat zu verstärken.

Und nun sollte sein Lebensplan aus der Ordnung gebracht werden durch so
einen süßen Wildfang, durch dieses hübsche, geistreiche, ungebärdige
Persönchen, das neulich auf dem Basar sein kühles Wesen ganz mit
Glut erfüllt. Sie hatte ihm einen Eindruck gemacht, wie er sich kaum
erinnerte, ihn je empfangen zu haben. Und doch entsprach sie auch nicht
im mindesten dem Bilde, das er sich in Gedanken von seiner zukünftigen
Lebensgefährtin gemacht. Er fand sie zu jung, zu ungezügelt, mit einem
bedenklichen Hang, eigene Wege zu gehen.

Er hatte sich das alles gleich nach ihrer ersten Begegnung gesagt, aber
die Wirkung, die sie auf ihn gehabt, war eine zu mächtige gewesen.

Vorläufig war noch kein Wort gefallen, das ihn an sie band -- noch kein
Wort, das überhaupt seine Gefühle verraten hätte. Aber sich selbst
hatte Wetterhelm längst gestanden, daß er sie liebte.

Freilich... ob es nicht besser war, dieser Liebe nicht nachzugeben?
Abreisen und den Weg zu gehen, den er sich vorgezeichnet...

Schließlich, es war ja zu dumm, daß ein nettes Mädel einfach seine
ganzen Zukunftspläne verändern sollte! Er war doch kein törichter
junger Mensch mehr, sondern ein zielbewußter, ernster Mann.

Und dieser Besuch, den er eben gemacht, war nicht dazu angetan gewesen,
seine Heiratspläne zu fördern. Gegen den Namen war ja nicht das
mindeste einzuwenden. Die Birkens waren Uradel wie die Wetterhelms.
Aber dieser Birkensche Haushalt, den er eben kennen gelernt, hatte
so gar nichts mit der Durchschnitts-Lebensführung einer deutschen
Aristokratenfamilie zu tun!

Monikas Mutter schien recht freien Anschauungen zu huldigen, was
sich schon aus der Art erhellte, in der die halbwüchsigen Söhne die
Konversation führten. Und auch die Idee mit Monikas Studium lag
Wetterhelm gar nicht.

Nein, eine solche Heirat würde ein dummer Streich sein. Und sehenden
Auges einen dummen Streich machen, das tat man nicht, wenn man Georg
Wetterhelm war.

Also zusammennehmen! Nicht mehr an die beiden strahlenden Augen denken,
die so aufleuchteten, wenn sie ihn sahen! Nicht mehr an die helle,
kindliche Stimme denken, die mit so heißer Begeisterung reden konnte!
Die ganze Episode mußte abgetan und vergessen sein.

Und der Konsul richtete sich auf, so straff wie sonst: Die Episode war
aus und vorbei.

Und darum war es ganz überflüssig, daß Monika es immer so absolut
darauf anlegte, als Letzte aus dem Kursus zu kommen und ganz allein zu
gehen. Sie sah die hohe Gestalt des Ersehnten nicht mehr.

Sie war unglücklich wie nie zuvor. Nachdem sie neulich erst so
verzweifelt gewesen, war ihr dieser nochmalige Sturz in die
Hoffnungslosigkeit zu viel! Ihre Nerven begannen ernstlich zu leiden.

Sie, die so sehr daran gewöhnt war, ihren Willen durchzusetzen, mußte
nun tatlos und machtlos die Zeit verstreichen sehen.

Sie hegte die abenteuerlichsten Gedanken, wie sie sich dem Geliebten
nähern könne. Aber es blieb bei Gedanken! Die Rücksichtslosigkeit, die
sie sonst entfaltete, wenn es galt, ihren Willen durchzusetzen, ließ
sie völlig im Stich.

Zum ersten Male wurde Monika schüchtern. Das Burschikos-Jungenhafte,
das sie oft gehabt, wich einer verträumten Schwermut.

Zum ersten Male war eine große Sehnsucht über ihr und ließ ihre Nerven
erzittern wie Harfensaiten unter tastenden Fingern. Wieder und wieder
durchlebte sie im Geiste jede Sekunde, in der Georg Wetterhelm sie
angeblickt oder mit ihr gesprochen. Sie durchlebte immer wieder die
selige Freude, die sie gehabt, wenn in seine kalten, grauen Augen ein
wärmerer Schimmer gekommen. Sie sehnte sich nach ihm, sehnte sich jede
Minute und jede Sekunde.

Und fühlte nichts mehr als diese Sehnsucht.

Als ihre Mutter Wetterhelm eine Woche nach seinem Besuche zum Tee
gebeten, war eine höfliche Absage erfolgt. Und ans Gymnasium kam er
auch nicht mehr. Es war aus! Zwei Wochen waren nun schon verstrichen.

Vielleicht war er gar nicht mehr in Berlin.

Eine verzehrende Angst packte Monika bei diesem Gedanken. Dann kam
ihr die Idee: vielleicht wußte das Frau von Wetterhelm, ihre ~dame
patronesse~ vom letzten Basar. Zu der mußte sie hin. Dies konnte sie
auch ganz unauffällig, denn sie hätte ihr schon längst mal wieder einen
Besuch machen müssen.

Frau von Wetterhelm war zu Hause und empfing Monika in ihrem, mit
japanischem Krimskrams überladenen Boudoir. Sie war überaus freundlich.
Wirklich zu nett, daß man zu so einer langweiligen, alten Frau käme,
wie sie doch eine wäre!... Nein: keine Widerrede... Sie wisse, daß
sie langweilig sei, habe doch nun mal keinen Geist aufzubieten, was
entschieden die Schuld ihres Großvaters mütterlicherseits sei, der
wirklich ganz auffallend unbegabt gewesen sein solle. -- Aber wenn sie
selber auch leider dumm sei, so wisse sie doch Geist bei anderen zu
schätzen, und darum sei ihr Monika besonders herzlich willkommen! Denn
Monika sei hervorragend geistreich! Allein die Tatsache, daß sie das
Mädchengymnasium besuche, spräche Bände! Außerdem habe ihr Vetter Georg
Monika auch direkt „geistvoll“ gefunden.

„Sehen Sie Ihren Vetter öfters?“ fragte Monika mit gewaltsam gespielter
Gleichgültigkeit.

„Leider nein. Eine langweilige, alte Frau wie ich kann das ja auch
nicht verlangen! Aber gerade heute erwarte ich Georg. Er muß bald
kommen. Ich hörte nämlich, daß er demnächst abreist, und da schrieb
ich ihm, daß er mich besuchen solle in wichtiger Angelegenheit! Ihnen,
meine liebe, kleine Freundin, kann ich’s ja sagen, Sie sind ja diskret.
Ich will mit Georg über eine junge Dame reden, die wirklich eine
fabelhaft gute Partie ist! Es handelt sich um...“

„O bitte, keinen Namen,“ unterbrach Monika hastig, „das sind so interne
Angelegenheiten, gnädige Frau. Ich möchte wirklich nicht...“

„Aber ich bitte Sie, ich sag’s Ihnen ja gern.“

„Ueberdies muß ich fort. Ich bin mit Mama bei unserer Schneiderin
verabredet.“

Sie hatte sich erhoben, ihr zitterten die Hände. Nur fort! Nur ihn
nicht treffen, der sie verschmähte! Der Zeit fand, hierher zu kommen,
und den Weg zu ihr vergessen hatte! Nur fort!

Nach hastigem Abschied eilte sie die Treppen hinunter, der Haustür zu.
Da wurde diese von außen geöffnet. Georg Wetterhelm trat ein.

Monika vermochte einen Aufschrei nicht zu unterdrücken. Aber sie faßte
sich rasch. Er sollte nicht glauben, daß sie gewußt, daß er heute
hierherkam. Daß sie etwa darum hier sei!

So tauschten sie denn ein paar konventionelle Redensarten, dann hielt
sie ihm abschiednehmend die Hand hin. Aber er sagte: „Ich begleite Sie
ein Stück.“

Er rief den Portier und trug ihm eine Entschuldigung an Frau von
Wetterhelm auf; selbst in diesem Augenblicke, wo das Zusammentreffen
mit Monika ihn so erschütterte, ließ er eine Höflichkeitspflicht nicht
außer acht.

Sie gingen nebeneinander her, auf einem Fußpfade im Tiergarten, dessen
Bäume und Sträucher ein erstes knospendes Grün zeigten. Der feuchte und
herbe Duft des Vorfrühlings lag in der Luft und stieg aus der feuchten
Erde.

Monika war das Herz so schwer; sie sprach gar nicht, ging, den Blick
geradeaus gerichtet, neben ihrem Begleiter, der heute auch auffallend
wortkarg war.

Endlich sagte er: „Ich reise bald fort.“

Monika erwiderte darauf nichts; sie preßte ihre Fingernägel in
die Handflächen, daß sie ins Fleisch drangen, suchte durch diesen
körperlichen Schmerz den seelischen zu übertäuben, der in ihr stürmte.

„Ich hatte die Absicht, Ihnen noch Adieu sagen zu kommen,“ sagte
Wetterhelm.

Aber gleich darauf veränderte sich der kühle Ton seiner Stimme: „Nein,
es ist nicht wahr. Ich wollte nicht mehr kommen. Ich wollte Sie nicht
mehr sehen...“

Da hob sie den Kopf zu ihm empor. Die Tränen, die schon so lange in
ihren Augen gezittert, rannen nun an ihren langen, tiefdunkeln Wimpern
herab, rannen in großen Perlen über die weich gerundeten Wangen.

Und bei diesem Anblick brach in Georg von Wetterhelm sein
„Lebensprogramm“ zusammen.

Nicht denken jetzt... nur dieses süße, unglückliche Gesichtchen
küssen... dieses schöne, warmherzige Geschöpf in die Arme nehmen... und
ihre glühende Jugend fühlen... und ihre glühende Liebe...

„Liebling!“

Er riß sie in die Arme, hielt sie fest umfangen wie mit Eisenklammern,
hielt sie fest an sein Herz gepreßt und küßte immer wieder die bebenden
roten Lippen, die so herzbewegend stammelten: „Geh’ nicht fort... ach,
geh’ doch nicht fort...“

„Nicht ohne Dich, mein Lieb!“

„Ist’s wahr?“ Das war wie ein Jubelschrei.

Mit beiden Armen umschlang sie seinen Hals, trank mit geschlossenen
Augen seinen Atem, der herb und frisch duftete wie die Frühlingserde
ringsumher.

[Illustration]



9.


„Ja, gewiß, alles was Sie mir hier über Ihre Vermögenslage, Ihre
Aussichten dargelegt haben, ist glänzend, Herr von Wetterhelm,“ sagte
die Baronin Birken. „Ich könnte mir für meine Tochter gar keine bessere
Partie wünschen -- aber die Sache liegt doch nicht so einfach. Ich kann
nicht lügen, wissen Sie, die Wahrheit über alles! Und darum sage ich
Ihnen: ich kann Ihnen nur abraten, Monika zu heiraten!“

Der Konsul, den sonst so leicht nichts in Erstaunen setzte, konnte sich
nicht enthalten, ein etwas verblüfftes Gesicht zu machen.

„Darf ich bitten, mir diese Worte zu erklären, gnädige Frau?“

„Gern... Wissen Sie, Monika ist wirklich gar nicht fürs Heiraten
geeignet. Sie besucht das Mädchengymnasium und will studieren. Und für
Frauen, die sich der Wissenschaft widmen, ist doch die Ehe eigentlich
nichts.“

„Wenn das der einzige Grund ist...“

Der sarkastische Zug um Wetterhelms Lippen vertiefte sich.

„O nein, nichts weniger als der einzige. Ein Dutzend Gründe sind es...
die Wahrheit über alles!... Erstensmal: Monika kann nicht kochen, aber
tatsächlich keine Ahnung davon!“

„Die Dokumente, die ich Ihnen vorlegte, gnädige Frau, sollten Sie
überzeugt haben, daß ich in der Lage bin, meiner Frau eine Köchin zu
halten, sogar eine sehr gute.“

„O ja, natürlich, aber selbst die beste Köchin wird nie das leisten,
was eine kulinarisch gebildete Frau des Hauses leistet.“

„Ich bin, was das Essen anbetrifft, sehr anspruchslos.“

„Außerdem: Monika hält keine Ordnung. Alles wirft sie durcheinander und
verlegt sie! Nicht einen Knopf näht sie sich allein an!“

Wetterhelm sah tiefsinnig auf einen Knopf, der halb abgerissen an der
Bluse der Sprecherin baumelte, und sagte: „Ich werde ihr eine Zofe
halten, die genau so gut ist wie die Köchin.“

Frau von Birken seufzte: „Ach, Monika hat so gefährliche Anlagen. Sie
ist so eigenwillig. Sie macht sich über alles eigene Gedanken; sie
respektiert nichts! Nicht mal mich als Mutter! Nicht mal Goethe. Und
immer muß sie ihren Willen durchsetzen! Monika ist ein Engel, wenn man
ihr den Willen tut, aber den muß man ihr tun!“

„Darin wird sie sich wohl ein wenig ändern,“ sagte Wetterhelm, mit
demselben Gleichmut, den er bisher zur Schau getragen.

„Sie ändert sich nicht, sie ist jetzt siebzehn Jahre und war immer so.“

„Mit siebzehn ändert man sich noch oft.“

Da Frau von Birken dieser Aeußerung nicht recht was entgegenzusetzen
wußte, sagte sie: „Erlauben Sie, daß ich meinen Sohn rufe...“

Heinzemännchen erschien.

Er trug den neuen, unendlich langen Gehrock und sah sehr sorgenvoll aus.

Wetterhelm zog die Augenbrauen hoch. Wollte man ihm in der Tat zumuten,
seine Werbung bei diesem Obersekundaner anzubringen?

Aber schon wurde die Tür aufgerissen. Monika kam herein, flog auf
Wetterhelm zu und küßte ihn stürmisch auf den Mund.

„Was habt Ihr denn bloß so lange zu verhandeln?“ rief sie der wie
erstarrt dasitzenden Mutter zu. „Ich kann doch nicht so lange draußen
bleiben, wenn Georg da ist!“

Und sie küßte ihn von neuem.

„Jetzt kann ich allerdings nichts mehr einwenden,“ sagte Frau von
Birken hilflos.

Heinzemännchen seufzte auf. War’s die Erleichterung darüber, daß die
Verantwortung für Monika von jetzt ab auf stärkeren Schultern ruhen
sollte als auf den seinen? --

Die Verlobungszeit sollte nur zwei Monate dauern. Frau von Birken fand
das zwar geradezu ungebührlich kurz, aber es lag so gar kein Grund zum
Warten vor. Im Gegenteil! Der Konsul erwartete bald seine Berufung auf
einen überseeischen Posten und wollte selbstverständlich schon vorher
heiraten.

Monikas Glück wurde oft ein wenig getrübt durch die Behandlung, die
man ihr zu Hause angedeihen ließ. Ihre Mutter, mit der sie jetzt die
ganze Zeit zusammen war -- seit ihrer Verlobung besuchte sie die Kurse
nicht mehr -- war nicht im mindesten anders zu ihr als sonst. Keine
Spur einer anderen Stimmung war zu merken, nichts von der zärtlichen
Ergriffenheit, die andere Mütter haben, wenn ihre einzige Tochter so
bald schon fürs Leben das Haus verläßt. Frau von Birken nörgelte sogar
mehr als sonst an Monika herum, sogar bei Sachen, von denen es nicht
recht ersichtlich war, warum sie sie tadelnswert fand.

Auch Alfred und Heinrich trugen jetzt, trotz der nahen, dauernden
Trennung von ihrer Schwester, kein liebenswürdigeres Wesen ihr
gegenüber zur Schau als sonst. Nur Karl, der ja auch sonst lieb und
nett gewesen, entfaltete eine außergewöhnliche Hochachtung. Monika
hatte ihm durch ihre Verlobung sehr imponiert, und er raubte jetzt mit
doppelter Begeisterung aus Mamas oder Heinzemännchens Portemonnaie ein
paar Nickel, um ihr irgendeine Kleinigkeit „zum Freuen“ zu kaufen.

Monikas Liebe zu ihrem Bräutigam war in dieser kurzen Zeit noch
gewachsen, aber das hinderte sie nicht, genau zu wissen, daß sie kein
volles Verständnis bei ihm fand. Wenn sie Gedanken äußerte, zu denen
sie sich nach heißem Ringen durchgekämpft, tat er das oft ab mit einem
lächelnden: „Du bist sehr jung, Liebling!“

Und an Sachen, die Monika in Entzücken versetzten, konnte er oft „beim
besten Willen nichts finden“! Zum Beispiel an dem Gratulationsbrief von
Monikas ehemaliger Amme. Was war denn an diesem albernen, ungeschickten
Schriftstück, daß es bei Monika lachende und weinende Begeisterung
hervorrief?

Die Liese schrieb:

    „Liebstes Monchen,

    da komme ich nun und wünsche Dir Gottes reichsten Segen auf alle
    Zeit, indem, daß ich es mir ja auch nicht von Dir denken konnte,
    daß Du, wie die olle Trübnersch gesagt hat, studieren sollst wie
    ein Doktor.

    Weil das ja doch zu sündhaft und häßlich wär’ für ein
    Frauensmensch, wie denn auch das Sprichwort sagt:

    „Den Mädchen, die pfeifen, den Hühnern, die kräh’n, den’ soll der
    Teufel den Hals umdreh’n.“

    Aber natürlich habe ich es nicht geglaubt, mein trautstes Monchen,
    und die olle Trübnersch ist ein Lügenmaul, das sage ich dreist, und
    wenn sie jeden Tag bei die Muckersch in die kleine Kapelle geht.

    Na, denn hoffe ich, mein trautstes Monchen, daß es ein Forscher
    ist, sowie dem Fräulein Marie ihr Mann, der gnädige Herr von
    Hammerhof, der ist ja nu wohl viel zu hübsch für die lange Stange.
    --

    Mein Fritzchen wird auch mal so einer, der läuft schon jetzt mit
    die Mädchen rum und ist noch keine fünf Jahre alt.

    Die Ollsche, was die Tante vom Grün ist, ist ja nu gestorben, und
    wir haben ein sehr schönes Begräbnis gemacht, Fladen, Branntwein
    und alles.

    Mit meinem Grün is es nicht mehr so recht, zu alt, Monchen, zu alt.
    Er hat das Reißen in alle Knochen, aber sonst ist es ja ein sehr
    guter Mann.

    Zu Deine Hochzeit schicke ich Dir die Myrte, selbst gezogen, was Du
    im vorigen Winter bei mir gesehen hast.

    Und nu grüße Deinen Bräutigam und sage ihm, er kriegt was Schönes,
    da er Dir heiratet.

    Es sendet Dir Gottes reichsten Segen

    Deine treue Liese.“

Wie gesagt, Wetterhelm fand das ja gewiß ganz nett von der alten
Person, aber Monikas Bewegtheit war doch übertrieben!

Auch gab es manchmal kleine Reibereien, weil Monika irgendwelche
gesellschaftlichen Förmlichkeiten bei Besuchen oder Ausfahrten nicht
eingehalten.

Wohl hatte das Impulsive ihrer Natur einen starken Reiz für Wetterhelm,
wohl bestand ein Teil ihrer Anziehungskraft für ihn gerade darin, aber
sobald diese Art irgendwie in der Oeffentlichkeit hervortrat, störte
sie ihn aufs schärfste.

Schon ihre Manier, immer aus dem Wagen zu springen, ehe die Pferde
standen.

Und dann ihre Haltung. Sie hatte immer etwas so eigentümlich Trotziges:
den Kopf ein bißchen vorgestreckt, die Ellenbogen lose, die linke Hand
zur Faust geballt. Es war förmlich eine Verteidigungsstellung, die
nicht mit dem weichen Liebreiz ihrer siebzehn Jahre harmonierte. In
ihrer Sprechweise störte ihn oft ein gar zu kräftiges Wort oder ein
achselzuckendes: „~je m’en fiche~“, mit dem sie einen Vorwurf abtat.

Jedenfalls war Georg nicht ohne Besorgnis im Hinblick auf den Besuch,
bei dem er Monika seiner Mutter vorstellen wollte.

An einem schönen Aprilmorgen fuhr die Baronin Birken und das Brautpaar
nach Gerbitz, dem Gute, das Frau von Wetterhelms Wohnsitz war, auf dem
sie mit ihrer einzigen unverheirateten Tochter Brigitte lebte.

Bevor man zur Bahn fuhr, hatte Monika eine unangenehme, kleine Szene
mit ihrem Bräutigam gehabt, der ihre Frisur getadelt hatte.

„Du hast mich doch sonst so immer hübsch gefunden.“

„Gewiß, aber Mama ist etwas ~vieux jeu~, lieber Schatz; ihr würde das
in die Stirn gebauschte Haar sicher nicht gefallen. Bitte, trage heute
die Stirn frei und die Haare möglichst glatt.“

Monika machte ein ungezogen trotziges Gesicht, ging aber doch hinaus,
um eine Bürste zu holen.

„Ich werde meine Frisur unter Deiner obrigkeitlichen Aufsicht
arrangieren, lieber Georg,“ sagte sie mit einem Anflug von Spott.

Ein paar Bürstenstriche: „Ist es so gut?“

„Aber Kind, da ist ja kaum was geändert, viel glatter, bitte.“

„Also so?“

„Noch immer nicht richtig.“

Statt einer Antwort feuerte sie die Bürste auf die Erde. Georg erhob
sich. Er war sehr blaß geworden, und ehe noch Frau von Birken zu einer
Strafpredigt ansetzen konnte, sagte er: „Das war Deiner unwürdig,
Monika!“

Nun fiel die Mutter ein, aber alles, was die auch vorbrachte, hatte
keine Wirkung auf Monika, gegenüber den paar Worten aus Georgs Munde.

Sie kämpfte einige Augenblicke mit sich, dann aber ging sie auf ihren
Verlobten zu und sagte:

„Du hast ganz recht, Georg, und ich bitte Dich um Verzeihung.“

Ihre Frisur war wirklich von korrektester Einfachheit, als man in
Gerbitz eintraf.

Zwei Stunden war man Eisenbahn gefahren, dann eine Stunde in
altmodischer Kalesche durch märkischen Sand, dann kam man an dem
grauen Herrenhause an.

Frau von Wetterhelm und ihre Tochter Brigitte begrüßten die Gäste.

Georgs Mutter war eine imposant große Erscheinung, in der Mitte der
sechzig. Ihr Gesicht zeigte einen leidenden Ausdruck. War es doch
Krankheit gewesen, die der Anlaß dazu war, daß der Sohn ihr jetzt erst
seine Braut zuführte.

Georg hatte innerlich gefürchtet, daß seine zukünftige Schwiegermutter
den Damen seiner Familie wenig gefallen würde; ihr wenig seriöses
Wesen, das Fehlen mütterlicher Würde in ihrem Aeußeren und ihr
Benehmen würde wahrscheinlich von seinen überaus korrekten Angehörigen
gemißbilligt werden.

Zu seinem Erstaunen verstand sich Frau von Birken mit den Damen sehr
gut. Schon nach kurzer Zeit war man eifrig in das wichtige Thema
vertieft, welcher Zeitpunkt für das Einlegen von Johannisbeeren der
geeignetste sei.

Dies und eine Reihe ähnlicher Gesprächsthemata schlugen eine Brücke
zwischen Monikas und zwischen Georgs Mutter. Als dann gar die
Dienstbotenfrage aufs Tapet kam, erwärmte sich selbst Brigitte, deren
hagere Altjungfernfigur im schmucklos schwarzen Kleide wie aus Holz
geschnitzt erschien.

Monika trug bei diesen Unterhaltungen eine geradezu unhöfliche
Unaufmerksamkeit zur Schau. Das lag ihr nicht... das alles hier lag
ihr nicht... Die Einrichtung, die bei aller Wohlhabenheit geschmacklos
puritanisch war, diese große, strenge Frau, zu der sie nun „Mama“ sagen
sollte, die unschöne Schwester... das alles verstimmte sie.

Sie war ganz verärgert, besonders, als Georg ihre Bitte, ihr den Park
zu zeigen, abgeschlagen hatte.

„Wir gehen nachher alle zusammen,“ sagte er.

Bei dem Rundgang, den man nach dem Frühstück machte, wurde Monikas
Benehmen von den Wetterhelmschen Damen innerlich „lächerlich kindisch“
gefunden; sie geriet in Ekstase vor den jungen Lämmern mit ihren
kurzlockigen Fellchen, sie kniete nieder, um sie an sich zu drücken;
sie war im Schweinestall außer sich vor Freude über die Ferkel mit
ihren rosa Körpern und den Ringelschwänzchen; sie hielt den Tieren
Reden, besonders dem Hofhund, der gleich eine große Sympathie für sie
an den Tag legte:

„O, was für ein guter Hund... Du bist ja sehr häßlich, mein armer
Kerl, und so gelb wie Eidotter bist Du, und aus gar keiner feinen
Familie... Nein, nicht mal Rasse hast Du... Aber Du bist doch gut, mein
Dickerchen! Ach, was für’n guter Hund! Und gut sein ist ja auch was
wert, wenn auch nicht so viel wie schön sein!“

Da intervenierte Frau von Birken, sie legte die größtmögliche Strenge,
deren sie fähig war, in ihren Ton:

„Monika, genug des Unsinns! Wir wissen ja, daß Du nur scherzest, aber
man soll auch im Scherz nicht sagen, daß Schönheit mehr ist als Güte!
Die Güte ist das Weltprinzip...“

Brigitte drückte der Baronin ostentativ die Hand.

„Aber Mama,“ rief Monika, schnell wie aus der Pistole geschossen,
„aber Mama! Du hast doch wohl schon Naturgeschichte gelesen und
Weltgeschichte und Entwicklungstheorien? Das Weltprinzip ist doch die
Grausamkeit, der ewige Kampf...“

„Lassen wir das doch,“ schnitt Georg ab; ein unmutiger Ausdruck lag
über seinem Gesicht, ihm war nicht entgangen, daß sich in den Zügen
seiner Mutter schärfste Mißbilligung bei Monikas Worten aussprach, daß
die Züge seiner Schwester förmlich vereisten in schroffster Ablehnung.

Dann ging man nach der Fohlenkoppel hinüber, wo Monika versuchte, auf
die Fohlen hinaufzuturnen.

„Zu schön ist’s auf dem Lande,“ sagte sie zu ihrem Bräutigam, als sie
ihn endlich „ein bißchen für sich“ hatte. „Die Tage von Sarkow, meine
Kinderjahre, sind mir so unvergeßlich. Am liebsten möchte ich mit Dir
auf ein Gut ziehen, Georg.“

„Mir liegt das nicht,“ erwiderte der Konsul. „Gewiß ist Landwirt sein
auch ein schöner Beruf, in dem man seinem Vaterlande nützen kann, aber
ich kann in meinem Berufe Größeres wirken, Besseres für Deutschland
tun.“

Monika stürzte sich mit Feuereifer auf diese neue Anregung.

„Ja, da hast Du auch ganz recht! Ich werde mal eine tadellose
Botschafterin!“

„Na, na, man immer sachte mit den jungen Pferden.“

„Und wir bekommen einen historischen Palazzo als Dienstwohnung, weißt
Du, sowas in Spätrenaissance, und ich gebe jeden Abend Empfänge, wo
lauter Fürsten und Genies sind, ~crème de la crème~, weißt Du?...
Und ich trage ein himmelblaues, silbergesticktes Kleid und furchtbar
viel Orden in Brillanten. Als Botschafterin bekomme ich doch Orden,
nicht wahr? Und ich trage ein Perlcollier für eine Million. Das muß
ich von meiner Schwiegermutter geerbt haben. ‚Das Kollier meiner
Schwiegermutter‘ finde ich sehr stilvoll.“

„Ach, Kind, hör’ bloß mit dem Unsinn auf. Und nimm Dich zusammen vor
Mama und Brigitte. Korrekt, mein kleiner Schatz, korrekt!“

Beim Mittagessen wirkte diese Ermahnung noch so nach, daß sie wie ein
braves Schulkind dasaß.

Aber nach Tisch, als sich die Damen zum Nachmittagsschlaf zurückgezogen
und Monika mit ihrem Bräutigam durch den Park ging, verjagte die
goldene Aprilsonne bald ihre mühsam bewahrte Gemessenheit.

Konnte man denn ruhig bleiben, wenn die Blattknospen gar so ungestüm
aus ihren Hüllen drängten, wenn die Hyazinthen auf den Frühbeeten mit
tiefen Farben prangten wie Edelstein: rubinrot, diamantenweiß und blau
wie Saphir! Ach -- und alle diese Blütenglocken sandten süße Duftwogen
in die herbe deutsche Luft. In den Aesten lärmten und lockten die
Vögel, schrien, weil der Frühling da war und die Liebe...

Konnte man denn ruhig bleiben, wenn man einen so süßen, geliebten,
schönen, guten Bräutigam hatte?

Das fragte Monika Georg von Wetterhelm.

Und er lachte zärtlich, immer aufs neue besiegt von ihrem wilden
Charme. --

Die Vesperstunde vereinigte alle wieder um den runden Tisch im Eßzimmer.

Frau von Wetterhelm war Monika gegenüber aus ihrer ursprünglichen
Freundlichkeit in eine gewisse Reserviertheit übergegangen. Sie fand:
es war eigentlich eine fabelhafte Idee von Georg, ein so unbändiges,
junges Ding heiraten zu wollen. Seiner sonstigen Wesensart war das
so unähnlich, er war doch immer ein so tadellos vernünftiger Mensch
gewesen.

„Georg hat mir nie Sorgen gemacht,“ erzählte sie an diesem Nachmittag.
Ja, er war immer ein lieber, vernünftiger Sohn gewesen, körperlich und
geistig gut beanlagt. Er war nie krank gewesen, er war immer unter
den besten Schülern seiner Klasse. Alles in seinem Leben war wie am
Schnürchen gegangen. Das Abiturium, die späteren Examina, die Ernennung
zum Leutnant der Reserve, sein Avancement bei den Garde-Ulanen. Und
seine Beamtenkarriere würde eine glänzende sein, das sagten alle, und
sie hoffe nur, Monika würde ihren zukünftigen Gatten „voll und ganz zu
würdigen verstehen“!

„Na und ob!“ schmetterte Monika so überzeugt heraus, daß alle drei
Damen ihr verweisende Blicke zusandten.

„Hoffentlich habe ich mit meiner Schwiegertochter ebenso viel Glück wie
mit meinen Kindern,“ fuhr Frau von Wetterhelm nicht ohne eine gewisse
Anzüglichkeit fort, „ja, auch Brigitte hat mir nur Freude gemacht.“

Monika warf einen erstaunten Blick auf die schwarzgekleidete, hagere
Dame, welche sie im stillen „die hölzerne Jungfrau“ getauft hatte.

„Ja, Brigitte ist immer tätig und häuslich gewesen,“ lobte die Herrin
des Hauses weiter. „Mein lieber Mann starb ja so früh -- Georg kam
naturgemäß bald aus dem Hause -- da war Brigitte das Einzige, was mir
blieb. -- Wie hat sie mich gepflegt in meinen vielen Krankheiten.
Brigitte ist die geborene Krankenschwester! Und sie hat es nie übers
Herz gebracht, mich zu verlassen, auch damals nicht, vor nunmehr
zwanzig Jahren, als Herr von Lodringen um sie anhielt.“

„Aber Mama!“ Ein schwaches Rot war in Brigittes welke Wangen gestiegen,
mit einer nervösen Gebärde strich sie sich über den glatten,
graublonden Scheitel.

„Meine liebe Tochter, warum sollte ich nicht von Deiner aufopfernden
Kindesliebe sprechen, von Deinem edlen Pflichtgefühl? Unsere kleine
Monika kann daraus nur Gutes lernen! Ja, also als Lodringen um Brigitte
anhielt, wies sie ihn ab, obwohl sie ihn sehr gern hatte und obwohl er
eine durchaus passende Partie war. Wies ihn ab, weil sie mich nicht
verlassen wollte.“

Brigitte sagte nichts. Ein Seufzer hob ihre Brust.

„Ach...,“ rief Monika, ungläubig erstaunt.

Frau von Wetterhelm fuhr fort: „Lodringen stand in Westfalen, und ich
konnte natürlich nicht daran denken, mit in jene Garnison zu ziehen.
Was hätte dann hier aus dem Gute werden sollen? Und so blieb Brigitte
bei mir, mein aufopferndes Kind, als die Stütze meines Alters...“

Frau von Birken hatte vor Rührung Tränen in den Augen.

„Wie entzückend, wie heroisch geradezu, sein eigenes Lebensglück
hinzugeben, um der Mutter Trost sein zu können! Diese echt weibliche
Entsagung! Da siehst Du, Monika, was für junge Mädchen es auf Gottes
Welt gibt!“

„Aber das ist doch ein maßloser Unsinn,“ rief Monika heftig, mit
sprühenden Augen; in ihrer Erregung bemerkte sie nichts von dem
förmlich lähmenden Entsetzen, das ihr Ausruf bei der Tafelrunde
hervorgerufen.

„Ja, ein offenbarer Unsinn,“ stürmte sie weiter, „ein lebendiges,
warmes Liebes- und Lebensglück zu opfern aus töchterlichem
Pflichtbewußtsein! Man lebt doch nicht für seine Mutter!“

Sie brach ab, erschreckt über das Verhalten ihres Bräutigams, der zu
seiner Mutter getreten war. Er beugte sein erblaßtes Gesicht über die
alte Frau und sagte, indem er wie beschwörend seine Hand auf ihren Arm
legte:

„Hör’ nicht hin, Mama, sie meint es nicht so. Sie ist noch so sehr
jung.“

Die böse Stimmung, die dieser Zwischenfall hervorgerufen, hielt an. Die
Wetterhelmschen Damen brachten kaum ein Wort mehr über die Lippen.

Gut, daß Frau von Birkens Redefluß auch bei dieser Gelegenheit nicht
versiegte. Ihre Begabung, über die nichtigsten Dinge sehr viel zu
reden, war ihrem zukünftigen Schwiegersohne zum erstenmale eine Freude.
So herrschte wenigstens nicht dauernd Stillschweigen.

Mit dem Abendzuge fuhr man fort. Auf der Rückfahrt berührte Wetterhelm
mit keinem Worte den Vorfall, der ihm tiefgehenden Eindruck gemacht.
Bei seiner langsam denkenden Art wollte er erst mit sich selbst ins
Reine kommen, ehe er mit Monika sprach.

Die fühlte zwar, daß sie auf Georgs Angehörige keinen allzu günstigen
Eindruck gemacht, aber sie nahm das ganze nicht wichtig.

Sie wurde auch dadurch abgelenkt, daß sie zu Hause die Korrekturbogen
ihres neuen Gedichtzyklus fand.

Dieser Zyklus, der eine Ueberraschung für ihren Bräutigam sein sollte,
war für die nächste Nummer des „Leuchtturm“ bestimmt.

„An Georg“ hieß die Ueberschrift dieser sechs Gedichte, deren eines
das andere an klingenden Worten und leidenschaftlichen Empfindungen
übertraf.

Monika war von ihrem eigenen Werke erschüttert, als sie die
Korrekturbogen las. Ihr schienen diese Gedichte wie sechs voll erblühte
Rosen, farbenflammend, duftsprühend... und die Dornen, die sonst Rosen
tragen, hatte sie ihnen abgebrochen mit zärtlichen Fingern. Dornenlose
Rosen waren’s nun, lauter Liebe und Leidenschaft und heißes, heißes
Glück!

Eine heftige Ungeduld erfaßte sie plötzlich, Georg schon jetzt diese
Verse zu senden. Nicht, wie sie sich vorgenommen, erst am nächsten
Mittwoch, wenn das neue Heft des Leuchtturms erschienen war.

Sie schrieb ein paar Zeilen, kuvertierte diese und die Druckbogen und
schrieb mit ihrer weitausladenden, arroganten Handschrift die Adresse
ihres Verlobten.

Dann rannte sie fort, um den Brief selbst in den Kasten zu tragen; sie
ließ Briefe an Georg nie durch jemand anders besorgen.

Sie schlief nicht viel in dieser Nacht; immer wieder mußte sie daran
denken, wie Georg sich wohl freuen würde, wenn er diese glühenden
Liebesgeständnisse las und durch ihre Zeilen erfuhr, daß er es nicht
allein war, der diese Gedichte las, sondern daß Tausende von anderen
Menschen, von mitfühlenden, mitvibrierenden anderen Menschen es lesen
würden -- -- --

„An Georg“.

Nun, bald würde sie ja wissen, wie sehr er sich gefreut. Er kam ja
morgen zum Abendbrot -- -- nein, nicht morgen. Heute! Es hatte ja eben
schon zwei geschlagen durch die stille Nacht.

Erst als es hell wurde, schlief Monika ein.

Der Tag ging hin, wie jetzt alle Tage hingingen: in Erwartung ihres
Bräutigams.

Als sie sich eben für den Abend umgezogen hatte, kam Georgs Diener
mit einem Briefe von ihm, den er Auftrag hatte, dem gnädigen Fräulein
selbst zu übergeben.

Monika schloß sich mit dem Schreiben ins Schlafzimmer ein; sie wußte,
daß man sie sonst doch nicht bei der Lektüre ungestört ließ.

Und sie las:

    „Liebe Monika,

    es wird mir unendlich schwer, Dir diese Zeilen zu schreiben. Ich
    habe schwer mit mir gekämpft seit gestern abend. Nach reiflicher
    Ueberlegung aber halte ich es nun doch für besser, Dir zu sagen:
    wir passen nicht zueinander. Ich bin weit entfernt davon, die
    wundervollen Geistes- und Körpereigenschaften zu verkennen, mit
    denen die Natur Dich überschüttet hat. Aber Du hast Grundsätze,
    Anschauungen, Prinzipien, die für +meine+ Frau unmöglich sind!

    Ich habe das zuerst alles für Kindereien gehalten, aber wie Du
    gestern meiner alten Mutter ins Gesicht hinein erklärtest, daß das
    hohe Liebeswerk, das meine Schwester an ihr getan, „barer Unsinn“
    sei, das gab mir einen Choc, den ich nicht überwinden kann.

    Dann kam Dein Brief -- -- -- Die Verse sind gewiß sehr schön
    und talentvoll, aber für ein junges Mädchen wenig passend. Die
    Tatsache, daß Du sie veröffentlichen willst, entspringt einem mir
    geradezu unbegreiflichen Mangel an Zartgefühl.

    Wie kann man so intime Empfindungen der großen Menge preisgeben,
    sie der höhnischen Kritik jedes Uebelwollenden aussetzen. Wie
    kann man Gefühle, die in das tiefste Dunkel Deines Mädchenherzens
    gehören, an das grelle Licht der Oeffentlichkeit zerren?! -- --

    Aber genug von alledem!

    Mit tiefem Schmerze reiße ich mich los von Dir in der Erkenntnis,
    daß unsere beiden Naturen zu grundverschieden sind, um je in eine
    harmonische Ehe zu verschmelzen.

    Ich sage Dir brieflich Lebewohl, weil ich weiß, daß ich dem Zauber
    Deiner Gegenwart doch nicht widerstehn kann. Du bist die Erste,
    bei der mein Gefühl stärker war als mein Verstand. Ich weiß und
    fühle, daß diese Schwäche Dir gegenüber für mein ganzes künftiges
    Leben eine Gefahr bedeutet, eine Gefahr hauptsächlich darum, weil
    Du Deinen ganzen Anschauungen nach mich oft zu Handlungen und
    Unterlassungen wirst veranlassen wollen, die meiner innersten Natur
    widerstreben.

    Lebe wohl, mein geliebter kleiner Schatz.

    Georg.“

Monikas Hand, die den Brief gehalten, sank schwer herunter. Ihr wirrer
Blick traf zufällig auf den Spiegel, vor dem sie gestanden. Und dieser
Blick wurde allmählich bewußt, erkannte das Spiegelbild, und wie ein
grenzenloses Erstaunen ging es ihr durch den Kopf: „Herrgott, kann man
denn überhaupt so blaß sein?!“

Einige Sekunden lang irrte ihr Sinn noch herum wie ein Vogel, den die
Kugel traf, der ängstlich flattert mit zuckenden Flügelschlägen und
dann plötzlich, sich des Schmerzes bewußt werdend, aufschreit und
niederstürzt.

Und dann Nacht...

Eine tiefpurpurne Finsternis, aus der sich die Sinne nur langsam und
qualvoll allmählich wieder zum Bewußtsein ringen.

Das... das war doch nicht möglich! Das war doch nicht denkbar... nein,
nicht auszudenken, daß diese Liebe, die strahlende Sonne, die ihr
ganzes Leben erleuchten und erwärmen sollte, nur ein Irrlicht war, das
eine flüchtige Sekunde aufschimmerte und dann versank...

Nein, nicht möglich! Und doch? Was stand da in dem Briefe? In dem
Briefe, der ihren Fingern entglitten war, den sie nun vom Boden
emporriß und von neuem las?

Und noch einmal...

Und wieder...

Sie verwundete sich an jedem Worte mit der wahnsinnigen Schmerzensgier
einer Märtyrerin, die sich immer von neuem Dolchspitzen in ihr
schauderndes Fleisch bohrt.

Und dann -- wie eine Eingebung -- leuchtete in dem wirren Toben ihrer
Empfindungen plötzlich ein Gedanke auf, wie das klare Licht eines
Leuchtturms im Dunkel einer sturm- und wogendurchtobten Nacht:

Handeln jetzt! Nicht tatenlos zusehn, wie ihr Glück zerbrach!

Ihre Pupillen erweiterten sich, brannten wie schwarze Flammen in ihrem
tieferblaßten Gesicht.

Ihre Hände ballten sich zusammen, krampften sich zu Fäusten, als wollte
sie das Glück festhalten, -- das Glück!

Handeln jetzt! Zu ihm!

Wie stand es doch in diesem Brief, von dem jetzt jedes Wort in ihrem
Gehirn eingegraben stand wie mit ehernen Lettern?

„Daß ich dem Zauber Deiner Gegenwart doch nicht widerstehn kann“.

Dem Zauber... meiner... Gegenwart...

Mit Gedankenschnelle hatte sie den Hut in die Haare gedrückt.

Und die Treppe hinunter.

Sie hielt die nächste Auto-Droschke an, rief dem Chauffeur die Adresse
zu.

Das Auto glitt über den Asphalt, ziemlich langsam, denn ein grauer
Regen rieselte leise über Berlin, hüllte die Riesenstadt in einen
dünnen Tropfenschleier.

An Monikas Augen glitten die steinernen Häusermassen vorbei, das
Gelbrot der Gaslaternen und das bläulich-schimmernde Licht der
elektrischen Lampen leuchtete in kurzen Zwischenräumen immer wieder auf.

Leute kamen vorüber... Automobilhupen tönten, Hufschlag, -- -- das
schrille Klingeln der elektrischen Bahnen.

Monika sah und hörte das alles, aber es kam ihr nichts ins Bewußtsein.

Sie fühlte auch keinen Schmerz.

Sie sah und hörte und fühlte nichts als ihr Ziel: das Glück
wiederhaben... das Glück...

Das Auto hielt, sie stieg aus, bezahlte den Chauffeur und ging die
Treppe hinauf zu der Wohnung von Georg von Wetterhelm.

Der Diener vermochte trotz seiner Wohlgeschultheit nicht seine
Ueberraschung zu verbergen. Er stotterte, daß der gnädige Herr
ausgegangen sei.

„Wann kommt er zurück?“

„Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein.“

„Gleichgültig. Ich werde ihn hier erwarten.“

Sie schritt den Korridor entlang und öffnete die Tür zu Georgs
Arbeitszimmer. Sie kannte den Weg von dem Male her, als Georg sie und
die Mama und die Brüder zum Tee eingeladen.

Mit was für anderen Gefühlen als heute hatte sie da in dem Gemache
gestanden, dessen strenge, vornehme Einrichtung so überaus gut zu
Georgs Wesen und Sein paßte.

Sie setzte sich in den grünen Ledersessel und wies kurz den Diener
zurück, der eintrat, um Licht zu machen.

Sie starrte mit brennenden Augen in das Dunkel ringsum, das nur matt
erhellt war von dem Schein der Straßenlaternen, der von draußen durch
die Gardinen fiel.

Sie überlegte nicht, was sie Georg sagen wollte, wenn er kam, sie
dachte nur: das Glück wiederhaben ... das Glück...

Leise, leise schlug der Regen an die Scheiben. Sie hörte jede Sekunde
das Ticken der großen Standuhr, hörte jede Viertelstunde ihr dumpfes
Schlagen.

Sie wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war. Ihr war es, als sei sie
schon endlos in dieser weichen Dunkelheit. Da hörte sie einen Schlüssel
in der Korridortüre.

Schritte näherten sich dem Zimmer -- dann das Knipsen am Schalter des
elektrischen Lichts -- eine grelle Helligkeit, die das Dunkel zerriß,
-- -- und Georgs Aufschrei:

„Du hier?“

Sein Gesicht war ihr nie so ehern erschienen wie jetzt.

„Du hättest das nicht tun dürfen, Monika! Warum machst Du’s uns beiden
so schwer?“

„Georg...,“ würgte sie hervor.

„Kind, es ist mir so schon schwer genug geworden. Aber es ist besser
so für uns beide. Ich werde mich nie in Deine Art fügen lernen, und Du
Dich in meine auch nicht!“

Sie trat näher zu ihm heran.

„Aber ich will ja alles, was Du willst! Ich will ja werden, wie Du
willst... glaub’ mir das! In alles kann ich mich fügen... unserem
Glück zuliebe!“

Ihre Stimme, die fast versagt hatte, wurde fester; wie ein Feuer, das
zuerst nur zögernd knistert und hie und da einen Funken aufleuchten
läßt, bis es allmählich zur Glut wird, und zur flammenden Lohe dann
-- so wuchs ihre Rede. Wuchs über sie empor und über ihn, wurde das
Hohelied von der Liebe -- von der Liebe, die stark ist wie das Leben,
stark ist wie der Tod -- --!

Sie wußte selbst nicht, woher ihr die Worte kamen. Sie wußte nicht,
woher sie den Mut und die Kraft nahm, ihm all das zu sagen, den letzten
Schleier von ihrem Seelenleben zu ziehen, ihn alle Höhen und alle
Tiefen der Liebe schauen zu lassen, der Liebe, die sie zu ihm trug...

Das waren nicht bloß Worte, die da auf ihn eindrangen und an sein
kühles Herz klopften. Das war, als ob Monikas ganzes Sein sich auflöste
in einen Strom, der zu ihm hinüberdrang, glühend und besiegend ...

Wie von selbst breiteten sich seine Arme auseinander und schlossen sich
um das Mädchen, das sich mit einem unartikulierten Laut an seine Brust
warf.

„Georg, -- -- Georg -- -- hast Du mich lieb?“

„Zu sehr, mein kleiner Schatz, zu sehr -- --“

Er preßte seine Lippen auf ihren Hals und wie ein Stöhnen klang’s: „Ich
komme ja doch nicht mehr von Dir los.“

Da hob sie den Kopf, und ihr Gesicht glühte von Liebe und glühte von
Güte, von holdseliger, weiblicher Güte:

„Und Du sollst das nicht bereuen, mein Lieb! Ich will mich ja bessern,
will mich ja nach Deinen Wünschen formen, -- in allem... unserem Glück
zuliebe...!“

[Illustration]



10.


Eine scharfe Brise kräuselte des Mittelländischen Meeres blaues
Wasser, aber der große Dampfer zog ruhig und sicher weiter seine
tiefaufwühlende Furche.

Es waren wenig Passagiere auf Deck. Außer ein paar Engländern, die
mit hochgeklapptem Rockkragen, die Mütze tief in der Stirn und die
Stummelpfeife zwischen den Zähnen herumspazierten, nur Georg von
Wetterhelm mit seiner Frau.

Monika hatte den Sturmriemen ihrer Mütze heruntergezogen und ließ sich
den Wind ins Gesicht wehen. Sie sah so strahlend glücklich aus, daß des
Konsuls harte Züge ein Schimmer von Zärtlichkeit überflog.

„Du bist schon ein liebes Kerlchen, Mone! -- Wie viele Frauen würden
jammern über das schlechte Wetter, das wir bisher hatten.“

„Aber, Georg, das Wetter war doch großartig.“

Er lächelte. „Na, Liebchen, seit den zwölf Tagen, die wir verheiratet
sind, ist noch kein Tag ohne Regen gewesen. -- Schade! Ich hatte mir
diese Seereise so nett gedacht.“

„Aber sie ist doch entzückend! Weißt Du, es soll so viele Leute
geben, die in der Phantasie wer weiß wie sehr genießen und von der
Wirklichkeit enttäuscht sind! Das ist doch zu dumm... Ich habe es mir
ja gewiß immer wunderschön gedacht, mit Dir verheiratet zu sein, aber
daß es so über alle Begriffe schön ist, das habe ich nicht gewußt!“

Er zog sie an sich und küßte das junge Gesicht, auf dem der kühle Hauch
des Meeres lag.

„Und zu denken, daß dieses Glück nicht aufhört, Georg, -- daß ich jetzt
immer bei Dir sein darf, immer... und mit Dir zusammen die herrliche
Welt sehn soll -- -- -- --“

Ein tief erzitternder Atemzug hob ihre Brust, als könne sie das
Uebermaß von Glück nicht fassen.

Der Konsul hatte sich seine Hochzeitsreise „vernünftig gelegt“. Er war
nach Bombay berufen, hatte noch sechs Wochen Urlaub; in Genua wollte
man eine Zeit Aufenthalt nehmen, von da nach Rom und Neapel und von da
aus zu Schiff weiter.

Die Schiffsreise Hamburg-Genua war durch schlechtes Wetter getrübt
worden. Als aber der Dampfer sich dem langgestreckten Hafen von Genua
näherte, zerriß der Wolkenschleier am Himmel, und eine strahlende
Sonne überflammte Genua ~la superba~, das sich im mächtigen Halbkreis
auf den steil ins Meer abfallenden Bergen erhob. Die stolze, uralte
Hafenstadt mit dem Gewirr ihrer Gassen und Märkte, mit ihren ragenden
Marmorpalästen war ganz in Sonne getaucht und in Sommer. Maiblüten über
grauen Mauern bedeckten vielhundertjährigen Marmor mit jungem Leben.

Wenn Monika mit ihrem Gatten durch diese Stadt schritt, wenn sie
mit ihm die Treppe zum Dogenpalast betrat oder im Palazzo Rosso vor
einem Reiterbildnis von van Dyck stand oder vor Veroneses „Judith und
Holofernes“, wenn sie im Boot zu dem Molo Duca di Galliera fuhr, von wo
aus man die trotzige Stadt und das trotzige Gebirge in seiner ganzen
wilden Schönheit sah, dann fühlte sie: das ist ein Höhepunkt!

Und sie hätte dann der Zeit wie einem allzu feurigen Renner zuschreien
mögen: „Halt an!“ Es konnte ja nicht mehr schöner werden!

Und doch wurde es noch schöner. Als sie die kleine Villa fanden, droben
in San Lorenzo.

Auf einer Spazierfahrt hatten sie sie gesehn, hatten sie, angelockt
durch das Vermietungsplakat, besichtigt, und Monika hatte erklärt, daß
sie gern auf Rom, Neapel und alle übrigen Städte des gesegneten Italien
verzichten wolle, wenn Georg für den Monat, der ihnen noch an Urlaub
blieb, dieses kleine Haus mieten wolle mit seiner großen Terrasse, mit
seinem herrlichen Garten über dem Meer.

Georg hatte gezögert. Eigentlich gehörte es zu seinem „Programm“,
seiner jungen Frau die Kunstschätze Italiens zu zeigen, aber Monika
hatte so herzbewegend gebeten und das Haus war so hübsch, daß er
einwilligte. Ueber die Mangelhaftigkeit der italienischen Dienstboten,
die man für den Monat nahm, kam er zwar nicht so leicht hinweg, -- auch
sonst gab es manches zu tadeln, -- aber alles in allem fühlte auch er:
meines Lebens schönste Zeit!

Sein kühles Herz blühte auf in der heißen Liebe, mit der seine Frau ihn
umgab. Seine nüchternen Sinne wurden angeregt durch ihre sprühende Art,
ihre stürmische Begeisterung.

Jeder Tag war eine Kette von Wundern.

Jeder Morgen kam wie ein junger Sieger.

„Helios!“ sagte Monika, „der junge Sonnengott, der auf seinem goldenen
Wagen einherkutschiert, die Zügel zwischen den Fäusten. Die mächtigen
Pferde schäumen in ihr goldenes Gebiß und bäumen sich hochauf...
Aber das tut ihm nichts... Er ist der Sonnengott, er ist der Sieger!
Und da fährt er nun durch den Azur und verschwendet Sonne, vergeudet
Sonne. Ach, in unserm armen Deutschland müssen wir einen halben Winter
damit haushalten, was der hier an einem Maimorgen ausgibt! -- --
Jetzt verstehe ich erst den Sonnenkultus, verstehe alle die Völker,
die Perser und Lydier und Phrygier und Griechen und Römer, die sich
anbetend niederwerfen vor dem Leuchtenden da droben!“

Sie streckte die Arme hoch, in einer spontanen Gebärde, zur Sonne
empor. -- --

Dann ging man wohl mitunter an den Bergabhängen entlang, die hinunter
nach Genua führten. Von den Kräutern, die an den Felsabhängen standen,
ging ein herber und süßer Duft aus. Die Sonne drang mit Gewalt in sie
hinein, in alle diese spröden amethystfarbenen und silbergrauen und
weißen Kräuter mit den stacheligen Blättern; sie drang in sie hinein
und sog ihnen den Duft aus den Kelchen. Und neben der harten Bergwelt,
neben all diesem Gewucher von Minze, Ginster und Heidekraut lockte die
weiche, sinnliche Pracht der Rosen.

Und Olivenbäume bedeckten in unzähligen Mengen alle Berge, alle
Schluchten; ihre Milliarden schmaler Blätter schoben sich wie
silbergraue Schleier vor die Aussicht, und durch diese Blätternetze
hindurch sah man das Meer, das blaue Juwel. Auf den Segeln der
träumerisch dahingleitenden Schiffe blitzte die Sonne wie in einem
Brennspiegel. -- --

Oder war es noch schöner, wenn die Sonne schon untergegangen?

Der Himmel zeigte dann noch purpurrote Streifen. Die tönten sich ab in
Violett, das in Veilchenblau überging, und, tiefer hin immer blasser
werdend, zeigte der Himmel da, wo er mit dem Meere zusammenstieß,
denselben durchsichtig blaßblauen Ton wie das Wasser, verschmolz in
eins mit ihm in zärtlicher Umarmung.

Die riesigen Fischernetze waren lang über den Strand hingebreitet,
sorgsam auseinandergezogen, daß man das Gitterwerk ihrer Maschen
sah, -- ihre tief rotbraune Farbe gab einen düsteren Ton in diesem
Zusammenklingen von leuchtenden und hellen Farben.

„O dieses Rotbraun, -- -- das ist so richtig eine Farbe für
Mordwerkzeuge,“ sagte Monika, „wie geronnenes Blut sieht es aus, so
richtig eine Farbe für diese Netze, in denen sich Tag für Tag Hunderte
und Tausende von lebendigen Fischen verstricken, um so qualvoll zu
sterben.“

Durch den flammenden Horizont taumelte im Zickzackflug eine Fledermaus,
gefolgt von dem werbenden Männchen.

Unten auf der Straße, die sich hart am Meere dahinzog wie ein endloses
weißes Band, glitten auf Gummirädern ein paar Automobile vorüber. Ein
paar Sekunden lang zerriß der gellende Schrei der Hupe den Abendfrieden
-- dann waren sie vorüber.

Von dem alten Glockenturm herunter klang das Ave.

Und der brennende Horizont wurde blasser, wurde farblos wie eine Blume,
die verblüht.

Langsam sank die Nacht über die Erde.

Der Mond, der während des Sonnenunterganges blaß am Himmel gestanden,
leuchtete plötzlich auf. In dieser Beleuchtung war der Garten ein
anderer, als er am Tage gewesen. Die Stämme der Palmen mit ihren
dunkeln Schuppen sahen aus wie die höckrigen Panzer bösartiger Reptile.
In den blanken Blättern des Tulpenbaums spiegelte sich das Mondlicht
am gleißendsten. Jedes dieser dunkeln Blätter war wie ein Spiegel aus
Metall. Und die Stauden der weißen Levkoien, die so hoch und breit
waren, daß sie wie Büsche erschienen, trugen ihre Last von ungezählten
Blüten wie Millionen Silbersternchen. Die Heliotropbüsche blieben
dunkel; ihre Blüten, die am Tage von einem süßlichen Violett waren,
nahmen nichts von Licht in sich auf. Sie schienen nun schwarz, fast
farblos, aber sie dufteten nur um so stärker und sandten ganze Wogen
von Wohlgeruch in die Luft.

Und Mondlicht über dem allen, verschwenderische Wellen von Mondlicht
über der See, über dem Garten, -- in allen Räumen des Hauses. Das
Schlafzimmer mit seinen weißen Möbeln gleißte wie Silber.

Und Monika war es, als ob die schweigende Welt ringsum einen Hymnus
anstimmte, einen Jubelhymnus auf ihr Glück. Diese überirdischen
Tonwellen drangen auf sie ein, durchschauerten sie mit einer
schmerzhaften Intensität. Fester preßte sie sich in Georgs Arme. Ein
Schluchzen hob ihre Brust.

„Was ist Dir?“ fragte er erstaunt.

„Zu glücklich bin ich!“

„Das ist doch keine Ursache zum Weinen.“

„Doch! Denn ich sage mir: schöner kann es doch nun aber ganz sicher
nicht mehr werden! Noch höher hinauf geht es nicht. Kommt nun ein
Abstieg? -- -- Ich muß an ein paar Verse denken:

  ‚Sag’ nicht, daß Du mich liebst.
  Ich weiß, das Schönste auf Erden,
  Die Liebe und der Frühling,
  Es muß zuschanden werden -- --‘“

Sie sah in diesem Augenblick den Abgrund, der alles verschlang, sah
der Vergänglichkeit weitgeöffneten Höllenschlund, -- und mit einer
schutzsuchenden und verzweifelten Gebärde klammerte sie die Arme
fester um Georgs Hals.

„Mone, Du bist überreizt. Sicher heut zu lange in der Sonne gewesen. Du
bist doch sonst nicht so sentimental.“

Da sanken ihre Arme herab: also er verstand gar nicht? „Sentimental“
nannte er ihr trotziges Aufbäumen gegen den Verfall. „Sentimental“
diese schauernde Angst der blutroten Lebenswärme gegen die grausame
Zeit, die unablässig, unaufhaltsam fortschritt, sie vorwärtsführte in
das graue Alter und in den eisigen Tod...

Sie hatte geglaubt, daß die große Liebe, die über ihnen beiden war,
all ihre Nerven aufeinander abgestimmt hätte, wie wohl, wenn man
einen Ton auf dem Klavier anschlägt, die Tonwelle sich durch die Luft
weiterpflanzt und das Kristall eines Glases in Schwingungen versetzt,
daß es mitklingt in reinster Harmonie.

Und so war es nicht?! Den Erschütterungen ihres Innern setzte er ein
banales Nichtverstehen gegenüber?

Das war die erste Enttäuschung ihres Liebesglücks.

Sie war zu jung, um lange bei diesem Gedanken zu verweilen. Der nächste
Tag schon brachte neue Freuden. „Schön, schön wie die Wirklichkeit,“
sagte Monika.

Und immer wieder durchzuckte sie der Gedanke: „Ach, die Zeit anhalten!“

Mit heißem Bedauern sah sie jedem verflossenen Tage nach wie einer
schönen Blume, die abblüht, die allzu schnell verwelkt.

Und wie bald war der Tag gekommen, an dem man, an Bord des mächtigen
Asiendampfers stehend, Genua im violetten Dunst der Ferne verschwinden
sah.

Monika war ein bißchen unglücklich darüber, daß man die kleine Villa
und den großen Garten verlassen -- und sehr glücklich darüber, daß es
nun neuen Wundern entgegenging.

„Jetzt wird’s immer noch schöner?! Nicht wahr, Georg?“

„Sicher, Liebling; aber eins: hier auf dem Schiffe wissen nun alle
Leute, wer wir sind, wissen so viele, daß ich als Konsul rübergehe. Du
mußt Dich von nun an zusammennehmen. Für mich allein habe ich Dein
begeisterungsfähiges Wesen immer sehr reizend gefunden, aber als Frau
eines Beamten darfst Du wirklich nicht mehr wie ein eben dem Pensionat
entlaufener Backfisch herumspringen. Für eine Frau unserer Kreise ist
es am angemessensten, man spricht gar nicht von ihr, weder im Guten
noch im Bösen. Korrekt, mein kleiner Schatz, korrekt!“

[Illustration]

Und Monika wurde korrekt. Schneller als sie selbst, schneller als Georg
es für möglich gehalten. Wohl schäumte sie im ersten Jahre ihrer Ehe
noch mitunter auf wie ein junges Pferd, das sich ins Gebiß verbeißt.

Aber Georgs ehern ruhige Art bändigte sie bald.

Was ihrer Mutter, ihren Erzieherinnen nie gelungen, das gelang Georg
Wetterhelm, ohne daß sie je ein hartes Wort von ihm zu hören bekommen
hätte.

Es war wohl überhaupt mehr das Beispiel als seine Worte, das so
tiefgehende Wirkung auf Monika ausübte. Georgs Wesen und Sein war so
ausgeglichen, so in sich gefestigt.

Uebrigens wirkte er, trotz seiner vollendeten Höflichkeit, oft geradezu
lähmend auf Leute, die Anlage zu Extravaganzen, zu Ausgelassenheiten
hatten. Mit ihm „nahm man sich mehr zusammen“ als mit anderen.

Es kam alles so anders, wie die Bekannten vermutet, als sie von Georgs
Verheiratung gehört.

„Die Kleine wird ihn gut unterkriegen,“ hatte das allgemeine
Urteil gelautet, „die mit ihrem sprühenden Temperament, ihrer so
urpersönlichen Art, Menschen und Dinge aufzufassen -- die wird es schon
verstehen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.“

Das alles traf nicht ein. Beim Aneinanderreihen dieser beiden
Charaktere trug der Mann den Sieg davon. Immer von neuem rang seine
Art Monika Bewunderung ab. Wohl fand sie oft seine Ansichten borniert,
fand ihn mit Vorurteilen vollgepfropft, aber stets aufs neue wirkte die
Geschlossenheit seines Wesens auf sie, der Zusammenschluß seiner ganzen
Persönlichkeit. Alles stimmte bei ihm so harmonisch zusammen: seine
Abkunft und seine Ansichten, sein Aeußeres und sein Wesen.

Diese Harmonie wirkte auf Monika wohl um so stärker, als ihre
nächsten Verwandten alle etwas Zerfahrenes hatten. Ihr Vater, dem
die Willenskraft gefehlt, die spielerisch kindliche Mutter, die ihre
Kinder, als sie klein gewesen, wie geliebte Puppen behandelt, und die
dann plötzlich mit erschreckten Augen die Heranwachsenden gesehen, die
wild emporgeschossen waren.

Ja, Monika bewunderte ihren Mann, und sie empfand zu weiblich, um sich
ihm nicht zu beugen.

Zuerst waren es Kleinigkeiten, die sie ihm opferte: einen Hut, den
er „zu auffallend“ fand, eine zu kühne Frisur, eine burschikose
Bezeichnung.

Dann ging es weiter: hier eine ihrer Ansichten, die ihm zum Opfer fiel,
dort eine Ueberzeugung!

Allmählich gewann seine Art immer mehr Einfluß auf sie: die mächtigen
Flügel ihrer Phantasie, die sie so oft in goldstrahlende Höhen und
in purpurfinstere Tiefen getragen, begannen sich matter zu regen,
gleichsam gelähmt von der Nüchternheit, die mit ihr Tisch und Bett
teilte.

„Korrekt, mein kleiner Schatz,“ und Monika zog das buntflimmernde Kleid
ihrer Persönlichkeit aus, um die Gesellschaftsrobe einer gut erzogenen
Dame zu tragen.

Sie lernte es, zu lächeln statt zu lachen; sie lernte es, den Schrei
der Begeisterung oder des Abscheus zu unterdrücken, sie lernte es,
Meinungen zu haben, „die niemand verletzen konnten“.

Wohl wollte ihr das manchmal wie ein Verrat an sich selbst bedünken,
aber tat sie es nicht gern... ihrem Glück zuliebe? -- -- --

Als Monika, nachdem sie anderthalb Jahre verheiratet war, zum ersten
Male wieder nach Deutschland kam, konnte ihre Schwiegermutter nicht
umhin, anzuerkennen, daß Monika sich „sehr zu ihrem Vorteil verändert“
habe.

Ihre eigene Mutter war ganz konsterniert über den Wechsel, der mit
ihrer Tochter vorgegangen.

„Daß Sie das fertig bekommen haben,“ sagte die Baronin immer aufs neue
zu ihrem Schwiegersohn.

Die Brüder hatten jeder sein besonderes Urteil über Monikas Wesen.
Alfred, der inzwischen Fähnrich -- „leider bei der Infanterie“ --
geworden war, fand seine Schwester jetzt „auf der Höhe“. Sehr elegant
-- ohne die Koketterie, welche ihn an ihr so geärgert, als sie junges
Mädchen war -- in Haltung und Auftreten große Dame. Heinzemännchen
fand, Monika sei ohne Zweifel „geistig verflacht“. Dichten könne
sie anscheinend überhaupt nicht mehr. Sie zeige kaum noch Rudimente
literarischer Bildung und hätte sogar seinen neuen Lieblingsdichter für
„sentimentalen Unsinn“ erklärt.

Karl urteilte, daß Monika nach wie vor großartig sei. Wo gab es
wieder eine so gute Schwester? Sie beschied ihm kaum je einen Wunsch
abschlägig. Und Karl hatte eine ganze Menge Wünsche.

Das war Birkensches Erbteil: der Hang zur Verschwendung. Als
erschwerenden Umstand hatte er seiner Mutter Leidenschaft fürs
Verschenken geerbt. Im übrigen war er liebenswürdig und freundlich,
faul und lügenhaft. In diesem Alter, in dem sonst Knaben beginnen,
männliche Züge zu zeigen, behielt er etwas Anmutig-Kindliches. Ueber
seinem rosigen Gesicht schimmerten die Haare in tiefem Goldblond. Seine
Augen waren so dunkel, seine Zähne so weiß -- über seinem ganzen Wesen
lag eine friedliche Gottergebenheit.

Ernstere Interessen hatte Karl überhaupt nicht, nur die einfachsten
animalischen Freuden waren für ihn vorhanden: gut essen und gut
trinken, lange schlafen und nichts tun!

Monika hatte gerade für diesen Bruder eine besondere Zuneigung. Doch
auch Alfred und Heinrich waren ihr sehr ans Herz gewachsen, ungeachtet
dessen, daß diese beiden kaum jemals freundlich zu ihr gewesen.

Georg von Wetterhelm hatte mitunter ein tadelndes Wort dafür, daß
seine Frau oft Zeit, Geld und Mühe an ihre Brüder verschwendete. Ihm
waren diese jungen Schwäger, die so völlig anders lebten, als er es im
gleichen Alter getan, nichts weniger als sympathisch.

Auch mit Frau von Birkens kapriziöser Art vermochte er sich niemals
recht zu befreunden. Er sagte über diese angeheirateten Verwandten zwar
nie ein Wort, aber Monika merkte die mangelnde Sympathie zwischen ihrem
Manne und ihren Angehörigen, und das abfällige Urteil über die Ihren,
das sich in Georgs Verhalten dokumentierte, war nicht ohne Einfluß auf
sie, wie nichts ohne Einfluß auf sie blieb, was seine Ueberzeugung war.

Halb unbewußt formte sie sich nach seinem Bilde. Halb unbewußt wurden
ihre Ansichten anders, als sie es gewesen. Und langsam wuchs in ihr
eine Scham gegen die Ungezügeltheit, die sie sonst zur Schau getragen.

Die paar Male, wo sie aufgebraust war, in der ersten Zeit ihrer Ehe,
blieben ihr unvergeßlich in Erinnerung, schmerzten sie wie alte Wunden,
waren wie Niederlagen, deren sie sich schämen mußte.

Ihre eitle und stolze Natur zuckte zusammen, wenn sie daran dachte,
wie bei solchen Gelegenheiten Georgs Gesicht ausgesehen: erstaunt und
peinlich berührt, etwas wie Verachtung um die Mundwinkel.

Auch war das ganze Milieu, in dem Monika lebte, dazu angetan, allzu
persönliche Wallungen zu unterdrücken.

Ein Wirbel von Geselligkeit nahm sie auf, gleich in den ersten Jahren.
Ueberall hatte sie zu repräsentieren, hatte die korrekt liebenswürdige
Frau eines Beamten zu sein, für dessen Zukunft man viel hoffte.

Da blieb für Extravaganzen kein Raum.

Uebrigens das, was Monika so glühend ersehnt: der Aufenthalt in
fremden, bunten Ländern, das hatte weniger Einfluß auf ihr Leben, als
man hätte annehmen dürfen. Es war eigentlich doch nur ein Wechsel des
Schauplatzes, ein Kulissenwechsel -- weiter nichts!

Ob man zusammen mit den Mac Gregors und der Familie de Varency zur
Sphinx von Gizeh ritt durch die ägyptische Wüste -- ob man zusammen mit
Graf Berrier und Frau von Hellingen und dem Rathorstschen Ehepaar von
Brüssel aus einen Wagenausflug nach dem Kolonialmuseum von Tervueren
machte -- ob man in Paris im historischen Palais der Herzogin des
Garviers tanzte -- es war doch nur Wechsel des Dekors für ewig sich
gleichbleibende gesellschaftliche Formen.

Georg Wetterhelm war stolz auf seine Frau. Sie gefiel im allgemeinen
ausgezeichnet. Abgesehen von einigen Damen, die ihre Erfolge
beneideten, war man allgemein von Monika entzückt.

Sogar Fürst Herrlingen, der Vorgesetzte Georgs, welch letzterer
inzwischen zur Diplomatie übernommen worden war, zeigte lebhaftes
Interesse für Frau von Wetterhelm.

Der alte Herr, der sonst im Rufe eines Frauenfeindes stand, plauderte
oft aufs angeregteste mit ihr, hatte im kleinen Komitee von ihr gesagt,
„sie wäre in seinem Leben die erste Frau, mit der man sich vernünftig
unterhalten kann“.

Das „vernünftig unterhalten“ bestand darin, daß er zu ihr eben nicht
sprach, wie er sonst zu Damen redete, sondern Themata anschlug, über
die er mit Männern sprach.

Auch seinem Sarkasmus in der Beurteilung von Welt und Menschen ließ er
ihr gegenüber ungehindert die Zügel schießen.

Monika hatte zwar gar keine boshafte Ader, gar keinen Sinn für
Klatsch, aber sie würdigte die Art, wie dieser Klatsch vorgetragen
wurde, würdigte jede Pointe, jedes treffende Wort -- die ganze Art des
Fürsten, den Extrakt einer Sache zu geben.

Und mit der hervorragenden Schlagfertigkeit, die sie von Jugend
auf im Gespräch gehabt, fand sie immer eine zündende Antwort. Die
Unterhaltungen zwischen ihnen beiden waren wie eine brillante
Florettmensur, glänzende Ausfälle, die ebenso glänzend pariert wurden.

Aeußerlich war Monika jetzt wirklich eine Schönheit zu nennen. Der
unruhige, so oft wechselnde Ausdruck, den sie als Mädchen gehabt, war
einer lächelnden Gleichmäßigkeit gewichen, die trotzige Haltung von
einst einer korrekten Grazie. Und der wilde Schimmer in den Augen war
erloschen; in diesen dunkeln Sternen stand jetzt nichts mehr von heißer
Sehnsucht und von brennender Gier.

Das Leben war jetzt so nett. Georg schaffte ihr all den Luxus und die
Eleganz, die ihr so viel Spaß machten.

Er, der für sich selbst immer so sparsam gewesen, kannte nie ein
Bedenken, wenn es galt, einen Wunsch seiner Frau zu erfüllen.

Ja, er liebte sie, und sie ihn auch so sehr -- und man würde Karriere
machen.

Famos war das Leben!

Was schadete denn das, wenn manchmal in stillen Nächten all ihr wirres
Jugendweh vor ihr auftauchte wie ein verlorenes Paradies?

Alle die klingenden Verse, die Georg als „zu unpassend“ ein für allemal
abgetan, schwirrten ihr dann durch den Kopf.

Und Worte kamen ihr, sie wußte nicht wie:

  „Wie liegt das alles mir schon so weit:
  Alle die Hirngespinste
  Aus meiner verträumten Kinderzeit. --

  Vorbei!... Ich weiß nicht mehr, wie das ist,
  Wenn man nicht schlafen kann in den Nächten
  Und die Kissen des Bettes voll Inbrunst küßt!

  In meinen fiebernden Kindertagen
  War mir, als müßte mein Schulternpaar
  Alles Leid von Himmel und Erde tragen, --

  War mir, als müßte mein Leben sein
  Wie ein kurzer Tag voll brennender Gluten,
  Voll Frühlingssturm und Gewitterschein!

  Und des Daseins Rätselfrage klang
  Tag und Nacht durch mein Kinderhirn,
  Indes die Sehnsucht mein Herzblut trank.

  Ich war so krank. -- Und bin so gesund!
  Statt der heimlichen, giftigen Träume
  Küßt mich das +Leben+ auf den Mund.

  Ich weiß jetzt nichts mehr von Traumgefühl,
  Weiß nichts von heimlichen Tränen,
  Und „Sehnsucht“ finde ich ~ridicule~!

  Das Leben ist ja so schön und bunt
  Und trägt mich auf starken Armen...“

Ja, famos war das Leben!

Und darauf war gar nichts zu geben, daß sie manchmal doch noch
phantastische Träume hatte. Das waren ja keine Träume wie früher, mit
wachenden Augen gesehen. Jetzt träumte sie nur noch manchmal, wenn sie
schlief.

In einer Frühlingsnacht war es ihr, als höre sie Hunderte und Hunderte
von Vogelstimmen, wilde Vogelstimmen, die schrien und klagten... so
herzzerreißend klang’s... Hunderte und Hunderte von Vögeln waren
um sie herum, ihr goldglänzendes, buntschimmerndes Gefieder war so
zerzaust von Sturm und Wetter. Sie klagten: „Wir sind Deine Lieder,
wir sind Deine Gedanken, all Deine Träume sind wir -- und Du hast uns
hinausgejagt, hast uns vertrieben in die Fremde hinaus, daß wir nun
nicht mehr wissen, wo wir unser Nest bauen sollen. Und wir haben Dir
doch so schön vorgesungen in all Deinen Kinderjahren und in der Zeit,
da Du zum Weibe wurdest. Und hast uns verjagt und hinausgetrieben, und
müssen wir jetzt so elend sterben...“

Sie klagten und schrien... so herzzerreißend klang’s.

Da weinte sie laut auf im Schlafe.

Aber das war ja nur im Schlafe.

Das Leben war ja famos, ja, natürlich war es das -- „famos“.

[Illustration]



11.


Der erste längere Aufenthalt, den Wetterhelms wieder in Deutschland
nahmen, war dem Umstande zuzuschreiben, daß Georg für längere Zeit beim
Auswärtigen Amt in Berlin eingezogen war.

Fünf Jahre waren sie verheiratet, und was Korrektheit der Ansichten
anbetraf, so war Monika die Schülerin, die ihren Lehrer übertraf.

Ein bißchen snob geworden, die schöne Frau von Wetterhelm, die sich nur
mit einem gelinden Schauer erinnern konnte, einst wilde Gedichte in dem
längst dahingeschwundenen „Leuchtturm“ veröffentlicht zu haben.

Auch hatte sie eine dunkle Erinnerung daran, daß sie früher einmal alle
Menschen für gleichberechtigt erachtet hatte -- jetzt hielt sie nur die
Angehörigen verschwindend weniger Berufsarten für „anständig“.

Ja, es kam vor, daß ihr Mann gelegentlich einen leichten Tadel dafür
hatte, daß sie ihre Exklusivität übertrieb. Er sagte dann, er sei ein
modern denkender Mensch und neige sogar zu liberalen Ansichten.

Er wußte selbst nicht, daß dies Redensarten waren, wußte selbst nicht,
daß er im tiefsten Grunde seines Wesens auch nicht das winzigste
Teilchen seines Junkertums der modernen Zeit geopfert.

Aber Monika wußte es, fühlte es.

Sie hatte seine Anschauungen in sich aufgenommen, und sie trieb diese
Ansichten nun auf die Spitze.

Mehr noch als ihr Gatte spöttelte sie jetzt über zur Schau getragene
Gefühlsregungen. Ihr Herz, das einst so warm geschlagen, ihre ganze
heißblütige Persönlichkeit erstarrte langsam, wie ein wilder Bach unter
einer Eisdecke erstarrt. Sie hatte früher so leicht und so schnell
verziehen, hatte immer einen guten Gedanken, ein gutes Wort gehabt für
die Fehler von anderen.

Jetzt aber war sie unnachsichtig, hatte sich das strenge Urteil ihres
Gatten zu eigen gemacht. Seine ganze kühle Art war die ihre geworden.

Wie schnell und wie beschämt hatte sie sich die Freudenausbrüche
abgewöhnt, die sie früher bei allen möglichen Gelegenheiten gehabt.
Georgs eisiges: „ganz nett“, sein in ruhigstem Tone gesprochenes
„herzlich unbedeutend“ schlugen ihre Begeisterung sofort tot. Jetzt
sprach sie es noch überzeugter als er, das „herzlich unbedeutend“.

Mit ihrer Mutter stand sie äußerlich in tadellosen Beziehungen. Aber wo
waren die Zeiten, wo ein inniges Verhältnis zwischen ihnen geherrscht!

Auch den Brüdern war sie entfremdet. Alfred sah sie überhaupt nicht.
Wenn der aus seinem pommerschen Nest mit Urlaub -- oft sogar ohne
Urlaub -- nach Berlin kam, hatte er anderes zu tun, als Familie zu
simpeln. Ueberdies hatte er schärfste Worte für Monikas Hochmut, der er
deutlich genug anmerkte, daß ihr ein Bruder bei der Linien-Infanterie
nicht passe.

Er besuchte Monika höchstens, wenn er sie damit ärgern konnte.

Zum Beispiel einmal, als sie ihn nicht zu einem Frühstück geladen, und
er sich, ob mit Recht oder mit Unrecht, einbildete, sie wolle ihn nicht
bei diesem Essen, bei welchem die anwesenden Militärs ausschließlich
den exklusivsten Gardekavallerie-Regimentern angehörten.

Da erschien Alfred uneingeladen und zeichnete sich durch ein
hinterwäldlerisches Benehmen aus, das er sonst nicht im mindesten besaß.

Es gewährte ihm ein ganz besonderes Vergnügen, zu sehen, wie Monika
sich mühen mußte, ihre Haltung zu bewahren, als er dem Prinzen
Schwarzenfels-Binsingen von den Gardedukorps vorschwärmte, wie
„entzückend modern“ und „wunderbar poetisch“ die Truppe des Theaters
von Treuenbrietzen gespielt, die vor einigen Wochen in seiner kleinen
Garnison gastiert.

Auch stellte er, der tatsächlich ein firmer Reiter war, bei diesem
Frühstück so unsinnige sportliche Betrachtungen an, daß er seinen Zweck
vollkommen erreichte: sämtliche anwesenden Leutnants wunderten sich
darüber, daß diese schicke, erstklassige Frau von Wetterhelm einen „so
üblen“ Bruder besaß.

So weit wie Alfred ging Heinrich nicht. Zu einem Vorgehen durch
Taten entschloß er sich nie, aber auch er war gekränkt von Monikas
Hochmutsteufel. Die Dichter, die sie früher als Gottbegnadete und
Auserwählte des Schicksals angesehen, waren ihr doch jetzt eigentlich
Menschen zweiter Klasse; sie waren oft von so vager Herkunft, hatten
kaum jemals staatserhaltende Prinzipien, und alle die schönen Sachen,
die sie fabulierten, hielten vor strenger Logik nicht stand. Daß
Heinzemännchen ihr wie früher stundenlang Gedichte vorlas, konnte sie
wirklich nicht mehr aushalten.

Freundinnen sah sie keine. Als sie noch junges Mädchen war, hatten
sich ihre Freundschaften immer so gestaltet, daß die andere zu ihr
aufsah, mehr die Rolle einer untergeordneten Begleiterin als die einer
Gleichberechtigten spielte. Jetzt aber hatte sie überhaupt keine Zeit
mehr für Freundschaften.

Mit ihrer Cousine Bertha, die sie sofort aufgesucht, fand sie nicht
mehr den kameradschaftlichen Ton von früher. Monikas Art hatte ja jetzt
etwas Gönnerhaftes, was bei Bertha gänzlich unangebracht war. Denn
Bertha war jetzt ein „modernes Weib“.

Man spürte in ihr nichts mehr von dem warmherzigen, naiven Mädchen,
das sie vor fünf Jahren gewesen, als sie mit Monika zusammen die
Gymnasialkurse besucht. Sie lächelte jetzt verächtlich, wenn sie daran
erinnert wurde, wie sehr sie damals jedes Mädchen beneidete, das sich
verlobte oder gar verheiratete.

O, jetzt war sie weit entfernt davon, sich „unter das Joch des Mannes
zu beugen“. Sie studierte jetzt im fünften Semester Philologie. In
Kleidung und Frisur trug sie eine puritanische Einfachheit zur Schau.
Mitunter wurde sie damit geneckt, wie sehr sie vor fünf Jahren für rosa
Kleider, seidene Unterröcke, gebrannte Stirnlöckchen geschwärmt.

Solche Bemerkungen nahm sie durchaus nicht lächelnd auf, sondern setzte
dann auseinander, daß sie damals eben noch ein ganz urteilsloses
Geschöpf gewesen, daß aber inzwischen ihr Bildungsgang, ihre
Kameradinnen -- alles -- sie dahin aufgeklärt habe, daß eine völlige
Umwertung aller Werte des Frauendaseins zu erfolgen habe!

Ein freier, selbständiger, unabhängiger Mensch müsse die Frau sein,
frei von dem Sklaventum der Ehe! Man sähe ja, was bei den Ehen
herauskam! Z. B. wie unglücklich hätte sich die Ehe von Monikas Cousine
Frau von Hammerhof gestaltet! Ihr Sohn solle ja ganz nett sein, aber
mit dem Gatten stände Marie Hammerhof sich spottschlecht. Das hatte
Bertha von den verschiedensten Seiten gehört.

Und Bertha sei ihrer Mutter jetzt dankbar, daß sie ihr beizeiten den
einzigen Weg des Heils für die Frau gewiesen: die Emanzipation! -- --
-- -- -- Frau von Holtz dagegen, die Marie sozusagen gezwungen, den
ersten besten zu heiraten, bloß weil sie in heiratsfähigem Alter war,
-- die würde ja jetzt genug Zeit und Gelegenheit haben, ihren eigenen
Unverstand zu bedauern.

In der Tat war Maries Ehe eine unglückliche. Das sah Monika, als sie
das Hammerhofsche Ehepaar einmal bei ihrer Mutter traf.

Hammerhofs waren auf der Durchreise nach Ems, wo ihr Sohn, der
vierjährige Kurt, eine Kur gebrauchen sollte. Der Kleine hatte so
zarte Bronchien. „Ein Erbteil von mir,“ sagte Marie mit verbissenem
Gesichtsausdruck. Sie war überschlank geblieben, wie sie es als junges
Mädchen gewesen; auch ihr Wesen war noch das gleiche: ihre brüske
Aufrichtigkeit, ihre herbe Art.

Wohl wußten alle, die sie näher kannten, daß hinter dieser Schroffheit
sich ein tadellos anständiger Charakter, eine pflichtbewußte ernste
Natur verbarg, aber ihre Art, der jede Grazie fehlte, die nichts von
weiblicher Weichheit besaß, ließ es nicht unverständlich erscheinen,
daß ihr Mann nicht gern in seiner Häuslichkeit weilte.

Es gingen auch Gerüchte, daß es mit der ehelichen Treue bei ihm nicht
sehr gut bestellt sei, auch solle er den Freuden des Bechers allzu gern
und allzu häufig zusprechen.

Jedenfalls sagte Marie selbst nie ein Wort darüber, beklagte sich auch
nie.

Für Fremde war entschieden Herr von Hammerhof der Sympathischere
von den beiden. Er hatte so gute Manieren, eine liebenswürdige Art.
In Gesellschaft anderer war er immer höflich und freundlich zu
seiner Frau, wogegen diese ihn mit ausgesuchter Unliebenswürdigkeit
behandelte. Es kam ihr nicht darauf an, ihm auch, wenn Fremde dabei
waren, recht bittere Worte zu sagen; in ihren vorzeitig scharf
gewordenen Zügen prägte sich dann eine schneidende Verachtung aus.

Nur dann wurde sie anders, wenn sie ihr Kind sah, wenn sie ihren Jungen
in den Armen hielt und ihn voll unendlicher Liebe betrachtete. In
dieser hageren Frau, die in ihrer äußeren Erscheinung so gar nichts
Mütterliches hatte, brannte die Mutterliebe in einer schönen und
starken Glut.

Daß Marie bei ihrer schwachen Gesundheit so oft Nächte durchwachte,
wenn der Kleine krank war, das war nichts so Besonderes, das hatte die
Baronin Birken auch unzählige Male getan. Aber daß sie ihrem Kinde
nicht jeden Willen ließ, daß sie Kurt auch strafte, so weh ihr das tat,
daß sie viele seiner Wünsche, die sie ihm so gern gewährt haben würde,
abschlug im Interesse seiner Entwicklung -- das war es, was Maries
Mutterliebe von Frau von Birkens Mutterliebe unterschied.

Es gab kein besser gehaltenes, kein besser erzogenes Kind als Kurt,
aber seine Gesundheit ließ zu wünschen übrig. Dieser Sprößling eines
Ehepaares, das sich nie geliebt, hatte einen traurigen Zug, sogar
sein Lächeln hatte etwas Kümmerliches. Er liebte niemanden als seine
Mutter, verkroch sich oft wie schutzsuchend in ihren Armen, und Maries
herbes Gesicht verklärte sich wundersam, wenn sie sich über das blonde
Köpfchen neigte.

„Mutter sein, -- das ist doch das einzige Glück für eine Frau!“ sagte
sie, als man bei Birkens ihr Kind gebührend bewunderte.

Aber Monika protestierte. „Das einzige Glück? Das wirst Du nicht
aufrechterhalten können. Ein Glück, -- gewiß. Aber das einzige?...
Die Liebe, die man für ein Kind hat, kann doch nie annähernd das Glück
gewähren, das die Liebe zum Gatten gibt.“

Marie lachte höhnisch und erwiderte mit ein paar scharfen Bemerkungen.
Bemerkungen, die Monika nicht widerlegte, denn sie liebte schon lange
keine Diskussionen mehr. Am wenigsten solche, in denen man einen so
scharfen Ton anschlug, wie Marie es tat. Monika stand jetzt auf dem
Standpunkte, daß ihr Leute ohne Ueberzeugungen, wofern sie tadellose
Manieren hatten, lieber waren als wertvollere Naturen, wenn diese sich
rauh gaben.

Dieser Ueberzeugung verlieh sie gelegentlich Worte, worauf Frau von
Birken in überwallender Empörung erwiderte, daß das ein Gipfel von
Snobismus sei, den sie ihrer Tochter nie zugetraut. Erst komme das
Gemüt und nochmals das Gemüt, dann eine ganze Weile gar nichts, dann
der Geist und lange nachher erst Manieren und Formen!

Am schärfsten aber sprach sich Heinzemännchen gegen die neue
Lebensauffassung seiner Schwester aus.

„Du hast früher Wertvolles bewundert, jetzt aber betest Du ärmliche
Nichtigkeiten an! Früher hast Du ungeschliffene Edelsteine geliebt und
jetzt geschliffene Kiesel!... Wie heißt es doch?

  Das Leben schleift so oft Kristalle
  Zu wunden Kieselsteinen ab -- --“

„Sicher sind mir nette, glatte Kiesel lieber als irgend so ein zackiger
Kristall, an dem man sich wundreißt.“

Da erreichte Heinrichs Empörung den Höhepunkt.

„Also das gibst Du zu, das gibst Du zu?! Du bist eben selbst so ein
glattes Nichts geworden!“

Sie lächelte. Das überlaute, nicht endenwollende Gelächter ihrer
Mädchenjahre hatte sie sich ja schon so lange abgewöhnt.

Sie lächelte. Reizend liebenswürdig und ein bißchen banal war dieses
Lächeln und hatte die Gabe, Heinrich noch mehr in Harnisch zu bringen.

„Ein glattes Nichts!“ wiederholte er zornbebend, „eine Modepuppe bist
Du geworden mit dem „guten Ton“ statt eines Herzens, und Vorurteilen
statt eines Gehirns.“

„Und mit einer allzu großen Langmut, die mich veranlaßt, Dich
anzuhören,“ sagte Monika in vollendeter Haltung. Dann knöpfte sie ihre
langen Handschuhe zu und sagte beim Abschiednehmen ihrer Mutter:

„Du mußt verzeihen, Mama, wenn ich nicht oft mehr komme; auf Heinrichs
Ton steht mir eine entsprechende Antwort nicht mehr zu Gebote.“

Und sie ging, nachdem sie ihrem Bruder sehr höflich die Hand gereicht
und der Mutter einen Kuß auf die Wange gehaucht.

Heinrich sagte nachher ganz erschüttert: „Mama, früher wenn ich ihr
sowas gesagt hätte, hätte sie mir was an den Kopf geworfen, hätte sich
verteidigt, mich widerlegt, -- und, glaube mir, es wäre mir lieber
gewesen, sie hätte mit einem Donnerwetter geantwortet, als so!...
Sie hatte ja früher gefährliche Anlagen, gewiß -- -- sie war eine
Pantherkatze... Aber sie war doch wertvoll und originell. Und jetzt?...
Eine Larve, Mama, eine Gesellschaftspuppe, -- ein Kieselstein -- und
war doch einmal ein Kristall!“

„Ja, sie hat keinen Funken von meinem Gemüt,“ sagte die Baronin
traurig, „aber laß Dich das nicht anfechten, mein süßer Liebling,
ärgere Dich nur nicht darüber! Du siehst schon ganz angegriffen aus,
mein Heinuckelchen!“

Heinrich strich sich über die Schläfen. „Es wird vorübergehen.“

„Aber Du siehst schlecht aus, ja wirklich,“ beharrte Frau von Birken
mit einer so überzeugenden Wärme, daß Heinrich ganz unwillkürlich ein
leidendes Gesicht machte.

„Sag’, was hast Du denn, mein Einziges? Arbeitest Du vielleicht zu
viel? Ach Gott, Jurisprudenz ist sicherlich das schwerste Studium von
allen, aber Deines Geistes würdig. Nur überanstrenge Dich nicht! Schone
Dich, mein Heinzemännchen, schone Dich!“ --

Und das Sich-schonen besorgte Heinzemännchen redlich. Das erwählte
Studium sagte seiner träumerischen Natur nicht sehr zu. Am wohlsten
fühlte er sich im Kreise der jungen und jüngsten Literaten, mit denen
er sich jeden Nachmittag in einem Café traf. Man saß dort viele Stunden
zusammen, trank schwarzen Kaffee und schimpfte auf die herrschenden
Literaturgrößen. Dieser Zeitvertreib wurde dadurch belebt, daß auch
die Weiblichkeit vertreten war. Eine junge Dichterin, die jedem, den
sie kennen lernte, in den ersten fünf Minuten versicherte, daß sie
„sehr pervers“ sei -- zwei Vortragskünstlerinnen vom Kabarett „Zum
Regenbogen“ -- und eine Barfußtänzerin beschäftigten sich damit, den
jungen Poeten himmlische Rosen ins irdische Leben zu flechten.

Heinzemännchen nahm einen ehrenvollen Platz in diesem Kreise ein. Die
Weisheit, die er hier lernte, machte mehr Eindruck auf ihn als die im
Hörsaal. Das war so recht was für ihn, diese endlosen Diskussionen
bei Kaffee und Zigarette über Naturalismus, Mystizismus, Symbolismus,
Neo-Impressionismus, -- -- nur unterbrochen durch den Vortrag von
lyrischen Gedichten, die bei allen anwesenden Freunden des jeweiligen
Autors brausende Beifallsstürme hervorriefen.

Heinrichs Gedichte hatten vor allem den Beifall der Damen.

„So gefühlvoll dichtet doch kein anderer wie unser Baron
Heinzemännchen,“ sagte die Barfußtänzerin mit Tränen in den Augen, als
er seine Ode: „An die violette Ampel im Schlafzimmer meiner Geliebten“
vorgetragen.

Diese literarischen Freuden waren endlos, die Gespräche waren nicht
einzudämmen. Die Gesellschaft saß manchmal noch zusammen, wenn schon
der Frühschein sich durch die Fenster stahl, und der Pikkolo, dessen
großer Kopf vor Schlaftrunkenheit zwischen den Schultern schwankte, die
unermüdliche Gesellschaft mit rachsüchtigen Augen anstarrte.

Für Heinrich war es unangenehm, daß seine Mutter immer noch auf war,
wenn er nach Hause kam.

Auf alle seine Vorhaltungen erwiderte sie, sie könne doch nicht
schlafen, wenn ihr Liebling nicht wohlgeborgen in seinem Bettchen ruhe.
Und es wäre ja sehr häßlich von dem Liebling, seine Mutter so lange
warten zu lassen, aber schlafen ginge sie nicht, ach nein! Sie opfere
sich eben auf für ihn.

Heinrich unterdrückte die Aeußerung, daß er auf dieses Opfer gern
verzichte. Er war seiner Mutter gegenüber durchaus rücksichtsvoll im
Ton. Aber innerlich wurde ihm die überzärtliche Bevormundung immer
unerträglicher.

Er schwankte noch einige Zeit hin und her, raffte sich dann aber doch
zu einem Entschlusse auf und sagte ihr eines Tages, daß er von jetzt ab
allein wohnen wolle.

„Du mußt mir das nicht übel nehmen, Mama, aber bei Dir werde ich kein
Mann, wie er fürs Leben paßt. Dieses ewige Bemuttern und Streicheln
und Küssen, -- ich bin doch schließlich kein Wiegenkind mehr. Und ich
komme natürlich sehr oft zum Besuch.“

„Heinrich, das ist doch nicht möglich! Verlassen willst Du mich?! Das
kannst Du mir doch nicht antun. Mir... Deiner Mutter, die sich zeit
Deines Lebens so für Dich aufgeopfert hat.“

Im Tone ihrer Stimme zitterte all ihr Gefühl für diesen Sohn, das
größte und tiefste Gefühl ihres Lebens.

Sie sprach nicht laut wie sonst, wenn sie erregt war. So tonlos
klang’s... mit versagender Stimme: „Heinrich, ich habe doch alles
getan, was ich Dir an den Augen absehn konnte, -- alles... alles...“

Er zögerte.

„Ja, ich weiß das auch zu schätzen, Mama. Sicher... Halte mich nicht
für undankbar! Ich bin doch jetzt ein erwachsener Mensch, ich muß doch
mal endlich auf eigenen Füßen stehen lernen.“

Sie fand keine Worte mehr, -- sie, bei der sonst die Rede so lustig
sprudelte wie ein Bächlein über Stock und Stein. Der Schlag war zu
unerwartet gewesen, kam zu sehr aus heiterem Himmel. Sie hoffte immer
noch, Heinrich werde seine Absicht nicht ausführen. Das konnte er ihr
doch gar nicht antun!

Aber sie kannte ihr eigenes Fleisch und Blut schlecht. Die Birkenschen
Kinder gaben keinen Plan auf.

Das war einer der schwersten Schläge ihres Lebens, der Tag, an dem
Heinzemännchen von ihr ging.

Er hatte sich ein möbliertes Zimmer gemietet, im Studentenviertel, und
kam sich in seiner endlich errungenen Freiheit sehr stolz und glücklich
vor.

Seine Mutter hatte gehofft, daß er schon nach den ersten Tagen
wiederkommen würde, daß ein Leben ohne ihre Sorgfalt und Mühe nicht
auszuhalten sei. Aber sie täuschte sich.

Heinrich aß sogar sein zähes Restaurationsschnitzel, das er nun statt
der herrlichen mütterlichen Fleischtöpfe vorgesetzt bekam, mit einem
Gefühl der Befreiung. Sicher, die Mama war immer rührend um ihn besorgt
gewesen, aber dieses Uebermaß hielt man nicht aus!

Seiner im Grunde gutmütigen Natur entsprechend, besuchte er sie
zuerst täglich. Dann aber wurden die Bande, die ihn an seine
Kaffeefreundinnen und -freunde knüpften, immer festere, und die Besuche
bei seiner Mutter erfolgten in immer größeren Zwischenräumen.

Frau von Birken konnte und konnte sich nicht in die Trennung von ihrem
Lieblingssohn fügen. Ihr schien ihr Leben plötzlich seines besten
Inhalts beraubt.

Was war das für ein Aufwachen jetzt, seit sie wußte, daß sie nicht wie
sonst nur eine Tür zu öffnen brauchte, um das geliebte Gesicht ihres
Jungen im tiefen Morgenschlafe zu sehn!

Was war das für ein Tag, der ihr keine Sorgen mehr darüber brachte, was
Heinrich essen würde, womit man ihm eine Freude machen könne....

Sie empfand ihr Mutterschicksal als ein unverdient unglückliches. Was
hatte sie nun von ihren Kindern?! Daß Alfred sie verschwindend selten
besuchte, war ihr nicht so wichtig. Mit dem hatten sie ja nie sehr
intime Bande vereint.

Daß Monika sich so verändert, darunter litt sie. Was war Mone früher
für ein anschmiegendes, warmherziges Kind!

Was Heinzemännchen anbetraf, so gab sie ihm keine Schuld an seiner
Fahnenflucht, -- er war ja ein so edler Mensch, da mochten eben
irgendwelche Einflüsse mitgespielt haben, dunkle Mächte, über die sich
Frau von Birken selber nie klar wurde. Aber mochte es nun gewesen
sein, was es wollte, -- das Unglück war jedenfalls da: der Liebling
war ihrem mütterlichen Herzen entrissen. Das unglückliche Kind hauste
jetzt in einem Zimmer, auf dessen Bett nur Decken lagen, „nicht einmal
ein Federzudeck“, und des Morgens bekam er statt Tee, Toast, Schinken,
Setzeier und Marmelade -- nun Zichorienkaffee und Schrippen mit
Margarine. -- --

Nur Karl blieb jetzt der Mutter. Und Karl war kein ausreichender Trost.

Er war ja ein netter, gutmütiger Junge, aber er hatte so gar keine
Interessen, die ihn mit der Mutter verknüpften, so gar nichts von der
geistigen Begabung ihrer anderen Kinder.

Er war jetzt beinahe achtzehn Jahre alt und saß immer noch in
Unter-Sekunda.

Aeußerlich war er ein auffallend hübscher Mensch. Noch immer Cherubim.
Kein Barthaar beschattete seine weichgeschwungene Oberlippe, seine
Haut war weiß und rosig wie die eines Babys. Noch immer hatte das
Haar seinen Goldschimmer und die dunkeln Augen ihren unschuldsvollen
Ausdruck.

Noch immer war er gottergeben und leichtsinnig, nur daß diese
Leichtsinnigkeiten jetzt einen sehr viel größeren Umfang angenommen
als früher. Er raubte jetzt nicht mehr Nickel, aber er ging
Schuldverschreibungen ein, die seine Mutter dann mit Ach und Krach, mit
Lamentieren und Wehklagen einlöste. Oft, wenn sie ihm gar nichts mehr
geben wollte, ging er zu Monika, die immer ein paar Goldstücke für ihn
übrig hatte.

Das Zuhören in den Lehrstunden gewöhnte er sich allgemach ganz ab. Das
alles war so anstrengend und unverständlich. Er mußte ja hingehen aufs
Gymnasium, das war klar, -- das Einjährige zum mindesten mußte er haben.

Aber das würde er schon irgendwo machen, das würde sich schon
arrangieren lassen. Es arrangierte sich ja immer alles...

Nur sein Körper saß auf der Schulbank. Sein Geist duselte in seligen
Fernen.

Es waren durchaus keine aufregenden Genüsse, die er sich vorstellte.
Nur etwa so: stille daliegen auf dem weichen Sandstrande eines blauen
Sees, die nackten Glieder von Luft und Sonne umspielen lassen... Und
Stille ringsum und Schweigen... nichts tun, nichts denken, -- -- in
die flimmernden Wellchen starren, die der See kräuselt, und Zigaretten
rauchen... Oder: sehr gut essen, viel und gut, saftige Braten und kühle
Fruchtgelees... Oder: ein hübsches Mädchen, das sehr nett und lieb zu
ihm war...

In Wirklichkeit waren viele Mädchen lieb zu ihm. Seine Schönheit, sein
liebenswürdiges Wesen erschlossen ihm viele Herzen. Er selbst war nicht
gerade leidenschaftlich, aber er nahm mit Freuden alle Liebe, die ihm
dargebracht wurde.

Frau von Birken war außer sich über die rosa Briefe, „noch dazu die
meisten unorthographisch“, die ihm ins Haus flogen. Sie fing diese
Briefe ab, öffnete sie, hielt sie dem Schuldigen vor, erging sich
in Zornesausbrüchen über seine Liederlichkeit, worauf er mit einem
ehrlichen Nichtverstehn ihr nur erwiderte:

„Aber da ist noch nichts dabei, Mama, -- -- es ist wirklich ein sehr
nettes Mädchen.“

„Mein Gott, was soll bloß aus Dir werden?“ stöhnte die Mutter.

Er zuckte ratlos die Achseln.

„Aber Du kannst doch nicht als Rentier leben, dazu haben wir ja gar
nicht die Mittel. Ein Mann muß doch etwas tun, einen Beruf haben, --
Pflichten erfüllen! Sag’ doch selbst, wozu Du Lust hast! Wozu Du Talent
hast, -- -- irgend etwas!“

„Zu gar nichts,“ sagte Karl gottergeben.

Dann hatte er eine plötzliche Eingebung. „Ich möchte gern aus dem
Gymnasium raus, Mama.“

Frau von Birken rang die Hände. „Karl, das wagst Du mir zu sagen?! Das
wagst Du?! -- -- Jetzt willst Du weg, noch vor dem Einjährigen? Karl,
weißt Du denn nicht, welcher Familie Du angehörst? Dein Großvater
war Universitätsprofessor! Und Deine Schwester ist bis Ober-Sekunda
gekommen, obwohl sie nur ein Mädchen ist. Und wenn nicht diese Heirat
dazwischengekommmen wäre, so wäre sie heute Fräulein Doktor. Jawohl!
-- -- Und Alfred hat doch wenigstens das Abiturium gemacht, ehe er
Offizier wurde. -- -- Und Heinzemännchen! -- -- Den Aufsatz, den er
zum Abiturium gemacht hat, habe ich einbinden lassen... in grünes
Leder... zur Erinnerung für Kinder und Kindeskinder ... +so+ ist der
Aufsatz! -- -- Karl, wenn Du so ungebildet bleiben willst, das überlebe
ich nicht!“

„Na, wollen mal sehn, wollen mal sehn,“ sagte Karl begütigend. Aber
sehr hoffnungsvoll klang es nicht.

Immerhin schöpfte die optimistische Frau von Birken auf diese so
maßvolle Aeußerung hin neuen Mut.

Karl war ja ein guter Junge und würde sich nun wohl wirklich endlich
bessern.

Es war deshalb ein schwerer Sturz aus ihren neuerweckten Hoffnungen,
als schon acht Tage nach diesem Gespräch Karl vor sie hintrat mit dem
dringenden Ersuchen, ihm zweitausend Mark zu geben.

Sie war außer sich. Was dachte er sich denn eigentlich? Wozu brauchte
denn ein Schüler überhaupt so viel Geld? --

Die Erklärungen, die er gab, waren so phantastisch, daß die Mutter
trotz all ihrer Leichtgläubigkeit auch nicht ein Wort davon für wahr
hielt.

Aber wie immer war aus Karl nichts herauszubekommen.

Wenn man ihm eine Lüge nachgewiesen, fand er flugs eine andere. Ohne
den leisesten Schimmer von Verlegenheit, ohne einen Augenblick des
Nachsinnens strömten ihm die Ausflüchte zu. Er, der sonst eine so wenig
rege Phantasie, eine so wenig lebhafte Geistestätigkeit besaß, war nie
einen Augenblick verlegen darum, die kompliziertesten Geschichten zu
erfinden.

Er faßte die Weigerung seiner Mutter, ihm auch nur einen Pfennig zu
geben, ernster auf, als er sonst zu tun pflegte.

Sein rosiges Gesicht war blaß geworden; er klemmte die Unterlippe so
fest zwischen die Zähne, daß ein Blutstropfen niederperlte.

„Ich muß das Geld haben, Mama.“

„Wir werden ja sehen, ob Du mußt.“

Er drehte sich kurz um und verließ das Zimmer. Er ging zu Monika.

Da es eine verhältnismäßig frühe Stunde war, war sie noch nicht fertig
angezogen. Sie saß in einem Peignoir vor dem Spiegel, und ihre Jungfer
bürstete ihr die schönen kastanienfarbenen Haare, die in mächtigen
Wogen niederflossen.

Sie hatte Karl ohne weiteres in ihr Toilettenzimmer treten lassen; sie
behandelte ihn noch ganz als Kind. Alle Leute behandelten Karl als Kind.

Er setzte sich in einen der weißen Louis-XV.-Sessel und sah zerstreut
zu, wie die Jungfer die Frisur vollendete. Dann wurde das Mädchen auf
seine Bitte hinausgeschickt, und nun bat er in seiner langsamen, ein
wenig ungeschickten Sprechweise seine Schwester um die zweitausend
Mark, deren Zahlung seine Mutter so entrüstet abgelehnt.

Auch bei Monika fand er kein Entgegenkommen.

„Lieber Junge, ich habe nie ein Wort gesagt oder gefragt, wenn Du
zwanzig Mark haben wolltest oder vierzig. Aber zweitausend? -- -- Wofür
brauchst Du zweitausend Mark?“

„Es ist eine Ehrenschuld.“

„Sekundaner haben keine Ehrenschulden.“

„Doch.“

Sein sanftes Gesicht bekam einen verstörten Ausdruck.

„Erzähl’s mir, Karl.“

„Ach, Mone, davon wird’s auch nicht besser! Gib mir doch das Geld. Sieh
mal, Du bist der einzige Mensch, den ich um sowas bitten kann, Mama hat
Zetermordio geschrien, als ich sie darum gebeten. Alfred und Heinrich
gebrauchen selber mehr als sie haben. -- Mone, gib mir’s.“ Er drückte
ihr die Hände.

„Ich, -- -- ich hab’s ja auch nicht,“ sagte sie, schon schwankend
geworden, „Du weißt doch, Karl, ich hab’ kein Geld. Und Georg kauft mir
zwar alles, was ich haben will, aber er gibt mir doch kein Geld in die
Hand. Ich kann Dir die zweitausend Mark gar nicht geben.“

„Dann sag’s Deinem Mann,“ rief er mit ungewohnter Entschiedenheit.

„Na schön,“ sagte sie nach sekundenlangem Besinnen, „ich werde es ihm
heute nach dem Lunch sagen.“

„Und ich komme mir die Antwort heute abend holen.“

„Komm nicht. Wir sind zum Diner eingeladen. Ich schreibe Dir aber und
schicke Dir schon heute nachmittag den Brief durch den Diener.“

Mit einem erlösten Aufatmen beugte er sich über ihre Hand und küßte sie
dankbar.

Als er das Haus verließ, schien er seine ganze Spannkraft
wiedergefunden zu haben.

Monika aber hielt ihr Versprechen. Gleich nach dem Lunch, das man zu
zweien eingenommen, bat sie ihren Mann, ihr die zweitausend Mark für
Karl zu geben.

„Höflich abgelehnt,“ sagte er.

„O Georg...“

„Lieber Schatz, es wäre ein haarsträubender Unsinn, einem noch nicht
achtzehnjährigen Schüler eine solche Summe in die Hand zu geben. Wozu
will er es denn überhaupt haben?“

„Er sagt, es sei eine Ehrenschuld.“

„Ehrenschuld? Mit dem Worte bezeichnen viele Leute recht unehrenhafte
Schulden.“

„O, Karl ist solch ein lieber, netter Junge.“

„Gewiß, er ist ein sehr netter Mensch, aber das ist doch kein Grund,
um seinen Hang zum Leichtsinn, zu bodenloser Liederlichkeit zu
unterstützen! Was ist denn der Effekt davon, wenn wir ihm das Geld
geben?! Er gibt es in leichtsinniger Weise aus!“

„Aber wenn er es doch für Schulden haben will...“

„Dann bezahlt er vielleicht diese und macht sofort neue und zwar in
noch größerem Maßstabe. Er hat ja dann die sichere Ueberzeugung, daß
sie auch bezahlt werden.“

„Ach, Georg, sei nicht geizig.“

„Liebes Herz, die Aeußerung da hast Du Dir wohl nicht überlegt. Hast Du
mich je geizig gefunden?“

„Für mich nicht, aber für andere hast Du doch eigentlich nie was getan.“

„Jeder ist sich selbst der Nächste, seine Familie natürlich
miteingeschlossen. Bei dem uferlosen Mitleid für alles und alle kommt
nie was Gutes heraus.“

„Aber Karl ist doch Dein Schwager.“

„Eine juristische Verpflichtung zur Unterstützung eines
Schwagers besteht nicht, eine moralische unter Umständen, die
hier nicht vorhanden sind. Wenn Dein Bruder durch Krankheit
unterstützungsbedürftig wäre oder eine Summe brauchte, um sich eine
Existenz zu gründen, so würde ich Dir zuliebe eventuell sogar ein
größeres Opfer bringen! Aber für einen derartig leichtsinnigen Bengel,
der gar nicht ahnt, gar nicht faßt, was Pflicht heißt!“

„Ja, die sogenannte Pflicht ist uns wohl nie genug eingetrichtert
worden,“ sagte Monika nachdenklich.

„Die strenge Hand hat Euch gefehlt. Dein Vater starb zu früh.“

„Und vorher hat er sich auch nicht um unsere Erziehung bekümmert, und
der Mama sind wir zu schnell über den Kopf gewachsen, alle vier.“

„Ja, da Du davon sprichst, Monika -- Du weißt, ich rede nie ungefragt
über Deine Angehörigen, aber da das Thema nun einmal aufgerollt ist:
Deine Brüder machen mir überhaupt Sorge. Ich hörte da neulich durch
meinen Vetter Alexander, der Bataillonskommandeur von Alfred ist, -- er
gibt ihm keine zwei Jahre mehr im bunten Rock.“

„O -- --“

„Ja, daß er Schulden hat, wäre schließlich nicht so schlimm, aber da
ist eine Soldatenmißhandlungsgeschichte, bei der er eben noch mit
einem blauen Auge davongekommen ist. Alfred gilt als der brutalste,
händelsüchtigste Offizier im Regiment.“

„Er war schon als Kind so wenig gutmütig.“

„Und Heinrich scheint sich auch nicht gerade in bester Gesellschaft zu
bewegen. Im Amt erzählte mir neulich jemand, daß ein Baron Birken als
‚Amateur-Dichter‘ Verse im Kabarett „zum Regenbogen“ vorgetragen, und
fragte mich, ob der Jüngling zu Deinen Verwandten gehöre. -- Und Karl,
von dem ich eigentlich hoffte, er würde ein Normalmensch und seinerzeit
ein brauchbarer Offizier werden, läßt sich ja jetzt auch recht niedlich
an.“

„Eine nette Familie sind wir! Und dabei hast Du in Deiner bekannten
Höflichkeit mich und meine gefährlichen Anlagen noch gar nicht mal
erwähnt,“ lachte Monika.

„O, Du bist sehr schnell eine tadellose Frau geworden, und das weißt Du
auch ganz genau.“

„Wetterhelmsche Schule.“

„Und, Liebling, was Karls Bitte anbetrifft, so siehst Du ein, daß es
inkorrekt wäre, seine Dummenjungenstreiche zu unterstützen.“

„Ja, Du hast ganz gewiß recht, nur, er bat so herzlich -- --“

„Keine falsche Gutmütigkeit! Schreibe ihm ruhig, daß Du das Geld nicht
hättest, und daß ich es Dir nicht gäbe für Sachen, die so zweifelhafter
Natur sind, daß Karl selber sie nicht erzählen kann! Und schärfe ihm
ein bißchen das Gewissen in bezug auf seine Lebensführung -- das geht
doch nicht so weiter!“

Und Monika schrieb ein paar Zeilen, die ganz im Sinne des eben
stattgefundenen Gespräches waren -- und ging mit dem Gefühl einer gut
erfüllten Pflicht zu dem Diner. -- --

Als das Dessert aufgetragen wurde, bat ein Diener Frau von Wetterhelm
ans Telephon.

Monika folgte ihm erstaunt, ein wenig beunruhigt. Wer wußte denn
überhaupt, daß sie hier war?

Karl telephonierte. „Ich bin hier bei Euch, Mone. Der Diener hat mir
gesagt, wo Ihr seid. Ich muß Dich sprechen.“

„Aber, Karl, um Gottes willen, was gibt es denn?“

„Ich brauche das Geld, und Mama hat es mir eben zum letztenmale
abgeschlagen.“

„Aber wozu brauchst Du es?“

„Das ist doch schließlich gleichgültig. Aber ich muß es sofort haben,
Mone, spätestens morgen früh muß ich’s haben. Sprich mit Deinem Mann.“

Mit einer ärgerlichen Bewegung ließ sie den Hörer sinken, entschloß
sich aber doch, Georg rufen zu lassen.

Als er hörte, worum es sich handelte, griff er mit einer ihm sonst
ungewohnten Heftigkeit nach dem Hörer.

„Karl.... Du -- --?“

„Ja.“

„Wenn Du mir oder meiner Frau was zu sagen hast, so warte gefälligst,
bis Du uns zu Hause antriffst, und störe uns nicht, wenn wir bei
anderen zum Besuch sind. Schluß!“

Er klingelte energisch ab. Dann wandte er sich an Monika.

„Lieber Schatz, was ich eben Deinem Bruder sagte, hättest Du ihm sagen
sollen im ersten Augenblick, als er telephonierte. Mich noch herrufen
zu lassen, war überflüssig. Es erregt unnötiges Aufsehen, wenn wir
beide zu dieser späten Stunde in einem fremden Hause ans Telephon
gerufen werden. Also nicht wahr, ein andermal etwas mehr Sinn für
Korrektheit, lieber Schatz.“

„Verzeih, ich hätte Dich nicht rufen lassen sollen.“

Zusammen betraten sie wieder den Eßsaal, und im Verlaufe des sehr
angeregten Abends vergaß Monika den Zwischenfall. --

Aber am nächsten Morgen beschloß sie, gleich mal nach Karl zu sehen. Es
war Sonntag, also war er nicht im Gymnasium.

Monika ließ sich anziehn, sagte ihrem Manne, daß sie zum Lunch zurück
sei, und fuhr zu ihrer Mutter.

Das Dienstmädchen sagte ihr, die gnädige Frau sei schon vor zwei
Stunden zum Baron Heinrich gefahren mit einer großen Punschtorte, die
man ihm zum Sonntag gebacken. Monika unterdrückte mit Mühe ein Lächeln;
ihre Mutter war mehr in der Studentenbude von Heinzemännchen als in
ihrer eigenen Wohnung.

Aber es paßte ihr ganz gut, daß sie Karl nun allein sprechen konnte. Da
würde sie ihn ordentlich ins Gebet nehmen.

„Hat Karl schon gefrühstückt?“

„Nein, Herr Karl schläft noch, am Sonntag schläft er immer so lang’,“
sagte das Mädchen und lächelte strahlend. Wie die meisten weiblichen
Wesen hatte sie für Karl ein faible.

Monika sah nach der Uhr. Halb zwölf. Um halb eins mußte sie zu Hause
sein. Da konnte sie wirklich nicht warten, bis der Langschläfer
erwachte; da mußte sie ihn gleich wecken.

Sie schritt den Korridor entlang bis zu dem abgelegenen Hinterzimmer,
das Karls Reich bildete. Sie klopfte.

Und lauter dann... und noch einmal...

Keine Antwort. Seinen Schlaf schienen seine Geldsorgen einstweilen
nicht zu stören. Wahrscheinlich hatte er gestern übertrieben wie schon
so viele Male. Wahrscheinlich war der Hundertmarkschein ihm gar nicht
sehr nötig, den sie in die Oeffnung ihres linken Handschuhs geschoben,
um ihn Karl gleich beim Gutentagsagen geben zu können. Dieser Schein
war ihm als Schmerzensgeld zugedacht für die abschlägige Antwort,
die sie ihm gestern gegeben. Ihr Mann hatte sie vollkommen überzeugt.
Es wäre gegen ihre Pflicht gewesen, Karls bodenlosem Leichtsinn noch
Vorschub zu leisten.

„Karl -- --!“

Noch immer keine Antwort.

Da drückte sie die Klinke auf und trat ein.

„Na, Du Faulpelz,“ sagte sie, geblendet von der goldenen Sonne, die
durch das Fenster drang.

Näher trat sie zum Bett, trat näher... und sah...

Und faßte es nicht.

Das war doch... das war doch Blut, dieses dunkle Gerinnsel auf dem
Boden, auf der Bettdecke, auf der nackten Brust da vor ihr...

Mit beiden Händen griff sie nach ihres Bruders Schultern... und fuhr
im selben Augenblicke schaudernd zurück vor der Eiseskälte, die ihr
entgegenströmte.

Das... das war doch nicht möglich! Er schlief doch bloß! Seine Augen
waren friedlich geschlossen, die langen Wimpern lagen dunkel auf
den Wangen. Der ein wenig geöffnete Mund, in dem die weißen Zähne
schimmerten, hatte einen traurigen Ausdruck. Ja, ein wenig traurig sah
er aus, ernster als sonst.

Dieses wunderschöne und traurige Gesicht über der blendend weißen
Jünglingsbrust, diese großen Blutflecke allüberall, die wie dunkle
Blumen waren ... das war doch ein Traum, ein Fiebertraum!

Das konnte doch nicht Wahrheit sein!

Ein Traum auch der Revolver, an den ihr Fuß jetzt stieß? Ein Traum die
paar Blätter aus dem Schulheft, die da auf dem Nachttisch lagen, und
auf denen Worte standen, über die Blut gespritzt war, Worte, die sie
lesen wollte und nicht verstand, weil wilde Farbenspiele vor ihren
Augen kreisten.

[Illustration]

Sie las diese Blätter erst viel später. Drei Tage später, als all
das Schreckliche vorbei war: der Augenblick, als der herbeigerufene
Arzt statt aller Worte nur die Achseln gezuckt, -- der Mutter
Verzweiflungsausbrüche --, das Begräbnis. --

Und nun saß Monika allein in ihrem Toilettenzimmer und versuchte, jene
Zeilen zu lesen. Da stand in ihres Bruders unbeholfener Handschrift,
mit der man ihn so oft geneckt:

    „Ich bitte Euch alle, mir zu verzeihn. Aber es ist besser, daß
    ich gehe. Ich sitze in soviel Schwierigkeiten und weiß nicht ein
    noch aus. Ihr müßt nicht glauben, daß ich etwas Schlechtes getan
    hätte. Ich habe mir gar nichts dabei gedacht, als mich neulich eine
    Freundin gebeten hat, einen Brillantring für sie zu kaufen. Ich
    sollte ja nur eine Unterschrift geben und Geld überhaupt nicht. Sie
    wollte es allein bezahlen.

    Aber nun will mich der Diamantenhändler beim Staatsanwalt
    anzeigen, weil es ein Betrug gewesen wäre und die Lonny den Ring
    gleich weiter verkauft hat. Das geht doch aber nicht, daß ich ins
    Gefängnis komme.

    Ich habe Euch ja so sehr um das Geld gebeten, aber Mama wollte ja
    nicht, und sie hatte wohl auch recht, denn sie als Mutter mußte
    doch etwas streng sein, und außerdem ist die Summe auch so hoch für
    sie. Ich dachte, Monika würde es mir geben. Die war meine einzige
    Hoffnung, sie ist immer meine liebe Schwester gewesen. O Gott, wie
    gerne habe ich ihr was mitgebracht zum Freuen. So konnte sich kein
    anderer freuen, wie Monika sich früher freute.

    Mone ist immer so gut gewesen, bloß ihr Mann hat sie so hart und so
    kalt gemacht -- --“

Sie konnte nicht weiter lesen. Brennende Tränen verdunkelten ihren
Blick und stürzten ihr aus den Augen. Das waren die heißesten Tränen,
die sie je geweint. Es war ihr, als verbrennten sie ihr die Haut, indes
sie ihr über die Wangen rollten.

Das Schluchzen schüttelte sie wie ein Sturm. Sie hörte gar nicht, daß
die Tür des Nebenzimmers geöffnet wurde.

Georg trat auf seine Frau zu. Er sagte bewegt:

„Liebling, gib Dich diesem Schmerz nicht so hin.“

„Warum nicht?“ fuhr sie auf. „Warum soll ich mich diesem Schmerz nicht
hingeben? Mein Bruder starb, und... durch unsere Schuld.“

„Durch unsere Schuld? -- Das sind Hirngespinste, Monika. Er suchte den
Tod, weil er keinen sittlichen Halt hatte. Er war ein Kind, das sein
kostbarstes Gut -- das Leben -- verschleuderte und wegwarf wie andere
Kinder eine Glaskugel.“

„Er starb, weil Du hartherzig warst und ich es mit Dir.“

Er strich ihr begütigend übers Haar. Sein Gesicht wurde um eine
Schattierung blasser, als sie bei dieser Berührung zurückzuckte.

„Liebling, Deine Nerven sind jetzt zu angegriffen. Das ist die Ursache,
daß Du etwas so Unzutreffendes sagst. Wir waren nicht hartherzig. Kein
vernünftiger Mensch konnte dem Jungen ohne weiteres die Bitte gewähren
-- das habe ich Dir auseinandergesetzt.“

„Ja, das hast Du!“

Sie hatte sich erhoben, eine Zornesflamme sprühte aus ihren Augen.

„Ja, das hast Du. Und ich war dumm und charakterlos genug, um wieder
eine von Deinen hartherzigen Ansichten zu der meinen zu machen! -- -- O
Gott, der Junge, der arme, liebe Kerl!“

Sie schluchzte laut auf.

Und von neuem näherte sich ihr Georg: „Mein geliebter Schatz, beruhige
Dich doch.“

Und von neuem wich sie seiner Berührung aus, und ihre Tränen versiegten
in dem roten Zorn, der wieder in ihr emporloderte.

„Ich will mich nicht beruhigen. Ich will heulen vor Schmerz, wenn mir
danach zumute ist! Ich will nicht alles in mir ersticken lassen unter
dem Panzer, den Du Dir anlegst, dem Panzer von Sitte, Pflicht und
Korrektheit. -- -- Da, lies, was mein Bruder geschrieben hat in seiner
Todesstunde, und sein Herzblut ist drüberhin gespritzt: ‚Mone ist immer
so gut gewesen, bloß ihr Mann hat sie so hart und so kalt gemacht
-- --‘“

„Und diese Worte eines unglücklichen, schlecht erzogenen und
irregeleiteten jungen Menschen -- --“

„Haben mir gezeigt, wie es um mich bestellt ist!“ unterbrach Monika.
„Ja, jedes Wort davon ist wahr! Ich habe unserer Ehe zuliebe meine
ganze Persönlichkeit geopfert. Alles Beste in mir habe ich gewaltsam
unterdrückt, jeden Funken von Begeisterung, von Warmherzigkeit erstickt
unter einer Eisdecke von Vorurteilen! -- -- Fort will ich, -- fort von
Dir, der Du alles, was in mir ursprünglich ist, tötest. Ich will wieder
ich selbst sein!“

Georg von Wetterhelm war blaß bis in die Lippen.

„Monika, Dein Schmerz macht Dich ungerecht! Ich will Dir heute
verzeihen, -- heute -- alles.“

„Ich brauche Deine Verzeihung nicht. Ich will fort, -- fort um jeden
Preis!“

Ein sonderbar erstickter Ton rang sich aus seiner Kehle. Ein Augenblick
war’s -- dann klang seine Stimme fest wie je: „Ich kann Dich mit Gewalt
nicht halten.“

„Ich lasse mich auch nicht halten!“

Zwei wilde Flammen brannten in ihren Augen.

Das war nicht mehr die sanfte und korrekte Gattin, die fünf Jahre lang
Georg von Wetterhelms Herzensfreude gewesen, -- die sich fünf Jahre
lang gezügelt hatte ihrem Glück zuliebe. Das war wieder das unbändige
Geschöpf von einst, das jeder Gefühlsregung nachgab, jede Empfindung
auskostete bis zum äußersten, bis zum letzten schalen Tropfen.

Und auch diesen Becher leerte sie bis zur Neige: nicht genug Vorwürfe
gab es für den, der ihr bis dahin das Liebste war auf der Welt.

„Ich habe erkannt, welch eiskalter Egoist Du bist! Warum gabst Du Karl
das Geld nicht?“

„Es war nicht des Geldes wegen -- --“

„Das weiß ich! Und gerade das ist das furchtbarste: Deiner Prinzipien
wegen tatest Du es nicht! Deiner starren, hartherzigen Prinzipien
wegen! Die sind das einzige, was Du liebst! Du hast auch mich nie
geliebt. Du hast mich geheiratet, weil +ich Dich+ liebte! Du wolltest
Dein frierendes Herz erwärmen an meiner Glut!“

„Monika!“

Georg Wetterhelm preßte die harten Lippen aufeinander. Er sprach kein
einziges Wort mehr... zu seinem Glück, das von ihm ging.

[Illustration]



12.


Ein altes, winkliges Haus in einer von Zürichs Straßen. Ausgetretene
Treppenstufen, schiefe Türen, an denen Dutzende von Visitenkarten mit
Reißnägeln angeheftet waren. „~Stud. jur.~ Freiherr von Neuern, ~stud.
med.~ Hans Fischer, ~stud. med.~ Pietro Liguro, ~stud. med.~ Olga
Nikolajewna Murawska, ~stud. phil.~ Bertha Reckling.“

Vier Treppen hoch hauste Bertha, die seit einem Semester in Zürich
studierte, zusammen mit der Studentin der Medizin Murawska.

Die Wohnung bestand aus drei Stübchen und einer kleinen Küche. Die
letztere wurde wenig benutzt, da die Mädchen ihre Mahlzeiten in
einem Restaurant einnahmen und sich zu Hause nur das erste Frühstück
bereiteten. Bertha hatte zwar zuerst vorgeschlagen, hier zu kochen,
aber sie hatte es bald aufgesteckt. Es war gar zu unbequem. Allein
das Feuermachen erforderte so viel Zeit und Mühe, und es war so
umständlich, die Vorräte die vier Treppen hinaufzuschleppen.

Außerdem war Olga Nikolajewna den kulinarischen Bestrebungen Berthas
durchaus feindlich gesinnt.

Sie behauptete: viel Essen wirke schädlich auf die Gehirntätigkeit. Nur
die Deutschen äßen so viel, und Bertha würde es nie zu etwas bringen,
wenn sie sich nicht auch angewöhne, des öfteren nur von Tee und
Zigaretten zu leben.

Auch „Ordnung halten“ erklärte Olga Nikolajewna für eine von Berthas
schädlichen Angewohnheiten. Dieses ewige Wegräumen war schrecklich!
Jedenfalls bäte sie, ihre Sachen nicht anzutasten. Die lägen so, wie
sie müßten.

Und Bertha schenkte diesen Ausführungen ein williges Ohr. Sie nahm ja
so leicht die Anschauungen ihrer Umgebung an. So wie sie früher auf die
Ansichten ihrer deutschen Kolleginnen geschworen, die aus dem naiven,
jungen Mädchen eine Frauenrechtlerin gemacht, ebenso ließ sie sich
jetzt die Ansichten des internationalen Kreises aufpfropfen, der ihren
Verkehr bildete.

Es waren gar verschiedenartige Leute, die sich da oft in ihrem
kleinen Wohnzimmer zusammenfanden. Viel Platz war nicht auf dem roten
Kattunsofa und den paar wackligen Rohrstühlen. Aber es standen eine
Anzahl umgestülpter Kisten bereit, die als Sitzgelegenheiten dienten.

Die Bewirtung beschränkte sich auf Tee. Rauchmaterial brachte jeder
selber mit.

Oft verschwamm das Stübchen in einem wahren Schwaden von Rauchwolken.
Und man diskutierte über die neuesten Heilmethoden, über philosophische
Systeme, über uralte und ewig ungelöste Menschheitsfragen.

Es hatte sich ein ganz bestimmter Kreis herausgebildet, Stammgäste,
die immer wiederkamen: Dimitri Iwanowitsch Lagin, ein Landsmann von
Olga, der einen düsteren Märtyrerkopf und schmutzige Fingernägel
besaß; Hans Fischer, ein sehr jugendlicher Mediziner, der ein Schüler
von Berthas Vater gewesen und Bertha den gleichen angstvollen Respekt
entgegenbrachte wie dereinst seinem Ordinarius; Marie Kramer, eine
freundliche dicke Blondine, die nun schon im achten Semester studierte
und immer noch unglaublich erstaunt darüber war, daß sie es fertig
gebracht, „ihre Angehörigen zu verlassen, ihrer inneren Stimme zu
folgen“.

Und Melitta Göritz war da, ein schlankes, sehr brünettes Mädchen, das
ein sehr verschlossenes Wesen hatte und von dem überhaupt niemand etwas
Näheres wußte.

Dann noch ein norwegisches Ehepaar: die Steens. Merkwürdigerweise
hatten die beiden äußerlich Aehnlichkeit miteinander. Sie waren beide
sehr groß, sehr schlank, hatten weißblonde Haare und blaue, ein wenig
vorstehende Augen, die an Fischaugen erinnerten.

Sie studierten beide Philosophie. Sie behandelten andere Leute
überaus höflich und nett, sich gegenseitig aber mit ausgesuchter
Unliebenswürdigkeit. Sie warfen sich Grobheiten an den Kopf,
schimpften sich auf norwegisch und trennten sich nie, wie ein Pärchen
Wellensittiche, ob aus Liebe oder Haß, blieb unerfindlich.

Auch Edith von Gräbert kam oft, eine norddeutsche Offizierstochter
in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, die Lehrerin an einer
Töchterschule gewesen, dann aber ihren Hang zur Medizin entdeckt.

Diese alle saßen, wie so oft, an einem Maiabend in dem kleinen
Wohnzimmer, als die Korridorklingel kurz und heftig in Bewegung gesetzt
wurde.

„Das ist gewiß Pietro,“ rief Edith von Gräbert lebhaft; sie hatte eine
ausgesprochene Vorliebe für den jungen Italiener.

Bertha, die Hausherrin, ging, um zu öffnen.

Die Gäste hörten ihren überraschten Ausruf, und gleich darauf trat
sie wieder ein, begleitet von einer jungen Dame, deren Erscheinung
Sensation erregte.

„Wie kommt der Glanz in diese niedre Hütte?“ murmelte Edith, nachdem
sie einen taxierenden Blick auf die elegante Toilette des Ankömmlings
geworfen.

Sigrid Steen stieß ihrem Gatten den Ellenbogen in den Magen, da er
ihrer Meinung nach den fremden Gast bewundernd angestarrt. Dimitri
Iwanowitsch setzte sein Pincenez auf und nahm es nicht wieder ab,
obwohl er es sonst, um seine sehr angegriffenen Augen zu schonen, nur
zum Schreiben und Lesen trug.

Hans Fischer starrte die schöne Dame so verzückt an wie ein Kind eine
einladende süße Speise -- kurz es herrschte allgemeine Gemütsbewegung.

„Meine Cousine Frau von Wetterhelm,“ stellte Bertha vor. In ihrer
Bestürztheit vergaß sie, nun die Namen der anderen Leute zu nennen.

Und diese alle saßen stumm wie die Oelgötzen; von allen diesen Leuten,
die so gut und so viel reden konnten, wenn eine sie interessierende
wissenschaftliche Frage aufgerollt war, fand keiner Worte, sobald es
sich um eine leichte gesellschaftliche Unterhaltung handelte.

Monikas mondaine Gewandtheit half vorläufig über das peinliche
Stillschweigen hinweg. Aber eine rechte Stimmung kam an diesem Abend
nicht mehr auf. Die Gäste fühlten sich durch die elegante Fremde
geniert und gingen sehr viel früher als gewöhnlich.

Monika hoffte nun mit ihrer Cousine allein sprechen zu können, aber auf
dem roten Kattunsofa saß Olga Nikolajewna und rührte sich nicht. Als
Bertha einen schüchternen Versuch machte, sie zum Verlassen des Zimmers
zu bewegen, erwiderte sie ganz erstaunt:

„Aber wir haben doch bloß dieses Sofa!“ Wußte Bertha denn immer noch
nicht, daß ihr Stühle unbequem waren?!

So verfügten sich denn die beiden Cousinen in Berthas Schlafzimmer,
das mit seinen winzigen Abmessungen, mit seiner schmalen, eisernen
Bettstelle einen sehr ärmlichen Eindruck machte.

Monika setzte sich auf einen Rohrstuhl am Fenster und Bertha ließ sich
aufs Bett sinken; sie war noch immer unter dem Eindruck der großen
Ueberraschung.

Monika hier! Und sie kam zu ihr die vier wackligen Treppen hinauf! All
das kam ihr ganz unwahrscheinlich vor.

Freilich vermutete sie nicht so Entscheidendes, wie sie gleich darauf
zu hören bekam.

Also Monika war fort von ihrem Mann! Für immer fort?!

Bertha fühlte bei dieser Nachricht erstaunlicherweise nicht die
freudige Genugtuung, die sie bei ihren extremen Grundsätzen eigentlich
hätte haben müssen. Nein, sie empfand nicht: „Gott sei Dank wieder
eine, die das unwürdige Ehejoch von sich abschüttelt!“ -- sondern
in diesem Augenblick überwog Berthas frühere Natur: „Wie töricht von
Monika, ihrem Mann davonzulaufen!“

Gut, daß, ehe sie diese Worte geäußert, ihr ihre neuerworbenen
Grundsätze einfielen. Und so sagte sie denn, sie sei weit entfernt
davon, Monikas Schritt zu mißbilligen. Sich durchsetzen, seine eigene
Persönlichkeit zu bewahren, das sei das Höchste für ein denkendes
menschliches Wesen, und die Zeiten, da man die Frauen nicht zu den
denkenden menschlichen Wesen gerechnet, seien ja erfreulicherweise
vorüber!

Es sei sehr vernünftig von Mone, daß sie gleich hierher gekommen zu
ihr, die ihr sehr gern mit ihrem Rate zur Seite stehen wolle.

„Es ist jedenfalls sehr nett von Dir, daß Du Dich hier meiner annehmen
willst,“ sagte Monika. Sie war nicht so sicher wie sonst.

Allein, zum ersten Male war sie allein gefahren, den weiten Weg von
Berlin nach Zürich, und aus des Zuges Räderrollen hatte sie eine so
traurige Melodie gehört: Fort von ihm! Jeden Augenblick weiter fort von
ihm, der mein Glück gewesen...

Sie hatte sich dann selbst sentimental gescholten. Da sie nun mal
eingesehen hatte, daß ihres Bleibens nicht länger bei ihm war, war
alles abgetan! Mußte alles abgetan sein!

Ein neues Leben!

Und ein bescheidenes Leben.

Sie wollte versuchen, mit der knappen Zulage auszukommen, die ihre
Mutter ihr geben konnte.

Darüber hatte es noch eine Meinungsverschiedenheit gegeben mit Georg,
der ihr einen Scheck über eine hohe Summe mitgegeben.

„Ich will kein Geld von Dir!“ hatte sie gesagt.

„Du mußt es nehmen, Monika. So lange wie Du meine Frau bist, kannst
Du nicht wie eine Zigeunerin durch die Welt laufen. Wie denkst Du Dir
überhaupt Dein späteres Leben pekuniär?“

„Ich will mir unbedingt selbständig meinen Lebensunterhalt verdienen,
sei es schriftstellerisch oder daß ich studiere. Ich weiß es noch
nicht.... Das alles ist noch so dunkel....“

„Und Du willst nicht bei mir bleiben -- statt so ins Ungewisse in die
Welt hinauszugehen --?“

„Nein!“ antwortete sie hart.

Es empörte sie, daß er diese Frage so an sie gestellt hatte, so als ob
ein materielles Interesse je hätte mitsprechen können, sie zu fesseln.

Ja, wenn er vor ihr niedergestürzt wäre, wenn er ihr in heißer Qual
entgegengerufen: „Bleib’, ich kann nicht leben ohne Dich!“, dann hätte
sie wohl nicht den Mut gefunden, fortzugehen auf Nimmerwiedersehen.

Aber so sprach Georg von Wetterhelm nicht. Nach dem „Nein“, das sie
ihm entgegengerufen, hatte er nur noch streng sachlich mit ihr die
einzuleitende Scheidung besprochen, die wegen böswilliger Verlassung
ihrerseits erfolgen werde. Sie würde eine Aufforderung erhalten, zu ihm
zurückzukehren, und wenn sie dieser nicht Folge leiste, so erfolge ein
Jahr nachher die gerichtliche Scheidung.

Und sie war gegangen auf Nimmerwiedersehn.

Als sie die erste Müdigkeit nach der langen Eisenbahnfahrt überwunden,
hatte ein Gefühl von Energie sie durchflutet. Ein Bad, ein Glas Sherry,
ein elegantes Kleid, und sie war zu Bertha gefahren.

Diese war entschieden so hilfsbereit gewesen, wie man es nur irgend
erwarten konnte. Man hatte so manches verabredet.

Monika sollte eine Wohnung im selben Hause wie Bertha nehmen, sowohl
ihres schmalen Geldbeutels wegen, als damit sie Anschluß habe.

Dann sollte sie erst mal in einigen Kollegs hospitieren, um sich dann
endgültig zu entscheiden.

Es würden in ihrem Wissen eine Menge Lücken auszufüllen sein. Aber das
schreckte sie nicht, sie hatte ja immer so gern gelernt.

War es denn etwas anderes, was sie schreckte? Was war dieses sonderbare
Gefühl, das ihr das Herz zusammenpreßte?

Sie hatte doch nun die Freiheit, konnte doch nun ihre Persönlichkeit so
entfalten, wie sie es immer gewünscht.

Nun war doch der sehnlichste Traum ihrer Jugendjahre in Erfüllung
gegangen: frei! -- --

Und ein neues Leben jetzt!

Nicht mehr an die grauen Augen denken, die sie zu sehr geliebt, -- an
die grauen Augen, die so verächtlich erstaunt geblickt, wenn sie sich
„inkorrekt“ benommen oder „wild“.

Und nicht mehr an seine Hände denken, jene schönen, harten Hände, die
sie so sicher und gebieterisch dahingeführt auf schnurgerader, grauer
Strecke, während auf allen Seitenwegen und Fußpfaden so viel üppig
schönes Blumengerank wucherte.

Nicht mehr an ihn denken!

Schade nur, daß sie so oft, so unendlich oft an ihn erinnert wurde.

Sie sah jetzt erst, wie sehr Georg ihr die kleinlichen Sorgen des
Lebens aus dem Wege geräumt, wie sehr er jede Unannehmlichkeit von ihr
ferngehalten. -- -- --

Sie sah jetzt erst, was es hieß, sich selbst um die Alltagssorgen
bekümmern zu müssen. --

Mit einem Gefühl der Erleichterung begrüßte sie den Tag, an dem sie zu
Bertha übersiedelte. Sie hatte in Berthas Wohnung angrenzende Zimmer
bekommen, die bisher ein Kandidat der Medizin bewohnt.

Diese Zimmer trugen das ärmliche Gepräge, das dem ganzen Hause
anhaftete, und Monika konnte sich eines kleinen Schauders nicht
erwehren, als sie ihre Wohnung des näheren besichtigte.

Sie schwankte sogar einen Augenblick, ob sie nicht diese Baracke im
Stiche lassen solle, um sich ein eleganteres Quartier zu nehmen. Sie
hatte ja den Scheck da....

Aber sofort wies sie diesen Gedanken von sich. Nein, nein, sie wollte
mit dem Zuschuß von Mama auskommen, so wenig das auch war.

Und Georg brauchte gar keine Angst zu haben, daß sein Name dadurch
kompromittiert werde, wenn sie hier in so ärmlichen Verhältnissen
hauste. Sie nannte sich mit ihrem Mädchennamen. Die Abneigung vor ihrer
neuen Umgebung mußte eben heruntergewürgt werden! --

Sie fand sich nicht schnell in dieses neue Leben hinein, beim besten
Willen nicht!

Sie fühlte sich nicht zu Hause in dieser häßlichen Wohnung.

Unzählige Male am Tage trat sie hinaus auf den kleinen Balkon vor ihrem
Zimmer.

Zwischen ein paar altersgrauen Dächern erblickte man die grüne Limmat,
Schwärme von schneeweißen Möwen schwirrten über den Strom; sie sah dem
unruhigen Spiel ihrer Flügel zu, die sie bald hoch zum Himmel, bald
tief hinab zum Wasser trugen.

Und eine unklare Sehnsucht war in ihr, die ihr das Herz zusammendrückte.

Aufseufzend trat sie zurück ins Zimmer, in dem dann vielleicht gerade
Olga Nikolajewna, Zigaretten paffend, auf dem Sofa lag.

Monika hatte versucht, die allzu häufigen Besuche der Russin
abzuwehren, aber diese hatte ihr in ihrem harten Deutsch erwidert:

„Aber Ihr Sofa ist weicher.“

Sie hielt diese Tatsache für völlig ausreichend, um von dem erwähnten
Möbelstück Besitz zu nehmen.

Als Monika sich bei Bertha beklagte, hatte diese ihr mißbilligend
gesagt:

„Aber sei doch nicht so unkameradschaftlich. Wir sind hier alle für
Gütergemeinschaft.“

Daß das keine leere Redensart war, lernte Monika bald genug einsehen.
Man betrachtete auch ihre Sachen als Gemeingut. Olga Nikolajewna goß
sich den Inhalt von Monikas Parfümflaschen über Bluse und Haar. Bertha
benutzte, ohne je um Erlaubnis zu fragen, Monikas Nähutensilien und
ihre Bücher.

Alle die „Stammgäste“ kamen, ohne dazu aufgefordert zu sein, jetzt auch
in Monikas Zimmer hinüber.

Die anfängliche Scheu, die sie vor der Fremden gehabt, war sehr bald
einer kollegialen Vertraulichkeit gewichen.

Am häufigsten wurde sie von Edith von Gräbert besucht.

Diese hatte ein großes, mit Mißgunst gemischtes Interesse an Monika.

Für alles an ihr: ihre Art, sich zu bewegen, sich anzuziehen, zu
lächeln....

Es war, als ob Edith von ihr zu lernen suche, sich nach ihrem Vorbild
modele.

Entschieden war das ein verfehltes Beginnen, denn die beiden waren
äußerlich so voneinander verschieden, daß alles, was zu Monikas Wesen
paßte, für Edith deplaciert war.

Bildete doch schon Monikas weiches Gesicht einen entschiedenen
Gegensatz zu Ediths herben Zügen, die übrigens durchaus ebenmäßig
geformt waren.

Sie war überhaupt nicht ohne Reiz. Sie hatte eine große, gutgewachsene
Figur.

Aber etwas unnennbar Hartes lag in all ihren Linien, sowohl in denen
des Körpers wie in denen des Gesichts.

Ihre hellen Augen blickten klug und spöttisch unter blonden Brauen,
ihre Gesichtsfarbe war von einer auffallenden Zartheit, und diese
zarte, helle Haut begann schon ein wenig das Stigma des Welkens zu
tragen. Die Augenlider waren schon etwas zerknittert, wie weiße
Rosenblätter, die am Verblühen sind.

Edith war von einer Offenheit, die an Zynismus grenzte. Sie erzählte
Monika, ohne daß diese im mindesten danach gefragt hätte, die intimsten
Einzelheiten aus ihrem Leben; sie sprach von der unglücklichen Ehe, die
ihre Eltern geführt. Sie verhehlte nichts, beschönigte nichts von allen
traurigen Fällen, die sie oder ihre Familienangehörigen getroffen.

Monika machte mitunter Einwendungen, sagte ihr geradeheraus:

„Das sind doch interne Angelegenheiten, über die spricht man doch
nicht.“

Aber Edith zeigte dann in höhnischem Lachen ihre großen, weißen Zähne:

„Ach, den Schnickschnack habe ich mir abgewöhnt. Ich habe früher auch
mal so gedacht wie Sie -- o, sicher sogar sehr viel strenger gedacht
als Sie. Es ist noch gar nicht so lange her. Da war ich Lehrerin an
der Schule von Fräulein Cersfeld und gab für hundert Mark monatlich
ungezogenen Mädels Französisch und Geographie, auch Religion und
andere schöne Sachen. Von acht bis eins täglich dauerte der Scherz.
Fünf Minuten nach eins ging ich nach Hause, wo ich gerade rechtzeitig
ankam, um einer lärmenden Szene zwischen Mama und Papa beizuwohnen.
Nachmittags dann Hefte korrigieren und abends um halb zehn in die
Klappe. Ach, ein Leben.... Sieben und ein halbes Jahr ist das so
gegangen. Dann...“

Sie unterbrach sich.

„Ach, ist ja alles Unsinn,“ fuhr sie mit veränderter Stimme fort. „Wozu
von Vergangenheiten reden! Ich fühle mich sehr wohl, seitdem mir das
Familienleben Wurst ist! Es lebt sich doch sehr nett in dem ollen,
ehrlichen Zürich.“

„Ja...,“ sagte Monika, und ihr Blick irrte sehnsüchtig hinaus durchs
Fenster auf den grünen Strom, über dem die weißen Möwen taumelten.

Die Vorlesungen, die Monika belegt, interessierten sie teilweise sehr,
aber sie gewöhnte sich nicht an das Zusammensein mit so vielen anderen.

Es saßen da in den Hörsälen Leute aus aller Herren Ländern, junge und
alte, Frauen und Männer.

Alle diese Gehirne arbeiteten, dachten, waren wie Maschinen mit
surrendem Räderwerk.

Und sie alle, die starken und die schwachen, die schnell arbeitenden
und die trägen Gehirne, sie alle holten sich hier Nahrung,
Heizmaterial, Funken von der großen Flamme des Wissens, das die Welt
erhellt.

Wohl empfand Monika die Größe, die darin lag, aber das half ihr nicht
darüber hinweg, daß ihr das Zusammengepferchtsein mit allen diesen
unbekannten Menschen auf die Nerven fiel.

Sie wurde das Gefühl nicht los, daß sie denen allen hier überlegen war.

Vor ihrem Verstand war dieses Gefühl nicht stichhaltig.

Die Tatsache, daß sie eine sehr viel raffiniertere Körperpflege trieb
als die alle hier, schuf ihr doch keine Ueberlegenheit?

Und daß sie weltgewandter war, abgeschliffener, -- das alles hatte doch
hier keinen ernsthaften Wert.

Sie war eben wohl immer noch von Vorurteilen befangen; zu sehr hatte
Georg ihre frühere Wesensart umgewandelt. Aber das würde sich schon
geben mit der Zeit.

Mit der Zeit...

Sie, die früher so oft der Zeit zugerufen: „Halt an!“, hätte ihr jetzt
Sporen geben mögen wie einem schlechten Gaul.

Nur schnell vorwärts! Nur Zeit legen zwischen sich und das Glück!

Und Tage kamen und gingen... Wochen... und Monate... Und noch immer
war sie nervös, schreckte zusammen, wenn es klingelte, und ging immer
wieder auf den Balkon und starrte hinüber auf den Strom und auf die
weißen Möwen.

Sie sprach mit niemandem über das, was sie innerlich bewegte.
Den vielen Fragen von Edith von Gräbert setzte sie eine kühle
Reserviertheit entgegen.

Uebrigens war Edith die einzige, die neugierig war.

Bertha fragte sie nie etwas. Nicht aus Diskretion, sondern weil sie zu
sehr mit sich selbst beschäftigt war; sie steckte in ihrem Studium wie
in einem Kleide, das ihr nach allen Richtungen hin zu groß war, und das
sie sich wichtigtuerisch bemühte auszufüllen.

Mit dem Wesen, das sie früher gewesen, hatte sie kaum noch einen
Zusammenhang. Das bewies sie deutlich, als ihre Mutter ihr eines Tages
schrieb.

Sie brachte Monika den Brief hinüber mit der Aufforderung zu lesen.

Frau Reckling schrieb, daß sie heute mit einer großen Bitte an ihre
Tochter herantrete, einer Bitte, die wohl geeignet sei, eine Umwälzung
in Berthas Existenz hervorzurufen.

Die Untersuchung, die Berthas Vater bei einem berühmten Berliner
Augenarzt habe vornehmen lassen, hätte leider die Diagnose des
Hausarztes vollkommen bestätigt: es sei eine Netzhautablösung, die in
nicht zu ferner Zeit zu völliger Blindheit führen müsse.

Natürlich könne der Vater seinen verantwortungsvollen Posten als
Gymnasialdirektor nun nicht mehr ausfüllen.

Man würde sich nach Harzburg, dem Heimatstädtchen des Direktors,
zurückziehen.

Und Bertha müsse kommen! Der Mutter Gicht habe solche Fortschritte
gemacht, daß ihr die Hände oft gelähmt seien, unfähig zu jeder
Tätigkeit. Die Mutter wäre ja tief unglücklich, daß Berthas
hoffnungsreiches Studium abgebrochen werden solle, aber wer solle um
den erblindenden Vater bemüht sein, wer die Tätigkeit ersetzen, die der
Mutter gelähmte Hände nicht mehr tun konnten? Bertha solle kommen! Die
einzige Tochter würde der Eltern Stütze sein.

„Meine Mutter scheint ja vollkommen durchgedreht zu sein!“ sagte
Bertha. „Sie sollen sich doch eine Gesellschafterin nehmen. Es laufen
ja genug junge Mädchen aus anständiger Familie herum, die für freie
Station und ein Taschengeld den Beruf der Tochter des Hauses geradezu
großartig ausfüllen! Wenn Mama ein Haustöchterchen haben wollte... ich
hatte alle Anlage dazu! Dann brauchte sie mich nicht mit Gewalt auf
diesen Weg zu führen. Auf dem bin ich und bleibe ich! Das kann niemand
von mir verlangen, daß all die langen Jahre Studium, all meine Mühe
und mein Fleiß umsonst gewesen sein sollen. Daß ich jetzt kurz vor dem
Examen abspringen soll, ist wahrhaftig eine Zumutung!“

In diesem Sinne schrieb sie an die Mutter. Und postwendend traf die
Antwort ein: ein Jammerschrei über Berthas Lieblosigkeit, die ihre
kranken Eltern der Hilfe einer bezahlten Fremden überlassen wolle!

Bertha könne doch nicht so ganz jedes weibliche Fühlen verloren haben!

„Hätte sie sich früher überlegen sollen, meine gute Mama. Was soll denn
das heißen: weibliches Fühlen?! Das soll weiter gar nichts heißen,
als: sich selbst aufgeben zum Nutzen für andere! Wo bleibt da die
Gleichberechtigung?! Wer verlangt von einem jungen Manne, der studiert,
daß er nach Hause kommt, sein Studium aufgibt, um seine Eltern zu
pflegen?! Wenn ich dasselbe leisten kann, was ein männlicher Student
leistet, dann muß ich auch ebenso behandelt werden, dann kann ich
denselben Respekt vor meiner Persönlichkeit verlangen! Und den verlange
ich!... Mir tut die Krankheit meiner Eltern gewiß von ganzem Herzen
und von ganzer Seele leid, aber mich selber ihnen opfern -- -- nun und
nimmer! Sie werden schon eine nette Gesellschafterin finden. Ich lasse
mich jedenfalls auf gar keine weiteren Unterhandlungen ein, und wenn
sie mir die Zulage sperren, ist es noch so! Ich habe mein Eigenes von
der Großmama. Die brave, alte Dame hatte geglaubt, ich würde meine
Brautausstattung davon kaufen. Sie war noch so unmodern!“

Monika war peinlich berührt von Berthas Standpunkt. Wie herzlos das
klang... wie gefühlsroh ... Und doch... war sie selbst denn etwa
aufopferungsfähiger? Hatte sie nicht, um ihre Persönlichkeit zu
wahren, ihren Mann verlassen, der so viel liebevoller zu ihr gewesen
als Berthas Eltern zu ihrer Tochter?...

O gewiß, Bertha hatte ganz recht, so zu handeln! Aber ein unangenehmes
Gefühl wurde Monika nicht los. Und Georg Wetterhelms Schwester fiel ihr
ein, ihre Schwägerin Brigitte, deren Aufopferung sie verlacht, gleich
bei jenem ersten Besuche auf Gerbitz, als sie Braut war. -- --

Erinnerungen überfluteten sie wie große Wogen, die auf sie zukamen,
über sie hinweggingen, ihren Widerstand ertränkten, daß sie in die Knie
sank, daß sich in heißem Schluchzen ein Name von ihren Lippen rang:

„Georg.“

Nur einen Augenblick. Dann hatte sie die Herrschaft über sich
zurückgewonnen.

Das war ja nur Nervosität gewesen, sicherlich!

Nur die Schuld der häßlichen, ärmlichen Umgebung. Oder die Schuld der
allzu abstrakten Wissenschaft....

O, nur weg von hier, fort von Zürich. Es war nichts mit dem Studieren.
Die ganze Umgebung hier, all die Leute mit den schlechten Manieren
-- das alles war nicht zu ertragen, wenn man fünf Jahre lang Georg
Wetterhelms Frau gewesen war.

Sie wollte fort. Irgendwo in die große bunte Welt, all die Schönheit
genießen, die da aufgeschlagen lag wie ein Märchenbuch mit schönen
Bildern.

Und all diese Schönheit wollte sie beschreiben, sich ganz der Kunst
widmen, die der leuchtende Stern ihrer Kindheit gewesen. Sie wollte
denken und dichten, sie wollte glücklich sein! Ja sie war überzeugt,
daß sie dann glücklich werden mußte!

Noch am selben Tage teilte sie Bertha ihren Entschluß mit.

Diese war überrascht, nahm die Sache aber nicht sehr wichtig. Dagegen
empfing Edith von Gräbert einen großen Eindruck von der Neuigkeit, daß
Monika fort wolle.

Wo denn hin? Nach Luzern zuerst? -- Da käme sie mit.

Monika war überrascht von diesem Angebot; sie stand sich nicht so
freundschaftlich mit Edith, als daß es gerechtfertigt gewesen wäre.

Immerhin war gegen das, was Edith sagte, nicht viel einzuwenden: sie
war ermüdet, überanstrengt, mußte mal ausspannen. Sie würde sich sehr
glücklich schätzen, wenn sie sich Monika anschließen dürfe.

Da stimmte Monika zu, nicht gerade begeistert, aber es war ihr doch
nicht unlieb, daß sie nun nicht so allein sein würde....

[Illustration]



13.


Der „Seepalast“ in Luzern war auch eine riesige Fremden-Karawanserei
wie das Hotel, in dem Monika zuerst in Zürich abgestiegen, aber
er war von einem modernen, vornehm abgetönten Luxus, den Zürich
nicht aufzuweisen gehabt. Im Hochparterre lagen drei riesenhafte
Gesellschaftssäle nebeneinander. Und verschwiegene Schreibzimmer mit
grünen Lederpolstern, ein Lesesaal, in dem alle großen Zeitungen des
Erdballs auflagen, öffneten sich im Anschluß an eine ungeheure Halle,
die die Hotelgäste zu den verschiedensten Tages- und Nachtzeiten
versammelt sah.

An jedes Schlafzimmer schloß sich ein Badezimmer mit Marmorwanne und
blitzenden Dusche-Apparaten.

Monika atmete auf.

Endlich wieder eine anständige Umgebung, endlich ein Hotel wie die, in
denen sie mit Georg geweilt.

Georg... schon wieder Georg....

Nein, sie wollte nicht mehr an ihn denken. Lieber sich Vergessenheit
trinken an all der Schönheit, die man vom Balkon ihres kleinen Zimmers
im vierten Stock aus sah.

Edith störte nicht.

Die saß unten im Lesesaal und angelte nach Bekanntschaften.

Und Monika blieb allein droben auf dem Balkon und schaute auf den
Vierwaldstätter See. Der hatte am Tage die Farbe eines kostbaren
Smaragds.

Starre, zackige Felsen umkränzten ihn, und über dem allen wölbte sich
kornblumenblau der Sommerhimmel, von dem sich die schwarzen Rauchsäulen
der Dampfer abzeichneten, die über den See fuhren.

Rechts lag der Hafen von Luzern. Die Menschenmengen, die sich dort
drängten, sahen von hier aus wie Ameisenscharen.

Sie saß und träumte.

Sie ging nach den Mahlzeiten gleich immer wieder in ihr Zimmer hinauf.

Edith war darüber tief enttäuscht.

Sie hatte darauf gerechnet, sich überall mit Monika zusammen zu zeigen,
und nun mußte sie allein herumlaufen.

Die Bekanntschaften, die sie machte, genügten ihr durchaus nicht.

Die wirklich eleganten Hotelgäste hatten kein Interesse für dieses
weder auffallend schöne noch elegante Fräulein von Gräbert.

Eines Tages wurde Monikas Einsamkeit durch einen überraschenden Besuch
gestört.

Ihre Cousine Marie von Hammerhof ließ sich melden.

Marie hatte nie sehr freundliche Gefühle für Monika gehabt, und sie
erschien mehr auf den Wunsch ihrer Tante Birken als aus eigener
Initiative.

Sie erzählte, daß sie mit ihrem Sohne zum Sommeraufenthalt in Gersau
sei und bei der Durchreise in Berlin Monikas Mutter habe versprechen
müssen, sie hier aufzusuchen.

Uebrigens zeigte sich Marie freundlicher als sonst.

„Mir hat das direkt imponiert, wie Du Deinem Manne so einfach auf und
davon gelaufen bist,“ sagte sie. „Ganz recht hast Du gehabt! Die Männer
taugen alle nichts!“

„Daß er nichts taugt, ist unzutreffend,“ sagte Monika. „Im Gegenteil!
Georg taugt sogar sehr viel. Aber ich habe eingesehen, daß er meine
Persönlichkeit zerbrach, mich umformte -- --“

„Das versuchen sie ja alle,“ sagte Marie wegwerfend. „Die Männer fühlen
sich nun mal alle gottähnlich und empfinden uns als ‚das schwache
Werkzeug‘. Ich habe nicht einen... nein, Dutzende von Ehemännern
sagen hören, daß ihre Frau nach der Heirat „sich doch unendlich
herausgemacht“ habe, sowohl seelisch wie körperlich. Wie gesagt,
versuchen tun sie die Umformung alle, nur sie haben nicht alle Glück
damit! Mein Mann hat mich nicht geändert.“

Die hagere Frauengestalt reckte sich hochauf, ein triumphierendes
Lächeln huschte über ihre scharfen Züge.

„Ich bin geblieben, wie ich war, nichts habe ich ihm von meiner Seele
gegeben, nichts von meinem eigentlichen Selbst.“

„Und bist Du glücklich geworden?“

„Nein, das Glücklichsein muß wohl eine Kunst sein. Ich habe sie nie
rausgehabt!... Vielleicht kommt es daher, daß ich den falschen Weg
gegangen bin. Mag Gott es der Mama verzeihen, daß sie mich damals
bestimmte, diesen Mann zu heiraten, den ich nicht liebte, nicht haßte,
-- denn damals haßte ich ihn doch nicht -- aber der mir fremd war, ganz
fremd.“

„Und hat dann nicht Eure junge Ehe eine Brücke geschlagen zwischen Euch
beiden?“

„Er blieb mir immer fremd... Und dann habe ich ihn hassen gelernt, wie
man eben jemand haßt, an den man gegen seinen Willen sein Leben lang
geschmiedet ist. Ein Leben lang -- ein ganzes Leben -- --“

Sie war blaß geworden, so als ob sie die ungeheure Tragweite dieses
Gedankens in dem Augenblicke jetzt erst restlos erfaßt hätte.

„Du kannst ja weggehn,“ sagte Monika und fügte tonlos hinzu: „Weggehn,
wie ich es tat“...

„Nein, nicht wie Du, denn ich bin Mutter. Könnte ich leben ohne mein
Kind?! Und der Junge bliebe meinem Mann, das ist gar keine Frage. Wenn
ich Wilhelm verlasse, werde ich doch als der schuldige Teil erkannt.
Glaubst Du, ich könnte ohne meinen Jungen leben? Er braucht mich doch!
Und ich brauche ihn nötiger als die Luft zum Leben. Keinen Tag kann ich
ohne ihn sein... Und immer, immer die Angst, die schreckliche Angst:
bleibt er mir? Er ist sehr zart. Die Bronchien besonders. Jetzt war ich
auch wieder in Ems mit ihm; Gersau ist uns zur Nachkur empfohlen.“

„Ist er mit herübergekommen?“

„Ja, er ist mit der Bonne im Garten. Ich habe ihn unten gelassen, weil
ich mit Dir noch über manches sprechen muß. Weißt Du, Mone, mich geht’s
ja eigentlich nichts an, aber wenn Du irgendeinen Einfluß auf Deine
Mama hast, solltest Du sie veranlassen, daß sie Heinrich nicht jeden
Unfug nachsieht.“

„Was für Unfug?“

„Na, seit er wieder bei Deiner Mutter wohnt, benimmt er sich genau so,
als hätte er noch seine Studentenbude. Seine Freundinnen und Freunde
gehen bei ihm ein und aus, wie in einem Taubenschlag! Er veranstaltet
Symposien mit violettem Seidenpapier um die Glühbirnen rum -- „wegen
des magischen Effekts“, sagt er! Bis vier Uhr morgens scheinen diese
Gastmähler zu dauern. Als ich neulich bei Tante war und telephonieren
wollte, sagte sie mir: das ginge nicht, denn in das Zimmer, wo
das Telephon stände, könne ich nicht hinein, da säße gerade eine
Schauspielerin, die auf Heinzemännchen warte, und offiziell dürfe sie
als Mutter doch nichts davon wissen. Ich möchte doch bei dem Bäcker an
der Ecke telephonieren, das sei ein sehr freundlicher Mann, der würde
gewiß nichts dagegen haben.“

„Echt!“

„Ja, sage mal, ich finde, daß die Würde Deiner Mutter es erfordert, daß
Heinrich wieder allein wohnt.“

„Nein, das geht nicht,“ sagte Monika, „Mama kann nicht allein wohnen...
Das weiß ich aus den Briefen, die sie mir bald nach Karls Tode schrieb.
Verzweifelt war sie, vollkommen wie verirrt. Was nun mit ihr werden
solle? Ihre Kinder brauchten sie nicht, schienen sie alle nicht zu
brauchen. Und das stimmte: wir brauchten sie alle nicht. Alfred in
der fernen Garnison, Heinrich in seinem Studentenquartier, ich in die
Welt verflogen -- und Karl in seinem Grabe. -- -- Und sie schrieb,
sie müsse jemand haben, für den sie sorgen könne. So allein könne sie
nicht leben. Sie müsse einen von uns haben, um ihn zu betreuen, für den
sie sich mühen könne... Da habe ich an Heinrich geschrieben und habe
Gott gedankt, als er ja sagte und wieder zu Mama zog. Daß er sich so
benimmt, ist ja nicht schön, aber es ist besser, als daß Mama allein
bleibt! Denn dann kommt sie sich vor wie Spreu, ein Halm, dem man die
Fruchtkörner wegnahm und der nun wertlos ist... Also Heinzemännchen
soll ruhig weiter lila Symposien geben. Ich bin froh, daß die Mama ihn
hat.“

„Na, wie Du denkst. Ich empfand es jedenfalls als Pflicht, mit Dir
darüber zu sprechen,“ sagte Marie spitz.

Schweigen.

Dann sagte nach einer Weile Marie:

„Uebrigens, im Falle man fragen darf, was wird denn nun eigentlich aus
Dir?“

„Das muß die Zukunft lehren.“

„Nicht die Vergangenheit?“

„Wie meinst Du das?“

„Na, Mone, nimm’s mir nicht übel, aber ein rasend koketter Racker
warst Du immer! Wenn ich noch daran denke, wie Du Roßberg den Kopf
verdrehtest. Und dabei hat Roßberg Trudchen wirklich glühend geliebt.
Es geht ihnen übrigens gut, sie haben jetzt das fünfte Kind bekommen...
Na, also, kokett warst Du damals schon als halbwüchsige Göre. Ich meine
immer: hat Dein Entschluß nicht doch noch eine andere Ursache als die,
die Du erzählst? Ist da nicht irgendeine neue Passion von Dir im Spiel?“

„Pfui! -- ich habe Dir die reine Wahrheit gesagt. Wie mißtrauisch Du
bist!“

„Noch immer nicht mißtrauisch genug! Die paar Male, wo ich in meinem
Leben vertraute, bin ich auch noch betrogen und belogen worden.
Besonders von meinem Manne, immer von ihm -- ach, Du weißt ja nicht,
wie viele hunderte von Malen ich mir gesagt habe: Fort von ihm, fort
aus der Ehe überhaupt. Die ist wie ein Kampf bis aufs letzte! Die
Ehen, die ich gesehen habe und die einen harmonischen Eindruck machten,
waren immer so, daß der eine Teil der willenlose Sklave des anderen
war. Dann ging’s! O, dann ja! -- Oft trägt die Frau das Joch, oft auch
der Mann!... Und diese sogenannte glückliche Ehe habe ich mir nicht
schaffen können. Zur Sklavin war ich nicht feige, nicht charakterlos
genug, zur Herrin hatte ich kein Talent.“

„Und ich?“ schoß es Monika durch den Kopf, „was war ich in meiner
glücklichen Ehe? Herrin? -- Nein. Georg war nie ein Weiberknecht. Also
Sklavin? Nur das?“

Und Marie sprach weiter. Sie, die sonst so Kühle und Wortkarge, war
heute von ungewohnter Mitteilsamkeit.

Es war, als hätten Monikas veränderte Lebensumstände die Schranke
niedergerissen, die immer zwischen den Cousinen bestanden.

Es war, als ob Marie, nun sie zum erstenmal ihr starres Schweigen
brach, den Trost empfände, der für die meisten Frauen im Sichmitteilen
liegt.

Immer weiter ging ihre Rede....

Alles, was Wilhelm ihr angetan in diesen langen Jahren, alles, was
sie bisher stumm und allein getragen, strömte sie aus, daß Monika
zurückbebte vor dieser trüben Flut.

„Ich hasse ihn! Du weißt nicht, wie sehr ich ihn hasse! Kaum ein Tag
vergeht, kaum eine Nacht, wo ich mir nicht sage: nur fort!... Nicht
eine Sekunde länger bleibe ich -- --“

Sie brach kurz ab, denn es wurde an die Tür geklopft.

Und diese öffnete sich.

Ein zarter, blonder Junge in einem gestickten Russenkittelchen lief auf
die Mutter zu, während das Kinderfräulein verlegen an der Tür stehen
blieb.

„Mama, ich hab’ nicht länger warten wollen, Mama..“

Da beugte sich die früh verblühte Frau tief über das Kind, und qualvoll
innig kam es von ihren Lippen:

„Mein einziges Glück...“

[Illustration]

Nach diesem Besuche vergrub sich Monika wieder in ihre Einsamkeit. Die
Tage strichen gleichförmig dahin.

Einmal riß ein Brief ihrer Mutter sie aus der Ruhe.

Die Baronin schrieb ganz verzweifelt. Es täte ihr schrecklich leid,
Monika so furchtbare Sachen mitteilen zu müssen, aber sie habe
niemanden, dem sie ihr Herz ausschütten könne.

Heinzemännchen wolle von der ganzen Angelegenheit nicht mehr sprechen
hören.

Er sei zu böse auf Alfred... Um Alfred handle es sich nämlich. Er habe,
trotzdem er einmal schon an einer ähnlichen Geschichte haarscharf
vorübergekommen, seinen Burschen mit dem Reitpeitschengriff so über den
Kopf geschlagen, daß dieser eine erhebliche Verletzung davongetragen
habe.

Woher Alfred diese entsetzliche Brutalität habe, sei ihr rätselhaft.
Der selige Papa sei doch sehr gutmütig gewesen, und sie selber, -- nun,
Monika wisse ja allein, was für ein Gemüt die Mutter habe.

Alexander Wetterhelm wolle, der angeheirateten Verwandtschaft zuliebe,
nochmal versuchen, die Sache mit Alfred irgendwie zu vertuschen, obwohl
es ihm selber an den Kragen ginge, wenn es herauskäme.

Aber weg vom Regiment müsse Alfred so schnell wie möglich -- das sei
Bedingung!

Er wolle nun zur Schutztruppe, und obwohl es ihr schrecklich sei, eines
ihrer Kinder so weit weg zu lassen, müsse sie doch sagen, es sei wohl
das beste!

Hier in Deutschland würde Alfred der Familie bloß Schande machen, --
das sei keine Frage.

Monika schrieb sofort und bat ihre Mutter in dringendsten Worten,
Alfred das Afrika-Projekt auszureden.

Wenn’s nicht anders ginge, solle er Sektreisender werden oder
Versicherungsagent. Nur nicht in die Tropen, wo schon manch gesunder
Mensch sein seelisches Gleichgewicht verlor und Alfreds spezielle
Anlagen zu einer Katastrophe führen mußten.

Der Mutter Antwort lautete: Monika sehe gewiß zu pessimistisch!

Wenn die Leute nichts taugten, schicke man sie doch immer nach Afrika
oder nach Amerika.

Da würden sie zu brauchbaren Menschen gemacht!

Das sei immer so, und sie hoffe, so würde es auch Alfred ergehn. --

Ein eisiges Gefühl des Schreckens überrieselte Monika.

Sie sah ein böses Ende voraus. Alfred mit seinem ausgesprochenen
Hang zur Herrschsucht und zur Brutalität in jenem Lande, in dem dem
Einzelnen so sehr viel Macht gegeben war, wo nicht wie hier seinen
Instinkten Zaum und Zügel angelegt waren. Wo er eine Macht bedeutete
und unter Umständen Herr war über Menschenleben.

Ein böses Ende...

Und sie konnte nichts tun; mußte tatenlos zusehen, wie er seinem
Verderben entgegenging.

Sie hatte Alfred nie ganz durchschaut. Die verschiedensten
Charaktereigenschaften lagen bei ihm nebeneinander.

Er konnte banal sein bis zum Stumpfsinn und geistreich wie selten
einer. Er war sehr mißgünstig, sehr händelsüchtig; trotzdem bei vielen
beliebt wegen der unvergleichlich witzigen Art, die er oft hatte.

Er malte talentvoll, hatte einen auffallend schönen Bariton -- aber
alle seine Gaben nutzte er nicht aus, von einem sonderbaren Mißtrauen
gegen sich selbst erfüllt.

Stückwerk war er, wie die Birkenschen Kinder alle, wie sie selber auch!

Und Georg tauchte vor ihren Augen auf; der ging nie einen Schritt vom
Wege, der ging den schnurgeraden Pfad der Korrektheit, der Sitte, der
Pflicht!

Ein trotziges Aufbäumen faßte sie: nein! Die Birkenschen Kinder gingen
keinen vorgezeichneten Pfad. Die gingen durch Gestrüpp und auf Irrwege,
die nahmen sich, was sie begehrten, und wenn es um den Hals ging. Und
wenn man zugrunde ging!

Erschreckend deutlich sah sie vor sich das wunderschöne und ein wenig
traurige Jünglingsantlitz des toten Bruders.

Und sie sah Alfreds Zukunft unter Afrikas sengender Sonne, die sein
wildes Gehirn immer mehr aufreizte, immer mehr... Und sie sah Heinrich,
dessen Energie immer schlaffer wurde in der regenbogenfarbenen
Dämmerung der Mystik und der Dichtkunst.

Und sie sah sich selbst, losgelöst von Haus und Herd, voll von
strotzender Jugendkraft, voll von heißen Phantasien.

Wie ein böses und trauriges Lied, wie eine unendlich schmerzvolle
Melodie klang es ihr im Ohr: „zugrunde gehn?“

[Illustration]



14.


„Wenn Sie Ihre Freiheit dazu erobert haben, um Tage über auf dem Balkon
zu sitzen und nachts den Schlaf des Gerechten zu schlafen, dann.. dann
brauchten Sie eigentlich diese Freiheit verflucht wenig!“ sagte Edith
eines Tages.

Das traf Monika. Edith hatte recht. Was tat sie mit der heißbegehrten
Freiheit? Und mit plötzlichem Entschluß sagte sie:

„Ja, Sie haben recht, Edith. Es ist lächerlich, daß ich mich so
abschließe.“

Nicht mehr wie bisher ging sie gleich nach den Mahlzeiten nach oben,
sondern blieb mit Edith in der Halle. In dem großen, prunkvollen
Raume mit seinen riesigen Spiegeln, den hohen Marmorvasen, in dem
exotische Pflanzen blühten, war besonders zur Zeit des Fünf-Uhr-Tees
ein buntscheckiges Publikum versammelt. Hier wiegte sich auf dem
Rocking-Chair eine goldblonde junge Amerikanerin, den Strohhalm
ihres Ice-Drink zwischen den purpurn geschminkten Lippen; ihre
weitvorgestreckten Füße ließen ihre violetten Seidenstrümpfe und
breithackige Lackschuhe sehen, auf deren Spangen Brillant-Agraffen
blitzten. Und über diese Agraffen beunruhigte sich eine deutsche
Bürgerfamilie, die, angelockt durch das Plakat: „Täglich von 5 bis 7
Zigeuner-Musik“, sich hierherbegeben. Der Familienvater suchte sich
immer von neuem dadurch Contenance zu geben, daß er sein Pincenez
zurechtschob. Das alles hier herum war ihm sehr ungemütlich. Diese
babylonische Pracht in der Runde sowohl wie die Blicke, mit denen seine
gestrenge Gattin kontrollierte, ob er den extravaganten Damen hier
Aufmerksamkeit schenke.

An einem der nächsten Tische saß ein altes, englisches Ehepaar,
das so häßlich war, daß man nicht verstehen konnte, wie es zu der
wunderschönen Tochter kam, die es spazieren führte.

Ein paar Südamerikaner mit stechenden schwarzen Augen in olivbraunen
Gesichtern, Mister Raspkeeper, der Petroleumkönig, dessen mageres
Gesicht über dem entfleischten Halse etwas Geierhaftes hatte, die
schöne Niniche, eine weltbekannte Tänzerin, die von echten und
falschen Reizen strotzte, Herr von Aro, ein angekränkelter deutscher
Rittmeister, Graf Lork, ein eleganter Russe, von dessen Reichtum man
Fabelhaftes erzählte, und das alles trank Tee und Cocktails, aß Petits
Fours und Sandwiches. Durch die riesigen Spiegelscheiben glänzte das
tiefe und kostbare Grün des Sees, grüßte des Bürgenstocks wildzackiger
Umriß.

Und die Zigeuner in ihren roten Jacken spielten auf stöhnenden Geigen
von der Liebe...

~Quand l’amour se meurt~...

Da schlug Monikas Herz so qualvoll... Ihre Liebe zu Georg war ja tot.

Sie nahm sich zusammen, hörte nicht mehr auf den schmachtenden,
traurigen Walzer, der davon erzählte, wie die Liebe stirbt..

Ins Leben hinein, -- ins Leben! --

Sobald Monika aus ihrer Reserve herausgetreten, hatte sie bald
Freundschaften und Bekanntschaften die Menge. Natürlich waren es
besonders Herren, die es sich angelegen sein ließen, ihr Gesellschaft
zu leisten.

Des Morgens beim Rudern, nachmittags beim Tennis und beim Tee, abends
nach dem Diner, wo ein großer Teil der Hotelgäste wieder in der Halle
versammelt war, um neuen musikalischen Darbietungen zu lauschen --
immer war sie von einer Anzahl Verehrer umgeben.

Uebrigens benahm sie sich ihnen gegenüber durchaus reserviert.
Sie hatte nichts mehr von der herausfordernden Koketterie ihrer
Mädchenjahre. Die Zurückhaltung war ihr mehr in Fleisch und Blut
übergegangen, als sie selbst es geahnt. Wetterhelmsche Schule!

Edith dagegen war entgegenkommender. Sehr erfreut darüber, daß sie nun
durch Monika Anschluß an elegante Kreise gefunden, zeigte sie sich von
einer Lebhaftigkeit, die ihre äußere Erscheinung nicht erwarten ließ.

Man unternahm jetzt immer sehr viel an diesen endlos langen
Sommertagen, die ganz in Sonnengold getaucht waren. Morgens fuhr
man meistens mit dem Motorboot des Grafen Lork. Mit spielerischer
Sicherheit glitt das Boot über die grüne Wasserfläche, vorbei an
starren Felswänden, die senkrecht ins Wasser abfielen.

Der See hatte tiefe Einschnitte in die Felsmasse gewühlt, und
triumphierend spielten seine Wellchen in den Buchten.

Man machte in irgendeinem von den Orten am See Station, um dort zu
frühstücken, im Schloß Hartenstein, in Gersau oder Vitznau. Man saß da
auf einer glasgedeckten Veranda oder auch im Garten.

Der Sommer goß einen heißen Strom von Leben über die Welt, über Büsche
und Sträucher, über Blumen und Früchte.

Die Zahl der Teilnehmer an diesen Fahrten war eine verschiedene, aber
fünf waren immer dabei: Monika und Edith, Graf Harry Lork, der Besitzer
des Motorboots, der Leutnant von Berningen und der Gutsbesitzer von
Milorski, ein Pole, der diese Fahrten zu den Lichtpunkten seines Lebens
zählte.

Das konnte übrigens niemand wundernehmen, denn der hübsche
dreißigjährige Milorski besaß eine Gattin, die an Häßlichkeit und
Unliebenswürdigkeit das erlaubte Maß überschritt.

Und als ob das nicht genug des Unglücks gewesen wäre, hatte der Himmel
ihm dazu noch eine mitreisende Schwiegermutter verliehen, die ihn
schaudernd ahnen ließ, wie seine Gattin in zwanzig Jahren sein würde.

Wenn jemand die Bekanntschaft von Frau von Milorski machte, so fühlte
der Gatte sich verpflichtet, die neue Bekanntschaft so bald wie möglich
beiseite zu nehmen und ihr zuzuflüstern:

„Wissen Sie, ich habe meine Frau nämlich wegen ihres Geistes
geheiratet!“

Uebrigens besaß Frau von Milorski in der Tat Intelligenz und bildete in
dieser Eigenschaft einen starken Gegensatz zu ihrem Gatten.

Ein leichtes Leben hatte er übrigens nicht, denn seine Frau war
eifersüchtig, bewachte, unterstützt von ihrer Mutter, jeden seiner
Schritte, und nur die frühen Morgenstunden brachten ihm Befreiung,
lösten ihn von jeder Fessel. Seine Damen waren ausgesprochene
Langschläferinnen, schliefen bis in den hellen Mittag hinein, „weil das
für den Teint gut“ sei.

Und diese Morgenstunden in der letzten Zeit waren dazu angetan,
Milorski den traurigen Rest des Tages vergessen zu lassen.

Wie bildschön und reizend elegant sah Monika aus! Wie amüsant und
witzig wußte Edith zu scherzen!

Und dieser brave, liebe Kerl, der Berningen von den Kronprinz-Ulanen --
und dieser famose Graf Lork. Und überhaupt alles so nett und friedlich!

Herr von Milorski fühlte sich wie im Himmel, seine etwas
hervorstehenden Augen in seinem frischen Gesicht mit der slawischen
Stumpfnase blickten wie verklärt.

Auch Graf Lork war immer in bester Stimmung. Nicht gerade, daß er eine
übersprudelnde Laune zur Schau getragen, das war nicht seine Art. Er
war immer sehr still.

Es gab Leute, die ihn für dumm, andere, die ihn für einen großen
Geist hielten. Er war nicht leicht zu durchschauen, verbarg etwaige
Gefühle und Gedanken hinter einem Lächeln, das einen Anflug von
Zynismus hatte. Aeußerlich war er eine Erscheinung von ungewöhnlicher
Eleganz: sehr groß und sehr schlank. Das Gesicht zeigte etwas seltsam
Widerspruchsvolles: die Augen hatten einen verträumten Ausdruck und der
Mund einen Zug von Brutalität.

Er sprach wenig, und was er sagte, war fast immer freundlich und banal.
Mitunter aber überraschte er durch eine Bemerkung von beißender Schärfe.

Edith bemühte sich, in seiner Gegenwart immer ganz besonders geistreich
und liebenswürdig zu sein, und sie hatte die Genugtuung, daß er über
ihre scharfen Scherze herzlich lachte.

„Wie finden Sie eigentlich den Grafen Lork?“ wurde Monika eines Abends
von Edith gefragt.

Sonst pflegte Edith, wenn man des Abends nach oben kam, gleich in ihr
Zimmer zu gehen. Es herrschte durchaus kein besonders herzliches oder
vertrautes Verhältnis zwischen den beiden. Aber heute blieb Edith in
Monikas Zimmer, und diese verabschiedete sie nicht.

Es war besser so, als allein bleiben in der blauen Sommernacht.

„Wie ich Lork finde? Ganz nett,“ sagte sie gleichgültig. Dann fügte sie
hinzu: „Entschieden sehr liebenswürdig zu uns.“

„Ich finde ihn entzückend,“ sagte Edith mit schwerer Stimme.

„Wirklich?“

„Er ist der überlegenste Mensch, den ich jemals sah.“

„Das ist mir nie aufgefallen.“

„Er ist so sicher! Vielleicht ist es sein Reichtum, der ihn so sicher
macht. Er ist ja unsinnig reich.“

„Das ist wahrscheinlich Hotelklatsch, Edith; die Lorks haben sonst
nicht viel.“

„Ja, aber seine verstorbene Mutter war doch eine geborene Arankow, die
die Kupferminen im Ural haben und die Ziegeleien in Tiflis.“

„Wie genau Sie orientiert sind.“

„Mich interessiert Reichtum so sehr. Er ist die mächtigste Macht, die
schönste Schönheit der Welt.“

„Unsinn.“

„Nein, Monika, kein Unsinn! Geld haben, das ist die Quintessenz von
allem. Der Schlüssel, der alle Türen öffnet, das einzig sichere
Piedestal in Sand und Sumpf. Ach, reich sein! Und genießen, wie alle
sich davor beugen!“

„Es beugen sich nicht alle vor dem Reichtum.“

„O, es kommt auf die Höhe der Summe an.“

„Sonderbare Ansichten.“

„Ach, Monika, Sie können das nicht so empfinden. Ich weiß genug von
Ihnen, um zu wissen: wirklich arm sind Sie nie gewesen: Aber +ich+
weiß, was es heißt: des Lebens Not! Vater als pensionierter Hauptmann
mit fünf Kindern... Na, reden wir nicht davon. Glauben Sie mir, es gibt
nichts Schlimmeres, als die täglichen nagenden, kleinen Sorgen. Die
haben mir meine Kinderzeit vergiftet -- und meine Jugendzeit.“

Es war jetzt ganz dunkel geworden in dem kleinen Zimmer. Der See lag
da wie in schwarzen Sammet gehüllt. Und durch das Dunkel sprach die
Mädchenstimme:

„Die Armut hat meine Kinderjahre vergiftet und meine Jugendzeit. Als
Kind habe ich Kindermädchen bei meinen Geschwistern spielen müssen,
und später, als ich kaum erwachsen war, habe ich fremder Leute Kinder
unterrichten müssen. In einer Zeit, in der sonst die jungen Mädchen
an Glück denken, hab’ ich an Brotverdienen gedacht. Ich lebte so hin,
stumpf -- ohne Schmerz -- -- und ohne Freude auch. Auch ohne die
Hoffnung auf ein Besserwerden. Da kam einer -- --“

„Und er liebte Sie?“

„O nein, Monika, er liebte mich nicht. Nur ich ihn -- --“ Sie brach
kurz ab.

Ein paar schwere zitternde Atemzüge.

Und dann, nach einer Weile fuhr die harte Stimme fort:

„Nein, er liebte mich nie. Er war immer ganz unpersönlich zu
mir. Er betrachtete mich wie eine mathematische Formel, die er
auflösen müsse. Er analysierte mich, meine körperlichen und meine
seelischen Eigenschaften, und eines schönen Tages sagte er mir:
„Wissen Sie, Edith, Sie sind eigentlich viel zu schade, um hier als
Töchterschullehrerin zu versauern. Sie haben das Zeug dazu, im Leben
etwas zu erreichen. Gehen Sie hinaus ins Leben.“ -- --

Und ich ging! Uebrigens erst, nachdem ich eingesehen hatte, daß er
weiter absolut nichts für mich übrig hatte als diesen guten Rat.“

„Nach Zürich gingen Sie?“

„Ja -- und nachdem man mich, als Mädchen aus guter Familie,
jahrzehntelang mit Redensarten über die menschliche Würde gefüttert,
mit besonderer Berücksichtigung der weiblichen Würde, des Wertes
einer streng sittlichen Lebensauffassung und so weiter... griff
ich zum Studium der Medizin. Die klärt uns am besten auf über die
Gottähnlichkeit der Menschen.“

Ein häßliches Lachen kam aus ihrem Munde.

„Und sind Sie seit dieser Aufklärung glücklicher?“

„Nein, durchaus nicht. Mein Glück würde auf ganz anderem Gebiete
liegen.“

„Auf dem der Liebe?“

„Kaum. Reich möchte ich sein, mir alles Schöne kaufen -- so viel
Schönes, erdrückend viel, um nicht mehr an all das Häßliche zu denken,
das ich in meinem Leben gesehen habe. Um mir die Seele frei zu machen
von all dem nüchternen Alltag, der zeitlebens auf ihr gelastet!... Und
genießen, ach, Macht genießen... wie das sein muß für jemand, der sein
ganzes Leben lang immer kuschen mußte: Macht genießen!“

Ein heißes Beben kam in die harte Stimme.

„Und zu denken, Monika, daß ich all das erreichen könnte. Daß mich
dieser Lork nur zur Frau zu begehren braucht und -- --“

„Ah so.“

„Monika, das bringen doch so viele andere fertig: eine gute Partie zu
machen! Mädchen, die häßlicher sind als ich, dümmer, ungebildeter,
schlechter ... Herrgott, es gibt doch Tingeltangelmädchen, die
Erzherzöge heiraten! Mädchen, die eine kolossale gesellschaftliche
Kluft überspringen... Das gibt es doch nicht bloß in Märchen: daß
Bettlerinnen später von goldenen Tellern aßen! Und hier ist nicht
einmal ein sozialer Unterschied vorhanden. Wir Gräberts sind Uradel,
gegen meinen Ruf ist nichts einzuwenden. Daß ich nicht dumm bin, weiß
ich, und äußerlich -- ich bin doch nicht reizlos? Nicht? Sagen Sie mir
offen Ihre Meinung, Monika, ich bin doch nicht reizlos?“

Es war ein heißes Flehen in diesen Worten. Das Dunkel verbarg die
Schamröte, die in Ediths Wangen emporstieg bei diesem Betteln um ein
anerkennendes Wort.

„Sie haben sicher eine Menge Vorzüge.“

„Monika, zu denken, daß es nur eines Wortes von Lork bedarf... und aus
dem elenden Grau meiner Existenz wird ein Märchentraum.“

„Wenn Sie einen anderen lieben...“

„Ich liebe den nicht mehr. Ich habe eine gute Dosis Verstand, wissen
Sie, und eine recht reichlich bemessene preußische Nüchternheit. Eine
einseitige Liebe ist auf die Dauer nichts für mich! Es gibt ein altes
Sprichwort: „Einer freut sich nie allein, es müssen immer zweie sein.“
Das klingt dumm, aber wahr ist es doch. Meine erste Liebe macht mir
wirklich keine Kopfschmerzen mehr.“

„Und Sie lieben jetzt den Grafen Lork?“

„Lieben ist vielleicht ein etwas starker Ausdruck. Er gefällt mir
unendlich! Und wenn er mich heiratete, würde ich bemüht sein, ihm eine
gute Frau zu werden... Ach, Monika, helfen Sie mir!“

„Wie kann ich das?“

„Helfen Sie mir! Beeinflussen Sie ihn! Männer sind doch so leicht
zu beeinflussen. Reden Sie ihm doch von mir, machen Sie mich ihm
interessant, bitte...“

Zwei fieberheiße Hände griffen nach Monikas Händen und preßten sie in
krampfhaftem Druck.

„Helfen Sie mir! Versuchen Sie, mir zu helfen!“

Eine fanatische Inbrunst glühte aus diesen Worten. Die zitternde
Hoffnung eines Menschen, der sich seinem Glücke -- vielleicht -- nahe
sieht.

Und in heißem Mitgefühl sagte Monika: „Was in meiner Macht steht, Ihnen
zu helfen, will ich gern tun.“

Dann knipste sie das elektrische Licht an und sah in der plötzlichen
Helligkeit ein anderes Gesicht als das, das Edith immer zur Schau trug.
Das liebenswürdige Lächeln war fort. Und die Herbheit auch.

Ein aufgewühltes, leidenschaftliches Antlitz starrte ihr entgegen,
heiße Augen und verlangende Lippen. Die Pupillen der hellgrauen
Augen waren fieberhaft erweitert, in der Gier nach Geld und Glück...
Blitzschnell senkten sich über diese Augen die blondbewimperten,
breiten Lider, deren Haut schon ein wenig zerknittert war. Und die
Lider blieben gesenkt, als wollten sie die Glut nicht sehen lassen, die
in den hellen, kalten Augen so heiß emporgelodert war....

[Illustration]

Schon an einem der nächsten Abende hatte Monika Gelegenheit, sich mit
der ihr anvertrauten Mission zu beschäftigen. Das Hotel gab seinen
Gästen einen Ball. Auf schön lithographierten Einladungskarten empfing
jeder ein auf den Namen ausgestelltes Billet.

In den drei riesigen Sälen entfaltete sich ein kaleidoskopartiges
buntes Bild.

Monika hatte zuerst gezögert, ob sie an dieser Tanzfestlichkeit
teilnehmen solle. Sie war in keiner frohen Laune. Aber Edith war es
nicht schwer geworden, sie dann doch zur Teilnahme zu bewegen; sie sah
ja vollkommen ein, daß es lächerlich war und unmotiviert, an keiner
Festfreude teilnehmen zu wollen.

Ja, sie würde hingehen -- natürlich -- und sich sehr gut amüsieren,
und außerdem bei Lork für Edith „Reklame machen“, wie diese selbst mit
bitterer Selbstironie sagte.

Als die beiden herunterkamen, war schon eine Menge von Gästen
versammelt. Eine Anzahl sehr gut angezogener Amerikanerinnen wiegte
sich mit ihren glattrasierten Landsleuten im Twostep. Eine Pariser
Schauspielerin, mit einer gesucht kindlichen Frisur, erregte Aufsehen
durch ihre montmartrehafte Art des Tanzens.

Der Rittmeister von Aro vergaß sein Lungenleiden und schwenkte die
Damen unermüdlich und begeistert.

Herr von Milorski litt Tantalusqualen: er saß auf einem Stuhle,
umzingelt von Frau und Schwiegermutter, die letztere in blauem
Samt, die erstere in roter Seide. Die kleine, sehr dicke Frau von
Milorski, die gut sechs Jahre älter war als ihr Mann, hatte in ihrem
Gesichtsausdruck durchaus nichts von der Gutmütigkeit, nach der dicke
Leute so häufig aussehen. Ihre winzigen Augen blinzelten bösartig in
die tanzende Schar vor ihr, mit entschiedener Mißbilligung blickte sie
auf die eleganten Erscheinungen, denen ihr Gatte sehnsuchtsvoll und
träumerisch nachstarrte.

Herr von Berningen, der Kronprinz-Ulan, widmete sich zwei holländischen
Damen, die Mutter und Tochter waren. Wie einst ein deutscher
Dichter, wußte er nicht genau, welche von beiden er zur Dame seines
Herzens erwählen solle. Gegen die Heinesche Epoche war das Bild aber
entschieden verändert: den erfahreneren Eindruck von beiden machte die
Tochter. Ihre Art, sich zu bewegen und zu benehmen, zeigte entschieden
eine größere Sicherheit.

Wenn sie mit ihrem energischen Schritt, in ihrem saphirblauen,
goldgestickten Kleide, einen Blaufuchs über der linken Schulter, quer
durch den Saal schritt und einen Tisch in Beschlag nahm, so machte sie
entschieden den Eindruck, die Chaperonne ihrer Mutter zu sein, die ihr
bescheiden folgte, und deren Schönheit das Gepräge stiller Lieblichkeit
trug.

Wie gesagt, -- Berningen schwankte.

Die Mutter hatte so schöne kastanienbraune Haare.

Aber die Tochter war so pikant goldblond entfärbt. Die Tochter sprach
Argot, rauchte Zigaretten, trank Cocktails, nahm Stellungen ein, die
von bewußter Koketterie sprachen. Das alles gefiel aber Berningen
weniger als die vornehm-liebenswürdige Art der Mutter.

Jedoch die Tochter war achtzehn und die Mutter siebenunddreißig. Und
doch war die Mutter schöner....

Verzweifelt beschloß Berningen, sich nicht länger den Kopf zu
zerbrechen, sondern beiden die Cour zu machen.

Graf Lork stand gelangweilt an einer Säule; sein Gesicht hellte sich
auf, als Monika und Edith eintraten.

Edith sah entschieden in Balltoilette unvergleichlich besser aus
als sonst, wenn auch ihr Kleid weder kostbar noch modern war. Die
pfauenblaue Seide hob ihre durchsichtig helle Haut, ließ das Blond
ihrer Haare wärmer erscheinen als sonst. Die gespannte Erwartung, in
der sie sich befand, gab ihrem Gesichte ungewohnt lebhafte Farben.

Monika war es nicht schwer gemacht, ihrem Gespräch mit Lork die Wendung
zu geben, die sie beabsichtigte.

„Wie hübsch Fräulein von Gräbert heute aussieht,“ sagte sie, als sie
mit Lork auf der Galerie stand, die sich in halber Höhe des Saales an
den Wänden entlang zog.

Man hatte von hier aus ein wundervolles Bild auf das Gewühl des
Ballsaales. Unter dem blendenden Lichte des elektrischen Kronleuchters
waren die Farben da unten wie ein tausendfarbiger Blumenstrauß:
Lindenblütengrün und erikafarben, perlgrau und rosa, violett und
altgold -- das Schillern der Seide, die stumpfe Weichheit des
Chiffon -- die tiefen Töne des Sammet und das grelle Blitzen der
Metallstickereien und der Paillettengarnierungen.

Dazwischen das Weiß und Schwarz der Herrenkleidung; diese brutal
einfachen Farben bildeten einen guten Hintergrund für die tausend
schillernden Nuancen der Damenkleider.

Und wie dem bunten Blumenstrauß Tautropfen, auf denen die Sonne
funkelt, die letzte Vollendung geben, so funkelte hier das
unvergleichliche Feuer der Edelsteine.

Das Licht brach sich weißsprühend in den Brillanten, blutfarben
brannten die Rubinen, Smaragden gleißten, der lockende, matte Schimmer
der Perlen und das regenbogenfarbig gebrochene Licht der Opale.

Monika sah nur zerstreut hinunter. Ihr lag ihr Auftrag am Herzen. Die
abgrundtiefe Bitterkeit, die sie gestern in Ediths Seele gesehen, hatte
sie erschüttert. Wenn sie dazu beitragen konnte, dem armen Mädchen zu
seinem Glück zu verhelfen, so würde ihr das eine Herzensfreude sein.

Und sie wiederholte ihre erste Bemerkung.

„Ja, Fräulein von Gräbert sieht heute überraschend gut aus,“ sagte Lork.

„Warum überraschend? Sie ist doch immer reizvoll.“

Er äußerte ein unbestimmtes „Hm“, das ebenso gut ja wie nein heißen
konnte.

Aber Monika ließ nicht locker.

„Ich bin überhaupt froh, daß ich mich mit Fräulein von Gräbert für
die Reise zusammengefunden habe. Sie ist so amüsant, sie verbindet
schärfste Logik mit Sinn für Humor.“

„Sind Sie schon lange miteinander befreundet?“

„Nein, erst seit kurzer Zeit. Ich hatte zuerst die Absicht, allein nach
Luzern zu gehen.“

„Sie sind gar nicht dazu geschaffen, allein zu sein,“ sagte er und
wendete sich plötzlich voll zu ihr herum. Bisher hatten sie beide
nebeneinander an der Balustrade gelehnt.

Mit einem heißen Aufleuchten seiner Augen blickte er ihr ins Gesicht,
in das reizende Gesicht mit den rosigen Farben. Ihre Schultern
leuchteten blendend aus der rosa Seide ihres Kleides.

„Warum sagen Sie das?“ fragte sie leise.

„Weil ich das meine und weil ich mitunter sage, was ich meine.“

„Nicht immer?“

„O nein, durchaus nicht.“

Da wurde sie lebhaft, wie immer, wenn etwas Ungewöhnliches ihre
Aufmerksamkeit fesselte. Und es wurde ein lebhaftes Hin und Her von
Meinungen und Gedanken, von Bemerkungen, die oft paradox, immer aber
geistreich waren.

Monika plauderte sich ganz heiß; zum ersten Male seit langer Zeit
interessierte sie ein Gespräch.

Sie hatte nie geglaubt, daß dieser Graf Lork, den sie bisher für einen
recht oberflächlichen Lebemann gehalten, so originelle Anschauungen
haben würde.

Und sein Erstaunen war nicht kleiner. Er hatte geglaubt, Frau von
Wetterhelm sei eine sehr hübsche Modepuppe, deren Horizont über
Toilettenfragen kaum hinausging.

War doch Monika in der ganzen Zeit so sehr zurückhaltend gewesen, hatte
so gar nichts von der sprühenden Art verraten, die sonst in ihrer Natur
lag.

Ja, das Erstaunen war ein gegenseitiges. Als man sich spät in der Nacht
trennte, erwartete Lork mit förmlicher Ungeduld den nächsten Tag und
die morgendliche Bootfahrt.

Als an dem Ballabend Edith Monika vor dem Schlafengehen sehr gespannt
fragte: „Nun, -- -- was sagte er?“, wußte sie einen Augenblick gar
nicht, worum es sich handelte. Doch gleich darauf war sie im Bilde. Sie
sagte:

„Edith, ich will ganz offen sein. Also: ich habe nicht gemerkt, daß er
ein besonderes Interesse für Sie hätte.“

„Das weiß ich allein,“ klang es hart zurück, „ich will es ja auch erst
in ihm erwecken.“

„Vielleicht war ich nicht sehr geschickt im Erfüllen meiner Aufgabe,“
sagte Monika. „Wir haben schließlich von ganz anderen Sachen
gesprochen.“

„Aber das ist doch selbstverständlich,“ rief Edith lebhaft dazwischen.
„Allzu auffallend darf das doch nicht gemacht werden! Jetzt tun Sie
mir bloß die Liebe, Monika, und werfen Sie nicht sofort die Flinte ins
Korn! Das wäre doch nicht gerade eine große Freundschaft, wenn Sie
schon genug davon hätten! Daß Sie nicht auf Anhieb einen großen Erfolg
erzielen würden, mit der Reklame für mich -- das war mir von vornherein
klar. Aber nicht nachlassen -- -- bitte, bitte, Monika! Helfen Sie mir!
Nicht wahr, Sie werden versuchen, mir weiter zu helfen?“

So kam es denn, daß in der nächsten Zeit Monika viel mit Lork zusammen
war. Sie gab ihm gegenüber die strenge Zurückhaltung auf, die sie alle
die Zeit hindurch gehabt.

Es kam jetzt oft vor, daß sie sich mit ihm von den anderen absonderte.
Es geschah ja im Interesse einer anderen. Und der Verlauf des Gesprächs
war immer derselbe: sie begann damit, ihm irgendwelche Vorzüge von
Edith zu rühmen, und dann ging die Unterhaltung andere Bahnen, berührte
tausend Gebiete und enthüllte Monika jedesmal von neuem, welch weiten
Horizont der Graf hatte. Der hing nicht an Vorurteilen, der war kein
Prinzipienreiter wie Georg von Wetterhelm.

Langsam ging Monika immer mehr aus sich heraus, erschloß immer mehr von
ihrem Gefühlsleben, in der unwillkürlichen Empfindung einer starken,
seelischen Verwandtschaft mit dem Grafen.

Gleich ihr hatte er eine Abneigung gegen viele Forderungen der
Konvention.

Gleich ihr empfand er eine tiefe Liebe für die schönen Künste.

Wohl bestand insofern ein Unterschied, als es ihm hauptsächlich die
Musik angetan hatte, während sie in Gedichten ihre stärksten Anregungen
fand. Aber dieser Unterschied war ja nicht fundamental, waren es doch
Rhythmen, die sie beide beglückten.

Uebrigens begann ihr häufiges Zusammensein aufzufallen. Bei einem
Ausflug nach Rigi-Kaltbad, den man in größerer Gesellschaft
unternahm, brüskierte Lork die anwesenden Damen dadurch, daß er sich
ausschließlich mit Monika beschäftigte. Schon bei der Dampferfahrt von
Luzern nach Vitznau war das aufgefallen. Als man dann in Vitznau die
Rigibahn bestieg, richtete Lork es so ein, daß er mit Monika im zweiten
Wagen der elektrischen Bahn saß, während alle übrigen Teilnehmer des
Ausflugs im ersten Wagen Platz genommen hatten.

Die Bahn stieg ihren steilen Weg empor, bot wundervolle Ausblicke auf
den See, der in der Tiefe funkelte wie ein Juwel.

Vorbei ging es an Reihen mächtiger Laubbäume, bis weiter oben die
dunkeln Tannenwaldungen anfingen und spröde Bergkräuter den Boden
überwucherten.

Ein auffallender Temperaturunterschied machte sich bemerkbar. Für
sie alle, die unten auf dem See den goldenen Geschossen der Sonne
ausgesetzt gewesen, bedeutete es ein Aufatmen: die Luft voll kühler
Frische, voll herber Reinheit. Leichte Wolken lagen in dieser Höhe,
hingen wie ein dünner, weißer Schleier über den dunkeln Tannen.

Auf Station Kaltbad verließ die Gesellschaft die Wagen, schritt,
während die Bahn weiter der Höhe zustrebte, zum Hotel, in dem das
Frühstück bestellt war.

Es herrschte bei diesem Frühstück keine einheitliche Stimmung. Es
hatten sich zu viele Einzelgruppen gebildet, die sich ihren eigenen
Interessen hingaben, sich um das Allgemeinwohl nicht kümmerten.

Der Leutnant von Berningen widmete sich ausschließlich seinen beiden
schönen Holländerinnen, schenkte der Mutter Tee und der Tochter Whisky
ein.

Herr und Frau von Rassow, ein hochzeitsreisendes Paar, erfüllten
getreulich ihre Verpflichtung als Jungvermählte: nur für einander zu
existieren.

Herr von Milorski, dem es, weil man so zeitig am Morgen aufgebrochen,
möglich gewesen, seinen beiden Hüterinnen zu entfliehen, machte Edith
die Cour, -- diese war übrigens damit sehr wenig einverstanden, sie
betrachtete mißbilligend Milorskis frisches Gesicht, -- wie ein
riesiges, wohlgenährtes Baby sah er aus. -- Seine Wangen glänzten vor
Hitze und vor Freudigkeit.

Nein, das war nichts für Edith! -- Sie warf einen bösen Blick auf
Lork und Monika, die auch eine Gruppe für sich bildeten und lediglich
miteinander beschäftigt schienen.

Nach dem Frühstück ging man in den Park des Hotels, der schön
wie ein Märchengarten war mit dem unvergleichlichen Grün seiner
Rasenflächen und seinen Gruppen prachtvoller Nadelbäume, über denen das
Silbergespinnst des zarten Nebels hing.

Dieser Nebel trennte Monika und Lork bald von der übrigen Gesellschaft.
Sie beide waren ganz allein in dieser grünen, silberumsponnenen
Einsamkeit.

„Was für ein Entzücken, hier zu atmen,“ sagte Monika, „so recht aus
tiefster Brust zu atmen --“

„Wie ein Rausch ist es.“

„Ja, wie ein unendlich zarter Rausch -- --“

„Höhenluft!“ sagte Lork.

Und dieses Wort ließ mit einem Schlage in Monikas Gedanken die Gestalt
ihres Mannes auftauchen.

Sie wußte selber nicht warum. Aber sie empfand einen Zusammenhang
zwischen der herben, starken Höhenluft und Georgs Wesen.

Und gleich darauf flammte eine Empörung in ihr auf.

Was sollte es, daß sie jetzt an ihn dachte?!

Sie wollte nicht mehr an ihn denken -- -- nie mehr!

Und sie lachte und sprach, und sie war lebhaft, liebenswürdig wie nie
zuvor.

An diesem Tage erzählte sie zum ersten Male Harry Lork von ihren
schriftstellerischen Versuchen.

Er bewies ein glühendes Interesse, schmeichelte ihr das Versprechen ab,
ihm noch heute abend irgendeines ihrer Manuskripte zu geben.

„Aber es sind eigentlich alles nur Notizen,“ sagte Monika verlegen,
„gar nichts Fertiges, nur Betrachtungen. Ich habe sie eigentlich nur
für mich selbst geschrieben.“

„Aber das ist ja unendlich interessanter, als wenn es anders wäre,“
rief er lebhaft. „Ich habe bei allen Kunstwerken mehr Interesse für die
erste Skizze als für das fertige Werk.“

Und am Abend gab ihm Monika wirklich ein paar Seiten, die sie
geschrieben.

Sie hatte mit sich gekämpft, ehe sie es getan. Aber dann sagte sie
sich, daß sie doch nicht allein für sich schreibe, sondern daß sie für
ein Publikum arbeiten wolle; daß es doch gerade ihr Lebensberuf sein
würde, ihre Gedanken der Menge preiszugeben.

Ja, sie hatte gedacht: „der Menge... preiszugeben ...“

Warum empfand sie nicht mehr wie früher, als es ihr höchste Seligkeit
erschienen war, ihre Gefühle anderen zugänglich zu machen, sie mit
teilnehmen zu lassen an Freuden und Schmerzen?

Jetzt war in ihr ein Zurückschauern vor diesem Gedanken.

Waren das wieder Vorurteile, die Georg ihr in die Seele gepflanzt?!

Nun, die wollte sie wohl noch besiegen....

Und trotzig griff sie aufs Geratewohl in den kleinen Stoß von Heften in
ihrem Schreibtisch, nahm eines davon heraus und gab es nach dem Diner
dem Grafen Lork.

Auf den Blättern stand:

„In die Vasen auf meinem Kaminsims habe ich weiße Rosen gestellt.
Halberblüht sind sie. Ihre schweren Kronen sehen aus wie aus Elfenbein
geschnitzt; geschnitzt von einem primitiven Meister, denn ihr Kern
ist noch plump. Die blassen Blätter liegen so fest übereinander,
daß sie eine einzige Masse bilden.... Nur zwei, drei der äußersten
Blütenblätter fangen an, sich von dem festen Kern zu lösen, und
unter ihnen sitzen die zwei Hüllenblätter, weit auseinandergetan,
sonderbar tiefrosig überhaucht.... Wie blutbefleckt sehen diese offenen
Kelchblätter aus.

Inmitten all der Rosen, all dieser weißen, halberblühten, mit den
zwei blutigen Hüllenblättern, prangt die eine, die voll erblüht ist.
Jedes einzige ihrer Blätter hat seine Schönheit vollendet, hauchdünn
und leicht zeichnet es seine Form in zarter Kontur. Und in der
weitgeöffneten Rose glüht der goldhelle Blütenstaub.

Vollendung!...

Warum gibt es so viele, die die halbgeöffnete Rose mehr lieben
als die vollendete? Ist es der uralt ewige Fluch der unseligen
Prometheuskinder, die ihr Glück immer nur in der Zukunft sehen? Denen
die Ahnung einer seligen Zukunft lieber ist als die seligste Gegenwart?

Ach, diese Rosen beschreiben -- wie kann man das? So beschreiben,
daß man sie duften fühlt, daß man die seltsam rosigen Hüllenblätter
sieht... und mit den Nerven der Fingerspitzen fühlt, wie unendlich
weich und kühl diese Blütenblätter sind.

Die Sprachen sind alle unzureichend, zu wenig ausgebildet.

Wie viel tausend Empfindungen haben wir, die wir nicht sagen können,
weil die Sprache keine Worte hat, um die tausendfarbigen Nuancen zu
bezeichnen.

Wir stehen da wie Robinson auf seiner Insel. Unsere Werkzeuge sind zu
einfach, unsere Waffen zu stumpf.

Mitunter kommt es wohl vor, daß man in einem Gedicht ein paar Worte
hört, die einem die Nerven erzittern lassen, daß man schauernd
ahnt, wie schön die Sprache sein +könnte+, wenn man sie pflegte
und veredelte, wie der Gärtner die Rosen pflegen mußte, ehe sie so
kühlweiße Kelche hatten mit zwei blutrosigen Hüllenblättern.

Aber alle Sprachen sind ungepflegt, sind Stückwerk. Keine von ihnen
kann die Nuancen geben.

Schade! Worte sind doch alles.

An Worten hängt unser Schicksal. Wie wenig haben Taten oft zu bedeuten!
Taten gibt es, die nicht mehr zu erkennen sind unter der Last von
tausenden schwirrenden Worten. Taten, die entstellt werden durch
Worte, wie ein schönes Jünglingsantlitz durch Wunden, wie ein holdes
Mädchengesicht von fressendem Aussatz.

Andere wieder werden durch Worte so wundersam verschleiert wie eine
Landschaft durch einen Nebelhauch.

Ach, Worte...

Und zu fühlen: die Worte, die wir kennen, sind zu schwach, sie, die uns
Flügel sein sollten, sind uns nur Krücken!

Wohl könnte ich sagen, was für Rosen in den Vasen auf meinem Kamin
blühen, aber wie soll ich das Glück beschreiben, das ich empfinde beim
Anschauen dieser Pracht, beim Anschauen dieser schwellenden Rosen, die
schönheitsstrotzend ihrem Tode entgegenblühen?“ -- --

Am nächsten Tage, während der Morgen-Bootfahrt, sagte Lork zu Monika:

„Ich kann Ihnen nicht sagen, einen wie tiefen Eindruck Ihre Zeilen mir
gemacht haben. Besonders darum, weil sie Gedanken enthalten, die ich
oft gefühlt und die ich nie in Worte habe bringen können. Zum Beispiel
das, was Sie über die Sprache sagen. Wie oft habe ich das empfunden:
es gibt tausendfache Gefühlsnuancen, für die wir keine Worte haben.
Besonders, wenn es sich um Liebe handelt. Gerade das Erwachen der Liebe
ist mit Worten nicht zu bezeichnen, jenes Stadium, das eigentlich noch
keine Liebe ist, auf das aber die Liebe so unbedingt folgt wie Frühling
auf den Vorfrühling. Jenes Stadium, wo man einer Frau die Hand küßt und
dabei anfängt, an ihre Lippen zu denken.....“

Und Graf Lork beugte sich bei diesen Worten tief über Monikas Hand.

[Illustration]



15.


Von diesem Tage ab gab Monika ihm oft etwas, was sie geschrieben,
Phantasien, Betrachtungen, manchmal ein Gedicht. Und immer aufs neue
war sie erstaunt von dem Verständnis, das er ihr entgegenbrachte. Ein
Verständnis, das bis ins einzelste ging und jede flüchtige Nuance zu
würdigen wußte.

Sie empfand ein lebhaftes Erstaunen darüber. Wenn man Lork kennen
lernte, vermutete man so gar nichts Aehnliches in ihm. Die ganze erste
Zeit ihrer Bekanntschaft war er ihr als weiter nichts erschienen
als ein Mann von guten gesellschaftlichen Formen und von banaler
Liebenswürdigkeit. Und nun dieses feinsinnige Eingehen auf jeden ihrer
Gedanken.

Und die grenzenlose Mühe, die er sich gab, ihr jeden Wunsch von den
Augen abzulesen, ihr jede Laune zu erfüllen, kaum daß sie ausgesprochen
war. -- -- Sie verstand ihn erst dann, als sie ihn einmal Klavier
spielen hörte.

An einem brütend heißen Nachmittag war’s. In der Halle hatte man die
großen Stores heruntergelassen, und diese dünne Scheidewand genügte,
um das rote Brennen des Sommertages in eine opalblasse Dämmerung zu
verwandeln.

In den Korbstühlen und Schaukelstühlen lagen ein paar Hotelgäste in
„aufgelösten“ Stellungen herum.

Eine sehr hübsche Russin war sogar im Peignoir erschienen, in einem
nilgrünen und goldgestickten Peignoir, dessen Farben mit einem tiefen,
metallischen Glanze aufleuchteten in dem sanften Halblicht, das man in
der Halle hergestellt hatte.

Ein Engländer verpflanzte tropische Angewohnheiten hierher, indem er
sich ein nasses Handtuch auf den Kopf gelegt und einen der Liftboys
angestellt hatte, ihm Kühlung zuzufächeln. -- Kein Punkah war’s, den
er bewegte, sondern einer der bunten Papierfächer, die das Hotel als
Reklame-Angebinde den Damen widmete, die dort soupierten.

In der Bar, die an die Halle anstieß und in der ein übernächtigt
aussehender Mixer immer neue ~Ice-drinks~ mischte, saßen Lork, Monika,
Edith, Berningen und Milorski.

Berningen war tief betrübt von seinem Ausflug ins Holländische
zurückgekehrt, seitdem vor zwei Tagen zwei Offiziere der
niederländischen Kolonial-Armee angekommen: der eine, Major, war der
Gatte der schönen Mutter, und der Leutnant der Verlobte der pikanten
Tochter, dessen Existenz sie bisher unterschlagen.

Aber seitdem er da war, hatte sie jedenfalls nur für ihn noch Augen,
und die schöne Mama bezeigte ihrem Manne eine hingebende Liebe, die als
geradezu vorbildlich für eheliches Glück hätte gelten können.

Berningen machte jetzt aus Verzweiflung Edith die Cour, Monika war
seiner Ueberzeugung nach „in festen Händen“; Lork wich ihr ja nicht von
der Seite.

Edith sagte sich, daß die Redensarten Berningens nicht den mindesten
Wert für sie besäßen. Sie wußte, daß er sich mit seiner knappen Zulage
nur mit Mühe bei den Kronprinz-Ulanen zu halten vermochte; er konnte
unbedingt nur ein reiches Mädchen heiraten.

Und doch blieb es nicht ohne Eindruck auf sie, wenn er ihr
Schmeicheleien sagte.

Und wenn sie zehnmal wußte, daß das nur dumme Redensarten waren... sie
hatte zu lange Jahre gedarbt, um jetzt nicht auch Brosamen zu genießen.

Sie versuchte gegen das Wohlgefühl anzukämpfen, das sie durchrieselte,
wenn die hübschen, leichtsinnigen Leutnantslippen ihr Freundliches
zuflüsterten. Sie versuchte ganz bewußt, diesen Flirt dazu auszunutzen,
um Lork eifersüchtig zu machen, aber das schien vergebliche Mühe. --

Herr von Milorski war entzückt von der Hitze und zog sich die
Verwünschungen der anderen zu, als er „hoffte, es würde noch monatelang
so fortgehen“.

Ja, er hoffte es!... Lag doch oben seine furchtbare Ehehälfte, machtlos
hingestreckt im verdunkelten Zimmer, und im Zimmer nebenan, ebenso
machtlos, ebenso unschädlich gemacht die dräuende Schwiegermutter.

So saß man nun in der Bar des Hotels und trank auf Lorks Rat Whisky.

Monika konnte zwar ein gewisses unangenehmes Gefühl nicht loswerden.
Der Whisky schmeckte ihr, sogar sehr -- aber wie Georg das wohl
gefunden haben würde, wenn eine Dame in der Bar saß und Whisky trank?

Ach was, Georg! Schon wieder Georg.... Trotzig bejahte sie, als Lork
sie fragte, ob sie noch ein Glas wolle. Und von neuem rann der seltsam
brennende Trank ihr durch die Kehle.

Das Gespräch kroch dahin wie ein verwundetes Tier; langsam..
schleppend.. plötzlich ein paar krampfhaft schnelle
Vorwärtsbewegungen.. und wieder.. der langsame Trott...

Da sagte Lork in eine Stille hinein, in der man nur die Fliegen summen
gehört: „Ich werde Ihnen etwas Musik machen.“

„Spielen Sie denn?“ rief Edith lebhaft.

Er hatte sich erhoben. Man ging in eines der Gesellschaftszimmer.
Blauseidene Vorhänge dämpften dort das Licht. Durch einen Spalt fiel
eine schräge Sonnenbahn ins Zimmer, Millionen Sonnenstäubchen flirrten
goldig.

Und dieser zuckende Flimmerschein beleuchtete Harry Lorks Züge, als
er spielte. War es diese unruhige Beleuchtung, die sein Gesicht so
verändert erscheinen ließ? Wo war nun die träumerische Weichheit, die
sonst in seinen Augen lag?

Zwei Fackelbrände waren aufgelodert in diesen Augen, zwei harte Linien
zogen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinunter, der
Unterkiefer war vorgeschoben, wie in Gier und Qual...

Und seine Hände, seine sonst so kraftlosen Hände mit den schmalen
Gelenken hatten eine fanatische Energie, seit sie die Tasten berührt.
Melodien stiegen empor.. brennend wie der Sommerwind, der den Blüten
den Samen aus den Kelchen gerissen ... Melodien, die die Zuhörer
aufwühlten, daß die Männer blaß wurden und die Frauen erröteten...

Die Leidenschaft war’s, die aus diesen Tasten schrie.. und eine Frage..
eine sehnsuchtzitternde, qualvoll inbrünstige Frage....

Eine Frage war’s, das fühlten sie alle hier.

Und die, an die diese Frage gerichtet war, verstand plötzlich.
Verstand, daß da neben ihr und für sie die rote Rose Leidenschaft
aufgeblüht war, von deren heißer Schönheit sie ihr Leben lang geträumt.

Ein Wirbel von Empfindungen war in ihr, sie war keines klaren Gedankens
fähig.

In ihrem von der sengenden Hitze und den machtvollen Tonwellen
überreizten Gehirn bebte nur ein Gedanke: die rote Rose Leidenschaft...

Gleich darauf trennte man sich. Die Damen gingen in ihre Zimmer hinauf,
um sich zum Diner umzuziehen.

Und während Monika damit beschäftigt war, die Haken ihres weißen
Chiffonkleides zu schließen, öffnete sich die Tür, die zu Ediths Zimmer
führte.

Ohne angeklopft zu haben, trat Edith herein und sagte mit vor Aufregung
verzerrtem Gesicht:

„Sie scheinen ja Ihre Freundschaftsmission recht hübsch ausgeführt zu
haben.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Daß Sie Lust nach einem zweiten Gatten spüren, ehe Sie den ersten los
sind.“

Eine brennende Zorneswelle überflutete Monika. Sie wollte auf
Edith los, ihr die Faust mitten in das blasse, höhnische Gesicht
hineinschlagen, aber mechanisch gehorchte sie den Worten, die ihr,
wie von Georgs Stimme gesprochen, in den Ohren klangen: „Ruhe,
Selbstbeherrschung...“

Und so sagte sie nur: „Kein Wort weiter.“

„Ja, das könnte Ihnen so passen: kein Wort weiter!“ klang es keifend
zurück, „nachdem Sie mir heilig versprochen haben, Lork für mich
einzunehmen, haben Sie ihn mit Ihrer raffinierten Koketterie für sich
selbst geködert!“

Eine Flut von Verwünschungen, von Vorwürfen stieß sie hervor.

„Woraus schließen Sie denn eigentlich, daß ich Lork erobert habe?“
fragte Monika kalt, als eine Augenblickspause ihr gestattete, ein Wort
einzuschieben.

„Woraus ich das schließe? Das habe ich eben im Gefühl.“

„Sie behaupten doch sonst, daß Gefühle vor dem Verstand keine Geltung
haben.“

Aber Edith war nicht in der Verfassung, sich auf logische Gespräche
einzulassen. Ihr Körper zuckte in stummem Schluchzen; sie preßte die
Faust an den Mund, drückte sich die Zähne tief ins eigene Fleisch.
Aber die hysterische Krise war nicht mehr zurückzudämmen. Ein paar
Augenblicke später wälzte sich Edith auf dem Boden und stammelte unter
stoßweisen Schluchzen und Schreien, wie unglücklich sie wäre.

Monika stand ein paar Schritte davon. Ihr Mitgefühl wurde ausgelöscht
von der Abneigung, die sie gegen diese Unbeherrschtheit empfand. Mit
einer Art dumpfen Erstaunens dachte sie:

„Vor ein paar Jahren, als junges Mädchen, habe ich mich gerade so
angestellt, wenn ich etwas nicht erreichte.“

Unfaßlich erschien ihr das jetzt.

Als Edith endlich wieder drüben in ihrem Zimmer war, war es sehr spät
geworden.

Monika beschloß, gar nicht hinunterzugehen, sondern sich oben servieren
zu lassen.

Das Zimmertelephon schlug an.

Graf Lork fragte an, ob die Damen heute nicht zum Essen kämen.

„Nein,“ erwiderte Monika, „und morgen auch nicht. Ich habe einen
Ausflug vor.“

Am nächsten Morgen verließ sie das Hotel zu einer ungewöhnlich frühen
Stunde.

Sie mietete ein Motorboot für den Tag.

„Irgendwohin,“ erwiderte sie dem Bootsmann auf seine Frage, nach
welchem Orte sie wolle.

Und sie lag, auf dem Rücken ausgestreckt, im Boot, das durch die
durchsichtig grünen Wogen schnitt, an lachenden grünen Ufern vorüber.

Die höhersteigende Sonne sandte Fluten von Licht und Wärme herunter.

Monikas Gedanken waren wie taumelnde Schmetterlinge, die im
fieberhaften Fluge über die Blüten irren...

Sie kam erst spät am Abend ins Hotel und ging gleich in ihr Zimmer
hinauf.

Sie war todmüde und konnte doch nicht schlafen; eine sonderbare
Helligkeit war in ihrem Kopfe...

Wie rote Brände zuckte es vor ihren Augen.

Das war wohl der lange Sommertag, der ihr Blut so überhitzt hatte, all
die Glut, die auf sie niedergebrannt war, alle die Gerüche, die sie
geschlürft: der herbe Hauch vom See, das frische Duften der Laubbäume
und das strenge Aroma der Nadelwälder.

Oder war es die Frage, die sie nicht schlafen ließ, die Frage, die
gestern aus den Tonwellen auf sie eingedrungen?

Am Morgen endlich verfiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem eine
schrill krähende Stimme sie weckte.

„Wer ist denn heute bei Fräulein von Gräbert?“ fragte sie das
Stubenmädchen, das gerade den Tee gebracht.

Die brave Schweizerin machte erstaunte Augen. „Aber das ist ja
Mademoiselle Bussy d’Armagnac de Montnoir, die da singt. Die haben wir
seit gestern abend hier. Fräulein von Gräbert ist gestern doch schon
mit dem Mittagszuge weg.“

Ja, Edith war fort, ohne ein Wort des Abschieds. Monika atmete im
ersten Augenblick wie erleichtert auf, also Szenen wie die gestrige
waren nicht mehr zu befürchten.

Aber als sie sich dann zum Lunch anzog, wollte es doch wie Bangen in
ihr aufsteigen: zum ersten Male ganz allein.

Sie überlegte einen Augenblick, ob sie Frau von Milorski und deren
Mutter bitten solle, sie an ihrem Tische Platz nehmen zu lassen, aber
gleich darauf sagte sie sich, daß es doch ein Unsinn sei, sich zur
Tischgenossin dieser unliebenswürdigen Frauen zu machen, bloß weil es
vielleicht nicht ganz passend war, ohne weibliche Begleitung zu sein.

Und so ging sie denn auf den Tisch zu, an dem wie sonst Berningen und
Lork schon warteten.

Das Gespräch war sehr lebhaft. Monika zwang sich, so munter wie nur
möglich zu sein. Sie plauderte unaufhörlich. Nur kein Stillschweigen
wollte sie aufkommen lassen, das gefährlicher war als alle Worte.

Beim Dessert sprach Lork von dem Jubelfeste, das heute auf dem See
stattfände, der Festtag der Eidgenossenschaften.

„Darf ich Sie bitten, sich das Feuerwerk von meinem Balkon aus
anzusehen?“ fragte er Monika.

Sie starrte ihm erschrocken ins Gesicht.

Er aber fuhr ganz harmlos fort: „Die Milorskischen Damen haben zugesagt
-- --“

„Und ich bin erfreulicherweise auch geladen,“ fügte Berningen hinzu,
„von uns allen hat nämlich nur Lork den Balkon nach der Westseite.“

„Wir gehen gleich nach dem Essen zu mir hinauf,“ sagte Lork.

Monika nickte stumm.

Die Milorskischen Damen sahen sich mit kaum verhehltem Neide um,
als sie die von Lork bewohnten Räume betraten, die Fürstenzimmer
des Hotels. Auf der Terrasse, die sich an einen schönen blauen
Louis-XV.-Salon schloß, versammelte sich die Gesellschaft.

Herr von Milorski bewunderte die Korbmöbel aus gediegenem grauen
Geflecht mit Goldornamentierungen.

„Bequem wie’n Klubsessel,“ sagte er und dehnte sich behaglich in einem
der Sessel, -- „wenn ich denke, wie früher die Korbstühle waren! --
-- Die Welt schreitet doch alle Tage weiter. Es ist fabelhaft ...
Nicht?...“

Er erhielt auf diese Auslassungen keine Antwort. Seine Frau und seine
Schwiegermutter waren in den Salon zurückgekehrt, wo sie die Nippes
besahen. Berningen hatte sich auf das Geländer der Terrasse gesetzt
und kokettierte von da aus in den Hotelgarten zu zwei niedlichen
Amerikanerinnen hinunter.

Monika und Lork standen ganz links, an der Seeseite. Monika sah in
die Ferne, und Lork stand über ihren Stuhl gebeugt, so nahe, daß ein
verschmitztes Lächeln das gutmütige Gesicht Milorskis überflog.

Die Sonne war schon untergegangen, aber noch lag die ganze Schwüle
dieses endlos langen Julitages über Luzern. In dieser durchsichtigen
Dämmerung zogen sich die riesigen Laubmassen der Platanenallee am Kai
hin wie ein schwarzes Band. In den Straßen drängten Menschenscharen,
die in diesem Lichte unbestimmte Formen annahmen. Dunkel drohten die
Felsmassen vom gegenüberliegenden Ufer des Sees.

Wie ein dumpfer Druck lag es über Monika, wie eine atemraubende
Erwartung.

Berningen begann sich inzwischen zu langweilen. Seine neuen Flirts,
denen es im Garten wohl zu tauig geworden sein mochte, waren ins Hotel
zurückgegangen.

„Die braven Schweizer werden ihr Feuerwerk wohl erst um Mitternacht
loslassen. Hier geht ja alles so langsam,“ murrte er. Dann steckte
er sich eine neue Zigarette an und überlegte die Situation. Die
Milorskischen „Drachen“ konnten jeden Augenblick wieder auf die
Terrasse heraustreten; Monika ließ der Lork doch nicht aus den Fingern,
und Milorski schlief schon halb vor einer Flasche Hennessy, -- -- kurz,
es war hier nichts los.

So beschloß er denn, sich zu drücken, ging stolz über die Terrasse. Von
den dreien hier achtete doch keiner auf ihn. Mit unendlicher Vorsicht
schlängelte er sich an den Drachen im Salon vorbei.

Dann schlenderte er zum Hafen.

Die Schweizer waren mit Kind und Kegel von ihren Bergen
heruntergekommen. Vierschrötige Gestalten, rotbäckige Gesichter. Aus
hellen Augen starrten sie bewundernd auf das großstädtische Treiben
und auf alle die internationalen Erscheinungen, die sich hier zwischen
ihnen herumdrängten.

Und diese Menge, die so verschiedenartig war wie die tausendfarbigen
Steinchen eines Kaleidoskops, wurde zusammengehalten durch ein Band:
die Schaugier!

Ein „Ah“ ging über sie alle hin, als das erste geschmückte Schiff
hinausglitt auf den See. Das gleiche „Ah“ kam von all diesen Lippen,
den groben und den feinen, den schmutzigen und den gepflegten, den
welken und den blühenden. -- -- Es gefiel ihm nicht, und reumütig
schlug er den Weg wieder ein zu Lorks weißer Terrasse.

Als er dort ankam, fand er zu seinem Erstaunen die Milorskische Familie
vollzählig im Salon von Lork, damit beschäftigt, Whist zu spielen.

„Na, und das Feuerwerk?“

„Es hat ja noch nicht angefangen, -- und meine Schwiegermutter ist
so gewöhnt, um diese Zeit ihr Spielchen zu machen,“ sagte Milorski
kleinlaut. „Liebes Kerlchen, tun Sie mir den Gefallen und spielen Sie
mit statt des Strohmanns,“ fügte er hinzu.

„Und Lork?“

„Ist auf der Terrasse.“

„Zu zweien -- --,“ sagte Frau von Milorski sarkastisch.

Berningen beschloß innerlich, dann „lieber nicht zu stören“, und setzte
sich resigniert zum Whist nieder.

Auf der Terrasse herrschte tiefes Schweigen.

Die beiden sahen hinaus in die samtschwarze Nacht, und Monika fühlte
mit fast schmerzhafter Deutlichkeit die elektrische Spannung des
Mannes an ihrer Seite.

Die Minuten strichen so langsam dahin -- tropften dahin...

Und Nacht und Schweigen...

Bis plötzlich ein blutroter Schein aufflammte in dieser samtschwarzen
Nacht...

Und wieder einer...

Und hundert plötzlich... Brennende Feuerräder, die in ungeheurem Bogen
über den tiefdunkeln Himmel emporgeschleudert wurden und in einer
wilden Strahlengarbe hinabstürzten in den See. Strahlenkränze von roten
Lichtern auf all den Masten und Rahen der Schiffe, die auf dem Wasser
kreuzten.

Alle diese Schiffe aber blieben im Dunkeln. Man sah nur die Girlanden
von Licht -- wie Tausende roter Leuchtkäfer über dem See.

Und wieder feurige Schlangen, die empor in den Himmel zischten,
Kometen, die eine Flammenbahn über den Horizont zogen, feurige Blumen,
die aus einem überreichen Füllhorn emporgeschleudert wurden -- -- ein
wilder Taumel von Feuer, der von der Erde emporraste in den Himmel
hinein und hinabstürzend im Wasser starb.

Und wieder Nacht und Schweigen. -- -- Nein, Schweigen nicht...

Worte flammten auf, heiß und rot, wie es die Feuerblumen eben gewesen...

„Ich muß Ihnen von meiner Liebe reden, Monika. Ahnen Sie denn, wie sehr
diese Liebe von mir Besitz genommen hat? Ich bete Sie ja an: Ihre süße
Schönheit... Ihren Geist... Ihre Gutherzigkeit ... alles! Mein Denken
bei Nacht und Tag ... mein süßes Glück... meine schöne Pantherkatze, --
sag’ ein einziges Wort... ein einziges, liebes Wort.“

Sie fühlte seinen brennenden Atem über ihre Wange streichen, fühlte,
wie es ihn unwiderstehlich, übermächtig zwang, sie in die Arme zu
nehmen...

Und sich gewaltsam dem heißen Zauber entziehend, trat sie hastig einen
Schritt zurück.

„Still! Sagen Sie mir jetzt nichts weiter.“

„Aber morgen muß ich Sie sprechen, Monika.“

Sie antwortete nicht, trat hastig in den Salon, wo die Vier über ihrem
Spiel das Feuerwerk vergessen hatten.

Sie taumelte ein wenig, als sie ins Zimmer trat, und schloß die Augen
vor der Helle des elektrischen Lichts -- und hatte eben doch mit
offenen Augen in ein viel heißeres, rotes Feuer gesehen.

[Illustration]

Am nächsten Morgen hatte sie mit Lork die von ihm erbetene Aussprache.

Solange sie nebeneinander auf der weißen Landstraße einhergingen,
sprachen sie kein Wort. Dann bogen sie in einen Fußpfad ab, der an
Wiesen und schattigen Laubbäumen vorbei hügelan führte.

Monika setzte sich auf die Bank an irgendeinem Aussichtspunkte und
hielt ihren weißen Spitzensonnenschirm vor das Gesicht, weniger zum
Schutze gegen die Sonne als zum Schutze gegen seinen Blick. Und sie
sagte hastig:

„Sie dürfen nicht zu mir sprechen wie gestern abend, Graf Lork. Sie
wissen ja überhaupt nichts von mir...“

„Doch! Fräulein von Gräbert sprach mit mir, ehe sie fortfuhr.“

Eine heiße Röte überflammte Monikas Gesicht. Edith hatte also vor ihrer
Abreise noch ein Zusammentreffen mit Lork arrangiert. Wer weiß, was sie
da für Verleumdungen über sie aufgetischt haben mochte!

„Ich war unendlich glücklich über das, was Fräulein von Gräbert mir
sagte. Ich hörte, daß Sie im Begriff sind, sich scheiden zu lassen. Ist
das wahr?“

Monika antwortete nicht; mit aufeinandergebissenen Zähnen starrte sie
vor sich hin.

Und in heißem Flehen sagte die Stimme des Mannes von neuem: „Das ist
wahr?... Sagen Sie mir, daß es wahr ist...“

Der Schirm war ihrer Hand entsunken. Sie sah jetzt geradeaus in die
flammende Sonne.

Da griff er nach ihren Händen, umkrampfte diese kühlen, kleinen Hände
mit seinen glühend heißen Fingern und flehte: „Ist es wahr?“

„Ja,“ sagte sie tonlos.

„Monika, -- -- und wenn diese Scheidung vollzogen ist, dann darf
ich hoffen, daß Sie meine Frau werden? Ich will ja Ihr Sklave sein,
Monika, ich will Ihnen jeden Willen tun, Ihnen jeden Wunsch erfüllen...
Alles! Sie wissen, wie ich Sie verstehe, wie ich jede Regung in Ihnen
verstehe und liebe! In Ihrer prachtvollen Ursprünglichkeit sollen Sie
bleiben, kein Atom Ihres Selbst will ich anders haben, als es ist.
Unser Leben wird ein Rausch sein von Glanz und Leidenschaft!“

Er preßte seine fiebernden Lippen auf ihre Hand.

„Ihre Antwort, Monika...“

„Nicht jetzt,“ sagte sie schwer atmend, „lassen Sie mir Zeit.“

„Wann?“

„Ich weiß nicht...“

„Wann?“ flehte er.

„Ein paar Tage nur...“

Dann gingen sie langsam den Weg zurück, den sie gekommen.

Monika hielt den Blick tief gesenkt, nicht ein einzigesmal sah sie auf.
In seinen Augen aber war ein Schein von Siegessicherheit.

Kurz bevor sie am Hotel ankamen, sagte er:

„Ich werde heute und morgen wegfahren. Ich will Sie nicht stören, nicht
beunruhigen in dieser Zeit der Ueberlegung... aber übermorgen früh hole
ich mir meine Antwort.“

Monika schritt dahin wie im Traum. Der Lift fuhr sie in ihre Etage
hinauf, die Tür ihres Zimmers schloß sich hinter ihr. Ihr erster
Gedanke war: Dunkel, die Vorhänge herunter.

Dann, als sei es ihr immer noch zu hell, warf sie sich übers Bett und
wühlte den Kopf in die Kissen. Dunkel... Dunkel und Schweigen...

Aber es ward nicht dunkel vor ihren Augen. In unabsehbarer goldener und
strotzender Fülle sah sie alle Herrlichkeiten dieser Welt!

Die alle würde dieser Mann ihr geben, alles Schönste, wonach
sie je Begehren getragen, alles Schönste, was Natur und Kunst
hervorgebracht: edle Steine und schillernde Stoffe, kostbare Bücher
und Marmorbildsäulen, Pferde und Automobile und Jachten, Gärten und
Paläste...

Das alles würde er ihr geben in seiner heißen Liebe, die so
leidenschaftlich war, wie sie es immer ersehnt. Ganz einhüllen würde
er sie in diese flammende Leidenschaft. Seine Liebe würde sklavisch
zu ihren Füßen knien und darauf harren, ihr jeden Wunsch erfüllen zu
dürfen.

In allen Poren fühlte sie, welche Macht sie über diesen Mann besaß, der
jede Bewegung an ihr vergötterte, jedes Wort, das sie sprach, jeden
Gedanken, den sie dachte... Der sie liebte maßlos und schrankenlos...

+Das+ war’s, was ihr wie ein Rausch ins Blut drang, diese Erfüllung
ihrer jungen Sehnsucht: über alle Schranken hinaus...

Georg hatte sie in Schranken gehalten und sich selbst auch. Hatte er
sie überhaupt je geliebt? War das Liebe, die nach Zügeln fragte und
nach Grenzen? Georg war ein Egoist gewesen, immer; im Mittelpunkte
seines Denkens hatte er selbst gestanden, er und seine Karriere.

Würde er ihr je eine Ueberzeugung geopfert haben? Von Harry Lork
aber wußte sie, daß er es mit Freuden sehen würde, wenn sie alle
ihre Gefühle, alle ihre Gedanken wild wuchern ließ, daß sie üppige
Triebe und Blüten reckten. Mit Lork würde sie frei sein können im
Denken und Tun -- und überschüttet von Reichtum und fortgerissen von
Leidenschaften.

Sie sah wieder sein Gesicht vor sich, wie sie es neulich im Musikzimmer
gesehen, als die Sonnenstäubchen drüber hingeflirrt und die Linien
beleuchtet, die die Leidenschaft hineinriß...

Da wußte sie, was sie dem Grafen Harry Lork antworten würde, sobald er
wiederkam.

Sie war mit ihrem inneren Leben so sehr beschäftigt, daß sie es
vermied, andere zu sprechen. Sie war fast unhöflich, gab kaum Antwort,
wenn einer der Hotelgäste sie in ein Gespräch zu ziehen suchte.

Am nächsten Vormittag schwamm sie weit in den See hinaus. Die scharfe
körperliche Bewegung tat ihr wohl, lenkte sie ab von der heißen Arbeit
ihres Gehirns.

Aber als sie dann nachher auf dem weißen Sande des Badestrandes lag,
waren sie alle wieder da, die Zukunftsträume. Die waren nicht mehr in
den rosigen Farben ihrer ersten Jugend gemalt, sondern in Purpur und
Gold ihrer wissenden Frauenphantasie.

Und das Gefühl eines wilden Triumphes überkam sie: nie mehr „Sitte“
und „Pflicht“... nur alle heißen Träume wahr machen, die ihr Gehirn je
bewegt, -- -- jede Phantasie Wirklichkeit werden lassen!

Ja, das alles +konnte+ sie, in der Kraft ihrer blühenden Jugend, die
keinen Zügel mehr tragen würde, -- -- ungezählte Reichtümer zur Hilfe,
und einen Mann zur Seite, der ein Sklave ihrer Launen war.

„Schrankenlos genießen“ -- -- hatte er gesagt.

Und wie ein brausender Jubelchor klang es ihr in den Ohren:
„schrankenlos... genießen...“

Und doch... und doch... Es war keine volle Harmonie in diesem Hymnus.
Wohl klangen die Instrumente so lockend, lachten vor Rausch und Lust,
aber irgendwo schluchzte eine Geige, schluchzte so tief schmerzlich --
so unerträglich sehnsüchtig -- --

Was war es denn, was die schluchzte? Ein Wort nur, ein einziges Wort:
„Georg“...

Aber sie jagte diesen Gedanken von sich. Er war ein Egoist, er hatte
sie nie geliebt. Und nur jetzt keine falsche Sentimentalität.

Sie war entschlossen. Sie wußte, was sie Lork morgen antworten würde.

Als sie vom Schwimmbad nach Hause kam, den Blick gesenkt, um nicht
wieder in Unterhaltungen verwickelt zu werden, die sie störten, wurde
sie, als sie die Halle durchschritt, angerufen.

„Ah, Frau von Wetterhelm,“ klang es ihr, in einer schnarrenden Stimme
gesprochen, ins Ohr.

Sie mußte eine Sekunde lang nachdenken, wo sie dieses narbenzerrissene
Greisengesicht schon gesehen, dies Gesicht mit dem bulldoggenhaften
Ausdruck und einem goldgefaßten Monokel im linken Auge.

„Ah, Fürst Herrlingen.“

Wie lange ihr das schon her schien, seit sie ihn zum letztenmal
gesehen. Und es waren doch erst zwei Jahre, daß sie die Botschaft in
London verlassen. Sie hatte dann mit dem Fürsten noch korrespondiert,
und oft hatte er ihr geschrieben, welchen Spaß ihm ihre witzigen Briefe
machten.

Ob Herrlingen wohl wußte, wie sich ihr Lebensschicksal inzwischen
gestaltet?

Sie war verlegen, murmelte irgend etwas, daß sie hinauf müsse, aber er
bat so dringend, sich ein paar Augenblicke zu ihm zu setzen.

Er plauderte wie immer: in abgerissenen Sätzen, in der sehr lebhaften
Art, die er sich, trotz seiner siebzig Jahre, bewahrt hatte. Er
erzählte von gemeinsamen Bekannten. Ohne ein paar boshafte Ausfälle
ging es dabei nie ab.

Als sie im Begriffe waren, sich zu trennen, ließ er sich noch
versprechen, daß sie heute abend mit ihm diniere. Das müsse sie schon
für einen alten Freund tun. Nicht im großen Speisesaal -- gräßlich mit
den vielen Leuten! Er würde den gelben Salon reservieren lassen.

Monika zeigte sich am Abend in brillanter Laune. Sie scherzte und
lachte und berauschte sich schließlich an ihrer eigenen Gesprächigkeit.

Die Unterhaltung zwischen ihnen beiden flog hin und her wie ein
Tennisball, den zwei geschickte Spieler sich zuschleudern.

Wie früher war es.

Nein, doch nicht wie früher...

Da war Georg Wetterhelm mit dabei gewesen, hatte seiner Frau zugehört,
stolz auf ihren Esprit und ein wenig ängstlich, ob sie die Grenzen
innehalten würde...

Nein, nicht wie früher war’s.

Der Fürst schien den gleichen Gedanken zu haben.

Einen Augenblick zögerte er, dann: „Ich möchte Sie etwas fragen, Frau
von Wetterhelm. Nehmen Sie es als Freundschaftsbeweis. Man muß mich
schon mehr interessieren, wenn ich indiskret sein soll. Hat es zwischen
Ihnen und Wetterhelm einen Bruch gegeben?“

Sie antwortete nicht.

„Ich habe neulich Ihren Mann in Berlin gesehen,“ fuhr er fort, „er hat
mir nichts Besonderes über Sie erzählt. Er sagte nur, es ginge Ihnen
gut. Aber daß er nun doch nach Teheran will, nachdem er es Ihretwegen
vor drei Jahren abgelehnt -- --“

„Meinetwegen?!“

„Ah, Sie wissen es gar nicht? -- Das ist mal wieder recht Georg
Wetterhelm, es Ihnen gar nicht zu erzählen, wenn er ein Opfer bringt.“

„Ein Opfer?“ fragte sie mit versagendem Atem.

„Ja, für seine Karriere war’s eins. Das habe ich ihm damals klipp und
klar auseinandergesetzt. Die Kombination lag ja damals ganz anders
als heute. Allein die Tatsache, daß er dann vor drei Jahren schon
erster Botschaftsrat geworden wäre.. Und außerdem ist damals der
Herzog Wilhelm Friedrich hingegangen, der auf Wetterhelms Beihilfe
bei seinen ethnologischen Forschungen rechnete. Wetterhelm hätte die
schönste Gelegenheit gehabt, sich nach allen möglichen Richtungen hin
auszuzeichnen. Aber er wollte nicht hin! Ihretwegen nicht. Er fürchtete
für Sie das Klima, die zeitweise recht unruhige Bevölkerung -- es war
gerade wieder ein Aufstand vorgekommen. Er sagte mir auch, daß Sie
sich, so weit von unserer Kultur entfernt, gar zu unbehaglich fühlen
würden. Ich erwiderte, das seien doch alles keine Gründe, wenn ein
Vorteil für die Karriere in Frage käme. Aber ihm stand Ihr Wohl höher.
Ich machte ihm dann den Vorschlag, sich doch für ein Jahr beurlauben zu
lassen, um an der Expedition des Herzogs teilnehmen zu können -- Sie
wissen, was Wilhelm Friedrichs Fürsprache bei uns zu bedeuten hat --,
aber er antwortete, er wolle sich nicht so lange von Ihnen trennen. Ja,
die Liebe beeinträchtigt eben auch bei sonst ganz vernünftigen Menschen
den Verstand.“ --

Monikas Hand zitterte so stark, daß der blutrote Burgunder aus ihrem
Glase über das Tischtuch tropfte.

Ihr Wohl hat ihm höher gestanden als seine Karriere!

O nur allein sein, allein sein jetzt mit ihren Gedanken, die wie eine
Meute über sie herstürzten!

Aber die Frau von Georg Wetterhelm durfte ihre Haltung nicht verlieren.
Und sie krampfte ihre Fingernägel in die Handflächen, daß sie ihr
schmerzend ins Fleisch drangen.

Und sie plauderte weiter, liebenswürdig und witzig, als schlüge ihr
nicht das Herz wie rasend in der Brust, als stiege ihr nicht das Blut
so heiß zu Kopfe, daß es wie ein Brausen in ihren Ohren war.

Und der Augenblick kam, wo Herrlingen ihr abschiednehmend die Hand
küßte.

Dann endlich in ihrem Zimmer durfte sie sich ihrem Gefühle überlassen,
durfte aufschluchzen, durfte weinen, wie sie noch nie geweint...

War das der Mann, den sie einen starren Egoisten genannt? Dieser
Mann, der seinem Avancement schadete, um der geliebten Frau einen
unangenehmen Aufenthalt zu ersparen? Und der ihr nicht einmal etwas
davon sagte, in der herben Vornehmheit seiner Natur, die Opfer brachte
und keinen Dank dafür wollte!

In wogenden Nebeln versanken farblos alle die farbenstrotzenden
Zukunftsschlösser, die sie gestern noch gebaut. Was war aller Reichtum
und alle Leidenschaft, was waren alle Genüsse dieser Welt, wenn ihr die
Liebe fehlte?

Und ihre Liebe zu Georg, die sie so lange gewaltsam zurückgedämmt,
durchbrach alle Schranken, daß es ihr war, als sei ihr ganzes Sein nur
noch ein einziger Sehnsuchtsschrei nach ihm!

Aber eisig legte sich in den Aufruhr ihrer Gefühle die Frage: Wird er
mir verzeihen? Hatte sie ihm nicht schlecht gelohnt? Hatte nicht ihr
eigenes Selbst ihr höher gestanden als sein Glück?

Eine tiefe Mutlosigkeit wollte sie überkommen, ein banges Gefühl: Wird
das wieder gut?

O, wenn sie ihm nur alles sagen könnte, ihm alles verständlich machen!

Ein Irrtum war’s, der sie von seiner Seite gerissen.

Noch einmal grüßte aus dem Dunkel des Unwiederbringlichen das Haupt
des toten Bruders, die dunkeln Wimpern über den erloschenen Augen, ein
wenig geöffnet der Mund, ein wenig traurig...

Georgs Schuld?

Ach nein! Die Schuld des Birkenschen Blutes, der Birkenschen Erziehung.
Die Schuld des Blutes, das Alfred unter der Tropensonne seinem Geschick
entgegenführte, das Heinrichs Leben in unklare Wirrnisse verstrickte,
das sie selbst so gefährliche Bahnen geführt.

Und hoch über ihnen allen stand Georg.

Sein Leben lang hatte er idealen Gütern gedient, gab seine besten
Kräfte dem Lande, das ihn gezeugt, hatte in strenger Selbstzucht, in
treuer Erfüllung seiner Pflichten seine Einzelpersönlichkeit dem Wohle
des Ganzen untergeordnet.

Und nicht, wie sie geglaubt, war er unbeugsam und kalt dabei geworden
-- nein! Er war es fähig, ein Opfer zu bringen.

Ob er ihr verzeihen würde?...

Ach, kein Nachdenken jetzt -- kein Fragen.

Zu ihm! Mit dem Nachtzuge noch.

Sie erreichte ihn noch gerade.

Und während die Räder in rasender Hast durch das Dunkel jagten, saß sie
in eine Ecke des Coupés gedrückt, mit weit offenen Augen.

Sie legte sich nicht hin, sie konnte ja doch nicht schlafen.

Ob er ihr verzeihen würde?...

Verzeihen, daß sie in egoistischer Aufwallung Haus und Herd verlassen
und den Mann, der sie liebte?

Und sie dachte an den Abend vor bald sechs Jahren, als sie zu ihm
gefahren war, als ihr siebzehnjähriger Mädchenmund in Leidenschaft und
Liebe und Egoismus gestammelt: „Ich will mein Glück wiederhaben!“

Weiter und weiter durch die sternenlose Nacht, deren Schweigen mitunter
zerrissen wurde von dem gellenden Schrei der Lokomotive. Immer weiter
trug sie der Zug... zu ihm!

Und in ihrem aufgewühlten, durchschütterten Gehirn zuckten neben den
großen Fragen kleine Sorgen auf, kleinliche Bedenken:

„Wird er zu Hause sein? Wer wird mir die Tür öffnen? Wie mache ich’s,
daß er mich anhört ...?“

Tausend Möglichkeiten durchdachte sie, tausend Schwierigkeiten überwand
sie in Gedanken, immer neue Hindernisse überlegte sie sich, und wie sie
ihnen entgegentreten solle.

Und es kam alles viel einfacher, als sie gedacht. Der Diener öffnete,
sagte ein freudig überraschtes: „Ah, die gnädige Frau!“ und nahm ihr
den Reisemantel von den Schultern.

Und mechanisch nahm sie auch den Hut ab, so als ob sie hier zu Hause
wäre, wieder zu Hause.

Sie schritt durch ihren blauen Salon und durch das Musikzimmer und
öffnete die Tür zu Georgs Arbeitszimmer.

Er saß am Schreibtisch und sah nicht auf.

Wie ernst, wie furchtbar ernst das geliebte Gesicht war!

Sie stammelte seinen Namen.

Und da sprang er auf.

Kein Besinnen, kein Fragen, keine Korrektheit ... nur ein einziger,
wilder Schrei:

„Du!“

Und seine Arme, die sie umfaßten, sein Mund, der sich auf den ihren
preßte, sein heißes Gestammel: „Bist Du doch gekommen, mein kleiner
Schatz? Mein geliebter, kleiner Schatz, bist Du doch gekommen, mein
Glück...“

„Ja, Georg, und ich will bei Dir bleiben, immer ... immer...“

Es bebte wie Angst in seiner Stimme:

„Du weißt, wie verschieden unsere Naturen sind. Es mag wohl wieder ein
Tag kommen, Monika, wo ich Dein phantastisches Köpfchen nicht verstehe,
wo ich Deine Wildheit nicht gutheißen kann, wo ich Dir etwas nicht
geben kann, nicht geben darf, was Du verlangst -- wo ich Dir Deine
Wünsche nicht erfülle...“

„Dann...“ Der Schein einer unendlichen Hingabe verklärte ihr Gesicht.
„Dann werde ich nicht, wie in meinen Kinderjahren, sagen: ‚Mir
zuliebe!‘ Dann werde ich nicht, wie in meiner Brautzeit, stammeln:
‚Unserem Glücke zuliebe‘ -- dann werde ich das Wort sagen, das ich
jetzt sprechen gelernt habe: ‚Dir zuliebe‘!“

[Illustration]



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[Illustration]

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